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Full text of "Aus Neuern Litteraturen"

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PROPERTY OF 




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l: 




ARTES SCIENTIA VERITAS 



Aus 



neuern Litteraturen 



Von 



Hf Breitinger. 



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Zürich, 

Druck und Verlag von Friedrich Schnlthess. 

1879. 



11 



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/383 



hlialtsveneichniss. 



Seite 

1. Der Salon Bambouillet und seine cnlturgeschichtlicbe Bedeutung 1 

2. Eine deutsche Prinzessin am Hofe Ludwigs XIY. . 55 

3. Die Entwicklung des Realismus in der französichen Dichtung 

des 19. Jahrhunderts 84 

.4. Paul Louis Courier, der Pamphletist der französischen Bour- 
geoisie 129 

5. Pierre Lanfrey*) 158 

6. Frau Ton Stael und George Sand 185 

7. Edmondo de Amicis 205 

8. Zwei sicilianische Belletristen 239 



*) Zu pag. 182. Ein fünfter Band der Histoire de Napoleon 
erschien 1875. Er umfasst die Ereignisse von 1809—1811. 



Der Salon Rambouillet nnd seine cnltur- 
gescMcMche Bedeutung. 




'er französische Hof, sowie er im ersten Decen- 
nium des XVII. Jahrhunderts, d. h. in den letzten zehn 
Jahren von Heinrichs I V. Regierung uns entgegentritt, 
war nichts wenigerö-ls ein Mittelpunkt eleganter Formen 
und feiner Bildung. In der That, nach fünfzigjährigen, 
Innern und äussern Kriegen liess sich die Verwilderung 
der Sitten, die soldatische ßohheit der Zeltkameraden 
des ritterlichen Königs nur allzu gut begreifen. Kraft 
war da die Menge, aber sie entbehrte jeder Anmuth, 
jeder Sitte. Mit zunehmenden Jahren hatten Heinrichs 
Leidenschaften an Stärke nur gewonnen, und dem Höf- 
linge empfahl sich die Liederlichkeit als eine Form der 
Schmeichelei. Nicht minder roh als das Leben waren 
die Formen und die Sprache des Umgangs. Die sol- 
datische Derbheit verlor sich gerne ins unfläthig Ge- 
meine, und statt einer reinen und einheitlichen Sprache 
herrschten die manigfachsten lokalen Ausdrucksweisen, 
das wunderlichste Gemisch entgegengesetzter Ausspra- 
chen. Was Einzelne anstrebten und erreichten, bildet 
einen schneidenden Gegensatz zum Gemeinbesitz der 
H. B. 1 



/>* 



.c^1 



— 2 — 

Menge. Während beispielsweise der Dichter Malherbe 
reine und wohlklingende Verse schreibt, strotzen die 
Memoiren und die Briefe seiner Zeitgenossen von Bar- 
barismen und Solöcismen. Tief stand der höhere Klerus 
— meist von der Earche lefbende Kinder des Adels — 
tief auch die Erziehungsstätten des weiblichen G-e- 
schlechtes, die Klöster, welche durch allerlei schreiende 
Missbräuche in argen Verfall gerathen waren. 

Einer hochgebildeten und edlen Frau war es vor- 
behalten, den Kampf mit der Unsitte aufzunehmen und 
durch die Macht ihrer Persönlichkeit auch siegreich 
durchzuführen. *) 



') Vorstehender Aufsatz beabsichtigt die caUnrgeschichtlichen 
und biographischen Momente zasammenzasteUen, ohne deren Kenntniss 
das Verstehen desjenigen, was die Literajtnrgeschichte über die ein- 
schlagende Epoche mittheilt, ein mangelhaftes bleiben Inuss. Er ist 
eine vorwiegend ans folgenden Monographien und direkten QaeUen 
gesammelte Lesefrncht: Livet, Pr^cienx et Pr6cienses, 1859. — Cousin^ 
La socidt^ frangaise an XVII. sifecle, d'aprfes le Grand Cyrus de MUe. 
de Scnd^ry, 1856, — La jennesse de Me. de Longneville, — Me. de 
Hantefort, — Me. de SabW, — Me. de Chevrense. — Walckenair, 
M^moires tonchant la yie et les Berits de Me. de Sävign^, 1852. — 
Histoire de TAcad^mie fran^aise par Pellisson et d'Olivet avec des 
notes par Livet, 1858. — Rathery^ Inflnence de l'Italie snr les Lettres 
fran^aises, 1853. — Puibusque, Histoire compar^e des litt^ratnres 
espagnole et frangalse, 1843. — Demogeot, Tableaa de la litt^ratare 
fran^aise an XVII. Si^cle avant Corneille, 1859. — Tascher au, Vies 
de Corneille et de Moliere. — Pritsche, Molifere-Stndien , 1868. — 
Moland, Moliere et le Theätre Italien, desselben Ausgabe Moliere's. — 
Tallemant de Reaux, Les Historiettes, ed. Tascherau, 1834. — Voiture, 
Les Lettres, 1657. — Balzac, oeuyres, 1665. — Memoiren aus der 
Collection Petitot. — Ä, Perez, Obras y relaciones, 1644. — Somaize, 
Dictionnaire des Pr^cieuses et autres piöces, nony. edition par Livet, 
1856. — Colonibey, La Journ^e des Madrigaux, suivie de la gazette 
de Tendre, 1856. 



— 3 — 

Katharina von Vivonne war die einzige Tochter des 
Johannes von Vivonne, Marquis von Pisani, und der 
Julia . Savelli , einer vornehmen Römerin. Sie wurde 
1588 zu Rom gehören, heirathete 1600 im Alter von 
zwölf Jahren Karl von Angennes, Marquis von Ram- 
houillet, und war mit dreizehn Jahren Mutter. Ahge- 
stossen von dem lärmenden Treiben eines mit vielen 
rohen Elementen versetzten Hofes, zog sich Frau von 
Bamhouillet gegen 1608, etwa im zwanzigsten Lebens- 
jahre, immer ausschliesslicher in die StiUe ihres Palastes 
und den Frieden ihrer Familie zurück, suchte und fand 
Belehrung und Grenuss im Umgange mit den Dichtern 
Malherbe und Racan, im Studium der italienischen, 
spanischen und französischen Literatur, sowie im täg- 
lichen Verkehre ausgewählter Freundinen und Freunde. 
So wurde «ie in kurzer Zeit zum Mittelpunkte einer 
glänze?#en GreseUschaft, und die jüngeren Glieder jenes 
Hofes, den sie selbät gemieden, füllten nun ihrerseits 
die Säle des Hotel Rambouillet. Dieses vornehme Haus 
scheint den ersten, eine Zeit lang wohl auch den ein- 
zigen Pariser- Salon beherbergt zu haben, wenigstens 
lässt sich in dieser frühen Zeit das Vorkommen anderer 
Gesellschaften nicht nachweisen. Aus dieser Thatsache 
sowohl als aus dem Verlangen der jüngeren Generation 
nach eleganteren Umgangsformen und nach einem 
idealeren Inhalte des Lebens erklärt sich das rasche 
Emporblühen unseres hocharistokratischen' Kreises. 

Hier zuerst *also zeigte sich ein feiner Ton im 
gesellschaftlichen Verkehre der Geschlechter, hier zu- 
erst machte sich der sittigende Einfluss der Frauen 
auf die Männer des Degens und auf die Männer der 



V 



— 4 — 

Feder geltend, hier "bildete sich die Kunst der Conver- 
sation, die Technik der Umgangssprache aus. Die Ari- 
stokratie des Geistes erlangte hier zum ersten Male 
eine gewisse Geltung und eroberte sich ihr Bürgerrecht. 
Diese Entwicklung ist aher keine ausscyiesslich natio- 
nale; denn Spanien und Italien beherrschen noch Ge- 
schmack und Sitte. Unter diesen fremden Einwirkungen 
wird eine conventionelle Galanterie geboren, deren 
Stempel alles, was geschrieben und gesprochen, ge- 
dichtet und geplaudert wird, nur selten verleugnet. 
Der schönen Literatur wird ein reges Interesse zu 
Theil. Wenn man selbst im Schreiben sich versucht, 
so wird mehr an der Form gearbeitet, als für den In- 
halt gesorgt; mitunter will es scheinen, als lege man 
es darauf an, in zierlichen Wendungen nichts zu sagen. 
Die spanische Gespreiztheit und das italienische Raffine- 
ment beeinträchtigen stark die natürliche Einfachheit 
des Ausdrucks. Schreibt man aber nicht des Ruhmes 
wegen, sondern zu alltäglichen, praktischen Zwecken, 
so findet sich schnell und ungesucht eine natürliche 
Sprache ein. 

t Um 1620 hat diese Gesellschaft den Höhepunkt 
ihrer Blüthe erreicht und dreissig Jahre dauert die 
Periode ihres Glanzes, bis durch den Tod oder die ort- 
liehe Trennung ihrer bedeutendsten Glieder, durch den 
Ausbruch des Bürgerkrieges, der Fronde, ihre Existenz 
an der Wurzel bedroht und auf einen Schatten der 
früheren Bedeutung zurückgeführt w4rd.*) 



*) Cousin, Soc. fr. 1, 271. II nons semble que c'est vers 1617 
on 1618 et tr^s certaioemeQt ave^nt 1620 qu'on doit placer les com- 



— 5 — 

Um ein Bild von dem Zusammenleben unseres 
Kreises zu gewinnen, müssen wir vorerst die Personen 
zu kennen suchen, welche allabendlich die Assembl6e 
— dies war der technische Ausdruck — der Marquisin 
von Eambouillet besuchten. 

Frau von Rambouillet war eine imposante Erschei- 
nung, gross, schön, gewinnend. Sie hatte die sorg- 
fältigste Erziehung erhalten, sprach Italienisch als die 
Sprache ihrer Mutter, hatte sich das Spänische gründ- 
lich angeeignet und trug sich mit dem Plane, auch 
Lateinisch zu lernen, um den Virgil in der Ursprache 
lesen zu können, als ihre zunehmende Kränklichkeit 
sie von der Ausführung desselben immer weiter ent- 
fernte. Besondere Vorliebe besass sie für das Theater, 
für dramatische Aufführungen. Auch soll sie eine gute 
Zeichnerin gewesen sein. Zwischen 1610 und 1617 
Hess sie das Hotel Pisani in der Strasse Saint-Thomas 
du Louvre, das also in unmittelbarer Nähe der könig- 
lichen Residenz, des Louvre, sich befand, niederreissen 
und an dessen Stelle ein neues, ihrem Schönheitssinne 
entsprechendes Gebäude, dessen Plan sie selbst ent- 
worfen hatte, aufführen. Sie führte als Neuerung ein, 
dass die grosse Treppe nicht in der Mitte des Hauses, 
sondern auf der Seite emporstieg, wodurch geräumige 
Säle gewonnen wurden. Hier war denn das berühmte 
blaue Empfangszimmer der Marquisin mit seinen bis 



mencements de la c^l^bre soci^tä de RamboniUet. N^e avant 1620 
eUe Jette le plus grand 4clat pendant trente ann^es, jusqu'ä ce qne 
k la ftn suryiennent presque coup sur coup le mariage de Me. de 
Montausier en 1645, la Fronde en 1648, la mort du Marquis de Ram- 
bOQÜlet 1652, la yieillesse et les infirmitäs de la Marquise. 



' /. 



— 6 — 

zum Boden und bis zur Decke reichenden Fenstern, 
seinen von allerlei Raritäten strotzenden Cabineten, 
seinen vielbewunderten Lampen, seiner vom Dufte zahl- 
loser Blumen immer parfümirten Atmosphäre, seinem 
auf koketten Säulen ruhenden Alkovendache zu finden. 

— Die schöne Frau, die dieses Feenschloss bewohnte, 
bewahrte ihre Anmuth bis ins höchste Alter. Aber 
noch edler als ihre Erscheinung war ihr Charakter 
Sie war freundlich, heiter, selbst zu launigen Scherzen 
aufgelegt. Vorsichtig in der Auswahl ihrer Freunde, 
blieb sie den einmal Erwählten unverbrüchlich treu. 
Als Richelieu's unheimlicher Agent, der berüchtigte 
Kapuziner Joseph, ihr im Auftrage seines Meisters zu- 
zumuthen kam, seiner Eminenz dem Cardinal Spionen- 
dienste im eigenen Hause zu leisten, schickte sie den 
Pater mit einer eben so muthigen als geschickten Ant- 
wort zu seinem Herrn zurück. Sie war aufrichtig fromm 
und eine treffliche Mutter ; mit Todesverachtung wartete 
sie ihres pestkranken, Jüngern Sohnes, bis er starb. 
Ihre Herzensgüte zeigte sich in ihrer Neigung zu über- 
raschen, sei es mit einem gesellschaftlichen Genüsse, 
sei es mit einer heimlichen Wohlthat. „Meine grösste 
Freude", pflegte sie zu sagen, „ist den Leuten Geld 
zu schicken, ohne dass sie erfahren, woher es kommt." 

— Seit ihrem fünfunddreissigsten Jahre hatte sie viel 
mit ihren Nerven zu schaffen. Sie konnte weder die 
Sommersonne noch das Kaminfeuer ertragen, musste 
daher an schönen Sommertagen in der dunkeln Kühle 
ihres Alkovens (sie soll diese spanische Einrichtung 
in Paris eingeführt haben) verbleiben und ihren lie- 
ben Spazierfahrten in der Umgebung der Hauptstadt 



— 7 — 

entsagen, im kalten Winter dagegen ferne vom wohl- 
thuenden Feuer sich halten. Ihre zunehmenden Leiden 
scheinen ihren fröhlichen Humor allmählig aufgezehrt 
zu haben; denn als sie 1665 starb, hinterliess sie ein 
gramschweres Epitaphium, das keinem ihrer Lebens- 
tage den Namen eines glücklichen und ungetrübten 
gönnen will. 

Die älteste und die jüngste Tochter der Marquisin, 
Julie und Ang^ligue, begegnen uns zunächst an der 
Seite ihrer gefeierten Mutter- Erster e wurde bekannt- 
lieh 1645 Gemahlin des Herzogs von Montausier, 
letztere die zweite Gattin jenes Herrn von Grignan, 
dter in dritter Ehe die Tochter der Frau von S6vign6 
heirathete., Beide Schwestern scheinen nur geringe 
Neigung zum Aufgeben ihrer Amazonenfreiheit gehegt 
zu haben. Julie liess ihren Montausier dreizehn Jahre 
schmachten, und nachdem er endlich den Protestantis- 
mus abgeschworen, entschloss sie sich, scheint es, nur 
ihrer Mutter zu Liebe, seine exemplarische Ausdauer 
zu belohnen. Ang^lique scheint weniger leutselig als 
ihre Schwester gewesen zu sein, sie trieb die Prüderie 
am weitesten, besass die Vorzüge und Mängel eines 
„Enfant terrible" und, was ihren Geschmack anbelangt, 
so gereicht es ihr nicht zur Unehre, die langen Predigten 
und die schlechten Bücher gehasst, dagegen Malherbe, 
Corneille und später Meliere besonders geliebt zu haben. 

Ln Jahre 1625 oder 1626 wurde von Godeau Mite. 
Faulet eingeführt, die Tochter eines Patriziers, der als 
Sekretär Heinrichs IV. ein grosses Haus gemacht und 
dabei ein grosses Vermögen durchgebracht hatte, im Jahre 
1609 schon von Frau von Rambouillet beachtet, als sie 



~ 8 — 

in Arions Rolle auf einem Delphine sitzend, den ganzen 
Hof mit ihrer herrlichen Stimme entzückte. Gross und 
schön, lehhaft, energisch, zuweilen stürmend, von röth- 
lich hlonden Haaren, und wie ihr Pathenkind Angelique 
eine entschiedene Amazone, passte Angelique Faulet 
ganz in einen Kreis, der die Galanterie nur als elegante 
Form des Umganges gelten liess. Man nannte sie die 
schöne Löwin; der Marquisin diente sie als Secretär 
und war mit dieser wie mit Fräulein von Scudery 
innig befreundet. Sie starb unverhöirathet 1650. 

Die eben erwähnte von Scudery spielt als Chronistin 
des Salons Rambouillet eine zu bedeutende Rolle, um 
hier bloss genannt zu werden. Madeleine de Scudery 
war 1607 in Hävre geboren. Durch die Wohlthat eines 
reichen Onkels genoss sie sowohl als ihr Bruder Georg 
eine sorgfältige Erziehung. Der Bruder, ein ächter 
Schwadroneur und Renommist, war erst Soldat, dann 
trat er als Tragödienschreiber auf und erwarb als 
solcher Geld und Gloire. ' Auch die Romane Madeleine's 
erschienen unter seinem Namen, obgleich er selbst 
nicht viel mehr als die Vorreden dazu schrieb. Im 
Jahre 1630 folgte Madeleine ihrem Bruder nach Paris 
und begann hier ihr Talent sowohl als ihre vornehmen 
Connexionen nach Kräften auszubeuten. „Artamöne 
ou le Grand Cyrus" erschien 1649 — 1653 in zehn Bän- 
den. Unter den assyrischen, babylonischen, persischen, 
armenischen und griechischen Heldennamen des dick- 
leibigen Werkes verbargen sich, wie männiglich wusste, 
die Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft 
mit ihren wirklichen Erlebnissen. Da ein. jeder sich 
selbst zu lesen wünschte, so wurde der Roman sehr 



— 9 — 

eifrig gekauft und soll dem Buchhändler 40,000 Thaler 
eingebracht haben. Die Sprache des ,;Grand Cyrus" 
ist rein und fliessend, die Charakterzeichnung fein und 
wahr (manche glaubten sich beklagen zu müssen, da 
sie ihr Portrait nicht geschmeichelt fanden), die psycho- 
logische Analyse zeugt von scharfer Beobachtung und 
edler Gesinnung. Die Portraitgallerie des Hotel Ram- 
bouillet ist so vollständig gegeben, dass Victor Cousin 
die ganze Gesellschaft jener Epoche nach dem „Grand. 
Cyrus" rekonstruiren konnte. Unter dem Namen „Sapho" 
hat die Verfasserin im „Grand Cyrus" ihr eigenes Bild 
entworfen. Die oben angedeuteten Vorzüge des Buches 
finden ihr Gegengewicht in den endlosen, faden pla- 
tonischen Liebesgesprächen, dem Mangel an Handlung 
und der Armuth im Punkte der Erfindung. In den 
zehn Bänden der „Clelie" (1654 — 61) wurde die Manier 
des „Grand Cyrus" zur lächerlichen Fratze. Wenn 
man diesen als Produkt des Salons Rambouillet aufzu- 
fassen berechtigt ist, so muss jene dagegen als das 
Erzeugniss der Samedis (siehe unten) erscheinen. Einen 
Hauptfehler beging die Verfasserin besonders insofern, 
als sie die allegorische Maske diesmal aus einer Ge- 
schichtsepoche borgte, die uns durch die alten Schrift- 
steller im Einzelnen nahegerückt ist, und dass sie nicht 
nur die historischen Namen, sondern auch die historischen 
Thatsachen in ihre Dichtung verflocht. Da fühlte denn 
doch ein jeder den lächerlichen Widerspruch zwischen 
der antiken Costümirung und dem höchst modernen 
Inhalte. — Da die junge Generation für den Helden- 
roman immer weniger Geschmack bezeugte, ihn sogar 
mit schonungsloser Kritik verfolgte, so wandte sich 



t^ 



— 10 — 

Madeleine in ihren spätem Jahren einem andern Ge- 
biete zu, und schrieb eine Beihe von Gesprächen über 
moralische und anderweitige Gegenstände, welche des 
Guten viel enthalten sollen. Fügen wir noch bei, dass 
MUe. de Scud6ry 1671 den allerersten von der Aca- 
demie gespendeten Preis für französische Eloquenz 
durch einen Aufsatz über die „Gloire" sich erworben 
hat. Ihre eigene Gloire stand hoch unter den Zeitge- 
nossen. Von der Academie in Padua war sie zum 
Ehrenmitgliede ernannt worden, die Königin Christine, 
der Herzog von Braunschweig*), die Herzogin von 
Holstein, der grosse Leibnitz ehrten sie mit bewun- 
dernden Briefen. Von sich selbst und ihrem zweifel- 
haften Adel hatte sie keine geringe Meinung und sprach 
von „dem Sturze ihres Hauses" wie Homer von dem 
Falle Dions. Es machte ihr schlechten Spass, für einen 
Blaustrumpf zu gelten; das Bild, welches sie selbst 
von der falschen Pr^cieuse Damophile entwirft, mag 
in dieser Beziehung als eine Selbstvertheidigung be- 
trachtet werden. Auch die faden Complimente der 
Junker waren ihr verhasst, wenn diese etwa fragten, was 
sie jetzt schreibe, und sie ersuchten, sich doch ja nicht 
allzu kurz zu fassen. „Denn damit glauben sie das 
Feinste gesagt zu haben, wenn sie andeuten, dass meine 
Bücher ihnen nicht lange genug vorkommen." — Jene 
kleine Schwächen nun vergass man über den vielen 
vortrefflichen Eigenschaften, welche Madeleine allen 



') Vgl. CholoTins : Die bedeutendsten Komane des siebenzehnten 
Jahrhunderts, 1866, p. 176, 599. Anton Ulrich, Herzog zu Braun- 
schweig, 1633 — 1714. Verfasser von: Die durchlauchtige Syrerin Ara- 
mena. Nürnberg 1669—1673. — die römische Octavia, 1686—1707. 



— 11 — 

ihren Freunden theuer machten. Den edlen Kern aher 
umschloss eine unscheinbare Schale : eine grosse, hagere 
Gestalt mit langem Gesichte, plumpen Zügen, schwarzen, 
unschönen Augen und Haaren und gelbbraunem Teint. 
„Die Vorsehung hat sie zur Vielschreiberin bestimmt", 
meinte Me. Cornuel, „denn ihre Haut schwitzt ja Dinte*" 
— Ihr Herzensfreund war der ebenfalls auffallend häss-. 
liehe PeUisson, den sie als Hermerius in der „Clelie" 
pörtraitirt hat. Zwischen Sapho und Hermerius ent- 
spann sich, während des letztern Gefangenschaft in der 
Bastille, eine platonische Correspondenz, die durch eine 
dritte dunkle Gestalt — einen Kaminfeger — vermittelt 
wurde. Fräulein von Scudery starb 1701, nachdem sie 
fast ein ganzes Jahrhundert durchlebt hatte. 

Viele vornehme, geistreiche und reizende Damen 
fanden sich nach und nach im Hotel der Marquisin 
zusammen. Hier sah man die wunderschöne Charlotte 
von Montmorency, ihre Kinder, einen Knaben mit 
blitzenden Augen, den nachherigen „grossen Cond6", 
den Grand Cyrus von Mlle. de Scudery's Eoman, und 
dessen Schwester, die spätere Frau von Longueville, 
an der Hand führend ; dann Fräulein Du Vigean, deren 
Schicksale ganz an die spätere La Valli^re erinnern; 
Madame de la Vergne mit ihrer Tochter, der nach- 
maligen Frau von Lafayette ; die intime Freundin der 
Marquisin, Frau von Sable,. welche später ins Lager 
von Port-Eoyal übergehen wird; Frau von Hautefort; 
die Herzogin von Aiguillon, Richelieu's Nichte ; Maria 
Gonzaga, des unglücklichen Cinq-Mars Geliebte, die 
1645 als Polenkönigin Paris verlässt; mit 1644 die 
neuvermählte achtzehnjährige Madame de S^vigne ; die 



— 12 — 

sarkastische Madame Cornuel*), „die Wespe unter den 
Bienen" ; die Sängerin Madame Aubry und viele andere 
mehr. 



^) Mme. Cornuel, geb. Bigot aus Orleans, ist die Zenocrite des 
Grand Cyrus. Mehrere ihrer Witze und Einfälle sind in v. S^vigne's 
Briefen zu finden. Als sie in hohem Alter ihre letzte Freundin yer- 
lor, sagte sie: „H^las, me voili d^converte, il n'y avait plus qu'elle 
entre la niort et moi". Von dem bigotten Stnart Jakob IL meinte sie, 
„que le saint Esprit lui ayait mangö l'enten dement". Als Stylprobe 
des Grand Cyrus möge hier Zdnocrite's Portrait folgen. „Zenocrite 
est une personne qui est en droit de dire tout ce que bon lui semble 
Sans qu'on s'en ose mettre en col^re. En effet, on passerait pour ne 
savoir point du tout le monde, si on s'advisait de trouver mauvais 
que Zenocrite dit une chose un peu malicieuse; et, quoiqu'il soit assez 
rare de voir qu'on cherche avec soin la conversation de Celles qui ne 
pardonnent rien, qui n'excusent presqne jamais personne, et qui parlent 
quelquefois indiff^remment des amis et des ennemis, il est pourtant 
vray qui'l y a toujours plus d'honnetes gens chez cette dame dont je 
parle, qu'en tout autre lieu de la ville. Zenocrite est belle; sa per- 
sonne est bien faite; sa physonomie est fine, quoy qu'elle ait aussi 
quelque air languissant; eile dit les choses comme si eUe n'y pensait 
pas, et les dit pourtant plus spirituellement qiie ceux qui y pensent 
le plus. Elle a une Imagination admirable qui fait qu'elle tourne 
toutes choses agr^ablement, et qu'elle ne prend des ^venements qu'on 
lui raconte que ce qui peut seryir k les lui faire redire plaisamment. 
Elle fait quelquefois un recit avec une exag^ration si Eloquente, qu'elle 
vous fait voir tout ce qu'elle veut vous apprendre, et quelquefois aussi 
eile fait une grande satire en quatre paroles. Elle est pourtant «n^e 
bonne et gen^reuse; et si eile parle en d^savantage de quelqu'nn, c'est 
plustost par exces de raison et de sinc^rit^, et par une imp^tuositä 
d'esprit et d'imagination qu'elle ne peut retenir que par malice. Ce 
qu'il y a de plus rare en cette personne, c'est que le chagrin de son 
esprit fait bien souvent la joye de celui des autres ; car lorsqu'elle se 
plaint ou des malheurs du si^cle ou du mauvais gouvernement , eile 
le fait d'une mani^re si agr^able qu'elle divertit plus par ses plaintes 
et par ses murmures que les autres ne peuvent faire avec l'humeur 
lä plus enjou^e . . . . j.JBnfln, je puis vous assurer que Zenocrite est 
une personne tout k tkt extraordinaire". (Bei Livet, 136 und 137.) 



^ 13 — 

Zu den ältesten Freunden des Hotels gehörte, wie 
schon gesagt, der Dichter Malherhe mit seinem Lieb- 
lingsschüler Racan. Malherbe war e;s, der aus dem 
Vornamen der Marquisin „Catherine" das Anagramm 
„Arthenice" schuf, unter welchem pretiosen Namen 
dieselbe im Kreise ihrer Verehrer ein halbes Jahr- 
hundert gefeiert wurde. — Schon 1602 hatte der Mar- 
quis den nachherigen Bischof von Nantes, den be- 
rühmten Kanzelredner Cospeau, als Verehrer von dessen 
Talent zu seinem Commensalen gemacht. Cospeau war 
Richelieu's Lehrer gewesen und sah seinen grossen Schü- 
ler öfters in diesem Kreise. — Später, 1627, kurz vor 
Malherbe's Tode, fand sich auch Chapelain ein, ein Mann 
von Kenntnissen und kritischem Urtheile, ernst und 
bescheiden und nicht ohne Conversationstalent. Er war 
sich bewusst, kein Dichter zu sein und sprach es. mehr 
als einmal un^^erholen aus; dass er dessen ungeachtet 
1656 mit einem Epos auftrat, war eine Inconsequenz, . 
die sich schwer an seinem Rufe räcufe ; denn über dem 
erbärmlichen Dichter der „Pucelle" vergass die Nach- 
welt schnell den gründlichen Gelehrten und guten 
Kritiker. — Der Napolitaner Marini, von 1615 bis 1623 
am Hofe von Heinrich's IV. Wittwe, Maria von Medici, 
lebend, freigebig pensionirt an demselben Hofe, wo 
Tasso einst einen Thaler zu borgen genöthigt war, 
routinirt im Betteln mit gelehrten Citaten, und gut 
aufs Schmeicheln und Schmarotzen dressirt (klagt er 
doch z. B. in einem Briefe, dass die schwankenden 
politischen Verhältnisse die Vollendung seines Epos 
„Adonis" hindern ; denn wenn eine gewisse Partei 
unterläge, so müsste er wieder Vieles umdichten), — 



V 



— 14 — 

Marini war im Hotel Rambouillet ein hochwillkommener 
Gast, zum grossen Verdrusse des greisen Malherbe, 
der den Concettischwindel und das pretentiöse Auf- 
treten der italienischen Schule von Herzen hasste, und 
zu seinem Schmerze gewahren musste, wie dieselbe 
( seinem eigenen Ruhme täglich Boden abgewann. 

Eingeführt durch seinen Vetter Conrart, den ersten 
Secretär der 1635 von Richelieu gestifteten französischen 
Academie, wurde der kleine Godeau, Julie's Zwerg ge- 
nannt, bald einer der eifrigsten und beliebtesten Gäste 
des Hotels. Er erhielt später durch die Protection 
dieses Kreises ein mageres Bisthum in der Provence, 
und hiess von nun an der Magier von Sidon. In seinen 
Briefen paart sich der pretiose Phrasenschatz mit dem- 
jenigen bischöflicher Salbung auf wunderliche Weise. 
^^ Yoiture ist für das Hotel der Marquisin der Genius 
Loci „räme du rond", wie Tallemant sich ausdrückt, 
Voiture war bürgerlicher Abkunft, Sohn eines reichen 
Weinhändlers und Hoflieferanten, voll von Witz und 
Laune, ein Klassiker des galanten Stiles. Seine Dreistig- 
keit im Umgang mit den grossen Herren erinnert an 
Beaumarchais, sein boshafter Spott an Voltaire ; er war 
Virtuose in der Conversation ; als grosser Kinderfreund 
wurde er von der Jugend auch lebhaft gegen die mo- 
rose n Ausfälle der Alten in Schutz genommen. Ohne 
, gerade ein Raufer zu sein, ist er stets bereit vom Leder 
] zu ziehn und seinen Mann auf der Mensur zu stellen, 
was ihm auch wohl zu statten kommt ; denn sein Auf- 
treten streift mitunter an Impertinenz und seine Spässe 
sind nicht immer delicat. Er versteht es zwar so gut 
wie irgendeiner die Sprache der obligaten Galanterie 



\^\ 



— 15 — 

zu führen, aber man kennt den Heuchler nur zu gut; 
steht doch im Grand Cyrus der Fräulein von Scudery 
geschrieben, dass dieser Mann nicht die Venus Urania, 
sondern die Venus Anadyomene verehre und gar 
nichts wissen woUe von dem „amour d^tache des sens". 
Wenn er sich einmal erlaubt, das Kinn der „schönen 
Löwin" zu berühren oder „der göttlichen Julie" einen 
frechen Kuss auf den runden Arm zu drücken, so ver- 
ursacht das .zwar grosses Aergerniss in dieser pla- 
tonischen Republik, — aber man verzeiht ihm bald; 
denn er ist so unterhaltend ! — Voiture starb im rechten 
Augenblicke, 1648, als die fröhliche Lebensfrische 
unseres Elreises zu schwinden und sein eigener Nimbus 
sehr zu erblassen begann. Voiture's Briefe sind die 
Chronik und der Spiegel unserer Gesellschaft. Er vor 
allen verstand es übrigens, in den zierlichsten Phrasen - 
reihen wenig oder nichts zu sagen. 

Eine ganz andere Erscheinung war der schon er-' 
wähnte Conrart, ein liebenswürdiger Mann, ein grosser 
Freund und Kenner der spanischen und italienischen 
Litteratur und ein eifriger Bibliophile. Er und Godeau, 
Voiture und Chapelain bilden den engeren Kreis der Mar- 
quisin. — Cotin, Benserade, PeUison, Segrais, der naive, 
leichtgläubige, stets mit Geldverlegenheiten kämpfende 
Vaugelas, der Philologe Manage, wie überhaupt die mei- 
sten Glieder der Academie, zählten ebenfalls zu den belieb- 
ten Gästen. — TaUemant des Reaux, der seine Historiettes 
vor und nach 1657 schrieb, scheint erst spät im Palaste 
Rambouillet Zutritt erlangt zu haben. In genanntem 
Buche hat TaUemant den Klatsch des Tages mit hin- 
reichender Bosheit und cynischem Behagen für die Nach* 



— 16 — 

weit verarbeitet. IjDousin bedauert vielleiclit mit Recht, 
dass die Historiettes eine haupsächliche, manchmal die 
einzige Quelle sind, aus welcher die Kenntniss gewisser 
Personen und Verhältnisse geschöpft werden muss^") Im 
Hotel Rambouillet scheint übrigens der Verfasser nur 
eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wenigstens 
wird er von Voiture kein einziges Mal erwähnt. ' Talle- 
mant's Verdienst ist es immerhin, den Galimatias und 
die Ziererei des herrschenden Geschmackes 'schonungs- 
los verfolgt und die Rechte des einfach natürlichen 
Ausdruckes und des gesunden Menschenverstandes ge- 
genüber den Schnörkeln des Bei Esprit muthig ver- 
fochten zu haben. 

Auch Balzac, obgleich durch eine weitere Ent- 
fernung von Paris getrennt, — er vmhnte auf seinem 
Schlosse bei Angouleme in der Saintonge und machte 
wohl erst nach 1638 die persönliche Bekanntschaft der 
Marquisin, — muss als Glied des Kreises Rambouillet 
betrachtet werden. Seine Episteln werden im Hotel 
vorgelesen, ihre spanisch drapirten, harmonischen Perio- 
den bewundert, einzelne Wendungen discutirt, hie und 
da auch angegriffen. Dieser Briefverkehr zwischen „dem 
grossen Epistelnschreiber Frankreichs" ^) und unserem 



*) Der Mann, der sich Magnus FrancisB epistolarius , le grand 
6pistolier de la France, nennen liess, dachte nicht geringe von sich. 
Die Zeitgenossen woUten wissen, dass er stets den Hut abnahm, wenn 
er von sich sprach, und zwar sei diess so hänfig vorgekommen, dass 
er davon den Schnuppen bekommen habe. — Beispiele seiner Hyperbeln 
bei Demogeot 248: „J'ai nn ^ventail qui lasse les mains de quatre 
valets, et fait un vent dans ma chambre qui ferait des naufrages en 
pleine mer". — „Si vous vonlez savoir qni vous 6crit, c'est un homme 
qui est plus vieux que son pöre, qui est aussi us^ qu'un vaisseau qui 



— 17 — 

Salon gleicht dem diplomatischen Notenwechsel zweier 
Potentaten ; der vermittelnde Agent ist Chapelain, wel- 
cher Balzac über die Wirkung jedes Briefes, über jede 
lobend e un d tadelnde Bemerkung der Marquisin unter- 
richtet. Die Wahl eines Wortes, einer Phrase wird 
von Chapelain mit Aengstlichkeit besprochen und das- 
jenige vorgeschlagen, was der Frau Marquisin am ehe- 
sten gefallen möchte. 

Bei so regem Interesse für die Tageslitteratur und 
den Ausbau der Sprache ist es sehr begreiflich, dass 
auch die Helden des Tages im Hotel Rambouillet 
leichten Zufcritt und zuvorkommende Aufnahme fanden; 
so Mairet nach der Aufführung seiner Sophonisbe 1629, 
und später Corneille, welcher 1640 seinen Polyeucte 
hier vorlas, den man indess „zu religiös" fand. Vier 
Jahre später hielt „der kleine Bossuet," erst 16 Jahre 
alt, vor der glänzenden Assembl^e eine improvisirte 

« 

Predigt und auch der junge Fl^chier kam öfter in's Hotel. 
Aber nicht nur Grössen ersten Ranges treffen sich da, 
sondern auch solche untergeordneter Bedeutung, wie 
beispielsweise der ebenso dürftige als stolze Dichter 
Gombauld, und selbst arme Teufel von Litteraten und 
Poetastern wie der halbverrückte Neufgermain, der sich 
„le pofete h^teroclite de Monsieur, frere unique du 
Eoy", betiteh;«). 



anrait fait trois fois le voyage des Indes**. — Der Mann verdiente 
das Epitheton „Vater der Hyperbel". 

^) Nenfgermain war einer jener schmarotzenden Bettler, wie sie 
damals noch häufig in yornehmen Häusern als ein Zwitterding von 
Hauspoet und Hausnarr vorkamen. Ging es gut, so setzten diese Leute 
ihre langen Verse für 3 Fr., die kurzen für 2 Fr. das Hundert an 

H. B, 2 



— 18 — 

Eine venuittelnde Stellung zwischen den Männern 
der Feder und denjenigen des Degens, zwischen Bürger 
und Edelmann scheint der Herzog von Montausier ein- 
genommen zu haben. Er stand intim mit Chapelain, 
hatte selbst nicht nur die obligaten Madrigale gedrechselt 
und galante Briefe geschrieben, sondern auch Ernsteres 
versucht, z. B. den Persius übersetzt, war noch in 
späterer Zeit, d. h. nach der Fronde ein eifriger Be- 
sucher von Fräulein von Scud6ry's SamstagsgeseU- 
schaften. Nach der Ueberlieferung soll Montausier das 
Urbild von Molifere's Misanthropen Alcest gewesen sein. 
Aber wenn er wie Alcest brüsk und grämlich war, 
so zeigte er sich nicht eben als Feind von schlechten 
G-edichten, als Gegner des Bei Esprit und der Unnatur, 



« 

die Buchhändler ab, daneben nährten sie sich vom Ertrage ihrer 
Widmungen nnd anderer nothdürftig verschleierten Betteleien. Am 
Tische ihrer hohen Gönner waren sie die Zielscheibe des Witzes nnd 
mitunter auch recht roher Spässe, die ihnen das Leben kosten konnten 
(vgl. E. Foumier: Du röle des coups de bäton dans l'Histoire litt^raire, 
1858). Auf die boshafte Inspiration seiner Umgebung hin hatte Neuf- 
germain die Marquisin in folgendem elenden Quatrain angesungen: 

Entre les Dieux doit tenir rang 

Proche Jupin (Jupiter), au plus haut hout 

Plus belle que rose et VtBÜlet 

La divine de Rambouillet, 
1630 erschienen die „Po^sies et rencontres du sieur de Neufgermain"^ 
Sie tragen an der Spitze nach damaliger Sitte eine Reihe von Lob- 
liedern auf den Autor. Diese sind verfasst von Gliedern unsers Cirkels 
und treiben mit dem armen Narren ein recht närrisches Spiel. So 
liefert Patrix eine Klage der Consonanten, die im Namen Neufgermain 
zu figuriren nicht die Ehre haben. Yoiture bemerkt hiezu: „Diesen 
armen Consonanten wäre nur zu helfen, wenn man den seltenen Mann 
Bdelneufgermicopsant Messe, aber das Wort wäre denn doch allzu 
wunderlich". 



< . / ^ 



— 19 — 

— erhielt doch Chapelain von Montausier eine Pension, 
um die Pucelle schreiben zu können, und nach dem 
Misserfolge derselben, eine andere Summe, um sein 
Unglück zu verschmerzen. Er findet Geschmack an 
einem Gedichte, das weder Saft noch Kraft (ni sei ni 
sauge) hat" , schreibt Tallemant von Montausier im 
Hinblick auf die Pucelle. Ueberdies war Montausier 
niefit wie Alcest ein freier 'und freisinniger Mann, 
sondern ein recht bornirter Verehrer des Absolutismus 
nnd später unter Louis XTV". ein sehr geschmeidiger 
und für alles zu b rauch ender Höfling, ißr^sowohl als \^ 
seine „göttliche Julie" waren gerne bereit, den heim- 
lichen Umgang des jungen Monarchen mit der Montes- 
pan durch Abtretung zweckdienlicher Zimmer und^ „,,, ./T 
Versetzung unbequemer Schildwachen nach Kräften zu 
erleichtern. 

Während der dreizehn Werbungsjahre um Julien's 
Hand hatte Montausier Müsse genug, die platonische 
Liebe in allen ihren Stadien durchzukosten und den 
Codex der Schäferei in jeder Richtung zu studiren. 
Die Briefe, welche er als Gouverneur aus der Provinz 
nach Paris schreibt, sind zahlreich und kunstgerecht. 
„Er schreibt", sagt Chapelain, „mehr Briefe ii^ Vers 
und Prosa, als es brauchte, um ein Arkadien Sannazar's 
zu componiren." — Aber Montausier's galante Gross- 
that, das Exegi monumentum der Arkadier des Hotel 
EambouiUet überhaupt, ist jenes Album, das am 1. 
Januar 1642 unter dem Titel : „La Guirlande de Julie 
pour Madame de EambouiUet Julie Lucie d'Angennes, 
Escript par N. Jarry 1641", der göttlichen Julie über- 
reicht wurde. 






— 20 — 

yy" Die neunundzwanzig von dem Minis^turmaler Eobert 
ausgeführten Blumen, welche darin ebensoviele Blätter 
bilden, sind eine jede von einem oder mehreren Madri- 
galen von Chapelain, CoUetet, M. C. (Corneille? Conrart ?), 
Desmarets, Godeau, Grombauld, Georg Scud^ry, Marquis 
de Rambouillet, Racan, Tallemant, besonders aber Mon- 
tausier begleitet, welcher letztere durch sechszehn Ge- 
dichte vertreten ist. Das Original ist nach manig- 
fachen Schicksalen in den Besitz der Nachkommen von 
Julie's einziger Tochter, der Herzogin d'Uzes, zurück- 
gekehrt. Cousin (Soc. fr. II, 40) beschreibt es als 
einen prächtigen Folianten, mit den Miniaturmalereien 
Roberts, der schönen Schrift Jarry's und dem Pracht- 
einbande Le Gascon's. Voiture's Name fehlt, er durfte 
sich wohl nicht betheiligen, da ihn Montausier nicht 
leiden mochte: Chapelain in einem Briefe an Montausier 
nennt Voiture einmal „la Süffisance de votre aversion". 
Es ist wohl überflüssig, die Namen der Edelleute 
hierher zu setzen, die mit Conde, Conti, Larochefoucauld, 
Bussy, Gramont und andern als regelmässige Gäste 
oder als zufällige Besucher im Hotel Rambouillet er- 
schienen. Man wird nicht irre gehen, wenn man die 

meisten Glieder des hohen Adels, die zwischen 1610 

* 

und 1650 Paris bewohnten, als solche betrachtet. 

Versuchen wir es nun, das Leben und Weben, 
die heitern und ernsten Beschäftigungen, den Ideenkreis 
und die Geschmackstendenz, die gesellschaftlichen Formen 
und den bildenden Einfluss unseres Kreises zu schildern. 

Vor allem muss gesagt werden, dass wir es hier 
nicht mit einer litterarischen Cotterie, mit einer Ge- 
nossenschaft von Blaustrümpfen und Pedanten zu thun 



— 21 — 

haben. Das Hauptgeschäft unseres Kreises in seinen 
besten Jahren war die heitere Geselligkeit in an- 
inuthigster Form. Man liebte die Landpartien, machte 
Besuche auf den nahen Schlössern, ergötzte sich an 
Feuerwerken, Concerten, Bällen, poetischen Spielereien, 
dramatischen AuflFührungen , an lebenden Bildern aus 
der Mythologie. Letztere sollte im Vereine mit der — 
Natur ihre Wirkung thun. In den schattigen Parks 
pflegten etwa Nymphen, in den Grotten eine kunstvoll -^ 
drapirte Diana die Spaziergänger zu überraschen. Der 
Einfluss der italienischen, spanischen und französischen 
SchäfeiVomane war in solchen Spielereien nicht zu ver- 
kennen. Er wirkte lange nach. Noch im Jahre 1673, 
bei Anlass der ersten Pariser Kunstausstellung, über- 
raschte die grosse Zahl von Nymphen und Dianen, von 
welchen viele wohl Portraits gewesen sind. Derselbe 
Einfluss zeigt sich sodann auch in der Gewohnheit, 
die einzelnen Glieder unseres Kreises mit arkadischen 
Namen theils zu schmücken, theils zu charakterisiren. 
Die Damen überhaupt hiessen in dieser Welt die Kost- 
baren (pr6cieuses), später die Erlauchten (illustres). y_ 

Die heitere, mitunter ausgelassene Laune der Ge- 
sellschaft verschmähte auch die Schwanke und Mystifi- 
cationen nicht ; man wird beim Lesen dieser oft ziem- 
lich derben Spässe an das muthwillige Treiben von 
Weimar in den siebziger Jahren des vergangenen Jahr- 
hunderts erinnert. Selbst Königin Arthenice hat mit- 
unter ihre schönen Hände im Spiele; es gelingt ihr 
einmal, Voiture vortrefflich zu mystificiren ') ; dieser 



^) Livet, Pric. 29. Un indiscret ami, i qui Voiture avait In un 



— 22 — 

spielt ihr seinerseits mit einigen vor ihr Bett geführ- 
ten Tanzbären einen Possen, der seinem Urheber keinen 
sonderlichen Beifall einbringt®). Auch die an dem 
armen halbvei^riickten Litteraten Neufgermain geübten 
Scherze und das mit Voiture's Person vorgenommene 
Prellexercitium sind charakteristische EpisodeÄ. Letz- 
teres Tiat Voiture in einem an ^ie damals in Lyon 
^ weilende eüfjährige Schwester Cond6's gerichteten Briefe 
nichx ohnö Laune geschildert.®) — Auch fcinder also 
gehörten . zum Kreise der Marquisin und mischten sich 



sonnet de sa fagon, le retint et en donna copie ä la marqnise, qni le 
&t imprimer et introdnire dans nn de ces Becueils alors si nombrenx. 
Qoand Voiture le vint reciter ä rhotel, on Ini montra le livre. Les 
pages se suivaient; le caract^re ätait le mgme, ce sonnet et le sien 
c^^tait tont un. II finit par croire que ces yers, quMl s'imaginait avoir 
compos^s, il s'en sonvenait senlement. On rit longtemps avant de le 
d^sabnser. 

8) Livet, Pr^c. 29. Voitnre qui 6tait si d^licat et si difficile, 
laissait sonvent percer, dans ce monde choisi, le bout de Toreille d'nn 
parvenn. ün jonr il rencontra nn menenr d'onrs dans la rne. II 
s'introdnisit avec ses ours jusqne dans la chambre de la Marqnise, et 
qnand celle-ci se retoama an bruit, eile yit quatre grosses pattes 
pos^es snr son paravent et denx Enormes mnseanx qni la regardaient 
bStement. II y avait de qnoi monrir de frayeur. Tonjonrs indnlgente, 
eile pardonna. Mais Voitnre n'en fnt pas mieux vn des ennemis qu'il 
commen^ait ä se faire par son impertinence et par la familiarite qnMl 
prenait avez des gens dont le s^parait nne trop grande distance. 

^) „Mademoiselle, je fns bernä yendredi apr^s diner, ponr ce qne 
je ne yons ayais pas fait rire dans le temps qne Ton m'ayait donne 
ponr cela, et Me. de Bambonillet en donna Tarr^t ä la reqnSte de 
Mlle. sa Alle et de Mlle. Panlet. J'ens bean crier et me d^fendre, la 
conyertnre fnt apport^e, et qnatre des plns forts hommes du monde 
fnrent choisis ponr cela. Ce qne je pnis yons dire, Mademoiselle, c'est 
qne jamais personne ne fnt si hant qne moi, et qne je ne croyais pas 
qne la fortnne düt jamais tant ^leyer", etc. 



— 23 — 

in die Gresellschaft. Julie pflegte ihnen Mährchen zu 
erzählen, deren eines Voiture seinem Fragmente „AI- ^ 
cidaHs et Z^linde" zu Grunde gelegt haben soll. Voi- 
.ture war, wie schon gesagt, der Liebling jener jungen 
"Welt; mit seiner behenden, komisch kleinen Figur, 
seinen grossen Augen und seinem „dummen" Gesichte *^) 
wusste er immer Heiterkeit hervorzurufen. Der junge 
Marquis, den später in der Schlacht von Nördlingen 
die tödtliche Kugel .treffen sollte, hatte Voiture beson- 
ders lieb und lärmte mit ihm oft im Palaste herum, 
dass die Wände zitterten. 

Einen Hauptreiz bot natürlich auch die Unterhal- 
tung. Man spradh in ungezwungener und heiterer Weise 
über das Neueste, über schöne Litteratur, über Kunst, 
über die Tagesvergnügen, während Religion und Politik 
wie auf Verabredung hin aus dem Spiele gelassen 
wurden. Segrais, der uns jenen Versuch dfs Cardinais, t-^ 
Madame von Rambouillet als Spionin in ihrem eigenen 
Kreise zu verwerthen, berichtet hat, fügt die Worte 
hinzu: „Sie wusste nicht, was Partei ergreifen hiess." 
Protestanten und Katholiken bewegen sich friedlich 
neben einander. Während das. Haus der Marquisin mit 
Eifer dem Katholicismus huldigt, zählen sich Montausier, 
Conrart, Combault, Tallemant und andere zu den Prote- 
stanten. Die Toleranz der einen für die andern scheint 



^^) Lettre ä. nne maitresse inconnue. „Ma taille est denx on 
trois doigts an-dessöns de la m^diocre. J'ai la t^te assez beUe avec 
beancoup de cbevenx gris, les yenx donx, mais un peu ^gar^s et le 
visage assez niais. En recompense nne de vos amies vous dira que 
je suis le meilleur gargon du monde et qae, pour aimer en cinq ou six 
lienx ä la fois, il n^y a personne qni le fasse si fidelement qne moi". 



— 24 — 

- weniger in Gleichgültigkeit als wechselseitiger Ach- 
tung ihren Grund gehabt zu haben. Man lebte noch 
in der Zeit des Friedens; mit dem Aufkommen der 
Jansenisten sollte bald ein anderer Geist über die Pariser 
Gesellschaft kommen. 

Das Verhältniss der beiden Geschlechter zu ein- 
ander nimmt unter dem Einflüsse der herrschenden 
s-^iitteratur ein ganz eigenthümliches Gepräge an. Wäh- 
/, rend die auf sinnliche Befriedigung gerichtete Liebelei 
nach dem übereinstimmenden Zeugnisse der Zeitgenossen 
aus unserem Kreise verbannt war, so wurde dafür eine 
von der Schäfer- und Heldenromantik jener Zeit ein- 
gegebene, in gewissen Conventionellen Formen sich 
bewegehde Galanterie um so leidenschaftlicher geüj)t./ 
Ihr Wesen bestand in einer mit allerlei keuschen Me- 
', taphern verquickten, künstlichen Sprache, welche zwi- 
1 sehen den Anbeter und die Angebetete eine gewaltige 
'^ Kluft befestigte. Denn die Hauptsache schien dabei 
gar nicht, seine Leidenschaft energisch zu äussern und 
möglichst bald ans Ziel zu kommen, sondern das Oourti- 
siren ist sich Selbstzweck und die Herzenssache muss 
recht lange in allen Regeln geführt werden. Das Herz 
war weniger als der Kopf betheiligt.' „Sie haben", 
sagt Saint-Evremont von den Kostbaren, „eine Leiden- 
schaft aus dem Herzen in den Kopf verlegt und die 
Gefühlswelt in eine Ideenwelt verwandelt." In diesem 
Sinne nannte Ninon de TEnclos die Precieuses die 
Jansenisten der Liebe. Eine Stelle von Mlle. de Scudery's 
„Grand Cyrus" gibt uns die Theorie dieser subtilen 
Liebesscholastik in folgenden Worten : „Auf der Insel 
Paphos ist die Liebe nicht einfach eine Leidenschaft 



— 25 — 

wie überall sonst, sondern eine Nothwendigkeit, eine 
Forderung des Anstandes. Es ist Vorschrift, dass alle «^ 
Männer verliebt, dass alle Damen geliebt werden. 
Wer nicht verliebt ist, der gibt sich wenigstens den ^ 
Sehein davon. Was nun die Damen anbelangt, so zwingt 
sie die Sitte nicht gerade zu lieben, wohl aber sich 
lieben zu lassen, und ihr höchster Ruhm besteht darin, 
berühmte Eroberungen zu machen. Unserer Schönen 
höchster Stolz ist es, ihre Anbeter durch die einzige 
Macht ihrer Eeize, nicht aber durch Zugeständnisse 
zu fesseln, so dass für die Männer lieben und ohne 
Hofiiiung lieben, so ziemlich identisch wird. Es ist 
indessen den Damen nicht verboten, die Beharrlich- 
keit des Anbeters durch eine reine Neigung zu be- 
lohnen ;j im Gegentheile, Venus Urania befiehlt es. Es 
ist fernör den Schönen gestattet, sich gewisser unschul- 
diger Kunstgriflfe zu bedienen, um sich ein Herz zu 
erobern. Indem sie so die J5[ünst besitzen, Liebe mit 
Unschuld zu vereinigen, führen sie ein hinreichend ge- 
nussreiches Leben." Man vergleiche mit dieser Stelle 
des genannten Romans die Reden, welche Moli^re 
seinen „Femmes savantes" in den Mund legt, und man 
wird das Treffende und Schlagende der Satire des 
grossen Komikers lebhaft empfinden. Die Galanterie 
war also an die Stelle der Liebe getreten, die Form 
hatte den Inhalt, der Schatten den Körper ersetzt. 
Aber das Raffinement und die Künstelei schloss weder 
den Geist noch den Humor aus, der wunderliche Pfad 
führte oft zu bleibender Freundschaft und verlor sich 
nie in gemeiner Intrigue. 

Der Vorwurf, dass im Salon Rambouillet eine 



— 26 — 

übertriebene Prüderie geherrscht habe, ist zuerst von 
einem Gliede der Gesellschaft selbst, von Tallemant, 
erhoben worden. Aber man darf nicht vergessen, dass 
der Verfasser der „Historiettes" bis zum Cynismus 
natürlich ist , und die von ihm angeführten Beispiele 
beweisen nur, dass die Marquisin zu jenen Wesen ge- 
hörte, welche der grosse Dichter in den Versen zeichnet : 
„Willst du genau erfahren, was sich schickt, so frage 
nur bei edlen Frauen an", u. s. w. Derbe und obscöne 
Redensarten haben in solchen Regionen zu keiner Zeit 
Gnade gefunden, so dass Tallemant's Vorwurf keine 
ernstliche Anklage constituirt **). 

Wenn nun prüde Elemente sich immerhin vorfin- 
den mochten, so ist unser Kreis gegen den Vorwurf 
der Pedanterie und Blaustrümpfelei um so kräftiger in 
Schutz zu nehmen. Aus der im Geschmacke jener Zeit 
mit mehr Subtilität als Poesie gehandhabten Galanterie 
den Schluss zu ziehen, dass wir es mit pedantischen 
Zieraffen zu thun haben, wäre voreilig. Jene Formen 
waren nicht im Wesen dieser Personen, sondern in 
der Mode des Tages begründet. Den schönen, ritter- 
lichen Männern im spanischen Costüme mochte es 
übrigens nicht übel stehen, wenn die wohlüberlegten 
Galanterien in raschem Strome von den frischen Lip- 
pen flössen, und ein loser Vogel wie Voiture musste 
sich in dieser Rolle komisch genug ausnehmen. Ein 
Brief Chapelain's an Balzac vom Jahre 1638 bezeugt es 



^^) Tallem. JI. 233. Me de Rambouillet est nn peu trop deli- 
cate, et le mot de teigneux Ini donne, dit eile,* une yilaine idee. On 
n'oserait devant eile prononcer le mot de cul, Cela va dans Texces, 
sartont qnand on est en liberte. 



— 27 — 

ausdrücklich, dass man im Hotel der Marquisin ^im 
Gegensatze zum pedantisch bürgerlichen Tone anderer 
Salons in freiem, einfachem, acht vornehmem Stile ver- 
kehrte, und des Gegensatzes sich auch wohl bewusst 
war. „Das Hotel Eambouillet", schreibt Chapelain, 
„verdient Ihre Neugier in vollem Maasse. Es herrscht 
da kein gelehrter, sondern ein vernünftiger Ton. Nir- 
gends finden Sie mehr gesunden Menschenverstand und 
weniger Pedanterie. Mit Absicht sage ich Pedanterie, 
da es mir wohl bewusst ist, dass dieselbe am Hofe so 
gut wie an der Universität weUt und die Frauen nicht 
weniger als die Männer beherrscht." q 

In hohem Grade interessirt sich das Hotel Ram- 
bouillet fwr die Entwicklung der Litteratur und der Sprache, 
J)a die auf diesem Gebiete sich geltend machende Ge- \^ 
schmacksrichtung unseres Kreises nur im Zusammen- 
hange mit allgemeinen litteraturgeschichtlichen That- 
sachen begriffen werden kann, so gestatte man hier eine 
diese Thatsachen zusammenfassende Digression. 

Ohne dass man den Einfluss einer Litteratur auf \ 
die andere mit Bestimmtheit nachzuweisen im Stande 
wäre, zeigt sich gegen das Ende des XVI. Jahrhun- 
derts in Spanien wie in Frankreich, in England wie in 
Italien, das Streben nach einem gesuchten^ mit wunder- 
lichen Bildern verquickten Ausdruck in Schrift und 
Wort. Am Hofe der jungfräulichen Königin ist es 
John Lilly, in Spanien der Expriester Gongora, in 
Italien und Frankreich vorwiegend Marini, an deren 
Nanjen diese Verirrung sich knüpft. In der That: 
Lilly's Euphüismus Gongora's Estilo culto und der 
Marinismus sind nur verschiedene lokale Bezeichnungen 



— 28 — 

für ein und dieselbe Sache. John Lilly's Buch „Euphües" 
erschien in zwei Theilen: Euphües, The Anatomy of 
Wit, 1580 ; und : Euphües and his England, 1581. Der 
Held dieser raispnnirenden Fiction ist ein Athener, 
welcher England besucht hat und die dort gemachten 
Beobachtungen dem Leser mittheilt. Shakespeare ist 
nicht frei von Euphüismus, obgleich er sich demselben 
öfter kritisch gegenüberstellt und ihn als komisches 
Mittel verw^thet. Hieher gehört namentlich sein Lust- 
spiel : Verlorene Liebesmüh. Der neueste Uebersetzer, 
Gildemeister, sagt in dieser Hinsicht treffend: „Es ist, 
als ob der Dichter die künstlich geschrobene Empfin- 
dungs- und Ausdrucksweise der feinen Welt seiner 
Zeit, den ganzen Sonetten- und Concettistil mit seinem 
Conventionellen, phrasenhaften Damencultus, mit seinem 
Hange zur galanten Vergötterung, mit seinem Behagen 
an dem äusserlich Technischen im Witzgefechte mit 
einem Schlage zugleich habe poetisch 'verklären und 
vernichten wollen. Shakespeare persifflirt hier auf das 
Derbste die modische Verzerrung der natürlichen Spräche 
und Empfindung nicht allein in den drolligen Absurdi- 
täten der niedrigen Personen, welche sammt und son- 
ders das Steckenpferd des gesuchten Ausdruckes tum- 
meln, sondern ganz unverkennbar auch in der Person 
seiner Gentlemen." Die Karrikatur gipfelt sich in der 
Rolle seines Don Adriane de Armado. Auch W. Scott's 
Sir Percy Shafton ist ein, vielleicht etwas übertriebener 
Euphüistentypus. 

Göngora (gest. 1627) ist eine ganz eigene Er- 
scheinung. Er beginnt seine Poetenlaufbahn mit einfach 
schönen Liedern, Diese werden aber vom spanischen 



— 29 — 

Publikum mit kalter Grleicligültigkeit aufgenommen, 
und da erst, fast gegen das Ende des Jahrhunderts, 
fasst er den Entschluss, einen neuen, ganz unerhörten 
poetischen Stil zu gründen, den er in seinen spätem 
Dichtungen als Estilo culto einem staunenden Leserkreis 
auch wirklich geboten hat. „Er ging darin vom natür- 
lichen Ausdrucke ganz ab und setzte an dessen Stelle 
einen mit grosser Mühe und mit oft bewundernswerthem 
Scharfsinne gesuchten künstlichen. Je grösser die Mühe 
war, um so grösser schien ihm das Verdienst des Dichters. 
Unnatürliche Wortstellung, weithergeholte Bilder, ge- 
schraubte Antithesen, gesuchte, subtile Gedanken sind 
die charakteristischen Merkmale dieses ^gebildeten' 
Stiles." *^) Lope, obgleich bis zu einem gewissen Grade 
an demselben Uebel krankend, trat zwischen den Jahren 
1610 und 1620 gegen diesen Galimatias* auf, und von 
ihm rührt jenes Sonett her, welches mit den Worten 
schliesst: „Verstehst du, mein Freund, was ich eben 
sagte?" — Warum sollte ich es nicht verstehen? - — 
„Ei, du lügst, mein Freund, denn ich, der ich es sage, 
verstehe es selber nicht." *^) 

Eine vermittelnde Stellung zwischen England, 
Frankreich und Spanien in Hinsicht auf die Verbreitung 
des Cultostiles scheint der Spanier Antonio Perez einge- 
nommen zu haben. Als die Spanier aus Paris abzogen, 
hatte Heinrich IV. ihnen bekanntlich nachgerufen: 
„Fort mit euch und kommt nicht mehr zurück." Die 
Spanier kamen nicht mehr zurück, was aber in Paris 



^') Lemke, Handbncli der spanischen Lltteratnr, Band 2. 
'^) Scberr, Geschichte der allgemeinen Litteratnr, Band 1. 



I 

j 



— 30 — 

zurückblieb, das war der spanisclie Geschmack. Der 
Satiriker E6gnier spottet jener hispanisir enden Narren, 
die in kastillanischer Haltung schmachtend zu seufzen 
pflegten: „J6sus Sire! En ma coüscience! II en faut 
mourir!" Antonio Perez nun, der einzige Vertraute 
Philipps n. , später dessen Opfer, hatte sich unter 
allerlei romantischen Abenteuern aus Spanien nach 
Frankreich gerettet, ward in Frankreich und England 
von Philipps Feinden mit offenen Armen empfangen 
und galt an beiden Höfen, obgleich in der Geschichte 
der spanischen Litteratur eine unbekannte Grösse, für 
ein unerreichbares Muster des Briefstils. Obgleich er 
selbst 1611 vergessen in Paris starb, scheinen seine 
Briefe, 1638 ins Französische übersetzt, 1654 in. Genf 
in der Ursprache wieder aufgelegt, einer langen Be- 
liebtheit sich erfreut zu haben. — Schon in Madrid 
hatte Perez den Marquis Pisani, den Vater der Frau 
von Eambouillet, kennen gelernt. Als die Frau Mar- 
quisin eines Tages an Zahnschmerzen litt, überschickte 
Perez dem Marquis ein Kecept mit folgenen Eeflexionen : 
„Wenn ich meine Zähne pflege, so geschieht es ledig- 
lich aus Furcht vor meiner Zunge; denn ich glaube, 
die Natur hat unsere Zunge mit Zähnen eingerahmt, 
damit dieselbe einen Grund zur Furcht bekäme, der 
sie zwingen würde, sich zusammen zu nehmen und 
vor tollen Ausföllen sich zu hüten." Zwei andere Briefe 
sind an Damen des englischen Hofes gerichtet, beide 
begleitet ein Geschenk hundslederner Handschuhe. 
Perez knüpft an diese Sendung folgende Betrachtungen: 
„Die Liebe kann bewirken, dass man für die Dame 
seines Herzenz sich schinden lässt und ihr aus seiner 



— 31 — 

eigenen Haut Handschuhe macht. Zuerst hatte ich den 
Gedanken, mich so zu opfern. Wenigstens meine Seele i 
habe ich zerrissen, hätte mich auf ein Wort von Euch ' 
in Stücke reissen lassen; und wenn die Handschuhe, 
die ich euch dann hätte schicken können, nicht Hunds- 
leder gewesen wären , so darf ich doch sagen, dass 
sie von einer Person hergerührt hätten, welche Hunde- 
liebe und Hundetreue besitzt." Dies war an G-raf Essex's 
Schwester gerichtet. An Lady Knolles aber schreibt 
er: „Die hundsledernen Handschuhe sind mit den süsse- 
sten und kostbarsten Wohlgerüchen, nicht der Erde, 
sondern des Himmels, mit Liebe und Treue parfümirt." 
Gewiss, Perez hatte nicht übertrieben, wenn er sich 
bei Heinrich IV., der ihn zu seinem Spanischlehrer 
gemacht hatte, für diese Ehre mit den Worten be- 
dankte: „Euere Majestät hat zu seinem Lehrer einen 
gebildeten Barbaren gewählt, Barbar in Gedanken, 
Barbar in der Sprache, Barbar in allem." 

Während Perez den Cultostil über die Pyrenäen 
einführte, kam mit Marini, dem „Cavalier Marin", wie 
ihn die Franzosen nannten, der Stilo marinesco, der 
Concettistil über die Alpen. Die Concetti sind dasselbe, 
was Gongora „agudezas und finezas" nennt: concepta 
acuta, eine Effecthascherei durch die Rhetorik der 
Ueberraschung, durch blendende Antithesen, unerwartete 
Zusammenstellungen. Das rhetorische Mittel, das Virgil 
z. B. in dem Verse anwendet: nee capti potuere capi 
etc., war für Marini und seine Schule der stereotype 
Hebel des Effects, das A und das der Dichterei. 
„Wer nicht Staunen zu erregen versteht, der gehe 
lieber in den Stall", war das Feldgeschrei dieser Vers- 



— 32 — 

künstler. j Schon die Titel von Marini's Gedichten : 
Lachgedichte, Zischgedichte, Kussgedichte, Thränen 
etc. strotzen von Pretention. Sein Epos Adonis, 1623 
in Paris erschienen, und durch eine Vorrede Chapelain's 
der französischen Lesewelt empfohlen, hat nicht weniger 
als 46,000 Verse. Marini's Phantasie verweigerte ihm 
nichts, aber auch er vermochte ihr nichts abzuschlagen. 
Neben diesen Einflüssen machte sich nun auch 
derjenige der Schäfer- und der Heldenromane geltend. 
Die Schäferromane tauchten zuerst auf. Im Anschlüsse 
an gewisse alte Schriftsteller, wie Theokrit, Virgil und 
Longus, hatten erst die Italiener, nach ihnen auch die 
Spanier die pastorale Poesie mit Liebe gepflegt. Aber 
der Begründer des eigentlichen Schäferromans ist ein 
geborner Portugiese, Jorge de. Montemayor (1561 zu 
Turin im Zweikampfe gefallen), dessen in spanischer 
Prosa verfasste Diana 1560 erschien. Das Buch fand 
entzückte Leser und begeisterte Nachahmer. In Frank- 
reich war es Honor6 d'U£r6, der mit seinem weitläufigen 
Eomane Astr6e**) (1610—23 Band 1—3, der vierte 
Band erschien nach dem Tode des Verfassers) diese 
Litteratur mit grossem Erfolge eröffiiete. Der Held 
des Komans ist C^ladon, die Heldin Astr6e. Vorzüge 
und Fehler des Buches erinnern an das spanische Vor- 



^^) Henri Martin, Histoire fr., X, 480. Le genre pastoral pro- 
duisit dans le conrs du XVP siecle quatre onvrages rest^s c^Ubres 
entre beanconp d'autres: TArcadia de Sannazar, la Diane de Monte- 
mayor, TAminta du Tasse et le Pastor fido de Gnarini, les deux der- 
niers dans la forme dramatlqne. La France fnt enyaliie k son tonr 
aprös TEspagne et Tltalie. Elle n'ayait rien perda pour attendre. 
Elle eut le plus long, sinon le plus bei ouvrage de l'^cole pastorale. 



— 33 — 

bild.[l)ieUnwahrscheinlichkeiteii und die vielfache Ver- 
schlingung der Abenteuer , eine theils auf mittelalter- 
lichen! Zauherwesen, theils auf antiker Mythologie 
fus^BÄde Maschinerie, eine empörend misshandelte Geo- 
graphie und Zeitrechnung, die künstliche Verschlingung 
der Haupthandlung mit einer Menge von Nebenhand- 
lungen, die Darstellung wahrer Erlebnisse und die 
Portraitirung der Herren und Damen des Hofes unter 
dem transparenten -Schleier einer sentimentalen Schäfer- 
welt, aber auch die klassische Reinheit der Sprache 
und die feine Analyse der Gefühlswelt sind Montemayor 
und d'Urf6 gemein, l Beide hatten ihre Erfolge zum 
Theil der Neugier zuzuschreiben, welche in ihren 
Büchern eine Chronik' des Hofes suchte und fand. 
Ausserordentlich wirkte die Astree auf die Phantasie. 
Es fehlte nicht an Vers^chen , jenes romantische Ar- ^ 
kadien zu verwirklichend Mlle. de Montpensier, Tochter u^ 
Gaston's d'Orleans, redigirte den Plan eines vornehmen 
Schäferthums nach dem Muster der Astree, nur sollte 
der lose Knabe mit dem verhängnissvollen Köcher 
darin nicht walten dürfen und das Weib seiner vollen 
Freiheit gemessen; Auch die französische Bühne wurde 
1617 — 29 von diesem Einflüsse beherrscht und förderte 
in jenen Jahren manches butterweiche Schäferstück 
zu Tage. Die Tragödie des „göttlichen" Theophil Viaud: 
Pyramus und Thisbe , begann den Reigen 1617 mit 
einem ächten Produkte des spanischen* Cultismus *^). 



*^) Von Theophile's Concetti-StU gibt uns Demogeot ein Muster: 
n m'est ici permis de te nommer, Pirame; 
n m'est ici permis de t'appeler mon äme. 

H. B. 3 



— 34 — 

Nach dem durchsclilagenden Erfolge der Astree 
schien es nicht gerathen, denselben Weg immer wieder 
zu verfolgen, zudem mochte der schreiende Wider- 
spruch zwischen der idyllischen Maske und dem wirk- 
lichen Leben der Personen, welche unter jener Maske 
sich verbargen, nachgerade lächerlich erscheinen. Eine 
passendere Draperie für die Chronik der vornehmen 
Welt glaubte man daher in der persischen, römischen, 
arabischen Geschichte, an den Ufern des Hydaspes, 
der Tiber und des JeniVs zu finden. Mit Bezug auf 
die arabische Romantik kam der Anstoss auch diesmal 
von Spanien her; denn Hita's Buch: Historia de las 
guerras civiles de Granada, eine Geschichte mit roman- 
tischen Zuthaten und eine der anziehendsten Dichtun- 
gen der spanischen Litteratur, war schon 1604 in's 
Französische übertragen worden. Wie entscheidend 
überhaupt die spanisch-arabische Romantik in der ersten 
Hälfte des XVII. Jahrhunderts auf den französischen 
Geschmack gewirkt haben muss, geht aus einer Stelle 
von Frau von Moteville's Memoiren hervor, welche von 
Me. de Sable Folgendes berichtet: 

„Man fand so viel Schönes und Erhebendes in den 
neuen Comödien und allen übrigen Werken in Versen 
und Prosa, die von Madrid herüber kamen, dass sie 



Mon äme! qu'ai-je-dit ? C'est fort mal disconrir. 
Car l'äme nous fait vivre et tu me fais mourir! 
II est yrai qne la mort qne ton amour me livre, 
Est aussi seulement ce que j'apelle vivre. — 
Weiterhin redet Thisbe den Dolch, womit sich Pyramus erstochen, 
mit folgenden durch ihre Lächerlichkeit berühmt gewordenen Versen au : 
Ha! Voici le poignard qui du sang de son maftre 
S'est souillä lächement, il en rougit le trattre! 



— 35 — 

eine hohe Meinung von der durch die Mauren den 
Spaniern überlieferten Galanterie bekommen hatte. Sie *■ 
war der Ansicht, dass es den Männern erlaubt sein 
müsse, die Frauen anzubeten, dass der Wunsch, den 
Frauen zu gefallen, zu den schönsten und grössten 
Thaten antreibe, Geist, Tugend und Ritterlichkeit ver- 
leihe, dass dagegen die Frauen, die geschaffen seien, 
um bedient und angebetet zu werden, nichts als die 
Verehi*ung jener gestatten dürften. Da sie diese An» 
sieht mit Geist und als schöne Frau verfocht, so ver- 
schaffte sie ihr bald eine allgemeine Geltung." 

Aus solchen Anschauungen und Einflüssen ging 
der französisch-spanische Heldenroman hervor, dessen 
letzte und bedeutende Schöpfungen Madeleine de Scu- 
derys Grand Cyrus und C161ie sind. Helden und Hel- 
dinen dieser Dichtungen heissen Cyrus, Astyages, Crösus, 
Mandane, Tomyris, Brutus, Lucretia, CoUatinus u. s. w., 
aber wie in den Schäferromanen hatte man unter die- 
sen Namen keine Todten, sondern Lebende zu suchen. 
Um dem gierigen Leser das lange Käthen zu sparen, 

. cursirten Schlüssel, welche die Schnüre der Maske zu 

(«^ „i,.iii 

lösen verhiessen. Schon von der folgenden Generation 
wurden diese langen Romane verlacht und als lang- 
weilig verurtheilt, aber^für den heutigen Forscher be- 
sitzen sie nicht nur stilistischen, sondern auch histori- 
schen Werth. Sobald die baroke Maskirung beseitigt 
ist, bleibt uns eine nach dem Leben gezeichnete, feine 
und getreue Charakteristik der zeitgenössischen Ari- 
" stokratie der Geburt sowohl als des Geistes. „Der Grand 
Cyrus ist eine Portraitgallerie des XVII. Jahrhunderts, 
von derjenigen Person verfasst, welche diese Gesell- 



v^- 



J 
I 



— 36 — 

Schaft am besten kannte." — Cousin, dem wir dieses 
Wort entnehmen, nennt MUe. de Scudery Addison's 
französische Schwester und die Schöpferin des psycho- 
logischen Eomans. Durch seine Arbeit „über die fran- 
zösische Gesellschaft des XVII. Jahrhunderts nach den 
Charakteristiken des Grand Cyrus" hat Cousin dem An- 
denken der Schriftstellerin ein schönes Denkmal ge- 
stiftet und der Culturgeschichte seines Landes einen 
wichtigen Dienst geleistet. 

In dieser Atmosphäre poetischer Anschauungen, 
in dieser Strömung dichterischen SchaflFens bewegte 
sich, theils empfangend, theils wirkend und tonbe- 
stimmend, unsere Gesellschaft. Zu den oben geschil- 
derten allgemeinen Einflüssen haben wir nun noch den 
besondern Einfluss von zwei dem Kreise Rambouillet 
selbst angehörenden Persönlichkeiten hinzuzufügen. Wir 
meinen Balzac und Voiture. 

Balzac erzählt uns selbst, er habe seinen Stil zu 
Eom gebildet, wo er im Alter von 25 Jahren achtzehn 
Monate verlebte. Drei Jahre später bezog er sein Stamm- 
schloss in der Saintonge, welches er nicht über ein halb- 
dutzend Mal verlassen hat, um kurze Besuche in Paris 
zu machen. Als im Jahre 1624 der erste Band seiner 
Briefe heraus kam, ward er mit einem Male der Ge- 
feierte des Tages. Malherbe hatte dem französischen 
Ohre die Reize des harmonischen Verses erschlossen, 
und was Malherbe für den Vers geleistet, das leistete 
Balzac für die Prosa. Er hatte entdeckt, was damals 
alle, wenn auch unbewusst, vermissten und vergeblich 
suchten. Mochte er auch selbst seine Kunst nicht im- 
mer richtig verwerthen, genug, das Verdienst ist ihm 



— 37 — 

moht abzuspreißhen , jene Kunst geschaffen zu haben. 
Wenn er die T)ratorische Form für die Hauptsache 
nimmt, und darüber oft den Inhalt zu vergessen scheint, 
so muss man ihm doch nachrühmen, dass er mit Be- 
geisterung und Leidenschaft nach jener gerungen hat. 
Seine Schwäche ist unschwer zu errathen. Das Er- 
habene und Frivole, das Heitere und das Ernste kleidet 
er in dasselbe Prachtgewand ; so wird er oft schwülstig 
und masslos*®). - , 

In ^ einem gewissen Gregensatze zu Balzac steht 
Voiture. Beide sind zwar gleichen Alters, beiden ist 
zwar die Form, der Stil das Hauptgeschäft, beide haben 
sich an lateinischen, italienischen, spänischen Mustern 
gebildet, aber weiter geht die Uebereinstimmung nicht. 
Während Balzac nach dem Erhabenen strebt, sucht 
Voiture das GefäUige. Durch seine Rednerphantasie 
weiss jener selbst das Frivole zu adeln, während dieser 
auch dem Erhabenen eii^ galantes, zierliches, anmuthiges 
Gewand zu verleihen sucht. Balzac ist immer ernst 
und melancholisch, auch wen; i er gerne scherzen möchte ; 
Voiture dagegen kann auch im Ernste das Lachen 
nicht unterdrücken. Balzac's Gedichte sind fast alle 
lateinisch, diejenigen Voiture's meist französisch, ob- 
gleich er in Madrid „so schön wie Lope" spanische 
Verse geschrieben haben soll. Voiture's lebhafte, von 
Humor übersprudelnde Natur drängte ihn zum einfachen, 
natürlichen Ausdrucke, zur Sprache Voltaire's. Den- 
noch huldigt er, wenn er der Gloire wegen schreibt, 
bis zu einem gewissen Grade der herrschenden Mode 



^^) Siehe Anmerkung 5 Seite 16. 



/ 



L 



— 38 — 

• 

und schnallt sich die rhetorischen Stelzen an. Aber attch 
dann noch gilt er seinen Zeitgenossen * als ein Muster 
von Anmuth und Leichtigkeit. — Ein letzter Gegen- 
satz zwischen Balzac und Voiture ist in beider Cha- 
rakter und Sitten begründet. Balzac war von Herzen 
fromm, ernst und sittenstrenge, Voiture ein ausge- 
lassener Epikuräer, der in seinen alten Tagen noch die 
Eouerie seiner losen Jugend mit den äusserlichen Uebun- 
gen der Religion zu vereinigen wusBte. 

Marinismus und Cultismus, Schäfer- und JSelden- 
romane, Balzac und Voiture bestimmen also den Ge- 
schmack und beherrschen die Phantasie unseres Kreises. 
Die Rohheit und die Geschmacklosigkeit des XVI. 
Jahrhunderts sind glücklich überwunden, man ist auf 
dem Wege der Befreiung, aber die ersehnte Höhe und 
ihre reine Luft sind noch nicht erreicht. Erst die fol- 
gende Generation, die Männer der sechsziger Jahre, ein 
Racine, ein Boileau, ein Moliere werden den Bei Esprit 
theils durch ihre Kritik, theils durch das Beispiel 
ihrer Dichtungen aus dem Felde schlagen und die 
Epoche des reinen Geschmackes und der klassischen 
PormenvoUendung eröffnen. Corneille gehört nach 
Sprache und Geschmackstendenz der ersten Hälfte des 
Jahrhunderts an. In seinen Versen spukt noch häufig 
die Concetti-Manie und der Bei Esprit, und sein Pathos 
wird mitunter durch lächerliche prosaische Wendungen 
beeinträchtigt. 

Dass der Salon Rambouillet dem Geschmacke seiner 
Zeit gehuldigt hat, wird niemanden befremden. Dass 
er aber mit der Zeit fortgeschritten, das Neuere und 
Bessere erkannte und mit Freuden begrüsste, gereicht 



— 39 — 

ihm zum Verdienste. Eine gewisse Selbst ständ igkeit 
und individuelle Freiheit in Urtheil imd Neigung war 
dieser Kegion von jeher eigen. Während Montausier's 
krankhafter Geschmack, um Tallemant's Worte zu ge- 
brauchen, Pfeffer und Gewürze liebt, den Claudian dem 
Virgil vorzieht und den Persius zum Lieblinge erkürt, 
so schlachtete Frau Vön Longueville mit richtigem 
Tacte Chapelain's unglückliches Epos, die Pucelle, mit 
den Worten ab: „Schön aber langweilig", und Frau von 
Sable macht Balzac den Krieg als dem Vater der Hy- 
perbel. Der Cid wurde bei seinem Erscheinen vom Kreise 
EambouUlet richtig gewürdigt und sein Dichter gegen 
die Academie und den eifersüchtigen Cardinal lebhaft 
in Schutz genommen. Als endlich Moliöre mit einer 
dramatischen Satire auf den Bei Esprit und seine ver- 
kümmerten^Ausläufer debütirte, wurde er vom Salon 
Eambouillet mit rückhaltloser Freude begrüsst und 
Manage soll damals erklärt haben : „Wir müssen ver- 
brennen, was wir bisher angebetet, und anbeten, was 
wir verbrannt haben" *^). 



^') Ein Citat aus der französischen Geschichte. Bischof Bemi 
sprach diese Worte zu Chlodwig, als dieser ins Baptisterinm stieg. 
„Coarbe hninblement la tete, Sicambre, adore ce que tu as brul6 et 
briile ce que tu as adore". y. Courgeon. Die Manage und Chapelain 
hatten alle Ursache, an eine Umkehr zu denken; die Gesellschaft Scnd^ry 
war weit gegangen in ihren faden Spielereien. Man sehe die „Gazette 
de Tendre" und ihre Correspondenzen aus den Städten Nouvelle-Amitie, 
Grand-Esprit, Oubli etc. „11 est parti d'ici", wird aus Nouyelle-Amitie 
geschrieben, „deux dames de haute qualitä qni ont pris diverses rontes 
pour aller k Tendre; car l'une s'est embarqu^e sur le fleuve d'Incli- 
nation, et T^utre a pris le chemin de Tendre-sur-Reconnaissance. On 
dit meme que d^s le premier jour, eile fat coucher ä Fetits-soins, et 



— 40 — 

Wenn sich der grössere Theil unserer Gesellschaft 
zu den litterarischen Bestrebungen der Zeit mehr 
receptiv als produktiv vg^lt und es nicht über poe- 
tische Spielereien und Uebungen im Briefstil hinaus- 
brachte, so waren seine Bemühungen für die Ausbildung, 
Veredlung und Fixirung des gesprochenen Idioms desto 
lebhafter und wirksamer. Hier in der That wurde jene 
elegante und durchsichtige Conversationssprache ge- 
boren, die seither Gemeingut der gebildeten französi- 
schen Gesellschaft geworden ist, und mit dem Er- 
scheinen von Pascal's Provinciales den mühsamen latini- 
sirenden Stil der Cabinetspedanten auf immer aus den 
Büchern verdrängt hat. Man hüte sich die affectirten 
Metaphern der Pr6cieuses ridiculesundder Somaize'schen 
Sammlung unserem Kreise zuzuschreiben. Wir werden 
später seihen, wohin sie zu verweisen sind. Vielmehr 
sind es die Komane der Scud^ry, die Briefe Voiture's und 
Eene Bary's Esprit de Cour, welche von jener Sprache 
einen annähernden Begriff geben. Die Arbeit unseres 
Kreises an der Ausbildung der Muttersprache war 
keine unbewusste. Man strebte ausgesprochenermassen 
nach dem correcten, harmonischen, edlen Ausdrucke 
und liess sich gerne in Debatten ein über Aussprache, 
Grammatik und Phraseologie. Soll man aussprechen 
„houmme" oder „homme" , „Roume" oder „Rome", 
„sarge" oder „serge" ? Ist „tete oder „teste", ist „tous- 
jours" oder „toujours" zu schreiben ? Sind „rencontre, 



qn'eUe ne fit que diner ä Complaisance." Und so geht es fort durch 
25 Seiten (v. Colombey. 63 — 87, Gaz. de Tendre ans den Ms. Conrarts). 
Die Carte de Tendre geben Colombey und Bandissins Moliäreübersetzang. 
— Die Jonrnee des Madriganx stammt ebenfalls ans den Ms. Conrarts. 



— 41 — 

equivoqne" männlich oder weiblich? Soll man sagen 
„que je die" oder „que je dise" ? — Die grosse Au- 
torität in solchen Zweifeln war Vaugelas, der seine 
zahlreichen Entscheidungen 1647 unter dem Titel „Ee- 
marques sur la langue frangaise" herausgab. Man in- 
triguirte für und wider auftauchende oder verschwin- 
dende Wörter und hielt sich des Sieges gewiss, wenn 
Monsieur de Vaugelas seine Unterstützung versprach. 
„Wenn feliciter noch nicht französisch ist", schreibt 
Balzac, „so wird es dieses Jahr es noch werden ; Herr 
von Vaugelas hat mir versprochen, dem Worte nicht 
feindselig zu sein" *^). 



*8) Aus Rene Bary's Rhetorik führt Livet folgende Wendungen 
an, die das 1663 erschienene Buch als ganz neu bezeichnet: „C'est la 
plus naturelle des femmes. — II a de la qualitä, du bien, de l'esprit. 

— H est brouill6 avec un tel. — II est brouül6 avec le bon sens. — 
A ces mots il se r^orie. — 11 a le sens droit. — Tour de visage. — 
Tour de vers. — Tour d'esprit. — Les affaires ont tourn^ heureuse- 
ment. — Je me connais un peu en gens. — C'est un coup sftr, jouer 
ä coup str. — II sait prendre ses mesures. — II m'a fait mille amiti^s. 

— II agit Sans fa^on. — Cela est assez de mon goüt. — II n'entre 
dans aucun detail. — II s'est embarqu6 en une mauvaise affaire. — II 
a pris le meilleur parti. — II pousse les gens k bout. — Sacrifier ses 
amis. — Je ne veux pas etre sa dupe. — Cela est fort. — Elle est 
fort contente d'elle-mgme. — Je vous sais bon gre de m'ayoir dit yos 
sentiments. — Briller dans la conversation. — II s'attire de Testime. 

— II ne f aut pas taut raffiner sur la langue. — Etudier le goüt des 
gens. — Faire des avances. Faire figure dans le monde. 

Somaise gibt eine Beihe pretioser Wendungen, die seither das 
Bürgerrecht in der Sprache erlangt haben und daher nichts Auffallen- 
des mehr an der Stirne tragen. Dahin gehören : 

Bevetir ses pensöes d'expressions nobles et vigoureuses (Corneille 
zugeschrieben). — ün ameublement bien entendu, un esprit d'expädients, 
faire l'anatomie des coeurs (MUe. de Scud^ry zugeschrieben). — Une 
grande s^cheresse de conversation, sec de conversation (Balzac zuge- 



^ 42 — 

Aber auch durch die blosse Thatsache seines Da- 
seins scheint der Salon Rambouillet gewirkt zu haben. 
Nach seinem Vorgange bildeten sich, zuerst in den 
aristokratischen und litterarischen Regionen, dann auch 
in der bürgerlichen Welt eine Reihe von ' Cirkeln, 
welche bald rein gesellschaftliche, bald ernstere Zwecke 
verfolgten. Die Vicegräfin von Auchy, ein betagter 
Blaustrumpf, glänzt in ihrem Pedantenkreise mit geist- 
lichen Manuscripten, die sie — gekauft hat, Fräulein 
von Montpensier übt sich mit ihren Getreuen im Ent- 
werfen von Charakter Skizzen bekannter Personen, sogen. 



schrieben^). — Mes cbevenx sont d'un blond Bardi (= roux) (Me. de 
Greuoniliöre zugeschrieben). — Le mot me manqae. — D^penser une 
heure. — Chätier son style. — Je vous ai la derniere Obligation. — 
Cela est du dernier bourgeois ( - vulgaire). — Perdre son s^rieux. — 
Kude (Somaize bemerkt hiezu: II faut avoir hum^ l'air du Rhin et 
respirö ä Tallemande pour le prononcer). — Je suis si surpris que les 
bras m'en tombent. — Epouvantablement, terriblement. — II a la 
taille ^l^gante. - Les termes de corps de garde. — Elle est belle k 
faire peur. — Une intelligence ^paisse, des vers ^pais. — Tenir bureau 
d'esprit (Somaize I, 63, hat zwar nur die Phrase: Les pr^cieuses ont 
tenu bureau tout le midi). — Etre d'une humeur communicati?e. — 
N'avoir que le masque de la vertu. — Sobre dans les discours. — 
Amitie indue. — Chose raisonnable. — ProcMi irrigulier. — Danser 
proprement. — Congm, incongrn. — Lire k pleine beuche. — Avoir 
l'äme sombre. — Etre d'une vertu severe, d'une vertu commode. — Dire 
des inutilites. — (Jn procede marchand. - S'encanailler. — Etre penetre 
de. — Un concert de rares qualit^s. — Laisser mourir, tiranniser la con- 
versation. — Avoir le rire fin. — Rire d'intelligence avec qn. Faire 
des rudesses ä qn. — Avoir toute son äme dans ses yeux. — Pag. 179, 1, 
gibt Somaize ein vier Seiten umfassendes Verzeichniss pretiöser Ortho- 
graphie, darunter: t^e, auteur, mechant, d^funt, toüjonrs, solennite, 
d^ja, vü, tr^sor, äge, avis, connait, savoir, avocat für: tete, autheur, 
meschant, deffnnot, tousjours, solemnite, desja, veu, thresor, aage, advis, 
connaist, scavoir, advocat. 



— 43 — 

Portraits nach dem Muster des Grand Cyrus, die Mar- 
quisin von Sable schleicht sich aus dem Hotel Eam- 
bouillet weg, um einen Jansenistensalon zu eröfTnen, 
wo Pascal und Larochefoucauld sich treffen ; einen fri- 
volen Gegensatz zu dieser Welt bildet der Salon des 
Cardinais von Retz, wo lebhaft politisirt und intriguirt 
wird. 

Auch die Litteraten regen sich. Manage, der Va- 
dius von Moliöre's „Femmes savantes", ein gefürchteter 
Streithahn und ein bissiger Kritikus, der einstige Lehrer 
und hoffnungslos schmachtende Anbeter der spätem 
Frau von S6vigne, hält seine litterarischen Mittwochs- 
gesellschaften (Mercuriales), während .Fräulein von 
Scud^ry nach 1650 das Erbe des Salons Rambouillet 
antritt. In ihren Samstagssoireen treffen wir wieder 
Chapelain, Conrart, Pellison, Sarasin, Menage nebst 
den Herzogen von Montausier und Saint- Aignan , die 
vornehmen Frauen von Sable, Rohan, Sevigne und La 
Suze mit der bürgerlichen Cornuel und vielen andern 
ihres Standes. Hier erblüht die ä^t pretiose Conver- 
sation, man dichtet, liest und discutirt Sonnete, Madri- 
gale, Räthsel und andere Spielereien. Hier wird auch 
die galante Karte „des Landes Zärtlich" mit ihrem 
Lac de l'indifference, ihren Flüssen Estime, Inclination, 
Reconnaissance , ihren Städten Tendre sm- Estime, 
Tendre sur Inclination , Tendre sur Reconnaisance, 
ihren Dörfern Jolis vers, Billets doux etc. ausgeheckt. 
Auf Chapelain's Rath fügte sie Fräulein von Scudery 
in den ersten Band ihrer „Clelie" ein. Sie passte zu 
dem römischen Heldencostüm wie eine Faust aufs 
Auge und wurde, wie der Roman überhaupt, mit Spott 



— 44 — 

und Hohn empfangen. Einige Jahre später verwendete 
Moli^re in seinen Pr6cieuses ridicules die alberne Er- 
findung als ein komisches Mittel von trefficher Wirkung. 
Für die Samedis war der 20. December 1653 ein grosser 
Tag: La journöe des Madrigaux, eine wahre Schlacht 
von präparirten und improvisirten Madrigalen bei An- 
lass eines von Conrart der Wirthin geschenkten cri- 
stallenen Petschafts. — Die Damen dieses Kreises dach- 
ten jedoch auch an anderes als an galante Litteratur. 
Einmal z. B. fertigten sie zwei grosse Puppen an , als 
Modetypen für die Damenkleidung. 

Man kann sich denken, was für Fratzen und Cari- 
caturen der Bei Esprit in den bürgerlichen Regionen der 
Hauptstadt und der Provinz erzeugte, wo das Correctiv 
des vornehmen Tones und der feinen Bildung, des 
Humors und der Aufklärung nicht mehr zu finden war. 

Hier wurde der Name Pr^cieuse vollends zum 
Spott- und Schimp^fnamen und seine Trägerin zum 
dankbaren Typus des Lustspieles. Die Verarbeitung 
desselben für die Bühne und den Roman liess denn 
auch nicht lange auf sich warten. Schon Desmarets 
hatte 1637 den Muth gehabt, das Lächerliche des Pre- 
tiosenthumes auf der Bühne zu behandeln, und war mit 
seinem Stücke „les Visionnaires" Vorbild, zum Theil 
sogar Quelle von Moliere's Femmes savantes geworden. 
Im Jahre 1656 sodann war der Abbe de Pure mit einem 
satirischen Romane in vier Bänden: La Precieuse ou 
le Myst^re des Ruelles **), aufgetreten, nachdem er dem 



*^) In Liyet's Somaize II, 334— > 840 findet sich ein Auszug aus 
diesem seltenen Buche« 



— 45 — 

italienischen Theater in Paris vorh er schon ein kleines, 
jetzt verlorenes Lustspiel über denselben Gegenstand 
geliefert hatte. Dass ein solches existirte, geht aus 
Somaize^s Vorreden unzweifelhaft hervor. Aber den 
Hauptschlag gegen die Narrheiten des Bei Esprit führte 
Molifere 1659 in seinen Pr6cieuses ridicules, mit welchem 
Stücke der aus der Provinz nach langjährigen Wande- 
rungen in die Vaterstadt zurückkehrende Dichter debü- 
tirte. Der Gegenstand war selbst auf der Bühne nicht 
mehr neu *®), Meliere scheint ihn, wie später häufig noch 
geschah, von den „Italienern", d. h. der italienischen 
Pariserbühne geborgt zu haben. Moland in seiner Mono- 
graphie über Moliere's Verhältniss zum italienischen Thea- 
ter hat in der That zur Genüge nachgewiesen, dass Moliöre 
in der Periode seines Werdens „sein Eigenthum" recht 
häufig dort gefunden, während später die Italiener ihrer- 
seits als Borger bei Moli^re erscheinen. Auch der Um- 
stand, dass die Precieuses in Prosa verfasst sind, kann 
nicht, wie Tascherau behauptet und P. Lindau nach- 



*°) Cousin, Soc. fr., II, 297, urtheilt folgendermassen über Mo- 
li^re's Pr^cienses: „C'est le dehnt nn peu grosBier encore de Moli^re, 
c'est une charge vive et comiqne mais burlesque et beaucoup trop 
vant^e, qui sent encore la province, les pr^cienses vraiment ridicules 
que lui signalait l'abbe de Pure. La Precieuse de l'abbe de Pure, 
voilä, nous croyons Tavoir suffisamment ^tabli (Me. de SabU, I, 36; 
p. 66 der neuen Ausgabe), la veritable source des Precieuses ridicules". 
— Die Comödie des Abbe de Pure erwähnt auch die Histoire du th^ätre 
frangais par les freres Parfait, VIII, 318 und 3*21. — Am oben be- 
zeichneten Orte: Me. de Sablä, pag. 66, sagt Cousin: Le 18 novembre 
1659, Moli^re donna les Precieuses ridicules, suivant le goüt pubUc 
plntot qu'il ne le devangait, se faisant rinterpr^te d'une opinion d^jä 
puissante et lui assurant la yictolre, accablant les precieuses ridicules, 
mais ne leur portant pas les premiers coups. 



— 46 — 

schreibt, als eine« überraschende Neuerung angesehen 
werden. Die zwei noch erhaltenen Farcen aus Moliere's 
Jugend: „Le M^decin volant" und „La Jalousie du 
Barbouill6" sind ja auch in Prosa abgefasst, und der 
Abb6 d'Aubignac hatte sogar drei Tragödien (Cymide 
und la Pucelle d'0rl6ans, beide 1642, und Z6nobie 
1647) in Prosa geschrieben. Der Erfolg vop Moli^re's 
Pr^cieuses erklärt sich vielmehr einfach daraus , dass 
Molifere mit überlegenem Witze eine bereits verurtheilte 
Geschmacksrichtung verhöhnt, sie der VeraoEtung und 
dem Spotte überliefert hat, dass er das In genialer 
Weise ausgesprochen, was ein jeder schon im Herzen 
trug. Das Hotel Eambouillet l^latschte Beifall und die 
Lächerlichen unter den Kostbaren „mussten sich auf 
eine Zeit verbergen". — Molifere's Stück war ein Er- 
eigniss, es war das Manifest einer gegen die Herrschaft 
des Bei Esprit gerichteten Revolution. Mit Eeuer warf 
sich die kampfeslustige Jugend in das Gefecht. 

Bekanntlich hat Boileau im Jahre 1710 eine gegen 
die Romane der Scud^ry gerichtete Satire „Les Heros 
de Roman, dialogue ä la maniöre de Lucien" unter 
seine Werke aufgenommen. Er nennt das Jahr ihrer 
Entstehung nicht-, sondern bemerkt in der Vorrede 
nur, sie sei entstanden, als die Regungen des satirischen 
Geistes in ihm mächtig wurden. Nun aber datiren 
seine ersten Satiren aus den Jahren 1661 und 1662. 
Die Vermuthung liegt also nahe, dass Boileau jenen 
Dialog unter der unmittelbaren Wirkung von Molibre^ 
Stück verfasst hat. Dazu würde auch passen, was er 
im Weitern sagt, dass er öfters durch den mimischen 
Vortrag desselben einen Freundeskreis erheitert habe. 



— 47 — 



Denn das in geharnischter Prosa abgefasste G-espräch 
musste im unmittelbaren Anschlüsse an Moli^re*s Lust- 
spiel in dem Momente, da die Frage noch eine brennende 
war, am intensivsten wirken, wesshalb man dennoch 
die Entstehung dieser Satire in's Jahr 1665 verlegen 
will, ist mir daher nicht klar; ich wenigstens habe 
Icein entscheidendes Zeugniss finden können, das dieses 
Datum bestätigen würde, während anderseits die an- 
geführten Umstände auf eine frühere Epoche hinzuweisen 
scheinen. Boileau's G-espräch ist lesenswerth, der frische 
Ton und die Tendenz desselben erinnern an Göthe's 
„Götter, Helden und Wieland". 

Nicht nur fähige Köpfe, wie Boileau, sondern auch 
Schwätzer und Schmierer wie Somaize fühlten den 
durch Moli^re's durchschlagende Satire gegebenen An- 
stoss. Schqn einige Monate nach der Aufführung der 
Precieuses liess Somaize unter dem Titel „Dictionnaire 
des Precieuses" eine kleine Sammlung pretioser Redens- 
arten von Stappel, in welcher die von Moli^re den 
Kostbaren in den Mund gelegten Wendungen in erster 
Linie figuriren. In Herrig's Archiv (1872) glaube ich 
durch sorgfältige Zusammenstellung det in Somaize's 
Vorreden gebotenen Daten den Nachweis geführt zu 
haben) dass Livefs Behauptung, als hätte Moliöre aus 
Somaize geschöpft, durchaus unhaltbar ist, dass vielmelir 
umgekehrt Somaize aus Moli^re's Stück geborgt hat. — 
Somaize, nicht zufrieden mit jener kleinen Arbeit, 
publicirte Schlag auf Schlag: Le Grand Dictionnaire 
des Precieuses, ein alphabetisches Verzeichniss von 600 
Kostbaren unter ihren arkadischen Namen (Artemise, 
Aramante, Amaltide etc.), an die sich kurze bio- 



L--' 



— 48 — 

graphische und galante Notizen knüpfen, sodann eine 
Coniödie in Prosa: Les v6ritables Pr6cieuses, hierauf 
eine elende metrische Yersion von Moliöre's Precieuses, 
endlich ein burleskes Stück : Le Proc^s des Precieuses. 
- Die Vorreden verrathen einen faden und prahlerischen 
Gecken, der sich damit brüstet, dass er in so kurzer 
Zeit so Vieles zusammengeschrieben, und der den 
genialen Dichter der Precieuses ridicules von Herzen 
hasst und, wo er kann, mit Koth bewirft. Schon die 
Zeitgenossen scheinen Somaize nach Gebühr behandelt 
zu haben. Er wird auch nicht einmal genannt, imd 
wenn er nicht selbst aussagte, dass er Secretär der 
Connetable Colonna, Mlle. de Mancini, sei, so wüssten 
wir auch gar nichts aus seinem Leben. 

Meliere selbst aber kehrte noch zweimal zum Thema 
der Pretiosität zurück, 1671 in dem kleinen Stücke: 
La Comtesse d'Escarbagnas, und 1672 in den Fepimes 
savantes, welche sich zu den Precieuses ridicules wie 
das ausgeführte Gemälde zur flüchtigen Skizze, die 
kunstgerechte Charaktercomödie zur muthwilligen Farce 
verhalten. 

Die eben gegebene Uebersicht der die Kritik der 
^ Pretiosität enthaltenen Litteratur wäre unvollständig 
ohne einen nochmaligen Hinweis auf das Bild, das die 
Scud^ry selbst von der falschen Pr6cieuse Damophile 
entworfen, dessen hauptsächliche Züge bei Cousin Soc. 
fr. n, 299, zu finden sind. So erscheint merkwürdiger- 
weise die durch Meliere und Boileau so hart mitge- 
nommene Dichterin diesmal als Kampfgenossin des 
grossen Komikers und verfolgt mit dijesem ein und 
dasselbe Ziel. 



— 49 ^ 

Nach Somaize, de Pure und andern haben Walke- 
naer und Livet das Bild einer Kuelle (Assemblee), 
ersterer des Hotels Eambouillet, letzterer einer Kost- 
baren zweiten Eanges entworfen. Das blaue Zimmer 
der Marquisin war durch eine spanische Wand in zwei 
Räume geschieden. In dem einen, unter den vergolde- 
ten Säulen des Alkovendaches und um das Bett der 
Marquisin herum, in der sogen. Ruelle oder Bettgasse, 
d. h. dem beiderseitigen Raum zwischen Bett und Wand, 
fand sich die Assemblee zusammengedrängt, die Damen 
des Adels in Lehnstühlen, die bürgerlichen auf Tabourets, 
die Männer theils gruppenweise beisammenstehend, theils 
auf ihren Mänteln zu den Füssen der Frauen gelagert, 
eine bunte, mit einer Fluth von Bandschleifen, Schnüren, 
Spangen, Federbüschen, Spitzen geschmückte Menge. 
— Von den Formen und der Etiquette der lächerlichen 
Precieuse entwirft Livet ein ähnliches Bild. Der pre- 
tiose Belisander ist aus der Provinz nach Paris ge- 
kommen. Ein galanter Abbe, Brundesius, hat ihm ver- 
heissen, ihn folgenden Morgens der Kostbaren Cleogarite 
vorzustellen. Belisander trifft seine Vorbereitungen, 
/ liest bis tief in die Nacht hinein einen galafateh Roman 
und entwirft das Schema der Couversation. Er wird so 
und so reden, man wird so und so antworten, dann 
wird er das Gespräch auf das meditirte Hauptthema 
lenken. Um neun Uhr früh begibt er sich zu Brun- 
desius, gepudert und parfümirt, den Schnurrbart auf- 
gedreht, mit aromatischen Pulvern gefüllte Seidensäck- 
chen in der Tasche, an den Hosen sechs bis sieben 
grelle Bandschleifen, am Knie die mit dreifacher Spitzen- 
gariiitm' versehenen Canons von gesteifter Leinwand 
H. B. 4 



— 50 — 

nebst galanten Strumpfbändern, das Wamms mit Tressen 
und Nesteln überladen, den Hut mit einem Gold- und 
Silberband geziert und beschattet von imposantem Feder- 
busch, die Handschuhe von" lebhaftem G-elb, um den 
Unterarm ein schwarzes Band, damit die Weisse der 
Hand, auf der Wange ein umfangreiches Schönheits- 
pflaster, damit der matte Teint zur vollen Geltung ge- 
lange. Brundesius besteigt den Wagen seines Freun- 
des und fort geht's nach Cleogaritens Wohnung. Hier 
wartet schon eine Reihe von Kutschen. Der Thür- 
hammer ist mit Lumpen umwickelt, damit die^Conver- 
sation des Morgensalons durch seine Schläge nicht ge- 
stört werde. Ein Lakai führt die Ankommenden ein. 
In ihrem auf eine Estrade gestellten, durch eine spanische 
Wand umschränkten Bette sitzt die Kostbai'e selbst, 
von vagem Helldunkel umschlossen, „damit man nicht 
so leicht bemerken könne, dass ihr Antlitz kein courantes 
Geldstück mehr ist". Li der Ruelle sitzen in Armstühlen 
die vornehmen, auf Sesseln und Schemeln die bürger- 
lichen Damen, die meisten drehen und schwingen ein 
kokett mit Bändern geschmücktes Rohrstöckchen. Beli- 
sander wird vorgestellt, er tritt an's Bett heran und küsst 
die Kostbare auf die Wange, dann breitet er seinen Mantel 
zu Füssen einer Dame aus, lässt sich nieder und beginnt 
nun seine wohl überlegten Galanterien vorzutragen und 
{^' die zum voraus erwarteten Antworten entgegenzunehmen. 
Hier endlich befinden wir uns in den Regionen 
einer bis zum Ekel getriebenen Prüderie und acht 
pretioser Rhetorik. Hier begegnen uns die Schwestern 
Philaminte's , welcher Meliere (Femmes sav. HI, 3), 
die Worte in den Mund legt: 



— 51 — 

„Doch nnsers Strebens allerhöchstes Ziel, 

Ein edles Werk, das ich mit Stole betrachte, 

Ein rühmlich Unternehmen, das dereinst 

Mit höchstem Dank die Nachwelt preisen wird, 

Das ist die Streichung jener garst' gen Stiften**), 

Die zum Scandal der Welt, die schönsten Worte 

Entstell'n und schänden; schon yon Alters her 

Elender Possenreisser schmutzig Spielzeug, 

Gemeiner Wortverdreher schaler Spass, 

Und ew'ger Quell nichtswtird'gen Doppelsinns, 

Mit dem man zücht'ger Frauen Ohr verletzt.**. 

Die Sucht, in den harmlosesten Wortverbindungen 
und Silben etwas Zweideutiges oder Schmutziges heraus- 
hören zu wollen, hat ihren Vertretern nie sonderliche 
Complimente eingebracht. Schon Quintilian fertigt sie mit 
den Worten ab: „Culpa est legentium non scribentium". 

Was die Umgangssprache dieser untern Regionen | 
der Pretiosität anbelangt, so mochten einzelne aller- 
dings die Ziererei sehr weit treiben; dennoch muss 
angenommen werden, dass Somaize undMoli^re, letzterer 
mit dem Rechte des Comikers, manche Wendung ge- 
macht oder wenigstens nach pretiosen Bücherstellen 
construirt haben. Dass man beispielsweise in den ge- 
nannten Kreisen den Spiegel nur „le conseiller des 
gräces", den Lehnstuhl „la commodite roulante", die 
Mittagsstunde „Vheure des n6cessit6s m6ridionales" ge- 



*^) „Le retranchement de ces syllabes sales** (Möllere). Belege 
hiefür im Eclaircissement sur les obsc^nit^s yon P. Bayle, Dict. IV, 
im Anhange. — Man wollte un sonnet bien congu, confiture, eeu, cul 
de sac, sogar ,,la lettre qui suit le p**, etc. etc. ausmerzen. Vgl. 
Cic. Pseto, Ep. IX, 22. Cic. Or. c. 45 am Ende. Quint. VIII, 3, wo 
es unter anderem heisst für: cum notis hominibus stehe besser: cum 
hominibus notis. Vgl. auch Moli^re, C. d'Escarb, Scene 19. — • Die 
Griechen nannten solche obscöne Anklänge to xuxi/mpuTov. 



— 52 — 

nannt habe, ist nicht wohl glaublich. Immerhin aber 
dürfen auch diese Ausdrücke als Bildungen im pretiosen 
Geschmacke und als schlagende Beispiele von dessen 
Verirrungen betrachtet und benutzt werden**). 



'') Auszug ans Somaize's Dictionnaire des Fr^cieases: Ruelle 
und reduit für Salon. — Le preeieux für le bondoir. — F.e zephir, 
der Fächer. — I/ardent, die Kerze. — L'instrument de la proprete, 
der Besen. — Les agreahles menteurs , die Komane. — L'dme des 
piedSf die Tanzmusik. — Le mal d'amour permis für la grossesse. 

— Les quittances d'amour für les cheveux gris. — Veconomie de la 
tele, die Frisur. — Les chers souffrants, die Füsse. — La lucame 
des antipodes , das Watercloset. — La soucoupe inferieure, für la 
chaise perc^e. — Le ruse inferieur, (von den Fr^cienses neuerer Zeit 
le biens^ant genannt) culns. — F^e eher necessaire , das Trinken. — 
La quitterie» die Trennung, der Abschied. — L'affronteur des tem/ps, 
für le chapeau. — Une \)%sion ridicule, eine lächerliche Idee. — La 
modeste, la friponne, la secrete, die drei juppes. — Les trönes de la 
pudeur, die Wangen. — La mouvante, die Hand. — I^e muahle, der 
Himmel. — Le suhtü, der Ffeffer. — Termes de cahinet, für termes 
choisis. — L'invisible, der Wind. — Un verre d'eau tout unie, Wasser 
ohne Wein. — Les anciens, für les d^sirs. — IJamour pm, Vabim^ 
de la liberte, für le mariage. — Les mots du bei usage, die modischen, 
galanten Ausdrücke. — Un oui fagonne, ein abgenöthigtes ja. — Le 
mieux d'une personne, die Vorzüge einer Ferson. — Un meurtre epais, 
ein grässlicher Mord. — Älcoviste, Besuchereiner Ruelle, das Fem. 
dazu : une precieuse, une illustre (preciosite, zuerst von Cotln gebraucht, 
Livet, 302). — Une diseuse de pas vrai, für une menteuse. — l^es 
avortons du Pamasse, schlechte Foeten. — Vn bdtard d'Hippocrate» 
ein Arzt. — Un inquiet, ein Geschäftsmann. — Un inutile» ein Lakai. 

— La cimmiode, die Zofe. — Un mulet baptise. ein Sänftenträger. — 
Un peuple de frange, eine unordentliche Gesellschaft. — Un necessaire» 
un fidele, ein Diener. — L'dme de la nature» der Mensch. — Une 
chere, eine Freundin. — Un nwice en ehaleur, ein angehender Lieb- 
haber. 

Fousser el dernier doux, sehr galant sein (pousser, pousseur des 
sentiments etc., in diesem Sinne nicht selten auch bei Moli6re). — 
Pousser le dernier rüde contre qn. , einen zornig anfahren.* — Etre 



— 63 — 

Wir sind am Ende unserer Darstellung angelangt. 
Wir haben das Pretiosenthum von seinen Anfangen 
bis in seine letzten Ausläufer verfolgt. Boileau und 
Moliere vernichteten es im Urtheile der Gebildeten, in 
der Achtung der Verständigen. Aber in den unteren 



mal conditionne, unwohl sein. — Etre sur un grand fecond, frucht- 
bar in galanten Redensarten sein. Etre de la petite vertu, für dtre 
galante. — Etre de la petite portion, wenig Vermögen besitzen. — 
Etre dans son bei aimable, schön nnd liebenswürdig sein. — Faire 
parier le muet, mit dem Thürhammer klopfen. — Administresi-moi, 
für donnez-moi. — Donner dans le vrai de la chose, das Eichtiee 
treffen. — Donner dans l'amour permis, heirathen. — Prendre une 
physique, Arznei nehmen (wie engl.: to take physic). — Faire assaut 
d'appas avec qn.» in Reizen wetteifern mit. — Savoir le fin du do- 
mestique , ein Hans genau kennen, für das moderne: connaitre les 
aitres d'une maison. — Ävoir Vdme bien demeuree, langsamen Geistes 
sein. — Ävoir du fier contre qn., einem grollen. — Avoir la bouche 
bomee, einen kleinen Mund haben. — Ävoir le c<Bur enfrange de 
mouvement, ein viel bewegtes Herz. — Prendre figure, sich setzen. — 
Servir de mouehe ä qn,, den Vorzügen eines Andern als Folie dienen, 
wie das Schönheitspflaster dazu dient, die weisse Hautfarbe hervorzu- 
heben. — Connaitre la force des mots et le friand du goüt. — Delaby- 
rinther les cheveux, entwirren. — Lustrer le visage, schminken. — 
Savoir le bei air des choses, den galanten Ton kennen. — Presider 
chez qn., etre de qiuirtier chez qn., zu den ständigen Gästen einer 
Ruelle gehören. 

Je pätirai bien par le contre coup de votre quittement. — Le 
chien s'ouvre furieusement, canis cacat abunde. — Je n'ai pas de quoi 
foumir ä ce compliment, ich weiss das Compliment nicht würdig zu 
beantworten. — Cela excite en moi le naturel de Vhomme, cela me 
fait rire. — Madame est en commodile d'etre visible. — Les pr^cieuses 
ont tmu bureau tont le midi (Som. I, 63) erklärt mit: ont ^te en 
conversatlons. — J'ai prete mon crime ä faire votre mort (Corneille). 
— Ah, ma chere» je ne sais pas comment votre chere a pu se r^soudre 
d brutaliser avec un komme purement de chair, ich weiss nicht, wie 
sich unsere Freundin dazu entschliessen konnte, einen so materiellen 
Menschen zu heirathen. 



— 54 — 

Schichten der Gesellschaft, in den Kreisen der Halb- 
gebildeten, der schlechten Poeten, der elenden Eoman- 
schreiber, wucherte es einstweilen fort. Im folgenden 
Jahrhundert noch begegnen wir einem Dichter, Hou- 
dard de la Motte (gest. 1731), der sich in den ge- 
suchtesten Bildern der Pretiosität zu bewegen liebt. 
Einen Würfel nennt er : Toracle du destin, einen Garten- 
zaun: le suisse du j ardin, eine Sonnenuhr: le greffier 
solaire. Aber aus der Sprache der feinen Gesellschaft, 
aus den Büchern der als Idassisch geltenden Schrift- 
steller war zu la Motte's Zeiten der Bei Esprit mit 
allen seinen kostbaren Zierlichkeiten schon längst ver- 
schwunden. Selbst die kunstvoll abgerundete, im stren- 
gen Geschmacke ausgeführte Periode Ludwig's XIV. 
hatte bereits dem behenden, schneidenden und klein- 
gehackten „Style coup6" weichen müssen. Perrüke 
und Periode waren beide zugleich gestutzt worden. 



Eine deutsche Prinzessin am Hofe 

Ludwigs XIV. 




lanchem unter Ihnen ist der Grenuss zu Theil 
geworden, die prächtige Schlossruine von Heidelberg 
zu betrachten, — sei es an einem schönen Abend, 
wenn die rothen Mauern des Riesenbaues empor- 
leuchten aus dem saftigen Grün des Parkes, sei es 
in einer lauen Nacht, wenn das zitternde Mondlicht 
die öden Gesimse und die ausgebrannten Fenster um- 
spielte. Das Bild, welches diese Worte der Phantasie 
vorführen, steht in engster Beziehung zum Thema dieser 
Blätter. Ich möchte Einiges mittheilen aus dem Leben 
und dem Briefwechsel jener Prinzessin Elisabeth Char- 
lotte, welche, geboren im Schlosse zu Heidelberg, ver- 
mählt mit Ludwigs XIV. Bruder, dem Herzoge von 
Orleans, durch ihre Heirath die unschuldige Ursache 
der namenlosen Verheerung' der Rheinpfalz und der van- 
dalischen Zerstörung ihres Stammschlosses geworden ist. 
Elisabeth Charlotte *) wurde vier Jahre nach dem 



^) Die historischen Notizen dieses Vortrages sind der Geschichte 
der Bheinpfals von Ludwig Hänsser, so wie den Einleitungen su 
Elisa^eth's Briefen ron W. Menzel und L. y. Bänke entnommen. 



— 5G — 

Abschlüsse des dreissigjährigen Krieges, also im Jahre 
1652 geboren. Aus ihrem Jugendleben ist uns nicht 
viel bekannt. Als kleines Kind ward sie nach Hannover 
geschickt, um bei ihres Vaters Schwester, der Herzogin 
Sophie, ihre Erziehung zu erhalten. Sophie selbst und 
ein Fräulein von Offein, die spätere Frau von Harhng, 
erzogen das muntere, an Leib und Seele kräftige Kind. 
Im neunten Jahre kehrte Elisabeth nach Heidelberg 
zurück. Der bürgerliche Ernst und die zwanglose 
Heiterkeit der pfälzischen Hofhaltung sagten ihrem fast 
männlichen Charakter ungemein zu und Hessen ihr 
unauslöschliche Erinnerungen zurück. Der Vater, Kur- 
fürst Friedrich V., hatte grosse Freude an seiner Lise- 
lotte und zog sie allmählich ganz in sein Vertrauen, 
war sie doch ihres Vaters lebendiges Ebenbild. Darum, 
liess er es auch wohl geschehen, dass sie mehr als 
einen Freier von der Hand wies, um in ihrem lieben 
Heidelberg noch länger weilen zu können. Zuletzt fiel 
sie freilich ein Opfer der politischen Klügelei ihres 
kurzsichtigen Vaters. Durch die glänzenden Aussichten 
auf französische Verwandtschaft bethört, ging derselbe 
auf die von Ludwig XIV. vorgeschlagene Heirath mit 
dem Herzoge von Orleans ein und bemerkte nicht, dass 
der französische Despot schon damals keine andere 
Absicht hegte, als ein zweideutiges Erbrecht der fran- 
zösischen Krone an das pfälzische Land zur Geltung 
zu bringen. Unter Thränen willigte die gute Liselotte 
in die Vermählung mit dem kleinen, weibischen Gecken, 
dem faden und süssen Männchen ein. Ihr Vater be- 
gleitete sie bis Strassburg. Sie sollte ihn hier zum 
letzten Male sehen. Dann gings weiter nach Metz, 



— 57 — 

woselbst die Braut im November 1671 ihren protestan- 
tischen Glauben feierlich abschwören musste. Sie trennte 
sich da nicht nur von ihrem Bekenntnisse, sondern 
auch von Allem, was bisher ihr Leben und ihr Glück 
ausgemacht, um am Hofe von Versailles eine Existenz 
zu finden, die ihren Neigungen, ihren Gewohnheiten 
schnurstracks zuwiderlief. Während ihr verkommener 
Gatte nach wie vor ein Sclave seiner Favoritinnen 
blieb , gab Liselotte dem Hofe zeitlebens das Bei- 
spiel einer pflichttreuen Gattin, einer ehrlichen und 
wackeren Hausfrau. Mit ihrem Gatten lebte sie in 
kaltem Frieden, und die Ehe konnte am Versailler 
Hofe für eine gute gelten. 

Elisabeths Kinder waren ihre einzige Freude im 
fremden Lande. Das erste, ein Knabe, ward durch 
der Aerzte Ungeschicklichkeit getödtet; die beiden 
übrigen, ein Knabe und ein Mädchen, durfte die Mutter 
nicht erziehen, wie sie es gerne gewollt hätte. „Ihr Sohn 
Philipp, geb. 1674, erbte von ihr die ganze Kraft, die 
ganze Eigenthümlichkeit ihres Geistes, ward ihrer mütter- 
lichen Obhut aber so frühe entrissen, dass aus dem Spröss- 
linge der ehrbarsten Mutter ein greulicher Wüstling 
wurde, und kaum konnte man aus den Trümmern seines 
zerrütteten Lebens die reiohbegabte, geniale Natur des 
Prinzen erkennen. In der Geschichte ist dieser Prinz 
durch seine lüderliche ßeichsverweserschaft während 
der Minderjährigkeit Ludwigs KV. sattsam bekannt". 

Elisabeths Tochter schloss eine glückliche Ehe 
mit dem Herzoge von Lothringen und ward Mutter des 
späteren Gemahls der österreichischen Maria Theresia. 
Liselotte ist also einerseits die Ahnfrau von Louis 



— 58 — 

Philipps Herrscherhaus, anderseits Urgrossmutter der 
unglücklichen Marie Antoinette. 

Im Jahre 1701 starb Elisabeths Gatte, und von 
nun an steht sie fast allein. Und ihre Einsamkeit 
ward für sie eine Quelle des Trostes, denn an die 
Stelle der rauschenden Vergnügen des glänzenden 
Hofes war in Versailles eine bigotte und heuchlerische 
Frömmelei getreten, an die Stelle der reizenden La- 
vallifere, der stolzen Montespan trat eine alte Cokette, 
Mme. de Maintenon, welche aus ihrer pharisäerisohen 
Frömmigkeit Capital zu schlagen wusste. „Elisabeths 
helle Augen durchschauten das Lügenspiel dieser Frau, 
und Maintenon hasste sie dafür, um Elisabeths eigene 
Worte zu gebrauchen, ärger als den Teufel. Die 
Maintenon trug diesen Hass auch auf Elisabeths Sohn, 
den Herzog von Orleans, über und suchte ihn in seiner 
Eigenschaft eines designirten Eeichsverwesers aus dem 
Testamente des Königs hinauszudrängen. Aber Lise- 
lotte stand zu hoch in der Gunst des Monarchen. Diesem 
hatte von Anfang an das kerngesunde Wesen der 
Pfälzerin imponirt, er hegte für sie eine scheue Ach- 
tung, da sie unter allen den Falschen die einzige Ehr- 
liche war. In den Jahren seines Glanzes hatte sie dem 
Könige offen und keck die Wahrheit gesagt, während 
AUes noch schmeichelte und log. In den Zeiten des 
Alters und des Verfalles blieb sie dem Könige treu 
ergeben und suchte gern die Gesellschaft des von seinem . 
Glücke verlassenen Monarchen. Ludwig war für bessere 
Gefühle nicht unzugänglich, und noch auf seinem Sterbe- 
bette erkannte er an, wie sehr er die Ergebenheit 
seiner Schwägerin zu schätzen gewusst". 



— 59 — 

Ludwigs Tod im Jahre 1715 brachte ihren Sohn 
PhiKpp, wie schon gesagt, als Reichsverweser auf den 
Thron; denn Ludwigs Urenkel, der spätere Ludwig XV., 
war damals noch ein Kind von fünf Jahren. Elisabeth 
wies jede Einmischung in die Politik auch jetzt von 
der Hand. Sie meinte, das arme Land sei lange genug 
durch Weiber, alte und junge, regiert worden, darum 
sei es besser, wenn einmal die Männer herrschten. 
Die Pietät ihrer Kinder tröstete die Vereinsamte. Dem 
Herzoge von Orleans fehlte es weder an Geist noch 
an Herz, er vergass seine Pflichten gegen die Mutter 
nie. Elisabeth freute sich dieser Liebe und schreibt 
einmal von ihm: „Er ist ein guter Bub und hat ein 
gut Gemüth". 

Der einzige Genuss, den unsere Herzogin in ihrem 
Alter kannte, war die Leetüre und die Correspondenz 
mit ihrer Tante in Hannover, mit ihren Halbgeschwistern, 
der Familie Degenfeld und mit andern Verwandten in 
Italien, Spanien und England. Leopold von Ranke hat 
Auszüge aus ihren Briefen an Sophie von Hannover, 
Wolfgang Menzel solche aus ihrer Correspondenz mit 
den Degenfeld herausgegeben, Prof. Holland endlich 
veröffentlicht die ganze Correspondenz des Degenfeld'- 
schen Familienarchives, so dass wir über 1500 Druck- 
seiten dieses langjährigen und eifrigen Briefwechsels 
besitzen. 

Elisabeths Briefe sind ein ebenso werthvolles als 
anziehendes Monument der Culturgesohichte; die Schrei- 
berin gibt sich da in ihrer ganzen köstlichen Nai^etät 
und drolligen Derbheit, der rheinländische Humor spru- 
delt überall in ursprünglicher Fülle. Manche Stellen 



— 60 — 

dieser Briefe dürfte man allerdings hier nicht abdrucken, 
und auch unter denjenigen Auszügen, welche ich zu 
geben beabsichtige, findet sich hie und da ein Aus- 
druck, der die delikaten Ohren eines heutigen Publi- 
kums nicht eben angenehm berührt. Allein die histo- 
rische Treue wollte schlechterdings nicht gestatten, 
diesen Charakterzug ganz zu verwischen. Ich musste 
die Liselotte wenigstens aus der Ferne und für Augen- 
blicke zeigen, wie sie war, und wie sie zu sprechen 
und zu schreiben pflegte. Manches übrigens ist auch 
auf Rechnung der guten alten Zeit und ihrer naiven 
und rohen Ausdrucksweise zu setzen. Ein Beispiel 
soll dies klar machen. Ich sagte oben, dass Elisabeth 
in Strassburg von ihrem Vater Abschied nahm. Mehrere 
Jahre später passirte sie diese Stadt abermals, und wie 
sie an dem Gasthofe zum Ochsen vorbeikommt, da 
ergreift sie die herbe Erinnerung an die bittere Tren- 
nung dergestalt, dass sie lange weinen muss. Wie 
zart und schön würde diese Empfindungen ein Mädchen 
unserer Tage geschildert haben ! Wie drückt sich . da- 
gegen unsere Liselotte aus ? „Wäret ihr in Strassburg 
gewesen," so schreibt sie an ihre Halbschwester, „wir 
würden mit einander geheult haben. Denn wie ich 
bin bei dem Ochsen vorbeigefahren, ist es mir einge- 
fallen, wie ich meinen Herrn Vater das let<zte Mal da 
gesehen. Da ist mir das Flennen so greulich ankom- 
men, dass ich's nicht hab verhalten können; und der 
gute Kopestein und ich, wir haben mehr als eine 
Stunde miteinander geweint. Ich hab ihn ganz lieb 
drum". 

Das Weinen besiegte ihren fröhlichen Humor und 



— 61 - 

ihre angeborne Lebenslust noch manches Mal, doch 
niemals gründlicher, als in den letzten Monaten des 
Jahres 1688 und in den ersten des folgenden Jahres, 
das heisst in jener Schreckenszeit, wo Ludwig XIV. 
in ihrem Namen auf die durch den Tod ihres Bruders 
herrenlos gewordene Rheinpfalz Anspruch erhob und 
das Land mit seinen Truppen besetzen liess. Man 
weiss, wie durch das energische Auftreten Wilhelms 
von Oranien, Königs von England, welcher Ludwigs 
Eroberungspolitik überall bekämpfte und schliesslich 
auch siegreich und furchtbar zu Schanden machte, — 
man weiss, sage ich, wie durch Englands feindliche 
Haltung Ludwig gezwungen wurde, die Rheinpfalz auf- 
zugeben, man weiss auch, welche Banditenrache der 
französische Machthaber an den unschuldigen Pfälzern 
und ihrer Habe verübte. „Man verbrenne die Städte, 
die Flecken, die Dörfer, man lege das ganze Land 
öde," so lautete der furchtbare ükas von Versailles. 
Zum Glück fand sich einige Menschlichkeit bei den 
Vollstreckern dieser Befehle. So wurden beispielsweise 
in Heidelberg nebst dem Schlosse nicht über 30 Häuser 
in Asche gelegt. Aber des Jammers blieb immer noch 
genug. Man kann sich denken, wie unserer Elisabeth 
zu Muthe war, als sie vernehmen musste, wie in ihrem 
Namen ihre geliebten Landsleute gemordet, in ihrem 
Namen das theure Heidelberg zerstört wurde. Noch 
im letzten Jahre ihres Lebens (1722) schreibt sie, dass 
die Flammen von Heidelberg sie im Schlafe heimsuchen. 
Diese historischen Auseinandersetzungen mussten 
vorausgeschickt werden, um das Verständniss der fol- 
genden Briefauszüge zu ermöglichen. Noch sei bemerkt. 



— 62 — 

dass aus Elisabeths besten Jahren verhältnissmässig 
nur wenige Briefe uns erhalten sind. Dagegen fliessen 
etwa vom Jahre 1698 an die Quellen reichlich und ohne 
erhebliche Unterbrechung. Das Bild, welches wir aus 
denselben gewinnen, ist also vorwiegend dasjenige 
einer betagten und schwergeprüften Frau, deren natür- 
liche Heiterkeit durch des Schiksals herbe Schläge 
zwar vieKach beeinträchtigt und in ihrem Grundtone 
getrübt, dennoch aber nie überwunden und vernichtet 
erscheint. 

Wie sah denn unsere Herzogin aus? So fragen 
Sie vor Allem. Ein Brief des Jahres 1698 liefert 
uns folgende humoristische Schilderung : „Ihr müsst 
meiner sehr vergessen haben, wenn Ihr mich nicht 
unter die Hässlichen rechnet. Ich bin es all meine 
Tage gewesen und noch ärger durch die Blattern wor- 
den. Zu dem ist meine Taille monströse in Dicke, ich 
bin so vierecket wie ein Würfel, meine Haut ist röth- 
lich, mit gelb vermischt. Ich fange an grau zu wer* 
den, meine Stirne ist runzelig, meine Nase ist ebenso 
schief, wie sie es immer gewesen, aber durch die 
Kinderblattern sehr brodirt, sowohl als beide Backen. 
Ich habe die Backen platt, grosse Kinnbacken, die Zähne 
verschlissen, das Maul auch ein wenig verändert, in- 
dem es grösser und runzeliger geworden. So ist meine 
schöne Figur besteUt, liebe Amelisse!" 

Und im November 1706 beantwortet sie einen 
Dankbrief für den Empfang ihres Portraits mit folgen- 
den Worten: „Ich muss von Herzen lachen, dass Ihr 
findet, ich sehe schön und wohl aus. Wenn ein gross, 
dick Gesicht, platt Maul und kleine enge Augen was 



— 63 — 

Schönes sind, so bin ich es gewiss und werde noch 
alle Tage schöner ; denn ich werde noch alle Tage dicker" . 

Ihre rauhe Haut entschuldigt sie folgendermassen: 
„Ich weiss wohl, wie es ist, wenn man sich auf der 
Jagd von der Sonne verbrennt; denn das ist mir gar 
oft geschehen, dass ich von Morgen acht bis Abends 
in der Sonne gewesen, dass ich roth wie ein Krebs 
nach Hause bin kommen und das Gesicht ganz ver- 
brennt hatte, darum habe ich jetzt so eine braune, 
rauhe Haut". 

Die Corpulenz der Herzogin suchte dieselbe seit 
dem einundvierzigsten Jahre heim, sie fiel ihr um so 
lästiger, da sie von kleiner Statur war. Gleichwohl 
liess sie sich niemals beikommen, nach damaliger Mode 
hohe Absätze an den Schuhen zu tragen, ebensowenig 
als ihre rauhe Haut durch kosmetische Mittel zu ver- 
bergen. In letzterer Hinsicht schreibt sie einmal : „Ich 
hasse alle Schminke und bin mein Lebtag mit keinem 
Geschmier umgangen". 

Was Elisabeth von Anfang an und für immer am 
meisten zuwider war, das war die französische Küche. 
Ihre Elagen in dieser Hinsicht sind ebenso energisch 
als naiv. „Ich speise lieber auf Englisch als auf Fran- 
zösisch," schreibt sie, „die englische Küche ist rein- 
licher und desshalb mehr nach meinem Schmack. Ich 
kann die Ragouts nicht leiden, noch Fleischbrühe, 
noch Suppen ; ich esse nur Hammelsschlegel, gebratene 
Hühner, Nierenbraten, Rindfleisch und Salat". In er- 
götzlicher Weise seufzt Elisabeth nach den Delica- 
tessen der bürgerlichen Küche ihrer Heimat. „Was ich 
wohl essen möchte, wäre eine gute Biersuppe, das thut 



64 



einem nicht weh im Magen. Das kann man aber hier 
nicht bekommen, denn das Bier taugt nichts. Auch hat 
man hier keinen braunen Kohl, noch gutes Sauerkraut. 
Dies alles würde ich herzlich gern mit Euch essen, 
wollte Gott, ich könnte so glücklich werden". Und 
an einer anderen Stelle heisst es : „Guten Kohl, Sauer- 
kraut, Schinken und Knackwürste schmeckten mir viel 
besser, und einen guten Krautsalalat mit Speck, diese 
delicat^n Speisen sind meine Sach. — Was die Suppen 
angeht, so könnte ich ausser Weinsupp, Biersupp und 
Habermehlsupp gar keine essen." 

Caflfee, Thee und Chocolate waren unserer Prinzessin, 
als sie nach Frankreich kam, ganz neue und somit 
sehr verdächtige Getränke. Bekanntlich wurde das 
Caffeetrinken erst unter Ludwig XIV. Mode, und Mme. 
de S6vign^ hat sich in doppelter Weise getäuscht, 
wenn sie gesagt, dass der Geschmack des Publicums 
an Raciue's Tragödie ebenso schnell vergehen würde 
wie sein Geschmack am Caffeetrinken. Elisabeth glaubt 
ihre deutschen Verwandten ausdrücklich vor dem Ge- 
nusse dieses schädlichen Getränkes warnen zu sollen. 
Die Aerzte verordneten ihr einst täglich zwei Becher 
von dem unliebsamen Safte, und sie verwünscht die 
Cur mit folgenden Worten: „Ich finde, der Caffee 
riecht abscheulich. Der verstorbene Erzbischof von 
Paris hat ebenso gerochen. Das ekelt mich. Ich kann 
überhaupt weder Caffee noch Thee noch Chocolate ver- 
tragen. Thee kommt mir vor wie Heu und Mist, 
Caflfee wie Russ und Feigenbohnen, und die Chocolate 
ist mir zu süss". 

Die königliche Tafel bot zwei tägliche Mahlzeiten, 



— 65 — 

das Frühstück um ein Uhr und das Diner um zehn 
Uhr Abends. In den letzten zwanzig Jahren von Lud- 
wigs Regierung ging es an dieser Tafel stille genug 
zu. „Obgleich wir 14 bis 17 Personen an des Königs 
Tafel sind," schreibt Elisabeth 1705, „so geht es da 
stiller her als in einem Nonnenrefectorium. Ein jedes 
isst vor sich weg und wird kein Wort gesprochen 
noch an kein Lachen gedacht". Später speiste die 
Herzogin meist allein. Dies behagte der lebhaften Frau 
allerdings nicht recht. Sie sagt hierüber: „Ich speise 
Mutters aUein und eile mich soviel als möglich, denn 
es ist verdriesslich, allein zu essen und zwanzig dienende 
Kerls um sich zu haben, die einem ins Maul sehen und 
alle Bissen zählen. Ich esse derohalben in weniger 
Zeit als eine hs^lbe Stunde. Abends 10 Uhr soupire 
ich mit dem König, da sind wir fünf oder sechs an 
Tafel, jedes isst vor sich weg wie in einem Kloster, 
ohne ein Wort zu sagen als etwa heimlich zum Nachbar." 
Einen genauen Bericht über die Eintheilung ihres 
Tages erstattet Elisabeth in einem späteren Briefe. 
Hier heisst es: „Ich will Euch wohl mein Leben sagen. 
Alle Tage ausser Sonntag und Donnerstag stehe ich 
um neun Uhr auf, hernach kniee ich nieder und ver- 
richte mein Gebet und lese meinen Psalm und einige 
Capitel aus der Bibel. Hernach wasche ich mich so 
sauber als ich kann. Nachher schelle ich, dann kom- 
men meine Kammerweiber und ziehen mich an. Um 
drei Viertel auf elf bin ich angethan , dann lese ich 
oder schreibe. Um 12 Uhr gehe ich in die Messe, 
welche keine halbe Stunde währet. Nach der Messe 
rede ich mit meinen oder mit anderen Damen. Um 

H. B. 5 



— 66 — 

ein Uhr präcis geht man zur Tafel. Das dauert höch- 
stens eine Stunde. Gleich von der Tafel gehe ich in 
meiner Kammer eine Viertelstunde auf und ab, danach 
setze ich mich an meinen Tisch und schreibe. Halb 
sieben lasse ich meine Damen holen, gehe eine Stunde 
spazieren, dann wieder in meine Kammer bis zum 
Nachtessen. Ist das nicht eine rechte Einsiedelei? 
Zuweilen fahre ich auf die Jagd, das währet eine 
Stunde, zwei aufs höchste, dann wieder in meine Kam- 
mer. Auf der Jagd bin ich ganz allein in einer Kalesche 
und schlafe oft ein, wenn die Jagd nicht zum besten 
geht. Man speist um zehn Uhr zu Nacht, um drei 
Viertel auf elf geht man von Tafel ; dann ziehe 
ich meine Uhren auf, thue mein Sackzeug in einen 
Korb und lege meine Kleider ab. Das ist mein Leben, 
welches eben nicht lustig ist". 

Wenn wir sieben Jahre zurückgehen, so finden 
wir noch etwas grössere Abwechslung in diesem mono- 
tonen Stundenplan. Unter dem Datum 1698 berichtet 
Elisabeth: „Viermal die Woche habe ich SchreibetÄg, 
Montag nach Savoyen, Mittwoch nach Modena, Donner- 
stag und Sonnabend schreibe ich grosse, mächtige 
Briefe nach Hannover. Abends fahre ich mit Monsieur 
(ihrem Gatten) spazieren. Dreimal die Woche fahre 
ich nach Paris und zweimal jage ich". 

In ihren rüstigen Jahren war unsere Liselotte eine 
leidenschaftliche Jägerin gewesen. Das Eeiten hatte 
sie zwar erst in Frankreich gelernt, aber sie jagte zu 
Pferde so kühn wie irgend eine. Sie nennt sich ein- 
mal emen alten Jäger, sagt, sie hätte an die 1000 
Hirsche jagen helfen, und bedauert, in ihrem Alter 



— 67 — 

nicht mehr zu Pferde, sondern nur zu Wagen die Jagd 
mitmachen zu können. In Fontainebleau und andern 
königlichen Schlössern fehlte die Gelegenheit des edlen 
Waidwerks allerdings nicht. Noch im Jahre 1706 be- 
richtet Elisabeth : „Alle Tage wird hier gejagt ; Sonn- 
tags und Mittwochs jagt mein Sohn ; des Königs Hunde 
jagen am Montag und am Donnerstag. Am Dienstag 
und am Samstag jagt der Kronprinz den WoK; an 
andern Tagen sind Reh- und Hirschjagden. Wären 
alle Jagdzüge beisammen, so hätten wir an die 1000 
Hunde". 

Das Eeiten über Stock und Stein lief nicht immer 
gut ab. „Ich habe manchen braven Fall im Jagen ge- 
than," schreibt die Herzogin. „In 26 Mal dass ich 
gefallen bin , habe ich • mir ein einzig Mal wehe ge- 
than, das hat mich so beherzt gemacht im Rennen". 
Elisabeth schreibt dieser gesunden Bewegung ihr hohes 
Alter und ihr Wohlbefinden zu, und wir werden nicht 
irre gehen, wenn wir auch ihr lebhaftes Gefühl für 
die Schönheiten der Natur mit dieser Freude am Jäger- 
vergnügen zusammenbringen. Ein wilder Wald ist ihr 
lieber als ein künstlich aufgeputzter Ziergarten, Wiesen 
und Bäche entzücken sie, und ein Landaufenthalt kommt 
ihr herrlich vor gegenüber einer Residenz in dem lang- 
weiligen Paris. 

Mit dieser Liebe zur freien Natur geht ihre Liebe 
zu den Thieren, besonders zu den Hunden, Hand in 
Hand. Wie viel weiss sie von ihren lieben „Hündgern" 
zu erzählen! Denn mit diesem provinziellen Worte 
bezeichnet sie die treuen Gefährten ihrer einsamen 
Stunden. Ich kann mir nicht versagen, einige cha- 



— 68 — 

rakteristische Stellen über ihre Hunde anzuführen: 
„Wie ich sehe, so hat mein armer Bruder selig die 
Hunde nicht weniger geliebt als ich, aber Ihr müsset 
sie nicht so lieb haben, weil Ihr so proper sein wollt. 
Man muss den armen Hündgern wohl was zu Gute 
halten". „Das braune Hündchen lebt noch und hat mehr 
Verstand als nie, ich habe es herzlich lieb". — Im 
Jahre 1702 gibt sich von ihrem Zimmer eine anspre- 
chende Schilderung. Sie spricht von dem Blumenflor 
ihrer Fenster, von zwei Papageien, einem Kanarien- 
vogel und nur acht Hunden, mit welchen sie ihr Zim- 
mer theile. „Eine meiner Hündinnen," fügt sie bei, „ist 
eben im Kindbett in meinem Cabinet". — An mehreren 
Stellen merkt sie an, dass einer ihrer Hunde auf den 
Tisch gesprungen und die frischgeschriebenen Worte 
ihres Briefes verwischt habe. Und als einmal im Walde 
von Fontainebleau ihre Kutsche umgeworfen, da erzählt 
sie nicht ohne Befriedigung, wie ihre sieben Hunde 
alle gut davon gekommen, und nur einer Ehrendame 
ein halbes Wagenfenster in die Achsel gedrungen sei. 
Der plötzliche Tod ihres Gatten veranlasst Elisa- 
beth, über ihre ökonomische Lage sich auszulassen. 
Wegen des kostspieligen Haushaltes, den sie standesge- 
mäss zu führen gezwungen war, blieb sie auch bei 
grossen Einkünften eine sehr arme Frau. Der König 
setzte ihr zwar eine freigebige Jahresrente von 450,000 
Franken aus, aber dies reichte, wie es scheint, noch 
nicht. Hören wir ihre eigene Darstellung : „Es ist mir 
nicht möglich, meine xieutschen Verwandten zu unter- 
stützen, so gerne ich das auch thün wollte. Meinen 
Haushalt kann ich nicht vermindern, da die Stellen 



— 69 — 

alle gekauft sind. Des Königs Jahrgeld reicht nicht 
hin; ich muss noch alle meine pfälzischen 'Gelder zu- 
setzen. Ausserdem hat mein Gatte über 200,000 Thaler 
von meinem Heirathsgute verthan und mein Heiraths- 
contract ist so beschafiFen, dass ich ohne des Königs 
Zustimmung über nichts verfügen könnte, sollte ich 
auch Millionen erben. Ich habe nichts Eigenes als den 
Stuhl, den meine Tante brodirt hat, und den, wo ich 
jetzt d'rauf sitze. Der erste Tag des Monats ist der 
einzige, an dem ich^Geld habe; freiHch finde ich auch 
guten Credit. Ich werde nicht in Geld, sondern nur 
in Zeddeln bezahlt, die erst in mehreren Monaten an 
der Gasse eingelöst werden. Das Rechnungswesen ver- 
stehe ich nicht, und meine Diener und Schatzmeister 
betrügen mich abscheulich". — Hiezu merke ich an, 
dass die letzten Jahre von Ludwigs Regierung be- 
kanntlich in Tolge der langen Kriege und der Ver- 
schwendungen des Hofes finanziell so entblösst waren, 
dass der König in eigener Person den Pariser Banquiers 
den Hof machen musste, nur um wieder einige Vor- 
schüsse zu erhalten. 

Schon aus dem bisher Gesagten kann geschlossen 
werden, dass die Herzogin, besonders seit dem Tode 
ihres Gatten, am französischen Hofe keine beneidens- 
werthe Preiheit genoss. Diese Unfreiheit hatte ihre 
Quelle theils in der lästigen Hofetiquette, theils in den 
ängstHchen Vorsichtsmassregeln der damaUgen Diplo- 
matik, theils endlich in persönlichen Zerwürfnissen 
mit massgebenden Personen. So viel ist sicher, dass 
Elisabeths Briefe nach dem Auslande durch die Polizei 
erbrochen und gelesen wurden, dass die Prinzessin 



— 70 — 

Frankreich nicht verlassen durfte, ohne des Königs 
specielle Er laubniss nicht einmal Versailles auf 24 Stun- 
den quittiren konnte. Auch beim Könige wusste die 
Maintenon ihr den Zutritt zu erschweren, und die ver- 
traulichen Augenblicke in Ludwigs Cabinet, welche sie 
früher nach der Abendtafel in ungezwungener Weise 
sich hatte nehmen dürfen, wurden ihr von nun an selten 
gewährt. 

Wir begreifen jetzt ihre trüben Reflexionen in 
BriefsteUen wie die folgenden : „Mein lustiger Humor, 
so mir früher Alles leicht machte, ist mir greulich 
hier im Lande vergangen. Wer ihn hier nicht verliert, 
wird ihn ewig behalten. In dieser Welt findet man 
kein grosses Glück; wenn man einen nur ruhig leben 
lässt, so ist das Alles, was man prätendiren kann. 
Könnte ich ganz allein bleiben, so wäre ich zufrieden, 
aber ich bin gezwungen, fortwährend mit Leuten um- 
zugehen, die mir entweder gleichgültig oder geradezu 
verhasst sind. Wenn es ein Zeichen ist, dass man von 
Gott geliebt wird, sofern man an der Welt Ueberdruss 
empfindet, so hat mich der Allmächtige gewiss sehr 
lieb; denn man kann der Welt nicht überdrüssiger 
sein als ich es bin". 

Nach solchen Geständnissen fragen wir billig, wie 
die Prinzessin den Eest ihres Lebens gewürzt habe. 
Wir haben zwar oben schon eine Antwort auf diese 
Frage gegeben, indem wir ihr Bücherlesen und ihr 
Briefschreiben als ihre hauptsächlichen Zeitvertreibe be- 
zeichneten. Die Kehrseite dieser bescheidenen Genüsse 
findet sich in der Aufzählung alles dessen, was sie 
nicht liebte. Sie gesteht es selbst, dass sie weder 



— 71 — 

Politik, noch Philosophie, noch Theologie verstehe. Sie 
kennt ferner keine fremde Sprache mit Ausnahme des 
Französischen. Die Oper ist ihr gleichgültig, und die 
italienische Musik ist ihr geradezu verhasst. lieber 
letztere lägst sie sich in comischer Weise also ver- 
nehmen: „Die langen Fredons sind mir das widerlichste 
Gesänge von der Welt, man bleibt eine Viertelstunde 
auf einer Silbe oder auf einem Vocale, alle die ha ha ha 
und he he he kann ich einmal nicht leiden". — Auch 
Kleider und Moden sind ihr ganz und gar gleichgültig. 
Sie sagt von sich, sie sei 99mal unter hundert schief 
coiffirt, aber sie frage nichts darnach. Bälle und Mas- 
keraden haben ihren Eeiz für sie längst verloren. Von 
dem unter Ludwig XIV. so leidenschaftlich gespielten 
Lansquenet berichtet Elisabeth Folgendes: „Hier in 
Frankreich wird fast immer Lansquenet gespielt. Aus 
zwei gar starken Ursachen spiele ich nicht. Die erste 
ist, dass ich kein Geld habe, und die zweite, dass ich 
das Spiel nicht liebe. Das Spielen ist hier greulich 
hoch, und die Leute werden wie toll, wenn sie spielen. 
Das eine heult, das andere schlägt mit der Faust auf 
den Tisch, dass die ganze Kammer zittert, der Dritte 
lästert Gott, dass einem die Haare zu Berge stehen, 
Summa, Alle sind wie verzweifelte Menschen, welche 
einem bange machen, sie nur anzusehn". — Aber auch 
dem in den letzten Jahren von Ludwigs Eegierung sehr 
in Aufnahme gekommenen Schachspiele konnte Elisa- 
beth keinen Geschmack abgewinnen. Sie sagt davon: 
„Ich finde es zu schwer für meinen schlechten Hirn- 
kasten". Endlich verstand sie sich zu ihrem Leidwesen 
weder aufs Haushalten noch auf weibliche Arbeiten. 



— 72 — 

Man begreift jetzt, wie die Herzogin so viele Zeit 
aufs Briefschreiben verwenden konnte. Die Armuth 
ihrer Genüsse scheint übrigens im engsten Zusammen- 
hange mit ihrer dürftigen, nur aufs Nothwendigste 
sich beschränkenden Erziehung zu stehen ; denn durch 
die Berührung mit Kunstfreunden und durch das An- 
schauen von Kunstgegenständen erwachte in ihr eine 
gewisse Bewunderung für die Antike, für die Bilder 
der französischen Maler, für die Werke der Graveurs : 
die Medaillen und die geschnittenen Steine. Von den 
beiden letztern legte sie eine Sammlung an, die sie 
mehrmals erwähnt. 

Eine entschiedene Liebhaberei hegte Elisabeth für 
das französische Lustspiel. Gerne kommt sie auf dieses 
Capitel zu sprechen. So scbreibt sie unter anderem 
an ihre Halbschwester: „Ihr seid sehr fromm, am 
Sonntag nicht auszugehen. Ich halte übrigens Besuche 
für gefährlicher als die Comödie. In dieser letzteren 
kann man sich doch nicht an seinem Nächsten versün- 
digen durch harte Reden und Urtheile. Wenn man 
die Barche besucht hat und seine Schuldigkeit gegen 
Gott gethan, so ist das Theater gewiss ungefährlicher 
als die Gesellschaft". — Elisabeth hat ihre eigene 
Theorie über das Theater als Surrogat der kirchlichen 
Erbauung. „In der Kirche lehrt man es unangenehm, 
aber in der Comödie wird es angenehm vorgestellt, 
wie die Tugend belohnt und das Laster gestraft wird". 
Sogar über die Geschichtsschreiber ihrer Zeit stellte 
sie die Comödie, indem sie anführt, dass die Motive 
der comischen Handlung in der Regel keine anderen 
als die richtigen sind, während diejenigen der Historien 



— 73 — 

oft nur in den Köpfen der Historiker spuken. — Ge- 
gen die Kirche selbst nimmt Elisabeth die Comödie 
also in Schutz: „Ich habe Euch schon einmal meine 
Meinung gesagt über die Priester, so die Comödien 
verbieten, sage also weiter nichts, als das, wenn die 
Herren ein wenig weiter als ihre Nase sehen wollten, 
würden sie begreifen, dass das Geld an den Comödien 
nicht übel angelegt ist. Erstlich sind die Comödianten 
arme Teufel, so ihr Leben dadurch gewinnen. Zum 
andern macht die Comödie Freude, Freude gibt Ge- 
sundheit, Gesundheit Stärke, Stärke macht besser ar- 
beiten. Also sollten sie es mehr gebieten als verbieten." 
Man muss sich hier daran erinnern, wie damals noch 
und bis tiöf ins achtzehnte Jahrhundert hinein, das 
Theater und der Schauspieler von der Kirche förmlich 
verflucht und geächtet waren. So hatte Moliöre kaum 
eine Stelle in geweihter Erde finden können, und als 
1730 die berühmte Schauspielerin Adrienne Lecouvreur 
starb, musste sie auf dem Schindanger begraben wer- 
den, weil der Bischof den Kirchhof feierlich untersagte. 
Es ist ein gutes Zeichen, dass unsere Elisabeth vor 
Allem die Lustspiele Moliere's liebte, und es ist be- 
zeichnend für ihren vorurtheilsfreien Geist, dass sie 
unter diesen Stücken dem Tartüff den Vorzug gab. 

In dem bisher Mitgetheilten fanden wir Anklänge 
an Elisabeths religiöse Ansichten, gehen wir jetzt auf 
diese Seite ihrer Persönlichkeit näher ein. 

In der reformirten Religion erzogen, hatte Elisa- 
beth trotz ihres Uebertrittes zur katholischen Kirche, 
die religiösen Traditionen ihrer Kindheit bewahrt. Sie 
freut sich, dass man ihr am Hofe von Versailles nicht 



— 74 — 

verbiete, ihre Bibel zu lesen und ihre Psalmen zu 
singen. „Ich lese alle Morgen drei Capitel in der 
deutschen Bibel, das heisst einen Psalm und ein Capitel 
aus dem alten, und ein Capitel aus dem neuen Testa- 
ment. Wenn ich irgend eine Hinderung voraussehe, 
so lese ich einige Capitel im Voraus. Meine Gebete 
mache ich selbst, dazu brauche ich kein Buch. Auf 
geistliche Leetüre halte ich nicht viel. Ich weiss nicht, 
ob geistliche Bücher im Englischen angenehmer sind, 
aber im Deutschen und Französischen finde ich sie alle 
bitter langweilig, mit Ausnahme der Bibel, deren ich 
niemals müde werde. Alle anderen schlafen mich ein". 
Mit dem Kirchenschlaf, besonders an Nachmittagen, 
hat Elisabeth viel zu kämpfen. Sie schreibt mehrmals 
über diesen delicaten Punct. Im Jahre 1705 widmet 
sie demselben eine längere Stelle. „Man hat mich nie 
gefilzt , in der Kirche zu schlafen. Ich habe mir's so 
stark angewöhnt, dass ich es nicht mehr lassen kann. 
Wenn man morgens predigt, schlafe ich nicht, aber 
Nachmittags widerstehe ich selten. So geht es mir 
auch im Opera, da schlafe ich häufig, aber nie in der 
Comödie. Ich glaube, dass der Teufel wenig dran 
denkt, ob ich in der Kirche schlafe oder nicht. Denn 
schlafen ist eine indiflferente Sache, keine Sünde, son- 
dern nur eine menschliche Schwachheit. Wenn Du, 
liebe Schwester," fügt Elisabeth scherzend bei, „ein- 
mal predigen willst, so verspreche ich Dir, nicht ein- 
zuschlafen, und weil Du eine fröhliche Christin bist, 
so hoffe ich, du werdest auch den Himmelsweg mit 
Geigen behenken". — Vergleichen wir hiezu noch eine 
andere Stelle : „Ich bin der schönen Predigten unwürdig ; 



— 75 — 

denn ich kann das Schlafen nicht lassen. Der Ton 
des Predigers schläft mich gleich ein. Hörte ich eine 
französische Predigt, so würde ich sie aus Gewohnheit 
ganz durchaus ausschlafen". 

Aus solchen Aeusserungen dürfen wir indess nicht 
schliessen, dass Elisabeth in religiösen Dingen gleich- 
gültig und frivol gewesen sei. Ihr fleissiges Bibellesen 
war keine leere und bloss äusserliche Uebung. Unter 
dem Einflüsse ihrer confessionellen Erziehung hatte sie 
sich im Gegentheile über die Gnaden- und Prädesti- 
nationslehre sehr bestimmte Ansichten gebildet, die sie 
an vielen Stellen mit Ernst und Nachdruck wiederholt. 
Man halte nur folgende Aeusserungen zusammen: „Ich 
kann nicht glauben, dass das Beten einen ewigen Eath- 
schluss Gottes abändern könne. Unser Herrgott, der 
das Verhängniss bestimmt, hat Alles wie mit Ketten 
aneinander gehenkt, damit AUes geschehe, was ge- 
schehen muss. — Eines zieht das Andere nach, wir 
können nicht dazu und haben Gott zu danken, wenn 
wir tugendhaft handeln ; denn es ist eine reine Gnade. 
Alles ist Verhängniss in dieser Welt". 

Diese strengen, fatalistischen Ansichten führen sie 
indess in der Praxis zu den mildesten Grundsätzen. 
Sie betrachtet Andersdenkende mit Mitleid, nicht mit 
Abscheu. Die Hauptsache, meint sie, sei nicht was 
man glaube, sondern was man thue. Die Priester 
sollten also nicht den Glauben, sondern nur die 
Laster verfolgen. Anderswo wirft sie die Frage auf: 
„Wie kommt es, dass Menschen, welchen einerlei ge- 
sagt wird, doch nicht einerlei Glauben haben?" Und 
sie antwortet: „Die Ursache ist, dass unser Herrgott, wie 



— Te- 
es scheint, die Differenz und Aenderung liebt. Denn 
die Menschen sind so verschieden von Humoren und 
Opinionen als von Gesichtern, und da die Organe ver- 
schieden sind, so kann die Wirkung nicht dieselbe 
sein. Es ist eine besondere Gnade Gottes, wie diejenige 
von Pfingsten, wenn alle diejenigen, so unterrichtet 
werden, einerlei verstehen". 

Auf diesem Wege gelangt unsere Herzsogin zu den 
liberalsten Sätzen religiöser Duldung. Man glaubt oft 
einen Voltaire predigen zu hören. „Ich bin gar kein 
Apostel und finde es in der Ordnung, wenn ein Jeder 
nach seinem Gewissen glaubt. Sollte man meinem 
Rathe folgen, so wäre nie kein Zank in religiösen 
Fragen. Man sollte einen jeden glauben lassen, wie 
er es versteht". Der letzte Gedanke wiederholt sich 
genau in dem bekannten Worte Friedrichs des Grossen : 
„Ich will, dass in meinem Lande ein jeder auf seine 
Fagon selig werde". 

Man kann sich denken, dass Elisabeth mit grossem 
Schmerze Zeuge jenes Umschwunges in der französischen 
Politik war, durch welchen Ludwig XIV. aus einem 
toleranten Machthaber ein engherziger und grausamer 
Feind seiner protestantischen Unterthanen wurde. Elisa- 
beth that, was immer in ihren Kräften stand, und hat 
auch wirklich manchen französischen Protestanten von 
den Galeeren befreit oder vor diesen' bewahrt. „Es ist 
mir leid," sagt sie im Hinblick auf solche Ereignisse, 
„wenn ich die armen Christen verfolgen sehe. Hätte 
ich Credit, so würde Jedermann wohl in Ruhe bleiben^*.. 

Elisabeth hatte, wie sie selbst gesteht, keine Philo- 
sophie studirt, aber sie correspondirte mit einem grossen 



— 77 — 

Philosophen, mit Leibniz, und die religiösen Unions- 
bestrebungen dieses BJannes fanden oflFenbar einen nach- 
klingenden Wiederhall in ihrem menschenfreundlichen 
Gemüthe. „Seid Ihr denn so einfältig," schreibt sie an 
ihre Halbschwester, „dass Ihr meinet, die Katholischen 
haben keinen rechten Grund des Christenthums? Glaubt 
mir, der Grund ist bei allen Keligionen derselbe : Was 
den Unterschied betrifft, so ist das eitel Pfaffengezänk, 
das uns gemeine Leute nichts angeht. Die Hauptsache 
ist, christlich leben und barmherzig sein, und uns der 
Tugend befleissen. Dies allein sollte man den Christen 
predigen, nicht aber nachgrübeln über aUe Puncto, wie 
sie zu vertehen seien". — An einer andern Stelle spricht 
sie sich für die gemischten Ehen aus : „Man sollte allen 
Christen gestatten, mit einander zu heirathen und die 
Ejrche zu besuchen, welche sie wollen, so würde mehr 
Einigkeit ♦unter ihnen sein als jetzt". 

Auch aus anderen Stellen geht hervor, dass schon 
in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts jene frei- 
sinnigen Ideen in der Luft lagen, welche ein halbes 
Jahrhundert später die Encyklopädisten in allen Ton- 
arten predigen sollten. In dieser Hinsicht ist mir 
namentlich folgender Passus aus dem Jahre 1697 auf- 
gefallen: „Es gibt nur eine echte Religion in dieser 
Welt, nämlich die der ehrlichen Leute, und weil 
man nicht ehrlich leben kann, man lebe denn nach 
den Evangelien, so muss das ganz gewiss die rechte 
Religion sein". Hier notire ich den Ausdruck: „die 
Religion der ehrlichen Leute," da viele Jahre später 
„la religion des honnStes gens" als ein Schlagwort 
Voltaire's und der Philosophen figurirt, allerdings mit 



— 78 — 

etwas veränderter Bedeutung, indem dort der Ausdruck 
geradezu die Religion der Gebildeten im Gegensatze 
zu derjenigen des Pöbels bezeichnet. 

Wenn man sich daran erinnern will, in welcher 
bigotten Umgebung die alternde Herzogin lebte, so 
findet man ihre satirischen Ausfälle auf die Geistlich- 
keit sowohl als auf die scheinheilige Frommthuerei 
nicht unberechtigt. Allerdings betrachtet Elisabeth 
die Geistlichen aller Confessionen mit einer an Ver- 
achtung streifenden Abneigung. Sie meint, die Pfarr- 
herren seien nicht gar zeitvertreiblich, sie erblickt in 
ihnen die hauptsächlichsten Hindernisse einer religiösen 
Einigung , Pedanten , Streithähne , ehrgeizige kleine 
Tyrannen, welche im Namen Gottes auf den eigenen 
Vortheil ausgehen. Dem Gedanken nach stimmt sie 
ganz mit Voltaire überein, wenn dieser schreibt : „Wer 
mir heute sagt: glaube wie ich, oder Gott wird dich 
strafen, der wird mir morgen sagen: glaube wie ich, 
oder ich bringe dich um". Mit einem Seitenblick auf 
das scheinheilige Treiben von Versailles warnt Elisa- 
beth vor der Bigotterei. „AUzugrosse Devotion macht 
Manche zu Narren," meinte sie, und fügt dann schelmisch 
hinzu : „Ich glaube nicht, dass ich hievon jemals närrisch 
werde". 

Gleichwie Elisabeth in Religionssachen zwischen 
Gott und sich keinen Mittelmann leiden wollte und 
mit der Bibel in der Hand gegen Predigten sowohl 
als gegen Erbauungsschriften eine kühle Selbstständig- 
keit beobachtete, so befliss sie sich, gegenüber den 
Heilkünstlern des Leibes ein festes Programm durch- 
zuführen. Ein damaliger Arzt war in der That in 



— 79 — 

zahlreichen Fällen ein Individuum, das man im In- 
teresse persönlicher Sicherheit sich vom Leibe halten 
musste. Die Preservativcuren waren an der Tages- 
ordnung. Ludwig XIV., auch wenn er sich ganz wohl 
befand, musste sich fortwährend Aderlasse, Purgirungen, 
Klystire gefallen lassen, und über diese Operationen 
kamen regelmässige Bulletins heraus, als wäre der 
König krank gewesen. Hören wir, wie unsere Prin- 
zessin in diesem Puncte sich zu helfen wusste: „Ich 
bekümmere mich wenig um der Doctoren Ungeduld. 
Als ich den meinigen gewählt, habe ich's ihm zimi 
Voraus gesagt, dass er keinen blinden Gehorsam von 
mir fordern könne, dass ich ihm zwar erlaube, seine 
Meinung zu sagen, sich aber nicht zu ärgern, wenn 
ich sie nicht befolge ; dass meine Gesundheit und mein 
Leib mir angehören, ich sie also gouverniren wolle, 
wie ich es a propos finde. Die Doctoren müssen was 
von ihrer Kunst reden, um sich nöthig zu machen. 
Ich finde aber nichts Gelehrteres als die Natur und 
lasse diese walten. Wenn sie einmal fehlt, so ist's im- 
mer noch Zeit, sich mit Quacksalberei zu plagen. Die 
Doctoren können selten eine Krankheit heilen, wie 
wollten sie einer Krankheit zuvorkommen ! Wenn man 
sich ans Doctoriren gewöhnt, so wird die Natur faul, 
und man findet sich gezwungen fortzufahren, welches 
ein elendes Leben macht" (vom Jahre 1705). 

Die Schicklichkeit gestattet nicht, interessante Mit- 
theilungen, welche Elisabeth über die damaligen Sitten 
Frankreichs und das Leben und Treiben unter der 
Eegentschaft ihres Sohnes macht, hieherzusetzen. Man 
weiss, wie verdorben jene Zeit war, wie die un- 



— 80 — 

natürlichsten Laster damals offen getrieben würden, 
und die schlimmsten Züge der römischen Kaiserzeit 
wiederholten. Elisabeth schreibt über alle diese Dinge 
mit ihrer gewohnten, ausführlichen Keckheit und warnt 
aufs eindringlichste davor, die Söhne des deutschen 
Adels nach Prankreich zu schicken. 

Elisabeth ist stolz darauf, eine Deutsche zu 
sein. Je älter sie wird, um so mehr nimmt ihr Heim- 
weh nach dem Vaterlande zu. Sie jubelt über jeden 
deutschen Besuch und schreibt einmal: „Ich höre so 
gerne, wie es in Deutschland zugeht. Bin wie ein alter 
Kutscher, der noch gerne die Peitsche knallen hört, 
auch wenn er nicht mehr fahren kann". Sie fürchtet, 
dass ihr langjähriger Aufenthalt in Prankreich ihr 
Deutsch verschlechtert habe, und sie ist glücklich, wenn 
Leibniz ihr das Zeugniss gibt, sie schreibe gar nicht 
übel. Sie mag auch keinen Pranzosen ihre Mutter- 
sprache radebrechen hören : „Es ist ein Ick und Ack, 
das ich nicht leiden kann". 

Besass Deutschland in ihr eine treue Tochter , so 
war sie anderen Nationen, zumal den Engländern und 
den Pranzosen, desto abgeneigter. Der Aufenthalt in 
dem glatten Prankreich machte sie oft traurig und 
verstimmt ; Prankreich scheint ihr voll falscher Teufel. 
Auch die Engländer stehen ihr nicht an, die englische 
Bosheit scheint ihr ein stehender Zug in der nationalen 
Physiognomie dieses Volkes zu sein, und einmal sagt 
sie geradezu: „In meinem Sinne gibt es keine wider- 
lichere Nation als die englische. Sie sind zu boshaft 
und zu neidisch, als dass man sie Keb haben könnte". 

Die galanten Löwen von Versailles kommen bei 



— 81 — 

Elisabeth schlecht weg. Der von allen Damen so ver- * 
götterte Herzog von Eichelieu z. B. war ihr eine wider- 
wärtige Erscheinung. „Es ist," sagt sie von ihm, „ein 
klein Krötchen, so ich gar nicht schön finde, hat keine 
Minen und noch weniger Courage, ist impertinent, untreu 
und indiscret. Ich heiss ihn nur den Heinzelmann; 
denn er gleicht diesem Kobolde wie zwei Tropfen 
Wasser". 

Ceremonien und Förmlichkeiten waren ihr in der 
Seele verhasst. Sie seufzt mehr als einmal über die 
nichtige Grandeur, die, wenn sie nicht mit Macht 
gepaart sei, einem nur zur Last werde, sie nennt 
sich ein andermal „eine rechte Victime de la Gran- 
deur" und meint, sie wäre weit glücklicher, wenn 
sie „ein Mannsmensch und ein Kurfürst" hätte sein 
dürfen. 

Elisabeth besitzt den alten deutschen Ritterstolz, 
der auf den französischen durch häufige Missheirathen 
mit königlichen Bastarden verunreinigten Adel nicht 
ohne Verachtung herabschaut. „Es kann mich toll 
machen, dass ich aus der Haut fahren möchte, wenn 
ein deutscher Pfalzgraf hieher kommt und ihm ein 
lumpiger Duc de France den Rang streitig machen will". 
In solchen Zügen erkennt man ganz die Natur ihres 
Vaters, der nicht viel auf Ceremonien hielt, aber in Wuth 
gerathen konnte, wenn man die Würde seines Hauses 
antastete. 

Am Hofe war Elisabeth, wie man sich denken 
kann, weder verstanden noch geliebt. Man nannte sie 
nur die stolze Pfälzerin (la fifere Palatine) ; denn als 
Stolz deutete man ihre Zurücldialtung und ihren Wider- 

H. 6. 6 



— 82 — 

willen gegen die Unsitten der Zeit. Der Herzog von 
Saint Simon, der getreue Chronist des Hofes Ludwig 
Xiy., hat sie aber richtig gewürdigt, wenn er sie also 
beurtheilt: „Sie war eine Fürstin aus der alten Zeit, 
anhänglich an Ehre, Tugend, Eang und Grösse. In 
Sachen des Anstandes war sie unerbittlich ; eine treff- 
liche und treue Freundin, zuverlässig, dabei gerade, 
in ihren Sitten wahr und bieder". So zeichnet sie der 
Franzose und der Zeitgenosse nach persönlichen Ein- 
drücken, und so erscheint Elisabeth auch wirklich in 
ihren Selbstbekenntnissen, d. h. in ihren Briefen. 

Bis ins hohe Alter behielt Elisabeth ihren mun- 
teren Humor. Als sie fühlte, wie ihre Kräfte allmäh- 
lich abnahmen, konnte sie immer noch über ihre Lage 
scherzen: „Ich werde zuletzt noch ganz austrocknen, 
wie meine Schildkröten, die ich einst zu Heidelberg 
in meiner Kammer hatte". Manchen Trost brachte ihr 
die Theilnahme ihres Sohnes, der keine kindliche Pflicht 
versäumte. „Seine Visiten sind mir gesunder als das 
China, sie thun mir nicht weh im Magen und erfreuen 
mir das Herz, er verzehlt mir als etwas Possirliches, 
so mich lachen macht ; denn er hat Verstand und ver- 
zehlt gar artig". 

„Kleine ünpässlichkeiten wurden ungeschickt be- 
handelt, und so musste ihre Natur allmählich erliegen. 
Krank besuchte sie noch die Krönung Ludwigs XV. 
zu Rheims. Sie wollte, schrieb sie, das liebe Kind noch 
sehen in seiner irdischen Herrlichkeit und dann mit 
Freuden zur unvergänglichen hinübergehen. Sie starb 
im October 1722 als die Letzte des simmerischen 
Kurfürst enthums , als die Stammmutter der Königs- 



— 83 — 



dynastie Louis Philipps von Orleans. Kräftiger, sagt 
Ludwig Häusser , konnte der simmerisclie Stamm 
nicht enden, ein frischeres Reis konnte dem altern- 
den Stamme der Bourbonen nicht eingeimpft werden, 
als dieses gesunde und reine Blut der pfälzischen 
Fürstin," 



Die Entwicklung des Realismus in der 
französischen Dichtung des neunzehnten 

Jahrhunderts. 




iweierlei," sagt Schiller, „gehört zum Poeten 
und Künstler, dass er sich über das Wirkliche erhebt, 
nnd dass er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. 
Wo Beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst. 
Aber in einer ungünstigen, formlosen Natur verlässt 
er mit dem Wirklichen auch das Sinjiliche und wird 
Idealist, — wenn sein Verstand schwach ist, gar phan- 
tastisch. Oder er bleibt bei dem Wirklichen stehen, 
wird realistisch, und, wenn die Phantasie fehlt, knechtisch 
und gemein". 

Diese Worte, welche der grosse Dichter nicht ohne 
bedeutsamen Seitenblick auf die blutlosen Schöpfungen 
der deutschen Romantik geschrieben, bezeichnen so 
einfach als richtig den Kern einer mitunter falsch ge- 
stellten ästhetischen Frage ; denn oft schon ist der Irr- 
thum begangen worden, Idealfes und Reales von vorne 
herein als Dinge zu betrachten, die sich feindlich ent- 
gegenstehen, sich nothwendig ausschliessen. &anz im 
Gegentheile zeigt nun Schiller, wie beide Elemente 



— 85 — 

gleich imerlässliche Bedingungen des Kunstwerkes sind. 
Subjectiv aufgefasst, können sie allerdings in feind- 
Hcheii Gegensatz zu einander treten. Je nachdem näm- 
lich der Künstler dieses oder jenes Element einseitig 
betont, nennen wir ihn einen Reaüsten oder einen 
Idealisten, — ein Gegensatz der Richtung, welcher so 
alt ist als die Kunst; denn schon Sophokles pflegte, 
nach Aristoteles' Zeugniss, zu sagen: „Euripides zeichnet 
die Menschen wie sie sind , ich aber zeichne sie wie 
sie sein sollten". 

Künstler und Welt, Subject und Object, sind und 
bleiben zweierlei und selbst die knechtische Nach- 
ahmung wird eines subjectiven Beisatzes sich nicht 
entschlagen können. Kein Gemälde, keine Statue, keine 
Dichtung wird jenes Angebinde gänzlich abzuweisen 
je im Stande sein. Der relative Procentsatz beider 
Elemente bestimmt die sogenannte Schule, das ein- 
seitige Vorherrschen dieses oder jenes Elementes con- 
stituirt eine Verneinung, ihr harmonisches Gleichge- 
wicht eine Bejalmng der ästhetischen Vollendung. Der 
reine Realismus ist im Reiche der darstellenden Kunst 
ebenso unmöglich als der reine Idealismus: denn ein 
mechanischer Abdruck, eine Photographie fa^en ausser- 
halb des Gebietes der Kunst, und ein Typus ohne reale 
Unterlage ist anderseits zwar denkbar, aber nicht dar- 
stellbar. So vermag also auch der krasseste Realist 
sein theoretisches Ideal «der reinen Copie nicht durch- 
zuführen. Lasst einen und denselben Gegenstand von 
zwei auch noch so gesinnungstreuen Realisten copiren, 
die Reproduction wird jederzeit ein verschiedenes Ge- 
präge, abweicKende Nuancen der Auffassung zeigen. 



K^ 



— 86 — 

Xach dieser theoretischen Verständigung mnss ich 
den Blick des Lesers nochmals anf Schillers Ziel zu- 
rticklenken. Das antike Ideal, welches in Deutschland 
Göthe's geniale Plastik und Schillers sittlicher Ernst 
vielleicht auf Kosten germanischer* Ursprünglichkeit 
betonten, gab einer an sich nicht unberechtigten, an 
vielfachen Anregungen fruchtbaren, wenn auch in ihren 
Leidenschaften verwerflichen, in iliren Thaten er- 
bärmlichen Eeaction, der romantischen Schule, An- 
ßtoss und Dasein. Eine ähnliche Eeaction gegen das 
antike Ideal machte um dieselbe Zeit sich in Frank- 
reich geltend. 

Die Revolution hatte ihre Vorbilder im Alterthum, 
und zwar namentlich in der römischen Republik ent- 
deckt. Klassische Reminiscenzen, Consuln und Procon- 
suln, Tribüne und Legionen, Catilina und der tarpeische 
Felsen, das waren die Schemen, welche die Phantasie 
ihrer Redner umflatterten ; — und die Praxis entsprach 
der Theorie. Statt den traditionellen Organismus einer 
centralen Administration, einer bureaukratischen Bevor- 
mundung durch ein volksmässiges Selfgovernment und 
eine lebenskräftige Autonomie der Gemeinde zu er- 
setzen, gab man sich schliesslich mit der pseudo- 
antiken Umtaufung der bestehenden Beamtenhierarchie 
zufrieden. 

Im Gebiete der Litteratur und der Kunst spukte 
zwischen 1789 — 1800 abermals das Alterthum, wenn 
nicht der Geist, so doch die Namen, von Griechen und 
Römern. Davids Malerschule opferte das Colorit der 
Linie und die bunten Bedingungen der harten Wirk- 
lichkeit dem einfachen, von keitiem schreienden Gegen- 



— 87 — 

Satze gebrochenen Typus. Die klassicirenden Dichter 
des Directoriums und der Kaiserzeit ihrerseits kutschir- 
ten weiter im ausgefahrenen Geleise Racine's und Boileau's 
und wurden so, da Jene bereits ein modernes Echo der 
Alten gewesen, zum Echo eines Echos. 

Aber auch in Frankreich sollte eine nationale Ee- 
action nicht ausbleiben. Wenn wir absehen wollen 
von den Ideen und Bestrebungen der Frau von Stael, 
so verband sich auch hier jene Reaction zunächst mit 
monarchischen und ultramontanen Tendenzen. Im letz- 
ten Jahre des 18. Jahrhunderts, in den Tagen, da in 
deutschen Landen Ludwig Tiecks dramatisch-lyrische 
Schöpfung Genoveva die Wetterscheide des romanti- 
schen Quellengebietes zog, sass in einer öden Kammer 
Londons ein französischer Emigrant, der in mystischer 
Verzückung und unter heissen Thränen Voltaire und 
das Heidenthum abschwor, und das Sanctum seiner 
exaltirten Phantasie mit christlichen Göttern zu möb- 
liren sich das feierliche Wort gab, — der grosse Schau- 
spieler Rene de Chateaubriand. Schon einige Jahre 
früher (1796) hatte Graf Joseph de Maistre mit den 
„Betrachtungen über Frankreich" die ultramontane 
Mine gelegt, welche zwanzig Jahre später so lärmend 
explodiren sollte. Sagt er doch selbst: „La grande 
explosion de mon succes n'eut lieu qu'en 1815". Hatte 
Novalis das Buch seines französischen Bundesgenossen 
gelesen, als er 1799 so leidenschaftlich das Recht der 
freien Forschung befehdete, den Richtern Galilei's Bei- 
fall zollte, Galilei's Entdeckung „eine Verhöhnung 
unserer Erde nannte, welche die Verhöhnung auch des 
Himmels nach sich ziehen würde" ? So viel ist gewiss, 



— 88 — 

dass Novalis' Logik mit der des savoyischen Grafen bis 
in's Einzelne der Argumente stimmt. 

Während Friedricli Schlegel in Berlin für den 
Katholicismus Propaganda macht, erscheint in Paris 
Chateaubriands Buch vom Geiste des Christenthums. 
Hüben und drüben wird das Christenthum als eine 
Quelle des ästhetischen Genusses, als eine „pr6dilection 
d'artiste" empfohlen. Den Ausdruck selbst hat Hettner 
in einem Briefe W. Schlegels gefunden, der ihn einer 
französischen Correspondentin gegenüber als Motivirung 
seiner katholischen Sympathien verwendet. 

Während nun diesseits des Rheines „das Heimweh 
nach der Heimat" unsere Romantiker in den Schooss 
der Alleinseligmachenden und in die Dämmerung des 
Mittelalters treibt, wird drüben die sentimentale Phan- 
tastik Chateaubriands, die ultramontane Logik Maistre's, 
die patriarchale Mystik Bonaids durch die politische 
Abmachung des Concordates gekrönt. Jeder weiss, wie 
am Ostertage des Jahres 1802 die Aussöhnung mit Rom 
im feierlichsten Pompe begangen ward. Zufrieden blickte 
der erste Consul von der Höhe seines rothen Frackes 
auf das Festgepränge und die wogende Volksmenge und 
wandte sich zum alten Haudegen Dumas mit der triumphi- 
renden Frage : „Nun, mein General, was meinen Sie 
zu dem?" — „Ich meinerseits," versetzte der Ange- 
redete, „vermisse nur Eines, nämlich die paar Hundert- 
tausende, welche ihr Leben gelassen haben, um das 
zu stürzen, was wir heute wieder aufrichten." 

Der Geist jener Reaction dachte anders. Während 
unsere deutschen Romantiker, ein Adam Müller, ein 
Friedricli Schlegel, ein Zacharias Werner und andere 



— 89 — 

morsche Wüstlinge im Schoosse der katholischen Kirche 
Thron und Altar feierten und in den „trüffelduftenden 
Regionen der österreichischen Diplomatie" nach einem 
letzten Genüsse sich umsahen, schoss der ultramontane 
Samen Chateaubriands und Maistres in üppige Halme 
und die sentimental gestimmten Jünglinge von 1820, 
die Lamartine und die Hugo, wussten ihrerseits von 
nichts Höherem zu singen als vom Throne und vom 
Altar, vom König und vom Priester. Noch 1824 sang 
der fromme Hugo den frommen Lamartine also an: 
„Auf demselben Wagen wollen wir streiten, fülire du 
die Lanze, ich werde die Eosse lenken". Ja sogar 
B6ranger erzählt uns in seiner Autobiographie, wie er 
unter dem allgewaltigen Eindrucke von Chateaubriands 
Grenie du Christianisme ein christliches Epos begonnen 
und, freilich nicht für lange, durch den wiederaufge- 
nommenen Kirchenbesuch sich poetisch zu kräftigen 
und aufzufrischen gesucht habe!! 

Wenn wir unsere Parallele auf das ästhetische 
Gebiet allein beschränken, so müssen wir bekennen, 
dass die französische Romantik von vorne herein einen 
entschiedenen Vorsprung der deutschen Romantik gegen- 
über besass, indem ihre Sentimentalität den realistischen 
Boden nie verliess, den poetischen Inhalt nur selten in 
der blossen Stimmung suchte. Chateaubriand hätte 
schwerlich die Ansicht Friedrich Schlegels unterschrie- 
ben, welche dieser in dem romantischen Kernsatze 
niederlegt : „Es ist der Anfang der Poesie, die Gesetze 
der Vernunft aufzuheben. Das ist romantisch, was uns 
einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form 
darstellt," — und ebensowenig, was Tieck behauptet, 



-- 90 ~ 

wenn er schreibt, dass die Stimmung den Inhalt zu 
ersetzen vermöge und beifügt: „Warum soll eben In- 
halt den Inhalt eines Gedichtes ausmachen?" — Und 
wiederum hätten die deutschen Romantiker sich wohl 
gehütet zu schreiben, was Chateaubriand am Schlüsse 
seines Eene dem alten Priester Souel in den Mund 
legt: „Nichts in deiner Greschichte, o Jüngling, ver- 
dient das Mitleid, welches man dir hier erweist. Ich 
vermag in dir, mein Eene, nichts anderes zu sehen als 
einen jungen Träumer, der eigensinnig an seiner Traum- 
welt festhält und wie ein Thor diesem Eigensinne seine 
gesellschaftlichen Pflichten opfert. Man ist noch lange 
kein Genie, wenn man die Welt in widerwärtiger Be- 
leuchtung erblickt, nur der beschränkte Mensch kann 
die Menschen hassen. Mach' deine Augen auf und dein 
Weltschmerz wird in nichts zerfliessen". Das hätten 
jene thatenscheuen Phantasten, die unseren Schiller 
vornehm ignorirten, weil ihnen sein sittlicher Ernst in 
der Seele zuwider war, die nachgerade auch mit Göthe 
haderten, als er seinen Wilhelm Meister durch die fröh- 
liche That und die stärkende Erfahrung des Lebens 
erzog, — niemals unterschrieben, niemals selbst ge- 
schrieben ! 

Der Realismus der französischen Romantik tritt 
uns bei Chateaubriand nicht nur in glänzend colorirten 
Naturschilderungen , in den künstlich naiven Scenen 
des antiken Lebens seiner Märtyrer, sondern auch in 
der grob sinnlichen Behandlung seines Himmels, seiner 
Hölle und seines Fegfeuers entgegen. Das Alles dürfte 
beweisen, dass während die deutsche Romantik erst 
mit Tiecks Novellen, deren erste 1821 erscheint, in den 



— 91 — 

Bereich des Realismus hinüberlenkt , die französische 
in ihrem Anfange schon den realistischen Charakter nicht 
verleugnet. So gross nun auch die Entfernung sein 
mag , welche einen Roman Zolas von einer Dichtung 
Chateauhriands nach Form und Inhalt trennt, so lassen 
sich doch unschwer die Kettenglieder entdecken, die 
zwischen diesen mehr scheinbaren als wirklichen Ex- 
tremen den Zusammenhang herstellen. Diese Ueber- 
gänge aufzusuchen und in Kürze nachzuweisen, wird 
nun meine Aufgabe sein. 

Nachdem die Oper des Kaiserreiches, die von 
Talma angeregte Einführung des historischen Kostüms 
auf der tragischen Bühne, die realistischen Tendenzen 
der französischen Maler — Gericaults epochemachendes 
Bild „Schiffbruch der Fregatte Medusa" zierte die Aus- 
stellung des Jahres 1819 — die Passion für die Local- 
farbe geweckt, nachdem später die kühnen Kritiker 
des G 1 b e mit gewinnender Beredtsamkeit und über- 
zeugender Logik die Theorie der französischen Ro- 
mantik entwickelt hatten, schritten die jungen Lyriker 
Frankreichs beherzt voran in die sich öfl&iende Bresche, 
trieben die Klassiker aus ihrer stärksten Position, dem 
Th^ätre frangais, setzten Shakespeare auf den von 
Racine geräumten Thron und bald liess sie ihr realisti- 
scher Instinct und der trunkene Uebermuth des Sieges 
vor keinem Wagnisse mehr zurückbeben. Aus Deutsch- 
land drangen romantische Elemente ein. . Des feinen 
Löwe- Weimars wohlberechnete XJeberarbeitung zeigte 
unseren Romantikern das Phantastische in den wilden 
Schöpfungen Callot-Hoffmanns ; der Cultus des Charak- 
teristischen (coleur locale), des Hässlichen, die Ver- 



— 92 — 

Wendung des malerischen Wortes, Effecthascherei über- 
haupt wurde ihnen nachgerade zum ersten Kunstgebote 
und das Groteske begnügte sich täglich weniger mit 
„dem Winkel des Bildes", den Hugo's Programm vom 
Jahre 1827, die Vorrede zu seinem Drama Cromwell, 
ihm angewiesen hatte. In dem wohlwollenden Pessimi- 
sten, dem acht künstlerisch angelegten M6rimee, dessen 
ironische Objectivität und kühle Besonnenheit dem 
alten Olympier in Weimar um so mehr imponixte, als 
er den jungen Franzosen im Besitze einer Reife sab, 
die er selbst erst in den Jahren der Manneskraft er- 
rungen, — in M6rimee schliesst die realistische Ten- 
denz der Romantik einen folgenschweren Bund mit 
dem Vater des neufranaösischen Materialismus, mit 
Heinrich Beyle, der sich Stendhal (nach Sainte Beuve 
hergenommen von Steinthal, Winckelmanns Geburtsort) 
nannte, einem Manne, der das Erl)e des Baron Hol- 
bach seinen verdutzten Zeitgenossen mit der unver- 
schämten Prätention einer nagelneuen Erfindung über- 
liefert, seinen Atheismus und seine Rohheit in der Ge- 
wandung physiologischer Kunstausdrücke auf dem Ge- 
biete des Romanes und der Kunstgeschichte entfaltet, 
dem Ideal und der Sitte einen ruchlosen Krieg erklärt. 
Nachdem 1830 der Doppelsieg über König Boileau 
und König Karl errungen war, löste sich die geschlossene 
Phalanx der Romantiker wie die der Politiker. Ein 
jeder begann auf eigene Faust zu operiren und wenn 
noch eine gemeinsame Losung blieb, so war es das 
Feldgeschrei: „Frappez fort! — Dick aufgetragen!" 
und „L'art pour Tart! Die Kunst ist frei!", eine Formel, 
juit welcher die französischen Romantiker, wie einst 



— 93 — 

unsere deutschen Romantiker mit ihrer „künstlerischen 
Ironie," das Recht der subjectiven Willkür sich zu 
wahren suchen. Die Rosse des Wagenlenkers Hugo 
gehen mit ihrem Kutscher durch und auch Lanzen- 
führer Lamartine wird bald mit dem „Sturze seines 
Engels" (La chute d'un ange, 1836) einen schweren 
realistischen Fall thun. Göthe verfolgt nicht ohne böse 
Ahnungen die Entwicklung jenes pathologischen Pro- 
cesses, den er mit den oft citirten Worten kennzeichnet: 
„Das Klassische ist das Gesunde und das Romantische 
das Kranke". 

Es war Sonntags den 14. März 1830, als Göthe im 
Gespräche mit seinem getreuen Eckermann sich also 
äusserte : 

„Ich bin der Meinung, dass diese im Werden be- 
griflfene poetische Revolution der Litteratur selber in 
hohem Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern 
aber, die sie bewirken, nachtheilig sei. Bei keiner 
Revolution sind die Extreme zu vermeiden. Bei der 
politischen will man anfänglich nichts weiter als die 
Abstellung von allerlei Missbräuchen; aber ehe man 
es sich versieht, steckt man tief in Blutvergiessen und 
Gräueln. So wollen auch die Franzosen bei ihrer jetzi* 
gen litterarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter 
als eine freiere Form, aber dabei bleiben sie jetzt nicht 
stehen, sondern sie verwerfen neben der Form auch 
den bisherigen Inhalt. Die Darstellung edler Gesinnun- 
gen und Thaten fangt man an für langweilig zu er- 
klären, und man versucht sich in Behandlung von 
Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts 
griechischer Mythologie treten Teufel, Hexen und Vam- 



— 94 — 

pyre, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen 
Gaunern und G-aleerensclaven Platz machen. Derglei- 
chen ist pikant ! Das wirkt ! Nachdem aber das Publi- 
kum diese stark gepfeflferte Speise einmal gekostet und 
sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach 
Mehrerem und Stärkerem begierig. Ein junges Talent, 
das wirken und anerkannt sein will und nicht gross 
genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muss sich dem 
Geschmacke des Tages bequemen, ja es muss seine 
Vorgänger im Schauerlichen noch zu überbieten suchen. 
In diesem Jagen nach äusseren Effectmitteln aber wird 
jedes tiefere Studium und jedes stuf enweise^ gründliche 
Entwickeln des Talents und Menschen von Innen her- 
aus ganz ausser Acht gelassen. Das ist aber der grösste 
Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die 
Litteratur im Allgemeinen bei dieser augenblicklichen 
Eichtung gewinnen wird." 

„Wie kann aber," versetzte Eckermann, „ein Be- 
streben, das die einzelnen Talente zu G-runde richtet, 
der Litteratur im Allgemeinen günstig sein ?" 

„Die Extreme und Auswüchse, die ich bezeichnet 
habe", erwiederte Göthe, „werden nach und nach ver- 
schwinden ; aber zuletzt wird der sehr grosse Vortheil 
bleiben, dass man neben einer freieren Form auch einen 
reicheren, verschiedenartigeren Inhalt wird erreicht 
haben und man keinen Gegenstand der breitesten Welt 
und des mannigfaltigsten Lebens als unpoetisch mehr 
wird ausschliessen. Ich vergleiche die jetzige litterarische 
Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar 
an sich nicht gut und wünschenswerth ist, aber eine 
bessere Gesundheit als heitere Folge hat. Dasjenige 



— 95 — 

wirklich Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt 
eines poetischen Werkes ausmacht, wird künftig nur 
als wohlthätiges Ingrediens eintreten, ja man wird das 
augenblicklich Verbannte, das Reine und Edle, bald 
mit desto grösserem Verlangen wieder hervorsuchen". 

Die Diagnose der Krankheit ist richtig gestellt, 
die Symptome sind genau beschrieben, aber wenn Gröthe's 
Optimismus eine Heilung leicht und nahe bevorstehend 
glaubte, so hatte er sich sehr verrechnet; denn schon 
drängte eine neue Generation nach, welche den Realis- 
mus immer ausschliesslicher pflegte und an die Stelle 
der romantischen Sentimentalität das „Temparament" 
setzte: die Musset, die G-autier und die Balzac. 

Um die ganze Kluft zu bemessen, die den Roman- 
tiker von 1820 von einem Realisten des Jahres 1830 
trennt , wollen wir eine Stelle aus Alfred de Vigny's 
1832 geschriebenen Stelle mit der aus demselben 
Jahre stammenden Vorrede der „Jeunes France" von 
Theophile Gautier vergleichen. Im siebenten Capitel 
von de Vigny's Buch, das den Titel führt : „Un credo, 
ein Glaubensbekenntniss," richtet der Idealist Stelle 
an den Realisten die Frage: „Wo waren Sie, schwarzer 
Doctor ?" Und der schwarze Doctor antwortet mit er- 
schreckendem Gleichmuthe: „Am Bette eines sterben- 
den Dichters". Stelle seufzt tief auf und nachdem er 
sich einen Augenblick gesammelt, beantwortet er des 
schwarzen Doctors Frage, ob auch er vielleicht ein 
Dichter sei, mit folgendem „im einförmigen Tone eines 
Abendgebetes" vorgetragenen Credo: 

„Ich glaube an mich, weil ich tief im Herzen eine 
geheime, unsichtbare, unerklärliche Macht verspüre, 



— 96 — 

die einer Ahnung der Zukunft, einer OflPenbarung der 
mysteriösen Ursachen der G-egenwart gleich kommt. 
Ich glaube an mich, da in der Natur keine Schönheit 
sich findet, die mir nicht poetischen Schauer einflösst, 
mein Inneres nicht stürmisch erregt, mir die Augen 
nicht mit göttlichen, wimderbaren Thränen füllt. Ich 
glaube fest an eine mir übertragene, unaussprechliche 
Sendung ; an diese glaube ich wegen des grenzenlosen 
Mitleids, das die Menschheit mir einflösst, sie, die meine 
Leiden theilt ; ich glaube an jene Mission wegen meines 
inneren Dranges, durch Worte der Liebe Andere zu 
trösten, zu heben. Dann schwebt die süsse Täuschung, 
der Phönix mit den goldenen Fittigen auf meine Lip- 
pen nieder und ich singe! Ich glaube an den ewigen 
Kampf des inneren Lebens gegen das äussere Leben, 
welches die Seele öde macht, uns anwidert". 

Sentimental, aber edel und ernst! Der Dichter er- 
scheint hier als das gottbegnadigte Wesen, das ja auch 
Göthe in seinem Tasso als ein Wesen besonderer und 
höherer Art geschildert hat: 

„Sein Ange weilt auf dieser Erde kaum, 

„Sein Ohr yemimmt den Einklang der Natur ** etc. 

Vergleichen wir nun das Credo der jungen Genera- 
tion. Wir finden es in der Vorrede von Gautiers No- 
vellenkranz „Les Jeunes France". Sie sprudelt von 
frecher Laune und üppiger Sinnlichkeit. 

„Meine Vorrede," heisst es da unter Anderem, 
„meine Vorrede geht vor Allem den Ideen aus dem 
Wege. Ich schwöre es bei Allem, was mir heilig ist ! 
— Doch, halt da ! — Gibt es für mich denn überhaupt 
noch etwas Heiliges? — Ich schwör's bei meiner Seele, 



— 97 — 

an die ich freilich nicht so recht zu glauben vermag, 
— bei meiner Mutter, an die ich wenigstens einiger- 
massen glaube .... Früher glaubte ich an Alles, so- 
gar an Alles, was man druckt, an Grabschriften und an 
Zeitungen, ja ich glaubte an die Tugend des Weibes! — 

„Woher ich stamme? Aus den Pyrenäen, — bin 
aber gleichwohl Stockpariser, so dass ich nocli keine 
Sonne habe aufgehen sehen, und Weizen von Hafer 
zu unterscheiden ausser Stande bin. — Eine dreistündige 
Droschkenfahrt ist meine längste Eeise. Eine idyllische 
Landpartie! Wir speisten im Freien. Fliegen fielen 
mir in's Grias, Raupen krochen mir die Beine hinauf. 
Als ich aufstand, zeigte meine weisse Beinbekleidung 
einen grünen Fleck, Ihr wisst an welcher Stelle. Ich 
sah eine Pflanze, pflückte sie, — es soll eine Nessel 
gewesen sein. Sie brannte mich, dass ich Blasen be- 
kam. Und das heisst Landleben und Poesie! 

„Mein politisches Credo ist einfach. Nach tiefen 
Meditationen über den Sturz der Throne bin ich zu ' 
folgenden Resultaten gelangt: „ — 0". — Was ist eine 
Revolution? Ein verworrener Knäuel von braven Leu- 
ten, die in den Strassen auf einander schiessen und um 
die Wette Scheiben einschlagen. Den Profit von all 
dem haben die Grlaser und allenfalls die Gemüsegärtner; 
denn wo ein Held begraben liegt, da sollen im Früh- 
jahr die süssen Erbsen besonders üppig gedeihen. — 
Ist das Schiessen und Scheibeneinschlagen zu Ende, so 
steckt man eine neue Fahne auf und irgend ein Quidam 
schleicht sich sachte heran nnd setzt sich auf den Thron. 

„Was hältst du von der Kunst ? So fragt Ilir. Die 
Kunst, die halte ich für Schwindel. Nach meiner An- 

H. B. 7 



— 98 — 

sieht gibt es nur einen Künstler, den Seiltänzer. Und 
gewiss habe ich Recht. Denn um über's schlaflfe Seil 
zu laufen, braucht es zehnmal so viel Kunst als um 
zwanzig Wagenlasten fünfactiger Trauerspiele zu com- 
poniren. 

„Und die Moral? Was die Moral anlangt, so er- 
scheint mir nichts winziger und unbedeutender als das 
Laster, ausgenommen eines Weibes Tugend. 

„Was ich endlich von der Liebe halte ? Ich bin 
ein prädestinirter byronischer Schmachter. Da mir die 
Natur einen grünlichet Teint verliehen und ich mit- 
unter kreideweis aussehe, so finden mich die Damen 
zum Fressen satanisch, allerliebst byronisch! Welt- 
schmerzler in optima forma! Ich meinerseits bin fest 
entschlossen, diese vortheilhafte Meinung auszubeuten. 
Sämmtliche Spielarten des Don Juantypus gedenke ich 
in einem CoUectivcharakter zu vereinigen. Aus allen 
braunen und blonden Locken, die meine Schönen mir 
geschenkt und schenken werden, lasse ich eine Matratze 
machen". 

Das Credo schliesst mit den bezeichnenden Worten : 
„Zum Henker mit dem Vers und der Prosa! Ich bin 
von nun an Lebemann! Je suis un viveur maintenant". 

Hier liegt denn in der That des Pudels Kern. In 
einem Zuge ist man jetzt Poet und Viveur, Dichter 
und Lebemann. So sprechen 1830 schon die Jung- 
franzosen und bald auch die Jungdeutschen. Emanci- 
pation des Fleisches heisst das Ding mit seinem vor- 
nehmeren Namen. Mit den Resten der romantischen 
Sentimentalität wird man freilich nicht so leichten 
Kaufes fertig. Während vom Einen die Empfindungs- 



— 99 — 

religion als ein überwundener Standpunkt verhöhnt 
wird, huldigt ein Anderer den alten und den neuen 
G-öttern zugleich. In der doppelten Gestaltung acht 
romantischer Selbstironie und sentimentalen Katzen- 
jammers sucht er jenen Dualismus künstlerisch zu ge- 
stalten. Neben Gautier und die optimistischen Epi- 
kuräer, die keiner Reue fähig sind, stellen sich Na- 
turen wie Musset und Heine, in denen Lust und 
Schmerz nicht nur zum Schein um die Herrschaft rin- 
gen. Aber auch heute ist der Romane wiederum sinn- 
licher als der Germane. Rascher durchdringt-der Realis- 
mus die Form und schonungloser arbeitet er dem 
Materialismus in die Hände. Der gute Geschmack der 
gebildeten Welt leistet anfänglich Widerstand. Mussets 
und G-autiers erste Erfolge waren keine Salonerfolge, 
sie wurden vielmehr in den Kreisen der Künstler und 
Studenten weit, d. h. in denjenigen Regionen errungen, 
aus welchen sie hervorgegangen waren und deren kecke 
und cynische Sprache sie geborgt hatten. Die über- 
schäumende Lebenslust mit ihrem übermüthigen Tone, 
ihrem ruchlosen MuthwiUen, ihrer anmuthigen Frivoli- 
tät, ihrer sinnlichen Gluth, ihrem rasenden Behagen 
an den Reizen des Weibes, am schimmernden Luxus 
des Costüms, mit ihrem heissen Verlangen nach dem 
Genüsse und nach dem, was Genuss verschafft, dem 
blinkenden Golde, — sie barg in der That nicht nur 
für den sittlichen Ernst, sondern auch für den ästheti- 
schen Geschmack einen widrigen Bodensatz: Cynismus, 
Blasirtheit, gebrochene Manneskraft, verfrühtes Greisen- 
thum, ein ruhmloses, ein erbärmliches Ende! — Es 
muss zur Ehre der französischen Kritik gesagt werden, 



— 100 — 

dass sie in jeder Form und bei jeder Gelegenheit ihren 
Protest gegen die Invasion des poetischen Materialis- 
mus eingelegt hat. Wie oft und ernst hat die Revue 
des deux Mondes sich ausgesprochen ! In einem Artikel 
über Theophile Gautier (v. Jahre 1852) spricht es der 
bewegliche und so oft verblümte Sainte Beuve einmal 
mit dürren Worten aus: „Man dichtet heute mit dem 
Temperament, man schreibt mit Blut und Muskeln, 
man ist Poet und Lebemann zugleich! — aber eines 
schönen Morgens vermisst man seine Jugend und • — 
siehe da ! Auch die Muse ist entflohen ! Herrlich strah- 
len und strotzen sie in ihrer Jugendfülle, — aber nie 
erreichen sie die Höhe der männlichen Vollkraft ! Das 
ist der geheime Schaden, an dem die Dichter von heute 
kranken!" Wir Deutsche denken hier nicht ohne Schmerz 
an Heinrich Heine. Dem sinkenden Musset gegenüber 
ist er der Starke, denn Mussets reiche Kraft war längst 
versiegt, als Heines heroischer Geist den Qualen der 
Matratzengruft noch fort und fort den Sieg abtrotzte. 
Heines Siechthum schloss ein Jahr vor Mussets schlaffem 
Ende. Obgleich durch Lindaus Biographie die ver- 
nichtenden Urtheile Laprades, Pontmartins und Vitets 
dem deutschen Leser hinlänglich bekannt sind, wage 
ich es die ernsten und vielsagenden Worte des Letzt- 
genannten zu wiederholen. Sie zeichnen die Schule des 
Temperamentes zu wahr und treffend, um hier nicht 
eine Stelle finden zu sollen. 

„Wir haben heute herrliche Systeme, die uns den 
Dichter als ein absonderliches Wesen hinstellen, das 
anderen Gesetzen gehorcht als die übrigen der Sterb- 
lichen. Einst hielten sich die Dichter verpflichtet, ihrem 



X • «> «f. 



— 101 — 

Talente durch Antrengung zu Hülfe zu kommen. Sie 
lebten der Arbeit und ordneten Vergnügen und In- 
teresse dem Ruhme unter. Verbrauchte Mittel ! Ueber- 
lebte Methode ! Ueberwundener Standpunkt ! Heute 
schlägt man bequemere Wege ein, um das Ziel des 
Ruhmes zu erreichen. Man sucht die GeseDschaft, ver- 
geudet «eine Jugend, übersättigt sich mit Vergnügen. 
Das gilt heute für die Lehrzeit, die jeder geniale Dichter 
durchzumachen hat. Aus einer beispiellosen Vergünsti- 
gung macht man so ein bindendes Gesetz. Was Gott 
nur in übergrosser Gnade gewähren kann, das fordert 
man als sein Recht." 

„So oft ich solche Blasphemie aussprechen höre, 
muss ich an eine Ideine in der nächsten Nähe von 
Ronen gelegene Hütte denken. Eine bescheidene Wiese 
und drei bis vier Apfelbäume sind ihr einziger Schmuck. 
Hier ist der C i d geschrieben worden. Corneilles naive 
Grösse wusste nichts davon, dass er durch sein Leben 
in dieser armen Behausung die Flamme seines Genius 
ersticke und seinen Ruhm vernichte. Er fürchtete 
Gott, ehrte die Pflicht und das Gebot, reiste nur in 
Gedanken , hatte keine Abenteuer als diejenigen , die 
er seine Helden bestehen Hess, und fühlte trotzdem 
keine Leere in seinem Herzen. Er suchte die Auf- 
regung nicht draussen, wenn er die Freude hatte, 
schöne Verse zu schreiben und Frau und Kinder um 
sich zu sehen." 

Die Schule des Temperamentes hat aber nicht 
nur ihre Märtyrer, sondern auch ihre siegreichen Ath- 
leten. Gautier ist ihr charakteristischer Typus. Weni- 
ger fein und empfindsam als Musset, in der Linie des 



— 102 — 

Temperamentes consequenter und robuster, hat seine 
unverwüstliche Natur ihre Rolle 40 Jahre lang mit 
Grlück gespielt, seine realistische Ader ist lange und 
reich geflossen, hat seine Dichtung mit breitem galli- 
schem Humor gewürzt, seine Form mit plastischem 
Relief versehen und mit warmen Farben gesättigt. Als 
ein äusserer Mensch hat Gautier gelebt und geendet. 
Stendhals selbstgefertigte Grabschrift gilt auch seinem 
Steine: „Scrisse, visse, amö!" Auch eine Schule hat 
Gautier gegründet: „L'ecole de Tart pour Tart", 
deren Jünger sich als die Phantasiekünstler (artistes 
fantaisistes) bezeichnen. Die meisten der lyrischen 
Epigonen Frankreichs sind von Musset und Gautier 
ausgegangen, vom formgequälten, pretiosen Baudelaire 
bis zum weinerlichen Realisten Coppee. Das Manifest 
seiner Schule hat Gautier (1835) in die scandalöse 
Vorrede eines scandalösen Romans „Mademoiselle de 
Maupin" niedergelegt. Sie kündet die optimistische 
Phase des französischen Realismus an, den lustigen 
Rausch vor dem pessimistisch gelaunten Katzenjammer. 
Diese Phase kennzeichnet sich durch die kecke Unge- 
bundenheit einer heiteren, muthwiUigen , insolenten 
Sinnlichkeit, die vor allem keinerlei Tendenz im Reiche 
der Kunst zu dulden gewillt ist, die dichtet und er- 
zählt um des Liedes und des Mährchens willen, in der 
des Dichters Laune (fantaisie de Tartiste) die Garantie 
ihrer wilden Freiheit erblickt. Der praktische Materia- 
lismus dieser Schule hat eine rosige, keine düstere 
Färbung, ist cynisch ohne Misanthropie, wendet sich 
nicht mit Affenliebe dem Cultus des Hässlichen zu, 
um in dessen knechtischer Copie den Triumph dey 



— 103 — 

Kunst zu suclieu oder in der schreienden Darstellung 
des socialen Elends den Hass der Armen zu stacheln. 
Endlich meidet es die sentimentale Declamation der 
Romantiker als Heuchelei zugleich und als Greschmacks- 
sünde. Das alles ist in jener Vorrede möglichst her- 
ausfordernd und unanständig vorgetragen. Der Ver- 
fasser derselben erklärt unter Anderem, er würde sein 
Vaterland mit sammt dem französischen Bürgerrechte 
nicht nur für Kaphaels Gemälde, sondern auch für 
Gyges Kunstgenuss in Kandaules Kammer hingeben. 
Anderswo sagt er : „Ich bin ein Mann aus Homerischer 
Zeit. Die heutige Welt ist nicht die meine und mir 
geht das Verständniss für die Mitwelt ab. Christus 
ist nicht für mich zur Welt gekommen, ein Heide bin 
ich wie Phidias weiland und Alkibiades". Den Utili- 
tätsrittern erklärt er einen Krieg auf's Messer : „Lieber 
keine Kartoffeln mehr als keine Rosen". — „Wer hätte 
die Stirne, dem Michel-Angelo den Erfinder des weissen 
Senfes vorzuziehen?" — „Alles Nützlicheist hässlich, 
denn es ist der Ausdruck eines Bedürfnisses, und des 
Menschen Bedürfnisse sind ekelhaft wie seine Gebrechen" . 
— Man sieht, hier klingt es nach Griechenthum und 
nach Leo X. Aber der Materialist verbindet das Be- 
. liagen am Trivialen mit der Freude am Schönen, und 
das ethische Moment, das Gute, wird mit breitge- 
schnittener Feder ausgestrichen ! So dachten und lebten 
die Jungfranzosen von 1830. Ihr Realismus ist eine 
lärmende Reaction gegen die fade Sentimentalität und 
die hohle Phrase der Lamartine'schen Lyrik. Der be- 
siegte Lamartine fand nichts gerathener als sich dieser 
Richtung zu acconimodiren. Hugos edlere und gehalt- 



— 104 — 

vollere Natur neigte zum pessimistisclien Realismus und 
opferte niemals ihren idealen Kerngehalt. 

Wenn wir nun einen Blick auf die Gebiets- 
eroberungen des optimistischen Realismus werfen, so ge- 
staltet sich die topographische Situation der französi- 
schen Litteratur am Tage nach der Julirevolution etwa 
so. Die romantische Schule hatte ihre Nation mit einer 
eigenen Lyrik besclienkt, aber ohne bleibenden Erfolg 
hatte sie es versucht, das historische Drama an die 
Stelle der. klassischen Tragödie zu setzen und im Ro- 
mane war sie über die mittelmässige Nachahmung 
W. Scotts nicht hinausgekommen. Jetzt bemächtigten 
sich die Viveur s mit Macht dieser letzteren Gattung. 
Wie eine Lawine stürzte der Roman in die Thalge- 
lände der Litteratur und droht sie sammt und sonders 
unter seinen Massenproductionen zu begraben. 

Die unerschöpflichen Erzähler kurzweiliger Aben- 
teuer, die Romanciers de cape et d'epee, die Erben 
der alten Ritter- und Räuberromanc führt der Mulatte 
Alexander Dumas an, ein industrieller Mohr von Venedig, 
der wie Othello zu reden weiss 

— of most disastrous cbauces, 
of moving accidents by flood and field. 

Neben ihm steht ein Mann., dessen Reputation, um 
die Mitte der zwanziger Jahre bescheiden emporrankend, 
eben im Zuge war die Sonne der ersten Erfolge zu 
trinken, als der daherrauschende romantische Heu- 
schreckenschwarm sie zu verfinstern kam. Paul de 
Kock (gestorben 1870) feierte seine Glanzperiode zwi- 
schen 1824 und 1834. Gautier hat ihm eine sorgfältige 
und eingehende Studie gewidmet, deren Hauptgeschäft 



— 105 — 

es freilich ist, uns ein behagliches Bild von dem ver- 
schwundenen Paris des Bürgerkönigs und seiner Bour- 
geoisie zu entwerfen. Grautier hat diese Skizze mit 
sichtbarer Liebe als eine gemüthliche ßeminiscenz aus 
der Jugendzeit durchgeführt, sie athmet unverkennbar 
die lebensfrische Wahrheit eigener Anschauung. 

„Niemals", so ungefähr drückt sich Gautier im 
Anfange seines Essai aus, „niemals war ein Autor volks- 
thümlicher und allgemeiner beliebt als Paul de Kock. 
Jeder las ihn, genoss ihn, vom Diplomaten bis zum 
Weinreisenden, von der Duchesse bis zur Grisette, 
vom Professor bis zum Gymnasiasten. Im Auslande 
war er fast ebenso gekannt wie in der Heimat, und ich 
glaube, die Russen schöpfen heute noch ihre Kenntnisse 
von Paris und den Parisern in Paul de Kock's Ro- 
manen. Schon gedieh das Pflänzlein seines Ruhmes, 
als die lärmende Dazwischenkunft der Romantiker 
mit ihren Ritterphantasien, ihrer Localfarbe, ihrem 
Shakespeare'schen Bilderdienste und Bilderluxus ihm 
die belebende Sonne stahl. Aber der schlimme Mo- 
ment ging vorüber. Unser Paul de Kock ward ein 
berühmter Mann. Ein ächter Bourgeois, ein richtiger 
Philister des Marais, ohne die leiseste Spur von dem, 
was man Stil zu nennen pflegt, ohne einen Schimmer 
von Poesie, ohne die bescheidenste Andeutung einer 
Künstlerader! Aber eben hier lag eine Hauptursache 
seines mächtigen Erfolges. Er genoss den grossen Vor- 
theil, für keinen einzigen seiner Leser zu hoch zu sein. 
Er besass sodaim die vortheilhafte Gabe, Lachen er- 
regen zu können, nicht das feine, attische Lächeln freilich, 
sondern das gemeine, breite, lautschallende Gelächter, 



— 106 — 

welches ansteckend auf den Nachbar zu wirken pflegt, 
unwiderstehlich um sich greift, auf das Zwerchfell 
paukt und unsere Seiten schüttelt. Er lockt es heraus 
jenes Lachen, nicht mit delicaten Mitteln, sondern mit 
der Gauloiserie eines Rabelais, mit zweideutigen, mit- 
unter auch eindeutigen Scherzen, durch spassige Zwi- 
schenfälle, komisches Purzeln, sprachlose Verdutztheit, 
in Stücke gehende Teller und Schjisseln, verschüttete 
Sauce, glücklich applicirte Fusstritte, an die unrechte 
Adresse gelangende Ohrfeigen, manquirte Seiltänzer- 
touren u. dgl." — Wenig Witz und viel Behagen! 
Gemein, aber natürlich und wahr! Heute hat dieser 
Photograph einer nunmehr verschwundenen Kleinbür- 
gerei noch obendrein eine Würde erlangt, die er sich 
jedenfalls nie träumen liess, die Würde eines cultur- 
historischen Monumentes. Seine Heimat und sein 
Mikrokosmos ist das einstige Boulevard de Gand, das 
heutige Boulevard des Italiens. Hier circulirte in seinen 
Tagen noch nicht der sonnenbraune Mann des Südens, 
der wüthend lebhaft gesticulirende Provengale oder der 
ausländische Dandy, vielmehr ein Typus, der längst 
in der Menge sich verloren hat, das Vollblut der Pariser 
Bourgeoisie: weisse Haut und rothe Wangen, kastanien- 
braune Haare und hellgraue Augen, mittlere Grösse, 
schlank und wohlgebaut, — ein Signalement, das für's 
schöne Geschlecht durch ein massiges Embonpoint und 
kleine Knochen sich completirt. Paul de Kock selbst 
ist der letzte Mohikaner dieses vielverschlungenen Jagd- 
pfades. 

Hinter den optimistisch-realistischen Gestalten Gau- 
tiers^ Dumas' und Paul de Kock's taucht nun der Vor- 



— 107 — 

lauf er des pessimistischen Realismus in Balzac auf. 
Er ist der phantasiestrotzende Schöpfer einer langen 
Reihe blendender und düsterer, immer aber wirkungs- 
voller Bilder. Betrachten wir nun erst den Menschen, 
damit werden wir den halben Weg^ zum Verständnisse 
seiner Werke zurückgelegt haben. 

Balzacs persönliche Erscheinung war eine spre- 
chende. Wenn er in seiner weissen Flanellkutte an 
der Arbeit sass, so glaubte man einen Rabelais, einen 
pantagruelischen Pfaffen vor sich zu haben. Auf ge- 
drungenem Torso, von einem muskulösen säulenrunden, 
blendend weissen Halse getragen, sass ein grobge- 
arbeiteter Mönchskopf mit vollen rothen Wangen, sinn- 
lich derben Lippen, krausen schwarzen Haaren und 
einer durch ihre substantielle Tüchtigkeit sich hervor- 
thuende Nase : „Prenez garde k mon nez, mon nez est 
un monde!", rief unser Realist dem Bildhauer David 
d' Angers entgegen, als dieser seine Büste zu modelliren 
sich anschickte. Das Beste und wirklich Schöne an 
jenem Gesichte waren ein Paar auffallend glänzende, 
von Temperament und Lebensfeuer leuchtende Augen. 
Die ganze Erscheinung des Mannes athmete Kraft und 
unbedingte Sinnlichkeit, und dem äusseren Menschen 
entsprach der innere. Es ist hier nicht der Ort, alle 
die ergötzlichen Wunderlichkeiten Balzac's zu wieder- 
holen, welche Gozlan, Gautier und Andere mit Anmuth 
erzählt haben. Ich begnüge mich, einem weniger be- 
kannten Artikel Nettement's einige charakteristische 
Züge zu entlehnen. Der fromme Legitimist bekennt 
mit sauersüsser Miene, dass Balzac „leider" sein Partei- 
genosse gewesen sei, dass er in Folge dieses Umstandes 



— 108 — 

mehrfach mit ihm habe verkehi'en müssen. Eines Tages 
sei ihm nämlich ein „gros paysan" angemeldet worden, 
und der vierschrötige Kerl sei eben niemand anders 
gewesen, als Balzac. Was Balzac den Legitimisten zu- 
führte, sei im Grunde nur dessen Verehrung „für den 
Triumph der absoluten Gewalt" gewesen, die ihm in 
der sittlichen Wett ebenso wie in der physischen im- 
ponirte. Die legitimistische Partei, berichtet Nette- 
ment weiter, suchte seine Feder zu verwerthen, aber 
Balzacs Cynismus habe alles verdorben, er schrieb 1832 
in eine unter dem Patronate Bonaids gegründete Revue. 
Herr von Genoude kam auf den Gedanken, man könnte 
Balzacs Talent „regle et epur6 par les idees generales 
du Journal" im Feuilleton der ultramontanen Gazette 
de France verwenden. Nettement übernahm es, das 
unreine aber brauchbare Individuum dem frommen 
Abbe vorzustellen. „Obgleich wir unten an der Treppe 
ihm noch dringend empfahlen, auf seine Worte zu ach- 
ten, erklärte Balzac dem Herrn Abbe doch schon mit 
dem zweiten Satze, dass er ihm seine ganze Menagerie 
zur Verfügung stelle, — so nannte Balzac die Mensch- 
heit, deren Typen er in seinen Romanen sammelte, gänz- 
lich vergessend, dass der Gott des katholischen Prie- 
sters, zu dem er sprach, Mensch geworden war, um 
die Menschen zu erlösen. Beim dritten Satze erklärte 
er sich bereit, an Wunder zy glauben, um so mehr, 
da er selbst schon durch Handauflegen welche ver- 
richtet habe, mit Ausnahme freilich der Todtener- 
weckung, die ihm bisher noch nicht gelungen wäre". 
Man sieht, Balzac war weder eine reine noch eine 
schöne Seele, noch das^ was mau einen Idealisten zu 



— 109 — 

nennen pflegt. Seine Schriftstellereitelkeit ergötzte 
durch ihre ländliche Unbefangenheit. Er nannte sich 
den ersten Marschall der Litteratur, betrachtete sein 
Lebenlang Napoleon als einen lästigen Concurrenten 
in der Gloire, und um das Publikum mit seiner Person 
zu beschäftigen, pflegte er seine Finger mit einer' Masse 
von 'massiven Eingen zu belasten , seine Haare nach 
mönchischer Weise zu scheeren, jenen kolossalen Stock 
mit goldenem Knopfe. mitzuschleppen, welchen Mme. de 
Girardin im Titel einer ihrer gelungensten Novellen 
verewigen sollte. 

Was Balzac neben seinem cynischen Humor und 
einer scharfen Beobachtungsgabe zur Eomanschreiberei 
mitbrachte, war eine orientalische Phantasie, gepaart 
mit einem mächtigen Willen. Seine ungezügelte Ein- 
bildungskraft beherrschte sein ganzes Wesen und Trei- 
ben und betrog ihn um die vollen Resultate seines 
realistischen Scharfblicks. Seine Phantasie verlor sich 
— und das ist bezeichnend für den industriellen Ro- 
man der Epoche überhaupt — mit Vorliebe in den 
Träumen der unermesslichsten Reichthümer und uner- 
schöpflichsten Schätze, und schwelgte in den Vorstel- 
lungen des rafiinirtesten Luxus. Gold und abermals 
Gold ist ihre Parole. Balzac ist der erste französische 
Romanschreiber, der seine Verliebten mitten im Kosen 
der Liebe noch rechnen lässt. Schildert er die Ent- 
behrungen junger Leute, so weiss er sie mit goldenen 
Hofihungen zu trösten, die ihnen die schmale und 
schlechte Kost „les durs biftecks de la vache enragee" 
mehren und würzen. Geld und Genuss sind überhaupt 
die herrschenden Motive seiner Helden. Der Millionen- 



— 110 — 

träum war übrigens auch die Privatbeschäftigung seiner 
freien Augenblicke, das Lieblingsfeld seiner humoristi- 
schen Improvisationen im Freundeskreise. Mit dieser 
rastlos arbeitenden, sein ganzes Wesen überwuchern- 
den Phantasie durchlebte Balzac das Leben seiner G-e- 
schöpfe, besonders derjenigen, die sich in irgend ein 
Schatzgewölbe hinein gebohrt und da ihre Taschen 
gefüllt haben. Was Dickens entwickelter Feinfühlig- 
keit mit den rührenden Typen seiner Dichtung 
widerfuhr, das wiederholte sich bei Balzac auf dem 
Felde des imaginären Genusses. „The riebest imagi- 
nation is that of a beggar" , sagt Washington Irving, 
das bewahrheitet sich in der That bei unserem Reali- 
sten , denn bis gegen das Ende seines arbeitsamen 
Lebens schwankte Balzac zwischen den Polen des Ueber- 
flusses und des Elends. Seine Creditoren waren das 
Positivste von Allem, was seine Phantasie beschäftigte. 
Diese freilich war noch reicher als sein Fucino Cane. 
Zu einer Zeit, da ausser der Haute Finance noch Wenige 
an der Börse spielten, da eine Million noch etwas zu 
bedeuten hatte, mussten Balzac^s Phantasiemillionen das 
Vorstellungsvermögen des grossen Haufens noch weit 
mächtiger an- und aufregen, als sie es heutzutage ver- 
möchten. Balzac umgab die Damen seiner aristokrati- 
schen und commerciellen Welt mit einem Luxus, dessen 
Budget dem wirklichen Finanzbaron als Gatte und als 
Cicisbeo die Gänsehaut über den Leib ziehen musste. 
Sie statteten den Verbrecher, den satanischen Feind 
der Gesellschaft, mit einer Macht aus, die er glück- 
licherweise nie besessen hat. So hat Balzac's Zauber- 
stab die Löwinnen der Demi-Monde zu aristokratischen 



— 111 — 

Salonköniginnen, seine „Hommes forts" zu übermensch- 
lichen Virtuosen der brutalen physischen Kraft ge- 
macht, überhaupt eine Welt von Schemen creirt, die 
das iiaive Europa Jahre lang für das authentische 
Panorama des Pariser Lebens zu halten geneigt war. 
Balzacs Willenskraft kam an Intensitätseiner 
Phantasie gleich. Wie J. J. Rousseau hatte Balzac 
mit der Form unendlich viel zu schaffen. Ein Abgrund 
that sich auf zwischen seinem Gedanken und seinem 
Ausdruck. Im Schweisse seines Angesichts fuhr er 
fort nach dem zu ringen, was er nach dem XJrtheile 
seiner Landsleute nie erreicht, was er stets und schmerz- 
lich an seinen Leistungen vermisst hat, — der stilisti- 
schen Vortrefflichkeit. Sainte Beuve lobt zwar Balzacs 
malerische, in ihrer Corruption reizende, -im Sinne der 
Alten asiatische Schreibweise, aber auch er vermisst 
an ihr Durchsichtigkeit und Schärfe. La Bruy^re sagte 
einmal, unter allen möglichen Arten Gredanken auszu- 
drücken, gebe es eben nur eine, welche die rechte, und 
die ächte sei. Diese einzige sei aber nun gerade die, 
welche zu erwischen Balzac nicht gelingen wolle. Seine 
Diction baue sich aus Versuchen und Tastun'gen auf, 
seine Ausdrücke seien selten glückliche Ergebnisse 
jenes Suchens. Und fast das Nämliche lasse sich von 
seiner Führung und Handlung, von seiner Oekonomie 
und Architektur, kurz von seiner Composition im grossen 
Granzen sagen. Hier fehle ihm der künstlerische Takt. 
Grautier bestätigt dieses anit den Worten : „Balzac 
n'avait pas le don litteraire". — Aber Balzacs ver- 
bissener, und ingrimmiger Wille kämpfte heldenmüthig 
mit allen diesen Hindernissen. Seine Druckcorrecturen 



— 112 — 

mit ihren Zusätzen, ihren ausgestrichenen Stellen, ihren 
Klammern, Curven, Sternchen und Punctreihen glichen 
der kindlichen Darstellung eines complicirten Feuer- 
werks und die Setzer erklärten, nicht über eine Stunde 
„Balzac" arbeiten zu wollen. In diesem Puncte war 
Balzac entschieden Künstler und Idealist; konnte er 
sich doch nie dazu entschliessen, seinen Bogen aus den 
Händen zu geben, so lange er ihn für verbesserungs- 
fähig hielt, — lieber liess er sich das Honorar be- 
schneiden, als dass er seiner beschwerlichen Correctur- 
methode entsagte. Mit dieser hat er denn , wie dies 
kaum ausbleiben konnte, nicht nur verbessert, sondern 
mitunter auch verdorben. So weist Sainte Beuve dar- 
auf hin, dass die erste Ausgabe der „Femme de trente 
ans" besser gelungen sei als die spätere Ueberarbeitung. 
Dieses zähe Eingen nach künstlerischer Vollendung 
begründet Balzacs Anspruch auf eine höhere Stelle 
als diejenige eines banausischen Arbeiters in der grossen 
Romanindustrie seiner Zeit. 

Und nun zu Balzac's Werken. Der phantasievolle 
und willensstarke Mann stellte sich eine Lebensaufgabe, 
welche er mit herkulischem Kraftaufwande durchge- 
führt hat. Nachdem er noch im Laufe der zwanziger 
Jahre unter verschiedenen „Noms de plume" eine Menge 
längst verschollener Romane geschrieben, seit 1829 
durch einen Treffer die Aufmerksamkeit auf sich ge- 
lenkt, fasste er gegen 1835 den Plan, das grosse Mario- 
nettenspiel des Pariser Lebens unter dem zusammen- 
fassenden Titel der „Comedie humaine" in einer Reihe 
von Romanen darzustellen. Man denkt unwillkürlich 
un den Reichthum Shakespeare'scher Gestaltungskraft, 



— 113 — 

wenn man Balzacs zahlreiche Typen durchmustert. 
Mag seine intuitive Beobachtung dieselben unter den 
altfränkischen Grestalten des Kaiserreiches, unter den 
aristokratischen Figuren der Restauration, oder endlich 
in der Bourgeoisie des regenschirmbewaffneten Bürger- 
königs zusammensuchen, der Träumer ist zugleich ein 
positiver Realist, der Phantasiemensch porträtirt wie 
ein photographischer Kasten, er vergisst keine Warze, 
keine Talte, er versteht es die tiefsten Schatten mit 
den hellsten Lichtem zu contrastiren, seinen Gestalten 
durch die Contraste des Colorites ein siegreiches Relief 
zu verleihen. Chargirt wird beiläufig aus künstlerischen 
Gründen, wie Michel Angelo Muskeln zusetzt, um die 
Idee der Kjaft zu erzeugen, wie der Landschafter den 
Himmel tiefer blau malt, um die Okerfelsen heraus- 
zuheben, wie der Komiker die menschlichen Schwächen 
übertreibt , um die Wirkung nicht zu verfehlen. Hi- 
storisch betrachtet, mag Balzacs Gemälde ein treuloses 
genannt werden, denn die Pariser Welt, die er uns 
malt, hat niemals existirt. Aber er entbehrt nicht der 
künstlerischen Wahrhext. Seine Gebilde haben Fleisch 
und Blut. Die mächtige Realität seiner Gestalten gräbt 
sich tief ein in die Phantasie des Lesers. Die Ver- 
tiefung seiner Charaktertypen ist das Elriterium seiner 
dichterischen Befähigung. Weniger glücklich ist die 
Anlage seiner Handlimg. Es fehlt ihm jene bei den 
Franzosen sonst so allgemeine Erzählergabe , welche 
den Leser sanft hinein- und wieder hinausführt, ohne ihm 
das Verständniss der Intrigue verdriesslich zu machen. 
Eine individuelle Manie und eine Manie seiner Zeit spielen 
ihm obendrein noch manchen bedenklichen Schabernack. 
H. B. 8 



— 114 — 

Mit dem kindischen Behagen eines ßaritätensammlers 
verliert er sich in Schilderungen alter Möbel und ehr- 
würdiger Kunstreliquien, so dass sein Roman mitunter 
einer Trödelbude von buntem Krimskrams und allerlei 
Bric-ä-Brac- Artikelchen gleicht. Die zeitgenössische 
Manie aber, die auch in seinen Romanen spukt, ist die 
excentr'sehe Projectmacherei der dreissiger Jahre. Ein 
Romandichter begnügt sich da selten, den Leser mit 
der Erzählung und ihren Charakteren allein zu beschäf- 
tigen. Er muss Höheres bieten. Er hat vor allem die 
socialen, politischen, religiösen, philosophischen und 
naturwissenschaftlichen Fragen des Tages zu beant- 
worten, die gesellschaftliche Organisation der Zukunft 
zu finden, das entscheidende Wort über Magnetismus, 
Electricität , Theosophie, Toxicologie und Physiologie 
auszusprechen. Diese Narrheit der Zeit gräbt ein grosses 
Loch in Balzacs Weg, in das er immer wieder hinein- 
purzelt, aus dem er mit verrenkten Gliedern wieder 
emporkriecht. Wie manche Seite hat Balzac mit sol- 
chen Excursionen angefüllt, die der geneigte Leser, wo- 
fern er Vernunft besitzt, ganz ruhig überschlagen wird ! 
Balzac der Philosoph ist übrigens nur eine neue 
Seite von Balzac dem Realisten. Der ihm persönlich 
befreundete H. Beyle-Stendhal liefert ihm den ganzen 
Inhalt seiner materialistischen Anschauung, und so ist 
auch der physiologische Hocus Pocus von Stendhals 
Terminologie in Balzacs Sprache übergegangen. Beyles 
pessimistischer Cynismus ist auch bei Balzac ein stehen- 
der Effectartikel. Das sittliche und das ästhetische 
Ideal scheinen ihm gleich verhasst zu sein. Die Poeten 
als solche sind Balzac zuwider. Für die Liebe findet 



— 115 --- 

er keine höhere Definition als diejenige eines Vergnügens, 
das den Frauen Erröthen und den Männern Lachen 
abnöthigt. Die Seele braucht er nicht im Blicke zu 
suchen , sie strömt ihm aus den Poren entgegen. „II 
nous semble voir les pores de son visage et surtout 
ceux de son front livrei* passage au sentiment interieur 
dont il fetait pen6tr6". Den Willen definirt er so: „La 
volonte est une force materielle semblable k la vapeur, 
une masse fluide dont l'homme dirige i son gre les 
projections". Die Furcht wird physiologisch also um- 
schrieben : „La peur est un ph^nomfene comme tous les 
accidents 61ectriques". 

Wie es Leuten, die an gar nichts zu glauben be- 
haupten, oft genug ergeht, Balzac glaubt an die Narr- 
heiten der Mystik, an die geheimnissvolle Kraft der 
Eigennamen, an Wahrsagerinnen, kurz dieser materia- 
listische Philosoph war rechtschaflfen abergläubisch. Mit 
gespannter Aengstlichkeit sucht er sich auf den Aus- 
hängeschilden der Vorstädte die wirksamsten Namen 
für seinen neuen Roman zusammen und Grautier erzählt 
eine mit Balzac unternommene Fahrt zur Entdeckung 
einer Wahrsagerin. Sie gelangten aber an die Un- 
rechte und wurden von der sittlich empörten Matrone 
mit einem Hagel der wirksamsten Lijurien von dannen 
gejagt. 

Betrachten wir die sittliche Lebensanschauung 
unseres cynischen Philosophen, so stossen wir sofort 
auf eine scheinbare Indifferenz, hinter welcher sich ein 
instinctiver Hass gegen Pflicht und Gewissen versteckt. 
Wer Balzac wegen seiner unsittlichen Charaktere zur 
Rechenschaft ziehen wollte, dem pflegte er zu antworten: 



— 116 — 

„Ich spreche nirgends in meinem eigenen Namen, ich 
betrachte, beschreibe, acceptire einfach die Thatsachen, 
ohne die Pretention, widersprechende Anklagen prüfen 
zu wollen. Das Leben erscheint mir als interessante 
Comödie, deren Charaktermasken dem Zuschauer die 
Zeit zu vertreiben da sind". Die Ausflucht ist zu seicht, 
um einer ernsten Widerlegung zu bedürfen. Wenn 
Balzac seinem Vautrin die Logik Satans leiht, ihn mit 
allen Eigenschaften des „Kraftmenschen" ausstattet — 
rhomme fort ist Balzacs Schlagwort — wenn er immer 
wieder den Triumph der Gewalt als sein Ideal setzt, 
wenn er in seinen „Parents pauyres" die ekelhafteste 
Ausschweifung in ihre faulsten Verirrungen begleitet, 
überhaupt das Kranke und das Corrupte als Vorwurf 
wählt und das Schöne und Gute höchstens im Hinter- 
grunde des Bildes zeigt, wenn er .Geld und Genuss 
als die einzigen Ziele menschlichen Strebens empfiehlt, 
ruft er da nicht jedem Leser zu, was Juvenal seinem 
Bösewicht in die Seele schiebt: „Aude aliquid carcere 
dignum," wage das Böse und du hast Aussicht glück- 
lich zu werden? Und da sollte von keiner moralischen 
Verantwortlichkeit mehr die Kede sein? 

Das Schlimmste aber bleibt noch zu sagem. Balzac, 
Sue und die andern Materialisten des französischen Ro- 
mans begnügen sich nicht damit, die Corruption in- 
teressant zu machen, sondern sie stellen geflissentlich 
alle sittlichen Begriffe auf den Kopf, indem sie uns 
die Meinung beibringen wollen, als stünden ihre Helden 
weniger gross und herrlich da, wenn sie den einfachen 
Weg der braven Leute wandelten. Sie haben den 
tugendhaften Verbrecher, den ehrlichen Spitzbuben und 



— 117 — 

die keusche Dirne erfunden. „Nirgends," sagt Balzac, 
„wird Eechtschaffenheit pünctlicher beobachtet, als auf 
der Galeere." Umgesetzt in's Urtheil des naiven Lesers 
heisst das: „Wer nicht im Zuchthaus gesessen hat, 
muss ein Schuft sein". So wird die Gesellschaft zur 
Verbrecherin und der Sträfling zum Märtyrer. Balzacs 
eigene Moral fasst sein Vautrin in die Worte zusam- 
men: „Der Mensch ist mehr oder weniger Heuchler 
und das nennen dumme Leute sittlich oder unsittlich. 
Aber die Welt ist immer dieselbe gewesen, kein Mo- 
ralist wird sie verbessern". 

Balzacs Euhm soll namentlich durch seine Lese- 
rinnen gepflegt worden sein. Seine Erfindung „der Frau 
von dreissig Jahren" scheint ihn hier empfohlen zu 
haben, eine Erfindung, die sein Schüler Bernard zur 
grossen Befriedigung einer weiteren Kategorie von 
Leserinnen durch „Die Frau von vierzig Jahren" com- 
pletirte. Den Typus dieser reifen Helden hatte übrigens 
schon Constants Adolph aufgestellt, freilich ohne alle 
Wärme des Colorits, als einfaches Product einer psy- 
chologischen Analyse. Jules Janin's Geschwätzigkeit 
hat jenen Typus nicht ohne Humor persifflirt. 

„Die Frau von dreissig bis vierzig Jahren war 
früher ein Territorium, das als verloren für die Pässion, 
d. h. für den Eoman und das Drama galt ; aber heut- 
zutage herrscht die vierzigjährige Frau allein im Drama 
und Roman. Diesmal hat die neue Welt ganz die alte 
Welt unterdrückt, und die Frau von vierzig Jahren 
besiegt das junge Mädchen von sechszehn. „Wer klopft?" 
ruft das Drama mit seiner festen Stimme. „Wer ist 
da?" schreit der Roman mit seiner hoheii Fistel, „Ich 



— 118 — 

bin es," antwortet zitternd das seehszehnte Jahr mit 
seinen Perlenzähnen, seinem Busen von Schnee, mit 
seinen weichen Linien, seinem frischen Lächeln, seinem 
sanften Blick. „Ich bin es, ich stehe in dem Alter wie 
Junie bei Racine, Desdemona bei Shakespeare, Agnes 
bei Moliere, Zaire bei Voltaire, Manon Lescaut beim 
Abbe Pr^vost, -Virginie bei Saint-Pierre. Ich habe das 
Alter alier keuschen Neigungen, aller edlen Instincte, 
das Alter des Stolzes und der Unschuld. Weist mir 
meinen Platz an, lieber Herr!" So spricht das liebliche 
Alter von sechszehn Jahren zu den Romanschriftstellern 
und Dramendichtern: „Wir sind mit deiner Mutter 
beschäftigt, mein Kind. Komm nach zwanzig Jahren 
wieder und wir wollen sehen, ob wir etwas aus dir 
machen können". 

„Es gibt jetzt in Drama und Roman nichts anderes 
als die Frau von dreissig Jahren, welche morgen vierzig 
Jahre alt werden wird. Sie allein kann lieben, sie 
allein kann leiden. Sie ist um so dramatischer, als sie 
zum Warten keine Zeit mehr hat. Was sollen wir mit 
einem kleinen Mädchen anfangen, das nichts als weinen, 
lieben, seufzen, lächeln, hoffen und beben kann? Die 
Frau von dreissig Jahren weint nicht, sie schluchzt; 
sie seufzt nicht, sie wimmert ; sie liebt nicht, sie ver- 
zehrt ; sie lächelt nicht, sie kreischt ; sie träumt nicht, 
sie handelt. Das ist das Drama, das ist der Roman, 
das ist das Leben. So sprechen, handeln und antworten 
unsere grossen Dramatiker und unsere berühmten No- 
vellisten". (Brandes, Hauptströmungen I.) 

Gautier, an einer Stelle seiner langen Studie über 
Balzac, will keine Verwandtschaft zwischen Balzac und 



— 119 — 

den späteren Ee allsten gelten lassen. „Man hat unsere 
gegenwärtige realistische Schule von Balzac herleiten 
wollen, aber Balzac hat mit ihr durchaus nichts zu 
schaffen". Gautier setzt sich hier in Widerspruch mit 
der allgemeinen Ansicht nicht nur, sondern mit dem 
Zeugnisse der Thatsachen, macht übrigens die Sache, 
wie häufig, als vornehmer Grosssprecher ab: denn 
wenn die ängstliche Copie der Wirklichkeit, der cynische 
Pessimismus, das Haschen nach dem brutalsten Aus- 
drucke, die physiologische Manie, die Feindseligkeit 
gegen das sittliche und das ästhetische Ideal, die An- 
betung der rohen Kraft keine innere Verwandtschaft 
begründen, so muss wahrhaftig jede litterarische Tra- 
dition in Zukunft angezweifelt werden. 

In dem seit 1836, d. h. seit der Einführung der 
wohlfeileren Zeitungen (les journaux ä 40 Frs.), rasch 
und mächtig sich entwickelnden Feuilletonromane thut 
sich namentlich Eugen Sue hervor. Ich kann über 
diesen begabten und fruchtbaren Autor um so leichter 
hinwegschreiten, als er mehr in das Gebiet der In- 
dustrie denn in dasjenige der Kunst gehört. Während 
Balzac, einem künstlerischen Freiheitstriebe folgend, 
sich den technischen Bedingungen weder des Feuilleton 
noch der Bühne fügen wollte und deshalb weder dort 
noch hier Erfolg ernten konnte, war Sue im Gegensatze 
hierzu der eigentliche König des Feuilletongebietes, 
der ahnungsvolle Engel des alltäglichen Geschmackes 
und des täglichen Bedürfnisses. Sue besass nicht weni- 
ger, vielleicht noch mehr Erfindungsgabe als Balzac, 
dazu ein Talent der raschen Composition, der packen- 
den Erzählung, endlich die gefährliche Doppelgabe, 



— 120 — 

die verdorbene Blasirtheit durch das Raffinement, die 
naive Eohheit durch die heisse Würze gröbster Sinn- 
lichkeit zu befriedigen. Man möchte Sue einen prak- 
tischen Humoristen nennen, wenn man überlegt, wie 
dieser Mann durch giftige Romanpamphlete gegen die 
Reichen reich geworden ist, wie er den Luxus und 
die Corruption der Vornehmen denuncirt, um so bald 
als möglich selbst jenen Luxus theilen und jene Cor- 
ruption mitmachen zu können. Er selbst hat sich vor- 
trefflich gezeichnet, wenn er einmal schreibt: „Nicht 
diejenigen sind fluchwürdig, die sich schlagen, mit den 
Waffen in der Hand, sondern jene Demagogen und 
Schwindler, die im Interesse ihrer Selbstsucht und 
ihrer Gemeinheit die Leichtgläubigkeit der Masse aus- 
beuten". 

So schritt man der Katastrophe von 1848 entgegen. 
Der Feuilletonroman der vierziger Jahre hatte durch 
seine industrielle Tendenz allerdings auf die litterarische 
Würde und den künstlerischen Werth verzichtet, dafür 
aber auf dem Gebiete der socialen Fragen einen Ein- 
fluss erworben, der ihm die Bedeutung einer mit der 
revolutionären Presse verbündeten Macht verlieh. Wenn 
Balzac durch seine cynischen Phantasiemalereien die 
höheren Classen dem Hasse der unteren Gesellschafts- 
schichten überlieferte, wenn Sue durch aufregende 
Bilder des Elends die leidende gegen die geniessende 
Welt aufhetzte, im Ewigen Juden ein sociales Utopien 
als die endliche Lösung des Conflictes entrollte, wenn 
endlich Lamartines Girondins den zündenden Funken 
in's Pulverfass schleuderten, — so konnte sich Keiner 
mehr der Thatsacbe verschliessen , dass die Bou^iaft-» 



— 121 — 

litteratur nicht länger ein blosser Zeitvertreib, dass 
sie nunmelir eine Macht geworden sei, mit der man zu 
rechnen habe. 

Kaum hatte sich der Pulverdampf von 1848 und 49 
verzogen, als die politischen Parteikämpfe, die Eede- 
schlachten, die Wahlen, die Eeconstruction der Gesell- 
schaft, endlich der Staatsstreich vom December 1851 
und der bald hereinbrechende Krimkrieg die Gemüther 
in eine Spannung versetzten, die der Litteratur des 
Friedens nichts weniger als günstig sein konnte. 

„Wer den traurigen Winter von 1856 durchge- 
macht," sagt Nettement in seinem Buche über den zeit- 
genössischen ßoman, „der begreift, dass man damals 
für Eomane wenig Interesse haben konnte. Unsere 
Herzen weilten vor den Mauern Sebastopols, sie waren 
bei den Kämpfenden und den Gefallenen". Hiermit 
stimmt eine Notiz, die Gautier einem Feuilleton von 
1854 einverleibt hat. „Unser Buchhandel producirt 
fast nichts als neue Auflagen alter Bücher. Es hat den 
Anschein, als ob ein Jeder, in Erwartimg einer neuen 
Aera, seine Kräfte sammeln und sich marschbereit ma- 
chen wolle." 

Erst nach dem russischen Friedensschlüsse kehrte 
jenes Behagen zurück, das die Gemüther den Kunst- 
genüssen wieder zugänglich macht. Und rasch ver- 
wandelte sich nun die Scene. Für Land und Haupt' 
Stadt zog eine Aera steigender Prosperität herauf. Das 
neue Kaiserreich, nach aussen mächtig, den inneren 
Feinden vorläufig gewachsen, bot die sichersten Ga- 
rantien des Friedens und der Ordnung, die Geschäfte 
blühten und das Gojd fing an in breiten Strömen zu 



— 122 — 

rollen. Der Credit mobilier, der Credit foncier, Pereire, 
Hausmann, Morny, Mires beginnen die Flitterwochen 
und leiteten die Saturnalien des Gründerthums ein. 
Das alte Pg-ris wurde abgebrochen und einem buntbe- 
fiederten Phönix vergleichbar, stieg eine neue und 
prächtige Stadt aus dem Schutte empor. In der lauen 
Atmosphäre materieller Wohlfahrt regten sich bald die 
üppigsten Gelüste, während die geistige und die sitt- 
liche Energie im Wohlleben nachgerade zu verkümmern 
drohte. Kein Wunder, wenn die Malerei und die Dich- 
tung der Tagesstimmung folgten, von dieser beeinflusst, 
ihrerseits auf sie zurückwirkten. Es ist bezeichnend, 
dass, wie früher zwischen 1815 und 1825 die romanti- 
schen Maler den romantischen Dichtern, so auch heute 
die Realistischen des Pinsels den Realisten der Feder 
als Wegweiser voran oder als Bundesgenossen zur 
Seite gehen. 

Wir stehen im Jahre 1858. Halten wir erst Rund- 
schau. Balzac, Sue, Soulie sind todt. Von der alten 
Garde steht noch Dumas, der fleissige Neger, aufrecht 
da. Unterdessen ist seit 1848 eine neue Realistengruppe 
unter ihrem Führer Champfleury in die erste Linie 
gerückt. Es sind die Kinder des Pariser Zigeuner- 
landes, jener „Boheme des hommes declasses", der ver- 
kannten und der liederlichen Genies, der Künstler- 
und Schriftstellervagabunden, deren Mehrzahl nach 
einem wilden und kurzen Leben im Elend untergeht. 
— Eine zweite Realistengruppe bilden Flaubert und 
Feydeau, die Sensationshelden des „physiologischen" 
Romanes von 1857 und 58, eine dritte die mehr oder 
weniger kurzweiligen Erzähler und Schauerromantiker, 



— 123 — 

Dumas fils, About, Ponson du Terrail, der Heros des 
Peuilletonromans und Erbauer „Rocamboles" u. s. w. — 
Sand, Sandeau. Cherbuliez, Feuillet sind den genann- 
ten Gruppen gegenüber Idealisten und zählten in 
Frankreich zu den Säulen der „Litt^rature honnete," 
was freilich hier zu Lande cum grano salis zu ver- 
stehen ist. 

Mit seinem aus den Zigeunerzeiten ihm theuer ge- 
bliebenen Maler Courbet schliesst Champfleury eine 
förmliche Allianz zur Durchführung eines realistischen 
Programmes, für welches der fein angelegte Murger 
mehr aus kameradschaftlicher als aus künstlerischer 
Rücksicht ebenfalls einsteht. Dies Programm nun for- 
dert in erster Linie eine brutal realistische Sprache 
mit paradoxer Pretiosität des Ausdrucks. Effecte um 
jeden Preis! so heisst die Parole auch heute wieder. 
Man beachte hier das einmüthige Streben auf der 
ganzen Linie: Proudhon: Dieu c'est le mal! La pro- 
priete c'est le vol ! — Taine : La vertu et le vice sont 
des produits comme le sucre et le vitriol. — Hugo: 
Le laid c'est le beau. — Champfleury: Le nom de 
Cyprien lessiva ses inquietudes. — La demoiselle 
epongea ses envies de mariage. — XJeberall sucht 
man vor allem den Effect. — Und wenn wir nach den 
inhaltlichen Forderungen jenes Programmes fragen, so 
lauten sie auf sclavische Copie des Wirklichen, soweit 
dieses Wirkliche gemein und unschön ist. Endlich soll 
nebenbei auch die Rache des Proletariats an den be- 
sitzenden Classen zu ihrem Rechte gelangen. 

Mit seinem Debüt: „Histpire du Chien Caillou" 
(Hund Kieselstein ist der Name des Helden) 1848 



— 124 — 

lieferte Cliampfleury in der That ein erschütterndes 
Bild des Hungers und der Noth, während seine späteren 
Leistungen die gründlich langweiligen und gemeinen 
Gestalten des bürgerlichen Alltagslebens so vielfach 
und so getreu photographiren, dass die tödtliche Lang- 
weile jener Regionen mit in seine* Romane einzieht. 
In seinem Gemälde aus dem Zigeunerland ist Champ- 
fleury wiederum so buchstäblich wahr, dass jene Welt 
des wilden Jubels und des tiefen Wehs, die Murgers 
köstlicher Humor und zarte Poesie verklärt und reinigt, 
uns abermals erträglich wird ; denn seine Herren Künst- 
ler entpuppen sich als knotenhafte Gauner, seine Gri- 
setten als Strassendirnen. 

Flaubert und Feydeau führten den realisti- 
schen Roman aus der stinkenden Luft des Zigeuner- 
quartiers in's parfümirte Boudoir der Ehebrecherin. 
Für dieses Genre stellte sich ein anständiges Wort im 
rechten Augenblicke ein, man nannte es „le genre 
physiologique"". Das Motiv war allerdings kein neues, 
aber die raffinirte Ausbeutung der hier erwachsenden 
Conflicte mit Gesetz und Sitte erreichte durch die tief 
realistische Behandlung nie dagewesene Massenerfolge. 
Flauberts Madame Bovary ist die Geschichte einer 
Ehebrecherin, die mit dem Selbstmorde endet, und 
Feydeaus Fanny behandelt das Thema der Eifersucht 
nicht etwa des Ehemannes, sondern seines Rivalen. 
Es muss indess gesagt werden, dass beide Romane 
künstlerisch weit höher stehen als die geschmacklosen 
und uncorrecten Dichtungen Champfleurys, der sich 
selbst zum Haupte einer Schule macht, dessen wirkliche 
Führer Flaubert und Feydeau sind: haben doch ihre 



— 125 — 

Erfolge die Malot, die Groncourt, Graboriau, Claretie 
angeregt und grossgezogen. 

Was Vapereaus Jahrbuch von 1858 schrieb : „Wir 
stehen am Anfangie eines Processes , . der noch lange 
nicht erschöpft ist ; wir werden den Kelch bis auf die 
Hefe zu leeren haben," das hat sich bereits erfüUt. 
Hugos socialistische Eomane sind theilweise hierher zu 
ziehen , ganz besonders aber die hässlichen Missge- 
burten, als deren Erzeuger Emile Zola sich nennt. 
Zola beweist wieder einmal, wie ein „parti pris" und 
eine Tagesmode ein schönes Talent verderben kann. 
Er begann 1864 mit humoristischen Novellen, welche 
die Kritik „das Buch eines muthwilligen Berquin" 
nannte ! Berquin aber ist ein französicher Campe oder 
Christoph Schmid, ein harmloser „Verfasser französi- 
scher Ostereier". Und was hat der Tagesgeschmack 
aus Zola gemacht! Unmöglich, das Gemeine brutaler 
darzustellen, die üblen Gerüche von ganz Paris wir- 
kungsvoller in Worte umzusetzen ! Man lese seine 
„Naturgeschichte einer Familie unter dem zweiten 
Kaiserreiche (Les Eougon - Macquart , Le ventre de 
Paris etc.)". Schildert Zola seine Bauern, so glauben 
wir uns in einer Menagerie zu befinden. Das Bild 
des Thieres kehrt auf jedem Blatte wieder. Lachen 
diese Geschöpfe, so lachen sie „mit dem verschlagenen 
Schmunzeln einer zuchtlosen Bestie (d'un rire sournois 
de bete impudique)," befinden sie sich unwohl, so 
„schnauben sie gewaltig wie gehetzte Bestien," sind 
sie hübsch, so ist das wieder eine „Beaut6 de bete". 
Ein Thier ist der Bauer, ein Thier der Mensch im 
grossen Ganzen! so schreit uns dieser Realist auf 



^ 126 — 

jeder Seite in die Ohren, damit wir ja auf keine an- 
deren Gedanken mehr verfallen. Dass diese Bichtung 
nachgerade einen eigenen Wortschatz sich geschaffen, 
der die Leetüre dieser Bomane auch dem französischen 
Leser höchst verdriesslich macht, braucht kaum gesagt 
zu werden. „Que devient au milieu de ces fureurs 
rhonnäte clarte de la langue frangaise !" So seufzt 
in einem Artikel über Zola ein Kritiker der Revue 
des deux Mondes. Wenn man Zola im eigenen Lande 
kaum versteht, was sollen wir Ausländer mit ihm 
und seinen Genossen anfangen? — Unterhaltend wäre 
es schliesslich, auch den Spuren Darwins, Taines und 
anderer Materialisten in diesen Erzeugnissen des neue- 
sten französischen Bealismus nachzugehen. Dieselben 
verrathen sich mitunter in den köstlichen Phrasen und 
Bodomontaden. Li einer Vorrede Zolas lesen wir : 
„Ich nehme mir vor, die doppelte Frage des Tempe- 
ramentes und des „Milieu" zu lösen und dabei den 
mathematischen Faden zu verfolgen, der von einem 
Menschen zum andern herüberläuft. Die Familienver- 
wandtschaft hat ihre Gesetze wie die Schwere". Hier 
redet Meister Taine aus dem Munde eines materialistischen 
Säuglings. In folgender Wendung spukt das Gespenst 
Darwin: „Quand le marquis eut trouve que Tata- 
visme le faisait le p^re de Denise, il eprouva un 
profond soulagement". Auch den nagenden Verdacht 
des Ehemannes wirst du segensreicher Darwinismus 
beseitigen ! . 

Was Zola in Prosa versucht, das hat (schon 1857) 
Baudelaire der Poesie angethan. Seine „Fleurs du 
jnal" zeigen einen gewiss unter tausend Mühsalen und 



— 127 — 

endlosen Strapazen glücklich angequälten Eealismus, 
der sich im Ekelhaften am meisten zu gefallen scheint 
(vgl. das Gedicht Nr. 30 : „Une charogne !"). Auf 
Baudelaire passt Mommsens XJrtheil über den impo- 
tenten • Persius : „Das rechte Ideal eines hoflfartigen, 
mattherzigen, der Poesie beflissenen Jungen" (Rom. 
Gesch. I, 237). 

Wir stehen am Ende unserer Entwicklung. Die 
Geschichte des französischen Realismus zeigt uns eine 
wachsende Bewegung, welche Schritte hält mit der 
steigenden Fluth des Materialismus überhaupt, m der 
ästhetischen und metaphysischen Speculation ihre Pa- 
rallelen findet, vor unsern Blicken einen pathologischen 
Process entrollt, der als Reaction gegen den Classi- 
cismus mit den Romantikern anhebt, als Reaction ge- 
gen romantische Sentimentalität in den Fanfaronaden 
der „Ecole de Tart pour l'art" seine üppigen Flegel- 
jahre durchmacht, durch den „physiologischen" Roman 
von 1857 in den Specialdienst der Erotik, von Balzac, 
Sue, Champfleury, Hugo und Zola in denjenigen eines 
pessimistischen Socialismus gezogen wird. Im Leben 
der Litteratur gibt es aber glücklicherweise keine 
tödtlichen Krankheiten. Auch dieser Process wird sich 
erschöpfen und einer gesunderen Geschmacksrichtung 
Platz machen. Der neueste Romandichter von Bedeu- 
tung, Alphons Daudet, geht im Ganzen nicht über 
Dickens' Realismus hinaus und weiss, wie der grosse 
Realist, ihm einen humanen Gedanken, eine empfind- 
same Seele einzuhauchen. Die „Contes de mon moulin", 
„le petit Chose" (wie David Copperfield, Dichtung und 
Wahrheit aus des Dichters eigenem Leben), die Episode 



— 128 — 

der Familie Delobelle in „Promont jeune et Risler 
aini" beweisen das. Wir dürfen Daudet als eine Wen- 
dung zum Besseren begrüssen. Denn mit ihm ist die 
französische Dichtung jener goldenen Mitte wieder 
näher gerückt, welche Schiller mit den Worten for- 
dert: „Der Dichter soU sich über die Wirklichkeit 
erheben und innerhalb des Sinnlichen stehen bleiben". 



Paul Louis Courier, der Pamphletist der 
französischen Bourgeoisie. 




aul Louis Courier hat fast zehn Jahre lang, 
von 1816 bis 1825, durch eine Reihe von Flugschriften 
ebenso schonungslos als hartnäckig die innere Politik 
der französischen Bourbonen verfolgt und durch die vor- 
treffliche Form jener Pamphlete, durch ihren Witz, 
ihr Salz und ihr Gift sich eine bleibende Stelle in der 
Litteraturgeschichte seines Landes gesichert. 

"Wenn wir einen Schriftsteller begreifen wollen, 
so müssen wir ihn aus seinem Leben, wir müssen 
seine Werke aus seiner Zeit heraus zu erklären suchen. 
Das gilt ganz besonders vom Verfasser politischer Flug- 
schriften, dessen ganze Thätigkeit ja aufgeht im grossen 
politischen Leben seiner Nation. 

' Betrachten wir daher vor allem die Zustände Frank- 
reichs am Tage nach der Schlacht von Waterloo. An 
jenem Tage sah sich das unglückliche Land in die Lage 
versetzt, aus der Hand des Siegers und des Fremden, 
aus den Händen der Eussen, der Deutschen und der 
Engländer eine verhasste Institution, das Königthum, 
und eine noch verhasstere Königsdynastie, die Bour- 

H. B. 9 



— 130 — 

bonen, zurückznnehmeii. Dennoch jubelte ein Theil 
der Nation dem heimkehrenden Bourbon entgegen. Es 
waren dies die Junker und die Priester, die Gegner 
des Fortschrittes und der Eepublik, überhaupt alle jene 
Leute, deren Uhr anno 1789 stillegestanden. Diese 
Leute hatten 25 Jahre lang ihren Hass im Herzen ver- 
schliessen, sie hatten lange warten müssen auf den 
grossen Tag der Rache. Jetzt endlich hatte die er- 
sehnte Stunde geschlagen, wo sie ungestraft, ja mit 
Aussicht auf Belohnung herfallen konnten über Ee- 
publikaner und Bonapartisten, über die Nichtkatholiken, 
die Protestanten und die Juden. So leitete sich jene 
wahnsinnige Eeaction ein, welche in Frankreichs An- 
nalen bekannt ist unter dem bezeichnenden Namen des 
„weissen Schreckens" (weiss war nämlich die Fahne 
der Bourbonen und „Schrecken" ist eine Anspielung 
auf den rothen Schrecken von 1793). Die Mitschuldigen 
jener Eeaction sind aber nicht nur in der Umgebung 
des Monarchen, am Hofe, im Adel und in der Kirche, 
sondern auch unter den Bürgern, Beamten, zum Theil 
im Volke selbst zu suchen. 

Am wildesten raste die Eeaction im Süden. Der 
Süden nämlich war von jeher derjenige Gebietstheil 
Frankreichs gewesen, wo der patriotische und der 
militärische Sinn am wenigsten gedeihen wollten, wo 
dagegen der Localhass, die Privatleidenschaften, der 
religiöse und der politische Fanatismus am üppigsten 
wucherten. Während daher anderswo die Botschaft 
von der Niederlage des Kaisers in mancher patriotischen 
Brust den Gedanken an eine Fortsetzung des Wider- 
standes im Namen des Vaterlandes weckten, antwortete 



— 131 — 

der Süden auf jene Kunde mit dem wilden Schrei: 
„Es lebe der König!" Und das war das Signal zum 
Morden und zum Plündern. 

Es war Sonntags den 25. Juni, als jene Botschaft 
Marseille erreichte. Sofort rotteten sich Banden in den 
Strassen der Stadt zusammen, und General* Verdier, 
dem noch eine entschlossene Garnison zur Verfügung 
stand, hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich feige 
zurückzuziehen auf das Hauptquartier in Toulon. So 
kam es, dass Marseille am Abend jenes Sonntags wehr- 
los in die Hände der royalistischen Banditen gegeben 
war. Diese verloren keine Zeit, sie warfen sich in die 
Häuser der Republikaner und der Bonapartisten , in 
die Wohnungen der Protestanten und der Juden und 
mordeten und plünderten nach Belieben. Sie verschon- 
ten nicht einmal eine Colonie armer Egypter, die Ge- 
neral Bonaparte seiner Zeit aus Egypten herüberge- 
bracht und die in einem schmutzigen Quartiere Mar- 
seille's ein kümmerliches Dasein fristete. 

Der Marschall Brune, welcher das Hauptquartier 
in Toulon commandirte, entschloss sich, rasch nach 
Paris zu reisen. Als aber sein Eeisewagen die Thore 
von Avignon verlassen wollte, wurde er von dem rasen- 
den Volke angefallen, so dass die Postillone im Galopp 
ihrer Pferde in den Hof des eben verlassenen Hotels 
zurückfahren mussten. Das Hotel wurde förmlich be- 
lagert. Es muss zur Ehre der royalistischen Behörden 
gesagt werden, dass sie mit wenigen Soldaten vier 
Stunden lang nicht ohne Lebensgefahr die Zugänge 
vertheidigten. Aber zwei der Angreifer erstiegen das 
Dach, drangen von da in das Zimmer des Marschalls 



— 132 — 

und erschossen ihn. Ein. ProtocoU wurde abgefasst, 
das den Marschall zu einem Selbstmörder stempelte, 
und jene eben noch so ritterlichen Beamten fanden 
jetzt nicht den Muth, dem lügenhaften Documente ihre 
Unterschrift zu verweigern. Auch der todte Marschall 
wurde nicht geschont. Als man nämlich den Sarg 
hinuntertrug, stürzte sich auf ihn der Pöbel, riss die 
Leiche heraus, schändete sie und warf sie in die Rhone. 
Erst im Jahre 1821 fand die Wittwe des Ermordeten 
Gelegenheit, die Verurtheilung der Mörder zu erlangen, 
aber auch jetzt noch hatte die Bourbonenregierung die 
Gemeinheit, die mittellose Frau in die Hälfte der Ko- 
sten zu verfallen. 

Schlimmeres noch ereignete sich in Nimes, der 
Hauptstadt des Departements du Gard, welches 1815 
nicht weniger als 115,000 Protestanten (zwei Fünftheile 
der Gesammtbevölkerung des Departements) zählte. 
Hier gesellte sich zum politischen Fanatismus auch der 
religiöse. Die Revolution hatte den Protestanten Gleich- 
berechtigung mit den Katholiken verschaflFt, eine Wohl- 
that, die der Kaiser bestätigte. Muss man sich da 
wundern, wenn diese Bevölkerung mit Schrecken der 
Rückkehr der Bourbonen entgegensah, wenn sie den 
aus Elba zurückkommenden Kaiser mit Jubel begrüsste? 
Schwer sollte sie die kurze Freude nun büssen. 

Es war gleichfalls am 25. Juni, als sich in Nimes 
die Nachricht vom Sturze des Kaisers verbreitete. 
Royalistische Freicompagnien zogen vor die Kaserne 
und die Garnison capitulirte gegen Zusicherung eines 
freien Abzuges. Als aber die wehrlosen Soldaten in 
die Strassen, heraustraten, da wurden sie von ihren 



— 133 — 

elenden Gegnern zusammengeschossen. Diese lezteren 
feierten ihren wohlfeilen Sieg mit einem Liede, dessen 
Eefrain lautete : „Im Protestantenblute lasst uns, Brü- 
der, unsere Hände waschen". Und man machte sich 
in der That an die schreckliche Arbeit. 

Wie überall im Lande, so constituirte sich auch 
in Nimes ein royalistisches Comit^, über dessen Sitzungs- 
saale die Worte zu lesen waren : „Les Bourbons ou la 
mort," die Bourbonen oder der Tod! Hier wurden 
förmKche Subscriptionslisten aufgelegt, die Grewaltacte 
systematisch organisirt. Heute wird Der erschossen, 
morgen soll Jener fallen, heute soll dieses, morgen jenes 
Haus in Flammen aufgehen ! Zwei Banditen dieses 
Comite's haben eine traurige Berühmtheit erlangt: Tru- 
ph^my und Dupont, genannt Trestaillon. Sie besorgten 
die Executionen. Am Sonntage, an -den Festen der 
Heiligen enthielten sich die Mörder als gute Christen 
gewissenhaft jeglicher Arbeit. Dann übernahmen aber 
die Weib er das Werk der Kache. Am Maria-Himmel- 
fahrtstage fielen jene Megären über die Frauen und 
Töchter der Protestanten her, schleppten sie auf die 
Strasse, entblössten sie und misshandelten sie mit 
Schlägen. Die Stöcke, welche hierbei gebraucht wur- 
den, hatten Eisenbeschläge in Form von bourbonischen 
Lilien, man nannte sie deshalb „Das königliche Schlag- 
zeug, le battoir royal". 

Trestaillon besass eine Schwester, die sich ein 
grosses Landhaus wünschte, dessen Besitzer Protestant 
war. Am hellen Tage, auf offener Strasse, erschiesst Tre- 
staillon den Unglücklichen, vertreibt dessen Wittwe und 
setzt seine Schwester in das gewünschte Besitzthum ein. 



— 134 — 

So ging es fort bis Ende Juli. Als gegen Ende 
August die Kammerwahlen stattfanden, erneuerten sich 
die Protestantenmorde; man erreichte dabei seinen un- 
mittelbaren Zweck ; denn kein Protestant wagte es, aut 
dem Wahlplatze zu erscheinen. Trestaillon's Freund 
und Beschützer, der Staatsanwalt Trinquelague , ward 
einer der Deputirten und sollte bald den jungen Guizot 
in einem Posten des Justizministeriums verdrängen. 
— Erst als im November 1815 die österreichischen 
Occupationstruppen in Nimes einzogen, erreichte das 
Morden und Brennen seinen endlichen Abschluss. Im 
November erschien auch der Herzog von Angou- 
leme, des Königs Neffe, und that dergleichen, als 
wolle er die Mörder zur Verantwortung ziehen. Da 
traten vor ihn die ersten Erauen und die ersten Prie- 
ster der Stadt und flehten um Gnade für Trestaillon! 

Das erklärt nun hinreichend, wie es kam, dass ver- 
hältnissmässig wenige Banditen so lange und so unbe- 
dingt schalten konnten. Die Beamten wollten oder 
wagten nicht einzuschreiten, die Bürgerschaft und die 
Priesterschaft rieben sich die Hände, dass das Gre- 
wünschte durch Andere an ihren Feinden vollzogen 
wurde. Wo waren dife Richter? Die hatten vollauf 
zu thun! Aber vor ihnen erschienen die Protestanten 
nicht als EJäger, sondern als Verklagte. Sie hatten 
dem WoKe das Wasser getrübt, sie hatten Händel 
gesucht, sie hatten sich Thätlichkeiten und Gewalt- 
acte erlaubt! 

Wie man die Protestanten oflSciell behandelte, davon 
ein einziges Beispiel. Das Departement du Gard hatte 
an der Kricgscontribution von 100 Millionen die Summe 



— 135 — 

von 940,000 Frcs. zu bezahlen. Man vertheilte diese 
Steuer nun so, dass die Protestanten 600,000, die Juden 
200,000, die Katholiken 140,000 Francs zu entrichten 
hatten ! 

Soll ich noch weiteres erzählen, wie in Uzes der 
Mörder Graffan wüthete ? Wie in Toulon der General 
Eamel vom Volke, in Bordeaux die Zwillingsbrüder 
Taucher von den Richtern gemordet wurden, wie sich 
überall die Gefängnisse mit „Verdächtigen" füllten? 
Ich muss auf die Werke von Vaulabelle und Viel- 
Castel verweisen, aus welchen ich das Erzählte ge- 
schöpft habe. 

Im ganzen Lande hatten sich royalistische Comites 
gebildet, welche mit den ihnen zur Verfügung stehen- 
den Freicompagnien die Bourbonenfehme handhabten, 
die lauen Beamten controUirten und terrorisirten , in 
zahllosen Gewaltacten weder das Recht der Habsucht, 
noch die Gelüste der Privatrache vergassen. 

Selbstverständlich wurde diesem Treiben von oben 
herab aller Vorschub geleistet. Die Emigranten, die 
aus langer Verbannung zurückkehrenden Adeligen, 
kamen bornirter und anmassender heim als sie ausge- 
zogen waren. Sie bestürmten den König mit ihren 
Forderungen, wollten ihr verlorenes Vermögen, ihre 
alten Stellen und neue dazu. Im Jahre 1814 Hess 
einer von ihnen, der Graf Montlosier, ein Buch er- 
scheinen, betitelt : „Von der französischen Monarchie," 
welches so recht den Standpunct dieser Junkerpartei 
zeigte. Der edle Graf hat aus der französischen Ge- 
schichte nur eins herausgeholt, nämlich, dass der fran- 
zösische Adel von jenen Franken stamme, welche Frank- 



— 136 — 

reich im Kampfe gegen die alten Römer erobert hätten. 
Land und Leute gehören also weder dem König, noch, 
der Kirche, noch der Nation, sondern sie sind und bleiben 
auf ewig das Eigenthum der Eroberer, das Eigenthum 
der Junker. Die Revolution war ihm ein gottlob jetzt 
überwundener Empörungsversuch der Sclaven gegen ihre 
Herren. Man höre, wie der Graf zu diesen Rebellen redet : 

„Freigelassene, Sclavenrasse, Volk von gestern! 
Euch hat man gestattet, frei zu sein, nicht uns, dem 
Adel anzugehören! Auf unserer Seite ist alles gött- 
liches Recht, auf Euerer Seite heisst alles Gnade! 
Wir gehören nicht zu Euch, wir bilden eine Gemein- 
schaft für uns. Man weiss, woher Ihr kommt, man 
weiss, woher wir stammen!" 

Kann man offener reden und bornirter denken? 
Das war also die politische und sociale Lehre, welche 
die Mehrheit des Adels aus der Revolutionsgeschichte 
gezogen hatte! Aus dieser Region nun wählte der 
König seine Rathgeber und seine Minister. Das Erste, 
was die neue Regierung vornahm, war eine Reinigung 
des Officierscorps in der Armee und des Beamten- 
körpers in der Administration. „E purer," reinigen 
und ausputzen, war in der That der technische 
Ausdruck dieser Operation. Jeder Unterofficier, jeder 
Briefträger, jeder Postillon riskirte einem besseren, 
einem wohlgesinnten Manne weichen zu müssen. Mit 
der Bereinigung des Richterstandes wollte es nicht so 
leicht gehen, man nahm hier seine Zuflucht zu einer 
ausserordentlichen Massregel, zur Einführung von Stand- 
gerichten, Prevotalhöfe genannt, die im amtlichen 
Abstempeln aller möglichen Gewaltacte, im summari- 



— 137 — 

sehen Durchführen der schreiendsten Rechtsverletzungen 
das Unglauhliche leisteten. 

Das traurigste Bild aber bot die Landesvertretung, 
die Kammer. Im Bunde mit einem durchs ganze Land 
verzweigten ultramontanen Vereine, den ein Jesuit 
unter dem Namen der Oongregation gegründet 
hatte, setzte sie vor allem die Kirche in ihre ver- 
lorenen Rechte wieder ein. Diese Kammer sanctionirte 
sodann eine Reihe von Gesetzen, welche die von Ludwig 
XVm. gegebene Constitution zu einem werthlosen 
Fetzen machten, und sogar in die Rechte des Königs 
selbst eingriffen, indem sie ihm z. B. das Begnadigungs- 
recht in Entscheidungen der Standgerichte entzogen. 
— Charakteristisch ist die Haltung dieser Kammer 
gegenüber den Ausschreitungen des Südens. Zwei 
Monate lang wagte keine Zeitung jene Greuel zu er- 
wähnen, kein Kammermitglied darauf anzuspielen. Als 
im October der Deputirte d'Aguesseau endlich den 
Muth zu den schüchternen Worten fand: „Es heisst, 
im Süden seien Protestanten ermordet worden," da 
empfing ihn von allen Bänken das wüthende Geschrei : 
„Das ist unwahr ! Das ist falsch ! Zur Tagesordnung ! 
Zur Tagesordnung! 

Der König merkte aisgemach, dass die Wirthschaft 
seiner guten Freunde ihm eine ganz bedenkliche Zu- 
kunft bereiten würde. Im September 1816 entschloss 
er sich zur Auflösung dieser sogenannten „Chambre 
introuvable", d. h. einer Kammer, wie sich keine 
zweite mehr finden kann und von nun an bekamen die 
Freunde der Freiheit wieder Luft und Spielraum. Als 
acber im Jahre 1820 der Fanatikej: LouYel deix zweiten 



— 138 — 

Sohn Kark X., den Stammhalter der Bourbonen, er- 
mordet hatte, um jene Königsrace in ihrem letzten 
Sprosse auszurotten, erhielt die Reactionspartei auf 
einige Jahre wieder Oberwasser. Aber gerade dieser 
Umstand war es, welcher die Gegner der ultramontanen 
Kirche und des Bourbonenregimentes in eine grosse 
Opposition zusammentrieb, deren Befreiungsthat , die 
Julirevolution, den Bourbonenthron in ihren Fluthen 
begraben hat. 

Soviel über die französischen Zustände von 1815 
bis 1830. Das drückende Gefühl der Schmach und der 
Niederlage beherrschte und verstimmte die Gemüther. 
Wer es nur wagte auszusprechen, was ein Jeder damals 
im Herzen trug, der fand willige Ohren und dankbare 
Herzen, er fand einen gewaltigen Chor, wenn er wie 
Beranger Spottlieder dichtete, den weitesten Leser- 
kreis, wenn er wie Courier Pamphlete schrieb. Solche 
Männer wurden als die Tröster im Unglück, die Eächer 
der Unterdrückten und die Sturmvögel einer neuen 
Revolution betrachtet. 

Und nun einen Blick auf Courier's Leben. Courier 
entstammt einer reichen Familie der hauptstädtischen 
Bourgeoisie. Er ist geboren 1772. Sein Vater bekam 
böse Händel mit einem Junker, der ihm Geld schuldete 
und Miene machte seinem Creditor ans Leben zu gehen. 
Er floh und liess sich an der Loire nieder, woselbst 
er in der Gemeinde Veretz bei Tours ein Herrschafts- 
gut gekauft hatte. Den Sohn bestimmte er zum Ar- 
tiUerieofficier und schickte ihn nach Chalons in die 
Militärschule. Obgleich nur die mathematischen Dis- 
ciplinen hier Hauptsache waren ^ fasste der Zögling 



— 139 — 

eine Leidenschaft zum Studium der griechischen Sprache 
und Litteratur. Sie blieben sein Leben lang so ziem- 
lich das Einzige, wofür er sich begeistern konnte. So 
ist Courier seinem wahren Berufe nach Gelehrter, 
Philolog, Humanist im Sinne der Eenaissance, ein ein- 
seitiger Bewunderer der Form, ein Ehetor, dem das 
Schöne mehr gilt als das Wahre, ein geistiger Epiku- 
räer, den die bewegenden Ideen der Zeit gleichgültig 
und kalt lassen. Mit Voltaire betrachtet er die Ge- 
schichte als eine Fabelsammlung und meint, der Ge- 
schichtschreiber habe seine Pflicht gethan, wenn er 
diese Fabeln hübsch zu erzählen verstehe. Die Zeit- 
geschichte, die grosse Revolution, lässt ihn kalt und 
den Officier Napoleons reizt weder der Ruhm noch 
das Handwerk der Waffen. Er ist kein Musterofficier, 
er hasst den Dienst und die Disciplin, ja zwei Mal in 
seinem Leben ist er einfach desertirt und mit knapper 
Noth den schlimmen Consequenzen der Desertion ent- 
rönnen. Sein Regiment garnisonirte in Piacenza, als 
die Armee im Frühling des Jahres 1804 sich über -die 
Frage auszusprechen hatte, ob sie einen Kaiser wolle. 
Wie theilnahmslos Courier zu dieser Frage sich ver- 
hielt, ist aus folgendem Brieft ersichtlich: 

„Soeben haben wir einen Kaiser gemacht, und was 
mich betrifft, so hab' ich getreulich mitgeholfen. Das 
ist ungefähr so zugegangen. Heute Morgen versammelte 
uns der Oberst, theilte uns mit, um was es sich handle, 
gradaus, ohne Einleitung und ohne Schluss. „Kaiser 
oder Republik? Was wollt Ihr haben, meine Herren?" 
Wie man zu sagen pflegt: „Rindfleisch, oder Braten, 
was schmeckt Euch besser ?" Als er fertig war, schauten 



— 140 — 

wir uns an, im Kreise dasitzend. Keiner wollte sich 
aussprechen. „Nun, meine Herren, Ihre Ansicht?" 
Wieder hlieben Alle still. Das dauerte wohl eine 
Viertelstunde, noch länger, und wurde nachgerade lang- 
weilig für uns und ungemüthlich für den Obersten. 
Endlich erhebt sich ein Lieutenant und sagt: „Wenn 
er Kaiser sein will, so sei er's, aber ich finde es nicht 
in Ordnung". Neue Pause. Schliesslich ergreife ich 
das Wort und sage: „Meine Herren! Ich bin der An- 
sicht, dass das uns eigentlich gar nichts angeht. Die 
Nation will einen Kaiser, ist's an uns, die Frage zu 
berathen?" Das gab den Ausschlag und man unter- 
zeichnete. Beim Weggehen fragt mich Einer: „Wes- 
halb sind Sie denn für das Kaiserthum ?" „Damit die 
Sache abgethan sei," antworte ich, „und wir zu unserm 
Billard kommen". 

Im Jahre 1809 finden wir unsern Courier auf dem 
Schlachtfeld von Wagram, der letzte Act seiner mili- 
tärischen Laufbahn. Sein Freund und Biograph Ar- 
mand Carrel berichtet über diese seine letzte Waffen- 
that : „Er sah nichts, begriff nichts, wusste nicht, was 
anfangen, war ohnmächtig vor Hunger und Ermattung, 
erwachte erst ' in Wien wieder , nahm ein Postbillet 
und reiste mir nichts dir nichts ohne Urlaub oder Ab- 
schied nach Italien". 

Hier streicht unser Humanist auf den Bibliotheken 
herum und forscht nach alten Manuscripten. In Florenz 
passirt es ihm, ein unersetzliches Manuscript durch 
einen enormen Dintenklex zu verderben, woraus ein 
Scandal entsteht, dem wir Courier's erstes Pamphlet 
verdanken. Unter philologischen Studien verlebt Courier 



— 141 — 

seine Zeit bis zum Jahre 1815. Da eröffiiete die Re- 
stauration der Bourbonen seinem Ehrgeize ein Feld 
des Euhmes. Seines Talentes war er sich schon be- 
wusst geworden und auch seine Feinde sollten bald, 
obzwar im Tone des Vorwurfs, seine Befähigung zum 
Pamphletisten anerkennen. 

^ „Dieser Courier," so drückt sich einer derselben 
aus, „war im Hasse gegen Kirche und Adel erzogen 
worden. Ein Professionshasser von Natur, war er mit 
jenem Auge begabt, das selbst in der Sonne Flecken 
sieht, mit jener Nase ausgestattet, die selbst am Rosen- 
dufte Fehler findet. Ein Redner war er nicht ; konnte 
er doch nicht zwei Sätze hintereinander aus dem Steg- 
reife sagen. Aber wenn es galt, die Feder in &ift und 
G-alle zu tauchen, dann that es ihm Keiner gleich. So 
trat er im December 1816 mit seinem ersten Pamphlet 
auf und seither ist er wie ein heulender Köter neben 
dem Regierungswagen einhergelaufen und hat unseren 
hohen Ministern und unserer heiligen Kirche jede Stunde 
des Sieges und der Freude verdorben". 

Courier's wuchtige Keulenschläge gelten im Grunde 
nur zwei Gegnern, dem Adel und den Priestern, sodass 
ein Eintheilimgsprincip für die folgenden Auszüge sich 
ganz natürlich ergibt. 

Courier stellt sich in seinem Pamphlete dem Volke 
vor als ein schlichter Bauer, der sich an die Bauern 
seines Dorfes wendet, bald Paul Louis der Weinbauer, 
Paul Louis der Landwirth, bald Paul Louis der rei- 
tende Kanonier, imterzeichnet. Eine scheinbar schlichte, 
im Grunde aber sehr raffinirte Einfachheit ist der 
Grundton seiner Sprache. An kühner Deutlichkeit* lässt 



— 142 — 

er es nicht fehlen. So wendet er sich 1820 an die 
Minister wie folgt: 

„Das Volk hat der Eegierung vorzuschreiben, wie 
sie fuhrwerken soll. Denn die Regierung ist ja nur der 
vom Volke bezahlte Kutscher, der uns nicht fahren 
darf, wohin er will und wie er will, sondern wohin 
wir wollen und auf dem Wege, der uns behagt". 

Die Stellenjägerei wird also gegeisselt: „Heute 
möchte ein Jeder ein Amt besitzen. Sobald der junge 
Mensch ein CompUment zu machen weiss, so geht er 
zum Minister und macht einen Kratzfuss. Das nennt 
man sich vorstellen. Man stellt sich aber vor, um 
etwas zu werden, und man wird etwas im Verhältniss 
zum Bösen, das man anrichten kann. Der Bauer ist 
gar nichts , der Arbeiter ist nichts , der Gendarm ist 
schon etwas, der Präfekt ist ziemlich viel, der Landes- 
herr ist Alles". 

Die neugebackenen Officiere des Junkerthums be- 
kommen auch ihr Theil. „Habt Ihr's schon gehört? 
Der Herr von Habenichts ist Husar geworden. Seit 
wann? Seitdem man nicht mehr kriegen thut. Er 
riecht nach der Kaserne, nicht nach dem Feldlager. 
Aber ein strammer Soldat! Stark genug, um zwei 
colossale Epauletten auf der Schulter herumzutragen! 
Fluchen kann er wie die alte Garde, seine Burschen 
kann er schlagen wie der Marschall Junot und räu- 
spern und spucken wie Napoleon! Narben hat er nicht, 
aber Rheumatismen hat er, die er sich als Emigrant 
geholt, wenn er im Freien campiren musste? Ihr seht, 
Bonaparte's Genie weilt nicht auf St. Helena, nein, es 
ist in unsere Junker gefahren!" 



— 143 — 

Den wichtigsten Vorstoss gegen Hof und Adel führte 
aber Courier in seiner Flugschrift über Chambord. 

Sieben Monate nach der Ermordung des bourboni- 
schen Stammhalters, des Herzogs von Berry, d. h. im 
September 1820, kam dessen Wittwe mit einem Prinzen 
nieder, der heute den Titel eines Grafen von Chambord 
führt und noch vor wenigen Jahren unter demjenigen 
Heinrichs V. von den Legitimisten als französischer 
Throncandidat portirt wurde. Unendlich war der Jubel 
unter den Eoyalisten, als dieses Wunderkind (renfant 
du miracle) zum Vorschein kam. Der Hof, seiner innig- 
sten Freude den billigsten Ausdruck verleihend, setzte 
eine Nationalsubscription in Gang, um ein früheres Be- 
sitzthum der bourbonischen Familie, das an der Loire 
gelegene Schloss Chambord, zurückkaufen und „dem 
Kindlein in der Wiegen" als Angebinde entgegenbringen 
zu lassen. 

Das war nun für unseren Courier wieder eine 
prächtige Gelegenheit, auf die Junker loszuschlagen. 
In einem giftigen Pamphlete wendet er sich an die 
Bauern seiner Gemeinde und redet sie also an. 

„Hätte unsere Gemeinde übriges Geld, so würden 
wir, denke ich, eine neue Strasse machen oder unsere 
alte Brücke einmal flicken lassen. Aber das Schloss 
Chambord kaufen für den kleinen Herzog von Bordeaux, 
das dürfte uns gewiss zu allerletzt einfallen. Das wäre 
weder für uns, noch für den kleinen Herzog ein gutes 
Geschäft. 

Wäre er ein Bauer, dann könnten ihm 1200 Juchart 
guten Ackerlands allerdings noth thun, aber er ist ja 
kein Bauer, er soll ja eines Tages das Land regieren; 



— 144 — 

und dazu braucht man keine Schlösser, sondern nur die 
Achtung seines Volkes. Die Junker am Hofe sagen 
ihm zwar, je mehr wir zahlen, um so grösser werde 
unsere Liebe sein, sie sagen ihm, mit einem mächtigeren 
Budget werde auch die Liebe sich mehren. Wir Bauern 
denken anders. Wenn der Junker seinien König nach 
Verhältniss dessen liebt, was er ihm schenkt, so liebt 
das Volk seinen Fürsten nach Massgabe dessen, was 
er ihm in der Tasche lässt. 

„Man hat", so lese ich im Circular des Ministers, 
„man hat die Idee gehabt, das Schloss Chambord durch 
die Gemeinden Prankreichs zurückkaufen zu lassen". 
Wirklich? Hat man diese Idee gehabt? Hat der Minister 
selbst diesen grossen Gedanken gefasst, oder ein simpler 
Junker, oder etwa gar eine Gemeinde ? Bei uns an der 
Loire existirt diese Gemeinde jedenfalls nicht, aber 
vielleicht im Norden, wo sie die Kosaken und die 
Preussen zweimal im Quartier gehabt?? 

Und welche Lectionen könnte dem Herzog das 
Schloss seiner Ahnen ertheilen, welche Erinnerungen 
ihm zurückrufen? Die Maitressenwirthschaft Pranz I., 
die Blutschande desEegenten, die Laster Ludwigs XV.!" 

Nun folgt das Stärkste, was Courier je gegen die 
Hofschranzen geschrieben hat. Ich resumire nur das 
Anständigere. 

„Die Handlung wäre noch zu finden, die so schlecht, 
so niederträchtig, so feige wäre, dass sie ein Höfling, 
ich sage nicht verweigerte, denn so was kommt 
ja nie vor, nein, dass sie ein Höfling nicht als einen 
Beweis seiner Ergebenheit anführen, sich mit ihr 
nicht gross machen würde. Die höchste Tugend lässt 



— 145 — 

sich bestimmen, aber die Tiefe der Gemeinheit ist 
bodenlos". 

„Und ihre Weiber erst! Es gibt kein einziges 
adeliges Haus in Frankreich, das seinen Glanz und 
seinen ßeichthum nicht seinen Weibern zu verdanken 
hätte. Ihr versteht mich schon ! Sie haben's natürlich 
nicht mit Hemdenflicken und Kindersäugen verdient. 
Ein tugendhaftes Weib wäre» für einen Höfling der 
haare Ruin, das grösste Unglück. Eings um ihn her 
würde es Gold und Gnaden regnen, er allein ginge 
leer aus. Kurz, der Adel kennt nur eine Art des Geld- 
erwerbs, die Prostitution seiner Weiber". 

Wie Courier die Junker behandelt, haben unsere 
Leser bereits vernommen, und die Priester kommen 
natürlich nicht besser weg. 

„Was ist ein Kloster ? — Eine Anstalt, in welcher 
man Männlein ohne Weiblein, oder hinwiederum Weib- 
lein ohne Männlein zusammensperrt". 

Der annoch ultramontane Abbe Lamennais schreibt 
ein dickes Buch „über die Gleichgültigkeit in religiösen 
Dingen". Als Postscriptum eines oflPenen Briefes lesen 
wir bei Courier: „A propos, könnten Sie mir nicht 
sagen, ob der Abbe Lamennais seine Gleichgültigkeit 
in religiösen Dingen fortzusetzen gedenkt?" 

Das ist alles noch harmlos, aber die berühmte 
Stelle über den Beichtstuhl und die Ehelosigkeit des 
Priesters ist es weniger. 

„Ein Mädchen in die Beichte nehmen — denkt 
Euch was das heisst!" 

„Dort, ganz hinten in der Kirche, so recht express, 
so recht heimlich an die Mauer gelehnt, steht eine Art 

U. B. 10 



— 146 — 

von Kasten, eine Art von Sehilderhäuschen , wo ein 
Priester, — ich meine nicht einen Mingrat, dessen 
Verbrechen Ihr in allen Zeitungen habt lesen können, — 
nein, ich will annehmen, ein braver und ein frommer 
Mann, aber immerhin — ein Mann, und zwar ein 
junger Mann — sie sind ja fast alle jung! — Abends 
nach der Vesper, die schöne Sünderin erwartet, die er 
Hebt. — Sie weiss es a^uch, dass sie geliebt ist; denn 
die Liebe kann sich dem geliebten Gegenstande nicht 
entziehen. — Hier widersprecht Ihr mir schon. — „Sein 
sittlicher Charakter, s'eine fromme Erziehung, sein 
heiliges Gelübde !" — Ich antworte, dass hier kein Ge- 
lübde vorhält; ich behaupte, dass ein junger Priester, 
wenn er aus dem Seminare in eine Gemeinde kommt, 
robust und gesund und — aufgelegt, sich in irgend 
ein Mädchen verlieben muss, das kann gar nicht 
anders sein. Und wenn Ihr mir hier widersprecht, so 
behaupte ich gleich noch viel mehr, — dass er sie sammt 
und sonders gerne sieht! Aber Eine wird er allen 
Andern vorziehen. Er würde aus ihr eine tugendhafte 
und keusche Hausfrau machen, — wenn nur der Papst 
nicht wäre. Er trifft sein Mädchen auf der Strasse, 
sieht sie in der Kirche, er hat ein Recht, bei ihr ein- 
zutreten, an Winterabenden sich vor sie hinzusetzen 
und da — der Unglückliche ! — das Gift ihrer Blicke 
zu trinken. 

„Wenn er nun folgenden Tages von seinem Beicht- 
stuhle aus ihren Tritt durch die einsame Kirche hallen 
hört, wenn er sich selber zuflüstert : Jetzt kommt sie ! 
Was geht dann vor in der Seele des armen Beichtigers? 
Bravheit und Pflicht und Vorsätze nützen hier offenbar 



— 147 — 

wenig, ohne eine ganz besondere Gnade des Himmels. 
Ich will annehmen, es sei ein Heiliger. Da er nicht 
entfliehen kann, so seufzt er tief auf und empfiehlt 
seine Seele dem Herrn. Wenn es aber nur ein Mensch 
ist, dann zittert er, es regt sich sein Verlangen, und 
schon wagt er — unbewusst und unwillkürlich — auch 
zu hoffen. Sie erscheint, wirft sich nieder vor ihm auf 
die Knie, — vor ihm, dessen verlangendes Herz ganz 
hörbar an die Rippen pocht! — Leser, Du bist jung, 
oder Du bist es gewesen. Was meinst Du im Ver- 
trauen zu einer solchen Situation? — Meist allein und 
ohne andere Zeugen als die stummen Gewölbe der 
Kirche, plaudern sie nun. Von was? Ach Gott, von 
Allem, was nicht unschuldig ist! Sie sprechen, nein 
sie flüstern, Mund an Mund gelehnt, vermählt sich ihr 
Athem. Das dauert eine Stunde, manchmal mehr und 
das kehrt häufig wieder. 

„Denkt nicht, dass ich etwas erfinde. Die Scene, 
so wie ich sie geschildert, wird in Frankreich täglich 
abgespielt zwischen 40,000 jungen Mädchen und eben 
so vielen jungen Priestern, welche jene Mädchen lieben, 
weil sie dem männlichen Geschlechte angehören, welche 
sie aber niemals heirathen können, weil es der Papst 
nicht gestattet. Der Papst verzeiht den Priestern alles, 
alles — nur das Heirathen nicht. Er wiU lieber einen 
Priester, wie den Mingrat, der die Ehe schändet, der 
ein Hurer ist und ein Mörder, als einen Priester im 
Stand der Ehe. Mingrat ward verurtheilt, weil er seine 
Maitressen umgebracht, — hier vertheidigt man ihn auf 
der Kanzel, dort spricht man ihn heilig. Hätte dieser 
Mingrat eine von seinen Maitressen geheirathet — 



— 148 — 

welch ein Scheusal, welch ein Ungeheuer! Nirgends 
fände er Asyl. Rasch würde mit ihm aufgeräumt, mit 
ihm und dem Beamten, der es gewagt hätte, ihn zu 
trauen". 

Hier haben wir den wahren Courier. Schonungs- 
los greift er einen ganzen Stand an, rücksichtslos ver- 
letzt er die religiösen Gefühle von Tausenden, mit dem 
genialen Instincte seines Hasses weiss er ein abge- 
droschenes Thema zu verjüngen, es dramatisch zu ge- 
stalten, es bis in seine geheimsten Falten auszubeuten. 
Jeder Satz ist überlegt, jedes Wort berechnet, jede 
Wirkung vorgesehen. Wie giftig, wie raffinirt ist seine 
Definition der Beichte : „Sie plaudern von Allem, was 
nicht unschuldig ist!" 

Unnöthig zu sagen, dass Courier mit Pressprocessen, 
Bussen und G-efängniss ab und zu bescheert wurde, 
dass man seine Sachen auf der Post erbrach, ihm 
anonyme Drohbriefe haufenweise ins Haus schickte. 
Hören wir, wie er sich wegen der Verletzung des Post- 
geheimnisses zu rächen weiss. 

Im October 1823 las man folgendes Inserat im 
„Constitutionnel" : 

„Unsere Abonnenten in Tours werden hiemit ge- 
beten, der Frau des Weinbauers Courier folgende Zeilen 
zur Kenntniss zu bringen. 

„Meine Liebe. Schicke mir doch sechs Hemden 
und sechs Paar Strümpfe. Aber um Gotteswillen 
keinen Brief im Packe, sonst würde er mir schwer- 
lich zukommen. Ich weiss, dass auch Du meine 
Briefe nicht empfängst, und desshalb über mein 
Schicksal besorgt bist. Sei ruhig, in dieser Welt 



— 149 — 

gibt es weit mehr Gerechtigkeit, als Du zu glau- 
ben geneigt sein dürftest. Was mich betrifft, so 
bin ich dermalen weder todt noch krank, noch im 
Loche. Lebe wohl, dein getreuer Ehemann". 
In seinem letzten Pamphlete hatte Courier an sich 
selbst die Worte gerichtet: „Paul Louis, nimm' dich 
in Acht, die Schwarzen bringen dich noch um!" Bald 
nachher, Sonntag Abend, den 18. April 1825, fand man 
ihn erschossen in dem an seine Villa grenzenden Walde. 
Natürlich hiess es in ganz Frankreich: Das haben 
Courier's politische Feinde gethan 1 Aber Mme. Courier 
bezeichnete sofort Courier's Waldhüter Fremont als den 
Thäter, welchem Courier an jenem Sonntag Abend ge- 
gen Sonnenuntergang in seinen Waldungen ein Ren- 
dezvous gegeben hatte. Die Untersuchung der Leiche 
ergab, dass der Mörder auf Gewehrlänge musste ge- 
schossen haben, da in der Wunde nicht nur die Kugel, 
sondern auch der Pfropf sich vorfand, Fremont wurde 
indess wegen Mangel an überführenden Beweisen frei- 
gesprochen. Noch im December 1829 konnte Armand 
Carrel seiner kurzen den Didot'schen Ausgaben beige- 
gebenen Biographie die Bemerkung anfügen: „Auch 
heute noch klagt man Niemand der That an. Nur so 
viel ist bekannt, dass in seinen letzten Jahren mit 
Courier schwer auszukommen war und dass er desshalb 
Privatfeinde besass". Da Carrel's Biographie den Compi- 
latoren als einzige Quelle zu dienen scheint, so wieder- 
holen auch die neuesten Auflagen unserer Conversations- 
lexica immer wieder die Behauptung, man habe Cou- 
rier's Mörder nicht entdeckt. Es ist in der That eine 
Nachlässigkeit, dass die neuen Auflagen Didot's jene 



— 150 — 

Bemerkung Carrers nicht mit einer Note versehen 
haben, und es wäre unseren Compilatoren zu empfehlen, 
sich in Zukunft bei Bosenwald's Artikel der „Bio- 
graphie generale" Kath zu holen. 

Im Frühjahre 1830 nämlich ereignete sich folgen- 
der Vorfall. Eine Stallmagd aus Courier's Gemeinde, 
Veretz, kam eines Abends heimgeritten, in den Hof 
ihres Brodherrn und erzählte , wie drüben im Walde 
vor dem Denkstein des Ermordeten ihr &aul gescheut, 
sie selbst dabei geschaudert habe, wie damals, als sie 
Courier im Kampfe mit seinen Mördern gesehen. „Wie, 
du hast die That mit angesehen ?" fragte höchst erstaunt 
ihr Meister. Mit einiger Mühe gelang es ihm, aus 
der halb stumpfsinnigen Magd das Folgende heraus- 
zulocken; 

„An jenem Sonntag Abend war ich mit einem 
jungen Burschen im Walde, wir lagen im Gebüsche 
versteckt, als ovir etwa zwanzig Schritte von uns laute 
Stimmen vernahmen. Wir guckten behutsam durch 
das Gezweige und sahen den Herrn Courier in lebhaf- 
tem Wortwechsel mit vier seiner Knechte, von denen 
zwei mit Säbeln, einer mit einem Knüttel, der vierte, 
Fremont, mit einer Doppelflinte bewaflTnet waren. Ich 
sah, wie Dubois den Herrn Courier am Beine packte 
und ihn zu Boden warf. Dieser rief: „Ich bin ein ver- 
lorner Mann". Fremont legte an und feuerte. Der 
Erschossene lag auf dem Bauche, die Mörder legten 

ihn auf den Rücken, untersuchten ihn und liefen dann 

« 

davon." 

Die Staatsanwaltschaft Tours wurde von dem Vor- 
falle in Kenntniss gesetzt und die bezeichneten Knechte 



— 161 — 

verhaftet. Fremont konnte als Freigesprochener nicht 
ein zweites Mal desselben Verbrechens angeklagt wer- 
den. Er erschien daher als Zeuge, aber die Aufmerk- 
samkeit concentrirte sich selbstverständlich auf seine 
Person; denn er hatte bereits bei der Confrontation 
mit dem neuen Zeugen seine That eingestanden. 

Anfangs Juni 1830 kam dieser zweite Prooess vor 
die Assisen in Tours, die Verhandlungen gibt der 
„Moniteur" des 15., 16., 17. Juni 1830. Aus dieser 
Lectüre geht für mich Folgendes hervor. 

1) Obgleich Fremont nur die That und nicht das 
Motiv derselben gestehen wollte, so kann man mit 
ziemlicher Sicherheit jenes Motiv errathen. Courier's 
gehässige Härte scheint seine Knechte erbittert zu 
haben, so ward er das Opfer eines lange vorbereiteten 
Complottes. 

2) Fremont suchte die Verantwortung auf seine 
Mitschuldigen zu wälzen. Sie hätten ihn durch Dro- 
hungen zur That gezwungen und Mme. Courier sei die 
intellectuelle Urheberin des Complottes gewesen. 

3) Es fragte sich einen Augenblick, ob Mme. Courier 
ebenfalls auf der Anklagebank Platz zu nehmen hätte. 
Diese Frage wurde verneint, da gegen sie nichts weiter 
vorlag, als Fremont's sehr verdächtige Anklage. Als 
Zeuge vorgeladen, zog sie es vor, in der benach- 
barten Schweiz den Schluss der Affaire abzuwarten. 
Es scheint , dass sie unter der Eifersucht ihres viel 
älteren Ehemannes gelitten hatte. Weiteres über ihr 
Verhältniss zu Courier geht aus den Verhandlungen 
nicht hervor. 

4) Die Angeklagten wurden freigesprochen und 



— 152 — 

Fremont mit den Worten entlassen: „Das Gesetz hat 
Euch vor fünf Jahren losgesprochen, aber heute ver- 
urtheilt Euch die Gesellschaft". Drei Tage nach seiner 
Entlassung starb Fremont an seinen inneren Qualen. 
Seitdem er das Geständniss abgelegt, hatte er den 
Appetit verloren; der kleine, elend gekleidete Mann 
mit dem blassen Gesichte, den eingesunkenen grauen 
Augen und dem röthlichen Backenbarte musste schon 
am ersten Tage der Verhandlungen halbtodt vor seinen 
Richter geschleppt werden. 

5) Die Kinder Courier's waren in diesem Processe 
als Civilpartei aufgetreten mit dem Begehren einer amt- 
lichen Constatirung von Fremont's Geständniss. Ich 
weiss nicht, welchen Bestimmungen des französischen 
Rechtes zufolge es geschehen konnte, — aber Thatsache 
ist, dass Courier's Kinder in die Kosten nicht nur des 
zweiten, sondern auch des ersten Processes verfällt 
wurden. Bourbonische Cabinetsjustiz? Auch die Wittwe 
des Marschalls Brune hatte, wie wir oben gesehen, 
im Jahre 1821 die Hälfte der Processkosten tragen 
müssen. 

Wenn wir nun zum Schlüsse die zerstreuten Züge 
zu einem Gesammtbilde vereinigen wollen, so scheint 
es am thunlichsten , den Schriftsteller, den Politiker 
und den Menschen besonders zu charakterisiren. Der 
Schriftsteller, der Stilist, der Pamphletist verdient 
in vollem Maasse das Lob seltener und originellster 
Vortrefflichkeit. In der leidenschaftlich unablässigen 
Leetüre der griechischen und französischen Klassiker 
liatte unser Courier seinen Geschmack erzogen und 
seine Sprache gebildet. Wenn er schrieb, 90 wurde 



— 153 — 

jedes Wort berechnet, jeder Satz mit wahrer Küustler- 
lust aufgefunden, ausgebaut, und der Schreiber ruhte 
nicht eher, als bis die schneidendste Schärfe , die con- 
centrirteste Kraft, die durchsichtigste Klarheit, die 
möglichste Einfachheit erreicht war, bis der Ausdruck 
dem G-edanken passte, wie das gutgeschnittene Kleid 
dem wohlgeformten Leibe sitzt. Jene scheinbar naive 
Schlichtheit ist also das Eesultat einer langen Kunst, 
einer feinen Berechnung und einer zähen Beharrlich- 
keit. Da Courier mit* den französischen E^ssikern des 
16. und 17. Jahrhunderts, mit Molifere und Eabelais, mit 
Lafontaine und Amyot, innig vertraut ist, überhaupt 
von der Ansicht ausgeht, dass in jenen Schriftstellern 
und in jener Zeit allein ein tadelloses und ein muster- 
gültiges Französisch zu finden sei, so sind ihm nicht 
nur von selbst eine Menge alter Wendungen in die 
Feder geflossen, sondern er hat sie auch mit Absicht 
und Bewusstsein verwerthet. Aber diese fremden und 
alten Elemente hängen nicht wie aufgenähte Lappen 
an der Gewandung seines Stiles, sondern wie die aus 
kräftiger Nahrung gezogene Lymphe sind sie mit dem 
eigenen Blute assimilirt worden. Courier wird nie aus 
der. Mode kommen, so lange man französisch liest und 
schreibt. Wie bei Lessing rettet seine Flagge die 
Waare, verjüngt seine Form den Inhalt. Was gehen 
uns, um von Lessing zu reden, heutzutage der Pastor 
Goetze, die antiquarischen Schnitzer des Herrn Klotz, 
die gemalten Scheiben des Klosters Hirschau an? Was 
gehen uns, um von Courier zu sprechen, die erloschenen 
Krater der politischen Fragen an, die in den zwanziger 
Jahren Flammen und Lava spieen? Und doch, wenn 



~ 154 — 

Lessing von jenen xedet, Courier diese discutirt, so 
lauschen wir mit Spannung, als würde uns das Neueste 
berichtet. So gross ist die Macht stilistischer Vir- 
tuosität! 

Und nun zum Politiker. Gewiss, Courier hat 
im Kampfe des französischen Bürgerthums gegen die 
Bourbonen wohlverdiente Lorrbeeren geerntet. Er war 
der hochbegabte Pamphletist jener Bourgeoisie, deren 
Banquier Laffite, deren Bedner General Poy, deren 
Führer Thiers, deren Dichter Bßranger ist. Aber wie 
dieser letztere ist Courier ein reiner Oppositionsmänn, 
dessen volles Gedeihen nur in eine Zeit fallen kann, 
wo die ganze Nation in zwei grosse Lager sich scheidet, 
B^ranger hat es selbst ausgesprochen in seiner so lehr- 
reichen letzten Vorrede. „Warum ich seit 1830 keine 
politischen Lieder mehr gedichtet habe? Weil der 
grosse Chor nicht länger beisammen war, der meinen 
Kefrain aufnahm, ihn zum geflügelten Worte machte, 
ihn von Stadt zu Stadt, durchs ganze Land zu tragen 
pflegte, weil nach dem Julisiege jenes Lager in viele 
Fractionen sich auflöste, von denen eine jede ihr eigenes 
politisches Ideal verfolgte !" So hätte auch Courier 
nach 1830 den grossen Leserkreis umsonst gesucht, 
der jede seiner Flugschriften von Hau» zu Haus gleiten 
Hess. — Aber der Pamphletist setzt nicht nothwendig 
das voraus, was wir einen politischen Charakter 
nennen. Hass und Ehrgeiz und Talent reichen für 
Jenen aus, während Dieser einen positiven Inhalt, ein 
festes Programm, selbstlose Begeisterung voraussetzt. 
Besass Courier diese Eigenschaften? Ich muss es be- 
zweifeln. Der ehrgeizige Litterat und nicht der Mann 



— 155 — 

der idealen Ziele steckt hinter der Maske des Wein- 
bauers Paul Louis. Sein Brief über die Kaiserwahl ist 
charakteristisch. Man sage nicht: Was konnte ein 
Courier machen, was hätte da ein Protest genützt? 
Gerade da, wo der Widerstand nichts mehr zu nützen 
scheint, tritt der Indifferente in einen schneidenden 
Gegensatz zum Idealisten. Es war auch um's Jahr 1804, 
als Frau von Stael Reflexionen über das Kaiserthum 
und den Kaiser niederschrieb. „Als ich Bonaparte's 
Usurpation erfuhr," sagt sie, „da weinte ich, nicht weil 
Bonaparte sein Land um die Freiheit betrogen, — die 
Freiheit wird in Frankreich noch lange unmöglich 
bleiben, — sondern weil er uns auch die Hoffnung auf 
die Freiheit benahm". Und anderswo: „Was soll man 
thun, wenn Widerstehen nichts mehr nützen will? 
Dann erst sage ich: Widerstehen und immer wider- 
stehen ! Der Widerstand an sich ist auch ein Umstand 
von Bedeutung, dessen sittliche Consequenzen sich gar 
nicht berechnen lassen !" — Und wenn wir schliesslich 
auf Courier den Menschen blicken, so muss zwar 
erstens betont werden, dass wir wenig Bestimmtes 
über seinen Privatcharakter wissen, zweitens aber muss 
man zugeben, dass dasjenige, was wir wissen, nicht zu 
seinem Vortheil ist. Ich übergehe den Vorwurf seiner 
Gegner, dass seine catonische Sittenstrenge nur in «einen 
Pamphleten, keineswegs in seinem Leben zu finden sei. 
Aber sein Florentinerklex scheint mir auch ein Cha- 
rakterklex zu sein. Seine Biographen haben die Sache 
mit den schlechten Witzen seines Pamphletes abge- 
fertigt. Wer aber die dort gegebene Entstehungsge- 
schichte jenes Klexes mit dessen Facsimile verglichen 



— 156 — 

hat, wer erwägt, dass Courier's Humanistenehrgeiz das 
grösste Interesse haben musste, jene Stelle der Hand- 
schrift auf immer zu verderben, wer in Betracht zieht, 
dass er nach dem angerichteten Unheile dem Verwalter 
der geschädigten Bibliothek die Mittheilung seiner 
früher angefertigten Copie, d. h. des von nun an ein- 
eiigen Exemplares der vernichteten Seite, obendrein 
noch verweigerte (eine Mittheilung derselben hätte 
freilich das Zerstörungswerk um seinen Zweck betro- 
gen !) — der kann nicht umhin, in jenem Vorfalle einen 
hässlichen und frechen Act der Selbstsucht zu ent- 
decken. Und Comier's tragisches Ende hat mehr den 
Charakter einer Sühne für begangene Fehler, als den- 
jenigen der Hinopferung eines Unschuldigen. Es ist 
bezeichnend, dass die meuchlerische Kugel nicht aus 
den Regionen kam, wo Courier's gute Thaten liegen, 
sondern aus den dunklen Eegionen seines Privatlebens ; 
dass sie nicht dem muthigen Kämpen der bürgerlichen 
Freiheit und dem Feinde der Dunkelmänner galt, son- 
dern dem harten und lieblosen Meister, dem Humani- 
sten ohne Humanität. Wenn irgendwo in Courier's 
Lebenslauf, wird man an dieser Stelle die grosse Lücke 
in seinem Charakter gewahr. So wie die zersetzend^ 
Satire dem Ideale keine Stelle in seinem Geiste Hess, 
so gönnte die Bitterkeit seines Hasses der Menschen- 
liebe keinen Raum in seinem Herzen. In diesem Risse 
keimte die Krankheit, die ihn tödten sollte. 

Nach bester Ueberzeugung habe ich versucht, einen 
Menschen zu zeichnen, da ich keinen Helden ver- 
herrlichen konnte, noch wollte. Wenn nun allerdings 
Courier's grosses Talent von keinem grossen Charakter 



— 157 — 

• 

getragen ist, so muss ihm doch das Lob gespendet 
werden, das Mommsen seinem MithridateS; dem Erz- 
feinde der Römer, ertheilt, wenn er den Gedanken 
ausspricht, jener Orientale habe in seinem politischen 
Leben eine Tugend besessen, die in der politischen 
Welt nicht so leicht und nicht so häufig ist, als man 
glauben möchte, die Tugend, rechtschafibn hassen zu 
können. 



Pierre Lanfrey, 




'er geistreiche Verfasser der „Geschichte Na- 
poleon's" wurde in den Zeitungen schon letzten Som- 
mer begrahen, und nur auf kurze Zeit war es ihm ver- 
gönnt, jene Kunde zu überleben; denn schon in der 
ersten Hälfte des Novembers 1877 erlag Pierre Lan- 
frey seinen Leiden. Wir hoflfen, irgend ein Ereund 
des bedeutenden Mannes werde ihm ein biographisches 
Denkmal stiften. Bis dahin aber wird das Studium 
seiner Werke fast die ausschliessliche Vorbereitung 
Dessen bleiben, der von Lanfrey zu reden sich vor- 
nimmt. 

Pierre Lanfrey wurde 1828 in Chamb6ry ge- 
boren. Er ist also, wenigstens seiner Geburt nach, 
Savoyer. Sein Vater hatte unter dem grossen Kaiser 
gedient und mag die Phantasie des empfänglichen Kna- 
ben mit mancher militärischen Erinnerung beschäftigt 
haben. Wie Voltaire holte sich Lanfrey seine erste 
Bildung bei den Jesuiten, denen er in späteren Jahren 
so wenig als der grosse Spötter des achtzehnten Jahr- 
hunderts gefallen sollte. Eine beissende Satire auf die 
ehrwürdigen Väter des College vqa Chamb6ry soll dem 
jungen Lanfrey jene schlimmen Augenblicke bereitet 



— 159 — 

haben, mit welchen der junge Arouet- Voltaire die ersten 
Frohen seines Genius bezahlte. Man verbannte den bösen 
Peter aus seiner reizenden Heimat in die öden Mauern 
eines Pariser Lyceums, nach dessen Absolvirung das 
Studium der Eechte — der unvermeidliche Durchgangs- 
punet des französischen Publicisten — begonnen ward. 

Der Decemberstreich von 1851 fand den 23jährigen 
jungen Mann bereits mit den Vorbereitungen seiner 
ersten Publication beschäftigt. „L'^glise .et les philo- 
sophes du 18. Siecle" erschien 1854. Die „Eevue des 
Deux Mondes" nennt sie das leidenschaftliche Erst- 
lingswerk eines schroffen Idealisten, der mit dem gan- 
zen Feuer seiner Seele die Anschauungen des acht- 
zehnten Jahrhunderts festhält. Schon diese Erstlings- 
frucht von Lanfrey's Studien trägt das Doppelgepräge 
seines hochbedeutenden Talentes : Kraft und Gewandt- 
heit, logische Schärfe und epigrammatische Eleganz. 

Drei Jahre später (1857) hatte Lanfrey seinen 
„Essai sur la Revolution frangaise" vollendet. Derselbe 
bildet eine natürliche Fortsetzung seines ersten publi- 
cistischen Versuches, beschäftigt er sich doch wieder 
mit den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts, diesmal 
in ihren Beziehungen zum grossen Ereignisse der 
Revolution. Die apologetische Tendenz, welche Frau 
V. Stael und nach ihr Mignet und Thiers im liberalen, 
Michelet, Buchez und Louis Blanc im demokratischen 
und socialistischen Sinne in ihre Revolutionsgeschichte 
gelegt hatten, weicht hier einem höheren Gesichts- 
puncte: demjenigen des sittlichen Urtheils, des Ge- 
wissens. Marat's und Robespierre's Rettung wird An- 
deren überlassen; und wenn auch Lanfrey zwischen 



— 160 — 

Ideen und Thaten unterscheidet, so gilt doch der ein- 
fache und bewährte Satz : „An ihren Werken sollt ihr 
sie erkennen!" dem Autor als Richtschnur. Lanfrey's 
Standpunct ist somit nicht die Parteiraison , sondern 
das schlichte Urtheil des braven Mannes. Strenge geht 
er mit den Häuptern der Bergpartei ins Grericht und 
ein besonderes Capitel vernichtet das sophistische Plai- 
doyer ihres gewandten Advocaten Louis Blanc. Mit 
Macht erhebt sich Lanfrey gegen dessen latente Maxime, 
dass eine Parteifahne verwerfliche Leidenschaften retten, 
die politische Absicht Verbrechen sühnen, eine gute 
Idee die Lüge in ihren Dienst ziehen dürfe. Je strenger 
aber die Menschen gerichtet werden, um so begeisterter 
erklärt sich Lanfrey für die Grrundsätze des Revolu- 
tionsfrühlings von 1789. Es braucht wohl nicht hinzu- 
gefügt zu werden, dass die Kehrseite dieser historischen 
Arbeit ein Pamphlet auf die französischen Zustände 
der Pünfzigerjahre ist. Lanfrey's epigrammatische Ader 
versteht die „Guerre d'allusion," den Guerillakrieg der 
beissenden Anspielung, aus dem Fundamente. 

Es bleibt ein schönes Zeugniss für den idealen 
Gehalt von Lanfrey's Charakter, dass in eben dem 
Jahre, wo der äussere Glanz, das Wohlleben und der 
Materialismus des zweiten Kaiserreiches jede Kraft 
gebrochen und jedes höhere Streben beseitigt zu haben 
schien, wo Maler imd Eomanschreiber um die Wette 
die rohe Sinnlichkeit bedienten, dass im Jahre 1858 
Lanfrey's „Briefe an Everard" dem Schmerze des Ver- 
einsamten einen herben, weil tiefempfundenen Ausdruck 
verliehen. Auch Lanfrey hat diesmal die unvermeid- 
lich gewordene Form des Romans gewählt, um Gleich- 



— 161 — 

gesinnten jene Anschauungen entgegenzubringen. Der 
Autor nennt seine Briefe „ein psychologisches Tage- 
buch"; es sind düstere Betrachtungen über die Zu- 
stände und die Menschen jener Tage. Everard-Lanfrey 
hat die bittere Erfahrung gemacht, dass die G-esell- 
schaffc dem Stärkeren, oder was gleichbedeutend ist, der 
Intrigue und der Gemeinheit als Beute anheimfällt. 
Kind einer für die Freiheit erzogenen Generation, sieht 
der hochstrebende Jüngling sich mit einem Schlage in 
die Knechtschaft geschleudert, ohne dass es ihm ver- 
gönnt gewesen, den Kampf, der über sein Geschick 
entschied, selbst mitzukämpfen. Für sich allein zwar 
setzt er den Widerstand mit der ganzen sittlichen 
Spannkraft seiner Gesinnung fort, aber rechts und links 
fallen Freunde ab, ein Jeder treibt mit dem Strome 
und folgt dem grossen Haufen, der ja jeden Augenblick 
zum Vor- und Rückmarsche bereit ist. Sich selbst will 
Everard nicht untreu werden, der allgemeine Abfall 
kann ihn seiner Schwüre nimmer entbinden: aber 
zum Unglück sieht er sich prädestinirt, zur Unthätig- 
keit verurtheilt im Alter der Begeisterung und der 
Thatkraft; unerschütterlich — ja, aber mit dem Fluche, 
thatenlos zu bleiben. Selbstmordgedanken beschleichen 
ihn: „malo mori quam foedari!" Endlich, müde des 
Doppelschauspieles engherzige^ Verzichtleistung auf die 
Freiheit und elender Elriecherei gegenüber den Erfolgen 
des Starken, sucht Everard in einer unüberlegten ver- 
frühten Schilderhebung italienischer Patrioten einen 
sichern Tod. 

Diese Lösung des psychologischen Drama's ist für 
Lanfrey charakteristisch. In einem ganz ähnlichen 

H« B. 11 



— 162 — 

Romane desselben Jahres (Lysis, von Charles Grouraud) 
sucht und findet der vom politischen Elende der Gegen- 
wart angewiderte Held seinen Trost in einer keuschen 
Liebe. Diese Abmachung mit dem Zuge des politischen 
Gewissens würde Lanfrey's Everard als Entweihung 
und Verrath erscheinen. Seine Lösung allein konnte 
seiner Stimmung genügen. 

Lidess die Entmuthigung des Sta-rken geht vor- 
über, und Lanfrey wusste seinen Trost in der Zuflucht 
des entschlossenen Mannes, in ernster Arbeit, zu finden. 
Die geräuschvolle Debatte über die weltliche Macht 
des Papstes regte auch ihn zu einem Versuche an, in 
welchem er nach Gewohnheit die Geschichte in den 
Dienst der Politik zog. Lanfrey's „Histoire politique 
des papes" trieb mit auf den "Wogen der Broschüren- 
fluth des Jahres 1859, um bald in ihrer Ebbe zu ver- 
schwinden. In dieser Schrift nun schlägt der bereits 
erprobte publizistische Krieger seine Gegner mit den 
Zeugnissen von achtzehn Jahrhunderten, weist mit uner- 
bittlicher Dialektik nach, wie das Papstthum von jeher 
ein Erbfeind der italienischen Einheit gewesen, in der 
Schwäche und Zersplitterung der unglücklichen Nation 
die eigene Kettung und Wohlfahrt gesucht habe. Ueber 
den kurzlebigen Erfolg des Buches wusste sich Lan- 
frey mit einem hübschep Epigramme zu trösten : „Les 
livres sont comme les abeilles, ils meurent de leur 
victoire". (Bücher und Bienen gehen an ihrem Siege 
zu Grunde). 

Im November 1863 vereinigte Lanfrey unter dem 
Titel : „Etudes et Portraits politiques" eine Reihe von 
Aufsätzen, welche bereits in der „Revue nationale" und 



— 163 — 

im „Temps" ihre Leser gefunden hatten. Sie gehen 
zwar meist von der Vergangenheit aus, streifen aber 
fast immer bewegende Eragen der Zeit (Thiers, Daunou, 
Carnot, Armand Carrel, das parlamentarische Regiment 
unter Louis Philippe, sind die ausführlichsten Artikel 
der kleinen Sammlung, während von Guizot, Proudhon 
und Laboulaye nur Gelegenheitssohriften besprochen 
werden). 

„Wer mich strenge nennt," so drückt sich die kurze 
Vorrede aus, „dem kann ich kaum widersprechen. In 
unseren Tagen gesinnungsloser Kritik könnte gar wohl 
ein scheinbares Uebermass des Tadels und der Strenge 
nichts anderes als knappe Gerechtigkeit sein. Uebrigens 
habe auch ich dem Greschmacke unserer Generation 
für die „Rettungen" meinen Tribut entrichtet, denn 
meine Aufsätze alle gelten dem Lobe einer einzigen 
Grösse. Auch ich habe mir meinen Helden gewählt: • 
Mon h6ro8 c'est la libert6". 

Der erste dieser Aufsätze ist nach unserem Dafür- 
halten der trefflichste des trefflichen Buches. „L'histoire 
du Consulat et de TEmpire par M. Thiers," geschrieben 
im Juni 1861. Seine siebenzig Seiten sind das Be- 
deutendste, was in Frankreich über Thiers' zwanzig- 
bändigen Legendenschatz erschienen ist. Da Karl Hille- 
brand im Decemberheft (1877) der „Rundschau" diese 
Arbeit Lanfrey's einer lakonischen Verurtheilung ge- 
würdigt hat, so halten wir's für Pflicht, dem deutschen 
Leser einen Einblick in die Acten zu gewähren. 

„Ich möchte eine Bewunderung in ihre Elemente 
zerlegen," so beginnt der epigrammatische Autor. „Die 
Academie hat Thiers' Kaisergeschichte wegen ihrer 



— 164 — 

liberalen Tendenzen gekrönt. Diese erklären in der That 
den ganzen ungeheuren Erfolg des Buches, von dessen 
zwei Gesichtern das eine der Freiheit zu lächeln scheint, 
während das andere dem Despotismus lacht. Suchen 
wir heute unter der erdrückenden Masse des von Thiers 
zusammengetragenen Materials die Tendenz und 
das Ideal des Geschichtsschreibers zu entdecken. Die 
Sache wird nicht leicht bei einem Autor, welcher der 
geistigen Entwicklung der von ihm geschilderten Zeit 
kaum einige Seiten, d. h. zehnmal weniger als der Be- 
schreibung eines kaiserlichen Hoffestes widmet, während 
er doch andererseits das Materielle bis auf den letzten 
Gamaschenknopf protokollirt. Für die Thatsachen jenes 
ersteren Gebietes scheint Thiers weder Gedächtniss 
noch Sinn zu besitzen. Er weiss genau, dass Spanien 
im Jahre 1802 sieben Millionen Merinoschafe zählte, 
aber er weiss nicht genau, wann Montesquieu gelebt 
hat : denn sagt er nicht vom Comte de Provence (dem 
nachmaligen achtzehnten Ludwig), er habe die Gesell- 
schaft Montesquieu's gemieden? Nun aber ist besagter 
Ludwig drei Monate nach Montesquieu's Tode geboren ! 
— Thiers lebt und webt in der Materie. Was ihn am 
grossen Schauspiele der Menschheit interessirt, das 
ist nach seinem eigenen Geständniss: „La quantite 
d'hommes, d'argent, de matiöre qui a 6t6 remuee". Die 
Machtentfaltung mit aUen ihren Hülfsquellen ist es, 
was sich unwiderstehlich seiner Phantasie bemächtigt. 
Das „mens agitat molem" war nicht für ihn gesprochen. 
Seine Bewunderung gilt den Pyramiden, aber er ver- 
schliesst sich der Thatsache, dass es ein Volk von 
Sclaven braucht, um Pyramiden zu bauen. 



— 165 — 

Thiers' Unsicherheit im sittlichen Urtheile steht 
in wunderlichem Gegensatze zur Sicherheit seiner mili- 
tärischen Kritik. Zwar einen Corporal mit vier Mann 
zu commandiren, brächte Thiers in die peinlichste Ver- 
legenheit; aber jedem Marschall seine Schnitzer nachzu- 
weisen, Moreau wie einen Schuljungen abzukanzeln, 
das ist ihm ein Leichtes. Sogar Nelson corrigirt er; 
denn er ist competent zu Wasser und zu Lande. Seinem 
Helden Bonaparte muss eine gewisse Ueberlegenheit 
zugestanden werden, doch kann er auch diesem gelegent- 
Kche Lectionen nicht ersparen. Für jede geschlagene 
Schlacht entwirft Thiers einen neuen Plan und theilt 
uns mit, wie er selbst die Sache angegriffen hätte. 
Die Weglassung dieser militärischen Selbstgespräche 
dürfte das Ganze um einige Bände erleichtert haben. 

Wie ganz anders nun wird Thiers' Haltung, so- 
bald er auf das sittliche Gebiet gelangt! Die Ermor- 
dung Enghien's nennt er ein schmerzliches Schauspiel, 
in welchem „ein Jeder, sogar die Opfer, ihre Fehler 
zu beklagen hatten". Der spanische Krieg — und das 
wiederholt er bei jedem Eroberungskriege des Kaisers 
— war eine Wohlthat für die Besiegten, er besass 
nur einen Fehler : er misslang. Anderswo behüft sich 
Thiers mit der Theorie einer zweifachen Moral (th6orie 
des deux morales). So ist das Attentat von Bayonne 
nach den schlichten Regeln der Privatmoral verwerflich. 
Aber Throne und Nationen sind keine Privatsache. 
„Man raubt und verschenkt sie mitunter zum Wohle 
und zum Glücke der Völket. Nur hüte man sich bei 
einer derartigen Vorsehungsrolle Fiasco zu machen. 
(Seulement, il faut prendre garde en voulant jouer le 



— 166 — 

role de la Providence d'y echouer)". So kennt Thiers nur 
die Moral des Erfolges. Selbst gegen seinen Helden 
wird er immer strenger, je mehr derselbe im Pech 
versinkt. Schon vor der Schlacht von Waterlo ist 
Thiers ziemlich unparteiisch geworden. So wie der 
Held gefallen ist, entzieht er ihm seine Achtung. 

Thiers erzählt nur die Geschichte des Meisters. 
Die Gedanken, die Empfindungen, das Wollen der Re- 
gierten sind ihm gleichgültig. Der Kernsatz seiner 
Philosophie scheint zu lauten : Der Mensch ist da, um 
uniformirt, administrirt , centralisirt und stark regiert 
zu werden. Das Schönste in dieser schnöden Welt ist 
ein Regiment, das XJebrige hat wenig zu bedeuten. 

In der Politik ist Thiers im Grunde nicht conse- 
quenter. „ J'ai toujours aim6 la vraie libert6 !" so ruft 
er aus, und dabei will er gleichwohl eine starke Re- 
gierung, d. h. eine Dictatur. Er bewundert die Schöpfung 
der strammen kaiserlichen Administration, er findet es 
in der Ordnung, dass selbst die Richter von der Re- 
gierung ernannt werden. Das Concordat ist nach seiner 
Ansicht Napoleon's grösste Leistung: „Quoi de plus 
indiqu6 que de relever Tautel de Clovis !" — Was war aber 
diese Abmachung des Concordates als ein beiderseitiger 
Rechnungsfehler? Der Kaiser hoffte durch sie eine 
neue Macht, der Papst eine verlorene Macht zu erlangen. 
Beide hatten sich verrechnet; denn für beide wurde 
das Concordat eine Quelle endlosen Haders. Thiers 
schiebt bei dieser Gelegenheit seinem Helden sogar 
sentimentale Motive unter. „Napoleon hatte keinen 
anderen Ehrgeiz als den, in allen Dingen das Gute anzu- 
streben", und dann wird uns berichtet, wie der Kaiser 



— 167 — 

• 

bei diesem frommen Anlasse die schöne Aeusserung 
gethan : „In Malmaison beschleicht mich eine Eührung, 
so oft ich das Glockengeläute des nahen Dorfes höre". 
Für einen Geschichtschreiber sind solche Stellen allzu- 
stark. Ueberlasse er es dem blumenreichen Rhetor 
Chateaubriand, den Glocken und dem Glockengeläute 
ein Extrablatt zu widmen! Napoleon selbst in seinen 
auf St. Helena dictirten Memoiren drückt sich ja ganz 
anders aus: 

„Man kann sich kaum die Schwierigkeiten denken, 
die ich für's Concordat zu überwinden hatte. Man wäre 
mir damals lieber nachgefolgt, hätt' ich das prote- 
stantische Banner erhoben. Ich hatte in der That 
die freie Wahl. Die momentane Stimmung trieb dem 
Protestantismus zu. Aber der Katholicismus diente mir 
besser. Draussen blieb mir so der Papst erhalten, ich 
durfte hoffen, ihn über kurz oder lang zu meinem Va- 
sallen zu machen, und dann — welch ein Hebel der 
öffentlichen Meinung, welch ein Einfluss auf den Eest 
der Welt!" 

Das tönt anders als Thiers' Glocken-Gebimmel! 
Das ist der Naturlaut der Wahrheit, die nüchterne 
Sprache des absoluten Despoten ! 

Thiers' politisches Ideal ist Frankreichs Herrschaft 
über den Continent und dessen Civilisation durch einen 
französischan Meister. So wird ihm jeder Eroberungs- 
krieg des Kaisers zu einer Wohlthat für die Besiegten. 
Ob es in der Ordnung sei, dass der Continent über- 
haupt einen Meister habe, das kümmert Thiers wenig. 

Aus seinem Kaiser macht Thiers endlich ein wahres 
Factotum, Sagt er doch an einer Stelle; „Napoleon 



— 168 — 

avait autant d'esprit que Voltaire". Der grosse Soldat 
ist ihm auch ein grosser Politiker. Die Sache verhält 
sich aber anders. Der Soldat hatte fort und fort die 
Fehler des Politikers wieder gut zu machen, und es 
brach ein Tag an, wo er dies nicht länger konnte. 

Thiers' vielbändiges Buch hat den Gläubigen der 
ELaiser-Legende ein unschätzbares Material geliefert, 
um sich selber zu beweisen, dass ihre EeUgion die 
richtige sei. An der Spitze eines endlosen Bagagen- 
Zuges und eines furchtbaren Kri^smaterials reitet unser 
Historiker durch seine Geschichte, aber es steht zu 
fürchten, dass alles Das eines schönen Morgens in die 
Hand des Peindes fallen dürfte — in die unbarmherzige 
Hand einer kritischen Nachwelt und einer überlegenen 
Forschung. Was wird von Herrn Thiers dann noch 
bleiben? Ein grosser Gedanke dauert, eine historische 
Plauderei aber bleibt nur so lange bis eine genauere 
Darlegung sie verdrängt. 

Thiers' Stil ist breit und nachlässig, aber einen 
Capitalvorzug besitzt er: das Leben. Er packt und 
reisst uns mit, man muss wider Willen folgen. In 
einem merkwürdigen Capitel des zwölften Bandes hat 
Thiers das Bild des Geschichtsschreibers entworfen, 
wie er sein soll. Er verlangt hier, dass sein Stil ein 
klarer sei und fügt bezeichnend genug hinzu: „61ev6 
quelquefois: er sei mitunter auch gehoben". In der 
That, Thiers hat hie und da sich auch im Pathos ver- 
sucht. In diesen seltenen Fällen wird er aber unfehl- 
bar rhetorisch, weil ihm die tiefere Empfindung fehlt. 
Fast komisch wirkt es, wenn er förmlich und zum 
Voraus anzuküuden kommt, dass er seine zu Fuss ein- 



— 169 — 

herschreitende Muse in rhetorischen Trab zu setzen 
beschlossen habe: 

„Quoique voue au culte modeste du bon sens, qu'on 
me permette un moment d'enthousiasme". Und er be- 
nutzt die eingeholte Erlaubniss, um das ganze Batterie- 
feuer seiner Metaphern spielen zu lassen : „Un spectacle 
digne d'une affreuse compassion". — „Plac6e entre 
le Hanovre et Thonneur, la Prusse 6tait horriblement 
agit^e". — In solchen Momenten vergleicht er den 
Kaiser mit einer Eiche und die Marschälle mit fallen- 
den Blättern, der historische graue Eock heisst dann 
nicht mehr „La redingote grise" sondern: „renveloppe 
grise" und statt kurz und gut zu sagen: „un pied", 
schreibt er: „un pied audacieux". 

Thiers hat seinen Ruhm in der Gegenwart genossen, 
Er suche ihn nicht mehr bei der Nachwelt. Das Lob 
der Masse und das Lob der Academie ist ihm zu Theil 
geworden, aber der Nachruhm, der bleibende und der 
ächte Buhm, nach dem darf es ihn nicht gelüsten; 
denn sein leichter Sinn hat jene Qualen nie gekannt, 
die der Euhm seinen Auserwählten auferlegt; wird er 
doch nur Denjenigen zu theil, die um seinetwillen ge- 
litten haben. Wenn die Nachwelt in Thiers' Geschichte 
etwas suchen wird, so sind es die kleinlichen Strebun- 
gen seiner Mitwelt". — 

Dies sind in knappester Eorm die leitenden Ge- 
danken von Lanfrey's Aufsatz. Was ihn von Thiers 
trennt, ist der tiefe Gegensatz einer idealistischen und 
einer materialistischen Natur. Die Seite 23 einge- 
schobene Episode bezeichnet Lanfrey 's Standpunct besser 
als irgend eine Umschreibung es m thun verniöchte. 



— 170 — 

„Wie kommt es, dass unsere Historiker dem sitt- 
lichen Momente so wenig Raum gönnen ? Um die sitt- 
liche Grösse zu begreifen, muss man an die Freiheit 
glauben, und diesen Glauben haben wir verloren. Gilt 
es doch heute für das Zeichen eines überlegenen Geistes, 
wenn man die Menschen als Marionetten des Geschickes 
betrachtet. Hierin bringt uns die Zeit ihr eigenes 
Maass entgegen, sie misst das Vergangene an der Ge- 
genwart und Andere an sich selbst. Der sittliche 
Standpunct gilt ihr beim Geschichtsschreiber für Kurz- 
sichtigkeit, beim Politiker für Beschränktheit. Wir 
nähern uns hierin allmälig den greisenhaften Völkern 
des fernsten Ostens, welche die Moral als eine Be- 
rechnung auffassen, sofern sie darin nicht schlechtweg 
einen Kniff erblicken, — die ganz wie wir, vor allem 
die Schlauheit und Falschheit bewundern, und die wahre 
Stärke, d. h. Selbstlosigkeit, Wahrheit und Gesinnungs- 
adel aufs Tiefste verachten. 

„Diesem Zuge unserer Zeit arbeitet nun jener Opti- 
mismus in die Hände, welcher die Sünden der Ver- 
gangenheit mit dem Fortschritte der Gegenwart recht- 
fertigt. Unser Philosoph Cousin hat den Leibnitz'schen 
und den Hegerschen Optimismus, der die Menschheit 
als gerecht und gut voraussetzt, für unsere Historiker 
zurecht gemacht. Das Ziel ist von der Vorsehung ge- 
steckt, die Phasen der Entwicklung vorgeschrieben. 
Somit hat der Sieger dem Besiegten gegenüber immer 
Eecht, der Besiegte ist immer der, der zu besiegen 
war, und jeder Erfolg ist ein Fortschritt über sein 
Gegentheil, die Niederlage. Folglich ist auch die Theil- 
nahme übel angebracht, die dem Verlierenden geschenkt 



— 171 — 

wird. Die heutigen Zustände sollten genügen., um diesen 
Optimismus ein für allemal zu richten". 

Die „Revue des deux Mondes" (Mazade, April 1864) 
begrüsste Lanfrey's „Portraits politiques" als ein Zei- 
chen des wiedererwachenden Geistes der Treiheit. Sie 
nennt den Verfasser einen Idealisten bis zur Selbst- 
peinigung (il a le tourment de l'idöal), einen Essaiisten, 
dem nicht Erzählung und Detailmalerei, sondern die 
Anatomie der Ereignisse und das Drama der Meinungen 
die Hauptsache ist. 

In den nun folgenden Jahren arbeitete Lanfrey 
unverdrossen an seiner „G-eschichte Napoleon's," 
deren erster Band, nachdem er abschnittweise schon in 
der „Revue nationale" erschienen war, im Erühling 
1867 die Presse verliess. Gerade in diesen Jahren sah 
der Bonapartismus, welcher aus einem befehlenden 
zu einem discutirenden geworden war, die Wogen 
der feindlichen Litteratur höher und höher gehen. Im 
Jahre 1866 hatte Randot's Schrift „Napoleon I. peint 
par lui-meme" einige Aufmerksamkeit erregt, und 
Tenot's „Paris en d6cembre 1851" und Delord's Ge- 
schichte des zweiten Kaiserreiches folgten 1868* Lan- 
frey's Buch nun stellt sich als Product der Kunst, des 
Gedankens und der Wissenschaft weit über jene ge- 
sinnungsverwandten Schriften, denn es betont vor Allem 
die Würde einer ernsten Untersuchung. 

„Napoleon," so beginnt Lanfrey, „ist bisher meist 
nur von der Liebe und vom Hasse beurtheilt worden. 
Nach seinem Tode wie bei seinen Lebzeiten war es ihm 
bes.chieden, die Gemüther tief zu erschüttern, und die 
Kämpfe, welche seine Politik liervorgerufen, sind später 



— 172 — 

auch für und wider sein Andenken geliefert worden. 
Auf die volksthümlichen Vergötterungen, auf die selbst- 
süchtigen Verherrlichungen des Parteigeistes, auf die 
Gefälligkeiten gewisser Schrifsteller, welche die Vor- 
urtheile des grossen Haufens bald theilten, bald mit- 
verschuldeten , haben heftige Vergeltungsacte geant- 
wortet, in welchen die Wahrheit sich allzu oft mit 
ihren eigenen Waffen verletzen sollte. Indess hat Na- 
poleon's Euhm weit mehr Schmeichler als Gregner ge- 
funden, denn der Weihrauch, welchen man dem Götzen 
mcht mehr spenden konnte, ward später seinen Anbetern 
zu Theil. Heute scheinen die Leidenschaften erschöpft, 
der Augenblick einer objectiven Würdigung gekommen 
zu sein". 

Lanfrey's Buch ist keine leidenschaftslose, aber 
eine würdige und kräftige Verneinung und Vernich- 
tung der Kaiserlegende, welche Beranger gesungen 
und Thiers erzählt hat. Lanfrey hat den schönen Wahn 
für immer zerstört. Napoleon's Geschichte ist ihm nur 
die Geschichte eines genialen Egoisten, dem das Ge- 
schick die glorreichste aller Herrscherrollen beschieden 
hatte. Schon mit dem ersten Eingreifen Bonaparte's 
in die Geschichte Frankreichs (1793) ist sein Mann 
mit sich und Anderen fertig. 

„Es ist geschehen! In dem Augenblicke, da die 
Geschichte von Bonaparte Besitz ergreift, haben Be- 
rechnung und Ehrgeiz bereits über alle seine anderen 
Motive gesiegt. Kein politisches Gewissen hält ihn 
länger auf, keine Begeisterung reisst ihn fort, mit den 
Siegern steht er vortrefflich, ohne deshalb den Besieg- 
ten gegenüber unversöhnlich m «ein; von den hoch- 



— 173 — 

sinnigen Jugendträumen ist er befreit und schon misst 
sein Blick das unbegrenzte Feld, das vor ihm sich auf- 
thut. Der prädestinirte Sohn des Ruhmes kennt be- 
reits keinen anderen Rathgeber mehr als seinen uner- 
sättlichen Genius, keine andere Richtschnur als das 
Ideal der eigeuen Grösse und das, was er selbst die 
Verhältnisse nennt, d. h. die vollendete Thatsache, den 
Erfolg und seinen guten Stern. Die Gelegenheit mag 
kommen, er wird sie nicht entwischen lassen". 

Wie grundverschieden hat Thiers diesen Charakter 
behandelt ! Noch der Sieger des achtzehnten Brumaire 
erscheint ihm „als ein gemässigter und religiöser (!) 
junger Mann, der dazu geboren schien, die ganze Welt 
zu bezaubern". Selbst der Consul verfolgt noch ideale 
freiheitliche Ziele, die erist der Kaiser vermöge einer 
inneren Wandlung des Charakters und der Lebens- 
anschauungen verleugnet. Lanfrey dagegen spricht den 
Schopenhauer'schen Satz von der unentwegten Starr- 
heit des ursprünglichen Charakters schon im ersten 
Capitel (bei der Erzählung von Bonaparte's Gewalt- 
streichen anlässlich der Wahlen von Ajaccio, 1790) 
entschieden genug aus: „Diese Episode erklärt sein 
ganzes Leben. Sie beweist, dass der Charakter sich 
nicht durch plötzliche Explosionen bildet, sondern fertig 
vorbereitet, nur auf Gelegenheit hervorzutreten harrt. 
Die willkürlichste aller Fictionen allein hat es gewissen 
Geschichtschreibern möglich gemacht, an einem und 
demselben Menschen mehrere Charaktere zu entdecken". 

Die von Adolf Stahr verfasste Vorrede der von 
Glümer'schen Uebersetzung des Lanfrey'schen Werkes 
macht auf die schLagende Uebereinstimmung zwischen 



— 174 — 

dem divinatorischen Urtheile Piclite's und den histori- 
sclien Ergebnissen Lanfrey^s aufmerksam. In der That, 
die dritte und letzte Bede des deutschen Patrioten 
„Ueber den Begriff des wahren Krieges (Mai 1813)" 
schliesst mit einer Charakteristik des Usurpators, deren 
Scharfsinn Bewunderung verdient. Wenn Pichte vor 
allem den Nicht-Pranzosen betont, so sagte Lan- 
frey (DI. 493) : „In diesem Corsen war alles fremd und 
unfranzösisch, seine Abkunft, seine Anschauungs- und 
Grefühlsweise, sein Charakter. Mit jener echt italieni- 
schen Gabe der kalten Berechnung und, tiefsten Ver- 
stellung begabt, sah er sich einem Volke gegenüber, 
welches das unbändigste, unüberlegteste der Erde ist, 
unfähig, einen Vorsatz durchzuführen, trotz seines 
Esprit leicht zu täuschen, nicht aus Mangel an Scharf- 
blick, sondern aus Mangel an folgerichtiger Ideen". 

Mit dem letzten Theile dieser Ausführung stimmt 
wieder Pichte's Urtheil: „Er lernte die französische 
Kation begreifen als eine höchst regsame Masse, fähig, 
jedwede Richtung anzunehmen, keineswegs aber fähig, 
sich selbst eine bestimmte und dauernde Kichtung 
zu geben." 

„Zu der vollkommenen Klarheit trat nun der uner- 
schütterliche Wille". Und sodann zeichnet Pichte die 
Weltanschauung Napoleon's, die ächte „Id6e napol^o- 
nienne," die sein NeflFe gefälscht und in ihr Gegentheil 
verkehrt hat. Sie fasst die Menschheit auf als eine 
Masse von Kraft und Leben. „In dem grossen Herrscher 
offenbart sich das Gesetz dieser Kraft, für ihn wird 
jedes Leben in Beschlag genommen. Ehre und Treue 
existiren für diesen Herrscher nur dann, wenn sie in 



— 175 — 

seine Pläne passen. — Er hat es freiwillig ausge- 
sprochen, dass es ein Herrscher damit halte, wie es die 
Zeitumstände mit sich bringen". — An seiner Achilles- 
ferse müsse er gefasst werden, so schliesst der deutsche 
Kedner, an seiner gänzlichen Blindheit für die sittliche 
Bestimmung des. Menschen. 

Lanfrey wird von demselben Idealismus wie Pichte 
geleitet. Wenn Thiers sich an den Thaten des Unter- 
drückers freut, so verfolgt Lanfrey vor Allem die 
Leidensgeschichte der Unterdrückten. Daher denn ein 
von selbst sich ergebender Gegensatz der Behandlung, 
welcher eine fortlaufende Kritik des Materialisten durch 
den Idealisten constituirt. 

In einem Artikel über Thiers den Geschichtschreiber 
(Unsere Zeit, 1877) habe ich die Episode von En- 
ghien's Ermordung bei Lanfrey und Thiers verglichen. 
Ersterer zeigt uns den kalten Berechner, der mit 
klarstem Bewusstsein einen Schuldlosen hinopfert, wäh- 
rend Thiers von verhängnissvollen Irrungen und Miss- 
verständnissen redet, und uns den Consul in Malmaison 
schildert, wie er von den heftigsten inneren Kämpfen 
gutherzigen Mitleids und der unerbittlichen Staatsraison 
verzehrt wird. „Der Beweis seiner grossen Aufregung," 
sagt Thiers, „liegt in seiner Unthätigkeit selbst, denn 
während der acht Tage seines Aufenthaltes in Mal- 
maison dictirte er fast keine Briefe, einzig dastehendes 
Beispiel der Unthätigkeit in Napoleon's Leben". Lan- 
frey vernichtet diesen Schwindel mit der Notiz, dass 
aus jenen Tagen nicht weniger als 27 Briefe des Con- 
suls sich nachweisen lassen. Am Hinrichtungstage 
Enghien's selbst, aii welchem nach Thiers' Bericht der 



— 176 — 

Consul sogar beim Schachspiele „classische Citate über 
die Herrschergnade" vor sich hinmurmelte, wo seine 
gemüthliche Aufregung ihren höchsten Grad erreichen 
musste, dictirte Napoleon nicht weniger als sieben 
Briefe, darunter einen sehr ausführlichen an Soult be- 
treffend das Caliber der Positionsgeschütze von Boulogne. 
Thiers und Lanfrey bewegen sich in verschiedenen 
Welten. Lanfrey ist ein innerer Mensch, Thiers ebenso 
sehr ein äusserer. Was den Einen leidenschaftlich er- 
regt, das lässt den Anderen indifferent. Lanfrey schreibt 
eine psychologische Geschichte und eine Moral der 
Politik. Thiers schwelgt in der behaglichen Erzählung 
des Geschehenen, in der breiten Darstellung der ma- 
teriellen Momente. Lanfrey's Stil ist knapp und spitzt 
sich gerne zur taciteischen Pointe zu, während der- 
jenige von Thiers an die „lactea ubertas" des Livius 
erinnert. 

Der Gegner der Kaiserlegende ist zugleich ein 
Gegner des zweiten Kaisers. Auch hier, und hier be- 
sonders, begegnen wir dem oben schon erwähnten 
Guerillakriege der politischen Anspielung. Die „guerre 
d'allusion" ist ein charakteristisches Merkmal der littera- 
rischen Opposition unter dem zweiten Kaiserreiche. 
Ampfere's „Römische Geschichte", Tocqueville's „Ancien 
regime," Laboulaye's und Taine's von der Politik schein- 
bar abgelegene Schriften pflegen ihre Anspielungsge- 
schosse aus den verdeckten Batterien unverfänglicher 
litterarischer Positionen zu schleudern. Selbst Kenan's 
„Leben Jesu" macht die Trümmer der Herodesstadt 
zum Ausgangspuncte einer satirischen Vergleichung 
mit Haussmann's Regieruiigsbauteu. Am heftigsten von 



— 177 — 

Allen geberdete sich Ampere. Den alten Julius Gäjsar 
nennt er einen Charlatan, entdeckt in den Zügen seiner 
Büste den prädestinirten Usurpator; dem Strohmann 
Augustus aber schleudert er folgende Tirade ins Gesicht : 

„Nein, ich werde dir nie verzeihen, dass du die 
Welt betrogen, die allerdings nichts Anderes verlangte, 
als belogen und betrogen zu sein — dass du die Ty- 
rannei mit einer Kunst begründet hast, die durch den 
Knechtschaftshunger zu einer leichten wurde. Und was 
hast du denn vollbracht, um so viel Lob zu ernten? 
Das Kömervolk war matt und müde, du hast seine 
Erschöpfung benutzt, um es in Schlaf zu lullen, hast 
seine Männlichkeit entnervt, erstickt, vernichtet". 

Sainte-Beuve, der Regierungskritiker, der auf alles 
das eine Antwort finden musste, athmet ordentlich auf, 
wenn er einmal einem unbefangenen Geschichtswerk 
auf seinem dornenvollen Wege begegnet. Es klingt 
fast komisch und verdient als Zug der Zeit notirt zu 
werden, wenn Sainte-Beuve's Beurtheilung des ersten 
Bandes von Viel-Casters Restaurationsgeschichte (1860) 
mit dem Ausruf anhebt : „Gottlob , einmal ein Buch, 
zwischen dessen Zeilen nichts zu lesen ist!" 

Endlich hat Lanfrey's Buch einen kosmopoli- 
tischen Charakter im Gegensatz zum chauvinisti- 
schen Patriotismus seines Vorgängers. Lanfrey legt 
im Anfange seines dritten Bandes das Bekenntniss ab : 

„Der enge Begriff eines nationalen Schriftstellers 
ist heute nicht mehr anwendbar. Der moderne Ge- 
schichtschreiber ist nicht mehr an ein Volk oder an 
ein Land gebunden, denn er spricht im Namen der 
allgemeinen Civilisation. Er gehört den gemeinsamen 



— 178 — 

Culturinteressen aller Nationen an, seine Interessen sind 
die der Menschheit, und sein Volk ist dasjenige, welches 
diesen Interessen am besten dient. Sein Vaterland 
überschreitet alle Grenzen, und seine Sache ist die allge- 
meine, unveränderliche Sache des Rechts gegen die Ge- 
walt, der Freiheit gegen die Unterdrückung. Die Aus- 
schliesslichkeit des Patriotismus, welche man von ihm 
verlangt, war möglich in den Staaten des Alterthums, 
wo jeder Fremde ein Feind war; sie ist unhaltbar heute, 
inmitten der grossen . europäischen Völkergemeinschaft, 
die ein gemeinsames Leben lebt und sich von denselben 
Ideen nährt". 

Den wissenschaftlichen Werth von Lan- 
frey's „Geschichte Napoleon's" haben mehrere Artikel 
der „Eevue Critique" besprochen, welche aus der Feder 
eines genauen archivalischen Forschers, Henry Lot, 
geflossen sind. Gegenüber den zweideutigen Leistungen 
Thiers' nun wird (Juli 1867, Kritik de^ ersten Bandes) 
jener wissenschaftliche Werth ohne Rückhalt anerkannt. 
„Man ist bei uns noch so weit von einer wahren Ge- 
schichte Napoleon's, dass eine blosse Berichtigung all- 
gemein getheilter Irrthümer als neue und schätzens- 
werthe Arbeit erscheint". 

„Das wissenschaftliche Verdienst des Buches besteht 
in der actenmässigen Darstellung einer Reihe dem 
Publikum bisher absichtlich vorenthaltener Handlungen. 
Drei Puncte hat Lanfrey's erster Band, im Gegensatze 
zu allen Vorgängern, mit grosser Ueberlegenheit be- 
handelt: 1) die Corruption der italienischen Armee 
durch ihren Führer Bonaparte, 2) das grosse Attentat 
auf Venedig, ein Vorspiel der späteren Eroberungen 



— 179 — 

des Kaiserreiches, 3) die Solidarität Bonaparte's in den 
Fehlgriffen des Directoriums. * Der Ruin Italiens , die 
falsche und gewaltthätige Politik des Directoriunois und 
die Entblössung Frankreichs, dessen Armeen zu chimäri- 
schen Expeditionen verwendet wurden, das war Bona- 
parte's politische Vergangenheit am Vorabend des 18. 
Brumaire. Massena hatte in Wahrheit Frankreich ge- 
rettet, das Land war wieder im Stande, sich selbst zu 
regieren und Bonaparte konnte nur durch eine Lüge seinen 
Staatsstreich rechtfertigen". Was Lot dem Werke Lan- 
frey's vorwirft, ist 1) des Autors allzukurze Vorbe- 
reitung, welche die Archive nicht allseitig durchforscht 
habe. 2) der Parteistandpunct, der seinem G-egenstande 
nicht gerecht wird, 3) die allzuhäufige Berufung auf den 
antifatalistischen Standpunct. Alle diesö Ausstellungen 
mögen begründet sein. Doch überrascht es, dass der 
Eecensent im Grunde so wenig factische Berichtigungen 
beizubringen hat. Li der That, Lot's erster Artikel 
führt nur zwei materielle Lrthümer Lanfrey's an: 
1) Bei Lodi sei die Cavallerie nicht auf Befehl Bona- 
parte's über den Fluss gegangen, sondern eine Reiter- 
abtheilung habe diese Bewegung auf eigene Faust hin 
versucht. 2) Die Armeen von 1792 und 1793 seien 
numerisch nicht so stark gewesen, wie Lanfrey behauptet. 
— lieber den zweiten, schon Ende 1867 erscheinenden 
Band äussert sich Lot im Ganzen sehr anerkennend: 
„Wir haben hier nicht von den Vorzügen des 
Schriftstellers zu sprechen. Diese Vorzüge sind kostbar: 
Klarheit, Bündigkeit und Kraft. Lanfrey erzählt lebhaft 
und denkt ebenso. Seine Erzählungen und seine Reflexion 
gehen Hand in Hand, ohne sich gegenseitig zu schaden''. 



— 180 — 

„Herr Lanfrey hat viel gearbeitet. Seine Geschichte 
ist keine oberflächliche („son histoire est s6rieuse). Aber 
sie entbehrt dabei doch jener starken Grundlagen, 
welche wissenschaftliche Monumente erheischen. * Ist es 
genug, wenn die Fachmänner und die Eingeweihten 
(gens sp^ciaux) mit dem Autor einverstanden sind? 
Man muss auch die Ungläubigen und die Ignoranten, 
den Schlendrian und die Unehrlichkeit überführen. 
Uebrigens bietet der zweite Band in dieser Hinsicht einen 
wesentlichen Fortschritt gegenüber dem ersten. Die 
Quellen sind häufiger angegeben, im ganzen sind sie 
gut, einige sogar sind neu". 

Sodann werden Lanfrey's Berichtigungen der Thiers'- 
schen Irrthümer und Lügen ausdrücklich und im ein- 
zelnen hervorgehoben: „Es ist ein verdienstliches Werk, 
alle diese Fabeln, alle diese lügenhaften Ueberlieferun- 
gen, aus welchen sich auf Kosten der geschichtlichen 
Wahrheit die Kaiserlegende allmälig aufgebaut hat, 
vernichtet zu haben". 

Der dritte Band erschien 1868. Lot bespricht 
ihn in scharfer Weise (Februar 1869). Nach seiner 
Anschauung ist Lanfrey diesmal zu leidenschaftlich 
und in der Quellenbenutzung vieKach unkritisch vor- 
gegangen. Auch die Composition verrathe eine gewisse 
Ermattung. 

Den vierten Band recensirt Lot im Mai 1870. 
Die Composition hat wieder die Höhe des ersten Bandes 
erreicht. Aber die Leidenschaftlichkeit des Autors hat 
der wünschbaren Mässigung nicht Platz gemacht und 
abermals die kritische Sichtung der Quellen beein- 
trächtigt. „Der Band behandelt die Ereignisse, welche 



— 181 — 

zwischen November 1806 und Mai 1809 liegen und 
schliesst mit der Schlacht von Aspern-Essling (22. Mai 
1809). Der Verleger kündet an, das ganze Werk sei 
auf sechs Bände berechnet, was bei der Ausdehnung 
der noch zu behandelnden Materien kaum genügen 
wird". 

Wie nun Carl Hillebrand in seinem Artikel über 
Thiers (Decemberheft 1877 „der Rundschau") auf Grund 
der Lot'schen Recensionen Lanfrey's Buch schlechthin 
als ein oberflächliches Machwerk bezeichnen 
kann, wäre unbegreiflich, wenn nicht die Erfahrung 
lehrte, dass ein Urtheil nicht nur auf Thatsachen, son- 
dern auch auf Sympathien und ihrem Gegentheile fassen 
kann. So wird denn in Hillebrand's Artikel Thiers mit 
einer wohlwollenden Phrase geschützt, während eine 
verächtliche Phrase Lanfrey vernichten soll. Wer, wie 
Hillebrand dies am Ende seines Plaidoyers gethan, 
Frankreichs Grösse in den Kaisersiegen sucht, der 
kann allerdings für Lanfrey's Standpunct nur noch ein 
mitleidiges Lächeln erübrigen. Wunderlicher Gegen- 
satz ! Während Lanfrey den verfrühten Befreiungs- 
versuch des Majors Schill eine glorreiche That nennt 
und deshalb in Frankreich den Vorwurf hören musste : 
„II porte nos ennemis en triomphe!" fragt Hillebrand in 
einer Berliner Zeitschrift: „Ist der Waffenruhm von 
Jena nichts?" Ein Vertreter des Hauses Chauvin und 
Cie. könnte sich kaum gefühlvoller ausdrücken. Wir 
gestehen, für diesen Standpunct uns nicht erwärmen zu 
können. — - Die natürlichste und erste Frage wäre doch, so 
scheint uns, die gewesen : Ist Thiers' Napoleon oder der- 
jenige Lanfrey 's dem Napoleon der Geschichte ähnlicher? 



— 182 — 

Diese Frage hat Carl Hillebrand aus guten Gründen 
nicht gestellt. Lanfrey selbst hat sie in seinem Auf- 
satze über Thiers (p. 6.) beantwortet, wenn er sagt: 
„Wie kann ein Anbeter des Despotismus mit histori- 
scher Treue eine Epoche der Knechtschaft schildern? 
Hierfür geht ihm ein Sinn ab ; denn es gibt eine ganze 
Kategorie von Thatsachen, die er nicht einmal gewahr 
werden wird. Zum voraus weise ich sein Zeugniss 
zurück, er ist mir nicht Zeuge, sondern Mitschuldiger". 

Lanfrey's Werk sollte ein Torso bleiben ; der Ver- 
fasser ist nicht über den vierten Band hinausgekommen. 
Von einer weiblichen Teder ist Lanfrey's Buch vor- 
trefflich in's Deutsche übersetzt worden. Ich meine 
„Lanfrey's Geschichte Napoleon's des Ersten, aus dem 
Französischen von C. von Glümer, vier Bände, Berlin 
1869, sqq; mit einer Einleitung von Adolph Stahr". 
Letztere enthält die Notiz, dass auch eine englische 
Uebersetzung vorbereitet werde". 

Am Schlüsse unserer Skizze mag ein kurzes Wort 
über Lanfrey's politisches Wirken am Platze sein. 
Lanfrey zählte unter Napoleon dem Dritten zu jenen 
litterarischen Eepublikanern und Oppositionsmännern, 
welche das Kunstwerk der französischen Monarchie, 
das unentbehrliche Werkzeug einer starken Regierung, 
die administrative Maschine, durch die Autonomie des 
„Selfgovernment" ersetzt wissen wollten. Den discu- 
tirenden Bonapartismus des Neffen hasste Lanfrey's 
politischer Idealismus nicht weniger als den befehlen- 
den des Onkels. 

Bekanntlich bot die September - Bewegung des 
Kriegsjahres 1870 unserem Historiker eine Präfectur. 



— 183 — 

an. Er schlug dieselbe aus und gab diesem Schritte 
in seinem „Briefe an die Delegation von Tours" eine 
Oeffentlichkeit, welche verschieden beuriheilt worden 
ist. Als nämlich im Januar 1871 von Gr6vy die Wahl 
einer legalen Eegierung betont wurde, erhob sich Lan- 
frey mit Heftigkeit gegen Gambetta's Dictatur, in 
welcher er ein cäsarisches Element ahnen mochte. „Man 
darf nicht warten, bis Alles verloren ist, um zur Er- 
kenntniss des Fehlgriffes zu gelangen, dass einem Advo- 
caten die Oberleitung des Krieges anvertraut wurde. Nie 
hat man dem Lande die Wahrheit über seine eigene 
Lage gesagt. Während ganz Europa die Capitulation 
von Metz schon seit drei Tagen kannte, hielt man die 
Franzosen noch mit Bulletins über Bazaine's glorreiche 
Ausfälle hin. Man hat sich eine Popularität aus erfun- 
denen Siegen gemacht und Frankreich mit diesen gekö- 
dert. Es ist Zeit, dass der Declamation, der Willkür, 
der Unerfahrenheit, der Heuchelei und Ohnmacht ein 
Ende bereitet werde. Es ist Zeit, dass die Kation durch 
fähige Leute vertreten werde; denn Frankreich hat 
viele Dictaturen über sich ergehen lassen, nur eine 
hat es nie ertragen, die Dictatur der Unfähigkeit". 

Als Thiers im Februar 1871 die Präsidentschaft 
übernahm, schickte er seinen litterarischen Gegner, 
den er zugleich als persönlichen Freund schätzte, in der 
Eigenschaft eines diplomatischen Vertreters der fran- 
zösischen Eepublik nach Bern. Lanfrey verblieb auf 
diesem Posten bis Ende 1874. Dann nahm er seinen 
Sitz im Senate von Versailles ein. Hier irwartete ihn 
mehr als eine bittere Enttäuschung. Die grösste war 
das neue ünterrichtsgesetz, welches die Erziehung den 



— 184 — 

Ultramontanen wieder in die Hände spielte. Er hielt 
es nunmelur an der Zeit, seine litterarische Erstlings- 
frncht: yfDie Kirche und die Philosophen des acht- 
zehnten Jahrhunderts," neu herausgegehen. 

In seinem Privatleben war Lanfrey ein bescheidener, 
anspruchsloser Mann. G-rössere Gesellschaften fanden 
ihn wortkarg, schweigsam. Ein physisches Gebrechen, 
das seine Aussprache etwas schwerfällig und unrein 
machte, war mit an dieser Haltung schuld. Aber im 
engen Freundeskreise zeigt er sich lebhaft, aufgeräumt 
und liebte den neckischen Humor. / 

Pierre Lanfrey ist der einzige Geschichtschreiber, 
welcher die Generation des zweiten Kaiserreiches, d. h. 
eine Generation, die Anno 1850 zwanzig bis fünfund- 
zwanzig Jahre zählte, der französischen Nationallitteratur 
geschenkt hat. Die Nachwelt wird seine Kaiserge- 
schichte als eine beredte Widerlegung der chauvinisti- 
schen Legende und als einen hochsinnigen Protest 
gegen die fatalistische Schule der französischen Deter- 
ministen ehren. Dass Lanfrey mitten in der materia- 
listischen Strömung einer dem Idealen abgewendeten 
Zeit sich unerschütterlich treu blieb, muss ihm den 
Eang eines politischen Charakters sichern ; und wenn 
die wissenschaftliche Forschung ihn überflügelt haben 
wird, so bleibt ihm die Zukunft, die er selber in den 
Worten angedeutet hat: 

„Un renseignement ne dure que jusqu'i ce qu'on 
Tait remplac^ par une information plus exacte, mais 
une grande pens6e est ^terneUe". 



Frau von Stael und George Sand. 




'ie französische Litteratur des neunzehnten Jahr- 
hunderts kennt keine grösseren Schriftstellerinnen als 
Frau von Stael und George Sand. 

Wenn schon in diesem äusseren Umstände eine 
Anregung gegehen ist, zwei so bedeutende Erscheinun- 
gen einander gegenüberzustellen, so fordern ähnliche 
Lebensführungen und Tendenzen eine solche geradiezu 
heraus. Haben doch beide Frauen die Würde des 
Weibes und die unveräusserlichen Eechte der Natur 
gegen die Bosheiten, Vorurtheile und Herrscherlaunen 
der gesellschaftlichen Convenienz mit dem Muthe der 
Verzweiflung und dem Hohne des Edlen vertheidigt, 
ist doch, was Stael von ihren Büchern sagt : „Sie sind 
mit dem Blute meines Herzens geschrieben," auch auf 
diejenigen Dichtungen Sand's anzuwenden, die eine 
Vergleichung wie die unserige vor allem in Betracht 
zu ziehen hat. 

Beide sind ideal angelegte Naturön, welche die 
harte Schule des Lebens, der Enttäusctung und des 
Schmerzes erzogen und gekräftigt hat, welche ihren 
Schmerz in dichterischer Objectivirung zu gestalten 
und zu verklären suchen. Beide haben tief empfunden 



— 186 — 

und viel gelitten, beide sind enthusiastische, zur Exal- 
tation geneigte Wesen. Beide sind durch verzeihliche 
Schwächen und entschuldbare Tehler in einen bösen 
Krieg mit einer Macht verwickelt worden, welche auch 
dann nicht zu verzeihen pflegt, wenn ein höheres Ge- 
setz ihren kleinlichen Satzungen zuwiderläuft. Beide 
endlich tragen das negative und das positive Wahr- 
zeichen einer edlen Natur.: den Hass des Gemeinen 
und das Bedürfniss der Freiheit. 

Aber die Zeit, für welche sie schrieben, die Er- 
ziehung, welche sie empfangen, ihre Individualität end- 
lich war eine sehr verschiedene, und daher musste 
denn auch ihr Kämpfen und Streben in seinen Ajdusse- 
rungen ein verschiedenes werden. 

Als Frau von Stael im Jahre 1796 ihr Buch „Vom 
Einflüsse der Leidenschaften auf das Glück der Ein- 
zelnen und der Nationen^^ schrieb, stand sie bereits in 
ihrem dreissigsten Jahre, das heisst am Ende ihrer 
Jugend und hatte zwei grosse Enttäuschungen erlebt: 
die Ereignisse des Jahres 1793, welche ihre politischen 
HoflBaungen knickten und eine unglückliche Ehe, welche 
sie dem Willen eines angebeteten Vaters zu Liebe um 
den Preis einer tiefen Herzensneigung zu dem katho- 
lischen Mathieu de Montmorency feingegangen war. Aus 
diesem doppelten Schmerze erklärt sicH der beste Theil 
ihres Buches, ganz besonders aber die bittere Klage, 
welche sie im Gapitel von der Liebe (De l'amour) der 
gesellschaftlichen Stellung des Weibes widmet. 

Hier tritt Frau von Stael zum ersten Male als 
Klägerin auf gegen die conventioneilen Satzungen einer 
herzlosen Zwingherrin. Hier lodert das erstickte Feuer 



— 187 — 



unbefriedigter Leidenschaft in lichten Flammen empo^.v' 
Dem Gedanken nach äussert sie sich da folgendermaßen: ^>f^^ 



„Nur die Wenigen, welche einer wahren Liebe 
fähig sind, können mich verstehen. Nach meiner Ueber- 
zeugung findet sich das Liebesglück nur in der glück- 
lich combinirten Ehe. Wehe Dem, der es wo anders 
sucht, und dreifach wehe Dem, der es im Ehebund ge- 
sucht und nicht gefunden! 

„Ihr Frauen ! Schlachtopfer jenes Tempels , in 
welchem man Euch anzubeten behauptet, höret meine 
Worte! Natur und Gesellschaft haben uns, die eine 
Hälfte der Menschheit, enterbt; — denn Kraft imd 
Muth, Genie und Freiheit sind das Erbtheil des Mannes; 
uns Frauen gehören nur die Beize einer kurzen Jugend, 
und wenn die Männer diese Jugend mit Schmeicheleien 
zu umgeben gewohnt sind , so suchen sie damit nur 
selbstsüchtigen Zeitvertreib, behandeln uns, wie man 
etwa die Kinder zu behandeln pflegt, wenn man ihnen 
auf Augenblicke die Meister zu spielen gestattet, in 
der ruhigen Gewissheit, dass sie ja doch nie Gehorsam 
erzwingen können. So kommt auch des Weibes Wille 
nur so lange in Betracht, als der Mann verliebt ist. 
Aber betrachtet einmal unser Leben in seiner Ganz- 
heit und überall wejrdet Ihr des Weibes beklagens- 
werthes Loos herauslesen. 

„Des Weibes einzige Leidenschaft ist die Leiden- 
schaft der Liebe. Ruhmsucht und Ehrgeiz stehen ihr 
schlecht, und wenige Frauen gelangen auf diesem 
Wege zu ihrem Glücke. Wenn Eine dadurch empor- 
kommt, so sinken dafür hundert Andere unter das 
Niveau ihres Geschlechtes. 



y 



— 188 — * 

„Die Liebe ist des* Weibes ganze Geschichte , in 
der G-eschichte des Mannes ist sie nur eine Episode. 
Von ihrer Haltung im Puncte der Liebe hängt des 
Weibes Ehre ab, während eine ungerechte Welt in der 
Führung eines Mannes die Sittlichkeit zu ignoriren 
scheint. Ein Mann gilt unserer Gesellschaft immer 
noch für achtenswerth, wenn er einem Weibe das grösste 
Herzeleid bereitet hat, das ihr widerfahren kann ; denn 
ein Mann gilt auch dann noch für ehrbar, wenn er 
eine Frau betrogen. Ein Mann kann von einem Weibe 
Beweise der Hingebung empfangen haben, welche zwei 
Waffenbrüder in engster Freundschaft verbänden, und 
dennoch leichten Herzens sie vergessen. In Frankreich 
gibt es nur wenige Männer, die sich nicht lächerlich zu 
machen glaubten, wenn sie in Herzensangelegenheiten 
jene Zartheit zeigten, die ein Weib glaubt heucheln zu 
müssen, sofern sie sie nicht in der That besitzt. — 
Die Frauen lieben mit dem Herzen, die Männer mit 
der Phantasie. 

„Wie gern hätte ich niemals geliebt, wie gerne 
niemals das Gefühl gekannt, welches, dem h^issen 
Winde Afrika's vergleichbar, unser Herz versengt und 
die Blume, die fröhlich gedeihen sollte, erbarmungslos 
zur Erde wirft". 

Nie sind die Elagen des schwachen Geschlechtes 
in edlerer und in schneidenderer Sprache vorgetragen 
worden. Die Männer blieben die Antwort nicht schuldig, 
sie haben in ihrer Weise geantwortet: 

Göthe in Tasso: 

„Und wirst du die Geschlechter beide fragen: 

Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte". 



— 189 — 

Byron in den beredten und wohlanempfundenen 
Worten seiner Donna Inez („Don Juan" 1, 194): 

„Men have all these resonrces, we bat one, 
To loye again and be again nndone'*. 

Schopenhauer's pessimistisclier Cynismus legt sich 
die Sache philosophisch zurecht: Des Weibes Schön- 
heit ist die Palle, durch welche die Natur nicht nur 
die Zusammensetzung der künftigen Generation, son- 
dern auch die Versorgung des Weibes für die langen 
Jahre ihrer definitiven Reizlosigkeit erreicht. 

Der frivole Casanova endlich macht die Sache in 
der Vorrede seiner verrufenen Memoiren noch bündiger 
ab : „Täuschen die Frauen uns Männer, oder umgekehrt? 
Ich denke, wir bleiben einander nichts schuldig". 

Trau von Stael nun folgte dem Dämon ihres Herzens 
und handelte nach dem Programme von Byrons Donna 
Inez: Sie liebte wieder um wieder zu verbluten. — 
Strodtmann's interessante Mittheilungen über Stael's 
Verhältniss zu Benjamin Constant (Cöln. Ztg.," Nov. 
1875, Nr. 208—220) sind noch zu frisch im Gedächt- 
nisse mancher Leser, um hier wiederholt zu werde^. 
Nur einige Daten gestatte man mir zur Orientirung 
hierher zu setzen. 

Benjamin Constant's erste Begegnung mit Frau 
von Stael fällt in's Jahr 1794 (September), zwei Jahre 
später wird letztere geschieden, und im Jahre 1800 
war ihr Verhältniss zu Constant bereits so sehr Gegen- 
stand des öflfentlichen Klatsches geworden, dass sie allen 
Grund hatte, gegen das ewige Zischeln böser Zungen 
einmal energisch vorzugehen. Sie wählte die Form der 
Dichtung, des Romans und schrieb „Delphine", deren 



— 190 — 

Typus die „Corinna" sieben Jahre später wiederholen 
sollte. Denn beide Heldinnen sind ja nichts anderes 
als Frau von Stael im Kampfe mit der pedantischen 
Kleinmoral einer heuchlerischen Gesellschaft. Constant 
seinerseits hat seine unschöne Rolle und Desertion im 
„Adolphe" zu rechtfertigen gesucht. Wie Frau von Stael 
in jenem ersten Eomane ihren-Ejrieg führte, möge eine 
kleine Episode desselben veranschaulichen. 

Delphine d'Abemar befindet sich im Vorzimmer 
der Königin und erwartet mit anderen Damen deren 
Erscheinen. Lassen wir aber Delphine selbst berichten. 
„Während die zahlreiche Gesellschaft auf die Kö- 
nigin harrte, gesellte sich ganz unerwartet Madame 
R . • . zu uns, eine Dame , die theils durch wirkliche 
Fehltritte, theils durch unbegreifliche Unvorsichtig- 
keiten ihren guten Ruf verscherzt hatte, die ich aber 
zugleich als ein sanftes und herzgutes Wesen kannte. 
Kaum hatte diese Dame auf einem Fauteipl sich nieder- 
gelassen, als die zwei Zunächstsitzenden aufstanden und 
.Andere, die ihre angeborene Rohheit unter dem Au^- 
' ^^hängeschild der Tugend zu befriedigen gewohnt sind, 
/. folgten; denn diesen Frauen geht ja nichts über' die 
' scharfen Executionen! Nicht lange, so schlössen sich 
auch die Männer dem jähen Rückzüge an; diese be- 
anspruchen ja das doppelte Recht, eine Frau erst zu 
Falle zu bringen und die Gefallene hinterher dafür zu 
züchtigen. Was Madame R . . . betriffib, so vermochte 
sie ihre Verwirrung nicht zu verbergen. Jeden Augen- 
blick konnte die Königin hereintreten, und dann musste 
die Scene zu einer wahrhaft' grausamen werden. Die 
Augen der armen Frau füllten sich mit Thränen, sie 



— 191 — 

warf mir einen flehenden Blick zu. Auf die Gefahr 
hin, meinem Bräutigam zu missfallen, fasste ich ein 
Herz, durchschritt entschlossen den Saal und setzte mich 
neben die Verlassene. „Ja", sagte ich bei mir selbst, 
„weil heute abermals die Sitte dem Zuge des Herzens 
sich entgegenstemmt, so möge sie ihm auch heute ge- 
opfert werden". 

Dass in Staels Romanen, wie später in denjenigen 
der George Sand, den Männern fast durchweg die feige, 
schwache oder unbedeutende Rolle zu Theil wird, ist 
in der Grundstimmung dieser Emancipationslitteratur zu 
sehr begründet, um uns zu überraschen oder einer Er- 
klärung zu bedürfen. Von demselben Standpuncte aus- 
gehend, hat in neuerer Zeit Cherbuliez' geistreiche 
Satire auf das Altgenferthum (Paule M6re) den Hel- 
den als Schwächling gezeichnet und ihn mit seiner 
eigenen Feigheit gestraft. „Warum konnte dein Herz 
den Glauben nicht finden?" das sind die entscheiden- 
den Worte, mit welchen die verläumdete Mere ihren 
Zweifler in die liebelperen Regionen seiner steifleinernen 
und correcten Gesellschaft zurückschickt. 

So ist denn Frau von Stael's Polemik gegen Hart- 
herzigkeiten der Gesellschaft im Grunde nichts anderes 
als ein Kampf der grossen gegen die kleine Moral, 
des Gesinnungsadels gegen die heuchlerische Pedanterie 
der Convenienz. Stael hat den sittlichen Boden nie 
verlassen, nie das Institut der Ehe selbst befehdet. 
Im Gegentheil; sie sagt es ausdrücklich: Das wahre 
Glück der Liebe ist nur in einer glücklich combinirten 
Ehe zu finden, jedes andere Verhältniss ein kurzer 
Wahn, dem lange Reue folgen muss. 



— 192 — 

^^3^^® gestaltet sich nun der Kampf gegen die Ge- 
sellschaftsmoral bei George Sand? Ein Blick auf 
ihre Jugend berechtigt von vornherein zu dem Schlüsse, 
dass dieser hier ein anderer gewesen sein wird. Keine 
calvinistische Erziehung, keine mütterliche Strenge, 
keine väterliche Weisheit hatte das wilde Naturkind 
an die Ehrfurcht vor dem sittlichen Gebote gewöhnt. 
Ein leichtsinniger Vater, eine unwissende Mutter und 
eine frivole Grossmutter, das waren die einzigen Führer 
ihrer Jugend. Diese schloss mit einer Convenienz- 
heirath, zu welcher das leidenschaftliche Mädchen kein 
höheres Motiv trieb, als das doppelte Verlangen, sich 
zu verändern und die unerträgliche Mutter loszuwerden. 
Bittere Enttäuchung war auch hier die unausbleibliche 
Folge. Das öde Gattenleben, das einförmige Schloss- 
leben, die abstossende Umgebung weinliebender und 
bornirter Krautjunker, der Besuch eines schönen und 
geistreichen Pariser Studenten (Jules Sandeau), das 
dunkle Drängen ihres erwachenden Genius, das Be- 
dürfniss freierer Luft, alles führt sie unwidersteh- 
lich jener Strömung zu, welche ihr Lebenselement zu 
werden bestimmt war. 

Sie lässt sich mit Sandeau in Paris nieder, schreibt 
zwei Romane und ist mit einem Schlage eine Berühmt- 
heit. Wie Frau von Stael legt die fast dreissigjährige 
Frau ihre Krankengeschichte in ihren Büchern nieder, 
erzählt sie in jener Sprache, deren Geheimniss sie 
allein besass, mit einer leidenschaftlichen Gluth und 
einer Exaltation, wie sie einer Epoche behagen mussten, 
die keine Extravaganz und keine Blasphemie unver- 
sucht gelassen hat. Man darf sich in der That di^ 



— 193 — 

Frage vorlegen, wieviel von Sand's zwischen 1830 und 
1837 verfassten Romanen auf Bechnung der Zeit zu 
setzen sei. Fällt doch diese erste und wilde Periode 
ihres dichterischen Schaffens genau mit der wildesten 
Periode der französischen Litteratur im neunzehnten 
Jahrhundert zusammen. Der Saint-Simonismus, der üher 
den Rhein eingedrungene Pantheismus, das Evangelium 
von der Emancipation des Fleisches hatte die besten 
Köpfe verdreht, und Roman und Drama wetteiferten 
in den ausgelassensten Schöpfungen. Eine neuere Bio- 
graphie Sand's (Katscher in zwei Artikeln von „Unsere 
Zeit") behauptet, sie hätte das Institut der Ehe als 
solches eigentlich niemals angegriffen und belegt diese 
Behauptung mit einer Stelle, in welcher Sand die freie 
Ehe als eine TJnsittlichkeit und die Eindämmung der 
sinnlichen Lust als die einzige Basis der Glückselig- 
keit bezeichnet. Jene Stelle nun, unter dem Einflüsse 
Lamennais' 1837 geschrieben, beweist weiter nichts als 
eine Rückkehr zur Vernunft; sie ist der Markstein, 
welcher Sand's Saint - Simonistische Verirrungen ab- 
grenzt, deren Documente übrigens allzu zahlreich vor- 
liegen, um uns im Zweifel über ihre früheren Ansichten 
zu lassenTTNirgends sind diese letzteren systematischer 
ausgesprochen, als in „Jacques", dem Romane von 1834. 

Jacques ist das Ideal des Ehemannes nach Saudi- 
scher Anschauung. Schon vor der Trauung schreibt 
er an seine Geliebte: „Nicht von der Liebe, sondern 
von der Ehe habe ich heute mit dir zu reden. Denn 
die Liebe ist eine Sache für sich, die, unter uns gesagt, 
mit Eid und Gesetz nicht das Geringste zu schaffen 
hat. Indessen muss doch alles vorgesehen werden. Die 

H. B. 13 . 



— 194 — 

Liebe kann erlöschen, die blosse Freundschaft uns zur 
Qual werden. Die Gesellschaft wird dir einen Schwur 
dictiren. Du hast zu schwören, dass du auf alle Zeit 
hinaus mir treu und gehorsam zu verbleiben, mit an- 
deren Worten nur mich zu lieben und mir in allen 
Dingen zu gehorchen gedenkst. Der eine dieser Schwüre 
ist ein Unsinn, der andere eine Gemeinheit. Indessen, 
Fernande, sprich nur zuversichtlich jene Formel nach, 
ohne welche weder deine Mutter noch die Gesellschaft 
dir gestatten würde, die Meinige zu werden. Meiner- 
seits werde ich dasselbe thun. Aber meinem Eide reihe 
ich noch einen anderen an: Wenn du mich einst zu 
alt für dich findest, so halte dich an meine väterliche 
Freundschaft, und sollte auch diese nicht genügen, — 
dann bist du frei, ich werde mich entfernen!" 

Fernande setzt diesem himmlischen Ehemann him- 
melhohe Hörner auf, und dieser wahre Jakob des Ehe- 
standes greift abermals zur Feder und schreibt: 

„Noch immer bin ich derselben Ansicht. Mit der 
Gesellschaft habe ich mich auch heute noch nicht aus- 
gesöhnt, auch heute noch betrachte ich die Ehe 
als die verhassteste aller Einrichtungen. Ich 
zweifle keinen Augenblick, sie wird abgeschafft werden, 
sobald die Menschheit der Vernunft und der Gerechtig- 
keit um einige Schritte näher gerückt sein wird. Dann 
wird ein menschliches, nicht weniger heiliges Band das 
bisherige ersetzen, und eine neue Gesellschaft wird für 
die Kinder sorgen, die ein Mann und eine Frau erzeugt 
haben, welchen ein längeres Zusammenleben zur Qual 
geworden ist." 

Jaccjues bleibt dabei nicht stehen; uni seiner ge 



— 195 — 

liebten Gattin den Weg in die Arme eines Anderen 
zu erleichtern, jagt er sich eine Kugel durch den Kopf 
und seine letzten Worte sind herzliche Segenswünsche 
für die kommenden Honigwochen des neuen Paares: 

„Fluche den Liebenden nicht, die aus meinem Tode 
Vortheil ziehen. Sie sind nicht schuldig, sie lieben sich, 
und wo immer ehrliche Liebe waltet, kann von Sünde 
keine Rede sein^*. 

Das ist die negative Seite der Saudischen Ehe- 
romane. Ihre positive Seite schildert die Liebe als 
den mächtigen Dämon, der uns AUe knechtet und nach 
seiner Laune mit uns schaltet. Nirgends ist dieser 
Gedanke schärfer ausgesprochen, als in der Geschichte 
des venetianischen Spielers Leone Leoni (1836). 
Wie bei Schopenhauer ist in Sand's Romanen Eros 
der Gewaltige, „der die Gedanken des jüngeren Ge- 
schlechtes fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte 
Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die 
wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen Einfluss er- 
langt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde 
unterbricht, -^ mit seinem Plunder die Verhandlungen 
der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten 
stört, seine Liebesbriefchen und Haarlocken sogar in 
ministerielle Portefeuilles und philosophische Manu- 
ecripte einzuschieben versteht, täglich die verworrensten 
Händel zettelt, die werthvoUsten Verhältnisse löst, die 
festesten Bande zerreisst, Leben, Gesundheit, Reich- 
thum, Ehre, Glück als Opfer heischt, den Redlichen 
gewissenlos, den Treuen zum Verräther macht, dem- 
nach auftritt, wie ein feindlicher Dämon, der Alles zu 
yerkehren und zu verwirren bemüht ist. Gegen die 



— 196 — 

Wichtigkeit seiner grossen Angelegenheit sind diotAn- 
gelegenheiten der Individuen sehr geringfügig. Daher 
ist er stets bereit, diese zu opfern. Denn er verhält 
sich zu ihnen, wie ein Unsterblicher zu Sterblichen. 
Mit erhabener Ungestörtheit betreibt dieser Genius sein 
Werk und geht ihm nach bis in die Abgeschiedenheit 
des Klosters". Es liegt etwas Poetisches in diesem 
Gedanken, und Sand hat ihn als grosse Dichterin zu 
entwickeln und zu gestalten verstanden. 

Es war nun möglich, mit der Gesellschaft Frieden 
zu schliessen, auf die Anfeindung ihrer Einrichtungen 
zu verzichten, ohne die dichterische Ausbeutung jener 
reichen Ader aufzugeben. In der That mit Lamennais' 
Einflüsse trat für Sand der Zeitpunct ein, wo sie jenen 
Frieden suchte. Die oben berührten „Briefe an Marie" 
(1837) sind die Urkunde des Friedensschlusses. Es 
klingt wunderlich genug, wenn wir da die Worte lesen : 

„Seltsamer Weg, die gesellschaftlichen Schäden 
dadurch heilen zu woUen, dass man der Zuchtlosigkeit 
alle Pforten öfinet. Nur das Verharren in der Sittlich- 
keit kann den Menschen erhalten, nur der Sieg über 
die sündliche Lust unser Glück begründen. Die Ver- 
suche, emancipirter Frauen, das Lebensglück in Zügel- 
losigkeit zu suchen, sind ganz verwerflich". 

Mit dieser Erklärung kehrt Sand auf das Gebiet 
zurück, das Frau von Stael nie verlassen hat. Beide 
haben mit den Anschauungen ihrer Gesellschaft gehadert, 
aber neben dem Zerstörungswerke Saud's erscheint die 
Kriegführung Stael's als ein harmloser Kleinkrieg. 

Sand's Saint - Simonistische Periode ist mit dem 
Jahre 1837 überwunden, ihre socialistisch-demokratische 



— 197 — 

Thätigkeit aber dauert bis in die Mitte ihres langen 
lind fruchtbaren Schriftstellerlebens. 

Seit dem Decemberstreiche 1851 und unter dem 
zweiten Kaiserreiche wendet sich ihr gereifter und ge- 
läuterter Geist immer ausschliesslicher ihrem eigensten 
Gebiete, der voraussetzungslosen Kunst zu, wenn sie 
auch gelegentlich, wie in ihrem gegen Octave Feuillet's 
orthodoxe „Sibylle" gerichteten Thesenromane „Made- 
moiselle La Quintinie" (1863), die Theilnahme bekundet, 
die sie den bewegenden Fragen der Zeit zu schenken 
fortfährt. 

Wenn wir nun diese letzte, längste und reichste 
Periode ihrer unerschöpflichen Dichterspenden in's Auge 
fassen, so wird die Parallele zwischen Sand und Stael 
zu einer Aufzählung von Gegensätzen, denn eine sehr 
verschieden angelegte Individualität ist hier und doit 
der Träger jenes enthusiastischen Idealismus, dem beide 
Frauen in gleicher Weise gehuldigt haben. 

Vor allem ist die Welt, in der sich beide Frauen 
bewegen, eine durchaus verschiedene. Für die Dichterin 
der „Delphine" und der „Corinna" gibt es kein Lebens- 
glück ausserhalb der Gesellschaft, für Sand 
keinen Genuss ausserhalb des Verkehrs mit der 
Natur. 

Frau von Stael war die prädestinirte Salonkönigin, 
Virtuosität in der Conversation , die hervorragendste 
Gabe dieser hervorragenden Schriftstellerin. „Wenn 
man ihre Bücher liest," so drückt sich einer ihrer 
Freunde aus, „so glaubt man, sie schreibe gut; hat 
man sie aber einmal sprechen hören, so findet man, sie 
schreibe schlecht". Damit stimmt denn auch, was sie 









— 198 — 

selbst in ihrem Buche über Deutschland von der fran- 
zösischen Conversation gesagt hat. „Anderswo ist das 
gesprochene Wort nur ein Mittel, seine Gedanken kund- 
zugehen, in Frankreich ist es ein Instrument, auf dem 
man gern spielt". Niemand hat dieses Instrument besser 
zu spielen verstanden, als die Urheberin dieser hübschen 
Bemerkung. Ihren Büchern freilich gereichte jene ihre 
glänzende Gabe eher zum Nachtheile; denn die Hast 
ihres lebhaften Geistes, welche aus jedem ihrer Ge- 
spräche ein blendendes Teuerwerk zu machen wusste, 
lieh ihr beim Schreiben selten die nöthige Kühe, selten 
jene Lust am Feilen, welcher nur das Beste gut genug 
erscheint. So sind denn ihre Bücher im Ganzen mehr 
gesprochen als geschrieben und zeigen stellenweise deut- 
liche Spuren hastiger Improvisation. Niemand aber 
wnsste besser als sie selbst, dass ihre ganze Ueber- 
legenheit auf der lebendigen Rede beruhe. So allein 
wird es begreiflich, dass sie vom grossen Schriftsteller 
verlangen kann, er müsse zugleich ein grosser Zwischen- 
redner (interlocuteur) sein, dass sie am reizenden Ge- 
stade des Genfersee's sich fort und fort zurücksehnt 
nach dem Pflaster und der GossenriBne der Eue du 
Bac, dass sie nur in Paris sich glücklich fühlen konnte, 

dass sie endlich in ihren Betrachtungen über die fran- 

« 

zösische Revolution nicht nur die ersten Revolutions- 
jahre, sondern auch die verpönten Zeiten der 
Directorialregierung für die schönsten Tage jener 
grossen Epoche erklärt. Hatte sie doch eben nur in 
jenen Zeitabschnitten, zwischen 1789 und 1792 einer- 
seits und in den letzten fünf Jahren des Jahrhunderts 
anderseits, das heissersehnte Glück des Pariser Salon- 



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• • 



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— 199 — 

lebens, erst als die gefeierte Tochter des grossen 
Ministers, dann als eine Salonfürstin im grossen Stile 
mit politischem Einflüsse, durchgekostet. Wir begreifen 
nun auch, dass der Kaiser sie nicht empfindlicher strafen 
konnte als durch die vollständige Entziehimg ihres 
unentbehrlichen Lebenselementes, der gesellschaftlichen 
Eeize der französischen Hauptstadt. Wir begreifen 
endlich, dass ihre so ganz zur Herrschaft gelangte Nei- 
gung den Sinn für Kunst und Natur in ihr verkümmern 
liess, dass ihr das Reisen keine Freude, sondern eine 
Qual schien, dass weder Italiens Kunstschätze, noch 
dessen blauer Himmel sie glücklich und heiter stimmen 
konnten, dass sie angesichts der Schweizer- und Savoyer- 
alpen immer nur vom aristokratischen Saint-Germain 
träumte. 

Wundern wir uns deshalb nicht, wenn auch die 
Schriftstellerin sich auf die Betrachtung der 
Gresellschaft concentrirt, wenn die Einheit und der 
Schwerpunct ihrer ganzen litterarischen Thätigkeit in 
der Beschreibung dieser Gesellschaft zu 
suchen ist. In der That, wollte man Frau von Stael 
classiren, ihr im Fachwerke der französischen Litteratur 
die richtige Stelle anweisen, so wäre sie derjenigen 
Gruppe von. Schriftstellern zuzutheilen, welche die 
Franzosen Moralisten nennen, ieji Montaigne, Pascal, 
Larochefoucauld, La Bruyere und Lafontaine, den apho- 
ristischen Beschreibern des Menschen und der Gesell- 
schaft. Die deutsche Litteratur hat keine Gruppen von 
Autoren aufzuweisen, die sich in ihr in ähnlicher Weise 
als classische Genossen dieses Genres zusammenfinden 
und von anderen Gattungen abheben, obwohl Lichten- 



— 200 — 

bei^, Göthe, Jean Paul und viele Neaere die Sache 
selbst bei nns yertreten. Dies bangt, wie wir glauben, 
mit der beiderseitigen GreseUscbaftsentwieklung zusam- 
men. Denn die firanzösiscbe Moralistenlitteratur wie 
das firanzösiscbe Lustspiel stebt mit der Entwickelung 
und Disciplinirung der bauptstädtiscben Gresellscbaft im 
engsten Zusammenbange. Frau von Stael nun bat die 
Betrachtung dieser Gesellscbaft da angenommen, wo 
das acbtzebnte Jabrbundert der grossen Revolution 
anbeimfallt und das neunzehnte uns dieser gewaltigen 
Katastropbe emportaucbt. Sie bat scbarfisinnig beob- 
acbtet, empfindsam gescbildert, nur selten mit Ironie 
vernichtet. Dass sie aber diese Waffe La Bruy^re's zu 
bandbaben wusste, wenn es ibr einmal beikam, sie zu 
braueben, das beweisen Stellen wie die unübertroffene 
Scbilderung des kriecbenden Höflings Hendoza, Del- 
pbine L, Capitel 10. 

Frau von Stael ist eine feine Beobacbterin . eine 
originelle Denkerin, aber ebenso sebr eine Leserin. 
Nebst der Gresellscbaft, nebst dem Umgänge mit be- 
deutenden Männern verdankt sie ibren Studien und 
ihrer Bibliotbek die volle Entfaltung und das ansebn- 
licbe Wissen ibres bocbbegabten Greistes. Die Disciplin 
der Gesellscbaft und diejenige der Studirstube bat sie 
zu dem gemacbt, was sie als ScbriftsteUerin geworden. 
Dies wird ibrem Beurtbeiler erst dann so recht ver- 
gegenwärtigt, wenn er das in's Auge fasst, was ihr 
gefeblt bat. So spielt vor allem die P baut asie bei 
ibr eine sebr untergeordnete KoUe. Der Verstand bat 
dieselbe entscbieden überwucbert. Stael ist weder eine 
diebteriscb, nocb eine künstleriscb angelegte Katur, 



— 201 — 

ihre Erfindungsgabe ist ebenso unbedeutend, als ihre 
Beobachtungsgabe hochbedeutend war. Stael ist sodann 
mehr enthusiastisch - empfindsam als leidenschaftlich 
durchglüht, und desshalb zeigt auch ihre Sprache weit 
mehr Rhetorik als inneres Feuer. Ihr Pathos ist ein 
discipHnirtes und auch im Affecte vergisst sie niemals 
die strenge Schule der calvinistischen Erziehung und 
des guten Tones. V^on allen Seiten erscheint ihre 
ursprüngliche Natur durch pädagogische, litterarische, 
gesellschaftliche Einflüsse ein- und zurückgedämmt, ihr 
Temperament gezügelt und gemildert, und so ist sie 
im strengen Sinne des Wortes ein Kunstproduct der 
Bildung. Das spiegelt sich auch in ihrem politischen 
und socialen Denken. Ihr aristokratischer Liberalismus, 
dürstet nach Freiheit, aber das demokratische Ele- 
ment, der nivellirenden Gleichheit ist ihr durchaus 
und immer fremd geblieben. 

Wie ganz verschieden nun ist George Sand in 
ihrem schriftstellerischen Thun und Lassen! Ein wildes 
Kind der Liebe, wächst sie auf im freien Verkehre 
und im ungehemmten Zusammenleben mit ihrem Genius 
und mit der Natur. Tiefe Leidenschaften walten in 
ihrem Busen, und eine mächtige Phantasie ist ihre 
Lust zugleich und ilne Qual. Sie ist im vollsten Sinne 
des Wortes zur Künstlerin und zur Dichterin 
geboren. Ihre einzige Sprache, ihr tiefes Verständniss 
der landschaftlichen Schönheit bekundet die eine, Er- 
findungsgabe, Gestaltungskraft und das harmonische 
Ebenmass von Idealismus und Realismus die andere. 

Ihre Phantasie überwuchert den Verstand, 
beeinträchtigt dessen Entwickelung , verurtheilt ihn 



— 202 — 

auch in den Jahren ihrer Reife zu der zweiten Rolle. 
Von ihren frühen. Studien hat sie selbst bezeichnend 
gesagt: sie hätte ihre Autoren mehr mit dem Herzen 
als mit dem Kopfe gelesen. In den Leistungen ihrer 
ersten Periode sind die Sünt-Simonistischen Digres- 
sionen auch vom logischen Standpuncte aus das Bedenk- 
lichste jener bedenklichen Bücher; die Geschwätzig- 
keit und Declamation ihrer Ausführungen vermag 
auch dem blödesten Auge die Blossen und Gebrechen 
des Raisonnements nicht zu verhüllen. Man fühlt es 
sofort: hier ist Sand nicht in ihrem Elemente, im Reiche 
der Phantasie, im romantischen Lande der Kunst und 
Poesie. 

Zur Gesellschaft, besonders zu ihrem conven- 
tioneilen Typus, zur Pariser Salonwelt, hat sich Sand 
ihr Leben lang ablehnend verhalten. Sie besass nichts 
von dem, was die Franzosen mit dem Worte „Esprit" 
bezeichnen, jenem spielenden, epigrammatischen, streit- 
baren Witze der Conversation , die dem lebendigen 
Worte die Würze und dem schlagenden Gedanken die 
Schwingen leiht. In Kreisen, die nicht ihre eigensten 
und engsten waren, bewegte sie sich still, ohne den 
Wunsch, sich mitzutheilen oder eine Rolle zu spielen. 

Ebenso wenig quälte sie jenes unersättliche L ese - 
bedürfniss, das sich receptivam Geistesleben Anderer 
weidet und ohne Bücher keine Lebensfreude kennt. 
Feld und Wald, Vögel und Hunde waren für sie eine 
weit unentbehrlichere Gesellschaft als Bücher und Men- 
schen. Und da unter letzteren das Volk der Natur 
um vieles näher steht als die gebildeten, vornehmen 
und reichen Classen, so fühlte Sand für Bauern, Hand- 



— 203 — 

werker und Arbeiter grössere Theilnahme als für Lit- 
teraten, Barone und Millionäre. Ihr Gleichlieits- 
sinn, dem sie durch's ganze Leben getreu blieb, 
hängt mit ihrer instinctiven KaturUebe zusammen, wie 
denn überhaupt ihr ganzes wunderbares Schaffen weit 
mehr auf Listinct als auf Reflexion und Kunstfertig- 
keit beruht. 

Die Gr estalten, die sie geschaffen, wurzeln wie 
bei Shakespeare mehr im Gemüth, mehr in der Phan- 
tasie des Dichters, als in der Wirklichkeit des Lebens: 
weshalb sie denn auch meist, wie dies ja auch in Shake- 
speare's Lustspielen der Fall ist, idealisirte, d. h. dich- 
terisch verklärte, zuweilen phantastisch entfernte Re- 
flexe der realen Erscheinungswelt bieten. 

SelbstdasCompositionsverfahrenSand's war 
ganz verschieden von demjenigen Stagl's. Diese machte 
ihren Plan, entwarf ihre erste Skizze, führte diese zum 
erweiterten, vertieften endgültigen Bilde aus. Sand 
ging auch hier mit dem Listincte des Genie's vor, sie 
schrieb ihre Romane wie Scott die seinigen, wie Shake- 
speare seine Dramen geschrieben haben mag. Was ihr 
beim Revidiren nicht gefiel, das wurde zerrissen und 
der Plan entwickelte sich mit der Ausführung. 

Fassen wir zusammen. Stael scheint uns ein 
Talent, Sand ein Genie, jene ein vollendetes Kunst- 
werk moderner Bildung, diese ein Meisterstück der 
Natur zu sein. Reflexion ist die Grundkraft der Einen, 
der schaffende und schöpferische Trieb diejenige der An- 
dern. Als Dichterin verkehrt die Eine mit der Natur, 
als beobachtende Denkerin die Andere mit der Gesell- 
schaft. Beide sind Amazonen, aber Sand in ihrer ent- 



— 204 — 

schlossenen Haltung gegenüber den bewegenden Fragen 
der Zeit strebt mehr nach Freiheit als nach Sitte, 
nähert sich mehr als Stael der Anschauungssphäre 
des starken Greschlechtes. 

Die Werke beider Frauen darf die Nachwelt als 
culturgeschichtliche Monumente betrachten. Frau von 
Stael entrollt ihr die Gesellschafts weit von 1800, Sand 
ein Stück der Ideengeschichte jenes Geistes, den man 
den „Geist der Zeiten" nennt. 



Edmondo De Amicis. 




IS war im Frühjahr 1867, als die in Florenz 
erscheinende „Italia militare" eine Beihe von Skizzen 
(Bozzetti) aus dem italienischen Soldatenleben brachte, 
welche die Aufmerksamkeit nicht nur der militärischen, 
sondern der gebüdeten Kreise überhaupt in hohem Grade 
fesselten. Sie waren aus der Feder eines soeben mit 
der ßedaction jener Zeitung betrauten einundzwanzig- 
jährigen Infanterieofficiers, Namens De Amicis, geflossen. 
Die Eeinheit und Mannigfaltigkeit ihrer hinreissenden 
Sprache liess auf einen Toscaner schliessen; aber man 
vernahm, dass der Verfasser jener Bilder Norditalien 
entstamme, im Jahre 1846 in dem ligurischen Hafen- 
städtchen Oneglia, der Heimat Andrea Doria's, geboren 
sei. Der Vater, ein Genueser, hatte daselbst ein Amt 
verwaltet, und seine Versetzung nach Cuneo (^Coni) bot 
dem zweijährigen Edmondo Gelegenheit zur ersten 
seiner vielen Keisen. Cuneo, durch die abenteuerliche 
Geschichte seiner Belagerungen nicht weniger berühmt 
als durch die classischen Eigenschaften seiner Castanien, 
liegt malerisch an der früher so besuchten Bergstrasse, 
die über den Col di Tenda von Turin nach Nizza 
führt. Hier sammelte der aufgeweckte Knabe seiuQ 



— 206 — 

ersten Eindrücke und träumte die ersten Träume seiner 
Phantasie. Der Vater, ein gebildeter, für das Schöne 
empfanglicher Mann, liess sich die Erziehung seiner 
vier Sander ernstlich angelegen sein, aber es war ihm 
nicht beschieden, den Segen seiner Arbeit zu gemessen. 
Sein früher Tod überband der trefflichen Mutter die 
schwere Sorge, das Begonnene fortzuführen und zu 
vollenden. Edmondo bestimmte sich zur Soldatenlauf- 
bahn. Nachdem er sein Collegio absolvirt, trat er 1862 
in eine Vorbejreitungsschule in Turin, um folgenden 
Jahres den zweijährigen Curs des Cadetten-Institutes 
in Modena zu beginnen. 

In einem sauber ausgeführten Abschnitte seiner 
„Eicordi", betitelt „Adolescenza", hat uns De Amicis 
jenen Gährungsprocess veranschaulicht, der das Kind 
des Südens zwischen zehn und fünfzehn Jahren so rasch 
zum Manne entmckelt. Aber auch die äusseren Er- 
lebnisse seines Turiner Präparandenjahres werden uns 
in einem gelungenen Capitel der „Pagine sparse" an- 
muthig erzählt. 

„Ich war jetzt sechszehn Jahre alt und versuchte 
mich ab und zu im Versemachen. Eine meiner Poesien 
feierte die Polenerhebung des Frühjahres 1863. Ich 
schrieb sie bei Wasser und Bröd im finsteren Arrest- 
zimmer unserer Schule, verfluchte in meinen radikalen 
Strophen nicht nur den russischen Kaiser, sondern auch 
den Papst und fügte eine phantastische Schilderung 
der Insel Caprera ein, welcher ich die schönsten Sonnen- 
strahlen und eine ständige Engelwache schenkte. Meine 
Cameraden waren entzückt, sie Hessen mein Gedicht 
auf allgemeine Kosteji dyi^cken^ und mein Nachbar airf 



— 207 — 

der Schulbank sprach das feierliche Wort : „Dein Canto 
wird nicht imtergehn !" Ich erwiderte nicht minder feier- 
lich: „Das lasst uns hoffen^^ Der Foetenkamm schwoll 
mir nachgerade so gewaltig, dass ich eines schönen 
Morgens meinen unvergänglichen Canto mit einem Be- 
gleitschreiben der Post übergab : Beides an die Adresse 
des Herrn Alessandro Manzoni in Mailand. 

Wochen vergingen und keine Antwort langte ein. 
Eines Morgens, als ich eben am Barren turnte, rief 
man mich zum Director, der mir einen Brief mit dem 
Poststempel Mailand einhändigte. loh öfl&iete und sah 
die Unterschrift: Manzoni. Das war für die ganze Schule 
ein Ereigniss. Unser Professor der italienischen Littera- 
tur las Manzoni^s Brief der versammelten Classe vor, 
ich aber las ihn wohl hundertmal im Tage, sagte ihn 
auswendig her, träumte Nachts, dass er mir gestohlen 
worden. Bei Tische ass ich wenig, in der Classe trug 
ich eine schmachtend-inspirirte Poetenmiene zur Schau, 
spendete zu Hause meinen Schwestern ein herablassend- 
gnädiges Lächeln, um sie darüber zu beruhigen, dass 
ihnen die Blutverwandtschaft nicht gekündigt sei. 

Manzoni's Brief schloss mit den Worten: 

„In meinem kleinen Garten blüht gegenwärtig ein 
junger Grranatbaum. Seine kräftige und muntere Jugend 
kündet reiche und ausgesuchte Früchte an". 

Wie nur Anzeichen und Aussichten täuschen können ! 
Wenn ich einige Gelegenheitsreimereien abrechne, so 
habe ich seit jenem Jahre auch nicht ein Gedicht ge- 
schrieben, ja nicht einmal eine Versuchung zum Dichten 
erlebt. Hätte ich mir das in jenen Tagen träumen 
lassen, als mir ein Prosaiker kaum wie ein Mensch 



— 208 — 

vorkam , und ich von den Fromessi Sposi zu sagen 
pflegte: „Wenn sie erst in Octaven geschrieben wären!" 

Manzoni^s Eoman war in der That neben der leiden- 
schaftlichen Liebe zu seiner Mutter De Amicis' grosse 
Jugendpassion. In einem an letztere gerichteten Briefe 
vom 17. September 1865 lässt er sich über das Buch, 
das seinen Geschmack und seinen Stil vor allen andern 
gebildet zu haben scheint, also vernehmen: 

„Eine andere bemerkenswerthe Erscheinung, die 
im Gefolge eines Feldzuges sich einzustellen pflegt, 
ist die neuerwachende allgemeine Leselust. Dieselbe 
sucht sogar Diejenigen heim, welche sonst weder Nei- 
gung noch Bildung zum Lesen treibt. Hier im Lager 
bemüht sich ein Jeder, irgend ein Buch oder ein Büch- 
lein zu erhaschen, und der Pfarrer des nahen Dorfes 
hat alle Bände seiner Bibliothek in Umlauf setzen 
müssen. Du hast mir oft gesagt, ich übertreibe Alles. 
In diesenPFalle hast du nicht ganz Unrecht; denn bei 
mir hat sich jene Leselust zum Lesehunger ent- 
wickelt. Indess ich bleibe meinem alten Streben treu. 
Meine ganze freie Zeit vergeht mit Lesen, Wiederlesen, 
Durchstudiren und Durchwühlen des theuren, des herr- 
lichen, des heiligen Buches, der Promessi Sposi, 
meines unzertrennlichen Begleiters und Freundes, der 
mir so manchen Genuss, so manchen Trost, vor Allem 
aber die süsse, unentwegte Ruhe des Gemüthes schafft, 
in welcher jede Leidenschaft sich reinigt, jeder Ge- 
danke sich hebt, Welt und Menschen uns schöner und 
besser erscheinen. Ich weiss nicht, wie es zugeht, aber 
mein Land, mein Regiment und dich und meine Freunde, 
alles vermag ich besser und edle? zu lieben, wenn ich 



— 209 — 

dieses Evangelium der Litteratur beherzige. Keine 
Seite, an der nicht eine Erinnerung unserer ersten 
Lesestunden haftete, jener süssen Stunde, da das .Buch 
auf deinen Knieen ruhte, — ich las, du zuhörtest und 
meine Thränen dir auf die Hände stürzten, bei gewissen 
Stellen das Buch sich wie von selber schloss und wir 
uns dann umklammerten ! Heute drücke ich das theure 
Buch an meine Brust und sage ihm: „Bei allen Thränen, 
die du mir und meiner Mutter gekostet, bei jeder guten 
Regung, die di^ in mir geweckt und wach erhalten, 
schwör' ich dir, dass wie du mein erstes Buch ge- 
wesen, du auch mein letztes bleiben sollst!" „Cer- 
cherö te, sempre te, libro-paradiso!" 

Begleiten wir den schwärmenden Jüngling nach 
Modena in die Cadettenschule. Wir treffen ihn dort 
vom November 1863 bis Ende Juli 1865. Er hat uns 
in dem „Schulcameraden", dem einleitenden Capitel 
seiner Novellen die Eindrücke geschildert , die seinen 
Eintritt in jenes Institut begleiteten. Wir lassen ihn 
wiederum selbst reden. 

„Es ist ein prächtiger, alterthümlicher Eürsten- 
palast, bevölkert mit fünfhundert Zöglingen aus allen 
Regionen Italiens. Alle Typen und alle Accente des 
Landes sind da vertreten : Hier das braune Gesicht und 
die schwarzglühenden Augen des Sicilianers, dort die 
blonden Locken und die blauen Augen des Norditalieners, 
die leidenschaftliche Geste des Neapolitaners neben 
dem silberhellen Gezwitscher des Toscaney s, dem zun- 
genfertigen Geplauder des Venetiers, — kurz ein Volk 
aus aUen Himmelsgegenden und aus allen Classen: 
Der Sohn des Herzogs, des Generals und des Senators 

H. B. 14 



— 210 — 

neben demjenigen des Krämers und des Beamten, — 
ein bantes, wunderliches Zusammenleben, das zugleich 
an die Schule, ans Erlöster und an die Gaserne erinnert. 

Noch lebhaft steht mir der erste Kummer meines 
Soldatenlebens vor der Seele. Voll von kriegerischer 
Poesie war ich in die Cadettenschule getreten und diese 
gehobene Stimmung behauptete noch ihre Höhe, als 
unsere Compagnie ihre Mützen in Empfang zu nehmen 
beordert wurde. Alle fanden, was ihrem Kopfe passte, 
mir allein waren alle vorgelegten MützeQcaliber zu klein. 
Der Hauptmann wandte sich ärgerlich zu mir und sagte : 

„S^ist doch curios, nicht wahr, dass man Ihres 
dicken -Kopfes wegen das Magazin wieder aufmachen 
muss!" Und dann nach einer Pause brummte er mich 
nochmals an: „Testone!" 

Gott im Himmel! Wie das auf meine Stimmung 
drückte! „So ist das Soldatenleben?" sagte ich zähne- 
knirschend zu mir selbst. „Das halt ich nimmer aus! 
Im Traume nicht! Lieber betteln, lieber sterben!" 

Es war dies nicht die letzte meiner Prüfungen. Ich 
sehe mich heute noch in einer engen Arrestzelle, hoch 
oben im fünften Stocke, bei Wasser und Brod, auf 
neun Tage Gefangener, Silvio Pellico's Marterbild vor 
meiner Phantasie, — und warum? . — Weil ich im Namen 
meiner Cameraden an unsern Professor der Chemie eine 
öffentUche Dankrede gehalten und mich dadurch gegen 
den Paragraphen des Reglements vergangen hatte, der 
uns ausdrücyich die öffentlichen Eeden verbot. Der 
Major benutzte die Gelegenheit, um mich vor den heil- 
losen Streichen der Phantasie zu warnen: er hatte 
nämlich munkeln hören, dass ich ein Stück von einem 



— 211 — 

Dichter sei, und er schloss seine Predigt mit den Worten : 
„Die Poesie, mein Herr, hat noch nie was Anderes 
als Dummheiten gestiftet. (La poesia non ha mai fatto 
fare che bestialitä)". 

De Amicis war indess ein Musterzögling seiner 
Schule, es fiel ihm niemals ein, sich als verkannte^ 
Genie oder als deplacirtes Talent geriren zu wollen, 
und seine mathematischen Aufgaben löste er, wie sie 
ein Berufsjünger der „Letteratura amena" wohl selten 
gelöst hat. Endlich kam der ersehnte Juli 1865 und 
brachte ihm die Officiersepauletten und für einige Wo- 
chen die süsse Freiheit. Er eilte in die Arme der 
Mutter nach Turin, verliess sie aber bald wieder, um 
den Winter über in Sicilien zu garnisoniren. Der Früh- 
ling des folgenden, für Italien so ereignissreichen Jahres 
fand ihn abermals in Turin, als Officier des dritten 
Infanterieregimentes, Division Cugia. Mit welcher Span- 
nung er den Abmarsch seiner Truppe gegen die Oester- 
reicher erwartete, hat er seinen Lesern in dem Bozzetto 
„Aufbruch, Feldzug und Heimkehr" geschildert. Eine 
Episode der Schlacht von Gustozza erzählt der Abschnitt 
„Quel Giomo". — 

Die Heimkehr war, maü weiss es, keine frohe. 
Unser Soldat suchte sich mit litterarischen Genüssen 
und Erinnerungen zu trösten. 

„Wir lagen in Pavia", so erzählt er in den „Pa- 
gine sparse", als ich auf den Gedanken kam, Vater 
Manzoni zu besuchen. Der „junge Granatbaum" sollte 
mir als Einführer dienen. An einem schönen Sonntag 
Morgen langte ich, mit meinem Briefe bewaffnet , in 
Mailand an. 



— 212 — 

„Wo wohnt Manzoni?" war die erste Frage, die 
ich an den Kelbier meines Hotels richtete. 

„Manzoni der Möbelhändler ?" fragte Dieser seiner- 
seits. 

„Der Graf, der Senator, der Schritsteller Manzoni !" 
versetzte ich im Brusttone der Entrüstung. 

„Entschuldigen Sie! Der Senator Manzoni wohnt 
Piazza Belgiojoso". 

Als der ehrwürdige Greis ihm entgegentrat, da 
• konnte sich der erregbare junge Mann nicht länger 
fassen. „Ich, über dessen unversiegbaren Thränejibom 
so Mancher zu spotten sich erlaubt hat, lang wie ein 
Grenadier, den klirrenden Säbel an der Seite und die 
pompösen Epauletten auf der Schulter,- ich fasste den 
Alten bei den Händen und brach — ich will es nur 
gestehen — in heftiges und lautes Schluchzen aus". 

Manzoni war redselig, entKess die Niederlage von 
Custozza mit der lateinischen Pointe : „Fracta virtus !" 
und nannte seine berühmte Ode auf den Tod Napo- 
leons (H cinque Maggie) „ein Gemisch von Latinismen 
und GaUicismen, dessen glänzendes Geschick vorauszu- 
sehen er selber weit entfernt gewesen sei". 

Der beglückte Lieutenant verliess Manzoni nach 
einigen selig verlebten Stunden und fand, dass Mailand 
die schönste Stadt in dieser Welt sei. 

Den folgenden Winter brachte De Amicis im Schoosse 
seiner Familie mit der Redaction seiner Bilder aus dem 
Soldatenleben zu. Ein Buch schreiben war für den 
zwanzigjährigen Lieutenant eine harte Arbeit; die 
periodischen Entmuthigungen , die Kämpfe mit der 
wachsenden Unlust, den endlichen Sieg des festen Wil- 



— 213 — 

lens und die glückliche Vollendung seines Manuscriptes 
hat er uns mit gewohnter Offenheit in den „Schlachten 
am Arheitstische" (in : Pagine sparse) beschrieben. 

Im Frühjahre 1867 übernahm De Amicis, wie wir 
im Eingange bemerkt haben, die Eedaction der „Italia 
militare" in Florenz. Seine einfache und arbeitsame 
florentiner Existenz behandeln abermals zwei Abschnitte 
der Pagine sparse. Nun wagten sich seine ersten Boz- 
zetti an*s Licht der OeffentUchkeit. Als Buch erschienen 
dieselben erst bei Treves in Mailand (1868), dann bei 
Lemonnier in Florenz, bei letzterem endlich auch in 
einem für die» italienischen Militärschulen bestimmten 
Auszuge. Die Dedication des Buches ist eine Huldi- 
gung der Pietät: „Meiner Mutter, Teresa Busseti-De 
Amicis , widme ich dies Buch , tief bedauernd , ihren 
theuren Namen nicht einem Werke vorsetzen zu können, 
das gut ist wie ihr Herz, edel wie ihre Tugend und 
fromm wie ihr Leben". Diese Widmung dürfte uns 
sonderbar erscheinen, hätten nicht zarte Empfindung 
und Herzensgüte im Buche selbst eine so hervorragende 
Stelle gefunden. 

lieber die Tendenz des Autors lässt die lakonische 
Vorrede uns nicht im Zweifel: „Ein Mann aus dem 
Volke meinte : Als ich diese Bilder aus dem Soldaten- 
leben durchgelesen, hätte ich dem ersten besten Sol- 
daten die Hand drücken mögen. — Ein Soldat aber 
sagte: Es sind Geschichten, die uns trösten und ein 
Bischen guten Willen machen. — Wenn ich mit meinem 
Buche erreiche, dass der Bürger den Soldaten achten, 
der Soldat sein Handwerk lieben lernt, dann ist meine 
Arbeit reich gelohnt und mein innigster Wunsch erfüllt". 



— 214 — 

Die Bilder, welche De Amicis entworfen hat, sind 
sehr verschieden von denjenigen Hackländers und des 
Franzosen Noriac. Ersterer hatte seine Soldaten-Novel- 
len mit germanischem Humore gewürzt, xmd letzterer 
setzt an die Stelle des Humors den französischen Esprit 
und die „Gauloiserie". Noriac's „Hundert und erstes 
Eegiment", der Massenerfolg des Jahres 1861, ist von 
jener urkomischen und zugleich satirischen Ader durch- 
zogen, die den Verfasser im Lustspiel, man möchte 
sagen, zum natürlichen Mitarbeiter Ahout's machte. 
Weder mit dem deutschen noch mit dem französischen 
Schriftsteller hat nun De Amicis Stimmungsverwandt- 
schaft, wohl aber lässt er sich mit einem älteren Fran- 
zosen, dem Romantiker Alfred de Vigny, vergleichen, 
dessen „Servitude et grandeur militaire (1833)" ganz 
ebenso das Pflicht- und Ehrgefühl des Soldaten zu festigen 
und die Armee in den Augen einer argwöhnischen und ' 
vorurtheilsvollen Bourgeoisie zu heben bemüht ist. Aber 
die misanthropische Laune des hypochondrischen Grar- 
den-Hauptmannes de Vigny kennt De Amicis nicht; 
auch fällt es ihm nicht ein, von socialen Armee- 
Beformen reden zu wollen; denn heute ist jene wilde 
Traumwelt der Saint -Simonistischen Epoche ausge- 
träumt, in welcher selbst der aristokratische Eoman- 
tiker sich nicht enthalten konnte, seinen Novellen ein 
sociales Projectchen als Schlussempfehlung auf den 
Weg zu geben. — Ein sehr realistisch gehaltenes Ge- 
genbild von De Amicis' idealisirter Soldatenwelt liefert 
F a m b r i ' s Drama : „II Caporale della Settimana" , welches 
1866 so viel Aufsehen machte, dass die Behörden von 
Florenz die Auffährung untersagen zu müssen glaubten. 



— 215 — 

Wahrheit und Dichtung bilden den Inhalt von 
De Amicis' Bildern und Erzählungen. Die Vorkomm- 
nisse des Soldatenlebens; der Marsch in glühender 
Sonnenhitze und bei mondloser, regnerischer Nacht, 
die am zersprengten Marodeur geübte Gastfreundschaft, 
ein Strassencravall, jene harte Greduldprobe des unter 
dem Gewehre stehenden Sotdaten, die schlimmen Lehr- 
tage des Recruten, die Schildwache, die Ordonnanz, das 
Lagerleben, die glückliche Heimkehr, der Tod im Felde, 
— das sind die bunten Bilder, die des Künstlers Pinsel 
anmuthig und anschaulich ausmalt. Zu diesen mehr oder 
weniger idealisirten Genrestudien gesellt sich ein histo- 
risches Gemälde düsterer Art, in welchem keine mil- 
dernde Dichtung die schreckliche Wahrheit verschleiert : 
„Das italienische Heer während der Cholera 1867". 

Schon in den ersten Monaten des genannten Jahres 
waren zerstreute Cholerafalle in Sicilien vorgekommen; 
vom Mai bis August aber wüthete die Seuche furchtbar 
auf der ganzen Lisel und erst gegen Ende jenes Jahres 
beschloss sie die lange Reihe ihrer Verwüstungen. Die 
Garnisonscommandanten, namentlich General Medici in 
Palermo, hatten rechtzeitig ihre Truppen vertheilt und 
die Sanitätsmassregeln früherer Cholerajahre wieder in 
KJraft gesetzt. Aber der einbrechende Feind fand drei 
schlimme Bundesgenossen vor: Schrecken, Aberglauben 
und Elend. Fast überall ergriffen Beamte und Notable 
die Flucht, und die entlegenen einsamen Wohnungen 
auf dem Lande füllten sich mit den reicheren, selbst 
mit schwach bemittelten Stadtbewohnern. Ueberall 
wurden die Verkaufslooale geschlossen und bald blieb 
dem elenden Volke als Nahrung nichts als Pflanzen 



— 216 — 

und indische Feigen. Am Schlimmsten aber wirkte 
der allgemein verbreitete Aberglaube, dass die Epi- 
demie das Werk der Regierung und ihrer Beamten 
sei. Jede von diesen entgegengebrachte Hilfe erschien 
dem Volke ein hinterlistiger Versuch zu sein, das Gift 
der Ansteckung noch weiter zu verbreiten. Ueberall 
forschte die wüthende Menge nach den „Vergiftern" 
und verübte fast täglich die schlimmsten Dinge an den 
Opfern ihres Argwohns. Erkrankungen wurden ver- 
heimlicht, um der Absonderung zu entrinnen, Leichen 
wurden versteckt, um ihnen Zeit zu lassen, „wieder 
zu sich zu kommen". Eäuber und Mörder benutzten 
den panischen Schrecken der Beamten, um straflos 
Alles zu versuchen. Unter solchen Verhältnissen konnte 
das Heer allein noch Rettung schaffen. Aber welche 
Aufgabe für den armen Soldaten! Man entsandte ihn 
dahin, dorthin, um Häuser und Strassen zu reinigen, 
Leichen herauszuholen und zu begraben. Kranke zu 
pflegen, Briganti zu verfolgen, die wüthende Canaglia 
im Zaume zu halten. Kehrte der Erschöpfte Abends in 
die Caserne zurück , legte er sich endlich nieder , so 
schreckte ihn vielleicht das Stöhnen eines neben ihm 
erkrankten Cameraden oder das Toben des Strassen- 
pöbels an dem Casernenthore wieder auf. Officiere und 
Soldaten bewaffiaeten sich dann in aller Schnelligkeit, 
eilten herunter auf die Strasse, um vielleicht die ganze 
Nacht hindurch das Anstürmen eines von Hunger und 
Aberglauben gepeinigten Haufens abzuwehren. Der 
neue Tag brachte neue Sorgen. Es kam Befehl, eine 
halbe Compagnie in ein entlegenes Dorf zu senden, 
wo die Seuche soeben ausgebrochen war» Im Laufschritte 



— 217 — 

rennt die kleine Colonne durch die sengende Hitze 
nach dem Orte ihrer Bestimmung. Schon in dessen 
Umgebung stösst man auf zerstreut umherstehcQde 
Möbel und herumirrende Familien. Erst müssen die 
Männer eingefangen und zur Hülfeleistung gepresst 
werden. Dann sind Schmutz und Leichen aus den 
Strassen zu schaffen, ein Lazareth ist zu errichten. 
In einer kleinen Ortschaft lenkt sich die Aufmerksam- 
keit des commandirenden Officiers auf eine verschlossene 
Kirche. Er schöpft Argwohn und lässt die Thüre 
sprengen. Welch ein Anblick! Ein- Haufen faulender 
Leichen thürmt sich in ihrem Inneren auf. Die Sol- 
daten stossen ihre Gefangenen hinein, zwingen sie, 
die Cadaver herauszuschleppen und sodann zu ver- 
brennen. — Häuser, in denen es stille geworden, wer- 
den durchforscht, sie enthalten nichts als verwesende 
Leichen. 

Doch zurück zu den heiteren Bildern unseres 
Malers. Maler scheint uns in der That das rechte 
Wort, um De Amicis' Bozzetti zu charakterisiren ; denn 
diesmal wird die Erzählung Folie der Schilderung. 
Wenn nun ein Buch, das seinem grossen Theile nach 
beschreibt, durch die Beschreibung fesseln soll, so muss 
der Schilderer zugleich das Auge und die Hand des 
Künstlers besitzen. . Dies ist in der That hier der Fall. 
De Amicis findet wirksame Motive, wo das blöde Auge 
des Laien nichts zu entdecken vermag, und wie ein 
gewiegter Landschaftsmaler versteht er es aus an- 
scheinend inhaltslosen und undankbaren Vorwürfen eine 
lebensvolle und farbenreiche Studie zu ziehen. Mit 
einem Worte, er weiss künstlerisch zu gestalten. Als 



— 218 — 

einen Realisten möchten wir ihn damit indessen nicht 
he2seichnet wissen. Seine Bilder sind im Gegentheile 
alle ideaUsirt und ein gutherziger Optimismus durchzieht 
jede seiner Schöpfungen. Selbst die paar eingestreuten 
Novellen (Carmela. — Das ßegimentskind.) bewegen 
sich in einer rosenfarbenen Traumwelt oder schwanken 
doch hin und wieder zwischen Wachen und Träumen. 
Es umgibt uns hier jene nämliche ruhige und heitere 
Sphäre, welcher Göthes „Löwennovelle" und Heyse's 
„Arrabiata" ihr Dasein verdanken. 

Eine gewisse sentimentale Weichheit ist die Kehr- 
seite von De Amicis' rosigem Optimismus. Die italie- 
nische Kritik hat sie oft genug, mitunter auch hart genug 
betont. Er selbst resumirt die in dieser ßichturg ihm 
gewordenen Vorwürfe bei Gelegenheit seines Thränen- 
ergusses in Manzoni's Empfangzimmer: „Freunde und 
Nichtfreunde ! Wie oft und mit welchem Rechte habt 
Ihr mir vorgehalten, dass mein Herz ein Schwamm, 
meine Augen Thränenquellen und meine Soldaten Weib- 
lein seien, dass. jede Zeile meines Buches eine Rinne 
sei zum grossen Thränenmeere, in dem ich eines Tages 
selbst ertrinken werde". 

Diese Weichheit wird nur dadurch erträglich, dass 
sie durchaus keine gemachte, sondern eine im 
Wesen des Autors begründete ist. Was die 
alte Pfälzerin Liselotte von ihrem Sohne, dem Regenten, 
meinte, das lässt sich buchstäblich auf unseren zwanzig- 
jährigen Signor Tenente anwenden. „Er ist ein guter 
Bub und hat ein gut Gemüthe". Man lese beispiels- 
weise nur, was De Amicis von der stummen Freund- 
schaft seiner Ordonnaiwj im Felde berichtet, oder was 



— 219 — 

er unterm 10. Juli 1866 aus Parma schreibt: „Die 
braven, guten Soldaten! Mich dünkt, ich liebe sie noch 
mehr seit unserm Unglück. Sic sind doch stets dieselben, 
stets ergeben und getreu. Auf dem Marsche, wenn sie 
müde und gebeugt einherhinken , muss ich sie immer 
wieder ansehen, und doch thut mir's im Herzen weh. 
Spielen sie mir 'mal einen Streich, dann stelle ich mit 
mir selber ein langes und subtiles Eaisonnement an, 
um meinem Herzen zu beweisen, dass jetzt ein Wort 
des Zornes und der Entrüstung am Platze sei. Dann 
fang ich an zu poltern. 

„Jetzt macht es kurz! So kann's nicht länger gehen. 
Ein Heiliger würde bei Euch aus der Haut fahren. 
Jetzt .... 

Du Schwindler ! raunt mir hier eine innere Stimme 
zu. Es ist dir ja durchaus nicht Ernst mit deinem grossen 
Zorn! 

S'ist richtig! antworte ich jener inneren Stimme, 
und damit ist meine Predigt zu Ende. Aber der Ent- 
schluss sei wenigstens gefasst, dass ich die verdammten 
Kerls aus meinem Herzen entlasse, — oder allerwenig- 
stens nicht merken lasse, dass sie noch drinnen sind.' 
Sonst Adieu, stramme Zucht ! Lass sehen, ob sie mein 
Herz von Stein erweichen können! 

Und damit schreite ich, zum Voraus meines Sieges 
sicher, mit einer Eisenfressermiene weiter. 

Unterdess macht sich Einer an mich heran. 

„Lieutenant, darf ich Ihren Mantel tragen?" 

Nein! antwortete ich kurz und barsch. 

Da kommt ein Anderer mit der Feldflasche, 

„Lieutenant, sie ist frisch". 



— 220 — 

Kerl, ich brauche deine Flasche nicht. Zurück 
in's Glied und auf der Stelle oder .... 

Schwindler! wiederholt die innere Stimme, und 
ich fühle mich abermals entwafl&iet". 

De Amicis' Empfindsamkeit darf man als eine ge- 
sunde betrachten, da sie einem guten, kindlich reinen 
Herzen entspringt. De Amicis ist in der That im voll- 
sten Sinne des Wortes eine „anima Candida", eine durch 
und durch sittliche Natur. Die Liebe zur Pflicht, die 
Liebe zu seiner Mutter und die Liebe zur Kinderwelt 
sind die herrschenden Leidenschaften seiner Jugend 
gewesen. Auch der reifere Mann hat keine Zeile ge- 
schrieben, die gegen das „Sit reverentia pueris" sich 
verginge. 

So weisen De Amicis' Bozzetti den Stempel eines 
liebenswürdigen und lauteren Charakters und die Origi- 
nalität des Lihaltes wird von einem nicht gewöhnlichen 
stilistischen Talente getragen. Die Sprache fliesst ihm 
aus der Feder wie ein voller Strom, ungezwungen, 
ungekünstelt, reich und durchsichtig zugleich. Mag 
seine jugendliche Ueberschwänglichkeit auch hie und 
da die Synonymen häufen und der Empfindung ein 
Wort zu viel gewähren, — der entschuldbare Fehler 
des zwanzigjährigen Autors wird durch das unerschöpf- 
lich quellende Leben des Ausdrucks, durch den Schwung 
seiner Diction, den emporsteigenden Vollsaft seines 
Schriftstellerfrühlings reichlich gesühnt. Man fühlt es 
beim Lesen, De Amicis hat sich an Manzoni's Sprache 
gebildet, ein Stück von Manzoni's Schilderungslust und 
Schilderungskunst geerbt; und einmal in der Schale 
des grossen Meisters gekräftigt, hat er sich rasch zu 



— 221 — 

jener Höhe emporgeschwungen, die dem volksthümlichen 
Schriftsteller allein gehört. Für Eingeborne und Aus- 
länder sind die „Bozzetti della vita militare" das rechte 
Buch, um das lebendige Italienisch, die Sprache der 
Gegenwart kennen zu lernen und von dem strotzenden 
Reichthume seines Phrasenschatzes sich einen Begriff 
zu bilden. „Er schreibt, wie er spricht, und er erzählt, 
wie er schreibt!" sagt einer von De Amicis' Freunden. 
„Scrive ooUa penna in bocca", würde Azeglio sagen. 

Der so feinfühlende und so lebhaft empfindende 
junge Mann sollte indess die bittere Wirklichkeit und 
die boshafte Welt bald genug kennen lernen. Er war 
zu ehrlich und zu bescheiden, um jenes Selbstvertrauen 
grosszuziehen, das jedem Angriffe gewachsen ist, und 
die harten Urtheile seiner Tadler wirkten auf ihn wie 
Keulenschläge. Im April 1867 erhielt er einen anonymen 
Brief von Bergamo , der unter anderen feinen Dingen 
seine Bozzetti ein läppisches Gewäsch nannte und ihm 
den Eath ertheilte, seinen Stoff in der italienischen 
Geschichte zu suchen: „Damit werde man dem Aus- 
lande ganz anders imponiren". De Amicis nahm sich 
die Sache so zu Herzen, dass er sich nachgerade über- 
redete, die Belletristik sei nicht seine Sache, und dass 
er über ein halbes Jahr nicht mehr zur Feder griff. 
Die trübe Stimmung jener Tage hat er uns in den 
„Entmuthigungen" seiner „Pagine sparse" geschildert. 
Dort unterwirft er seine Leistungen einer bitteren 
Selbstkritik : 

„AUe seine Personen sind blutlose Schemen, welche 
ein und dies.elbe RoUe declamiren und keine einzige 
tritt auf, unter der nicht die Hand des Marionetten- 



— 222 — 

Spielers zum Vorschein käme. Drei Ideen in tausend 
Farben, aber nicht mehr als drei Ideen. Ein verwässer- 
ter Manzonismus, ohne muthiges Bejahen; ein ewiges 
Hintaumeln zwischen Glauben imd Nichtglauben , ein 
Zweifeln ohne den Muth, sich keck herauszuwagen, die 
doppelte Furcht, das Hohnlachen der Ungläubigen und 
das Missfallen frommer Mütter herauszufordern, ein be- 
ständiges perfides Zielen nach dem Herzen, statt nach 
dem Kopfe, und in der Sprache selbst die tiefe Ueber- 
zeugung, dass das Conventionelle, die Pedanterie, die 
grammatischen Bedenklichkeiten, der ganze untos- 
canische Schablonenkram einen Fusstritt verdiene, — 
anderseits wieder die Feigheit, alles das doch nicht zu 
wagen aus Furcht vor jenen Gegnern des Manzoni'schen 
Vorschlages, die zum Studium des Toscanischen weder 
Lust noch Kraft verspüren". 

Zur Orientirung sei hier daran erinnert, dass Man- 
zoni den Vorschlag gemacht hatte, die Einheit der 
italienischen Nationalsprache dadurch rasch herbeizu- 
führen , dass alle Schulen Italiens toscanische Lehrer 
erhielten. 

Unterdessen kam der December heran und De Ami eis 
brachte ein paar Ferienwochen in Mailand und Turin 
zu. Vater Manzoni heilte seine heimliche Wunde mit 
einer Aufzählung äUer ungezogenen Briefe, die er selbst 
in seinem langen Leben von empörten Litteraten em- 
pfangen hatte. In Turin aber erwartete den Frisch- 
curirten eine neue Prüfung. Im Buche der „Bicordi" 
hat er dieselbe in Gestalt eines launigen Culturbildes 
verwerthet. 

„Vor einiger Zeit", so lesen wir dort, „erklärte 



— 223 — 

einer unserer ersten Journalisten öfltentlich, er ziehe 
die naiven Weiber, welche „bacio" mit Doppel-.o zu 
schreiben pflegen, jenen Anderen vor, die sich zur 
richtigen Schreibung bekennen, und die Ignorantinnen, 
welche „Polonia" für einen Prauennamen halten, wären 
ihm lieber als gebildete Damen, denen Polonia das 
Polenland bedeutet. Ob mein College ganz im Eechte 
sei, möge folgendes Erlebniss meines Freundes zeigen. 
Dieser Freund ist Belletrist, kein grosser Held, doch 
ein Talent und als Autor etwas eitel: denn schon Gril- 
Blas hat es entdeckt: „On n'est pas auteur impun6- 
ment". Mein Freund mag übrigens seine Greschichte 
selbst erzählen: 

„Von Allem, was ich schrieb, sandte ich ein Dutzend 
Exemplare an meine Mutter zur Vertheilung unter 
unsere Freunde. In einem ihrer Briefe hiess es, ich 
möchte doch mit allem Eifer weiter schreiben, denn es 
harrten „ungeduldige Leserinnen" auf eine jede neue 
Zeile. 

Diese Schaar der „Ungeduldigen" beschäftigte meine 
Phantasie nicht wenig imd stachelte gewaltig meine 
Eigenliebe. Der Gedanke, in der Ferne Sympathien 
geweckt, mir so in meiner Heimat einen distinguirten 
Empfang bereitet zu haben, — erwartet, ja ersehnt in 
jenen Kreis der schönen Ungeduldigen zu treten, 
schmeichelte mir unendlich, und schrieb etwa die gute 
Mutter wieder : „Man liest, man liest, mein Sohn!" — 
dann war ich vollends ausser mir vor Stolz und Ver- 
gnügen. 

Endlich schlug die Stunde der Heimkehr. Auf der 
ganzen Fahrt phantasirte ich von meinen „Ungeduldigen" . 



— 224 — 

Ich malte mir die Ankunft aus, das erste Begegnen, 
den Schrei der Ueberraschung, den langen Händedruck, 
die neugierigen, an meinen Augen haftenden Blicke, 
welche dort nach der Stelle meiner Buchempfindungen 
forschten, — dann die naiven Detailfragen, das Wissen- 
wollen, wie das Eine entstanden, das Andere ausge- 
führt worden, woher das Dritte gekommen, und tausend 
andere Kindereien, wie sie einem jeden von uns Papier- 
verderbern einmal durch den Kopf gegangen sind. 

Kaum war ich bei der Mutter angelangt, so be- 
gann ich sie mit Fragen zu bestürmen: „Nun, und 
meine Leserinnen? Wer sind sie? Wo sind sie? Was 
machen sie? Wann kommen sie?" 

„Du wirst sie heute Abend im Salon der Signora ** 
alle beisammen finden. Im Voraus muss ich dir aber 
sagen: jung sind sie nicht mehr". 

„Nicht Eine?'^ 

„Nicht Eine. — Und dann sind es weder gelehrte 
noch belesene Damen". 

Um so besser, dachte ich ; — naive Wesen, die ein 
unmässiges Bücherlesen noch nicht blasirt hat, die 
mit . ungeschwächter Empfänglichkeit meine Schriften 
gemessen ! 

„Eine dieser Damen," fuhr meine Mutter fort, „ge- 
rieth sogar in Schrecken, als ich deine Ankunft meldete. 
Sie fürchtet, du werdest nur Italienisch sprechen". 

Arme Ungeduldige ! dachte ich. Wie musstest du 
mir dankbar sein, deine geheimsten Gefühle in reines 
Italienisch übersetzt zu haben! Du lasest und riefest 
aus: „So muss es heissen! So werde ich in Zukunft 
sprechen 1 Von heute an bin ich im Stande, jene Em- 



— 225 — 

pfindung auszudrücken, dieses Herzensbedürfniss kund- 
zuthun". 

„Aber sie haben doch mein Buch gelesen, und 
zwar ganz gelesen? nicht wahr, Mutter?" 

„Ich hoffe es; wenigstens waren sie recht unge- 
duldig, dass du noch mehr schreiben und recht vieles 
schicken möchtest. Sie äusserten sogar den Wunsch, 
du möchtest mit zehn Federn zugleich arbeiten". 

Wie mächtig pochte mir das Herz! In diesem 
Augenblicke fühlte ich mich stark genug, noch zwei- 
hundert Bände in die Welt zu setzen. 

Unterdessen erschien der Ehemann derjenigen Dame, 
in dessen Salon die Gesellschaft sich zusammenfinden 
sollte, — ein alter Herr mit einem umfangreichen 
Kürbiskopfe. Ich erwartete etwas Schmeichelhaftes, er 
fand aber nur eine banale Begrüssungsformel. Der Kerl 
kam mir erbärmlich vor. Zu welch hartem Loose die 
Frauen verurtheilt sind! Unmöglich, dass dieser 
Mensch seine Gattin begreife ! 

Im Salon, den wir miteinander betraten, waren 
gegen fünfzehn Personen bereits versammelt. Die Dame 
des Hauses hatte sich auf einen Augenblick entfernt, 
und der alte Kürbiskopf stellte mich einstweilen seinen 
beiden Töchtern vor, zwei hässlichen Geschöpfen, die 
mit hölzerner Zurückhaltung grüssten. 

Sie thun ihren Gefühlen Gewalt an! sagte ich 
tröstend zu mir selbst. 

Mein Einführer stellte mich hierauf einer vierzig- 
jährigen, langen und dürren Dame vor, sie ihrerseits 
mir ihren sechszehnjährigen Sohn, der mir lebhaft die 
Hand drückte und mich unverwandt betrachtete. Kach- 

H. B. 15 



— 226 — 

dem die Dame mich vom Scheitel bis zur Zehe ge- 
messen — weder ein Lächeln, noch eine Ueberraschung, 
noch ein seelenvoller Bück! — sonderbar, auch sie be- 
herrscht sich! — b^ann sie: 

„Sie haben also ihre Frau Mutter besucht. Schön, 
sehr schön. XJnd — wie behagt es Ihnen in Florenz?" 

Ich könnte mir^s nicht besser wünschen. 

„Und — ich höre, Sie haben da Beschäftigung 
gefunden ?" 

So zu sagen, Signora! 

„Sie schreiben ja, Sie schreiben!" 

Ich nickte Bejahung. 

„Bravo. Schreiben ist besser als Faulenzen oder 
seine Zeit in schlechter Gesellschaft verderben. Man 
gewinnt dabei immer was, und im schlimmsten Falle 
kann man nichts verlieren. Wir haben Ihre Sachen 
hier gelesen, wissen Sie? 

Ich verneigte mich. 

„G-ewiss, gewiss, wir haben sie gelesen, wir haben 
sie gelesen. Und wirklich — schöne Sachen haben Sie 
gemacht. Nein, lassen Sie sicVs nur sagen, auch Andere 
haben^s schön gefunden. Man sieht, Sie haben das 
Zeug dazu!" 

Es erfolgte eine längere Pause. 

„Auch mein Sohn hier hat Talent zum Schreiben" . 

Der Junge erröthete, unterbrach seine Mutter und 
warf mir einen verlegenen Blick zu. 

„Ja, ja, an Talent fehlt es ihm durchaus nicht. 
Ist er *mal aufgelegt, so wirft er Ihnen einen acht 
Seiten langen Brief nur so hin. Aber aufgelegt muss 



— 227 ^— 

er sein. Und einen guten Stil ^schreibt er obendrein, 
das kann ich Ihnen» sagen". 

„Mutter!" unterbrach der Sohn mit steigender Ver- 
legenheit. 

„Ja, ja, auch Er hat G-enie! Schade, dass Sie nicht 
länger bei uns bleiben können. Sie würden sich näher 
kennen lernen, zusammen arbeiten, einander Ihre Werke 
zeigen, denn es heisst, wenn man sich an einander 
misst — " 

„Mutter, Mutter!" fiel der Junge wieder ein, „Was 
du da sagst! Der Herr — ein Schriftsteller!" 

Ich fühlte mich vernichtet. 

„Das eben sage ich ja", versetzte ärgerlich seine 
Frau Mutter. „Gerade weil er schriftstellert, könnte 
er dir nützen. Ich behaupte ja nicht, dass du schon 
weiter bist als er, — aber vier Augen, wie man zu sagen 
pflegt, sehen besser als zwei, und wenn Ihr beide zu- 
sammen arbeitet, so müssen die Erfolge um so be- 
deutender sein, denn Ehrgeiz, Wetteifer — " 

Hier trat die Dame des Hauses, ein recht gut- 
müthiges Frauengesicht, herein. Sie streckte mir beide 
Hände entgegen und ihr wohlwollendes Lächeln schickte 
einen Strahl der Hoffnung in meine bereits umdüsterte 
Seele. Ich wandte mich zu ihr wie zu einem erlösen- 
den Engel. 

„Wie freut es mich, Sie kennen zu lernen! Wie 
oft haben wir Sie nennen hören". 

Ich athmete auf. 

— „Wie oft gehört, dass Sie so Tüchtiges leisten 
— in der Wissenschaft". 

Gott im Himmel — was hat die gehört! Letzte 



-« 228 — 

Hoffnung — fahre hin ! Sie führte mich in einen Winkel 
des Salons und präsentärte mich 'drei dürren ernsten 
Damen, die in einer Beihe da sassen und drei Bild- 
säulen glichen. 

„Herr N., der ausgezeichnete junge Mann, der so 
tüchtig ist — im Componiren!" 

„Sie sind also Componist?" fragte in nachlässigem 
Tone eine der drei Statuen. 

„Nicht doch, nein", versetzte die Herrin des Hauses. 
„Er componirt" — und hier warf sie mir einen fragen- 
den Blick zu, und machte dahei eine Bewegung mit 
Daumen und Zeigefinger wie Einer, der Greld durch 
die Finger gleiten lässt. „Er componirt — Prosa, 
nicht wahr?" 

Meine Verlegenheit und mein Aerger wurde nach- 
gerade auch den drei Statuen hemerklich. Eine der- 
selben, eine Freundin meiner Mutter, folgte muthmass- 
lich einer Eegung des Mitleids, als sie nach einigem 
Nachdenken an mich die Worte richtete: „Sie finden 
also Freude am Bücherschreiben ? Das ist in der That 
ein angenehmer Zeitvertreib". 
Sprachlos blickte ich sie an. 
„Ein Zeitvertreib und eine Erleichterung zu- 
gleich ; denn es gibt ja Augenblicke im Leben, wo die 
Ueberfülle an Gedanken uns dazu zwingt, uns auszu- 
sprechen. S' ist ein Bedürfniss, die treffliche Uebung 
nicht gerechnet, die ims gewandt im Eedigiren macht. 
Haben Sie schon was drucken lassen?" 

Das schallende Gelächter einer nahen Gruppe er- 
sparte mir diesmal die Demüthigung einer Antwort. 
Unsere Wirthin, die Hände über die Brust gekreuzt, 



— 229 •— 

um nicht vor Lachen bersten zu müssen, kam, von 
jener Gruppe begleitet, auf mich zu. 

„Das verdient wahrhaftig in einem Ihrer — Auf- 
sätze zu stehen!" rief sie mir entgegen, und unter dem 
fortgesetzten Gewieher ihrer Begleitung erzählte sie 
mir eine Anekdote, deren Quintessenz, soweit meine 
höchst unglückliche Stimmung jenes Augenblicks sie 
zu fassen vermochte, — auf eine Hutverwechslung 
hinauslief. 

„Sie sollten „über das" eine Novelle schreiben", 
lachte die Wirthin. 

„Eine Poesie — eine Ode !" johlten die Andern. 
Der Kürbiskopf näherte sich mit der Miene eines Ein- 
geweihten und fügte bei : 

„Mit einigen Erweiterungen und Zuthaten, wie 
Ihr Herren Schriftsteller es zu machen versteht, könnte 
man, ich wiU nicht sagen ein Epos", — hier lachte er 
— „nein, aber wenigstens eine hübsche Kleinigkeit 
schaffen!" 

Ich wünschte mich nachgerade zehn Meter unter 
die Erdrinde. Meine armen Träume, meine Hofl&iungen, 
meine Bücker, meine am Schreibtisch durchwachten 
Nächte! Hatte ich denn zuviel gehofft, zuviel verlangt? 
Ein Lächeln, das mir sagte : „Wir kennen dich !" hätte 
mich so reich gelohnt, so innig beglückt, hätte mir 
gezeigt, dass man zu Hause weiss, dass ich denke, 
empfinde, arbeite! — Aber so! — Sind das denn Ge- 
bildete, civilisirte Menschen? Oder gehört man hier 
zu Lande ins Eeich der Bestien? 

An alles Weitere erinnere ich mich nur wie im 
Traume, Man legte mir das Manuscript eines Knäbleins 



— 230 — 

vor, damit ich Sine verbessernde Hand daran lege. Ein 
Elementarlehrer wurde mir von der Wirthin mit der 
Bemerkung vorgestellt: „Endlich habe ich für Sie Gre- 
s ellschaft gefunden!" Der neue Gesellschafter leitete 
die Unterhaltung mit der Frage ein : „Was haben Sie 
studirt ?" Eine Dame wollte wissen , ob die Toscaner 
gut italienisch reden ; ich versetzte, die dortigen Bauern 
sprechen schön, was ein schallendes Gelächter hervor- 
rief. Beim Abschiede rief mir ein kleines Bübchen 
nach: „Addio Poeta!" Das reizte die Gesellschaft zu 
einem letzten Lachen auf meine Kosten, und als ich 
schon unten an der Treppe war, schickte mir die Wirthin 
noch ein Letztes: „Schreiben Sie, schreiben Sie doch 
ja !" nach, das inir wie ein Stiletstich durch's H«rz ging. 

Der Leser mag aus meiner Anekdote die Moral 
nun selbst ziehen. Nur so viel habe ich noch beizu- 
fügen, dass, wenn diese Damen „Bacio" zwar nicht niit 
Doppel-c zu schreiben pflegen, sie sich beim Schreiben 
jenes Wortes doch besmnen müssen. Sie Alle wissen 
übrigens, dass „Polonia" kein Geschöpf von ihres- 
gleichen ist". 

So erzog das Leben unseren „Man of feeling", so 
dämmte es allmälig seinen überströmenden Optimismus 
ein. Er hat diese Wandlung in den „Schulcameraden" 
selbst berührt. 

„Und die Menschen? Ich bin von Natur durchaus 
nicht misstrauisch, ich sehe in allen Dingen die schöne 
Seite immer eher als die schlimme. Ich ärgere sogar 
heute noch einen gewissen Freund, wenn ich ihm 
lachend sage: „Noch immer bin ich der Freund des 
Menschengeschlechtes !" — Er aber hat nur eine Ant- 



— 231 — 

wort: „Warte nur, auch dir wird deine Stunde schla- 
gen !" Und doch ! Wie viel habe ich nicht schon ein- 
gebüsst an Freundschaft und Bewunderungssinn : Zwei 
oder drei Enttäuschungen haben hingereicht, um die 
Schwungkraft jener Springfedern lahmzulegen. Ich 
lache auch nicht länger mit jenem unwiderstehlichen 
und lauten Lachen, das einst durch alle Zimmer meines 
Hauses schallte^'. 

Der September des denkwürdigen Jahres 1870 
brachte ein grossartiges Militärschauspiel, die Besetzung 
Borns durch die italienischen Truppen. Auch De Amicis 
rückte mit seinen Cameraden yon Custozza durch die 
Bresche der Porta Pia in die ewige Stadt ein. In den 
„Komischen Briefen" seiner „Ricordi" hat er uns jene 
schwungvollen Tage schwungvoll gescliildert. Im Som- 
mer des folgenden Jahres nahm er seine definitive Dienst- 
entlassung, um sich von nun an ganz der Schriftstellerei 
zu widmen. In dem schon mehrfach von uns angeführ- 
ten Stücke „Amici di Collegio" richtet er an seine 
Waffenbrüder diesen feierlichen Abschied: 

„Wenn ich an die Pflichten eurer Zukunft denke, 
dann fühle ich doppelt die Pflichten der meinigen. Um 
dem Lande meine Schuld der Dankbarkeit abzutragen, 
anerkenne ich die Pflicht rastloser Arbeit: ihr sollen 
meine Nächte gewidmet sein, strengste Enthaltsamkeit 
soll die. Frische meiner Manneskraft wahren, mein 
Leben soU ein reines bleiben, damit ich mir das Recht 
erwerbe, anderen den Weg zu weisen; jenes Feuer der 
Liebe will ich nähren, das der fremden Brust sich 
mittheilt, ich will das Volk, die Kinder und die Armen 
studiren, für sie meine Feder in Bewegung setzen, kein 



— 232 — 

scliimpfiiches Wort soll ihr je entgleiten, keine Ent- 
muthigung mich fern vom Ziele halten". 

Noch im Spätherbste 1871 reiste De Amicis nach 
Spanien, von wo er der „Kazione", einem Florentiner 
Blatte, politische Correspondenzen sandte. Nach seiner 
Rückkehr sammelte er zerstreute Artikel in dem Bänd- 
chen seiner „Kicordi", und gab Ende desselben Jahres 
(1872) ein zweites Bändchen, die „Novelle" heraus. 
Sie sind einem spanischen Gastfreunde, dem Dichter 
Gonzola Segovia y Ardizone gewidmet. Die „Novelle", 
(mit Ausnahme der beiden ersten: Gamilla, Furio) 
scheinen uns weniger Ursprünglichkeit und Unmittel- 
barkeit der Anschauung und der Empfindung zu ver- 
rathen, als die Bozzetti; ihre romantische Färbung 
ordnet sie in die l^fasse so vieler Vorgänger, wenn auch 
anderseits ihre Sprache den gewiegten Meister bekundet 
und an Vollendung über derjenigen der Bozzetti steht. 

Die Frucht von De Amicis' spanischer Eeise war 
das Buch „Spagna", welches 1873 bei Barbara in Florenz 
erschien. Es eröffnet eine neue Epoche in der Ent- 
wickelung unseres Autors — die Serie seiner Reise- 
beschreibungen: Ricordi di Londra — Olanda — 
Marocco — Constantinopoli, dessen zweiter Band neulich 
die Presse verlassen hat. Diese lebhaften Erzählungen 
eines Touristen, der in Dingen der Natur und der 
Kunst Kopf und Herz, Urtheil und Empfindung besitzt, 
haben De Amicis' Namen in Italien vollends populär 
gemacht. 

Zerstreute Journalartikel sammelte unser Autor 
aufs Neue 1876 in dem Bande: „Pagine sparse, lose 
Blätter". Die vier ersten Stücke dieser Sammlung 



— 233 — 

sind „Kicordi", d. h. persönliclie Erinnerungen aus dem 
inneren und äusseren Leben. Hieran reihen sich ver- 
wandt die Besuche bei Castelar, Manzoni und Euffini; 
acht weitere Artikel handeln vom Studium der italieni- 
schen Sprache. „Das Album des Vaters" schildert die 
Kinderwelt mit Theilnahme und Phantasie, das Uebrige 
ist novellistischen Inhalts. 

Im „Besuch bei Ruffini" scheint mir folgende Stelle 
von culturhistorischem Interesse zu sein: 

„Ruffini fragte mich, in welchen Verhältnissen ein 
italienischer Schriftsteller, dem die Gunst der Lesewelt 
zu Theil geworden, heutzutage leben könne. Ich ver- 
sfetzte, im allergünstigsten Falle könne ein solcher 
Autor gegenwärtig sicher sein, dem Hungertode zu 
entwischen, vorausgesetzt, dass er das Doppelte von 
dem arbeite, was das Interesse seiner Gesundheit und 
seiner Kunst zulasse. Ich kenne einen jungen Mann, 
der zu den beliebtesten Eomanschreibern der Gegen- 
wart zählt. Nur Abends ist es ihm vergönnt, ein paar 
Seiten Roman zu schreiben, da er während des Tages 
im Schweisse seines Angesichtes .Tournalartikel machen 
muss. Ein anderer talentvoller und arbeitsamer Jüng- 
ling, dessen Bücher gierig verschlungen wurden, fand 
sich trotz alledem kurz vor seinem Tode in der Lage, 
von gedörrten Kastanien leben zu müssen. Ein be- 
rühmter, heute noch lebender Schriftsteller schickt, um 
seine Existenz zu fristen, tagtäglich eine hauptstädtische 
Correspondenz in die Provinz und einer seiner Freunde 
ist beauftragt, an seiner Stelle die monatlichen hundert 
Lire in Empfang zu nehmen, damit die Verschämtheit 
der Armuth «u ihrem Rechte komme, Ruffini, der mit 



n 



— 234 — 

seinen vier englischen Eomanen sich ein kleines Ver- 
mögen erworben, schüttelte bedenklich den Kopf". 

Ein anderer Artikel des Bnches: „Bücherliebe", 
behandelt ein verwandtes Thema. 

„Die Italiener lesen viel", heisst es da, „aber sie 
kaufen wenig. Von allen Möbeln ist das Büchergestell 
dasjenige, welches in Italien sich am schlechtesten ver- 
kauft". Wie oft hören unsere Buchhändler die Worte : 
„Dieses Buch möchte ich gern lesen!" — „So kaufen 
Sie es doch". — „Was soll ich damit anfangen, wenn 
es ausgelesen ist?" lautet die unvermeidliche Antwort. 

Unter dem Gesammttitel : „Bemerkungen über das 
Studium der italienischen Sprache für nicht-toscaniscbe 
Bjiaben" vereinigt De Amicis . mehrere Artikel über 
das Erlernen der Muttersprache. „Muttersprache ist im 
Falle des Nicht- Toscaners allerdings kaum der zutreffende 
Ausdruck; denn nur sein jeweiliger Dialect verdient 
jenes Prädicat. Mit gewohnter Offenheit erzählt uns 
De Amicis die Erlebnisse seiner eigenen Lehrjahre. 
Wie Manzoni und Grossi nahm er das toscanische Wörter- 
buch systematisch durch, machte sich Auszüge, wie 
Foscolo, Leopardi und Andere, „die an Notizenhefte 
glaubten (che credevano ai quaderni)", vor ihm gethan. 
Andererseits bemühte er sich, richtig sprechen zu lernen ; 
denn „Schreiben", sagt Manzoni, „ist nichts weiter als 
ein überlegtes Sprechen (un parlare pensato)". Schön 
und richtig sprechen lernt man aber nur in Florenz. 

„Als ich nach Florenz kam, glaubte ich höchstens 
für meine Aussprache gewinnen zu können. Mein in 
Classikern undNichtclassikern zusammengelesenes Schul- 
bank-Italienisch, so dachte ich, müsste für die Bedürf- 



— 235 — 

nisse des Schriftstellers ausreichen. Aber bald .nahm 
ich zu meiner grossen Beschämung wahr, dass gerade 
der Wort- und Phrasenschatz, der natürliche Tact, das 
Sprachgefühl und die Anmuth in der Wahl des Aus- 
druckes Dasjenige sei, was der Nicht-Toscaner in Florenz 
vor Allem zu studiren habe.» 

Gleich am ersten Morgen bewunderte ich einen 
Strassenjungen, der mit seinem Cameraden kleine Messer 
nach einer Thüre warf. 

„Pass auf, ich werfe, es steckt, zittert und wird still!" 
(Sta attento, io lo tiro, vi si configge, osoilla e po si queta!) 

Die G-razie, das Treffende und das Malerische, das 
in diesen Worten lag, frappirten mich, und ich richtete 
an mich die Frage: „Hättest du dich so, und so gut 
ausgedrückt?" Und mein Gewissen versetzte: „Anders 
und schlechter". 

Ich fand in einigen gebildeten Familien Zutritt. 
Da erst begann für mich die schwere Noth. So lange 
es sich um landläufige Dinge, um Politik, Litteratur 
und Theater handelte, ging alles vortrefflich. Aber im 
Zwiegespräche mit einer Dame, in der scherzenden, 
vertraulichen Unterhaltung, die vom Hundertsten auf's 
Tausendste überspringt und sich in der anmuthigen 
Behandlung von Bagatellen gefällt, wo der Inhalt oft 
nichts, die Form oft alles ist, da fühlte ich mich hülf- 
los, ohnmächtig, ja ich behielt meine Gedankea oft 
für mich, weil die Worte sich nicht einstellten. Tag 
für Tag hatte ich einen Piemontismus, einen Gallicis- 
mus, eine Pedanterie, eine poetische Wendung zu strei- 
chen. Täglich mehr bestärkte ich mich in der schmerz- 
lichen Ueberzeugung, das9 anstatt italienisch zu spre- 



— 236 — 

chen, ich italienisch componire, dass mein Sprach- 
schatz ein Geschmeide von falschen Diamanten sei, und 
dass, sofern ich ordentlich sprechen und schreiben wolle, 
ich mit meinen Studien von vorne anzufangen hätte. 

Die härteste Probe meiner Eigenliebe aber kam, 
als ich die Correcturbogen» meines Buches in florentiner 
Hände legte. Die Dame gab mir meine Bogen schwarz 
von Puncten und Fragezeichen zurück. Ich biss vor 
Aerger meine Lippen. Die Verbesserung setzte meist 
das Einfache an die Stelle des Gezierten, das Klare an 
die Stelle des Zweideutigen, die Grazie an die Stelle der 
Pedanterie. Es war der Anprall eines Catapultenge- 
schosses, das den ganzen Prachtbau meiner litterarischen 
Erziehung erschütterte. Ich vertheidigte mich, stützte 
mich auf Autoritäten, wiederholte immer wieder : „Es ist 
doch italienisch, ich berufe mich auf diesen, auf jenen 
Autor". 

„Gehen Sie mir doch mit Ihrem Italienisch !" er- 
wiederte meine liebenswürdige Scharfrichterin. Ich 
mache mich anheischig, mit lauter itaKenischen Wen- 
dungen alle meine Freunde diesen Abend aus meinem 
Salon zu treiben". 

Wie man sieht, handelte es sich hier durchaus 
nicht um Verstösse gegen Lexikon und Grammatik. 
Es waren fast immer Wortvertauschungen und Wort- 
versetzungen , Entwirrungen und unscheinbare Eetou- 
schen, doch wie änderten diese kleinen Dinge die Miene 
eines Satzes, die Farbe eines Gedankens! Besonders 
aber war es eine fortlaufende Instruction über V^r- 
theilung und Combinirung jenes Kieselgerölles ein- 
silbiger Wörter, das in der Handhabung unserer mO' 



— 237 — 

dernen Sprachen stets die grössten Schwierigkeiten 
bereitet; denn es müssen jene Wörter so vertheilt und 
eingeschachtelt werden, dass der Ausdruck nicht roh 
und unvermittelt, die Fugen nicht hart, die Ueber- 
gänge nicht mühsam, die Ohren nicht beleidigt werden, 
Fehler, die so wenige ausser-toscanische Schriftsteller 
zu vermeiden wissen. 

„Das scheinen Kleinigkeiten", sagte meine Weg- 
weiserin, „aber worin unterscheidet sich der elegante 
Schriftsteller vom rohen und anmuthslosen? Nicht in 
der Correctheit ruht die Kunst, vielmehr in jenem 
künstlerischen Tacte, in jener tieferen Harmonie, für 
die ein unerzogenes Ohr keinen Sinn besitzt. Lassen 
Sie die Italiener schwatzen. Es bleibt doch unumstöss- 
lich wahr: Wir Toscaner- können unsere Landsleute 
etwas lehren". 

De Amicis hat ohne ängstliches Bedenken in 
seinen „Caro pedante" (Fanfani ist wohl gemeint) die 
Zunft der einseitigen Puristen nach Gebühr behandelt, 
— mit Verstand und Geist dem Programme Manzoni's 
nachgelebt. Der grosse italienische Dialectforscher As- 
coli mag Eecht haben, wenn er behauptet, eine ein- 
heitliche Sprache lasse sich für Italien nicht von heute 
auf morgen, überhaupt nicht machen, Frankreich 
habe sie im Laufe von Jahrhunderten durch das Ueber- 
gewicht und die Bildung seiner Hauptstadt, Deutsch- 
land durch die Schöpfungen Luther's, Lessing's, Göthe*s 
und Schiller's gewonnen, Italien werde sie erst dann 
erhalten, wenn es in seiner Einheit einmal erstarkt sei, 
und die grossen Ahnen seiner Litteratur, ein Dante, 
Ariosto und Macchiavelli , statt fremder Legionen 



— 238 — 

einmal eigene Leute zu führen bekämen, d. h. wenn 
die Trägheit (ozio) nicht länger am Talente hafte; — 
Bonghi's Schrift: „Weshalb besitzen die Italiener keine 
volksthümliche Litteratur?" mag die Schwierigkeiten 
jener Schöpfung mit Sachkenntniss beleuchtet haben: 
immerhin wird heute schon ein Schriftstellertalent durch 
ein verständiges Studium der toscanischen Phraseologie 
jene Beichthümer sich sammeln können, die seine 
Schriften zu nationalen und volksthümlichen 
stempeln. Und damit wäre ja auch Ascoli's Forderung 
Genüge geleistet. Wir glauben, dass De Amiois jenem 
Postulate „pro virili parte" nachgekommen sei. Seine 
Schriften gehören heute zu den gelesensten in ganz 
Italien, sie ragen wirksam zur Verbreitung einer Sprache 
bei, deren Plastik und schlichte Natürlichkeit ihr den 
Bang und die Autorität einer einheitlich • nationalen 
mehr und mehr verschaffen werden. 



Zwei sicilianische Belletristen. 




»atania^ die uralte ionische Golonie, durch den 
Gesetzgeber Charondas, den Dichter Stesichoros und 
eine Befreiungsthat Timoleons schon im grauen Alter- 
thum berühmt, seit dem fünfzehnten Jahrhundert erste 
Universität, heute noch die litterarische Metropole 
SiciUens, — Catania, so malerisch gebettet zwischen 
dem tiefblauen Meere und dem schneegekrönten Aetna, 
vor dessen Lavaströmen durch den schützend vorge- 
haltenen Schleier seiner Patronin Agata gerettet, den 
periodischen Verwüstungen furchtbarer Erdbeben durch 
periodische Wiedergeburten trotzend, — Catania birgt 
auch heute ein rühriges, wissenschaftliches und belle- 
tristisches Leben. In letzterem bewegen sich gegen- 
wärtig zwei Männer von sehr verschiedener Neigung, 
der Lyriker Rapisardi und der Bomandichter Yerga. 
Ein günstiger Zufall hat mich Beiden nahe genug ge-' 
brachjb, um früher empfangene litterarische Eindrücke 
durch genauere Kenntniss ihrer Lebensverhältnisse und 
ihrer Persönlichkeit zu vertiefen und zu ergänzen. Da 
nun Rapisardi sowohl als Verga zu den bedeutenderen 
Erscheinungen der modernsten Litteratur Italiens zäh- 
len, zugleich dem deutschen Leser, so viel ich weiss, 



— 240 — 

noch durch keine eingehendere Besprechung vorgestellt 
wurden, dürfte ein Versuch, diese Lücke auszufüllen, 
weder verfrüht noch überflüssig erscheinen. 

Mario Rapisardi steht gegenwärtig in seinem 
fünfunddreissigsten Lebensjahre. Catania ist seine Hei- 
mat, sein Vater übte da den Beruf des Advocaten aus. 
Seit 1870 wirkt unser Dichter als Professor; der italie- 
nischen Litteratur an der Universität seiner Vaterstadt. 
Ein Aufenthalt in Florenz während des Dantejubiläums 
(1865) hat ihm nebst der treuen Freundschaft und dem 
väterlichen Wohlwollen des edlen, vielverfolgten Dali' 
Ongaro auch das Herz einer schönen Florentine»in er- 
obert, welche heute Freud und Leid mit ihrem Gatten 
theilt. 

Rapisardi's persönliche Erscheinung ist eine frap- 
pante. Eine schlanke und hagere Gestalt, ein Sarazenen- 
kopf mit hoher Stirn und scharfen Ejiochencontouren, 
ein dunkles tiefes, sehr schönes Auge, ein satirischer 
Zug im Winkel der gekniffenen Lippen, das braune 
Gesicht von langen, rabenschwarzen Haaren eingerahmt, 
in der Gesellschaft wortkarg, still beobachtend, so steht 
er heute im Erinnerungsblatte meiner Phantasie. „Piü 
interessante che beUo!" flüsterte meine Nachbarin, als 
•Kapisardi in den Salon trat. 

Als Dichter machte sich Bapisardi zum ersten Male 
1866 geltend. Seine „Palingenesi" — ein Gedicht von 
der Wiedergeburt der Eeligion im Sinne des modernen 
Gedankens — belohnte das Municipio Gatania's mit 
einer goldenen Medaille, Italien mit einer Theilnahme, 
die dem Verfasser Muth einflösste. — Eine lyrische 
Sammlung: „Bicordanze^^ (1872) enthält Eapisardi's 



— 241 — 

kleinere Gedichte seit 1863. Drei Jahre später publi- 
cirte der florentinische Verleger Lemonnier Bapisardi's 
„CatuUus und Lesbia", eine metrische Uebersetzung 
mit beigefügtem Urtext und biographischen Aufsätzen. 
Der „Lucifero" endlich erschien 1877 und hat bereits 
eine zweite Auflage erlebt. 

Eapisardi's „Lucifero" ist ein satirisch - lyrisches 
Gedicht in epischem Rahmen. 

„Dio tacea da gran tempo". So beginnt unser Epos. 
Gott Vater schwieg seit geraumer Zeit. Im langweiligen 
Himmel klagen die Heiligen über die steigende Ver- 
nachlässigung durch die Sterblichen. Sie beschwören 
ihren Herrn und Meister, seinen Blitzstrahl niederzu- 
schleudern auf das ruchlose Menschenvolk. Aber kein 
Blitz wird geschleudert imd die Sterblichen — lachen. 
Lucifer hört ihren Hohn und beschliesst, seine heiss- 
geliebte Erde zum letzten Kampfe des befreienden 
Gedankens anzuführen. Er zieht seine mittelalterliche 
Teufelsuniform aus, fegt den Euss von seinen Lenden 
und steht als leuchtender, bildschöner Gott da. „Mein 
Höllenreich ist vorbei, mein neues Reich sei meine Erde". 
Damit macht er sich denn auf, schwebt nieder auf den 
Felskamm des Kaukasus, wo Prometheus ihm sein ge- 
fährliches Unternehmen auszureden sucht. Hat er ja 
selbst die bittersten Erfahrungen gemacht: 

„Die Wenigen, die wd» davon erkannt 

Hat man von je gekreuzigt nnd verbrannt **. 

Lucifer aber ist kein Hasenfuss. Er antwortet mit 
der Geschichte seines langen Kampfes, erzählt seinem 
grossen Gesinnungsgenossen dessen bisherige Phasen, 
von Mutter Evas Apfelbiss bis zur „philosophischen, 

H. B. 16 



— 242 — 

theologischen und zur politischen Revolution", d..h. bis 
zur Renaissance, zur Reformation und zu Englands, 
Amerikas und Frankreichs Revolutionen. Unter solchen 
Gesprächen ist es „Canto quarto" geworden. Lucifero 
zieht nach Griechenland, liebelt mit Hebe und macht 
seine Reflexionen über das schöne Griechenthum. 

Nach einem widerwärtigen Seeabenteuer erreicht 
unser Heros die gallische Erde und kommt eben recht, 
um von einem Berge aus das Wtithen der Feldschlacht 
zu beobachten. Dass er für Preussen Partei ergreift, 
braucht nicht erst gesagt zu werden. Die Gräuel der 
Commune erwecken in ihm bescheidene Zweifel am 
endlichen Siege der Vernunft. Weit besser behagt es 
ihm in Amerika, dem Lande des Fortschrittes und der 
Freiheit, in dessen Urwäldern er auf einen wunder- 
lichen Aflfen stösst, der im Namen Darwins Brüder- 
schaft mit ihm zu schUessen verlangt. 

Unterdessen haben die Heiligen des Himmels ihren 
schläfrigen Beherrscher zu entfernten Widerstandsver- 
suchen aufgeschüttelt. Lucifer hat leichtes Spiel, die- 
selben siegreich zurückzuweisen; denn der alte Herr 
hat seine Sache im Stillen schon lange verloren gegeben, 
plaudert sogar in einem unbewachten Augenblicke der 
braunen Teresa sein diplomatisches Geheinmiss aus. 
„Ich bin im Grunde nur ein Schwindler, nichts weiter, 
— nichts als das Schreckmännchen des alten denk- 
faulen Adams". Ueber dieser niederschmetternden Er- 
öfihung verliert die Heilige wie billig den Verstand 
und gibt in ihrer Verrücktheit den Himmlischen einen 
scandalösen Cancan zum Besten. 

Der elfte Gesang erzählt uns Lucifers Besuch in 



— 243 — 

Italien, besonders in Florenz. Er enthält eine bittere 
Verurtheilung heutiger Dichter und eine persönliche 
Satire auf einige derselben. Wir werden auf ihn zurück- 
kommen. — Vorerst geht es weiter nach Bom, Die 
„Bresche der Porta Pia", durch welche das Vaterland 
in die päpstliche Roma einzog, wird mit lyrischem 
Schwünge gefeiert. Der Held betheiligt sich am rau- 
schenden Siegesfeste im Colosseo und vernimmt da die 
Geisterstimmen der Völker, welche in ebensovielen 
Oden an sein Ohr klingen. G-ermania erscheint als die 
Königin der Wissenschaft und der Philosophie und 
verlangt den Völkerfrieden im Namen beider, — Dann 
kommt die Beihe an den alten Junggesellen im Vatican. 
Der sterbende Pio Nono wird wie Shakespeare's König 
Bichard von dräuenden Schatten seiner Opfer umflattert 
und verendet in furchtbaren Gewissensqualen. Bevor 
das neue Conclave zusammentreten kann, steigt Lucifer 
zur Sonne empor und ruft von da zum letzten Gerichte. 
Die Opfer steigen aus den Grüften und heischen Bache. 
Der alte Himmelsherrscher, den bis auf einige treue 
Bestien, wie beispielsweise des heiUgen Antonius hei- 
liges Schwein, alle seine Heerschaaren schnöde verlassen 
haben, -7 „stirbt" und Lucifer kündet seinem Freunde 
Prometheus den Sieg seiner Sache an. 

Das ganze Gedicht durchzieht ein Dualismus der 
poetischen Intention, der sich selbstverständlich auch 
der Form, dem StUe und der Diction mittheilt. So zer- 
fallen die vierzehn Gesänge von Bapisardi's Dichtung 
in eine enthusiastische und eine frivole Hälfte. In 
ersterer namentlich herrscht ein Aufwand südlicher 
Rhetorik, die wir bei dem Sohne des Aetna zwar be- 



— 244 — 

greifen, aber im Namen des guten Geschmackes ver- 
nrtheilen müssen. Aetna's Lavastrom fühlt sich dies- 
mal kalt an und wir möchten dem Dichter rathen, in 
Zukunft den schützenden Schleier seiner Schutzpatronin 
Agata sich auszubitten. Wir haben beim Lesen mehr 
als einmal an Statins, an Lucan und Seneca den Tragiker 
gedacht. Auch diese bieten grüne Oasen, aber man 
erreicht sie erst nach mühsamen Waten durch Sand- 
wüsten. Unser Held Lucifer hat trotz seiner himm- 
lischen Schönheit weder Fleisch noch Blut. Er ist nichts 
als eine Abstraction, als ein Phantom. In der That, 
was bringt ihn auf den sonderbaren Einfall, sich einen 
Helden zu nennen? Die Leistungen dieses mythologi- 
schen Touristen bestehen ja ausschliesslich nur im 
Reisen, Beobachten und im Predigen ! Und der mytho- 
logische Apparat bringt das Thermometer vollends auf 
den Gefrierpunct. Der gehört heute doch ein für alle- 
mal in jene Eumpelkammer, wo Milton's und Boileau's, 
Klopstock's und Ghateaubriand's verstaubte Maschinen 
stehen. Er ist höchstens noch im burlesken G-edichte 
erträglich, aber auch da nicht mehr willkommen. 

Um so interessanter nun erscheint uns Rapisardi's 
Gedicht als ein Wahrzeichen der heutigen Freiheit 
Italiens. Der Mephistotypus führt hier zum ersten 
Male die Sprache des Atheisten. Nach des Dichters 
Absicht soll mit dem Katholicismus zugleich auch die 
Gottesidee verschwinden: Es bleibe nur der Mensch, 
seine Vernunft und — sein Comfort. Mit cynischer 
Aufrichtigkeit hat Eapisardi durch sein Programm sich 
hindurchgesungen und der Bischof von Catania konnte 
anstandshalber kaum anders verfahren, als einige Exem- 



— 245 — 

pläre des Lucifero feierlich zu verbrennen, da ja heutzu- 
tage den Dichter selbst zu braten nicht mehr gestattet ist. 

Publicum und Regierung handelten anders. Ersteres 
verlangte eine neue Auflage und letztere lässt den Pro- 
fessor Kapisardi ruhig an seiner Stelle. Die „Universite 
de France" hätte ihn sofort abgesetzt und ausgestossen. 
Unstreitig ein schönes Zeichen der heutigen Cultur 
Italiens! Wie weit ist man jetzt in diesem Lande über 
die trüben Tage hinaus, wo der zahme Lucrezübersetzer 
Marchetti sein Manuscript nur einigen verschwiegenen 
Freunden mittheilen durfte ! Verwundern wir uns des- 
halb nicht, wenn der geistreiche Lucrezerklärer unserer 
Tage, Prof. Trezza in Florenz, Rapisardi*s Lucifero in 
seinen eben erschienen Studien i^it unverhohlener Freude 
begrüsst. 

Es mag allerdings bezweifelt werden, ob Eapisardi's 
rhetorische Lyrik allein seinem Buche die grosse Theil- 
nahme zu verschaffen im Stande gewesen wäre. Die 
Satire des frivolen Theiles hat gewiss noch mehr ge- 
wirkt. In romanischen Ländern findet das religiöse 
Gemüth in dem Cultus der Staatskirche so karge Nah- 
rung, dass sich dort von jeher der grelle Gegensatz 
zwischen gedankenlosem Aberglauben und frivolem 
Nihilismus schroffer als bei uns entwickeln musste. 
Voltaire's Pucelle, Parny's Götterkrieg, Casti's redende 
Thiere , Eapisardi's Lucifero beweisen es , sie sind in 
dieser Hinsicht echt romanische Producte. Mit Parny's 
Buch hat der Lucifero nun eine nicht unverdächtige 
Aehnlichkeit. Seinem Vorgänger ist er an Geschmack 
der Form nicht ebenbürtig — Parny ist graciös, Kapi- 
sardi bombastisch — , aber an cynischer Entschlossen- 



— 246 — 

heit ist er ihm vergleichbar, an komischer Energie 
kommt er ihm nahe und die Leidenschaft hat er vor 
dem Franzosen voraus: man kann im Hassen und im 
Höhnen nicht leicht weiter gehen als Rapisardi. Zu- 
gleich aber fühlt und liest man es zwischen den Zeilen, 
dass der Herzog nach muss, weil der Mantel fallt, dass 
die Beligion ihrer Priester wegen abgeschlachtet wird. 
Damit sind nun auch in Italien viele Leser nicht ein- 
verfttanden. Der greise Schillerübersetzer Andrea Maffei 
hat dieser MissbüKgung Ausdruck gegeben, indem er 
seinem jungen Freunde ein energisches Distinguo ! zurief. 
In der Widmungsepistel seiner zweiten Auflage kleidet 
Bapisardi selbst diesen Einwurf in folgende Worte : 

„Ich billige den erhabenen Zorn deiner ersten Lie- 
der. Du hast die Hydra gepeitscht, die in den goldenen 
Sälen des Vaticans lauert, aber welch' ein Dämon hat 
dich heute verlockt, an der Quelle alles Lebens, an 
der Gottheit selbst dich ruchlos zu vergreifen? So 
unheimlich leuchtet dein Lucifer, dass jeder menschlich 
Fühlende mit vorgehaltener Hand das beleidigte Auge 
schützen muss. Verlassen wirst du leben: die Väter 
werden dir die zarten Herzen ihrer Elnaben nicht länger 
anvertrauen wollen, deine Getreuen selbst werden zwei- 
felnd deine Lehren vernehmen und kein Freundesantlitz 
mehr über deine Schwelle leuchten". 

„Derelitto viyrfti: da Tempia scuola 
Lnngi i padri terran le teneteHe 
Menti dei flgli ; e i pochi avdaci e fldi 
Tnonar con dnbitoso animo ndranno 
Da la cattedra tua gli empi precetti. 
Non rider& bu Tinfrequente soglia 
Di tue rigide case un rolto amieo". 



— 247 — 

Aber mit dem Gefühle Dessen, der seine SchifiFe 
schon verbrannt hat, antwortet unser Dichter seinem 
väterlichen Freunde, es sei einmal an der Zeit, der 
Jugend Italiens die kräftige Speise der Wahrheit vor- 
zulegen. Das sei der Zweck seines Dichtens und der 
Zweck seines Lehrens. Sein Glaube laute: „Gott ist 
Nichts, die Natur ist Alles. Unser Himmel ist die Erde 
und die Wahrheit unsere Nahrung". 

Che naUa h dio, che la natura 6 tatto, 
Che il ciel nostro h la terra e cibo il vero. 

Dieser Glaube nun sei das Resultat langer und 
ernster innerer Kämpfe. Er sei entschlossen, für ihn 
zu dulden. „Wenn mich Weib und Kind deshalb ver- 
lassen sollten, so würde ich, dem einsamen Wetterfelsen 
gleich, den Stürmen trotzen, bis eine höhere Gewalt 
mich zerschellt oder die heimische Erde mich ver- 
schlingt". 

Bevor wir den Lucifero verlassen, ist noch ein 
Wort über die litterarische Satire des elften 
Gesanges zu sagen. Der Held erreicht Florenz und 
wird in den Salon Egerias eingeführt, in welcher Rapi- 
sardi's florentinische Leser mit Hartnäckigkeit die Ge- 
mahlin ihres Bürgermeisters Peruzzi erkennen wollen. 
In jenem Salon triflFt Lucifero ausser Egeria eine emanci- 
pirte Dame, einen Philologen, einen Dantekenner, einen 
demokratischen Poeten (Prof. Carducci in Bologna), einen 
Feuilletonisten (den „Yorick" des FanfuUa, Advocat 
Ferrigni in Florenz), ein allwissendes Chamäleon (Angelo 
de Gubematis), endlich den Dichter Olimpio (Aleardo 
Aleardi), dessen Manier persiflirt wird. Lucifero macht 
sich schliesslich den Spass, Dante's Geist heraufzu- 



— 248 — 

beschwören, der denn die unhöfliche Rolle des Aeschylos 
in Aristophanes' Fröschen spielt und die verkommene 
Litteratur des neuen Italiens mit feierlicher Derbheit 
abkanzelt. 

Genus irritabile vatum! Der auch um die italie- 
nische Litteratur so verdiente De Gubernatis ist hier 
Opfer einer giftigen Invective geworden, die er durch 
ein unvorsichtiges Wort im Verkehre mit dem ihm 
früher befreundeten Dichter auf sein schuldloses Haupt 
herabgerufen. Seine kleine Gestalt, sein wallendes 
Haar, sein vorübergehendes Verhältniss zum Socialisten 
Bakunin, seine russische Heirat, alles das wird von 
dem racheschnaubenden Sicilianer schonungslos mitge- 
nommen. — "Begründeter und edler ist Rapisardi's Ven- 
detta an dem Verfolger des vielverfolgten Dali' Ongaro, 
Yorick-Ferrigni. Hier spricht das Gefühl der Dank- 
barkeit und der innigen Verehrung, und die abge- 
schnellten Pfeile fallen diesmal nicht auf den Schützen 
zurück. 

Von allgemeinerer Bedeutung ist der Ausfall auf 
Aleardo Aleardi; denn hier handelt es sich weniger 
um eine persönliche als um eine litterarische 
Satire. Der einst so gefeierte Lyriker hat heute seinen 
Ruhm in doppelter Weise überlebt, als Patriot und 
als Dichter. „Sie nannten ihn einst einen genialen 
Dichter", so schreibt Prof. Trezza in seinen 1877 er- 
schienen Studien, „heute machen sie ihm sogar den 
Namen eines Dichters streitig. Die patriotischen Kämpfe, 
auf deren Wogen seine Lieder getragen wurden, sind 
heute vorbei, und so erscheint nun auch der Dichter 
weniger gross. Er war wohl selbst darauf gefasst, dass 



— 249 — 

manche unter seinen Canzonen am Tage der Aufer- 
stehung Italiens sterhen müssten; aher vielleicht war 
er darauf nicht vorhereitet, dass unsere litterarische 
Fortentwicklung die phantastische Welt seiner Dichtung 
eben so rasch überflügeln könnte". Aleardi kam in 
dieser letzteren Beziehung zu spät und zu früh. Die 
romantische Revolution hatte sich erschöpft und die 
Form einer neuen, dem modernsten Gedanken ent- 
sprechenden Dichtung war noch nicht gefunden. 

Rapisardi nun gehört der jungen Generation an, 
die Aleardi's Manier als überholt betrachtet und neue 
Pfade zu entdecken sucht. Sein Lucifero beschäftigt 
sich mit Aleardi in folgender Weise: 

Der Dichter Olimpio ist die Sonne von Egeria's 
ästhetischem Kreise. Elegant, geschniegelt, geräuschlos 
gleitet der Gefeierte durch die Gruppen, nur ein dis- 
cretes Knistern der fein gearbeiteten Glanzlederstiefel- 
chen scheint der Menge zuzurufen: „Ecco il nume, 
adorate!" (Hier die Gottheit, betet an!) Es ist derselbe 
untadelhafte Stutzer, den so mancher Fremdling im 
Hörsaale des Istituto superiore in Florenz sich neugierig 
betrachtet hat, wenn derselbe zum Katheder empor- 
schwebte, das sauber geschriebene, kokett geheftete 
Manuscript aufschlug und die Ungeduld der harrenden 
Zuhörerschaar durch den vorläufigen „Dumb-show" von 
Handschuh und Taschentuch zu beschäftigen suchte. 
Doch Olmipio in Egeria's Salon schickt sich zu lesen an : 

„Egli ed ella eran due !" E|r und sie waren ihrer 
zwei! Wie der stolze, vom Wetterstrahle getroffene 
Erzengel brüllte entsetzlich in der dräuend grimmen 
Luft ein ersterbender Sturm, Aus der Erde düsterem 



— 250 — 

Schoosse, Einer nach dem Anderen, wie psabnodirende 
JMönche ihren blassen Zellen entsteigen, tauchten früh- 
lingwitternde Schwämme auf. Ihren beweglichen Mikro- 
kosmos auf den Schultern, winzigen pilgernden Atlan- 
ten gleich, wagten auch schleimige Schnecken sich 
hervor , die Pfeile ihrer Homer ausreckend. E r und 
«ie aber waren allein! AUeine betrachteten sie den 
rothen Todeskampf der untergehenden Sonne !" u. s. w. 

Olimpio's Vorlesung wird von enthusiastischem 
Beifallssturme aufgenommen. Lucifero aber, der ganzen 
Coterie nachgerade satt, beginnt einen Tisch zu rücken, 
um auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege das 
Urtheil des grossen Alighieri einzuholen. Das Orakel 
Dante's beginnt mit einem zufriedenen Blicke auf die 
Verwirklichung seiner Idee vom einigen Italien. Aber 
die heutige Kunst und Litteratur seines Vaterlandes 
kann er nicht loben. Sein erster Fluch gilt — der 
Zukunftsmusik. 

„Ein Ungeheuer kommt vom kalten Norden, schän- 
dend die göttliche Tonkunst, mit scheusslichem Kling- 
klang himmelantönend. Lärmend in lärmenden Tönen 
lärmet es so, dass unseren beleidigten Ohren Bomben 
und Kanonen wie süsse Harmonien klingen". 

Der Litteratur aber wird vor AUem ihre Knech- 
tung durch den französischen Einfluss vorgeworfen. 

„Ueber Berg und Thal ziehen Galliens hässlicbe, 
trunkene Musen, die leichtfertigen Eeize um schnödes 
Gold verschenkend. Ihre Sünde verstehen sie in gol- 
dene Schmeichelworte zu kleiden, mit Blumen ihre 
grinsende Hässlichkeit zu verhüllen. So wissen sie den 
Beifall der getäuschten Menge zu erschleichen". 



— 251 — 

Was wir Rapisardi zum Vorwurfe machen, ist der 
zweifelhafte Geschmack seiner geschraubten Bhetorik. 
Er gehört zu den Autoren, die sich die von Azeglio 
so energisch ausgesprochene Mahnung, seine Landsleute 
möchten doch einmal einfach und natürlich zu schrei- 
ben anfangen, nicht zu Herzen nehmen wollen. Den 
Splitter weiss er in Olimpio's Auge zu entdecken, den 
Balken im eigenen Auge sieht er nicht. Er wüthet 
gegen den französischen Einfluss, und doch ist es gewiss 
gerade dieser, der dem modernen Italiener die Muster 
geschmackvoller Darstellung zugeführt hat. Und in 
der That, Viele scheinen die Lection beherzigt und ver- 
standen zu haben. Die unglücklichen Nachahmer von 
Boccaccio's steifleinener Prosa sind heute verschwunden » 
Drama und ßoman halten sich an bessere Normen, 
und die italienische Lyrik hat 1877 unter dem Ein- 
flüsse Heine's und Musset's eine Blüthe getrieben, die 
auch in dieser Burgfeste des italienischen Bombastes 
eine Wendung zum Besseren ankündet. Ich meine die 
„Postuma" von Lorenzo Stecchetti (Bologna), der nur 
auf dem Titel seines Büchleins und im Nekrologe seiner 
schelmischen Vorrede gestorben ist, obgleich er uns 
genau „die dritte Cypresse rechts im Campo Santo" als 
sein Grab bezeichnet. Seine stark realistisch gehaltenen, 
erotischen Lieder bewegen sich zwischen den Polen 
dör sinnlichen Wonne und des bitteren Hohnes , aber 
das reizende IdyU „H Guado", welches die Furt des 
Waldbaches feiert, an dessen Kieselrande die Liebe 
den Dichter zum ersten Male knechtete, beweist uns, 
dass ihm auch die reinen und die milden Elänge keines- 
wegs fremd sind. Die durchsichtige und zugleich färben" 



, — 252 — 

gesättigte Form gibt dem neuen Lyriker ein Recht, 
sich einen Schüler Byron's, Musset's und Heine's zu 
nennen. („Stecchetti dimenticava troppo spesso il Codice 
per Byron, Heine et de Musset che egli chiamava la 
sua Trinitä", Vorrede, Seite 2.) 

Etwas älter als Eapisardi und heute bald ein Vier- 
ziger, ist der Romandichter Verga. Er stammt aus 
einer begüterten Familie der höheren Bourgeoisie Ca- 
tania*s. Von jeher der leidigen Nahrungssorgen enthoben, 
lebte Verga bald in der besten Gesellschaft Mailands, 
wo er dem Kreise Andrea Maffei's angehörte, bald in 
Florenz, woselbst er im Sommer 1869 seinen ersten 
durchschlagenden Erfolg, die „Capinera" schrieb und 
mit Dali' Ongaro bekannt wurde. Seither wohnt Verga 
meist in seiner Heimat. Seine Junggesellenwohnung 
in Catania zeichnet sich durch einen Comfort aus, wie 
man ihn selten in sicilianischen Wohnungen trifft. 

Auch Verga ist ein sicilianischer Typus, dunkel 
und schwarzäugig; die etwas geckenhaft gepflegten, 
nach dem Gesicht zugekämmten Schläfenhaare und der 
aufgedrehte Schnurrbart beginnen in's Graue zu spielen. 
Verga ist ein Mann von bestem Tone und elegantester 
Haltung, ein „oompito cavaliere". Man sagt, er ver- 
stehe es, den Weibern so zart entgegenzugehen, dass 
dem jungen Manne Erfolge zu Theile geworden, die 
seiner dichtenden Phantasie heute mit allerlei brauch- 
baren Reminiscenzen entgegenkommen. An der Reali- 
tät seines hartnäckigen Junggesellenthums soU aber 
wiederum die Dichterphantasie schuld sein. Diese könne 
sich das Ehestandsglück nicht denken ohne die reiche 
Umgebung eines luxuriösen Hausstandes. Die Geliebte 



— 253 — 

seines Herzens in ein knappes eheliches Dasein zu locken, 
betrachte er als eine ruchlose Ejriegslist. Ich sah eines 
seiner Manuscripte. Die Handschrift ist so fein und 
langgezogen, dass ihre Blätter dem kurzsichtigen Auge 
wie linirt erscheinen. Die Setzer von Verga's Bomanen 
müssen so wenig zu beneiden sein wie diejenigen Bal- 
zac's, von welchen Grautier berichtet, sie hätten nie 
länger als eine Stunde „Balzac" arbeiten woUen. 

Verga begann mit einer Carbonari- und einer Liebes- 
geschichte („H Carbonari della Montagna" und „Storia 
di una peccatrice") , die er seine beiden Jugendsünden 
nennt und von denen er heute nicht gerne reden hört. 
Sie erschienen in Catania schon vor 1865. Verga's erste 
bedeutende Leistung: „Storia di una Capinera", entstand, 
wie schon gesagt worden, im Sommer 1869 unter dem 
Einflüsse DaU.' Ongaro's. Dieser leitete denn auch die 
erste Auflage mit einem Vorworte ein. Vor kurzem 
(1877) ist diese Novelle in dritter Auflage bei Treves 
in Mailand erschienen. 

„Ich sah einmal", so beginnt der Erzähler, „eine 
arme Grasmücke in ihrem Käfige. Sie war schüchtern, 
traurig, abgehärmt. Obwohl von ihren Kerkermeistern, 
den Kindern des Hauses, gut gehalten und liebevoU 
gepflegt, musste sie sterben, weil ihr die süsse Frei- 
heit entzogen war. Als nun eines Tages die Mutter 
jenes Kindes mir die Geschichte eines unglücklichen 
siciüanischen Mädchens erzählte, deren Leib die Kloster- 
mauern umschlossen, deren Seele die Liebe und der 
Aberglaube zu Tode quälten, — eine jener inneren 
Geschichten, welche tagtäglich unbeachtet an uns vor- 
überziehen, die Kränkengeschichte eines zarten und 



— 254 — 

eingeschüchterten Gemüthes, das der Schmerz umklam- 
mert und endlich erdrückt, — da gedachte ich der 
Geschichte jener armen Grasmücke, die durch die 
Gitterstäbchen jenes Käfigs voll Sehnsacht nach dem 
blauen Himmel blickte, bis sie das Köpfchen unter den 
Flügel barg und verschied. 

Deshalb nenne ich meine Geschichte die „Geschichte 
einer Grasmücke'^ 

Diese erste Novelle Verga's ist in Briefen ver- 
fasst, welche Maria an ihre Freundin Marianna richtet. 
Maria, von ihrem Vater zur Nonne bestimmt, hat die 
Klosterschule in Catania auf kurze Zeit verlassen, um 
auf dem Landgute des Täters und der Stiefmutter die 
schlimme Cholerazeit von 1867 zu passiren. Hier haust 
sie in ungebundener und sorgloser Freiheit, im innigen 
Verkehr mit der Natur, durchstreift an der Seite ihres 
treuen Hofhundes Feld und Wald, theüt die geseUigen 
Freuden des Hauses, fühlt endlich die Macht der ersten 
Liebe. Von einer Leidenschaft gepeinigt, deren sie sich 
nur allmählich bewusst wird, gefoltert von den Vor- 
würfen religiöser Beschränktheit, zu schüchtern, um 
ihren Widerwillen gegen das BQosterleben kund zu 
geben, wird sie in ihren Kerker zurückgebracht, wo Gram 
und eine abergläubische Phantasie sie langsam verzehren, 

Mit vieler Kunst und grosser Feinheit hat Verga 
die sittlichen Conflicte entwickelt und ohne Hand- 
lung eine spannende Novelle geschaffen. Die Sprache 
ist einfach schön und das Büchlein so reinen Inhalts, 
dass es jeder Leserin darf geboten werden. 

Wenn es wahr ist, dass Bomane sociale Missstände 
einzudämmen im Stande sind, so wird das hier einge- 



— 255 — 

legte Wort für die Beeilte der Natur gegenüber den 
Entscheidungen finsteren Zwanges hoffentlich auch in 
Italien gewirkt haben. 

Wir bedauern, dass Verga die hier betretene Bahn 
der psychologischen Novelle so bald verlassen hat. 
So häufig begegnet es den Dichtern, ihre ungerathenen 
Kinder am meisten zu Heben! Verga hält sich heute 
für berufen, im französischen Genre, im Gesellschafts- 
und im Liebesromane seine Siege zu suchen. Die ^^va", 
der „Eros" und der „Königstiger" mögen ihre Ein- 
tagserfolge durch ihre glatte und elegante Form und 
die dramatische Wirkung einzelner Scenen rechtfertigen, 
aber ihre Anlage bleibt eine skizzenhafte; jene Ver- 
tiefung der Charaktere, der Situationen und des Hinter- 
grundes, welche ein grosses Talent bekundet, und welche 
einige Somane Bersezio^s so hervorragend auszeichnen, 
— sie wird in den genannten Leistungen Verga's um- 
sonst gesucht. Er kennt allerdings das italienische High 
Life aus eigener Anschauung, und mit Eleganz und 
Gewandtheit beherrscht er dessen Sprache, aber die Er- 
findung bleibt eine massige und die Entwicklung eine 
äussere, was bei dem kritischen Leser den Eindruck 
d^r Flachheit zurücklassen muss. 

Soeben habe ich Verga's letzte Publication, das 
1877 erschienene Bändchen „Primavera" gelesen. Es 
besteht aus vier kleinen Novellen, unter welchen die 
letzte (Nedda), eine reizende sicilianische Dorfgeschichte, 
bei weitem die beste ist. Hier begegnen wir wieder 
dem feinfühlenden Verga der Capinera, dem Maler der 
sicilianischen Landschaft und dem poetischen Freunde 
der Verlassenen, Ich füge hier mit einigen Kürzun- 



— 256 — 

gen den Eingang dieser Novelle in meiner Ueber- 
setzang bei. 

Wir befinden uns am Abhänge des Aetna im 
grossen Meierhofe Pino. Es ist ein unfreundlicher 
Herbstabend. Eine lodernde Flamme brennt im ge- 
räumigen Kamine. 

„Der Begen fiel und zornig brüllte der Wind. 
Zwanzig bis dreissig Mädchen, welche die Olivenlese des 
Gutes besorgten, Hessen ihre nassen Gewänder am 
Feuer dampfen. Die munteren unter ihnen, das heisst 
diejenigen, welche Kupfer in den Taschen fühlten oder 
verliebt waren, trällerten und sangen; die anderen 
plauderten von der Olivenlese, die diesmal schlecht aus- 
gefallen war, von den Heiraten im Dorf e oder vom Regen, 
der sie am Arbeiten hinderte und ihnen so das Brod 
aus dem Munde stahl. Die alte Pächterin spann, damit 
die grosse am Kaminmantel befestigte Laterne nicht 
umsonst zu brennen hätte. Der grosse wolfgraue Hund 
reckte die unfreundliche Schnauze über die vorderen 
Pfoten nach dem Feuer hin und spitzte die Ohren bei 
jedem erneuerten Heulen des Windes. 

Während die Minestra im Kessel brodelte, begann 
der Schäfer einen ländlichen Tanz aufzuspielen, der 
zwickend in die. jungen Beine fuhr. Ueber die losen 
Backsteine der grossen russgesohwärzten Küche erging 
ein Tanzen, das dem Wolfshunde, der mehr als einen 
Fusstritt auf den Schweif besorgte, ein vorläufiges Murren 
entlockte. Die Eöcke und die Lumpen flogen lustig und 
die Bohnen tanzten ihrerseits im grossen Kessel, brodelnd 
in ihrem Schaume, dessen Gesprühe die Flamme knistern 
machte. Als die Mädchen des Tanzens müde waren, kam 



— 257 — 

die Eeihe wieder an's Singen: „Nedda, Nedda! wo 
steckst du, Varrannisca !" 

„Hier", versetzte eine kurze Stimme aus dem 
dunkelsten Winkel, in welchem auf einem Reisebündel 
ein Mädchen kauerte. 

„Was treibst du da drüben?" 

„Nichts". 

„Warum hast du nicht getanzt?" 

„Weil ich matt und müde bin". 

„Sing uns eines deiner hübschen Liedchen", 

„Ich mag nicht singen". 

„Was hast du denn?" 

„Nichts". . 

„Ihre Mutter liegt am Sterben", sagte Eine, als 
hätte sie gesagt: „Die Zähne thun ihr weh". 

Das Mädchen, dessen Kinn auf seinen Knien ruhte, 
heftete zwei grosse, schwarze, blitzende, aber starre und 
thränenlose Augen auf die Sprecherin, senkte sie dann 
wieder, ohne den Mund zu öffnen, auf ihre nackten 
Füfise. 

„Warum hast du denn deine Mutter verlassen?" 

„Um Arbeit zu finden. Der Doctor, die Medicinen, 
das tägliche BrodI" — sagte Nedda, und etwas Kla- 
gendes durchzitterte zum ersten Male ihre rauhe, fast 
wilde Stimme. „Müssig auf dieser Schwelle den Sonnen- 
untergang zu erwarten, zu denken, dass kein Brod im 
Schranke ist, kein Oel in der Lampe, köine Arbeit 
für morgen, das ist bitter, — wenn unterdess die arme 
Alte krank zu Hause liegt". 

Nedda schwieg, schüttelte ihr Haupt, und ihr Auge 
blieb starr und trocken. 

H. B. 17 



— 258 — 

„Eure Näpfchen, ihr Mädchen!" rief jetzt die Päch- 
terin, indem sie feierlich den Deckel vom Kessel hob. 

Alle drängten sich zum Herde, wo die Pächterin 
mit weiser Sparsamkeit die Bohnen auszutheilen begann. 
Nedda, mit ihrem Näpfchen unter dem Arme, wartete 
bis zuletzt. Endlich trat auch sie heran und die Lohe 
des Herdes beleuchtete sie plötzlich mit grellem Scheine. 

Es war ein schwarzes, recht elend gekleidetes Kind. 
Sie zeigte jene echüchterne und zugleich rauhe Haltung, 
welche Noth und Verlassenheit geben. Sie wäre viel- 
leicht schön gewesen, wenn Mühsal und Elend ihr nicht 
das Weibliche, ich möchte sagen das Menschliche ge- 
raubt hätten. Ihre Haare waren pechschwarz, dicht und 
wild, von einem Bindfaden kaum zusammengehalten. 
Schneeweisse Zähne und eine rohe Schönheit der Ge- 
sichtslinien verliehen ihrem Lächeln etwas Anziehendes. 
Die grossen schwarzen Augen hätte vielleicht eine 
Königin dem auf der letzten Sprosse der menschlichen 
Leiter kauernden Dinge geneidet, wären sie nicht durch 
die Gewohnheit des stillen Duldens starr und stupid 
geworden. Die von übermässigen Lasten ausgerenkten 
und von schmerzlichen Anstrengungen gewaltsam ent- 
wickelten Glieder waren grob und plump, ohne deshalb 
stark zu sein. Die härteste Arbeit war Nedda's Loos. 
Wenn sie nicht Steine schleppte, so trug sie Lasten 
zur Stadt oder verrichtete irgend eine andere Arbeit, 
die der Mann unter seiner Würde hält. Weinlese, 
Ernte imd das Einsammeln der Oliven waren ihre Feste, 
— mehr eine Erholung als eine Strapaze. Allerdings 
warfen diese Arbeiten kaum die Hälfte ihres Hand- 
langerlohnes snir Zeit der Sommertage ab, der, wenn 



— 259 — 

es gut ging, die Höhe von dreizehn Soldi erreichte. 
Die Lumpen, die sie am Leibe trug, machten ihre Er- 
scheinung vollends grotesk und Niemand hätte das 
Alter des armen Geschöpfes anzugeben vermocht. Das 
Elend hatte aus ihr gemacht, was es aus ihrer Mutter 
und aus ihrer Grossmutter gemacht, was es wiederum 
aus ihrem Kinde machen sollte. Verstand blieb ihr gerade 
genug, um die Befehle eines Gebieters zu verstehen. 

Nedda reichte ihr Näpfchen hin und die Bäuerin 
schöpfte ihr den Bodenrest, der nicht bedeutend war. 

„Weshalb kommst du auch immer zuletzt ! Weisst 
du noch nicht, dass die Letzte mit dem Reste vorlieb 
nehmen muss?" 

Das Mädchen senkte die Augen auf die dampfende 
Brühe ihres Napfes, als ob sieden Vorwurf verdient hätte. 

„Verdammter Regen, der uns den Tagelohn stiehlt", 
brum9ite unterdessen eine Stimme. Drei gute halbe 
Tage wird der Verwalter am Wochenlohne abziehen". 

Dem Zustimmungsgemurmel, das bei diesen Worten 
sich erhob, machte die alte Pächterin durch Anstimmen 
des Rosenkranzes ein Ende; die Ave Maria's folgten 
sich in einförmigem Gesumme, das nur hie und da ein 
schlecht unterdrücktes Gähnen durchbrach. Nach den 
Litaneien kam das Gebet „für die Lebenden und die 
Todten". Nedda's Augen füllten sich mit Thränen und 
sie vergass das Amen der Antwort. 

„Was soll das heissen, nicht Amen antworten!" 
herrschte ihr die Alte in hartem Tone zu. 

„Ich dachte an die Mutter, von der ich so ferne 
bin", stammelte Ned'da erschrocken. 

Nun gab die Pächterin ihrer Schaar die „santa 



_ 260 — 

notte", nahm die Laterne herab und entfernte sich. 
Beim Aufleuchten der letzten Flammen des grossen 
Herdes richtete man sich zum Schlafen ein. 

Vor Tagesanbruch erhoben sich die Rührigsten, 
um nach dem Wetter zu schauen, und die jeden Augen- 
blick auf- und zuschlagende Thüre sandte eisige Regen- 
und Windschauer über die hälberstarrten Körper der 
noch Schlafenden. Mit dem ersten Morgengrauen er- 
schien der Pächter, die Saumseligen zu wecken. 

„Es regnet", war das trübe Wort, das von Mund 
zu Mund lief. Nedda lehnte am Thore und starrte in 
die bleiernen Wolken, welche bkugraue Dämmerungs- 
reflexe auf ihre Gestalt warfen. 

„Wieder ein verlorener Tag!" seufzte ein Mädchen, 
indem sie einen herzhaften Biss in ein grosses Stück 
Schwarzbrod that. 

„Die Wolken theilen sich dort unten am Meere", 
bemerkte Nedda, den Arm ausstreckend. „Gegen Mit- 
tag vielleicht wird das Wetter sich bessern". 

„Ich wollte lieber Regen den ganzen Tag", meinte 
eine Andere, „als einen halben Tag im Kothe arbeiten 
für drei oder vier Soldi". 

„Dir sind drei oder vier Soldi gleichgültig!" rief 
Nedda traurig aus. 

Samstag Abends drängte sich das ganze Gesinde 
um den Zahltisch des Verwalters, auf welchem neben 
einer Lage kleiner Bankscheine ein paar lockende Säul- 
chen Kupferstücke winkten. Die ungestümen Männer 
wurden zuerst befriedigt, dann die streitbaren Weiber, 
zuletzt die Schüchternen und die Schwachen. 

Nachdem der Fattore alles bedächtig ausgerechnet, 



~ 261 — 

vernahm Nedda, dass nach Abzug von zwei und einem 
halben Tage unfreiwilliger Rast ihr noch vierzig Soldi 
verblieben. 

Das Mädchen wagte nicht den Mund zu öffnen, 
aber Thränen quollen ihr aus den Augen. 

„Du klagst noch obendrein, du Heulerin!" rief der 
Fattore mit dem barschen Tone eines Dieners, dem 
die Interessen seines Herrn am Herzen Hegen. „Ich 
bezahle dich ja wie die G-rossen, und doch bist du 
elender und kleiner als alle Anderen". 

„Ich klage nicht", versetzte Nedda kleinlaut, indem 
sie die wenigen Kupferstücke einsteckte, die ihr der 
Fattore, um den Werth der Zahlung zu erhöhen, ein- 
zeln vorgezählt hatte. „Das schlechte Wetter hat mir 
die Hälfte meines Verdienstes geraubt". 

„Das geht unsern Herrgott an !" versetzte in hartem 
Tone der Verwalter. 

„Nicht den Hergott, mich geht's an, mich Arme!" 

„Bezahlt dem armen Kinde die ganze Woche", 
raunte dem Verwalter der Sohn des Gutsherrn zu, wel- 
cher der Olivenlese beiwohnte. „Es sind ja nur wenige 
Soldi Differenz", 

„Ich darf ihr nichts als ihren Lohn auszahlen!" 

„Aber wenn ich dich heisse!" 

„Alle unsere Nachbarn würden mir und Ihnen den 
Krieg erklären, woUten wir was Neues einführen!" 

„Hast recht", murmelte der Sohn des Gutsbesitzers, 
eines reichen mit vielen Nachbarn gesegneten Mannes. 

Nedda sammelte ihre Lumpen und machte sich auf. 

„So spät willst du noch heim?" fragte sie ein 
Jlädchen, 



— 262 — 

„Die Mutter ist so kra^k!" lautete die Antwort. 

„Hast du nicht Angst?" 

„Wegen der Kupferstücke, freilich, in meiner 
Tasche. Aber die Mutter ist so krank!" 

„Soll ich mit dir gehen?" fügte in grobscherzen- 
dem Tone ein junger Hirt ein. 

„Ich geh mit Gottes und der Maria Schutz", sagte 
das Mädchen gelassen und schlug den Feldweg ein. 

Die Sonne war untergegangen und die Schatten 
stiegen rasch am Berge empor. Bald ward es finster. 
Nedda hub zu singen an wie ein erschreckter Vogel. 
AUe zehn Schritte horchte sie ängstlich auf, wenn ein 
durch den Eegen gelockerter Stein sich vom Gemäuer 
löste oder der Wind ihr die Kegentropfen von den Bäu- 
men in's Gesicht schüttelte. Ein Käuzchen folgte ihr 
von Baum zu Baum mit seinem klagenden Liede, und 
sie, dieser Gesellschaft froh, suchte den Vogel zu locken, 
damit er bei ihr bleibe. Kam sie an einem neben seiner 
Fattoria stehenden Kappellchen vorbei, so sandte sie ein 
rasches Ave Maria dem Bilde der Heiligen zu, indem 
sie zugleich gegen den möglichen Ausfall des hinter 
der Mauer wüthenden Hundes ihre Vorsichten traf. 
Dann eilte sie weiter und blickte noch zwei, dreimal 
zurück zum mattschimmernden Lämpchen, das der Hei- 
ligen huldigte und zugleich dem spät aus den Feldern 
heimkehrenden Fattore leuchten sollte. Das Lämpchen 
flösste ihr neuen Muth ein und trieb sie zu neuem Ge- 
bete für die Mutter. Von Zeit zu Zeit zuckte es schmerz- 
lich in ihr auf, dann erst beschleunigte sie ihre Tritte, 
sang, um den Kummer zu betäuben, aus voller Kehle, 
dachte an die frohen Tage der Weinlese oder an die