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PROPERTY OF
jWam,
»817
l:
ARTES SCIENTIA VERITAS
Aus
neuern Litteraturen
Von
Hf Breitinger.
\
V , -S -•^■■\> t
Zürich,
Druck und Verlag von Friedrich Schnlthess.
1879.
11
kV
« •
/383
hlialtsveneichniss.
Seite
1. Der Salon Bambouillet und seine cnlturgeschichtlicbe Bedeutung 1
2. Eine deutsche Prinzessin am Hofe Ludwigs XIY. . 55
3. Die Entwicklung des Realismus in der französichen Dichtung
des 19. Jahrhunderts 84
.4. Paul Louis Courier, der Pamphletist der französischen Bour-
geoisie 129
5. Pierre Lanfrey*) 158
6. Frau Ton Stael und George Sand 185
7. Edmondo de Amicis 205
8. Zwei sicilianische Belletristen 239
*) Zu pag. 182. Ein fünfter Band der Histoire de Napoleon
erschien 1875. Er umfasst die Ereignisse von 1809—1811.
Der Salon Rambouillet nnd seine cnltur-
gescMcMche Bedeutung.
'er französische Hof, sowie er im ersten Decen-
nium des XVII. Jahrhunderts, d. h. in den letzten zehn
Jahren von Heinrichs I V. Regierung uns entgegentritt,
war nichts wenigerö-ls ein Mittelpunkt eleganter Formen
und feiner Bildung. In der That, nach fünfzigjährigen,
Innern und äussern Kriegen liess sich die Verwilderung
der Sitten, die soldatische ßohheit der Zeltkameraden
des ritterlichen Königs nur allzu gut begreifen. Kraft
war da die Menge, aber sie entbehrte jeder Anmuth,
jeder Sitte. Mit zunehmenden Jahren hatten Heinrichs
Leidenschaften an Stärke nur gewonnen, und dem Höf-
linge empfahl sich die Liederlichkeit als eine Form der
Schmeichelei. Nicht minder roh als das Leben waren
die Formen und die Sprache des Umgangs. Die sol-
datische Derbheit verlor sich gerne ins unfläthig Ge-
meine, und statt einer reinen und einheitlichen Sprache
herrschten die manigfachsten lokalen Ausdrucksweisen,
das wunderlichste Gemisch entgegengesetzter Ausspra-
chen. Was Einzelne anstrebten und erreichten, bildet
einen schneidenden Gegensatz zum Gemeinbesitz der
H. B. 1
/>*
.c^1
— 2 —
Menge. Während beispielsweise der Dichter Malherbe
reine und wohlklingende Verse schreibt, strotzen die
Memoiren und die Briefe seiner Zeitgenossen von Bar-
barismen und Solöcismen. Tief stand der höhere Klerus
— meist von der Earche lefbende Kinder des Adels —
tief auch die Erziehungsstätten des weiblichen G-e-
schlechtes, die Klöster, welche durch allerlei schreiende
Missbräuche in argen Verfall gerathen waren.
Einer hochgebildeten und edlen Frau war es vor-
behalten, den Kampf mit der Unsitte aufzunehmen und
durch die Macht ihrer Persönlichkeit auch siegreich
durchzuführen. *)
') Vorstehender Aufsatz beabsichtigt die caUnrgeschichtlichen
und biographischen Momente zasammenzasteUen, ohne deren Kenntniss
das Verstehen desjenigen, was die Literajtnrgeschichte über die ein-
schlagende Epoche mittheilt, ein mangelhaftes bleiben Inuss. Er ist
eine vorwiegend ans folgenden Monographien und direkten QaeUen
gesammelte Lesefrncht: Livet, Pr^cienx et Pr6cienses, 1859. — Cousin^
La socidt^ frangaise an XVII. sifecle, d'aprfes le Grand Cyrus de MUe.
de Scnd^ry, 1856, — La jennesse de Me. de Longneville, — Me. de
Hantefort, — Me. de SabW, — Me. de Chevrense. — Walckenair,
M^moires tonchant la yie et les Berits de Me. de Sävign^, 1852. —
Histoire de TAcad^mie fran^aise par Pellisson et d'Olivet avec des
notes par Livet, 1858. — Rathery^ Inflnence de l'Italie snr les Lettres
fran^aises, 1853. — Puibusque, Histoire compar^e des litt^ratnres
espagnole et frangalse, 1843. — Demogeot, Tableaa de la litt^ratare
fran^aise an XVII. Si^cle avant Corneille, 1859. — Tascher au, Vies
de Corneille et de Moliere. — Pritsche, Molifere-Stndien , 1868. —
Moland, Moliere et le Theätre Italien, desselben Ausgabe Moliere's. —
Tallemant de Reaux, Les Historiettes, ed. Tascherau, 1834. — Voiture,
Les Lettres, 1657. — Balzac, oeuyres, 1665. — Memoiren aus der
Collection Petitot. — Ä, Perez, Obras y relaciones, 1644. — Somaize,
Dictionnaire des Pr^cieuses et autres piöces, nony. edition par Livet,
1856. — Colonibey, La Journ^e des Madrigaux, suivie de la gazette
de Tendre, 1856.
— 3 —
Katharina von Vivonne war die einzige Tochter des
Johannes von Vivonne, Marquis von Pisani, und der
Julia . Savelli , einer vornehmen Römerin. Sie wurde
1588 zu Rom gehören, heirathete 1600 im Alter von
zwölf Jahren Karl von Angennes, Marquis von Ram-
houillet, und war mit dreizehn Jahren Mutter. Ahge-
stossen von dem lärmenden Treiben eines mit vielen
rohen Elementen versetzten Hofes, zog sich Frau von
Bamhouillet gegen 1608, etwa im zwanzigsten Lebens-
jahre, immer ausschliesslicher in die StiUe ihres Palastes
und den Frieden ihrer Familie zurück, suchte und fand
Belehrung und Grenuss im Umgange mit den Dichtern
Malherbe und Racan, im Studium der italienischen,
spanischen und französischen Literatur, sowie im täg-
lichen Verkehre ausgewählter Freundinen und Freunde.
So wurde «ie in kurzer Zeit zum Mittelpunkte einer
glänze?#en GreseUschaft, und die jüngeren Glieder jenes
Hofes, den sie selbät gemieden, füllten nun ihrerseits
die Säle des Hotel Rambouillet. Dieses vornehme Haus
scheint den ersten, eine Zeit lang wohl auch den ein-
zigen Pariser- Salon beherbergt zu haben, wenigstens
lässt sich in dieser frühen Zeit das Vorkommen anderer
Gesellschaften nicht nachweisen. Aus dieser Thatsache
sowohl als aus dem Verlangen der jüngeren Generation
nach eleganteren Umgangsformen und nach einem
idealeren Inhalte des Lebens erklärt sich das rasche
Emporblühen unseres hocharistokratischen' Kreises.
Hier zuerst *also zeigte sich ein feiner Ton im
gesellschaftlichen Verkehre der Geschlechter, hier zu-
erst machte sich der sittigende Einfluss der Frauen
auf die Männer des Degens und auf die Männer der
V
— 4 —
Feder geltend, hier "bildete sich die Kunst der Conver-
sation, die Technik der Umgangssprache aus. Die Ari-
stokratie des Geistes erlangte hier zum ersten Male
eine gewisse Geltung und eroberte sich ihr Bürgerrecht.
Diese Entwicklung ist aher keine ausscyiesslich natio-
nale; denn Spanien und Italien beherrschen noch Ge-
schmack und Sitte. Unter diesen fremden Einwirkungen
wird eine conventionelle Galanterie geboren, deren
Stempel alles, was geschrieben und gesprochen, ge-
dichtet und geplaudert wird, nur selten verleugnet.
Der schönen Literatur wird ein reges Interesse zu
Theil. Wenn man selbst im Schreiben sich versucht,
so wird mehr an der Form gearbeitet, als für den In-
halt gesorgt; mitunter will es scheinen, als lege man
es darauf an, in zierlichen Wendungen nichts zu sagen.
Die spanische Gespreiztheit und das italienische Raffine-
ment beeinträchtigen stark die natürliche Einfachheit
des Ausdrucks. Schreibt man aber nicht des Ruhmes
wegen, sondern zu alltäglichen, praktischen Zwecken,
so findet sich schnell und ungesucht eine natürliche
Sprache ein.
t Um 1620 hat diese Gesellschaft den Höhepunkt
ihrer Blüthe erreicht und dreissig Jahre dauert die
Periode ihres Glanzes, bis durch den Tod oder die ort-
liehe Trennung ihrer bedeutendsten Glieder, durch den
Ausbruch des Bürgerkrieges, der Fronde, ihre Existenz
an der Wurzel bedroht und auf einen Schatten der
früheren Bedeutung zurückgeführt w4rd.*)
*) Cousin, Soc. fr. 1, 271. II nons semble que c'est vers 1617
on 1618 et tr^s certaioemeQt ave^nt 1620 qu'on doit placer les com-
— 5 —
Um ein Bild von dem Zusammenleben unseres
Kreises zu gewinnen, müssen wir vorerst die Personen
zu kennen suchen, welche allabendlich die Assembl6e
— dies war der technische Ausdruck — der Marquisin
von Eambouillet besuchten.
Frau von Rambouillet war eine imposante Erschei-
nung, gross, schön, gewinnend. Sie hatte die sorg-
fältigste Erziehung erhalten, sprach Italienisch als die
Sprache ihrer Mutter, hatte sich das Spänische gründ-
lich angeeignet und trug sich mit dem Plane, auch
Lateinisch zu lernen, um den Virgil in der Ursprache
lesen zu können, als ihre zunehmende Kränklichkeit
sie von der Ausführung desselben immer weiter ent-
fernte. Besondere Vorliebe besass sie für das Theater,
für dramatische Aufführungen. Auch soll sie eine gute
Zeichnerin gewesen sein. Zwischen 1610 und 1617
Hess sie das Hotel Pisani in der Strasse Saint-Thomas
du Louvre, das also in unmittelbarer Nähe der könig-
lichen Residenz, des Louvre, sich befand, niederreissen
und an dessen Stelle ein neues, ihrem Schönheitssinne
entsprechendes Gebäude, dessen Plan sie selbst ent-
worfen hatte, aufführen. Sie führte als Neuerung ein,
dass die grosse Treppe nicht in der Mitte des Hauses,
sondern auf der Seite emporstieg, wodurch geräumige
Säle gewonnen wurden. Hier war denn das berühmte
blaue Empfangszimmer der Marquisin mit seinen bis
mencements de la c^l^bre soci^tä de RamboniUet. N^e avant 1620
eUe Jette le plus grand 4clat pendant trente ann^es, jusqu'ä ce qne
k la ftn suryiennent presque coup sur coup le mariage de Me. de
Montausier en 1645, la Fronde en 1648, la mort du Marquis de Ram-
bOQÜlet 1652, la yieillesse et les infirmitäs de la Marquise.
' /.
— 6 —
zum Boden und bis zur Decke reichenden Fenstern,
seinen von allerlei Raritäten strotzenden Cabineten,
seinen vielbewunderten Lampen, seiner vom Dufte zahl-
loser Blumen immer parfümirten Atmosphäre, seinem
auf koketten Säulen ruhenden Alkovendache zu finden.
— Die schöne Frau, die dieses Feenschloss bewohnte,
bewahrte ihre Anmuth bis ins höchste Alter. Aber
noch edler als ihre Erscheinung war ihr Charakter
Sie war freundlich, heiter, selbst zu launigen Scherzen
aufgelegt. Vorsichtig in der Auswahl ihrer Freunde,
blieb sie den einmal Erwählten unverbrüchlich treu.
Als Richelieu's unheimlicher Agent, der berüchtigte
Kapuziner Joseph, ihr im Auftrage seines Meisters zu-
zumuthen kam, seiner Eminenz dem Cardinal Spionen-
dienste im eigenen Hause zu leisten, schickte sie den
Pater mit einer eben so muthigen als geschickten Ant-
wort zu seinem Herrn zurück. Sie war aufrichtig fromm
und eine treffliche Mutter ; mit Todesverachtung wartete
sie ihres pestkranken, Jüngern Sohnes, bis er starb.
Ihre Herzensgüte zeigte sich in ihrer Neigung zu über-
raschen, sei es mit einem gesellschaftlichen Genüsse,
sei es mit einer heimlichen Wohlthat. „Meine grösste
Freude", pflegte sie zu sagen, „ist den Leuten Geld
zu schicken, ohne dass sie erfahren, woher es kommt."
— Seit ihrem fünfunddreissigsten Jahre hatte sie viel
mit ihren Nerven zu schaffen. Sie konnte weder die
Sommersonne noch das Kaminfeuer ertragen, musste
daher an schönen Sommertagen in der dunkeln Kühle
ihres Alkovens (sie soll diese spanische Einrichtung
in Paris eingeführt haben) verbleiben und ihren lie-
ben Spazierfahrten in der Umgebung der Hauptstadt
— 7 —
entsagen, im kalten Winter dagegen ferne vom wohl-
thuenden Feuer sich halten. Ihre zunehmenden Leiden
scheinen ihren fröhlichen Humor allmählig aufgezehrt
zu haben; denn als sie 1665 starb, hinterliess sie ein
gramschweres Epitaphium, das keinem ihrer Lebens-
tage den Namen eines glücklichen und ungetrübten
gönnen will.
Die älteste und die jüngste Tochter der Marquisin,
Julie und Ang^ligue, begegnen uns zunächst an der
Seite ihrer gefeierten Mutter- Erster e wurde bekannt-
lieh 1645 Gemahlin des Herzogs von Montausier,
letztere die zweite Gattin jenes Herrn von Grignan,
dter in dritter Ehe die Tochter der Frau von S6vign6
heirathete., Beide Schwestern scheinen nur geringe
Neigung zum Aufgeben ihrer Amazonenfreiheit gehegt
zu haben. Julie liess ihren Montausier dreizehn Jahre
schmachten, und nachdem er endlich den Protestantis-
mus abgeschworen, entschloss sie sich, scheint es, nur
ihrer Mutter zu Liebe, seine exemplarische Ausdauer
zu belohnen. Ang^lique scheint weniger leutselig als
ihre Schwester gewesen zu sein, sie trieb die Prüderie
am weitesten, besass die Vorzüge und Mängel eines
„Enfant terrible" und, was ihren Geschmack anbelangt,
so gereicht es ihr nicht zur Unehre, die langen Predigten
und die schlechten Bücher gehasst, dagegen Malherbe,
Corneille und später Meliere besonders geliebt zu haben.
Ln Jahre 1625 oder 1626 wurde von Godeau Mite.
Faulet eingeführt, die Tochter eines Patriziers, der als
Sekretär Heinrichs IV. ein grosses Haus gemacht und
dabei ein grosses Vermögen durchgebracht hatte, im Jahre
1609 schon von Frau von Rambouillet beachtet, als sie
~ 8 —
in Arions Rolle auf einem Delphine sitzend, den ganzen
Hof mit ihrer herrlichen Stimme entzückte. Gross und
schön, lehhaft, energisch, zuweilen stürmend, von röth-
lich hlonden Haaren, und wie ihr Pathenkind Angelique
eine entschiedene Amazone, passte Angelique Faulet
ganz in einen Kreis, der die Galanterie nur als elegante
Form des Umganges gelten liess. Man nannte sie die
schöne Löwin; der Marquisin diente sie als Secretär
und war mit dieser wie mit Fräulein von Scudery
innig befreundet. Sie starb unverhöirathet 1650.
Die eben erwähnte von Scudery spielt als Chronistin
des Salons Rambouillet eine zu bedeutende Rolle, um
hier bloss genannt zu werden. Madeleine de Scudery
war 1607 in Hävre geboren. Durch die Wohlthat eines
reichen Onkels genoss sie sowohl als ihr Bruder Georg
eine sorgfältige Erziehung. Der Bruder, ein ächter
Schwadroneur und Renommist, war erst Soldat, dann
trat er als Tragödienschreiber auf und erwarb als
solcher Geld und Gloire. ' Auch die Romane Madeleine's
erschienen unter seinem Namen, obgleich er selbst
nicht viel mehr als die Vorreden dazu schrieb. Im
Jahre 1630 folgte Madeleine ihrem Bruder nach Paris
und begann hier ihr Talent sowohl als ihre vornehmen
Connexionen nach Kräften auszubeuten. „Artamöne
ou le Grand Cyrus" erschien 1649 — 1653 in zehn Bän-
den. Unter den assyrischen, babylonischen, persischen,
armenischen und griechischen Heldennamen des dick-
leibigen Werkes verbargen sich, wie männiglich wusste,
die Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft
mit ihren wirklichen Erlebnissen. Da ein. jeder sich
selbst zu lesen wünschte, so wurde der Roman sehr
— 9 —
eifrig gekauft und soll dem Buchhändler 40,000 Thaler
eingebracht haben. Die Sprache des ,;Grand Cyrus"
ist rein und fliessend, die Charakterzeichnung fein und
wahr (manche glaubten sich beklagen zu müssen, da
sie ihr Portrait nicht geschmeichelt fanden), die psycho-
logische Analyse zeugt von scharfer Beobachtung und
edler Gesinnung. Die Portraitgallerie des Hotel Ram-
bouillet ist so vollständig gegeben, dass Victor Cousin
die ganze Gesellschaft jener Epoche nach dem „Grand.
Cyrus" rekonstruiren konnte. Unter dem Namen „Sapho"
hat die Verfasserin im „Grand Cyrus" ihr eigenes Bild
entworfen. Die oben angedeuteten Vorzüge des Buches
finden ihr Gegengewicht in den endlosen, faden pla-
tonischen Liebesgesprächen, dem Mangel an Handlung
und der Armuth im Punkte der Erfindung. In den
zehn Bänden der „Clelie" (1654 — 61) wurde die Manier
des „Grand Cyrus" zur lächerlichen Fratze. Wenn
man diesen als Produkt des Salons Rambouillet aufzu-
fassen berechtigt ist, so muss jene dagegen als das
Erzeugniss der Samedis (siehe unten) erscheinen. Einen
Hauptfehler beging die Verfasserin besonders insofern,
als sie die allegorische Maske diesmal aus einer Ge-
schichtsepoche borgte, die uns durch die alten Schrift-
steller im Einzelnen nahegerückt ist, und dass sie nicht
nur die historischen Namen, sondern auch die historischen
Thatsachen in ihre Dichtung verflocht. Da fühlte denn
doch ein jeder den lächerlichen Widerspruch zwischen
der antiken Costümirung und dem höchst modernen
Inhalte. — Da die junge Generation für den Helden-
roman immer weniger Geschmack bezeugte, ihn sogar
mit schonungsloser Kritik verfolgte, so wandte sich
t^
— 10 —
Madeleine in ihren spätem Jahren einem andern Ge-
biete zu, und schrieb eine Beihe von Gesprächen über
moralische und anderweitige Gegenstände, welche des
Guten viel enthalten sollen. Fügen wir noch bei, dass
MUe. de Scud6ry 1671 den allerersten von der Aca-
demie gespendeten Preis für französische Eloquenz
durch einen Aufsatz über die „Gloire" sich erworben
hat. Ihre eigene Gloire stand hoch unter den Zeitge-
nossen. Von der Academie in Padua war sie zum
Ehrenmitgliede ernannt worden, die Königin Christine,
der Herzog von Braunschweig*), die Herzogin von
Holstein, der grosse Leibnitz ehrten sie mit bewun-
dernden Briefen. Von sich selbst und ihrem zweifel-
haften Adel hatte sie keine geringe Meinung und sprach
von „dem Sturze ihres Hauses" wie Homer von dem
Falle Dions. Es machte ihr schlechten Spass, für einen
Blaustrumpf zu gelten; das Bild, welches sie selbst
von der falschen Pr^cieuse Damophile entwirft, mag
in dieser Beziehung als eine Selbstvertheidigung be-
trachtet werden. Auch die faden Complimente der
Junker waren ihr verhasst, wenn diese etwa fragten, was
sie jetzt schreibe, und sie ersuchten, sich doch ja nicht
allzu kurz zu fassen. „Denn damit glauben sie das
Feinste gesagt zu haben, wenn sie andeuten, dass meine
Bücher ihnen nicht lange genug vorkommen." — Jene
kleine Schwächen nun vergass man über den vielen
vortrefflichen Eigenschaften, welche Madeleine allen
') Vgl. CholoTins : Die bedeutendsten Komane des siebenzehnten
Jahrhunderts, 1866, p. 176, 599. Anton Ulrich, Herzog zu Braun-
schweig, 1633 — 1714. Verfasser von: Die durchlauchtige Syrerin Ara-
mena. Nürnberg 1669—1673. — die römische Octavia, 1686—1707.
— 11 —
ihren Freunden theuer machten. Den edlen Kern aher
umschloss eine unscheinbare Schale : eine grosse, hagere
Gestalt mit langem Gesichte, plumpen Zügen, schwarzen,
unschönen Augen und Haaren und gelbbraunem Teint.
„Die Vorsehung hat sie zur Vielschreiberin bestimmt",
meinte Me. Cornuel, „denn ihre Haut schwitzt ja Dinte*"
— Ihr Herzensfreund war der ebenfalls auffallend häss-.
liehe PeUisson, den sie als Hermerius in der „Clelie"
pörtraitirt hat. Zwischen Sapho und Hermerius ent-
spann sich, während des letztern Gefangenschaft in der
Bastille, eine platonische Correspondenz, die durch eine
dritte dunkle Gestalt — einen Kaminfeger — vermittelt
wurde. Fräulein von Scudery starb 1701, nachdem sie
fast ein ganzes Jahrhundert durchlebt hatte.
Viele vornehme, geistreiche und reizende Damen
fanden sich nach und nach im Hotel der Marquisin
zusammen. Hier sah man die wunderschöne Charlotte
von Montmorency, ihre Kinder, einen Knaben mit
blitzenden Augen, den nachherigen „grossen Cond6",
den Grand Cyrus von Mlle. de Scudery's Eoman, und
dessen Schwester, die spätere Frau von Longueville,
an der Hand führend ; dann Fräulein Du Vigean, deren
Schicksale ganz an die spätere La Valli^re erinnern;
Madame de la Vergne mit ihrer Tochter, der nach-
maligen Frau von Lafayette ; die intime Freundin der
Marquisin, Frau von Sable,. welche später ins Lager
von Port-Eoyal übergehen wird; Frau von Hautefort;
die Herzogin von Aiguillon, Richelieu's Nichte ; Maria
Gonzaga, des unglücklichen Cinq-Mars Geliebte, die
1645 als Polenkönigin Paris verlässt; mit 1644 die
neuvermählte achtzehnjährige Madame de S^vigne ; die
— 12 —
sarkastische Madame Cornuel*), „die Wespe unter den
Bienen" ; die Sängerin Madame Aubry und viele andere
mehr.
^) Mme. Cornuel, geb. Bigot aus Orleans, ist die Zenocrite des
Grand Cyrus. Mehrere ihrer Witze und Einfälle sind in v. S^vigne's
Briefen zu finden. Als sie in hohem Alter ihre letzte Freundin yer-
lor, sagte sie: „H^las, me voili d^converte, il n'y avait plus qu'elle
entre la niort et moi". Von dem bigotten Stnart Jakob IL meinte sie,
„que le saint Esprit lui ayait mangö l'enten dement". Als Stylprobe
des Grand Cyrus möge hier Zdnocrite's Portrait folgen. „Zenocrite
est une personne qui est en droit de dire tout ce que bon lui semble
Sans qu'on s'en ose mettre en col^re. En effet, on passerait pour ne
savoir point du tout le monde, si on s'advisait de trouver mauvais
que Zenocrite dit une chose un peu malicieuse; et, quoiqu'il soit assez
rare de voir qu'on cherche avec soin la conversation de Celles qui ne
pardonnent rien, qui n'excusent presqne jamais personne, et qui parlent
quelquefois indiff^remment des amis et des ennemis, il est pourtant
vray qui'l y a toujours plus d'honnetes gens chez cette dame dont je
parle, qu'en tout autre lieu de la ville. Zenocrite est belle; sa per-
sonne est bien faite; sa physonomie est fine, quoy qu'elle ait aussi
quelque air languissant; eile dit les choses comme si eUe n'y pensait
pas, et les dit pourtant plus spirituellement qiie ceux qui y pensent
le plus. Elle a une Imagination admirable qui fait qu'elle tourne
toutes choses agr^ablement, et qu'elle ne prend des ^venements qu'on
lui raconte que ce qui peut seryir k les lui faire redire plaisamment.
Elle fait quelquefois un recit avec une exag^ration si Eloquente, qu'elle
vous fait voir tout ce qu'elle veut vous apprendre, et quelquefois aussi
eile fait une grande satire en quatre paroles. Elle est pourtant «n^e
bonne et gen^reuse; et si eile parle en d^savantage de quelqu'nn, c'est
plustost par exces de raison et de sinc^rit^, et par une imp^tuositä
d'esprit et d'imagination qu'elle ne peut retenir que par malice. Ce
qu'il y a de plus rare en cette personne, c'est que le chagrin de son
esprit fait bien souvent la joye de celui des autres ; car lorsqu'elle se
plaint ou des malheurs du si^cle ou du mauvais gouvernement , eile
le fait d'une mani^re si agr^able qu'elle divertit plus par ses plaintes
et par ses murmures que les autres ne peuvent faire avec l'humeur
lä plus enjou^e . . . . j.JBnfln, je puis vous assurer que Zenocrite est
une personne tout k tkt extraordinaire". (Bei Livet, 136 und 137.)
^ 13 —
Zu den ältesten Freunden des Hotels gehörte, wie
schon gesagt, der Dichter Malherhe mit seinem Lieb-
lingsschüler Racan. Malherbe war e;s, der aus dem
Vornamen der Marquisin „Catherine" das Anagramm
„Arthenice" schuf, unter welchem pretiosen Namen
dieselbe im Kreise ihrer Verehrer ein halbes Jahr-
hundert gefeiert wurde. — Schon 1602 hatte der Mar-
quis den nachherigen Bischof von Nantes, den be-
rühmten Kanzelredner Cospeau, als Verehrer von dessen
Talent zu seinem Commensalen gemacht. Cospeau war
Richelieu's Lehrer gewesen und sah seinen grossen Schü-
ler öfters in diesem Kreise. — Später, 1627, kurz vor
Malherbe's Tode, fand sich auch Chapelain ein, ein Mann
von Kenntnissen und kritischem Urtheile, ernst und
bescheiden und nicht ohne Conversationstalent. Er war
sich bewusst, kein Dichter zu sein und sprach es. mehr
als einmal un^^erholen aus; dass er dessen ungeachtet
1656 mit einem Epos auftrat, war eine Inconsequenz, .
die sich schwer an seinem Rufe räcufe ; denn über dem
erbärmlichen Dichter der „Pucelle" vergass die Nach-
welt schnell den gründlichen Gelehrten und guten
Kritiker. — Der Napolitaner Marini, von 1615 bis 1623
am Hofe von Heinrich's IV. Wittwe, Maria von Medici,
lebend, freigebig pensionirt an demselben Hofe, wo
Tasso einst einen Thaler zu borgen genöthigt war,
routinirt im Betteln mit gelehrten Citaten, und gut
aufs Schmeicheln und Schmarotzen dressirt (klagt er
doch z. B. in einem Briefe, dass die schwankenden
politischen Verhältnisse die Vollendung seines Epos
„Adonis" hindern ; denn wenn eine gewisse Partei
unterläge, so müsste er wieder Vieles umdichten), —
V
— 14 —
Marini war im Hotel Rambouillet ein hochwillkommener
Gast, zum grossen Verdrusse des greisen Malherbe,
der den Concettischwindel und das pretentiöse Auf-
treten der italienischen Schule von Herzen hasste, und
zu seinem Schmerze gewahren musste, wie dieselbe
( seinem eigenen Ruhme täglich Boden abgewann.
Eingeführt durch seinen Vetter Conrart, den ersten
Secretär der 1635 von Richelieu gestifteten französischen
Academie, wurde der kleine Godeau, Julie's Zwerg ge-
nannt, bald einer der eifrigsten und beliebtesten Gäste
des Hotels. Er erhielt später durch die Protection
dieses Kreises ein mageres Bisthum in der Provence,
und hiess von nun an der Magier von Sidon. In seinen
Briefen paart sich der pretiose Phrasenschatz mit dem-
jenigen bischöflicher Salbung auf wunderliche Weise.
^^ Yoiture ist für das Hotel der Marquisin der Genius
Loci „räme du rond", wie Tallemant sich ausdrückt,
Voiture war bürgerlicher Abkunft, Sohn eines reichen
Weinhändlers und Hoflieferanten, voll von Witz und
Laune, ein Klassiker des galanten Stiles. Seine Dreistig-
keit im Umgang mit den grossen Herren erinnert an
Beaumarchais, sein boshafter Spott an Voltaire ; er war
Virtuose in der Conversation ; als grosser Kinderfreund
wurde er von der Jugend auch lebhaft gegen die mo-
rose n Ausfälle der Alten in Schutz genommen. Ohne
, gerade ein Raufer zu sein, ist er stets bereit vom Leder
] zu ziehn und seinen Mann auf der Mensur zu stellen,
was ihm auch wohl zu statten kommt ; denn sein Auf-
treten streift mitunter an Impertinenz und seine Spässe
sind nicht immer delicat. Er versteht es zwar so gut
wie irgendeiner die Sprache der obligaten Galanterie
\^\
— 15 —
zu führen, aber man kennt den Heuchler nur zu gut;
steht doch im Grand Cyrus der Fräulein von Scudery
geschrieben, dass dieser Mann nicht die Venus Urania,
sondern die Venus Anadyomene verehre und gar
nichts wissen woUe von dem „amour d^tache des sens".
Wenn er sich einmal erlaubt, das Kinn der „schönen
Löwin" zu berühren oder „der göttlichen Julie" einen
frechen Kuss auf den runden Arm zu drücken, so ver-
ursacht das .zwar grosses Aergerniss in dieser pla-
tonischen Republik, — aber man verzeiht ihm bald;
denn er ist so unterhaltend ! — Voiture starb im rechten
Augenblicke, 1648, als die fröhliche Lebensfrische
unseres Elreises zu schwinden und sein eigener Nimbus
sehr zu erblassen begann. Voiture's Briefe sind die
Chronik und der Spiegel unserer Gesellschaft. Er vor
allen verstand es übrigens, in den zierlichsten Phrasen -
reihen wenig oder nichts zu sagen.
Eine ganz andere Erscheinung war der schon er-'
wähnte Conrart, ein liebenswürdiger Mann, ein grosser
Freund und Kenner der spanischen und italienischen
Litteratur und ein eifriger Bibliophile. Er und Godeau,
Voiture und Chapelain bilden den engeren Kreis der Mar-
quisin. — Cotin, Benserade, PeUison, Segrais, der naive,
leichtgläubige, stets mit Geldverlegenheiten kämpfende
Vaugelas, der Philologe Manage, wie überhaupt die mei-
sten Glieder der Academie, zählten ebenfalls zu den belieb-
ten Gästen. — TaUemant des Reaux, der seine Historiettes
vor und nach 1657 schrieb, scheint erst spät im Palaste
Rambouillet Zutritt erlangt zu haben. In genanntem
Buche hat TaUemant den Klatsch des Tages mit hin-
reichender Bosheit und cynischem Behagen für die Nach*
— 16 —
weit verarbeitet. IjDousin bedauert vielleiclit mit Recht,
dass die Historiettes eine haupsächliche, manchmal die
einzige Quelle sind, aus welcher die Kenntniss gewisser
Personen und Verhältnisse geschöpft werden muss^") Im
Hotel Rambouillet scheint übrigens der Verfasser nur
eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wenigstens
wird er von Voiture kein einziges Mal erwähnt. ' Talle-
mant's Verdienst ist es immerhin, den Galimatias und
die Ziererei des herrschenden Geschmackes 'schonungs-
los verfolgt und die Rechte des einfach natürlichen
Ausdruckes und des gesunden Menschenverstandes ge-
genüber den Schnörkeln des Bei Esprit muthig ver-
fochten zu haben.
Auch Balzac, obgleich durch eine weitere Ent-
fernung von Paris getrennt, — er vmhnte auf seinem
Schlosse bei Angouleme in der Saintonge und machte
wohl erst nach 1638 die persönliche Bekanntschaft der
Marquisin, — muss als Glied des Kreises Rambouillet
betrachtet werden. Seine Episteln werden im Hotel
vorgelesen, ihre spanisch drapirten, harmonischen Perio-
den bewundert, einzelne Wendungen discutirt, hie und
da auch angegriffen. Dieser Briefverkehr zwischen „dem
grossen Epistelnschreiber Frankreichs" ^) und unserem
*) Der Mann, der sich Magnus FrancisB epistolarius , le grand
6pistolier de la France, nennen liess, dachte nicht geringe von sich.
Die Zeitgenossen woUten wissen, dass er stets den Hut abnahm, wenn
er von sich sprach, und zwar sei diess so hänfig vorgekommen, dass
er davon den Schnuppen bekommen habe. — Beispiele seiner Hyperbeln
bei Demogeot 248: „J'ai nn ^ventail qui lasse les mains de quatre
valets, et fait un vent dans ma chambre qui ferait des naufrages en
pleine mer". — „Si vous vonlez savoir qni vous 6crit, c'est un homme
qui est plus vieux que son pöre, qui est aussi us^ qu'un vaisseau qui
— 17 —
Salon gleicht dem diplomatischen Notenwechsel zweier
Potentaten ; der vermittelnde Agent ist Chapelain, wel-
cher Balzac über die Wirkung jedes Briefes, über jede
lobend e un d tadelnde Bemerkung der Marquisin unter-
richtet. Die Wahl eines Wortes, einer Phrase wird
von Chapelain mit Aengstlichkeit besprochen und das-
jenige vorgeschlagen, was der Frau Marquisin am ehe-
sten gefallen möchte.
Bei so regem Interesse für die Tageslitteratur und
den Ausbau der Sprache ist es sehr begreiflich, dass
auch die Helden des Tages im Hotel Rambouillet
leichten Zufcritt und zuvorkommende Aufnahme fanden;
so Mairet nach der Aufführung seiner Sophonisbe 1629,
und später Corneille, welcher 1640 seinen Polyeucte
hier vorlas, den man indess „zu religiös" fand. Vier
Jahre später hielt „der kleine Bossuet," erst 16 Jahre
alt, vor der glänzenden Assembl^e eine improvisirte
«
Predigt und auch der junge Fl^chier kam öfter in's Hotel.
Aber nicht nur Grössen ersten Ranges treffen sich da,
sondern auch solche untergeordneter Bedeutung, wie
beispielsweise der ebenso dürftige als stolze Dichter
Gombauld, und selbst arme Teufel von Litteraten und
Poetastern wie der halbverrückte Neufgermain, der sich
„le pofete h^teroclite de Monsieur, frere unique du
Eoy", betiteh;«).
anrait fait trois fois le voyage des Indes**. — Der Mann verdiente
das Epitheton „Vater der Hyperbel".
^) Nenfgermain war einer jener schmarotzenden Bettler, wie sie
damals noch häufig in yornehmen Häusern als ein Zwitterding von
Hauspoet und Hausnarr vorkamen. Ging es gut, so setzten diese Leute
ihre langen Verse für 3 Fr., die kurzen für 2 Fr. das Hundert an
H. B, 2
— 18 —
Eine venuittelnde Stellung zwischen den Männern
der Feder und denjenigen des Degens, zwischen Bürger
und Edelmann scheint der Herzog von Montausier ein-
genommen zu haben. Er stand intim mit Chapelain,
hatte selbst nicht nur die obligaten Madrigale gedrechselt
und galante Briefe geschrieben, sondern auch Ernsteres
versucht, z. B. den Persius übersetzt, war noch in
späterer Zeit, d. h. nach der Fronde ein eifriger Be-
sucher von Fräulein von Scud6ry's SamstagsgeseU-
schaften. Nach der Ueberlieferung soll Montausier das
Urbild von Molifere's Misanthropen Alcest gewesen sein.
Aber wenn er wie Alcest brüsk und grämlich war,
so zeigte er sich nicht eben als Feind von schlechten
G-edichten, als Gegner des Bei Esprit und der Unnatur,
«
die Buchhändler ab, daneben nährten sie sich vom Ertrage ihrer
Widmungen nnd anderer nothdürftig verschleierten Betteleien. Am
Tische ihrer hohen Gönner waren sie die Zielscheibe des Witzes nnd
mitunter auch recht roher Spässe, die ihnen das Leben kosten konnten
(vgl. E. Foumier: Du röle des coups de bäton dans l'Histoire litt^raire,
1858). Auf die boshafte Inspiration seiner Umgebung hin hatte Neuf-
germain die Marquisin in folgendem elenden Quatrain angesungen:
Entre les Dieux doit tenir rang
Proche Jupin (Jupiter), au plus haut hout
Plus belle que rose et VtBÜlet
La divine de Rambouillet,
1630 erschienen die „Po^sies et rencontres du sieur de Neufgermain"^
Sie tragen an der Spitze nach damaliger Sitte eine Reihe von Lob-
liedern auf den Autor. Diese sind verfasst von Gliedern unsers Cirkels
und treiben mit dem armen Narren ein recht närrisches Spiel. So
liefert Patrix eine Klage der Consonanten, die im Namen Neufgermain
zu figuriren nicht die Ehre haben. Yoiture bemerkt hiezu: „Diesen
armen Consonanten wäre nur zu helfen, wenn man den seltenen Mann
Bdelneufgermicopsant Messe, aber das Wort wäre denn doch allzu
wunderlich".
< . / ^
— 19 —
— erhielt doch Chapelain von Montausier eine Pension,
um die Pucelle schreiben zu können, und nach dem
Misserfolge derselben, eine andere Summe, um sein
Unglück zu verschmerzen. Er findet Geschmack an
einem Gedichte, das weder Saft noch Kraft (ni sei ni
sauge) hat" , schreibt Tallemant von Montausier im
Hinblick auf die Pucelle. Ueberdies war Montausier
niefit wie Alcest ein freier 'und freisinniger Mann,
sondern ein recht bornirter Verehrer des Absolutismus
nnd später unter Louis XTV". ein sehr geschmeidiger
und für alles zu b rauch ender Höfling, ißr^sowohl als \^
seine „göttliche Julie" waren gerne bereit, den heim-
lichen Umgang des jungen Monarchen mit der Montes-
pan durch Abtretung zweckdienlicher Zimmer und^ „,,, ./T
Versetzung unbequemer Schildwachen nach Kräften zu
erleichtern.
Während der dreizehn Werbungsjahre um Julien's
Hand hatte Montausier Müsse genug, die platonische
Liebe in allen ihren Stadien durchzukosten und den
Codex der Schäferei in jeder Richtung zu studiren.
Die Briefe, welche er als Gouverneur aus der Provinz
nach Paris schreibt, sind zahlreich und kunstgerecht.
„Er schreibt", sagt Chapelain, „mehr Briefe ii^ Vers
und Prosa, als es brauchte, um ein Arkadien Sannazar's
zu componiren." — Aber Montausier's galante Gross-
that, das Exegi monumentum der Arkadier des Hotel
EambouiUet überhaupt, ist jenes Album, das am 1.
Januar 1642 unter dem Titel : „La Guirlande de Julie
pour Madame de EambouiUet Julie Lucie d'Angennes,
Escript par N. Jarry 1641", der göttlichen Julie über-
reicht wurde.
— 20 —
yy" Die neunundzwanzig von dem Minis^turmaler Eobert
ausgeführten Blumen, welche darin ebensoviele Blätter
bilden, sind eine jede von einem oder mehreren Madri-
galen von Chapelain, CoUetet, M. C. (Corneille? Conrart ?),
Desmarets, Godeau, Grombauld, Georg Scud^ry, Marquis
de Rambouillet, Racan, Tallemant, besonders aber Mon-
tausier begleitet, welcher letztere durch sechszehn Ge-
dichte vertreten ist. Das Original ist nach manig-
fachen Schicksalen in den Besitz der Nachkommen von
Julie's einziger Tochter, der Herzogin d'Uzes, zurück-
gekehrt. Cousin (Soc. fr. II, 40) beschreibt es als
einen prächtigen Folianten, mit den Miniaturmalereien
Roberts, der schönen Schrift Jarry's und dem Pracht-
einbande Le Gascon's. Voiture's Name fehlt, er durfte
sich wohl nicht betheiligen, da ihn Montausier nicht
leiden mochte: Chapelain in einem Briefe an Montausier
nennt Voiture einmal „la Süffisance de votre aversion".
Es ist wohl überflüssig, die Namen der Edelleute
hierher zu setzen, die mit Conde, Conti, Larochefoucauld,
Bussy, Gramont und andern als regelmässige Gäste
oder als zufällige Besucher im Hotel Rambouillet er-
schienen. Man wird nicht irre gehen, wenn man die
meisten Glieder des hohen Adels, die zwischen 1610
*
und 1650 Paris bewohnten, als solche betrachtet.
Versuchen wir es nun, das Leben und Weben,
die heitern und ernsten Beschäftigungen, den Ideenkreis
und die Geschmackstendenz, die gesellschaftlichen Formen
und den bildenden Einfluss unseres Kreises zu schildern.
Vor allem muss gesagt werden, dass wir es hier
nicht mit einer litterarischen Cotterie, mit einer Ge-
nossenschaft von Blaustrümpfen und Pedanten zu thun
— 21 —
haben. Das Hauptgeschäft unseres Kreises in seinen
besten Jahren war die heitere Geselligkeit in an-
inuthigster Form. Man liebte die Landpartien, machte
Besuche auf den nahen Schlössern, ergötzte sich an
Feuerwerken, Concerten, Bällen, poetischen Spielereien,
dramatischen AuflFührungen , an lebenden Bildern aus
der Mythologie. Letztere sollte im Vereine mit der —
Natur ihre Wirkung thun. In den schattigen Parks
pflegten etwa Nymphen, in den Grotten eine kunstvoll -^
drapirte Diana die Spaziergänger zu überraschen. Der
Einfluss der italienischen, spanischen und französischen
SchäfeiVomane war in solchen Spielereien nicht zu ver-
kennen. Er wirkte lange nach. Noch im Jahre 1673,
bei Anlass der ersten Pariser Kunstausstellung, über-
raschte die grosse Zahl von Nymphen und Dianen, von
welchen viele wohl Portraits gewesen sind. Derselbe
Einfluss zeigt sich sodann auch in der Gewohnheit,
die einzelnen Glieder unseres Kreises mit arkadischen
Namen theils zu schmücken, theils zu charakterisiren.
Die Damen überhaupt hiessen in dieser Welt die Kost-
baren (pr6cieuses), später die Erlauchten (illustres). y_
Die heitere, mitunter ausgelassene Laune der Ge-
sellschaft verschmähte auch die Schwanke und Mystifi-
cationen nicht ; man wird beim Lesen dieser oft ziem-
lich derben Spässe an das muthwillige Treiben von
Weimar in den siebziger Jahren des vergangenen Jahr-
hunderts erinnert. Selbst Königin Arthenice hat mit-
unter ihre schönen Hände im Spiele; es gelingt ihr
einmal, Voiture vortrefflich zu mystificiren ') ; dieser
^) Livet, Pric. 29. Un indiscret ami, i qui Voiture avait In un
— 22 —
spielt ihr seinerseits mit einigen vor ihr Bett geführ-
ten Tanzbären einen Possen, der seinem Urheber keinen
sonderlichen Beifall einbringt®). Auch die an dem
armen halbvei^riickten Litteraten Neufgermain geübten
Scherze und das mit Voiture's Person vorgenommene
Prellexercitium sind charakteristische EpisodeÄ. Letz-
teres Tiat Voiture in einem an ^ie damals in Lyon
^ weilende eüfjährige Schwester Cond6's gerichteten Briefe
nichx ohnö Laune geschildert.®) — Auch fcinder also
gehörten . zum Kreise der Marquisin und mischten sich
sonnet de sa fagon, le retint et en donna copie ä la marqnise, qni le
&t imprimer et introdnire dans nn de ces Becueils alors si nombrenx.
Qoand Voiture le vint reciter ä rhotel, on Ini montra le livre. Les
pages se suivaient; le caract^re ätait le mgme, ce sonnet et le sien
c^^tait tont un. II finit par croire que ces yers, quMl s'imaginait avoir
compos^s, il s'en sonvenait senlement. On rit longtemps avant de le
d^sabnser.
8) Livet, Pr^c. 29. Voitnre qui 6tait si d^licat et si difficile,
laissait sonvent percer, dans ce monde choisi, le bout de Toreille d'nn
parvenn. ün jonr il rencontra nn menenr d'onrs dans la rne. II
s'introdnisit avec ses ours jusqne dans la chambre de la Marqnise, et
qnand celle-ci se retoama an bruit, eile yit quatre grosses pattes
pos^es snr son paravent et denx Enormes mnseanx qni la regardaient
bStement. II y avait de qnoi monrir de frayeur. Tonjonrs indnlgente,
eile pardonna. Mais Voitnre n'en fnt pas mieux vn des ennemis qu'il
commen^ait ä se faire par son impertinence et par la familiarite qnMl
prenait avez des gens dont le s^parait nne trop grande distance.
^) „Mademoiselle, je fns bernä yendredi apr^s diner, ponr ce qne
je ne yons ayais pas fait rire dans le temps qne Ton m'ayait donne
ponr cela, et Me. de Bambonillet en donna Tarr^t ä la reqnSte de
Mlle. sa Alle et de Mlle. Panlet. J'ens bean crier et me d^fendre, la
conyertnre fnt apport^e, et qnatre des plns forts hommes du monde
fnrent choisis ponr cela. Ce qne je pnis yons dire, Mademoiselle, c'est
qne jamais personne ne fnt si hant qne moi, et qne je ne croyais pas
qne la fortnne düt jamais tant ^leyer", etc.
— 23 —
in die Gresellschaft. Julie pflegte ihnen Mährchen zu
erzählen, deren eines Voiture seinem Fragmente „AI- ^
cidaHs et Z^linde" zu Grunde gelegt haben soll. Voi-
.ture war, wie schon gesagt, der Liebling jener jungen
"Welt; mit seiner behenden, komisch kleinen Figur,
seinen grossen Augen und seinem „dummen" Gesichte *^)
wusste er immer Heiterkeit hervorzurufen. Der junge
Marquis, den später in der Schlacht von Nördlingen
die tödtliche Kugel .treffen sollte, hatte Voiture beson-
ders lieb und lärmte mit ihm oft im Palaste herum,
dass die Wände zitterten.
Einen Hauptreiz bot natürlich auch die Unterhal-
tung. Man spradh in ungezwungener und heiterer Weise
über das Neueste, über schöne Litteratur, über Kunst,
über die Tagesvergnügen, während Religion und Politik
wie auf Verabredung hin aus dem Spiele gelassen
wurden. Segrais, der uns jenen Versuch dfs Cardinais, t-^
Madame von Rambouillet als Spionin in ihrem eigenen
Kreise zu verwerthen, berichtet hat, fügt die Worte
hinzu: „Sie wusste nicht, was Partei ergreifen hiess."
Protestanten und Katholiken bewegen sich friedlich
neben einander. Während das. Haus der Marquisin mit
Eifer dem Katholicismus huldigt, zählen sich Montausier,
Conrart, Combault, Tallemant und andere zu den Prote-
stanten. Die Toleranz der einen für die andern scheint
^^) Lettre ä. nne maitresse inconnue. „Ma taille est denx on
trois doigts an-dessöns de la m^diocre. J'ai la t^te assez beUe avec
beancoup de cbevenx gris, les yenx donx, mais un peu ^gar^s et le
visage assez niais. En recompense nne de vos amies vous dira que
je suis le meilleur gargon du monde et qae, pour aimer en cinq ou six
lienx ä la fois, il n^y a personne qni le fasse si fidelement qne moi".
— 24 —
- weniger in Gleichgültigkeit als wechselseitiger Ach-
tung ihren Grund gehabt zu haben. Man lebte noch
in der Zeit des Friedens; mit dem Aufkommen der
Jansenisten sollte bald ein anderer Geist über die Pariser
Gesellschaft kommen.
Das Verhältniss der beiden Geschlechter zu ein-
ander nimmt unter dem Einflüsse der herrschenden
s-^iitteratur ein ganz eigenthümliches Gepräge an. Wäh-
/, rend die auf sinnliche Befriedigung gerichtete Liebelei
nach dem übereinstimmenden Zeugnisse der Zeitgenossen
aus unserem Kreise verbannt war, so wurde dafür eine
von der Schäfer- und Heldenromantik jener Zeit ein-
gegebene, in gewissen Conventionellen Formen sich
bewegehde Galanterie um so leidenschaftlicher geüj)t./
Ihr Wesen bestand in einer mit allerlei keuschen Me-
', taphern verquickten, künstlichen Sprache, welche zwi-
1 sehen den Anbeter und die Angebetete eine gewaltige
'^ Kluft befestigte. Denn die Hauptsache schien dabei
gar nicht, seine Leidenschaft energisch zu äussern und
möglichst bald ans Ziel zu kommen, sondern das Oourti-
siren ist sich Selbstzweck und die Herzenssache muss
recht lange in allen Regeln geführt werden. Das Herz
war weniger als der Kopf betheiligt.' „Sie haben",
sagt Saint-Evremont von den Kostbaren, „eine Leiden-
schaft aus dem Herzen in den Kopf verlegt und die
Gefühlswelt in eine Ideenwelt verwandelt." In diesem
Sinne nannte Ninon de TEnclos die Precieuses die
Jansenisten der Liebe. Eine Stelle von Mlle. de Scudery's
„Grand Cyrus" gibt uns die Theorie dieser subtilen
Liebesscholastik in folgenden Worten : „Auf der Insel
Paphos ist die Liebe nicht einfach eine Leidenschaft
— 25 —
wie überall sonst, sondern eine Nothwendigkeit, eine
Forderung des Anstandes. Es ist Vorschrift, dass alle «^
Männer verliebt, dass alle Damen geliebt werden.
Wer nicht verliebt ist, der gibt sich wenigstens den ^
Sehein davon. Was nun die Damen anbelangt, so zwingt
sie die Sitte nicht gerade zu lieben, wohl aber sich
lieben zu lassen, und ihr höchster Ruhm besteht darin,
berühmte Eroberungen zu machen. Unserer Schönen
höchster Stolz ist es, ihre Anbeter durch die einzige
Macht ihrer Eeize, nicht aber durch Zugeständnisse
zu fesseln, so dass für die Männer lieben und ohne
Hofiiiung lieben, so ziemlich identisch wird. Es ist
indessen den Damen nicht verboten, die Beharrlich-
keit des Anbeters durch eine reine Neigung zu be-
lohnen ;j im Gegentheile, Venus Urania befiehlt es. Es
ist fernör den Schönen gestattet, sich gewisser unschul-
diger Kunstgriflfe zu bedienen, um sich ein Herz zu
erobern. Indem sie so die J5[ünst besitzen, Liebe mit
Unschuld zu vereinigen, führen sie ein hinreichend ge-
nussreiches Leben." Man vergleiche mit dieser Stelle
des genannten Romans die Reden, welche Moli^re
seinen „Femmes savantes" in den Mund legt, und man
wird das Treffende und Schlagende der Satire des
grossen Komikers lebhaft empfinden. Die Galanterie
war also an die Stelle der Liebe getreten, die Form
hatte den Inhalt, der Schatten den Körper ersetzt.
Aber das Raffinement und die Künstelei schloss weder
den Geist noch den Humor aus, der wunderliche Pfad
führte oft zu bleibender Freundschaft und verlor sich
nie in gemeiner Intrigue.
Der Vorwurf, dass im Salon Rambouillet eine
— 26 —
übertriebene Prüderie geherrscht habe, ist zuerst von
einem Gliede der Gesellschaft selbst, von Tallemant,
erhoben worden. Aber man darf nicht vergessen, dass
der Verfasser der „Historiettes" bis zum Cynismus
natürlich ist , und die von ihm angeführten Beispiele
beweisen nur, dass die Marquisin zu jenen Wesen ge-
hörte, welche der grosse Dichter in den Versen zeichnet :
„Willst du genau erfahren, was sich schickt, so frage
nur bei edlen Frauen an", u. s. w. Derbe und obscöne
Redensarten haben in solchen Regionen zu keiner Zeit
Gnade gefunden, so dass Tallemant's Vorwurf keine
ernstliche Anklage constituirt **).
Wenn nun prüde Elemente sich immerhin vorfin-
den mochten, so ist unser Kreis gegen den Vorwurf
der Pedanterie und Blaustrümpfelei um so kräftiger in
Schutz zu nehmen. Aus der im Geschmacke jener Zeit
mit mehr Subtilität als Poesie gehandhabten Galanterie
den Schluss zu ziehen, dass wir es mit pedantischen
Zieraffen zu thun haben, wäre voreilig. Jene Formen
waren nicht im Wesen dieser Personen, sondern in
der Mode des Tages begründet. Den schönen, ritter-
lichen Männern im spanischen Costüme mochte es
übrigens nicht übel stehen, wenn die wohlüberlegten
Galanterien in raschem Strome von den frischen Lip-
pen flössen, und ein loser Vogel wie Voiture musste
sich in dieser Rolle komisch genug ausnehmen. Ein
Brief Chapelain's an Balzac vom Jahre 1638 bezeugt es
^^) Tallem. JI. 233. Me de Rambouillet est nn peu trop deli-
cate, et le mot de teigneux Ini donne, dit eile,* une yilaine idee. On
n'oserait devant eile prononcer le mot de cul, Cela va dans Texces,
sartont qnand on est en liberte.
— 27 —
ausdrücklich, dass man im Hotel der Marquisin ^im
Gegensatze zum pedantisch bürgerlichen Tone anderer
Salons in freiem, einfachem, acht vornehmem Stile ver-
kehrte, und des Gegensatzes sich auch wohl bewusst
war. „Das Hotel Eambouillet", schreibt Chapelain,
„verdient Ihre Neugier in vollem Maasse. Es herrscht
da kein gelehrter, sondern ein vernünftiger Ton. Nir-
gends finden Sie mehr gesunden Menschenverstand und
weniger Pedanterie. Mit Absicht sage ich Pedanterie,
da es mir wohl bewusst ist, dass dieselbe am Hofe so
gut wie an der Universität weUt und die Frauen nicht
weniger als die Männer beherrscht." q
In hohem Grade interessirt sich das Hotel Ram-
bouillet fwr die Entwicklung der Litteratur und der Sprache,
J)a die auf diesem Gebiete sich geltend machende Ge- \^
schmacksrichtung unseres Kreises nur im Zusammen-
hange mit allgemeinen litteraturgeschichtlichen That-
sachen begriffen werden kann, so gestatte man hier eine
diese Thatsachen zusammenfassende Digression.
Ohne dass man den Einfluss einer Litteratur auf \
die andere mit Bestimmtheit nachzuweisen im Stande
wäre, zeigt sich gegen das Ende des XVI. Jahrhun-
derts in Spanien wie in Frankreich, in England wie in
Italien, das Streben nach einem gesuchten^ mit wunder-
lichen Bildern verquickten Ausdruck in Schrift und
Wort. Am Hofe der jungfräulichen Königin ist es
John Lilly, in Spanien der Expriester Gongora, in
Italien und Frankreich vorwiegend Marini, an deren
Nanjen diese Verirrung sich knüpft. In der That:
Lilly's Euphüismus Gongora's Estilo culto und der
Marinismus sind nur verschiedene lokale Bezeichnungen
— 28 —
für ein und dieselbe Sache. John Lilly's Buch „Euphües"
erschien in zwei Theilen: Euphües, The Anatomy of
Wit, 1580 ; und : Euphües and his England, 1581. Der
Held dieser raispnnirenden Fiction ist ein Athener,
welcher England besucht hat und die dort gemachten
Beobachtungen dem Leser mittheilt. Shakespeare ist
nicht frei von Euphüismus, obgleich er sich demselben
öfter kritisch gegenüberstellt und ihn als komisches
Mittel verw^thet. Hieher gehört namentlich sein Lust-
spiel : Verlorene Liebesmüh. Der neueste Uebersetzer,
Gildemeister, sagt in dieser Hinsicht treffend: „Es ist,
als ob der Dichter die künstlich geschrobene Empfin-
dungs- und Ausdrucksweise der feinen Welt seiner
Zeit, den ganzen Sonetten- und Concettistil mit seinem
Conventionellen, phrasenhaften Damencultus, mit seinem
Hange zur galanten Vergötterung, mit seinem Behagen
an dem äusserlich Technischen im Witzgefechte mit
einem Schlage zugleich habe poetisch 'verklären und
vernichten wollen. Shakespeare persifflirt hier auf das
Derbste die modische Verzerrung der natürlichen Spräche
und Empfindung nicht allein in den drolligen Absurdi-
täten der niedrigen Personen, welche sammt und son-
ders das Steckenpferd des gesuchten Ausdruckes tum-
meln, sondern ganz unverkennbar auch in der Person
seiner Gentlemen." Die Karrikatur gipfelt sich in der
Rolle seines Don Adriane de Armado. Auch W. Scott's
Sir Percy Shafton ist ein, vielleicht etwas übertriebener
Euphüistentypus.
Göngora (gest. 1627) ist eine ganz eigene Er-
scheinung. Er beginnt seine Poetenlaufbahn mit einfach
schönen Liedern, Diese werden aber vom spanischen
— 29 —
Publikum mit kalter Grleicligültigkeit aufgenommen,
und da erst, fast gegen das Ende des Jahrhunderts,
fasst er den Entschluss, einen neuen, ganz unerhörten
poetischen Stil zu gründen, den er in seinen spätem
Dichtungen als Estilo culto einem staunenden Leserkreis
auch wirklich geboten hat. „Er ging darin vom natür-
lichen Ausdrucke ganz ab und setzte an dessen Stelle
einen mit grosser Mühe und mit oft bewundernswerthem
Scharfsinne gesuchten künstlichen. Je grösser die Mühe
war, um so grösser schien ihm das Verdienst des Dichters.
Unnatürliche Wortstellung, weithergeholte Bilder, ge-
schraubte Antithesen, gesuchte, subtile Gedanken sind
die charakteristischen Merkmale dieses ^gebildeten'
Stiles." *^) Lope, obgleich bis zu einem gewissen Grade
an demselben Uebel krankend, trat zwischen den Jahren
1610 und 1620 gegen diesen Galimatias* auf, und von
ihm rührt jenes Sonett her, welches mit den Worten
schliesst: „Verstehst du, mein Freund, was ich eben
sagte?" — Warum sollte ich es nicht verstehen? - —
„Ei, du lügst, mein Freund, denn ich, der ich es sage,
verstehe es selber nicht." *^)
Eine vermittelnde Stellung zwischen England,
Frankreich und Spanien in Hinsicht auf die Verbreitung
des Cultostiles scheint der Spanier Antonio Perez einge-
nommen zu haben. Als die Spanier aus Paris abzogen,
hatte Heinrich IV. ihnen bekanntlich nachgerufen:
„Fort mit euch und kommt nicht mehr zurück." Die
Spanier kamen nicht mehr zurück, was aber in Paris
^') Lemke, Handbncli der spanischen Lltteratnr, Band 2.
'^) Scberr, Geschichte der allgemeinen Litteratnr, Band 1.
I
j
— 30 —
zurückblieb, das war der spanisclie Geschmack. Der
Satiriker E6gnier spottet jener hispanisir enden Narren,
die in kastillanischer Haltung schmachtend zu seufzen
pflegten: „J6sus Sire! En ma coüscience! II en faut
mourir!" Antonio Perez nun, der einzige Vertraute
Philipps n. , später dessen Opfer, hatte sich unter
allerlei romantischen Abenteuern aus Spanien nach
Frankreich gerettet, ward in Frankreich und England
von Philipps Feinden mit offenen Armen empfangen
und galt an beiden Höfen, obgleich in der Geschichte
der spanischen Litteratur eine unbekannte Grösse, für
ein unerreichbares Muster des Briefstils. Obgleich er
selbst 1611 vergessen in Paris starb, scheinen seine
Briefe, 1638 ins Französische übersetzt, 1654 in. Genf
in der Ursprache wieder aufgelegt, einer langen Be-
liebtheit sich erfreut zu haben. — Schon in Madrid
hatte Perez den Marquis Pisani, den Vater der Frau
von Eambouillet, kennen gelernt. Als die Frau Mar-
quisin eines Tages an Zahnschmerzen litt, überschickte
Perez dem Marquis ein Kecept mit folgenen Eeflexionen :
„Wenn ich meine Zähne pflege, so geschieht es ledig-
lich aus Furcht vor meiner Zunge; denn ich glaube,
die Natur hat unsere Zunge mit Zähnen eingerahmt,
damit dieselbe einen Grund zur Furcht bekäme, der
sie zwingen würde, sich zusammen zu nehmen und
vor tollen Ausföllen sich zu hüten." Zwei andere Briefe
sind an Damen des englischen Hofes gerichtet, beide
begleitet ein Geschenk hundslederner Handschuhe.
Perez knüpft an diese Sendung folgende Betrachtungen:
„Die Liebe kann bewirken, dass man für die Dame
seines Herzenz sich schinden lässt und ihr aus seiner
— 31 —
eigenen Haut Handschuhe macht. Zuerst hatte ich den
Gedanken, mich so zu opfern. Wenigstens meine Seele i
habe ich zerrissen, hätte mich auf ein Wort von Euch '
in Stücke reissen lassen; und wenn die Handschuhe,
die ich euch dann hätte schicken können, nicht Hunds-
leder gewesen wären , so darf ich doch sagen, dass
sie von einer Person hergerührt hätten, welche Hunde-
liebe und Hundetreue besitzt." Dies war an G-raf Essex's
Schwester gerichtet. An Lady Knolles aber schreibt
er: „Die hundsledernen Handschuhe sind mit den süsse-
sten und kostbarsten Wohlgerüchen, nicht der Erde,
sondern des Himmels, mit Liebe und Treue parfümirt."
Gewiss, Perez hatte nicht übertrieben, wenn er sich
bei Heinrich IV., der ihn zu seinem Spanischlehrer
gemacht hatte, für diese Ehre mit den Worten be-
dankte: „Euere Majestät hat zu seinem Lehrer einen
gebildeten Barbaren gewählt, Barbar in Gedanken,
Barbar in der Sprache, Barbar in allem."
Während Perez den Cultostil über die Pyrenäen
einführte, kam mit Marini, dem „Cavalier Marin", wie
ihn die Franzosen nannten, der Stilo marinesco, der
Concettistil über die Alpen. Die Concetti sind dasselbe,
was Gongora „agudezas und finezas" nennt: concepta
acuta, eine Effecthascherei durch die Rhetorik der
Ueberraschung, durch blendende Antithesen, unerwartete
Zusammenstellungen. Das rhetorische Mittel, das Virgil
z. B. in dem Verse anwendet: nee capti potuere capi
etc., war für Marini und seine Schule der stereotype
Hebel des Effects, das A und das der Dichterei.
„Wer nicht Staunen zu erregen versteht, der gehe
lieber in den Stall", war das Feldgeschrei dieser Vers-
— 32 —
künstler. j Schon die Titel von Marini's Gedichten :
Lachgedichte, Zischgedichte, Kussgedichte, Thränen
etc. strotzen von Pretention. Sein Epos Adonis, 1623
in Paris erschienen, und durch eine Vorrede Chapelain's
der französischen Lesewelt empfohlen, hat nicht weniger
als 46,000 Verse. Marini's Phantasie verweigerte ihm
nichts, aber auch er vermochte ihr nichts abzuschlagen.
Neben diesen Einflüssen machte sich nun auch
derjenige der Schäfer- und der Heldenromane geltend.
Die Schäferromane tauchten zuerst auf. Im Anschlüsse
an gewisse alte Schriftsteller, wie Theokrit, Virgil und
Longus, hatten erst die Italiener, nach ihnen auch die
Spanier die pastorale Poesie mit Liebe gepflegt. Aber
der Begründer des eigentlichen Schäferromans ist ein
geborner Portugiese, Jorge de. Montemayor (1561 zu
Turin im Zweikampfe gefallen), dessen in spanischer
Prosa verfasste Diana 1560 erschien. Das Buch fand
entzückte Leser und begeisterte Nachahmer. In Frank-
reich war es Honor6 d'U£r6, der mit seinem weitläufigen
Eomane Astr6e**) (1610—23 Band 1—3, der vierte
Band erschien nach dem Tode des Verfassers) diese
Litteratur mit grossem Erfolge eröffiiete. Der Held
des Komans ist C^ladon, die Heldin Astr6e. Vorzüge
und Fehler des Buches erinnern an das spanische Vor-
^^) Henri Martin, Histoire fr., X, 480. Le genre pastoral pro-
duisit dans le conrs du XVP siecle quatre onvrages rest^s c^Ubres
entre beanconp d'autres: TArcadia de Sannazar, la Diane de Monte-
mayor, TAminta du Tasse et le Pastor fido de Gnarini, les deux der-
niers dans la forme dramatlqne. La France fnt enyaliie k son tonr
aprös TEspagne et Tltalie. Elle n'ayait rien perda pour attendre.
Elle eut le plus long, sinon le plus bei ouvrage de l'^cole pastorale.
— 33 —
bild.[l)ieUnwahrscheinlichkeiteii und die vielfache Ver-
schlingung der Abenteuer , eine theils auf mittelalter-
lichen! Zauherwesen, theils auf antiker Mythologie
fus^BÄde Maschinerie, eine empörend misshandelte Geo-
graphie und Zeitrechnung, die künstliche Verschlingung
der Haupthandlung mit einer Menge von Nebenhand-
lungen, die Darstellung wahrer Erlebnisse und die
Portraitirung der Herren und Damen des Hofes unter
dem transparenten -Schleier einer sentimentalen Schäfer-
welt, aber auch die klassische Reinheit der Sprache
und die feine Analyse der Gefühlswelt sind Montemayor
und d'Urf6 gemein, l Beide hatten ihre Erfolge zum
Theil der Neugier zuzuschreiben, welche in ihren
Büchern eine Chronik' des Hofes suchte und fand.
Ausserordentlich wirkte die Astree auf die Phantasie.
Es fehlte nicht an Vers^chen , jenes romantische Ar- ^
kadien zu verwirklichend Mlle. de Montpensier, Tochter u^
Gaston's d'Orleans, redigirte den Plan eines vornehmen
Schäferthums nach dem Muster der Astree, nur sollte
der lose Knabe mit dem verhängnissvollen Köcher
darin nicht walten dürfen und das Weib seiner vollen
Freiheit gemessen; Auch die französische Bühne wurde
1617 — 29 von diesem Einflüsse beherrscht und förderte
in jenen Jahren manches butterweiche Schäferstück
zu Tage. Die Tragödie des „göttlichen" Theophil Viaud:
Pyramus und Thisbe , begann den Reigen 1617 mit
einem ächten Produkte des spanischen* Cultismus *^).
*^) Von Theophile's Concetti-StU gibt uns Demogeot ein Muster:
n m'est ici permis de te nommer, Pirame;
n m'est ici permis de t'appeler mon äme.
H. B. 3
— 34 —
Nach dem durchsclilagenden Erfolge der Astree
schien es nicht gerathen, denselben Weg immer wieder
zu verfolgen, zudem mochte der schreiende Wider-
spruch zwischen der idyllischen Maske und dem wirk-
lichen Leben der Personen, welche unter jener Maske
sich verbargen, nachgerade lächerlich erscheinen. Eine
passendere Draperie für die Chronik der vornehmen
Welt glaubte man daher in der persischen, römischen,
arabischen Geschichte, an den Ufern des Hydaspes,
der Tiber und des JeniVs zu finden. Mit Bezug auf
die arabische Romantik kam der Anstoss auch diesmal
von Spanien her; denn Hita's Buch: Historia de las
guerras civiles de Granada, eine Geschichte mit roman-
tischen Zuthaten und eine der anziehendsten Dichtun-
gen der spanischen Litteratur, war schon 1604 in's
Französische übertragen worden. Wie entscheidend
überhaupt die spanisch-arabische Romantik in der ersten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts auf den französischen
Geschmack gewirkt haben muss, geht aus einer Stelle
von Frau von Moteville's Memoiren hervor, welche von
Me. de Sable Folgendes berichtet:
„Man fand so viel Schönes und Erhebendes in den
neuen Comödien und allen übrigen Werken in Versen
und Prosa, die von Madrid herüber kamen, dass sie
Mon äme! qu'ai-je-dit ? C'est fort mal disconrir.
Car l'äme nous fait vivre et tu me fais mourir!
II est yrai qne la mort qne ton amour me livre,
Est aussi seulement ce que j'apelle vivre. —
Weiterhin redet Thisbe den Dolch, womit sich Pyramus erstochen,
mit folgenden durch ihre Lächerlichkeit berühmt gewordenen Versen au :
Ha! Voici le poignard qui du sang de son maftre
S'est souillä lächement, il en rougit le trattre!
— 35 —
eine hohe Meinung von der durch die Mauren den
Spaniern überlieferten Galanterie bekommen hatte. Sie *■
war der Ansicht, dass es den Männern erlaubt sein
müsse, die Frauen anzubeten, dass der Wunsch, den
Frauen zu gefallen, zu den schönsten und grössten
Thaten antreibe, Geist, Tugend und Ritterlichkeit ver-
leihe, dass dagegen die Frauen, die geschaffen seien,
um bedient und angebetet zu werden, nichts als die
Verehi*ung jener gestatten dürften. Da sie diese An»
sieht mit Geist und als schöne Frau verfocht, so ver-
schaffte sie ihr bald eine allgemeine Geltung."
Aus solchen Anschauungen und Einflüssen ging
der französisch-spanische Heldenroman hervor, dessen
letzte und bedeutende Schöpfungen Madeleine de Scu-
derys Grand Cyrus und C161ie sind. Helden und Hel-
dinen dieser Dichtungen heissen Cyrus, Astyages, Crösus,
Mandane, Tomyris, Brutus, Lucretia, CoUatinus u. s. w.,
aber wie in den Schäferromanen hatte man unter die-
sen Namen keine Todten, sondern Lebende zu suchen.
Um dem gierigen Leser das lange Käthen zu sparen,
. cursirten Schlüssel, welche die Schnüre der Maske zu
(«^ „i,.iii
lösen verhiessen. Schon von der folgenden Generation
wurden diese langen Romane verlacht und als lang-
weilig verurtheilt, aber^für den heutigen Forscher be-
sitzen sie nicht nur stilistischen, sondern auch histori-
schen Werth. Sobald die baroke Maskirung beseitigt
ist, bleibt uns eine nach dem Leben gezeichnete, feine
und getreue Charakteristik der zeitgenössischen Ari-
" stokratie der Geburt sowohl als des Geistes. „Der Grand
Cyrus ist eine Portraitgallerie des XVII. Jahrhunderts,
von derjenigen Person verfasst, welche diese Gesell-
v^-
J
I
— 36 —
Schaft am besten kannte." — Cousin, dem wir dieses
Wort entnehmen, nennt MUe. de Scudery Addison's
französische Schwester und die Schöpferin des psycho-
logischen Eomans. Durch seine Arbeit „über die fran-
zösische Gesellschaft des XVII. Jahrhunderts nach den
Charakteristiken des Grand Cyrus" hat Cousin dem An-
denken der Schriftstellerin ein schönes Denkmal ge-
stiftet und der Culturgeschichte seines Landes einen
wichtigen Dienst geleistet.
In dieser Atmosphäre poetischer Anschauungen,
in dieser Strömung dichterischen SchaflFens bewegte
sich, theils empfangend, theils wirkend und tonbe-
stimmend, unsere Gesellschaft. Zu den oben geschil-
derten allgemeinen Einflüssen haben wir nun noch den
besondern Einfluss von zwei dem Kreise Rambouillet
selbst angehörenden Persönlichkeiten hinzuzufügen. Wir
meinen Balzac und Voiture.
Balzac erzählt uns selbst, er habe seinen Stil zu
Eom gebildet, wo er im Alter von 25 Jahren achtzehn
Monate verlebte. Drei Jahre später bezog er sein Stamm-
schloss in der Saintonge, welches er nicht über ein halb-
dutzend Mal verlassen hat, um kurze Besuche in Paris
zu machen. Als im Jahre 1624 der erste Band seiner
Briefe heraus kam, ward er mit einem Male der Ge-
feierte des Tages. Malherbe hatte dem französischen
Ohre die Reize des harmonischen Verses erschlossen,
und was Malherbe für den Vers geleistet, das leistete
Balzac für die Prosa. Er hatte entdeckt, was damals
alle, wenn auch unbewusst, vermissten und vergeblich
suchten. Mochte er auch selbst seine Kunst nicht im-
mer richtig verwerthen, genug, das Verdienst ist ihm
— 37 —
moht abzuspreißhen , jene Kunst geschaffen zu haben.
Wenn er die T)ratorische Form für die Hauptsache
nimmt, und darüber oft den Inhalt zu vergessen scheint,
so muss man ihm doch nachrühmen, dass er mit Be-
geisterung und Leidenschaft nach jener gerungen hat.
Seine Schwäche ist unschwer zu errathen. Das Er-
habene und Frivole, das Heitere und das Ernste kleidet
er in dasselbe Prachtgewand ; so wird er oft schwülstig
und masslos*®). - ,
In ^ einem gewissen Gregensatze zu Balzac steht
Voiture. Beide sind zwar gleichen Alters, beiden ist
zwar die Form, der Stil das Hauptgeschäft, beide haben
sich an lateinischen, italienischen, spänischen Mustern
gebildet, aber weiter geht die Uebereinstimmung nicht.
Während Balzac nach dem Erhabenen strebt, sucht
Voiture das GefäUige. Durch seine Rednerphantasie
weiss jener selbst das Frivole zu adeln, während dieser
auch dem Erhabenen eii^ galantes, zierliches, anmuthiges
Gewand zu verleihen sucht. Balzac ist immer ernst
und melancholisch, auch wen; i er gerne scherzen möchte ;
Voiture dagegen kann auch im Ernste das Lachen
nicht unterdrücken. Balzac's Gedichte sind fast alle
lateinisch, diejenigen Voiture's meist französisch, ob-
gleich er in Madrid „so schön wie Lope" spanische
Verse geschrieben haben soll. Voiture's lebhafte, von
Humor übersprudelnde Natur drängte ihn zum einfachen,
natürlichen Ausdrucke, zur Sprache Voltaire's. Den-
noch huldigt er, wenn er der Gloire wegen schreibt,
bis zu einem gewissen Grade der herrschenden Mode
^^) Siehe Anmerkung 5 Seite 16.
/
L
— 38 —
•
und schnallt sich die rhetorischen Stelzen an. Aber attch
dann noch gilt er seinen Zeitgenossen * als ein Muster
von Anmuth und Leichtigkeit. — Ein letzter Gegen-
satz zwischen Balzac und Voiture ist in beider Cha-
rakter und Sitten begründet. Balzac war von Herzen
fromm, ernst und sittenstrenge, Voiture ein ausge-
lassener Epikuräer, der in seinen alten Tagen noch die
Eouerie seiner losen Jugend mit den äusserlichen Uebun-
gen der Religion zu vereinigen wusBte.
Marinismus und Cultismus, Schäfer- und JSelden-
romane, Balzac und Voiture bestimmen also den Ge-
schmack und beherrschen die Phantasie unseres Kreises.
Die Rohheit und die Geschmacklosigkeit des XVI.
Jahrhunderts sind glücklich überwunden, man ist auf
dem Wege der Befreiung, aber die ersehnte Höhe und
ihre reine Luft sind noch nicht erreicht. Erst die fol-
gende Generation, die Männer der sechsziger Jahre, ein
Racine, ein Boileau, ein Moliere werden den Bei Esprit
theils durch ihre Kritik, theils durch das Beispiel
ihrer Dichtungen aus dem Felde schlagen und die
Epoche des reinen Geschmackes und der klassischen
PormenvoUendung eröffnen. Corneille gehört nach
Sprache und Geschmackstendenz der ersten Hälfte des
Jahrhunderts an. In seinen Versen spukt noch häufig
die Concetti-Manie und der Bei Esprit, und sein Pathos
wird mitunter durch lächerliche prosaische Wendungen
beeinträchtigt.
Dass der Salon Rambouillet dem Geschmacke seiner
Zeit gehuldigt hat, wird niemanden befremden. Dass
er aber mit der Zeit fortgeschritten, das Neuere und
Bessere erkannte und mit Freuden begrüsste, gereicht
— 39 —
ihm zum Verdienste. Eine gewisse Selbst ständ igkeit
und individuelle Freiheit in Urtheil imd Neigung war
dieser Kegion von jeher eigen. Während Montausier's
krankhafter Geschmack, um Tallemant's Worte zu ge-
brauchen, Pfeffer und Gewürze liebt, den Claudian dem
Virgil vorzieht und den Persius zum Lieblinge erkürt,
so schlachtete Frau Vön Longueville mit richtigem
Tacte Chapelain's unglückliches Epos, die Pucelle, mit
den Worten ab: „Schön aber langweilig", und Frau von
Sable macht Balzac den Krieg als dem Vater der Hy-
perbel. Der Cid wurde bei seinem Erscheinen vom Kreise
EambouUlet richtig gewürdigt und sein Dichter gegen
die Academie und den eifersüchtigen Cardinal lebhaft
in Schutz genommen. Als endlich Moliöre mit einer
dramatischen Satire auf den Bei Esprit und seine ver-
kümmerten^Ausläufer debütirte, wurde er vom Salon
Eambouillet mit rückhaltloser Freude begrüsst und
Manage soll damals erklärt haben : „Wir müssen ver-
brennen, was wir bisher angebetet, und anbeten, was
wir verbrannt haben" *^).
^') Ein Citat aus der französischen Geschichte. Bischof Bemi
sprach diese Worte zu Chlodwig, als dieser ins Baptisterinm stieg.
„Coarbe hninblement la tete, Sicambre, adore ce que tu as brul6 et
briile ce que tu as adore". y. Courgeon. Die Manage und Chapelain
hatten alle Ursache, an eine Umkehr zu denken; die Gesellschaft Scnd^ry
war weit gegangen in ihren faden Spielereien. Man sehe die „Gazette
de Tendre" und ihre Correspondenzen aus den Städten Nouvelle-Amitie,
Grand-Esprit, Oubli etc. „11 est parti d'ici", wird aus Nouyelle-Amitie
geschrieben, „deux dames de haute qualitä qni ont pris diverses rontes
pour aller k Tendre; car l'une s'est embarqu^e sur le fleuve d'Incli-
nation, et T^utre a pris le chemin de Tendre-sur-Reconnaissance. On
dit meme que d^s le premier jour, eile fat coucher ä Fetits-soins, et
— 40 —
Wenn sich der grössere Theil unserer Gesellschaft
zu den litterarischen Bestrebungen der Zeit mehr
receptiv als produktiv vg^lt und es nicht über poe-
tische Spielereien und Uebungen im Briefstil hinaus-
brachte, so waren seine Bemühungen für die Ausbildung,
Veredlung und Fixirung des gesprochenen Idioms desto
lebhafter und wirksamer. Hier in der That wurde jene
elegante und durchsichtige Conversationssprache ge-
boren, die seither Gemeingut der gebildeten französi-
schen Gesellschaft geworden ist, und mit dem Er-
scheinen von Pascal's Provinciales den mühsamen latini-
sirenden Stil der Cabinetspedanten auf immer aus den
Büchern verdrängt hat. Man hüte sich die affectirten
Metaphern der Pr6cieuses ridiculesundder Somaize'schen
Sammlung unserem Kreise zuzuschreiben. Wir werden
später seihen, wohin sie zu verweisen sind. Vielmehr
sind es die Komane der Scud^ry, die Briefe Voiture's und
Eene Bary's Esprit de Cour, welche von jener Sprache
einen annähernden Begriff geben. Die Arbeit unseres
Kreises an der Ausbildung der Muttersprache war
keine unbewusste. Man strebte ausgesprochenermassen
nach dem correcten, harmonischen, edlen Ausdrucke
und liess sich gerne in Debatten ein über Aussprache,
Grammatik und Phraseologie. Soll man aussprechen
„houmme" oder „homme" , „Roume" oder „Rome",
„sarge" oder „serge" ? Ist „tete oder „teste", ist „tous-
jours" oder „toujours" zu schreiben ? Sind „rencontre,
qn'eUe ne fit que diner ä Complaisance." Und so geht es fort durch
25 Seiten (v. Colombey. 63 — 87, Gaz. de Tendre ans den Ms. Conrarts).
Die Carte de Tendre geben Colombey und Bandissins Moliäreübersetzang.
— Die Jonrnee des Madriganx stammt ebenfalls ans den Ms. Conrarts.
— 41 —
equivoqne" männlich oder weiblich? Soll man sagen
„que je die" oder „que je dise" ? — Die grosse Au-
torität in solchen Zweifeln war Vaugelas, der seine
zahlreichen Entscheidungen 1647 unter dem Titel „Ee-
marques sur la langue frangaise" herausgab. Man in-
triguirte für und wider auftauchende oder verschwin-
dende Wörter und hielt sich des Sieges gewiss, wenn
Monsieur de Vaugelas seine Unterstützung versprach.
„Wenn feliciter noch nicht französisch ist", schreibt
Balzac, „so wird es dieses Jahr es noch werden ; Herr
von Vaugelas hat mir versprochen, dem Worte nicht
feindselig zu sein" *^).
*8) Aus Rene Bary's Rhetorik führt Livet folgende Wendungen
an, die das 1663 erschienene Buch als ganz neu bezeichnet: „C'est la
plus naturelle des femmes. — II a de la qualitä, du bien, de l'esprit.
— H est brouill6 avec un tel. — II est brouül6 avec le bon sens. —
A ces mots il se r^orie. — 11 a le sens droit. — Tour de visage. —
Tour de vers. — Tour d'esprit. — Les affaires ont tourn^ heureuse-
ment. — Je me connais un peu en gens. — C'est un coup sftr, jouer
ä coup str. — II sait prendre ses mesures. — II m'a fait mille amiti^s.
— II agit Sans fa^on. — Cela est assez de mon goüt. — II n'entre
dans aucun detail. — II s'est embarqu6 en une mauvaise affaire. — II
a pris le meilleur parti. — II pousse les gens k bout. — Sacrifier ses
amis. — Je ne veux pas etre sa dupe. — Cela est fort. — Elle est
fort contente d'elle-mgme. — Je vous sais bon gre de m'ayoir dit yos
sentiments. — Briller dans la conversation. — II s'attire de Testime.
— II ne f aut pas taut raffiner sur la langue. — Etudier le goüt des
gens. — Faire des avances. Faire figure dans le monde.
Somaise gibt eine Beihe pretioser Wendungen, die seither das
Bürgerrecht in der Sprache erlangt haben und daher nichts Auffallen-
des mehr an der Stirne tragen. Dahin gehören :
Bevetir ses pensöes d'expressions nobles et vigoureuses (Corneille
zugeschrieben). — ün ameublement bien entendu, un esprit d'expädients,
faire l'anatomie des coeurs (MUe. de Scud^ry zugeschrieben). — Une
grande s^cheresse de conversation, sec de conversation (Balzac zuge-
^ 42 —
Aber auch durch die blosse Thatsache seines Da-
seins scheint der Salon Rambouillet gewirkt zu haben.
Nach seinem Vorgange bildeten sich, zuerst in den
aristokratischen und litterarischen Regionen, dann auch
in der bürgerlichen Welt eine Reihe von ' Cirkeln,
welche bald rein gesellschaftliche, bald ernstere Zwecke
verfolgten. Die Vicegräfin von Auchy, ein betagter
Blaustrumpf, glänzt in ihrem Pedantenkreise mit geist-
lichen Manuscripten, die sie — gekauft hat, Fräulein
von Montpensier übt sich mit ihren Getreuen im Ent-
werfen von Charakter Skizzen bekannter Personen, sogen.
schrieben^). — Mes cbevenx sont d'un blond Bardi (= roux) (Me. de
Greuoniliöre zugeschrieben). — Le mot me manqae. — D^penser une
heure. — Chätier son style. — Je vous ai la derniere Obligation. —
Cela est du dernier bourgeois ( - vulgaire). — Perdre son s^rieux. —
Kude (Somaize bemerkt hiezu: II faut avoir hum^ l'air du Rhin et
respirö ä Tallemande pour le prononcer). — Je suis si surpris que les
bras m'en tombent. — Epouvantablement, terriblement. — II a la
taille ^l^gante. - Les termes de corps de garde. — Elle est belle k
faire peur. — Une intelligence ^paisse, des vers ^pais. — Tenir bureau
d'esprit (Somaize I, 63, hat zwar nur die Phrase: Les pr^cieuses ont
tenu bureau tout le midi). — Etre d'une humeur communicati?e. —
N'avoir que le masque de la vertu. — Sobre dans les discours. —
Amitie indue. — Chose raisonnable. — ProcMi irrigulier. — Danser
proprement. — Congm, incongrn. — Lire k pleine beuche. — Avoir
l'äme sombre. — Etre d'une vertu severe, d'une vertu commode. — Dire
des inutilites. — (Jn procede marchand. - S'encanailler. — Etre penetre
de. — Un concert de rares qualit^s. — Laisser mourir, tiranniser la con-
versation. — Avoir le rire fin. — Rire d'intelligence avec qn. Faire
des rudesses ä qn. — Avoir toute son äme dans ses yeux. — Pag. 179, 1,
gibt Somaize ein vier Seiten umfassendes Verzeichniss pretiöser Ortho-
graphie, darunter: t^e, auteur, mechant, d^funt, toüjonrs, solennite,
d^ja, vü, tr^sor, äge, avis, connait, savoir, avocat für: tete, autheur,
meschant, deffnnot, tousjours, solemnite, desja, veu, thresor, aage, advis,
connaist, scavoir, advocat.
— 43 —
Portraits nach dem Muster des Grand Cyrus, die Mar-
quisin von Sable schleicht sich aus dem Hotel Eam-
bouillet weg, um einen Jansenistensalon zu eröfTnen,
wo Pascal und Larochefoucauld sich treffen ; einen fri-
volen Gegensatz zu dieser Welt bildet der Salon des
Cardinais von Retz, wo lebhaft politisirt und intriguirt
wird.
Auch die Litteraten regen sich. Manage, der Va-
dius von Moliöre's „Femmes savantes", ein gefürchteter
Streithahn und ein bissiger Kritikus, der einstige Lehrer
und hoffnungslos schmachtende Anbeter der spätem
Frau von S6vigne, hält seine litterarischen Mittwochs-
gesellschaften (Mercuriales), während .Fräulein von
Scud^ry nach 1650 das Erbe des Salons Rambouillet
antritt. In ihren Samstagssoireen treffen wir wieder
Chapelain, Conrart, Pellison, Sarasin, Menage nebst
den Herzogen von Montausier und Saint- Aignan , die
vornehmen Frauen von Sable, Rohan, Sevigne und La
Suze mit der bürgerlichen Cornuel und vielen andern
ihres Standes. Hier erblüht die ä^t pretiose Conver-
sation, man dichtet, liest und discutirt Sonnete, Madri-
gale, Räthsel und andere Spielereien. Hier wird auch
die galante Karte „des Landes Zärtlich" mit ihrem
Lac de l'indifference, ihren Flüssen Estime, Inclination,
Reconnaissance , ihren Städten Tendre sm- Estime,
Tendre sur Inclination , Tendre sur Reconnaisance,
ihren Dörfern Jolis vers, Billets doux etc. ausgeheckt.
Auf Chapelain's Rath fügte sie Fräulein von Scudery
in den ersten Band ihrer „Clelie" ein. Sie passte zu
dem römischen Heldencostüm wie eine Faust aufs
Auge und wurde, wie der Roman überhaupt, mit Spott
— 44 —
und Hohn empfangen. Einige Jahre später verwendete
Moli^re in seinen Pr6cieuses ridicules die alberne Er-
findung als ein komisches Mittel von trefficher Wirkung.
Für die Samedis war der 20. December 1653 ein grosser
Tag: La journöe des Madrigaux, eine wahre Schlacht
von präparirten und improvisirten Madrigalen bei An-
lass eines von Conrart der Wirthin geschenkten cri-
stallenen Petschafts. — Die Damen dieses Kreises dach-
ten jedoch auch an anderes als an galante Litteratur.
Einmal z. B. fertigten sie zwei grosse Puppen an , als
Modetypen für die Damenkleidung.
Man kann sich denken, was für Fratzen und Cari-
caturen der Bei Esprit in den bürgerlichen Regionen der
Hauptstadt und der Provinz erzeugte, wo das Correctiv
des vornehmen Tones und der feinen Bildung, des
Humors und der Aufklärung nicht mehr zu finden war.
Hier wurde der Name Pr^cieuse vollends zum
Spott- und Schimp^fnamen und seine Trägerin zum
dankbaren Typus des Lustspieles. Die Verarbeitung
desselben für die Bühne und den Roman liess denn
auch nicht lange auf sich warten. Schon Desmarets
hatte 1637 den Muth gehabt, das Lächerliche des Pre-
tiosenthumes auf der Bühne zu behandeln, und war mit
seinem Stücke „les Visionnaires" Vorbild, zum Theil
sogar Quelle von Moliere's Femmes savantes geworden.
Im Jahre 1656 sodann war der Abbe de Pure mit einem
satirischen Romane in vier Bänden: La Precieuse ou
le Myst^re des Ruelles **), aufgetreten, nachdem er dem
*^) In Liyet's Somaize II, 334— > 840 findet sich ein Auszug aus
diesem seltenen Buche«
— 45 —
italienischen Theater in Paris vorh er schon ein kleines,
jetzt verlorenes Lustspiel über denselben Gegenstand
geliefert hatte. Dass ein solches existirte, geht aus
Somaize^s Vorreden unzweifelhaft hervor. Aber den
Hauptschlag gegen die Narrheiten des Bei Esprit führte
Molifere 1659 in seinen Pr6cieuses ridicules, mit welchem
Stücke der aus der Provinz nach langjährigen Wande-
rungen in die Vaterstadt zurückkehrende Dichter debü-
tirte. Der Gegenstand war selbst auf der Bühne nicht
mehr neu *®), Meliere scheint ihn, wie später häufig noch
geschah, von den „Italienern", d. h. der italienischen
Pariserbühne geborgt zu haben. Moland in seiner Mono-
graphie über Moliere's Verhältniss zum italienischen Thea-
ter hat in der That zur Genüge nachgewiesen, dass Moliöre
in der Periode seines Werdens „sein Eigenthum" recht
häufig dort gefunden, während später die Italiener ihrer-
seits als Borger bei Moli^re erscheinen. Auch der Um-
stand, dass die Precieuses in Prosa verfasst sind, kann
nicht, wie Tascherau behauptet und P. Lindau nach-
*°) Cousin, Soc. fr., II, 297, urtheilt folgendermassen über Mo-
li^re's Pr^cienses: „C'est le dehnt nn peu grosBier encore de Moli^re,
c'est une charge vive et comiqne mais burlesque et beaucoup trop
vant^e, qui sent encore la province, les pr^cienses vraiment ridicules
que lui signalait l'abbe de Pure. La Precieuse de l'abbe de Pure,
voilä, nous croyons Tavoir suffisamment ^tabli (Me. de SabU, I, 36;
p. 66 der neuen Ausgabe), la veritable source des Precieuses ridicules".
— Die Comödie des Abbe de Pure erwähnt auch die Histoire du th^ätre
frangais par les freres Parfait, VIII, 318 und 3*21. — Am oben be-
zeichneten Orte: Me. de Sablä, pag. 66, sagt Cousin: Le 18 novembre
1659, Moli^re donna les Precieuses ridicules, suivant le goüt pubUc
plntot qu'il ne le devangait, se faisant rinterpr^te d'une opinion d^jä
puissante et lui assurant la yictolre, accablant les precieuses ridicules,
mais ne leur portant pas les premiers coups.
— 46 —
schreibt, als eine« überraschende Neuerung angesehen
werden. Die zwei noch erhaltenen Farcen aus Moliere's
Jugend: „Le M^decin volant" und „La Jalousie du
Barbouill6" sind ja auch in Prosa abgefasst, und der
Abb6 d'Aubignac hatte sogar drei Tragödien (Cymide
und la Pucelle d'0rl6ans, beide 1642, und Z6nobie
1647) in Prosa geschrieben. Der Erfolg vop Moli^re's
Pr^cieuses erklärt sich vielmehr einfach daraus , dass
Molifere mit überlegenem Witze eine bereits verurtheilte
Geschmacksrichtung verhöhnt, sie der VeraoEtung und
dem Spotte überliefert hat, dass er das In genialer
Weise ausgesprochen, was ein jeder schon im Herzen
trug. Das Hotel Eambouillet l^latschte Beifall und die
Lächerlichen unter den Kostbaren „mussten sich auf
eine Zeit verbergen". — Molifere's Stück war ein Er-
eigniss, es war das Manifest einer gegen die Herrschaft
des Bei Esprit gerichteten Revolution. Mit Eeuer warf
sich die kampfeslustige Jugend in das Gefecht.
Bekanntlich hat Boileau im Jahre 1710 eine gegen
die Romane der Scud^ry gerichtete Satire „Les Heros
de Roman, dialogue ä la maniöre de Lucien" unter
seine Werke aufgenommen. Er nennt das Jahr ihrer
Entstehung nicht-, sondern bemerkt in der Vorrede
nur, sie sei entstanden, als die Regungen des satirischen
Geistes in ihm mächtig wurden. Nun aber datiren
seine ersten Satiren aus den Jahren 1661 und 1662.
Die Vermuthung liegt also nahe, dass Boileau jenen
Dialog unter der unmittelbaren Wirkung von Molibre^
Stück verfasst hat. Dazu würde auch passen, was er
im Weitern sagt, dass er öfters durch den mimischen
Vortrag desselben einen Freundeskreis erheitert habe.
— 47 —
Denn das in geharnischter Prosa abgefasste G-espräch
musste im unmittelbaren Anschlüsse an Moli^re*s Lust-
spiel in dem Momente, da die Frage noch eine brennende
war, am intensivsten wirken, wesshalb man dennoch
die Entstehung dieser Satire in's Jahr 1665 verlegen
will, ist mir daher nicht klar; ich wenigstens habe
Icein entscheidendes Zeugniss finden können, das dieses
Datum bestätigen würde, während anderseits die an-
geführten Umstände auf eine frühere Epoche hinzuweisen
scheinen. Boileau's G-espräch ist lesenswerth, der frische
Ton und die Tendenz desselben erinnern an Göthe's
„Götter, Helden und Wieland".
Nicht nur fähige Köpfe, wie Boileau, sondern auch
Schwätzer und Schmierer wie Somaize fühlten den
durch Moli^re's durchschlagende Satire gegebenen An-
stoss. Schqn einige Monate nach der Aufführung der
Precieuses liess Somaize unter dem Titel „Dictionnaire
des Precieuses" eine kleine Sammlung pretioser Redens-
arten von Stappel, in welcher die von Moli^re den
Kostbaren in den Mund gelegten Wendungen in erster
Linie figuriren. In Herrig's Archiv (1872) glaube ich
durch sorgfältige Zusammenstellung det in Somaize's
Vorreden gebotenen Daten den Nachweis geführt zu
haben) dass Livefs Behauptung, als hätte Moliöre aus
Somaize geschöpft, durchaus unhaltbar ist, dass vielmelir
umgekehrt Somaize aus Moli^re's Stück geborgt hat. —
Somaize, nicht zufrieden mit jener kleinen Arbeit,
publicirte Schlag auf Schlag: Le Grand Dictionnaire
des Precieuses, ein alphabetisches Verzeichniss von 600
Kostbaren unter ihren arkadischen Namen (Artemise,
Aramante, Amaltide etc.), an die sich kurze bio-
L--'
— 48 —
graphische und galante Notizen knüpfen, sodann eine
Coniödie in Prosa: Les v6ritables Pr6cieuses, hierauf
eine elende metrische Yersion von Moliöre's Precieuses,
endlich ein burleskes Stück : Le Proc^s des Precieuses.
- Die Vorreden verrathen einen faden und prahlerischen
Gecken, der sich damit brüstet, dass er in so kurzer
Zeit so Vieles zusammengeschrieben, und der den
genialen Dichter der Precieuses ridicules von Herzen
hasst und, wo er kann, mit Koth bewirft. Schon die
Zeitgenossen scheinen Somaize nach Gebühr behandelt
zu haben. Er wird auch nicht einmal genannt, imd
wenn er nicht selbst aussagte, dass er Secretär der
Connetable Colonna, Mlle. de Mancini, sei, so wüssten
wir auch gar nichts aus seinem Leben.
Meliere selbst aber kehrte noch zweimal zum Thema
der Pretiosität zurück, 1671 in dem kleinen Stücke:
La Comtesse d'Escarbagnas, und 1672 in den Fepimes
savantes, welche sich zu den Precieuses ridicules wie
das ausgeführte Gemälde zur flüchtigen Skizze, die
kunstgerechte Charaktercomödie zur muthwilligen Farce
verhalten.
Die eben gegebene Uebersicht der die Kritik der
^ Pretiosität enthaltenen Litteratur wäre unvollständig
ohne einen nochmaligen Hinweis auf das Bild, das die
Scud^ry selbst von der falschen Pr6cieuse Damophile
entworfen, dessen hauptsächliche Züge bei Cousin Soc.
fr. n, 299, zu finden sind. So erscheint merkwürdiger-
weise die durch Meliere und Boileau so hart mitge-
nommene Dichterin diesmal als Kampfgenossin des
grossen Komikers und verfolgt mit dijesem ein und
dasselbe Ziel.
— 49 ^
Nach Somaize, de Pure und andern haben Walke-
naer und Livet das Bild einer Kuelle (Assemblee),
ersterer des Hotels Eambouillet, letzterer einer Kost-
baren zweiten Eanges entworfen. Das blaue Zimmer
der Marquisin war durch eine spanische Wand in zwei
Räume geschieden. In dem einen, unter den vergolde-
ten Säulen des Alkovendaches und um das Bett der
Marquisin herum, in der sogen. Ruelle oder Bettgasse,
d. h. dem beiderseitigen Raum zwischen Bett und Wand,
fand sich die Assemblee zusammengedrängt, die Damen
des Adels in Lehnstühlen, die bürgerlichen auf Tabourets,
die Männer theils gruppenweise beisammenstehend, theils
auf ihren Mänteln zu den Füssen der Frauen gelagert,
eine bunte, mit einer Fluth von Bandschleifen, Schnüren,
Spangen, Federbüschen, Spitzen geschmückte Menge.
— Von den Formen und der Etiquette der lächerlichen
Precieuse entwirft Livet ein ähnliches Bild. Der pre-
tiose Belisander ist aus der Provinz nach Paris ge-
kommen. Ein galanter Abbe, Brundesius, hat ihm ver-
heissen, ihn folgenden Morgens der Kostbaren Cleogarite
vorzustellen. Belisander trifft seine Vorbereitungen,
/ liest bis tief in die Nacht hinein einen galafateh Roman
und entwirft das Schema der Couversation. Er wird so
und so reden, man wird so und so antworten, dann
wird er das Gespräch auf das meditirte Hauptthema
lenken. Um neun Uhr früh begibt er sich zu Brun-
desius, gepudert und parfümirt, den Schnurrbart auf-
gedreht, mit aromatischen Pulvern gefüllte Seidensäck-
chen in der Tasche, an den Hosen sechs bis sieben
grelle Bandschleifen, am Knie die mit dreifacher Spitzen-
gariiitm' versehenen Canons von gesteifter Leinwand
H. B. 4
— 50 —
nebst galanten Strumpfbändern, das Wamms mit Tressen
und Nesteln überladen, den Hut mit einem Gold- und
Silberband geziert und beschattet von imposantem Feder-
busch, die Handschuhe von" lebhaftem G-elb, um den
Unterarm ein schwarzes Band, damit die Weisse der
Hand, auf der Wange ein umfangreiches Schönheits-
pflaster, damit der matte Teint zur vollen Geltung ge-
lange. Brundesius besteigt den Wagen seines Freun-
des und fort geht's nach Cleogaritens Wohnung. Hier
wartet schon eine Reihe von Kutschen. Der Thür-
hammer ist mit Lumpen umwickelt, damit die^Conver-
sation des Morgensalons durch seine Schläge nicht ge-
stört werde. Ein Lakai führt die Ankommenden ein.
In ihrem auf eine Estrade gestellten, durch eine spanische
Wand umschränkten Bette sitzt die Kostbai'e selbst,
von vagem Helldunkel umschlossen, „damit man nicht
so leicht bemerken könne, dass ihr Antlitz kein courantes
Geldstück mehr ist". Li der Ruelle sitzen in Armstühlen
die vornehmen, auf Sesseln und Schemeln die bürger-
lichen Damen, die meisten drehen und schwingen ein
kokett mit Bändern geschmücktes Rohrstöckchen. Beli-
sander wird vorgestellt, er tritt an's Bett heran und küsst
die Kostbare auf die Wange, dann breitet er seinen Mantel
zu Füssen einer Dame aus, lässt sich nieder und beginnt
nun seine wohl überlegten Galanterien vorzutragen und
{^' die zum voraus erwarteten Antworten entgegenzunehmen.
Hier endlich befinden wir uns in den Regionen
einer bis zum Ekel getriebenen Prüderie und acht
pretioser Rhetorik. Hier begegnen uns die Schwestern
Philaminte's , welcher Meliere (Femmes sav. HI, 3),
die Worte in den Mund legt:
— 51 —
„Doch nnsers Strebens allerhöchstes Ziel,
Ein edles Werk, das ich mit Stole betrachte,
Ein rühmlich Unternehmen, das dereinst
Mit höchstem Dank die Nachwelt preisen wird,
Das ist die Streichung jener garst' gen Stiften**),
Die zum Scandal der Welt, die schönsten Worte
Entstell'n und schänden; schon yon Alters her
Elender Possenreisser schmutzig Spielzeug,
Gemeiner Wortverdreher schaler Spass,
Und ew'ger Quell nichtswtird'gen Doppelsinns,
Mit dem man zücht'ger Frauen Ohr verletzt.**.
Die Sucht, in den harmlosesten Wortverbindungen
und Silben etwas Zweideutiges oder Schmutziges heraus-
hören zu wollen, hat ihren Vertretern nie sonderliche
Complimente eingebracht. Schon Quintilian fertigt sie mit
den Worten ab: „Culpa est legentium non scribentium".
Was die Umgangssprache dieser untern Regionen |
der Pretiosität anbelangt, so mochten einzelne aller-
dings die Ziererei sehr weit treiben; dennoch muss
angenommen werden, dass Somaize undMoli^re, letzterer
mit dem Rechte des Comikers, manche Wendung ge-
macht oder wenigstens nach pretiosen Bücherstellen
construirt haben. Dass man beispielsweise in den ge-
nannten Kreisen den Spiegel nur „le conseiller des
gräces", den Lehnstuhl „la commodite roulante", die
Mittagsstunde „Vheure des n6cessit6s m6ridionales" ge-
*^) „Le retranchement de ces syllabes sales** (Möllere). Belege
hiefür im Eclaircissement sur les obsc^nit^s yon P. Bayle, Dict. IV,
im Anhange. — Man wollte un sonnet bien congu, confiture, eeu, cul
de sac, sogar ,,la lettre qui suit le p**, etc. etc. ausmerzen. Vgl.
Cic. Pseto, Ep. IX, 22. Cic. Or. c. 45 am Ende. Quint. VIII, 3, wo
es unter anderem heisst für: cum notis hominibus stehe besser: cum
hominibus notis. Vgl. auch Moli^re, C. d'Escarb, Scene 19. — • Die
Griechen nannten solche obscöne Anklänge to xuxi/mpuTov.
— 52 —
nannt habe, ist nicht wohl glaublich. Immerhin aber
dürfen auch diese Ausdrücke als Bildungen im pretiosen
Geschmacke und als schlagende Beispiele von dessen
Verirrungen betrachtet und benutzt werden**).
'') Auszug ans Somaize's Dictionnaire des Fr^cieases: Ruelle
und reduit für Salon. — Le preeieux für le bondoir. — F.e zephir,
der Fächer. — I/ardent, die Kerze. — L'instrument de la proprete,
der Besen. — Les agreahles menteurs , die Komane. — L'dme des
piedSf die Tanzmusik. — Le mal d'amour permis für la grossesse.
— Les quittances d'amour für les cheveux gris. — Veconomie de la
tele, die Frisur. — Les chers souffrants, die Füsse. — La lucame
des antipodes , das Watercloset. — La soucoupe inferieure, für la
chaise perc^e. — Le ruse inferieur, (von den Fr^cienses neuerer Zeit
le biens^ant genannt) culns. — F^e eher necessaire , das Trinken. —
La quitterie» die Trennung, der Abschied. — L'affronteur des tem/ps,
für le chapeau. — Une \)%sion ridicule, eine lächerliche Idee. — La
modeste, la friponne, la secrete, die drei juppes. — Les trönes de la
pudeur, die Wangen. — La mouvante, die Hand. — I^e muahle, der
Himmel. — Le suhtü, der Ffeffer. — Termes de cahinet, für termes
choisis. — L'invisible, der Wind. — Un verre d'eau tout unie, Wasser
ohne Wein. — Les anciens, für les d^sirs. — IJamour pm, Vabim^
de la liberte, für le mariage. — Les mots du bei usage, die modischen,
galanten Ausdrücke. — Un oui fagonne, ein abgenöthigtes ja. — Le
mieux d'une personne, die Vorzüge einer Ferson. — Un meurtre epais,
ein grässlicher Mord. — Älcoviste, Besuchereiner Ruelle, das Fem.
dazu : une precieuse, une illustre (preciosite, zuerst von Cotln gebraucht,
Livet, 302). — Une diseuse de pas vrai, für une menteuse. — l^es
avortons du Pamasse, schlechte Foeten. — Vn bdtard d'Hippocrate»
ein Arzt. — Un inquiet, ein Geschäftsmann. — Un inutile» ein Lakai.
— La cimmiode, die Zofe. — Un mulet baptise. ein Sänftenträger. —
Un peuple de frange, eine unordentliche Gesellschaft. — Un necessaire»
un fidele, ein Diener. — L'dme de la nature» der Mensch. — Une
chere, eine Freundin. — Un nwice en ehaleur, ein angehender Lieb-
haber.
Fousser el dernier doux, sehr galant sein (pousser, pousseur des
sentiments etc., in diesem Sinne nicht selten auch bei Moli6re). —
Pousser le dernier rüde contre qn. , einen zornig anfahren.* — Etre
— 63 —
Wir sind am Ende unserer Darstellung angelangt.
Wir haben das Pretiosenthum von seinen Anfangen
bis in seine letzten Ausläufer verfolgt. Boileau und
Moliere vernichteten es im Urtheile der Gebildeten, in
der Achtung der Verständigen. Aber in den unteren
mal conditionne, unwohl sein. — Etre sur un grand fecond, frucht-
bar in galanten Redensarten sein. Etre de la petite vertu, für dtre
galante. — Etre de la petite portion, wenig Vermögen besitzen. —
Etre dans son bei aimable, schön nnd liebenswürdig sein. — Faire
parier le muet, mit dem Thürhammer klopfen. — Administresi-moi,
für donnez-moi. — Donner dans le vrai de la chose, das Eichtiee
treffen. — Donner dans l'amour permis, heirathen. — Prendre une
physique, Arznei nehmen (wie engl.: to take physic). — Faire assaut
d'appas avec qn.» in Reizen wetteifern mit. — Savoir le fin du do-
mestique , ein Hans genau kennen, für das moderne: connaitre les
aitres d'une maison. — Ävoir Vdme bien demeuree, langsamen Geistes
sein. — Ävoir du fier contre qn., einem grollen. — Avoir la bouche
bomee, einen kleinen Mund haben. — Ävoir le c<Bur enfrange de
mouvement, ein viel bewegtes Herz. — Prendre figure, sich setzen. —
Servir de mouehe ä qn,, den Vorzügen eines Andern als Folie dienen,
wie das Schönheitspflaster dazu dient, die weisse Hautfarbe hervorzu-
heben. — Connaitre la force des mots et le friand du goüt. — Delaby-
rinther les cheveux, entwirren. — Lustrer le visage, schminken. —
Savoir le bei air des choses, den galanten Ton kennen. — Presider
chez qn., etre de qiuirtier chez qn., zu den ständigen Gästen einer
Ruelle gehören.
Je pätirai bien par le contre coup de votre quittement. — Le
chien s'ouvre furieusement, canis cacat abunde. — Je n'ai pas de quoi
foumir ä ce compliment, ich weiss das Compliment nicht würdig zu
beantworten. — Cela excite en moi le naturel de Vhomme, cela me
fait rire. — Madame est en commodile d'etre visible. — Les pr^cieuses
ont tmu bureau tont le midi (Som. I, 63) erklärt mit: ont ^te en
conversatlons. — J'ai prete mon crime ä faire votre mort (Corneille).
— Ah, ma chere» je ne sais pas comment votre chere a pu se r^soudre
d brutaliser avec un komme purement de chair, ich weiss nicht, wie
sich unsere Freundin dazu entschliessen konnte, einen so materiellen
Menschen zu heirathen.
— 54 —
Schichten der Gesellschaft, in den Kreisen der Halb-
gebildeten, der schlechten Poeten, der elenden Eoman-
schreiber, wucherte es einstweilen fort. Im folgenden
Jahrhundert noch begegnen wir einem Dichter, Hou-
dard de la Motte (gest. 1731), der sich in den ge-
suchtesten Bildern der Pretiosität zu bewegen liebt.
Einen Würfel nennt er : Toracle du destin, einen Garten-
zaun: le suisse du j ardin, eine Sonnenuhr: le greffier
solaire. Aber aus der Sprache der feinen Gesellschaft,
aus den Büchern der als Idassisch geltenden Schrift-
steller war zu la Motte's Zeiten der Bei Esprit mit
allen seinen kostbaren Zierlichkeiten schon längst ver-
schwunden. Selbst die kunstvoll abgerundete, im stren-
gen Geschmacke ausgeführte Periode Ludwig's XIV.
hatte bereits dem behenden, schneidenden und klein-
gehackten „Style coup6" weichen müssen. Perrüke
und Periode waren beide zugleich gestutzt worden.
Eine deutsche Prinzessin am Hofe
Ludwigs XIV.
lanchem unter Ihnen ist der Grenuss zu Theil
geworden, die prächtige Schlossruine von Heidelberg
zu betrachten, — sei es an einem schönen Abend,
wenn die rothen Mauern des Riesenbaues empor-
leuchten aus dem saftigen Grün des Parkes, sei es
in einer lauen Nacht, wenn das zitternde Mondlicht
die öden Gesimse und die ausgebrannten Fenster um-
spielte. Das Bild, welches diese Worte der Phantasie
vorführen, steht in engster Beziehung zum Thema dieser
Blätter. Ich möchte Einiges mittheilen aus dem Leben
und dem Briefwechsel jener Prinzessin Elisabeth Char-
lotte, welche, geboren im Schlosse zu Heidelberg, ver-
mählt mit Ludwigs XIV. Bruder, dem Herzoge von
Orleans, durch ihre Heirath die unschuldige Ursache
der namenlosen Verheerung' der Rheinpfalz und der van-
dalischen Zerstörung ihres Stammschlosses geworden ist.
Elisabeth Charlotte *) wurde vier Jahre nach dem
^) Die historischen Notizen dieses Vortrages sind der Geschichte
der Bheinpfals von Ludwig Hänsser, so wie den Einleitungen su
Elisa^eth's Briefen ron W. Menzel und L. y. Bänke entnommen.
— 5G —
Abschlüsse des dreissigjährigen Krieges, also im Jahre
1652 geboren. Aus ihrem Jugendleben ist uns nicht
viel bekannt. Als kleines Kind ward sie nach Hannover
geschickt, um bei ihres Vaters Schwester, der Herzogin
Sophie, ihre Erziehung zu erhalten. Sophie selbst und
ein Fräulein von Offein, die spätere Frau von Harhng,
erzogen das muntere, an Leib und Seele kräftige Kind.
Im neunten Jahre kehrte Elisabeth nach Heidelberg
zurück. Der bürgerliche Ernst und die zwanglose
Heiterkeit der pfälzischen Hofhaltung sagten ihrem fast
männlichen Charakter ungemein zu und Hessen ihr
unauslöschliche Erinnerungen zurück. Der Vater, Kur-
fürst Friedrich V., hatte grosse Freude an seiner Lise-
lotte und zog sie allmählich ganz in sein Vertrauen,
war sie doch ihres Vaters lebendiges Ebenbild. Darum,
liess er es auch wohl geschehen, dass sie mehr als
einen Freier von der Hand wies, um in ihrem lieben
Heidelberg noch länger weilen zu können. Zuletzt fiel
sie freilich ein Opfer der politischen Klügelei ihres
kurzsichtigen Vaters. Durch die glänzenden Aussichten
auf französische Verwandtschaft bethört, ging derselbe
auf die von Ludwig XIV. vorgeschlagene Heirath mit
dem Herzoge von Orleans ein und bemerkte nicht, dass
der französische Despot schon damals keine andere
Absicht hegte, als ein zweideutiges Erbrecht der fran-
zösischen Krone an das pfälzische Land zur Geltung
zu bringen. Unter Thränen willigte die gute Liselotte
in die Vermählung mit dem kleinen, weibischen Gecken,
dem faden und süssen Männchen ein. Ihr Vater be-
gleitete sie bis Strassburg. Sie sollte ihn hier zum
letzten Male sehen. Dann gings weiter nach Metz,
— 57 —
woselbst die Braut im November 1671 ihren protestan-
tischen Glauben feierlich abschwören musste. Sie trennte
sich da nicht nur von ihrem Bekenntnisse, sondern
auch von Allem, was bisher ihr Leben und ihr Glück
ausgemacht, um am Hofe von Versailles eine Existenz
zu finden, die ihren Neigungen, ihren Gewohnheiten
schnurstracks zuwiderlief. Während ihr verkommener
Gatte nach wie vor ein Sclave seiner Favoritinnen
blieb , gab Liselotte dem Hofe zeitlebens das Bei-
spiel einer pflichttreuen Gattin, einer ehrlichen und
wackeren Hausfrau. Mit ihrem Gatten lebte sie in
kaltem Frieden, und die Ehe konnte am Versailler
Hofe für eine gute gelten.
Elisabeths Kinder waren ihre einzige Freude im
fremden Lande. Das erste, ein Knabe, ward durch
der Aerzte Ungeschicklichkeit getödtet; die beiden
übrigen, ein Knabe und ein Mädchen, durfte die Mutter
nicht erziehen, wie sie es gerne gewollt hätte. „Ihr Sohn
Philipp, geb. 1674, erbte von ihr die ganze Kraft, die
ganze Eigenthümlichkeit ihres Geistes, ward ihrer mütter-
lichen Obhut aber so frühe entrissen, dass aus dem Spröss-
linge der ehrbarsten Mutter ein greulicher Wüstling
wurde, und kaum konnte man aus den Trümmern seines
zerrütteten Lebens die reiohbegabte, geniale Natur des
Prinzen erkennen. In der Geschichte ist dieser Prinz
durch seine lüderliche ßeichsverweserschaft während
der Minderjährigkeit Ludwigs KV. sattsam bekannt".
Elisabeths Tochter schloss eine glückliche Ehe
mit dem Herzoge von Lothringen und ward Mutter des
späteren Gemahls der österreichischen Maria Theresia.
Liselotte ist also einerseits die Ahnfrau von Louis
— 58 —
Philipps Herrscherhaus, anderseits Urgrossmutter der
unglücklichen Marie Antoinette.
Im Jahre 1701 starb Elisabeths Gatte, und von
nun an steht sie fast allein. Und ihre Einsamkeit
ward für sie eine Quelle des Trostes, denn an die
Stelle der rauschenden Vergnügen des glänzenden
Hofes war in Versailles eine bigotte und heuchlerische
Frömmelei getreten, an die Stelle der reizenden La-
vallifere, der stolzen Montespan trat eine alte Cokette,
Mme. de Maintenon, welche aus ihrer pharisäerisohen
Frömmigkeit Capital zu schlagen wusste. „Elisabeths
helle Augen durchschauten das Lügenspiel dieser Frau,
und Maintenon hasste sie dafür, um Elisabeths eigene
Worte zu gebrauchen, ärger als den Teufel. Die
Maintenon trug diesen Hass auch auf Elisabeths Sohn,
den Herzog von Orleans, über und suchte ihn in seiner
Eigenschaft eines designirten Eeichsverwesers aus dem
Testamente des Königs hinauszudrängen. Aber Lise-
lotte stand zu hoch in der Gunst des Monarchen. Diesem
hatte von Anfang an das kerngesunde Wesen der
Pfälzerin imponirt, er hegte für sie eine scheue Ach-
tung, da sie unter allen den Falschen die einzige Ehr-
liche war. In den Jahren seines Glanzes hatte sie dem
Könige offen und keck die Wahrheit gesagt, während
AUes noch schmeichelte und log. In den Zeiten des
Alters und des Verfalles blieb sie dem Könige treu
ergeben und suchte gern die Gesellschaft des von seinem .
Glücke verlassenen Monarchen. Ludwig war für bessere
Gefühle nicht unzugänglich, und noch auf seinem Sterbe-
bette erkannte er an, wie sehr er die Ergebenheit
seiner Schwägerin zu schätzen gewusst".
— 59 —
Ludwigs Tod im Jahre 1715 brachte ihren Sohn
PhiKpp, wie schon gesagt, als Reichsverweser auf den
Thron; denn Ludwigs Urenkel, der spätere Ludwig XV.,
war damals noch ein Kind von fünf Jahren. Elisabeth
wies jede Einmischung in die Politik auch jetzt von
der Hand. Sie meinte, das arme Land sei lange genug
durch Weiber, alte und junge, regiert worden, darum
sei es besser, wenn einmal die Männer herrschten.
Die Pietät ihrer Kinder tröstete die Vereinsamte. Dem
Herzoge von Orleans fehlte es weder an Geist noch
an Herz, er vergass seine Pflichten gegen die Mutter
nie. Elisabeth freute sich dieser Liebe und schreibt
einmal von ihm: „Er ist ein guter Bub und hat ein
gut Gemüth".
Der einzige Genuss, den unsere Herzogin in ihrem
Alter kannte, war die Leetüre und die Correspondenz
mit ihrer Tante in Hannover, mit ihren Halbgeschwistern,
der Familie Degenfeld und mit andern Verwandten in
Italien, Spanien und England. Leopold von Ranke hat
Auszüge aus ihren Briefen an Sophie von Hannover,
Wolfgang Menzel solche aus ihrer Correspondenz mit
den Degenfeld herausgegeben, Prof. Holland endlich
veröffentlicht die ganze Correspondenz des Degenfeld'-
schen Familienarchives, so dass wir über 1500 Druck-
seiten dieses langjährigen und eifrigen Briefwechsels
besitzen.
Elisabeths Briefe sind ein ebenso werthvolles als
anziehendes Monument der Culturgesohichte; die Schrei-
berin gibt sich da in ihrer ganzen köstlichen Nai^etät
und drolligen Derbheit, der rheinländische Humor spru-
delt überall in ursprünglicher Fülle. Manche Stellen
— 60 —
dieser Briefe dürfte man allerdings hier nicht abdrucken,
und auch unter denjenigen Auszügen, welche ich zu
geben beabsichtige, findet sich hie und da ein Aus-
druck, der die delikaten Ohren eines heutigen Publi-
kums nicht eben angenehm berührt. Allein die histo-
rische Treue wollte schlechterdings nicht gestatten,
diesen Charakterzug ganz zu verwischen. Ich musste
die Liselotte wenigstens aus der Ferne und für Augen-
blicke zeigen, wie sie war, und wie sie zu sprechen
und zu schreiben pflegte. Manches übrigens ist auch
auf Rechnung der guten alten Zeit und ihrer naiven
und rohen Ausdrucksweise zu setzen. Ein Beispiel
soll dies klar machen. Ich sagte oben, dass Elisabeth
in Strassburg von ihrem Vater Abschied nahm. Mehrere
Jahre später passirte sie diese Stadt abermals, und wie
sie an dem Gasthofe zum Ochsen vorbeikommt, da
ergreift sie die herbe Erinnerung an die bittere Tren-
nung dergestalt, dass sie lange weinen muss. Wie
zart und schön würde diese Empfindungen ein Mädchen
unserer Tage geschildert haben ! Wie drückt sich . da-
gegen unsere Liselotte aus ? „Wäret ihr in Strassburg
gewesen," so schreibt sie an ihre Halbschwester, „wir
würden mit einander geheult haben. Denn wie ich
bin bei dem Ochsen vorbeigefahren, ist es mir einge-
fallen, wie ich meinen Herrn Vater das let<zte Mal da
gesehen. Da ist mir das Flennen so greulich ankom-
men, dass ich's nicht hab verhalten können; und der
gute Kopestein und ich, wir haben mehr als eine
Stunde miteinander geweint. Ich hab ihn ganz lieb
drum".
Das Weinen besiegte ihren fröhlichen Humor und
— 61 -
ihre angeborne Lebenslust noch manches Mal, doch
niemals gründlicher, als in den letzten Monaten des
Jahres 1688 und in den ersten des folgenden Jahres,
das heisst in jener Schreckenszeit, wo Ludwig XIV.
in ihrem Namen auf die durch den Tod ihres Bruders
herrenlos gewordene Rheinpfalz Anspruch erhob und
das Land mit seinen Truppen besetzen liess. Man
weiss, wie durch das energische Auftreten Wilhelms
von Oranien, Königs von England, welcher Ludwigs
Eroberungspolitik überall bekämpfte und schliesslich
auch siegreich und furchtbar zu Schanden machte, —
man weiss, sage ich, wie durch Englands feindliche
Haltung Ludwig gezwungen wurde, die Rheinpfalz auf-
zugeben, man weiss auch, welche Banditenrache der
französische Machthaber an den unschuldigen Pfälzern
und ihrer Habe verübte. „Man verbrenne die Städte,
die Flecken, die Dörfer, man lege das ganze Land
öde," so lautete der furchtbare ükas von Versailles.
Zum Glück fand sich einige Menschlichkeit bei den
Vollstreckern dieser Befehle. So wurden beispielsweise
in Heidelberg nebst dem Schlosse nicht über 30 Häuser
in Asche gelegt. Aber des Jammers blieb immer noch
genug. Man kann sich denken, wie unserer Elisabeth
zu Muthe war, als sie vernehmen musste, wie in ihrem
Namen ihre geliebten Landsleute gemordet, in ihrem
Namen das theure Heidelberg zerstört wurde. Noch
im letzten Jahre ihres Lebens (1722) schreibt sie, dass
die Flammen von Heidelberg sie im Schlafe heimsuchen.
Diese historischen Auseinandersetzungen mussten
vorausgeschickt werden, um das Verständniss der fol-
genden Briefauszüge zu ermöglichen. Noch sei bemerkt.
— 62 —
dass aus Elisabeths besten Jahren verhältnissmässig
nur wenige Briefe uns erhalten sind. Dagegen fliessen
etwa vom Jahre 1698 an die Quellen reichlich und ohne
erhebliche Unterbrechung. Das Bild, welches wir aus
denselben gewinnen, ist also vorwiegend dasjenige
einer betagten und schwergeprüften Frau, deren natür-
liche Heiterkeit durch des Schiksals herbe Schläge
zwar vieKach beeinträchtigt und in ihrem Grundtone
getrübt, dennoch aber nie überwunden und vernichtet
erscheint.
Wie sah denn unsere Herzogin aus? So fragen
Sie vor Allem. Ein Brief des Jahres 1698 liefert
uns folgende humoristische Schilderung : „Ihr müsst
meiner sehr vergessen haben, wenn Ihr mich nicht
unter die Hässlichen rechnet. Ich bin es all meine
Tage gewesen und noch ärger durch die Blattern wor-
den. Zu dem ist meine Taille monströse in Dicke, ich
bin so vierecket wie ein Würfel, meine Haut ist röth-
lich, mit gelb vermischt. Ich fange an grau zu wer*
den, meine Stirne ist runzelig, meine Nase ist ebenso
schief, wie sie es immer gewesen, aber durch die
Kinderblattern sehr brodirt, sowohl als beide Backen.
Ich habe die Backen platt, grosse Kinnbacken, die Zähne
verschlissen, das Maul auch ein wenig verändert, in-
dem es grösser und runzeliger geworden. So ist meine
schöne Figur besteUt, liebe Amelisse!"
Und im November 1706 beantwortet sie einen
Dankbrief für den Empfang ihres Portraits mit folgen-
den Worten: „Ich muss von Herzen lachen, dass Ihr
findet, ich sehe schön und wohl aus. Wenn ein gross,
dick Gesicht, platt Maul und kleine enge Augen was
— 63 —
Schönes sind, so bin ich es gewiss und werde noch
alle Tage schöner ; denn ich werde noch alle Tage dicker" .
Ihre rauhe Haut entschuldigt sie folgendermassen:
„Ich weiss wohl, wie es ist, wenn man sich auf der
Jagd von der Sonne verbrennt; denn das ist mir gar
oft geschehen, dass ich von Morgen acht bis Abends
in der Sonne gewesen, dass ich roth wie ein Krebs
nach Hause bin kommen und das Gesicht ganz ver-
brennt hatte, darum habe ich jetzt so eine braune,
rauhe Haut".
Die Corpulenz der Herzogin suchte dieselbe seit
dem einundvierzigsten Jahre heim, sie fiel ihr um so
lästiger, da sie von kleiner Statur war. Gleichwohl
liess sie sich niemals beikommen, nach damaliger Mode
hohe Absätze an den Schuhen zu tragen, ebensowenig
als ihre rauhe Haut durch kosmetische Mittel zu ver-
bergen. In letzterer Hinsicht schreibt sie einmal : „Ich
hasse alle Schminke und bin mein Lebtag mit keinem
Geschmier umgangen".
Was Elisabeth von Anfang an und für immer am
meisten zuwider war, das war die französische Küche.
Ihre Elagen in dieser Hinsicht sind ebenso energisch
als naiv. „Ich speise lieber auf Englisch als auf Fran-
zösisch," schreibt sie, „die englische Küche ist rein-
licher und desshalb mehr nach meinem Schmack. Ich
kann die Ragouts nicht leiden, noch Fleischbrühe,
noch Suppen ; ich esse nur Hammelsschlegel, gebratene
Hühner, Nierenbraten, Rindfleisch und Salat". In er-
götzlicher Weise seufzt Elisabeth nach den Delica-
tessen der bürgerlichen Küche ihrer Heimat. „Was ich
wohl essen möchte, wäre eine gute Biersuppe, das thut
64
einem nicht weh im Magen. Das kann man aber hier
nicht bekommen, denn das Bier taugt nichts. Auch hat
man hier keinen braunen Kohl, noch gutes Sauerkraut.
Dies alles würde ich herzlich gern mit Euch essen,
wollte Gott, ich könnte so glücklich werden". Und
an einer anderen Stelle heisst es : „Guten Kohl, Sauer-
kraut, Schinken und Knackwürste schmeckten mir viel
besser, und einen guten Krautsalalat mit Speck, diese
delicat^n Speisen sind meine Sach. — Was die Suppen
angeht, so könnte ich ausser Weinsupp, Biersupp und
Habermehlsupp gar keine essen."
Caflfee, Thee und Chocolate waren unserer Prinzessin,
als sie nach Frankreich kam, ganz neue und somit
sehr verdächtige Getränke. Bekanntlich wurde das
Caffeetrinken erst unter Ludwig XIV. Mode, und Mme.
de S6vign^ hat sich in doppelter Weise getäuscht,
wenn sie gesagt, dass der Geschmack des Publicums
an Raciue's Tragödie ebenso schnell vergehen würde
wie sein Geschmack am Caffeetrinken. Elisabeth glaubt
ihre deutschen Verwandten ausdrücklich vor dem Ge-
nusse dieses schädlichen Getränkes warnen zu sollen.
Die Aerzte verordneten ihr einst täglich zwei Becher
von dem unliebsamen Safte, und sie verwünscht die
Cur mit folgenden Worten: „Ich finde, der Caffee
riecht abscheulich. Der verstorbene Erzbischof von
Paris hat ebenso gerochen. Das ekelt mich. Ich kann
überhaupt weder Caffee noch Thee noch Chocolate ver-
tragen. Thee kommt mir vor wie Heu und Mist,
Caflfee wie Russ und Feigenbohnen, und die Chocolate
ist mir zu süss".
Die königliche Tafel bot zwei tägliche Mahlzeiten,
— 65 —
das Frühstück um ein Uhr und das Diner um zehn
Uhr Abends. In den letzten zwanzig Jahren von Lud-
wigs Regierung ging es an dieser Tafel stille genug
zu. „Obgleich wir 14 bis 17 Personen an des Königs
Tafel sind," schreibt Elisabeth 1705, „so geht es da
stiller her als in einem Nonnenrefectorium. Ein jedes
isst vor sich weg und wird kein Wort gesprochen
noch an kein Lachen gedacht". Später speiste die
Herzogin meist allein. Dies behagte der lebhaften Frau
allerdings nicht recht. Sie sagt hierüber: „Ich speise
Mutters aUein und eile mich soviel als möglich, denn
es ist verdriesslich, allein zu essen und zwanzig dienende
Kerls um sich zu haben, die einem ins Maul sehen und
alle Bissen zählen. Ich esse derohalben in weniger
Zeit als eine hs^lbe Stunde. Abends 10 Uhr soupire
ich mit dem König, da sind wir fünf oder sechs an
Tafel, jedes isst vor sich weg wie in einem Kloster,
ohne ein Wort zu sagen als etwa heimlich zum Nachbar."
Einen genauen Bericht über die Eintheilung ihres
Tages erstattet Elisabeth in einem späteren Briefe.
Hier heisst es: „Ich will Euch wohl mein Leben sagen.
Alle Tage ausser Sonntag und Donnerstag stehe ich
um neun Uhr auf, hernach kniee ich nieder und ver-
richte mein Gebet und lese meinen Psalm und einige
Capitel aus der Bibel. Hernach wasche ich mich so
sauber als ich kann. Nachher schelle ich, dann kom-
men meine Kammerweiber und ziehen mich an. Um
drei Viertel auf elf bin ich angethan , dann lese ich
oder schreibe. Um 12 Uhr gehe ich in die Messe,
welche keine halbe Stunde währet. Nach der Messe
rede ich mit meinen oder mit anderen Damen. Um
H. B. 5
— 66 —
ein Uhr präcis geht man zur Tafel. Das dauert höch-
stens eine Stunde. Gleich von der Tafel gehe ich in
meiner Kammer eine Viertelstunde auf und ab, danach
setze ich mich an meinen Tisch und schreibe. Halb
sieben lasse ich meine Damen holen, gehe eine Stunde
spazieren, dann wieder in meine Kammer bis zum
Nachtessen. Ist das nicht eine rechte Einsiedelei?
Zuweilen fahre ich auf die Jagd, das währet eine
Stunde, zwei aufs höchste, dann wieder in meine Kam-
mer. Auf der Jagd bin ich ganz allein in einer Kalesche
und schlafe oft ein, wenn die Jagd nicht zum besten
geht. Man speist um zehn Uhr zu Nacht, um drei
Viertel auf elf geht man von Tafel ; dann ziehe
ich meine Uhren auf, thue mein Sackzeug in einen
Korb und lege meine Kleider ab. Das ist mein Leben,
welches eben nicht lustig ist".
Wenn wir sieben Jahre zurückgehen, so finden
wir noch etwas grössere Abwechslung in diesem mono-
tonen Stundenplan. Unter dem Datum 1698 berichtet
Elisabeth: „Viermal die Woche habe ich SchreibetÄg,
Montag nach Savoyen, Mittwoch nach Modena, Donner-
stag und Sonnabend schreibe ich grosse, mächtige
Briefe nach Hannover. Abends fahre ich mit Monsieur
(ihrem Gatten) spazieren. Dreimal die Woche fahre
ich nach Paris und zweimal jage ich".
In ihren rüstigen Jahren war unsere Liselotte eine
leidenschaftliche Jägerin gewesen. Das Eeiten hatte
sie zwar erst in Frankreich gelernt, aber sie jagte zu
Pferde so kühn wie irgend eine. Sie nennt sich ein-
mal emen alten Jäger, sagt, sie hätte an die 1000
Hirsche jagen helfen, und bedauert, in ihrem Alter
— 67 —
nicht mehr zu Pferde, sondern nur zu Wagen die Jagd
mitmachen zu können. In Fontainebleau und andern
königlichen Schlössern fehlte die Gelegenheit des edlen
Waidwerks allerdings nicht. Noch im Jahre 1706 be-
richtet Elisabeth : „Alle Tage wird hier gejagt ; Sonn-
tags und Mittwochs jagt mein Sohn ; des Königs Hunde
jagen am Montag und am Donnerstag. Am Dienstag
und am Samstag jagt der Kronprinz den WoK; an
andern Tagen sind Reh- und Hirschjagden. Wären
alle Jagdzüge beisammen, so hätten wir an die 1000
Hunde".
Das Eeiten über Stock und Stein lief nicht immer
gut ab. „Ich habe manchen braven Fall im Jagen ge-
than," schreibt die Herzogin. „In 26 Mal dass ich
gefallen bin , habe ich • mir ein einzig Mal wehe ge-
than, das hat mich so beherzt gemacht im Rennen".
Elisabeth schreibt dieser gesunden Bewegung ihr hohes
Alter und ihr Wohlbefinden zu, und wir werden nicht
irre gehen, wenn wir auch ihr lebhaftes Gefühl für
die Schönheiten der Natur mit dieser Freude am Jäger-
vergnügen zusammenbringen. Ein wilder Wald ist ihr
lieber als ein künstlich aufgeputzter Ziergarten, Wiesen
und Bäche entzücken sie, und ein Landaufenthalt kommt
ihr herrlich vor gegenüber einer Residenz in dem lang-
weiligen Paris.
Mit dieser Liebe zur freien Natur geht ihre Liebe
zu den Thieren, besonders zu den Hunden, Hand in
Hand. Wie viel weiss sie von ihren lieben „Hündgern"
zu erzählen! Denn mit diesem provinziellen Worte
bezeichnet sie die treuen Gefährten ihrer einsamen
Stunden. Ich kann mir nicht versagen, einige cha-
— 68 —
rakteristische Stellen über ihre Hunde anzuführen:
„Wie ich sehe, so hat mein armer Bruder selig die
Hunde nicht weniger geliebt als ich, aber Ihr müsset
sie nicht so lieb haben, weil Ihr so proper sein wollt.
Man muss den armen Hündgern wohl was zu Gute
halten". „Das braune Hündchen lebt noch und hat mehr
Verstand als nie, ich habe es herzlich lieb". — Im
Jahre 1702 gibt sich von ihrem Zimmer eine anspre-
chende Schilderung. Sie spricht von dem Blumenflor
ihrer Fenster, von zwei Papageien, einem Kanarien-
vogel und nur acht Hunden, mit welchen sie ihr Zim-
mer theile. „Eine meiner Hündinnen," fügt sie bei, „ist
eben im Kindbett in meinem Cabinet". — An mehreren
Stellen merkt sie an, dass einer ihrer Hunde auf den
Tisch gesprungen und die frischgeschriebenen Worte
ihres Briefes verwischt habe. Und als einmal im Walde
von Fontainebleau ihre Kutsche umgeworfen, da erzählt
sie nicht ohne Befriedigung, wie ihre sieben Hunde
alle gut davon gekommen, und nur einer Ehrendame
ein halbes Wagenfenster in die Achsel gedrungen sei.
Der plötzliche Tod ihres Gatten veranlasst Elisa-
beth, über ihre ökonomische Lage sich auszulassen.
Wegen des kostspieligen Haushaltes, den sie standesge-
mäss zu führen gezwungen war, blieb sie auch bei
grossen Einkünften eine sehr arme Frau. Der König
setzte ihr zwar eine freigebige Jahresrente von 450,000
Franken aus, aber dies reichte, wie es scheint, noch
nicht. Hören wir ihre eigene Darstellung : „Es ist mir
nicht möglich, meine xieutschen Verwandten zu unter-
stützen, so gerne ich das auch thün wollte. Meinen
Haushalt kann ich nicht vermindern, da die Stellen
— 69 —
alle gekauft sind. Des Königs Jahrgeld reicht nicht
hin; ich muss noch alle meine pfälzischen 'Gelder zu-
setzen. Ausserdem hat mein Gatte über 200,000 Thaler
von meinem Heirathsgute verthan und mein Heiraths-
contract ist so beschafiFen, dass ich ohne des Königs
Zustimmung über nichts verfügen könnte, sollte ich
auch Millionen erben. Ich habe nichts Eigenes als den
Stuhl, den meine Tante brodirt hat, und den, wo ich
jetzt d'rauf sitze. Der erste Tag des Monats ist der
einzige, an dem ich^Geld habe; freiHch finde ich auch
guten Credit. Ich werde nicht in Geld, sondern nur
in Zeddeln bezahlt, die erst in mehreren Monaten an
der Gasse eingelöst werden. Das Rechnungswesen ver-
stehe ich nicht, und meine Diener und Schatzmeister
betrügen mich abscheulich". — Hiezu merke ich an,
dass die letzten Jahre von Ludwigs Regierung be-
kanntlich in Tolge der langen Kriege und der Ver-
schwendungen des Hofes finanziell so entblösst waren,
dass der König in eigener Person den Pariser Banquiers
den Hof machen musste, nur um wieder einige Vor-
schüsse zu erhalten.
Schon aus dem bisher Gesagten kann geschlossen
werden, dass die Herzogin, besonders seit dem Tode
ihres Gatten, am französischen Hofe keine beneidens-
werthe Preiheit genoss. Diese Unfreiheit hatte ihre
Quelle theils in der lästigen Hofetiquette, theils in den
ängstHchen Vorsichtsmassregeln der damaUgen Diplo-
matik, theils endlich in persönlichen Zerwürfnissen
mit massgebenden Personen. So viel ist sicher, dass
Elisabeths Briefe nach dem Auslande durch die Polizei
erbrochen und gelesen wurden, dass die Prinzessin
— 70 —
Frankreich nicht verlassen durfte, ohne des Königs
specielle Er laubniss nicht einmal Versailles auf 24 Stun-
den quittiren konnte. Auch beim Könige wusste die
Maintenon ihr den Zutritt zu erschweren, und die ver-
traulichen Augenblicke in Ludwigs Cabinet, welche sie
früher nach der Abendtafel in ungezwungener Weise
sich hatte nehmen dürfen, wurden ihr von nun an selten
gewährt.
Wir begreifen jetzt ihre trüben Reflexionen in
BriefsteUen wie die folgenden : „Mein lustiger Humor,
so mir früher Alles leicht machte, ist mir greulich
hier im Lande vergangen. Wer ihn hier nicht verliert,
wird ihn ewig behalten. In dieser Welt findet man
kein grosses Glück; wenn man einen nur ruhig leben
lässt, so ist das Alles, was man prätendiren kann.
Könnte ich ganz allein bleiben, so wäre ich zufrieden,
aber ich bin gezwungen, fortwährend mit Leuten um-
zugehen, die mir entweder gleichgültig oder geradezu
verhasst sind. Wenn es ein Zeichen ist, dass man von
Gott geliebt wird, sofern man an der Welt Ueberdruss
empfindet, so hat mich der Allmächtige gewiss sehr
lieb; denn man kann der Welt nicht überdrüssiger
sein als ich es bin".
Nach solchen Geständnissen fragen wir billig, wie
die Prinzessin den Eest ihres Lebens gewürzt habe.
Wir haben zwar oben schon eine Antwort auf diese
Frage gegeben, indem wir ihr Bücherlesen und ihr
Briefschreiben als ihre hauptsächlichen Zeitvertreibe be-
zeichneten. Die Kehrseite dieser bescheidenen Genüsse
findet sich in der Aufzählung alles dessen, was sie
nicht liebte. Sie gesteht es selbst, dass sie weder
— 71 —
Politik, noch Philosophie, noch Theologie verstehe. Sie
kennt ferner keine fremde Sprache mit Ausnahme des
Französischen. Die Oper ist ihr gleichgültig, und die
italienische Musik ist ihr geradezu verhasst. lieber
letztere lägst sie sich in comischer Weise also ver-
nehmen: „Die langen Fredons sind mir das widerlichste
Gesänge von der Welt, man bleibt eine Viertelstunde
auf einer Silbe oder auf einem Vocale, alle die ha ha ha
und he he he kann ich einmal nicht leiden". — Auch
Kleider und Moden sind ihr ganz und gar gleichgültig.
Sie sagt von sich, sie sei 99mal unter hundert schief
coiffirt, aber sie frage nichts darnach. Bälle und Mas-
keraden haben ihren Eeiz für sie längst verloren. Von
dem unter Ludwig XIV. so leidenschaftlich gespielten
Lansquenet berichtet Elisabeth Folgendes: „Hier in
Frankreich wird fast immer Lansquenet gespielt. Aus
zwei gar starken Ursachen spiele ich nicht. Die erste
ist, dass ich kein Geld habe, und die zweite, dass ich
das Spiel nicht liebe. Das Spielen ist hier greulich
hoch, und die Leute werden wie toll, wenn sie spielen.
Das eine heult, das andere schlägt mit der Faust auf
den Tisch, dass die ganze Kammer zittert, der Dritte
lästert Gott, dass einem die Haare zu Berge stehen,
Summa, Alle sind wie verzweifelte Menschen, welche
einem bange machen, sie nur anzusehn". — Aber auch
dem in den letzten Jahren von Ludwigs Eegierung sehr
in Aufnahme gekommenen Schachspiele konnte Elisa-
beth keinen Geschmack abgewinnen. Sie sagt davon:
„Ich finde es zu schwer für meinen schlechten Hirn-
kasten". Endlich verstand sie sich zu ihrem Leidwesen
weder aufs Haushalten noch auf weibliche Arbeiten.
— 72 —
Man begreift jetzt, wie die Herzogin so viele Zeit
aufs Briefschreiben verwenden konnte. Die Armuth
ihrer Genüsse scheint übrigens im engsten Zusammen-
hange mit ihrer dürftigen, nur aufs Nothwendigste
sich beschränkenden Erziehung zu stehen ; denn durch
die Berührung mit Kunstfreunden und durch das An-
schauen von Kunstgegenständen erwachte in ihr eine
gewisse Bewunderung für die Antike, für die Bilder
der französischen Maler, für die Werke der Graveurs :
die Medaillen und die geschnittenen Steine. Von den
beiden letztern legte sie eine Sammlung an, die sie
mehrmals erwähnt.
Eine entschiedene Liebhaberei hegte Elisabeth für
das französische Lustspiel. Gerne kommt sie auf dieses
Capitel zu sprechen. So scbreibt sie unter anderem
an ihre Halbschwester: „Ihr seid sehr fromm, am
Sonntag nicht auszugehen. Ich halte übrigens Besuche
für gefährlicher als die Comödie. In dieser letzteren
kann man sich doch nicht an seinem Nächsten versün-
digen durch harte Reden und Urtheile. Wenn man
die Barche besucht hat und seine Schuldigkeit gegen
Gott gethan, so ist das Theater gewiss ungefährlicher
als die Gesellschaft". — Elisabeth hat ihre eigene
Theorie über das Theater als Surrogat der kirchlichen
Erbauung. „In der Kirche lehrt man es unangenehm,
aber in der Comödie wird es angenehm vorgestellt,
wie die Tugend belohnt und das Laster gestraft wird".
Sogar über die Geschichtsschreiber ihrer Zeit stellte
sie die Comödie, indem sie anführt, dass die Motive
der comischen Handlung in der Regel keine anderen
als die richtigen sind, während diejenigen der Historien
— 73 —
oft nur in den Köpfen der Historiker spuken. — Ge-
gen die Kirche selbst nimmt Elisabeth die Comödie
also in Schutz: „Ich habe Euch schon einmal meine
Meinung gesagt über die Priester, so die Comödien
verbieten, sage also weiter nichts, als das, wenn die
Herren ein wenig weiter als ihre Nase sehen wollten,
würden sie begreifen, dass das Geld an den Comödien
nicht übel angelegt ist. Erstlich sind die Comödianten
arme Teufel, so ihr Leben dadurch gewinnen. Zum
andern macht die Comödie Freude, Freude gibt Ge-
sundheit, Gesundheit Stärke, Stärke macht besser ar-
beiten. Also sollten sie es mehr gebieten als verbieten."
Man muss sich hier daran erinnern, wie damals noch
und bis tiöf ins achtzehnte Jahrhundert hinein, das
Theater und der Schauspieler von der Kirche förmlich
verflucht und geächtet waren. So hatte Moliöre kaum
eine Stelle in geweihter Erde finden können, und als
1730 die berühmte Schauspielerin Adrienne Lecouvreur
starb, musste sie auf dem Schindanger begraben wer-
den, weil der Bischof den Kirchhof feierlich untersagte.
Es ist ein gutes Zeichen, dass unsere Elisabeth vor
Allem die Lustspiele Moliere's liebte, und es ist be-
zeichnend für ihren vorurtheilsfreien Geist, dass sie
unter diesen Stücken dem Tartüff den Vorzug gab.
In dem bisher Mitgetheilten fanden wir Anklänge
an Elisabeths religiöse Ansichten, gehen wir jetzt auf
diese Seite ihrer Persönlichkeit näher ein.
In der reformirten Religion erzogen, hatte Elisa-
beth trotz ihres Uebertrittes zur katholischen Kirche,
die religiösen Traditionen ihrer Kindheit bewahrt. Sie
freut sich, dass man ihr am Hofe von Versailles nicht
— 74 —
verbiete, ihre Bibel zu lesen und ihre Psalmen zu
singen. „Ich lese alle Morgen drei Capitel in der
deutschen Bibel, das heisst einen Psalm und ein Capitel
aus dem alten, und ein Capitel aus dem neuen Testa-
ment. Wenn ich irgend eine Hinderung voraussehe,
so lese ich einige Capitel im Voraus. Meine Gebete
mache ich selbst, dazu brauche ich kein Buch. Auf
geistliche Leetüre halte ich nicht viel. Ich weiss nicht,
ob geistliche Bücher im Englischen angenehmer sind,
aber im Deutschen und Französischen finde ich sie alle
bitter langweilig, mit Ausnahme der Bibel, deren ich
niemals müde werde. Alle anderen schlafen mich ein".
Mit dem Kirchenschlaf, besonders an Nachmittagen,
hat Elisabeth viel zu kämpfen. Sie schreibt mehrmals
über diesen delicaten Punct. Im Jahre 1705 widmet
sie demselben eine längere Stelle. „Man hat mich nie
gefilzt , in der Kirche zu schlafen. Ich habe mir's so
stark angewöhnt, dass ich es nicht mehr lassen kann.
Wenn man morgens predigt, schlafe ich nicht, aber
Nachmittags widerstehe ich selten. So geht es mir
auch im Opera, da schlafe ich häufig, aber nie in der
Comödie. Ich glaube, dass der Teufel wenig dran
denkt, ob ich in der Kirche schlafe oder nicht. Denn
schlafen ist eine indiflferente Sache, keine Sünde, son-
dern nur eine menschliche Schwachheit. Wenn Du,
liebe Schwester," fügt Elisabeth scherzend bei, „ein-
mal predigen willst, so verspreche ich Dir, nicht ein-
zuschlafen, und weil Du eine fröhliche Christin bist,
so hoffe ich, du werdest auch den Himmelsweg mit
Geigen behenken". — Vergleichen wir hiezu noch eine
andere Stelle : „Ich bin der schönen Predigten unwürdig ;
— 75 —
denn ich kann das Schlafen nicht lassen. Der Ton
des Predigers schläft mich gleich ein. Hörte ich eine
französische Predigt, so würde ich sie aus Gewohnheit
ganz durchaus ausschlafen".
Aus solchen Aeusserungen dürfen wir indess nicht
schliessen, dass Elisabeth in religiösen Dingen gleich-
gültig und frivol gewesen sei. Ihr fleissiges Bibellesen
war keine leere und bloss äusserliche Uebung. Unter
dem Einflüsse ihrer confessionellen Erziehung hatte sie
sich im Gegentheile über die Gnaden- und Prädesti-
nationslehre sehr bestimmte Ansichten gebildet, die sie
an vielen Stellen mit Ernst und Nachdruck wiederholt.
Man halte nur folgende Aeusserungen zusammen: „Ich
kann nicht glauben, dass das Beten einen ewigen Eath-
schluss Gottes abändern könne. Unser Herrgott, der
das Verhängniss bestimmt, hat Alles wie mit Ketten
aneinander gehenkt, damit AUes geschehe, was ge-
schehen muss. — Eines zieht das Andere nach, wir
können nicht dazu und haben Gott zu danken, wenn
wir tugendhaft handeln ; denn es ist eine reine Gnade.
Alles ist Verhängniss in dieser Welt".
Diese strengen, fatalistischen Ansichten führen sie
indess in der Praxis zu den mildesten Grundsätzen.
Sie betrachtet Andersdenkende mit Mitleid, nicht mit
Abscheu. Die Hauptsache, meint sie, sei nicht was
man glaube, sondern was man thue. Die Priester
sollten also nicht den Glauben, sondern nur die
Laster verfolgen. Anderswo wirft sie die Frage auf:
„Wie kommt es, dass Menschen, welchen einerlei ge-
sagt wird, doch nicht einerlei Glauben haben?" Und
sie antwortet: „Die Ursache ist, dass unser Herrgott, wie
— Te-
es scheint, die Differenz und Aenderung liebt. Denn
die Menschen sind so verschieden von Humoren und
Opinionen als von Gesichtern, und da die Organe ver-
schieden sind, so kann die Wirkung nicht dieselbe
sein. Es ist eine besondere Gnade Gottes, wie diejenige
von Pfingsten, wenn alle diejenigen, so unterrichtet
werden, einerlei verstehen".
Auf diesem Wege gelangt unsere Herzsogin zu den
liberalsten Sätzen religiöser Duldung. Man glaubt oft
einen Voltaire predigen zu hören. „Ich bin gar kein
Apostel und finde es in der Ordnung, wenn ein Jeder
nach seinem Gewissen glaubt. Sollte man meinem
Rathe folgen, so wäre nie kein Zank in religiösen
Fragen. Man sollte einen jeden glauben lassen, wie
er es versteht". Der letzte Gedanke wiederholt sich
genau in dem bekannten Worte Friedrichs des Grossen :
„Ich will, dass in meinem Lande ein jeder auf seine
Fagon selig werde".
Man kann sich denken, dass Elisabeth mit grossem
Schmerze Zeuge jenes Umschwunges in der französischen
Politik war, durch welchen Ludwig XIV. aus einem
toleranten Machthaber ein engherziger und grausamer
Feind seiner protestantischen Unterthanen wurde. Elisa-
beth that, was immer in ihren Kräften stand, und hat
auch wirklich manchen französischen Protestanten von
den Galeeren befreit oder vor diesen' bewahrt. „Es ist
mir leid," sagt sie im Hinblick auf solche Ereignisse,
„wenn ich die armen Christen verfolgen sehe. Hätte
ich Credit, so würde Jedermann wohl in Ruhe bleiben^*..
Elisabeth hatte, wie sie selbst gesteht, keine Philo-
sophie studirt, aber sie correspondirte mit einem grossen
— 77 —
Philosophen, mit Leibniz, und die religiösen Unions-
bestrebungen dieses BJannes fanden oflFenbar einen nach-
klingenden Wiederhall in ihrem menschenfreundlichen
Gemüthe. „Seid Ihr denn so einfältig," schreibt sie an
ihre Halbschwester, „dass Ihr meinet, die Katholischen
haben keinen rechten Grund des Christenthums? Glaubt
mir, der Grund ist bei allen Keligionen derselbe : Was
den Unterschied betrifft, so ist das eitel Pfaffengezänk,
das uns gemeine Leute nichts angeht. Die Hauptsache
ist, christlich leben und barmherzig sein, und uns der
Tugend befleissen. Dies allein sollte man den Christen
predigen, nicht aber nachgrübeln über aUe Puncto, wie
sie zu vertehen seien". — An einer andern Stelle spricht
sie sich für die gemischten Ehen aus : „Man sollte allen
Christen gestatten, mit einander zu heirathen und die
Ejrche zu besuchen, welche sie wollen, so würde mehr
Einigkeit ♦unter ihnen sein als jetzt".
Auch aus anderen Stellen geht hervor, dass schon
in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts jene frei-
sinnigen Ideen in der Luft lagen, welche ein halbes
Jahrhundert später die Encyklopädisten in allen Ton-
arten predigen sollten. In dieser Hinsicht ist mir
namentlich folgender Passus aus dem Jahre 1697 auf-
gefallen: „Es gibt nur eine echte Religion in dieser
Welt, nämlich die der ehrlichen Leute, und weil
man nicht ehrlich leben kann, man lebe denn nach
den Evangelien, so muss das ganz gewiss die rechte
Religion sein". Hier notire ich den Ausdruck: „die
Religion der ehrlichen Leute," da viele Jahre später
„la religion des honnStes gens" als ein Schlagwort
Voltaire's und der Philosophen figurirt, allerdings mit
— 78 —
etwas veränderter Bedeutung, indem dort der Ausdruck
geradezu die Religion der Gebildeten im Gegensatze
zu derjenigen des Pöbels bezeichnet.
Wenn man sich daran erinnern will, in welcher
bigotten Umgebung die alternde Herzogin lebte, so
findet man ihre satirischen Ausfälle auf die Geistlich-
keit sowohl als auf die scheinheilige Frommthuerei
nicht unberechtigt. Allerdings betrachtet Elisabeth
die Geistlichen aller Confessionen mit einer an Ver-
achtung streifenden Abneigung. Sie meint, die Pfarr-
herren seien nicht gar zeitvertreiblich, sie erblickt in
ihnen die hauptsächlichsten Hindernisse einer religiösen
Einigung , Pedanten , Streithähne , ehrgeizige kleine
Tyrannen, welche im Namen Gottes auf den eigenen
Vortheil ausgehen. Dem Gedanken nach stimmt sie
ganz mit Voltaire überein, wenn dieser schreibt : „Wer
mir heute sagt: glaube wie ich, oder Gott wird dich
strafen, der wird mir morgen sagen: glaube wie ich,
oder ich bringe dich um". Mit einem Seitenblick auf
das scheinheilige Treiben von Versailles warnt Elisa-
beth vor der Bigotterei. „AUzugrosse Devotion macht
Manche zu Narren," meinte sie, und fügt dann schelmisch
hinzu : „Ich glaube nicht, dass ich hievon jemals närrisch
werde".
Gleichwie Elisabeth in Religionssachen zwischen
Gott und sich keinen Mittelmann leiden wollte und
mit der Bibel in der Hand gegen Predigten sowohl
als gegen Erbauungsschriften eine kühle Selbstständig-
keit beobachtete, so befliss sie sich, gegenüber den
Heilkünstlern des Leibes ein festes Programm durch-
zuführen. Ein damaliger Arzt war in der That in
— 79 —
zahlreichen Fällen ein Individuum, das man im In-
teresse persönlicher Sicherheit sich vom Leibe halten
musste. Die Preservativcuren waren an der Tages-
ordnung. Ludwig XIV., auch wenn er sich ganz wohl
befand, musste sich fortwährend Aderlasse, Purgirungen,
Klystire gefallen lassen, und über diese Operationen
kamen regelmässige Bulletins heraus, als wäre der
König krank gewesen. Hören wir, wie unsere Prin-
zessin in diesem Puncte sich zu helfen wusste: „Ich
bekümmere mich wenig um der Doctoren Ungeduld.
Als ich den meinigen gewählt, habe ich's ihm zimi
Voraus gesagt, dass er keinen blinden Gehorsam von
mir fordern könne, dass ich ihm zwar erlaube, seine
Meinung zu sagen, sich aber nicht zu ärgern, wenn
ich sie nicht befolge ; dass meine Gesundheit und mein
Leib mir angehören, ich sie also gouverniren wolle,
wie ich es a propos finde. Die Doctoren müssen was
von ihrer Kunst reden, um sich nöthig zu machen.
Ich finde aber nichts Gelehrteres als die Natur und
lasse diese walten. Wenn sie einmal fehlt, so ist's im-
mer noch Zeit, sich mit Quacksalberei zu plagen. Die
Doctoren können selten eine Krankheit heilen, wie
wollten sie einer Krankheit zuvorkommen ! Wenn man
sich ans Doctoriren gewöhnt, so wird die Natur faul,
und man findet sich gezwungen fortzufahren, welches
ein elendes Leben macht" (vom Jahre 1705).
Die Schicklichkeit gestattet nicht, interessante Mit-
theilungen, welche Elisabeth über die damaligen Sitten
Frankreichs und das Leben und Treiben unter der
Eegentschaft ihres Sohnes macht, hieherzusetzen. Man
weiss, wie verdorben jene Zeit war, wie die un-
— 80 —
natürlichsten Laster damals offen getrieben würden,
und die schlimmsten Züge der römischen Kaiserzeit
wiederholten. Elisabeth schreibt über alle diese Dinge
mit ihrer gewohnten, ausführlichen Keckheit und warnt
aufs eindringlichste davor, die Söhne des deutschen
Adels nach Prankreich zu schicken.
Elisabeth ist stolz darauf, eine Deutsche zu
sein. Je älter sie wird, um so mehr nimmt ihr Heim-
weh nach dem Vaterlande zu. Sie jubelt über jeden
deutschen Besuch und schreibt einmal: „Ich höre so
gerne, wie es in Deutschland zugeht. Bin wie ein alter
Kutscher, der noch gerne die Peitsche knallen hört,
auch wenn er nicht mehr fahren kann". Sie fürchtet,
dass ihr langjähriger Aufenthalt in Prankreich ihr
Deutsch verschlechtert habe, und sie ist glücklich, wenn
Leibniz ihr das Zeugniss gibt, sie schreibe gar nicht
übel. Sie mag auch keinen Pranzosen ihre Mutter-
sprache radebrechen hören : „Es ist ein Ick und Ack,
das ich nicht leiden kann".
Besass Deutschland in ihr eine treue Tochter , so
war sie anderen Nationen, zumal den Engländern und
den Pranzosen, desto abgeneigter. Der Aufenthalt in
dem glatten Prankreich machte sie oft traurig und
verstimmt ; Prankreich scheint ihr voll falscher Teufel.
Auch die Engländer stehen ihr nicht an, die englische
Bosheit scheint ihr ein stehender Zug in der nationalen
Physiognomie dieses Volkes zu sein, und einmal sagt
sie geradezu: „In meinem Sinne gibt es keine wider-
lichere Nation als die englische. Sie sind zu boshaft
und zu neidisch, als dass man sie Keb haben könnte".
Die galanten Löwen von Versailles kommen bei
— 81 —
Elisabeth schlecht weg. Der von allen Damen so ver- *
götterte Herzog von Eichelieu z. B. war ihr eine wider-
wärtige Erscheinung. „Es ist," sagt sie von ihm, „ein
klein Krötchen, so ich gar nicht schön finde, hat keine
Minen und noch weniger Courage, ist impertinent, untreu
und indiscret. Ich heiss ihn nur den Heinzelmann;
denn er gleicht diesem Kobolde wie zwei Tropfen
Wasser".
Ceremonien und Förmlichkeiten waren ihr in der
Seele verhasst. Sie seufzt mehr als einmal über die
nichtige Grandeur, die, wenn sie nicht mit Macht
gepaart sei, einem nur zur Last werde, sie nennt
sich ein andermal „eine rechte Victime de la Gran-
deur" und meint, sie wäre weit glücklicher, wenn
sie „ein Mannsmensch und ein Kurfürst" hätte sein
dürfen.
Elisabeth besitzt den alten deutschen Ritterstolz,
der auf den französischen durch häufige Missheirathen
mit königlichen Bastarden verunreinigten Adel nicht
ohne Verachtung herabschaut. „Es kann mich toll
machen, dass ich aus der Haut fahren möchte, wenn
ein deutscher Pfalzgraf hieher kommt und ihm ein
lumpiger Duc de France den Rang streitig machen will".
In solchen Zügen erkennt man ganz die Natur ihres
Vaters, der nicht viel auf Ceremonien hielt, aber in Wuth
gerathen konnte, wenn man die Würde seines Hauses
antastete.
Am Hofe war Elisabeth, wie man sich denken
kann, weder verstanden noch geliebt. Man nannte sie
nur die stolze Pfälzerin (la fifere Palatine) ; denn als
Stolz deutete man ihre Zurücldialtung und ihren Wider-
H. 6. 6
— 82 —
willen gegen die Unsitten der Zeit. Der Herzog von
Saint Simon, der getreue Chronist des Hofes Ludwig
Xiy., hat sie aber richtig gewürdigt, wenn er sie also
beurtheilt: „Sie war eine Fürstin aus der alten Zeit,
anhänglich an Ehre, Tugend, Eang und Grösse. In
Sachen des Anstandes war sie unerbittlich ; eine treff-
liche und treue Freundin, zuverlässig, dabei gerade,
in ihren Sitten wahr und bieder". So zeichnet sie der
Franzose und der Zeitgenosse nach persönlichen Ein-
drücken, und so erscheint Elisabeth auch wirklich in
ihren Selbstbekenntnissen, d. h. in ihren Briefen.
Bis ins hohe Alter behielt Elisabeth ihren mun-
teren Humor. Als sie fühlte, wie ihre Kräfte allmäh-
lich abnahmen, konnte sie immer noch über ihre Lage
scherzen: „Ich werde zuletzt noch ganz austrocknen,
wie meine Schildkröten, die ich einst zu Heidelberg
in meiner Kammer hatte". Manchen Trost brachte ihr
die Theilnahme ihres Sohnes, der keine kindliche Pflicht
versäumte. „Seine Visiten sind mir gesunder als das
China, sie thun mir nicht weh im Magen und erfreuen
mir das Herz, er verzehlt mir als etwas Possirliches,
so mich lachen macht ; denn er hat Verstand und ver-
zehlt gar artig".
„Kleine ünpässlichkeiten wurden ungeschickt be-
handelt, und so musste ihre Natur allmählich erliegen.
Krank besuchte sie noch die Krönung Ludwigs XV.
zu Rheims. Sie wollte, schrieb sie, das liebe Kind noch
sehen in seiner irdischen Herrlichkeit und dann mit
Freuden zur unvergänglichen hinübergehen. Sie starb
im October 1722 als die Letzte des simmerischen
Kurfürst enthums , als die Stammmutter der Königs-
— 83 —
dynastie Louis Philipps von Orleans. Kräftiger, sagt
Ludwig Häusser , konnte der simmerisclie Stamm
nicht enden, ein frischeres Reis konnte dem altern-
den Stamme der Bourbonen nicht eingeimpft werden,
als dieses gesunde und reine Blut der pfälzischen
Fürstin,"
Die Entwicklung des Realismus in der
französischen Dichtung des neunzehnten
Jahrhunderts.
iweierlei," sagt Schiller, „gehört zum Poeten
und Künstler, dass er sich über das Wirkliche erhebt,
nnd dass er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt.
Wo Beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst.
Aber in einer ungünstigen, formlosen Natur verlässt
er mit dem Wirklichen auch das Sinjiliche und wird
Idealist, — wenn sein Verstand schwach ist, gar phan-
tastisch. Oder er bleibt bei dem Wirklichen stehen,
wird realistisch, und, wenn die Phantasie fehlt, knechtisch
und gemein".
Diese Worte, welche der grosse Dichter nicht ohne
bedeutsamen Seitenblick auf die blutlosen Schöpfungen
der deutschen Romantik geschrieben, bezeichnen so
einfach als richtig den Kern einer mitunter falsch ge-
stellten ästhetischen Frage ; denn oft schon ist der Irr-
thum begangen worden, Idealfes und Reales von vorne
herein als Dinge zu betrachten, die sich feindlich ent-
gegenstehen, sich nothwendig ausschliessen. &anz im
Gegentheile zeigt nun Schiller, wie beide Elemente
— 85 —
gleich imerlässliche Bedingungen des Kunstwerkes sind.
Subjectiv aufgefasst, können sie allerdings in feind-
Hcheii Gegensatz zu einander treten. Je nachdem näm-
lich der Künstler dieses oder jenes Element einseitig
betont, nennen wir ihn einen Reaüsten oder einen
Idealisten, — ein Gegensatz der Richtung, welcher so
alt ist als die Kunst; denn schon Sophokles pflegte,
nach Aristoteles' Zeugniss, zu sagen: „Euripides zeichnet
die Menschen wie sie sind , ich aber zeichne sie wie
sie sein sollten".
Künstler und Welt, Subject und Object, sind und
bleiben zweierlei und selbst die knechtische Nach-
ahmung wird eines subjectiven Beisatzes sich nicht
entschlagen können. Kein Gemälde, keine Statue, keine
Dichtung wird jenes Angebinde gänzlich abzuweisen
je im Stande sein. Der relative Procentsatz beider
Elemente bestimmt die sogenannte Schule, das ein-
seitige Vorherrschen dieses oder jenes Elementes con-
stituirt eine Verneinung, ihr harmonisches Gleichge-
wicht eine Bejalmng der ästhetischen Vollendung. Der
reine Realismus ist im Reiche der darstellenden Kunst
ebenso unmöglich als der reine Idealismus: denn ein
mechanischer Abdruck, eine Photographie fa^en ausser-
halb des Gebietes der Kunst, und ein Typus ohne reale
Unterlage ist anderseits zwar denkbar, aber nicht dar-
stellbar. So vermag also auch der krasseste Realist
sein theoretisches Ideal «der reinen Copie nicht durch-
zuführen. Lasst einen und denselben Gegenstand von
zwei auch noch so gesinnungstreuen Realisten copiren,
die Reproduction wird jederzeit ein verschiedenes Ge-
präge, abweicKende Nuancen der Auffassung zeigen.
K^
— 86 —
Xach dieser theoretischen Verständigung mnss ich
den Blick des Lesers nochmals anf Schillers Ziel zu-
rticklenken. Das antike Ideal, welches in Deutschland
Göthe's geniale Plastik und Schillers sittlicher Ernst
vielleicht auf Kosten germanischer* Ursprünglichkeit
betonten, gab einer an sich nicht unberechtigten, an
vielfachen Anregungen fruchtbaren, wenn auch in ihren
Leidenschaften verwerflichen, in iliren Thaten er-
bärmlichen Eeaction, der romantischen Schule, An-
ßtoss und Dasein. Eine ähnliche Eeaction gegen das
antike Ideal machte um dieselbe Zeit sich in Frank-
reich geltend.
Die Revolution hatte ihre Vorbilder im Alterthum,
und zwar namentlich in der römischen Republik ent-
deckt. Klassische Reminiscenzen, Consuln und Procon-
suln, Tribüne und Legionen, Catilina und der tarpeische
Felsen, das waren die Schemen, welche die Phantasie
ihrer Redner umflatterten ; — und die Praxis entsprach
der Theorie. Statt den traditionellen Organismus einer
centralen Administration, einer bureaukratischen Bevor-
mundung durch ein volksmässiges Selfgovernment und
eine lebenskräftige Autonomie der Gemeinde zu er-
setzen, gab man sich schliesslich mit der pseudo-
antiken Umtaufung der bestehenden Beamtenhierarchie
zufrieden.
Im Gebiete der Litteratur und der Kunst spukte
zwischen 1789 — 1800 abermals das Alterthum, wenn
nicht der Geist, so doch die Namen, von Griechen und
Römern. Davids Malerschule opferte das Colorit der
Linie und die bunten Bedingungen der harten Wirk-
lichkeit dem einfachen, von keitiem schreienden Gegen-
— 87 —
Satze gebrochenen Typus. Die klassicirenden Dichter
des Directoriums und der Kaiserzeit ihrerseits kutschir-
ten weiter im ausgefahrenen Geleise Racine's und Boileau's
und wurden so, da Jene bereits ein modernes Echo der
Alten gewesen, zum Echo eines Echos.
Aber auch in Frankreich sollte eine nationale Ee-
action nicht ausbleiben. Wenn wir absehen wollen
von den Ideen und Bestrebungen der Frau von Stael,
so verband sich auch hier jene Reaction zunächst mit
monarchischen und ultramontanen Tendenzen. Im letz-
ten Jahre des 18. Jahrhunderts, in den Tagen, da in
deutschen Landen Ludwig Tiecks dramatisch-lyrische
Schöpfung Genoveva die Wetterscheide des romanti-
schen Quellengebietes zog, sass in einer öden Kammer
Londons ein französischer Emigrant, der in mystischer
Verzückung und unter heissen Thränen Voltaire und
das Heidenthum abschwor, und das Sanctum seiner
exaltirten Phantasie mit christlichen Göttern zu möb-
liren sich das feierliche Wort gab, — der grosse Schau-
spieler Rene de Chateaubriand. Schon einige Jahre
früher (1796) hatte Graf Joseph de Maistre mit den
„Betrachtungen über Frankreich" die ultramontane
Mine gelegt, welche zwanzig Jahre später so lärmend
explodiren sollte. Sagt er doch selbst: „La grande
explosion de mon succes n'eut lieu qu'en 1815". Hatte
Novalis das Buch seines französischen Bundesgenossen
gelesen, als er 1799 so leidenschaftlich das Recht der
freien Forschung befehdete, den Richtern Galilei's Bei-
fall zollte, Galilei's Entdeckung „eine Verhöhnung
unserer Erde nannte, welche die Verhöhnung auch des
Himmels nach sich ziehen würde" ? So viel ist gewiss,
— 88 —
dass Novalis' Logik mit der des savoyischen Grafen bis
in's Einzelne der Argumente stimmt.
Während Friedricli Schlegel in Berlin für den
Katholicismus Propaganda macht, erscheint in Paris
Chateaubriands Buch vom Geiste des Christenthums.
Hüben und drüben wird das Christenthum als eine
Quelle des ästhetischen Genusses, als eine „pr6dilection
d'artiste" empfohlen. Den Ausdruck selbst hat Hettner
in einem Briefe W. Schlegels gefunden, der ihn einer
französischen Correspondentin gegenüber als Motivirung
seiner katholischen Sympathien verwendet.
Während nun diesseits des Rheines „das Heimweh
nach der Heimat" unsere Romantiker in den Schooss
der Alleinseligmachenden und in die Dämmerung des
Mittelalters treibt, wird drüben die sentimentale Phan-
tastik Chateaubriands, die ultramontane Logik Maistre's,
die patriarchale Mystik Bonaids durch die politische
Abmachung des Concordates gekrönt. Jeder weiss, wie
am Ostertage des Jahres 1802 die Aussöhnung mit Rom
im feierlichsten Pompe begangen ward. Zufrieden blickte
der erste Consul von der Höhe seines rothen Frackes
auf das Festgepränge und die wogende Volksmenge und
wandte sich zum alten Haudegen Dumas mit der triumphi-
renden Frage : „Nun, mein General, was meinen Sie
zu dem?" — „Ich meinerseits," versetzte der Ange-
redete, „vermisse nur Eines, nämlich die paar Hundert-
tausende, welche ihr Leben gelassen haben, um das
zu stürzen, was wir heute wieder aufrichten."
Der Geist jener Reaction dachte anders. Während
unsere deutschen Romantiker, ein Adam Müller, ein
Friedricli Schlegel, ein Zacharias Werner und andere
— 89 —
morsche Wüstlinge im Schoosse der katholischen Kirche
Thron und Altar feierten und in den „trüffelduftenden
Regionen der österreichischen Diplomatie" nach einem
letzten Genüsse sich umsahen, schoss der ultramontane
Samen Chateaubriands und Maistres in üppige Halme
und die sentimental gestimmten Jünglinge von 1820,
die Lamartine und die Hugo, wussten ihrerseits von
nichts Höherem zu singen als vom Throne und vom
Altar, vom König und vom Priester. Noch 1824 sang
der fromme Hugo den frommen Lamartine also an:
„Auf demselben Wagen wollen wir streiten, fülire du
die Lanze, ich werde die Eosse lenken". Ja sogar
B6ranger erzählt uns in seiner Autobiographie, wie er
unter dem allgewaltigen Eindrucke von Chateaubriands
Grenie du Christianisme ein christliches Epos begonnen
und, freilich nicht für lange, durch den wiederaufge-
nommenen Kirchenbesuch sich poetisch zu kräftigen
und aufzufrischen gesucht habe!!
Wenn wir unsere Parallele auf das ästhetische
Gebiet allein beschränken, so müssen wir bekennen,
dass die französische Romantik von vorne herein einen
entschiedenen Vorsprung der deutschen Romantik gegen-
über besass, indem ihre Sentimentalität den realistischen
Boden nie verliess, den poetischen Inhalt nur selten in
der blossen Stimmung suchte. Chateaubriand hätte
schwerlich die Ansicht Friedrich Schlegels unterschrie-
ben, welche dieser in dem romantischen Kernsatze
niederlegt : „Es ist der Anfang der Poesie, die Gesetze
der Vernunft aufzuheben. Das ist romantisch, was uns
einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form
darstellt," — und ebensowenig, was Tieck behauptet,
-- 90 ~
wenn er schreibt, dass die Stimmung den Inhalt zu
ersetzen vermöge und beifügt: „Warum soll eben In-
halt den Inhalt eines Gedichtes ausmachen?" — Und
wiederum hätten die deutschen Romantiker sich wohl
gehütet zu schreiben, was Chateaubriand am Schlüsse
seines Eene dem alten Priester Souel in den Mund
legt: „Nichts in deiner Greschichte, o Jüngling, ver-
dient das Mitleid, welches man dir hier erweist. Ich
vermag in dir, mein Eene, nichts anderes zu sehen als
einen jungen Träumer, der eigensinnig an seiner Traum-
welt festhält und wie ein Thor diesem Eigensinne seine
gesellschaftlichen Pflichten opfert. Man ist noch lange
kein Genie, wenn man die Welt in widerwärtiger Be-
leuchtung erblickt, nur der beschränkte Mensch kann
die Menschen hassen. Mach' deine Augen auf und dein
Weltschmerz wird in nichts zerfliessen". Das hätten
jene thatenscheuen Phantasten, die unseren Schiller
vornehm ignorirten, weil ihnen sein sittlicher Ernst in
der Seele zuwider war, die nachgerade auch mit Göthe
haderten, als er seinen Wilhelm Meister durch die fröh-
liche That und die stärkende Erfahrung des Lebens
erzog, — niemals unterschrieben, niemals selbst ge-
schrieben !
Der Realismus der französischen Romantik tritt
uns bei Chateaubriand nicht nur in glänzend colorirten
Naturschilderungen , in den künstlich naiven Scenen
des antiken Lebens seiner Märtyrer, sondern auch in
der grob sinnlichen Behandlung seines Himmels, seiner
Hölle und seines Fegfeuers entgegen. Das Alles dürfte
beweisen, dass während die deutsche Romantik erst
mit Tiecks Novellen, deren erste 1821 erscheint, in den
— 91 —
Bereich des Realismus hinüberlenkt , die französische
in ihrem Anfange schon den realistischen Charakter nicht
verleugnet. So gross nun auch die Entfernung sein
mag , welche einen Roman Zolas von einer Dichtung
Chateauhriands nach Form und Inhalt trennt, so lassen
sich doch unschwer die Kettenglieder entdecken, die
zwischen diesen mehr scheinbaren als wirklichen Ex-
tremen den Zusammenhang herstellen. Diese Ueber-
gänge aufzusuchen und in Kürze nachzuweisen, wird
nun meine Aufgabe sein.
Nachdem die Oper des Kaiserreiches, die von
Talma angeregte Einführung des historischen Kostüms
auf der tragischen Bühne, die realistischen Tendenzen
der französischen Maler — Gericaults epochemachendes
Bild „Schiffbruch der Fregatte Medusa" zierte die Aus-
stellung des Jahres 1819 — die Passion für die Local-
farbe geweckt, nachdem später die kühnen Kritiker
des G 1 b e mit gewinnender Beredtsamkeit und über-
zeugender Logik die Theorie der französischen Ro-
mantik entwickelt hatten, schritten die jungen Lyriker
Frankreichs beherzt voran in die sich öfl&iende Bresche,
trieben die Klassiker aus ihrer stärksten Position, dem
Th^ätre frangais, setzten Shakespeare auf den von
Racine geräumten Thron und bald liess sie ihr realisti-
scher Instinct und der trunkene Uebermuth des Sieges
vor keinem Wagnisse mehr zurückbeben. Aus Deutsch-
land drangen romantische Elemente ein. . Des feinen
Löwe- Weimars wohlberechnete XJeberarbeitung zeigte
unseren Romantikern das Phantastische in den wilden
Schöpfungen Callot-Hoffmanns ; der Cultus des Charak-
teristischen (coleur locale), des Hässlichen, die Ver-
— 92 —
Wendung des malerischen Wortes, Effecthascherei über-
haupt wurde ihnen nachgerade zum ersten Kunstgebote
und das Groteske begnügte sich täglich weniger mit
„dem Winkel des Bildes", den Hugo's Programm vom
Jahre 1827, die Vorrede zu seinem Drama Cromwell,
ihm angewiesen hatte. In dem wohlwollenden Pessimi-
sten, dem acht künstlerisch angelegten M6rimee, dessen
ironische Objectivität und kühle Besonnenheit dem
alten Olympier in Weimar um so mehr imponixte, als
er den jungen Franzosen im Besitze einer Reife sab,
die er selbst erst in den Jahren der Manneskraft er-
rungen, — in M6rimee schliesst die realistische Ten-
denz der Romantik einen folgenschweren Bund mit
dem Vater des neufranaösischen Materialismus, mit
Heinrich Beyle, der sich Stendhal (nach Sainte Beuve
hergenommen von Steinthal, Winckelmanns Geburtsort)
nannte, einem Manne, der das Erl)e des Baron Hol-
bach seinen verdutzten Zeitgenossen mit der unver-
schämten Prätention einer nagelneuen Erfindung über-
liefert, seinen Atheismus und seine Rohheit in der Ge-
wandung physiologischer Kunstausdrücke auf dem Ge-
biete des Romanes und der Kunstgeschichte entfaltet,
dem Ideal und der Sitte einen ruchlosen Krieg erklärt.
Nachdem 1830 der Doppelsieg über König Boileau
und König Karl errungen war, löste sich die geschlossene
Phalanx der Romantiker wie die der Politiker. Ein
jeder begann auf eigene Faust zu operiren und wenn
noch eine gemeinsame Losung blieb, so war es das
Feldgeschrei: „Frappez fort! — Dick aufgetragen!"
und „L'art pour Tart! Die Kunst ist frei!", eine Formel,
juit welcher die französischen Romantiker, wie einst
— 93 —
unsere deutschen Romantiker mit ihrer „künstlerischen
Ironie," das Recht der subjectiven Willkür sich zu
wahren suchen. Die Rosse des Wagenlenkers Hugo
gehen mit ihrem Kutscher durch und auch Lanzen-
führer Lamartine wird bald mit dem „Sturze seines
Engels" (La chute d'un ange, 1836) einen schweren
realistischen Fall thun. Göthe verfolgt nicht ohne böse
Ahnungen die Entwicklung jenes pathologischen Pro-
cesses, den er mit den oft citirten Worten kennzeichnet:
„Das Klassische ist das Gesunde und das Romantische
das Kranke".
Es war Sonntags den 14. März 1830, als Göthe im
Gespräche mit seinem getreuen Eckermann sich also
äusserte :
„Ich bin der Meinung, dass diese im Werden be-
griflfene poetische Revolution der Litteratur selber in
hohem Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern
aber, die sie bewirken, nachtheilig sei. Bei keiner
Revolution sind die Extreme zu vermeiden. Bei der
politischen will man anfänglich nichts weiter als die
Abstellung von allerlei Missbräuchen; aber ehe man
es sich versieht, steckt man tief in Blutvergiessen und
Gräueln. So wollen auch die Franzosen bei ihrer jetzi*
gen litterarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter
als eine freiere Form, aber dabei bleiben sie jetzt nicht
stehen, sondern sie verwerfen neben der Form auch
den bisherigen Inhalt. Die Darstellung edler Gesinnun-
gen und Thaten fangt man an für langweilig zu er-
klären, und man versucht sich in Behandlung von
Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts
griechischer Mythologie treten Teufel, Hexen und Vam-
— 94 —
pyre, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen
Gaunern und G-aleerensclaven Platz machen. Derglei-
chen ist pikant ! Das wirkt ! Nachdem aber das Publi-
kum diese stark gepfeflferte Speise einmal gekostet und
sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach
Mehrerem und Stärkerem begierig. Ein junges Talent,
das wirken und anerkannt sein will und nicht gross
genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muss sich dem
Geschmacke des Tages bequemen, ja es muss seine
Vorgänger im Schauerlichen noch zu überbieten suchen.
In diesem Jagen nach äusseren Effectmitteln aber wird
jedes tiefere Studium und jedes stuf enweise^ gründliche
Entwickeln des Talents und Menschen von Innen her-
aus ganz ausser Acht gelassen. Das ist aber der grösste
Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die
Litteratur im Allgemeinen bei dieser augenblicklichen
Eichtung gewinnen wird."
„Wie kann aber," versetzte Eckermann, „ein Be-
streben, das die einzelnen Talente zu G-runde richtet,
der Litteratur im Allgemeinen günstig sein ?"
„Die Extreme und Auswüchse, die ich bezeichnet
habe", erwiederte Göthe, „werden nach und nach ver-
schwinden ; aber zuletzt wird der sehr grosse Vortheil
bleiben, dass man neben einer freieren Form auch einen
reicheren, verschiedenartigeren Inhalt wird erreicht
haben und man keinen Gegenstand der breitesten Welt
und des mannigfaltigsten Lebens als unpoetisch mehr
wird ausschliessen. Ich vergleiche die jetzige litterarische
Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar
an sich nicht gut und wünschenswerth ist, aber eine
bessere Gesundheit als heitere Folge hat. Dasjenige
— 95 —
wirklich Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt
eines poetischen Werkes ausmacht, wird künftig nur
als wohlthätiges Ingrediens eintreten, ja man wird das
augenblicklich Verbannte, das Reine und Edle, bald
mit desto grösserem Verlangen wieder hervorsuchen".
Die Diagnose der Krankheit ist richtig gestellt,
die Symptome sind genau beschrieben, aber wenn Gröthe's
Optimismus eine Heilung leicht und nahe bevorstehend
glaubte, so hatte er sich sehr verrechnet; denn schon
drängte eine neue Generation nach, welche den Realis-
mus immer ausschliesslicher pflegte und an die Stelle
der romantischen Sentimentalität das „Temparament"
setzte: die Musset, die G-autier und die Balzac.
Um die ganze Kluft zu bemessen, die den Roman-
tiker von 1820 von einem Realisten des Jahres 1830
trennt , wollen wir eine Stelle aus Alfred de Vigny's
1832 geschriebenen Stelle mit der aus demselben
Jahre stammenden Vorrede der „Jeunes France" von
Theophile Gautier vergleichen. Im siebenten Capitel
von de Vigny's Buch, das den Titel führt : „Un credo,
ein Glaubensbekenntniss," richtet der Idealist Stelle
an den Realisten die Frage: „Wo waren Sie, schwarzer
Doctor ?" Und der schwarze Doctor antwortet mit er-
schreckendem Gleichmuthe: „Am Bette eines sterben-
den Dichters". Stelle seufzt tief auf und nachdem er
sich einen Augenblick gesammelt, beantwortet er des
schwarzen Doctors Frage, ob auch er vielleicht ein
Dichter sei, mit folgendem „im einförmigen Tone eines
Abendgebetes" vorgetragenen Credo:
„Ich glaube an mich, weil ich tief im Herzen eine
geheime, unsichtbare, unerklärliche Macht verspüre,
— 96 —
die einer Ahnung der Zukunft, einer OflPenbarung der
mysteriösen Ursachen der G-egenwart gleich kommt.
Ich glaube an mich, da in der Natur keine Schönheit
sich findet, die mir nicht poetischen Schauer einflösst,
mein Inneres nicht stürmisch erregt, mir die Augen
nicht mit göttlichen, wimderbaren Thränen füllt. Ich
glaube fest an eine mir übertragene, unaussprechliche
Sendung ; an diese glaube ich wegen des grenzenlosen
Mitleids, das die Menschheit mir einflösst, sie, die meine
Leiden theilt ; ich glaube an jene Mission wegen meines
inneren Dranges, durch Worte der Liebe Andere zu
trösten, zu heben. Dann schwebt die süsse Täuschung,
der Phönix mit den goldenen Fittigen auf meine Lip-
pen nieder und ich singe! Ich glaube an den ewigen
Kampf des inneren Lebens gegen das äussere Leben,
welches die Seele öde macht, uns anwidert".
Sentimental, aber edel und ernst! Der Dichter er-
scheint hier als das gottbegnadigte Wesen, das ja auch
Göthe in seinem Tasso als ein Wesen besonderer und
höherer Art geschildert hat:
„Sein Ange weilt auf dieser Erde kaum,
„Sein Ohr yemimmt den Einklang der Natur ** etc.
Vergleichen wir nun das Credo der jungen Genera-
tion. Wir finden es in der Vorrede von Gautiers No-
vellenkranz „Les Jeunes France". Sie sprudelt von
frecher Laune und üppiger Sinnlichkeit.
„Meine Vorrede," heisst es da unter Anderem,
„meine Vorrede geht vor Allem den Ideen aus dem
Wege. Ich schwöre es bei Allem, was mir heilig ist !
— Doch, halt da ! — Gibt es für mich denn überhaupt
noch etwas Heiliges? — Ich schwör's bei meiner Seele,
— 97 —
an die ich freilich nicht so recht zu glauben vermag,
— bei meiner Mutter, an die ich wenigstens einiger-
massen glaube .... Früher glaubte ich an Alles, so-
gar an Alles, was man druckt, an Grabschriften und an
Zeitungen, ja ich glaubte an die Tugend des Weibes! —
„Woher ich stamme? Aus den Pyrenäen, — bin
aber gleichwohl Stockpariser, so dass ich nocli keine
Sonne habe aufgehen sehen, und Weizen von Hafer
zu unterscheiden ausser Stande bin. — Eine dreistündige
Droschkenfahrt ist meine längste Eeise. Eine idyllische
Landpartie! Wir speisten im Freien. Fliegen fielen
mir in's Grias, Raupen krochen mir die Beine hinauf.
Als ich aufstand, zeigte meine weisse Beinbekleidung
einen grünen Fleck, Ihr wisst an welcher Stelle. Ich
sah eine Pflanze, pflückte sie, — es soll eine Nessel
gewesen sein. Sie brannte mich, dass ich Blasen be-
kam. Und das heisst Landleben und Poesie!
„Mein politisches Credo ist einfach. Nach tiefen
Meditationen über den Sturz der Throne bin ich zu '
folgenden Resultaten gelangt: „ — 0". — Was ist eine
Revolution? Ein verworrener Knäuel von braven Leu-
ten, die in den Strassen auf einander schiessen und um
die Wette Scheiben einschlagen. Den Profit von all
dem haben die Grlaser und allenfalls die Gemüsegärtner;
denn wo ein Held begraben liegt, da sollen im Früh-
jahr die süssen Erbsen besonders üppig gedeihen. —
Ist das Schiessen und Scheibeneinschlagen zu Ende, so
steckt man eine neue Fahne auf und irgend ein Quidam
schleicht sich sachte heran nnd setzt sich auf den Thron.
„Was hältst du von der Kunst ? So fragt Ilir. Die
Kunst, die halte ich für Schwindel. Nach meiner An-
H. B. 7
— 98 —
sieht gibt es nur einen Künstler, den Seiltänzer. Und
gewiss habe ich Recht. Denn um über's schlaflfe Seil
zu laufen, braucht es zehnmal so viel Kunst als um
zwanzig Wagenlasten fünfactiger Trauerspiele zu com-
poniren.
„Und die Moral? Was die Moral anlangt, so er-
scheint mir nichts winziger und unbedeutender als das
Laster, ausgenommen eines Weibes Tugend.
„Was ich endlich von der Liebe halte ? Ich bin
ein prädestinirter byronischer Schmachter. Da mir die
Natur einen grünlichet Teint verliehen und ich mit-
unter kreideweis aussehe, so finden mich die Damen
zum Fressen satanisch, allerliebst byronisch! Welt-
schmerzler in optima forma! Ich meinerseits bin fest
entschlossen, diese vortheilhafte Meinung auszubeuten.
Sämmtliche Spielarten des Don Juantypus gedenke ich
in einem CoUectivcharakter zu vereinigen. Aus allen
braunen und blonden Locken, die meine Schönen mir
geschenkt und schenken werden, lasse ich eine Matratze
machen".
Das Credo schliesst mit den bezeichnenden Worten :
„Zum Henker mit dem Vers und der Prosa! Ich bin
von nun an Lebemann! Je suis un viveur maintenant".
Hier liegt denn in der That des Pudels Kern. In
einem Zuge ist man jetzt Poet und Viveur, Dichter
und Lebemann. So sprechen 1830 schon die Jung-
franzosen und bald auch die Jungdeutschen. Emanci-
pation des Fleisches heisst das Ding mit seinem vor-
nehmeren Namen. Mit den Resten der romantischen
Sentimentalität wird man freilich nicht so leichten
Kaufes fertig. Während vom Einen die Empfindungs-
— 99 —
religion als ein überwundener Standpunkt verhöhnt
wird, huldigt ein Anderer den alten und den neuen
G-öttern zugleich. In der doppelten Gestaltung acht
romantischer Selbstironie und sentimentalen Katzen-
jammers sucht er jenen Dualismus künstlerisch zu ge-
stalten. Neben Gautier und die optimistischen Epi-
kuräer, die keiner Reue fähig sind, stellen sich Na-
turen wie Musset und Heine, in denen Lust und
Schmerz nicht nur zum Schein um die Herrschaft rin-
gen. Aber auch heute ist der Romane wiederum sinn-
licher als der Germane. Rascher durchdringt-der Realis-
mus die Form und schonungloser arbeitet er dem
Materialismus in die Hände. Der gute Geschmack der
gebildeten Welt leistet anfänglich Widerstand. Mussets
und G-autiers erste Erfolge waren keine Salonerfolge,
sie wurden vielmehr in den Kreisen der Künstler und
Studenten weit, d. h. in denjenigen Regionen errungen,
aus welchen sie hervorgegangen waren und deren kecke
und cynische Sprache sie geborgt hatten. Die über-
schäumende Lebenslust mit ihrem übermüthigen Tone,
ihrem ruchlosen MuthwiUen, ihrer anmuthigen Frivoli-
tät, ihrer sinnlichen Gluth, ihrem rasenden Behagen
an den Reizen des Weibes, am schimmernden Luxus
des Costüms, mit ihrem heissen Verlangen nach dem
Genüsse und nach dem, was Genuss verschafft, dem
blinkenden Golde, — sie barg in der That nicht nur
für den sittlichen Ernst, sondern auch für den ästheti-
schen Geschmack einen widrigen Bodensatz: Cynismus,
Blasirtheit, gebrochene Manneskraft, verfrühtes Greisen-
thum, ein ruhmloses, ein erbärmliches Ende! — Es
muss zur Ehre der französischen Kritik gesagt werden,
— 100 —
dass sie in jeder Form und bei jeder Gelegenheit ihren
Protest gegen die Invasion des poetischen Materialis-
mus eingelegt hat. Wie oft und ernst hat die Revue
des deux Mondes sich ausgesprochen ! In einem Artikel
über Theophile Gautier (v. Jahre 1852) spricht es der
bewegliche und so oft verblümte Sainte Beuve einmal
mit dürren Worten aus: „Man dichtet heute mit dem
Temperament, man schreibt mit Blut und Muskeln,
man ist Poet und Lebemann zugleich! — aber eines
schönen Morgens vermisst man seine Jugend und • —
siehe da ! Auch die Muse ist entflohen ! Herrlich strah-
len und strotzen sie in ihrer Jugendfülle, — aber nie
erreichen sie die Höhe der männlichen Vollkraft ! Das
ist der geheime Schaden, an dem die Dichter von heute
kranken!" Wir Deutsche denken hier nicht ohne Schmerz
an Heinrich Heine. Dem sinkenden Musset gegenüber
ist er der Starke, denn Mussets reiche Kraft war längst
versiegt, als Heines heroischer Geist den Qualen der
Matratzengruft noch fort und fort den Sieg abtrotzte.
Heines Siechthum schloss ein Jahr vor Mussets schlaffem
Ende. Obgleich durch Lindaus Biographie die ver-
nichtenden Urtheile Laprades, Pontmartins und Vitets
dem deutschen Leser hinlänglich bekannt sind, wage
ich es die ernsten und vielsagenden Worte des Letzt-
genannten zu wiederholen. Sie zeichnen die Schule des
Temperamentes zu wahr und treffend, um hier nicht
eine Stelle finden zu sollen.
„Wir haben heute herrliche Systeme, die uns den
Dichter als ein absonderliches Wesen hinstellen, das
anderen Gesetzen gehorcht als die übrigen der Sterb-
lichen. Einst hielten sich die Dichter verpflichtet, ihrem
X • «> «f.
— 101 —
Talente durch Antrengung zu Hülfe zu kommen. Sie
lebten der Arbeit und ordneten Vergnügen und In-
teresse dem Ruhme unter. Verbrauchte Mittel ! Ueber-
lebte Methode ! Ueberwundener Standpunkt ! Heute
schlägt man bequemere Wege ein, um das Ziel des
Ruhmes zu erreichen. Man sucht die GeseDschaft, ver-
geudet «eine Jugend, übersättigt sich mit Vergnügen.
Das gilt heute für die Lehrzeit, die jeder geniale Dichter
durchzumachen hat. Aus einer beispiellosen Vergünsti-
gung macht man so ein bindendes Gesetz. Was Gott
nur in übergrosser Gnade gewähren kann, das fordert
man als sein Recht."
„So oft ich solche Blasphemie aussprechen höre,
muss ich an eine Ideine in der nächsten Nähe von
Ronen gelegene Hütte denken. Eine bescheidene Wiese
und drei bis vier Apfelbäume sind ihr einziger Schmuck.
Hier ist der C i d geschrieben worden. Corneilles naive
Grösse wusste nichts davon, dass er durch sein Leben
in dieser armen Behausung die Flamme seines Genius
ersticke und seinen Ruhm vernichte. Er fürchtete
Gott, ehrte die Pflicht und das Gebot, reiste nur in
Gedanken , hatte keine Abenteuer als diejenigen , die
er seine Helden bestehen Hess, und fühlte trotzdem
keine Leere in seinem Herzen. Er suchte die Auf-
regung nicht draussen, wenn er die Freude hatte,
schöne Verse zu schreiben und Frau und Kinder um
sich zu sehen."
Die Schule des Temperamentes hat aber nicht
nur ihre Märtyrer, sondern auch ihre siegreichen Ath-
leten. Gautier ist ihr charakteristischer Typus. Weni-
ger fein und empfindsam als Musset, in der Linie des
— 102 —
Temperamentes consequenter und robuster, hat seine
unverwüstliche Natur ihre Rolle 40 Jahre lang mit
Grlück gespielt, seine realistische Ader ist lange und
reich geflossen, hat seine Dichtung mit breitem galli-
schem Humor gewürzt, seine Form mit plastischem
Relief versehen und mit warmen Farben gesättigt. Als
ein äusserer Mensch hat Gautier gelebt und geendet.
Stendhals selbstgefertigte Grabschrift gilt auch seinem
Steine: „Scrisse, visse, amö!" Auch eine Schule hat
Gautier gegründet: „L'ecole de Tart pour Tart",
deren Jünger sich als die Phantasiekünstler (artistes
fantaisistes) bezeichnen. Die meisten der lyrischen
Epigonen Frankreichs sind von Musset und Gautier
ausgegangen, vom formgequälten, pretiosen Baudelaire
bis zum weinerlichen Realisten Coppee. Das Manifest
seiner Schule hat Gautier (1835) in die scandalöse
Vorrede eines scandalösen Romans „Mademoiselle de
Maupin" niedergelegt. Sie kündet die optimistische
Phase des französischen Realismus an, den lustigen
Rausch vor dem pessimistisch gelaunten Katzenjammer.
Diese Phase kennzeichnet sich durch die kecke Unge-
bundenheit einer heiteren, muthwiUigen , insolenten
Sinnlichkeit, die vor allem keinerlei Tendenz im Reiche
der Kunst zu dulden gewillt ist, die dichtet und er-
zählt um des Liedes und des Mährchens willen, in der
des Dichters Laune (fantaisie de Tartiste) die Garantie
ihrer wilden Freiheit erblickt. Der praktische Materia-
lismus dieser Schule hat eine rosige, keine düstere
Färbung, ist cynisch ohne Misanthropie, wendet sich
nicht mit Affenliebe dem Cultus des Hässlichen zu,
um in dessen knechtischer Copie den Triumph dey
— 103 —
Kunst zu suclieu oder in der schreienden Darstellung
des socialen Elends den Hass der Armen zu stacheln.
Endlich meidet es die sentimentale Declamation der
Romantiker als Heuchelei zugleich und als Greschmacks-
sünde. Das alles ist in jener Vorrede möglichst her-
ausfordernd und unanständig vorgetragen. Der Ver-
fasser derselben erklärt unter Anderem, er würde sein
Vaterland mit sammt dem französischen Bürgerrechte
nicht nur für Kaphaels Gemälde, sondern auch für
Gyges Kunstgenuss in Kandaules Kammer hingeben.
Anderswo sagt er : „Ich bin ein Mann aus Homerischer
Zeit. Die heutige Welt ist nicht die meine und mir
geht das Verständniss für die Mitwelt ab. Christus
ist nicht für mich zur Welt gekommen, ein Heide bin
ich wie Phidias weiland und Alkibiades". Den Utili-
tätsrittern erklärt er einen Krieg auf's Messer : „Lieber
keine Kartoffeln mehr als keine Rosen". — „Wer hätte
die Stirne, dem Michel-Angelo den Erfinder des weissen
Senfes vorzuziehen?" — „Alles Nützlicheist hässlich,
denn es ist der Ausdruck eines Bedürfnisses, und des
Menschen Bedürfnisse sind ekelhaft wie seine Gebrechen" .
— Man sieht, hier klingt es nach Griechenthum und
nach Leo X. Aber der Materialist verbindet das Be-
. liagen am Trivialen mit der Freude am Schönen, und
das ethische Moment, das Gute, wird mit breitge-
schnittener Feder ausgestrichen ! So dachten und lebten
die Jungfranzosen von 1830. Ihr Realismus ist eine
lärmende Reaction gegen die fade Sentimentalität und
die hohle Phrase der Lamartine'schen Lyrik. Der be-
siegte Lamartine fand nichts gerathener als sich dieser
Richtung zu acconimodiren. Hugos edlere und gehalt-
— 104 —
vollere Natur neigte zum pessimistisclien Realismus und
opferte niemals ihren idealen Kerngehalt.
Wenn wir nun einen Blick auf die Gebiets-
eroberungen des optimistischen Realismus werfen, so ge-
staltet sich die topographische Situation der französi-
schen Litteratur am Tage nach der Julirevolution etwa
so. Die romantische Schule hatte ihre Nation mit einer
eigenen Lyrik besclienkt, aber ohne bleibenden Erfolg
hatte sie es versucht, das historische Drama an die
Stelle der. klassischen Tragödie zu setzen und im Ro-
mane war sie über die mittelmässige Nachahmung
W. Scotts nicht hinausgekommen. Jetzt bemächtigten
sich die Viveur s mit Macht dieser letzteren Gattung.
Wie eine Lawine stürzte der Roman in die Thalge-
lände der Litteratur und droht sie sammt und sonders
unter seinen Massenproductionen zu begraben.
Die unerschöpflichen Erzähler kurzweiliger Aben-
teuer, die Romanciers de cape et d'epee, die Erben
der alten Ritter- und Räuberromanc führt der Mulatte
Alexander Dumas an, ein industrieller Mohr von Venedig,
der wie Othello zu reden weiss
— of most disastrous cbauces,
of moving accidents by flood and field.
Neben ihm steht ein Mann., dessen Reputation, um
die Mitte der zwanziger Jahre bescheiden emporrankend,
eben im Zuge war die Sonne der ersten Erfolge zu
trinken, als der daherrauschende romantische Heu-
schreckenschwarm sie zu verfinstern kam. Paul de
Kock (gestorben 1870) feierte seine Glanzperiode zwi-
schen 1824 und 1834. Gautier hat ihm eine sorgfältige
und eingehende Studie gewidmet, deren Hauptgeschäft
— 105 —
es freilich ist, uns ein behagliches Bild von dem ver-
schwundenen Paris des Bürgerkönigs und seiner Bour-
geoisie zu entwerfen. Grautier hat diese Skizze mit
sichtbarer Liebe als eine gemüthliche ßeminiscenz aus
der Jugendzeit durchgeführt, sie athmet unverkennbar
die lebensfrische Wahrheit eigener Anschauung.
„Niemals", so ungefähr drückt sich Gautier im
Anfange seines Essai aus, „niemals war ein Autor volks-
thümlicher und allgemeiner beliebt als Paul de Kock.
Jeder las ihn, genoss ihn, vom Diplomaten bis zum
Weinreisenden, von der Duchesse bis zur Grisette,
vom Professor bis zum Gymnasiasten. Im Auslande
war er fast ebenso gekannt wie in der Heimat, und ich
glaube, die Russen schöpfen heute noch ihre Kenntnisse
von Paris und den Parisern in Paul de Kock's Ro-
manen. Schon gedieh das Pflänzlein seines Ruhmes,
als die lärmende Dazwischenkunft der Romantiker
mit ihren Ritterphantasien, ihrer Localfarbe, ihrem
Shakespeare'schen Bilderdienste und Bilderluxus ihm
die belebende Sonne stahl. Aber der schlimme Mo-
ment ging vorüber. Unser Paul de Kock ward ein
berühmter Mann. Ein ächter Bourgeois, ein richtiger
Philister des Marais, ohne die leiseste Spur von dem,
was man Stil zu nennen pflegt, ohne einen Schimmer
von Poesie, ohne die bescheidenste Andeutung einer
Künstlerader! Aber eben hier lag eine Hauptursache
seines mächtigen Erfolges. Er genoss den grossen Vor-
theil, für keinen einzigen seiner Leser zu hoch zu sein.
Er besass sodaim die vortheilhafte Gabe, Lachen er-
regen zu können, nicht das feine, attische Lächeln freilich,
sondern das gemeine, breite, lautschallende Gelächter,
— 106 —
welches ansteckend auf den Nachbar zu wirken pflegt,
unwiderstehlich um sich greift, auf das Zwerchfell
paukt und unsere Seiten schüttelt. Er lockt es heraus
jenes Lachen, nicht mit delicaten Mitteln, sondern mit
der Gauloiserie eines Rabelais, mit zweideutigen, mit-
unter auch eindeutigen Scherzen, durch spassige Zwi-
schenfälle, komisches Purzeln, sprachlose Verdutztheit,
in Stücke gehende Teller und Schjisseln, verschüttete
Sauce, glücklich applicirte Fusstritte, an die unrechte
Adresse gelangende Ohrfeigen, manquirte Seiltänzer-
touren u. dgl." — Wenig Witz und viel Behagen!
Gemein, aber natürlich und wahr! Heute hat dieser
Photograph einer nunmehr verschwundenen Kleinbür-
gerei noch obendrein eine Würde erlangt, die er sich
jedenfalls nie träumen liess, die Würde eines cultur-
historischen Monumentes. Seine Heimat und sein
Mikrokosmos ist das einstige Boulevard de Gand, das
heutige Boulevard des Italiens. Hier circulirte in seinen
Tagen noch nicht der sonnenbraune Mann des Südens,
der wüthend lebhaft gesticulirende Provengale oder der
ausländische Dandy, vielmehr ein Typus, der längst
in der Menge sich verloren hat, das Vollblut der Pariser
Bourgeoisie: weisse Haut und rothe Wangen, kastanien-
braune Haare und hellgraue Augen, mittlere Grösse,
schlank und wohlgebaut, — ein Signalement, das für's
schöne Geschlecht durch ein massiges Embonpoint und
kleine Knochen sich completirt. Paul de Kock selbst
ist der letzte Mohikaner dieses vielverschlungenen Jagd-
pfades.
Hinter den optimistisch-realistischen Gestalten Gau-
tiers^ Dumas' und Paul de Kock's taucht nun der Vor-
— 107 —
lauf er des pessimistischen Realismus in Balzac auf.
Er ist der phantasiestrotzende Schöpfer einer langen
Reihe blendender und düsterer, immer aber wirkungs-
voller Bilder. Betrachten wir nun erst den Menschen,
damit werden wir den halben Weg^ zum Verständnisse
seiner Werke zurückgelegt haben.
Balzacs persönliche Erscheinung war eine spre-
chende. Wenn er in seiner weissen Flanellkutte an
der Arbeit sass, so glaubte man einen Rabelais, einen
pantagruelischen Pfaffen vor sich zu haben. Auf ge-
drungenem Torso, von einem muskulösen säulenrunden,
blendend weissen Halse getragen, sass ein grobge-
arbeiteter Mönchskopf mit vollen rothen Wangen, sinn-
lich derben Lippen, krausen schwarzen Haaren und
einer durch ihre substantielle Tüchtigkeit sich hervor-
thuende Nase : „Prenez garde k mon nez, mon nez est
un monde!", rief unser Realist dem Bildhauer David
d' Angers entgegen, als dieser seine Büste zu modelliren
sich anschickte. Das Beste und wirklich Schöne an
jenem Gesichte waren ein Paar auffallend glänzende,
von Temperament und Lebensfeuer leuchtende Augen.
Die ganze Erscheinung des Mannes athmete Kraft und
unbedingte Sinnlichkeit, und dem äusseren Menschen
entsprach der innere. Es ist hier nicht der Ort, alle
die ergötzlichen Wunderlichkeiten Balzac's zu wieder-
holen, welche Gozlan, Gautier und Andere mit Anmuth
erzählt haben. Ich begnüge mich, einem weniger be-
kannten Artikel Nettement's einige charakteristische
Züge zu entlehnen. Der fromme Legitimist bekennt
mit sauersüsser Miene, dass Balzac „leider" sein Partei-
genosse gewesen sei, dass er in Folge dieses Umstandes
— 108 —
mehrfach mit ihm habe verkehi'en müssen. Eines Tages
sei ihm nämlich ein „gros paysan" angemeldet worden,
und der vierschrötige Kerl sei eben niemand anders
gewesen, als Balzac. Was Balzac den Legitimisten zu-
führte, sei im Grunde nur dessen Verehrung „für den
Triumph der absoluten Gewalt" gewesen, die ihm in
der sittlichen Wett ebenso wie in der physischen im-
ponirte. Die legitimistische Partei, berichtet Nette-
ment weiter, suchte seine Feder zu verwerthen, aber
Balzacs Cynismus habe alles verdorben, er schrieb 1832
in eine unter dem Patronate Bonaids gegründete Revue.
Herr von Genoude kam auf den Gedanken, man könnte
Balzacs Talent „regle et epur6 par les idees generales
du Journal" im Feuilleton der ultramontanen Gazette
de France verwenden. Nettement übernahm es, das
unreine aber brauchbare Individuum dem frommen
Abbe vorzustellen. „Obgleich wir unten an der Treppe
ihm noch dringend empfahlen, auf seine Worte zu ach-
ten, erklärte Balzac dem Herrn Abbe doch schon mit
dem zweiten Satze, dass er ihm seine ganze Menagerie
zur Verfügung stelle, — so nannte Balzac die Mensch-
heit, deren Typen er in seinen Romanen sammelte, gänz-
lich vergessend, dass der Gott des katholischen Prie-
sters, zu dem er sprach, Mensch geworden war, um
die Menschen zu erlösen. Beim dritten Satze erklärte
er sich bereit, an Wunder zy glauben, um so mehr,
da er selbst schon durch Handauflegen welche ver-
richtet habe, mit Ausnahme freilich der Todtener-
weckung, die ihm bisher noch nicht gelungen wäre".
Man sieht, Balzac war weder eine reine noch eine
schöne Seele, noch das^ was mau einen Idealisten zu
— 109 —
nennen pflegt. Seine Schriftstellereitelkeit ergötzte
durch ihre ländliche Unbefangenheit. Er nannte sich
den ersten Marschall der Litteratur, betrachtete sein
Lebenlang Napoleon als einen lästigen Concurrenten
in der Gloire, und um das Publikum mit seiner Person
zu beschäftigen, pflegte er seine Finger mit einer' Masse
von 'massiven Eingen zu belasten , seine Haare nach
mönchischer Weise zu scheeren, jenen kolossalen Stock
mit goldenem Knopfe. mitzuschleppen, welchen Mme. de
Girardin im Titel einer ihrer gelungensten Novellen
verewigen sollte.
Was Balzac neben seinem cynischen Humor und
einer scharfen Beobachtungsgabe zur Eomanschreiberei
mitbrachte, war eine orientalische Phantasie, gepaart
mit einem mächtigen Willen. Seine ungezügelte Ein-
bildungskraft beherrschte sein ganzes Wesen und Trei-
ben und betrog ihn um die vollen Resultate seines
realistischen Scharfblicks. Seine Phantasie verlor sich
— und das ist bezeichnend für den industriellen Ro-
man der Epoche überhaupt — mit Vorliebe in den
Träumen der unermesslichsten Reichthümer und uner-
schöpflichsten Schätze, und schwelgte in den Vorstel-
lungen des rafiinirtesten Luxus. Gold und abermals
Gold ist ihre Parole. Balzac ist der erste französische
Romanschreiber, der seine Verliebten mitten im Kosen
der Liebe noch rechnen lässt. Schildert er die Ent-
behrungen junger Leute, so weiss er sie mit goldenen
Hofihungen zu trösten, die ihnen die schmale und
schlechte Kost „les durs biftecks de la vache enragee"
mehren und würzen. Geld und Genuss sind überhaupt
die herrschenden Motive seiner Helden. Der Millionen-
— 110 —
träum war übrigens auch die Privatbeschäftigung seiner
freien Augenblicke, das Lieblingsfeld seiner humoristi-
schen Improvisationen im Freundeskreise. Mit dieser
rastlos arbeitenden, sein ganzes Wesen überwuchern-
den Phantasie durchlebte Balzac das Leben seiner G-e-
schöpfe, besonders derjenigen, die sich in irgend ein
Schatzgewölbe hinein gebohrt und da ihre Taschen
gefüllt haben. Was Dickens entwickelter Feinfühlig-
keit mit den rührenden Typen seiner Dichtung
widerfuhr, das wiederholte sich bei Balzac auf dem
Felde des imaginären Genusses. „The riebest imagi-
nation is that of a beggar" , sagt Washington Irving,
das bewahrheitet sich in der That bei unserem Reali-
sten , denn bis gegen das Ende seines arbeitsamen
Lebens schwankte Balzac zwischen den Polen des Ueber-
flusses und des Elends. Seine Creditoren waren das
Positivste von Allem, was seine Phantasie beschäftigte.
Diese freilich war noch reicher als sein Fucino Cane.
Zu einer Zeit, da ausser der Haute Finance noch Wenige
an der Börse spielten, da eine Million noch etwas zu
bedeuten hatte, mussten Balzac^s Phantasiemillionen das
Vorstellungsvermögen des grossen Haufens noch weit
mächtiger an- und aufregen, als sie es heutzutage ver-
möchten. Balzac umgab die Damen seiner aristokrati-
schen und commerciellen Welt mit einem Luxus, dessen
Budget dem wirklichen Finanzbaron als Gatte und als
Cicisbeo die Gänsehaut über den Leib ziehen musste.
Sie statteten den Verbrecher, den satanischen Feind
der Gesellschaft, mit einer Macht aus, die er glück-
licherweise nie besessen hat. So hat Balzac's Zauber-
stab die Löwinnen der Demi-Monde zu aristokratischen
— 111 —
Salonköniginnen, seine „Hommes forts" zu übermensch-
lichen Virtuosen der brutalen physischen Kraft ge-
macht, überhaupt eine Welt von Schemen creirt, die
das iiaive Europa Jahre lang für das authentische
Panorama des Pariser Lebens zu halten geneigt war.
Balzacs Willenskraft kam an Intensitätseiner
Phantasie gleich. Wie J. J. Rousseau hatte Balzac
mit der Form unendlich viel zu schaffen. Ein Abgrund
that sich auf zwischen seinem Gedanken und seinem
Ausdruck. Im Schweisse seines Angesichts fuhr er
fort nach dem zu ringen, was er nach dem XJrtheile
seiner Landsleute nie erreicht, was er stets und schmerz-
lich an seinen Leistungen vermisst hat, — der stilisti-
schen Vortrefflichkeit. Sainte Beuve lobt zwar Balzacs
malerische, in ihrer Corruption reizende, -im Sinne der
Alten asiatische Schreibweise, aber auch er vermisst
an ihr Durchsichtigkeit und Schärfe. La Bruy^re sagte
einmal, unter allen möglichen Arten Gredanken auszu-
drücken, gebe es eben nur eine, welche die rechte, und
die ächte sei. Diese einzige sei aber nun gerade die,
welche zu erwischen Balzac nicht gelingen wolle. Seine
Diction baue sich aus Versuchen und Tastun'gen auf,
seine Ausdrücke seien selten glückliche Ergebnisse
jenes Suchens. Und fast das Nämliche lasse sich von
seiner Führung und Handlung, von seiner Oekonomie
und Architektur, kurz von seiner Composition im grossen
Granzen sagen. Hier fehle ihm der künstlerische Takt.
Grautier bestätigt dieses anit den Worten : „Balzac
n'avait pas le don litteraire". — Aber Balzacs ver-
bissener, und ingrimmiger Wille kämpfte heldenmüthig
mit allen diesen Hindernissen. Seine Druckcorrecturen
— 112 —
mit ihren Zusätzen, ihren ausgestrichenen Stellen, ihren
Klammern, Curven, Sternchen und Punctreihen glichen
der kindlichen Darstellung eines complicirten Feuer-
werks und die Setzer erklärten, nicht über eine Stunde
„Balzac" arbeiten zu wollen. In diesem Puncte war
Balzac entschieden Künstler und Idealist; konnte er
sich doch nie dazu entschliessen, seinen Bogen aus den
Händen zu geben, so lange er ihn für verbesserungs-
fähig hielt, — lieber liess er sich das Honorar be-
schneiden, als dass er seiner beschwerlichen Correctur-
methode entsagte. Mit dieser hat er denn , wie dies
kaum ausbleiben konnte, nicht nur verbessert, sondern
mitunter auch verdorben. So weist Sainte Beuve dar-
auf hin, dass die erste Ausgabe der „Femme de trente
ans" besser gelungen sei als die spätere Ueberarbeitung.
Dieses zähe Eingen nach künstlerischer Vollendung
begründet Balzacs Anspruch auf eine höhere Stelle
als diejenige eines banausischen Arbeiters in der grossen
Romanindustrie seiner Zeit.
Und nun zu Balzac's Werken. Der phantasievolle
und willensstarke Mann stellte sich eine Lebensaufgabe,
welche er mit herkulischem Kraftaufwande durchge-
führt hat. Nachdem er noch im Laufe der zwanziger
Jahre unter verschiedenen „Noms de plume" eine Menge
längst verschollener Romane geschrieben, seit 1829
durch einen Treffer die Aufmerksamkeit auf sich ge-
lenkt, fasste er gegen 1835 den Plan, das grosse Mario-
nettenspiel des Pariser Lebens unter dem zusammen-
fassenden Titel der „Comedie humaine" in einer Reihe
von Romanen darzustellen. Man denkt unwillkürlich
un den Reichthum Shakespeare'scher Gestaltungskraft,
— 113 —
wenn man Balzacs zahlreiche Typen durchmustert.
Mag seine intuitive Beobachtung dieselben unter den
altfränkischen Grestalten des Kaiserreiches, unter den
aristokratischen Figuren der Restauration, oder endlich
in der Bourgeoisie des regenschirmbewaffneten Bürger-
königs zusammensuchen, der Träumer ist zugleich ein
positiver Realist, der Phantasiemensch porträtirt wie
ein photographischer Kasten, er vergisst keine Warze,
keine Talte, er versteht es die tiefsten Schatten mit
den hellsten Lichtem zu contrastiren, seinen Gestalten
durch die Contraste des Colorites ein siegreiches Relief
zu verleihen. Chargirt wird beiläufig aus künstlerischen
Gründen, wie Michel Angelo Muskeln zusetzt, um die
Idee der Kjaft zu erzeugen, wie der Landschafter den
Himmel tiefer blau malt, um die Okerfelsen heraus-
zuheben, wie der Komiker die menschlichen Schwächen
übertreibt , um die Wirkung nicht zu verfehlen. Hi-
storisch betrachtet, mag Balzacs Gemälde ein treuloses
genannt werden, denn die Pariser Welt, die er uns
malt, hat niemals existirt. Aber er entbehrt nicht der
künstlerischen Wahrhext. Seine Gebilde haben Fleisch
und Blut. Die mächtige Realität seiner Gestalten gräbt
sich tief ein in die Phantasie des Lesers. Die Ver-
tiefung seiner Charaktertypen ist das Elriterium seiner
dichterischen Befähigung. Weniger glücklich ist die
Anlage seiner Handlimg. Es fehlt ihm jene bei den
Franzosen sonst so allgemeine Erzählergabe , welche
den Leser sanft hinein- und wieder hinausführt, ohne ihm
das Verständniss der Intrigue verdriesslich zu machen.
Eine individuelle Manie und eine Manie seiner Zeit spielen
ihm obendrein noch manchen bedenklichen Schabernack.
H. B. 8
— 114 —
Mit dem kindischen Behagen eines ßaritätensammlers
verliert er sich in Schilderungen alter Möbel und ehr-
würdiger Kunstreliquien, so dass sein Roman mitunter
einer Trödelbude von buntem Krimskrams und allerlei
Bric-ä-Brac- Artikelchen gleicht. Die zeitgenössische
Manie aber, die auch in seinen Romanen spukt, ist die
excentr'sehe Projectmacherei der dreissiger Jahre. Ein
Romandichter begnügt sich da selten, den Leser mit
der Erzählung und ihren Charakteren allein zu beschäf-
tigen. Er muss Höheres bieten. Er hat vor allem die
socialen, politischen, religiösen, philosophischen und
naturwissenschaftlichen Fragen des Tages zu beant-
worten, die gesellschaftliche Organisation der Zukunft
zu finden, das entscheidende Wort über Magnetismus,
Electricität , Theosophie, Toxicologie und Physiologie
auszusprechen. Diese Narrheit der Zeit gräbt ein grosses
Loch in Balzacs Weg, in das er immer wieder hinein-
purzelt, aus dem er mit verrenkten Gliedern wieder
emporkriecht. Wie manche Seite hat Balzac mit sol-
chen Excursionen angefüllt, die der geneigte Leser, wo-
fern er Vernunft besitzt, ganz ruhig überschlagen wird !
Balzac der Philosoph ist übrigens nur eine neue
Seite von Balzac dem Realisten. Der ihm persönlich
befreundete H. Beyle-Stendhal liefert ihm den ganzen
Inhalt seiner materialistischen Anschauung, und so ist
auch der physiologische Hocus Pocus von Stendhals
Terminologie in Balzacs Sprache übergegangen. Beyles
pessimistischer Cynismus ist auch bei Balzac ein stehen-
der Effectartikel. Das sittliche und das ästhetische
Ideal scheinen ihm gleich verhasst zu sein. Die Poeten
als solche sind Balzac zuwider. Für die Liebe findet
— 115 ---
er keine höhere Definition als diejenige eines Vergnügens,
das den Frauen Erröthen und den Männern Lachen
abnöthigt. Die Seele braucht er nicht im Blicke zu
suchen , sie strömt ihm aus den Poren entgegen. „II
nous semble voir les pores de son visage et surtout
ceux de son front livrei* passage au sentiment interieur
dont il fetait pen6tr6". Den Willen definirt er so: „La
volonte est une force materielle semblable k la vapeur,
une masse fluide dont l'homme dirige i son gre les
projections". Die Furcht wird physiologisch also um-
schrieben : „La peur est un ph^nomfene comme tous les
accidents 61ectriques".
Wie es Leuten, die an gar nichts zu glauben be-
haupten, oft genug ergeht, Balzac glaubt an die Narr-
heiten der Mystik, an die geheimnissvolle Kraft der
Eigennamen, an Wahrsagerinnen, kurz dieser materia-
listische Philosoph war rechtschaflfen abergläubisch. Mit
gespannter Aengstlichkeit sucht er sich auf den Aus-
hängeschilden der Vorstädte die wirksamsten Namen
für seinen neuen Roman zusammen und Grautier erzählt
eine mit Balzac unternommene Fahrt zur Entdeckung
einer Wahrsagerin. Sie gelangten aber an die Un-
rechte und wurden von der sittlich empörten Matrone
mit einem Hagel der wirksamsten Lijurien von dannen
gejagt.
Betrachten wir die sittliche Lebensanschauung
unseres cynischen Philosophen, so stossen wir sofort
auf eine scheinbare Indifferenz, hinter welcher sich ein
instinctiver Hass gegen Pflicht und Gewissen versteckt.
Wer Balzac wegen seiner unsittlichen Charaktere zur
Rechenschaft ziehen wollte, dem pflegte er zu antworten:
— 116 —
„Ich spreche nirgends in meinem eigenen Namen, ich
betrachte, beschreibe, acceptire einfach die Thatsachen,
ohne die Pretention, widersprechende Anklagen prüfen
zu wollen. Das Leben erscheint mir als interessante
Comödie, deren Charaktermasken dem Zuschauer die
Zeit zu vertreiben da sind". Die Ausflucht ist zu seicht,
um einer ernsten Widerlegung zu bedürfen. Wenn
Balzac seinem Vautrin die Logik Satans leiht, ihn mit
allen Eigenschaften des „Kraftmenschen" ausstattet —
rhomme fort ist Balzacs Schlagwort — wenn er immer
wieder den Triumph der Gewalt als sein Ideal setzt,
wenn er in seinen „Parents pauyres" die ekelhafteste
Ausschweifung in ihre faulsten Verirrungen begleitet,
überhaupt das Kranke und das Corrupte als Vorwurf
wählt und das Schöne und Gute höchstens im Hinter-
grunde des Bildes zeigt, wenn er .Geld und Genuss
als die einzigen Ziele menschlichen Strebens empfiehlt,
ruft er da nicht jedem Leser zu, was Juvenal seinem
Bösewicht in die Seele schiebt: „Aude aliquid carcere
dignum," wage das Böse und du hast Aussicht glück-
lich zu werden? Und da sollte von keiner moralischen
Verantwortlichkeit mehr die Kede sein?
Das Schlimmste aber bleibt noch zu sagem. Balzac,
Sue und die andern Materialisten des französischen Ro-
mans begnügen sich nicht damit, die Corruption in-
teressant zu machen, sondern sie stellen geflissentlich
alle sittlichen Begriffe auf den Kopf, indem sie uns
die Meinung beibringen wollen, als stünden ihre Helden
weniger gross und herrlich da, wenn sie den einfachen
Weg der braven Leute wandelten. Sie haben den
tugendhaften Verbrecher, den ehrlichen Spitzbuben und
— 117 —
die keusche Dirne erfunden. „Nirgends," sagt Balzac,
„wird Eechtschaffenheit pünctlicher beobachtet, als auf
der Galeere." Umgesetzt in's Urtheil des naiven Lesers
heisst das: „Wer nicht im Zuchthaus gesessen hat,
muss ein Schuft sein". So wird die Gesellschaft zur
Verbrecherin und der Sträfling zum Märtyrer. Balzacs
eigene Moral fasst sein Vautrin in die Worte zusam-
men: „Der Mensch ist mehr oder weniger Heuchler
und das nennen dumme Leute sittlich oder unsittlich.
Aber die Welt ist immer dieselbe gewesen, kein Mo-
ralist wird sie verbessern".
Balzacs Euhm soll namentlich durch seine Lese-
rinnen gepflegt worden sein. Seine Erfindung „der Frau
von dreissig Jahren" scheint ihn hier empfohlen zu
haben, eine Erfindung, die sein Schüler Bernard zur
grossen Befriedigung einer weiteren Kategorie von
Leserinnen durch „Die Frau von vierzig Jahren" com-
pletirte. Den Typus dieser reifen Helden hatte übrigens
schon Constants Adolph aufgestellt, freilich ohne alle
Wärme des Colorits, als einfaches Product einer psy-
chologischen Analyse. Jules Janin's Geschwätzigkeit
hat jenen Typus nicht ohne Humor persifflirt.
„Die Frau von dreissig bis vierzig Jahren war
früher ein Territorium, das als verloren für die Pässion,
d. h. für den Eoman und das Drama galt ; aber heut-
zutage herrscht die vierzigjährige Frau allein im Drama
und Roman. Diesmal hat die neue Welt ganz die alte
Welt unterdrückt, und die Frau von vierzig Jahren
besiegt das junge Mädchen von sechszehn. „Wer klopft?"
ruft das Drama mit seiner festen Stimme. „Wer ist
da?" schreit der Roman mit seiner hoheii Fistel, „Ich
— 118 —
bin es," antwortet zitternd das seehszehnte Jahr mit
seinen Perlenzähnen, seinem Busen von Schnee, mit
seinen weichen Linien, seinem frischen Lächeln, seinem
sanften Blick. „Ich bin es, ich stehe in dem Alter wie
Junie bei Racine, Desdemona bei Shakespeare, Agnes
bei Moliere, Zaire bei Voltaire, Manon Lescaut beim
Abbe Pr^vost, -Virginie bei Saint-Pierre. Ich habe das
Alter alier keuschen Neigungen, aller edlen Instincte,
das Alter des Stolzes und der Unschuld. Weist mir
meinen Platz an, lieber Herr!" So spricht das liebliche
Alter von sechszehn Jahren zu den Romanschriftstellern
und Dramendichtern: „Wir sind mit deiner Mutter
beschäftigt, mein Kind. Komm nach zwanzig Jahren
wieder und wir wollen sehen, ob wir etwas aus dir
machen können".
„Es gibt jetzt in Drama und Roman nichts anderes
als die Frau von dreissig Jahren, welche morgen vierzig
Jahre alt werden wird. Sie allein kann lieben, sie
allein kann leiden. Sie ist um so dramatischer, als sie
zum Warten keine Zeit mehr hat. Was sollen wir mit
einem kleinen Mädchen anfangen, das nichts als weinen,
lieben, seufzen, lächeln, hoffen und beben kann? Die
Frau von dreissig Jahren weint nicht, sie schluchzt;
sie seufzt nicht, sie wimmert ; sie liebt nicht, sie ver-
zehrt ; sie lächelt nicht, sie kreischt ; sie träumt nicht,
sie handelt. Das ist das Drama, das ist der Roman,
das ist das Leben. So sprechen, handeln und antworten
unsere grossen Dramatiker und unsere berühmten No-
vellisten". (Brandes, Hauptströmungen I.)
Gautier, an einer Stelle seiner langen Studie über
Balzac, will keine Verwandtschaft zwischen Balzac und
— 119 —
den späteren Ee allsten gelten lassen. „Man hat unsere
gegenwärtige realistische Schule von Balzac herleiten
wollen, aber Balzac hat mit ihr durchaus nichts zu
schaffen". Gautier setzt sich hier in Widerspruch mit
der allgemeinen Ansicht nicht nur, sondern mit dem
Zeugnisse der Thatsachen, macht übrigens die Sache,
wie häufig, als vornehmer Grosssprecher ab: denn
wenn die ängstliche Copie der Wirklichkeit, der cynische
Pessimismus, das Haschen nach dem brutalsten Aus-
drucke, die physiologische Manie, die Feindseligkeit
gegen das sittliche und das ästhetische Ideal, die An-
betung der rohen Kraft keine innere Verwandtschaft
begründen, so muss wahrhaftig jede litterarische Tra-
dition in Zukunft angezweifelt werden.
In dem seit 1836, d. h. seit der Einführung der
wohlfeileren Zeitungen (les journaux ä 40 Frs.), rasch
und mächtig sich entwickelnden Feuilletonromane thut
sich namentlich Eugen Sue hervor. Ich kann über
diesen begabten und fruchtbaren Autor um so leichter
hinwegschreiten, als er mehr in das Gebiet der In-
dustrie denn in dasjenige der Kunst gehört. Während
Balzac, einem künstlerischen Freiheitstriebe folgend,
sich den technischen Bedingungen weder des Feuilleton
noch der Bühne fügen wollte und deshalb weder dort
noch hier Erfolg ernten konnte, war Sue im Gegensatze
hierzu der eigentliche König des Feuilletongebietes,
der ahnungsvolle Engel des alltäglichen Geschmackes
und des täglichen Bedürfnisses. Sue besass nicht weni-
ger, vielleicht noch mehr Erfindungsgabe als Balzac,
dazu ein Talent der raschen Composition, der packen-
den Erzählung, endlich die gefährliche Doppelgabe,
— 120 —
die verdorbene Blasirtheit durch das Raffinement, die
naive Eohheit durch die heisse Würze gröbster Sinn-
lichkeit zu befriedigen. Man möchte Sue einen prak-
tischen Humoristen nennen, wenn man überlegt, wie
dieser Mann durch giftige Romanpamphlete gegen die
Reichen reich geworden ist, wie er den Luxus und
die Corruption der Vornehmen denuncirt, um so bald
als möglich selbst jenen Luxus theilen und jene Cor-
ruption mitmachen zu können. Er selbst hat sich vor-
trefflich gezeichnet, wenn er einmal schreibt: „Nicht
diejenigen sind fluchwürdig, die sich schlagen, mit den
Waffen in der Hand, sondern jene Demagogen und
Schwindler, die im Interesse ihrer Selbstsucht und
ihrer Gemeinheit die Leichtgläubigkeit der Masse aus-
beuten".
So schritt man der Katastrophe von 1848 entgegen.
Der Feuilletonroman der vierziger Jahre hatte durch
seine industrielle Tendenz allerdings auf die litterarische
Würde und den künstlerischen Werth verzichtet, dafür
aber auf dem Gebiete der socialen Fragen einen Ein-
fluss erworben, der ihm die Bedeutung einer mit der
revolutionären Presse verbündeten Macht verlieh. Wenn
Balzac durch seine cynischen Phantasiemalereien die
höheren Classen dem Hasse der unteren Gesellschafts-
schichten überlieferte, wenn Sue durch aufregende
Bilder des Elends die leidende gegen die geniessende
Welt aufhetzte, im Ewigen Juden ein sociales Utopien
als die endliche Lösung des Conflictes entrollte, wenn
endlich Lamartines Girondins den zündenden Funken
in's Pulverfass schleuderten, — so konnte sich Keiner
mehr der Thatsacbe verschliessen , dass die Bou^iaft-»
— 121 —
litteratur nicht länger ein blosser Zeitvertreib, dass
sie nunmelir eine Macht geworden sei, mit der man zu
rechnen habe.
Kaum hatte sich der Pulverdampf von 1848 und 49
verzogen, als die politischen Parteikämpfe, die Eede-
schlachten, die Wahlen, die Eeconstruction der Gesell-
schaft, endlich der Staatsstreich vom December 1851
und der bald hereinbrechende Krimkrieg die Gemüther
in eine Spannung versetzten, die der Litteratur des
Friedens nichts weniger als günstig sein konnte.
„Wer den traurigen Winter von 1856 durchge-
macht," sagt Nettement in seinem Buche über den zeit-
genössischen ßoman, „der begreift, dass man damals
für Eomane wenig Interesse haben konnte. Unsere
Herzen weilten vor den Mauern Sebastopols, sie waren
bei den Kämpfenden und den Gefallenen". Hiermit
stimmt eine Notiz, die Gautier einem Feuilleton von
1854 einverleibt hat. „Unser Buchhandel producirt
fast nichts als neue Auflagen alter Bücher. Es hat den
Anschein, als ob ein Jeder, in Erwartimg einer neuen
Aera, seine Kräfte sammeln und sich marschbereit ma-
chen wolle."
Erst nach dem russischen Friedensschlüsse kehrte
jenes Behagen zurück, das die Gemüther den Kunst-
genüssen wieder zugänglich macht. Und rasch ver-
wandelte sich nun die Scene. Für Land und Haupt'
Stadt zog eine Aera steigender Prosperität herauf. Das
neue Kaiserreich, nach aussen mächtig, den inneren
Feinden vorläufig gewachsen, bot die sichersten Ga-
rantien des Friedens und der Ordnung, die Geschäfte
blühten und das Gojd fing an in breiten Strömen zu
— 122 —
rollen. Der Credit mobilier, der Credit foncier, Pereire,
Hausmann, Morny, Mires beginnen die Flitterwochen
und leiteten die Saturnalien des Gründerthums ein.
Das alte Pg-ris wurde abgebrochen und einem buntbe-
fiederten Phönix vergleichbar, stieg eine neue und
prächtige Stadt aus dem Schutte empor. In der lauen
Atmosphäre materieller Wohlfahrt regten sich bald die
üppigsten Gelüste, während die geistige und die sitt-
liche Energie im Wohlleben nachgerade zu verkümmern
drohte. Kein Wunder, wenn die Malerei und die Dich-
tung der Tagesstimmung folgten, von dieser beeinflusst,
ihrerseits auf sie zurückwirkten. Es ist bezeichnend,
dass, wie früher zwischen 1815 und 1825 die romanti-
schen Maler den romantischen Dichtern, so auch heute
die Realistischen des Pinsels den Realisten der Feder
als Wegweiser voran oder als Bundesgenossen zur
Seite gehen.
Wir stehen im Jahre 1858. Halten wir erst Rund-
schau. Balzac, Sue, Soulie sind todt. Von der alten
Garde steht noch Dumas, der fleissige Neger, aufrecht
da. Unterdessen ist seit 1848 eine neue Realistengruppe
unter ihrem Führer Champfleury in die erste Linie
gerückt. Es sind die Kinder des Pariser Zigeuner-
landes, jener „Boheme des hommes declasses", der ver-
kannten und der liederlichen Genies, der Künstler-
und Schriftstellervagabunden, deren Mehrzahl nach
einem wilden und kurzen Leben im Elend untergeht.
— Eine zweite Realistengruppe bilden Flaubert und
Feydeau, die Sensationshelden des „physiologischen"
Romanes von 1857 und 58, eine dritte die mehr oder
weniger kurzweiligen Erzähler und Schauerromantiker,
— 123 —
Dumas fils, About, Ponson du Terrail, der Heros des
Peuilletonromans und Erbauer „Rocamboles" u. s. w. —
Sand, Sandeau. Cherbuliez, Feuillet sind den genann-
ten Gruppen gegenüber Idealisten und zählten in
Frankreich zu den Säulen der „Litt^rature honnete,"
was freilich hier zu Lande cum grano salis zu ver-
stehen ist.
Mit seinem aus den Zigeunerzeiten ihm theuer ge-
bliebenen Maler Courbet schliesst Champfleury eine
förmliche Allianz zur Durchführung eines realistischen
Programmes, für welches der fein angelegte Murger
mehr aus kameradschaftlicher als aus künstlerischer
Rücksicht ebenfalls einsteht. Dies Programm nun for-
dert in erster Linie eine brutal realistische Sprache
mit paradoxer Pretiosität des Ausdrucks. Effecte um
jeden Preis! so heisst die Parole auch heute wieder.
Man beachte hier das einmüthige Streben auf der
ganzen Linie: Proudhon: Dieu c'est le mal! La pro-
priete c'est le vol ! — Taine : La vertu et le vice sont
des produits comme le sucre et le vitriol. — Hugo:
Le laid c'est le beau. — Champfleury: Le nom de
Cyprien lessiva ses inquietudes. — La demoiselle
epongea ses envies de mariage. — XJeberall sucht
man vor allem den Effect. — Und wenn wir nach den
inhaltlichen Forderungen jenes Programmes fragen, so
lauten sie auf sclavische Copie des Wirklichen, soweit
dieses Wirkliche gemein und unschön ist. Endlich soll
nebenbei auch die Rache des Proletariats an den be-
sitzenden Classen zu ihrem Rechte gelangen.
Mit seinem Debüt: „Histpire du Chien Caillou"
(Hund Kieselstein ist der Name des Helden) 1848
— 124 —
lieferte Cliampfleury in der That ein erschütterndes
Bild des Hungers und der Noth, während seine späteren
Leistungen die gründlich langweiligen und gemeinen
Gestalten des bürgerlichen Alltagslebens so vielfach
und so getreu photographiren, dass die tödtliche Lang-
weile jener Regionen mit in seine* Romane einzieht.
In seinem Gemälde aus dem Zigeunerland ist Champ-
fleury wiederum so buchstäblich wahr, dass jene Welt
des wilden Jubels und des tiefen Wehs, die Murgers
köstlicher Humor und zarte Poesie verklärt und reinigt,
uns abermals erträglich wird ; denn seine Herren Künst-
ler entpuppen sich als knotenhafte Gauner, seine Gri-
setten als Strassendirnen.
Flaubert und Feydeau führten den realisti-
schen Roman aus der stinkenden Luft des Zigeuner-
quartiers in's parfümirte Boudoir der Ehebrecherin.
Für dieses Genre stellte sich ein anständiges Wort im
rechten Augenblicke ein, man nannte es „le genre
physiologique"". Das Motiv war allerdings kein neues,
aber die raffinirte Ausbeutung der hier erwachsenden
Conflicte mit Gesetz und Sitte erreichte durch die tief
realistische Behandlung nie dagewesene Massenerfolge.
Flauberts Madame Bovary ist die Geschichte einer
Ehebrecherin, die mit dem Selbstmorde endet, und
Feydeaus Fanny behandelt das Thema der Eifersucht
nicht etwa des Ehemannes, sondern seines Rivalen.
Es muss indess gesagt werden, dass beide Romane
künstlerisch weit höher stehen als die geschmacklosen
und uncorrecten Dichtungen Champfleurys, der sich
selbst zum Haupte einer Schule macht, dessen wirkliche
Führer Flaubert und Feydeau sind: haben doch ihre
— 125 —
Erfolge die Malot, die Groncourt, Graboriau, Claretie
angeregt und grossgezogen.
Was Vapereaus Jahrbuch von 1858 schrieb : „Wir
stehen am Anfangie eines Processes , . der noch lange
nicht erschöpft ist ; wir werden den Kelch bis auf die
Hefe zu leeren haben," das hat sich bereits erfüUt.
Hugos socialistische Eomane sind theilweise hierher zu
ziehen , ganz besonders aber die hässlichen Missge-
burten, als deren Erzeuger Emile Zola sich nennt.
Zola beweist wieder einmal, wie ein „parti pris" und
eine Tagesmode ein schönes Talent verderben kann.
Er begann 1864 mit humoristischen Novellen, welche
die Kritik „das Buch eines muthwilligen Berquin"
nannte ! Berquin aber ist ein französicher Campe oder
Christoph Schmid, ein harmloser „Verfasser französi-
scher Ostereier". Und was hat der Tagesgeschmack
aus Zola gemacht! Unmöglich, das Gemeine brutaler
darzustellen, die üblen Gerüche von ganz Paris wir-
kungsvoller in Worte umzusetzen ! Man lese seine
„Naturgeschichte einer Familie unter dem zweiten
Kaiserreiche (Les Eougon - Macquart , Le ventre de
Paris etc.)". Schildert Zola seine Bauern, so glauben
wir uns in einer Menagerie zu befinden. Das Bild
des Thieres kehrt auf jedem Blatte wieder. Lachen
diese Geschöpfe, so lachen sie „mit dem verschlagenen
Schmunzeln einer zuchtlosen Bestie (d'un rire sournois
de bete impudique)," befinden sie sich unwohl, so
„schnauben sie gewaltig wie gehetzte Bestien," sind
sie hübsch, so ist das wieder eine „Beaut6 de bete".
Ein Thier ist der Bauer, ein Thier der Mensch im
grossen Ganzen! so schreit uns dieser Realist auf
^ 126 —
jeder Seite in die Ohren, damit wir ja auf keine an-
deren Gedanken mehr verfallen. Dass diese Bichtung
nachgerade einen eigenen Wortschatz sich geschaffen,
der die Leetüre dieser Bomane auch dem französischen
Leser höchst verdriesslich macht, braucht kaum gesagt
zu werden. „Que devient au milieu de ces fureurs
rhonnäte clarte de la langue frangaise !" So seufzt
in einem Artikel über Zola ein Kritiker der Revue
des deux Mondes. Wenn man Zola im eigenen Lande
kaum versteht, was sollen wir Ausländer mit ihm
und seinen Genossen anfangen? — Unterhaltend wäre
es schliesslich, auch den Spuren Darwins, Taines und
anderer Materialisten in diesen Erzeugnissen des neue-
sten französischen Bealismus nachzugehen. Dieselben
verrathen sich mitunter in den köstlichen Phrasen und
Bodomontaden. Li einer Vorrede Zolas lesen wir :
„Ich nehme mir vor, die doppelte Frage des Tempe-
ramentes und des „Milieu" zu lösen und dabei den
mathematischen Faden zu verfolgen, der von einem
Menschen zum andern herüberläuft. Die Familienver-
wandtschaft hat ihre Gesetze wie die Schwere". Hier
redet Meister Taine aus dem Munde eines materialistischen
Säuglings. In folgender Wendung spukt das Gespenst
Darwin: „Quand le marquis eut trouve que Tata-
visme le faisait le p^re de Denise, il eprouva un
profond soulagement". Auch den nagenden Verdacht
des Ehemannes wirst du segensreicher Darwinismus
beseitigen ! .
Was Zola in Prosa versucht, das hat (schon 1857)
Baudelaire der Poesie angethan. Seine „Fleurs du
jnal" zeigen einen gewiss unter tausend Mühsalen und
— 127 —
endlosen Strapazen glücklich angequälten Eealismus,
der sich im Ekelhaften am meisten zu gefallen scheint
(vgl. das Gedicht Nr. 30 : „Une charogne !"). Auf
Baudelaire passt Mommsens XJrtheil über den impo-
tenten • Persius : „Das rechte Ideal eines hoflfartigen,
mattherzigen, der Poesie beflissenen Jungen" (Rom.
Gesch. I, 237).
Wir stehen am Ende unserer Entwicklung. Die
Geschichte des französischen Realismus zeigt uns eine
wachsende Bewegung, welche Schritte hält mit der
steigenden Fluth des Materialismus überhaupt, m der
ästhetischen und metaphysischen Speculation ihre Pa-
rallelen findet, vor unsern Blicken einen pathologischen
Process entrollt, der als Reaction gegen den Classi-
cismus mit den Romantikern anhebt, als Reaction ge-
gen romantische Sentimentalität in den Fanfaronaden
der „Ecole de Tart pour l'art" seine üppigen Flegel-
jahre durchmacht, durch den „physiologischen" Roman
von 1857 in den Specialdienst der Erotik, von Balzac,
Sue, Champfleury, Hugo und Zola in denjenigen eines
pessimistischen Socialismus gezogen wird. Im Leben
der Litteratur gibt es aber glücklicherweise keine
tödtlichen Krankheiten. Auch dieser Process wird sich
erschöpfen und einer gesunderen Geschmacksrichtung
Platz machen. Der neueste Romandichter von Bedeu-
tung, Alphons Daudet, geht im Ganzen nicht über
Dickens' Realismus hinaus und weiss, wie der grosse
Realist, ihm einen humanen Gedanken, eine empfind-
same Seele einzuhauchen. Die „Contes de mon moulin",
„le petit Chose" (wie David Copperfield, Dichtung und
Wahrheit aus des Dichters eigenem Leben), die Episode
— 128 —
der Familie Delobelle in „Promont jeune et Risler
aini" beweisen das. Wir dürfen Daudet als eine Wen-
dung zum Besseren begrüssen. Denn mit ihm ist die
französische Dichtung jener goldenen Mitte wieder
näher gerückt, welche Schiller mit den Worten for-
dert: „Der Dichter soU sich über die Wirklichkeit
erheben und innerhalb des Sinnlichen stehen bleiben".
Paul Louis Courier, der Pamphletist der
französischen Bourgeoisie.
aul Louis Courier hat fast zehn Jahre lang,
von 1816 bis 1825, durch eine Reihe von Flugschriften
ebenso schonungslos als hartnäckig die innere Politik
der französischen Bourbonen verfolgt und durch die vor-
treffliche Form jener Pamphlete, durch ihren Witz,
ihr Salz und ihr Gift sich eine bleibende Stelle in der
Litteraturgeschichte seines Landes gesichert.
"Wenn wir einen Schriftsteller begreifen wollen,
so müssen wir ihn aus seinem Leben, wir müssen
seine Werke aus seiner Zeit heraus zu erklären suchen.
Das gilt ganz besonders vom Verfasser politischer Flug-
schriften, dessen ganze Thätigkeit ja aufgeht im grossen
politischen Leben seiner Nation.
' Betrachten wir daher vor allem die Zustände Frank-
reichs am Tage nach der Schlacht von Waterloo. An
jenem Tage sah sich das unglückliche Land in die Lage
versetzt, aus der Hand des Siegers und des Fremden,
aus den Händen der Eussen, der Deutschen und der
Engländer eine verhasste Institution, das Königthum,
und eine noch verhasstere Königsdynastie, die Bour-
H. B. 9
— 130 —
bonen, zurückznnehmeii. Dennoch jubelte ein Theil
der Nation dem heimkehrenden Bourbon entgegen. Es
waren dies die Junker und die Priester, die Gegner
des Fortschrittes und der Eepublik, überhaupt alle jene
Leute, deren Uhr anno 1789 stillegestanden. Diese
Leute hatten 25 Jahre lang ihren Hass im Herzen ver-
schliessen, sie hatten lange warten müssen auf den
grossen Tag der Rache. Jetzt endlich hatte die er-
sehnte Stunde geschlagen, wo sie ungestraft, ja mit
Aussicht auf Belohnung herfallen konnten über Ee-
publikaner und Bonapartisten, über die Nichtkatholiken,
die Protestanten und die Juden. So leitete sich jene
wahnsinnige Eeaction ein, welche in Frankreichs An-
nalen bekannt ist unter dem bezeichnenden Namen des
„weissen Schreckens" (weiss war nämlich die Fahne
der Bourbonen und „Schrecken" ist eine Anspielung
auf den rothen Schrecken von 1793). Die Mitschuldigen
jener Eeaction sind aber nicht nur in der Umgebung
des Monarchen, am Hofe, im Adel und in der Kirche,
sondern auch unter den Bürgern, Beamten, zum Theil
im Volke selbst zu suchen.
Am wildesten raste die Eeaction im Süden. Der
Süden nämlich war von jeher derjenige Gebietstheil
Frankreichs gewesen, wo der patriotische und der
militärische Sinn am wenigsten gedeihen wollten, wo
dagegen der Localhass, die Privatleidenschaften, der
religiöse und der politische Fanatismus am üppigsten
wucherten. Während daher anderswo die Botschaft
von der Niederlage des Kaisers in mancher patriotischen
Brust den Gedanken an eine Fortsetzung des Wider-
standes im Namen des Vaterlandes weckten, antwortete
— 131 —
der Süden auf jene Kunde mit dem wilden Schrei:
„Es lebe der König!" Und das war das Signal zum
Morden und zum Plündern.
Es war Sonntags den 25. Juni, als jene Botschaft
Marseille erreichte. Sofort rotteten sich Banden in den
Strassen der Stadt zusammen, und General* Verdier,
dem noch eine entschlossene Garnison zur Verfügung
stand, hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich feige
zurückzuziehen auf das Hauptquartier in Toulon. So
kam es, dass Marseille am Abend jenes Sonntags wehr-
los in die Hände der royalistischen Banditen gegeben
war. Diese verloren keine Zeit, sie warfen sich in die
Häuser der Republikaner und der Bonapartisten , in
die Wohnungen der Protestanten und der Juden und
mordeten und plünderten nach Belieben. Sie verschon-
ten nicht einmal eine Colonie armer Egypter, die Ge-
neral Bonaparte seiner Zeit aus Egypten herüberge-
bracht und die in einem schmutzigen Quartiere Mar-
seille's ein kümmerliches Dasein fristete.
Der Marschall Brune, welcher das Hauptquartier
in Toulon commandirte, entschloss sich, rasch nach
Paris zu reisen. Als aber sein Eeisewagen die Thore
von Avignon verlassen wollte, wurde er von dem rasen-
den Volke angefallen, so dass die Postillone im Galopp
ihrer Pferde in den Hof des eben verlassenen Hotels
zurückfahren mussten. Das Hotel wurde förmlich be-
lagert. Es muss zur Ehre der royalistischen Behörden
gesagt werden, dass sie mit wenigen Soldaten vier
Stunden lang nicht ohne Lebensgefahr die Zugänge
vertheidigten. Aber zwei der Angreifer erstiegen das
Dach, drangen von da in das Zimmer des Marschalls
— 132 —
und erschossen ihn. Ein. ProtocoU wurde abgefasst,
das den Marschall zu einem Selbstmörder stempelte,
und jene eben noch so ritterlichen Beamten fanden
jetzt nicht den Muth, dem lügenhaften Documente ihre
Unterschrift zu verweigern. Auch der todte Marschall
wurde nicht geschont. Als man nämlich den Sarg
hinuntertrug, stürzte sich auf ihn der Pöbel, riss die
Leiche heraus, schändete sie und warf sie in die Rhone.
Erst im Jahre 1821 fand die Wittwe des Ermordeten
Gelegenheit, die Verurtheilung der Mörder zu erlangen,
aber auch jetzt noch hatte die Bourbonenregierung die
Gemeinheit, die mittellose Frau in die Hälfte der Ko-
sten zu verfallen.
Schlimmeres noch ereignete sich in Nimes, der
Hauptstadt des Departements du Gard, welches 1815
nicht weniger als 115,000 Protestanten (zwei Fünftheile
der Gesammtbevölkerung des Departements) zählte.
Hier gesellte sich zum politischen Fanatismus auch der
religiöse. Die Revolution hatte den Protestanten Gleich-
berechtigung mit den Katholiken verschaflFt, eine Wohl-
that, die der Kaiser bestätigte. Muss man sich da
wundern, wenn diese Bevölkerung mit Schrecken der
Rückkehr der Bourbonen entgegensah, wenn sie den
aus Elba zurückkommenden Kaiser mit Jubel begrüsste?
Schwer sollte sie die kurze Freude nun büssen.
Es war gleichfalls am 25. Juni, als sich in Nimes
die Nachricht vom Sturze des Kaisers verbreitete.
Royalistische Freicompagnien zogen vor die Kaserne
und die Garnison capitulirte gegen Zusicherung eines
freien Abzuges. Als aber die wehrlosen Soldaten in
die Strassen, heraustraten, da wurden sie von ihren
— 133 —
elenden Gegnern zusammengeschossen. Diese lezteren
feierten ihren wohlfeilen Sieg mit einem Liede, dessen
Eefrain lautete : „Im Protestantenblute lasst uns, Brü-
der, unsere Hände waschen". Und man machte sich
in der That an die schreckliche Arbeit.
Wie überall im Lande, so constituirte sich auch
in Nimes ein royalistisches Comit^, über dessen Sitzungs-
saale die Worte zu lesen waren : „Les Bourbons ou la
mort," die Bourbonen oder der Tod! Hier wurden
förmKche Subscriptionslisten aufgelegt, die Grewaltacte
systematisch organisirt. Heute wird Der erschossen,
morgen soll Jener fallen, heute soll dieses, morgen jenes
Haus in Flammen aufgehen ! Zwei Banditen dieses
Comite's haben eine traurige Berühmtheit erlangt: Tru-
ph^my und Dupont, genannt Trestaillon. Sie besorgten
die Executionen. Am Sonntage, an -den Festen der
Heiligen enthielten sich die Mörder als gute Christen
gewissenhaft jeglicher Arbeit. Dann übernahmen aber
die Weib er das Werk der Kache. Am Maria-Himmel-
fahrtstage fielen jene Megären über die Frauen und
Töchter der Protestanten her, schleppten sie auf die
Strasse, entblössten sie und misshandelten sie mit
Schlägen. Die Stöcke, welche hierbei gebraucht wur-
den, hatten Eisenbeschläge in Form von bourbonischen
Lilien, man nannte sie deshalb „Das königliche Schlag-
zeug, le battoir royal".
Trestaillon besass eine Schwester, die sich ein
grosses Landhaus wünschte, dessen Besitzer Protestant
war. Am hellen Tage, auf offener Strasse, erschiesst Tre-
staillon den Unglücklichen, vertreibt dessen Wittwe und
setzt seine Schwester in das gewünschte Besitzthum ein.
— 134 —
So ging es fort bis Ende Juli. Als gegen Ende
August die Kammerwahlen stattfanden, erneuerten sich
die Protestantenmorde; man erreichte dabei seinen un-
mittelbaren Zweck ; denn kein Protestant wagte es, aut
dem Wahlplatze zu erscheinen. Trestaillon's Freund
und Beschützer, der Staatsanwalt Trinquelague , ward
einer der Deputirten und sollte bald den jungen Guizot
in einem Posten des Justizministeriums verdrängen.
— Erst als im November 1815 die österreichischen
Occupationstruppen in Nimes einzogen, erreichte das
Morden und Brennen seinen endlichen Abschluss. Im
November erschien auch der Herzog von Angou-
leme, des Königs Neffe, und that dergleichen, als
wolle er die Mörder zur Verantwortung ziehen. Da
traten vor ihn die ersten Erauen und die ersten Prie-
ster der Stadt und flehten um Gnade für Trestaillon!
Das erklärt nun hinreichend, wie es kam, dass ver-
hältnissmässig wenige Banditen so lange und so unbe-
dingt schalten konnten. Die Beamten wollten oder
wagten nicht einzuschreiten, die Bürgerschaft und die
Priesterschaft rieben sich die Hände, dass das Gre-
wünschte durch Andere an ihren Feinden vollzogen
wurde. Wo waren dife Richter? Die hatten vollauf
zu thun! Aber vor ihnen erschienen die Protestanten
nicht als EJäger, sondern als Verklagte. Sie hatten
dem WoKe das Wasser getrübt, sie hatten Händel
gesucht, sie hatten sich Thätlichkeiten und Gewalt-
acte erlaubt!
Wie man die Protestanten oflSciell behandelte, davon
ein einziges Beispiel. Das Departement du Gard hatte
an der Kricgscontribution von 100 Millionen die Summe
— 135 —
von 940,000 Frcs. zu bezahlen. Man vertheilte diese
Steuer nun so, dass die Protestanten 600,000, die Juden
200,000, die Katholiken 140,000 Francs zu entrichten
hatten !
Soll ich noch weiteres erzählen, wie in Uzes der
Mörder Graffan wüthete ? Wie in Toulon der General
Eamel vom Volke, in Bordeaux die Zwillingsbrüder
Taucher von den Richtern gemordet wurden, wie sich
überall die Gefängnisse mit „Verdächtigen" füllten?
Ich muss auf die Werke von Vaulabelle und Viel-
Castel verweisen, aus welchen ich das Erzählte ge-
schöpft habe.
Im ganzen Lande hatten sich royalistische Comites
gebildet, welche mit den ihnen zur Verfügung stehen-
den Freicompagnien die Bourbonenfehme handhabten,
die lauen Beamten controUirten und terrorisirten , in
zahllosen Gewaltacten weder das Recht der Habsucht,
noch die Gelüste der Privatrache vergassen.
Selbstverständlich wurde diesem Treiben von oben
herab aller Vorschub geleistet. Die Emigranten, die
aus langer Verbannung zurückkehrenden Adeligen,
kamen bornirter und anmassender heim als sie ausge-
zogen waren. Sie bestürmten den König mit ihren
Forderungen, wollten ihr verlorenes Vermögen, ihre
alten Stellen und neue dazu. Im Jahre 1814 Hess
einer von ihnen, der Graf Montlosier, ein Buch er-
scheinen, betitelt : „Von der französischen Monarchie,"
welches so recht den Standpunct dieser Junkerpartei
zeigte. Der edle Graf hat aus der französischen Ge-
schichte nur eins herausgeholt, nämlich, dass der fran-
zösische Adel von jenen Franken stamme, welche Frank-
— 136 —
reich im Kampfe gegen die alten Römer erobert hätten.
Land und Leute gehören also weder dem König, noch,
der Kirche, noch der Nation, sondern sie sind und bleiben
auf ewig das Eigenthum der Eroberer, das Eigenthum
der Junker. Die Revolution war ihm ein gottlob jetzt
überwundener Empörungsversuch der Sclaven gegen ihre
Herren. Man höre, wie der Graf zu diesen Rebellen redet :
„Freigelassene, Sclavenrasse, Volk von gestern!
Euch hat man gestattet, frei zu sein, nicht uns, dem
Adel anzugehören! Auf unserer Seite ist alles gött-
liches Recht, auf Euerer Seite heisst alles Gnade!
Wir gehören nicht zu Euch, wir bilden eine Gemein-
schaft für uns. Man weiss, woher Ihr kommt, man
weiss, woher wir stammen!"
Kann man offener reden und bornirter denken?
Das war also die politische und sociale Lehre, welche
die Mehrheit des Adels aus der Revolutionsgeschichte
gezogen hatte! Aus dieser Region nun wählte der
König seine Rathgeber und seine Minister. Das Erste,
was die neue Regierung vornahm, war eine Reinigung
des Officierscorps in der Armee und des Beamten-
körpers in der Administration. „E purer," reinigen
und ausputzen, war in der That der technische
Ausdruck dieser Operation. Jeder Unterofficier, jeder
Briefträger, jeder Postillon riskirte einem besseren,
einem wohlgesinnten Manne weichen zu müssen. Mit
der Bereinigung des Richterstandes wollte es nicht so
leicht gehen, man nahm hier seine Zuflucht zu einer
ausserordentlichen Massregel, zur Einführung von Stand-
gerichten, Prevotalhöfe genannt, die im amtlichen
Abstempeln aller möglichen Gewaltacte, im summari-
— 137 —
sehen Durchführen der schreiendsten Rechtsverletzungen
das Unglauhliche leisteten.
Das traurigste Bild aber bot die Landesvertretung,
die Kammer. Im Bunde mit einem durchs ganze Land
verzweigten ultramontanen Vereine, den ein Jesuit
unter dem Namen der Oongregation gegründet
hatte, setzte sie vor allem die Kirche in ihre ver-
lorenen Rechte wieder ein. Diese Kammer sanctionirte
sodann eine Reihe von Gesetzen, welche die von Ludwig
XVm. gegebene Constitution zu einem werthlosen
Fetzen machten, und sogar in die Rechte des Königs
selbst eingriffen, indem sie ihm z. B. das Begnadigungs-
recht in Entscheidungen der Standgerichte entzogen.
— Charakteristisch ist die Haltung dieser Kammer
gegenüber den Ausschreitungen des Südens. Zwei
Monate lang wagte keine Zeitung jene Greuel zu er-
wähnen, kein Kammermitglied darauf anzuspielen. Als
im October der Deputirte d'Aguesseau endlich den
Muth zu den schüchternen Worten fand: „Es heisst,
im Süden seien Protestanten ermordet worden," da
empfing ihn von allen Bänken das wüthende Geschrei :
„Das ist unwahr ! Das ist falsch ! Zur Tagesordnung !
Zur Tagesordnung!
Der König merkte aisgemach, dass die Wirthschaft
seiner guten Freunde ihm eine ganz bedenkliche Zu-
kunft bereiten würde. Im September 1816 entschloss
er sich zur Auflösung dieser sogenannten „Chambre
introuvable", d. h. einer Kammer, wie sich keine
zweite mehr finden kann und von nun an bekamen die
Freunde der Freiheit wieder Luft und Spielraum. Als
acber im Jahre 1820 der Fanatikej: LouYel deix zweiten
— 138 —
Sohn Kark X., den Stammhalter der Bourbonen, er-
mordet hatte, um jene Königsrace in ihrem letzten
Sprosse auszurotten, erhielt die Reactionspartei auf
einige Jahre wieder Oberwasser. Aber gerade dieser
Umstand war es, welcher die Gegner der ultramontanen
Kirche und des Bourbonenregimentes in eine grosse
Opposition zusammentrieb, deren Befreiungsthat , die
Julirevolution, den Bourbonenthron in ihren Fluthen
begraben hat.
Soviel über die französischen Zustände von 1815
bis 1830. Das drückende Gefühl der Schmach und der
Niederlage beherrschte und verstimmte die Gemüther.
Wer es nur wagte auszusprechen, was ein Jeder damals
im Herzen trug, der fand willige Ohren und dankbare
Herzen, er fand einen gewaltigen Chor, wenn er wie
Beranger Spottlieder dichtete, den weitesten Leser-
kreis, wenn er wie Courier Pamphlete schrieb. Solche
Männer wurden als die Tröster im Unglück, die Eächer
der Unterdrückten und die Sturmvögel einer neuen
Revolution betrachtet.
Und nun einen Blick auf Courier's Leben. Courier
entstammt einer reichen Familie der hauptstädtischen
Bourgeoisie. Er ist geboren 1772. Sein Vater bekam
böse Händel mit einem Junker, der ihm Geld schuldete
und Miene machte seinem Creditor ans Leben zu gehen.
Er floh und liess sich an der Loire nieder, woselbst
er in der Gemeinde Veretz bei Tours ein Herrschafts-
gut gekauft hatte. Den Sohn bestimmte er zum Ar-
tiUerieofficier und schickte ihn nach Chalons in die
Militärschule. Obgleich nur die mathematischen Dis-
ciplinen hier Hauptsache waren ^ fasste der Zögling
— 139 —
eine Leidenschaft zum Studium der griechischen Sprache
und Litteratur. Sie blieben sein Leben lang so ziem-
lich das Einzige, wofür er sich begeistern konnte. So
ist Courier seinem wahren Berufe nach Gelehrter,
Philolog, Humanist im Sinne der Eenaissance, ein ein-
seitiger Bewunderer der Form, ein Ehetor, dem das
Schöne mehr gilt als das Wahre, ein geistiger Epiku-
räer, den die bewegenden Ideen der Zeit gleichgültig
und kalt lassen. Mit Voltaire betrachtet er die Ge-
schichte als eine Fabelsammlung und meint, der Ge-
schichtschreiber habe seine Pflicht gethan, wenn er
diese Fabeln hübsch zu erzählen verstehe. Die Zeit-
geschichte, die grosse Revolution, lässt ihn kalt und
den Officier Napoleons reizt weder der Ruhm noch
das Handwerk der Waffen. Er ist kein Musterofficier,
er hasst den Dienst und die Disciplin, ja zwei Mal in
seinem Leben ist er einfach desertirt und mit knapper
Noth den schlimmen Consequenzen der Desertion ent-
rönnen. Sein Regiment garnisonirte in Piacenza, als
die Armee im Frühling des Jahres 1804 sich über -die
Frage auszusprechen hatte, ob sie einen Kaiser wolle.
Wie theilnahmslos Courier zu dieser Frage sich ver-
hielt, ist aus folgendem Brieft ersichtlich:
„Soeben haben wir einen Kaiser gemacht, und was
mich betrifft, so hab' ich getreulich mitgeholfen. Das
ist ungefähr so zugegangen. Heute Morgen versammelte
uns der Oberst, theilte uns mit, um was es sich handle,
gradaus, ohne Einleitung und ohne Schluss. „Kaiser
oder Republik? Was wollt Ihr haben, meine Herren?"
Wie man zu sagen pflegt: „Rindfleisch, oder Braten,
was schmeckt Euch besser ?" Als er fertig war, schauten
— 140 —
wir uns an, im Kreise dasitzend. Keiner wollte sich
aussprechen. „Nun, meine Herren, Ihre Ansicht?"
Wieder hlieben Alle still. Das dauerte wohl eine
Viertelstunde, noch länger, und wurde nachgerade lang-
weilig für uns und ungemüthlich für den Obersten.
Endlich erhebt sich ein Lieutenant und sagt: „Wenn
er Kaiser sein will, so sei er's, aber ich finde es nicht
in Ordnung". Neue Pause. Schliesslich ergreife ich
das Wort und sage: „Meine Herren! Ich bin der An-
sicht, dass das uns eigentlich gar nichts angeht. Die
Nation will einen Kaiser, ist's an uns, die Frage zu
berathen?" Das gab den Ausschlag und man unter-
zeichnete. Beim Weggehen fragt mich Einer: „Wes-
halb sind Sie denn für das Kaiserthum ?" „Damit die
Sache abgethan sei," antworte ich, „und wir zu unserm
Billard kommen".
Im Jahre 1809 finden wir unsern Courier auf dem
Schlachtfeld von Wagram, der letzte Act seiner mili-
tärischen Laufbahn. Sein Freund und Biograph Ar-
mand Carrel berichtet über diese seine letzte Waffen-
that : „Er sah nichts, begriff nichts, wusste nicht, was
anfangen, war ohnmächtig vor Hunger und Ermattung,
erwachte erst ' in Wien wieder , nahm ein Postbillet
und reiste mir nichts dir nichts ohne Urlaub oder Ab-
schied nach Italien".
Hier streicht unser Humanist auf den Bibliotheken
herum und forscht nach alten Manuscripten. In Florenz
passirt es ihm, ein unersetzliches Manuscript durch
einen enormen Dintenklex zu verderben, woraus ein
Scandal entsteht, dem wir Courier's erstes Pamphlet
verdanken. Unter philologischen Studien verlebt Courier
— 141 —
seine Zeit bis zum Jahre 1815. Da eröffiiete die Re-
stauration der Bourbonen seinem Ehrgeize ein Feld
des Euhmes. Seines Talentes war er sich schon be-
wusst geworden und auch seine Feinde sollten bald,
obzwar im Tone des Vorwurfs, seine Befähigung zum
Pamphletisten anerkennen.
^ „Dieser Courier," so drückt sich einer derselben
aus, „war im Hasse gegen Kirche und Adel erzogen
worden. Ein Professionshasser von Natur, war er mit
jenem Auge begabt, das selbst in der Sonne Flecken
sieht, mit jener Nase ausgestattet, die selbst am Rosen-
dufte Fehler findet. Ein Redner war er nicht ; konnte
er doch nicht zwei Sätze hintereinander aus dem Steg-
reife sagen. Aber wenn es galt, die Feder in &ift und
G-alle zu tauchen, dann that es ihm Keiner gleich. So
trat er im December 1816 mit seinem ersten Pamphlet
auf und seither ist er wie ein heulender Köter neben
dem Regierungswagen einhergelaufen und hat unseren
hohen Ministern und unserer heiligen Kirche jede Stunde
des Sieges und der Freude verdorben".
Courier's wuchtige Keulenschläge gelten im Grunde
nur zwei Gegnern, dem Adel und den Priestern, sodass
ein Eintheilimgsprincip für die folgenden Auszüge sich
ganz natürlich ergibt.
Courier stellt sich in seinem Pamphlete dem Volke
vor als ein schlichter Bauer, der sich an die Bauern
seines Dorfes wendet, bald Paul Louis der Weinbauer,
Paul Louis der Landwirth, bald Paul Louis der rei-
tende Kanonier, imterzeichnet. Eine scheinbar schlichte,
im Grunde aber sehr raffinirte Einfachheit ist der
Grundton seiner Sprache. An kühner Deutlichkeit* lässt
— 142 —
er es nicht fehlen. So wendet er sich 1820 an die
Minister wie folgt:
„Das Volk hat der Eegierung vorzuschreiben, wie
sie fuhrwerken soll. Denn die Regierung ist ja nur der
vom Volke bezahlte Kutscher, der uns nicht fahren
darf, wohin er will und wie er will, sondern wohin
wir wollen und auf dem Wege, der uns behagt".
Die Stellenjägerei wird also gegeisselt: „Heute
möchte ein Jeder ein Amt besitzen. Sobald der junge
Mensch ein CompUment zu machen weiss, so geht er
zum Minister und macht einen Kratzfuss. Das nennt
man sich vorstellen. Man stellt sich aber vor, um
etwas zu werden, und man wird etwas im Verhältniss
zum Bösen, das man anrichten kann. Der Bauer ist
gar nichts , der Arbeiter ist nichts , der Gendarm ist
schon etwas, der Präfekt ist ziemlich viel, der Landes-
herr ist Alles".
Die neugebackenen Officiere des Junkerthums be-
kommen auch ihr Theil. „Habt Ihr's schon gehört?
Der Herr von Habenichts ist Husar geworden. Seit
wann? Seitdem man nicht mehr kriegen thut. Er
riecht nach der Kaserne, nicht nach dem Feldlager.
Aber ein strammer Soldat! Stark genug, um zwei
colossale Epauletten auf der Schulter herumzutragen!
Fluchen kann er wie die alte Garde, seine Burschen
kann er schlagen wie der Marschall Junot und räu-
spern und spucken wie Napoleon! Narben hat er nicht,
aber Rheumatismen hat er, die er sich als Emigrant
geholt, wenn er im Freien campiren musste? Ihr seht,
Bonaparte's Genie weilt nicht auf St. Helena, nein, es
ist in unsere Junker gefahren!"
— 143 —
Den wichtigsten Vorstoss gegen Hof und Adel führte
aber Courier in seiner Flugschrift über Chambord.
Sieben Monate nach der Ermordung des bourboni-
schen Stammhalters, des Herzogs von Berry, d. h. im
September 1820, kam dessen Wittwe mit einem Prinzen
nieder, der heute den Titel eines Grafen von Chambord
führt und noch vor wenigen Jahren unter demjenigen
Heinrichs V. von den Legitimisten als französischer
Throncandidat portirt wurde. Unendlich war der Jubel
unter den Eoyalisten, als dieses Wunderkind (renfant
du miracle) zum Vorschein kam. Der Hof, seiner innig-
sten Freude den billigsten Ausdruck verleihend, setzte
eine Nationalsubscription in Gang, um ein früheres Be-
sitzthum der bourbonischen Familie, das an der Loire
gelegene Schloss Chambord, zurückkaufen und „dem
Kindlein in der Wiegen" als Angebinde entgegenbringen
zu lassen.
Das war nun für unseren Courier wieder eine
prächtige Gelegenheit, auf die Junker loszuschlagen.
In einem giftigen Pamphlete wendet er sich an die
Bauern seiner Gemeinde und redet sie also an.
„Hätte unsere Gemeinde übriges Geld, so würden
wir, denke ich, eine neue Strasse machen oder unsere
alte Brücke einmal flicken lassen. Aber das Schloss
Chambord kaufen für den kleinen Herzog von Bordeaux,
das dürfte uns gewiss zu allerletzt einfallen. Das wäre
weder für uns, noch für den kleinen Herzog ein gutes
Geschäft.
Wäre er ein Bauer, dann könnten ihm 1200 Juchart
guten Ackerlands allerdings noth thun, aber er ist ja
kein Bauer, er soll ja eines Tages das Land regieren;
— 144 —
und dazu braucht man keine Schlösser, sondern nur die
Achtung seines Volkes. Die Junker am Hofe sagen
ihm zwar, je mehr wir zahlen, um so grösser werde
unsere Liebe sein, sie sagen ihm, mit einem mächtigeren
Budget werde auch die Liebe sich mehren. Wir Bauern
denken anders. Wenn der Junker seinien König nach
Verhältniss dessen liebt, was er ihm schenkt, so liebt
das Volk seinen Fürsten nach Massgabe dessen, was
er ihm in der Tasche lässt.
„Man hat", so lese ich im Circular des Ministers,
„man hat die Idee gehabt, das Schloss Chambord durch
die Gemeinden Prankreichs zurückkaufen zu lassen".
Wirklich? Hat man diese Idee gehabt? Hat der Minister
selbst diesen grossen Gedanken gefasst, oder ein simpler
Junker, oder etwa gar eine Gemeinde ? Bei uns an der
Loire existirt diese Gemeinde jedenfalls nicht, aber
vielleicht im Norden, wo sie die Kosaken und die
Preussen zweimal im Quartier gehabt??
Und welche Lectionen könnte dem Herzog das
Schloss seiner Ahnen ertheilen, welche Erinnerungen
ihm zurückrufen? Die Maitressenwirthschaft Pranz I.,
die Blutschande desEegenten, die Laster Ludwigs XV.!"
Nun folgt das Stärkste, was Courier je gegen die
Hofschranzen geschrieben hat. Ich resumire nur das
Anständigere.
„Die Handlung wäre noch zu finden, die so schlecht,
so niederträchtig, so feige wäre, dass sie ein Höfling,
ich sage nicht verweigerte, denn so was kommt
ja nie vor, nein, dass sie ein Höfling nicht als einen
Beweis seiner Ergebenheit anführen, sich mit ihr
nicht gross machen würde. Die höchste Tugend lässt
— 145 —
sich bestimmen, aber die Tiefe der Gemeinheit ist
bodenlos".
„Und ihre Weiber erst! Es gibt kein einziges
adeliges Haus in Frankreich, das seinen Glanz und
seinen ßeichthum nicht seinen Weibern zu verdanken
hätte. Ihr versteht mich schon ! Sie haben's natürlich
nicht mit Hemdenflicken und Kindersäugen verdient.
Ein tugendhaftes Weib wäre» für einen Höfling der
haare Ruin, das grösste Unglück. Eings um ihn her
würde es Gold und Gnaden regnen, er allein ginge
leer aus. Kurz, der Adel kennt nur eine Art des Geld-
erwerbs, die Prostitution seiner Weiber".
Wie Courier die Junker behandelt, haben unsere
Leser bereits vernommen, und die Priester kommen
natürlich nicht besser weg.
„Was ist ein Kloster ? — Eine Anstalt, in welcher
man Männlein ohne Weiblein, oder hinwiederum Weib-
lein ohne Männlein zusammensperrt".
Der annoch ultramontane Abbe Lamennais schreibt
ein dickes Buch „über die Gleichgültigkeit in religiösen
Dingen". Als Postscriptum eines oflPenen Briefes lesen
wir bei Courier: „A propos, könnten Sie mir nicht
sagen, ob der Abbe Lamennais seine Gleichgültigkeit
in religiösen Dingen fortzusetzen gedenkt?"
Das ist alles noch harmlos, aber die berühmte
Stelle über den Beichtstuhl und die Ehelosigkeit des
Priesters ist es weniger.
„Ein Mädchen in die Beichte nehmen — denkt
Euch was das heisst!"
„Dort, ganz hinten in der Kirche, so recht express,
so recht heimlich an die Mauer gelehnt, steht eine Art
U. B. 10
— 146 —
von Kasten, eine Art von Sehilderhäuschen , wo ein
Priester, — ich meine nicht einen Mingrat, dessen
Verbrechen Ihr in allen Zeitungen habt lesen können, —
nein, ich will annehmen, ein braver und ein frommer
Mann, aber immerhin — ein Mann, und zwar ein
junger Mann — sie sind ja fast alle jung! — Abends
nach der Vesper, die schöne Sünderin erwartet, die er
Hebt. — Sie weiss es a^uch, dass sie geliebt ist; denn
die Liebe kann sich dem geliebten Gegenstande nicht
entziehen. — Hier widersprecht Ihr mir schon. — „Sein
sittlicher Charakter, s'eine fromme Erziehung, sein
heiliges Gelübde !" — Ich antworte, dass hier kein Ge-
lübde vorhält; ich behaupte, dass ein junger Priester,
wenn er aus dem Seminare in eine Gemeinde kommt,
robust und gesund und — aufgelegt, sich in irgend
ein Mädchen verlieben muss, das kann gar nicht
anders sein. Und wenn Ihr mir hier widersprecht, so
behaupte ich gleich noch viel mehr, — dass er sie sammt
und sonders gerne sieht! Aber Eine wird er allen
Andern vorziehen. Er würde aus ihr eine tugendhafte
und keusche Hausfrau machen, — wenn nur der Papst
nicht wäre. Er trifft sein Mädchen auf der Strasse,
sieht sie in der Kirche, er hat ein Recht, bei ihr ein-
zutreten, an Winterabenden sich vor sie hinzusetzen
und da — der Unglückliche ! — das Gift ihrer Blicke
zu trinken.
„Wenn er nun folgenden Tages von seinem Beicht-
stuhle aus ihren Tritt durch die einsame Kirche hallen
hört, wenn er sich selber zuflüstert : Jetzt kommt sie !
Was geht dann vor in der Seele des armen Beichtigers?
Bravheit und Pflicht und Vorsätze nützen hier offenbar
— 147 —
wenig, ohne eine ganz besondere Gnade des Himmels.
Ich will annehmen, es sei ein Heiliger. Da er nicht
entfliehen kann, so seufzt er tief auf und empfiehlt
seine Seele dem Herrn. Wenn es aber nur ein Mensch
ist, dann zittert er, es regt sich sein Verlangen, und
schon wagt er — unbewusst und unwillkürlich — auch
zu hoffen. Sie erscheint, wirft sich nieder vor ihm auf
die Knie, — vor ihm, dessen verlangendes Herz ganz
hörbar an die Rippen pocht! — Leser, Du bist jung,
oder Du bist es gewesen. Was meinst Du im Ver-
trauen zu einer solchen Situation? — Meist allein und
ohne andere Zeugen als die stummen Gewölbe der
Kirche, plaudern sie nun. Von was? Ach Gott, von
Allem, was nicht unschuldig ist! Sie sprechen, nein
sie flüstern, Mund an Mund gelehnt, vermählt sich ihr
Athem. Das dauert eine Stunde, manchmal mehr und
das kehrt häufig wieder.
„Denkt nicht, dass ich etwas erfinde. Die Scene,
so wie ich sie geschildert, wird in Frankreich täglich
abgespielt zwischen 40,000 jungen Mädchen und eben
so vielen jungen Priestern, welche jene Mädchen lieben,
weil sie dem männlichen Geschlechte angehören, welche
sie aber niemals heirathen können, weil es der Papst
nicht gestattet. Der Papst verzeiht den Priestern alles,
alles — nur das Heirathen nicht. Er wiU lieber einen
Priester, wie den Mingrat, der die Ehe schändet, der
ein Hurer ist und ein Mörder, als einen Priester im
Stand der Ehe. Mingrat ward verurtheilt, weil er seine
Maitressen umgebracht, — hier vertheidigt man ihn auf
der Kanzel, dort spricht man ihn heilig. Hätte dieser
Mingrat eine von seinen Maitressen geheirathet —
— 148 —
welch ein Scheusal, welch ein Ungeheuer! Nirgends
fände er Asyl. Rasch würde mit ihm aufgeräumt, mit
ihm und dem Beamten, der es gewagt hätte, ihn zu
trauen".
Hier haben wir den wahren Courier. Schonungs-
los greift er einen ganzen Stand an, rücksichtslos ver-
letzt er die religiösen Gefühle von Tausenden, mit dem
genialen Instincte seines Hasses weiss er ein abge-
droschenes Thema zu verjüngen, es dramatisch zu ge-
stalten, es bis in seine geheimsten Falten auszubeuten.
Jeder Satz ist überlegt, jedes Wort berechnet, jede
Wirkung vorgesehen. Wie giftig, wie raffinirt ist seine
Definition der Beichte : „Sie plaudern von Allem, was
nicht unschuldig ist!"
Unnöthig zu sagen, dass Courier mit Pressprocessen,
Bussen und G-efängniss ab und zu bescheert wurde,
dass man seine Sachen auf der Post erbrach, ihm
anonyme Drohbriefe haufenweise ins Haus schickte.
Hören wir, wie er sich wegen der Verletzung des Post-
geheimnisses zu rächen weiss.
Im October 1823 las man folgendes Inserat im
„Constitutionnel" :
„Unsere Abonnenten in Tours werden hiemit ge-
beten, der Frau des Weinbauers Courier folgende Zeilen
zur Kenntniss zu bringen.
„Meine Liebe. Schicke mir doch sechs Hemden
und sechs Paar Strümpfe. Aber um Gotteswillen
keinen Brief im Packe, sonst würde er mir schwer-
lich zukommen. Ich weiss, dass auch Du meine
Briefe nicht empfängst, und desshalb über mein
Schicksal besorgt bist. Sei ruhig, in dieser Welt
— 149 —
gibt es weit mehr Gerechtigkeit, als Du zu glau-
ben geneigt sein dürftest. Was mich betrifft, so
bin ich dermalen weder todt noch krank, noch im
Loche. Lebe wohl, dein getreuer Ehemann".
In seinem letzten Pamphlete hatte Courier an sich
selbst die Worte gerichtet: „Paul Louis, nimm' dich
in Acht, die Schwarzen bringen dich noch um!" Bald
nachher, Sonntag Abend, den 18. April 1825, fand man
ihn erschossen in dem an seine Villa grenzenden Walde.
Natürlich hiess es in ganz Frankreich: Das haben
Courier's politische Feinde gethan 1 Aber Mme. Courier
bezeichnete sofort Courier's Waldhüter Fremont als den
Thäter, welchem Courier an jenem Sonntag Abend ge-
gen Sonnenuntergang in seinen Waldungen ein Ren-
dezvous gegeben hatte. Die Untersuchung der Leiche
ergab, dass der Mörder auf Gewehrlänge musste ge-
schossen haben, da in der Wunde nicht nur die Kugel,
sondern auch der Pfropf sich vorfand, Fremont wurde
indess wegen Mangel an überführenden Beweisen frei-
gesprochen. Noch im December 1829 konnte Armand
Carrel seiner kurzen den Didot'schen Ausgaben beige-
gebenen Biographie die Bemerkung anfügen: „Auch
heute noch klagt man Niemand der That an. Nur so
viel ist bekannt, dass in seinen letzten Jahren mit
Courier schwer auszukommen war und dass er desshalb
Privatfeinde besass". Da Carrel's Biographie den Compi-
latoren als einzige Quelle zu dienen scheint, so wieder-
holen auch die neuesten Auflagen unserer Conversations-
lexica immer wieder die Behauptung, man habe Cou-
rier's Mörder nicht entdeckt. Es ist in der That eine
Nachlässigkeit, dass die neuen Auflagen Didot's jene
— 150 —
Bemerkung Carrers nicht mit einer Note versehen
haben, und es wäre unseren Compilatoren zu empfehlen,
sich in Zukunft bei Bosenwald's Artikel der „Bio-
graphie generale" Kath zu holen.
Im Frühjahre 1830 nämlich ereignete sich folgen-
der Vorfall. Eine Stallmagd aus Courier's Gemeinde,
Veretz, kam eines Abends heimgeritten, in den Hof
ihres Brodherrn und erzählte , wie drüben im Walde
vor dem Denkstein des Ermordeten ihr &aul gescheut,
sie selbst dabei geschaudert habe, wie damals, als sie
Courier im Kampfe mit seinen Mördern gesehen. „Wie,
du hast die That mit angesehen ?" fragte höchst erstaunt
ihr Meister. Mit einiger Mühe gelang es ihm, aus
der halb stumpfsinnigen Magd das Folgende heraus-
zulocken;
„An jenem Sonntag Abend war ich mit einem
jungen Burschen im Walde, wir lagen im Gebüsche
versteckt, als ovir etwa zwanzig Schritte von uns laute
Stimmen vernahmen. Wir guckten behutsam durch
das Gezweige und sahen den Herrn Courier in lebhaf-
tem Wortwechsel mit vier seiner Knechte, von denen
zwei mit Säbeln, einer mit einem Knüttel, der vierte,
Fremont, mit einer Doppelflinte bewaflTnet waren. Ich
sah, wie Dubois den Herrn Courier am Beine packte
und ihn zu Boden warf. Dieser rief: „Ich bin ein ver-
lorner Mann". Fremont legte an und feuerte. Der
Erschossene lag auf dem Bauche, die Mörder legten
ihn auf den Rücken, untersuchten ihn und liefen dann
«
davon."
Die Staatsanwaltschaft Tours wurde von dem Vor-
falle in Kenntniss gesetzt und die bezeichneten Knechte
— 161 —
verhaftet. Fremont konnte als Freigesprochener nicht
ein zweites Mal desselben Verbrechens angeklagt wer-
den. Er erschien daher als Zeuge, aber die Aufmerk-
samkeit concentrirte sich selbstverständlich auf seine
Person; denn er hatte bereits bei der Confrontation
mit dem neuen Zeugen seine That eingestanden.
Anfangs Juni 1830 kam dieser zweite Prooess vor
die Assisen in Tours, die Verhandlungen gibt der
„Moniteur" des 15., 16., 17. Juni 1830. Aus dieser
Lectüre geht für mich Folgendes hervor.
1) Obgleich Fremont nur die That und nicht das
Motiv derselben gestehen wollte, so kann man mit
ziemlicher Sicherheit jenes Motiv errathen. Courier's
gehässige Härte scheint seine Knechte erbittert zu
haben, so ward er das Opfer eines lange vorbereiteten
Complottes.
2) Fremont suchte die Verantwortung auf seine
Mitschuldigen zu wälzen. Sie hätten ihn durch Dro-
hungen zur That gezwungen und Mme. Courier sei die
intellectuelle Urheberin des Complottes gewesen.
3) Es fragte sich einen Augenblick, ob Mme. Courier
ebenfalls auf der Anklagebank Platz zu nehmen hätte.
Diese Frage wurde verneint, da gegen sie nichts weiter
vorlag, als Fremont's sehr verdächtige Anklage. Als
Zeuge vorgeladen, zog sie es vor, in der benach-
barten Schweiz den Schluss der Affaire abzuwarten.
Es scheint , dass sie unter der Eifersucht ihres viel
älteren Ehemannes gelitten hatte. Weiteres über ihr
Verhältniss zu Courier geht aus den Verhandlungen
nicht hervor.
4) Die Angeklagten wurden freigesprochen und
— 152 —
Fremont mit den Worten entlassen: „Das Gesetz hat
Euch vor fünf Jahren losgesprochen, aber heute ver-
urtheilt Euch die Gesellschaft". Drei Tage nach seiner
Entlassung starb Fremont an seinen inneren Qualen.
Seitdem er das Geständniss abgelegt, hatte er den
Appetit verloren; der kleine, elend gekleidete Mann
mit dem blassen Gesichte, den eingesunkenen grauen
Augen und dem röthlichen Backenbarte musste schon
am ersten Tage der Verhandlungen halbtodt vor seinen
Richter geschleppt werden.
5) Die Kinder Courier's waren in diesem Processe
als Civilpartei aufgetreten mit dem Begehren einer amt-
lichen Constatirung von Fremont's Geständniss. Ich
weiss nicht, welchen Bestimmungen des französischen
Rechtes zufolge es geschehen konnte, — aber Thatsache
ist, dass Courier's Kinder in die Kosten nicht nur des
zweiten, sondern auch des ersten Processes verfällt
wurden. Bourbonische Cabinetsjustiz? Auch die Wittwe
des Marschalls Brune hatte, wie wir oben gesehen,
im Jahre 1821 die Hälfte der Processkosten tragen
müssen.
Wenn wir nun zum Schlüsse die zerstreuten Züge
zu einem Gesammtbilde vereinigen wollen, so scheint
es am thunlichsten , den Schriftsteller, den Politiker
und den Menschen besonders zu charakterisiren. Der
Schriftsteller, der Stilist, der Pamphletist verdient
in vollem Maasse das Lob seltener und originellster
Vortrefflichkeit. In der leidenschaftlich unablässigen
Leetüre der griechischen und französischen Klassiker
liatte unser Courier seinen Geschmack erzogen und
seine Sprache gebildet. Wenn er schrieb, 90 wurde
— 153 —
jedes Wort berechnet, jeder Satz mit wahrer Küustler-
lust aufgefunden, ausgebaut, und der Schreiber ruhte
nicht eher, als bis die schneidendste Schärfe , die con-
centrirteste Kraft, die durchsichtigste Klarheit, die
möglichste Einfachheit erreicht war, bis der Ausdruck
dem G-edanken passte, wie das gutgeschnittene Kleid
dem wohlgeformten Leibe sitzt. Jene scheinbar naive
Schlichtheit ist also das Eesultat einer langen Kunst,
einer feinen Berechnung und einer zähen Beharrlich-
keit. Da Courier mit* den französischen E^ssikern des
16. und 17. Jahrhunderts, mit Molifere und Eabelais, mit
Lafontaine und Amyot, innig vertraut ist, überhaupt
von der Ansicht ausgeht, dass in jenen Schriftstellern
und in jener Zeit allein ein tadelloses und ein muster-
gültiges Französisch zu finden sei, so sind ihm nicht
nur von selbst eine Menge alter Wendungen in die
Feder geflossen, sondern er hat sie auch mit Absicht
und Bewusstsein verwerthet. Aber diese fremden und
alten Elemente hängen nicht wie aufgenähte Lappen
an der Gewandung seines Stiles, sondern wie die aus
kräftiger Nahrung gezogene Lymphe sind sie mit dem
eigenen Blute assimilirt worden. Courier wird nie aus
der. Mode kommen, so lange man französisch liest und
schreibt. Wie bei Lessing rettet seine Flagge die
Waare, verjüngt seine Form den Inhalt. Was gehen
uns, um von Lessing zu reden, heutzutage der Pastor
Goetze, die antiquarischen Schnitzer des Herrn Klotz,
die gemalten Scheiben des Klosters Hirschau an? Was
gehen uns, um von Courier zu sprechen, die erloschenen
Krater der politischen Fragen an, die in den zwanziger
Jahren Flammen und Lava spieen? Und doch, wenn
~ 154 —
Lessing von jenen xedet, Courier diese discutirt, so
lauschen wir mit Spannung, als würde uns das Neueste
berichtet. So gross ist die Macht stilistischer Vir-
tuosität!
Und nun zum Politiker. Gewiss, Courier hat
im Kampfe des französischen Bürgerthums gegen die
Bourbonen wohlverdiente Lorrbeeren geerntet. Er war
der hochbegabte Pamphletist jener Bourgeoisie, deren
Banquier Laffite, deren Bedner General Poy, deren
Führer Thiers, deren Dichter Bßranger ist. Aber wie
dieser letztere ist Courier ein reiner Oppositionsmänn,
dessen volles Gedeihen nur in eine Zeit fallen kann,
wo die ganze Nation in zwei grosse Lager sich scheidet,
B^ranger hat es selbst ausgesprochen in seiner so lehr-
reichen letzten Vorrede. „Warum ich seit 1830 keine
politischen Lieder mehr gedichtet habe? Weil der
grosse Chor nicht länger beisammen war, der meinen
Kefrain aufnahm, ihn zum geflügelten Worte machte,
ihn von Stadt zu Stadt, durchs ganze Land zu tragen
pflegte, weil nach dem Julisiege jenes Lager in viele
Fractionen sich auflöste, von denen eine jede ihr eigenes
politisches Ideal verfolgte !" So hätte auch Courier
nach 1830 den grossen Leserkreis umsonst gesucht,
der jede seiner Flugschriften von Hau» zu Haus gleiten
Hess. — Aber der Pamphletist setzt nicht nothwendig
das voraus, was wir einen politischen Charakter
nennen. Hass und Ehrgeiz und Talent reichen für
Jenen aus, während Dieser einen positiven Inhalt, ein
festes Programm, selbstlose Begeisterung voraussetzt.
Besass Courier diese Eigenschaften? Ich muss es be-
zweifeln. Der ehrgeizige Litterat und nicht der Mann
— 155 —
der idealen Ziele steckt hinter der Maske des Wein-
bauers Paul Louis. Sein Brief über die Kaiserwahl ist
charakteristisch. Man sage nicht: Was konnte ein
Courier machen, was hätte da ein Protest genützt?
Gerade da, wo der Widerstand nichts mehr zu nützen
scheint, tritt der Indifferente in einen schneidenden
Gegensatz zum Idealisten. Es war auch um's Jahr 1804,
als Frau von Stael Reflexionen über das Kaiserthum
und den Kaiser niederschrieb. „Als ich Bonaparte's
Usurpation erfuhr," sagt sie, „da weinte ich, nicht weil
Bonaparte sein Land um die Freiheit betrogen, — die
Freiheit wird in Frankreich noch lange unmöglich
bleiben, — sondern weil er uns auch die Hoffnung auf
die Freiheit benahm". Und anderswo: „Was soll man
thun, wenn Widerstehen nichts mehr nützen will?
Dann erst sage ich: Widerstehen und immer wider-
stehen ! Der Widerstand an sich ist auch ein Umstand
von Bedeutung, dessen sittliche Consequenzen sich gar
nicht berechnen lassen !" — Und wenn wir schliesslich
auf Courier den Menschen blicken, so muss zwar
erstens betont werden, dass wir wenig Bestimmtes
über seinen Privatcharakter wissen, zweitens aber muss
man zugeben, dass dasjenige, was wir wissen, nicht zu
seinem Vortheil ist. Ich übergehe den Vorwurf seiner
Gegner, dass seine catonische Sittenstrenge nur in «einen
Pamphleten, keineswegs in seinem Leben zu finden sei.
Aber sein Florentinerklex scheint mir auch ein Cha-
rakterklex zu sein. Seine Biographen haben die Sache
mit den schlechten Witzen seines Pamphletes abge-
fertigt. Wer aber die dort gegebene Entstehungsge-
schichte jenes Klexes mit dessen Facsimile verglichen
— 156 —
hat, wer erwägt, dass Courier's Humanistenehrgeiz das
grösste Interesse haben musste, jene Stelle der Hand-
schrift auf immer zu verderben, wer in Betracht zieht,
dass er nach dem angerichteten Unheile dem Verwalter
der geschädigten Bibliothek die Mittheilung seiner
früher angefertigten Copie, d. h. des von nun an ein-
eiigen Exemplares der vernichteten Seite, obendrein
noch verweigerte (eine Mittheilung derselben hätte
freilich das Zerstörungswerk um seinen Zweck betro-
gen !) — der kann nicht umhin, in jenem Vorfalle einen
hässlichen und frechen Act der Selbstsucht zu ent-
decken. Und Comier's tragisches Ende hat mehr den
Charakter einer Sühne für begangene Fehler, als den-
jenigen der Hinopferung eines Unschuldigen. Es ist
bezeichnend, dass die meuchlerische Kugel nicht aus
den Regionen kam, wo Courier's gute Thaten liegen,
sondern aus den dunklen Eegionen seines Privatlebens ;
dass sie nicht dem muthigen Kämpen der bürgerlichen
Freiheit und dem Feinde der Dunkelmänner galt, son-
dern dem harten und lieblosen Meister, dem Humani-
sten ohne Humanität. Wenn irgendwo in Courier's
Lebenslauf, wird man an dieser Stelle die grosse Lücke
in seinem Charakter gewahr. So wie die zersetzend^
Satire dem Ideale keine Stelle in seinem Geiste Hess,
so gönnte die Bitterkeit seines Hasses der Menschen-
liebe keinen Raum in seinem Herzen. In diesem Risse
keimte die Krankheit, die ihn tödten sollte.
Nach bester Ueberzeugung habe ich versucht, einen
Menschen zu zeichnen, da ich keinen Helden ver-
herrlichen konnte, noch wollte. Wenn nun allerdings
Courier's grosses Talent von keinem grossen Charakter
— 157 —
•
getragen ist, so muss ihm doch das Lob gespendet
werden, das Mommsen seinem MithridateS; dem Erz-
feinde der Römer, ertheilt, wenn er den Gedanken
ausspricht, jener Orientale habe in seinem politischen
Leben eine Tugend besessen, die in der politischen
Welt nicht so leicht und nicht so häufig ist, als man
glauben möchte, die Tugend, rechtschafibn hassen zu
können.
Pierre Lanfrey,
'er geistreiche Verfasser der „Geschichte Na-
poleon's" wurde in den Zeitungen schon letzten Som-
mer begrahen, und nur auf kurze Zeit war es ihm ver-
gönnt, jene Kunde zu überleben; denn schon in der
ersten Hälfte des Novembers 1877 erlag Pierre Lan-
frey seinen Leiden. Wir hoflfen, irgend ein Ereund
des bedeutenden Mannes werde ihm ein biographisches
Denkmal stiften. Bis dahin aber wird das Studium
seiner Werke fast die ausschliessliche Vorbereitung
Dessen bleiben, der von Lanfrey zu reden sich vor-
nimmt.
Pierre Lanfrey wurde 1828 in Chamb6ry ge-
boren. Er ist also, wenigstens seiner Geburt nach,
Savoyer. Sein Vater hatte unter dem grossen Kaiser
gedient und mag die Phantasie des empfänglichen Kna-
ben mit mancher militärischen Erinnerung beschäftigt
haben. Wie Voltaire holte sich Lanfrey seine erste
Bildung bei den Jesuiten, denen er in späteren Jahren
so wenig als der grosse Spötter des achtzehnten Jahr-
hunderts gefallen sollte. Eine beissende Satire auf die
ehrwürdigen Väter des College vqa Chamb6ry soll dem
jungen Lanfrey jene schlimmen Augenblicke bereitet
— 159 —
haben, mit welchen der junge Arouet- Voltaire die ersten
Frohen seines Genius bezahlte. Man verbannte den bösen
Peter aus seiner reizenden Heimat in die öden Mauern
eines Pariser Lyceums, nach dessen Absolvirung das
Studium der Eechte — der unvermeidliche Durchgangs-
punet des französischen Publicisten — begonnen ward.
Der Decemberstreich von 1851 fand den 23jährigen
jungen Mann bereits mit den Vorbereitungen seiner
ersten Publication beschäftigt. „L'^glise .et les philo-
sophes du 18. Siecle" erschien 1854. Die „Eevue des
Deux Mondes" nennt sie das leidenschaftliche Erst-
lingswerk eines schroffen Idealisten, der mit dem gan-
zen Feuer seiner Seele die Anschauungen des acht-
zehnten Jahrhunderts festhält. Schon diese Erstlings-
frucht von Lanfrey's Studien trägt das Doppelgepräge
seines hochbedeutenden Talentes : Kraft und Gewandt-
heit, logische Schärfe und epigrammatische Eleganz.
Drei Jahre später (1857) hatte Lanfrey seinen
„Essai sur la Revolution frangaise" vollendet. Derselbe
bildet eine natürliche Fortsetzung seines ersten publi-
cistischen Versuches, beschäftigt er sich doch wieder
mit den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts, diesmal
in ihren Beziehungen zum grossen Ereignisse der
Revolution. Die apologetische Tendenz, welche Frau
V. Stael und nach ihr Mignet und Thiers im liberalen,
Michelet, Buchez und Louis Blanc im demokratischen
und socialistischen Sinne in ihre Revolutionsgeschichte
gelegt hatten, weicht hier einem höheren Gesichts-
puncte: demjenigen des sittlichen Urtheils, des Ge-
wissens. Marat's und Robespierre's Rettung wird An-
deren überlassen; und wenn auch Lanfrey zwischen
— 160 —
Ideen und Thaten unterscheidet, so gilt doch der ein-
fache und bewährte Satz : „An ihren Werken sollt ihr
sie erkennen!" dem Autor als Richtschnur. Lanfrey's
Standpunct ist somit nicht die Parteiraison , sondern
das schlichte Urtheil des braven Mannes. Strenge geht
er mit den Häuptern der Bergpartei ins Grericht und
ein besonderes Capitel vernichtet das sophistische Plai-
doyer ihres gewandten Advocaten Louis Blanc. Mit
Macht erhebt sich Lanfrey gegen dessen latente Maxime,
dass eine Parteifahne verwerfliche Leidenschaften retten,
die politische Absicht Verbrechen sühnen, eine gute
Idee die Lüge in ihren Dienst ziehen dürfe. Je strenger
aber die Menschen gerichtet werden, um so begeisterter
erklärt sich Lanfrey für die Grrundsätze des Revolu-
tionsfrühlings von 1789. Es braucht wohl nicht hinzu-
gefügt zu werden, dass die Kehrseite dieser historischen
Arbeit ein Pamphlet auf die französischen Zustände
der Pünfzigerjahre ist. Lanfrey's epigrammatische Ader
versteht die „Guerre d'allusion," den Guerillakrieg der
beissenden Anspielung, aus dem Fundamente.
Es bleibt ein schönes Zeugniss für den idealen
Gehalt von Lanfrey's Charakter, dass in eben dem
Jahre, wo der äussere Glanz, das Wohlleben und der
Materialismus des zweiten Kaiserreiches jede Kraft
gebrochen und jedes höhere Streben beseitigt zu haben
schien, wo Maler imd Eomanschreiber um die Wette
die rohe Sinnlichkeit bedienten, dass im Jahre 1858
Lanfrey's „Briefe an Everard" dem Schmerze des Ver-
einsamten einen herben, weil tiefempfundenen Ausdruck
verliehen. Auch Lanfrey hat diesmal die unvermeid-
lich gewordene Form des Romans gewählt, um Gleich-
— 161 —
gesinnten jene Anschauungen entgegenzubringen. Der
Autor nennt seine Briefe „ein psychologisches Tage-
buch"; es sind düstere Betrachtungen über die Zu-
stände und die Menschen jener Tage. Everard-Lanfrey
hat die bittere Erfahrung gemacht, dass die G-esell-
schaffc dem Stärkeren, oder was gleichbedeutend ist, der
Intrigue und der Gemeinheit als Beute anheimfällt.
Kind einer für die Freiheit erzogenen Generation, sieht
der hochstrebende Jüngling sich mit einem Schlage in
die Knechtschaft geschleudert, ohne dass es ihm ver-
gönnt gewesen, den Kampf, der über sein Geschick
entschied, selbst mitzukämpfen. Für sich allein zwar
setzt er den Widerstand mit der ganzen sittlichen
Spannkraft seiner Gesinnung fort, aber rechts und links
fallen Freunde ab, ein Jeder treibt mit dem Strome
und folgt dem grossen Haufen, der ja jeden Augenblick
zum Vor- und Rückmarsche bereit ist. Sich selbst will
Everard nicht untreu werden, der allgemeine Abfall
kann ihn seiner Schwüre nimmer entbinden: aber
zum Unglück sieht er sich prädestinirt, zur Unthätig-
keit verurtheilt im Alter der Begeisterung und der
Thatkraft; unerschütterlich — ja, aber mit dem Fluche,
thatenlos zu bleiben. Selbstmordgedanken beschleichen
ihn: „malo mori quam foedari!" Endlich, müde des
Doppelschauspieles engherzige^ Verzichtleistung auf die
Freiheit und elender Elriecherei gegenüber den Erfolgen
des Starken, sucht Everard in einer unüberlegten ver-
frühten Schilderhebung italienischer Patrioten einen
sichern Tod.
Diese Lösung des psychologischen Drama's ist für
Lanfrey charakteristisch. In einem ganz ähnlichen
H« B. 11
— 162 —
Romane desselben Jahres (Lysis, von Charles Grouraud)
sucht und findet der vom politischen Elende der Gegen-
wart angewiderte Held seinen Trost in einer keuschen
Liebe. Diese Abmachung mit dem Zuge des politischen
Gewissens würde Lanfrey's Everard als Entweihung
und Verrath erscheinen. Seine Lösung allein konnte
seiner Stimmung genügen.
Lidess die Entmuthigung des Sta-rken geht vor-
über, und Lanfrey wusste seinen Trost in der Zuflucht
des entschlossenen Mannes, in ernster Arbeit, zu finden.
Die geräuschvolle Debatte über die weltliche Macht
des Papstes regte auch ihn zu einem Versuche an, in
welchem er nach Gewohnheit die Geschichte in den
Dienst der Politik zog. Lanfrey's „Histoire politique
des papes" trieb mit auf den "Wogen der Broschüren-
fluth des Jahres 1859, um bald in ihrer Ebbe zu ver-
schwinden. In dieser Schrift nun schlägt der bereits
erprobte publizistische Krieger seine Gegner mit den
Zeugnissen von achtzehn Jahrhunderten, weist mit uner-
bittlicher Dialektik nach, wie das Papstthum von jeher
ein Erbfeind der italienischen Einheit gewesen, in der
Schwäche und Zersplitterung der unglücklichen Nation
die eigene Kettung und Wohlfahrt gesucht habe. Ueber
den kurzlebigen Erfolg des Buches wusste sich Lan-
frey mit einem hübschep Epigramme zu trösten : „Les
livres sont comme les abeilles, ils meurent de leur
victoire". (Bücher und Bienen gehen an ihrem Siege
zu Grunde).
Im November 1863 vereinigte Lanfrey unter dem
Titel : „Etudes et Portraits politiques" eine Reihe von
Aufsätzen, welche bereits in der „Revue nationale" und
— 163 —
im „Temps" ihre Leser gefunden hatten. Sie gehen
zwar meist von der Vergangenheit aus, streifen aber
fast immer bewegende Eragen der Zeit (Thiers, Daunou,
Carnot, Armand Carrel, das parlamentarische Regiment
unter Louis Philippe, sind die ausführlichsten Artikel
der kleinen Sammlung, während von Guizot, Proudhon
und Laboulaye nur Gelegenheitssohriften besprochen
werden).
„Wer mich strenge nennt," so drückt sich die kurze
Vorrede aus, „dem kann ich kaum widersprechen. In
unseren Tagen gesinnungsloser Kritik könnte gar wohl
ein scheinbares Uebermass des Tadels und der Strenge
nichts anderes als knappe Gerechtigkeit sein. Uebrigens
habe auch ich dem Greschmacke unserer Generation
für die „Rettungen" meinen Tribut entrichtet, denn
meine Aufsätze alle gelten dem Lobe einer einzigen
Grösse. Auch ich habe mir meinen Helden gewählt: •
Mon h6ro8 c'est la libert6".
Der erste dieser Aufsätze ist nach unserem Dafür-
halten der trefflichste des trefflichen Buches. „L'histoire
du Consulat et de TEmpire par M. Thiers," geschrieben
im Juni 1861. Seine siebenzig Seiten sind das Be-
deutendste, was in Frankreich über Thiers' zwanzig-
bändigen Legendenschatz erschienen ist. Da Karl Hille-
brand im Decemberheft (1877) der „Rundschau" diese
Arbeit Lanfrey's einer lakonischen Verurtheilung ge-
würdigt hat, so halten wir's für Pflicht, dem deutschen
Leser einen Einblick in die Acten zu gewähren.
„Ich möchte eine Bewunderung in ihre Elemente
zerlegen," so beginnt der epigrammatische Autor. „Die
Academie hat Thiers' Kaisergeschichte wegen ihrer
— 164 —
liberalen Tendenzen gekrönt. Diese erklären in der That
den ganzen ungeheuren Erfolg des Buches, von dessen
zwei Gesichtern das eine der Freiheit zu lächeln scheint,
während das andere dem Despotismus lacht. Suchen
wir heute unter der erdrückenden Masse des von Thiers
zusammengetragenen Materials die Tendenz und
das Ideal des Geschichtsschreibers zu entdecken. Die
Sache wird nicht leicht bei einem Autor, welcher der
geistigen Entwicklung der von ihm geschilderten Zeit
kaum einige Seiten, d. h. zehnmal weniger als der Be-
schreibung eines kaiserlichen Hoffestes widmet, während
er doch andererseits das Materielle bis auf den letzten
Gamaschenknopf protokollirt. Für die Thatsachen jenes
ersteren Gebietes scheint Thiers weder Gedächtniss
noch Sinn zu besitzen. Er weiss genau, dass Spanien
im Jahre 1802 sieben Millionen Merinoschafe zählte,
aber er weiss nicht genau, wann Montesquieu gelebt
hat : denn sagt er nicht vom Comte de Provence (dem
nachmaligen achtzehnten Ludwig), er habe die Gesell-
schaft Montesquieu's gemieden? Nun aber ist besagter
Ludwig drei Monate nach Montesquieu's Tode geboren !
— Thiers lebt und webt in der Materie. Was ihn am
grossen Schauspiele der Menschheit interessirt, das
ist nach seinem eigenen Geständniss: „La quantite
d'hommes, d'argent, de matiöre qui a 6t6 remuee". Die
Machtentfaltung mit aUen ihren Hülfsquellen ist es,
was sich unwiderstehlich seiner Phantasie bemächtigt.
Das „mens agitat molem" war nicht für ihn gesprochen.
Seine Bewunderung gilt den Pyramiden, aber er ver-
schliesst sich der Thatsache, dass es ein Volk von
Sclaven braucht, um Pyramiden zu bauen.
— 165 —
Thiers' Unsicherheit im sittlichen Urtheile steht
in wunderlichem Gegensatze zur Sicherheit seiner mili-
tärischen Kritik. Zwar einen Corporal mit vier Mann
zu commandiren, brächte Thiers in die peinlichste Ver-
legenheit; aber jedem Marschall seine Schnitzer nachzu-
weisen, Moreau wie einen Schuljungen abzukanzeln,
das ist ihm ein Leichtes. Sogar Nelson corrigirt er;
denn er ist competent zu Wasser und zu Lande. Seinem
Helden Bonaparte muss eine gewisse Ueberlegenheit
zugestanden werden, doch kann er auch diesem gelegent-
Kche Lectionen nicht ersparen. Für jede geschlagene
Schlacht entwirft Thiers einen neuen Plan und theilt
uns mit, wie er selbst die Sache angegriffen hätte.
Die Weglassung dieser militärischen Selbstgespräche
dürfte das Ganze um einige Bände erleichtert haben.
Wie ganz anders nun wird Thiers' Haltung, so-
bald er auf das sittliche Gebiet gelangt! Die Ermor-
dung Enghien's nennt er ein schmerzliches Schauspiel,
in welchem „ein Jeder, sogar die Opfer, ihre Fehler
zu beklagen hatten". Der spanische Krieg — und das
wiederholt er bei jedem Eroberungskriege des Kaisers
— war eine Wohlthat für die Besiegten, er besass
nur einen Fehler : er misslang. Anderswo behüft sich
Thiers mit der Theorie einer zweifachen Moral (th6orie
des deux morales). So ist das Attentat von Bayonne
nach den schlichten Regeln der Privatmoral verwerflich.
Aber Throne und Nationen sind keine Privatsache.
„Man raubt und verschenkt sie mitunter zum Wohle
und zum Glücke der Völket. Nur hüte man sich bei
einer derartigen Vorsehungsrolle Fiasco zu machen.
(Seulement, il faut prendre garde en voulant jouer le
— 166 —
role de la Providence d'y echouer)". So kennt Thiers nur
die Moral des Erfolges. Selbst gegen seinen Helden
wird er immer strenger, je mehr derselbe im Pech
versinkt. Schon vor der Schlacht von Waterlo ist
Thiers ziemlich unparteiisch geworden. So wie der
Held gefallen ist, entzieht er ihm seine Achtung.
Thiers erzählt nur die Geschichte des Meisters.
Die Gedanken, die Empfindungen, das Wollen der Re-
gierten sind ihm gleichgültig. Der Kernsatz seiner
Philosophie scheint zu lauten : Der Mensch ist da, um
uniformirt, administrirt , centralisirt und stark regiert
zu werden. Das Schönste in dieser schnöden Welt ist
ein Regiment, das XJebrige hat wenig zu bedeuten.
In der Politik ist Thiers im Grunde nicht conse-
quenter. „ J'ai toujours aim6 la vraie libert6 !" so ruft
er aus, und dabei will er gleichwohl eine starke Re-
gierung, d. h. eine Dictatur. Er bewundert die Schöpfung
der strammen kaiserlichen Administration, er findet es
in der Ordnung, dass selbst die Richter von der Re-
gierung ernannt werden. Das Concordat ist nach seiner
Ansicht Napoleon's grösste Leistung: „Quoi de plus
indiqu6 que de relever Tautel de Clovis !" — Was war aber
diese Abmachung des Concordates als ein beiderseitiger
Rechnungsfehler? Der Kaiser hoffte durch sie eine
neue Macht, der Papst eine verlorene Macht zu erlangen.
Beide hatten sich verrechnet; denn für beide wurde
das Concordat eine Quelle endlosen Haders. Thiers
schiebt bei dieser Gelegenheit seinem Helden sogar
sentimentale Motive unter. „Napoleon hatte keinen
anderen Ehrgeiz als den, in allen Dingen das Gute anzu-
streben", und dann wird uns berichtet, wie der Kaiser
— 167 —
•
bei diesem frommen Anlasse die schöne Aeusserung
gethan : „In Malmaison beschleicht mich eine Eührung,
so oft ich das Glockengeläute des nahen Dorfes höre".
Für einen Geschichtschreiber sind solche Stellen allzu-
stark. Ueberlasse er es dem blumenreichen Rhetor
Chateaubriand, den Glocken und dem Glockengeläute
ein Extrablatt zu widmen! Napoleon selbst in seinen
auf St. Helena dictirten Memoiren drückt sich ja ganz
anders aus:
„Man kann sich kaum die Schwierigkeiten denken,
die ich für's Concordat zu überwinden hatte. Man wäre
mir damals lieber nachgefolgt, hätt' ich das prote-
stantische Banner erhoben. Ich hatte in der That
die freie Wahl. Die momentane Stimmung trieb dem
Protestantismus zu. Aber der Katholicismus diente mir
besser. Draussen blieb mir so der Papst erhalten, ich
durfte hoffen, ihn über kurz oder lang zu meinem Va-
sallen zu machen, und dann — welch ein Hebel der
öffentlichen Meinung, welch ein Einfluss auf den Eest
der Welt!"
Das tönt anders als Thiers' Glocken-Gebimmel!
Das ist der Naturlaut der Wahrheit, die nüchterne
Sprache des absoluten Despoten !
Thiers' politisches Ideal ist Frankreichs Herrschaft
über den Continent und dessen Civilisation durch einen
französischan Meister. So wird ihm jeder Eroberungs-
krieg des Kaisers zu einer Wohlthat für die Besiegten.
Ob es in der Ordnung sei, dass der Continent über-
haupt einen Meister habe, das kümmert Thiers wenig.
Aus seinem Kaiser macht Thiers endlich ein wahres
Factotum, Sagt er doch an einer Stelle; „Napoleon
— 168 —
avait autant d'esprit que Voltaire". Der grosse Soldat
ist ihm auch ein grosser Politiker. Die Sache verhält
sich aber anders. Der Soldat hatte fort und fort die
Fehler des Politikers wieder gut zu machen, und es
brach ein Tag an, wo er dies nicht länger konnte.
Thiers' vielbändiges Buch hat den Gläubigen der
ELaiser-Legende ein unschätzbares Material geliefert,
um sich selber zu beweisen, dass ihre EeUgion die
richtige sei. An der Spitze eines endlosen Bagagen-
Zuges und eines furchtbaren Kri^smaterials reitet unser
Historiker durch seine Geschichte, aber es steht zu
fürchten, dass alles Das eines schönen Morgens in die
Hand des Peindes fallen dürfte — in die unbarmherzige
Hand einer kritischen Nachwelt und einer überlegenen
Forschung. Was wird von Herrn Thiers dann noch
bleiben? Ein grosser Gedanke dauert, eine historische
Plauderei aber bleibt nur so lange bis eine genauere
Darlegung sie verdrängt.
Thiers' Stil ist breit und nachlässig, aber einen
Capitalvorzug besitzt er: das Leben. Er packt und
reisst uns mit, man muss wider Willen folgen. In
einem merkwürdigen Capitel des zwölften Bandes hat
Thiers das Bild des Geschichtsschreibers entworfen,
wie er sein soll. Er verlangt hier, dass sein Stil ein
klarer sei und fügt bezeichnend genug hinzu: „61ev6
quelquefois: er sei mitunter auch gehoben". In der
That, Thiers hat hie und da sich auch im Pathos ver-
sucht. In diesen seltenen Fällen wird er aber unfehl-
bar rhetorisch, weil ihm die tiefere Empfindung fehlt.
Fast komisch wirkt es, wenn er förmlich und zum
Voraus anzuküuden kommt, dass er seine zu Fuss ein-
— 169 —
herschreitende Muse in rhetorischen Trab zu setzen
beschlossen habe:
„Quoique voue au culte modeste du bon sens, qu'on
me permette un moment d'enthousiasme". Und er be-
nutzt die eingeholte Erlaubniss, um das ganze Batterie-
feuer seiner Metaphern spielen zu lassen : „Un spectacle
digne d'une affreuse compassion". — „Plac6e entre
le Hanovre et Thonneur, la Prusse 6tait horriblement
agit^e". — In solchen Momenten vergleicht er den
Kaiser mit einer Eiche und die Marschälle mit fallen-
den Blättern, der historische graue Eock heisst dann
nicht mehr „La redingote grise" sondern: „renveloppe
grise" und statt kurz und gut zu sagen: „un pied",
schreibt er: „un pied audacieux".
Thiers hat seinen Ruhm in der Gegenwart genossen,
Er suche ihn nicht mehr bei der Nachwelt. Das Lob
der Masse und das Lob der Academie ist ihm zu Theil
geworden, aber der Nachruhm, der bleibende und der
ächte Buhm, nach dem darf es ihn nicht gelüsten;
denn sein leichter Sinn hat jene Qualen nie gekannt,
die der Euhm seinen Auserwählten auferlegt; wird er
doch nur Denjenigen zu theil, die um seinetwillen ge-
litten haben. Wenn die Nachwelt in Thiers' Geschichte
etwas suchen wird, so sind es die kleinlichen Strebun-
gen seiner Mitwelt". —
Dies sind in knappester Eorm die leitenden Ge-
danken von Lanfrey's Aufsatz. Was ihn von Thiers
trennt, ist der tiefe Gegensatz einer idealistischen und
einer materialistischen Natur. Die Seite 23 einge-
schobene Episode bezeichnet Lanfrey 's Standpunct besser
als irgend eine Umschreibung es m thun verniöchte.
— 170 —
„Wie kommt es, dass unsere Historiker dem sitt-
lichen Momente so wenig Raum gönnen ? Um die sitt-
liche Grösse zu begreifen, muss man an die Freiheit
glauben, und diesen Glauben haben wir verloren. Gilt
es doch heute für das Zeichen eines überlegenen Geistes,
wenn man die Menschen als Marionetten des Geschickes
betrachtet. Hierin bringt uns die Zeit ihr eigenes
Maass entgegen, sie misst das Vergangene an der Ge-
genwart und Andere an sich selbst. Der sittliche
Standpunct gilt ihr beim Geschichtsschreiber für Kurz-
sichtigkeit, beim Politiker für Beschränktheit. Wir
nähern uns hierin allmälig den greisenhaften Völkern
des fernsten Ostens, welche die Moral als eine Be-
rechnung auffassen, sofern sie darin nicht schlechtweg
einen Kniff erblicken, — die ganz wie wir, vor allem
die Schlauheit und Falschheit bewundern, und die wahre
Stärke, d. h. Selbstlosigkeit, Wahrheit und Gesinnungs-
adel aufs Tiefste verachten.
„Diesem Zuge unserer Zeit arbeitet nun jener Opti-
mismus in die Hände, welcher die Sünden der Ver-
gangenheit mit dem Fortschritte der Gegenwart recht-
fertigt. Unser Philosoph Cousin hat den Leibnitz'schen
und den Hegerschen Optimismus, der die Menschheit
als gerecht und gut voraussetzt, für unsere Historiker
zurecht gemacht. Das Ziel ist von der Vorsehung ge-
steckt, die Phasen der Entwicklung vorgeschrieben.
Somit hat der Sieger dem Besiegten gegenüber immer
Eecht, der Besiegte ist immer der, der zu besiegen
war, und jeder Erfolg ist ein Fortschritt über sein
Gegentheil, die Niederlage. Folglich ist auch die Theil-
nahme übel angebracht, die dem Verlierenden geschenkt
— 171 —
wird. Die heutigen Zustände sollten genügen., um diesen
Optimismus ein für allemal zu richten".
Die „Revue des deux Mondes" (Mazade, April 1864)
begrüsste Lanfrey's „Portraits politiques" als ein Zei-
chen des wiedererwachenden Geistes der Treiheit. Sie
nennt den Verfasser einen Idealisten bis zur Selbst-
peinigung (il a le tourment de l'idöal), einen Essaiisten,
dem nicht Erzählung und Detailmalerei, sondern die
Anatomie der Ereignisse und das Drama der Meinungen
die Hauptsache ist.
In den nun folgenden Jahren arbeitete Lanfrey
unverdrossen an seiner „G-eschichte Napoleon's,"
deren erster Band, nachdem er abschnittweise schon in
der „Revue nationale" erschienen war, im Erühling
1867 die Presse verliess. Gerade in diesen Jahren sah
der Bonapartismus, welcher aus einem befehlenden
zu einem discutirenden geworden war, die Wogen
der feindlichen Litteratur höher und höher gehen. Im
Jahre 1866 hatte Randot's Schrift „Napoleon I. peint
par lui-meme" einige Aufmerksamkeit erregt, und
Tenot's „Paris en d6cembre 1851" und Delord's Ge-
schichte des zweiten Kaiserreiches folgten 1868* Lan-
frey's Buch nun stellt sich als Product der Kunst, des
Gedankens und der Wissenschaft weit über jene ge-
sinnungsverwandten Schriften, denn es betont vor Allem
die Würde einer ernsten Untersuchung.
„Napoleon," so beginnt Lanfrey, „ist bisher meist
nur von der Liebe und vom Hasse beurtheilt worden.
Nach seinem Tode wie bei seinen Lebzeiten war es ihm
bes.chieden, die Gemüther tief zu erschüttern, und die
Kämpfe, welche seine Politik liervorgerufen, sind später
— 172 —
auch für und wider sein Andenken geliefert worden.
Auf die volksthümlichen Vergötterungen, auf die selbst-
süchtigen Verherrlichungen des Parteigeistes, auf die
Gefälligkeiten gewisser Schrifsteller, welche die Vor-
urtheile des grossen Haufens bald theilten, bald mit-
verschuldeten , haben heftige Vergeltungsacte geant-
wortet, in welchen die Wahrheit sich allzu oft mit
ihren eigenen Waffen verletzen sollte. Indess hat Na-
poleon's Euhm weit mehr Schmeichler als Gregner ge-
funden, denn der Weihrauch, welchen man dem Götzen
mcht mehr spenden konnte, ward später seinen Anbetern
zu Theil. Heute scheinen die Leidenschaften erschöpft,
der Augenblick einer objectiven Würdigung gekommen
zu sein".
Lanfrey's Buch ist keine leidenschaftslose, aber
eine würdige und kräftige Verneinung und Vernich-
tung der Kaiserlegende, welche Beranger gesungen
und Thiers erzählt hat. Lanfrey hat den schönen Wahn
für immer zerstört. Napoleon's Geschichte ist ihm nur
die Geschichte eines genialen Egoisten, dem das Ge-
schick die glorreichste aller Herrscherrollen beschieden
hatte. Schon mit dem ersten Eingreifen Bonaparte's
in die Geschichte Frankreichs (1793) ist sein Mann
mit sich und Anderen fertig.
„Es ist geschehen! In dem Augenblicke, da die
Geschichte von Bonaparte Besitz ergreift, haben Be-
rechnung und Ehrgeiz bereits über alle seine anderen
Motive gesiegt. Kein politisches Gewissen hält ihn
länger auf, keine Begeisterung reisst ihn fort, mit den
Siegern steht er vortrefflich, ohne deshalb den Besieg-
ten gegenüber unversöhnlich m «ein; von den hoch-
— 173 —
sinnigen Jugendträumen ist er befreit und schon misst
sein Blick das unbegrenzte Feld, das vor ihm sich auf-
thut. Der prädestinirte Sohn des Ruhmes kennt be-
reits keinen anderen Rathgeber mehr als seinen uner-
sättlichen Genius, keine andere Richtschnur als das
Ideal der eigeuen Grösse und das, was er selbst die
Verhältnisse nennt, d. h. die vollendete Thatsache, den
Erfolg und seinen guten Stern. Die Gelegenheit mag
kommen, er wird sie nicht entwischen lassen".
Wie grundverschieden hat Thiers diesen Charakter
behandelt ! Noch der Sieger des achtzehnten Brumaire
erscheint ihm „als ein gemässigter und religiöser (!)
junger Mann, der dazu geboren schien, die ganze Welt
zu bezaubern". Selbst der Consul verfolgt noch ideale
freiheitliche Ziele, die erist der Kaiser vermöge einer
inneren Wandlung des Charakters und der Lebens-
anschauungen verleugnet. Lanfrey dagegen spricht den
Schopenhauer'schen Satz von der unentwegten Starr-
heit des ursprünglichen Charakters schon im ersten
Capitel (bei der Erzählung von Bonaparte's Gewalt-
streichen anlässlich der Wahlen von Ajaccio, 1790)
entschieden genug aus: „Diese Episode erklärt sein
ganzes Leben. Sie beweist, dass der Charakter sich
nicht durch plötzliche Explosionen bildet, sondern fertig
vorbereitet, nur auf Gelegenheit hervorzutreten harrt.
Die willkürlichste aller Fictionen allein hat es gewissen
Geschichtschreibern möglich gemacht, an einem und
demselben Menschen mehrere Charaktere zu entdecken".
Die von Adolf Stahr verfasste Vorrede der von
Glümer'schen Uebersetzung des Lanfrey'schen Werkes
macht auf die schLagende Uebereinstimmung zwischen
— 174 —
dem divinatorischen Urtheile Piclite's und den histori-
sclien Ergebnissen Lanfrey^s aufmerksam. In der That,
die dritte und letzte Bede des deutschen Patrioten
„Ueber den Begriff des wahren Krieges (Mai 1813)"
schliesst mit einer Charakteristik des Usurpators, deren
Scharfsinn Bewunderung verdient. Wenn Pichte vor
allem den Nicht-Pranzosen betont, so sagte Lan-
frey (DI. 493) : „In diesem Corsen war alles fremd und
unfranzösisch, seine Abkunft, seine Anschauungs- und
Grefühlsweise, sein Charakter. Mit jener echt italieni-
schen Gabe der kalten Berechnung und, tiefsten Ver-
stellung begabt, sah er sich einem Volke gegenüber,
welches das unbändigste, unüberlegteste der Erde ist,
unfähig, einen Vorsatz durchzuführen, trotz seines
Esprit leicht zu täuschen, nicht aus Mangel an Scharf-
blick, sondern aus Mangel an folgerichtiger Ideen".
Mit dem letzten Theile dieser Ausführung stimmt
wieder Pichte's Urtheil: „Er lernte die französische
Kation begreifen als eine höchst regsame Masse, fähig,
jedwede Richtung anzunehmen, keineswegs aber fähig,
sich selbst eine bestimmte und dauernde Kichtung
zu geben."
„Zu der vollkommenen Klarheit trat nun der uner-
schütterliche Wille". Und sodann zeichnet Pichte die
Weltanschauung Napoleon's, die ächte „Id6e napol^o-
nienne," die sein NeflFe gefälscht und in ihr Gegentheil
verkehrt hat. Sie fasst die Menschheit auf als eine
Masse von Kraft und Leben. „In dem grossen Herrscher
offenbart sich das Gesetz dieser Kraft, für ihn wird
jedes Leben in Beschlag genommen. Ehre und Treue
existiren für diesen Herrscher nur dann, wenn sie in
— 175 —
seine Pläne passen. — Er hat es freiwillig ausge-
sprochen, dass es ein Herrscher damit halte, wie es die
Zeitumstände mit sich bringen". — An seiner Achilles-
ferse müsse er gefasst werden, so schliesst der deutsche
Kedner, an seiner gänzlichen Blindheit für die sittliche
Bestimmung des. Menschen.
Lanfrey wird von demselben Idealismus wie Pichte
geleitet. Wenn Thiers sich an den Thaten des Unter-
drückers freut, so verfolgt Lanfrey vor Allem die
Leidensgeschichte der Unterdrückten. Daher denn ein
von selbst sich ergebender Gegensatz der Behandlung,
welcher eine fortlaufende Kritik des Materialisten durch
den Idealisten constituirt.
In einem Artikel über Thiers den Geschichtschreiber
(Unsere Zeit, 1877) habe ich die Episode von En-
ghien's Ermordung bei Lanfrey und Thiers verglichen.
Ersterer zeigt uns den kalten Berechner, der mit
klarstem Bewusstsein einen Schuldlosen hinopfert, wäh-
rend Thiers von verhängnissvollen Irrungen und Miss-
verständnissen redet, und uns den Consul in Malmaison
schildert, wie er von den heftigsten inneren Kämpfen
gutherzigen Mitleids und der unerbittlichen Staatsraison
verzehrt wird. „Der Beweis seiner grossen Aufregung,"
sagt Thiers, „liegt in seiner Unthätigkeit selbst, denn
während der acht Tage seines Aufenthaltes in Mal-
maison dictirte er fast keine Briefe, einzig dastehendes
Beispiel der Unthätigkeit in Napoleon's Leben". Lan-
frey vernichtet diesen Schwindel mit der Notiz, dass
aus jenen Tagen nicht weniger als 27 Briefe des Con-
suls sich nachweisen lassen. Am Hinrichtungstage
Enghien's selbst, aii welchem nach Thiers' Bericht der
— 176 —
Consul sogar beim Schachspiele „classische Citate über
die Herrschergnade" vor sich hinmurmelte, wo seine
gemüthliche Aufregung ihren höchsten Grad erreichen
musste, dictirte Napoleon nicht weniger als sieben
Briefe, darunter einen sehr ausführlichen an Soult be-
treffend das Caliber der Positionsgeschütze von Boulogne.
Thiers und Lanfrey bewegen sich in verschiedenen
Welten. Lanfrey ist ein innerer Mensch, Thiers ebenso
sehr ein äusserer. Was den Einen leidenschaftlich er-
regt, das lässt den Anderen indifferent. Lanfrey schreibt
eine psychologische Geschichte und eine Moral der
Politik. Thiers schwelgt in der behaglichen Erzählung
des Geschehenen, in der breiten Darstellung der ma-
teriellen Momente. Lanfrey's Stil ist knapp und spitzt
sich gerne zur taciteischen Pointe zu, während der-
jenige von Thiers an die „lactea ubertas" des Livius
erinnert.
Der Gegner der Kaiserlegende ist zugleich ein
Gegner des zweiten Kaisers. Auch hier, und hier be-
sonders, begegnen wir dem oben schon erwähnten
Guerillakriege der politischen Anspielung. Die „guerre
d'allusion" ist ein charakteristisches Merkmal der littera-
rischen Opposition unter dem zweiten Kaiserreiche.
Ampfere's „Römische Geschichte", Tocqueville's „Ancien
regime," Laboulaye's und Taine's von der Politik schein-
bar abgelegene Schriften pflegen ihre Anspielungsge-
schosse aus den verdeckten Batterien unverfänglicher
litterarischer Positionen zu schleudern. Selbst Kenan's
„Leben Jesu" macht die Trümmer der Herodesstadt
zum Ausgangspuncte einer satirischen Vergleichung
mit Haussmann's Regieruiigsbauteu. Am heftigsten von
— 177 —
Allen geberdete sich Ampere. Den alten Julius Gäjsar
nennt er einen Charlatan, entdeckt in den Zügen seiner
Büste den prädestinirten Usurpator; dem Strohmann
Augustus aber schleudert er folgende Tirade ins Gesicht :
„Nein, ich werde dir nie verzeihen, dass du die
Welt betrogen, die allerdings nichts Anderes verlangte,
als belogen und betrogen zu sein — dass du die Ty-
rannei mit einer Kunst begründet hast, die durch den
Knechtschaftshunger zu einer leichten wurde. Und was
hast du denn vollbracht, um so viel Lob zu ernten?
Das Kömervolk war matt und müde, du hast seine
Erschöpfung benutzt, um es in Schlaf zu lullen, hast
seine Männlichkeit entnervt, erstickt, vernichtet".
Sainte-Beuve, der Regierungskritiker, der auf alles
das eine Antwort finden musste, athmet ordentlich auf,
wenn er einmal einem unbefangenen Geschichtswerk
auf seinem dornenvollen Wege begegnet. Es klingt
fast komisch und verdient als Zug der Zeit notirt zu
werden, wenn Sainte-Beuve's Beurtheilung des ersten
Bandes von Viel-Casters Restaurationsgeschichte (1860)
mit dem Ausruf anhebt : „Gottlob , einmal ein Buch,
zwischen dessen Zeilen nichts zu lesen ist!"
Endlich hat Lanfrey's Buch einen kosmopoli-
tischen Charakter im Gegensatz zum chauvinisti-
schen Patriotismus seines Vorgängers. Lanfrey legt
im Anfange seines dritten Bandes das Bekenntniss ab :
„Der enge Begriff eines nationalen Schriftstellers
ist heute nicht mehr anwendbar. Der moderne Ge-
schichtschreiber ist nicht mehr an ein Volk oder an
ein Land gebunden, denn er spricht im Namen der
allgemeinen Civilisation. Er gehört den gemeinsamen
— 178 —
Culturinteressen aller Nationen an, seine Interessen sind
die der Menschheit, und sein Volk ist dasjenige, welches
diesen Interessen am besten dient. Sein Vaterland
überschreitet alle Grenzen, und seine Sache ist die allge-
meine, unveränderliche Sache des Rechts gegen die Ge-
walt, der Freiheit gegen die Unterdrückung. Die Aus-
schliesslichkeit des Patriotismus, welche man von ihm
verlangt, war möglich in den Staaten des Alterthums,
wo jeder Fremde ein Feind war; sie ist unhaltbar heute,
inmitten der grossen . europäischen Völkergemeinschaft,
die ein gemeinsames Leben lebt und sich von denselben
Ideen nährt".
Den wissenschaftlichen Werth von Lan-
frey's „Geschichte Napoleon's" haben mehrere Artikel
der „Eevue Critique" besprochen, welche aus der Feder
eines genauen archivalischen Forschers, Henry Lot,
geflossen sind. Gegenüber den zweideutigen Leistungen
Thiers' nun wird (Juli 1867, Kritik de^ ersten Bandes)
jener wissenschaftliche Werth ohne Rückhalt anerkannt.
„Man ist bei uns noch so weit von einer wahren Ge-
schichte Napoleon's, dass eine blosse Berichtigung all-
gemein getheilter Irrthümer als neue und schätzens-
werthe Arbeit erscheint".
„Das wissenschaftliche Verdienst des Buches besteht
in der actenmässigen Darstellung einer Reihe dem
Publikum bisher absichtlich vorenthaltener Handlungen.
Drei Puncte hat Lanfrey's erster Band, im Gegensatze
zu allen Vorgängern, mit grosser Ueberlegenheit be-
handelt: 1) die Corruption der italienischen Armee
durch ihren Führer Bonaparte, 2) das grosse Attentat
auf Venedig, ein Vorspiel der späteren Eroberungen
— 179 —
des Kaiserreiches, 3) die Solidarität Bonaparte's in den
Fehlgriffen des Directoriums. * Der Ruin Italiens , die
falsche und gewaltthätige Politik des Directoriunois und
die Entblössung Frankreichs, dessen Armeen zu chimäri-
schen Expeditionen verwendet wurden, das war Bona-
parte's politische Vergangenheit am Vorabend des 18.
Brumaire. Massena hatte in Wahrheit Frankreich ge-
rettet, das Land war wieder im Stande, sich selbst zu
regieren und Bonaparte konnte nur durch eine Lüge seinen
Staatsstreich rechtfertigen". Was Lot dem Werke Lan-
frey's vorwirft, ist 1) des Autors allzukurze Vorbe-
reitung, welche die Archive nicht allseitig durchforscht
habe. 2) der Parteistandpunct, der seinem G-egenstande
nicht gerecht wird, 3) die allzuhäufige Berufung auf den
antifatalistischen Standpunct. Alle diesö Ausstellungen
mögen begründet sein. Doch überrascht es, dass der
Eecensent im Grunde so wenig factische Berichtigungen
beizubringen hat. Li der That, Lot's erster Artikel
führt nur zwei materielle Lrthümer Lanfrey's an:
1) Bei Lodi sei die Cavallerie nicht auf Befehl Bona-
parte's über den Fluss gegangen, sondern eine Reiter-
abtheilung habe diese Bewegung auf eigene Faust hin
versucht. 2) Die Armeen von 1792 und 1793 seien
numerisch nicht so stark gewesen, wie Lanfrey behauptet.
— lieber den zweiten, schon Ende 1867 erscheinenden
Band äussert sich Lot im Ganzen sehr anerkennend:
„Wir haben hier nicht von den Vorzügen des
Schriftstellers zu sprechen. Diese Vorzüge sind kostbar:
Klarheit, Bündigkeit und Kraft. Lanfrey erzählt lebhaft
und denkt ebenso. Seine Erzählungen und seine Reflexion
gehen Hand in Hand, ohne sich gegenseitig zu schaden''.
— 180 —
„Herr Lanfrey hat viel gearbeitet. Seine Geschichte
ist keine oberflächliche („son histoire est s6rieuse). Aber
sie entbehrt dabei doch jener starken Grundlagen,
welche wissenschaftliche Monumente erheischen. * Ist es
genug, wenn die Fachmänner und die Eingeweihten
(gens sp^ciaux) mit dem Autor einverstanden sind?
Man muss auch die Ungläubigen und die Ignoranten,
den Schlendrian und die Unehrlichkeit überführen.
Uebrigens bietet der zweite Band in dieser Hinsicht einen
wesentlichen Fortschritt gegenüber dem ersten. Die
Quellen sind häufiger angegeben, im ganzen sind sie
gut, einige sogar sind neu".
Sodann werden Lanfrey's Berichtigungen der Thiers'-
schen Irrthümer und Lügen ausdrücklich und im ein-
zelnen hervorgehoben: „Es ist ein verdienstliches Werk,
alle diese Fabeln, alle diese lügenhaften Ueberlieferun-
gen, aus welchen sich auf Kosten der geschichtlichen
Wahrheit die Kaiserlegende allmälig aufgebaut hat,
vernichtet zu haben".
Der dritte Band erschien 1868. Lot bespricht
ihn in scharfer Weise (Februar 1869). Nach seiner
Anschauung ist Lanfrey diesmal zu leidenschaftlich
und in der Quellenbenutzung vieKach unkritisch vor-
gegangen. Auch die Composition verrathe eine gewisse
Ermattung.
Den vierten Band recensirt Lot im Mai 1870.
Die Composition hat wieder die Höhe des ersten Bandes
erreicht. Aber die Leidenschaftlichkeit des Autors hat
der wünschbaren Mässigung nicht Platz gemacht und
abermals die kritische Sichtung der Quellen beein-
trächtigt. „Der Band behandelt die Ereignisse, welche
— 181 —
zwischen November 1806 und Mai 1809 liegen und
schliesst mit der Schlacht von Aspern-Essling (22. Mai
1809). Der Verleger kündet an, das ganze Werk sei
auf sechs Bände berechnet, was bei der Ausdehnung
der noch zu behandelnden Materien kaum genügen
wird".
Wie nun Carl Hillebrand in seinem Artikel über
Thiers (Decemberheft 1877 „der Rundschau") auf Grund
der Lot'schen Recensionen Lanfrey's Buch schlechthin
als ein oberflächliches Machwerk bezeichnen
kann, wäre unbegreiflich, wenn nicht die Erfahrung
lehrte, dass ein Urtheil nicht nur auf Thatsachen, son-
dern auch auf Sympathien und ihrem Gegentheile fassen
kann. So wird denn in Hillebrand's Artikel Thiers mit
einer wohlwollenden Phrase geschützt, während eine
verächtliche Phrase Lanfrey vernichten soll. Wer, wie
Hillebrand dies am Ende seines Plaidoyers gethan,
Frankreichs Grösse in den Kaisersiegen sucht, der
kann allerdings für Lanfrey's Standpunct nur noch ein
mitleidiges Lächeln erübrigen. Wunderlicher Gegen-
satz ! Während Lanfrey den verfrühten Befreiungs-
versuch des Majors Schill eine glorreiche That nennt
und deshalb in Frankreich den Vorwurf hören musste :
„II porte nos ennemis en triomphe!" fragt Hillebrand in
einer Berliner Zeitschrift: „Ist der Waffenruhm von
Jena nichts?" Ein Vertreter des Hauses Chauvin und
Cie. könnte sich kaum gefühlvoller ausdrücken. Wir
gestehen, für diesen Standpunct uns nicht erwärmen zu
können. — - Die natürlichste und erste Frage wäre doch, so
scheint uns, die gewesen : Ist Thiers' Napoleon oder der-
jenige Lanfrey 's dem Napoleon der Geschichte ähnlicher?
— 182 —
Diese Frage hat Carl Hillebrand aus guten Gründen
nicht gestellt. Lanfrey selbst hat sie in seinem Auf-
satze über Thiers (p. 6.) beantwortet, wenn er sagt:
„Wie kann ein Anbeter des Despotismus mit histori-
scher Treue eine Epoche der Knechtschaft schildern?
Hierfür geht ihm ein Sinn ab ; denn es gibt eine ganze
Kategorie von Thatsachen, die er nicht einmal gewahr
werden wird. Zum voraus weise ich sein Zeugniss
zurück, er ist mir nicht Zeuge, sondern Mitschuldiger".
Lanfrey's Werk sollte ein Torso bleiben ; der Ver-
fasser ist nicht über den vierten Band hinausgekommen.
Von einer weiblichen Teder ist Lanfrey's Buch vor-
trefflich in's Deutsche übersetzt worden. Ich meine
„Lanfrey's Geschichte Napoleon's des Ersten, aus dem
Französischen von C. von Glümer, vier Bände, Berlin
1869, sqq; mit einer Einleitung von Adolph Stahr".
Letztere enthält die Notiz, dass auch eine englische
Uebersetzung vorbereitet werde".
Am Schlüsse unserer Skizze mag ein kurzes Wort
über Lanfrey's politisches Wirken am Platze sein.
Lanfrey zählte unter Napoleon dem Dritten zu jenen
litterarischen Eepublikanern und Oppositionsmännern,
welche das Kunstwerk der französischen Monarchie,
das unentbehrliche Werkzeug einer starken Regierung,
die administrative Maschine, durch die Autonomie des
„Selfgovernment" ersetzt wissen wollten. Den discu-
tirenden Bonapartismus des Neffen hasste Lanfrey's
politischer Idealismus nicht weniger als den befehlen-
den des Onkels.
Bekanntlich bot die September - Bewegung des
Kriegsjahres 1870 unserem Historiker eine Präfectur.
— 183 —
an. Er schlug dieselbe aus und gab diesem Schritte
in seinem „Briefe an die Delegation von Tours" eine
Oeffentlichkeit, welche verschieden beuriheilt worden
ist. Als nämlich im Januar 1871 von Gr6vy die Wahl
einer legalen Eegierung betont wurde, erhob sich Lan-
frey mit Heftigkeit gegen Gambetta's Dictatur, in
welcher er ein cäsarisches Element ahnen mochte. „Man
darf nicht warten, bis Alles verloren ist, um zur Er-
kenntniss des Fehlgriffes zu gelangen, dass einem Advo-
caten die Oberleitung des Krieges anvertraut wurde. Nie
hat man dem Lande die Wahrheit über seine eigene
Lage gesagt. Während ganz Europa die Capitulation
von Metz schon seit drei Tagen kannte, hielt man die
Franzosen noch mit Bulletins über Bazaine's glorreiche
Ausfälle hin. Man hat sich eine Popularität aus erfun-
denen Siegen gemacht und Frankreich mit diesen gekö-
dert. Es ist Zeit, dass der Declamation, der Willkür,
der Unerfahrenheit, der Heuchelei und Ohnmacht ein
Ende bereitet werde. Es ist Zeit, dass die Kation durch
fähige Leute vertreten werde; denn Frankreich hat
viele Dictaturen über sich ergehen lassen, nur eine
hat es nie ertragen, die Dictatur der Unfähigkeit".
Als Thiers im Februar 1871 die Präsidentschaft
übernahm, schickte er seinen litterarischen Gegner,
den er zugleich als persönlichen Freund schätzte, in der
Eigenschaft eines diplomatischen Vertreters der fran-
zösischen Eepublik nach Bern. Lanfrey verblieb auf
diesem Posten bis Ende 1874. Dann nahm er seinen
Sitz im Senate von Versailles ein. Hier irwartete ihn
mehr als eine bittere Enttäuschung. Die grösste war
das neue ünterrichtsgesetz, welches die Erziehung den
— 184 —
Ultramontanen wieder in die Hände spielte. Er hielt
es nunmelur an der Zeit, seine litterarische Erstlings-
frncht: yfDie Kirche und die Philosophen des acht-
zehnten Jahrhunderts," neu herausgegehen.
In seinem Privatleben war Lanfrey ein bescheidener,
anspruchsloser Mann. G-rössere Gesellschaften fanden
ihn wortkarg, schweigsam. Ein physisches Gebrechen,
das seine Aussprache etwas schwerfällig und unrein
machte, war mit an dieser Haltung schuld. Aber im
engen Freundeskreise zeigt er sich lebhaft, aufgeräumt
und liebte den neckischen Humor. /
Pierre Lanfrey ist der einzige Geschichtschreiber,
welcher die Generation des zweiten Kaiserreiches, d. h.
eine Generation, die Anno 1850 zwanzig bis fünfund-
zwanzig Jahre zählte, der französischen Nationallitteratur
geschenkt hat. Die Nachwelt wird seine Kaiserge-
schichte als eine beredte Widerlegung der chauvinisti-
schen Legende und als einen hochsinnigen Protest
gegen die fatalistische Schule der französischen Deter-
ministen ehren. Dass Lanfrey mitten in der materia-
listischen Strömung einer dem Idealen abgewendeten
Zeit sich unerschütterlich treu blieb, muss ihm den
Eang eines politischen Charakters sichern ; und wenn
die wissenschaftliche Forschung ihn überflügelt haben
wird, so bleibt ihm die Zukunft, die er selber in den
Worten angedeutet hat:
„Un renseignement ne dure que jusqu'i ce qu'on
Tait remplac^ par une information plus exacte, mais
une grande pens6e est ^terneUe".
Frau von Stael und George Sand.
'ie französische Litteratur des neunzehnten Jahr-
hunderts kennt keine grösseren Schriftstellerinnen als
Frau von Stael und George Sand.
Wenn schon in diesem äusseren Umstände eine
Anregung gegehen ist, zwei so bedeutende Erscheinun-
gen einander gegenüberzustellen, so fordern ähnliche
Lebensführungen und Tendenzen eine solche geradiezu
heraus. Haben doch beide Frauen die Würde des
Weibes und die unveräusserlichen Eechte der Natur
gegen die Bosheiten, Vorurtheile und Herrscherlaunen
der gesellschaftlichen Convenienz mit dem Muthe der
Verzweiflung und dem Hohne des Edlen vertheidigt,
ist doch, was Stael von ihren Büchern sagt : „Sie sind
mit dem Blute meines Herzens geschrieben," auch auf
diejenigen Dichtungen Sand's anzuwenden, die eine
Vergleichung wie die unserige vor allem in Betracht
zu ziehen hat.
Beide sind ideal angelegte Naturön, welche die
harte Schule des Lebens, der Enttäusctung und des
Schmerzes erzogen und gekräftigt hat, welche ihren
Schmerz in dichterischer Objectivirung zu gestalten
und zu verklären suchen. Beide haben tief empfunden
— 186 —
und viel gelitten, beide sind enthusiastische, zur Exal-
tation geneigte Wesen. Beide sind durch verzeihliche
Schwächen und entschuldbare Tehler in einen bösen
Krieg mit einer Macht verwickelt worden, welche auch
dann nicht zu verzeihen pflegt, wenn ein höheres Ge-
setz ihren kleinlichen Satzungen zuwiderläuft. Beide
endlich tragen das negative und das positive Wahr-
zeichen einer edlen Natur.: den Hass des Gemeinen
und das Bedürfniss der Freiheit.
Aber die Zeit, für welche sie schrieben, die Er-
ziehung, welche sie empfangen, ihre Individualität end-
lich war eine sehr verschiedene, und daher musste
denn auch ihr Kämpfen und Streben in seinen Ajdusse-
rungen ein verschiedenes werden.
Als Frau von Stael im Jahre 1796 ihr Buch „Vom
Einflüsse der Leidenschaften auf das Glück der Ein-
zelnen und der Nationen^^ schrieb, stand sie bereits in
ihrem dreissigsten Jahre, das heisst am Ende ihrer
Jugend und hatte zwei grosse Enttäuschungen erlebt:
die Ereignisse des Jahres 1793, welche ihre politischen
HoflBaungen knickten und eine unglückliche Ehe, welche
sie dem Willen eines angebeteten Vaters zu Liebe um
den Preis einer tiefen Herzensneigung zu dem katho-
lischen Mathieu de Montmorency feingegangen war. Aus
diesem doppelten Schmerze erklärt sicH der beste Theil
ihres Buches, ganz besonders aber die bittere Klage,
welche sie im Gapitel von der Liebe (De l'amour) der
gesellschaftlichen Stellung des Weibes widmet.
Hier tritt Frau von Stael zum ersten Male als
Klägerin auf gegen die conventioneilen Satzungen einer
herzlosen Zwingherrin. Hier lodert das erstickte Feuer
— 187 —
unbefriedigter Leidenschaft in lichten Flammen empo^.v'
Dem Gedanken nach äussert sie sich da folgendermaßen: ^>f^^
„Nur die Wenigen, welche einer wahren Liebe
fähig sind, können mich verstehen. Nach meiner Ueber-
zeugung findet sich das Liebesglück nur in der glück-
lich combinirten Ehe. Wehe Dem, der es wo anders
sucht, und dreifach wehe Dem, der es im Ehebund ge-
sucht und nicht gefunden!
„Ihr Frauen ! Schlachtopfer jenes Tempels , in
welchem man Euch anzubeten behauptet, höret meine
Worte! Natur und Gesellschaft haben uns, die eine
Hälfte der Menschheit, enterbt; — denn Kraft imd
Muth, Genie und Freiheit sind das Erbtheil des Mannes;
uns Frauen gehören nur die Beize einer kurzen Jugend,
und wenn die Männer diese Jugend mit Schmeicheleien
zu umgeben gewohnt sind , so suchen sie damit nur
selbstsüchtigen Zeitvertreib, behandeln uns, wie man
etwa die Kinder zu behandeln pflegt, wenn man ihnen
auf Augenblicke die Meister zu spielen gestattet, in
der ruhigen Gewissheit, dass sie ja doch nie Gehorsam
erzwingen können. So kommt auch des Weibes Wille
nur so lange in Betracht, als der Mann verliebt ist.
Aber betrachtet einmal unser Leben in seiner Ganz-
heit und überall wejrdet Ihr des Weibes beklagens-
werthes Loos herauslesen.
„Des Weibes einzige Leidenschaft ist die Leiden-
schaft der Liebe. Ruhmsucht und Ehrgeiz stehen ihr
schlecht, und wenige Frauen gelangen auf diesem
Wege zu ihrem Glücke. Wenn Eine dadurch empor-
kommt, so sinken dafür hundert Andere unter das
Niveau ihres Geschlechtes.
y
— 188 — *
„Die Liebe ist des* Weibes ganze Geschichte , in
der G-eschichte des Mannes ist sie nur eine Episode.
Von ihrer Haltung im Puncte der Liebe hängt des
Weibes Ehre ab, während eine ungerechte Welt in der
Führung eines Mannes die Sittlichkeit zu ignoriren
scheint. Ein Mann gilt unserer Gesellschaft immer
noch für achtenswerth, wenn er einem Weibe das grösste
Herzeleid bereitet hat, das ihr widerfahren kann ; denn
ein Mann gilt auch dann noch für ehrbar, wenn er
eine Frau betrogen. Ein Mann kann von einem Weibe
Beweise der Hingebung empfangen haben, welche zwei
Waffenbrüder in engster Freundschaft verbänden, und
dennoch leichten Herzens sie vergessen. In Frankreich
gibt es nur wenige Männer, die sich nicht lächerlich zu
machen glaubten, wenn sie in Herzensangelegenheiten
jene Zartheit zeigten, die ein Weib glaubt heucheln zu
müssen, sofern sie sie nicht in der That besitzt. —
Die Frauen lieben mit dem Herzen, die Männer mit
der Phantasie.
„Wie gern hätte ich niemals geliebt, wie gerne
niemals das Gefühl gekannt, welches, dem h^issen
Winde Afrika's vergleichbar, unser Herz versengt und
die Blume, die fröhlich gedeihen sollte, erbarmungslos
zur Erde wirft".
Nie sind die Elagen des schwachen Geschlechtes
in edlerer und in schneidenderer Sprache vorgetragen
worden. Die Männer blieben die Antwort nicht schuldig,
sie haben in ihrer Weise geantwortet:
Göthe in Tasso:
„Und wirst du die Geschlechter beide fragen:
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte".
— 189 —
Byron in den beredten und wohlanempfundenen
Worten seiner Donna Inez („Don Juan" 1, 194):
„Men have all these resonrces, we bat one,
To loye again and be again nndone'*.
Schopenhauer's pessimistisclier Cynismus legt sich
die Sache philosophisch zurecht: Des Weibes Schön-
heit ist die Palle, durch welche die Natur nicht nur
die Zusammensetzung der künftigen Generation, son-
dern auch die Versorgung des Weibes für die langen
Jahre ihrer definitiven Reizlosigkeit erreicht.
Der frivole Casanova endlich macht die Sache in
der Vorrede seiner verrufenen Memoiren noch bündiger
ab : „Täuschen die Frauen uns Männer, oder umgekehrt?
Ich denke, wir bleiben einander nichts schuldig".
Trau von Stael nun folgte dem Dämon ihres Herzens
und handelte nach dem Programme von Byrons Donna
Inez: Sie liebte wieder um wieder zu verbluten. —
Strodtmann's interessante Mittheilungen über Stael's
Verhältniss zu Benjamin Constant (Cöln. Ztg.," Nov.
1875, Nr. 208—220) sind noch zu frisch im Gedächt-
nisse mancher Leser, um hier wiederholt zu werde^.
Nur einige Daten gestatte man mir zur Orientirung
hierher zu setzen.
Benjamin Constant's erste Begegnung mit Frau
von Stael fällt in's Jahr 1794 (September), zwei Jahre
später wird letztere geschieden, und im Jahre 1800
war ihr Verhältniss zu Constant bereits so sehr Gegen-
stand des öflfentlichen Klatsches geworden, dass sie allen
Grund hatte, gegen das ewige Zischeln böser Zungen
einmal energisch vorzugehen. Sie wählte die Form der
Dichtung, des Romans und schrieb „Delphine", deren
— 190 —
Typus die „Corinna" sieben Jahre später wiederholen
sollte. Denn beide Heldinnen sind ja nichts anderes
als Frau von Stael im Kampfe mit der pedantischen
Kleinmoral einer heuchlerischen Gesellschaft. Constant
seinerseits hat seine unschöne Rolle und Desertion im
„Adolphe" zu rechtfertigen gesucht. Wie Frau von Stael
in jenem ersten Eomane ihren-Ejrieg führte, möge eine
kleine Episode desselben veranschaulichen.
Delphine d'Abemar befindet sich im Vorzimmer
der Königin und erwartet mit anderen Damen deren
Erscheinen. Lassen wir aber Delphine selbst berichten.
„Während die zahlreiche Gesellschaft auf die Kö-
nigin harrte, gesellte sich ganz unerwartet Madame
R . • . zu uns, eine Dame , die theils durch wirkliche
Fehltritte, theils durch unbegreifliche Unvorsichtig-
keiten ihren guten Ruf verscherzt hatte, die ich aber
zugleich als ein sanftes und herzgutes Wesen kannte.
Kaum hatte diese Dame auf einem Fauteipl sich nieder-
gelassen, als die zwei Zunächstsitzenden aufstanden und
.Andere, die ihre angeborene Rohheit unter dem Au^-
' ^^hängeschild der Tugend zu befriedigen gewohnt sind,
/. folgten; denn diesen Frauen geht ja nichts über' die
' scharfen Executionen! Nicht lange, so schlössen sich
auch die Männer dem jähen Rückzüge an; diese be-
anspruchen ja das doppelte Recht, eine Frau erst zu
Falle zu bringen und die Gefallene hinterher dafür zu
züchtigen. Was Madame R . . . betriffib, so vermochte
sie ihre Verwirrung nicht zu verbergen. Jeden Augen-
blick konnte die Königin hereintreten, und dann musste
die Scene zu einer wahrhaft' grausamen werden. Die
Augen der armen Frau füllten sich mit Thränen, sie
— 191 —
warf mir einen flehenden Blick zu. Auf die Gefahr
hin, meinem Bräutigam zu missfallen, fasste ich ein
Herz, durchschritt entschlossen den Saal und setzte mich
neben die Verlassene. „Ja", sagte ich bei mir selbst,
„weil heute abermals die Sitte dem Zuge des Herzens
sich entgegenstemmt, so möge sie ihm auch heute ge-
opfert werden".
Dass in Staels Romanen, wie später in denjenigen
der George Sand, den Männern fast durchweg die feige,
schwache oder unbedeutende Rolle zu Theil wird, ist
in der Grundstimmung dieser Emancipationslitteratur zu
sehr begründet, um uns zu überraschen oder einer Er-
klärung zu bedürfen. Von demselben Standpuncte aus-
gehend, hat in neuerer Zeit Cherbuliez' geistreiche
Satire auf das Altgenferthum (Paule M6re) den Hel-
den als Schwächling gezeichnet und ihn mit seiner
eigenen Feigheit gestraft. „Warum konnte dein Herz
den Glauben nicht finden?" das sind die entscheiden-
den Worte, mit welchen die verläumdete Mere ihren
Zweifler in die liebelperen Regionen seiner steifleinernen
und correcten Gesellschaft zurückschickt.
So ist denn Frau von Stael's Polemik gegen Hart-
herzigkeiten der Gesellschaft im Grunde nichts anderes
als ein Kampf der grossen gegen die kleine Moral,
des Gesinnungsadels gegen die heuchlerische Pedanterie
der Convenienz. Stael hat den sittlichen Boden nie
verlassen, nie das Institut der Ehe selbst befehdet.
Im Gegentheil; sie sagt es ausdrücklich: Das wahre
Glück der Liebe ist nur in einer glücklich combinirten
Ehe zu finden, jedes andere Verhältniss ein kurzer
Wahn, dem lange Reue folgen muss.
— 192 —
^^3^^® gestaltet sich nun der Kampf gegen die Ge-
sellschaftsmoral bei George Sand? Ein Blick auf
ihre Jugend berechtigt von vornherein zu dem Schlüsse,
dass dieser hier ein anderer gewesen sein wird. Keine
calvinistische Erziehung, keine mütterliche Strenge,
keine väterliche Weisheit hatte das wilde Naturkind
an die Ehrfurcht vor dem sittlichen Gebote gewöhnt.
Ein leichtsinniger Vater, eine unwissende Mutter und
eine frivole Grossmutter, das waren die einzigen Führer
ihrer Jugend. Diese schloss mit einer Convenienz-
heirath, zu welcher das leidenschaftliche Mädchen kein
höheres Motiv trieb, als das doppelte Verlangen, sich
zu verändern und die unerträgliche Mutter loszuwerden.
Bittere Enttäuchung war auch hier die unausbleibliche
Folge. Das öde Gattenleben, das einförmige Schloss-
leben, die abstossende Umgebung weinliebender und
bornirter Krautjunker, der Besuch eines schönen und
geistreichen Pariser Studenten (Jules Sandeau), das
dunkle Drängen ihres erwachenden Genius, das Be-
dürfniss freierer Luft, alles führt sie unwidersteh-
lich jener Strömung zu, welche ihr Lebenselement zu
werden bestimmt war.
Sie lässt sich mit Sandeau in Paris nieder, schreibt
zwei Romane und ist mit einem Schlage eine Berühmt-
heit. Wie Frau von Stael legt die fast dreissigjährige
Frau ihre Krankengeschichte in ihren Büchern nieder,
erzählt sie in jener Sprache, deren Geheimniss sie
allein besass, mit einer leidenschaftlichen Gluth und
einer Exaltation, wie sie einer Epoche behagen mussten,
die keine Extravaganz und keine Blasphemie unver-
sucht gelassen hat. Man darf sich in der That di^
— 193 —
Frage vorlegen, wieviel von Sand's zwischen 1830 und
1837 verfassten Romanen auf Bechnung der Zeit zu
setzen sei. Fällt doch diese erste und wilde Periode
ihres dichterischen Schaffens genau mit der wildesten
Periode der französischen Litteratur im neunzehnten
Jahrhundert zusammen. Der Saint-Simonismus, der üher
den Rhein eingedrungene Pantheismus, das Evangelium
von der Emancipation des Fleisches hatte die besten
Köpfe verdreht, und Roman und Drama wetteiferten
in den ausgelassensten Schöpfungen. Eine neuere Bio-
graphie Sand's (Katscher in zwei Artikeln von „Unsere
Zeit") behauptet, sie hätte das Institut der Ehe als
solches eigentlich niemals angegriffen und belegt diese
Behauptung mit einer Stelle, in welcher Sand die freie
Ehe als eine TJnsittlichkeit und die Eindämmung der
sinnlichen Lust als die einzige Basis der Glückselig-
keit bezeichnet. Jene Stelle nun, unter dem Einflüsse
Lamennais' 1837 geschrieben, beweist weiter nichts als
eine Rückkehr zur Vernunft; sie ist der Markstein,
welcher Sand's Saint - Simonistische Verirrungen ab-
grenzt, deren Documente übrigens allzu zahlreich vor-
liegen, um uns im Zweifel über ihre früheren Ansichten
zu lassenTTNirgends sind diese letzteren systematischer
ausgesprochen, als in „Jacques", dem Romane von 1834.
Jacques ist das Ideal des Ehemannes nach Saudi-
scher Anschauung. Schon vor der Trauung schreibt
er an seine Geliebte: „Nicht von der Liebe, sondern
von der Ehe habe ich heute mit dir zu reden. Denn
die Liebe ist eine Sache für sich, die, unter uns gesagt,
mit Eid und Gesetz nicht das Geringste zu schaffen
hat. Indessen muss doch alles vorgesehen werden. Die
H. B. 13 .
— 194 —
Liebe kann erlöschen, die blosse Freundschaft uns zur
Qual werden. Die Gesellschaft wird dir einen Schwur
dictiren. Du hast zu schwören, dass du auf alle Zeit
hinaus mir treu und gehorsam zu verbleiben, mit an-
deren Worten nur mich zu lieben und mir in allen
Dingen zu gehorchen gedenkst. Der eine dieser Schwüre
ist ein Unsinn, der andere eine Gemeinheit. Indessen,
Fernande, sprich nur zuversichtlich jene Formel nach,
ohne welche weder deine Mutter noch die Gesellschaft
dir gestatten würde, die Meinige zu werden. Meiner-
seits werde ich dasselbe thun. Aber meinem Eide reihe
ich noch einen anderen an: Wenn du mich einst zu
alt für dich findest, so halte dich an meine väterliche
Freundschaft, und sollte auch diese nicht genügen, —
dann bist du frei, ich werde mich entfernen!"
Fernande setzt diesem himmlischen Ehemann him-
melhohe Hörner auf, und dieser wahre Jakob des Ehe-
standes greift abermals zur Feder und schreibt:
„Noch immer bin ich derselben Ansicht. Mit der
Gesellschaft habe ich mich auch heute noch nicht aus-
gesöhnt, auch heute noch betrachte ich die Ehe
als die verhassteste aller Einrichtungen. Ich
zweifle keinen Augenblick, sie wird abgeschafft werden,
sobald die Menschheit der Vernunft und der Gerechtig-
keit um einige Schritte näher gerückt sein wird. Dann
wird ein menschliches, nicht weniger heiliges Band das
bisherige ersetzen, und eine neue Gesellschaft wird für
die Kinder sorgen, die ein Mann und eine Frau erzeugt
haben, welchen ein längeres Zusammenleben zur Qual
geworden ist."
Jaccjues bleibt dabei nicht stehen; uni seiner ge
— 195 —
liebten Gattin den Weg in die Arme eines Anderen
zu erleichtern, jagt er sich eine Kugel durch den Kopf
und seine letzten Worte sind herzliche Segenswünsche
für die kommenden Honigwochen des neuen Paares:
„Fluche den Liebenden nicht, die aus meinem Tode
Vortheil ziehen. Sie sind nicht schuldig, sie lieben sich,
und wo immer ehrliche Liebe waltet, kann von Sünde
keine Rede sein^*.
Das ist die negative Seite der Saudischen Ehe-
romane. Ihre positive Seite schildert die Liebe als
den mächtigen Dämon, der uns AUe knechtet und nach
seiner Laune mit uns schaltet. Nirgends ist dieser
Gedanke schärfer ausgesprochen, als in der Geschichte
des venetianischen Spielers Leone Leoni (1836).
Wie bei Schopenhauer ist in Sand's Romanen Eros
der Gewaltige, „der die Gedanken des jüngeren Ge-
schlechtes fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte
Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die
wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen Einfluss er-
langt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde
unterbricht, -^ mit seinem Plunder die Verhandlungen
der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten
stört, seine Liebesbriefchen und Haarlocken sogar in
ministerielle Portefeuilles und philosophische Manu-
ecripte einzuschieben versteht, täglich die verworrensten
Händel zettelt, die werthvoUsten Verhältnisse löst, die
festesten Bande zerreisst, Leben, Gesundheit, Reich-
thum, Ehre, Glück als Opfer heischt, den Redlichen
gewissenlos, den Treuen zum Verräther macht, dem-
nach auftritt, wie ein feindlicher Dämon, der Alles zu
yerkehren und zu verwirren bemüht ist. Gegen die
— 196 —
Wichtigkeit seiner grossen Angelegenheit sind diotAn-
gelegenheiten der Individuen sehr geringfügig. Daher
ist er stets bereit, diese zu opfern. Denn er verhält
sich zu ihnen, wie ein Unsterblicher zu Sterblichen.
Mit erhabener Ungestörtheit betreibt dieser Genius sein
Werk und geht ihm nach bis in die Abgeschiedenheit
des Klosters". Es liegt etwas Poetisches in diesem
Gedanken, und Sand hat ihn als grosse Dichterin zu
entwickeln und zu gestalten verstanden.
Es war nun möglich, mit der Gesellschaft Frieden
zu schliessen, auf die Anfeindung ihrer Einrichtungen
zu verzichten, ohne die dichterische Ausbeutung jener
reichen Ader aufzugeben. In der That mit Lamennais'
Einflüsse trat für Sand der Zeitpunct ein, wo sie jenen
Frieden suchte. Die oben berührten „Briefe an Marie"
(1837) sind die Urkunde des Friedensschlusses. Es
klingt wunderlich genug, wenn wir da die Worte lesen :
„Seltsamer Weg, die gesellschaftlichen Schäden
dadurch heilen zu woUen, dass man der Zuchtlosigkeit
alle Pforten öfinet. Nur das Verharren in der Sittlich-
keit kann den Menschen erhalten, nur der Sieg über
die sündliche Lust unser Glück begründen. Die Ver-
suche, emancipirter Frauen, das Lebensglück in Zügel-
losigkeit zu suchen, sind ganz verwerflich".
Mit dieser Erklärung kehrt Sand auf das Gebiet
zurück, das Frau von Stael nie verlassen hat. Beide
haben mit den Anschauungen ihrer Gesellschaft gehadert,
aber neben dem Zerstörungswerke Saud's erscheint die
Kriegführung Stael's als ein harmloser Kleinkrieg.
Sand's Saint - Simonistische Periode ist mit dem
Jahre 1837 überwunden, ihre socialistisch-demokratische
— 197 —
Thätigkeit aber dauert bis in die Mitte ihres langen
lind fruchtbaren Schriftstellerlebens.
Seit dem Decemberstreiche 1851 und unter dem
zweiten Kaiserreiche wendet sich ihr gereifter und ge-
läuterter Geist immer ausschliesslicher ihrem eigensten
Gebiete, der voraussetzungslosen Kunst zu, wenn sie
auch gelegentlich, wie in ihrem gegen Octave Feuillet's
orthodoxe „Sibylle" gerichteten Thesenromane „Made-
moiselle La Quintinie" (1863), die Theilnahme bekundet,
die sie den bewegenden Fragen der Zeit zu schenken
fortfährt.
Wenn wir nun diese letzte, längste und reichste
Periode ihrer unerschöpflichen Dichterspenden in's Auge
fassen, so wird die Parallele zwischen Sand und Stael
zu einer Aufzählung von Gegensätzen, denn eine sehr
verschieden angelegte Individualität ist hier und doit
der Träger jenes enthusiastischen Idealismus, dem beide
Frauen in gleicher Weise gehuldigt haben.
Vor allem ist die Welt, in der sich beide Frauen
bewegen, eine durchaus verschiedene. Für die Dichterin
der „Delphine" und der „Corinna" gibt es kein Lebens-
glück ausserhalb der Gesellschaft, für Sand
keinen Genuss ausserhalb des Verkehrs mit der
Natur.
Frau von Stael war die prädestinirte Salonkönigin,
Virtuosität in der Conversation , die hervorragendste
Gabe dieser hervorragenden Schriftstellerin. „Wenn
man ihre Bücher liest," so drückt sich einer ihrer
Freunde aus, „so glaubt man, sie schreibe gut; hat
man sie aber einmal sprechen hören, so findet man, sie
schreibe schlecht". Damit stimmt denn auch, was sie
— 198 —
selbst in ihrem Buche über Deutschland von der fran-
zösischen Conversation gesagt hat. „Anderswo ist das
gesprochene Wort nur ein Mittel, seine Gedanken kund-
zugehen, in Frankreich ist es ein Instrument, auf dem
man gern spielt". Niemand hat dieses Instrument besser
zu spielen verstanden, als die Urheberin dieser hübschen
Bemerkung. Ihren Büchern freilich gereichte jene ihre
glänzende Gabe eher zum Nachtheile; denn die Hast
ihres lebhaften Geistes, welche aus jedem ihrer Ge-
spräche ein blendendes Teuerwerk zu machen wusste,
lieh ihr beim Schreiben selten die nöthige Kühe, selten
jene Lust am Feilen, welcher nur das Beste gut genug
erscheint. So sind denn ihre Bücher im Ganzen mehr
gesprochen als geschrieben und zeigen stellenweise deut-
liche Spuren hastiger Improvisation. Niemand aber
wnsste besser als sie selbst, dass ihre ganze Ueber-
legenheit auf der lebendigen Rede beruhe. So allein
wird es begreiflich, dass sie vom grossen Schriftsteller
verlangen kann, er müsse zugleich ein grosser Zwischen-
redner (interlocuteur) sein, dass sie am reizenden Ge-
stade des Genfersee's sich fort und fort zurücksehnt
nach dem Pflaster und der GossenriBne der Eue du
Bac, dass sie nur in Paris sich glücklich fühlen konnte,
dass sie endlich in ihren Betrachtungen über die fran-
«
zösische Revolution nicht nur die ersten Revolutions-
jahre, sondern auch die verpönten Zeiten der
Directorialregierung für die schönsten Tage jener
grossen Epoche erklärt. Hatte sie doch eben nur in
jenen Zeitabschnitten, zwischen 1789 und 1792 einer-
seits und in den letzten fünf Jahren des Jahrhunderts
anderseits, das heissersehnte Glück des Pariser Salon-
!• ••
• •
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•-fc
— 199 —
lebens, erst als die gefeierte Tochter des grossen
Ministers, dann als eine Salonfürstin im grossen Stile
mit politischem Einflüsse, durchgekostet. Wir begreifen
nun auch, dass der Kaiser sie nicht empfindlicher strafen
konnte als durch die vollständige Entziehimg ihres
unentbehrlichen Lebenselementes, der gesellschaftlichen
Eeize der französischen Hauptstadt. Wir begreifen
endlich, dass ihre so ganz zur Herrschaft gelangte Nei-
gung den Sinn für Kunst und Natur in ihr verkümmern
liess, dass ihr das Reisen keine Freude, sondern eine
Qual schien, dass weder Italiens Kunstschätze, noch
dessen blauer Himmel sie glücklich und heiter stimmen
konnten, dass sie angesichts der Schweizer- und Savoyer-
alpen immer nur vom aristokratischen Saint-Germain
träumte.
Wundern wir uns deshalb nicht, wenn auch die
Schriftstellerin sich auf die Betrachtung der
Gresellschaft concentrirt, wenn die Einheit und der
Schwerpunct ihrer ganzen litterarischen Thätigkeit in
der Beschreibung dieser Gesellschaft zu
suchen ist. In der That, wollte man Frau von Stael
classiren, ihr im Fachwerke der französischen Litteratur
die richtige Stelle anweisen, so wäre sie derjenigen
Gruppe von. Schriftstellern zuzutheilen, welche die
Franzosen Moralisten nennen, ieji Montaigne, Pascal,
Larochefoucauld, La Bruyere und Lafontaine, den apho-
ristischen Beschreibern des Menschen und der Gesell-
schaft. Die deutsche Litteratur hat keine Gruppen von
Autoren aufzuweisen, die sich in ihr in ähnlicher Weise
als classische Genossen dieses Genres zusammenfinden
und von anderen Gattungen abheben, obwohl Lichten-
— 200 —
bei^, Göthe, Jean Paul und viele Neaere die Sache
selbst bei nns yertreten. Dies bangt, wie wir glauben,
mit der beiderseitigen GreseUscbaftsentwieklung zusam-
men. Denn die firanzösiscbe Moralistenlitteratur wie
das firanzösiscbe Lustspiel stebt mit der Entwickelung
und Disciplinirung der bauptstädtiscben Gresellscbaft im
engsten Zusammenbange. Frau von Stael nun bat die
Betrachtung dieser Gesellscbaft da angenommen, wo
das acbtzebnte Jabrbundert der grossen Revolution
anbeimfallt und das neunzehnte uns dieser gewaltigen
Katastropbe emportaucbt. Sie bat scbarfisinnig beob-
acbtet, empfindsam gescbildert, nur selten mit Ironie
vernichtet. Dass sie aber diese Waffe La Bruy^re's zu
bandbaben wusste, wenn es ibr einmal beikam, sie zu
braueben, das beweisen Stellen wie die unübertroffene
Scbilderung des kriecbenden Höflings Hendoza, Del-
pbine L, Capitel 10.
Frau von Stael ist eine feine Beobacbterin . eine
originelle Denkerin, aber ebenso sebr eine Leserin.
Nebst der Gresellscbaft, nebst dem Umgänge mit be-
deutenden Männern verdankt sie ibren Studien und
ihrer Bibliotbek die volle Entfaltung und das ansebn-
licbe Wissen ibres bocbbegabten Greistes. Die Disciplin
der Gesellscbaft und diejenige der Studirstube bat sie
zu dem gemacbt, was sie als ScbriftsteUerin geworden.
Dies wird ibrem Beurtbeiler erst dann so recht ver-
gegenwärtigt, wenn er das in's Auge fasst, was ihr
gefeblt bat. So spielt vor allem die P baut asie bei
ibr eine sebr untergeordnete KoUe. Der Verstand bat
dieselbe entscbieden überwucbert. Stael ist weder eine
diebteriscb, nocb eine künstleriscb angelegte Katur,
— 201 —
ihre Erfindungsgabe ist ebenso unbedeutend, als ihre
Beobachtungsgabe hochbedeutend war. Stael ist sodann
mehr enthusiastisch - empfindsam als leidenschaftlich
durchglüht, und desshalb zeigt auch ihre Sprache weit
mehr Rhetorik als inneres Feuer. Ihr Pathos ist ein
discipHnirtes und auch im Affecte vergisst sie niemals
die strenge Schule der calvinistischen Erziehung und
des guten Tones. V^on allen Seiten erscheint ihre
ursprüngliche Natur durch pädagogische, litterarische,
gesellschaftliche Einflüsse ein- und zurückgedämmt, ihr
Temperament gezügelt und gemildert, und so ist sie
im strengen Sinne des Wortes ein Kunstproduct der
Bildung. Das spiegelt sich auch in ihrem politischen
und socialen Denken. Ihr aristokratischer Liberalismus,
dürstet nach Freiheit, aber das demokratische Ele-
ment, der nivellirenden Gleichheit ist ihr durchaus
und immer fremd geblieben.
Wie ganz verschieden nun ist George Sand in
ihrem schriftstellerischen Thun und Lassen! Ein wildes
Kind der Liebe, wächst sie auf im freien Verkehre
und im ungehemmten Zusammenleben mit ihrem Genius
und mit der Natur. Tiefe Leidenschaften walten in
ihrem Busen, und eine mächtige Phantasie ist ihre
Lust zugleich und ilne Qual. Sie ist im vollsten Sinne
des Wortes zur Künstlerin und zur Dichterin
geboren. Ihre einzige Sprache, ihr tiefes Verständniss
der landschaftlichen Schönheit bekundet die eine, Er-
findungsgabe, Gestaltungskraft und das harmonische
Ebenmass von Idealismus und Realismus die andere.
Ihre Phantasie überwuchert den Verstand,
beeinträchtigt dessen Entwickelung , verurtheilt ihn
— 202 —
auch in den Jahren ihrer Reife zu der zweiten Rolle.
Von ihren frühen. Studien hat sie selbst bezeichnend
gesagt: sie hätte ihre Autoren mehr mit dem Herzen
als mit dem Kopfe gelesen. In den Leistungen ihrer
ersten Periode sind die Sünt-Simonistischen Digres-
sionen auch vom logischen Standpuncte aus das Bedenk-
lichste jener bedenklichen Bücher; die Geschwätzig-
keit und Declamation ihrer Ausführungen vermag
auch dem blödesten Auge die Blossen und Gebrechen
des Raisonnements nicht zu verhüllen. Man fühlt es
sofort: hier ist Sand nicht in ihrem Elemente, im Reiche
der Phantasie, im romantischen Lande der Kunst und
Poesie.
Zur Gesellschaft, besonders zu ihrem conven-
tioneilen Typus, zur Pariser Salonwelt, hat sich Sand
ihr Leben lang ablehnend verhalten. Sie besass nichts
von dem, was die Franzosen mit dem Worte „Esprit"
bezeichnen, jenem spielenden, epigrammatischen, streit-
baren Witze der Conversation , die dem lebendigen
Worte die Würze und dem schlagenden Gedanken die
Schwingen leiht. In Kreisen, die nicht ihre eigensten
und engsten waren, bewegte sie sich still, ohne den
Wunsch, sich mitzutheilen oder eine Rolle zu spielen.
Ebenso wenig quälte sie jenes unersättliche L ese -
bedürfniss, das sich receptivam Geistesleben Anderer
weidet und ohne Bücher keine Lebensfreude kennt.
Feld und Wald, Vögel und Hunde waren für sie eine
weit unentbehrlichere Gesellschaft als Bücher und Men-
schen. Und da unter letzteren das Volk der Natur
um vieles näher steht als die gebildeten, vornehmen
und reichen Classen, so fühlte Sand für Bauern, Hand-
— 203 —
werker und Arbeiter grössere Theilnahme als für Lit-
teraten, Barone und Millionäre. Ihr Gleichlieits-
sinn, dem sie durch's ganze Leben getreu blieb,
hängt mit ihrer instinctiven KaturUebe zusammen, wie
denn überhaupt ihr ganzes wunderbares Schaffen weit
mehr auf Listinct als auf Reflexion und Kunstfertig-
keit beruht.
Die Gr estalten, die sie geschaffen, wurzeln wie
bei Shakespeare mehr im Gemüth, mehr in der Phan-
tasie des Dichters, als in der Wirklichkeit des Lebens:
weshalb sie denn auch meist, wie dies ja auch in Shake-
speare's Lustspielen der Fall ist, idealisirte, d. h. dich-
terisch verklärte, zuweilen phantastisch entfernte Re-
flexe der realen Erscheinungswelt bieten.
SelbstdasCompositionsverfahrenSand's war
ganz verschieden von demjenigen Stagl's. Diese machte
ihren Plan, entwarf ihre erste Skizze, führte diese zum
erweiterten, vertieften endgültigen Bilde aus. Sand
ging auch hier mit dem Listincte des Genie's vor, sie
schrieb ihre Romane wie Scott die seinigen, wie Shake-
speare seine Dramen geschrieben haben mag. Was ihr
beim Revidiren nicht gefiel, das wurde zerrissen und
der Plan entwickelte sich mit der Ausführung.
Fassen wir zusammen. Stael scheint uns ein
Talent, Sand ein Genie, jene ein vollendetes Kunst-
werk moderner Bildung, diese ein Meisterstück der
Natur zu sein. Reflexion ist die Grundkraft der Einen,
der schaffende und schöpferische Trieb diejenige der An-
dern. Als Dichterin verkehrt die Eine mit der Natur,
als beobachtende Denkerin die Andere mit der Gesell-
schaft. Beide sind Amazonen, aber Sand in ihrer ent-
— 204 —
schlossenen Haltung gegenüber den bewegenden Fragen
der Zeit strebt mehr nach Freiheit als nach Sitte,
nähert sich mehr als Stael der Anschauungssphäre
des starken Greschlechtes.
Die Werke beider Frauen darf die Nachwelt als
culturgeschichtliche Monumente betrachten. Frau von
Stael entrollt ihr die Gesellschafts weit von 1800, Sand
ein Stück der Ideengeschichte jenes Geistes, den man
den „Geist der Zeiten" nennt.
Edmondo De Amicis.
IS war im Frühjahr 1867, als die in Florenz
erscheinende „Italia militare" eine Beihe von Skizzen
(Bozzetti) aus dem italienischen Soldatenleben brachte,
welche die Aufmerksamkeit nicht nur der militärischen,
sondern der gebüdeten Kreise überhaupt in hohem Grade
fesselten. Sie waren aus der Feder eines soeben mit
der ßedaction jener Zeitung betrauten einundzwanzig-
jährigen Infanterieofficiers, Namens De Amicis, geflossen.
Die Eeinheit und Mannigfaltigkeit ihrer hinreissenden
Sprache liess auf einen Toscaner schliessen; aber man
vernahm, dass der Verfasser jener Bilder Norditalien
entstamme, im Jahre 1846 in dem ligurischen Hafen-
städtchen Oneglia, der Heimat Andrea Doria's, geboren
sei. Der Vater, ein Genueser, hatte daselbst ein Amt
verwaltet, und seine Versetzung nach Cuneo (^Coni) bot
dem zweijährigen Edmondo Gelegenheit zur ersten
seiner vielen Keisen. Cuneo, durch die abenteuerliche
Geschichte seiner Belagerungen nicht weniger berühmt
als durch die classischen Eigenschaften seiner Castanien,
liegt malerisch an der früher so besuchten Bergstrasse,
die über den Col di Tenda von Turin nach Nizza
führt. Hier sammelte der aufgeweckte Knabe seiuQ
— 206 —
ersten Eindrücke und träumte die ersten Träume seiner
Phantasie. Der Vater, ein gebildeter, für das Schöne
empfanglicher Mann, liess sich die Erziehung seiner
vier Sander ernstlich angelegen sein, aber es war ihm
nicht beschieden, den Segen seiner Arbeit zu gemessen.
Sein früher Tod überband der trefflichen Mutter die
schwere Sorge, das Begonnene fortzuführen und zu
vollenden. Edmondo bestimmte sich zur Soldatenlauf-
bahn. Nachdem er sein Collegio absolvirt, trat er 1862
in eine Vorbejreitungsschule in Turin, um folgenden
Jahres den zweijährigen Curs des Cadetten-Institutes
in Modena zu beginnen.
In einem sauber ausgeführten Abschnitte seiner
„Eicordi", betitelt „Adolescenza", hat uns De Amicis
jenen Gährungsprocess veranschaulicht, der das Kind
des Südens zwischen zehn und fünfzehn Jahren so rasch
zum Manne entmckelt. Aber auch die äusseren Er-
lebnisse seines Turiner Präparandenjahres werden uns
in einem gelungenen Capitel der „Pagine sparse" an-
muthig erzählt.
„Ich war jetzt sechszehn Jahre alt und versuchte
mich ab und zu im Versemachen. Eine meiner Poesien
feierte die Polenerhebung des Frühjahres 1863. Ich
schrieb sie bei Wasser und Bröd im finsteren Arrest-
zimmer unserer Schule, verfluchte in meinen radikalen
Strophen nicht nur den russischen Kaiser, sondern auch
den Papst und fügte eine phantastische Schilderung
der Insel Caprera ein, welcher ich die schönsten Sonnen-
strahlen und eine ständige Engelwache schenkte. Meine
Cameraden waren entzückt, sie Hessen mein Gedicht
auf allgemeine Kosteji dyi^cken^ und mein Nachbar airf
— 207 —
der Schulbank sprach das feierliche Wort : „Dein Canto
wird nicht imtergehn !" Ich erwiderte nicht minder feier-
lich: „Das lasst uns hoffen^^ Der Foetenkamm schwoll
mir nachgerade so gewaltig, dass ich eines schönen
Morgens meinen unvergänglichen Canto mit einem Be-
gleitschreiben der Post übergab : Beides an die Adresse
des Herrn Alessandro Manzoni in Mailand.
Wochen vergingen und keine Antwort langte ein.
Eines Morgens, als ich eben am Barren turnte, rief
man mich zum Director, der mir einen Brief mit dem
Poststempel Mailand einhändigte. loh öfl&iete und sah
die Unterschrift: Manzoni. Das war für die ganze Schule
ein Ereigniss. Unser Professor der italienischen Littera-
tur las Manzoni^s Brief der versammelten Classe vor,
ich aber las ihn wohl hundertmal im Tage, sagte ihn
auswendig her, träumte Nachts, dass er mir gestohlen
worden. Bei Tische ass ich wenig, in der Classe trug
ich eine schmachtend-inspirirte Poetenmiene zur Schau,
spendete zu Hause meinen Schwestern ein herablassend-
gnädiges Lächeln, um sie darüber zu beruhigen, dass
ihnen die Blutverwandtschaft nicht gekündigt sei.
Manzoni's Brief schloss mit den Worten:
„In meinem kleinen Garten blüht gegenwärtig ein
junger Grranatbaum. Seine kräftige und muntere Jugend
kündet reiche und ausgesuchte Früchte an".
Wie nur Anzeichen und Aussichten täuschen können !
Wenn ich einige Gelegenheitsreimereien abrechne, so
habe ich seit jenem Jahre auch nicht ein Gedicht ge-
schrieben, ja nicht einmal eine Versuchung zum Dichten
erlebt. Hätte ich mir das in jenen Tagen träumen
lassen, als mir ein Prosaiker kaum wie ein Mensch
— 208 —
vorkam , und ich von den Fromessi Sposi zu sagen
pflegte: „Wenn sie erst in Octaven geschrieben wären!"
Manzoni^s Eoman war in der That neben der leiden-
schaftlichen Liebe zu seiner Mutter De Amicis' grosse
Jugendpassion. In einem an letztere gerichteten Briefe
vom 17. September 1865 lässt er sich über das Buch,
das seinen Geschmack und seinen Stil vor allen andern
gebildet zu haben scheint, also vernehmen:
„Eine andere bemerkenswerthe Erscheinung, die
im Gefolge eines Feldzuges sich einzustellen pflegt,
ist die neuerwachende allgemeine Leselust. Dieselbe
sucht sogar Diejenigen heim, welche sonst weder Nei-
gung noch Bildung zum Lesen treibt. Hier im Lager
bemüht sich ein Jeder, irgend ein Buch oder ein Büch-
lein zu erhaschen, und der Pfarrer des nahen Dorfes
hat alle Bände seiner Bibliothek in Umlauf setzen
müssen. Du hast mir oft gesagt, ich übertreibe Alles.
In diesenPFalle hast du nicht ganz Unrecht; denn bei
mir hat sich jene Leselust zum Lesehunger ent-
wickelt. Indess ich bleibe meinem alten Streben treu.
Meine ganze freie Zeit vergeht mit Lesen, Wiederlesen,
Durchstudiren und Durchwühlen des theuren, des herr-
lichen, des heiligen Buches, der Promessi Sposi,
meines unzertrennlichen Begleiters und Freundes, der
mir so manchen Genuss, so manchen Trost, vor Allem
aber die süsse, unentwegte Ruhe des Gemüthes schafft,
in welcher jede Leidenschaft sich reinigt, jeder Ge-
danke sich hebt, Welt und Menschen uns schöner und
besser erscheinen. Ich weiss nicht, wie es zugeht, aber
mein Land, mein Regiment und dich und meine Freunde,
alles vermag ich besser und edle? zu lieben, wenn ich
— 209 —
dieses Evangelium der Litteratur beherzige. Keine
Seite, an der nicht eine Erinnerung unserer ersten
Lesestunden haftete, jener süssen Stunde, da das .Buch
auf deinen Knieen ruhte, — ich las, du zuhörtest und
meine Thränen dir auf die Hände stürzten, bei gewissen
Stellen das Buch sich wie von selber schloss und wir
uns dann umklammerten ! Heute drücke ich das theure
Buch an meine Brust und sage ihm: „Bei allen Thränen,
die du mir und meiner Mutter gekostet, bei jeder guten
Regung, die di^ in mir geweckt und wach erhalten,
schwör' ich dir, dass wie du mein erstes Buch ge-
wesen, du auch mein letztes bleiben sollst!" „Cer-
cherö te, sempre te, libro-paradiso!"
Begleiten wir den schwärmenden Jüngling nach
Modena in die Cadettenschule. Wir treffen ihn dort
vom November 1863 bis Ende Juli 1865. Er hat uns
in dem „Schulcameraden", dem einleitenden Capitel
seiner Novellen die Eindrücke geschildert , die seinen
Eintritt in jenes Institut begleiteten. Wir lassen ihn
wiederum selbst reden.
„Es ist ein prächtiger, alterthümlicher Eürsten-
palast, bevölkert mit fünfhundert Zöglingen aus allen
Regionen Italiens. Alle Typen und alle Accente des
Landes sind da vertreten : Hier das braune Gesicht und
die schwarzglühenden Augen des Sicilianers, dort die
blonden Locken und die blauen Augen des Norditalieners,
die leidenschaftliche Geste des Neapolitaners neben
dem silberhellen Gezwitscher des Toscaney s, dem zun-
genfertigen Geplauder des Venetiers, — kurz ein Volk
aus aUen Himmelsgegenden und aus allen Classen:
Der Sohn des Herzogs, des Generals und des Senators
H. B. 14
— 210 —
neben demjenigen des Krämers und des Beamten, —
ein bantes, wunderliches Zusammenleben, das zugleich
an die Schule, ans Erlöster und an die Gaserne erinnert.
Noch lebhaft steht mir der erste Kummer meines
Soldatenlebens vor der Seele. Voll von kriegerischer
Poesie war ich in die Cadettenschule getreten und diese
gehobene Stimmung behauptete noch ihre Höhe, als
unsere Compagnie ihre Mützen in Empfang zu nehmen
beordert wurde. Alle fanden, was ihrem Kopfe passte,
mir allein waren alle vorgelegten MützeQcaliber zu klein.
Der Hauptmann wandte sich ärgerlich zu mir und sagte :
„S^ist doch curios, nicht wahr, dass man Ihres
dicken -Kopfes wegen das Magazin wieder aufmachen
muss!" Und dann nach einer Pause brummte er mich
nochmals an: „Testone!"
Gott im Himmel! Wie das auf meine Stimmung
drückte! „So ist das Soldatenleben?" sagte ich zähne-
knirschend zu mir selbst. „Das halt ich nimmer aus!
Im Traume nicht! Lieber betteln, lieber sterben!"
Es war dies nicht die letzte meiner Prüfungen. Ich
sehe mich heute noch in einer engen Arrestzelle, hoch
oben im fünften Stocke, bei Wasser und Brod, auf
neun Tage Gefangener, Silvio Pellico's Marterbild vor
meiner Phantasie, — und warum? . — Weil ich im Namen
meiner Cameraden an unsern Professor der Chemie eine
öffentUche Dankrede gehalten und mich dadurch gegen
den Paragraphen des Reglements vergangen hatte, der
uns ausdrücyich die öffentlichen Eeden verbot. Der
Major benutzte die Gelegenheit, um mich vor den heil-
losen Streichen der Phantasie zu warnen: er hatte
nämlich munkeln hören, dass ich ein Stück von einem
— 211 —
Dichter sei, und er schloss seine Predigt mit den Worten :
„Die Poesie, mein Herr, hat noch nie was Anderes
als Dummheiten gestiftet. (La poesia non ha mai fatto
fare che bestialitä)".
De Amicis war indess ein Musterzögling seiner
Schule, es fiel ihm niemals ein, sich als verkannte^
Genie oder als deplacirtes Talent geriren zu wollen,
und seine mathematischen Aufgaben löste er, wie sie
ein Berufsjünger der „Letteratura amena" wohl selten
gelöst hat. Endlich kam der ersehnte Juli 1865 und
brachte ihm die Officiersepauletten und für einige Wo-
chen die süsse Freiheit. Er eilte in die Arme der
Mutter nach Turin, verliess sie aber bald wieder, um
den Winter über in Sicilien zu garnisoniren. Der Früh-
ling des folgenden, für Italien so ereignissreichen Jahres
fand ihn abermals in Turin, als Officier des dritten
Infanterieregimentes, Division Cugia. Mit welcher Span-
nung er den Abmarsch seiner Truppe gegen die Oester-
reicher erwartete, hat er seinen Lesern in dem Bozzetto
„Aufbruch, Feldzug und Heimkehr" geschildert. Eine
Episode der Schlacht von Gustozza erzählt der Abschnitt
„Quel Giomo". —
Die Heimkehr war, maü weiss es, keine frohe.
Unser Soldat suchte sich mit litterarischen Genüssen
und Erinnerungen zu trösten.
„Wir lagen in Pavia", so erzählt er in den „Pa-
gine sparse", als ich auf den Gedanken kam, Vater
Manzoni zu besuchen. Der „junge Granatbaum" sollte
mir als Einführer dienen. An einem schönen Sonntag
Morgen langte ich, mit meinem Briefe bewaffnet , in
Mailand an.
— 212 —
„Wo wohnt Manzoni?" war die erste Frage, die
ich an den Kelbier meines Hotels richtete.
„Manzoni der Möbelhändler ?" fragte Dieser seiner-
seits.
„Der Graf, der Senator, der Schritsteller Manzoni !"
versetzte ich im Brusttone der Entrüstung.
„Entschuldigen Sie! Der Senator Manzoni wohnt
Piazza Belgiojoso".
Als der ehrwürdige Greis ihm entgegentrat, da
• konnte sich der erregbare junge Mann nicht länger
fassen. „Ich, über dessen unversiegbaren Thränejibom
so Mancher zu spotten sich erlaubt hat, lang wie ein
Grenadier, den klirrenden Säbel an der Seite und die
pompösen Epauletten auf der Schulter,- ich fasste den
Alten bei den Händen und brach — ich will es nur
gestehen — in heftiges und lautes Schluchzen aus".
Manzoni war redselig, entKess die Niederlage von
Custozza mit der lateinischen Pointe : „Fracta virtus !"
und nannte seine berühmte Ode auf den Tod Napo-
leons (H cinque Maggie) „ein Gemisch von Latinismen
und GaUicismen, dessen glänzendes Geschick vorauszu-
sehen er selber weit entfernt gewesen sei".
Der beglückte Lieutenant verliess Manzoni nach
einigen selig verlebten Stunden und fand, dass Mailand
die schönste Stadt in dieser Welt sei.
Den folgenden Winter brachte De Amicis im Schoosse
seiner Familie mit der Redaction seiner Bilder aus dem
Soldatenleben zu. Ein Buch schreiben war für den
zwanzigjährigen Lieutenant eine harte Arbeit; die
periodischen Entmuthigungen , die Kämpfe mit der
wachsenden Unlust, den endlichen Sieg des festen Wil-
— 213 —
lens und die glückliche Vollendung seines Manuscriptes
hat er uns mit gewohnter Offenheit in den „Schlachten
am Arheitstische" (in : Pagine sparse) beschrieben.
Im Frühjahre 1867 übernahm De Amicis, wie wir
im Eingange bemerkt haben, die Eedaction der „Italia
militare" in Florenz. Seine einfache und arbeitsame
florentiner Existenz behandeln abermals zwei Abschnitte
der Pagine sparse. Nun wagten sich seine ersten Boz-
zetti an*s Licht der OeffentUchkeit. Als Buch erschienen
dieselben erst bei Treves in Mailand (1868), dann bei
Lemonnier in Florenz, bei letzterem endlich auch in
einem für die» italienischen Militärschulen bestimmten
Auszuge. Die Dedication des Buches ist eine Huldi-
gung der Pietät: „Meiner Mutter, Teresa Busseti-De
Amicis , widme ich dies Buch , tief bedauernd , ihren
theuren Namen nicht einem Werke vorsetzen zu können,
das gut ist wie ihr Herz, edel wie ihre Tugend und
fromm wie ihr Leben". Diese Widmung dürfte uns
sonderbar erscheinen, hätten nicht zarte Empfindung
und Herzensgüte im Buche selbst eine so hervorragende
Stelle gefunden.
lieber die Tendenz des Autors lässt die lakonische
Vorrede uns nicht im Zweifel: „Ein Mann aus dem
Volke meinte : Als ich diese Bilder aus dem Soldaten-
leben durchgelesen, hätte ich dem ersten besten Sol-
daten die Hand drücken mögen. — Ein Soldat aber
sagte: Es sind Geschichten, die uns trösten und ein
Bischen guten Willen machen. — Wenn ich mit meinem
Buche erreiche, dass der Bürger den Soldaten achten,
der Soldat sein Handwerk lieben lernt, dann ist meine
Arbeit reich gelohnt und mein innigster Wunsch erfüllt".
— 214 —
Die Bilder, welche De Amicis entworfen hat, sind
sehr verschieden von denjenigen Hackländers und des
Franzosen Noriac. Ersterer hatte seine Soldaten-Novel-
len mit germanischem Humore gewürzt, xmd letzterer
setzt an die Stelle des Humors den französischen Esprit
und die „Gauloiserie". Noriac's „Hundert und erstes
Eegiment", der Massenerfolg des Jahres 1861, ist von
jener urkomischen und zugleich satirischen Ader durch-
zogen, die den Verfasser im Lustspiel, man möchte
sagen, zum natürlichen Mitarbeiter Ahout's machte.
Weder mit dem deutschen noch mit dem französischen
Schriftsteller hat nun De Amicis Stimmungsverwandt-
schaft, wohl aber lässt er sich mit einem älteren Fran-
zosen, dem Romantiker Alfred de Vigny, vergleichen,
dessen „Servitude et grandeur militaire (1833)" ganz
ebenso das Pflicht- und Ehrgefühl des Soldaten zu festigen
und die Armee in den Augen einer argwöhnischen und '
vorurtheilsvollen Bourgeoisie zu heben bemüht ist. Aber
die misanthropische Laune des hypochondrischen Grar-
den-Hauptmannes de Vigny kennt De Amicis nicht;
auch fällt es ihm nicht ein, von socialen Armee-
Beformen reden zu wollen; denn heute ist jene wilde
Traumwelt der Saint -Simonistischen Epoche ausge-
träumt, in welcher selbst der aristokratische Eoman-
tiker sich nicht enthalten konnte, seinen Novellen ein
sociales Projectchen als Schlussempfehlung auf den
Weg zu geben. — Ein sehr realistisch gehaltenes Ge-
genbild von De Amicis' idealisirter Soldatenwelt liefert
F a m b r i ' s Drama : „II Caporale della Settimana" , welches
1866 so viel Aufsehen machte, dass die Behörden von
Florenz die Auffährung untersagen zu müssen glaubten.
— 215 —
Wahrheit und Dichtung bilden den Inhalt von
De Amicis' Bildern und Erzählungen. Die Vorkomm-
nisse des Soldatenlebens; der Marsch in glühender
Sonnenhitze und bei mondloser, regnerischer Nacht,
die am zersprengten Marodeur geübte Gastfreundschaft,
ein Strassencravall, jene harte Greduldprobe des unter
dem Gewehre stehenden Sotdaten, die schlimmen Lehr-
tage des Recruten, die Schildwache, die Ordonnanz, das
Lagerleben, die glückliche Heimkehr, der Tod im Felde,
— das sind die bunten Bilder, die des Künstlers Pinsel
anmuthig und anschaulich ausmalt. Zu diesen mehr oder
weniger idealisirten Genrestudien gesellt sich ein histo-
risches Gemälde düsterer Art, in welchem keine mil-
dernde Dichtung die schreckliche Wahrheit verschleiert :
„Das italienische Heer während der Cholera 1867".
Schon in den ersten Monaten des genannten Jahres
waren zerstreute Cholerafalle in Sicilien vorgekommen;
vom Mai bis August aber wüthete die Seuche furchtbar
auf der ganzen Lisel und erst gegen Ende jenes Jahres
beschloss sie die lange Reihe ihrer Verwüstungen. Die
Garnisonscommandanten, namentlich General Medici in
Palermo, hatten rechtzeitig ihre Truppen vertheilt und
die Sanitätsmassregeln früherer Cholerajahre wieder in
KJraft gesetzt. Aber der einbrechende Feind fand drei
schlimme Bundesgenossen vor: Schrecken, Aberglauben
und Elend. Fast überall ergriffen Beamte und Notable
die Flucht, und die entlegenen einsamen Wohnungen
auf dem Lande füllten sich mit den reicheren, selbst
mit schwach bemittelten Stadtbewohnern. Ueberall
wurden die Verkaufslooale geschlossen und bald blieb
dem elenden Volke als Nahrung nichts als Pflanzen
— 216 —
und indische Feigen. Am Schlimmsten aber wirkte
der allgemein verbreitete Aberglaube, dass die Epi-
demie das Werk der Regierung und ihrer Beamten
sei. Jede von diesen entgegengebrachte Hilfe erschien
dem Volke ein hinterlistiger Versuch zu sein, das Gift
der Ansteckung noch weiter zu verbreiten. Ueberall
forschte die wüthende Menge nach den „Vergiftern"
und verübte fast täglich die schlimmsten Dinge an den
Opfern ihres Argwohns. Erkrankungen wurden ver-
heimlicht, um der Absonderung zu entrinnen, Leichen
wurden versteckt, um ihnen Zeit zu lassen, „wieder
zu sich zu kommen". Eäuber und Mörder benutzten
den panischen Schrecken der Beamten, um straflos
Alles zu versuchen. Unter solchen Verhältnissen konnte
das Heer allein noch Rettung schaffen. Aber welche
Aufgabe für den armen Soldaten! Man entsandte ihn
dahin, dorthin, um Häuser und Strassen zu reinigen,
Leichen herauszuholen und zu begraben. Kranke zu
pflegen, Briganti zu verfolgen, die wüthende Canaglia
im Zaume zu halten. Kehrte der Erschöpfte Abends in
die Caserne zurück , legte er sich endlich nieder , so
schreckte ihn vielleicht das Stöhnen eines neben ihm
erkrankten Cameraden oder das Toben des Strassen-
pöbels an dem Casernenthore wieder auf. Officiere und
Soldaten bewaffiaeten sich dann in aller Schnelligkeit,
eilten herunter auf die Strasse, um vielleicht die ganze
Nacht hindurch das Anstürmen eines von Hunger und
Aberglauben gepeinigten Haufens abzuwehren. Der
neue Tag brachte neue Sorgen. Es kam Befehl, eine
halbe Compagnie in ein entlegenes Dorf zu senden,
wo die Seuche soeben ausgebrochen war» Im Laufschritte
— 217 —
rennt die kleine Colonne durch die sengende Hitze
nach dem Orte ihrer Bestimmung. Schon in dessen
Umgebung stösst man auf zerstreut umherstehcQde
Möbel und herumirrende Familien. Erst müssen die
Männer eingefangen und zur Hülfeleistung gepresst
werden. Dann sind Schmutz und Leichen aus den
Strassen zu schaffen, ein Lazareth ist zu errichten.
In einer kleinen Ortschaft lenkt sich die Aufmerksam-
keit des commandirenden Officiers auf eine verschlossene
Kirche. Er schöpft Argwohn und lässt die Thüre
sprengen. Welch ein Anblick! Ein- Haufen faulender
Leichen thürmt sich in ihrem Inneren auf. Die Sol-
daten stossen ihre Gefangenen hinein, zwingen sie,
die Cadaver herauszuschleppen und sodann zu ver-
brennen. — Häuser, in denen es stille geworden, wer-
den durchforscht, sie enthalten nichts als verwesende
Leichen.
Doch zurück zu den heiteren Bildern unseres
Malers. Maler scheint uns in der That das rechte
Wort, um De Amicis' Bozzetti zu charakterisiren ; denn
diesmal wird die Erzählung Folie der Schilderung.
Wenn nun ein Buch, das seinem grossen Theile nach
beschreibt, durch die Beschreibung fesseln soll, so muss
der Schilderer zugleich das Auge und die Hand des
Künstlers besitzen. . Dies ist in der That hier der Fall.
De Amicis findet wirksame Motive, wo das blöde Auge
des Laien nichts zu entdecken vermag, und wie ein
gewiegter Landschaftsmaler versteht er es aus an-
scheinend inhaltslosen und undankbaren Vorwürfen eine
lebensvolle und farbenreiche Studie zu ziehen. Mit
einem Worte, er weiss künstlerisch zu gestalten. Als
— 218 —
einen Realisten möchten wir ihn damit indessen nicht
he2seichnet wissen. Seine Bilder sind im Gegentheile
alle ideaUsirt und ein gutherziger Optimismus durchzieht
jede seiner Schöpfungen. Selbst die paar eingestreuten
Novellen (Carmela. — Das ßegimentskind.) bewegen
sich in einer rosenfarbenen Traumwelt oder schwanken
doch hin und wieder zwischen Wachen und Träumen.
Es umgibt uns hier jene nämliche ruhige und heitere
Sphäre, welcher Göthes „Löwennovelle" und Heyse's
„Arrabiata" ihr Dasein verdanken.
Eine gewisse sentimentale Weichheit ist die Kehr-
seite von De Amicis' rosigem Optimismus. Die italie-
nische Kritik hat sie oft genug, mitunter auch hart genug
betont. Er selbst resumirt die in dieser ßichturg ihm
gewordenen Vorwürfe bei Gelegenheit seines Thränen-
ergusses in Manzoni's Empfangzimmer: „Freunde und
Nichtfreunde ! Wie oft und mit welchem Rechte habt
Ihr mir vorgehalten, dass mein Herz ein Schwamm,
meine Augen Thränenquellen und meine Soldaten Weib-
lein seien, dass. jede Zeile meines Buches eine Rinne
sei zum grossen Thränenmeere, in dem ich eines Tages
selbst ertrinken werde".
Diese Weichheit wird nur dadurch erträglich, dass
sie durchaus keine gemachte, sondern eine im
Wesen des Autors begründete ist. Was die
alte Pfälzerin Liselotte von ihrem Sohne, dem Regenten,
meinte, das lässt sich buchstäblich auf unseren zwanzig-
jährigen Signor Tenente anwenden. „Er ist ein guter
Bub und hat ein gut Gemüthe". Man lese beispiels-
weise nur, was De Amicis von der stummen Freund-
schaft seiner Ordonnaiwj im Felde berichtet, oder was
— 219 —
er unterm 10. Juli 1866 aus Parma schreibt: „Die
braven, guten Soldaten! Mich dünkt, ich liebe sie noch
mehr seit unserm Unglück. Sic sind doch stets dieselben,
stets ergeben und getreu. Auf dem Marsche, wenn sie
müde und gebeugt einherhinken , muss ich sie immer
wieder ansehen, und doch thut mir's im Herzen weh.
Spielen sie mir 'mal einen Streich, dann stelle ich mit
mir selber ein langes und subtiles Eaisonnement an,
um meinem Herzen zu beweisen, dass jetzt ein Wort
des Zornes und der Entrüstung am Platze sei. Dann
fang ich an zu poltern.
„Jetzt macht es kurz! So kann's nicht länger gehen.
Ein Heiliger würde bei Euch aus der Haut fahren.
Jetzt ....
Du Schwindler ! raunt mir hier eine innere Stimme
zu. Es ist dir ja durchaus nicht Ernst mit deinem grossen
Zorn!
S'ist richtig! antworte ich jener inneren Stimme,
und damit ist meine Predigt zu Ende. Aber der Ent-
schluss sei wenigstens gefasst, dass ich die verdammten
Kerls aus meinem Herzen entlasse, — oder allerwenig-
stens nicht merken lasse, dass sie noch drinnen sind.'
Sonst Adieu, stramme Zucht ! Lass sehen, ob sie mein
Herz von Stein erweichen können!
Und damit schreite ich, zum Voraus meines Sieges
sicher, mit einer Eisenfressermiene weiter.
Unterdess macht sich Einer an mich heran.
„Lieutenant, darf ich Ihren Mantel tragen?"
Nein! antwortete ich kurz und barsch.
Da kommt ein Anderer mit der Feldflasche,
„Lieutenant, sie ist frisch".
— 220 —
Kerl, ich brauche deine Flasche nicht. Zurück
in's Glied und auf der Stelle oder ....
Schwindler! wiederholt die innere Stimme, und
ich fühle mich abermals entwafl&iet".
De Amicis' Empfindsamkeit darf man als eine ge-
sunde betrachten, da sie einem guten, kindlich reinen
Herzen entspringt. De Amicis ist in der That im voll-
sten Sinne des Wortes eine „anima Candida", eine durch
und durch sittliche Natur. Die Liebe zur Pflicht, die
Liebe zu seiner Mutter und die Liebe zur Kinderwelt
sind die herrschenden Leidenschaften seiner Jugend
gewesen. Auch der reifere Mann hat keine Zeile ge-
schrieben, die gegen das „Sit reverentia pueris" sich
verginge.
So weisen De Amicis' Bozzetti den Stempel eines
liebenswürdigen und lauteren Charakters und die Origi-
nalität des Lihaltes wird von einem nicht gewöhnlichen
stilistischen Talente getragen. Die Sprache fliesst ihm
aus der Feder wie ein voller Strom, ungezwungen,
ungekünstelt, reich und durchsichtig zugleich. Mag
seine jugendliche Ueberschwänglichkeit auch hie und
da die Synonymen häufen und der Empfindung ein
Wort zu viel gewähren, — der entschuldbare Fehler
des zwanzigjährigen Autors wird durch das unerschöpf-
lich quellende Leben des Ausdrucks, durch den Schwung
seiner Diction, den emporsteigenden Vollsaft seines
Schriftstellerfrühlings reichlich gesühnt. Man fühlt es
beim Lesen, De Amicis hat sich an Manzoni's Sprache
gebildet, ein Stück von Manzoni's Schilderungslust und
Schilderungskunst geerbt; und einmal in der Schale
des grossen Meisters gekräftigt, hat er sich rasch zu
— 221 —
jener Höhe emporgeschwungen, die dem volksthümlichen
Schriftsteller allein gehört. Für Eingeborne und Aus-
länder sind die „Bozzetti della vita militare" das rechte
Buch, um das lebendige Italienisch, die Sprache der
Gegenwart kennen zu lernen und von dem strotzenden
Reichthume seines Phrasenschatzes sich einen Begriff
zu bilden. „Er schreibt, wie er spricht, und er erzählt,
wie er schreibt!" sagt einer von De Amicis' Freunden.
„Scrive ooUa penna in bocca", würde Azeglio sagen.
Der so feinfühlende und so lebhaft empfindende
junge Mann sollte indess die bittere Wirklichkeit und
die boshafte Welt bald genug kennen lernen. Er war
zu ehrlich und zu bescheiden, um jenes Selbstvertrauen
grosszuziehen, das jedem Angriffe gewachsen ist, und
die harten Urtheile seiner Tadler wirkten auf ihn wie
Keulenschläge. Im April 1867 erhielt er einen anonymen
Brief von Bergamo , der unter anderen feinen Dingen
seine Bozzetti ein läppisches Gewäsch nannte und ihm
den Eath ertheilte, seinen Stoff in der italienischen
Geschichte zu suchen: „Damit werde man dem Aus-
lande ganz anders imponiren". De Amicis nahm sich
die Sache so zu Herzen, dass er sich nachgerade über-
redete, die Belletristik sei nicht seine Sache, und dass
er über ein halbes Jahr nicht mehr zur Feder griff.
Die trübe Stimmung jener Tage hat er uns in den
„Entmuthigungen" seiner „Pagine sparse" geschildert.
Dort unterwirft er seine Leistungen einer bitteren
Selbstkritik :
„AUe seine Personen sind blutlose Schemen, welche
ein und dies.elbe RoUe declamiren und keine einzige
tritt auf, unter der nicht die Hand des Marionetten-
— 222 —
Spielers zum Vorschein käme. Drei Ideen in tausend
Farben, aber nicht mehr als drei Ideen. Ein verwässer-
ter Manzonismus, ohne muthiges Bejahen; ein ewiges
Hintaumeln zwischen Glauben imd Nichtglauben , ein
Zweifeln ohne den Muth, sich keck herauszuwagen, die
doppelte Furcht, das Hohnlachen der Ungläubigen und
das Missfallen frommer Mütter herauszufordern, ein be-
ständiges perfides Zielen nach dem Herzen, statt nach
dem Kopfe, und in der Sprache selbst die tiefe Ueber-
zeugung, dass das Conventionelle, die Pedanterie, die
grammatischen Bedenklichkeiten, der ganze untos-
canische Schablonenkram einen Fusstritt verdiene, —
anderseits wieder die Feigheit, alles das doch nicht zu
wagen aus Furcht vor jenen Gegnern des Manzoni'schen
Vorschlages, die zum Studium des Toscanischen weder
Lust noch Kraft verspüren".
Zur Orientirung sei hier daran erinnert, dass Man-
zoni den Vorschlag gemacht hatte, die Einheit der
italienischen Nationalsprache dadurch rasch herbeizu-
führen , dass alle Schulen Italiens toscanische Lehrer
erhielten.
Unterdessen kam der December heran und De Ami eis
brachte ein paar Ferienwochen in Mailand und Turin
zu. Vater Manzoni heilte seine heimliche Wunde mit
einer Aufzählung äUer ungezogenen Briefe, die er selbst
in seinem langen Leben von empörten Litteraten em-
pfangen hatte. In Turin aber erwartete den Frisch-
curirten eine neue Prüfung. Im Buche der „Bicordi"
hat er dieselbe in Gestalt eines launigen Culturbildes
verwerthet.
„Vor einiger Zeit", so lesen wir dort, „erklärte
— 223 —
einer unserer ersten Journalisten öfltentlich, er ziehe
die naiven Weiber, welche „bacio" mit Doppel-.o zu
schreiben pflegen, jenen Anderen vor, die sich zur
richtigen Schreibung bekennen, und die Ignorantinnen,
welche „Polonia" für einen Prauennamen halten, wären
ihm lieber als gebildete Damen, denen Polonia das
Polenland bedeutet. Ob mein College ganz im Eechte
sei, möge folgendes Erlebniss meines Freundes zeigen.
Dieser Freund ist Belletrist, kein grosser Held, doch
ein Talent und als Autor etwas eitel: denn schon Gril-
Blas hat es entdeckt: „On n'est pas auteur impun6-
ment". Mein Freund mag übrigens seine Greschichte
selbst erzählen:
„Von Allem, was ich schrieb, sandte ich ein Dutzend
Exemplare an meine Mutter zur Vertheilung unter
unsere Freunde. In einem ihrer Briefe hiess es, ich
möchte doch mit allem Eifer weiter schreiben, denn es
harrten „ungeduldige Leserinnen" auf eine jede neue
Zeile.
Diese Schaar der „Ungeduldigen" beschäftigte meine
Phantasie nicht wenig imd stachelte gewaltig meine
Eigenliebe. Der Gedanke, in der Ferne Sympathien
geweckt, mir so in meiner Heimat einen distinguirten
Empfang bereitet zu haben, — erwartet, ja ersehnt in
jenen Kreis der schönen Ungeduldigen zu treten,
schmeichelte mir unendlich, und schrieb etwa die gute
Mutter wieder : „Man liest, man liest, mein Sohn!" —
dann war ich vollends ausser mir vor Stolz und Ver-
gnügen.
Endlich schlug die Stunde der Heimkehr. Auf der
ganzen Fahrt phantasirte ich von meinen „Ungeduldigen" .
— 224 —
Ich malte mir die Ankunft aus, das erste Begegnen,
den Schrei der Ueberraschung, den langen Händedruck,
die neugierigen, an meinen Augen haftenden Blicke,
welche dort nach der Stelle meiner Buchempfindungen
forschten, — dann die naiven Detailfragen, das Wissen-
wollen, wie das Eine entstanden, das Andere ausge-
führt worden, woher das Dritte gekommen, und tausend
andere Kindereien, wie sie einem jeden von uns Papier-
verderbern einmal durch den Kopf gegangen sind.
Kaum war ich bei der Mutter angelangt, so be-
gann ich sie mit Fragen zu bestürmen: „Nun, und
meine Leserinnen? Wer sind sie? Wo sind sie? Was
machen sie? Wann kommen sie?"
„Du wirst sie heute Abend im Salon der Signora **
alle beisammen finden. Im Voraus muss ich dir aber
sagen: jung sind sie nicht mehr".
„Nicht Eine?'^
„Nicht Eine. — Und dann sind es weder gelehrte
noch belesene Damen".
Um so besser, dachte ich ; — naive Wesen, die ein
unmässiges Bücherlesen noch nicht blasirt hat, die
mit . ungeschwächter Empfänglichkeit meine Schriften
gemessen !
„Eine dieser Damen," fuhr meine Mutter fort, „ge-
rieth sogar in Schrecken, als ich deine Ankunft meldete.
Sie fürchtet, du werdest nur Italienisch sprechen".
Arme Ungeduldige ! dachte ich. Wie musstest du
mir dankbar sein, deine geheimsten Gefühle in reines
Italienisch übersetzt zu haben! Du lasest und riefest
aus: „So muss es heissen! So werde ich in Zukunft
sprechen 1 Von heute an bin ich im Stande, jene Em-
— 225 —
pfindung auszudrücken, dieses Herzensbedürfniss kund-
zuthun".
„Aber sie haben doch mein Buch gelesen, und
zwar ganz gelesen? nicht wahr, Mutter?"
„Ich hoffe es; wenigstens waren sie recht unge-
duldig, dass du noch mehr schreiben und recht vieles
schicken möchtest. Sie äusserten sogar den Wunsch,
du möchtest mit zehn Federn zugleich arbeiten".
Wie mächtig pochte mir das Herz! In diesem
Augenblicke fühlte ich mich stark genug, noch zwei-
hundert Bände in die Welt zu setzen.
Unterdessen erschien der Ehemann derjenigen Dame,
in dessen Salon die Gesellschaft sich zusammenfinden
sollte, — ein alter Herr mit einem umfangreichen
Kürbiskopfe. Ich erwartete etwas Schmeichelhaftes, er
fand aber nur eine banale Begrüssungsformel. Der Kerl
kam mir erbärmlich vor. Zu welch hartem Loose die
Frauen verurtheilt sind! Unmöglich, dass dieser
Mensch seine Gattin begreife !
Im Salon, den wir miteinander betraten, waren
gegen fünfzehn Personen bereits versammelt. Die Dame
des Hauses hatte sich auf einen Augenblick entfernt,
und der alte Kürbiskopf stellte mich einstweilen seinen
beiden Töchtern vor, zwei hässlichen Geschöpfen, die
mit hölzerner Zurückhaltung grüssten.
Sie thun ihren Gefühlen Gewalt an! sagte ich
tröstend zu mir selbst.
Mein Einführer stellte mich hierauf einer vierzig-
jährigen, langen und dürren Dame vor, sie ihrerseits
mir ihren sechszehnjährigen Sohn, der mir lebhaft die
Hand drückte und mich unverwandt betrachtete. Kach-
H. B. 15
— 226 —
dem die Dame mich vom Scheitel bis zur Zehe ge-
messen — weder ein Lächeln, noch eine Ueberraschung,
noch ein seelenvoller Bück! — sonderbar, auch sie be-
herrscht sich! — b^ann sie:
„Sie haben also ihre Frau Mutter besucht. Schön,
sehr schön. XJnd — wie behagt es Ihnen in Florenz?"
Ich könnte mir^s nicht besser wünschen.
„Und — ich höre, Sie haben da Beschäftigung
gefunden ?"
So zu sagen, Signora!
„Sie schreiben ja, Sie schreiben!"
Ich nickte Bejahung.
„Bravo. Schreiben ist besser als Faulenzen oder
seine Zeit in schlechter Gesellschaft verderben. Man
gewinnt dabei immer was, und im schlimmsten Falle
kann man nichts verlieren. Wir haben Ihre Sachen
hier gelesen, wissen Sie?
Ich verneigte mich.
„G-ewiss, gewiss, wir haben sie gelesen, wir haben
sie gelesen. Und wirklich — schöne Sachen haben Sie
gemacht. Nein, lassen Sie sicVs nur sagen, auch Andere
haben^s schön gefunden. Man sieht, Sie haben das
Zeug dazu!"
Es erfolgte eine längere Pause.
„Auch mein Sohn hier hat Talent zum Schreiben" .
Der Junge erröthete, unterbrach seine Mutter und
warf mir einen verlegenen Blick zu.
„Ja, ja, an Talent fehlt es ihm durchaus nicht.
Ist er *mal aufgelegt, so wirft er Ihnen einen acht
Seiten langen Brief nur so hin. Aber aufgelegt muss
— 227 ^—
er sein. Und einen guten Stil ^schreibt er obendrein,
das kann ich Ihnen» sagen".
„Mutter!" unterbrach der Sohn mit steigender Ver-
legenheit.
„Ja, ja, auch Er hat G-enie! Schade, dass Sie nicht
länger bei uns bleiben können. Sie würden sich näher
kennen lernen, zusammen arbeiten, einander Ihre Werke
zeigen, denn es heisst, wenn man sich an einander
misst — "
„Mutter, Mutter!" fiel der Junge wieder ein, „Was
du da sagst! Der Herr — ein Schriftsteller!"
Ich fühlte mich vernichtet.
„Das eben sage ich ja", versetzte ärgerlich seine
Frau Mutter. „Gerade weil er schriftstellert, könnte
er dir nützen. Ich behaupte ja nicht, dass du schon
weiter bist als er, — aber vier Augen, wie man zu sagen
pflegt, sehen besser als zwei, und wenn Ihr beide zu-
sammen arbeitet, so müssen die Erfolge um so be-
deutender sein, denn Ehrgeiz, Wetteifer — "
Hier trat die Dame des Hauses, ein recht gut-
müthiges Frauengesicht, herein. Sie streckte mir beide
Hände entgegen und ihr wohlwollendes Lächeln schickte
einen Strahl der Hoffnung in meine bereits umdüsterte
Seele. Ich wandte mich zu ihr wie zu einem erlösen-
den Engel.
„Wie freut es mich, Sie kennen zu lernen! Wie
oft haben wir Sie nennen hören".
Ich athmete auf.
— „Wie oft gehört, dass Sie so Tüchtiges leisten
— in der Wissenschaft".
Gott im Himmel — was hat die gehört! Letzte
-« 228 —
Hoffnung — fahre hin ! Sie führte mich in einen Winkel
des Salons und präsentärte mich 'drei dürren ernsten
Damen, die in einer Beihe da sassen und drei Bild-
säulen glichen.
„Herr N., der ausgezeichnete junge Mann, der so
tüchtig ist — im Componiren!"
„Sie sind also Componist?" fragte in nachlässigem
Tone eine der drei Statuen.
„Nicht doch, nein", versetzte die Herrin des Hauses.
„Er componirt" — und hier warf sie mir einen fragen-
den Blick zu, und machte dahei eine Bewegung mit
Daumen und Zeigefinger wie Einer, der Greld durch
die Finger gleiten lässt. „Er componirt — Prosa,
nicht wahr?"
Meine Verlegenheit und mein Aerger wurde nach-
gerade auch den drei Statuen hemerklich. Eine der-
selben, eine Freundin meiner Mutter, folgte muthmass-
lich einer Eegung des Mitleids, als sie nach einigem
Nachdenken an mich die Worte richtete: „Sie finden
also Freude am Bücherschreiben ? Das ist in der That
ein angenehmer Zeitvertreib".
Sprachlos blickte ich sie an.
„Ein Zeitvertreib und eine Erleichterung zu-
gleich ; denn es gibt ja Augenblicke im Leben, wo die
Ueberfülle an Gedanken uns dazu zwingt, uns auszu-
sprechen. S' ist ein Bedürfniss, die treffliche Uebung
nicht gerechnet, die ims gewandt im Eedigiren macht.
Haben Sie schon was drucken lassen?"
Das schallende Gelächter einer nahen Gruppe er-
sparte mir diesmal die Demüthigung einer Antwort.
Unsere Wirthin, die Hände über die Brust gekreuzt,
— 229 •—
um nicht vor Lachen bersten zu müssen, kam, von
jener Gruppe begleitet, auf mich zu.
„Das verdient wahrhaftig in einem Ihrer — Auf-
sätze zu stehen!" rief sie mir entgegen, und unter dem
fortgesetzten Gewieher ihrer Begleitung erzählte sie
mir eine Anekdote, deren Quintessenz, soweit meine
höchst unglückliche Stimmung jenes Augenblicks sie
zu fassen vermochte, — auf eine Hutverwechslung
hinauslief.
„Sie sollten „über das" eine Novelle schreiben",
lachte die Wirthin.
„Eine Poesie — eine Ode !" johlten die Andern.
Der Kürbiskopf näherte sich mit der Miene eines Ein-
geweihten und fügte bei :
„Mit einigen Erweiterungen und Zuthaten, wie
Ihr Herren Schriftsteller es zu machen versteht, könnte
man, ich wiU nicht sagen ein Epos", — hier lachte er
— „nein, aber wenigstens eine hübsche Kleinigkeit
schaffen!"
Ich wünschte mich nachgerade zehn Meter unter
die Erdrinde. Meine armen Träume, meine Hofl&iungen,
meine Bücker, meine am Schreibtisch durchwachten
Nächte! Hatte ich denn zuviel gehofft, zuviel verlangt?
Ein Lächeln, das mir sagte : „Wir kennen dich !" hätte
mich so reich gelohnt, so innig beglückt, hätte mir
gezeigt, dass man zu Hause weiss, dass ich denke,
empfinde, arbeite! — Aber so! — Sind das denn Ge-
bildete, civilisirte Menschen? Oder gehört man hier
zu Lande ins Eeich der Bestien?
An alles Weitere erinnere ich mich nur wie im
Traume, Man legte mir das Manuscript eines Knäbleins
— 230 —
vor, damit ich Sine verbessernde Hand daran lege. Ein
Elementarlehrer wurde mir von der Wirthin mit der
Bemerkung vorgestellt: „Endlich habe ich für Sie Gre-
s ellschaft gefunden!" Der neue Gesellschafter leitete
die Unterhaltung mit der Frage ein : „Was haben Sie
studirt ?" Eine Dame wollte wissen , ob die Toscaner
gut italienisch reden ; ich versetzte, die dortigen Bauern
sprechen schön, was ein schallendes Gelächter hervor-
rief. Beim Abschiede rief mir ein kleines Bübchen
nach: „Addio Poeta!" Das reizte die Gesellschaft zu
einem letzten Lachen auf meine Kosten, und als ich
schon unten an der Treppe war, schickte mir die Wirthin
noch ein Letztes: „Schreiben Sie, schreiben Sie doch
ja !" nach, das inir wie ein Stiletstich durch's H«rz ging.
Der Leser mag aus meiner Anekdote die Moral
nun selbst ziehen. Nur so viel habe ich noch beizu-
fügen, dass, wenn diese Damen „Bacio" zwar nicht niit
Doppel-c zu schreiben pflegen, sie sich beim Schreiben
jenes Wortes doch besmnen müssen. Sie Alle wissen
übrigens, dass „Polonia" kein Geschöpf von ihres-
gleichen ist".
So erzog das Leben unseren „Man of feeling", so
dämmte es allmälig seinen überströmenden Optimismus
ein. Er hat diese Wandlung in den „Schulcameraden"
selbst berührt.
„Und die Menschen? Ich bin von Natur durchaus
nicht misstrauisch, ich sehe in allen Dingen die schöne
Seite immer eher als die schlimme. Ich ärgere sogar
heute noch einen gewissen Freund, wenn ich ihm
lachend sage: „Noch immer bin ich der Freund des
Menschengeschlechtes !" — Er aber hat nur eine Ant-
— 231 —
wort: „Warte nur, auch dir wird deine Stunde schla-
gen !" Und doch ! Wie viel habe ich nicht schon ein-
gebüsst an Freundschaft und Bewunderungssinn : Zwei
oder drei Enttäuschungen haben hingereicht, um die
Schwungkraft jener Springfedern lahmzulegen. Ich
lache auch nicht länger mit jenem unwiderstehlichen
und lauten Lachen, das einst durch alle Zimmer meines
Hauses schallte^'.
Der September des denkwürdigen Jahres 1870
brachte ein grossartiges Militärschauspiel, die Besetzung
Borns durch die italienischen Truppen. Auch De Amicis
rückte mit seinen Cameraden yon Custozza durch die
Bresche der Porta Pia in die ewige Stadt ein. In den
„Komischen Briefen" seiner „Ricordi" hat er uns jene
schwungvollen Tage schwungvoll gescliildert. Im Som-
mer des folgenden Jahres nahm er seine definitive Dienst-
entlassung, um sich von nun an ganz der Schriftstellerei
zu widmen. In dem schon mehrfach von uns angeführ-
ten Stücke „Amici di Collegio" richtet er an seine
Waffenbrüder diesen feierlichen Abschied:
„Wenn ich an die Pflichten eurer Zukunft denke,
dann fühle ich doppelt die Pflichten der meinigen. Um
dem Lande meine Schuld der Dankbarkeit abzutragen,
anerkenne ich die Pflicht rastloser Arbeit: ihr sollen
meine Nächte gewidmet sein, strengste Enthaltsamkeit
soll die. Frische meiner Manneskraft wahren, mein
Leben soU ein reines bleiben, damit ich mir das Recht
erwerbe, anderen den Weg zu weisen; jenes Feuer der
Liebe will ich nähren, das der fremden Brust sich
mittheilt, ich will das Volk, die Kinder und die Armen
studiren, für sie meine Feder in Bewegung setzen, kein
— 232 —
scliimpfiiches Wort soll ihr je entgleiten, keine Ent-
muthigung mich fern vom Ziele halten".
Noch im Spätherbste 1871 reiste De Amicis nach
Spanien, von wo er der „Kazione", einem Florentiner
Blatte, politische Correspondenzen sandte. Nach seiner
Rückkehr sammelte er zerstreute Artikel in dem Bänd-
chen seiner „Kicordi", und gab Ende desselben Jahres
(1872) ein zweites Bändchen, die „Novelle" heraus.
Sie sind einem spanischen Gastfreunde, dem Dichter
Gonzola Segovia y Ardizone gewidmet. Die „Novelle",
(mit Ausnahme der beiden ersten: Gamilla, Furio)
scheinen uns weniger Ursprünglichkeit und Unmittel-
barkeit der Anschauung und der Empfindung zu ver-
rathen, als die Bozzetti; ihre romantische Färbung
ordnet sie in die l^fasse so vieler Vorgänger, wenn auch
anderseits ihre Sprache den gewiegten Meister bekundet
und an Vollendung über derjenigen der Bozzetti steht.
Die Frucht von De Amicis' spanischer Eeise war
das Buch „Spagna", welches 1873 bei Barbara in Florenz
erschien. Es eröffnet eine neue Epoche in der Ent-
wickelung unseres Autors — die Serie seiner Reise-
beschreibungen: Ricordi di Londra — Olanda —
Marocco — Constantinopoli, dessen zweiter Band neulich
die Presse verlassen hat. Diese lebhaften Erzählungen
eines Touristen, der in Dingen der Natur und der
Kunst Kopf und Herz, Urtheil und Empfindung besitzt,
haben De Amicis' Namen in Italien vollends populär
gemacht.
Zerstreute Journalartikel sammelte unser Autor
aufs Neue 1876 in dem Bande: „Pagine sparse, lose
Blätter". Die vier ersten Stücke dieser Sammlung
— 233 —
sind „Kicordi", d. h. persönliclie Erinnerungen aus dem
inneren und äusseren Leben. Hieran reihen sich ver-
wandt die Besuche bei Castelar, Manzoni und Euffini;
acht weitere Artikel handeln vom Studium der italieni-
schen Sprache. „Das Album des Vaters" schildert die
Kinderwelt mit Theilnahme und Phantasie, das Uebrige
ist novellistischen Inhalts.
Im „Besuch bei Ruffini" scheint mir folgende Stelle
von culturhistorischem Interesse zu sein:
„Ruffini fragte mich, in welchen Verhältnissen ein
italienischer Schriftsteller, dem die Gunst der Lesewelt
zu Theil geworden, heutzutage leben könne. Ich ver-
sfetzte, im allergünstigsten Falle könne ein solcher
Autor gegenwärtig sicher sein, dem Hungertode zu
entwischen, vorausgesetzt, dass er das Doppelte von
dem arbeite, was das Interesse seiner Gesundheit und
seiner Kunst zulasse. Ich kenne einen jungen Mann,
der zu den beliebtesten Eomanschreibern der Gegen-
wart zählt. Nur Abends ist es ihm vergönnt, ein paar
Seiten Roman zu schreiben, da er während des Tages
im Schweisse seines Angesichtes .Tournalartikel machen
muss. Ein anderer talentvoller und arbeitsamer Jüng-
ling, dessen Bücher gierig verschlungen wurden, fand
sich trotz alledem kurz vor seinem Tode in der Lage,
von gedörrten Kastanien leben zu müssen. Ein be-
rühmter, heute noch lebender Schriftsteller schickt, um
seine Existenz zu fristen, tagtäglich eine hauptstädtische
Correspondenz in die Provinz und einer seiner Freunde
ist beauftragt, an seiner Stelle die monatlichen hundert
Lire in Empfang zu nehmen, damit die Verschämtheit
der Armuth «u ihrem Rechte komme, Ruffini, der mit
n
— 234 —
seinen vier englischen Eomanen sich ein kleines Ver-
mögen erworben, schüttelte bedenklich den Kopf".
Ein anderer Artikel des Bnches: „Bücherliebe",
behandelt ein verwandtes Thema.
„Die Italiener lesen viel", heisst es da, „aber sie
kaufen wenig. Von allen Möbeln ist das Büchergestell
dasjenige, welches in Italien sich am schlechtesten ver-
kauft". Wie oft hören unsere Buchhändler die Worte :
„Dieses Buch möchte ich gern lesen!" — „So kaufen
Sie es doch". — „Was soll ich damit anfangen, wenn
es ausgelesen ist?" lautet die unvermeidliche Antwort.
Unter dem Gesammttitel : „Bemerkungen über das
Studium der italienischen Sprache für nicht-toscaniscbe
Bjiaben" vereinigt De Amicis . mehrere Artikel über
das Erlernen der Muttersprache. „Muttersprache ist im
Falle des Nicht- Toscaners allerdings kaum der zutreffende
Ausdruck; denn nur sein jeweiliger Dialect verdient
jenes Prädicat. Mit gewohnter Offenheit erzählt uns
De Amicis die Erlebnisse seiner eigenen Lehrjahre.
Wie Manzoni und Grossi nahm er das toscanische Wörter-
buch systematisch durch, machte sich Auszüge, wie
Foscolo, Leopardi und Andere, „die an Notizenhefte
glaubten (che credevano ai quaderni)", vor ihm gethan.
Andererseits bemühte er sich, richtig sprechen zu lernen ;
denn „Schreiben", sagt Manzoni, „ist nichts weiter als
ein überlegtes Sprechen (un parlare pensato)". Schön
und richtig sprechen lernt man aber nur in Florenz.
„Als ich nach Florenz kam, glaubte ich höchstens
für meine Aussprache gewinnen zu können. Mein in
Classikern undNichtclassikern zusammengelesenes Schul-
bank-Italienisch, so dachte ich, müsste für die Bedürf-
— 235 —
nisse des Schriftstellers ausreichen. Aber bald .nahm
ich zu meiner grossen Beschämung wahr, dass gerade
der Wort- und Phrasenschatz, der natürliche Tact, das
Sprachgefühl und die Anmuth in der Wahl des Aus-
druckes Dasjenige sei, was der Nicht-Toscaner in Florenz
vor Allem zu studiren habe.»
Gleich am ersten Morgen bewunderte ich einen
Strassenjungen, der mit seinem Cameraden kleine Messer
nach einer Thüre warf.
„Pass auf, ich werfe, es steckt, zittert und wird still!"
(Sta attento, io lo tiro, vi si configge, osoilla e po si queta!)
Die G-razie, das Treffende und das Malerische, das
in diesen Worten lag, frappirten mich, und ich richtete
an mich die Frage: „Hättest du dich so, und so gut
ausgedrückt?" Und mein Gewissen versetzte: „Anders
und schlechter".
Ich fand in einigen gebildeten Familien Zutritt.
Da erst begann für mich die schwere Noth. So lange
es sich um landläufige Dinge, um Politik, Litteratur
und Theater handelte, ging alles vortrefflich. Aber im
Zwiegespräche mit einer Dame, in der scherzenden,
vertraulichen Unterhaltung, die vom Hundertsten auf's
Tausendste überspringt und sich in der anmuthigen
Behandlung von Bagatellen gefällt, wo der Inhalt oft
nichts, die Form oft alles ist, da fühlte ich mich hülf-
los, ohnmächtig, ja ich behielt meine Gedankea oft
für mich, weil die Worte sich nicht einstellten. Tag
für Tag hatte ich einen Piemontismus, einen Gallicis-
mus, eine Pedanterie, eine poetische Wendung zu strei-
chen. Täglich mehr bestärkte ich mich in der schmerz-
lichen Ueberzeugung, das9 anstatt italienisch zu spre-
— 236 —
chen, ich italienisch componire, dass mein Sprach-
schatz ein Geschmeide von falschen Diamanten sei, und
dass, sofern ich ordentlich sprechen und schreiben wolle,
ich mit meinen Studien von vorne anzufangen hätte.
Die härteste Probe meiner Eigenliebe aber kam,
als ich die Correcturbogen» meines Buches in florentiner
Hände legte. Die Dame gab mir meine Bogen schwarz
von Puncten und Fragezeichen zurück. Ich biss vor
Aerger meine Lippen. Die Verbesserung setzte meist
das Einfache an die Stelle des Gezierten, das Klare an
die Stelle des Zweideutigen, die Grazie an die Stelle der
Pedanterie. Es war der Anprall eines Catapultenge-
schosses, das den ganzen Prachtbau meiner litterarischen
Erziehung erschütterte. Ich vertheidigte mich, stützte
mich auf Autoritäten, wiederholte immer wieder : „Es ist
doch italienisch, ich berufe mich auf diesen, auf jenen
Autor".
„Gehen Sie mir doch mit Ihrem Italienisch !" er-
wiederte meine liebenswürdige Scharfrichterin. Ich
mache mich anheischig, mit lauter itaKenischen Wen-
dungen alle meine Freunde diesen Abend aus meinem
Salon zu treiben".
Wie man sieht, handelte es sich hier durchaus
nicht um Verstösse gegen Lexikon und Grammatik.
Es waren fast immer Wortvertauschungen und Wort-
versetzungen , Entwirrungen und unscheinbare Eetou-
schen, doch wie änderten diese kleinen Dinge die Miene
eines Satzes, die Farbe eines Gedankens! Besonders
aber war es eine fortlaufende Instruction über V^r-
theilung und Combinirung jenes Kieselgerölles ein-
silbiger Wörter, das in der Handhabung unserer mO'
— 237 —
dernen Sprachen stets die grössten Schwierigkeiten
bereitet; denn es müssen jene Wörter so vertheilt und
eingeschachtelt werden, dass der Ausdruck nicht roh
und unvermittelt, die Fugen nicht hart, die Ueber-
gänge nicht mühsam, die Ohren nicht beleidigt werden,
Fehler, die so wenige ausser-toscanische Schriftsteller
zu vermeiden wissen.
„Das scheinen Kleinigkeiten", sagte meine Weg-
weiserin, „aber worin unterscheidet sich der elegante
Schriftsteller vom rohen und anmuthslosen? Nicht in
der Correctheit ruht die Kunst, vielmehr in jenem
künstlerischen Tacte, in jener tieferen Harmonie, für
die ein unerzogenes Ohr keinen Sinn besitzt. Lassen
Sie die Italiener schwatzen. Es bleibt doch unumstöss-
lich wahr: Wir Toscaner- können unsere Landsleute
etwas lehren".
De Amicis hat ohne ängstliches Bedenken in
seinen „Caro pedante" (Fanfani ist wohl gemeint) die
Zunft der einseitigen Puristen nach Gebühr behandelt,
— mit Verstand und Geist dem Programme Manzoni's
nachgelebt. Der grosse italienische Dialectforscher As-
coli mag Eecht haben, wenn er behauptet, eine ein-
heitliche Sprache lasse sich für Italien nicht von heute
auf morgen, überhaupt nicht machen, Frankreich
habe sie im Laufe von Jahrhunderten durch das Ueber-
gewicht und die Bildung seiner Hauptstadt, Deutsch-
land durch die Schöpfungen Luther's, Lessing's, Göthe*s
und Schiller's gewonnen, Italien werde sie erst dann
erhalten, wenn es in seiner Einheit einmal erstarkt sei,
und die grossen Ahnen seiner Litteratur, ein Dante,
Ariosto und Macchiavelli , statt fremder Legionen
— 238 —
einmal eigene Leute zu führen bekämen, d. h. wenn
die Trägheit (ozio) nicht länger am Talente hafte; —
Bonghi's Schrift: „Weshalb besitzen die Italiener keine
volksthümliche Litteratur?" mag die Schwierigkeiten
jener Schöpfung mit Sachkenntniss beleuchtet haben:
immerhin wird heute schon ein Schriftstellertalent durch
ein verständiges Studium der toscanischen Phraseologie
jene Beichthümer sich sammeln können, die seine
Schriften zu nationalen und volksthümlichen
stempeln. Und damit wäre ja auch Ascoli's Forderung
Genüge geleistet. Wir glauben, dass De Amiois jenem
Postulate „pro virili parte" nachgekommen sei. Seine
Schriften gehören heute zu den gelesensten in ganz
Italien, sie ragen wirksam zur Verbreitung einer Sprache
bei, deren Plastik und schlichte Natürlichkeit ihr den
Bang und die Autorität einer einheitlich • nationalen
mehr und mehr verschaffen werden.
Zwei sicilianische Belletristen.
»atania^ die uralte ionische Golonie, durch den
Gesetzgeber Charondas, den Dichter Stesichoros und
eine Befreiungsthat Timoleons schon im grauen Alter-
thum berühmt, seit dem fünfzehnten Jahrhundert erste
Universität, heute noch die litterarische Metropole
SiciUens, — Catania, so malerisch gebettet zwischen
dem tiefblauen Meere und dem schneegekrönten Aetna,
vor dessen Lavaströmen durch den schützend vorge-
haltenen Schleier seiner Patronin Agata gerettet, den
periodischen Verwüstungen furchtbarer Erdbeben durch
periodische Wiedergeburten trotzend, — Catania birgt
auch heute ein rühriges, wissenschaftliches und belle-
tristisches Leben. In letzterem bewegen sich gegen-
wärtig zwei Männer von sehr verschiedener Neigung,
der Lyriker Rapisardi und der Bomandichter Yerga.
Ein günstiger Zufall hat mich Beiden nahe genug ge-'
brachjb, um früher empfangene litterarische Eindrücke
durch genauere Kenntniss ihrer Lebensverhältnisse und
ihrer Persönlichkeit zu vertiefen und zu ergänzen. Da
nun Rapisardi sowohl als Verga zu den bedeutenderen
Erscheinungen der modernsten Litteratur Italiens zäh-
len, zugleich dem deutschen Leser, so viel ich weiss,
— 240 —
noch durch keine eingehendere Besprechung vorgestellt
wurden, dürfte ein Versuch, diese Lücke auszufüllen,
weder verfrüht noch überflüssig erscheinen.
Mario Rapisardi steht gegenwärtig in seinem
fünfunddreissigsten Lebensjahre. Catania ist seine Hei-
mat, sein Vater übte da den Beruf des Advocaten aus.
Seit 1870 wirkt unser Dichter als Professor; der italie-
nischen Litteratur an der Universität seiner Vaterstadt.
Ein Aufenthalt in Florenz während des Dantejubiläums
(1865) hat ihm nebst der treuen Freundschaft und dem
väterlichen Wohlwollen des edlen, vielverfolgten Dali'
Ongaro auch das Herz einer schönen Florentine»in er-
obert, welche heute Freud und Leid mit ihrem Gatten
theilt.
Rapisardi's persönliche Erscheinung ist eine frap-
pante. Eine schlanke und hagere Gestalt, ein Sarazenen-
kopf mit hoher Stirn und scharfen Ejiochencontouren,
ein dunkles tiefes, sehr schönes Auge, ein satirischer
Zug im Winkel der gekniffenen Lippen, das braune
Gesicht von langen, rabenschwarzen Haaren eingerahmt,
in der Gesellschaft wortkarg, still beobachtend, so steht
er heute im Erinnerungsblatte meiner Phantasie. „Piü
interessante che beUo!" flüsterte meine Nachbarin, als
•Kapisardi in den Salon trat.
Als Dichter machte sich Bapisardi zum ersten Male
1866 geltend. Seine „Palingenesi" — ein Gedicht von
der Wiedergeburt der Eeligion im Sinne des modernen
Gedankens — belohnte das Municipio Gatania's mit
einer goldenen Medaille, Italien mit einer Theilnahme,
die dem Verfasser Muth einflösste. — Eine lyrische
Sammlung: „Bicordanze^^ (1872) enthält Eapisardi's
— 241 —
kleinere Gedichte seit 1863. Drei Jahre später publi-
cirte der florentinische Verleger Lemonnier Bapisardi's
„CatuUus und Lesbia", eine metrische Uebersetzung
mit beigefügtem Urtext und biographischen Aufsätzen.
Der „Lucifero" endlich erschien 1877 und hat bereits
eine zweite Auflage erlebt.
Eapisardi's „Lucifero" ist ein satirisch - lyrisches
Gedicht in epischem Rahmen.
„Dio tacea da gran tempo". So beginnt unser Epos.
Gott Vater schwieg seit geraumer Zeit. Im langweiligen
Himmel klagen die Heiligen über die steigende Ver-
nachlässigung durch die Sterblichen. Sie beschwören
ihren Herrn und Meister, seinen Blitzstrahl niederzu-
schleudern auf das ruchlose Menschenvolk. Aber kein
Blitz wird geschleudert imd die Sterblichen — lachen.
Lucifer hört ihren Hohn und beschliesst, seine heiss-
geliebte Erde zum letzten Kampfe des befreienden
Gedankens anzuführen. Er zieht seine mittelalterliche
Teufelsuniform aus, fegt den Euss von seinen Lenden
und steht als leuchtender, bildschöner Gott da. „Mein
Höllenreich ist vorbei, mein neues Reich sei meine Erde".
Damit macht er sich denn auf, schwebt nieder auf den
Felskamm des Kaukasus, wo Prometheus ihm sein ge-
fährliches Unternehmen auszureden sucht. Hat er ja
selbst die bittersten Erfahrungen gemacht:
„Die Wenigen, die wd» davon erkannt
Hat man von je gekreuzigt nnd verbrannt **.
Lucifer aber ist kein Hasenfuss. Er antwortet mit
der Geschichte seines langen Kampfes, erzählt seinem
grossen Gesinnungsgenossen dessen bisherige Phasen,
von Mutter Evas Apfelbiss bis zur „philosophischen,
H. B. 16
— 242 —
theologischen und zur politischen Revolution", d..h. bis
zur Renaissance, zur Reformation und zu Englands,
Amerikas und Frankreichs Revolutionen. Unter solchen
Gesprächen ist es „Canto quarto" geworden. Lucifero
zieht nach Griechenland, liebelt mit Hebe und macht
seine Reflexionen über das schöne Griechenthum.
Nach einem widerwärtigen Seeabenteuer erreicht
unser Heros die gallische Erde und kommt eben recht,
um von einem Berge aus das Wtithen der Feldschlacht
zu beobachten. Dass er für Preussen Partei ergreift,
braucht nicht erst gesagt zu werden. Die Gräuel der
Commune erwecken in ihm bescheidene Zweifel am
endlichen Siege der Vernunft. Weit besser behagt es
ihm in Amerika, dem Lande des Fortschrittes und der
Freiheit, in dessen Urwäldern er auf einen wunder-
lichen Aflfen stösst, der im Namen Darwins Brüder-
schaft mit ihm zu schUessen verlangt.
Unterdessen haben die Heiligen des Himmels ihren
schläfrigen Beherrscher zu entfernten Widerstandsver-
suchen aufgeschüttelt. Lucifer hat leichtes Spiel, die-
selben siegreich zurückzuweisen; denn der alte Herr
hat seine Sache im Stillen schon lange verloren gegeben,
plaudert sogar in einem unbewachten Augenblicke der
braunen Teresa sein diplomatisches Geheinmiss aus.
„Ich bin im Grunde nur ein Schwindler, nichts weiter,
— nichts als das Schreckmännchen des alten denk-
faulen Adams". Ueber dieser niederschmetternden Er-
öfihung verliert die Heilige wie billig den Verstand
und gibt in ihrer Verrücktheit den Himmlischen einen
scandalösen Cancan zum Besten.
Der elfte Gesang erzählt uns Lucifers Besuch in
— 243 —
Italien, besonders in Florenz. Er enthält eine bittere
Verurtheilung heutiger Dichter und eine persönliche
Satire auf einige derselben. Wir werden auf ihn zurück-
kommen. — Vorerst geht es weiter nach Bom, Die
„Bresche der Porta Pia", durch welche das Vaterland
in die päpstliche Roma einzog, wird mit lyrischem
Schwünge gefeiert. Der Held betheiligt sich am rau-
schenden Siegesfeste im Colosseo und vernimmt da die
Geisterstimmen der Völker, welche in ebensovielen
Oden an sein Ohr klingen. G-ermania erscheint als die
Königin der Wissenschaft und der Philosophie und
verlangt den Völkerfrieden im Namen beider, — Dann
kommt die Beihe an den alten Junggesellen im Vatican.
Der sterbende Pio Nono wird wie Shakespeare's König
Bichard von dräuenden Schatten seiner Opfer umflattert
und verendet in furchtbaren Gewissensqualen. Bevor
das neue Conclave zusammentreten kann, steigt Lucifer
zur Sonne empor und ruft von da zum letzten Gerichte.
Die Opfer steigen aus den Grüften und heischen Bache.
Der alte Himmelsherrscher, den bis auf einige treue
Bestien, wie beispielsweise des heiUgen Antonius hei-
liges Schwein, alle seine Heerschaaren schnöde verlassen
haben, -7 „stirbt" und Lucifer kündet seinem Freunde
Prometheus den Sieg seiner Sache an.
Das ganze Gedicht durchzieht ein Dualismus der
poetischen Intention, der sich selbstverständlich auch
der Form, dem StUe und der Diction mittheilt. So zer-
fallen die vierzehn Gesänge von Bapisardi's Dichtung
in eine enthusiastische und eine frivole Hälfte. In
ersterer namentlich herrscht ein Aufwand südlicher
Rhetorik, die wir bei dem Sohne des Aetna zwar be-
— 244 —
greifen, aber im Namen des guten Geschmackes ver-
nrtheilen müssen. Aetna's Lavastrom fühlt sich dies-
mal kalt an und wir möchten dem Dichter rathen, in
Zukunft den schützenden Schleier seiner Schutzpatronin
Agata sich auszubitten. Wir haben beim Lesen mehr
als einmal an Statins, an Lucan und Seneca den Tragiker
gedacht. Auch diese bieten grüne Oasen, aber man
erreicht sie erst nach mühsamen Waten durch Sand-
wüsten. Unser Held Lucifer hat trotz seiner himm-
lischen Schönheit weder Fleisch noch Blut. Er ist nichts
als eine Abstraction, als ein Phantom. In der That,
was bringt ihn auf den sonderbaren Einfall, sich einen
Helden zu nennen? Die Leistungen dieses mythologi-
schen Touristen bestehen ja ausschliesslich nur im
Reisen, Beobachten und im Predigen ! Und der mytho-
logische Apparat bringt das Thermometer vollends auf
den Gefrierpunct. Der gehört heute doch ein für alle-
mal in jene Eumpelkammer, wo Milton's und Boileau's,
Klopstock's und Ghateaubriand's verstaubte Maschinen
stehen. Er ist höchstens noch im burlesken G-edichte
erträglich, aber auch da nicht mehr willkommen.
Um so interessanter nun erscheint uns Rapisardi's
Gedicht als ein Wahrzeichen der heutigen Freiheit
Italiens. Der Mephistotypus führt hier zum ersten
Male die Sprache des Atheisten. Nach des Dichters
Absicht soll mit dem Katholicismus zugleich auch die
Gottesidee verschwinden: Es bleibe nur der Mensch,
seine Vernunft und — sein Comfort. Mit cynischer
Aufrichtigkeit hat Eapisardi durch sein Programm sich
hindurchgesungen und der Bischof von Catania konnte
anstandshalber kaum anders verfahren, als einige Exem-
— 245 —
pläre des Lucifero feierlich zu verbrennen, da ja heutzu-
tage den Dichter selbst zu braten nicht mehr gestattet ist.
Publicum und Regierung handelten anders. Ersteres
verlangte eine neue Auflage und letztere lässt den Pro-
fessor Kapisardi ruhig an seiner Stelle. Die „Universite
de France" hätte ihn sofort abgesetzt und ausgestossen.
Unstreitig ein schönes Zeichen der heutigen Cultur
Italiens! Wie weit ist man jetzt in diesem Lande über
die trüben Tage hinaus, wo der zahme Lucrezübersetzer
Marchetti sein Manuscript nur einigen verschwiegenen
Freunden mittheilen durfte ! Verwundern wir uns des-
halb nicht, wenn der geistreiche Lucrezerklärer unserer
Tage, Prof. Trezza in Florenz, Rapisardi*s Lucifero in
seinen eben erschienen Studien i^it unverhohlener Freude
begrüsst.
Es mag allerdings bezweifelt werden, ob Eapisardi's
rhetorische Lyrik allein seinem Buche die grosse Theil-
nahme zu verschaffen im Stande gewesen wäre. Die
Satire des frivolen Theiles hat gewiss noch mehr ge-
wirkt. In romanischen Ländern findet das religiöse
Gemüth in dem Cultus der Staatskirche so karge Nah-
rung, dass sich dort von jeher der grelle Gegensatz
zwischen gedankenlosem Aberglauben und frivolem
Nihilismus schroffer als bei uns entwickeln musste.
Voltaire's Pucelle, Parny's Götterkrieg, Casti's redende
Thiere , Eapisardi's Lucifero beweisen es , sie sind in
dieser Hinsicht echt romanische Producte. Mit Parny's
Buch hat der Lucifero nun eine nicht unverdächtige
Aehnlichkeit. Seinem Vorgänger ist er an Geschmack
der Form nicht ebenbürtig — Parny ist graciös, Kapi-
sardi bombastisch — , aber an cynischer Entschlossen-
— 246 —
heit ist er ihm vergleichbar, an komischer Energie
kommt er ihm nahe und die Leidenschaft hat er vor
dem Franzosen voraus: man kann im Hassen und im
Höhnen nicht leicht weiter gehen als Rapisardi. Zu-
gleich aber fühlt und liest man es zwischen den Zeilen,
dass der Herzog nach muss, weil der Mantel fallt, dass
die Beligion ihrer Priester wegen abgeschlachtet wird.
Damit sind nun auch in Italien viele Leser nicht ein-
verfttanden. Der greise Schillerübersetzer Andrea Maffei
hat dieser MissbüKgung Ausdruck gegeben, indem er
seinem jungen Freunde ein energisches Distinguo ! zurief.
In der Widmungsepistel seiner zweiten Auflage kleidet
Bapisardi selbst diesen Einwurf in folgende Worte :
„Ich billige den erhabenen Zorn deiner ersten Lie-
der. Du hast die Hydra gepeitscht, die in den goldenen
Sälen des Vaticans lauert, aber welch' ein Dämon hat
dich heute verlockt, an der Quelle alles Lebens, an
der Gottheit selbst dich ruchlos zu vergreifen? So
unheimlich leuchtet dein Lucifer, dass jeder menschlich
Fühlende mit vorgehaltener Hand das beleidigte Auge
schützen muss. Verlassen wirst du leben: die Väter
werden dir die zarten Herzen ihrer Elnaben nicht länger
anvertrauen wollen, deine Getreuen selbst werden zwei-
felnd deine Lehren vernehmen und kein Freundesantlitz
mehr über deine Schwelle leuchten".
„Derelitto viyrfti: da Tempia scuola
Lnngi i padri terran le teneteHe
Menti dei flgli ; e i pochi avdaci e fldi
Tnonar con dnbitoso animo ndranno
Da la cattedra tua gli empi precetti.
Non rider& bu Tinfrequente soglia
Di tue rigide case un rolto amieo".
— 247 —
Aber mit dem Gefühle Dessen, der seine SchifiFe
schon verbrannt hat, antwortet unser Dichter seinem
väterlichen Freunde, es sei einmal an der Zeit, der
Jugend Italiens die kräftige Speise der Wahrheit vor-
zulegen. Das sei der Zweck seines Dichtens und der
Zweck seines Lehrens. Sein Glaube laute: „Gott ist
Nichts, die Natur ist Alles. Unser Himmel ist die Erde
und die Wahrheit unsere Nahrung".
Che naUa h dio, che la natura 6 tatto,
Che il ciel nostro h la terra e cibo il vero.
Dieser Glaube nun sei das Resultat langer und
ernster innerer Kämpfe. Er sei entschlossen, für ihn
zu dulden. „Wenn mich Weib und Kind deshalb ver-
lassen sollten, so würde ich, dem einsamen Wetterfelsen
gleich, den Stürmen trotzen, bis eine höhere Gewalt
mich zerschellt oder die heimische Erde mich ver-
schlingt".
Bevor wir den Lucifero verlassen, ist noch ein
Wort über die litterarische Satire des elften
Gesanges zu sagen. Der Held erreicht Florenz und
wird in den Salon Egerias eingeführt, in welcher Rapi-
sardi's florentinische Leser mit Hartnäckigkeit die Ge-
mahlin ihres Bürgermeisters Peruzzi erkennen wollen.
In jenem Salon triflFt Lucifero ausser Egeria eine emanci-
pirte Dame, einen Philologen, einen Dantekenner, einen
demokratischen Poeten (Prof. Carducci in Bologna), einen
Feuilletonisten (den „Yorick" des FanfuUa, Advocat
Ferrigni in Florenz), ein allwissendes Chamäleon (Angelo
de Gubematis), endlich den Dichter Olimpio (Aleardo
Aleardi), dessen Manier persiflirt wird. Lucifero macht
sich schliesslich den Spass, Dante's Geist heraufzu-
— 248 —
beschwören, der denn die unhöfliche Rolle des Aeschylos
in Aristophanes' Fröschen spielt und die verkommene
Litteratur des neuen Italiens mit feierlicher Derbheit
abkanzelt.
Genus irritabile vatum! Der auch um die italie-
nische Litteratur so verdiente De Gubernatis ist hier
Opfer einer giftigen Invective geworden, die er durch
ein unvorsichtiges Wort im Verkehre mit dem ihm
früher befreundeten Dichter auf sein schuldloses Haupt
herabgerufen. Seine kleine Gestalt, sein wallendes
Haar, sein vorübergehendes Verhältniss zum Socialisten
Bakunin, seine russische Heirat, alles das wird von
dem racheschnaubenden Sicilianer schonungslos mitge-
nommen. — "Begründeter und edler ist Rapisardi's Ven-
detta an dem Verfolger des vielverfolgten Dali' Ongaro,
Yorick-Ferrigni. Hier spricht das Gefühl der Dank-
barkeit und der innigen Verehrung, und die abge-
schnellten Pfeile fallen diesmal nicht auf den Schützen
zurück.
Von allgemeinerer Bedeutung ist der Ausfall auf
Aleardo Aleardi; denn hier handelt es sich weniger
um eine persönliche als um eine litterarische
Satire. Der einst so gefeierte Lyriker hat heute seinen
Ruhm in doppelter Weise überlebt, als Patriot und
als Dichter. „Sie nannten ihn einst einen genialen
Dichter", so schreibt Prof. Trezza in seinen 1877 er-
schienen Studien, „heute machen sie ihm sogar den
Namen eines Dichters streitig. Die patriotischen Kämpfe,
auf deren Wogen seine Lieder getragen wurden, sind
heute vorbei, und so erscheint nun auch der Dichter
weniger gross. Er war wohl selbst darauf gefasst, dass
— 249 —
manche unter seinen Canzonen am Tage der Aufer-
stehung Italiens sterhen müssten; aher vielleicht war
er darauf nicht vorhereitet, dass unsere litterarische
Fortentwicklung die phantastische Welt seiner Dichtung
eben so rasch überflügeln könnte". Aleardi kam in
dieser letzteren Beziehung zu spät und zu früh. Die
romantische Revolution hatte sich erschöpft und die
Form einer neuen, dem modernsten Gedanken ent-
sprechenden Dichtung war noch nicht gefunden.
Rapisardi nun gehört der jungen Generation an,
die Aleardi's Manier als überholt betrachtet und neue
Pfade zu entdecken sucht. Sein Lucifero beschäftigt
sich mit Aleardi in folgender Weise:
Der Dichter Olimpio ist die Sonne von Egeria's
ästhetischem Kreise. Elegant, geschniegelt, geräuschlos
gleitet der Gefeierte durch die Gruppen, nur ein dis-
cretes Knistern der fein gearbeiteten Glanzlederstiefel-
chen scheint der Menge zuzurufen: „Ecco il nume,
adorate!" (Hier die Gottheit, betet an!) Es ist derselbe
untadelhafte Stutzer, den so mancher Fremdling im
Hörsaale des Istituto superiore in Florenz sich neugierig
betrachtet hat, wenn derselbe zum Katheder empor-
schwebte, das sauber geschriebene, kokett geheftete
Manuscript aufschlug und die Ungeduld der harrenden
Zuhörerschaar durch den vorläufigen „Dumb-show" von
Handschuh und Taschentuch zu beschäftigen suchte.
Doch Olmipio in Egeria's Salon schickt sich zu lesen an :
„Egli ed ella eran due !" E|r und sie waren ihrer
zwei! Wie der stolze, vom Wetterstrahle getroffene
Erzengel brüllte entsetzlich in der dräuend grimmen
Luft ein ersterbender Sturm, Aus der Erde düsterem
— 250 —
Schoosse, Einer nach dem Anderen, wie psabnodirende
JMönche ihren blassen Zellen entsteigen, tauchten früh-
lingwitternde Schwämme auf. Ihren beweglichen Mikro-
kosmos auf den Schultern, winzigen pilgernden Atlan-
ten gleich, wagten auch schleimige Schnecken sich
hervor , die Pfeile ihrer Homer ausreckend. E r und
«ie aber waren allein! AUeine betrachteten sie den
rothen Todeskampf der untergehenden Sonne !" u. s. w.
Olimpio's Vorlesung wird von enthusiastischem
Beifallssturme aufgenommen. Lucifero aber, der ganzen
Coterie nachgerade satt, beginnt einen Tisch zu rücken,
um auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege das
Urtheil des grossen Alighieri einzuholen. Das Orakel
Dante's beginnt mit einem zufriedenen Blicke auf die
Verwirklichung seiner Idee vom einigen Italien. Aber
die heutige Kunst und Litteratur seines Vaterlandes
kann er nicht loben. Sein erster Fluch gilt — der
Zukunftsmusik.
„Ein Ungeheuer kommt vom kalten Norden, schän-
dend die göttliche Tonkunst, mit scheusslichem Kling-
klang himmelantönend. Lärmend in lärmenden Tönen
lärmet es so, dass unseren beleidigten Ohren Bomben
und Kanonen wie süsse Harmonien klingen".
Der Litteratur aber wird vor AUem ihre Knech-
tung durch den französischen Einfluss vorgeworfen.
„Ueber Berg und Thal ziehen Galliens hässlicbe,
trunkene Musen, die leichtfertigen Eeize um schnödes
Gold verschenkend. Ihre Sünde verstehen sie in gol-
dene Schmeichelworte zu kleiden, mit Blumen ihre
grinsende Hässlichkeit zu verhüllen. So wissen sie den
Beifall der getäuschten Menge zu erschleichen".
— 251 —
Was wir Rapisardi zum Vorwurfe machen, ist der
zweifelhafte Geschmack seiner geschraubten Bhetorik.
Er gehört zu den Autoren, die sich die von Azeglio
so energisch ausgesprochene Mahnung, seine Landsleute
möchten doch einmal einfach und natürlich zu schrei-
ben anfangen, nicht zu Herzen nehmen wollen. Den
Splitter weiss er in Olimpio's Auge zu entdecken, den
Balken im eigenen Auge sieht er nicht. Er wüthet
gegen den französischen Einfluss, und doch ist es gewiss
gerade dieser, der dem modernen Italiener die Muster
geschmackvoller Darstellung zugeführt hat. Und in
der That, Viele scheinen die Lection beherzigt und ver-
standen zu haben. Die unglücklichen Nachahmer von
Boccaccio's steifleinener Prosa sind heute verschwunden »
Drama und ßoman halten sich an bessere Normen,
und die italienische Lyrik hat 1877 unter dem Ein-
flüsse Heine's und Musset's eine Blüthe getrieben, die
auch in dieser Burgfeste des italienischen Bombastes
eine Wendung zum Besseren ankündet. Ich meine die
„Postuma" von Lorenzo Stecchetti (Bologna), der nur
auf dem Titel seines Büchleins und im Nekrologe seiner
schelmischen Vorrede gestorben ist, obgleich er uns
genau „die dritte Cypresse rechts im Campo Santo" als
sein Grab bezeichnet. Seine stark realistisch gehaltenen,
erotischen Lieder bewegen sich zwischen den Polen
dör sinnlichen Wonne und des bitteren Hohnes , aber
das reizende IdyU „H Guado", welches die Furt des
Waldbaches feiert, an dessen Kieselrande die Liebe
den Dichter zum ersten Male knechtete, beweist uns,
dass ihm auch die reinen und die milden Elänge keines-
wegs fremd sind. Die durchsichtige und zugleich färben"
, — 252 —
gesättigte Form gibt dem neuen Lyriker ein Recht,
sich einen Schüler Byron's, Musset's und Heine's zu
nennen. („Stecchetti dimenticava troppo spesso il Codice
per Byron, Heine et de Musset che egli chiamava la
sua Trinitä", Vorrede, Seite 2.)
Etwas älter als Eapisardi und heute bald ein Vier-
ziger, ist der Romandichter Verga. Er stammt aus
einer begüterten Familie der höheren Bourgeoisie Ca-
tania*s. Von jeher der leidigen Nahrungssorgen enthoben,
lebte Verga bald in der besten Gesellschaft Mailands,
wo er dem Kreise Andrea Maffei's angehörte, bald in
Florenz, woselbst er im Sommer 1869 seinen ersten
durchschlagenden Erfolg, die „Capinera" schrieb und
mit Dali' Ongaro bekannt wurde. Seither wohnt Verga
meist in seiner Heimat. Seine Junggesellenwohnung
in Catania zeichnet sich durch einen Comfort aus, wie
man ihn selten in sicilianischen Wohnungen trifft.
Auch Verga ist ein sicilianischer Typus, dunkel
und schwarzäugig; die etwas geckenhaft gepflegten,
nach dem Gesicht zugekämmten Schläfenhaare und der
aufgedrehte Schnurrbart beginnen in's Graue zu spielen.
Verga ist ein Mann von bestem Tone und elegantester
Haltung, ein „oompito cavaliere". Man sagt, er ver-
stehe es, den Weibern so zart entgegenzugehen, dass
dem jungen Manne Erfolge zu Theile geworden, die
seiner dichtenden Phantasie heute mit allerlei brauch-
baren Reminiscenzen entgegenkommen. An der Reali-
tät seines hartnäckigen Junggesellenthums soU aber
wiederum die Dichterphantasie schuld sein. Diese könne
sich das Ehestandsglück nicht denken ohne die reiche
Umgebung eines luxuriösen Hausstandes. Die Geliebte
— 253 —
seines Herzens in ein knappes eheliches Dasein zu locken,
betrachte er als eine ruchlose Ejriegslist. Ich sah eines
seiner Manuscripte. Die Handschrift ist so fein und
langgezogen, dass ihre Blätter dem kurzsichtigen Auge
wie linirt erscheinen. Die Setzer von Verga's Bomanen
müssen so wenig zu beneiden sein wie diejenigen Bal-
zac's, von welchen Grautier berichtet, sie hätten nie
länger als eine Stunde „Balzac" arbeiten woUen.
Verga begann mit einer Carbonari- und einer Liebes-
geschichte („H Carbonari della Montagna" und „Storia
di una peccatrice") , die er seine beiden Jugendsünden
nennt und von denen er heute nicht gerne reden hört.
Sie erschienen in Catania schon vor 1865. Verga's erste
bedeutende Leistung: „Storia di una Capinera", entstand,
wie schon gesagt worden, im Sommer 1869 unter dem
Einflüsse DaU.' Ongaro's. Dieser leitete denn auch die
erste Auflage mit einem Vorworte ein. Vor kurzem
(1877) ist diese Novelle in dritter Auflage bei Treves
in Mailand erschienen.
„Ich sah einmal", so beginnt der Erzähler, „eine
arme Grasmücke in ihrem Käfige. Sie war schüchtern,
traurig, abgehärmt. Obwohl von ihren Kerkermeistern,
den Kindern des Hauses, gut gehalten und liebevoU
gepflegt, musste sie sterben, weil ihr die süsse Frei-
heit entzogen war. Als nun eines Tages die Mutter
jenes Kindes mir die Geschichte eines unglücklichen
siciüanischen Mädchens erzählte, deren Leib die Kloster-
mauern umschlossen, deren Seele die Liebe und der
Aberglaube zu Tode quälten, — eine jener inneren
Geschichten, welche tagtäglich unbeachtet an uns vor-
überziehen, die Kränkengeschichte eines zarten und
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eingeschüchterten Gemüthes, das der Schmerz umklam-
mert und endlich erdrückt, — da gedachte ich der
Geschichte jener armen Grasmücke, die durch die
Gitterstäbchen jenes Käfigs voll Sehnsacht nach dem
blauen Himmel blickte, bis sie das Köpfchen unter den
Flügel barg und verschied.
Deshalb nenne ich meine Geschichte die „Geschichte
einer Grasmücke'^
Diese erste Novelle Verga's ist in Briefen ver-
fasst, welche Maria an ihre Freundin Marianna richtet.
Maria, von ihrem Vater zur Nonne bestimmt, hat die
Klosterschule in Catania auf kurze Zeit verlassen, um
auf dem Landgute des Täters und der Stiefmutter die
schlimme Cholerazeit von 1867 zu passiren. Hier haust
sie in ungebundener und sorgloser Freiheit, im innigen
Verkehr mit der Natur, durchstreift an der Seite ihres
treuen Hofhundes Feld und Wald, theüt die geseUigen
Freuden des Hauses, fühlt endlich die Macht der ersten
Liebe. Von einer Leidenschaft gepeinigt, deren sie sich
nur allmählich bewusst wird, gefoltert von den Vor-
würfen religiöser Beschränktheit, zu schüchtern, um
ihren Widerwillen gegen das BQosterleben kund zu
geben, wird sie in ihren Kerker zurückgebracht, wo Gram
und eine abergläubische Phantasie sie langsam verzehren,
Mit vieler Kunst und grosser Feinheit hat Verga
die sittlichen Conflicte entwickelt und ohne Hand-
lung eine spannende Novelle geschaffen. Die Sprache
ist einfach schön und das Büchlein so reinen Inhalts,
dass es jeder Leserin darf geboten werden.
Wenn es wahr ist, dass Bomane sociale Missstände
einzudämmen im Stande sind, so wird das hier einge-
— 255 —
legte Wort für die Beeilte der Natur gegenüber den
Entscheidungen finsteren Zwanges hoffentlich auch in
Italien gewirkt haben.
Wir bedauern, dass Verga die hier betretene Bahn
der psychologischen Novelle so bald verlassen hat.
So häufig begegnet es den Dichtern, ihre ungerathenen
Kinder am meisten zu Heben! Verga hält sich heute
für berufen, im französischen Genre, im Gesellschafts-
und im Liebesromane seine Siege zu suchen. Die ^^va",
der „Eros" und der „Königstiger" mögen ihre Ein-
tagserfolge durch ihre glatte und elegante Form und
die dramatische Wirkung einzelner Scenen rechtfertigen,
aber ihre Anlage bleibt eine skizzenhafte; jene Ver-
tiefung der Charaktere, der Situationen und des Hinter-
grundes, welche ein grosses Talent bekundet, und welche
einige Somane Bersezio^s so hervorragend auszeichnen,
— sie wird in den genannten Leistungen Verga's um-
sonst gesucht. Er kennt allerdings das italienische High
Life aus eigener Anschauung, und mit Eleganz und
Gewandtheit beherrscht er dessen Sprache, aber die Er-
findung bleibt eine massige und die Entwicklung eine
äussere, was bei dem kritischen Leser den Eindruck
d^r Flachheit zurücklassen muss.
Soeben habe ich Verga's letzte Publication, das
1877 erschienene Bändchen „Primavera" gelesen. Es
besteht aus vier kleinen Novellen, unter welchen die
letzte (Nedda), eine reizende sicilianische Dorfgeschichte,
bei weitem die beste ist. Hier begegnen wir wieder
dem feinfühlenden Verga der Capinera, dem Maler der
sicilianischen Landschaft und dem poetischen Freunde
der Verlassenen, Ich füge hier mit einigen Kürzun-
— 256 —
gen den Eingang dieser Novelle in meiner Ueber-
setzang bei.
Wir befinden uns am Abhänge des Aetna im
grossen Meierhofe Pino. Es ist ein unfreundlicher
Herbstabend. Eine lodernde Flamme brennt im ge-
räumigen Kamine.
„Der Begen fiel und zornig brüllte der Wind.
Zwanzig bis dreissig Mädchen, welche die Olivenlese des
Gutes besorgten, Hessen ihre nassen Gewänder am
Feuer dampfen. Die munteren unter ihnen, das heisst
diejenigen, welche Kupfer in den Taschen fühlten oder
verliebt waren, trällerten und sangen; die anderen
plauderten von der Olivenlese, die diesmal schlecht aus-
gefallen war, von den Heiraten im Dorf e oder vom Regen,
der sie am Arbeiten hinderte und ihnen so das Brod
aus dem Munde stahl. Die alte Pächterin spann, damit
die grosse am Kaminmantel befestigte Laterne nicht
umsonst zu brennen hätte. Der grosse wolfgraue Hund
reckte die unfreundliche Schnauze über die vorderen
Pfoten nach dem Feuer hin und spitzte die Ohren bei
jedem erneuerten Heulen des Windes.
Während die Minestra im Kessel brodelte, begann
der Schäfer einen ländlichen Tanz aufzuspielen, der
zwickend in die. jungen Beine fuhr. Ueber die losen
Backsteine der grossen russgesohwärzten Küche erging
ein Tanzen, das dem Wolfshunde, der mehr als einen
Fusstritt auf den Schweif besorgte, ein vorläufiges Murren
entlockte. Die Eöcke und die Lumpen flogen lustig und
die Bohnen tanzten ihrerseits im grossen Kessel, brodelnd
in ihrem Schaume, dessen Gesprühe die Flamme knistern
machte. Als die Mädchen des Tanzens müde waren, kam
— 257 —
die Eeihe wieder an's Singen: „Nedda, Nedda! wo
steckst du, Varrannisca !"
„Hier", versetzte eine kurze Stimme aus dem
dunkelsten Winkel, in welchem auf einem Reisebündel
ein Mädchen kauerte.
„Was treibst du da drüben?"
„Nichts".
„Warum hast du nicht getanzt?"
„Weil ich matt und müde bin".
„Sing uns eines deiner hübschen Liedchen",
„Ich mag nicht singen".
„Was hast du denn?"
„Nichts". .
„Ihre Mutter liegt am Sterben", sagte Eine, als
hätte sie gesagt: „Die Zähne thun ihr weh".
Das Mädchen, dessen Kinn auf seinen Knien ruhte,
heftete zwei grosse, schwarze, blitzende, aber starre und
thränenlose Augen auf die Sprecherin, senkte sie dann
wieder, ohne den Mund zu öffnen, auf ihre nackten
Füfise.
„Warum hast du denn deine Mutter verlassen?"
„Um Arbeit zu finden. Der Doctor, die Medicinen,
das tägliche BrodI" — sagte Nedda, und etwas Kla-
gendes durchzitterte zum ersten Male ihre rauhe, fast
wilde Stimme. „Müssig auf dieser Schwelle den Sonnen-
untergang zu erwarten, zu denken, dass kein Brod im
Schranke ist, kein Oel in der Lampe, köine Arbeit
für morgen, das ist bitter, — wenn unterdess die arme
Alte krank zu Hause liegt".
Nedda schwieg, schüttelte ihr Haupt, und ihr Auge
blieb starr und trocken.
H. B. 17
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„Eure Näpfchen, ihr Mädchen!" rief jetzt die Päch-
terin, indem sie feierlich den Deckel vom Kessel hob.
Alle drängten sich zum Herde, wo die Pächterin
mit weiser Sparsamkeit die Bohnen auszutheilen begann.
Nedda, mit ihrem Näpfchen unter dem Arme, wartete
bis zuletzt. Endlich trat auch sie heran und die Lohe
des Herdes beleuchtete sie plötzlich mit grellem Scheine.
Es war ein schwarzes, recht elend gekleidetes Kind.
Sie zeigte jene echüchterne und zugleich rauhe Haltung,
welche Noth und Verlassenheit geben. Sie wäre viel-
leicht schön gewesen, wenn Mühsal und Elend ihr nicht
das Weibliche, ich möchte sagen das Menschliche ge-
raubt hätten. Ihre Haare waren pechschwarz, dicht und
wild, von einem Bindfaden kaum zusammengehalten.
Schneeweisse Zähne und eine rohe Schönheit der Ge-
sichtslinien verliehen ihrem Lächeln etwas Anziehendes.
Die grossen schwarzen Augen hätte vielleicht eine
Königin dem auf der letzten Sprosse der menschlichen
Leiter kauernden Dinge geneidet, wären sie nicht durch
die Gewohnheit des stillen Duldens starr und stupid
geworden. Die von übermässigen Lasten ausgerenkten
und von schmerzlichen Anstrengungen gewaltsam ent-
wickelten Glieder waren grob und plump, ohne deshalb
stark zu sein. Die härteste Arbeit war Nedda's Loos.
Wenn sie nicht Steine schleppte, so trug sie Lasten
zur Stadt oder verrichtete irgend eine andere Arbeit,
die der Mann unter seiner Würde hält. Weinlese,
Ernte imd das Einsammeln der Oliven waren ihre Feste,
— mehr eine Erholung als eine Strapaze. Allerdings
warfen diese Arbeiten kaum die Hälfte ihres Hand-
langerlohnes snir Zeit der Sommertage ab, der, wenn
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es gut ging, die Höhe von dreizehn Soldi erreichte.
Die Lumpen, die sie am Leibe trug, machten ihre Er-
scheinung vollends grotesk und Niemand hätte das
Alter des armen Geschöpfes anzugeben vermocht. Das
Elend hatte aus ihr gemacht, was es aus ihrer Mutter
und aus ihrer Grossmutter gemacht, was es wiederum
aus ihrem Kinde machen sollte. Verstand blieb ihr gerade
genug, um die Befehle eines Gebieters zu verstehen.
Nedda reichte ihr Näpfchen hin und die Bäuerin
schöpfte ihr den Bodenrest, der nicht bedeutend war.
„Weshalb kommst du auch immer zuletzt ! Weisst
du noch nicht, dass die Letzte mit dem Reste vorlieb
nehmen muss?"
Das Mädchen senkte die Augen auf die dampfende
Brühe ihres Napfes, als ob sieden Vorwurf verdient hätte.
„Verdammter Regen, der uns den Tagelohn stiehlt",
brum9ite unterdessen eine Stimme. Drei gute halbe
Tage wird der Verwalter am Wochenlohne abziehen".
Dem Zustimmungsgemurmel, das bei diesen Worten
sich erhob, machte die alte Pächterin durch Anstimmen
des Rosenkranzes ein Ende; die Ave Maria's folgten
sich in einförmigem Gesumme, das nur hie und da ein
schlecht unterdrücktes Gähnen durchbrach. Nach den
Litaneien kam das Gebet „für die Lebenden und die
Todten". Nedda's Augen füllten sich mit Thränen und
sie vergass das Amen der Antwort.
„Was soll das heissen, nicht Amen antworten!"
herrschte ihr die Alte in hartem Tone zu.
„Ich dachte an die Mutter, von der ich so ferne
bin", stammelte Ned'da erschrocken.
Nun gab die Pächterin ihrer Schaar die „santa
_ 260 —
notte", nahm die Laterne herab und entfernte sich.
Beim Aufleuchten der letzten Flammen des grossen
Herdes richtete man sich zum Schlafen ein.
Vor Tagesanbruch erhoben sich die Rührigsten,
um nach dem Wetter zu schauen, und die jeden Augen-
blick auf- und zuschlagende Thüre sandte eisige Regen-
und Windschauer über die hälberstarrten Körper der
noch Schlafenden. Mit dem ersten Morgengrauen er-
schien der Pächter, die Saumseligen zu wecken.
„Es regnet", war das trübe Wort, das von Mund
zu Mund lief. Nedda lehnte am Thore und starrte in
die bleiernen Wolken, welche bkugraue Dämmerungs-
reflexe auf ihre Gestalt warfen.
„Wieder ein verlorener Tag!" seufzte ein Mädchen,
indem sie einen herzhaften Biss in ein grosses Stück
Schwarzbrod that.
„Die Wolken theilen sich dort unten am Meere",
bemerkte Nedda, den Arm ausstreckend. „Gegen Mit-
tag vielleicht wird das Wetter sich bessern".
„Ich wollte lieber Regen den ganzen Tag", meinte
eine Andere, „als einen halben Tag im Kothe arbeiten
für drei oder vier Soldi".
„Dir sind drei oder vier Soldi gleichgültig!" rief
Nedda traurig aus.
Samstag Abends drängte sich das ganze Gesinde
um den Zahltisch des Verwalters, auf welchem neben
einer Lage kleiner Bankscheine ein paar lockende Säul-
chen Kupferstücke winkten. Die ungestümen Männer
wurden zuerst befriedigt, dann die streitbaren Weiber,
zuletzt die Schüchternen und die Schwachen.
Nachdem der Fattore alles bedächtig ausgerechnet,
~ 261 —
vernahm Nedda, dass nach Abzug von zwei und einem
halben Tage unfreiwilliger Rast ihr noch vierzig Soldi
verblieben.
Das Mädchen wagte nicht den Mund zu öffnen,
aber Thränen quollen ihr aus den Augen.
„Du klagst noch obendrein, du Heulerin!" rief der
Fattore mit dem barschen Tone eines Dieners, dem
die Interessen seines Herrn am Herzen Hegen. „Ich
bezahle dich ja wie die G-rossen, und doch bist du
elender und kleiner als alle Anderen".
„Ich klage nicht", versetzte Nedda kleinlaut, indem
sie die wenigen Kupferstücke einsteckte, die ihr der
Fattore, um den Werth der Zahlung zu erhöhen, ein-
zeln vorgezählt hatte. „Das schlechte Wetter hat mir
die Hälfte meines Verdienstes geraubt".
„Das geht unsern Herrgott an !" versetzte in hartem
Tone der Verwalter.
„Nicht den Hergott, mich geht's an, mich Arme!"
„Bezahlt dem armen Kinde die ganze Woche",
raunte dem Verwalter der Sohn des Gutsherrn zu, wel-
cher der Olivenlese beiwohnte. „Es sind ja nur wenige
Soldi Differenz",
„Ich darf ihr nichts als ihren Lohn auszahlen!"
„Aber wenn ich dich heisse!"
„Alle unsere Nachbarn würden mir und Ihnen den
Krieg erklären, woUten wir was Neues einführen!"
„Hast recht", murmelte der Sohn des Gutsbesitzers,
eines reichen mit vielen Nachbarn gesegneten Mannes.
Nedda sammelte ihre Lumpen und machte sich auf.
„So spät willst du noch heim?" fragte sie ein
Jlädchen,
— 262 —
„Die Mutter ist so kra^k!" lautete die Antwort.
„Hast du nicht Angst?"
„Wegen der Kupferstücke, freilich, in meiner
Tasche. Aber die Mutter ist so krank!"
„Soll ich mit dir gehen?" fügte in grobscherzen-
dem Tone ein junger Hirt ein.
„Ich geh mit Gottes und der Maria Schutz", sagte
das Mädchen gelassen und schlug den Feldweg ein.
Die Sonne war untergegangen und die Schatten
stiegen rasch am Berge empor. Bald ward es finster.
Nedda hub zu singen an wie ein erschreckter Vogel.
AUe zehn Schritte horchte sie ängstlich auf, wenn ein
durch den Eegen gelockerter Stein sich vom Gemäuer
löste oder der Wind ihr die Kegentropfen von den Bäu-
men in's Gesicht schüttelte. Ein Käuzchen folgte ihr
von Baum zu Baum mit seinem klagenden Liede, und
sie, dieser Gesellschaft froh, suchte den Vogel zu locken,
damit er bei ihr bleibe. Kam sie an einem neben seiner
Fattoria stehenden Kappellchen vorbei, so sandte sie ein
rasches Ave Maria dem Bilde der Heiligen zu, indem
sie zugleich gegen den möglichen Ausfall des hinter
der Mauer wüthenden Hundes ihre Vorsichten traf.
Dann eilte sie weiter und blickte noch zwei, dreimal
zurück zum mattschimmernden Lämpchen, das der Hei-
ligen huldigte und zugleich dem spät aus den Feldern
heimkehrenden Fattore leuchten sollte. Das Lämpchen
flösste ihr neuen Muth ein und trieb sie zu neuem Ge-
bete für die Mutter. Von Zeit zu Zeit zuckte es schmerz-
lich in ihr auf, dann erst beschleunigte sie ihre Tritte,
sang, um den Kummer zu betäuben, aus voller Kehle,
dachte an die frohen Tage der Weinlese oder an die