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Full text of "Aus Natur und Museum"

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LIBRARY 
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THE AMERICAN MUSEUM 
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NATURAL HISTORY 




























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DR. MED. 

JOHANN 
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1707—1772 


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Naehdruck nur mit Quellenangabe gestattet, Übersetzungsrecht vorbehalten 





Frankfurt am Main 1923 


Selbstverlag der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
Auslieferung für den Buchhandel: W.Junk, Berlin w. 15, Sächsische-Straße 68 











Preis des Jahrgangs Preis eines einzelnen Heftes 
Srundgzahl M. 3.—. (mal Schlüsselzahl) Grundzahl M.1.—. (mal Schlüsselzahl) 





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53. Bericht DER Ne „A; TIERK Heft 1-4 & : 


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Senckenbergische E 
Naturforschende Gesellschaft . 





Inhaltsverzeichnis | 
Seite y 
Lipschitz, W. — Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus und seine 
Bedeutung für den Stoffwechsel . . . . 2 2 2... 0. j 1.78 
Seitz, A. — Der Mensch und die Insekten .... .\.... x =... vresaiezen 4 
Mitteilungen der Verwaltung : .. . 2.0. un Wow 2, a 
Anis dem ‚Museums ee. Rt ee ee BE | 
v. Weinberg, A. — Die Entstehung der er. Welt. Mit | 
4 Abbildungen. . . 49 f 
Georgii, W. — Die kon Segaltli 8 in Ast ‚Rhön. im Ver Ä 
zum Segelflug im Tierreich. Mit 8 Abbildungen . . . N Te 3 
Aigner, ©. — Das Rätsel der Wünschelrute. Mit 8 Abbilduisen 2 £ 
Prior, P. — Kupferhaltige Vogelfedern . . . 95 
Sehuekmann, W. — Die granittektonische Mölhode Mit 3 Abbild. 99 
Aus unserer Werbetätigkeit . . . . . ö ee N 
Aus der Bibliothek und den Wisehschartlehde Universitäts“ Instituten es 
unserer Gesellschäft - ....,. ”.-. 2 ven on Rn 
Aus unserer Bibliothek . a PIE RR 119 
. Reichenau, W. — Nahrung und Ebrsokeru nahme des Blches. 
Mit 1 Abbildung . . . . . ee. en Se 
Steche, 0. — Biologie und Welseeraing- 2 RE 


Seitz, A.«— Eine entomologische Pyrenäenreise . . . 2... 2... 1838 








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Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus 
und seine Bedeutung für den 


Stoffwechsel 
Von Privatdoz. Dr. Werner Lipschitz 





Das Wagnis, über ein Thema zu "sprechen, dessen Titel vor 
mehr als 35 Jahren durch das Genie eines PaurL EnrricH bereits 
Klang bekommen hat, rechtfertigt sich wohl durch die Über- 
zeugung, daß die Erkenntnis des Lebens und seiner Bedingungen 
ebenso wie seine kulturelle Gestaltung sich nicht gradlinig auf- 
_ wärts bewegt, sondern auf und ab in Wellen, und daß die Fuß- 
E Bonkte der Wellentäler im Zeitenrund bestenfalls in flacher 
Spirale sehr allmählich nach oben führen. Der einem Geist sich 
‚entzündende Funke der Erkenntnis findet allzu häufig in anderen 


Köpfen nicht genügende Nahrung und verlischt oder glimmt un- 


fruchtbar weiter, bis er nach Jahren passenden Brennstoff erhält 





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- und nun zu einer lodernden Flamme wird, die einige Zeit den Weg 


der Forschung erhellt. So bildet die Jugendarbeit Paur. EHrricH's 
ein Thema, das scheinbar rasch ausgeschöpft, vielfach sogar un- 


E richtig. aufgefaßt, erst in allerneuester Zeit wieder fruchtbar ge- 


worden ist, und dessen Bearbeitung zu Folgerungen geführt hat, 
die die allgemeinste Stoffwechselfunktion des Organismus, seinen 
Sauerstoffverbrauch, dem Verständnis wesentlich näher gebracht 
haben. Wir wissen aber, daß der Sauerstoffverbrauch im Mittel- 


punkt der Lebensvorgänge überhaupt steht; von ihm aus scheint 


Leben wie Tod wohl am leichtesten faßbar, und ein wahrer Kranz 


- von Fragen hat sich um ihn gebildet, z. B. nach der Wirkung von 
 narkotischen Mitteln. und anderen Zellgiften, nach dem Wesen von 


_  Ermüdung und Erholung, nach der Art und Weise, wie der Orga- 


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nismus die Nahrungsstoffe stufenweise immer tiefer abbaut und 
dabei freiwerdende Wärme und Lebensenergie gewinnt, in aller- 
neuester Zeit endlich die Frage nach der Rolle, die die Vitamin- 


'substanzen für Leben und Stoffwechsel von Mensch und Tier 
spielen. 


Die innere Atmung oder das in ihr begründete Sauerstoff- 
bedürfnis des Organismus stellt zwar ein altes physiologisches 





Problem dar, aber seine experimentelle Bearbeitung blieb hinter 
derjenigen anderer Fragen so weit zurück, daß nicht nur die aller- 
meisten Laien, sondern auch viele Mediziner mit dem Worte „Zell- 
atmung” oder „Gewebsatmung' keinen rechten Begriff verbinden. 
Sie verstehen unter Atmung schlechthin das Auf- und Zusperren 
der Atmungswege, das Füllen der Lungen mit sauerstoffhaltiger N 
und das Ausstoßen von kohlensäurereicher Luft, das Beladen oder 
Verarmen des Blutes an Sauerstoff, ohne als das Primäre und. ir 
Wesentliche den Gaswechsel der Körperzellen zu ® 
empfinden, dem die äußere Atmung nur dient und von dem sie ge- 
regelt wird. 

- Der Gaswechsel der Zellen, Gewebe und Organe abee3 ent- 
spricht ihrem Stoffwechsel und ist mit ihm aufs innigste verknüpft. on 

Jeder Gebildete weiß, daß die Nahrungsstoffe bei ihrer Aus- 
nutzung im Körper schließlich zu CO, (Kohlensäure) und H,O RR 
(Wasser) verbrannt werden und daß die Lungen den dazu nötigen 
Luftsauerstoff heranschaffen, aber wie und wo dieser Verbren- 
nungsvorgang zustande kommt, darüber fehlt meist jede Vorstel- 
lung. Früher glaubte man, daß diese Verbrennungsprozesse vor- 
wiegend in den Lungen vor sich gehen, und daß daher auch dort 
die Stätte der tierischen Wärmebildung zu suchen sei. Später 
meinte man im Blut das eigentliche Atmungsorgan sehen zu sollen, 
aber erst in neuerer Zeit hat man erkannt, daß die Lungen nur 
die Ein- und Ausgangspforte der Gase, das Blut im wesentlichen 
nur das Transportmittel von Sauerstoff, Kohlensäure und Wärme % 
darstellt, während die Verbrennung der Nahrungsstoffe oder die P 
biologische Oxydation, d. h. der eigentliche Atmungsvorgang, sich en 
in den Zellen sämtlicher Organe des Organismus abspielt. So wird 
entsprechend auch die Lebensenergie, die die Muskeln zur = 
Zuckung, die Drüsen zur Sekretion, die Sinnesorgane zu ihrer 
spezifischen Leistung befähigt, in sämtlichen Körperzellen in Frei- 
heit gesetzt und ganz parallel und gleichzeitig auch die Verbren- 
nung wärme, die für den warmblütigen Organismus besondere 
Bedeutung besitzt. | 

Die ersten Grundtatsachen, die EurLicH schon vorfand, waren 
also folgende: Die Stoffwechselvorgänge in den Zellen selbst be- 
dingen das Sauerstoffbedürfnis des Organismus und regulieren de 
Atmungsgeschwindigkeit, während das Angebot an Sauerstoff dar- 
auf kaum einen Einfluß besitzt. Der Sauerstoff wird durch das 
Blut, besonders den roten Blutfarbstoff, an die Zellen herange- 








bracht und ihrem Verbrauch entsprechend abgegeben; umgekehrt 
wird die von den Zellen aus den Nahrungsstoffen durch Verbren- 
nung gebildete Kohlensäure vom Blut aufgenommen und durch die 


Lungen herausbefördert. 

Die Lungenatmung stellt also das Ergebnis der Atmung sämt- 
licher Körperzellen dar; die Bilanz der Lungengase ist das Fazit 
des Gaswechsels aller Zellen. 

Wenn wir somit das Wo der inneren Atmung mit genügen- 


_ der Exaktheit als in der Zelle liegend festgestellt haben, hat im 
Gegensatz dazu das Wie, der Mechanismus des Vorgangs, seiner 
Erkenntnis wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet. Und zwar 


erfordert der Vorgang eine doppelte Betrachtung: Eine allgemein- 
physiologische, ‘die das lebende atmende Protoplasma betrifft und 
nach den Möglichkeiten seines Funktionierens fragt, und eine rein 


chemische, die den Mechanismus von Oxydationen ganz prinzipiell 
_ zu charakterisieren sucht, sei es, daß sie sich im Reagenzglas unter 
der Wirkung anorganischer Stoffe vollziehen, sei es in der Zelle 
‚mittels Fermenten, jener noch unbekannten in winzigen Mengen 


vorkommenden Substanzen, die ungeheure Wirkungen entfalten 


und am besten mit Hebelsystemen vergleichbar sind, weil sie 
spontan verlaufende Vorgänge außerordentlich erleichtern und be- 
_ schleunigen. In beiden Richtungen haben sich im Laufe der letzten 
_ Dezennien grundlegende Wandlungen vollzogen, Wandlungen der 
Vorstellung, die ich als Übergang vom starren zum unstarren 


System im Sinne eines biologischen Relativitätsprinzips. bezeichnen 
möchte. 
Fassen wir die Anschauungen über das Wesen des lebenden 


Protoplasmas ins Auge, so drängt sich uns ein gewaltiger erkennt- 
‚nistheoretischer Fortschritt auf, der sich innerhalb kurzer Zeit, 


innerhalb eines Menschenälters, vollzog. Man hörte auf, ein Ob- 


 jekt sich ungeheuer kompliziert vorzustellen und lernte da- 


für, eine außerordentliche Vielheit von einfachen Objekten 
gleichzeitig zu erfassen, ganz gleichgültig, ob wir nun unter 
Objekt chemische Substanz und Zellbaustein oder einen Zell- 
prozeß verstehen. EDUARD PFLÜüGER, der große Physiologe, dessen 
Forschen den Markstein zu der jüngsten Periode seiner Wissen- 
schaft bildet, und mit ihm PAaur Enrriıcn, stellten sich das Proto- 
plasma als ein Riesenmolekül vor, das sich zu dem gewöhn- 
lichen chemischen Molekül wie die Sonne zu einem kleinen Meteor 
verhält, und dessen chemischer Aufbau bestimmend für die Art, 


Stärke und Geschwindigkeit der Zellvorgänge ist. Ein cher “ 
Kern von besonderer Struktur, meint EurrıcH, bedinge die spezi- 
fische eigenartige Zelleistung, und an diesen Kern lagerten sich als 


Seitenketten Atomkomplexe an, die für die spezifische 


Zelleistung zwar von untergeordneter Bedeutung sind, nicht aber 
für das Leben überhaupt. Diese Seitenketten gerade stellen viel- 
mehr Ausgangs- und Angriffspunkt der physiologischen Verbren- 
‚nung dar, indem ein Teil von ihnen die Verbrennung durch in 





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ihnen enthaltenen Sauerstoff vermittelt, der andere Teil selbst dr 


Verbrennung anheimfällt und von gewissen Orten des Kerns aus 
neu gebildet wird. Andere Orte des Kerns sind nun nach EHRLICH 


befähigt, Sauerstoff in festerer oder lockerer Weise zu binden und 

umgekehrt zum Teil abzugeben, sodaß eine allmähliche Ver- y 
brennung, eine Atmung mit regulierter Geschwindigkeit und kon- 
stanter Wärmebildung erklärbar scheint. Die Zellatmung ist da- 
nach ein Wechsel von Oxydation und Reduktion (Sauerstoffauf- 


nahme und -Abgabe) des Protoplasmas, die wechselnde Oxyda- 
tionskraft ist durch das wechselnde Sauerstoffbindungsvermögen 
der verschiedenen „Sauerstofforte‘ bedingt. 


Jedoch: eine Generation von Anatomen und Histologen hat sich N 


vergeblich bemüht, diese chemischen Sauerstofforte des Protoplasmas 


durch Färbungen erkennbar zu machen und ihre Anordnung zu 


bestimmen — vergeblich deshalb, weil das Protoplasma nicht 
wie man glaubte, ein chemisch definierbares Molekül mit fixierten 


charakteristischen Gruppen (Orten) darstellt, sondern offenbar aus 
einer Unzahl der allerverschiedenartigsten Moleküle besteht, die 


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in lebhaftester Schwingung umeinander begriffen sind, — vergeb- 


lich wohl auch, weil die chemischen Formeln nur Symbole, Hilis- 
mittel für unsere Vorstellung darstellen, aber keine erschöpfbaren. e j 


Realitäten sind. | 
Dagegen ist die ErnrLicH'sche Idee, daß Oxydation und Reduk- 
tion nur die beiden Seiten einer Münze darstellen, einander ent- 


sprechende biologische Vorgänge sind, und daß sich die Sauerstoff- F 


atmung der Zellen durch ihr Reduktionsvermögen messen lassen 


müsse, in höchstem Maße für unsere Vorstellung und die experi- 


mentelle Bearbeitung des Atmungsproblems fruchtbar geworden, 
wie ich späterhin noch ausführen werde. 
Heute ist die Auffassung des Protoplasmas als eines zentralen 


Riesenmoleküls mit unendlich vielen Fangarmen und Angriffs- 


. flächen durch die Vorstellung ersetzt worden, daß das Zellinnere 








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_ einen wahren Hexenkessel darstellt, in dem unendlich viele ziem- 


lich einfach gebaute und vielfach bekannte chemische Stoffe ihr 


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Spiel treiben, sich gegenseitig oxydieren und abbauen oder zu kom- 
plizierteren Molekülen zusammentreten, — Substanzen, welche die 
höchst wirksamen Zellfermente in ihrer Leistung hemmen oder sie 
noch steigern, — sich gegenseitig verhindern, mit den Fermenten 


in Berührung zu kommen oder sich darin unterstützen, — ein 


wahrer Hexenkessel, der die unerhörtesten Veränderungen von 


hineingebrachten körperfremden Substanzen vollzieht, die man -im 


Reagenzglas kaum mit den drastischsten Mitteln des Laborato- 
riums, Rotglut und Riesendruck, zustande bringt. . 
Wenn uns trotzdem die Zellen so wundervoll zweckmäßig 
organisiert erscheinen, als seien ihre Leistungen Funktionen eines 
Zentralmoleküls, eines „Zellgehirns, so möchten wir heutzutage 
diese Organisation als das Resultat eines Kräftegleichgewichts all 
dieser in der Zelle sich abspielenden, an sich exzentrisch gerichte- 
ten chemischen und physikalischen Vorgänge auffassen. Weiter 
möchten wir glauben, daß auch die Eigenart der einzelnen Organ- 
zellen, die besondere Leistung z. B. der Leberzelle, Muskelzelle, 


_ Nervenzelle, u. s. w. nicht das Ergebnis eines ganz besonderen Auf- 


baus des Protoplasmas im ganzen ist, sondern sich vor allem 
aus rein quantitativen Differenzen herleitet: ob mehr oder 
weniger einer bestimmten organischen oder anorganischen Sub- 
stanz in der Zelle enthalten ist, bezw. ob ein Zellprozeß, z. B. die 
Zellatmung, mit größerer oder geringerer Geschwindigkeit ver- 
läuft. Als ein Beispiel möchte ich anführen, daß nach ZwAar- 
DEMAKER dem Gehalt an Kalisalzen ein entscheidender Einfluß auf 
die Zelleistungen zukommt, weil das Kalium radioaktive Strahlung 


- aussendet. 


Als ein weiteres Beispiel sei erwähnt, daß nach neuester Auf- 


_ fassung die Oxydation von Zellnahrungsstoffen, die Beladung 
mit Sauerstoff, oder ihr Gegenstück, die Reduktion, d.h. Fort- 


nahme von Sauerstoff oder Beladung mit Wasserstoff, abhängig 
von der Richtung und Stärke bioelektrischer Ströme ist, die Sauer- . 
stoff in wirksamer Form freiwerden lassen. 

Wie leicht aber andererseits dieses Kräftegleichgewicht der 
Zellprozesse aufzuheben ist, erkennt man an der Häufigkeit von 
Stoffwechselkrankheiten, von Zuckerkrankheit und Gicht, an den 
schweren Veränderungen des Zellstoffwechsels durch Gifte wie 
Phosphor, Arsen, Blausäure in kleinsten Dosen, und vor allem 


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daran, daß so leicht in höheren Jahren Zellen entarten und ent- 
weder verkümmern und funktionsunfähig werden, degenerieren, 
oder im Gegenteil ins Ungemessene wachsen und sich auf Kosten 
lebenswichtiger Gewebe vermehren, d. h. bösartige Geschwülste 3 
bilden. = A B., 


Wenn damit einige Streiflichter über die Entwicklung unserer 2 x 
Vorstellung vom lebenden Protoplasma gegeben sind, wollen wir 
nunmehr die spezielle Lehre. von den Oxydationen in ihrem Wandel 
während der letzten 50 Jahre kurz skizzieren. Die Frage lautet: 
Wie geschieht die Übertragung von Sauerstoff auf die Zellnahrungs- 
stoffe, Kohlehydrat, Eiweiß und Fett, die doch unter gewöhnlichen a 
Bedingungen so außerordentlich beständig gegenüber dem Luis as 
sauerstoff sind? Sie alle wissen ja, daß eine Zuckerlösung oder 25 
eine Eiweißlösung, steril aufbewahrt, sich sehr lange Zeit unver- a 
ändert hält, auch wenn sie mit Luft geschüttelt wird. Nun, hier st 
die Fermentforschung richtunggebend geworden, die sich einerseits ’ 
mit den an die Zelle gebundenen oder. von ihr abtrennbaren, ” 
fermentartig wirkenden komplizierten organischen Stoffen beschäf- 
tigt, andrerseits aber mit sogenannten anorganischen Fermenten, <a 
d. h. Schwermetallen, Eisen, Nickel, Platin, Palladium, die n 
feinster Verteilung ganz ähnliche Wirkungen erkennen lassen, wie 


sie uns im Zellstoffwechsel begegnen und immer unser Staunen x 
erregen. Rs 
Bei dem Versuch, den Oxydationsvorgang an Zellfermenten 
oder anorganischen Fermenten zu klären, wurde die Aufmerksam- 
keit der Forscher schon früh auf den Sauerstoffwechsel des Hämo- > 
globins, des roten Blutfarbstoffs, gelenkt, — und, wie es so häufig 2 
in der Wissenschaft geschieht, — man begann, ohne es zu ahnen, 
mit dem unfruchtbarsten Einzelfall, der dadurch charakterisiert R 
ist, daß die chemische Konstitution des Hämoglobins bis auf den 


heutigen Tag sich als keineswegs geklärt erweist, Weiter aber 
wurde späterhin gefunden, daß die ausgewachsenen menschlichen 
Blutkörperchen zwar Sauerstoff leicht aufnehmen und wieder ab- 
geben, daß aber dieser Vorgang garnicht als Atmung zu bezeichnen 
ist, weil ihm das Charakteristikum fehlt: die Verwertung des 
Sauerstoffs zur Verbrennung der Zellnahrungsstoffe unter Bildung 
von Kohlensäure. Das ist nämlich nur bei jugendlichen Blut- 
körperchen der Fall, die noch Zellkerne enthalten. Wie dem aber 
auch sei, jedenfalls klammerte sich die Forschung an diesen un- 





typischen Spezialfall der Umwandlung von Hämoglobin in Oxy- 
hämoglobin und seiner überaus leichten Rückverwandlung und 
glaubte, freie Fahrt zu gewinnen durch die Idee, daß sich diese 
— Sauerstoffübertragung, wie überhaupt jede biologische Oxydation 
unter Peroxydbildung vollziehe, d.h. durch Bildung von labilen 
Sauerstoffverbindungen aus Kohlehydrat, ähnlich dem Wasserstoff- 
Ä superoxyd, H, O, — überoxydierten C-Ketten, die einerseits leicht 
in Bruchstücke zerfallen, welche der Kohlensäure näher stehen, 
a _ andererseits aber den angelagerten Sauerstoff im Nichtbedarfsfalle 
unter der Wirkung anderer Gewebsfermente (Katalasen) wieder 
abspalten können. Eine besonders feste Stütze schien diese be- 
rühmte Theorie von SCHÖNBEIN, TRAUBE, BacH und ENGLER in der 
Tatsache zu besitzen, daß verdünntes Wasserstoffsuperoxyd 
durch Zusatz von Blut oder Gewebe stürmisch aufbraust und 
= seinen Peroxydsauerstoff abgibt. Als nun gar gezeigt werden 
- konnte, daß Gewebe von nichtatmenden Tieren, z. B. vom Spul- 
wurm, der ja im Darm keine Atemluft hat, diese wasserstoffsuper- 
-  _ oxydspaltende Kraft nur in sehr vermindertem Umfange besitzt, 
daß beide, Zellatmung und Katalasewirkung hochgradig empfind- 
n lich gegen Blausäurevergiftung sind, schien der allgemeinen An- 
i nahme dieser Peroxydtheorie nichts Wesentliches mehr im Wege 
£: zu stehen. Und trotzdem ist die Bedeutung der BacH-EnGLEr'- 
_ schen Theorie heute ganz wesentlich vermindert und durch andere 
= - Vorstellungen verdrängt worden. Die experimentellen Grundtat- 
sachen zur Stützung dieser geistvollen Hypothese haben sich eben 
trotz umfassendster Untersuchungen bisher nicht erbringen lassen. 
Noch hat sich im Stoffwechsel der Zellen kein peroxydartig ge- 
- bautes Produkt von Eiweiß-, Fett- oder Kohlehydratsubstanzen 
= nachweisen lassen; im Gegenteil hat sich sogar gezeigt, daß Fett 
- und Kohlehydrat keineswegs durch dünnes Wasserstoffsuperoxyd 
hr _ in Gegenwart von Muskelkatalase merklich verändert werden. Die 
=  Physikochemiker haben auch den Nachweis erbringen können, daß 
garnicht der als Peroxyd vorliegende Sauerstoff der aktivste ist, 
sondern daß z. B. elektrochemisch entwickelter Sauerstoff ein 
außerordentlich großes Oxydationsvermögen besitzt, zumal wenn 
er an Orten entladen wird, die so eminente Oberflächenwirkung 
entfalten, wie sie den Zellmembranen und überhaupt den Struktur- 
 elementen der Zelle eigentümlich sind. 


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Vor weniger als 10 Jahren haben nun Brevic und vor allem 
HEInrIch WIELAND eine neuartige Vorstellung über das Wesen der 





biologischen Oxydationen entwickelt, die sich im wesentlichen auf 
ihre Erfahrungen an anorganischen Katalysatoren der Platingruppe 
stützte, eine Theorie, die noch vielfacher experimenteller Bearbei- 
tung bedarf, die aber bereits einer großen Zahl von Beobachtungen 


als ausreichend standgehalten hat, und fruchtbar für neue Frage- 


stellungen geworden ist, — die Dehydrierungstheorie. 


Wie schon erwähnt, versteht man unter Oxydation Sauerstoff- Be 


aufnahme, unter Reduktion Sauerstoffabgabe. Man kann nun aber 
die gleichen Vorgänge auch auf das andere Element des Wassers 
beziehen, unter dessen Mitwirkung sich all diese Prozesse abspielen, 
auf den Wasserstoff, und kommt dann zu der Definition, daß 
Oxydation oder Sauerstoffaufnahme gleichbedeutend mit Wasser- 
stoffabgabe, Reduktion oder Sauerstoffabgabe gleichbedeutend mit 





Wasserstoffaufnahme ist. Demgemäß ist in der Chemie schn 


lange Oxydation oder Dehydrierung ein und derselbe Begriff, der 
eben besagt, daß eine bestimmte chemische Verbindung relativ 


reicher an Sauerstoff oder relativ ärmer an Wasserstoff 


geworden ist. 
Zucker. C, HH, 0, +6% > 0 He Ojs 
oder 6 [C 0,] +6 H, O 


Die sauerstoffreichste oder wasserstoffärmste Kohlenstoff- 
Verbindung ist demnach die Kohlensäure. Während nun bisher 
immer das Wesen der Oxydationen in der Sauerstoffakti- 


vierung erblickt wurde, definierte es WırLann als Wasser- 


stoffaktivierung, d. h. als Abstoßen von Wasserstoffato- 
men, die dann sich mit dem Luftsauerstoff zu Wasser: 
z.BHC—-OH > C=0+B 
I I 
OÖ OÖ 
Ameisensäure Kohlensäure 

H+0 0 
verbinden. 

Wenn diese Theorie von der Atmung als dem Abstoßen von 
H-Atomen richtig war, für die der Luftsauerstoff nur als Ak- 
zeptor dient, dann mußte sich der freie Sauerstoff durch andere 
Substanzen ersetzen lassen, die gleichfalls befähigt sind, Wasser- 
stoffatome zu binden, — dann mußte sich eine sauerstoff- 
lose Atmung realisieren lassen. 


Das ist nun bereits in mehreren Fällen geschehen, und zwar. 








ist es eben die Jugendarbeit Paur EnrLich's, die als Basis für diese 
neue Forschungsrichtung diente. Es zeigte sich nämlich in den 
_ Untersuchungen WıELAnD's, daß die von EHrricn verwandten 
Farbstoffe, besonders das Methylenblau, bei Berührung mit organi- 
schen Substanzen und kolloidalem Palladium oder mit Bakterien- 
ferment und. völligem Abschluß von Luftsauerstoff 2 Atome 
_ Wasserstoff aufnehmen ‘und sich in farblose Substanzen, sog. 
er ErEeukoverbindungen, umwandeln; es zeigte sich aber auch, daß 
_ konform mit diesem Vorgang die Zellnahrungsstoffe abgebaut 
’z werden, z. T. sogar herunter bis zu CO,. Also wirklich eine Ver- 
 brennung ohne Sauerstoff! — 

Diese Untersuchungen unter ee von Methylenblau 
anstelle des Sauerstoffs sind dann von THUNBERG (Lund) in biologi- 
Er “scher Richtung weitergeführt worden und haben zu der wichtigen 
Feststellung geführt, daß durch successive Wasserstoffabspaltung 
und wiederum Anlagerung von ganzen Wassermolekülen eine all- 
er mähliche mit Freiwerden von Wärme verbundene Verbrennung der 
Zellinhaltsstoffe stattfindet, die schließlich zu restlosem Übergang 
in CO, und H,O führt. Bei dieser Auffassung des Vorgangs findet 
sich also der veratmete Luftsauerstoff nicht in der Kohlensäure 
_ wieder, die nur die letzten Fragmente der Zellnahrungsstoffe dar- 
Br stellt, sondern im Wasser, das ja gebildet wurde durch Zusammen- 
= 3 treten von abgespaltenen Wasserstoffatomen mit dem Luft- 


Be: 


SE 
.. 


sauerstoff. 
Auch andersartige Substanzen als Farbstoffe haben zu sauer- 
= Eofflöser Oxydation Verwendung gefunden, also zu einer „künst- 
2 lichen” Zellatmung, aber die Zahl solcher verwendbaren 


Wasserstoffakzeptoren ist bisher noch recht beschränkt geblieben, 
wie es ja überhaupt nicht leicht ist, mit den Vorgängen der Na- 
tur zu konkurrieren. Im Basler physiologischen Institut ist im vori- 
‚gen Jahre gezeigt worden, daß auch Schwefelpulver als Konkur- 
-s rent für Luftsauerstoff eintreten kann und dabei in Schwefel- 
54 _ waserstoff übergeht: S+ H,— H,S. 

Ich selbst habe vor einigen Jahren beobachtet, daß die Nitro- 
sprengstoffe, wie sie im Kriege gebraucht wurden, interessante 
Wasserstoffakzeptoren darstellen, die nach den verschiedensten 
"Richtungen neue Erkenntnisse fördern können, und habe deshalb 
ihrer Untersuchung viel Zeit und Kraft gewidmet. 





Wenn man sich nämlich die Möglichkeiten überlegt, dem nor- 
= malen Atmungsmechanismus näher zu kommen, so kann man ent- 





weder der Zelle die Gesamtheit der physiologischen Brenn- 


stoffe entziehen und sie durch künstlich zugefügte ersetzen, 


oder man kann die Zelle eröffnen, zertrümmern und den Bau 
des Brennofens studieren, oder endlich man kann das Ver- 


brennungsmittel variieren, also den Sauerstoff, und kann 
zusehen, ob und wie schnell der Ofen brennt, wenn man andere 
Gase zuführt oder den Sauerstoffgehalt der Luft vermindert. Da 


ist ja bekannt, daß im allgemeinen das Feuer im Ofen erstickt, 
wenn man ihm den Sauerstoff ganz entzieht, daß aber bei zu ge- 
ringem Sauerstoffgehalt die Verbrennung zwar fortdauert und die 
ganze Kohle ergreift, daß aber die Verbrennung nicht bis zum 


Endprodukt, der CO,, führt, sondern nur bis zum Kohlenoxyd, dem 


gefährlichen unvollständigen Verbrennungsprodukt. Es gibt aber 


auch ein Gas, das, selbst wenn es ungemischt zugeführt wird und “ R2 
obwohl es Sauerstoff nur festgebunden enthält, trotzdem die 
Verbrennung der Kohle unterhalten kann; das ist das Stickoxydul 


(Lachgas), das in der Hitze der Kohleflamme zerfällt: 
2N,O+C > 28, + C0,. 


Ganz ähnliche Verhältnisse treten in der Zelle ein, wenn man 


ihr statt Sauerstoff Nitrokörper zur Verfügung stellt; sie läßt dann 
ihre Nahrungsstoffe mit Nitrosauerstoff —NO, verbrennen Oder — 


nach unserer modernen Auffassung, der Dehydrierungstheorie von 


WIELAND, — sie benutzt die Nitrogruppe als Akzeptor für die bei 
der Atmung abgestoßenen Wasserstoffatome, Dabei gehen die 
farblosen wasserunlöslichen Nitrosprengstoffe in intensiv gelbe 
wasserlösliche Verbindungen über, 


— NO, +4H > — NH:OH + 2H,0, Hydroxylamine, 


deren Menge sich außerordentlich leicht messend verfolgen läßt. 
Es hat sich ergeben, daß ausgeschnittene überlebende Muskel- 
zellen in der Zeiteinheit die genau entsprechende Menge von 


Nitrokörpern veratmen wie von gasförmigem“ Sauerstoff und daß 
man umgekehrt die Reduktion von Nitrokörpern vollständig hint- 


anhalten kann, wenn man den Zellen nur genügend viel gasförmi- 
gen Sauerstoff zuführt. Luftsauerstoff und Nitrosauerstoff kön- 
nen sich also im Gaswechsel der Zelle wechselseitig vertreten. 
Wie weitgehend diese Vertretung ist, konnte man an Froschsper- 
matozoen zeigen: Wird diesen nämlich der Sauerstoff entzogen, 
so werden sie allmählich unbeweglich, weil ja, wie Sie wohl wissen, 
ohne Atmung die Produktion der für das Leben notwendigen 






(4 
Dr 





SEN ae 


j2 Energiemengen aufhört. Fügt man nun, ehe der Tod eintritt, der 


Spermatozoenaufschwemmung gepulverte Nitrokörper bei Sauer- 
stoffabschluß zu, so setzt nach wenigen Minuten die Beweglichkeit 
wieder ein, die"Samenzellen schlagen wieder mit den Schwänzen, 


_ und bald tritt die charakteristische gelbe Farbe auf, die beweist, 


daß der Nitrokörper reduziert worden ist. 

Der Umstand, daß durch Benützung der sehr einfach zu hand- 
habenden Nitroreduktionsmethode umfangreiche Zellatmungs- 
messungen ohne komplizierte Apparatur und ohne Zeitaufwand 


möglich geworden sind, hat die Bearbeitung bereits mehrerer 


PETE VAR , ı 
. . 4 \ 


Probleme des Zellstoffwechsels ermöglicht. Die erste Hauptfrage 
war, ob die Zellnahrungsstoffe zu denselben Produkten abge- 


baut werden, wenn man den Zellen Nitrokörper zuführt, wie wenn 


_ man sie Sauerstoff atmen läßt. Die Analyse des Stoffwechsels der 
Muskelzellen führte zu dem Resultat, daß bei der Nitroatmung der 


Kohlehydratbestand der Zelle in viel größerem Umfange angegrif- 
fen wird als bei der Sauerstoffatmung, daß zwar gleichfalls Koh- 
lensäure produziert wird, daß aber die Menge dieses Stoffwechsel- 


 endproduktes weit hinter der normal produzierten Kohlensäure- 


menge zurückbleibt. Wir stehen hier einer Erscheinung gegen- 
über, die eine allgemein-physiologische Bedeutung zu besitzen 


scheint. Wissen wir doch, daß all die Zellen, welche ihre Lebens- 


energie nicht durch Atmung gewinnen sondern durch Gärung, also 
besonders der Spulwurm und die bei Luftabschluß gehaltene Hefe- 
zelle, einen ganz ähnlich verschwenderischen Haushalt führen wie 
die Nitro-atmende Muskelzelle: Verbrauch der vielfachen Nah- 


 _ rungsmenge und dabei ganz unvollständige Ausnützung durch Um- 
" wandlung in Kohlensäure, Wärme und Energie. 


Es sei erwähnt, daß diese Umstellung des Stoffwechsels 
der Muskelzelle von der ökonomischen Atmung zur verschwende- 
rischen Gärung bei Ersatz von Luftsauerstoff durch andere Was- 


serstoffakzeptoren unter Blausäurevergiftung vollständig zu 


werden scheint. Während man also bisher immer der Meinung 
war, daß die Blausäure alle Zelloxydationen aufhebt, hat man nur 
eine Herabsetzung und eine Modifizierung ihres Mechanismus an- 
zunehmen. 

Dadurch werden nun einige sehr auffallende Beobachtungen 
erklärbar, die z. T. schon seit Jahren bekannt sind. Wir wissen, 
daß ein aus dem Körper herausgeschnittenes mit Nährflüssigkeit 
durchströmtes Frosch- oder Säugetierherz viele Stunden lang 


— 2 — 


schlagend und lebendig erhalten werden kann; es hatte sich ge- 
zeigt, daß ein solches Herz trotz Vergiftung mit Blausäure in Men- 


stoffabschluß zu, so setzt nach wenigen Minuten die Beweglichkeit 


wieder ein, die Samenzellen schlagen wieder mit den Schwänzen, 





gen, die seine Atmung aufheben, seine Schlagfähigkeit, also seine 2 | 


mechanische Funktion, noch lange aufrecht erhält, während unter 
narkotisch wirkenden Giften, z. B. Chloroform, oder bei Entzieh- 


ung jeder Spur von Sauerstoff rasch Herzstillstand eintritt. Die 


Deutung, daß bei Blausäurevergiftung die Atmung zwar aufhört, 


aber gärungsartige Vorgänge für sie eintreten und die zum Leben 


nötige Energiemenge eine Zeit lang aufbringen, scheint diese inter- 
essante Bedürfnislosigkeit des Herzmuskels näher zu beleuchten, 


Eine zweite hierher gehörige Beobachtung am Skelettmuskel 2 ” 


des Frosches stammt von Hırr in England und ist ganz neuen Da- 


tums: Wenn man mittels sehr feiner Apparate und Thermometer 
die Wärmeproduktion des Muskels mißt, kann man ein plötzliches 


Steigen der Temperatur unmittelbar im Zusammenhang mit jeder 
Muskelzuckung feststellen; dieser Zuckungswärme folgt dann eine 
zweite langsamere Wärmeproduktion, die sog. Erholungswärme, 


die das Resultat der Muskelatmung, der Verbrennung von = 


Kohlehydrat in den ruhenden Muskelzellen, darstellt. Hırr fand 
nun vor einigen Monaten, daß diese Erholungswärmeproduktion 


weder durch vollständige Entziehung von Luftsauerstoff, noch 
durch Aufhebung der Atmung mittels Blausäure zu verhindern ist 
— verständlich, wenn man mit mir der Meinung ist, daß auch in 
der komplizierten Muskelzelle gärungsartige Vorgänge für Br : 


Atmung einspringen können. 


Demgemäß hat sich feststellen lassen, daß gärungsartige Voe-ln 
gänge gegen Cyankali viel unempfindlicher sind als die Zell- 
atmung: v, SCHRÖDER hat bereits beobachtet, daß der Spulwurm 


selbst in einer 3%igen Cyankalilösung mehrere Stunden lebt, und 
ich selbst überzeugte mich davon, daß der gärungsartige Stoff- 


wechsel der Spulwurmzellen sehr wenig durch Blausäure gehemmt 
wird, Ebenso ist bekannt, daß auch die Hefegärung erst durch 
höhere Blausäurekonzentration verlangsamt wird. So scheint mir, 
daß sich die verschiedenartigen Beobachtungen über die Wirkung 3 


der Blausäure einheitlich begreifen lassen. 


Aus diesem Beispiel geht hervor, wie sich beim Studium. der 
Zellatmung neuartige Einblicke gewinnen lassen in das Wesen von 


Giftwirkungen, die nun nicht auf Cyankali beschränkt bleiben. Ich 3 








SE: 


_ muß es mir versagen, hier all die Möglichkeiten zu nennen, die sich 








dem Forscher da aufdrängen, und möchte nur etwas näher auf 


einige Typen von für die Zelle nützlichen oder schädlichen Sub- 
 stanzen eingehen, die besonders wichtige Beobachtungen ergeben 
haben oder an deren Studium ich mich selbst beteiligt habe. 


Da sind die allgemeinen Narkotika zu nennen, von denen 


Äther, Chloroform und Alkohol besonders geläufig sind. 


O. WARBURG und andere Forscher haben in sehr bedeutsamen 
Untersuchungen das Wesen der Narkose weitgehend klären 
können, indem sie nicht mehr vorwiegend, wie es früher geschah, 
an ganzen Tieren, sondern eben an isolierten Zellen arbeiteten. So 
ließ sich zeigen, daß nicht nur mit Zentralnervensystem versehene 
Tiere narkotisiert werden können, sondern auch Einzelzellen: Blut- 


_ körperchen, Muskelzellen, ja auch tote Substrate wie Kohleauf- 
 schwemmung, die, mit Luft und Eiweißspaltprodukten geschüttelt, 
Sauerstoff verbraucht und CO, produziert, also atmet. 


Schon vorher hatte der Physiologe VERwoRNn die Theorie auf- 


‚gestellt, daß die narkotisch wirkenden Stoffe in besonderem 


Maße die Zellatmung behinderten und daß daher Narkose gleich- 
bedeutend sei mit Erstickung. JAQUEs LoEB in Amerika, WARBURG 
in Deutschland konnten diese Erstickungstheorie VERWORNS wider- 
legen, indem sie zeigten, daß z. B. die Furchung und Entwicklung 
des befruchteten Seeigeleis bereits bei Narkotikakonzentrationen 
gehemmt wird, bei denen seine Atmung noch kaum vermindert ist, 
daß also zwar die Zellatmung narkotisiert werden kann, daß aber 
Narkose ein viel weiterer Begriff ist als Erstickung. 

Man stellt sich heute unter Narkose eine lockere physikalisch- 
chemische Bindung der narkotischen Stoffe an die festen Teilchen 
der Zellen vor, — eine Adsorption, die den normalen Stoffaus- 
tausch zwischen Zelle und Blutflüssigkeit behindert, die den Stoff- 
wechsel der Zelle beeinträchtigt und allmählich auch die äußere 


Leistung der Zelle, z. B. ihre Fortbewegung, unmöglich macht. 
Ganz entsprechend wie die Zellatmung ist somit auch die Gärung 


narkotisierbar; die Narkose hört auf, wenn der narkotische Stoff 
beseitigt wird. 
Mit ganz anders gearteten Stoffen als den Narkoticis haben 


wir es nun bei den Desinfektionsmitteln zu tun, die bei der Wund- 


behandlung oder bei der Behandlung. von Infektionskrankheiten 
angewendet werden. Während die allgemeinen Narkotika auf die 
allerverschiedensten Zellen gleichartig und in ähnlicher Stärke 


SR RE 


wirken, liegt die Bedeutung der Desinfektionsmittel in der Tat- 5 
sache, daß sie die Bakterienzelle unverhältnismäßig viel stärker 
treffen als den Wirtsorganismus. Meine Untersuchungen haben er- 


geben, daß viele dieser bakterientötenden Stoffe ihre Wirkung 


einer Atmungslähmung der Bakterien verdanken und daß, e 
spezifischer ihre Wirkung ist, in umso verschiedenerem Maße de 
Atmung der Bakterien und der Körperzellen geschädigt wird. So 


hat man wiederum in der Atmungsmessung eine neue Methode ge- 


wonnen, um die Wirkungsstärke und den spezifischen Wirkungs- RE 
wert von Desinfektionsmitteln beurteilen zu können, und es hat 
sich bestätigt, was Tierexperimente schon gezeigt hatten, daß von 
den Chininderivaten MoRGEnroTH's das im Krieg als Wunddes- 
infizienz vielgebrauchte Vuzin höchste Desinfektionskraft mit 
relativ geringer Schädigung der Körperzellen verbindet — Grund ICH 
genug, an neu zu erprobende Desinfektionsmitteln auch mit der 


Methode der Atmungsmessung heranzugehen. 


Aber nicht nur die Wirkung körperfremder Gifte wurde gegen- = 


über der Zellatmung studiert, sondern auch die Wirkung von 


Stoffen, die im Organismus selbst sich finden und höchste Bedeu- 2; 
tung für die Regelung im Ablauf der normalen Stoffwechselvor- 


gänge besitzen. Von anorganischen Stoffen istdaas 
atmungsdämpfend das Calcium zu nennen, — als zellatmungs- 

steigernd vor allem das Phosphat, dessen Beteiligung am Koller 
hydratabbau durch Eingehen einer Zwischenverbindung mit Zucker = 
EumspEn als wesentlich.nachgewiesen hat, das aber auch an sich 


die Atmung von Muskelzellen, Darmschleimhaut u. s. w. verstärkt. = 
Noch erstaunlicher als die Wirkung anorganischer Stoffe st 


ne 


nun wegen der winzigen dabei in Betracht kommenden Mengen 
wirksamer Substanzen die Funktion der Hormone, d.h. der ins 
Blut ständig übergehenden Sekrete der sogenannten Blutdrüsen. 


Es ist seit langem bekannt, daß Wasserhaushalt, Stoffwechsel, 
Wachstum und Fortpflanzung aufs innigste verknüpft sind mit der 
Leistung dieser Drüsen: Schilddrüse, Pankreas, Nebenniere, 
Thymus, Geschlechtsdrüsen, Hypophyse; daß nach Entfernung ein- 
zelner solcher Drüsen schwerste Störungen eintreten, — denken Sie 
an die schwere Zuckererkrankung nach Entfernung des Pankreas, 
— daß aber umgekehrt bei Erhaltung auch nur einiger Zellinseln 
des betreffenden Organs oder selbst bei Zuführung von Extrakten 
aus den entsprechenden tierischen Drüsen die Störungen aus- 
bleiben, resp. zum Verschwinden gebracht werden. In letzter Zeit 











_ wurden durch Beobachtungen wiederum des Gaswechsels wesent- 
liche Fortschritte gemacht; zuerst wurde am ganzen Tier gefunden, 
daß z. B. Schilddrüsenpräparate den Gaswechsel steigern, und die 
Wirkung auf eine Beeinflussung des Nervensystems bezogen, 
schließlich aber ließ sich auch an isolierten Muskelzellen eine 
Atmungssteigerung durch Schilddrüsenextrakt oder Adrenalin, 
. eine Atmungsverminderung z. B. durch Pankreas- oder Thymus- 
'extrakte nachweisen. 

Welche außerordentliche Bedeutung die Zellatmung für Leben 
und Gesundheit besitzt, das ist in den letzten zwei Jahren durch 
_ Erforschung der Beriberikrankheit klar geworden, also jener 
Krankheit, die durch ausschließliche Ernährung mit geschältem 
Reis eintritt, und der noch vor kurzer Zeit in China und Japan un- 
zählige Menschen zum Opfer fielen. Die Beriberi, wahrscheinlich 
auch der Skorbut der Polarfahrer und manche Krankheitszustände 
an den Knochen, die sich bei uns während der Hungerblockade ge- 
zeigt haben, sind Avitaminosen, d. h. Stoffwechselkrankheiten, ver- 
ursacht durch Mangel an Vitaminen in der Nahrung. Mit die- 
sem Namen bezeichnet man seit C. Funk noch unbekannte aber 
lebenswichtige Stoffe, die in kleinsten Mengen besonders in pflanz- 
"licher Nahrung vorkommen. Von der Beriberi ist durch umfang- 
reiche Versuche an Tauben und Ratten festgestellt, daß sie mit 
einer starken Verminderung der Atmung aller Zellen einhergeht 
und daß beide, die Erkrankung wie die Atmungsverminderung, 
durch Zufuhr von vitaminhaltigen Hefepräparaten behoben wer- 
den kann. 

Die chemische Konstitution dieser zellatmungssteigernden in 
minimalen Mengen wirksamen Vitamine ist noch unbekannt; wie 
eng aber der Zusammenhang von ungenügender Zellatmung und 
Beriberi ist, geht daraus hervor, daß durch Tyramin, einer aus 
Eiweißsubstanzen darzustellenden Substanz, die Zellatmung von 
Muskelzellen stark beschleunigt wird und andererseits die 
Beriberisymptome für einige Zeit vermindert werden. 

Es ist vielleicht gelungen, uns in dem ungeheuer komplizier- 
ten System des Gesamtorganismus eine einfache, gemeinsame 
Funktion nutzbar zu machen, um an ihr als einem Leitseil schrei- 
tend, die verschiedensten Fragen anzugreifen: die Messung des 
 Sauerstoffbedürfnisses von Zellen und Geweben ist befähigt, 
Probleme des Stoffwechsels zu lösen und über die Wirkungsart 
von Arzneimitteln Licht zu verbreiten. 








SIEB ARE: 
Der Mensch und die Insekten 

von A. Seitz | > > 

re RE 

ER 

Es gibt zahllose Menschen — leider bei weitem die Ueber- a 
zahl —, die sich nur insofern um die Insekten kümmern, als sie sich Er 
zuweilen über sie ärgern. Die Insekten haben nun einmal ds 
Unglück, daß zu ihrer Sippe so ziemlich alles gehört, was wir a 
Ungeziefer nennen, und was nach Abzug der eigentlichen Insekten 
von diesem übrig bleibt, wie Spinnen, Skorpione und Tausendfüße, Q 
wird von Laien meist mit ihnen zusammengeworfen, weil es mt y 
ihnen verwandt ist. Hummern und Langusten, Krebse und Krabben, Ds 
die den Insekten ebenso nahe verwandt sind wie Skorpione nd 
Spinnen, werden schon weniger leicht zu ihnen gerechnet, denn ie T 
sind nützliche Tiere: Leckerbissen für Völker, die sich diesen Luxus 
gestatten können. Alle sind ja Arthropoden, Gliedertiere, und mit "R 


diesen bilden sie die arten- und individuenreichste Tiergruppe 
unserer Erde zu Wasser und zu Lande, und zwar seit einer Zeit ns = 
von vielen Jahrmillionen. ke 

Der Mensch ist undankbar gegen die Tall Er ärgert sich 
über jede Motte, die seinen Luxuspelz anfällt, jede Mücke, dein 
beim Einschlafen wach singt, jede Schabe, die ihm nur, ohne in 
zu stören, über den Weg läuft. Aber er bedenkt nicht, daß fast 2 
jede Blume, die am Wege lacht, jede Obstfrucht, die ihn labt und a 
jedes Stück Seidenzeug, das so fein aussieht, doch auch Erzeug- Re 
nisse von Insekten sind. 

Daran sollen ihn die nachfolgenden Zeilen erinnern, und wir 
wollen auf Grund dessen, was die Wissenschaft uns zeigt, gerecht 
sein. Wir wollen nichts verschweigen und nichts hinzusetzen, wie 


dies bei den Grundlagen für ein richterliches an jederzeit eob- 
achtet werden sollte. £5 

Wer hat wohl bei sich überlegt, daß die Beziehungen des ER 
Menschen zu der Insektenwelt älter sind als die Weltgeschichte? 3 


Wir meinen nicht die zweifellos richtige Annahme, daß schon der 
prähistorische Mensch von allerhand vorgeschichtlichem Ungeziefer 
gequält wurde, sondern wir haben die nachweisbare Tatsache im 
Auge, daß der Mensch an dem Zeitpunkt, wo er in die Geschichte 
eintrat, bereits Nutzen aus den Insekten oder deren Erzeugnissen 





3 zog. Das weitreichendste Geschichtswerk für Europa — die heilige 
Schrift des alten Testaments — beginnt mit Adam. Seinen Tod 


haben diejenigen, die in ihm nicht die Verkörperung des aus dem 


s Urleben in den Kulturzustand übergehenden Vorderasiaten, sondern 
_ eine geschichtliche Persönlichkeit erblicken, auf das Jahr 3053 vor 


unserer Zeitrechnung errechnet. Fast um das gleiche Jahr, nämlich 
auch vor 3000, berichten die Aufzeichnungen des chinesischen Rei- 


ches von Gesandtschaften aus dem tributären Schantung an den 


damals in Südchina residierenden Hof des himmlischen Reiches, 


die Erzeugnisse nordischer Seidenspinner überbrachten, damals 


allerdings weniger für seidene Gewebe, als für Angelschnüre und 
Guitarrensaiten bestimmt. Schon zur Zeit Abrahams, diese auf 


etwa 2200 v. Chr. gesetzt, erscheinen chinesische Würdenträger bei 


Hofe in Gewändern mit Seidenstickerei, die eine hohe Vervoll- 


'kommnung der Seidenindustrie voraussetzt. Schon damals wurden 


die aufgestickten Rangzeichen der Uniformen durch eine Kleider- 
ordnung geregelt. Auf den seidenen Staatsröcken finden wir 
Fasanen, Drachen, Berge und Sonnen in feinster Goldstickerei, und 
während im Abendlande außer den Ägyptern noch kein Volk aus 
dem sagenhaften Dunkel vorgeschichtlichen Hindämmerns hervor- 
getreten war, brachten in Ostasien schon Regierungen der Millionen- 
völker Gesetze zur Regelung der Seidenraupenzucht heraus. 


Das erste weltgeschichtliche Ereignis, das als erhärtet gelten 
darf, die Sintflut, zeigt uns den Menschen bereits in engem Zu- 
sammenhang mit dem Seidenspinner. Es gehört nicht hierher und 


ist für unsere Schlüsse auch gleichgültig, ob die mesopotamische 


Sintflut gleichzeitig mit der chinesischen war, die über die Tief- 
länder des damals schon dicht bevölkerten Reiches der Mitte 
hereinbrach. Daß diese Flut sich in so kurzer Zeit verlaufen konnte, 


wie dies die von der Bibel übernommene mesopotamische Sintflut- 
- sage meldet, ist nicht wahrscheinlich; in Südchina mußte sie eine 
-Unmenge kleiner und großer Sümpfe zurücklassen und während der 
_ ungemein starken Sommerregen, die dort fallen, zu zahlreichen, 


allmählich abflauenden Rückfällen führen. Infolgedessen getraute 
sich das durch wiederholtes Austreten der Flüsse und Moräste ins 
innere Hochland gescheuchte Volk nicht wieder nach seinen 
früheren Wohnstätten in die Ebene. Der hervorragend tüchtige 
Kaiser, der damals in China regierte, Yäu mit Namen, gab seinem 
Landwirtschaftsminister Kwan-Tao den Auftrag, die Völker wieder 


in ihre alten Wohnsitze zurückzuführen. Kwan aber war diesem 


schwierigen Auftrage nicht gewachsen. Überall waren von der 


Sintflut versumpfte Wasser zurückgeblieben; alles war von einer 


dickichtartigen Wuchervegetation bedeckt. Wilde Tiere, besonders 
Tiger und Schlangen, hatten furchtbar überhand genommen und 
nur ein Verwaltungsgenie ersten Ranges konnte die Verbesserung 
des Landes und die Rückkehr seiner verängstigten Bewohner 


durchsetzen. Ein solches Kraftgenie fand sich in Kwans Sohn Yu 
(um 2200 v. Chr.). 2 

Yu begann seine Arbeit mit Anlegung eines vielverzweigten 
Kanalnetzes, womit er dem Festlande wieder die nötige Sicherheit RN 


verschaffte. Die Regulierung der Flüsse, deren ständiges Über- 


treten das Feld für den Getreidebau ungeeignet machte, betrieb er 
mit größtem Eifer und Erfolg. Er erkannte, daß der entwässerte 
Boden für die Maulbeerkultur ganz besonders geeignet sei und ; 
griff mit den Vorbereitungen zur Verallgemeinerung der Seiden- 


raupenzucht energisch ein, und wenn wir den chinesischen Ge- 
schichtswerken glauben wollen, so gelang es besonders durch dieses 
Mittel, die furchtbaren Verwüstungen, die die Hochwasser noch 
fortdauernd anrichteten, allmählich zu beschränken. 


Seitdem hat sich der Seidenbau in Asien mehr und mehr ver- 
breitet. Die Chinesen waren ängstlich bedacht, das Monopol der 


Raupenzucht sich zu erhalten und die Ausfuhr von Zuchtmaterial 


war bei Todesstrafe verboten. Die Seidenausfuhr bildete eine stän- 
dige Einnahmequelle für das himmlische Reich und das Erzeugnis 


des Insekts lieferte auch den ersten Anlaß für das Abendland, sich 


mit dem Heimatland der Seide und dessen Bewohnern zu befassen. 
Den Zwischenhandel, der den fernen Osten mit dem nahen 

Orient verband, besorgten die Inder und Parther. Aber im Norden 

dieser waren es Völker des heutigen Buchara und Tibets, die dem 


Seidenhandel Glück und Wohlstand verdankten. Es entstanden 


ganze Reiche im Innern Asiens, deren gesamter Bestand auf dem 


Seidenhandel aufgebaut war, so z. B. das Land Khotan. Zahllose 


Karawanen durchzogen diese Länder und wie ein Ameisenzug 


ergoß sich ein stets wimmelnder Strom von Händlern von Osten 


nach Westen, von China nach Persien, von wo die letztere zum 


Handel ungemein befähigte Nation den ganzen Verbrauch der 
damals aufblühenden Mittelmeerländer zu decken wußte. Schon 


in Phönizien kam die Kunst der Färberei — das Volk hat daher 
seinen Namen — in Schwung und durch zahlreiche Kolonien 


erhielten die phönizischen Handelsprodukte weiteste Verbreitung. 












ES 


Zur Kaiserzeit war der Verbrauch an Seide in Rom derart ge- 


‚stiegen, daß den Chinesen ein so mächtiges Volk von größter Kauf- 
kraft im fernen Westen nicht verborgen bleiben konnte, Es war nun 


erklärlich, daß Rom und China bestrebt waren, zusammenzukom- 
men; aber die Zwischenvölker wußten sie mit größter Zähigkeit 
auseinander zu halten. Die Römer holten sich bei den Persern 
immer und immer wieder blutige Köpfe; trotz unaufhörlicher An- 
strengungen konnten sie das Land nicht erobern. Und die Chinesen, 
die das gleiche Ziel auf friedlichem Wege versuchten, kamen auch 
nicht weiter, obwohl sie Gesandtschaft -auf Gesandtschaft nach 
Westen schickten. Mit großer Verschlagenheit wußten die Völker 
zwischen beiden Riesenreichen stets das Gelingen der Fühlung- 
nahme und der Annäherungsversuche zu vereiteln. Immer fand 


sich ein Vorwand, den chinesischen Abgesandten die Durchreise zu 


verleiden, und als garnichts mehr fruchten wollte, erzählten die 
persischen und syrischen Händler den Chinesen tolle Märchen von 
der Unduldsamkeit und Grausamkeit der Bewohner Europas, die 


- für fremde Eindringlinge nur Mord und Folter kennten, sodaß die 


verängstigten Gesandten schleunigst zurückreisten und ihrem Kaiser 
ven den Erfolgen ihrer Sendung etwas vorlogen. 


Aber mit welcher Sorgfalt die Chinesen auch das Geheimnis 


‚der Raupenzucht hüteten, ein kluger Mädchenkopf fand doch Mittel 


und Wege, die Grenzwächter zu täuschen. Eine chinesische Prin- 
zessin heiratete einen Herrscher von Khotan in Buchara und führte 


sich als sorgende Landesmutter in ihr neues Heimatland ein, indem 


sie Seidenspinner ihre Eier in Blumenkelche legen ließ, die sie sich 
als Schmuck ins Haar steckte. Von da an blühte in Buchara die 
Seidenzucht auf und seine Bewohner wurden aus Zwischenhändlern 
Erzeuger. 


Schon von Alters her hatte in Griechenland ein anderes Insekt 
zur Seidenzucht gedient, ein riesiger Spinner mit dem Namen 
Pachypasa otus. Aristoteles schon gibt uns eine etwas verworrene 
Beschreibung des Tieres, das noch heute in Südosteuropa vielerorts 
nicht selten ist; seine riesenhafte Raupe zeichnet sich durch dichte, 
stellenweise struppige Behaarung und zwei große, rote Kragen 
hinter dem Kopfe aus. Aus ihrem sehr schön sifberweißen Seiden- 
faden wurden besonders lange, weiche und sehr durchscheinende 
Gewänder gewoben, die vornehmlich von Tänzerinnen getragen 
wurden. Aber diese Erzeugnisse der Pachypasa wurden sehr 
schnell von der Maulbeerspinnerseide verdrängt, als deren Her- 


stellung im nahen Orient begann. Wir sehen hier, wie die Geschichte = 
eines Insekts abermals in die Geschicke der Menschen eingreift und 
in der Seide ein Welthandelsprodukt. derartig verlegt, daß dessen 


Hauptstapelplätze von Ost- und Innerasien nach Vorderasien wan- 


dern. Die Perser eigneten sich alsbald die Seidenerzeugung in einem : = 


Maße an, daß sie den Chinesen gewaltige Konkurrenz machten 


und Assvrien sowie Syrien, später auch Thrazien, gelangten zu = 


Handelsbedeutung und Reichtum. 


Das Christentum gab bei seinem Aufblühen der Seiden- “a 


industrie einen weiteren Aufschwung. Die christliche Kirche ent- 
faltete, nachdem sie zur Macht gekommen war, einen großen Luxus 


in den liturgischen Gewändern, deren verfeinerter Geschmack auch 


der gesamten Kunst eine neue und, von einzelnen Anklängen an 


heidnische Gebräuche abgesehen, ganz originelle Richtung gab. Von 


der Kirche kam die Seide auf die Straße und gerade das Mittel- 


alter brachte eine Ausbreitung und Verallgemeinerung des Tragens 
von Seidenkleidern, gegen die späterhin selbst Päpsie Ver u 


eiferten., 


Schon Justinianus hatte (um 555 n. Chr.) auf Mittel gesonnen, x | 


für das byzantinische Reich die Selbsterzeugung von Seide einzu- 


führen, und als sich zwei persische Mönche zur Beschaffung von : 
Zuchtmaterial erboten, ergriff er sofort die Gelegenheit und in 


der bekannten Weise (in hohlen Stöcken) wurden ihm Eier der 


Maulbeerspinner zugeschmuggelt. Nicht lange danach sehen wir, 
wie der Brennpunkt der Seidenindustrie sich nach Byzanz ver- 

‘ schiebt, das bald der Stapelplatz für Seidenwaren für das ganze 
Abendland wurde und während der Machtperiode des christlichen & 


byzantinischen Reiches auch blieb. 
Gerade war eine drückende, ebenso gierige wie törichte Steuer 


politik, welche das Seidenhandwerk auszusaugen trachtete, im 
Begriffe, ihren vernichtenden Einfluß geltend zu machen (die 


Seidenzüchter wanderten scharenweise aus dem Bannkreis ost- 
römischer Steuervampyre aus), als die islamitische Bewegung ein- 
setzte und für die Seide eine neue Aera begann. 

Mit der gleichen unwiderstehlichen Wucht, mit der der 
arabisch-türkische Eroberungszug die morschen Reiche Vorder- 


asiens und Südosteuropas über den Haufen warf, verbreitete sich 


auch die arabische Kulturwelle, dem Schwerte folgend, über das 
gesamte Mittelmeergebiet. Die Seidenindustrie war dem Moslem 
wie auf den Leib geschnitten! Farbenpracht und Wandelbarkeit 





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21 — 


von Mustern, stoffreiche Gewänder, Pracht in Trachten und Heim- 
schmuck von märchenhafter Schönheit fanden in der Seide so recht 
den geeigneten Stoff, in denen die orientalische Phantasie sich aus- 
wirken konnte. Höchster Luxus in Polstern, Kissen, Teppichen, 
Schleiern, Fächern u. s. w. bildete den Untergrund, auf dem die 
Heim- und Haremsarbeit von Gattinnen, Sklavinnen und Odalisken 
die herrlichsten Blüten treiben konnte. Das Heim der Osmanin 
ist auch ihre Welt. Sich und ihren Hintergrund für ihren Gatten 
und Herrn zu schmücken, bildet für Millionen orientalischer, intel- 
ligenter Frauenköpfe das A und O im Erfinden und Denken. Und 
auch der Orientale selbst hat weit mehr Verständnis für Kleidungs- 
und Dekorationskunst, als irgend ein anderes Volk der Erde. Das 
Handwerk steht bei ihm in den höchsten Ehren und das Tüfteln, 
Sticken, Verzieren, Färben und Weben, alles was nicht im hetzenden 
Akkord und nicht mit körperlicher Schwerarbeit verbunden 
ist und eigentlich mehr eine Beschäftigung darstellt als anstren- 
- gende Arbeit, das liegt dem Orientalen ganz besonders. Darin ist 
er auch erfinderisch und tüchtig, darin wird er Meister. So sehen 
wir denn wiederum eine Verschiebung des Schwergewichts des 
Handels: Bagdad, Mossul, Basra, Damaskus, Smyrna usw. werden 
die Ausgangspunkte von Seidenhandel und -industrie für die 
Gesamtzeit der Vorherrschaft arabischer Kultur. 


Längst ist die Seidenraupe Allgemeingut der Menschheit 
geworden. Wo ihre Zucht rentiert, wird der Seidenbau betrieben; 
im Orient überall, wo die früheren Verhältnisse andauern, im 
Abendland, da, wo anspruchslose Lohnbedingungen und klimatische 
Möglichkeiten die Ausgaben so tief halten, daß ein Wettbewerb 
mit den billig arbeitenden Ostasiaten gewagt werden kann. Ein 
Optimum für die Seidenzucht geht von Japan und Ostchina in bald 
breiterem, bald schmälerem Streifen über Turkestan, Kurdistan, 
Iran durch Mesopotamien, Anatolien, N. Syrien, die Balkanhalb- 
insel über die nördliche Adria hinüber durch Istrien, Oberitalien 
und das südliche Frankreich, Von Österreich, der Schweiz und 
vielleicht dem südlichen Deutschland kommen nur noch gewisse 
Lagen in Betracht; eine ausgedehnte Seidenzucht als Landes- 

industrie ist hier nicht mehr denkbar: die Auslagen sind zu hoch, 
das Risiko zu groß, der Gewinn zu bescheiden. Ob die grundstür- 
zenden Umwälzungen, die der Weltkrieg in Bedeutung und Bedarf 
der europäischen Länder verursacht hat, hierin Wandel schaffen, 
muß erst abgewartet werden. 


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So tief wie der Maulbeerspinner hat wohl kein anderes Insekt Bo: 


in die Schicksale der Menschen und Völker eingegriffen. Aber an 
Alter der Beziehungen kommt ihm ein zweites Insekt nahe: die 
Honigbiene. 





Lange, ehe man diese zum Haustier gemacht hatte, war der 


wilde Honig eine beliebte Speise. Schon die ursprünglichsten 
Völker sind auf diese nahrhafte Speise recht versessen und wir 
finden bei scheinbar schwerfälligen Jäger- und Hirtenvölkern schon 
beachtenswerte Fertigkeit im Ausfindigmachen wilder Bienennester. 
Ihre Ausbeutung wird vielfach dadurch erleichtert, daß viele wilde 
Bienen nicht stechen können, und beim Aufsuchen kommen dem 


Menschen mitunter Tiere zu Hilfe. Im heißen Afrika gibt es eine 


Vogelgattung, die Honigkuckucke (Indicator), deren Angehörige 


dem Menschen die Bienennester zeigen. Die Vögel suchen began- 


gene Wege auf und lenken durch auffälliges Benehmen, wie Purzel- 


bäume und Schreien, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden 


auf sich. Folgt man ihnen, so führen sie den Menschen an die 


Baumlöcher, die den Eingang zu Bienenwohnungen darstellen. 


Beim Ausnehmen wählen die Menschen den Honig, während der 


Vogel sich an den weggeworfenen Waben vergnügt, aus denen er 
die Maden und Puppen herauspickt; es wird also gewissermaßen 
„Halbpart” gemacht. 


Schon immer hatte ich mich gewundert, daß die „Hakarets”, 


wie man in Afrika diese Honigkuckucke nennt, auch in gänzlich 
unbewohnten Gegenden vorkommen. Wer verhilft ihnen hier zu 


den Waben, die sie doch nicht selbst auszuheben im Stande sind? | 


Der Mensch ist nicht ihr einziger Bundesgenosse — oder soll 
man sagen Spießgeselle? — bei dem Raub an den fleißigen 
Insekten. Es gibt auch Tiere, die sich mit dem Honig der Honig- 


biene begnügen und großmütig die Waben, die nicht für jedermanns 


Geschmack eine Delikatesse sind, dem ehrlichen Finder zurück- 


erstatten. In vielen Gegenden Afrikas vertritt der Honigdachs 


(Melivora ratel) den Menschen und ganz gewiß kommen in Gegen- 
den, wo diese Tierart fehlt, auch noch andere Säugetiere in 
Betracht. Lange, ehe ich diese symbiotischen Beziehungen der 
Honigdachse kannte, war mir deren eigentümliche Veranlagung 
zur Zähmung aufgefallen. Von Haus aus ein eigensinniger, bissiger 
und recht unverträglicher Geselle, wird das Tier alsbald nach der 
Gefangennahme nicht nur zahm, sondern direkt gemütlich; es will 
immer spielen, läuft jedem nach, der sich mit ihm einläßt und ist 





freigebig mit Liebkosungen und Anhänglichkeitsbezeugungen. Aber 
mitten im Spiel beißt es plötzlich, fängt ärgerlich an zu knurren 
_ oder rennt ohne jede Veranlassung unvermittelt davon und rollt 
sich in einer Ecke zusammen, wenn es nicht seinen seitherigen 
Partner über einem neuen Spielobjekt vergißt und nach ihm beißt, 
wenn ihm der neue Gespiele im Augenblick mehr Vergnügen macht. 


Daß Bären und manche Angehörige des Mardergeschlechts 
dem wilden Honig nachgehen, ist bekannt. Wie sollte da nicht der 
Mensch selbst in seinen primitivsten Uranfängen auf den wilden 
Honig verfallen sein und gelernt haben, die Bienennester zu plün- 
dern? Honig ist schon des darin so reich enthaltenen Zuckers 
wegen ein vorzügliches Nährmittel und (abgesehen von Fällen mit 
Giftbeimischungen) durchaus gesund. Von der Fliege bis zum 
Elefanten sind fast sämtliche Landtiere außerordentlich versessen 
auf den Honig und zahllose Insekten, aber auch Vögel wie die Nec- 
tariniiden und Kolibris, können ganz ausschließlich davon leben. 


Als Heil- und Kräftigungsmittel wird der Honig heutzutage in 


Kulturländern noch viel zu wenig gewürdigt und die Geschichte 
zeigt uns, daß, je weiter zurück in der Kulturgeschichte, je größer 
die Rolle war, die der Honig im Leben des Menschen spielte. 


Aber auch als Haustier reicht die Verwendung der Biene bis 
- in die fernste Kindheit des Menschengeschlechts zurück. In Abusir, 
zwischen Kairo und Memphis, hat man Reliefs und Zeichnungen 
gefunden, wonach schon um das lahr 2600 vor unserer Zeitrechnung 
die Bienenstände im alten Ägypten ganz ähnlichen Bau hatten 
wie noch heute in jener Gegend. L. ArmBrUSTER hat in seiner Schrift 
„Bienenzucht vor 5000 Jahren‘ die mit Hieroglyphen versehenen 
Abbildungen altägyptischer Ausgrabungen erklärt und gezeigt, wie 
geläufig schon in jener fernen Geschichtsperiode die Aufstellung, 
Behandlung und Ausbeutung der Bienenvölker nach noch heute 
gültigen Regeln und Methoden der Menschheit gewesen ist. Ja, 
man kann sagen, daß vor Erfindung der Zuckerbereitung, als noch 
alles mit Honig gesüßt werden mußte, dieser von unendlich 
größerer Wichtigkeit war als heute, wo mancherlei Ersatzstoffe ihn 
gänzlich verdrängt haben. Wir sehen z. B. auf dem mit Ne-user-re 
(die Jahreszeiten) bezeichneten ägyptischen Bilde (etwa um 2500 
v. Chr.), wie die Bienen angeräuchert, der Honig gesammelt, 
gepreßt, verschlossen und versiegelt wurde. Zur Zeit Mosis wurde 
den Israeliten das Land verheißen, wo es „Milch und Honig‘ gab. 
Ganz willkürlich hat man diese Worte als eine Umschreibung für 


üppige Fruchtbarkeit gedeutet, "während sie wohl ganz wörtlich 
genommen werden müssen und damit einen Beweis liefern, daß 
neben dem allerwichtigsten Nahrungsmittel, der Milch, es der Honig 
ist, der an erster Stelle genannt zu werden verdient, als wichtigstes 
Erzeugnis für die nach langer ng es geeignete Wohnplätze 


ersehnenden Israeliten. 


Zuckerhaltige Stoffe pflegen in Gärung überzugehen, wobei 
der Zucker sich in Alkohol und Kohlensäure spaltet. Fast alle 





Völker verstehen es, aus Honig berauschende Getränke zu bereiten, 
und den Alkohol lieben alle Geschöpfe, fast ohne Ausnahme. Schon 


Ameisen lecken ihn in gewissen Formen gierig, und Schmetterlinge 


betrinken sich an gärenden Stoffen, daß sie nicht mehr gerade zu 


fliegen vermögen und dann förmlich in der Luft herumtaumeln. 


Der ‚Admiral‘ genannte schöne Schmetterling, Pyrameis atalanta, * 
betrinkt sich an Most so vollständig, daß man ihn an den Flügeln 


ergreifen, aufnehmen und wieder hinsetzen kann; er fliegt dann 
nicht weg, sondern trinkt sofort weiter, wenn man seinen Rüssel 


wieder mit dem gärenden Naß in Berührung bringt. Die Schmetter- 


lingssammler. bedienen sich nicht nur gern honigreicher Gemische 


zum Anlocken der Schmetterlinge, sie pflegen auch deren durch 
Alkohol gehobene Stimmung auszunutzen. So wird heutzutage viel 
die Zucht der Raupen aus den Schmetterlingseiern betrieben, die 
von den Weibchen an die Futterpflanze gelegt wurden. Besonders 


beliebt ist der Fang von Ordensband-Weibchen (Catocala), .die 


man Eier legen läßt, um ohne langes Suchen in den Besitz größerer 


Raupenmengen zu kommen). Aber manche Weibchen legen ihre 
Eier in den engen Behältern des Züchters nicht gern ab; werden 
sie aber mit gegorenem Honig betrunken gemacht, so liefern sie — 
so behaupten die Praktiker — ohne langes Zureden ihren ganzen 


Eiervorrat aus und der Fang eines einzigen Weibchens am Honig- 
anstrich bringt den Sammler so in den Besitz reichen Zucht- 


materials. 


Am eifrigsten dürfte die Honigerzeugung in Mitteleuropa. im 


Mittelalter betrieben worden sein, ja sie scheint damals, wenn auch 
nicht theoretisch, so doch praktisch auf höherer Stufe gestanden zu 


haben, als vielerorts heutzutage. Heiden und Steppen lieferten dafür 


geeignetes Gelände und reichere Tracht an Blüten, als wirtschaftlich 


1) In den Anzeigenteilen der Fachzeitschriften, wie z. B. in der „Insekten- 
börse”, bildet das Angebot von Eiern der verschiedenen Ordensband-Arten 
fast eine stehende Rubrik. 


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bis in jeden Winkel ausgebautes Ackerland und rationell aufgefor- 
stete Wälder. Wie auch in manchen anderen Fällen, wird vielleicht 
in nicht allzuferner Zeit der Mensch sich Kunsterzeugnissen zur 
Süßung seiner Speisen zuwenden und sich von der Biene als 
Haustier trennen, die ihn so treulich in der Kindheitszeit des 
Menschengeschlechtes begleitet hat. 


Von den lebenswichtigen Verwendungsweisen der Insekten- 
‚erzeugnisse zu den gelegentlichen übergehend, möchte ich hier der 
Cochenille Erwähnung tun. Bis zur Erfindung der Anilinfarben 
war sie ein beliebtes Färbemittel und besonders, waren es Speisen, 
Konditorwaren, Kompot und dergl., denen man mit ihr eine Farbe 
gab, die schon durch das schöne, man darf getrost sagen, appetit- 
liche Aussehen die Lust zum Genuß anregte. Daß es ein recht wenig 
appetitliches, blattlausartiges Insekt, Coccus cacti, war, mit dessen 
Saft die Speisen getränkt waren, hat sich der Tischgast wohl in 
den seltensten Fällen klar gemacht, wenn er sich an den in reizend- 
stem Purpur prangenden Fruchtspeisen und Puddingen ergötzte. 
Der Verbrauch an Cochenille war früher recht beträchtlich; große 
Landstrecken in Mexiko und Mittelamerika waren ganz vom 
Coccus-Bau in Anspruch genommen und mit der Nährpflanze, der 
Opuntia, bestanden. Die Kanarischen Inseln führten pro Jahr noch 
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für etwa 15 Mil- 
lionen Mark (Goldmark natürlich!) von diesem Erzeugnis aus. Als 
ich Ende der achtziger Jahre zum ersten Male diese Inseln 
besuchte, war gerade die Kultur in schnellster Abnahme begriffen. 
Überall hatte man die Kakteenfelder für andere Erzeugnisse umge- 
arbeitet; da aber die Opuntia ein Gewächs ist, das sich nicht so 
leicht umbringen läßt, stiegen allerorts aus den nachlässig gerei- 
nigten Saatfeldern ihre stachligen, grünen Scheibenstämme in die 
Höhe und auch ohne Zutun des Menschen pflanzte sich die Coche- 
‚nille-Laus lustig fort. Die Weibchen dieses Tieres sind so saftreich, 
daß ich mit einer einzigen, am Kaktus zerquetschten Laus, in deren 
Saft ich den Pinsel tauchte, eine vollständige Landschaftflskizze, 
das Hafengebiet von Santa-Cruz auf Teneriffa darstellend, in mein 
Buch malen konnte. 


Schon damals war die Erzeugung von Farbstoff, der mehr und 
mehr nur da noch zur Verwendung kommt, wo die unbedingte Ge- 
sundheitsunschädlichkeit eine Bedingung abgibt, auf Teneriffa auf 
wenige hunderttausend Kilo herabgesunken und seine geringe 
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Teerfarben läßt diese Art der 


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Insektenzucht in vielen Ländern, besonders in Nordafrika, zusam- 
menschrumpfen und stellenweise ganz aufhören. Ich lernte damals 
eine ganze Menge Leute auf den Kanaren kennen, die ich nachher 
in Argentinien wiedersah; sie hatten beim Aufhören ihrer bisherigen 
Betriebe die Auswanderung der Umwandlung ihrer gewohnten 
Farmwirtschaft vorgezogen. 

Fuchsin und Kunsthonig als Vernichter menschlicher Insekten- 


zuchten bilden nur eine Stufe in einem Vorgang, der sich bereits 


seit mehreren Jahrhunderten vollzieht und darin endet, daß künst- 
liche Erzeugnisse anstelle der natürlichen treten. Vom Altertum 
bis ins Mittelalter — und gerade hier am meisten — hatte sich die 
Vorstellung erhalten, alles was Gott wachsen lasse, sei dem Men- 


schen zuliebe da: es mußte, so glaubte man, irgend eine Beziehung 
zum Menschen haben. Alle Pflanzen hatten ihren Zweck, und da 


die Erde nur des Menschen willen geschaffen war, nahm man von 
jeder Pflanze an, daß sie Nährmittel oder Gift, Schatten oder 
Schutz gebend, Zierrat oder Holzspenderin sei. Wo eine solche 


Eigenschaft nicht zutage trat, hielt man sie nur für noch unent- 


deckt, zweifelte aber nicht daran, daß sie eines Tages sich 


ausweisen müsse. Was man von den Pflanzen annahm, galt ebenso 


auch für die Tiere und man muß oft lachen, wenn man in mittel- . BSH, 


alterlichen Zoologien die Nachschriften liest, die als Nutzanwen- 
dungen den jeweiligen Tierbeschreibungen angehängt sind. Von der 
Schnauzenspitze bis zur Schwanzquaste hatte fast jeder Teil des 
Tierkörpers eine praktische — meist heilwirkende — Bedeutung und 
damit das unfehlbare Mittel bei ausbleibendem Erfolg nicht in 
Mißkredit geriet, war seine Anwendung noch mit Beschwörungs- 
formeln oder uranischen Bedingungen verbunden, in deren 


ungenauer Befolgung dann der Fehler stecken mußte, wenn die 


Kur nichts half. „Des Helephanten Koth geräuchert und ange- 
schmiert verjägt Läus, Flöch und andere uberlegene Thier.” — 
Hirschorn und Helfenbein mischen Etliche wider die Würm' und 
was derartige Quacksalbereien mehr sind. Reste davon haben sich 
in schwachen Spuren bis in unser Jahrhundert gerettet. Die Ele- 


phantenlaus, bekanntlich die harmlose Frucht von Anacardium, 


habe ich selbst noch, wenn ich Apotheker vertrat, verabreicht und 


durch die streng heterosexuelle Verteilung, die den Glauben an 


das Amulett stärken sollte, vielleicht manchmal mehr Erfolge 
erzielt, als mit altbewährten Heilmitteln?). 


2) Die Elefantenläuse gelten bekanntlich, je nach der Gestalt der Frucht, 
als Männchen und Weibchen; an kranke Frauen verteilt man nur Männchen 
und umgekehrt. 


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 Jahrzehntelang hat sich die Arzneimittellehre nur damit 
beschäftigt, solche vielfach lediglich auf Aberglauben beruhenden 
Heilmittel aus der „Pharmakopö' auszumerzen. Aber ein Insekt 
ist stehengeblieben, und es will mir scheinen, daß der Zeitpunkt, 
wo seine Verwendung eine Vernachlässigung erfuhr, überschritten 
ist, Es ist die „Spanische Fliege‘. 

Der Stadtarzt, der lediglich das Publikum unter Händen hat, 
das sich nur in moderner Kleidung auf den Straßen der Stadt 
bewegt, hat weniger mit den „Zugpflastern” zu tun. Die stets gut 
geschützte Haut der verwöhnten Stadtkinder wird durch leichte 
Reize wie Umschläge, Massage, Temperatur und Kataplasmen schon 
genügend gereizt, um den erstrebten Einfluß auf den Blutkreislauf 
auszuüben. In der Bauern-, Schiffer- und Soldatenpraxis aber, 
noch mehr bei fremden als bei der weißen Rasse, kommt man ohne 
„Vesikatorien‘ nicht durch und der Erfolg ist oft staunenerregend. 
Früher gehörten die Spanischen Fliegenpflaster in jede Haus- 
apotheke und man sollte bei Auslandsreisen in Gegenden, wo eine 
„Pharmacie‘' oder „Dispensary‘' nicht zur Hand ist, nicht versäumen, 
sich einen genügenden Vorrat an Vesikatorien mitzunehmen. Schon 
ihre diagnostische Verwendung kann von Wert sein und war es 
in einem mir begegneten Falle ganz besonders, wo ein Indianer ohne 


- erkennbare Ursache plötzlich umgefallen war. Seine Sippe wollte 


durchaus nicht an seinen Tod glauben und ich wäre vielleicht noch 
lange unnütz mit dem Anstellen von Wiederbelebungsversuchen 
gequält worden, wenn es mir nicht gelungen wäre, die Leute von 
der unumstößlichen Wahrheit zu überzeugen, daß ein Mensch, auf 
dessen Haut eine Spanische Fliege nicht mehr zieht, notwendig 
mausetot sein muß. 


_ Die kriminelle Bedeutung der Spanischen Fliege tritt, wie die 
aller Toxine, neuerdings immer mehr in den Hintergrund, Im alten 
Rom, wo besonders zur Kaiserzeit die Giftmischerei als echt orien- 
talische Kunst eingeschleppt wurde und sich mächtig im Volke 
ausbreitete, scheint die Anwendung der Canthariden — wie die 
Spanischen Fliegen mit ihrem wissenschaftlichen Namen heißen — 


innerlich im Wesentlichen als Aphrodisiakum im Schwange gewesen 


zu sein. Auch das spätere „Italienische Elixir'' enthält als wirk- 
samen Bestandteil ein Cantharidenpräparat; ebenso werden in den 
„Diavolini” zerstoßene Canthariden vermutet. Die „Pastilles 
Galantes’‘ wurden mehr für Männer verwendet, um die gesunkene 


Manneskraft zu heben, wogegen den Frauen zur Erleichterung der 


IN REEE 





Verführung schärfere Präparate gereicht wurden. Unzweifelhaft 


erfolgt auf den Genuß von Canthariden in jeder Form eine heftige = 


Reizung der gesamten Ausführungswege des Körpers, vor allem der 
Harnorgane, die sich, wie leicht denkbar, zunächst durch hoch- 


gradige Erregungszustände einleitet. Bei ganz unvernünftig hoher ® 


Verabfolgung geht diese wohl so schnell in schwere entzündliche 
Zustände über, daß der Erregungszustand alsbald durch Symptome 
von Blutharnen und akuter Nierenentzündung verdunkelt wird, 
welch letztere dann in die chronische Brightsche Krankheit über- 
gehen. Von jeher wurden alle Fälle von innerer Cantharidenver- 
abreichung von den Gerichten recht schwer gewertet und in vielen 
Fällen, wo solche Verführungstränke, sog. „Philtra”, zum Tode 
der Opfer führten, konnte man im Darminhalt, selbst mit unbewaff- 
netem Auge, die kleinen, goldgrünglänzenden Splitterchen vom 
Rückenschild und den Flügeldecken der Käfer nachweisen. Es 
geht schon aus der Stellungnahme der Rechtsprechung gegen diese 
Mißbräuche hervor, daß selbst den Alten die Gefährlichkeit des 
Mittels wohl bekannt war; so lange aber das Sklaventum blühte, 
mag das Insekt häufig genug zum Kirren widerspenstiger Sklavin- 
nen verwandt worden sein, mochte das Opfer auch, nachdem es den 
erwünschten Zwecken gedient hatte, elend hinsiechen. 


Ein Insekt, das vielleicht eine noch wichtigere Rolle in der Er 


Medizin spielt, ist die Ameise. Die Ameisensäure ist von einer 
ganz unbestreitbaren, sehr energischen Einwirkung auf den mensch- 
lichen Körper. Das Einatmen der Luft durch ein im Ameisennest 
gewälztes und dadurch getränktes Taschentuch wirkt bei Ermüdung _ 
nach Wandern in schwüler Sommerhitze sofort belebend, etwa wie 
ein Atemzug ins Freie bei stark überhitztem Zimmer. Die Ameisen- 
säure wird als Ameisenspiritus (natürlicher durch Ertränken der 
Ameisen in Spiritus) im Wesentlichen äußerlich angewandt. Er 
hat in gelindem Grade die Wirkung der Canthariden, aber der 
durch ihn verursachte Hautreiz steigert sich nicht bis zum Blasen- 
ziehen. Seine Wirksamkeit als sog. „Hautstärkungsmittel” ist 
allbekannt. In früherer Zeit, wo. die Ansicht, der Krankheitsteufel 
könne nur auf schmerzendem Wege ausgetrieben werden, noch all- 
gemein bestand, band man Leute vorübergehend in Ameisenhaufen 
und ließ sie von dem bissigen Ungeziefer mißhandeln; ein Vorgang, 
der mit großer Vorsicht überwacht werden mußte, denn bei zu 
langer Dauer wurde diese Eisenbartsche Kur lebensgefährlich. Man 
kam natürlich später ganz von ihr ab, aber vielleicht wäre eine 


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etwas menschlichere Anwendung beim Einbringen der Ameisen- 


äure ins Blut doch recht vielfach von Wert, und zwar besonders 


in verzweifelten Fällen schwerer Gicht. Ein Admiral versicherte 
_ mir, durch Trinken (!) von Ameisenspiritus sich völlig von quälen- 
der Gicht befreit zu haben, und eigne Erfahrung läßt mir das als 
nicht zu unwahrscheinlich erscheinen. Zeigt sich die Gicht doch 
besonders bei Personen, die nach langem Aufenthalt in den Tropen, 
wo die Moskitos für eine beständige Schwängerung des Bluts mit 
ameisensäureartigen Stoffen sorgen, in kalte Gegenden mit 
geschützten Wohnräumen verziehen. Es ist ja natürlich das Nächst- 
liegende, diese Neigung zu gichtischen Erscheinungen den Ver- 
änderungen der Temperatur und der sonstigen Lebensverhältnisse 
zuzuschreiben; ich glaube aber beobachtet zu haben, daß Personen, 
die aus kühleren, aber moskitoreichen Gegenden (z. B. Amerika) 
in milde, aber mückenarme Gegenden Europas übersiedeln, gleich- 
falls Erscheinungen der Anreicherung harnsaurer Stoffe aufweisen. 
Daß die Gicht als Stoffwechselstörung nicht durch Blutmischungs- 
änderungen beeinflußt werden könne, dürfte so leicht nicht zu 
erweisen sein. 

Wer nicht gerade die Ungeschicklichkeit hat, sich versehentlich 
in einem Ameisennest niederzulassen, wird ja von Insekten dieser 
Tiergruppe nur auf Wunsch gebissen. Anders ist es mit der Schar 
der Plagegeister, die sich von unserm Blut nähren, von denen ich 
soeben die Moskitos, die Stechmücken, erwähnt habe, 


Der Einfluß dieser Blutsauger kann garnicht kraß genüg 
geschildert werden. Ganze Landstriche sind ständig oder vorüber- 
gehend durch sie unbewohnbar gemacht. Selbst wenn wir die Fälle, 
in denen sie durch Übertragung Krankheiten verbreiten, zunächst 
ausscheiden, so ist doch ihre Respektlosigkeit gegenüber den Herren 
der Schöpfung häufig genug ausreichend, um uns das Leben zu 
verleiden. In Amerika besonders fand ich Gegenden, von denen 
man mit Fug behaupten kann, daß die Quälgeister Mensch und Tier 
zur Verzweiflung bringen können, indem sie Tag und Nacht keine 
Ruhe geben. Sie können Wochen hindurch nächtliche Schlaflosig- 
keit verursachen, durch die selbst ein kräftiger Organismus in seiner 
Gesundheit erschüttert wird. Wer jemals das zweifelhafte Ver- 
$nügen gehabt hat, bei einem Jagdausflug im heißen Südamerika 
und im indianischen Kanu auf einem der kleinen Creeks über- 
nachten zu müssen, weiß ein Lied davon zu singen. In Wolken 
nahen sich die giftstacheligen Peiniger und jede Abwehr gegen sie 

I) 


STD 


‘ ist unmöglich; setzt man sich doch bei jeder ungeduldigen Hand- 
bewegung der Gefahr aus, daß sie das schmale Fahrzeug zum 
Kentern bringt, und ein Bad in dem zwar nicht kalten, aber recht 
krokodilreichen Wasser stört die Nachtruhe noch empfindlicher, 


als die Schnakenstiche. 


Wer eine solche Nacht durchlebt hat, sieht am nächsten € 
Morgen aus, als hätten die Pocken ihn befallen. Alle die tausend 


Pustelchen und Pöckchen fließen zu bald größeren, bald kleineren 





. Sternbildern zusammen. Warum, so fragt sich mancher, stechen 


denn eigentlich diese Blutsauger und warum tun sie nicht nur das, 


sondern vergiften noch dazu die verursachte Wunde durch Ein- 
spritzen ihres Speichels, der eine sofortige Entzündung erregt? 


Die Antwort auf die Frage ist einfach. Die stechende Mücke 
senkt ihre Rüsselspitze in das System von haardünnen Aederchen 


in der Unterhautzellschicht, in denen der Blutstrom, ihrer Enge 
wegen, mit geringer Geschwindigkeit kreist. In einem vollen Zuge 


wird die Blutmenge weggesogen, die sich gerade an der gestechenen 
Stelle befindet, und die Mücke müßte jetzt, mit eingezwängtem 
Saugstachel, untätig ihre gefahrvolle Stellung behaupten, bis lang- 


sam neues Blüt heransickerte, wenn nicht der eingespritzte, säure- 
haltige Speichel sofort eine Entzündung der Bißstelle verursachte. 
Die Entzündung aber bedingt als erstes Moment ein mächtiges Zu- 
sammenströmen des Blutes aus den benachbarten Geweben nach 
der verletzten Stelle; dem Trinker wird auf diese Weise ständig 


„Irisch eingeschenkt” und in- vollen Zügen saugt er das Blut auch 


da aus der angestochenen Haut, wo größere Blutgefäße I 
nicht verlaufen, 


So kann man deutlich erkennen, wie in denkbar kurzer Zeit 


das Insekt gesättigt und dadurch veranlaßt wird, seine durch die 
Rache des gestochenen Wesens gefährdete Stellung aufzugeben. 
Aber wir fragen uns mit Recht, ist denn diese Stellung für den 
Stecher so gefährlich? 


Ohne Zweifel ist sie dies in vielen Fällen. Zwar dürfen wir von. 


Menschen absehen, denn, wie ich gleich zeigen werde, ist er nur 


Gelegenheitsbeute, nur Lückenbüßer, während die regelmäßigen 


Opfer aller stechenden Insekten unter anderen Warmblütern zu 


suchen sind. Aber man beobachte nur einen Hund, der nach den an 


lästigen Stomoxys-Fliegen schnappt. Meistens schnappt er ja 


daneben, aber oft genug belehrt uns ein zufriedenes Schmatzen, 
daß er sein Opfer erreicht hat. Wie oft die großen Viehbremsen 





- i ne = 


von den Kuh- und Pferdeschwänzen, den an den Bauch geschlagenen 
Füßen oder den schnell hintupfenden Schnauzen sich wehrender 
Vierfüßer getroffen werden, das zeigen uns die an jedem von 
Schlacht- und Zugvieh begangenen Wege tot oder verletzt im 
Geleise liegenden Bremsenkörper. Vor allem die Affen! Sie fangen 
die Stechmücken nicht von der Seite, wie die Menschenhand, 
sondern sie fassen sie mit geradem Griff mit solcher Geschwindig- 
keit der Bewegung, daß auch nicht eines der Opfer entkommt. Also 
gefährlich ist das Handwerk der blutsaugenden Insekten immerhin. 


Aber doch ist vorgesorgt, daß die Gefahr des Erwischtwerdens 
nicht so groß ist, daß eine bedrohliche Ausrottung der Art dadurch 


_ möglich würde. Die meisten Stechmücken arbeiten unter einer 


gewissen Sicherung: das ist ihr Flugton. Wer an Sommerabenden 
beobachtet, in welcher Weise der Stich einer Stechmücke vor sich 
geht, nimmt wahr, wie sie sich unter einem deutlich singenden Flug- 
ton ihrem Opfer ziemlich langsam nähert. Dieser Ton ist die Probe 
darauf, ob das Opfer fest genug schläft oder unaufmerksam genug 
ist, um dem Attentäter ungefährlich zu sein. Schläft das Opfer 
noch nicht, so folgt unweigerlich eine Abwehrbewegung, worauf die 
Mücke sich vorsichtig, aber keineswegs übereilt zurückzieht; nicht 
weit, nur ein oder zwei Meter schwebt sie zurück, oft kaum außer 
Hörweite, wo sie sich still an die Wand oder auf den Boden setzt. 
Hier wartet sie geduldig eine, zwei, drei Viertelstunden, dann 
wiederholt sie den Versuch. Daß eine der Abwehrbewegungen sie 
schädigt, läuft sie im nächtlichen Dunkel kaum Gefahr; der Mensch 
wohl lauert ihr auf und vernichtet sie vielleicht durch wohlgezielten 
Schlag; die Tiere aber, die gewöhnlichen Opfer, wehren nur durch 
ziellose Bewegungen ab. Antwortet das Opfertier nicht mehr auf 


‚den Sington, so ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Blutsauger 


sich unbesorgt sättigen kann; wer den oft nicht lauten Sington der 
Mücke überhören kann, der fühlt auch nicht mehr den Stich des 
vorsichtig sich einsenkenden Saugers. 

Warum saugen aber so zahlreiche Insekten Blut? Warum sind 
manche Arten so sehr auf die Lebenssäfte ihrer Mitgeschöpfe ange- 
wiesen, während wir doch oft in ihren allernächsten Verwandten 
für die Möglichkeit Beispiele sehen, sich von Blumensäften ehrlich 
zu ernähren, noch dazu unter Leistung einer nützlichen Arbeit, der 
Blütenbestäubung? 

Ja, warum? Wieviel ist schon über diese Frage philosophiert 
worden! Zur Zeit, wo es noch keine privilegierten Naturforscher 


gab, die alles erklären zu müssen glauben, halfen sich die Völker 
sehr einfach. Man denke an die ägyptischen Plagen. Die Menschen 


haben den lieben Gott geärgert, darauf hat er sie wieder geärgert 
und ließ Mücken aus dem Staub sich entwickeln, die über die bösen 
Menschen herfielen und sie bestraften. Die Erklärung ist zweifel- 


los richtig; gestraft sind die Menschen mit dem Ungeziefer, aber 


dem Verständnis der Grundfrage kommen wir damit nicht näher. 
Fassen wir die Sachen anders an. 


Welche Insekten stechen denn? Zunächst die, die sich gegen 


ihre Feinde verteidigen. Das geschieht mit dem W ehrstachel: Die 
Biene, die Hummel, die Schmarotzerameise usw. stechen empfind- 


lich, sobald man sie ungeschickt anfaßt. Raubinsekten stechen, um 


ihre Beute zu töten oder zu betäuben, so die meisten Wespen; sie 


führen einen Mordstachel. Der Bienenwolf (Philanthus), die 


Wegwespe (Pompilus) ergreifen ihre Beute und lähmen sie durch 
einen raschen Stich, um sie zu vergraben und als Vorrat für ihre 
Brut aufzuheben. Die Schlupfwespen stechen ihren Stachel in die 
Opfertiere, um in ihm ein Ei in den Körper des Wirtstieres gleiten 
zu lassen: eine Legestachel. Als letzte Gattung kommt dazu der 
Nährstachel, wie ihn die Mordfliegen (Asilidae), die‘ Wasser- 
wanzen (Notonectidae), die Raubwanzen (Reduviidae) und eine 
Menge Insekten benützten, die, sonst mit Vorliebe Pflanzenkost 
genießend, gelegentlich ihren starken Rüssel auch einmal in ein 
Nachbartier tauchen, das ihnen beim Blütenbesuch unversehens 
nahe kommt; so viele kleinere Wanzenarten. Manche Insekten 
gebrauchen den spitzen Rüssel in doppelter Tätigkeit: so der 
Rückenschwimmer (Notonecta glauca), der mit seinem dicken aber 
spitzen Sauger für gewöhnlich Kaulquappen anbohrt, beim Anfassen 
aber recht empfindlich sticht. 


Von diesem Mordstachel ist es nur ein Schritt zu der Verwen- 
dung, die der Rüssel der Stechmücke für gewöhnlich findet. Statt 
in andere Insekten taucht das Tier den Stachel in den Körper von 
Wirbeltieren. Blut ist die durch den Tierkörper bereits in funk- 
tionsbereiten Körpersaft umgewandelte Pflanzennahrung. Wir 
sehen hier ein Vorstadium des Außenschmarotzertums (Ektopara- 
sitismus), wie wir ihn z. B. bei den blutsaugenden Fledermäusen 
(zu denen übrigens, nebenbei bemerkt, die verschrienen echten 
Vampyre nicht gehören) selbst bei höheren Tieren finden. Zahl- 
reiche Säugetiere, die das Wild überfallen, wie Marder, Katzen, 
Schleichkatzen, saugen auch fast ausschließlich Blut, wenn sie ohne 








zu große Anstrengung leicht Opfer in genügender Anzahl finden. 
Der tasmanische Teufel (Sarcophilus ursinus), ein Beuteltier, soll 
ıwitunter ganzen Schafherden die Hälse durchbeißen und, wenn er 
das Blut der Schlagader in großen Zügen genossen hat, alsbald ein 
neues Opfer anfallen. Blut hat auch für geschwächte Organismen 
der Raubtiere eine außerordentliche Wiederbelebungskraft. Ge- 
_ gewisse unter der Gefangenschaft schwer leidende kleine Raubtier- 
arten (Wildkatzen, Schleichkatzen, Stinktiere, Edelmarder usw.) 
zeigen sich wie verjüngt, wenn man ihnen warmes Blut frisch 
geschlachteter Säugetiere vorsetzt. Es gelang mir mitunter, solche 
bereits ganz verschwächte, struppig und stumpfsinnig gewordene, 
kleine Raubtiere wieder glatt, beweglich und munter zu machen. 


Daraus kann man schließen, daß auch bei solchen Tieren, die 
nicht auf Blutnahrung angewiesen sind, diese doch eine äußerst 
fördernde Wirkung ausübt. So erklärt es sich, daß auch, wenn der 
- Beweis erbracht ist, daß Stechmücken auch ohne Blutnahrung — 
denn es kommen bei weitem nicht alle zu solcher — alle Lebens- 
funktionen erfüllen können, doch die Stechgelegenheit auf Gene- 
rationen hin der Art Nutzen bringt. Dieser Nutzen ist augenschein- 
- lich größer als der Schaden, der der Art für ihre Frechheit durch 
so manches Opfer selbst zugefügt wird. 

Nun wäre der Schaden noch zu tragen, der uns aus Insekten- 
stichen erwächst, wenn nicht auf diesem Wege so zahlreiche lebens- 
gefährliche Krankheiten in den Körper des Opfers eingeschleppt 
würden. Über die Schlafkrankheit als Folge des Glossina-Stiches, 
das gelbe Fieber als Stichwirkung von Stegomyia, die Pest, vom 
Floh übertragen, ist schon soviel, z. T. auch in diesen Berichten, 
geschrieben worden, daß hier nur daran erinnert zu werden 
braucht; aber das sei hier hervorgehoben, daß unsere Kenntnis der 
durch Insektenstiche übertragenen Krankheiten erst am Anfang 
unseres Forschens steht und bei ihrem weiteren Ausbau noch 
manch überraschendes Ergebnis zeitigen wird. 

Zu dem leiblichen kommt der Sachschaden. Was die zahl- 
reichen Schädlinge, deren Aufzählung allein einen stattlichen Band 
füllen würde, im Jahr die Menschheit kosten, sei es durch den 
angerichteten Schaden, sei es durch die Unkosten der Vertilgungs- 
kriege, kann auch nicht annähernd in Ziffern ausgedrückt werden. 
Die „Mottenpulver‘ allein bilden einen der schwunghaftesten Ver- 
kaufsgegenstände unserer Drogerien, und was trotzdem an Ver- 
lusten durch Pelz- und Wollstoffbeschädigungen jährlich zu buchen 


. 


BR 





ist, belief sich schon bei Friedenspreisen auf Milliarden. In ae 


manchen Betrieben vermögen Insektenplagen zu den grundstür- 
zendsten Umwälzungen zu führen. Bestimmte Kulturgewächse kön- 
nen infolge von Insektenschäden in weiten Länderstrecken nicht 
gebaut werden. Die schweren Verluste durch die Reblaus (Phyl- 
loxera) sind uns aus der nächsten Umgebung bekannt und die 
Gefahren, die uns gelegentlich der Einschleppung der Colorado- 
Käfer und der kalifornischen Schildlaus gedroht haben, lagen den 


Interessenten lange Zeit hindurch schwer auf dem Gemüt. 


Da ist es denn eine angenehm berührende Ausnahme, wenn die 
Manna-Zikade (Cicada orni) durch ihren Stich an Eschen das 
sogenannte Tränen- oder Tropfenmanna erzeugt, von dem eine 
zeitlang geglaubt wurde, daß der Manna-Regen der israelitischen 
Geschichte damit zusammenhängen könnte und das tatsächlich 
genießbar, von eigenartigem Geschmacke ist. Auch der Stich von 
Gallwespen (Cynipidae) trägt zur Bildung von Pflanzengallen von 
— früher mehr als heute — anerkannter Bedeutung bei. Vor allem 
aber sind die Feigenwespen zu erwähnen, deren Tätigkeit die Rei- 
fung genießbarer‘' Früchte bei dem Ficus-Arten erst ermöglicht. 


Wirklich hat man in Amerika die Probe darauf gemacht und sich FR 


überzeugen können, daß erst die Einfuhr des. befruchtenden 
"Insektes die Obstzucht bei dieser Pflanzengattung möglich macht. 


Leider ist die Zahl der die Früchte alljährlich schädigenden 
Insekten so zahlreich, daß wir uns ein Eingehen auf Einzelheiten 
hier versagen müssen. Nachdem ich jahrzehntelang für die An- 
stellung von sog. „Feldentomologen‘ eingetreten war, hat sich 
neuerdings die „Gesellschaft für angewandte Entomologie” gebil- 
det, in der Fachzoologen sich ganz der Schädlingsbekämpfung wid- 
men, Stationen unterhalten und bei jedem gemeldeten Massenauf- 
treten Kommissionen entsendet werden, die die erforderlichen 


Maßregeln ausfindig machen und die Bekämpfung in die Wege 


leiten sollen. 


Alle die seither beschriebenen Fälle stellen solche dar, wo die R 


Insekten in unmittelbare Beziehungen zu den Menschen oder deren 
Besitz treten, Aber wir können schließlich mit Recht behaupten, daß 
ihr wichtigerer Einfluß derjenige ist, den sie auf die Gestaltung 
des Antlitzes der Erde ausüben. Viele Insekten, besonders aus den 
Ordnungen der Haut-, Schuppen- und Zweiflügler, sind die eigent- 
lichen Bestäuber der Blüten und stehen zur Pflanzenwelt in einer 
direkten Wechselbeziehung. Für dieInsekten sondert die Blüte 


RE To 


den Honig ab, für die Insekten strömt sie ihren Duft aus, für 
die Insekten entfaltet sie ihre bunten, oft herrlich schönen 
"Blumenblätter. Das Verhältnis zwischen Blüte und Insekt ist mit- 
_ unter ein derart inniges, daß man ohne Übertreibung beide als 
für einander geschaffen bezeichnen kann. Die Dämmerungsfalter, 
wie die Nachtkerzen-, Kiefer- oder Wolfsmilchschwärmer, begin- . 
nen abends beim Einbrechen der Dunkelheit zu schwärmen, Wenige 
Minuten bevor sie sich aus ihren Tagesverstecken erheben, öffnet 
die Nachtkerze ihre zarte, gelbgepuderte Blüte, deren Staub der 
‚alsbald sie besuchende Falter auf die nächste Blüte überträgt. Vor 
Bienen, Hummeln oder anderen Insekten hat die Pflanze ihre 
Blüte geschlossen gehalten; sie will nur den Schmetterling als 
Liebesboten annehmen. Zu ganz merkwürdigen Gestaltsab- 
weichungen hat das Verhältnis geführt, das die Canna-Blüte mit 
dem Schmetterling Calpodes ethlius in Amerika verbindet. ' Der 
Honig dieser Blume liegt am Grunde eines so tiefen Blütenkelches, 
daß kein größeres mit geeignetem Rüssel versehenes Insekt ihn zu 
erreichen imstande ist. Vom Laube der Pflanze aber nährt sich ein 
nur wenige cm spannender Falter, der einen Saugrüssel von einer 
Länge führt, welche die des ganzen Insektes erheblich übertrifft. 
Dadurch aber vermag das Tier die Blüte zu befruchten und seiner 
am Cannablatt nagenden Raupe für die nötige Nahrung zu sorgen. 
Wie wenig diese für den Bestäubungsvorgang unmäfßig verlängerte 
Saugpumpe dem Insekt selbst paßt, kann man an der Puppe sehen, 
der für gewöhnlich der Sauger an der Bauchseite anzuliegen pflegt, 
hier aber, seiner übermäßigen Länge wegen, als hohler Spieß über 
daß Körperende der Schmetterlingspuppe hinaussteht. Aehnliche 
Wechselbeziehung besteht zwischen der gleichfalls mit langem 
Röhrenkelch versehenen Bananenblüte und dem nach seinem 
ungewöhnlich langen Sauger benannten Thracides longirostris. 
Er ist das einzige Insekt, und neben einem ebenso unmäßig lang- 
schnäbligen Kolibri das einzige Tier, das ich in den Kelchen der 
Banane Honig holen sah. Ob er aber die Bestäubung auch tatsäch- 
lich erreicht, ist mir trotzdem ungewiß, denn auch in den Gegenden, 
wo diese Falter vorkommen (Ostbrasilien), habe ich niemals eine 
Bananenfrucht mit Kernen gefunden. 


Die meisten Blüten bedürfen der Insekten, wenn auch gewöhn- 
lich nicht ganz bestimmter Arten, zur Reifung samenhaltiger 
Früchte. Zur Anlockung der Näscher hat sich die Blüte ausgebildet 


und es ist darum von vornherein unwahrscheinlich, daß die 





Insekten, wenigstens insoweit sie als Bestäuber in Betracht kommen, 


farbenblind sind. Daß gewisse Tagfalter einen sehr scharf ent- 
wickelten und selbst für feine Abtönungen empfindlichen Farben- 
sinn haben, glaube ich 1912 in Oxford durch Schilderung meiner 


Experimente nachgewiesen zu haben‘), und trotz aller gegenteiligen 
Behauptungen halte ich weder die gänzliche, noch die teilweise 
Farbenblindheit der Bienen für erwiesen. In ihrer Gesamtheit sind 





die höheren Insekten keinesfalls farbenblind; ihr Sinn für luch- 


tende und bunte Färbungen hat im Gegenteil schon auf dem Wege 
der Auslese kräftigst mitgeholfen, die Farbenpracht der Blumen 
zu entwickeln, und diese wiederum hat zurückgewirkt auf die 
Färbung der befruchtenden Insekten selbst, die nunmehr, in ihrer 


Empfindung von der Wirkung leuchtender Farben abhängig, auch 


ihrerseits in den herrlichen bunten und goldenen Kleidern erschei- 


nen, die wir an den Taginsekten, vor allen den Schmetterlingen, 


wahrnehmen. Gäbe es keine Blumeninsekten, so darf man mit 
Fug annehmen, daß die gesamte Pflanzenwelt der Erde ein eintönig 
grünes oder fahles Aussehen hätte, daß unsere Erde ihres herr- 
lichsten Schmuckes, der Blumen, entbehrte. 


Also auch der herzerquickende Anblick blühender Wälder, 


Wiesen und Raine, muß den Insekten verdankt werden, und wer 
Freude an Blumen hat, wie wir sie sogar bei ursprünglichen Völkern 
finden, beim Kulturmenschen aber als ein hoch zu schätzendes 
Zeichen gesunder Geistes- und Gemütsentwicklung stets anerkennen, 


der wird zugeben müssen, daß trotz Plagegeistern und Schädlingen 
der Mensch Grund genug hat, der Schöpfung für das Hervorbringen 


von Insekten zu danken, 








#) How .do insects see the world, II, Internat. Entomol. Congr., Verhandl. 
S, 116. 


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Was Du ererbt von Deinen Dätern haft, 
Erwirb es, um es zu befigen! 


Das Erbe unserer Väter ist die Idee Senckenberg. 


Sie gaben dem Museum, das sie aus eigener Kraft schufen, 
den Namen des weitblickenden Arztes, weil sie fühlten: Er wollte 
das gleiche, was wir wollen, Kulturträger und Schöpfer für die 
Allgemeinheit sein. Die Idee umfaßt das Museum, unsere Zeit- 
schriften, die Bibliothek und unsere drei .Universitätsinstitute als 


sichtbare Zeichen, alle in besseren Zeiten gegründet und jetzt 


in Gefahr, dem Kampf um's Dasein zu erliegen. Für sie sorgen wir 
zunächst. Wir wollen das Erbe unserer Väter neu erkämpfen und 
für unsere Enkel retten. Aber: 


Ist die Idee Senckenberg nicht mehr? 


Umfaßt sie nicht vor Allem das, was jedem Einzelnen von uns 
unter den täglichen Sorgen verloren zu gehen droht? Ist sie nicht 
die Verkörperung des Gedankens an das Zurückstellen der eigenen 
Person zu Gunsten der Gesamtheit? Mahnt sie uns nicht, trotz 
aller Bedrückung in gemeinsamer Arbeit unsere deutsche Kultur 
zu retten? 

Frankfurt hat im Senckenberg-Museum ein einzigartiges stolzes 
Denkmal von Gemeinsinn und Heimatliebe. Keine Stadt der Erde 
besitzt ein großes Museum, das wie das unsere ohne staatliche 
und städtische Hilfe nur und allein aus der freiwilligen Mitarbeit 
der Bürgerschaft hervorgegangen ist. Es ist das freie Erbe freier 
Bürger, und frei wird es bleiben, wenn alle helfen! 

Not bringt Sorge, aber sie bringt auch Kampf — — und Kampf 
stählt. Das Museum mahnt: Eure Väter schufen mich in schwerer 
Zeit, erkämpft mich neu in schwerster Bedrückung! 








BR. 


Mitteilungen der Verwaltung 


Die Direktion für das Jahr 1922/23 setzt sich aus folgenden 
Herren zusammen: f 


Geh. Rat Dr. E. Roediger, Il. Direktor; Dr. A. Jassoy, I. Direkkae: 


Prof. Dr. E. Goldschmid, I. Schriftführer; Adolf Melber, I. Schrift- 


führer; W. Melber und Oscar F. Oppenheimer, Kassierer; Justizrat 
Dr. H. Günther, Konsulent. 


In der letzten Zeit hat die Gesellschaft den Verlust einer größeren Zahl 


ihrer Mitglieder zu beklagen, unter denen besonders erwähnt seien: unser außer- 
ordentliches Ehrenmitglied Eduard von Grunelius, die korrespondieren- 
den Mitglieder Prof. Dr. A. Bail-Danzig, C. Bangert-Kopenhagen, Dr. J. 
Dewitz-Metz, Prof. Dr. W. Kükenthal-Berlin und Oberforstmeister A. 
Möller-Eberswalde, ferner unser arbeitendes Mitglied Landesökonomierat 
August Siebert. 

Zu korrespondierenden Mitgliedern wurden neu ernannt 63 
Commerell-Höfen, Carlos Müller-Mexiko und Dr. H. A, Pilsbry- 
Philadelphia, zuarbeitenden Mitgliedern Exzellenz Kundt, Char- 
les Roediger und August Zeiss, zur Mitarbeiterin Fräulein 
Emma Prior. 

Geheimrat Dr. A. von Weinberg wurde in Anbetracht der großen 
Verdienste, die er sich in schwerster Zeit um das Museum erworben hat, zum 
außerordentlichen Ehrenmitglied ernannt. Die. Eiserne Me- 
daille der Gesellschaft wurde verliehen an Frau Isaak Blum, die Witwe 
des hochverehrten Mannes, der in früheren Jahren mehrfach 1, Direktor der 
Gesellschaft war, an Friedrich Buschmann-Stockport, Carlos Faust 
und Martin Marten-Barcelona, sowie G. W. Wirsing-Staudt. 

Die Gesellschaft verfügt über eine Anzahl Vermächtnisse, deren 
Zinsen dazu bestimmt sind, hervorragende Arbeiten auf den verschiedenen Ge- 
bieten der Naturwissenschaften durch Preise auszuzeichnen, Da in der Gegen- 


wart die Zinserträgnisse zu gering sind, um irgendeine Rolle zu spielen, so hat 


sie beschlossen, die Verteilung einstweilen einzustellen, | 
Die Finanzlage der Gesellschaft ist seit dem Erscheinen des 
vorigen Berichtes leider nicht besser ‚geworden. Sie leidet mit der ganzen 


deutschen Wissenschaft unter der furchtbaren Lage, in der sich Deutschland be- 


findet. Aber sie verzweifelt nicht, zumal von allen Seiten immer und immer 
wieder Hilfe kommt. Was die Frankfurter Bürgerschaft in diesen bitteren Jahren 
geleistet hat und sicher auch weiter leisten wird, wird allezeit ein Ruhmesblatt 
in der Geschichte unserer Stadt bleiben und gewiß auch aufmunternd auf 
andere wirken, denen die Verzweiflung die Arme zu lähmen droht. Der 
Magistrat der Stadt Frankfurt ist uns auch 1922 mit einem größeren Betrage 
zu Hilfe gekommen und wird, daran zweifeln wir nicht, das gleiche auch in 
diesem Jahre tun, soweit die gespannte finanzielle Lage der Stadt es zuläßt. 
Viele unserer Mitglieder haben ihre Jahresbeiträge außerordentlich stark erhöht; 
besonders erwähnt seien unser bewährter Freund Hermann Weil, . die 
Deutsche Gold- und Silberscheide-Anstalt, H, A. und M, Rothschild, 
Oscar F. Oppenheimer und die Papierfabrik Schaeuffelen in Heil- 
bronn, Die Gesellschaft ist allen, die ihr in der Not zu Hilfe gekommen sind, 





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zu wärmstem Danke verpflichtet, denn sie weiß wohl, daß mancher, der mit 
einem kleineren Betrage dem Senckenbergmuseum helfen wollte, in der Gegen- 
wart selbst schwer zu kämpfen hat. Viele Gönner wollen ihre Namen aus ver- 
schiedenen Gründen nicht genannt haben — sie Alle sollen aber der Dankbarkeit 
der Gesel'schalt versichert sein. 

Von Vermächtnissen sind zu erwähnen das von W. Manskopf 
in Höhe von 10000 Mark, und ein Geschenk der Hinterbliebenen von Frau 
Maximiliane Lucius in Höhe von 30000 Mark. Wenn diese Vermächt- 
nisse in der Gegenwart auch nur einen kleinen Betrag darstellen, so begrüßen 
wir sie doch dankbar als ein Zeichen des Interesses und hoffen, daß sie dereinst 


- unseren Enkeln zu Gute kommen werden. 


Die Fortsetzung der wissenschaftlichen Veröffentlichun- 
gen der Gesellschaft („Abhandlungen und „Senckenbergiana”), deren Bedeu- 
tung für die Senckenbergische Bibliothek und damit für die Möglichkeit wissen- 
schaftlichen Arbeitens in’ Frankfurt garnicht überschätzt werden kann, war nur 
dadurch möglich, daß die Firma Leopold Cassella & Co., Prof. Dr. Hugo 
Merton-Heidelberg und die Notgemeinschaft der Deutschen Wissen- 
schaft große Beträge zur Verfügung stellten. Wie außerordentlich groß der Wert 
unserer Veröffentlichungen für die Aufrechterhaltung und Ausdehnung des 
‚Tauschverkehrs mit ausländischen Gesellschaften ist, deren Publikationen 
mit unserer deutschen Währung nicht mehr erworben werden können, geht daraus 
hervor, daß im Tausch gegen unsere Zeitschriften nicht weniger als 482 natur- 
wissenschaftliche Zeitschriften aus dem Auslande erworben wurden. 

Der „Bericht” unserer Gesellschaft, der seit über hundert 
Jahren unseren Mitgliedern kostenfrei geliefert wurde, verschlingt bei der ge- 
spannten Finanzlage der Gesellschaft so gewaltige Summen für Papier und 
Druck, daß er auf eine neue finanzielle Grundlage gestellt werden mußte. Daher 
hat die Generalversammlung am 9, Mai einstimmig beschlossen, daß die Liefe- 
zung des Berichts von einer besonderen Zahlung abhängig gemacht werden soll, 
‘ die für das Jahr 1923 mit mindestens 2000 Mark festgesetzt worden ist. Für 
diejenigen Mitglieder, die den Bericht nicht mehr zu beziehen wünschen, wird 
die Gesellschaft ihn in allen Bibliotheken und Schulen von Frankfurt und Um- 
gegend auflegen, wo sie ihn kostenlos einsehen können. Sie hofft, bald wieder 
in der Lage zu sein, zu der früheren Gepflogenheit zurückzukehren und dankt 
bei dieser Gelegenheit besonders Geheimrat Dr. A. von Weinberg, der ihr 
in der schwierigsten Zeit wiederholt zu Hilfe gekommen ist. Auch von anderer 
Seite ist die Herausgabe des Berichts gefördert worden; die Frankfurter 
Sozietätsdruckerei hat den Satz und Druck der neuen Mitglieder, deren Namen 
“in Heft 3 und 4 erscheinen werden, kostenlos übernommen und die Firma M. 
 Ellern-Forchheim (Bayern) schenkte das dazu nötige Papier, bei dessen Be- 
'schaffung uns außerdem M. J. Oppenheimer und R. V.Berkholz finan- 
ziell unterstützten. Ferner haben Gebrüder Klingspor in Offenbach die 
Klischees für Bericht und Senckenbergiana zu Vorzugspreisen für uns ange- 
fertigt. Die Redaktion des Generalanzeigers übernahm den Druck des Sommer- 
programms. Und endlich ist uns die Firma Werner u. Winter G.m.b.H,, 
bei der jetzt sämtliche Veröffentlichungen unserer Gesellschaft erscheinen, bei 
der Preisstellung derart entgegengekommen, daß das Erscheinen unserer Zeit- 
schriften, das in Frage gestellt war, auch ferner möglich ist. 


Die Vorträge des Winterhalbjahres und die regelmäßigen Nok-- 


lesungen unserer Dozenten waren sehr stark besucht, oft bis zur Grenze des ver- 


fügbaren Raumes, ja bei manchen Vorträgen sogar darüber hinaus, sodaß ge- 
legentlich ergänzende Vorträge und Führungen im Lichthof des Museums für 


diejenigen Mitglieder stattfanden, die keinen Platz mehr finden konnten, Noch 


stärker war der Besuch der Sonntagsveranstaltungen im Schumanntheater, das en 
für viele Tausende von Wißbegierigen Platz bietet und trotzdem jedesmal 
bis fast an die Grenze gefüllt war. Diese Tatsache beweist am besten, wie 
außerordentlich groß das Interesse der Frankfurter Bevölkerung an zusammen- 


fassenden Darstellungen über einzelne Gebiete der Naturwissenschaften ist. 


Aus Frankfurt sind seit jeher zahlreiche Naturwissenschaftler hervorgegangen, = 


die uns oft mitgeteilt haben, daß in den Vorlesungen unserer Gesellschaft der 
Grund für ihre späteren Forschungen und Erfolge gelegt worden ist. 
Ein besonderes Interesse besteht gerade in der Gegenwart darin, daß 








einzelne Naturdenkmäler in ihrer alten Schönheit und ihrer natüricen 


Form erhalten werden. Die Gesellschaft hat sich mit dem Offenbacher Verein 
für Naturkunde für die Erhaltung des Hengster durch eine gemeinsame Ein- 


gabe an das hessische Ministerium eingesetzt, 
Unsere Jugend, die von ihren Lehrern auf das trefflichste beraten 
ist, hat auf unsere Bitte stets eingegriffen, wo sie helfen konnte, Sie hat nicht 


nur im Museum mitgearbeitet, sondern auch die Berichte an die Mitglieder aus- 


getragen, hat viele Tausende von Mitteilungen in die Briefkästen befördert, Bei- 
träge eingesammelt und überhaupt überall geholfen, wo es galt. Es muß hervor- 


gehoben werden, daß die oft garnicht einfachen Arbeiten in geradezu muster- 


gültiger Art ausgeführt worden sind und daß die Jugend der Gesellschaft große 
Kosten erspart hat. Daß unsere freiwilligen Hilfskräfte im Museum die Tradi- 
tion in echt Frankfurter Art fortsetzten, braucht kaum besonders erwähnt zu 
werden, Sie gehören zu unserem Museum seit seinem Bestehen, und gerade die 
Freiwilligkeit ist ein besonderer Zug unseres Museums, den nur ganz wenige 
ähnliche Institutionen aufweisen. Bei den Verwaltungs- und Werbearbeiten- 
waren besonders Frl. H. Collin, Frl. R. Kaysser, Frl. E. v. Lepel, Frl. 
H. Roediger, Frl. A. Schiele und Frl. B. Türk, zeitweilig auch Frau 


Prof, Drevermann, Frau Dr. Haas und Frau Dr. Jassoy eifrig beschäf- 


N 


4 Fr 


tist und ein großer Teil des Erfolges kommt auf ihre Rechnung. Die Gesellschaft 


dankt allen für ihre Hilfsbereitschaft, ohne die sie nicht auskommen könnte, 





Nachdem bereits eine außerordentliche Generalversamm- 
lung am 28, September 1922 die Beträge für Mitgliedschaft heraufgesetzt hatte, 
trat ein so starkes weiteres Sinken unserer Mark ein, daß schon ein halbes 
Jahr später, am 9. Mai 1923 die Generalversammlung wesentlich höhere 
Beiträge beschließen mußte, Die Mindestbeiträge für ewige Mitglieder, Förderer 
und Stiftungsmitglieder sind auf 20 000, 50 000 und 100 000 Mark festgesetzt wor- 
den, während die Generalversammlung über den Antrag der Verwaltung, den 
Jahresbeitrag auf 1000 Mark zu erhöhen, hinausging, und ihn vom 1. Oktober 1923 
an auf 2000 Mark erhöhte. Die Gesellschaft behält sich dabei vor, allen denjeni- 
gen, die unter der Not der Zeit besonders schwer leiden, einen niedrigeren Jahres- 
beitrag anzurechnen, wie sie das schon seither in begründeten Fällen stets getan 
hat. Es muß hervorgehoben werden, daß eine große Zahl von Mitgliedern, mehr 





TE: 12) 
als die Hälfte, freiwillig schon für das Jahr 1922/23 den höheren Beitrag, manche 
sogar wesentlich mehr, der Gesellschaft zugewendet haben. Auch dies ist eine 
der erfreulichsten Seiten des berühmten Frankfurter Gemeinsinns, der gerade in 


_ Zeiten der Not sich stets besonders glänzend bewährt hat. 


In der gleichen Generalversammlung dankte der Vorsitzende Namens der 
Direktion und Verwaltung ganz besonders herzlich Prof. Drevermann für 
seine umfangreiche Werbetätigkeit, der er in selbstloser und hingebender Weise 
nun bereits seit drei Jahren jede freie Minute widmet und deren Erfolge für 
das Fortbestehen unseres Museums von fundamentaler Bedeutung sind. Er 
hob hervor, daß jetzt eines der Hauptziele dieser Werbetätigkeit ist, möglichst 
viele Mitglieder im Ausland zu gewinnen, da das verarmte Deutschland seine 
Kulturarbeiten nicht mehr wie vor dem Kriege durchführen kann. Einen erfreu- 
lichen Anfang mit der Gewinnung solcher Mitglieder hat Prof. Drevermann 
durch eine Reise nach Spanien gemacht, und auch in England, der Schweiz usw. 
sind die ersten Schritte unternommen worden. Es wird Aufgabe der nächsten 
Jahre sein müssen, auf den gleichen Bahnen fortzuschreiten, wenn das Museum 
frei bleiben soll, wie es seit über hundert Jahren dasteht. 

Die Revisionskommission hat den Kassierern Entlastung erteilt; 
sie besteht gegenwärtig aus den Herren: Dr. R. Niederhofheim als Vor- 
sitzender, H. de Bary, OÖ. Aschaffenburg, G. Gerst, Dr. P. Roe- 
diger und R. Passavant. Mit aufrichtigem Bedauern hat die Gesellschaft 
davon Kenntnis genommen, daß der langjährige bewährte Kassierer R. An- 
dreae-von Neufville sich durch Arbeitsüberlastung genötigt sah, sein 
Amt, das er mit besonderem Verständnis für die schwierige Lage der Gesellschaft 
geführt hatte, niederzulegen. An seine Stelle wurde Oscar F. Oppen- 
heimer gewählt. 





Bereits in früheren Berichten konnten wir den Dank der Gesellschaft zum 
Ausdruck bringen, daß alle Frankfurter Firmen, an die wir uns mit 
der Bitte um Hilfe wandten, uns in freundlichster Weise entgegenkamen und 
alles Material, ohne das der Betrieb eines großen Museums nun einmal 
nicht aufrecht zu erhalten ist, unberechnet zur Verfügung stellten, oder Arbeiten 
für das Museum unberechnet ausführen ließen. Die lange Liste dieser Firmen 
hat sich seither noch vergrößert. 

Zu "unserer großen Freude hat Konrad Schecker außer einer 
größeren Geldspende die umfangreichen Dachreparaturen unberechnet aus- 
geführt und sich bereit erklärt, in Zukunft die Überwachung dieser Ar- 
beiten zu übernehmen. Die Unterhaltung der Gartenanlagen, die auf fast 
eine halbe Million Mark geschätzt wurde, läßt unser Mitglied August 
Zeiss durch seinen Gärtner unberechnet ausführen, Der gleiche Spender 
stattete unser Geschäftszimmer mit den durch die wachsende Mitglieder- 
zahl benötigten Kartotheken und mit einer Anzahl von Bücherregalen 
aus und stiftete 15000 Karten für die Werbetätigkeite Den Druck 
dieser Karten übernahm bereitwillig die Firma E. Grieser, die gleichzeitig 
die neuen Mitgliedskarten für das kommende Jahr druckte, deren Karton von 
‚unserem Freunde Rudolf Flinsch und der Firma Ferdinand Flinsch 
gestiftet wurde. Die Firma Klimsch & Co. übernahm das Neugießen der 
Walzen unserer Tiegeldruckpresse und stellte uns die nötige Akzidenzfarbe zur 


Verfügung. An vielen Stellen in der Sammlung und im Festsaal mußte die Vor- 
hangkordel erneuert werden, die uns von Heinrich Zeiss zur Verfügung 


gestellt wurde. Einen Gummischlauch für unsere Mazeration erhielten wir von 
der Mitteldeutschen Gummiwarenfabrik Louis Peter A.G., Gummischläuche 


für Bunsenbrenner und Ersatzstücke von A. Ederheimer (Gebrüder Weil), 


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Scheuertücher für das Museum wurden von Gebrüder Zeiss geschenkt, Bürsten 


und Pinsel von G. Bock-Mohr ‚ ein Piassava-Besen von J. H. Franz Da 


Wwe. Für unsere Schlosserei und Schreinerei wurden uns eine große 
Menge Holz- und Eisenschrauben von Gustav Colshorn A.G., Löt- 
zinn von G. Knodt und Drabtstifte von Anton Hartmann und Sohn 
überwiesen. Die Präparatoren erhielten Chromalaun, Salzsäure und Viehsalz 
von I. M. Andreae, Kopallack und Politur von G. Helwig, Mottenschutz- 
mittel von Dr. H. Noerdlinger-Flörsheim, Ceresin von Georg Schütz, 
Leinöl, Mennige, Bleiweiß, Siccativ und Dextrin von H. Jenisch und von 
Hoelzle & Chelius, Sangajol und Soda von G. A. Collischonn, 
Maschinenöl von den Oleawerken A.G,, Bindfaden von LudwigKetsch, 
Papierstoff, Watte, Draht und Pinsel von F. & C. Achenbach, Flintpapier 
und Glaspapier von Burkhard & Co., Leinölfirnis, Frankfurter Schwarz und 


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Ocker von W. Kaiser & Co. A.G., Alabastergips von Schilpp & Wolff & 


G.m.b.H., Ölfarbe, Wasserfarben, Pastellstifte, Trockenfarben und Pinsel von 


A. Gundelfinger und A. Mick, Gläser, Porzellan und Steingutwaren von 


J. E. Eiden und O. Bonwit (M. Baer & Co.), Nähutensilien von H. 
Wronker und ein großes Quantum ständig benötigter Chemikalien von Leo- 
pold Cassella & Co. Für das Geschäftszimmer wurden geschenkt mehrere 
Kontobücher von I. C. König und Ebhardt-Hannover, Farbbänder von den 
Adlerwerken, 25000 Briefumschläge von M. Mayer-Alberti-Koblenz, 
deren Druck die Firma Werner u. Winter G.m.b.H. kostenlos besorgte, 
20 000 Postkarten und Kohlepapier von W. Büttel, der Druck von 2000 Brief- 
bogen von Jakob und Alfred Mayer, Kohlepapier und Farbbänder von 
der Chemischen Fabrik Dr. A. Heinemann A.G. (Direktor B. Lantos) 
und 20 kg. Siegellack von I. Heintz. 


Beim Anfertigen der Photographien für unsere Veröffentlichungen wurden 
wir durch hundert Blatt Tuma-Gaslichtpapier von Dr. Rudolf Trapp 
(Trapp& Münch A.G. Friedberg i.H.) und Entwicklerflüssigkeit und Fixier- 


salz von der Dr. C. Schleußner A.G. unterstützt. Für unsere wissenschaft- 


lichen Institute erhielten wir ein Wasserbad mit Dreifuß und Bunsenstativ von 


F. und M. Lautenschläger, Holzleisten für die Wandtafeln von C. J. 
Bergmann, Pappdeckel von F, Seip Nachf. und ein größeres Quantum Ver- 
dunklungstuch von C, Bacher (P. A. Walther), E. Leitz in Wetzlar kam 
uns in der Preisstellung für ein Mikroskop sehr entgegen und Frau F. Lind- 
ley überwies zahlreiche geologische und topographische Karten als Geschenk. 

Ohne diese zahlreichen freundlichen Gönner wäre ein Arbeiten im Museum 
bei der finanziellen Lage der Gesellschaft unmöglich gewesen — — um so 
herzlicher ist unser Dank und die Bitte, unserem Museum auch weiterhin zu 
helfen! 


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Aus dem Museum 


Auch in dem ganzen Bericht über die Tätigkeit im Museum kommt überall 
die finanzielle Not zum Ausdruck. Die aufs äußerste reduzierte Zahl von Beam- 
ten und Angestellten kann nicht erhöht werden, da die Gesellschaft trotz äußerster 
Anstrengung kaum in der Lage ist, die ihr verbliebenen Angestellten zu be- 
zahlen. Auf der anderen Seite steht die ständig wachsende Arbeitslast und steht 
- ferner die lebhafte Sorge um den Verfall der Sammlungen, der mit allen Mitteln 
verhindert werden muß. So wuchs die Arbeitslast jedes einzelnen ununter- 
brochen, auch dadurch, daß vielfach Arbeiten durch die Präparatoren und 
andere Angestellten mit erledigt werden mußten, für die die Gesellschaft früher 
eigene Kräfte anstellen konnte. Mit um so wärmerem Danke begrüßt die Gesell- 
schaft vor allem zwei Stiftungen: C. Commerell in Höfen schenkte einen 
größeren Betrag, damit in der Insektenabteilung, die dem Verderb besonders 
ausgesetzt ist, Frl. Dr. Franz als wissenschaftliche Hilfskraft zeitweilig be- 
schäftigt werden konnte, und Geheimrat Dr. A. von Weinberg und Frauvon 
Weinberg überwiesen der Winternot namhafte Mittel, auf Grund deren zwei 
Hilfsbedürftige als Aufseher resp. Sonntagsaufseher im Museum und ein dritter 
für einige Zeit zur Unterstützung im Geschäftszimmer angestellt werden konnten. 

Durch die Erhöhung des Eintrittsgeldes, die das Senckenbergische Museum 
mit den städtischen Museen gemeinsam vornahm, nahm der Besuch des Museums 
naturgemäß etwas ab. Dagegen freuen wir uns besonders, daß die Schulen in 
reichem Maße unter Führung ihrer Lehrer von den hier gebotenen Bildungs- 
möglichkeiten Gebrauch machten, sodaß der Hauptzweck des Museums, An- 
regung und Wissen zu verbreiten, volle Erfüllung gefunden hat. 





Am auffallendsten von den neu begonnenen Arbeiten im Museum ist die 
Montierung unseres berühmten Diplodocus-Skelettes, die 
den paläontologischen Präparator und den Schlosser seit Jahren beschäftigt. 
Trotz ihrer Arbeitsfreudigkeit hätte die Gesellschaft nicht daran denken können, 
dieser Riesenarbeit näher zu treten, wenn nicht eine Anzahl von Firmen ihr 
auch hier in großzügigster Weise zu Hilfe gekommen wären. So schenkte Hans 
Weinschenck den Zement für den Sockel, Dr. A. Teves ließ uns die eiser- 
nen Stützen gießen und die Firmen Heinrich Briel, Rheinstahl G.m. 
b.H, JacobSchatzmann & Söhne, Gebrüder Trier und I. A. Zick- 
wolff(A.Schmidt-Polex) lieferten unberechnet die benötigten Eisenteile. 
Zur Aufstellung war ein besonderes Baugerüst nötig, das uns die Vereinigten 
Gerüstbau- und Leihanstalten G.m.b.H. zu einem erheblich redu- 
zierten Preise zur Verfügung stellten, den wir von der Firma Schaffner & 
Albert als Geschenk überwiesen erhielten. So wird es möglich sein, im Laufe 
dieses Jahres das Riesenstück fertigzustellen und es wird sicher in seiner neuen 
Gestalt einen Hauptanziehungspunkt unseres Museums bilden. Im Anschluß 
daran sei gleich der größten neueren Schenkung gedacht, die der paläonto- 
logischen Abteilung unseres Museums ein besonders wertvolles 
Stück zuführen wird. Kommerzienrat E.Beit von Speyer schenkte die Mittel 
zum Ankaufeines Plateosaurus-Skeletts von Halberstadt, womit 
eine der schwersten Lücken unserer Dinosauriersammlung ausgefüllt werden 
wird. An der Ergänzung dieses Skeletts, das in großer Gefahr war, in das 


Ausland zu wandern, wird eben in Greifswald gearbeitet. Wenn es in kurzer ke 


Zeit hier eintrifft und montiert werden kann, so wird es dem Museum zu Diplo- 


docus, Iguanodon, Trachodon und Triceratops auch einen der primitiven Dino- 


saurier der Triaszeit liefern, von denen wir bisher nichts besaßen. 


Auch im übrigen erhielt die paläontologische Abteilung manche Geschenke, 


besonders von Peter Frey, Dr. A. v. Gwinner-Berlin, Maler F, Liebl, 





W. Sachs und Dr. Steinhausen. Für die Lokalsammlung sind zwei 


Mammuthbackzähne wertvoll, die bei baulichen Arbeiten unter dem Gebäude der 
Metallgesellschaft gefunden und von dieser dem Museum geschenkt 


wurden. Der Verkauf eines doppelt vorhandenen Stückes aus der Sammlung 
gab die Möglichkeit zur Beschaffung zweier weiterer großer, für die wissen- 
schaftliche Sammlung dringend benötigter Schubladenschränke. 

In unserer Mineraliensammlung stammen die Hauptzugänge, wie 


fast alljährlich von unserem Gönner Dr. A. v. Gwinner-Berlin, dem wir vor, 


allem für einen 6 Zentner schweren Block Meteoreisen vom Caüon Diablo in 
Arizona zu Dank verpflichtet sind, der unsere Sammlung großer Meteormassen 
aus Südwestafrika aufs glücklichste ergänzt. 


Besonders reich wurde wieder die Insektensammlung bedacht, die 
sowohl durch Zuwendung ganzer Sammlungen, als auch durch eine Anzahl von 


Einzelschenkungen eine stattliche Vermehrung erfuhr. Eine wissenschaftlich be- 


deutende Sammlung paläarktischer Käfer mit einer ganzen Anzahl wichtiger 
Typen aus dem Besitz des Direktors K. Neumann verdankt das Museum der 
Opferfreudigkeit von Oskar F. Oppenheimer und Dr. F, Weil, Die 


Schmetterlingssammlung erhielt einen Zuwachs von großer Bedeutung durch die 


Ausbeute der Afrikaexpedition unter Leitung des Herzog Adolf Friedrich 


von Mecklenburg, die uns Seltenheiten aus bisher noch kaum betretenen 


Gebieten verschaffte, Mehrere hundert, z. T. recht seltene Falter gingen uns aus zZ 


dem Besitz des Frankfurter Sammlers Horter zu. Ferner erhielten wir eine 
Sammlung Schmetterlinge aus Deutsch-Ost-Afrika von Reg.-Rat L. Schuster 
im Tausch gegen Bände des Seitz’schen Schmetterlingswerkes, die vom Ver- 
fasser und Verlag des Werkes gestiftet wurden. Unter den Einzelschenkungen 
ist die Zuwendung des Grafen Bentinck besonders erwähnenswert, die uns 
in den Besitz eines in England ausgestorbenen, neuerdings in Holland wieder 
entdeckten Schmetterlings brachte; ebenso die Schenkung des durch seine Selten- 
heit äußerst willkommenen nordamerikanischen Spinners Hacis neumögeni. Reiche 
Zuwendungen erhielt das Museum wie in jedem Jahre durch seine ausländischen 
Freunde, In erster Linie ist eine Ausbeute von F. Scriba in Tokio zu er- 
wähnen, die von der Insel Sachalin stammt, von der noch niemals wissen- 
schaftlich zusammengebrachte Kollektionen nach Europa gekommen sind, Herr 
Zikan in Passaquarto (Minas Geraes) übersandte dem Museum eine Anzahl 


von ihm entdeckter brasilianischer Schmetterlinge; Dr. Sturmhöfel in Rio 


Grande do Sul schenkte Insekten verschiedener Art aus Südbrasilien, darunter 
eine Schmetterlingsraupe, die auf dem Rücken einer Singzikade lebt und sich 
von dem durch diese ausgeschiedenen Wachs ernährt. G, Brückner aus 
Guatemala brachte seine Ausbeute aus Zentralamerika und Dr, Lehmann 


übersandte eine reiche Sammlung von Nachtschmetterlingen aus dem Süden der 


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Vereinigten Staaten; dazu kommen zahlreiche exotische Käfer von G. Hecht 
und Insekten der verschiedensten Gruppen von M: Cretschmar. 

‘Die Einordnung dieses reichen Zuwachses nahm viel Zeit in Anspruch; 
der Rest der verfügbaren Arbeitszeit wurde auf die Fertigstellung der Schau- 
sammlung verwendet, die nunmehr in allen Insektengruppen durchgeführt ist, 
Bei diesen Arbeiten ist die freundliche Hilfeleistung von Frl. Hertha Blum 
sehr dankbar anzuerkennen. In der wissenschaftlichen Sammlung ist vor allem 

die Neuordnung der Sphingiden hervorzuheben; ferner wurden die Papilioniden 
_ in Angriff genommen und mit der sehr schwierigen Abteilung der Hesperiden 
begonnen. Außer diesen großen Arbeiten, die speziell durch Frl. Dr. E. Franz 
in sorgfältigster Weise erledigt wurden, wurden noch weitere Ordnungsarbeiten 
in verschiedenen Käferfamilien teils begonnen, teils zu Ende geführt. Die 
- Megalopygiden wurden von W. Hop p-Charlottenburg, die Acraeiden von Dr. 
Le Doux, die Käfersammlung von den Herren Ochs (Gyriniden) und A. 
Andres (Tenebrioniden) bearbeitet. Dr. W. Horn-Berlin unterzog ver- 
schiedene Gruppen der Cicindeliden einer neuen Bearbeitung. 


In der Schausammlung fehlte bisher ganz die Abteilung der Mollus- 
ken, die in Angriff genommen worden ist und von der zunächst eine große 
Zahl von Präparaten in Alkohol zur Aufstellung kamen. Das Gelingen dieser 
nach einer neuen Methode hergestellten Präparate verdanken wir nicht zum 
geringsten Teile der geschickten und eifrigen Hilfe unserer Mitarbeiterin Frl. 
Emma Prior. Auch im übrigen wurde die Schausammlung der niederen 
Wirbellosen Tiere durch einige besonders wichtige Vertreter bereichert, z.B. 
die kriechende Rippenqualle Coeloplana bocki Komai. Die Neuordnung unserer 
wissenschaftlichen Molluskenabteilung wurde durch die Aufstellung mehrerer 
_ neuer großer Schubladenschränke ermöglicht, deren einer von einigen dänischen 
Freunden auf Anregung von Magister Dr. C. M. Steenberg-Kopenhagen ge- 
schenkt wurde. Einige Erwerbungen durch Tausch und Geschenk lieferten wert- 
volle Ergänzungen; unter diesen ist besonders die sehr reiche Molluskensamm- 
lung des bekannten Sammlers August Gysser zu erwähnen, die von seinen 
Kindern geschenkt wurde. Die vergleichend anatomische Abtei- 
lung erhielt von Prof. Dr. M. Flesch ein ansehnliches konserviertes Material 

zur Herstellung von Präparaten. 





Die Schausammlungder Wirbeltiere wurde durch verschiedene . 
fehlende Stücke bereichert. Die Hauptarbeitskraft der Präparatoren war darauf 
gerichtet, einmal bei den Vögeln eine große Zahl alter besonders wertvoller 
Stücke in moderner lebenswahrer Stellung wieder auferstehen zu lassen und 
mehrere große Reptilien und Fische für den bald zu eröffnenden neuen Saal 
der niederen Wirbeltiere vorzubereiten. In der wissenschaftlichen Säugetier- 
sammlung ist an erster Stelle eine umfangreiche Geweihsammlung von Dr. L. W. 
Drory zu nennen, die durch eine sehr große Serie von Rehgeweihen mit ge- 
nauen Fundangaben besonders wertvoll ist. Dr. A. Lotichius schenkte eine 
Haut des indischen Elefanten und einige andere willkommene Stücke; durch 
Tausch konnten einige kleine Nager aus der Schweiz erworben werden. Wie 
‚alljährlich kamen eine Anzahl erwünschter Objekte aus dem Zoologischen 


Garten, darunter eine hübsche Grauwangenmangabe und ein weiblicher Mandrill. | 
Der Rest der großen Säugetierausbeute der Expedition des Herzogs Adolf 


Friedrich von Mecklenburg wurde bearbeitet und zum Teil katalogisiert. 


Die Arbeiten in der Vogelabteilung wurden durch die Unmöglich- RR | 
keit, das ganze Museum zu heizen, sehr eingeschränkt. Trotzdem hat unser 


Sektionär H. Jacquet, soweit seine Gesundheit es zuließ, mit ganz außer- 
gewöhnlichem Geschick und großer Liebe die sehr reichen Sammlungen geordnet, 
insbesondere die Sammlung Berlepsch, sodaß diese Abteilung heute für 
jeden Kenner ein Musterbeispiel einer musealtechnisch durchgearbeiteten Samm- 





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lung darstellt. In der Schausammlung wurden mehrere Gruppen neuaufgestellt; 


zu erwähnen sind besonders ein Rabengeier, die prachtvolle Kondorgruppe 
(deren Aufstellung nur durch das großzügige und verdienstvolle Geschenk von 
Adolf Klaus möglich war) und ein im Gefieder besonders schöner Pfau (Ge- 
schenk von C. v. Gosen). Neuerdings wurde ein herrlicher Königsgeier von 


Alfr. Achenbach geschenkt. 


Die. Revision der wissenschaftlichen Reptilien- und Amphibien " 
sammlung wurde. abgeschlossen, wobei Frau Dr. Mertens sehr fleißig ge- 


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holfen hat. Aus dem neuen fertigen Zettelkatalog geht hervor, daß unsere 
herpetologische Sammlung in den letzten Jahren bedeutend gewachsen ist. Nach 


dem Katalog (1892—98) des verstorbenen Leiters dieser Abteilung, Prof. O. 
Boettger bestand die Sammlung aus 7404 Stücken, 3863 Nummern, 1436 Arten 
und 434 Gattungen; eine am 1. Dezember 1922 vorgenommene Zählung ergab 
21 381 Stücke, 8950 Nummern, 2535 Arten und 594 Gattungen. In der herpe- 


tologischen Sammlung befinden sich nicht weniger als 322 Typen, von denen ein 


besonderes Verzeichnis erschienen ist. Bearbeitet wurde je eine Sammlung von 
Amphibien und Reptilien aus Rumänien und Nordmesopotamien; begonnen 
wurde die Bearbeitung des großen von Dr. F. Haas aus Spanien mitgebrachten 
Materiales. Unter den Geschenken sind besonders einige sardische und 
spanische Reptilien von Kapellmeister E. Marherr-Schmalkalden zu erwähnen, 
ferner verschiedene kleinere Schenkungen von R. Adolph-Olmütz, C. 
Faust-Barcelona, Baron Dr. G. I. von Fejerväry-Budapest, E. Fritz, D. 
Gottwein-Lindenfels, M. Kayser-Barcelona, L. Koch-Holzminden, J. und 


S. Maluquer-Barcelonaa W. Schreitmüller, L. von Wedel-Par- 


lo w-Berlin und Dr. W. Wolterstorff-Magdeburg. Durch Tausch mit Prof. 
Müller-München erhielten wir eine Anzahl für uns neuer Formen, Einige 
Stücke schenkte das Kochkunstmuseum. 


Für die Vorlesungstätigkeit unserer Dozenten wurden eine ganze Anzahl 
neuer Wandtafeln angefertigt, durch deren Herstellung Fräulein H. Kundt, 
Frau M. v. Pagenhardt, Fräulein H. v. Passavant, Frau A. Rhein- 
dorff und Frau Dr. G. Winter sich große Verdienste erwarben, 





Die Entstehung der Uharganishen: Welt 
(Kosmogonie) 


Vortrag, gehalten von Geh. Reg.-Rat Dr. A. v. WerngerG in der 
Sitzung der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
am 10. Februar 1923. 


Die Aufgabe der Kosmogonie, aus den Beobachtungen des 
_ jetzigen Zustands und der Veränderungen der anorganischen Welt 
ihre Vergangenheit und Zukunft abzuleiten, scheint dem mensch- 
- lichen Geiste lösbar zu sein. Zwar ist die Kette der vergangenen 
- Ursachen und der kommenden Wirkungen doppelt unendlich, aber 
es wäre doch denkbar, eine Formel zu finden, die etwa wie die 
Gleichung der Hyperbel den Verlauf der Äste bis ins unendliche 
beschreibt, oder man könnte sich einen Kreislauf vorstellen, der 
sich nach langen Zeitläufen wiederholt. Beide Wege sind beschritten 
worden. Crausıus, der Schöpfer der mechanischen Wärmetheorie, 
hat mit Hilfe der Entropieformel beweisen wollen, daß die Welt 
asymtotisch dem Wärmetod verfällt, und NErnsTt, der Vollender der 
- Thermodynamik, hat auf Grund einer Einstein’schen Gleichung 
_ kürzlich die These aufgestellt, daß die Welt ein ewiger Kreislauf 
zwischen Energie und Masse sei. 

Die meisten Kosmogonien betrachten nur den Makrokosmos, 
-in der Regel sogar nur unser Sonnensystem. Die grundlegende 
Theorie einer Entstehung des Makrokosmus aus chaotischem Nebel 
hat Kant in seiner 1754 verfaßten „Allgemeinen Natur- 
geschichte und Theorie des Himmels aufgestellt. In 
jugendlicher Begeisterung (Kant war damals 30 Jahre alt) ruft er 
in der Vorrede aus: „Gebt mir Materie und ich will 
euch eine Welt daraus bauen." Unter Materie ist hier 
die Summe der verschiedenen Bestandteile eines Urnebels ver- 
standen. Die Entwicklung wird durch die Newron’sche Schwer- 
kraft und eine Abstoßungskraft, die einem anderen Gesetze 
gehorcht, durchgeführt. Heute, nach nahezu 170 Jahren, ruft Max 
Born in seiner ausgezeichneten Schrift „Der Aufbau der Materie” 
(1922) aus: „Gebt mir dasAtom und ich baue euch 
eine Welt daraus.” Das klingt fast wie eine Wiederholung 
des Kanrt'schen Ausspruchs und doch liegt in dem einen Wort 





„Atom der ganze Fortschritt der Erkenntnis, den wir seit d 
Zeit Kanr's gemacht haben. Was Born sagen will it: Haben 
wirerst einmalden Mikrokosmos und damitdie. 
Gesetze der Welt in ihren kleinsten Abmes- 
sungen erkannt, dann werden sich daraus alle ae 
Erscheinungen des Makrokosmos und Gesetze el 
der WeltimGroßenableitenlassen. Dieser Gedanke 
soll den Gegenstand meines Vortrags bilden. Wir wollen bis an die ’ 
Grenze der bisher erkannten Endursachen gehen und dann ver-r 
suchen, auf dem allerdings noch sehr ungeebneten und lückenvollen 
Wege bis zur Erklärung der anorganischen Welterscheinung vor- = 
zudringen. Eu 
Wir setzen bei jeder Weltbeschreibung de runde 
Begriffe Raum und Zeit voraus. Es darf hier nicht unerwähnt 
bleiben, daß die Relativitätstheorie heftig an diesen Grundpfeilern 
zu rütteln versucht hat. Der dreidimensionale leere Raum und die 
eindimensionale Zeit wurden mathematisch zu einem imaginären 
vierdimensionalen Kontinuum vereinigt und dann mit Willkür die = 
wirkliche, phänomenologische Welt in das mathematische Schema 
hineingezwängt.') Aus den Formeln wurde abgeleitet, daß der 
Raum als solcher schwach gekrümmt und daher nicht unendlich, 
sondern in sich geschlossen sei. In bezug auf den Zeit- 
begriff wurde die These aufgestellt, es sei dem menschlichen 
Geiste nicht möglich, ein Kriterium für die Gleichzeitigkeit zweier 
Ereignisse aufzustellen. Daß hier für die Kosmogonie fundamentale 
Fragen vorliegen, ist klar. Denn Raum und Zeit erlangen erst einen 
Sinn durch die Existenz von Materie und durch deren Bewegung. 
IstderRaumgleichmäßigunendlich (euklidisch), 
dann müßte auch die Gesamtsumme der Materie 
unendlich sein, denn es wäre absurd, anzunehmen, daß die. 
Existenz der Materie auf eine Stelle im unendlichen Raum 
beschränkt sei. 
Gegen die Unendlichkeit der Materie werden zwei Einwände 
erhoben; ist das NeEwron’sche Gravitationsgesetz streng gültig, dann 
ergibt die Rechnung, daß bei unendlicher Materie die Schwere- 
wirkung auf jeden Punkt in jeder Richtung unendlichist, 
was der Erfahrung widerspricht. Diese Schlußfolgerung ist aber aus 
dem Grunde unrichtig, weil ihre Voraussetzung unvollständig ist; 


') Siehe z. B. Eınsteın. Vier Vorlesungen über Relativitätstheorie, 1922 
[VırweEG), S. 68. 








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denn wie wir sehen werden, gibt es universelle Kräfte, insbesondere 
den Strahlungsdruck, die der Schwerkraft stets entgegen- 
* wirken und die man bei der Rechnung nicht fortlassen darf. Der 
zweite Einwand ist folgender: Ist überall Materie und hat sie überall 
die gleichen Eigenschaften, so muß es auch bisins Unend- 
licheleuchtendeSterne geben. Die Folge wäre dann, daß 
der ganze Himmel nahezu gleichmäßig hell erstrahlen müßte. Denn 
“eine Abschwächung des Lichts durch irgend ein Medium in den 
 intrastellaren Räumen konnte bisher nicht festgestellt werden. Erst 
kürzlich hat SuAarLEy nachgewiesen, daß im Licht von 21 veränder- 


lichen Sternen im Sternenhaufen M 5. auf seinem 39900 Jahre 


dauernden Wege keine Veränderung vorgegangen sein kann. Denn 
die spektrale Zusammensetzung ihres Lichts ist die gleiche wie die 
von uns relativ nahestehenden Veränderlichen des gleichen Typus. 
_ Wäre eine noch so verdünnte, hemmende Substanz vorhanden, so 
hätten auf diesem Wege die langwelligen Strahlen vorauseilen 
müssen. Wichtige Gründe sprechen jedoch gegen die Richtigkeit 


des Einwands. Vor allem die Existenz großer dunkler Wol- 


ken, deren ungeheure Ausdehnung besonders von J. G. Hacen, 
dem Leiter der vatikanischen Sternwarte, neuerdings nachgewiesen 
worden ist, Dieser kommt zu folgendem Schluß: ?) 


„Das Bild, das wir uns hiernach vom Weltall zu bilden 
haben, ist dies, daß der Weltraum bis zu einer Grenze mit nicht- 
leuchtenden Massen gefüllt ist und daß unser galaktisches 
Sternsystem sich innerhalb dieser Massen gebildet hat, also 
von dunklen Wolken allseitig umhüllt wird.” 
Ferner läßt die Quantentheorie des Lichts darauf 
schließen, daß es eine Grenze in der Ausbreitung gibt, bei der die 
chemische Wirkung des Lichts, auf der das Sehen wie die Photo- 
graphie beruht, aufhört. Dazu kommt noch die hemmende Wirkung 
unserer Atmosphäre. Auch dieser zweite Einwand gegen die 
unendliche Ausdehnung der Sternenwelt ist sonach hinfällig. °) 

Je mehr sich unsere Beobachtungen verfeinern, um so mehr 








1) Naturw,, 1921, 935. 


?) Vor kurzem (Annal. d. Phys., 1922, 68, 281) hat F. SELETY die Möglich- 
keit einer unendlichen Welt mathematisch begründet, wobei er von ähnlichen 
Vorstellungen ausgeht, wie CHARLIER, der (in seiner Abhandlung „How an 
infinite world may be built up," Stockholm, 1922) sich vorstellt. daß die 
Sternenwelt aus geschachtelten, immer größeren Systemen gebildet sei, die in 
entsprechend zunehmenden Abständen voneinanderstehen. EinsTEin’s Erwiderung 
(Annal, d, Phys., 1922, 69, 436) scheint mir nicht überzeugend. 


dehnt sich für uns der Kosmos. Noch vor 10 bis 20 Jahren nahm 
man an, daß unser Milchstraßensystem eine Ausdehnung von 
2—-3000 Lichtjahren habe. Heute wissen wir, daß die entfernten BI, 
kugelförmigen Sternhaufen in der Milchstraße über 200,000 Licht- = 
jahre von der Erde entfernt sind, daß das Licht der nächsten, für 
uns nicht mehr in Einzelsterne auflösbaren Systeme, z. B. des e 
Andromedanebels, über eine Million Lichtjahre braucht, um zu uns “ 


zu gelangen. 


Bedenkt man, daß wir damit noch lange nicht an eine Grenze x 


gekommen sind, so wird klar, daß vom empirischen Stand- 
punkt von einer Endlichkeitvon Raum und Materie 
nichtgesprochenwerdenkann. 


In der Erkenntnis ds Wesensder Materie ie wir in Im 
den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Von einer = 
Lösung des Rätsels, wie Materie entsteht, sind wir aber 
noch weit entfernt. Die wahrnehmbare Materie erwies ich 
zunächst als eine Anhäufung vonchemischenAtomen. Diese 
wieder konnte man auf zwei, oder exakter, 3 Urbestandteile zurück- 
führen: Die negativ elektrischen Elektronen, die positiv 
elektrischen Wasserstoff- und Heliumkerne. Es wird 
zwar auf Grund von Analogieschlüssen vielfach angenommen, daß 


der Heliumkern aus 4 Wasserstoffkernen und 2 Elektronen auf- 
gebaut sei, doch ist dies, wie wir noch sehen werden, keineswegs 


sicher. Wie es zu einer ersten Entstehung dieser Urgebilde kam, ist 





völlig rätselhaft. Wir verstehen nicht einmal, wieso diese Gebilde 


überhaupt existenzfähig sind. Man hat berechnet, daß, um einen 
Körper von der Größe und Ladung des Elektrons zusammen- 


zuhalten, ein Druck von der Größenordnung 7.1024 Atm. not- N 


wendig wäre. 

Aus Elektronen, Wasserstoff- und Heliumkernen in enäster 
Vereinigung entstehen alle anderen Atomkerne. Wir schließen 
dies aus Folgendem. Am Ende der nach den Atomgewichten geord- 
‚neten Reihe der Elemente finden sich radioaktive Atome, die 
Teile ihrer Kerne, die a und / Teilchen fortschleudern; diese 
erwiesen sich als Heliumkerne und Elektronen. Ferner 
gelang es Rurnerrorn, Wasserstoffkerne aus Stickstoff- 
kernen abzuspalten. Schließlich spricht für diesen Kernaufbau die 


Tatsache, daß die Atomgewichte der reinen, in ihre Isotopen 


getrennten Elemente ganze Vielfache vom Gewichte eines Helium- 


kerns plus dem Gewicht von 0—3 Wasserstoffkernen sind. Ein 


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Aufbau von Kernen aus jenen Bestandteilen im Laboratorium ist 

allerdings bisher trotz aller Bemühungen!) nicht gelungen. 
NERNsT hat mit Hilfe der neueren Thermodynamik berechnet, daß 
‘ ein solcher Aufbau nur unter ganz extremen Bedingungen, nämlich 
bei Temperaturen über zehntausend Millionen Grad möglich wäre, 
Temperaturen, die selbst im Innern der heißesten Sterne nicht anzu- 
nehmen sind. Eine Erklärungsmöglichkeit der Entstehung der ver- 
schiedenen Atomkerne besteht in der Vorstellung, daß in einer 
kosmischen Wolke von ungeheurer Ausdehnung Wasserstoff und 
Heliumatome sich mit einer großen, der Lichtfortpflanzung nahen 


Geschwindigkeit bewegen, und daß nun durch die Wucht der Zu- 


'  sammenstöße, verbunden mit elektrischer Anziehung, eine so große 


Annäherung erreicht wird, daß die Teile dauernd vereinigt bleiben. 
Eine immer größere Anhäufung wäre die Folge, wären nicht schließ- 
lich die hinzutretenden Helium, Wasserstoff-Kerne und Elektronen 
immer lockerer angefügt, so daß sie bei weiteren Zusammenstößen 
wieder leicht abgespalten werden. Die relative Menge, in der so ver- 
schiedene ‘Atome entstehen, hängt von der Stabilität der 
Gebilde ab. Daher ist de Häufigkeitderverschiedenen 
Elemente sehr verschieden. Schließlich bricht die Reihe bei Er- 
reichung einer gewissen Maximalzahl von Bestandteilen ab, und 
schon die Atomkerne von den höchsten bekannten Atomgewichten 
erweisen sich als relativ unbeständig. 

| In diesen sehr komplizierten Kernbildungen bleiben die Wir- 
kungen ihrer Urbestandteile erhalten. Das gilt vor allem von der 
Schwerkraftswirkung, dieeinenwunderbaren,ganz 
unfaßbaren Zusammenhang zwischenallen Ato- 
mender Weltherstellt, Die Wasserstoffkerne haben eine 
 1830mal größere Gravitationswirkung, die Heliumkerne eine 7260- 
mal größere als die Elektronen ?). Die im Kern verschmolzenen 
‚ und die äußeren Elektronen eines Atoms beeinflussen daher 


!) A. Pıurrı (Z. f. Elektrochem., 1922, 452) hat die Behauptung BAry's, er 
habe in GEIstLEr’schen Röhren aus Wasserstoff Helium und Neon erhalten, 
‚widerlegt. 

2) Da die Elektronen Gravitationswirkung verursachen, sowie dem Schwere- 
feld und daher der Zentrifugalkraft folgen, sind sie zweifellos „Materie“. 
Trotzdem dies heute feststeht, pflegen die meisten Physiker aus alter Gewohn- 
heit zu lehren, die Elektronen seien die „Elementargebilde der freien Elektrizität”, 
während man positive Elektrizität nur in Verbindung mit Materie (Atomkernen) 
kenne, Um diesen begrifflichen Irrtum zu beseitigen, hat SOMMERFELD jetzt den 

guten Vorschlag gemacht, die Wasserstoffkerne „positive Elektronen" zu nennen. 
(Atombau und Spektrallinien, 1922, S. 25.) 


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sein Atomgewicht nur unmerklich. Es wird im wesentlichen 
additiv aus den kombinierten Helium- und Wasserstoffkernen 
gebildet. — Die zweite Wirkungsweise der Urbestandteile, 
die auch in den Kernen enthalten bleibt, ist nicht minder 
wunderbar. Jedes Elektron übt eine Kraft aus, die wir 
das sich ins Unendliche erstreckende negativ elektrische. 


Minimalfeld nennen. Jeder Wasserstoffkern erzeugt 


ein analoges positiv elektrischesMinimalfeld, dr 
Heliumkern ein solches von doppelter Stärke. Die Kraftwirkung Sr 
dieser Felder ist im Vergleich zur Schwerkraft riesenhaft. Das Ver- 
hältnis der Gravitation zur elektrischen Anziehung zwischen Elek- 


tron und Wasserstoffkern ist 1:2,,.10°°, Wir lernen schon in der 


Jugend, daß sich gleichartig geladene Körper abstoßen, ungleich- 
artig geladene anziehen und nehmen das gewohnheitsmäßig als 
etwas Gegebenes an. Es ist aber eine empirische Beobachtung, 
die zu begründen und überhaupt zu verstehen uns heutenocchjede 


Aussichtfehlt. 


Aber auch dieses Gesetz hat eine, für den Aufbau der anor- 


ganischen Welt bedeutungsvolle Grenze. Bei der Annäherung 


positiv geladener Teilchen wächst die Abstoßung nur so lange, 
bis sich bei sehr großer Wucht des Zusammenstoßes die Entfernung 
bis auf die Größenordnung der Atomkerne veringert hat. Dann tritt 
plötzlich eine außerordentlich starke gegenseitige An- 


ziehunggleich geladener Teilchen anStelleder 


Abstoßung. Ein neues, für uns wiederum ganz unerklärliches 
Naturgesetz. 

Hierauf beruht es, daß sich durch Vereinigung von Helium- and 
Wasserstoffkernen neue beständige Atomkerne bilden können. In 


gleichmäßiger Folge von 2 bis 92 setzen sich die Kerne in ihrem 
aktiven Teil aus 1 bis 46 Heliumkernen zusammen, zu denen bei 
den ungeraden Nummern je ein Wasserstoffkern tritt. Von dieser _ 


Reihe der Elemente kennen wir heute 87. 
Kerne einfachster Art sind die folgenden: 
Kohlenstoff, gebildet aus 3 Heliumkernen 


Sauerstoff, Be ir = 
Schwefel, r PR 8 „ 
Calcium, 7 Pa 1 7 


Bei den anderen Elementen besteht der Kern aus dem positiv 3 
geladenen Hauptkern und einem Neutralteil, der aus 


Wasserstoff- oder Heliumkernensamtdenzuihrer Neutra- 








lisierung gehörigen Elektronen gebildet wird‘). Es 
addieren sich also zum Kern noch neutrale Atome, deren Konstitu- 
tion und Ausdehnung sich allerdings dabei ganz wesentlich 
verändert’). 
“ Nachstehend einige Beispiele von Atomkernen. 


Hauptkern Neutralteil des Kerns 
Helium u. Wasserstoffkerne Helium u. Wasserstoffatome 
Fluor 4 1 — 2 
Natrium 5 1 = 2 
Caesium 27 1 6 17 
Uran. : 46 _ ‚13 2 


Der Neutralteil kann merkwürdigerweise in kleinen Gren- 
_ zen variieren, wodurch dann das Atomgewicht etwas ver- 
ändert wird, während der Hauptkern und damit die Ladung und 


der dadurch allein bestimmte Charakter des Elements unverändert 


‘erhalten bleibt. Solche Modifikatimen nennt man isotope Formen 

eines Elements. Zur Erläuterung mögen folgende Beispiele dienen: 

Atomgewichte der Hauptkern Neutralteil des Kerns. 
Isotopen - He- u. H-Kerne He- u. H-Atome 


Chlor | ES ee 
Nickel 3 5 ir er = 
Rubidium \ > ä - ; = 
mn a0 0: 


Es gibt zahlreiche Elemente, die in 3 und mehr isotopen Formen 
vorkommen. 

Bei der genauen Untersuchung der An genichie ergab sich 
die merkwürdige Tatsache, daß z. B. alles Chlor, das sich auf der 
Erde findet, stets das Atomgewicht 35,46 besitzt, daß also die beiden 
Isotopen, von Atomgewicht 35 und 37, die man mit mechanischen 
Mitteln trennen kann, darin stets im gleichen Verhältnis enthalten 
sind. Ganz analog verhält es sich mit den anderen Elementen, deren 
Atomgewicht keine ganzen Zahlen sind. Die vollkommene 
Konstanz der ZusammensetzungallerIsotopen- 
gemische ist wichtig für die Vorstellung über ihre Ent- 
stehungsgeschichte, denn sie zeigt, daß sich alle Atome 


. 4) L, MEıTnEr, Zeitschr. f. Phys., 1921, 4, 146. 
?) Die Kerne sind von der Größenordnung 10—!° cm, die Atome 10—° cm. 


. 





einessolchen Elementesunter den gleichen Be- 
dingungen gebildethaben müssen. nn 
In den neutralen Atomen wird die Kernladung ausgeglichen a 
durch eine ihr gleiche Anzahl von Elektronen, die mit ungeheurer 
Geschwindigkeit um den Kern in relativ weiten Bahnen laufen. Man 
pflegt dies von BonHr herrührende Atombild mit dem Planeten- 
system zu vergleichen. Aber dieser Vergleich trifft nur teilweise zu 
Ein Teil der Elektronen bewegt sich in kreisähnlichen Ellipsen um 219 
den Kern, allerdings in stark zueinandergeneigten Bahnen, während es # 
eine Schar sich in regulär verteilten, langgestreckten Ellipsenbahnen N 
ähnlich wie Kometen bewegen und dabei dem Kern sehr nahekom- 
men. Diese, den Kern umschwärmenden Elektronen, sind teils. sehr 
fest, teils ziemlich locker gebunden. Einzelne, die ee 
Valenzelektronen, sind relativ leicht zu entfernen, bei den anderen x 
bedarf es starken Energieaufwands. Wie EGGErT*) berechnet hat, 
ist anzunehmen, daß z. B. das Eisenatom, selbst bei Temperaturen, 
die im Innern von Fixsternen herrschen, also bei 10 bis 100 Millionen 
Grad, von seinen 26 Elektronen erst 16 verloren hat. Diese Verhält- 
nisse spielen, wie wir nech sehen werden, in der Entwicklungs- 
geschichte der Himmelskörper eine bedeutende Rolle. EN 
In TafellI sind die Elemente nach der Zahl der Kernladungen RR: 
‘oder der umlaufenden Elektronen in einer Horizontalreihe von 
1-92 gleichmäßig aufgetragen und zugleich ihr empirisches Atom- 





x 


ee > 1— 2382 Atomgewichte. 2982 
: : a BL n 
Die Abweichungen vom Doppelten der Elektronenzahl Th, 
sind senkrecht aufgetragen. 2006 '.° EEE 
1138 7 He: es i 
1598 ..Yb.. 077 | PR 
BEE 43 Tb un" 
1182 
e 0 nd 
1017 Sn’. 
80 906 Fr 


ı09 209 3 3 


“.. 1—92 Zahl der den Kern umlaufenden Elektronen. \ \ \ 


Tafel I 
gewicht aus Horizontalabstand und senkrechtem Abstand zusam- 
mengesetzt, in halbem Maßstabe eingezeichnet. 
Bei den .ersten 20 Elementen ist der Aufbau ziemlich gleich- 
*) Phys. Zeitschr., 1919, 570... 


RN 





ER NRZ 


mäßig, derart, daß das Atomgewicht annähernd entweder das Dop- 
pelte der Kernladung oder gleich dem Doppelten plus 1 ist. Dann 
aber fangen die Werte durch Zunahme der Neutralteile an stark zu 
steigen. Dies ist für die Entstehungsgeschichte der Atome von Be- 
deutung. Man kann daraus mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, 
daß die Atome sich nicht etwa derart gebildet 
haben, daß sich zuerst Kerne formierten und 
diese sichdannElektronen einfingen, sondern 
daß aus neutralen Wasserstoff- und Helium- 
atomen zuerst die neutralen Atome entstehen, 
wobei ein Teil der Elektronen in die Kerne aufgenommen wird, der 


Rest in den Außenbahnen bleibt. 


Wir müssen noch eine Anomalie in den Atomgewichten betrach- 
ten, die, so geringfügig sie auf den ersten Blick erscheinen mag, doch 
manche Forscher zu weitgehenden kosmologischen Schlüssen ver- 
anlaßt hat. Der Wasserstoff hat, wenn Sauerstoff gleich 16 
gesetzt wird, das Atomgewicht 1,0077. Bestünde nun der Helium- 
kern aus 4 Wasserstoffkernen, wie man aus schematischen Gründen 
anzunehmen geneigt ist, so müßte‘ sein Atomgewicht inbezug auf 
Sauerstoff 4,03 sein, es ist aber nur 4,00. Von Isotopen kann hier 
keine Rede sein, wie O. STERN!) nachgewiesen hat. Statt nun 
daraus den vorläufig sicheren Schluß zu ziehen, daß der Helium- 
kern ein besonders gebautes Gebilde sei, wie dies 
auch seiner dominierendenStellungimAufbaualler 
Materie entspricht, hat man doch vielfach vorgezogen, einer 
außerordentlich gewagten Erklärung Glauben zu schenken, die sich 
auf folgende, für die Kosmogonie wichtige Hypothese gründet. 


. Das Gewicht eines Körpers ist proportional seiner Masse. Die 
Masse wiederum definieren wir als den Trägheitswider- 
stand, den ein Körper einer Beschleunigung entgegensetzt. Nun 
haben wir gesehen, daß von allen Kernen und Elektronen der Welt 
Schwerkrafitswirkungen ausgehen. Diese setzen sich zu einem Ge- 
samtkraftfeld, dem Weltschwerefeld zusammen, das 
‚jedem materiellen Punktunabhängigvonseiner 
elektrischen Ladungan jeder Stelle des Raums 
seinen Wegvorschreibt. Folgt er diesem Befehl, so sagen 
‚wir er sei inRuhe. So wie wir z. B. sagen, dieser Tisch sei in 
Ruhe, obwohl er die Erdbewegung von 30 km-sec. mitmacht. Wenn 
nun aber Kerne und Elektronen aus ihrer Schwerkraftsbahn, z. B. 


1) ©. Srern und M. Vormer, Annal. d. Phys., 1919, 59, 225. 


a 


durch Stoß, abgelenkt und beschleunigt werden, so wird zugleich 
ein elektrisches Feld im Weltschwerefeld verschoben. Die Zunahme 
dieser Beschleunigung wird umso schwieriger, je größer bereits die 
Beschleunigung gegen das Weltschwerefeld ist, und wie die Er- 
fahrung zeigt, gibt es schließlich einen Punkt, bei dem eine weitere 
Zunahme nicht mehr zu bewerkstelligen ist. Es muß dies an dem 
Wesen ds ZusammenhangszwischenSchwere-und 
Elektrizitätsfeld liegen. Diese Maximalgeschwindigkeit 
relativ zum Schwerefeld ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der 
Elektrizität und des Lichts. Nun hatten wir aber die 
Masse als Trägheitswiderstand gegen Beschleunigungszuwachs defi- 
niert und sehen nun, daß bei dieser Auffassung der Trägheitswider- 
stand bereits beschleunigter Elektronen oder Kerne ein anderer ist 
als der ruhenden. Es läßt sich nun folgende Gleichung errechnen: 
DieEnergiezunahme (Beschleunigung) ist gleich der Träg- 
heitszunahme multipliziert mit dem Quadrat des Grenzwerts, 
also der Lichtgeschwindigkeit. Die Richtigkeit dieses Satzes ist 
experimentell bei Elektronen nachgeprüft und bestätigt wor- 
den. Aber Einstein ist einen wesentlichen Schritt weiter gegangen 
und hat die Hypothese aufgestellt, daß jene Beziehung auch auf die 
Ruhmasse geladener und neutraler Körper anwendbar 
sei, daß also überhaupt Energie schlechthin gleich Masse mal 
Quadrat der Lichtgeschwindigkeit sei. Obwohl hierfür keine Andeu- 
tung einer experimentellen Bestätigung vorliegt, hat man diesen 
Satz vielfach als wahr hingenommen und demgemäß die Behauptung 
aufgestellt, daß das Gewichtsmanko des ruhenden Helium- 
atoms von 0,03 g durch einen Energieverlust bei seiner Ent- 
stehung aus Wasserstoff verursacht worden sei. Dieser Vorgang 
spiele sich fortwährend in den Sternen ab, und da dabei enorme Ener- 
giebeträge ') frei werden, glaubte man die dauernde Strahlung der 
Sterne erklärt zu haben. Für die Annahme, daß in den Sternen der 
Wasserstoff sich allmählich in Helium verwandelt, schien sogar die 
vermeintliche Existenz von Wasserstoff- und Heliumsternen zu 
sprechen, Wir werden jedoch sehen, daß diese Schlußfolgerungen 
nicht zutreffen. 


Betrachten wir nun das andere Ende der Atomgewichtsreihe 
der Elemente Uran und Thorium, so begegnen wir der Erscheinung 
der Radioaktivität, des allmählich nach ganz bestimmten 


1) 1 kg Helium würde bei seiner Entstehung so viel Wärme frei machen, 
als bei der Verbrennung von ca. 19 Millionen kg Kohle entsteht. 





RER NLBG: HE 


Gesetzen verlaufenden partiellen Zerfalls. Wie ist es nun denkbar, 
daß ein radioaktives Element überhaupt nochheuteexistiert, 
obwohl es in endlicher Zeit in ein anderes Element unter Verlust 
von Heliumkernen und Elektronen (sog. a und $ Teilchen) übergeht? 
Man kann sich dies so erklären: Bei sehr hoher Temperatur werden 
vom Uranatom mehrere seiner äußeren Elektronen abgespalten und 
dieses, wie man dies ausdrückt, stark jonisierte Uranatom scheint 
beständig zu sein. Erst wenn sich bei abnehmender Temperatur die 
Zahl seiner Elektronen 92 nähert, ist die Möglichkeit gegeben, daß 
innere Zusammenstöße stattfinden, die dann zu Erschütterungen 
und Abtrennung einzelner Heliumkerne und Elektronen führen. 
Von der Größe der Wahrscheinlichkeit solcher Zusammenstöße 
hängt die Zerfallzeit ab. 

Die auf solche Weise plötzlich abgetrennten Heliumkerne und 
Elektronen zeigen durchweg enorme Geschwindigkeiten, bei Helium- 


 kernen bis zu 7 %, bei Elektronen bis zu 98 % der Lichtgeschwindig- 


keit. Beim Aufprall auf andere Körper entsteht Wärme, Die 
Radioaktivität spielt daher in modernen Kosmogonien eine große 
Rolle. Man hat aber die Bedeutung dieser an sich bedeutenden 
Wärmequelle für den Welthaushalt überschätzt. Bestünde 
selbst 1 °/,, der Sonne aus frischem Uran, was auch nicht annähernd 
der Fall ist, so würde dies nicht ausreichen, um den 2000sten Teil 
ihrer ständigen Ausstrahlung zu ersetzen. Wohl mag die radio- 
aktive Strahlung dazu dienen, um alternden Himmelskörpern wie 
unserer Erde die Eigenwärme länger zu erhalten, 


Durch die genau gleichbleibende Dauer seines fortschreitenden 
Zerrfalls ist das Uran zu einer wunderbaren Weltuhr 
geworden. Es zerfällt je nach der Zeitdauer zu einem genau 
bestimmten Prozentsatz in ein Isotopes des gewöhnlichen Bleis und 
in Helium. Man hat nun in vielen Uranmineralien die Menge des 
isotopen Bleis (das ein niedrigeres Atomgewicht hat als gewöhn- 
liches Blei) und auch die Menge des noch eingeschlossenen Heliums 
bestimmt und meist Alter von 1 bis 1,5 Milliarden Jahre 
festgestellt, Kürzlich hat sogar HönısscumiD bei einem Mineral vom 
Kongo das Alter mit 3Milliarden Jahren bestimmt. Bestim- 
mungen des Heliums ergaben 0,5 Milliarden Jahre, doch ist anzu- 
nehmen, daß ein Teil des Heliums diffundiert ist. Und derartige 
Zeitperioden sind erst verflossen, seit de Uranmineralien 
kristallisierten, also seit der Bildung bekannter geolo- 
gischer Schichten. Bestätigt wurde der Befund noch durch das 





—:60 — ; 


Studium der sogenannten pleochroitischen Höfe,diein. 
gewissen Glimmersorten vorkommen, in denen uranhaltige Mine- 
ralien eingesprengt sind. Es ergab sich, daß die Zeit zur Bildung 
solcher Höfe 700 Millionen Jahre betragen haben muß. Noch bis 
vor kurzem war die Wissenschaft den exakten Rechnungen von 
Hermnortz gefolgt, der von der Annahme ausging, die Sonne 
sei durch Zusammenziehung aus einer Gaskugel vom Durchmesser 
der äußersten Planetenbahn entstanden. Aus der dabei theoretisch 
freiwerdenden Wärmemenge schloß er, daß die Sonne im ganzen 
30MillionenJahresowiejetztstrahlenkönne.Da 
man das Alter der Erde mit 20 Millionen Jahren annahm, blieben 
noch 10 Millionen Jahre Sonnenstrahlung übrig. Heute müssen wir 
mit MilliardenvonJahrenalleinseitBildungder 
oberen festen Erdschichten rechnen. Es ist dies eines 
der schönsten Beispiele, wie aus Atomvorgängen auf die Lösung von 
Problemen der Kosmogonie geschlossen werden kann. \ 

Es wurde vorhin schon bemerkt, daß die Wirkung der von den 
Kernen und Elektronen ausgehenden elektrostatischen 
Kräfte in der Regel nur einen kleinen Raumumfang nicht über- 
schreitet. Es kann dies nur an dem Ausgleich aller positiven und 
negativen Felder liegen. Hieraus folgt die wichtige Tatsache, daß es 
gleich viel positive und negative Urgebilde mit 
ihren Minimalfeldern in der Welt gibt. Denkt man sich Kerne und 
Elektronen durch irgend einen Vorgang gebildet, so muß also ent- 
weder die Wahrscheinlichkeit ihrer Bildung die gleiche oder es 
muß bei einer gleichzeitigen Bildung eine Scheidung in je ein + und 
ein — Teilchen vor sich gegangen sein. Eine zeitweilige Trennung 
von Kernen und Elektronen findet, wie wir noch sehen werden, wohl 
statt, doch vereinigen sie sich in der Regel wieder (z. B. im Innern 
der Sterne, bei Gewittern etc.). Ist daher die kosmische Be- 
deutung elektrostatischer Felder verhältnismäßig unbedeutend, so 
wird doch die Elektrizität zu einer großen universellen Macht 
durch die elektromagnetische Strahlung, die den 
ganzen Raum erfüllt und deren Emmission und Absorption einen 
beständigen Energieaustausch der Welt bewirkt '). 

1) So wichtig auch dieser Strahlungsvorgang ist, darf man doch nicht so weit 
gehen wie H. TETRODE, der in einer Abhandlung „Über den Wirkungszusammen- 
hang der Welt” (Zeitschr. f. Phys., 1922, 10, 317) auf Grund moderner Über- 
schätzung relativistischer Formeln schreibt: „Wenn ich einen 100 Lichtjahre 
entfernten Stern betrachte, so wußten die einzelnen Atome des Sterns schon 


vor 100 Jahren, als ich noch gar nicht existierte, daß ich ihr Licht betrachten 
würde und sie wußten auch etwas von den Dimensionen des Fernrohrs, etc." 


SER > BO 


Wir haben von den Bahnender Elektronen um den 
Kern der Atome bisher als etwas gegebenes gesprochen. Hier ist 
jedoch ein großes Geheimnis verborgen. Die Bahnen der 
Elektronen sind einem seltsamen Gesetz unterworfen. Aus uner- 
klärtem Grunde sind nur solche Bahnen möglich, in denen die Elek- 
tronen bestimmte Mengen von Bewegungsenergie besitzen, die sich 
zueinander wie ganze Zahlen verhalten. Es gibt also nur Bahnen 
mit 1, 2, 3 usw. fachen eines Minimalenergiequantums. Dies ist ein 
von BOHR aufgestellter fundamentaler Satz der Quantentheo- 


- rie,. Kommen nun z.B. durch die Zusammenstöße bei hohen Tem- 


peraturen die Elektronen in anormale Bewegung und springt dabei 
ein Elektron von einer energiehaltigeren Bahn in eine energie- 


-ärmere, so werden entsprechend 1, 2, 3u. s. f. Energiequanten frei. 


Diese verwandeln sich in eine elektromagnetische Strahlung, die in 
Form einer transversalen Welle in den Raum wandert. Der Vor- 
gang, bei dem Trägheit (Masse), Energie und Elektrizität zusammen- 
wirken und der den Gesetzen der klassischen Mechanik wider- 
spricht, ist noch ein vollkommenes Rätsel. 


Inder Quantentheorie liegt das größte und 
wichtigste Geheimnisdes Weltaufbaus und wer 
dereinstdie Quantentheorieerklärt, wirddamit 
dieanorganische Welterklärthaben. 


Beim Auftreffen bewegter Elektronen auf Kerne entstehen sehr 
kurzwellige Strahlen, die Röntgenstrahlen. Auch beim Zer- 
fall radioaktiver Elemente werden Röntgenstrahlen, die sog. 
Gammastrahlen, ausgesandt; ein Grund zur Annahme, daß die 
Radioaktivität mit Zusammenstößen jener Art zusammenhängt. Ob 
die Röntgenstrahlen im Makrokosmos von Bedeutung sind, läßt 
sich noch nicht sagen, da sie nur in sehr beschränktem Umfange 
durch die Atmosphäre dringen können. In großen Höhen von 
3—-9000 m hat man eine zunehmende, anscheinend kosmische 
Röntgenstrahlung, die sogenannte HEess'’sche Strah- 
lung festgestellt. 

Alle diese Arten von StrahlentransportierenEnergie 
durch den Raum und üben zugleich einen Druck aus, den 
Strahlungsdruck. Dieser ist vom Atom nach außen ge- 
richtet, also der Anziehung der Schwerkraft ent- 
gegengesetzt. Anfänge zur Einbeziehung des Strahlungs- 
drucks in die Kosmogonie sind gemacht. Aber leider sind es eben 
nur Anfänge. 





N PETE 


TafellIlI gibt eine Übersicht über die Arten der Strahlung. 7 


Wellenlängen 
Elektromagnetischer Strahlenin cm. 
a 1,000 000 
TRETEN | der drahtlosen Teiegraphie | 1.000 
Wellen s i jf 100 
| im Laboratorium | 02 
Wärmestrahlen, Ultrarot ERS 
Strahlun | 0,000 1 E 
S 0,000 08 


(ausgehend von Sichtbares | ER E 
Atom-Elektronen) Licht Durchlässigkeit | 0,000 06 








2 der Atmosphäre 0,000 04 
ER len Ultraviolett [ für EL | 0,000 03 
raviolett | 0.000 01 
im Röntgen- | 0.00 SER 
Röntgenstrahlen Enz y Strahlen der | 0,000 000 014 
(ausgehend von SER | radioaktiven 0,000 000 001 
Atomkernen) Elemente 0,000 000 000 7 
Heß’sche Strahlung (kosmisch) 0,000 000 000 1 
Der menschliche Geist, bestrebt für diese Wellen einen Träger 
zu schaffen, so wie die Luft Träger der Töne ist, hat sich dafür einen j 


hypothetischen Lichtäther ausgedacht. Manche Forscher neh- 
men dazu noch einen Gravitationsätheran. LEnARrD fordert | 
neuerdings einen mit der Materie sich bewegenden Äther undeinen 
ruhenden Uräther. Einstein hatte Anfangs den Äther ganz fallen 
lassen, dann später für das Weltschwerefeld das Wort Gravitations- 
äther zugelassen.‘) E. WIECHERT hat vor kurzem eine Schrift ver- 
öffentlicht, in der er die Notwendigkeit der Äthertheorie auch für 
Relativitätstheorie zu beweisen versucht.) Wir könnten diesen 
Streit übergehen, wäre nicht durch NErnsT und WIECHERT darauf 
hingewiesen worden, daß dieser Äther doch noch etwas ganz 
anderes sein könnte, nämlich ein Meer von potentieller 
Energie, die unabhängig von jeder materiellen Wirkung uner- 
kennbar bleibt. Sie wurde daher als Nullpunktsenergiebe- 
1) Einstein kommt dadurch zu folgendem seltsamen Schlusse (Ather und. 
Relativitätstheorie. 1920. 14). „Es sieht nach dem heutigen Zustande der Theorie 
„so aus, als beruhe das elektromagnetische Feld dem Gravitationsfeld gegenüber 
„auf einem völlig neuen formalen Motiv, als hätte die Natur (!) den Gravi- 
„tationsäther, statt mit Feldern vom Typus des elektromagnetischen, ebensogut 
„mit Feldern eines ganz anderen Typus, z.B. mit Feldern eines skalaren Poten- 
„tials ausstatten können.” (Allerdings würde ein Zusammenhang zwischen Welt- 
schwerefeld und elektromagnetischem Feld die Lichtgeschwindigkeit erklären, 


womit der Relativitätstheorie der Boden entzogen wäre), 
?) Der Äther im Weltbild der Physik. Berlin 1921. 


re cn 





a Er N a. 5 


zeichnet. Ein ccm Raum soll nach WIEcHERT 3,6.10'? Kcal, nach 
Nernst 9.10 Kcal Nullpunktsenergie enthalten. Das sind unge- 
heure Mengen. NErnsT glaubt, daß sich aus ihr die Atome bilden.') 

Versuchen wir nun, ausgehend von der gewonnenen Kenntnis 
des Atoms, zugrößeren Gebilden fortzuschreiten, so treffen 
wir zuerst auf die Bildung vonMolekülen, dann vonFlüssig- 
keitenund festenKörpern. 

Die Bildung von Molekülen kann in zweierlei Weise vor sich 
gehen: durch Vereinigung von Atomen zu einem gemeinsamen 
dynamischen System, oder durch elektrostatische 
Anziehung. 

Die erstere Art beobachten wir z.B. bei der Bildung der Mole- 
küle von Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und vor allem in der 
ganzenorganischen Chemie. Die Berechnung solcher kom- 
plizierter dynamischer Gebilde ist sehr verwickelt und wir wissen 
daher nur wenig Einzelheiten. 

Die zweite leichter verständliche Art beruht auf folgender Eigen- 
schaft vieler Atome. Da sich die Elektronen die den Kern um- 
schwärmen gegenseitig abstoßen, so kann eine starke äußere Schicht 
eine kleinere innere Schicht dem Kern zutreiben und damit einen 
Teil der Wirkung seiner Anziehung übernehmen. Ein solches Atom 
ist dann trotz seiner der Kernladung entsprechenden Elektronenzahl 
noch im Stande, eines oder mehrere Elektronen relativ locker zu 
binden, es besitzt „Elektronenaffinität“. Der Hauptteil 
der Ladung der neu addierten Elektronen bleibt frei und so entsteht. 
ein aus dem Atom negativ geladenes Jon. Andererseits 
gibt es aber Atome, bei denen stärker besetzte, innere Elektronen- 
schichten die Anziehungskraft des Kerns auf einige äußere Elek- 
tronen durch ihre Abstoßung derart abschwächen, daß diese relativ 
leicht verloren werden. Es bleibt, wenn dies eintritt, ein Atom mit 
überschüssiger positiver Ladung ein positives Jon zurück. 

In der Vereinigung solcher Jonen besteht die elektrostatische 
Molekülbildung. Beide Arten der Vereinigung kommen auch gleich- 
zeitig vor. Es zeigt sich hier wieder die Mannigfaltigkeit der Er- 
scheinungen. Vor der ÜberschätzungschematischerBilder 
desMolekülbaus, mögen sie selbst so schön aussehen wie das 
von KossEL entworfene Schema ?), muß man sich hüten. 

Über die Natur der Flüssigkeiten sind wir noch keines- 


1) Dis Weltgebäude im Lichte der neueren Forschung. Springer 1921. 
2) Zeitschrift für Elektrochemie 1920. 314, 





EUR 
wegs ganz im Klaren. Eine deutliche Vorstellung haben wir heute 
über den inneren Aufbau der Kristalle. Ich muß mich mit der 
Bemerkung begnügen, daß bei diesen Bildungen elektrische An- 


ziehungen und gewisse noch unerklärte abstoßende Nahkräfte 
wirksam sind. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. 


Wir haben gesehen, wie wir uns im Urnebel aus Wasserstoff- 
und Heliumatomen die Bildung von anderen Atomen denken können. 
Der nächste Schritt wäre dann die Bildung von einzelnen Molekülen, 
die sich durch Kohäsionskräfte zu kleinen Nebelteilchen zusammen- 
fügen. Hat sich dann an einer Stelle eine Ansammlung gebildet, so 
werden durch die Gravitation immer mehr Atome, Kerne und Elek- 
tronen aus der Ferne herangeholt und in dem Nebel bildet sich 
nach und nach eine riesige Gaskugel. Durch das Zusammen- 
stürzen der Teilchen, die Vereinigung von Kernen und Elektronen, 
erhöht sich die Temperatur. Und schließlich erscheint uns, sobald 
bei 34000 ° Oberflächentemperatur die Sichtbarkeitsgrenze erreicht 
ist, ein von einer Wolke zuströmendes Teilchen umgebener, in 
rotem Lichte leuchtender Riesenball. Durch weitere Verdichtung 
steigt die Temperatur und das ursprüngliche Spektrum verändert 
sich. Wir sehen gelbe, dann weiße Riesensterne von Ober- 
flächentemperaturen bis zu 20,000 °. Ist dieses Stadium erreicht, so 
beginnt die Ausstrahlung zu überwiegen. Die Temperatur nimmt ab, 
das Spektrum läuft wieder rückwärts durch alle Phasen, während 
die Kugel immer kleiner und dichter wird und schließlich ist nach 
.Billionen von Jahren wieder das rote Spektrum erreicht, das aber 
jetzt von einem eben noch sichtbaren Zwergstern ausgestrahlt 
wird. 

Die Größenverhältnisse bei der Verwandlung vom Riesen- zum 


Zwergstern zeigt die Tafel III. 


Dies ist die normale Lebensgeschichte von etwa 90 aller 
Sterne. Beobachten lassen sich diese Veränderungen natürlich nicht, 
wohl aber haben wir gute Gründe für diese Entwicklungsgeschichte. 
Wir können die Sterne je nach ihren Spektren in eine Reihe ord- 
nen, die man der Übersicht wegen in 10 Klassen geteilt hat. 99% der 
untersuchten 220,000 Sterne fallen in die mittleren Klassen M, K, 
G, F, A, B. Andererseits kann man eine Klassifizierung nach der 
Größe vornehmen. Um die Durchmesser der Sterne vergleichen zu 
können, muß man berechnen, wie groß sie bei gleichem Abstand 
von der Erde erscheinen würden. Man wählt dazu zweckmäßig eine 
Entfernung, bei der die Parallaxe eine Bogensekunde beträgt, dies 


la ER a; ; Er N | N 3 R 
ODE 


entspricht einem Abstand von 32,6 Lichtjahren. Willkürlich bezeich- 
net man die Größenordnung derart, daß man einer bestimmten 
Größenklasse wie z. B. Wega (a Lyrae) die Ziffer 0, größeren 







Betei Seuze 


Arkturus 
Sonne 


Stern grössen. 


Tafel III 
Sternen die Ziffern —1, —2 etc., kleinen +1, +2 usw. gibt. Die 
Sonne ist danach ein Stern -+4,9ter Größe. 

RusseL hat die Sterne auf einer Fläche so angeordnet wie 
Tafel IV zeigt. Horizontal ist die Spektralklasse, vertikal die 
Größenklasse aufgezeichnet. Fast alle Sterne fallen dann innerhalb 
der eingezeichneten Streifen und es ergibt sich so, daß es in der 
Spektralklasse Mnur zweisehr verschiedene Größen 
gibt, in Klasse K undG ebenfalls 2 Größen, wenn auch der 
Unterschied geringer ist als bei Klasse M; bei F ist die Zweiteilung 
verschwunden. Diese Tatsache und der Anblick des Gesamtbildes 
führt zu der Annahme, daß sich hier in Form von Exemplaren aller 
Altersstufen die Lebensgeschichte der Sterne vor uns 
abspielt. | 

Dafür spricht ferner die Beobachtung, daß die Massen aller 
Sterne sich in engen Grenzen bewegen und 1033—-1034 g selten 
überschreiten. EppınGron hat hierfür eine einleuchtende Erklärung 





A 


gegeben !). Mit steigender Temperatur der Gaskugel wächst die von 
innen kommende Strahlung und damit der Strahlungsdruck. 
In einem gewissen Stadium, etwa bei Erreichung von Spektralklasse 


Sternklassen (Temperaturen) 


M G F B 
13000°) Na (7000°) |10 000°)| (15 Dh En 









Tafel IV 


G, ist dieser Druck so gewachsen, daß er die Schwerkraftsanziehung 
an der Oberfläche ausgleicht. Neu hinzuströmende Wolken werden 
wie die Kometenschweife abgestoßen. Es tritt ein Gleichgewichts- 
zustand ein und der Größenzunahme ist damit eine 
Grenze gesetzt. Man muß dabei bedenken, daß die Strahlung 
mit der 4ten Potenz der Temperatur zunimmt und außerordentlich 
hohe Beträge erreichen kann. Zuweilen wird es vorkommen, daß 
das Gleichgewicht gestört wird, etwa durch Zusammentreffen mit 
einer kosmischen Wolke oder durch die Gravitationswirkung bei 
Näherung an einen Sternhaufen. Dann’ kann der Strahlungsdruck 


1) Das Strahlungsgleichgewicht der Sterne. Zschr, f, Phys., 1921, 7, 351. 
Interessante Ausführungen zur Theorie von EpvınGTon und zur Entwicklung der 
Sterne hat kürzlich R. Empen auf dem Deutschen Physikertag in Leipzig - 
(Sept. 1922) gemacht. (Phys. Ztschr., 1922, 490.) 





a 


die Hülle explosionsartig zerreißen und zerstreuen. Plötzlich 
leuchtet dann eine Nova auf. Doch bald ist das Gleichgewicht 
wieder hergestellt und ein schwach leuchtender Stern ist übrig 
geblieben. 

Aus dem sichtbaren Spektrum der Sterne schloß man auf ihre 
Zusammensetzung aus gewissen chemischen 
Elementen, bis vor kurzem Mecn Nap Sana, in Calcutta, 
zeigte, daß dieser Schluß viel zu weit geht.”) Er wies darauf hin, 
daß das Fehlen bestimmter Spektrallinien keineswegs die Ab- 
wesenheit eines Elements beweise, denn die Spektrallinien 
werden durch Lichtwellen hervorgerufen, die bei der plötzlichen 
Bahnenänderung bestimmter Elektronen in den betreffen- 
den Elementen entstehen, und die Linien, die wir im Laboratorium 
erzeugen können, rühren bei allen Elementen von wenigen, be- 
sonders leicht beweglichen Elektronen her. Es läßt sich aber zeigen, 
daß bei gesteigerter Temperatur immer mehr äußere Elektronen 
aus den Atomen abgetrennt werden und wenn gerade die Elek- 
tronen verloren sind, von denen die Laboratoriumsspek- 


tra herrühren, dann fehlen natürlich im Sternspektrum diese 


Linien, während das betreffende Element trotzdem sehr wohl vor- 
handen sein kann; nur zeigt es jetzt sein uns unbekanntes Spektrum 
im stark jonisierten Zustande. Daher kommt es, daß in den Stern- 
spektren wie auch besonders im Sonnenspektrum, unzählige Linien 
erscheinen, die wir nicht kennen. 

SAHA berechnete, bei welcher Temperatur einzelne Elemente, 
z.B. Helium oder Calcium, die normalen Spektralelektronen ver- 
lieren und fand, daß auf Sternen von der entsprechenden Tempe- 
ratur tatsächlich diese Elemente nicht mehr aufzufinden sind. 
SAHA kommt zu dem für die Kosmogonie ungemein wichtigen 
Schlusse, daßfastalleSterneannäherndgleich zu- 
sammengesetztsind. 

Die Richtigkeit des Ergebnisses, daß eine weitgehende Abtren- 
nung von Elektronen in den Sternen vorhanden ist, folgt auch aus 
der Beobachtung, daß die Sonne mit einer HüllevonElek- 
tronen umgeben ist, von denen einige mit sehr großer Ge- 
schwindigkeit in den Raum wandern. Die Erscheinung des Polar- 
lichtes hängt hiermit bekanntlich zusammen. 


Auf dem Nebeneinander von mehr oder weniger elektronen- 
armen Atomen und freien Elektronen im Innern der Sterne beruht 


2) Zeitschr. £, Phys., 1921, 6, 40. 





E Bin? L+ u. 
N 

3 Te en f 
a 2 Ze IP, 


EITER 


im wesentlichen ihrWärmehaushalt. Sobald die Sterne an- 
fangen, sich durch Strahlung abzukühlen, vereinigen sich wieder 
bestimmte Kerne mit Elektronen. Hierbei entstehen große 
Wärmemengen, sodaß dieser Prozeß die Zeit der Abkühlung 
außerordentlich verlängert. Es ist schwer, sich von diesem Energie- 
vorrat ein genaues Bild zu machen; daß er aber ungeheuer groß ist, 
kann nicht bezweifelt werden. So erklärt es sich, daß die Sonne 
schon so viele Milliarden Jahre strahlt und die Intensität der Strah- 
lung kaum merklich abnimmt. 


Es hat bisher nicht an Versuchen gefehlt, die dauernde Wärme- 
abgabe der Sonne zu erklären. In früheren Zeiten dachte man 
natürlich an einen Verbrennungsprozeß. Aber bestünde 
die Sonne selbst aus reinem Kohlenstoff und einer entsprechenden 
Saverstoffatmosphäre, so wäre sie bei der jetzigen Intensität ihrer 
Strahlung schon in 4000 Jahren abgebrannt. Dann kam die HELM- 
„orLtz’sche Erklärung durch die Kontraktionswärme, Neuerdings 
ist versucht worden, die Strahlung der Sterne durch Gegenwart 
radioaktiver Elemente oder durch einen Eınstein’schen V er- 
lustan Masse zu erklären. Da man, wie schon erwähnt, mit 
den bekannten radioaktiven Elementen nicht zum Ziele kam, er- 
schuf die Phantasie der Gelehrten Überuranelemente. Eine Ver- 
legenheitshypothese ohne reale Unterlage. Wäre eine Verwandlung 
von Masse in Energieausstrahlung vor sich gegangen, dann müßten 
die alternden Sterne immer leichter werden und z.B. die Sonne 
stetig an Gewicht abnehmen, was den Beobachtungen 
direkt widerstreitet. Auf Grund der Eınstein’schen Um- 
wandlungsgleichung von Masse in Energie müßte nach 10 Bil- 
lionen Jahrenvonderstrahlenden Sonnenichts 
mehr übrig sein; kein Stäubchen und kein Atom, nur 
noch massenlose Nullpunktsenergie. NEernst hat in dem vorhin 
angeführten Buche über das Weltgebäude tatsächlich mit dieser 
Möglichkeit gerechnet und glaubt, daß sich dann wieder aus der 
Nullpunktsenergie neue Uranatome bilden könnten, 

Während wir in .der Entwicklungsgeschichte der Sterne auf 
Grund der Atomtheorie in letzter Zeit die großen Fortschritte ge- 
macht haben, die ich geschildert habe, können wir dies leider hin- 
sichtlich der Planetensysteme, der Spiralnebel und 
der vielen anderen Himmelserscheinungen noch nicht 
sagen. 


Wir sind auch heute in dieser Hinsicht nicht viel weiter 


RE GO. 


als Kant und LaArLace, Wir wissen zwar, daß die Berech- 


nungen ihrer Theorie keine befriedigenden Resultate ergeben; 
aber auch zahlreiche Nachfolger kamen nicht zum Ziel. Ich 
muß darauf verzichten, diese teils geistreichen, teils völlig 
phantastischen Theorien hier zu erörtern. Eine ausführliche 
kritische Zusammenstellung hat neuerdings F. NÖöLKE veröffent- 
licht!) Die Gründe, weshalb man bisher nicht zum Ziele 
gelangte, sind verschiedene. Das System der Planeten, Plane- 
toiden und Monde zeigt zwar klare Gesetzmäßigkeiten wie die ' 
gleiche Richtung der Umdrehung der Planeten und die nahezu in 


die Ebene der Jupiterbahn fallende Bahnebene der anderen Plane- 


ten (außer Merkur), aber es zeigen sich Abweichungen, wie ‚irre- 
guläre” Monde, die sich entgegengesetzt der Drehung des Planeten 
bewegen (4 Jupitermonde und der Satunmond Phöbe) ; ferner fällt 
z.B. die mittlere Ebene der Planetenbahnen nicht mit der Ebene des 
Sonnenäquator zusammen, sondern ist um 5,8° dagegen geneigt. Da 
wir heute wissen, daß das Alter des Sonnensystems Billionen von 
Jahren zählt, können wir uns vorstellen, daß Erlebnisse verschie- 
dener Art zu solchen Abänderungen einer ursprünglich regulären 
Gestaltung geführt haben können. Eine Theorie, die mit Formeln 
das alles umfassen will was wir heute sehen, wird schwerlich zu 
finden sein. Besonders ist aber die Wirkung des Strahlungs- 
drucks und elektromagnetischer Felder bis jetzt 
nicht oder nur unvollkommen mit in Rechnung gezogen worden 
und doch müssen diese bei der Entstehung des Sonnensysteras 
einensehrerheblichenEinfluß gehabt haben. Wir sehr.n, 
wie die Schweife der Kometen vom Strahlungsdruck zurückgebogen 
werden und können daraus auf analoge Vorgänge schließen, die 
vom verdichteten Kern der rotierenden Gasmasse ausgingen, aus 
der das Sonnensystem entstand. Es steht heute ferner fest, daß 
Sonne und Erde von gleichartigen Magnetfeldern umgeben 
sind und daß jede Störung des Sonnenmagnetfelds durch Sonnen- 
flecken?) unsere Magnetnadel beeinflußt. 

Erst wenn einmal diese Wirkungen in Rechnung gestellt 


werden können, wird man im Stande sein, die Bildung komplizierter 





1) „Das Problem der Entwicklung unseres Planetensystems”. 2, Aufl. 1919 
opringer, 

?) HALE hat durch den Zeemanneffekt (Teilung von Spektrallinien) das 
Magnetfeld der Sonne und das Auftreten von starken magnetischen Feldern in 


den Sonnenilecken nachgewiesen. Astrophys. Journal 47, 1918 und R. Empen. 


Naturw. 1921, 916. 


— 0% — ja 


- 


Gebilde, wie Planetensysteme, Doppelsternsysteme, Spiralsysteme 


usw. zu verstehen, die aus der Schwerkraft allein nicht vollständig 
erklärt werden können. 


Die universelle Bedeutung des Strahlungsdrucks haben Kar- 


TEIN, CAMPBELL und Boss benützt, um die Beobachtung zu erklären, 


daß die Geschwindigkeit der gasförmigen Riesen- 


sterne eine größere ist als die der kompakten Zwerg- 


sterne von gleicher Masse. Auch die merkwürdige Tatsache, daß 


bei den Himmelskörpern innerhalb unseres Milchstraßensystems Ge- 
schwindigkeiten von mehr als 100 km, sec. selten sind und die, 


meisten Geschwindigkeiten innerhalb 6-17 km. sec. liegen, ist zur 
Zeit nur durch eine ausgleichende Wirkung des Strahlendrucks zu 
erklären. 


Suchen wir nun zum Schluß die Gesamtheit aller dieser Formen 


den Makrokosmos im weitesten Sinne zu erfassen, so stehen wir vor 


neuen Rätseln. Wir sehen den Himmel beherrscht von dem Ring 


der Milchstraße, Vielleicht sind Gebilde wie der Andromedanebel 


oder der große Zirrusnebel im Schwan ähnlich ungeheure Stern- 
anhäufungen in anderer Form wie die Milchstraße. Viele Forscher 
halten die Spiralnebel für entfernte Milchstraßensysteme. Die 
Tatsache, daß sie an einer bestimmten Stelle des Himmels, dem 


galaktischen Nordpol zu, sich anhäufen, ihre große Zahl und ihre 


starke Eigenbewegung spricht nach Ansicht einiger Astronomen 


dagegen, während andere gerade diese eigenartigen Verhältnisse als 
Beweis dafür ansehen, daß es sich um Gebilde handelt, die nicht 


zum Milchstraßensystem gerechnet werden können. Wie die Bil- 
dung solcher Anhäufungen zu Stande kam und was sich aus ihnen 
entwickeln mag, wissen wir heute noch nicht. Betrachtet man die 
Verteilung gewisser Sternklassen (z. B. der B-Sterne) und besonders 
der „Kugelhaufen“, die sich bei Annäherung an die Milchstraße 


‚aufzulösen scheinen, so gewinnt man den Eindruck, als wachse die 


Milchstraßenochbeständig. 


Zur Lösung dieser und vieler anderer kosmogonischer Fragen 
sind wir auf das Studium der Spektra angewiesen und wenn 
auch leider unsere Atmosphäre von dem ausgestrahlten Licht der 
Himmelskörper nur einen kleinen Teil des Strahlungsbereichs durch- 
läßt, so wird doch das Licht, das uns heute schon Temperaturen, 
Geschwindigkeiten, Bewegungsrichtungen und Aggregatzustände er- 
kennen läßt, immer neue Zusammenhänge erschließen. 

Um diese Sprache der Spektra zu verstehen, müssen wir bei 





RE ET EEE LEEREN LIEZEN U WEBER EN 


nd I An a ll a a I Te a nn 


BEA a in ZZ ET aa a a 


Kl #2. 





ln. 


den Atomen in die Schule gehen und die Methoden von dem 
ZusammenhangderErscheinungendergesamten 
anorganischen Welt zu erkennen, die Kos- 
mogonie, kann uns nur derMikrokosmos lehren. 


Die motorlosen Segelflüge in der Rhön im 


Vergleich zum Segelflug im Tierreich. 


Vortrag von W. Georgii, Frankfurt a. M., gehalten in der Sencken- 
bergischen Naturforschenden Gesellschaft am 18. Februar 1923. 


Aus den Bergen der Rhön ist im August des vergangenen Jahres 


die Kunde in die Welt gegangen, daß deutsche Flieger im motor- 
losen Segelflugzeug sich stundenlang in der Luft zu halten ver- 
mochten und damit ein Problem der Lösung nahe gebracht haben, 
das die Menschheit schon seit Jahrtausenden beschäftigt. Der motor- 
lose Stundenflug bedeutet einen entscheidenden Wendepunkt in der 
Weiterentwicklung des Flugwesens. Während man in den ver- 
gangenen Jahren glaubte, daß die Leistung eines Flugzeuges allein 
auf der Stärke des Motors beruhe, und deshalb eine fortgesetzte 
Steigerung der Motorkraft erstrebte, hat man sich nunmehr auf die 
natürlichen Kräfte der Luft besonnen und versucht, den Beispielen 
der Vögel folgend, dem Winde selbst die Flugenergie zu entnehmen. 
Für alle Flugarten liefert ja die Natur die lehrhaftesten Beispiele, 
vom einfachsten Drachenflieger bis zum vollendetsten Segler. Win- 
zige Raupenspinner, die sich, an ihrem Spinnfaden hängend, vom 
Wind von Zweig zu Zweig tragen lassen, offenbaren sich dem auf- 
merksamen Naturbeobachter als geschickte Drachenflieger. Frösche 
und Eidechsen, die in unserer Gegend zwar weniger als Flugkünstler 
anzusprechen sind, können in tropischen Gegenden beobachtet 
werden, wie sie die ihnen eigentümliche Flughaut geschickt zu 


kürzeren Gleitflügen verwenden. Unsere besten Flieger in der 


Natur sind aber doch die Vögel. Im allgemeinen glauben wir, daß 
die Ruderflieger, die sich durch stetigen Flügelschlag in der Luft 
halten, die Meister der Flugkunst darstellen; doch vermögen auch 
sie noch nicht alle Anforderungen des vollkommenen Fluges zu er- 
füllen. Auch ihren Leistungen setzt die Ermüdung Grenzen. Die 
höchste Entwicklung des Fluges beobachten wir erst bei den Seglern, 
die mit bewegungslosen, weit ausgebreiteten Flügeln mühelos dahin- 
schweben und sich ohne eigene Kraftaufwendung, allein unter Aus- 





ED - 


nützung der natürlichen Energiequellen der Luft, höher und höher 
emporschrauben. Das Rätsel dieses mühelosen Segelfluges der Vögel 
ist auch heute von der Wissenschaft noch nicht restlos aufgeklärt. 
Der bekannte Physiker Lorp RayrEıcH hat drei Bedingungen an- 
gegeben, unter denen ein Flug ohne Flügelschlag aufrecht erhalten 
werden kann. Ein Segelflug ist möglich, 

1. wenn der Flug nicht horizontal ist, 

2. wenn der Wind nicht horizontal weht und 

3. wenn der Wind nicht gleichförmig weht. 
Die erste Bedingung liefert noch keinen eigentlichen Segelflug, 
sondern nur einen Gleitilug. Der Flugkörper gleitet von erhöhter 











— 
m ———— G 
— = 
— 








Helgoland. Be: 











& 150 pt 


N 2 
l a Truhe 
Abb. 1. Segelflug der Möwen im Aufwind an der Steilküste von Helgoland 
(nach R. Nimführ). 

Abflugstelle schräg abwärts. Die treibende Kraft bildet die 
Schwerkraft. Ein derartiger Flug kann immer nur beschränkte Dauer 
haben, da der Flugkörper, je nachdem er steiler oder flacher herab- 
gleitet, früher oder später die Erde erreichen muß. Die zweite Be- 
dingung besagt, daß der Wind in aufsteigender Bewegung sein muß, 
um einen Segelflug zu ermöglichen. Dies Aufsteigen des Windes 
kann auf doppelte Weise hervorgebracht werden, entweder er- 
zwungen durch Hindernisse, wie Gebirge, Wälder, Häuser u. s. w., 
oder thermisch durch Erwärmung. In beiden Fällen erzeugt der 
aufsteigende Wind eine Kraft, die der nach dem Erdboden herab- 
ziehenden Schwerkraft des Flugkörpers entgegen wirkt. Man nennt 
diese Art des Segelfluges, die das Gleichgewicht zweier entgegen- 





: "gesetzten Kräfte zur Voraussetzung hat, statischen Segelflug. 

Ein vortreffliches Beispiel für den statischen Segelflug geben die 
 Möwen an der Steilküste von Helgoland. Die Rhönflüge, die bisher 
durchgeführt wurden, beruhen alle auf der Ausnutzung des am Ge- 
birge erzwungen aufsteigenden Windes und sind deshalb statische 
 Segelflüge, nach dem Prinzip der Segelflüge der Möwen von Helgo- 
land. Die Weiterentwicklung des menschlichen Segelfluges wird 
nunmehr zunächst dahin zielen, den thermischen Aufwind auszu- 
nutzen. Dieser wird erzeugt durch die Erwärmung der Luft an be- 
sonders überhitzten Stellen. An heiteren Tagen treffen wir überall 
über freiem Feld aufsteigende, warme Luftmassen an, die kaminartig 
_ emporsprudeln und in der Höhe gewöhnlich durch eine Wolke ge- 
"krönt sind. In der Nachbarschaft dieser aufsteigenden Luftsäulen 
befindet sich die Luft in absteigender Bewegung. Namentlich über 
relativ kühlen Erdstellen, wie sie Wälder und Flüsse darbieten, 
haben wir absteigende Luftbewegungen zu suchen. Zur Aufrecht- 
erhaltung eines Segelfluges ist es also erforderlich, sich in den auf- 
steigenden Luftsäulen durch Kreisen zu halten. In unserer Gegend 
‘ kann man häufig über freiem Feld unsere Raubvögel, Weih und 
Bussard, kreisen sehen, indem sie sich im statischen Segelflug in 
einer aufsteigenden warmen Luftmasse halten. In tropischen Ge- 
bieten kommt infolge der stärkeren Erwärmung diese Sonnensegel- 
fähigkeit der Luft weit häufger vor als bei uns. E. H. Hankın konnte 
direkt eine Beziehung zwischen der Flächenbelastung der einzelnen 
Raubvögel und ihrem Segelbeginn durch Beobachtungen feststellen. 


























hart en Februar April |Mittel 
Ss 6 15:.°.20°.1724 7 10,781 
. Milan 2.7 0 0 0 0°:,:1>0 0 () 
Ind. Geier 42 BE BENN BER .08 Dr Ar3 
Beng. Geier 5.5 er 
- Kahlkopfgeier RO 70.2°1°.@& 2 417.1. 2762: 1-50 4% BE), 





Der geringsten Flächenbelastung entsprechend, beginnt morgens 
- zuerst der Milan seinen Flug. Nach 20 bis 40 Minuten folgt der 
indische Geier und weitere 20 bis 40 Minuten später der bengalische 
Geier. Der Kahlkopfgeier als der schwerste erhebt sich zuletzt, 
60 bis 80 Minuten nach dem Milan. Aus diesen schönen Beobach- 
tungen Hankın’'s geht zweifellos ein inniger Zusammenhang des 
Segelfluges mit der thermisch aufsteigenden Luftbewegung hervor. 
Die vertikale Geschwindigkeit eines derartig thermisch aufsteigen- 
den Luftstromes beträgt häufig 1—2 Meter pro Sekunde und reicht 


infolgedessen aus, ein gutgebautes Segelflugzeug in der Luft zu - 





halten. Die Möglichkeit ist also durchaus gegeben, daß ein Segel- I: 


flieger sich in einem derartigen Kamin aufsteigender, warmer Luft- = % 








Segelflug im 
aufsteigendem 





Abb. 2, 
massen emporschraubt, und in der Höhe darauf eine neue Stelle Be 


Hangwind. EErE 


NER: Ki Ka N an 
PRESENT BESTELL SEK Ne 


günstigem Auftrieb aufsucht. Als Wegweiser kann er hierbei die = 


Wolken benutzen, die meistens die Säulen aufsteigender Luft 
krönen. Auf diese Weise wird es möglich sein, sich längere Zeit 


in der Luft zu halten und selbst größere Entfernungen zurückzu- 
legen. Während der statische Segelflug in der Theorie und Praxis 
verhältnismäßig einfach ist, stellt der reine Segelflug, der auf em 


dynamischen Prinzip der Umsetzung von Bewegungsenergie beruht, 


schon die Theorie vor eine schwierige Aufgabe. Die praktische $ 


Y Sr a 


"= BE 


er N 
vr EB, 
Fluss Wald Freies Feld 


Statischer Segelflug in thermischem Rufwind. 
Abb. 3. 


Durchführung im menschlichen Segelflug ist vorläufig ein ungen F 
Problem. Der dynamische Segelflug setzt nach der dritten Ray- 


Leıch'schen Bedingung voraus, daß der Wind nicht gleichförmig 


ie DR 
Dr h Aa} ! a . 
TEE LET Kr Li 





‚weht, d. h. daß Schwankungen der Windgeschwindigkeiten, Wind- 
N flauten und Windschwellen, auftreten. Aus diesen Windschwan- 
kungen vermag ein Flugkörper Energie zu gewinnen, wenn er seine 
Flugbahn den Windschwankungen anpaßt, derart, daß er seine Rela- 
_ tivgeschwindigkeit gegenüber dem Wind während der Wind- 
 schwellen herabsetzt, in den Windflauten dagegen beschleunigt. 
Durch diesen Ausgleich vermag der Flugkörper der Luft die in den 
 Windschwankungen aufgespeicherten Energien zu entziehen und 
seiner Flugleistung nutzbar zu machen. Eine kleine Überschlags- 
rechnung mag den auf diese Weise zu erzielenden Höhengewinn 
illustrieren. Ein Flugzeug von der Masse M habe eine Geschwindig- 
keit von 36 km/std. — 10 Meter/Sekunde. Seine kinetische Energie 
beträgt E = m = = ir Es trete eine Windzunahme von 
10 Meter/Sekunde ein, sodaß die Relativgeschwindigkeit sich auf 


20 Meter/Sekunde, die kinetische Energie auf Zr erhöht. Im 


Moment der Windschwelle verwandelt das Flugzeug durch Ziehen 
des Höhensteuers die kinetische Energie in potentielle. Die hierbei 
aufgewandte Arbeit ist gleich der Zunahme der potentiellen Energie 


oder MX 981Xh. — mn Der Höhengewinn des Flug- 
2 GR, 400 — 100 
zeuges während der Windschwelle ist also h — on rund 


15 Meter. Nunmehr setzt Windflaute ein. Die Relativgeschwindig- 
keit des Flugzeuges sinkt auf 0 herab. Zur Erhaltung der Flug- 
fähigkeit muß die potentielle Energie in kinetische umgewandelt 
werden. Zu diesem Zweck gleitet das Flugzeug abwärts und zwar 


um die Höhe h', die sich aus der Gleichung M X 9,81 X h’ — 
iD en 
oder h = IXIE rund 5 Meter errechnet. Wie man sieht, er- 


gibt sich so aus der Ausnutzung der Windschwellen und -flauten 
für das Segelflugzeug noch ein Höhengewinn von 10 Metern. 

Am einfachsten vergegenwärtigt man sich das Prinzip des 
dynamischen Segelfluges an einem Modell. LancHEster vergleicht 
den dynamischen Segelflug mit den Bewegungen einer Kugel auf 
einer Rutschbahn. Um die Kugel von dem tieferen Ausgangspunkt 
einer Rutschbahn auf das höhere Ende zu bewegen, erteilt man der 
-Rutschbahn eine oszillatorische Bewegung, derart, daß man die 
Bahn beim Abwärtsrollen der Kugel in Richtung, beim Aufwärts- 


6: 


rollen der Kugel aber in N Richtung. der Kugel- 33 
bewegung verschiebt. Hierdurch erreicht man es, daß die Kugel aus 
der tieferen Anfangslage zu der höheren Endlage hinaufrollt. In 





Modelt zur Demonstrariondes djn.Segelfluges. 


Abb. 4, 
ganz ähnlicher Weise kann man in der KLemrerer’schen Glasspirale 
eine Kugel aufwärtsbewegen, indem man rythmisch die Spirale 
entgegengesetzt der jeweiligen. Kugelbewegung verschiebt. 

Entsprechend der Modelldarstellungen muß also ein Flugkörper 


im dynamischen Segelflug beim Flug gegen den Wind in der Wind- $ 
flaute durch Abwärtsgleiten Geschwindigkeit zu erlangen suchen, % 
bei Windschwellen dagegen seine erhöhte Relativgeschwindigkeit 


durch Aufwärtsfliegen verringern und in Höhengewinn umsetzen. 





x 


Der Flug erfolgt also in einer Wellenbahn, ähnlich der Rutschbahn, 


Derartige Windschwankungen, wie sie zum dynamischen Segelflug 
erforderlich sind, kommen dauernd in der Natur vor, und zwar ent- 


weder als Schwankungen des Windes mit der Zeit oder mit dem 
Orte. Unsere Windregistrierinstrumente geben uns ein anschau- 


liches Bild der großen zeitlichen Unregelmäßigkeiten der Wind- h 


geschwindigkeit. 


Die örtlichen Windschwankungen erkennen wir am deut- 
lichsten an Hindernissen, die der Windströmung entgegenstehen, 


Die Luvseite dieser Hindernisse liegt im lebendigen Luftstrom, die 


Leeseite dagegen hat Windstille oder nur ganz schwache Bewegung, Bi > 


Br KR N % | a AR , ET Er - R 
En er ee Ne u ru . 


u A 





5 n liegt im sogenannten Totluftbereich. Ein Flugkörper kann diese 
örtlichen Luftschwankungen derart ausnutzen, daß er zunächst vor 


> RE 4 
vr 
N 5 Bi DIAS % 
A 3% Sr 
5 en ER. 
i Rs: ni Kelafıre Geschwindigkeit desTlugzeuges. 
| 14 m/seK.  Abmjsek 14 mjsek. AG mseh. 
Mtmsek Ab mise 4 mjseh 16m|SeK 
se ERS FE .—o— 
| Höhenänderung: 
„4m +8m - 4 m REIT 


: Dynamischer Segelflug. 
Abb. 5. 
den Hindernissen mit dem lebendigen Luftstrom fliegt, dann an der 
Rückseite plötzlich in den Totluftbereich einbiegt und hier seine 


410 Meter proSek. 
| Min— 


Im-p S. 


Mi 


- en [= >) 


oo 


Abb. 6. Kurzperiodische Schwankungen der Windgeschwindigkeit, 
große Relativgeschwindigkeit gegenüber der herrschenden schwachen 
Luftbewegung in Höhengewinn ausspielt. 





Auch auf der See können derartige örtliche Windschwankunge 
zum dynamischen Segelflug benutzt werden. Vor einer Meereswelle = 


gleitet der Flugkörper mit dem lebendigen Winde abwärts und & 


erlangt Geschwindigkeit. Diese Geschwindigkeit setzt er dann im 


Totluftbereich auf der Leeseite der Welle durch einen Sprung in. 223 
Höhe um. Indem sich dieser Vorgang von Welle zu Welle wieder- 3: 





holt, kann so ein Segelflug aufrecht erhalten werden. Es ist denk- 


bar, daß der Albatros, unser bester Meeressegler, auf diese Weise 


seine langen Flüge ohne einen Flügelschlag zu tun, ausführt, 


ME 





Nönamischer Segeiflug durch örtliche Windschwankungen. 
Abb. 7. a 

Die dargelegten Methoden stellen nur die Grundlagen des 
Segelfluges dar. Sie lassen sich noch in vieler Hinsicht erweitern, 
sodaß den Seglern der Luft zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung 
stehen, sich ohne besonderen mechanischen Kraftaufwand in der 
Luft zu halten. Sie nutzen diese natürlichen Energiequellen aus, 
wie sie sich ihnen gerade darbieten, indem sie je nach den herr- 
schenden Verhältnissen bald statisch, bald dynamisch ihren Flug 
durchführen. 

Die Lösung des Problems des menschlichen, motorlosen Segel- 
fluges ist ausschließlich ein Erfolg deutscher Arbeit, deutscher 


Wissenschaft und Ausdauer. Die Versuche LıtLientnar's, des Vaters 


unseres gesamten Flugwesens, sind 1912 zum ersten Male von 
Darmstädter Studenten auf der Wasserkuppe in der Rhön aufge- 
nommen worden. Nach dem Kriege hat Ing. Ursınus, Frankfurt a. M,, 


die Rhönwettbewerbe ins Leben gerufen, die nunmehr bei dritter = x 


Wiederholung die Lösung des Problems des statischen Segelfluges 





TEE ne 


ee, 
I 


im storlosen Flugzeug gebracht haben. Unsere jungen Flieger 
_ haben sich mit seltener Selbstlosigkeit der Sache hingegeben. Der 
Geist, durch den die Rhönerfolge erreicht wurden, ist fast noch 


höher einzuschätzen, als die Leistungen selbst. ‘Die Flugzeuge sind 


fast durchgehend eigene Handarbeit der jungen Flieger. Darm- 


städter Studenten haben sich neben ihrem Studium von ihrer Frei- 
zeit noch 8000 Arbeitsstunden abgespart, um in diesen ein eigenes 
Flugzeug zu erbauen. Die Mittel haben sie sich selbst, zum Teil 


| % unter persönlichen Opfern, verschafft. Charlottenburger Hochschüler 





Abb. 8. Verschiedene Arten des Vogeliluges,. A—B Ruderflug. B—C dynami- 
scher Segelflug über ebenem Gelände. C—D statischer Segelflug im auf- 
steigenden Hangwind. D—E Gleitflug. 


"haben zu Fuß ihr Flugzeug auf einem Handwagen von der Rhön nach 


Berlin zurücktransportiert, weil sie die Mittel für die teuere Fracht 
nicht aufbringen konnten. Auf der Rhön selbst arbeiteten Gelehrte 
und Handwerker in herzlicher Gemeinschaft an der Lösung der Auf- 
gabe. Die Unbequemlichkeit des primitiven Barackenlagers auf der 
Wasserkuppe und die Bescheidenheit der eingerichteten Gemein- 
schaftsküche ertrugen ältere Hochschulprofessoren mit gleicher 


Begeisterung wie junge Studenten. Durch diesen selbstlosen, echt- 
deutschen Idealismus ist der Menschheit eine weitere Naturkraft 


dienstbar gemacht worden. Dieser einmütige Geist der Arbeit ist 
das menschliche, moralische Schöne, das die Rhöntase Vielen ge- 
geben haben. Durch ihn ist die Zuversicht von neuem geweckt wor- 


den, daß, wo immer sich eine Gemeinschaft zu selbstloser, der All- 


gemeinheit dienender Arbeit zusammenschließt, auch da der Weg 
trotz widriger Winde wieder aufwärts zur Höhe führen muß. 


2 








Bachbespiehein. 


Taten der Technik. Ein Buch unserer Zeit. In Veriadiar zig az 
hrsg. v. Hanns Günther (W. de Haas). Bd. 1. Zürich & Leipzig: Rascher * 
1923, 328 S. 10 farbige Tafeln,.20 Porträts. 4% (Preis: Grundzahl 20, Hin. 24 = 
GzIn. 26, mal Schlüsselzahl des Buchhandels). En a = 

Ein Buch, das eine ausführlichere Besprechung als hier möglich verdienen Ex 
würde, Denn wir leben zwar im Zeitalter der Technik, aber die wenigsten kennen 
das Wie und Woher der Dinge, die ihnen das Leben erleichtern und ver- 
schönern und oft erst ihre Arbeit, ihr Dasein ermöglichen. Da ist es für den 
Nichttechniker doch eigentlich eine innere Notwendigkeit, sich ab und zu fe 
einige Gebiete moderner Technik führen zu lassen; und wenn das in so vor 
trefflicher Weise geschieht, wie es hier de Haas und seinen Mitarbeitern n 
allgemeinverständlicher Darstellung gelungen ist, wird die Notwendigkeit zum 0% 
Genuß. Dazu hat auch der Verlag durch die gute Ausstattung und die Ermög- : 
lichung außerordentlich zahlreicher Bildbeigaben wesentlich beigekraßene ‚Inhalt 
des 1. Bandes: SEE 

E. Lasswitz: Kultur und Technik, ein Wort zum Geleit — inch Eh 
für die, die von der Technik nur die rauchenden Schornsteine sehen! H 
Günther: Quer durch den Lötschberg. Nicht nur die rein technische Seite 
großer Tunnelbauten, auch ‘die wirtschaftlichen Verhältnisse erläuternd; vor» 
zügliche Abbildungen. A. Fürst: Im Eisenwalzwerk. Besonders die Abbil- 
dungen, Menzels Eisenwalzwerk und ein modernes selbsttätiges Blockwalzwerk, en 
verdeutlichen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, Fürst: Sterngucker 
von einst und heute. Günther: Ins Meer hinab. Die modernen Tauchaus- 
. rüstungen (Taucherglocken, schlauchlose Taucherapparate, Tauchschlitten), die 
in den letzten Jahren das Drägerwerk in Lübeck schuf und vervollkommnete, # 
“ Günther: Das Sonnenkraftwerk von Meadi. Ob sich in den nächsten Jahr- 
zehnten der Wirtschaftskampf statt um Kohle und Erdöle um „Sonnenfeldee” 
drehen wird — vielleicht wird der „Platz an der Sonne” begehrter sein als Kohle 
und Öle, Fürst: Im Stellwerk, die Entwicklung der Eisenbahnsicherungen. 
Günther und E. Bergener: Der Kreisel im Dienste der Technik. 
Günther und Lasswitz: Hochhäuser und Wolkenkratzer. Für uns Frank- 
furter ist die eingehende Schilderung des höchsten Gebäudes der Welt, ds 
Woolworth Building (55 Stockwerke, 236 m) durch Günther besonders inter- 
essant mit Rücksicht auf die jetzt auch in Deutschland entstehenden Hochhäuser, 
Allerdings wird das Frankfurter Hochhaus, das erste deutsche im Bau befind- 
liche, dem gegenüber nur eine Hütte sein (15 Geschosse, 60 m) (Lasswitz). 
Fürst: Schnellverkehr im Draht. L. Richtera: Das Geheimnis der Metall- 
fadenlampe, Günther: Selbsttätige Leuchtfeuer. Der Schall im Dienste der 
Schiffahrt. Fürst: Die Heißdampflokomotive. Günther: Die Eroberung der 
Wüste. Die großen Stauwerke der Welt; man wird lebhaft an Eyths „Kampf 
um die Cheopspyramide" erinnert. % 

Das Erscheinen des zweiten Bandes, der dus“ Werk abschließt, Yard an r 


- 


dieser Stelle mitgeteilt werden. Weinreich, 77 = 





Pr 





Das Rätsel der Wünschelrute 


von Dr. Eduard Aigner, München 
(Vortrag gehalten in der Senckenbergischen Naturforschenden 
Gesellschaft am 21. Januar in Frankfurt a. M.) 


Seit Jahrhunderten spielt die Frage über das Wesen und den 
_ Wert der Wünschelrute eine große Rolle. Das „Magische Reis”, 
wie Goethe sagt, wurde mit mystischen Eigenschaften ausgestattet, 
es sollte zur Auffindung von Wasser, von unterirdischen Boden- 
schätzen, zur Entdeckung von Verbrechern und sonstigen okkulten 
Dingen in unerklärlicher und wunderbarer Weise geeignet sein. In 
den letzten Jahrzehnten ist es nun geglückt, durch systematische 
Forschungen die mystische Schale der sagenhaften Wünschelrute 
zu entfernen und einen sachlichen Kern zu finden, der heute bereits 
Angriffspunkte für eine wissenschaftliche Betrachtung bietet. Der 
Zauberstab der Rute hat dabei allerdings an Bedeutung verloren, 
er ist zu einem einfachen Fühlhebel geworden, der in der Hand 
eines geeigneten Menschen durch die Muskelkraft bewegt, Zustands- 
_ änderungen der Erdoberfläche anzeigt, aus denen unter Umständen 
Rückschlüsse auf Zustandsänderungen des Erduntergrunds gezogen 
werden können. Also der Rutengänger, der Träger der Rute ist es, 
dem die unerklärliche Eigenschaft innewohnt, er bewegt den Stab, 
der, im labilen Gleichgewicht gehalten, durch den „Rutenausschlag“ 
in das stabile Gleichgewicht gedrängt wird. 
Zwei Gesichtspunkte sind es, von denen aus man zur 
Zeit an die Rutenforschung herantritt. Erstens der rein prak- 
tische, der die große Bedeutung der Auffindung unterirdischer 
Wasseradern und Bodenschätze im Auge hat. Bei der heute noch 
bestehenden Unzuverlässigkeit des Rutengängers und bei der Un- 
kenntnis der Gesetze, denen der Rutengänger unterliegt, kann diese 
praktische Verwendbarkeit mit Recht noch in Zweifel gezogen wer- 
den. Wir stehen eben am Anfang einer Forschung. Es gilt”die 
Fehlerquellen erst ausfindig zu machen. Der zweite Gesichtspunkt 
behandelt die Wünschelrutenfrage von der theoretischen Seite, 
indem er die Eigenschaften des menschlichen Organismus und die 
Energieformen zu ergründen versucht, die bei der Rutentätigkeit in 
bisher unerklärlicher Weise am Werke sind. Diese Untersuchungen 
sind für den Arzt und Physiker von besonderem Interesse, Nur 


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ein Teil der Menschen scheint nach den bisherigen F eststellungen S 


zur Verwendung der Rute befähigt, und bei diesen Menschen scheint 
nur unter gewissen Umständen die Fähigkeit zur Pe zu 
kommen. 


Man hat in der letzten Zeit im Anschluß an die Untersuchunin 
von HascHEr in Wien und HERZFELD in München angenommen, daß 





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elektrische Spannungen auf der Erdoberfläche durch den elektri- e 


schen Leitungsgrad unterirdischer Wasserläufe oder sonstiger unter- 


irdischer Bodenverhältnisse beeinflußt werden. Man hat ferner ange- = 


nommen, daß der Rutengänger die Schwankungen dieses elektri- 


schen Feldes unbewußt empfindet und mit einer Muskelzuckung der 


Hände auf diese Empfindung antwortet. Vom ärztlichen und allge- 


mein naturwissenschaftlichen Standpunkte aus ist gegen diese An- 


schauung nicht das Geringste einzuwenden. Wir gestehen allerdings 


hiermit dem menschlichen Organismus eine Empfindlichkeit zu, wie 


sie kein physikalischer Apparat aufweist, denn es ist bisher nicht 


gelungen, mit den feinsten Apparaten diese elektrischen Schwan- 


kungen festzustellen. — 


Ein Rückblick auf die Geschichte der Wünschelrute zeigt am 
Besten, wie viel umstritten dieses Problem ist und wie es zu allen 


Zeiten und bei allen Völkern immer wieder eine Rolle spielte. Am 


bekanntesten ist wohl der Bericht in der Bibel über den Stab des 


Moses, mit dem dieser 2 mal an den Felsen schlug, worauf Wasser 


heraussprang. Dieser Bericht würde in die heutige Denkweise über- 
setzt lauten: Moses nahm einen Stab als Wünschelrute, und als 


dieser zweimal schlug, grub man in dem Felsen, und es sprang 
Wasser heraus, Bei den Scythen und den alten Germanen finden 
wir ähnliche Berichte, auch hat man den Stab des Merkur im Sinne 


der Wünschelrute gedeutet. Doch sind das sagenhafte Berichte, 


auf denen sich eine wissenschaftliche Forschung nicht aufbauen 


läßt. Erst im Mittelalter finden wir genaue Anhaltspunkte über die 
Verwendung von Rutengängern beim Aufsuchen von Erzen. Das 
nicht immer erfolgreiche Arbeiten dieser Leute kennzeichnet am 


Besten der Arzt Tnueornrastus Paraceısus, indem er das Ruten- he 
gängertum zu den „unsicheren Künsten“ rechnet. Eine Reihe von 
Wissenschaftlern, besonders Physikern, nahm in der Folgezeit in 


umfangreichen Abhandlungen das Studium der Wünschelrutenfrage 


auf. Bei den Italienern wurde die „virgula trepidante”, bei den BEN 
Franzosen die „baguette divinatoire”' und bei den Engländern der 
„divining road” der Gegenstand lebhafter Streitfragen. Mitte des 








BE Ed ai u ARTE | 


: vorigen Jahrhunderts hat der Wiener Reıcnensach die „Odstrahlen“ 


zur Erklärung des Rutenphänomens herangezogen,‘ ohne hierbei 
wissenschaftliche Anerkennung zu finden. In Deutschland trat die 
Rutengängerfrage besonders stark in Erscheinung, als der Landrat 
von UsLar nach Südwestafrika entsendet wurde, um dort Wasser 
für die deutschen Kolonialtruppen mit der Wünschelrute zu finden. 
Spott und Satire begleiteten damals diesen Pionier des Ruten- 
gängertums auf seiner erfolgreichen Reise. Die Akten des Kolonial- 
amts lassen einwandfrei erkennen, daß einzelne Erfolge UsrLar's 
jeder Erklärung spotten. An Stellen, an denen kein Fachmann, kein . 
Geologe Wasser vermutet hätte, z.B. auf Paßhöhen, wurde an der 
Hand der Ustar'schen Angaben Wasser erbohrt. Auf der 90 km. 
langen Durststrecke, die für unsere Truppen geradezu unüberwind- 
lich war, wurde nach zahlreichen erfolglosen Versuchen an einer 
Usrar-Stelle, die von größter praktischer Bedeutung war, Wasser ge- 
funden. Dieser geringen Zahl einwandfreier Erfolge steht eine über- 
wiegende Zahl von Mißerfolgen gegenüber. Es kann aber bei der 
Unkenntnis der Gesetze des Rutenphänomens dieses Verhältnis von 
Erfolg und Mißerfolg zunächst unter keinen Umständen eine grund- 
sätzlich entscheidende Bedeutung haben. So liefert diese Statistik 
der Usrar-Versuche bereits heute eine wissenschaftliche Unterlage 
für die Tatsächlichkeit des Rutenphänomens. Im Jahre 1911 wurde 
unter Leitung des Wirkl. Geh. Admiralitätsrates Franzıus-Kiel ein 
„Verbandder Wünschelrutenfrage” gegründet, der in 
einer Reihe von Tagungen praktische Versuche veranstaltete und in 
einer Anzahl von Schriften!), systematisch und wissenschaftlich 
das Wünschelrutenproblem behandelte, Die bedeutendsten Ergeb- 
nisse auf diesem Gebiet sowie bibliographische Zusammenstellungen 


| sind in diesen Schriften aktenmäßig niedergelegt. — 


Die Handhabung der Rute erfolgt gewöhnlich folgendermaßen: 


Abbildung 1 Die gebräuchliche Wünschelrute. Ein Gabelzweig von etwa 30 cm. 


Länge, dessen Enden von dem Rutengänger gehalten werden. 


a! Neun Verbandsschriften im Verlag Conrad Wittwer in Stuttgart. 





Abbildung 2 Haltung des Gabelzweigs. Untergriff; labiles Gleichgewicht augt Y 


federnd angespannten Zweiges. h 
Ein Gabelzweig von etwa 30 cm. Länge wird in die beiden Hände R 
(Handfläche nach oben, Daumen nach außen) .gelegt. Dieser ER 
federnde Zweig, der auch durch irgend eine Drahtschlinge ersetzt ie 
werden kann, wird nun mit den Fingern der zur Faust geballten 
Hand in horizontaler Lage gehalten. Die Ellenbogen sind an den er 
Körper angelegt, die Vorderarme horizontal nach vorne gestreckt, IS 
die Rute selbst wird so als Fühlhebel in Verlängerung der Vorder-- 
arme getragen. Es bedarf zunächst einiger Übung, um ein unge- 
wolltes Ausweichen der federnd gespannten Rute aus dieser labilen 
Lage zu vermeiden. Kilometer lang vermag dann der geübte Ruten- 
gänger zuweilen zu gehen, ohne daß sich in der Lage der Rute etwas 
ändert. Plötzlich tritt ohne jede erkennbare Ursache, ganz gegen 
den Willen des Trägers, ja trotz seines bewußten Entgegenarbeitens 
eine Drehung der Rute nach oben oder unten ein, aus der horizon- 
talen in eine vertikale Lage, aus dem labilen in das stabile Gleich- 
gewicht. Dieser Vorgang wird als „Rutenausschlag" be- 





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Abbildung 3 Die Holzruten werden heute durch Metallruten ersetzt. In Form “ 
von Drahtschleifen und Drahtspiralen werden diese in gleicher : 

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Weise wie der Gabelzweig federnd durch die Handmuskulatur m 
labilen Gleichgewicht gehalten. = 


zeichnet. Er ist willkürlich leicht nachzuahmen. Er soll nun aber 
durch Zustandsänderungen, die von außen den menschlichen Orga- 








‚suggestiven und Stosuggeetven Tänschungen unter gewissen Um- 
-  ständen örtliche Veränderungen diese Reaktion im Rutengänger 
Bi. unbewußt und ungewollt auslösen können. 
ei Es war von besonderer Bedeutung, ein System der Prüfung 
ausfindig zu machen, das eine Beweisführung für das Rutenphäno- 
- men in einwandfreier Weise gestattete. Das Auffinden von Wasser 
- konnte z.B. bei den klimatischen Verhältnissen Deutschlands nicht 
als Beweis angesehen werden, da die Wahrscheinlichkeit der Fün- 
digkeit bei uns zu groß ist. Es konnten also nur solche Fälle in Be- 
_ tracht kommen, wo vorherige Bohrungen nach Wasser ohne Erfolg 
durchgeführt worden waren, oder die bisherigen wissenschaftlichen 
-  Forschungsmethoden, besonders die der Geologie, das Vorkommen 
von Wasser als ausgeschlossen bezeichnet hatten. Solche Fälle liegen 
_ heute nachprüfbar und aktenmäßig vor. Hierfür ein Beispiel: 
k In Hildesheim ließ die Herdfabrik Senking kein Mittel 
_  unversucht, auf ihrem Grundstück Wasser zu erbohren. Bis auf 
150 Meter Tiefe wurde der Lias-Ton der Erdoberfläche durch- 
5, forscht, ohne daß auch nur Spuren von Wasser gefunden wurden. 
Als ein Rutengänger im Herbst 1913 auf Veranlassung der Fabrik- 
_ leitung das Gelände beging, bezeichnete er in unmittelbarer Nähe 
_ der erfolglosen Bohrstätte zwei Stellen, an denen in der Tiefe von 
30, bezw. 50 Metern, also in ein Fünftel bezw. ein Drittel der bisher 
erfolglos erbohrten Tiefe, Wasser gefunden werden sollte. An 
beiden Stellen wurde in der behaupteten Tiefe 
Wasser gefunden, Es handelte sich um zwei schmale, ver- 
_  mutlich durch Verwerfungen entstandene Wasseradern, von denen 
die eine nur zwanzig Meter von der erfolglosen Bohrung entfernt 
in 35 Meter Tiefe salzhaltiges Wasser enthielt, das zur Kesselspei- 
a sung unbrauchbar war, während die andere etwa hundert Meter von 
der erfolglosen Bohrung entfernt in 50 Meter Tiefe heute, nach zehn- 
- jährigem Bestehen, unvermindert 100 cbm. im Tag liefert. Das 
E Fabrikgelände ist vollkommen eben, enthält nicht die geringsten 
Anhaltspunkte für Verwerfungen oder sonstige Änderungen der 
Bodenformation. Die Ruten-Untersuchungen wurden auf den, die 
- zahlreichen Fabrikgebäude durchkreuzenden Straßen gemacht. 
-— Vor der endgültigen Nachprüfung der Rutengängerangaben hatte 
man die geologische Landesanstalt Berlin um ein Gutachten über 
die Aussicht allenfallsiger Bohrungen nach Wasser gebeten. Das 





















Gutachten wurde ausführlich ausgefertigt, ist am 28. Ana 1913 
ausgestellt, von dem Direktor der geologischen Landesanstalt Geh. 


Rat BEvschLaG unterzeichnet. Es sagt aus, „daß die Lias-Tone des 


Untergrunds bis 250 und 300 Meter Tiefe reichen und auf Grund 


der Beschaffenheiten der Gesteinsschichten die Bohrung keine 
wasserführenden Schichten erreichen wird und die Anstalt „von 5 
einer. Bohrung abgeraten haben würde, wenn man sich rechzeitig * 


mit ihr in Verbindung gesetzt haben würde.“ 


Dieses geologische Gutachten besteht vollkommen zu Recht. 





Abbildung 4 Der Rutengänger im Weltkrieg. Haltung des Gabelzweiges. Vorder- Ai 


arme wagrecht, Ellenbogen an den Körper angelegt. 


Durch eine Reihe von Bohrungen ist das geologische Urteil bestätigt 


Ebenso ist erfahrungsmäßig die Schlußfolgerung des Geologen be- a 


rechtigt, daß im Lias-Ton Bohrungen nach Wasser keinen Erfolg 
versprechen. Das Vorgehen des Rutengängers ist aber auf ganz 


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andere Gesichtspunkte gestützt. Es scheint in dem vorliegenden Be 
Falle gerade durch die einheitliche Formation des Untergrundes Er 
jede Störung, wie sie durch die Verwerfung hervorgerufen wird, be- 


sonders deutlich empfunden worden zu sein. Wir haben also einen 


Rutengängererfolg, der entgegen den vorausgegangenen technischn 


und wissenschaftlichen Prüfungen die Rutengängerangaben be- I 
stätigt. Die Zufalls- und Wahrscheinlichkeitsberechnung ergibt hier 
eine Zahl, die zur Erklärung garnicht in Betracht ‘gezogen werden 








ann. Wir müssen vielmehr die uns noch unbekannten Wahrneh- 
mungen des Rutengängers als alleinige Ursache des Erfolges gelten 
lassen. Wir müssen ferner zugestehen, daß Tausende von Miß- 
erfolgen bedeutungslos sind gegenüber einem solchen, mit allen 
Mitteln durchgearbeiteten und geprüften positivem Ergebnis. 


Herr Direktor Hace der Fabrik Senking hat in liebenswürdigster 

_ Weise die umfangreichen Forschungen unterstützt und sich bereit 
_ erklärt, zu Nachprüfungen des weiteren Verlaufs der gefundenen 
_  Verwerfung zwecks wissenschaftlicher Forschung seine Uhnter- 
_ stützung zuzusagen. Ihm sei auch an dieser Stelle dafür gedankt'). 





Er Abbildung 5 Der Rutengänger im Weltkrieg, Rutenausschlag. Der Gabelzweig 
Br hat die horizontale Lage (Abb. 4) verlassen; er ist aus dem labilen 
Gleichgewicht in das stabile Gleichgewicht gelangt. Örtliche Eigen- 


e- schaften, z. B. Wasserläufe, werden als Ursache dieser durch die 
Bi Handmuskulatur veranlaßten Lageveränderung angesehen, 


Es muß zugestanden werden, daß die Mißerfolge der Ruten- 
 gänger und besonders die phantastischen Behauptungen über die 
Wirksamkeit der Rute auch heute noch zu äußerster Vorsicht und 
teilweise zu stärkstem Widerspruch zwingen. Die geologische Lan- 
$: 1) Der ausführliche Schriftenverkehr, der in dieser Angelegenheit zwischen 
Fabrik Senking, preußisch geologischer Landesanstalt Berlin und dem Verband 
zur Klärung der Wünschelrutenfrage geführt wurde, ist in Heft 9 der Schriften 


5 zur Klärung der Wünschelrutenfrage, 1922, Verlag Konrad Wittwer, Stuttgart, 
Seite 15—21 veröffentlicht. 









me nl im Dezember des En 1920. & 


umfangreiche Versuche mit mehreren Rutengängern auf erschlosse- 
nem Gebiet über Kohle, Salz, Wasser zu veranstalten. Diese Ver- = 
suche zeitigten einen vollständigen Mißerfolg der Rute. Erstens 
stimmten die Angaben der drei Rutengänger untereinander niemals > „ 
überein, ferner waren die Angaben der Rutengänger nicht mit den 
bisherigen Feststellungen in Einklang zu bringen. Es erfolgten im 
Salzgebirge, wie im salzfreien Gelände zahlreiche Ausschläge, bei 
der Grenzbestimmung des Salzstockes waren die Rutenausschläge 


in gar keinem Zusammenhang mit den bisher festgestellten Grenzen. 


Auf dem Gelände, in dem das Auftreten von Kali und Kohle so gut & 
wie ausgeschlossen war, wurde von jedem Rutengänger in ab- 
weichender Weise Kali und Kohle vermutet. Die sonstigen Angaben 
auf Wasser, Öl und Anderes waren zum Teil nicht nachprüfbar oder 
den bisherigen Feststellungen widersprechend. Die geologische 
Landesanstalt hat in der ausführlichen Schrift?) Verlauf und Ergeb- 


nis dieser Versuche veröffentlicht. Sie kommt dabei zu dem End- 


urteil: daß „Beziehungen zwischen den nutzbaren Stoffen in der. 
Erde und der Rute in der Hand des Rutengängers durch den Aus- 


gang der beschriebenen Versuche nicht einmal wahrscheinlich ge- 


macht worden sind.“ . 


Es liegt der Gedanke nahe, daß in dem vorliegenden Fall die 
Versuchsanordnung oder ihre Durchführung den Mißerfolg veran- 
laßt haben könnte, Tatsächlich wurden von dem internationalen 
Verein der Rutengänger (Vorsitzender Dr. P. Beyer, Hannover) 
die Vorschläge der geologischen Landesanstalt als undurchführbar >= 


bezeichnet und eine Beteiligung abgelehnt. Die sich trotzdem frei- 


willig ohne Beteiligung der Rutengängerorganisation meldenden 


Rutengänger mußten gleichfalls die gestellten Aufgaben als im 
vollen Umfange nicht durchführbar bezeichnen, obwohl von den be- 
teiligten Geologen, unter Führung von Prof. Dr. Krause, Alles ge- 


schah, um einen Erfolg der Rutengänger zu ermöglichen. Es muß 
das wohlwollende und unparteiische Verhalten aller bei den Ver- 





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suchen beteiligten Herren der geologischen Landesanstalt dankbar 
und ausdrücklich anerkannt werden. Die Aufgaben waren aber 
zweifellos zu groß gewählt, stellenweise war eine suggestive Beein- 





flussung der Rutengänger nicht vermieden und die ständige Bet 


Az 2) Zur Wünschelrutenfrage, mit 5 Textfiguren, herausgegeben von der geo- Tas 


logischen Landesanstalt in Berlin, Invalidenstraße 44, 1921. 








gleitung durch aufzeichnende Kontrolleure dürite in kommenden 
Versuchen als störend beiseite zu lassen sein. 





Abbildung 6 Thüringischer Bauernbursche, eine Drahtschlinge als Rute be- 
Br. nützend. 

Be Derartige Mißerfolge der Rutengänger bilden heute zweifellos 
die Überzahl bei den praktischen Versuchen. Es werden ständig 
-  wergebliche große finanzielle Opfer von Privatpersonen und von 
Gemeinden und Behörden auf Grund der Rutengängerangaben 
gemeldet. Auch hier liegt in der Versuchsordnung und ihrer Durch- 
- führung meistens der Fehler. Es empfiehlt sich, dem Rutengänger 
= einen Begleiter mitzugeben, der die Angaben zu Protokoll bringt, 
_ oder den Rutengänger mit einem Einzeichnungsplan sich selbst zu 
‚überlassen. Die so gewonnenen Protokolle werden sodann dadurch 
einer Nachprüfung unterzogen, daß man in getrennter Untersuchung 
einen zweiten oder dritten Rutengänger in ganz gleicher 
Weise, ohne ihn vorher von dem bisher gewonnenen Ergebnisse in 
Kenntnis zu setzen, das Gelände begehen läßt. Die so unabhängig 
; : . von einander hergestellten Aufzeichnungen der Rutengänger werden 
bezüglich ihrer allenfallsig übereinstimmenden Angaben Anhalts- 
punkte geben über einen zu erwartenden Erfolg. Solange wir auf 
den menschlichen Organismus mit seiner Unzuverlässigkeit, mit den 














. suggestiven und autosuggestiven Täuschungsmöglichkeiten ange- Bor 





wiesen sind, läßt sich ein solches umständliches Verfahren nicht 


vermeiden. Es ist anzunehmen, daß erstens der Rutengänger nicht 


immer gleichmäßig zu den Untersuchungen veranlagt ist; esist 


ferner anzunehmen, daß die Zustandsänderungen, die auf ihn 5 
wirken sollen, durch meteorologische oder sonstige Verhältnisse 2 
beeinflußt werden können, sodaß die Zahl der Fehlerquellen eine 


geradezu unbegrenzte ist. 

Man versuchte durch systematische Laboratoriumsversuche dem 
Wesen der Wünschelrute näher zu kommen. Trotz teilweise über- 
raschender Erfolge beim Aufsuchen verdeckter Metalle und anderer 
Objekte brachten die jahrelangen Experimente kein abschließendes 


Urteil. Am meisten Beachtung verdienen wohl die erwähnten Ver- er 
suche von HascHEr und HERZFELD, bei denen der Chefgeologe der 


geologischen Reichsanstalt, Dr. WAAGEN in Wien, als Rutengänger 38% 


sich betätigte. Die Versuche wurden in einem Laboratorium des 


Wiener Physikalischen Institutes vorgenommen, um objektive, phy- 
sikalisch definierbare Erscheinungen als Ursache der Beeinflussung 
des Rutengängers zu finden. Die Experimentatoren geben zu, daß 


das Ergebnis von ihren vorher gehegten Auffassungen abweicht. 
Zuerst wurden im Versuchsraum die vorhandenen wirksamen Massen 


aufgesucht, dann im störungsfreien Teil des Raumes der‘ Ruten- 


gänger geprüft. Er wurde über das Wesen der Versuche in Un- | 


kenntnis gelassen und war von einem ebenso unwissenden Zeugen 
begleitet. Die zu untersuchenden Objekte waren verdeckt. Es zeig- 


ten sich Gase und Dämpfe unwirksam, dagegen erzeugte Wasser in Br 


offenen und zugeschlossenen Glasröhren eine Reaktion. Elektrische 


Gleich- und Wechselströme waren wirksam. Bei verdrillten Kabel- 


leitungen blieb die Wirkung aus. (Induktionsfreie Wickelung). Es 
galt nun zu prüfen, ob das elektrische oder das magnetische Feld 
die Ursache hierfür war. Das stromdurchflossene Solenoid wirkte. 
Bei Abschirmung des elektrischen Feldes durch einen geerdeten. 


Drahtnetzkäfig blieb die Wirkung aus. Somit schien das elektro- 


statische Feld als Ursache ermittelt. | 
Es ergab sich für das Rutenwesen folgende Auffassung: Der 


Erdboden ist stets von elektrischen Strömen, den Erdströmen, x 
durchflossen. Diese Stromlinien drängen sich in den im Erdboden 


etwa enthaltenen besseren Leitern zusammen, während sie inden 


schlechteren Leitern in geringerer Dichte enthalten sind. Diese Un- 
gleichförmigkeit i im Verlauf der Stromlinien, die ihren Grund in denn 





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Ungleichförmigkeit des Widerstands des Erdbodens hat, äußert sich 


_ in Spannungsunterschieden des elektrischen Feldes der Erdober- 


fläche. Diese Spannungsunterschiede wirken auf den Organismus 
des Rutengängers und lösen automatisch den Rutenausschlag aus. 
Die Versager bei nervösen Verstimmungen und bei Ermüdungen, 





Abbildung 7 Laberatoriumsversuche, Die Rute soll auf die Messinggewichte der 
einen Tischseite in anderer Form reagieren als auf die an der an- 
deren Tischseite liegende Goldmünze. Bei diesen Versuchen muß 
die Beobachtungsmöglichkeit des Rutengängers, wie sie hier durch 
den Blick erfolgen kann, ausgeschaltet werden, da sonst suggestive 

Störungen unvermeidbar sind. 
ferner die Einflüsse luftelektrischer Natur bei Gewitterbildungen, 


sowie die oft behaupteten Störungen durch starke Stromleitungen 


— usw., würden bei dieser Auffassung sich leicht erklären lassen. 





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Nach den Angaben der Rutengänger sind es nicht bloß Wasser- 
‚läufe, die von der Rute angegeben werden, vielmehr werden Erze, 
Kohle und andere Bodenschätze in gleicher Weise gefunden und 
sogar durch die Art des Ausschlags unterschieden. Man spricht dann 
von einem sog. „graduierten Ausschlag, und der Winkel, den die 
sich bewegende Rute beim Ausschlagen bildet, soll mehr oder 






























können. Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß 
derartige Behauptungen heute mindestens als verfrüht zu bezeichnen 
und mit größter Vorsichtaufzunehmensind. Es legt. 
‚vielmehr die oben angeführte Theorie die Anschauung nahe, dal 
der Rutengänger stetsnur Grenzen, Übergänge, Zustandsände 
rungen findet, ohne die qualitativen Ursachen hierfür erkennen z 
können. Dennoch muß zugegeben werden, daß unter gewissen Um- 
ständen sehr beachtenswerte Angaben auch über die Beschaffenhei Ze 
des zu suchenden Objektes gemacht "wurden. So berichtet unterm 
10. Juli 1922 das Kaliwerk Craja in Sollstedt, daß der Ruten 
gänger Dr. BEyEr dort Angaben gemacht hat, die mit den Gruben- 
aufschlüssen vollständig übereinstimmten. Beim Begehen des Feldes 
von Schacht 2 stellte der Rutengänger dort Kalisalze an einer 
Stelle fest, die mit der Aufschlußstrecke bereits erreicht war, ohne 
daß Anzeichen für Kali beobachtet worden waren. Der Bericht 
lautet: „Wir machten Herrn Dr. BEvEr hierauf aufmerksam und be- 
„deuteten ihm, daß hier wohl ein Irrtum vorliegen muß, denn Er“ 
„während unsere Strecke noch in vertaubten Salzen anstand 
„und auch die 10 Meter zurückstehende Hochbohrung kein 
„Spuren von Kalisalzen ergeben hatte, zeigte der Rutene nee 
„starke Kaliausschläge. Bei der am anderen Tage daraufhin 
„vorgenommenen Kontrollbegehung kam Dr. BEyER trotz un- E 
„serer gegenteiligen Behauptung wieder zu demselben Ergebnis 
„und blieb dabei, daß hier Kalisalze anstehen müßten. Die Auf- 
„schlußstrecke wurde fortgesetzt und nach 20 Meter Verlänge- 
„rung eine neue Hochbohrung angesetzt, die dann eine Sylvinit- Zr 
„lage von 6 Metern Mächtigkeit feststellte und damit den Er - 
„Beweis der Richtigkeit der Angabe des 
„Rutengängers erbrachte.“ Diese wörtlich einem 
Berichte der Gewerkschaft Craja entnommenen Zeilen lassen er- 
kennen, daß bei Ausschaltung aller suggestiven Störungen die Ruten- 
gängerangaben auch in qualitativer Hinsicht von großer praktischer 
Bedeutung sein können. Es liegen ähnliche Berichte von anderen 
Bergwerken vor. 


Die von dem Verband zur Klärung der Wünschelrutenfrag 
in dem Kalibergwerk Riedel bei Hannover mit mehreren Ruten- hr 
gängern in der Tiefe von 600 Metern gemachten Versuche ließen 








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annehmen, daß der Wechsel der Gesteinsschichten den Ruten- 
gänger beeinflußt. Die Kaligewerkschaft ‚„Adolfsglück‘ berichtet 
unterm 14. Februar 1922 über einen besonders interessanten Fall. 
Der Schacht Adolfsglück (Lindwedel) sollte mit dem Schacht 
Hope verbunden werden. In dem Querschlag stieß man auf 
schlammiges Ölgebirge, das sehr stark von Benzingasen durchsetzt 
war. Es war nicht möglich, hier wegen der großen Schlagwetter- 
und Explosionsgefahr weiter zu kommen, sodaß diese Richtung ver- 
lassen werden mußte. Verschiedene nach anderen Richtungen ver- 
suchte Vorbohrlöcher brachten überall das erwähnte Ölgebirge, so- 
daß es beinahe unmöglich erschien, den Durchschlag zwischen den 
beiden Schächten überhaupt zu erreichen. Der Rutengänger Dr. B. 
gab über Tage eine halbkreisförmige Reaktionslinie an, die durch 
Pfähle sofort festgelegt wurde. Man schloß aus dieser Reaktions- 
linie auf eine unterirdische Gesteinsänderung. Die sofort unter- 
nommenen Versuchsbohrungen ergaben tatsächlich die vermutete 
Gesteinsänderung, die nunmehr die Verbindung der beiden Schächte 
ermöglichte. Die einschlägige Stelle des Berichts sagt, daß nichts 
anderes möglich gewesen wäre, als diese Richtung einzuhalten, da 


Aı H. Aa, 


W. 


Abbildung 8 Tiefenbestimmung, Der Rutengänger zeigt auf der Strecke Aı bis 
A» Reaktionen. Er konstruiert auf dieser Strecke als Grundlinie 
ein gleichschenkliges Dreieck, in welchem die Grundlinie gleich ist 
der Höhe H. W. Diese Höhe entspricht der Tiefe des zu 
suchenden Wasserlaufes W, Diese Tiefenberechnungen lassen bis 
heute an Verlässigkeit sehr zu wünschen übrig. 

das schlammige Ölgebirge sich an beiden Seiten des Querschlags 

in einer Entfernung von 3 Metern befand, was durch seitliches Vor- 

bohren festgestellt wurde. 


Eine andere Art der Untersuchungsmethode wurde von der 
städtischen Wasserversorgung in München ein- 
geschlagen, indem man die Rohrbrüche der Wasserleitung, die unter 


SEHEN 


der Asphalt- und Betondecke des Straßenpflasters nicht auffindbar 
waren, durch einen Rutengänger aufzusuchen versuchte. Es ergaben 
sich auch hier in jahrelangen Versuchen geradezu verblüffende Er- 
folge, denen allerdings eine weit überwiegende Anzahl von Miß- 
erfolgen gegenüberstand. Leider zeigte der zunächst sehr verlässige 


Rutengänger bald unerwartete Störungen. Bei größeren Versuchs- 


reihen gelangen die Experimente zunächst, aber bei einer Wieder- 
holung kurze Zeit später verliefen die gleichen Versuche reaktions- 
los. Da sich später auch psychische Störungen dieses mit einem 
großen Verantwortlichkeitsgefühl arbeitenden Rutengängers ein- 
stellten, sah man sich veranlaßt, die Versuche endgiltig abzubrechen. 

Diese Vorkommnisse legen es nahe, die physiologischen oder 
psychologischen Eigenschaften des Rutengängers zu betrachten. 
In der „Münchener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4, 1921) wird 
von dem Erlanger Psychiater und Priv.-Doz. Dr. Ewarn der Ein- 


druck geschildert, den gelegentlich einer Rutengängertagung in 


Nürnberg vom wissenschaft-medizinischen Standpunkt aus die dor- 
tigen Beobachtungen machten. EwAaLp nimmt die Möglichkeit an, 
daß besonders sensitive Menschen bei Änderung der elektrischen 
Leitfähigkeit der Luft Empfindungen haben können. Er nimmt 
ferner an, daß eine gewisse abnorme spezifische Veranlagung der 
Konstitution der Rutengänger vorliegt und „daß wir solche atavisti- 
schen Einschläge erfahrungsgemäß ganz allgemein, besonders häufig 
bei Degenerierten, zumeist gepaart mit hysterischen Einschlägen, 
finden“. Solche Degenerationserscheinungen berichtet nun EwALD 


von der Mehrzahl der Nürnberger Rutengänger. Er schildert ihr 
theatralisches und aufgeregtes Gebahren, ihre grotesken, hyste- 


rischen Reaktionen und die von einander abweichenden, oft ans 
Lächerliche grenzenden Deutungsversuche ihrer Rutenausschläge. 
„Für die wissenschaftliche Untersuchung ist es ein sehr erschweren- 
des Moment, daß sich unter den Degenerationszeichen eine erhöhte 
Hysteriefähigkeit findet, aufgebaut auf einer vermehrten Affectivität 
und Suggestivität. ....“ Dieses in der medizinischen Abhandlung 
abgegebene ärztliche Gutachten ist dahin zu ergänzen, daß eine 
Anzahl von Rutengängern ein ruhiges, automatisches Arbeiten auf- 
weist, das mit Hysterie, Neurasthenie oder irgendwelchen Degene- 
rationserscheinungen nichts zu tun hat. Die in Laienkreisen viel- 
verbreitete Anschauung, daß nur nervöse Menschen die Rutenanlage 
besäßen, ist auf alle Fälle eine irrtümliche. Wir werden viel- 
mehr an den Wassersinn und das Witterungsvermögen der Tiere 








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denken müssen und können vielleicht eine atavistische Erscheinung 
annehmen, die sich in den Resten eines beim Menschen heute nicht 
mehr benötigten und daher nur mehr teilweise vorhandenen Spür- 
sinns kundgibt. Die Sinnesreizung scheint eine Reizung im Ulnaris- 
gebiet zur Folge zu haben und, von der Kleinfingerseite der Hand be- 
ginnend, Muskelbewegungen auszulösen, die den Rutenausschlag zur 
Folge haben. Es sind das Theorien, die der Nachprüfung und Be- 
stätigung noch bedürfen. Sie sollen hier nur deshalb angeführt 
werden, um zu zeigen, mit welchem Rüstzeug der Wissenschaft 
man heute den „magischen Zauberstab” begutachtet. 

Würde es einmal gelingen, die durch die Wünschelrutenexperi- 


“mente angezeigten Möglichkeiten auf wissenschaftliche Basis zu 
stellen, so könnte dies namentlich in der Lage, in der sich Deutsch- 


land befindet, von großer Bedeutung sein. Es war deshalb Zweck 


dieses Vortrags, zur weiteren Erforschung des Gebiets anzuregen. 

Anm, Die Abbildungen sind den im Verlag Konrad Wittwer, Stuttgart, er- 
schienenen Schriften „Zur physiologischen Mechanik der Wünschelrute” 
von Dr. med. H. Haenel mit 13 Abbildungen (Heft 8 der Schriften des 
Verbands zur Klärung der Wünschelrutenfrage) und „Wesen und Wirken 
der Wünschelrute‘' mit 16 Abbildungen und 4 Lageplänen von Dr. med. 
E. Aigner, entnommen. 








Kupferhaltige Vogelfedern 


von Pf. Prior 


_ In einer amerikanischen Zeitschrift‘) stand kürzlich ein kleiner 
Artikel, den man als ein Bindeglied zweier sich sonst recht fremd 
gegenüberstehender Wissensgebiete bezeichnen könnte, nämlich 
Metallurgie und Zoologie. 

Der Artikel beginnt mit dem Hinweis auf die Insassen eines 
Käfigs in einem der Vogelhäuser des Newyorker Zoologischen 
Gartens, Turakos, afrikanische Vögel mit prachtvoll gefärbten Fe- 
dern. In den Schwingen sei ein Anflug von Rot und die Besonder- 
heit dieser Farbe bestehe darin, daß sie durch einen Gehalt von 
17% Kupfer hervorgerufen werde. Im Anschluß hieran werden 
dann einige Gedanken mitgeteilt, die bei verschiedenen Leuten 
durch Kenntnisnahme dieser Eigentümlichkeit ausgelöst wurden, 
die an sich natürlich nicht ernst zu nehmen sind, aber wiederge- 
geben seien, weil sie in ihrer Naivität charakteristisch sind. Der 
e 1) Eng. & Mg. Journ. Press v. 30. 9. 22. 





BRATEN; SR 


Erste will die Vögel in der Gefangenschaft züchten unter Zusahe | 


verschiedener Mengen von Kupfersalzen zum Futter, um verschie- 
dene Tönungen der Federn zum Hutschmuck der Damen zu er- 
langen. Der Zweite geht von der Erwägung aus, daß in der Frei- 





‚heit die Turakos Kupfer besonders aufnehmen müßten, um es in 
dem Farbstoff der Flügelfedern ablagern zu können. Er glaubt 
daher, daß es möglich sei, durch Beobachtung der Tiere neue 


Kupfererzlager zu entdecken. Der Dritte schließlich glaubt, daß 
in manchen Gegenden genügend Insekten seien, um eine Herde 


dieser Vögel umsonst ernähren zu können, um das Kupfer aus 


ihren Federn zu gewinnen. Voll Optimismus weist er darauf hin, 
daß es schon früher gelungen sei, Vermögen zu erwerben durch die 


Nutzbarmachung kupferhaltigen Materials mit weit weniger als 


7 Prozent, 
Neben der Gewinnsucht, die allen Dreien gemeinsam, geht 


ihnen auch jede Vorstellung ab von der Geringfügigkeit jener 7% 2 


Kupfer, einer Menge Farbstoff, die erforderlich ist, um ein paar 
Vogelfedern zu färben, und die von den Tieren ohne Heranziehung 


von Kupfererzlagern aufgenommen und in den Federn deponiert 


werden kann. Ebenso, wie z. B. das Jod in der Schilddrüse ange- 


reichert wird, ohne daß bei der Nahrungsaufnahme dieses Element 
eine besondere Berücksichtigung erfährt. Die Angabe über den 


Kupfergehalt ist richtig, und es ist wohl angebracht, etwas näher 


darauf einzugehen. 


Die Turakos oder Helmvögel (Turacus Cuv.) gehören zu den 


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Pisang- oder Bananenfressern (Musophagidae). Die Gattung um- 


faßt 23 in Afrika lebende Arten meist von Hähergröße und alle 
ziemlich ähnlich gefärbter Befiederung, die durch eine Federhaube 


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die Veranlassung zur Bezeichnung Helmvögel gegeben hat. Die 


Hauptfarbe ist ein ziemlich gleichmäßiges Grün und das erwähnte 
Rot der Schwungfedern, das erst beim Ausbreiten der Schwingen 
zum Flug zur prachtvollen Geltung kommt. Die grüne Farbe be- 
ruht ebenfalls auf der Gegenwart eines Farbstoffes, des „Turaco- 


verdins’, was bemerkenswert ist, da dies der einzige Fall ist, in ; 
dem die grüne Farbe einer Vogelfeder auf dem Vorhandensein 
eins Farbstoffes beruht. Alle anderen grünen Vogelfedern, man 
denke an die vielen grünen Pagageiarten, verdanken ihre Farbe 
lediglich den Strukturen dieser feinen Gebilde. Über die rote 
Farbe, die den Schmuck der Turakos bildet, liegen eine Reihe von 
Beobachtungen und Untersuchungen vor. Nach Brenm's Tier- 


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leben?) hat zuerst VERREAUX gefunden, daß die Flügelfedern, so- 
bald sie durchnäßt werden, abfärben. Es heißt dort weiter: 


„Diese Tatsache ist seitdem allen aufgefallen, die Helm- 
vögel hielten und ihnen in reinen Gefäßen, zumal in Näpfen aus 
weißem Porzellan, Badewasser reichten. Ein Pärchen, das 
ENDEREs beobachtete, färbte während seines Bades den Inhalt 
eines mittelgroßen Gefäßes so lebhaft, daß das Wasser schwach- 
roter Tinte glich, badete sich aber täglich mehrere Male und son- 
derte dementsprechend eine erhebliche Menge von Farbstoff ab. 
Solange die Federn naß waren, spielte ihre purpurrote Färbung 
stark ins Blaue; nachdem sie trocken geworden waren, leuchte- 
ten sie ebenso prachtvoll purpurn wie zuvor. Während der 
Mauser färbten sie bei weitem nicht so stark ab wie früher.“ 

Durch solche Beobachtungen wurde die Erforschung dieses 


‚merkwürdigen Farbstoffes natürlich angeregt, und hierbei zeigte 


sich die interessante Tatsache, daß es sich um eine Kupferverbin- 
dung handelt von ähnlichem Bau wie der eisenhaltige Farbstoff 
des Blutes. Lamraw*) berichtet, daß es gelungen ist, aus Hä- 
matoporphyrin und Eisen Hämatin direkt darzustellen und weist 
darauf hin, daß die Verbindung von Hämatoporphyrin und Kupfer, 
also ein Hämatin, in dem das Eisen durch Kupfer ersetzt ist, eben 
jenes Turacin ist, das sich in den Turakofedern findet. Eine der- 
artige Verbindung hat Laıpraw auch synthetisch dargestellt, eben- 
so gelang ihm die Einführung von Kobalt in das Hämatoporphyrin- 
molekül. Die Bindung des Eisens mit chemischen Komplexen des 


tierischen Organismus, wie sie uns hier im Blutfarbstoff entgegen- 


tritt, ist allgemein bekannt und bedingt einen grundlegenden Un- 
terschied gegenüber dem Pflanzenorganismus, bei dem im 


- Chlorophyll‘) das Magnesium eine ähnliche Bindung erfährt wie 


dort das Eisen. Daß Metalle, deren Salze giftig sind, wie die des 
Kupfers, von Tieren aufgenommen und an bestimmten Körper- 
stellen abgelagert werden, erscheint zunächst befremdlich; wenn 
man sich jedoch Rechenschaft gibt über die geringen Mengen, die 
bei der Aufnahme, und wohl auch nicht auf einmal, in Frage kom- 
men, sieht man leicht ein, daß die giftige Eigenschaft jener Salze 

*) BREHM’s Tierleben, 4. Aufl. Vögel Bd. 2, S. 472, 

») P. P. LAıpraw: Einige Beobachtungen über Blutfarbstoffe (Journ. of 
Physiology 31. 46472. 2/11 Cambridge. Physiol. Lab. Referat von ABDER- 
HALDEN im Chem. Centralblatt 1904 II. S. 1656). - 

*) R. WILLSTÄTTER und A. SToLL: Untersuchungen über Chlorophyll, 
Berlin 1913. 






nicht zur Geltung zu kommen braucht. Es gibt übrigens noch eine 
ganze Anzahl, allerdings niederer Tiere, die Verbindungen von 
Eiweißkörpern mit Kupfer in ikrem Organismus besitzen. Nach a 
Hesse-DorLein’) ist das Hämocyanin, ein derartiger Stoff, im Butte 
mancher Muscheln zu treffen, z. B. unsern Teich- und Fuß- 
muscheln (Anodonta und Unio), sowie bei manchen Schnecken 
(Helix, Lymnaea, Murex, Triton u. a.) und Tintenfischen; ebenso 
enthält das Blut der höheren Krebse (Sguilla und Decapoden,:z. B. 
Flußkrebs, Hummer), der Skorpione und einiger Spinnen diesen 
Blutfarbstoff. Bei der Muschel Pinna®) tritt anstelle des Eisens im 
Hämoglobin Mangan, bei der Seescheide Phallusia mammillata 
nach Henze in den Blutkörperchen Vanadium. In diesen Fällen 
haben wir es also mit organischen Verbindungen eines Metalles u 
tun, die für die betreffenden Organe lebenswichtig sind, doch fin- 

den wir auch Aufspeicherung von Metallen, die nicht von dem Or- 
ganismus benötigt zu werden scheinen, z. B. bei der Koralle Poeci- er 
lopora alcicornis Kupfer und Silber, bei Heteropora abrotanoides 
Blei. Es gibt auch eine Anreicherung von Metallen in manchen 
Organen, bei der es sich um die Anlagerung solchen Stoffes han- 
delt, der dem Körper bei zu reichlicher Aufnahme sogar schädlich 
wird. Fische in bleihaltigem Wasser bis zu ihrem Tode gehalten 
reichern das Blei in ihrem Körper an’). Dieses Metall, das auch 
vom menschlichen Organismus leicht aufgenommen wird, findet 
sich beim Menschen in Haaren und Nägeln, bisweilen ohne Krank- 
heitserscheinungen hervorzurufen, in solchen Mengen, die bei ande- 
ren Individuen schwerste Vergiftungserscheinungen erkennen las- 
sen‘). Die verschieden starke Empfindlichkeit gegen Bleivergif- 
tung wird in den Betrieben, die mit diesem Metall zu tun haben, 
von alters her beachtet. Hier liegt also ein Fall vor, in dem sich 
Metallurgie und Biologie tatsächlich berühren, während die ein- 
gangs erwähnte Verbindung nur eine phantastische ist. Wenn auch 
die wirtschaftliche Ausnutzung metallhaltiger Federn nur ein 
Traum ist, sind die damit verknüpften Beobachtungen doch wohl 
so interessant, daß es gerechtfertigt ist, hier darauf aufmerksam zu 
machen. 





5) Hesse-DorLein: Tierbau und Tierleben, I. Der Tierkörper als selb- 
ständiger Organismus, S. 420. 

%) desgleichen, II. Das Tier als Glied des Naturganzen. S. 825. 

?) A, THIERGARDT (Dissert. Würzburg 1897, 184; T. B. Tierchem. 30 ; 
(1900) 524. y 

8) MEILLERE (Compt, rend, soc. biol. 55. 517; T. B. Tierchem. 33 (1903) 135. 








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Die granittektonische Methode 


von Walther Schuckmann 





Seit einiger Zeit erregen in den für allgemeine Geologie 
interessierten Kreisen die Untersuchungen des Breslauer Geologen 
H. Croos und seiner Schule beträchtliches Aufsehen. Und das auch 
mit einigem Recht, sind sie doch in ganz hervorragender Weise ge- 
eignet, unsere Anschauungen vom Werden der Erdrinde ein Stück 
vorwärts zu bringen. Nachdem nun auf dem Geologentag des ver- 
gangenen Jahres Forschungsmethode und -ergebnisse einem weiten 
Kreis in- und ausländischer Fachmänner vorgeführt wurden, er- 
scheint es an der Zeit, daß auch ein breiteres Publikum, soweit es 
naturwissenschaftlich interessiert ist, sich mit diesen Fragen befaßt. 

Schon von alters her, seitdem wissenschaftliche Forschung über- 
haupt einsetzt zur Erklärung des Werdens der Erdrinde in ihrer 
heutigen Form, waren es zwei Gruppen von Vorgängen, die ganz 
besonders aller Erklärungsversuche zu spotten schienen, darum 
aber gerade die Besten unserer Geologen immer wieder in ihren 
Dienst zwangen. Sie vor allem schienen „des Schweißes der Edelen 
wert‘, Hinzu kam noch, daß sie sich unseren Augen in ganz be- 
sonders grandiosen Wirkungen darboten. Es handelt sich um die 
Bildung unserer Gebirge und die vulkanische Tätigkeit. 

Waren zuerst besonders jene gewaltigen Faltengebirge in die 
Augen gefallen, wie die Alpen, wo eine ungeheure schiebende Kraft 
die mächtigen Schichtpakete wie dünne Stofflagen „zusammen- 
gekrumpelt‘ hatte, so übersah man doch auch die gewaltigen Aus- 
wirkungen jener Kräfte nicht, die weiträumige Schollen der Erd- 
rinde bald zum Absinken, bald zum Aufsteigen gegenüber ihrer 
Umgebung brachten. Als großartiges Beispiel solcher Senkung wird 
‘immer wieder der Rheingraben anzuführen sein, jener zwischen 
 Odenwald-Schwarzwald und Vogesen-Hardt abgesunkene Gebirgs- 
teil, der tief unter dem Schutt des Rheintals durch einige wenige 
Bohrungen nachgewiesen ist. Man faßt heute alle diese Erschei- 
nungen: Faltung, Brüche und die auf gleicher Grundlage beruhen- 
den sonstigen Vorgänge unter dem Namen Tektonik zusammen, ohne 
jedoch eine von allen anerkannte Erklärung für sie zu haben. 

Ähnlich ging es mit dem Vulkanismus. Zuerst hatte man dar- 
unter wohl nur den oberflächlich sich in feuerspeienden Bergen 
_ äußernden Durchbruch glutflüssiger Massen des Erdinnern an die 
Oberfläche verstanden. Sobald aber erst einmal der Streit, ob 


unsere Granite, Syenite, Gabbros usw. als Absätze im Meer oder RR 
als Erstarrungsprodukte glutflüssiger Massen zu betrachten seien, 


zu Gunsten der letzten Ansicht entschieden war, war es nur noch 
ein kleiner Schritt, diese Gesteine in Zusammenhang mit dem Ober- 
flächenvulkanismus zu bringen. Offenbar ist es so, daß die glut- 
flüssigen Massen des Erdinnern ihren Weg nicht direkt zur Erd- 
oberfläche nehmen, sondern sich etappenweise durcharbeiten, indem 
sie zuerst Reservoire innerhalb der schon starren Erdkruste füllen, 
von denen aus dann die Vulkane gespeist werden. Nicht alles auf- 
gedrungene Magma — so bezeichnet man ja die glutflüssigen Massen 
des Erdinnern — kommt aber an die Erdoberfläche, Große Teile, 
vielleicht sogar die Hauptmasse bleibt innerhalb der Erdrinde 
stecken und erkaltet da. Und diese Massen, die bei späterer Ab- 
tragung des sie umhüllenden Mantels aus anderen Gesteinen auch 
oberflächlich sichtbar werden, das sind jene Granite usw., die man 
als Tiefen- oder Intrusivgesteine neben die Erguß- oder Eruptiv- 
gesteine der Vulkane stellt. 


Während man bei der Erklärung des Vulkanismus in dem eben 


umrissenen weiteren Sinn selbst für den Ablauf der Ereignisse trotz 
aller Bemühungen mehr oder weniger auf Spekulationen angewiesen 
war, gelang es für die Tektonik recht bald, brauchbare Beobach- 


tungsmethoden auszuarbeiten, die uns wenigstens über den Vorgang 
selbst, wenn auch nicht über seine Ursachen einiges sagen konnten. 


Man begann, sich des Kompasses zu bedienen. Man maß Fallen 
und Streichen von Schichten, von Falten, von Verwerfungen, d.h. 
man stellte mittels des Kompasses fest, nach welcher Himmelsrich- 
tung die Scheitellinie einer Falte die Schnittlinie einer geneigten 


Schichtfläche mit der Horizontalen, die Abrißlinie einer Ver- # 


werfung verlief, ferner welchen Winkel mit der Wagerechten die 
Schichten eines Gesteins bildeten, um welchen Betrag der eine 
Block an einer Verwerfung sich gegenüber dem anderen verschoben 


hatte u. a. m. Mit Hilfe physikalischer Überlegungen war man nun 
im Stande, sich den Bewegungsvorgang zu rekonstruieren. Eskamen 


noch andere Beobachtungen hinzu. Oft hatte der eine an einer 
Kluft sich bewegende Block mit seiner etwas rauhen Oberfläche 
den anderen 'gekritzt, er hatte sog. Rutschstreifen hinterlassen, aus 
denen man die Bewegungsrichtung ablesen konnte, Man lernte die 
einzelnen Schichten verfolgen und selbst an entfernten Orten 


4 





wiederfinden. Denn die leicht über weite Strecken hin zu ver 


folgenden Schichten, die Versteinerungen, die sich streng an be- 








‚stimmte Horizonte innerhalb einer Schichtenfolge halten, ermög- 
lichten ein Wiedererkennen zusammengehöriger Teile auch bei 


größerer Entfernung der verschiedenen Vorkommen. Dann war es 


möglich, aus ihrer heutigen gegenseitigen Lage Schlüsse zu ziehen 
auf die Bewegungen, die sie seit der Zeit ihrer Ablagerung durch- 
gemacht hatten. Immer aber war man allein auf die Schichtgesteine 
angewiesen. Sie nur schienen die Tektonik treu verzeichnet zu 
haben. Die Sache lag jedoch so, daß man nur ihre Schrift genügend 


kannte, um sie lesen zu können. 


Gewiß fand man auch Klüfte und Verwerfungen in Tiefen- und 
Ergußgesteinen. Aber wie in diesen klotzigen Massen, wo eine 
Partie vollkommen der anderen glich, feststellen, wo die zueinander 
gehörigen Stücke lagen? Und hatte man wirklich einmal Rutsch- 
streifen, die die Richtung der Verschiebung angaben, so war immer 
noch ihr Ausmaß im Dunkeln. Selbstverständlich hatten aber auch 
die von Tiefengesteinen eingenommenen Gebiete eine genau so be- 


wegte Geschichte hinter sich wie die von Schichtgesteinen bedeckten. 


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Wollte man nun zur größeren Einheit, vom Gebirgsteil zum Gebirge 
übergehen, so fielen große Gebiete für die Beurteilung vollkommen 
aus .Große Lücken waren daher vorhanden, die auszufüllen ent- 
weder überhaupt unmöglich war oder die, wenn es unumgänglich 
notwendig wurde, nur unzulänglich durch Hypothesen überbrückt 
werden mußten. So war unsere Erkenntnis, auch rein örtlich ge- 
sehen, von vornherein dazu verurteilt, Stückwerk zu bleiben. Wenn 
es hier gelänge, Wandel zu schaffen, neben den geschwätzigen 
Schichtgesteinen auch die seither stummen Tiefengesteine zum Er- 
zählen ihrer Lebensgeschichte zu zwingen, so wäre damit ein großer 
Schritt vorwärts getan. Und das ist CLoos nun tatsächlich gelungen. 
_ Wir stehen heute mit den von Croos und seinen Schülern durch- 
geführten Methoden sicher erst am allerersten Anfang. Erst einzelne 
' Zeichen des ganzen Hieroglyphenalphabets können wir deuten, 
vieles, vieles fehlt noch. Aber schon jetzt sind die Ergebnisse von 
ganz außerordentlicher Bedeutung und wir dürfen wohl hoffen, daß. 
es uns nun Schritt für Schritt weiter gelingen wird, die Rätsel zu 
lösen und wir bald des ganzen Alphabets mächtig sein werden. 
Noch ein anderes, nicht weniger wichtiges Ergebnis haben die Ar- 
beiten von CLoos gezeitigt. Schon von alters her hatte man mit 
einem inneren Zusammenhang von Vulkanismus und Tektonik ge- 
rechnet. Anlaß gaben die zeitliche und örtliche Verwandtschaft, 
schließlich auch die Tatsache, daß man sie beide auf Kräfte des 


'Erdinnern zurückführen mußte. Oft betrachtete man gerade diese 
örtliche und zeitliche Verknüpfung schon als Beweis für den gene- 


tischen Zusammenhang, von der anderen Seite wurde dies wieder 
nicht anerkannt. Bald stellte man Theorieen auf, die die Tektonik 
als Folge des Vulkanismus auffaßten, bald führte man den Vul- 
kanismus auf die Tektonik zurück. Andere wieder glaubten, daß 
beiden Vorgängen die gleichen Kräfte zu Grunde lägen, die sich 
nur im flüssigen Material anders auswirkten als im festen. Für 
keine dieser Ansichten war aber ein unwiderleglicher Beweis zu 


erbringen, ebenso wenig wie für den Zusammenhang beider Vorgänge 


überhaupt. Nun hat die genaue Beobachtung durch Croos auch in 
diesen Fragenkomplex etwas Klarheit hinein gebracht. 


Schon lange hatte man bemerkt, daß die meisten Granite in 


bestimmten Richtungen besonders gut spalteten, man benutzte diese 
Spaltrichtung sogar im Steinbruch beim Zuhauen der Pflaster- 


steine, Man- hatte Gesetzmäßigkeiten festgestellt im Verlauf von 
Gängen und Klüften. Auf größere Strecken hin waren sie alle 
parallel angeordnet. An anderen Stellen aber schienen sie sich 
wieder wirr zu durchkreuzen oder sie liefen sogar radial ausein- 
ander. Bald schien man Ordnung in der Mannigfaltigkeit der Er- 
scheinungen wahrnehmen zu können, bald aber wieder schien alles 
ganz regellos durcheinander zu gehen. Merkwürdig gleichmäßig 
gerichtete Anordnungen der einzelnen Teilchen, die man als Ein- 
stellung der Mineralien in die Fließrichtung deutete und mit 
Fluidalstruktur bezeichnete, war häufig zu beobachten. Oft aber 
gelang es nicht, eine Brücke von dieser Erscheinung zu den Gängen 
und Klüften zu finden. Es war kein rechtes System in allen diesen 
Einzelbeobachtungen zu entdecken, es fehlte der eigentlich leitende 
Gedanke, Wo war die Kraft, der gehorchend alle diese Elemente 
sich herausgebildet haben konnten? Auf der Suche nach einer 
solchen mußte man natürlich zuerst an die denken, die das Magma 
zum Aufdringen gebracht hatte. Aber da war man auch schon am 
Ende aller Kunst. Sie kannte man ja gerade nicht, man wußte 
absolut nichts von ihr. Da kamen denn als zweites die Kräfte in 
Frage, die sich aus dem Widerstand des Nebengesteins gegen die 
Einpressung des Magmas herleiten, also der Druck des Daches, der 
deckenden Schichten von oben und der seitliche Druck des um- 
gebenden Gesteins. Natürlich können diese Kräfte in die mannig- 
faltigsten Wechselbeziehungen zu einander treten, so daß ihre Er- 
kenntnis nicht gerade leicht ist. Daß sie aber tatsächlich eine nicht 












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zu unterschätzende Rolle spielen, werden wir später noch sehen. 


Allein konnten sie jedoch nicht genügen zur Erklärung aller vor- 
liegenden Erscheinungen, es galt noch nach anderen Umschau zu 
halten. Wieder mußte man zurückkehren zu jenen Kräften, die 
letzten Endes den ganzen Intrusionsvorgang auslösen. Wenn man 
nur etwas, auch nur das geringste von ihnen gewußt hätte. Da 
tauchte nun bei CLoos der Gedanke auf, daß zur Zeit der Intrusion, 
sie vielleicht sogar mit bedingend, schon oder noch die Kräfte der 
Gebirgsbildung am Werke sein konnten. Seine und seiner Schüler 


_ Beobachtungen an den Tiefengesteinsmassiven haben diese Ver- 


mutung bestätigt. Alle oben erwähnten Feststellungen an den 


Massengesteinen ordnen sich zwanglos dem Kräftepaar tektonischer 


Druck und Widerstandsdruck des umgebenden Gesteins unter. Ja, 
darüber hinaus gelingt es, noch eine Fülle neuer Beobachtungen 
hinzuzufügen, die sich alle leicht auf diese Kräfte zurückführen 
lassen und es uns in nie geahnter Weise gestatten, Rückschlüsse 
auf diese selbst zu ziehen. Endlich ist es also durch CLoos' genialen 
Gedanken gelungen, auch diesen seither stummen Zeugen der Erd- 
geschichte ihre Geheimnisse abzutrotzen und das in so glänzender 
Weise, daß wir jetzt gerade von ihnen die zuverlässigsten‘ Auf- 
schlüsse erlangen. Denn die schwatzhaften Schichtgesteine mischten 
in ihrem leicht verständlichen Geplauder Lüge und Wahrheit, 
während die schweigsamen Tiefengesteine, erst einmal zum Reden 
gebracht, sich durch ihre Zuverlässigkeit auszeichneten. Wie im 
einzelnen zu verfahren ist, wollen wir nun im folgenden sehen. 


Die Lebensgeschichte der Tiefengesteine, aus der wir ja einige 
Kapitel erforschen möchten, zerfällt in mehrere große Abschnitte, 
Zunächst ein flüssige Phase. Wie jede andere Flüssigkeit pflanzt 
in ihr auch das Magma den Druck allseitig fort und gibt ihm nach, 
ohne daß die geringste Spur zurückbleibt. Für uns, die wir gerade 
auf solche Spuren Jagd machen, fällt dieser Abschnitt also voll- 
kommen aus. Erkaltet die Masse mehr und mehr, so geht sie aus 
dem leicht- in einen zähflüssigen bis breiartigen Zustand über, eine 
Phase der Plastizität, der dann eine solche vollkommener Starr- 
heit folgt. Für uns interessant sind nun besonders die plastische 
Phase, der Übergang zur starren und die Anfänge der starren, die 


im übrigen ja heute noch andauert. Im plastischen und starren 
Zustand verhält sich unser Gestein natürlich grundverschieden. In 


der starren Phase nähert sich sein Verhalten sehr dem starker, 
starrer Sedimentpakete an. Wie diese macht es alle Bewegungen 






der „Bruchtektonik“ mit, d.h. alle einfachen horizontalen oder verti- 3 
kalen Verschiebungen. Kaum je aber werden wir es gefaltet finden, 
da seine allzu große Starrheit eine so weitgehende Verbiegung wie 
die Faltung sie erfordert, ohne Zerbrechen nicht gestattet. Hier 
können wir also unsere an den Schichtgesteinen gesammelten Er- 
fahrungen gut verwenden sowohl, was das Sammeln von Beobach- 
tungen, als auch, was ihre Auswertung angeht. Anders ist es mit 
der plastischen Phase. Für das Verhalten des Magmas in ihr fehlt 
jedes Analogon in der Geologie, Hier ist vollkommenes Neuland. 
Es gilt Anleihen bei anderen Wissenschaften, bei der Technik zu 
machen, neue Beobachtungsmethoden sind auszuarbeiten, neue Wege 

zu finden zu ihrer geschickten Auswertung. 


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Beginnen wir zunächst mit der plastischen Phase als der zeit- 
lich vorangehenden. Da die einzelnen Teilchen imstande sind, einem 
Druck noch jedes für sich allein auszuweichen, sich in irgend einer 
Weise zu ihm „einzustellen“, dagegen Zerbrechungen und Zer- 
reißungen, die ein starres Gefüge der kleinsten Teilchen miteinander 
voraussetzen, dank der Nachgiebigkeit des Materials nicht statt- 
finden, so dürfen wir wohl Parallelstellung, einzelner Kristallindivi- 


duen u. ä. erwarten, nicht aber Klüfte, Gänge usw. Die Grenzeoder 
besser gesagt den Übergang von der plastischen zur starren Phase 
werden wir wohl da ansetzen können, wo die reibungslose „Einstel- a 
lung“ in eine mehr gewaltsam erfolgende übergeht, bei der sich 
auch Zerreißen und Zerbrechen geltend macht. ve, 


Zuweilen beobachtet man in den Tiefengesteinen eine At 
Schieferung, ganz entsprechend der aus Sedimenten bekannten, die 
uns dort die ja wirtschaftlich so wichtigen Dachschiefer liefert. 
Wir gehen daher sicher nicht fehl, wenn wir annehmen, daß sie in 
ähnlicher Weise wie dort entstanden ist durch einen Druck von dr 
Seite, der senkrecht auf den Schieferflächen stand, Leider ist de 
Schieferung kein besonders zuverlässiges Element. Denn sie hängt, 
wie noch viele der weiterhin zu behandelnden Elemente, auch vom 
Widerstandsdruck des Nachbargesteines ab. Dieser und der tekto- 
nische Druck ergänzen und kreuzen sich nun in der mannigfachsten 
Weise und ergeben nach den bekannten. physikalischen Gesetzen 
die verschiedensten Mitteldrucke, aus denen sich die Einzeldrucke 
nicht immer mehr mit Sicherheit ableiten lassen. Für die tektonische 
Erkenntnis ist daher dieses allerdings auch nicht allzu häufig auf- 
tretende Element nur bedingt, nur in Verbindung mit anderen 
brauchbar. | 








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Größere Bedeutung kommt schon dem Fließgefüge zu (Fig. 1). 
Man beobachtet häufig, daß sich größere Kristalle, z. B. große röt- 
liche Feldspäte im Granit parallel zu einander eingestellt haben, 
eine Erscheinung, die sofort beim Betrachten infolge der auffallen- 
den Färbung der Kristalle in die Augen springt. Offenbar haben 
sie es genau so gemacht wie der Strohhalm, den wir in den Bach 
werfen. Sofort stellt er sich mit seiner Längsrichtung in die Fließ- 


$ richtung des Wassers, da er dann auf den geringsten Widerstand 





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L 3 Tode der Lagerflache Klirfte- 


l. Seiibarkeil 
gaänge sindmiE den Buchstaber der entsprechen den Kleifie 
unel Boppellinien bezeichneE. 


stößt. So auch unsere Kristalle im Magma. Überlegen wir uns nun, 
wie eine ringsum eingeschlossene Masse fließt, wenn sie einseitig 
gedrückt wird, so kommen wir darauf, daß sie nach der Seite des 
geringsten Druckes hin ausweichen wird. Dieser ist aber senkrecht 
zum: Seitendruck zu suchen. Die Kristalle stellen sich demnach 
senkrecht zum Tangentialdruck, also in die gleiche Richtung wie 
die Schieferung. Häufig kommt auf diese Weise ein streifenförmiger 


— 106 — 





Wechsel gröberen und feineren, helleren und dunkleren Granits 
zustande, wodurch diese Erscheinung ohne weiteres sichtbar wird. 
Ganz wie die einzelnen Kristalle verhalten sich auch die aus dem 
ursprünglichen Magma sich ausscheidenden Spaltungsprodukte, die 
durch chemische Absonderung innerhalb des Gesamtschmelz- 
flusses entstehen. Sie stellen sich als ellipsoidische Schlieren in 
die Fließrichtung, also senkrecht zum Druck ein. Ebenso werden 
die vom Nebengestein oder Dach sich loslösenden und im Granit 
schwimmenden Schollen mit ihrer Längsachse in die gleiche Rich- 
tung gezwungen. In Figur 3 sehen wir diese Erscheinung bei Scholle 
B schon durchgeführt, während Scholle A entweder keine Zeit mehr 
‚ hatte, sich vor der Erstarrung des Magmas noch einzustellen, oder 
in dem erstarrenden Gestein zu großen Widerstand fand. Zwischen 
den drei letzten Beobachtungen, der Einstellung der Kristalle, der 
schlierenförmigen Spaltungsprodukte und der Schollen besteht ein 
prinzipieller Unterschied nicht. Es handelt sich vielmehr immer um 
Einordnung in die Fließrichtung und damit senkrecht zum Druck. 
Nur Material und Ausmaß der sich einstellenden Teile sind ver- 
schieden. 


Entschieden das bedeutendste Element der plastischen Phase 
ist die lineare Streckung (Fig. 1). Sie beruht auf Parallelstellung 
der überwiegend in einer, bezw. zwei Richtungen ausgebildeten, also 
flachen Mineralien, wie z.B. im Granit besonders des Glimmers, 
senkrecht zum Druck. Hier handelt es sich nun nicht mehr um ein 
Einstellen in die Fließrichtung und damit mittelbar senkrecht zum 
Druck, sondern um unmittelbare Orientierung in diese Richtung und 
zwar in einem etwas starreren, aber doch noch plastischen Material. 
Schon vor längerer Zeit sind für uns hier brauchbare Versuche von 
DAuBREE im Laboratorium angestellt worden. Er ließ auf ein all- 
seitig umschlossenes Gemenge von Ton und Glimmerblättchen einen 
einseitigen Druck wirken mit dem Erfolg, daß sich in der vorher 
ungeordneten Masse die Glimmerblättchen in eine Richtung und 
zwar senkrecht zum Druck einstellten. Offenbar haben wir bei 
unserem Granit eine ganz analoge Erscheinung, was uns dadurch 
bestätigt wird, daß sich bei dieser Deutung die Streckung den 
übrigen Elementen organisch einordnet. Diese Streckung kann bis 
zu einer flächenhaften Paralleltextur führen, d. h. es kann eine 
solche Häufung der gerichteten Mineralien eintreten, daß diese als 
Spaltungsebenen in die Erscheinung treten. Das Einfallen dieser 
steht nicht, wie es theoretisch zu verlangen wäre, senkrecht zum 





_ lastungs- und seitlicher Widerstandsdruck etwas geneigt. Liegen 
die Spaltungsebenen selbst nicht unmittelbar vor, so ist es leicht, 
sie sich mit Hilfe der ja meist flächenhaft entwickelten Mineralien 
zu konstruieren. Die lineare Streckung, die wie bereits erwähnt 
in einem gerade noch plastischen Material vor sich ging, gehört _ 
der letzten Periode der plastischen Phase an. Häufig kommt es 
dabei schon zu Zertrümmerungen innerhalb der einzelnen Kristalle 
infolge des Druckes, da die Starrheit bereits so weit fortgeschritten 
ist, daß ein anderer Ausgleich nicht mehr stattfinden kann, eine 
Erscheinung, die man als Kataklase bezeichnet. 


Den unmittelbaren Übergang von der plastischen zur starren 
Phase haben wir da vor uns, wo sich die Streckung nicht mehr ledig- 
lich in der Parallelstellung der Mineralien äußert, sondern viele 
kleine Zerreißungsflächen, an denen Verschiebungen kleinsten Aus- 
maßes stattfinden, für die notwendige Ausdehnung senkrecht zur 
 Druckrichtung Sorge tragen. Man bezeichnet sie als Streckflächen 
(Fig. 1). Über sie muß später im Zusammenhang mit den übrigen 
Klüften noch genauer gesprochen werden, es erübrigt sich daher, 
schon hier näher auf sie einzugehen. 


a FE em a a u ei 7 . Den 
Pe: 1 & Bro Er 


er BEN re A 
a Ba a N ; 


Vielmehr wollen wir nun übergehen zu den Erscheinungen, die 
der Gebirgsdruck im vollkommen starren Material hervorruft. Als 
_ erstes und überhaupt wichtigstes Beobachtungsmerkmal der ge- 
-  samten Granittektonik ist hier die Teilbarkeit zu erwähnen. Sie ist 
es, die auch in einem anscheinend ganz richtungslosen Granit ge- 
stattet, sich schnell zu orientieren. In der Regel sind zwei Flächen 
E bester Teilbarkeit ausgebildet, die eine senkrecht zum tangentialen, - 
_ die andere zum Belastungsdruck. Die Linie, in der beide sich 
schneiden, entspricht der eben besprochenen Streckung. Sehr häufig 
- sind die Flächen bester Teilbarkeit durch eine gewisse Rissigkeit im 
Gestein angedeutet. Meist kann man schon vom Arbeiter im Stein- 
bruch ihre Lage erfahren, denn sie werden stets benutzt beim Zu- 
- hauen von Pflastersteinen, da es sehr leicht ist, das Gestein nach 
_ ihnen zu spalten (Fig. 2). Auch größere Quader lösen sich besonders 
- gern unter Benutzung der Spaltflächen, die uns infolgedessen in 
- jedem Steinbruch als die hübsch glatten Abrißflächen sofort auf- 
fallen, wie sie sich ja überhaupt auszeichnen durch ihre relative 
_  Glätte. Senkrecht zu diesen beiden, also in der Richtung größten 
Druckes liegt eine Fläche schwerster Teilbarkeit, die granittekto- 
nisch zwar keine Bedeutung hat, zur Orientierung im Raum aber 




















als dritte Dimensionale ebenso wenig entbehrt werden kann, wi 





im Steinbruch als dritte Richtung am zuzuhauenden Quader. Man: ög 
ist übereingekommen, die quer zum tangentialen Druck stehende 


Fläche bester Teilbarkeit mit s (Spaltfläche), die senkrecht zum 


Belastungsdruck stehende mit 1 (Lager) und die schwerster Teil- 
barkeit mit k (Kopfseite) zu bezeichnen (Fig. 1). Durch die Rich- 


tungen s, | und k ist jedes Granitstück an seinem Platz eindeutig 


orientiert. Je nachdem an einem Punkt der tangentiale oder der 


vertikale Druck stärker war, sind die s- oder l-Flächen besser aus- 


4 


gebildet. Weiß ich nun von einem Steinbruch, welche der Flächen 


besser, welche schlechter ausgebildet ist, so kann ich jedes beliebige 
von da stammende Handstück richtig orientiert aufstellen. Die 


k-Fläche unterscheidet sich von s und | stefs deutlich durch ihre 





I 


Kg}. Pie granilteckkon ischen Elemente 


an einem Baugeacler. 
(Hach (1005, Mechanismus. .2..'20) 
Ber eichnungen die gleichen wie bee Fegt. 


Rauhheit (Fig. 2 rechts), s und 1 sich von einander, wie schon ge- 


sagt, durch ihre mehr oder weniger gute Ausbildung. 


Auch die Klüftung im Intrusionsgestein gehorcht den Gesetzen 


des tektonischen Druckes. Im starren Material kann eine Umlage- 


rung einzelner Komponenten nicht mehr stattfinden. In irgend einer 


Weise muß aber der immer weiter herrschende Druck sich aus- 


wirken. Den Übergang zur Kluftbildung sahen wir schon in dem 


Zerbrechen der Kristalle und dem Aufreißen der Streckflächen in 


dem immer starrer werdenden Gestein. Jetzt setzt die Bruch- 


tektonik mit Klüften, Verwerfungen, Gängen, Verschiebungen u.ä. 


in vollem Umfang ein. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Klüfte J 
in ihrer Richtung von den sie bedingenden Kräften in weitgehendem 


Maße abhängig sein müssen, und es bedurfte nur der Beobachtung, 


um das auch als Tatsache nachzuweisen. Unberechtigt und leicht | 
zu entkräften ist der Einwand, daß in einem erstarrenden Material 


die Klüftung ja in erster Linie auf die Schrumpfung zurückgehe 
und daher vom tektonischen Druck nicht abhängig sein könne, Ge- 
wiß, jedoch können sich die Schrumpfungsklüfte nur da bilden, 
bezw. offen halten, wo der Druck ihnen nicht entgegen wirkt, da 














er sie ja sonst im Augenblick der Entstehung schon wieder schließt; 


umgekehrt mußten sie da, sich besonders stark erweitern, wo ihr 
Aufreißen eine Dehnung zuwege brachte, die gleichzeitig eine 
Lösung der Druckkräfte bewirkte. So arbeiten beide Kräfte nicht 
gegeneinander, sondern Hand in Hand. 


Wie die Beobachtung lehrte, kann man fünf verschiedene Arten 
von Klüften unterscheiden (Fig. 1—3). Die ersten beiden ent- 
sprechen den Flächen bester Teilbarkeit, die ja häufig durch Risse 
im Gestein schon angedeutet ist. Man pflegt sie mit den ent- 
sprechenden großen Buchstaben S und L zu bezeichnen. Ferner 
spielen als dritte Klüfte die eine große Rolle, die der k-Richtung, 
der schlechtester Teilbarkeit, also der Druckrichtung selbst ent- 


‚sprechen. Sie stehen senkrecht auf der Streckung und stellen 


mechanisch nichts anderes dar als die Streckung oder Dehnung mit 
Gewalt fortgeführt. Man kann diese Erscheinung leicht experi- 
mentell nachmachen, wenn man ein geschältes gesottenes Ei von 
der Seite her zusammendrückt. Zuerst sucht es dem Druck aus- 
zuweichen durch Streckung in der Längsrichtung. Schließlich ist es 
aber zu weiterer Deformation nicht mehr im Stande und platzt 


_ quer auf. Als viertes Kluftsystem kommt nun noch ein vertikales 


hinzu, das wir bereits bei Druckfestigkeitsprüfungen der Gesteine 
und Elastizitätsversuchen in der Physik beobachten konnten. Es 
handelt sich um die als Mohrsche Linien bezeichneten Erschei- 
nungen. Wird nämlich auf einen eingespannten Block ein ein- 
seitiger Druck ausgeübt, so treten nach einiger Zeit in zwei den 
Diagonalen sehr. nahe liegenden Richtungen Risse ‘auf, die sich 
schließlich zu regelrechten Klüften ausbauen, an denen sich zwei 


- seitliche Keile gegen einen mittleren stehenbleibenden Keil ver- 
schieben. Diese Flächen entsprechen nicht genau den Diagonalen, 


sondern sie schließen mit der Druckrichtung einen Winkel ein, der 
etwas kleiner als 45° ist. So liegen im Granitmassiv diese Dia- 
gonal(D)- oder Mohrschen Klüfte zwischen S- und Q-Klüften. 
Häufig haben an ihnen auch Horizontalverschiebungen stattgefunden, 
wodurch sowohl dem Tangentialdruck selbst als auch der aus ihm 
indirekt resultierenden Querzerrung stattgegeben wird. Als fünftes. 
und letztes Kluftelement sind nun noch die oben schon im An- 
schluß an die lineare Streckung erwähnten kleinen Zerreißungen, 
die sog. Streckflächen zu nennen. Sie stellen einen Übergang 
zwischen der linearen Streckung im plastischen und echten Zer- 
reißungsklüften im starren Material dar. Es ist nicht mehr beweg- 


lich genug, den Druck einfach durch Dehnung zu kompensieren, er; 


aber auch noch nicht fest genug, ihn richtungsgetreu weiterzugeben 
und ihn an einzelnen Stellen gesammelt zur Auswirkung kommen 
zu lassen. So reißen unzählige kleine Klüfte auf, an denen, wie 
die Rutschstreifen uns erzählen, kleinste Verschiebungen statt- 


‘ fanden. Nun scheint mit einem derartig wirren richtungslosen lee 


ment nichts anzufangen zu sein. Es hat sich aber gezeigt, daß die 
Horizontalprojektion der Rutschstreifen alle in einer Richtung ver- 


laufen und zwar entspricht sie der Streckungsrichtung. Es handelt n. 


sich also hier um gewaltsam fortgesetzte Streckung. 


Den Klüften entsprechen natürlich die Gänge, die ja nichts 
anderes darstellen als mit Material erfüllte Klüfte. Wo eine Spalte 
offen war oder einer Öffnung keinen großen Widerstand entgegen- 
setzte, da wurde sie von den mancherlei Nachschüben des Magmas 
zum Aufdringen und Absetzen benutzt, ebenso wie von später ein- 
dringenden Minerallösungen. Offen werden aber alle die Klüfte 
bleiben, die in Richtung des Druckes oder in einem möglichst spitzen 
Winkel zu ihm aufreißen, da dadurch das Ausmaß der ganzen Masse 
quer zum Druck, also in Richtung der Streckung vergrößert. wird. 
In der Tat sind auch die in der Druckrichtung und ein Teil der 
schiefwinklig zu ihr verlaufenden Klüfte Träger von Gängen, wäh- 
rend die senkrecht getroffenen leer sind. Gänge auf S-Klüften, die 
ja quer zum Tangentialdruck verlaufen, sind äußerst selten. Auf 
den horizontalen L-Klüften sind sie auch noch nicht allzu häufig, 


immerhin aber finden sich sog. Lageraplite, das sind saure Abspal- TER 
tungen des ursprünglichen Magmas, in denen die schwarzen B- 


standteile gegenüber den weißen vollkommen in den Hintergrund 
treten, wenn nicht ganz verschwinden. Dagegen sind die Q-Klüfte 
in der Richtung des Tangentialdruckes die Hauptträger von Gängen 
aller Art, die auf ihnen auch die größten Ausmaße annehmen. Eine 
Zwischenstellung nehmen die Diagonalklüfte ein. Je nachdem sie 
sich mehr der S- oder Q-Richtung nähern, sind sie ohne spätere 
Materialzufuhr geblieben oder Träger von Gängen, Interessant ist, 
daß häufig auch innerhalb der Gänge eine deutlich ausgebildete 
Klüftung, Streckung, Teilbarkeit, kurz all das, was wir eben für die 


Tiefengesteinsmassive selbst kennen lernten, zu beobachten ist, und = 


zwar entsprechen dann diese Elemente meist denen der Umgebung 
und zeigen somit an, daß auch zur Zeit ihres Aufdringens und Er- 
starrens, also nachdem das Massiv selbst bereits erstarrt war, der 
gleiche gerichtete Druck noch weiter herrschte. 








Er 
Ben 


5 





/ 


Überblicken wir nun noch einmal an Hand einer Tabelle die 
einzelnen Elemente der granittektonischen Methode insgesamt und 
legen dabei zur Einteilung das Richtungsschema S, L, Q zu Grunde. 
















RICHTUNG 
L S Q 
senkrecht zum senkrecht zum parallel zum 
Belastungsdruck | Tangentialdruck Tangentialdruck 
Schieferung 











Fließgefüge (Schlieren, 
Schollen) 





Streckung 
Teilbarkeit nach | Teilbarkeit nach s 








Klüfte u. Gänge nach L | Klüfte u. Gänge nach S. | Klüfte u. Gänge nach Q@ 
Streckflächen Diagonalklüfte 








| _ Rutschstreifen der 
| Streckflächen 











Zusammenfassende Tabelle der granittektonischen Elemente, 
Die meisten Elemente halten sich an die S-Richtung: Schieferung, 
Fließgefüge, Streckung in dem plastischen, die Rutschstreifen auf den 
Streckflächen beim Übergang zum starren, Teilbarkeit, Klüfte und 
wenige Gänge im starren Material. Der L-Richtung folgen nur Teil- 
barkeit, Klüfte und einige Lagergänge, während die Q-Richtung 
gar lediglich Klüfte und Gänge aufweist. Zwischen der L- und 
S-Richtung stehen die Streckflächen, zwischen S und Q die Dia- 
gonalklüfte. Am klarsten zur Anschauung gebracht werden die Be- 
ziehungen der Elemente zu einander durch Fig. 1, wo der Tangen- 
tialdruck gegen die rechte Seitenwand, der Belastungsdruck radial 


auf die gewölbte Oberfläche wirkt. 


Fragen wir uns nun nach der Bedeutung der granittektonischen 


Methode gegenüber der allein auf Sedimente gestützten, so muß sie 


offenbar darin liegen, daß hier auch die Wirkungen des Druckes auf 
plastisches Material verzeichnet sind und uns zur Verfügung stehen. 
Denn das macht ja den Hauptunterschied beider Beobachtungs- 
methoden aus. Das starre Material gibt den Druck zwar sehr ge- 
treu seiner Richtung weiter, aber die Niederschrift in Form von 


 Klüften, also die Bewegungsrichtungen lassen nicht unmittelbar 


immer einen Schluß auf den Druck zu, der herrschte, wie uns ein 
Blick auf die Diagonalklüfte und Streckflächen zeigt, bei denen 







































ein bestimmt gerichteter DE Bewegungen in ganz "anderer als 
der ihm entsprechenden Richtung hervorrief. Hier müssen erst Um- 2 
deutungen auf Grund physikalischer Überlegungen Platz greifen. 
Ob wir nun in unseren Sedimenten immer die rechten Umdeutungen 
vornahmen, das ließ sich mangels geeigneter Kontrollen nie sagen. 
Eben diese Kontrollmöglichkeit bietet nun aber die plastische Phase = 33; 
unserer Intrusivgesteine. Denn hier erfolgt die Reaktion der Teile 
auf Druck äußerst prompt. Allerdings müssen wir dabei wieder 
in Kauf nehmen, daß die Weitergabe des Druckes nicht immer so 
richtungsgetreu vor sich geht wie im starren Gestein, da die ein- 
zelnen Teile eher die Möglichkeit zum Ausweichen haben. Bei den 
Intrusivmassen haben wir ja beide Phasen nacheinander, beide, wie 
wir sahen unter dem gleichen Drucke stehend, beide im gleichen 
Gestein niedergelegt, so daß wir durch Kombination beider zu 
einem denkbar klaren Bild der Druck- und Bewegungsverhältnisse — 7 
kommen. 


Entsprechend sind auch die in der kurzen Zeit ihrer Anwendung ? 
mit der granittektonischen Methode erzielten Ergebnisse bereits 
recht bedeutend. Schon immer gehörte zu den schwierigsten Auf- = 
gaben der Tektonik die Erklärung einzelner Teile des alten, im 
Karbon aufgefalteten variscischen Gebirges, das sich durch ganz z 
Mitteleuropa als ein nach SO offener Bogen vom französischen 
Zentralplateau zu den Sudeten hinzog, Als kleine Reste dieses ge- 
waltige Maße erreichenden Faltengebirges, die nach seiner Ab- 
tragung noch vom Sockel übrig blieben, haben wir das Rheinische 
Schiefergebirge, Harz, Sudeten usw. zu betrachten. Eine solche Rx. 
schwer erklärbare Stelle ist die, wo plötzlich in Schlesien die sw-nö 8: 
Streichrichtung in die nw-sö, das sog. variscische in das sudetische 
Streichen umbiegt. Nun hat Croos mit seinen Schülern unter-- 
nommen, hier durch bis ins einzelne gehende Aufnahmen, von denen 
Fig. 3 einen ungefähren Begriff geben kann, Klärung zu bringen, 
was ihm zum großen Teil auch schon gelungen ist. Aber auch 
andere Granitgebiete sind nicht vernachlässigt worden. So liegen 
bereits Untersuchungen über unsere nächste Umgebung, den Oden- 3 n 
wald vor, ebenso über den Schwarzwald und über den Be 8 
Wald. Ferner zeigt Croos recht interessante Perspektiven auf über 
die Abhängigkeit der jungen Bewegungen im gesamten Oberrhein 
gebiet, die die Absenkung des Rheintalgrabens, die Staffelbrüche 
an seinen Flanken, die Eindellung von Zaberner Senke und Kraich- 











D.0 hi 7 a ach Er 


uns viel Klarheit zu schaffen, viel Kleinarbeit zu leisten, auf der 
basierend sich die großen Zusammenhänge unschwer ergeben. Das 
 Beobachtungsnetz in Odenwald und Schwarzwald ist noch allzu 


licht, der Spessart muß neu in Angriff genommen, das Rheinischa 
Schiefergebirge auf seine Klüfte bearbeitet werden. Denn selbtt- 








RR NLA 3 N 
Ne 


Streekung 
"Vzachrschube yon! 
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e] Sehnlleny gneis u" 

= Horsufels EN 


7 SEreichen(!3U-1J] 
N | Kelten 859 dr Hacken: N 
Az Rukrschstreifen ; 
120 30 40 _—150 


3:-Ausschnill aus der Hark 1:1500 eines Sleinbruchs in 
SErehlem in Schlesien mie eingel: 0 een ‚grani E leklauc - Be 
schen Blementen: (Nach H.Cloos Mechanısmucs) i 




























(3 














verständlich wird bei allen Erklärungsversuchen auch die Tektonik & 





2 > 5 [4 [4 . . C 
der Sedimente in weitgehendem Maße herangezogen. Dann wird 
‘sich auch für die Geschichte unserer Gegend noch gar manches ; 





























Als mit der 1919 einsetzenden Geldentwertung die Mittel der Sencken- 
bergischen Naturforschenden Gesellschaft immer geringer wurden, schien kaum 
eine andere Möglichkeit für die Erhaltung unseres Museums zu bestehen, als der 
Anschluß an die Stadt oder den Staat. Damals waren deren Finanzverhältnisse 
noch geordneter und man konnte hoffen, durch Aufgabe der Selbstän- 
digkeit wenigstens das Museum zu retten, Auf der anderen Seite stand ein EN 
langwieriger schwerer Kampf bevor, dessen Ausgang höchst unsicher war — =» 
es war daher begreiflich, daß die Ansichten über das Weiterarbeiten geteilt - 
waren. Die Beratungen über den Abschluß des Jahres 1919 und über den Vor- 
anschlag für 1920 ergaben eine verzweifelte Lage, denn die ständig steigende 
Verarmung unseres Volkes und seine tiefe Niedergeschlagenheit ließen auch eine 5 a 
Bitte um Erhöhung des Mitgliedbeitrages zunächst aussichtslos erscheinen. 

Allen den schweren Sorgen stand nur ein Aktivposten gegenüber: der Ge- 
danke, daß Frankfurt mehr als andere Städte eine Bürgerschaft besitzt, deren 
stolze Liebe zur Vaterstadt noch aus den Zeiten der alten freien Reichsstadt 
stammt. 22 Männer hatten das Museum vor hundert Jahren in schwerer Zeit For 
wagemutig gegründet, ihre Nachkommen hatten immer und immer wieder ger 
holfen, es zu fördern, es zu einer der schönsten deutschen Sammlungen auszu- 2 
bauen. Hatte das Museum nicht schon manche schlimme Zeit überstanden? } 


Wie war die Lage im Herbst 1919? Bei einem Dollarstande von etwa 
40 Mark betrug der gesamte Finanzbedarf der Gesellschaft M. 198 850.—, davon $ 
M. 104 048,— für Gehälter und Löhne, M. 18 000.— für unsere Zeitschriften und 
M. 76 802.— für die notwendigsten Ausgaben. Dieser Summe standen Einnahmen 
von M. 92877.14 an Zinsen etc, und M. 33 000.— an Mitgliedbeiträgen gegen- 
über, zusammen M. 125 877.14, sodaß ein Defizit von M. 72 972.86 vorhanden war. 
Bei diesen Sorgen war es ein Glück, daß niemand den furchtbaren späteren Zu- 
sammenbruch unserer Währung ahnte — — wer weiß, ob uns bei den gegen- 
wärtigen Zahlen nicht der Mut zum Kampfe vergangen wäre? \ 

AÄußersteSparsamkeit war zunächst nötig, um das Museum zu ret- BEN. 
ten; es galt zuerhalten, was in glücklicheren Zeiten geschaffen war. Die Zahl 
der Assistenten ging von 6 auf 3, die der Angestellten von 23 auf 12 zurück, 6 Putz- 
frauen von 7 wurden entlassen — — alle fanden anderweitig Unterkunft. Mit un 
dieser Reduktion war zwar das Vorwärtsarbeiten im Museum fast stillgelegt, 
sein Bestand aber konnte erhalten werden. Dies@ kleine Zahl von Beamten und 
Angestellten aber mußte auf jede Weise unterhalten werden. An den Zeit- 
schriften ließ sich zunächst nicht sparen; sie waren und sind für die nun be- 
ginnende Werbetätigkeit und für die wissenschaftliche Arbeit eine Lebensfrager N. 
die übrigen Ausgaben wurden vermindert, wo es ging. 

Die Einnahmen der Gesellschaft mußten erhöht werden, zu- 
nächst durch Vermehrung der Mitgliederzahl. Ein Werbeschreiben ging im Winter 
1919/20 in tausenden von Exemplaren hinaus, nachts wurden Adressen geschrie- 


— pe 





» ‚ben, da die Arbeit des Tages mit dem Rückgang der Zahl der Angestellten 
er — ständig wuchs. Freiwillige halfen beim Versenden, Papier, Druckkosten und 
Pi Umschläge wurden erbettelt, die Jugend organisiert um die Tausende von Briefen 
zu befördern, das Adreßbuch wieder und wieder auf neue Namen durchgesucht. 
Und dann wartete die Werbekommission mit atemloser Spannung auf den Erfolg. 
Under kam. 
Alle Kräfte mußten für Eintragung und Ordnung der Neuanmeldungen von 
Mitgliedern sorgen, die täglich mit der Post in Menge kamen. Wieder gab es 
Nachtarbeit in Hülle und Fülle, aber nie gab es fröhlichere Stunden, denn der 
Erfolg schien sicher zu sein. Und richtig wurde die erste Jahreswende glücklich 
überstanden; wohlhabende Freunde deckten den Rest des Defizits, dessen Höhe 
uns heute lächerlich gering vorkommt. 


Da sank die Mark tiefer und tiefer. Einnahmen, mit denen wir das Jahr 
überstehen wollten, reichten mit einem Male nur noch für einen Monat, ja für 
eine Woche — — die Sorgen wurden größer denn je. Aber mit der Not wuchs . 
auch die Zahl der Mitglieder und damit der Mut zu weiterem Kampf. Firmen 
und Banken wurden gebeten, mit hohen Beiträgen zu helfen, und wir mußten 
in immer steigendem Maße dazu übergehen, den ganzen Bedarf des Museums 
als Geschenk zu erbitten. Papier und Druck, Zement und Eisen, Holz, Bind- 
faden, Nadeln, Spiegelglas, Öfen und der ganze Heizbedarf, Dachreparaturen und 
Unterhaltung der Rasenplätze, Putztücher und Fensterleder, Chemikalien, 
Druckerschwärze, Gummischläuche — — die Liste würde endlos. Aber neben 
den zahlreichen Bitt- und Dankschreiben mußte die Werbetätigkeit weiter- 
gehen. Neue Werbeschreiben wurden entworfen, wieder kamen Nächte voll 
eintöniger Adressenschreiberei, voll Hoffnung und Bangen — — und wieder 
kamen neue Erfolge. Mit äußerster Anspannung aller Kräfte wurde gearbeitet; 
der Techniker wurde zum Katalogschreiber, die Präparatoren übernahmen 
neben ihrer Arbeit die Reinigung des Museums, der Professor wurde zum Stadt- 
reisenden und Reklamefachmann, unsere Schuljugend zu Briefträgern und Bei- 
tragsammlern und im Geschäftszimmer arbeitete man Tag und Nacht durch. 
Die Zahl der Mitglieder wurde zu groß für unsere Hörsäle — — der Saal im 
Volksbildungsheim wurde gemietet. Bald reichte auch dieser nicht mehr; das 
Schumanntheater stellte seine Riesenräume zur Verfügung, und wer einmal am 
Sonntag Vormittag sah, wie der Bahnhofsplatz nach dem Vortrage von „Sencken- 
bergern” wimmelte, der faßte trotz aller Sorge neuen Mut. 


Tiefer und tiefer sank die Mark. Jeder plötzliche Sturz war ein gefähr- 
licher Augenblick und manchmal wußten wir noch wenige Tage vor dem Monats- 
ende nicht, wie die Gehälter gezahlt werden sollten. Immer wieder glückte es 
im letzten Augenblick. Zwar mußten wir aus Not unsere Beamten und Ange- 


stellten monatelang auf halbe Arbeitszeit setzen — — aber wir hielten durch. 
Manche schöne alte freie Frankfurter Stiftung brach zusammen oder verlor ihre 
Selbständigkeit — — auch uns stieg die Not bis zum Hals. Aber die Ausgaben 


für Unkosten verschwanden nach und nach fast ganz, auch der Magistrat der 
Stadt griff ein und erleichterte uns die Zahlung der städtischen Abgaben. 
Die Ausgaben für unsere Zeitschriften wurden durch einen günstigen Vertrag 
mit unserer Druckerei und durch billige Papierbeschaffung sehr stark herunter- 
gedrückt, und unsere Mitglieder beschlossen, entweder auf den „Bericht” zu- 
nächst zu verzichten oder ihn besonders zu bezahlen. Aber die Gehälter und 



























Löhne! Von Monat zu Monat scharfer N, Sk Vorausberechnung 
lich, weil vem Stande unserer Währung abhängig, ein Voranschlag für 
schon nach kurzer Zeit nur noch für eine Woche ausreichend! Was h 


nahmen des Museums mußte wertbeständig sein, sonst war alle die kenn - 
Arbeit umsonst, 
! Und darum gilt jetzt alle unsere Arbeit dem Ziel, Mitglieder i 
Auslande zu gewinnen, die ihre Beiträge in der Währung ihres Lane 
zahlen und die hierdurch einer Mauer vergleichbar den Frankfurter Stan 
schützend umgeben. Auch dieses Ziel ist natürlich nur allmählich durch zähe 
Arbeit zu erreichen, aber es ist erreichbar. Und so lange ein Weg 
möglich ist, die Freiheit unserer Gesellschaft, ihres Museums, ihrer Univ - 
sitätsinstitute, ihrer Bibliothek zu retten, so lange werden wir diesen W 
gehen. Wir wollen uns an Mut von unseren Vätern nicht übertreffen lasseı 


Gerade in der schwersten Zeit haben wir aus allen Kreisen erhebend 
Beweise von Hilisbereitschaft und Gemeinsamkeitsgefühl erfahren. Wie oft 
fanden wir .morgens im Briefkasten einige Zeilen „von einem ungenannten 
Freunde”, der uns weitere Mittel zur „Erhaltung unseres schönen Museums 
schickte! Wie oft kam ein Lehrer zu uns und übergab uns Beträge, die di 
Kinder unter sich gesammelt hatten! Ist es nicht ein rührendes Zeichen von 
Anhänglichkeit, wenn die 6. Klasse der Rudolfschule Lumpen, Knochen, alt 
Flaschen usw. sammelt und den Gesamterlös von 22330 Mark für das Senck 
bergmuseum abliefert? Hat nicht ein Arbeiter 1922 bei uns angefragt, ob er 
„einfacher Arbeiter” Mitglied werden dürfe? Und hat nicht der gleiche Arbeit 
bereits im Juni 1923 das 50. von ihm selbst geworbene Mitglied angemeldet 
Der Schlußsatz seines Briefes lautet: „Ich wäre Ihnen für die Überweisung vo 
etwas Werbematerial sehr dankbar, damit ich in absehbarer Zeit das hundertste =” 
Mitglied melden kann.” = 

Das sind Zeichen einer Gesinnung, auf die Frankfurt stolz sein kann, di 
uns über die jammervolle Selbstsucht unserer Zeit ei Nur gemei 
samer Kampf gegen die Not kann uns retten — — persönliche 
und Wünsche müssen zurücktreten, sonst ERURBENEO wir, 





Zuversicht, daß ganz Frscichiet hinter uns steht, daß jeder Freund de Wiss: 
schaft auf der ganzen Erde fühlen muß: Hier sind Kräfte am Wer 
die für gemeinsame Werte der ganzen Menschheit kä 
fen, denenich helfen muß! 





EA 


Er N A ea ee mn Re SF. 





Aus der Bibliothek und den wissen- 
schaftlichen Universitäts-Instituten 
unserer Gesellschaft. 


Unsere Mitglieder sind gewohnt, von Zeit zu Zeit im „Bericht zu lesen, 
was im Museum vorgeht, wie die Schausammlungen wachsen und umgestaltet 
werden und wie die. viel bedeutenderen wissenschaftlichen Sammlungen sich 
vergrößern. Die Tätigkeit ‚unserer Beamten und Angestellten, die das Vor- 
handene und neu Hinzukommende ordnen, präparieren und vor dem Verderben 
schützen, liefert aber auch das Material für die 'wissenschaftliche Lehr- und 
Forschungsarbeit, und von diesen oft langwierigen und mühevollen Unter- 
suchungen soll in Zukunft gleichfalls von Zeit zu Zeit berichtet werden. Denn 
auch sie gehören zu den Aufgaben unserer Gesellschaft! 
Wenn Deutschland auf seine Wissenschaft stolz sein kann, so darf die Sencken- 
bergische Naturforschende Gesellschaft dies in ganz besonderem Maße sein. 
Denn aus ihr gingen im Jahre 1914 drei Universitäts-Institute für Zoologie, 
Geologie-Paläontologie und Mineralogie hervor, die als ihr Eigentum der Uni- 
versität angegliedert wurden und damit das Arbeitsfeld unserer Gesellschaft 


weit über das aller anderen wissenschaftlichen Gesellschaften hinausheben. 


Nirgends ist ein freies Museum mit den Instituten einer Universität, nirgends 
sind beide Seiten wissenschaftlicher Tätigkeit, die systematisch-ordnende und 
die bis ins kleinste hinein forschende, so eng mit einander verknüpft wie hier, 
Die Gemeinschaft ist noch jung, der Baum beginnt zu blühen — — möge er 
dereinst reiche Früchte tragen! 

Bis zum Jahre 1914, also fast hundert Jahre lang, hatten die Sektio- 
näre deralten Sammlungen in selbstloser Weise für die wissenschaft- 
liche Bearbeitung des eingehenden Materials gesorgt. Unsere „Abhandlungen“ 
und unser „Bericht enthalten rühmliche Zeugnisse ihrer Tätigkeit und haben 
hauptsächlich dazu beigetragen, den Namen unserer Geselschaft auf der ganzen 
Erde zu einem hochgeachteten zu machen. Manche große Reise wurde von 
unserer Gesellschaft gefördert, ganze Bändereihen zeugen von dem Sammaelfleiß 
und dem wissenschaftlichen Eifer der Bearbeiter. Auswärtige Gelehrte wurden 
vom Museum mit wissenschaftlichem Material unterstützt und vieie von ihnen 
haben gern anerkannt, daß die erste Anregung zu ihrer wissenschaftlichen Lauf- 
bahn von unserem Museum ausging, oder daß zu einer Zeit, als eine Anerken- 
nung ihrer ersten Arbeiten für sie viel bedeutete, gerade unsere Gesellschaft es 
war, die durch Auszeichnung mit einem Preise oder einem Stipendium ihre 
weitere Entwicklung förderte. Namen wie LucAe, H. v. MEvEr, BÜTscHLi, 
CHUNn, WEISMANN, NOLL, ANDREAE, SCHWARZSCHILD, STRENG u. a. zeigen, daß 


- aus Frankfurt viele berühmte Forscher auf dem Gebiete der Naturwissenschaften ° 


hervorgingen — alle die genannten aber und mit ihnen viele andere haben in 
den Hörsälen unserer Gesellschaft die erste Anregung erhalten, alle haben in 
unseren Zeitschriften den Wert wissenschaftlicher Arbeit kennen gelernt. 

Mit der Universitätsgründung im Jahre 1914 bekam unsere 


Gesellschaft auch die Möglichkeit, selbst Forscher heranzubilden, selbst den 
wissenschaftlichen Nachwuchs in die Arbeitsmethoden einzuweihen. Kühn, wie 


warm befürwortet hatte, endlich zur Ausführung zu bringen. Der Boden 





















der ganze Plan des unvergeßlichen Re war auch die Beteiligung, 
Gesellschaft. Für Deutschland war es das erste Mal, daß freie Gesellschaf 
von Bürgern sich zusammenschlossen, um den Plan, den bereits ein GoET 


vorbereitet; jahrzehntelange mühevolle Arbeit hatte in Frankfurt reiches wis 
schaftliches Leben erwachsen lassen und seine Krönung durch eine Uniyeg 
war eine natürliche Folge. 
Für die Senckenbergische Naturforschende Fee lierhafl nun Grass 
gedanke bleiben, was der Rektor der Universität Heidelberg bei der Eröffn 
des Museums an der Viktoria-Allee 1907 gesagt hatte: „Es ist von d 
größten Bedeutung, daß freie Vereine da sind, die.... 
ihrer Weise die geistige Freiheit mit gewährleist 
können, aus der allein die Blüte der Wissenschaft e 
springt. Darum beglückwünschen wir Sie zu ihrer Se 
ständigkeit, dieihnen das kostbare Gut der Unabhäng 
keit sichert, Möge sie Ihnen stets bewahrt bleiben | 
In dem Vertrag über die Gründung der Universität stellte die Gesell- 
schaft das Museum mit den Hörsälen, dem gesamten Demonstrations- 
material und den wissenschaftlichen Sammlungen, sowie das Kursmateri 
der Universität zur Mitbenutzung zur Verfügung und erbaute auf Koste: 
der Universität ihre drei Universitätsinstitute für Zoologie, Geologie- 
Paläontologie und Mineralogie mit zwei Hörsälen, deren bauliche Unterhaltung 
sie übernahm und die sie dauernd der Universität zur Benutzung zur Verfü; 
stellte. Sie erweiterte also ihr Arbeitsfeld außerordentlich stark, denn sie b 
hielt alle ihre bisherigen Aufgaben unverändert bei und vergrößerte sie, inde 
sie das in fast hundert Jahren zusammengebrachte Material den Lehr- und 
Forschungszwecken der Universität dienstbar machte. E. 


Trotz der furchtbaren Erschwerung, die durch den Krieg und seine e Folgen 
eintrat, sind die Wechselwirkungen zwischen . Museum ‚und Instituten schor 





Weg zu gehen, trotz aller Schwierigkeiten, trotz der niederdeiiekea nn a der 
ganzen Wissenschaft. Die Worte des ersten Rektors der Universität bei der 
Grundsteinlegung der neuen Institute: „Frankfurts älteste und populärste wissen- 
schaftliche Gesellschaft stellt sich, o hn ne sich ih res Charakte ER u 





Aus unserer Bibliothek. 


Die Senckenbergische Bibliothek ist in der ersten Hälfte des vorigen Jahr- 
hunderts entstanden, indem sich unsere Gesellschaft 1824 mit der Dr, Sencken- 
bergischen Stiftung, 1840 mit dem Physikalischen Verein, 1850 mit dem Verein 
für Geographie und Statistik und dem Ärztlichen Verein zusammenschloß, um 
_ gemeinsam eine naturwissenschaftlich-medizinische Bibliothek zu schaffen und 
diese dem wissenschaftlichen Leben unserer Vaterstadt dienstbar zu machen. 
Der Lesesaal und die Möglichkeit Bücher zu entleihen, wurde fleißig in An- 
spruch genommen, denn alle Mitglieder der angeschlossenen Vereine hatten von 
jeher das Recht, ohne Leihgebühr die reichen Bildungsmöglichkeiten auszu- 
nutzen. Seit der Universitätsgründung steht die Senckenbergische Bibliothek mit 
der Stadtbibliothek und der Rothschildbibliothek auch den Lehrern und Studie- 
renden der Hochschule zur Verfügung. Das Werk JOHANN CHRISTIAN SENCKEN- 
BERG's, der „der Wissenschaft einen Tempel gründen” wollte, wurde ausge- 
baut — — die Wissenschaft steht allen offen! 


“ Zu Bücheranschaffungen verfügte die Bibliothek vor dem Kriege über einen 
Betrag, zu dem jeder Verein einen Beitrag leistete und der die Beschaffung 
der wichtigsten Werke sicherstellte. Viel wichtiger aber war von jeher der zweite 
Weg der Bücherbeschaffung, der Tausch gegen unsere Veröffentlichungen. Als 
mit der fortschreitenden Geldentwertung der Bücherkauf immer schwieriger, 
zuletzt, soweit ausländische Bücher in Betracht kommen, unmöglich wurde, stieg 
die Wichtigkeit des Austausches immer mehr. Denn die Wissenschaft kann 
die Arbeiten des Auslandes nicht entbehren, und wenn auch einzelne Gesell- 
schaften ihre Veröffentlichungen als Geschenke überwiesen, wenn besonders in 
Amerika sich eigene Vereinigungen bildeten, um den‘ deutschen Bibliotheken 
zu helfen, so mußte doch dieser Weg bei der großen Zahl der Neuerscheinungen 
"Stückwerk bleiben. Deshalb beschloß unsere Gesellschaft schon 1918, ihren 
“ beiden seit Jahrzehnten bekannten Zeitschriften, den „Abhandlungen” und dem 

„Bericht” eine dritte hinzuzufügen — — die „Senckenbergiana”, die speziell 
kleinere wissenschaftliche Arbeiten aufnehmen sollten, die aus den drei Uni- 
_  wversitäts-Instituten und aus dem Museum hervorgingen. Alle drei Zeitschriften 
_ mußten nun zu Tauschzwecken besonders kräftig gefördert werden — — zu 
der schwersten Sorge der Gesellschaft um das Museum trat die neue drängende 
R; Not. Das Papier stieg ununterbrochen im Preis, Druck und Satz wurden uner- 
schwinglich, Klischees oder Lichtdrucke wurden fast unerreichbar. Aber auch 
hier nahm die Gesellschaft den Kampf mutig auf, im Vertrauen auf die Frank- 
furter Hilfsbereitschaft. Papier konnte zu billigem Preise beschafft werden, für 
Druck und Satz wurde ein günstiger Vertrag mit der Firma Werner u. Winter 
G.m.b.H. abgeschlossen, bei dem diese uns sehr entgegenkam, Klischees und 
Lichtdrucke wurden von Fall zu Fall erbettelt. Und so ist es bis heute ge- 
lungen, alle drei Zeitschriften fortzuführen und sogar auszugestalten, in einer 
Zeit, in der viele deutsche Zeitschriften ihr Erscheinen einstellen, in der die 
"meisten wissenschaftlichen Gesellschaften auf den Druck ihrer Zeitschriften ver- 
zichten müssen oder nur wenige kurze Mitteilungen herausgeben können. 




















Museum können stets rasch gedruckt ‘werden, di: unser Nachwucl 


Zeitschriften, davonüber500ausdem Auslande, im Tau 


ee neue wissenschaftliche Arbeiieh. aus unseren Institaten 






Druck der Ergebnisse ihrer Arbeiten zu warten. Noch viel stärker a 
unsere Bibliothek gefördert. Wir erhalten heute schon übe 














gegen unsere Veröffentlichungen! Eine Schätzun 
jährlichen Kosten dieser Zeitschriften ergibt einer 
kaufswert von mindestens einer Milliarde ee 












der naturwissenschaftlichen Faknitst einen Br g 
größter Bedeutung für ihre Tätigkeit, den Studieren 
die Bücher nicht mehr kaufen können, reiche Ba 
möglichkeiten. 

Wir dürfen ruhig sagen, daß unsere Bibliothek zum Stillstand PR 
wäre, und damit die Möglichkeit, im Gebiet der beschreibenden Naturv 
schaften auf dem Laufenden zu bleiben und die Wissenschaft vorwär 
tragen, wenn unsere Zeitschriften nicht mit aller Kraft gefördert wo 
wären, So schreitet unsere Bibliothek ständig vorwärts, weil unsere Gesells: 
ihre Pflicht tut, weil sie Wissenschaft und Bildung fördert, wo sie kann, $ 
Gemeinsamkeitsgefühl der Bürgerschaft hat ihr über hundert Jahre die 
dazu gegeben — — im Vertrauen auf diese Hilfe wollen wir weiter a 





Nahrung und Nahrungsaufnahme 
des Elches 


von Prof. Dr. W. von Reichenau Gonsenheim bei Mainz 





- Wovon das Elchwild sich äst, hat Dr. W. Wurm (1897) über- 
_ sichtlich zusammengestellt, wie folgt: 

„Es äset mit Vorliebe zarte Rinde und Zweige, Gräser und 
Laub verschiedener Bäume, und wenn zu haben, auch aufsprießen- 
des, noch weiches Getreide, namentlich Hafer in der Milch. (Noch 
weit mehr als durch Abäsen beschädigt es die Felder durch Zer- 
treten und Niedertun). Fichten, Aspen, Faulbaum, Pappeln, Eschen, 
- Birken, Ebereschbeeren, Ahorn, Weidenarten und Erlen werden 
von ihm stark verbissen und, indem es sich auf den Hinterläufen 
aufrichtet, der zarteren und knospenreicheren Gipfel durch Ab- 
brechen beraubt, und dies besonders im Winter, wenn die unteren 
Zweige bereits abgeäset sind. Bereits sehr ansehnliche Stangen 
bricht es durch gewaltsames Niederreiten, um zu dieser Delikatesse 
zu gelangen. Denn sein erhöhtes Vordergestell erschwert ihm die 
Aufnahme von Bodenäsung bedeutend und sein Organismus er- 
fordert unbedingt reichliche Zufuhr von Gerbsäure. Wie BrEHM 


BR praktisch erprobte, wird Elchwild in zoologischen Gärten nur bei 


_ vorwiegender Fütterung mit tanninreicher Rinde — nicht aber bei 
Gras- und Laubfütterung am Leben erhalten. Caltha palustris, 
Equisetum fluviatile, Eriophorum (zu deutsch: Dotterblume, Schach- 

telhalm, Wollgras), Rohr und Schilf werden im Frühjahr und 
De: Ledum palustre (Sumpfporst) während der Brunitzeit, 
- Nadelholzspitzen, Beerenkräuter (Heidel- und Preißelbeeren) und 
Heidekraut im Winter aufgenommen. Durch Schälen der Rinde im 
Winter wie zur Saftzeit ruiniert es ungemein viele Stämme, die da- 
durch verdorren und nur noch Brennholz liefern.“ 

Oberförster MÜLLER schildert (Tiere der Heimat 1882) nach 
Mitteilungen des Ibenhorster Oberförsters ULrIcH die eigentüm- 
liche Art seines Äsens. „Während Schmaltiere und Spießer bei 
demselben bisweilen knieen, zieht das ältere Wild den einen Vor- 
derlauf gegen den entsprechenden Hinterlauf und streckt den 


% 


— 122 — 





anderen Vorderlauf stark nach vorn. Durch diese starke Winkel- 
stellung der Vorderläufe kommt das etwas aufgebaute Vorderteil 
mit dem kurzen Hals näher zum Boden, wodurch das Äsen er- 
leichtert wird. Die Rinde der Weiden (es sind jedenfalls junge 


Stämme gemeint!) schält es im April auf eine eigentümliche Weise, | 


indem es dieselbe nahe beim Wurzelstock losbeißt, (?) sie 
dann mit dem Geäse ergreift und mit dem Kopfe nach 
oben schnickt, wodurch der Baststreifen an den oberen Verzwei- 


gungen der Äste abreißt. Im Sommer geht es das Laub mit dn 
zärteren Zweigen der Weidenarten an, indem es die Weidenäste » 
mit dem Geäse faßt und in der beschriebenen Weise wie beim 


Schälen des Weidenbastes auch die belaubten Äste und Zweige ab- 
streift. Im Hochsommer und Herbste äst es in ähnlicher Weise das 
Erlenlaub .... Im Winter, bei Schnee schält es die Rinde aller 
Holzarten, besonders aber der Weichhölzer, wie Aspen und Weiden. 


Neben dem Baste der Hölzer nimmt es die Moosbeere, das im 


Winter noch grüne Wollgras und Ausgangs Winters die Winter- 
saat an, von der es sich aber leichter verjagen läßt, als z. B. das 
Edelwild.“ 


„Nach v. WANGENHEIM nimmt der Elch auch äußerdem 


Blätter und Schößlinge der Moorweide, Linde, Eiche und Fichte an, D 


auch Hasel und Erle. Von letzterer nimmt er, namentlich seitdem 


im Ibenhorster Forst die Weidenarten seltener geworden sind, be- 
sonders gern die jährigen Ausschläge, zweijährige Sprößlinge ab und 


zu, jedoch schon seltener, ältere Schossen und Zweige dagegen nie- 


mals. Höhere Grashalme, ebenso schossendes Getreide, weiß es mit 
der rüsselförmigen hängenden Oberlippe sehr geschickt zu pflücken, 
währendletztereesameigentlichen Grasenhin- 
dert. Beim Abrinden setzt es seine Schneide- 
zähne wieeinen Meißelein, schältein Stückchen 
Rinde los (?), packt dieses mit den Zähnen und 
Lippen und reißt nach oben zu lange Streifen der Rinde ab. Es 
bevorzugt hierbei alle saftrindigen Bäume und Gesträuche, als da 
sind Espe, Esche, Weide und Pappel, derart, daß es nicht selten 
selbst sehr starke Espen noch vollständig entrin- 
det. Unter den Nadelbäumen zieht es die Kiefer allen übrigen vor, 
wogegen es die Fichte nur im höchsten Noffalle angeht.” (Brenm's 
Tierleben, 2. Aufl., Band 3). i 
Auch Dr. Gustav Jäger (Deutschlands Tierwelt, 1874) sagt 
ausdrücklich: „In der Nahrung des Elchs spielt Baumrinde eine 





un 


— 123 — 


Hauptrolle: mit seinen starken, meißelartigen 


Schneidezähnen stemmt es ein Ende los, faßt dies 
und schlitzt nach aufwärts einen langen Riemen ab.“ 

So stand es mit unserer Kenntnis von der Art der Nahrungs- 
aufnahme des Elches, als ich 1908 in Hamburg an den Zwinger der 
Elche im zoologischen Garten herantrat. An den starken Eisen- 
stangen der Umzäunung waren auf deren Innenseite eine Anzahl 
fußdicker Rüsternstämme befestigt, deren Borke den Elchen als 
Zuschlag zu ihrer unnatürlichen Nahrung (hauptsächlich Heu) 


5% dienen sollte. Der Zwinger enthielt zwei Elchhirsche mit Kolben- 


TE 


geweih, völlig erwachsene, wenn auch nicht allzu reichlich ernährte 
Stücke. Der eine Elchhirsch präsentierte sich ‚im Sitz‘, und zwar 
genau so, wie ihn der Tiermaler Gustav MüÜrtzEL (3. Band der 
2. Aufl. von Breum’s Tierleben) im Hintergrund der Elchgruppe: 
links abgebildet hat. Der andere Hirsch oder „Bulle“, wie man 


auch wohl zu sagen beliebt, trat gerade an den Baumstamm heran, 


_ bei dem ich zufällig stand. Sein Kopf, insbesondere sein Geäse, 


mit dem er die Borke der Rüster zu beriechen schien, war also 


kaum zwei Spannen von meinen Augen entfernt. So nahe hatte ich 
noch nie den höchst absonderlichen Bau der Schnauzenpartie eines 


Elches vor mir gehabt. Die kurz vor den Augen beginnende stark 
gebogene knorpelige Nase und die den schmalen Unterkiefer, der 
im Gegensatze zum vorn zahnlesen oberen Schneidezähne trägt, 


_ um sechs Zentimeter nach unten überragende und also nach 


vorn gänzlich verbergende Oberlippe gestalten eine breit nach vorn- 





unten abgestutzte Schnauze. Dieselbe ist lang, dick und ungewöhn- 
lich aufgetrieben, während sich ihre Oberlippe mit ihren Furchen 
höchst beweglich zeigt. Mein Elchhirsch beschnupperte die dicke 
harte Borke immer intensiver, jetzt preßt er gar die weiten Nüstern 
dagegen, als wenn sein Riechorgan auf schlechtester Stufe der 
Ausbildung sich befände, wie dies z. B. bei den Augentieren, den 


— 124 — 





Affen, der Fall ist, die alles wider die Nase stoßen müssen, um 
sicher zu gehen, ob sie die rechte chemische Affinität vor sich haben, 
Aber das Schnuppern der Nasenpartie greift weiter um sich: in Be 


feinster Gliederung bebt Muskelpartie um Muskelpartie und schiebt 


sich tief in die Borkenspalten hinein. Es sah aus, als wenn ein 
Mollusk, etwa ein Polyp (Octopus) seine Beute an sich preßt. 
Höchst erstaunt wartete ich auf den Moment, wo die Schneidezähne 
trotz ihrer gründlichen Maskierung durch die sie ganz aufnehmende 
Oberlippe in Aktion treten sollten, um als eine Reihe von acht 


Meißeln einzusetzen und die Borke anschneidend abzuheben — 
trotz der Schwäche und ungeschickten Länge des Unterkiefers! 
Aber hierauf brauchte ich nicht zu spannen, denn, nachdem die 


Muskelpartieen der gewaltigen Oberlippe sich alle in die Borken- “ 


furchen eingeklemmt hatten, wurde ein für mich bis dahin ganz 
neues Organ in Tätigkeit versetzt. Mitten zwischen den Nüstern 


befindet sich nämlich eine ganz kahle, fleischrote, kreisföormige 


Platte von etwa 3 cm Querdurchmesser. Von der Mitte ihres un- 
teren Kreisabschnittes sendet dieselbe eine gleichbeschaffene, erst 
schmale, später breitere Verlängerung wie einen Weg nach dem 
unteren ÖOberlippenrande. Dieses Ausschlag gebende Gebilde, 
welches ich nirgends in der Literatur erwähnt-finde, wurde nun- 

mehr machtvoll angepreßt und sogleich der Kopf rückwärts ge- 


worfen, Mit lautem Krach flog ein mehr als spannenlanges, hand- 


breites Stück der harten dicken Borke nach oben ab, noch einen 
Augenblick an der äußeren Oberlippe hängend, und wurde dann 
vom Geäse mit Hilfe des geöffneten Unterkiefers aufgefangen. Zu- 
letzt schob die Zunge dieses Borkenstück auf die Backenzahnreihen 
zur weiteren Behandlung, d. h. zum Vermahlen. Die wunder- 
lich und bei keinem anderen Säugetier ähnlich 


gestaltete Muffel des Elches ist also ein groß- 


artiger Saugapparat, ein richtiger Nasensaug- 
napf! 

Die Schneidezähne, noch dazu an einem unmäßig langen und 
daher sehr schlecht als Hebel wirkenden Unterkiefer wären ganz 
unfähig, eine solch dicke Borke zu durchschneiden und in die Höhe 
zu schnicken, wie dies seither — jedenfalls fernen — Zuschauern 
so vorgekommen ist. Auch würde es dem Elch bei abwärts ge- 
wandtem Kopf unmöglich sein wegen der im Wege stehenden Ober- 
lippe die Schneidezähne überhaupt an den Stamm heranzubringen. 


Nur bei Karı SorrEL in seinem empfehlenswerten „Bilderatlas 








. zur Zoologie der Säugetiere Europas’, Leipzig 1922, also in einer 
‚ganz neuen Literaturquelle findet sich bei der Beschreibung der 
Lebensweise unseres Wildes eine Erwähnung einer Funktion der 
Oberlippe, indem es heißt (Seite 117): „Von den Laubhölzern 
(Weiden, Erlen, Espen, Birken usw.) nimmt der Elch mit der 
muskulösen, beweglichen, fast rüsselartig ver- 
längerten Oberlippe die Blätter und zarten Zweige, soweit 
er sie erreichen kann. Damit ist diesem Organ, wenigstens soweit 
es sich um die Funktion eines Greiforganes handelt, Gerech- 
tigkeit widerfahren. Aber ein solches haben viele Huftiere, wie 
z.B. alle Pferdearten, dann die Nashörner mit Ausnahme des 
„weißen Stumpfnashorns und nun gar der Tapir, doch der hat 
schon einen eigentlichen, auf den Elefant hinweisenden Rüssel. In 
genanntem Bilderwerke, das man namentlich Künstlern sehr ans 
Herz legen kann, treffen wir unter anderen weniger deutlichen Ab- 
bildungen des Nasensaugnapfes auch eine recht gute auf Tafel 
176 bei den „verkämpften‘' Elchen. Man sieht daran deutlich, wie 
die Muskeln der Oberlippe durch die Saugplatte und ihre Rinne in 
zwei seitliche Partieen zerlegt werden, welche beim Gebrauch beide 
nach der Mitte hin in Tätigkeit treten. 

Ich habe bei der Neugestaltung des Mainzer Naturhistorischen 
Museums diesem auch einen neuen Elch zugeführt. Das Fell nebst 
Zubehör erhielt ich frisch und sandte den vortrefflichen Tier- 
modelleur und Taxidermist, Präparator KArL STADELMANN (1919) 
nach Hamburg, um dortselbst den Elch mit allen seinen Besonder- 
heiten lebensgetreu zu modellieren, welche Aufgabe er aufs Beste 
gelöst hat. Die weitere Folge war dann das Prachtstück im Deut- 
schen Säugetiersaal in Mainz, bei dem man den Nasensaugnapf im 
Ruhezustand lebenswahr erblickt, 

Auch der Rüssel der Saiga-Antilope bedarf noch einer Er- 
klärung. Sollte sie vielleicht darin zu suchen sein, daß das in Löß- 

"und Sandflugsteppen lebende Tiere in diesem Organ einen Staub- 
fänger besitzt, womit es die Unreinlichkeiten der Luft ausniesen 
könnte, wie z. B. der Elefant es in der Gefangenschaft tut (letzterer 
freilich aus Bosheit, indem er erst Schmutz damit aufsaugt und 
dann auf den Besucher abschießt, der ihn in der Fütterung vernach- 
lässigte, wie ich wiederholt an mir selbst erlebt habe) ? 











Biologie und Weltanschauung 
von Prof. Dr. DO. Steche 





Seit dem Auftreten Darwın's ist die Biologie, die Erforschung 


der Lebensvorgänge, die lange Zeit ein abgelegenes Spezialgebiet 


der zoologisch-botanischen und der medizinischen Fachleute war, 
wieder nahe an den Brennpunkt des allgemeinen geistigen Interesses 
herangerückt. Die hier entwickelten Anschauungen waren von so 


grundsätzlicher Bedeutung für die tiefsten Fragen, die jeden den- 


kenden Menschen beschäftigen müssen, daß sie zu ihrer Verfolgung 


bis in letzte philosophische Konsequenzen zwangen. So erwuchs 


eine neue Naturphilosophie, in der biologische Erkenntnisse, An- 
schauungen und Dogmen für die Gestaltung eines allgemeinen 
Weltbildes eine wesentliche Rolle spielen. Bei der Betrachtung 


dieser mannigfachen biologisch-philosophischen Gedankengänge ' 
zeigt sich eine erhebliche gedankliche und methodische Unklarheit, 


die zu prinzipiellen Gegensätzen und heftigen wissenschaftlichen 
Kämpfen geführt hat, deren Tragweite und innere Berechtigung 
wohl nicht immer im richtigen Verhältnis zu der aufgewendeten 
Energie standen. Bei dieser Sachlage soll das Ziel dieser kurzen 
Ausführungen eine methodologische Klärung über die Fragen sein: 
Wie weit kann biologische Betrachtungsweise 
überhaupt den Grundstein einer Weltanschau-. 
ung bilden, und welche wissenschaftlichen 
Methoden sind für dieErforschungund Auswer- 
tung biologischer Vorgänge anwendbar und zu- 
lässig? 3 

Das Weltbild des primitiven Menschen ist durchaus biologisch 
bestimmt. Für ihn steht im Mittelpunkt des Erlebens das Gefühl 
der eigenen Persönlichkeit, und zwar vorwiegend des eigenen 


Seelenlebens, Seine eigenen Triebe und Willensregungen sind die 


ihm am unmittelbarsten bewußte Quelle allen Geschehens, und er 
ist daher auch geneigt, allen Vorgängen in seiner Umgebung die- 
selben Grundkräfte zuzuschreiben. So erscheint ihm die ganze 
Natur belebt. Wir sehen in den Mythen der Naturvölker, wie nicht. 
nur die Tiere die gleichen Lebensregungen zeigen wie der Mensch, 





STETS: 


sondern wie auch in Pflanzen beseelte Wesen nach Analogie der 
Menschen angenommen werden. Darüber hinaus erscheint aber 
sogar jede Bewegung als eine Lebensäußerung. Sehr bezeichnend 
ist bei den Griechen der Gebrauch des Wortes „Pneuma‘, das 
ebensowohl Geist, wie Leben, wie Bewegung bedeutet. Diese Lebens- 
auffassung erstreckt sich durch das ganze der Beobachtung zugäng- 
liche Weltall; auch die Gestirne erscheinen als Sitze lebendiger 
"Kräfte. Dadurch, daß alle diese Lebensträger nach menschlicher 
Art, aber mit übermenschlichen Kräften und Fähigkeiten vorge- 


= stellt werden, bildet sich der Kreis der Naturgötter, den wir im 


Werdegang aller Völker auf einer bestimmten Entwicklungsstufe 
sich ausgestalten sehen. Eine Trennung von Materie und Geist 
fehlt noch gänzlich. In den Spekulationen über die Urstoffe, die 
Elemente, aus denen sich die Welt erbaut, ist auch noch keine 
Trennung von Kraft und Stoff angenommen. Wasser, Feuer, Luft 
und Erde sind Stoffe und bildende Formen zugleich. Diese Be- 
trachtung geht aus von dem Lebensgefühl des Einzelnen, nicht von 
irgendwelchen Beobachtungen über die besonderen Eigenschaften 
der belebten Körper, ist also nicht eigentlich biologisch in unserm 
heute meist verstandenen Sinne, sondern eher psychologisch. Da- 
durch aber, daß sie von der Einheit des bewußten, von Zwecken ge- 
- leiteten Seins ausgeht, wird dieser Begriff der Einheitlichkeit und 
Totalität der Objekte zum zentralen Punkt beim Versuche zur Kon- 
struktion eines Weltbildes. Er führt zu der Vorstellung, daß die 
einzelnen Einheiten in gesetzmäßiger Wechselwirkung das geord- 
nete Weltall, den ‚Kosmos‘ darstellen. 


Im europäischen Kulturkreise können wir die Weiterbildung 
dieser Anschauungen besonders deutlich in der Entwicklung der 
griechischen Philosophie verfolgen. Zunächst prägt sich die Schei- 
dung von „Form“ und „Stoff“ aus. Es ist vor allem das unsterb- 
liche Verdienst des SoKRATEs, daß er durch die Schaffung der 
Begriffe ewige und unveränderliche Einheiten setzt, die sich in 
dem ständig wechselnden Fluß der Erscheinungen verkörpern. Aus 
dieser Vorstellung erwächst PrAro's Ideenwelt, das Reich der ob- 
 jektiven, durch die Vernunft erkennbaren Einheiten, die die 
Scheinwelt des täglichen Lebens beherrschen. Hier liegen die Wur- 
zeln des Rationalismus, d. h., aller Versuche, die Mannigfaltigkeit 
der Erscheinungen wissenschaftlich zu ordnen und dadurch dem 
menschlichen Geiste faßbar zu machen. 


Die Ideen, die bei PLAaTo als außerhalb der Welt des Erschei- 


BT. 





nens stehende, unveränderliche Vorbilder gefaßt werden, prägen 
sich bei ARISTOTELES als die treibenden Kräfte aus. Die Ideen 

sind die formbildenden Mächte, die den an sich gestaltlosen und 
homogenen Stoff in die einzelnen Erscheinungsformen zwingen. 
Form ist also gleich Kraft, und jedes Objekt erscheint als eine Ein- 
heit, bedingt durch die in ihm waltende Entelechie, die Gestaltungs- 
kraft. Auch diese Kräfte sind letzten Endes durchaus in Analogie 

zu psychischem Erleben konstruiert. So ist die aristotelische Natur- 
philosophie zwar wissenschaftlich geordnet und begrifflich durch- 
gearbeitet, aber noch ganz beherrscht von der ursprünglichen bio- 
logischen Grundeinstellung. Dadurch, daß sie alle überhaupt u 
beobachtenden Erscheinungen und Vorgänge in dies von einer ein- 
heitlichen Grundvorstellung getragene System einbezieht, erreicht 

sie eine innere Geschlossenheit und zwingende Kraft, die sie für 
lange Jahrhunderte zur beherrschenden Macht im abendländischen 
Kulturkreise erhoben hat. Eimer. 


Gegenüber dieser Auffassung, die das ganze Mittelalter über 
im wesentlichen Gültigkeit behalten hat, erhebt sich ein völlig an- 
deres Prinzip im Beginn der Neuzeit. Es erwächst eine ganz neue 
Naturwissenschaft, deren leitender Gedanke die Kau- 
salität ist, die das Geschehen als Beziehung von Ursache und 
Wirkung darstellt. Der fundamentale Unterschied dieser Auf- 
fassung liegt darin, daß sie die Einzelheiten des Geschehens 
ins Auge faßt und sie unter allgemeine Gesetze zu ordnen be- 
strebt ist. Diese Ordnung gelingt am leichtesten in der unbeseelten 
Welt des Stoffes, und so ergibt sich ganz naturnotwendig aus der 
Entwicklung dieser Anschauungen eine Trennung der organischen 
und anorganischen Welt. Zunächst im Bereich des Anorganischen 
verschwindet der Begriff der Totalität; das Geschehen erscheint 
als die Summe von Einzelvorgängen, die experimentell kontrollier- 
baren und mathematisch zu formulierenden Gesetzen folgen. Die 
Welt wird mechanisiert und atomisiert. Damit ist das Prinzip ge- 
funden, welches dem menschlichen Geiste am einfachsten und 
klarsten die gedankliche und praktische Beherrschung der in seiner 
Umgebung ablaufenden Vorgänge gestattet. Es ist die Methode ge- 
funden, die immer die rationellste der naturwissenschaft- 
lichen Erkenntnis bleiben wird. Die Begründer dieser Welt- 
anschauung sind die großen Physiker GALıLEI, DESCARTES und ihre 
Nachfolger. Mit dieser Betrachtungsweise muß aber die Einheitlich- 
keit des Weltbildes zwangsläufig verschwinden. Neben die bio- 


_ 





— 129 — 


logische Denkweise tritt de mathematisch mecha- 
nische, Die folgenden Zeiten bringen eine zunehmende Ausdeh- 
nung und Vertiefung dieser Betrachtungsart; die Hilfsmittel steigern 
sich und die kausale Forschung beginnt tiefer und tiefer auch in 
das Reich des Lebens einzudringen. Es enthüllt sich mehr und 
mehr die verwickelte Zusammensetzung der Lebewesen, der „orga- 
nischen” Körper. Die vergleichende Anatomie zeigt den Aufbau 
aller Tier- und Pflanzenkörper aus bestimmten Organen. Die 
Histologie zergliedert diese weiter in einzelne Gewebsformen, und 
als Endpunkt dieser Entwicklung zeigt die Zellenlehre, daß die 
lebendigen Einheiten sich aus einer unübersehbaren Fülle von ein- 
zelnen im Prinzip gleichartig gebauten Elementen, den Zellen, 
zusammensetzen. Gleichzeitig dringen die chemischen Forschungen 
in den Bereich des Lebens ein. Die physiologische Chemie lernt 
erkennen, daß aüch in den Organismen die gleichen Grundstoffe 
wie im ÄAnorganischen vorhanden sind, und sie beobachtet, wie die 
gleichen Gesetzmäßigkeiten den Aufbau’ und die Umwandlung der 
Verbindungen in beiden Reichen beherrschen. So wird die alte 
biologische Auffassung immer mehr zurückgedrängt bis zu dem Ver- 
suche, das Leben, das den Alten als das Primäre erschien, als 
eine sekundäre, durch besondere Komplikation des Stoffes ent- 
standene Erscheinung zu erfassen. Dieser Versuch macht selbst vor 
' dem Psychischen nicht Halt mit seinem Anspruch, die Erschei- 
nungen des Seelenlebens aus den Vorgängen des Nervensystems 
restlos zu erklären. Das Streben nach Vereinheitlichung des Welt- 
bildes von der entgegengesetzten Richtung her aus dem Kausal- 
mechanischen erreicht seinen Gipfel in der Selektionslehre Dar- 
_ wın’s, Ihr schwebt als Ziel vor, die dem naiven Denken nur aus 
einem einheitlichen Zweckprinzip zu erfassende Planmäßig- 
keit des Baus und der Funktionen der Lebewesen durch Häufung 
und Auslese zufällig entstandener für die Vervollkommnung 
des Lebensprozesses nützlicher Veränderungen zu begreifen. 
So bildet in unserm Kulturkreise das neunzehnte Jahrhundert den 
Gegenpol zur Hochblüte der griechischen Philosophie (obwohl sich 
auch dort schon die Ansätze zur mechanisch-atomistischen Denk- 
weise bei DEMORRIT und seiner Schule finden). 

Der Versuch, diese Anschauung auf allen Gebieten der Lebens- 
forschung durchzuführen, bringt aber im Laufe der letzten Jahr- 
zehnte allmählich einen Umschwung hervor. Es zeigt sich gerade 
bei der Vertiefung der biologischen Forschung, daß das Leben eine 





Be Br 1 
Erscheinung ist, die sich nicht restlos durch Zusammenfügen ein- 
zelner Kaüsalreihen darstellen und begreifen läßt. Von den hier 
zur Diskussion stehenden Problemen seien nur einige kurz aufge- 
führt: Die Summe des chemisch-physikalischen Geschehens im Or- 
ganismus, die man zusammenfassend als Stoffwechsel bezeichnet, 
folgt ohne Zweifel dem Kausalprinzip des anorganischen Ge- 
schehens.. Was ‘aber hiermit nicht erklärt werden kann, ist de 
ganz bestimmte Auswahl der Reaktionen, die in ihrer Gesamtheit 
auf die Erhaltung des lebenden Organismus als Einheit gerichtet 
sind. Besonders der Prozeß der Assimilation und des Aufbaus der 
für jede Lebensform spezifischen Verbindungen aus der Fülle des 
mit der Nahrung gebotenen Stoffes wird für uns nur faßbar in der 
Betrachtung unter dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, d. h., 
der Leitung der Kausalketten durch die Totalität des Organismus. 
Ebenso liegt es bei dem Problemkomplex der Entwicklungsmechanik. 
Der Aufbau der Lebewesen bei ihrer Entwicklung von der Eizelle 
bis zum ausgebildeten Individuum, wie die Reaktionen, welche bei 
Störungen des normalen Lebensprozesses eintreten, sind für uns — 
selbstals Fragestellung — nur zugänglich, wenn wir von 
dem sich gestaltenden und erhaltenden Ganzen des Individuums 
ausgehen. Es genügt nicht, die Teile in der Hand zu haben und 
ihre Wechselwirkungen zu erforschen, sondern Richtung gebend 
bleibt für unsere ganze Betrachtung das geistige Band, das diese 
Teile zur Einheit zusammenschließt. Ähnlich liegt es in der Ver- 
erbungslehre. Wir kennen sehr wohl die außerordentlich feinen 
Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Anlagen eines neuen Organis- 
mus von den Eltern übertragen und bei den Nachkommen verteilt 
werden, aber die zweckmäßige Ausgestaltung dieser Anlagen in 
der richtigen Reihenfolge und am richtigen Platz, ihre wechselnde 
Wirkungsmöglichkeit bei Störungen des normalen Geschehens, ist 
aus der Summe der Einzelkräfte nicht erklärbar. 


Aus der hier kurz dargelegten Entwicklungsfolge der Forschung 
ergibt sich für den philosophisch orientierten Beobachter wohl 
folgende Erkenntnis: Es ist unmöglich, die Fülle der Erscheinungs- 
welt durch ein Prinzip begrifflich zu erfassen. Das der natur- 
wissenschaftlichen Forschung am besten entsprechende Prinzip ist 
das der Kausalreihen. Dabei ergeben sich aber sehr verwickelte 
Zusammenhänge. Es zeigt sich, daß ein Vorgang oder ein Gebilde 
niemals durch eine Ursache erklärt werden kann, sondern daß 
stets ein Zusammenwirken sehr mannigfacher Ursachen vorliegt. 


a A SE 
De .. Pr Par > 





— 1311 — 


Diese verschiedenen Ursachenreihen sind aber nicht unabhängig, 
sondern stehen unter sich in Wechselbeziehungen von steigender 
Komplikation. Auf Grund dieser Betrachtungsweise läßt sich die 
Erscheinungswelt in eine Anzahl von Systemen ordnen, die sich 
stufenweise umgreifen. Das einfachste für uns zur Zeit erkennbare 
System z.B. ist das Atom, Die in ihm vereinigten Energien liefern 
aber nicht nur Kräfte, die das Gefüge des Atoms zusammenhalten, 
‚sondern sie entwickeln darüber hinaus Außenkräfte. : Diese führen, 
etwa als chemische Affinitäten, die Zusammenfügung mehrerer 
Atome zu einem Molekül herbei. Dieses bildet wieder eine Einheit, 
‘in der die Außenkräfte der Atome als Innenkräfte wirksam sind; 
beide Systeme bedingen sich auf diese Weise gegenseitig. Über den 
Molekülen bauen sich weitere immer komplexere Systeme auf, die 
wir allgemein als Naturkörper bezeichnen können (Erinnert sei etwa 
an das verwickelte Gefüge der Kristalle). Unter diesen Natur- 
körpern sind für uns von besonderem Interesse die lebendigen 
‘Systeme. Nach ihrer Zusammensetzung aus einfacheren Systemen 
sind sie den Methoden der Erforschung dieser Systeme, also der 
Kausalerkenntnis der Naturwissenschaften unterworfen und zugäng- 
lich. Diese Forschungsmethode vermag aber nur einen sehr kleinen 
Teil der im Lebensgeschehen liegenden Probleme zu erfassen. Zur 
gedanklichen Bewältigung des Restes müssen wir uns einer ganz 
anderen Betrachtungsweise bedienen. Dies läßt sich vielleicht am 
_ besten verständlich machen durch die Betonung der Beobachtung, 
daß die lebendigen Systeme im Gegensatz zu den untergeordneten 
einen „Sinn haben. Dies will sagen, daß die Zusammensetzung 
und die Reaktionen der Systeme nur von ihrer Totalität und Ein- 
heit aus zu verstehen sind. Ein anderer Ausdruck für die gleiche 
Tatsache ist der Begriff der Zweckmäßigkeit. Er bedeutet 
nichts anderes als die Erkenntnis, daß wir das wichtigste Geschehen 
an den lebenden Körpern uns nur so begrifflich zugänglich machen 
‘können, daß wir die Frage stellen, von welchem Nutzen für den 
lebenden Organismus diese oder jene Form oder Funktion ist, be- 
ziehentlich, welchen Zwecken sie dient. Es tritt also für die jetzige 
Stufe unserer Erkenntnis neben das kausale Prinzip das 
finale, und nur beide zusammen gestatten uns, die Fülle der Er- 
scheinungen am Lebendigen begrifflich zu ordnen. Es ist in dieser 
Beziehung sehr interessant, daß gerade der Versuch der Mecha- 
nisten, die Organismen als Maschinen zu deuten, unbewußt die Be- 
rechtigung dieser Auffassung zugibt; denn für eine Maschine ist 


— 132 — 


eben gerade bezeichnend, daß sie nicht nur eine Summe von nach 
bestimmten Gesetzen zusammengefügten und arbeitenden Teilen 
darstellt, sondern daß sie einen Zweck und Sinn hat, der nur von 


der Einheit des Maschinensystems aus begriffen werden kann. 


Betrachten wir von diesem Gesichtspunkt aus die Biologie, so fr e 





finden wir, daß so gut wie alle biologischen Grundbegriffe dieser 


zweiten finalen Kategorie angehören. System, Organisation, Ent- 
wicklung, Regeneration und Regulation, Vererbung, Abstammung, 
Selektion sind alle von finalem Gepräge. Um ein besonders hand- 
greifliches Beispiel zu erwähnen, sei auf die gesamten medizinischen 


Wissenschaften hingewiesen. Ganz sicher wird in ihnen in starkem 


Maße analytisch-kausal gearbeitet, aber ihre ganze Fragestellung 
wird beherrscht von dem Zweckmäßigkeitsbegriff, von der Bedeu- 
tung und dem Sinn jeder einzelnen Funktion und jedes Eingriffs 


in das Gefüge und Getriebe des lebenden Organismus. 


Die Erkenntnis dieser Sonderstellung der lebendigen Systeme | 


und der Notwendigkeit besonderer Betrachtungsweisen zu ihrer be- 


 grifflichen Erfassung pflegt man als Vitalismus zu bezeichnen. 
Meist wird die Sachlage so aufgefaßt, daß Vitalismus und Mecha- 


nismus einander ausschließende Gegensätze seien. In Wirklichkeit en 
liegen die Dinge wohl so, daß sie sich ergänzen müssen. Die Feind- 


schaft ist nur daraus erwachsen, daß der Mechanismus in Über- 
schreitung seiner Grenzen als alleiniges Erklärungsprinzip auftrat 
und dadurch eine vitalistische Reaktion hervorrufen mußte, die 


diese Auswüchse einer an sich berechtigen Betrachtungsweise be- 


kämpfte. Faßt man die Dinge genauer ins Auge, so zeigt sich, daß 


dieser sogenannte Vitalismus zwei ganz verschiedene Aufgaben zu 


erfüllen versucht. Einmal gehört er in das Bereich der speziellen 
naturwissenschaftlichen Forschungen. Als solchem erwächst ihm 


die Pflicht, die Erscheinungen an den Organismen, die nicht kausal 
sondern nur final zu erfassen sind, begrifflich klar herauszuarbeiten 


und zu ordnen. Es besteht augenblicklich unter den Biologen eine 


starke Bewegung für eine gründliche methodologische Überprüfung 


ihrer Arbeitsweise, Die Lösung dieser Aufgabe kann nur vitalistisch 


in dem ersten hier angedeuteten Sinne erfolgen, denn die physi- 
kalisch-chemische nach einfachen Kausalbeziehungen suchende 
Forschungsart der Naturwissenschaften ist für belebte wie unbelebte 
Objekte die gleiche, Insofern nun die lebendigen Systeme gleich- 
zeitig kausal und final anzugreifen sind, ergibt sich eine eigentüm- 


liche Wechselbeziehung. Der Fortschritt der Forschung führt häufig 





Er 





dazu, daß Erscheinungskomplexe, die zunächst nur final verständ- 
lich waren, sich kausal auflösen lassen. Insofern ist es richtig und 
berechtigt, wenn man davon spricht, daß die mechanistische Be- 
trachtungsweise in der Biologie die teleologische allmählich zurück- 
drängt. Die kausale Forschung kann aber ohne die finale nicht 
"arbeiten, denn dieseallein ermöglicht vorläufig eine Zusammen- 


 fassung der Ergebnisse und stellt die weiteren Probleme. Je 





schärfer der Vitalismus seine Begriffe faßt und je klarer er die in 
seinen Erscheinungskomplexen liegenden Probleme herausarbeitet, 
desto bessere Vorarbeit leistet er ihrer kausalen Auflösung. Erst 


diese kausale Erkenntnis ist wirkliche „Erklärung, soweit solche 


naturwissenschaftlich überhaupt möglich ist; die finale stellt nur be- 
griffliche Beziehungskomplexe her, befriedigt also den Erkenntnis- 
drang nicht vollständig. In der Auflösung des unbekannten, nur 
final zu erfassenden Restes X in Kausalreihen liegt die unüberseh- 
bare Aufgabe der biologischen Forschung. Daß die lebendige Natur 
‚sich den Kausalgesetzen fügt, macht sie zum Objekt naturwissen- 
schaftlicher Forschung; daß sie niemals restlos in Kausalreihen auf- 
gelöst werden kann, gibt der Biologie ihren berechtigten Anspruch 
auf eine Sonderstellung. Anders ausgedrückt: Die Kausalforschung 
muß immer so arbeiten, „als ob“ die lebendigen Systeme sich rest- 
los mit ihrer Methodik erfassen ließen; umgekehrt muß die bio- 
logische Betrachtung ihre Darstellung der lebenden Systeme fo 
fassen, „als ob“ ihrem Geschehen eine zwecktätige Kraft zu 


Grunde läge. 


Neben dieser Aufgabe des Vitalismus im Bereiche der Natur- 
wissenschaft scheint er aber in den Diskussionen der Gegenwart 
noch eine zweite zu haben, nämlich eine allgemein philosophische. 
Wie schon oben gesagt, hat die innerhalb der Naturwissenschaften 
berechtigte Grundauffassung ihre Grenzen überschritten, als sie 


sich, über ihr Gebiet hinausgreifend, zu einer umfassenden Welt- 


anschauung zu entwickeln suchte. Die hier einsetzende philo- 
sophische Besinnung kommt nun vielfach in den Schriften der 
Vitalisten zum Ausdruck. Es wird hier das Problem erörtert, inwie- 
weit die spezielle Methode der Naturwissenschaft zur Behandlung 
philosophischer Probleme zulänglich sei und speziell an den 
Problemen des Lebens ihre Unzulänglichkeit zu erweisen gesucht. 
Es ist aber eigentlich unberechtigt und schwer verstänglich, wie 
sich zu diesem Zwecke, gewissermaßen innerhalb der biologischen 
Wissenschaften, eine besondere philosophische Forschungsrichtung 





— 134 — 


entwickeln konnte, da es sich hierbei um Aubgabeit handelt, is gar- 
nicht dem naturwissenschaftlichen Arbeitsgebiet zugehören. Die 


Erklärung läßt sich wohl nur darin finden, daß infolge der Abnei- 3 


gung und prinzipiellen Abkehr von der Philosophie, die die Reak- 
tion auf die phantastischen Spekulationen der naturphilosophischen 
Epoche war, die Naturwissenschaft überhaupt das philosophische 


Denken verlernt hatte. Dieser Verfall hat sich auf dem Gebiet dr 
Biologie in besonders eigentümlicher Weise gezeigt, und es sindso 


Systeme entstanden, die eine seltsame und meist recht unerfreu- 


liche Mischung geschulten naturwissenschaftlichen und primitiven 


philosophischen Denkens zeigen. Viel von dem, was in der 
heutigen Literatur unter dem Sammelbegriff des Monismus geht, 
gehört in dieses Gebiet. Wird die Bekämpfung des. dogmati- 
schen Mechanismus in wirklich philosophischem Geiste ange- 


griffen, so ergibt sich sehr bald die Tatsache, daß er au 
rein naturwissenschaftlichem Gebiet prinzipiell unangreifbar ist 


und die Kritik an ihm nur eine negative sein kann, insofern 
sie die seinem Arbeitsbereich noch unzugänglichen Gebiete der 


Lebensforschung aufzeigt. Die positive Widerlegungsarbeit be- b 
ginnt erst auf rein philosophischem Gebiet und zwar in Logik und 
Erkenntnistheorie. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist es eine 


ganz zwangsläufige Entwicklung, die einen der Führer der „Vita- 
listen‘, Hans Drıescnh, vom Mechanismus über den naturwissen- 


schaftlichen Vitalismus zur Ordnungslehre seiner letzten philosophi- ® 


schen Arbeiten geführt hat. Vertieft sich die philosophische Bil- 
dung wieder, so dürfte der „Vitalismus” in diesem zweiten Sinn - 
vollständig verschwinden. 

Nur aus diesem Mangel an philosophischer Durchbildung ist 
es wohl auch zu begreifen, wenn ein Teil der Vitalisten zu ganz 
primitiven Vorstellungen zurückkehrt, indem er zur Aufklärung des 
organischen Lebens die psychischen Erscheinungen heranzieht. Diese 
bleiben immer nur der Selbstbeobachtung zugänglich und sind 
zentriert um das Problem des Bewußtseins. Wenn die „Psycho- 
vitalisten das psychisch gegebene Zweckbewußtsein und die Zweck- 


tätigkeit als Triebkraft des Organischen hypostasieren, so führt dies 


nur dazu, die psychischen Grundbegriffe alles wahren Sinnes zu 
entkleiden und mit den übernommenen Namen auf physischem 
Gebiete Scheinerklärungen aufzustellen, ein Rückfall in die aristo- 
telische Betrachtungsweise, 


Fassen wir das Ergebnis der bisherigen Betrachtungsweise zu- 


— 135 — 





sammen, so wäre folgendes zu sagen. 1. Im engeren Arbeitsgebiet 
der Biologie bilden Mechanismus und Vitalismus, oder, wie man 
‚annäherungsweise vielleicht sagen kann, kausale und finale Betrach- 
tungsweise nicht feindliche Gegensätze, sondern notwendige Ergän- 
zungen. Bei der ganz überwiegenden Fülle kausal noch nicht auf- 
- lösbarer Komplexe muß die Denkweise, vor allem die Problemstel- 
lung der Biologen, notwendig final sein, aber mit dem Streben, 
eine immer wachsende Zahl von Teilfragen in Kausalreihen zu 
gliedern. Da bei der unübersehbaren Menge und dem unentwirr- 
baren Ineinandergreifen dieser Kausalreihen in den einzelnen 
lebendigen Systemen, den Individuen, die restlose Auflösung 
nur als ideales Ziel hingestellt werden kann, so bleibt die finale Be- 
trachtung grundlegend und richtunggebend und bedingt dadurch 
die Sonderstellung der Biologie innerhalb der Naturwissenschaften. 
2. Eine „biologische Weltanschauung‘ in wissenschaftlichem Sinne 
gibt es nicht, und kann es nicht geben, ebensowenig wie eine „physi- 


n  kalische, mathematische, historische Weltanschauung‘. Die Biologie 


führt, wie jede Spezialwissenschaft, zu letzten, mit ihren Arbeits- 
methoden nicht weiter auflösbaren Komplexen, die sie zur Aus- 
wertung der Philosophie überlassen muß. Jeder Versuch, darüber 
hinaus zu gehen, führt zum Dogmatismus. .Es ist ein großes Ver- 
dienst der neueren Biologie, daß sie die Unhaltbarkeit des mechanisti- 
schen Dogmas klargelegt hat, aber sie muß sich hüten, nach anderer 
Richtung selbst in den gleichen Fehler zu verfallen. Jeder der- 
artige Versuch wäre immer das Zeichen mangelnder philosophischer 
Selbstbesinnung. Das Anschwellen des Forschungsmaterials und 
die dadurch bedingte weitgehende stoffliche und methodische 
Trennung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen macht diese 
Selbstbesinnung schwierig, aber besonders notwendig. Hier liegt 


_ eine der zukunftswichtigsten Aufgaben aller „Bildung“, ganz be- 


sonders für unsere Hochschulen, wenn sie sich wieder mit innerer 


Berechtigung „Universitäten“ nennen wollen. 


Neben dem rationalistischen Versuch, mit wissenschaftlichen 
Begriffen das Leben und seine Probleme zu meistern, läuft aber 
durch alle Zeiten eine zweite Grundauffassung, die man mit weit 
größerem Rechte eine biologische Weltanschauung nennen könnte. 
Sie geht letzten Endes zurück auf die ursprüngliche Einstellung des 
naiven Naturmenschen, die vor aller Begriffsbildung lag. In vollem 
Gegensatz zu der vernunftgemäß ordnenden Erforschung des Ratio- 
nalen, begrifflich Faßbaren, betont sie das Irrationale. Das 


Bis 


ist die Anschauung des künstlerisch-schöpferischen Menschen. Für 
sie ist am Leben das Wesentlichste das Gefühl des „Erlebens“ 
als Äußerung einer nicht materiellen Kraft, die uns am unmittel- 
barsten in der freien, selbständigen, schöpferischen Leistung ge- 
geben ist. Sie kommt infolge dieser psychischen Grundeinstellung 
naturgemäß unmittelbar zur Erfassung der Einheitlichkeit und 


Totalität alles Lebens. Ihre Arbeitsmethode ist nicht wissenschaft- 
liche Zergliederung und Begriffsbildung, sondern Intuition. Sie 
leitet ihre Gesetze nicht aus der kausalen Verknüpfung des Experi- 
ments her, sondern aus dem unmittelbaren Erlebnis des eigenen 


inneren Wachstums und Schaffens, dessen sicher erfühlte, subjektive 


Wahrheiten sie auf alles Leben, ja auf das Weltall in seiner Ein- 


heit von Kraft und Stoff ausdehnt. Ihr Kennzeichen ist die „Er- 
fahrung'‘, ein Begriff, der aber eben nicht das mindeste mit der 


Empirie der experimentellen Forschung und Beobachtung der Natur- 
wissenschaft zu tun hat, sondern innere Erfahrung, Intui- 
tion, bedeutet. Ihr Ziel ist nicht, aus der Beobachtung von Einzel- 





fällen abgeleitete Gesetze aufzustellen, sondern durch unmittelbares 


Miterleben, durch „Anschauung, die geheimnisvollen Quellen 


des Lebens zu erfühlen. Der wissenschaftliche Forscher leitet 2; 


aus der einzelnen Beobachtung allgemeine Gesetze ab, der intuitiv 


schauende Mensch erweitert das individuelle Erlebnis zum Ge- 
setz des Lebens überhaupt. Für ihn gibt es weder die Trennung 


von Kraft und Stoff, noch von Materie und Geist, seine Betrach- Bi 


tung ist unwissenschaftlich, oder richtiger vorwissenschaftlich. 
Durch die ganze Geschichte sehen wir neben den großen 


wissenschaftlichen Forschern solche geniale Persönlichkeiten auf- 
treten. Wo sie mit der Wissenschaft zusammentreffen, muß sich 
der Gegensatz der Grundeinstellung in Feindschaft und Verständ- 
nislosigkeit ausprägen. Der typischste Vertreter im Mittelalter st 


ParazEısus. Ihm ist die Biologie nicht eine erlernbare Wissenschaft 


sondern eine Kunst, deren sich nur der besonders begnadete Mensch 


bemächtigen kann, und der Weg dazu ist die Erfahrung, d.h, de 


unablässige Anschauung und innerliche Erfassung der Lebensvor- 
gänge. Die Kräfte, die seine eigene Natur so lebendig erfüllen, 
findet er in der äußeren Natur wieder. Lebendige Einheiten und. 


geisterhafte Wesen erfüllen und beherrschen das Weltall. Der 


Mikrokosmus des Menschen spiegelt sich im Makrokosmus der Welt. 


Mit leidenschaftlichem Haß verfolgt PArAzELsus die „unfruchtbare, 


leere Schaumschlägerei“ des wissenschaftlichen Betriebes der Fach- Bi | 





m. £ I 2: 


 gelehrten; mit überlegenem Spott sehen diese auf den „ungebilde- 
2 ten, methodisch ungeschulten, abergläubischen Autodidakten” herab. 
- —_ In der Neuzeit ist der größte Vertreter dieser Denkart GOETHE. 
Seine Methode der Erforschung ist, wie er selbst. sagt, nicht das 
wissenschaftliche Experiment, sondern das „Hinstarren auf die 
Natur”, „Wenn Ihrs nicht fühlt, Ihr werdets nicht erjagen!” Genial- 
_ intuitiv sind seine großen Erkenntnisse, die weit ab vom Getriebe 
der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit liegen, verständlich 
nur aus dieser Grundeinstellung auch seine Irrtümer, wie in der 
Farbenlehre. Bezeichnend für seine Natur ist sein Gegensatz nicht 
nur gegen die naturwissenschaftlichen Fachgelehrten, sondern gegen 
die rationalistische Philosophie, seine innere Fremdheit gegenüber 

der Weltanschauung ScHiLLer's und Kanrt's. 


Diese in einzelnen Persönlichkeiten zur reinsten Entfaltung 
kommende Weltanschauung erfaßt dann in gewissen Epochen als 
‚allgemeine Strömung einen größeren Kreis. So finden wir im Aus- 
gang des Mitelalters die Mystiker, bei denen wegen dieser inneren 
Gemeinsamkeit ParAzELsus vielfach in hohem Ansehen steht; und 

‚an GOETHE schließt sich die Romantik an. Für unsere Zeit ist nun 
sehr bezeichnend, daß diese vorwissenschaftlich-irrationalistische 
Betrachtungsweise der Natur wieder weite Kreise ergreift. Einer. 
ihrer bezeichnendsten Vertreter ist derzeit BErGson. Während 
GOETHE, der gestaltende Künstler, die Gesetze der Natur aus der 

- formgebenden Kraft seines schöpferischen Triebes herleitet, für ihn 
daher die Form, die „Morphologie” das größte Geheimnis ist, 
empfindet BErcson das Schöpferische an sich, das Werden, als 
tiefstes Erlebnis. So berührt er sich in eigentümlicher Weise mit 

der wissenschaftlichen Entwicklungstheorie, nur daß die Triebkräfte 

in beiden Systemen grundverschiedene sind: hier der glückliche Zu- 

i fall und die Auslese, — dort der Lebenstrieb, die schöpferische 
_— Entwicklungskraft. Ein anderer sehr eigentümlicher Vertreter dieser 
Denkweise ist der geniale Arzt Karı LupwiG ScHLEIcH, durch 
dessen Schriften man unwillkürlich an die Alchimisten des Mittel- 
alters mit ihrem wunderbaren Wechselspiel von Beziehungen und 
Analogieen zwischen den heterogensten Dingen erinnert wird. Es 
ließe sich leicht ausführlicher darlegen, wie diese ganze Einstellung 

auf allen Gebieten des Lebens sich bemerkbar macht, wie sie die 
treibende Kraft der Jugendbewegung ist, wie sie in der Kunst den 
Expressionismus hervorgerufen hat und wie auf ihr die gesamte 

_ theosophische und anthroposophische Bewegung ruht. In STEINER 


Sr 


hat sie einen Führer hervorgebracht, der den seltsamen Versuch 





macht, diese durch und durch unwissenschaftliche Betrachtungs- | “ 
weise streng wissenschaftlich zu unterbauen. So verständlich und 


innerlich berechtigt seine Beziehung auf GOETHE, so unsinnig und. 
irreführend seine Anlehnung an.Kanr. 


Es ist natürlich nicht schwer, eine solche Betrachtungsweise E 


wissenschaftlich zu „widerlegen“. Aber so wenig PArAzELsus da- 
durch erledigt war, daß er von den glänzend geschulten Dialektikern 


der damaligen Universitäten nach allen Regeln der Kunst totge- 


schlagen wurde, so wenig es der Wirkung GoETHE's Eintrag getan 
hat, daß er von den Fachgelehrten totgeschwiegen und für einen 


unklaren Dilettanten erklärt wurde, so wenig wird die jetzige B- 


wegung etwa durch alle Widerlegungen STEINER's zum Stillstand 
gebracht werden. Wichtiger als der mit objektiver Methode nach- 
prüfbare „Wahrheitsgehalt” einer Weltanschauung ist die in ihr 


wirkende Kraft. Weltanschauungen sind letzten Endes eben selbst 
biologische Phaenomene, die nicht in luftleerem Raume existieren, 


sondern in lebendiger Wechselwirkung mit allen treibenden Kräften 


einer Kulturepoche stehen. Durch die ganze Geschichte beobachten . Be 


wir das Hin- und Herpendeln des geistigen Schwerpunktes. Die 
Sophisten und PrLATo, die hellenistische Wissenschaft und der reli- 


giöse Aufschwung der ersten christlichen Jahrhunderte, die Uni- 


versitätsscholastik und DAnTtE und die Gothik, ‚Humanisten und 


Mystiker, Aufklärung und Naturphilosophie sind solche sich b- 


lösende Gegensatzpaare, und deutlich hebt sich vom Zeitalter des £ 
„Darwinismus‘ und „Marxismus” die Gegenbewegung ab, die vom 


Verstande zum Gefühl, vom Objektiv-Allgemeinen zum Subjektiv- a 


Individuellen, vom Gesetz zur Persönlichkeit strebt. 


Eine old Purendenre 
von Adalbert Seitz - 


Der überaus freundlichen Einladung unsres Mitgliedes Herrn 
M. Marten (Barcelona), an einer Sammelreise in die Pyrenäen 


.. 
’% 


u 


teilzunehmen, leistete ich um so lieber Folge, als mir diese Stelle 
unsrer Erde aus persönlicher Anschauung noch nicht bekannt war. 
Ich hatte auf der iberischen Halbinsel stets an der Westküste (in. 
den Jahren 1888 und 89) gesammelt, nämlich wiederholt in 
Lissabon und in Spanien nur im Nordwesten, besonders in Vigo 





a 


und la Coruüa, sowie in der Richtung südlich von da bis Porto, 
Es war mir daher besonders interessant, den faunistischen Unter- 
‘ schied dieser Landschaften von der Ostküste festzustellen und so 
- mußte mir schon die Gegend von Barcelona manches Neue zeigen. 

Schiffahrtsunregelmäßigkeiten halber mußte bei der Reise 
"nach Spanien der Umweg über Hamburg gewählt werden, was 
eine 8tägige Seefahrt bedeutete. 

Das Meer der europäischen Küsten bietet Wenig Leben. Nur 


2 ein paar Silbermöven begleiteten uns und ab und zu verirrte 


sich ein kleiner Landvogel an Bord. Besonders vor Helgoland er- 


hielten wir öfters geflügelten Besuch, wenn auch nur von gewöhn- 


lichen und alltäglichen Arten. Das Meer zwischen Helgoland und 
den friesischen Inseln, das ich 22 mal durchfahren habe, bietet zur 
Zeit des Vogelzugs stets Gelegenheit zu interessanten Beobach- 
tungen und ich entsinne mich aus früheren Jahren, zu dieser Zeit 
Vogelarten aus dem fernen Ostasien begegnet zu sein, wie z.B. 
einer Pieperart (Anthus richardi), die in Daurien brütet und 
auf Helgoland so regelmäßig zur Zugzeit erscheint, daß sie dort 
einen dem Lockton nachgebildeten Volksnamen, Brüüf, erhalten 
hat. Es lag darum wohl nur an der Jahreszeit, daß wir seltnere 
Gäste nicht an Bord bekamen, und auch auf der Meeresfläche bot 
sich nichts, was verdiente, berichtet zu werden. Fast während der 
ganzen Reise ließen sich weder Schweinsfische noch Butz- 
köpfe blicken, nur in der Biscayischen See folgten uns, im Fluge 
Schwalben gleichend, einige Petersvögel (Thalassidroma) und 
mehrere Male glitten Sturmvögel über die Wellen, ohne sich 
dem Schiff bis auf Kennweite zu nähern. Am fünften Tag war die 
spanische Küste in Sicht und früh morgens betraten wir in Santan- 
der festen Boden. 
| Santander ist das spanische Heidelberg: es regnet fast täglich. 
So brachte die kurze Exkursion nur 5 Schmetterlingsarten, sämt- 

‚lich solche, die im Mittelmeergebiete unendlich häufig sind und 
deren Vorkommen daher wissenschaftlich ohne Interesse ist; es 
waren Distelfalter, Admirale, Goldene Ö, Tauben- 
schwänzchen und Dukatenvögelchen. — Von da 
wurde über Bilbao und Zaragoza schon nach 1 Tag Barcelona 
erreicht. | 

Wer den Satz aufgestellt hat, daß Afrika nicht bei Gibraltar, 
sondern schon an den Pyrenäen beginne, hat sicher scharf beob- 
achtet. Das Kantabrische Gebirge, das die Pyrenäen nach Westen 





fortsetzt, hat noch ganz das Aussehen einer mitteleuropäischen Ge- & K 
birgslandschaft: blätterreiche Wälder, gebildet aus Bäumen mit 
dichter, voller, polsterartig gewölbter Krone, Soemmereichen 
Kastanien und Buchen mit für die Sonne undurchlässigen 
Schattendächern, wechseln ab mit saftig grünen Wiesen und dich- 
tem, schwellendem Buschwerk. Nur stellenweise leuchten, wie 8% 
etwa im Jura, felsige Abhänge und Steinzacken aus dem Grün 
hervor. Je niedriger die Berge werden, desto mehr schrumpft de 
Vegetation zusammen, und mehr und mehr geht auch das frische 
Saftgrün in jenes blaugrau getönte Mattgrün über, das sich immer 
mehr jener ausgesprochenen Blaufärbung nähert, wie wir sie an Er 
der Riviera schon angedeutet und an der algerischen Küste n 
hervorragendem Maße ausgebildet finden. Nicht viel geringer ls 
da ist die Blaufärbung bereits in Südspanien. Landstreicher 
müßten dort korrekter Weise erzählen, daß sie bei „Mutter Blau” 
übernachtet hätten. Denn der Erdboden ist nicht mit grünem Grase, 
sondern mit entschieden blauem Beifußkraut (Artemisia) be- 
standen; über dieses ragen die Agaven hervor, deren inch 
Spitzblätter mit blauem Reif beschlagen sind. Rosmarin und 
Dorycenium zeigen ein mattes Blaugrün, und eine Wolfsmilch 
mit dicken, fleischigen Fiedern ist geradezu himmelblau. Auch der. 2 = 
alle Berghänge bedeckende Blasenstrauch (Cistus) hateinen 
Stich ins Blaue und selbst das Laub von Korkeichen und 
schmalblättrigen Weiden kann leichte Blaufärbung zei- 
gen. Mit am meisten tragen zur Blaufärbung der Landschaft die 
mit Männertreu (Eryngium) bestandenen Bodenstellen bei, da 
die Eryngiumarten vielfach intensiv blaues Laub haben. 


Pr 


Diese der nordafrikanischen Landschaft eigentümliche Wand- 
lung der Vegetationsfarbe fängt bereits bald hinter Pamplona an, % 
hervorzutreten. Der Eindruck, den diese Beobachtung auf den nach Be 
Süden Reisenden macht, wird aber unterbrochen durch das Auf- 
treten von regelrechten Wüsten, von einer Trostlosigkeit, wie sie 
nur in der algerischen Sahara oder der Libyschen Wüste erreicht 
wird. Schon die Umgebung von Zaragoza bietet nach der Ab- 
erntung der Feldfrucht einen überaus öden Anblick: eine dürre, 
gelbe, von brennender Sonne beschienene Ebene, über die tags wie 
nachts ein wilder Wind hinbraust. Unweit Lerida finden sich echte 
Wüsten; vegetationsloser, zu Dünen zusammengewehter Sand, aus 
dem nackter Fels hervorragt und geröllreiche Hänge, die das An- I. 
steigen zur Qual machen. | 


— 141 — 





Der Ebro fließt, soweit man ihn auf der Strecke nach Barcelona 
begleitet, in tief gefurchtem Bett dahin. Sommerdürre Weideflächen 
und blaugraue Ölbäume, nur in tieferen Lagen auch Weingärten, 
säumen seine Ufer. Auch hier zeigen die eingeführten Opuntien 
und die Eukalypten einen Stich ins Blaue, die letzteren entwickeln 
_ in den Stammsprossen sogar lebhaft blaue Schuppen. Der Wald 
von der Dichte und Schattigkeit unsres Hochwaldes schwindet 
völlig; „schattige Kastanien‘ bekommt man „an des Ebro Strand” 
nicht mehr zu sehen, kurzum, die Landschaft nimmt nordafrikani- 
schen Charakter an. 


In Barcelona angekommen, konnten wir dank der sorglichen 
Vorbereitung des Herrn MARTEn schon am anderen Tage mit den 
Ausflügen in die Umgebung beginnen. Einer alten Gepflogenheit 
nach suchte ich mir zunächst von einem erhöhten Punkte der Um- 
gebung aus (dem „Tibidabo‘‘) einen Überblick über die Gegend zu 
verschaffen und die Ortskenntnis unsres seit langen Jahren in 
Barcelona ansässigen Mitglieds und seine weitreichenden Erfah- 
rungen über das Insektenleben in jener Gegend gestalteten die 
Exkursionen von Anfang an ergebnisreich. 

Für den Insektensammler ist die Umgebung von Barcelona ein 
wahres Dorado. Mit der Schnellbahn ist in zwanzig Minuten Las 
Planas erreicht, ein bewaldetes, mehrfach von Querfalten durch- 
schnittenes Tal mit buschreichen, stellenweise grasbestandenen 
Hängen. Welche Menge verschiedener Schmetterlingsarten in diesen 
Wäldern haust, läßt sich leicht aus unsrer reichen Beute schließen, 


die der Lichtfang des Abends brachte.') 


Bei Tage zeigen die Berge bei Las Planas großen Reichtum an 
Zygaena-Arten, jenen kleinen, rotgefleckten Blumenfalterchen, 
von denen auch in Deutschland einzelne Arten vorkommen, die 
unter dem Namen Blutströpfchen oder Widderchen 
jedem Insektenfreund bekannt sind. Der imposanteste Tag- 
schmetterling Europas, der Jasius, ist hier keine Seltenheit und 
man kann fast auf jedem Berghang, wo die Futterpflanze seiner 
Raupe (der in Spanien „Madrofio” genannte Erdbeerbaum (Arbutus 
unedo)), wächst, einige Exemplare in schnellem Fluge umherjagen 
sehen. Auch Segelfalter und Schwalbenschwänze 
umkreisen dort die Gipfel der Höhen und die Art, wie sie sich im 


1) Eine Namenliste der erbeuteten Falter ist in Nummer 12 der „Ento- 
- mologischen Rundschau‘, Verlag des Seitz’schen Werkes, Stuttgart, Jahrg. 1923, 
gegeben. 


> > * 





Liebesspiel haschen oder aus Eifersucht zu vertreiben suchen, er 


innert uns lebhaft an ihre gleichen Flugkünste auf unsren ‚süd- Ne 


deutschen Hügelspitzen. 


Eine Erscheinung beginnt hier bereits bemerkbar zu werden, 
die als eine Veränderung der Schmetterlingsfauna gegen die Länder 
nördlich der Pyrenäen beachtet zu werden verdient. Wir wissen 
von unsren deutschen Gärten, Wiesen und Waldrändern, daß bei 


den Schmetterlingen fast das ganze Jahr hindurch die Weiß- * 
linge vorherrschen. Schon im März sind die ersten, die Natur De 


belebenden Schmetterlinge. zumeist Zitronenfalter, die zu 
den Weißlingen gerechnet werden, und je mehr die Sonne an 


Kraft gewinnt, in umso größerer Menge treten bei uns Aurora- > 
falter, Kohlweißlinge, Baum- und Senfweißlinge 
auf, sodaß die bunten Falterarten an den meisten Stellen erheblich 


gegen die weißen und gelben Arten in der Minderheit bleiben. In 
Nordafrika fand ich den großen Kohlweißling sowohl wie den 
Baumweißling, die bei uns oft empfindlichen Schaden tun, so 
selten, daß ich mich nur weniger Tage zu erinnern weiß, wo ich 
mehr als ein Exemplar dieser Schädlinge erwischen konnte, und je 
mehr die weißen Falter an Stückzahl abnehmen, desto mehr ge- 
winnen die bunten Schmetterlinge die Oberhand. Dieser Vorgang 
der Umfärbung der Schmetterlingsfauna, wie man das Zurück- 
treten des Weiß nennen könnte, beginnt schon in Spanien bald süd- 
lich von den Pyrenäen und ich glaube, daß er hier ungefähr mit 
der Grenze zusammenfällt, wo die Vegetation ihr saftiges Gelbgrün 
gegen ein fahles Blaugrün zu vertauschen anfängt. ; 
Außerordentlich reich fand ich die Umgebung von Barcelona 
an Immen: Wespen und vor allem an Bienen, Die riesige 
blaue Holzbiene /(Xylocopa violacea), die auch in Mitteleuropa 
in wärmeren Lagen fliegt, ist in Barcelona in und außerhalb der 
Stadt ungemein häufig. Der Mauerspinnentöter /(Sceli- 
phron), eine sehr heftig stechende Wespe mit lang gestieltem 
Hinterleib, treibt sich gewöhnlich an den Rinnsteinen der Vorstadt- 
straßen herum. Trauerbienen (Melecta) mit herrlich silber- 
weißen Pelzflecken besuchen mit Vorliebe Disteln und nehmen sich 
ganz besonders komisch aus, wenn sie sich abends zur Ruhe be- 
geben haben. Sie pflegen sich dann nicht etwa auf ihre Beine zu 
setzen, sondern beißen sich mit den großen starken Kiefern in einen 
Grashalm fest, worauf sie alle 6 Beine loslassen und diese an den 
Körper ziehen, der dann ganz steif von dem Halm absteht. Eine 


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solche festgebissene Trauerbiene gleicht dann irgend einer schwarzen 
Bohne oder sonst einer kleinen Frucht, ist aber einem Insekt 
durchaus unähnlich. Daß die schwarz und roten, dünnen und 
langen Sandwespen (Ammophila, Psammophila) ebenso ge- 
mein oder noch zahlreicher sind, als bei uns, kann bei den ausge- 
dehnten Sandebenen um Barcelona nicht Wunder nehmen, ebenso- 
wenig wie das Auftreten zahlreicher Sandkäfer [(Cicindela). 
Dagegen bieten einen uns Mitteleuropäern fremden Anblick die 
riesigen Weibchen der Gartenwespen [(Scolia), die unsre 
Hornisse noch an Größe übertreffen, aber vorwiegend stahlblau 
gefärbt sind. 

Reichlich finden sich auch in Barcelona Schmetterlings- 
hafte und Ameisenjungfern; die ersteren schweben in 
$raziösem Libellenfluge über Weiden und Sandflächen, die letzteren 
fliegen nur aufgescheucht bei Tage, kommen aber abends öfters an 
die Lampe. 

Die Käfer um Barcelona gehören zwar meistenteils den 
gleichen Arten oder Gattungen an, wie auch in Deutschland, aber 
- - die Gesamtfauna dieser Insektenordnung macht doch dort einen 

anderen Eindruck. Weit mehr stattliche Arten treten bei den 
Nachtfliegern hervor‘), während die Tagkäfer mehr als bei uns aus- 
gesprochene Sonnentiere sind. Die Rüssel-, Schnell- und 
Laufkäfer (Curculioniden, Elateriden Melolontha, 
Anisoplia usf.) überwiegen keineswegs über die anderen Gruppen 
so gewaltig, wie sie dies, wenigstens in gewissen Jahren, bei uns 
tun; auch die Laufkäfer (Carabiden) treten bescheidener 
als bei uns auf, desgleichen auch die Aaskäfer (Staphy- 
liniden), wogegen die Kegelhähnchen (Cisteliden), 
die Weichflügler (Malacodermen) und dieMelano- 
somen sehr zahlreich sind. Die zu der erstgenannten Familie 
gehörigen hellgelben Cteniopus schwärmten so zahlreich, wie kaum 
irgend eine Käferart in Deutschland; besonders in den Pyrenäen, 
wo ein Netzschlag oft über 50 Exemplare einbrachte; diespani- 
schen Fliegen, die bei uns nur jahrweise gemein sind, zeigen 
dort durch ihre Häufigkeit, daß sie ihren Namen, was dessen ersten 
Teil betrifft, mit Recht erhielten. 
Die Fliegenfauna zeigt im Allgemeinen nicht jene Unterschiede 
in den verschiedenen Ländern oder Erdteilen, wie wir dies an den 
anderen Insekten kennen. Einem Schmetterling aus Brasilien, aus 





Zi Der riesige Nashornkäfer fliegt häufig an die Stadtlaternen an. 


N 





Afrika oder aus Ostindien wird ein Laie, wenn er nur ‚jemals ein 
Auge für Tiere gehabt hat, in vielen Fällen ansehen, daß er nicht 
von hier stammt, selbst wenn er die Art noch nie gesehen hat. 
Nicht so bei den Fliegen, die eine relative Gleichmäßigkeit der 
äußeren Erscheinung in allen Gegenden der Erde zeigen, zum Teil 
vielleicht darum, weil so viele von ihnen Haustiere sind. Die a x 
Zimmer-, Schmeiß-, Dung- und Stechfliegen sind fast | 
der ganzen Welt gemeinsam, vielfach sogar die gleiche Art; sonst © 
wenigstens den unsern so ähnlich, daß nur das Kennerauge sie 
unterscheidet. Die Viehbremsen der Tropen sind kaum größer ea 
oder andersartig gestaltet, als unsre Rinder- oder Regen- 
bremsen, die uns bei Sommerwanderungen belästigen. Die Mos- 
kitos sind sich fast bis auf den Sington ihres Flügelschlages un- i 
gefähr gleich, in Amerika, Australien, Indien oder bei uns. So läßt 
sich denn über die Dipteren-Fauna der Pyrenäen nicht viel be- 
richten, was dem Nichtspezialisten auffällig wäre. Bemerken möchte 
ich nur, daß die Bremsenplage im Ordesa-Tal bis zu 1500 m. Höhe 
nicht geringer ist, als in Barcelona selbst; erst bei 1700 m. Höhe 
schwinden die Quälgeister, die von da abwärts die im Gebirge so 
angenehme Wadenblöße zur Tortur und zeitweise unmöglich Se 
machen. 
In Barcelona selbst sind die schlimmsten Quäler die Mos- 
kitos. Die Fenster der Wohnräume sind vergittert und über die 
Betten sind Tüllnetze gebaut. In den Tropen hat man diese Netze 
so lang herabhängend, daß sie vor dem Bett eine Schleppe bilden. 
In Fiebergegenden, besonders in Südamerika während der Gelb- 
fieberepidemien, pflegten wir uns vor dieser Schleppe auf den Erd- 
boden zu legen und uns dann unter dem Netz durch nach dessen Fa 
Innenseite zu rollen, da beim Durchkriechen, besonders beim Lüften N 
des Netzes, stets ein solcher Eindringling mit hereinschlüpfen & 
konnte und das war besonders schlimm, Nicht nur konnte dieses 
Exemplar infiziert sein und Krankheit oder Tod bringen, sondern, | 
wenn dies auch nicht zutraf, war es höchst störend, das ständige 
Singen des Bettgenossen zu hören, denn die Mücke konnte doch 
nicht wieder aus dem Netze heraus und war dadurch gezwungen, | 
stets in Hörweite zu bleiben. veR 
Singt bei uns abends eine Stechmücke, so schläft der Europäer 
trotzdem ungestört ein und er müßte schon ein Neidhammel sein, 
wollte er dem zarten Tierchen nicht das halbe Tröpfchen Bluts 
gönnen, das jeder Kulturmensch leicht entbehren kann. Nicht so- 








; 3 beim Weltreisenden. Wer in Fiebergegenden gelebt hat, ist der- 
_  maßen empfindlich gegen den Sington einer Mücke, daß er aus dem 
tiefsten Schlummer aufschreckt, wenn dieses Memento mori ertönt. 
Der Schläfer ist früher gewohnt gewesen, aus der Melodie des Sing- 
tons der Mücke den Text herauszuhören: „Gesundheit und Leben 
in Gefahr!", und so wirkt das leise Summen nicht anders auf den 
Einschlummernden, wie ein gedämpfter Büchsenknall in unsicherer 
Gegend. Diese Erinnerungen an frühere Zeiten, wo die Vermeidung 

_ jedes Mückenstichs Lebensbedingung war, .dürfte bei den meisten 

- Menschen stark genug sein, um ihnen bei Mückengesang den 

_  Schlummer fern zu halten. 

a Da hat es der Entomologe doch noch gut. Wozu haben wir 
denn unser Schmetterlingsnetz? Dieses war mein ständiger Schlaf- 
kamerad; mit dem Netz in der Hand stieg ich abends in mein Bett 
und wehe dem Zweiflügler, der als blinder Passagier sich unter den 

-  Mückenschleier eingeschmuggelt hatte. 


Im Museum in Barcelona war es eine Freude, die reiche In- 
 sektensammlung zu durchmustern. Das Museum selbst war im 
Umbau und der Ausstellungsraum zur Zeit ungenießbar; die wissen- 

schaftliche Insektensammlung aber in ausgezeichnet bewährten 
Händen. Vor wenig Jahren noch ein wirres Chaos von kaum einigen 
Tausend schlecht konservierter Objekte, war es von den Leitern 

- der Insektenabteilung, Isnacıo SAGARRA und ASCENSIO CoDInA, in 
eine stattliche, gut geordnete und sauber präparierte Sammlung 
von mehr als zehnfachem Umfange umgewandelt worden, die sich 
allerdings zunächst wesentlich auf katalonische Arten beschränkt, 
aber, sollten ihre Sektionäre ihnen erhalten bleiben, später sicher 
auch weitere Gebiete in ihr Programm einbeziehen wird. 


Nach Mitte Juni traten wir unsre Pyrenäenreise an und zwar 
war das Ziel das noch. nicht sehr eingehend besammelte Valle 
 _deOrdesa. Durch dieses führt der Zugang zum Mont-Perdu 
_ von spanischer Seite her. Die Eisenbahn brachte uns ohne Unter- 

brechung in ungefähr einem Tage nach Barbastro, wo der letzte 
Ausläufer des Gleises endet. Auf einem abendlichen Ausgange 
hatte ich nur noch Zeit, einige schöne Exemplare der ausgesprochen 
südeuropäischen Motte Ematheudes punctella zu erbeuten, ein Ge- 
winn, der durch den Verlust meines Zwickers etwas herabgemindert 
wurde; dann gedachten wir zur Ruhe zu gehen, die uns eine wanzen- 
freie Unterkunft — in Spanien keine Selbstverständlichkeit — zu 
_ verheißen schien. 


N 





Aber Barbastro ist zum Ruhen wenig geeignet. Ich weiß nicht, 3. 
ob die umgebende Gebirgsformation so akustisch wirkt oder ob der 
Untergrund, auf dem es gebaut ist, wie ein Resonnanzboden funk- 
tioniert; niemals habe ich eine Stadt gesehen, in der die ganze 
en hindurch ein solch grausamer Spektakel vollführt wurde, 
Der Nachtwächter allein hätte genügt, jeglichen Schlummer fern- 
zuhalten, denn er tutete jede Stunde’ so dröhnend, als ob er zum FE 
jüngsten Gericht bließe; dabei sang er — kein übler Bariton, nur SE 
ohne Schule — eine längere Strophe, Aber auch in der Zwischen- 
zeit tobte es in der kleinen Stadt, wie wenn die Hölle losgelassen 
wäre. Der Hufschlag der unaufhörlich passierenden Maultiere % 
dröhnte wie Keulenschläge auf dem Pflaster, das Rufen der Treiber , 


und das Knarren der Karren scholl dazwischen, begleitet von un- = 
unterbrochenem Hundegekläff; — cristataeque sonant undique e 
lucis aves. | ce 


Es wäre somit nicht nötig gewesen, uns für das früh 5 Uhr a ös, 
fahrende Auto zu wecken, denn es hatte niemand geschlafen; aber Bx% 
die Ankunft von 3 rätselhaften Fremden mit noch rätselhafteren 
Werkzeugen, wie Schmetterlingsnetzen und Käferschachteln, mit 
von Tötungsgläsern aufgeblähten Taschen, an den Füßen statt dr 
weißen Alpargatas leibhaftige Stiefel, war in dem weltentrückten 
Neste denn doch zu auffällig, als daß die brave Bevölkerung von 
Barbastro daran hätte achtlos vorübergehen können. So beschloß 
man denn, für den Fall, daß jemand von uns bei dem nächtlichen 
Radau dennoch eingeschlafen wäre, die Aufstehstunde uns sinnig 
zu signalisieren: Punkt 4 Uhr früh setzte vor unsrem Haustor ein 
Konzert von Bandurrias (Zupfgeigen) ein, das bei der akustischen 
Bauart mehr als ausreichend war, uns aufzujagen. Ob und von 
wem die Troubadoure für ihre musikalische Leistung entlohnt 
wurden oder ob dem in ganz Spanien sehr beliebten Deitsclnuge BR 
diese Ovation galt, konnte ich nicht feststellen. Se 


Sieben Stunden lang trug uns das Reise-Auto an steilen Ge- 
birgshängen entlang. Die Ölbäume, die unsre Straße begleiteten, | 
wichen Rebgärten, die Rebgärten wildem Gestrüpp von Ginster 
und Buxbaum. Krumme Seekiefern und schlanke Tannen wechselten 
mit Wintereichen. Immer wildromantischer wurden die Bergzüge; 
steil überhängende Felswände bauten sich über den mit Geröll ge- 
füllten Schluchten und schäumend drängt sich mit zahlreichen 
Wasserfällen die Ara, die sich mit der Ordesa vereinigt hat, 
durch das Tal. So geht es bis Broto, wo die Straße aufhört. 


= N 


en 2 Be 





{ je Von da talaufwärts führt noch ein steiniger Saumpfad voll scharfen 


Gerölles, das die Schuhe zerschneidet und stellenweise derart von 
Wasser überspült wird, daß man bis an die Knöchel im Bach 
marschiert; nur das Maultier mit unsrem Gepäck ging oder viel- 
mehr rutschte und stolperte den Weg, stets entlang der oft senk- 
rechten Felswand, an deren Fuß der Fluß toste. | 


' Bis Torla war der Weg noch einigermaßen erträglich; von 


da ab aufwärts ist er stellenweise so weit unter Wasser, daß wir 


mitunter vorzogen, auf den Decksteinen der uns begleitenden 
Gartenmauern (wenn man die dortigen Kulturen Gärten nennen 
darf) entlang zu klettern, wobei man schneller vorwärts kam, als 
beim Eiertanz über das überschwemmte Steingeröll. Man erzählte 
mir dort, daß die spanische Regierung mehrere 100.000 Peseten 
zum Bau eines Wegs ausgeworfen habe; aber bis diese zur Ver- 
wendung kamen, hatten sie sich bis auf etliche 20.000 verkrümelt, 
die für einen Weg bis zum Soaso, einem Felskessel am Mont- 
Perdu, reichen sollten. Was für eine so geringe Summe an Weg- 
bau geleistet werden kann, wo es sich darum handelt, oft auf langen 
Strecken gangbare Pfade an senkrechten Wänden in den Fels zu 
_ sprengen, kann man sich leicht vorstellen. Aber andere Zugänge 
zum Valle de Ordesa gibt es auf spanischer Seite nicht und so 
haben wir denn auch so unser Ziel erreicht. Und da die Umgebung 
- von Broto und Torla eine wesentlich andere, reichere Fauna bietet, 
als der Soaso, so haben wir den Weg zwischen beiden späterhin 
noch recht oft abgeschritten, 

Eines der Hauptergebnisse unsrer Untersuchungen war die 
Feststellung, daß ein zoogeographischer Trennungsstrich zwischen 
dem eigentlichen Ordesa-Tale und Torla liegt, wo die Ordesa 
mit der Ara vereinigt fließt. Diese Faunengrenze geht unmittelbar 
oberhalb Torla vorüber, an der Stelle, wo das steilwandige 
Ordesa-Tal sich eng schließt und frische Luft, sowie Sonne, nur in 


Rn ‚beschränktem Maße Zutritt haben. Die Sohle des Ordesa-Tales 


hat 4 Monate lang den Schatten der kulissenartigen Felswände so 
ununterbrochen, daß nicht einmal in der Mittagszeit ein Sonnen- 
strählchen die dick übereiste Bodenfläche bescheinen kann. Diese 
absolute Sonnenlosigkeit, im Verein mit dem sehr kurzen Sommer, 
scheint vielen Tieren den Aufenthalt dort unmöglich zu machen. 
Daher ist das Ordesa-Tal, nach Tierarten gerechnet, sehr arm, zeigt 
aber die Eigentümlichkeit mancher Alpentäler, die (wie z.B. das 
Zmuttal bei Zermatt im Wallis) manche dieser wenigen 
Ba 


Arten in enormer Stückzahl auftreten lassen. Gewisse Arten der = fe 


Fliegengattung Pangonia, Bienen aus der Gattung Eucera, 





Mordfliegen /(Asilus, Laphria), Käfer aus der Gruppe der ar 
Cistelidae, Silphidae und besonders Rhizotrogus-artige ” 


Melolonthiden erscheinen in außerordentlicher Häufigkeit. 


Diese aber waren auf das obere Stück der Talsohle beschränkt, 


während von Torla abwärts eine bunte, stattlichere Formen auf- & 


weisende Mischfauna einsetzte, die bei Exkursionen eine weit um- 


fang- und abwechslungsreichere Beute lieferte. 


Die Witterungsverhältnisse waren nicht immer günstig. Als 


wir am.24. Juni unsren ersten Ausflug im Ordesa-Tale unter- 
nahmen, konnten wir aus den gefangenen Insekten sofort ent- 


nehmen, daß es dort oben eben erst Frühling geworden wär. Die 
gefangenen Arten beschränkten sich auf echte Frühlingstiere; 


Zitronenfalter und Trauermäntel, deren stark getra- 


genen Kleidern man anmerken konnte, daß die Falter im Jahre 
1922 geboren waren und den endlos langen Winter in einer Fels- 
oder Rindenspalte gesteckt hatten. Eine recht deutliche Erd- 
erschütterung (die, wie wir später hörten, auch an anderen Orten 


Spaniens wahrgenommen wurde) scheint dort manchen Stein ins 


Rollen gebracht zu haben. Unser Wohnhaus erzitterte heftig und 2 ; 


wir fanden manchen Felsblock, dessen Absturz aus allerjüngster 


BE 


Zeit zu stammen schien. Noch bis lang in den Juli hinein blieb 


es bis auf die sonnigste Mittagszeit kühl mit Neigung zu Nieder- 
schlägen. Überaus heftige Gewitter schwemmten manche Berglehne 
herab und verdarben die Autostraße vor Broto derart, daß empfind- 
liche Verkehrsstörungen entstanden, deren Beseitigung Wochen er- 
forderte. Hagelschläge mit haselnußgroßen Schlossen, die sogar 
manchmal bis zur Dicke von Taubeneiern anwuchsen, waren nicht 
selten und die Tage, wo uns die Bedenklichkeit des Wetters von 


der Exkursion heimscheuchte, waren häufig. Oben im Tal blieb 


es überhaupt erträglich kühl, während in Torla und südlich davon 
die Sonne mitunter unbarmherzig brannte und das Klettern auf den 


geröllreichen Fußpfaden oder an den weglosen Fangen erforderte 


mitunter zähe Energie und Ausdauer. 

Schon in den letzten Augusttagen konnte man der Tierwelt an- 
merken, daß die Saison zu Ende ging. Neue Insektenarten er- 
schienen fast garnicht mehr und von den Sommerformen verschwand 


eine nach der anderen. Die Alpensegler (Cypselus melba) 


waren, genau wie unsre Art in Deutschland, am 9. August abgezogen, 





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- nachdem sie sich am 8. nochmals in kopfreichen Scharen ver- 
sammelt hatten. Sonstige Zugvögel waren nicht durch das Tal ge- 


kommen, aber es wurde über die Gemsen berichtet, daß sie von 
den Gipfelmatten herabzusteigen begonnen hätten, und Stein- 


 böcke kamen unsrem Haus so nahe, daß es einem Teilnehmer 


an unsren Ausflügen gelungen wäre, ein stattliches Exemplar 
aus nächster Nähe zu knipsen, wenn nicht die Belichtungsrichtung 


_ zu ungünstig gewesen wäre. 


So hatte denn der kurze Sommer nur 9 Wochen gedauert, deren 


letzte schon deutliche Vorzeichen einsetzenden Witterungsum- 


schlages erkennen ließ. Die Kuppen des Mont-Perdu waren meist 
in einen Nebelschleier gehüllt; fast täglich begann es am Nach- 
mittag zu donnern und das Fallen des Ordesa-Flusses bewies, daß 
oben kein Schnee mehr schmolz. 

Es ist klar, daß eine so kurze Sommerzeit zur Entwicklung 
einer artenreichen Tierwelt nicht ausreicht, und ich erkläre mir 


_ diese Erscheinung durch die Annahme, daß für die lange Larven- 


zeit vieler Insektenarten eine längere Fraßperiode erforderlich ist 


_ und nicht alle Insekten eine mehrmalige Überwinterung vertragen. 


Die Kürze der Flugperiode der Insekten wirkt natürlich auch 
auf die Insektenfresser wie Spinnen, Frösche, Singvögel, 


-Eidechsen und Fledermäuse usf. und auch die Pflan-_ 


zenfresser sind nicht viel besser dran. Das Ordesa-Tal ist den 
ganzen Winter derart vereist, daß auch die Grasfresser nicht mehr 
‚recht auf ihre Rechnung kommen. Die Gemsen steigen dann auf 
die niederen Matten herab, solange noch ein grünes Plätzchen zu 
sehen ist, und sie finden, wie die Steinböcke, an den abschüssigen 
Hängen, wo der Schnee abrutscht, noch manches Krautpolsterchen 
aus den Steinspalten sprießend. Von ihnen dürfte der Luchs 


sich nähren in der langen Zeit, wo sich keine Hirten blicken lassen, 


deren Herden er im Sommer heimsuchen könnte. Von dem 
Pyrenäenbären haben wir im Ordesa-Tale keine Spuren ge- 
funden, doch ist wohl nicht ausgeschlossen, daß dieser unruhige 
Geist auch gelegentlich einmal hier auftaucht. 

Um in einem solchen, ziemlich tierarmen Tal eine Insekten- 
sammlung zusammen zu bekommen, die ein gutes Bild der dortigen 
Fauna gibt, muß fleißig gearbeitet werden. Man kann das ganze 
Tal, das von Torla bis zum Soaso reicht, gut in einem Tage durch- 
ziehen; da es aber ständig über von Wasserläufen durchzogenes 
Geröll geht, ist der Marsch, der, auf die Ebene übertragen, kaum 


I Er 


eh, Ne = 


56 Stunden dauern würde, sehr viel aufenthaltreicher und recht 


beschwerlich. Auch nimmt ja das Sammeln beständig Zeit weg, DER 


und oft kletterten wir Viertelstunden lang dem scheuen Wild in 


die Felszacken nach. Wir teilten daher die Fanggebiete in das 


obere (Soaso) und das untere (Torla), die wir abwechselnd heim- 


suchten, wenn das Wetter es zuließ. Das war aber nicht immer 
der Fall. Oft sahen wir wochenlang sehnsüchtig nach den höheren 
Kuppen des Mont-Perdu, ob sich nicht die Wolkenkappe lüften 
wollte, was uns Aussicht auf Sonnenschein im Soaso verhieß. War 
es auf den Höhen nicht klar, so war mit dem Insektenfang nichts 


zu machen. Die Natur ist dann dort ebenso tot, wie bei uns an 
trüben Herbsttagen und nicht eine Fliege, nicht ein Käferchen ist 


zu erhaschen. Man muß sich nur vorstellen, daß in jenen Höhen ES 
der immer kühle Luftzug herrscht, der die Temperatur auf einen 


Grad herabdrückt, bei dem ohne Sonnenschein kein Insekt aktiv 


sein kann. Ich habe oft beobachtet, daß die Insekten lebhaft im 
Sonnenschein schwärmten und sich auf Blüten oder an feuchten 
Wegstellen zur Honig- oder Wasseraufnahme niederließen. Da, 
sobald eine Wolke die Sonne auf Minuten verbarg, erstarrten sie 

sofort. Bläulinge, die auf dem Stein saßen, fielen einfach um und 

blieben auf der Seite liegen; die Falter, welche gerade schwärmten, 
sanken wie gelähmt ins Gras und Bienen oder Fliegen fielen vn 


der Blüte herunter, die sie angeflogen hatten oder blieben regungs- 
‘los daran hängen. Kam dann die Sonne wieder hervor, so erhoben 





sich die Schmetterlinge wieder auf die Füße, spreizten die Flügel, 1% 


daß die Sonne ihren Rücken wärmen konnte und flatterten bald 
lustig davon. 


Daß eine einzige Sammelsaison nicht ausreicht, um eine Ge- 
birgsfauna völlig zu erschöpfen, ist bekannt. Die Flugzeit vieler 
Arten ist nur sehr kurz und hat man nicht das zufällige Glück, 
während dieser wenigen Schwärmtage bei geeignetem Wetter an 
den Flugstellen vorbeizukommen, so bleibt die Art unaufgefunden. 
So beobachtete ich Ende Juni im Soaso auf .einer Grasmatte eine 


mir nicht bekannte Mottenart (Crambus). Bei Verfolgung des ersten 


Stückes ertönte ein heftiger Donnerschlag und mit unheimlicher Ge- 
schwindigkeit schwärzte sich der Himmel über uns. Die Gefahr, 
auf abschüssigen Felswegen vom Nebel und Gewitter überfallen 
zu werden, ist nicht gering und bei dem eiligen Rückzug ins Tal 
konnten nur 2 Exemplare der erwünschten Art gefaßt werden, 


die auch noch bei der nervösen Eile beschädigt wurden. Acht 
) 





_ Tage lang verbot uns das teils drohende, teils tobende Unwetter 


den Besuch des Flugplatzes dieser Insektenart und als ich dann 
später die Berglehne wieder erkletterte, war keine Spur mehr von 


et 
PR 4 


ihr zu finden. 


Die ständige Furcht, interessante Tiere zu verpassen und das 
Beben, die heute für uns Deutsche so seltene Gelegenheit, im Aus- 
‚lande zu sammeln, voll auszunützen, belebten meinen Eifer, sodaß 
_ es mir gelang, eine Sammlung von wohl mehr als 10.000 Exemplaren 
zusammen zu bringen. Nicht das Fangen der Tiere allein 


_ nimmt die Zeit des Sammlers in Anspruch, sondern die Behand- 


Br lung der Beute! Trotz größter Vorsicht leidet das eine oder andre 


Stück Schaden; manches schon eingefangene entwischt wieder und 
viele werden, als nicht des Mitnehmens wert, wieder aus dem Netz 
entlassen, nachdem sie erkannt sind als Arten, die ohne Interesse 
oder schon genügend in der Ausbeute vertreten sind. Aber wie 


anstrengend auch die Touren im wilden, oft weglosen Gebirge sind, 


Im 


\ 


F 


sie stellen einen hohen Genuß für denjenigen dar, der sich mit der 
- Natur zu unterhalten versteht. Wie wohltuend wirkt gerade in der 


heutigen Zeit der Friede, die Menschenlosigkeit! War auch die Er- 
nährung etwas eintönig, — täglich Forellen aus der Ordesa, Erd- 


beeren, die in ungeheurer Reichlichkeit in den Wäldern gedeihen, 


- Konserven und etwas Hammelfleisch, — so kann man es, besonders 
_ wenn man aus dem Hungerlande kommt, bei diesen Delikatessen 


= 


noch mehr als diese Maßregel erhält diesem Tal den Frieden die 


wohl aushalten. Brot und Wein wurde uns auf Maultierrücken von 
Torla zugetragen und noch mehr als die Vorzüglichkeit dieser Nah- 
rungsmittel wirkte der Kräfteverbrauch bei den täglichen an- 
strengenden Exkursionen, um die Mahlzeiten zu wirklichen Ge- 
nüssen zu steigern. 


Der Friede des Valle de Ordesa soll dadurch gesichert werden, 
daß es zum Naturschutzpark erklärt ist, dem sogar ein Wächter 
— im Nebenberuf auch Fremdenführer — bestellt ist. Vielleicht 


verhältnismäßige Unzugänglichkeit seiner Höhen. Die obersten 
Matten, die Haupttummelplätze der Gemsen, sind nur durch das 
Passieren von Felssteigen zu erreichen, wo in das Gestein einge- 
triebene Handhaben ein Festhalten ermöglichen, da der Fuß keinen 
Grund zum Haften findet. Für ältere Leute oder solche, die nicht 
ganz schwindelfrei sind, verbieten sich natürlich solche Touren und 
für Reisende, die nicht eigens wissenschaftliche Studien betreiben, 
lohnt wohl nır.ein Aufenthalt von höchstens ein paar Tagen, während 





deren die Ausflüge an ae nördlichen und südlichen Tale) und. 
talauf- und abwärts genügende Abwechslung gewähren. Land- 

'schaftlich bieten die Täler abwärts von Torla entschieden mehr, | 
doch haben die gewaltigen, schroffen Felswände und die wald- % 
reichen. Schluchten, welche die Ordesa durchbraust, auch einen 
eigenartigen Reiz. Im Soaso stürzt der Fluß über eine wilde, . 
gigantische Felsentreppe von fast unnatürlicher Regelmäßigkeit. 


Weite Felder tiefblauer Schwertlilien dehnen sich über die Geröll- 
flächen und riesige Dolden leuchten wie weiße Flocken aus dm 
Grün der Wegerichdecke. Büsche der schmalblättrigen Weide, da- 
zwischen Edelweiß mit oft über handlangem Stengel, säumen die 
Ufer des Flusses, der je nach der Stärke der Sonne bald mehr, _ 
bald weniger Schmelzwasser aus dem Gletscher des Mont-Perdu 
herabführt. Talabwärts folgt Buchenwald, darunter Baumriesen 
von mehr als einem Meter Stammdicke. Viele sind gestürzt, jüngere 
Buchen und Kiefern auch streckenweise durch Lawinen niederge- Sg 
legt und von stürzenden Steinblöcken zerkracht. An der Mehr- 
zahl der dicksten Bäume finden sich die Spuren der Blitzschläge g 
und viele von ihnen sind völlig verkohlt. Oft liegen ganze Wald 
partien nieder, von Orkanen und Lawinen umgefegt, und der Holz- Be 
reichtum, der hier nutzlos verkommt, dürfte genügen, ganze Pro- E 
vinzen des frierenden Deutschlands mit Winterbrand zu versorgen. 

Die Rückreise aus jenen für den Forscher unvergleichlich 4 
interessanten Bezirken erfolgte auf dem gleichen Wege wie die | £ 


Ausreise, nämlich über Boltafa, Barbastro, Lerida, Cervera und 
Tarrasa nach Barcelona. Dort gab es noch schöne warme Sep- 
tembertage, wenn auch die Herbstregen in diesem Jahre unge- 
wöhnlich früh einsetzten. Die Vegetation in der Umgebung von 
Barcelona selbst, die im sehr heißen August schon ganz abgedorrt 
war, begann sich wieder infolge der Feuchtigkeit zu begrünen und 
in der angenehmen Gesellschaft des Herrn MARTEn, dem hier für 
die Einladung zu der genußreichen Pyrenäenreise der aufrichtigste 
Dank gesagt sei, konnten noch einige ganz interessante Herbstfänge 
eingetan werden. Am 27. September verließ ich das gastliche Haus 
in der Calle San Gervasio; am 1. Oktober traf ich zuhause ein und 
hatte die Genugtuung, die gesamte Ausbeute ohne Unfall oder Be- 
schädigung übergebracht zu haben, zu der außer dem Schreiber 
dieses Berichtes Herr M. MArTEn, nebst Gattin und Kindern wert- 
volle Beiträge geliefert hatten; mit diesen dürfte die Ausbeute über 
10,000 Nummern betragen. 


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NATURFORSCHENDE GESELLSCHAFT 
Wo: 1817-1923 | % 



















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AUS NATUR UND MUSEUM 


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7 A.Seitz: Der Mensch und die Insekten - - . 2 22.2.2.202.016 R 
nen der Verwaltung 2. 2 222 nn 
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Frankfurt am Main, 1923 


Selbstverlag der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
Auslieferung für den Buchhandel: W.Junk, Berlin W. 15, Sächsische-Straße 68 





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Preis des Jahrgangs Preis des Heftes 
Grundzahl M. 3.—. (mal Schlüsselzahl) Grundzahl M. 1.—, (mal Schlüsselzahl) 









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find in bezug auf Staub- 
dichtheit, praktifche Aus- 
ftattung, einfache Eleganz 
und mufterhafte Ausfüh- 
rung leit 4 Jahrzehnten 
tonangebend und - ob- 
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Dresdner 
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Aus.Kühnfcherf @Söhne a 
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FF SENEKENBEREISCHE 
JATURFORSCHENDE GESELLSCHIAEE : 
4 1817-1923 E 









„ICH WILL DER 
WISSENSCHAFT 
EINEN TEMPEL 
= GRÜNDEN“ 


DR. MED. 

JOHANN 
CHRISTIAN 
SENCKENBERG 
1707—1772 


AUS NATUR UND MUSEUM 
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A.v.Weinberg: Die Entstehung der unorganischen Welt (Kosmogonie) 49 


W. Georgii: Die motorlosen Segelflüge in der Rhön im Vergleich zum 
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Frankfurt am Main, 1923 


"Selbstverlag der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
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Dresdner 
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Aug. Kühnfcherf OSöhne | . 
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FORSCHENDE GESELLSCHAFT 
1817-1923 ; 


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„ICH WILL DER DR. MED. 
WISSENSCHAFT Ä N JOHANN 
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1707—1772 


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eAigner: Das Rätsel der Wünschelrute . . . . . 2 .2.2...08 
ER ErBrior: Kupferhaltige Vogelfedern . : 2. . 2a eu. 2.0.98 
W.Schuckmann: Die granittektonische Methode . . . ........89 


Frankfurt am Main, 1923 


Selbstverlag der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
Auslieferung für den Buchhandel: W.Junk, Berlin W.15, Sächsische-Straße 68 





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NATURFORSCHENDE GESELLSCHAFT 
: 1817-1923 








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DR. MED. 

JOHANN 

CHRISTIAN | 
SENCKENBERG er 
1707—1772 


EINEN TEMPEL 
GRÜNDEN“ 





AUS NATUR UND MUSEUM 





= INHALT: ER 
CE W.von Reichenau: Nahrung und Nahrungsaufnahme des Elches . 121 

E O.Steche: Biologie und Weltanschauung . : . 2 2.2.2.2.2.2..126 
A. Seitz: Eine entomologische Pyrenäenreise . . . . 2.2.2..2...188 





Frankfurt am Main, 1923 


Selbstverlag der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 
Euajeferunggjär den Buchhandel: W.Junk, Berlin W.15, Sächsische-Straße 68 


Preis des Jahrgangs Preis des Heftes 
Grundzahl M. 3.—. (mal Schlüsselzahl) Grundzahl M. 1.—. (mal Schlüsselzahl) 





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Druck: Universitäts-Druckerei Werner u. Winter, G.m.b. H,, sämtlich in Fra 


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