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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
- FÜR PSYCHIATRIE
UND IHRE GRENZGEBIETE
GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER
OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO-
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG)
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE«
Unter Mitwirkung von
F. AST-München / J. BERZE-Wien / E. BLEULER-Zürich / K. BON-
HOEFFER-Berlin / M. FISCHER-Berlin-Dahl./A.GÜTT-Berlin/K.KLEIST-
Frankfurt a.M. / E. KRETSCHMER-Marburg / P. NITSCHE-Sonnenstein
H.REITER-Berlin / E. RÜDIN-München / C. SCHNEIDER -Heidelberg
herausgegeben von
HANS ROEMER
ILLENAU
Hundertneunter Band
BERLIN 1938
WALTER DE GRUYTER & CO.
VORMALS G. J. GÖSCHEN'’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS-
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
Es wurden ausgegeben:
H. 1/2 (S. 1-92) am ı0. XI. 1938
H. 3,4 (S. 193—342) am 27. XII. 1938
Alle Rechte vorbehalten
Archiv-Nr. 580538 — Printed in Germany
Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35
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ATS,
INHALT
Originalien
W. Enke, Konstitutionstypische u. endokrine Faktoren bei Geisteskranken 4
U. Fleck, Multiple Sklerose und Schwangerschaftsunterbrechung, wie
Unfruchtbarmachung aus ärztlichen Gründen . . .. 2.2... 9
Ludwig Hochapfel, Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie
und progressiver Muskeldystrophie in einer Familie . ...... 16
C. H. Grützmacher, Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex
bei der perniciösen Anämie und seine Stellung im Verlauf der
Perniciosa-Psychosen . . 2 2 2 0 2 0 m er rn 32
Albrecht Langelüddecke, Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe . . . 49
G. Schneider, Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion.. . . . . 86
W. Weinert und E. Fünfgeld, Über die klinische Bedeutung der Hirn-
lipoidreaktion nach Lehmann-Facius . . . 2. 2 2 2 2 2 2 2 ne. 105
R. Flinker, Zur Frage des Wirkungsmechanismus bei der Insulin-, Car-
diazol- und Dauerschlafbehandlung der Schizophrenie . . .... 111
H. Salm, Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung bei 150 `
SChizöphrenen 2.4... A. wu re a ee nee 116
Margarethe Gerhardt, Ergebnisse und Beobachtungen bei der Gardiazol-
Krampfbehandlung von Schizophrenien und anderen Psychosen . 141
Franz Neukamp, Über die Pflichten der Ärzte und Krankenanstalten
zur Herausgabe der Krankengeschichten . . . . 2.2.22... 163
K.Conrad, Die Erbbiologie der endogenen Psychosen. Mit 2 Tabellen im Text 193
J. Pritzkat, Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz .. . . . 201
Roemer, Elisabeth, Über vorübergehende myotonische Symptome in einem
Fall extrapyramidaler lentikulärer Erkrankung. (Atypische arterio-
sklerotische Muskelstarre?) . . 2... 2 2 22.0. te St
E. Menninger-Lerchenthal, Chronische Darmkrankheit und Avitaminose
bei :Geisteskranken, : . 4%». sr. 2 2.8 3.8 zw 2 Sn 245
Hildegard Albrecht, Beitrag zum Wasserhäushält der r Bpileptiker. Mit 12
Figuren im Text s soe u u a a ee 262
M. Thumm, Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung.
Literaturbericht . . ... pan Ve A er ea rel Tr Se ie 278
Zeitschriftenübersicht. Von Harold Widenmeyer . ..... 172
Johannes LangeT-. 2x 4 2:42.23 2.% Ya a En 186
Tagesnachrichten . . . 2.22 22.2 0.. ee Ge 190
Kurze Mitteilungen . . .. 2222000. a ee E R 191
Persönliches . . .. . naeh Aare Ge Due A es en ae Fa A 192, 344
Ernst Schulze f -= a-s w w we. a Br ee ee u a 340
Obermedizinalrat Dr. von Hössiin. in den Ruhestand getrefen er 343
Verhandlungsberichte
Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung der psychia-
trischen Vereinigung der Rheinprovinz in Bonn am 16. Juli 1938 180
M. H. Göring. Bericht über den 10. Internationalen ärztlichen Kongreß
für Psychotherapie in Oxford 29. 7. bis 2. 8. 38 und über den 2. Kon-
greß der Deutschen Allgemeinen Arztlichen Gesellschaft für Psycho-
therapie in Düsseldorf vom 27.—29. 9.38. . Ne meh
Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater in Mar-
burg am 11.5.1938 . . 2.2...
Autorenregister
Albrecht, Hildeg. 86, 262 Gerhard, Margarethe 151
Conrad, K. 193 Göring, M. H. 327
Enke, W. 1 Grützmacher, C. H. 32
Fleck, U. 9 Langelüddecke, Albr. 49
Flinker, R. 111 Menninger-Lerchenthal,
E. 245
Fünfgeld, E., s. W. Wei-
nert Neukamp, Franz 163
. 327
. 333
‚Pritzkat, J. 204
Roemer, Elisabeth 231
Salm, H. 116
Schneider, G. 86
Thumm, M. 278
Weinert, W. und E.
Fünfgeld 105
Professor Dr. Johannes Lange f
Konstitutionstypische und endokrine Faktoren
bei Geisteskrankheiten!)
Von
W. Enke
(Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Bernburg/Saale,
Direktor: Prof. Dr. W. Enke)
(Eingegangen am 20. Juni 1938)
Gehen wir den Beziehungen nach zwischen konstitutionstypischen
und endokrinen Faktoren bei den endogenen Geisteskrankheiten
— denn nur von diesen möchte ich hier sprechen —, so müssen
wir uns über folgendes klar sein:
Konstitutionstyp und endokrine Formel sind wesensmäßig nahe
verwandt, beide wurzeln in der erblichen Anlage und beide sind
bestimmend für die körperliche und geistige normale wie krank-
hafte Entwicklung des Menschen. Es bedeutet letztlich nur eine
forschungstechnische Zweckmäßigkeit, wenn man Genese und
Pathophysiologie der Psychosen entweder mehr unter konstitutions-
typischen oder mehr unter endokrinen Gesichtspunkten betrachtet.
In jedem Falle geht es um die Erforschung der inneren Grund-
gesetze der Konstitution bzw. des Zusammenspieles der in ihr
waltenden keimplasmatisch-geweblichen und humoral-funktionellen
Faktoren.
Die konstitutionstypische Gebundenheit der endogenen Geistes-
störungen steht heute wohl außer Zweifel. Aber auch die starke
Abhängigkeit alles Seelischen von den inkretorischen Drüsen und
ihren Funktionen gehört zum festen Bestand unseres Wissens. —
Insbesondere unter erbbiologischen Gesichtspunkten wie auch
im Hinblick auf die neuen Behandlungsmethoden mit Insulin und
Cardıazol ist daher heute die Frage nach der pathophysiologischen
Bedeutung der keimplasmatisch-konstitutionellen und der humoral-
endokrinen Faktoren für Entstehung wie Verlauf der Psychosen
und ihre therapeutische Beeinflußbarkeit von erneuter Wichtigkeit.
1) Vortrag gehalten auf Aufforderung der Leitung der 63. Wander-Ver-
sammlung der südwestdeutschen Neurologen und Psychiater in Baden-Baden
am 11. und 12. Juni 1938.
1 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1,2.
2 W. Enke
Die keimplasmatischen Defektformen haben bekanntlich enge
erbmäßige Beziehungen zu den endogenen Psychosen. — Wir
kennen das zahlenmäßig häufige Zusammengehen von schweren
keimplasmatisch bedingten Defekt- und Kümmerformen in Form
gehäufter sogenannter Entartungszeichen oder Dysplasien mit
den erblichen Geistesstörungen. — In einer erst kürzlich aus der
Klinik von Pohlisch erschienenen Arbeit hat Panse an Hand ein-
gehender Studien über erbliche Zwischenhirnsyndrome darauf
hingewiesen, daß sowohl Körperstatus wie endokrine Formel und
geistige Störung Ausdruck und Ergebnis einer einheitlichen erb-
lich bedingten Entwicklung sein dürften. Auf Grund seiner gene-
tischen Studien, wobei Panse das Bardet-Biedische Syndrom
als Beispiel für eine früh einsetzende Erbstörung im zwischenhirn-
abhängigen Organisationsgefüge des Menschen gewählt hat, kommt.
er u.a. zu der Schlußfolgerung, daß, je früher im Verlaufe der
ontogenetischen Entwicklung die Erbstörung das Zwischenhirn
in seiner Eigenschaft als Organisationszentrum oder auch als
Organ trifft, um so tiefgreifender die phänotypischen Auswir-
kungen sein werden. Auch für das harmonische Zusammenspiel
der Körperproportionen sei ein genisch bestimmter Plan voraus-
zusetzen, dessen ÖOrganisationszentrum ebenfalls im Zwischen-
hirn mit seinen hormonalen, Stofiwechsel- und Wachstumsregula-
tionsmöglichkeiten zu denken wäre. Die Einbeziehung der Er-
fahrungen über die Organisationswirkungen in die Erbpathologie
könnten nach ihm weitere Aufschlüsse bringen über die Bezie-
hungen erblicher Erkrankungen — also wohl auch der Geistes-
störungen — zu bestimmten somatischen Konstitutionstypen.
Wenn auch andere Autoren, wie z.B. Jung und Carmichael be-
zweifeln, daß schizophrene und katatone Störungen im Zwischen-
hirn oder Hypothalamus lokalisiert seien, so weisen die Studien
Panses doch hin auf eine bedeutsame Möglichkeit für die genealo-
gische Forschung zur Aufklärung der Beziehungen zwischen Kon-
stitutionstypus und dem humoralen System bei den Geisteskrank-
heiten.
Wir wissen, namentlich auf Grund der Untersuchungen von
Gaupp und Mauz, daß gewisse Körperbautypen, besonders alle
asthenischen und dysplastischen Faktoren die Prognose der Schizo-
phrenie ebenso verschlechtern, wie es auch ausgesprochen schizoide
Züge der prämorbiden Persönlichkeit tun. Und umgekehrt haben
daran anschließende Untersuchungen von Bostroem, Rodenberg
u.a. ergeben, daß Verlauf und Prognose des manisch-depressiven
Symptomenbildes bei heterogenem Konstitutionstyp sowie bei
Konstitutionstypische und endokrine Faktoren bei Geisteskrankheiten 3
gehäuften Dysplasien erheblich beeinflußt wird und die Prognose
um so ungünstiger erscheint, je atypischer das körperbauliche
Bild ist.
Wie außerordentlich stark ferner Ausbruch und Verlauf der
endogenen Geistesstörungen auch an vorwiegend endokrine Fak-
toren gebunden sein können, belegt einmal die bekannte Er-
scheinung, daß die Schizophrenie wie auch die Epilepsie besonders
eng mit der Pubertät verkoppelt sind, und sich mit den Generations-
vorgängen der Frau sehr häufig Depressionszustände und andere
geistige Störungen verknüpfen. In Pubertät wie Schwangerschaft
und Klimakterium ist die Tätigkeit fast des gesamten Blutdrüsen-
systems nicht nur gesteigert, sondern auch vielfachen Wandlungen
und Störungen unterworfen, so daß es durchaus berechtigt ist
anzunehmen, daß diese tiefgreifenden Veränderungen nicht nur
Einfluß auf den körperlichen Zustand, sondern auch auf den
seelischen haben können. Ich möchte hier u. a. auf die Arbeit von
H. Hoffmann verweisen über die seelischen Erscheinungen der
Pubertät sowie auf diejenige von Ewald und die von Seelheim be-
sonders eindringlich dargestellten Zusammenhänge zwischen Ge-
nerationsvorgang und psychischer Störung. Auch die zahlreichen
Berichte im Schrifttum über Erfolge der hormonalen Behandlung
der allerverschiedensten Psychosen, die wir selbst in einschlägigen
Fällen immer wieder beobachten, können nicht gut als belanglose
Zufälligkeiten oder Beobachtungstäuschungen beiseite geschoben
werden.
Auf einzelne von endokrinen Störungen abhängige Symptome ist
von vielen Autoren aufmerksam gemacht, sie sind aber auch von vielen
anderen wieder bestritten worden. Langfeldt stellte bei Hebephrenen
häufig große und derbe Testes fest. Im Gegensatz hierzu fanden
Beringer und Dusser bei Schizophrenen kleine und weiche Hoden.
Russische Autoren fanden den Prolangehalt bei Schizophrenen
vermindert, Fraenkel und Geller kleine Eierstöcke häufiger als bei
Gesunden. Diese Beobachtungen finden eine gewisse Bestätigung
durch die gynäkologischen Untersuchungsergebnisse von Naujoks
sowie in den mannigfachen Körperbauvarianten der Schizophrenen
besonders nach der Seite des eunuchoiden Hochwuchses, des
dysplastischen Fettwuchses und des Infantilismus, worauf u.a.
Kretschmer und Joh. Lange verweisen. Entsprechend findet man
bei den Schizophrenen sehr häufig einen nur schwach ausgeprägten
oder einen schroff alternierenden Sexualtrieb und nicht selten auch
sexualperverse Neigungen. Auf Grund dieser morphologischen
wie sexuellen Befunde liegt es nahe, der Keimdrüse wenigstens
1° |
4 W. Enke
für einen Teil der schizophrenen Fälle eine wesentliche funktionelle
Bedeutung beizulegen, und zwar hauptsächlich in der Richtung
einer Hypo- oder Dysfunktion.
Nur wenige sichere Anhaltspunkte über die Bedeutung der
inneren Sekretion haben wir bezüglich des zirkulären Irreseins.
Bumke denkt an die Möglichkeit einer Unstimmigkeit des Blut-
drüsensystems in der Weise, daß die Gesamtheit des richtigen
Stoffwechsels, also auch des Gehirnes gestört werde. Auch die
Beziehungen zwischen Basedow und zirkulärem Irresein können
nicht eindeutig verwertet werden. Im Adderhaldenschen Versuch
wird bei der Manie vorwiegend Schilddrüse, bei der Melancholie
Leber abgebaut. Jedoch denkt man auch hierbei weniger an eine
primäre Störung der Blutdrüsen als vielmehr an eine Affektion der
zentralen Steuerung. Das bislang nur geringe Maß der nachweis-
baren Beziehungen zwischen endokrinem System und zirkulärem
Irresein ergibt sich auch aus den Untersuchungen der Engländer
Hutton und Steinberg. Sie glauben, in 70% ihrer Fälle endokrine
Störungen feststellen zu können. Davon entfallen aber 59°, auf
die Schizophrenieen und nur 11% auf die manisch-depressiven
Erkrankungen. Sie fanden vorwiegend hypophysäre, hypophysär-
thyreoidale oder hypophysär-ovarielle Störungen. — Genaue
Untersuchungen der Gewichtsverhältnisse der einzelnen inneren
Drüsen, wie sie z. B. Freemann vornahm, brachten ebenfalls keine
eindeutigen Ergebnisse für die Konstitutionstypologie bzw. für
die Körperbau-Charakterforschung. Hingegen zeigte sich von
neuem die Bedeutung der Hypophyse, der Schilddrüse, der Neben-
nieren und der Keimdrüsen für die Art und Intensität der geistig-
seelischen Persönlichkeitsfaktoren. Freemann dürfte sehr wohl
recht haben, wenn er sagt, daß weniger die Erforschung des endo-
krinen Systems als solchen, sondern vor allem die der aktiven
endokrinen Substanzen im strömenden Blut neue Aufschlüsse
versprechen.
Einen Ansatz in dieser Richtung und Wegweiser für die endo-
krinologische Erforschung des Konstitutions- und Psychosen-
problems dürften bestimmte experimentelle Untersuchungsergeb-
nisse bieten, die an normalen Konstitutionstypen bisher fest-
gestellt wurden. Ich darf in diesem Zusammenhang an unsere Er-
gebnisse mittels des psychogalvanischen Experimentes erinnern.
Das psychogalvanische Phänomen kommt bekanntlich dadurch
zustande, daß sich psychisches Geschehen, nämlich affektive Er-
regung, durch Vermittlung der Erfolgsorgane des unwillkürlichen
Nervensystems und durch Vermittlung des endokrinen Systems
Konstitutionstypische und endokrine Faktoren bei Geisteskrankheiten 5
äußert. Da sich auf diesem Wege gesetzmäßige Beziehungen
zwischen Konstitutionstyp und Affektivitätsform ergeben haben,
so lassen sich auch entsprechende Beziehungen zu den Vermitt-
lungsorganen der aflfektiven Erregung, zum vegetativen und endo-
krinen System einerseits, zu den Geistesstörungen andererseits
annehmen. Von hier führen auch Beziehungen zu den Grund-
umsatzverhältnissen bei den.Konstitutionstypen und ihren Psy-
chosen, wovon Herr Jahn bereits ausführlich gesprochen hat.
Ferner dürfte auf experimentellem Wege eine systematische
Differenzierung weitgehend gefördert werden können. Die Be-
ziehungen zwischen Körperbau, Blutdrüsensystem und Psyche
beim Eunuchoidismus und Infantilismus z. B. sind zwar bekannt,
aber in ihren feineren Unterschieden nur wenig mehr geklärt als
die Psychopathologie der übrigen Blutdrüsen. Neben der Hypo-
physe und den Keimdrüsen kommt auch dem Schilddrüsenhormon
ein starker Einfluß auf die Psyche zu. Nach Bonhoeffer zeichnen
sich z. B. die depressiven Psychosen Myxödematöser aus durch
Affektarmut trotz psychomotorischer Erregung. Bei Hyper-
thyreoiden hingegen und Basedowkranken findet man Psychosen
mehr zirkulären Charakters. Dem Athletiker sind nicht selten
hypogenitale Züge eigen, insbesondere dem Akromegalen oder
Akromegaloiden. Es ist möglich, daß hierin eine Teilursache liegt
z. B. für die Affektarmut mancher plump-pastöser und athletischer
Schizophrenen, das affektive Verhalten derselben zum mindesten
teilweise bedingt ist durch eine endokrine Unterfunktion.
Einen weiteren Beitrag zur blutchemischen Unterbauung der
Beziehungen zwischen Konstitutionstyp und endokrinem System
bei den Psychosen bedeuten die schon von Herrn Jahn erwähnten
Blutzuckerbelastungsproben, die bisher bei den einzelnen Körper-
bauformen vorgenommen worden sind.
Diese Ergebnisse haben Bedeutung sowohl nach der physiolo-
gischen wie pathophysiologischen Seite des konstitutionellen und
endokrinen Systems bei den Geistesstörungen. Sie finden Ent-
sprechungen z. B. in den Unterschieden der Reaktionsweisen des
vegetativen Nervensystems bei den Konstitutionstypen auf die
Pharmaca Adrenalin, Atropin und Pilocarpin, und zwar in bezug
auf Schnelligkeit und Dauer der Wirkung. Die hierbei gefundenen
Ergebnisse erhalten eine weitere Bestätigung in der bekannten
Erfahrung, daß sehr oft Medikamente ganz verschiedenartige
Wirkung bei verschiedenen Kranken haben. So beobachteten wir
bei der Avertin-Narkose stärker auftretende Zyanosen besonders
häufig und am heftigsten bei Kranken mit pyknischem Habitus.
6 W. Enke
Wir konnten ferner feststellen, daß pyknische Kranke, gleich-
gültig welcher Art ihr Erregungszustand war, sowohl in der Wirkung
der Einzelnarkose als auch in dem Erfolg des Dauerschlafes stark
hinter den wesentlich prompteren Wirkungen bei leptosomen
Kranken zurückstehen. — Daß auch bei den verschiedenen Er-
folgen der Cardiazol- wie Insulinbehandlung konstitutionstypische
wie endokrine Faktoren — in Verbindung mit den psychothera-
peutischen — wesentlich mitbeteiligt sind, halte ich nach unseren
bisherigen Beobachtungen für sehr wahrscheinlich. Jedoch haben
wir unser eigenes Erfahrungsmaterial noch nicht so weit durch-
arbeiten können, daß ich heute bereits bindende Schlüsse daraus
ziehen möchte. Von anderer Seite ist bisher der Beziehung zwischen
Konstitutionstyp und Behandlungserfolg mit Cardiazol und In-
sulin an größeren Untersuchungsreihen m. W. noch nicht nach-
gegangen worden. Zur Erforschung der Pathophysiologie der
Psychosen dürften sich aber auch auf diesem Wege neue Möglich-
keiten ergeben, wobei auch die Zusammenhänge zwischen Blut-
drüsenfunktion und den Vitaminen zu berücksichtigen wären.
Die Beziehungen zwischen Konstitutionstyp, endokrinem System
und Psychose sind weiterhin verfolgbar durch die Verbindungen,
die vom vegetativen und endokrinem System zum zentralen und
peripheren Nervensystem überleiten. Es sei in diesem Zusammen-
hang nur an die Abhängigkeit der Chronaxie vom Sympathicus
erinnert und die darauf fußenden experimentellen Untersuchungen
von Marinesco und Kreindler. Diese beiden Autoren fanden, von
den Körperbautypen ausgehend, mittels der bedingten Reflexe
und der Chronaximetrie charakteristische physiologische Unter-
schiede der motorischen Konstitution, und zwar derart, daß Pyk-
niker und Athletiker im vegetativen Gebiete schneller Reflexe
bilden als im motorischen, die Leptosomen hingegen umgekehrt.
Beide Reflexarten waren bei den Pyknikern und Athletikern
wesentlich schwerer hemmbar als bei den Asthenikern bzw. Lep-
tosomen. Der Unterschied in den Chronaxiewerten bei gedehntem
und ungedehntem Muskel war der Richtung nach bei allen drei
Gruppen gleich, doch war die Differenz bei den Athletikern anı
größten, bei den Pyknikern am kleinsten. Die Muskelerregbarkeit
am ausgeruhten Muskel wies keine charakteristischen Unterschiede
zwischen den Konstitutionsgruppen auf, wohl aber nach ermüden-
der faradischer Reizung. Die Astheniker verhielten sich ähnlich
den Hyperthyreotikern, sie zeigten einen Anstieg auf das 5—6 fache
und gelangten erst in 60—80 Minuten zum Ausgangspunkt zurück.
Bei den Athletikern war der Anstieg der gleiche, der Abfall erfolgte
Konstitutionstypische und endokrine Faktoren bei Geisteskrankheiten 7
aber bereits nach 15—20 Minuten. Die Pykniker glichen den
Hypothyreotikern, sie zeigten einen flachen, kurzdauernden oder
ganz fehlenden Anstieg.
Alle diese Versuche zeigen Wege einer physiologischen Ty-
pologie, die vom Konstitutionsforscher bzw. vom konstitutions-
typologisch eingestellten Psychiater weiterhin zur Verfolgung
der Beziehungen zwischen konstitutionellen Faktoren, endokrinen
Drüsen und den Psychosen gegangen werden können. Denn
eines ist sicher: Von welcher Seite wir auch dieser Frage nach-
gehen, überall finden wir Hinweise auf das tatsächliche Vorhanden-
sein solcher Zusammenhänge. Wenn wir bisher über dieselben
trotzdem noch wenig Sicheres wissen und sich die Ansichten bzw.
Ergebnisse vieler Autoren vorläufig noch widersprechen, so liegt
das m. E. nicht nur daran, daß uns etwa heute noch die erforder-
lichen technischen Untersuchungsmittel fehlten, sondern wohl
auch an folgendem: Der konstitutionstypologisch geschulte Psy-
chiater ist schwerlich zugleich so weit in der Endokrinologie zu
Hause, daß er auch die entsprechenden endokrinologischen Unter-
suchungsmethoden beherrscht. Der Endokrinologe ist umgekehrt
gewöhnlich ebensowenig Psychiater, Psychologe und Konstitutions-
forscher. Es tut daher not: eine konsequente Arbeitsgemein-
schaft zwischen beiden! Dort, wo sie örtlich möglich ist, nämlich
an den Universitäten, wo Psychiater mit der Konstitutionstypo- .
logie vertraut und Endokrinologen vorhanden sind, würde eine
Arbeitsgemeinschaft nicht nur die angeschnittenen Probleme
wesentlich fördern, sondern auch der Erbforschung und damit
unseren rassehygienischen Bestrebungen dienen können. Jedoch
ist die Erfüllung einer weiteren Voraussetzung für eine erfolg-
versprechende Arbeit zu fordern: Es herrscht offenbar vielfach
die Ansicht, daß man die Konstitutionstypologie aus dem Buche
erlernen könne. Das Ergebnis ist, daß sehr Viele heute konstitutions-
tvpologische Diagnostik treiben, aber eine falsche. Man erwartet von
keinem Mediziner, daß er ohne vorangegangene praktische An-
schauung und Unterweisung eine Basedowsche Krankheit diagnosti-
ziert. Sollte es wirklich leichter sein, die verschiedenen Konsti-
tutionstypen, ihre mannigfaltigen Mischformen und dysplastischen
Abarten differentialdiagnostisch zu bestimmen, als eine Basedow-
krankheit zu erkennen ? — Die Konstitutionstypologie ist genau
so eine klinische Untersuchungsmethode wie etwa die Röntgeno-
logie und kann schwerlich am grünen Tisch, d.h. allein aus dem
Buche, schwerlich ohne praktische Anweisung und Führung durch
einen erfahrenen Konstitutionstypologen erlernt werden. Ohne
8 W. Enke
diese kommt es zwangsläufig zumeist zu einem kümmerlichen Di-
lettantismus, der zu einem wesentlichen Teil an der noch heute
in Deutschland bestehenden Uneinheitlichkeit in der Konstitutions-
forschung Schuld hat und an den sich heute vielfach widersprechen-
den Untersuchungsergebnissen über Konstitution und Psychose
einerseits, Blutdrüsen und Geistesstörung andererseits. Es müßte
als selbstverständlich verlangt werden, daß jeder Psychiater oder
Psychologe, der auf dem Gebiete der Konstitutionstypologie
arbeiten will, sich erst an einer psychiatrischen Klinik oder Anstalt
praktisch ausbildet — das kann in einigen Wochen geschehen —,
an der eine einwandfreie Konstitutionstypologie durchgeführt wird.
Schrifttum
Bei dem großen Umfang des einschlägigen Schrifttums sind nur diejenigen
Arbeiten angeführt, in denen die weitere Spezialliteratur gefunden werden
kann.
O. Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten. 4. Aufl. 1936. — A. Bostroem,
Zur Frage der verworrenen Manie. Arch. Psychiatr. 76 (1926). — Ders. Über
organisch provozierte endogene Psychosen. Z. Neur. 131 (1930). — W. Enke,
Über den Aufbau der Persönlichkeit. Sitzgsber. d. Ges. zur Bef. d. ges. Natur-
wiss. zu. Marbg. 70 (1936). — Ewald, Psychische Störungen des Weibes
i. Halban-Seitz. Biologie des Weibes. — W. Freeman, Über die konstitutio-
nellen Faktoren bei Geisteskrankheiten. Arch. of Neur. 37 (1937). — G. H. Hut-
ton und D. L. Steinberg, Endokrine Störungen und Psychosen. J. ment. Sci. 82
(1936). — Gaupp, R. und F. Mauz, Krankheitseinheit und Mischpsychosen.
Z. Neur. 101 (1926). — H. Hoffmann, Die seelischen Erscheinungen der
Pubertät. Klin. W. (1926). — D. Jahn, Stoffwechselstörungen bei bestimmten
Formen der Psychopathie und der Schizophrenie. D. Z. f. Nervenheilk. 135
(1935). — R. Jung und E. A. Carmichael, Über vasomotorische Reaktionen
und Wärmeregulation im katatonen Stupor. Arch. Psychiatr. 107 (1937). —
L. Krehl, Pathologische Physiologie. 14. Aufl. 1932. — E. Kretschmer, Körper-
bau und Charakter. 11. u. 12. Aufl. (1936). — Marinesco und Kreindler, Unter-
suchungen über die motorische Konstitution. Arch. Psychol. 101 (1933). —
F. Mauz, Prognostik der endogenen Psychosen (1930). — H. Naujoks, Unter-
suchungen an Frauen mit genitaler Hypoplasie. Arch. f. Gynäk. 135 (1926). —
F. Panse, Über erbliche Zwischenhirnsyndrome und ihre entwicklungsphysio-
logischen Grundlagen. Z. Neur. 160 (1937). — C. H. Rodenberg, Zur Pro-
gnostik des manisch-depressiven Irreseins bei heterogener Konstitution. Allg.
Z.Psychiatr.100 (1933). — H. Sellheim, Gemütsverstimmungen der Frau. 1930.
Multiple Sklerose und Schwangerschaftsunter-
brechung, wie Unfruchtbarmachung aus
ärztlichen Gründen
Von
U. Fleck
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik des Städtischen Krankenhauses
Nürnberg, Vorstand: Professor Dr. med. U. Fleck)
(Eingegangen am 9. Juni 1938)
Eine kurze Äußerung H. Eymers in der „Münchener Medizini-
schen Wochenschrift“ über die Schwangerschaftsunterbrechung
bei multipler Sklerose lautet: „Die multiple Sklerose gibt keine
Indikation zur Unterbrechung der Schwangerschaft ab, wenn sich
der Zustand im letzten Halbjahr gebessert hat, sondern nur dann,
wenn in der Schwangerschaft ein deutliches Fortschreiten der
multiplen Sklerose festzustellen ist“. Eymer gibt damit die Ant-
wort auf eine Anfrage, bei der es sich um ein 18jähriges Mädchen
handelte, das im 4. Monat gravid war, und bei dem sich der Zu-
stand im letzten Halbjahr nach der Behandlung mit B-Vitamin
und Fuadin leicht gebessert hatte.
Da ich in der letzten Zeit einige Male zur Schwangerschafts-
unterbrechung bei multipler Sklerose Stellung nehmen mußte,
glaube ich doch, das Eymers Worte vom neurologisch-psychiatri-
schen Standpunkt in mancher Hinsicht ergänzt werden müssen.
Ich gehe dabei von dem aus, was sich in den „Richtlinien für
Schwangerschaftsunterbrechunge und Unfruchtbarmachung aus
gesundheitlichen Gründen‘ der Reichsärztekammer vom Jahre 1936
an verschiedenen Stellen über die multiple Sklerose findet. Die
Richtlinien geben nur die große Marschrichtung an, für den Einzel-
fall ist es auch nach ihnen nicht immer leicht, den richtigen Weg
zu finden. Ich glaube zudem, daß meine Ausführungen sinngemäß
auch auf andere in den Richtlinien genannten Krankheiten ange-
wendet werden können.
Nach Schittenhelms, in den Richtlinien wiedergegebenen, recht
interessanten Erfahrungen an Kranken der Kieler Medizinischen und
10 U. Fleck
Frauenklinik fällt der inneren Medizin in ihrem Grenzgebiet, den
Krankheiten des Nervensystems, der Hauptanteil an der Indi-
kationsstellung für die Schwangerschaftsunterbrechung aus ärzt-
lichen Gründen zu. Unter 106 hierher gehörenden Fällen (von
Mitte 1924—1931) fand sich nur eine Kranke mit multipler Sklerose,
bei der eine Schwangerschaftsunterbrechung zustimmend begut-
achtet und vorgenommen wurde. Eine andere Statistik des gleichen
Krankenstandes, die aber 12 Jahre (1922—1934) umfaßt, weist.
3 Fälle von multipler Sklerose auf, bei denen die Schwangerschaft
unterbrochen wurde. Wenn man für die zuerst angeführte Sta-
tistik berücksichtigt, daß den 106 Fällen von Unterbrechung 290
gegenüberstanden, bei denen die Unterbrechung abgelehnt wurde,
so weist das auf die Vorsicht hin, mit welcher die Indikation zur
Unterbrechung der Schwangerschaft in Kiel schon früher gestellt
wurde. Das entspricht durchaus der ärztlichen Ethik unserer
Kliniken.
Leider geht aus Schittenhelms Angaben nicht hervor, für wieviele
Fälle von multipler Sklerose überhaupt ein entsprechender Antrag
gestellt wurde.
Oswald Bumke kann in einem Aufsatz über die Unterbrechung
der Schwangerschaft aus medizinischen Gründen, ebenfalls in den
Richtlinien, mit Genugtuung darauf hinweisen, daß er schon vor
25 Jahren auf der Naturforscherversammlung in Karlsruhe den
Standpunkt vertreten hat, daß die Völker im wesentlichen an der
gewollten Beschränkung der Kinderzahl zugrunde gehen.
Nach ihm ist selbst bei ausgesprochenen Geisteskrankheiten im
Interesse des Lebens der Mutter so gut wie niemals die Indikation
zu einer Unterbrechung der Schwangerschaft gegeben. Das trifft
sicher zu. Man wird aber jetzt die eugenische Schwangerschafts-
unterbrechung in Betracht ziehen müssen.
Nun kommt nach Bumke bei neurologischen Erkrankungen die
Unterbrechung einer Schwangerschaft aus ärztlichen Gründen
häufiger in Frage, und über die multiple Sklerose sagt er: „Eine
Indikation für die Unterbrechung gibt gelegentlich die multiple
Sklerose ab, weil hier manchmal ein sehr schnelles Fortschreiten be-
obachtet wird, das wohl sicher mit der Schwangerschaft zusam-
menhängt‘. |
Also auch Bumke neigt dazu, bei einer multiplen Sklerose vor-
wiegend ein sehr schnelles Fortschreiten der Erkrankung bei Gravi-
dität als Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung anzusehen.
Man darf ja nach den ausgezeichneten Zwillingsuntersuchungen
von Thums aus dem Rüdinschen Institut annehmen, daß die Be-
Multiple Sklerose u. Schwangerschaftsunterbrech. usw. aus ärztl. Gründen 11
deutung der Erblichkeit bei der multiplen Sklerose weit zurück-
zutreten hat.
Albrechts Ausführungen über die Unfruchtbarmachung der Frau
aus medizinischen Gründen, die den Abschluß der Richtlinien bil-
den, leiden darunter, daß sie zu einer Zeit geschrieben sind, in der
das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses wohl noch
nicht da war. Wenn Albrecht (S. 175) anführt, daß ‚von einer
Reihe von Autoren bei Dementia praecox, die außerordentlich
häufig in der Schwangerschaft ausbricht, wegen Gefahr des Rezi-
divs und rascher Verblödung in einer weiteren Schwangerschaft
die Sterilisation ernstlich erwogen wird“, so wären diese Be-
merkungen, die zudem mit den Worten von Bumke im Widerspruch
stehen, bei der gesetzlichen Möglichkeit eugenischer Sterilisation
besser weggeblieben. Auch wenn eine Fußnote auf die eugenische
Sterilisation hinweist, können die angeführten Sätze ein einem Buch
das ın der Hand jeden Praktikers ist, leicht zu Mißverständnissen
führen.
„Bei multipler Sklerose und Myelitis, “ schreibt Albrecht später,
„ist natürlich Verhütung von Schwangerschaft notwendig“. Da-
mit meint er nicht etwa nur eine temporäre Empfängnisverhütung
durch Präventivmittel, sondern zweifelsohne die operative Un-
fruchtbarmachung.
Ein solcher Satz genügt in seiner lapidaren Kürze den Anforde-
rungen der Praxis gewiß nicht. Im Schlußteil des Aufsatzes von
Albrecht heißt es dann: „Von nervösen und psychischen Erkrankun-
gen kommt bei Dementia praecox, Epilepsie und Chorea gravidarum,
die sich verschlimmern, Sterilisation in Frage, geboten ist sie bei
multipler Sklerose und Myelitis‘‘. Der erste Teil dieses Satzes ist
hinsichtlich der Dementia praecox, Epilepsie durch das Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses hinfällig. Über die Chorea
gravidarum ist hier nicht zu sprechen. Der zweite Teil darf hin-
sichtlich der multiplen Sklerose und Myelitis nicht unwidersprochen
bleiben.
F.s kann den praktischen Arzt nur verwirren, wenn im gleichen
Buch einerseits die Sterilisation bei multipler Sklerose allgemein
geboten, andererseits bei multipler Sklerose nur gelegentlich eine
Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung gegeben sein soll.
Eine Sterilisation aus gesundheitlichen Gründen wird
man nur bei solchen Patienten vertreten können, bei denen klıni-
sche Erfahrungen für eine neue Gravidität immer wieder die glei-
chen Gefahren für die Mutter erwarten ließe, eine Unterbrechung
nur dann, wenn die augenblickliche Krankheitssituation Gefahren
12 U. Fleck
für die Mutter in sich birgt, die bei einer weiteren Gravidität durch-
aus nicht wieder aufzutreten brauchen.
Es ist wohl zweckmäßig, sich des Wortlautes des $ 14, Absatz 1
des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 24. 7. 33
in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verhü-
tung erbkranken Nachwuchses vom 26. 6. 35 zu erinnern. Es heißt
da:
„Eine Unfruchtbarmachung oder Schwangerschaftsunterbrechung, die nicht
nach den Vorschriften dieses Gesetzes erfolgt, sowie eine Entfernung der
Keimdrüsen sind nur dann zulässig, wenn ein Arzt sie nach den Regeln der
ärztlichen Kunst zur Abwendung einer ernstlichen Gefahr für das Leben oder
die Gesundheit desjenigen, an dem er sie vornimmt, und mit dessen Einwilli-
gung vollzieht.“
Gerade bei der multiplen Sklerose sind nun generelle Entschei-
dungen nicht möglich. Man wird sich bei seinem Urteil viel mehr
dem ım Einzelfall so verschiedenen Ablauf der Krankheit anpassen
müssen. Ich möchte hier geradezu von der immer wieder von Fall
zu Fall verschiedenen Individualität der Krankheit ‚multiple
Sklerose‘“ sprechen.
Genotypische, wie paratypische Faktoren wirken sich bei ihr im
Einzelfalle, wie auch zu verschiedenen Zeiten des Krankheits-
ablaufes ın durchaus verschiedener Weise aus.
Schon in diagnostischer Hinsicht bietet die multiple Sklerose, wie
hier nicht weiter auszuführen ist, manche Schwierigkeiten. Schwie-
rig ıst die Abgrenzung der multiplen Sklerose von den wohl keine
Einheit bildenden unspezifischen Enzephalomyelitiden. Es fragt
sich auch, ob wir in allen Fällen, bei denen mit ‚klinischer Sicher-
heit“ die Diagnose „multiple Sklerose‘ gestellt wurde, den gleichen
pathologischen Prozeß vor uns haben. Für das praktische Handeln
in der Frage mehr noch der Schwangerschaftsunterbrechung als der
Unfruchtbarmachung aus ärztlichen Gründen tritt diese Frage je-
doch zurück.
Es ist nun eine jedem Kliniker mit. größerer Erfahrung bekannte
Tatsache, daß die Gravidität auf den Ablauf einer multiplen Skle-
rose einen recht ungünstigen Einfluß haben kann, wenn auch nicht,
muß. Darauf weist neuerdings auch Schaltenbrand hin. Er verfügt
über eine große Zahl von Frauen, deren multiple Sklerose unmittel-
bar ım Anschluß an eine Schwangerschaft ausgebrochen ist oder sich
nach jeder Schwangerschaft verschlimmert hat. Es können ja auch
für Gesunde ganz belanglose Infekte bei multipler Sklerose oft zeit-
lich begrenzt oder auch dauernd Verschlimmerungen zur Folge
haben. Über die Pathogenese solcher Verschlimmerungen können
wir nur Vermutungen äußern.
Multiple Sklerose u. Schwangerschaftsunterbrech. usw. aus ärztl. Gründen 13
Auf welche Weise eine multiple Sklerose durch die Gravidität
verschlimmert werden kann, ist ebenso eine durchaus offene Frage.
Wichtig ist aber für die Frage der Schwangerschaftsunter-
brechung oder auch Unfruchtbarmachung, die akuten, schub-
mäßig verlaufenden Fälle von der langsam progressiven und
schließlich von den Endzuständen zu unterscheiden.
Trifft eine Gravidität in einen solchen Schub herein oder leitet sie
den Schub ein, so wäre ich auch dann, wenn die Symptome noch
nicht allzu schwere sind, für eine Unterbrechung der Gravidität.
Selbst wenn wir nicht wissen, ob mit Ablauf der Gravidität oder
auch des Schubes eine weitgehende Wiederherstellung erfolgt, so
legt damit meines Erachtens eine ernstliche Gefahr für die Ge-
sundheit der Mutter vor.
Bei einer solchen ‚akuten multiplen Sklerose“ wird aber neben
einer Schwangerschaftsunterbrechung eine Unfruchtbarmachung
aus gesundheitlichen Gründen nur dann in Frage kommen, wenn
sich rasch ein schwerer Zustand ergibt, als dessen Folge eine ,Ver-
krüppelung‘‘ der betreffenden Kranken zu fürchten ist. Man wird
sich aber auch dann eher für Unfruchtbarmachung entscheiden dür-
fen, wenn es sich um eine Frau handelt, die schon ein oder mehrere
Kinder hat. Bei einem Fall von multipler Sklerose mit einigermaßen
deutlichen klinischen Erscheinungen wird man zweifelsohne auch
zu empfängnisverhütenden Mitteln raten müssen, wenn auch nicht
ın allen Fällen.
Es bedeutet ja ein großes Glück und liegt mehr im Interesse der
Allgemeinheit, wenn die betreffende Frau den bisher geborenen
Kindern gegenüber ihre Pflicht als Mutter verrichten kann, als wenn
sie siech wird. Diese Gefahr droht bei Erkrankung an multipler
Sklerose sowohl von der körperlichen als auch von der seelischen
Seite her. Ich erinnere nur an die leere, fast läppische Euphorie
mancher Kranker mit multipler Sklerose, die sie auch bei Er-
haltung der körperlichen Funktionen unfähig macht, ihren Pflich-
tenkreis auszufüllen. Es handelt sich bei der multiplen Sklerose
eben nicht nur um eine rein neurologische Erkrankung, vielmehr
um eine Erkrankung, die weitgehende seelische Veränderungen
zur Folge haben kann.
Bei den Kranken, bei denen die multiple Sklerose sich nicht schub-
weise, sondern langsam fortschreitend entwickelt (es soll damit
nicht gesagt sein, daß beide Typen sich nicht recht oft überschnit-
ten), wird es sehr auf die Quantität der krankhaften Störungen an-
kommen. Fehlen schon lange Zeit ohne Fortschreiten der Ver-
änderungen die Bauchdeckenreflexe, bestehen dauernd leichter
14 U. Fleck
Nystagmus und leichte spastische Reflexe an den unteren Extremi-
täten, also Störungen, die sich funktionell gar nicht auszuwirken
brauchen, bestehen dabei keine gröberen seelischen Erscheinungen,
so kommt meines Erachtens, falls man nicht unter der Gravidität
den Eindruck eines raschen Fortschreitens der Krankheit bekommt,
weder die Indikation zu einer Unterbrechung der Schwangerschaft
noch zu einer Unfruchtbarmachung in Frage. Die Schwierigkeit
wird dann nur immer wieder die sein, eben das Stationäre der Er-
scheinungen feststellen zu können.
Anders ist es bei den Kranken, die infolge ihrer krankhaften
Symptome, auch wenn es stationäre sind, auf körperlichem und
seelischem Gebiet an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit stehen
und die immer wieder eines besonderen Willensaufwandes bedürfen,
um im Leben eben mitzukommen. Bei solchen Kranken halte ich —
und ich habe mich gutachtlich auch entsprechend geäußert —, so-
wohl die Unterbrechung der Schwangerschaft sowie die Unfrucht-
barmachung aus gesundheitlichen Gründen für angezeigt. Das Auf-
treten einer dauernden Inkontinenz, einer leichten Steigerung der
spastischen Parese der Beine bedeutet in solchen Fällen schon eine
ernste Gefahr für die Gesundheit der Kranken, die die Notwendig-
keit und die Indikation gibt, unter Voraussetzung ihres Einver-
ständnisses ärztlich zu handeln.
Daß bei den Endzuständen der multiplen Sklerose, dann, wenn
die Kranken schon bettlägerig oder sklerotisch blödsinnig sind, die
Indikation zu einer Unfruchtbarmachung nicht immer gegeben zu
sein braucht, ist sicher. Aber auch hier kommt es auf die Eigen-
heiten des einzelnen Falles an. Daß aber solche Kinder zuweilen
geradezu in eine für sie mutterlose Welt hineingeboren werden, wird
man, wenn auch eine ernstliche Gefahr für das Leben und die Ge-
sundheit der Mutter nicht besteht, nicht vergessen dürfen.
Meine kurzen Ausführungen sollen gewiß nicht einer Laxheit das
Wort reden.
Zuweilen werden wir bei der multiplen Sklerose, falls es sich um
eine Unfruchtbarmachung oder Schwangerschaftsunterbrechung
handelt, hart sein und uns gegen eine Unfruchtbarmachung oder
Schwangerschaftsunterbrechung aussprechen müssen. Aber auch
manche Kranke mit multipler Sklerose wird dann, wenn sie den
dringenden Wunsch nach Kindern hat, gegen sich selbst hart sein
müssen, indem sie die Gefahr auf sich nimmt, die die multiple
Sklerose für sie in der Gravidität bedeuten kann.
Zuweilen wird man sich aber auch bei multipler Sklerose zu einer
Unfruchtbarmachung oder Schwangerschaftsunterbrechung ent-
Multiple Sklerose u. Schwangerschaftsunterbrech. usw. aus ärztl. Gründen 15
schließen müssen, trotzdem die Krankheit nicht etwa schneller
fortschreitet.
Im Vordergrund allen ärztlichen Handelns steht der Gedanke an
das Gemeinwohl. Immer wieder wird aber gerade die Stellung-
nahme in der Frage der Unfruchtbarmachung und Schwanger-
schaftsunterbrechung den ethischen Standpunkt des Arztes und
sein Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber seinem Volke in ganz
besonderem Maße kennzeichnen. Wenn von Verschuer mit sehr
glücklichen Worten einerseits von einer lebensnahen Durchfüh-
rung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses spricht,
andererseits vor einer zu weitgehenden „Anpassung“ an das In-
dividuum warnt, so wird man auch gerade bei der Frage der
Schwangerschaftsunterbrechung die einzelnen Entschlüsse immer
wieder scharf abzuwägen haben.
Literaturverzeichnis
Albrecht, Die Unfruchtbarmachung der Frau aus medizinischen Gründen.
Aus Stadler: Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfrucht-
barmachung aus gesundheitlichen Gründen, 1936. — Bumke, Unterbrechung
der Schwangerschaft aus medizinischen Gründen bei Geistes- und Nerven-
krankheiten. Aus Stadler: Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und
Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen, 1936. — Eymer, M.m.W.
1937. — Schaltenbrand, Neue Anschauungen über die Ursachen und Behand-
lung der multiplen Sklerose. Med. Welt, 12. Jahrgang, Nr. 13, 1938. —
Schittenhelm, Andere interne Indikationen. Aus Stadler: Richtlinien für Schwan-
gerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Grün-
den, 1936. — Thums, Zur Erbpathologie der multipen Sklerose, Z. Neur.,
Bd. 155, H. 2, 1936. — Verschuer, von, Woran erkennt man die Erblichkeit
körperlicher Mißbildungen ? Erbarzt, 5. Jahrgang, Nr. 5, 1938.
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie
und progressiver Muskeldystrophie in einer Familie
Von
Ludwig Hochapfel, Stabsarzt i. d. San. Abt. 1,
kommandiert zur Klinik
-= g
— i a a ia
= m. a S
{Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Königsberg;Pr.
Leiter: Prof. Bostroem)
(Eingegangen am 16. Juni 1938)
In dem Bestreben, die Hereditätsverhältnisse bei den Erb-
krankheiten zu ergründen, richtet sich das Augenmerk oft auf
das gleichzeitige Vorkommen von hereditären neurologischen
Systemerkrankungen und vererbbaren Geisteskrankheiten bei
demselben Individuum. Erhöhtes Interesse gewannen diese Er-
scheinungen, als Kleist und auch Ewald die Ansicht äußerten,
daß es sich bei den Schizophrenien um psychische Systemerkran-
kungen handle, welche mit den systematischen Neuropathien,
den verschiedenen Formen von Muskelatrophien, der Friedreich-
schen Krankheit usw. in Analogie zu setzen seien. Tscherning
hebt hervor, daß der hereditären Strukturanalyse der Geistes-
krankheiten ein Gewinn erwachsen könne aus der Erforschung
der entsprechenden Verhältnisse bei den mit ihnen verbundenen
neuro- und myopathischen Krankheiten, deren gröbere somatische
Strukturen dem wissenschaftlichen Eindringen leichter zugäng-
lich sind. Als Beitrag zu diesen erwähnten Fragenkomplexen
verdient ein in unserer Klinik beobachteter Fall von familiärem
kombinierten Vorkommen von Schizophrenie und
Muskeldystrophie veröffentlicht zu werden.
Beziehungen zwischen Myopathien und Geistesstörungen finden
mehrfach schon in der älteren psychiatrischen Literatur Er-
wähnung. Da Conte und Givıa wiesen schon 1836 auf die Kom-
bination der Duchenneschen Pseudohypertrophie der Muskeln
mit Intelligenzschwäche hin. Moebius machte 1879 auf die erb-
lich degenerativen Einflüsse, Fere 1884 auf die Häufigkeit geistiger
Schwäche bei dieser Krankheit aufmerksam. 1887 stellte Vigioli
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 17
unter den 50 Fällen der Literatur achtzehnmal Demenz fest.
Sante de Sanctis schrieb 1900, daß das Verhältnis der ‚myopa-
thischen und myelopathischen Krankheiten‘ zu gleichzeitigen
cerebralen Krankheitsprozessen der Revision bedürfe, da bisher
das Auftreten geistiger Veränderungen zumeist nur als Kompli-
kation betrachtet worden sei.
Seit 1900 findet sich in der Literatur eine große Anzahl von
Mitteilungen über das gleichzeitige Vorkommen von geistigen
Störungen bei Myopathien. Man kann natürlich von vornherein
nicht erwarten, daß die in Verbindung mit Muskelatrophie be-
schriebenen psychischen Störungen irgendwie besonders gekenn-
zeichnet wären; wir finden daher in der Literatur schon von
Duchenne hervorgehoben, daß die Muskeldystrophien mit den
verschiedenartigsten psychischen Störungen kombiniert vor-
kommen. Porta veröffentlichte 1932, daß von 359 Fällen von
Muskeldystrophie des Schrifttums bei 73 (20°) psychische Stö-
rungen oder Epilepsie aufgetreten war.
Er teilt die bei Muskeldystrophie vorkommenden zerebralen Erscheinungen
in sieben Gruppen ein: Schwachsinn, verschiedene Geistesstörungen, Epilepsie,
extrapyramidale, dienzephalohypophvsäre, endokrin-intrazerebellare Sym-
ptome. Sie fänden sich ohne Unterschied bei den verschiedenen beschriebenen
Formen der Dystrophie, bei atrophischen, wie bei pseudohypertrophischen,
bei familiären und nichtfamiliären Fällen mit oder ohne grobe zerebellare
Lokalisation. Trotz ihrer Unbeständigkeit und Verschiedenartigkeit seien
die zerebralen Symptome nicht als zufällige Beigaben zu behandeln, sondern
als der myodystrophischen Grunderkrankung zugehörige Erscheinungen.
Aus der Summe der Literaturberichte dieser Art ist es für unsere
Betrachtungen notwendig, diejenigen Fälle herauszugreifen und
anzuführen, bei welchen primäre Myopathien zusammen mit
charakteristischen Psychosen des schizophrenen Formenkreises
vorkommen. Redlich hob hervor, daß die von Erb unter dem Namen
der Dystrophia musculorum progressiva zusammengefaßten Er-
krankungen Komplikationen mit endogenen Psychosen häufig
erkennen lassen. Stransky dagegen betonte, daß sich mit der
Dystrophie zwar nicht selten psychische Störungen vergesell-
schaften, daß jedoch unter diesen ausgesprochene Psychosen sich
erheblich weniger häufig finden. Westphal wies 1935 darauf hin,
daß von den Psychosen, welche zusammen mit Ampyotrophien
vorkommen, diejenigen psychischen Störungen, welche nach
unserer heutigen Auffassung als schizophrene Prozeßerkrankungen
gedeutet werden müssen, bei weitem überwiegen. Wir finden auch
das Vorkommen von Muskelatrophien zusammen mit manisch-
depressivem Irresein nur ganz vereinzelt (Redlich, C. Westphal,
2 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 119, H. 1,2.
tw
18 Ludwig Hochapfel
Schäfer, Siemerling), dagegen zusammen mit Schizophrenie viel
häufiger beschrieben. Wir führen im folgenden jene Arbeiten aus-
führlicher an, weil sie in enger Beziehung zu dem von uns beobach-
teten Fall stehen. Wir beschränken uns also auf die Kombination
Muskeldystrophie und Schizophrenie und gehen auf die
ebenfalls häufig beschriebenen Beziehungen zwischen amyotro-
phischer Lateralsklerose und Schizophrenie (Fragnitto, Dornblüth,
Pilez, Hänel, Kleinwächter-Dornblüth, A. Westphal) nicht ein.
Stransky gab an, in dem Krankengeschichtenmaterial der
Wiener Nervenklinik von 1900 bis 1909 keinen Fall von Dystrophie
mit gleichzeitigen psychischen Störungen darunter gefunden zu
haben; auch an der psychiatrischen Station der Klinik seien von
1908 bis 1909 geistesgestörte Dystrophiker nicht beobachtet
worden.
Er bemerkt dazu, daß diese Angaben im Gegensatz zu den übrigen Lite-
raturberichten stünden und erklärt dies damit, daß es örtliche Verschieden-
heiten zu geben scheine. Aus dem Schrifttum gehe hervor, daß die mit Muskel-
dystrophien zusammen vorkommenden psychischen Störungen meist der
großen Gruppe der degenerativen Erkrankungen angehörten und zwar ent-
weder der paranoiden oder affektiven (manisch-depressiven Gruppe). Er
berichtet dann von einem selbst beobachteten dystrophischen Brüderpaar.
von welchem der ältere Bruder psychotisch erkrankt war. Bei diesem begann
der atrophische und dystrophische Prozeß im 9. Lebensjahr und schritt
langsam von den unteren Extremitäten auf Rumpf und Nacken fort. Im
23. Lebensjahr kam er dann wegen psychischer Störungen in die Klinik.
Die Untersuchung ergab hochgradige Atrophie und Dystrophie der Muskulatur
an Beinen, Rumpf, Armen und Nacken, bulbäre Störungen; keine Entartungs-
reaktionen, aber Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit in den atrophischen
Bezirken. Psychisch bestanden paranoide Beziehungs- und Vergiftungsideen
und Angstzustände. Bei dem jüngeren, damals 15jährigen Bruder hatte der
muskelatrophische und -dystrophische Prozeß in gleicher Weise seit dem
9. Lebensjahr eingesetzt, war jedoch noch nicht so weit vorgeschritten. An-
zeichen für eine Psychose waren damals nicht vorhanden. Ein weiterer Bruder
war völlig gesund. Von Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie war
sonst nichts bekannt.
Liebers veröffentlichte 1907 eine Beobachtung über psychische
Störungen bei einem an progr. Muskeldystrophie erkrankten Mann.
Der muskeldystrophische Prozeß hatte mit 15 Jahren an den Armen be-
gonnen und war im 20. Lebensjahr auch an Beinen, Schultergürtel und im
Gesicht aufgetreten. Deltoideus, Biceps, Triceps und Gastrocnemius zeigten
Pseudohypertrophie. Im 23. Lebensjahr wurde der Patient psychotisch, hatte
massive optische und akustische Halluzinationen, zahlreiche Versündigungs-
ideen und wurde ängstlich erregt. Eine erbliche Belastung lag nicht vor.
Liebers nahm an, daß das psychotische Zustandsbild durch eine
zu gleicher Zeit in Erscheinung getretene Basedowsche Erkrankung
ausgelöst sei.
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 19
Recktenwald schrieb 1919 „über einen familiären fortschreiten-
den Muskelschwund in Verbindung mit schizophrener Verblödung‘“.
Er hatte beobachtet, daß in einer psychopathologisch stark belasteten
Familie von 8 Kindern 3 Schwestern an Schizophrenie und gleichzeitig an
einer Form von Muskelschwund erkrankt waren, welche eine Mischung von
Muskeldvstrophie und spinal-amyotrophischen Zeichen darstellte. R. schloß
daran Betrachtungen über die Beziehung zwischen Muskelschwund und
Geistesstörung. Er wies dabei darauf hin, daB nach vielfach vertretenen
Theorien beiden Erkrankungsarten eine innersekretorische Genese zugrunde
liege und stellte fest, daß auch bei den von ihm beobachteten Fällen inner-
sekretorische Störungen verschiedenster Art vorgekommen seien. R. kam
deshalb zu dem Schluß, daB das gemeinsame pathogenetische Band zwischen
fortschreitender Muskeldvstrophie und Dementia praecox in einer Störung
von Drüsen mit innerer Sekretion zu suchen sei.
Tscherning veröffentlichte 1921 einen Fall von Muskeldystrophie
mit Dementia praecox. Er hob dabei hervor, daß in den Sammel-
referaten von den 200 Fällen von Muskeldystrophie 28 mit psy-
chischen Anomalien, darunter 3 mit Paranoia einhergegangen
waren.
Bei dem von ihm untersuchten Fall handelte es sich um einen Kaufmann,
bei welchem mit 12 Jahren der muskeldystrophische Prozeß an den unteren
Extremitäten eingesetzt und langsam fortgeschritten war; die schizophrenen
Krankheitszeichen traten mit 48 Jahren in Erscheinung. Drei Brüder des
Patienten litten ebenfalls an Muskeldystrophie. Mütterlicherseits lag eine
erbliche Belastung mit Muskeldvstrophie bei ausgesprochenem rezessiv ge-
schlechtsgebundenem Erbgang vor, väterlicherseits bestand eine schizothyme
Familienkonstitution.
T. schloß daran eingehende erbbiologische Betrachtungen über
die Auswirkung der beiden erbschädlichen Einflüsse und kam
zu dem Schluß, daß die psychische Erkrankung und das organische
Leiden bei ein und demselben Individuum parallel verlaufen. Er
erwähnt dann noch, daß die Erbsche Dystrophie als Schulbeispiel
für den geschlechtsgebundenen Erbgang gelte, daß er selbst jedoch
eine Anzahl von Fällen gefunden habe, bei denen die Erkrankung
andere Vererbungsbahnen eingeschlagen habe. Er stellte die
Theorie auf, daß die Regelwidrigkeit der Heredität bei der pro-
gressiven Muskeldystrophie dadurch erklärt wäre, wenn man als
Ursache der Muskeldystrophie nicht die primäre Muskelerkrankung,
sondern eine etwa dem Diabetes analoge Gleichgewichtsstörung
der die Muskulatur regelnden innersekretorischen Drüsen annähme.
Sjövall gab 1936 „eine Erblichkeitsmedizinische und Klinische
Studie‘‘ über die progressive Muskeldystrophie heraus. Unter
den 161 beschriebenen Fällen finden sich außer der Kombination
mit anderen Psychosen auch 2 Fälle von Muskeldystrophie und
gleichzeitig bestehender Schizophrenie beschrieben:
20
20 Ludwig Hochapfel
Bei einer Patientien trat mit 13 Jahren ein muskeldystrophischer Prozeß
an den Beinen auf; mit 15 Jahren bestand bereits auch starke Atrophie der
Muskeln des Schultergürtels und Oberarme. In den folgenden Jahren trat
dann eine typische Schizophrenie mit psychomotorischen Erregungszuständen
und Halluzinationen in Erscheinung. Ein Bruder der Probandin befand sich
wegen Schizophrenie in einer Irrenanstalt. Eine Mutterschwester der Prob.
litt an Muskeldystrophie, eine andere war schizoid. Bei dem zweiten Fall
handelte es sich um einen Mann, bei welchem die Muskeldystrophie mit
44 Jahren an den Beinen begonnen und einige Monate später auch Arm-
und Schultermuskulatur ergriffen hatte. Mit 35 Jahren wurde bei demselben
eine Schizophrenie ‚stumpf dementer Typus‘ festgestellt. Die Erbanalyse
ergab, daß nach den beobachteten Verhältnissen für die progressive Muskel-
dystrophie ein dimerrezessiver Erbgang angenommen werden könne. Da
diese Hypothese keine befriedigende Erklärung für die Beobachtungen anderer
Autoren über die Vererbung bei Dystrophia musculorum progressiva dar-
stellt, wird die Möglichkeit erörtert, daB ein Gemenge verschiedener Erb-
typen vorliegt.
Den Ausgangspunkt zu vorliegender Arbeit bildete ein in unserer
Klinik beobachteter Fall von progressiver Muskeldystrophie bei
einem Schizophrenen; es stellte sich heraus, daß die Schwester
des Patienten früher wegen derselben Erscheinungen in unserer
Klinik war und daß ein weiterer Bruder an Schizophrenie und
muskelatrophischen Prozessen gelitten hat. Wir berichten folgend
über die drei Geschwister:
Arnold P.: geb. am 2.2.1906, lernte rechtzeitig gehen und
sprechen. Mit 4 Jahren erlitt er durch Sturz vom Pferd eine Gehirn-
erschütterung, mit 9 Jahren machte er Scharlach durch. Er be-
suchte das Gymnasium, war anfangs ein fleißiger und begabter
Schüler, versagte jedoch später, war unaufmerksam, konnte sich
nicht konzentrieren und kam nur bis Obersekunda. Im Anschluß
daran lernte er als Kaufmann. 1924 behauptete er plötzlich im Ge-
schäfte Feinde zu haben, wurde euphorisch, entwarf große Pläne,
wollte durch Gott berufen sein das Vaterland zu retten. P. kam
dann in eine andere kaufmännische Stelle und fiel anfangs dort durch
seine Nervosität auf. Zu Anfang des Jahres 1925 machte sich bei ihm
wieder eine Wesensveränderung bemerkbar; er wurde schwerer lenk-
sam, verschlossener, andererseits war er auffallend vergnügungs-
süchtig, infizierte sich mit Gonorrhoe, veruntreute Geld, welches er
zum Naschen verwendete. Als er daraufhin aus dem Geschäft ent-
lassen wurde, war er unruhig, reizbar, äußerte allerlei wahnhafte
Ideen, so z. B. daßer ein Mädchen vergewaltigt habe. Sein Vater,
welcher Arzt ist, stellte zu derselben Zeit bei ihm eine beiderseitige
Atrophie im Peroneusgebiet fest, nachdem ihm aufgefallen war, daß
sein Sohn immer auf der äußeren Fußkante ging. P. wurde dann auf
ein Gut zu Verwandten gebracht, fiel jedoch dort von Anfang an als
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 21
geistesgestört auf, war unstet, wollte sich keine Ruhe gönnen, machte
“bei der Arbeit sonderbare Bewegungen, boxte in die Luft, warf
sich zu Boden, biß mit den Zähnen Gras aus,- schrie nachts aus
dem Fenster, sagte, Diebe stiegen ein, drohte dem Gutsinspektor
mit Ermorden, warf sich morgens nackt unter den Brunnen und
verlangte von den Leuten, sie sollten ihn mit Wasser begießen.
Als er immer erregter und gegen ein Dienstmädchen agressiv wurde,
kam er am 5.9.1925 erstmalig in unsere Klinik. Nach dem
damaligen Krankenblatt ergab die Untersuchung an den inneren
Organen keinen krankhaften Befund. Neurologisch fand sich
starke Atrophie der Muskulatur beider Unterschenkel. Die elek-
trische Prüfung ergab keine Abweichung von der Norm; auch
die Reflexe waren normal auslösbar. Psychisch war P. autistisch,
nicht ansprechbar, verbigeratorisch. Aus seinen Äußerungen war
zu entnehmen, daß er stark unter optischen und akustischen
Halluzinationen litt und unter deren Einfluß in ängstliche Er-
regung geriet; er sah Polen kommen mit Pferden, erteilte militä-
rische Befehle zu deren Abwehr, wollte dauernd fliehen. Nach
7monatiger Behandlung wurde P. gebessert nach Hause entlassen.
Man brachte ihn bei einem Mühlenbesitzer unter, jedoch im Juli
1927 mußte P. erneut in unsere Klinik aufgenommen werden,
nachdem er dort planlos umhergelaufen, zeitweise ängstlich er-
regt geworden war, verworren geredet, geschrien und Wahnideen
geäußert hatte. Die Untersuchung ergab, wie aus der Kranken-
geschichte hervorgeht, deutliche Zunahme der Atrophie an den
Unterschenkeln. Reflexanomalien waren nicht nachzuweisen.
Elektrisch zeigte sich an der Wadenmuskulatur bei faradischer
Reizung etwas herabgesetzte Zuckung, bei Reizung vom Nerven
aus prompte Ansprechbarkeit; bei Prüfung mit galvanıschem
Strom fand sich prompte Zuckung, keine Umkehr, keine Ent-
artungsreaktion. Die Adduktoren waren faradisch links stärker
ansprechbar als rechts, galvanisch o. B. Psychisch zeigte sich
bei P. ein weitgehender Persönlichkeitszerfall mit allen schizö-
phrenen Krankheitszeichen. P. hatte dauernden ziel- und plan-
losen Bewegungsdrang, war nicht fixierbar und auch affektiv in
keiner Weise ansprechbar. Er bot ausgesprochene Zerfahrenheit
in seinen Reden, Stereotypie und Manieriertheit in seinen Be-
wegungen. Seine Äußerungen ließen auf eine wahnhafte Krank-
heitsfurcht vor Syphilis und Aussatz schließen. Einmal gab er
auch zu, unter dem Einfluß von Stimmen zu stehen, welche ıhm
Befehle erteilten, nach denen er handeln müsse. Zeitweise war
P. ausgesprochen kataton, verhielt sich gesperrt, mutistisch,
22 Ludwig Hochapfel
negativistisch, grimmassierte stark. Am 4. 2. 1928 konnte P., was
den psychischen Zustand betrifft, gebessert nach Hause entlassen
werden. Im Juli 1930 äußerte P. Suicidabsichten, ging in das
Wasser, versuchte sich zu erhängen und wurde deshalb nach den
Kückenmühler Anstalten bei Stettin gebracht. In dem
körperlichen Befund des dortigen Krankenblattes findet sich an-
gegeben, daß das rechte Bein etwas nachschleife, der Gang hinkend
und unsicher sei; der Patellarsehnenreflex fand sich rechts schwächer.
In seinem psychischen Verhalten ist P. ım wesentlichen genau
so wie in unserem Krankenblatt von 1928 beschrieben. Seine Wahn-
ideen bestanden aus völlig unsinnigen Befürchtungen für seine
Eltern; er glaubte seine Eltern in großer Gefahr, fürchtete, sie
würden ermordet werden. Nach Entlassung war P. drei Jahre
zu Hause, verhielt sich relativ unauffällig, machte mit seinen
Eltern Reisen, lernte dabei ein Mädchen kennen und äußerte den
Wunsch, diese zu heiraten. Als man ıhn darauf hinwies, daß dies
nicht möglich sei, wurde er mürrisch, niedergeschlagen, verschlossen,
benahm sich feindselig gegen seine Eltern, halluzinierte und äußerte
wahnhafte Angstvorstellungen und Verarmungsideen. Er glaubte,
die Türen seien nicht verschlossen, sagte in der Nacht sei das ganze
Zimmer voller Leute gewesen, welche ihm seine ganzen Sachen
weggeholt hätten, und gab an, daß er verarmt sei und überall
Schulden habe. Zu derselben Zeit zeigte sich deutlichere Schwäche
in den Beinen, und der Vater beobachtete augenfälliges Dünner-
werden der Unterschenkel. Am 19. 2. 1937 brachten ihn dann seine
Angehörigen zum dritten Male in unsere Klınik. Ich erhob
folgenden Untersuchungsbefund, welcher zusammen mit den
Erhebungen über die hereditären familären Verhältnisse Veran-
lassung gab, den vorliegenden Fall zu veröffentlichen. Psychisch:
P. ist in stetiger psychomotorischer Unruhe, zieht sich fortwährend
mit den Armen an den Kastenbettwänden hoch, vollführt im Bett
stereotyp schaukelnde Bewegungen, grimmassiert stark, spuckt
dauernd um sich. Er ist völlig unansprechbar und unbeeinflußbar,
nimmt kaum Notiz von seiner Umgebung, widerstrebt allen Ein-
wirkungen. Beim Hinzutreten reicht er manieriert die Hand,
wendet dabei das Gesicht ab, führt in läppischer Weise die Hand
an die Stirn, murmelt unverständliche Worte; plötzlich hält er
inne und liegt dann stundenlang in verkrampfter ausgestreckter
Haltung, völlig mutistisch im Bett. Gelegentlich war zu hören,
daß er in völlig sinnlos-zerfahrener Weise vor sich hinsprach.
Manchmal hatte man den Eindruck, als ob er halluzinierte. Affekt-
reaktionen konnten nie bemerkt werden, auch war P. in keiner
%
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 23
Weise gemütlich ansprechbar. Zuweilen war P. ohne erkennbare
Ursache triebhaft erregt, äußerst gespannt, negativistisch-agressiv.
Er wälzte sich am Boden, kroch unter den Betten umher, zerriß
Kleider und Bettzeug, ließ Stuhl und Urin unter sich, stopfte sich
alles mögliche in den Mund und schlug um sich, wenn man ihn
daran hinderte.
Im Laufe der Beobachtung wurden die zerfahrenen Erregungs-
zustände seltener, doch blieb die trıiebhafte Unruhe, die stereotypen,
manierierten Bewegungen, die Zerfahrenheit des Sprechens und
Handelns, das autistische, negativistische und aflfektverödete Ver-
halten unvermindert bestehen. In diesem Zustande wurde P. am
22.5.1937 nach der Heil- und Pflegeanstalt Riesenburg verlegt.
Der zuletzt erhobene körperliche Befund war folgender:
Größe 1,78 m, Gewicht 73.5 kg. Athletischer Körperbau, allgemein schlechter
Ernährungszustand, geringes Fettpolster. Das Gebiß ist lückenhaft, Zunge,
Rachen, Tonsillen zeigen keine Besonderheiten. Die Schilddrüse ist nicht
vergrößert. An den inneren Organen findet sich nichts Krankhaftes. Der
Blutdruck beträgt 115/90 mm Quecksilber. Der Urin ist frei von Eiweiß und
Zucker. Die Syphilisreaktionen im Blut sind negativ. Genitale o. B. Sekun-
däre Geschlechtsmerkmale vorhanden. Neurolögisch: Die Nervenaustritts-
stellen am Schädel sind nicht durckschmerzhaft. Pupillenform und -reak-
tionen sind intakt, die Augenbewegungen frei, der Augenhintergrund normal.
Kein Nystagmus. Der Augenschluß ist kräftig. Keine Seh- und Hörstörung.
Keine Sprach-, Kau- und Schlingstörung. Geruchs- und Geschmacksfunk-
tionen sind erhalten. Die Gesichtsmuskulatur ist seitengleich und normal
innerviert. Ials- und Nackenmuskulatur ist unauffällig. Die Muskulatur des
Schultergürtels und Armes zeigt keine krankhaften Veränderungen und auch
bei der elektrischen Untersuchung normales Verhalten. Brust-, Bauch- und
Rückenmuskeln sind gut ausgebildet und voll funktionsfähig, Triceps und
Radiusperiostreflexe sind seitengleich, regelrecht auslösbar, Bauchdecken-
und Cremasterreflexe desgleichen. Die Muskulatur beider Beine ist ohne auf-
fallende Seitenunterschiede atrophisch und paretisch. Die Atrophie ist an
den Unterschenkeln hochgradig, jedoch auch an den Oberschenkeln deutlich
sichtbar. Ein Vergleich der Umfangmasse mit den bei den früheren Aufent-
halten des P. in unserer Klinik gemessenen ergab folgendes Resultat:
Oberschenkel:
R L
1925 27cm oberhalb des Kniegelenkes 46,5 45,5
1927 „ ” Jl „ 46,5 45,9
1937 „ 7 JL „ 42,5 42,0
1925 15cm oberhalb des Kniegelenkes nicht gemessen
1927 29 „ IL ’ 40 38,5
1937 T 5 JL T 35,5 35,5
Unterschenkel:
1925 15cm unterhalb des Kniegelenkes 32 30
1927 Y m JL Mn 31,5 30
1937 1 1 J-L 7 27,5 27,5
24 Ludwig Hochapfel
Der Tonus der Muskeln ist vermindert, die mechanische Erregbarkeit normal;
nirgends sind fibriläre Zuckungen zu sehen, ebenso fehlen Tremor und Spasmen.
Die passive Beweglichkeit in Hüft-, Knie- und Fußgelenken ist voll erhalten.
Das Beugen und Strecken der Oberschenkel im Hüftgelenk ist ausreichend
möglich. Einwärts- und Auswärtsrollen, sowie Zusammendrücken der Ober-
schenkel werden mit verminderter Kraft ausgeführt. Die Beugung im Knie-
gelenk ist nur mit sehr geringer Kraft, die Streckung im Kniegelenk und
das Erheben des gestreckten Beines sind gänzlich unmöglich. Die Füße hängen,
wenn sie den Boden nicht berühren, in Spitzfußstellung und dabei etwas
supiniert schlaff herab (Pes equino-varus). Dorsal- und Plantarflexion sind
geringgradig erhalten. Weder der äußere, noch der innere Fußrand können
aktiv gehoben werden. Die Extension und Flexion der Zehen ist möglich, aber
schwächer als normal. Die Zehen stehen in Krallenstellung. Der Gang ist
hochgradig unbeholfen, breitbeinig, watschelnd, mit fast gestreckten Knie-
gelenken. Vorwärtsbewegung geschieht durch abwechselndes Vorschleudern
einer Hüfte; die Fußsspitzen schleifen am Boden (Steppergang). Die Patellar-
und Achillessehnenreflexe fehlen, desgleichen auch die Plantarreflexe. Ba-
binski, Gordon und Oppenheim sind beiderseits negativ, Patellar- und Fuß-
klonus sind nicht auszulösen.
Elektrische Prüfung: Oberschenkel: Quadriceps faradisch beiderseits
schwach erregbar; galvanisch kleinste Zuckung bei 20 MA, Zuckung blitz-
artig, keine Polumkehr. Adduktoren: galvanisch rechts wie links kleinste
Zuckung bei 50 MA. Vastus-Gruppe: faradisch beiderseits prompte Zuckung,
links schwächer als rechts. Galvanisch Semitendinosus links kleinste KaSZ
bei 14 MA, rechts bei 8 MA. Biceps: links kleinste KaSZ bei 9 MA, rechts bei
5 MA. Glutaei: beiderseits normal erregbar. Unterschenkel: Gastrocne-
miusgruppe: faradisch prompt erregbar. Galvanisch links kleinste KaSZ bei
8 MA, rechts bei 8 MA. AnSZ links bei 10 MA, rechts bei 11 MA. Extensor
digit. communis: faradisch prompt erregbar, Zuckung blitzartig, galvanisch
KaSZ rechts wie links bei 10 MA. AnSZ ebenfalls beiderseits bei 14 MA.
Flexor digit. long.: faradisch prompt, galvanisch prompt, aber quantitativ
herabgesetzt. Flexor hallucis long.: ebenfalls faradisch prompt, galvanisch
ebenso prompt, aber quantitativ herabgesetzt. Interossei: faradisch prompt,
galvanisch beiderseits KaSZ bei 7 MA.
Schwester Elsbeth P.: geb. am 11. XII. 1894
machte eine normale Kindheitsentwicklung durch. In der Schule kam sie
leidlich mit, war in ihrem Wesen etwas läppisch und altklug. Mit 17 Jahren
war sie plötzlich nach einer Aufregung psychisch verändert, sprach völlig
verwirrt, hörte Stimmen, verweigerte die Nahrungsaufnahme, äußerte wahn-
hafte Befürchtungen für ihre Eltern, so z. B., daß dieselben ins Wasser ge-
worfen und ertränkt worden seien. Gleichzeitig wurde ihr Gang schwerfällig
und watschelnd. Nach 1!/,jähriger Behandlung in der Heil- und Pflegeanstalt
Neustadt (jetzt Waischerowo/Polen) konnte sie von dort gebessert entlassen
werden und lebte 12 Jahre lang zu Hause, zeigte allerdings noch deutliche
psychische Defektsymptome. Im Jahre 1931 wurde sie deutlich schwerbeweg-
licher und konnte nicht mehr allein vom Stuhl aufstehen. Als sie im Juni des-
selben Jahres plötzlich wieder mit akuten schizophrenen Krankheitszeichen
erkrankte, wurde sie in unsere Klinik gebracht. In der damaligen Kranken-
geschichte ist folgender Befund verzeichnet: Sie war in dauernder psycho-
motorischer Unruhe, explorativ nicht fixierbar; auf Befragen zählte sie
stereotyp Kategorien von Gegenständen auf, sprach spontan völlig zerfahren
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 25
oder sang immer wieder die gleichen Kinderlieder. Stereotypie und Zerfahren-
heit bot sie auch in ihren Bewegungen. Gemütlich war sie nicht ansprechbar
und zeigte keine adäquaten affektiven Reaktionen. Körperlich fand sich
dysplastische Körperbauform, rechtsseitige Struma, Strabismus divergens
leichte Ptosis links, Facialis rechts etwas schwächer als links, Tonus der Arm-
muskulatur schlaff, Atrophie der Muskeln der rechten Hand; Tonus der
Muskulatur an den Beinen schlaff, Parese beider Beine, fehlende Patellar-
sehnenreflexe beiderseits, Andeutung von Spitzfußstellung, Pseudohyper-
trophie an beiden Waden, atrophische Störungen an beiden Fersen. Die elek-
trische Untersuchung ergab: Erregbarkeit des Facialis links auf galvanische
und faradische Reize etwas herabgesetzt, keine Entartungsreaktion. Herab-
setzung, keine Umkehr der Erregbarkeit der Muskeln des linken Armes.
Musculi interossei galvanisch nicht erregbar, nur Stromschleifen vorhanden,
faradisch ganz träge Zuckung. Allgemeine Erregungsherabsetzung der Bein-
muskulatur. Keine fibrillären Zuckungen, keine Sensibilitätsstörungen. — Die
Patientin verstarb am 23. 6. 1930 an akuter Nephritis. Die Sektion ergab
als Todesursache akute hämorrhagische Nephritis, Herzdilatation; ferner zeigte
sich Atrophie der Fingermuskeln und volaren Handmuskeln beiderseits, Atro-
phie der Muskeln beider Unterschenkel, Verfettung der hinteren Unterschenkel-
muskulatur (Gastrocnemius von bräunlich-gelber Farbe, von zahlreichen ver-
fetteten Zügen durchsetzt). An der rechten Ferse zweimarkstückgroßer Haut-
defekt mit rötlich trockenem Untergrund. Am Gehirn fällt das geringe Vo-
lumen des Kleinhirns besonders auf. Rückenmark erscheint im ganzen auf-
fallend dünn. In der Pia finden sich zahlreiche Kalkplättchen.
Bruder Gerhard P.: geb. am 8. VIII. 1899,
hatte sich als Kind normal entwickelt. Vom 10. Lebensjahr an blieb er in der
Schule auffallend zurück und erlangte dann nicht das Einjährigen-Freiwilligen-
zeugnis. Im Juli 1917 ging er zum Militär. Während seines Urlaubes im Okto-
ber des gleichen Jahres verbrannte er sich durch Unvorsichtigkeit beide Hände,
kam deswegen in stationäre Behandlung des Diakonissenkrankenhauses
Danzig und fiel dort durch absonderliches Benehmen auf. Nach Entlassung
aus dem Krankenhaus tat er weiter Dienst als Soldat. Im Februar 1918 traten
dann die Zeichen von Geisteskrankheit auffallend in Erscheinung. Gleich-
zeitig wurde bei ihm deutlicher Muskelschwund an den Beinen und wackliger
Gang bemerkt. Er war zunächst in der Heil- und Pflegeanstalt Neustadt
(jetzt Waischerowo/Polen), dann in der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt
Lauenburg/Pommern. Dort bot er ein schweres schizophrenes Zustandsbild
mit ausgeprägten katatonen Zügen. Er grimassierte, nahm bizarre Haltungen
ein, verhielt sich völlig mutistisch und negativistisch, ließ Stuhl und Urin
unter sich, neigte zu unberechenbaren explosiven motorischen Entäußerungen.
— Er verstarb am 3. 6. 1923 in der Anstalt an den Folgen einer Lungentuber-
kulose. Ein ausführlicher körperlicher Untersuchungsbefund und Sektions-
befund fehlen leider in dem Krankenblatt der Lauenburger Anstalt.
Bruder Ulrich P.: geb. 1893,
war sehr intelligent, aber etwas absonderlich, von verschlossenem Charakter
und äußerst empfindsam. Zeitweise brütete er viel vor sich hin, war auffallend
still und fiel durch seinen stieren Blick auf. Er studierte Medizin und fiel 1914
im Krieg.
Die Erhebungen über die Erblichkeitsverhältnisse er-
gaben folgendes (s. umseitige Aufzeichnung):
Ludwig Hochapfel
26
a Ps
© schizoide Persönlichkeit ® /aralyse
Q Geisteskrank (schizophren ?) © 7avdstumm
©®sSchizophren P Proband
© Progr Muskeldystrophie
2 Männlich F Weiblich
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 27
Die psychopathologische Belastung, wie auch die pathologische
hereditäre muskeldystrophische Veranlagung des Probanden
stammen von der mütterlichen Seite her:
Der Großvater mütterlicherseits des Probanden soll an
hypochondrischen Vorstellungen gelitten haben. Eine Schwester
desselben war schwer nervenleidend (Muskeldyvstrophie?).
Die Mutter selbst, eine geistig hochstehende, schizoide Per-
sönlichkeit, leidet an hochgradigen nervösen Störungen vege-
tativer, psychasthenischer Art.
Ein Bruder von ihr starb 1894 in der Univ.-Nervenklinik Halle.
Die damalige Diagnose lautete: Hypochondrie. Das Krankenblatt
ergibt, daß derselbe an wahnhaft hypochondrischen Krankheits-
vorstellungen und an absurden Körpersensationen litt, ferner
dauernd Suicidabsichten und Selbstbeschuldigungen äußerte.
Eines Tages zertrümmerte er unvermittelt eine Petroleumlampe,
geriet dadurch selbst in Brand und verstarb 31jährig an den Folgen
der Verbrennungen.
Ein anderer Bruder von ihr wird als hypochondrisch ver-
anlagt geschildert und soll zeitweise so nervös gewesen sein, daß
er mehrmals seinen Beruf als Arzt vorübergehend aufgeben mußte.
Ein Vetter der Mutter des Probanden litt an einem mit
Muskelschwund einhergehenden Nervenleiden und war außerdem
geisteskrank.
Ein anderer Vetter von ihr war taubstumm.
Ein dritter Vetter hatte eine taubstumme Tochter.
Ein vierter Vetter schließlich hatte eine geisteskranke Tochter
und einen nervenleidenden verkrüppelten Sohn.
Zwei Geschwister des Probanden litten an Schizophrenie
und an progressiver Muskeldystrophie; ein Bruder war schizoid
und fiel in jungen Jahren im Krieg.
Ein Vetter des Probanden erkrankte an Paralyse; dessen
beide Söhne litten an Schizophrenie.
Von der väterlichen Seite war keinerlei erbliche Belastung
nachzuweisen. Der Vater des Probanden stammt aus einem alten
Bauerngeschlecht, aus dem durchweg körperlich und geistig ge-
sunde Nachkommen hervorgegangen waren.
Zusammenfassung
In einer Familie erkrankten drei Geschwister sowohl an Schizo-
phrenie als auch an progressiver Muskeldystrophie. In allen drei
Fällen fiel der Beginn beider Erkrankungen in die gleiche Zeit und
auch im weiteren Verlauf ging mit dem Auftreten eines neuen
28 Ludwig Hochapfel
schizophrenen Schubes jedesmal ein Fortschreiten des atrophischen
Prozesses einher.
Was den muskelatropischen Prozeß anlangt, so können wir von
den zwei, in unserer Klinik zur Beobachtung gekommenen Fällen
mit Bestimmtheit, von dem dritten mit großer Wahrscheinlich-
keit sagen, daß es sich um Formen der juvenilen progressiven
Muskeldystrophie gehandelt hat (familiäres Auftreten, langsame
Progredienz, Fehlen von Zeichen der degenerativen Atrophie und
von zerebrospinalen Symptomen). Man ist davon abgekommen,
die mannigfachen Formen von Erb’scher Erkrankung in Sonder-
typen zu klassifizieren, deren es nach Jendrassic etwa 19 gibt. Er-
wähnt sei nur, daß auch bei den Geschwistern verschiedene For-
men von Muskeldystrophie (mit und ohne Pseudohypertrophien,
mit und ohne Beteiligung der Gesichtsmuskulatur) vorlagen; es
ist dies nicht ungewöhnlich, sondern Erb hat bereits in seinen
Arbeiten darauf hingewiesen. Etwas außergewöhnlich dagegen
erscheint der Beginn der Atrophien an den distalen Teilen der
Extremitäten, so daß der Gedanke aufkommen könnte, ob es sich
vielleicht um Formen von neuraler Muskeldystrophie gehandelt
hat; diese Möglichkeit wird jedoch durch das Fehlen von Sensibili-
tätsstörungen, das Ausbleiben von Entartungsreaktion und durch
das Vorhandensein von Pseudohypertrophien ausgeschaltet. Die
Psychose trat bei allen drei Geschwistern in ähnlicher Weise in
Erscheinung. Es handelt sich immer um eindeutige Schizophrenie
mit schubweisem Verlauf, anfangs bestehenden Beziehungs- und
Befürchtungsideen, Halluzinationen, Erregungszuständen, raschem
Persönlichkeitszerfall; später war das Zustandsbild immer ausge-
sprochen kataton. |
Die Erhebungen über die hereditären Verhältnisse er-
gaben eine hochgradige psychopäthologische Belastung von der
mütterlichen Seite her. Wir fanden in der Stammreihe der Mutter
außer mehreren schizoiden Persönlichkeiten sieben psychotisch
Erkrankte, davon dreimal einwandfrei erwiesene Schizophrene.
Auch für die Muskeldystrophie konnten wir in der mütterlichen
Aszendenz eine hereditäre Belastung ermitteln, und zwar bei
einem Neffen, einem Vetter und einer Tante der Mutter.
Das gleichzeitige Vorkommen einer körperlichen und einer seeli-
schen Erkrankung bei ein- und demselben Individuum gibt Ver-
anlassung, die Wechselbeziehungen beider zu erörtern. Gerade
in der letzten Zeit ist man bemüht, die Einheit von Leib und Seele
auch in ihren pathologischen Erscheinungsformen zu erfassen und
auch dort, wo die Aufhellung abnormer seelischer Zustände eine
m
EEE EEE gs o CE Er BEEE eG yore TuS ESEE E TESTER GIS EEE EE "” „SEE Sen EEE a E E T E a E ED
k or ae e H
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 29
einfache und zwingende erscheinen mag, den körperlichen Unter-
strömungen nachzuspüren.
Lange hat 1931 darauf hingewiesen, daß organisch-körperliche
Ausfälle eine tiefgehende Persönlichkeitswandlung verursachen.
Er zeigte an dem Beispiel eines an Poliomyelitis erkrankten Mannes,
wie dieser durch die ausgedehnte Reduktion von Muskelsubstanz
eine völlige Persönlichkeitsveränderung erfuhr. Weiterhin wies
er auf die psychische Eigenart der an amyotrophischer Lateral-
sklerose Erkrankten, die seelische Ermüdbarkeit der muskel-
schlaffen Tabischen und überhaupt der Körperlich-Asthenischen
und Muskelschwachen hin. Weiter stellte Zange die empfindlichen
asthenischen Schizophrenen mit ihren tiefgründigen kosmischen
Phantasien und ihren religiös-mystischen Wunderwelten in Gegen-
satz zu den muskelkräftigen Katatonen mit ihren elementaren
Triebentladungen. Diese Gegenüberstellung ist, wie die von uns
beobachteten Fälle zeigen, nicht allgemein anwendbar; denn
bei den drei Geschwistern P. entwickelte sich mit dem Fort-
schreiten des Muskelschwundes das anfänglich sensitiv para-
noide Bild gerade immer mehr in der Richtung des psycho-
motorisch-agitierten, katatonen Zustandsbildes. Es geht daraus
hervor, daß man Gesetzmäßigkeiten in den Wechselbeziehungen
körperlicher und psychischer Krankheitsprozesse nur mit äußerster
Vorsicht aufstellen kann. Insbesondere scheint mir eine gewisse
Skepsis dann am Platze, wenn ein psychotisches Zustandsbild in
Psychomotorik und Denkinhalt mit einzelnen körperlichen Krank-
heitssymptomen in Verbindung gebracht wird. In unserem Falle
fanden sich überhaupt keine Anzeichen für eine psychische Ver-
arbeitung der körperlichen Symptome.
Dieselben Beobachtungen haben bei anderen Affektionen des
Nervensystems mit gleichzeitig bestehender Schizophrenie Flach
. und Palisa im vergangenen Jahre veröffentlicht.
Im allgemeinen wird man daher nur sagen können, daß die
kranke Psyche durch einzelne körperliche Ausfallssymptome, wenn
überhaupt gesetzmäßige Wechselbeziehungen bestehen, zumindest
= nur in ganz geringem Grade beeinflußt wird.
Vom erbpathologischen Standpunkt ist über die Wechselbe-
zıehungen der beiden Erkrankungen im Hinblick auf die vorlie-
genden Untersuchungen folgendes zu sagen: Auffallen muß die
starke Häufung von Schizophrenie ın der Generation des Pro-
banden. Wenn man in der Tat annehmen will, daß von Vaters
Seite her die Familie einwandfrei ist, so müßte die ganze Belastung
sowohl: für die Muskeldystrophie wie auch für die Schizophrenie
30 Ludwig Hochapfel
von der mütterlichen Seite her stammen. Für die Schizophrenie
ergibt sich, daß die Mutter eine Schizoide war, einen schizophrenen
und einen schizoiden Brunder gehabt hat. Auch war der Vater
der Mutter schizoid. Daß in dieser Familie auch die Anlage zur
Muskeldystrophie besteht, zeigen die Fälle P}, P und P,
Wenn man nicht, wie Lenz das neuerdings tut, für die Schizo-
phrenie eine unregelmäßige Dominanz annehmen will und auch
mit Sjövall eine Dominanz der Muskeldystrophie ablehnt, so bleibt
als Erklärung für die auffallende Häufung in der Generation des
Probanden nur die Möglichkeit übrig, anzunehmen, daß etwa
eine Teilanlage zur Muskeldystrophie die Teilanlage zur Schizo-
phrenie in dem Sinne beeinflußt hat, daß es durch das ungünstige
genotypische Milieu zu einer Manifestation beider Erkrankungen
gekommen ist. Es mag dies vielleicht eine gewagte Hypothese sein,
gewagt besonders deswegen, weil ja auch isolierte Schizophrenien.,
d. h. Schizophrenien ohne Muskeldystrophie in der Familie vor-
gekommen sind (P,, Pa, Pıo)- Immerhin gibt aber die auffällige
Kombination von Muskeldystrophie und Schizophrenie doch An-
laß, diesen Fällen Aufmerksamkeit zu schenken.
Gewiß soll man nicht an Hand eines Falles auf neue Zusammen-
hänge schließen; man kann vielmehr nur Vergleiche mit den bis-
herigen Beobachtungen ziehen. Der vorliegende Fall zeigt das ın
der Literatur mehrfach beschriebene kombinierte Vorkommen von
Schizophrenie und progressiver Muskeldystrophie. Offenbar handelt
es sich bei dem gleichzeitigen Vorkommen dieser beiden heredi-
tären Erkrankungen, wie auch von den verschiedenen Autoren
immer wieder hervorgehoben wird, nicht um ein zufälliges Zu-
sammentreffen; andererseits kann man daraus auch nicht auf
engere genetische Beziehungen zwischen den beiden Erbkrank-
heiten schließen, da die beiden Leiden ja viel häufiger isoliert und
unabhängig voneinander vorkommen. Auffällig bleibt aber ın
unserem Falle ganz besonders das Auftreten beider Erkrankungen
bei drei Geschwistern, ferner der jedesmal gleichzeitige Beginn
und schubweise Verlauf beider Leiden.
Die Arbeit ist von der Medizinischen Fakultät der Universität König
berg/Pr. als Dissertationsarbeit angenommen.
Literatur
Bauer, Fischer, Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygien
Bd. I. — Bumke, Handbuch der Geisteskrankheiten, Spez. Teil Bd. V. Springet
Berlin 1932. — Bumke-Förster, NMandbuch der Neurologie Bd. AVI Springer
Über gleichzeitiges Vorkommen von Schizophrenie usw. 31
Berlin 1936. — Erb, Dystrophia musc. progressiva. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heilk. Bd. I. — Flach- Palisa, Zum Problem der Verarbeitung organ. Symp-
tome bei Schizophrenie. Z. Neur. Bd. 156. — Hoffmann, J., Über einen eigen-
artigen Symptomenkomplex, eine Kombination von angeb. Schwachsinn
mit progr. Muskeldystrophie, als weiterer Beitrag zu den erbl. Nervenkrank-
heiten. Dtsch. Z. Nervenhlk. Bd. VI. Über progr. neurot. Muskelatrophie.
Arch. Psychiatr. 1889 Bd. XX. — Kleist, Die Auffassung der Schizophrenien
als psychische Systemerkrankungen. Klin. Wschr. 2. Jahrg. Nr. 21. — Liebers,
Dvstrophia musculorum progr. und Basedow. Münch. Med. Wschr. Nr. 8/
1907. — Porta, Über myodystrophische Syndrome. Ref. Zbl. Neur. u. Psych.
64'1932. — Recktenwald. Über einen familiären fortschreitenden Muskel-
schwund in Verbindung mit schizophrener Verblödung. Z. Neur. 1920 Bd. 53.—
Redlich, Zur Kasuistik der Kombination von Psychosen mit organ. Nerven-
krankheiten. Wien. klin. Rundschau 1900 Nr. 13 u. 14. — Sante de Sanctis,
Miopatia progressiva e insufficienza mentale. Ref. Neurol. Zbl. 1901. — Schulte,
Zur Frage einer endokrinen Grundlage paranoider Krankheitszustände.
\ischr. Psychiatr. 1931 Bd. 79. — Stransky, Muskeldystrophie und Psychose.
Neurol. 1910 Bd. Ill. — Tscherning, Muskeldystrophie und Dementia praecox,
ein Beitrag zur Erblichkeitsforschung. Z. Neur. 1921 Bd. 69. — Westphal, A.,
Schizophrene Krankheitsprozesse und amyotroph. Lateralsklerose. Arch.
Psych. 1925 Bd. 74. Über einen Fall von progressiver neurot. (neural.) Muskel-
atrophie mit manisch-depressivem Irrsein und sog. Maladie des Tics con-
vulsivs einhergehend. Arch. Psychiatr. 1909 Bd. 45.
Der paranoid-halluzinatorische Symptomen-
komplex bei der perniciösen Anämie und seine
Stellung im Verlauf der Perniciosa-Psychosen
Von
C. H. Grützmacher
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen Universität,
Direktor: Prof. Bürger- Prinz)
(Eingegangen am 27. Juli 1938)
Bei der Besprechung der Perniciosapsychosen ist in den letzten
Jahren mehrfach darauf hingewiesen worden, daß bei ihnen im
Gegensatz zu den meisten anderen symptomatischen Psychosen die
obligaten Symptome der exogenen Prädilektionstypen zurücktreten
gegenüber den fakultativen Beimengungen im Sinne von Stertz.
Insbesondere ist auf das häufige Vorkommen von homonomen Zu-
standsbildern, Depressionen und gelegentlich Manien im Verlauf der
Perniciosa hingewiesen worden. /lling, der drei Psychosen bei per-
niciöser Anämie mit vorwiegend ängstlich-depressiven und hypo-
chondrischen Zügen beschreibt, stellt fest, daß der homonome de-
pressive Symptomkomplex in seinen Fällen im Vordergrunde des
Zustandsbildes stand und die exogenen Grundsymptome über-
lagerte. Die exakte Unterscheidung zwischen endogenen Depres-
sionen und derartigen Psychosen könne schwer oder unmöglich sein.
Hinzu kam, daß bei seinen drei Fällen teils erbliche Belastung
mit manisch-depressiven Erkrankungen vorlag, teils depressive
Schwankungen schon vor Einsetzen der Anämie aufgetreten waren.
Zwei homonome psychische Krankheitsbilder bei vollständigem
Fehlen heteronomer Symptome und ohne manisch-depressive Be-
lastung beschrieb Cosack. In der Arbeit von Cosack findet sich die
Problemlage ausführlich dargestellt. Nach dem heutigen Stande
unseres Wissens läßt sich sagen, daß die Häufigkeit des Zusammen-
treffens depressiver Zustände mit perniciöser Anämie und ihre
Beeinflussung durch die Therapie ein zufälliges Zusammentreffen
unwahrscheinlich macht.
|
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 33
Umstrittener ist die Frage, ob es sich bei diesen Zustandsbildern
um „Auslösung“ vorhandener, etwa manisch-depressiver, Krank-
heitsanlagen handelt oder nicht. Ähnlich wie bei den homonomen
Zustandsbildern bei der progressiven Paralyse sprechen von den
vorliegenden Krankengeschichten einige für das Vorliegen einer
Veranlagung, andere lassen keine Schlüsse in dieser Richtung zu.
Der heutige Stand der Lehre von den endogenen Psychosen, wie
er vor allem von erbbiologischer Seite und besonders klar in der
Schizophreniearbeit von Langfeldt zum Ausdruck kommt, legt den
Schluß nahe, daß man auch hinsichtlich der homonomen Symptome
bei symptomatischen Psychosen zu einem vermittelnden Stand-
punkt kommen wird: Es muß angenommen werden, daß exogene
Faktoren einerseits und Veranlagung auf der anderen Seite von
Fall zu Fall verschieden am Zustandekommen des Zustandsbildes
beteiligt sind.
Hinsichtlich der Zustandsbilder selbst bestehen Meinungsver-
schiedenheiten insofern, als von verschiedenen Beobachtern exogene
Beimengungen zu den homonomen Psychosen bei perniciöser
Anämie überhaupt nicht oder erst in terminalen Stadien gefunden
wurden, daß dagegen von anderer Seite immer wieder dem Nach-
weis feinster exogener Symiptome (vgl. Carl Schneider) besondere
Beachtung geschenkt wurde, eine Beachtung, wie sie derartigen
Symptomen bei einwandfreien endogenen Psychosen wohl selten
zuteil geworden ist.
Jedenfalls ist es sehr schwer, bei dem nicht zu leugnenden Über-
wiegen der homonomen Symptome über die typisch exogenen im
angedeuteten Vorhandensein der letzteren einen prinzipiellen Unter-
schied zwischen Perniciosapsychose und endogenen Zuständen zu
sehen, der es unmöglich macht, aus dem Vergleiche beider nutz-
bringende Schlüsse für die Klinik zu ziehen.
In der vorliegenden Arbeit soll an der Hand der im Schrifttum
veröflentlichten Perniciosapsychosen und eigener Beobachtungen
versucht werden, den formalgenetischen Zusammenhang des para-
noid-halluzinatorischen Symptomkomplexes mit den homonomen
Bildern einerseits und den deliranten Zuständen andererseits dar-
zustellen.
Paranoid-halluzinatorische Zustandsbilder finden sich schon ın
der älteren Literatur beschrieben, wenn auch C. Schneider die Sel-
tenheit von Sinnestäuschungen bei den Perniciosapsychosen betont.
Der älteste uns bekannte Fall einer paranoid-halluzinatorischen
Perniciosapsychose ist der von Wohlwill zitierte Fall von Boedecker
und Juliusberger:
3 Allgem. Zeitschr. f. Psychlatrie. Bd. 109, H. 1/2.
34 C. H. Grützmacher
Ein 27jähriger Mann erkrankte ein Jahr vor der Klinikaufnahme an
Schwindelanfällen mit Schwarzwerden vor den Augen. Ein Jahr danach wurde
er wegen Blutarmut beurlaubt und machte kurz darauf einen Suicidversuch,
der zur Einweisung führte. Hier fanden sich funikuläre Symptome. Er war
ängstlich, weinerlich, oft verzweifelter Stimmung, äußerte Selbstanklagen.
krankhafte Eigenbeziehungen und Verfolgungsideen. Er hörte, wie ihm seine
Gedanken zugerufen wurden, hörte dann Schlechtes über sich sprechen.
Später erwuchsen aus einem deliranten Stadium immer stärker Halluzinationen
auf allen Sinnesgebieten; erst jetzt wurde eine erhebliche Anämie festge-
stellt und unter allgemeiner Körperschwäche trat bald der exitus ein.
Ein eigener Fall von Wohlwill
beginnt mit Schwindelanfällen, worauf ein depressives Stadium folgt, das in
ein ängstliches übergeht. Der weitere Verlauf zeigt paranoide Symptome im
Sinne des Verfolgtwerdens und Stimmenhörens. Zwischendurch treten optische
Halluzinationen deliranter Natur auf. Es finden sich in der Krankengeschichte
Angaben, daß Pat. auch bei klarem Bewußtsein Stimmen gehört haben will.
= Bei dem 1. Fall von Behrens sollen neben einer Demenz schwere
Gehörshalluzinationen und Verfolgungswahn bestanden
haben. Die Krankengeschichte läßt von der Entwickelung des Zu-
standsbildes wenig erkennen. Der II. Fall von Behrens ist manisch-
depressiv belastet.
Mit 44 Jahren begann die Frau depressiv zu werden, wurde suicidal und
blieb eine zeitlang depressiv. Nach einer längeren Remission wurde sie dann
manisch, expansiv und berichtete eines Tages von Flüsterstimmen, die
vonder Deckezuihrsprächen. Im Verlauf der Erkrankung traten optische
Halluzinationen hinzu. Exitus.
Langelüddecke beschreibt einen Fall von Psychose bei perniciöser
Anämie,
wo es nach dem 41. Lebensjahr zu psychotischen Erscheinungen kam, die sich
dem Ausmaße der Perniciosa entsprechend entwickelten. 2 Jahre vorher erlitt
die Frau einen ‚„‚Nervenzusammenbruch‘“. Dann trat eine Neigung zum Que-
rulieren ein, bis sie 1933 in einem deliranten Stadium in eine Klinik eingeliefert
wurde, aus dem heraus sich eine paranoische Einstellung zur Umgebung ent-
wickelte; sie sah sich von allen Seiten bedroht und wurde erregt. Sie blieb dann
ängstlich, mißtrauisch, deprimiert. Bald traten Stimmen hinzu, vor allem die
ihres Sohnes, den sie schreien hörte. Das Mißtrauen hielt einige Monate an,
dann setzte nach 11, Jahren wieder ein delirantes Stadium ein, das ins Coma
überging, worauf bald der Exitus erfolgte.
Weiter veröffentlichte Langelüddecke einen Fall unter forensischen
Gesichtspunkten,
wo ein s0jähriger Makler K. 1932 an einer Perniciosa erkrankte, nachdem
schon vorher funikuläre Zeichen aufgetreten waren. Seit einem Jahr bestanden
Schwindelanfälle, dazu kamen langsam Zeichen einer psychischen Alteration.
Vorher war er schon leicht erregbar und ermüdbar gewesen. K. wurde nun
depressiv und gedrückt, abgespannt, schlapp. In der Klinik war er anfangs
delirant und ängstlich erregt. Psychisch trat fast völlig ein Zurückgehen der
Symptome ein. Sein somatischer Zustand besserte sich auf Leberbehandlung
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 35
schnell. Nach seiner Entlassung kam es zu einem Recidiv infolge mangelhafter
Behandlung, dann trat ein systematisiertes paranoides Syndrom auf. Kurz vor
der Aufnahme traten unter gesteigerter ängstlicher Erregung eine deutliche
Verbalhalluzinose, das Gefühl des Beeinflußtwerdens auf. Ein Suicidversuch
bildete den Anlaß zur Klinikaufnahme. Eine Besserung des Blutbildes ließ sich
nicht erzielen. Die Verbalhalluzinose bestand für einige Tage fort. 10 Monate
nach der Aufnahme, bei bleibendem depressiv-hypochondrischem Bild, das
episodenhaft mit paranoischen Inhalten einherging, erlag K. einer maran-
tischen Bronchopneumonie.
Außer den angeführten Fällen findet sich noch ein Referat über
eine Arbeit von Stejfa, der zwei chronisch-paranoid-halluzinatorische
Fälle beschreibt, die eine weitgehende Unabhängigkeit von den
hämatologischen Störungen zeigten und sich der Lebertherapie
gegenüber refraktär erwiesen.
Eigener Fall I: Pr. Nr. 81455. P. Th., 62jähriger Landwirt. Ein-
gewiesen in die Klinik am 4. 5. 38.
Vorgeschichte:
Die Mutter starb an einer Dementia paralytica, der Vater mit 70 Jahren.
Th. besuchte die höhere Knabenschule in Pasewalk und blieb 2mal sitzen. Er
lernte gut, war nicht unbegabt, aber faul. Er arbeitete dann auf Höfen in
Pommern als Pferdeknecht, kam als Masseur nach Bremerhaven und fuhr da-
nach 10 Jahre als Steward zur See. Verheiratet seit 1914, keine Kinder, die
Ehe war glücklich. Im Kriege war Th. als Unteroffizier bei der Marineluft-
schiffsabteilung. Bis 1922 hatte er dann den Posten eines Flugplatzverwalters
inne. 1922 pachtete er eine Landwirtschaft, gab diese nach einem Brande auf,
baute sich ein eigenes Haus und war dann als Arbeiter tätig. Bis 1932 leitete
er eine Genossenschaft von 700 Mitgliedern und wurde dann arbeitslos bis 1934.
Schon in dieser Zeit war er sehr bedrückt und grübelte viel. Bis 1936 arbeitete
er als Arbeiter.
Geschichte der Krankheit:
Am 19. 5. 32 wurde Th. in das Marienkrankenhaus in Hamburg eingeliefert.
Aus der Krankengeschichte ergibt sich, daß Th. bis Ende März 1932 beschwer-
defrei war. Dann setzten Schwindelanfälle ein, so daß er sich hinlegen mußte.
Er klagte über Schmerzen im rechten Ohr, Appetitlosigkeit, Obstipation. Seit
einiger Zeit bemerkte er eine Gelbfärbung der Haut.
Der Körperbefund ergab außer der erwähnten Gelbfärbung keine Be-
sonderheiten.
Die Blutbefunde waren charakteristisch für eine perniciöse Anämie. Th.
wurde mit Leberpräparaten behandelt und mit fast normalem Blutbild ent-
lassen. Er ging dann in kassenärztliche Behandlung.
Am 2. 12. 1933 fiel er in der Sprechstunde um und wurde in das St. Adolphs-
stift Reinbeck eingeliefert. Hier blieb er nur kurze Zeit und wurde wegen Un-
stimmigkeiten mit den Patienten in das Vereinshospital in Hamburg über-
wiesen, wo an Hand des Blutbildes eine Perniciosa nicht nachgewiesen werden
konnte. Es fiel dort nur sein hypochondrisches Wesen auf. Er wurde am
12. 2. 34 entlassen.
Nachdem es ihm in der Zwischenzeit leidlich ging, klagte er Anfang 1935
über Zungenbrennen, ziehende Schmerzen in den Beinen. Er machte dann
39
36 C. H. Grützmacher
einen Suicidversuch, indem er sich die Pulsadern und den Hals aufschneiden
wollte. Er wurde wiederum in das Marienkrankenhaus eingeliefert.
Hier war er desorientiert, verwirrt und delirant.
Th. wurde nach Verheilung der Verletzungen in die Staatskrankenanstalt
Langenhorn verlegt am 8. 5. 1936.
Hier war Th. völlig orientiert. Er gab an, daß er sich auf der Arbeitsstelle
schon länger von seinen Mitarbeitern und Kollegen verfolgt fühlte, er habe
eines Nachts das Gefühl gehabt, daß seine Wohnung vergast war. Am näch-
sten Morgen kam ihm das Gefühl, er müsse ein Rasiermesser nehmen, in eine
bestimmte Ecke gehen und sich das Leben nehmen. Er habe deutlich eine
Stimme gehört. Er nahm an, daß es der Nachbar gewesen war, der ihn be-
einflußt habe, denn er habe diesen am gegenüberliegenden Fenster sitzen sehen.
Bei der Aufnahme war er frei von derartigen Gefühlen, nur hatte er immer
Angst und wollte nirgends unter Menschen sein — „immer weg, weg!“
Bei seinem Bericht fiel die deprimierte Haltung auf. Th. lag viel mit ge-
schlossenen Augen im Bett, grübelte viel und machte sich Sorgen um seine
Zukunft, er war dauernd niedergeschlagen. Er gab dann heraus, daß der Vor-
arbeiter auf der Arbeitsstelle etwas gegen ihn habe, man habe ihm auf dem
Arbeitsamt hinten etwas in den Rücken gesteckt, wahrscheinlich eine Spritze.
und seit der Zeit sei sein Geschlechtstrieb herabgesetzt und seine Hoden seien
eingeschrumpft.
Bei der körperlichen Untersuchung zeigte sich ein positiver Babinski re,
li angedeutet, re ein Fußklonus.
Th. blieb während der ganzen Zeit stark depressiv, wollte getötet werden,
er behauptete, er wäre zum Selbstmord , geleitet“ worden, man hätte jetzt
so starke ‚Kompressoren‘ und sein Nachbar sei daran beteiligt.
Blutbild am 26. 5. 36: Hb. 86% E. 4.680000 F.I.: 0.83. Th. blieb weiterhin
depressiv, war voller Selbstbeschuldigungen. Es wurde in die Krankenge-
schichte der Eintrag gemacht ‚‚schizophren gefärbtes Zustandsbild“.
Am 16. 6.36 wurde Th. nach der Heilanstalt Neustadt verlegt, wo eine
regelmäßige Hepatratbehandlung vorgenommen wurde. Hier fiel seine depri-
mierte, verzweifelte Stimmung auf, die ängstlich getönt war. Th. drängte
heraus, weil ihn jemand gerufen habe und er müsse nachsehen, wer da sei.
Er gab an, er habe mit seinem Nachbarn B. seit langem in Unfrieden gelebt.
Seit der Zeit habe er vor diesem keine Ruhe mehr. Der habe ihn zum Selbst-
mord getrieben. Er habe das auf einem ihm nicht ganz klaren Wege aus seiner
Wohnung mit Fernstrahlen gemacht. Er habe dadurch unter seinem Einfluß
und Willen gestanden.
Er blieb depressiv, änglich. Er sagte immer, er habe keine Lust mehr zum
Leben.
Blutbild am 28. 6.36: Hb. 60% E. 2.920000 F.I.: 1.03. 27. 5. 36. ‚Alles
bezieht sich gegen mich. Man spricht soviel über Amerika, als ob ich mit dabei
wäre. Heute morgen erst habe ich wieder gehört, daß ich alles verderbe. Ich
höresowas,alsobich während der Arbeitszeit onanierthaben soll.“
Er machte einen ratlosen Eindruck und schien damals lebhaft zu hallu-
zinieren.
13. 8. 36. Deprimiert, Selbstvorwürfe; er äußerte, man möchte ihn um-
bringen. Die depressive Stimmung nahm ein gereiztes Bild an.
25. 9. 36. Beherrschter, besonnener.
20.10. 36. Die Depression tritt zurück.
26. 10. 36. Beruhigt und zufrieden. Zuversichtlich.
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 37
30. 10. 36. Ruhig. Vernünftig. Bittet um seine Entlassung.
3. 11. 36. Geheilt entlassen.
Am 4.5.1938 wurde Th. in unsere Klinik aufgenommen, nachdem er seine
Frau erschlagen hatte und einen Selbstmordversuch begangen hatte.
Bei der Aufnahme war er schwerst depressiv. Nach anfänglicher Ablehnung
berichtete er bald ruhig und klar über seine Tat und ihre Motive:
Seit 1932 habe er bemerkt, daß die Leute gegen ihn seien. Man spreche in
der Umgebung über ihn, weil er nicht arbeite und dennoch das teuere Medika-
ment gebrauche. Er wollte allem ein Ende machen. Obwohl er bei seinem Haus-
arzt in Behandlung war, habe er seit vielen Wochen kein Hepatopson mehr ge-
nommen. 1934 habe er nach Berlin an „hohe Stellen‘ geschrieben, damit der
Arbeiter es im Leben besser bekäme. Daraufhin sei ein Auto gekommen — das
sei wohl die Gestapo gewesen — die Herren machten so einen Eindruck, ebenso
das Auto. Ein Herr kam in die Küche und fragte ihn nach seinen Verhältnissen.
Seit dieser Zeit merkte er, daß er unter Aufsicht stand. Man rief: „Da kommt
ja unser Th.!“ Während er anfangs gut mit seinem Nachbarn gelebt habe,
wurde dieser jetzt häßlich zu ihm, er wurde „dirigiert“ Ärger zu erregen, damit
Streit entstehe. Seit 1936 ‚stände er unter Beobachtung‘. Der Nachbar ver-
reiste einige Tage, er kam zurück und Th. traf ihn, wobei ihm der Nachbar so
komisch ansah und so merkwürdig anlachte; das kam ihm sonderbar vor.
Im Jahre 1936 sei er eines Nachts ‚‚vernebelt“‘ worden — diesen Zustand
könne er kaum beschreiben. Er wurde im Kopf unklar, hatte Summen im Ohr
und hörte dann die Worte, er sei ein „ganz tapferer Mann“, „wie er seine
Frau verläßt, wie er laufen kann!‘ Das kam von irgendwo weit her. Es
war so, als ob etwas unter ‚Spannung‘ stehe. Da er nicht schlafen konnte,
weckte er seine Frau, stand auf und suchte im Hause herum.
Am nächsten Morgen traten Zustände auf, die ‚jede Berechnung aus-
schalten“ ließen. In einem derartigen Zustand habe er dann den erwähnten
ersten Suicidversuch gemacht.
Nach der Entlassung aus Neustadt wurde es immer schlimmer. Er und seine
Frau waren zwei politisch Verfolgte. Er hatte Angst. Er wurde im Hause zeit-
weise unter Spannung genommen, als wenn er abgehört wurde, die Wände
waren elektrisch. Er wurde ‚‚geleitet‘‘, irgendetwas tun zu müssen. Er war sehr
unruhig. Es war, als ob eine Macht ihn zwänge. Er mußte auf die Straße und
traf dort gerade seinen Nachbarn, hörte höhnische Bemerkungen, hatte das
Gefühl, als ob es eine abgemachte Sache war, er war „hineingeleitet‘‘ worden.
Man wollte ihn in Erregung versetzen, er glaubte, die Kontrolle geschehe durch
eine ‚Dose‘, einen „Kruppapparat‘‘, einen „Kompressor“. (Das Wort habe
er auf der Arbeitsstelle rufen gehört.)
Am 1. Mai 1938 sei eine Verschärfung des Benehmens gegen ihn eingetreten,
die Verbindung wurde immer organisierter. Man wollte ihm das Leben er-
schweren, so daß er selbst verschwinden würde, damit kein Prozeß entstehe.
Es habe sich im Laufe der Jahre angesammelt, das komme nun zur Verstär-
kung. Beim Umzug war seine Fahne heruntergerissen, ob vom Winde, wisse
er nicht. Er ging hinaus und wollte sie befestigen. Da kamen Nachzügler des
Festzuges, die sich komisch benahmen. Sie stellten sich hin, das deutete alles
auf ihn. Sein Name wurde gerufen. Die Leute stellten sich betrunken, um bei
ihm Unfug zu machen. Überall wurde gesagt: „Th. hat an Adolfgeschrie-
ben, die Arbeiter hätten Holz gestohlen!“ 2 Tage hiernach kamen
Truppen von einer Übung an seinem Hause vorbei, ein Fahrzeug hielt — und
er hörte: „Das ist der Scheiterhaufen für die Haidkrüger!“. Es lag
38 C. H. Grützmacher
nämlich ein Reisighaufen vor seiner Tür, der von irgend jemand dort hinge-
schafft worden sei. „Ich war mehr als spitzhörig!“. Dann war eines Tages
die Zeitung aus der Wohnung verschwunden, also habe man bei ihm einge-
brochen. Die Spannung war jetzt besonders stark.
Am 2. Mai 1938 wollte er sich umbringen und seine Frau mitnehmen, sonst
habe er ja nichts zu verlieren gehabt. Er richtete auf dem Holzschuppen im
Hofe eine Schlinge her, merkte dann aber, daß man das schon gesehen habe,
hörte darauf höhnisches Gelächter. Daraufhin ging er auf den Boden.
wurde aber auch hier gesehen, es wurde ihm „nachgemacht‘“. In der Nacht
vorher nahm er das Beil mit in sein Bett. Aber die Frau lag so ruhig im Bett,
so daß er es nicht fertigbringen konnte. Er bewahrte dann noch 2 Tage Ruhe.
Am Tage der Tat brachte ihn die letzte ‚‚Person‘‘ in Erregung, es kam eine ältere
Dame, die ‚gut geschult“ war. Sie wollte nur aushorchen, ihm kamen ihre
Worte so komisch vor: ‚6 Mark der Zentner‘‘. Das bedeutet für ihn, um 6!
sollte er aus dem Hause; da war es mit einem Male soweit, es war dann wie
eine Erlösung — die Frau solle Ruhe und Frieden haben. (Er schlug ihr von
hinten das Beil über den Kopf, als sie sich bückte. Sie war sofort tot. Er schlug
sich dann in Selbstmordabsicht die linke Hand ab, ohne viel Blut zu verlieren.
Er räumte danach auf und trug seine Frau ins Bett, warf das Gehirn, das er
mit einer Schippe aus dem zertrümmerten Schädel herausholte, in einen Müll-
eimer, vergrub seine Hand im Garten und versuchte sich dann auf dem Boden
zu erhängen, was ihm aber mißlang. Er legte sich dann auf eine Matratze auf
dem Boden.) Nun wurde er durch die Spannung hin und her gejagt, er kam
nicht ganz frei, kam nicht zum Zusammenbrechen. Er war ‚‚straff‘‘, aber ohne
Entschluß. Er legte die Bilder im Zimmer auf die Rückseite, um anzudeuten,
hier sei jetzt Ruhe. Bei dem Versuch, sich zu erhängen, hörte er die Stimme
des Nachbarn —: „Das kannst du ja doch nicht machen !“ Er hörte
dann: „Du kannst ja radfahren!“ Das sollte heißen, er würde mit dem
Rade auskneifen. Die Nachbarn hätten also alles über seine Tat gewußt.
Bei der Einlieferung machte Th. einen stark anämischen Eindruck. Er
blieb im Laufe der klinischen Behandlung immer depressiv, gedrückt, hatte
keine Lust mehr zum Leben, es habe ja doch alles keinen Zweck mehr. Auch
hier schneuze man sich so, wie es draußen bei ihm immer der Fall gewesen
war. Das bedeutet eine Beleidigung für ihn.
Körperlicher Befund:
Starke Anämie. Subikterus. Hypotonus der Beine. Babinski beiderseits
positiv.
Zusammenfassung:
62jähriger Landwirt erkrankt 1932 an einer Perniciosa, die in
Behandlung genommen wird. Zu der Zeit fühlt er sich nach seinen
später gemachten Angaben schon niedergeschlagen und gedrückt.
Langsam stellen sich paranoische Züge ein, die sich im Laufe der
Zeit ganz klar systematisieren, immer begleitet von ängstlich-
depressivem Affekt. 1934 fühlt er dann deutlich, daß allmählich
immer systematischer gegen ihn gearbeitet wird. 1936 treten, an-
scheinend im Anschluß an ein ausnahmezustandsartiges nächtliches
Erlebnis, eine charakteristische Verbalhalluzinose und das Gefühl
des Beeinflußt- und Gelenktwerdens auf. Im Anschluß an eine An-
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 39
staltsbehandlung mit Leberpräparaten bessert sich der psychische
Zustand weitgehend, so daß er fast völlig frei von psychotischen
Symptomen entlassen wird. Anfang 1938 erfolgt nach Aufhören der
Behandlung ein Wiederhervortreten der paranoiden Inhalte und
ein Wiederauftreten der Verbalhalluzinose und der Beeinflussungs-
erlebnisse.
Unter dem Einfluß seiner ängstlichen Beziehungsideen und seiner
Halluzinose beging er eine Mordtat, die die Tatbestandsmerkmale
des erweiterten Selbstmordes trägt.
Anschließend geben wir eine Zusammenstellung, aus der der dem
jeweiligen Blutbefund entsprechende psychische Zustand ersehen
werden kann.
Blutbild:
24.5.32: E. 1720000. Hb. 52%. F.I: 1,57. Psychisch: Im Krankenblatt
kein Eintrag über psychischen Zustand. War damals laut Anamnese ge-
drückt.
31.5.32: E. 2380000. Hb. 45%. F. I: 0,9.
7.6. 32: E. 3800000. Hb. 62%. F. 1:0,88.
13. 6. 32: E. 2520000. Hb. 46%. F.I: 0,9.
18. 6.32: E. 2950000. Hb. 58%. F.T: 1,0.
25.6. 32: E. 2965000. Hb. 60%. F.I: 1,13.
2.7.32: E. 3880000. Hb. 77%. F.I: 1,0. In Reinbeck von 42% auf 78%
angestiegen (Blutbild nicht vorhanden).
6.2. 34: (Vereinshospital): E. 4500000. Hb. 83%. F.I: 1,05. Psychisch:
Hypochondrisch.
12. 2. 34: E. 5120000. Hb. 90%. F.1: 0,86. Psychisch: Hypochondrisch.
26. 5. 36 (Langenhorn): E. 4.680000. Hb. 86%. F. I: 0,93. Psychisch: Ge-
fühl des Beeinflußtwerdens. Depressiv. Selbstvorwürfe. Suicidversuch.
14. 5. 36: E. 4580000. Hb. 44%. F. I: 1,44. Psychisch: Unzugänglich, inter-
essenlos.
4. 6. 36: E. 4280000. Hb. 84%. F.I: 1,0. Psychisch: Depressiv, Selbst-
anschuldigungen.
18. 7. 36 (Neustadt): E. 2940000. Hb. 60%. Polychromasie +. F. I: 1,03.
a en Stim 2 a ören. Selbstanklagen.
as Blutbi ei der Entlassung fehlt.
7.5.38 (Psych. u. Nerv. Klinik d. Hans. Univ.): E. 3590000. Hb. 77%.
F.1I: 1,08. Psychisch: Verbalhalluzinose, depressiv, paranoid. Erweiterter
Suizid.
15. 5. 38: E. 2820000. Hb. 85%. F.I: 1,5. Psychisch: Nur noch depressiv.
Keine Halluzinose mehr.
24.5. 38: E. 3000000. Hb. 79%. F.I: 1,3. Psychisch: Amaurose. Retro-
bulbäre Neuritis?
8.6.38: E. 4130000. Hb. 80%. F.I: 1,0. Psychisch: Bleibt depressiv.
Nichts paranoides mehr.
Fall II: Pr. Nr. 81131.
Der jetzt 52jährige Fr. P., Schirmmachermeister, wurde im Jahre 1932 im
Verein der Neurologen und Psychiater Hamburgs von Langelüddecke vor-
40 C. H. Grützmacher
gestellt. Wir geben bis zu diesem Zeitpunkt nur eine kurze Zusammen-
fassung dessen, was uns für die vorliegende Arbeit wichtig erscheint.
Anfang 1928 allgemeine Schwäche, Schwere in den Beinen, Kreuzschmerzen.
Dazu traten nach wenigen Monaten Schwindelanfälle und ‚Trübsinnszu-
stände‘“ auf. Im Juni 1928 war er ängstlich-delirant. Das delirante Stadium
dauerte 14 Tage an. Nach 2 Monaten Entlassung mit wesentlich gebessertem
Blutbild. Bis zur Wiederaufnahme in das Allgemeine Krankenhaus Barmbeck
in Hamburg 1930 schwermütig. Es traten Verfolgungsideen auf. Bei der Ein-
lieferung delirant. (Überweisung nach Friedrichsberg.) Bald kam eine Verbal-
halluzinose hinzu, die nicht lange anhielt. Depressiv. Nach 3 Monaten mit
remittiertem Blutbild entlassen. Im November Nachuntersuchung durch
Langelüddecke, dabei Befinden gut, er arbeitete wieder.
Er wurde dann klinisch nicht mehr beobachtet und erst 1938 über das All-
gemeine Krankenhaus St. Georg unter der Diagnose ‚Schizophrenie und sekun-
däre Anämie‘‘ am 10. 3. 38 in die Psychiatrische und Nervenklinik der Hansi-
schen Universität verlegt.
Aus den Angaben der Frau ergab sich, daß P. nach 1931 empfindlicher, auf-
geregter wurde. Er meinte, geärgert zu werden, ließ es sich aber doch ausreden.
Von Weihnachten 1937 ab wurde es immer schlimmer mit seinen Einbil-
dungen. Er wurde von oben mit Maschinen bearbeitet; alles geschah ihm zum
Trotz. Er hörte dann auf der Straße sprechen: „Das Schirmgeschäft
muß weg!‘ Man sprach vor dem Schaufenster über ihn. Er war in der Zeit
immer schwermütig. Das Stimimmenhören nahm immer mehr zu. P. wurde
schließlich handgreiflich gegen seine Frau, als er sah, daß sie eine Schere in der
Hand hielt und glaubte, sie wolle ihn damit umbringen.
Hier war P. geordnet, orientiert. Er sagte, seine Wahnideen seien Unsinn,
er könne aber nicht davon abkommen.
Er war dann depressiv, meinte es sei zu Ende mit ihm. Bei der Lumbal-
punktion jammerte P., man wolle ihn totstechen, man solle ihn lieber Gift
geben. Am 15.3. 38 findet sich der Eintrag ‚prädelirant‘“.
Körperlich fanden sich fehlende Beinreflexe.
P. halluzinierte dauernd, schimpfte gegen die Stimmen an, die aus der
Decke kamen. Er war ängstlich-depressiv. Er hörte Personen über sich
schimpfen.
31. 3. 38. Noch sehr unruhig. Er sei ein schlechter Mensch, am besten wäre,
er mache Schluß. Er war anscheinend zeitweise mit Stimmen beschäftigt.
Nach einigen Tagen ging es P. besser. Er konnte zwischendurch lachen, war
aber im ganzen noch gedämpft.
Am 4. 4. 38 unternahm P. einen Suizidversuch, indem er sich ein Handtuch
um den Hals zusammenzog. Er war äußerst depressiv, ängstlich und unruhig.
10. 4. 38. Unruhig, getrieben, bettflüchtig.
P. wurde dauernd von Stimmen belästigt, die von der Decke kamen. Sie
kamen von Personen, die er nicht kannte. Allmählich wurde P. einsichtiger
und meinte, die Stimmen wären wohl Einbildung. P. äußerte jetzt hypochon-
drische Beschwerden. Zeitweise hörte er noch Stimmen.
17.6. 38. P. gab auf Befragen an, daß er alles höre, was in ihm vor
gehe, was er verkehrt gemacht habe, was er verbrochen habe.
Er wurde sich nicht klar darüber, ob das alles jemand sagte, oder ob es in ihm
war. Manchmal war es ihm, als ob er es sagte, als ob es aus ihm herauskam und
von jemand ‚‚geleitet‘‘ wurde. Die Stimmen müßten doch irgendwie ‚,‚diri-
giert‘‘ werden. Sie werden absichtlich gemacht, damit er im Leben gerade
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 41
stehen könne, nachdem er eingesehen habe, daß er ‚lau‘ (wie er es dem Ge-
hörten entnahm) gewesen sei. Es solle sein Wille gestärkt werden, damit er
gegen alles angehen könne. Er glaube aus Lippenbewegungen der Mitpatienten
entnehmen zu können, daß sie über seinen Lebenslauf flüsterten — sie
würden dazu ‚‚geleitet‘“.
Dieser ganze Zustand machte ihn unruhig. Er sagte, wenn das Grübeln auf-
höre, sei auch die Krankheit vorbei.
Es kamen immer wieder Selbstanklagen und hypochondrische Beschwerden
durch. Das ganze Bild jetzt wird vom Depressiv-Ängstlichen beherrscht *).
Blutbild:
7.6.28: E. 1800000. Hb. 27%. F. I: 1,0.
12.6. 28: E. 1720000. Hb. 40%. Polychromasie. Psychisch: Seit 10. 6.
leichte Verwirrtheit, die zunimmt. Erregt.
22.6. 28: E. 2760000. Hb. 60%. Psychisch: Noch leicht delirant.
14. 7. 28: E. 3470000. Hb. 77%. Psychisch: Hin und wieder mal delirante
Episoden.
4.8.28: E. 4520000. Hb. 91%. Psychisch: Gebessert entlassen. Psychisch
„noch geringe Alteration“.
22. 3. 30: E. 3360000. Hb. 90%. Makrocytose. Psychisch: Paranoid, ängst-
lich. Nächtliche Unruhe.
10. 4.30 (Friedrichsberg): E. 3090000. Hb. 71%. Megaloblasten, Normo-
blasten. Psychisch: Delirant, örtlich desorientiert. Unruhig.
25. 4.30: E. 2970000. Hb. 62%. F. I: 1,06. Psychisch: Paranoid, optische
Halluzinationen.
13.5. 30: E. 4060000. Hb. 75%. Psychisch: Anfang Mai Verbalhalluzinose,
ängstlich. x
10. 6. 30: E. 4010000. Hb. 78%. Psychisch: Gebessert entlassen.
25. 8.31 (Nachuntersuchung): E. 5420000. Hb. 101%. Psychisch: ,An-
scheinend nicht deprimiert“‘.
12. 3. 38 (Friedrichsberg): E. 1720000. Hb. 70%. F. I: über 2,0! Psychisch:
Gedämpft, hypochondrisch.
22. 3. 38: E. 2360000. Hb. 75%. F.I: 1,6. Hyperchromie, Makrocytose,
Megalocytose. Psychisch: Verbalhalluzinose, ängstlich. Depressiv, prädelirant.
30. 3. 38: E. 3510000. Hb. 79%. F. I: 1,13. Bisher gut remittiert. Psychisch :
Paranoid. Depressiv-ängstlich. Selbstbeschuldigungen. Verbalhalluzinose.
8. 4. 38: E. 4270000. Hb. 82%. F.I: 0,9. Psychisch: In der Zwischenzeit
zugänglicher, geht besser. Nichts Paranoides mehr. Am 4. 4. 38 Suicidversuch,
ratlos.
21. 4. 38: E. 4540000. Hb. 90%. F.I: 1,0. Praktisch o. B. Psychisch:
Noch Verbalhalluzinose. Gedämpft. Einsichtiger, Stimmen wären wohl Ein-
bildung.
30. 4. 38: E. 3650000. Hb. 87%. F.I: 1,2. Psychisch: Depressiv, hypo-
chondrisch.
8. 5. 38: E. 3390000. Hb. 87%. F. I: 1,28. Psychisch: Depressiv. Zeitweise
Verbalhalluzinose.
8. 6. 38: E. 4610000. Hb. 85%. F.I: 0,92. Psychisch: Gedämpft, korri-
gierte Verbalhalluzinose.
*) Im August 38 sind unter der Behandlung die halluzinatorischen Züge
völlig verschwunden. Es besteht noch ein leicht depressives Bild mit Neigung
zu Eigenbeziehungen.
42 C. H. Grützmacher
Fall III: Pr. Nr. 79668. Friederike S., 38 Jahre.
Vorgeschichte:
In der Familienanamnese sind keine Besonderheiten.
1924 machte S. eine Magenoperation durch, indem die Hälfte des Magens
entfernt wurde. Kurz darauf Appendektomie.
Nach dieser Magenoperation hatte S. sich nie wieder recht wohl gefühlt.
1932—1933 wurden die Beschwerden immer heftiger, dazu traten noch
heftiges Ohrensausen, Schwindel, Schwäche und gelblich-bleiche Gesichts-
farbe. Die Beine wurden steifer und schwächer. Im Juli 1933 wurde sie in das
Krankenhaus Rothenburgsort in Hamburg eingeliefert. ‚Sehr häufig Ver-
stimmungszustände und viel Weinen, mißtrauisch und unzufrieden. Dazu
funikuläre Symptome. Sie wurde mit Hepatrat behandelt‘.
Am 27.4.1937 erfolgte die Aufnahme in die Psychiatrische und Nerven-
klinik der Hansischen Universität.
Sie gab an, daß vor einem halben Jahr die Leberbehandlung ausgesetzt
wurde, da der Hb.-Wert normal gewesen sei.
Dann traten nach einiger Zeit (9 Wochen vor der hiesigen Aufnahme)
wieder stärkere Beschwerden auf. Vor allem fühlte sie sich so matt und elend,
auch seelisch war es mit ihr bergab gegangen. Sie sprach wenig und grübelte
viel, schlief schlecht. Sie gab an, nach der Magenoperation sei sie so leicht
gereizt und sehr ängstlich geworden. Auch die Menschen ihrer Umgebung
wollten ihr nicht mehr wohl, sie hätten sie so oft so seltsam angesehen und
obgleich sie nichts gehört habe, habe sie das Gefühl gehabt, daß die Menschen
hinter ihrem Rücken schlecht über sie sprechen. Man verfolge sie auf Grund
einer Denunziation von seiten der Gestapo — sie solle politische Äußerungen
getan haben. Man versuche immer wieder, sie zu schikanieren, man habe an die
Wände und die Türen geklopft. Dieses ginge alles von einem jungen Mann aus,
dem Enkelkind einer Nachbarin. Man habe sie behext und ihren Willen be-
einflußt. Angeblich hörte sie keine Stimmen.
Sie war depressiv, etwas moros, äußerte Beziehungsideen, Beeinträchti-
gungsideen und war hypochondrisch.
Körperlich fanden sich eine atrophische Beinmuskulatur, negativer Achilles-
sehnenreflex, positiver Babinski beiderseits. Der Gang war unsicher und
spastisch.
10.5. 37. Paranoide Einstellung, Stimmungslage sehr moros.
20. 5. 37. Sie hörte, daß man ihr vieles vorwarf, daß man sie beschul-
digte.
Während sich im Laufe von 2 Wochen der körperliche Zustand mit allen
funikulären und Blutbefunden besserte, blieb das Bild immer noch depressiv.
In den nächsten Tagen äußerte sie, es werde schlecht über sie geredet.
Der Blutbefund besserte sich.
Nach 31, Monaten völlige Remission des Blutbildes. Psychisch blieb sie
unverändert.
Sie blieb weiterhin depressiv, mißtrauisch, hatte angeblich keine Hallu-
zinationen. Sie war ratlos, aber nicht mehr ganz so mißtrauisch nach 3 Wochen.
Der depressive Anteil trat mehr in den Vordergrund.
Anfang 1938 war sie noch depressiv, jetzt berichtete sie eindeutig über Ge-
hörshalluzinationen. Sie habe ihren Vetter sagen gehört: „Alle Nazis sollten
an die Bäume genagelt werden‘. Man behaupte auch, sie habe diesen Ausruf
getan. Die Patienten habe sie darüber sprechen hören.
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 43
Sie äußerte: ‚Ich glaube, daß ich von den Verwandten verfolgt werde:
1. weil ich unehelich bin,
2. sie mich nie leiden konnten‘.
Monatelang bot S. das gleiche Bild: Sie stand gehemmt, depressiv auf der Sta-
tion herum, sah aus dem Fenster, äußerte immer die gleichen ängstlichen Be-
ziehungsideen. Anfang 1938 wurde sie frischer und korrigierte ihre wahn-
haften Erlebnisse.
Bei der Vorstellung am 13.4. 38 war sie noch leicht gedämpft. Sie lachte
über ihre ängstlichen Befürchtungen.
Zusammenfassung:
Eine 37jährige Frau hat vor 13 Jahren eine Magenoperation
durchgemacht. Nach 8 Jahren traten allgemeinkörperliche Zeichen
und Schwindelzustände auf. Bald kamen Verstimmungszustände,
weinerliche Stimmung und auch Tage des Mißtrauens hinzu. An-
fangs stand das Verstimmbare, Erschöpfbare, Depressive im Vor-
dergrund, dann traten Beziehungs-Beeinträchtigungsideen inner-
halb einiger Wochen hinzu. Dabei blieb das Depressive vorherr-
schend.
Auf dem Höhepunkt der psychischen Erkrankung traten vorüber-
gehend eindeutige verbalhalluzinatorische Symptome auf. Die Ver-
balhalluzinose klang ab, es blieb nur das depressiv-paranoide Bild,
bis auch das Paranoische verschwand und nur eine gewisse Ge-
drücktheit übrigblieb. Dabei bestand eine schwere funikuläre Mye-
lose, die ım Laufe der Klinikbehandlung bis zu einem gewissen Maße
sich besserte, so daß sie ihre Hausarbeiten einigermaßen verrichten
konnte.
Nach Schwankungen im psychischen Bild stabilisierte sich dieses,
indem es, nachdem der Blutbefund einige Wochen vorher fast re-
mittiert war, in den letzten Wochen des Klinikaufenthaltes nur noch
Gedrücktheit zeigte.
Blutbild:
29.4. 37: E. 2760000. Hb. 70%. F.I: 1,27. Makrocytose, Hyperchromie.
Incipiente Perniciosa. Psychisch: Depressiv, erregt, moros. Beziehungsideen,
Beeinträchtigungsideen.
4.5.37: E. 2700000. Hb. 73%. F.I: 1,35.
10. 5. 37: E. 2990000. Hb. 76%. F. E: 1,27. Makrocytose. Psychisch: Para-
noid. Etwas freier und wohler.
20. 5. 37: E. 3540000. Hb. 86%. F. I: 1,20. Psychisch: Freier, gesprächiger.
Paranoide Inhalte nicht mehr faßbar.
24.5. 37: E. 3260000. Hb. 9093. F. I: 1,38. Eosinophilie als Ausdruck der
Therapie. Psychisch: Depressiv, körperlich Besserung.
5.6. 37: E.4100000. Hb. 91%. F.I: 1,10. Psychisch: Voller paranoider
Ideen, Verbalhalluzinose.
15. 6. 37: E. 4100000. Hb. 87°%,. F.I: 1,06. Psychisch: Paranoid, moros.
44 C. H. Grützmacher
12.7.37: E. 4420000. Hb. 90%. F.I: 1,02. Polychromie. Psychisch: De-
pressiv, unzugänglich.
21.7.37: E. 4380000. Hb. 88%. F.I: 1,0. Sonst o. B. Psychisch: De-
pressiv.
20. 8. 37: E. 5180000. Hb. 83%. F. I: unter 1,0. Psychisch: Depressiv.
22. 8. 37: E.5430000. Hb.106%. Psychisch: Depressiv, ratlos, miß-
trauisch.
6. 10. 37: E. 4860000. Hb. 99%. F.I: 1,0. o. B. Psychisch: Mißtrauisch,
wechselnd im Bild, manchmal etwas freier. Ratlos, antriebslos.
16. 11. 37: E. 4190000. Hb. 81%. Psychisch: Gelockerter, regsamer. De-
pressiv. Nicht mehr ganz so mißtrauisch und ablehnend. Im Januar depressiv,
akustische Halluzinationen, schwankt zwischen Realität und Wahnidee.
5.1.38: E. 4180000. Hb. 86%. F. I: unter 1,0. Psychisch: Im Februar an-
fangs gelockerter, dann Verbalhalluzinose, paranoisch.
30. 3. 38: E. 3990000. Hb. 92%. Anisocytose, etwas Polychromie, vereinzelt
Poikilocyten und Makrocyten. Psychisch: Im März ratlos, depressiv. Im ganzen
aber frischer. Korrigiert ihre Wahnerlebnisse u. -ideen. Bei der Entlassung
noch gedämpft.
Besprechung:
Wie die angeführten Krankengeschichten zeigen, lassen die para-
noid-halluzinatorischen Zustandsbilder bei der Perniciosa häufig so
wenig exogene Beimengungen erkennen, daß sie als Schizophrenie
verkannt oder als „schizophrenieforme Zustände“ angesprochen
werden. Im Verlauf der Perniciosapsychosen finden sie sich im zeit-
lichen Zusammenhang mit den verschiedenartigsten anderen psy-
chotischen Symptomen.
Man sieht sie aus eindeutig homonomen depressiven Bildern eben-
so wie aus schweren deliranten Verwirrtheitszuständen hervorgehen.
Die genauere Betrachtung zeigt aber, daß in der zeitlichen Auf-
einanderfolge dieser verschiedenen Symptomgruppen eine Gesetz-
mäßigkeit unverkennbar ist:
Überall da, wo es gelungen ist, genügend exakte Vorgeschichten
von den Kranken zu erhalten, läßt sich erkennen, daß am Beginn
der Perniciosapsychose neben körperlichen Beschwerden und neur-
asthenischen Zeichen ein ausgesprochen hypochondrisch-depressives
Zustandsbild stand.
Nebenbei sei darauf hingewiesen, wie auffällig häufig anamne-
stische Schwindelanfälle beim Beginn der psychischen Veränderun-
gen angegeben werden.
An dieses hypochondrische Bild schließt sich häufig ein rein de-
pressives mit Selbstvorwürfen, Versündigungsideen, dessen Inhalt-
setzung sich allmählich ändert: Immer mehr tritt bei Fortbestehen
der depressiven Verstimmung eine paranoide Einstellung in den
Vordergrund, die oft zu einem ausgesprochenen systematisierten
Wahn führt:
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 45
die Kranken werden mißtrauisch, äußern Beziehungsideen und
beginnen ihre Umwelt umzudeuten.
Eigenartig ist dann die Art und Weise, wie sich die Verbalhallu-
zinose aus einem Stadium entwickelt, in dem Gehörswahrnehmun-
gen in affektiv-illusionärer Weise verkannt werden, ganz so wie es
bei manisch-depressiven Kranken beobachtet wird.
Daß es schließlich aber zu einer richtigen Verbalhalluzinose im
Sinne Schröders kommt, geht ohne weiteres aus den Begleitsym-
ptomen hervor. In vielen Krankengeschichten findet man von den
Kranken die Erlebnisse des Gemacht-werdens von Gedanken,
Beeinflußt- und Geführt-werdens geschildert (vgl. Th.). Schließlich
geht das paranoid-halluzinatorische Stadium in eine delirantes
Bild über. Leider erlauben unsere Unterlagen es uns noch nicht,
die Entwickelung des deliranten aus dem paranoid-halluzinatori-
schen Zustandsbild genauer darzustellen. Insbesondere fehlen uns
eingehende experimentelle Prüfungen der Bewußtseinslage zu die-
sem Zeitpunkt.
Es sei hier nur auf den eigenartigen und theoretisch höchst inter-
essanten Beginn der Halluzinose bei Th. hingewiesen. Bei ihm
scheint sie sich ziemlich plötzlich im Anschluß an ein ausnahme-
zustandsartiges Erlebnis, das vom Kranken mit dem Einfluß elek-
trischer Ströme verglichen wird, entwickelt zu haben. Ähnliche
Erlebnisse berichtet auch Pat. K. Langelüddeckes.
Nicht minder bedeutungsvoll als die Entwicklung der Symptome
ist ihre Rückbildung. Unseren Krankengeschichten ist ohne weiteres
zu entnehmen, daß diese Rückbildung die gleichen Stadien durch-
läuft wie die Ausbildung der Psychose. Besonders deutlich kommt
dies bei dem Pat. Th. zum Ausdruck, bei dem sich das paranoid-
halluzinatorische Bild während der Behandlung in der Heilanstalt
Langenhorn über einen depressiven Zustand zurückbildet, ebenso
machen bei Pat. P. während der klinischen Behandlung die deli-
ranten Erscheinungen erst den paranoid-halluzinatorischen und
dann einem leicht hypochondrisch-depressiv gefärbtem Bilde Platz.
Im An- und Abschwellen des körperlichen Krankheitszustandes,
wie es durch die mehr oder weniger sachgemäße Behandlung be-
dingt ist, durchlaufen nun einzelne Kranke die geschilderte Stufen-
reihe mehrmals hin und zurück (vgl. vor allem Th. u. P.). Daß die
zahlenmäßigen Werte des Blutbildes das Ausmaß der Psychose
nicht genau widerspiegeln, darf nicht wundernehmen; es ist ja
längst bekannt, daß die Psychose den hämatologischen Erschei-
nungen voraneilen und nachhinken können. Eine Konvergenz
46 C. II. Grützmacher
zwischen Blutbild und Psychose glauben wir trotzdem in unseren
Fällen erkennen zu können.
Die aus dem Angeführten erkennbare Reihenfolge der Zustands-
bilder, bei der ein hypochondrisches Stadium von einem homonom
depressiven, dieses von einem paranoid gefärbten abgelöst wird,
bis ein paranoid-halluzinatorisches Zustandsbild mit den Erlebnissen
des Fremddenkens und Fremdhandelns in ein typisches Delir über-
geht, ist nicht nur bei den Perniciosa-Psychosen festzustellen. Auch
andere exogene Psychosen lassen eine ähnliche Stufenreihe mehr
oder weniger vollständig erkennen:
Die von Georgi und Beyer veröffentlichten Pellagra-Psycho-
sen zeigen gewisse Parallelen zu den von uns beschriebenen Bildern.
Zwar stehen bei ihnen die exogenen Symptome weitaus im Vorder-
grunde, aber in verschiedenen von Georgi veröffentlichten Kranken-
geschichten kann man die Entwicklung von einem hypochondri-
schen Zustand zu einer homonomen Depression mit Suicidtendenzen
verfolgen, obwohl die Autoren auf eine Darstellung der Entwicke-
lung der Symptomatologie anscheinend wenig Wert gelegt haben.
Eine sehr eindringliche Parallele zu unseren Fällen findet sich
aber in einer kürzlich erschienenen Beschreibung einer Brom-
psychose mit ungewöhnlicher Wahnbildung durch Pohlisch. Hier
fand sich im Beginn der Psychose eine deutliche Benommenheit mit
ängstlich-deliranter Situationsverkennung, deliranten Bewegungs-
formen und ängstlich-halluzinatorischer Unruhe mit akustisch-
illusionären Mißdeutungen und echten Halluzinationen. Im Vorder-
grunde stehen ın den ersten beiden Monaten halluzinatorische, deli-
rante und oneiroide (Mayer-Gross) Zustandsbilder, sämtlich in
häufigem Wechsel und oft unterbrochen von flüchtigen Zuständen
mit Bewußtseinsklarheit und guter zeitlicher und räumlicher Orien-
tierung. Im zweiten Teil der Psychose, etwa vom dritten Monat ab,
überwiegen paranoid-halluzinatorische Erlebnisse, die mit Hinzu-
treten von Beeinflussungs- und Erklärungswahnvorstellungen zu
einem fast zırkumskripten Wahnsystem und schließlich zu einem
Residualwahn ausgebaut werden. Den Schluß der Psychose bildet
ein ausgesprochen depressives Zustandsbild mit Versündigungs-
ideen. Pohlisch betont die weitgehende Systematisierung des Wah-
nes bei der Kranken, hebt aber hervor, daß trotzdem die Bewußt-
seinslage in den ersten Monaten der Psychose auffällig schwankte.
Die leichte Benommenheit der ersten Monate ging über in eine aus-
gesprochene Neigung zum tagträumerischen In-sich-versinken.
Diese Träumereien waren meist mit paranoid-sexuellen Inhalten
erfüllt, die als Residualwahn noch Wochen nach völliger Auf-
Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex usw. 47
hellung des Bewußtseins fortbestanden. Auf den Wechsel zwischen
depressiv-ängstlicher und rein depressiver Stimmung weist Pohlisch
hin.
Wenn auch Pohlisch und Georgi bei ihren Fällen exogene Bei-
mengungen in einem Ausmaße schildern, wie es weder bei unseren
Fällen noch bei der Mehrzahl der übrigen Perniciosa-Psychosen be-
obachtet worden ist, glauben wir doch in der ähnlichen zeitlichen
Entwicklungsfolge der Symptomatik einen Hinweis darauf er-
blicken zu können, daß es sich bei ihr um eine unspezifische Variante
im Ablauf von exogenen Psychosen handeln muß. Vielleicht ist der
gemeinsame ursächliche Hintergrund in dem Tempo der Entwicke-
lung resp. der Rückbildung der verursachenden Noxe zu suchen.
Es handelt sich sowohl bei der Perniciosa-Psychose als auch bei
der Pellagra und bei der von Pohlisch beschriebenen Brompsychose
um sehr langsam einsetzende resp. sieh zurückbildende Schädigungen.
Das ausgesprochene Vorherrschen homonomer und paranoid-hallu-
zinatorischer Bilder bei mehr oder weniger klarem Bewußtsein läßt
den Verdacht begründet erscheinen, daß wir es mit einem Aus-
schnitt in der Entwickelung einer exogenen Psychose zu tun haben,
der in anderen Fällen durch die stürmische Entwickelung oder die
rasche Besserung der Psychose nicht zur Ausbildung kommt.
Gewisse Beziehungen zu der bekannten Theorie von Specht, der
als einzigen Unterschied zwischen endogenen und exogenen Sym-
ptomen die Identität der Schädigung und ihren zeitlichen Ablauf
anerkennen wollte, sind unverkennbar. Jedenfalls stützen die von
uns angeführten Fälle die Ansicht Spechts besser, als die seinerzeit
von ihm gemachten Beobachtungen.
Damit soll aber nicht gesagt werden, daß die Spechtsche Lehre
von der ausschließlichen Abhängigkeit der Symptomatik von In-
tensitäts- und Zeitfaktoren allein imstande ist, die Frage zu klären,
warum und in wieweit die von uns genannten psychotischen Bilder
in ihrer formalen Genese von den üblichen exogenen Reaktions-
typen Bonhoeffers abweichen. Dies scheint uns schon deshalb nicht
möglich, weil mindestens der theoretische Einwand erhoben werden
kann, daß die Spechtsche Lehre die Möglichkeit einer verschiedenen
Lokalisation von Noxen nicht berücksichtigt.
Einstweilen wird man in der beschriebenen Symptomreihe nichts
weiter als eine Variante des üblichen Weges sehen können, auf dem
eine symptomatische Psychose ihren deliranten Höhepunkt erreicht.
Immerhin glauben wir aber, daß unsere Beobachtungen An-
regung geben können, den vorhin erwähnten Weg der Symptom-
entwicklung bei chronisch exogenen Zuständen mit Hilfe sorg-
48 C. H. Grützmacher, Der paranoid-halluzinatorische Symptomenkomplex.
fältiger Anamnesen zu verfolgen. Wir denken insbesondere an die
Entwickelung der paranoid-halluzinatorischen Symptome im Se-
nium oder an die Beobachtung der sich zurückbildenden paranoid-
halluzinatorischen Paralyse.
Auf der anderen Seite aber glauben wir, daß auch ın dem Gebiet
der Psychosen, die heute als endogen oder schizophren angesehen
werden, — paranoid-halluzinatorischen Involutionspsychosen, den
Paraphrenien Äraeplins, der chronisch-halluzinatorischen Paranoia
Siemerlings — eine genaue Verfolgung der formalen Genese der Er-
krankung mancherlei Beziehungen zu der beschriebenen Entwicke-
lungsreihe ergeben wird. Wohl nicht umsonst hat ja die alte Psychi-
atrie das Stadium melancholicum als Beginn der verschiedensten
Psychosen gekannt (Guislain und viele andere).
Schon jetzt möchten wir als Einzelbeobachtung die eigenartige
Entwickelung des paranoid-halluzinatorischen Zustandsbildes bei
unserem Pat. Th. erwähnen, deren Ähnlichkeit mit dem plötzlichen
Auftreten der Halluzinose bei sogenannten paraphrenen Erkran-
kungen ohne weiteres ins Auge fällt.
Schrifttum
Behrens, Chronische paranoide Erkrankungen bei perniciöser Anämie.
Mschr. Psychiatr. 47. — Binswanger, Lehrbuch der Psychiatrie, 1920. —
Bonhoeffer, Die symptomatischen Psychosen, 1910. — Bumke, Handbuch der
Geisteskrankheiten, Bd. 7. — Cosack, Homonome Zustandsbilder bei perni-
ciöser Anämie. Z. Neur. 152. — Georgi, Zur Klinik und Genese der Pellagra.
Mschr. Psychiatr. 76. — Goldstein, Die Ilalluzination, ihre Entstehung, ihre
Ursachen und ihre Realität. Wiesbaden 1912. — Guislain, J., Lecon orales
sur les Phrenopathies. 1852. — Illing, Über Psychosen bei perniciöser Anämie.
Mschr. Psychiatr. 78. — Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie, 1892. — Krafft-
Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie, 1879. — Langelüddecke, Zbl. Neur. 57, S. 507,
Zbl. Neur. 67, S. 93, Deutsche Med. W., 1936 I, S. 963, Allg. Z. Psychiatr. 105,
S. 147. — Langfeldt, Gabriel, The Prognosis in Schizophrenia and the Faktors
Influencing the Course of Disease. 1937. Lewin u. Munksgaard. — Margulies,
Die primäre Bedeutung der Affekte im ersten Stadium der Paranoia. Mschr.
Psychiatr. X, Heft 4. — Pohlisch, Über den jetzigen Stand der Lehre von den
symptomatischen Psychosen. Fschr. Neur. 1929. — Pohlisch, Brompsychose
mit ungewöhnlicher Wahnbildung. Mschr. Psychiatr. Bd. 99. — Schneider
Carl, Über Geistesstörungen bei perniciöser Anämie. Nervenarzt, 2. S. 286. —,
Siemerling, Rückenmarkserkrankung und Psychose bei perniciöser Anämie.
Arch. Psychiatr. 45. — Specht, s. Pohlisch (Mschr. Psychiatr. Bd. 99). —
Schröder, Intoxikationspsychosen, Handbuch der Psychiatrie, Aschaffenburg.
— Stejfa, Zbl. Neur. 76, S. 210. — Sterz, s. Pohlisch (Mschr. Psychiatr. Bd. 99)
u.s. Bumke, Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 7. — Wohlwill, Über
psychische Störungen bei funikulärer Myelitis. Z. Neur. 8.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe
Von
Albrecht Langelüddeke
(Aus den Landesheilanstalten Haina und Marburg)
(Eingegangen 23. April 1938)
I. In früheren Arbeiten (10, 11) habe ich die Frage behandelt,
wie weit durch Cardiazol erzeugte Krämpfe für differential-
diagnostische Zwecke herangezogen werden können. Die aus
meinen Versuchen sich ergebenden Schlußfolgerungen habe ich
absichtlich sehr vorsichtig formuliert, weil die verhältnismäßig ge-
ringe Zahl der Einzelversuche eine bestimmte Fassung noch nicht
zuließ. Ich fand, um das noch einmal anzuführen, daß sich mit
einer Dosis von 3,0 ccm Cardiazol (10°) !), intravenös innerhalb
weniger Sekunden eingespritzt, bei Epileptikern, aber auch bei
organisch Hirnkranken und bei Schizophrenen Krämpfe auslösen
lassen, während bei 10 Kranken ohne nachweisbare Krampfbe-
reitschaft (manisch-depressives Irresein, Psychopathie, Schwach-
sinnszustände) mit der angegebenen Menge kein Krampf erzeugt
wurde. Da der Verlauf der von mir beobachteten Krämpfe mit dem
der Spontankrämpfe übereinstimmte, habe ich den Cardiazol-
krampf als ein differentialdiagnostisches Hilfsmittel für die Frage,
ob eine genuine oder symptomatische Epilepsie vorliege, bezeichnet.
Möglich, so sagte ich, werde es vielleicht sein, den Cardiazolver-
such zur Klärung der Frage, ob es sich im Einzelfalle um Psycho-
pathie oder Epilepsie handele, zu verwenden; doch bedürfe es dazu
weiterer Versuche. Die Meinung Schönmehls (21), daß bei psychisch
Erkrankten die Krampfreaktion auf 0,5—3,0 cem Cardiazol als
diagnostischer Hinweis auf Epilepsie zu deuten sei, habe ich dahin
eingeengt, daß das nur angängig sei, wenn die psychischen Er-
scheinungen selbst schon für Epilepsie sprächen.
Inzwischen sind eine Reihe von Arbeiten über das gleiche Thema
erschienen, die zum Teil eine gewisse diagnostische Bedeutung des
1) Alle Cardiazolmengen sind im folgenden in ccm einer 10%,-Lösung an-
gegeben.
4 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
50 Albrecht Langelüddeke
Cardiazolkrampfes anerkennen (Stern (28), Grubel (4), Wichmann
(32), Langsteiner und Stiefler (13), v. Steinau-Steinbrück (26), zum
Teil sich ablehnend äußern (Duensing (3), Janz (7, 8).
Die Bedenken, die in diesen Arbeiten, weiter in Referaten und
Diskussionsbemerkungen vorgebracht sind, sind im wesentlichen
folgende: Zunächst hat Roggenbau (19) darauf hingewiesen, daß ‚‚die
Erzeugung eines Krampfes in jedem Falle einen nicht unerheblichen
Eingriff in den physiologischen Ablauf der Lebensvorgänge‘“‘ dar-
stelle. Es sei wahrscheinlich, daß Gefäß-Spasmen im Gehirn den
Grundvorgang für den epileptischen Krampfanfall bildeten,
und daß derartige Gefäßspasmen zu Veränderungen der Hirnsub-
stanz führen könnten ?). Vom Standpunkt des Hirnpathologen aus
hat Scholz (20) diese Bedenken unterstrichen, namentlich für junge
Menschen im ersten Lebensjahrzehnt. Der Krampfanfall sei kein
harmloser Vorgang, den man zu beliebiger Zeit und beliebig oft her-
vorrufen könne. Bei Kindern könnten infolge eines einzigen Krampf-
anfalls sehr ernste und ausgedehnte Zerstörungen im Gehirn ein-
treten, die, wenn sie nicht den Tod herbeiführen, sehr wohl die
Grundlage für schwere körperliche und geistige Defektzustände bil-
den könnten.
Ein zweiter Einwand ist der, daß auch bei Nichtepileptikern
sich mit Cardiazol Krämpfe auslösen lassen. So erzielte Wahlmann
(30) bei Manisch-depressiven Krämpfe, freilich mit einer Dosis von
mindestens 5,0 ccm Cardiazol ?); Janz (7) und Duensing (3) konn-
ten mit 3,0 ccm Cardiazol bei Schwachsinnigen, Psychopathen, Ma-
nisch-depressiven Krämpfe erzeugen. Bostroem (2) meint, ein Me-
dikament, das auch bei Nichtepileptikern epileptische Krämpfe
hervorrufe, sei zu differentialdiagnostischen Zwecken nicht ge-
eignet.
Schubert (23) hat weiter behauptet, daß die erzeugten Krampf-
erscheinungen ‚weder in generalisierten Verlaufsformen noch bei
den fokalen Typen‘ den Spontananfällen glichen. Auch Duensing
(3) sah in mehreren Fällen Divergenz der Erscheinungen bei Cardia-
zol- und Spontananfällen; es handelte sich freilich bei den Spontan-
erscheinungen um Petit-Mal-Anfälle und Absencen. Janz (8) ver-
tritt in diesem Zusammenhange die Meinung, daß die Cardiazol-
2) Die von Roggenbau in seinem Referat meiner Arbeit mir unterschobene
Ansicht, ich rechne außer der Epilepsie nur die Schizophrenie zur Gruppe der
Krankheiten mit Krampfbereitschaft, habe ich niemals geäußert. Ich halte
es für zweckmäßig, als Ansicht eines Autors nur das zu berichten, was dieser
wirklich geschrieben hat.
3) Die genaue Dosis ist nicht angegeben.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 2 51
kräm pfe differentialdiagnostisch bedeutungslos seien, da die große
Mehrzahl der symptomatischen Epilepsien mit generalisierten
kKrämpfen einhergingen.
Janz (7) lehnt das Cardiazol auch deshalb ab, weil es unter Um-
gehung der für die Entstehung des epileptischen Anfalles notwen-
digen humoralen Vorgänge unmittelbar auf die Krampfzentren ein-
wirke.
Diesen Bedenken möchte ich selbst noch ein weiteres hinzufügen,
das m. W. auch früher schon bei den Hyperventilationsversuchen
O. Foersters geäußert worden ist: es wäre möglich, daß durch einen
künstlich erzeugten Krampf besondere Bahnungen geschaffen
werden, so daß der Cardiazolkrampf weitere Krämpfe zur Folge
hätte.
Gehen wir die einzelnen Einwände durch! Daß durch Krämpfe
Veränderungen im Gehirn hervorgerufen werden können, ist sicher.
Doch müssen diese Veränderungen mindestens bei Erwachsenen
praktisch ziemlich bedeutungslos sein: bei den recht zahlreichen
Versuchen, die bisher veröffentlicht sind, sind nennenswerte Schä-
digungen nicht berichtet; auch bei Schizophrenen, die nach v.
Meduna (14) aus therapeutischen Gründen mindestens 25 Krämpfe
durchmachen sollen, sind unangenehme Zwischenfälle, die in dieser
Richtung liegen, nicht beobachtet. Das spricht doch dafür, daß
nur in sehr seltenen Ausnahmen mit Hirnschäden zu rechnen ist.
Auch die von A. Stender (27) angestellten Tierversuche an Ka-
ninchen und Katzen ergaben histologisch nur geringfügige Verän-
derungen. Bei alten Epileptikern mit zahlreichen Krämpfen und
fortgeschrittener Demenz spielen schließlich einige Krämpfe mehr
oder weniger keine Rolle. Bei Kindern wird kaum einmal ein Anlaß
zur Durchführung des Cardiazolversuchs bestehen.
Auf die von Janz (7) und Duensing (3) erhobenen Einwände
werde ich später noch eingehen; die prinzipielle Ablehnung des
Cardiazolkrampfes durch Bostroem (2), weil er nicht spezifisch sei,
halte ich für zu weitgehend. Es gibt in der Medizin eine Reihe
von Symptomen, die ihre große Bedeutung haben, obwohl sie
nicht spezifisch für irgend eine Erkrankung sind. Erst in der Ver-
koppelung mit anderen Symptomen erhalten sie ihren entschei-
denden Wert. Niemand wird z. B. bestreiten, daß das Fehlen
der Patellarsehnenreflexe für die Diagnose der Tabes dorsalıs eın
wichtiges Kennzeichen sei, obwohl es nicht spezifisch für Tabes
ist. Selbst ein sog. „paralytischer Liquorbefund‘“ ist nicht absolut
beweisend für das Vorliegen einer progressiven Paralyse. In jedem
Falle kommt es darauf an, den Wert des Einzelsymptoms einzu-
i
52 Albrecht Langelüddeke
schätzen. Daß das beim Cardiazolkrampf anders sein soll, ver-
mag ich nicht einzusehen. Freilich gehört der Versuch m. E. in
die Hand des geschulten und kritischen Facharztes.
Auch die von Schubert, Duensing und Janz geäußerten Bedenken
sind kein zureichender Grund für eine prinzipielle Ablehnung der
Versuche. Auch ich halte es, wie sich noch ergeben wird, für wahr-
scheinlich, daß nicht in allen Fällen Übereinstimmung zwischen
Cardiazolkrampf und Spontankrampf besteht. Um Wiederholun-
gen zu vermeiden, soll diese Frage jedoch weiter unten besprochen
werden.
Dem weiteren Einwand von Janz (7), der Cardiazolversuch sei
abzulehnen, weil der dabei erzeugte Krampf unter Umgehung der
humoralen Vorgänge zustande komme, ist entgegenzuhalten, daß
bisher nicht erwiesen ist, daß bei allen epileptischen Krämpfen hu-
morale Vorgänge eine ausschlaggebende Rolle spielen. Es ist viel-
mehr wahrscheinlich, daß die Genese der Krämpfe bei den sog.
symptomatischen Epilepsien nicht die gleiche ist wie bei der ge-
nuinen Epilepsie. Ob dasCardiazoldirekt das Krampfzentrum angreift
oder auf dem Wege über das Gefäßsystem den Krampf hervorruft,
ist vorläufig noch nicht sicher bekannt. Wäre das Letztere der
Fall, wofür die Beobachtungen von Selbach (24) sprechen, so wäre
immerhin ein wichtiger Faktor, der auch bei der genuinen Epilepsie
eine Rolle spielt, in das Geschehen einbezogen.
Hinsichtlich des letzten, von mir erhobenen Einwands ist zunächst
von Bedeutung, daß ein einmaliger Krampf aus äußerer Ursache,
z.B. bei der Phanodormentziehung, bei fieberhaften Erkrankungen
der Kinder, keine weiteren Krämpfe im Gefolge zu haben pflegt.
Träten wirklich einmal nach einem künstlich erzeugten Krampf
Spontankrämpfe auf, so müßte man annehmen, daß eine vorher
latente Krampfbereitschaft aktiviert worden wäre. Wir würden da-
mit eine bis dahin nicht erkennbare Krankheitsanlage aufgedeckt
haben, deren Ausmerzung nun erst möglich wäre. Praktisch ist in-
dessen etwas Derartiges kaum zu erwarten. Für kontraindiziert
halte ich den künstlichen Krampf, auch den Wasserstoßversuch, bei
Epileptikern, die Jahre lang keinen Krampf mehr hatten; hier
könnte die erneute Bahnung unliebsame Folgen haben.
II. Die Gardıiazolversuche, über die ich zunächst berichtet habe,
genügen nun nicht, um eine Reihe von Fragen zu klären. Wenn der
eine Epileptiker auf 3,0 ccm Cardiazol einen Krampf bekommt, der
andere erst auf 5,0 ccm, so wird dadurch die Frage nahe gelegt,
welche Dosis im Einzelfall überhaupt erforderlich ist, um einen
Krampf auszulösen, mit anderen Worten, wo die Cardiazolkrampf-
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 53
schwelle liegt. Weiterhin fragte ich mich, ob unter der Wirkung
von verschiedenen Arzneimitteln diese Schwelle sich erhöht und
gegebenenfalls in welchem Maße, und schließlich welche Verände-
rungen im Körperhaushalt bei den Cardiazolkrämpfen nachweishar
sind. Bei der letztgenannten Fragestellung war ich auf die Unter-
suchungsmethoden angewiesen, die sich in unserem bescheidenen
Laboratorium anstellen ließen: ich habe daher Blutuntersuchungen
(Blutbilder und Senkungsgeschwindigkeit) durchgeführt.
a) Die Cardiazolkrampfschwelle zu bestimmen, hielt ich aus
folgendem Gedankengange heraus für wichtig: Jeder Mensch
scheint mir krampffähig zu sein; es kommt nur auf die Größe des
Reizes an, unter den ihn man setzt. Hatte ich in meinen ersten
Versuchen mit 3,0 ccm Cardiazol bei einer großen Reihe von Epi-
leptikern Krämpfe auslösen können, bei Schwachsinnigen, Manisch-
depressiven und Psychopathen dagegen nicht, so konnte das ein
Zufall sein. Jedenfalls lag kein Grund zu der Annahme vor, der
gesunde Mensch reagiere prinzipiell nicht auf die genannte Dosis.
Auf der anderen Seite reagierte ein Teil der Epileptiker so prompt
mit einem Krampf, daß die Frage auftauchte, ob denn nicht in
einer Reihe von Fällen bereits kleinere Mengen als 3,0 ccm zur
Krampfauslösung genügten. Es war auch nicht unwahrscheinlich,
daß die Häufigkeitskurven, die man bei der Bestimmung der Car-
diazolkrampfschwelle bei einer größeren Anzahl Kranker und Ge-
sunder erhält, sich überschneiden, so daß etwa beı einer bestimm-
ten kleinen Cardiazolmenge nur Epileptiker oder andere organisch
Erkrankte mit Krämpfen reagieren, daß mit einer mittleren Dosis
sowohl bei Epileptikern als auch bei Gesunden Krämpfe ausgelöst
werden, während bei bestimmten großen Dosen nur Gesunde nicht
krampfen. Um diese Fragen beantworten zu können, war es erfor-
derlich, ım Einzelfall die Menge Cardiazol zu bestimmen, die bei ın-
travenöser Injektion zur Erzeugung eines Krampfes eben ausreichte.
Ich bin mir nun durchaus im Klaren darüber, daß der Krampf das
Ergebnis verwickelter Vorgänge ist, und daß die Bedingungen für
das Entstehen eines Krampfes — für uns in der Regel nıcht er-
kennbar — wechseln. Insofern haften jedem Versuch Fehler an,
die sich schwer oder gar nicht ausmerzen lassen: das Wetter, die
Jahreszeiten, Nahrungsaufnahme und andere Faktoren spielen
dabei mit. Ich habe einen Teil dieser Faktoren dadurch auszu-
schalten versucht, daß ich alle Versuche am nüchternen Kranken
morgens in der Zeit zwischen 8 und 9 Uhr durchführte. Andere Feh-
lerquellen wie Jahreszeiten, Wetter, zufällige körperliche Schwan-
kungen, ließen sich nicht ausschalten. Die Ergebnisse beim Einzel-
54 | Albrecht Langelüddeke
nen sind daher mit einem Fehler behaftet. Dadurch indessen, daß
die Versuche an einer größeren Zahl von Kranken durchgeführt
wurden, werden diese Fehler praktisch wieder ausgeglichen. Ich
glaube daher, daß das so gewonnene Urteil über die ganze Gruppe
richtig ist.
Die Versuche wurden im allgemeinen so angestellt, daß der fast
flachliegende Kranke am ersten Tage 2,0 cem Cardiazol 1. v. erhielt.
Bekam er darauf einen Krampf, ging ich am folgenden Tage um
0,5 ccm herab und senkte die Dosis weiter um je 0,5 cem, bis der
Kranke keinen Krampf mehr bekam. Wurde mit 2,0 ccm Cardiazol
kein Krampf ausgelöst, stieg ich in den folgenden Tagen um 0,5 cem
an, bis ein Krampf auftrat. In einer Serie, bei der zugleich Blut-
untersuchungen gemacht wurden, fing ich mit 1,0ccm an und
stieg um täglich 0,5 ccm bis zum Erfolg. Die Injektion wurde
stets schnell, in etwa 1—4 Sekunden ausgeführt.
Auf diese Weise habe ich insgesamt 70 Epileptiker mit Cardiazol
gespritzt, außerdem 8 Schizophrene mit epileptischen Anfällen.
Zwei kurze Beispiele mögen das Vorgehen erläutern:
J. N. 19. 3.37. 2,0 ccm Cardiazol in 1,5 Sek. Keine Reaktion.
20.3. 2,5 Card. in 1,5 Sek. Kurzes Anhusten. Nach 25 Sek. kurzer Aufschrei.
Generalisierter tonisch-klonischer Krampf. Arme angewinkelt. Leichter Zungen-
biß. Samenerguß. Dauer 50 Sek. Hinterher unruhig.
H. G. 29. 3. 37. 2,0 ccm Card. in 1,5 Sek. Bei 30 Sek. (Pupillen etwas
weiter, Reaktion wie vorher) kurzer Schrei, Drehen des Kopfes nach links,
tonische Phase mit Spreizen der Beine, dann Beugen des rechten Beines im
Hüft- und Kniegelenk, während das linke gestreckt bleibt. Arme angewinkelt.
Dann ziemlich gleichmäßige Streckung der Arme und Beine. Klonische Phase
unauffällig. Ausgesprochene ‚Gänsehaut‘. Dauer 60 Sek.
30.3. 1,5ccm Card. in 1 Sek. Krampf wie gestern; nur wird vor der
Streckung auch das linke Bein angezogen. Beginn nach 30 Sek.; Dauer 60 Sek.
31.3. 1,0 ccm Card. in !/, Sek. Subjektiv: ‚steigt so in den Kopf“, objektiv:
nihil.
In den beiden genannten Fällen wurde also die Cardiazolkrampf-
schwelle mit 2,5 bzw. 1,5 ccm Cardiazol angenommen. In allen
Fällen ging ich so weit, daß ein Krampf ausgelöst wurde, was immer
gelang. Auf diese Weise wurden die in Tabelle 1 enthaltenen
absoluten Zahlen gewonnen.
Tab. 1.
Verteilung der Krämpfe auf verschiedene Gardiazoldosen
(absolute Zahlen) bei Epileptikern.
Zahl der |
Krampfenden 4 41 | 21 | 13 6 5 6 1 2 1
Cardiazolineem | 1,0 | 1,5 | 2,0 | 2,5 | 3,0 | 3,5 | 4,0 | 4,5 | 5,0 | 55
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 55
Diese Zahlen geben, in Prozenten berechnet, die Kurve 1, bei
der die eingeklammerten Zahlen die gefundenen Prozentsätze wie-
dergeben. Das heißt: Das Maximum dieser Kurve liegt bei 2,0 cem
Cardiazol. Rechnet man die Epileptiker zusammen, die auf Dosen
von 1,0—2,5 ccm Cardiazol reagierten, so ergibt sich eine Zahl von
40 = rund 70%.
10 15 20 25 30 35 %0 45 50 55
—> (Cardiazol —
Kurve 1. Cardiazolkrampfschwelle bei 70 Epileptikern
Für die wenigen Schizophrenen mit epileptischen Anfällen läßt
sich eine verwertbare Häufigkeitskurve nicht aufstellen; die ge-
fundenen Werte lassen sich lediglich registrieren.
Tab. 2.
Verteilung der Krämpfe bei Schizophrenen mit epil. Spontan-
krämpfen
Zahl der Krampfenden — 1 ,1:3 0:4 E g e 1
Cardiazol in cem.... 1,0 | 1,5 2,0 125 |30 ,35 40 )45 | 5,0
Ich habe nun versucht, die Beziehungen der Cardiazolkrampf-
schwelle zu Alter, Gewicht und Anfallshäufigkeit der Kranken zu
bestimmen.
Über die Beziehungen. zwischen Alter und Cardiazolkrampf-
schwelle gibt die folgende Übersicht Auskunft.
56 Albrecht Langelüddeke
Tab.3. Alter und CGardiazol-Krampfschwelle.
Alter in Jahren
Gardiazol | 00
—30 | —40 | —50 | —60 | >60
1,0 2 1 1 — ==
1,5 2 4 3 2 =
2,0 4 7 8 1 1
2,5 5 =. 6 1 1
3,0 eu 3 2 1 =
3,5 = 2 1 2 =
4,0 2 4 = nea =
4,5 == 2 1 e en
5,0 1 1 i = =
5,5 u A == = a
“=
Daraus ergibt sich: Auf Dosen bis 2,5 ccm Cardiazol reagierten:
bis zu 30 Jahren 13= 81% (16 Fälle)
über 30—40 Jahren 12 = 52% (23 Fälle)
über 40—50 Jahren 18 = 82% (22 Fälle)
über 50 Jahren 6 = 67% (9 Fälle).
Diese Zahlen lassen keinerlei Beziehung erkennen. Noch ge-
ringer erscheinen die Unterschiede, wenn man die Grenze nicht bei
2,5 ccm, sondern bei 2,0 oder 3,0 ccm Cardiazol zieht. Dann ergibt
sich:
bis 2,0 Card. 3,0 Card.
bis zu 30 Jahren 8 = 50% 13=- 831%
über 30—40 Jahren 12 = p2% 15- 70%
über 40—50 Jahren 12=- 55% 229%
über 50 Jahren 4 = 44% T 189%:
Auch Janz hat keine verwertbaren Beziehungen zwischen Alter
und seinen Versuchsergebnissen gefunden; Langsteiner und Stief-
ler haben durchgreifende Unterschiede nur zwischen Jugendlichen
unter 15 Jahren und Erwachsenen über 45 Jahren gefunden. Da
wir so jugendliche Individuen nicht mit Cardiazol gespritzt haben,
fehlt uns darüber die Vergleichsmöglichkeit. Bei den übrigen Alters-
klassen besteht jedoch Übereinstimmung.
Das Körpergewicht ist in ähnlicher Weise ausgewertet, wobei
ein Kranker, dessen Gewicht nicht bestimmt ist, fortgelassen ist.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 57
Tab. 4. Körpergewicht und Cardiazolkrampfschwelle.
Cardiazol Körpergewicht in kg
—50 ı—60 —70 —80 >80
1,0 2 1 — 1 —
1,5 — 5 5 1 —
2,0 3 9 ð 3 1
2,5 2 2 5 3 1
3,0 — 1 5 — —
3,5 — 3 1 1 —
4,0 — 1 3 2 —
4,5 — — .— — —
5,0 — — 2 — —
5,5 — — — 1 —
Mit Dosen bis zu 2,5 ccm Cardiazol reagierten mit einem Krampf
danach Kranke mit einem Gewicht
bis 50 kg 7 = 100°% (7 Fälle)
über 50—60 kg 17 = 77% (22 Fälle)
über 60—70 kg 15 = 58% (26 Fälle)
über 70 kg 10 = 71°, (14 Fälle).
Bildet man hieraus zwei Gruppen bis 60 kg und über 60 kg, so
reagieren 24 Fälle von 29 bis 60 kg, also rund 83 °%, von den 40 Fäl-
len über 60 kg jedoch nur 25 = 63% auf Dosen bis 2,5 ccm.
Hier scheint also entgegen der Annahme von Janz eine gewisse,
freilich nicht sehr weitreichende Beziehung zu bestehen.
Zur Prüfung der Frage nach den Beziehungen der Häufigkeit
von Spontananfällen zur Höhe der Cardiazolkrampfschwelle
habe ich die Epileptiker in 3 Gruppen geteilt. Zur Gruppe I habe
ich die Kranken gerechnet, die bis zu 1 ausgebildeten Anfall im
Monatsdurchschnitt hatten. Gruppe II hatte über 1—5 Anfälle
im Monat, Gruppe Ill über 5 Anfälle durchschnittlich. Nicht von
allen Kranken konnte ich zuverlässige Feststellungen in dieser
Richtung treffen. Insbesonders spielte hier die Medikation hinein.
Die Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die 55 verwertbaren Fälle.
Tab. 5.
Häufigkeit der Spontankrämpfe und Gardiazolkrampfschwelle
G
Cardiazol ee
I © Hn | m
1,0—2,5 ` 9 = 56,3% | 11 = 57,2% 17 = 85,0%
3,0—5,5 | 7 =43,7% 8= 42,8% | 3 = 15,0%
58 Albrecht Langelüddeke
Auf Grund dieser Tabelle kann man als wahrscheinlich annehmen,
daß ein Unterschied zwischen den 3 Gruppen wirklich besteht. Die
Ergebnisse von Janz sind m. E. kaum verwendbar; seine Cardiazol-
dosen sind ebenso willkürlich gewählt wie die von mir in meinen
ersten Versuchen benutzten. Eine mehr ins einzelne gehende Über-
sicht zeigt noch deutlicher, daß mit dem Steigen der Häufigkeit der
Spontananfälle die Cardiazolkrampfschwelle sinkt, und zwar von
Tab. 6.
Häufigkeit derSpontankrämpfe und Gardiazolkrampfschwelle
(Einzelwerk).
Gruppe
Cardiazol
| H m
- -
- -
- -
-
nenon onene
e| | I ael oane
| | a SONN
-
Gruppe zu Gruppe. In Gruppe I sind die hohen Schwellen von
4,0 cem Cardiazol und mehr relativ häufig; in Gruppe II sinken sie
auf 3,0 und 3,5 ab; in Gruppe III schließlich sind nur noch wenige
über 2,5 cem vorhanden.
Freilich gibt es Ausnahmen, worauf ich schon in meiner ersten
Arbeit hingewiesen habe: manche Kranke mit zahlreichen Spon-
tananfällen reagieren erst auf hohe Cardiazoldosen. Worauf diese
Ausnahmen beruhen, wissen wir einstweilen nicht. Auf eine Mög-
lichkeit möchte ich indessen hinweisen: Im Einzelfall nehmen wir
eine Disposition zu Krämpfen an, auf die ein Reiz wirken muß, da-
mit es zum Krampf kommt. Wir setzen nun im allgemeinen voraus,
daß Epileptiker eine besonders große Krampfdisposition, also eine
besonders niedrige Krampfreizschwelle haben. Das mag in der Re-
gel zutreffen; daß es prinzipiell so sein müßte, ist jedoch bisher in
keiner Weise bewiesen. Man könnte sich Epileptiker denken mit
relativ hoher Krampfreizschwelle, bei denen der Krampfreiz —
also etwa Stoflfwechselvorgänge — aber besonders stark wäre; man
könnte andererseits annehmen, daß einmal ein Psychopath oder ein
völlig Gesunder eine verhältnismäßig niedrige Krampfreizschwelle
besitzt, daß es aber in seinem Körpergeschehen an den zur Aus-
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 59
lösung eines Krampfes erforderlichen Reizen fehlt. Vergleichsweise .
nehmen wir als selbstverständlich an, daß ein zu Tuberkulose Dispo-
nierter nicht erkrankt, wenn er nicht mit Tuberkelbazillen in Be-
rührung kommt, daß aber ein Nichtdisponierter bei genügend star-
ker Infektion erkranken kann. Es könnte sein, daß die Krampf-
disposition bei Epileptikern wie bei Gesunden sehr verschieden groß
ist. Von der Größe der einwirkenden Reize wissen wir bisher nichts;
es ıst aber höchst unwahrscheinlich, daß in verschiedenen Fällen
die Reize gleich oder annähernd gleich sind. Auch hier wird man wie
überall in der belebten Natur mit einer Abstufung der Reizgrößen
rechnen müssen.
Sind diese Ausführungen richtig, so könnte man dafür, daß man-
che Epileptiker mit häufigen Anfällen erst auf hohe Dosen Cardiazol
reagieren, eine Erklärung in der Annahme finden, daß diese Kran-
ken an sich eine geringe Krampfbereitschaft, also eine hohe Krampf-
reizschwelle haben, daß aber die Vorgänge in ihrem Körper, die
Krampfreize, so erheblich sind, daß sie trotzdem oft Krämpfe be-
kommen. In diesen Fällen bedarf es dann aber auch eines bedeuten-
den künstlichen Reizes.
Duensing versucht eine andere Erklärung: er meint, die Cardiazol-
empfindlichkeit der verschiedenen Menschen sei verschieden groß;
je nach dem Grad dieser Empfindlichkeit trete ein Anfall auf oder
nicht, wobei er ebenfalls die Krampfbereitschaft berücksichtigt.
Beiden Erklärungsversuchen ist gemeinsam die Annahme einer
Wechselwirkung zwischen Krampfbereitschaft und Krampfreiz.
Eine andere Frage, über die wir einstweilen so gut wie nichts
wissen, ist die nach dem Wechsel der Krampfbereitschaft. Bleibt
diese ungefähr konstant oder ändert sie sich in weiten Grenzen ?
Aus meinen Versuchen kann ich darüber nur wenig berichten:
2 meiner Kranken reagieren je einmal auf 1,0 ccm, je einmal auf
1,5 cem Cardiazol. In meiner ersten Veröffentlichung habe ich unter
Nr. 5 einen Kranken mit fast täglichen Anfällen erwähnt, der erst
auf 4,0 ccm Cardiazol einen Anfall bekam; bei den jetzigen Ver-
suchen reagierte er gleichfalls auf 4,0. Ein anderer Kranker (Nr. 14)
reagierte jetzt auf 3,0, während er früher auf diese Dosis keinen
Krampf bekommen hatte. Der frühere Fall 8 war leider für eine
größere Serie nicht verwendbar, da er sehr schlecht sichtbare Venen
hatte. Die Schwankungen haben sich in diesen wenigen Versuchen
also in ziemlich engen Grenzen gehalten. Von anderen Autoren ist
wiederholt auf die im Einzelfall vorhandenen Schwankungen der
Krampfbereitschaft hingewiesen; genauere Angaben darüber fin-
60 Albrecht Langelüddeke
den sich jedoch weder bei Sorger und Hofmann (25), noch bei Bo-
stroem (2).
Weitere Erfahrungen wären darüber zu sammeln.
b) Es lag nun natürlich nahe, vergleichsweise auch die Cardiazol-
krampfschwellen bei Nichtepileptikern festzustellen. Ich habe schon
in meiner ersten Untersuchung eine Reihe von Kranken mit 3,0ccm
Cardiazol gespritzt und konnte damals bei Schwachsinnigen, Psycho-
pathen und Manisch-depressiven keinen Krampf auslösen. Damit
war die Möglichkeit, daß auch Nichtepileptiker auf kleinere Dosen re-
agierten, nicht ausgeschlossen. In der Tat ist es denn auch Janz ge-
lungen, insbesondere bei Schwachsinnigen Krämpfe mit der ange-
gebenen Dosis, aber auch schon mit kleineren Mengen, auszulösen. Ich
habe daher in der gleichen Weise wie bei Epileptikern bei 53 Nichtepi-
leptikern die Cardiazolkrampfschwelle bestimmt mit der Abänderung,
daß ich die Dosis von 3,0 cem nicht überschritten habe. Mir lag in
der Hauptsache daran, festzustellen, ob die Häufigkeitskurven der
Epileptiker und der Nichtepileptiker sich überschneiden. Das Er-
gebnis dieser Versuche zeigt die Tabelle 7. Aus ihr geht hervor,
daß insbesondere Schwachsinnige zum Teil auf verhältnismäßig
Tab. 7. Verteilung der Krämpfe auf verschiedene
Cardiazoldosen bei Nichtepileptikern.
: Schizo- |Schwach- Psycho- Man.-
Cardiazol phrenie | sinn | Dale depr. Insgesamt
1,0 = vun = = Bra
1,5 — 2 _ = 23,8%
2,0 — 3 == — 392%
2,5 2 4 — — 6:=11,3%
3,0 3 3 — — 6 = 11,3%
<3,0 14 17 3 2 36 = 67,9%
Summe 19 29 3 2 53 = 100%
geringe Dosen Cardiazol schon mit einem Krampf reagieren. Da-
durch werden also die Angaben von Janz (7) und Duensing (3) be-
stätigt. Daß bei meinen ersten Versuchen unter 8 Schwachsinnigen
kein einziger mit Cardiazolgaben von 3,0 ccm einen Krampf be-
kam, war demnach lediglich ein Zufall. Wichtig an diesen Versuchen
ist, daß sich die Häufigkeitskurven der Epileptiker und Nichtepi-
leptiker tatsächlich überschneiden (siehe Kurve 2; vgl. damit
Kurve 1). Nimmt man die 4 Gruppen der Schizophrenen, Schwach-
sinnigen, Psychopathen und Manisch-depressiven, insgesamt 53
Kranke, zusammen, so ergibt sich, daß auf Dosen bis zu 2,5 ccm
11 =rund 21% mit einem Krampf reagieren, während von den
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 61
10 15 20 25 30 35
—> (ardiazol—
Kurve 2. CGardiazolkrampfschwelle bei 53 Nichtepileptiker
10 Epileptikern 49 = rund 70% einen Krampf bekamen. Ungünsti-
ger wird das Verhältnis wenn man die Gruppe der Schwachsinnigen
allein zum Vergleich heranzieht (s. Tabelle 8); aber auch hier
krampften mit Dosen bis zu 2,5 ccm nur 31% gegenüber 70°, bei
den Epileptikern.
Tab. 8. Cardiazolkrämpfe bei Schwachsinnigen.
|
|
Gardiazol ;Schwachs. rA
2 6,9
3 | 108
4 | 13,8
3 | 103
>3,0 17 | 58,7
Summe | 29 | 100,0
Stellt man dıe Ergebnisse Duensings und die von Langsteiner und
Stiefler mit unseren zusammen — die Versuche von Janz lassen sich
wegen der wechselnden Dosierung leider nicht damit vergleichen —,
so reagierten mit Dosen bis zu 3,0 ccm Cardiazol von 57 Schwach-
sinnigem 26=rund 46%; von 173 Epileptikern bekamen mit der
gleichen Dosis 130 = 75% einen Krampf. Von Duensings 31 Fällen
von Manisch-depressiven, Psychopathen und Neuritikern krampften
8 = 26%; von 106 gleichartigen Fällen von Langsteiner und Stief-
ler dagegen nur 5 = knapp 5%. Bemerkenswert ist dabei die z. T.
weitgehende Übereinstimmung der Zahlen von Duensing und Lang-
steiner und Stiefler mit unseren Versuchen: bei Epileptikern hatten
Duensing in 68%, Langsteiner und Stiefler bei 72 Fällen in 75%,
wir in 79% Anfälle; bei Schwachsinnigen krampften bei Duen-
sings Versuchen 50 %, bei den unsrigen 41 %.
Besonders interessant sind die Versuche von Langsteiner und
Stiefler, die ähnlich wie wir die Cardiazolkrampfschwelle bei 28 Epi-
leptikern bestimmt haben. Sie fingen mit 1,5 cem an; das Häufig-
62 Albrecht Langelüddeke
keitsmaximum lag wie bei uns bei 2,0 ccm. Nur war die Verteilung
auf die einzelnen Dosen ungleichmäßiger als bei uns, was mit der
geringeren Zahl zusammenhängen kann. Addiert man ihre Ergeb-
nisse zu den unsrigen, so ergibt sich bei insgesamt 98 Fällen das
Maximum mit 31 Fällen (= 32°) bei 2,0 ccm Cardiazol; mit Dosen
bis 2,5 ccm krampiten 65 = 66°, mit Dosen bis 3,0 ccm sogar
TES DL
c) Praktisch wird man aus diesen Versuchen den Schluß ziehen
ınüssen, daß der Versuch für die Diagnose der Epilepsie nur unter
ganz bestimmten Voraussetzungen brauchbar ist. Einige Autoren, so
Janz, Bostroem, Roggenbau u. a. vertreten den Standpunkt, daß er
überhaupt ohne Bedeutung sei, da er nicht 100°,Jige Sicherheit
gäbe. Wie ich schon sagte, halte ich diese Ansicht nicht für berech-
tigt 4). Hier wie überall ist auf das nachdrücklichste zu
betonen, daß man nicht aus einem Symptom allein
Diagnosen stellen kann. Auch der Cardiazolkrampf ist
diagnostisch nur verwertbar im Rahmen der übrigen
Symptome. Der Cardiazolkrampf als einziges Symptom sagt
' nichts. Wenn aber in der Anamnese Krämpfe vorhanden sind, de-
ren Art trotz aller Bemühungen ë) nicht festzustellen ist, wenn
ferner etwa eine leichtere epileptische Wesensverändeung vorhan-
den ist, dann kann ein mit geringen Dosen ausgelöster
Krampf ein wichtiges Hilfsmittel in der Beweiskette
sein; er kann auch in manchmal vorzüglicher Weise anamnestische
Angaben bestätigen (s. unten).
Dabei will ich gleich noch auf eine andere diagnostische Frage
eingehen: Gleichen die Cardiazolkrämpfe den Spontankrämpfen
und sind sie differentialdiagnostisch verwertbar für die Frage
„Symptomatische oder genuine Epilepsie“? Ich komme damit
auf die von Schubert, Duensing und Janz in dieser Beziehung ge-
äußerten Bedenken zurück. Meine eigene Meinung, die sich freilich
fast auschließlich auf die Beobachtungen unseres Pflegepersonals
stützte, ging dahin, daß die bis zur Abfassung meiner ersten Arbeit
beobachteten Cardiazolkrämpfe mit den Spontankrämpfen über-
einstimmten. Daher schien es mir berechtigt, sie differential-
diagnostisch zu verwerten. In der Zwischenzeit habe ich in einzel-
nen Fällen beobachten können, daß die beim gleichen Kranken
ausgelösten Cardiazolkrämpfe nicht restlos übereinstimmten. Frei-
lich trat diese Differenz auf unter der Wirkung verschiedener Me-
4) Derselben Meinung ist Stiefler, wie er mir mitteilte, ebenso Wichmann.
5) Die Forderung von Pohlisch nach einer genauen Anamnese kann dabei
m. E. nicht stark genug unterstrichen werden.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 63
dikamente. Übereinstimmung beider Krampfarten fanden Lang-
steiner und Stiefler, Wichmann und z. T. Duensing, der sich eben-
falls auf die Beobachtung von Pflegern stützt. Duensings Beden-
ken gehen dahin, daß er mit 3,0ccm Cardiazol generalisierte
Krämpfe anstatt der sonst beobachteten Absencen und petit-mal-
Anfälle beobachtet habe. Diese Differenz erklärt sich m. E. ziemlich
einfach: Abortive Zustände erhält man nur mit unterschwelligen
Dosen; Duensing hätte, um solche Zustände auszulösen, kleinere
Mengen einspritzen müssen. Ähnliches gilt für den Fall von Janz,
bei dem zu den sonst beobachteten rechtsseitigen Anfällen eine sonst
nicht vorhandene Bewußtlosigkeit hinzutrat. Die Behauptung Schu-
berts ist in der von ihm gewählten allgemeinen Fassung sicher falsch.
Dagegen sprechen die positiven Beobachtungen der obengenann-
ten Autoren und weiter eine Mitteilung von v. Steinau-Steinrück
(26), der genau die gleiche Wischbewegung über die die Mutter der
Kranken vorher berichtet hatte, unter Cardiazol auftreten sah.
Eine ähnlich Beobachtung möchte ich selbst hier anfügen:
Unteroffizier, der einige Anfälle hatte, die er mir und früher nach dem
mir vorliegenden Krankenblatt folgendermaßen beschrieb: Beginn mit Zucken
in der rechten Gesichtshälfte unter Verziehen des Mundes nach rechts, Über-
greifen auf den rechten Arm. Dann Bewußtseinsverlust. Ein Kamerad, der
einmal einen Anfall beobachtet hatte, gab schriftlich an, der Krampf sei sym-
metrisch verlaufen. Cardiazolkrampf mit 4,0 ccm (auf 2,0 und 3,0 keine deut-
liche Reaktion): Beginn mit Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte und
Verziehen des Mundes nach rechts, Übergreifen auf den rechten Arm, danach
auf das rechte Bein, dann generalisierter Krampf. Der Verlauf des Cardiazol-
krampfes bestätigte also die Angaben des Kranken und gab einen wertvollen
Hinweis auf die weiter vorzunehmenden Untersuchungen. Ich nehme an, daß
sein Kamerad entweder infolge mangelnder Übung, vielleicht aber auch weil
er den Anfang nicht gesehen hatte, andere Angaben gemacht hatte.
Wenn Janz, der übrigens auch bei einem Teil seiner Fälle den
Charakter des Spontananfalls ‚im wesentlichen gewahrt“ sah, vor-
wiegend einseitige Krämpfe auch in solchen Fällen fand, wo eine
erworbene fokale Erkrankung ‚ausgeschlossen‘‘ war, so wird man
sich fragen müssen, ob sich denn eine fokale Erkrankung wirklich
so sicher ausschließen läßt. Wenn er aber weiterhin (8) den Stand-
punkt einnimmt, dieFrage, ob es sich um eine symptomatische oder
um eine genuine Epilepsie handle, durch den Cardiazolversuch zu
klären sei unmöglich, so scheint mir das wieder übertrieben. Er be-
gründet seine Ansicht mit den Worten: ‚Diese Möglichkeit bestünde
nur, wenn die symptomatisch epileptischen Anfälle ausschließlich
halbseitig auftreten würden; das tun sie gewiß gelegentlich, aber bei
den meisten Formen der Epilepsie ist der Anfall genau so generalı-
siert wie bei der genuinen Epilepsie‘. Es ist richtig, daß die sympto-
64 Albrecht Langelüddeke
matischen Anfälle in der Regel generalisiert sind; es ist weiter daher
selbstverständlich, daß es in vielen Fällen nicht möglich ist, mit dem
Cardiazolversuch diese Frage zu lösen. Deswegen aber die Bedeu-
tung der Anfälle vom fokalen Typ bestreiten wollen, heißt doch
das Kind mit dem Bade ausschütten: eine Stauungspapille ist doch
nicht deswegen bedeutungslos, weil sie nicht in jedem Fall von
Hirntumor beobachtet wird! Daß hieße doch auf ein brauchbares
diagnostisches Mittel verzichten.
Bei Berücksichtigung der etwa erforderlichen Einschränkungen,
scheint mir folgende Formulierung verantwortbar: Ein Cardi-
azolkrampf von fokalem Gepräge weist auf das Vorlie-
gen einer symptomatischen Epilepsie hin; ein generali-
sierter Cardiazolkrampf beweist für sich allein niemals
das Vorliegen einer genuinen Epilepsie.
III. a) Einer Untersuchung wert erschien mir auch die Frage, ob
und in welcher Weise sich die Cardiazolkrampfschwelle durch Arz-
neimittel beeinflussen läßt. Ich habe zu diesem Zweck 2 bekannte
Mittel, Luminal und Belladenal, und weiter ein unbekanntes Prä-
parat 6) verwandt und bin dabei nach folgendem Schema verfahren:
1. Versuchsreihe: Bestimmung der Cardiazolkrampfschwelle be-
ginnend mit 1,0 ccm, täglich steigend um 0,5 ccm bis zur Krampf-
wirkung.
2. Versuchsreihe: Arzneimittel x, dreimal tägl. eine bestimmte
Dosis; am 4. Tage der Medikation Wiederaufnahme der Cardiazol-
versuche, beginnend mit der Krampfdosis, steigend täglich um
0,5 ccm bis zur Krampfwirkung.
3. Versuchsreihe: Drei Tage kein Medikament; dann Luminal
dreimal tägl. 0,1. Am 4. Tage der Medikation Cardiazol wie bei der
2. Reihe.
4. Versuchsreihe: Drei Tage kein Medikament; dann Belladenal
dreimal täglich 1 Tablette. Im übrigen wie bei der 2. und 3. Ver-
suchsreihe.
Die Ergebnisse dieser Versuche zeigt die Tabelle 9. Die Wirkung
der verschiedenen Arzneien war bei den verschiedenen Kranken
außerordentlich ungleichmäßig: so blieb bei Helferich die Cardia-
zolkrampfschwelle mit 2,0 ccm unverändert, gleichgültig welches
der 3 Präparate ich gab. Dagegen stieg sie bei Krisch unter Prä-
parat x von 1,5 auf 3,5, unter Luminal von 1,5 sogar auf 7,5 cem.
e€) Das Mittel, das mir von einer bekannten deutschen Firma übersandt
wurde, ist auf Grund dieser und klinischer Versuche nicht in den Handel ge-
bracht worden.
er
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 65
Tab. 9. Cardiazolkrampfschwellen
unter krampfverhindernden Mitteln.
es
Name JE Cardiazolkrampfschwelle mit
wie Präp. x Luminal Belladenal
Karlisn Russe | 4,0 | 4,5 (+ 12,5%) | 9,5 (+ 137,5%)) 7,0 (+ 75%)
Geißler; :.2.5s%:: | 2,0 | 2,5 (+ 25,0%) | 7,5 (+ 275%) | 6,0 (+ 200°9,)
Helferich.......... 2,0 | 2,0 (+ 0%) 2,0 (+ 0%) 2,0 (+ 0%)
Hee ua araa 1:5 1,5 (+ 0%) 2,0 (+ 33%) 3,0 (+ 100%
Kruch- 2255584205 1,5 | 3,5 (+ 1339 7,5 (+ 400%) | 3,5 (+ 133%)
Göbel reana ner 2,0 | 2,0 (+ 0%) 2,5 (+ 25%) 2,5 (+ 25%)
ÖOppermann........ | 5,0 | 6,0 (+ 20%) 8,0 (+ 60%) —
BOS une nRe rbis 2,0 | 2,0 (+ 0%) 5,0 (+ 150%) | 5,5 (+ 175%)
NT) ER 1,5 2,5 (+ 67%) 3,0 (+ 100%) 3,0 (+ 100%)
SER are 2,0 | 3,0 (+ 50%) 4,0 (+ 100%) | 2,0 (+ 0%)
1 NEE 4,0 | 7,0(+ 75%) | 9,0 (+ 125%) | 9,0 (+ 125%)
Kaiser 2.3.24 54 u: 1,0 | 1,5 (+ 50%) 3,0 (+ 200%) | 2,0 (+ 100°% )
EEE 1,0 1,5 (+ 50%) 4,0 (+ 3009%,) 2,0 (+ 10095)
Hagedorn’) ....... 1,5 | 3,0 (+ 100%) | 5,5 (+ 267%) | 4,0 (-+- 16799)
Tab. 10. Zuwachs der Gardiazolkrampfschwelle
unter krampfverhindernden Mitteln.
Zuwachs der
CG-Krampfschwelle | Präp. x Luminal | Belladenal
in %
0 4 1 2
—25% 2 1 1
26—50% 3 1 0
51— 759, 2 0. 1
76—100 9% 1 2 h
>100% 1 8 5
Die absolut höchste Dosis erreichte sie bei Karl unter Luminal mit
9,5 cem, bei Pflug unter Luminal und Belladenal mit 9,0 cem.
Vergleicht man den relativen Zusatz, so wird, wie Tabelle 10
zeigt, klar, daß die stärkste Wirkung das Luminal hatte; ihm steht
das Belladenal nahe, während der Präparat x diesen gegenüber weit
weniger wirksam war. In dieser Tabelle ist Oppermann nicht verwer-
tet, da bei ihm der Versuch mit Belladenal nicht durchgeführt ist. Die
Steigerung der Cardiazolkrampfschwelle lag demnach beim Präpa-
rat x zwischen 0 und 133%, bei Belladenal zwischen 0 und 200°,
bei Luminal zwischen 0 und 400%. Auch bei den rein klinischen
Versuchen war das Präparat x sowohl dem Luminal wie Prominal
durchaus unterlegen. Ob dagegen im Einzelfall die Wirkung im
1) Diagnose: Schizophrenie mit epil. Krämpfen.
5 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
66 Albrecht Langelüddeke
Experiment der Wirkung entspricht, die etwa Luminal auf die
betreffenden Kranken hinsichtlich der Krampfhäufigkeit hat, habe
ich bisher nicht untersucht.
b) Was bei diesen Versuchen besonders interessant war, war
etwas, was ich der Zeitlupenwirkung vergleichen möchte: wir
konnten nämlich viel häufiger als ohne Medikamente die ganze
Skala der epileptischen Äquivalente — Absencen, petits-maux,
kurze Verwirrtheitszustände und Dämmerzustände — beobachten.
Einige, stark gekürzte Protokolle mögen das zeigen:
Fall Karl.
5.1. 37. 1,0 Cardiazol. Keine Reaktion.
6.1. 37. 1,5 Card. Keine Reaktion.
7.1. 37. 2,0 Card. Etwas starrer Blick. Subjektiv: ihm sei nicht gut. Nach
etwa 1,5 Min. Wohlbefinden.
8.1. 37. 2,5 Card. Wie am 7.1.
9.1. 37. 3,0 Card. Heute geringere Reaktion wie an den Vortagen.
11.1. 37. 3,5 Card. Wie am 7.1.
12.1. 37. 4,0 Card. Nach 12 Sek. generalisierter Krampf mit fast fehlender
tonischer Phase, Dauer etwa 1,5 Min.
Vom 13.1. 37 an Präparat x.
15.1. 37. 4,0 Card. Keine besonderen Erscheinungen.
16.1. 37. 4,5 Card. Krampf.
Vom 20.1. an Luminal. Vom 23.1. an Cardiazol.
3. 2. 37. 8,5 Card. Anhusten. Nach ! , Min. sind die Pupillen lichtstarr, weit.
Pat. wird für 2 Min. nicht ansprechbar. Danach kurzer Verwirrtheitszustand.
4. 2. 37. 9,0 Card. Anhusten. Pupillen lichtstarr. Verwirrt, hastet umher, will
aufstehen. Nach 3 Min. wieder ansprechbar.
8.2.37. 9,5 Card. Krampf.
Ab 12. 2.37. Belladenal. '
17.2. 37. 5,5 Card. Anhusten. Nach !;, Min. reagieren die Pupillen schlecht
auf Licht, nach etwa 45 Sek. sind sie lichtstarr und weit. Nach 1 Min. Ver-
wirrtheitszustand von 6 Min. Dauer: nicht ansprechbar, setzt sich mit starrem
Gesichtsausdruck auf, wischt fortgesetzt mit der Hand über den Kopf, gibt
unverständliche Laute von sich, sträubt sich gegen die Prüfung der Pupillen.
18.2. 6,0 Card. Nach 1 Min. leichte Zuckungen in der linken Hand und
im Gesicht.
20.2. 7,0 Card. Krampf.
Wir finden hier zweimal Verwirrtheitszustände unter Luminal
und Belladenal und beide Male eine schon vorher auftretende
Lichtstarre der Pupillen.
Fall Geißler.
6.1. 37. Auf 2,0 Card. beginnt nach etwa 1!/, Min. ein Krampf mit toni-
scher Anspannung der Bauchmuskulatur und Anheben des Oberkörpers. Dann
generalisierter Krampf mit Linksdrehung des Körpers.
45.1. Hat inzwischen Präparat x erhalten. Auf 2,0 Card. objektiv nichts,
subjektiv kaum etwas bemerkt (Angaben nicht ganz zuverlässig).
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 67
16.1. 2,5 Card. Nach 10 Sek. Zucken in der rechten Hand. Lichtreaktion
der Pupillen träge; stierer Blick. Heben des Oberkörpers, Drehen des Kopfes
nach rechts. Nach 1.5 Min. generalisierter Anfall von 2 Min. Dauer. Babinski
nach 5 Min. links +, rechts angedeutet.
23.1. Nach Luminal mit 2.0—3,5 Card. keine Reaktion. Auf 4,0 Card.
etwas starrer Blick.
2.2. 5.0 Card. in 3 Sek. Nach 1 Min. starrer Gesichtsausdruck; für 2 Min.
nicht ansprechbar.
3. 2. 5,5 Card. in 7,5 Sek. Subjektiv eigenartiges Gefühl im Kopf, das nach
2 Min. vorüber ist. Pupillen lichtstarr.
4.2. 6,0 Card. in 3 Sek. Nach 18 Sek. Zucken in Armen und Beinen und
ın der Gesichtsmuskulatur, etwa 10 Sek. lang. Während dieser Zeit ist Pat.
nicht ansprechbar. Pupillen lichtstarr. Anschließend Verwirrtheitszustand
von 6 Min. Dauer. Danach wieder ansprechbar. Babinski links +, rechts 0.
Kein vollständiger Krampf!
5. 2. 6,5 Card. in 4 Sek. Nach etwa 30 Sek. eigenartiger Gesichtsausdruck ;
nicht ansprechbar. Gibt schnuckende, knurksende Laute von sich, macht
eigenartige Bewegungen mit dem Mund. Wird verwirrt, packt mit dern Laken,
sucht den Pfleger zu greifen. Nach insgesamt 3 Min. wieder ansprechbar, aber
im Gesichtsausdruck noch verändert. Lichtreaktion der Pupillen sehr unaus-
siebig. l
8. 2. 7,0 Card. in 4 Sek. Nach 15 Sek. sind die Pupillen noch ziemlich eng,
reagieren auch auf Licht. Nach 20 Sek. leichte Zuckungen im rechten Fuß und
im Gesicht, dann stoßweises Schreien von 20 Sek. Dauer. Während dieser Zeit
sind die Arme im Schultergelenk erhoben, im Ellenbogen etwas rechtwinklig
gebeugt. Mit den einzelnen Schreistößen werden sie nach oben geworfen.
Darauf tonische Phase von etwa 20 Sek. Dauer, dann klonische Phase. Ge-
samtdauer 1 Min. Pupillen weit, lichtstarr. Babinski nach 3 Min. + +.
Unter Belladenal trat mit 2,0 und 2,5 ccm Card. keine Reaktion auf.
17. 2. 3,0 Card. in 2 Sek. Nach 1 Min. 40 Sek. krampfhafte Rechtsdrehung
des Kopfes, Zuckungen im Gesicht rechts stärker als links (?), Zähneknirschen,
Schmatzen. Bewegungsunruhe in den Füßen und im linken Arm. Vereinzelte
Zuckungen umschriebener Muskelbündel am Abdomen und den Oberschenkeln.
Dauer 70 Sek. Während dieser Zeit nicht ansprechbar. Pupillen eng, Licht-
reaktion vorhanden.
18.2. 3,5 Card. in 2 Sck. Keine Reaktion.
19.2. und 20.2. Nach 4,5 bzw. 5,0 Card. träge und unausgiebige Licht-
reaktion der Pupillen; sonst keine Reaktion.
22.2. 5,0 Card. in 2,5 Sek. Nach 30 Sek. sind die Pupillen ziemlich
eng,lichtstarr. Nach 1,5 Min. reagieren sie wieder.
23.2. 5,5 Card. in 2 Sek. Nach 18 Sek. ganz kurzer Aufschrei, einige un-
koordinierte Zuckungen. Flimmern im Gesicht. Pat. liegt dann ruhig da, rea-
siert nicht auf Anruf. Dauer des Zustandes 2,5 Min. Pupillen reagieren an-
fangs kaum, später besser. Vor Beginn des Zustandes war eine einwandfreie
Beurteilung der Pupillen nicht möglich.
24. 2. 6,0 Card. in 2,5 Sek. Nach 15 Sek. Krampf; Zuckungen im Gesicht
und in den Armen, die im Ellebogen gebeugt und dann an die Brust ge-
schlagen werden. Nach etwa 30 Sek. lange dauerndes jammerndes Schreien
mit Strecken der Glieder. Nach 45 Sek. klonische Phase. Dauer der Anfalls
insgesamt 1 Min. Nach dem Anfall noch mehrere Min. bewußtlos, strengte
die Aternmuskeln, auch die Hilfsmuskeln stark an, rief einmal „Hilfe, Hilfe‘“.
59
68 Albrecht Langelüddeke
Hier wurde also am 2. 2. unter Luminal eine längere dauernde
Absence beobachtet, ferner wiederholt petit-mal, Verwirrtheits-
zustände und zweimal Lichtstarre der Pupillen (am 3. und 22. 2.),
ohne daß es sonst zu Ausnahmeerscheinungen kam.
Fall Pflug.
18.—23. 2. 37. Dosen von 1,0—3,0, wobei nur subjektiv das Gefühl von
Zucken am ganzen Körper auftrat. Mit 2,5 ccm reagierten die Pupillen vor-
übergehend etwas weniger ausgiebig.
24.2. 3,5 Card. in 1,5 Sek. Anhusten. Pupillen werden weit, reagieren aber
auf Licht. Nach 25 Sek. Beginn eines Ausnahmezustandes: Gesichtsausdruck
stark vcrändert. Pat. versucht sich aufzusetzen, macht mit den Beinen, die er
leicht beugt und anhebt, langsame Strampelbewegungen. Währenddessen
redet er zusammenhangslos. Knapp 1 Min. nach Beginn des Zustandes wird
er wieder ansprechbar; nach 2 Min. ist er wieder ganz o. B.
25. 2. 4,0 Card. in 2 Sek. Pupillen werden nach 15 Sek. weiter und reagieren
unausgiebiger. Nach 20 Sek. starrer Blick, Zucken im rechten Arm, knurksen-
des Geräusch im Munde. Nach 35 Sek. langgezogener Schrei, Drehung des
Kopfes, dann auch des Körpers nach links; dabei Rückwärtsbeugen des
Kopfes und Biegung des Rumpfes (ähnlich dem arc de cercle, nur daß der Pat.
auf der Seite liegt), dann nach ca. 50 Sek. Übergang in ein Jangdauerndes kloni-
sches Stadium, das bis 2 Min. 5 Sek. anhält und sehr langsam abebbt, nachdem
während dieser Zeit noch einmal eine Verstärkung des Krampfes stattfand.
Dabei starkes Zähneknirschen, unsymmetrische Innervation des Gesichts.
Starke CGyanose, starker Schweißausbruch. Gesamtdauer des Anfalls 1 Min.
45 Sek. Pupillen lichtstarr. Babinski war links angedeutet, rechts 0.
Ab 20. 2. Präparat x. Am 2.3. 4,5 Card. in 2 Sek. Anfangs Lidzittern, das
nach 1 Min. abklingt. Etwa 1,5 Min. später macht Pat. beim Anziehen eine
Streckbewegung mit dem rechten Bein. Starrer Gesichtsausdruck. Euphorischer
Dämmerzustand von etwa 3,5 Min. Dauer.
3.3. 5,0 Card. in 2 Sek. Anhusten. Lichtreaktion der Pupillen wird vor-
übergehend unausgiebiger.
4. 3. 9,5 Card. in 2 Sek. Anhusten. Nach etwa 10 Sek. werden die Pupillen
weiter und reagieren schlechter. Starrer Blick. Nach 17 Sek. hebt Pat. den
Oberkörper und den Kopf an, zieht beide Beine an, spreizt das rechte nach
außen. Knirschen mit den Zähnen. Blasse Gesichtsfarbe. Strecken der Glieder,
Verziehen des l. Mundwinkels. Gesichtsfarbe wechselt nach rot über. Dann
leichte, aber deutliche Zuckungen ‘im Gesicht. Unkoordinierte Bewegungen
mit den Gliedern. Nach 1°, Min. vorübergehend schnarchende Atmung.
Gesamtdauer dieses Zustandes, in dem er bewußtlos oder wenigstens stark be-
wußtseinsgetrübt war, etwa 1 Min. 25 Sek. Danach Verwirrtheitszustand, in
dem er jedoch schon wieder etwas ansprechbar war. Dauer: ca. 8 Min. Kein
eigentlicher Krampf.
6. 3. 6,0 Card. in 2 Sek. Anhusten. Gleich darauf werden die Pupillen weit,
reaktionslos, und es tritt olıne scharfen Beginn, wenige Sekunden nach der
Injektion, ein tonischer Spannungszustand mit Vorwärtsbeugen des Kopfes,
Streckung der Beine und Spreizen des rechten Beines nach außen, wech-
selnder Haltung der Arme auf. Nach etwa 20 Sek. geht dieser Zustand, in
dem Pat. auf nichts reagiert, in einen Dämmerzustand über mit lebhaften
Bewegungen (hebt die Beine hoch, fummelt an den Genitalien herum usw.)
und einer gewissen Euphorie. Schluß nach 4,5 Min. Amnesie für den Zustand.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 69
8.3. 6,5 Card. in 2,5 Sek. Nach 20 Sek. Gefühl des Zitterns, Vibrieren der
Augenlider. Nach 1,5 Min. ist alles vorbei. Pupillen o. B. Hinterher Schwindel-
anfall und Verwirrtheitszustand (nicht selbst beobachtet): desorientiert.
9.3. 7,0 Card. in 2 Sek. Anhusten. Nach 15 Sek. Krampf, beginnend mit
kurzem Schrei, mehrmaligem Emporwerfen der Glieder, dann Strecken und
Erheben der Glieder, Daumen eingeschlagen. Ejaculatio ohne Erektion:
Nach ®/, Min. klonische Phase. Gesamtdauer 55 Sek.
Von 12.3. an Luminal. Am 17.3. mit 9,0 Card. Krampf. Dreht dabei zu-
nächst den ganzen Körker nach rechts, dann generalisierter Krampf.
Vom 20.3. an Belladenal. Am 23. 3. mit 7,0 Card. Verwirrtheitszustand,
in dem er an den Genitalien herumfummelt und desorientiert ist. Dauer ca.
3,5 Min.
24.3. 8,0 Card. in 3 Sek. Leichte Zuckungen, Knurksen, dann Dämmer-
zustand mit Strampeln. Dauer über 6 Min.
25.3. 9,0 Card. in 2 Sek. Anfall.
Auch bei Pflug traten Verwirrtheits- und Dämmerzustände auf,
dabei vorübergehende träge Pupillenreation. Bemerkenswert ist
m. E. der Umstand, daß die ausgelösten Krämpfe nicht gleich
waren. Einmal wird der Körper nach links, einmal nach rechts ge-
dreht; der organische arc de cercle war nur das 1. mal ausgesprochen.
Fall Jäger.
17. 2. 2.5 Card. unter Belladenal. Nach 70 Sek. unartikulierter Laut. Leichte,
aber deutliche Zuckungen im Facialisgebiet, manchmal unterbrochen von
einem krampfhaft wirkenden Lächeln. Einzelne Zuckungen in der Bauch-
muskulatur. Allmähliches Abebben der Erscheinungen. Doch war Pat. hinter-
her nicht ansprechbar und benahm sich den ganzen Tag über auf der Ab-
teilung sehr auffallend, lachte und klatschte fortwährend in die Hände.
27.1. 1,5 Card. in 1,5 Sek. Bei dem nach 30 Sek. einsetzenden Krampf
werden das l. Bein und der l. Arm stark gebeugt, während der rechte Arm
gestreckt erhoben und das rechte Bein leicht gebeugt wird.
2.2. 2,5 Card. mit Präp. x. Generalisierter symmetrischer Krampf mit
Aufrichten des Oberkörpers.
9.2. 3,0 Card. mit Luminal. Arme angewinkelt, aber ungleichmäßig;
rechtes Bein gestreckt, linkes wird leicht gebeugt.
18.2. 3,0 Card. mit Belladenal. Rechter Arm gestreckt, linker gebeugt.
Rechtes Bein gestreckt, linkes stark im llüft- und Kniegelenk gebeugt.
Abgesehen von dem länger dauernden Dämmerzustand scheint
mir bemerkenswert, daß zwar die Krämpfe vom 27. 1., 9. 2. und 18. 2.
einander ähnlich sind, daß sich aber der Krampf vom 2. 2. deutlich
von ihnen unterscheidet.
Fall Heer.
19. 1. 37. 1,0Card. in 1 Sek. Danach Absence von etwa 2 Min. Dauer. Licht-
reaktion der Pupillen vorhanden. Krampf mit 1,5 ccm.
28.1. 1,5 Card. in 1,5 Sek. mit Luminal. Zucken des Kopfes nach rechts
und leichtes Muskelzucken im Gesicht, das vereiznelt auftritt und etwa 1 Min.
dauert. Während dieser Zeit kaum ansprechbar, ebenso hinterher. Nach ca.
70 Albrecht Langelüddeke
8 Min. Verwirrtheitszustand von etwa 1 Min. Dauer. War hinterher verändert,
nicht ansprechbar.
8.2. 2,0 Card. in fast 1,5 Sek. unter Belladenal. Pupillenreaktion ist nach
4 Min. fast aufgehoben, wird nach einer weiteren Minute wieder besser. Sub-
jektiv leichtes Übelbefinden im Kopf.
9.2. 2,5 Card. in 1,5 Sek. Nach 45 Sek. Zuckungen in der Mundmuskulatur.
Wird für 1,5 Min. nicht ansprechbar.
Am 20. 1., 25. 1., 29.1. und 10.2. Krämpfe, die einander sehr
ähnlich waren: beim letzten reagierten die Pupillen noch bis un-
mittelbar vor Beginn des Krampfes. Sehr deutlich tritt hier hervor,
daß die Pupillenreaktion relativ unabhängig vom eigentlichen
Krampf ist. Während sie am 8.2. ohne sonstige Erscheinungen
fast aufgehoben ist, ist sie am 10. 2. bis unmittelbar vor dem An-
fall erhalten geblieber.
Fall Böse.
4.2. 37. 2,5 Card. in 1,5 Sek. unter Luminal. Anschließend sind die Pupillen
lichtstarr. Pat. liegt ruhig da, ist aber nicht ansprechbar. Nach 2 Min. 15 Sek.
Wiederkehr der Pupillenreaktion. Nach 3 Min. wieder ansprechbar.
5.2. 3,0 Card. Nicht ansprechbar.
8., 9. u. 10.3. mit 3,5 ccm, 4,0 und 4,5 ccm Card. keine Erscheinungen.
Krämpfe 27.1. mit 2,0 Gard. Nach 85 Sek. Aufschrei. Beine werden ge-
hoben und gespreizt, rechts etwas stärker als links. Kopf angehoben, ebenso
Arme. Dauer 60 Sek.
30.1. 2,0 Gard. mit Präp. x. Nach 85 Sek. Schrei, Spreizen und Erheben
des rechten Beines und Armes, Dauer 50 Sek.
41. 2. 5,0 Card. mit Luminal. Nach 25 Sek. Schrei. Beine und Arme im Hüft-
bzw. Ellenbogengelenk stark angewinkelt, das rechte Bein auch im Knie,
während das linke gestreckt bleibt. Dann Streckung der Glieder mit Plantar-
flexion von Händen und Füßen. Dauer 55 Sek.
23.2. 5,5 Card. mit Belladenal. Nach 20 Sek. Schrei. Spreizen der Beine,
wobei das rechte gebeugt wird, Aufrichten des ganzen Körpers. Dauer 55 Sek.
Hier traten einige deutliche Absencen auf. Die Anfälle sind hier
nur soweit beschrieben, als sie verschieden voneinander waren. Aus
dem Ralımen der beiden ersten Anfälle fallen der 4. und namentlich
der 3. heraus. Wieweit hierbei die sehr viel größere Dosis eine Rolle
spielt, läßt sich nicht sagen.
Fall Oppermann.
9.1.37. 1,0 Card. Objektiv und subjektiv o. B.
41.—16.1. Dosen von 2,0—4,5 Card. Dabei treten objektiv Zuckungen im
linken Arm, manchmal auch im linken Bein, gleichzeitig oder abwechselnd
auf; dazu kam zeitweise vertiefte Atmung. Subjektiv klagte er über ‚„‚klammes“
Gefühl im Kopf, ‚„Schlechtwerden im Kopf“, „Gelbwerden und Punkte vor
den Augen“.
Unter Präp.x klagte er bei 5,5 Card. über ein Gefühl, als ob der Kopf
platzen wolle. Mit Luminal sah er bei 7,5 Card. leuchtende Punkte.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 71
3.2. 5,5 Card.; Luminal. Zuckungen in verschiedenen Muskelgruppen,
Pupillenstarre, beginnend nach 25 Sek., bei 3 Min. noch bestehend. Dabei
dauernd ansprechbar.
4.2. 6,5 Card. in 3 Sek.; Luminal. Zuckungen und Pupillenstarre, aber
nicht ansprechbar bis 2 Min. 15 Sek.
10. 2. 7,0 Card. in 3,5 Sek. Luminal. Außer leichten Zuckungen in der
Mundmuskulatur und subjektiv dem Gefühl des Unwohlseins nichts Be-
sonderes.
Bemerkenswert sind die subjektiven Erscheinungen, die Pu-
pillenstarre einmal bei erhaltener, einmal bei aufgehobener An-
sprechbarkeit. Deutlich ist hier wie auch sonst die geringere Re-
aktion, die sich manchmal trotz größerer Cardiazoldosis ergibt. Die
Anfälle waren in ihren wesentlichen Zügen gleich.
Fall Krisch.
K. krampfte bereits mit 1,5ccm Cardiazol. Mit Präparat x
benötigte er 3,5 cem, mit Luminal 7,5 ccm, mit Belladenal 3,5 cem.
Unter den verwendeten Mitteln war er häufig nach der Injektion
für einige Minuten nicht ansprechbar; er neigte auch sonst zu
spontan auftretenden ähnlichen Zuständen. Bemerkenswert er-
scheinen weiter folgende Beobachtungen:
30.1. 3,5 Card., Luminal. Fängt an, mit den Gliedern zu wackeln. Diese
Bewegungen lassen sich jedoch durch wilkürliche Bewegungen unterdrücken.
8.2. 6,5 Card., Luminal. Will nach 20 Sek. aufstehen, bekommt Wackel-
tremor an Armen und Beinen, der 4 Min. anhält.
9.2. 7,0 Card., Luminal. Gleichfalls Wackeltremor, am stärksten im
rechten Arm.
16. und 17.2. 2,0 u. 3,0 Card., Belladenal. An beiden Tagen gleichfalls
leichtes Wackeln der Glieder, am ersten Tage vorwiegend rechts, am 2. Tage
beiderseits etwa gleich stark.
Fall Göbel.
G. krampfte mit 2,0 ccm Card., unter Präp. x mit der gleichen
Dosis, unter Luminal und Belladenal mit 2,5 ccm. Die Krämpfe
sind insofern bemerkenswert, als das Anfangsstadium nicht völlig
übereinstimmt.
23.1. 37. Schrei, starke Beugung der Arme und Beine, dann Streckung.
26.1. Drehung des Kopfes nach links, dann starke Beugung der Arme
und Beine, Rückdrehung des Kopfes, Streckung.
30.1. Schrei, Spreizen und Beugen der Beine, dann Anheben der Beine
und des Kopfes unter Streckung der Beine, während die Arme im Ellen-
bogen stark gebeugt werden.
3.2. Schrei, Anziehen der Beine.
Hier sind also wieder Hinweise gegeben, daß die Cardiazol-
krämpfe nicht immer mit photographischer Treue einander gleı-
chen. Am 2.2. wurde ein Verwirrtheitszustand ausgelöst.
12 Albrecht Langelüddeke
Fall Kaiser.
Reagierte bereits auf 1,0 ccm mit einem Krampf. In diesem Fall
blieben die Pupillen noch mehrere Minuten nach dem Anfall licht-
starr. Die Anfälle verliefen gleichartig. Ein Ausnahmezustan d wurde
durch unterschwellige Cardiazoldosen nicht beeinflußt.
Fall Seng.
9. 2.37. Pupillen reagieren bis unmittelbar vor dem Anfall auf
Licht tadellos; am 23.2. dagegen nach der Injektion deutlich
schlechter, unmittelbar vor dem Anfall fast gar nicht (einwandfreie
Beobachtung). Am letztgenannten Tage gab Pat. bis zum plötz-
lichen Einsetzen des Anfalles an, es ginge ihm gut. Sehr kurze to-
nische Phase, die nur unter Belladenal etwas länger ist.
Fall Bethe.
Bei 2 Anfällen wurde starke Gänsehaut am ganzen Körper be-
obachtet. Ferner seien einige Beobachtungen, die unter Luminal
mit unterschwelligen Cardiazolmengen auftraten, erwähnt:
1.3.37. 1,5 Card. Objektiv nichts. Subjektiv: Schwindelgefühl und das
Erlebnis eines Bildes, als ob er an der Weser zum Baden sei.
3.3. 2,5 Card. Nach 20 Sek. kurzes Zucken. Subjektiv Schwindelgefühl;
sah, als ob er zu Hause wäre.
4. u. 6. 3. 37. 3,0 bzw. 3,5 Card. Erscheint an beiden Tagen etwas euphorisch;
ihm ist so, als ob er eine Frau hätte. Näheres war nicht zu erfahren.
Bezüglich der letzten Beobachtung sei jedoch darauf hingewiesen,
daß wir bei unseren schizophrenen Frauen, die wir jetzt mit Car-
diazol behandeln, wiederholt den Eindruck hatten, als ob die Be-
handlung die sexuelle Erregbarkeit, insbesondere wohl die Libido,
steigere.
Fall Helferich.
Reagierte ohne und mit Mittel schon auf 2,0cem Cardiazol.
Dem eigentlichen Anfall gingen einzelne Zuckungen in verschie-
denen Gebieten voraus, einmal ein längeres Flimmerm der Gesichts-
muskeln mit gleichzeitiger Lichtstarre der Pupillen. Im übrigen ver-
liefen die 4 Anfälle ın der gleichen Weise.
Fall Leitz.
Reagıert erst auf 5,5 ccm mit einem Krampf. Weitere Versuche
sind wegen der schlechten Venen nicht angestellt.
Fall Hagedorn. (Schizophrenie + epileptiforme Krämpfe).
Anfälle verlaufen in gleicher Weise, beginnen stets mit plötz-
lichem wiederholten Emporschnellen der Arme und Beine. Der
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 73
Kranke fing regelmäßig bei unterwelligen Dosen an, lebhaft zu
jammern; er war ängstlich und unruhig. Ich habe ein ähnliches
Verhalten bei Epileptikern sonst nicht gesehen, dagegen öfters bei
Schizophrenen, die aus therapeutischen Gründen Cardiazol er-
hielten.
Im übrigen sahen wir bei unseren Versuchen wiederholt das Auf-
treten einer „Gänsehaut“. Mehrfach trat eine Ejakulation von
Samenflüssigkeit ohne Erektion auf. Der Babinskische Reflex war
ın einer Reihe von Fällen auszulösen, jedoch fast nie gleich nach
dem Anfall, sondern nach einem mehr oder weniger langen Zwischen-
raum, in dem Areflexie der Fußsohle bestand. Sehr viel konstanter
ıst das Fehlen des Meyerschen Grundgelenkreflexes.
Die bei diesen Versuchen beobachteten Unterschiede im Ablauf
der Anfälle beweisen m. E. nicht die Unbrauchbarkeit des Cardiazol-
versuchs; die Krämpfe sind ja unter verschiedenen Vorbedingungen
zustandegekommen und sind daher nicht ohne weiteres vergleichbar.
IV. Blutuntersuchungen
Bei einer Reihe von Kranken sind Blutuntersuchungen ange-
stellt worden, und zwar haben wir zunächst den Blutfarbstoff,
die Zahl der Roten, die Zahl der Weißen und das weiße Blutbild be-
stimmt. Es stellte sich sehr bald heraus, daß der Blutfarbstoff und
ebenso die Zahl der Roten praktisch unverändert blieben, so daß
wir später auf ıhre regelmäßige Bestimmung verzichtet haben. Das
weiße Blutbild wurde vor der Cardiazolinjektion, 1—3 Minuten
danach oder, wenn in dieser Zeit ein Krampf auftrat, unmittelbar
nach dem Krampf, und 30 Minuten nach der Cardiazolinjektion
bestimmt.
Bei je 17 Bestimmungen des Haemoglobins vor und nach der
Cardiazolinjektion, wobei die zweite Serie 15 Bestimmungen nach
dem Krampf enthält, blieben 14mal die Werte gleich, je einmal
sanken sie von 95 auf 94°, bzw. von 97 auf 94 °,,; einmal stieg der
Wert von 85 auf 94%.
Die Veränderungen in der Zahl der Roten lag zwischen — 200000
und + 150000, also innerhalb der Fehlergrenze.
Sehr viel wechselvoller war dagegen die Zahl der Weißen. Schon
vor der Injektion bewegten sich die gefundenen Zahlen in weiten
Grenzen, bei insgesamt 83 Untersuchungen zwischen 2600 und
18400. Aber auch im Einzelfall waren starke Schwankungen nach-
weisbar, so zwischen 4800 bis 18400 bei Oppermann, 5600 und
11200 bei Helferich, 3800 und 9200 beı Pflug, 5200 und 13000 bei
Karl.
Albrecht Langelüddeke
74
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75
Untersuchungen über Gardiazolkrämpfe
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|
00081— | 00091 —
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Albrecht Langelüddeke
Erläutern mögen das die Tabellen 1!
und 12 der Fälle Leitz und Oppermann’).
Bei Leitz finden wir an den krampflosen
Cardiazoltagen sehr regelmäßig ein An-
steigen der Weißen nach der Injektion,
ebenso nach dem Krampf (mit 5,5 cem):
bei Oppermann dagegen wechseln dır
Zahlen sehr: mit 3,5 cem Cardiazol
sinkt die Zahl der Weißen von 1841"
auf 8200, nach dem Krampf von 12010
auf 6200.
Diese Befunde stimmen mit denen in
der Literatur überein. Wuth (33) betont
die auffallende Veränderlichkeit u. a.
auch der Bestandteile des Blutes; er
stimmt Meyer und Brühl (16) zu, die als
einzig Gemeinsames die großen Schwan-
kungen sowohl im anfallsfreien Stadium
wie im Zusammenhang mit den Anfällen
bezeichnen. Ostmann (17) fand ın der an-
fallsfreien Zeit Werte zwischen 3600 und
17800. Die folgende Tabelle 13 gibt
eine Übersicht über die gefundenen Zah-
len und zwar vor der Injektion, nach
der Injektion und !/, Stunde nach der
Injektion; bei den beiden letztgenann-
ten Serien ist eine Unterteilung vorge-
nommen, je nachdem ein Anfall aufge-
treten war (A) oder nicht (C). Die Ge-
samtzahl bei diesen Versuchen ist nicht.
ganz dieselbe; insbesondere ist anfangs
nicht schon !/, Stunde nach der Ein-
spritzung untersucht. Faßt man die
Zahl der Werte bis 8000 und die der
Werte über 8000 zusammen, so ergibt
sich, wie die Tabelle 14 zeigt, eine
deutliche Zunahme der großen Werte
nach der Cardiazolinjektion, die nach
dem Anfall noch deutlicher wird. Nach
1/, Stunde sind die Werte unter reiner
nach Anfällen.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe
Tab. 14.
Verschiebung der Zahl der Weißen.
| — 8000 > 8000
vor d. Inj. !50= 60,30,|33 = 39,7%,
= (C |18 = 34,60, | 34 = 65,4%,
nach d. Inj. | — EAn
A| 5=15,6% | 27 = 84,4%
1. St. nach (S 30 = 62,5% 18 = 37,5%,
d. Inj. (A |10= 45,50, | 12 = 54,50,
Cardiazolwirkung wieder zur Norm zu-
rückgekehrt, während die Rückkehr
nach den Krämpfen sich verzögert.
Bei den folgenden Tabellen, in denen
die Werte für die Segmentkernigen,
Stabkernigen, Eosinophilen, Basophi-
len, Mononucleaeren und Lymphozyten
wiedergegeben werden, habe ich mich
in der Unterteilung weitgehend an Ost-
mann angelehnt, um vergleichbare Zah-
len zu erhalten. Im einzelnen ergibt
sich: Die Zahl der Segmentkernigen
(Tabelle 15) lag vor der Injektion häu-
figer unter der Norm, als die wir 58 bis
66°, angesetzt haben, nämlich ın 45,1 °%,
über der Norm in 20,7%. Nach der In-
jektion lagen unter reiner Cardiazol-
wirkung 36°, unter, 28°, über der
Norm, nach dem Anfall dagegen trat
eine deutliche Verschiebung ein: 65°,
lagen unter, nur 6,3°; über der Norm.
Nach !/, Stunde waren die entprechen-
den Zahlen bei Cardıazol 34°, unter
und 29,8°, über der Norm, nach
Krämpfen 45,4°, unter, 27,3°, über
der Norm. Im Anfall finden wir also
eine relative Verminderung der Seg-
mentkernigen.
Die Zahl der Stabkernigen war
durchweg sehr niedrig (normal 3—5°,);
die Verschiebungen innerhalb der Zah-
Zahl der Segmentkernigen vor und nach Cardiazol.
Tab. 15.
Segmentkern. in %
17= 2079,
/
o
34,29.
a | 26=31,70, | 28=
11
/
(0)
18
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Albrecht Langelüddeke
78
Tab.16. Zahl der Stabkernigen vor und nach Cardiazol.
Stabkernige in % | 0 1 | 2 | 3 h 5 | 6%, | Gesamt-
| | | | | zahl
vor der Injektion | 36=43,9%, | 33=41,9% | 12=14,6% — — = == 82
"nach der In- {C| 16=32,0% | 23=46,0% | 9=18,0% | 24,0% = = = 50
jektion F 9—28,2%, | 15=46,9% | 5=15,6% | 1=3,1% Z Z231% | 1=31% | 32
"1, Std. nach (C| 22=46,8% | 18=38,3%, | 7=14,9% | — = = = 17
der Injektion l 12=54,6% | 7=31,7% | 3=13,7% — — = = 22
Tab. 17. Zahl der Eosinophilen vor und nach Cardiazol.
pO
| i
Eeosinophile in %, 0—1 | 2—4 | 5—7 8—10 € 11—13 | 14—16% og
Vor der Injektion 20=24,4% | 44=53,7% | 9=11,0% | 6=7,3% 2=2,4% —1,2% 82
ne Injoxtion [© 9=18,0% | 27=54,0% | 6=12,0% | 6-12.0% | 1=20% | 1=20% | 50
A | 7=4,9% | 18=56,2% | 5=15,6% — 2=6,3% = 32
en Injektion [© A= 8,5% | 30=63,8% | 7=14,9% | 3= 64% | 2=4,3% | 1=24% | 4
A | 6=237,3% | 11=50,0% | 1= 4,5% | 2= 92% | 1=4,5% | 1=4,5% 23
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 79
len von 0—-2°, lassen sich kaum verwerten, da Fehler und Zufalls-
ergebnisse sich hier kaum vermeiden lassen (s. Tabelle 16).
Die Eosinophilen zeigten gleichfalls keine besonderen Ver-
änderungen ihrer Zahlen (s. Tabelle 17). Nimmt man als Norm
2-4",, so fanden wir vor der Injektion unter der Norm 24,4 °%,
normal 53,7 °,, über der Norm 21,9°%. Nach der Injektion waren die
entsprechenden Zahlen 18,0—54,0 und 28,0%; nach Krämpfen
21,9—56,2 und 21,9°,; diese Verschiebungen sind so gering, daß sie
irgendwelche Schlüsse nicht zulassen.
Für die Basophilen (Tabelle 18) gilt dasselbe, was ich über
die Stabkernigen gesagt habe. Die Werte liegen zudem fast alle
im Bereich der Norm (0—1°;).
Tab. 18. Zahl der Basophilen vor und nach Cardiazol.
ee G Ei Ä Gesamt-
Basophile in % 0 | 1 2 | 3% eh
vor d. Inj. | 71 =86,6% | 9 = 11,0% |1 = 1,2%, lı=1,2% | 82
. {C |42 =84,0% | 8 = 16,0% = — 18
nach der In). f le te
A |31 =96,9% | 1 = 3,1% = — | L32
der in), A | 19 = 86,494 | 3 = 13,6% = = 22
Bei den Mononucleären (Tabelle 19) ist als Anfallswirkung
wohl eine leichte Zunahme der höheren Werte zu verzeichnen, wäh-
rend die reine Cardiazolwirkung eher eine Abnahme der Zahlen be-
wirkt.
Tab. 19. Zahl der Mononucleären vor und nach Cardiazol.
|
Mononucleäre | o, | Gesamt-
in ©, | 1—3 En 9—13 eR ap
Bern t
vor der Inj. |54 = 65,9%, 26 = 31,7%] 2 = 2,4% | — 82
© {C |39 = 78,0%] 11 = 2,0%) — => 50
nach der Inj. f - - ASEO }
A |15 = 46,9% | 12 = 37,5% | 4 =12,5%] 1—3,1% | J 32
der Inj. a lız = 54,50) 9 = 41,0%] 1 = 5%, | — 22
Die Zahl der Lymphozyten (Tabelle 20) lag schon vor der
Injektion deutlich über der Norm: nur 3,7°, Werte unter 21°,
dagegen 80,6°, über 25°, sind verzeichnet. Für die Beurteilung
80 Albrecht Langelüddeke
Tab. 20. Zahl der Lympho-
| 11-15 16—20 | 21—25 26—30 | 31—35
Vor d. Inj. — |3=3,7% |13=15,7% |16=19,5% | 17 =20,7%
Nach a [C | — — | 918,0% 12=24,0%, | 13=26,0%
er a | L |2=263% | 2=6,3% | 7=21,9%,
1,,Std.jC |1=2,1% |3=6,4% | 6=12,8% |12=25,5% |14=29,8%
n.d. Inj ri en — |6=27,3% | 3=13,6% | 3=13,6°%,
erscheint es mir daher zweckmäßig, die Werte bis 35% mit denen
über 35% zu vergleichen. Dann ergeben sich die Zahlen der Ta-
belle 21.
Tab. 21.
Verschiebung der Lymphozyten.
— 35% = 809
vor der Inj. 49 = 59,6% | 33 = 40,4%
C |34 = 68,0% | 16 = 32,0%,
nach der Inj. -
\A|11 = 34,5% | 21 = 65,5%
1/, Std. nach fC 36 = 76,6% “= 23,4%
der Jnj. | A|12= 54,5% |10 = 45,5%
Daraus ergibt sich das umgekehrte Verhalten der Lymphozyten
wie bei den Segmentkernigen: dort vor der Injektion relative
Leukopenie, nach dem Anfall weitere relative Herabsetzung der
Segmentkernigen; hier vor der Injektion relative Lymphozytose,
die nach dem Anfall sich deutlich verstärkt, nach !/, Stunde fast
zur Ausgangsstellung zurückgekehrt ist. Die reine Cardiazolwirkung
(ohne Anfall) dagegen bewirkt eher eine Herabsetzung der Lympho-
zytenzahlen. Diese Verschiebungen sind indessen nur als Gruppen-
urteil richtig; im Einzelfall kommt es auch gelegentlich zw umge-
kehrtem Verhalten, so daß aus dem einzelnen Blutbild irgend ein
Schluß nicht möglich ist ®).
Angaben in der neueren Literatur über Blutbilder bei Epilepti-
kern sind nicht allzu häufig. Guirdham (5) fand starke Variabilität der
8) Ich habe von der Veröffentlichung der Einzelbefunde mit Ausnahme
der Fälle Leitz und Oppermann abgesehen. Interessenten stelle ich sie
gerne zur Verfügung.
Untersuchungen über Cardiazolkrämpfe 8
zyten vor und nach CGardiazol
| | |
36—40 44—46 | 46—50 51—55 55—60 , 61—65 | Oes-
| l |
14 —17,0% | 10=12,4% | 8=9,8% | — — |1=1,2% | 82
9=18,0% | 6=12,0%| — M1=20%| — — 150
'6=18,6% |5=15,6% |7=21,9% | 2=6,3% |1=3,1%| — J 32
12=12,8% | 2=4,2% |3=6,4%| — 2a zu 7,
3—13,6% |5=22,7% |1=4,6% |1=46%| — | — o
Zahl der Weißen, namentlich zur Zeit der Anfälle, im ganzen eine
Neigung zu Leukocytose, gelegentlich mit relativer Lymphocytose.
Arnone (1), der das Blut von 10 Epileptikern im Intervall, kurz vor,
während und mehrmals nach dem Anfall untersuchte, fand vor
dern Anfall keine wesentliche Abweichung von der Norm; im An-
fall fand er Leukocytose mit relativer Lymphozytose, außerdem
eine flüchtige Eosinophilie. Ostmann (17) fand im Intervall in der
Regel Armut an Segmentkernigen (in 69,3%) und an Stabkernigen
(in 66,1%), deutliche Lymphozytose (in 81,3%). Diese Befunde
decken sich im wesentlichen mit den von uns erhobenen. Nur die
Zahl der Mononucleären ist bei uns vielleicht etwas geringer als
bei Ostmann. Patterson und Weingrow (18) schließlich fanden bei
325 Epileptikern durchgehend eine Lymphozytose ?).
Die Blutsenkungsgeschwindigkeit ist in einer Reihe von Fällen
von meinem Mitarbeiter Dr. Riesen 1°) geprüft worden. Wir haben
am ersten Versuchstage vor der Einspritzung, 2—3 Minuten nach
der Einspritzung und !/, Stunde nach der Einspritzung Blut ent-
nommen. An den folgenden Tagen haben wir uns mit den 2 Entnah-
men nach der Injektion begnügt. Die Ergebnisse sind auch hier
nicht gleichmäßig: es wurden — meist geringfügige — Verlang-
samungen (Fälle Helferich, Pflug, Krisch, Oppermann, Hagedorn),
Gleichbleiben (Fälle Kaiser, Seng), aber auch Beschleunigung
(Fall Bös) infolge des Krampfes beobachtet. Im allgemeinen war
die Tendenz zur Verlangsamung der Senkungsgeschwindigkeit deut-
lich. Dabei ist bemerkenswert, daß sich auch im Falle Hagedorn,
der Schizophrener mit epileptischen Anfällen ist, eine wenn auch
®») Die von Selbach (24) durch fortlaufende Bestimmungen der intra-
venösen Blutverschiebungen, im Cardiazolkrampf ermittelten vegetativen
motorischen Erscheinungen entsprechen ‚weitgehend denen des genuin-
epileptischen Anfalls‘“.
10) Ihm sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank gesagt.
6 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
82 Albrecht Langelüddeke
leichte Verlangsamung, namentlich nach 1/ Stunde bemerkbar
machte, während nach H. Meyer (15), der im übrigen bei genuiner
Epilepsie gleichfalls bedeutende Verlangsamungen bei Spontan-
anfällen fand, Schizophrene mit Anfällen keine Verlangsamung
aufweisen sollen. Meyer entnahm kurze Zeit nach dem Anfall Blut,
so daß seine Ergebnisse mit unseren vergleichbar sind. Das
trifft nicht für alle Fälle von Schottky (22) zu. Dieser fand in
2 Fällen, in denen er gleich nach dem Anfall Blut entnahm — einer
von ihm starb im Status — eine mäßige Beschleunigung. In 3 wei-
teren Fällen wurde erst nach 8 Stunden, 2 und 3 Tagen Blut ent-
nommen; bei ihnen fand er eine erhebliche Beschleunigung. Vieten
(30) und Swierczek und Kaiser Swierczek (29) fanden gleichfalls
Beschleunigungen (bei letzteren ist im Referat von Anfällen nicht
die Rede), während Katz und Leffkowitz (9) meinen, im epileptischen
Anfall könne die Senkung beschleunigt sein, brauche es aber nicht.
Auch Gullach Petersen (6) fand bei Epilepsie keine charakteristischen
Erscheinungen. Vergleichbar mit unseren Versuchen sind wiederum
die Untersuchungen von Arnone (1), der bei 60 männlichen Epi-
leptikern in den anfallsfreien Zeiten, vor und nach den Anfällen
die Senkungsgeschwindigkeit bestimmte. Er kommt zu dem Er-
gebnis, daß die Senkungsgeschwindigkeit in den anfallsfreien Zeiten
in der Regel gesteigert ist, daß sie sich während der Anfälle ver-
langsamt, um nach 24—28 Stunden die alten Werte wieder zu er-
reichen.
. Überblicken wir die gefundenen Veränderungen im Blutbild und
in der Blutsenkungsgeschwindigkeit in ihrer Gesamtheit, so läßt
sich zunächst sagen, daß sowohl nach Cardiazolinjektion ohne
Krampf wie mit Krampf Änderungen auftreten, die von einander
jedoch verschieden sind. Die nach den Cardiazolkrämpfen auftre-
tenden Verschiebungen gleichen im wesentlichen den bei Spontan-
krämpfen gefundenen Abweichungen. Man kann daraus jedoch
nicht auf eine gleiche Entstehungsweise schließen. Viel wahr-
scheinlicher ist es, daß die so schnell auftretenden Veränderungen
im Blut Folge der Krämpfe sind. Diese Ansicht teilt auch Arnone.
Man wird also nur sagen können, daß der Spontankrampf und der
Cardiazolkrampf die gleichen Veränderungen im Blutbild hervor-
rufen. Die Frage, wie diese Verschiebungen zustande kommen, kann
ich nicht beantworten; mir fehlen dazu die erforderlichen Kenntnisse.
Ich bin bisher nicht auf die Untersuchungen von Wichmann (38)
eingegangen. Wichmann hat die Versuche insofern abgeändert, als
er viel langsamer injiziert; er benötigt für 3—3,5 ccm eine Zeit von
15—18 Sekunden. Er hatte nämlich beobachtet, daß bei Schwach-
Untersuchungen über Gardiazolkrämpfe 83
sinniıgen und Psychopathen bei schneller Injektion von 3—4 ccm
Krämpfe auftraten, die bei langsamer Injektion ausblieben, wäh-
rend bei Epileptikern trotzdem Krämpfe auftraten. Er löste somit
3,0—3,5 ccm Cardiazol bei insgesamt 84 sicheren Epileptikern (66
genuinen und 18 symptomatischen) 61 große Anfälle aus, d.h.
also in 72,6% der Fälle. Bei 71 sonstigen Kranken und Gesunden
(darunter 29 organisch Nervenkranke, 4 Schwachsinnige, 19 Schi-
zophrene, 19 Psychopathen und Gesunde) nur in 3 = 4,2% der
Fälle. Wenn eine Nachprüfung diese Zahlen bestätigen sollte,
wäre damit eine so weitgehende Spezifität des Versuchs erreicht,
wie wir sie in der Medizin nur ausnahmsweise erreichen.
Zusammenfassung
1. Es wurde die Cardiazolkrampfschwelle bei 70 Epileptikern,
8 Schizophrenen. mit Anfällen und 53 anderen Nichtepileptikern
darunter bei 19 Schizophrenen, 29 Schwachsinnigen, 3 Psycho-
pathen und 2 Manisch-depressiven bestimmt. Bei den Epileptikern
ließ sich in 100°, der Fälle ein Krampf auslösen; die benötigten
Mengen lagen zwischen 1,0 und 5,5ccm einer 10°, Cardiazol-
lösung. Mit Dosen bis zu 2,5 ccm krampften 70°%,. Die Nichtepilep-
tiker reagierten mit Dosen 1,5 ccm an aufwärts mit Krämpfen, je-
doch mit Gaben bis zu 2,5 cem nur in 21 °.,,. In 68°/, der Fälle wären
mehr als 3,0 ccm erforderlich gewesen. Die für die Cardiazolkrampf-
schwellen gefundenen Häufigkeitskurven überschneiden sich also.
Daraus ergibt sich: Der Cardiazolkrampf allein, auch ausgelöst
mit geringen Dosen, ıst nicht beweisend für das Vorliegen einer Epi-
lepsie; er ıst aber als ein Glied in der Kette anderer Symptome
durchaus verwertbar.
2. Die Cardiazolkrämpfe sind untereinander nicht immer völlig
gleich; sie mögen auch den Spontananfällen nicht immer völlig
gleichen. Für die Differentialdiagnose zwischen genuiner und
symptomatischer Epilepsie können sie trotzdem Bedeutung haben:
Hat der Cardiazolkrampf fokales Gepräge, so wird man darin einen
Hinweis auf eine symptomatische Epilepsie sehen müssen. Ge-
neralisierte Krämpfe sprechen dagegen nicht gegen eine sympto-
matische Epilepsie.
3. Zwischen dem Alter der Epileptiker und der Cardiazolkrampf-
schwelle waren keine Beziehungen nachweisbar; sehr jugendliche
Kranke wurden freilich nicht geprüft. Zwischen Gewicht und Car-
diazokrampfschwelle einerseits, Häufigkeit der Spontananfälle und
Cardiazolkrampfschwelle andererseits bestehen gewisse Bezie-
hungen.
°
84 Albrecht Langelüddeke
4. Die Cardiazolkrampfschwelle war durch Luminal, ın etwas
schwächerem Grade durch Belladenal beeinflußbar. Der Grad der
Beeinflußbarkeit wechselte von Person zu Person. In einem Falle
wurde die Cardiazolkrampfschwelle durch keines der genommenen
Mittel erhöht, in anderen Fällen stieg sie stark an, z.B. von 1,5
auf 7,5 ccm bei Luminal, von 2,0 auf 6,0cem bei Belladenal.
5. Bei unterschwelligen Dosen traten häufig, insbesondere unter
der Wirkung der beiden Arzneimittel, epileptische Äquivalente (Ab-
sencen, petits-maux, Verwirrtheits- und Dämmerzustände) auf.
Diese sind als schwächere Reaktionen des Organismus Krampfreizen
gegenüber aufzufassen.
6. Lichtstarre der Pupillen konnte wiederholt schon vor Einsetzen
des Krampfes beobachtet werden; die Pupillenstarre ist demnach
nicht als Folge-, sondern als Begleiterscheinung des epileptischen
Krampfes zu deuten.
7. Die bei den Cardiazolkrämpfen beobachteten Veränderungen
des weißen Blutbildes und der Senkungsgeschwindigkeit gleichen
im wesentlichen den Änderungen bei Spontankrämpfen. Es kam
in der Regel zu einer Vermehrung der Weißen, zu einer relativen
Armut an Segment- und Stabkernigen, zu einer relativen Lympho-
zytose. Doch gab es von der Regel Ausnahmen. Bedeutend waren
die Schwankungen im Blutbild sowohl von Fall zu Fall wie beim
einzelnen Kranken von Tag zu Tag. Die Blutsenkungsgeschwindig-
keit war in der Mehrzalıl der Fälle leicht verlangsamt, in einem
auch beschleunigt.
8. Die gegen den Cardiazolversuch erhobenen Bedenken —
Hirnveränderungen, nicht ausreichende Spezifizität, Nichtüber-
einstimmung mit den Spontankrämpfen, Entstehung unter Um-
gehung der humoralen Vorgänge, Bahnungsmöglichkeit für spä-
tere Anfälle — sind nicht als so schwer einzuschätzen, daß der Ver-
such nutzlos würde. In der Hand des kritischen erfahrenen Fach-
arztes leistet er in einer Reihe von Fällen durchaus Gutes; unter
Umständen kann er sogar einmal ausschlaggebende Bedeutung ge-
winnen.
Schrifttum
4. Arnone, Zbl. Neur. 69, 1934, S. 768. — 2. Bostroem, Ztschr. Neur. 161,
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Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion !)
Von
Assistenzarzt G. Schneider
(Aus der Bad. Heil- und Pflegeanstalt Illenau,
Direktor: Dr. H. Roemer)
(Eingegangen am 15. Juni 1938)
Im Hinblick auf die außerordentliche Bedeutung einer patho-
physiologischen Erforschung der Gehirnerkrankungen für Patho-
genese und Nosologie der Psychosen erschien es angezeigt, die von
Lehmann-Facius ?) 1936 veröffentlichte Liquorflockungsreak-
tion an einem größeren klinischen Material nachzuprüfen. Nach
Lehmann-Facius besteht die von ihm angegebene Reaktion in einer
Flockungsreaktion, bei der Immunkörper nachgewiesen werden.
Auf die serologischen Einzelheiten soll in diesem Zusammenhang
nicht eingegangen werden. Als wesentlich sei nur erwähnt, daß
Lehmann-Facius unter den Lipoiden die Phosphatide für die Kör-
per hält, die für den destruktiven Prozeß bei gewissen Gehirn-
krankheiten, vor allem bei der Schizophrenie, kennzeichnend sind.
Das tatsächliche Vorhandensein von Immunkörpern wird nach
Lehmann-Facıius durch die sogenannte „Hemmungsreaktion‘‘ þe-
stätigt. .
Auf Grund seiner Ergebnisse hat Lehmann-Facius bekanntlich
eine sogenannte Abbaureihe aufgestellt, an deren einem, posi-
tiven Ende die Schizophrenen, an deren anderem negativen Ende
die Psychopathen und Manisch-depressiven stehen.
In folgendem sei kurz über die Untersuchungen berichtet, die
ich von Februar 1937 bis Juni 1938 in der hiesigen Anstalt vor-
genommen habe.
Zuvor hatte ich die Reaktion in der psychiatrischen Klinik in
Frankfurt unter der persönlichen Anleitung von Herrn Professor
1) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 63. Wanderversammlung der
Südwestdeutschen Neurologen und Psychiater am 12. 6. 1938 in Baden-Baden.
2) Liquoruntersuchungen bei destruktiven Erkrankungen des Nerven-
systems besonders bei Schizophrenie. Verhandlungen der Gesellschaft Deut-
scher Neurologen und Psychiater. Z. Neur. Bd. 158, S. 109.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 87
Lehmann-Facıus in dreiwöchiger Tätigkeit erlernt. Auch an dieser
Stelle möchte ıch nicht versäumen, Herrn Prof. Kleist und Herrn
Prof. Lehmann-Facıus für die Liebenswürdigkeit, mit der ich in der
Klinik aufgenommen wurde, bestens zu danken.
Für die Untersuchung wurden nur Fälle ausgewählt, bei denen die
klinische Diagnose nach Zustandsbild wie Verlaufsweise einwand-
frei feststand. Hierzu ist zu bemerken, daß die Schizophrenie an der
hiesigen Anstalt in der heute in Deutschland überwiegend üblichen
Weise, also etwa in dem von Rüdın in dem Kommentar zum Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vertretenen Sinne, ab-
gegrenzt wird.
Die Krankengeschichten und die Auszüge aus denselben, deren
Wiedergabe an dieser Stelle zu weit führen würde, werden bei der
Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Illenau verwahrt und stehen
zur Einsichtnahme zur Verfügung.
Zur Ergänzung der Illenauer Fälle wurden 9 Fälle aus der Kreis-
pflegeanstalt Hub und 20 Fälle aus der Epileptikeranstalt Kork
beigezogen !).
Der Liquor wurde in allen Fällen durch Lumbalpunktion ent-
nommen.
Die Untersuchungen wurden mit den Extrakten angestellt, die
Herr Lehmann-Facius in dankenswerter Weise zur Verfügung ge-
stellt hat.
Die Reaktionen wurden zum größten Teil im ‚„unwissentlichen
Verfahren“ vorgenommen, d. h. der Untersucher hatte keine
Kenntnis von der klinischen Diagnose des serologisch untersuchten
Falles. Zur Kontrolle der Technik habe ich Herrn Lehmann-Facius
ın zwei Fällen um Paralleluntersuchung der Liquoren ohne An-
gabe der Diagnose gebeten; sie fiel beide Male übereinstimmend
mit dem hiesigen Befund aus.
In Tabelle 1 sind die Ergebnisse der mit N.H.E. (Normalhirn-
extrakt) Nr. 35 und 62 und „M“ angestellten Liquorreaktionen bei
insgesamt 323 Fällen verzeichnet.
Es zeigte sich, daß von 196 positiven Reaktionen 187 auf die
206 Fälle von Schizophrenie entfallen, von denen im übrigen
18 negativ und 1 zweifelhaft reagierten. _
Die übrigen 9 positiven Reaktionen verteilen sich auf die 117
nichtschizophrenen Fälle, die 107mal negativ und einmal zweifelhaft
reagiert haben.
1) Herrn Kreisobermedizinalrat Dr. Gerke (Hub) und Herrn Anstaltsarzt
Dr. Wiederkehr (Kork) möchte ich auch in diesem Zusammenhang für ihre
freundliche Unterstützung bestens danken.
88 G. Schneider
Tabelle 4
Hirnlipoid-Reaktion nach Lehmann-Facius
(mit Normalhirnextrakt angestellt)
Zahl Normalhirnextrakt
der Nr. 35, 62 und „M“
Fälle pos Epos. | zweifelh.| neg. zweifelh. neg.
Schizophrenie . . 2... 2.2... 206 187 1
Genuine Epilepsie . . . 2... 29 1 0
Psychopathie. . . . 2.22... 17 1 1
Angeb. Schwachsinn . . .... 15 3 0
Progressive Paralyse . ..... 13 1 0
Man.-depr. Irresein . . . .... 10 0 0
Alkoholismus. . . s.. 2 2.2... 8 0 0 8
Senile Demenz . . . .. 2... 7 0 0 7
Arterioskl. Demenz . . ..... 4 1 0 3
Multiple Sklerose . . . 2.2... 3 1 0 2
Lues cerebri . . ». 2. 22.22... 3 0 0 3
Symptom. Epilepsie . ..... 1 0 0 1
Erbl. Veitstanz. . . .. 2 .2.. 1 0 0 1
Gehirn-Tumor . . . .. 2... 1 1 0 0
Picksche Krankheit. . . .... 1 0 0 1
Laktationspsychose . . . .... 1 0 0 1
Psychogene Haftpsychose . . . . 1 0 0 1
Postinfekt. Delir... . ..... 1 0 0 1
Hydrocephalus . . . 2.22 .2.. 1 0 0 1
Zus | 323 | 19% | 2 Jais 323 | 1% | 2 |1
Dabei ist zu erwähnen, daß die 10 Fälle von manisch-depressivem
Irresein und die 8 Fälle von chronischem Alkoholismus (7 Fälle mit
alkoholischer Charakterveränderung und 1 Fall von Korsakoff-
schem Schwächezustand) durchweg negativ waren, ferner daß von
den 17 Fällen von Psychopathie 15 negativ, 1 positiv und 1 zweifel-
haft, und von den 29 Fällen von erblicher Fallsucht 28 negativ und
1 positiv waren.
Im übrigen reagierten von 15 Fällen von angeborenem Schwach-
sinn 12 negativ und 3 positiv, von 13 Fällen von progressiver Para-
lyse 1) 12 negativ und 1 positiv, von 7 Fällen von seniler Demenz
alle negativ und von 4 Fällen von arteriosklerotischer Demenz 3 ne-
gativ und 1 positiv.
Was die 18 negativen Schizophreniefälle angeht, so hat eine
Durchmusterung keinerlei bevorzugte Zugehörigkeit zu einer der
1) Die Diagnose wurde in allen Fällen von Paralyse und Gehirnlues nach
der Aufnahme serologisch und bei 2 inzwischen ad exitum gekommenen Fällen
anatomisch erhärtet; die L.-F.-Reaktion wurde durchweg vor Einleitung
der Behandlung vorgenommen.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 89
klinischen Unterformen und keinerlei atypische Symptomatologie
erkennen lassen. Beiläufig sei bemerkt, daß unter diesen 18 Fällen
sich zwei schizophrene Geschwister befunden haben.
Die negativen Reaktionen wurden bei diesen Schizophrenen,
wie sich aus Tab. 2 ergibt, teils bei ganz kurzer, nur wenige Tage,
teils bei längerer oder langer bzw. sehr langer, bis zu 14 Jahren
währender Krankheitsdauer beobachtet. Diese Erfahrung stimmt
mit der Angabe von Fünfgeld!) bzw. Weinert überein. Vermut-
lich ist es mit dem NHE. in diesen Fällen noch nicht oder nicht
mehr möglich, den Gehirnabbau nachzuweisen.
Weitere Längsschnittuntersuchungen mit dem NHE. müssen
lehren, ob solche zu Beginn des Krankheitsprozesses negative Re-
aktionen im weiteren Verlauf regelmäßig positiven Reaktionen
Platz machen, und ob positive Reaktionen auf der Höhe der Krank-
heit im späteren Verlauf negativ werden können. (Daß diese Fälle,
sowohl die mit kurzer wie die mit langer Krankheitsdauer sich
sämtlich mit dem Katatoniehirnextrakt als positiv erwiesen haben,
wird weiter unten ausgeführt.)
Tabelle 2
Dauer der Erkrankung bei 18 mit NHE. negativ reagierenden
Schizophrenen zur Zeit der Untersuchung (in Jahren)
Alter | Ge- | | | |
In a 18 f 5 6 7 S 9130141142113 1 1%
schlecht | |
Jahren | | | |
; r] 4 F ih ESI |
pey. A | 1*)
21 1*
37 2 1*)
40 l | 4*)
'
1) Münch. med. Wschr. Nr. 28, 1938, S. 1093.
*) Krankheitsdauer wenige Tage. +*+) Angabe: „mehrere Jahre“.
90 G. Schneider
Vergleicht man diese Ergebnisse mit den von Lehmann-Facius
mitgeteilten Befunden und gruppiert die Fälle nach seiner Eintei-
lungin der ersten Rn 1936 1), so ergibt sich folgendes
Bild:
Tabelle 3
Die positiven Hirnlipoid-Reaktionen mit NHE.
(Vergleich der Illenauer und Frankfurter Befunde)
Illenauer Fälle Frankfurter Fälle
Zahl pos. Zahl pos.
der Fälle pos. | in œ% | der Fälle pos. | in 0:
Schizophrenie . . . 206 187 91 ss
„organische Fälle“ . 64 5 8 9
„nicht organische
Fale ee 30 1 8 5
Die 8 (negativ reagierenden) Fälle von chronischem Alkoholis-
mus und die 15 (3 positiv, 12 negativ reagierende) Fälle von ange-
borenem Schwachsinn wurden, um die Vergleichbarkeit mit dem
Frankfurter Material zu gewährleisten, außer Betracht gelassen.
Es zeigt sich also eine weitgehende Übereinstimmung in der
Verteilung der positiven Reaktionen auf die verschiedenen Krank-
heitsgruppen gemäß der von Lehmann-Facius aufgestellten A b-
baureihe, bei der die Schizophrenen an dem einen, positiven
Ende, die „nicht organischen Fälle‘, also besonders die Manisch-
depressiven und Psychopathen, an dem anderen, negativen Ende
stehen, während die „organischen Fälle‘ eine Mittelstellung, wenn
auch mit vorwiegend seltenem Abbau einnehmen.
Legt man dem Vergleich die zweite Mitteilung von Lehmann-
Facius von 1937?) zugrunde, so läßt sich die Übereinstimmung
der beiden Untersuchungsreihen mit NHE genauer ım einzelnen
verfolgen.
. ; Zahl d en s.i
Schizophrenie | alle er | positiv De
Illenauer Fälle . . . . 206 | 187 91
Frankfurter Fälle . 238 295 95
Demnach entspricht die Häufigkeit der positiv reagierenden
Schizophrenien in unserem Material mit 91°% ziemlich genau dem
1) a. a. O.
2) Weitere Erfahrungen mit der Liquordiagnose der dehisöphirenien. Ver-
handlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater. Z. Neur.
Bd. 161, S. 515.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 91
Durchschnittswert zwischen der 1. und 2. Untersuchungsreihe von
Lehmann-Facius (88 und 95°,).
T Zahl der | PN pos. in
Man.-depr. Irresein Fälle | positiv o,
Nlenauer Fälle . . . | 10 0 | 0
Frankfurter Fälle . 80
Bezüglich der durchweg negativen Reaktionen der Manisch-
depressiven stimmen beide Untersuchungsreihen überein.
: Zahl der oie S. |
Psychopathien | Fälle positiv 2. ”
Illenauer Fälle . . . | 17 1 | 6
Frankfurter Fälle 173 0 0
Die verhältnismäßig geringe Zahl der hier untersuchten Psycho-
pathen läßt einen statistischen Vergleich mit dem zehnmal größeren
Frankfurter Material nur unter Vorbehalt zu.
Progressive Para- | Zahl der Ber pos. in
lyse u. Lues cerebri Fälle DR gr
Illenauer Fälle . . . . 16 1 6
Frankfurter Fälle. .. 169 1 0,6
Arteriosklerose und
senile Prozesse
lllenauer Fälle . . . . 11 1 9
Frankfurter Fälle. .. 55 0 0
Auch bei diesen beiden letztgenannten Gruppen ist wegen der
verhältnismäßig kleinen Zahl der Illenauer Fälle strenggenoınmen
ein Vergleich kaum möglich.
Genuine Epilepsie al u positiv en:
F alle o
Illenauer Fälle > . . . 29 | 1 3
Frankfurter Fälle . 64 2 3
Die Ergebnisse bei der Epilepsie, die zahlenmäßig eher einen
Vergleich erlauben, stimmen in den beiden Untersuchungsreihen
überein.
Die übrigen untersuchten Fälle sind in der Tabelle 1 nur der
Vollständigkeit wegen aufgeführt und eignen sich wegen der star-
92 G. Schneider
ken Aufsplitterung in eine längere Reihe schwach vertretener
Krankheitsformen nicht zum statistischen Vergleich.
Es ist also zu sagen, daß die Nachuntersuchungen mit dem NHE,
soweit die Verschiedenheit der Zusammensetzung der Illenauer und
der Frankfurter Untersuchungsreihen einen Vergleich erlaubt,
eine durchaus befriedigende Übereinstimmung bezüg-
lich der von Lehmann-Facius festgestellten Abbau-
reihe ergeben haben. Die positiven Reaktionen entfal-
len in ganz überwiegender Anzahl auf die Schizophre-
nie, die negativen Reaktionen auf das manisch-depres-
sive Irresein und die Psychopathien, während die ,or-
ganischen Fälle“ eine Mittelstellung einnehmen. Außer-
dem fanden sich bei 8 Fällen von chronischem Alkoholismus
durchweg negative und bei 15 Fällen von angeborenem
Schwachsinn 12 negative und 3 positive Reaktionen. Demnach
scheint der chronische Alkoholismus an das negative
Ende, der angeborene Schwachsinn in das Mittelfeld
der Abbaureihe zu gehören.
Lehmann-Facius hat weiterhin 1937 1) mitgeteilt, daß es ihm
gelungen ist, die mit NHE. negativ reagierenden Liquoren von
Schizophrenen mit einem KHE. (Katatoniehirnextrakt) zu einer
positiven Reaktion zu bringen. Auf Grund eigener Nachprüfung
kann ich diese weitere wichtige Beobachtung bestätigen.
Wie sich aus Tabelle 4 ergibt, wurden 11 negative Liquoren von
Schizophrenen, die in den 18 negativen Fällen von Tabelle 1 ent-
halten sind (die 7 übrigen konnten, da sie inzwischen entlassen
wurden, nicht nachuntersucht werden), ein zweites Mal mit dem
Tabelle 4
Vergleichende Hirnlipoid-Reaktionen mit NHE. und KHE.
Normalhirnextrakt Katanonie-
zahl 0 | hirnextrakt
der | I. Untersuchung | II. Untersuchung Nr. 81
Fälle | NHE. Nr. 35,62u.M! NHE. Nr.62u.M
pos. neg. | pos. neg. pos. | neg.
Schizophrenie 11 0 11 0 11 11 0
Psychopathie 2 0 2 0 2 1 1
Manisch-depres-
sives Irresein 1 0 1 0 1 0 1
1 0 1 0 1 0
prog. Paralyse 1
1) a.a. O.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 93
NHE. und am selben Tag mit KHE. untersucht. Während sie mit
dem NHE. in Übereinstimmung mit der früheren Untersuchung
negatıv waren, reagierten sie mit dem KHE. sämtlich positiv. Es
zeigte sich also in Übereinstimmung mit dem Befund von Lehmann-
Facius, daß der KHE. auf den Liquor von Schizophrenen
noch differenzierter als der NHE. anspricht.
Bezüglich je eines Falles von Manisch-depressivem Irresein und
progressiver Paralyse ergaben die beiden Extrakte gleichartige
Reaktionen, während von 2 Psychopathen, die mit NHE. beide
negatıv ausgefallen waren, mit dem KHE. einer positiv und einer
negativ waren.
Tabelle 5
Hirnlipoid-Reaktionen mit KHE.
| m. Katatonie-
Zahl hirnextrakt
der g
Fälle Nr. 81 und 87
pos. | neg.
Schizophrenie . . .... 23 22 1
Erbl. Veitstanz . .... 1 0 | 1
Wie aus Tabelle 5 hervorgeht, sind außerdem 24 Fälle, die mit
NHE. nicht untersucht worden waren, mit KHE. untersucht
worden. Dabei haben von 23 Schizophreniefällen 22 eine
positive und 1 eine negative sowie 1 Fall von erblichem Veits-
tanz eine negative Reaktion ergeben.
Da Lehmann-Facıus in seiner zweiten Mitteilung die Zahl seiner
Untersuchungen mit KHE. nicht angegeben hat, läßt sich dieses
Ergebnis zu seinem Befund nicht in genaue Beziehung setzen. Doch
fällt auf, daß die positive Reaktion je bei 1 Psychopathen und
1 Paralytiker, die negative bei 1 Schizophrenen zu seinen Beob-
achtungen, die für den schizophreniespezifischen Charakter des
KHE. zu sprechen scheinen, in Widerspruch stehen, so daß dieser
bisher nicht als erwiesen betrachtet werden kann.
Wesentlich bleibt jedenfalls, daß die 11 mit NHE. negativen
Liquoren von Schizophrenen in Übereinstimmung mit der Mit-
teilung von Lehmann-Facius mit KHE. durchweg positiv reagiert
haben.
Es konnte also bei 206 Schizophrenen mit dem NHE
eine positive Reaktion in 91 % und bei 34 Schizophre-
nen mit dem KHE. eine positive Reaktion in 979, er-
zielt werden.
94 G. Schneider
Das vorstehend mitgeteilte Ergebnis unserer Nachprüfung hat
also, soweit die verschiedene Zusammensetzung des Materials einen
Vergleich erlaubt, die Befunde von Lehmann-Facius im wesent-
lichen bestätigt. Unsere Beobachtungen sprechen durchaus dafür.
daß es mit der von Lehmann-Facius angegebenen Lipoidreaktion
möglich ist, eine Abbaureihe der Gehirn- und Geistes-
krankheiten aufzustellen, bei der die Schizophrenie an dem
einen, positiven, das Manisch-depressive Irresein, die Psycho-
pathien und der chronische Alkoholismus an dem anderen, nega-
tiven Ende und die erwähnten übrigen Erkrankungen des Zentral-
nervensystems im Mittelfeld dieser Abbaureihe einzusetzen sind.
Bei der Schizophrenie ergab die Liquorflockung:-
reaktion mit dem NHE. einen positiven Ausfall beı
91%, die übrigen 9% reagierten mit dem KHE. positiv.
Nimmt man die 23 Fälle, die lediglich mit KHE. unter-
sucht wurden, hinzu, so ergab sich eine positive Reak-
tion in insgesamt 97 %.
Die Bedeutung dieses Ergebnisses, das hinsichtlich des NHE.
von Hartwich!)-Gütersloh und Röder?)-Göttingen in der Aussprache
zu dem Vortrag von Lehmann-Facius in München sowie neuesten:
von Fünfgeld bzw. Weinert, Magdeburg, gleichfalls bestätigt wor-
den ist?), muß m. E. darin erblickt werden, daß durch den
serologischen Nachweis des Gehirnabbaues erstmals
bei der Schizophrenie im Gegensatz vor allem zu den
Manisch-depressiven Irresein und denPsychopathienein
zerebraler Krankheitsprozeß aufgedeckt worden ist. —
Neben dem statistischen Vergleich der Illenauer und der Frank-
furter Versuchsreihen seien schließlich noch zwei Gesichtspunkte
erwähnt, die für die Bewertung der L.-F.-Reaktion heranzuziehen
sind: einmal das Ergebnis der wiederholten Anstellung der L.-F--
Reaktion und ferner das Ergebnis der sonstigen gleichzeitig mi!
der L.-F.-Reaktion vorgenommenen Liquoruntersuchungen.
Was zunächst das Ergebnis der mehrfachen Liquor
untersuchungen, die namentlich zu Kontrollzwecken bei meh-
reren Fällen vorgenommen wurden, anlangt, so wurden von den
323 klinischen Fällen 22 wiederholt mit NHE. untersucht.
Ein Fall von chronischem Alkoholismus (Korsakoflscher
Schwächezustand) reagierte bei dreimaliger Nachuntersuchung,
die innerhalb weniger Tage vorgenommen wurde, stets negativ.
1) Z. Neur. Bd. 161, S. 520.
2) Z. Neur. Bd. 161, S. 521.
3) Vergl. Nachtr. bei der Korrekt. S. 104.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 95
Ferner wurden 21 Schizophrene mehrfach untersucht, und
zwar:
17 Fälle 2mal
2 „ 3mal
1 Fall 4mal
Wie aus Tabelle 6 hervorgeht, ergaben, abgesehen von Fall
Nr. 11, der später noch genau erörtert werden soll, die 23 Nach-
untersuchungen in 20 Fällen stets dasselbe Resultat wie
die Erstuntersuchungen, und zwar ohne Unterschied, ob die
Erstuntersuchung eine positive oder ob sie eine negative Reaktion
ergeben hatte, und ferner ohne Unterschied, ob der zeitliche Ab-
stand zwischen Erst- und Nachuntersuchungen einige Tage oder
über 10 Monate betragen hat.
Tabelle 6
Wiederholung der Hirnlipoid-Reaktion mit NHE.
bei 21 Schizophrenen
4. Unter- Nachuntersuchung nach . . Monaten
suchung | 9 3 u E: 6 7 8 9 10
21. Lu Fol 5
Wenn der Umfang dieser Beobachtungen auch verhältnismäßig
gering ist, so spricht die Konstanz des Reaktionsausfalls für die
Zuverlässigkeit der Methode und ferner für die Konstanz der der
Reaktion zugrunde liegenden Liquorverhältnisse. Man wird also bei
der L.-F.-Reaktion in der Regel nicht mit erheblichen Schwan-
kungen kurzfristiger Art zu rechnen haben.
96 G. Schneider
Inwieweit sich die Liquorverhältnisse bei längeren Verläufen
tatsächlich als verhältnismäßig konstant erweisen, und inwieweit
gesetzmäßige Beziehungen zwischen serologischem Befund und
klinischem Verlauf bestehen, kann natürlich erst durch eine
klinisch-serologische Längsschnittverfolgung genügend zahlreicher
Fälle geklärt werden. Nach einzelnen Beobachtungen hat es den
Anschein, als ob die spontane wie die künstlich herbeigeführte
Remission mit erhaltener L.-F.Reaktion einhergehen kann.
Neben solchen klinisch-serologischen Längsschnittuntersuchun-
gen ist die Einfügung der L.-F.-Reaktion in das möglichst voll-
ständig zu erhebende Querschnittsbild des Liquors für deren
biologische Bewertung zu fordern.
Die Nachprüfung der neuen Reaktion macht zwar zunächst die
Durchführung von Reihenuntersuchungen notwendig, durch die
allein das ausreichende Material für den statistischen Vergleich
beschaflt werden kann. Darüber sollte aber eine möglichst um-
fassende Liquoranalyse, tunlichst in jedem Fall, nicht außer acht
gelassen werden. Allerdings benötigt die L.-F.-Reaktion den
Liquor in so erheblichem Ausmaß, daß den gleichzeitig vorzu-
nehmenden Liquoruntersuchungen praktisch verhältnismäßig enge
Grenzen gezogen sind. Die folgende Übersicht auf Tabelle 7 gibt
die im hiesigen Laboratorium gleichzeitig mit der L.-F.-Reaktion
mit NHE. vorgenommenen Liquoruntersuchungen nach Pandy,
Weichbrodt und Wassermann wieder. Die mitunter störenden
Unvollständigkeiten erklären sich aus den beschränkten Mengen
des zur Verfügung stehenden Liquors.
Demnach sind die Pandy-, Weichbrodt- und Wassermann-
Reaktionen bei der Untersuchung von 194 Liquoren ganz über-
wiegend negativ ausgefallen. Die am negativen Ende der
Abbaureihe von Lehmann-Facius stehenden Affektionen, also das
Manisch-depressive Irresein, die Psychopathien und der chronische
Alkoholismus gehen durchweg, die im Mittelfeld stehenden bis auf
den Gehirntumor und die luetisch bedingten Krankheiten und von
den Schizophrenien die ganz überwiegende Mehrzahl ohne Eiweiß-
vermehrung und wie zu erwarten war, ohne positiven Wassermann
einher, und zwar ohne Unterschied, ob sie bei der Hırnlipoidreak-
tion mit NHE. positiv oder negativ reagiert haben. Eine engere
Beziehung zwischen dem Ausfall der Pandy- und Weichbrodt- wie
der Wassermann-Reaktionen und dem Ausfall der Hirnlipoid-
reaktion mit NHE. hat sich demnach nicht ergeben.
Da zudem die 11 bei der Hirnlipoidreaktion mit NHE. negativen
Liquoren von Schizophrenen wie oben erwähnt mit dem KHE.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 97
Tabelle 7
Die gleichzeitig mit der Hirnlipoid-Reaktion (mit NHE.)
vorgenommenen Liquoruntersuchungen
Zahl ee | | Weich- W as-
a2 Facius- Pandy prodi ser-
Li mit NHE mann
quoren
Psychopathie . . .. . 10 10 10 7 3
Alkoholismus . . . .. i 4 / i
Senile Demenz . . . . i f f f
Manisch.-depr. Irr.. . . 3 3 3 | 2
p 5 ) ‘) +
Multipl. Sklerose ... 31 Ej * : 2 |
Angeb. Schwachsinn . . 31 y: 1 š
Arterioskl. Demenz. . . 2 | | i i
Erbl. Veitstanz | | | 1
Postinfekt. Delir.. ; | | | |
Symptom. Epilepsie . . | | | |
Psychogene Haftpsychose | | | |
Gen. Epilepsie... . .| 19 l N > a |
Gehirn-Tumor . . . . . | | | |
Prog. Paralysse . .. . 3 33 3 |
Luescerebri. . . . . . 2 211 | | 1
Schizophrenie . . . . .
136 GruppeA. . . .| 130 |118| 12 || 0|0|122| 0/0] 84|0|36
”1IGruppeB.... 6 i AlE S 3 0/10|3 2 0
194 127 6/18 Et 17 i 12/ 2100
194 186 13% 2
positiv ausgefallen sind, so ergibt sich bei der Gruppe A auch keine
Beziehung der genannten Reaktionen zu der Hirnlipoidreaktion
mit KHE.
Lediglich beim Gehirntumor hat sich neben der positiven Lipoid-
reaktion mit NHE. eine biologisch nicht weiter auffällige und ferner
bei der progressiven Paralyse und der Gehirnlues die zu erwartende
Eiweißvermehrung beim Gehirntumor ohne, bei den luetischen
Störungen mit positiver Wassermannscher Reaktion feststellen
lassen.
Von den 136 untersuchten Liquoren von Schizophrenen haben
die 130 Fälle der Gruppe A, wie nach den bisherigen Erfahrungen
zu erwarten war, keine Eiweißvermehrung und keinen positiven
Wassermannergeben. Bei der Gruppe B, bestehend aus 6 Liquoren
von Schizophrenen, fiel zwar die Wassermann-Reaktion negativ
7 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
98 G. Schneider
aus, dagegen ergab sich eine bisher nur in einer Minderzahl
beobachtete Eiweißvermehrung. Es handelt sich, wie aus
Tabelle 8 hervorgeht, um 4 Fälle, von denen der vierte dreimal
untersucht wurde.
In den Fällen K., L. und B. war die positive Lipoidreaktion mit
NHE. im ersten Fall von einer stark ausgesprochenen, in den
beiden anderen Fällen von einer angedeuteten Pandy-Reaktion
begleitet, wobei in den beiden letzteren Fällen der Blutwassermann
negativ war.
Tabelle 8
Befund bei 4 Fällen von Schizophrenie
mit Eiweißvermehrung im Liquor
Liquor Blut
Lehmann- i
Weich- Wasser- | Wasser-
Karus Pandy brodt mann mann
| NHE.
Fall K 5 le el de nur
Fall L & + PE = —
Fall B. & + F = =
Fall Ru. &
I. Untersuchung — TT T
14. 12. 1937
Il. Untersuchung
29. 12. 1937 + — — —
II. Untersuchung
27.1.1938 — !) + +
Dabei ließ der klinische Befund nach Zustandsbild und Verlauf
bisher einen Zweifel an der Schizophreniediagnose nicht aufkommen.
Beim Fall Ru. war bei der ersten Untersuchung die negative
Lipoidreaktion mit NHE. von einer starken Eiweißvermehrung,
bei der zweiten Untersuchung die positive Lipoirdreaktion von
einer negativen und bei der dritten Untersuchung die negative
Lipoidreaktion von einer angedeuteten Eiweißreaktion beglei-
tet. Zugleich konnte auf Grund der negativen Wassermannre-
aktion im Liquor ein luetisches Leiden ausgeschlossen werden.
Der Fall Ru. ist, wie oben erwähnt, der einzige von 21 Schizophre-
niefällen, bei dem eine vorübergehende Schwankung der Lipoid-
reaktion mit NHE. beobachtet wurde (Tab. 6, Fall 11). Der gleich-
zeitig wechselnde Ausfall sowohl der Lipoidreaktion wie der Stärke
der Pandyreaktion weist hier auf vorübergehende Veränderungen
in den Liquorverhältnissen als gemeinsame Ursache hin. Ob es sich
1) Am 27.1.1938 mit KHE. positiv.
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 99
dabei um episodische Vorgänge etwa im Sinn einer vorübergehen-
den meningitischen Reizung bei einem schizophrenen Endzustand
oder aber um eine noch nicht bekannte, chronische nicht-luetische
organische Gehirnaffektion handelt, läßt sich zur Zeit nicht ent-
scheiden. Für die letztere Möglichkeit spricht, daß bei der dritten
Untersuchung neben der negativen Hirnlipoidreaktion mit NHE.
gleichzeitig ein positiver Ausfall der Lipoidreaktion mit KHE.
beobachtet worden ist.
Derartige Befunde, wie sie die vier erwähnten Fälle aufweisen,
können vorerst nur registriert und müssen weiterhin klinisch-
serologisch verfolgt werden.
Jedenfalls zeigen diese Fälle, die sich bei dem vorläufigen Ver-
such einer gleichzeitigen Analyse des Liquors ergeben haben, daß
bei der Nachprüfung der neuen Reaktion weder das simultane
(Juerschnittsbild noch die Längsschnittuntersuchung vernach-
lässıgt werden darf. Wenn sich hierbei neben den möglichst um-
fangreichen Beobachtungsreihen durch die möglichst vollständige
Untersuchung des Einzelfalles sogenannte „Ausnahmen“ von der
allgemeinen ‚Regel‘‘ ausfindig machen lassen, so darf erwartet
werden, daß gerade solche Fälle durch sorgfältige und geduldige
Verfolgung zu Ausgangspunkten für neue Erkenntnisse werden
können. —
Zum Schluß dürfen die technischen Schwierigkeiten, die
bei der Erlernung und Durchführung der Reaktion zu
uberwinden sind, nicht unerwähnt bleiben.
Vorerst ist es unumgänglich, daß der Nachuntersucher sich mit
der Reaktion unter der persönlichen Anleitung von Lehmann-
Facius solange praktisch vertraut macht, bis er sie vollkommen
beherrscht.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Technik des Aufschüt-
telns vor der Ablesung nicht von jedem, auch nicht von jedem
serologisch vorgebildeten Untersucher in kurzer Zeit einwandfrei
erlernt werden kann, daß also in diesem Punkt die „persönliche
Gleichung‘ des Untersuchers unter Umständen eine störende Rolle
spielt, deren Nichtbeachtung zu falschen Ergebnissen führt.
Es ist daher besonders bedeutsam, daß zur Zeit in verschiedenen
Instituten an der Ausschaltung dieses „persönlichen Fehlers“
durch die Umgehung des Aufschüttelns erfolgreich gearbeitet
wird.
Selbstverständlich müssen, wie bei jeder serologischen Metlıode,
samtliche Vorschriften des Verfahrens bis in die klein-
sten Einzelheiten peinlichst genau befolgt werden.
.
+
G. Schneider
BE E
0.02 0.01
aktion). «(Frau |.)
0.03
Fall 1. Alkoholismus (negative
0.05
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 101
0.05 0.03 0.02 0.01
Fall 2. Schizophrenie (positive Reaktion). (Fräulein H.)
102 G. Schneider
Hierzu gehört, wie dies im Wesen der Methode liegt, daß bein:
Zentrifugieren die vorgeschriebene Zahl von 2500 bis 3000 Um-
drehungen pro Minute eingehalten wird. Abweichungen von dieser
Vorschrift nach oben wie nach unten führen, wie wir dies im Ver-
such noch besonders nachgewiesen haben, zu falschen Ergebnissen.
Es empfiehlt sich, stets dieselbe genau eingestellte Zentrifuge zu
benützen.
Daß übrigens das Ablesen der richtig aufgeschüttelten Proben
keine Schwierigkeiten bereitet, geht aus den beigegebenen Pho-
togrammen (s. S. 100 u. 101) hervor.
Die beiden Bilderreihen geben den Befund bei der entscheidenden zweiten
Ablesung in zwei Fällen wieder. Die je 8 Proben zeigen das Ergebnis bei
folgenden Verdünnungsgraden, bezogen auf den Liquor: 0.3, 0.2, 0.1, 0.055,
0.05, 0.03, 0.02, 0.01. Die Proben wurden in besonders konstruierten Glas-
kammern photographiert und geben den Befund in 12facher Vergrößerung
wieder.
Im Falle 1 handelt es sich um eine feinschollige Ausflockung. um
einen serologisch negativen Fall, bei einem Alkoholiker. Im Falle 2 handelt
es sich um eine grobschollige Ausflockung, um einen serologisch posi-
tiven Fall, bei einem Schizophrenen.
Der Unterschied zwischen der feinscholligen und grobscholligen
Ausflockung ist aus den Bildern ohne weiteres deutlich zu erken-
nen. Dagegen entzieht sich der photographischen Wiedergabe die
für die Beurteilung ebenso wesentliche optische Beschaffenheit der
Flüssigkeit („Klärungsflüssigkeit‘‘), die im negativen Falle milchig,
im positiven Fall aufgehellt ist. —
Das vorliegende Ergebnis leidet insofern an einer gewissen Ein-
seitigkeit des Beobachtungsstofles, als die Zahl unserer nicht-
schizophrenen Fälle verhältnismäßig gering ist. Zur endgültigen
Beurteilung des wissenschaftlichen Wertes der Reaktion sind
daher noch weitere Untersuchungen erforderlich. Als wesent-
liche Gesichtspunkte für solche weitere Untersuchungen sind zu
fordern: peinliche Einhaltung der technischen Vorschriften des
Verfahrens, unwissentliches Vorgehen bei der Anstellung der Reak-
tion und Auswahl diagnostisch einwandfrei gesicherter Fälle.
Da die Schizophrenie bis jetzt lediglich auf psychopathologischem
Wege diagnostiziert und noch nicht nach irgendwelchen pathogno-
monischen somatischen Kennzeichen abgegrenzt werden kann, so
ist die Notwendigkeit einer kritischen Auswahl der nach Zustands-
bild und Verlaufsweise typischen klinischen Fälle besonders nach-
drücklich zu betonen. Die Heranziehung klinisch atypischer oder
unsicherer Fälle (Grenzfälle, Randpsychosen usw.) zur Nach-
prüfung der neuen Liquorreaktion könnte bei dem gegenwärtigen
Erfahrungen mit der Lehmann-Facius-Reaktion 103
Stand der Sache nicht weiterführen. Sie müßte zwangsläufig Ver-
wirrung stiften; denn eine differentialdiagnostische Ungewißheit
könnte durch die Anwendung einer noch nicht völlig erprobten
serologischen Methode keineswegs beseitigt, sondern nur gesteigert
werden. Wird in die klinisch-serologische Gleichung eine zweite
Unbekannte eingeführt, so muß die wissenschaftliche Arbeit in
einen fehlerhaften Kreislauf, in eine petitio principii hineingeraten,
wodurch ihr wahrer Fortschritt nur aufgehalten wird. Die Ver-
suchung zu einer verfrühten differentialdiagnostischen Anwendung
der neuen Reaktion liegt bei der Schizophrenie aus den oben an-
gedeuteten Gründen besonders nahe; denn eine serologische Ab-
grenzung der Schizophrenie wäre, sobald sie eine ausreichend
wissenschaftliche Bestätigung erhält, wie Bleuler schon ausgeführt
hat, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Aber erst, wenn
sich die L.-F.-Reaktion mit KHE. bei einer genügenden Anreiche-
rung des Materials als pathognomonisch für das, was wir heute
klinisch „typische Schizophrenie“ heißen, erwiesen hat, wird der
serologische Befund dem klinischen unter Umständen in differen-
tialdiagnostischer Hinsicht überlegen und die neue Reaktion zur Aus-
sonderung bestimmter nosologischer Einheiten aus der Gruppe der
Schizophrenien beitragen können. Solange eine solche Erprobung
in ausreichendem Umfang, namentlich auch hinsichtlich der nicht-
schizophrenen Fälle noch aussteht, wäre es demnach durchaus un-
zulässig, wollte man die L.-F.-Reaktion heute als ein entscheiden-
des spezifisches Kennzeichen verwenden und allein von ihrem
positiven oder negativen Ausfall die Annahme oder Ablehnung
einer Schizophrenie abhängig machen. Hieraus ergibt sich
mit Selbstverständlichkeit, daß die Reaktion als aus-
schlaggebendes Beweismittel bei den gerichtlichen
einschließlich der erbgesundheitsgerichtlichen Begut-
achtungen zur Zeitkeinesfalls verwertet werden kann.
Zusammenfassung
Die Nachprüfung der Liquorflockungsreaktion nach Lehmann-
Facius an 346 klinischen Fällen (darunter 229 Schizophrenien) hat
in Übereinstimmung mit den Nachuntersuchungen von anderer
Seite eine Bestätigung seiner wesentlichen Befunde im Sinne der
von ihm aufgestellten Abbaureihe ergeben. Bei dieser stehen an
dem einen, positiven Ende, die Schizophrenie, an dem anderen,
negativen Ende das manisch-depressive Irresein, die Psycho-
pathien und der chronische Alkoholismus und im Mittelfeld die
erwähnten übrigen Gehirn- und Geisteskrankheiten (einschließlich
104 G. Schneider
des angeborenen Schwachsinns) mit einem verhältnismäßig nicht
häufigen Gehirnabbau. Bei der Schizophrenie ergab die Gehirn-
lipoidreaktion mit dem NHE. einen positiven Ausfall in 91% der
Fälle; die übrigen negativen Fälle reagierten, soweit sie noch
untersucht werden konnten, mit dem KHE. durchweg positiv. Unter
Einbeziehung von weiteren 23 Fällen, die lediglich mit dem KHE.
untersucht wurden, ergab sich eine positive Reaktion mit einer
Häufigkeit von insgesamt 97 %. Dieses Ergebnis dürfte, soweit es sich
fernerhin bestätigt, dafür sprechen, daß die Schizophrenie zu den
Krankheitsprozessen, die mit einem Gehirnabbau einhergehen, zu
rechnen ist. Das Ergebnis der mehrfachen Liquoruntersuchungen
mit NHE. hat vorläufig eine relative Konstanz der der Lipoidre-
aktion zugrunde liegenden Liquorverhältnisse erkennen lassen. Der
Ausfall der gleichzeitig vorgenommenen Liquoruntersuchung nach
.Pandy und Weichbrodt ergab bei den meisten Fällen keine engere
Beziehung zwischen dem Ausfall der Lipoidreaktion und dem Ei-
weißgehalt. Dieser erwies sich bei der Schizophrenie im allge-
meinen nicht als vermehrt; die beobachteten vier Fälle von gleich-
zeitiger positiver Lipoidreaktion mit NHE. und Eiweißvermehrung
zeigen, daß bei der Nachprüfung der Lipoidreaktion das möglichst
vollständige Querschnittsbild sowie die Längsschnittverfolgung des
einzelnen Falles nicht versäumt werden dürfen. Zum Schluß werden
die technischen und methodologischen Gesichtspunkte, die bei den
notwendigen weiteren Untersuchungen berücksichtigt werden
müssen, genauer dargelegt.
Nachtrag bei der Korrektur: Hartwich-Gütersloh ist nach
persönlicher Mitteilung bei Fortsetzung seiner Untersuchungen
zu abweichenden Ergebnissen gelangt. ARoeder-Göttingen hat in
einer Diskussionsbemerkung auf der Neurologen- und Psychiater-
versammlung in Baden-Baden am 12. 6. 1938 und in einem Vor-
trage auf der Jahresversammlung in Köln am 27. 9. 1938 seine
oben erwähnte restlose Zustimmung in vollem Umfange zurück-
gezogen. Dies kann aber m. E. an der Tatsache nichts ändern,
daß mit den NHE. Nr. 35, 62 und ,„M“ sowie mit den KHE.
Nr. 81. und 87 sowohl von uns wie von den erwähnten Nach-
untersuchern Ergebnisse erzielt wurden, die mit den Angaben
von Lehmann-Facius übereinstimmten. Es erscheint nicht an-
gängig, diese Übereinstimmung auf Grund späterer auseinander-
gehender Befunde mit neueren Extrakten, wie Roeder es tut,
kurzerhand auf Selbsttäuschung zurückzuführen und damit die
Methode für unbrauchbar zu erklären.
Über die klinische Bedeutung
der Hirnlipoidreaktion nach Lehmann-Facius
Von
W. Weinert und E. Fünfgeld
(Aus der Städtischen Nervenklinik Magdeburg-Sudenburg.
Direktor: Prof. Dr. Fünfgeld)
(Eingegangen am 25. August 1938)
Die Unsicherheit in der klinisch-psychiatrischen Diagnostik der
endogenen Psychosen ist gerade für denjenigen Arzt ein bedrücken-
der Tatbestand, der häufig frisch erkrankte Patienten behandeln
und beurteilen muß. Somit bedarf jeder Versuch einer somatischen
Untermauerung der klinischen Krankheitsbilder ernsthaftester
Prüfung und Beachtung. Klinik und Heilanstalt haben sich hier,
wie auch sonst in der Psychiatrie zu ergänzen. Das vielgestaltigere
Krankengut der Kliniken, besonders solcher mit überwiegend
neurologischer Note, erlaubt eine Breite der Erfahrung, die der
Heilanstalt versagt sein muß. Dagegen entbehrt die Klinik der
chronischen Kranken, die diagnostisch klar sind.
Als Lehmann-Facıus die ersten Ergebnisse seiner Hirnlipoid-
reaktion bekanntgab, entschlossen wir uns sofort zur Prüfung,
nachdem der eine von uns (Weinert) an Ort und Stelle die Technik
der Reaktion gelernt hatte. Die Reaktion wird seit nunmehr über
ein Jahr bei uns angewandt. Wir haben sie bisher an 326 Kranken
ausgeführt. Geringe Schwankungen bei verschiedenen Extrakten
sind uns aufgefallen; erheblich waren sie nicht, jedenfalls wurde
der Ausfall der Reaktion nicht entscheidend beeinflußt.
Der Extrakt wurde uns von Lehmann-Facius zur Verfügung
gestellt. An seine Technik hielten wir uns streng.
Die nachfolgenden Darlegungen beschränken sich absichtlich
nur auf die Bekanntgabe unserer Ergebnisse als Niederschlag einer
einjährigen Zusammenarbeit an einem einheitlich diagnostizierten
Krankengut. Auf eine Besprechung des Schrifttums konnten wir
um so leichter verzichten, als es jüngsten Datums ist und jedermann
leicht zugänglich. Ebensowenig sollen klinische Streitfragen er-
örtert werden. Schizophrenie oder atypische periodische Psychose,
106 W. Weinert und E. Fünfgeld
gerade dabei soll uns die Reaktion weiterhelfen. Die Diagnosen
sind rein nach klinischen Gesichtspunkten gestellt, unabhängig
von dem Ausfall der Reaktion; denn nur so ist es möglich, die Be-
deutung der Reaktion für die Diagnostik zu ermessen. Es sind daher
auch in unserer Tabelle die Psychosen, bei denen teils wegen der
kurzen Beobachtungszeit und teils wegen des atypischen Verlaufes
eine sichere Diagnose nicht zu stellen war, bewußt als unklar be-
zeichnet.
Bei den Ablesungen wurde das Ergebnis von den beiden Verf.
unabhängig voneinander festgestellt und erst dann verglichen.
In den letzten 3⁄4 Jahren war die Übereinstimmung 99°%. In Zwei-
felsfällen wurde jedesmal die Hemmungsreaktion ausgeführt.
Die folgende Tabelle gibt zunächst einen allgemeinen Überblick
über unsere Ergebnisse. Die von uns gewählte Einteilung stellt
neben das manisch-depressive Irresein atypische periodische Psy-
chosen im Sinne von Schröder und Kleist. Wir bemühten uns stets
um eine möglichst scharfe und enge Umgrenzung aller endogenen
Psychosen.
Untersuchte Fälle a positiv | negativ ne
Schizophrenien .........crc. 00: 87 83 3 1
Manisch depressives Irresein ..... 41 — 40 1
Atypische periodische Psychosen .. 3 — 3 —
Progressive Paralysen ........... 35 3 31 1
Symptomatische Psychosen ...... 11 4 6 1
Unklare Psychosen ............. 7 6 1 —
Psychopathien und Schwachsinn.. 43 3 40 —
Rückbildungserkrankungen ...... 19 18 1 —
Neurologische Erkrankungen ..... 82 24 98 —
darunter: Epilepsien ........... 12 1 11 —
Parkinson (postenc.).. 12 10 2 —
Multiple Sklerosen ... 3 2 1 —
Chorea minor ....... 3 3 — —
` Chorea Huntington... 2 1 1 —
Die Einzelheiten der Tabelle stellen sich folgendermaßen dar:
Die 3 Fälle mit negativer Reaktion unter den Schizophrenien
sind 2 seit Jahren bestehende Defektzustände, bei denen anschei-
nend der Prozeß zum Stillstand gekommen ist; ähnliche Unmög-
lichkeit eines serologischen Nachweises findet sich bei paralytischen
Defektzuständen, die liquornegativ geworden sind. Der 3. Fall mit
negativer Reaktion war eine erst kurze Zeit bestehende Psychose.
Katamnestisch stellte sich die Schizophrenie heraus. Bei weiteren
4 Fällen konnten wir die gleiche Beobachtung machen, daß erst
Über die klinische Bedeutung der Hirnlipoidreaktion usw. 107
kurze Zeit bestehende Schizophrenien einen negativen Ausfall
der Reaktion aufweisen, um nach etwa 3—4 Wochen positiv zu
werden. Bei 3 Fällen ließ sich der Zeitpunkt des Beginns der Psv-
chose anamnestisch mit einiger Sicherheit feststellen. In einem Fall,
der in der medizinischen Klinik wegen einer Polyarthritis behandelt
wurde, machten sich am 3. X. 37 die ersten psychischen Verände-
rungen bemerkbar. Die erste Liquoruntersuchung am 19. X. 37
— also nach 16 Tagen — war negativ, die zweite Untersuchung
am 10. XI. 37 — also nach 5 Wochen — positiv. Bei diesem Pa-
tienten war eine gleichartige Belastung nachweisbar, 2 Brüder
waren ebenfalls an Schizophrenie erkrankt. Im 2. Fall handelt es
sich um eine 24jährige Patientin, die ungefähr seit dem 7. IX. 37
Beziehungs- und Verfolgungsideen äußerte. Die Untersuchung am
15. IX. 37 — also nach 8 Tagen — war negativ, die zweite Unter-
suchung am 5. X. 37 — also nach etwa 4 Wochen — positiv. Im
3. Fall handelt es sich um eine 16jährige Patientin, die am 19. IX. 37
psychisch auffällig wurde. Am 27. IX. 37 — also nach 8 Tagen —
war die erste Untersuchung negativ, die zweite am 26. X. 37 — also
nach 5 Wochen — positiv; eine nochmalige Untersuchung am
25. XI. 37 ergab auch wieder positiyen Ausfall der Reaktion. Aus
diesen Beobachtungen, die theoretisch prinzipiell wichtig erscheinen,
geht hervor, daß der Krankheitsprozeß erst einige Zeit — nach
unseren Beobachtungen wohl ungefähr 4 Wochen — bestehen muß,
um einen positiven Ausfall der Reaktion zu machen. An sich sind
ganz akute Schizophrenien nicht allzu häufig; meist entwickelt
sich die Veränderung schleichend, bis ein klinisch als akuter Schub
imponierender Zustand das Vorliegen einer Psychose klärt.
Ungemein wichtig ist ferner die Beobachtung, daß bei insulin-
remittierten Fällen die nach Abschluß der Behandlung erfolgte
Untersuchung des Liquors negativ sein kann. Sämtliche Liquoren
dieser Kranken waren vor Beginn der Behandlung positiv. In einem
Fall — der Patient halluzinierte hier trotz energisch durchgeführter
Insulin-Schock-Behandlung noch weiter lebhaft — blieb die Re-
aktion auch nach der Behandlung positiv. Es sind somit Schlüsse
auf einen Zusammenhang zwischen dem Ablauf des Krankheits-
prozesses und Ausfall der Reaktion naheliegend. Wenn bei einer
frisch aufgetretenen Psychose die Reaktion negativ ist, muß der
Liquor nach 3—4 Wochen nochmals untersucht werden, ehe ein
endgültiges Urteil gefällt werden kann.
Die als manisch-depressiv diagnostizierte Kranke mit zweifel-
haftem Ausfall stand bereits in höherem Alter, so daß Rückbil-
dungsvorgänge bereits vorliegen konnten.
108 W. Weinert und E. Fünfgeld
Zunächst nicht zu erklären ist der positive Ausfall der Reaktion
bei 3 Liquoren von progressiven Paralysen. Bei 2 Fällen ver-
lief die Erkrankung schleichend, der eine Patient war sogar lange
Zeit als Psychopath verkannt worden, bis die Untersuchung des
Liquors die Diagnose Paralyse sicherte. Der 3. Kranke war eine
juvenile Paralyse. Vielleicht ist für die Besonderheit der Reaktion
in diesen 3 Fällen der schleichende Verlauf des Krankheitsprozesses
maßgebend.
Unklar geblieben ist ferner der Grund des positiven Ausfalls
der Reaktion bei den symptomatischen Psychosen. Nach
dem klinischen Bild war bei 2 Fällen eine Schizophrenie nicht
wahrscheinlich, außerdem darf gegen die Diagnose Schizophrenie
die restlose Abheilung der Erkrankung angeführt werden. Die
zwei anderen positiven Reaktionen entstammen chronischen Alko-
holikern mit Psychosen (ein Delir. und eine Halluzinose).
Wie schon eingangs erwähnt, sind in der Rubrik unklare Psy-
chosen alle Fälle zusammengefaßt, die klinisch nicht sicher ein-
zurubrizieren waren, teils weil wir die Fälle schnell abgeben mußten,
teils weil die Psychosen schnell abklangen. In diesen Fällen kann
nur die Katamneses Aufschkıß darüber geben, ob eine Schizo-
phrenie vorlag. 2 Patienten waren zunächst als Schizophrene dia-
gnostiziert. Es sprach jedoch gegen die Diagnose Schizophrenie
die rasche restlose Abheilung ohne einen Defekt und der schnelle
Ablauf der Psychose. Ein weiterer Fall betraf eine sensitive Psycho-
pathin mit paranoischer Reaktion auf tatsächliche Erlebnisse.
Dem Alter der Patientin nach ist die Möglichkeit gegeben, daß es
Rückbildungsvorgänge des Gehirns mitspielten. In einem weiteren
Fall handelte es sich um ein junges Mädchen, das bereits etwa ein
Jahr vor der jetzigen Erkrankung mit einer ratlos ängstlichen
Verstimmung in der Klinik war. Eine endgültige Klärung war nicht
möglich, da die Patientin an einer interkurrenten Erkrankung
zum Exitus kam. Im 4. Fall handelt es sich um einen Patienten
mit einem schweren dekompensierten Vitium cordis der — selbst
epileptisch belastet —- des öfteren epileptische Anfälle und Dämmer-
zustände bekam. Außerdem traten — auch außerhalb epileptischer
Dämmerzustände —- Zeiten gesteigerten Mißtrauens und lebhafter
Eigenbeziehungen auf, die aber relativ rasch und vollkommen
abklangen.
Der Grund der positiven Reaktion bei den Psychopathien
ist unklar. Klinisch handelte es sich um eine jugendliche phanta-
stische Pseudologistin; eine Psychose war — auch nach der Ansicht
der Landesheilanstalt — auszuschließen. Die zwei weiteren Fälle
Über die klinische Bedeutung der Hirnlipoidreaktion usw. 109
mit positivem Ausfall der Reaktion müssen zunächst, wenn auch
die Möglichkeit eines blind verlaufenden schizophrenen Prozesses
nicht auszuschließen ist, klinisch als Psychopathien angesehen
werden. Ob hier ein bisher unbekannter andersartiger organischer
Prozeß vorliegt, ist heute noch nicht zu entscheiden. Vorläufig
müssen solche Fälle registriert und sorgfältig katamnestisch ver-
folgt werden.
Bei den Rückbildungserkrankungen handelt es sich um
klinisch sichere senile Demenzen und um sichere Rückbildungs-
erkrankungen. Theoretisch ist der fast ausnahmslos positive Aus-
fall der Reaktion wichtig. Bei mehreren histologisch untersuchten
Fällen wurden zahlreiche Drusen nachgewiesen. Eine systematische
Bearbeitung wird hier noch erfolgen.
Die positiven Ausfälle der Reaktion bei den neurologischen
Erkrankungen fanden sich bei schleichend verlaufenden Entzün-
dungsprozessen im Nervensystem. Besonders hervorzuheben ist
ein Fall von eitriger Meningitis nach chronischer Otitis media. Der
positive Ausfall bei dem einen Fall von Epilepsie zeigte sich bei
einem im Dämmerzustand nach Status epilepticus aufgenommenen
Patienten.
Als Gesamtergebnis kommen wir somit zu folgenden Schlüs-
sen: Klinisch sichere Schizophrenien waren 100°; positiv, klinisch
sichere zykloide Erkrankungen 100°, negativ.
Andererseits ist die Reaktion auch positiv bei einer großen Reihe
verschiedenartiger organischer Hırnprozesse, wie Postenzephalitis,
seniler Demenz, Rückbildungserkrankungen, Chorea minor und
vereinzelt multiplen Sklerosen und Paralysen. Die organische
Grundlage und das anatomische Bild ıst bei dem überwiegenden
Teil dieser Krankheitsprozesse bekannt; es handelt sich durchweg
um langsam verlaufende Abbauprozesse der Hirnsubstanz. Ge-
rade die oben aufgeführten Paralysen sind hier, wie erwähnt, be-
sonders aufschlußreich. Es ist also mit der Möglichkeit zu rechnen,
daß ein positiver Ausfall der Hirnlipoidreaktion auch Beziehungen
zum Tempo des Hirnabbaus hat. Eine Verwechslung dieser orga-
nischen Hirnprozesse mit Schizophrenien ıst klinisch ausgeschlossen.
Augenblicklich kann somit allein auf Grund einer positiven
Hirnlipoidreaktion nicht die Diagnose Schizophrenie gestellt
werden. Zunächst bleibt somit — abgesehen vom Ausfall der Reak-
tion — das klinische Bild maßgebend. Dagegen scheint uns der
positive Ausfall der Reaktion bei psychopathisch wirkenden Per-
sönlichkeiten die Vermutung nahezulegen, daß solche Kranke nicht
an angeborenen Anomalien, sondern an Hirnprozessen leiden. Wir
110 W. Weinert und E. Fünfgeld, Über die klinische Bedeutung usw.
glauben auch, daß unter den positiv reagierenden symptomatischen
und unklaren Psychosen sich Hirnprozesse befinden, die keineswegs
schizophrener Natur zu sein brauchen.
Die Bedeutung der Reaktion für die klinische Diagnostik ist
heute noch nicht zu übersehen. Ihre Prüfung muß an einem mög-
lıchst vielgestaltigen Krankengut erfolgen. Bei allen unklaren Fällen
bei denen klinisches Bild und Ausfall der Reaktion nicht überein-
stimmen, ist es erforderlich, daß man die Kranken katamnestisch
verfolgt. Gerade diese Fälle werden, wenn im Verlauf eine sichere
Diagnose gestellt ist, den besten Aufschluß über den Wert der
Reaktion geben. Die Grundlage wird natürlich der Ausfall bei den
sicheren Schizophrenien sein.
Die Sicherstellung des Verlaufs unklarer Psychosen mit positiver
Reaktion hat nach unserer Meinung sowohl das Erbgesundheits-
verfahren, wie für die rechtzeitige energische Therapie Bedeutung.
Wenn es gelingt, in diesen Fällen später eine schizophrene Psychose
nachzuweisen, so ist in ähnlichen Fällen die Möglichkeit gegeben,
alleın aus dem positiven Ausfall der Reaktion die richtige Diagnose
zu stellen und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Auf
die sich aus der Geschichte der progressiven Paralyse ergebenden
Parallelen braucht nur hingewiesen zu werden. Die Bedeutung
der Hirnlipoidreaktion ist noch nicht so sichergestellt, daß von ihr
ım Erbgesundheitsverfahren Gebrauch gemacht werden darf; zum
mindesten ist äußerste Vorsicht am Platz.
Schrifttum
Lehmann-Facius, Z. Neur. 158, 161, Klin. Wschr. 1938, H. 1. — Weinert,
Münch. med. Wschr. 1938, S. 1093.
Zur Frage des Wirkungsmechanismus bei der
Insulin-, Cardiazol- und Dauerschlafbehandlung
der Schizophrenie
Von
R. Flinker, Cernauti (Rumänien)
(Eingegangen am 29. Juli 1938)
In den Diskussionen über den Wirkungsmechanismus der Insu-
lın-, der Cardiazolschock- und der Klaesischen Dauerschlafbehand-
lung der Schizophrenie ist über dem großen ‚Stoffwechselexperi-
ment‘‘, das diese Behandlungen darstellen, an die mögliche -Bedeu-
tung eines Faktors meist vergessen worden, nämlich die der psy-
chischen Einwirkung. Wir meinen hier freilich nicht die psychische
Wirkung des größeren Interesses, der vermehrten pflegerischen Be-
treuung, welche die Folge dieser Behandlungen sind, wiewohl eine
gewisse Bedeutung auch diesen Faktoren zuzuschreiben sein mag.
Aber Müller-Münsingen weist mit Recht darauf hin, daß die Pa-
tenten mancher Anstalten auch sonst intensiv psychisch behandelt
werden (Arbeitstherapie u. a.). Ferner darf nicht vergessen werden,
daß auch früher von Zeit zu Zeit irgendwelche Behandlungs-
methoden der Schizophrenie empfohlen wurden und daß die Kran-
ken, welche diesen Behandlungen unterzogen wurden, erhöhtes
arztliches Interesse und vermehrte pflegerische Betreuung fanden.
Dennoch hatte keine dieser Behandlungen die Erfolge der neuen
Methoden aufzuweisen. Schließlich muß ein solcher Erklärungs-
versuch unter allen Umständen bei der Heilung ganz frischer Fälle
versagen, denn diese stehen ja fast durchwegs im Mittelpunkt des
Interesses ihrer Angehörigen und — wenigstens in der ersten Zeit
der Beobachtung bis zur sicheren Diagnose — auch der Ärzte und
des Pflegepersonals.
Was hier unter psychischer Einwirkung gemeint ist, ist das Er-
lebnis des Schwindens und Wiederauftretens des Bewußtseins. So
verschieden, ja in mancher Beziehung gegensätzlich diese Behand-
lungsmethoden sind (man denke z.B. daran, daß Schlafmittel-
112 R. Flinker
wirkung, die Grundlage für die Klaesısche Dauerbehandlung, den
Cardiazolschock unmöglich macht) — gemeinsam ist ihnen allendas |
schnelle Schwinden und das ebenfalls ziemlich schnelle Wiederauf- |
treten des Bewußtseins. Daß diese Erlebnisse eine starke psychische
Wirkung entfalten können, liegt auf der Hand, daß sie es wirklich
tun, lehrt die Beobachtung unserer Kranken besonders eindringlich
die der Cardiazolbehandelten. Einige dieser Kranken geben an, dab
der Beginn jedes Anfalls mit Todesangst verbunden ist, andere
können sich an die Erlebnisse vor und während des Schocks nicht
erinnern, haben aber trotzdem Angst vor jeder neuen Injektion.
Aber auch bei jenen Kranken, die sich dank einer vollkommenen
Amnesie jede Injektion gerne machen lassen, wirkt der Gesichts-
ausdruck namenlosen Entsetzens, der vor jedem Krampfanfall auf-
tritt, sehr eindrucksvoll auf den Beobachter. Daß das Erlebnis des
Bewußtseinsverlustes (und wohl auch das der Wiedererlangung des
Bewußtseins) auch bei den anderen Methoden eine starke psychische
Wirkung entfaltet, ist selbstverständlich. (Die psychischen Wir-
kungen des Insulinschocks wurden von E. Küppers und von
Wiedeking in Selbstbeobachtungen dargestellt.)
Nun beweist das Vorhandensein psychischer Wirkungen natürlich
noch nicht, daß ihnen irgendeine Bedeutung zur Erreichung eines
Heilerfolges zukommt, sie könnten ja lediglich eine für die Heilung
bedeutungslose Begleiterscheinung sein. Eine solche Auffassung
scheint z. B. auch durch die Beobachtungen mancher Autoren ge-
stützt, daß bei der Insulinbehandlung Remissionen vorkommen,
ohne daß eın tiefes Koma oder ein epileptischer Anfall erzielt worden
wäre. Aber dem ist entgegen zu halten, daß auch ın diesen Fällen
wenigstens ein präkomatöser Zustand erreicht werden muß und
E. Küppers hebt hervor, daß auch bei diesen Fällen eine tiefe Be-
wußtseinstrübung Voraussetzung des Erfolges ist. Die Fälle, wo es
auch nicht zu einer solchen kam und die dennoch remittierten, sind
zu vereinzelt, als daß sie für irgendwelche Schlußfolgerungen von
Bedeutung sein könnten. Es darf nicht vergessen werden, daß die
Behandlung meist bei frischen Fällen vorgenommen wird und so
kann es einmal vorkommen, daß eine Spontanremission gerade in
den Beginn der Behandlung fällt.
Andererseits sind eine ganze Reihe von Beobachtungen kaum
anders als durch psychische Wirkung zu erklären. Schon die Tat-
sache, daß katatone Zustände, die viele Jahre lang unverändert be-
standen hatten, manchmal durch ein- oder zweimaligen Insulin-
oder Cardialzoschock durchbrochen und — freilich meist nur für
kurze Zeit — zum Verschwinden gebracht werden, ist schwer durch
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8 a ee a mr er
Zur Frage des Wirkungsmechanismus bei der Insulin- usw. 113
organische Wirkung zu erklären. Vollends versagen muß eine solche
Erklärung bei gewissen Fällen, wie sie fast jeder Therapeut kennt,
der die neuen Behandlungsverfahren wahllos an einem möglichst
großen Material von Schizophrenen zur Anwendung bringt: Ein
Patient, der zehn oder zwölf Jahre in Anstaltsbehandlung steht,
wird einer Behandlung, etwa einer Cardiazolkur unterzogen. Schon
nach wenigen Injektionen bessert sich sein Zustand fast plötzlich —
ıch konnte diese Beobachtung einige Male bei Katatonen machen,
die seit Jahren in starrer Haltung und ohne ein Wort zu sprechen
dagestanden waren bzw. bei solchen, die in stereotyper Weise immer-
fort dieselben Worte und Bewegungen wiederholten, — er wird
geordnet, ansprechbar, die Starre löst sich, er tritt mit der Um-
gebung in Kontakt und schon erwägt man, ihn in häusliche Pflege
zu entlassen. Da verschlechtert sich sein Zustand wieder und inner-
halb weniger Tage ist alles wie vor Beginn der Behandlung. Nun
wird die Behandlung von neuem aufgenommen, es werden zehn, es
werden zwanzig Injektionen gemacht, aber jetzt vermag nichts
mehr den Zustand zu beeinflussen. In solchen Fällen ist es kaum
möglich, eine organische Wirkung der Behandlung anzunehmen.
Was für ein Agens sollte das sein, das zunächst nach zwei oder drei
Injektionen auf die Krankheitserscheinungen weitestgehend wirkt,
sie aber, als sie dann nach wenigen Wochen erneut auftreten, auch
nach zehn oder zwanzig Injektionen nicht mehr zu beeinflussen
vermag? Dagegen ist es durchaus vorstellbar, daß die ersten In-
jektionen als etwas ganz Neues und Unerwartetes eine sehr starke
psychische Wirkung ausüben, die weiteren aber, die nach Wieder-
auftreten der Krankheitserscheinungen verabfolgt werden, als etwas
Bekanntes und Erwartetes ohne jede psychische Wirkung bleiben.
Besonders eindringlich legt ein Fall, von dem in folgendem ein
kurzer Krankheitsbericht gebracht wird, die psychische Wirkung
der neuen Behandlungsmethoden nahe:
Hermann E., 32 jähriger Ingenieur. Vater des Patienten ist an einem Schlag-
anfall gestorben; er soll psychisch nicht auffällig gewesen sein. Die Mutter
st. nach Angabe der Verwandten, eine ‚eigenartige‘ Frau: sie lebt durchaus
iuruckgezogen, vermeidet jeden geselligen Verkehr, mit ihren Verwandten
lebt sie zum größten Teil in Feindschaft. Zwei Brüder sind gesund und kommen
ihrem Beruf voll nach. Eine Schwester ist leicht dement, mehrfache Unter-
haltungen mit ihr haben jedoch nicht weiter als zur Vermutung des Vorliegens
emer schizophrenen Demenz führen können. Der Patient selbst soll schon als
Kind eigenartig gewesen sein: er habe immer ein zurückgezogenes Leben
Refuhrt und nie rechten Kontakt mit seinen Mitschülern gehabt. Mit 27 Jahren
beendete er sein Studium und widmete sich nun der Liquidierung der Ge-
schafte seines kurz zuvor gestorbenen Vaters. Wiewohl sich diese Angelegen-
eten in kurzer Zeit hätten erledigen lassen, zog er sie immer mehr in die
8 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
114 R. Flinker
Länge, geriet in heftigen Streit mit seinem Onkel und brachte es schließlich
dazu, daß das nicht unbeträchtliche Vermögen des Vaters für den Augenblick
vollkommen unverfügbar wurde und in der Folge Mutter, Schwester und er
selbst zeitweise in Not waren und von den Brüdern erhalten werden mußten.
Obwohl an dieser Sachlage sein eigenes ungeschicktes Verhalten die Schuld
hatte, beschuldigte er den Onkel, der selbst großes Interesse an der Liqui-
dierung der Angelegenheit hatte, daß dieser in betrügerischer Absicht Schwie-
rigkeiten mache. Alle Bemühungen seiner Angehörigen, ihm die Unsinnigkeit
seiner Behauptung klar zu machen, waren erfolglos. Schließlich ging er gar
nicht mehr aus, lag tagelang zu Bett, weinte stundenlang, schwieg dann wieder
viele Stunden und antwortete nicht auf Fragen. Er wurde nun von den An-
gehörigen in eine geschlossene Anstalt gebracht. Hier angekommen, begann
er zu toben, schrie, schlug um sich und mußte in der Zwangsjacke gehalten
werden. Nun wurde sofort eine Insulinbehandlung durchgeführt, die vom
Patienten ohne Komplikationen vertragen wurde. Nach fünf Wochen wurde
die Behandlung abgeschlossen: der Kranke war ruhig, geordnet und einsichtig
und konnte nach Hause entlassen werden. Er erklärte, sich nicht mehr um die
Liquidierung der Geschäfte bekümmern zu wollen, sondern dies seinen Brüdern
zu überlassen, da er einsehe, daß er durch sein ungeschicktes Verhalten die
Angelegenheit verfahren habe. Seine Bemühungen, eine Anstellung zu erhal-
ten, blieben freilich ohne Erfolg.
Fast sechs Monate nach seiner Entlassung ändert der Patient plötzlich sein
Wesen; von seiner Mutter, die in diesen Tagen mit ihm zusammen war, läßt
sich jedoch nicht mehr erfahren, als daß er „merkwürdige Dinge‘‘ gesprochen
habe. Wenige Tage später wird er in schwer katatonem Zustand angetroffen:
er liegt in starrer Haltung, manchmal mit einem Schnauzkrampf zu Bett,
spricht weder spontan noch auf Anrede, verweigert die Nahrungsaufnahme,
verunreinigt das Bett. Es wird nun neuerlich die Überführung in eine ge-
schlossene Anstalt angeordnet. Bevor es jedoch dazu kommt, benützt der
Patient einen unbewachten Augenblick und schwingt sich über die Fenster-
brüstung seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung. Im letzten Augenblick-
wird er von einer Person am Unterschenkel gefaßt und vor dem Absturz be-
wahrt. Bevor jedoch weitere Hilfe herbeikommt, vergehen einige Minuten, in
denen der Kranke hinunterhängt, in der Gefahr, beim Nachlassen der Kräfte
des Mannes, der ihn hält, in die Tiefe zu stürzen. Endlich in das Zimmer ge-
zogen, erhält er eine Scopolamininjektion und schläft ein. Nach vier Stunden
erwacht er, erhebt sich, verläßt das Bett und legt ein völlig geordnetes Wesen
an den Tag. Über die Ursache seines Selbstmordversuches befragt, erklärt er,
ihn aus Angst vor einer neuerlichen Injektionsbehandlung durchgeführt zu
haben. Über das Krankhafte seines bisherigen Zustandes gibt er sich Rechen-
schaft, doch spricht er nicht gerne davon und ändert, wenn die Rede darauf
kommt, das Thema. In jeder Beziehung ist sein Verhalten zweckentsprechend
und geordnet.
Drei Wochen später entwickelt sich jedoch innerhalb weniger Tage wieder
ein schwer katatoner Zustand. Nun wird sofort mit einer Gardiazolkur be-
gonnen. Nach dem dritten Schock beginnt sich der schwere Starrezustand zu
lockern, der Kranke gibt wieder auf Fragen einzelne Antworten. Nach dem
fünften Schock ist er wieder ruhig, krankheitseinsichtig, geordnet. Jetzt wird
durch die Bemühungen seiner Brüder dem Patienten ein Milieuwechsel er-
möglicht, er verläßt die Stadt und kommt in eine ganz neue Umgebung. Aus
Nachrichten, die jetzt — zwei Monate nach seiner Abreise — vorliegen, ist zu
entnehmen, daß er ein durchaus soziales Verhalten an den Tag legt.
—) m
Zur Frage des Wirkungsmechanismus bei der Insulin- usw. 115
Bei einem schizoiden Menschen treten — soweit sich das beur-
teilen läßt, ohne psychische Veranlassung — katatone Schübe mit
Maniıriertheiten, Nahrungsverweigerung, hochgradiger Erregung,
Unreinlichkeit und paranoiden Ideen auf, die schließlich zu einem
überaus ernsten Selbstmordversuch führen. Dreimal werden Re-
missionen erzielt: das erstemal durch eine Insulinkur, das zweitemal
durch einen psychischen Schock, der darin besteht, daß der Patient
minutenlang in höchster Lebensgefahr schwebt, das drittemal durch
eineCardiazolkur. Daß der psychische Schock anders als auf psychi-
sehem Weg gewirkt haben sollte, läßt sich wohl nicht gut annehmen.
Es ıst aber auch nicht einzusehen, warum der die Insulin- und die
Cardiazolkur begleitende psychische Schock, der — wie gezeigt
wurde — jedenfalls beträchtlich ist, nicht in der gleichen Weise
sollte wirken können.
Es liegt mir freilich fern, den psychischen Schock als das in allen
Fällen einzig wirksame Agens an den neuen Behandlungsmethoden
anzusehen, doch scheint mir der dargestellte Fall zu bestätigen, daß
er es wenigstens in manchen Fällen ist.
g®
Erfahrungen und Erfolge
mit der Insulinbehandlung bei 150 Schizophrenen
Von
Oberarzt Dr. H. Salm
(Aus der Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee,
Direktor: Ob.Med.Rat Dr. Faltlhauser)
(Eingegangen am 31. Mai 19:38)
Gemäß dem Bestreben unserer Anstalt, Fortschritte auf dem Ge-
biete der Krankenbehandlung auch unseren Kranken nutzbar zu
machen, begannen wir wohl als erste Anstalt in Bayern ım Sep-
tember 1936 mit der Insulinbehandlung von Schizophrenen. Ange-
regt wurden wir vor allem dazu durch den Vortrag Ederle’s auf der
Jahrestagung der Psychiater in Frankfurt/Main, der über Ergeb-
nisse in der Hoffmannschen Klinik in Gießen und Tübingen be-
richtete. Ein mehrtägiger Aufenthalt an der Tübinger Klinik über-
zeugte dann auch von der bei einiger Vorsicht und Aufmerksamkeit
leicht zu handhabenden Methode und machte mit den möglicher-
weise auftretenden Gefahren und ihrer Begegnung bekannt. Wir
haben bis heute 150 Insulinschockbehandlungen abgeschlossen und
wollen im Folgenden darüber berichten.
Eine eigene Insulinabteilung, die ausschließlich der Behand-
lung diente, haben wir aus räumlichen Gründen nicht eingerichtet,
sondern sie in dem Wachsaal einer unruhigen Männer- und Frauen-
abteilung untergebracht, die von je einem Arzt versorgt werden.
Die Unterbringung auf einer unruhigen Wache schien uns deswegen zweck-
mäßig, weilsich Lärmen und Lautwerden in den hypoglykämischen Zuständen
nicht immer vermeiden lassen und eben hier dann doch weniger stören als auf
jeder anderen Abteilung. Nach Bedarf stehen je 10 bis 12 Betten zur Verfügung.
Darüber hinaus gehen wir selten mit der Zahl der Behandelten, da sonst der
Betrieb nicht mehr recht übersehbar ist und bei eintretenden Zwischenfällen
zu leicht Verwirrung entsteht. Zur Aufsicht sind auf jeder Abteilung zwei gut-
geschulte Pflegekräfte, die auch morgens früh das Insulin spritzen. (Wir ver-
wenden Insulin Bayer, Degewop und Novo, ohne einen Unterschied der ein-
zelnen Sorten zu bemerken.) Der Arzt ist immer erreichbar, bleibt aber nicht
ständig auf der Abteilung, weil er noch andere Kranke zu versorgen hat. Da
unsere Anstalt nach dem Korridorsystem gebaut ist, können alle Abteilungen
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 117
in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht werden. Daß sich die für mögliche
Zwischenfälle notwendigen Geräte in greifbarer Nähe befinden, ist selbst-
verständlich. Bei der Unterbrechung, die vom Arzt selbst vorgenommen wird,
sind weitere Hilfskräfte da, so daß sich alles glatt und schnell abwickeln kann.
Gegen 1311 Uhr wird unterbrochen und zum Mittagessen ist die Abteilung
wieder ganz für ihren eigenen Bedarf da. Die behandelten Kranken sind je
nach ihrem Befinden auf den einzelnen Abteilungen untergebracht. Dieses
Vorgehen und die geschilderte Einteilung hat sich uns bewährt.
Bei der Behandlung halten wir uns im allgemeinen an die Vor-
schläge Sakels. Die Phase I, die sogen. Vorbehandlung, beginnen
wir mit 30 E. bei Männern, bei Frauen mit 20 E., die wir täglich
um 10 E. solange steigern, bis ein tiefer Schock erreicht wird
(Phase II). Als Schock bezeichnen wir den Zustand von ‚„Unweck-
barkeit‘ (E. Küppers) und rechnen seinen Beginn nach Vorschlägen
von Frostig und M. Müller vom Auftreten motorischer Störungen
(klonische Zuckungen) an, wobei gleichzeitig auch meist die Füh-
lung mit der Außenwelt aufgehoben ist.
Von der Einspritzung bis zum Schock vergehen gewöhnlich 3—3 !4 Std.
Tritt der Schock schon vor dieser Zeit auf, senken wir am nächsten Tage die
Insulinmenge, erfolgt er erst später oder gar nicht, so steigern wir. Die zur
Erzielung eines Schocks benötigte Menge ist ganz verschieden groß. Es gibt
Kranke, die schon mit 12 Einh. in Schock kommen und andere, die noch bei
380 Einh. außer einem leichten Schweißausbruch und einer Pulsverlang-
samung nichts bieten. Im Anfang unserer Behandlung lag die Schockdosis
oft über 200 Einh., während wir jetzt, besonders bei Frauen, selten mehr als
100 Einh. benötigen und meist mit 50—70 Einh. auskommen. Im Laufe der
Kur wird fast jeder Kranke empfindlicher für Insulin, so daß die Schockmenge
regelmäßig gesenkt werden kann und muß, um unangenehmen Zwischenfällen
vorzubeugen. Auf die Bedeutung dieser Sensibilisierung wurde schon
wiederholt hingewiesen und auch wir werden darauf zurückkommen. Irgend-
welche Anhaltspunkte, die schon vorher eine hohe Schockdosis vermuten
ließen, fanden wir bislang nicht. Allgemein kann man aber sagen, daß Männer
mehr Insulin benötigen, um in Schock zu koınmen, als Frauen. Wir werden
auf diese Frage noch eingehen. Gespritzt wird einmal am Tage. Nur bei er-
regten, unruhigen Kranken verabfolgen wir auch nachmittags Insulin. Mehr
als zwei Schocks am Tage führen wir nie durch.
Einen Schontag, Phase III, schieben wir selten ein. Außer Sonn-
tags setzen wir nur nach ernstlichen Zwischenfällen mit der Be-
handlung aus. Solche Zwischenfälle sind z.B. Fiebersteigerungen,
auf die wir noch zurückkommen werden, gehäufte Anfälle, über die
ebenfalls noch zu sprechen sein wird, und Zustände von Kreislauf-
schwächen. Ein einzelner Anfall, der glatt verläuft, hindert bei uns
nicht die Fortsetzung der Kur gleich am nächsten Tage. Wir unter-
brechen dann nicht einmal, wenn der Puls kräftig bleibt, sondern
dehnen den Schock bis zu einer Stunde aus, ohne jemals danach
schädliche Folgen gesehen zu haben. Wohl zeigten sich uns Ver-
118 H. Salm
wicklungen durch Anfälle, die erst nach dem Schock auftraten.
Davon ist noch zu reden.
Die sog. Polarisationsphase (IV) kommt bei uns meist ganz in
Wegfall. Wir beenden die Kur, wenn eine anhaltende Besserung zu
verzeichnen ist, d.h. wenn die Kranken ohne Insulinschock längere
Zeit klar, geordnet und unauffällig bleiben. Nachteile sahen wir
dabei nicht.
Den einzelnen Schock lassen wir eine Stunde lang dauern. Bei Kranken,
die ihren ersten Schock durchmachen, empfiehlt es sich, nach etwa 20—30 Min.
schon zu wecken, um den Ablauf des Aufwachens zu beobachten, der ja fast
bei jedem anders ist und daraus etwaige spätere Verwicklungen kennen zu
lernen und diesen rechtzeitig vorzubeugen. Bei der Unterbrechung benützen
wir gewöhnlich eine Lösung von 150—200 g einfachen Zuckers, lassen dir
Kranken, die nicht benommen sind, trinken und füttern bei den übrigen mit
der Sonde. Zum Trinken setzen wir etwas Zitronensaft zu, weiles den Kranken
so angenehmer ist als der fade, süße Geschmack des reinen Zuckerwassen.
Außerdem erhalten alle Kranken eine Buttersemmel und kurz danach das
Mittagessen. Erbrechen bei diesen Fütterungen selbst oder im Anschlub
daran kommt manchmal vor. Es besteht dann immer die Gefahr einer Schluck-
pneumonie, sie läßt sich aber bei sachgemäßer Handhabung leicht umgehen.
Durch frühzeitiges Höherlegen der Kranken und Seitwärtsdrehen des Kopfes
können Verwicklungen von seiten des Speichelflusses, der häufig sehr stark ist.
vermieden werden. Ein Stimmritzenkrampf, auf den Sakel hinweist, wurde
kaum bei uns beobachtet.
Nach etwa 10—20 Min., von der Sondenfütterung an gerechnet, sind dir
Kranken wach. Es vergehtaberauchwohl bis zu einer halben Stunde... Wenn
es noch länger dauert, wird Traubenzucker, 10 cem einer 50°%%-Lösung i. v..
gespritzt und wenn nötig noch 1 ccm Adrenalin. Tritt auch dann noch kein
Erwachen ein, so wird ein zweites Mal Zuckerlösung mit der Sonde gegeben.
der Puls gefühlt und dann getrost zugewartet. In einigen allerdings seltenen
Fällen vergingen selbst dann noch Stunden, ehe die Kranken zu sich kamen.
Von diesen hingezogenen Schocks soll nachher berichtet werden.
Das Erwachen erfolgt gewöhnlich langsam und in der von Sakel beschrie-
benen Reihenfolge. Die Kranken beginnen tief zu schnarchen, ihre Glieder zu
spannen und zu strecken, zu gähnen, Abwehrbewegungen zu machen, sie
schlagen die Augen auf, erkennen noch nichts genau, sperren den Mund aul.
um nach dem hingehaltenen Semmel zu schnappen. Eigenartig ist das kind-
liche Wesen, das manche Kranke in diesem Zustande zeigen. Sie lächeln, freuen
sich, klatschen in die Hände, bedienen sich einer kindlichen Ausdrucksweise.
versprechen brav zu sein und zu folgen. Besonders eigentümlich wirkt dieses
Verhalten, weil es ganz im Gegensatz zu dem sonstigen Betragen steht. Es
tritt nämlich gewöhnlich bei Katatonen und leicht Paranoiden auf, die sonst
völlig stumm oder ablehnend sind, bei Frauen öfters als bei Männern. Auch
regelrechte Bewußtseinsverschiebungen sahen wir. So redete eine Kranke von
sich in der dritten Person, wie von einem fremden Wesen, fragte den Arzt. ob
er eine Frau K. kenne, die aus A. sei und zwei Kinder habe. Als der Arzt ihr
dann entgegnete, das sei sie doch selbst, tat sie ganz erstaunt und sagte: „lst
das wahr?“ Von dieser kindlichen Ausdrucksweise gibt es fließende Uber-
gänge bis zu den ausgesprochenen Sprachstörungen. Man hat dabei den Ein
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 119
druck, als ob die Kranken noch nicht wieder Herr wären über sich selbst und
ihre Sprachwerkzeuge nicht so benutzen können, wie sie möchten. Auch ihre
Gliedmaßen versagen ihnen in dieser Zeit noch den Dienst. Die Hände greifen
vorbei und der Gang ist ungelenk, stapfend. Nach Ausregulierung des Blut-
zuckers verlieren sich alle diese Erscheinungen sofort.
Ebenso bestätigte sich bei uns, was Sakel über die Aktivierung
psychotischer Erscheinungen in der Zeit von der Hypo-
glykämie bis zum Koma schildert. Am auffallendsten sind die
großen Bewegungsunruhen bei Stuporösen und das stärkere Her-
vortreten läppischer Züge bei manchen Kakatonen. Bei einer weib-
lichen Kranken traten während dieser Zeit hysterische Infantilismen
auf. Sie wies allerdings auch sonst einzelne derartige Züge auf, aber
unter dem Einfluß des Insulins waren sie deutlich verstärkt. Auch
ein leichtes Mißtrauen bemerkten wir in diesen Zuständen bei eini-
gen Paranoiden, die sonst schon frei von ihren krankhaften Gedan-
kengängen waren.
Die körperlichen Fracheinungen bei dem Eintritt des
Schocks und in den hypoglykämischen Zuständen glichen
den von Sakel beschriebenen. Seit der Einführung der Insulin-
schockbehandlung ist von verschiedenster Seite so oft darüber be-
richtet worden, daß wir uns ein Eingehen auf bekannte Dinge er-
sparen und nur einige Besonderheiten und Abweichungen mitteilen
wollen.
Das Verhalten der einzelnen Kranken vor und in dem Schock ist ganz ver-
schieden. Irgendwelche Regelmäßigkeiten konnten wir nicht finden. Auch An-
haltspunkte, die ein bestimmtes Verhalten vermuten ließen, fanden wir nicht.
Wohl war es so, daß Kranke, die schwitzten, jedesmal schwitzten und daß die-
selben Kranken auch jedesmal die gleichen Veränderungen des Kreislaufes,
von Puls und Blutdruck aufwiesen. Die einen wurden sehr blaß, andere sahen
hochrot aus im Gesicht. Nicht immer kam es zu einer Verlangsamung des
Pulses, es traten häufig Beschleunigungen auf. Die niedrigste von uns gezälılte
Pulszahl betrug 40 in der Minute. Daneben sahen wir alle Werte bis zu 100
Schlägen. Eine Kranke hatte während der aufgetretenen Zuckungen eine Puls-
beschleunigung von 132, nachher im schlaffen Schock 76. Dieser Unterschied
erklärt sich leicht aus der erhöhten Anforderung an das Herz während der
krampfartigen Zuckungen. Die gleichen Schwankungen zeigte der Blutdruck.
Übrigens haben wir einen Mann behandelt, dessen Blutdruck sehr erhöht war
und 210—120 RR betrug, aber sonst keine Störungen aufwies. Trotz häufiger
Schocks nach größeren Insulinmengen äußerte er keinerlei Beschwerden und
es zeigten sich auch nie irgendwelche körperliche Auffälligkeiten. Dabei wur-
den durch die jedesmal auftretenden starken Zuckungen des ganzen Körpers
sicher große Anforderungen an den Kreislauf gestellt. — Hadorn hat bei seinen
bekannten Untersuchungen in der Hypoglykämie Veränderungen des Elektro-
Kardiogramms gefunden, die sich aber nach Unterbrechung des Schocks zu-
rückbildeten. Trotzdem glaubt er an eine mögliche Schädigung des Herzens
und warnt deshalb vor der Hypoglykämie bei geschädigten Herzen und rät
von einer Insulinbehandlung der Diabetiker mit Hypertonie und Coronar-
120 H. Salm
sklerose ab. Das mag berechtigt sein. Bei Schizophrenen kommt jedoch als
wichtiger Gesichtspunkt hinzu, daß man ein Verfahren, das Aussicht auf
Erfolg bietet, auch dann noch anwenden sollte, selbst wenn es nicht ungefähr-
lich wäre. Denn die Aussicht auf Spontanremission ist doch wesentlich geringer
als die Möglichkeit einer Besserung mit Insulin. — Wir sahen auch bei meh-
reren Kranken deutliche Arrhythmien, die aber mit Unterbrechung des Schocks
sofort schwanden. Nachher traten bei diesen Kranken keine Beschwernisse
auf. Natürlich darf man nun nicht so weit gehen, und die Behandlung in jedem
Falle durchführen wollen, ohne Rücksicht auf das körperliche Gesamtbefinden.
Sonst kann man doch unangenehme Überraschungen wie plötzliche starke
Gefäßschwächen mit Atemstörungen erleben. Die Forderung einer genauen
Untersuchung, besonders von Herz und Lunge, bleibt von den obigen Über-
legungen gänzlich unberührt. Entscheidend ist der Gesamteindruck und die
Leistungsfähigkeit des Organismus.
Eigenartig waren Klagen einiger weiblicher Kranken über Gefühlsstörun-
gen, wie Kribbeln in den Fingern, Taubheitsgefühle, Müdigkeit in den Beinen,
die sicher im Zusammenhang mit den Insulineinspritzungen standen und noch
nach Beendigung der Behandlung eine Zeitlang fortdauerten. Ein männlicher
Kranker äußerte krampfhafte Schmerzen in den Waden. Ähnliche Beobach-
tungen sind von I. Bückmann mitgeteilt worden, der sie als Beriberi-Symptome
auffaßt und sie als Zeichen einer B,-Avitaminose deutet.
Bemerken wollen wir hier einen Fall von Thrombophlebitis, der allerdings
glatt und ohne besondere Schwierigkeiten verlief, wohl aber auf Rechnung
des Insulins zu setzen ist.
Nicht in jedem Falle kam es zu einem schlaffen nassen Schock,
wie ihn Sakel beschreibt. Bei einer Reihe von Kranken blieb trotz
Steigerung der Insulinmenge eine Spannung der Muskulatur da,
auch wenn die Hypoglykämie lange ausgedehnt wurde. Dazu traten
meist klonische Zuckungen im Gesicht, besonders um die Mund-
winkel, an den Armen und Beinen. Die Reflexe waren dabei nicht
eindeutig zu prüfen, fehlten aber in den kurzen ruhigen Zwischen-
zeiten. Manchmal schwitzten die Kranken in diesen Zuständen
sehr, nicht alle, aber stets die gleichen. Jedesmal war dabei eine
starke Pulsbeschleunigung und auch Drucksteigerung festzustellen.
Die Krampfbereitschaft blieb während der ganzen Hypoglykämie
bestehen und auf Berührungen setzten sofort Zuckungen ein, vor-
allem bei Einführung der Nasensonde. Bemerkt werden soll, daß
epileptische Anfälle häufig nach solchen Zuckungen eintreten, aber
auch aus dem schlaffen Schock heraus beobachtet wurden.
Es wurde schon oben erwähnt, daß die zur Herbeiführung eines
Schocks benötigten Insulinmengen bei uns eine Spanne von
12—400 E. aufwiesen. Diese großen Unterschiede beruhen wohl
auf Stoffwechselstörungen bei den einzelnen Kranken. Es ıst von
Reiz, diesen Fragen einmal nachzugehen und nach Regelmäßig-
keiten oder Beziehungen zu suchen.
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 121
Von verschiedener Seite sind Untersuchungen über den Zu-
sammenhang zwischen Körperbauform und Zuckerstoff-
wechsel angestellt worden.
Hirsch, der seine Forschungen an gesunden Personen machte, fand bei den
einzelnen Typen keinen wesentlichen Unterschied in der durchschnittlichen
Blutzuckerhöhe. Bei Blutzuckerbelastungsproben stieg bei Pyknikern der
Blutzuckerspiegel hoch an, blieb lange auf dem Gipfel und fiel nur langsam,
woraus Hirsch auf eine physiologisch stärkere Tätigkeit des Adrenalsystems
schließt. Bei Athleten fand er einen hohen Anstieg und raschen Abfall bis
unter den Ausgangswert (hypophysäre Einflüsse), dagegen bei Leptosomen
keinen so hohen Anstieg und ein rasches Absinken bis tief unter die Nullinie,
das er auf eine physiologisch schwache Funktion der Nebenniere zurückführt.
Er erwähnt in seiner Arbeit die Untersuchungen von Buschke über das Verhal-
ten der Körperbautypen gegen Insulin. Dieser fand nun, ‚‚daß im allgemeinen
der pvknische Typ unter gleichen Versuchsbedingungen auf exogenes Insulin
mit einer geringen und langsamen Senkung antwortet, während beim Asthe-
niker, der im allgemeinen stärkere vegetative Labilität zeigt, die Senkung
sturzartig erfolgt und rasch von einer Steigerung gefolgt ist“.
Dem würde entsprechen, daß einige unserer mehr pyknischen
Kranken erst mit größeren Mengen Insulin in Schock kamen. Aber
wir sahen auch bei anderen ähnlich gebauten schon mit verhältnis-
mäßig kleinen Gaben eine tiefe Benommenheit und umgekehrt bei
Asthenikern nach höheren Einheiten nur geringe Erscheinungen.
Zu bedenken bleibt ja, daß bei den Schizophrenen eben auch der
Gesamtstoffwechsel gestört ist und sich anders verhält als der
gesunder Versuchspersonen. So sah Jahn bei Schizophrenen er-
niedrigte Blutzuckerkonzentrationen, die er nicht durch ein Mehr
an Insulin im Blut erklärt, sondern auf die Wirkung von im Muskel-
stoffwechsel entstehenden Stoffen (Histamin, Kreatin) zurück-
führt. Hyperglykämische Kurven nach intravenösen Einspritzungen
von Dextrose sanken bspw. rasch ab. So erklären sich vielleicht
manche bei uns nach Unterbrechung wieder aufgetretene Schocks,
denen wir jetzt durch möglichst reichliche Kohlenhydratzufuhr zu
begegnen suchen.
Petroff beobachtete Störungen der endogenen Blutzuckerregulierung gerade
bei Katatonen, ‚bei welchen die Störungen seitens des Bewegungssystems über-
wiegen“, nicht aber bei gewöhnlichen Schizophrenen. Bei manchen Katatonen
sah er unter Insulinwirkung ein Steigen der Blutzuckerkurve. Wuth stellte bei
15 von 40 Schizophrenen eine Nüchternhvperglykämie fest. Das zeigte sich
auch bei einigen unserer Kranken. Bei einem betrug der Blutzucker-Nüchtern-
wert 155 mg°L, (bestimmt nach Crecelius), bei anderen 135 und 125 mg%.
Diese benötigten, um in Schock zu kommen, 250—210—200 Einh. Insulin.
Das Verhalten des Blutzuckers veranschaulicht folgende Tafel.
122 H. Salm
Einh. Blutzucker | nach 2 Std. | nach 4 Std. | 5 Std. nach
nüchtern | | Unterbrechung
250 155 mg% 145 mg% 70 mg% 90 mg®,
200 125 45 30 145
210 135 45 40 —
400 90 42 35 110
170 65 95 35 60
Die verhältnismäßig hohe Schockdosis erklärt sich bei den ersten
3 Kranken durch die hohen Blutzuckernüchternwerte. Umso auf-
fallender ist aber, daß der 4. Kranke bei 90 mg°, Blutzucker
nüchtern erst mit 400 E. in Schock kam. Solche Mißverhältniss
zwischen Blutzuckernüchternwerten und Schockdosis sahen wir
wiederholt.
Daß der Stand der Blutzuckerhöhe nicht bestimmend ist für den
Schock, geht aus der obigen Tafel ebenfalls hervor. Oft fanden wir
Nüchter nwerte, die niedriger lagen als die Werte bei anderen Kran-
ken im Schock. Je mehr wir untersuchten, desto stärker wurde der
Eindruck der Uneinheitlichkeit und Regellosigkeit der
Befunde. Ein Ansteigen des Blutzuckers nach Insulin sahen wir
jedoch nicht.
Schockmengen nach Körperbauformen:
M. Fr.
asthenisch-leptosom .. 200 ( 70—390) 100 (40—230)
athletisch ........... 130 ( 90—180) 4100 (30—150)
pyknisch ............ 455 (160—200) 120 (60—210)
dysplastisch ......... 155 ( 34—376) 90 (60—130)
Wollte man die Buschkeschen Befunde auf die Insulinbehand-
lung übertragen, so müßte man erwarten, daß die Pykniker erst
mit höheren Mengen in Schock kämen als die anderen Formen.
entsprechend auch der Annahme von Hirsch vom Überwiegen der
Nebennierentätigkeit bei den Pyknikern. Tatsächlich lagen nun
bei den behandelten rundwüchsigen Frauen die Werte über den
Schockmengen der anderen Körperbauformen, wie aus der Tafel
ersichtlich ist. Bei den Männern sind die entsprechenden Einzel-
mengen hoch und liegen zwischen 160 und 200 Einh., der Durch-
schnittswert ist aber geringer als die anderen Vergleichswerte. Am
größten ist übrigens die Spanne bei den asthenisch-leptosonen
Männern und Frauen: 70—390 bzw. 40—230 Einh. Das zeigt wohl.
daß einheitliche Abweichungen vom geregelten innerkörperlichen
Geschehen dem nicht zugrunde liegen können. Wollte man allge-
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 123
“mein bei Schizophrenen eine erniedrigte Blutzuckerkonzentration
annehmen, wie sie Jahn behauptet, so könnte man vermuten, daß
auf Insulin reflektorisch eine Ausschüttung von Leberglykogen
infolge gesteigerter Adrenalinabsonderung stattfände, und daß da-
durch wieder die hohen Mengen Insulin zur Erzielung eines Schocks
erklärlıch würden. Wir haben aber schon oben darauf hingewiesen,
daß nicht immer die Blutzuckerhöhe und die benötigte Schock-
menge gleichlaufen. Wie gesagt, wir haben je länger je mehr den
Eindruck einer Uneinheitlichkeit der den Schizophrenien zugrunde
liegenden körperlichen Störungen.
Die einzelnen Schockmengen betrugen bei den verschie-
denen Psychoseformen durchschnittlich:
M. Fr..
bei stuporösen Katatonen 173 Einh. 100 Einh.
bei erregten Katatonen 140 „ 4 „
bei wechselnden Katatonen 143 ° „ 105 ,„
bei paranoiden Schizophrenen 183 ,„ 120, ,
bei depressiv-hypochondrischen 70,
bei Hebephrenen 203 ,„
Bemerkenswert ist, daß die erregten Katatonen, Männer sowohl
als Frauen, mit verhältnismäßig wenigen Einheiten Insulin in
Schock gebracht werden konnten. Wir möchten das einfach so er-
klären, daß infolge der Unruhe ein großer Verbrauch an Vorrats-
stoffen eintritt, so daß dann das Insulin einen geringen Widerstand
= und ein gutes Angriffsfeld findet. Auffallend hoch liegen die Werte
bei paranoiden Schizophrenen mit 183 bzw. 120 Einh., noch höher
beiden Hebephrenen mit 203 Einh. Die Beobachtung Petroffs einer
Störung der endogenen Blutzuckerregulation bei Katatonen mit
Störungen seitens des Bewegungssystems schien sich uns in einigen
Fallen zu bestätigen. Wir benötigten nämlich gerade bei manchen
Stuporös-Katatonen recht große Mengen Insulin, um einen Schock
zu erzielen. Allerdings gab es auch da Schockzustände nach klei-
neren Gaben. Das ist eben die Regellosigkeit der Befunde. (So fand
ja auch Mann bei Dementia-praecox-Kranken jede Form von Blut-
zuckerkurven, die abnormsten bei Stuporzuständen.)
Zu ähnlichem Ergebnis kommen wir bei einer Aufteilung nach
der Krankheitsdauer.
124 H. Salm
Schockmenge nach Krankheitsdauer
bis %, Jahr bis 11, Jahre
Männer 150 (70—376) E. 120 (110—130) E.
Frauen 93 (50—150) E. 113 ( 60—230) E.
längere Dauer Verlauf in Schüben
Männer 180 (70—390) E. 140 ( 80—220) E.
Frauen 102 (50—180) E. 97 ( 30—210) E.
Vielleicht kann man hier sagen, daß die frischeren Erkrankungen
mit geringeren Mengen Insulin in Schock kamen als die länger
laufenden und daraus schließen, daß bei den ersteren die körper-
lichen Unstimmigkeiten nicht so groß seien wie bei den älteren
Schizophrenen. Allgemein gilt aber auch diese Feststellung nicht.
Die meiste Wahrscheinlichkeit hat die Ansicht M. Müllers für sich,
daß die extreme Variationsbreite „zur Erreichung der Schockdosis
offenbar viel eher auf individuellen Unterschieden in der endokri-
nen Konstitution, speziell des hypophysären und adrenalen Sy-
stems beruht“, ohne engere Bindung an Körperbauform, Art der
Geistesstörung oder Dauer des Leidens.
Die Dauer der Kur bis zum Eintritt eines Erfolges ist
ganz verschieden lang. Manche Kranke zeigen schon nach einigen
hypoglykämischen Zuständen eine anhaltende Besserung, ohne
überhaupt in tiefen Schock gekommen zu sein. Andere wieder
machen bis zum Eintritt einer Zustandsänderung 20 und mehr
Schocks durch. Grundsätzlich behandeln wir nach Vorschlägen
von Sakel so lange, bis sich auch im hypoglykämischen Zustande
und nach dem Erwachen aus dem Schock (,„Reaktionsumkehr‘“)
keine psychotischen Erscheinungen mehr zeigen. Tritt im Verlaufe
von 2 Monaten keine Änderung des Zustandsbildes ein, so beenden
wir die Kur. Denn die Erfahrung hat auch bei uns gezeigt, daß in
solchen Fällen selbst bei längerer Ausdehnung keine Besserung zu
erwarten ist.
Genau so verschieden wie die Gesamtdauer der Kur ist der
Beginn und die Entwicklung der Besserung. In einigen
Fällen kann man geradezu eine schlagartige Änderung feststellen.
Kranke, die am Nachmittage vorher trotz vorhergegangenen Schocks
noch laut und störend waren, sind nach dem nächsten Schock
plötzlich klar, geordnet, fragen erstaunt, was mit ıhnen war, wo
sie eigentlich gewesen seien, sie fühlten sich ganz gesund. Andere
erzählen von sich aus, daß sie nun keine Stimmen mehr hören. Man
merkt ihnen ihre freudige Stimmung an. Sie essen jetzt, weıl die
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 125
Stimmen es nicht mehr verbieten, sie lassen die Kleider an, denn
nun sagt niemand mehr, wenn man ein rotes Kleid trägt, ist man
ein Franzose. Solche schlagartigen Besserungen sahen wir bei
keiner von uns bisher angewandten Heilbehandlung. Doch auch
langsame Fortschritte beobachteten wir. Es dauerte oft Wochen,
und mancher Schock wurde durchgemacht, bis einmal eine Ände-
rung sichtbar wurde. Ebenso kamen Besserungen nach längerem
Schwanken zwischen guten und schlechten Tagen vor.
Abwandlungen bei der Behandlung der einzelnen
Psychosenformen, wie sie Sakel und Dussik vorschlagen, haben
wir in einigen Fällen auch versucht, allerdings ohne einen Vorteil
dabei zu sehen. Sakel hatte bekanntlich die ursprüngliche Form
seiner Behandlung für die paranoiden Schizophrenen beibehalten
wollen. Bei den stuporösen Katatonen sollte die Hypoglykämie
unterbrochen werden, wenn bei ihnen eine Lockerung oder Lösung
eingetreten wäre, weil er meinte, man könnte diesen Zustand
festigen und erhalten. Vor allem bei diesen Kranken haben wir
ähnliche Versuche gemacht, vermochten aber die katatone Starre
nicht dadurch zu durchbrechen. Die erregten Katatonen sollten,
wie Sakel ausführte, nicht ins Koma fallen, sondern lediglich
beruhigt werden und deshalb 2—3mal am Tage Insulin erhaiten.
Aber wir lassen auch die eine Std. lang im Schock und sehen dabei
keine schlechten Ergebnisse. Gerade diese Geistesstörungen spre-
chen bei uns mit am besten auf die Behandlung an. Wir führen also
die Behandlung immer in der „klassischen‘ Fassung durch.
Ehe wir auf unsere Behandlungsergebnisse zu sprechen kommen,
wollen wir noch die Zwischenfälle und Gefahren erwähnen,
die sich uns entgegenstellten. Eines soll dabei gleich betont wer-
den, daß die Zahl und Schwere der Verwicklungen mit zunehmen-
der Behandlungszeit, also mit wachsender Erfahrung, abnimmt.
Während wir im Anfang oft auf dem Sprung sein mußten, ver-
laufen jetzt die Schocks meist glatt und die Kranken erwachen
ohne Verzögerung. Wohl, weil wir gelernt haben, eine Gefahr recht-
zeitig zu erkennen und ihr auszuweichen.
Zuckungen und Streckkrämpfe, soweit sie nicht größeres
Ausmaß annehmen, rechnen wir noch in den Rahmen des Gewöhn-
lichen. Wir treffen Vorsorge, daß die Kranken sich nicht verletzen
können, legen breite Mulltupfer ein, um Zungenbissen vorzubeugen
und lassen der Sache ihren Lauf. Meistens lassen die Zuckungen
mit tiefer werdender Hypoglykämie nach. Wo nicht, bringen sie
keinen Schaden. Die Behauptung Langfeldts, daß in sämtlichen
Fällen Krampfzustände verschiedener Art, häufig in lebensbedrohen-
126 H. Salm
der Weise auftreten, können wir nicht bestätigen. Zuckungen und
krampfartige Bewegungen sind nicht gerade selten, besonders
nicht bei Katatonen, aber größere Ausmaße nehmen sie doch selten
an. Wir sahen sie unter 150 behandelten Kranken mit über 2000
Schocks an rund 5000 Behandlungstagen 32mal, also in etwa !/, der
Fälle. Das ist für uns jedenfalls kein Grund, die Behandlungsweise
als zu gefährlich abzulehnen. Hin und wieder kann einmal aus sol-
chen Zuständen sich ein Anfall entwickeln. Verläuft er früh, was
meistens der Fall ist, so unterbrechen wir nicht. Tritt er bei schon
bestehendem Schock ein, so beenden wir die Hypoglykämie. Eine
einheitliche Regel haben wir nicht, sondern richten uns je nach dem
Allgemeinzustand des Behandelten. Sie traten zu allen möglichen
Zeiten auf, schon eine Stunde nach der Einspritzung, vor Eintritt
des Schocks, im Schock selber, beim Wecken und auch nach dem
Erwachen, im Laufe des Nachmittags und am Abend. Selbst noch
nach Beendigung der Kur bei Kranken, die sonst nie Anfälle hatten.
(Vergleiche die Mitteilung von Schulz.) Es blieb auch nicht immer
bei einem Anfall, öfter gesellten sich eine Reihe weiterer dazu, ja es
kam sogar zu einem regelrechten Status. Einige Krankengeschich-
tenauszüge seien als Beispiel angeführt.
Sabine St. seit 1930 krank. Im Beginn der geistigen Störung ein „Anfall“
von 5 Min. Dauer. Hörte darnach Stimmen. Seit 6 Jahren in der Anstalt,
meist katatonischer Stuporzustand. Versuch einer Insulinbehandlung. Die
Kranke war vormittags im Insulinschock (140 Einh.), wurde geweckt, aß
später selbst und blieb nachmittags außer Bett. Bald trat der alte Stupor auf,
der kurz nach Unterbrechung des Schocks nachgelassen hatte. Die Kranke -
verweigerte abends die Nahrungsaufnahme, speichelte stark, wurde mehr und
mehr benommen und atmete schwer. Die Gliedmaßen waren entspannt, es
bestand eine vollkommene Schlaffheit. Die Gesichtsfarbe war blaßgelb und
fahl, der Puls sehr verlangsamt. Die Körperwärme betrug 35,6 rektal. Die
Kranke erhielt 10 ccm einer 50% igen Traubenzuckerlösung i. v. und Sympatol.
Daraufhin besserte sich der Zustand. Die Kranke rief einige Male den Namen
einer neben ihr stehenden Pflegerin. Bald verfiel sie aber wieder in Benommen-
heit und bekam Krampfzustände. Schon im Laufe des Abends hatte sie vier
Anfälle gehabt. Nun erhielt sie einen Amylenhydrat-Einlauf und gegen
21,30 Uhr je 1 ccm Sympatol und Adrenalin. Bis 23 Uhr hielten die Krämpfe
an, um 24 Uhr nochmals Sympatol, da der Puls sehr wechselte. Dann kam die
Kranke langsam zu sich, es konnten ihr einige Löffel Zuckerwasser beigebracht
werden. Kurze Zeit später lärmte sie sogar und wurde unruhig, war darauf wie-
der etwas benommen, schlief dann aber bis zum Morgen. Die Temperatur
betrug jetzt 37,8 Grad. Die Kranke machte einen erholten Eindruck und er-
forderte keine besonderen Maßnahmen mehr.
Sakel berichtet wiederholt über solche Ereignisse. Er ist der
Meinung, daß gehäufte Anfälle ‚erst bei lang ausgedehntem
Zuckerhunger des Gewebes‘ auftreten. Unsere obigen Mitteilungen
sprechen in diesem Sinne. Die zugeführte Zuckermenge bei Unter-
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 127
brechung des Schocks und die Mittagsmahlzeit reichten offensicht-
lich nicht aus, um den Blutzucker auf seiner normalen Höhe zu
halten. Abends blieb die Kranke ohne Nahrung und fiel bald nac h-
her von neuem in einen hypoglykämischen Zustand. Nach Gaben
von Traubenzucker, Adrenalin und Zuckerlösung besserte sich
jeweils das Befinden und glich sich aus. Daß daneben aber endogene
Krampfbereitschaft eine Rolle spielt, wie auch Geller meint, be-
weist sich daraus, daß eben diese Kranke im Beginn ihres Leidens
an Anfällen gelitten hat. Diese Tatsache bestätigte sich uns ebenso
bei den anderen, die im Lauf der Behandlung Krampfanfälle zeig-
ten, jedenfalls bei denen sie gehäuft auftraten.
Eine dieser Kranken kam in einen regelrechten Status epilepticus. Sie
machte am Morgen dieses Tages mit 100 Einh. Insulin einen Schock durch,
wurde geweckt, stand auf und sollte mit in den Garten gehen. Noch im Treppen-
haus trat der erste Anfall ein. Die Kranke biß sich in die Zunge und ließ Kot
unter sich. Innerhalb einer Stunde stellten sich weitere sieben Anfälle ein. Der
Puls war klein, erholte sich aber nach Gardiazoleinspritzung. Gegen 3 Uhr er-
hielt die Kranke 10 ccm einer 35%,igen Traubenzuckerlösung i. v. und 1 ccm
Adrenalin. Auch danach wiederholt Anfälle. Somnifen i. m. brachte keine Besse-
rung, ein Paraldehydeinlauf wurde gleich wieder ausgestoßen. Bis abends
5 Uhr hatte die Kranke insgesamt 14 Anfälle. Nach einer i.v. Somnifenspritz e
fiel sie in Schlaf, erhielt einige Zeit später einen Amylenhydrateinlauf und
schlief ruhig ohne neuerliche Anfälle. Am späten Abend wachte sie auf und
kam zu sich. Die Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle. Am nächsten Tage
hatte sich die Kranke erholt, nahm genügend Nahrung zu sich und fühlte sich
wohl.
Hier kann man wohl die Anfälle nicht auf einen zu lange aus-
gedehnten Zuckerhunger der Gewebe zurückführen. Denn die
Kranke hatte bei der Unterbrechung des Schocks 200 g Zucker
erhalten und danach zu Mittag gegessen. Kurz danach trat der
erste Anfall auf, also zu einer Zeit, da das Kohlehydratangebot
reichlich war. Auch diese Kranke hatte schon vorher Krampf-
anfälle geboten und bei den vorhergehenden Schocks einige Male
kurzdauernde Anfälle gehabt. Das scheint uns wesentlich. Denn
wir glauben, daß die Hypoglykämie die Krampfbereitschaft ın
Gang bringt und daß diese Krampfbereitschaft die Hauptrolle
spielt.
Daß auch bei einem nachgewiesen hohen Blutzuckerspiegel An-
fälle auftreten können, zeigte uns der folgende Fall.
Die Kranke war vormittags im Insulinschock. Nach Unterbrechung der
Sonde glattes Erwachen. Bis nachmittags 5 Uhr unauffällig. Dann sollte die
Körperwärme gemessen werden. Beim Einführen des Thermometers in den
Darm trat ein kurzdauernder Krampfanfall auf. Die Kranke wurde blau,
streckte Arme und Beine starr von sich, speichelte und erwachte kurz nachher.
Diese Anfälle zeigten sich dreimal in einer Stunde. Es wurde Sympatol ge-
128 H. Salm
spritzt, da der Puls klein war, außerdem Neospiran und Traubenzucker. Der
vorher bestimmte Blutzucker betrug 150 mg%. Gegen 137 Uhr Einlauf von
4 g Amylenhydrat, weil sich die Anfälle wiederholt hatten. Die Kranke wurd”
danach ruhiger, hatte um 48 Uhr noch einen Krampfzustand, schlief dann
bis zum Morgen. Nachts zweistündlich Herzmittel. Erbrach einmal, hatt-
danach großen Durst. Am nächsten Tage sah die Kranke gut aus, der Pul
war wieder kräftig. Der geistige Zustand blieb, wie auch bei den anderen, ut-
beeinflußt.
Bemerkenswert scheint uns, daß auf Verabreichung von Zucker
und Adrenalin die gehäuften Krämpfe nicht zum Stillstand kamen,
sondern meist noch Amylenhydrat oder Somnifen benötigt wurde.
Sicher soll man bei diesen Zwischenfällen als erstes zu Trauben-
zucker und Adrenalin greifen, um die möglicherweise bestehende
Hypoglykämie zu beheben. Wenn damit das Ziel nicht erreicht
wurde, kamen wir mit den obengenannten Mitteln, also Somnifen
und Amylenhydrat, weiter. Und es war jedesmal so, daß die Kran-
ken danach ohne weitere Kohlenhydratzufuhr erwachten.
Es mag noch angefügt werden, daß eine Kranke, die im Verlauf
ihres Leidens Anfälle geboten hatte, während der Insulinbehand-
lung niemals einen Anfall erlitt, obwohl sie oft in Schock kam.
Auf die Erregungszustände vor Eintritt des Schocks
und nach der Unterbrechung haben wir schon hingewiesen. Beson-
ders augenfällig sind die Unruhen Stuporöser. Bei männlichen
Kranken nehmen sie oft ungeheure Ausmaße an, so daß Beschrän-
kungen mittels Gurt nötig werden. Die Gefahr der Selbstbeschädi-
gung ist da sehr groß. Einer unserer Kranken durchstieß einmal
mit seinem Fuß eine dicke Fensterscheibe und durchschnitt sich
dabei die Achillessehne. Eine andere fiel in ihrer Benommenheit
aus dem Bett und renkte sich den Arm im Schultergelenk aus.
Auch Verletzungen am Kopf und eine Verstauchung des Hand-
gelenkes kamen vor. Eine Kranke, die sonst schon recht gut war,
machte in der Hypoglykämie einen Drosselungsversuch. Das zeigt.
wie aufmerksam die Pflegepersonen beobachten müssen. An ihre
Tätigkeit werden überhaupt in der Kur erhöhte Anforderungen
gestellt, aber sie werden auch gern erfüllt, weil ja die erzielten
Besserungen die Mühen lohnen. Besonders beim Aufwachen, Im
halbklaren Zustande, treten gern Unfälle und Unruhen auf, die
sich zu einem Erregungszustand auswachsen können. Sobald aber
der zugeführte Zucker vom Blut aufgenommen ist, lassen sie nach.
Eigentliche Hungerkrawalle, wie sie Sakel beschreibt, kamen be!
uns nie vor. Natürlich klagen die Kranken über Hunger und ver-
langen auch zu essen, aber zu einer Erregung führte das nicht.
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 129
Beobachtungen über Benommenheitszustände im An-
schluß an die Insulinschockbehandlung haben wir im ver-
gangenen Jahre veröffentlicht. Wir haben damals mehrere Fälle mit-
geteilt, die trotz reichlich zugeführter Kohlehydrate nicht aus dem
Schock zu wecken waren und über Tage hin benommen blieben.
Eine Kranke starb in diesem Zustand. Als Ursache dieser Erschei-
nung nahmen wir Schädigungen des Zwischenhirnes an, die durch
die Hypoglykämie gesetzt wurden und sich nicht mehr durch ein-
fache Zuckerzufuhr beheben ließen. Als Beweis dafür sahen wir
neben den anatomischen Befunden (Blutaustritte im Zwischen-
hirnbereich) die klinischen Erscheinungen, wie Störung der Wärme-
regulierung in Form von Fieber, die Benommenheit und Schläfrig-
keit an. Lemke ist ähnlicher Ansicht. v. Braunmühl dagegen meint,
daß diesen Erscheinungen ‚‚allgemeine zerebrale Schädigungen zu-
grunde liegen, für die eine Sensibilisierung des Organismus für In-
sulin angenommen werden darf“. Aber damit ist ja noch nichts
über den Sitz und das Zustandekommen der Störungen gesagt. Die
Sensibilisierung erkennen wir durchaus an. Doch reicht uns das
zur Erklärung allein nicht aus. Sicher ist allerdings, daß bei sorg-
fältiger Beachtung der Sensibilisierung. sich solche Vor-
kommnisseim allgemeinen vermeiden lassen. Wie wir schon
oben andeuteten, wird mancher Kranke im Laufe der Behandlung
empfindlicher für Insulin. Das zeigt sich daran, daß der Schock bei
gleichbleibender Menge früher eintritt. Dann ist es erforderlich, die
Insulinmenge zu senken. Wir erlebten, daß wir die Schockdosis
allmählich von 140 auf 20 Einh. herabsetzen konnten.
Bei anderen sahen wir auch eine gewisse Gewöhnung, die
dann eine Steigerung des Insulins nötig machte. Das ist vor allem
bei Kranken der Fall, die unter der Behandlung an Körpergewicht
zunehmen. So benötigte z. B. eine Kranke, die anfänglich mit nur
12 Einh. in Schock kam, später 50 Einlı. Das ist übrigens die ein-
zige Kranke, bei der wir eine Fettgewebsdystrophie ınfolge der
Insulineinspritzungen beobachten konnten.
Erwähnt sei hier noch, daß wir bei Kranken, die erst längere
Zeit nach der Unterbrechung des Schocks aufwachten, eigenartige
Dreh- und Abwehrbewegungen wahrnahmen. Sie wälzten sich im
Bett, warfen sich bald auf die rechte, bald auf die linke Seite,
wischten sich über das Gesicht, fuhren mit der Hand durch ihre
Haare, streiften die Bettdecke von sich und brummten halblaut
vor sich hin. Wo dies kurz nach der Sondenfütterung bemerkt
wurde, konnten wir mit Bestimmtheit voraussagen, daß sich eine
Verzögerung einstellen würde und die Kranken noch über Stunden
9 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
130 H. Salm
benommen sein würden. Außerdem trat fast regelmäßig abends
zerebrales Fieber von 39—40 Grad auf, die Blutsenkung war be-
schleunigt. Am nächsten Tage sah man die Kranken wieder frisch.
Sie wurden dann aber nicht gespritzt, sondern es wurde ein Schon-
tag eingelegt. Zu Besorgnissen geben diese Ereignisse kaum Anlaß,
wenn der Pulsgut bleibt. Es empfiehlt sich deshalb neben genügen-
der Zuckerzufuhr Herzmittel zu verabreichen. Dann entstehen
selten weitere Verwicklungen. Hin und wieder meinten wir, daß
dieser verlängerte Schock einen günstigen Einfluß auf das geistige
Befinden gehabt hätte.
Es wurde ja auch verschiedentlich der Versuch gemacht, durch
solche verlängerte Schocks die Geistesstörung zu bessern. Wir
selber haben uns nie daran gewagt, weil nach unseren Erfahrungen
der Übergang vom langsamen, hingezogenen Aufwachen zur an-
haltenden Benommenbheit zu fließend ist und wir leider durch die
ungewollt aufgetretene lange Benommenheit eine Kranke verloren.
Die Einzelheiten wurden in der erwähnten Veröffentlichung mit-
geteilt. Nach 11 Tagen, an denen die Kranke dauernd benommen
und schläfrig war, starb sie. Ein männlicher Kranker bekam wäh-
rend eines solchen Benommenheitszustandes eine tödliche Lungen-
entzündung. Außer diesen gingen zwei weitere Kranke zugrunde,
deren Tod wohl in Zusammenhang mit der Insulinbehandlung steht.
Der eine, Josef E., erregter Katatoner, wurde seit 13 Tagen mit Insulin
behandelt. Er kam erstmals mit 70 Einh. in Schock, am betreffenden Tage
schon mit 50 Einh. Kurz nach der Sondenunterbrechung verschlechterte sich
der Puls. Der Kranke wurde blaß, begann zu brechen, ohne daß ein Husten
oder Hustenreiz festzustellen war. Das Erbrochene quoll durch Mund und Nase
und war mit weißem Schaum durchmischt. Strophantin-Traubenzucker und
Sympatol konnte die Herzschwäche nicht beheben. 34 Stunden später war
der Kranke tot.
Der andere Kranke, Alois E., 27 Jahre alt, Katatonie, hatte schon 23
Schocks durchgemacht und konnte jedesmal glatt geweckt werden. Am
4.5.37 begann E. mehrere Minuten nach der Sondenfütterung, die ohne Be-
sonderheiten verlief, zu husten. Er kam dann allmählich zu sich, es stellte sich
nun Erbrechen einer wässerigen Flüssigkeit ein, die mit Schaum vermengt war.
Er war dann bald wieder soweit hergestellt, daß er zwei Buttersemmeln zu sich
nehmen konnte. Da er durch das Erbrechen einen großen Teil der Zucker-
lösung von sich gegeben hatte, erhielt er eine Injektion von 10 ccm Trauben-
zucker mit Strophantin. Er sah sehr blaß aus, fühlte sich kalt an und klagte
auf Befragen über Schmerzen auf der rechten Brustseite (parasternal). Von
Mittag ab stöhnt Patient zunehmend, die Atmung ist kurz, gepreßt. Aus-
atmung jeweils von Seufzen begleitet. Es besteht ausgesprochenes Nasenflügel-
atmen. Einziehung am Jugulum. Patient wird allmählich livide. Referent
wird um 2 Uhr gerufen. Patient klar, geordnet, deutet auf seine rechte Brust-
seite, es täte ihm hier sehr weh. Patient ist nur mit Mühe zu untersuchen,
stöhnt bei der geringsten Bewegung. Rechte Thoraxseite wird sichtlich beim
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 131
Atmen geschont, hinkt nach. Es läßt sich eine leichte Dämpfung feststellen.
Auskultation ergibt keine Klarheit, da bei dem Stöhnen des Patienten nichts
zu hören ist. Puls 90, regelmäßig, mäßig gefüllt. Temperatur 38,0. Bei dem
vorausgegangenen Erbrechen wird die Möglichkeit einer Aspiration von Er-
brochenem angenommen, zumal die Atmung ganz nach Pneumonie aussieht
und Patient vollkommen bei Bewußtsein ist, genaue Angaben über seine
Schmerzen macht. Erhält nochmals 10 ccm Traubenzucker und ? mg Stroph.
Puls und Aussehen bessern sich daraufhin. Zur Behebung der Schmerzen wird
1 ccm Pantopon subc. gegeben. Oberkörper wird etwas höher gelagert. Fenster
geöffnet. Patient atmet gegen Abend etwas ruhiger. Temperatur 38,3, Puls
unverändert, mäßig gefüllt, regelmäßig, etwa 90. Brustwickel verordnet.
21,30 Uhr 5,5 ccm Coramin i.v. Daraufhin deutliche Besserung des Aus-
sehens, war inzwischen wieder livide geworden, stöhnte, atmete stoßweise.
Pupillen reagieren, Reflexe auslösbar. Patient ist nicht ganz bei sich, macht
nur schwache Abwehrbewegungen bei Prüfung der Pupillen auf Lichteinfall.
9.9. 37: Wird gegen Morgen schwächer, Atmung und Aussehen und Puls
schlechter, erhält um 3 Uhr eine Spritze Lobesym. 8,30 Uhr 5,5 ccm Coramin
i.v., kaum merkliche Besserung des Aussehens und des Pulses. Livid, ziehende
Atmung. 10,15 Uhr 20 ccm Traubenzucker und °, mg Strophantin. Patient
gleitet mehr und mehr in die Agonie hinein, reagiert auf nichts mehr. Conjunk-
tivalreflex nicht mehr auslösbar. Exitus 11,45 Uhr.
Sektion: Trachea enthält wenig schaumige rostige Flüssigkeit. Beide Unter-
lappen zeigen Veränderungen im Sinne einer Hypostase. Nirgends sind pneu-
monische Herde zu finden. Oberfläche glänzend, Pleura weist keinerlei ent-
zündliche Veränderungen auf. Im Pericardbeutel reichlich Flüssigkeit vorhan-
den. Linkes Herz völlig erschlafft, rechtes Herz kontrahiert. Herz im ganzen
erscheint etwas groß. Farbe eigenartig blaßbraun. Sämtliche Klappen ohne
Veränderungen. Koronarabgänge o. B. Bei Eröffnung des Thorax wird auf
Thymusreste geachtet, keine gefunden. Magen und Darm sind äußerst gebläht.
Leber weist Stauung mäßigen Grades auf, ebenso Milz. Nieren ohne path.
Befund. Gehirn ebenso wie Herz eigenartig blaß, etwas geschwollen und brü-
chig. Hirnhäute ohne Veränderung.
Gehirn und Pankreas werden in toto, Herz eröffnet zur histologischen
Untersuchung eingesandt.
Bericht der Prosektur der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie
bei den oberbayer. Heilanstalten, Eglfing bei München. Befund: Herz 340 g
schwer, mit feinsten subepicardialen Blutungen. Endocard, Segel, Klappen
und Sehnenfäden zart, ebenso die Kranzarterien. Der Herzmuskel läßt weder
makroskopisch noch mikroskopisch Veränderungen erkennen. Das Pankreas
ist 95 g schwer, grobdrüsig gezeichnet, stellenweise mit etwas Fett durch-
wachsen. Histologisch fallen die reichlich vorhandenen und meist sehr großen
Inseln auf. Das Gehirn ist 1380 g schwer, formalin-fixiert, teilweise seziert.
Die Windungen erscheinen überall, vor allem auf der rechten Seite, leicht ab-
geplattet. Oberfläche und Schnittfläche sind blutreich, die Hirnhöhlen weiter
als der Norm entspricht. Histologisch zeigt das Gehirn an verschiedenen Stel-
len, und zwar vorwiegend an den zur Zirkulationsstörungen neigenden Stellen
(Ammonsformation, Nucleus olivaris, Kleinhirnkerne usw.), aber auch in der
Großhirnrinde frische ischämische Veränderungen in Gestalt von Ganglien-
zellschädigungen verschiedener Schwere, z. T. auch um freilich durchweg
geringe Gliazellwucherungen und Zellansammlungen in den Gefäßwänden.
Der Befund deckt sich mit den bisherigen Befunden, sich die bei Todesfällen
ge
132 H. Salm
mehr oder weniger kurze Zeit nach Insulinbehandlung eingetreten nachweisen
ließen. Die Veränderungen sind nicht für die besondere Reaktion auf die
Insulinbehandlung verantwortlich zu machen, sondern müssen als Folgen
angesehen werden. Sie sind außerdem völlig unspezifisch, so daß sich aus der
Art und der Lokalisation die Insulinbedingtheit nicht erkennen läßt. (Prof.
Dr. Schleussing.)
Kann man bei dem ersten Kranken den Tod auf die plötzliche
Herzschwäche zurückführen, so liegt bei dem zweiten die Ursache
nicht so klar. Man muß wohl auch da an ein Versagen des Herzens
denken, da ja alle anderen Organe, vor allem die Lungen frei von
krankhaften Veränderungen waren. Wir haben die Kranken-
geschichte so ausführlich mitgeteilt, um einen Einblick in den Ab-
lauf des Geschehens zu geben. Es zeigt jedenfalls, daß man auch
bei schon vorgeschrittener Behandlung (24. Schock) noch unan-
genehme Überraschungen erleben kann. Übrigens wollen wir hier
nochmals betonen, daß sich die Todesfälle in der Anfangszeit un-
serer Insulinbehandlung ereigneten, daß wir jetzt kaum mehr
ernstere Zwischenfälle sehen, ohne jedoch genau sagen zu können,
was wir damals verabsäumten.
Drei erregte katatone Frauen, bei denen wir eine Insulinbehand-
lung eingeleitet hatten, mußten von der Kur wegen eintretenden
Fiebers nach 10 Tagen bzw. 6 Wochen abgesetzt werden. Die Un-
ruhe bestand dann trotz aller möglichen Beruhigungsversuche
weiter und führte zur tödlichen Erschöpfung der Kranken. Ihren
Tod bringen wir in keinen Zusammenhang mit dem Insulin, er-
wähnen ıhn aber trotzdem. Zwei der Kranken möchten wir den
tödlichen Katatonien im Sinne Siauders zurechnen.
Unsere Todesziffer mit 7: 150 erscheint vielleicht hoch. Wenn
man aber bedenkt, daß nur zwei in engerem ursächlichen Zusammen-
hang mit dem Insulin stehen, zwei weitere vielleicht auf unsere da-
mals noch geringere Erfahrungen zurückzuführen sind und die
restlichen drei auch ohne Insulin an ihrer anhaltenden Unruhe sich
erschöpft hätten, so beträgt die wirkliche Sterblichkeitsziffer etwa
%9. Bedenkt man ferner, daß bei zunehmender Zahl weiterer Be-
handelter kaum mehr Todesfälle eintreten werden, so bestätigt
sich auch uns, daß die Sterblichkeit bei der Insulinkur nicht we-
sentlich höher ist als bei der Schizophrenie überhaupt. Bei nötiger
Aufsicht, Achtsamkeit und Erfahrung lassen sich, wie wir zeig-
ten, ernste Zwischenfälle, wenn auch nicht gänzlich vermeiden,
so doch meistern. l
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 133
Aufteilung der Behandelten nach Krankheitsform,
-dauer und Behandlungserfolg
A B C D
M. | Fr. | M. | Fr. | M. | Fr. | M. | Fr
Erregte Katatonien
i= el er a
6 M. + 18 Fr. i 1] 4| ı|—-|—-|-—-| 141| 1
zus. 24 IV | — ee ER E E 29 | — | —
gest. | — | — | — | -| 1] 1|—]2
Stuporöse Katatonien
I| — | 3|I-|-|-|-| -|ı
2 M. + 16 Fr. lI 1 | — | — | — | — | — | — 2
II 1 = e s ee A a
zus. 18 IV | — 1 | — 1 1 3 | — 1 —
gest ENR EARS eg E en ee e
Wechselnde Katatonien
I|—|.2| — 2 | — | — 2 4
49 M. + 36 Fr. II 2 5| — 2 3 | — 2 5
HI | — | — | — | — 3 3 2 4
Zus. 55 IV | — 1 | — | — | — 7 3 1
gest. | — | — | — | — | — | — 2 | —
Depr. hypoch. Schiz.
I| — 4 | — 1 | — i — | — 1
1 M. +11 Fr. I | — | —]— 1 | — 1] — | —
III 1 1 | — 1] — | — | —|—
zus. 12 IV see | er ee il ee
gest. | — 11 —- | — | —-|-|-1—
Paranoide Formen
I | — 1 | — 1| — |] — | — | —
7 M. + 13 Fr. JI 1 2 1 1 | — 1 — 1
HI 2 | — | = | — | — 3 4 ||.
zus. 20 IV 1 1 | — | — 1 2.) E E
gest. | — | — | — I—II] | — | —
Hebephr. Dem.-simplex.
Eit ze a ee a a
II 2 1 1 — | —-| — | — 1 1
10 M. +4 Fr. III 1| — | — | — 2 1 | — 1
IV 1| — | — | — 3| — | — | —
zus. 14 gest. | — | — | — i — I — I — | — | —
143 Gesamt: | 143 | 34 | 2 |12 | 15 | 28 | 15 | 24
Wir kommen nun zu unseren eigentlichen Behandlungs-
ergebnissen. Insgesamt haben wir 150 Kranke, 45 Männer und
95 Frauen, der Kur unterzogen, die bei Männern durchschnitt-
lich 41, bei Frauen 28 Tage lang durchgeführt wurde. (Rund 5000
134 H. Salm
Behandlungstage.) 7 Frauen litten an Geistesstörungen, die vor-
wiegend unter katatonen Bildern verliefen, aber nicht eindeutig
als Schizophrenien zu bezeichnen waren. Sie traten im Anschluß
ans Wochenbett, nach Kopfoperation, bei Basedow und Nieren-
entzündung auf und wurden wegen anhaltender großer Unruhe
und Verwirrtheit mit Insulin behandelt. Einmal lag ein unklarer
Verwirrtheitszustand mit Sinnestäuschungen vor, endlich ein
Stupor einer schizoiden Psychopathin. 6 von ihnen sind gut ge-
bessert und unauffällig nach Hause entlassen, die 7. starb da-
heim an einer Tuberkulose.
143 gehören dem schizophrenen Formenkreis an, und zwar
zählen:
24 = 6 Männer und 18 Frauen zu den erregten Katatonien,
18 = 2 Männer und 16 Frauen zu den stuporösen Katatonen,
55 = 19 Männer und 36 Frauen zu den Katatonen mit wech-
selndem Verlauf,
12 = 1 Mann und 114 Frauen zu den Schiz. mit vorwiegend
depress.-hypoch. Wahngedanken,
20 = 7 Männer und 13 Frauen zu den paranoiden Schiz.,
14 = 10 Männer und 4 Frauen zu den Hebephrenen und Dem.-
sımplex-Formen.
Die Geistesstörung dauerte bei:
47 = 13 Männer und 34 Frauen bis zu % Jahr = A,
14 = 2 Männer und 12 Frauen bis zu 1% Jahren = B,
43 = 15 Männer und 28 Frauen mehr als 1% Jahre = C,
39 = 15 Männer und 24 Frauen verlief das Leiden in Schüben
=D.
In Anlehnung an die Arbeit von M. Müller haben wir die Erfolge
ın 4 Gruppen eingeteilt.
Die Stufe I umfaßt die Kranken, die bei ihrer Entlassung un-
auffällig waren, also als praktisch geheilt gelten können.
Unter II fallen die „sozialen Heilungen‘‘.
Gruppe III enthält noch entlassungsfähige Besserungen mit
Resten von Krankheitszeichen (lII e) und die in der Anstalt be-
schäftigten Kranken.
Gruppe IV sind die unbeeinflußten Fälle.
Ohne Rücksicht auf Dauer und Form der Geistesstörung finden
wir:
m NA er — (ie y —
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 135
I II III IV gestorben
Männer 4 16 12 10 3
Frauen 28 28 19 19 4
zusammen 32 44 31 29 7
in vH.
Männer 9 35 27 22 7
Frauen 28 28 20 20 4
zusammen 22 30 23 20 5
Das wären bei Männern 43°, und bei Frauen 56°, sehr gute und
gute Besserungen, im Gesamtdurchschnitt 52°,. Wenn man berück-
sichtigt, daß aus der Gruppe III noch 24 Kranke entlassen wurden,
so erhalten wir 69°, entlassungsfähige Besserungen. Diese
Zahlen liegen über den Erfolgsziffern bisheriger Behandlungs-
versuche und erreichen sicher die doppelte Höhe der Spontan-
remissionen.
Die Dauer der Geistesstörung hat einen wesentlichen Einfluß
auf das Behandlungsergebnis. Schon Sakel wies darauf hin, daß
die besten Erfolge bei beginnenden Schizophrenien erzielt werden
und von verschiedenen Nachuntersuchern wurde das bestätigt.
Auch wir finden ein gleiches, wenn wir die Besserungen in bezug
auf die Länge der Erkrankung betrachten:
I Il III IV gest. zusammen
A 17 19 5 5 1 47
B 5 6 2 1 — 14
C 1 5 416 19 2 43
D 9 14 8 4 4 39
Bei den Krankheiten, die noch nicht über 2 Jahre laufen, können
wir in über 75% eine günstige Beeinflussung feststellen, die auch
bei den in Schüben verlaufenden Leiden eine Höhe von rund 60°,
erreicht, aber bei den langdauernden Störungen nur noch 14°;
beträgt. Wenn man die Kranken aus der Gruppe III miteinbe-
zieht, die sich außerhalb der Anstalt befinden, so steigen die Zah-
len auf 85% bzw. 79°, und 40°, entlassungsfähiger Besserungen,
mit anderen Worten, auch bei den älteren Kranken kann man in
gut !/, der Fälle das Befinden heben. Doch sinkt die Erfolgsaussicht
entsprechend der Dauer der Geistesstörung.
Um zu klären, was wirklich durch die Insulinbehandlung geleı-
‚ stet wird, und in welcher Höhe man bei Anstaltskranken eine
Spontan-Remission ansetzen kann, haben wir vor kurzem einmal
136 H. Salm
das Schicksal von 133 unbehandelter Schizophrener aus
den Jahren 1928/30 verfolgt. Diese kamen erstmalig in eine An-
stalt und wären unseren Kranken aus den Gruppen A und B in
etwa gleichzustellen. Wir errechneten nun, daß 58 davon seitdem
in der Anstalt blieben und daß von den 75, mit denen Entlassungs-
versuche gemacht wurden, 11 rückfällig und jetzt dauernd anstalts-
bedürftig geworden sind, 21 neuerliche Schübe durchmachten und
43 nicht wieder in die Anstalt kamen. 18 sind inzwischen gestorben.
Ungeachtet des Grades der Besserungen befindet sich also
1} der Kranken zu Hause. Dem entspricht die allgemeine Er-
fahrung von rund 33% Spontanremissionen bei günstiger Beurtei-
lung. Damit verglichen liegt das, was durch Insulin erreicht wird,
mehr als doppelt so hoch (85% entlassungsfähige Besserungen bei
Dauer bis zu 1% Jahren vor der Behandlung) und was besonders
‚wichtig ist, die Besserung nach Behandlung ist größer und tief-
gehender.
Nicht nur die Dauer der Psychosen hat eine Einwirkung auf das
Ergebnis. Auch die einzelnen Formen der geistigen Störung
sprechen verschieden an:
I II II IV gest. zus.
erregte Katatonien 10 8 — 2 4 24
stuporöse Katatonien 4 3 5 6 — 18
wechselnde Katatonien 10 19 12 12 2 55
depress.-hyp. Formen 6 2 3 — 1 12
paranoide Schiz. 2 7 6 5 — 20
Hebephr.-Dem. simpl. — 5 5 4 — 14
Demnach stehen ganz allgemein, ohne Rücksicht auf ihre Dauer,
die erregten Katatonien mit rund 75% günstiger Beeinflussungen
(I und II) an der Spitze. Es folgen die Schizophrenien mit vor-
wiegend depressiv-hypochondrischen Wahngedanken mit 66°%, die
wechselnd verlaufenden Katatonien mit 53%, die Paranoiden mit
45°,, die Stuporös-Katatonen mit 39%, und am Schluß die Hebe-
phrenien und die Dem.-simpl.-Formen mit 33%.
Zieht man nun bei den einzelnen Formen auch die jeweilige Ver-
laufsdauer mit in Betracht, so verschieben sich die Ergebnisse
etwas. Und zwar sehen wir, wenn wir nur die Psychosen bis zu
1% Jahren Dauer ins Auge fassen, daß auch da die erregten Kata-
tonen ihren Vorsprung behalten, dann die anderen Katatonien
nachrücken, denen die Paranoiden, Hebephrenen und am Schluß
die Kranken mit depressiv-hyp. Vorstellungen folgen. Bei Ein-
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 137
beziehung der in Schüben verlaufenden Störungen bleibt die Reihen-
folge die gleiche wie bei der allgemeinen Betrachtung.
In Von-Hundert-Zahlen ausgedrückt:
allgemein A—B—-D A—B
erregte Katatonien 75 88 100
depr.-hyp. Schiz. 66 70 97
wechselnde Katatonien 53 66 93
paranoide Schiz. 45 64 60
stuporöse Katatonien 39 62 64
Hebephrene 33 63 60
Der Eindruck, den wir rein gefühlsmäßig hatten, bestätigt sich
also bei zahlenmäßiger Errechnung, daß nämlich die Katatonen
am besten auf die Behandlung ansprechen, und von ihnen wieder
die Erregten und Unruhigen. Bei den paranoiden Schizophrenien
erzielten wir nicht die von anderen erreichten Besserungen. Die
Hebephrenen scheinen wie sonstige Behandlungsversuche auch
der Insulinkur weniger zugänglich. Jedenfalls bleiben sie hinter
den anderen Formen zurück.
Im allgemeinen waren die Erfolge bei Frauen besser als bei Männern, was
aus der Haupttafel leicht ersichtlich ist.
Die Ansichten über das Zustandekommen der Insulin-
besserung gehen auseinander. Wir selber möchten meinen, daß
die gewaltige innerkörperliche Umstellung, die die Hypoglykämie
und besonders die wiederholten Schocks im Gefolge haben, mit
das Wesentliche ist. Sicher ermöglicht auch die regelmäßige Aus-
schaltung des Wachbewußtseins eine Ausgleichung des geistigen
Geschehens. Aber daneben scheinen uns die Vorgänge im vegeta-
tiven System und die Wirkung des Insulins auf die Hirnzellen doch
von größerer Wichtigkeit.
Aber wie dem auch sei, von größter Bedeutung ist, daß es mit
Hilfe von Insulinschocks gelingt, schizophrene Gei-
stesstörungen zu beeinflussen und zwar mehr, als es
mit jeder bisherigen Behandlungsart möglich war.
Rückfällig wurden von den Behandelten bislang 20. Von ihnen
sind 10 nach einer zweiten Kur entlassen, 1 steht noch in Behand-
lung. Bei 7 von den übrigen läuft das Leiden schon länger, es ließ
sich aber günstig — allerdings nicht anhaltend — beeinflussen.
Wegen einer Verschlechterung kamen sie nach 1—12 Monaten ın
die Anstalt zurück: 3 nach 1 Monat, je 1 nach 2, 3 und 4 Monaten,
4 nach 12 Monaten. Von den Frischerkrankten erlitten 2 nach 6
138 | H. Salm
und 8 Monaten einen Rückschlag, von dem sie sich trotz einer
2. Behandlung nicht wesentlich erholten. Es sieht aus, als ob nun
das Leiden ungünstig verlaufen wollte. Beide lassen sich wohl in
der Anstalt beschäftigen, doch erscheint eine Entlassung nicht rat-
sam.
Etwas Genaues läßt sich bei der Kürze der allgemeinen Be-
obachtungszeit über das Anhalten der durch Insulin erzielten Besse-
noch nicht sagen. Doch könnte man vermuten, daß sie infolge
ihrer Andersartigkeit längeren Bestand haben. Wie von allen
Seiten betont wird und wie auch wir bestätigen können, sind die
durch Schock-Behandlung beeinflußten Kranken freier, einsichtiger,
gelockerter und verständiger, fügen sich wieder schneller in ihre
Umwelt ein, als man das nach früheren Behandlungen sah. Die
Besserung geht tiefer und ist gründlicher ung gewährleistet damit
vielleicht eine längere Dauer.
Übrigens beobachteten wir nicht, daß die Belastung des Kran-
ken sich auf das Behandlungsergebnis auswirkte. Man könnte ja
denken, daß erbmäßig stärker festgelegte Geistesstörungen schlech-
ter zu beeinflussen wären als die vereinzelt auftretenden. Aber das
ist wohl nicht so. Weder bei allgemeiner oder gleichsinniger Be-
lastung noch beim Vorkommen von Psychosen in den Seitenlinien
oder bei den Eltern sahen wir irgend eine Abhängigkeit.
Wenn auch unsere Erfolgszahlen nicht ganz die Höhe der von
Sakel mitgeteilten Ergebnisse erreichen, so bestätigen sie doch die
Worte Pötzls, die er im Vorwort zu Sakels „Neuer Behandlungsme-
thode der Schizophrenie‘ schrieb: „daß die Methode jedem ande-
ren Behandlungsversuch der Schizophrenie, der derzeit vorliegt,
weit überlegen ist“ und daß sich ein ‚„Perzentsatz von praktisch
brauchbaren Erfolgen‘ ergibt, „der auch optimistische Statistiken
über Spontanremissionen bei Schizophrenien um das doppelte bis
dreifache Ausmaß übertrifft‘.
Zusammenfassung
1. Es wird über 150 Insulinbehandlungen berichtet, die nach der
Methode von Sakel ohne wesentliche Abwandlungen durchgeführt
wurden.
2. Die beobachteten körperlichen und geistigen Auffälligkeiten
in der Hypoglykämie und im Schock entsprechen im allgemeinen
den von Sakel mitgeteilten.
3. Eindeutige Beziehungen zwischen Körperbauform, Art der
Geistesstörung oder Dauer des Leidens und der Schockdosis ließen
Erfahrungen und Erfolge mit der Insulinbehandlung usw. 139
sich nicht feststellen. Wahrscheinlich liegen ganz individuelle
Unterschiede in der endokrinen Konstitution vor (M. Müller),
ohne engere Bindung an eine andere Größe.
4. Mitteilung von Gefahren und Zwischenfällen und ihrer Be-
gegnung.
5. Epileptische Anfälle, die sich bis zu einem Status häufen
können, haben keinen wesentlichen Einfluß auf den Zustand und
den Fortgang der Besserung. Bei der Bekämpfung bewährte sich
Amylenhydrat und Somnifen neben Traubenzucker. Sie entstehen
nicht immer aus der Hypoglykämie heraus. Die Krampfbereit-
schaft spielt eine Rolle.
6. Benommenheitszustände im Anschluß an einen Schock, wie sie
bei uns im Anfang einige Male auftraten und 2 Todesopfer forder-
ten, lassen sich bei sorgfältiger Beachtung der Sensibilisierung
vermeiden.
7. Bei verzögertem Aufwachen beobachteten wir Dreh- und Ab-
wehrbewegungen, außerdem Fieber, also Störungen wie bei den
tödlich verlaufenen Benommenheitszuständen, die wir auch als
Zwischenhirnzeichen deuten möchten.
8. Bericht über 7 Todesfälle während und nach der Insulin-
behandlung, von denen vielleicht 4 im Zusammenhang mit der Kur
stehen. Etwa 2 % Sterblichkeit, die aber mit zunehmender Behand-
lungszahl und wachsender Erfahrung sinken wird.
9. Behandlungsergebnisse:
Allgemein 52 °, Besserungen I und II, 69 ° entlassungsfähig.
Bei Berücksichtigung der Dauer:
Bis zu 1% Jahren 77 °% I und II, 85 °, entlassungsfähig.
,
Bei längerer Dauer 14 %4 I und II, 40 °, entlassungsfähig.
Bei Verlauf in Schüben 60 °, I und II, 79 °, entlassungsfähig.
Von den einzelnen Formen ließen sich die Katatonıen am besten
beeinflussen, dann folgen die Paranoiden und zum Schluß die
Hebephrenen.
Frauen sprachen auf die Behandlung besser an als Männer.
Eine Abhängigkeit der Besserung von der Belastung fand sich
nicht.
10. Bis jetzt wurden 20 Kranke rückfällig, von denen 10 wieder
entlassen sind, 1 noch in Behandlung steht. Die übrigen 9 sind
anstaltsbedürftig, davon 2 Frischerkrankte.
11. Verglichen mit Selbstbesserungen, die an unseren unbe-
handelten Anstaltskranken errechnet ohne Rücksicht auf den Grad
140 H. Salm
der Besserung rund !/, beträgt, erreicht man mit Insulin etwa das
Doppelte, bei Frischerkrankten noch mehr. Dabei geht die Ände-
rung tiefer, die Kranken sind freier und gelockerter.
12. Wesentlich für die durch Insulin herbeigeführten Besserun-
gen scheinen uns die gewaltigen innenkörperlichen Umstellungen
und besonders die Vorgänge im vegetativen System.
Schrifttum
v. Braunmühl, Besprechung Zb. N. u. Ps. 87. Bd., 1938. — J. Bückmann,
ref. Zb. N. u. Ps. 87. Bd., 1938. — Buschke, zit. bei Hirsch. — Ederle, ref.
Zb. N. u. Ps. 82. Bd., 1936. — Frostig, zit. bei M. Müller. — Geller, Psychiatr.-
neur. Wschr. 1936/38. — Hadorn, zit. bei M. Müller. — Hirsch, Z. Neur. Bd.140,
1932. — Jahn, zit. bei Bumke, Lehrbuch 1936. — E. Küppers, zit. bei M. Mül-
ler. — Langfeldt, Psychiatr.-neur. Wschr. 1936/38. — Lemke, Arch. f. Psych.
107. Bd., 1937. — Mann, zit. bei Wuth. — M. Müller, Fortschr. Neur. u. Psych.
1937. — Petrof, Arch. Psychiatr. 103. Bd., 1935. — Sakel, Neue Behandlungs-
methode der Schizophrenie, 1935 Wien. — Sakel-Dussik, Z. Neur. Bd. 155, 1936.
— Salm, M. m. W. 1937, 27. — Salm, Psychiatr. neur. Wschr. 1938, 18. —
Schulz, Psychiatr. neur. Wschr. 1938. — Wuth, in Bumkes Handbuch der
Geisteskr. Bd. 3.
Ergebnisse und Beobachtungen
bei der Cardiazol-Krampfbehandlung von
Schizophrenien und anderen Psychosen
Von
Margarethe Gerhardt
(Aus der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt a.M.
Leiter: Prof. Dr. Kleist)
(Eingegangen am 27. August 1938)
Im Anschluß an v. Medunas Veröffentlichung über die Cardia-
zol-Krampfbehandlung der Schizophrenie haben wir seit
Januar 1937 in der Frankfurter Nervenklinik diese Behandlung
durchgeführt. Bereits in einer früheren Mitteilung konnten wir —
Lehmann-Facius und Gerhardt — über 18 so behandelte Kranke be-
richten. Diese Fälle sind in der jetzigen Mitteilung eingeschlossen.
Es hat sich aber nachträglich bei einzelnen Fällen eine andere Be-
urteilung des Behandlungsergebnisses herausgestellt, da bei einigen
Kranken noch während des Aufenthaltes in der Klinik Rückfälle
eintraten. Die Behandlung ist nun an 76 Fällen, davon 68 Schizo-
phrenien abgeschlossen. 3 Kranke habe ıch von der Beurteilung
in unserer Tabelle ausgeschlossen, da die Behandlung wegen Un-
verträglichkeit nach wenigen Anfällen abgebrochen werden mußte.
Die Anzahl der Fälle erscheint auf den ersten Blick ziemlich klein.
Das liegt daran, daß bisher nur weibliche Kranke herangezogen
wurden, da die Behandlung und Beobachtung der Fälle in einer
Hand bleiben sollte. Zum Vergleich der beiden zur Zeit aktuellen
Behandlungsmethoden wurde gleichzeitig bei Männern die Insulin-
behandlung von einem anderen Arzte der Klinik durchgeführt,
über die dieser in einer weiteren Mitteilung berichten wird. Nur in
besonderen Fällen sind wir von diesem Grundsatz abgewichen.
Außerdem wurde bei Kranken, die für beide Methoden nicht geeig-
net erschienen, die Fieberbehandlung mit Anaesthesulf ange-
wandt, mit der wir nach unserer früheren Mitteilung besonders bei
paranoiden Schizophrenien gute Erfolge sahen. Wir fanden damals
an einem Gesamtmaterial von 64 Kranken bei paranoiden Fällen
142 Margarethe Gerhardt
7 Vollremissionen unter 18 Fällen d. h. bei 39 %, im Gegensatz zu
einem wesentlich geringeren Prozentsatz (16%) bei Katatonien.
Danach haben wir die paranoiden Erkrankungen vorwiegend mit
Fieber durch Anästhesulf behandelt.
Bei der Cardiazolkrampfbehandlung bin ich von der v. Meduna-
schen Technik insofern abgewichen, als ich statt 2 Anfällen 3 in der
Woche auslöste, von der Erfahrung ausgehend, daß bei vielen
Kranken schon nach kurzem Aussetzen der Behandlung für wenige
Tage — z.B. bei fieberhaften Erkrankungen oder bei äußeren,
Gründen — erhebliche Rückfälle zu verzeichnen waren. Anderer-
seits kam es uns darauf an, die Behandlung nicht allzulange hinaus-
zuziehen, um Verwechslungen des Behandlungserfolgs mit Spon-
tanremissionen zu vermeiden. Im übrigen verfuhr ich in der v. Me-
duna angegebenen Weise, deren Technik ich als bekannt voraus-
setze.
Wir haben anfangs, wie angegeben, bis zur befriedigenden Re-
mission behandelt und nur einige „Sicherheitsspritzen‘‘ zur Fixie-
rung des Erfolges nachgegeben, im ganzen durchschnittlich 10 In-
jektionen, da sich die Besserungen oft überraschend schnell ein-
stellten. Dabei haben wir aber in vielen Fällen schlechte Erfahrun-
gen gemacht; denn es traten Rückfälle ein, die sich durch eine zweite
Behandlungsserie nicht immer so gut beeinflussen ließen wie durch
die erste Injektionsreihe. Seitdem behandelten wir, soweit sich dies
aus äußeren Gründen durchführen ließ, mit mindestens 15—20 In-
jektionen. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Erfolge im
Verhältnis zur Behandlungsdauer (Zahl der Krampfanfälle), sowie
Tabelle 1
Entlas-
Zahl der | -Voll- sungs- | Klinik-
Anfälle | remis- | fähige | besse- a z
. | Wesent-
sam- liche Rück-
Anfälle | sionen Desse- | rungen N
rungen |
8— 9 1 1 2 3 2
10—14 3 59 4 10 22
15—20 6 9 7 5 27
20—32 5 — 2 2 9
über die Rückfälle, die bei zunächst vollkommener Remission nach
vorübergehendem Aussetzen der Behandlung auftraten, unabhängig
davon, ob die Kranken anschließend weiterbehandelt wurden oder
nicht. Wir sehen daraus, daß sich bei einer Behandlung unter 20 An-
fällen zwar mehr Rückfälle einstellen, der Prozentsatz der Besse-
rungen aber der gleiche wie bei einer längeren Behandlung ist. Die
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 143
Technik, die v. Meduna zur Zeit vorschlägt, regelmäßig 30 Anfälle
in dreitägigem Abstand auszulösen, birgt die Gefahr in sich, daß die
spontane Remission dabei als Behandlungserfolg gebucht wird, da
bei dieser Art der Behandlung einschließlich der vorher erforder-
lichen Beobachtungszeit 4—5 Monate vergehen. Eine Zeitspanne
von 4—6 Monaten bedeutet aber die durchschnittliche Dauer eines
schizophrenen Schubs nach den Erfahrungen an unserer Klinik
(Kleist). Daß sich bei langer Behandlungsdauer die ‚Heilerfolge‘‘
erheblich vermehren, ist dann weniger auf das Konto des Cardiazol
zu buchen. Wir kamen mit einer Behandlungsdauer von 5 bis 8
Wochen aus.
Bei fast allen unseren Kranken ließ sich eine gewisse Gewöh-
nung an das Mittel feststellen. Nur in seltenen Fällen konnte
die Behandlung mit der Anfangsdosis von 5ccem (der 10°;igen
Lösung) bis zu Ende durchgeführt werden. Bei manchen Kranken
scheiterte die Behandlung an der Angst vor der Einspritzung. In
diesen Fällen mußte bei den oft beobachteten, z. T. durch die Grund-
krankheit, z. T. reaktiv durch die Angst bedingten Erregungen die
sonst übliche Krampfdosis um ein erhebliches überschritten werden,
obwohl die durch die Erregung bedingte Hyperventilation mit einer
Verschiebung des Kalium-Calcium-Gleichgewichts einhergeht und
daher — wie bei Anfallsauslösung bei Epileptikern — die Krampf-
schwelle herabsetzen sollte. Doch ist auch experimentell eine Ver-
rıngerung der Cardiazol-Empfindlichkeit durch Calciumzufuhr nach-
gewiesen (Kastein). Beinichtgeglückten Anfallsauslösungen
konnte ich im Gegensatz zu anderen regelmäßig eine Verschlim-
merung des Krankheitszustandes feststellen, indem sich bei an-
fangs ruhigen Kranken oft eine ausgesprochen katatone, z. T.
auch eine delirante Erregung anschloß und längere Zeit anhielt.
Fall 1: Margarethe St., 37 Jahre alt, Katatonie.
Seit einem halben Jahr schleichend erkrankt mit Beziehungs- und Beein-
trächtigungsideen. Aufnahme 4. 2.1938. Anfangs Stupor mit plötzlichen un-
motivierten Erregungszuständen, stereotypen Redewendungen und stereotyp-
iterativer Bewegungsunruhe. Schwer negativistisch. Zunehmende Beruhigung,
doch maniriert, negativistisch, affektiv verflacht; inkohärenter Rededrang mit
Stereotypien und Wortneubildungen, deutliche Paralogien. 2. 5. Beginn einer
Cardiazolbehandlung. Zunächst etwas geordneter, bei der 10. Injektion mit
8ccm kein Anfall; nach Wiederholung der gleichen Dosis Anfall gut ausgelöst,
trotzdem anschließend zunehmend erregt, kriecht auf der Erde herum, ein-
formige Bewegungsunruhe der Arme, monotoner inhaltloser Rededrang, Echo-
lalie. Nach einer Woche unter Weiterbehandlung wieder ruhiger, immer sehr
widerstrebend bei den Injektionen. Bei der 14. Injektion mit 10 ccm kein An-
fall; schwerer tobsüchtiger Erregungszustand mit lautem Schreien, dabei nicht
ängstlich, sondern eher heiter, schlägt wild auf andere Kranke los. Erhält
144 Margarethe Gerhardt
Pernocton. Weiterhin trotz wiederholter Versuche auch auf 2 mal 10 ccm Car-
diazol kein Anfall mehr, Erregung nach den Injektionen eher zunehmend. Erst
nach 14 Tagen durch Dauerschlafbehandlung Beruhigung.
Das Gegenteil, ein Umschlag von Erregung in Stupor, konnte nie
beobachtet werden. Aus diesen Gründen wurde regelmäßig nach
mißglücktem Anfall eine um 1 ccm erhöhte Menge nachgegeben,
auch dies oft ohne Erfolg. In manchen Fällen mußte so innerhalb
weniger Tage die Dosis von 5 bis auf 10 ccm erhöht werden, so daß
sich die Kur nicht weiter durchführen ließ. Die höchste Dosis war
2 mal 12 ccm. Doch waren dies immerhin seltene Fälle, die Höchst-
dosis war im Durchschnitt 8 cem. Selbstverständlich wurden wäh-
rend der Behandlung Barbitursäureschlafmittel abgesetzt.
Wegen der Frage der diagnostischen Anfallsauslösung bei Epi-
leptikern beobachtete ich die Kranken sorgfältig auf die Anfalls-
form. Dabei konnte ich feststellen, daß nicht alle Anfälle seiten-
gleich verliefen. In einzelnen Fällen begann der Anfall auf einer
Seite, aber nicht immer bei derselben Kranken auf der gleichen
Seite, sondern bald rechts, bald links. Häufig wurde Fechterstellung
beobachtet.
Fall2: Erna Sch., 36 Jahre alt, Katatonie.
Beginn seit 1932 schleichend mit Beziehungsideen. Aufnahme am 16.3.
1937. Schwere psychomotorische Erregung mit stereotyp-iterativer Bewegungs-
unruhe, läppisch-heitere Stimmung, unproduktiv. Ab 1.4. 1937 Cardiazolbe-
handlung. Zuerst 4 Anfälle, seitengleich; beim 5. Anfall Kopf und Augen nach
links, im linken Arm stärkere Zuckungen als rechts. 6. bis 10. Anfall seiten-
gleich, beim 10. Anfall Kopf nach rechts, Augen nach links, rechter Arm
stärker beteiligt als linker. 15. Anfall ebenso. Nach der Behandlung (18 An-
fälle) auffallend heiter, aber noch längere Zeit ohne Spontaneität, muß zu
allem aufgefordert werden, dabei keine greifbaren katatonen Symptome mehr.
15. 6. 38 als wesentlich gebessert entlassen.
Fall3: Johanna Sp., 28 Jahre, Katatonie.
Vor einem Vierteljahr Suicidversuch. Akute Erregung kurz vor der Auf-
nahme am 15. 3.1937. Schwere psychomotorische Erregung mit stereotyp-
iterativer Unruhe, Negativismus, inkohärenter Rededrang mit einförmigen
Redewendungen. Vergiftungsangst, Nahrungsverweigerung. Stimmung sprung-
haft wechselnd. 1. 4. 37 Beginn der Cardiazolbehandlung, danach sofort ruhiger,
fast bewegungsaım. Bei Beginn der Anfälle meist Streckung im linken Arm,
stärker als im rechten. 10. Anfall: klonische Zuckungen nur rechts bei Strek-
kung des linken Armes. 14. Anfall: klonische Zuckungen im linken Arm stärker ,
als im rechten. Klinisch zunehmende Besserung, keine aktiven Symptome
mehr, aber auffällig still und lahm. Spricht nur auf Fragen, dabei dann ganz
munter. Nach Abschluß der Kur (17 Anfälle) vorübergehende Verschlechte-
rung, nach 2 Anfällen wieder ausgeglichen, unauffällig, zunehmend lebhafter.
9. 6.1937 in Vollremission entlassen.
Wenn diese Fälle auch Ausnahmen waren — in den meisten
Fällen verliefen die Anfälle seitengleich —, so muß man doch nach
-—
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 145
diesen Beobachtungen bei der Beurteilung der diagnostisch hervor-
gerufenen Krämpfe bei Epileptikern nicht nur in bezug auf die
Krampfdosis, sondern auch auf die Anfallsform vorsichtig sein. Die
übrigen neurologischen Symptome wie Pupillenstarre, Aufhebung
von Reflexen, Kloni, Pyramidenbahnzeichen und Einnässen unter-
scheiden sich nicht wesentlich von spontanen Anfällen. Außerdem
traten meist Zyanose, Pulsverlangsamung, Gänsehaut, Speichel-
fluß auf, was bereits mehrfach beschrieben ist.
Bemerkenswerte Beobachtungen, die auch einen Hinweis auf die
Wirkungsweise des Cardiazol geben, sind häufig im Zusammenhang
mit den Anfällen zu machen. So geht die ängstliche Erregung,
die fast stets bei der Injektion eintritt, und von intelligenten Kran-
ken in charakteristischer Weise als Todes- oder Weltuntergangs-
erlebnis geschildert wird, oft mit elementaren Gesichts- und
Geruchstäuschungen einher. Die Kranken sehen z.B. regel-
mäßig bei jedem Anfall alles in blauer oder roter Farbe, oder sehen
Strahlen von einer bestimmten Seite kommen. Viele haben unan-
genehme Geruchsempfindungen, bei denen sie auf das bestimmteste
eine Verwechslung mit dem zur Desinfektion benutzten Alkohol ab-
lehnen. Manche wiederum spüren nur einen Schmerz, der „bis in
das äußerste Ende des Körpers geht‘‘, vielleicht durch die Gefäß-
wirkung bedingt. Die bei Insulin-Schocks auftretenden Erschei-
nungen können meist nachträglich besser geschildert werden, be-
stehen aber weniger in solchen aktiven Symptomen, als in einer
durch die Bewußtseinstrübung bedingten Veränderung der opti-
schen und akustischen Umweltseindrücke und in einer Er-
schwerung des Gedankenablaufs (Büdingen, Küppers). Ein Teil
der Angaben bei den Cardiazolanfällen legt die Vermutung nahe,
daß es sich hier um cerebral bedingte Sinnestäuschungen han-
dele. Nach den Anfällen werden die Sinnestäuschungen meist
durch Amnesie verdeckt, so daß eine genauere Aufklärung nicht
möglich ist.
Außerdem konnten wir, — vor allem bei unvollkommen ausge-
lösten Anfällen — Erscheinungen beobachten, die sich nicht allein
. durch das körperlich bedingte Mißbehagen erklären lassen. So traten
bei abortiven Anfällen häufig als Anfallsäquivalente ausgesprochene
Stammhirnerscheinungen in Form von Stereotypien, Ite-
rationen (iterative Wisch- und Greifbewegungen), verbigerato-
rischen Wortwiederholungen auf oder Saugreflexe und Schnauz-
krämpfe, wie sie sich häufig im Anschluß an echte epileptische An-
fälle oder bei Petit-mal Anfällen einstellen.
10 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
146 Margarethe Gerhardt
Fall 4: Toni L., 26 Jahre, Katatonie.
1934 erste Erkrankung, danach wieder arbeitsfähig. 26. 6. 1937 Aufnahme
in die Klinik wegen Beeinträchtigungsideen, zielloser Unruhe. Zustandsbild:
Verstört, ratlos, sprunghafte affektive Schwankungen, verkehrte Handlungen.
Fühlt sich bestrahlt, hört Schimpfworte. Zahlreiche Stereotypien, Echoer-
scheinungen, Mitmachen, Entgegenkommen. Häufig negativistisch. Paralo-
gische Denkstörung. Meist bewegungsarm mit vorübergehenden Erregungen,
affektive Verflachung. 20. 7. 1937 Beginn der Gardiazolbehandlung. Gebraucht
bald 7 ccm. Von der 1. Injektion an häufig kein Anfall, statt dessen einförmiges
Schreien ‚Mama, Mama“, bis 20mal iteriert. Macht Schmatzbewegungen,
wischt einförmig auf der Decke und im Gesicht umher, vorwiegend mit der
rechten Hand. Später ausgesprochen paraphasisch. Nicht ansprechbar. Starke
ängstliche Erregung, die erst nach 20 Minuten abklingt. Diese Zustände treten
bei den nächsten beiden Injektionen ebenfalls auf, deswegen nach der 10. In-
jektion Behandlung abgebrochen. Trotzdem gebessert entlassen.
Diese Erscheinungen machten uns nicht den Eindruck von Ab-
reaktionen auf sensible Vorgänge (Sorger), sondern mußten eher
als lokale cerebrale Reizerscheinungen gedeutet werden. Da er-
fahrungsgemäß die katatonen Symptome am besten auf die Be-
handlung ansprechen, liegt die Vermutung nahe, daß eine gewisse
Prädilektion des Cardiazols für das Stammhirn als Träger der
psychomotorischen Erscheinungen besteht. Anatomische Belege für
eine besondere Schädigung des Stammhirns durch Cardiazol sind bei
Tierversuchen allerdings noch nicht erbracht werden. Stender fand
beiCardiazolversuchen an Katzen und Kaninchen außer traumatisch
entstandenen subpialen Blutungen und Erweichungsherden nur ge-
ringe anatomische Veränderungen in Form von Gliavermehrung und
ischaemisch veränderten Ganglienzellen in Rinde und Ammo nshorn.
Daß das Cardiazol nicht nur rein psychisch wirkt, wird auch
durch andere Erscheinungen bekräftigt, die infolge der Cardiazol-
behandlung auftreten. Es sind dies einerseits rein körperliche An-
zeichen, wie der enorme, oft fast groteske Appetit, den die Kran-
ken nach dem Erwachen entwickeln. Er ist in seiner Entstehung
nicht ganz erklärlich, mag aber mit den häufig beobachteten Blut-
zuckerschwankungen zusammenhängen. So konnte in einigen Un-
tersuchungen (Sorger, Georgi) ein Steigen des Blutzuckers festge-
stellt werden, dem aber häufig mehrere starke Schwankungen bis
an die untere Grenze der Norm vorausgingen. Diese Schwankungen
lassen auf eine erhebliche Störung ım Zuckerhaushalt mit einer
Kohlehydratverarmung der Gewebe schließen. Den Anstieg des
Blutzuckers nach den Anfällen habe ich auch in mehreren Versuchen
beobachtet. Charakteristische Veränderungen im weißen Blutbild
im Verlaufe der Behandlung, wie sie v. Meduna beschrieben sind,
konnte ich nicht feststellen.
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 147
Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Behandlung sind auch
einige von der Grundkrankheit unabhängige psychische
Veränderungen aufgefallen, die durch die akute Hirnschädigung
bedingt sind. So kam es bei mißglückten oder nicht genügend
starken Anfällen zu kurzdauernden, einem Dämmerzustand
ähnlichen Bildern, die mit den oben beschriebenen psychomoto-
rischen Erscheinungen, sowie mit Personenverkennungen, Des-
orientierung, deliranter Unruhe und experimentell nachweisbarer
Bewußtseinseinengung einhergehen, und die, wie schon erwähnt,
häufig von einer Verschlimmerung der Krankheit gefolgt waren.
Abgesehen von diesen Verwicklungen durch ungenügende Aus-
lösung der Anfälle fiel im Verlauf der Behandlung bei einzelnen
Fällen, besonders bei ursprünglich intellektuell gut begabten para-
noiden Kranken zunächst ein deutlicher Rückgang der gedanklichen
Leistungen im Sinne von Vergeßlichkeit und MangelanKon-
zentrationsfähigkeit auf, Erscheinungen, die sich aber längere
Zeit nach Abschluß der Behandlung zurückbilden. Ähnliche Er-
fahrungen hat uns ¢. Meduna in einer persönlichen Besprechung
mitgeteilt. Es handelt sich um Störungen, die bei geordnetem
äußeren Verhalten den Kranken selbst bewußt werden und bei
oberflächlicher Betrachtung mit einem durch die Grundkrankheit
bedingtem „Gedankenentzug‘“‘ und mit „Zerfahrenheit‘‘ verwech-
selt werden können.
Fall6: Emma K., 39 Jahre alt, progressive Beziehungs-
psychose.
Erste Aufnahme 1936 wegen massenhafter unklarer Beziehungs- und Beein-
trächtigungsideen. 18. 10. 1937 Wiederaufnahme: Zunahme der Beziehungs-
ideen, die ganz unklar und diffus geschildert werden. Dabei lebhaft, besonnen.
Paralogische Denkstörung bei ursprünglich sehr guter Begabung. Nach Car-
diazolbehandlung (15 Anfälle) keine akuten Erscheinungen mehr, dissimuliert
anscheinend stark. Dabei ratlos, faßt sich dauernd nachdenkend an die Stirn,
klagt spontan darüber, daß sie vergeßlich sei und sich nicht konzentrieren
könne, fürchtet, ihren Beruf als Buchhalterin nicht mehr ausführen zu können.
Keine wahnhafte Deutung. Bei der Entlassung wesentliche Besserung, wieder
arbeitsfähig.
Ähnliche Zustände beobachtet man bei anlagemäßig minder-
begabten Katatonen, die dann während und nach der Behandlung
antriebsarm und unproduktiv, ähnlich endgültigen Defekt-
zuständen, auf der Abteilung herumsaßen, ohne jedoch sonstige
katotane Erscheinungen zu bieten. Nach einigen Wochen ließen
aber auch sie die gute Remission deutlich erkennen, selbst wenn
die Behandlung schon vorher abgebrochen war (Fall 2 und 3).
10*®
148 Margarethe Gerhardt
Bei der Mehrzahl der Kranken zeigte sich noch ein anderes auf-
fälliges Symptom: eine ausgesprochene Heiterkeit, vor allem
in unmittelbarem Anschluß an das Erwachen aus der Bewußt-
losigkeit, entsprechend dem hypomanischen Nachstadium bei der
Insulinbehandlung. Bei manchen Kranken ging diese Heiterkeit so
weit, daß vorübergehend Zweifel an der ursprünglichen Diagnose
auftauchten, die aber stets, wenn vorübergehend mit der Behand-
lung ausgesetzt wurde und die Grundsymptome der Krankheit
wieder zu Tage traten, hinfällig wurden.
Fall7: Marga B., 21 Jahre alt, Katatonie.
Seit 14 Tagen Angst und Ratlosigkeit. Aufnahme am 20. 7.1937. Rascher
Übergang in Stupor, akinetisch, mutistisch, leere, ausdruckslose Mimik. Hal-
tungsverharren und Gegenhalten, stark negativistisch. 14. 9. Beginn der Car-
diazolbehandlung, zusammen 15 Anfälle. Beginnt schon nach dem ersten An-
fall zu sprechen. Nach dem 9. Anfall ganz unauffällig, dabei sehr heiter und
lebhaft. Macht Scherze mit den anderen Kranken, spricht von sich als dem
„geheilten Wundertier‘, ist flott und beweglich, sehr zugänglich. Nach Ab-
schluß der Kur rascher Rückfallin das anfängliche Zustandsbild, bei Wieder-
holung der Behandlung jedoch bald wieder lebhaft und heiter, nur noch vor-
übergehend verkehrte Handlungen und Sinnestäuschungen. Nach 2 mal 15
Anfällen am 15.12. in Vollremission entlassen.
Diese hypomanischen Zustände könnten, was nahe läge, wie die
vorübergehenden antriebsarmen Zustände als Defekterscheinungen,
hier im Sinne hebephrener Störungen gedeutet werden, sind von
diesen aber durch die gute affektive Ansprechbarkeit der Kranken
grundsätzlich geschieden. Sie können eher mit den häufig beob-
achteten manischen Zustandsbildern nach Strangulationen und
nach schweren Schädelbrüchen verglichen werden. Andererseits
lassen sie sich im gewissen Sinne psychologisch, als affektive Kon-
trasterscheinungen nach den schweren Angstzuständen bei der In-
jektion erklären. Ähnliche Zustände mit oft übertriebener und un-
angebrachter Heiterkeit sind bei schweren Katastrophen und im
Kriege mehrfach beobachtet worden (Kleist).
Die Besserung stellte sich oft bereits in den ersten Behandlungs-
tagen ein, vor allem in den ersten Minuten bis Stunden nach dem
Anfall, um erst später dauerhaft zu bleiben, Irgendein Ansprechen
auf die Behandlung sah man fast bei allen Fällen, wenn es auch
häufig nur ganz vorübergehend war. Wenn gar keine durchgehende
Besserung zu erzielen war, schloß ich die Behandlung nach dem
10. Anfalle ab.
Bezüglich des Ansprechens der einzelnen schizophrenen
Symptome und Symptomenbilder konnte ich folgendes fest-
stellen. Am besten, naherzu in allen Fällen reagierten die kata-
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 149
tonen Akinesen. Gleichzeitig wurde auch der Negativismus
geringer. Mit dem Abklingen des Stupors kamen in vielen Fällen
zahlreiche andere schizophrene Symptome zu Tage, die durch den
Stupor verdeckt gewesen waren. Wir waren mehrmals genötigt, die
anfänglich diagnostizierte Unterform der Schizophrenie, nämlich
die Katatonie zu korrigieren, da sich die katatonen Züge verloren,
und sich das Bild einer paranoid-halluzinatorischen oder einer im
engeren Sinn schizophrenen Erkrankung mit sprachlicher und ge-
danklicher Verworrenheit herauskristallisierte.
Fall8: Greta M., 40 Jahre alt, Katatonie.
Aufgenommen 18.3.1938, angeblich akut im Anschluß an den Tod des
Bruders erkrankt. Nach anfänglicher kurzer Erregung schlaffer Stupor ohne
alfektive Beteiligung. 18.4. Beginn der Cardiazolbehandlung. Nach dem 4.
Anfall beginnt Pat. zu sprechen, ist außer Bett. Nach dem 6. Anfall sehr leb-
haft, außer eckigen Bewegungen nichts Katatones mehr. Erzählt lebhaft und
wortreich von massenhaften z. T. phantastischen Beziehungs- und Beein-
flussungsideen, die auf 2 Jahre zurückgehen. Zahlreiche Sinnestäuschungen,
Personenverkennungen, Erotische Einstellung, gehobene Stimmung. Sehr fleißig
und anstellig. Nach 10 Anfällen Beginn einer Anaesthesulfbehandlung. Schon
nach 4 Tagen Rückfall in Stupor. Vor Abschluß der 2. Cardiazolbehandlung,
die zunächst wieder gut ansprach, mußte Überführung in eine Anstalt erfolgen.
Fall 9: Maria St., 30 Jahre alt.
1933 erste Aufnahme, Diagnose: affektive Verwirrtheit. Rasch wechselnde
Stimmung, inkohärenter Rededrang, pathetisch, religiöse und sexuelle Inhalte,
Verkennungen, illusionäre Sinnestäuschungen. Kein sicherer Anhalt für Schi-
zophrenie. Krankhö6itseinsichtig und gebessert entlassen. In der Zwischenzeit
angeblich gesund.
4.2.1937 Wiederaufnahme, vorläufige Diagnose: Katatonie.
Bewegungsarm, fast mutistisch, zunehmend negativistisch, Stereotypien,
Verkehrtheiten, anfangs starke affektive Schwankungen, später affektive Ver-
flachung, Personenverkennungen, unklare Beziehungsideen und Sinnestäu-
schungen. Formal außer einzelnen Paralogien nichts grob Auffälliges. 29. 5.
1937 Beginn der Gardiazolbehandlung. Nach dem 4. Anfall nichts Katatones
mehr. Zugänglicher, lebhaft, wortreich. Nach dem 7. Anfall deutliche Ver-
worrenheit mit z. T. inkohärentem Rededrang und schwerer paralogischer
Denkstörung, dabei psychomotorisch unauffällig. In diesem Zustand am 5. 10.
1937 entlassen. Endgültige Diagnose: verworrene Schizophrenie.
Solche Erscheinungen von später auftretender Verworrenheit
oder von paranoiden Inhalten ließen sich nun in den meisten Fällen
nicht mehr durch eine Cardiazolbehandlung beeeinflussen, konnten
aber teilweise durch eine angeschlossene Fieberbehandlung mit
Anaesthesulf noch einer Besserung zugeführt werden.
Fall 10: Liselotte W., 26 Jahre alt, verworrene Schizo-
phrenie (Katatonie ?, Hebephrenie ?).
Aufgenommen am 16. 6. 1937. Seit 2 Jahren krank mit Eigenbeziehungen,
Sinnestäuschungen, verkehrten Handlungen. Bei der Aufnahme sehr produk-
150 Margarethe Gerhardt
tiv: Vorwiegend Sinnestäuschungen akustischer und somatopsychischer Art,
Eigenbeziehungen, Gedankenbeeinflussung, Gefühl des Bedrohtseins.
Maniriert, affektiv labil und verflacht, Stereotypien und Parakinesen nega-
tivistisch. Bei guter intellektueller Begabung schwere paralogische und alo-
gische Denkstörung. Schizophrene Sonderform wegen Mannigfaltigkeit des
Symptomenbildes nicht sicher bestimmbar. 23.6. Beginn der Cardiazolbe-
handlung. 24 Anfälle, nicht die geringste Änderung. Sofort anschließende
Anaesthesulfbehandlung. Pat. kann nach 4 Tagen auf die ruhige Abteilung
verlegt werden. Nach 2 Wochen äußerlich geordnet, affektiv verflacht, sehr
zurückhaltend, noch einzelne Sinnestäuschungen und Beziehungsideen. 26. 10.
1937 wesentlich gebessert entlassen.
Solche Fälle habe ich in der Tabelle unter den durch Cardiazol
nicht gebesserten Fällen angeführt. Kombinationen mit Insulinbe-
handlung nahmen wir nicht vor, nur in einem Fall von über 2 Jalıre
Dauer schlossen wir an eine erfolglose Cardiazolbehandlung einige
Wochen später eine Insulinbehandlung an, die zu einer gewissen
Besserung führte.
Bei den erregten Katatonen konnten wir, was die Erregungs-
zustände anbetrifft, meist recht gute Erfolge erzielen. Das machte
sich schon eindrucksmäßig dadurch bemerkbar, daß die unruhige
Frauenabteilung wesentlich ruhiger wurde und Dauerbad wie Medi-
kamente weniger beansprucht wurden. Dieses gute Ansprechen der
Erregten auf die Cardiazolbehandlung kommt in unseren Tabellen
deswegen nicht zur Geltung, weil die Kranken unter der Rubrik
„vorübergehend gebessert‘‘ geführt werden mußten. Sie boten meist
nach der Beruhigung, die sicher schneller als spontan zu erwarten
eintrat, noch längere Zeit paranoide oder andere Krankheitser-
scheinungen, vor deren Abklingen die Kranken bereits aus äußeren
Gründen in eine Anstalt überführt werden mußten. Diese ‚‚vor-
übergehende Besserung“ ist jedoch insofern bedeutsam, als außer
der Ruhigstellung der Abteilung die Gefährdung der Kranken
durch Erregung, Nahrungsschwierigkeiten und fieberhafte Erkran-
kungen zurücktrat.
Die paranoid-halluzinatorischen Erscheinungen selbst
ließen sich durch die Cardiazolbehandlung wenig beeinflussen,
am besten noch in ganz frischen Fällen. Bei älteren Krankheits-
prozessen konnte man sich oft des Verdachts nicht erwehren, daß
die besonnenen Kranken durch die eingreifende und ihnen unan-
genehme Behandlung zum Dissimulieren angeregt wurden.
Fall 11: Erna W., 37 Jahre alt, progressive Halluzinose.
4. Aufnahme 1935 mit isolierten Halluzinationen, die in der Klinik rasch
abklangen. 11.3.1937 2. Aufnahme. Massenhafte, vorwiegend somatopsv-
chische Sinnestäuschungen, phantastische Beziehungsideen, schwere sprach-
liche Entgleisungen und Paralogien: Eine Stromhypnose wirke auf sie ein,
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 151
sie fange die Wellengedanken von den Wahnsinnigen durch den Strom auf.
Eine Brücke wird als „Schnellverkehrssache‘“ bezeichnet, eine Insel als ‚‚ein-
zeiner Berg und hoch‘. Schwere Verkennung der Binetbilder. Flache Affekt-
lage. Pat. gibt nach dem 14. Anfall an, der Strom im Körper sei durch die
Spritzen vertrieben, sie sei wie neu geboren. Macht aber doch noch den Ein-
druck, als ob sie halluziniere, formale Denkstörungen unverändert. 26.5. als
etwas gebessert nach Hause entlassen.
Im engeren Sinne schizophrene Symptome wie Paralo-
gien und sprachliche Verfehlungen ließen sich überhaupt nur
dann beeinflussen, wenn sie eng mit katatonen Zügen und mit Er-
regungen gekoppelt waren.
Fall 12: Marıa Schn., 17 Jahre alt, verworrene Schizo-
phrenie.
1934 und 1935 vorübergehend verstört und erregt, zu Hause behandelt.
28. 6. 1937 Aufnahme. Fast isolierter inkohaerenter Rededrang in monotonem
Tonfall, affektiv anfangs flach-heiter, später unbeteiligt. Psychisch-experimen-
tell ausgesprochene paralogische Denkstörungen: (Kind/Zwerg): „Kind wächst,
beim Zwerg wächst der Bart“; (Not bricht Eisen): „wenn man zu wenig
Eisen im Blut hat‘. Deutliche Verkennungen der Binetbilder. Zunehmende
psychomotorische Erregung, Sinnestäuschungen. 26. 7. spontane Beruhigung,
doch noch gereizt und verworren. 28. 7. Beginn der Cardiazolbehandlung,
nach 6 Anfällen formal geordnet, nur noch etwas still. Nach 14 Anfällen am
25. 9.1937 als Vollremission entlassen.
Bei den Hebephrenen verschwanden am wenigsten die rein
affektiven Störungen, eher die damit verbundene Faxenhaftigkeit
und Sprunghaftigkeit im äußeren Handeln, also die katatonen Bei-
mengungen, deren Verschwinden jedoch bei mehreren Kranken zu
einer befriedigenden Besserung führte.
Sehr auffällig war, daß sich häufig schon nach kurzem Aussetzen
der Behandlung Rückfälle einstellten, wie schon erwähnt wurde
und in Tabelle 1 dargestellt ist. Bei den mit gutem Erfolge ent-
lassenen Kranken ist bisher kein Rückfall aufgetreten. In allen ge-
besserten Fällen war eine wesentliche Abkürzung des Krankheits-
verlaufs festzustellen.
Was die Verträglichkeit der Behandlung anbetrifft, so
haben wir nicht durchweg so gute Erfahrungen gemacht, wie andere
Berichterstatter. Todesfälle waren allerdings nicht zu verzeichnen,
doch haben wir einen schweren Zwischenfall in Form einer Hemi-
plegie erlebt, deren Herkunft nicht sicher geklärt ıst.
Fall13: Rosa K., 23 Jahre alt.
Aufgenommen 26. 12. 1937. Akut mit ängstlicher Erregung erkrankt, deren
Einförmigkeit auf eine Katatonie hinwies. Wegen schwerer lebensbedrohen-
der Erregung trotz fieberhafter Angina Cardiazolbehandlung, obgleich die
Diagnose Schizophrenie noch nicht sicher gestellt war. Nach dem ersten Anfall
152 Margarethe Gerhardt
hielt die Bewußtlosigkeit einen Tag an, am nächsten Tag ließ sich eine Hemi-
plegie vom Weberschen Typ feststellen, es bestand längere Zeit Benommenheit.
Die Kranke wurde nach 6 Wochen mit Restsymptomen der Lähmung, jedoch
frei von psychischen Störungen, entlassen. Zur Zeit hat sich die Lähmung
ebenfalls zurückgebildet, auch psychisch ist die Kranke unauffällig.
Ob die anfängliche Erregung symptomatisch bei einem organi-
schen Hirnleiden war — darauf wiesen vor der Behandlung ver-
dächtige Pyramidenbahnzeichen hin, die wegen der Erregung aber
schwer zu beurteilen waren — oder ob sich durch die fieberhafte Er-
krankung begünstigt ein Gefäßpasmus oder eine Embolie durch den
Cardiazolkrampf bildete und die schizophrenen Krankheitssym-
ptome durch die lange Bewußtlosigkeit und Benommenheit in der
Art eines verlängerten Schocks beeinflußt wurden, kann nicht ent-
schieden werden.
Bei einer anderen Kranken (Johanna L.) trat nach einem Cardia-
zolschock eine Augenmuskellähmung auf, die längere Zeit anhielt
und sich nur allmählich zurückbildete. Bei einer weiteren Kranken
(Lina W.), die sonst nie tetanische Erscheinungen bot, stellte sich
nach der Cardiazolinjektion ein ausgesprochener tetanischer Anfall
mit Carpo-pedalspasmen ein, der einige Stunden anhielt. Seltsamer-
weise war dabei der Calciumspiegel im Blut erhöht. Erhöhung des
Blutcalciumspiegels im prae- und interparoxysmalen Stadium ist
von Georgi und Strauß beschrieben worden. Bei einem Fall (Lina
Sch.) kam es zu einer subconjunktivalen Blutung. In einigen Fällen
traten spontane Kollapse auf. Wegen der starken Kreislauf-
belastung haben wir zahlreiche Kranke von der medizinischen Klinik
klinisch und elektrokardiographisch untersuchen lassen, wobei nur
eine schon bei uns festgestellte und von den Kranken als unange-
nehm empfundene Tachykardie, aber keine frische Myokardschädi-
gung nachgewiesen werden konnte. Bei einer Kranken mit einer an-
fangs nur geringen Thyreotoxikose (Maria H.) verstärkte sich diese
bis zur schweren Grundumsatzsteigerung und Herzinsuffiziens,
weshalb die Behandlung abgebrochen werden mußte. In diesem
Falle genügte jedoch die durchgeführte Behandlung zur Voll-
remission. Auflälligerweise vertrugen einzelne körperlich stark ge-
schwächte Kranke mit Fieber und Kreislaufstörungen die immerhin
eingreifende Behandlung erstaunlich gut und konnten durch diesen
letzten Behandlungsversuch, der unter vollem Bewußtsein der Ge-
fährlichkeit durchgeführt wurde, vor dem sonst sicher ungünstigen
Ausgang bewahrt werden.
Wenn auch die schweren körperlichen Schädigungen nicht zahl-
reich sind, so klagen doch die Kranken durchweg, vor allem bei
längerer Dauer der Behandlung über Schmerzen in der Herzgegend,
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 153
z. T. auch über Muskel- und Rückenschmerzen nach den Anfällen.
Kieferluxationen traten in einzelnen Fällen auf, ließen sich jedoch
einfach einrenken. Venenschädigungen durch das Cardiazol habe
ich, außer einer gewissen Beanspruchung durch den erhöhten Druck
bei Injektionen, nicht beobachtet.
In folgenden Tabellen habe ich die übliche Einteilung nach
der Sonderform und der Krankheitsdauer vorgenommen.
Solche Tabellen können aber die rein eindruckmäßige Beurteilung
der Erfolge nicht ersetzen. Auch kann ein einziger Fall bei dem ver-
hältnismäßig geringen Material die Prozentzahlen schon um ein
Erhebliches verschieben. Beim Vergleich mit den Ergebnissen an-
derer Autoren zeigen sich erhebliche Unstimmigkeiten. Diese hängen
einerseits mit den schwierigen und strittigen Umgrenzung des
Schizophreniebegriffes zusammen; andererseits sind die Ergebnisse
von der Dauer der Behandlung, die ja im äußersten Falle bis zum
Eintritt einer Spontanremission durchgeführt werden kann, und
auch vom Grade des Optimismus des Beurteilers abhängig.
In diagnoistischer Hinsicht sei besonders auf eine Gruppe über-
raschend gut reagierender Erkrankungen hingewiesen, die verschie-
den aufgefaßt werden. Es handelt sich um akut erregte Psychosen,
die mit Verwirrtheit, schwerer psychomotorischer Erregung und
starker affektiver Beteiligung einhergehen. In einzelnen Veröffent-
lichungen wurden sie als hyperkinetische Katatonien angeführt
(Stähli) oder als Amentia bezeichnet, aber doch unter die Schizo-
phrenien gerechnet (Sorger). In anderen Arbeiten erscheinen sie als
„Symptomatische Schizophrenien“ („Symptomschizo-
phrenien‘, v. Meduna). Auch in dem Krankengut unserer Klinik
sind diese Fälle mehrfach vertreten. Wir halten sie jedoch mit Kleist
nicht für schizophrene Erkrankungen, sondern teils für symptoma-
tische Psychosen, teils für Degenerationspsychosen (Motilitäts- und
Verwirrtheitspsychosen); auf ihre Darstellung durch Fünfgeld sei
verwiesen. Da dementsprechend eine spontane Heilung vorauszu-
sehen war, haben wir diese Kranken im allgemeinen den immerhin
vorhandenen Gefahren der Cardiazolbehandlung nicht ausgesetzt
und konnten dann auch die erwartete spontane Heilung ohne Be-
handlung beobachten. Nur in solchen Fällen, bei denen eine akute
Erregung gefahrdrohend erschien, oder nach Abklıngen der Erre-
gung der sich häufig anschließende Hemmungszustand zu lange an-
hielt, habe ich eine Cardiazolbehandlung eingeleitet und sah dann
bei fast allen Kranken ein Abklingen der betreffenden Symptome.
In vielen Fällen begnügten wir uns mit diesem Erfolg, um die Hei-
lung dann weiter spontan ablaufen zu lassen. In anderen Fällen be-
154 Margarethe Gerhardt
handelte ich weiter und sah dann eine rasche und, wie es nach der
Diagnose zu erwarten war, vollkommene Heilung ohne Rest-
symptome eintreten.
Fall 14: Franziska B., 32 Jahre alt, hyperkinetische
Motilitätspsychose.
Nach kurzem Vorstadium mit umschriebenen Beziehungsideen akut er-
krankt. Vor einem Jahr bereits vorübergehender Erregungszustand. Am 17. 3.
1937 aufgenommen.
Schwere psychomotorische Unruhe mit starker affektiver Beteiligung und
pathetischen Ausdrucksbewegungen. Inkohärenter Rededrang. Negativistisch.
Am 23. 3. Zunahme der Erregung. Körperlich sehr schlechter Zustand, Fieber,
leichter Nierenbefund, sehr schlechter Kreislauf. Nach einem Cardiazolanfall
völlig verändert, ruhig, zugänglich, körperlich rasche Erholung. Am gleichen
Tag Einsetzen der Menses. Keine weitere Behandlung. Nach einem einige
Wochen anhaltenden Zustand von ideenflüchtigem Rededrang und um-
schriebenen Beziehungsideen expansiver Art am 19. 6. ohne weitere Behand-
lung geheilt entlassen.
Dagegen habe ich bei den sicheren Schizophrenien, auch wenn
eine „Vollremission‘‘ erzielt wurde, bei der Schlußuntersuchung
stets noch feinere Mängel nachweisen können, die z. T. in leichten
psychomotorischen oder aflektiven Abnormitäten bestanden, z. T.
sich nur bei der psychisch-experimentellen Prüfung in Form von
leichten Denkstörungen erkennen ließen.
Fall 15: Therese Qu. Hebephrenie, 21 Jahre alt.
Aufgenommen 3. 10.1936. Seit 2 Monaten auffällig, sprunghaft, affektiv
verändert. Bei der Aufnahme wechselnde Stimmung, Eingebungserlebnisse,
vorübergehend erregt, paralogische Denkstörung. Im weiteren Verlauf ausge-
sprochen hebephrene Entwicklung mit Albernheit und unmotivierten Affekt-
ausbrüchen. Ohne Anteil an der Umgebung, völlig untätig. 3. 2. 1937 Beginn
einer Cardiazolkur; beginnt bereits nach dem 2. Anfall zu arbeiten, spricht sich
aus, aber immer noch flache Affektlage und einige Verkehrtheiten. Im ganzen
11 Anfälle. Bei der Entlassung am 11. 5. völlig ausgeglichen, etwas heiter, aber
nicht läppisch. Affektiv gut ansprechbar, krankheitseinsichtig. Nur noch etwas
unordentlich im äußeren Verhalten. Psychisch-experimentell: (Insel) ‚Ein
Stück Land... am Meer... an der Meeresküste... ich weiß nicht“. (Brücke):
„Ein Übergangsbau über den Fluß“. Im übrigen bei allen Fragen sehr stockend,
trotz äußerer Lebhaftigkeit. Berufsfähig.
Um einen Vergleich mit den tabellenmäßigen Aufstellungen an-
derer Autoren zu ermöglichen, habe ich unsere Ergebnisse nach
dem Küppersschen Schema eingeteilt, außerdem aber eine Rubrik
über die Rückfälle während des Klinikaufenthaltes, die praktisch
zu den Mißerfolgen zu rechnen sind, eingeschoben.
In der Beurteilung der Ergebnisse kann ich mich jedoch der Ein-
teilung, die Küppers vornimmt, nicht anschließen. So habe ich in
den nächsten Tabellen außer den Rückfällen auch die Klinikbesse-
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 155
rungen, d.h. die Kranken, die nach der Behandlung auf eine
ruhige Abteilung verlegt werden konnten, im Gegensatze zu
Küppers zu den Mißerfolgen gerechnet, wenn auch diese Besse-
rungen nicht unterschätzt werden sollen. Praktisch kommen jedoch
für den Wert der Behandlung nur die entlassungsfähigen Besse-
rungen in Betracht.
Wenn ich die Ergebnisse unseres gesamten Materials nach der
Küppersschen Beurteilung der Cardiazolbehandlungen an 22 Kh-
niken und Anstalten einteile, so komme ich zu folgendem Ergebnis:
Tabelle 2
Küppers Frankfurt
Insgesamt. . . .. . 262 6
Vollremissionen . . . 44=17%, 14=21,5°,
Besserungen . . ..70=27°, 22:33
Unbeeinflußt . . . . 148=56°, 28—=4h49,
Die leichte Überlegenheit unserer Ergebnisse gegenüber der
Küppersschen Zusammenstellung zeigt sich besonders an den älte-
ren Krankheitsfällen, wie ein Vergleich von unseren und Küppers
Tabellen ergibt. Unsere Zahlen kommen ganz nahe an die bei den
Insulinbehandlungen angegebenen Zahlen von Küppers heran.
In den weiteren Tabellen sind die Ergebnisse folgendermaßen
eingeteilt: Die erste Gruppe umfaßt die „Vollremissionen‘“, bei
denen sich Mängel nur bei genauester Untersuchung noch nach-
weisen ließen. Dabei habe ich unterstellt, daß diese feinsten Aus-
fälle von anderen Autoren nicht so stark bewertet, oder daß so ge-
naue Untersuchungen nicht angestellt wurden. Die zweite Gruppe
umfaßt solche Kranke, deren Mängel schon äußerlich auffielen, oder
bei denen noch leichte aktive Symptome bestanden, obgleich die
Kranken sozial geheilt, d. h. arbeitsfähig oder doch unbedenklich
entlassungsfähig waren. Die dritte Gruppe umfaßt die etwas Ge-
besserten, aber nicht entlassungsfähigen Kranken (sog. Klinikbesse-
rungen), sowie diejenigen, bei denen nur die Erregungs- und Stu-
porzustände abgeklungen waren. In der vierten Gruppe sind solche
Kranke angeführt, bei denen nach anfänglicher Remission Rück-
fälle auftraten, ohne daß später noch eine Besserung zu erzielen
war. Über die Häufigkeit der Rückfälle überhaupt gibt Tabelle 1
S. 142 Aufschluß. Die fünfte Gruppe umfaßt die gar nicht oder
unwesentlich beeinflußten Kranken. Bezüglich der Krankheits-
dauer sah ich mich genötigt, wie es auch Küppers tat, die chroni-
schen von den schubweisen Verläufen abzutrennen, da letztere in
ihrer Beeinflußbarkeit von den chronischen Verläufen mit an sich
gleichem Krankheitsbeginn wesentlich abweichen. Demnach be-
156 Margarethe Gerhardt
tragen die wesentlichen Besserungen, — d. h. Vollremissionen und
entlassungsfähige Besserungen zusammen — bei unserem gesamten
Material von 65 Fällen 30 =46°;,, davon Vollremissionen 14= 21,5°,.
Bei frischen Fällen bis 1 Jahr Krankheitsdauer erhöht sich der
Prozentsatz der wesentlichen Besserungen auf 51,5%, darunter der
der Vollremissionen sogar bis 31 %. Unsere Ergebnisse lauten weni-
ger günstig als die anderer Autoren, weil wir die Besserungen stren-
ger beurteilen. Folgen wir dagegen der milderen Beurteilung von
Küppers, so sind unsere Erfolge besser als die von Küppers zu-
sammengestellten, wie Tabelle 2 zeigt, obwohl unser Krankengut
diagnostisch enger umgrenzt ist als das der meisten anderen Beob-
achter, besonders durch die Weglassung der sonst vielfach zu den
Schizophrenien gerechneten, an sich vorübergehenden schweren
akuten Erregungs- und Verwirrtheitszustände, die u. E. Motilitäts-
oder Verwirrtheitspsychosen sind.
Schwierig ist es, die Behandlungserfolge von frischen Erkran-
kungen (bis zu 1 Jahr) mit den älteren Fällen zu vergleichen.
Nimmt man die älteren Fälle zusammen, so kommt man bei unse-
rem Krankengut zu dem überraschenden Ergebnis, daß die Be-
handlungserfolge bei den älteren Fällen nicht allzusehr hinter denen
der frischen Erkrankungen zurückbleiben. Wesentliche Besserungen
wurden bei den älteren Fällen in 40°% erzielt gegenüber 541,5% bei
den frischen Erkrankungen; Vollremissionen bei älteren Fällen
stellten sich allerdings wesentlich ungünstiger dar (10% gegenüber
31,5°,). Recht häufig waren aber die entlassungsfähigen Besserun-
rungen mit 30°, (gegenüber nur 20°, bei den frischen Erkrankun-
gen). Klinikbesserungen wurden bei älteren Erkrankungen öfter
beobachtet 13,3: 8,6%. Rückfälle waren etwas seltener. Die Zahl
der Unbeeinflußten war auf 36,6 gestiegen (gegenüber 25,7 °, bei
den frischen Erkrankungen).
Das Bild ändert sich nun sehr erheblich, wenn man unter den
Kranken, deren Krankheitsbeginn über ein Jahr zurückliegt, die
chronischen von den schubweisen Verläufen trennt. Dann
stehen die schubweisen Verläufe wesentlich besser da als die chronı-
nischen, und es zeigt sich, daß die später eintretenden Krankheits-
schübe fast ebensogute Behandlungserfolge aufweisen wie die
ersten Krankheitsanfälle. Wesentliche Besserungen sind bei spä-
teren Schüben etwa ebenso häufig und sogar noch etwas häufiger
als bei der ersten Erkrankung (54,4 °,: 51,5 °,), nur sind darunter
die entlassungsfähigen Besserungen etwas stärker vertreten als dıe
Vollremissionen. Klinikbesserungen fehlen unter den Schubschizo-
phrenien. Rückfälle traten bei ihnen unter der Behandlung häufiger
157
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158 Margarethe Gerhardt
auf (27,2: 14,3%). Unbeeinflußt blieben die späteren Schübe sogar
seltener als die ersten Krankheitsanfälle (18,1 : 25,7 %).
Die chronisch verlaufenden Schizophrenien zeigen viel ungün-
stigere Behandlungsergebnisse als die frischen Erkrankungen und
als die späteren Krankheitsschübe: Vollremissionen fehlen hier
gänzlich, entlassungsfähige Besserungen sind um ein Drittel häufi-
ger (31,6: 20°%), sehr angestiegen ist die Zahl der geringen nicht
entlassungsfähigen Besserungen (21,7:8,6%) und die der unbe-
einflußten Kranken (47,4 : 25,7 %). Man sollte also nicht die frischen
und die älteren Erkrankungen, sondern einerseits die frischen samt
den späteren Krankheitsschüben, andererseits die chronisch ver-
laufenden Formen einander hinsichtlich der Behandlungserfolge
gegenüberstellen. Die dann sich ergebenden Unterschiede treffen
offenbar zusammen mit Wesensunterschieden zwischen einer
überwiegend chronisch-fortschreitenden und einer stark zu
schubartig-remittierendem Verlauf neigenden Gruppe von
schizophrenen Erkrankungen, die durch Leonhard klarer
herausgearbeitet und als typische und atypische Schizophrenien
bezeichnet worden sind. Leonhards Hinweise auf eine verschiedene
Erbgesetzlichkeit der beiden Gruppen ist kürzlich durch Schwab —
zunächst an katatonen Formen — bekräftigt worden. Die Behand-
lungsergebnisse folgen dann dem im Wesen der Erkrankungen vor-
gezeichneten Plan; sie verbessern die an sich schon günstigere Ver-
laufsweise der mehr schubweisen Krankheitsgruppe und beschrän-
ken sich auf ein bescheidenes Maß bei der nach ihrem Gesetz chro-
nisch-fortschreitenden Krankheitsform.
Ich habe unsere Ergebnisse auch nach den einzelnen Unter-
formen der Schizophrenien eingeteilt und halte mich dabeı an
die von Kleist vertretene Zusammenfassung der zahlreichen Einzel-
formen in die 4 Gruppen von katatoner, hebephrener, verworrener
und paranoider Art; nur bei den Katatonien erschien die Unter-
teilung von erregten und stuporösen Erkrankungen zweckmäßig:
Tabelle 4. Dabei ergab sich ein gutes Ansprechen der katato-
nen Erregungs- und Stuporzustände mit zahlreichen Voll-
remissionen und entlassungsfähigen Besserungen (18,8 bis 25°96).
Die Klinikbesserungen waren nur wenig spärlicher (18%). Hyper-
kinesen und Akinesen ließen sich übrigens auch bei nichtschizo-
phrenen Psychosen gut beeinflussen. Auffällig war die Häufigkeit
der Rückfälle unter der Behandlung bei den erregten Katatonen ım
Gegensatz zu ihrer Seltenheit bei stuporösen Formen. Andererseits
blieben akinetische Katatone häufiger ganz unbeeinflußt als hyper-
kınetische.
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 159
Die Paranoiden zeigten ein überraschend günstiges Ergebnis;
die wesentlichen Besserungen überstiegen hier sogar die der Kata-
tonen (53,9% gegenüber 44°%). Jedoch waren die Vollremissionen
bei Paranoiden erheblich seltener (15,4%). Die Häufigkeit ent-
lassungsfähiger Besserungen und die Seltenheit von Klinikbesse-
rungen ist z. T. äußerlich bedingt. Die Zahl der hebephrenen und
der verworrenen Schizophrenen ist, mit je 7 zu niedrig, um
weitgehende Schlüsse zu ziehen, der Unterschied zwischen den bei-
den und den anderen Formen ist aber doch zu groß, um nur auf den
Zufall der kleinen Zahlen zu beruhen. Wenn die verworrenen For-
Tabelle 4
Krankheitsformen
Katatonie: an Hebe- Dun
erregt stuporös phrenie parenie phrenien
Insgesamt 43 il: 5 us 7
Vollremis-
sion . 4=25% | 5=22,7%| 2=15,40 | 2=28,50%,| 1=14,3%
Gebessert
Eee J 3=18,8%) 5=22,79%,,| 5=385%, | 2=28,5%| 1=14,3%
inik-
besserung.| 3=18,8% | 4=181%, 1=77% | 1=14% 1=11,30%,
Rückfälle 3218,80, | 2=9% si = =
Unbeein-
flußt . =l 3=188% | 6:=-27,2%,| 5=38,4%,| 2=28,5%, | 456,3
Wesentliche
Besserun-
gen Zu-
sammen 7=2383% 10 9541,37 3,9% 42= 127,5 2228,69,
men so sehr viel schlechter abschnitten als alle anderen Arten von
Schizophrenien, so mag dies zu einem nicht geringen Teil damit zu-
sammenhängen, daß in der verworrenen Gruppe die im engsten
Sinn schizophrenen und die schizophasischen Kranken er-
faßt sind, bei denen die Grundstörungen im Denken und Reden, die
Paralogien und die paraphasieartigen Störungen am reinsten und
stärksten ausgeprägt sind und die daher den Stempel des Verfalls
am deutlichsten an sich tragen.
Auch hier zeigt sich dann wieder, daß die Behandlungserfolge
sich nach dem inneren Gesetz der Erkrankungen richten. Sie sind
am geringsten, wo der Zug zum Verfall an sich am stärksten ist, bei
den verworrenen Formen, und sie sind am besten, wo dem Wesen
der Erkrankung fernerstehende Erregungs- und Hemmungszustände
das Bild beherrschen, wie bei den Katatonen.
160 Margarethe Gerhardt
Zu einer einwandfreien Beurteilung der Behandlungsergebnisse —
mit Cardiazol, Insulin oder Fieber — sind nicht nur größere Zahlen
behandelter Kranken und Verfolgung derselben über längere Zeit
erforderlich, sondern auch die Beschaffung zuverlässiger Zahlen
über die Verlaufsweisen und besonders die Remissionen bei unbe-
handelten Krankheitsfällen, ausgehend von einem diagnostisch ge-
sicherten Krankengut. Im Zuge der an unserer Klinik betriebenen
katamnestischen Untersuchungen über die Schizophrenien des Jahr-
zehnts 1920—1930 werden solche Zahlen erst allmählich erarbeitet
werden können, bisher liegen sie nur für die Katatonen vor. Hier
hat sich aus den Untersuchungen von Kleist, Driest und Schwab er-
geben, daß spontane Remissionen in 40,4% vorkamen, d.h. nur
wenig seltener als bei unseren mit Cardiazol behandelten Katatonen
(44,6°,) und als bei der Gesamtheit unserer cardiazolbehandelten
Schizophrener (460%). Dagegen ist unter den spontanen Remissio-
nen die Zahl der Vollremissionen klein im Verhältnis zu den Teil-
remissionen (entlassungsfähigen Besserungen, nämlich 11,5°, zu
28,8%), verglichen mit unseren cardiazolbehandelten Katatonen,
unter denen die Vollremissionen 23,9°,, die Teilremissionen 20,8”,
betrugen; die entsprechenden Zahlen unserer gesamten cardiazol-
behandelten Schizophrenen machen 21,5 und 24,5°, aus. Die Zahl
der Vollremissionen ist also unter der Cardiazolbehand-
lung etwa auf das Doppelte gestiegen.
Die Wirkung der Cardiazolkrampfbehandlung liegt demnach we-
niger in der Vermehrung der Remissionen, als in einer Verbesserung
und Beschleunigung derselben; denn daß Besserungen unter dem
Einfluß der Einspritzungen eintreten, durch eine gewisse Anzahl
von Einspritzungen begünstigt werden und somit schneller erfolgen,
als wenn diese Kranken nicht behandelt worden wären, sieht man
unmittelbar, noch deutlicher als es aus der Tabelle 1 hervorgeht.
Dasselbe bekunden die sofort eintretenden Rückfälle bei vorzeiti-
gem Abbruch der Behandlung. Über die Dauer der durch die Car-
diazolkrämpfe bedingten Remissionen kann noch nichts Abschlie-
Bendes gesagt werden.
Zusammenfassung
Die Cardiazolkrampfbehandlung stellt ein erfolgreiches Verfahren
bei schizophrenen Erkrankungen dar, ist aber auch bei anderen
Psychosen, besonders solchen mit schweren Erregungs- und Hen-
mungszuständen wirksam und kann dabei lebensrettend sein. Die
besten Erfolge sahen wir bei 15—20 Einspritzungen, mit 3 Ein-
spritzungen wöchentlich. Es genügen daher 5—7 Wochen.
Ex) —— Ann.
Ergebnisse und Beobachtungen bei der Cardiazol-Krampfbehandlung usw. 161
Die Einzeldosis mußte wegen Gewöhnung allmählich von 5 bis
durchschnittlich auf 8, einige Male bis auf 10 und 12 ccm der 10°; -
Lösung gesteigert werden.
Unmittelbare Wirkungen des Cardiazols sind außer den Anfällen
fast regelmäßig Angstgefühle, häufig elementare Gesichts- und Ge-
ruchstäuschungen, seltener — bei ausbleibenden oder unvollkom-
menen Anfällen —, Hyperkinesen in Form von Stereotypien und
Iterationen, Auftreten von Saugreflex und Schnauzkrämpfen, ferner
Dämmerzustände, nach den Anfällen Hungergefühle und Heiter-
keit. Längere Nachwirkungen waren mitunter Antriebsarmut,
Merk- und Aufmerksamkeitsschwäche. Vereinzelt wurden vorüber-
gehende Schädigungen des Nervensystems durch das Cardiazol be-
obachtet: Hemiplegie, Augenmuskellähmung, tetanischer Anfall,
subkonjunktivale Blutung, Kollapse, Verschlimmerung einer Thy-
reotoxikose.
Aussetzen und vorzeitiges Abbrechen der Behandlung führt oft
zu sofortigem Rückfall. Einspritzungen mit nicht oder unvoll-
kommen ausgelösten Anfällen bewirkten häufig Verschlimme-
rungen.
Bei ungenügendem Erfolg der Cardiazolbehandlung brachte
manchmal eine sofort angeschlossene Fieberbehandlung mit Anäs-
thesulf eine volle Remission.
Von den einzelnen schizophrenen Krankheitserscheinungen spre-
chen am besten und schnellsten die psychomotorisch-katato-
nen Störungen auf die Cardiazolbehandlung an, weniger die affek-
tiven Veränderungen, Sinnestäuschungen und wahnhaften Sym-
ptome, am schlechtesten die paralogisch-alogischen Denkstörungen
und die sprachlichen Störungen, d. h. die hauptsächlichen Grund-
symptome der Krankheit. Dementsprechend ergab die katatone
Sonderform der Schizophrenien die besten Behandlungserfolge, die
verworrene schnitt am schlechtesten ab.
Der Behandlungserfolg liegt weniger in einer Vermehrung der
Remissionen, die unbehandelt und behandelt 40,4 bzw. 46%, be-
tragen, als in einer Verbesserung und Beschleunigung der Remis-
sionen. Es traten etwa doppelt so viele Vollremissionen auf als bei
spontanen Krankheitsnachlässen (21,5:11,5). Der Klinikaufent-
halt konnte oft erheblich abgekürzt werden, Überführungen in Be-
zirksanstalten erübrigten sich häufig.
Bei der Beurteilung der Behandlungsergebnisse muß neben der
Dauer die Verlaufsweise stärker berücksichtigt werden. Frische
Erkrankungen (bis zu 1 Jahr Krankheitsdauer) und spätere
Krankheitsschübe reagieren annähernd gleich günstig — mit
11 Algem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1/2.
162 - Margarethe Gerhardt
51,5% bzw. 54,4% — durch wesentliche Besserungen (Vollremis-
sionen und entlassungsfähige Besserungen) auf die Behandlung.
Unbeeinflußt blieben hier nur 25,7% bzw. 18,1%. Die chronisch
verlaufenden Formen von einem und mehr Jahren Dauer sprechen
auf die Behandlung viel schlechter an; nur 31,6% wesentliche Bes-
serungen (darunter keine Vollremission), dagegen 47,4%% Unbeein-
flußte. Darin prägt sich wahrscheinlich die Verschiedenheit zweier,
durch Leonhard herausgestellter Schizophreniearten, einer typi-
schen, vorwiegend chronisch-progressiven und einer atypischen,
meist remittierenden Form aus. Die Behandlungsergebnisse folgen
den Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Krankheitsart.
Literatur
Büdingen, Mschr. Psychiatr. 97 (1937). — Briner, Schweiz. Arch. Neur. 39
(1937). — Fünfgeld, Die Motilitätspsychosen und Verwirrtheiten. Abh. Neur.
usw. 77 (1936). — Georgi und Strauß, Schweiz. Arch. Neur. 39 (1937). — Kastein,
Ref. Zbl. 89 (1938). — Kleist, Allg. Z. Psychiatr. 74 (1918). — Kleist, Allg. Z.
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Schweiz. Arch. Neur. 39 (1937). — Küppers, Allg. Z. Psychiatr. 107 (1938). —
Lehmann-Facius und Gerhardt, Med. Klinik 35 (1937). — Leonhard, Die defekt-
schizophrenen Krankheitsbilder, Leipzig (1936). — v. Meduna, Die Convul-
sionstherapie d. Schizophrenie, Halle a. S. (1937). — Schwab, Z. Neur. (1938)
(im Druck). — Sorger-Hofmann, Psychiatr.-neur. Wschr. 41/42 (1937). —
Stender, Münch. med. Wschr. II 1893 (1937).
Über die Pflichten der Ärzte und Kranken-
anstalten zur Herausgabe der Krankengeschichten
Von
Dr. jur. Franz Neukamp in Bielefeld
„In engem Zusammenhang mit der Frage der Wahrung des
ärztlichen Berufsgeheimnisses steht die viel umstrittene Frage,
ob und wieweit der Arzt berechtigt oder verpflichtet ist, dem Er-
suchen Dritter, insbesondere von Behörden, um Herausgabe
von Krankengeschichten stattzugeben.“‘ (Ebermayer, 2, S. 56).
Mit der durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
vom 14. Juli 1933 — weiter kurz „Erbkrankheitsgesetz‘‘ genannt
— eingeführten und durch das Ehegesundheitsgesetz vom 18. Ok-
tober 1935 erweiterten Erbgesundheitsgerichtsbarkeit und mit
der Neuregelung des ärztlichen Berufsgeheimnisses durch $ 13
Reichsärzteordnung hat die Frage der Pflicht der Ärzte und
Krankenanstalten zur Herausgabe der Krankengeschichten eine
erhöhte Bedeutung gewonnen.
Ärzte und Krankenanstalten sind überall da zur Herausgabe
der Krankengeschichten verpflichtet, wo sie nach den Vorschriften
der Seuchengesetze, des Geschlechtskrankheitengesetzes, des $ 7
Abs. 2 des Erbkrankheitsgesetzes, Art. 3 Abs. 4 der 1. Ausführungs-
verordnung dazu, des Ehegesundheitsgesetzes usw. zur Auskunfts-
‚ erteilung und Aussage gesetzlich verpflichtet sind. Soweit in diesen
gesetzlich bestimmten Fällen und darüber hinaus, Kranken-
geschichten an Behörden und Gerichte, in denen wie in der Erb-
um mu mie pm er
m
sesundheitsgerichtsbarkeit Ärzte maßgeblich mitwirken, heraus-
gegeben werden sollen, dürften seitens der Ärzte gegen eine solche
Herausgabe der von Ärzten für Ärzte geschriebenen Kranken-
geschichten keine Bedenken bestehen.
Weil nun aber Krankengeschichten von Ärzten für Ärzte in
einer nur den Ärzten verständlichen Sprache verfaßt sind, be-
stehen in Ärztekreisen erhebliche und berechtigte Bedenken gegen
die Herausgabe der Krankengeschichten an Nichtärzte und die
Einsichtnahme in Krankengeschichten durch Nichtärzte.
Im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Erbgesundheits-
obergerichte herrscht Streit darüber, ob den Nichtärzten in die
11*
164 Franz Neukamp |
den erbgesundheitsgerichtlichen Akten beigefügten Kranken-
geschichten Einblick gewährt werden darf.
In dem vor Erlaß der Reichsärzteordnung ergangenen Beschluß
des Erbgesundheitsobergerichts Breslau von 8. Mai 1935 wird
erklärt, daß ein Arzt nach $ 7 Abs. 2 Erbkrankheitsgesetz zur
Herausgabe der Krankengeschichte an das Erbgesundheitsgericht
verpflichtet ist, und im Weigerungsfalle eine Ordnungsstrafe narh
$ 390 Zivilprozeßordnung gegen den Arzt festgesetzt werden kann.
Auch Gütt-Rüdin-Ruitko (5, S. 217, Nr. 21) erklären, daß die Über-
lassung von Krankengeschichten und Krankenblättern als unter
die Auskunftserteilung nach $ 7 Erbkrankheitsgesetz fallend von
den Erbgesundheitsgerichten verlangt werden könne.
Hinsichtlich der Einsichtnahme in die den erbgesundheits-
gerichtlichen Akten beigefügten Krankengeschichten durch den
betroffenen Erbkranken, seine gesetzlichen Vertreter, Vormund.
Pfleger, oder durch seinen Rechtsbeistand, Rechtsanwalt, treten
Gütt-Rüdin-Ruitke (5, S. 229, Nr. 11) der Entscheidung des Erb-
gesundheitsobergerichts München vom 7. Mai 1935 gegen Mak-
feller (8, S. 1584 — nicht „1388“, wie bei Gütt-Rüdin- Ruttke irr-
tümlich steht) bei mit der Erklärung: die Krankengeschichten
seien als Beiakten den Gerichtsakten zuzurechnen; das Recht
der Einsichtnahme in die Gerichtsakten (Akteneinsicht) sei grade
im erbgesundheitsgerichtlichen Verfahren ohne Bedeutung, wenn
die Einsichtnahme in die Beiakten — Krankengeschichten — ver-
weigert werde. Dem betroffenen Erbkranken werde das Gericht
zwar oft die Einsichtnahme nicht gestatten können, dem Pfleger
müsse dagegen die Akteneinsicht einschließlich der Kranken-
geschichten als Beiakten gewährt werden, damit der Pfleger seiner
Aufgabe voll gerecht werden könne. Es sei freilich oft sinnlos,
Laien Einblick in die Krankenblätter zu geben, die doch nur der
ärztliche Sachverständige lesen und deuten könne.
Während Erbgesundheitsobergericht Jena im Beschluß vom
4. Dezember 1935 die Einsichtnahme in die Krankenblätter als
Beiakten durch den Rechtsanwalt des Erbkranken für statthaft
erklärt, weil der Betroffene die ın der Krankengeschichte enthalten®,
lange Zeit zurückliegende Begutachtung als unrichtig dartun
wolle, was sein gutes Recht sei, und weil der Rechtsanwalt aus den
Krankenblättern nichts dem Erbkranken Nachteiliges mitteilen
werde, hält Erbgesundheitsobergericht Karlsruhe im Beschlub _
vom 7. Februar 1936 die Einsichtnahme in die den Gerichtsakten :
beigefügten Krankenblätter durch den Rechtsanwalt des Erb
kranken für unzulässig, weil die Krankengeschichten nur zur per- -
Über die Pflichten der Ärzte und Krankenanstalten usw. 165
sönlichen Unterrichtung der ärztlichen Mitglieder des Erbgesund-
heitsgerichts beigezogen worden seien, und weil ferner der Rechts-
anwalt als medizinischer Laie den Inhalt der Krankenblätter gar
nicht sachgemäß würdigen könne. Auch der Beschluß des Erb-
gesundheitsobergerichts Braunschweig vom 3. April 1936 versagt
dem Rechtsanwalt des Erbkranken die Einsichtnahme in die
Krankengeschichte, weil das Erbgesundheitsgericht von sich aus
eine solche Einsichtnahme in die Krankenblätter nicht gestatten
könne und die betreffende Krankenanstalt sich auf Anfrage nicht
mit der Gewährung der Einsicht in die Krankengeschichte durch
den Erbkranken oder dessen Rechtsbeistand einverstanden er-
klärt habe.
Kapp (8, S. 1113) legt unter Hinweis auf oben erwähnte Ent-
scheidung des Erbgesundheitsobergerichts Karlsruhe vom 7. Feb-
ruar 1936 dar, es sei ein Widerspruch, dem Rechtswahrer die Ent-
scheidung über die Anordnung oder Ablehnung einer Unfrucht-
barmachung mitzuübertragen, aber ihm die Befugnis abzusprechen,
die Unterlagen hierfür einzusehen; man müsse dem Rechtswahrer
auch die Einsicht ın die Krankengeschichten gestatten. Daher
sei der von einer großen Krankenanstalt bei Übersendung ihrer
Krankengeschichten an die Erbgesundheitsgerichte verwandte
Aufdruck, wonach die Einsichtnahme in den Inhalt der Kranken-
geschichte durch Nichtärzte unzulässig sei, abzulehnen. .
Friese und Lemme (2, S. 166) treten dafür ein, den Beteiligten
und auch dem etwaigen Vertreter des Betroffenen regelmäßig un-
beschränkte Akteneinsicht zu gestatten, „da sonst die Gewährung
rechtlichen Gehörs im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht
denkbar‘ sei. Auch Ristow (14, S. 146, Anm. 13a) spricht sich
dafür aus, daß der Rechtsanwalt des Erbkranken die Gerichts-
akten mit Beiakten und besonders die Krankengeschichten ein-
sehen könne. Das Ineinandergreifen von medizinischen und Rechts-
fragen bedinge eine besondere Stellung des Rechtsanwalts, der
neben der Aufklärung des Tatbestandes und eigenen medizinischen
Kenntnissen (??!!) zu seiner Unterstützung einen Arzt hinzu-
ziehen müsse. Dieser Arzt besitze ähnliche Aufgaben wie der
Parteisachverständige in technischen Fragen. Der ärztliche Partei-
sachverständige werde die Stellungnahme des Amtsarztes über-
prüfen müssen, ob gewisse Lebensgewohnheiten des Betroffenen
Kennzeichen für das Vorliegen einer Erbkrankheit oder nur harm-
lose Eigentümlichkeiten seien.
Am eingehendsten befaßt sich im Anschluß an Ristow der Vor-
sitzende des 2. Senats des Erbgesundheitsobergerichts Berlin,
Kammergerichtsrat Dr. Pfeifer (13) mit der Frage der Einsicht-
166 Franz Neukamp
nahme in die Krankengeschichten; daher soll zu Pfeifers Dar-
legungen auch ausführlich Stellung genommen werden.
Mit Recht betont Pfeifer, es dürfe hinsichtlich der Einsicht-
nahme kein Unterschied zwischen den Krankenblättern und
Auskünften der Hausärzte einerseits und den Krankenge-
schichten der Krankenhäuser andererseits gemacht werden.
Es sei unbestreitbar und nirgends bestritten, daß die Aus-
künfte der Hausärzte den Betroffenen offen zu legen sind. Das
Vertrauensverhältnis zwischen dem Hausarzt einerseits und dem
Betroffenen und seinen Angehörigen andererseits werde durch die
Bekanntgabe der ärztlichen Beurteilung des Hausarztes viel
gründlicher gestört als das der Ärzte öffentlicher oder privater
Heilanstalten. Die beamteten und staatlich angestellten Ärzte
würden durch einen Wechsel der inneren Einstellung des Betroffe-
nen und seiner Familie überhaupt nicht berührt. Bei Ärzten von
Privatanstalten hätten sich der Betroffene und seine Angehörigen
durch die Unterbringung in der Heilanstalt mit der Feststellung
einer Geisteskrankheit, wenn auch noch nicht einer Erbkrankheit,
abgefunden. Es gäbe keinen Grund, weshalb die Geheimhaltung
der Krankengeschichten öffentlicher oder privater Heilanstalten
wichtiger sein sollte als die der von den Hausärzten erforderten
ärztlichen Äußerungen über den von ihnen ermittelten Befund.
Im erbgesundheitsgerichtlichen Verfahren liege es in der Natur
der Sache, daß sich die Beiakten, die Krankengeschichten, auf das
gleiche wie die Gerichtsakten beziehen, ob nämlich eine geistige
Erkrankung vorliege und ob diese eine Erbkrankheit sei. Die Ver-
fasser der Krankengeschichten seien Fachärzte, die nur Wichtiges
und nichts Unwesentliches hineinschreiben. Die in den Kranken-
geschichten niedergelegten fachärztlichen Feststellungen müßten als
Ergebnis der Beweisaufnahme vor der erbgesundheitsgerichtlichen
Entscheidung vom Gericht mitgeteilt werden. Im Rahmen solcher
Mitteilungen könnten schon vorher den Rechtsanwälten der Be-
troffenen die Beiakten mit Krankengeschichten offengelegt werden.
Die Krankengeschichte sei im Interesse des Betroffenen nieder-
geschrieben, nicht, wie gelegentlich geäußert werde, von Ärzten
für Ärzte. Der Arzt übe seinen Beruf nicht im luftleeren Raum
aus, sondern im Rahmen seiner öffentlich- oder privatrechtlichen
ärztlichen Behandlungspflicht dem Betroffenen gegenüber.
Als durchschlagendsten Grund, weshalb dem Rechtsanwalt des
Betroffenen grundsätzlich die Einsichtnahme in die Kranken-
geschichten gestattet werden solle, führt Pfeifer an:
Man könne verschiedener Ansicht darüber sein, ob man als
Erbgesundheitsrichter den Betroffenen statt mit einem Rechts-
Über die Pflichten der Ärzte und Krankenanstalten usw. 167
anwalt lieber mit seinem Hausarzt erscheinen sehe. Da das Erb-
krankheits- und Ehegesundheitsgesetz die Zuziehung und das
Auftreten von Rechtsanwälten vor den Erbgesundheitsgerichten
gestatte, erfordere es der innere Gleichklang zwischen Gericht und
Anwalt, und die entsprechende Würde der Verhandlung, dem
Anwalt die Berufsausübung nicht zu erschweren, sondern mit ihm
zusammen zu arbeiten. Die Vorenthaltung der Krankengeschichte
stelle für den Anwalt eine Erschwerung seiner Berufsausübung
dar, wodurch das Ansehen des Anwalts seinem Auftraggeber gegen-
über vermindert werde. Der Betroffene und seine Angehörigen
würden vielleicht gerade noch einsehen können, daß und warum
ihnen im Einzelfalle die Einsichtnahme in die Krankenblätter
zweckmäßiger Weise versagt werde. Dem Anwalt jedoch die Ein-
sichtnahme in die Krankengeschichte zu untersagen, würden weder
der Betroffene mit seinen Angehörigen noch weitere Volkskreise
verstehen, da der Anwalt ein Organ der Rechtspflege ist. Durch
die Vorenthaltung der Krankenblätter dem Anwalt gegenüber
werde eine Wand des Mißtrauens errichtet, hinter der die Betroffe-
nen Dinge vermuten könnten, die gar nicht dahinter ständen.
„Diese subjektive Wirkung des Eindrucks eines Kampfes gegen
Unbekanntes muß m. E. ım Laufe der Zeit weitere Kreise ziehen
und trägt m. E. zum mindesten nicht dazu bei, die Rechtspflege
in unserm Verfahren vollkstümlich zu machen.“
Während nun Pfeifer aus vorstehenden Gründen sich ganz all-
gemein für die Offenlegung der Krankengeschichten für Rechts-
anwälte ausspricht, will er hinsichtlich der Pfleger und anderer
gesetzlicher Vertreter der Betroffenen im Einzelfalle entscheiden.
Bei den Pflegern usw. bestehe das gleiche subjektive Unvermögen
wie bei den Kranken selbst zu einer sachlichen Stellungnahme zu
den einzelnen Krankheitserscheinungen der Krankengeschichte,
weil die Pfleger zweckmäßig möglichst Angehörige oder persön-
liche Vertrauensleute der Betroffenen sein sollten.
Wenn einmal in der Familie eines Naturwissenschaftlers ein
Fall von Erbkrankheit vorkommt, und der Naturwissenschaitler
zum Pfleger des Erbkranken bestellt wird, so versteht dieser
Naturwissenschaftler die Krankengeschichten sicher besser zu
würdigen als jeder Rechtswahrer.
Die einzigen Rechtswahrer, die Krankengeschichten zu lesen
vermögen, werden wohl die Vorsitzenden der Erbgesundheits-
gerichte und Erbgesundheitsobergerichte infolge ihrer besonderen
Vorbildung sein. Darum erklärt auch Kapp (8, S. 1113) mit Recht,
es sei ein Unding, dem Rechtswahrer die Entscheidung über die
Anordnung oder Ablehnung einer Unfruchtbarmachung zu über-
168 Franz Neukamp
tragen, aber ihm die Einsichtnahme in die Krankenblätter zu ver-
sagen. Hier denkt Kapp offensichtlich nur an die Rechtswahrer,
die Vorsitzende der Erbgesundheitsgerichte und Erbgesundheits-
obergerichte sind, nicht dagegen an die Rechtsanwälte, die als
Rechtsbeistände der Unfruchtbarzumachenden auftreten.
So wenig der Rechtsanwalt etwa in einem Patentprozeß über
ausreichende technische Kenntnisse verfügt, um ohne Zuziehung
eines technischen Sachverständigen seinen Auftraggeber richtig
zu beraten und zu vertreten, ebensowenig verfügt der Rechts-
anwalt im erbgesundheitsgerichtlichen Verfahren über ausreichende
medizinische Kenntnisse, um ohne Mitwirkung eines Arztes als
Gutachter die Krankengeschichten würdigen zu können. Wird aber
vom Erbkranken oder dessen Rechtsanwalt ein Arzt als Gut-
achter zur Mitwirkung beigezogen, dann unterliegt dieser sach-
verständige Arzt als „Beteiligter‘‘ der Schweigepflicht des $ 15
Erbkrankheitsgesetz genau wie der Rechtsanwalt.
Auch Ristow (14, S. 147) hält auf Seiten des Betroffenen ein
Zusammenwirken zwischen Rechtsanwalt und dem Arzt als bei-
gezogenem Gutachter für ebenso geboten wie die Zusammenarbeit
des Richters und der Ärzte im erbgesundheitsgerichtlichen Ver-
fahren. Wenn Pfeifer (13) in Übereinstimmung mit dem dort an-
geführten Falck meint, dem Rechtsanwalt als Verteidiger werde
in den hochpolitischen Hoch- und Landesverratssachen Aktenein-
sicht gewährt, daher müsse und dürfe der Rechtsanwalt auch die
Krankengeschichten einsehen, so verkennt er, daß es sich in Ver-
ratssachen vorwiegend um Rechtsfragen, dagegen in Erbgesund-
heitssachen (Erbkrankheits- und Ehegesundheitssachen) ganz über-
wiegend um medizinische Probleme handelt. Es liegt gewiß kein
Mißtrauensvotum darin, daß dem Rechtsanwalt die Einsicht-
nahme der Krankengeschichte verwehrt wird.
Gewiß sind, wie Pfeifer (13) erklärt, die Krankeugeschichten im
Interesse der Betroffenen, aber von Ärzten für Ärzte niederge-
schrieben; darin liegt kein Widerspruch. Der Arzt soll zwar
Krankenblätter anlegen und führen im eigenen wie im Interesse
des Patienten; er braucht und soll auch gar nicht die Kranken-
blätter so abfassen, daß jeder Nichtarzt deren Inhalt versteht.
Es dient im Gegenteil der dem Arzte im ausschließlichen Interesse
der Patienten nach $ 13 Reichsärzteordnung obliegenden Schweige-
pflicht, wenn der Inhalt der Krankenblätter für jeden Nichtarzt
ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.
Da nun die Krankengeschichten von Nichtärzten — mit wohl
einziger Ausnahme der Vorsitzenden der Erbgesundheitsgerichte
und Erbgesundheitsobergerichte — gar nicht gewürdigt werden
Über die Pflichten der Ärzte und Krankenanstalten usw. 169
können, so fragt es sich, ob Ärzte und Krankenanstalten ihre
Krankenblätter an andere Gerichte und Behörden als die Erb-
gesundheitsgerichte, Erbgesundheitsobergerichte, Gesundheits-
ämter und Reichsgesundheitsamt aushändigen müssen, oder ob
sie die Herausgabe der Krankengeschichten an solche Gerichte
und Behörden, bei denen keine Ärzte mitwirken, verweigern dürfen.
Weil nun die Krankengeschichten für den Nichtarzt unverständlich
sind und sein müssen, so kann m. E. jeder Arzt und jede Kranken-
anstalt die Herausgabe der Krankengeschichten mit dem Hinweis
verweigern, daß die Krankenblätter nur für einen Arzt verständ-
lich sind und von diesem richtig gewürdigt werden können. Dann
mag die Behörde, die ein Interesse an der Prüfung der Kranken-
geschichten hat, den Arzt oder die Krankenanstalt auffordern, die
Krankengeschichten an den von der Behörde benannten Ver-
trauensarzt auszuhändigen. Der Arzt oder die Krankenanstalt
sollte die ersuchende Behörde gleich auf deren erste Aufforderung
hin auf diesen Ausweg hinweisen. Eine weitere Prüfung, ob der
von der Behörde benannte Vertrauensarzt zur richtigen Würdi-
gung der Krankengeschichten befähigt ist, steht m. E. dem Arzt
und der Krankenanstalt nicht zu. Der von einer Behörde mit der
Durchsicht der Krankenblätter betraute Arzt weiß, daß auch für
ihn das Schweigegebot des $ 13 Reichsärzteordnung gilt. Im Hin-
blick auf die Schweigepflicht des $ 13 Reichsärzteordnung sind
Ärzte und Krankenanstalten m. E. berechtigt, die Herausgabe
ihrer Krankengeschichten an irgendwelche Behörden, bei denen
Ärzte nicht mitwirken, zu verweigern, bis dem Arzt oder der
Klinik durch Benennung eines Vertrauensarztes die Gewähr ge-
boten ist, daß das Berufsgeheimnis nach $ 13 Reichsärzteordnung
gewahrt bleibt. Sind Ärzte und Krankenanstalten im Zweifel, ob
sie auf Ersuchen einer Behörde ihre Krankengeschichten aus-
händigen müssen, so können sie, wie ich schon (11, S. 82) vor-
schlug, das Ersuchungsschreiben der Behörde mit den Kranken-
blättern dem für sie zuständigen Gesundheitsamt mit der Bitte um
Prüfung des Ersuchens und um etwaige Weitergabe der Kranken-
geschichten an die betreffende Behörde vorlegen. Das Gesundheits-
amt mag dann prüfen, ob der ersuchenden Behörde Einsicht in
die Krankenblätter gewährt werden muß oder zu versagen ist.
Die Behörden, die Auskünfte von Ärzten und Kliniken benötigen,
sollten sich ihrerseits an das für den Arzt oder die Klinik zuständige
Gesundheitsamt wenden und Krankengeschichten durch Ver-
mittlung des Gesundheitsamts einfordern. Auf diese Art wird
zwischen die ohne Ärzte arbeitende Behörde einerseits und den
170 Franz Neukamp
Arzt oder die Klinik andererseits das sachkundig besetzte Gesund-
heitsamt eingeschaltet. Es ist auch durchaus im Interesse des
Volksganzen, wenn durch solche Einschaltung das Gesundheits-
amt von den zwischen Behörden einerseits und Ärzten und Kran-
kenanstalten andererseits schwebenden Angelegenheiten erfährt.
Jedenfalls kann jeder Arzt und jede Krankenanstalt einer etwa
drohenden Beschlagnahme ihrer Krankengeschichte entgegen-
treten und von jeder Behörde, bei der keine Ärzte mitwirken, und
die Krankengeschichten anfordert, genaue Angaben über Grund
und Zweck der Anforderung verlangen unter Hinweis auf $ 13
Reichsärzteordnung, wonach nicht die anfordernde Behörde,
sondern nur der Arzt selbst prüfen und entscheiden kann und muß,
ob er das in der Krankengeschichte niedergelegte Berufsgeheimnis
offenbaren darf oder geheimhalten muß. Der Ansicht von Coermann
und Wagner: „Deutsches Ärzterecht‘‘ (Stuttgart, 1938, S. 97),
der Arzt dürfe öffentlichen Stellen die Herausgabe von Kranken-
geschichten auf Grund seines Berufsgeheimnisses nicht verweigern,
kann ich nicht uneingeschränkt zustimmen. Der Arzt muß auch vor
Herausgabe der Krankengeschichten genau nachforschen, ob diese
Krankengeschichten nicht vielleicht ganz vertrauliche Briefe der
Patienten enthalten, und muß solche Briefe vor Abgabe der
Krankenblätter daraus entfernen und sorgsam verwahren. Der
Arzt wird mitunter auch zunächst versuchen, ob die anfordernde
Behörde sich mit einer sorgsamen und gemeinverständlichen Aus-
kunft an Stelle der Krankengeschichten begnügt.
Die Pflicht der Ärzte und Krankenanstalten zur Auskunfts-
erteilung und Herausgabe der Krankengeschichten an die Erb-
gesundheitsgerichte und Erbgesundheitsobergerichte gibt aber
nicht jedem am erbgesundheitsgerichtlichen Verfahren in Erb-
krankheits- oder Ehegesundheitssachen Beteiligten oder Betroffe-
nen das Recht, die den erbgesundheitsgerichtlichen Akten beige-
fügten Krankengeschichten einzusehen. In diesen Fällen haben
nicht die Ärzte und Krankenanstalten, sondern die Erbgesund-
heitsgerichte und Erbgesundheitsobergerichte zu prüfen und zu ent-
scheiden, ob und welchen Betroffenen und Beteiligten die Einsicht-
nahme in die Krankengeschichten gewährt werden kann und muß.
Verzeichnis
A. der Rechtsprechung
Erbgesundheitsobergericht München vom 7. Mai 1935 Jur. Wschr., 1935.
S. 2511, Nr. 61. — Erbgesundheitsobergericht Breslau vom 8. Mai 1935. Jur.
Wschr., 1935, S. 2150, Nr. 55. — Erbgesundheitsobergericht Jena vom 18. Sep-
Über die Pflichten der Ärzte und Krankenanstalten usw. 171
tember 1935. Jur. Wschr., 1935, S. 3479, Nr. 45. — Erbgesundheitsober-
gericht Jena vom 4. Dezember 1935. Jur. Wschr., 1936, S. 277, Nr. 62. —
Erbgesundheitsobergericht Karlsruhe vom 7. Februar 1936. Jur. Wschr., 1936,
S. 1008, Nr. 36. — Erbgesundheitsobergericht Braunschweig vom 3. April
1936. Jur. Wschr., 1936, S. 1994, Nr. 71. — Erbgesundheitsobergericht Berlin
vom 10. Februar 1937. Jur. Wschr., 1937, S. 957, Nr. 51.
B. des Schrifttums
1. Becker, Die Wahrung des ärztlichen Berufsgeheimnisses. Dtsch. Rechts-
pflege, 1937, S. 259. — 2. Ebermayer, Der Arzt im Recht. Leipzig, 1930. —
3. Friese und Lemme, Die Deutsche Erbpflege. Ein Grundriß. Leipzig, 1937.
4. Gütt-Linden- Maßjfeller, Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. München,
1936. — 5. Gütt-Rüdın-Ruitke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses. 2. Auflage, München, 1936. — 6. Hellwig, a) Die Neuregelung des
Berufsgeheimnisses des Arztes. Dtsch. Med. Wschr., 1936, S. 153. — b) Die
Bedeutung der Reichsärzteordnung für die Rechtspflege. Deutsch. Justiz, 1936,
S.370; zusammen mit Schäfer — (15). — 7. Kallfelz, Das ärztliche Berufs-
geheimnis nach der Reichsärzteordnung. Jur. Wschr., 1936, S. 1343. —
8. Kapp, Einige ärztlich-biologische Gedanken zum Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses. Dtsch. Justiz, 1937, S. 1112. — 9. Maßfeller,
Weitere Einzelfragen aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses. Dtsch. Justiz, 1934, S. 1579. — 10. Mittermaier, Das ärztliche Berufs-
geheimnis nach der Reichsärzteordnung. Mschr. für Kriminalbiologie und
Strafrechtsreform, 27. Jahrgang, 1936, S. 153. — 11. Neukamp, a) Berufs-
geheimnis und Kurpfuscherei. Dtsch. Med. Wschr., 1927, S. 1828. b) Kur-
pfuscherei, Berufsgeheimnis, Rechtsangleichung und Strafgesetzentwurf.
Dtsch. Med. Wschr., 1928, S. 281; 1930, S. 884; Gesundheitslehrer, 1929,
S. 235. c) Berufsgeheimnis und Schweigepflicht. Klin. Wschr., 1935, S. 98.
d) Das ärztliche Berufsgeheimnis nach der Reichsärzteordnung. Klin. Wschr.,
1936, S. 1106. e) Das Berufsgeimnis der freien Berufe im Strafgesetzentwurf.
Dtsch. Juristen-Zeitung, 1927, Sp. 1549; 1931, Sp. 762. f) Das ärztliche Be-
rufsgeheimnis nach der Reichsärzteordnung. Mschr. für Kriminalbiologie und
Strafrechtsreform, 28. Jahrgang, 1937, S. 77. g) Zum ärztlichen Zeugnisver-
weigerungsrecht. Dtsch. Zschr. für die gesamte gerichtliche Medizin, 28. Band,
1937, S. 399. — 12. Paech und Trembur, Über ärztliche Anzeigepflichten und
Pflichten zur Duldung ärztlicher Untersuchungen und Operationen. Leipzig,
1937. — 13. Pfeifer, Zur Frage der Offenlegung der Krankengeschichten im
Verfahren nach dem Erbkrankennachwuchsgesetz. Jur. Wschr., 1936, S. 3029.
— 14. Ristow, Erbgesundheitsrecht. Stuttgart, 1935 und ‚Nachtrag zu Erb-
gesundheitsrecht‘. Stuttgart, 1936. — 15. Schäfer, Die Bedeutung der Reichs-
ärzteordnung für die Rechtspflege. Dtsch. Justiz, 1936, S. 370; zusammen mit
Hellwig — (6b). — 16. Stransky, Zur Regelung der ärztlichen Verschwiegen-
heits- und Haftungspflicht nach dem Tode des Arztes. Mschr. für Kriminal-
psychologie und Strafrechtsreform, 26. Jahrgang, 1935, S. 388, Nr. 26. —
17. Trembur und Paech, Wegweiser durch die ärztliche Berufskunde und das
Arztrecht. Leipzig, 1937. — Siehe neuestens Faber: ‚Fragen aus der Praxis
des Erbgesundheitsobergerichts‘‘ (Monatsschrift für Kriminalbiologie, 1938,
29. Jahrgang, S. 232 ff., besonders S. 233, Zif. 3).
Weiteres Schrifttum ist in vorstehenden Büchern und Aufsätzen zu finden.
Zeitschriftenübersicht
The Journal of Nervous and Mental Disease, An American Journal of
Neuropsychiatry. Bd.87 (1938) Nr.1 (Januar) bis 6 (Juni).
Nr.1 (Januar).
E.T. Bernstein, New York: Die emotionelle Verursachung bei Haut-
krankheiten.
In dem mit Krankengeschichten, Lichtbildern und einem Schrifttumver-
zeichnis versehenen Aufsatz weist Verf. auf die engen Beziehungen hin, die in-
folge mancher Hautkrankheiten zwischen Dermatologie und Neuropsychiatrie
bestehen. Besonders für Erythema fugax, Erythrodermie und Urticaria führt
er Beispiele an, in denen ohne Zweifel psychische Einflüsse, insbesondere In-
sulte und Erregungen in engstem Zusammenhang mit dem jeweiligen Auftreten
dieser Hautkrankheiten standen. Zur Therapie ist eine harmonische Beziehung
zwischen Arzt und Kranken notwendig, wobei durch Ausschaltung der ursäch-
lichen Faktoren und durch suggestive Einflüsse viel erreicht werden kann.
Enge Zusammenarbeit zwischen Haut- und Nervenspezialisten ist erwünscht.
E. Cameron, Worcester Mass.: Weitere Erfahrungen mit der Insulin-
hypoglykämie-Behandlung der Schizophrenie.
Es wird über 20 Schizophreniefälle berichtet, die mit Insulin behandelt
wurden. Von besonderer Bedeutung scheint dem Verf. der Zeitpunkt der Unter-
brechung mit Zucker hinsichtlich des Erfolges zu sein. Er vermutet ferner, daß
bei dem Auftreten der aktivierten Psychose Stoffwechselvorgänge im Gehirn,
insbesondere ein wechselndes Sauerstoffgefälle, eine Rolle spielen. Bei Besse-
rung der Schizophrenie beobachtete er öfter das Wiederauftreten hetero-
sexueller Gefühle. Die Erfolge der Behandlung erreichten nicht die hohen Re-
missionszahlen, wie sie aus Europa mitgeteilt wurden.
Paul A. Draper, Colorado: CGhronischer Kopfschmerz.
In einer gründlichen Arbeit beschäftigt sich der Verf. mit dem so häufig ge-
klagten Kopfschmerz und weist darauf hin, daß die Häufigkeit dieses Sym-
ptomes nicht zu einer Vernachlässigung in dessen Bewertung führen darf. Ein
erster Teil der Arbeit ist der anatomisch-physiologischen Entstehungsweise der
Schmerzempfindung beim Kopfweh gewidmet. Ausführlich werden die ein-
zelnen Hirnnerven in ihrer Beziehung zum Kopfschmerz und seine Entstehung
auf reflektorischem Wege bei pathologischen Veränderungen der Eingeweide
besprochen — wobei der Kopfschmerz desto weiter vorne am Kopf auftritt, je
höher im Rumpf das erkrankte Organ liegt und zwar infolge von Verbindungen
mittels afferenter Fasern, die von dem erkrankten Eingeweideorgan aus den
Vagus zur Medulla oblongata begleiten, wo wiederum Verbindungen zum Tri-
geminus bestehen. Mancher Kopfschmerz bei Psychoneurosen wird auf die
stark schmerzhafte Kontraktion des Muskulus occipitofrontalis, wie sie bei
längerdauernder Angst, bei heftiger Furcht und bei Depression beobachtet
wird, zurückgeführt. Des weiteren wird die Aetiologie des Kopfschmerzes be-
handelt. Die Migräne wird außer der erblichen Disposition auf okuläre, aller-
Zeitschriftenübersicht 173
gische, psychogene oder endocrine Ursachen zurückgeführt. Ein ursächlicher
Zusammenhang zwischen Migräne und Gallenblasenleiden wird bezweifelt. Bei
der Besprechung der diagnostischen Methodik wird auf die notwendige Zu-
sammenarbeit der verschiedenen Spezialisten, insbesondere der Neurologen
und Neurochirurgen mit den Internisten, Ophthalmologen und Otolaryngo-
logen hingewiesen. Die therapeutischen Erfolge sind gegenwärtig größer wie
früher, besonders infolge der Fortschritte auf dem Gebiet der Neurochirurgie.
Der gute Erfolg von intraspinalen und direkt subduralen Lufteinblasungen zur
Lösung von Adhäsionen bei posttraumatischem Kopfschmerz wird hervorge-
hoben. Auch Kauterisierung der Nervenplexus entlang der einen oder beiden
Meningea-media-Arterien half bei manchen besonders therapeutisch resistenten
Fällen von Kopfschmerzen bei cerebraler arterieller oder venöser Sklerose. Bei
Migräne wird als Palliativmittel Fluidextrakt von Cannabis indica in steigenden
Dosen bis zu den ersten Anzeichen von Intoxikation gegeben. Ferner wirken
günstig ein: Phenobarbital, Calcium, ketogene Diät, gelegentliches Abführen
mit Calomel oder salinischen Mitteln, Duodenalspülung und Lumbalpunktion.
Eines der besten Heilmittel der Migräne ist der Schlaf. Als eines der neuesten
und besten Medikamente wird Gynergen empfohlen. Ein reichhaltiges Lite-
raturverzeichnis, wobei allerdings nur das englische und amerikanische Schrift-
tum berücksichtigt wird, beschließt die Artbei.
M.T. Schnitker und D. Ayer, Boston, Mass.: Die primären Melanome der
Leptomeningen.
In einer klinisch-pathologischen Studie mit einem Überblick über die bisher
in der Literatur veröffentlichten ähnlichen Fälle und einer Besprechung der
verschiedenen Theorien über die Entstehung derartiger Tumoren, beschreiben
die Verfasser ausführlich einen Fall von primärem Melanom, ausgehend von
den Melanophoren der Leptomeningen, das bei einer 49 Jahre alten Frau 3
Jahre vor ihrem Tode zum erstenmal Krankheitserscheinungen hervorrief.
Diese wiesen auf einen Tumor des Rückenmarks in der Höhe des 9. Thorakal-
segmentes hin. Nach operativer Entfernung des extramedullären Tumors er-
folgte eine generalisierte Ausbreitung in den spinalen und cerebralen Lepto-
meningen, welche die Symptome einer Meningoencephalitis machte. Die rich-
tige Diagnose wurde erst bei der Autopsie gestellt, denn der exstirpierte Tumor
wurde als atypisches Meningiom angesehen. Bei der Autopsie wiesen Gehirn
und Rückenmark zahlreiche schwarze Knoten auf.
E. V. Turner und E. Roberts, Illinois: Eine Familie mit geschlechtsge-
bundener erblicher Ataxie.
Es wird über eine Familie berichtet, in welcher erbliche Ataxie (Friedreich)
im Gegensatz zu ihrem sonst berichteten nicht geschlechtsgebundenen Charak-
ter geschlechtsgebunden auftrat. In zwei Generationen waren nur Männer,
jedoch keine Frauen getroffen. Es muß sich dabei nach Lage der Dinge um ein
geschlechtsgebundenes recessives Gen handeln.
Nr.2 (Februar).
L. v. Meduna, Budapest: Die Bedeutung des kKrampfanfalls während
der Insulin- und CGardiazoltherapie der Schizophrenie.
Es handelt sich um eine Übersetzung des in der psychiatrisch-neurologischen
Wochenschrift Bd. 30, 1937 erschienenen Aufsatzes von Meduna.
174 Zeitschriftenübersicht
Manfred Sakel, Wien: Über die Bedeutung des epileptischen Anfalles
als eines therapeutischen Faktors bei der pharmakologischen
Schoktherapie der Schizophrenie.
Der Aufsatz ist die Übersetzung des in der Klinischen Wochenschrift Bd. 16
S. 1277—1282, 1937 erschienenen Artikels.
W.J. Johnson und A.G. Levingston, Wrentham, Mass.: Das Vorkommen
des Sinus pilonidalis bei geistig Defekten.
Tausend geistig Defekte (600 Männer, 400 Frauen) wurden auf das Vor-
kommen von Sinus pilonidalis hin untersucht und dieser konnte in 34 Fällen,
also bei 3,4% festgestellt werden (bei 2 Grenzfällen, 13 Schwachsinnigen, 12
Imbezillen und 7 Idioten). Einige der damit behafteten Kranken wiesen außer-
dem Zeichen von endokriner Dysfunktion auf. Die verschiedenen Theorien
über den Entstehungsmechnismus des S.p. werden angeführt.
Paul Schilder, New York: Psychoanalytische Bemerkungen über
Aliceim Wunderland und Lewis Carroll.
Von Interesse sind in diesem Aufsatz biographische Einzelheiten über den
1898 verstorbenen Engländer Lewis Carroll, dessen Kinderbuch ‚‚Alice im
Wunderland‘ vor allem in der englisch sprechenden Welt sehr bekannt und
verbreitet ist.
Eugen Bleuler, Zürich: Mnemistische Biologie und Psychologie.
Es handelt sich um eine Übersetzung des in der Psychiatrisch-Neurologi-
schen Wochenschrift 1935 erschienenen Aufsatzes des Verfassers.
M.F. Allen, Portland, Oregon: Die Beziehungen dersegmentalen Kerne
des Hirnstammes.
Der Hirnstamm enthält 1. somatische und viscerale sensorische Kerne als
Endigungen segmentaler Nerven, 2. somatische und viscerale (sympatische und
parasympatische) motorische Kerne für segmentale Nerven, 3. die formatio
reticularis, eine Masse von Zellen, die durch den ganzen Hirnstamm und das
Kopfende des Rückenmarks zerstreut sind. Diese formatio reticularis emp-
fängt Impulse von allen Hirnnerven, dem Großhirn, Kleinhirn, Thalamus und
den Corpora quadrigemina und verbindet diese mit den verschiedenen motori-
schen Kernen der segmentalen Nerven. Des weiteren beschäftigt sich die Arbeit
hauptsächlich mit der Bedeutung der formatio reticularis.
Ein Nachruf ist dem Ende 1937 in Tübingen verstorbenen Dr. Wilhelm
Weinberg gewidmet, dessen Probandenmethode, um nur eine der zahlreichen
von ihm herrührenden statistischen Methoden zu nennen, von so großer Be-
deutung für die medizinische Statistik und vor allem für die Methodik der
psychiatrischen Erbprognose geworden ist.
Nr.3 (März).
T. Braatöy, Oslo: Die Messung der Intelligenz.
Verfasser nimmt in kritischer Weise Stellung zu den gegenwärtigen Test-
methoden der Intelligenzprüfung und ist der Ansicht, daß sie insbesondere auch
infolge der hemmenden Wirkung, welche die Testsituation auf den Untersuch-
ten ausübt, unzureichend sind.
Zeitschriftenübersicht 175
J. B. Doyle, Los Angeles: Die klinische Bedeutung derlumbaren Radi-
kulitis und der Neuritis des Nervus femoralis.
Es wird über 5 Fälle der seltenen Neuritis des N. femoralis berichtet.
IV. L. Woods, Iowa: Studie über die Sprache Schizophrener.
Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Problem der Beziehung, die zwischen
der Form der Sprache und der Qualität der Gedanken besteht. Vor allem fällt
bei den sprachlichen Äußerungen einer großen Gruppe von Schizophrenen die
Armut an genauen, klaren und bestimmten Gedanken auf und zwar ergibt
sich dies sowohl aus der Beschreibung ihrer Gedanken durch die Schizophrenen
wie auch durch die unklare und unvollständige sprachliche Formulierung der-
selben. Ferner zeichnet sich die Sprache durch die Eigenbezüglichkeit der Ge-
danken und die metaphorische Art und Weise der sprachlichen Äußerungen aus.
„1. Laird, Wellsboro: Eine Studie über Porencephalie.
Außer einer kurzen Besprechung der Ursachen der Porencephalie wird ein
FallvonP. bei einem mit 19 Jahren verstorbenen Mädchen geschildert, und ins-
besondere der makroskopische Sektionsbefund beschrieben. Das Gehirn wog
nur 650 g und zeigte auf beiden Hemisphären große trichterförmige Großhirn-
defekte.
G. S. Sprague, White Plains N. Y.: Das Rationaleinderpsychiatrischen
Therapie.
Es handelt sich um eine kritische Betrachtung mit praktischer Anregung
über die verschiedenen Methoden der Psychotherapie, bei denen jeweils die
persönliche Struktur des Kranken besondere Berücksichtigung finden müsse.
Nr.4 (April).
P. Goolker, New York: Meningo-Encephalo-Myeloradiculitis.
Klinischer und histopathologischer Bericht über einen Fall von disseminier-
ter Encephalo-Myelitis, die ihren Ausgang vielleicht von einer Entzündung der
Kieferhöhle bei einer 53 Jahre alten Frau nahm.
L. F. Barker, Baltimore: Über makulo-papuläre Exantheme als Vor-
boten von Verschlimmerungen bei Myasthenia gravis.
Bericht über masernähnliche Exantheme, welche die jeweilige Verschlech-
terung bei einem Fall von M.g. bei einem jungen Mädchen einleiteten, ohne daß
die Art dieser Beziehung sich bereits erklären läßt.
Lauretta Bender und Zuleika Yarrell, New York: Geisteskranke Anhänger
des ‚göttlichen Vaters“.
Die Arbeit gibt einen interessanten Einblick in eine Sekte, die in den letzten
Jahren in New York und den Vereinigten Staaten sich in zunehmendem Aus-
maß um einen farbigen Religionsstifter gebildet hat, der von seinen Anhängern
für Gott gehalten wird. Seine Herkunft und sein eigentlicher Name sind un-
sicher. Er wurde 1929 in der Öffentlichkeit bekannt, nachdem ein Richter, der
ihn auf die Beschwerde von Nachbarn hin wegen Erregung von Ärgernis zu
Gefängnis- und Geldstrafe verurteilt hatte, drei Tage darnach plötzlich an
einer Herzerkrankung starb. Der Neger wurde in der Folge nach Aufhebung
des Urteils in Freiheit gesetzt. Die Anhängerschar nahm daraufhin gewaltig zu,
glaubte an seine göttliche Macht und verehrte ihn als Gott. Er gründete
mehrere „‚Königreiche‘‘ des Himmels, wo sich seine Anhänger versammeln. Sie
176 Zeitschriftenübersicht
bekommen dort Essen und Wohnung, halten Versammlungen ab, tanzen und
singen — oft begleitet von einer Blasinstrumentenkapelle — primitive Kehr-
reime. ‚Der göttliche Vater“ lehrt, daß seine Anhänger dieselbe Allmacht, die
er inne habe, auch gewinnen könnten und durch sie in den Genuß von Gesund-
heit, Liebe, Friede und weltlicher Güter gelangen und sogar ewig leben könnten,
wenn sie nicht sündigten. Sie dürfen in seinen ‚‚Königreichen‘“ leben, wenn sie
alle familiären Bande und Hab und Gut aufgeben und sexuelle Abstinenz be-
treiben. Er hält dort Gebetsversammlungen ab mit Predigten, die einen ge-
wissen Rhythmus aufweisen, oft in einen Gesang übergehen und von Gesängen
und ekstatischen Erregungen seiner Anhänger gefolgt sind. Der ‚göttliche
Vater“ besitzt Flugzeuge, Omnibusse, Privatwohnungen, Autos und hält sich
Sekretäre und Rechtsanwälte. Seine Anhänger, Schwarze und Weiße, verteilen
sich auf das ganze Land. Er selbst zeigt in seiner Lebensführung eine ausge-
sprochene Aktivität, predigt täglich in den verschiedensten Königreichen und
ist stets von einer großen Anhängerschar umgeben. Er wird als eine cyklo-
thyme Persönlichkeit beurteilt. In den letzten 2 Jahren, in denen seine Be-
wegung einen Höhepunkt erreicht hat, wurden 18 Personen (17 Schwarze,
4 Weiße) in das Bellevue Psychopatic Hospital, New York, zur Beobachtung
eingewiesen, da sie in ihren Ideen und ihrem Verhalten krankhafte Einwir-
kungen durch diese religiöse Bewegung aufwiesen. Zwei davon waren Frauen,
die, ohne geisteskrank zu sein, der Vernachlässigung ihrer Kinder angeklagt
waren, da sie den Lehren des ‚‚göttlichen Vaters‘ folgten. Die Hälfte der
Kranken boten ein Bild manieähnlicher Erregung mit psychogenen Zügen,
letzteres sowohl infolge der starken Gemütserregungen und ekstatischen Ra-
sereien bei den Versammlungen als auch der Konfliktsituation, in die sie durch
die Lehren des ‚göttlichen Vaters“ gebracht wurden. Andere, organische
Psychosen, zeigten ebenfalls die pathoplastische Wirkung dieser religiösen
Lehre. Bei dem einzigen Fall von Erkrankung bei einem Weißen handelte es
sich um eine Epileptikerin in einer halluzinatorischen Phase. Die Verfasser
stellen zum Schluß fest, daß diese Religionsbewegung, die das normale sexuelle
und gemütliche Verhalten in abnorme Bahnen leitet und stärkste Ausbrüche
gemütlicher Erregung begünstigt und veranlaßt, höchstens geeignet ist, den
Ausbruch mancher Psychosen zu beschleunigen, auf ihren Inhalt abzufärben
und ihr Erscheinungsbild zu beeinflussen, ohne jedoch auf den konstitutions-
bedingten Ablauf der Psychosen einzuwirken.
Th. T. Stone und E. I. Falstein, Chikago: Chorea Huntington und lue-
tische Meningoencephalitis.
Histopathologischer Bericht über einen Fall, der klinisch das Bild einer
Chorea Huntington bot und auch in diesem Sinne erblich belastet war und
pathologisch-anatomisch sich als luetische Meningoencephalitis erwies.
W. H. Chao, Y. K. Hsü und R. S. Lyman, Peiping: Mitteilung über die
Behandlung Arzneimittelsüchtiger mittels Dauernarkose.
Es wird bei besonders dazu geeigneten Fällen empfohlen, Entziehungskuren
durch Dauernarkose mittels der Cloettamischung durchzuführen.
Meyer A. Zelıgs, Cincinnati: Schädigungen des zentralen Neurons bei
„Jake“-Paralyse.
Im Frühjahr 1930 trat in den Vereinigten Staaten, besonders im Süden,
eine epidemische Lähmung auf, welche die beiderseitigen Fuß- und Handge-
lenke befiel. Über etwa 4000 Fälle wurden in dem Schrifttum berichtet. Der
Zeitschriftenübersicht 177
Zusammenhang mit dem vorherigen Genuß von Jamaika-Ingwer und dem
darin befindlichen Tri-ortho-cresvl-phosphat wurde bald erkannt. Während
man anfangs nur an ein Betrolfensein der peripheren Neuren glaubte, stellt
sich jetzt bei Nachuntersuchungen der damals Erkrankten heraus, daß zwar
bei vielen derselben nach Erholung der Vorderhornzellen von der Schädigung
teilweise eine Wiederkehr der Muskelaktivität erfolgte, gleichzeitig aber die
vorher verborgene Schädigung der zentralen Neuren in Gestalt von spastischen
Zeichen in Erscheinung trat. So bieten zahlreiche Fälle nun das Bild einer
amyotrophischen Lateralsklerose. Histopathologische Studien werden in Aus-
sicht gestellt.
Nr.5 (Mai).
B. Malzberg, Albany N. Y.: Besteht ein relatives Anwachsen der
Geisteskrankheiten?
Nach einer kritischen Besprechung statistischer Ergebnisse kommt der
Verfasser zu der Feststellung, daß im Staate New York eine relative Zu-
nahme der Geisteskrankheiten besteht. Die jährlichen Berichte über Erstauf-
nahmen seit dem Jahre 1909 bestätigen dies. Trotzdem sieht er darin kein Be-
weismaterial für Sterilisationsbestrebungen, da die größte Zunahme bei Kran-
ken mit Psychosen infolge zerebraler Arteriosklerose vorläge. Bei Schizo-
phrenien fehle die Kenntnis der Ursache und daher sei das Vorbeugen schwierig.
R. Schwarz, Darnemora N. Y.: Blutdruck und Pulszahl bei Gefängnis-
psychosen.
Trotz der Zustände von Furcht, Angst und Besorgnis bei Haftpsychosen
ergab eine vergleichende Untersuchung mit Schizophrenen keine Erhöhung
des Blutdruckes oder der Pulszahl bei den Haftpsychosen.
L. C. Grosh, Ypsilanti, Mich.: Insulin bei der Behandlung akuter Ma-
nien.
Der Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Depression ist bekann-
ter und häufiger wie das Vorkommen von erhöhtem Blutzuckerspiegel bei ma-
nischen Phasen im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins. Der Verfasser
berichtet über zwei Krankheitsfälle, die eine verlangsamte Zuckerausscheidung
nach Durchführung einer Glukose-Belastungsprobe während ihrer manischen
Phase zeigten, jedoch eine normale Reaktion dieser Probe in den Phasen psy-
chischer Ausgeglichenheit aufwiesen. Eine Insulinbehandlung führte prompt
bei beiden Fällen zum Abklingen der manischen Phase.
H. H. Reese, A. H. Van der Veer und A. H. Wedge, Madison, Wiskonsin:
Über die Wirkung von Cardiazolkrampfanfällen bei schizophre-
nen Kranken.
Ein Bericht über 41 mit Cardiazol behandelte Schizophrene mit dem bereits
feststehenden Ergebnis an 20 Kranken. Von letzteren wurden 4 Fälle in voller
Remission entlassen, 6 waren gebessert, 10 ungebessert. Die besten Erfolge
wurden bei frischen katatonen Stuporen gesehen. Kombination mit der Insu-
linbehandlung wird empfohlen.
P. Schilder, New York: Die psychologische Wirkungsweise von Ben-
zedrin-Sulfat.
Verfasser empfiehlt die Anwendung von B.S. auch in der Neurosenbehand-
lung, da es Müdigkeit, Schläfrigkeit und Hemmungen beseitige und bei einer
analytischen Behandlung die Aussprachebereitschaft des Kranken fördere.
12 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 1:2.
178 Zeitschriftenübersicht
K.Gyarfas, Budapest: Beziehungen zwischen Athetose, Katatonie
und Hypoglykämie.
Bericht über einen Fall von kindlicher Hemiathetose und Hemiparese, bei
welchem im 20. Lebensjahr eine akute katatone Psychose hinzutrat. Je nach
dem Grad des katatonen Stupors ließen die athetotischen Symptome nach oder
hörten ganz auf. Ähnliches zeigte sich während einer Insulin- und Cardiazol-
schockbehandlung. Bei moriaähnlichen Zuständen oder leichten psychomoto-
rischen Erregungen kamen die athetotischen Bewegungen wieder zum Vor-
schein oder nahmen zu. Während heftiger psychomotorischer Erregungszu-
stände oder katatoner Anfälle verschwand jedoch die Athetose. Dieses Ver-
halten wird damit in Zusammenhang gebracht, daß zum Auftreten der atheto-
tischen Symptome ein gewisser Grad von Antrieb notwendig ist. Während des
Stupors fehlt jeder Antrieb, um bei einem spontanen oder künstlichen Er-
wecktwerden wieder die athetotischen Erscheinungen zu bewirken, während
bei maximalsten Erregungszuständen der Antrieb in seiner Gesamtheit durch
diese völlig in Anspruch genommen wird.
Th. J. Case, Chikago: Elektroencephalographie bei der Diagnose und
Lokalisation intrakranieller Zustände.
Ein Bericht über elektroencephalographische Befunde insbesondere bei
Epilepsie und Tumoren und ihre Verwertbarkeit in diagnostischer und lokali-
satorischer Hinsicht.
Nr.6 (Juni).
A. E. Walker und J. F. Fulton, New Haven: Abtragungeiner Hemisphäre
bei Schimpanse, Pavian, Makake, Potto, Katze und Coati.
Nach einer ausführlichen Schilderung der klinischen Beobachtungen nach
Abtragung einer Hemisphäre an einem Schimpansen und einem Pavian werden
die Ausfälle auf den verschiedenen Sinnesgebieten und der Motorik bei diesen
und tieferstehenden Tieren nach einer derartigen Operation geschildert sowie
die entsprechenden Beobachtungen Dandys und Gardners über je einen Men-
schen, bei dem die eine Hemisphäre entfernt werden mußte. Die Ausfallser-
scheinungen nahmen bei den entwicklungsgeschichtlich höher entwickelten
Tieren zu und vor allem waren die Lähmungserscheinungen bei den Primaten
schwerer und von längerer Dauer wie bei den Fleischfressern und niederen
Affen. Ferner waren die Reflexänderungen und die spastischen Erscheinungen
ausgeprägter. Als Erklärung dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist
bei den tieferstehenden Tieren eine größere bilaterale Vertretung der Funktio-
nen vorhanden oder besteht bei den Anthropoiden und dem Menschen eine
größere Encephalisation der Funktionen. Es besteht kein Zweifel daran, daß
letzterem Faktor die größere Bedeutung beizumessen ist.
M. Moore, Boston: Morton Prince (1854—1929).
Ein biographischer Bericht über den bedeutenden und angesehenen ameri-
kanischen Neurologen und Psychiater M. Prince, der sich sowohl als Arzt,
Wissenschaftler und Hochschullehrer auszeichnete. Seine Betätigung in der
Politik wird ebenfalls ausführlich gewürdigt, sie erstreckte sich allerdings
hauptsächlich auf eine starke antideutsche Propaganda anläßlich des Welt-
krieges.
— | ui
Zeitschriftenübersicht 179
D. Schneider, New York: Studien über neuropsychiatrische Ergeb-
nisse in Beziehung zum Wachstum: Die Insulinhypoglykämie-
therapie der Schizophrenie betrachtet als ein angeregter Wachs-
tumsprozess.
Theoretische Erwägungen, die von der Tatsache ausgehen, daß bei der Insu-
linbehandlung fast dauernd eine Gewichtszunahme eintritt.
E. J. Strongin und L. E. Hinsie, New York: Parotissekretion bei schizo-
phrenen Kranken.
Eine vergleichende Untersuchung über die Parotissekretion unter Fern-
haltung irgendwelcher Reize bei normalen Personen (I), schizophrenen Früh-
fällen (II) und fortgeschrittenen Schizophrenien mit offensichtlich schlechter
Prognose (IIl) ergab, daß die Sekretion in 5 Minuten während einer zwei-
stündigen Zeitspanne durchschnittlich bei Gruppe I 0,7 ccm, bei Gruppe II
0,005 ccm und bei Gruppe III 0,38 ccm betrug. Das Verhältnis war somit
14:1:76.
R. H. Groff, Philadelphia: Geschwülste des Tuberculum sellae.
An Hand der Beschreibung mehrerer Krankheitsfälle von meningealem Fi-
broblastom des Tuberculum sellae schildert Verfasser das typische Syndrom
dieser Tumoren: Das Nachlassen des Sehvermögens, irreguläre bitemporale
Gesichtsfeldausfälle mit frühzeitiger Optikusatrophie bei normalem Türken-
sattelbild bei Kranken in mittlerem Lebensalter. Weitere differentialdiagnosti-
sche Erwägungen betreffen Tumoren der kleinen Keilbeinflügel, der Hypo-
physe und des Hypophysenstiels sowie Chiasmagliome.
Harold Widenmeyer (lllenau).
12”
Kurzbericht
über die 114. ordentliche Hauptversammlung der psychiatrischen
Vereinigung der Rheinprovinz in Bonn, am 16. Juli 1938.
Anwesend waren 111 Mitglieder und Gäste:
Ballus y Roca-Bonn, Barten-Bedburg, Beck-Roderbirken, Beyerhaus-Galk-
hausen, Brockhans-Bonn, Brügelmann-Köln, Burkert-Bonn, Busch-Köln,
Capell-Andernach, Caspers-Düsseldorf, Cohnen-Andernach, Creutz-Düsseldorf,
de Crinis-Köln, Frau de Crinis-Köln, Dietrich-Bonn, Eichler-Düsseldorf,
Elsässer-Bonn, Esser-Andernach, Faust-Bonn, Feige-Bonn, Frohoff-Köln,
Geller Hedwig-Düren, Geller Josef-Bonn, Geller Walter-Düren, Geller W'ilhelm-
Bonn, Giclen-Köln, Gierlich-Bonn, Gies-Andernach, Gieseking-Düsseldorf,
Günther-Köln, Haag-Süchteln, Hegemann-Essen, Heimes-Bonn, Hermann-
Galkhausen, Herting-Düsseldorf, Hillebrand-Remscheid, Jancke-Bonn, Kapp-
Köln, Karst-Andernach, Kentenich-Gladbach, Kentenich-Düsseldorf, Kirsten-
Galkhausen, ÄKlassen-Bonn, Koester-Roderbirken, Kost-Köln, Kraemer-Bonn,
Kreisch-Andernach, Krieger-Düsseldorf, Landwehr-Waldbreitbach, Laskowski-
Saffıg, Laubenthal-Bonn, Linzbach-Bonn, Ludiwig-Bedburg, Mappes-Düssel-
dorf, Marx-Ahrweiler, Mäurer-Bonn, Müller-Bedburg, Müller 1-Düsseldorf,
Müller 2-Düsseldorf, Neele-Bonn, Neumann-Bonn, Otten-Süchteln, Panse-
Bonn, Peiper-Wuppertal, Frau Peiper-Wuppertal, Peipers-Bonn, Philipps-
Remscheid, FPohlisch-Bonn, Frau Pohlisch-Bonn, Pohlmann-Düsseldorf,
Potthoff-Bonn, Recktenwald-Andernach, Rohde-Düsseldorf, ARöttgen-Bonn,
Schäfer-Düsseldorff, Schäfgen-Düren, sSchall-Bonn, Schmitt-Halin-Bonn,
Schmitz-Bonn, Schmitz-Galkhausen, Schnitzler-Bedburg, Schorre-Köln, Schroe-
der-Bonn, Schroedter-Galkhausen, Schubert-Bedburg, Schulte-Bonn, Schulze-
Bonn, Seidl-Düsseldorf, Simmendinger-Bonn, Sioli Fr.-Düsseldorf, Sioli G.-
Düsseldorf, Sopp-Remscheid, sStein-Süchteln, Steinbrecher-Düren, Stillger-
Düren, Stoffels-Düren, Susner-Bonn, Tieke-Düren, Többen-Münster, Trapet-
Bedburg, Vi’eweger-Bonn, Volkmann-Bonn, Vurthmann-Bedburg, Wegener-
Bedburg, Werner-Bonn, Westphal-Bonn, Wilhelmy-Bonn, Winkel-Bedburg,
Wisch-Bonn, Wittmann-Bonn, Wolf-Bonn.
Pohlisch-Bonn eröffnet die Sitzung, die im neuen llörsaal der Universitäts-
nervenklinik stattfindet. Sioli-Düsseldorf weist in herzlichen Worten auf die
Bedeutung des Bonner Lehrstuhls hin.
Wissenschaftlicher Teil: I. Demonstrationen.
1) Pohlisch-Bonn, Zwillingsschwestern mit hyperkinetischer
Motilitätspsychose Wernickes (Demonstration).
Wahrscheinlich zweieiiges Paar, weil die ausführliche körperliche Unter-
suchung Verschiedenheit bez. Irispigment, Fingerleisten, knöchernem Brust-
korb, Oberlid, Kinn und Ohr ergibt, allerdings Ähnlichkeit, bez. anderer Merk-
male. Psychisch weitgehend ähnlich, Anna jedoch tonangebend und ener-
gischer als Lene.
Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung 181
Psychosen: Anna vom 17.—20. Jahr häufiger ängstlich-ratlos, Lene völlig
frei bis zum 20. Jahr, dann ohne äußeren Anlaß plötzlich dieselbe ängstliche
Unruhe, jedoch verbunden mit Vergiftungsideen, auf die Anna sofort ansprach.
10 Tage später waren beide deutlich hyperkinetisch. Die Hyperkinese ohne-
Nachstadium dauerte bei Anna 4 Monate, bei Lene 7 Wochen. Große Ähnlich-
keit, jedoch Anna mehr maniform-euphorisch, dazu wahnhafte Mißdeutungen;
Lene mehr phantastisch-hypochondrisch-ängstliche Inhalte und visionäre
Szenen, einmal flüchtig akinetisch und im ganzen geringere psychomotorische
Unruhe. Bei beiden völlige Wiederherstellung der syntonen Per-
sönlichkeit. Lene nicht erneut erkrankt, Anna z. Zt. (24 Jahre) erneut
hyperkinetisch; kein erkennbarer Anlaß, insbesondere kein Fieber, keine
andersartige interne Erkrankung. Hyperkinese, die jetzt im 7. Monat besteht,
im Abklingen begriffen. — Die Schwestern wurden nach der ersten Attacke
von anderer Seite aus zur Sterilisierung gebracht, wie Verf. ausführt, zu
Recht. Entscheidend ist nach dem Sinn des Gesetzes der in diesem Fall ge-
führte Nachweis der Erblichkeit; nicht entscheidend sind klassifikatorische
Streitigkeiten. Die Sterilisierung erfolgte wegen ‚Schizophrenie‘.
Die ätiologisch verschiedenartigen Motilitätspsychosen fügen sich z. T. nicht
der Kraepelin’schen Einteilung in die Gruppe der Schizophrenien und manisch-
depressiven Psychosen ein, wie Vortr. 1925 monographisch dargelegt hat.
Unter den Motilitätspsychosen gibt es jedoch erblich oder doch vorwiegend
erblich bedingte, z. B. der vom Vortr. 1925 beschriebene Fall von Mutter und
Tochter. Solche Kranke fallen unter das Gesetz. Die Kraepelin’sche klinisch-
deskriptive Methode, kombiniert mit der Feststellung der Verlaufsweisen,
genügt nicht mehr, um für Erbpsychosen genische Zusammenhänge aufzu-
decken. Diese Methode muß vielmehr durch die Sippenpsychiatrie ergänzt
werden, jedoch nicht nur durch deren mathematische Richtung, sondern noch
viel mehr durch deren klinische, d. h. durch Vergleich von Entstehungsweise,
Form und Verlaufsart der Psychosen bei Blutsverwandten. Die exaktesten
Ergebnisse sind von der Zwillingsmethode, kombiniert mit der Familien-
forschung, zu erwarten. Man sollte bei der Probandenmethode nicht ausgehen
von dem Sammelbegriff der Schizophrenie, sondern etwa von der einfachen
llebephrenie, der attackenweisen Katatonie, den Psychosen des Wochenbetts
usw. Wie verhält sich dann bei einem solchen Probanden der Zwillingspartner
und welche Formen von Psychcsen treten in der näheren Blutsverwandtschaft
auf? Gerade auf die Formen dieser Psychosen und auf etwaige Komplikationen
durch exogene Ursachen kommt es an, um genische Beziehungen aufzudecken
und gesicherte Grenzen für Formenkreise zu bekommen. Die Bearbeitung
dieser schwierigen Aufgabe haben wir in Angriff genommen. (Eigenbericht)
2) F. Panse, Bonn.
Zur Klinik und Erbbiologie einiger Myoklonieformen.
Seit der Beschreibung des ‚„Paramyoclonus multiplex“ durch Friedreich
(1881) ist eine Vielzahl von Myoklonieformen zur Beobachtung gekommen,
ohne daß bisher in klinisch-deskriptiver, nosologischer oder lokalisatorischer
Hinsicht eine klare Aufteilung dieses neurologischen Syndroms erfolgt wäre.
Die Übersicht ist auch dadurch erschwert, daß Myoklonien bei sehr zahl-
reichen exogenen und endogenen Krankheitsformen vorkommen können. Es
ist unwahrscheinlich, daß das Auftreten von Myoklonien Ausdruck der Funk-
tionsstörung nur eines umschriebenen Hirngebietes ist. Außer Kleinhirn, ins-
besondere Dentatum, Brückenhaube, Olive, Haubenbahn, Bindearm und
182 Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung
Stammganglien kommt auch eine spinale Lokalisation der Myoklonien in
Betracht, wie für einen Fall von Syringomyelie im Film demonstriert wird.
Auch ein Fall, der dem von Friedreich beschriebenen Paramyoclonus multiplex
sehr ähnlich sieht: rasche, in geringen Intervallen unrhythmisch wieder-
kehrende Myoklonien in der Muskulatur beider Oberarme, die im Alter von
etwa 15 Jahren ohne sichere Ursache, angeblich nach Schreck aufgetreten sind
und seither ohne Progredienz seit ca. 30 Jahren bestehen. Keine Erblichkeit.
Derartige Fälle sind seit Friedreich nur ganz selten wieder beobachtet worden —
Auf die Stammhirngenese einiger Myoklonieformen weist, abgesehen von den
Encephalitiserfahrungen, die nicht seltene Kombination mit Stoffwechsel-
störungen (Zwischenhirn) hin. Es wird ein Fall demonstriert, den Westphal
bereits 1911 vorstellte und 1918 eingehend beschrieb, bei dem eine schwere
Dystrophia adiposo-genitalis mit Myoklonien besteht und wo — ganz wie beim
Bardet- Biedl-Syndrom — eine Gabelung der Endphalange des Zeigefingers,
also eine akrale Wachstumsstörung auf die ontogenetisch früh einsetzende
Wirksamkeit des Zwischenhirnorganisationsfeldes hinweist. Es handelt sich
in diesem Fall um ein erbliches Zwischenhirnleiden mit Myoklonien, das
pathogenetisch in die Nähe des Bardet-Biedl-Syndroms gehört. (Figenbericht)
An der Aussprache beteiligten sich Többen-Münster und de Crinis-Köln.
II. Referat:
Peiper, A.-Wuppertal. Die niedere Hirntätigkeit des Menschen.
Die neurologischen Besonderheiten des Neugeborenen treten erst hervor,
wenn man von dem neurologischen Schema des Erwachsenen absieht und das
Kind mit Verfahren untersucht, wie sie R. Magnus, Rademaker und von Holst
am enthirnten Tiere angewandt haben. Das Großhirn des Neugeborenen ist
zwar bereits gebildet, aber noch unreif und daher nicht gebrauchsfähig; da-
gegen sind die entwicklungs- und stammesgeschichtlich niederen Zentren des
Hirnstammes, deren Tätigkeit später durch die höheren Zentren gehemmt und
geregelt wird, bereits arbeitsfähig. Beim Neugeborenen, dessen Gehirn unver-
sehrt bleibt, liegen die neurologischen Verhältnisse entschieden klarer als bei
dem enthirnten Tier, bei dem das Hirngeschehen durch die Operationswunde
an sich in schwer übersehbarer Weise verändert werden kann.
Beim Säugling, der in seiner Entwicklung die Vierfüßlerstufe durchmacht,
treten vorübergehend Reflexgruppen auf, die in grundsätzlich gleicher Weise
von R. Magnus und Rademaker am enthirnten Tiere aufgefunden wurden. So
werden in Abbildungen gezeigt der Labvrinthstellreflex auf den Kopf, der
Körperstellreflex auf den Kopf, die Schreitbewegungen des Neugeborenen,
die Stütz- und die Aufziehreaktion der Arme, die Schwebereflexe, die un-
symmetrischen tonischen Halsreflexe auf die Glieder u.a.
Die intrazentralen Vorgänge lassen sich beim jungen Säugling an den
rhythmischen Zentren beobachten. In der Tätigkeit des Atemzentrums sind
an unreifen Kindern neben der Ruheatmung die entwicklungs- und stammes-
geschichtlich älteren Atemformen, die periodische (Cheyne-Stokes’sche)
Atmung und die Schnappatmung nachzuweisen. Diese niederen Atemformen
treten besonders nach Verbrauch nervöser Energie auf, z. B. nach dem Husten,
der Nahrungsaufnahme, dem Erbrechen oder der Reaktion auf einen Sinnen-
reiz. Je unreifer das Kind ist, desto mehr neigt es zu diesen niederen Atem-
formen, da die eben erst gebildeten höheren Teilzentren des Atemzentrums
infolge ihrer Unreife leichter versagen und damit die Tätigkeit der niederen
Zentren freigeben. (‚Zerfall des Atemzentrums‘“). Die periodische Atmung
Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung 183
ist für das Gedeihen des Kindes belanglos, die Schnappatmung aber führt im
„apnoischen Anfall“ bei etwa 2% aller Neugeborenen den Tod herbei und
dürfte damit die häufigste und gefährlichste Nervenkrankheit des Menschen
bilden. Im Tierversuch läßt sich die Schnappatmung durch Entziehung des
Sauerstoffes hervorrufen. . Bei langsamer Entziehung tritt vorher ein Singul-
tus auf, dessen nahe Beziehungen zur Schnappatmung auch beim Säugling
aus den Kurven und dem klinischen Bilde hervorgeht. Es wird als Block iın
Atemzentrum aufgefaßt.
Die nahen Beziehungen zwischen dem Saugzentrum und dem Atemzentrum
werden an Kurven deutlich gemacht. Das entwicklungs- und stammesge-
schichtlich jüngere Saugzentrum ‚‚führt‘‘ das Atemzentrum, d. h. es zwingt
ihrn seinen Rhythmus auf, der etwas schneller ist als der Grundrhythmus des
Atemzentrums. Besonders wird die Pendelinduktion zwischen beiden Zentren
hervorgehoben.
An der Atemkurve lassen sich durch die Einwirkung von Sinnesreizen Er-
regungs- und Hemmungsvorgänge hervorrufen. An der Saugkurve ist die
Erscheinung der Dominanz nachweisbar, ein Vorgang, der darin besteht, daß
ein erregtes Zentrum eine Erregung, die den Hirnstamm durchwandert, ab-
lenkt, an sich zieht und so seinen eigenen Erregungszustand verstärkt. Es
wird auf die nahen Beziehungen zwischen der Erscheinung der Dominanz und
den bedingten Reflexen verwiesen, bei denen gleichfalls der „Herd der großen
Tätigkeit“ eine Erregung an sich zieht und so seinen Erregungszustand ver-
stärkt. Die Erscheinung der Dominanz ist auch bei Reizlöschung (Lichtreiz)
nachzuweisen. (Eigenbericht).
Ill. Vorträge
1) Herting-Düsseldorf sprach über Dr. Friedrich Albert Hoffmann, Mar
Jacobis Nachfolger als Direktor der Irrenanstalt Siegburg (1820—1863):
seinen Lebensgang, seine wissenschaftlichen Arbeiten, organisatorischen Fähig-
keiten, erbbiologische und sozialen Interessen, die Gründung des psychiatri-
schen Vereins in der Rheinprovinz durch ihn, sein tragisches Ende und die
neuerliche Instandsetzung seiner Grabstätte. Der Vortrag wird an anderer
Stelle veröffentlicht. (Eigenbericht).
2) Otten-Süchteln: Ein stirnhirngeschädigter Muttermörder.
Der 29jährige ledige Maurer X. erschlug am 2. 3. 1938 seine 64 Jahre alte
Mutter mit einem Hammer, raubte ihr einen Geldbetrag von etwa RM. 50.—,
welchen er dann noch am gleichen Tage durchbrachte und vertrank.
Die Erhebungen, Beobachtungen und Befunde ergaben einwandfrei, daß
es sich bei X. um die dipsomane Verstimmung eines Stirnhirngeschädigten
gehandelt hat, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, infolge derer X.
zum mindesten erheblich vermindert fähig war, das Unerlaubte seines Vor-
habens einzusehen, jedenfalls aber völlig unfähig war, entsprechend etwa
noch beschränkt vorhandener Einsicht zu handeln. Darüber hinaus war der
zu Beurteilende zur Zeit der Tat infolge seiner Enthemmung und seiner patho-
logischen Affekte außerstande, irgendwelche Einsicht für das Unerlaubte
der Tat aufzubringen.
Die Voraussetzungen des $ 51 Abs. 1 Str. G. B. waren im vollen Umfange
gegeben. Die öffentliche Sicherheit erforderte die Anstaltsunterbringung.
(Eigenbericht).
184 Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung
Aussprache: Gierlich-Bonn.
3) Schubert-Bedburg Hau: Zur Frage des Schlafmittelmißbrauchs.
Auch unter den Zugängen von Heil- und Pflegeanstalten nimmt der chro-
nische Schlafmittelmißbrauch einen beachtenswerten Umfang ein. Die Häufig-
keit seines Vorkommens ist neben anderen Faktoren auch von der Lage der
Anstalt und damit von den jeweiligen Aufnahmebedingungen abhängig.
In der Prov.-Anstalt Bonn, die für ihren namentlich durch die Einbe-
ziehung von Köln überwiegend großstädtischen Aufnahmebezirk zentral ge-
legen ist, liegt der prozentuale Anteil der Schlafmittelsuchtfälle bei einer Ge-
samtaufnahmezahl von durchschnittlich 1100 im Jahr bei 1%. Bemerkens-
werterweise bleibt der Anteil des Morphinismus, der bei 0,7% der Gesamtauf-
nahmezahl liegt, seit 1934 hinter dieser Ziffer zurück.
Bei 16 von insgesamt 49 Schlafmittelsuchtfällen waren akute Krankheits-
erscheinungen, wie sie auf dem Boden des chronischen Schlafmittelmißbrauches
als zerebraler Krampfanfall, Rausch, Dämmerzustand oder Delir auftreten
können, Grund zur Anstaltsaufnahme.
10 zur Beobachtung gekommene Schlafmitteldelirien unterschieden sich
rein bildmäßig nicht von solchen ausschließlich alkoholischer Genese. Für die
Entstehung von Schlafmitteldelirien scheint jedoch die Bedeutung der plötz-
lichen Entziehung als Gelegenheitsursache größer zu sein als bei Alkohol-
delirien, bei denen die Abstinenz fast nur in Verbindung mit anderen Faktoren
wie Infektion, Trauma usw. in dieser Richtung wirksam ist. 6 von unseren
10 Delirien wurden jedenfalls durch das plötzliche Weglassen von Schlaf-
mitteln ausgelöst.
In der Prov.-Anstalt Bedburg-Hau, die an der Peripherie ihres Aufnahme-
bezirkes liegt und von den Großstädten ihres Bezirkes, aus denen der über-
wiegende Teil der jährlich durchschnittlich 600 Neuaufnahmen stammt, etwa
70km entfernt liegt, konnte im Zeitraum von 1925-1937 nur ein einziges
Schlafmitteldelir unter einer Gesamtzahl von 20 Fällen, 14 Männern und
6 Frauen, beobachtet werden. Hier liegt der Anteil des chronischen Schlaf-
mittelmißbrauches mit 0,3% noch unter dem des Morphinismus mit 0,5°, der
Gesamtaufnahmen.
In der diagnostischen Beurteilung der Bedburger Fälle kam die Tatsache
des Schlafmittelmißbrauches nur vereinzelt zum Ausdruck. Im Vordergrund
der Diagnostik stand durchweg die psychopathische Reaktionsweise der Süch-
tigen, die in fast allen Fällen auch der Grund zur Anstaltsaufnahme gewesen
war.
Es besteht überhaupt an vielen Heil- und Pflegeanstalten wie an den meisten
Kliniken die Tendenz, Süchtige beim Registrieren gemäß der Diagnosen-
tabelle unter dem Begriff der Psychopathie, also unter Ziffer 16, und nicht
unter dem Begriff der Sucht, Ziffer 11, zu führen. Das wiederum hat leider
zur Folge, daß amtlicherseits die Zahl der Süchtigen bestimmt als zu gering
angesehen wird.
Überdies ist der chronische Schlafmittelmißbrauch weitaus mehr ver-
breitet, als die Zahl entsprechender Zugänge in Heil- und Pflegeanstalten er-
kennen läßt. Denn bei intensiv und geschickt betriebener industrieller Propa-
ganda sind Schlafmittel weitesten Volkskreisen bekannt geworden. Gebrauch
und Dauergebrauch von Schlafmitteln unterstehen vielfach nicht mehr der
regulierenden Kontrolle eines Arztes. Die Gefahr eines Mißbrauches wird
damit größer, zumal Beschaffungsschwierigkeiten kaum bestehen, umso
weniger, als besonders Drogerien die bestehenden Abgabevorschriften für
Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung 185
Schlafmittel nicht beachten, wie eine Untersuchung der Reichsarbeitsgemein-
schaft für Rauschgiftbekämpfung bei 21 von 36 Bonner Drogerien sicher-
gestellt hat. (Eigenbericht.)
Aussprache: Többen, Münster und Pohlischh Bonn. Pohlisch bemerkt:
Bei allen Schlafmitteln,gibt es echte Gewöhnung, d.h. Unwirksamwerden
anfänglich wirksamer Dosen bei Dauergebrauch. Alle Schlafmittel können
also zu Suchtmittel werden. Bei sämtlichen können sich auf dem Boden des
Dauermißbrauchs zerebrale Krampfanfälle, Halluzinosen und Delirien ent-
wickeln, und zwar in kürzerer Zeit als beim gewohnheitsmäßigen Alkohol-
mißbrauch. Schlafmittel sind in allen Bevölkerungsschichten, wie wir statistisch
nachweisen konnten, recht gut bekannt, regional allerdings verschieden, z. B.
auf dem flachen Lande als in Städten. Der Preis für Schlafmittel ist relativ
gering. Der illegale Handel blüht, insbesondere der Verkauf von Phanodorm
durch Drogerien, die Phanodorm gar nicht führen dürfen. Für Apotheken
ist Phanodorm immer ncch nicht rezepturpflichtig. Andere rezepturpflichtige
Schlafmittel werden nicht selten ohne Rezept abgegeben. Viele Ärzte ver-
schreiben aus Unkenntnis der Gefahren zu leichtfertig, andere zu große
Packungen. Erneuter Verbrauch erfolgt sehr oft ohne Wiederaufsuchen des
Arztes. — Nur ein Teil der gewohnheitsmäßigen Mißbraucher sind schwere
Psychopathen, insbesondere die in Heil- und Pflegeanstalten aufgenommenen
Mißbraucher. In Kliniken, Sanatorien, und in die Praxis des Nervenarztes
kommen nicht so sehr selten sog. Nervöse, jedenfalls sozial Wertvolle mit
gewohnheitsmäßigem Mißbrauch und deren Folgeerscheinungen. Diese Er-
fahrung wird zu wenig beachtet.
An all diesen Tatsachen dürfen wir nicht achtlos vorübergehen. Seit Jahr-
zehnten gehört es zum guten Ton der Psychiater, gegen den Alkoholmißbrauch
Stellung zu nehmen. Weshalb nicht neuerdings auch gegen den Schlafmittel-
mißbrauch ? Zum mindesten sollte der Psychiater von Entstehungsweise,
Verlauf und klinischen Krankheitsformen dieser Sucht genaue Kenntnis
haben. — Gegen sinnvollen Gebrauch von Schlafmitteln wenden wir gar-
nichts ein, wenden ihn sogar sehr oft an. Jedoch lehren die Krankheits-
bewegung des Alkoholismus, Morphinismus und Kokainismus, wie leicht
sich aus dem Gebrauch Mißbrauch entwickeln kann. Die Vorsicht und sogar
Scheu unserer Eltern- und Großelterngeneration bei der Einnahme von
Medikamenten besteht nicht mehr. Arbeitslast und Arbeitstempo unserer
Tage sind größer, mithin Schlafstörungen häufiger. Dazu kommt ein ver-
lockendes Angebot, ja sogar Überangebot von Schlafmitteln. Der Arzt be-
gnügt sich zu oft mit der symptomatischen Therapie, anstatt die mühevollere
kausale Therapie durchzuführen. — Grade wir Psychiater haben die Pflicht
diese, unser Fachgebiet angehenden Erfahrungen zu fördern und eindeutig
darzustellen. Wir wollen rechtzeitig warnen. Unser Maßstab ist nicht die
Prozentzahl der Schlafmittelsüchtigen in den Heil- und Pflegeanstalten im
Vergleich zur Ziffer der anderartigen Aufnahmen, uns genügt schon fest-
zustellen, daß Heilmittel, falsch angewandt, so viel Unheil anstiften können,
daß sogar Heil- und Pflegeanstalten zum Ausgleich notwendig sind.
4) F. Laubenthal, Bonn: Über partielle Schwachsinnsformen. Be-
richt über das zugehörige Schrifttum und eigene Sippenuntersuchungen bei
kongenital Wortblinden und Worttauben. Kongenitale Wortblindheit und
Worttaubheit kommen auch bei sonst normal intelligenten Menschen vor.
Bei den beschriebenen Sippen ergibt sich eine lläufung von Partialdefekten,
ein gehäuftes Auftreten von Schwachsinn und psychopathischen Zügen und
186 Kurzbericht über die 114. ordentliche Hauptversammlung
auch eine Häufung abnormer neurologischer Befunde meist geringgradiger
Ausprägung. Gefunden wurden isolierte Pyramidenbahnsymptome, Reflex-
differenzen, Facialis- und Hypoglossusparesen, Intentionstremor und Stoff-
wechselstörungen, die auf eine Zwischenhirnbeteiligung hinweisen. Bei ence-
phalographischen Untersuchungen kongenital Worthlinder ließen sich sichere
Veränderungen nicht feststellen. Die Entscheidung, ob eine kongenitale Wort-
blindheit oder Worttaubheit als erblich bedingt oder als durch eine exogene
Schädigung hervorgerufen anzusehen ist, kann nicht vom neurologischen
Befund, sondern muß vom Sippenbefund abhängig gemacht werden. Vom
Sippenbefund ist auch die Entscheidung der Frage der Unfruchtbarmachung
abhängig zu machen. (Eigenbericht.)
5) Schulte, Hermann, Bonn: ZurPsychopathologiekindlicherSchwach-
sinnsformen. Es wurde versucht, durch eingehende psychopathologische
Analyse über die eindrucksmäßige Unterscheidbarkeit der exogenen Schwach-
sinnsformen ohne greifbare Anzeichen einer encephalopathischen Leistungs-
minderung von den geläufigen Bildern, welche die erblich bedingten Schwach-
sinnsformen zeigen, hinauszukommen. Disproportionalität der psychischen
Struktur ließ sich — gewissermaßen als abortive Partialdefekte — auch bei
exogen Schwachsinnigen sicherstellen, die bei weniger eingehender Betrach-
tung unerkannt geblieben war. Weiter ließ sich nicht selten bei frühkindlichen
Demenzen die gesteigerte Ermüdbarkeit als Ausdruck eines in seiner Leistung
geschädigten Gehirns nachweisen. Das durch gesteigerte Ermüdbarkeit
gestörte Leistungsbild ließ sich abgrenzen von äußerlich ähnlichen Bildern
bei endogen Schwachsinnigen. Bei diesen führte das hier nicht seltene Affekt-
denken zu einem ähnlichen Ergebnis. Das Affektdenken ist zum Unterschied
von dem Ermüdungsdenken durch psychologische Ableitbarkeit aus dem
Sinnzusammenhang des Seelischen charakterisiert. (Eigenbericht.)
6) Schorre, Köln: Stammhirn und Psyche. (Vortrag und Tonfilm).
Wegen einer technischen Störung konnte der Tonfilm nur teilweise vorgeführt
werden. Geller, Bonn.
Johannes Lange 7
(Mit einer Porträttafel am Anfang des Heftes)
Am 11. August 1938 ist uns Professor Johannes Lange, Vorstand
der Psychiatrischen und Nervenklinik Breslau, nach langem tücki-
schem Leiden ım Alter von 47 Jahren durch den Tod entrissen
worden.
Damit hat Deutschland einen seiner begabtesten und vielsei-
tigsten klinischen Psychiater verloren.
Lange ist sächsischer Abstammung, der Sohn eines Geh. Schul-
rates im Sächsischen Ministerium. Er wurde in Wismar geboren
und wuchs dort, ın Oschatz, Chemnitz und Dresden auf. Sein Abitur
bestand er mit Auszeichnung und studierte dann in Leipzig, Kiel,
Straßburg und München, wo er schon vor dem Staatsexamen
psychologischen Studien in den Laboratorien der Klinik Kraepelins
und anatomischen Arbeiten bei Spielmeyer oblag. Den Krieg, in
dem er mehrfach an Pocken, Typhus und Ruhr schwer krank dar-
nieder lag, machte er als Truppenarzt von Anfang bis zu Ende mit.
Gleich darnach stellte er sich Kraepelin als Assistent zur Verfügung
und wurde 1922 Dozent und 1926 a. o. Professor für Psychiatrie.
Eine Reise nach Indien, die er auf Einladung Kraepelins mit die-
sem machen sollte (vergleichende Rassenpsychiatrie) kam, da
Kraepelin während der Vorbereitungen starb, nicht mehr zur Aus-
führung. 1923 schon hatte Lange die im Krankenhaus München-
Schwabing errichtete und der deutschen Forschungsanstalt für
Psychiatrie angegliederte psychiatrische Aufnahmeabteilung über-
nommen, deren Leiter an der Forschungsanstalt er bis zu seiner
Berufung als Ordinarius für Psychiatrie im Mai 1930 geblieben war.
Die Breslauer Klinik verdankt ihm den Ausbau einer Röntgen-
abteilung und die Einrichtung einer erbbiologischen Abteilung.
Eine Kinderabteilung, für die er seine Dienstwohnung zur Verfü-
gung stellen wollte, wurde ihm kurz vor seinem Tode genehmigt.
Lange war wegen der Gediegenheit seiner Ausführungen als Re-
ferent und Vortragender überall gesucht und beliebt. Weitgehend
nahm ihn seine ehrenamtliche Tätigkeit als Beisitzer beim Erb-
gesundheits-Obergericht ın Anspruch.
1929 war er mit Bostroem zusammen Gründer und Herausgeber
der „Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie und ihrer Grenz-
188 Johannes Lange t
gebiete‘‘, seit 1935 Mitherausgeber der „Zeitschrift für Kriminal-
biologie und Strafrechtsreform‘“.
Er war u.a. Mitglied der Kaiserlich-Leopold. Karolinischen
deutschen Akademie der Naturforscher in Halle und saß im Rat,
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.
Im Rahmen dieses äußerlich einfachen, leider so kurzen Lebens-
ganges entwickelte Lange eine außerordentlich mannigfaltige,
fruchtbare, an Umfang ebenso wie an Inhalt bedeutende wissen-
schaftliche Tätigkeit, die ein Ausdruck seiner scharfsinnigen In-
telligenz und seines nimmer ruhenden Fleißes ist.
Sie gruppierte sich um sein großes, kaum ein Gebiet außer acht
lassendes klinisches Interesse. Die Experimental-Psychologie von
der Richtung Kraepelins, dem er auf diesem Gebiete manche per-
sönlichen Wünsche in entgegenkommender Weise erfüllte, hatte
ihn auf die Dauer nicht zu fesseln vermocht. Schon mehr kann
man das von der psychiatrischen und später auch neurologischen
Erbbiologie sagen, die ihm und seinen Mitarbeitern die kräftigste
Förderung verdankt.
Berühmt geworden ist sein Buch „Verbrechen als Schicksal‘,
in dem er die an der genealogischen Abteilung der Deutschen For-
schungsanstalt seit Jahren in Gang befindliche psychiatrische
Zwillingsforschung in fruchtbarer Weise erstmals auf ein kriminal-
biologisches Problem anwandte.
Von großem Wert sınd aber auch seine genealogisch-psychiatri-
schen Originalstudien über den ‚Fall Bertha Hempel“ 1923, „Ge-
nealogische Untersuchungen an einer Bauernsippschaft‘‘ 1925,
„Psychopathie und Erbpflege‘‘ 1934, „Die Folgen der Entman-
nung‘ 1933, „Erwartungsneurosen‘ und viele Aufsätze über psy-
chiatrisch-eugenische Tagesfragen. Wie nur wenigen klinischen
Psychiatern sonst war Lange die ungeheuere wissenschaftliche
und praktische Bedeutung der Erbbiologie für unser Volk aufge-
gangen. Sie war ihm, neben dem Klinischen, eine Art Zentrum in
seinem geistigen Leben, wenn auch das Klinische weitaus den brei-
testen Raum in seiner beruflichen Persönlichkeit einnahm und
ihm das tiefste von allen seinen wissenschaftlichen Herzensbedürf-
nissen war.
Diesem konnte er sich ganz hingeben in zahlreichen sichtenden,
zusammenfassenden und kritischen Aufsätzen, in der Beschrei-
bung wertvoller Beobachtungen und in großen monographischen
Veröffentlichungen, wie in der „Paranoia-Frage‘‘ 1935, in der ge-
meinsam mit Kraepelin herausgegebenen 9. Auflage des „Lehr-
buches der Geisteskrankheiten‘‘ 1927, in „Psychiatrie des prak-
Johannes Lange t 189
tischen Arztes“ 1929 und in einem „Kurzgefaßten Lehrbuch der
Psychiatrie‘ 1935, 1936 und jetzt in 3. Auflage im Erscheinen.
Er galt als einer der besten Kenner der paranoischen, psycho-
pathischen, debilen, depressiven und schizophrenen Zustände.
Langes Forschen und praktisches Wirken als Arzt war ernst,
verantwortungsbewußt und ebenso umfassend als gründlich. Er
besaß ein starkes, entschiedenes Urteil in allen wissenschaftlichen
Dingen seines Faches, ein sicheres Unterscheidungsvermögen für
das Wichtige, Wesentliche und Neue. Wo er sich noch nicht ge-
nügend orientiert glaubte, hielt er sich zurück, arbeitete sich aber
schnell und elastisch in neue Probleme oder praktische Aufgaben
en. Man sprach lange Zeit von ihm als dem seinerzeitigen ersten
Anwärter auf den psychiatrischen Lehrstuhl Berlins. Schon schwer
krank arbeitete er noch wie ein Gesunder mit der ihm eigenen
unverwüstlichen Energie, mit Erfolg an der Vollendung litera-
rıscher Verpflichtungen, die er übernommen hatte. Den Todeskeim
schon in sich tragend, hielt er im Juni 1938 bei der Reichsärzte-
Tagung den Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Zoppot
noch einen Vortrag über „Die Erkennung und Wertung geistiger
Störungen im Erbgesundheitsgesetz‘‘.
Lange hatte noch viele wertvolle Pläne, für deren Ausführung
seine Persönlichkeit gebürgt hätte.
Damit ist es nun leider vorbei. Aber sein so kurzes Leben war
doch für ıhn und andere ein reiches Leben, das er, wie kaum ein
anderer, gut genützt hat. Langes Tod reißt ein klaffende Lücke
in die Reihe der deutschen Vertreter der modernen Psychiatrie
und Neurologie und die freudige Erinnerung an seine hervorragende
wissenschaftliche Persönlichkeit wird noch lange Zeit schmerzlich
getrübt sein durch den großen Verlust, den wir durch seinen vor-
zeitigen Hinschied zu erleiden haben. Rüdin, München
Tagesnachrichten
Fortbildungskursus in Psychiatrie und Neurologie
Die Akademie für ärztliche Fortbildung Dresden veranstaltet in der Woche
vom 8. bis 12. November 1938 einen Kurzkursus über ‚Psychiatrie und
Neurologie“.
Der Kursus findet in der Landesheilanstalt Sonnenstein und im Maria-
Anna-Heim, Pirna, statt. Als Vortragende für diesen Kurs sind vorgesehen:
Dr. Brauchle, Dresden, Rudolf-Heß-Krankenhaus; Prof. Dr. Nische, Pirna,
Landesanstalt Sonnenstein; Prof. Dr. Zucker, Pirna, Maria-Anna-Heim.
Der Kursus befaßt sich vorwiegend mit dem Gesetz zur Verhütung erb-
kranken Nachwuchses unter besonderer Berücksichtigung der dem praktischen
Arzt im Rahmen des Gesetzes gestellten Aufgaben sowie mit der Abfassung
psychiatrischer Zeugnisse und Gutachten. Neben Vorträgen über die Behand-
lung psychischer Krankheiten in Praxis und Anstalt und der Demonstration
ausgewählter Kapitel aus der Psychiatrie unter besonderer Berücksichtigung
der Bedürfnisse des praktischen Arztes, finden praktische Vormittage in der
Neurologie (u. a. Visite, Poliklinik, Lumbalpunktion) statt.
Außer einer Reihe von Vorträgen über Kopfschmerzen, Neurologie und
Neurose, Schädelverletzungen, organische Gehirnerkrankungen, werden die
Beziehungen der Psychiatrie und Neurologie zur Naturheilkunde behandelt. —
Die Kursusgebühr beträgt RM 50.—. Anmeldungen und Anfragen sowie
Vorlesungsverzeichnis durch das Sekretariat der Akademie für ärzt-
liche Fortbildung, Dresden-A. 1, Lingnerplatz 1.
Die große Reichausstellung „Gesundes Leben — Frohes Schaflen“ vom
24.9. bis zum 6.11. auf dem Ausstellungsgelände am Berliner Funkturm,
geht nicht vom Gegenständlichen, sondern vom Besucher selbst aus. Sie
zeigt ihm nichts, was außerhalb seines Daseinskreises besteht, sondern sie führt
ihn sich selbst vor Augen. Der Nationalsozialismus legt jedem einzelnen die
Verpflichtung auf, sich selbst gesund zu erhalten, damit seine Schaffenskraft
der Gemeinschaft zugute kommt. Diese Idee liegt der Reichsausstellung zu-
grunde, und aus allen ihren mannigfaltigen, ganz neue Wege beschreibenden
Darstellungen leuchtet der Hauptgrundsatz auf: die Fürsorge für den gesun-
den Menschen, damit er leistungsfähig bleibt und nicht krank wird. An der
Sichtbarmachung dieser neuen Einstellung beteiligt sich unter der Schirm-
herrschaft des Stellvertreters des Führers neben dem Berliner Ausstellungs-
und Messeamt der gesamte Reichsarbeitskreis für Gesundheitsführung in der
NSDAP. Zu ihm gehören die Deutsche Arbeitsfront mit ihren verschiedenen,
der Menschen- und Gesundheitsführung dienenden Ämtern, das Hauptamt für
Volksgesundheit, das Hauptamt für Volkswohlfahrt, die Reichsjugendführung, _
ferner das Reichsversicherungsamt, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung,
das Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin. Mit besonderen Darstellungen
treten auch die Reichsgruppe Industrie, der Reichsarbeitsdienst und die Wehr-
macht auf.
— e EEE — e FERN
Tagesnachrichten 191
Anstellungsverhältnisse
der im Krankenanstaltswesen usw. beschäftigten Dienstkrëfte.
Der Runderlaß des Reichsministers des Innern und des Reichsfinanz-
ministers vom 20. 5. 1938 (RMBIiV. S. 905) ist der erste Runderlaß, der zur
näheren Durchführung des $ 148 des Deutschen Beamtengesetzes ergangen
ist, sich also mit der Frage der Schaffung von Beamtenstellen befaßt. Der
Runderlaß bezieht sich auf die Anstellungsverhältnisse der beschäftigten
Dienstkräfte der Gemeinden, Gemeindeverbände und gemeindlichen Zweck-
verbände; er beschäftigt sich sowohl mit den Ärzten wie mit den übrigen
Dienstkräften des Gesundheitswesens. Aus seinem Inhalt sei folgendes hervor-
gehoben:
Bei den kommunalen Gesundheitsämtern sind die Stellen des Amts-
arztes stets, die des stellvertretenden Amtsarztes in der Regel und bei größeren
Ämtern auch die der sonstigen Ärzte — abgesehen von den Hilfsärzten —
Beamtenstellen. Hilfsärzte können nur als Angestellte beschäftigt werden.
Bei denkommunalen Krankenhäusern können der leitende Arzt (Chef-
arzt, dirigierender Arzt, Direktor) und sein Stellvertreter und die Abteilungs-
ärzte als selbständige Leiter größerer Abteilungen als Beamte angestellt wer-
den; bei den Oberärzten ist über die Art des Anstellungsverhältnisses nach
dem Aufgabenkreis von Fall zu Fall zu entscheiden; eine Berufung in das
Beamtenverhältnis wird nur ausnahmsweise dann in Betracht kommen,
wenn der Oberarzt eine große Abteilung unter sich hat. Assistenzärzte können
nur als Angestellte angestellt werden.
Bei den Provinzialheil- und Pflegeanstalten sind der leitende Arzt
(Chefarzt, dirigierender Arzt, Direktor), sein Stellvertreter, die Abteilungs-
ärzte und in der Regel auch die Oberärzte als Beamte anzustellen. Assistenz-
ärzte können planmäßige Beamte sein, sofern es nicht genügt, sie außerplan-
mäßig anzustellen.
Bei den Provinzial-Hebammenlehranstalten sind der leitende Arzt
und sein Stellvertreter als Beamte anzustellen; die Oberärzte und sonstige
Ärzte können nur als Angestellte angestellt werden.
Der Erlaß trifft noch nähere Weisungen hinsichtlich der Hebammen,
Desinfektoren, technischen Assistentinnen, Apotheker, Nahrungsmittel-
chemiker und Laboratoriumsgehilfen.
Schließlich regelt der Erlaß die Anstellungsverhältnisse der Dienstkräfte
des Fürsorgewesens und der Jugendwohlfahrt. Insoweit sei hier nur hervor-
gehoben, daß Fürsorgerinnen, deren Aufgabenkreis mit verantwortlicher Ver-
waltungstätigkeit verbunden ist, im Beamtenverhältnis angestellt werden
können, sofern sie sich in leitenden Stellen befinden. (Der Gemeindetag
1938, 607.)
Kurze Mitteilungen
Die Einführung von Gesundheitszeugnissen für Ehekandidaten
dehnt sich immer weiter aus. Auch in Ekuador sind sie jetzt angeordnet.
Es muß u. a. bescheinigt werden, daß die Brautleute nicht an Syphilis, Tuber-
kulose, Tripper und Lepra leiden.
Nachdem der Reichserziehungsminister in früheren Runderlassen die Stel-
lung zur Frage des Alkoholgenusses innerhalb der Jugenderziehung grund-
sätzlich klargestellt hat, weist er in einem neuen Erlaß darauf hin, daß die
heranwachsende Jugend auch durch das Tabakrauchen in zunehmendem
192 Tagesnachrichten
Maße gesundheitlich gefährdet wird. Den Gefahren des Tabakrauchens
Jugendlicher sei deshalb in allen Schulen die erforderliche Aufmerksamkeit
zuzuwenden und es sei ihnen entgegenzuwirken.
Dem Dichter und Arzt Dr. Hans Carossa wurde am 28. August in Frank-
furt a. M., im Bürgersaal des Römer, der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt
überreicht. Es geschah im Rahmen einer gemeinschaftlichen Tagung der
Goethe-Gesellschaft, der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft und des Freien
Deutschen Hochstiftes.
Persönliches
Berlin. Dem Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, Prof. Reiter, wurde
das Komturkreuz mit dem Stern des Ungarischen Verdienstordens verliehen. —
Dem Dr. med. habil. Heinrich Scheller ist die Dozentur für Psychiatrie und
Neurologie verliehen worden.
Erlangen, Kreis-Heil- und Pflegeanstalt. Medizinalrat I. Kl. Dr. Hubert
Schuch wurde zum Direktor der Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Ansbach er-
nannt.
Gabersee, Kreis-Heil- und Pflegeanstalt. Medizinalrat I. Kl. Dr. Heinrich
Lößl trat, nachdem er die Altersgrenze erreicht hat, mit Ablauf des Monats
September 1938 in den Ruhestand. Für seine dem deutschen Volke geleisteten
treuen Dienste wurde ihm der Dank des Führers und Reichskanzlers aus-
gesprochen.
Greifswald. Dem dirigierenden Arzt n.b.a.o. Prof. Dr. Rudolf Thiele ist
unter Ernennung zum ordentlichen Professor in der Medizinischen Fakultät
der Universität Greifswald der Lehrstuhl für zeychianıe und Neurologie
übertragen worden.
Günzburg, Kreis-Heil- und Pflegeanstalt. Medizinalrat I. Kl. Dr. Albert
Sıghart wurde zum Direktor ernannt.
Jena. Der ordentliche Professor in der Medizinischen Fakultät der Uni-
versität in Jena, Dr. Hans Berger, ist wegen Erreichung der Altersgrenze von
den amtlichen Verpflichtungen entbunden worden.
Königsberg. Dr. med. habil. Joachim Hempel und Dr. med. habil. Artur
von der Heydt erhielten die Dozentur für Psychiatrie und Nervenheilkunde.
München. Dem Reichsärzteführer, Hauptdienstleiter Dr. Gerhard Wagner,
wurde vom ungarischen Reichsverweser das Komturkreuz mit.dem Stern des
Ungarischen Verdienstordens verliehen. — Dem Dr. med. habil. Friedrich
Scheid ist unter Zuweisung an die Medizinische Fakultät der Universität in
München die Dozentur für Psychiatrie und Neurologie verliehen worden.
Dresden. Das bekannte Sanatorium Dr. H. Teuscher für innere und Nerven-
krankheiten in Dresden-Bad Weißer Hirsch ist durch Verkauf in andere
Hände übergegangen. Dr. Gottfried Dilcher hat die ärztliche Leitung über-
nommen.
Göttingen. Nach kurzer, schwerer Krankheit ist am 3. September 1938
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. med. Ernst Schultze, ehem. Direktor der Universitäts-
klinik für psychische und Nervenkrankheiten und der Landes-Heil- und
Pflegeanstalt im 74. Lebensjahr sanft entschlafen.
= —
ee a a e er
"hr, W
Aus der „Münchener Medizinischen Wochenschrift‘
Ernst Schultze +
Die Erbbiologie der endogenen Psychosen
Von
Dr. med. habil. K. Conrad
Mit 2 Tabellen im Text
(Vortrag gehalten auf der 64. Wanderversammlung der südwestdeutschen
Psychiater in Baden-Baden am 11. Juni 1938)
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Marburg.
Direktor: Professor Dr. Kretschmer)
(Eingegangen am 1. Juli 1938)
Wenn im Rahmen einer Aussprache über die Somatopathologie
der endogenen Psychosen auch die Erbbiologie zu Worte kommt,
so hat dies seinen guten Sinn. Die Erkenntnis der Vererbbarkeit
zeigt ja einen der wichtigsten Faktoren in der gesamten Patho-
genese der endogenen Psychosen auf. Und die Wirkung der Erb-
faktoren, und zwar auch jener, die sich letztlich im Bereich des
Psychischen manifestieren, ist zunächst nur auf dem Wege soma-
tischen Entwicklungsgeschehens denkbar. So gehört also die
Erbbiologie der endogenen Psychosen mit hinein in
das weite Gebiet ihrer Somatopathologie.
Ich kann Ihnen nun in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung
steht, keinen vollständigen Überblick geben über die große, ins
einzelne gehende Forschungsarbeit, die auf diesem Gebiete vor
allem von Rüdin und seiner Schule schon geleistet wurde. Auch
gibt es darüber genügend viele zusammenfassende Berichte. Ich
erinnere nur an die letzte große Zusammenstellung von Luxen-
burger über die bisherigen Ergebnisse erbprognostischer Forschung
oder die zahlreichen zusammenfassenden Berichte über den gegen-
wärtigen Stand der Zwillingsforschung.
Ich sehe vielmehr meine Aufgabe auf einem andern, allgemeineren
Gebiet liegen. Der Aufschwung erbbiologischen Denkens und der
Fortschritt erbbiologischer Forschungsarbeit in der Medizin und
vor allem in der Psychiatrie scheint mir neben der Klärung zahl-
reicher Probleme gewisse Unklarheiten nicht beseitigt zu haben.
Zum ersten eine Unklarheit über die Rolle des Erbfaktors im ge-
samten Ursachenkreis der endogenen Psychosen. Dies zeigt u.a.
13 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3/4.
194 K. Conrad
die nicht selten geäußerte falsche Formulierung: erblich, also
somatopathologisch ohne Befund oder umgekehrt: somatische
Verursachung, also nicht erblich.
Zum zweiten aber bestehen immer noch Unklarheiten über die
Rolle der endogenen Psychosen im Gesamt aller endogenen Er-
krankungen, also auch jener der inneren Medizin. Vorwiegend
durch die Ausnahmestellung, die die endogenen Psychosen durch
die Erbgesundheitsgesetzgebung bekamen, entstand die Meinung,
als wären die endogenen, psychischen Erkrankungen die erblichen
Krankheiten schlechthin und nähmen eine besondere Stellung
auf dem Gebiete der Erbpathologie ein. Eine scharfe Grenze
wurde zwischen ihnen und konstitutionellen Erkrankungen, wie
etwa dem Diabetes oder der Tuberkulose gezogen. Die Vorstellung
von einem unerbittlichen Schicksal, das sich bis ins 3. und 4. Glied
erfülle, verband sich mit der seit je bestehenden Scheu vor den
geistigen Erkrankungen überhaupt und bewirkte, daß nun die
Geisteskrankheiten, da sie als „Erbkrankheiten‘‘ erkannt waren,
einer weiteren pathogenetischen Erforschung entzogen zu werden
drohten. Und damit geriet auch die Erkenntnis, die sich nur müh-
sam und — gemessen an der Gesamtentwicklung der Medizin —
recht spät Bahn gebrochen hatte, wieder ins Stocken, daß näm-
lich die Psychosen nichts andres als somatische Er-
krankungen sind mit lediglich einer besonderen Re-
sonanz im Bereich der Psyche.
Aus dieser Gesamtsituation heraus, in der wir uns gegenwärtig
befinden, sehe ich also meine Aufgabe in zwei Punkten liegen:
Erstens eine richtige Einordnung des Erbfaktors im Gesamt der
ätiologischen Faktoren bei den endogenen Psychosen zu finden
und zweitens, damit zu einer richtigen Eingruppierung der endo-
genen Psychosen selber im Gesamt aller endogenen Erkrankungen
überhaupt zu gelangen. Damit wird sich auch eine klare Formu-
lierung der gegenwärtigen Aufgabe der erbbiologischen Forschung
in der Psychiatrie ergeben.
Die Feststellung, ein Merkmal, etwa ein Krankheitsmerkmal
sei erblich, heißt zunächst nichts anderes, als daß Erbfaktoren,
also Gene, einen Entwicklungsvorgang einleiten, an dessen Ende
die Ausbildung des betreffenden Krankheitsmerkmals steht. Aus
den experimentellen Untersuchungen der biologischen Genetik
haben wir gewisse Anhaltspunkte dafür anzunehmen, daß die
Art der Genwirkung einer Katalysatorwirkung vergleichbar ist,
welche die Determinationsvorgänge bei der Entwicklung mit be-
stimmten Geschwindigkeiten ablaufen läßt. In der dadurch be-
Die Erbbiologie der endogenen Psychosen 195
stimmten Ordnung von aufeinander abgestimmten Reaktions-
veschwindigkeiten liegt die Garantie für eine normale Entwick-
lung begriffen. Jede Störung in diesem abgestimmten System
führt zu Störungen, die letztlich als pathologische Merkmale des
fertigen Individuums erscheinen. Und ist die Störung durch ein
ın seiner Wirkung abgeändertes Gen, ein sog. mutiertes Gen, be-
dingt, so ist das resultierende pathologische Merkmal ein Erb-
merkmal. Auch bei unseren endogenen Psychosen können die
‚, Dinge grundsätzlich nicht anders liegen, wenn es sich hier auch:
Enge u Ed o a ern EEE ei E db Te m e O
nicht um einfache Merkmale, etwa im Sinne der Hasenscharte
oder der Polydaktylie handelt, sondern um einen hochkomplexen
Störungsmodus, den wir mangels einer genauen Kenntnis der
Somatopathologie noch nicht annähernd überschauen können.
Die Tatsache, daß ein Merkmal erblich ist, sagt also im ganzen
nicht mehr, als daß Genwirkungen die Entwicklung dieses Merk-
mals einleiten. Auf welchem Wege diese Entwicklung erfolgt,
welche körperlichen Systeme an der Entwicklung beteiligt sind,
von welchen weiteren Genwirkungen sie abhängig ist, welche
außeren Faktoren sie beeinflussen, darüber wird durch die Er-
kenntnis der Erblichkeit allein nicht das Geringste ausgesagt. Dies
alles zu erforschen, ist die Aufgabe der physiopathologischen
Forschung. Die Erkenntnis der Erbbedingtheit einer
Krankheit kann also niemals das Endergebnis einer
wissenschaftlichen Erforschung dieser Erkrankung
sein, sondern ist immer nur der Anfang in der Er-
kenntnisfolge ıhrer Verursachung.
So betrachtet, gibt auch die Zwillingsforschung lediglich einen
quantitativen Wert der pauschalen Wahrscheinlichkeit, daß der
durch Gene eingeleitete Entwicklungsvorgang bis zu dem End-
ergebnis der betr. Merkmalsausprägung gelangt. Dieser quanti-
tative Wert kann allerdings von außerordentlich großer Bedeu-
tung sein, da er gewisse Schlußfolgerungen auf die Art des patho-
genetischen Prozesses zuläßt und vor allem in Verbindung mit
Sippschaftsforschung und der empirischen Erbprognose genügende
Grundlagen schafft für prophylaktisches, eugenisches Handeln.
Ich will Ihnen deshalb kurz die Resultate der Zwillingsforschung
hei den endogenen Psychosen graphisch darstellen (Tab. 1). Sie
sehen in Prozenten die Konkordanz bei Eineiigen und Zweieiigen
dargestellt und können aus der Spanne zwischen dem Prozentsatz
bei EZ und ZZ ummittelbar das quantitative Maß ablesen, das der
Gesamtheit der Erbfaktoren im Ursachenkreis zuzusprechen ist.
Sie sehen weiter, daß die Verhältnisse bei der Schizophrenie denen
13°
196 K. Conrad
Schizophrenie Man.depr.Irresein L£pılepsıe
9%, (n.Luxenburger) (n.Rosanoff) (n.Conrad)
Tab. 1. Statistische Zwillingsergebnisse bei den endogenen Psychosen.
bei der Cyclothymie und Epilepsie im ganzen recht ähnlich sind.
Wenn wir mit diesen Zwillingsresultaten auch die quantitative
Seite des Anlage-Umweltverhältnisses umschrieben haben, so ist
damit über die qualitative Seite des Problems, also über die Gesetz-
mäßigkeiten der Vererbung noch nichts ausgesagt. Darüber aber
können wir erst dann etwas erfahren, wenn das physiopatholo-
gische Geschehen, das der Erkrankung zu Grunde liegt, bekannt
ist. Denn ebenso, wie es nur von unvollkommenem Werte wäre,
etwa die klinische Erscheinung der Zuckerausscheidung im Harn
hinsichtlich ihrer Erbbedingtheit zu untersuchen, ohne die Kennt-
nis der diesem Symptom zugrundeliegenden physiopathologischen
Vorgänge, z. B. der Hyperglykaemie, der Insulinwirkung usw.,
ebenso müssen wir auch die in den Sippen gefundenen Häufig-
keitswerte der Psychosen mit großer Vorsicht verwenden, solange
wir keine Ahnung haben von den ihnen zugrunde liegenden
körperlichen Vorgängen. Die endogenen Psychosen sind
aber vorläufig ganz periphere klinische Symptomen-
komplexe, bei denen schon die Kenntnis des unmittel-
bar zugrunde liegenden körperlichen Substrates fehlt.
Wir gelangen also zu der Erkenntnis, daß die Feststellung der
Erblichkeit der endogenen Psychosen zwar völlig ausreichende
Grundlagen schafft für ein pauschales prophylaktisches Ein-
greifen, daß wir aber für die Erkenntnis des Wesens der Erkran-
kung und ihrer gesamten Verursachung damit immer nur die eine
Hälfte in der Hand haben. Mehr als in anderen Zweigen der Wissen-
Die Erbbiologie der endogenen Psychosen 197
schaft gilt hier die Forderung nach einer ganzheitlichen Be-
trachtung. Die Überbewertung des Umweltfaktors sündigt ebenso
gegen dieses Gebot wie die Überbewertung der Erbfaktoren. Nur
die Einsicht, daß beide Faktoren untrennbar zusammenwirken,
daß wir mit der Erforschung der Physiopathogenese auch die Er-
kenntnisse auf dem Gebiete der Erbforschung fördern, ja, daß
die erbstatistische Forschung notwendigerweise dort
ihre Grenze findet, wo unsere physiopathologischen
Kenntnisse aufhören'), zeigt uns den richtigen Weg, den die
Forschung der nächsten Zukunft zu gehen hat.
Damit gelangen wir zu dem zweiten Punkt unseres Programmes,
zu dem Versuch einer richtigen Eingliederung der endogenen
Psychosen in das Gesamt der endogenen Erkrankungen. Wir
haben schon erwähnt, daß man seit dem Erbgesundheitsgesetz irr-
tümlich annehmen könnte, es käme den endogenen Psychosen eine
gewisse Sonderstellung zu, man dürfte sie mit größerem Recht Erb-
% Schizophrenie Man.-Deor.!. Epileosie
2 7n. luxenburger) In Rosano n. Conrad.
% ARachitis Tuberkulose Diabetes’) Struma Mult ‚Sklerose
n./hHums)
In.Lehmann) Inv.Venschueru. Diehl) (n Thenberg) In.Eugster)
1
2
TG
EZ ZZ EZ 22 EZ ZZ EZ 22 EZ 22
Tab. 2. Statistische Zwillingsergebnisse bei endogenen Psychosen im Ver-
gleich zu inneren, konstitutionellen Krankheiten,
1) Conrad, Nervenarzt, 10, 601 (1937).
2) Nach dem 44. Lebensjahr wächst allerdings die Konkordanz bei den EZ
nahezu auf 100°/,, wenn man nicht den manifesten Diabetes, sondern den
abnormen Zuckerstoffwechsel bei Belastungsversuchen zum Ausgangspunkt
nimmt. Analog dazu müßte auch bei den Psychosen eine Erhöhung der Kon-
kordanzwerte erwartet werden, wenn man in ähnlicher Weise in der Patho-
genese einen Schritt vorwärts täte.
198 K. Conrad
krankheiten nennen, als andere konstitutionelle Leiden. Wie irrig
diese Anschauung wäre, zeigt eine Betrachtung der zwillingspatho-
logischen Forschungsergebnisse. Gerade die Zwillingsstatistik ist
ja als eine rein quantitative Methode geeignet, über das Maß der
Erblichkeit etwas auszusagen.
In der Tabelle 2 habe ıch neben die uns schon bekannten
Zwillingsresultate der endogenen Psychosen die Resultate an
einigen inneren Leiden gestellt, und zwar die Rachitis, die Tuber-
kulose, die Diabetes, den Kropf und die multiple Sklerose. Als
Beispiele für Erkrankungen, bei denen Erbfaktoren eine recht
geringe Rolle spielen müssen, können die beiden letztgenannten
gelten. Die Spanne zwischen Konkordanz bei Eineiigen und Zwei-
eligen ist fast gleich null. In der verschiedenen absoluten Höhe
der Konkordanz zeigt sich lediglich die verschieden große Wahr-
scheinlichkeit, überhaupt an den betreffenden Leiden zu erkranken,
die beim Kropf im Endemiegebiet, wie man sieht, recht beträcht-
lich ist, nämlich nahezu 75% beträgt, bei der multiplen Sklerose
aber infolge der relativen Seltenheit dieser Erkrankung sehr klein.
Bei den anderen Erkrankungen aber sehen wir ein erhebliches
Gefälle zwischen EZ und ZZ und ein Vergleich mit unseren endo-
genen Psychosen zeigt sofort, daß nur ein sehr geringer quanti-
tativer Unterschied besteht. Die Konkordanzwerte bei den EZ
sind um nichts höher als bei den inneren Leiden, lediglich bei den
ZZ, überwiegen sie etwas bei den inneren Erkrankungen, so daß
sich dadurch das Gefälle etwas verringert.
Wir wollen auf die Erklärung dieses Unterschiedes nicht weiter
eingehen und lediglich feststellen, daß der quantitative Wert
der Erbanlage im Gesamtursachenverhältnis bei den
endogenen Psychosen dem Wert bei den inneren kon-
stitutionellen Erkrankungen Rachitis, Tuberkulose und
Diabetes als durchaus vergleichbar erachtet werden
muß.
Diese Übersicht muß nun zu denken geben. Wie kommt es, daß
gerade die Schizophrenie oder die Epilepsie als „Erbkrankheiten“
gelten, wo doch die zwillingsstistischen Ergebnisse fast die gleichen
Konkordanzziffern liefern, wie etwa bei der Tuberkulose, also
einer Erkrankung, die man nicht ohne weiteres als Erbkrankheit
bezeichnen würde ?
Zur Beantwortung dieser Frage finde ich nur eine gleichsam
historische Erklärung. Wir müssen die Sonderentwicklung be-
trachten, die die Psychiatrie zum Unterschied von der übrigen
Medizin genommen hat. Als man längst auf dem Gebiet der in-
Die Erbbiologie der endogenen Psychosen 199
ternen Medizin erfolgreich physiopathologische Forschung trieb,
hatte man die Psychosen z. T. noch gar nicht als pathologische
Vorgänge erkannt; und später, als längst das Gebäude der inneren
Medizin auf einem festgefügten Fundament einer methodisch
einwandfreien Somatopathologie stand, zog das Interesse an der
psychologisch-phänomenologischen Strukturanalyse der Psychose
die ganze Aufmerksamkeit des Psychiaters auf sich. Die Physio-
pathologie der Psychosen war dadurch von Anfang
an außerordentlich ins Hintertreffen geraten. Grund-
sätzlich neue Ansätze einer somatopathologischen Betrachtung
in der Psychiatrie stammen nun von Rüdın und Kretschmer und
es war gewiß kein Zufall, daß es bei beiden die erbbiologische,
resp. konstitutionsbiologische Seite war, die hier in Angriff ge-
nommen wurde. Dadurch aber erfuhr die Bearbeitung gerade des
Erblichkeits- und Konstitutionsproblems in der Psychiatrie eine
bei weitem größere Förderung, wie auf dem gesamten übrigen
Gebiet der Medizin und so kam es, daß nun unsere Aufmerksam-
keit und unsere Kenntnisse in der Psychiatrie viel mehr auf dem
Gebiet der Erb- und Konstitutionsbiologie liegen und dadurch der
Anschein erweckt wird, als wären hier die Dinge grundsätzlich
anders, als bei den sog. inneren, konstitutionellen Leiden. In Wirk-
lichkeit aber handelt es sich hier wie dort um das völlig gleiche
Geschehen: Auf dem Boden der genisch vorbestimmten
Konstitution leiten bestimmte pathologisch abge-
änderte Gene Entwicklungen ein, die als pathologische
Reaktionen des Organismus auf die Gesamtheit der
Umweltwirkungen betrachtet werden können und mehr
oder weniger zwangsläufig zur Ausbildung der betreffenden Krank-
heitsmerkmale führen. Dabei handelt es sich grundsätzlich zu-
nächst um somatische Entwicklungsabläufe, die aber, wie letztlich
alle somatischen Vorgänge, eine geringere oder stärkere Resonanz
um Psychischen zeigen. Von einer bestimmten Schwere dieser
Resonanz angefangen sprechen wir von psychiatrischen Erkran-
kungen. Und hierher gehören unsere endogenen Psychosen. Keiner-
lei scharfen Grenzen scheiden sie also in Wirklichkeit von den
zahlreichen endogenen inneren Erkrankungen, wie dem Diabetes,
der Rachitis oder der Tuberkulose, also Erkrankungen, bei denen
ein Vitaminmangel, ein Infektionserreger, eine endocrine Drüse
eine wesentliche Rolle spielen. Wir haben bisher nur bei
den einen mehr die konstitutionelle, bei den anderen
mehr die konditionelle Seite studiert.
So sehen wir — und damit bin ich am Schluß — daß die Psy-
200 K. Conrad, Die Erbbiologie der endogenen Psychosen
chiatrie gegenwärtig der Ausgestaltung und Vertiefung unserer
Erkenntnisse auf dem Gebiet der Physiopathologie der endogenen
Psychosen dringend bedarf. Das haben die heutigen Referate
bereits deutlich bewiesen. Aber das ergibt sich auch, wenn man
sich die Rolle des Erbfaktors im Ursachenkreis der endogenen
Psychosen klar macht, wenn man sich klar macht, daß sich
Erbfaktor zu Erbkrankheit verhält, wie gleichsam
das Samenkorn zur fertigen Pflanze: wenn im Sa-
menkorn auch alles potentiell bereit liegt, so be-
darfes doch der Umwelt im weitesten Sinn, des Bodens
und des Wassers, der Sonnenbestrahlung und der
Wuchsstoffe, um sie zum fertigen Bilde zu entwickeln.
Dieses Entwicklungsgeschehen zu studieren, bleibt
unsere Aufgabe, auch wenn wir den am Anfang ste-
henden Erbfaktor erkannt haben. Und erst dann, wenn wir
diese Aufgabe gelöst haben — und nur dann — werden wir auch
das Wesen der Vererbung selbst und ihre Gesetzmäßigkeiten bei
den endogenen Psychosen erkennen und für unser ärztliches
und rassenhygienisches Handeln in verfeinerter Weise verwenden
lernen. |
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz
Von
J. Pritzkat
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Hamburg.
Direktor: Prof. Dr. Bürger- Prinz)
(Eingegangen am 30. Juli 1938)
I. Aufgabe und Weg
Aus dem Titel der vorliegenden Untersuchung geht hervor, daß
die Arbeit es keineswegs unternimmt, den ganzen Problemkreis der
Psychopathologie der Senilen Demenz abzuschreiten, etwa in der
Form, daß für jedes in der Literatur bereits beachtete Phänomen
und für jede unseren Gegenstandsbereich treffende Fragestellung
gesondert Untersuchungen angestellt würden, oder auch nur, daß
in der Auswertung und Ausdeutung des Materials auf alle disku-
tierten Probleme gesondert eingegangen werden könnte. Der Bei-
trag, den die Arbeit liefern möchte, kann nur wenige Seiten der
symptomatischen Erscheinungen beleuchten. Dennoch soll ver-
sucht werden, anstatt eine Reihe schon beobachteter oder neu ge-
wahrter Erscheinungen zu registrieren und der Reihe nach zu deu-
ten, von einigen wenigen menschlichen Äußerungsgebieten her einen
Weg aufzufinden, der über die seelisch-geistige Innenseite der Auf-
fassungs- und Äußerungsweisen dieser Patienten einigen Aufschluß
bietet; und zwar in der Weise, daß wir nicht nur eine Reihe symp-
tomatischer Daten gewinnen, sondern daß diese Daten gleich die
Möglichkeit zusammenschauender Deutung geben.
Die Aufgaben, die den Patienten gestellt wurden, sind nicht ab-
gestellt auf möglichst weitgehende Isolierung sogenannter einzelner
psychischer Funktionen. — Es braucht kaum erwähnt zu werden,
wie fraglich schon die theoretische Isolierbarkeit und wie viel frag-
licher noch die tatsächliche experimentelle Isolierbarkeit des kon-
kreten Ablaufs solcher Funktionen geworden ist. — An den von
uns den Patienten gestellten Situationen und Aufgaben ist eine
solche Isolierung nicht versucht worden. Es stellte sich sehr bald
heraus, daß die bei einem und demselben Patienten und bei anderen
Patienten wiederkehrenden und vergleichbaren Erscheinungen
gerade so klar sich ablıeben in solchen Aufgaben, in denen eine
möglichst große Breite des Gesamtpsychischen aktiviert wird, als
02 J. Pritzkat
in sehr engen auf Isolierung sogenannter einzelner Funktionen ab-
gezielten Versuchen. Zudem aber wird bei diesen Aufgaben die
ganze Innenseite des Geschehens — als Struktur begriffen 1) —
und also auch ihre Pathologie eher beschreibbar und verständlich.
Eine Reihe von Voruntersuchungen zeigte, daß diese möglichst
breite Aktivierung des Gesamtpsychischen am ehesten gelang bei
Gestaltungsaufgaben und bei Bildbetrachtungen. Die beschrei-
bende, analysierende und deutende Darstellung wird nun folgenden
Weg nehmen: Nach einer Beschreibung der Versuchsanordnung
werden zunächst zwei Fälle dargestellt. Dabei wird bei jeder Einzel-
erscheinung neu zu entscheiden sein, wie weit schon während der
Einzelanalyse der theoretischen Deutung vorgearbeitet werden
kann. Jedenfalls soll nach jedem durchanalysierten Fall eine ver-
tiefte deutende Fassung des psychischen Tatbestandes versucht
werden. Bei der eingehenden Analyse der zwei Fälle ziehen wir
jeweils an den erforderlichen Stellen bestätigende, illustrierende
oder auch korrigierende Beispiele aus jenem Materialbestand heran,
der von den übrigen 18 Patienten gewonnen wurde.
II. Versuchsanordnung und Beschreibung
Mit den Patienten wurden folgende Versuche gemacht:
I. Hauptsächlich für die Analyse der Auffassungsvorgänge und
Denkvorgänge:
1. Formbrettversuch (Benennen und Zuordnen von geometrischen Figuren):
folgende Figuren:
o GUGAT )
a SA
sind aus einem Brett ausgeschnitten und sollen nach Benennung in die ent-
sprechenden Löcher eingesetzt werden.
Benennen und Ordnen von Gegenständen
. Löffel
Gabel
. Schere
Taschenmesser
Armbanduhr
. Notizbuch
. Drehbleistift
. Schlüssel
. Taschenlampe
eouounmwonm!M
1) Struktur im Krügerschen Sinne als überdauernde dispositionelle Grund-
lage des Erlebnistotals.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 203
10. Nagelbürste
11. Trinkglas
12. Medizinflasche
13. Apfel
13. Wurst
15. Banane.
Die aufgeführten Gegenstände liegen ungeordnet auf dem Tisch vor dem Pa-
tienten ausgebreitet. Zuerst werden die Gegenstände einzeln dem Patienten
gezeigt und eventuell in die Hand gegeben. Patient wird aufgefordert, die
Gegenstände zu benennen. Danach soll der Patient die Gegenstände, wenn
möglich nach eigenen Gesichtspunkten, ordnen. Gelingt das nicht, so werden
Hilfen gegeben. Z. B. Was ist zum Essen, was ist zum Schreiben usw. ?
3. Einfache Bildbetrachtung.
Ausgewählt aus: Scholz’ Künstlerbilderbüchern, Serie A, Märchen.
Nr. 1: Der Wolf und die sieben jungen Geislein, Bild a, b und c,
Nr. 2: Hänsel und Gretel.
Dem Patienten werden die Bilder einzeln gezeigt. Es werden Anregungen
vegeben zu erzählen, was auf dem Bild vor sich geht.
4. Betrachten von zusammenhängenden Bilderserien.
Nr.4: Das Wiederseh’n von L. v. Nagel,
Nr. 2: Knabe und Hund.
Dem Patienten werden sämtliche Bilder einer Serie gleichzeitig vorgelegt.
Er wird besonders nach den inhaltlichen Zusammenhängen der Bilderreihe ge-
fragt.
Il. Vorwiegend für die Analyse der Darstellungs- und Gestal-
tungsprozesse einschließlich Wahrnehmungs- und Denkvorgänge.
1. Stäbchenlegen nach Vorlage.
a) geometrische Figuren:
S0, Ag,
ATA
b) Haus:
c) freies Stäbchenlegen:
Haus
Treppe.
204 ; J. Pritzkat
2. Plättchenlegen nach Vorlage
a) geometrische Figuren:
ae eR å A
ee ee 5 x
©
FRE s o
b) Haus und Kreuz:
A
o ..o
—orsasen..
c) freies Plättchenlegen.
Die Figuren werden dem Patienten von V1. vorgelegt. Patient wird ange-
regt, sie zu benennen. Dann wird die Figur zerstört und Patient soll sie nach-
legen. In einigen Fällen, in denen sich die Patienten sehr an die einzelnen
Schritte der Vl. klammern und dadurch in der Darstellung behindert werden,
macht Vl. das Legen nicht vor, sondern zeigt die fertige Figur.
Es ist noch auf folgendes hinzuweisen:
Es erwies sich als zweckmäßig, die Instruktionen nicht in durch-
gängig gleichbleibender Form zu geben. Versuchsleiter mußte sich
in jedem Fall der Stimmungslage und der Geneigtheit der Patienten
auch in dieser Hinsicht anpassen.
Aus ähnlichen Gründen konnte keine durchgängige Reihen-
folge der Versuche eingehalten werden.
Die Versuche konnten nicht in jedem Fall vollständig zu Ende
geführt werden. Beim Stäbchenlegen z. B. reichte die Aktivität der
Patienten oft nur für eine Figur aus.
In manchen Fällen mußte darauf geachtet werden, möglichst
wenig den Aufgaben- oder Leistungscharakter hervortreten zu
lassen, da dann sofort alle Aktivität nachließ. In andern Fällen
dagegen wirkte gerade der Leistungsgesichtspunkt anregend.
Eine Reihe solcher Gesichtspunkte führte dazu, die Versuchs-
anordnung und -reihenfolge und die Instruktionsweisen sehr stark
variieren zu lassen.
III. Darstellung von zwei Fällen
1. Wenig abgebauter Fall
Patient v. D. ist 84 Jahre alt. Er zeigt meistens sehr depressive
Stimmung, ist unruhig und weinerlich.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 205
Formbrettversuch:
Trotz der Stimmungslage ist es möglich, die durchgängig für die Patienten
einfachste Aufgabe, das Formbrett, als Aufgabe einsichtig zu machen. Vor
dem Zuordnen durch den Patienten werden diesem die einzelnen Figuren vor-
gehalten. Patient benennt auf Befragen: ‚Was ist das ?“, die einzelnen Figuren
teils „abstrakt“ !) als geometrische Figuren, z. B. WA
quadrateckig, teils ‚konkret‘ !),
z.B. „Deckel“
—
[| „Brett
Fr em „lurmspitze, weil das spitz ist“
teils beides nacheinander,
2.B. C > „das ist ein Tablett und Oval“.
Danach gelingen die Zuordnungen unter sehr langsamen und
umständlichen Hantierungen. Es fällt auf, daß der Patient pedan-
tisch genau das Einpassen vornimmt. Er ist sehr auf übertrieben
sorgfältige Ausführung eingestellt. Dem Beobachter ist es dabei
durchaus möglich, aus dem Verhalten des Patienten zu beurteilen,
wo die Grenze zwischen der von der manuellen Ungeschicklich-
keit herrührenden Langsamkeit und der oben angedeuteten pedan-
tischen Sorgfalt liegt.
Betrachtung von zusammenhängenden Bilderserien:
Dem Patienten wird die Bilderreihe „Das Wiederseh’n‘ gezeigt. Er wird
aufgefordert zu erzählen, was er auf den Bildern sieht. Er liest zuerst: „Das
Wiederseh’n“. Damit hört er dann völlig befriedigt auf, ohne auch nur die
Bilderreihe weiter anzusehen. Auf weitere Anregungen durch die VI. sagt er:
„Die begrüßen sich dort alle und sagen Wiederseh’n‘. Weiteres Befragen ergibt,
daß der Zusammenhang auch nur zwischen zwei von den Bildern keineswegs
erfaßt wird. ‚Die sagen sich alle Wiederseh’n‘‘. Die Personen, Gegenstände,
Haus usw. der verschiedenen Bilder können nicht identifiziert werden; und da
diese Identifizierung als Auffassungs- und Denkvoraussetzung für ein Erfassen
des Handlungszusammenhanges nicht vollzogen wird, daher wird aus dem auf
allen Einzelbildern wiederkehrenden zwei Personen eine Vielheit: ‚Die sagen
sich alle Wiederseh’n!‘“ So wird z. B. der Bäcker von Bild 4 auf Bild 3 als
„ein kleiner Junge‘‘ angesprochen. Auf eine weitere Aufforderung, nun die ein-
zelnen Bilder zu beschreiben, stellt sich heraus, daß der oben festgestellte Zer-
1) Die Ausdrücke: ‚abstrakt‘‘ und ‚‚konkret‘“ gelten hier nur vorläufig.
Wie weit in der Tat Abstraktion und Konkretisierung im denkpsychologischen
Sinne vorliegt, wird untersucht werden.
`~
206 J. Pritzkat
fall des Zusammenhanges noch weiter geht: Es wird nun, trotz genauester Wahr-
nehmung, Auffassung und Benennung der Einzelheiten (Wagen, Brötchen,
Rundstücke) der Zusammenhang des Einzelbildes weder als statischer noch als
dynamischer Zusammenhang erfaßt. Vl. fragt z. B.: „Wo liegen denn die
Brötchen ?“
Patient: „Ja, das weiß ich nicht — da ist ein Korb — aber im Korb sind sie
nicht.“
Vl.: „Liegen sie denn so frei herum ?“
Patient: „Ja, — kann sein, — ich weiß nicht.“
Der räumlich statische Zusammenhang ist also ebenfalls nicht erfaßt. Der
handlungsmäßige, dynamische (zeitliche) Zusammenhang fällt gleichfalls voll-
kommen aus. Es wird nicht begriffen, daß die beiden Personen irgendwie in
handlungsmäßiger Beziehung zueinander stehen.
Als Nächstes fällt dem Patienten Bild 3 auf:
Patient: „Da gehen sie rein, ——+““.
Hier steht das Handlungsmäßige für den Patienten im Vordergrund. Dann
folgt wieder Benennung und Beschreibung der Einzelheiten: „Ein kleiner
Junge, — ein Wagen,“ usw.
Bei Bild 5 wird nun schon im Rahmen der Auffassung des Dynamischen
nicht nur das handlungsmäßig Vorgängige (s. oben: „Da gehen sie rein‘‘),
sondern sofort das Ausdrucksmäßige des Bildes erfaßt: ‚Der ist so aufgeregt,
und ein Pferd auch ...‘‘. Aber auf die innere kausale Motivation dieses Aus-
drucksgeschehens (das Pferd frißt die Brötchen) kann der Patient nicht ge-
bracht werden. Das geschieht aber, im Ansatz wenigstens, beim nächsten Bild
(Bild 7). Zuerst ist der Patient lebhaft angesprochen von der starken aus-
druckshaltigen Dynamik des Bildes: „Ach! da gehen die Pferde durch!“ Er
interessiert sich für das Durchgehen der Pferde und verfolgt sie trotz einer
anders gerichteten Frage der Vl.: „Ja, warum?“
Patient: „Ja, da durch die Vorgärten — da ist doch so Gebüsch — in den
engen Straßen —“.
Dann fällt der Blick auf die Prügelszene: ‚Und darum prügeln sie sich“.
Nachdem der Zusammenhang zwischen den durchgehenden Pferden und der
Prügelszene zuerst ganz locker geknüpft ist, zerreißt er sofort wieder, indem
nun die Prügelszene für sich beachtet wird und die Pferdeszene ‚außer acht
gelassen“ wird. Das jetzt folgende: ‚Einer wird wohl schuld haben“, hat sehr-
wahrscheinlich schon mit dem Durchgehen der Pferde keinen Zusammenhang.
Es ist vielmehr die allgemeine Bemerkung zu einer Prügelszene: ‚Einer wird
wohl schuld haben“ — Schuld, nicht am Durchgehen der Pferde, sondern am
Prügeln. Der kausale Zusammenhang zwischen Motiven und Vorgängen, der
Motivationszusammenhang, ein einziges Mal ganz locker gebunden, kann nicht
durchgehalten werden. Es kommt daher auch hier weder zu einem statisch
ganzheitlichen noch zu einem dynamisch ganzheitlichen Bildauffassen. Trotz-
dem ist hier schon hinzuweisen auf eine in den Versuchen wiederkehrende Er-
scheinung: stark dynamische und ausdruckslebendige Bilder werden von den
Patienten leichter nach irgend einer Richtung ganzheitlich erfaßt als Bilder
mit weniger vordringlicher Dynamik oder Ausdruckshaltigkeit. Meistens bleibt
es dann aber bei der Erfassung lediglich dieser einmal ausgesprochenen aus-
drucksmäßigen oder bewegungsmäßigen Ganzheit des ersten Ausdrucks.
Sobald man aber versucht, von hier aus auch das statisch Gegebene oder das
pragmatisch-inhaltlich Vorgängige oder gar die realen, kausalen oder finalen
Zusammenhänge aufzubauen, versagt der Patient. Die pragmatischen Einzel-
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 207
heiten drängen sich als isolierte Teile vor, und sogar die zuerst erfaßte ganz-
heitliche Impression wird durch diesen Zerfall mit aufgelöst. Auf diese Weise
geschieht also Gestaltszerfall beim Senilen nicht nur als langsamer Prozeß
gleichlaufend mit dem organischen Abbau, sondern sehr oft läßt sich der Ge-
staltszerfall auch als ein einmaliges Zerfallen innerhalb eines Auflfassungsaktes
verfolgen vom lebhaften Gepacktsein durch die ganzheitlich gehabte undiffe-
renzierte Impression bis zum Zerfall des Ganzen beim ersten Versuch, innere
gegliederte Ganzheiten aus dieser ungegliederten Impression aufzubauen. Der
Beobachter hat dabei dann den Eindruck, daß der Patient den Einzelheiten in
ihrer Isoliertheit verfällt, sobald er die Impression ein wenig aufgeben muß,
sich von ihr ein wenig zu lösen versucht, um die gegliederte Ganzheit als Durch-
strukturierung in statischer und dynamischer (räumlicher und zeitlicher) Hin-
sicht von sich aus aufzubauen. Vielleicht liegt der Grund zum Teil darin, daß
bei diesem letzten gliedernden Akt eine stärkere Aktivität und Spontaneität
des apperzeptiven Vorganges erforderlich ist, als bei dem ersten passiven, mehr
perzeptiven ‚„Gepacktwerden‘“, „Ergriffenwerden‘ von der lebendigen Aus-
drucks- und Bewegungsdynamik des Bildes.
Dieser Mangel an Aktivität kommt auch bei der folgenden Bildbetrachtung
zum Ausdruck.
Einfache Bildbetrachtung:
Vl. zeigt Bild Nr. 4c und fragt: ‚Was ist da los?“ Patient zeigt erst ganz
langsam mit dem Finger auf die Gestalt der Ziegenmutter, fährt mit dem Finger
an der Gestalt entlang und sagt sehr gedehnt (Besinnungspause!): „— Ein ..“
Dann packt ihn plötzlich die tanzende Bewegung auf dem ganzen Bild als Im-
presison. Er ruft ganz lebhaft: ‚Tanzen da!“ Nun wird sogar der Handlungs-
zusammenhang geknüpft im Sinne einer Durchgliederung des Motivations-
zusarmnmenhanges: „Die Frau will tanzen mit ihnen‘.
VI. versucht nun, das Räumliche mit in den Auflassungsakt einschließen zu
lassen, oder besser, den ganzheitlichen, den Gegenstand aufbauenden Akt aus-
zudehnen auf das Verarbeiten in räumlicher Dimension:
Vl.: „Wo tanzen die?“
Patient: „Um ’ne Balje.“
Dann fallen einzelne Gestalten auf. Aber in diesem Fall zerstören sie nicht
den ganzheitlichen Eindruck. „Da ist auch ’ne Ziege.“ (Die weiße Ziege im
Vordergrund fällt dem Patienten auf.) Dann zeigt der Patient auf die übrigen:
„Die, als wenn Hasen sind.“
Noch einmal deutet Vl. auf den Brunnen, den der Patient vorher als „Balje“
angesprochen hat.
VI.: „Was ist dies denn in der Mitte?“
Patient: „Eimer.“
„Das ist ein Wasser — das ist ein Soot.“
Da die Vl. nicht weiß, was ein „Soot‘ ist (Ziehbrunnen), gibt der Patient
nun sehr lebhafte und gut verständliche Erklärungen. Danach sind ihm aber
die vorher erfaßten Zusammenhänge des Bildes nicht mehr gegenwärtig und
das Bild ist ihm uninteressant geworden.
Die erste Gefahr des Zerfalls tritt in diesem Ablauf schon bei der Antwort
„Eimer“ auf, aber der Patient verfällt hier noch nicht den isolierten Einzel-
stücken des Bildes, weil an ‚Eimer‘ und vielleicht in Erinnerung an die vor-
herige „Balje“ nun über die Assoziation „Wasser“ eine Art Reilıenverknüp-
fung zum ‚‚Soot‘‘ hinführt, der dann völlig außerhalb des Bildzusammenhanges
Mittelpunkt des Interesses wird. Es bleibt aber nicht genügend Spannweite des
208 i J. Pritzkat
auffassenden Bewußtseins, um neben und um diesen Mittelpunkt her noch die
schon erfaßten und ausgesprochenen Bildzusammenhänge zu bewahren. Es
bleibt aber in diesem Fall bei ziemlich komplexen Zusammenhängen, welche in
sich nicht völlig in isolierte Teilstücke zerfallen, wie das bei der vorherigen
Bildbetrachtung gezeigt werden konnte. Aber der Zusammenhang der einzelnen
Erlebniskomplexe untereinander ist hier wie dort verloren und kann nicht
wieder hergestellt werden. Wenn wir die Interessenmittelpunkte des ganzen
Vorganges hintereinander reihen, so ergibt sich wenigstens ein Grund für diese
Art von Zerfall:
1. „Tanzen“.
2. „Die Ziegen um ’ne Balje“.
2. („Eimer“).
4. („Wasser“).
5. „Soot“.
Der letzte Interessenmittelpunkt ‚‚Soot‘ ist nicht in echter Durchgliederung
des undifferenzierten Eindrucks gewonnen, wie das zwischen 1 und 2 noch
durchaus der Fall ist. Der ‚‚Soot‘‘, wie er als wirklicher Mittelpunkt, Gegen-
stand des Interesses auftaucht, ist lediglich durch eine lockere Folge von Asso-
ziationen (3 und 4) aufgetaucht. Die Assoziationen reißen gleichsam ab. Sie
sind bewußt denkerisch nicht zurückverfolgbar. Das rein assoziative Denken,
z. B. im Wachträumen, gibt sich auch dem Normalen meistens in dieser lockeren
Folge, deren kettenartiger Zusammenhang schwerlich zurückverfolgt werden
kann.
Das Besondere beim Senilen liegt darin, daß er diesem assozia-
tiven Ablauf einfach verfällt, ihm ausgeliefert ist und sich nicht
wie das normale Bewußtsein aus eigener Aktivität aus diesem Ab-
lauf herausreißen kann, um zu willentlich geordneten und gerich-
teten Denkvollzügen zu gelangen. Der Senile bleibt im Ablauf
befangen, und selbst der Hilfe von außen gelingt es nur sehr selten,
ihn herauszureißen und vorübergehend zum Denkvollzug zu
bringen.
Es zeigt sich also in diesem Fall auch der Mangel an Aktivität
und Spontaneität oder positiv ausgedrückt: Das Verfallensein an
die apparatehaft ablaufenden Funktionen.
An einem andern Tag zeigt derselbe Patient sehr ähnliche Auf-
fassungsfähigkeiten:
Betrachten von zusammenhängenden Bilderserien:
VI. zeigt Bilderserie Nr. 2 (Knabe und Hund). Die Identifizierung der
Personen gelingt nicht. Selbst als Vl. fragt: „Ist das derselbe Junge?“ ant-
wortet Patient: ‚Nein, der hat nur einen Hosenträger, dem ist er kaputt-
gerissen.‘
Das eigenartig Stückhafte dieser Erklärung wird deutlicher, wenn wir hier
hinzufügen, daß bei diesem Bilderpaar fast immer mit ähnlichen Argumenten,
die am Einzelhaften, Stückhaften sich anklammern, die Nichtidentität be-
gründet wird, z. B.: „Der hat ’ne Mütze“, „der hat keine.“ Oder: Vl.: „Ist
das derselbe Hund ?“ — Patient: ‚Nein, der eine ist ganz ruhig“ usw. Die Ver-
bindung der Bilder durch Identifizierung der dargestellten Dinge, Personen
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 209
und Tiere gelingt nicht, und die Patienten rechtfertigen dann ihre Auffassung
der Nichtzusammengehörigkeit durch Hervorsuchen dieser nichts beweisenden
Einzelheiten. Natürlich wissen sie, daß ein und derselbe Hund einmal ruhig
liegen kann und einmal aufspringen kann. natürlich wissen sie, daß derselbe
Junge einmal eine Mütze aufhaben kann und ein andermal ohne Mütze sein
kann (zudem liegt bei dem zweiten Bild die fragliche Mütze auf der Erde da-
neben). Diese Argumente also sind selbst für das eigene Denk- und Auffas-
sungsniveau der Patienten nicht tragfähig. Der Widerspruch erklärt sich dar-
aus, daß das eigene Niveau — das eigentlich nur noch einen Wissensbestand
und Erfahrungsbestand darstellt — nicht mehr zur Korrektur der Argumente
aktiviert werden kann, da es innerlich strukturlos geworden ist, d. h. dem
organisierenden Ichpol entglitten ist. Das Ich tritt also gar nicht eigentlich auf
den Plan in diesen Vorgängen, um einen Denkvollzug zu steuern, sondern es
läßt Abläufe geschehen.
Stäbchenlegen nach Vorlage:
Vl. zeigt Vorlage /\
V1. fragt: „Was ist das?“
Patient zählt die Ecken, zeigt dabei jede Ecke zählend mit dem Finger und
sagt: „Dreieck“. Die drei Nachlegeversuche des Patienten fallen der Reihe
nach wie folgt aus:
Dabei ist er sehr bemüht, möglichst sorgfältig zu legen. Wir wollen die
Frage, warum die dritte Dreiecksseite ausgelassen wird im Anschluß an später
folgende eindrucksvollere Beispiele behandeln.
Zweite Vorlage: a | fa
Patient liest, ohne zum Lesen aufgefordert oder angeregt zu sein: „ata
und legt dann, trotzdem die Figuren offenbar als A | A aufgefaßt
sind, der Vorlage entsprechend: AN A
Merkwürdigerweise gelingen jetzt die Dreiecke, in diesem Zusammenhang
eingegliedert, und als A aufgefaßt ohne weiteres:
Dritte Vorlage: /\ |
Patient sagt: „A und Viereck“.
Reproduktion: N RN
Wieder gelingt das Dreieck, obwohl es als A aufgefaßt wurde.
14 Aligem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3'4.
c6
210 J. Pritzkat
Vierte Vorlage:
Patient sagt: „Eine Tür‘, und führt aus wie folgt:
A,AÄ
Patient legt dabei auffällig sorgfältig und ungemein langsam Ecke auf Ecke.
schiebt immer genauer zusammen, achtet darauf, daß die Hölzer an den Ecken
genau abschneiden.
Plättchenlegen nach Vorlage:
Erste Vorlage: — s LA
Patient zählt zunächst die von der Vl. benutzten Plättchen, nimmt sie und
sagt sehr bestimmt: ‚Habe genug“. Beim Legen des Dreiecks fügt er zählend
Plättchen an Plättchen und legt die Seiten in der unten angegebenen Reihen-
folge und Richtung zu folgender Figur zusammen:
Patient bemerkt, daß Seite 1 und 2 nicht zusammenlaufen und schiebt sie mit
beiden Händen wie unten angedeutet zur Spitze zusammen.
Der nächste Versuch ergibt:
Die Öffnung wird nicht geschlossen.
Zweite Vorlage:
Patient bezeichnet die Figur als A.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 211
Das Auffassen als A rührt her von dem oben beschriebenen Lesen der Figur
BEER als ATA und A O als „A und Viereck“.
Wir sprechen an dieser Stelle aber nicht von einer Perseveration,
da es hier nicht klar ersichtlich ist, ob die vorher gefaßte Vorstel-
lung sich gegen eine andere Intention durchsetzt oder durchsetzen
möchte. Es handelt sich hier lediglich um die von Bürger- Prinz
und Kaila charakterisierte Einstellungsstörung !), die bei allen
Patienten des amnestischen Symptomkomplexes auftritt, und
die sich äußert in einem Verfallensein oder Verhaftetsein an eine
einmal gefaßte Einstellung, derart, daß neue Objekte nicht An-
regungen zu Umstellungen werden können, sondern von der alten
Einstellung aus aufgefaßt werden. Es bleibt also die Intention
selbst unverändert.
Dritte Vorlage:
Patient bezeichnet die Figur als: ‚Kreuz‘, und das Nachlegen gelingt wiederum
sehr umständlich, langsam, pedantisch, genau.
..
... °°%o
Vierte Vorlage:
Patient: „Weiß ich nicht“. Vl. legt die Figur etwas enger.
Patient: ‚Soll das auch ein A sein ?“*
Die Einstellung ist also noch nicht geändert. Die Auffassung gelingt leichter,
da die auffassungsmäßig zu schaffenden Verbindungslinien von einem kon-
stituierenden Anhaltspunkt zum nächsten kürzer sind. Reproduktion:
Das Dreieck ist nicht geschlossen trotz der Einstellung auf ‚A‘, die vorher
zum Gelingen beitrug.
1) Bürger-Prinz und M. Kaila: ‚Über die Struktur des amnestischen
Symptomenkomplexes‘“. In: Z. Neur. Berlin 1930.
14°
212 J. Pritzkat
Weiterer Versuch:
Patient: „Sie haben nur sechs Steine gebraucht“.
Reproduktion:
Patient: „Das war’s doch nicht ?“
VI. wiederholt die Vorlage
Patient: ‚Soll das auch ein A sein?“.
Reproduktion:
Patient: „Ist richtig, wie Sies gemacht haben“.
Fünfte Vorlage:
“ones ene
Patient: „Ist Rahmen, wo ein Bild reinkommt — ein Viereck“.
Reproduktion:
An dieser Stelle sei erinnert an die „abstrakte“ und „konkrete“ Benennung
beim Formbrettversuch. C) = „Tablett und oval‘, hier: „Rahmen
. und Viereck“.
Freies Stäbchenlegen:
VL.: „Versuchen Sie mal, ein Haus zu legen!‘ Patient legt sehr langsam die
Stäbchen in der bezeichneten Reihenfolge zu folgender Figur zusammen:
A,
Ca „1
6| E
I 7
Patient kann nicht weiter, Vl. versucht, zu ermuntern: ‚Sie sind doch gleich
fertig“ usw. Schließlich legt Patient das fehlende Stäbchen als Firstlinie des
Hauses hinzu.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 213
Wir haben hier ähnlich wie bei den Dreiecken und Vierecken die
Erscheinung, daß der letzte Schritt zur vollendeten Kontur und
damit zum Zusammenschluß der Gestalt nicht gelingen will. Das
Haus und ın anderen Fällen die Dreiecke und Vierecke sind erfaßt
und sprachlich bezeichnet. Das Tun geschieht fortwährend in Rich-
tung auf Darstellung des Erfaßten, aber die optische Anschauung
ist nicht tragfähıg genug, um während des ganzen Vorganges des
Legens die erfaßte Gestalt zu bewahren. So wird zwar das Tun
zuerst noch gesteuert von dem schwachen Rest der aufgefaßten
Figur. Dieser Rest trägt in den beiden angeführten Fällen das Tun
bis zu dem Punkt, an dem die Kontur geschlossen werden soll.
Dieser letzte Schritt, der die eigentliche Synthese zur Schaffung
der Gestalt bedeutet, kann dann aber nicht mehr ausgeführt
werden. |
Die eingehendere Analyse und Deutung dieser eigenartigen aber
immer wiederkehrenden Erscheinung soll erst später an eindrucks-
volleren Beispielen versucht werden.
Ordnen von Gegenständen:
Patient benennt die einzelnen Gegenstände richtig und beginnt auf Auf-
forderung zunächst ohne gegebene Gesichtspunkte zu ordnen. Er betrachtet
zuerst sehr lange die einzelnen Gegenstände, dann nimmt er umständlich
Gabel und Löffel heraus und legt sie nebeneinander hin. Nach einer Pause legt
er Uhr und Schlüssel hinzu. Darauf packt er alles übrige sehr schnell und zu-
gleich sehr demonstrativ bestimmt aber hastig und eigentlich wahllos neben-
einander.
Patient hat dabei offenbar ein ganz klares Aufgabebewußtsein. Er weiß
auch, in welcher Richtung die Aufgabe eigentlich gelöst werden müßte. So nur
läßt sich der richtige Anfang erklären.
Das Nebeneinand erlegen aller übrigen Gegenstände läßt zunächst scheinbar
Deutung in zwei Richtungen zu:
Erstens: Patient intendiert zunächst noch einen der Aufgabe entsprechenden
Lösungsweg. Er spürt aber selbst, daß es ihm nicht gelingen wird, weitere Ord-
nungsgesichtspunkte zu finden. Gerade der Patient v. D. legte immer sehr viel
Wert darauf, etwas zu können, und war ärgerlich oder niedergeschlagen oder
suchte Auswege, wenn er spürte, daß er an sich Begriffenes und Intendiertes
nicht zustande brachte. So kann auch dieses schnelle hastige und übertrieben
bestimmte Nebeneinanderlegen der Gegenstände solch ein Ausweichversuch
sein.
Zweitens: Die Aufgabe ist nicht mehr gegenwärtig, sondern nur noch das
unbestimmte Wissen, daß er irgend etwas legen soll mit den Gegenständen.
Diese Deutung könnte aber die demonstrative bewußte und zugleich hastige
Handlungsmotorik nicht erklären.
Wahrscheinlich liegt daher die Fehlleistung nicht an einem Gedächtnisver-
sagen (Vergessen der Aufgabe), sondern daran, daß die auffassenden Denk-
gestalten, die Begriffe, entweder zerfallen oder nicht verfügbar sind. Sie reichen
jedenfalls spontan nur für die allerengste Zusammengehörigkeit (Gabel und
Messer).
214 J. Pritzkat
Nach diesem ersten Versuch gibt V1. Gesichtspunkte: ‚Legen Sie alles zu-
sammen, was zum Essen gehört.“ Patient legt Trinkglas, Gabel und Löffel
zusammen.
VI.: „Tun Sie alles zusammen, was man essen kann.“
Patient legt Äpfel und Wurst zusammen.
Darauf versucht Vl. den Patienten zu ermuntern, selbständig Gesichts-
punkte zu finden.
Patient legt daraufhin zuerst die Uhr für sich und nach einer Pause Blei-
stift und Schlüssel zusammen, dann die Bürste für sich und sagt: „Zum Hand-
steinscheuern.‘‘ Der Rest bleibt liegen.
Es sind also auf Anregung noch verhältnismäßig gute Ordnungs-
begriffe aktivierbar. Bei diesem Patienten liegt also nicht schon
ein weitgehendes Zerfallensein der begriffllichen Ordnungskate-
gorien vor, sondern, wie das bei allen vorherigen Versuchen, beim
Bildbetrachten und beim Stäbchen- und Plättchenlegen gezeigt.
werden konnte, die Passıvität des Ich, welches die vorhandenen
ordnenden, auffassenden und gestaltenden Bewußtseinsfunktionen
aktivieren, organisieren, richten und steuern müßte. Das kann erst
in Ansätzen geschehen durch wiederholte Anregung, Aufmunterung
und Hilfeleistung von außen. Die ordnenden, auffassenden und
gestaltenden Funktionen sind zum größten Teil noch unzerstört
vorhanden, aber dem Ich nicht unmittelbar willentlich verfügbar.
2. Stärker abgebauter Fall mit amnestisch-aphasischen Symptomen.
Frau R. ist 74 Jahre alt. Sie ist, im Gegensatz zum ersten Pa-
tienten, freundlich und zugänglich, aber unruhiger und hastiger.
Formbrettversuch:
VI. zeigt: C) und fragt: „Was ist das für eine Form ?“
Patientin: ‚Ist eine Kugelform.“
Vl.: zeigt
Patient: ‚Brettform‘“.
Die Perseveration ‚Form‘ verschmilzt mit den Resten von Gestaltauf-
fassung und Gestaltbenennung.
Beim Einfügen in das Formbrett legt Patientin /N zu A . Diese
Zuordnung wiederholt sich bei vielen anderen Patienten und zeigt, daß ge-
wisse Ganzqualitäten, hier die Spitzigkeit, geblieben sind und die Zuordnung
bestimmen.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 215
Als Vl. das je zeigt, antwortet Patientin: „Hängt vorne dem Pferd
an der Brust.“ V]. zeigt: |] “r . Patientin: „Auch so eine Art
Form.“ Dann legt sie nicht etwa die ausgeschnittenen Stücke in das Form-
brett, sondern legt die Stücke: aufeinander und sagt: ‚Ist ’ne
Backform.“
Vl.: „Warum ?“
Patientin: „Weil es zusammengebackt ist.“ Beim zweiten Versuch gelingt
dann das Zuordnen unter sehr vielen Hilfeleistungen.
Betrachtung von zusammenhängenden Bilderserien.
Vl. zeigt die Bilderserie Nr.1 „Das Wiederseh’n‘“. Patientin geht sehr
schnell von einem Bild zum andern unter folgenden aufzählenden Bezeich-
nungen:
„Sandmann — Aufseher mit zwei Pferden — Aufseher mit ein Pferd —
Zwei Pferde mit Aufseher — ein Pferd, ein Aufseher, ein Beimann“.
Vl. fragt: „Was ist ein Beimann ?“
Patientin: ‚Der hilft ihm bei.“
Beim Betrachten des letzten Bildes sagt Patientin: „Da ist ein Pferd auf, —
zwei Männer — wir hatten früher auch mal was junges Pferd. Das ist hinein-
gefallen in den Brunnen ....“
Patientin erzählt nun sehr fließend von dem Pferd, das in den Brunnen ge-
fallen sei und zeigt dabei starke Wortfindungsstörungen.
Stäbchenlegen nach Vorlage.
Erste Vorlage:
Patientin nach langer Pause: ‚Zwei Dreiecke und ein T“. Dann nimmt sie
eines von den Stäbchen und versucht damit ein T zu schreiben. Da sie merkt,
daß es nicht geht, will sie den Bleistift der Vl. haben. Dann nimmt sie wieder
ein Stäbchen und zeichnet nochmals ein T.
Es ist in diesem Falle, nach dem Verhalten der Patienten zu
urteilen, nicht etwa so, daß der assoziierte und nun perseverierte
Komplex „Schreiben“ die Intention „Stäbchenlegen‘‘ auflöst,
sondern die Patientin ist so stark amnestisch gestört, daß die Auf-
gabestellung: „Stäbchenlegen‘‘ vergessen wird und nun in dem
gleichsam ınhaltsleeren Bewußtsein irgendeine assoziierte und nun
perseverierende Vorstellung sich selbsttätig ausbreiten kann,
gleichsam ein ungestörtes Eigenleben führen kann, daß sie sich
sogar der motorischen Mechanismen (Schreibmotorik) bedient,
ohne von einem intentional gerichteten Selbst gestört zu werden.
216 J. Pritzkat
Wir meinen mit der Veranschaulichung: ‚‚nhaltsleeres Bewußt-
sein‘‘ aber nicht zugleich eine Zersetzung des naiven Selbstbewußt-
seins. Das Bewußtsein ist völlig wach, und das Selbst ist völlig an-
sprechbar. Aber dieses Selbst ist so lahm, passiv, intentionslos, daß
es nicht einmal zu einer irgendwie spürbaren Auseinandersetzung
zwischen intendierten und assoziierten und perseverierenden In-
halten kommt. Die Person, das Ich, gibt sich schon beim Anklingen
des assoziierten . Komplexes ohne Gegenwehr diesem gefangen;
und alles folgende scheint vom Ich gewollt zu sein. In Wirklich-
keit ist dieses erste „Gefangennehmen‘“ eine Art Duldung. Das Ich
läßt passiv geschehen. Dann aber läuft es mit den Perseverationen
mit. Diese verlieren daher im Verhaltensbild der Patienten ihre
mechanistischen, außerhalb des Ich und seinen Intentionen liegen-
den Charakter und können als echte Perseverationen nur dann
erkannt werden, wenn es gelingt, den Augenblick ıhres Beginns,
den Augenblick der gleichsam willenlosen Drangabe des Ich, den
Augenblick der Gefangengabe des Ich, auszumachen.
Von den von Bürger- Prinz und Kaila charakterisierten Einstel-
lungsstörungen !) abgesehen, treten also echte Perseverationen in
zweierlei Verhältnis zum Ich: Erstens indem sie sich gegen noch
vorhandene Intentionen durchsetzen (dann sind sie am klarsten
erkennbar), zweitens: indem sie das Ich völlig eingefangen haben
(und dann sind sie wie oben beschrieben nur im Rückverfolgen bis
zum Augenblick ihres Auftauchens erkennbar). Perseverationen
erscheinen also 1. als intentionswidrige Mechanismen und 2. als
ntentionsaufhebende Mechanismen.
Das Ich erscheint dabei 1. als intentionslahmes und 2. als ınten-
tionsloses Ich.
Beim nächsten Versuch nach derselben Vorlage
ALFA
gelingt es, die Patientin zum Stäbchenlegen zu bringen.
Reproduktion:
Ny | N E
Vorlage wird wiederholt.
1) A.a. O.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 217
Vr W/
Patientin: ‚‚Ist ein Dreieck, ein T, noch .ein Dreieck.“
Vorlage nochmals wiederholt. ATA
Reproduktion:
ALA D
—
Pa
Vorlage nochmals wiederholt. A | A
Reproduktion:
Wir sahen schon bei dem Patienten v. D., daß das intendierte Dreieck ohne
die dritte Seite gelegt wurde. Fügen wir die Dreiecksversuche dieser Patientin
der Reihe nach zusammen, so ergibt sich folgende fortschreitende Reihe:
1) L "Ve 3) N
E7 A. "A
IN JA
Die dritte Seite tritt erst beim fünften Versuch auf, wird beim sechsten
nochmals ausgelassen, um dann im siebten und achten Versuch immer richtig
eingesetzt zu werden. Wie sind aber die Reproduktionen 1—4 zu erklären ?
Daß das Anlegen der dritten Ecke nicht gelingt, mag zum Teil einer Art
Einstellungsstarre zugeschrieben werden, die erklärlicherweise oft mit einer
schematischen mechanischen Einförmigkeit des Tuns einhergeht. Diese Ein-
förmigkeit betrifft sowohl die motorische Gestalt des Bewegungsablaufs als
eines Sukzessivganzen als auch die Reihenfolge der gestaltenden Ansätze.
Nehmen wir an, wie das an vielen Versuchen bestätigt wurde, daß am Dreieck
Reproduktion:
218 J. Pritzkat
zunächst das Spitzige oder Spitzwinklige aufgefaßt wird, so ist es erklärlich.
daß der Ansatz, das Dreieck zu legen, darin besteht, etwas Spitziges oder
Spitzwinkliges zu legen. Dieser Intention wird vollkommen genügt durch den
Winkel: IN oder: < oder: pe (am meisten tritt: A auf. am `
wenigsten: i ). Bleibt aber die geschlossene Dreiecksgestalt als be-
stimmtere optische Vorstellung über das manuelle Tun hinaus haften, oder
wird die — sehr oft gezählte — Dreizahl der Ecken gedächtnismäßig be-
halten, dann gibt sich der Patient mit dem Ergebnis: /\ nicht zu-
|
|
frieden. Das Ergebnis wird an der bestimmteren Vorstellung eines Dreiecks .
oder dem zahlenmäßigen Gedächtnisinhalt: ‚drei Ecken“, kritisch geprüft.
Eine Patientin sagt z. B.: ‚So war’s doch nicht“, eine andere: „Sind nicht
drei Ecken“.
Aber die Aktivität reicht nicht aus, um den Schritt zu vollziehen, welcher
nötig wäre, um nun an einer anderen Stelle als der bisherigen, gleichsam der
schon gewohnten, einen neuen Winkel zu bilden.
Wird das Dreieck als bestimmtere optische Vorstellung bewahrt, dann treten
sehr oft folgende Reproduktionen auf:
\l JUN G N
Beim gedächtnismäßigen Behalten der Dreizahl der Ecken ergeben sich fol-
gende Lösungen:
1. / W 2. (7 3. (>
W und 2. AN klären sich uns sehr schnell,
wenn wir die entsprechenden Ergebnisse des Plättchenlegens heranziehen:
Die Erscheinungen 7.
Plättchenlegen nach Vorlage:
1. Vorlage: FN
Reproduktion: pes
Es entsteht ein scheinbar ungegliederter Haufen, der aber auf folgende
Weise entsteht:
|
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 219
2. Vorlage: Fi
2f A 7
Reproduktion: : 8
3
3. Vorlage:
1 .e.eo x : — s. e°
2 e o a .
Reproduktion: 2 j
5
Das Erste ist auch hier der spitze Winkel. Dann aber wird nicht versucht,
die Kontur zu Ende zu legen, sondern die Fläche wird ausgefüllt, und zwar
so lange, bis die Patientin mit dem Ergebnis zufrieden ist. Dasselbe geschieht
bei der zweiten Vorlage und beim Viereck der dritten Vorlage. Dasselbe be-
deuten die Stäbchen innerhalb des spitzen Winkels. Ebenso erklärt sich fol-
gendes Stäbchenviereck:
ii
welches als Konturviereck vorgelegt war.
Beim Dreieck scheint nun zweierlei zusammenzuwirken: Erstens: Die Ein-
stellungsstarre und damit zusammenhängende Monotonie des Tuns lassen
es nicht zu, daß von dem einen Ausgangspunkt abgewichen wird. Die beiden
ersten Stäbchen werden im spitzen Winkel zusamiınengelegt, das folgende
Stabchen wird an derselben Stelle spitzwinklig angelegt und alle folgenden
Stäbchen auch.
Zweitens: Das Dreieck ist nicht als Kontur, sondern als Fläche aufgefaßt.
Eine dreieckige Fläche stellt einen bedeutend einfacheren, undifferenzierteren
Vorstellungsinhalt dar als eine Dreieckskontur oder gar als ein dreieckiges Ge-
rust oder Gefüge von Stäbchen. Die Patientin erfaßt also den Gegenstand als
möglichst einfachen Vorstellungsinhalt. Diesem möglichst einfachen Inhalt
soll entsprochen werden, indem der Winkel, der für sich in seiner Unge-
schlossenheit noch nicht als Fläche gelten kann, ausgefüllt wird, bis ‚‚es ge-
nug“ ist. (Eine Patientin sagt: „Nun ist genug‘.)
Wir bemerken zur Bestätigung, daß erstens kaum ein Patient das Dreieck
beim ersten Versuch richtig legt, daß zweitens fast alle zuerst: A und dann:
AN und ähnliches legen, und weiter, daß vor allem auch das ausfüllende
220 J. Pritzkat
Flächenlegen mit Plättchen sich in allen auftretenden Figuren wiederholt, ob-
wohl in jedem Falle nur Konturen vorgelegt werden.
Bei derselben Patientin tritt dann noch ein sehr eigenartiges Auseinander-
fallen der verschiedenen Auffassungsperspektiven auf, wenn diese sich im Ge-
staltungsakt äußern:
Vorlage:
VI.: „Was ist das?“
Patientin: „Ein Dreieck und ein Viereck, so Art Hauseingang.“
Reproduktion:
an
Vl.: „Was haben Sie nun gemacht?“
Patientin: ‚Wollte Dreieck machen und Viereck, und ist mir vorbeigelun-
gen. Und das ist der Eingang.“
Patientin zeigt dabei auf die durch x bezeichnete Stelle.
Die Vorlage war also aufgefaßt
1. als „Dreieck und Viereck“,
2. als „so Art Hauseingang“.
Im Gestaltensakt legt Patientin jetzt
1. Dreieck und Viereck,
2. Hauseingang.
Die Auffassungsinhalte:
1. Dreieck und Viereck, 2. Hauseingang, lösen sich also sofort vom Auf-
fassungsgegenstand, von dem sie angeregt wurden. Sie verlieren in diesem
Fall dadurch ihre genetische Zusammengehörigkeit und werden daher ganz
folgerichtig nebeneinander oder auseinander dargestellt.
Dasselbe Loslösen und Verselbständigen der Auffassungs-
inhalte vom Auffassungsgegenstand tritt in anderer Gestalt
auf als Voraussetzung für das assoziative Ablaufen der Vorstellungen
und Denkbewegungen, für das Beherrschtsein der Vorstellungs-
und Denkabläufe durch undeterminierte Assoziationen. Wäre das
wache Bewußtsein imstande, in jedem Augenblick auf den Gegen-
stand, als auf den beherrschenden aktualgenetischen Ausgangs-
punkt aller Auffassungsinhalte zurückzugreifen (wie das in jedem
disziplinierten Denkvorgang geschieht, und wie man es sich am
besten an dem Beispiel einer disziplinierten Diskussion zwischen
mehreren Personen veranschaulichen kann), so würden die Abläufe
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 221
nicht den freien Assoziationen und Perseverationen ausgeliefert
sein.
Dieses Ausgeliefertsein wird bei dieser Patientin eindrucksvoll
veranschaulicht in dem
Ordnen von Gegenständen:
Das Benennen der Gegenstände läuft in folgender Weise ab:
Vl. zeigt: Patientin sagt:
1. Nagelschere „Zum Putzen“.
2. Apfel „Ball“.
3. Löffel „Nagel — Ball — Apfel — zum Essen,
kann man mit Essen, womit Suppe —
Suppe wird in Teller gelegt und kann
man mit Essen — — Löffel“.
4. Gabel „Löffel — Gabel“.
5. Schlüssel „Nagel und Schere — Schlüssel‘.
6. Bleistift „Nagel von — wie soll ich sagen —
wird bunt zusammengebaut — kann
man Nägel mit schneiden“.
V1. gibt der Patientin den Bleistift in die Hand und legt ihr ein Stück Pa-
pier vor.
Patientin nimmt den Bleistift wie ein Messer, drückt scharf gegen das Pa-
pier, zeichnet mit hartem Druck zwei Striche und sagt dabei: „Kann man, ist
zum — Schneiden.“
Dabei ist die Bewegung gleichsam die Resultante aus einer Schreib- und
einer Schneidebewegung. Es perseveriert also von der ‚‚Schere‘‘ her und vom
..Nagelschneiden“ her nicht nur Wort und Begriff des Schneidens, sondern
Wort und Begriff haben die motorische Gestalt des Schneidens vergegen-
wärtigt, die nun als solche motorische Gestalt perseveriert und sich als Perse-
veration gegen die offenbar intendierte Schreibmotorik durchsetzen möchte.
Dadurch wird bestätigt, daß ganz allgemein motorische Gestalten als verfüg-
bare Bewegungsgefüge perseverationsfähig sind, ohne daß man sie als eigent-
liche Bewußtseinsinhalte bezeichnen kann. Man weiß um sie meistens nur in
der Form, daß sie verfügbar sind. Ich weiß z. B., daß ich Schlittschuh laufen
kann, radfahren, schwimmen, schreiben kann usw. Es ist aber unmöglich,
über die Eigenart dieser Abläufe im einzelnen bewußt Rechenschaft zu geben.
Sie sind verfügbar, und ihre Verfügbarkeit ist bewußt und sie können gegen-
wärtig sein, ohne realisiert und aktiviert zu werden.
VI. schreibt dann auf das Papier: „Frau R.‘. Patientin antwortet: ‚Sie
machen eine Schreibpartie‘‘. V1. zeigt: Armbanduhr. Patient sagt: „Im — am
— die Hand, kann man mitm Arm.“
Vl. zeigt: Patientin sagt:
Trinkglas „Glas“.
Schreibblock „Notizblock, kann man so legen und
schreiben auf der Hand‘.
Taschenlampe „Flasche zum Radio-Arbeiten, das noch
nicht, (deutet auf die Scheinwerfer-
Linse) ist ’ne Uhr (zeigt richtig das
An- und Ausschalten der Taschen-
lampe).
222 J. Pritzkat
Vl.: „Wozu wird das gebraucht ?“
Patientin: „Zum Gehen“. (,‚Gehen“ ist eine Assoziation zu „Uhr“).
Patientin zeigt nochmal die Linse und sagt: „Elektrische Uhr, kann man
mit Licht machen, ja, wenn man das macht und wieder zumacht.“
Das dann folgende Ordnen gelingt in keiner Weise. Die begleitende Rede
ist ebenso wie vorher von Perseverationen und Wortbildungsstörungen zer-
stört. Auch die Bildbetrachtung zeigt nichts wesentlich anderes als 1. Zer-
störung der Rede wie oben und 2. Zerfall der ganzheitlichen Bildauffassung wie
in den vorherigen Beispielen.
Im ganzen ist über diese Patientin abschließend zu sagen, daß
1. der Abbau aller Denk- und Auffassungsfunktionen weiter fort-
geschritten ist als beim ersten Fall; 2. daß die in Resten noch er-
haltenen Funktionen weitgehender dem organisierenden, akti-
vierenden und steuernden Ich entzogen sind, und 3. daß alle Äuße-
rungen sprachlicher und motorischer Art mehr von Perseverationen
durchsetzt und zerstückt sind. Wir haben auf die Zusammenhänge
zwischen diesen 3 Punkten schon hingewiesen und werden ihre
eingehendere Erörterung erst im analytischen Teil zu geben ver-
suchen.
IV. Zusammenstellung
wiederkehrender und vergleichbarer Erscheinungen
Es sollen jetzt zunächst die aufgetretenen und z. T. schon analy-
sierten Einzelerscheinungen der beiden Fälle systematisch zu-
sammengestellt werden. Dabei werden zur Bestätigung des Sym-
ptomcharakters dieser Züge jeweils ähnliche Erscheinungen von
anderen Versuchen hinzugefügt. Darauf folgen dann in derselben
zusammenfassenden Weise weitere charakteristische Züge, die an
den hier angeführten Fällen nicht eindrucksvoll genug nachge-
wiesen werden konnten.
Diese Zusammenstellung soll dann den Weg anbahnen zu einer
abschließenden Charakterisierung der Bewußtseinsverfassung der
Senilen Demenz, soweit das nach dem vorhandenen Material mög-
lich ist.
1. „Konkretisierungen‘“ und „Verbalisierungen‘ im Bezeichnen
von Figuren und Gegenständen.
Es wurde gezeigt 1), daß der Patient v. D. das kreisrunde Stück
Holz: © als „Deckel‘‘ bezeichnete und daß C > als Ta-
1) S. oben Seite 8 u. 24.
Ft A EEE — | Ve iS. EEE Eee RER SerupuEEDe O E
Beiträge zur Psychopalhologie der senilen Demenz 223
blett. Derselbe Patient nannte die Plättchenvorlage l einen
.
.onos.0ee e
..Rahmen, wo ein Bild reinkommt, Viereck“. Ähnliches tritt bei
anderen Patienten auf. So faßt ein Patient!) die Vorlage N
beim Stäbchenlegen auf als ‚ein dreieckiges Stück“ und die Vor-
lage A | VAN bezeichnet er als ‚ein dreieckiges Stück und
noch eins und ein T“. Eine andere Patientin ?) nennt die Stäbchen-
vorlage | „ein Träger und ein Balken“ und die Plättchen-
vorlage: * „eine Pyramide‘.
Derartige Fälle, daß geometrische Formen in Anlehnung an konkrete Dinge
aufgefaßt werden und z. T. als solche konkrete Dinge direkt bezeichnet werden,
konnten einen Irrtum aufkommen lassen: man könnte annehmen, daß das
Denken dieser Patienten sich stark im Konkreten und Anschaulichen bewegte.
Man könnte der Meinung sein, geometrische Figuren würden mit starker kon-
kreter Anschauungs-Lebendigkeit aufgefaßt. Solche Anschauungs-Lebendig-
keit müßte dann aber auf irgend einem anderen Gebiete der Auffassung, der
Gestaltung oder der sprachlichen Äußerung wieder zum Ausdruck kommen,
wie das bei der tatsächlichen Anschauungslebendigkeit des Kindes der Fall ist.
Wir können nach unseren Versuchen nicht zugeben, daß die Ähnlichkeit der
Dingbezogenheit und Dinggerichtetheit zwischen dem Kinde und diesen
Patienten so stark ist, wie es Arnulf Rüssel nachzuweisen sucht °).
Um dem psychischen Tatbestand auf die Spur zu kommen, der
hinter diesen „Konkretisierungen‘“ steckt, ziehen wir einige Er-
scheinungen heran, die beim Benennen und Ordnen von Gegen-
ständen auftreten.
Einer Patientin wird ein Apfel gezeigt. Sie weiß ihn nicht zu be-
nennen. Auch das Befragen, wie er schmeckt, hilft ihr nicht weiter.
Als Vl. ihr den Apfel in die Hand gibt, macht sie die Bewegung des
Schälens und sagt dann: ‚Ist ein Apfel‘.
Dies Zurückgehen auf das Tun mit den Dingen, tritt oft in der
Form von verbalisierenden Umschreibungen der Gegenstands-
bezeichnungen auf. Z.B. für Bleistift: „Ist zum Schreiben‘, für
Taschenlampe: „Kann man mit Licht machen“, usw. Diese Er-
scheinungen treten in äußerlich ähnlicher Weise bei Kindern auf.
1) St. 67 Jahre.
2) H. 69 Jahre.
3) Rüssel, Arnulf, Zur Psychologie der optischen Agnosien, N. psych. St.
Pd. 13, Heft 1, München 1937.
224 J. Pritzkat
Das Kind faßt abstrakte geometrische Figuren als ausdruckshaltige
Gebilde auf. Versuche in dieser Richtung sind hauptsächlich von
Volkelt gemacht worden.
Das Kind orientiert sich fortschreitend aufbauend und gliedernd
in seiner Umwelt, in der umgangsmäßigen Durchgliederung der
Wirklichkeit, in der Weise, daß — wie es neuerdings von Petermann
ausgeführt worden ist 1) — sogar der Unterschied zwischen be-
seelter und unbeseelter Umwelt-Wirklichkeit sich aus den Unter-
scheidungen und Festlegungen der ‚„Umgangsstrukturen‘‘ ent-
wickelt. Auf diese Weise erklären sich die Verbalisierungen des
Kindes. Die angeführten Erscheinungen bei Senilen deuten aber
auf andersgelagerte Bewußtseinsverfassungen hin: das Orientieren
des Senilen an dem umgehenden Tun mit den Dingen (,„Umgangs-
Qualitäten‘, „Funktions- Qualitäten‘ ?)) ist nicht Ausdruck und
Folge starker ding- und umweltgerichteter Aktivität, nicht wie
beim Kinde ein Zeichen vorwiegend spontaner dynamischer Be-
zogenheit auf die Objekte der Umwelt. Unsere Patienten suchen
vielmehr, wenn sie sich auf Tunsweisen besinnen, in den rein
schematischen Resten dieser einfachsten Orientierungsformen An-
haltspunkte für den ihnen meistens bewußten Mangel und
Ausfall an Gegenstandsbezeichnungen und an allgemeinen Be-
griffen. Sie wissen, daß es namenhafte Bezeichnung für den Gegen-
stand gibt und sagen etwa nicht wie etwa das Kind zur Schere:
„Schneider“, sondern: „Kann man mit Nägel schneiden‘, oder zur
Lampe: ‚Ist zum Licht machen‘. Einmal über die Schemata
früherer Umgangslebendigkeit und zum anderen über einzelne
erinnerte assoziierte Tunsweisen sucht der Senile dann die zer-
fallene begriffliche Durchgliederung der Umwelt von Fall zu Fall
zurückzugewinnen, was ihm zuweilen auch gelingt.
Wir kehren von hier aus zu den angeführten Erscheinungen der
auffassenden ‚Konkretisierung‘ geometrischer Formen zurück.
Wir können, wie schon erwähnt, nach dem Verhalten der Patienten
auf allen anderen Äußerungs- und Auffassungsgebieten nicht an-
nehmen, daß es sich hier um eine konkrete Anschauungslebendig-
keit handelt. Das Orientieren geht — wie in der Verbalisierung —
in der Form des besinnenden Tastens und Suchens vor sich. In den
verbalisierenden Bezeichnungsversuchen lehnt sich dieses tastende
Suchen an irgendwelche Schemata früherer Umgangslebendigkeit
an, oder irgendeine Umgangsweise wird beim Anschauen des
1) Petermann, Bruno, Wesensfragen seelischen Seins. Leipzig 1938.
2) Rüssel a.a. O., S.10ff. u. S. 25ff.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 225
Gegenstandes assoziiert. Genau so tastend und suchend verhält
sich das orientierende Bewußtsein des Senilen beim Bezeichnen der
veometrischen Figuren. Aber die abstrakten (apriorischen) Formen
anschaulicher Durchordnung des Raumes können nicht mehr er-
bracht werden ohne einen konkreten Gegenstand, an den sie heran-
getragen und aktualisiert werden. Das Herantragen der abstrakten
Formen an einen konkreten Gegenstand geschieht beim Senilen
z. T. in lange währendem wirklich bewußtem Suchen nach der
Vorstellung solch eines Gegenstandes; oder es geschieht in plötz-
licher Assoziation einer Vorstellung. Eine Reihe von Beobach-
tungen hat gezeigt, daß im ersten Fall, im bewußten Suchen, dann
auch — wenn ein solcher Gegenstand gefunden wird — meistens
gleich darauf die Form auch als geometrische Figur genannt werden
.n..- nn...
kann. Z.B. _........: „Rahmen wo ein Bild reinkommt — Viereck‘ !)
oder me „Tablett und Oval“.
Eine einleuchtende und unsere Deutung bestätigende Ver-
quickung rein-anschaulichen und konkret-anschaulichen Denkens
bringen Bezeichnungen wie: IN „Ist ein dreieckiges Stück‘ usw.
Im zweiten Fall, im plötzlichen Assoziieren eines konkreten Ge-
eenstandes, kommt der Patient überhaupt nicht auf die rein an-
schauliche Bezeichnung, weil eine solche ja gar nicht gesucht, gar
nicht intendiert ist. Trotzdem sieht auch in diesen Fällen der Patient
in der vorgelegten Figur nicht tatsächlich ein konkretes Ding, so
wie etwa die Phantasie des Kindes in einem Holzstück vorüber-
gehend tatsächlich eine wirkliche Puppe sieht, sondern dem Se-
nilen „fällt“ nur irgendein Gegenstand „dazu ein‘. Das heißt auf
dem Wege über die äußere Gestalt wird ein ähnlich gestalteter
konkreter Gegenstand als Vorstellung assoziiert. Beim Kinde
überwindet die phantasiestarke Vorstellung die Hemmungen,
die die äußere Gestalt des Objektes der konkreten Anschauungs-
lebendigkeit auferlegen möchte, und das Kind „erlebt“ vorüber-
gehend eine Puppe. Dem Senilen „fällt“ irgendein konkrete
Gegenstand „ein“, an den er durch die Gestalt des Objektes
erinnert wird.
1) S. oben Seite 224.
15 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 9, H. 3'4.
226 J. Pritzkat
2. Auffassen von Ganzqualitäten
Wiederholt konnte gezeigt werden, daß am Dreieck das Spitzige
aufgefaßt wurde, welches sich sowohl in der sprachlichen Bezeich-
nung — „war so spitz oben“, „ist ein spitzer Hut‘ usw. — als auch
im Zuordnen am Formbrett und im Stäbchen-Legen äußerte. Beim
Formbrett wurden in allen Fällen, in denen eine objektiv richtige
Zuordnung nicht mehr gelang, die spitzwinkligen Figuren
AZ Ip
und ebenfalls die rundlichen Figuren
a O g
einander zugeordnet. In diesem Falle können wir von einer wirk-
lichen Ähnlichkeit zwischen der Auffassung des Kindes und der
des Senilen reden. Das Bewußtsein des Senilen ist auf die Stufe des
Auffassens diffuser, undifferenzierter Komplexqualitäten zurück
gesunken. Wir versuchen damit keineswegs, diese Zerfallsstufe mit
einer spezifischen Entwicklungsstufe gleichzusetzen. Das verbietet
sich schon deshalb, weil das Auffassen solcher Komplexqualitäten
nicht dem kindlichen Auffassen und dem der Patienten dieses
Symptombereichs alleine eignet. Es gehört geradeso zum Gestalt-
auffassen des entwickelten normalen Bewußtseins dazu. Die beim
Normalen hinzukommende, aber die Komplexqualität nicht not-
wendig auflösende Durchgliederung des Wahrnehmungsinhaltes
nach verschiedenen Hinsichten wird vom Kinde noch nicht voll-
zogen. So sieht also das Auffassen dieser Patienten zwar an manchen
Stellen ähnlich aus, wie das des Kindes, hat aber im Grunde mit
dem kindlichen Auffassungsakt und dem darin verarbeiteten In-
halt nicht mehr Ähnliches als mit den des Normalen.
3. Abschlußlosigkeit des Tuns in endlosen Reihenbildungen
und Konfabulationen
Die folgenden Erscheinungen konnten an dem Material der beiden
aufgeführten Fälle nicht eindrucksvoll genug gezeigt werden. Wir
ziehen deshalb Beispiele aus dem an anderen Patienten gewonnenen
Materialbestand heran:
Beitäge zur Psychopathologie der senilen Demenz
Dem Patienten !) wird die Vorlage
1 _|
gezeigt. Er sagt: „Das ist — so eine Art Schuppen.“
Reproduktion:
—— èë (m |
a
Vorlage wird wiederholt.
Zweite Reproduktion:
| 1
Vorlage wird nochmals wiederholt.
Dritte Reproduktion:
ana
Darauf legt VI. als Vorlage:
\YAMN/
\slelsl
Reproduktion:
NINA
Wiederholung der Vorlage:
I ANMNNM
Eine andere Patientin ?) legt nach der Vorlage:
1) Patient Str. 67 Jahre alt.
2) Frau H., 69 Jahre.
15°
227
228 J. Pritzkat
ANW ll
TAN
MAN
Alle diese Reihenbildungen zeigen keinen eigentlichen Abschluß.
Die Patienten bauen fort und fort bis die Vl. abbrechen läßt, ähn-
lich wie sie in ihren sprachlichen Konfabulationen gleichsam kein
Ende finden, sondern fort und fort reden. In diesen Reihenbildungen
hängen sie sich, nach ihrem Verhaltensbild zu urteilen, an das,
was ihnen nun einmal gelingt, und führen es fort und fort, als ob
sie fürchteten, beim Aufhören vor neue und andersartige Aufgaben
gestellt zu werden, die ihnen neue Schwierigkeiten bereiten könnten.
Sie führen also die mechanische Folge von gleichbleibenden Be-
wegungen fort, da sie ihnen nun einmal gelingt und es verhindert,
daß ihnen Neues, Ungewohntes, noch nicht Beherrschtes begegnen
könnte. Das steht wieder in engem Zusammenhang mit dem Ver-
harren in einer einmal gefaßten Einstellung, allein mit dem Unter-
schied, daß in diesen Reihenbildungen sowie in den Konfabula-
tionen eine gewisse, wenn auch mechanisch realisierte Aktivität.
gezeigt wird, die aber in keinem Falle gleichgesetzt werden kann
mit der kindlichen Freude am Tun ‚„Ursachsein‘, mit der „Eigen-
wertigkeit des Tuns“ 1). Das Verhalten der Senilen bei diesen Vor-
gängen zeigt entweder ein fast ängstliches Sichanklammern an das
nun einmal laufende Tun oder ein passives zufriedenes Ablaufen-
lassen der Funktionen, keineswegs aber wirkliche Freude, Leb-
haftigkeit, Spontaneität.
folgende Figur:
Zweite Vorlage:
Reproduktion:
V. Zur Bewußtseinsverfassung der senilen Demenz
Es sind im ganzen folgende wesentliche Erscheinungen aufge-
treten:
I. Zerfall der Ganzheit des Auffassungsinhaltes,
sobald die diffus gehabte Impression differenziert werden soll ?).
Dieser Zerfall verhindert das Zustandekommen
1) Gautscheva, Kinderplastik 3—6 jähriger.
2) S. oben S. 213.
Beiträge zur Psychopathologie der senilen Demenz 229
1. einer Durchgliederung des Auffassungsinhaltes in statischer
(räumlicher) Hinsicht (Bildbetrachtungen, Stäbchen- und
Plättchenlegen und Formbrett).
2. einer Durchgliederung in dynamischer (räumlich-zeitlicher)
Hinsicht und damit das Erfassen eines Vorganges auf dem
Bilde. Das bewirkt wiederum die Unmöglichkeit
3. eines Erfassens innerer Motivationen der Vorgänge.
II. Störungen des Auffassungsvorganges durch Aktivitäts-
schwäche, Intentionsschwäche und Spontaneitätsschwäche des Ich,
welches sich äußert
1. als Einstellungsstörung im Sinne der Einstellungsträgheit
| (Unmöglichkeit, aus eigenem Antrieb neuen Objekten ent-
sprechende neue Einstellungen zu erbringen).
2. als Ausgeliefertsein an rein assoziative Denk- und Vorstellungs-
abläufe — oder umgekehrt ausgedrückt — als Unmöglich-
keit Denkakte zu vollziehen. |
3. Als Auseinandersetzung zwischen Intentionen und Perseve-
rationen.
Als Beherrschtwerden des Ich von Assoziationen und Perse-
verationen.
un
III. Störungen des gestaltenden Tuns.
1. Aus Einstellungsträgheit im obigen Sinne. Daraus ergibt sich
Monotonie des Tuns.
2. Klammern an einmal laufende Funktionen und Bewegungen
Daraus ergeben sich ım Gestalten Reihenbildungen und im
Sprachlichen Konfabulationen.
3. Störungen des Tuns bedingt durch Auffassungsstörungen in
allen oben angeführten Hinsichten.
Fassen wir das alles zusammen, so zeigen alle diese Erscheinungen
immer wieder von anderen Seiten her gesehen ein durchgängiges
Bild der Veränderung der Senilen Dementen im Sinne einer Ände-
rung des Verhältnisses vom Ichpol zum einzusetzenden Funk-
tionsgefüge.
Diese Veränderung kann allgemein charakterisiert werden als
ein Erlahmen und Erschlaffen der Organısation des ganzen vor-
handenen Funktionsgefüges vom Ich her. Dieser organisierende
Pol verliert die dauernde Kontrolle und Steuerung der Funktionen
und wird daher schließlich auch selbst den jeweils ablaufenden
Funktionen ausgeliefert. Dabei tritt keinerlei Trübung des Be-
230 J. Pritzkat, Beiträge zur Psychopathologie usw.
wußtseins ein und keinerlei Zersetzung der naiven Einheit des Ich
und des naiven Selbstbewußtseins. Alle emotionalen, z. B. affek-
tiven Regungen bleiben mit dem Ichpol unmittelbar und störungs-
los gekoppelt, da sie‘ sehr viel weniger Aktivität, Spontaneität,
keinerlei schöpferischen Einsatz des Ich erfordern. Sobald ein
solcher Einsatz gefordert ist, entgleitet dem Ich die Steuerung des
einzusetzenden Funktionsgefüges und es treten alle die Erschei-
nungen auf, die wir im Verlaufe der Darstellung aufgewiesen haben.
Es bedürfte weiterer eingehender Untersuchungen, um festzu-
stellen, wie weit dieses Entgleiten des Funktionsgefüges selbst mit
Ursache ist für das in schwereren Fällen auftretende Zerstört-
werden der Funktionen in sich.
Über vorübergehende myotonische Symptome in
einem Fall extrapyramidaler lentikulärer Erkran-
kung. (Atypische arteriosklerotische Muskelstarre?)
Von
Elisabeth Roemer
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Gießen.
Direktor: Professor Dr. Böning)
Trotz der Fülle an Kasuistik, die sich seit der Klarstellung und
Charakterisierung der Myotonie und der myotonischen Dystrophie,
über die myotonischen Erscheinungen angesammelt hat, erscheint
es auch weiter notwendig, eigenartige Fälle, die nicht typisch ver-
laufen, herauszustellen.
Beim historischen Rückblick erscheint es verständlich, daß sich
zuerst der Begriff der Myotonie herauskristallisierte, da sich diese
Erkrankung durch ihre klare, bei allen beobachteten Fällen gleiche
Symptomatik und vor allem durch die auffallende dominante Ver-
erbung allmählich von selbst abgrenzte. So begann nach der erst-
maligen Veröffentlichung des Krankheitsbildes durch Thomsen im
Jahre 1876 sofort eine Kette von Beschreibungen, z. T. schon früher
gesehener, zum größeren Teil erst jetzt, nachdem die Aufmerk-
samkeit geweckt war, beobachteter Fälle. Seeligmüller veröffent-
licht noch im selben Jahre, Bernhardt 1879, Peters 1879, je einen
typischen Fall von Thomsen. In den folgenden Jahren beteiligt
sich auch das Ausland an der Erforschung der Ätiologie und Patho-
genese des Krankheitsbildes. Petronne macht 1881 bereits eine
Muskelexzision, die er histologisch untersuchte. Nachdem der von
Strümmpel 1861 geprägte Begriff der Myotonia congenita allgemein
angenommen war, bringen Ballet und Pierre Marie, sowie West-
phal, Eulenburg und Melcher neue Beiträge mit klassischen Krank-
heitsbildern. Letztere Autoren verursachen eine gewisse, längere Zeit
anhaltende Verwirrung in der Frage der Abgrenzung der Myotonie
insofern, als sie bei ihren Fällen einen Zusammenhang der Muskel-
störung mit Kälteeinwirkung beobachteten und darin eine selbstän-
dige Krankheit vermuteten. Eulenburg stellte dieses Zustandsbild
232 Elisabeth Roemer
als spastische „Angioneurose‘‘ des willkürlichen Muskelapparates
heraus und hielt es für eine Krankheit sui generis, „eine Para-
myotonia congenita‘“.
Erb bringt in seiner Monographie 1886 eine kritische Betraclı-
tung’ des bis dahin erschienenen Materials, führt die Prüfungen der
spezifischen myotonischen Reaktion der Muskeln auf elektrische
und mechanische Reize ein und legt die Symptomatologie der Myo-
tonia congenita allseitig lehrbuchfähig fest. Die stets vorhandenen
Kardinalsymptome sind danach zuvorderst die eigenartige Re-
aktion des quergestreiften ruhenden Muskels auf plötzlichen ak-
tiven Bewegungsimpuls und zwar so, daß eine starke und lang an-
dauernde Kontraktion der innervierten Muskeln eintritt, die eine
Hemmung der begonnenen Bewegung zur Folge hat. Nie fehlende
Symptome sind weiterhin das Hypervolumen der Muskulatur und
ihre elektrische myotonische Reaktionsweise, „die in einer Nach-
dauer der Zuckung bei direkter galvanischer und faradischer Rei-
zung, sowie in wellenförmigem Muskelwogen nach ein- bis zwei-
maliger Stromwendung‘“ besteht. Auf mechanische Reizung (Be-
klopfen) des Muskels erfolgt eine nachdauernde Kontraktion mit
Dellenbildung. Bevorzugt sind nach Erb Bizeps, Quadrizeps, Ad-
duktoren, Zunge und Thenar.
Nissen führt das Werk seines Großonkels Thomsen 1915 in ver-
dienstvoller Weise zu Ende, indem er einen Überblick über die
ganze Thomsenfamilie gibt und nachweist, daß dort keinerlei de-
generative Stigmen, vor allem keine intellektuellen Defekte im
Zuge dieser Erkrankung beobachtet worden sind. Weiterhin weist
Nissen nach, daß sich das Leiden schon sehr früh, ja sogar schon
in den Säuglingsjahren, manifestieren kann. Gerade die Beobach-
tung des völligen Fehlens degenerativer Merkmale sowohl bei den
an Myotonie erkrankten Individuen selbst, als auch in deren
Sippe, führte dazu, daß sich eine andere, der Myotonia congenita
ähnliche ebenfalls erbliche, aber beim Einzelindividuum oft viel
später auftretende Krankheitsform u. a.-auch durch das Hervor-
treten der ‚‚degenerativen‘‘ Züge relativ leicht abgrenzen ließ:
die myotonische Dystrophie.
Die Ähnlichkeit dieser, oft oligo-symptomatisch auftretenden
Krankheitsform der myotonischen Dystrophie mit der Thomsen-
schen Krankheit ist deswegen lange übersehen worden, weil die
typisch-lokalisierten atrophischen Veränderungen an den Muskeln
(mimische Muskulatur, Kaumuskeln, Sternocleido-Mastoideus, Vor-
derarm- und kleine Handmuskeln, Peroneusgruppe) einerseits und
die dystrophisch-endokrinen Störungen (Asthenie bis zur prozeß-
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 233
haften körperlichen Verelendung, trophische Störungen, Stirn-
glatze, Cholesterinkatarakt, organische und funktionelle Ausfalls-
erscheinungen der Geschlechtsorgane, gelegentliche Dysfunktionen
von Schilddrüse, Epithelkörperchen, Hypophyse und Nebenniere,
sowie psychische Minderwertigkeiten) andererseits an Sinnfällig-
keit und Aufdringlichkeit die stets gleichzeitig vorhandenen, aber
unter Umständen gering ausgeprägten eigentlichen myotonischen
Symptome weit übertrafen und oft übersehen ließen. Steinert hat
im Jahre 1904 bereits auf das Syndrom der myotonischen Dystro-
phie hingewiesen und es dann im Jahre 1909 in einer Arbeit klar
und endgültig klinisch formuliert.
Den früheren Autoren (Hoffmann, Rindfleisch) waren die regel-
mäßig wiederkehrenden, an Prädilektionsorte gebundenen Atro-
phieen entgangen. Curschmann schließt sich 1915 der Steinertschen
Auffassung über das Bild der myotonischen Dystrophie an, will
sie aber nicht, wie jener, als eine aus der T’homsenschen Myotonie
hervorgehende Krankheitsform, sondern als absolut selbständige
Krankheit betrachtet wissen. Die gleiche Anschauung vertreten
Hirschfeld, Lewandowsky, Grund.
Die Frage nach der Wesensverschiedenheit der beiden Krank-
heiten ist aber trotzdem auch heute noch nicht restlos entschieden.
Boeters weist erst 1935 in seiner Arbeit über Myotonie auf Grund
seiner erbbiologisch ausgerichteten Untersuchungen wieder darauf
hin, daß Myotonie und myotonische Dystrophie zwar in ihrer
klinischen Erscheinungsform, nicht aber genetisch zu trennen seien.
Einen sicheren Beweis dafür, „daß aus einem gewöhnlichen Thom-
sen eine myotonische Dystrophie werden kann‘ bringen aber, so
meint Curschmann, auch die Fälle von Boeters nicht. Darüber
hinaus bestreitet Curschmann gegen Boeters, „daß dystrophische
Fälle auch in reinen Thomsen-Familien (und umgekehrt) vor-
kämen‘. An der klinischen und symptomatologischen Trennung
der beiden Krankheiten sei festzuhalten.
Ein zweifelloses und großes Verdienst der Boetersschen Zusam-
menstellung liegt u. E. ganz unabhängig von der Frage der Zusam-
mengehörigkeit von T’honmsenscher Myotonie und myotonischer
Dystrophie darin, daß Boeters auf die „Mikroformen der myotoni-
schen Dystrophie‘‘ aufmerksam macht, wie sie sich nach seinen
erbbiologischen Untersuchungen in den Sippen der Myotoniekran-
ken (bei ihm also wohl vorwiegend der myotonischen Dystrophiker)
finden. So treffen wir in seinen Sippenbeschreibungen auf das iso-
lierte Auftreten von Glatzenbildung, dystrophischen Zähnen, Lin-
sentrübungen, Steifwerden der Glieder bei Kälte, gelegentliche
234 Elisabeth Roemer
Wadenkrämpfe, Diabetes und Fettsucht, tetanische Symptome und
Basedow in der Sippe seiner Kranken.
Sanders Forschungen aus dem Jahre 1935 an niederländischen
Myotonikerfamilien legen übrigens wieder die scharfe Trennung der
beiden Krankheiten nahe. Er betont ebenso wie Nissen, Fleischer
und Curschmann u. a., daß die Myotonia congenita keine ‚Degene-
rationskrankheit‘‘ ist. Abgesehen von der motorischen Störung
finde sich in der Sippe seiner Thomsenfälle kein Prozeßcharakter
der Erkrankung, vor allem keine Demenz und keine Senkung des
Persönlichkeitsniveaus. Curschmann hat diese Krankheit als
„eine Krankheit des 4. Standes‘ bezeichnet. Sie findet sich ganz
überwiegend in der Ebene eines tieferen sozialen Niveaus, was
wahrscheinlich nach unserer Meinung sekundär auch auf die Un-
zulänglichkeit der sozialen Leistung infolge der Krankheit und
auf den Einfluß selektiver Paarung im Laufe der Generationen
zurückzuführen ist.
Fassen wir die hier gegebene historische Übersicht zusammen,
so wäre als für uns wichtig folgendes fesztustellen: Bei der Myo-
tonia congenita und der myotonischen Dystrophie, die nach der
einen Auffassung (Nissen, Curschmann) vollkommen getrennte
Krankheitsbilder darstellen, nach der Auffassung anderer, vor
allem auch von Boeters, klinisch und genetisch eine Einheit bilden,
findet sich als gemeinsames Symptom eine motorische Störung,
die vor allen Dingen auch auf elektrischem Wege nach
dem Vorgang von Erb ın Form der myotonischen Re-
aktion festzustellen ist. (Inwieweit chronaximetrische Unter-
suchungen, wie Bertrand und Rougues im Hinblick auf Unter-
suchungsbefunde Bourgignons behaupten, zu frühzeitiger Erken-
nung myotonischer Störungen im Muskel führen, kann hier uner-
örtert bleiben.)
Zu der motorischen Störung bei der Myotonie wäre noch anzu-
fügen, daß sie nach heutiger Auffassung nur in der „typischen‘‘
Form in Erscheinung trıtt, daß bei plötzlichen Bewegungsimpulsen
auf den ruhenden quergestreiften Muskel eine langandauernde
Kontraktion eintritt, die eine Hemmung der begonnenen und eine
Erschwerung der weiteren Bewegungen zur Folge hat. Die ältere
Literatur, so etwa Hübner, beschreibt eine besondere Spielart myo-
tonischer Muskelstörung, bei der erst nach wiederholten intendier-
ten Bewegungen eine zunehmende Spannung der in Betracht kom-
menden Muskeln eintritt, so daß die Bewegungen immer lang-
samer werden, unterbrochen werden müssen und einer Schwäche
Platz machen. Ein von Hübner beschriebener Fall hat bei elek-
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 235
trischer myotonischer Reaktion nach längerer Tätigkeit neben
Klammheits- und Steifigkeitsgefühlen auch Schmerzen. Bumke hält
allerdings die Zugehörigkeit dieser von Jendrassik „paradoxe
Myotonie‘‘ genannten Störung zur Myotonie für zweifelhaft und
meint, die Klassifizierung dieser Erscheinung könne erst durch Bei-
bringung weiteren Materials entschieden werden. Wir möchten
ebenfalls die Zugehörigkeit der paradoxen Myotonie zur echten
Myotonie in Zweifel ziehen.
Auf jeden Fall muß für die Diagnose einer myotonischen Er-
krankung der „klassischen“ oder dystrophischen Form die typi-
sche elektrische Reaktion gefordert werden. In der Literatur finden
sich über die elektrische myotonische Reaktion und verwandte
elektrische Phänomene verschiedene Angaben.
Einer der besten Kenner der Elektrodiagnostik, Altenburger,
bezeichnet als Kardinalsymptom der Myotonia congenita, der
Thomsenschen Krankheit, die bei Willkürinnervation, bei mecha-
nischer und auch elektrischer Reizung auftretende Kontraktions-
nachdauer. Hierzu kommen noch einige weitere Besonderheiten
in der Reaktionsweise der befallenen Muskeln dem elektrischen
Strom gegenüber, so daß ein sehr charakteristisches Gesamtbild
resultiert, die „myotonische Reaktion‘.
Außer bei Morbus Thomsen finden sich nach Altenburger prin-
zipiell gleiche Reaktionen auf den elektrischen Strom auch bei der
Myotonia atrophicans, also unserer myotonischen Dystrophie.
Altenburger erwähnt (offenbar liegen ihm aber eigene Erfahrungen
nicht vor) „das Vorkommen myotonischer Erscheinungen bei zen-
tralnervösen Läsionen, wie bei der Wilsonschen Krankheit‘. Er
drückt sich in vorsichtiger Formulierung dahin aus, daß myotonie-
ähnliche Erscheinungen sich nach Mann, Grund und Rehburg auch
auf pharmakologischem Wege durch große Tetrophandosen aus-
lösen lassen sollen. Gewisse Ähnlichkeiten mit der elektrischen
myotonischen Reaktion finden sich nach Grund übrigens auch
unter Kälteeinwirkung beim normalen Muskel.
Die typische elektrische myotonische Reaktion läuft nach Alten-
burger so ab, daß es bei direkter, wie bei indirekter faradıscher‘
Reizung des myotonischen Muskels wie beim normalen Muskel zu
einer tetanischen Kontraktion mit raschem Anstieg und anschlıe-
Bendem Plateau kommt, welches je nach der Reizfrequenz einen
glatten, oder im Rhythmus der letzteren oszillierenden Verlauf
zeigt. Während aber beim normalen Muskel unmittelbar nach
der Öffnung des faradischen Stromes eine plötzliche Erschlaffung
des Muskels eintrete, zeige der myotonische Muskel eine aus-
236 Elisabeth Roemer
gesprochene Kontraktionsnachdauer und die Rückkehr zur Aus-
gangslänge vollzieht sich ganz allmählich in etwa 5—10 Sekunden.
Diese Kontraktionsdauer auf faradischen Reiz nimmt nach Alten-
burger mit der Reizintensität zu. Sie nimmt im Verlaufe mehrfach
kurz hintereinander wiederholter faradischer Reize ab und ver-
schwindet schließlich. Nach einer längeren Pause tritt sie bei er-
neuter faradischer Reizung wieder in der ursprünglichen Dauer ın
Erscheinung.
Bei indirekter galvanischer Reizung findet sich im myo-
tonischen Muskel keine Abweichung von der Norm, während di-
rekte galvanische Reizung mit Elektrodenansatz außerhalb des
Reizpunktes eine normale rasche Zusammenziehung bewirkt. Die
Kontraktion hält aber während des Stromschlusses an und über-
dauert die Stromöffnung, um sich erst ganz allmählich zu lösen.
Die Länge der Kontraktionsnachdauer nach Stromöffnung ist auch
bei direkter galvanischer Reizung eine Funktion der Reizstärke.
Auch hier nimmt bei wiederholter Reizung ın kurzen Intervallen
die Kontraktionsnachdauer ab, um nach einer längeren Pause
wieder im ursprünglichen Ausmaß zu erscheinen.
Altenburger erwähnt schließlich noch, daß bei anhaltender fara-
discher und galvanischer Durchströmung mit hoher Intensität
manchmal ein gleichmäßiges Muskelwogen auftritt.
Man sollte bei der elektrischen Prüfung auf myotonische Reak-
tion der in dieser ausgezeichneten Schilderung Altenburgers ent-
haltenen diagnostischen Anweisung um so mehr genau folgen, als
die in den gangbaren Lehrbüchern und Handbuchbeiträgen ge-
gebene Darstellung der myotonischen Reaktion etwas dürftig und
summarisch ausfällt. Die Beschreibung der myotonischen Reaktion
durch M. Kroll („Die neuropathologischen Syndrome‘‘) lautet ein-
fach: „Die myotonische Reaktion besteht darin, daß die Zuckung
kurze Zeit anhält, nachdem der faradische Strom bereits ausge-
schaltet ist. Galvanischer Reiz ruft in diesen Fällen oft Muskel-
wogen hervor.‘ Die so beschriebene myotonische Reaktion findet.
sich nach Kroll außer bei der Thomsenschen Krankheit und der
myotonischen Dystrophie auch bei Syringomyelie und epidemischer
Enzephalitis.
Wie wichtig aber die Beachtung des gesamten elektrischen Ver-
haltens bei der Prüfung auf Myotonie nach dem Vorgang Alten-
burgers ist, geht aus einer Darstellung Försters hervor, welche die
elektrische Reizung bei pallidärer Starre behandelt, die danach
in vieler Hinsicht der myotonischen Reaktion ähnelt, ohne ihr aber
völlig zu gleichen. Bei faradıscher Reizung kommt es zu einer toni-
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 237
schen Nachdauer der Kontraktion. Es ist dabei einerlei, ob die
Muskelkontraktion durch Reizung des Nerven oder durch direkte
Muskelreizung oder neuromuskuläre Applikation der Elektroden
erzielt wird. In ausgesprochenen Fällen behält der Muskel den vollen
Kontraktionszustand lange bei. In leichteren Fällen folgt der Kon-
traktion eine nur langsame Erschlaffung, die zuweilen durch einzelne
Gegenkontraktionen unterbrochen sein kann. Während bei galva-
nischer Reizung die Zuckung deutlich schnell erfolgt und auch bei
schwachen Strömen ebenso rasch wieder absinkt, beobachten wir
bei Anwendung stärkerer galvanıscher Ströme oft einen ausge-
sprochenen Kathodenschließungstetanus, der schon bei Strömen
von 8 bis 10 M.A. beobachtet wird (die mechanische Muskelerreg-
barkeit zeigt oft eine deutliche Steigerung der idiomuskulären
Wulstbildung).
Nicht ohne Grund sind, wie sich später zeigen wird, die elektri-
schen Muskelreizungsverhältnisse bei extrapyramidaler Starre be-
sonders herangezogen worden. Auch von anderen Autoren wird
(so von Gamper und Hiller) für die pallidären Starrezustände die
toniısche Nachdauer der Muskelkontraktion auf direkte und indi-
rekte faradische Reizung festgestellt, ebenso die wenigstens bei
schwachen galvanıschen Strömen schnell wieder absinkende Zuk-
kung. Daß sich bei diesen Rigorzuständen auch die ‚„myodysto-
nische“ Reaktion Soederbergs findet, deren Hauptkennzeichen
Nach- oder Gegenkontraktionen sind, welche nach Aufhören der
faradischen Reizung während der verlangsamten Erschlaffung
auftreten, wird von mehreren Autoren (Lotmar, Gamper) bemerkt.
Bei dem postenzephalitischen Parkinsonismus soll übrigens nach
Stern diese „myodystonische‘“ Reaktion Soederbergs fehlen.
1. Klinische Beobachtung vom 24. 11.—2. 12. 1936:
P. L., geboren am 17. 1. 85, landwirtschaftlicher Arbeiter, gebürtiger Ita-
liener. Stammt aus einem kleinen Ort in den Abruzzen. Ist bereits mit
15 Jahren nach Deutschland verzogen.
Vorgeschichte:
Über Krankheiten und Todesursache der Eltern nichts bekannt. Der Vater
sei früh gestorben, die Mutter in höherem Alter. Zwei Schwestern leben und
seien seines Wissens gesund. Eine Verbindung mit den Angehörigen besteht
nicht. Familienanamnestisch konnte durch den Patienten weiter nichts bei-
gebracht werden. Auf Rückfrage beim Pfarrer seines lleimatortes erhielten
wir keine Auskünfte über die Familie.
Patient hat in Deutschland mit 25 Jahren eine Witwe mit 5 Kindern ge-
heiratet, die 18 Jahre älter war als er. Er selbst hat keine Kinder.
Hat sich nach seiner Angabe in der Kindheit normal entwickelt, sei damals
und auch im späteren Leben nie ernstlich krank gewesen. 1903 Verletzung des
linken Auges durch einen Steinsplitter. Damals in der Augenklinik Gießen
behandelt. Das Sehvermögen sei auf diesem Auge nicht zu retten gewesen.
` 238 Elisabeth Roemer
Kopfverletzung durch einen Stein kurz vor dem Kriege. Einfache Platz-
wunde der Kopfhaut ohne Kommotionserscheinungen.
Hat bis 1936 mit völligem Wohlbefinden im Steinbruch und in der eigenen
kleinen Landwirtschaft gearbeitet.
Beginn der jetzigen Erkrankung im Frühjahr 1936. Von da ab immer müde
und manchmal schwindelig gewesen. Hat aber seine Arbeit ohne Unterbrechung
fortsetzen können. Im Juni 1936 Verschlimmerung. Unter der körperlichen
Arbeit trat bei Fortsetzung derselben zunehmende Schwere in allen Gliedern
auf. Er habe das Gefühl gehabt, nicht mehr Herr über seinen Körper zu sein.
Zur gleichen Zeit trat auch eine eigenartige Sprachstörung auf. Bei längerem
Sprechen wurde die Sprache ‚langsamer und mühsamer, als ob die Zunge
schwer würde“. Ähnliche Störungen auch beim Kauen. Unter dem Essen
traten Spannungen in der Kaumuskulatur ein, die beim Weiteressen zunahmen
und den Kauakt erschwerten. Alle diese Störungen besserten sich in der Ruhe
sofort wieder und traten bei Wiederaufnahme der Tätigkeit wieder ein.
Jetzt sei der Gang immer etwas langsam. Beim Einschlafen habe er über
Wadenkrämpfe zu klagen. Außerdem habe er manchmal so ein ‚„taubes Ge-
fühl in den Fingern“. In der letzten Zeit werde er manchmal durch Klopfen
in den Ohren belästigt. Patient hatte im Sommer 1936 Antrag auf Invaliden-
rente gestellt. Begutachtung in einem auswärtigen allgemeinen Krankenhaus.
welches die Differentialdiagnose zwischen multipler Sklerose und Hysterie
offen ließ. l
Die Angaben des Patienten werden von seinem Stiefsohn bei der Aufnahme
hier im wesentlichen bestätigt. Dieser schildert den Patienten als sehr ruhigen
und soliden Menschen, der immer sehr arbeitsam gewesen sei und weder viel
geraucht noch getrunken habe.
Der Patient gibt noch an, daß Libido und Potenz stets in Ordnung gewesen
seien und auch jetzt noch sind.
Befund:
Mittelgroßer kräftiger Mann von 140 Pfund Gewicht bei 165 cm Größe.
Pyknischer Habitus. Dabei fällt aber auf den ersten Blick das außergewöhn-
lich starke Relief der gesamten Muskulatur, besonders der Extremitäten-
muskulatur auf. Keine Muskelatrophie, keine Stirnglatze. Guter Hautturgor.
Normale Verteilung des Körperfetts. Sichtbare Schleimhäute gut durchblutet.
Etwas geringe Mimik und seltener Lidschlag. Ganz geringe Ptose der Augen-
lider. Hat den Mund leicht geöffnet. Zeigt in der Regel einen Ausdruck ein-
förmiger Freundlichkeit. Leicht gebeugte Körperhaltung.
Schädel nicht klopfempfindlich. Keine Druckpunkte am Schädel. Gebiß
gut erhalten, Zunge feucht und glatt, Gaumen, Tonsillen und Rachen o. B.
Keine Vergrößerung der Schilddrüse. Tastbare Lymphdrüsen nicht vergrößert.
Geräumiger Brustkorb, ausgiebige Atemexkursion, Lungengrenzen gut
verschieblich, perkutorisch und auskultatorisch normaler Befund. Herzbefund
der Med. Poliklinik: Bei Durchleuchtung gering verbreitertes Ilerz. Gefäß-
band keine wesentlichen Veränderungen und Verbreiterungen. Blutdruck
200:125 RR bei einer Ruhefrequenz von 4 x 19.
Leib überall weich und eindrückbar. Reponibler Leistenbruch rechts.
lloden von entsprechender Größe, keine Anzeichen für Atrophie, Leber und
Milz nicht vergrößert.
Wirbelsäule nirgends druck- oder klopfempfindliceh. Patient richtet sich
auf Aufforderung gerade auf. Keine Verbiegung der Wirbelsäule.
Urin frei von Eiweiß und Zucker, spezilisches Gewicht 1030, im Sediment
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 239
keine pathologischen Bestandteile. Blutsenkung erhöht (24:37 Westergreen).
Blutbild quantitativ und qualitativ in Ordnung.
Neurologisch:
Armsehnenreflexe mittelstark und seitengleich. Patellarsehnenreflexe leb-
haft und seitengleich. Bei Prüfung der Achillessehnenreflexe fällt auf, daß
die reflektorisch angespannte Wadenmuskulatur länger in der
Kontraktion beharrt und den Fuß erst nach längerem Intervall
frei gibt. Beiderseits Fußklonusbereitschaft. Keine pathologischen Zehen-
reflexe. Bauchdeckenreflexe mittelstark, links etwas schwächer als rechts.
Übrige Hautreflexe normal.
Fingernasenversuch und Kniehackenversuch werden rasch und zielsicher
ausgeführt. Kein Intentionstremor, auch kein Zittern der gespreizten Finger.
An Armen und Beinen keine Tremorerscheinungen, weder in Ruhe noch bei
Bewegungen. Sensibilität ohne Störung.
Fazialis wird gleich innerviert auf beiden Seiten. Zunge gerade, Gaumen-
segel ausgiebig und symmetrisch gehoben.
Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Linke Pupille eng und verzogen.
Auf der linken Cornea weißliche Narbe. Rechte Pupille mittelweit und rund,
Reaktion auf Licht und Konvergenz rechts vorhanden, nur etwas träge.
Augenklinisch.
„Das linke Auge ist an den Folgen einer 1903 erlittenen Perforationsver-
letzung erblindet. Auf dem rechten Auge besteht ein Schichtstar, der bereits
1903 nachweisbar war. Der übrige Augenhefund ist normal. Durch die Katarakt
ist das Sehvermögen auf 5/,, reduziert“. Keine Geruchs- und Geschmacks-
störungen.
Ohrenklinisch.
„Es besteht eine Einschränkung des Hörvermögens und eine Untererreg-
barkeit des Vestibularapparates beiderseits, wie sie in das Bild der Arterio-
sclerosis cerebri paßt. Auffallend ist, daß bei Drehprüfung erst nach einer kur-
zen Latenz Nystagmus eintritt.“
Beim Gang fällt auf, daß der Patient etwas breitbeinig und schwerfällig geht
und daß bei längerem Gehen die Beine etwas schleifen. Normale Schrittweite.
Die Bewegungen wirken leicht gebunden, Mitbewegungn fehlen aber nicht.
Bei Fußaugenschluß kein Schwanken. Sprache langsam und schwerfällig. Bei
Testworten leichte Verwaschenheit, aber keine ausgeprägte artikulatorische
Störung. Bei Prüfung der Diadochokinese etwas ungeschickt. Auch im
Liegen fällt die gute Ausprägung des Muskelreliefs auf. Bei fortgesetzten Be-
wegungen, besonders beim Gehen, springen die Muskelkonturen der Beine
immer deutlicher hervor. Bei Prüfung im Liegen fällt die sehr starke mechani-
sche Muskelerregbarkeit auf; besonders stark ist diese am Pectoralis, Bizeps,
Quadrizeps und der Wadenmuskulatur nachweisbar. Sie findet sich auch an
Thenar und Hypothenar. Es tritt bei Beklopfen der Muskeln eine träge wulst-
artige z. T. auch dellenförmige Kontraktion über das betroffene Bündel hin ein,
die bis zu 15 Sekunden fühlbar und tasthar bestehen bleibt. Auch bei Be-
klopfen der Zunge tritt ein deutlicher Kontraktionswulst auf. Mechanische
Erregbarkeit der motorischen Nerven nicht erhöht, insbesondere Chvostek
negativ. Kein Trousseau.
Die passive Beweglichkeit der Muskulatur ist dabei völlig frei.
Keine Erhöhung des passiven Dehnungswiderstandes der Muskeln, keine
Adaptationsspannung, keine Fixationsspannung, keine kataleptischen Zeichen.
Es ist also bei aller in dem ausgeprägten Muskelrelief sich kundtuenden Er-
240 Elisabeth Roemer
höhung des plastischen forngebenden Muskeltonus und der sichtbaren und
vom Patienten gespürten Zunahme der Muskelspannung unter fortgesetzter
aktiver Bewegung doch kein Rigor im engeren Sinne bei passiven Bewegungen
nachweisbar.
Bei aktiven Bewegungen (lJändedruck, Gehen usw.) wird keine typische
myotonische Störung im Sinne einer anfänglichen Erschwerung der Bewegung
beobachtet, die sich erst nach einigen Wiederholungen gäbe. Eher hat man den
Eindruck, daß derartige Bewegungen nach mehreren Wiederholungen nur er-
schwert auszuführen sind.
Serologischer Befund:
Wassermann’sche Reaktion im Blut und Liquor negativ. Lumbalpunktion
2/ Zellen, Pandy schwach positiv, Nonne-Apelt schwach positiv, Gesamt-
eiweiß erhöht, nach Kafka 2,0, Globuline 0,4 Albumin 1,6, Eiweißquotient 0,25.
Goldsol und Mastixkurve o. B.
Die Intelligenzprüfung ergibt in Ansehung des Bildungsganges des Pa-
tienten durchschnittliche Ergebnisse. Die Merkfähigkeit scheint herabgesetzt.
In der Unterhaltung wirkt L. umständlich. Im übrigen macht er charakterlich
einen äußerst gutmütigen, ehrlichen unkomplizierten Eindruck.
Elektrische Prüfung:
Direkte und indirekte Reizung mit dem faradischen Strom ergibt in der
Stamm-, Arm- und vor allem Beinmuskulatur eine mit der Reizintensität
wachsende, sich erst binnen 8 Sekunden nach der Öffnung allmählich lösende
Nachkontraktion.
Bei Anwendung des galvanischen Stromes (Kathodenschließung) in direkter
Reizung auch mit schwächeren Strömen (Elektrode außerhalb des Reizpunktes)
zeigt sich ebenfalls eine den Moment der Schließung und auch die folgende
Stromöffnung noch überdauernde sich allmählich lösende Nachkontraktion.
Die Dauer der Nachkontraktion erweist sich als von der Reizstärke abhängig.
Die indirekte galvanische Reizung ergibt normale Verhältnisse. Kein Muskel-
wogen bei stabiler Stromeinwirkung mit höheren galvanischen Intensitäten,
wohl aber Dellen- und Furchenbildung wie bei der Reizelektrode. Leichtes aber
deutliches Geringerwerden der Dauer der Nachkontraktion bei wiederholter
Reizung hintereinander, aber kein völliges Verschwinden des Phänomens; nach
längerer Pause wieder längere Dauer der Nachkontraktion.
Keine myodystonischen Erscheinungen im Sinne ‚Soederbergs.
Das Gesamtbild bei elektrischer Prüfung entspricht also im wesentlichen der
klassischen myotonischen Reaktion; es entspricht nicht dem von Förster bei
Rigorzuständen herausgeholten elektrischen Syndrom (s. oben).
Zweite klinische Beobachtung: Vom 18.7. bis 22. 7. 1937.
Bei der Nachuntersuchung nach 9 Monaten gibt der auf Grund des bei der
ersten Aufnahme erhobenen Befundes unter der Diagnose: „Arteriosclerosis
cerebri; mvotonische Zeichen‘, invalidisierte Patient an, daß sich seine Be-
schwerden seit dem Frühjahr 1937 ohne Behandlung ganz erheblich gebessert
hätten. Die Steiligkeitserscheinungen traten auch nach längerer Tätigkeit nicht
mehr auf. Er sei beweglicher geworden und habe auf dem Felde tüchtig schaffen
können. Erst nach längeren und stärkeren Anstrengungen bleibe er mit dem
Fuß am Boden etwas hängen.
L. wirkt in der Mimik jetzt entschieden lebhafter, in Sprache und Motorik
etwas freier. Die interne Untersuchung ergibt: „Das E.K.G. ist von Linkstyp,
zeigt normalen Sinusrhythmus, mit durchschnittlich 52 Pulsschlägen in der
Minute. Die Vorhofsschwankungen in der 2. Ableitung sind nicht verbreitert
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 241
und nicht gedoppelt, die Überleitungszeit nicht verlängert. Der Q.R.S.-
Komplex ist in den beiden ersten Ableitungen aufwärts gerichtet, wobei die
Ausschläge sehr niedrig bleiben. Die Nachschwankung liegt in sämtlichen Ab-
leitungen unterhalb der isoelektrischen Linie. Der Blutdruck ist mit 205 : 130
im wesentlichen unverändert geblieben.“
Neurologisch:
Sämtliche Haut- und tiefen Sehnenreflexe sind jetzt seitengleich und in
normaler Stärke nachweisbar. Die tonische Nachdauer der Wadenmuskel-
kontraktion bei Prüfung der A.S.R. ist nicht mehr nachweisbar.
Die Muskeln selbst sind mechanisch nur in ganz unauffälligem Maße erreg-
bar. Es kommt nur zu geringfügigen idiomuskulären Wulstbildungen am Bizeps
beiderseits. |
Eine mvotonische Reaktion ist bei der RI EISEN Prüfung
nirgends mehr auszulösen.
Es konnten bei der Kontrolluntersuchung Hoch einige Stoffwechsel-
prüfungen angestellt werden. Dabei erwies sich der Grundumsatz mit minus
13°, als erniedrigt, der Kalkspiegel mit 7,3 mg °,, ebenfalls leicht herabgesetzt.
Die Reststickstoffbestimmung ergab normale Werte. Die Blutzuckerbelastung
war leider nicht durchzuführen, da sich der Patient nicht bereit fand, die er-
forderliche Dextrosemenge zu sich zu nehmen.
Ohren- und augenklinischer Befund: waren gegenüber den früheren
Feststellungen unverändert.
Wenn bei der ersten Untersuchung hier die Diagnose auf eine
Hirnarteriosklerose gestellt wurde, so wäre diese Diagnose nunmehr
zu präzisieren.
Es unterliegt für uns keinem Zweifel, daß es sich hier um eine
Form der arteriosklerotischen Muskelstarre handelt, die allerdings
in ihrem Verlauf so ungewöhnlich ist, daß sie deswegen schon eine
besondere Darstellung verdiente.
Der Patient ist im 50. Lebensjahr mit Schwindelerscheinungen
und einer eigenartigen motorischen Störung erkrankt, welche sich
subjektiv in unter Betätigung zunehmender Steifigkeit und Schwere
der Gesamtmuskulatur, auch Erschwerung des Kau- und Sprech-
akts äußert. Lähmungen bestehen nicht. Die Untersuchung ergibt
deutliche Hypomimie und Gebundenheit der Gesamtmotorik,
Mangel an Reaktions- und Willkürbewegungen, eine erhebliche
Erhöhung des plastischen formgebenden Muskeltonus, eine sicht-
und tastbare Spannungszunahme der Muskulatur nach stärkerer
Aktion. Rıgorphänomene sind auffallenderweise bei passiver Prü-
fung (auch nach Anstrengungen) nicht nachweisbar; so zeigt sich
etwa bei der üblichen Prüfung kein erhöhter Dehnungswiderstand,
keine Adaptations- und Fixationsspannung. Objektiv ist die Tonus-
änderung vor allem auch in Form einer tonischen Nachdauer der
Kontraktion bei Auslösung der Achillessehnenreflexe nachweisbar.
Das Gesamtbild der Tonusstörung, welche alle Muskeln ohne
große Unterschiede betrifft, steht etwa in der Mitte zwischen dem
lo Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 34.
242 Elisabeth Roemer
von Bostroem als ‚rigorfreie Starre‘‘ bezeichneten Zustand einer-
seits und dem entwickelten parkinsonistischen Rigor andererseits.
Auffällig ist die Abhängigkeit der Störung von motorischer An-
strengung. Hyperkinetische Störungen (Tremor usw.) fehlen völlig.
Neurologische Störungen außer den hypertonischen Phänomenen
liegen nicht vor. Auch psychische Störungen fehlen völlig.
Der Pat. zeigt eine starke Blutdruckerhöhung; der Liquor weist
eine Gesamteiweißvermehrung auf.
Die Krankheitserscheinungen sınd nach wenig mehr als einem
halben Jahr kaum mehr nachweisbar. Wir kennen solche Tonus-
störungen als Episoden, wohl aus der Symptomatologie der ence-
phalitischen Erkrankung. Das langsame Einsetzen der Krankheit,
die ganz allmähliche Entwicklung der Erscheinungen ohne febrile
Begleitsymptome, ohne infektiöse Allgemeinstörungen, der Mangel
der klassischen Encephalitissymptome lassen aber mit zureichender
Sicherheit eine Encephalitis ausschließen.
Vielmehr ıst nach dem ganzen Zusammenhang eine hypertonisch-
arteriosklerotische Kreislaufstörung ın den strio-pallidären Zentren
wahrscheinlich, die keinen Dauerdefekt, sondern nur weitgehend
ausgleichbare Ausfälle bewirkt hat.
Die Frage einer vorübergehenden toxischen Schädigung des Pal-
hdum ist von uns geprüft. Eine solche mußte nach der Anamnese
ausgeschlossen werden.
Wie man auch das Krankheitsbild betrachtet, es ist am ehesten
der arteriosklerotischen Muskelstarre zuzuordnen. Im Rahmen
dieses Krankheitsbildes bleibt es nach Symptomatologie und Ver-
lauf ungewöhnlich. Remissionen sind nicht beschrieben. Das Pal-
lidumsyndrom kann nach Förster apoplektisch auftreten, läßt aber
dann eine, wenn auch oft nur passagere Hemiplegie nie vermissen.
Die Anamnese gibt uns bei unserem Patienten hierfür keinen siche-
ren Anhaltspunkt.
Ganz außergewöhnlich sind vor allem (und das besonders recht-
fertigt die Beschreibung dieses Einzelfalles) aber die im Zuge der
Erkrankung vorübergehend nachweisbaren myotonischen Erschei-
nungen. Dabei soll die aktive Bewegungsstörung nicht als myoto-
nisches Symptom im Sinne einer „paradoxen Myotonie‘‘ aufgefaßt
werden. Vielmehr beschäftigt uns vor allem das reaktive elek-
trische myotonische Syndrom, welches hier in sicherer Form
nachweisbar war. Es hat sich nicht um eine myotonieähnliche
Reaktion gehandelt, wie sie schließlich auch bei Pallidumerkran-
kungen vorkommt. Wir möchten auch annehmen, daß es nicht
Über vorübergehende myotonische Symptome in einem Fall 243
statthaft ist, fließende Übergänge zwischen „myotonieähnlichen‘“
und „eigentlichen myotonischen‘‘ Reaktionen vorauszusetzen.
Könnte nun dieses elektrische myotonische Symptom mit einer
Schädigung in den basalen Ganglien in Zusammenhang gebracht
werden, die auf der gleichen Ursache, nämlich einer lokalen Zirku-
lationsstörung, beruhte wie die Muskelstarre ? Steuffen!crg hatte
einfach angenommen, daß die myotonische Funktionsstörung über-
wiegend lenticulärer Natur sei. Nissen betont dagegen mit Recht,
daß Linsenkernläsionen, wie wir sie heute doch recht genau kennen,
höchstens ähnliche motorische Störungen machen, niemals aber
spezifisch myotonische. Curschmann denkt für die reine Myotonie,
)
wie insbesondere auch die myotonische Dystrophie, an eine „Stö-
rung der (vielleicht mesencephalen) autonomen Innervation der
Muskulatur“. Er vermutet insbesondere für die myotonische Dy-
strophie diese zentralen Störungen in dem Hauptzentrum der auto-
nomen Funktionen, den Zentren des vegetativen Systems und des
Stoffwechsels, in der Zwischenhirnbasis des Hypothalamus. Er be-
ruft sich unter anderem auf anatomische Befunde von Weil und
Keschner, die in einem Fall von myotonischer Dystrophie neben
einem Tumor des linken Schläfenlappens mit unvollständiger Zer-
störung des linken Globus pallidus Zelldegenerationen in den vege-
tativen Kernen um den 3. Ventrikel, in der Pons, Medulla oblongata
und den Seitenhörnern des Brustmarkes fanden.
Es fragt sich, ob ein Fall mit derartig massiven und multilo-
kulären anatomischen Befunden geeignet ist, die Frage der Lokali-
sation der myotonischen Störung zu klären.
Gegen die Annahme, daß die autonome Innervation der Musku-
‚ latur beim Myotoniker vom Mesencephalon her gestört wäre, steht
unseres Erachtens aber ebenfalls die Erfahrung bei der Enzephalitis.
Hier sind ja vorzugsweise Pallidum und Mesenzephalon befallen,
ohne daß es dabei zu spezifischen myotonischen Störungen käme.
Unser Fall scheint uns, jedenfalls aus klinischer Schau, der Lö-
sung des Myotonieproblems nicht näher zu bringen. Man wird sich
darauf beschränken müssen eine Mikroform der myotonischen
Dystrophie anzunehmen, wie solche Boeters zahlreich beschrieben
hat. Es bleibt mehr als fraglich, ob die vorübergehende elektrische
ınyotonische Störung mit der arteriosklerotischen Hırnerkrankung
überhaupt in einen lokalisatorischen Zusammenhang gebracht
werden kann.
Auf das Vorliegen einer myotonischen Anlage scheint uns in
unserem Falle die von Jugend auf bestehende Katarakt hinzu-
weisen. Es handelt sich dabei zwar um einen unvollkommenen
15*
244 Elisabeth Roemer Über vorübergehende myotonische Symptome usw.
Schichtstar, der aber hier, wo nach Anamnese und Befund Beweise
für eine Tetanie fehlen, wohl zu den atypischen Katarakten zu
rechnen ist, wie sie in Myotonie-Sippen vorkommen.
Auch die bei der zweiten Untersuchung beobachteten leichten
Stoffwechselstörungen (Grundumsatz und Kalkspiegelerniedrigung)
dürften sich zwanglos unter die bei der myotonischen Dystrophie
mehr oder weniger stark hervortretenden Symptome einreihen.
Daß bei diesen Mikroformen andere, beim voll ausgeprägten
Dystrophiker vorhandene Erscheinungen, wie Stirnglatze, Atro-
phien und endokrine Ausfallserscheinungen nicht zu finden sein
brauchen, ist selbstverständlich.
Es sind also bei unserem Patienten dystrophische Zeichen den
myotonischen um Jahrzehnte vorausgegangen. Wie weit (was
selbstverständlich mit kausal-lokalisatorischen Fragen nichts zu
tun hat) eine pallidär bedingte Muskeltonusstörung als solche, bei
vorhandener myotonischer Anlage die Manifestation einer spezi-
fischen myotonischen Muskelstörung beeinflussen kann, diese Frage
soll hier nur aufgeworfen werden.
Es wäre sehr zu wünschen, daß dieser eigenartige Fall, der un-
seres Erachtens eine Mikroform der myotonischen Dystrophie dar-
stellt, bei der es erst im Verlauf einer an sich schon merkwürdigen
arteriosklerotischen lentikulären Erkrankung vorübergehend zur
Entwicklung des typischen elektrischen myotonischen Syndroms
kommt, einmal auch der anatomischen Kontrolle zugeführt würde.
Es schien aber zunächst schon das klinische Bild eine besondere
Besprechung zu rechtfertigen.
Schrifttum
|
Altenburger: Handbuch der Neurologie, Bd. IHI. — Boeters: Sammlung
psychiatrischer u. neurologischer Einzeldarstellungen, Bd. VIII 1935, über
Myotonie. — Bertraud und Rouquès, zit. nach Boesters: Über Myotonie. —
Bumke: Z. Neur. 5, 1911 u. Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. II, S. 107.
— Curschmann: Handbuch der Neurologie, Bd. XVI und D. Z. Nervenhk.
45, 1912 und 53, 1914. — Erb: Die Thomsensche Krankheit, Leipzig 1886. —
Fleischer: Münch. med. Wschr. 2, 1917. — Förster: D. Z. Nervenhk. 66. —
Grund: D. Z. Nervenhk. 42, 1910 und Münch. med. Wschr. 1913, I. —
Hauptmann: D. Z. Nervenhk. 55, 1916 und 63, 1919. — Hübner: D. Z.
Nervenhk. 57, 1917. — Jendrassik: D. Z. Nervenhk. 22, 1902. — Lukowski:
Z. Neur. 154, 1935. — Nissen: Z. Klin. Med. 97, 1923. — Sander: Zit. nach
Handbuch der Neurologie, Bd. XVl: Curschmann. Soederberg: D. Z.
Nervenhk. 1919. — Schiefjerdecker: D. Z. Nervenhk. 25, 1903. — Stern: Zbl.
Neur. 25, 1903. — Steinert: D. Z. Nervenhk. 37, 1909. — Vogt: Klin. Mbl.
Augenhk. 72, 1924. — Weil und Keschner: Z. Neur. 108, 1927.
m Tome æ ir
in Bye
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose
bei Geisteskranken
Von
Dr. E. Menninger-Lerchenthal, Tulln b. Wien
Bei Geisteskranken, die durch mehrere Monate ausschließlich
mit der Schlundsonde ernährt werden, kann man folgende Haut-
veränderung beobachten: In den tiefen Hautfurchen, die die
Nasenflügel von der Wange und Oberlippe abgrenzen, kommen
eelblichweiße Gebilde zum Vorschein, die zunächst vereinzelt
stehend wie dicke weiße Haarstoppeln von etwa 1 mm Länge aus-
sehen. Diese Gebilde nehmen an Zahl zu, stehen bald dichter neben-
einander und nehmen auch einen größeren Hautbezirk ein. Ihre
Ausbreitung erfolgt in der Tiefe der Nasenflügelfurchen nach unten
und oben, schließlich an den Nasenflügeln bis zur Nasenspitze.
Im stärksten Grade zieht die Hautveränderung zwischen der
Seitenwand der Nase und der Wange hinauf gegen die inneren
Augenwinkel, die jetzt immer verklebt sind, und die seichte Haut-
rinne zwischen Oberlippe und Wange hinunter bis zu den Mund-
winkeln, in denen ‚faule Ecken“ (anguli infectiosi oris) entstehen.
Besonders ın einem solchen vorgerückten Stadium, aber auch schon
früher, haben die Hautgebilde in der Primärregion ihre ganz
charakteristische Form angenommen. Es sind Hornstacheln bis
zu 3—4 mm Länge, die dicht nebeneinander stehen, so daß die
Haut eine Fläche von solchen Stacheln darstellt. Wenn man sie
länger unberührt läßt, entstehen durch Konfluenz einzelne Schollen,
die den Nasenflügelfurchen lose aufliegen.
Die Region der ersten Entstehung und nächsten Ausbreitung
der Hornstacheln entspricht genau jenem Bezirk der Körperober-
fläche, in dem die Haut über ihrer Unterlage nicht verschieblich
ıst. Es ıst die Haut des knorpeligen Anteiles der Nase. Sie ist auf
einer kleinen Fläche der Nasenspitze abhebbar. Diese kleine Fläche
bleibt frei von Hornstacheln!
Die Hornstacheln sitzen fest in der Haut. Es ist ein ziemlicher
Zug erforderlich, um einen Stachel mit der Pinzette herauszu-
nehmen. Man sieht dann an seiner Stelle in eine Vertiefung, in der
246 E. Menninger-Lerchenthal
das reich durchblutete Korium frei liegt. Unter dem Mikroskop
erscheint der Stachel als ein homogenes bzw. undifferenziert
scholliges Gebilde, das derart schräg von einem Haarschaft durch-
setzt ist, daß es einwandfrei den Ausguß einer Haarpapille dar-
stellt. Es entspricht daher der Stachel einer ın der Haarpapille
erfolgten Hornansammlung, die dann über dem Niveau der Haut
ihre Fortsetzung findet. Die Art und Entstehung, das Aussehen und
der Sitz der Hautveränderung könnte durch die Bezeichnung
Keratosis follikularis spinulosa alarum nası eindeutig
zum Ausdruck gebracht werden.
Die 1937 gemachte Beobachtung der soeben beschriebenen
Stachelhaut der Nasenflügel bei drei von vier Kranken, die nur
von der Sondenernährung leben, legte den Gedanken nahe, daß
die Stachelhaut mit dem Fehlen irgendeines im Nährbrei (über
diesen s. später) nicht enthaltenen Nahrungsbestandteiles zu-
sammenhängen könnte. Diese Annahme gewann dadurch an Wahr-
scheinlichkeit, daß bei den übrigen durchschnittlich 60 Anstalts-
insassen nichts dergleichen zu sehen war. Dem entsprach auch
die nach der persönlichen Erinnerung gemachte Zusammenstellung,
nach der von 20 in den zehn Jahren von 1927—1936 durch mehrere
Monate mit der Sonde ernährten Kranken bei 11 die Stachelhaut
der Nasenflügel aufgetreten war (s. 1—20in nebenstehender Tabelle),
bei den übrigen ungefähr 500 Kranken mit frei gewählter Nah-
rung nie.
Die Erinnerung ist in diesem Falle ziemlich zuverlässig. Kranke,
die man monatelang ein-, zwei- oder gar dreimal täglich mit der
Sonde nährt, sind „Schmerzenskinder‘‘, derer man sich in jeder
Hinsicht besonders annehmen muß. Bei ihnen treten nämlich auch
nacheinander allerlei körperliche Störungen auf, die eine wieder-
holte genaue Allgemeinuntersuchung erfordern, wenn man An-
haltspunkte für die Behandlung finden will. So ist auch die stache-
lige Nase öfter aufgefallen und gesprächsweise erwähnt worden.
Der Arzt, der die Einführung der Sonde vornimmt, legt oft die
Finger der freien Hand auf die Nase und hat gleichsam noch die
taktile Erinnerung an die stacheligen Nasen einzelner Kranken.
So auffällig die Stachelhaut der Nasenflügel demnach war, wenig
findet sich leider in den Krankengeschichten und persönlichen Auf-
zeichnungen. Einiges, was zur Beschreibung des Vitaminmangel-
symptoms gehört, wird unter Berücksichtigung des Gesamtzu-
standes der Kranken erwähnt werden.
Es soll nun gezeigt werden, wie die Stachelhaut der Nasen-
flügel die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat, und wie sie, un-
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FE; Alter | Zeit der --Rguehbiatp—- 2f atz wre
BE Q D, S ©..: E OS ” subfebril g Furunkeln m m. Defekt
21 1908 1936/37 \Katat.chron.| 20 |Obstip., Erbrechen, pe-! subfebr. singivitis, Melano-Kera-| + gestorb,
Q 40 |riod. Diarrh., Speichelfluß) Phasen |tose, tox. (?) Ervtheme
BR, BR ESSEN: Dean i tempore menstr. D li nn
22 | 1890 1937 |Katat.chron.| 26 | Gastroenterit., Steator- | subfebr. Gingiv. hypertroph., Her-| + westorh.
Ç rhoe Phasen |pes V/2, Subconj. Bhu-
ER: © | | bung, _Gesichtsödem _ Bu
23 | 1883 | 1937 Melanch. | 26 |Obstip., period. Diarrhoe,|febr. u. sub-Iuncharakterist. Bronchi-| + | genesen
g Enteritis febr. Phasen,/tis, Schwellung der Füße m. Defekt
ld). | Areaythm. | EN O
24 1910 1937 |Katat.chron.| 44 Obstip. gravis subnormale | starker Haarausfall | — ungeh.
ne len el E ee er. PER: | Temperat | | __l__transter. _
25 1902 | 1937/38 | Hebephr. | 3 | Obstip. gravis, keine Furunkel, Panaritien ; —
Q chron. | 8 i Brechreiz ungeh.
| | 10° |
nn x
< o Ü
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 247
abhängig von schon vorhandenen — dem Autor zum Teil unbe-
kannt gewesenen — Studien auf dem Gebiete der Hautavitamı-
nosen als eine solche bestimmt werden konnte.
Behandlungsprotokoll 1. Frl. S., geb. 1908, chron. Katatonie (21. i. d.
Tab.). Wurde von 2. bis 6. 1936 (5 Monate) 2 mal täglich mit der Sonde ge-
nährt. Dann durch 8 Monate unter Beihilfe natürliche Nahrungsaufnahme.
Von Mitte 2. 1937 bis anfangs 1. 1938 (10!/, Monate) 2 mal tägl., außer um
die Mitte dieser Zeit durch 6 Wochen 1 mal tägl., mit der Sonde ernährt.
1. 6. 37 (nach 3!/⁄ Monaten der neuerlichen Sondennährung): In der letzten
Zeit ist die Haut der Nase rauh und hornig geworden. Die Pat. hatte schon
vor 1 Jahre, als sie mit der Sonde genährt wurde, eine borstige Nase. In der
Zeit, während welcher sie dann selbst aß, war die borstige Beschaffenheit der
Haut geschwunden. — Die Kranke ist in einem dauernd schlechten Allgemein-
zustand, der im 9. 37 bedrohlich wurde, so daß alle Anstrengungen gemacht
werden mußten, um sie wieder einigermaßen in die Höhe zu bringen. Die
Behandlung bestand unter anderem in
19. 5.—13. 6. 37 162 EBlöffel ferment. cerevis.
14. 9.— 7.10. 48 Tabl. CGebion ‚Merk‘ = 48000 int. E C-Vit.
12. 9.—18. 11. 68 Dragees Vogan!) = 816000 int. E A-Vit.
27. 9.—15. 10. 5g Kochsalzzulage tägl.
Der durch Diarrhoen, Erbrechen, subfebrile und gelegentlich febrile Tempe-
raturzacken und Bronchitis bedrohlich gewordene Zustand wurde auf eine
schwere gastrointestinale Störung bezogen und in der Zeit der Behandlung
mit C- und A-Vitamin, sowie Kochsalz behoben. Die Stachelhaut der Nasen-
flügel war inzwischen geschwunden und ist am 5. und 6. 11. wieder aufge-
treten.
Um diese Zeit wurde die Pat. 2 (s. unten) mit Kochsalzzulage und C-Vita-
min auf die Keratosis und der Pat. 3 (s. unten) mit A-Vitamin, wobei die
Keratosis schwand, behandelt. Daher erhielt diese Pat. 1 vom
4. —18. 12.37 9 cem Voganöl per os
19.12.—18. 1.38 14,5 ccm Voganöl per inj.
am 19. 12. war die Keratosis nicht mehr zu sehen, nur mit der Fingerbeere
zu fühlen. In der Folgezeit kamen gelegentlich vereinzelt stehende Horn-
stacheln zum Vorschein.
Ergebnis: Die Stachelhaut der Nasenflügel ist auf perorale Verabreichung
von A-Vitamin geschwunden. Katamnese: Die Kranke ist am 19. 2. 38
gestorben.
Behandlungsprotokoll2. Frau M., geb. 1890, chron. Katatonie (22. i.d.
Tab.). Wird seit 15. 7. 37 bis 19. 2. 38 (7 Monate) 2 mal tägl. mit der Sonde
genährt.
10. 10. Nasenflügel und besonders die Nasenflügelfurchen reibeisenrauh
anzufühlen.
10.—18. 10. tägl. 5g NaCl-Zulage. Die sonst apathisch ruhige Pat. wird
erregt, ein Zeichen der Chloranreicherung. Die Keratose unverändert.
14. 11. Dichlorphenolindophenolprobe spricht mit Weahrscheinlichkeit
gegen G-Hypovitaminose, trotzdem
1) Vogan ist ein von den pharmazeutischen Werken Bayer-Merk herge-
stelltes standardisiertes Vitamin-A-Präparat. 1 Dragee enthält 12000, 1 cem
120000 int. Einheiten.
248 E. Menninger-Lerchenthal
16.— 30. 11. 30 Tabl. Redoxon ‚Roche‘ à 0,05 l-Ascorbinsäure. Die Horn-
stacheln werden immer länger und breiten sich immer weiter aus. Verklebte
Augenwinkel und anguli infect. oris (2. 12.).
9.—18. 12. 7,5 ccm Voganöl per os. Eher noch ausgeprägtere Stachelhaut
der Nasenflügel.
19.—31. 12. 7,5 cem .Voganöl per inj., dann tägl. 2 EBlöffel Lebertran.
Am 24. 12. früh (am Vortage noch nicht) waren die Hornstacheln zum Teil
leicht abwischbar.
31.12. Die Hornstacheln sind abgefallen, einzelne stehen gebliebene lassen
sich leicht entfernen.
6. 1. 38. Nicht nur die Haut der Nasenflügel, sondern die ganze Gesichts-
haut ist gereinigt, wie erneuert. Die ‚faulen Ecken“ sind geschwunden, die
Augen nicht mehr verklebt. Die seit 12. 11. bestehende, gegen alle Maßnahmen
refraktäre, profuse Diarrhoe hat aufgehört. Am 20. 12. früh waren noch drei
flüssige Stühle, abends und am 21. früh, d. i. nach 7,5 ccm Voganöl per os
und 1 ccm per inj., je ein breiiger Stuhl und in weiterer Folge tägl. ein bis
zwei geformte Stühle.
Ergebnis: Kochsalzzulage, dann C-Vitamin waren ohne Einfluß auf
Keratose und Darmstörung. Das A-Vitamin scheint, wenn nicht eine Sum-
mationswirkung vorliegt, per os gegeben ebenfalls wirkungslos gewesen zu
sein, per inj. dagegen schlagartig gewirkt zu haben. Das Voganöl ist anschei-
nend infolge der schweren intestinalen Störung nicht resorbiert worden, so
daß man vergeblich auf die Wirkung wartete, die nach dem inzwischen been-
deten therapeutischen Versuch beim Kranken 3 zu erwarten war. — Katam-
nese: Die Kranke ist am 9. 3. 38 gestorben.
Behandlungsprotokoll 3. Herr G., geb. 1883, Melancholie (23 i. d.
Tab.). Vom 17. 6. 37 bis 1. 1. 38 (6'/, Monate) 2 mal tägl. mit der Sonde ge-
nährt.
7.10. Stachelhaut der Nasenflügel
12. 10.—22. 10. 200 g Vitapric = A- und P-Vitamin
18. 10.— 8.11. 5 ccm Voganöl per os = 600000 int. E A-Vit.
10. 11. Keratose geschwunden
1.—21. 12. 5 ccm Voganöl per os
25. 12. Es hat sich keine Spur von Keratose mehr gezeigt.
Ergebnis: Die Stachelhaut der Nasenflügel ist durch perorale Verab-
reichung von A-Vitamin geschwunden. — kKatamnese: Der Kranke ist
im Jannuar;Februar unter starker Gewichtszunahme genesen.
Aus diesen drei therapeutischen Versuchen ergibt sich einmal
dıe Frage, warum bei dem letzten Patienten A-Vitamin peroral
gewirkt hat und bei der zweiten Patientin nicht? Er hatte am
11. und 18. 10., vom 22. 11. bis 8. 12. profuse Diarrhoen, die übrige
Zeit war er leicht obstipiert. Das Voganöl erhielt er vom 18. 10.
his 8. 11., zur Zeit annähernd normaler Darmfunktion. Die Patientin
Frau M. hatte, als sie die Vogantropfen erhielt, ebenfalls profuse
Diarrhoen. Die Medikation war wirkungslos. Die parenterale Ein-
verleibung des A-Vıtamins behob (ohne andere gleichzeitige Medi-
kation) nicht nur schlagartig die allen Maßnahmen trotzende
Diarrhoe, sondern beseitigte auch die Keratose. Ähnlich, nur
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 249
etwas komplizierter, liegen die Verhältnisse bei Frl. S. Die Vogan-
dragees wurden zum größten Teil noch in der Zeit diarrhoeischer
Stühle gegeben, daher ist trotzdem die Keratose aufgetreten, die
dann später unter Voganöl per os, bei geregeltem Stuhl gegeben,
schwand. Es kann daher festgestellt werden, daß das Vitamin-
präparat während einer Darmstörung vom Darm aus nicht, paren-
teral einverleibt prompt gewirkt hat.
Behandlungsprotokoll4. Frl. H., geb. 1910, chron. Katatonie (24 i.d.
Tab.). Vom 28. 12. 36 bis 1. 12. 37 (11 Monate) 2 mal tägl. mit der Sonde
genährt. Keine Stachelhaut der Nasenflügel. — Katamnese unbekannt.
Diese Kranke wurde gleichzeitig mit den drei anderen aus-
schließlich mit der Sonde ernährt. Bei ihr ist nie eine Spur von
Keratose aufgetreten, obwohl sie am längsten ununterbrochen
die Sondennährung erhielt, nämlich durch 11 Monate, die anderen
durch 10%/,, 7, 61/, Monate. Zunächst war daran zu denken, ob
nicht die Jugendlichkeit der Haut eine Rolle spielen könnte, denn
die Pat. ist 27 Jahre alt, die anderen 29, 47 und 54 Jahre. Wir
werden später sehen, daß es auf das Alter nicht ankommt, ein
anderer Umstand erscheint wichtig. Die Patientin ist derart ob-
stipiert, daß sie nur jeden zweiten Tag auf Verabreichung von
100 g Rizinusöl Stuhlentleerungen hat. Diarrhoen, wie bei den
drei anderen Kranken, sind bei ihr auch nicht andeutungsweise
aufgetreten. Darin liegt ein Hinweis auf die Grundstörung, bei
der die Stachelhaut der Nasenflügel auftritt. Ein an schizoider
Psychopathie leidendes Fräulein I., geb. 1902, wurde vom 26.7.
bis 28. 11.37 und vom 3.12. bis 19. 2.38 zweimal täglich mit
der Sonde genährt (25 i. d. Tab.). Auch bei ihr erfolgten die Stuhl-
entleerungen nur auf Rızinusöl und es war nie eine Spur von
Rauhigkeit der Haut, geschweige denn Stachelhaut der Nasen-
flügel zu beobachten. Solche würden nach unserer jetzigen Kennt-
nis in Erscheinung treten, wenn intestinale Störungen mit der
mediıkamentös unbeeinflußbaren Diarrhoe als Hauptsymptom
auftreten würden. Aus der zugeführten Nahrung würde das A-
Vitamin nicht mehr resorbiert und die im Körper vorhandenen
Depots würden aufgebraucht werden. Der A-Vitaminmangel käme
dann in der beschriebenen Keratose zum Ausdruck. Das ist die
Vorstellung, die wir uns von dem krankhaften Geschehen machen
können, ja müssen; denn in der gebotenen Nahrung ist genügend
A-Vıitamin enthalten und die Stachelhaut der Nasenflügel ist
trotzdem ein A-Vitaminmangelsymptom.
In der Regel erhalten die totalabstinierenden Kranken je eine
Sondennährung früh und abends. Die eine besteht aus 3/, Liter
250 E. Menninger-Lerchenthal
Milch, 2 Eiern, 80 g Zucker, Salz; die andere aus 150 g Fleisch,
40 g Mehl, 30 g Fett, 2 Eiern, 1 Stück Obst (Apfel, Birne, Tomate),
Salz. In dieser, 1600—2000 Kalorien entsprechenden, Nahrung
sind Vitamine, besonders A-Vitamin infolge der Verwendung von
Milch und Eiern, genügend enthalten. Es ist selbstverständlich.
daß der Anstaltsarzt trachtet, solchen Kranken, die ausschließ-
lich mit der Sondenernährung — in vereinzelten Fällen jahrelang
— am Leben erhalten werden, nicht nur quantitativ, sondern
auch qualitativ ausreichende Nahrungsmittel zu geben. Bei allen
unseren Kranken haben wir gerne in die Nahrung ausgelassene
Butter oder Honig, in der kühleren Jahreshälfte am häufigsten
Karottensaft und Lebertran gegeben; bei anämischem Aussehen
wurde Leber in Form von Preßsaft und Injektionen verabreicht.
Wenn trotzdem ein Nährschaden, wie z.B. A-Vitaminmangel
auftritt, dann kann es nur daran liegen, daß der entsprechende
Nahrungsstoff nicht zur Resorption gelangt ist. Es liegt eine
sekundäre Avitaminose vor. Das primäre ist die Magendarn:-
erkrankung. Es würden die Verhältnisse vorliegen, die sich ın
unseren therapeutischen Versuchen wiederspiegeln, und wie sie
durch Tannhauser bekannt sind vom Vitamin B, welches bei
Erkrankungen des Darmes, besonders bei Diarrhoen, nicht zur
Resorption gelangt.
Da die Stachelhaut der Nasenflügel ein sicheres Zeichen für
eine sehr schwere Störung der Verdauungstätigkeit ist, müssen
wir eine vollständige Beschreibung von ihr geben, was um so mehr
gerechtfertigt ist, als sie weder den Psychiatern noch den Der-
matologen bekannt ist. Die Lokalisation der Keratose ist endogen
bedingt. Zwei exogene Faktoren, die für ihre Entstehung in Be-
tracht gezogen werden müssen, haben keine Bedeutung, wie sich
aus folgendem ergibt. Bei der Sondennährung Geisteskranker
wird der bis zu 9mm starke Gummischlauch, gut geölt, durch
ein Nasenloch eingeführt. Der damit verbundene mechanische
Reiz und die Benetzung mit Öl spielen bei der Entstehung der
Keratose sicher keine Rolle; denn es wird der Rand der Nasen-
öffnung und die Oberlippe mit Öl benetzt, Stellen, die von der
Keratose immer frei bleiben. Es ist ferner nahezu die Regel, daß
bei jedem Kranken fast ausschließlich die linke oder rechte, besser
durchgängige, Nasenöflnung zur Einführung der Sonde gewählt
wird. Die Keratose entstelit und entwickelt sich aber an beiden
Nasenflügeln symmetrisch. Die meisten der erwähnten Kranken
befinden sich in einem solehen psychischen Zustande, daß sie
sich nicht selbst waschen, schneuzen, sich wenig ins Gesicht greifen.
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 251
Man könnte sich vorstellen, daß die normale mechanische Horn-
schichtabschilferung wegfällt und so die Keratose entsteht. In
Wirklichkeit ist das nicht der Fall; denn diese Kranken müssen
in Jeder Hinsicht betreut werden. Es werden ihnen Augen, Nase
und Mund gereinigt. Eine Privatpflegerin setzte vergeblich ihren
Ehrgeiz darein, bei ihrer Patientin (2 i. d. Tab.) die Hornstacheln
von der Nase wegzubringen. Es bleibt nur die Annahme, daß die
Stachelhaut von äußeren Faktoren unabhängig durch die örtliche
Gewebsbeschaffenheit die Stelle ihres ersten Auftretens zuge-
wiesen erhält. Da die kleine Partie der Nasenspitze, so wie der
Teil des Nasenrückens, wo die Haut verschieblich ist, von Horn-
stacheln frei bleiben, hängt die Entstehung dieser mit dem Haften
der Haut am Knorpel zusammen. Hier ist fast kein Unterhaut-
bindegewebe. In diesem ist aber der Paniculus adiposus eingebettet,
der außer der Leber das A-Vitamindepot des Organısmus darstellt.
Ein A-Vitaminmangel macht sich als Hautsymptom also zuerst
an der Stelle der Körperoberfläche bemerkbar, wo physiologisch
das kleinste A-Vitamindepot ist. Es wäre dies eine örtliche Vitamin-
mangelerscheinung, wie ja auch örtliche Vitaminwirkungen (Vita-
minsalbenbehandlung) bekannt sind. Da aber auch unter der Haut
der Ohrmuscheln die Tela adıposa sehr dünn ist, hier aber keine
Hornstacheln auftreten, dürfte noch ein zweiter lokaler Faktor
im Spiele sein, wahrscheinlich der besondere Reichtum der Nasen-
haut an Poren.
Im Gegensatz zu unseren Feststellungen stehen die Angaben,
wonach follıkuläre Hyperkeratosen am seltensten im Gesichte
auftreten (Brünuuer). Das veranlaßte Bottelli die Keratosis folli-
cularis spinulosa im Gesichte eines 19jährıgen Mädchens zu ver-
öffentlichen. Sowohl nach der Beschreibung als auch nach der
Photographie breiteten sich die Hornstacheln über den unteren
Teil der Wangen, der Oberlippe und dem Kinn aus und ließen die
Nasenflügelfurchen vollkommen frei. Im Gesichte waren die Horn-
stacheln zuletzt, früher am übrigen Körper, erschienen. Auch
Schaaf erwähnt für die bei A-Mangel auftretenden spinulösen
Formen alle Körperpartien, nur nicht das Gesicht. Dieses ist auch
nach Löwenthal von der ausgesprochenen Trockenheit der Körper-
oberfläche infolge Vitamin A-Mangels ausgenommen. Um so mehr
müssen wir auf unserer Beobachtung bestehen, denn der A-Vitamin-
mangel konnte als Ursache der Stachelhaut der Nasenflügel durch
die Wirkung der entsprechenden Vitaminzufuhr erwiesen werden.
Auch die Art der Wirkung scheint uns charakteristisch zu sein.
Man gibt tagelang Vogan, ohne die Spur einer Wirkung zu sehen;
252 - E. Menninger-Lerchenthal
auf einmal, gleichsam über Nacht, fallen die Hornstacheln ab.
Wahrscheinlich tritt der Effekt erst nach erfolgter Vitamin-
speicherung ein. Von der Lokalisation abgesehen, stimmen unsere
Feststellungen mit der derzeitigen Kenntnis der Hautavitami-
nosen überein. Schaaf erwähnt die trockene Beschaffenheit der
Haut und spinulöse, follikulär angeordnete, Papeln, denen hyper-
keratotische Pfröpfe aufsıtzen. Neuestens erklärt auch Monacellt
die Rauhigkeit der Haut bei A-Vitaminmangel als Folge der
kleinen follikulären hornigen Papeln. In vorgeschrittenerem
Stadium bilden sich echte Hornkegel, die, im Follikel gelegen,
die Hautoberfläche überragen und ihr das Aussehen der Cutis
anserina verleihen. Histologisch erweisen sich die Follikelmün-
dungen durch dichte Haufen von keratinisierten Zellen verstopft
und erweitert.
Obwohl Jadassohn die ausgesprochene A-Avitaminose als selten
bezeichnet, da A-Vitamin stets reichlich in der Nahrung vorhanden
‚ist, möchten wir doch die Frage aufwerfen, ob die Stachelhaut
der Nasenflügel nicht eine häufiger vorkommende Erscheinung
ist. Auf Grund der alten Erfahrung, daß man erst sieht, wenn
man zu sehen gelernt hat, hat der „klinische Blick‘ in die Nasen-
flügelfurche auf Distanz doch bei einer unter 60 Kranken, bei
denen die Ernährung in natürlicher Weise erfolgt, Hornstacheln
entdeckt. Nach Beobachtung durch einige Wochen erhielt die
habituell obstipierte Kranke täglich 13 Tropfen Voganöl. Am
21. Tag sind die Hornstacheln abgefallen.
Bisher hat der A-Vitaminmangel besonders bei Kindern wegen
der bei ihnen auftretenden Xerophthalmie Beachtung gefunden.
Nach Brünauer kommen die in akuten und subakuten Schüben
auftretenden follikulären Hyperkeratosen fast ausschließlich bei
Kindern oder Personen jugendlichen Alters vor, nach Frazier und
Hu die durch A-Vitaminmangel verursachte follikuläre Hyper-
keratose am häufigsten im Alter der soeben erreichten Geschlechts-
reife. Von unseren 14 Kranken mit Stachelhaut der Nasenflügel
standen 5 im 3., 4 im 4., 3 im 5. und 2 im 6. Lebensjahrzehnt ;
aber auch die Kranken ohne Stachelhaut sind fast in der gleichen
Anzahl, nämlich 5, 2, 3, 1 auf die entsprechenden Lebensjahrzehnte
verteilt. Eine Altersdisposition besteht demnach nicht. Das Über-
wiegen der jüngeren Jahrgänge überhaupt erklärt sich damit,
daß bei schizophrenen Kranken, die durchschnittlich jünger sind,
am häufigsten Sondenernährung notwendig wird. Von unseren
25 Kranken waren 18 Schizophrenien, © Melancholien und 1 pro-
gressive Paralyse (s. Tab., Spalte 4). Von den 18 Schizophrenen
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 253
hatten 11, von den 6 Melancholischen 3 die Stachelhaut der Nasen-
flügel. Da die Pathologie beider Krankheitsgruppen ganz ver-
schieden ist, kann auch im Grundleiden keine Disposition zur
Hautavitaminose erblickt werden. Ein Unterschied der Geschlechter
besteht ebenfalls nicht. Wir können nur im allgemeinen Über-
blick sagen, daß Stachelhaut der Nasenflügel um so eher auftrat,
je schwerer und langwieriger enteritische Störungen waren. Somit
dürfte, wie schon erwähnt, die Avitamınose sekundär, intestinal,
bedingt sein.
Auf den ersten Blick erscheint die Stachelhaut der Nasenflügel
als ein isoliertes Symptom. Erst bei genauerem Nachsehen kann
man feststellen, daß die ganze übrige Haut sich trocken anfühlt
und, was infolge der Gefühlsstumpfheit der Kranken oft nicht
feststellbar ist, juckt. Es können auch andere Hauterscheinungen
auftreten; besonders am Rücken wird die Haut reibeisenartig.
Auf konstitutionell minderwertiger Haut vorhandene Seborrhoe,
Komedonen, Akne kommen zur Blüte (s. Tab., Spalte 8). Bei
Frl. S. (21 i. d. Tab.) sind über den Oberschenkelknorren und
an den Handrücken, als sie zum zweiten Male genährt wurde und
wieder die Keratose bekam, nur an der linken Handbeuge, blei-
graue plattenförmige Verhornungen aufgetreten. Auch bei einer
1931 genährten Kranken (6 i. d. Tab.) trat an Körperpartieen,
die dem Druck der Unterlage ausgesetzt sind, eine solche melano-
tische Hyperkeratose auf. Außer der Stachelhaut der Nasenflügel
trat bei einem Kranken (19 ı. d. Tab.) ein Lichen ruber planus
auf. Haarausfall konnte einige Male beobachtet werden. Alle
sondengenährten Kranken mit Keratose haben auch trockene
borkige Lippen, und die Zunge ist so trocken, daß sich die einzelnen
Papillen deutlicher abheben. Zu erwähnen ıst noch, daß fast immer
Hauteiterungen (Furunkel, Panaritien, Axillarabszesse), Mund-
höhlenerkrankungen, Diarrhoen und Bronchitis auftreten. In
dieser Vereinigung von Haut-, Darm- und Lungenepithelschädi-
gungen dürfte eine durch das Fehlen des epithelschützenden A-
Vitamins (Moll, Domagk und Laquer) entstandene Mangelkrank-
heit ihren Ausdruck finden.
Damit kommen wir zur Besprechung des Allgemeinzustandes
der Kranken. Die Stachelliaut der Nasenflügel hat unsere Auf-
merksamkeit erregt und stand ım Vordergrunde unserer Unter-
suchungen und Nachforschungen. Es fielen immer mehr Begleit-
symptome auf, deren Gesamtheit auf irgendein uns noch un-
bekanntes Grundleiden hinwies. In erster Linie sind die Diarrhoen
zu erwähnen (s. Tab., Spalte 6). Sie sind, wie wir schon in früheren
254 E. Menninger-Lerchenthal
Jahren beobachten konnten, gegen jede Diät und medikamentöse
Behandlung refraktär. Bei unserem Versuche (s. Behandlungs-
prot. 2), die Keratose durch Injektionen von Voganöl zu beseitigen,
hörten die Diarrhoen derart schlagartig auf, daß kein Zweifel an
der therapeutischen Wirkung bestehen konnte. Die Beziehung
zwischen Darmfunktionsstörung und A-Mangel ist heute freilich
noch nicht geklärt, doch können wir auf die wirksame Bekämpfung
der Durchfälle mit Vogan bei An- und Subacidität durch Boller,
bei Hyperthyreose durch Dietrich hinweisen. Eine zweite auf-
fällige Erscheinung ist das häufige Vorkommen von Eiterungen
bei fast allen Kranken (s. Tab., Spalte 8), Gesichtsakne, Furunkeln
und Panaritien, Gerstenkörner und Schweißdrüsenabszesse, un-
charakteristische entzündliche Hauterscheinungen, Eiterungen in
der Mundhöhle (Stomatitis, Periostitis). Mackay Helen konnte
bei Kindern, die reichlich mit A-Vitamin ernährt wurden, infek-
tıiöse Hauterkrankungen, wie Wundsein des Gesäßes, Intertrigo,
Furunkeln usw. nur in halb so viel Fällen wie bei den Kindern
einer Vergleichsreihe feststellen. Daher können wir annehmen,
daß bei Geisteskranken mit A-Vitaminmangel dieser auch zur
Entstehung der angeführten Epithelerkrankungen beiträgt. Die
Epithelschädigung durch A-Vitaminmangel ist auch für die Talg-
und Schweißdrüsenausführungsgänge nachgewiesen (Frazier und
Hu); so erklärt sich das Vorkommen der Hordeola und Axillar-
abszesse bei unseren Kranken. Bei den meisten von ihnen machen
sich auch andeutungsweise bronchitische Erscheinungen
bemerkbar, die weder auf eine Erkältung noch auf Aspiration
von Nährbrei bezogen werden können. Man kann auch hier A-
Vıtaminmangel annehmen. Schon in den Anfangsstadien eines
solchen sollen Epithelmetaplasien im Respirationstraktus nach-
weisbar sein. Nach Pillat ist fast bei allen langdauernden und
schweren Fällen von Vitamin A-Mangel Bronchitis zu beobachten,
die einsereits in einer Funktionsveränderung des Flimmerepithels,
andererseits in einer allgemeinen Umwandlung des übrigen Schleim-
hautepithels der Bronchien ihre Erklärung finden dürfte.
So findet man eine ganze Reihe von Krankheitserscheinungen,
deren Gesamtheit Pillat übersichtlich und in ihrem Zusammen-
hange verständlich dargestellt hat, durch A-Vitaminmangel er-
klärt. Es paßt aber nicht alles zum Bilde. Die Zahnfleischentzün-
dungen, Petechien und subconjunctivalen Blutungen (s. Tab.,
Spalte 8) sind eher Vitamin CG-Mangelerscheinungen. Nach
Scheer und Keil kommt bei C-Mangel auch follikuläre Hyper-
keratose vor, die aber in den Anfangsstadien von der bei A-Mangel
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 255
unterschieden werden kann, weil diese durch rein epitheliale Ver-
änderungen entsteht, jene sekundär infolge von Gefäßverände-
rungen. Schneider und Weigand weisen auf die regelmäßige Kom-
bination von A- und C-Hypovitaminose hin. Nach unseren Beob-
achtungen tritt zuletzt auch B-Mangel auf. Bei allen Kranken,
die unter den Erscheinungen einer schweren Avitaminose lang-
sam zugrunde gehen, stellt sich nämlich in den letzten Wochen
Schmerzhaftigkeit am ganzen Körper ein. Man erhält von den
nun schwer leidend darniederliegenden Kranken keine genauen
Angaben, kann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit funikuläre
Myelose und Polyneuritis feststellen. So bietet sich uns immer
mehr das Krankheitsbild einer komplexen Avitaminose.
Zu Beginn des Jahres 1938 sind zwei Kranke, bei denen die
Avitaminose im Laufe einer länger dauernden Sondenernährung
aufgetreten war, an dieser Krankheit gestorben (21, 22 ı. d. Tab.).
Schon wochenlang vorher erschienen sie unrettbar verloren, ob-
wohl keine unmittelbar lebensgefährdende Krankbheitserscheinung
vorhanden war; obwohl sie angefangen hatten, selbst und ge-
nügend zu essen, und die Stuhlentleerung in Ordnung gekommen
war. Die üble Prognose mußte auf Grund des Gesamteindruckes
gestellt werden, der bestimmt war durch die Erinnerung an drei
Kranke, die unter denselben Umständen in früheren Jahren ge-
storben waren (6, 10, 19 ı. d. Tab.). Wir standen nicht nur vor
einer uns unbekannten, sondern auch unheimlichen Krankheit,
denn diese befällt anscheinend nur Geisteskranke, die mit der
Sonde genährt werden, und führt langsam, aber sicher zum Tode,
da ärztliche Behandlung wohl hilft, aber nicht heilt. Eine Ursache
dieser deletären Ernährungsstörung konnten wir nicht finden.
Erst das durch die Stachelhaut der Nasenflügel angeregte Studium
der Avitaminosen hat uns dann die Kenntnis eines Krankheits-
bildes vermittelt, das noch wenig bekannt sein dürfte, da erst
ın den letzten zwei Jahren einige Beschreibungen erschienen sind.
Es heißt einheimische Sprue (Hansen und v. Staa) und dürfte
mit dem von uns beobachteten identisch sein. Es stimmt mit der
tropischen Sprue und der /lerterschen Zoeliakie, vielleicht auch
mit der Steatorrhoe der Erwachsenen überein. Die Sprue ist eine
Krankheit, die fast nur bei Europäern, meistens nach länger als
zweijährigem Aufenthalt in den Tropen, eventuell erst einige
Jahre nach der Heimkehr, auftritt und mit Neigung zu Remis-
sionen und Rückfällen verläuft. Es kommt, unabhängig von der
Ernährungsweise, zu einer Atrophie des Darmes. Die charak-
teristischen Symptome sind Schmerzhaftigkeit von Zunge, Mund
256 E. Menninger-Lerchenthal
und Schlund, Fettdiarrhoen, trockene und dunkle Haut, kühle
Extremitäten, Abmagerung und Anämie, gewöhnlich Osteoporose,
selten Tetanie. Diese Krankheit kommt, wie man jetzt weiß, auch
in Europa vor, und zwar als eine „offenbar doch recht verbreitete
Krankheit, die gemeinhin übersehen bzw. nicht richtig diagnosti-
ziert wird“. Hansen, der dieser Meinung ist und als Gewährsmann
ersten Ranges zu gelten hat, spricht von einem ungemein chro-
nischen Krankheitsverlauf, der sich vom Beginn der ersten Sym-
ptome bis zu dem meist unabwendbaren Ende oft über Jahre
oder Jahrzehnte hinzieht. Man könne vier Stadien unterscheiden.
Zuerst die verschiedenen Verdauungsbeschwerden, die noch nicht
die Diagnose ermöglichen. Dann kommt das Stadium der charak-
teristischen Fettstühle, die durch ihre Masse auffallen; gleich-
zeitig erfolgt Abmagerung. Im dritten Stadium treten Anämie
vom Typ der Perniziosa, Hautpigmentationen, Tetanie und
Osteomalazie auf; die Diagnose ist durch den äußeren Eindruck
nicht zu verfehlen. Im letzten Stadium erfolgt unter schwerster
Anämie und fortgesetzten durchfälligen Stühlen Abmagerung
bis zum Skelett. Damit haben wir nur die allerwichtigsten der
vielen Erscheinungen der einheimischen Sprue angeführt. Wir
möchten nur noch erwähnen, daß wir die von Hansen als führen-
des Symptom bezeichnete Stomatitis aphthosa auch gesehen
haben, in schwerster Form bei 21 der Tabelle; die rote atrophische
Zunge fehlte bei dem dem 3. Stadium entsprechenden Krankheits-
bilde nie. Abnorme Pigmentierungen waren bei den Kranken 14
und 17 zu sehen, bei 6 und 21 die von Hansen angegebene schmutzig-
schwärzliche Verfärbung. Die marantischen Ödeme der unteren
Körperhälfte finden wir als Schwellungen der Füße bei den Kranken
3, 12, 17, 23; bei 13 und 23 könnten sie cardialer Natur gewesen
sein. Bei der Kranken 10 waren Ödeme am linken Handrücken,
bei 22 sehr auffallend im Gesicht; bei beiden Kranken mehrere
Wochen vor dem Tode und weder renal noch cardial bedingt.
Wir hegen den Verdacht, daß es sich um Eiweißmangelödeme
handelt, die nach Hantschmann auch bei chronischer Enteritis
vorkommen. Zu der Angabe von Hansen, daß die Körpertempe-
ratur fast immer normal sei, können wir nicht Stellung nehmen,
weil bei einer Anzahl unserer Kranken Fieberkuren gemacht
wurden, bei den anderen fast durchwegs subfebrile Phasen oder
gelegentliche subfebrile Werte gefunden wurden (s. Tab., Spalte 7).
Auch können wir über die Steigerung des Grundumsatzes, die
charakteristische Abflachung der Blutzuckerkurve und das Vor-
kommen tetanischer Symptome keine Angaben machen, da wir
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 257
keine systematischen Untersuchungen in dieser Richtung durch-
geführt haben. Wir stützen uns, vom Studium der Keratose ab-
gesehen, nur auf Beobachtungen, die sich allerdings zu erstaun-
lich großem Teil mit den bei der einheimischen Sprue gemachten
decken. Die Endstadien sind beherrscht von einer Anzahl hypo-
und avitamıinotischer Symptome, die eine Folge des Grundleidens,
der eigentümlichen Darmstörung sind (Hansen, Engel und Codas-
Thompson). Uns sind sie zuerst aufgefallen, denn die Darm-
störungen als solche haben wir nicht weiter beachtet, als es seit
je in der täglichen Anstaltspraxis erforderlich ist. Es hat sich
ja erst (1929) P. J. Reiter die Mühe genommen, die gastrointesti-
nalen Störungen bei Geisteskranken genauer zu studieren. Das
Werk, welches u. W. keine besondere Beachtung gefunden hat,
erscheint uns jetzt im Zusammenhang mit den im Gange befind-
lichen Untersuchungen über die einheimische Sprue von großem
Werte. Reiter verweist darauf, daß seit Bestehen der wissenschaft-
lichen Psychiatrie dyspeptische Symptome als häufige Erscheinung
bei Geisteskranken bekannt sind. Bei der Schizophrenie sollen
Darmentzündungen aller Grade eine außerordentlich häufige
oder sogar konstante Erscheinung sein. Das wird in ausführlicher
Darstellung auf Grund zahlreicher Untersuchungen gezeigt. Von
79 Schizophrenen hatten 35 geringen Appetit, einige mußten
zwangsgefüttert und 5 mit der Sonde genährt werden. Nur 18 von
den 79 Kranken hatten normale Stuhlentleerung, 36 waren ob-
stipiert, bei 25 wechselten Perioden der Obstipation mit solchen
der Diarrhoe. Diese Diarrhoen sind sehr heftig, gehen mit okkulter
Blutung, Katalasesteigerung, Indikanurie, nicht selten mit Fieber
einher, sind sehr langwierig, gegen jede Behandlung refraktär
und führen in vielen Fällen zum Tode. Das sind zweifellos dieselben
Diarrhoen, die wir beobachtet haben und die als ein Hauptsymptom
der Sprue beschrieben werden. Aus unserer Tabelle (Spalte 6)
ist zu entnehmen, daß fast alle Kranken obstipiert waren (Neben-
wirkung der Beruhigungs- und Schlafmittel ?) und daß fast nur
bei chronisch Katatonen später Diarrhoen aufgetreten sınd. Das
entspricht der Angabe Reiters, daß die Darmmotilitätsstörungen
mit der Dauer der Psychose zunehmen, und der Ansicht Bohns,
daB die einheimische Sprue das dritte Stadium der von Porges
(1928) beschriebenen chronischen Enteritis darstelle. Als recht
häufig erwähnt Reiter enorme Flatulenz, der das meteoristische
Abdomen der Sprue entsprechen dürfte. Abnorm dicke Faezes
verschiedener Konsistenz soll überhaupt nur bei Schizophrenen
vorkommen. Darin können wir wohl das Hauptsymptom der
17 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3,4.
258 E. Menninger-Lerchenthal
Sprue erblicken. Die Stühle müssen nämlich nicht diarrhoisch
sein, auf die große Menge und auf den großen Fettgehalt komme
es an (Hansen). Die Menge des Stuhles beträgt im Mißverhältnis
zur aufgenommenen Speise 1000 bis 1500 gegenüber 150 bis 220 g
der Norm. Die zweite Eigenschaft des für Sprue charakteristischen
Stuhles, nämlich den Fettgehalt, findet man von Reiter bei der
chronischen Enteritis der Schizophrenen nicht erwähnt, im Gegen-
teil, es sei ın keinem Falle Steatorrhoe vorgekommen. Die An-
gabe, daß die Konsistenz der abnorm dicken Faezes oft eigen-
artig zäh und lähmig ist, scheint uns doch auf Fettgehalt ver-
dächtig. In allen anderen Punkten ist nämlich die Übereinstimmung
eine sehr weitgehende. Das geht ziemlich deutlich aus den Kranken-
geschichten der an der chronischen Darmkrankheit verstorbenen
Schizophrenen hervor, noch klarer aus denen, die Reiter als Beleg
für seine Dementia praecox parkinsonoides anführt. Bei den
daran Leidenden finden sich neurologische Störungen, die „ter-
minal akut, subakut, subcehronisch vorkommen“. Sie stellen nach
unserer Meinung den einer schweren Avitaminose entsprechen-
den neurologischen Symptomenkomplex dar. Besonders auf-
fallend ist nämlich die tetanische Haltung der Hände (Tetanie
bei Sprue) und der positive Babinski (funikuläre Myelose bei der
Anämie der Sprue). Die Abbildungen solcher Kranken passen
auf die Schilderungen und eigenen Beobachtungen der Endstadien
der Sprue. Über Vitaminmangel ist in Reiters Buch nichts zu
lesen, wenn man von dem Hinweis absieht, daß man nahrungs-
verweigernden Patienten mit Rücksicht auf den erforderlichen
Vitamingehalt abwechslungsreiche Sondenkost geben soll. Der-
jenige aber, der die Vitaminmangelsymptome bei vorgeschrittener
Sprue auch nur aus der Schilderung kennt, begegnet ihnen in
der umfangreichen Monographie Reiters des öfteren. So heißt es
von einer Patientin (auf S. 156, Fall 19): „Die letzten 5 Lebens-
wochen febrile Diarrhoen; geht bergab; graubleiche Gesichts-
farbe, trockene, schuppige Haut, im Gesicht und an den Händen
kutane Blutungen von der Größe einer Kinderhand; der Zustand
dauert bis zum Tode an, refraktär gegen jede Behandlung‘. Diese
Beschreibung ist charakteristisch für das Endstadium der Sprue
mit Avitaminose. Kurze Zusammenfassungen, die sich in Reiters
Buch finden, deuten fast durchwegs auf Sprue, so z. B. (auf S. 121):
„Es hat sich ... . gezeigt, daß diese Enterokolitiden gegen ge-
wöhnliche diätetisch-medikamentöse Behandlung refraktär sind,
sowie daß sie oft — häufig bei Temperatursteigerung — tötlich
verlaufen. In solchen malignen Fällen sieht man oft (entero-
Chronische Darmkrankheit und Avitaminose bei Geisteskranken 259
toxische ?) Exantheme, Urtikaria, Petechien, ernste, zuweilen
perniıziöse Anämie, außer der Psychose gröbere neurologische
Störungen. Und wahrscheinlich sind die Entzündungen überhaupt
die Ursache der schlechten — oft fast grauen, kachektischen —
Hautfarbe, der trockenen, spröden Haut, des verminderten Haut-
turgors und der häufigen starken Akne, die man bei Dementia
praecox-Patienten in so vielen Fällen sieht.“ Pathologisch-ana-
tomisch findet Reiter bei zahlreichen Sektionen und sorgfältigen
Untersuchungen in sämtlichen Fällen Gastroenteritis. Die Ent-
zündung bevorzuge die Reihenfolge: Coecum, Colon transversum,
Duodenum, Colon sigmoideum, Ileum, Jejunum. Man findet ein
hyperämisch-ödematöses Aussehen der Schleimhaut bis zu diph-
therisch-ulzerösen Prozessen. Es bestehe eine sehr schöne Über-
einstimmung zwischen den klinischen und den pathologisch-ana-
tomischen Befunden. Eine solche Übereinstimmung ist nach
Rosenthal sehr wesentlich für die Diagnose der einheimischen
Sprue, bei der chronische Entzündung des Dünndarms und Coecunis
mit polypöser Hyperplasie der Schleimhaut, uncharakteristischen
Ulzerationen und narbiger Stenosierung besteht.
Da unsere Kenntnis der Magendarmkrankheit mit dem oft
deletären, unter Vitaminmangel zum Tode führenden Verlauf fast
nur auf klinischer Beobachtung beruht, müssen wir es bei der
vorliegenden skizzenhaften Darstellung bewenden lassen. Es
dürfte wohl ersichtlich geworden sein, daß der bei Dementia
praecox früher von Reiter beschriebene, von uns bei Kranken
mit Sondenernährung beobachtete Krankheitsprozeß mit der
einheimischen Sprue identisch ist. Dadurch ergibt sich eine Ge-
legenheit für die Zusammenarbeit der Inneren Medizin und Psy-
chiatrie, von der Fortschritte zu erwarten wären. Einerseits ist
die Ursache der einheimischen Sprue unbekannt, andererseits
bestehen zwischen dieser bzw. der Enterocolitis chronica maligna
und der Schizophrenie wahrscheinlich nähere Beziehungen. Es
sei nur darauf hingewiesen, daß schon jetzt gewisse Symptome
bei Schizophrenie, wie teigige Schwellungen, kühle Extremitäten,
Neigung zu Blutungen, Knochenbrüchigkeit, subfebrile Phasen,
in anderem Lichte als bisher erscheinen könnten. Das Studium
der Vitaminmangelerscheinungen, die bei der Sprue auftreten,
würde dem Psychiater die Kenntnis solcher vermitteln, woraus
sich therapeutische Bestrebungen ergeben könnten. Wer Reiters
Feststellungen und die Avitaminose der Sprue kennt, wird es
z. B. für möglich halten, daß eine langdauernde Behandlung mit
einem komplexen Vitaminpräparat, wie Honekamps Eugenozym,
17*
260 E. Menninger-Lerchenthal
gewisse Erfolge haben könnte. Aus eigener Erfahrung und aus
dem Schrifttum über die Sprue wissen wir, daß unsere Behand-
lung vorläufig eine Ersatzbehandlung ist, die sich gegen die einzel-
nen Symptome richten muß. Calcium und Phosphor gegen teta-
nische Erscheinungen und Osteoporose, die verschiedenen Vita-
mine gegen die einzelnen Vitaminmangelerscheinungen, Leber
und Eisen gegen die Anämie, fettarme und eiweißreiche Kost
wegen der eigenartigen Ernährungsstörung. Alle diese Ersatz-
präparate sind im Überangebot und nach Möglichkeit parenteral
zu geben. Denn die Grundstörung der Sprue ist wahrschein-
lich eine schwere Schädigung der Fettresorption, aus welcher alle
weiteren Störungen als sekundäre spezifische und unspezifische
Mangelsymptome hervorgehen. So gelangen auch die Calcium-
salze (Hetényi) und die Vitamine vom Darm aus nicht mehr zur
Resorption. Dadurch wird es verständlich, daß bei den mit der
Sonde ernährten Geisteskranken Vitaminmangelerscheinungen
auftreten, auch wenn für Vitaminreichtum in der gebotenen
Nahrung reichlich gesorgt ist. Noch eine zweite Erklärung ist
uns jetzt möglich. Es schien doch durch die Beobachtung ein-
wandfrei festzustehen, daß die Avıtaminose bzw. die chronische
Magendarmkrankheit mit der länger dauernden Sondenernährung
in ursächlichem Zusammenhang stünde. Das trifft aber keines-
falls zu. Reiter hat nachgewiesen, daß ein großer Teil der Schizo-
phrenen bald von Magendarmstörungen befallen wird; nach
Hansen treten im ersten Stadium der einheimischen Sprue ver-
schiedene Verdauungsbeschwerden auf. Es ist mehr als wahr-
scheinlich, daß bei den meisten Schizophrenen solche Beschwerden
die Ursache der Nahrungsverweigerung sind und daß diese um
so hartnäckiger ist, je schwerer und dauerhafter die Verdauungs-
beschwerden sind. Die der Sprue schon verfallenen Kranken sind
es, bei denen man immer wieder vergebliche Versuche mit der
natürlichen Ernährungsweise macht. Die länger dauernde Sonden-
nährung ist die Folge der Darmkrankheit bzw. der den Geistes-
kranken eigenen Einstellung zu dieser und nicht umgekehrt.
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Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker
Von
Hildegard Albrecht
(Mit 12 Figuren im Text)
Aus dem Serologisch-bakteriologisch-chemischen Laboratorium (Leitender
Oberarzt: Dr. habil. C. Riebeling) der Psychiatrischen und Nervenklinik
(Direktor: Prof. Bürger-Prinz) der Hansischen Universität in Hamburg.
I. Einleitung
In den letzten zehn bis zwanzig Jahren sind zahlreiche Versuche
gemacht worden, der Pathogenese des epileptischen Anfalls näher-
zukommen. Immer wieder tauchte die Frage auf: Warum führt
ein Prozeß im Gehirn bei dem einen Patienten zum epileptischen
Anfall und bei dem anderen nicht ? Es lag deshalb die Vermutung
nahe, daß es mehrere Faktoren — zum mindesten zwei — sein
müßten, die anfallsauslösend wirkten. Der eine Faktor sollte irgend-
eine Schädigung im Zentralnervensystem sein, der andere Faktor
in einer veränderten Stoffwechsellage bestehen. Georgi, Frisch,
Wuth, Lennox und Cobb, Temple Fay, McQuarrie, Hodskıns, Tegl-
bjaerg). Es fanden sich aber keinerlei Veränderungen am Zentral-
nervensystem, die irgendwie spezifisch gewesen wären.
Auch die sehr widersprechenden Ergebnisse, welche die verschie-
densten Stoffwechseluntersuchungen hervorbrachten, führten bis
heute zu keiner eindeutigen Erklärung des Geschehens, wie wir es
im epileptischen Anfall vor uns haben.
Trotzdem hat man immer wieder versucht, die Ergebnisse, die ge-
funden wurden, auf einen Nenner zu bringen und eine primäre Ur-
sache herauszustellen. So führt Wuth alle Erscheinungen auf einen
Gefäßkrampf zurück. Andere Autoren stellen die Veränderungen
im Säurebasenhaushalt in den Vordergrund. (Georgi, Frisch, Bis-
gaard, Norvig, Madsen, Keith.) Lennox und Cobb legten eine Zeit
lang das Hauptgewicht auf eine Herabsetzung der Sauerstoflspan-
nung im Blut. Neuerdings befassen sie sich nur noch mit dem Elek-
troenzephalogramm und führen die Ursache des epileptischen An-
falls auf eine Rhythmusstörung der elektrischen Wellen des Gehirns
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 263
zurück. Es bleibt dabei offen, welche Ursache nun wiederum zu
dieser Rhythmusstörung führt.
Manche Autoren stellen Permeabilitätsänderungen und damit
den Lipoidstofiwechsel in den Mittelpunkt der Erörterungen: ein
Absinken von Cholesterin zugunsten eines Ansteigens von Lezithin
soll die Auslösung des Anfalls bewirken. (Hopkins, McQuarrie,
Engel.) Aber auch hier bleibt dunkel, welche Ursache den Choleste-
rinspiegel im Blut absinken läßt.
Erniedrigte Sauerstoffspannung und Alkalose einerseits — ver-
minderter Cholesteringehalt andrerseits (Degkwitz) — begünstigen
eine Wasseranreicherung des Gewebes. Eine Störung im Wasser-
wechsel ist also diesen Erscheinungen gemeinsam. Das führt bei
manchen Autoren zu der Annahme, daß im Mittelpunkt des Ge-
schehens der gestörte Wasserhaushalt stünde. Auch war lange Zeit
bekannt, daß der epileptische Anfall mit einer Harnflut einhergeht,
und von vielen wurde vor dem Anfall eine Harnverhaltung beob-
achtet. Dann waren gute therapeutische Erfahrungen gemacht
worden mit Maßnahmen, die eine Entwässerung des Organismus
zur Folge haben, sei es nun durch Darreichung einer Trockenkost
oder einer salzarmen Kost. Ebenso soll durch Fasten sowie durch
eine ketogene Diät in den Wasserhaushalt eingegriffen werden,
um dadurch das Auftreten von Anfällen herabzusetzen bzw. zu
verhindern. (Temple Fay, McQuarrie, Gamble, Bridge, Hodskins,
Fremont-Smith, Marx, Marburg, Engel.)
Man stellte deshalb zahlreiche Versuche an, um die Verhältnisse
im Wasserhaushalt näher zu prüfen.
Der erste, der Versuche in dieser Richtung gemacht hat, war
Claus. Er veröffentlichte im Jahre 1896 Untersuchungen über das
spezifische Gewicht des Blutes von 10 Epileptikern. Er fand dabei
in vielen Fällen ein Absinken des spezifischen Gewichtes vor den
Anfällen und ein Ansteigen nach den Anfällen. Abweichungen von
dieser Erscheinung erklärt er durch folgende Annahme: Das Ab-
sinken bzw. das Ansteigen des spezifischen Gewichtes erfolgt in ver-
schieden langen Zeiträumen, es kann mehrere Tage, aber auch nur
wenige Stunden oder sogar nur Minuten in Anspruch nehmen. Da
seine Untersuchungen einmal in 24 Stunden vorgenommen wurden,
traten die kurzfristigen Veränderungen nicht in Erscheinung. Heu-
tigen Anforderungen genügt die von ihm angewandte Methode
von Hammerschlag allerdings nicht mehr.
Späterhin wurden von anderen Autoren Messungen der Wasser-
und Mineralbilanz vorgenommen; dazu kam die Kontrolle des Kör-
pergewichts. Dabei wurde in vielen Fällen präparoxysmal eine po-
264 Hildegard Albrecht
sitive Wasserbilanz gefunden, die mit einer Retention von Mineral-
salzen und einem Ansteigen der Körpergewichtskurve einherging.
Postparoxysmal kam es zu einem Negativwerden der Wasserbilanz,
zu einer Ausschwemmung von Mineralsalzen und einem Absinken
der Körpergewichtskurve. (Frisch, Fay, McQuarrie, Geller.) Temple
Fays Annahme, daß die Wasserretention vor dem Anfall zu einem
erhöhten Hirndruck führe und dieser die Ursache für die Erschei-
nungen sei, wird von vielen Autoren abgestritten. (Fremont-Smith,
McQuarrie, Cobb, Marburg, Teglbjaerg.)
McQuarrie beobachtete während der Wasserretention vor dem
Anfall ein Überwiegen der Kaliumausscheidung über die Natrium-
ausscheidung und schließt daraus, daß Kalium aus den Zellen aus-
wandert und dafür Wasser in die Zellen hineindiffundiert. Er glaubt
also, daß der vermehrte Wassergehalt der Nervenzelle selbst eine
Ursache für den Anfall darstellt. Er bekräftigt das durch die Tat-
sache, daß die Wasserretention der Epileptiker nie mit dem Auf-
treten von Ödemen einhergeht. Gamble dagegen fand die Kalium-
ausscheidung nicht verändert und nur die Natriumausscheidung
schwankend und führt deswegen den Sitz der Wasserretention
ins interstitielle Gewebe zurück. Auch Frisch, der heute seine Azi-
dosetheorie verlassen hat, legt besonderen Nachdruck auf ein An-
steigen des intrazellulären Wassergehaltes, und zwar soll es bedingt
sein durch eine Verschiebung des Albumin-Globulin Verhältnisses
zugunsten der Albuminkomponente. Der Gehalt der Zelle an hoch-
dispersem Eiweiß hat einen erhöhten kolloidosmotischen Druck
zur Folge und damit eine Anreicherung der Zelle an Wasser. Nach
zahlreichen Untersuchungen über die Zusammensetzung des Ei-
weißes im Epileptikerserum, die Kafka, später Riebeling, ausgeführt
haben, und die bei weitem keine solche Abweichungen vom Nor-
malen ergeben haben, wie Frisch sie fand, müssen wir die Bedeu-
tung des Eiweißquotienten für die Epilepsie bezweifeln. Daß eine
Unterscheidung zwischen intrazellulärer und interzellulärer Wasser-
anreicherung — ebenso wie die Einteilung in Hirnödem und Hirn-
schwellung nach dem Sitz des Wassers — unmöglich ist, hat Riebe-
ling nachgewiesen.
Andere Autoren fanden weniger eindeutige Befunde: Frisch
machte bei der Mehrzahl seiner Patienten die oben geschilderten
Beobachtungen. Aber er fand einige Fälle, die eine Wasserreten-
tion in der intervallären Zeit zeigten und bei denen es kurz vor dem
Anfall zu einer Harnfllut kam. Bei einer dritten Gruppe von Epi-
leptikern konnte er keine Zusammenhänge zwischen der Wasser-
ausscheidung und der Mineralsalzausscheidung feststellen.
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 265
Teglbjaerg erklärt, daß auf Grund seiner Untersuchungen der
Epileptiker sich in bezug auf seinen Wasserhaushalt grundsätzlich
nicht anders verhält als ein Normaler. Dagegen konnte er aber die
gute therapeutische Wirkung einer Wassereinschränkung auf den
Anfall nicht abstreiten und hob die gesteigerte Anfallsbereitschaft
bei Wasserbelastung hervor.
Geiler stellte bei seinen Untersuchungen fest, daß man eindeutige
Ergebnisse nur bei solchen Patienten erzielt, deren Anfälle mög-
lichst weit auseinanderliegen und die nicht an Luminal gewöhnt
sind.
Pette, der in den Vordergrund seiner Untersuchungen den Einzel-
patienten stellt und ihn in den verschiedenen Phasen der Anfalls-
bereitschaft beobachtet, berichtet folgendes: Eine gröbere Störung
der Tagesbilanz ließ sich nur in einem von den untersuchten Fäl-
len erkennen. Der Anfall selbst braucht auf die Vorgänge im
Wasserhaushalt keinen Einfluß zu haben. Gaben von Hypophysen-
hinterlappenhormon, verbunden mit einer reichlichen Wasserzufuhr,
die eine erhebliche Wasserretention zur Folge hatten, bewirkten
nur in wenigen Fällen einen Anfall. Die Wasserbelastung kann bei
bereits bestehender Anfallsbereitschaft als auslösendes Moment
wirken. Fortlaufende Wasserzufuhr kann zu Anfällen führen, dies
führt Pette auf den Einfluß der dauernd angespannten Regulations-
fähigkeit zurück.
Auch Stone und Chor fanden ähnlich unterschiedliche Befunde
wie Pette, so daß sie eine maßgebliche Beteiligung des Wasserhaus-
halts völlig abstreiten.
Die Beobachtungen, die in bezug auf die therapeutischen Er-
folge einer Wasserentziehung gemacht wurden, sind ebenfalls
keineswegs eindeutig. (Stone und Chor.) Die gute Wirkung einer
Trockenkost wird von Cameron abgestritten. Die ketogene Diät
soll lediglich Anfälle bei Kindern günstig beeinflussen, für Er-
wachsene konnte dieses nicht bestätigt werden (Notkin). Sehr
zweifelhaft ist auch der therapeutische Erfolg der Fastenkuren, wie
Lennox und Cobb gezeigt haben. Ferner herrscht Unklarheit über
die Bedeutung der Kochsalzeinschränkung. Nach der heutigen
Forschung greift das Kochsalz in dem Wasserhaushalt so ein, daß
das Na eine wasserretinierende Wirkung ausübt, während das Cl
zur Diurese führt. Daher folgt auf eine geringe Überbelastung mit
Kochsalz Wasserretention, auf starke Kochsalzzufuhr eine Diurese
(Marx). Die größere Bedeutung des Na für die Wasseranreicherung
wurde auch in der Epilepsieforschung aufgezeigt (McQuarrie und
Bridge). Lennox und Allen berichten, daß die Wirkung des Fastens
266 Hildegard Albrecht
nicht auf der Salzarmut beruht, da das Fasten mit gleichzeitigen
Kochsalzgaben nichts an seiner Wirkung einbüßt. Danach ist es
auch unwahrscheinlich, daß die Wirkung der Brommedikation in
erster Linie der damit verbundenen Kochsalzeinschränkung zu-
zuschreiben ist, denn die Verhältnisse im Wasserhaushalt wer-
den dadurch nicht geändert, daß an Stelle des Chlorions das Brom-
ion tritt. Es ist vielmehr anzunehmen, daß durch die Chlorver-
armung das Brom angereichert wird und dadurch am Ort der Ein-
wirkung in höherer Konzentration bereitsteht, wie es auch ur-
sprünglich von Ulrich gedacht war.
Außer den Untersuchungen von Claus, den ich aus historischen
Gründen an den Anfang gestellt habe, sind noch nicht erwähnt
worden diejenigen Versuche, die sich mit dem Sitz der Wasser-
retention selbst, nämlich dem Gewebe, befaßt haben. Hier ist ja
der Forschung eine Grenze gesetzt. Allerdings gibt es zwei Auswege:
Entweder man benutzt den Tierversuch, oder man sieht das Blut
als Indikator für die Vorgänge im Gewebe an. Keith hat den ersten
Weg gewählt. Er erzeugte bei Kaninchen mit Hilfe von Absinth
epileptische Anfälle und untersuchte den Einfluß verschiedener
Stoffe auf den Wassergehalt des Gehirns ın Beziehung zur ge-
steigerten bzw. herabgesetzten Anfallsbereitschaft. Er fand, daß
bei Gaben von Hypophysenhinterlappenhormon, verbunden mit
reichlicher Wasserzufuhr, die Anfallsbereitschaft erhöht war und
daß das Gehirn einen vermehrten Wassergehalt besaß. Wenn er
hypotonische Kochsalzlösung injizierte, war der Wasserreichtum
des Gehirns noch größer, aber die Anfallsbereitschaft war nicht
erhöht. Daraus zieht er den Schluß, daß der Wassergehalt des
Gehirns nicht für die Anfälle angeschuldigt werden kann.
Den zweiten Weg wählte /lodskins. Er prüfte den Wassergehalt
des Blutes bei Epileptikern, indem er Bestimmungen des Blut-
volumens vornahm. Er fand, daß das Durchschnittsvolumen höher
lag als bei Normalen. Während des Anfalls war das Volumen
stark herabgesetzt, ebenso während der Dämmerzustände. Er gibt
selbst zu, daß er durch die Methode, die dabei angewandt wurde —
nämlich die Injektion eines Farbstoffes — nur die zirkulierende
Blutmenge gemessen hat, und daß man daraus keine endgültigen
Schlüsse auf das gesamte Blutvolumen ziehen kann.
Auch Stone und Chor haben Messungen des Blutvolumens mit
Hilfe der Farbstoffmethode sowie mit dem Hämatokritverfahren
durchgeführt. Die Werte, die sie dabei bekamen, hielten sie nicht
für abweichend genug, um darin eine abnormes Verhalten der
Epileptiker erblicken zu können.
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 267
Die einzig zuverlässige Methode, mit der man eindeutige Er-
gebnisse über den wirklichen Wassergehalt des Blutes bekommt,
ist die Bestimmung des Trockenrückstandes. Diesen Weg haben
wir gewählt, da es auch uns darauf ankam, das Geschehen im
Blut zu untersuchen, um daraus eventuell einen Aufschluß über die
Vorgänge im Gewebe zu erhalten.
II. Methodik
Die Bestimmungen wurden an 8 Patienten durchgeführt und
zwar an 4 Fällen 5 Wochen lang, bei den anderen mußten sie vorher
abgebrochen werden, weil die Patienten entlassen wurden bzw. ad
exitum kamen.
Es handelte sich bei den Patienten sowohl um symptomatische
als auch um genuine Epilepsien. Drei Patienten zeigten während
der Untersuchungen überhaupt keine Anfälle. Von den übrigen be-
fand sich eine Patientin während der ersten Woche im epilepti-
schen Ausnahmezustand, bekam dann einen Status, der innerhalb
von drei Tagen zum Exitus führte.
Die Patienten bekamen keinerlei Medikamente.
Die Bestimmungen wurden jeweils morgens nüchtern vorge-
nommen, um etwaige Einflüsse der Nahrung auszuschalten. Es
wurden von jedem Patienten Doppelbestimmungen gemacht, und
zwar wurden je zwei Tropen Blut aus der Fingerbeere in einem
Wägegläschen aufgefangen und bei 105° C zur Konstanz ge-
trocknet. Anschließend wurde der Gewichtsverlust festgestellt.
Die Bestimmungen wurden am Vollblut gemacht, um etwaige Was-
seranreicherungen in den Zellen mit ın Rechnung zu ziehen.
Gleichzeitig mit der Trockensubstanzbestimmung wurde die
Flüssigkeitseinfuhr und -ausfuhr kontrolliert. Wir haben davon
abgesehen, den Flüssigkeitsgehalt der festen Nahrung zu berück-
sichtigen, da dieser bei der gewöhnlichen Krankenkost, wie sie un-
sere Patienten genossen, ziemlich konstant ist. Ebenso wurde die
extrarenale Wasserabgabe nicht in Betracht gezogen, da es nur
auf gröbere Bilanzunterschiede ankam.
Anschließend an die Trockensubstanzbestimmungen wurden bei
5 Patienten eine Woche lang täglich Chlorbestimmungen im Ge-
samturin vorgenommen. Es geschah nach der Methode, die Ru-
sznyak für den Liquor angegeben hat: 0,1 ccm Harn, mit 5 cem
Wasser verdünnt, wurden mit einer Y/joo n Silbernitratlösung gegen
3 lige Kaliumchromatlösung als Indikator titriert.
268 Hildegard Albrecht
III. Ergebnisse
In den Vordergrund dieser Arbeit möchte ıch die Bestimmungen
über den Wassergehalt des Blutes stellen.
Der Wassergehalt des Blutes, der sich aus dem Gewichtsverlust
nach der Trocknung ergibt, wurde in Prozenten ausgedrückt und
von den Doppelbestimmungen der Mittelwert genommen. Wir sind
uns bewußt, daß Trockensubstanzbestimmungen für unsere Zwecke
geeignetere Werte gegeben hätten. Rechnerisch ist der Unterschied
zwischen 80 und 81°, Wasser nur 1,25 %, der Unterschied zwischen
19 und 20°% Trockensubstanz dagegen 5%. Es kam uns aber auf
das Wasser an, und wir mußten uns daher mit den niedrigeren Ab-
weichungswerten abfinden.
Die durchschnittliche Differenz der Doppelbestimmungen betrug
bei den verschiedenen Fällen 0,33—0,61°, (das entspricht etwa
dem dreifachen mittleren Fehler des Mittelwertes). Nur in ganz
wenigen Fällen war die Differenz größer als 2%. Dabei war der eine
Wert auffallend niedrig. Da nun die Hauptfehlerquelle darin be-
steht, daß bereits geringe Wassermengen verdunsten, bevor das
Glas zur Wägung kommt, haben wir in solchen Fällen den hohen
Wert als den wahrscheinlicheren genommen bzw. die Bestimmung als
verunglückt nicht verwertet.
Ich habe dann den mittleren Fehler der durchschnittlichen Ab-
weichung der Doppelbestimmungen berechnet, da alle Werte die in
den Bereich dieses dreifachen mittleren Fehlers fallen, noch im
Bereich der Fehlergrenzen der Versuchsbedingungen liegen. Dabei
ergaben sich Zahlen zwischen den absoluten Werten von + 0,37
und + 0,71.
In den Abbildungen 1—7 habe ich in Form von Säulen die Ab-
weichungen des Wassergehaltes von der Mittellage dargestellt. Die
Mittellage ist durch den wagerechten schwarzen Strich bei O ge-
kennzeichnet. Sie umfaßt alle Werte, die um den oben erwähnten
Betrag nach oben oder unten von dem Mittelwert abweichen. Die-
punktierten Lücken geben Stellen an, wo Werte ausgefallen sind.
Die gestrichelte wagerechte Linie gibt den Ort an, wo die untere
normale Grenze, nämlich 78°, liegt. Sie fällt bei Patient H. noch
ın die Mittellage. Die ausgezogene Kurve in den Abbildungen gibt
die Tagesbilanz des Wasserwechsels an.
Nach Bic und Müller!) betragen die Normalwerte des Blut-
wassergehaltes beim Mann 79,11°\, bei der Frau 81,01%. Marx,
dessen Angaben die neueren sind, rechnet als normal alle Werte
1) Aus Nägeli: Blutkrankheiten und Blutdiagnostik 5. Aufl. 1931.
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 269
zwischen 78 und 83°,. Wenn man damit die bei unsern Epileptikern
gefundenen vergleicht, so ergibt sich folgendes:
Der Mittelwert liegt bei allen Patienten im Bereich des Normalen
und zwar liegt der niedrigste bei 78,43 °% und der höchste bei 81,02%.
Die hohen Werte finden sich bei den beiden weiblichen Patienten
Pf. und v. P., das entspricht den Angaben von Bic und Müller.
Nur einer von den männlichen Patienten, nämlich Pa., zeigt den
relativ hohen Wert von 80,37 °.. Zieht man Marx’ Angaben in Be-
tracht, so ist auffallend, daß unsere Werte im allgemeinen an der
unteren Grenze liegen. |
Wenn man sich nun die einzelnen Abweichungen ansieht, so muß
man auch hier zunächst die normalen Abweichungen betrachten.
Bic und Müller geben folgende Zahlen an: für Männer + 0,765°,
und — 0,98°,, für Frauen + 0,93°%, und — 1 bis — 0,97%.
Man findet also im allgemeinen größere Schwankungen nach unten
von der Mittellage als nach oben. Diese konnten wir bei unsern Epi-
leptikern bestätigen. Allerdings sind hier die Abweichungen nach
Abb. 1—7: Bestimmungen des Wassergehaltes im Blut
und Bestimmungen der Flüssigkeitsbilanz
,
ù
“m
a
+
Sog
Flussyketsteanz
von der Mittwilsge
I
~
in
Abweichung oes Si twassergenalfes
33.5: 72 9» mM B. 15. NM 9 5.7 9 mM NB. 15.
Abb. 1. Kr. Abb. 2. v.P.
Mittellage: 79,930 + 0,71. Mittellage: 60,21%, + 0,69.
E| Abweichungen des Wassergehaltes im Blut von der Mittellage in °/,
— Flüssigkeitsbilanz. -----—-- Untere normale Grenze (78,00% ,).
© Status epilepticus. Bei O Mittellage
x
“25T ri Tri
Bos $
Abweichung des Slutwassergen aes
von der Mitteiiage.
Flüssıgkeilsbilanz
-1500
-2500 Š AL
2527 16 16. 18. 20. 22. 2% 26. 28. 30. l2 3 5.
Abb. 3. H. Mittellage 78,43°', -+ 0,57 (Bezeichnungen wie Abb. 1 und 2)
270 Hildegard Albrecht
+25. g
:
#150015
z Ea
S se
3 7300 133
$ SS
ee,
3 £$
n es
-150042 >
S
©
-250043 -25
< I S 7 9 N 8 15. 17. 19. 21. 23. 25. 27. 29. 31. 2 4
Abb. 4. Ke. Mittellage 78,80%‘, -- 0,57 (Bezeichnungen wie Abb. 1 und 2)
+2 a #25
8.
+1500 Res
Š cS
à +5004 è? Ș r05
$ odè o
2 -500 8505
a3 a
` imo] 38.45
N SERERBERET RN
x 35 72 9 n %3. 15. 17. 19. 21. 23. 25. 27. 29. 31. 22 %
Abb. 5. Pa. Mittellage 80,37%, + 0,41
(Bezeichnungen wie Abb. 1—4). O= Anfall
+2500) 8
$
Y 3
Š F
a +3001 3
L 5g
è 0183
2500183
è $$
-1 2°
$
- $ -285
3.5. 7 9 N. 13. 15. 1% 19. 21. 23. 25. 27 29 3. De 4
Abb. 6. Kö. Mittellage 79,43°/, + 0,37.
xı: Verstimmung. Xə: Pat. schwitzt stark.
~a Am 1. 2. und 2. 2. keine Bestimmungen des Blutwassergehaltes, da Pat.
Fieber (Angina) hatte. Sonstige Bezeichnungen wie Abb. 1—4 und 5
+2. 8 +25
3
„tr. S #15
S 26
z 29
à + s0043 Sra
S 0 SE
s_ je
gms00j83
(P Te
-1500 28-15
B | |
3 446 8 10. 12. RM 16. 18. 20. 22. 2%. 26. 28. 30.12 3 S5.
Abb. 7. Le. Mittellage 78,76°/ + 0,42. x Verstimmung.
Sonstige Bezeichnungen wie Abb. 1—4 und 5
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 271
unten einige Male so erheblich, daß die untere normale Grenze,
nämlich 78°,, von 4 Patienten mehrere Male unterschritten wird;
der niedrigste Wert, der sich dabei findet, unterschreitet die untere
normale Grenze um 1,96°%. Eine Ausnahme macht allerdings
wieder Patient Pa., der keine Schwankungen nach unten zeigt,
dagegen größere nach oben.
Es ergibt sich also im allgemeinen bei unsern Epileptikern eine
Tendenz zu niedrigen Werten, die darauf schließen läßt, daß eine
gewisse Austrocknung statthat, vielleicht zugunsten einer Wasser-
retention im Gewebe, wenn man das Blut als den Spiegel des Ge-
schehens im Gewebe betrachtet. Zum mindesten kann nicht von
einer Hydrämie die Rede sein — selbst bei Patient Pa. nicht. Dieser
Befund steht im Gegensatz zu den Ergebnissen Hodskins, der bei
seinen Epileptikern ein erhöhtes Blutvolumen fand; aber daß seine
Methode recht ungenau ist, haben wir bereits oben erörtert.
Betrachten wir nun die Werte im Gesamtablauf bei den einzelnen
Patienten und ihre Beziehungen zum Anfall.
Von Patientin Pf. habe ich keine Abbildung gebracht, da sie nur
an einem Tage eine Abweichung von der Mittellage aufwies. Es lie-
een auch nur Werte von 9 Tagen vor, dann wurde sie entlassen.
Es handelt sich bei ıhr um eine symptomatische Epilepsie, die seit
frühester Kindheit besteht und mit einer erheblichen Wesensver-
änderung einhergeht. Die Anfälle treten zeitweise sehr gehäuft auf.
Während der Untersuchungen wurde nur ein Anfall beobachtet,
und zwar zeigt sie an diesem Tage ihren niedrigsten Blutwasser-
wert: er liegt bei 79,91 °,. Im übrigen zeichnet sie sich durch den
höchsten Mittelwert aus: er liegt bei 81,02 °,.
Patient Kr. wurde ebenfalls bald entlassen. Von ihm liegen Er-
gebnisse von 18 Tagen vor. Er hatte während dieser Zeit und auch
schon während einer ganzen Zeit vorher keinerlei Anfälle oder Ab-
sencen. Die Abweichungen sind nicht sehr erheblich. Die Werte
liegen im Bereich des Normalen. Die größte Abweichung beträgt.
-- 1,58°, vom Mittelwert und liegt bei 78,08°,.
Bei Patientin v. P. handelt es sich um diejenige, die im Status
ad exitum gekommen ist. Bei dieser Patientin liegen Beobachtungen
von 10 Tagen vor. Auch sie zeichnete sich durch einen relativ hohen
Mittelwert aus. Sie zeigt hohe Werte sowohl während des Därnmer-
zustandes als auch während des Status. Erst am letzten Tage sınkt
der Wert etwas ab und zwar auf 79,21 °,, das ist eine Abweichung
vom Mittelwert um 1,25°%.
Bei Patient H. liegen Werte von 3 1, Wochen vor. Es handelt sich
bei ihm um eine symptomatische Epilepsie, die erst verhältnis-
272 Hildegard Albrecht
mäßig kurze Zeit bestand. Während der Zeit der Untersuchungen
traten keine Anfälle oder Absencen auf. Die Abweichungen vom
Mittelwert sind nicht sehr erheblich, sie sind nicht größer als die
physiologischen Schwankungen, und nur 23% aller Werte liegen
überhaupt außerhalb der Mittellage. Dagegen zeichnet er sich da-
durch aus, daß seine Werte besonders tief liegen, sein Mittelwert
liegt dicht an der unteren normalen Grenze.
Betrachten wir nun die übrigen Patienten, bei denen die Be-
stimmungen die ganze Zeit, nämlich 5 Wochen lang, durchgeführt
wurden und bei denen man deswegen am ehesten Schlüsse ziehen
kann.
Einer von diesen, nämlich Patient Ke., hat überhaupt nur ein
Mal in seinem Leben einen epileptischen Anfall gehabt. Er zeigte
keine Wesensveränderung, und es waren während seines ganzen
Anstaltsaufenthaltes keine Anfälle aufgetreten. Es ist also derjenige
von den Fällen, der in seinem klinischen Bild am wenigsten vom
Normalen abweicht. Betrachten wir seine Blutwasserwerte, so er-
gibt sich, daß sein Mittelwert relativ niedrig liegt, dicht an der
unteren Grenze des Normalen. Von den gesamten Werten weichen
32°, von der Mittellage ab, davon beträgt die größte Abweichung
vom Mittelwert — 1,90°, und liegt bei 77,30°%,. Es sind also
immerhin Schwankungen zu verzeichnen, aber sie sind nicht so
groß wie bei den 3 folgenden Fällen, die sich alle drei durch das
Auftreten von Anfällen oder Verstimmungen auszeichnen. Es sind
die Patienten Pa., Le. und Kö.
Über den Mittelwert läßt sich bei diesen drei Patienten allerdings
nichts aussagen, was auf eine besondere Übereinstimmung oder auf
eine besondere Unterscheidung von den Patienten ohne Anfälle
hindeuten würde.
Dagegen ist der Prozentsatz derjenigen Werte, die von der Mit-
tellage abweichen, sehr viel größer als bei den übrigen Patienten,
nämlich bei Patient Le. 50°,, bei Pa. 62% und bei Kö. 63%. (Bei
Kr. 22°, bei H. 23%, bei Ke. 32°.)
Auch finden sich hier die größten Abweichungen vom Mittelwert
und zwar bei Le. um — 2,91 °; und bei Kö. um —2,30°,. Diese
Tatsache ist um so bemerkenswerter, als gerade die Differenz zwi-
schen den Doppelbestimmungen bei diesen Patienten noch niedriger
ist, d. h. daß die Bestimmungen sich durch eine größere als die
chemisch zu fordernde Genauigkeit auszeichnen. Die durchschnitt-
liche Differenz der Doppelbestimmungen beträgt bei Kö. 0,33°,,
bei Le. und Pa. 0,37 °,, und die größte Differenz beträgt bei Pa.
0,97%, bei Le. 1,07°, und bei Kö. 1,08°,. Das ist also ein Be-
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 273
weis dafür, daß die Schwankungen, die sich ergeben, nicht an der
Ungenauigkeit der Methode liegen, sondern tatsächliche sind.
Wenn man nun versucht, die Werte zu den Anfällen in Beziehung
zu bringen, so ergibt sich, daß in Zeiten größerer Schwankungen
auch die Anfälle sich häufen. Das ist besonders deutlich bei Patient
Le., bei dem in der ersten Hälfte die Schwankungen größer sind als
in der zweiten Hälfte, in der dann auch keine Anfälle mehr auf-
treten. Bei Patient Pa. ıst man sogar geneigt, einen gewissen
Rhythmus ım Geschehen festzustellen, und zwar wechseln Perioden
mit einem gewissen erhöhten Wassergehalt mit Perioden eines
niedrigen Wassergehaltes ab. Am Ende der erhöhten Phase kommt _
es zu Anfällen. Bei Le. tritt ein solcher Rhythmus nicht so deut-
lich in Erscheinung. Bei Kö. und Pf. hat man den Eindruck, als ob
ebenfalls eine gewisse Wasseranreicherung im Blut vor dem Anfall
stattfindet (s. den hohen Mittelwert bei Pf.!), daß es aber bereits
zum Absinken kommt, bevor der Anfall auftritt, denn beide haben
einen Anfall an dem Tag, wo sie den niedrigsten Blutwasserwert
aufweisen.
Ob diese Schwankungen nun die Ursache oder die Folge oder Be-
gleiterscheinung zu den Anfällen ist, läßt sich hier nicht entscheiden.
Es ist überhaupt unmöglich, bindende Schlüsse zu ziehen, da die
Zahl der untersuchten Personen nur klein ist. — Eine größere An-
zahl von Patienten stand uns an der hiesigen Klinik nicht zu Ver-
fügung. — Außerdem handelt es sich nur um ein Symptom. Ferner
fehlt der Vergleich mit Normalen. Von letzterem sahen wir aus
folgenden Gründen ab: Wenn man die gleichen Untersuchungen
wie bei den Epileptikern am Pflegepersonal oder an den Ärzten
der Klinik vorgenommen hätte, dann wäre ein Vergleich nicht zu-
lässig gewesen, da die Gesunden sich in einer dauernd angespannten
Tätigkeit befinden, während unsere Epilektiker einen völlig gleich-
mäßigen Tageslauf hatten, sodaß exogene Einflüsse so gut wie gar
keine Rolle spielten.
Es ist nun interessant, mit den Werten, wie sie im Blut gefunden
wurden, die Schwankungen in der Tagesbilanz zu vergleichen. Die
Flüssigkeitsein- und -ausfuhr wurde bei 6 Patienten kontrolliert.
Hier ist auffallend, daß die Patienten Ke., Kr. und H., also die
Patienten ohne Anfälle, größere Schwankungen in ıhrer Tages-
bilanz aufweisen als die Patienten Le., Pa. und Kö. Bei Le. er-
klärt sich diese Tatsache daraus, daß er sehr gleichmäßige Flüßig-
keitsmengen zu sich nahm. Aber bei Kö. und Pa. schwankte die
Flüssigkeitszufuhr genau so wie bei den andern drei Patienten. Man
könnte dieses so erklären, daß Ke., H. und Kr. eine bessere Fähig-
18 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3 4.
274 Hildegard Albrecht
keit haben, Unregelmäßigkeiten in ihrem Wasserhaushalt durch
die Nieren auszugleichen als Pa. und Kö. Man erwartet dann aller-
dings, daß sich dieses dann auch im Wassergehalt des Blutes zeigt.
Das ist jedoch keineswegs der Fall. Einmal gehen hohe Blutwasser-
werte mit hohen Urinmengen einher, ein anderes Mal umgekehrt.
Auch läßt sich keine eindeutige Beziehung zwischen Wasser-
bilanz und Anfällen herstellen. Zu diesem Vergleich können nur
Patient Le. und Pa. herangezogen werden. Bei Le. läßt sich eine
gewisse Regelmäßigkeit aufzeigen: zu Zeiten, wo Wasser retiniert
wird, kommt es zu Anfällen oder Verstimmungen, in den Tagen
danach folgt eine Diurese. Offenbar hört die Verstimmung auf in dem
Augenblick, wo die Diurese einsetzt. Patient Pa. hingegen läßt
jede Regelmäßigkeit vermissen. Einmal tritt der Anfall an den
Tagen der größten Wasserretention auf. Andere Male kommt es
zu einer positiven Wasserbilanz ohne Anfälle, und schließlich er-
scheint auch mal ein Anfall zu Zeiten, wo die Bilanz negativ wird.
Am Schluß sollen noch einige Bemerkungen über die Chloraus-
scheidung gesagt werden. Die Resultate sind gut übereinstimmende
Mittelwerte aus 3 Bestimmungen. Diese Werte sind in den Ab-
bildungen 8—12 dargestellt. Die ausgezogene Kurve bedeutet die
Gesamtchlormenge in Gramm, während die gestrichelte Kurve den
Gehalt des Urins an Chlor in mg % wiedergibt. Die Säulen zeigen
die Flüssigkeitsein- und -ausfuhr an, wobei die schraffierten Säulen
die Ausfuhr darstellen.
Es ergibt sich nun, daß bei Pa., Kö. und Ke. hohe Chlorwerte
auch mit großen Urinmengen einhergehen. Bei Le. und H. läßt sich
dieser Zusammenhang nicht erkennen. Es wurde bereits oben er-
wähnt, daß Frisch ebenfalls diese Beobachtung gemacht hatte, daß
es Epilektiker gibt, die eine Assoziation zwischen Wasserausschei-
dung und Kochsalzausscheidung vermissen lassen. Er vermutet,
daß es sich in diesen Fällen um eine „Historetention‘‘, nämlich um
eine Bindung von Kochsalz an Eiweiß handelt, sodaß das Koch-
salz seiner osmotischen Funktion entzogen ist.
Geller berichtet dagegen, daß bei den von ihm untersuchten Epi-
leptikern die Wasserausscheidung immer mit der Chlorausschei-
dung parallel ging, und zwar zeigten die Patienten vor den Anfällen
eine erhebliche Wasser- und Chlorretention, nach den Anfällen
eine Wasser- und Chlorausschwemmung. Er schreibt deswegen den
Gl-Ionen eine erhebliche Bedeutung zu. Er drückt die Vermutung
aus, daß die Chlorretention ein Faktor ist, der die Anfallsbereit-
schaft steigert, indem die Cl-Ionen eine Verschiebung im Säure-
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 275
Abb. 8—12. Chlorbestimmungen im Urin
$ $
Gesamtchlor in gr.
@
Chtorgehalt in mgr ĉo.
500 5
T.m, |3000
UM. \ 1000
0 ;
2 9. A . 5.
Abb. 8. Pa. Abb. 9. Ke.
— Gesamtchlor in gr. (Bezeichnungen wie Abb. 8)
Chlorgehalt in mgr °/,
T. M. = Trinkmenge []
U. M. = Urinmenge
Gesamichlor in gr
Q
Chiorgehah in n.gr%s
~
se 8
(r SE SRG RR)
SE
Sag
Abb. 10. Le. Abb. 11. Kö. Abb. 12. H.
(Bezeichnungen wie Abb. 8)
Basenhaushalt zugunsten einer Alkalose bewirken durch ihre Be-
ziehung zu den HCO,-Ionen.
Daß diese Verhältnisse aber keineswegs so eindeutig sind, daß
vor allem die Bedeutung des Chlors sehr zweifelhaft ist, darauf
sind wir bereits eingegangen und die tatsächlichen Befunde bei
unsern Untersuchungen bestätigen das nur.
Betrachtet man, wie sich die Gesamtchlorwerte in g ausgedrückt
zu den Chlorwerten, die in mg ° angegeben sind, verhalten, so
findet man bei Kö., Ke. und H. ein Parallelgehen der Werte, wäh-
rend bei Pa. und Le. die Werte sich mehrfach überschneiden, sodaß
man den Schluß zıehen kann, daß auch hier die Patienten mit An-
fällen größere Unregelmäßigkeiten aufweisen als die ohne Anfälle,
zu denen man in diesem Falle auch Kö. zählen kann, bei dem der
letzte Anfall schon erhebliche Zeit zurücklag. Auffallend ist hier
der große Chlorwert von 28 g bei Patient Pa. am zweiten Tag der
Chlorbestimmungen.
18*
276 Hildegard Albrecht
IV. Zusammenfassung
Bei 8 Epileptikern wurden Bestimmungen über den Wassergehalt
des Blutes mit Hilfe von Trockensubstanzbestimmungen vorge-
nommen. Bei 6 von diesen Patienten wurde gleichzeitig die Flüssig-
keitseinfuhr und -ausscheidung geprüft.
Bei 5 dieser Patienten wurden anschließend Bestimmungen über
die Chlorausscheidung im Urin gemacht.
Es ergab sich dabei folgendes:
Allen Patienten ist gemeinsam, daß die Mittelwerte ihres Blut-
wassergehaltes innerhalb des Normalen liegen, daß sie aber erheb-
lich näher an die untere Grenze reichen als an die obere. Die Ab-
weichungen von der Mittellage sind eher größer nach der negativen
als nach der positiven Seite. Sie unterschreiten in mehreren Fällen
die untere Grenze, während die obere Grenze nie auch nur an-
nähernd erreicht wird. Diese Befunde schließen eine Hydrämie bei
Epileptikern aus.
Der Vergleich zwischen Patienten, die während der Zeit der Un-
tersuchung Anfälle hatten und denen, die keine Anfälle hatten, er-
gab, daß sich bei den Patienten mit Anfällen größere Schwankungen
im Wassergehalt des Blutes zeigten als bei denen ohne Anfälle. Ein
besonderes Verhalten in bezug auf die Lage des Mittelwertes war
nicht zu erkennen, ebenso nicht eine sichere Beziehung zwischen
den Anfällen und einer Wasseranreicherung bzw. einer Wasserver-
armung im Blute.
Was den Ablauf in der Tagesbilanz betrifft, so ging er keineswegs
parallel dem Wassergehalt im Blute. Hier zeigten Patienten-ohne
Anfälle größere Schwankungen als die mit Anfällen.
Auch ließ sich das Auftreten von Anfällen nicht in Zusammen-
hang bringen mit bestimmten Abläufen in der Tagesbilanz.
Chlorbestimmungen im Urin zeigten, daß Patienten mit gehäuft
auftretenden Anfällen größere Unregelmäßigkeiten in ihrer Chlor-
ausscheidung aufweisen als Patienten ohe Anfälle.
Ein Parallelgehen von Wasserausscheidung und Chlorausschei-
dung war nicht immer vorhanden.
Diese Befunde im ganzen genommen weisen also darauf hin, daß
bei Epileptikern gewisse Schwankungen in bezug auf den Wasser-
haushalt und den Mineralhaushalt vorliegen. Wieweit diese das
Wesen der Epilepsie betreffen, muß offen bleiben.
A
Beitrag zum Wasserhaushalt der Epileptiker 277
Literaturverzeichnis
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Über den Stand |
der Insulin- und Cardiazolbehandlung
Literaturbericht
Von
M. Thumm
(Aus der Bad. Heil- und Pflegeanstalt Illenau. Direktor: Dr. H. Roemer)
(Abgeschlossen 15. September 1938)
Vorbemerkung. Die vorliegende Arbeit setzt den von Roe-
mer (205) begonnenen Literaturbericht, der mit dem 15. März 1937
abgeschlossen ist, fort. Inzwischen ist die Flut einschlägiger Ar-
beiten fast unübersehbar angeschwollen, so daß eine chronolo-
gische und systematische Besprechung der einzelnen Arbeiten
nicht mehr in Frage kommt und lediglich eine zusammenfassende
Besprechung unter bestimmten Gesichtspunkten erfolgen kann.
Zur Vorgeschichte der neuen Behandlungsweisen. Schuster (238)
nimmt für sich in Anspruch, schon in den Jahren 1922 bis 1926 Experimente
zur Schockbehandlung mittels Insulin, Glykogen und Kohlehyvdrat durch-
geführt und 1928 über die Heilung von mehr als 60 schizoiden Psychosen be-
richtet zu haben. Pötzl (191) erwähnt, daß ein französischer Arzt, Pascal, schon
1926 auf die Schockbehandlung der Psychosen hingewiesen und anscheinend
auch den Insulinschock gekannt hat. Nach Breslers (24) Zusammenstellung
hat als erster Miskolesy 1927 über Verwendung des Insulins bei Nerven- und
Geisteskranken und zwar in der Form der Insulinmastkuren berichtet; in der
Folge berichteten über die Anwendung des Insulins bei endogenen Depressionen
Gallineck 1929, bei Delirium tremens Klemperer 1929 und 1932, Steck 1933, bei
Nahrungsverweigerung Becker 1930, Slotopolsky 1931, Küppers und Strehl
1933, bei der Therapie der Morphiumabstinenzerscheinungen Sakel 1930 (s.
auch (217)), Braun und Jacobi 1931. Steck (252) hat als unmittelbarer Vor-
läufer Sakels schon seit 1929 Psychosen mit Insulinhypoglykämie behandelt.
Durch all dies kann freilich nicht Sakels großes Verdienst, Schöpfer der
neuzeitlichen Insulintherapie bei Schizophrenen zu sein, geschmälert werden.
Von entscheidender Wichtigkeit für den Siegeszug der Insulin-
und auch der Cardiazolbehandlung war die Jahresversammlung
des Schweizerischen Vereins für Psychiatrie (Mai 1937),
zu der sich in Bern-Münsingen etwa 300 Psychiater aus aller
Herren Länder zusammengefunden hatten. Neben Polen, Ungarn
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 279
und Jugoslavien hat zuerst die Schweiz — durch M. Müllers Be-
mühungen — die Sakelsche Insulintherapie in größerem Ausmaß
übernommen. Im Laufe des Jahres 1937 hat dann durch Ederles
Vorgang angeregt, auch Deutschland rasch aufgeholt, so daß
E. Küppers (142) inseinem Referat aufder Jahresversamm-
lung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psych-
iater in München (September 1937) auf Grund einer Umfrage
in deutschen Instituten schon über 1224 Behandlungsfälle zu-
sammenfassend berichten konnte. Italien und Holland blieben
nieht zurück. In Amerika, wo das wissenschaftliche Interesse bis-
her vor allem der Psychogenese der Psychosen zugewandt ist, war
man nach Wortis’ (274) Angaben lange gegenüber der neuen
Therapie zuwartend bis ablehnend; seit Januar 1937 kam der
Umschwung, und man hat sich in Amerika mit dem dort eigenen
Enthusiasmus der Methode Sakels, die von ihm selbst einführend
vermittelt wurde, zugewandt, so daß man schon nach wenigen
Monaten 500 Fälle aufzuweisen hatte. In England ging die Ent-
wicklung langsamer vor sıch.
Praktisch-organisatorische Fragen bezüglich der Ein-
richtung der Insulinabteilungen und der Cardiazolbehandlung wur-
den vor allem von Roemer (206, 207) und von v. Braunmühl
(19, 22) besprochen, ferner auch von Deussen (43), Kraus (136)
und Larkin (145).
I. Insulinbehandlung
Die Berichte über die Behandlungsergebnisse nehmen im Schrift-
tum breitesten Raum ein. Sakel (217) selbst rechnet bei einer
Krankheitsdauer bis zu 1, Jahr 80°, gute, berufsfähige Remis-
sionen, 70°, Vollremissionen, Dussik (48) und Beyerman (15)
gleichfalls 70°, VR., Frostig (77) sogar deren 86,9°,, Kubo (138)
83°, gute, berufsfähige Remissionen im Sinne Sukels; Ederle
(53) kommt, Voll- und berufsfähige Remissionen zusammenge-
nommen, auf 72°, gegenüber 32°, Spontanremissionen ım nicht-
behandelten Material der Tübinger Klinik. Übereinstimmend sind
die Zahlen von fFaltlhauser (61), Berglas (13) und Soininen (246).
M. Müller (176) fand in der Schweiz bei rund 500 Fällen bei einer
KD. bis zu 1⁄4 Jahr 59,1°,, bei Ausschaltung der Unbeeinflußten
mit ungenügender Behandlungszeit (d. h. unter 60 Tagen) 65,3°,
voll und sozial Remittierte. E. Küppers (142) fand bei seiner
Umfrage über 1224 Fälle aus deutschen Anstalten (einschl. 262 Car-
diazolbehandelte) die Schweizer Zahlen, wenn man sich an die
dreimonatige Behandlungsdauer hält, erreicht, sogar etwas
280 M. Thumm
überschritten (wobei die Verteilung der Erfolge und MiBß-
erfolge bei der Insulin- und bei der Cardiazolbehandlung sehr
ähnlich ist); er glaubt, daß gegenüber den Spontanremissionen der
Erfolg in durchschnittlich der halben Zeit erreicht werden könne.
Dussik (50) hält den Erfolgswert der Insulinschocktherapie bereits
für so gesichert, daß schlechtere Ergebnisse nur auf Fehlern der
Methodik, ungenügender Behandlungsdauer oder ungünstiger Aus-
wahl der Fälle beruhen könnten; er erhebt darum die Forderung,
die Schizophrenen möglichst zeitig, selbst wenn die Diagnose noch
nicht zweifelsfrei feststeht, der Behandlung zuzuführen, um den
günstigsten Zeitpunkt nicht zu versäumen.
Allgemein gehaltene Zustimmung ergibt sich aus den Arbeiten
von Bychowski, Kaczynski, Konopka und Szezytt (36), Cameron und
Hoskins (38), Glueck (87), Rymer, Benjamin und Ebough (215).
Im Gegensatz zu obigen im ganzen übereinstimmenden Er-
gebnissen werden z. T. wesentlich schlechtere Resultate be-
richtet von Berezowski (12), Büdingen (34), Cameron (39), Lemke
(148), Ross (208) sowie Marzynskı (160) und Witek (159). Die bei-
den letztgenannten Autoren scheiden von vornherein für ihre
Berechnung alle zu Remission neigenden Fälle aus, da man nicht
wissen könne, ob die Besserung wirklich ein Erfolg der Behand-
lung sei. Wenn es auf der einen Seite zu weit geht, daß Marzynski
den Berechnungen erst bei einer Mindestzahl von 400 Fällen Wert
beilegen möchte, kann man doch v. Kügelgen (139) Recht geben,
wenn er sagt: „Es ist zu billig, aus Zehnern Hundertsätze zu er-
rechnen‘. Jedenfalls ist es von keinem Nutzen, wenn Autoren be-
richten, die nur über einige wenige Fälle verfügen (so Andrada (4),
Deußen (44), Halpern (93), Katzenelbogen, Harms und Clark (128),
Russel (214) u. a.) und wenn einer von ihnen gar aus 7 Fällen 100%
Erfolg errechnet. Stärcke (251) meint, man könne vor Ablauf eines
Jahres nach Abschluß der Kur kein Vertrauen zu einer Erfolgs-
statistik haben.
Pullar-Strecker (193) möchte alle Rückfälle, auch wenn eine zweite Kur
Erfolg hatte, als negativ buchen. ‚‚Wir können es uns leisten, unsere Erfolgs-
ziffern nach unten abzurunden; — es handelt sich bei der Insulinbehandlung
ja nicht um ein Wettlaufen weder mit den Spontanremissionen noch mit einer
anderen Methode, sondern um ein zuverlässiges -Gefährt, das uns dahin bringt,
wohin wir gelangen wollen“.
Gies (83) und Wortis (275) weisen auf die Schwierigkeiten hin,
den tatsächlichen Krankheitsbeginn und damit die Krankheits-
dauer exakt festzustellen.
In der Frage der Spontanremissionen gehen die Urteile noch
recht weit auseinander.
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 281
Ederle (54) rechnet unter seinen Nichtbehandelten des Jahres 1935 nur
3 bis 4% Spontanremissionen, Briners (27) Katamnese über 267 in den Jahren
1933 bis 1936 Entlassene mit einer KD. bis ein Jahr ergab, daß von 209 noch
Lebenden 60,3%, (bzw. bei Berücksichtigung der Schlafbehandelten 53,1%)
in mehr oder minder guter Remission in Freiheit lebten, darunter in sozial ge-
heiltem Zustand 34,5 (bzw. 26,8) %. Rath (196) berechnet 35°, katamnestisch
festgestellte Spontanremittierte gegenüber 45 v. H. Durchschnittserfolgen
bei Insulin, Horäny-Hechst und Szatmári (104) meinen, die durch Insulin-
behandlung erreichten Remissionszahlen überträfen nur unerheblich die
spontanen. Lemke (148), der unter 46 Insulinbehandelten seines Materials in
der Jenenser Klinik nur 26% Sozialremissionen fand, berechnet demgegenüber
aus den Katamnesen früherer Jahre 34% berufsfähige Spontanremissionen
(Heidelberger Klinik 35°%;). Er vermutet, daß die durch Insulin Gebesserten
den Anteil Schizophrener bilden, bei denen die Krankheitsanlage leichter ver-
läuft und die später — allerdings um den Preis längerer Verlaufsdauer —
auch ohne besondere Behandlung wieder arbeitsfähig werden, während unge-
fähr ein Drittel der Fälle, die in den allgemeinen Statistiken als unbeeinflußbar
geführt werden, die aus Erbanlage heraus schwer verlaufenden Fälle bilden.
Er fand dies durch seine encephalographischen Untersuchungen bestätigt:
bei geringem encephalographischem Befund bestand therapeutische Beein-
flußbarkeit, dagegen wurden Kranke mit deutlichem Hydrocephalus ext. und
int. wenig oder gar nicht gebessert. Lemke leitet hieraus die Möglichkeit ab,
von vornherein eine Prognose bezüglich der Heilbarkeit zu stellen.
M. Müller (176) nımmt hingegen die Zahl der Spontanremis-
sionen bei frisch Erkrankten mit 30°, die der Insulinremissionen
mit etwa der doppelten Zahl an. Lehmann-Facıus (146) sieht in
dem so oft beobachteten Eintreten der Besserung schon während
der Behandlung einen Beweis dafür, daß es sich bei der Insulin-
therapie nicht nur um Spontanremissionen handeln könne. May
(162) erblickt einen Unterschied zwischen Insulin- und Spontan-
remittierten darin, daß die Ersteren Krankheitseinsicht erlangen
und im Gegensatz zu den Spontanremittierten nach der Ent-
lassung gern noch in engem Kontakt mit Anstalt, Arzt und Per-
sonal bleiben und den Wert der Kur voll einzuschätzen wissen.
In gleichem Sinn stellt M. Müller (l.c.) fest, daß die Insulin-
remissionen den Spontanheilungen im allgemeinen auch qualitativ
überlegen sind.
Was nun die Verteilung der Ergebnisse auf die einzelnen
Krankheitsformen anlangt, so steht die besonders gute
Ansprechbarkeit der frischen und der paranoiden
Formen, letztere so lange nicht älter als ein Jahr,
fest. (M. Müller (176), Ewald (59), Hager (92), Heuschen (99),
Kubo (138), Wortis (275). Dies ist umso auffallender, als bei un-
behandelten Fällen gerade die paranoiden Formen der Schizo-
phrenie die schlechteste Prognose geben (Briner (27). Dieser Um-
stand spricht gewichtig gegen die Annahme, daß es sich bei den
282 M. Thumm
insulinbehandelten Paranoiden um eine bloße Spontanremission
handeln könne (v. d. Scheer (228). Von 10 behandelten Paranoiden,
die Dussik (48) über 31% bis 3 Jahre beobachtet hatte, waren acht
berufsfähig und frei von allen Krankheitserscheinungen geblieben.
Nur Press (192) weicht von der allgemeinen Erfahrung ab, indeın
sie — allerdings nur auf Grund von vier Fällen — von völligem
Mißerfolg bei Paranoiden spricht. Roggenbau (203) vermutet unter
den Paranoıden der Autoren auch exogene Zustände, wie er auch
in der sogen. Reaktionsumkehr rein exogene Zustandsbilder bzw.
Dämmerzustände meint sehen zu dürfen. Eine besondere Schwierig-
keit scheint mir in der allgemeinen Verständigung darüber zu
liegen, was man unter „paranoid“ verstehen will; auf alle Fälle
muß die paranoide Einstellung völlig im Vordergrund des Synı-
tomenbildes stehen, episodisches Halluzinieren oder Äußern von
Wahnideen genügt nicht.
Bei den Katatonien bieten die phasisch-akut verlaufenden, ins-
besondere die Erregten günstige, die chronisch-sterotypierten oder
stuporösen Fälle ungünstige Prognose; am schlechtesten stehen
die Endzustände und auch die hebephrenen und blanden symptonı-
armen Formen (Kronfeld u. Sternberg (137), Braun (18), Sichter-
mann (243). Andererseits sah v. d. Scheer (22) unter einer ver-
hältnısmäßig kleinen Zahl von Fällen vier besonders beweis-
kräftige Remissionen gerade bei den Chronischen. Roßman u.
Cline (209) berichteten über gute Erfolge bei 52 chronischen, für
hoffnungslos gehaltenen Schizophrenen, die durchschnittlich vier
Jahre psychotisch waren. Auch E. Küppers (142) fand in seiner
Zusammenstellung beı den alten Fällen ohne spontan remittierenden
Charakter immerhin noch einen nennenswerten Prozentsatz von
VR. (bei Insulin und Cardiazol), worin er den schlagendsten Be-
weis für die Wirksamkeit der Methode erblickt. Worits (275) sieht
pharmakologische Insulinresistenz bei chronischen Fällen als
prognostisch ungünstig an.
Im allgemeinen behält sicherlich der Erfahrungsatz Dussiks (48)
seine Richtigkeit, daß die Dauer der Krankheit vor Ein-
setzen der Behandlung sıch umgekehrt proportional
verhält zu dem Prozentsatz der VR., zur Qualität der
Remissionen, aber auch zu ihrer Dauer und Haltbar-
keit. Die Grenze der „noch guten Beeinflußbarkeit‘‘ möchte daher
M. Müller (176) nicht wie früher mit 115, sondern mit 1 Jahr an-
gesetzt wissen, während die ideale Forderung bleibt: Behandlungs-
beginn möglichst innerhalb der ersten sechs Monate.
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 283
Erb u. Domaszewicz (57) untersuchten die Unterscheidungsmöglichkeiten
zwischen den Spontan- und Insulinremissionen experimentell durch Vornahme
von sog. Unterbrechungsproben (Absetzen des Insulins bei Eintritt von Re-
mission und später wieder Beginn der Behandlung); sie fanden, daß die In-
sulinremission nichts anderes als eine im großen Maßstab auf einen längeren
Zeitraum projektierte ‚„‚Unterbrechungsprobe‘“ sei; andererseits stelle diese
eine wirkliche Remission im kleinen dar.
Technik und Dosierung. Die klassische Technik der Sakel-
schen Methode darf hier als bekannt vorausgesetzt und für die
Einzelheiten auf Sakels Originalmonographie, ferner auf e.Braun-
mühls „Leitfaden“ (22) und Frostigs „Vorläufige Richtlinien“ (76)
verwiesen werden. Daß hier jegliches Schematisieren vom Übel ist
und nur sorgfältigstes, individualisierendes Vorgehen und Ab-
wägen aller Umstände Schaden zu verhüten und therapeutische
Erfolge zu bringen vermag, kann nur immer wieder betont werden.
Mit Accornero (1) wird man heute an Stelle der ursprünglichen
vier Phasen Sakels mit der Unterscheidung zweier Phasen, des
vorbereitenden Stadiums (Anlaufsphase) und des therapeutischen
Stadiums (Schockphase), auskommen.
Die Verwendung von Protaminzinc-Insulin, das in Amerika (Reese u. v.d.
Veer (198)) versucht wurde, hat sich nicht bewährt: Nachkomata und Anfälle
waren dabei häufiger. — Beno (11) empfiehlt. während der Phase I anstatt
täglichen Steigerns ein oder zwei Tage lang die gleiche Dosis zu wiederholen:
dadurch werde die Therapie gefahrloser, vor allem schienen epileptische An-
falle seltener zu werden.
Die Insulinempfindlichkeit bei den einzelnen Indi-
vıduen ist ganz außerordentlich verschieden (wobei das
Auftreten der hgl. Erscheinungen nicht so sehr abhängig ist von der
Höhe des Blutzuckers als vom BZ.-Sturz; Spontan-Hgl. kommt
nur bei Überfunktion der Pankreasinseln cder Unterfunktion der
Nebennieren vor [John (115)].
Ich selbst habe einen Fall erlebt, bei dem schon mit 8 E. ein Koma zu er-
zielen war. Andererseits erwähnt Seitzer (240) als Beispiel dafür, welche exorbi-
tanten Mengen von Insulin noch schadlos vertragen werden können. den Fall
eines 27). Studenten. der erst mit 390 E. in ein regelmäßiges Koma zu bringen
war, 38 Tage lang jeweils zwischen 345 und 390 E. benötigte und insgesamt in
142 Behandlungstagen 33255 E.. d. i. durehsehnittheh 277 E. je Behandlungs-
tag. ohne sichtbare Nachteile erhalten hat. Auch Mason Smith (161) berichtet
uber einen ähnlichen Fall von Insulinresistenz (bei 310 E. noch keinerlei
Wirkung). — Frischerkrankte sollen nach Halpern (93) im allgemeinen mit
weniger Insulin zur Erzielung eines Komas auskommen. Langfeldt (144) er-
wäahnt den Fall einer in Opiumkur begrilfenen 50Jahrigen Depressiven, die
schon bei 7,2 E. (1.-v.) einen schweren hgl. Shock mit allgemeinen Krampfen
bekam. wobei an die Erregung einer Insulinüberempfindliehkeit dureh Opium
gedacht wurde.
284 M. Thumm
Auch bei einem und demselben Kranken machen
sich Schwankungen in der Reaktionsweise geltend, ohne
daß daraus prognostische Schlüsse bezüglich der Heilaussichten
gezogen werden dürften (Plank (188)).
Beyerman (15) meint, daß es in den meisten Fällen nicht nötig sei, ein
tiefes Koma zu erzeugen. Erging, wenn die Komadosis erreicht war, regelmäßig
an den folgenden Tagen mit der Zahl der Einheiten beträchtlich herunter und
erhielt doch einen tiefen Schlaf mit verringertem Cornealreflex, Babinski usw.
Die Erhöhung der Empfindlichkeit infolge Gewöhnung des
Organismus an die Insulinwirkung, so daß höhere Dosen zur Er-
zielung des Komas benötigt werden, heißt „Adaptation“ (E.
Küppers). Nach James, Freudenberg u. Cannon (110) läßt sie sich
beschleunigen durch allabendliche i. v. Injektionen von Vitamin
B + Adrenalin oder Vorbehandlung mit Alkalien.
Die umgekehrte Reaktionsänderung des Körpers ist die „Sen-
sibilisierung‘“ (M. Müller). Sie findet nach Frostig u. Persyko (78
ihren Ausdruck darin, daß die B.-Z.-Kurven im Verlauf der Be-
handlung eine andere Gestalt annehmen. Der B.-Z.-Senkungsquo-
tient (d. i. Nüchternwert des Tages geteilt durch den niedrigsten
B.-Z.-Wert) stieg in allen untersuchten Fällen trotz gleichbleiben-
der Insulindosis und normierter Kost konstant an, meist bis zum
9. Insulintag. Dann traten Schwankungen des B.-Z.-Senkungs-
quotienten auf, die bei steigender Dosis noch weit größer wurden.
Sagel (216) sieht in der Sensibilisierung ein allergisches Symptom, das sich
in einer enormen Umwälzung bezüglich der morphologischen Zusammen-
setzung des Weißblutbildes ausdrückt; (er denkt dabei — ähnlich wie bei
Malaria und anderen Infektionskrankheiten — an Eiweißzerfall als gemein-
same Ursache und zieht die Parallele zwischen Reizkörpertheräpie und Insulin-
behandlung). Wechsler (268) bringt den häufig atypischen Verlauf des Blut-
bildes der Schizophrenen im hgl. Zustand mit der allgemeinen Dissoziation des
endokrinen und neuro-vegetativen Systems in Zusammenhang, während im
Tierversuch regelmäßig im Schock nach Abstieg ein Wiederanstieg der Leuko-
zytenzahl erfolgt; er scheidet die Nüchternligl. als Pseudosensibilisierung vom
Begriff der echten Insulinüberempfindlichkeit.
Helmut Müller (175) stellte (im Anschluß an v. Braunmühl)
„Komadosislinien‘ auf, deren Verlauf die unter der Kur auf-
tretenden Änderungen der Insulinempfindlichkeit und deren plan-
mäßige Auswertung zu dem von E. Küppers ausgearbeiteten
Dosierungsverfahren zur Darstellung bringt. Er fand dabei regel-
mäßig Steigerung. der Insulinempfindlichkeit nach den ersten
Komata und nach epileptischen Anfällen. Ein ständiges Spiel
zwischen Sensibilisierung und Adaptation im Bereich mittlerer
Insulindosen scheint prognostisch günstig, ebenso eine starke
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 285
Sensibilisierung nach den ersten Komata, ungünstig dagegen eine
während der Kur auftretende starke Adaptation wie auch eine all-
mählich ansteigende Insulinintoleranz.
Bei Insulinresistenz empfiehlt Sakel (219), die Gegenregu-
lierung gewissermaßen zu „überlisten‘‘; die Dosis wird einige Zeit
auf großer Höhe gehalten, dann unvermittelt um die Hälfte ge-
senkt; die eine höhere Dosis erwartende Gegenregulierung springt
auf die halbe Dosis nicht an, und der Patient kommt ins Koma.
v. Braunmühl (20) (21) (22) hat das gleiche Prinzip in seiner
„Zick-Zack-Methode“ praktisch ausgebaut, um so zu aktiver Sen-
sibilisierung und damit zu einer erwünschten Reduzierung der
Dosen zu gelangen. Zugleich dient ihm die Methode als Sensibili-
sierungstest zur Prüfung der jeweiligen Sensibilisierungslage: Das
Anlegen einer tiefen ‚Testzacke‘‘ (Bodenzacke) in die „Schock-
linien‘ gibt ihm je nach Ergebnis Anlass zu einer ‚„Neueichung‘“
und hilft so prophylaktisch zur Vermeidung von Gefahren. Nach
Kastein (121) kann auch schon die Einschiebung einer einfachen
Pause von 7—10 Tagen genügen, um durch den Vorgang der
Sensibilisierung zu einer wesentlich niedrigeren Komadosis (bis zur
Hälfte und einem Drittel der früheren) zu gelangen.
Eine Behandlungsdauer von unter 60 Tagen hält M. Müller
(176) unter allen Umständen für ungenügend. Ehe eine Kur als
aussichtslos aufgegeben wird, sollte die Behandlung mindestens
3 Monate durchgeführt werden. v. Braunmühl (22) setzt sie
gegebenenfalls bis zu 4, ja 6 Monaten fort; nur wenn der Kranke in
keiner Weise angesprochen hat, bricht v. Br. nach 3 Monaten ab;
bei katatonen Stuporen behandelt er von vornherein 4 Monate lang.
Zur Abgrenzung des Komabegriffes hält Liepmann (152) das
Kriterium der „Unweckbarkeit‘‘ (E. Küppers), das Ausbleiben
zielgerichteter Reaktionen auf Schmerzreize, nicht für ausreichend.
Als sicheres Zeichen des Komas im Sinne tiefer Bewußtlosigkeit
sieht er das Erloschensein des Konjunktivalreflexes und das
Fehlen der Pupillenreaktion auf Licht an, ferner den Tonusverlust
des Oberlides, das Bestehenbleiben maximaler Pupillenverengerung
und das Erloschensein des Nasenschleimhautreflexes (fehlende
Abwehr bei Einführung der Nasensonde).
Hoelen (102) spricht von tiefem Koma, wenn der Gornealreflex erloschen
ist, James, Freudenberg u. Cannon (110) bei Unfähigkeit, auf Reize zu ant-
worten, bei gleichzeitigem Hypotonus und Fehlen der Corneal- und Plantar-
reflexe.
Gänzlich abgeschwächt erscheint bei Rubenovitch (210) der Begriff
Schock; er faßt darunter schon ‚Phänomene geringer Intensität“ wie Ver-
anderungen der arteriellen Spannung, der Temperatur und des nervösen Tonus.
286 M. Thumm
Es wäre zu begrüßen, wenn an Stelle der so unbestimmten Be-
zeichnung „Schock“ die präzisere „Präkoma‘ und „Koma“
(E. Küppers) allgemein benutzt würde.
Klinische Zustandsbilder während der Insulinbehandlung. Über
ihre Verschiedenheit und wechselnde Auswirkung berichtet Wortis
(276). Nach Wortis, Bowman u. Orenstein (275) können während
der Insulinbehandlung Schizophrener auch Änderungen des
klinischen Bildes im Sinne einer Umwandlung in paranoide
Bilder ohne Heilung der Psychose vorkommen. Gies (83) beob-
achtete bei den meisten Kranken infolge der Kur eine leichte
Euphorie, die an Alkoholeuphorie erinnerte. Ähnlich sprechen
Humbert u. Friedemann (108) von einem Zustand des ‚„Vergessens‘‘,
begleitet von Wohlbehagen. Hesse (98) bespricht die psychotischen
Entäußerungen im Insulinschock, in dem er nichts Spezifisches
sehen kann. Es kommt auch bei Normalen im hgl. Zustand nicht.
selten zu psychotischen Reaktionen, katatonieähnlichen Bildern
und Dämmerzuständen. In solchen Fällen ließ sich eine erbliche
Belastung in der Richtung der Katatonie oder Epilepsie nach-
weisen. Fenz u. Kogerer (64) beschreiben ein eigentümliches schi-
zophrenieähnliches Bild, das bei einem 16 j., seit dem 4. Lebensjahr
an schwerem Diabetes Leidenden während der Insulinbehandlung
auftrat.
v. Braunmühl (23) setzt das klinische Bild während des Kur-
verlaufes zur Körpergewichtskurve in Beziehung und gewinnt
dabei gewisse prognostische Anhaltspunkte; so unterscheidet er
einen VR.-Typ, Versagertyp, Reversionstyp (Gewichtszunahme
ohne psychische Besserung) und Zögerertyp.
Was mögliche Modifikationen der Technik anlangt, so ist
M. Müller (176) beizupflichten, wenn er sagt, daß nur auf Grund
sorgfältigster und gründlichster Erfahrung und erst nach langer
Arbeit mit der klassischen Technik von dieser abgegangen werden
darf.
Auf die Erfahrung hin, daß in mehreren Fällen von ungewolltem protra-
hiertem Schock die Kranken nach dem schließlichen Erwachen schlagartige
senesung erfuhren, wandte Kraulis (133) den protrahierten Schock willkürlich
zu therapeutischen Zwecken in solchen Fällen an, bei denen gewöhnliche
Insulinbehandlung und auch Gardiazol nicht weitergeführt hatten. Die þe-
treffenden Kranken (bis jetzt 6) wurden 12 und mehr Stunden im tiefen Koma
belassen. wobei zur Vermeidung schwerer irreversibler Schäden von der vierten
hgl. Stunde an kleine Zuckergaben von 10 bis 15 gr. in 4 bis 2 Stunden Ab-
stand erfolgten, bis schließlich mit 200 g Zucker endgültig unterbrochen wurde.
Es ist klar, daß ein solcher therapeutischer Versuch, so interessant er ist, ein
sehr großes Wagnis einschließt. — Da das im Zeitpunkt der Unterbrechung
Über den Stand der Insulin- ıınd Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 287
herrschende Zustandsbild erfahrungsgemäß die Neigung hat, auch über den
hgl. Zustand hinaus vorherrschend zu bleiben und diese Wirkung sich bei
Wiederholung summiert, kamen Sakel (218) (219) und Dussik (48) (49) (50)
darauf, eine Behandlungsmodifikation nach dem psvehotischen Syndrom,
namlich die systematische Unterbrechung in einer bestimmten Situation der
optimalsten Reaktion zu empfehlen; so wäre der Stuporöse im Stadium der
Erregung (Enthemmungsreaktion), der kataton Erregte in der Somnolenz, der
Paranoide bzw. Halluzinant während des ruhigen, tiefen Komas zu wecken.
Doch möchte Sakel dieses Vorgehen ausdrücklich auf frische Fälle beschränkt
wissen. — Soweit zu erkennen, hat diese Modifikation, für die auch Cameron
und Hoskins (37) eintreten, sich bis jetzt nicht allgemein durchzusetzen ver-
mocht. Diese letztgenannten amerikanischen Autoren, wie auch K. Weber (266)
unterbrechen übrigens grundsätzlich anstatt mit der Sonde dureh i. v. Zucker-
zufuhr.
Gefahren und Komplikationen. Es versteht sich, daß eine
Behandlungsmethode, die die Kranken täglich an die Grenze der
Lebensgefahr heranbringt, sorgfältigster ärztlicher Führung be-
darf. Die Forderung der engen Zusammenarbeit mit dem
Internisten (Schmid u. Bersot (233)) ist daher gewiß berechtigt.
Hadorn (90) verdanken wir genaue intern-klinische Beobachtungen über
die Wirkung des Insulins auf den Kreislauf. Wenn nach ihm auch keine
momentanen Gefahren von seiten der Kreislauforgane vorliegen, so rechnet
er doch angesichts der beobachteten Veränderungen im EKG. mit möglichen
Spätfolgen und verlangt laufende EKG.- und Blutdruckkontrollen. Als
Gontraindikationen führt er an: Angina pectoris, Coronarsclerose, Ilyvper-
tonie und chronische Nephritis, schwere Herzklappenfehler, sowie Myvocard-
schäden und gibt eingehende Vorschriften zur Behandlung der Zwischenfälle
von seiten des Kreislaufes.
Auch De Smet (24%) sieht in ernsteren Hlerzaffektionen eine Gegenanzeige;
im klinisch gesunden Herzen mit normalem EKG. konnte er dagegen keine
feststellbaren Schäden nach Insulinbehandlung beobachten. Nach Viersma
1265) kann man sich auf diese Regel nicht unbedingt verlassen: so wurde z. B.
bei einer Frau mit zuvor normalen EKG. im Insulinkoma Vorhofflimmern
beobachtet. — Heuschen (99) gab in kollapsnahen Zuständen während oder
nach der Sondenernährung mit gutem Erfolg 20 g Coraminlösung.
Schatner u. ONeill (227) halten die Komplikationen der Atmung
fur wichtiger als die des Kreislaufes. — v. Dinther u. Jansen (45) sahen einen
Fall von totalem Atemstillstand, der sieh nach Verringerung der Insulindosis
nieht wiederholte. — Auch Larvngospasmen können gefährlich werden
Planck (188)). — An die Gefahr der Schluckpneumonie (Weber (266)) anlaß-
lich der Sondenernährung, aber auch dureh Schleimaspiration muß stets ge-
dacht werden. Nikolajees (178) berichtet über zwei Todesfälle an Lungenödem
nach ordnungsinäßigem Erwachen aus dem Koma. Beiglböck u. Dussik (10)
betrachten diese Komplikation als die akut gefährlichste und empfehlen als
souveräne Therapie Strophantin zusammen mit Aderlaß und Sauerstoffzufuhr.
Auch Beno (11) berichtet von einem Fall von Lungenödem, der tödlich ver-
lief, Schlotmann (232) von einem, der mit Genesung endete. — Lemke (148)
verlor einen Fall durch plötzliche Atemlähmung im Beginn des Komas.
288 M. Thumm
Die Mortalität ist aufs Ganze gesehen gering. M. Mül-
ler (176) gibt sie mit 1%, für die Schweiz 0,5%, E. Küppers (142)
für Deutschland mit 1,6% an.
Lemkes (148) hohe Ziffer (9 von 46 Behandelten, darunter 3 in der fort-
bestehenden Benommenheit) ist als ungewöhnliche Ausnahme zu bewerten.
Vereinzelte Todesfälle im Koma werden des Weiteren berichtet von Kastein
(121), Kohler (131), Kubo (138), Leppin (149), Salm (224) (anatomische Be-
funde weiter unten).
Die wichtigste Komplikation ist das verlängerte Koma, die
Erschwerung und Verzögerung der Erweckbarkeit. Es kann trotz
richtiger Zuckerzufuhr zu tage-, ja wochenlang andauernder Som-
nolenz mit zentral bedingtem Fieber kommen, worin sich eine
irreversible, intrazelluläre Störung der Ganglienzellen (Ederle (54))
zu erkennen gibt.
Kastein (124) denkt neben der Wirkung toxischer Stoflfwechselprodukte
des Insulinkomas an eine zu große Diskrepanz zwischen dem Zuckergehalt
des Blutes und dem der Gehirnzellen. — Aus der Beobachtung, daß Zustände
anhaltender Bewußtlosigkeit gern im Anfangsstadium der Behandlung nach
einem der ersten Schocks eintreten, wenn die Toleranzgrenze überschritten ist
und bei hoher Insulindosis die Verteidigungskraft des Körpers nicht ausreicht,
schließt Telatin (257) auf eine Übersättigung des Organismus mit Insulin.
Öfters sei danach raschere Ileilung zu beobachten (s. auch Kraulıs 133); auch
war nachher die zum Koma führende Dosis wesentlich niedriger. Hypoglyv-
kämie ist nicht die Ursache; denn der BZ.-Wert liegt in allen diesen Fällen
über der Norm, z. T. sehr hoch (Molony u. Honan (172), Salm (224)).
Die Behandlung der nachdauernden Benommenbheit
kann daher nicht ın weiterer Zuckerzufuhr bestehen (sie ist sogar
contraindiziert), sondern in Coramingaben (Sakel; Feldhofen (63)),
in i.-v. Injektionen von Calcium (Telatin (257)), ferner in Chrom-
osmon und Sauerstoffzufuhr (Dussik (48)), Lumbalpunktion,
Vitamin B.-Betaxin- und Nebennierenrindenpräparaten-Cortin —
(Freudenberg (73)), worauf auch solche Fälle gut ansprachen, die
schon bei kleiner Dosis mit schweren hgl. Symptomen, auch mit
Fieber, Erbrechen und Tachycardie nach der Unterbrechung
reagierten. Betaxinzufuhr sichert überhaupt schnelleres Erwachen
(Freudenberg (72), Bückmann (33)).
Demole (42) stellte an Tierversuchen fest, daß das Vitamin B, nicht nur
die Frequenz und Ileftigkeit der hgl. Insulinkonvulsionen vermindert, sondern
auch die Hgl. verkürzt, ferner daß es die Wiederherstellung der normalen
Glykämie beschleunigt und einen entgiftenden Einfluß auf die Symptome des
hgl. Komas ausübt.
Kastein (121) empfiehlt zur Herbeiführung schnelleren Er-
wachens das Pentamethylentetrazol als Zusatz zur i.-v. Glukose-
zufuhr; es hat eine stimulierende Wirkung auf die nervalen Funk-
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 289
tionen und führt außerdem zu einer Erhöhung des BZ. Die An-
wendung der Lumbalpunktion bei verlängertem Koma widerrät er.
Hamilton (94) verabreicht zur Vermeidung von nächtlichem Nach-
koma am Abend noch Zucker, besonders bei Kranken, die hohe In-
sulindosen bekommen; auch Gies (83) gab zum gleichen Zweck mit :
gutem Erfolg am Abend 375 ccm einer 40°,igen Zuckerlösung.
v. Pap (186) beobachtete im Anschluß an Insulinschock dreimal
einen Zustand, der im Verlauf an eine akute Gehirnentzündung
erinnerte. — Roggenbau weist darauf hin, daß man die möglichen
Gefahren nicht kenne, die durch etwaige dauernde Umstimmung
des Organismus im Verlauf der Insulinkur hervorgerufen werden
könnten.
Der epileptische Anfall!) in der Hgl. gilt als ein nicht un-
willkommener, die Behandlung fördernder Zwischenfall (Sakel,
E. Küppers, v. Braunmühl; v. d. Scheer (228), Finiefs (65) (66),
Meerloo (171), Ruslander (213)); wenigstens die in der Früh-Hgl.
auftretenden Anfälle werden im allgemeinen als harmlos bewertet
und geben manchen Autoren nicht einmal Anlaß zur Unter-
brechung der Hgl., während die Spätanfälle, vor allem die nach
bereits erfolgter Zuckerzufuhr eintretenden, ernster zu nehmen
sind und unbedingt die sofortige Adrenalin- und i.-v. Zucker-
injektion erfordern ( M. Müller (176)). — Auch Georgi (81) anerkennt
die Proportionalität zwischen Remissionsneigung und Krampf-
bereitschaft. Sakel (222) selbst sieht in der Herbeiführung des
epileptischen Anfalles zu Behandlungszwecken einen wichtigen Be-
standteil der Therapie; er erwähnt (219), daß sich in der Hgl. epi-
leptische Anfälle manchmal durch somatische Reize herbeiführen
lassen, z. B. durch absichtlich reizende Einführung der Nasensonde
oder durch intensive neurologische Untersuchung, Reflexprüfung
usw. in der Phase der Anfallsbereitschaft (2. u. 3. Stunde).
Ederle(54), auch Dinther u.Jansen (15), sowie Schulz(236) haben im Gegensatz
zu den erwähnten Autoren vom epil. Anfall in der Hgl. keine besondere Wir-
kung gesehen; Sch. möchte ihn als zu vermeidende Komplikation ansehen und
in geeigneten Fällen lieber Cardiazolanfälle setzen, die nicht dem Zufall über-
lassen zu werden brauchten und in ihrer Auswirkung besser übersehen werden
könnten. — Nach Frostig (79) greift das Insulin offenbar an einem anderen
Krampfmechanismus an als etwa das Cardiazol oder jener Reiz, der bei der
Epilepsie den Anfall hervorruft. Angesichts der differierenden Eigenschaften —
Beginn mit schwerem Herzgefäßkollaps, Überwiegen der Hyperkinese, Fehlen
der Aura, der tonischen Streckphase und des unfreiwilligen Harnabgangs —
1) Die Bezeichnung ‚‚trockener‘ Shock, ursprünglich von Sakel im Gegen-
satz zum anfallfreien ‚nassen‘ eingeführt, hat sich allgemein nicht durchzu-
setzen vermocht.
19 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3 4.
290 M. Thumm
möchte er die Bezeichnung ..myokloniformer Gefäßkollaps“ einführen.
v. Braunmühl (21) denkt neben dem vom Vasomotorium ausgehenden Reiz
auch an „‚Parenchvmanfälle“, die vielleicht in Beziehung zum Calciumstoff-
wechsel zu bringen sein könnten. Meerloo (171) nimmt eine Einwirkung auf
das Diencephalon an.
Status epilepticus im Anschluß an protrahiertes Koma muß
als ernster Zwischenfall angesehen werden. Sakel (219) empfiehlt
hierbei außer Traubenzucker i.-v. und Adrenalin reichlich Sauer-
stoffzufuhr, da die Zellen nur bei einem Sauerstoffüberschuß ge-
nügend resorbieren zu können scheinen. Hardon (95) sah in einem
Fall zwei Tage nach dem letzten Koma, Schulz (236) 9 Tage nach
Abbruch der Insulinkur einen Anfall und in einem weiteren Fall
sogar 1, Jahr danach einen status epilepticus. In solchen Fällen
wird man eine durch die Behandlung entstandene organische
Schädigung des Cerebrums annehmen müssen.
Zolliker (281) fand, daß die klinischen Erscheinungen bei Epileptikern unter
der Insulinwirkung im wesentlichen denjenigen bei Schizophrenen entsprachen:
die Anfallhäufigkeit war weder in noch nach der Insulinbehandlung vermehrt.
Franke (70) erwähnt den seltenen Fall einer Schizophrenen, die schon früher
epileptische Anfälle gehabt hatte, bei der also zweifellos eine endogene Krampf-
bereitschaft bestand: sie erlitt in der Hgl. keine großen Anfälle, was für die
Hypothese v.-Medunas von dem Antagonismus zwischen Schizophrenie und
Epilepsie zu sprechen scheint.
Hemiplegien. Es gibt reversible apoplektiforme Lähmungen
(Weber (266)), die häufiger in den ersten Stunden nach der Insulin-
injektion flüchtig auftreten, nach Zuckergabe schlagartig ver-
schwinden und stets vollständige Rückbildung erfahren (Labbé u.
Boulin (143)). Daneben gibt es eine irreversible Form, oft tödlich
verlaufend, bei sonst gut vertragener Insulinbehandlung; meist
handelt es sich dabei um ältere Leute mit Arteriosklerose (Labbe).
Ederle (54) erwähnt eine stationär gebliebene Hemiplegie bei einer
Kranken mit kompensiertem Mitralfehler. (Übrigens konnte
Friedemann (74) bei schweren organischen Lähmungen aus anderer
Ursache durch endolumbale Anwendung des Vit. B. im Lauf
einiger Monate Arbeits- und Gehfähigkeit, auch Besserung des
psychischen Syndroms erreichen.)
Beriberi-Symptome als Folge der sehr reichlichen Kohle-
hydratzufuhr wurden von Bückmann (33) beobachtet. Als Zeichen
bestehender B,-Avitaminose kam es zu Anästhesieen, Parästhe-
sieen, Myalgieen, Gangstörung, Rechtsdilatation des Herzens.
Therapie: Heruntergehen mit der Komadosis und, falls Schwierig-
keiten bei der Komaunterbrechung, gleichzeitige Darreichung von
Vit. B, Nachträgliches Auftreten von Beriberi-Symptomen
schwindet bei Koständerung. — Dinther u. Jansen (45) fanden in
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 291
neun Fällen im Lauf der Behandlung heftige pruriginöse Haut-
affektionen. Unerwünschte myoklonische Zustände, Kon-
vulsionen, aber auch Atemstörungen konnten sie unter
Aufrechterhaltung des Komas beseitigen, wenn sie zwischen 2 und
3 ccm Osmon i. v. spritzten; bei größerer Dosis kamen die Kranken
aus dem Koma. Gelegentlich mußte die Dosis wiederholt werden.
Es konnten dadurch auch Anfälle vermieden, ein gleichmäßiger
Verlauf des Komas gesichert und seine Dauer um 1, Stunde und
mehr verlängert werden. Diese Autoren unterbrechen auch gene-
rell das Koma mit 60 bis 80 cem Osmon i.-v. anstatt Nasensonde
und geben hinterher noch 200 gr. Zucker per os.
Außer den bisher besprochenen Komplikationen erwähnt Feld-
hofen (63) noch die erhöhte Anfälligkeit gegenüber Ge-
legenheitsinfektionen (Anginen), ferner den Stimmritzen-
krampf, die seltene Kieferluxation und d:n Nachschock.
Dieser stellt eine nach mehreren Stunden neu eintretende zweite
Hgl. dar und kann vermieden werden, wenn nicht nur auf ge-
nügende Zuckerzufuhr, sondarn auch auf ausreichend: Einnahme
des nachfolgend:n Frühstücks und Mittagessens geachtet wird.
Braun (18) erwähnt, daß bei einer klimakterischen Frau während
der Insulinbehandlung die regelmäßigen Menses wieder eintraten. —
Hecker (96) beobachtete im Anschluß an ein protrahiertes Koma
zweimal ein wochenlang dauerndes korsakowähnliches Zu-
standsbild mit Desorientiertheit, extremer Merkstörung und Kon-
fabulatıion. Plattner (189) sah bei insulin-cardiazol-behandelten
Schizophrenen teils leichtere Korsakowzustände, teils aus-
geprägten amnestischen Symptomenkomplex, einmal auch
bei einem Kranken, der 9 reine Insulinanfälle gehabt hatte.
Abschließend kann — trotz der bestehenden Komplıikations-.
möglichkeiten — festgestellt werden, daß wir heute ın der
Lage sind, durch sorgfältige Einhaltung der erprobten Behand-
lungsvorschriften die Gefahren zu beherrschen, so daß das
Risiko, zumal bei der bekannten Prognose der Schizophrenie ohne
Bedenken verantwortet werden kann, und daß v. d. Scheers (228)
Votum zu Recht besteht: die Gefahren der Somnifenschlafkur sind
gewiß nicht kleiner und die der Malariakur bestimmt größer als
die der Insulinschocktherapie. Sehr mit Recht bemerkt auch
v. Kügelgen (139), daß die Chirurgie eine 1°,ige Mortalität bei
einer lebensrettenden Operation als völlig gefahrlos bezeichnen
würde, und daß, wenn die Möglichkeit von Rezidiven ein Gegen-
grund sein sollte, man jede Krebsoperation unterlassen könnte.
In ähnlichem Sinn äußern sich Reed u. Dancey (197).
19°
292 M. Thumm
Besondere klinische Untersuehungsmethoden. Dussik u. Pichler
(51) wandten die Reaktion von Gamper-Kral-Steın an.
Diese besteht darin. daß bei Einspritzen von Liquor in die vordere Augen-
kammer von Kaninchen exsudativ entzündliche Veränderungen im Bereich des
vorderen Bulbusabschnittes dann entstehen. wenn es sich um Liquor von
organisch Nervenkranken oder Prozeßschizophrenen. nicht aber wenn es sich
um Liquor von gesunden Personen oder nicht prozeßhaft Kranken handelt.
Die Verf. fanden, daß während der Insulinbehandlung Schwan-
kungen in der Reaktion auftraten, die mehr oder weniger mit den
Schwankungen im klinischen Bild übereinstimmten.
Nach Bischof (17) zeigt die Millonsche Harnprobe während der
Insulinkur eine Störung in der normalen Leberfunktion an, die
aber nur vorübergehend und unbedenklich ist. Leberfunktions-
störungen können u. U. wertvolle Hinweise für die Weiterführung
der Insulinkur geben.
Hoagland, Cameron u. Morton (101) fanden ım Elektroence-
phalogramm allgemein bei Schizophrenie keine Unterschiede gegen-
über der Norm. Während der Insulinbehandlung war der sog.
Delta-Index wesentlich niedriger als vor der Insulinbehandlung.
Heilungsverlauf. Vielfach wird berichtet, daß bei erregten
Kranken schon in den ersten Tagen und nach kleineren Insulin-
gaben, also ohne Koma, eine Beruhigung und Entspannung er-
reicht wurde (Hirschmann (100), Ruffin (211)) und zwar unab-
hängig vom endgültigen Erfolg (Plattner u. Fröhlicher (190)).
Ruffin (l.c.) fand Rückbildungstendenz der Trugwahrnehmungen
bei allen halluzinierenden Kranken. Die sich wieder einstel-
lende Kontaktbereitschaft muß laufend psychothera-
peutisch ausgenützt und vertieft werden (Stähli u. Briner
(27), Janke (111), Roemer (206), Ruffin (211)).
Für die Beurteilung des Grades der Remission wird von
Ruffin weniger Wert auf die Stellungnahme der Kranken zur durch-
gemachten Psychose gelegt als auf die praktische Abwendung vom
psychotischen Erleben und die Zuwendung zur Gemeinschaft
und zum Leben. Ganz ähnlich äußern sich Kronfeld u. Stern-
berg (137), die ebenfalls in der sog. Kritik und Einsicht nur einen
sehr relativen Indikator erblicken.
Cerletti (40) sah besonders Wahnideen und halluzinatorische Störungen sich
bessern, also solche Störungen, die sich verhältnismäßig spät um den Grund-
kern der schizophrenen Psyche gebildet haben. Hirschmann (l. c.) ist der An-
sicht, die Insulinbehandlung finde ihre Grenzen darin, daß man nicht über die
Grundsymptome hinwegkommt; bei strenger Kritik blieben Persönlichkeits-
defekte nachweisbar.
Auch nach Kronfeld. u. Sternberg (l. c.) geben Teilbesserungen Hinweise für
die Unterscheidung zwischen primären Prozeßsymptomen und sekundär-
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 293
reaktiven Ü'berlagerungen; zu letzteren rechnen sie den Autismus, die auf-
fallenden äußeren Verhaltensweisen der Schizophrenen, katatone Eigenarten
der Motorik und Verschrobenheiten, während sich die eigentliche Defektnatur '
der schizophrenen Persönlichkeitsveränderung in Schwunglosigkeit, Aktivi-
täts- und Initiativemangel und Verlust an Produktivität erkennen lassen.
Brücke (31) hat die Erfahrung gemacht, daß es prognostisch von Bedeutung
ist, ob die schizophrene Erkrankung schlagartig einsetzt oder ob schon vor
Beginn des manifesten Schubs charakterliche oder sonstige Eigentümlichkeiten
auf eine chronische, prozeßhaft fortschreitende Erkrankung schließen lassen.
Nach Dinther u. Jansen (46) reagieren Pykniker und Athletiker besser
als Leptosome auf die Insulinkur.
Nach Plattner und Fröhlicher (l. c.) begünstigen psychogene
Einschläge den Erfolg, manisch-depressive verschlechtern ihn;
Fälle, die nach Mauz katastrophenähnlichen Verlauf erwarten
lassen, haben bei allen Fällen eine schlechte Prognose. Fälle, die
zur Remission gelangen, bessern sich vom Zeitpunkt der Beruhigung
meist progressiv (seltener schubweise) und fallen nie mehr in die
anfängliche Erregung zurück. Epileptische Anfälle waren bei Pa-
tienten mit psychogenem Einschlag besonders wirksam, gehäufte
epileptische Anfälle kamen nur bei Versagern vor. Eine hypoma-
nische Nachschwankung zeigte sich regelmäßig bei Fällen mit
psychogenem Einschlag.
Spernau (148) unterscheidet drei Stadien des Heilungsverlaufes,
deren Nacheinander als zwangsläufig durch die Psychose selbst
und nicht durch Behandlungsfaktoren bedingt angesehen wird:
1. die allgemeine Abschwächung der Erscheinungen,
2. die Durchbrechung des Autismus, das Freiwerden der Persönlichkeit
und das Abdrängen der krankhaften Inhalte,
3. das Entbehrlichwerden der Verdrängung, und das Abstreifen auch der
letzten Reste von Unfreiheit in Verhalten und Affektivität.
Es wird nachgewiesen, daß es sich bei den in diesem 3. Stadium als Psycho-
senrest gelegentlich auftretenden psychotischen Zuständen nicht um eine
aktivierte Psychose bzw. Reaktionsumkehr im Sinne Sakels handelt. Verf.
betont, daß die richtige Führung einer Insulinkur eine Kunst ist, bei der es
ähnlich wie in der Chirurgie nicht so sehr auf das Instrument ankommt, das
benützt wird, als auf die Hand, die es führt.
Insulinbehandlung nicht-schizophrener Psychosen. Nach M.
Müller (176) hätten Behandlungsversuche bei anderen psycho-
tischen Erkrankungen, namentlich des manisch-depressiven For-
menkreises, versagt; ja, es habe den Anschein, als ob gerade
cirkulär verlaufende, manisch-depressiv gefärbte Schizophrenien
besonders schlecht auf die Insulintherapie reagierten. Engelmann
(55) hat dagegen bei Manie, Melancholie, anderen Depressions-
zuständen und präseniler Psychose so rasche und gute Erfolge
gesehen, daß er bei jeder akuten Psychose, sofern nicht körperliche
294 M. Thumm
Gegenanzeigen vorliegen, die Insulinbehandlung sofort anwendet.
Grosh (88) empfiehlt auf Grund zweier eigener Fälle Insulinbe-
handlung bei manischer Erregung. Fariello (62) behandelte 19 Fälle,
darunter 9 Dementia präcox, 5 Amentia, 3 progressive Paralysen,
2 senile Demenzen kombiniert mit Schizophrenie. Körperlich ge-
bessert wurden 18, psychisch alleaußer 5Fällen derersten Gruppe. —
Dussik (50) erwähnt günstige Beeinflussung von Alkoholhallu-
zinosen und paranoiden Zustandsbildern nach Malaria. Ederle (53)
rät generell bei Nicht-Schizophrenen besondere Vorsicht an.
Zur pathologischen Anatomie. Nikolajevs (179) beobachtete bei insulin-
vergifteten Tieren eine Gliaveränderung mit atypischen Zellformen, die
auf Einwirkung einer das CNS angreifenden Störung des Kohlehydratstofl-
wechsels schließen läßt. Stief (254) hält auf Grund eigener Tierversuche und
histopathologischer Untersuchungen anderer Autoren die bei der Insulin-
vergiftung auftretenden cerebralen Veränderungen hauptsächlich durch Ge-
fäßstörungen, und zwar durch Gefäßkrämpfe, bedingt; dadurch würden die in
Dysfunktion befindlichen und deshalb besonders hinfälligen Nervenzellen
bzw. Rindengebiete ausgeschaltet. — Accornero (2) fand bei histopathologi-
schen experimentellen Untersuchungen an Hunden als Folge der Insulin-
vergiftung neben reversiblen Veränderungen auch nicht-reversible zelluläre
Zerstörungen an einzelnen (wahrscheinlich ontogenetisch jüngeren und daher
weniger widerstandsfähigen) Rindenneuromen, dazu auch Bildung von
globalen Zerstörungszonen in verschiedenen Rindengebieten. — Leppin und
Peters (149) fanden bei einem im Koma zugrunde gegangenen Patienten weit-
gehende Veränderungen im CNS, die sie auf toxisch bedingte Kreislauf-
schädigung zurückführten, — so’einen kleinen Erweichungsherd im Mark des
Ammonshorns und Zellveränderungen in verschiedenen Rinden- und Kern-
gebieten, die an Nissls akute Ganglienzellenschwellung erinnerten. — Kohler
(131) fand im Gehirn eines insulinschockbehandelten Schizophrenen, der im
Koma (mit epileptiformen Krämpfen) gestorben war, neben leichterer oder
schwererer Erkrankung der Zellen des CNS., geringer gliöser Reaktion und
geringen Gefäßveränderungen eine bisher noch nicht beschriebene Auflösung
des Zellkerns bis zur Vakuolenbildung; er schließt daraus auf eine direkte
Zellwirkung; dagegen ergab sich kein Befund, der die Einwirkung des Insulins
auf dem Umweg über das Gefäßsystem wahrscheinlich machen würde, was
freilich diese Möglichkeit nicht ausschloß. — Kastein (122) gibt die genaue
Beschreibung eines tödlich verlaufenen Falles und gelangt dazu, den von ihm
erhobenen histologischen Befund anzusehen als die Folge eines generellen,
sich in allen Ganglienzellen auswirkenden toxisch-metabolischen Prozesses,
zu dem örtliche Veränderungen der Ganglien- und Gliazellen als Folge von
Gefäßveränderungen hinzutraten.
Zur Chemie, Physiologie und Pathophysiologie des Stoflwechsels.
Schuster (239) gibt eine sehr weit ausholende Darstellung der physikalisch-
chemischen und pharmakologischen Grundlagen der Pyocyaneus-, der Car-
diazol- und der Insulintherapie, der wirksamen chemischen Stoffe und ihrer
Zusammenhänge und sucht dabei die Insulin- und Cardiazolbehandlung auf
die gleichen physiologisch-cheinischen Grundlagen zurückzuführen.
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 295
Georgi (80) ist den pathophysiologischen Vorgängen bei
der Hgl. im einzelnen nachgegangen. Seine grundlegend wich-
tigen Feststellungen sind folgende:
Der Sturz des Blutzuckers ist häufig am stärksten in der ersten
halben Stunde, ohne daß entsprechende hgl. Erscheinungen auf-
treten müßten. Der Tiefstand des BZ. fällt — unabhängig von
Dosierung — in die 3. halbe Stunde p. i. Auch ohne Kohlehydrat-
zufuhr steigt er in der Regel bereits im Lauf der zweiten bzw. be-
ginnenden dritten Stunde p. i. erneut an und erreicht häufig das
Doppelte des ursprünglichen Tiefstandes. Die bekannten körper-
lichen und psychischen Erscheinungen der starken Insulinierung
treten erst ein, wenn der BZ. seinen tiefsten Punkt erreicht bzw.
wieder überschritten hat. Dem Wiederansteigen des BZ.-Spiegels
geht also parallel das Erscheinen der sog. hgl. Symptome. Sensi-
bilisierung tritt gegen Ende der Kur ein, wenn der BZ.-Spiegel
stärker absinkt wie im Beginn der Kur und längere Zeit tiefe
Werte beibehält. Aus dem Ausbleiben irgendwelcher klinischer
Symptome kann nicht auf die Höhe des BZ.-Spiegels geschlossen
werden. Weitgehende Abhängigkeit der klinischen Symptome von
der seit der Insulininjektion verflossenen Zeit ist anzunehmen. Das
Auftreten der ersten epileptiformen Reizerscheinungen fällt im
allgemeinen in die zweite Stunde. Auch sonstige Untersuchungs-
befunde (Pulsbeschleunigung, maximale Amplitude des Blut-
drucks) haben ihr Maximum in der 2. bis 3. Stunde. Die Tages-
kurve, die die Beziehung zwischen dem Ausfall der Senkungs-
reaktion und der Plasmalabilität wiedergibt, zeigt um die gleiche
Zeitperiode eine Umkehr. Die zweite Stunde ist also der ent-
scheidende Wendepunkt im pathophysiologischen Geschehen.
Dann trıtt Umkehr ein, ein Austritt der Zuckerbestände aus den
Zellen des CNS. in die Blutbahn, was die Erhöhung des BZ.-
Spiegels erklärt. Das Koma ist Folge einer schon .weit vorgeschrit-
tenen Zuckerverarmung der Hirnzellen. — Pathophysiologisch er-
geben sich so drei große Phasen:
I. Von der Injektion bis zum Wendepunkt (zwischen 60 bis 120
Min.): steigendes Potential zwischen Zell- und Plasmazucker; am
Ende der Phase evtl. epil. Anfall, sonst keine ernsteren Symptome.
Hardon (95) widerspricht dieser Auffassung Georgis vom Potentialunter-
schied, denn er sah Anfälle in der Zeit von 11% bis 413, St. p. i. auftreten, wäh-
rend der Höhepunkt zwischen 3 bis 313 St. p. i. lag.
II. Vom Wendepunkt bis zur Zuckerzufuhr: zunehmender
Zuckerverlust u.a. der Gehirnzellen, Sopor bis Koma.
III. Ausgleichsvorgang in umgekehrter Richtung.
296 . M. Thumm
G. stellte überraschende Übereinstimmung der pathophysiolo-
gischen Vorgänge, die zum Cardiazolanfall führen mit jenen Vor-
gängen, die wir bei der Insulinkur von der ersten Phase bis zum
Wendepunkt beobachteten, fest. Vor allem ist beiden Methoden
gemeinsam die Irritation der Zellmembran und ein damit ein-
hergehender verstärkter Stoflaustausch zwischen Zelle und Um-
gebung. Diese mit pathophysiologischen Veränderungen der Zellen
einhergehende physiologisch-chemischen Vorgänge an der Zell-
membran sind einer der maßgeblichen Faktoren bei unserem thera-
peutischen Vorgehen. Dabei ist das humorale Geschehen in der
ersten Phase der Insulinwirkung fast identisch mit dem des Car-
dıazolkrampfes, nur ist hier der pathophysiologische Vorgang eng
zusammengedrängt zu stürmischem Ablauf, während dort gewisser-
maßen Zeitlupenablauf besteht. Vielleicht hängt damit die ver-
schiedene Beeinflußbarkeit bestimmter schizophrener Formen (para-
noide-stuporöse) zusammen.
Nach Beiglböck und Dussik (10) ist die Physiologie des Insulinschocks fast
in allen Punkten das genaue Gegenteil des anaphylaktischen
Schocks, so bezüglich des BZ. und der Alkalose wie im Verhalten der Blut-
menge, der Erythrozyten und des Blutdrucks.
Nach De Smet (245) treten hgl. Erscheinungen erst auf, wenn der BZ.-
Gehalt auf 60 bis 50 mg gesunken ist, tiefes Koma erst, wenn er unter 30 (in
manchen Fällen sogar 20) mg % steht; bei Steigen über 30 erwachen die Pa-
tienten. Katzenelbogen, Harms und Clark (127) fanden 18 mg % als niedersten
Wert. Dabei ist — nach Heilbrunn (97) — wichtiger noch als der rapide Abfall
die Dauer der Hypoglykämie. Ihr ist eine besondere Rolle zuzuerkennen, auch
wenn man noch manch andere Momente wie das Verhalten des Gewebes und
des Liquorzuckers, Stärke der kompensierten Gegenreaktion usw. als mit-
beteiligt in Betracht zieht.
Freudenberg (71) untersuchte an Stelle der Gesamtreduktion getrennt den
wahren BZ. und die Restreduktion im Insulinschock. Er fand die BZ.-
Schwankungen auch von Schwankungen der Restreduktion begleitet. Koma
tritt erst ein, wenn der wahre BZ. mindestens 1 Std. 20 Min. unter 30 mg %
gestanden hatte. Je tiefer die BZ.-Werte, desto kürzer die Zeit bis zu seinem
Auftreten. Auch wenn der wahre BZ. unter Null steht, können noch alle Re-
flexe erhalten sein; sie erlöschen erst nach genügend langer Hgl., von deren
Gesamtdauer also das Koma wesentlich abhängig ist.
Brücke (31) weist auf die wichtige Rolle der cerebralen Steuerungs-
mechanismen des Zuckerstoffwechsels beim Zustandekommen spon-
taner hgl. Zustände (Hypophvse, Zwischenhirnregion).
Den stärksten Einfluß auf die Regulierung des Zuckerstoffwechsels hat
aber das Pankreas selbst.
Im Verlauf der Insulinkur modifiziert sich nach Kasteın (125) infolge der
ständigen Glukosebelastung die BZ.-Kurve derart, daß der Nüchternwert
während der Kur immer mehr steigt, hingegen 1 bis 2 W. nach der Kur fast
immer wieder bis zum Ausgangswert oder darunter sinkt. In einer voraus-
gegangenen Arbeit (119) hat X. drei bestimmte Kurventypen des BZ.-Spiegels
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 297
im Koma befindlicher. Kranker nach Nüchtern-Glukosebelastung aufgestellt.
Je höher die Komadosis, umso rascher und höher steigt nach Glukosezufuhr
der BZ.-Wert wieder an.
Beträchtliche Zunahme der Zuckertoleranz fanden Looney und Cameron
(155) bei sieben Kranken nach Insulintherapie. Vielleicht wurden durch die
wiederholten Insulingaben die antagonistisch wirkenden Nebennieren akti-
viert. Der BZ. bleibe hoch, weil der Ausgangsstoff des BZ., das Leberglykogen,
langsam gespeichert werde.
Eine Mitteilung von Groß (89) befaßt sich mit dem verschiedenen Ver-
halten des Phosphors der Blutflüssigkeit von Insulinpatienten einerseits, in
den zelligen Elementen der Organe insulinbehandelter Tiere andererseits.
Außer für den BZ. ergab sich auch für Harnstoff und Chlor zeitweilig eine weit-
gehende Dissoziation. Gesteigerte Schweißabsonderung und Magensaftsekre-
tion dienen dem Regulationsmechanismus des Körpers in der Hgl.
Young und Roucek (278) fanden bezüglich des Mineralstoffwechsels die
Werte für Kalium und Calcium leicht angestiegen, die für Natrium, Magne-
sium, Phosphor und Chlor nicht wesentlich verändert.
Telatin (258) untersuchte einige biochemische Veränderungen im Blut
während des Insulinschocks, und zwar Traubenzucker, Cholesterin, Kalium
und Natrium. Ausgesprochene Veränderungen ergaben sich schon im hgl. Zu-
stand vor dem Koma, im Koma selbst keine erheblichen Änderungen, sogar
manchmal während des Komas die Tendenz, das biochemische Gleichgewicht
wieder herzustellen.
Randall, Cameron und Looney (195) fanden bei 14 von 16 untersuchten
Insulinpatienten eine deutliche Erhöhung der Blutlipoide während der
Hgl.-Phase 2 bis 3 St. nach Insulininjektion. Diese Erhöhung der Lipoide war
am nächsten Morgen im Nüchternblut nicht mehr nachweisbar. Da die Li-
pämie bei den 5 erfolgreich behandelten Patienten stärker war als bei den 9
unbeeinflußten, wird eine Korrelation zwischen Lipoidspiegel und klinischem
Verhalten angenommen.
Schur und Pappenheim (237) prüften experimentell die Wirkung von
Glukose und Insulin auf die Phosphatausscheidung. Es wird der
Phosphorylierung zugeschrieben, wenn bei der Assimilation der Fette und
Kohlehydrate, die infolge der hormonalen Wirkung des Insulins zustande-
kommt, Phosphate retiniert und gebunden werden, wenn ferner auch die
* Phophatretention nach Phosphatzufuhr durch Insulin gefördert wird. Das
Auftreten von hgl. Erscheinungen nach Insulingaben hat nicht nur Glukose-
armut der Gewebsflüssigkeiten, sondern auch substantielle Organveränderun-
gen zur Voraussetzung. Das Auftreten weiterer Anfälle nach Beseitigung der
Hgl. durch Zucker noch nach Stunden beweist, daß das Insulin auch nach
Neutralisierung seiner Wirkung noch in leistungsfähigem Zustand im Körper
verbleibt. Insulinresistenz kann entweder auf stärkerer endogener Zucker-
bildung oder auf Insuffizienz der Depotorgane oder vielleicht auch auf der
Einwirkung hemmender Substanzen beruhen.
Forstmeyer (68) befaßt sich mit den Veränderungen in der Durchlässig-
keit der Blut-Liquor-Schranke, deren Permeabilität vom Zustand des
Endothels der Gehirn-Hirnhautgefäße abhängt und schon unter physiologi-
schen Bedingungen (Jugend, Menstruation, Schwangerschaft) eine Steigerung
erfährt. Leichtere Steigerung findet sich meist bei Bestehen aktiver schizo-
phrener Prozeßsymptome, Verminderung dagegen meist bei der Remission
oder nach Übergang in ein chronisches Defektstadium. Dagegen konnte keine
298 M. Thumm
unmittelbare Beeinflussung durch Insulinverabreichung festgestellt werden.
während andererseits Wechsler (267) ım Tierversuch die Permeabilität der
Meningen erhöht fand. Auch Georgı (82) vertritt die Auffassung, daß die
Schranke im Lauf der Kur im allgemeinen durchlässiger wird.
Wespi (269) suchte Klarheit zu schaffen über das vegetative Ge-
schehen im hgl. Anfall und im Kurverlauf: Sympathikus — Parasy mpa-
thikus, Pupillenkurven, Schweiß- und Speichelsekretion, Pulsfrequenz und
Blutdruck. Es fand sich wohl ein buntes Schwanken im funktionellen Ver-
halten, also eine gewisse Dissoziation, aber keine vorbestimmte einseitige
Umstimmung. Dasselbe war der Fall bei der Prüfung der Stoffwechselfunk-
tionen der Leber und Nieren, ferner bezüglich des Ca- und Ka-Ionen-Spiegels
und bei kapillarmikroskopischen Untersuchungen.
Pfister (187) berichtet über ähnliche, das neurovegetative System be-
treffende physiologische Belastungsversuche. Sie führten ihn zu der These, die
Schizophrenie sei eine Systemerkrankung des vegetativen Steuerapparates im
Gesamtorganismus einschließlich Großhirnrinde, je nach Stadium schwan-
kend von Übererregbarkeit bis zu Funktionsuntüchtigkeit der Regulations-
mechanismen. Er möchte auch die psychischen Symptome von primären
Störungen des vegetativen Systems ableiten. Das Insulin wirke sympathikus-
dämpfend und könne so das übererregte vegetative System der akuten Fälle vor
Erschöpfung und Verfall bewahren. Cardiazol dagegen übe auf die brach
liegenden Funktionen eine aufpeitschende bzw. belebende Wirkung, in deren
Dauer freilich Zweifel zu setzen seien.
Auch Jahn (109) erblickt auf Grund eigener Stoffwechseluntersuchungen
in der Erregung vegetativer Zentren das Wesentliche der beiden neuen Be-
handlungsmethoden. Es kann durch sie eine Korrektion der fehlerhaften
Stoffwechselsteuerung erreicht werden, und zwar bei der Insulinbehandlung
durch tiefgreifende periphere Stoffwechseländerung, beim Gardiazolkrampf
durch direkte Erregung der Zentren. Es handelt sich also grundsätzlich um
keine andere Wirkungsweise als etwa durch Fiebererzeugung oder unspezifische
Reiztherapie.
H. E. Schmid (234) hat bei histophysiologischen Vergleichsunter-
suchungen an ‚‚Insulintieren‘“‘ und an. ‚Sakeltieren‘‘ (Hgl. jeweils nach
‚Sakel unterbrochen) festgestellt, daß bei letzteren die Veränderungen an den
` Organen der nervösen und stofflichen Regulation funktionell, also reversibel
waren. Die stärksten Veränderungen betrafen Inselapparat, Nebennieren und
Ilypophysensystem. Er zieht daraus den praktischen Schluß, daß die Be-
handlung in ihrer jetzigen Form für den Organismus zwar nicht belanglos, aber
bei genügender Erfahrung sehr wenig gefährlich sei und daß die eintretenden
morphologischen Veränderungen sich im Laufe längerer Behandlung wieder
ausregulierten, sodaß irgendwelche Spätschäden kaum zu erwarten seien.
Hesse (98) spricht sich für eine „durchaus unspezifische Schock-
wirkung“ aus. Ebenso Nikolajev (180). Auch H. W. Maier (158) nimmt keine
spezifische Einwirkung auf die Schizophrenie, sondern lediglich eine Unter-
stützung bestehender Remissionstendenzen an.
Nach Ewald (59) (60) würde durch den täglichen Schock bis zur Koma-
grenze mit schnell erzwungener Rückkehr in die klare Bewußtseinslage inner-
halb weniger Stunden eine Ankurbelung tiefster vegetativer Mechanismen
stattfinden, insbesondere auch eine nachhaltige funktionsanregende Irritation
der Schlaf-Wachzentren am Boden des dritten Ventrikels und am Ausgang des
Aquaedukts. Eine biologische Leistungssteigerung auch bei Psychosen
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 299
wird so erzwungen. Lehmann-Facius (146) sieht das Wesentliche der Wirkungs-
weise — bei der Insulin- wie bei der Cardiazol- und Anästhesulfbehandlung —
in einer gewaltigen humoralen Umstellung des Organismus (Ver-
halten des Serumkomplement- und Alexingehaltes, der Lymphozyten, der
Blutsenkung und des Blutbildes).
Reitmann (199) erblickt in der Stauung der Gefäße im Augenhintergrund
eine Bestätigung für die Annahme, daß die Insulinhgl. eine Vasokonstriktion
der Gefäße hervorruft. Da auch in seinen Tierexperimenten die Kraınpfan-
fälle durch Einatmen von Amylnitrit kupiert werden konnten, scheint ihm die
Entstehung des Insulinkrampfes durch Angiospasmen sicher. Später (200)
hat er seine Versuche mit anderen gefäßerweiternden Mitteln wie Padutin,
Lacarnol, Myofort und Suprachol fortgesetzt. Beseitigung der Krämpfe konnte
bei 80°% der Tiere erzielt werden. Am vorteilhaftesten erwies sich das Amyl-
nitrit. Natrium nitrosum und Papaverin ergaben schlechte Resultate. Auch
bei einigen insulinbehandelten Schizophrenen schien das Amylnitrit das Er-
wachen herbeiführen zu können. |
Andrada (4) möchte eine organische, wahrscheinlich endokrine
WirkungdesInsulins annehmen, wodurch insbesondere die im Mesencepha-
lon lokalisierten Faktoren beeinflußt würden; es könnte sich um eine Stoff-
wechseländerung des ektodermalen Gewebes wie der Plex. chor., der Tela
chor., des Ependyms usw. gemäß den Anschauungen v. Monakows handeln.
Accornero u. Bini (3) stellen auf Grund ausgedehnter biochemischer Un-
tersuchungen vor und im Koma die Hypothese auf, daß das Koma wahr-
scheinlich nicht durch die Hgl. an sich oder durch toxische Wirkung erzeugt
werde, sondern durch Veränderung des Wasser-Salz-Stoffwechsels bzw. der
physiologisch-chemischen Regulation der Körperflüssigkeiten.
Wilmans (272) denkt an die Möglichkeit einer Veränderung im Wasser-
gehalt des Gehirns, wodurch die bei Schizophrenen (namentlich bei frischen)
so oft bestehende Hirnschwellung herabgemindert werde.
Kastein (121) faßt die vorhandenen patho-physiologischen Theorien mit
seinen eigenen Untersuchungsergebnissen dahin zusammen, daß im Insulin-
koma eine große Reihe von Stoffwechselprozessen in anomaler Weise ver-
laufe, wobei der Nachdruck gelegt werden muß auf die Änderungen im Kohle-
hydratstoffwechsel unter Einfluß des Insulins und der antiinsulinären Hor-
mone, auf die Anoxämie und die Milchsäureanreicherung des Blutes, auf die
Alkalose, auf die Verschiebung in den Konzentrationen der Chlor-, Kalium-,
Calcium- und Natrium-Ionen und im Wasserhaushalt der Gewebe, auf die
Änderungen im vegetativen Gleichgewicht u.a.m. Dazu kämen (nach
Jahn (109)) noch gesetzmäßige Änderungen im Gehalt an Harnsäure, Phosphor,
Kreatin, Kretinin und Ketonkörpern im Blut. Alle diese Stoffwechselprozesse
und vegetativen Veränderungen erzeugen zusammen (nach Kastein) einen
„deletären‘‘ Zustand der Nervenzellen, der sich im Insulinkoma bzw. in den
neurologischen und psychiatrischen Erscheinungen des Präkomas, des Komas
und des Nachkomas ausdrücke.
E. Küppers (142) erblickt in der tiefen Bewußtseinstrübung (sei es
Koma, sei es Anfall) die Bedingung des Erfolges. Nicht die Stoffwechsel-
beeinflussung, sondern die zentral-nervöse Veränderung sei das Entscheidende,
nämlich die immer erneute Erschöpfung der intrazellulären Betriebsstoff-
reserven und der damit gegebene Zwang zur Stofferneuerung in den Gehirn-
zellen bzw. zur Selbsterneuerung der kranken Zellen. Insofern sei die Be-
handlung auch unspezifisch.
300 M. Thumm
Sakel (217, 221) selbst betont zwar, daß wir den wirklichen Angriffspunkt
dieser rein empirischen Therapie noch nicht kennen, nimmt aber an, daß
unter den Wirkungskomponenten das vegetative Systemundder Wasser-
haushalt eine Rolle spielen. Die Hgl. als solche sei es, die die Psychose be-
einflußt, während der epileptische Anfall gewissermaßen nur aufschließend
wirke (Vergleich: Infanterie—Artillerie),. Er kommt zu der Arbeitshypo-
these, daß das Insulin durch Funktionsherabsetzung der Nervenzelle seine
beruhigende Wirkung übe.
o. Angyal (7) lehnt die Sakelsche Arbeitshypothese ab. Daß die Bewußt-
seinsaufhebung als solche nicht die Grundlage der therapeutischen Wirksam-
keit des Insulins sein könne, gehe schon daraus hervor, daß ein Teil der Re-
missionen schon vor dem eigentlichen Koma auftrete. (Auch v. Büdingen (34)
hat dieses Argument ins Feld geführt.) Die Ursache des Komas liege nicht
in der Hgl., sondern in der folgenden Zuckermobilisierung, woran die
zellulären Eleınente des NS teilnähmen, und zwar am frühesten und aus-
giebigsten die durch den schizophrenen Prozeß betroffenen Rindenpartien
(Flechsigsche Areale). v. Angyal (5) geht des Weiteren der Pathophysiologie
der zentralen Erregungs- und Lähmungserscheinungen nach. Er
arbeitet einen frontalen und einen parieto-occipitalen Typ des Insulinschocks
heraus, wozu wahrscheinlich auch noch ein parieto-postzentraler (Körper-
gefühl, Störungen des Körperschemas) und ein temporaler (amnestische
Aphasie?) träten. Er denkt an die Möglichkeit, daß das für die betreffende
Person charakteristische und zu spezieller Entwicklung gelangte terminale
Gebiet jener Hirnbereich sei, der auf die Hgl. am frühesten und intensivsten
reagiert. Auch der schizophrene Krankheitsprozeß könnte die Terminal-
gebiete in Proportion zu ihrer speziellen Entwicklung angreifen, und dadurch
die hgl. Empfindlichkeit noch weiter gesteigert sein. So wäre die Insulin-
wirkung gleichsam als Herdreaktion aufzufassen. v. Angyal kommt zu einer
Einteilung des fortschreitenden hgl. Zustandes in 6 Phasen (ähnlich Opalski
(183) und bestätigt durch seine hirnpathologische Analyse die These Sakels
(217), wonach die onto- und phylogenetisch jüngeren, hochkomplizierten
Funktionsgebiete des NS zuerst und am lebhaftesten auf die Hgl. reagieren.
Frostig (77) fand dies auch durch seine statistisch-klinischen Beobachtungen
bestätigt.
Übereinstimmend fanden E. Küppers (140, 141) und Wiedeking (271) auch
beim Selbstbeobachtungsversuch, daß im hgl. Zustand die höheren
psychischen Leistungen (Aufmerksamkeitsprobe, Assoziationsversuch) bzw.
Reflexsysteme, die einer komplizierteren Apparatur bedürfen, früher leiden
als die niedrigeren. Dabei verläuft die Leistungskurve bei kleinen Dosen fast
genau parallel zur Kurve des BZ.-Spiegels, woraus sich ergibt, daß nicht
InsulinüberschußB oder kompensatorische Ausschüttung des Adrenalins die
Ursache dieser Veränderungen sein können, sondern lediglich der BZ. Mangel.
E. Küppers sieht darin eine weitere Bestätigung seiner Erklärung der heilen-
den Wirkung der Hgl. durch die tägliche völlige Entblößung der Nerven-
zellen von ihren inneren Betriebsstoffreserven und die täglich notwendig wer-
dende Wiederauffüllung dieser Reserven. Im Verlauf dieses Vorganges würden
die gesunden Tendenzen der Zellen an Kraft gewinnen, die kranken aber an
Kraft verlieren.
Storch (255) weist auf die Notwendigkeit hin, neben der Erörterung der
biologischen und verwandten Fragen auch der eigentlichen psycho-
pathologischen und psychiatrischen Probleme zu gedenken; an der
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 301
Hand eigener Beobachtungen werden die Veränderung der Stimmungslage,
das Versinken krankhafter Phänomene, der Rückgang der Halluzinationen
und der wahnhaften Bedeutungserlebnisse, die veränderte Haltung des
Kranken gegenüber seiner Lebensgeschichte und der Lebensproblematik im
allgemeinen deutlich gemacht.
Palisa u. Sakel (185) gehen den psychischen Wirkungsmechanismen der
Hgl. und den psychischen Reaktionen der verschiedenen Schizophrenie-
formen auf die Hgl. in den wechselnden Behandlungsstadien unter dem phä-
nomenologischen Gesichtspunkt nach. Auch das Auftreten ontogener psy-
chischer Entwicklungsphasen während der Hgl. wird erwähnt. Die Art der
Unterbrechung der Hgl. sei auch für das psychische Zustandsbild nicht gleich-
gültig, denn die plötzliche gewaltsame Zuckerzufuhr auf intravenösem Wege
nehme dem Kranken die Möglichkeit, seine Psychose im Hgl.zustand gleich-
sam ‚auslaufen‘ zu lassen, was bei der großen psychischen Labilität der
Kranken als Noxe wirken könne.
v. Angyal (6) fand unter neuropsychopathologischen Gesichtspunkten an
einzelnen Insulinschocktypen Beziehungen zum prämorbiden Persönlichkeits-
typ (motorisch, eidetisch, kinästhetisch) bzw. zum neuropsychiatrischen Syn-
drom in der Psychose (motorisches Verhalten und Art der Halluzinationen).
Erb (58) sucht den Besonderheiten der Psychopathologie der hgl. Zustände
gerecht zu werden, indem er die im Lauf der Insulinbehandlung auftretenden
Veränderungen einteilt in unmittelbare und Spätreaktionen. Erstere: von
kurzer Dauer, nur im hgl. Zustand, in der ersten Hälfte der Behandlung und
wiederholt auftretend, sich nach einer gewissen Zeitspanne erschöpfend.
Letztere: lange dauernd, meist in der zweiten Behandlungshälfte und ein-
malig, auch außerhalb der hgl. Zustände auftretend. Zwischen unmittelbaren
Reaktionen und Behandlungsprognose bestehe eine Abhängigkeit. — Pa-
lisa (184) bespricht die Phänomenologie des Erwachens aus dem Schock.
Dabei hat jeder Kranke seinen eigenen Erwachenstyp, an dem er in photo-
graphischer Treue festhält. Die einzelnen Phasen der Bewußtseinsrestitution
werden unterschieden und näher geschildert.
Endlich meldet sich auch die Psychoanalyse: Bychowski (35) glaubt, daß
sich aus der Schockbehandlung neue Angriffsmöglichkeiten für die Psycho-
therapie wie auch für die theoretische Erfassung der psychischen Erkrankungen
im psychoanalytischen Sinn ergäben; nach Jollıffe (116) bringt das Koma
„das Individuum tatsächlich in ein intrauterines Bad primärer narcistischer
Omnipotenz!“
Stadelmann (249) spricht von den ‚atomaren und strahlenden Ver-
wandlungsaktionen“ im Lebensgeschehen und bringt die Insulinbehand-
lung mit der ‚Strahlenarbeit im Organismus‘ in Verbindung, insofern sie
ein Zuendeführen der durch die Schizophrenie entstandenen schweren ‚„Un-
ordnung der morphogenetischen Verwandlungsaktionen der Lebensarbeit im
Organismus“ mit dem Ausblick auf Neuordnung d. i. Heilung sei. Wenn der
Autor sich von einer derartigen Auffassung eine ‚neue Denkrichtung und eine
darauf fußende experimentelle Methode der Forschung‘ verspricht, so möchte
man hierauf das Wort v. Kügelgens (139) (das dieser allerdings in unberechtigt
verallgemeinerndem Sinne meint) anwenden, daß alle Erklärungsversuche
dazu verurteilt schienen, ‚nur ihrem Erfinder Freude zu machen“.
302 M. Thumm
II. Cardiazolkrampfbehandlung
Behandlungsergebnisse allgemein und in bezug auf be-
stimmte Krankheitsformen. v. Meduna (164) selbst hatte
mit der von ihm beschriebenen Methode bei wahlloser Ein-
beziehung aller schizophrenen Kranken unter 110 Behandelten
54 Remittierte; 56 blieben ungeheilt. Wenn die Behandlung im
ersten halben Jahr nach Manifestwerden der Krankheit begonnen
wird, so rechnet er 80 bis 90% Heilungsaussichten, Santangelo u.
Arnone (225) rechnen ebenfalls 80°%. Remissionen schlechthin
hatten bei akuten Fällen bis %, J. KD. Finkelmann, Steinberg u.
Liebert (67) 85%, Brousseau (30) 82%, Zerbini (280) 65,4%, Serger
u. Hofmann (241) 76%, Sorger (247) (bei 100 Fällen) ebenfalls 76%,
derselbe Autor bei subakuten Fällen bis 12 Mon. KD. 53°%. Die
Zahl der VR. gibt er bei akuten und subakuten mit 45°, unter
Einrechnung der noch ‚guten‘ Remissionen mit 64% an. Die
besten Aussichten boten die stuporösen Formen. — Scheuhammer
u. Wißgott (231) hatten bei frischen Fällen bis 11, J. KD. 69% VR;
die Hebephrenen sprachen am wenigsten an. Nach Angyal u.
Gyárfás (8) ist der Cardiazolkrampf für die Durchbrechung stupo-
röser Bilder besonders geeignet. Manchmal ergaben auch noch
veraltete stuporös-negativistische Fälle gute Remissionen. Auch
Wolfer (273) hat bei alten Fällen noch Erfolge gesehen, mindestens
im Sinn der Besserung und Sozialisierung. So auch Brinner (28).
In allgemein gehaltener Form berichten günstige Ergebnisse
Dhunjibhoy (52), Finiefs (65), Friedmann (75), Gillies (86), Ken-
nedy (129), Kraus (134), Leroy (150), Montferans (173), Nyirö (181).
Schlotmann (232) hatte bei Katatonen mit der Cardiazolbehand-
lung — im Gegensatz zur Insulinbehandlung — gute Erfolge, aber
nur bei einer KD. bis zu einem Jahr. Bei mehreren ausgesprochen
kataleptischen Starrezuständen trat schon nach zwei oder drei
Krampfanfällen VR. ein.
Übler (262) sah VR. nur bei akuten, subakuten und remittieren-
den chronischen Fällen; bei Katatonen und Stuporösen hielten die
anfänglichen Besserungen in der Regel nicht stand.
Nach Hager (91) sınd vorwiegend die katatonen Fälle für die
Behandlung geeignet, während die Paranoiden besser auf Insulin
ansprechen. Die besten Aussichten boten die zu Spontanremissionen
neigenden und die Frühfälle, ferner ‚symptomatische Schizo-
phrenien“ und ‚schizophren gefärbte Psychosen‘. Prozeßschizo-
phrene bleiben im Grund unbeeinflußt, zeigen höchstens vorüber-
gehende Besserung; auch Dem. simpl. ist kaum aufzuhalten. Über
45 Jahre alte Kranke wurden nicht mehr behandelt.
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 303
Im Gegensatz hierzu hatten Stähli u. Briner (250), die im ganzen
über 120 Fälle verfügen, gerade unter den Spätschizophrenen im’
Präsenium ihre besten Erfolge. Halluzinatorische Zustände wur-
den besonders gut beeinflußt, aber auch Negativismus und Denk-
störungen bei frischen Fällen, letzteres z. T. auch bei chronischen.
Sehr günstig sprachen akute und subakute Katatonien mit Hyper-
kinese an, weniger gut die Passiven, Antriebslosen, Hebephrene
nur im ersten Jahr, Paranoide dagegen gut — auch noch ältere
Fälle. Schizophrene Endzustände wurden zwar nicht geheilt, aber
in ihrem Verhalten sozialisiert. Briner (26, 28) erwähnt auch unter
solchen Fällen noch soziale ‚„Heilungen“. Von den im 4. und
5. Dezennium beginnenden Katatonien konnten alle 8 behandelten
Fälle nach wenigen Injektionen als voll remittiert entlassen wer-
den. Alte Paraphrene versagten. Alles in allem erblickt Briner (26)
in der Konvulsionstherapie nach v. Meduna einen ganz wesent-
lichen Fortschritt in der Behandlung der Schizophrenie.
Unter Ketel u. Meinas (130) 34 Fällen sprachen Paranoide und
Katatone gleichmäßig an.
Auch Csajaghy u. Mezei (41) bestätigen nicht die Neigung der
katatonen Schizophrenieformen, auf die Krampfbehandlung besser
anzusprechen. (Im übrigen erzielten sie bei Schizophrenen all-
gemein die dreifache Zahl der spontanen Besserungen.)
Arkalidis (9) konnte bei alten Fällen keine vollkommenen und
stabilen Remissionen erzielen. Rezidive traten zahlreich ein;
Wiederholung der Kur führte nur bei frischen Fällen wiederum
zu Remission.
Nach Zerbini (280) überschreitet die Zahl der Remissionen in
subakuten und akuten Fällen um ein Weniges die Hälfte der Be-
handelten und macht mindestens das Doppelte der Spontan-
remissionen aus. In chronischen Fällen sınd die Erfolge spärlich
und nur vorübergehend. (Dieser Autor gibt eine Zusammenstellung
über 1155 Fälle; hier besonders auch näheres über die einschlägige
italienische Literatur.)
Erbliche Belastung verschlechterte nach Serger u. Hofmann (l. c.)
die Voraussage nicht. Auch Brousseau (l.c.; 110 Fälle) sah bei
nachweisbar erblichen Fällen gleichermaßen erfolglose und erfolg-
reiche, was ihm Anlaß gibt, die m. E. nicht zu haltende Annahme
o. Medunas, die Remissionstendenz sei eine therapeutische Probe
für die Unterscheidung von endogenen und symptomatischen
Schizophrenieen, abzulehnen.
Skeptisch äußert sich Querido (194); wenn die geheilten Fälle
wieder 3 oder 4 Monate in ihrer eigenen Umgebung seien, werde
304 M. Thumm
klar, daß die grundlegenden schizophrenen Symptome unbeein-
flußt blieben, wenn auch Unruhe, Erregungszustände, Halluzina-
tionen usw. zurückträten; die wenigen Fälle, die eine betonte
Besserung auf lange Dauer -zeigten, seien solche mit unklarer .
Diagnose gewesen.
Technik und Dosierung. Nach v. Medunas (164) klassischer
Methode wäre zur Erzielung eines Krampfanfalles bei Männern
mit 0,5, bei Frauen mit 0,4 gr. Cardiazol zu beginnen. Statt der
anfangs verwandten 20% igen Lösung empfahl er später (166)
dringend, ausschließlich die 10%ige zu verwenden. Genaue Be-
schreibung des Anfallverlaufes findet man bei v. Meduna selbst.
ferner bei Serger u. Hofmann (241).
Da das Ausbleiben oder der abortive Verlauf des Anfalls nach
der Injektion für den Kranken schwere Nachteile, Angst- und
halluzinatorische Zustände, Mißgefühle verschiedenster Art und
infolgedessen auch Widerstand gegen weitere Behandlung (Rib-
beling (202)) verursacht, die abortiven Anfälle in der therapeu-
tischen Wirksamkeit auch nicht gleichwertig sind, so ging v. Me-
duna (168) neuerdings dazu über, diese Mißstände durch Nach-
spritzen zu vermeiden. Am ersten Tag gibt er, wenn 0,5 gr. keinen
Anfall erzeugen, unmittelbar danach nochmals 0,6; bleibt auch
dann der Anfall aus, so erfolgt jetzt nichts mehr. Am zweiten Tag:
0,7, gegebenenfalls Nachspritzen von 0,8. Am 3. Tag: 0,9;
gegebenenfalls Nachspritzen von 1,0. Die Pausen zwischen den
Injektionen können 2, bei genügender Erfahrung auch nur eine
Minute betragen. (In einem Versagerfall gab v. Meduna innerhalb
3 Minuten nicht weniger als 4,6 gr. auf drei Portionen.) Die Krampf-
behandlung erfolgt am besten zweimal in der Woche und zwar
nicht ım Einzelzimmer, sondern im Saal mit Trennwänden aus
Leinwand, möglichst wenig Apparatur und möglichst wenig Zu-
schauern; dadurch läßt sich die vielfach milieubedingte Behand-
lungsfurcht der Kranken vermindern oder ganz verhüten. 20 bis
25 Krampfanfälle sind das Minimum, bis zu dem die Behandlung
getrieben werden soll, bevor sie als aussichtslos abgebrochen wird.
Nach Eintritt der Remission sollen noch mindestens drei Anfälle
herbeigeführt werden.
Mit Nachdruck betont v. Meduna, daß eine nicht überstürzte,
schrittweise, aber konsequente psychotherapeutische Beeinflussung
Voraussetzung des Erfolges sei. Nach jedem 4. oder 5. Krampf-
anfall nimmt er eine Besprechung mit dem Patienten vor, jedoch
nicht am Anfallstag selbst. Auch Nyirö (182) sieht als wichtigsten
Grund für Fehlschläge die Vernachlässigung der Psychotherapie
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 305
an, ebenso Ribbeling (202), der allerdings bei psychisch wenig
Differenzierten zu Vorsicht, u. U. völligem Verzicht rät. Der
hochgradigen psychischen Verletzlichkeit nach dem Anfall sei all-
gemein Rechnung zu tragen durch Vermeidung von Unruhe in der
Umgebung, durch Fernhalten von jeder Art gemütlicher Erregung.
Ribbeling hat, wenn gelegentlich notwendig, das Cardiazol auch
intramuskulär appliziert, dann jedoch in dreifacher Dosis und in
20°,ıger Lösung.
An Stelle des bei uns in Deutschland nahezu ausschließlich angewandten
Cardiazol Knoll werden in anderen Ländern entsprechende Präparate ver-
wendet, so ,‚Corvis‘‘-Löwenstein in Holland, ‚‚Tetrakor‘‘ (Chinoin) bzw.
„.Pentamethylentetrazol‘ in osteuropäischen Ländern, in Amerika ‚Metrazol‘“.
Mayer-Groß u. Walk (163) empfehlen das Cyclohexyl-ethyl-
triazol, auch Triazol 156 oder „Azoman‘‘ genannt, dem gewisse
Vorteile gegenüber dem Cardiazol nachgerühmt werden: vor allem
fehlen die quälenden Mißempfindungen beim Auslösen des An-
falles, oft wurde sogar Euphorie beobachtet; die Dosis ıst ge-
ringer, 0,015 bis 0,03 gr ; die Mehrzahl der Patienten benötigt
zwischen 1,2 bis 1,8 ccm einer 5°,igen Lösung; es kommt zu
keiner Verödung der Venen; Azoman kann unter Verdoppelung
der Dosis intramuskulär verabfolgt werden.
Besondere klinische Beobachtungen und Untersuchungen.
Auch nach anfänglich refraktärem Verhalten gegen Cardıazol
können späterhin Kranke mit weit niedrigeren Dosen typische
Anfälle bekommen (Brousseau (30)), ein Vorgang, der der
Sensibilisierung bei der Insulinbehandlung entspräche.
Nach den Erfahrungen Maders (157) setzt Angst und Aufgeregtheit die
kKrampfbereitschaft herab. — De Sauvage- Nolting (226) stellte bei 50 Männern
im-Anfall Ejakulation fest. In zwei Fällen sah Janzen (112) neben Besserung
des psychischen Zustandes eine starke Fettsucht mit Amenorrhoe sich ein-
stellen, einmal zugleich mit Auftreten eines männlichen Behaarungstypus;
Behandlung mit Menoform brachte bei einer dieser Patientinnen zwar die
Menses wieder, zugleich aber auch alle psychotischen Symptome in alter
Heftigkeit (Gleichgewichtsstörung im endokrinen Haushalt durch die Gar-
diazolwirkung). Kranke, bei denen die Injektionen einen Anfall nach sich
zögen, ebenso solche, bei denen geringere Anfallsdosen nötig waren, haben
nach Ketel u. Meina (130) bessere Heilaussichten.
Niketie u. Sušić (177) führten systematische Untersuchungen des L:-
quors cerebrosp. im Anfall durch und fanden dabei im Beginn des Insultes
ein Ansteigen des Druckes; die größte Höhe erreichte dieser während der
tonischen und zu Anfang der klonischen Phase, um in deren Verlauf unter
groBen Schwankungen abzusinken. Der Druck gilt als Erscheinung sekundärer
Natur. Die übrigen Liquorreaktionen im Laboratorium weichen nicht von
der Norm ab. — F.J. M. Schmidt (235) stellte im Gardiazolschock ohne
Zusammenhang mit Auftreten oder Ausbleiben des Insults Veränderungen
des morphologischen Blutbildes fest, die er auf eine Erhöhung des Sympathi-
20 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 109, H. 3/4.
306 M. Thumm
cotonus, vielleicht durch Reizung der Kerne rings um den dritten Ventrikel,
zurückführt. — Mehrere Autoren (Jedlowskı (113), Tonaggı (260), Zerbini (279),
wiederholten die Donaggiosche Urinreaktion, die stets nach dem Krampf-
anfall positiv, vor oder bei versagendem Anfall negativ ausfiel und als Zeichen
für die im Organismus hervorgerufene Störung des kolloidalen Gleichgewichtes
gewertet wird.
Rombouts (204) geht einem psychopathologischen Phänomen nach: Er
schildert, wie bei einer an schwerem katatonen Stupor leidenden Frau unter
der Behandlung von Insult zu Insult allmählich das verlorene Bewußtsein
der Eigenaktivität sich wieder herstellte.
Unter den Komplikationen stehen an erster Stelle die
chirurgischen. Denn die im tonischen Stadium entfalteten
Kräfte sind beim künstlichen Insult offenbar größer als bei der
gewöhnlichen Epilepsie (Kraus (135)).
Sehr häufig kommt es zu Kieferluxationen. Wulfjten- Palthe (277) be-
richtet von einer Schulterluxation mit Abbrechen des Tub. mai. hum.,
Kraus (l.c.) bei einer 51jähr. Frau von einer doppelseitigen Luxation des
zuvor normalen Humerus mit einer gleichzeitigen Fraktur am Collum anat.
der einen und Abreißen des Tuberc. mai. auf der anderen Seite. Trotz opera-
tiven Eingriffs blieb eine ernste Funktionsstörung bestehen. Kraus erwähnt
des weiteren einen Fall (Sorgers) von Fraktur des Humerus im Collum chir.
Briner (28) sah zweimal eine Fraktur der Scapula an ihrem unteren lateralen
Teil bei anscheinend gesundem Knochensystem. In einer Schweizer Anstalt
(mündliche Mitteilung) beobachtete man im Anfall eine Querfraktur der
Scapula. In Illenau sahen wir bei einem Mann mittleren Alters im ersten
Insult einen Schenkelhalsbruch. Janzen (112) erwähnt einen doppelseitigen
Schenkelhalsbruch, der bei einem 35jähr. Katatonen beim ersten Insult
(5 ccm einer 10%igen Lösung) im tonischen Stadium unter lautem Krachen
erfolgte.
Zur Vermeidung ınternistischer Komplikationen hatte
v. Meduna als Gegenanzeige für die Behandlung zunächst nur
organische Herzerkrankungen und akute fieberhafte Krankheiten
angeführt. Nach meinen eigenen Erfahrungen (259) bilden auch
Erkrankungen der Atmungsorgane — insbesondere solche chro-
nisch stationärer Art bei verminderter Atmungsfläche — eine
Contraindikation. Insbesondere kann eine latente Tuberkulose
aktiviert werden (Kraus). Der Atemstillstand (Ligterink (153)),
Foscarini u. Zerbini (69)) kann im Anschluß an den Anfall 10 bis
30 Sek. dauern und nımmt manchmal, wenn auch in der Regel die
Atmung von selbst wieder in Gang kommt, eine bedrohliche Form
an, die ein Eingreifen mit künstlicher Atmung bzw. Lobelin er-
fordert (Janzen (112), Thumm (259)). Die Apno& kann auch bei
Verwendung der 10°, igen Cardiazollösung eintreten.
Ligterink (153) hatte einen Fall von Lungenabszeß. Kraus (135) hielt in
zwei Fällen von Lungenabzeß, die 8—10 Tage nach dem letzten Insult auf-
traten, die Kausalität nicht für unbedingt erwiesen, wenn auch wahrschein-
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 307
lich. Brinner (28) sah in einem Fall in der Nacht nach der letzten Injektion
eine tödliche Lungenembolie nach alter, klinisch nicht erkennbarer Thrombo-
phlebitis der Beckenvenen; ein anderer Fall von Exitus betraf eine tiefliegende
stenosierende Struma bei gleichzeitigen doppelseitigen Hypernephromen.
Kat (126) hat zweimal mit Sicherheit, einmal mit großer Wahrscheinlichkeit,
unmittelbar nach dem Anfal hämorrhagische Lungeninfarkte beobachtet, ferner
in einem Fall nach dem Insult eine gemischt sensorisch-motorische Aphasie,
die im Lauf von 1, bis i Std. von vollständiger Aphasie über eine amnestische
Aphasie zur Norm zurückkehrte. v.d. Horst (106) sah nach einer Cardiazol-
injektion eine Paraplegie durch Querläsion auftreten. Eine offenbar schon
vorhanden gewesene Spondylitis muß in der betreffenden Anstalt übersehen
worden sein, weil sie keinerlei Erscheinungen gemacht hatte.
Jelgersma (114) erwähnt, daß Kopfschmerzen, Kreuzschmerzen,
Sehwindel, Übelkeit und Erbrechen nach Cardiazolinsult einen
Grad annehmen können, daß man dabei von „Komplikationen“
sprechen muß. Nach Hoogerwerf u. Jelgersma (103) zeigte sich bei
allen Patienten mit gesundem Kreislauf und normalem EKG nach
1.-v. Injektion von 5cem Cardiazol im EKG. außer einzelnen
atypischen Veränderungen regelmäßig eine starke Zerstörung der
iso-elektrischen Linie im T. P. Intervall. Dieser Zustand, der ein
drohendes Kammerflimmern anzeigt, kann auch längere Zeit nach
der Behandlung anhalten. Es ist also vorherige gründliche Kreis-
laufuntersuchung erforderlich, ohne daß aber dadurch jede Ge-
fahr vollkommen auszuschließen wäre. Schenk (230) glaubt auf
Grund einer Anzahl von Beobachtungen annehmen zu sollen, daß
durch Cardiazolschock Herzschädigungen erzeugt werden können,
die zunächst latent bleiben, um dann im Lauf einer nachfolgenden
Insulinkur manifest zu werden.
Ligterink (153) hat neben erhöhter Toleranz auch Sensibilisierung beob-
achtet. Oft kommt es im Verlauf der Cardiazolkur — vielleicht durch Ande-
rung der inneren Sekretion — zu Erotisierung (auch von Ketel u. Meina (130)
insbesondere bei Frauen beobachtet). Erbrechen und Pulsverlangsamung nach
dem Insult wird mit Wahrscheinlichkeit auf Vagusreizung zurückgeführt,
Ausbleiben des Pulses (bis 4, Min.) auf Gefäßkrampf. Vorsicht wird bei
Diabetes und Leberschwäche empfohlen, da die Rolle der Leber bei Ent-
giftung des Cardiazols noch nicht genügend bekannt ist. Das von der Firma
Knoll als einziges Antidot empfohlene Somnifen erscheint contraindiziert, da
man nicht eine stimulierende, sondern eine toxische Wirkung des Cardiazols
annehmen muß. — Einen status epilepticus sah Ligterink (154) bei einer
32jähr. Frau, die nach ergebnisloser i.-v.-Injektion von 0,8 g 2 Std. später 1g
und wieder eine halbe Stunde später 0,3 g i.-m. erhalten hatte, 15 Minuten
nach dieser letzten Injektion eintreten. Durch 2 ccm Somnifen i.-v. konnte der
Status epilepticus beherrscht werden.
Daß auf der anderen Seite auch wieder Vorsicht mit der Dia-
gnose „Komplikation‘‘ geübt werden muß, macht Kraus (135)
an 2 Fällen deutlich.
299
- 308 M. Thumm
Das eine Mal handelte es sich um eine Facialislähmung, das andere Mal
um eine Femoralisthrombose, die beide Male noch gerade vor Beginn der
Behandlung in die Erscheinung traten.
Im übrigen rät aber Kraus, sich jeweils vor Einleitung der Kon-
vulsionstherapie außer durch EKG. auch durch Röntgenaufnahme
der Lungen zu sichern.
Auf alle Fälle kann es nach den vorliegenden Berichten über tat-
sächlich beobachtete Komplikationen nicht als berechtigt gelten,
wenn eine Reihe von Autoren (Joó (117), Übler (262) u.a.) die
Krampfbehandlung als vollkommen gefahrlos bezeichnen. Die
klare Erkenntnis möglicher Gefahren braucht den therapeutischen
Schwung nicht zu lähmen, verpflichtet aber entschieden, die Aus-
lese und Vorbereitung der Fälle mit großer Sorgfalt vorzunehmen.
Als Contraindikationen müssen außer Herz- und Kreislaufstörungen
Erkrankungen des Respirationsapparates (vor allem Tuberkulose-
verdacht), Hypertonie, Nierenaflektionen, Diabetes und Thyreo-
toxieen angesehen werden. Die eigentliche Mortalität ist freilich
verschwindend gering, geringer noch als selbst bei Insulinbehand-
lung.
Cardiazolbehandlung nicht-schizophrener Psychosen. Gies
(84), Serko (242), Foscarini u. Zerbini (69) versuchten die
Krampfbehandlung auch bei Depressiven, Joo (117) insbeson-
dere bei klimakterischen Depressionen. Die Fälle sind noch nicht
sehr zahlreich und über den Erfolg wird. mit einiger Zurückhaltung
berichtet. De Sauvage-Nolting (226) behandelte zwei Depressions-
zustände des manisch-depressiven Irreseins ohne positiven Er-
folg. Verstraeten (263, 264) hatte bei Manisch-depressiven sehr
bemerkenswerte Resultate, besonders in der depressiven Phase.
Auf Grund seines Materials von 20 Depressionen und zwei Manien
hält er die Behandlung für berechtigt, da sie die Krankheit ab-
kürze; bei den Depressiven sei es bald plötzlich, bald allmählich
zu einem Rückgang der seelischen Störung gekommen. Auch
Broggi (29) sah bei depressiven Zuständen besonders günstige
Wirkung; von 16 Fällen mit einer KD. von unter einem Jahr wur-
den nach wenigen Anfällen 15 geheilt. Mader (157) hat, obwohl
in der Privatanstalt besondere Schwierigkeiten bei den Kranken
zu überwinden waren, nicht nur klimakterische und endo-
gene, sondern auch reaktive und Zwangsdepressionen mit
Cardiazol behandelt. Die klimakterischen Formen, besonders die
mit paranoidem Einschlag, sprachen am besten an; bei Angst- und
Zwangsdepressionen war der Erfolg geringer. Auch dieser Autor
sieht den therapeutischen Nutzen bei Depressionen vor allem darin,
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 309
daß man in der großen Mehrzahl der Fälle die Krankheitsdauer er-
heblich abkürzen könne. Im allgemeinen wurden 6—12 Injektionen
gegeben, bei Depressionen mit Herzangst waren verschiedentlich
zur Auslösung des Anfalles größere Dosen erforderlich. Bei De-
pressiven kam es öfter im Verlauf der Kur zu vorübergehenden
Gedächtnis- und Merkstörungen.
Gerade für die Behandlung von Depressiven scheint aber doch der Ein-
wand, den Minkowski in der Sitzung der Pariser Soc. Med. Psychol. (Nov. 37)
Verstraeten (263) gegenüber erhob, bemerkenswert: es sei bedenklich, ein
derart angsterregendes Mittel bei Angstpsychosen anzuwenden.
Noch weiter sind Jancke (111) und Bücken (32) gegangen. Ersterer wandte
das Cardiazcl in Verbindung mit entsprechender Psychagogik bei Zwangs-
kranken und hysterischen Psychopathen (hysterische Gehstörung) mit Er-
folg an. Letzterer benützte es als Mittel zur Überrumpelung nicht nur bei
Kriminellen (Haftpsychosen, Ganser-Zuständen, Simulanten) um sie zu zwin-
gen, „klein beizugeben‘‘, sondern auch als ‚‚Drasticum‘“ bei sonstigen reak-
tiven Zuständen zur Erschütterung der hysterischen, psychopathischen und
zwangsneurotischen Haltung durch den Anfall und seine ‚‚unangenehmen be-
gleitenden Sensationen‘. In Betracht kämen Fälle, in denen der Kranke
„die Macht des Arztes besonders deutlich zu fühlen bekommen“ soll. — Man
möchte nur hoffen, daß eine derartige drastische ‚pädagogische‘ Verwendung
des CGardiazolkrampfes keine Nachahmer findet.
Theoretische Fragen. v. Meduna hat mehrfach (167, 170) —
im Gegensatz zu der rein empirisch gefundenen Insulintherapie —
den deduktiven Charakter seiner Cardiazolbehandlung hervor-
gehoben. Sie sei das Ergebnis einer Forschung, beruhend auf der
vorher entworfenen Arbeitshypothese des biologischen Antagonis-
mus zwischen Schizophrenie und Epilepsie. Dieses gegensätzliche
Verhalten wirke sich u. a. aus in den Konstitutionstypen, im Ver-
halten des Gliasystems (Lähmung, Wucherung) und des Kohle-
hydratstoffwechsels (Verlangsamung, Beschleunigung). Dazu kä-
men die klinischen Beobachtungen, die Nyirö (1929) u. G. Müller
(1930) gemacht haben, wonach das zufällige Hinzutreten einer
Schizophrenie zur Epilepsie bzw. Epilepsie zur Schizophrenie ın
gewissen Fällen zur Genesung führte. Glaus (1931) fand unter
6000 Schizophrenen nur 8 Fälle mit gleichzeitig bestehender Epi-
lepsie. Zur Unterscheidung von dem in der Insulinbehandlung auf-
tretenden Paroxysmus wird erwähnt, daß dieser auf Gefäßkrampf
beruhe, der Cardiazolkrampf dagegen von Gefäßerweiterung be-
gleitet sei. Der BZ.-Spiegel, der bei Insulin sinke, erhöhe sich bei
Cardiazol. — Ist die Schizophrenie verursacht durch zwangsmäßig
auf einander folgende, im einzelnen unbekannte Prozesse einer che-
mischen Kette, so suchen wir diese Kette mit der Therapie ‚„bom-
benartig‘‘ zu sprengen, und so das krankhafte Geschehen zur Norm
zurückzuführen.
310 M. Thumm
Nach Georgi u. Strauß (81) ist die Identität zwischen CGardiazol-
anfall und epileptischem Anfall sowohl klinisch als humoralpatholo-
gisch nachgewiesen (BZ., Blutbild, Ka-Ca-Spiegel, Plasmalabilität und Sen-
kungsreaktion). Ionale Veränderungen finden sich nur bei erfolgreicher
Cardiazolverabreichung, was dafür spricht, daß der pathogenetische Krampf-
faktor nicht in erster Linie im Gefäßkrampf, sondern in den ionalen Vor-
gängen in der Zellmembran zu suchen sein dürfte. — Über das parallele
Verhalten der pathophysiologischen Vorgänge beim Insolinschock s. auch
S. 296.
Im Tierexperiment sahen sowohl De Morsier, Georgi u. Rutishauser (174)
wie auch Stender (253) im Lauf der Versuche eine gewisse Gewöhnung an das
Cardiazol eintreten, so daß Steigerung der Dosis nötig war. Übereinstimmend
fanden diese Autoren in histologischer Hinsicht keinerlei faßbare Schädi-
gungen im Gehirn, wenngleich anzunehmen ist, daß das Cardiazol als Kreis-
laufgift zu weitgehenden vasomotorischen Reaktionen der Gehirngefäße, ent-
sprechenden Durchblutungsänderungen oder direkten tonischen Einwir-
kungen auf motorische Ganglienzellenelemente führen muß. Im Gegensatz
zu diesen Autoren fand Reitmann (201) bei seinen (allerdings mit besonders
hohen Dosen) an Hunden vorgenommenen Untersuchungen herdförmige Ver-
änderungen (Blutungen, Verblassungen) und diffuse Störungen an Ganglien-
zellen (Vakuolenbildung, Zerfall der Nißlkörner, ungleichmäßige Zellfärbung,
Zellinkrustationen und Zelldislokationen). Der Befund erinnerte an die von
Stief u. Tokay (Z. Neur. 139, 434—461; 1932) beschriebenen Befunde bei
experimenteller Insulinvergiftung; nur waren die Zellverblassungen ge-
ringer, die parenchymatösen Blutungen aber reichlicher und ausgedehnter
als hier. Auch Kastein (123) gewann auf Grund seiner histopathologischen
Untersuchungen an Kaninchenhirnen wie seiner Katamnesen an behandelten
Schizophrenen den Eindruck einer Heilung ‚‚auf niedrigem Niveau‘ (Querido)
d. h. mit Defekterscheinungen. Das klinische Resultat folgt eben auf eine
nervale Schädigung. Diese Schädigungen sind nicht so groß wie Stief u.
Tokay (Z. Neur. 153, S. 561—572; 1935) aus ihren Versuchen ableiten, aber
auch nicht nur reversibler Art, wie Schmidt (Schw. Wschr. 1936) annahm.
Kastein betont freilich, daß er damit nicht gegen die Heilkuren aussagen,
sondern nur einen Ansporn zur schärferen Erfassung der Restsymptome —
auch in den Katamnesen — geben wolle.
Bini (16) hat an Hunden mittels elektrischen Stroms epileptische An-
fälle hervorgerufen und Veränderungen am ZNS. gesetzt, die histologisch
nachgeprüft wurden. Er denkt an die Möglichkeit, schockartige Erschei-
nungen auch mittels physikalischer Methoden zu erzielen. — Bersot (14)
nimmt — gewiß zu Unrecht — an, daß die Wirkung des Cardiazol auf dem
Umweg über bestimmte chemische Substanzen (Milchsäure, Methylglyoxal
und Brenztraubensäure), die ähnlich wie in der Insulinhgl. im Gehirn ent-
stünden, zustandekomme. — Leroy u. Clemens (151) konnten bei der Maus
durch mittlere Cardiazolgaben experimentell katatone Bilder erzeugen, die
den klinischen Bildern der Katatonie entsprachen und ähnlich auch durch
Bulbocapnin oder durch Cobitoxine hervorzurufen sind.
Kastein (120) konnte bei Versuchen an Kaninchen durch wiederholte
Gardiazolinjektionen eine Erhöhung der Krampfschwelle und Verzögerung
der Wiederherstellung nach Insult herbeiführen; Hungern, Wasserentzug und
Kalkzufuhr verringert die Empfindlichkeit, Wasserretension steigert sie.
* +
x
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 311
Abgesehen von einigen Arbeiten, die die diagnostische Verwertbarkeit
des Cardiazolkrampfes zum Gegenstand haben (Horn (105), Hoyer (107), Köst
(132), Wichmann (270)) sei anhangsweise noch des Vorschlages von Giese (85)
gedacht, das Cardiazol auch für forensische Zwecke nutzbar zu machen. Er
möchte, wenn Schwierigkeiten in der prognostischen Beurteilung Schizo-
phrener besonders mit katatoner Symptomatik bestehen, bei wichtigen Aus-
künften oder forensischen Begutachtungen keine Entscheidung gefällt sehen,
so lange nicht eine Cardiazol- oder gleichwertige Behandlung stattgefunden
habe. — In ähnlichem Sinn denkt Braun (18) an die Möglichkeit, auch das
Insulinkoma in den Dienst der Begutachtung zu stellen; Erfahrungen mit
einer dissimulierenden Kranken, deren schizophrene Inhalte im Koma ein-
deutig zutage traten, gaben ihm hierzu Anlaß.
III. Die kombinierte Insulin-Cardiazolbehandlung
Die Überlegung, daß erhöhte Krampfbereitschaft in der Hgl.
die Auslösung eines Krampfanfalles mit einer ohne Hgl. unzurei-
chenden Cardiazoldosis ermöglichen müsse, wie auch humane Er-
wägungen (Vernichtungsangst der Kranken im Anschluß an die
Cardiazolinjektion) führten Georgi u. Strauß (81) zur Einführung
eines „Summationsverfahrens‘. Die Cardiazolinjektion er-
folgt danach in der Zeit der erhöhten spontanen Krampfneigung,
d.h. 1—2 Std. nach der Insulingabe. Die Kranken befinden sich
dann noch nicht im Koma, aber doch schon unter Insulinwirkung.
Es genügen 3/; der sonst üblichen Cardiazolmenge. Im Anschluß
an den Anfall wird der Kranke durch Zuckerzufuhr geweckt. Die
Insulinkur kann wie sonst an 6 Wochentagen durchgeführt und
dazu 2—3 mal wöchentlich das Cardiazol verabfolgt werden oder
(bei stärker mitgenommenen Kranken) wird sowohl Insulin als
Cardiazol nur 2—3mal wöchentlich gegeben. Georgi (82) empfiehlt
das Summationsverfahren 1. in allen jenen Fällen, die nach drei-
monatiger Insulinkur keine oder nur eine unvollständige Remission
aufweisen, 2. bei Stuporfällen, die nach einigen Wochen der In-
sulinbehandlung keine Aktivierung zeigen.
Auch nach Dussik (50) hießen sich in Fällen von einer KD. über
115 J. durch das Summationsverfahren die Ergebnisse verbessern.
Kastein (118) bestätigt auf Grund von theoretischen Erfahrungen und
Tierversuchen, daß im Insulinkoma die Krampfdosis um die Hälfte herab-
gesetzt ist, daß dem Gardiazolkrampf eine Verringerung der Komatiefe folgt.
und daß das CGardiazol eine Erhöhung des BZ.-Spiegels erzeugt. besonders
wenn die Injektion von einem Anfall gefolgt ist.
Auch Strecker (256) befürwortet, wenn ırgend möglich Cardiazol
auf der Basıs einer Insulinhgl. zu spritzen, weıl dann die Behand-
lungsresultate am günstigsten seien. Im übrigen gibt er der In-
snlin- vor der Cardiazolbehandlung den Vorzug, weil sie besser
312 M. Thumm
dem Charakter des Einzelfalles angepaßt und der Schock in jeder
Hgl.stunde unterbrochen werden könne, während der Cardiazol-
krampf dem Alles- oder -Nichtsgesetz folge.
E. Küppers (142) erwähnt an Möglichkeiten neben dem Georgi-
schen Summationsverfahren das „Kreuzen“ (nach v. Meduna)
vom Insulin zum Cardiazol und evtl. zurück, ferner das „Alter-
nieren“: am 1. bis 5. Tage Insulin, 6. Tag Cardiazol usw. im
Wechsel, mit Dazwischenlegen eines (7.) Schontages. Er empfiehlt,
mit Insulin zu beginnen (bei Gegenindikation von vornherein statt
dessen Card.), bei Stuporösen zu alternieren, dann je nachdem
mit Ins. oder Card. fortzufahren, bei negativem Ausgang einer
Insulinkur zum Card. zu kreuzen oder Summation anzuwenden.
v. Braunmühl (22) verwendet die „Wechselmethode im
Block“. Es wird zunächst eine ‚Insulinbasis‘‘ mit 20 Schocks
gelegt, dann folgt ein „Cardiazolblock‘“, d. h. Cardiazolkrämpfe
an 2—4 aufeinanderfolgenden Tagen und zwar ohne Insulin, da-
nach wieder Insulinblock von 10 bis 15 Schocks usw. Auch bei
Anwendung des eigentlichen Summationsverfahrens nach Georgi
wird vom Autor eine reine Insulinbasis von 15—20 Schocks vor-
gelagert. Er hält die Blockmethode für das therapeutisch wirk-
samste Vorgehen bei frischen, aber resistenten Fällen und für un-
entbehrlich besonders auch bei alten Schizophrenen. v. Braun-
mühl (23) ist in der Folge mehr und mehr dazu übergegangen,
den Cardiazolkrampf in die tiefen Hgl.stunden, ja in den völlig
ausgebildeten Insulinschock zu verlegen und die Kranken grund-
sätzlich unter Zuhilfenahme von Sauerstoff zu wecken. Mit Nach-
druck verlangt er, erst auf eine gründliche Insulinbasis den Car-
diazolschock zu setzen.
Csajagha u. Mezei (41) ziehen es aus praktischen Gründen (große tech-
nische Einfachheit, geringere Kosten usw.) vor, mit der Krampfbehandlung
zu beginnen und erst bei ungenügendem Erfolg zum Insulin überzugehen.
Falls wirtschaftliche Fragen keine Rolle spielen, wird aber der Insulinbehand-
lung der Vorzug gegeben. Unter Kombination verstehen sie ein Nacheinander,
nicht ein Nebeneinander. — Domaszewicz u. Erb (47) konnten erfolglos mit
Insulin behandelte Fälle durch Weiterbehandlung mit Cardiazol noch zu
guter Remission bringen und umgekehrt. Bei mangelnder Ansprache auf
Insulin kann Cardiazol für die weitere Insulinbehandlung aufschließen. Bei
Paranoiden wird ausschließlich Insulin angewendet, die Katatonen reagieren
besser auf Cardiazol. Bei Schizophrenen mit vorwiegend psychomotorischen
Erscheinungen beginnen die Verff. die Kur mit Cardiazol, bei Ilebephrenen
mit Insulin. Wenn nach 6—8 Wochen keine Besserung eintritt, folgt Card.
und dann u. U. wieder Insulin. War mit 0,7 (bei Frauen 0,6) g Card. kein
erster Krampfanfall auszulösen, so wurde auf Cardiazolbehandlung ver-
zichtet und Insulin angewandt; hob sich im Lauf der Behandlung die Krampf-
bereitschaft, so wurde wie bei Hebephrenen verfahren. Allgemein kam es
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 313
nach diesen Autoren beim Cardiazol im Vergleich zu den Insulinremissionen
mehr zu nur vorübergehenden oder teilweisen Besserungen. — Humbert u.
Friedemann (108) gelang es, einem Kranken, der 16 Jahre hindurch an
chronischer Schizophrenie litt, durch eine kombinierte Insulin-CGardiazolkur
seine Arbeitsfähigkeit wiederzugeben.
Es ist klar, daß die Summation von Insulin und Cardiazol er-
höhte Gefahren ın sich schließt, und daher nur von Erfahrenen
angewendet werden darf.
Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Wir verdanken es den neuen Heilweisen, — Sakels Insulin-
schockbehandlung und v. Medunas Konvulsionstherapie der Schi-
zophrenie, — wenn heute eine neue erfreuliche Welle therapeu-
tischer Aktivität durch die psychiatrischen Anstalten fast der
ganzen Welt geht. Die große und ständig wachsende Zahl der
Veröffentlichungen gibt davon ein eindrückliches Bild. Ganz über-
wiegend sind sich heute die Fachgenossen darin einig, daß die
neuen Verfahren nicht nur allgemein eine Fülle von
Anregungen, sondern auch einen wesentlichen Gewinn
für die Therapie der Schizophrenie gebracht haben.
Man kann zweifellos die vorsichtige Berechnung von M. Müller
und von Küppers als richtig unterstellen, daß wir — die Spontan-
remissionen im breiten Durchschnitt mit 30°, angenommen!) —
die Zahl der Remissionen durch die neuen Behandlungsmethoden
aufs Doppelte — etwa 60°, — bringen und bei den spontan zum
Remittieren neigenden Fällen immerhin die Krankheitsphase er-
heblich abkürzen können.
Das ist und bleibt ein sehr großer Fortschritt, wenn auch die
manchenorts anfangs vielleicht allzuhoch gespannten Erwartungen
sich nicht erfüllen konnten. Aber Sakel selbst (217) hat vor allzu
großem Optimismus, der der Sache nur schaden könne, ausdrück-
lich gewarnt, und v. Meduna (165) sagt einmal, beide Methoden
seien gewaltsame Eingriffe zur explosionsartigen Erschütterung
des Organismus, das Zukunftsideal aber sei, statt dessen die glei-
chen chemischen Vorgänge in langsamer Wirkung hervorzurufen.
Noch haben wir es mit einer „terapia violenta‘‘ (Torsegno (261)),
zu tun, die, wie Wulfften- Palthe (277) im besonderen von der
Konvulsionst.herapie sagt, „zwar etwas eleganter, aber nicht weniger
heroisch‘‘ ist als gewisse Methoden der alten Psychiatrie.
1) Von bestimmten Sonderverhältnissen, wie sie für die Berner Klinik
Geltung haben mögen, ist dabei abgesehen.
314 M. Thumm
Daß sich bei der Insulinbehandlung die Erfolge vielfach erst
innerhalb der „Gefahrenzone‘ (Sakel) erzielen lassen, und daß es
bei der Cardialzolbehandlung zu sehr mißlichen Komplikationen
kommen kann, braucht uns an sich nicht zu schrecken. Warum
sollte der bisher zur therapeutischen Passivität verurteilte und oft
allzu sehr zur Vorsicht neigende Psychiater sich nicht die Ver-
antwortungsfreudigkeit und den Wagemut, wie sie der Chirurg
täglich übt, zu eigen machen, wenn ihm die allgemein bestätigten
Erfahrungen erstmals den Weg zu einer erfolgreichen Aktivität
eröffnen und die Ausnützung neuer Möglichkeiten im Kampf gegen
die Schizophrenie zur ärztlichen Pflicht machen ? Freilich dürfen
solche Risiken nur bei sorgfältiger Auslese der Fälle und kunst-
gerechter Einhaltung der erprobten Methodik bei der Durch-
führung der Behandlung verantwortet werden.
Die bei der Insulinbehandlung schon unerhebliche Sterblichkeit
ist bei der Cardiazolbehandlung noch wesentlich geringer.
Gleichwohl wird mancher mit mir der Meinung sein, daß der
künstlich hervorgerufene Paroxysmus uns nahe an die Grenzen
dessen führt, was sich mit ärztlichem Handeln noch verträgt. Der
Vorschlag, ihn als Mittel zur „Disziplinierung‘‘ zu verwenden, ist
als unverständlicher Fehlgriff, der den therapeutischen Fortschritt
in Verruf bringen müßte, schärfstens abzulehnen.
Bei frisch erkrankten Schizophrenen (besonders Erregten und
Paranoiden) wird die reine Insulinkur künftighin die Methode der
Wahl bleiben; wenn sie nicht in kürzerer Zeit zum Erfolg führt,
wird man zum Kombinations- bzw. Summationsverfahren über-
gehen. Bei Stuporösen kann man die reine Cardiazolkur versuchen:
bei allen besonnenen, difierenzierteren, sensitiven, depressiven sowie
ängstlich und hypochondrisch eingestellten Kranken wird man der
Cardiazolbehandlung das Kombinations- bzw. Summationsverfah-
ren nach Georgi, Küppers, v. Braunmühl vorziehen.
Wenn es auch nahelıegt, das Schwergewicht des therapeutischen
Interesses den aussichtsreicheren Frühfällen zuzuwenden, so
machen es doch zahlreiche positive Erfahrungen zur gebieterischen
Pflicht, auch den älteren und scheinbar aussichtslosen Fällen die
Vorteile einer Behandlung, soweit keine Gegenanzeige vorliegt,
zugute kommen zu lassen.
Im allgemeinen scheint die summierte Insulin-CGardiazolbehand-
lung immer mehr Verbreitung zu finden: v. Meduna (165) und neuer-
dings auch Sakel (123) (in der englischen Ausgabe seiner Mono-
graphie S. A3 ff.) haben sie empfohlen. —
Über den Stand der Insulin- und Cardiazolbehandlung. Literaturbericht. 315
Die Anwendung beider Verfahren bei nichtschizophrenen Psy-
chosen bedarf noch der weiteren Erprobung. —
Die theoretischen Erklärungsversuche der Wirkungsweise der
neuen Behandlungsverfahren tappen meist noch im Dunkeln, doch
eröffnet vor allem die Stofiwechselforschung, welche namentlich
durch die von der Insulintherapie angeregten Fragestellungen einen
starken Auftrieb gewonnen hat, interessante Ausblicke und gibt
der Hoffnung Raum, daß wir auf diesem Wege allmählich der Er-
kennung des Wesens der Schizophrenie nähergeführt werden.
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Bericht über den ıco. Internationalen ärztlichen
Kongreß für Psychotherapie in Oxford 29. 7. bis
2.8.38 und über den 2. Kongreß der Deutschen
Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psycho-
therapie in Düsseldorf vom 27.—29. 9. 38
Von
Prof. Dr. jur. Dr. med. M. H. Göring, Berlin
Beiden Kongressen ist gemeinsam, daß sie zum erstenmal in
der breiten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und Anerkennung her-
vorriefen. Bei dem Oxforder Kongreß standen die Äußerlichkeiten
stärker im Vordergrund, so wurde C. G. Jung Ehrendoktor der
Universität Oxford und der Minister für das Gesundheitswesen
war eigens an den Tagungsort gekommen, um die Kongreßmit-
glieder zu begrüßen. Der Düsseldorfer Kongreß bewirkte einen
lebhaften Widerhall in der gesamten deutschen Presse. Man darf
wohl sagen, daß über die Tagung dieser kleinen Gesellschaft ein-
gehender berichtet worden ist als über den Kongreß der Psychiater
und Neurologen. Eine Zeitung betonte den starken, unermüdlichen
und unerschütterlichen Willen zum Heilen und Helfen der vor-
tragenden Psychotherapeuten, wogegen ein erheblicher Teil der
Referenten der neurologisch-psychiatrischen Tagung nicht so sehr
am kranken Menschen interessiert. schienen, sondern an der Krank-
heit, nicht so sehr am Helfen und Heilen, als am Forschen.
Das wichtigste Thema auf dem Internationalen Kongreß
war die Behandlung in den verschiedenen Lebens-
phasen. Über die Heilpädagogik sprachen als Referenten Groene-
veld, Holland, und Aünkel, Berlin. Der eine betonte als beherrschen-
de Tendenz der frühen Kindheit das Verlangen nach Wieder-
holung und Gesetzmäßigkeit. Der andere wies auf die Schwierig-
keiten der Gemeinschaftsbeziehungen hin; er schilderte die Tren-
nung von Mutter und Kind, die unbedingt nach und nach ein-
treten muß, aber derart zu erfolgen hat, daß keine beträchtliche
Erschütterung, d. h. kein Verlust des Vertrauens des Kindes zur
Mutter stattfindet. Die Aufgabe der Heilpädagogik besteht in der
328 M. H. Göring
Wiederherstellung des Wirs, aber nicht in der ursprünglichen,
sondern in einer neuen Form; diese neue Wirbildung darf nicht
in einer Abhängigkeit des Kindes von der Mutter bestehen, sondern
verlangt die Selbständigkeit der eigenen Persönlichkeit innerhalb
des Wirs, in dem das Kind lebt, der Familie, dem Kindergarten
usw.; das Kind muß lernen, die Gemeinschaft und ihre Forde-
rungen anzuerkennen und sich dafür einzusetzen; dieses kann das
Kind am besten lernen, wenn der Heilpädagoge eine bestimmte
Haltung, die am besten als ‚Treue‘‘ bezeichnet wird, einnimmt.
In Ergänzung zu diesen Referaten wies Margaret Lowenfeld,
England, auf den Gebrauch des Spieles in der Kinderpsychotherapie
hin. Das Spiel ist wichtig, um die Spannung der Erregung zu lösen
und auf dem Wege der Darstellung nach außen das Ganze zu ver-
arbeiten. Boenheim, England, schilderte prinzipielle Bedingungen
kindlicher Entwicklung, die bei der Therapie zu berücksichtigen
sind, so vor allem den Wechsel im Bild kindlichen Lebens, die
Zentrierung vieler nervöser Störungen und physiologischer Ent-
wicklungsvorgänge, die Zusammenhänge zwischen nervösen und
Störungen der Intelligenzentwicklung, die Suggestibilität, die
Übungsfähigkeit und die Milieugebundenheit des Kindes. Müller,
England, unterscheidet zwei Haupttypen auffälliger Jugend-
licher: die konstitutionell sexuell unzulänglichen und die erworben
psychisch gestörten; er wendet sich gegen Freud, dadurch, daß
er bestreitet, daß das Auftreten von Homosexualität nicht nur
einfach als Folge eines Wiederauflebens ınfantiler Fixationen ab-
getan werden könne. Wile, Ver. St. v. Amerika, beschreibt die
öffentlich-klinische Behandlung von Störungen Jugendlicher; die
Beratungen erfolgen ın Arbeitsgemeinschaften, natürlich mit ge-
wissen Ausnahmen, z. B. wenn es sich um sexuelle Fragen handelt.
Brown, England, sowie van der Hoop und Rombouts, beide aus
Holland, referierten über die Behandlung in der zweiten Lebens-
phase. Letzterer betonte, es sei notwendig, auf das Leben ın dieser
Zeit mit seinen Schwierigkeiten und Möglichkeiten vorzubereiten,
Mut und Einsicht zu stärken und die Erfahrung beizubringen,
daß jeder Mißerfolg die Vorbedingung höherer Entwicklung ist;
wir können ihm durchaus zustimmen, wenn er betont, daß das
Ganze mehr als das Individuelle sei, daß der Endzweck des Men-
schen nicht gelegen sei in der Einzelexistenz, sondern in der Zu-
gehörigkeit zu seiner Gemeinschaft. Van der Hoop beschäftigte
sich mit der Frage, ob es möglich sei, mit der Analyse auszukon:-
men, eine Ansicht Freuds, oder ob eine Synthese erforderlich sei;
er meint, daß dieses von Fall zu Fall entschieden werden muß;
Bericht über den 10. Internat. ärztl. Kongreß für Psychotherapie in Oxford 329
er weist darauf hin, daß die geistigen Ideale, die den Sinn des
Lebens ausmachen, von Tradition und subjektiven Erfahrungen
beeinflußt werden; er glaubt, daß die Synthetische Psychologie
vor allem für die Behandlung jener Lebensphysen wichtig sei, in
denen sich neue Ideale entwickeln. Mit großem menschlichem Ver-
ständnis schilderte Brown, England, die Sublimierung, das Gegen-
teil der Regression, die Tendenz der vollen Entwicklung der Person
als fundamentales Problem der reifen Persönlichkeit; der Mensch
muß sich damit abfinden, persönliche Ambitionen aufzugeben, und
eine Philosophie, die seinem Alter entspricht, zu erlangen, die
Philosophie, die die höchsten ethischen Anforderungen an das In-
dividuum stellt; gesunde praktische und theoretische Lebens-
philosophie, die "biologische und psychologische atmendigkeiten
eint, bringt Kraft, Beständigkeit und wahres Glück.
Von Hattingberg, Berlin, betonte, daß der Liebe im Reifungs-
prozeß der Persönlichkeit eine unentbehrliche Funktion zukommt;
eın tieferes Verständnis für den Vorgang setzt die Ansicht voraus,
daß es ın den Liebeskrisen, ohne daß wır darum wissen, um geistige
Probleme geht, die in dieser „vitalen Dialektik“ an unserem Leibe
exerziert werden; würden wir die unermüdlichen Auseinander-
setzungen, welche durch die Beziehungen der Geschlechter zuein-
ander hervorgerufen werden, bejahen, so könnte die menschliche
Beziehung der Liebe gerade durch die Störung zu einem Weg der
Selbstfindung werden; zugleich läßt sich so, und nur so, die sitt-
liche Forderung der Einehe von der psychologischen Seite her
begründen.
Neben dem Hauptthema wurden vor allem Vorträge über Organ-
neurosen gehalten, z. B. von Stokvis, Holland, über die Bedeutung
der Psychotherapie bei Kreislaufkranken und Schultz-Hencke, Ber-
lin, über seelische Hintergründe bestimmter Organerkrankungen;
letzterer vertrat den Standpunkt, daß es spezilische Beziehungen
zwischen Organerkrankungen und unbewußten Affekten gibt und
daß möglicherweise den Störungen bestimmter Organe spezifische
seelische Erkrankungen zugeordnet sein könnten.
Der Präsident der Gesellschaft, C. G. Jung, Schweiz, wies zu
Beginn und zum Schluß des Kongresses auf die gemeinsamen Ge-
sichtspunkte der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen
hin, welche schon auf der Schweizer Tagung 1936 formuliert wur-
den; sie sollen eins der Hauptthemen auf der nächsten internatio-
nalen Tagung darstellen.
Die deutsche Psychotherapie geht über diese Formulierung we-
sentlich hinaus, da sie nicht nur von den verschiedenen Rich-
330 M. H. Göring
tungen aus gemeinschaftliches feststellt ,sondern von der deutschen
Seele aus die deutsche Psychotherapie entwickelt. Dies zeigte sich
kłar auf dem deutschen Kongreß in Düsseldorf: dort wurde
ein einheitliches Bild geboten. |
Zunächst wurde über die Indikation für Psychotherapie refe-
riert. Kemper, Berlin, gab einen Überblick über die Störungen,
die sich für Psychotherapie eignen, und zwar zum großen Teil
für die Behandlung des Hausarztes, wenn er dazu geügend vor-
gebildet ist, zum kleineren Teil für die Behandlung durch den
Fachpsychotherapeuten; er wies auf die verschiedenen Organ-
erkrankungen hin, die dem Facharzt wesentliche Schwierigkeiten
machen, nicht selten zu Operationen führen und durch Psycho-
therapie geheilt werden können. Zum Schluß betonte er, daß für
den Psychotherapeuten u. a. dann eine Kontraindikation besteht,
wenn bei einer schweren Neurose die Persönlichkeit des Patienten
den großen Einsatz nicht lohnt. Eine äußerst wichtige Ergänzung
brachte Luxenburger, München, der die Grenzen der Psychotherapie
vom Standpunkt des Erbbiologen aus beleuchtete; er findet sie
dort, wo die psychischen Symptome nichts anderes sind als die
Äußerungsform der Somatose ın ihrer Auswirkung auf das Gehirn;
Art und Ausmaß der Psychotherapie werden nur insoweit durch
erbbiologische Gesichtspunkte bestimmt, als die Persönlichkeit
erblich bedingt ist über deren Beeinflussung die Psychotherapie
auf die Person einzuwirken sucht. Die Ausführungen Lurenburgers
wurden mit großem Beifall aufgenommen; die Hörer waren davon
überzeugt, daß ein gemeinsames Arbeiten zwischen Erbbiologie
und Psychotherapie nicht nur möglich, sondern in hohem Grade
anzustreben sei. Zur Indikationsfrage sprach als dritter von Hat-
tingberg, Berlin. Er erörterte die Frage, inwiefern der Psycho-
therapeut den Willen des Patienten bei der Behandlung ın An-
spruch nehmen müsse; er bedauerte, daß die Willensvorgänge bei
den Psychotherapeuten lange Zeit vernachlässigt worden seien,
betonte aber andererseits, daß eine einseitige Bearbeitung des Wil-
lens zu Verkrampfungen führe, die die Neurose nur verstärke.
Die drei folgenden Referenten behandelten die Frage der Thera-
pie. Mohr, Düsseldorf, bekämpfte die von vielen vorgefaßte falsche
Auffassung, als ob die Seele des Menschen von der Intelligenz und
dem Willen des Patienten abhinge; die Grundlagen der Psycho-
therapie entsprächen gerade der deutschen Wesensart; viele ıhrer
Erkenntnisse seien von Schopenhauer, Goethe und vor allem Nietzsche
vorweggenommen worden; als Grundprinzipien der Psychotherapie
nannte er die erlösende Wirkung der Aussprache, die Entspan-
Bericht über den 10. Internat. ärztl. Kongreß für Psychotherapie in Oxford 331
nung, die Aufklärung über die Wirkung von Kindheits- und sonsti-
gen Aflekterlebnissen, die assoziativen und suggestiven Einflüsse,
die Willensanregung und -erziehung, die Aufhebung falsch ge-
leiteter Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, sowie anderer pas-
siver Reaktionsformen, und durch alle diese hervorgerufen: Wand-
lungen und Umstellungen, die mit gesunden und echten religiösen
Erlebnissen deutlich Verwandtschaft haben. Mikorey, München,
sprach zunächst über die Geisteskrankheiten; er sieht bei ihnen
einen anlagemäßigen Kern und eine neurotische Überlagerung; er
geht weiter als viele Psychotherapeuten und seine Darlegungen
werden noch manche fruchtbringende Auseinandersetzung erfor-
dern; mit Recht wies er auf das falsche Dogma von der Gleichheit
aller Menschen, auf das Führerproblem ım ärztlichen Beruf und
auf die Verschiedenheit der Psychotherapie in den verschiedenen
Zeitaltern hin; er beanstandete die Rationalisierung des Unbe-
wußten im liberalistischen Zeitalter, die dem seelischen Komfort
der einzelnen Persönlichkeit diente und begrüßte die Zurückführung
der entwurzelten Einzelpersönlichkeit zur Volksgemeinschaft als
Psychotherapie der Gegenwart; das Ziel sei die Sanierung des In-
stinktlebens; was die politische Führung im großen, leiste die
Psychotherapie ım kleinen. Mikorey erkennt also das Unbewußte
als wichtigen Faktor ım Seelenleben des Menschen an; es besteht
daher durchaus kein Gegensatz zwischen den Fachpsychotherapeu-
ten und ihm, wie Hannemann ihn eigenartigerweise in seinem Bericht
im Münchener V.B. konstruiert hat. Es ıst nur noch eine eingehende
Erörterung mit Mikorey darüber erforderlich, wie das Unbewußte
angefaßt werden kann. Schultz-Hencke, Berlin, sprach über die bei
den Fachpsychotherapeuten üblichen Behandlungsweisen; er teilt
die Neurosen ein in leichte und schwere. Zu den leichten rechnet
er, um mit /. H. Schultz zu sprechen, die Rand- und einen Teil der
Schichtneurosen; zu den schweren den anderen Teil der Schicht- und
die Kernneurosen; letztere können mit den einfachen psychothera-
peutischen Mitteln nicht angegangen werden, auch nicht mit Hyp-
nose; hier ist eine tiefenpsychologische Behandlung erforderlich.
Zum dritten Referat über die Prognose sprach zunächst Heyer,
München; er zeigt vor allem die entschiedene Bedeutung des
Therapenten für Verlauf und Erfolg der Behandlung; außer Lehren,
\Methoden und Techniken seien allgemein menschliche Fragen viel-
fach entscheidend wichtig. Z. H. Schultz, Berlin, trennte die diagno-
stische von der therapeutischen Prognose; er warnt vor der Be-
handlung von Entartungstypen, die z. B. aus den Sippen von
Verbrechern und Zigeunern stammen; er warnt vor der Beurteilung
332 M. H. Göring
der Neurose nach dem Symptom; die echte Heilung verlangt, daß
der Kranke aus Lebenserfahrungen lernen kann; unheilbar bleiben
daher manche echte Neurosen, z. B. bei Überalterung, Störung der
„Elastizität“, der Lebensrhythmen. Schultz teilt, um die Prognose-
frage zu erleichtern, die Neurosen ein in die Fremdneurose, die vor-
liegt, wenn die Bedrückung von außen so stark ist, daß eine Heilung
ohne Entfernung dieser Bedrückung nicht möglich ist, die Randneu-
rose, bei der die krankhafte Gewöhnung eine Rolle spielt, die Schicht-
neurose, die in der Gefühlsschicht der Seele wurzelt und durch see-
lische Erregungen des Alltags ausgelöst werden kann, und die Kern-
neurose, die in den Tiefen des menschlichen Charakters begründet ist.
Die letzten Referate befaßten sich mit der Prophylaxe. Enke,
Bernburg, richtete seine Worte in erster Linie an die Hausärzte;
er forderte mit Recht, daß neben der Milieubetrachtung auch eine
konstitutionsbiologische vorzunehmen sei; der Hausarzt müsse
körperlich-seelische Zusammenhänge in ihrer Wechsełwirkung mit
den Umweltseinflüssen erkennen können. Seif, München, schil-
derte die Entstehung des nervösen Menschen und forderte zur
Verhütung erstens die Verhinderung der Entwicklung der Ichbe-
zogenheit und damit der Kontaktunfähigkeit, sowie des lebens-
verneinenden Pessimismus, zweitens die Entwicklung des Ver-
trauens, der Freundschaft, Kameradschaft, Liebesfähigkeit, der
Selbständigkeit, Wahrhaftigkeit, Ehre, Zuverlässigkeit, Gerechtig-
keit und einer mutigen lebensbejahenden Haltung; er betonte die
außerordentliche Wichtigkeit der Erziehung des Erziehers. Der
junge Schopenhauer schrieb an Goethe: „Einzig aus dem Mangel
an jener Redlichkeit scheinen fast alle Irrtümer und unsäglichen
Verkehrtheiten entsprungen zu sein, davon die Theorien und Philo-
sophien so voll sind. Man fand die Wahrheit nicht, bloß darum,
daß man sie nicht suchte, sondern statt ihrer nur immer irgendwie
vorgefaßte Meinung wieder zu finden beabsichtigte oder wenigstens
eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen wollte, zu diesem Ende
aber Winkelzüge gegen sich selbst oder andere anwenden mußte.
Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den
Philosophen macht.“ Seif legt immer wieder den Finger auf die
Wunde; es gibt keinen rechten Erzieher, der nicht Vorbild ist. Als
letzter sprach Künkel, Berlin; er hob die besonders schwierigen Kon-
fliktsituationen, aus deren schlechter Lösung leicht Neurosen ent-
stehen, hervor: der Übergang zur gemischten Nahrung, zur Stuben -
reinheit, die Hinwendung zum Objekt, der Schulbeginn, die Berufs-
wahl u. a.; er verlangt die Erziehung zur Krisenfestigkeit, zur Ver-
antwortung, zur Bejahung des Lebens, aber auch des Sterbens.
Bericht über die 3. Zusammenkunft
der Kurhessischen Psychiater in Marburg am 11. 5. 1938
Langelüddeke (Marburg) begrüßt die Teilnehmer, zu denen zum erstenmal
auch die Anstaltsärzte des Bezirks Nassau gehören. Ingesamt sind über 40
Teilnehmer erschienen.
Vorträge.
Troelisch (Marburg): „Zuckerausscheidung bei psychich Abnor-
men“. Unter den letzten 5600 Aufnahmen der Landesheilanstalt Marburg
fanden sich etwas über 1°% gleich 61 Zuckerausscheider. Die Krankbheits-
gruppen der Alterspsychosen, der symptomatischen Psychosen und der
Psychopathie waren unter diesen bedeutend stärker beteiligt als nach ihrem
prozentualen Anteil an der Zusammensetzung des Gesamtbestandes der An-
stalt zu erwarten gewesen wäre. Die diagnostische Bedeutung der Zuckeraus-
scheidung im Urin war bei 3 symptomatischen Psychosen ätiologisch entschei-
dend. Die Bedeutung der Zuckerstoffwechselstörung für die Entwicklung des
Symptoms ‚Angst‘ ist auf Grund der gemachten Beobachtungen zu bejahen.
besonders bei den Krankheitsgruppen Manisch-depressives Irresein und Psvcho-
pathie (inkl. psychogene Reaktionen). Die Anschauungen Kleists u. anderer
über einen Zusammenhang zwischen affektiven Störungen depressiver Art mit
Störungen des Kohlehydratstoffwechsels können bestätigt werden.
Die Prognose quoad vitam ist bei zuckerausscheidenden psychisch Abnor-
men ganz erheblich gegenüber den Stoffwechselgesunden verschlechtert. Die
Mortalität der zuckerausscheidenden Kranken betrug 34°,; demgegenüber
steht eine Mortalität von — 7°, der psychisch Kranken ohne Zuckerausschei-
dung. Insbesondere drückt der ‚harmlose Alterszucker‘“ die Mortalität der
Alterspsychosen in der Anstalt von 18 auf 64°,.
Durch aktive Therapie kann bei diabetisch bedingten Psychosen (sog.
Laudenheimerschen Pseudoparalysen) und neurologischen Störungen volle
Heilung erzielt werden. Bei den Fällen, in welchen die Zuckerausscheidung
lediglich als Begleiterscheinung und vielleicht als einzelsymptombildend in
Erscheinung tritt, ist eine wesentliche Besserung der Prognose durch Behand-
lung der Stoffwechselstörung zu erwarten.
Diskussion: Äretschmer (Marburg) berichtet über einen Fall, wo im Zu-
sammenhang mit einer sich ungewöhnlich hinziehenden Depression bei Dia-
betes Augenhintergrundsveränderungen in Form einer leichten Neuritis optica
ohne Tumorsymptome beobachtet wurden.
Deussen (Haina): Zur Beurteilung der von Herrn Troeltsch genannten Er-
krankungsziffern seines Materials erscheint zur Unterscheidung von Zufalls-
hefunden ein Vergleich mit der statistisch errechneten durchschnittlichen
Erkrankungswahrscheinlichkeit an Diabetes notwendig, die wohl ziemlich
hoch liegt.
Troeltsch: Schlußwort.
334 Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater
Kloos (Haina): „Die Vererbung hoher Begabungen‘.
Aus diesem kleinen, aber für den Aufstieg der Rasse praktisch wichtigen
Teilgebiet der Erbforschung ist der Bestand an gesicherten Ergebnissen noch
gering. Die Erklärung dafür liegt in den besonderen Schwierigkeiten, die sich
einer wissenschaftlichen Bearbeitung der einschlägigen Fragen entgegenstellen.
Abgesehen davon, daß der Vererbungsforschung beim Menschen überhaupt die
sonst so aufschlußreiche experimentelle Methode verschlossen ist, läßt sich beim
Studium des Erbganges hoher Begabungen nicht einmal die statistische
Methode anwenden, einfach weil die Anzahl der Ilochbegabten viel zu klein
ist (soweit dennoch aus dem bisher vorliegenden, quantitativ unzulänglichen
Erfahrungsmaterial schon allgemeine Schlüsse abgeleitet werden, unterliegen
sie allzu leicht dem „Fehler der kleinen Zahl‘). Vor allem aber muß hier auf
die klassische Methode der Erbbiologie, die Zwillingsforschung, verzichtet
werden, weil hochbegabte Zwillinge äußerst selten sind; die Kulturgeschichte
kennt keine Zwillinge, deren Namen der Nachwelt wegen ihrer hohen geistigen
Leistungen überliefert worden wären, und nur ganz vereinzelt finden wir
Zwillinge, die durch ihre berühmten Vorfahren oder Nachkommen bekannt
geworden sind, wie z. B. Johann Ambrosius Bach, der Vater des großen Johann
Sebastian. Es ist auf diesem Gebiete auch schwer, ein auslesefreies Material zu
erhalten, weil sich die erbbiologische Betrachtung natürlich in erster Linie
solchen Fällen zuwandte, bei denen die Erblichkeit der hohen Begabung
besonders sinnfällig hervortrat, wie etwa bei den Angehörigen der Mathema-
tikerfamilie Bernoulli, den Musikerfamilien Bach und Strauß, der Dichter-
familie Seidel, der Technikerfamilie Siemens usw.; die vielen anderen Fälle, in
denen ein Hochbegabter scheinbar isoliert in einer sonst mittelmäßigen Familie
steht, lenken die Aufmerksamkeit des Erbforschers weniger auf sich, obwohl
sie doch ebenso systematisch untersucht werden müßten. Eine besondere
Schwierigkeit liegt. auch darin, daß wir über die geistige Begabung im Erbkreis
schöpferischer Persönlichkeiten oft nichts wissen, wenn sie keinen literarischen
oder künstlerischen Niederschlag gefunden haben; das gilt insbesondere von
den weiblichen Vorfahren mancher Genialen. Die in der Sippe vertretenen
Berufsarten bieten oft keinen sicheren Anhalt für die Einschätzung des vor-
handenen Begabungsgutes; denn ‚Beruf‘ und ‚Berufung‘ fallen nicht immer
zusammen, und für die Berufswahl ist zuweilen weniger die geistige Konsti-
tution als vielmehr die soziale Kondition entscheidend. Manche Berufe, wie
z. B. der bäuerliche, lassen infolge ihrer geringen geistigen Ausdrucksmöglich-
keiten besondere Verstandesanlagen kaum sichtbar werden; so ist die erbliche
Herkunft der Geistesgaben bedeutender Persönlichkeiten, die ländlichen
Sippen entstammen, meist nur schwer aufzuklären. Der Ilerausarbeitung
klarer Linien steht im einzelnen schließlich auch die Tatsache entgegen. daß
die geistige Begabung kein selbständiger Faktor ist, sondern hinsichtlich der
Größe ihrer Entfaltung und Durchsetzung weitgehend von dem Charakter ab-
hängt, mit dem sie verbunden ist. Manches Talent, wie z. B. das dichterische.,
erhält seinen inneren Reichtum überhaupt erst von der emotionalen Seite. Die
Verhältnisse, die der Erbforscher hier vorfindet, sind also recht verwickelt. Bei
dieser Sachlage ist es verständlich, wenn wir noch nicht bis zu fest umrissenen
Gesetzen für das Zustandekommen und den Erbgang außergewöhnlicher
Geistesanlagen vorgedrungen sind; unsere diesbezüglichen Kenntnisse haben
vorerst nur die Bedeutung einer ‚„Beispielsammlung“, die noch zu klein ist,
um theoretische Verallgemeinerungen zu erlauben. Immerhin beginnen sich
aber schon gewisse Regelmäßigkeiten abzuzeichnen. So scheint der Großteil
Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater 335
der Hochbegahten ganz überwiegend aus den obersten sozialen Gruppen her-
vorzugehen (Hartnacke u.a.): der „‚Unterschicht‘‘, die doch überall weit über
die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, entstammt nur ! i bis !,, aller geistig
hervorragenden Menschen (Ketter). Berufskreise, aus denen im Laufe der
Kulturgeschichte besonders häufig schöpferische Persönlichkeiten hervor-
gegangen sind, stellen die Kunsthandwerkerfamilien des Mittelalters dar,
denen bedeutende Künstler, insbesondere Maler entstammen, ferner Lehrer,
Kantoren und Berufsmusiker, aus deren Erbkreis große Komponisten hervor-
gingen, und die Pastoren- und Grelehrtenfamilien, denen zahlreiche große
Dichter, Philosophen und Gelehrte entsprossen (Kretschmer). Auch eine
Kreuzung verwandter Rassen kann die Entstehung hoher Begabungen för-
dern, sofern es sich um kulturell wertvolle Rassen handelt, deren Eigenschaften
sich gegenseitig ergänzen. So finden wir z. B. eine auffallende Häufung großer
Maler im Gebiet der nordisch-alpinen (Niederlande, Südwestdeutschland) und
der nordisch-mediterranen Rassenmischung (Oberitalien): auch bei fast allen
bedeutenden Persönlichkeiten der deutschen Kulturgeschichte fand eine
stärkere Blutmischung (im Sinne einer Kreuzung verschiedener deutscher
Stämme) in den zunächst liegenden Ahnenreihen statt (Rauschenberger). Die
frühere. in l.aienkreisen auch heute noch weit verbreitete Anschauung vom
Überwiegen des mütterlichen Einflusses bei der Vererbung der geistigen Be-
gabung (IF. Peters) hat sich als unhaltbar erwiesen; neuere Forschungen er-
gaben, daß der väterliche und mütterliche Anteil bei der Vererbung der Intelli-
genz gleich sind (Reinöhl). Das mathematische Talent scheint allerdings ein
ausschließlich väterliches Erbe zu sein (Möbius); es ist aber mit der Möglich-
keit zu rechnen, daß es bei den weiblichen Mitgliedern von Mathematiker-
sippen bloß nicht zur Entfaltung kommt, entsprechend der Verschiedenheit
der weiblichen Intelligenzart von der männlichen. Ob sich die Vorgänge bei
der Vererbung geistiger Begabungen ohne weiteres in schon bekannte allge-
meinere Vererbungsgesetze, etwa die Alendelschen Regeln, einordnen lassen,
wie man das für das Zeichentalent (Haecker und Ziehen) und das dichterische
Talent (v. Behr- Pinnow) schon angenoınmen hat, wird erst die künftige For-
schung erweisen.
H. Giese (Marburg): „Kurze Übersicht über die Ergebnisse der
in der Landesheilanstalt Marburg angestellten Hirnlipoidreak-
tionen‘.
Ich habe von den drei mir zur Verfügung gestellten Extrakten 45 Reak-
tionen anstellen können bei insgesamt 38 Kranken. Bei 1 Kranken sind 3 Re-
aktionen jedesmal mit einem verschiedenen Extrakt angestellt, bei 5 Kranken
je 2. Das Resultat ergibt sich aus folgender Übersicht:
I. Klinisch sichere Prozeß-Schizophrenien: 13 Fälle mit 16 Reaktionen.
12 Fälle reagierten mehr oder weniger stark positiv, 1 Fall erst mit dem Ex-
trakt Nr. 3 der 2. Ablesung, während die 1. Ablesung zweifelhaft war (bei
diesem Fall war die 1. Reaktion mit dem 2. Extrakt negativ bzw. zweifelhaft
ausgefallen). 1 negativer Fall (schwer verblödete Schizophrene, seit 4 Jahren
krank) wurde mit allen 3 Extrakten untersucht. Ergebnis: 1. Extrakt: sehr
schwach positiv bei beiden Ablesungen. 2. Extrakt: negativ. 3. Extrakt: sehr
schwach positiv bei 2. Lesung.
II. Psychosen des schizophrenen Formenkreises mit deutlicher schizo-
phrener Symptomatik, aber noch nicht verblödet, noch nieht einwandfrei
prozeßhaft verlaufend:
336 Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater
Insgesamt 9 Fälle mit 11 Reaktionen. Davon 5 Fälle stark positiv, und
zwar diejenigen, die schon am längsten krank sind und die ausgeprägtesten
schizophrenen Symptome zeigen. Unter diesen ist von ganz besonderem Inter-
esse eine Frau, bei der die erste Reaktion im April 1937, 4 Monate nach der
Aufnahme in die Anstalt, als noch an eine reaktive Haftpsychose gedacht
wurde, negativ, 6 Monate später aber, als inzwischen die Schizophrenie ganz
deutlich geworden war, stark positiv ausgefallen war. 2 Fälle schwach positiv.
davon einer mit periodischem Verlauf und mit guter Remission (1. Ablesung
negativ, 2. Ablesung schwach positiv). Ein völlig gleiches Ergebnis fand sich
in einem anderen Fall, bei dem erst wenige Monate schizophrene Veränderungen
deutlich geworden waren, nachdem ein langes schizoides Stadium vorherge-
gangen war. Die 2 letzten Fälle ergaben negative Reaktion, einer betreff:
eines jungen Mannes mit symptomenarmer Schizophrenie, der, ohne je akut
krank gewesen zu sein, allmählich versandet ist. Bei ihm war nur im Röhrchen
Nr. 8 bei der 2. Ablesung ein positiver Ausschlag, alles andere, auch die ganz-
4. Ablesung, negativ. Ferner ein junges Mädchen, das nur eine kurz dauernde
schizophrene erstmalige Phase durchgemacht hatte und sich zur Zeit der
Ausführung der Reaktion bereits im Beginn einer sehr guten Remission be-
fand.
III. Organische, nicht schizophrene Fälle: 8 Fälle mit 9 Reaktionen, davon
2 mittelstark positiv; 1 Fall von Lues (congenita?) bei jugendlicher Psycho-
pathin (1. Ablesung negativ, 2. zonenweise positiv) und 1 Fall von Enceplıa-
litis lethargica: mittelstark positiv bei beiden Ablesungen. Die übrigen 6 nega-
tiven Fälle betrafen 2 unkomplizierte Schwachsinnige, 1 Schwachsinnige mit
Encephalitis (2 Reaktionen, beide mit dem 1. Extrakt negativ), 1 Lues con-
genita mit symptomatischer Epilepsie, 1 genuine Epilepsie, 1 progressive
Paralyse.
IV. Funktionelle und zweifelhafte Fälle: Insgesamt 9 Fälle mit 9 Reak-
tionen, davon 1 stark positiv (Junge mit Verdacht auf Schizophrenie, Psychose
abgeklungen) und 2 schwächer positiv (Junge mit kurz dauernder erstmaliger
katatonieverdächtiger Psychose, Frau mit frischem manischem Krankheits-
bild, zweiter manischer Anfall mit zeitweise beobachteten läppischen Zügen).
Mir erscheint es auf Grund meines noch kleinen Materiales besonders inter-
essant, die Pfropfschizophrenien und die symptomenarmen blanden Fälle
dieser Krankheit hinsichtlich ihrer Hirnlipoidreaktionen besonders zu beachten.
Bei ersteren lassen sich vielleicht durch diese Reaktion episodische psycho-
tische Störungen mit schizophrenieähnlicher Symptomatik von echten der
Imbezillität aufgepfropften schizophrenen Prozessen abtrennen. Der Vergleich
des Reaktionsausfalls in Gruppe I, der eigentlichen Kerngruppe der Krae-
pelinschen ‚‚Dementia-präcox‘“, mit den anderen Gruppen läßt die Hoffnung,
daß die Hirnlipoidreaktion von Lehmann-Facius ein sicheres und objektives
Hilfsmittel für die Schizophrenie-Diagnose werden wird, in greifbare Nähe
rücken. Ob ihr für forensische Fragestellungen in klinisch zweifelhaften Fällen
jetzt schon ausschlaggebende Bedeutung zuerkannt werden kann, erscheint
mir noch fraglich, besonders für Strafprozesse; eher kann sie wohl jetzt schon
im Erbgesundheitsverfahren praktische Bedeutung gewinnen.
Diskussion: Kretschmer (Marburg): Für die Reaktion von Lehmann-
Facius wie für alle serologischen Reaktionen ist grundsätzlich festzuhalten,
daß ihre Resultate nicht wie eine Art oberinstanzliche Entscheidung über die
klinischen Befunde zu setzen sind, sondern daß sie als gleichberechtigte Teil-
symptome in den klinischen Gesamtbefund eingebaut werden müssen. Wie
Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater 337
J.ehmann-Facius selbst betont, dürfte von ihrem Ausfall vor allem nicht die
schwerwiegende Entscheidung über die forensische Frage der Erbkrankheit
abhängig gemacht werden.
Langelüddeke (Marburg) unterstreicht diese Ansicht.
Giese (Marburg): „Demonstration einer Kranken mit Hypo-
physengang-Geschwulst“.
18jähriges Mädchen aus belasteter Familie (ein Vetter von V. S. schizo-
phren). Eltern und einzige Schwester gesund. Als Kleinkind Rachitis. Schon
bei Schulbeginn nach Mitteilung ihres Lehrers schwachsinnig, Leistungen
dauernd gleich schlecht, lernte aber immerhin Lesen und Schreiben, Wesen
unaufmerksam, stumpf, meist euphorisch, oft bösartig, mißhandelte heim-
tückisch ohne jeden Grund in zwangsmäßiger Weise andere Kinder. Mit
11 Jahren Wesensveränderung, stärkere Unruhe, erhebliche Abnahme der
Arbeitslust, triebhaftes Fortlaufen. Menarche im 15.Jahr, Menses schwach
und unregelmäßig, angeblich zu gleicher Zeit auffallender Fettansatz. Im
letzten halben Jahr zunehmend schwieriger und mehrfach gewalttätig gegen
die Umgebung, auch sehr schlechter Schlaf.
Zeigt hier auf körperlichem Gebiet das Bild der Dystrophia adiposa geni-
talis.
Länge 165 em bei 83 kg Gewicht.
Schilddrüse nicht palpabel. Pubes fast fehlend.
Babinski links immer +, rechts zeitweise. Liquor bis auf erhöhten Druck
normal, Zellen 3 3. Wassermann, Meinicke, Müller, Goldsol-Reaktion im Liquor
negativ, auch das Serum normal.
Befund der Frauenklinik: Uterus taubeneigroß, hochgradiger genitaler In-
fantilismus.
Röntgenbefund: Größe der Sella nicht abnorm verändert, nach vorn etwas
abgrellacht, der Bereich des Hypophysendaches zeigt knochendichte Verschat-
tung. Hypophysenstruktur durch Kalkeinlagerungen verändert.
Blutbild: 4,8 Mill. E.; 2600 L.; Hgb. 832o. Im Ausstrieh 2°, Basophile;
5,0, Eos.; 1°, Jugendl.; 4°. Stabk.; 54°, Segmentk.; 6°, Mononucl.; 28°,
l.vınph., Urin normal, Menge nicht verändert.
Psychisch: War während ihres Ilierseins (21, Monate im ganzen) anfangs
häufig triebhaft erregt. schlug blindlings ohne Alfekt auf andere los, war nachts
manchmal unruhig, heulte laut, war im übrigen blöd-euphorisch, sehr stumpf
und antriebslos, machte oft einen etwas dösigen Eindruck. In den letzten
Wochen allmähliche Besserung der Unruhe.
Diagnose: Das Röntgenbild mit den Kalkeinlagerungen in und über der
IIvpophyse spricht für eine IIypophysengang-Geschwulst (ausgehend von
U berresten des embryonalen Ductus eraniopharyngeus). Durch die Schädigung
der Hypophyse hat sich das Bild der Dystrophia adiposo-genitalis entwickelt,
das bei Beginn der Pubertät deutlich geworden zu sein scheint: Der Schwach-
sinn ist höchstwahrscheinlich angeboren. Zusammenhang mit der Hypophysen-
störung nicht ganz sicher, aber wohl möglich; Zunahme der psyehischen Sto-
rungen mit Sicherheit auf Wachstum der Gescehwulst zu beziehen. Wegen der
Schwere des Schwachsinns erscheint eine Behandlung zwecklos, die Kranke
wird in häusliche Pflege entlassen.
Es wird im Anschluß daran eine IIypophysengang-Geschwulst demon-
striert. die bei der Sektion einer 7V jährigen schwachsinnigen Patientin zu-
fallig entdeckt wurde (nach Photo des Pathol. anatom. Instituts Marburg).
22 Ailgem. Zeitschr. f. Paychiatrie. Be. 109, H.3 4.
338 Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurlıessischen Psychiater
Deussen (Haina): „Symptomatische Psychose bei Avitaminose‘“.
Die Erforschung der Stoffwechselstörungen bei der Schizophrenie rückt
zusehends in den Mittelpunkt des Interesses und gewinnt im Zusammenhang
mit den neueren Schockbehandlungsmethoden auch ein erhöhtes praktisches
Interesse. Es fragt sich z. B., ob bei der Hypoglykämiebehandlung der beob-
achtete günstige Erfolg tatsächlich darin beruht, daß die massive Zufuhr von
Insulin an einem entscheidenden ‚Schaltpunkt‘‘ des hormonal gestörten
schizophrenen Stoffwechsels angreift. In diesem Zusammenhang wird auf die
Bedeutung des Vitaminstoffwechsels für den Organismus an Iland eines ein-
gehend untersuchten und auch autoptisch sichergestellten Falles hingewiesen.
Möglicherweise bilden gerade die Vitamine wegen ihres engen Zusammenhanges
mit dem hormonalen System einen besonders feinen Indikator für die gestörte
katalysatorische Funktion des Organismus.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Kranken, der unter der Dia-
gnose ‚paranoide Schizophrenie“ in die Freiburger Klinik eingewiesen wurde.
Die beobachtete Symptomatologie entsprach auch zunächst völlig dieser Dia-
gnose, bis die Aufmerksamkeit auf eine symptomatische Genese der Erkran-
kung durch eine A-Avitaminose und G-Hypovitaminose gelenkt wurde. Die
weitere klinische Untersuchung ergab keine endgültige Klärung des Krank-
heitsbildes, bis sich bei der Sektion herausstellte, daß eine völlige Atrophie
der Nebenniere (nb. ohne Addison-Pigmentation!) und eine IIypotrophie der
Schilddrüse vorlag. Der Tod war infolge einer hochgradigen Advnamie und
der Resistenzlosigkeit gegenüber banalen Infekten (in diesem Falle einer
Angina) eingetreten. Die internistischen, neurologischen und stoflwechsel-
mäßigen Befunde und Deutungsinöglichkeiten wurden im Vortrag nur ge-
streift, besonderer Wert aber auf A Feststellungen gelegt:
1. Es ist heute — wie auch der vorliegende Fall wieder eindringlich zeigt —
eine Psychiatrie ohne genaue internistische Untersuchungsmethoden nicht
mehr möglich, wenn man Fehldiagnosen vermeiden will.
2. Die Berücksichtigung des Vitaminstoffwechsels entspringt — wie ebenfalls
der herangezogene Fall zeigt — keiner neuen medizinischen ‚Mode‘, sondern
der Einsicht in die Wichtigkeit katalysatorischer, nicht mechanischer Verur-
sachung im Lebensgeschehen.
3. Die Abgrenzung symptomatischer Psychosen läßt sich psychiatrisch
allein nicht mit Sicherheit durchführen. Der vorliegende Fall bot — wie im
einzelnen skizziert wurde — sämtliche ‚klassischen‘ Symptome einer Schizo-
phrenie, die sich im Verlauf der Erkrankung bis zum Negativismus, Wahn-
system und Stupor steigerten.
4. Der referierte Fall wurde als symptomatische Psychose unter dem klini-
schen Leitsymptom eines Vitaminmangels aufgefaßt, wie er in dieser speziellen
Form noch nicht beschrieben wurde. Ein zufälliges Zusammentreffen von
körperlicher Erkrankung und endogener Psychose ließ sich mit großer Wahr-
scheinlichkeit ausschließen. Man könnte hier eine konstitutionell bedingte
und milieugeformte Bereitschaft zu einer ‚‚schizophrenen Reaktion‘ vermuten,
die durch bestimmte Stoffwechselstörungen ausgelöst wurde.
Diskussion: Kretschmer (Marburg): Die interessante Schilderung des Vor-
tragenden läßt schon im klinisch-psychiatrischen Verlauf eine Psychose von
teilweise „exogenem‘‘ Typus erkennen, dies gilt insbesondere von der Art der
Halluzinationen.
Schlußbemerkung: Deussen (Haina): Vor Durchführung der Vitamin-
bestimmungen bestand bei keinem Kollegen der Klinik Zweifel an der Dia-
Bericht über die 3. Zusammenkunft der Kurhessischen Psychiater 339
gncse einer paranoiden Schizophrenie. Aber später blieben die Ansichten ge-
teilt, — bis es dann zur Sektion kam.
Langelüddeke (Marburg): „Bemerkungen zur Technik des Ent-
mündigungsgutachtens“:
Erfahrungen aus dem Gerichtsärztlichen Ausschuß der Prov. Hessen/Nassau
legen es nahe, einiges zu diesem Thema zu sagen. In jedem Gutachten, das die
Entmündigungsfrage behandelt, sind 4 Fragen zu prüfen:
1. muß festgestellt werden, ob eine geistige Abartigkeit vorhanden ist. Diese
braucht sich keineswegs nur auf die intellektuelle Seite des Prüflings zu be-
schränken, vielmehr sind auch Abartigkeiten im Bereich des Gefühls, Trieb-
und Willenslebens zu werten.
2. ist zu prüfen, ob und welche Angelegenheiten der Untersuchte nicht be-
sorgen kann. Das ist zwar eigentlich Aufgabe des Richters; indessen wird der
Sachverständige als Gehilfe des Richters kaum einmal um die Prüfung dieser
Frage herumkommen. Dabei ist wichtig, daß die Entmündigung nur dann
ausgesprochen werden kann, wenn der Untersuchte die Gesamtheit seiner An-
gelegenheiten, d.h. die wichtigen Angelegenheiten, nicht besorgen kann. Zu
diesem Zweck ist sein Verhalten im Beruf, gegenüber der Familie, seine Wirt-
schaftsführung, sein Interesse gegenüber der Allgemeinheit und sich selbst
(Alkohol, Rauschmittel) zu prüfen. Dabei ist einleuchtend, daß das Nicht-
besorgenkönnen der Angelegenheiten von dem Umfang derselben abhängig
ist, daß also etwa ein leicht schwachsinniger Tagelöhner seine Angelegenheiten
noch gut besorgen kann, daß ein Mensch mit den gleichen intellektuellen Fähig-
keiten aber bei der Führung eines größeren Geschäftes versagen wird.
3. ist die Frage zu beantworten, ob die Unfähigkeit zur Besorgung der An-
gelegenheiten eine Folge der geistigen Abartigkeit ist.
4. Werden die 3 ersten Fragen bejaht, so muß schließlich entschieden wer-
den, ob eine Geistesschwäche oder eine Geisteskrankheit im Sinne des Gesetzes
vorliegt. Dabei kann es möglich sein, daß ein defektgeheilter Paralytiker, also
ein im ärztlichen Sinne Geisteskranker, als geistesschwach im Sinne des Ge-
setzes zu bezeichnen ist, während umgekehrt etwa ein Schwachsinniger als
geisteskrank bezeichnet werden muß. Die Beantwortung dieser Frage hängt
nicht so sehr von der medizinischen Diagnose ab, als von der tatsächlich vor-
handenen Unfähigkeit, die Angelegenheiten zu besorgen.
Nach Selbstberichten zusammengestellt von Langelüddeke (Marburg).
Ernst Schultze T
Am 3.9.1938 verstarb in Göttingen im Alter von 73 Jahren
Geheimrat Prof. Dr. Ernst Schultze.
Sein äußerer Lebenslauf läßt sich kurz dahin zusammenfassen :
Zu Mörs im Rheinland am 22. 3. 1865 geboren, blieb er in den
ersten Jahren seiner wissenschaftlichen Entwicklung seinem enge-
ren Heimatlande treu. 1884 begann er in Bonn zunächst Mathe-
matik und Naturwissenschaften zu studieren, ging aber schon
nach einem Semester zur Medizin über. Nach zwei Studiensemestern
in Berlin kam er nach Bonn in eine studentische Assistentenstelle
zu Pflüger zurück, bei dem er zwei Semester arbeitete und seine
Doktorarbeit über ein physiologisch-chemisches Thema fertig-
stellte.
Nach dem Staatsexamen im Frühjahr 1890 wandte er sich als
Assistent bei Pelman an der Provinzialheilanstalt Bonn der Irren-
heilkunde zu. Als Anstaltsarzt war er auch einige Zeit an der Heil-
und Pflegeanstalt Andernach. In Bonn habilitierte er sich 1895,
bis er das Glück hatte, 1904 als Nachfolger von Westphal zunächst
als Extraordinarius nach Greifswald berufen zu werden, wo er 1906
als Ordinarius die Leitung der neu gegründeten Psychiatrischen und
Nervenklinik übernehmen konnte. So gewann er die Freiheit für sein
wissenschaftliches Schaffen. Der äußere Lebenslauf rundet sich
dahin ab, daß er 1912 als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt wie
der Universitäts-Nervenklinik nach Göttingen berufen wurde.
Hier eremitierte er 1933, legte aber erst 1934 die Leitung der
Nervenklinik seinem Nachfolger in die Hände.
In der Rede zur Eröffnung der neuen Psychiatrischen Klinik
in Greifswald (1900) betonte Schultze die Notwendigkeit der
anatomischen, wie der physiologisch-chemischen Forschung für
die Psychiatrie. Er sprach sich auch, dem Zuge der Zeit folgend,
für das psychologische Laboratorium der modernen Psychiatri-
schen Klinik aus.
Aber der Weg, auf dem er zu seinem Einsatz für dies psycholo-
gische Laboratorium kam, war doch vielleicht der von der psy-
chologischen Tatbestandsdiagnostik her und damit war Schultze
in seiner Rede bei dem Gebiet angelangt, dem eigentlich die wissen-
Ernst Schulze f 341
schaftliche Liebe seines Lebens galt, der gerichtlichen, wie der
sozialen Psychiatrie. Die Fragen des Zusammenhanges von Psych-
iatrie und Recht beherrschten die Arbeiten seines späteren Lebens
durchaus, wenn auch eine Fülle von Arbeiten aus den ersten Jahren
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit seine Aufgeschlossenheit gegen-
über den klinischen Problemen nicht nur der Psychiatrie, sondern
auch der Neurologie zeigte.
Schon eine Arbeit aus dem Jahre 1902, ‚Stirnersche Ideen in
einem paranoischen Wahnsystem‘‘, ging ausführlich auf die straf-
wie zivilrechtliche Seite der geschilderten Psychose ein. Eine
weitere Arbeit aus Andernach, „Über die Stellungnahme des
Reichsgerichts zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche und zur Pflegschaft nebst kritischen Erfahrungen‘,
wies darauf hin, was ihn wissenschaftlich vor allen Dingen be-
schäftigte.
Die verschiedenen Entwicklungsstufen des neuen deutschen
Strafgesetzbuches verfolgte er mit dem regsten, ja leidenschaft-
lichsten Interesse. Die Literatur darüber, wie die Entwürfe für
das Strafgesetz auch im Ausland beherrschte er mit immer wieder
überraschender Gedächtnistreue. Ebenso haben ihn die psych-
ıatrisch wichtigen Fragen des Bürgerlichen Gesetzbuches gefesselt.
Er setzte sich mit Nachdruck für ein von psychiatrischem Geist
beherrschtes Irrengesetz ein, wie er auch dem Strafvollzugsgesetz
wie dem kommenden Bewahrungsgesetz seine Aufmerksamkeit
schenkte.
Nicht nur im Deutschen Verein für Psychiatrie hat er ın Refe-
raten von überlegener Klarheit die hier wichtigen Fragen immer
wieder erörtert. Seine Referate wie seine Arbeiten waren auf das
Sorgfältigste abgewogen, alles war auf das Feinste durchgefeilt.
Immer wieder verwarf er Entwürfe zu seinen Arbeiten, weil sie
ıhım in den letzten Ansprüchen nicht genügten. Er sprach seine
Referate und Vorträge frei, aber dıe Freiheit seiner Rede gründete
sich durchaus auf die Arbeit, die vor ihr lag. Gewiß spielte dabei
seine, bei Ärzten gemeinhin ungewöhnliche Begabung im Formellen
eine ausschlaggebende Rolle, hinter ihr aber stand Fleiß und Zähig-
keit, mit denen er immer wieder die Rechtsformen mit der Lebens-
nähe ärztlichen Denkens und Wollens zu vereinen suchte. Lange
Jahre durch war er gleichsam das juristische Gewissen der deut-
sehen Psychiatrie.
Daß manche Entwicklungen im Recht des Dritten Reiches
Forderungen entsprachen, die er früher gestellt hatte, befriedigte
ihn sehr. Er diente auch mit einer Umstellfähigkeit, die ihm bis
342 Ernst Schulze t
ins Alter hinein verblieben war, den Forderungen des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses und hat seine reichen psy-
chiatrischen Erfahrungen im Erbgesundheitsobergericht Hannover
mitsprechen lassen, stets beherrscht von einem Verantwortungs-
gefühl, das ihn nie leicht über Schwierigkeiten hinweggleiten ließ.
Die Beziehungen zwischen Sterilisationsgesetz und Ehe, die Unter-
brechung der Schwangerschaft aus eugenischen Gründen heraus
beschäftigten ihn noch in den letzten Jahren.
Seine Arbeitskraft hat er auch Handbüchern zur Verfügung
gestellt. So hat er unter anderem in Aschaffenburgs Handbuch der
Psychiatrie das Irrenrecht, das Bürgerliche Gesetzbuch in Hoches
Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie bearbeitet. l
Seine Stellung als Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für
gerichtliche Medizin hat er sehr ernst genommen. Es bekümmerte
ihn sehr, wenn er Eingänge zurückschicken mußte, und er konnte
sich oft recht unerfreut darüber äußern, wenn zu große Form-
mängel in den eingesandten Arbeiten zum Vorschein kamen.
Die beiden Institute in Göttingen, die er zu leiten hatte, verdan-
ken ihm viel. Er war stets darauf bedacht, Klinik wie Anstalt als
moderne Krankenhäuser auszubauen und zu führen. Ein beson-
deres Verdienst erwarb er sich damit, daß er mit diplomatischem
Geschick die Schaffung der Encephalitisstation der Göttinger
Nervenklinik im Jahre 1926 erreichte. Stets setzte er sich für das
Wohl und Wehe der Anstaltspsychiater ein, dabei sprachen die
eigenen Erfahrungen mit, über die er mit sarkastischem Humor
berichtete.
Seine Arbeitskraft als Gutachter wurde bis in die letzten Jahre
herein immer wieder in Anspruch genommen. Auf die Arbeiten
seiner Schüler übte er ın keiner Weise einen Zwang aus; er ließ
sie völlig frel schalten.
Sein Leben war ein Leben der Pflicht. Aber in seltenen freien
Stunden sprach aus ihm dann sein rheinisches Temperament, sein
lebensnaher Humor, wie auch seine Güte, die er als Arzt seinen
Kranken gegenüber stets bewies.
Nicht nur die gerichtliche Psychiatrie hat dem Verstorbenen
viel zu danken. Fleck-Nürnberg.
Obermedizinalrat Dr. von Hösslin in den Ruhestand getreten.
Am 1. Juli 1938 ist der Direktor der mittelfränkischen Heil- und
Pflegeanstalt Ansbach, Dr. Karl von Hösslin, unter Anerkennung
seiner Dienstleistung seitens des Führers auf seinen Antrag in den
Ruhestand getreten. Mit ihm scheidet wieder einer der fähigsten
und erfahrensten Anstaltsdirektoren aus, die wir in Deutschland
besitzen. Seinem eigenen Drang nach gründlichem Wissen ver-
dankt er die vorzügliche internistische und psychiatrische Vor-
bildung, die man heute durch Ausbildungsvorschriften zu erreichen
trachtet. Nach mehrjähriger klinischer Assistententätigkeit bei
Sıemerling in Tübingen wurde er 1908 Assistenzarzt an der
Heil- und Pflegeanstalt Eglfing, wurde dort Oberarzt und im Jahre
1924 zum Direktor der zweitgrößten Anstalt Bayerns, Ansbach,
berufen. Was seine Arbeitsweise auszeichnete, war, abgesehen von
seiner klinischen Einstellung: Kenntnis und Sorge für das Wohl
seiner Kranken blieb ihm Grund und Leitgedanke aller beruflichen
Tätigkeit, die absolute Klarheit und Nüchternheit, mit der er an
die Dinge heranging. Seine Einträge in die Krankengeschichten
sind ein Muster von Sachlichkeit und Objektivität und gerade
heute könnten Anfänger von ihm lernen, wie man Kranke be-
schreibt und die Schlüsse daraus dem Leser überläßt. Verschiedene
wissenschaftliche Arbeiten und Referate — zu Publizistik hatte er
keine Neigung —- sind uns ein kleines Zeugnis seines andauernden
wissenschaftlichen Interesses. Auch auf hirnpathologischem Ge-
biet hat er viel gearbeitet, wozu er sich die Grundlagen bei Nissl in
Heidelberg geholt hatte. Besonders gut lag ihm die organisatori-
sche und Verwaltungstätigkeit. Die Fäden der Anstaltsleitung bis
ins einzelne hinein hatte er in der Hand wie nicht leicht ein anderer.
(anz ausgezeichnete Vorträge und Referate, z. B. über Berufs-
ausbildung des Pflegepersonals, Krankenpflegeschulen an den
Anstalten, Pflegerquote, Sparmaßnahmen, Trennung von Heil-
anstalten und Pflegeanstalten usw. zeigen, daß er in allen Fragen
nicht nur in seinem engeren Kreis, sondern auch darüber hinaus
eıne führende Stellung innehatte. Es ıst sehr zu bedauern, daß diese
zum größten Teil in den Akten der Behörden schlummern. Sie
würden recht Vieles von dem, was heute wieder in Fluß zu kommen
scheint, klären und — überflüssig machen. Wir, die wir ihm näher-
standen, wissen, daß das Ausscheiden seiner Persönlichkeit mit
344 Personalien
ihrem Wissen und ihrer aufrechten, unbestechlichen Offenheit eine
kaum ersetzbare Lücke hinterläßt. Wir wollen ihn unserer tiefen
Dankbarkeit, Anerkennung und Verehrung versichern. Unsere
herzlichsten Wünsche folgen ihm in sein selbstgewähltes otium!
Ast-München.
Personalien
Bayreuth. Der Direktor der Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Dr. Karl Schwarz
wurde gem. §70 DBG. in den Ruhestand versetzt.
Berlin. Prof. Dr. Max de Crinis in Köln hat als Nachfolger des Geh. Med.-
Rat Prof. Dr. K. Bonhoeffer die Leitung der Klinik für psychiatrische und Nerven-
krankheiten und der Poliklinik für Nervenkrankheiten an der Berliner Charité
übernommen.
Oberfeldarzt E. Prof. Dr. Wuth wurde beauftragt, vom Wintersemester
1938/39 ab in der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin die all-
gemeine Psychiatrie und Wehrpsychologie in Vorlesungen und, so weit nötig.
in Übungen zu vertreten.
Breslau. Der o. Prof. Dr. Otfried Förster ist auf seinen Antrag von den
amtlichen Verpflichtungen entbunden worden.
Dresden-Loschwitz. Dr. Recknagel wurde als Nachfolger des verstorbenen
Geh. Rat Roemheld zum Chefarzt des Sanatoriums Schloß Horneck, Gundels-
heim a. Neckar ernannt.
Hamburg. Prof. Dr Mar Nonne, der ehemalige Leiter der Nervenklinik am
Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf, wurde von der Schweize-
rischen Neurologischen Gesellschaft zum Korresp. Mitglied ernannt.
Hannover. Landesobermedizinalrat Dr. Willi Rizor feierte am 10. Oktober
seinen 60. Geburtstag.
Zum Chefarzt der Nervenklinik wurde Dozent Dr. med. habil. Stefan, bisher
Oberarzt an der Universitätsnervenklinik in Köln/Rh. ernannt.
Heidelberg. Dr Konrad Zucker-Sonnenstein ist ab 1. November als Oberarzt
an der psychiatrisch-neurologischen Klinik und als Dozent tätig.
Jena. Der n. b. a.o. Prof. Dr. Berthold Kihn wurde mit der Leitung der
Psychiatrischen und Nervenklinik mit Poliklinik der Friedrich-Schiller-Uni-
versität betraut.
Köln. Dr. med. habil. Hans Ruffin-Freiburg wurde beauftragt, im W.-S.
1938/39 vertretungsweise die Professur für Psychiatrie wahrzunehmen.
Lohr. Oberarzt Dr. Josef Woallrapp an der kreis-Heil- und Pflegeanstalt
wurde zum Medizinalrat I. Klasse ernannt.
Lübeck-Strecknitz, Heilanstalt. Prof. h.c. Dr. Oskar Wattenberg, Direktor:
ìi. R. vollendete am 19. September sein 75. Lebensjahr.
Mainkofen. Der Direktor der kKkreis-Heil- und Pflegeanstalt Dr. P. Reif
wurde zum Direktor der Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Regensburg ernannt.
Sonnenstein. Assistenzarzt Dr. Dannhorn ist zum RegMedRat bei der Heil-
und Pfilegeanstalt befördert, RegMedRat Dr. Gaupp auf Nachsuchen ent-
lassen worden.
Stadtroda. Assistenzärztin Dr. Hielscher ist zum Medizinalrat bei den Lan-
desheilanstalten befördert worden.
Werf’enau. Oberarzt Dr. Weskott ist zum Medizinalrat bei der Heilanstalt
ernannt worden,
ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHIATRIE
UND IHRE GRENZGEBIETE
GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER
OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO-
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG)
MIT BEILAGE sZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE«
Unter Mitwirkung von
F. AST-München / J. BERZE-Wien / E. BLEULER-Zürich / K. BON-
HOEFFER-Berlin / M. FISCHER-Berlin-Dahl./A.GÜTT-Berlin/K.KLEIST-
Frankfurt a.M. / E. KRETSCHMER-Marburg / P. NITSCHE-Sonnenstein
H. REITER-Berlin / E. RÜDIN-München / C. SCHNEIDER -Heidelberg
herausgegeben von
HANS ROEMER
ILLENAU
Hundertzehnter Band
BERLIN 1939
WALTER DE GRUYTER & CO.
VORMALS G. J]. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS-
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
Es wurden ausgegeben:
H. 1/3 (S. 1—336) am 31. I. 1939
H. 4 (S. 1—64 der Zeitschrift f. psych. Hygiene XII) am 19. II. 1939
Alle Rechte vorbehalten
Archiv-Nr. 580539 — Printed in Germany
Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35
INHALT
Karl Kleist 60 Jahre alt
Widmung
Gustav ‚Specht, Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand
A. Boestroem, Über krankheitsverändernde, insbesondere krankheitsmil-
dernde Einflüsse der manisch-depressiven (thymopathischen) Kon-
stitution
G. Zillig, Über E ie Sonn
F.G. von Stockert, Metamorphotaxie — ein Beitrag zur = nlomatelogie
des Riechhirns
H. Stadler, Über psychische Stökungen bei iaar aufirelender Ostitis
deformans (Paget) des Schädels. Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel .
Klaus Speckmann, Beitrag zur Differentialdiagnose und Erbbegutachtung
der „Episodischen Dänimerzustände‘“ (Kleist)
‚Sieben, Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke
T. Riechert, Beitrag zur operativen Behandlung der traumatischen Spät-
epilepsie. Mit 6 Abbildungen auf 3 Tafeln
K. Leonhard, Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer U piche
(Angst-Eingebungspsychose) und äußerer Ursache (symptomatische
Psychosen). Mit 1 Abbildung . ; ;
J. Klaesi, Über Asynergie der W nenne ärzingt
E. Fünjgeld, Über Schädigung des N. opticus durch Arteriöskletese ad
zur Frage der Stauungspapille. Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel .
Gottfried Ewald, Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschock-
behandlung . Be a a ee a A ee
Peter Duus, Über familie Narkolepsie und ihre Beziehungen zuin
Formenkreis anfallsartiger Erkrankungen
Walter Betzendahl, Der abnorme Rapport '
Eduard Beck, Homologie und anatomische Äquivalenz.
Günter Elsässer, Zur Frage des Familien- und Selbstmordes‘
F. E. Flügel, Kasuistischer Beitrag zu den postoperativen Psychosen
J. Zutt, Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen
H. Lehmann-Facıius, Serologisch-analvtische Versuche mit iworan ind
Seren von schizophrenen bzw. atypischen Psychosen . s
W. Tönnis, Zur Behandlung der IHypophysengangzysten. Mit 6 Abbil-
dungen auf 3 Tafeln .
F. Sioli, Die Übererregbarkeits- oder tet tinode Epilepsie. Mit 10 Abbil-
dungen im Text. i
Ilse Graf, Über atypische sy tonais T Pischopiunesi ie oson
D. Miskolesy und H. Csermely, Ein aty pischer Fall von Piekscher Demenz.
Mit 8 Abbildungen auf 6 Tafeln
R. Persch, Über Gedankenzwang und aoaea Denken he der
Encephalitis lethargiea
Elisabeth Schwarzhaupt, Verzeichnis Ir wissense hatti jien Arbeiten von
Karl Kleist 1903—1938.
Beck, Eduard 201
Betzendahl, Walter 187
Bostroem, A. 11
Csermely, H., s. D.
Miskolczy
Duus, Peter 171
Elsässer, Günter 207
Ewald, Gottfried 153
Flügel, F. E. 220
Fünfgeld, E. 146
Autorenregister
Graf, Ilse 281
Klaesi, J. 143
Lehmann-Facius, H. 232
Leonhard, K. 101
Miskolczy, D., und H.
Csermely 304
Persch, R. 316
Riechert, T. 94
Schwarzhaupt, Elisabeth
325
Sieben 78
Sioli, F. 252
Specht, Gustav 1
Speckmann, Klaus 69
Stadler, H. 54
Stockert, F. G. von 48
Tönnis, W. 244
Zillig, G. 21
Zutt, J. 224
Karl Kleist 60 Jahre alt
Herr Prof. Karl Kleist begeht am 31. Januar 1939 seinen 60. Ge-
burtstag. Bei diesem Anlaß empfindet die Herausgeberschaft der
Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete
das lebhafte Bedürfnis, seiner hochgeschätzten Mitarbeit und
seiner Verdienste um unsere Wissenschaft dankbar zu gedenken.
Herr Prof. Kleist, geboren am 31. Januar 1879 in Mühlhausen
i. E. hat in Straßburg, Heidelberg, Berlin und München studiert,
1902 bei Professor Bumm mit einer Arbeit über Experimental-
untersuchungen am Zentralnervensystem promoviert und hierauf
die Preisaufgabe der Medizinischen Fakultät der Universität
München, die demselben Forschungsgebiet angehörte, erfolgreich
gelöst. 1903 bis 1908 war er unter Ziehen, Wernicke und Anton
Assistent an der Nervenklinik in Halle a. S.; hierauf arbeitete er
bei Edinger am Neurologischen Institut in Frankfurt a.M. und bei
Alzheimer an der Klinik in München. 1909 bis 1916 war er Oberarzt
bei Specht an der Psychiatrischen Klinik in Erlangen, wo er sich
mit der Arbeit ‚Weitere Untersuchungen an Geisteskranken mit
psychomotorischen Störungen“ 1909 habilitiert hat. 1916 wurde
er zum Professor und Direktor der Psychiatrischen und Nerven-
klinik in Rostock, 1920 auf den psychiatrischen Lehrstuhl und zur
Leitung der Psychiatrischen und Nervenklinik in Frankfurt a.M.
berufen. Dieser Aufgabe blieb er trotz eines Rufes nach Leipzig
1924 treu und leitete von 1927 bis 1930 Planung, Erbauung und
Einrichtung der vorbildlichen neuen Nervenklinik in Frankfurt
a. M.-Niederrad. Während des Weltkrieges hat er als Leiter einer
Lazarettfachabteilung, als Beratender Neurologe und als Leiter
eines Reservelazarettes für Hirnverletzte Dienst getan.
Kleist hat sich als Schüler Wernickes von Anfang an für die
hirnpathologische Forschung und ihre Verwertung für die klinisch-
psychiatrischen Fragen mit voller Hingabe eingesetzt. Er hat in
einer langen Reihe von Veröffentlichungen, Vorträgen und Hand-
buchbeiträgen die Ergebnisse seiner vielfachen gehirnanatomischen
besonders gehirnlokalisatorischen Untersuchungen mitgeteilt und
unter besonderer Berücksichtigung der Kriegserfahrungen den
Ertrag seiner umfassenden Forschung in dem Standardwerk der
„Gehirnpathologie‘‘ 1933 zusammengefaßt, in dem er eine groß
angelegte Einteilung des Gehirns nach seinen Leistungen entwarf;
nur einem unermüdlichen Forscherdrang konnte die Schaffung
dieses gewaltigen Werkes gelingen, das an keiner wesentlichen
Frage der Gehirnpathologie vorübergeht. Auf klinisch-psychiatri-
schem Gebiet hat Kleist sich von jeher die möglichst genaue und
verfeinerte Erfassung der einzelnen Krankheitszeichen zur Aufgabe
gemacht und so die diagnostische Analyse der psychiatrischen
Zustandsbilder unter steter Heranziehung gehirnpathologischer
Gesichtspunkte gefördert. Auf diesem Wege hat er die Einengung
der großen klinischen Formenkreise durch Umschreibung einer
Reihe von phasisch verlaufenden Krankheitsbildern versucht, die
er symptomatologisch sowohl von den Schizophrenien wie von dem
manisch-depressiven Irresein als „Degenerationspsychosen“ unter-
scheidet und auch ätiologisch von den Schizophrenien, in denen er
heredo-degenerative Systemkrankheiten sieht, abtrennt. Ferner hat
er die Frage der symptomatischen Psychosen durch die Bear-
` beitung der Influenzapsychosen und der postoperativen Psychosen
ebenso wie die der Psychosen des Rückbildungsalters wesentlich
gefördert. Sein zusammenfassender Bericht über die Gehirn-
pathologie und ihre Bedeutung für Neurologie und Psychiatrie,
den er auf der Frankfurter Jahresversammlung der Gesellschaft
Deutscher Neurologen und Psychiater 1936 erstattet hat, steht
bei allen Teilnehmern noch in frischer Erinnerung.
Seine großen Verdienste um die deutsche Neurologie und Psych-
latrie kommen in seiner Berufung zum Sachverständigen für
Hirnpathologie beim Kuratorium des Kaiser Wilhelm-Instituts
für Hirnforschung, Berlin-Buch sowie in seiner Ernennung zum
Ehrenmitglied der Wiener Gesellschaft für Psychiatrie und Neu-
rologie zum Ausdruck; sie wurden auch vom Ausland durch die
Verleihung der Schaffer-Denkmünze von der Kommission der
Gesellschaft Ungarischer Psychiater, durch die Ernennung zum
Ehrenmitglied der Gesellschaft Ungarischer Psychiater sowie zum
Ehrenmitglied der Interstate Postgraduate Medical Association
North America gewürdigt.
Welch mannigfache und fruchtbare Anregungen Kleists viel-
seitigem und unabläßlichem Wirken zu verdanken sind, davon
legen die vorliegenden Beiträge seiner Schüler, Mitarbeiter und
Freunde ein beredtes Zeugnis ab.
Mit dem Ausdruck aufrichtiger Dankbarkeit wünscht ihm die
Herausgeberschaft unserer Zeitschrift, der er seit 20 Jahren ange-
hört, eine weitere erfolggekrönte Forschertätigkeit. Ad multos annos!
Im Namen der Herausgeber dieser Zeitschrift:
Rüdın Roemer
Sehr verebrter Herr Professor!
Freunde Ihrer wissenschaftlichen Be-
strebungen und wir, jetzige und frühere
Mitarbeiter und Schüler, haben sich zu-
sammengefunden, Ihnen als sichtbaren
Ausdruck unserer Verehrung und unserer
Wünsche zurVollendung Ihres 60. Lebens-
jahres diesen Festband darzubringen. Viel
von den Anregungen und Förderungen,
die uns Ihr wissenschaftliches Lebens-
werk gegeben hat, werden Sie in diesen
Zeilen finden. Ihr Werk und Ihr un-
ermüdliches Streben haben uns immer
mit Bewunderung erfüllt. Mögen Ihnen
noch lange fruchtbringende Jahre ver-
gönnt sein zu Ihrer Befriedigung und zur
Förderung unserer Wissenschaft!
Fünfglld Leonhard
Digitized „Google
Über den vitalen Faktor
im manischen Krankheitszustand
Von
Prof. Dr. Gustav Specht, Erlangen
Die zahlreichen Versuche, die zur Befriedigung des wissenschaft-
lichen Bedürfnisses nach einer somatischen Fundierung des
manisch-melancholischen Irreseins unternommen wurden, haben
verschiedene Wege eingeschlagen und dabei mancherlei ver-
lorene Steigungen zurücklegen müssen. Abgesehen von Kretsch-
mers so ergebnisreicher Konstitutionslehre, die aber nach einer
ganz anderen Richtung eingestellt ist, sind die physiologisch-che-
mischen Untersuchungen gleich den endokrinologischen bezüglich
der erhofften Endziele bis jetzt noch nahezu ergebnislos geblieben
und so schweben denn die Krankheitszustände der Manie und
Melancholie mit ihren üblichen Symptomentrias sozusagen immer
noch in der Luft. Mehr Aussicht auf Erfolg versprach und ver-
spricht anscheinend auch jetzt noch die mit hirnlokalisatorischen
Erwägungen gepaarte neurovegetative Betrachtungsweise der
Klinik. Angeregt durch die einerseits universelleren andererseits
zentraleren Zielen zustrebenden Arbeiten L. R. Müllers und
M. Reichardts haben sich die von verschiedenen Forschern teils
tastend teils mit festerem Zugriff unternommenen Deutungsver-
suche mehr und mehr in das Gebiet höherer Funktionskreise heran-
gewagt. Schon die Titel der Hauptwerke der genannten Autoren:
„Lebensnerven und Lebenstriebe‘“‘ (L. R. Müller), „Hirn und
Seele“ (M. Reichardt), deuten die vitale Richtung der nachfolgen-
den Bestrebungen an.
Wenn ich nun in dieser intim-persönlichen Glückwunschgabe
davon absehe, die ohnehin in den wissenschaftlich beteiligten
Kreisen genugsam bekannten Forscher aufzuzählen, wird man es
mir nicht übel deuten, wenn ich einmal meinem lieben Freund
und ehemaligen Erlanger Arbeitskameraden X. Kleist ohne litte-
rarischen Ballast in gedrängter Zusammenfassung und an Hand
kasuistischer Kurzberichte darlege, wie ich in diese Richtung ge-
kommen bin, wie ich den Begriff der Vitalität mir zurechtgelegt
1 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3
2 Gustav Specht
und insbesondere wie ich ihn auf die klinische Praxis anzuwenden
mich gewöhnt habe.
Ich gehe aus von einem Fall, der diagnostisch ganz einfach ge-
lagert, aber durch die eindrucksvolle Intensität gerade jener Er-
scheinungen gekennzeichnet war, auf die es mir in diesem Zu-
sammenhang ankommt. Es handelte sich — ganz kurz skizziert —
um eine im Anfang der Dreißiger stehende ledige Dienstmagd,
die schon einige manische Anfälle leichterer Art durchgemacht
hatte. Bei der letzten Aufnahme in die Klinik bot sie aber gleich
von Anfang an und dann in wochenlanger Fortdauer das Bild
furibundester Tobsucht rein manischen Gepräges. Bei völliger
Verwirrtheit war die affektive und motorische Kraftentfaltung
von einer Wucht, die — man verzeihe den abgenützten Ausdruck
— tatsächlich jeder Beschreibung spottete. Wenn ich jetzt nach
Jahren die Krankenblätter wieder durchlese, muß ich sagen, daß
die dort niedergelegten Aufzeichnungen mit ihren Superlativen
nicht ausreichten zur Darstellung der Wirklichkeit. Man mußte
den Zustand miterlebt haben, um die völlig deckende Anschauung
zu bekommen. Man kam damals aus dem Staunen nicht heraus
und mußte sich Tag für Tag immer wieder fragen, wie ist ein
Fortleben unter solcher Kraftverschwendung physiologisch über-
haupt möglich. Alle Beruhigungsmittel versagten und der ge-
legentliche kurze Schlaf bedeutete gar nichts. Als die Erregung
nach wochenlanger Dauer abflaute, gab die Genesene noch größe-
ren Anlaß zu ärztlicher Verwunderung, denn körperliche und
geistige Erschöpfungserscheinungen von entsprechendem Ausmaß
fehlten.
Man wird die Schilderung dieses Falles für sehr überflüssig
halten, denn Kranke dieser Art sieht der Facharzt, zumal in einer
Bevölkerung, wo wie in den fränkischen Landen die zirkuläre
Veranlagung sehr verbreitet ist, jeden Tag, auch läßt die Dar-
stellung der manischen Kraftverschwendung in den Lehrbüchern
nichts zu wünschen übrig, nur gerade das Ausbleiben der Er-
schöpfung, das Fehlen eines ausgleichenden Erholungszustandes,
scheint mir nicht der Wichtigkeit des Problems entsprechend ge-
würdigt. Bloß bei Bleuler findet sich die bedeutsame Bemerkung:
„Der Schlaf ıst ın beiden Phasen (sc. des man.-depr. Irreseins)
schlecht, oft so schlecht, daß ein Gesunder rasch dabei zugrunde
ginge; die Erholungsfunktion muß in der Krankheit anders ver-
laufen als sonst‘.
Wie soll man nun mit einem solchen klinischen Tatbestand
naturwissenschaftlich fertig werden! Wie ‚besessen‘ sieht eine
Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand 3
derartige Kranke aus, und in den Zeiten des Hexenwahns wäre
unser Fall wohl kaum einer solchen Wahndeutung entgangen.
Aber auch in unserer Zeit würden selbst gebildete Laien in ihrer
selbstsicheren naturwissenschaftlichen Standfestigkeit beim An-
blick derartigen Geschehens wankend werden. Ich habe der-
gleichen schon erlebt. Hat sich doch mir gegenüber vor Jahren
ein weit über das übliche Fachwissen hinaus naturwissenschaft-
lıch gebildeter Arzt gelegentlich eines Rundganges durch die
Klinik angesichts solcher Fälle zu der Äußerung hinreißen lassen:
„Es steckt in manchen Geisteskranken eben doch etwas Dämo-
nisches‘‘. Es war der erste Eindruck des Übernatürlichen, der
ıhm diesen Ausdruck abnötigte. Ich erwiderte ihm, daß man ganz
ım Rahmen medizinischer Betrachtungsweise bleibe, wenn man
bei solchen Zuständen den auch sonst in der Persönlichkeits-
bewertung wieder mehr und mehr eingebürgerten Begriff: der
Vitalität anwende. Freilich muß man bei diesem Begriff die über
Jahrtausende sich hinziehenden Kontroversen über die Frage der
Lebenskraft einstweilen beiseite lassen. Wir Kliniker können nicht
warten, bis die exakten Naturwissenschaften, bis Biologie und bis
Naturphilosophie mit dem Problem der Lebenskraft fertig ge-
worden sind. Wir, die wir fortgesetzt mit dem lebenden Menschen
unmittelbar zu tun haben, sind genötigt und berechtigt, uns die
Lebensvorgänge erscheinungsgemäß für den klinischen Gebrauch
zurechtzulegen. Nun gehört zu den Erscheinungen, die den leben-
den Organismus von der mit ihm vielfach verglichenen Maschine
unterscheiden, in erster Linie dıe Selbsterhaltung des Organismus
und seiner Teile durch den Stoffwechsel. Daß dieser ganze Funk-
tionskomplex der Selbsterhaltung je nach äußeren und inneren
Bedingungen ın Anstieg und Abstieg verläuft, ist eine triviale
Erfahrungstatsache. Die Ausdrücke gesteigerte bzw. herabgesetzte
Vitalität können demnach nicht zu leeren Begriffen herabgewürdigt
werden. Die Frage aber, ob sich daraus ein Erkenntnisgewinn er-
gibt, beantwortet wiederum die klinische Erfahrung. Wenn die
gesteigerte Vitalität nach meiner Annahme einen integrierenden
Bestandteil des manischen Symptomenkomplexes bildet, dann
muß sie in ıhrer Auswirkung überall da zu finden sein, wo Manisches,
sei es als Einschlag, sei es als Grundlage, nachzuweisen ist. Das ist
ın der Tat der Fall. Ich darf da zu allererst auf eine meiner über-
raschendsten praktischen Erfahrungen meiner ersten Erlanger
Assistentenjahre zurückgreifen, mit denen ich zunächst nicht recht
fertig werden konnte. Von Berlin, wo ich meine erste Ausbildung in
Psychiatrie erfahren habe, hatte ıch das Bild der in körperlicher,
19
4 Gustav Specht
seelischer und sozialer Degeneration vorkommenden chronischen
Alkoholisten mitgebracht. So las man es in den damaligen Lehr-
büchern von Emminghaus und Krafft-Ebing, so hörte man es in den
Vorlesungen, so sah man es in der Klinik und auf der Straße. Das
genügte wohl. Aber in der Erlanger Anstalt bekam ich Personen zu
sehen, die in den Listen wohl unter der Diagnose des chron. Alkoho-
lismus geführt wurden, aber zu der hergebrachten Lehre nicht passen
wollten. Es waren alte Kranke, die teils schon jahrelang, teils in
öfterer Rückfälligkeit vorübergehend in der Anstaltsbehandlung
sich befanden. Aber trotzdem weder körperlich noch geistig herunter-
gekommen waren. Im Lauf der Jahre mehrten sich solche Beobach-
tungen und ich lernte sie als verkannte Vertreter der chron. Manie
herausschälen. Aus dieser Erfahrung heraus und da auch bei den
übrigen Alkoholisten mancherlei mit den üblichen Schilderungen
nicht stimmen wollte, habe ıch Jahrzehnte später den damaligen
Assistenzarzt der Klinik Dr. W. Stöcker veranlaßt, der Sache an der
Hand der in der Anstalt und Klinik während des letzten Jahr-
zehnts untergebrachten chronischen Alkoholisten katamnestisch
nachzugehen. Mit unermüdlichem Eifer und großem Umgangs-
geschick hat er seine Ergebnisse herausgeholt, die 1910 erst in
einer Dissertation und dann in einem ziemlich umfangreichen
Buch unter dem Titel „Klin. Beitrag zur Frage der Alkohol-
psychosen‘ erschienen sind. Stöcker ist ja wohl in seinem jugend-
lichen Draufgängertum mit manchen seiner Schlußfolgerungen
etwas zu weit gegangen, aber die Arbeit hat trotzdem bald nach
ihrem Erscheinen u. a. von Bumke gebührende Würdigung ge-
funden und hat heute noch ihren Wert, der u. a. von Meggen-
dorfer, dem besten Kenner der ganzen Materie in Bumkes Hand-
buch und neuestens wieder ins rechte Licht gestellt worden ist.
Insbesondere die Gruppe der manischen Trinker hat Stöcker mit
überzeugender Anschaulichkeit und trefisicherer Kleinmalerei
herausgestellt und dabei an der Hand überzeugender Kasuistik
den Nachweis erbracht, „daß nicht nur gelegentlich die chronische
Manie unter der Diagnose „chronischer Alkoholismus‘ verschwin-
det, sondern, daß dieses sehr häufig der Fall sein dürfte. Fast ebenso
häufig, wie er ein Symptom dieser Erkrankung ist, gibt er zu
Fehldiagnosen in dieser Richtung Veranlassung; weitaus die
große Mehrzahl Chronisch-Manischer, die sekundär starke Alko-
holisten waren, dürften bisher unter der Diagnose „Alkoholismus
chronicus‘‘ gegangen sein und zum größten Teil jetzt noch gehen“.
Und weiter unten: „Schon bei der Erhebung der Annamnese be-
kommt man die Schilderung von der psychisch-somatischen In-
Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand 5
taktheit alter Trinker, sondern bei der persönlichen Untersuchung
kann man sich davon erst recht überzeugen. Oft erstaunt man,
bei einem solchen Mann in höherem Alter trotz jahrzehntelangem
exzessivem Alkoholismus eine erstaunliche Frische und Besonnen-
heit zu treffen, ganz im Gegensatz zu der Ansicht, daß der ehe-
malige Alkoholist unbedingt verblödet und vertroddelt sein müsse.“
Wenn ich solche Fälle in der Klinik vorstellte, bekam ich erstaunte
Gesichter bei den Studenten zu sehen, die auch wieder das Ge-
sehene mit dem allgemein bekannten Bild des alten Trinkers
nicht in Einklang zu bringen vermochten, bis ihnen die klinische
Sonderbedeutung dieser Ausnahmen klar gemacht war. Nebenbei
gesagt, ist der Ausdruck „alter Trinker‘‘ doppelsinnig. Es ist
überflüssig, darauf hinzuweisen, daß man schon in jüngeren Jahren
das Saufen anfangen und dann bereits als Dreißiger ein „alter
Trinker‘‘ geworden sein kann. Das klinische Bild wird auch da
je nach der konstitutionellen Vitalität verschieden ausfallen. Ist
aber ein alter Trinker ein geistig und körperlich rüstiger alter
Mann geworden, da konnte ihm nur die mit der manischen Ver-
anlagung gegebene gesteigerte Vitalität zu diesem biologischen
Wunder verhelfen. Ein anschauliches Beispiel von dieser Alkoho-
listenschar findet man in Bumkes Lehrbuch S.163 unter den
Pyknikern abgebildet. Mit seinem frisch und gesund in die Welt
schauenden Graukopf dürfte der Alte sich kaum für ein abschrecken-
des Reklamebild in einem Abstinenzlerflugblatt eignen. Die Unter-
schrift lautet: Manischer Trinker. Das ist die einzig zutreffende
Bezeichnung für alle diese Leute, die zwar trinken, dabei aber
doch keine Alkoholisten geworden sind.
Nun könnte man ja unter Auffrischen eines abgenützten Scherz-
wortes einwenden, daß derartige Unterscheidungen auf schein-
wissenschaftliche Wortklauberei hinauskämen; im Grunde ge-
nommen sei es ja ganz gleichgültig, ob man einen manischen
Trinker in den diagnostischen Topf der Manie oder des Alkoholis-
mus werfe. Ich würde über diesen ganz abwegigen Einwand kein
Wort verlieren, wenn man nicht oft genug dergleichen bei Be-
sprechungen der Alkoholfrage gerade in gebildeten Kreisen und
vollends in foro zu hören bekäme. Wenn man auch für die wissen-
schaftliche Bedeutung einer Strukturdiagnose außerhalb der
Fachkreise kein Verständnis voraussetzen kann, so sollte man
doch in der gebildeten Laienwelt einsehen, wie sich mit der richtig
erfaßten Deutung des manischen Trinkertums die ganze persönliche
Einschätzung seitens der Familie und der Gesellschaft, seine ärzt-
liche Betreuung und seine gerichtliche Beurteilung von Grund
6 Gustav Specht
auf zugunsten des Pseudoalkoholisten ändert. Nun braucht sich
die Familie dieses Trinkers nicht mehr zu schämen, nun weiß
man, daß er in einer Trinkerheilanstalt am falschen Platz wäre,
weiß man, welche zivilrechtliche Schutzmaßnahmen allenfalls zu
ergreifen sind, weiß man wie der trinkende Beamte dieser Art
dienstlich zu behandeln ist und weiß man endlich, wie er im Straf-
verfahren begutachtet werden muß. Aber gerade im Dienst-
Zivil- und Strafrechtverfahren bin ich bedenklich oft auf eine be-
trübliche Verständnislosigkeit gestoßen und meine Gutachter-
tätigkeit auf diesem Gebiet war häufig dazu berufen, die schlimmen
Folgen von Fehlgriffen noch rechtzeitig unschädlich zu machen.
Da aber, wo mir ein Erfolg versagt war, wo die festgewurzelten
Anschauungen über das Trinkertum mit ihren voreiligen Verall-
gemeinerungen den Sieg davontrugen, habe ich mancherlei Jammer
von z. T. erschütternder Tragik mit ansehen müssen. Ich könnte
über dieses Thema an Hand meines Materials eine Monographie
veröffentlichen, aber das Buchschreiben liegt mir nicht. Auch
diese kurze Abhandlung kann ich mit größerer Kasuistik nicht
belasten. Nur zum Beweis, daß diese forensische Abschweifung
doch auch zum Hauptthema gehört, sei eines besonders eindrucks-
vollen Falles in aller Kürze gedacht. Ein Landgerichtsrat M.,
sehr intelligent und tüchtig im Amt, hypomanisches Temperament,
gerät in eine Phase manischer Exaltation, in der er ganz gegen
seine Gewohnheit stark pokuliert. Die Manie vergröbert die Trinker-
züge und da der verkannte Zustand allen Mahnungen zum Trotz
anhält, wird M. pensioniert. Nicht lange darnach klingt der ma-
nische Zustand und mit ihm das Trinken ab. Reaktivierungsver-
suche werden abgelehnt, weshalb M. sich mit Erfolg der anwalt-
schaftlichen Tätigkeit zuwendet, zunächst als Mitarbeiter in einer
Anwaltskanzlei. Seine Bemühungen um Zulassung zur freien An-
waltschaft mißlingen. In der Verhandlung der Standesvertretung,
die am Oberlandesgericht stattfindet und zu der ich neben dem
Gerichtsarzt als Sachverständiger zugezogen wurde, geht es hart
her. Meine Darlegungen, in denen ich die Fehldiagnose des chro-
nischen Alkoholismus Stück für Stück nachweise, findet beim Ober-
staatsanwalt vornehme, beim ehemaligen Amtsvorstand des M.,
einem Landgerichtsprädidenten, maBlos erregte Ablehnung. Zum
Schluß ergreift M. selbst noch das Wort und vertritt in wohldurch-
dachter und formal glänzender Rede seine Sache. Vergeblich.
Gestützt auf das völlig irrıge Gutachten des Gerichtsarztes und
den gesunden Menschenverstand und die eigene Menschen-
kenntnis, die insbesondere von dem Landgerichtspräsidenten aus-
Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand 7
gespielt werden, weist das Anwaltskollegium das Gesuch ab. Man
befürchtete, das Ansehen des Anwaltsstandes könne durch den
Alkoholismus des M. schwere Einbuße erleiden. Diese nach der
klinischen Sachlage ganz unbegreifliche Entscheidung hat den M.
natürlich seelisch tief erschüttert, aber seinen Lebensmut und
Tätigkeitsdrang nicht gebrochen. Hätte er nur eine Spur der
Charakterdepravation des ihm angedichteten chronischen Alkoholis-
mus in sich gehabt, so wäre er verbittert über das ihm zugefügte
schreiende Unrecht Winkeladvokat geworden, eine reiche Ernte
wäre ihm sicher gewesen. Aber er hat sich in durchaus honoriger
Weise mit seinen reichen Gaben und seinen gediegenen Fachkennt-
nissen weiterhin über Wasser gehalten, hat Familienunglück
mutig getragen, trank nie einen Tropfen mehr. Er hat noch durch
Jahrzehnte den Briefwechsel mit mir unterhalten und ich konnte
mich dabei von der Dauerhaftigkeit seiner Genesung überzeugen.
Das manische Erscheinungsbild mit dem sekundären Trinkertum
hatte ihn ins Unglück gestürzt, aber die manische Vitalität hat
ihn wieder gerettet.
Stöcker hat in seiner Arbeit auch meine Auffassung vom manischen
Querulantenwahn kurz angeschnitten. Er hat sich diese Abschwei-
fung auf ein scheinbar ganz anderes Gebiet von selbst ergeben. Hier
wie dort ist hinter den aufdringlicheren Sekundärerscheinungen,
hier des Wahns dort des Trinkertums, der manische Grundzug
übersehen oder beiseite geschoben worden. Daß es auch psycho-
pathische Querulanten anderer Struktur gibt, weiß ich so gut
wie jeder andere erfahrene Fachmann. Aber die von mir heraus-
gehobene Gruppe der wirklichen (Querulanten, die mit ihrem
turbulenten Gebahren auch in der Laienwelt als solche auffallen,
mit ihren weitschweifigen Schriftsätzen und lauten Gerichts-
kämpfen die Gerichte ermüden, die sind es, die wohl ihre Familien
erschöpfen, sich selbst aber nicht. Andererseits erregen Persön-
lichkeiten von der gleichen seelischen Verfassung aber ohne spe-
zifische Querulanz mit ihrer edlen Zielen geopferten Kraftver-
s-hwendung auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen
Lebens mit Recht staunende Bewunderung und nicht nur bei
Durchschnittsmenschen. So sagt einmal Goethe, dem doch
nach seinem eigenen Erleben stark vergrößerte Maßstäbe anzu-
legen im Blute steckten, — sagt einmal Goethe in seinen Gesprächen
mit Eckermann über Napoleon: „Wenn man erwägt, was der
alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es
wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ıhm
gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines
8 Gustav Specht
vollkommenen Helden‘. So viel auch an Napoleon diagnostisch
herumgedeutet worden ist, ein starker manischer Zug läßt sich
bei ihm meines Erachtens nicht in Abrede stellen und so wird man
wohl auch ihm die spezifisch manische Vitalität zuerkennen dürfen.
In diesem Beispiel war überdies mit der schier unerschöpflichen
Kraftentfaltung eine gleichwertige Widerstandskraft gegen körper-
liche Strapazen und das lebensgesicherte Überstehen von Er-
krankungen verbunden. Ähnliches kann man bei unseren Kranken
sehen. Einer meiner chronischen Maniaci setzte sich aus lauter
Renommisterei, bevor man eingreifen konnte, den tollsten Er-
kältungseinflüssen aus, beim Mittagsmahl verschluckte er von
Zeit zu Zeit zur Verblüffung seiner Tischgenossen mit wenig Zügen
den ganzen Inhalt des Salz- und Pfefferfasses. Überdies litt er an
starkem Diabetes. Es war unmöglich, ihn zu der gebotenen Diät
anzuhalten. Er hat unbesorgt gegessen, was ihm schmeckte und
das war gerade das schulgemäß Unzuträglichste. Es hat ihm
lange Jahre nichts geschadet.
Diese mit der manischen Vitalität sich auswirkende Wider-
standskraft bei körperlichen Erkrankungen ist von beachtens-
werter Bedeutung für die ärztliche Allgemeinpraxis. Ich will es
mit ein paar Beispielen erläutern. Ich habe einmal eine willkom-
mene vitale Hilfe in einem ganz hoffnungslos aussehenden Fall
schwerster Melancholie erlebt. Die Kranke war schon in sehr inter-
ernährtem Zustand stuporöser Melancholie in die Klinik gekommen
und mußte alsbald mit der Sonde genährt werden. Das ging monate-
lang so zu, da trat Fieber auf, als dessen Ursache sich eine wieder
aufgeflammte Lungentuberkulose herausstellte. Wir hatten die
Kranke schon aufgegeben, da ließ eines Tags das Fieber nach und
gleichzeitig war ein auch psychisch ganz leise sich einschleichender
manischer Einschlag bemerkbar, der allmählich in ein mildes
manisches Nachstadium überging. Die Kranke blühte nicht nur
äußerlich auf, sie konnte seelisch und körperlich geheilt entlassen
werden und ist erst hochbetagt gestorben.
Auf Grund von Erfahrungen ähnlicher Art habe ich mein
Augenmerk auf dergleichen in der Welt der Geistesgesunden ge-
richtet. Die dabei gesammelten Beobachtungen lassen es angezeigt
erscheinen, die Ärztewelt, die jetzt mehr und mehr dazu angehalten
wird, die Konstitution der Erkrankten bei Diagnose, Prognose
und Therapie in gebührende Rechnung zu stellen, auch auf das
hypomanische Temperament bzw. die manische Vitalıtät zu achten.
Dafür ein paar Beispiele. Eine Greisin von 82 Jahren, konstitu-
tionell ausgesprochen hypomanisch, erkankt an einer recht be-
|
Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand 9
denklich aussehenden ausgedehnten Bronchitis mit hohem Fieber.
Eine Bronchopneumonie schien sicher im Anzug, aber die Kranke
kommt darüber hinweg. Nach 2 Jahren schwere Pneumonie, die
sie wider alles Erwarten übersteht. Nach 3 Jahren wieder eine
Pneumonie, in der sie erst einer Coronarembolie erliegt. Die 87jäh-
rige erregt bei dem Obduzenten das Staunen über den jeder Greisen-
haftigkeit baren Körperzustand. Ein weiterer Fall: Ein hoher
Beamter, stadtbekannter Hypomanicus, dem wegen seines be-
denklichen Herzzustandes die vorzeitige Zuruhesetzung ärztlich
dringend empfohlen worden war, erkrankt mit 68 Jahren an einer
Pneumonie, deren letaler Ausgang schon in den ersten Krank-
heitstagen sicher erwartet worden ist; aber der Kranke ist ge-
nesen. Ich habe in beiden Fällen im stillen den günstigen Ausgang
erwartet. Gewiß, die „gute Natur“ des Kranken wurde von alters-
her und wird neuerdings wieder mehr von den Hausärzten bei
ihren Prognosen in Rechnung gestellt; wenn man aber nicht weiß,
wodurch im gegebenen Fall diese gute Natur bedingt ist, dann
wird man z. B. bei Erkrankungen, wie den oben erwähnten, auf
sie nicht viel Hoffnung setzen. Weitere Erfahrungen dieser Art
habe ich dann auch bei Beratungen in internen und chirurgischen
Fällen mehrfach mit Nutzen in dem angedeuteten Sinn verwertet.
Wenn ich nochmals auf das psychiatrische Gebiet zurück-
komme, so möchte ich zunächst nur so im Vorbeigehen bemerken,
daß es auch eine seltene Kombination von genuiner Epilepsie
mit chronischer Hypomanie gibt. Ich hatte ım Lauf langer Jahre
2 Fälle davon in der Klinik; beide blieben von der typischen Ver-
blödung verschont. Es liegt sachlich nahe, wenn ich hier eine
Mitteilung Bumkes aus seinem Lehrbuch anfüge. Bumke hat nach
seiner über Jahrzehnte sich erstreckenden Erfahrung den Ein-
druck bekommen, daß von den jungen gutartigen Hysterischen
jene später gesund und sozial geworden sind, die pyknischen Habitus
und zyklothyme Geistesart aufwiesen. Ich habe ein paar ähnliche
Erfahrungen gemacht. Freilich waren es junge Hysterische, die
gerade wegen des manischen Einschlags nichts weniger wie gut-
artig sich gebärdeten, die aber später eine überraschend gute Ein-
stellung zur Umwelt gefunden haben. lch glaube, es ist nicht ge-
künstelt, wenn man die zuletzt aufgeführten Beobachtungen in
den Rahmen der vorherigen Ausführungen einreiht, zumal wenn
iman den ganzen Absatz, dem mein Zitat entnommen ist, bei
Bumke nachliest.
Die interessanteste klinische Auswirkung der manischen Vitalität
zeigt sich schließlich bei den manisch-schizophrenen Mischpsy-
10 Specht, Über den vitalen Faktor im manischen Krankheitszustand
chosen. Das Vorkommen dieser Kombinationen ist eine jetzt ziem-
lich allgemein anerkannte Tatsache, die jedoch in ihrer klinischen
Bedeutung noch lange nicht genug ausgewertet worden ist.
Eine Ausnahme bildet die treffliche Arbeit von Mauz. Ganz im
allgemeinen darf man sagen, daß die manische Vitalität eine
Melioration des Schizophreniezustandes nach Gestaltung und
Verlauf bewirkt. Da diese Mischung angefangen von einem leich-
ten manischen Einschlag bis zur manischen Vollbesetzung des
Krankheitsbildes die mannigfachsten Spielarten aufweist, kann
man die überraschendsten Wandlungen erleben. Nicht selten
sieht es so aus, als ob die beiden erbbiologisch bedingten Veran-
lagungen je nach ihrer Durchschlagskraft im Einzelfall um die
Vorherrschaft kämpften, so daß schließlich aus einem Schizo-
phrenen ein Hypomanicus werden kann, dem nur noch Spuren
der anderen Anlage anheften. Oder es kommen klinische Bilder
zutage, die mitten in das umstrittene Gebiet der Paraphrenie
führen und dabei auch Ansätze für die endgültige Lösung der
Paranoiafrage aufweisen. Es wäre das noch ein weites Feld.
Ich fasse zum Schluß das Ergebnis der vorliegenden, im wesent-
lichen auf meine klinischen Erfahrungen gestützten Darlegungen
kurz folgendermaßen zusammen:
Der schlichten Beobachtung der Klinik drängt sich der Ein-
druck auf, daß dem manischen Krankheitszustand ein natur-
wissenschaftlich immerhin faßbarer Faktor eigen ist, den man
nach der gegebenen Begriffsbestimmung als gesteigerte Vitalität
bezeichnen kann und der sich in seinen psychosomatischen Aus-
wirkungen überall da bemerklich macht, wo endogen Manisches
vorliegt.
Für die Frage der Hirnlokalisation, die ich bereits in meinem
Beitrag zu L. R. Müllers „Lebensnerven‘‘ 1930 angeschnitten
habe, die aber außerhalb meines Arbeitskreises liegt, liefern die
einschlägigen hirnanatomischen, neurovegetativen und neuro-
chirurgischen Forschungsergebnisse bereits greifbare Anhalts-
punkte.
Über krankheitsverändernde, insbesondere
krankheitsmildernde Einflüsse der manisch-
depressiven (thymopathischen) Konstitution
Von
Prof. Dr. A. Bostroem
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Königsberg Pr.)
Von verschiedenen Seiten, nicht zum wenigsten von Luxenburger,
ist darauf hingewiesen worden, daß sich unter den nichtkranken
Angehörigen des manisch-depressiven (thymopathischen) Formen-
kreises oft sozial wertvolle, intellektuell vielfach hochstehende,
gemütlich glücklich veranlagte Menschen finden. Luxenburger macht
auch darauf aufmerksam, daß die Sippen der Manisch-depressiven
in bezug auf die berufliche Zusammensetzung sehr günstig ab-
schneiden, daß sie gegenüber der Durchschnittsbevölkerung eine
ganz erhebliche und auch in den einzelnen Berufsgruppen sinn-
volle Verschiebung nach der Seite der positiven Qualität aufweisen.
Wir haben also, sagt er, alle Veranlassung, die Fortpflanzung der
Zyklothymen !) zu fördern, um den Ausfall an wertvollem Erbgut,
der durch die notwendige Sterilisierung der Manisch-depressiven
und die Fernhaltung ausgesprochener Psychopathen dieses Kreises
von der Fortpflanzung entsteht, zum mindesten wieder auszu-
gleichen.
Es ist notwendig, daß diese Tatsache. immer wieder hervorge-
hoben wird, denn die meisten sind geneigt, unter der manisch-
depressiven Konstitution in erster Linie etwas Krankhaftes zu ver-
stehen oder doch nur das Krankhafte zu sehen; dabei wissen wir
1) Unter zyklothym versteht ZLurenburger die gesunden Temperamente
des manisch-depressiven Formenkreises. Es sei dies ausdrücklich hervor-
gehoben, weil nach der Kraepelinschen Nomenklatur, die ich im allgemeinen
bevorzuge, mit zyklothym die raschen Schwankungen unterworfenen Psycho-
pathen des manisch-depressiven Erbkreises bezeichnet werden, während
Kurt Schneider alle Angehörigen des manisch-depressiven Erbkreises (ge-
sunde Temperamente, Psychopathen und Kranke) unter dem Ausdruck
zyklothym zusammenfaßt.
12 A. Bostroem
aber, daß die leichtesten Ausprägungen der manisch-depressiven
Konstitution, die syntonen Persönlichkeiten, nicht nur nicht krank
sind, daß sie vielmehr unter Umständen sogar recht wertvolle,
leistungsfähige Menschen sein können, sei es, daß sie als gewissen-
hafte, ernste, zuverlässige Arbeiter von selbstkritischer, sub-
depressiver Verfassung im kleinen Kreise sehr beachtenswerte, oft
unersetzliche Arbeit leisten, sei es, daß sie durch ihre Aktivität und
ihren Schwung anregend wirken, und bei der nötigen Intelligenz
vielleicht sogar Hervorragendes zu vollbringen vermögen. Auch bei
den schon hypomanisch anmutenden Persönlichkeiten braucht nicht
immer eine oberflächliche Art ausgeprägt zu sein; es gibt auch
Leute eines besonderen Typs von meist pyknischem Körperbau,
von großer, ans Hypomanische erinnernden Aktivität und Unter-
nehmungslust mit einer ausgemacht sthenischen Veranlagung,
Menschen, die nicht nur sich entgegenstellende Schwierigkeiten mit
Energie überwinden, sondern auch robust Schicksalsschläge und
Krankheiten in einem Maße aushalten, wie das Persönlichkeiten
anderer Konstitution in dieser Art oft nicht möglich ist.
Daß die manisch-depressive, thymopathische Anlage auch bei
körperlichen Erkrankungen einen gewissen Einfluß auf Ver-
lauf und u. U. auf Symptomgestaltung geltend macht, ist ebenfalls
bekannt und zwar kann dies bei den mehr hyperthymen Persönlich-
keiten oft in günstigem Sinne der Fall sein. Hier liegt offenbar ein
vegetativer Faktor zugrunde, der es z. B. mit sich bringt, daß Ver-
letzungen relativ rasch heilen, Pneumonien überraschend schnell
und ohne jedes schwere Mitgenommensein überstanden werden, ja,
aus gewissen Erfahrungen glaube ich auch schließen zu können,
daß man bei der Prognose der Lungentuberkulose ebenfalls die
psychische Veranlagung berücksichtigen muß insofern, als die Aus-
sichten bei Personen mit hyperthymischer Vitalität besser er-
scheinen.
Man wird daher auf Grund mannigfacher Beobachtungen immer
mehr zu der Überzeugung gedrängt, daß der manisch-depressiven
Konstitution gewisse krankheitsverändernde, zuweilen krankheits-
mildernde Einflüsse auf andere Leiden zukommt und das gilt nicht
nur für körperliche Leiden, sondern auch für Psychosen.
Ich habe 1927 darauf aufmerksam gemacht, daß das von
Kraepelin aufgestellte Krankheitsbild der Paraphrenie einem
solchen krankheitsmildernden Einfluß ihre Entstehung verdankt;
es handelt sich nämlich bei der Paraphrenie m. E. sicher um schizo-
phrene Erkrankungen, bei denen es trotz Fortbestehen des schizo-
phrenen Prozesses nicht zu einem Zerfall der Persönlichkeit kommt,
Über krankheitsverändernde, insbes. krankheitsmildernde Einflüsse usw. 13
und zwar deshalb nicht, weil die gleichzeitig vorhandene syntone
Anlage im Zusammenhang mit dem pyknischen Körperbau eine
größere Widerstandskraft bietet als es bei den dystonen (schizo-
thymen) Persönlichkeiten asthenischer Konstitution der Fall ist.
Diese Annahme hat später durch die Untersuchungen Kolles eine
Bestätigung erfahren.
Praktisch machen wir auch außerhalb der Paraphrenie bei
unseren prognostischen Betrachtungen: im Rahmen der schizo-
phrenen Erkrankungen von dieser Erfahrung insofern Gebrauch,
als wir bei Schizophrenen, die manisch-depressive Züge tragen, die
Prognose als besser betrachten, und zwar nicht nur, weil die vor-
handene manisch-depressive Anlage eine Neigung zum periodi-
schen Verlauf mit sıch bringt, sondern auch deshalb, weil es bei
diesen Persönlichkeiten in der Tat sehr viel seltener zu einem aus-
gemachten Zerfall kommt, weil sie auch nicht autistisch sich ver-
kriechen oder asozial ausweichen, wie das sonst Schizophrene zu
tun geneigt sind. Auf diese Weise wird die Eingliederung einfacher
und die therapeutische Fühlungnahme, die auch beim Schizo-
phrenen notwendig ist, kann leichter vor sich gehen. Man hat durch-
aus den Eindruck, daß diese, sagen wir sthenische Unterform der
manisch-depressiven Konstitution, die sich etwa in einem erhöhten
Biotonus (Ewald) ausdrückt, einen gewissen Schutz gegen den
schizophrenen Zerfall gewährt. Die Persönlichkeit als Ganzes wird
nicht so angegriffen. Die große Leichtigkeit der Lebensauffassung
bringt es weiter mit sich, daß die Wahnideen wirklichkeitsnahe
sind, daß sie plastischer auftreten. Die große Aussprachebedürftig-
keit erleichtert ebenfalls vieles. So bleiben in der Tat viele Para-
phrene durchaus brauchbar und sozial verwendbar; man geht wohl
‚nicht fehl in der Annahme, daß der gleiche schizophrene Prozeß auf
eine andere Persönlichkeit deletär gewirkt haben könnte, während
er hier verhältnismäßig harmlos abläuft.
Auf eine ähnliche Weise erkläre ich das Bild der Presbyo-
phrenie, wie es Wernicke beschrieben hat. Auch hier handelt es
sich um eine Krankheitsgruppe, die sich so deutlich von den nächst-
verwandten, den senilen Demenzen heraushebt, daß die Neigung
bestanden hat, sie als eigene Krankheitsform abzugrenzen. Ich
finde, es ist aber nicht notwendig, hier eine besondere Namengebung
einzuführen, viel besser ist es nach meiner Meinung, wenn man den
einzelnen Bausteinen im Aufbau des jeweiligen Zustandesbildes
gerecht wird und dabei sieht man folgendes: Senile und arterio-
sklerotische Hirnprozesse führen dann, wenn sie eine sthenisch-
syntone oder auch sthenisch-hypomanische Persönlichkeit treffen,
14 A. Bostroem
zwar auch zum Kardinalsymptom dieser Hirnrückbildungsvorgänge,
der Merkstörung; im übrigen bleibt aber die Persönlichkeit sehr gut
erhalten; insbesondere findet sich immer wieder eine erstaunliche
affektive Ansprechbarkeit. Die Kranken sind in ihrer Persönlich-
keit geschlossen und nur durch ihre Merkstörung behindert, am
sozialen Leben teilzunehmen. Auch die Urteilsfähigkeit bleibt oft
gut erhalten, die Schlagfertigkeit und die Produktivität beim Kon-
fabulieren erinnern an die ursprüngliche hyperthyme oder auch
hypomanische Wesensart. Selbst die Lebensprognose ist im großen
ganzen etwas günstiger als bei den gewöhnlichen Formen der senilen
Demenz.
Daß es sich hier um die Wirkung einer besonderen Veranlagung
handelt und nicht um die eines besonderen Hirnprozesses, ergibt
sich schon daraus, daß wir die gleichen presbyophrenen Bilder
sowohl bei den einfachen senilen Rückbildungsvorgängen wie auch
bei der Hirnarteriosklerose sehen.
Die Bedeutung der sthenisch-syntonen Anlage!) ist aber
nicht ausreichend gewürdigt, wenn man sich damit begnügt, hier
einfach von einem pathoplastischen Faktor zu sprechen. Die An-
lage färbt nämlich nicht bloß das senile Krankheitsbild etwas hypo-
manisch, sondern sie schützt die betroffene Persönlichkeit bis zu
einem gewissen Grade vor den üblichen Auswirkungen der senilen
Involution, d.h. vor dem Verfall in Stumpfheit und Antriebs-
losigkeit; in ähnlicher Weise wird der Paraphrene dank seiner hypo-
manischen Persönlichkeitsanlage vor der zerstörenden Einwirkung
des schizophrenen Prozesses bewahrt und es kommt so nicht zum
schizophrenen Zerfall.
Wir können somit annehmen, daß eine bestimmte Persönlich-
keitsartung einen Schutz gegen gewisse seelische Folgeerscheinungen
einer Hirnerkrankung gewährt, die ohne diese Anlage eintreten
1) Den Ausdruck ‚‚sthenisch-syntone Anlage“ habe ich in dem hier an-
gedeuteten Sinne in einem Vortrag über dieses Thema auf der Tagung Nord-
ostdeutscher Psychiater in Königsberg 1935 verwandt. Wyrsch gebraucht
diesen Ausdruck in seiner sehr interessanten Arbeit über Mischpsychosen
(Z. Neur. 159, 668, 1937) in einem etwas anderen Sinne. Ich habe den Ein-
druck, daß die von ihm beschriebenen sthenisch Syntonen dem Pathologischen
sehr viel näher stehen. Wyrsch bezeichnet so die allerdings stark ins Patho-
logische übergehende Kraft und Energie, mit der die manische Erkrankung
durch ihren Schwung bei entsprechend veranlagten Kranken z. B. auch
katatone Zustände auslöst. Während ich damit nicht nur eine Kraft, sondern
auch eine Widerstandsfähigkeit kennzeichnen möchte, dient der Be-
griff bei Wyrsch ausschließlich zur Charakterisierung einer besonderen Ak-
tivität und einer Aktivierungsfähigkeit auch in biologischem Sinne.
Über krankheitsverändernde, insbes. krankheitsmildernde Einflüsse usw. 15
würde!). Wir müssen also neben der symptomfärbenden Wirkung
noch einen krankheitsmildernden Einfluß annehmen, eine, sagen
wir tonısierende Einwirkung, die es mit sich bringt, daß andere Er-
krankungen — uns interessieren hier vor allem die Geisteskrank-
heiten — milder auftreten, ruhiger und günstiger verlaufen und
überall das Wesen der ursprünglichen Persönlichkeit deutlicher er-
kennen lassen, als es sonst bei derartigen Erkrankungen der
Fall ist.
Dieselben Erfahrungen können wir auch bei anderen Erkran-
kungen machen: Es ist schon vor Einführung der Malariakur beob-
achtet worden, daß bei expansiven Paralysen, d.h. solchen, bei
denen die Paralyse eine vorzugsweise hypomanische Persönlichkeit
betroffen hat, die Prognose verhältnismäßig gut erschien, daß ins-
besondere die Remissionsneigung hier am deutlichsten war. Aber
auch für die Malariabehandlung bieten diese Paralysen oft die beste
Aussicht. Das liegt einmal daran, daß diese expansiven Paralytiker
früher auffallen und deshalb zeitiger der Behandlung zugeführt
werden können; dann aber bieten sie dank ihres guten Biotonus
die Gewähr dafür, daß die Kur gut überstanden wird, und endlich
ist dieser Biotonus wohl mit dafür verantwortlich zu machen, daß
die vegetativen Vorgänge, die bei der Paralysebehandlung sicher
eine erhebliche Rolle spielen, mit einer ganz anderen Intensität
vor sich gehen als bei anderen Patienten. Sehr eindrucksvoll war
mir in dieser Beziehung kürzlich ein Fall von juveniler Paralyse
bei einem pyknisch-thymopathischen Mädchen. Während sonst die
Prognose der juvenilen Paralyse bekanntermaßen sehr schlecht zu
sein pflegt, ist hier rasch eine Sanierung des Liquors und eine über-
raschende Besserung eingetreten.
Interessant ist es, daß Volland in seiner Arbeit über thymo-
pathische Gemütsdepression bei Epilepsie zu einer gänzlich ähn-
lichen Auffassung über diesen krankheitsmildernden Einfluß der
manisch-depressiven Konstitution kommt. Er sagt ausdrücklich,
bei einem Überblick über das gegenseitige Verhalten von thymo-
pathischer und epileptischer Veranlagung ergebe sich bei dem epi-
leptischen Prozeß entschieden eine günstigere Prognose bzw. ein
milderer Verlauf. Ein sicherer Schutz gegen die epileptische Demenz
ist zwar nicht gewährleistet, aber die so häufig ım Verlauf der Epi-
lepsie sich einstellende Beschränktheit entwickelt sıch langsam oder
bleibt völlig aus. Bemerkt sei, daß es sich bei den Fällen von Volland
1) Eigenartig ist, daß diese Anlage irgendwie mit dem weiblichen Ge-
schlecht etwas zu tun zu haben scheint, denn unter Paraphrenen und Pres-
byophrenen sehen wir vorzugsweise weibliche Personen.
16 A. Bostroem
nicht nur um Personen handelt, die neben ihrer Epilepsie thymo-
pathische Verstimmungen hatten, sondern auch um solche, bei
denen wohl nur eine thymopathische Veranlagung gegeben war.
Auch auf körperlichem Gebiet sehen wir die hyperthymisch
pyknischen bzw. die sthenisch-syntonen Persönlichkeiten gelegent-
lich bevorzugt. Solche Leute erkranken zwar bei gegebener In-
fektion auch an Tabes; ob sie relativ seltener erkranken als
syphilitisch infizierte Astheniker, ist allerdings noch nicht unter-
sucht;; aber wenn sie daran erkranken, so vermißt man nach meiner
Erfahrung so gut wie immer einen wirklich progredienten Verlauf.
Ähnliches gilt, wie ich eingangs schon andeutete, auch von der
Tuberkulose.
Daß Alkoholiker sthenisch-syntoner Konstitution in der Regel
länger leistungsfähig bleiben und auch meist mehr vertragen, ist
ebenfalls eine Erfahrungstatsache. Man könnte das damit erklären,
daß die pyknischen Trinker mehr die leichten, weniger schädlichen
Geselligkeitsgetränke, wie Bier und Wein, zu sich nehmen, während
die autistisch-asthenischen Alkoholisten den Schnaps bevorzugen
und dementsprechend leichter in einen Verfall hineingeraten. Das
kann nach meinen Erfahrungen in Ostpreußen keine zutreffende
Begründung abgeben. Ich habe hier eine ganze Reihe von Fällen
meist pyknisch-athletischen Mischtyps mit einer ans Hypomanische
erinnernden Vitalität gesehen, die trotz erheblichen Schnapsmiß-
brauches in ihrer Leistungsfähigkeit lange Zeit hindurch verhältnis-
mäßig wenig psychisch beeinträchtigt waren. Interessant ist es, daß
bei diesen Persönlichkeiten, die bis dahin zu zirkulären Schwan-
kungen in krankhaftem Ausmaß nie geneigt hatten, im Anschluß
an größere Exzesse in baccho sich gelegentlich eine Manie einstellte.
Bei näherer Betrachtung zeigte sich, daß diese fröhlichen Gelegen-
heitszecher offenbar unter dem Einfluß einer leichten hypomani-
schen Schwankung zu einem ganz erheblich gesteigerten Schnaps-
mißbrauch gekommen und nun in einen Zustand geraten waren,
der äußerlich nur als Manie zu bezeichnen war. Diese Zustände
klangen aber nach Internierung und Alkoholabstinenz ab, zwar
nicht so rasch, daß man nur von einem manisch gefärbten Rausch
sprechen konnte, aber immerhin doch nach so kurzer Zeit (ca.
14 Tage), daß man sie wohl nicht gut als eine rein endogene Manie
auffassen durfte. Ich nehme vielmehr an, daß hier zwar eine leichte
endogene Schwankung Anlaß zu dem erhöhten Alkoholmißbrauch
gewesen ist, daß dieser aber seinerseits die hypomanischen Züge
zu manischen steigerte, sodaß auch die vorübergehende Nüchtern-
heit die Symptome des manischen Zustandes nicht vermissen ließ.
Über krankheitsverändernde, insbes. krankheitsmildernde Einflüsse usw. 17
Vielleicht trägt übrigens die hypomanische Beweglichkeit durch
die Unfähigkeit, sich richtig auszuschlafen, noch zur Erhöhung der
Alkoholwirkung und damit zur Steigerung der manischen Er-
regung bei.
Auffallend ist weiter, daß einer dieser Patienten im Beginn des
gehobenen Zustandes enorme Mengen Alkohol vertragen konnte,
ohne im üblichen Sinne berauscht zu werden; ein anderer kam
mehrere Tage hintereinander schwer betrunken zwischen 3 und
4 Uhr nach Hause und war um 6 Uhr völlig ausgeschlafen und nach
Aussage der Mitarbeiter nüchtern. Es würde sich lohnen, bei solchen
Persönlichkeiten gelegentlich einmal einen Alkoholversuch und
Toleranzproben anzustellen mit Messung des Blutalkoholgehaltes.
Wichtig erscheint mir hier auch, daß die verwandten und gewisser-
maßen mischbaren Symptome des Alkoholrausches und der Hypo-
manie nicht nebeneinander herlaufen, sondern sich vereinigen, in
der gleichen Richtung und ım gleichen Sinne wirken, sıch vielleicht
gegenseitig steigern und so das Bild einer schweren Manie erzeugen,
die aber abklingt, sobald der eine Faktor, nämlich der Alkohol,
fortfällt.
Sehr interessant ist es weiter, zu beobachten — dazu hatte ıch in
letzter. Zeit verschiedentlich Gelegenheit —, wie relativ rasch
traumatische Hirnschädigungen — nicht nur Kommotionen,
sondern auch Kontusionen — bei Persönlichkeiten dieser sthenisch-
syntonen Anlage beschwerdelos abheilen, besonders dann, wenn
die hyperthyme Nuance dieser Konstitution vorliegt. Es ist nicht
immer berechtigt, bei solchen Leuten von einem Symptom der
mangelnden Ernstwertung zu sprechen. Tatsache ist, daß in solchen
Fällen gelegentlich schwere traumatische Hirnschädigungen nicht
ernst genug gewertet werden; das ist aber nicht immer ein Zeichen
einer Stirnhirnschädigung, sondern sehr oft Ausfluß eines sthenisch-
hyperthymen Temperamentes.
Auch für das Gebiet der Neurosen gilt dieser Einfluß der
sthenisch-syntonen oder sthenisch-hypomanischen Konstitution
und zwar nicht nur für die Symptomfärbung; auch die Entstehung
von Neurosen und die Bewertung von Beschwerden ist in hohem
Maße abhängig von konstitutionellen Eigentümlichkeiten. Inter-
essant ist es, dabei zu beobachten, wie selten derartige hypomanisch-
sthenische Persönlichkeiten eine Unfallneurose bekommen. Ein-
mal liegt das daran, daß sie die ja nach jedem Hirntrauma zunächst
vorhandenen Beschwerden nicht so hoch einschätzen wie andere
weniger robuste Persönlichkeiten; auch ist diesen aktiven Leuten
das passive parasitäre Verhalten, wie es zum Unfallsneurotiker
2 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1,3.
18 A. Bostroem
gehört, auf die Dauer unerträglich. Zu berücksichtigen ist dabei nur,
daß sich diese von Haus aus optimistischen Leute selten oder;nie
gegen Unfall versichern. Daß unter Umständen auch äußere Ver-
letzungen sehr viel rascher heilen, habe ich schon erwähnt; das
liegt nicht nur an dem besseren Biotonus, der wohl als eine be-
sondere Eigenschaft des vegetativen Gebietes angesehen werden
darf, sondern dürfte wohl auch darauf zurückzuführen sein,®daß
. diese aktiven Naturen ihre verletzten Glieder früher üben, sie
energischer in Gang setzen und so zur Heilung beitragen. Besonders
erstaunlich ist auch zu sehen, wie die Merkausfälle nach schweren
traumatischen Hirnschädigungen bei solchen Leuten sich wieder zu-
rückbilden.
Alles in allem kann man sagen, daß wir es hier mit einer erfreu-
lichen Eigenschaft einzelner Angehöriger der manisch-depressiven
Konstitution zu tun haben. Über diese Persönlichkeiten muß man
auch orientiert sein, wenn man bei irgendwelchen Erkrankungen
ein neues Heilmittel oder eine neue Methode versucht. Die Erfah-
rungen mit dieser sthenisch-syntonen Konstitution schützen viel-
leicht vor dem voreiligen Schluß, daß für den Erfolg ein Mittel
oder eine Methode allein oder gar überhaupt verantwortlich zu
machen ist.
Selbstverständlich sind nicht alle Vertreter des manisch-depres-
siven Formenkreises so widerstandsfähig; es gibt auch Persönlich-
keiten dieser Konstitution mit mehr chronisch-depressivem Ein-
schlag, bei denen man, ohne daß sie an echten krankhaften De-
pressionen gelitten haben, von einer gegenüber dem Durchschnitt
herabgesetzten vitalen Widerstandskraft sprechen muß; es sind
Leute, die körperliche Krankheiten schlecht überstehen, bei denen
auch Klimakterium, schizophrene Erkrankungen usw. eher noch
schwerer auftreten, als das für gewöhnlich der Fall zu sein pflegt.
Dabei brauchen die Leute mit der günstigen sthenisch-syntonen
Konstitution keineswegs ganz frei von depressiven Bildern zu sein,
wenn auch echte Depressionen bei ihnen nicht beobachtet werden ;
in der Regel ist aber die Grundstimmung und Kennzeichen ihrer
Persönlichkeit immer eine besondere ans Hypomanische erinnernde
vitale Gehobenheit.
Nun könnte man einwenden, daß dies alles glücklich veranlagte
Naturen sınd, die eigentlich mit der manisch-depressiven Konsti-
tution nichts gemeinsam haben. Es ist natürlich schwer, die Zu-
gehörigkeit dieses Leidens zum manisch-depressiven Formenkreis
eindrucksvoll zu beweisen; aber wir finden einen ähnlichen Einfluß
in positivem und negativem Sinne auch bei den manisch-depressiven
Über krankheitsverändernde, insbes. krankheitsmildernde Einflüsse usw. 19
Erkrankungen. Schon bei den obenstehenden Ausführungen war
es nicht immer möglich, reinlich zwischen der von mir gemeinten
sthenisch-syntonen Konstitution und den manisch-depressiven
Krankheitszuständen zu unterscheiden, ein Umstand, der ja auch
für die Zusammengehörigkeit dieser beiden Begriffe spricht. Aber
davon abgesehen beobachten wir eine in irgendeinem Punkt erhöhte
Leistungsfähigkeit gerade auch bei manischen Kranken. Wir be-
wundern bei ihnen oft die körperliche Ausdauer, mit der unentwegt
und fast ohne Schlafbedürfnis immer wieder etwas unternommen
und auch körperlich allerhand geleistet wird. Ich kenne eine
Manisch-depressive, die in ihren manischen Zeiten gegen 9 Uhr
abends todmüde ins Bett sinkt, tief schläft und nach 1—2 Stunden
völlig frisch wieder aufwacht und zur (Qual ihrer Angehörigen das
Haus in Bewegung bringt. Früher habe ich einmal einen Manischen
beobachtet, der bei einer Rauferei einige Rippenbrüche, einen
Unterarmbruch, einen Schlüsselbeinbruch sowie eine Reihe von
innerlichen Blutungen davongetragen hatte, die alle zur Verwun-
derung des Chirurgen in erstaunlich rascher Zeit abheilten.
Über die relativ gute Prognose der Pneumonien habe ich oben
schon berichtet. Dieser positiven Seite steht allerdings der Umstand
gegenüber, daß die Prognose bei depressiven Zuständen um so
schlechter ist. Ein ungünstiger Einfluß kann aber auch bei Mani-
schen gegeben sein, insofern, als sie — etwa bei einem Herzleiden —
sich nicht genügend schonen und sich durch ihre körperliche
Erkrankung nicht in dem Vollzug ihrer Lebensgenüsse stören
lassen.
An der Zugehörigkeit zum manisch-depressiven Formenkreis
kann nach meiner Meinung bei diesen meist pyknisch oder pyknisch-
athletisch gebauten sthenisch-syntonen Persönlichkeiten nicht ge-
zweifelt werden; es fragt sich nur, ob es sich hier um eine besondere
Unterform handelt, die etwa auch erbbiologisch getrennt weiter-
gegeben wird. Das ist heute noch nicht zu entscheiden und hier
liegen meines Erachtens auch praktisch wichtige Aufgaben für die
Erb- und Konstitutionsforschung.
Schrifttumsverzeichnis
Bostroem, Zur Frage des Schizoids. Arch. Psychiatr. 77, 32, 1926. — Bo-
stroem, Diskussionsbeinerkung. Allg. Z. Psychiatr. 88, 426, 1928. — Bostroem,
Über Presbyophrenie. Arch. Psychiatr. 99, 609, 1933. — Bostroem, Über
einige Besonderheiten der imanisch-depressiven Konstitution. Danziger
Ärzteblatt Band 3, Folge 1, 1935. — Kolle, Die primäre Verrücktheit. Thieme,
l.eipzig 1931. — J. Lange, Gegenseitige Beeinflussung von Krankheiten vom
>36
-
4
20 A. Bostroem, Über krankheitsverändernde Einflüsse usw.
Standpunkt des Psychiaters. D. m. Wo. 1932, Heft 11. — Luzxenburger, Be-
rufsgliederung und soziale Schichtung in den Familien erblich Geisteskranker.
Eugenik Band 3, Heft 2, 1933. — Luxenburger, Der heutige Stand der empi-
rischen Erbprognose in der Psychiatrie. Zbl. Neur. Band 82, S.1, 1936. —
Luxenburger, Persönlichkeit und rassenhygienische Auslese. Öff. Gesdhdienst
Band 2, S. 697, 1936. — Mauz, Die Prognostik der endogenen Psychosen. Thieme
Leipzig 1930. — Volland, Über thymopathische Gemütsdepression bei Epi-
lepsie. Arch. Psychiatr. Band 100, S. 670, 1933. — Wyrsch, Über Misch-
psychosen. Neur. Band 159, S. 668, 1937.
Über paragrammatische Störungen
Von
Dr. G. Zillig
(Aus der Universitätsnervenklinik Frankfurt a. M.
Leiter: Prof. Dr. Kleist)
Es waren zunächst eigentümliche Auffälligkeiten des sprach-
lichen Verhaltens, die bei dem Epileptiker G. H. eine eingehen-
dere Erforschung seiner Sprachstörung nahelegten. Ein näheres
Befassen mit dem Kranken zeigte bald, daß die bei H. vorliegende
Störung des sprachlichen Ausdrucks für das Verständnis einiger
Fragen allgemeinerer Art aus dem Gebiet der grammati-
schen Störungen der Sprache wichtig schien und so eine
Veröffentlichtung rechtfertigt. Sind ja ausführlichere Mitteilungen
von Beobachtungen derartiger Störungen in der Literatur nicht
häufig.
Der Befund bei unserem Kranken zeigt außerdem die Schwierig-
keit einer diagnostischen Einordnung mancher Epilepsien und
lohnt eine Betrachtung auch von dieser Seite her. Mit Rücksicht
auf verfügbaren Raum und Lesbarkeit der Darstellung werden
die Untersuchungsprotokolle nur im Auszug, soweit sie zur Ver-
anschaulichung der vorliegenden Störung dienen und als Beleg
für vorgetragene Meinungen gelten können, wiedergegeben. Die
verschiedenen Quellen zur Vorgeschichte: Krankengeschichten
fremder Anstalten und unserer Klinik, Akten des Versorgungs-
amtes, Angaben der Angehörigen, besonders der Frau und der
Tochter wurden zusammengefaßt, um Wiederholungen und Über-
schneidungen zu vermeiden.
H. ist jetzt 43 Jahre alt. Er stammt aus einer Familie, in der von Nerven-
oder Geisteskrankheiten nichts bekannt ist. Der Vater, der mit 72 Jahren
an einem Herzleiden starb, wird als ruhiger, übergewissenhafter, etwas um-
ständlicher Mann geschildert, der im Leben aus kleinen Verhältnissen heraus
eine geachtete Stelle als städtischer Handwerksıneister errungen hat. Nüch-
tern, für seine Familie stets besorgt, unterstützte er bis zu seinem Tode den
ın Not geratenen Sohn von seinem nicht großen Ruhegeld freigebig. Die
Mutter, eine stille, etwas verschlossene, aber herzensgute Frau, starb mit
55 Jahren an einer zelırenden Krankheit. Sie war Linkserin. Drei Schwestern
22 G. Zillig
des H. sind gesund, verheiratet, sie gelten bei Bekannten als besonders ge-
wissenhaft und zuverlässig, im Haushalt vielleicht als etwas pedantisch.
Eine davon soll an häufigen starken Kopfschmerzen leiden. Ein Mutters-
bruder erhängte sich in jungen Jahren. Er soll unstet gewesen sein. Näheres
über ihn ist aber nicht in Erfahrung zu hringen. Angaben über sonstiges
Vorkommen von Linkshändigkeit in der Familie gehen auseinander. Wahr-
scheinlich ist aber auch der Vater des H. Linkshänder gewesen, ebenso
wie eine Schwester.
H. selbst hat sich als Kind nach normalem Geburtsverlauf zunächst gut
entwickelt. Er hat rechtzeitig sprechen und laufen gelernt. Als kleines Kind
machte er Masern, Scharlach, Keuchhusten, Windpocken und Diphtherie
durch. Als älteres Schulkind hatte er Mumps. Gegenüber Infektionskrank-
heiten und gegenüber Erkältungen zeigte er sich bis zu Anfang der Pubertät
besonders anfällig, mit der Pubertät verschwand aber diese Anfälligkeit
weitgehend.
In der Schule hat H. immer sehr gut gelernt. Er war in der Volksschule
immer Klassenbester. Bei seinem Abgang von der Volksschule und der Fort-
bildungsschule bekam er jeweils für seine ungewöhnlich guten Leistungen
Preise. Gleichzeitig fiel auf, daß er ein sehr nervöses Kind war. Er war immer
auf sich zurückgezogen, schloß sich schwer an andere an, stotterte zeitweise.
Der Schlaf war bis zum 16. Jahr nachts sehr unruhig, H. wälzte sich viel
im Bett herum, hatte unruhige Träume, schrie häufig auf und näßte nachts
häufig ein. Allmählich besserte sich dann von selbst mit fortschreitender
Entwicklung dieser Zustand.
Nach der Schulentlassung lernte er als Beruf Mechaniker und Werkzeug-
schlosser. Trotzdem er ausgesprochener Linkshänder war, lernte er
auch seine rechte Hand geschickt benutzen. 1915 zum Kriegsdienst einge-
zogen, hat er den Krieg bis auf kurze Unterbrechungen an der Front mit-
gemacht. Er wurde mehrmals wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet
und zum Unteroffizier befördert. Im Krieg wurde H. mehrmals verwundet.
1916 erlitt er eine Verwundung am Kopf. Nach seinen Angaben wurde ihm
bei einer Granatexplosion ein Stein mit erheblicher Wucht gegen das linke
Scheitelbein geschleudert. H. war nach seiner Schilderung nur kurz be-
nommen, eine Wunde in der Kopfschwarte heilte sehr rasch. Durch Nach-
forschen bei Augenzeugen wurde die Wahrheit dieser Angaben des H. später
festgestellt. Es besteht aber darüber kein ärztlicher Untersuchungsbefund,
weil H. nur revierkrank war, nach wenigen Tagen seinen Dienst wieder auf-
nahm und nur für etwa acht Tage einen Kopfverband trug. Später wurde
von H. diese Verletzung als Ursache der Anfälle angeschuldigt, trotz zahl-
reicher Versuche des H. hat aber das Versorgungsamt bisher die Frage eines
Zusammenhangs zwischen dieser nicht genau objektivierbaren Kriegsbe-
schädigung und dem bei H. vorliegenden Leiden verneint.
Außer dieser Verletzung wurde H. 1917 durch einen Prellschuß der rechten
Wange verwundet. Bei einer unlängst vorgenommenen Röntgenuntersuchung
des Schädels fand sich von dieser Verletzung hier noch ein kleiner Ge-
schoßsplitter im rechten Jochbein. Im April 1918 erlitt H. eine
Schußfraktur des fünften linken Mittelhandknochens. Als Folge dieser Ver-
letzung besteht heute noch eine Kontraktur und abnorme Fixierung des
linken Kleinfingers.
1919 hat H. geheiratet. Er hatte seine Frau 1918 kennen gelernt. Anfangs
in der Ehe war der Frau aufgefallen, daß II. dauernd vom Krieg gesprochen
Über paragrammatische Störungen 23
habe, so daß es ihr zeitweise richtig auf die Nerven gegangen sei. Das sei
auch später immer so gewesen: wenn er einmal anfing, konnte er mit einem
Thema kaum zu Ende kommen. Er galt auch sonst immer als zähflüssig in
seinen Gedanken, als schwer umstellbar im Gespräch, alles wurde von ihm
immer wieder mit großen Wiederholungen gebracht und so häufig erzählt,
daß es auch fremden Leuten schon unmittelbar nach dem Krieg aufge-
fallen war.
Im übrigen galt er immer als ordentlich, sachlich, fleißig. Abgesehen von
seinen langen Reden in Gesellschaft, wenn er einmal angedreht war, war
er sonst eher wortkarg, still, verschlossen, grüblerisch. In seinem Beruf war
er vorbildlich gewissenhaft, arbeitete häufig nachts an Plänen, kam hinter
sehr viel Kunstgriffe in seinem Beruf. Daraus erklärt sich auch, daß man H.
in der Firma mit Vorliebe, obwohl er zunächst nur Eisendreher war, im
Konstruktionsbüro beschäftigte und ihm Sachen anvertraute, die sonst weit
über dem Aufgabenkreis eines Mannes mit ähnlicher Vorbildung lagen. Aus-
künfte der Firma, bei der H. übrigens ein Jahrzehnt angestellt war, betonen
seinen unermüdlichen Fleiß und seine vorbildliche Gewissenhaftigkeit.
Deshalb wurde er zuletzt auch noch von seinen Arbeitgebern zu einer Zeit
beschäftigt, wenn auch in untergeordneten Stellungen, als längst ein sich
immer mehr verstärkendes Anfallsleiden und ein deutlicher allgemeiner
geistiger Rückgang ihn praktisch arbeitsunfähig machten.
Dieselbe peinliche Ordnung, die H. im Geschäft gewohnt war, verlangte
er auch zu Hause. Seinen kleinen Garten hielt er musterhaft und verwandte
seine ganze Freizeit darauf. Soweit er seine Kleider selbst besorgte, waren
sie peinlich sorgfältig in Ordnung.
In Gesellschaft ging er nur selten. Wenn überhaupt, dann trank er nur
wenig. Ohne unterwürfig zu sein, war er zu jedermann höflich und zuvor-
kommend. Frömmelei lag ihm nicht, von den Kirchen hielt er nicht viel,
er war für einen praktischen Glauben der Tat, übersinnliche Dinge lehnte er
wegen ihrer mangelnden Beweisbarkeit ab und kam von diesem Stand-
punkt aus auch zu einer Ablehnung des christlichen Glaubens. Dagegen hielt
er sehr auf eine moralische Lebensführung. ‚‚Tue recht und fürchte niemand“
war einer seiner Grundlehren, die er auch häufig in Gespräche und Belehrun-
gen einflocht. Eine einzige, jetzt 19jährige Tochter wurde sehr streng erzogen.
Übrigens ist diese Tochter, ein intelligentes, freilich etwas schwerfälliges
und umständliches junges Mädchen, Linkserin.
Im Jahre 1925 fiel H. zuerst durch eine zunehmende Gereiztheit
auf, die im Gegensatz zu dem sonst ausgezeichneten Familien- und Berufs-
leben zu einer Reihe kleinerer Reibereien und Streitigkeiten führte. In diesem
Jahre trat auch zuerst ein Krampfanfall auf, nachts im Bett; wie die ersten,
zuerst sehr selten auftretenden Anfälle überhaupt nur nachts kamen. Die
Frau, die ihren Mann beobachtete, weil er so eigentümlich blau im Gesicht
wurde, hielt es zunächst für einen Schüttelfrost. Bei allmählich häufigerer
Wiederkehr dieser Anfälle bemerkte die Frau dann eine charakteristische
Reihenfolge der Erscheinungen, die im Anfall immer eingehalten wurden:
das Gesicht verzog sich zunächst eigentümlich, wie wenn H. anfangen wollte
zu lachen oder zu weinen, vor allem nach rechts. Wenn er gerade gestanden
oder gesessen habe, sei er dabei umgefallen und bewußtlos geworden. Er
sei immer nach rechts hingefallen. Dann. am Boden liegend, habe er vorüber-
gehend ängstlich ausgesehen, das Gesicht verfärbte sich allmählich blaurot,
er gab stöhnende Laute von sich, dann wurde er plötzlich blaß und dann
24 G. Zillig
begannen die Zuckungen im Körper. Diese Zuckungen begannen im Kopf
(sowohl einzelne Muskeln des Gesichtes zuckten, als auch traten Dreh-
bewegungen des Kopfes auf), griffen dann auf die Arme und Beine über,
waren aber in den Beinen am wenigsten stark. Anfangs soll zwischen den
Zuckungen der rechten und der linken Körperhälfte kein wesentlicher Unter-
schied gewesen sein. Allerdings glaubt die Frau angeben zu können, daß die
Zuckungen in den letzten Jahren links stärker gewesen sind als rechts. Am
Ende des Anfalls trat dann Schaum vor den Mund. Nach dem Anfall war
H. immer sehr müde, schlief einige Zeit. Für etwa 24 Stunden nach dem
Anfall habe man mit ihm nie viel anfangen können, er sei diese ganze Zeit,
wie die Frau angibt, immer noch eigentümlich dösig und uninteressiert ge-
wesen. Wenn aber auch dieser Zustand vorüber gegangen sei, dann sei er
der beste Mensch gewesen, verhältnismäßig freundlich und zugänglich, wäh-
rend er gerade in den Tagen vor den Anfällen immer mehr gereizt, krittelig
und unausstehlich wurde und ihn dann die Fliege an der Wand ärgerte.
Der Anfall habe immer ganz befreiend auf ihn gewirkt.
Von der Zeit des ersten Auftretens der Anfälle an traten aber bei H. noch
andere eigentümliche Zustände auf, und zwar Absencen und epileptische
Äquivalente in Form von Lachanfällen. Häufig, wenn er am Tisch saß,
in den letzten Jahren täglich mehrmals, hustete er plötzlich, schaute ganz
verstört, gab auf Fragen keine Antwort, prustete — dann war alles wieder
vorbei. Unmittelbar nach diesen Zuständen trat immer ein sehr starker
Drang zum Urinieren auf. Befand sich H. etwa auf der Straße, wenn
er eine solche Absence bekam, dann schlug er unmittelbar nachher das Wasser
mitten auf der Straße ab, wo er eben gerade stand. Für diese Zeit dauerte
die Bewußtseinsstörung und dementsprechend hinterher der Erinnerungs-
verlust regelmäßig an. Eine Anzeige wegen Exhibitionismus, die auf Grund
eines solchen Vorkommnisses bei der Polizei erstattet worden war, wurde
mit Rücksicht darauf, daß H. unbescholten war und an Anfällen litt, nicht
weiter verfolgt. Man richtete es aber deswegen, und weil solche Zustände
regelmäßig zum Verlust von Sachen führten, die H. einholen sollte, von der
Familie aus so ein, daß er nicht mehr allein, sondern immer nur in Begleitung
von Familienangehörigen auf die Straße ging.
Lachanfälle traten zuerst während der beruflichen Tätigkeit des H.
auf: plötzlich verzog sich nach Schilderung von Arbeitskollegen sein Ge-
sicht zu einem breiten Lachen, darauf stierte er in eine Ecke, sah vorüber-
gehend wie geistesabwesend aus, war nicht ansprechbar. Nach einigen Sekun-
den war das wieder vorbei und H. wußte hinterher nichts davon.
Im Jahre 1927 machte sich mehr und mehr ein Versagen im Beruf
bemerkbar. H. wurde in seinen Arbeiten immer langsamer, dabei übergenau,
kam über die einfachsten Sachen nicht hinweg, weil er glaubte, alles noch
nicht ordentlich genug gemacht zu haben. Nicht nur im Konstruieren, das
bisher seine Hauptstärke war, versagte er, auch praktische Arbeiten, die
man ihm glaubte anvertrauen zu können, erledigte er so umständlich und
ungeschickt, so daß es von 1928 ab seiner Firma, die ihn sehr schätzte, un-
möglich war, ihn länger zu beschäftigen. Seit dieser Zeit ist er arbeitslos
und hat außer gelegentlichen Garten- und einigen häuslichen Hilfsarbeiten
nichts mehr getan. Er machte viel kleinere Spaziergänge, saß oft tagelang
interesselos in seiner Wohnung herum, kümmerte sich auch nicht mehr um
die Zeitung im Gegensatz zu seinem früheren Interesse gerade für politische
Ereignisse.
Über paragrammatische Störungen 25
Die allgemeine Änderung seines Wesens wurde mit den Jahren immer
deutlicher. Er wurde immer gleichgültiger, apathischer, teilnahms-
loser, wurde immer mehr gereizt und schwierig. Zuhause durfte man
ihm nicht im geringsten widersprechen. In den letzten Monaten fing er an,
bei zufällig ihm in den Weg kommenden Passanten über seine Frau zu schimp-
fen, erklärte plötzlich einmal, er hätte sich ja auch mit einer Frankfurterin
verheiraten können, er hätte nicht eine Westfälin zu heiraten brauchen. Als
ihm die Frau solche Sachen einmal vorhielt, wurde er plötzlich furchtbar
erregt, erklärte, wenn bis morgen abend um 6 Uhr ‚‚keine Aussprache und
Entschuldigung erfolge“, dann werde etwas Fürchterliches passieren. Er
wolle dann alles erschlagen und seine ganze Familie vernichten. Trotz öfterer
solcher Drohungen kam es aber nie zu irgendwelchen Gewalttätigkeiten.
Angehörigen und Bekannten fiel seit Jahren eine allmählich immer eigen-
tümlicherere Formen annehmende Veränderung der Sprechweise des
H. auf. Von sich sprach H. fast ausschließlich in der dritten Person: ,der
macht das so, der will das so haben“. Nach einer Begründung für diese Eigen-
tümlichkeit gefragt, pflegte H. stets zu antworten: ‚weil der eben so spricht,
weil der das eben so macht‘. Außerdem sprach er in seinen Sätzen mehr und
mehr abgehackt, er fing dauernd Sätze an, die er nicht zu Ende brachte, oft
so verworren, daß man gar nicht verstehen konnte, was er eigentlich mit
seinen Reden wolle. Dann kamen in seiner Sprache mehr und mehr auch
eigentümliche Wörter vor, die sich H. neugebildet zu haben schien. Oft wurden
sogar Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und ganz geläufige Dinge
so „vertrackt benannt‘. Dabei entwickelte sich in den letzten Jahren in
gewissen Zeiten, wenn er nicht stumpf und apathisch war, mehr und mehr
der Drang, alle Vorkommnisse des täglichen Lebens mit langatmigen und
meist unverständlichen Reden zu begleiten. Er kam auch dauernd wieder
auf den Krieg zurück und erzählte Einzelheiten aus den Schlachten, die er
mitgemacht hatte, allerdings so ‚unklar und verworren‘“, daß man oft nur
aus einzelnen Worten entnehmen konnte, worum sich das Thema handele,
aber seiner Darstellung einfach nicht zu folgen vermochte.
Von Zeit zu Zeit unternahm er wieder von sich aus, ohne daß man ihn
dazu antreiben mußte, eine Eingabe an die Versorgungsbehörde. Die aus
den verschiedensten Jahren stammenden Eingaben befinden sich bei den
Akten des Versorgungsamtes und zeigen die allmählich immer größeren Auf-
fälligkeiten des Ausdrucks und der Sprache. Es ist ohne weiteres möglich,
die Schriftstücke nach dem Grad der Auffälligkeit des sprachlichen Ausdrucks
chronologisch einwandfrei zu ordnen.
Die immer sich verstärkenden Anfälle waren auch der Anlaß für öftere
Anstalts- und Klinikaufenthalte und für einige Begutachtungen. Bei einer
Untersuchung und mehrmonatlichen Behandlung in der \ervenheilanstalt
in K., bei der H. auf Luminal gut ansprach, wurde die Diagnose einer genuinen
Epilepsie gestellt. Ein neurologischer Befund fand sich nicht. Auch bei einer
etwas späteren Begutachtung durch Prof. W. ergab sich kein krankhafter
neurologischer Befund. Die Häufigkeit der Lachanfälle und der Absencen
schien dem damaligen Gutachter in Übereinstimmung mit der charakteristi-
schen epileptischen Wesensänderung und dem nur seltenen Vorkommen großer
Krampfanfälle eindeutig für genuine Epilepsie zu sprechen und ein sicheres
differentialdiagnostisches Zeichen gegenüber einer traumatischen Epilepsie
zu sein. Außerdern wurde die Pedanterie des Vaters, die Linkshändigkeit der
Familie, der Selbstmord des haltlosen Bruders der Mutter und die eigene
26 G. Zillig
Wesensartung des H. vor der Erkrankung im Sinne einer Belastung für genuine
Epilepsie aufgefaßt. In diesem Sinn wurde die Krankheit des H. auch stets
vom Versorgungsamt beurteilt, die traumatische Genese schien in ihrer Be-
gründung und den objektiv darüber erweisbaren Daten so unsicher, daß man
eine traumatische Verursachung, auch mit Rücksicht auf den psychischen
Befund und die Vorgeschichte glaubte mit Sicherheit ausschließen zu können.
H. ist jetzt seit 6. 9. 1938 zum viertenmal in unserer Klinik. Bei der ersten
Untersuchung 1936 handelte es sich um eine Begutachtung für die Landes-
versicherungsanstalt, also um die Frage der Berufsunfähigkeit. Bei der körper-
lich-neurologischen Untersuchung wurden gefunden: eine kleine Knochen-
vertiefung auf dem Scheitel, eine kleine reizlose Narbe über dem rechten
Auge, eine Druckschmerzhaftigkeit des linken Supra- und Infraorbital-
punktes, alte Zungenbißnarben, ein sicherer Seitenunterschied des Knie-
sehnen- und des Achillessehnenreflexes (links mehr als rechts, links gestei-
gert), links ein Oppenheim, Gordon und ein fraglicher Babinski. Ein Anfall,
der während des ersten Hierseins aufgetreten war, wurde ärztlich nicht be-
obachtet. Bei der Sprechweise des H. fiel sein Sprechen von sich in der dritten
Person und eine ‚Verworrenheit im Ausdruck“ auf.
Bei der zweiten Aufnahme im Januar 1938 wurde H. in einem abklingenden
Dämmerzustand aufgenommen. Der neurologische Befund war bis auf einen
doppelseitigen Oppenheimschen Reflex jetzt derselbe wie vor zwei Jahren.
Die nunmehr häufigen, teilweise auch ärztlich beobachteten Anfälle waren
einmal sicherer seitengleiche typisch epileptische Krampfanfälle. Andrer-
seits wurden nach zuverlässigen Beschreibungen des Pflegepersonals auch
Anfälle von Halbseitencharakter beobachtet: es erfolgte zu Beginn
der Anfälle eine Kopfdrehung nach rechts, der linke Arm und das linke Bein
wurden zunächst tonisch gestreckt, dann kam es zu klonischen Zuckungen
im linken Arm und im linken Bein, während der rechte Arm und das rechte
Bein tonisch gestreckt wurden. In der nächsten Phase waren die klonischen
Zuckungen links wesentlich heftiger als rechts und hörten rechts wieder
auf, als links noch starke klonische Zuckungen der Arme und der Beine
bestanden. Gleichzeitig mit dem Aufhören der klonischen Zuckungen links
erfolgte dann als Abschluß des Anfalls eine Linksdrehung des Kopfes.
Diese Anfälle also, untermischt mit seitengleichen epileptischen Anfällen,
traten während einiger Wochen des zweiten Klinikaufenthaltes sehr häufig,
teilweise täglich mehrmals auf. In der anfallsfreien Zeit war H. gereizt, schwer-
besinnlich, mürrisch. Oft perseverierte er während kurzer Unterhaltungen.
die man mit ihm bei der Visite führte, so stark, daß eine eigentliche Ver-
ständigung mit ihm überhaupt unmöglich war. Nach dem Aufhören der
Anfallsserie besserte sich dann der psychische Zustand sehr rasch, das Be-
wußtsein war klar, H. war orientiert, wenn auch eine gewisse Schwerbesinn-
lichkeit nie zu übersehen war. Er war verhältnismäßig zugänglich und freund-
lich und zeigte eine ausgesprochene Untersuchungsbereitschaft. Aus dieser
Zeit seines Hierseins in der Klinik stammen die meisten Untersuchungs-
protokolle. In dieser Zeit wurde H. auch einer Encephalographie unterzogen.
Es wurden lumbal 70 ccm Liquor entnommen. Es fand sich ein mäßig erwei-
tertes Hirnkammersystem, wobei auf der a.p.-Aufnahme der rechte Seiten-
ventrikel deutlich ausgezogen war.
Sonst ergab sich kein krankhafter körperlich-neurologischer Befund. Auf-
fällig war, daß während des Hierseins Lachanfälle, die in früheren Jahren
Über paragrammatische Störungen 27
sehr häufig waren, nicht beobachtet werden konnten und daß Absencen
auch nur gelegentlich auftraten.
Unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Klinik kam es zu Hause
wieder zu heftigen Anfällen und im Zusammenhang damit zu heftigsten Er-
regungszuständen und Bedrohungen seiner Familie, die seine Wiederauf-
nahme in die Klinik nötig machten. Aus äußeren Gründen wurde H. damals
in eine Heilanstalt verlegt, aber jetzt wieder zum Zwecke einer operativen
Freilegung der Stelle, die als fraglicher Ausgangspunkt auf Grund der An-
gaben über die traumatische Schädigung und des encephalographischen Be-
fundes angenommen werden muß, in die Klinik verbracht. Über das Ergebnis
des Eingriffes, der aus äußeren Gründen verschoben werden mußte, werden
wir seinerzeit berichten.
Allgemeines Verhalten
Abgesehen von der Zeit stärkster Verstimmungen, die in deut-
licher Abhängigkeit von den auftretenden Anfallsserien standen,
war das Verhalten des H. auf der Abteilung völlig unauffällig.
Er beteiligte sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und an den
Spaziergängen im Garten. Bei der Visite begrüßte er jedesmal
von sich aus mit freundlichem Gesicht den Arzt. Bei den kleinen
Hausarbeiten der Abteilung half er unaufgefordert mit und erledigte
diese Arbeiten stets mit besonderer Sorgfalt und Gewissenhaftig-
keit. Gelegentlich las er in einer Zeitung, sichtlich mit Verständ-
nis, häufig konnte man ihn beim Skatspielen antreffen. Er spielte
nach dem Urteil seiner Mitspieler (meistens in dieser Kunst erfahre-
ner chronischer Alkoholiker) sehr ordentlich, nicht waghalsıg,
aber unter guter Ausnützung seiner Karte. Aufforderungen, sich
zur Untersuchung beim Arzt einzufinden, oder irgendwelche ande-
ren Aufträge befolgte er stets bereitwillig.
Häufig wurde er zur Untersuchung in ein seiner Abteilung ziem-
lich entfernt liegendes Zimmer in einem anderen Flügel und
Stockwerk des Hauses gebracht. Er merkte sich den Weg, den
er einmal zurückgelegt hatte, prompt, orientierte sich mit Hilfe
einiger markanter Punkte des Weges schon das erstemal so aus-
gezeichnet, daß er den Rückweg völlig selbständig fand. Wurde
er auf diesem Wege oder auf Spaziergängen ım Garten vom Arzt
begleitet, so fing er gerne ein Gespräch an, zeigte sich in solchen
Augenblicken überhaupt immer recht aufgeräumt und interessiert.
Wie sich aus gelegentlichen Fragen ergab, beobachtete er seine
Umgebung, sowohl Menschen wie Dinge, sehr genau, die gering-
sten Veränderungen fielen ihm sofort auf. Wenn sich ein besonders
schöner landschaftlicher Ausblick bot, wenn eine eigentümliche
Abendstimmung, der beginnende Frühling im Garten das Gemüt
gefangen nahm, so wies H. regelmäßig spontan darauf hin und
28 G. Zillig
zeigte sich solchen Eindrücken gegenüber stets besonders empfäng-
lich. In den kurzen Hinweisen, die er gesprächsweise gab, zeigte
sich, daß das Charakteristische einer Stimmung stets richtig und
treffend erfaßt worden war.
Das Sprachverständnis
Die häufigen Prüfungen des Sprachverständnisses ergaben nie
einen Anhaltspunkt dafür, daß bei H. eine Störung des Sprach-
verständnisses vorlag. Geprüft wurde einmal das Verständnis für
Einzelworte (Gegenstände, Körperteile, Farben, Zahlworte), dann
auch das für ganze Sätze und für Wendungen. Es zeigte sich auch
dabei keine Erschwerung des Satzverständnisses. Komplizierte
Aufträge (einen Gegenstand vom Tisch wegnehmen, ihn in ein
anstoßendes Zimmer auf einen bestimmten Platz legen, von dort
einen anderen Gegenstand zur Küche und aus dieser ein Glas
Wasser zurückbringen) erfolgten stets sofort und prompt, in der
richtigen Reihenfolge, ohne daß eine Wiederholung des gegebenen
Auftrages notwendig geworden wäre. Das Nachsprechen von ein-
zelnen Worten und von Wendungen war nicht gestört, beim Nach-
sprechen von längeren Sätzen (über 10 Worte) kam es selten zu
grammatischen Fehlern und zu Auslassungen von Wendungen
innerhalb des Satzes.
Außerdem wurde das grammatische Verständnis durch Kritik
an grammatischen Fehlern geprüft ?).
Es wurden teils mündlich, teils schriftlich, eine Reihe von grammatischen
Fehlbildungen, mit richtigen grammatischen Bildungen untermischt, dem
H. zur Beurteilung vorgelegt. H. hatte die einzelnen Bildungen dann hin-
sichtlich ihrer grammatischen Richtigkeit zu beurteilen. Die Verbesserung
richtig erkannter Fehler wurde im Rahmen einer anderen Versuchsreihe
durchgeführt und wird später besprochen. Folgende Bildungen wurden beim
ersten Hören bzw. Lesen sofort als ‚falsch‘ bezeichnet:
mit den Hund
ich gehe über der Brücke hinüber
ich gehe über dem Lande
als ich ging gestern nach haus
Freude meine war groß sehr
ich ging gestern in den Garten und biß der Hund
ich gung
ich freutete
ich habe dich gelieben
1) Die Versuchsanordnung wurde, auch mit Rücksicht auf die Vergleich-
barkeit der Ergebnisse, teilweise aus der ersten Arbeit von Kleist über den
Paragrammatismus übernommen: Kleist, Über Leitungsaphasie und gram-
matische Störungen, Mschr. Psychiatr. 40, 1916.
Über paragrammatische Störungen 29
Bei richtigen grammatischen Bildungen wurde immer sofort be-
reitwilligst die Richtigkeit anerkannt, falsche dagegen sofort abge-
lehnt. Bei zahlreichen Versuchsanordnungen konnten auch ver-
einzelte Fehler nie beobachtet werden.
Die Sprache der Unterhaltung
In den häufigen, teilweise sehr ausgedehnten Gesprächen bei
Visiten und anderen Gelegenheiten war die Einleitung jeden Ge-
spräches durch die Frage des Arztes nach dem Befinden des Kran-
ken festgelegt. Die stets gleichbleibende Antwort auf diese Frage
war: „immer so ruhig weiter“. Nach näheren Einzelheiten seiner
Beschäftigung gefragt, fuhr H. stets fort: „der ist eben im Garten
gewesen und war spazieren‘, „der hat eben gegessen‘, „der hat
eben bei der Arbeit dem Abteilungspfleger geholfen‘. Die jeweils
letzte ausgeübte Tätigkeit wird in einer kurzen Mitteilung zur
weiteren Einleitung des Gespräches benutzt. In diesen kurzen Rede-
proben zeigt sich schon eine andere der charakteristischen Auf-
fälligkeiten der Spontansprache des H., das Sprechen von sich in
der dritten Person. Diese Sprachgewohnheit wird fast immer fest-
gehalten. Nach dem Grunde gefragt, pflegt er zu sagen: „der meint
sich damit‘, „der redet eben so von sich“. Eine nähere Begründung
für diese eigentümliche Sprechweise war von H. nie zu erlangen.
Zunächst gelang es immer nur mit Mühe, ein Gespräch in Gang
zu bringen. Es bedurfte des dauernden Antreibens des unter-
suchenden Arztes, um den H. überhaupt regelmäßig auf Fragen,
die zunächst gestellt wurden, zu einer sprachlichen Stellungnahme
zu bringen. Seine Antworten waren stets durch auffällige para-
grammatische Bildungen ebenso gekennzeichnet, wie auch der
Einfluß der Perseveration sowohl im Sprachlichen, wie im Ge-
danklichen, immer sehr deutlich hervortrat. Außerdem zeigte sich
gerade im Tempo des Beantwortens der einzelnen Fragen eine
deutliche Verlangsamung, übrigens entsprechend einer allgemeinen
psychomotorischen Verlangsamung. Wir geben im Folgenden die
Probe eines genau mitgeschriebenen Gespräches wieder. Wir be-
schreiben gleichzeitig auch das allgemeine Verhalten bei der
Unterhaltung, soweit das möglich ist, um H. noch näher zu
charakterisieren und sein Verhalten möglichst anschaulich vor
Augen zu führen.
(Datum ?)
„... Datum? ... das wäre heut nachher“ ... (schaut plötzlich einen be-
schriebenen Bogen an, der auf dem Schreibtisch liegt, dreht ihn herum, liest
darin) ...
(Was habe ich Sie denn gefragt?)
30 G. Zillig
„-.. heut wäre dann nachher ... der erste“ ... (schaut dazu immer in
eine Richtung, raucht gemütlich an seiner Zigarre, bläst den Rauch mit sicht-
lichem Vergnügen aus, legt ein Bein über das andere, nimmt dann plötzlich
Papier und Bleistift zur Hand. Das wird ihm wieder wortlos abgenommen).
(Was sind Sie denn gefragt worden ?)
„... ach, was heute für ein Tag wäre... da hängt ja ein Kalender.“ (Er
hat den Wandkalender erblickt, steht jetzt auf, geht zur Wand, an der ein
Kalender hängt, liest schweigend das Datum ab, nickt dann plötzlich mit
dem Kopf, sieht dann zum Fenster hinaus. Dem Einwand, als sei H. nicht
zeitlich richtig orientiert, kann übrigens damit begegnet werden, daß
dieses Verhalten bei H. das Übliche war, erst auf den Kalender zu gucken;
es wurde zwischendurch immer der Kalender zuviel oder zu wenig abgerissen,
H. schüttelte dann jedesmal den Kopf, sagte spontan, das Datum müsse
falsch sein, seines Wissens sei heute der oder jener [immer richtig!].)
(Das ist doch von Ihnen sehr unanständig, daß Sie einfach zum Fenster
hinaussehen und sich nicht um meine Fragen kümmern!)
„Ja, nur ruhig gesagt!“
(Das stört Sie aber darin gar nicht, in Ihrer Unhöflichkeit fortzufahren!)
„Nein.“
(Was habe ich denn nun eigentlich gefragt?)
„Das wäre nachher der Datum von heute ... das wäre nachher Dienstag,
der 15. Februar 1938.“
(Wo sind Sie denn hier?)
„Hier... das wäre nachher Städtische Nervenklinik ... Heinrich-Hoff-
mannstraße 10 ... der Universitätsstadt Frankfurt am Main Heinrich-Hoff-
mannstraße 10.“ (Dabei spricht er alles in einem Ton, ohne Änderung der
Stimmlage, keine Änderung des Tonfalles gegen Ende!)
(Wie lange sind Sie denn jetzt schon hier?)
„Das wäre jetzt gerade ein ganzer Monat ... vom 13. Februar... vom
14. Februar ... vom 14. Januar dieses Jahres ab.“ (Letztes Datum und
Schätzung der Länge des Klinikaufenthaltes richtig!)
Grammatische Störungen der Sprache.
Störung der sprachlichen Darstellung
Prüfen wir zunächst das Sprechen in „gedächtnismäßig festge-
legten grammatischen Wortfolgen‘‘ (Kleist). Das Sprechen von
„Reihen“, Wortfolgen ohne grammatischen Verband, geht sofort
richtig. Das Aufzählen der Monatsnamen, der Wochentage, der
Erdteile, das Zählen der Zahlen nach ihrer Größenordnung, vor-
wärts wie rückwärts, macht keinerlei Schwierigkeiten. Eskam dabei
nie zu irgendwelchen Fehlern.
Anders schon das Sprechen grammatisch verbundener, gedächt-
nısmäßig festgelegter Wortfolgen. Wir geben als Beispiel die Ent-
stellung des Deutschlandliedes durch H.:
„Deutschland, Deutschland über alles
Über alles in der Stadt
wenn keiner sonst bei Bruch und Dalles
auch noch die Fahn gezogen hat.
Über paragrammatische Störungen 31
So sagen wir denn ruhig weiter
der Mann geht fort auch ohn Begleiter
und alles in Erinnerung hat.“
„Nachher fängt es wieder an mit Deutschland, Deutschland über alles.‘‘
Ähnliche Lösungen erfolgen, wenn man die Aufgabe stellt, den
Text eines der bekannteren Volkslieder aufzusagen. Die beste
Wiedergabe, die je erreicht wurde, war die des Horst-Wessel-
Liedes, nachdem die erste Strophe einmal von: Arzt vorgesprochen
worden war.
„Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen ...
in ruhig festem Tritt
Kamraden, die Rotfront in Reaktion erschossen,
marschiern in unseren Reihen auch im Geiste mit ...
Und Buben hinterdrein .. .“
Es handelt sich bei den vorstehenden Beispielen sicher um ein
besonders geartetes Versagen der Darbietung grammatisch ge-
ordneter Reihen. H. hörte diese Lieder zu Hause sehr oft im Radio
und die fehlerhaften Lösungen können nicht aus einer Störung des
im allgemeinen ausgezeichneten Gedächtnisses, sondern nur aus
einem Verlust des Erinnerungsvermögens für grammatisch ge-
ordnete Reihen erklärt werden. Sonst unterscheiden sich die
Darbietungen in keiner Weise von den nun zu besprechenden
sprachlichen Störungen.
Das Ausfüllen des Ebbinghausschen Lückentextes erfolgte prompt
und richtig. Die Aufgabe, falsche grammatische Bildungen nicht
nur zu beurteilen, sondern die Fehler durch richtige Bildungen zu
ersetzen, führte in zahlreichen Fällen zu grammatischen Fehlern,
so bei der Pluralbildung, beim Konjugieren von Zeitwörtern.
Ebenso konnten Aufgaben, wie die einer richtigen Satzbildung
aus fehlerhaft gestellten Wörtern häufig nicht richtig gelöst werden,
obwohl aus den Ergebnissen dieser Versuchsreihen, wie übrigens
auch aus der Lösung des Ebbinghaus-Textes einwandfrei hervor-
ging, daß H. durchaus imstande war, den Sinn eines Satzes auch
bei falscher oder teilweise fehlender Wortfolge des zu verbessern-
den Textes richtig zu erkennen.
Die eigentümliche Form der sprachlichen Darstellung wird
deutlich ersichtlich, wenn man die Lösungen bestimmter sprach-
licher Aufgaben genauer untersucht. Wenn auch die Qualität der
Leistungen in Graden schwankt, sowohl in relativ guten, wie in
relativ schlechten Lösungen lassen sich die charakteristischen
Fehler immer wieder aufdecken. Wir geben als Beispiel hier die
beste und die schlechteste Schilderung seiner Verwundung. Die
32 G. Zillig
beiden Darstellungen wurden aus etwa zehn gegebenen ausge-
wählt.
(Weshalb sind Sie denn hierher gekommen ?)
„Wegen Schädelverletzung.“
(Erzählen Sie doch etwas ausführlicher!)
„Das ist eine Kriegerverletzung ... vom Kopf und nachher auch von der
Hand ... und deswegen nachher da... ist da... weil das nachher anhält...
und dadurch nachher eine innere Verletzung ... was hier oben ist nachher ...
da hätte man hier oben nachher die Verletzung am Schädel nachher“ (deutet
auf die Gegend des linken Scheitelbeines) ... ‚und nachher der Durchschuß
auch an der Hand ...“
(Wie ist denn das alles vor sich gegangen ?)
„Wie das vorkommt nachher ... wenn man das dann alles nachhause
hat... wenn man zuhaus ist und das plötzlich passiert da... daß die Krampf-
zustände plötzlich entstehen da... und jemand zuspringt ... die Frau oder
das Kind ... und die Erregungszustände dann eintreten da ... und dahin
wirken nachher ... daß es nachher heißt ...‘“ (plötzlich mit veränderter
Stimme) ‚Sie haben einen Anfall“ ... (jetzt wieder mit der monotonen Er-
zählstimme) ‚‚der dahin wirkt... daß die Zustände, die eintreten ... wirkend
sind auf Kopf und Nerven... die dahin wirken, daß es heißt ... Erregungs-
zustände kommen vor, wenn das und das durchgehalten wird ... und keine
Besserungen eintreten in dem Sinne ... daß für kommende Zeiten auch auf
Besserungen gewartet wird ...‘“ (an dieser Stelle wird die Stimme des H.
zum erstenmal gesenkt, wie das dem Abschluß eines Satzes entsprechen würde.
Es geht dann nach kurzer Zeit wieder unvermittelt weiter in völlig gleichmäßigem
Ton ohne Absinken oder Ansteigen der Stimme) ... ‚muß geholfen werden
durch ärztliche Bestrahlung und innere Wirkung ... durch Tabletten ...
und sonstwie ... ob das jetzt nachher sind ... durch Gaben nicht ... die
durch Nerven sind ... oder direkte Erregungszustände, die eintreten, wenn
jemand gar nichts hätte ... wenn jemand dies und das zutage führt ...
für das nicht gearbeitet wird ... das heißt nachher in dem Sinn wer seine
Tabletten einnimmt ... und demgemäß wirken läßt ... daß Kraft zutage
tritt... und Tagesfragen demgemäß gestellt werden ... die Opfer an den
Tag bringen ... die so aussehen ... daß demgemäß Lichter... Tageslichter
sagen wir... und sonstige Zustände ... nicht gebildet werden ... welche
rückwirkend oder die rückwirkend sind ... auf das öffentliche Leben ...
das man hat und weiterhält ... sich gestalten können ... um rückwirkend
zu sein ... auf menschliche Tagesfragen welche zustande kommen ... und
Unfälle an den Tag bringen ... und nachher heißt es dann noch ... wie soll
man da sagen geschlechtliches Leben ... aber von Erschrecken keine Spur
... daß man da Angst hätte ... wie soll man das nur weiter angeben .. .“
(plötzlich auf den Arzt anspielend, der eben im Begriff ist, auf seinem Notiz-
block eine Seite umzuwenden) ‚so wird die ganze Seite nachher noch voll...
was da alles entstehen kann .. .“‘ (an dieser Stelle wieder Senkung der Stimme,
wie beim Anschluß eines Absatzes und längere Pause). ... „Jetzt weiter...
das wäre bei Anfällen die auftreten ... nachher geht das dann weiter
dahin zu wirken ... daß nur geschlechtliche Erlebnisse ... dahingehen und
. es dahin erklären ... daß Angst und Zustände entstehen ... welche
nicht zur Tat sondern zu Umständen führen ... sondern nur zu Umständen
und Verhältnissen führen ... die zu Angst und Erregung führen ... und
Über paragrammatische Störungen 33
nachher weiter... was soll man nachher sagen .. .“ (Hier wieder Stimmsen-
kung. Für den Augenblick vom Beginn dieser ‚‚Darstellung seines Verletzungs-
hergangs“‘ bis zum Abschluß werden 13 Minuten benötigt, weil die durch Punkte
angedeuteten Pausen zwischen einzelnen Satzbruchstücken gegen Ende zu immer
länger geworden sind.)
Aufgefordert, den Grund hierfür nochmals schriftlich wiederzu-
geben, daß er hier in die Klinik gebracht worden ist, schreibt er
ziemlich fließend Folgendes mit peinlich ordentlicher Schrift nieder:
„Der Umstand der Sache und Geschichte ist derselbe hierher kam man
durch die Verletzung am Kopfe und keine Verletzung an der Hand oder innere
Verletzung am Körper selbst. Oder Bluterguß, der Entstanden wäre um
einen Anfall zum Entstehen bringen zu können, welche dann dazu hilft um zu
Andern damit helfen kann um noch andere Mittel zum Schaden zu führen.
Am Besten ist die Sache man hilft durch entstehen der plötzlichen Eintritt
der Ursache die momentan eintritt und das Er zeugt was Zutage tritt und dem-
zufolge gibt; was nicht im erscheinen ist und Erzeugung gibt nach allen Seiten.“
(Nachdem H. das Geschriebene durchgelesen und an einer Stelle eine gram-
matische Konstruktion verbessert hatte in ‚‚des plötzlichen Eintrits der Ur-
sache‘‘, sagte er:)
„Das heißt nachher obenhin und wenns durch Zuckungen dann unter-
drückt ... Lesen Sie es auch nochmals durch ... damit Sie dann den An-
halt haben ... so muß man eben die Ordnung haben ... so schreibt man
auch alls zuhaus.“
Sowohl das Gesprochene, wie das Geschriebene wirkt, inhalt-
lich betrachtet, auf den ersten Blick völlig unverständlich. Bei
näherem Zusehen findet sich jedoch, daß das Thema, über das
sich H. äußern soll, immer wieder anklingt, wenn auch die ent-
scheidenden Worte unter einem sprachlichen Wust verborgen sind,
der grammatisch völlig regellos zusammengesetzt scheint. Aller-
dings finden wir gewisse Wendungen und Satzschemen, sowohl
was Grammatisches, als auch was Inhaltliches anlangt, immer
wieder benutzt. Aber die Bruchstücke einzelner Sätze werden
völlig regellos, häufig an unmöglichen Stellen durch eine Gleich-
stellung (Und-Verbindung) aneinandergereiht. Den Störungen der
Satzmelodie, der musischen Elemente der Sprache, auf die tell-
weise hingewiesen wurde und die später eine gesonderte Bespre-
chung erfahren sollen, entspricht in der schriftlichen Darstellung
ein fast völliger Mangel an Interpunktion und Fehler im Groß- und
Kleinschreiben der Wörter, während orthographische Fehler sonst
nicht vorkommen. Auf die Rolle der Perseveration in den sprach-
lichen Störungen muß auch hier noch einmal besonders verwiesen
werden.
Im folgenden noch die sprachlich und darstellungsmäßig beste
Erzählung seiner Verwundung, bzw. der Gründe seiner Einbrin-
gung in die Nervenklinik.
3 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1:3.
34 G. Zillig
„Wo...am Kopfe... weil das verschiedene Ecken sind ... von Länder-
strecken ... von Bezeichnungen ... was 1916 bei Verdun passiert ist ...
ist eine Verwundung durch Sprengkörper an der Schädeldecke hier oben ...
in dem Sinn ... die geschah in dem Sinn ... ein Kamerad der rief ‚Hartung‘
. ‚willst Du einmal herkommen, wir wollen uns mal unterhalten über
Wiesbaden ... und nimm doch Deinen Stahlhelm ab... den Du ans Seiten-
gewehr hänken kannst‘ ... beim Herausnehmen der Mütze geschah die Ver-
wundung durch Auffliegen eines Sprengkörpers in Taubeneigröße ... und
das Blut lief die Stirne herunter... in dem Sinn ... daß die Sanitäter sofort
zur Stelle waren ... nachher gings weiter ... die Sanitäter führten einem
zurück in das Unterstandslager ... wo man auf die Bärenhaut gelegt wurde
... da hat es keine Matrazen gegeben ... und man dann nachher eine Woche
liegen blieb ... bis man gesund war ... und wieder entlassen wurde ...
soll man es noch weiter erzählen‘‘ (das Letzte plötzlich als richtiger Fragesatz
gesprochen mit richtiger Fragesatzmelodie!) ... „und nach zehn Tagen in die
vordere Stellung wieder gebracht wurde ... wo man wieder bei Besinnung
war ... und wo man ruhig seinen Dienst versah ... als wenn einem nichts
geschah ... alls noch weiter?“ (wieder kurzer Fragesatz!) ... „der ruhig in
den vorderen Ständen so geregelt wurde... daß jeder der eine Verwundung
hatte keinen Nachtdienst machte sondern nur tagsüber in den Herbsttagen
ausgeführt wurde ... zwei Stunden Dienstzeit sechs Stunden Ruhe ...
und nachher nochmals zwei Stunden Dienstzeit und wieder sechs Stunden
Ruhe ... von mehreren Kameraden abgelöst wurde ... bis die Wache der
Kameradschaft erledigt war ... und keinem Sorge machte ... das wäre
das nachher gewesen‘‘ (an dieser Stelle Heruntergehen mit der Stimme wie
beim Satzschluß).
Diese Darstellung gibt ein absolut klareres Bild von dem Grund
der Klinikaufnahme und dem Hergang der Verwundung. Wir ver-
weisen hier auf die eigentümliche absolut konkrete Art der Dar-
stellung, die Wiedergabe des Gespräches in der direkten Form,
die genaue Angabe des Gesprächsthemas zur Zeit der Verwundung.
Wir kommen auf die auffällige Konkretheit der Darstellung, ebenso
wie auf die nicht selten auftauchenden ungewöhnlichen Ver-
wendungen von Wörtern in einem bestimmten Zusammenhang und
sonstige Auffälligkeiten der Wortwahl und der Wortneubildung
später ausführlich zurück.
Die musischen Störungen der Sprache. Amusie
Wir haben im vorhergehenden schon auf eigentümliche Störun-
gen der Sprachmelodie hingewiesen, die in Zusammenhang mit
anderen musischen Störungen der Sprache und mit der Frage der
Amusie des H. überhaupt hier zusammenhängend besprochen
werden soll.
Die Sprachmelodie war völlig gestört. H. sprach immer in
derselben Tonhöhe, ein Abfallen der Stimme zu Ende eines Satzes,
ein geringeres Senken der Stimme vor einem Nebensatz trat ebenso
Über paragrammatische Störungen 35
wenig ein, wie — von Ausnahmen abgesehen — ein Ansteigen der
Stimme bei einem Fragesatz. Wir werden uns bei der grammatisch
völlig regellosen Sprache des H. darüber nicht wundern. Wie ein-
zelne Satzglieder häufig durch eine völlig unsinnige und logisch
wie grammatisch unmögliche Und-Konstruktion zusammengehal-
ten sind, so auch durch Beibehaltung der Tonhöhe durch zahl-
reiche Wendungen hindurch. Das gelegentliche Absinken der Ton-
höhe, wenn H. mit sprachlichen Produktionen vorübergehend oder
ganz aufhörte, hatte weder im Logischen, noch in der Satzkon-
struktion eine Begründung.
Das Sprachtempo war oft gegenüber der Norm verlangsamt,
die Pausen traten jeweils am Ende der mehr oder weniger umfang-
reichen Wendungen auf, meistens vor einem „und‘“.
Diesen Störungen der musischen Elemente der Sprache ent-
sprechen solche der Schrift; häufig werden Wendungen ohne Inter-
punktionen aneinandergereiht, einzelne Interpunktionen verwech-
selt oder an eine falsche Stelle gesetzt. Im allgemeinen werden auch
Hauptwörter klein geschrieben. Zwischendurch erfolgt einmal
der Wortanfang nach einem richtig oder falsch gesetzten Punkt
mit einem großen Buchstaben, oder eine Präposition mitten im
Satz wird plötzlich mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.
Eine Untersuchung des H. mit den Methoden der Experimental-
phonetik, die sicher in diesem Fall besonders aufschlußreich ge-
wesen wäre, war aus äußeren Gründen unmöglich, so daß wir
mit der relativ groben Methode des Abhörens von Wortfolgen
hinsichtlich ihrer Sprachmelodie und des schlichten Beschreibens
dieser Beobachtungen auszukommen hatten.
Es mag der Ausdruck einer wenigstens teilweisen Wahrnehmung
dieser musischen Defekte und ein Versuch ihrer Kompensation
sein, wenn sich bei H. die Neigung, zu einer neuen Ordnung und
Gliederung seiner sprachlichen Produkte zu kommen, darin aus-
drückt, daß häufig mit Hilfe von äußerlichen Klangähnlichkeiten
einzelner Wendungen eine Neugliederung der sprachlichen Produkte
versucht wird, und zwar nicht mehr im Rahmen des Inhaltlich-
Logischen, sondern auf dem Weg über eine Rythmusangleichung
einzelner Wendungen und auf dem Weg über den Reim. So jeden-
falls erklären wir uns die ausgesprochene Neigung zu Reimereien.
Bei der Erklärung des Sprichwortes ‚Morgenstund hat Gold im Mund“
sagt H.:
z „Sonnenschein im Morgengraun
wo manche in die Ferne schaun
und dabei denken und dann tun
was andern schafft dann Arbeit und auch Ruhm.“
s
36 G. Zillig
Zum Sprichwort: ‚Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ „dichtet‘“ H.:
„Wer durch die Straßen geht
den Apfel an dem Baume seht
dabei das Kind hat in der Hand
und geht noch übers Land
dasselbe tut er seine Pflicht
und denkt an andere Leute nicht.“
Es interessiert uns in diesem Zusammenhang nur die Frage
nach dem Grund für die Reimerei, nicht etwa die inhaltlichen Stö-
rungen dieser „dichterischen Produkte‘, die in anderem Zusammen-
hang, wie bei der Besprechung des eigentümlichen Konkreten in
der Deutung der Sprichwörter und bei der Besprechung der Be-
deutung des Konkreten überhaupt eine eingehendere Beleuchtung
finden sollen.
Hier sollen noch einige kurze Bemerkungen über sonstige amu-
sische Störungen bei H. angeschlossen werden. Es muß hier zu-
nächst nachgetragen werden, daß H. von jeher sehr musikliebend
und musikinteressiert war. Er hat die bekannteren Opern zum
Teil mehrmals gesehen und gehört, früher Mandoline und Mund-
harmonika gespielt und auch nach dem Zeugnis seiner Frau sehr
gerne und gut gesungen. Er selber bemerkte, daß er seit einigen
Jahren nicht mehr so gut singen konnte und ‚‚daß es für die anderen
immer falsch klang“.
Wenden wir uns zunächst einer Untersuchung der Rhythmus-
sinnstörung zu, so müssen impressive und expressive Störungen
unterschieden werden. Während H. durchaus imstande ist, ryth-
mische Gestalten (verschiedene vorgeklopfte Rythmen) zu unter-
scheiden und ihre Gleichartigkeit bzw. Verschiedenartigkeit fest-
zustellen, ist es ihm unmöglich, kompliziertere vorgeklopfte
Rythmen nachzuklopfen. Schon bei einfachen rythmischen Ge-
stalten traten in der Ausführung gelegentliche Fehler auf.
Ähnlich fand sich auch eine expressive Störung bei der Nach-
bildung melodischer Gestalten (Nachsingen von Liedern) und bei
dem Singen von Melodien aus der Erinnerung. Bei Versuchen, die
Melodie bekannter Lieder (mit oder ohne Text) zu singen oder
zu summen, gelang häufig noch das richtige Auffinden einzelner,
zu dem Lied gehöriger melodischer Wendungen, aber die gesamte
Liedgestalt konnte nicht zusammenhängend reproduziert werden.
So gelang beim Singen des Deutschlandliedes immer wieder die
melodische Wendung bei der letzten Wiederholung des Deutsch-
land, Deutschland, über alles (c—h—h—a—g ... a—g—g—f—e
...), ohne daß sonstige melodische Wendungen auftauchten. Die
Perseveration spielt hierbei sicher, wenn erst einmal eine Teil-
Über paragrammatische Störungen 37
komponente aufgetaucht ist, in der Verhinderung eines entspre-
chenden Weiterschreitens und in der Fixierung auf das zunächst
Produzierte ebenso wie im Sprachlichen eine bedeutende Rolle.
Dabei war H. jederzeit durchaus imstande, Fehler in vorgesunge-
nen Volksliedern, sowie selbstverständlich diese selbst, sofort richtig
zu erkennen und außerdem einzelne Liedwendungen sofort richtig
dem entsprechenden Lied zuzuordnen (selbstverständlich bei Sum-
men der Melodie, so daß ein Erkennen und Zuordnen nach dem
Text ausgeschlossen war).
Das Nacherzählen von Geschichten
Es scheint uns von besonderem Interesse, wie sich H. einem
sprachlich gegliederten Text gegenüber verhält, den er nacherzäh-
len soll. Die Fabel vom Fuchs und vom Raben wurde mehrmals
erzählt und dem H. dann die Aufgabe gestellt, sie nachzuerzählen.
(Erste mündliche Wiedergabe nach mehrmaligem Erzählen der Fabel:)
„Ein Rabe saß auf einem Baum und hatte einen Käse im Schnabel.
Unter dem Baum saß ein Fuchs, der den Raben sah und sagte: ‚Rabe, Du
kannst doch so schön singen!‘ Der Rabe hatte den Käse im Schnabel und
sperrte ihn auf und ließ ihn fallen... der Fuchs sah den Käse, schnappte
ihn und konnte damit so schön flüchten ... der Fuchs schnappte den Käse
und lief davon.“
Es zeigt sich, daß H. die Fabel rasch gelernt hat. Er hält sich
ın der Wiedergabe ziemlich genau an den Wortlaut, einmal wird
das Pronomen falsch bezogen, was zu einem sinnstörenden Fehler
führt (der Rabe hatte den Käse im Schnabel und sperrte ihn auf:
nicht den Käse, entsprechend der grammatischen Konstruktion
sondern den Schnabel!). Die beiden letzten Sätze geben denselben
Sachverhalt nur mit jeweils etwas verschiedenen Worten wieder.
Dabei ist die zweite Lösung die im Wortlaut der vorerzählten Ge-
schichte mehr angeglichene. Auch in anderem Zusammenhang zeigt
sich beim Nacherzählen immer wieder das Korrekturbedürfnis
einzelner Sätze oder Wendungen.
(Anschließende schriftliche Wiedergabe der Fabel ohne neue Exposition:)
„Ein Rabe hatte einen Käse im Schnabel. Ein Fuchs saß unter dem Baum
und sah den Rabe (!) mit dem Käse im Schnabel und der Fuchs sagte ‚Du
Rabe kannst doch so schön singen‘. Der Rabe ließ den Käse aus dem Schnabel
fallen. Der Fuchs nahm den gefallenen Käse unter dem Bauırn lief davon
oder flüchtete.‘
Die Leistung hat sich bereits verschlechtert. Es gehen Sätze in-
einander über ohne Abtrennung durch entsprechende Interpunk-
tion. Es erfolgen Umstellungen innerhalb der einzelnen Sätze. Übri-
gens war die Sprachinelodie bei der ersten mündlichen Darstellung
38 G. Zillig
der Geschichte nicht so stark gestört, wie gewöhnlich sonst in der
sprachlichen Darstellung. Sie ahmte allerdings etwas übertrieben
die absichtlich sehr ausgeprägt gesprochene Sprachmelodie bei
der Exposition der Fabel durch den Arzt weitgehend sklavisch
nach.
(Unmittelbar nachher soll H. die Fabel nochmals niederschreiben. Er
schreibt :)
„Ein Rabe hatte einen Käse im Schnabel auf dem Baume. Ein Fuchs sah
das unter dem Baume zu und sagte der Rabe kann doch so schön singen;
der Rabe ließ den Käse fallen und den Fuchs schnappte sich den Käse und
lief davon.“
(Darstellung der Fabel am nächsten Tag ohne neuerliche Exposition.)
„Naja... das ist so nachher gedacht ... auf einem Baum saß ein Vogel
oder ein Rabe nachher ... der hatte einen Käse im Schnabel ... unter dem
Baum saß ein Fuchs ... der den Käse haben möchte ... er dem Raben zu-
sprach so schön singen können ... der Rabe den Käse fallen ließ ... der
Fuchs ihn aufnahm und verschwand ... und damit in die Ferne verschwand
... kehrte nicht mehr zurück ... der Rabe sich geschützt fühlte ... und
ruhig weiter sang.“
Die Sprachmelodie hat sich jetzt wieder sehr verschlechtert. Die
Leistung verliert immer mehr, sowohl was die Wiedergabe des
Sachverhalts anlangt, als auch was die grammatische Form be-
trifft. Die zunehmende Verschlechterung der Leistung ist ein Aus-
druck des allmählichen Entschwindens der geprägten Form der
Geschichte. Mit dem Abblassen des weitgehend durch den Wort-
klang bestimmten Erinnerungsbildes der Fabel, wenn es zu einer
eigenen Verarbeitung des Sachverhaltes kommen soll, wird die
darstellende Leistung schlechter.
Die Leistung verschlechtert sich jedoch noch wesentlich, wenn
H. veranlaßt wird, das Wesentliche der Geschichte kurz wieder-
zugeben, wenn er die bisher in der erzählten Fabel vorgegebene
Form nicht mehr benutzen und sich in der Darstellung nicht mehr
an eine vorgegebene Form anschließen soll. Wir geben aus den
Untersuchungsprotokollen ein darauf bezügliches Gespräch hier
wieder.
(Was ist der Sinn der Geschichte von Fuchs und Rabe?)
„Die ist in Erinnerung zu bringen ... jetzt kommt es nur darauf an, wie
Sie es haben wollen.‘
(Wonach habe ich Sie eben gefragt?)
„Was der Sinn der Geschichte wäre.“
(Wie heißt man denn eine solche Geschichte überhaupt?)
„Naturgeschichte ... kennt nur jenes ... der in den Wald und in die
Felder geht ... und der nicht immer daheim sitzen bleibt ... was nachher
der Sinn der Geschichte ist ... der Käse ... den der Rabe hielt und der
Fuchs nahm und verschwand damit ... das wäre nachher kurz ...“
(Wie heißt man denn nun eine solche Geschichte?)
Über paragrammatische Störungen 39
„Das ist Naturgeschichte.“
(Nein, Sprichwort, Märchen, Fabel?)
„Bei mir ist das mehr eine Fabel nachher.“
(Was ist eine Fabel?)
„Eine Fabel ist, wer älteren Sinn und ältere Wirkung hat.“
(Ja, eine Fabel hat einen Sinn!)
„Was Motto heißt nachher.“
(Wie ist denn nun das Motto der Geschichte?)
„Gestohlener Käse auch seine Wirkung hat... wenn es der Fuchs braucht.
und der Rab gestohlen hat.“
(Hat diese Geschichte denn eine Beziehung zum menschlichen Leben?)
„Wenn er einen Motto nimmt das dahin wirkt und Sinn hat... wie es
so eigene Motto gibt nachher ... eigener Herd ist Goldes wert.“
(Wenn man eine menschliche Eigenschaft zum Vergleich herbeiziehen
wollte, wie hat sich denn dann der Fuchs dem Raben gegenüber verhalten ?)
„Das ist gerade wie ein Mensch nachher ... wenn er jemand so sieht nach-
her und aus dem Fenster schaut ... und so im Leben als Bekannter gilt...
und nachher das nur willt.... will . .. das sollte nur willt heißen .... weil man
das mit t nimmt nachher.“
(Der Fuchs ist schlau und der Rabe?)
„Der nimmts genau ... damit in der Endung kein Unterschied ent-
steht ... er genommenes Gut einfach fallen läßt ...
der Fuchs faßts an und ißt genau
und rechnet dies dann an für schlau
wenn er den Käs nicht nimmt
und in die Weite rennt ...
(Die letzten vier Zeilen werden rhythmisch, in Form eines Gedichtes gesprochen.)
(Der Fuchs ist schlau und der Rabe dumm und eitel!)
„Ja, das könnte man nachher richtig sagen.“
Es fällt auf, daß H. sofort, wenn ihm der richtige Sachverhalt
geboten wird, unter den Zeichen lebhafter Zustimmung diesen als
die richtige Lösung anerkennt. Außerdem — und das wurde bei
Sprichworterklärungen und Beantworten von Unterschiedsfragen
ebenso wie beim Erklären des Sinnes einer Geschichte immer wieder
gefunden — scheint es H. völlig unmöglich zu sein, von sich aus
zu einer Lösung vorzustoßen. Die Rolle, die dabei eine gewisse
Störung der Wortfindung bzw. eine Denkstörung spielt, soll später
besprochen werden. Wir verweisen außerdem hier darauf, daß es
H. häufig nur sehr schwer gelingt, sich von einer ursprünglich
sehr bildhaften Betrachtung lösen zu lassen und eine übertragene
Bedeutung zu verstehen. Wir kommen darauf zurück.
Intelligenzstörung oder Sprachstörung?
Vor allem scheint es uns jetzt an der Zeit, auf irgendeine Weise
den Versuch einer Klärung zu unternehmen, ob bei H. denn nicht
schließlich auch eine Intelligenzstörung vorliegt, eine Störung im
Erfassen von Zusammenhängen, oder ob es sich erweisen läßt,
40 G. Zillig
daß die Störung sich nur auf das Sprachliche beschränkt und das
eigentliche Sinnverständnis und das produktive Denken verschont.
Diese Fragestellung verlangt die Anwendung einer Arbeits-
weise in der Untersuchung, bei der einesteils die Sinnerfassung
durch außersprachliche Aufgaben geprüft werden kann, bei der
andrerseits jederzeit nachprüfbar ist, inwieweit bei richtig erfaß-
tem Sinn die sprachliche Darstellung versagt. Wir benutzten als
außersprachliche Aufgabe, die uns geeignet erschien, diese, eine
Bilderserie (ausgeschnittene Einzelbilder aus Münchener Bilder-
bogen) so zu legen, daß die jeweils charakteristischen Ausschnitte
einer Handlung, auf je einem Bild dargestellt, in der richtigen
Reihenfolge zusammengelegt, eine zusammenhängende Geschichte
ergaben. Hatte H. durch Legen in der richtigen Reihenfolge be-
wiesen, daß er den Vorgang verstanden hatte, dann bekam er den
Auftrag zur sprachlichen Darstellung. Wir teilen im folgenden das
Untersuchungsprotokoll der „Wurstgeschichte‘“ mit.
(H. besieht sich zunächst jedes einzelne der acht Bilder sehr genau, von
allen Seiten, nimmt einzelne Bilder mehrmals auf, vergleicht immer wieder,
legt dann die acht Bilder in der richtigen Reihenfolge, sagt dann, nachdem er
seine Leistung nochmals überprüft hat, ‚das wäre also nachher die ganze
Geschichte richtig“. Nun bekommt er die Aufforderung, den Hergang der
Geschichte zu erzählen.)
„Ein Metzgerbursche trag (!) auf dem Kopf hundert Rindswürstchen ...
ein Mann der mit dem Hunde kam... das Bild sich auf die Straße nahm...
beim Überqueren über die Straße nach der anderen Seite fünf Würstchen
nach dem Erdboden fielen ... soll man den Namen mit dem Hund angeben ?
... als Dackel oder wie ... oder soll man sagen ... ein Hund ... der das
sah ... der Hund der eine halbe Rindswurst schnappte ... der Mann der
das merkte ... ihn an der Leine zerrte und ihn verschiedene auswischen
wollte... beim Drehen die Rindswürstchen sich um seinen Körper legten
... der Verkehrspolizist ... die Polizei das wahrnahm ... oder so und mit
dem Säbel dazwischenfuhr ... der Hund sich losriß und davon eilte ...
ob das jetzt vor Schrecken war das weiß ich auch nicht... der Metzgerbursche
mit dem Kübel durch das Dazwischentreten der Polizei nach rechts und der
Mann dem Hunde nacheilte nach links ... jetzt ist die Polizei wieder an
ihren Ort gegangen als Verkehrspolizist ... das wäre nachher das Ende der
Geschichte ... .“
Während H. im allgemeinen sofort den Bildzusammenhang
erfaßt hatte, kam es bei den verschiedensten Prüfungen nur in
einem einzigen Fall zu einer erheblichen Mißdeutung des Bildes:
H. sollte das bekannte Binetbild Nr. 1 (Blindekuh) erklären. Dabei
wurde eine Abbildung benutzt, bei der sich in der linken Bildseite
ein Tintenfleck von Linsengröße und der Form einer Birne befand.
H. betrachtete dieses Bild lange von allen Seiten, hielt es gegen
das Licht, deutete wortlos auf den schwarzen Tintenfleck, legte
Über paragrammatische Störungen 41
es dann endlich nach längerem Betrachten wieder weg. Er erklärte
dann auf mehrmalige Aufforderung hin, zu dem Bilde Stellung zu
nehmen:
„Ein Streit der in der Familie entstanden ist... als man bei jungen Leuten
eine Birne fand ... die dahin fiel auf den Boden‘ (deutet bei ‚‚Birne‘‘ auf
den Tintenfleck) ... „am Kaffeenachmittag oder Vesper... der Vater fühlte
auch sich nicht der beste... mit den verbundenen Augen ... die Kaffee-
tasse in der Hand sich er dann an die junge Tochter wand ...“
H. hielt dann auch bei weiteren Fragen daran fest, daß es sich
um einen Streit in der Familie handele. H. hatte einen Tag vor
dieser Untersuchung einen epileptischen Anfall. Wenn auch am
Tage nachher, als die Untersuchung vorgenommen wurde, eine
deutliche Bewußtseinstrübung klinisch nicht mehr nachweisbar
war, so scheint doch die Mißdeutung des Bildes als ‚Streit‘ —
übrigens ein sehr häufiger Deutungsfehler — durch die Annahme
einer solchen Bewußtseinstrübung, wenn auch sehr leichten Grades,
verständlich und mit sonstigen klinischen Erfahrungen überein-
stimmend.
Die Mißdeutung des Tintenflecks als „Birne‘‘, eine reine Er-
fassung der Form nach und seine Einbeziehung in das Bildgeschehen
mag der Ausdruck einerStörung des Figur-Hintergrund-Erlebens im
Sinne von Goldstein sein. Dieser Fehler, wie ähnliche sonst nicht
beobachtet wurden, mag in seinem Zustandekommen an die Voraus-
setzung einer leichtesten Bewußtseinstrübung geknüpft sein —
der Art nach handelt es sich um eine Störung, die ihre Entspre-
chung in den noch mitzuteilenden Störungen der Wortfindung hat.
Die Lösung anderer außersprachlicher Aufgaben
Wir sahen im Vorausgehenden, daß bei einer Aufgabe, die Mög-
lichkeiten sowohl zu einer sprachlichen wie einer außersprach-
lichen Lösung gibt, die außersprachliche Leistung eine intelligente
Verarbeitung der Aufgabe beweist, während die sprachliche Lei-
stung zwar zeigt, daß der Zusammenhang erfaßt ist, die Art der
Darstellung aber absolut mangelhaft bleibt.
Es sollen hier noch Ergebnisse von außersprachlichen Prüfungen
mitgeteilt werden, die einen Rückschluß auf die Intelligenz, bzw.
ihre Störungen oder die Störungen von Teilfunktionen gestatten.
Kopfrechenaufgaben wurden prompt und ohne Schwierigkeiten
richtig gelöst, auch Multiplikations- und Divisionsaufgaben aus
dem Bereich des großen Einmaleins. Besonders rasch wurden
auch größere Additions- und Subtraktionsaufgaben gelöst. Sie
benötigten wesentlich weniger Zeit als selbst bedeutend leichtere
Multiplikations- und Divisionsaufgaben. Ebenso wurden schrift-
42 G. Zillig
liche Rechenaufgaben prompt und richtig gelöst (z. B. 918 539,
6428:71, 8467 + 16384, 8429 — 3573).
Textaufgaben wurden richtig angesetzt. So machte die Auf-
gabe, wie lange ein Flugzeug zu einem Weg von 1000 km bei
einer Stundengeschwindigkeit von 240 km/h brauche, ebenso wie
ähnliche Aufgaben, keine Schwierigkeiten.
Für das Bestehen irgendwelcher apraktischer Störungen ließ
sich nie der geringste Anhaltspunkt finden: alle Prüfungen auf
innervatorische, ideokinetische, ideatorische und konstruktive
Apraxie ergaben nie irgendwelche Versager. Ebenso fand sich nie
eine Störung der Rechts-Links-Orientierung. Auch ganz kompli-
zierte Aufträge, wie von einer Grundstellung mit verschränkten
Armen ausgehend, Körperteile an einer gegenüberstehenden Person
zu zeigen, wurden stets richtig und auffallend prompt gelöst.
Ebenso fanden sich keine Störungen der Körperorientierung und
keine fingeragnostischen Störungen. Gedächtnis und Merkfähig-
keit erwiesen sich bei häufiger Prüfung als nicht gestört.
Wortfindung.
Konkretisierung und Bildhaftigkeit des Denkens
Die Wortfindung wurde so geprüft, daß H. die Namen der Ge-
genstände nennen sollte, die ihm gezeigt wurden. Es ließ sich
immer der Nachweis erbringen, daß H. die Gegenstände sicher
richtig erkannt hatte. In sehr vielen Fällen wurden die gezeigten
Gegenstände sofort auch richtig benannt. Häufig kam es aber auch
zu Fehlern, deren wir zunächst einige mitteilen wollen.
Dose: „Wollen wir sagen Vaselineschachtel ... oder ist das für Puder‘‘.
Prüfungstafel für Normalsichtigkeit: „An der Wand Zahlen für Augen-
ferne ... wer gerade ein Fernglas gewöhnt der weiß es gleich“.
Stecknadel: ‚Nadel mit rundem Kopf ... soll ich die Größe angeben ...
wie ein Pfefferkorn‘“.
Federhalter: ‚Grüner Halter mit Feder für schräge Stellung“.
Locher: ‚Soll man es Drucker nennen ... Steckapparat ... für Be-
festigungen der Papiere in der Mappe ... mit Messingband und Stahlband-
schutz ... daß es nicht herausgeht ... Steckerdrückerapparat ... oder soll
man Lochapparat oder einfach Locher sagen“.
Hörrohr: ‚Medizinisches Rohr ... für Rücken und Brust ... soll man da
sagen ... Bewegung oder Herztätigkeit‘“.
Hörrohrmuschel: ‚Das ist die Aufnahme ... die Muschelbildung für den
Körper“.
Löscher: „Ein Apparat mit Löschpapier ... Halbkreisformat und rundem
Knopf ... aus Stahlband und innerlichem Verschluß bei verbrauchtem
Löschpapier .. .“.
Farben wurden stets richtig bezeichnet, wie sie auch richtig sor-
tiert wurden.
Über paragrammatische Störungen 43
Diese Fehler zeigen alle ein Charakteristikum: es erfolgen weit-
schweifige, sinnentsprechende Umschreibungen des Gegenstandes,
zum Teil mit „verbalen Paraphasien‘‘, die aber ebenso wieder das
Charakteristische zeigen, daß sie zwar in ihrer Bildung sprachlich
ungewöhnlich sind, nicht dem Sprachgebrauch entsprechen,
aber doch durchaus den Sinn widerspiegeln. Sie erscheinen ad hoc
erfunden und erinnern an gewisse schizophrene Wortneubildungen
und Wortauffälligkeiten.
Versuchen wir diese besondere Art der Wortfindungsstörung zu
verstehen! Die überkommenen Begriffe sind zu weit, zu allge-
mein, der vorliegende Gegenstand wird sprachlich im Sprach-
empfinden des H. nicht mehr genügend durch den überkommenen
Ausdruck repräsentiert, eine genauere sprachliche Ausdrucksweise
ist zur Kennzeichnung dieses bestimmten Dinges erforderlich,
nicht die Gattung, sondern dieses bestimmte Ding soll sprachlich
erläutert und festgelegt werden.
Nun verstehen wir auch die eigentümliche Neigung zu ganz
konkreten Angaben ebenso, wie die häufig bildhafte Verwendung
mancher Präpositionen und Ortsadverbien (vgl. die Protokolle der
Fabel vom Fuchs und vom Raben!). Es sind bei der „Wurstge-
schichte‘ 100 Rindswürstchen, das allgemeine Wort „Hund‘ wird
sofort durch „Dackel“ ersetzt, „die Kriminalpolizei“ wird wieder
zum „Verkehrsschutzmann‘, weil Polizei zu allgemein ist. Die
Konkretisierungsneigung ist Ausdruck derselben Störung, wie die
der Wortfindungsstörung zugrunde liegende.
Wie sehr diese Neigung zum Konkreten besteht, dafür soll
endlich noch ein Bericht angeführt werden, den H. nach einer
Aufforderung des Arztes über sein Leben in der Landesanstalt W.
verfaßt hat.
„PP:
Landesheilstätte W. (Oberlahnkreis). In anbetracht der Verhältnisse und
in der Zeit in der wir eben leben bin ich gezwungen mich auf diesem Wege
mich an Sie zu wenden. Angabe ruht auf Wahrheit. (Ordnung 1. 2. 3.)
1. 3. Sept. morgens: 21, Tassen Kaffee + imal dickes Butterbrot
mittags: 1mal Sagosuppe + 1mal Dämpfkraut Kartoffel Sauce
nachmittags: 1mal Geleebrot + 21, Tassen Kaffee
abends: 1 Teller Fadennudel + Nudelsternsuppe
4. Sept. morgens: 21, Tassen Kaffee + imal dickes Butterbrot
mittags: 1mal Bullionsuppe + Amal Eiernudel
nachmittags: 214, Tassen Kaffee + Amal Butterbrot
abends: 2 Tassen Tee + 1imal Butterbrot + imal Käse
5. Sept. morgens: 21, Tassen Kaffee + Amal Butterbrot
mittags: 1mal Bohnensuppe + Macaroni
nachmittags: 21, Tassen Kaffee + imal Geleebrot
abends: in Frankfurt.
44 G. Zillig
2. Behandlung: Ankunft am 3. oder 4. Mai 1938 im Auto um 10%, Uhr
. morgens. Um 12 Uhr Mittagessen am Bett. Vorher baden + ausziehen r Tg
liegen bleiben und die Schlafmittel alle paar Tage vergessen, dann wieder-
gegeben. So auch bei Wunden am linken Arm.
2b. Die Wunden ohne Leukoplast immer vergessen. Zugestanden hat
mir nur eine Aluminiumtasse einen Aluminiumteller + Löffel im Aufenthalt.
Beim Waschen 1 Zahnbecher + 1 Stck. Seife + 1 Bett ohne Tisch.
3. Beweise. Meinerseits handelt es sich um Kriegsrente und Kriegsver-
letzung am Kopf (bei Verdun) als 4-jähriger Frontkämpfer: Originale sind
noch zuhause“
In diesem Schreiben sind Sätze und grammatische Konstruk-
tionen überhaupt weitgehend vermieden. Die grammatische Ord-
nung ist durch eine der Anordnung des Schreibens, durch Bildung
von Abschnitten, die nach der Reihenfolge numeriert sind, ersetzt.
Außerdem sınd zur Illustration des Themas Einzelausschnitte
(etwa der Speiseplan) gewählt, die ganz konkret wiedergegeben
sind.
Aus den einzelnen angeführten Beispielen, in diesem Unter-
suchungsprotokoll und in früheren, in denen jeweils darauf ver-
wiesen wurde, ergibt sich, daß diese Konkretisierung offenbar eine
Störung ist, die sich in allen geistigen Betätigungen des H. wieder-
findet, so sehr anschaulich auch im Zeichnen, wo etwa bei der
Darstellung einer Kirche die Darstellung der Wendeltreppe im
Turm, die man bei der offenstehenden Turmtüre sieht, nicht ver-
gessen wird.
Ergibt sich aus dieser Grundstörung für uns auch die Möglich-
keit eines Verständnisses der eigentümlichen Sprechweise des H.
von sich in der dritten Person ? Ich glaube, ja. ‚Der‘ ist ein direk-
ter Hinweis, eine konkretere Bezeichnung und Symbolisierung
der eigenen Person, als das Sprechen von sich in der ersten Person.
Dieses Sprechen von sich in der dritten Person scheint uns eben-
falls ein Ausdruck dieser Konkretisierung des Erlebens zu sein.
Die Lehre von den grammatischen Störungen der Sprache hat,
nachdem sie vor allem durch das Verdienst von Pick als eines der
Kardinalprobleme der Aphasieforschung überhaupt erkannt worden
ist, zunehmend an Bedeutung gewonnen und nimmt in den letzten
Handbuchdarstellungen jeweils einen breiten Raum ein!). Nach
1) Wir verweisen hier auf die entsprechenden Abschnitte von Pick-Thiele
im Handbuch der Physiologie von Bethe, von Thiele im Bumkeschen Hand-
buch, von Kleist in seiner Gehirnpathologie und von Isserlin im Bumke-
Försterschen Handbuch der Neurologie.
Über paragrammatische Störungen 45
der ersten grundlegenden, leider Fragment gebliebenen mono-
graphischen Bearbeitung der agrammatischen Störungen durch
Pick!) war es vor allem Kleist, der durch eine klare Grenzziehung
zwischen Agrammatismus und Paragrammatismus und der
Beziehungsetzung des Agrammatismus mit der motorischen, des
Paragrammatismus mit der sensorischen Aphasie einen entschei-
denden Beitrag zur näheren Analyse der grammatischen Störungen
der Sprache gegeben hat ?).
Eine Durchsicht der Literatur ergibt, daß es sich bei den meisten
Fällen von Paragrammatismus nicht um relativ isolierte sprach-
liche Störungen handelte, sondern um solche im Rahmen einer
Leitungsaphasie oder im Rahmen sensorisch-aphasischer Stö-
rungen.
Forster hat eine Beobachtung mitgeteilt, die später vor allem
in den lokalisatorischen Schlußfolgerungen umstritten worden
ist 3). Soweit das aus seiner Darstellung und den mitgeteilten
Untersuchungsprotokollen zu sehen ist, entspricht dieser, was die
grammatische Störung anlangt, weitgehend dem unseren. Hier
wie da handelt es sich um eine expressive grammatische Stö-
rung ohne sensorisch-aphasische Störungen, die jeweils nicht als
Rückbildungsstadium einer Aphasie aufgetreten sind, sondern
primär als grammatische.
Eine in derselben Richtung liegende Beobachtung ist die von
Pick) bei einem alten Epileptiker. Die Kombination einer para-
grammatischen Störung mit einer eigentümlichen Redeweise von
sich in der dritten Person hat Pick’) kurz in einer Anmerkung
seiner Agrammatismusmonographie mitgeteilt.
Unser Kranker bestätigt die Berechtigung der Auffassung, daß
ähnlich dem Sprachverständnis, das sich ja ım Aufbau und Abbau
der Funktion als gestuft erweist, auch der Weg vom vorsprachlichen
Denken zum Sprechen ein stufenförmiger ist und eine Reihe von
verschiedenen Etappen durchschreitet. Die Schädigung bei unserem
Kranken betrifft dieStufeder Grammatisation der Sprache.
1) Pick, Die agrammatischen Sprachstörungen, Teili, Berlin, Julius
Springer 1913.
2) Vor allem siehe Kleist, Über Leitungsaphasie und grammatische Stö-
rungen, Mschr. Psychiatr. 40, 1916.
3) Forster, E., Agrammatismus (erschwerte Satzfindung) und Mangel an
Antrieb nach Stirnhirnverletzungen. Mschr. Psychiatr. 46.
4) Pick, Schwere Denkstörung infolge einer Kombination perseveratori-
scher, amnestisch-aphasischer und kontaminatorischer Störungen. Ztschr. ges.
Neur. u. Psych. 75, 1922.
5) Pick, Die agrammatischen Sprachstörungen, Teil 1, Berlin 1913, S. 114 ,
46 G. Zillig
Zwar stehen noch einige wenige Satz- und Wendungsformeln bereit,
die wenigstens den Anschein einer gewissen Grammatisierung der
Rede erwecken. Doch wird man mit Recht bezweifeln müssen, ob
die noch zur Verwendung gelangenden grammatischen Schemata
wirklich noch eine eigentliche grammatische Funktion erfüllen.
Jedenfalls reichen diese vorhandenen Reste früherer ungezählter
Möglichkeiten, Gedanken sprachlich zu formulieren, bei weitem
nicht zu einer adäquaten sprachlichen Darstellung eines Sachver-
haltes aus, der gedanklich richtig erfaßt wurde, wie die richtigen
Lösungen von Denkaufgaben auf außersprachlichem Weg bei Ver-
sagen der sprachlichen Darstellung beweisen.
Dabei zeigt sich auch, daß die Störung nicht nur die Grammatik
im engeren Sinn, sondern auch in weitem Umfang und auf eine
vergleichbare Art die musischen Elemente der Sprache betrifft.
Es erweist sich so die Richtigkeit einer Auffassung, die in der engen
Zuordnung von Grammatik und musischen Elementen der Sprache
zueinander eine Voraussetzung zum Verständnis grammatischer,
wie musischer Störungen der Sprache überhaupt sieht.
Diese expressive paragrammatische Störung findet sich bei H.
zwar ohne sonstige gröbere aphasische Störungen. Es kann
jedoch nicht übersehen werden, daß bei H. seit Jahren eine weit-
gehende und nach der erhobenen Vorgeschichte seit Jahren zu-
nehmende Konkretisierung des Denkens zu beobachten ist,
neben einer besonders gearteten amnestischen Aphasie, ein Zu-
standsbild, wie es seinerzeit von Goldstein als „Störung des kate-
gorialen Verhaltens‘‘ 1) ausführlich beschrieben worden ist und
bekanntlich zu einer umfangreichen Diskussion über die theoreti-
sche Bedeutung dieser Störung geführt hat.
Wir wagen auf Grund unserer Beobachtung nicht zu entschei-
den, ob etwa diese Störung im Sinne einer zunehmenden Kon-
kretisierung die Wurzel ıst, aus der die grammatischen Störungen
ableitbar sind, eine Deutung, gegen die schwere Bedenken erhoben
werden können, so bestechend ein solcher Versuch wäre. Man müßte
dieselben Bedenken anführen, wie überhaupt gegen die psycho-
logische Analyse des ‚Parietalsyndroms‘. Weitere Beobachtungen,
wie die hier mitgeteilte, die sich absichtlich auf eine genaue Befund-
schilderung beschränkt, werden uns hierin vielleicht weiterbringen
1) Vgl. die Darstellung von Goldstein im Betheschen Handbuch, Bd. X,
S. 785 ff. und S. 792 ff. Hier auch die Hinweise auf die früheren entsprechen-
den Arbeiten Goldsteins.
Über paragrammatische Störungen 47
und die Möglichkeit geben, überhaupt zur Deutung der sog. „Gold-
stein-Fälle“, deren Richtigkeit der Befunde mir ebenso sicher
erscheint, wie die Deutung fragwürdig, Stellung zu nehmen. Das
soll einer künftigen Arbeit vorbehalten bleiben.
Zur Frage der Lokalisation der Störung können wir erst nach
Vorliegen eines Befundes Stellung nehmen. Es erweist sich schon
als unmöglich, die Art des vorliegenden Krankheitsprozesses ein-
deutig zu bestimmen. Spricht eine Reihe von Tatsachen für einen
begründeten Verdacht auf genuine Epilepsie (Belastung im Sinn
des epileptischen Formenkreises, die charakteristische Wesens-
änderung), so deutet andrerseits die Art der Anfälle, der neuro-
logische Befund sowie das Hirnkammerbild auf einen rechtshirnigen
Prozeß, durch den das Vorkommen von Sprachstörungen bei einem
Linkser binreichend erklärt ist. Ob es sich, wie man wahrschein-
lich annehmen darf, um eine traumatische Zyste im rechten
Schläfen-Scheitellappengebiet handelt, oder, woran auch zu denken
wäre, um einen rechtsseitigen Schläfenlappentumor, wird die
Operation klären. Unabhängig von diesen noch zu klärenden
Fragen schien es berechtigt, einstweilen den psychischen Befund
ausführlich mitzuteilen und daran eine kurze Besprechung der
auftauchenden Fragen zu knüpfen. Nur die eigene Erarbeitung
zahlreicher Befunde scheint uns für die Zukunft die Möglichkeit
zu geben, eine begründete Theorie und damit eine genügend fun-
dierte Kritik mancher, wie uns scheint, voreiliger Schlußfolge-
rungen, wie sie sich Goldstein und anderen ergeben haben, zu
versuchen.
Metamorphotaxie — ein Beitrag
zur Symptomatologie des Riechhirns
Von
Prof. Dr. F. G. von Stockert
(Aus der Universitätsnervenklinik in Frankfurt a. Main.
Direktor: Prof. Dr. Kleist)
Ein 25jähriger Mechaniker, der in den ersten sechs Lebensjahren
dreimal Krampfanfälle hatte und sich dann aber gut entwickelt
und bisher niemals irgendwelche nervöse Beschwerden hatte,
kommt in die Sprechstunde und erklärt, daß er in den letzten
Wochen unter fast unerträglichen Kopfschmerzen und Erbrechen
leide. Seit der gleichen Zeit empfinde er anfallweise einen süß-
lichen Geruch, bei dem ihm gleichsam das Denken entschwindet,
gleichzeitig gehe ihm ein Rieseln durch den ganzen Körper.
Während der Arbeit hatte er auch solche merkwürdige Zustände,
wo er diesen süßlichen unangenehmen Geruch, für den er keinen
Vergleich in der Wirklichkeit habe, wahrnahm. Gleichzeitig hatte
er zweimal ein völlig unbekanntes Erlebnis, und zwar daß sich
der Gegenstand, den er gerade in der Hand hielt, in seiner Form
verändere. Einmal hatte er eine platte Scheibe zu drehen, von der
er plötzlich den Eindruck hatte, als bestünde sie aus lauter kon-
zentrischen Ringen. Wie er dann voll Schrecken die Scheibe
ansah, konnte er keine Unebenheiten feststellen. Allerdings war
auch tactil keine Rille mehr festzustellen. Ein anderes Mal hatte
er unter den gleichen Bedingungen das Gefühl, daß die Kugel,
die er in der Hand hielt, abgeflacht war. Er konnte sich bald
wieder optisch überzeugen, daß die Kugel keinerlei Veränderung
aufwies. Diese Erlebnisse berichtete der Kranke völlig spontan,
konnte aber nicht mehr angeben, von welcher Hand dieses ver-
änderte Empfinden ausgegangen war. Er selbst hält mit Rücksicht
darauf, daß er Rechtshänder sei und mit der rechten Hand arbeite,
für möglich, daß auch die Empfindungsstörung von der rechten
Hand ausging.
Die Frage nach deja-vu-Erlebnissen, die im allgemeinen den
Kranken schwer klar gemacht werden kann, wurde sofort bejaht.
Metamorphotaxie — ein Beitrag zur Symptomatologie des Riechhirns 49
Er schildert diese so, daß es vorkomme, daß ein Gegenstand, den
er eben betrachte, sich irgendwie verändere. Wie, könne er selbst
nicht sagen. Im selben Augenblick habe er den Eindruck, „Halt,
Du hast doch schon einmal so etwas gesehen‘. Auf der Straße sah
er z. B. einen Baum, der sich für ihn plötzlich irgendwie veränderte.
Gleichzeitig drängte sich ihm der Gedanke des Wiedererkennens
auf, ohne daß er in der Lage gewesen wäre, zu sagen, womit er
einen Vergleich gezogen habe, sondern das ganze Erlebnis be-
schränkte sich auf die Tatsache des vermutlichen Wiedererlebens,
Auch bei diesen Zuständen veränderten Bewußtseins empfand
der Kranke ein Rieselgefühl wie Ameisenlaufen, doch vorwiegend
auf der rechten Gesichtshälfte und am Oberkörper rechts.
Die neurologische Untersuchung ergab lediglich eine Schwäche
im Facialisgebiet rechts und sonst keinerlei krankhaften neuro-
logischen Befund. Die Untersuchung durch den Ohrenarzt (Herrn
Dr. Memmert) ergab einen Spontannystagmus nach links. Die
kalorische Vestibularprüfung ergab bei Rechtsspülung einen etwas
lebhafteren Nystagmus als links und auch eine geringe Verlänge-
rung von etwa 15“. Beim Gang nach rückwärts bestand ein Gang-
abweichen nach links und beim vertikalen Zeigeversuch ein ge-
ringes Vorbeizeigen besonders mit dem linken Arm nach links
außen.
Der Augenarzt (Herr Dr. Max Müller) vermutete auf Grund
seines Befundes eine beginnende Stauungspapille.
Mit Rücksicht auf diese Befunde schien mir eine Encephalo-
graphie indiziert, die ich im Heiligen-Geist-Hospital in Frankfurt
in der Röntgenabteilung (Vorstand: Herr Dr. Lossen) ausführte.
Der Eingriff, der okzipital vorgenommen wurde, wobei 35 ccm
Liquor abgelassen wurden, ergab eine Asymmetrie der Unter-
hörner mit einerdeutlichen Kompression des linken Unterhornes von
seitlich basal. Ich ließ zur weiteren Klärung durch Herrn Ober-
arzt ARiechert in der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt eine
Arteriographie nach Thorotrast-Einspritzung in die linke Carotis
interna ausführen, doch ergebe die Aufnahme einen durchaus
physiologischen Befund und ließ eine Verdrängung der Arteria
cerebri media nach aufwärts den von Löhr und Riechert!? für
Temporaltumoren charakteristischen Befund vermissen.
Da unter energischer intravenöser Traubenzucker-Verabreichung
sowohl Kopfschmerzen und Erbrechen als auch die oben geschil-
derten kleinen Anfälle schwanden, andererseits aber auch der
Augenhintergrundbefund sich nicht verschlechterte, konnte in-
zwischen von einem operativen Eingriff Abstand genommen wer-
4 Allgem. Zeltschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
50 F. G. von Stockert
den, zumal die Möglichkeit besteht, daß es sich hier lediglich um
abortive epileptische Anfälle gehandelt hat, die nun nach einer
längeren Pause wieder aufgeflammt sind. Wir mußten nach dem
geschilderten Befund in Gegenüberstellung mit den Untersuchun-
gen von Knapp!, Hauptmann, Ganners u. Stiefler?, Kessel? u.a. einen
Krankheitsprozeß im Bereich des Riechhirns annehmen.
Die negativen Befunde der technischen Untersuchungsmethoden
möchte ich in diesem Fall deshalb nicht überschätzen, weil eine
eindeutige Verschiebung des Ventrikelsystems nach der kontra-
lateralen Seite bereits eine erhebliche Größe des Tumors voraus-
setzt; aber gerade Riechhirntumoren (wie sie uns die genannten
Autoren beschrieben haben) sich durch ein ganz besonders lang-
sames Wachstum auszeichnen. Wir hören hier mehrmals von
einem Beginn der Anfälle, der bis zu 12 Jahren zurückliegt. Da
aber, wie besonders sStiefler zeigte, diese Geschwülste langsam
gegen die Basis der mittleren Schädelgrube vorwachsen und in
der Gegend des Gyrus hypocampi die Oberfläche erreichen, wäre
nach dem Vorschlag von Kessel durch ein Zuwarten mit der Ope-
ration nichts verloren, sondern lediglich bei einer Vergrößerung
des Tumors eine leichtere Zugänglichkeit erreicht. Es muß zuge-
geben werden, daß der Fall nosologisch noch nicht endgültig
geklärt und es wohl auch einer längeren Beobachtung bedarf, um
einen Tumor annehmen oder mit Sicherheit ablehnen zu können.
Die Fragen, auf die es uns hier im wesentlichen ankommt, sind
erstens eine phänomenologische und zweitens eine lokalisatorische.
Versucht man die vom Patienten sehr anschaulich geschilderten
kleinen Anfälle zu analysieren, so bedürfen in erster Linie die
Geruchshalluzinationen einer Würdigung, die uns seit Jacson als
„Uncinat fits“ bekannt sind. Gleichzeitig mit der Wahrnehmung
eines süßlich unangenehmen Geruchs kam es aber zu einem
zweiten für Temporaltumoren charakteristischen Krankheits-
zeichen, dem sog. déjà vu, dem Gefühl, plötzlich eine bekannte
Situation wieder zu erleben. Pötzl’ fordert für dieses Phänomen
neben diesem Gefühl des Wiedererkennens ein getrübtes Sen-
sorium. Nun sagt uns der Kranke selbst, daß der süßliche Geruch
„gleichsam das Denken unterbindet‘. Er schildert uns aber das
eigenartige Erleben doch sehr kritisch. Er hat das Gefühl, als
würde sich der Gegenstand, den er eben betrachtet, irgendwie
verändern. In welcher Weise, vermag er nicht anzugeben. Wenn
sich ihm auch gleichzeitig der Gedanke eines Wiedererlebens einer
früheren Situation aufdrängt, so ist er doch nicht in der Lage anzu-
geben, woran ihn die nun gegebene Situation erinnert, sondern das
Metamorphotaxie — ein Beitrag zur Symptomatologie des Riechhirns 51
Erlebnis beschränkt sich nur auf einen Akt der Anerkenntnis.
Wichtig ist aber die Tatsache, daß der Kranke den Eindruck hat,
daß sich der Gegenstand verändert. Es handelt sich also um
eine Metamorphopsie, um eine Umwandlung des optischen Bildes,
wenn auch die Art der Veränderung nicht angegeben werden kann.
Auch dieses Phänomen gilt als Krankheitszeichen, das in Gegen-
überstellung mit den anderen geschilderten einen gewissen lokali-
satorischen Wert für die Annahme eines Temporaltumors besitzt.
Bedeutungsvoll ist, daß das deja-vu-Erlebnis an dieMetamorphopsie
gebunden ist, und es scheint mir der Nachprüfung wert, ob diese
Kopplung der Phänomene auch in anderen Fällen zu beobachten
ist, weil sich dann die Frage daraus ergibt, ob es sich nur um
ein zufälliges Nebeneinanderbestehen von Lokalsymptomen oder
um eine kausale Beziehung der Phänomene handelt.
Am bemerkenswertesten scheint mir aber die Sensation im Be-
reich der sensiblen Sphäre. Das eigenartige Gefühl des Über-
rieselns ist uns als Sensation beim Anfallsbeginn bekannt. Neu ist,
soweit ich das Schrifttum übersehe, die Angabe des Kranken, daß
er während dieser anfallartigen Zustände das Gefühl habe, als
würde sich der Gegenstand, den er in der Hand hält, in der Gestalt
ändern, die platte Scheibe bestünde plötzlich scheinbar aus kon-
zentrischen Ringen und die Kugel wäre wie abgeflacht. Erst durch
seine optische Kontrolle vermochte er sich zu überzeugen, daß
er einer agnostischen Täuschung ausgesetzt war. Es kommt in be-
wußter Gegenüberstellung mit den geschilderten optischen Phä-
nomenen, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu einer Meta-
morphotaxie. Das anfallartige Auftreten dieser Störung ge-
stattet leider keine experimentelle Analyse dieses eigenartigen
Phänomens. Seine Annahme, daß es sich lediglich um eine Störung
ım Bereich der rechten Hand handelt, da diese seine Arbeitshand
als Rechtshänder sei, gewinnt eine gewisse Stütze dadurch, daß
er während des Anfalles das Gefühl des Überrieselns vorwiegend
auf der rechten Gesichtshälfte und der rechten Seite des Ober-
körpers hat. Es wäre nur die Frage zu erwägen, ob es sich hier
um eine Störung handelt, die der Wernickeschen Tastlähmung ent-
spricht; ein Phänomen, das, wie ich darzulegen versucht habe,
und auch von Hattingberg neuerlich zu bestätigen scheint, als
Ausdruck einer sensiblen Funktionswandlung im Sinne von von
Weizsäcker anzusehen wäre. Löwenstein ® beschrieb einen Kranken
mit einem rechtsseitigen Schläfenlappentumor, der neben einer
geringen Hypästhesie der linken Körperhälfte auch eine Störung
der Lageempfindung in der linken Hand und eine Asteriognose
4°
52 F. G. von Stockert
aufwies. Er hatte diese Erscheinungen als Nachbarsymptome von
seiten des Thalamus opticus aufgefaßt. In diesem Zusammenhang
sei es mir gestattet, eine früher bereits ausführlich dargestellte
Beobachtung 7 eines Kranken zu erwähnen, bei dem ebenfalls
Metamorphopsie und deja-vu-Erlebnisse bestanden hatten, der aber
auch anfallsweise das Erlebnis hatte, als würde seine linke Körper-
hälfte fehlen, also auch eine sensible Wahrnehmungsstörung, die
sich aber nicht wie die jetzt geschilderte auf die Gestaltwahr-
nehmung der Außenwelt, sondern auf die Wahrnehmung des eige-
nen Körpers erstreckte. Die Untersuchung des Gehirnes ergab in
diesem Fall eine völlige Einschmelzung des 1l. Thalamus durch
einen Tumor, der allerdings auch mit einem Zapfen in den Schläfen-
lappen hineinreichte.
Als lokalisatorisches Leitsymptom müßte man für diesen Fall
die anfallweise auftretende Geruchsempfindung ansehen und kann
sie mit Sicherheit als Reizerscheinung des Riechhirns werten. Déjà
vu und die Metamorphopsie sind aber auch als Initialerscheinungen
von epileptischen Anfällen bekannt, die sonst keine lokalisatorischen
Anhaltspunkte bieten.
Hauptmann ist auf Grund seiner Beobachtungen geneigt, für
das deja-vu-Erlebnis den rechten Schläfenlappen verantwortlich
zu machen. In diesem Sinne wäre es verlockend, der von Kleist ®
geäußerten Annahme zu folgen, daß die erwähnten, nicht lokali-
satorısch verwertbaren Erscheinungen im epileptischen Anfall
letzten Endes doch als Schläfenlappensymptome anzusehen seien,
da doch gerade die für Epilepsie charakteristischen anatomischen
Befunde, wie uns die Spielmayersche Schule zeigen konnte, Ammons-
hornveränderungen sind.
Der einzige konstante objektive Befund war in unserem Fall
die Erscheinung von seiten des Vestibularapparates der Spontan-
nystagmus nach links, ein geringes Vorbeizeigen nach links beim
vertialen Zeigeversuch und endlich eine geringe Abweichung nach
lınks beim Gang nach rückwärts. Auch diese könnte man ohne
weiteres mit einem Temporaltumor in Einklang bringen, wobei
Marburg °? diesen Vestibularbefund nicht etwa als Lokalsymptom
im Sinne eines Vestibularzentrums im Schläfenlappen deuten
möchte, sondern als Ausdruck eines Stauungslabyrinths ansieht.
Auch diese Vestibularsymptome deuten, ebenso wie die sensiblen
Störungen, auf einen linksseitigen Prozeß, was um so bemerkens-
werter ist, weil die d&ja-vu-Erlebnisse von Hauptmann gerade auf
die rechtsseitigen Schläfenlappentumoren bezogen wurden, während
Metamorphotaxie — ein Beitrag zur Symptomatologie des Riechhirns 53
Geruchshalluzinationen, Nystagmus und Sehstörungen auch bei
linksseitigem Sitz der Geschwulst beschrieben wurden.
Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchung zusammen, so
haben wir bei den geschilderten Kranken ein Riechhirnsyndrom
anzunehmen, gleichgültig, ob es sich um einen beginnenden Hirn-
tumor oder ob es sich um die Narbe nach einem in der Kindheit
durchgemachten lokalisierten zerebralen Prozeß handelt, der bereits
bis zum 6. Lebensjahr zu drei Krampfanfällen Anlaß gegeben
hatte und nun zum Aufflammen einer Epilepsie die Grundlage
geboten hat. Bedeutungsvoll scheint aber die Tatsache, daß der
Kranke während seiner kurzen Anfälle neben optischen Störungen
der Gestalterfassung in Verbindung mit deja-vu-Erlebnissen auch
taktile Änderungen der Gestaltwahrnehmung von Gegenständen
aufwies, die ich als Metamorphotaxien bezeichnen möchte.
Einer phänomenologischen Analyse ist dieses Symptom nicht zu-
gänglich, da es experimentell nicht faßbar ist.
Wenn ich hier eine Einzelbeobachtung in das vorliegende Schrift-
tum einreihe und an geeigneten Fällen zur Nachprüfung empfehle,
so geschieht dies deshalb, weil gerade das Auftreten von viele
Jahre hindurch bestehenden Anfällen bei der Differentialdiagnose
von Temporaltumoren besondere Schwierigkeiten bereiten kann,
so daß jede Erweiterung der Symptomatologie im Sinne einer
Analyse dieser Anfälle wünschenswert erscheinen müßte.
Schrifttumverzeichnis
1. Knapp, Die Geschwülste des rechten und linken Schläfelappens. Wies-
baden 1905. — 2. Hauptmann, Dtsch. Zschr. f. Nervenheilk. 117—19, 1937.
— 3. Ganner u. Stiefler, Arch. f. Psych. u. Nerv. Bd. 101, 1933. — 4. Kessel,
Monschr. f. Psych. u. Neur. 1934, 7050, 90. — 5. Pötzl, Imago 1926. —
6. Löwenstein, Arbeiten aus dem Hirnanatomischen Institut in Zürich, Heft 5,
1911. — 7. von Stockert, Dtsch. Zschr. f. Nervenheilk. Bd. 134, 1933. —
8. Kleist, Gehirnpathologie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1934. — 9. Marburg,
Hdbuch der Neurologie des Ohres, Bd. Il, 2. Teil, S. 1838. Verlag Urban u.
Schwarzenberg, Wien. — 10. Löhr u. Riechert, Centrbl. Neurochim. 1937, Bd. H.
Über psychische Störungen bei familiär auf-
tretender Ostitis deformans (Paget) des Schädels
Von
Dr. med. habıl. H. Stadler
(Aus der Universitätsnervenklinik Frankfurt a. Main.
Direktor: Prof. Dr. Kleist)
(Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel)
Von neurologischer Seite ist schon mehrfach und schon früh-
zeitig auf die Tatsache hingewiesen worden, daß es im Verlauf
von Erkrankungen an Ostitis deformans Paget zu einer Reihe von
organisch-neurologischen Ausfallserscheinungen kommen kann, die
ursächlich auf mechanische Schädigung der einzelnen Hirnnerven
oder auch peripherer Nervenabschnitte zurückzuführen sind oder
aber auf organische Schädigungen im Bereich des ZNS. überhaupt
durch sekundäre Drucksteigerung, die zu den mannigfachsten
Symptomenbildern führen kann. Nonne hat zuletzt eine umfassende
Übersicht gegeben und darauf hingewiesen, daß die Zusammen-
hänge zwischen neurologischen Störungen und Pageterkrankung
bei den Neurologen noch viel zu wenig bekannt wären und des-
wegen immer wieder Fehldiagnosen gestellt würden.
Noch sehr viel weniger geläufig ist die Tatsache, daß es im Ver-
lauf derartiger Erkrankungen auch zu psychischen Störungen
und richtigen Psychosen kommen kann; über die ursächlichen
Beziehungen dieser psychotischen Veränderungen zu der Knochen-
erkrankung gehen allerdings die Ansichten noch recht weit aus-
einander. Die ersten Autoren waren sich überhaupt noch nicht
einig darüber ob bei Pagetscher Erkrankung Psychosen vorkommen
würden oder nicht. Marie und Leri geben z.B. in ihrer klassischen
monographischen Bearbeitung der Ostitis deformans an, daß Psy-
chosen als Komplikation beobachtet worden sind; leider fehlen
genauere Angaben. Paget selbst dagegen äußerte, daß die Psyche
bei seinen Fällen normal war. Auch Caan konnte Hirnsymptome
und Intelligenzabnahme fast niemals feststellen und faßte leichtere
psychische Veränderungen als Folge von jahrelangem Siechtum
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 55
und Krankenlager auf. Roberts und Cohen berichten bei 16 Fällen
ihrer Beobachtung niemals über psychische Anomalien.
Engels dagegen will öfters psychotische Erscheinungen be-
obachtet haben, er faßte sie aber als vorwiegend senile Störungen
ohne direkten Zusammenhang mit der Knochenkrankheit auf;
während Taterka eventuelle Psychosen als Folgeerscheinung einer
Hirnkompression zu deuten geneigt war.
Gelegentlich sind allerdings in der Literatur Fälle von Kombi-
nation Pagetscher und psychischer Erkrankung beschrieben.
Fitz beschrieb als Komplikationen Halluzinationen und Me-
lancholie.
Dieulafoy sah bei seinem Fall eine ausgesprochene intellektuelle
Schwäche mit amnestischer Demenz, aphasische und dysarthrische
Störungen, welche zuweilen paralytischen ähnelten und die er als
Folgeerscheinung einer autoptisch festgestellten Leptomeningitis
deutete.
Hann fand bei einer 5ijähr. Frau, die seit dem 40. Lebensjahr
an Pagetscher Krankheit litt, zunehmende Kopfschmerzen, Mangel
an Regsamkeit, Apathie, Demenz, zeitweise einsetzende Perioden
von Bewußtlosigkeit während einiger Wochen, die sich öfter wieder-
holten und zuletzt zum Tode führten.
Fribourg-Blanc teilte drei Fälle mit, von denen einer von einer
Psychose begleitet war ın Form von manischen Anfällen; seiner
Ansicht nach haben die Schädelveränderungen diese Anfälle auf
dem Boden einer konstitutionellen Psychopathie ausgelöst. Ähn-
liche Ausfälle zeigte ein von A. Marie mitgeteilter Fall, von einem
44jährigen Mann, der seit dem 17. Lebensjahr an ‚‚fugues d’auto-
matisme ambulatoire‘ litt und im Traumzustand große Reisen
machte und öfters in einer fremden Stadt erwachte. Drei Jahre
nach dem Manifestwerden der Pagetschen Erkrankung (36. Lebens-
jahr) Auftreten epileptiformer Anfälle, später manischer, melan-
cholischer und dipsomanischer Anfälle; aber auch in den Intervallen
verwirrt, inkohärent, asozial, aggressiv. |
Campbell berichtete über psychische Abweichungen bei zwei
Kranken; bei der einen traten vier Jahre nach der Knochen-
erkrankung epileptiforme Anfälle und zunehmende Demenz auf.
Smith sah einen Verwirrtheitszustand bei einer 60jährigen Kran-
ken; dazu Hyperkinese, Halluzinationen, Konfabulationen, Ver-
folgungsideen, mangelhafte Orientierung und Merkfähigkeit. Der
Zustand war nach drei Wochen vollständig abgeklungen.
List demonstrierte einen 53jährigen Kranken, der seit vielen Jahren
sich wegen „ängstlicher Erregungszustände‘‘ in Behandlung befand.
56 H. Stadler
V. Eeden fand bei seiner Patientin (58jährig) neben neurologi-
schen Symptomen heiter-läppische Grundstörung, Mangel an Spon-
taneität, zunehmende Merkfähigkeitsstörung ohne sonstigen Intelli-
genzdefekt; er sprach diese Störungen als Stirnhirnsymptom an.
Kaufmann beschrieb bei einer 62jährigen Patientin Verarmungs-
gedanken, Gedächtnisstörungen und Verwirrtheitsperioden; bei
einem 48jährigen Kranken Symptome einer langsam progredienten
organischen Hirnkrankheit in Form von Dysarthrie, Dysgraphie,
Paralyse des rechten Arms, Gedächtnisstörungen, fortschreitende
Demenz; bei einer 38jährigen Patientin ein paranoides Zustands-
bild, das zu keiner Demenz führte.
Bei den Beobachtungen von Joncheray und Entres setzte die
Knochenkrankheit erst sehr viel später ein als die psychischen
Veränderungen (paranoische Psychose mit Merkfähigkeitsstörun-
gen, Paraphrenia phantastica, „Schizophrenie mit später auf-
tretenden apoplektiformen Anfällen‘‘).
Schrijver sah bei vier Kranken psychische Störungen: 1. 59jähri-
ger Mann mit epileptiformen Anfällen, Beziehungsideen, affektiver
und intellektueller Abstumpfung. 2. 56jähriger Imbeziller mit
Pagetscher Krankheit und gehemmter Depression. 3. 81jähriger,
früher geistig normaler Mann aus erblich schwer belasteter Familie
mit rezidivierenden Verwirrtheitszuständen von verschiedenem
Gepräge: bisweilen korsakow-ähnlich, bisweilen kataleptisch-
hysteriform, bisweilen paranoid-halluzinatorisch; in der Zwischen-
zeit keine deutlichen Demenzerscheinungen. 4. 65jähriger Kranker
mit zahlreichen somatischen Beschwerden (Herzklopfen, Kurz-
atmigkeit, Husten,. Nykturie, Hypertension); später Schwindel-
anfälle, linksseitige Hemiparese, weinerlich, hypochondrisch, Zorn-
anfälle, zunehmende Demenz.
Stauder teilte zwei Beobachtungen mit: das eine Mal handelte
es sich um einen 56jährigen Architekten mit anfänglicher Vergeß-
lichkeit, Mangel an Regsamkeit, allgemeiner Verlangsamung, Ge-
dächtnisschwäche, Persönlichkeitsverfall; später Schwindelanfälle
und als dominierendes Symptom eine „geradezu groteske Asponta-
neität‘‘, die beinahe den Charakter eines Herdsymptoms trug.
Der zweite Kranke 66jährig, war seit einem Jahr auffällig durch
eine ständig zunehmende ‚Verwirrung in seinem Geisteszustand‘‘;
bei der Einlieferung in die Klinik delirantes Zustandsbild, exitus
nach wenigen Tagen.
Daß die Ostitits deformans (Paget) familiär gehäuft auftreten
kann, ist eine schon lange bekannte Tatsache, wenn auch über
etwaige Vererbungsregeln so gut wie nichts bekannt ist. Van
Tafel I
Abb. 2. Adalbert Blös... \
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Abb. 1. Friedrich Blös...
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Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu H. Stadler ..Über psychische Störungen hei familiär a
Digilized „Google
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 57
Bogaert hat zuletzt einen ziemlich umfangreichen Stammbaum
veröffentlicht, bei dem die Erkrankung durch mehrere Generationen
verfolgt werden konnte (s. S. 681).
Im folgenden wird über psychische und neurologische
Störungen bei drei Brüdern mit Ostitis deformans
(Paget) berichtet, die aus einer Familie stammen, in der die ‚„ab-
norm große Kopfform‘“ in großer Häufigkeit aufgetreten ist.
Familienvorgeschichte: In der ganzen Familie Blös... sei die ab-
norm große, aufgetriebene Kopfform vorhanden; schon der Vater habe die
gehabt, ebenso seine sieben Geschwister und auch der Vater des Vaters,
der überall wegen seiner Kopfform aufgefallen sei. Alle hätten sie auch einen
Buckel gehabt und seien krumm gegangen. Der Großvater (väterlicherseits)
sei Schuhmacher gewesen, habe aber wegen seiner Intelligenz es bis zu einem
Posten am Rentamt gebracht. Er sei nie krank oder geistesgestört gewesen.
Der Vater dagegen sei um die 50er Jahre herum seelisch verändert gewesen:
zeitweise überschwenglich, großsprecherisch, prahlerisch; dann habe er aber
auch wieder Zeiten gehabt, wo er wochenlang mit den Angehörigen kein
Wort gesprochen und nichts gearbeitet habe, sondern untätig und oft etwas
ängstlich zu Bett gelegen sei. Besuchern gegenüber habe er manchmal be-
hauptet, daß über seinem Bett Leute sitzen würden und andre so verrückte
Ideen; öfters sei er auch ganz wirr gewesen. Das sei aber immer wieder nach
einigen Wochen bis Monaten vergangen. Im Alter von 73 Jahren sei er ge-
storben. In der letzten Zeit seines Lebens soll er an ‚Anfällen‘‘ gelitten haben.
Von der Mutter ist nur bekannt, daß sie im Alter von 42 Jahren an einer
Lungenentzündung verstorben ist. Über Geisteskrankheiten in ihrer Familie
ist nichts bekannt geworden. Von insgesamt 14 Kindern der Familie Blös...
seien bereits 10 gestorben und zwar:
2 Brüder im Alter von 1—2 Jahren an unbekannter Todesursache,
1 Bruder Fe „ 10 Jahren an Magenvergiftung,
4 Bruder a . 37 “ ‚„ Blutvergiftung,
1 Schwester „ ,„ „37 ke ‚„ Hirnschlag,
1 Bruder a „ 42 A „ Herzasthma und Wassersucht,
1 Schwester „ , „ 42 si ‚‚„ Kropfoperation,
1 Schwester „ ,„ „ 42 er „ Unterleibskrebs,
4 Schwester „ ,, „ 42 a ‚„ Lungenasthma u. Herzasthma, `
1 Bruder ee „ 42 1 „ Lungenasthma.
Vier Brüder sind noch am Leben; drei davon sind in psychiatrische Be-
obachtung gekommen, d. h. psychisch auffällig geworden. Nur einer ist
bisher unauffällig geblieben, aber auch der habe die gleiche ‚‚aufgetriebene
Kopfform‘“ wie die anderen drei Brüder und wie sie überhaupt alle Geschwister
gehabt hätten.
1. Beobachtung: Friedrich Blö..., geb. 18. 11. 1881.
Normale Geburt, normale Entwicklung; hat rechtzeitig sprechen und
laufen gelernt; keine Kinderkrankheiten durchgemacht. In der Schule gut
gelernt, nicht sitzengeblieben. Schon von Kindheit auf auffällig großer und
dicker Kopf. Nach der Schulentlassung als Reitbursche im Reitstall W.,
nach 5 Jahren etwa Chauffeur geworden, als solcher in verschiedenen Stel-
lungen, auch als Taxichauffeur tätig. Im Krieg bei der Kraftfahrtruppe.
Einmal verschüttet; behauptet, seit dieser Zeit ‚‚nervös‘‘ zu sein.
58 H. Stadler
29. 4. 1918—24. 5. 1918 Behandlung im Reservelazarett IV. Fftm. wegen
„rheumatischer Gesichtslähmung“.
24. 5. 1918—2. 7.1918 Nervenheilanstalt Köppern.
Diagnose: Facialislähmung rechtsseitig auf rheumatischer Basis. Auf-
getreten angeblich durch Zug in einem Eisenbahnwagen auf der Fahrt von
der Ukraine.
Befund: ‚Starke Stirnhöckerbildung‘‘. Blasse Haut und Gesichtsfarbe,
Herz und Lungen o. B. Gesicht, Geschmack und Geruch o. B. Linke Pu-
pille weiter als rechte, rechte verzogen im äußeren oberen Quadranten.
Rechtes Auge tränt stärker. Lidschluß vollkommen, aber schwächer als
links. Stirnrunzeln rechts schwächer als links. Mundast beim Zähnezeigen
rechts schwächer, bei Kaubewegung Innervation des rechten Kaumuskels
gleich der des linken. Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Hornhaut-
reflex fehlt rechts vollkommen; links etwas herabgesetzt. Zunge wird ohne
Zittern gerade vorgestreckt, kein Händezittern. Normale Reflexe, keine
Seitendifferenz. Keine pathologischen Reflexe. Bei der elektrischen Prüfung
normale Erregbarkeit.
Wassermannsche Reaktion im Serum am 23.5.1918 negativ.
Therapie: 2mal täglich Aufschläge mit heißen Sandsäcken. Elektr. Fara-
disation der rechten Seite.
Ende Juni 1918 wesentliche Besserung und Rückgang der Gesichts-
lähmung, nur noch leichte Differenz beim Stirnrunzeln und in der Inner-
vation des Mundastes. Lidschluß normal.
2.7.1918: Entlassen. KdB. unter 10%.
1927:
Stationäre Behandlung in der Nervenabteilung des Städt. Krankenhauses
Frankfurt a. M.-Sachsenhausen (Sandhof).
Gab bei der Aufnahme an, sich 1917 mit Lues infiziert zu haben; etwa
y, Jahr vor Auftreten der Gesichtslähmung. Seither jährlich eine Salvar-
sankur.
Klagte seit Frühjahr 1927 über Schwindelanfälle, bei denen es ihm sei,
als ob er betrunken wäre und als ob sich alles um ihn drehen würde. Das
Gehen in der Dunkelheit sei unsicher geworden und die Potenz sei geschwun-
den. Schmerzen habe er keine; psychische Veränderungen seien nicht be-
merkt worden.
Dagegen gab die Frau an, Pat. sei von März bis Juni d. J. geistesgestört
gewesen, völlig desorientiert, aber gut leitbar wie ein kleines Kind. Gelegent-
lich Größenideen; er mache große Zechen, wolle alle Anwesenden freihalten,
obwohl er nicht das Geld habe, um für sich allein bezahlen zu können.
Befund: Rhachit. Caput quadratum, sonst körperlich o. B. Blutdruck:
410/65.
Kein Druckschmerz des Schädels, keine Druckpunkte. Pupillen rund, weit,
links weiter als rechts, reagieren prompt, aber nicht ausgiebig auf Licht, aus-
giebig auf Konvergenz. Bewegungen frei, kein Nystagmus. Hintergrund o. B.
Facialisparese rechts; rechte Lidspalte enger als links. Stirnfalte rechts ver-
strichen. Übrige Hirnnerven o. B. Conjunctival- und Cornealreflexe links
= rechts positiv. Arm- und Bauchdeckenreflexe positiv, seitengleich. PSR
und ASR fehlen beiderseits.
Sensibilität und Motilität o. B. Romberg angedeutet +; geringe Ataxie
in beiden Beinen; Gang bei offenen Augen wenig, bei geschlossenen Augen
deutlich ataktisch. Keine Stimmungsveränderung; keine Intelligenzdefekte.
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 59
Wa.R. und Meinicke R. im Serum positiv.
Wa.R. im Liquor positiv (0.2).
Goldsol: Lues-Kurve; Entfärbung in den ersten beiden Gläsern bis weiß-
blau, in den nächsten beiden hellblau.
Diagnose: Tabes.
Therapie: Malaria. Anschließend Neosalvarsan.
3. 3.1928 entlassen.
2. Aufnahme: 13.7.1931. Entlassen: 15. 9. 1931.
Klagt über Schwindelanfälle, Kopfschmerzen und Schmerzen in den
Beinen; vor Y, Jahr durch Alkoholgenuß mehrstündiger Zustand von Be-
wußtlosigkeit. Denkschwäche, Gedächtnis- und Merkfähigkeitsschwäche.
Befund: Kopf vergrößert, leichte Erhabenheit in der Parietalgegend,
Kopfumfang: 60 cm; starkes Hervortreten der Gefäße am Kopf. Innere
Organe o. B. Blutdruck 110/65.
Neurologisch: Schwäche der linken Mundfacialis; Augen: rechte Lidspalte
enger als linke; Pupillen bds. verzogen. Lichtreaktion träge. PSR und ASR
erloschen. Romberg leicht +; Gang Spur ataktisch. Keine Sensibilitäts-
störungen.
Wa.R. und Meinicke R. im Blutserum +.
Wa.R. im Liquor negativ. Meinicke Elkeles +.
Gesamteiweiß 5/6%; Phase I Trgb. Pandy I, Subl. ©; Zellen 2.
Goldsol: Entfärbung im 3. Glas bis blaurot, im 4. und 5. bis violett, im
6. blaurot.
Röntgenaufnahme des Schädels: Das Schädeldach zeigt die typischen
Veränderungen der Östitis deformans Paget. Es findet sich eine hochgradige
Verdickung der Schädelkapsel. Neben umschriebenen sklerotischen Ver-
dichtungen finden sich Aufhellungen osteoporotischer Art, welche zusammen
das watteartige Aussehen der Knochenstruktur ergeben, das für Ostitis de-
formans charakteristisch ist. Die vordere Schädelgrube zeigt dasselbe Niveau
wie die mittlere, was durch die hochgradige Verdickung der Schädelbasis
bedingt ist. Die Sella ist verhältnismäßig klein, das Dorsum auffallend
plump und durchscheinend. Keilbeinhöhle sehr groß. Rechte Stirnhöhle sehr
klein im Vergleich zur linken. Linke Oberkieferhöhle weniger transparent als
rechte. Kalkherde in der Zirbeldrüse.
Blutstatus: Hb. 80%; Erythr. 4,5 Mill.; Leuko. 5400; F.-J. 0,88. Chlor
396 mg%; Phosph. 3,9 mg%; Alkalires. 56,7 Vol.%; Calcium 11,2 mg°%;
Kalium 25,24 mg%; Natrium 928 mg% .
Röntgenaufnahme der Wirbelsäule: Brustwirbelsäule: o. B. Lenden-
wirbelsäule: Der 3. Lendenwirbelkörper zeigt eine Verbreiterung im Ver-
gleich zu dem 2. und 4. und eine deutliche Veränderung der Knochenstruktur.
An der oberen und unteren Begrenzung des 3. Wirbelknochens findet sich
deutlich eine zentrale Eindellung. Man sieht an den dichten sklerosierenden
Prozessen zahlreiche kleinere und größere Aufhellungen. Fibula und Tibia o. B.
Diagnose: Tabes; Ostitis deformans Paget.
Therapie: Solganal.
3. (1.) Aufnahme in die hiesige Klinik 29. 6. 1931. Ent!.: 30. 6. 1931.
Sinnlos betrunken eingeliefert. Der Schwager gab an, der Pat. habe seit
etwa 2—3 Jahren Zustände, wo er „abwesend“ sei; außerdem bestünden
Schwindelanfälle und Asthma wie auch früher schon. Jeden Monat wäre er
etwa einmal angetrunken. Könne höchstens 2—3 Glas Bier vertragen.
60 H. Stadler
Befund: Körperlich: ‚‚hydrocephaler‘‘ Schädelbau; Rundrücken. Mitral-
insuffizienz.
Neurologisch: Schädel im Bereich der Ossa frontalia ungleichmäßig auf-
getrieben, ohne rhachitische Zeichen. Im ganzen vergrößert.
Augen: Bewegungen frei; Nystagmus beim Blick nach beiden Seiten.
Linke Pupille weiter als rechte. Rechte Pupille eng und entrundet, reagiert
träge und unausgiebig auf Lichteinfall, weniger gut als linke.
Facialis: Rechter Stirn- und Mundast gelähmt; linker o. B.
Hypoglossus o. B.
Bauchdeckenreflexe rechts stärker als links.
Fehlende PSR und schwache ASR. Keine Pyramidenzeichen. Ataktische
Erscheinungen an oberen und unteren Extremitäten. Gang taumelnd, aus-
fahrende Bewegungen. Romberg positiv.
Psychisch: Außer einer amnestischen Demenz keine wesentlichen Intelli-
genzdefekte.
Serologisch: Wa.R. und Meinicke R. im Blut positiv. Liquor: Nicht
untersucht.
Diagnose: Tabes dorsalis; chronischer Alkoholismus.
4. (2) Aufnahme in die hiesige Klinik 5.1.1935. Entl.: 6. 2. 1935.
Angaben der Ehefrau: Habe jetzt Zustände, die nur wenige Minuten
andauerten und in denen er plötzlich die Pfeife aus dem Mund fallen lasse
oder kaue wie ein alter Mann. Diese Zustände wiederholten sich im Lauf
von wenigen Tagen in der gleichen Weise. Daneben bestünden schon seit
Jahren Momente, wo er abwesend sei; sie seien in der letzten Zeit häufiger
geworden. Keine Anfälle, keine Krämpfe, kein Einnässen. Seit 1920 werde
der Schädel ihres Mannes immer dicker. Alle Monate einmal angetrunken.
Er selbst gab an, daß er manchmal — so alle 8 Tage etwa einmal — anfalls-
artige Zustände bekomme, wo er Gas rieche wie bei einem Gasangriff im
Krieg und wo es ihm dann schwindlig werde. Wenn er auf der Straße sei,
müsse er einen Moment anhalten, dann gehe es wieder vorüber.
Befund: a) Körperlich: Lues; Emphysem; Mitralinsuffizienz; beginnende
Mesoaortitis luetica ?
b) Neurologisch: reflektorische Pupillenstarre links; rechts nicht voll-
kommen ausgebildet. Augenhintergrund: o. B. Facialisparese rechts (3 Äste).
Hypoglossusparese links. Steifigkeit in Armen und Beinen. Fehlende PSR
und ASR. Verdächtiger Babinski und Oppenheim rechts. Leichte ataktische
Erscheinungen. Sensibilität und Romberg o. B.
c) Psychisch: Merkschwäche; leichte Urteilsschwäche.
d) Serologisch: Wa.R und Meinicke R. im Blut positiv. Liquor: Wa.R
und Meinicke R. negativ. Nonne und Pandy Spur +; Weichbrodt Ø; Zell-
zahl 5/3. Goldsolkurve normal!
e) Encephalogramm: Mäßige, symmetrische Erweiterung des Ventrikel-
systems.
f) Röntgenaufnahme des Schädels (s. Abb. 1!): Völlige Auflösung der
Knochenstruktur des Hirnschädels. Der ganze Knochen ist in eine schwamm-
artige Masse umgewandelt. Zahlreiche scharf begrenzte Aufhellungen mit
verschiedenem Kalkgehalt. Gesichtsschädel intakt. Ostitis deformans Paget.
Wirbelsäule: Keine krankhaften Veränderungen nachzuweisen. Becken: Auf-
lockerung der Knochenstruktur mit Entkalkungszonen im Bereich der Femur-
Köpfe. |
Diagnose: Ostitis deformans Paget; Tabes dorsalis. Alkoholrausch. Abb.1.
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 61
5. (3) Aufnahme in die hiesige Klinik: 2. 11. 1936. Entl.: 17. 12. 1936.
Betrunken und mit einer oberflächlichen Kopfwunde eingeliefert. Nach
den Angaben der Hausbewohner (Ehefrau tot) hat sich der Zustand in der
letzten Zeit beträchtlich verschlimmert. Er sei jetzt sehr oft geistesabwesend
und wie irre; man habe ihn bewußtlos an einer Hausecke lehnend gefunden
oder er laufe in den Straßen umher und wisse hinterher nichts davon. Körper-
licher und neurologischer Befund gegenüber dem bei der letzten Aufnahme
nicht wesentlich verändert. Keine Pyramidenzeichen.
Psychisch: Antriebsarm, bewegungsarm, interesselos; während des klini-
schen Aufenthalts wurden mehrere epileptiforme Anfälle mit Bewußtlosig-
keit, Krämpfen, Schaum vor dem Mund, nachfolgender Benommenheit und
ohne Seitenbetonung beobachtet.
Diagnose: Ostitis deformans Paget mit epileptiformen Anfällen ; amnestische
Demenz; Aspontaneität.
2. Beobachtung: Adalbert Bl..., geb. 23. 6. 1891. Aufnahme
in die Klinik: 11. 1. 1937. Entl.: 24. 4. 1937.
Vorgeschichte: Normale Geburt und Entwicklung. In der Schule leicht
und gut gelernt, nicht sitzengeblieben. Nach der Schulentlassung als Hilfs-
arbeiter in verschiedenen Berufen. 1908 als 17jähriger zum erstenmal ‚‚Bron-
chialkatarrh‘‘, 4, Jahr krank gelegen. 1913 4, Jahr zur Erholung in einem
Sanatorium. Nicht aktiv gedient. 1914—18 zum Heeresdienst eingezogen;
teils an der Front, teils in Garnison als Bursche eines Majors.
1918 Grippe mit Lungen- und Rippenfellentzündung, Magen- und Darm-
katarrh, insgesamt 1 Jahr krank.
4919 versuchte er eine Stelle als Diener zu bekommen; das sei an seinen
Charaktereigenschaften gescheitert, da er die hierfür erforderliche Unter-
würfigkeit nicht aufgebracht habe.
1920 Dienstantritt bei der Metallges.-A.G. Ffm. als Registraturangestellter;
war dort bis Ende 1936. Hat neben der Registraturtätigkeit noch Besor-
gungen für den Haushalt des Direktors (Heizung, Botengänge usw.) erledigt.
Von 1934 ab sei ihm zum erstenmal die Arbeit etwas schwer gefallen;
April 1936 habe sich eine allgemeine Lustlosigkeit und Interesselosigkeit ein-
gestellt; er habe zum erstenmal keine Freude mehr an der Arbeit gehabt, sich
überhaupt nicht mehr wohlgefühlt.
12. 11. 1936 allgemeines Erschöpfungsgefühl, Krankmeldung, vom Nerven-
arzt wegen ‚allgemeiner seelischer Erschöpfung‘ krank geschrieben. Habe
sich zu Hause hingelegt, mit dem Gefühl, nicht ganz klar im Kopfe zu sein,
wenn er auch nicht gerade unklar gewesen sei. Man könne das nicht recht
beschreiben. Habe sich in Gedanken viel mit der Tochter des Direktors be-
schäftigen müssen, die in Wien verheiratet sei. Am nächsten Tag klarer und
ruhiger, habe einen auffällig starken Appetit gehabt und unheimlich viel
gegessen, während er die letzten ?/, Jahre keinen rechten Appetit mehr ge-
habt habe.
Mit einem Mal sei es ihm gewesen, als habe ihm eine höhere Gewalt ein-
gegeben, er müsse um die Hand der Tochter des Direktors anhalten. Über-
haupt sei es ihm nachts, wenn er wachliege, oft, als stehe er mit seiner ver-
storbenen Mutter in einer geistigen Verbindung; nicht als ob er sie sehe oder
höre, es sei eine mehr unsichtbare Verbindung. An diesem Tage habe er ein
Gefühl gehabt, als ob die Mutter das haben wolle, weil sie sich ihren Stamm,
ihr Blut erhalten wolle und sie selbst in ihrem Leben kein Glück gehabt habe.
62 H. Stadler
Deshalb habe sie ihre Kraft in ihr letztes Kind (Pat. ist das jüngste der Ge-
schwister) hineingelegt, um dem Namen Bl... die Ehre zu geben, die ihm
gebührt und auch ihrem Geburtsnamen Schlotth...., weil sie anscheinend
von zu Hause aus den Mann nicht heiraten sollte.
Dieses von innen herauskommende Gefühl habe ihn direkt zu seiner weiteren
Handlungsweise gezwungen, er habe keinen Widerstand mehr dagegen auf-
bringen können. Er habe sich dauernd mit seinem Vorhaben beschäftigt und
habe oft mit den ihm besonders lieben verstorbenen Geschwistern nachts
in Verbindung gestanden; diese Verbindung könne er überhaupt immer zu-
stande bringen, wenn er sich darauf konzentriere. Mit der Ausführung seines
Vorhabens habe er noch zugewartet; warum, wisse er nicht, es sei ein uner-
klärliches Etwas gewesen, was ihn dazu veranlaßt habe, eine von innen heraus-
kommende Bestimmung, ‚„Kismet‘‘ nenne es der Türke.
Nach etwa 2—3 Wochen habe er die Tochter des Direktors bei einem
Krankenbesuch im M... krankenhaus getroffen. Er habe eine große Freude
gehabt, sei auf sie zugegangen und habe sich mit ihr unterhalten und ihr
seinen Besuch angekündigt. Ihre Freude sei auch sehr groß gewesen, aber
als Dame habe sie sich sehr zurückhalten müssen. Bei der Unterhaltung
habe er die Gewißheit bekommen, daß sie ebenso fühle wie er, außerdem
habe man das an ihren Augen gesehen. Anfang Dezember habe er ihr einen
Besuch machen wollen, um sie zu sehen, mit ihr sprechen und in ihrer Nähe
sein zu können, wie das bei Liebenden eben sei. Als er hörte, daß sie abgereist
sei und erst Mitte des Monats zurückkommen würde, habe er sie in einem
Telegramm aufgefordert zurückzukommen und sie mit Du angesprochen.
Am 11. 12. 1936 sei er — einem inneren Zwange folgend und in dem Gefühl,
zu etwas Höherem berufen zu sein — mit einem riesigen Blumenarrangement
zu den Eltern gegangen, um sie um die Hand der (verheirateten!) Tochter
zu bitten; er habe nur den Sohn angetroffen und dem alles erzählt. Am 12. 12.
und vor Weihnachten erneut große Blumenspenden und andre Geschenke
mit Briefen, ohne Antwort zu erhalten. Zugleich habe er den Vater in einem
Brief um ein Darlehen gebeten, um die Feiertage würdig gestalten und ent-
sprechende Geschenke einkaufen zu können. Am 11.1.1937 habe ihn dann
die Polizei hier eingeliefert, weil er von sich aus dem Vorschlag seines be-
handelnden Arztes auf klinische Beobachtung nicht gefolgt sei.
Die objektiven Feststellungen decken sich im wesentlichen mit den An-
gaben des Pat. Der behandelnde Arzt teilte mit, daß B., der seit kurzer Zeit
in seiner Behandlung stehe, an Beziehungs- und Beeinträchtigungsideen
leide und sich auf seiner Arbeitsstelle schikaniert glaube; dazu kämen aus-
gedehnte Größenideen und Liebeswahn. Die körperliche und neurologische
Untersuchung ergab außer verdickten Schädelknochen (Os frontale und
parietale) und etwas schwachen aber seitengleichen Reflexen keinen krank-
haften Befund; insbesondere fanden sich keine Anhaltspunkte für die An-
nahme einer Jluetischen Erkrankung.
Die psychisch-experimentelle Untersuchung konnte keinerlei intellektuelle
Ausfälle nachweisen, insbesondere keine Herabsetzung der Merkfähigkeit.
Alle Antworten — auch bei Fragen, die immerhin einige Anforderungen an
eigenes Urteil und Denkvermögen stellten — erfolgten rasch und in guter
Formulierung.
Krankheitseinsicht bestand in der ersten Zeit nur in ganz geringem Maße;
er gab zu, daß er sich seit November 1936 richtig krank fühle; er habe das
Gefühl, daß er geistig zurückgegangen sei, aber das sei nicht richtig aus-
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 63
gedrückt: Er fühle sich seit dieser Zeit zu etwas Höherem berufen, und Hand
in Hand damit sei eine geistige Umstellung gegangen, die ihm ein besonders
schnelles Erkennen und Durchschauen von Situationen ermögliche, wohin
er auch gestellt werde. Und nun sei es wohl so, daß der Körper dieser Um-
stellung des Geistes nicht mehr habe folgen können. Wenn man seine Er-
krankung mit der des Bruders Friedrich vergleichen wolle, so könne man
sagen, bei seinem Bruder sei der Krankheitsverlauf ein negativer, bei ihm
selbst dagegen ein positiver.
Therapeutisch wurde eine Pyriferkur durchgeführt, in deren Verlauf der
Pat. zu vollkommener Krankheitseinsicht kam. Es sei ihm ‚‚plötzlich wie
Schuppen von den Augen gefallen‘, er könne sich beim besten Willen nicht
denken, wie er solchen Unsinn habe machen können; er müsse wirklich schon
schwer krank gewesen sein. Im Verlauf der Kur trat außerdem eine leichte
Herzmuskelschädigung auf (elektrokardiographisch nachgewiesene Myo-
degeneratio cordis).
Blut: Wa.R. und Meinicke R. negativ!
Liquorbefunde: Wa.R. ©; Meinicke ©. Pandy und Nonne Spur +;
Weichbrodt ©. Zellzahl 19/3. Goldsol: o. B. Eiweißrelation: o. B.
Röntgenaufnahme des Schädels: Verdickung des Os frontale und
Os parietale.
Thorax: Struma retrosternalis, sonst o. B.
Diagnose: 1. Symptomatische (?) Psychose bei Ostitis deformans Paget.
(Progressive Paralyse?) Expansive Erregung mit Eingebungen. Abb. 2.
3. Beobachtung: Wilhelm Blös..., geb. 30. 9. 1883.
1. Aufnahme in die Klinik: 31. 1. 1911. Entlassung: 12. 2. 1911.
Vorgeschichte: Über Geburt und erste Kindheitsentwicklung Näheres
nicht bekannt; in der Schule dreimal sitzengeblieben. Nach der Schulent-
lassung beim Vater als Schuhmacher gelernt; während der aktiven Dienstzeit
zweimal bestraft: 3 Tage Arrest wegen Ausbleibens über den Zapfenstreich,
5 Tage Arrest wegen frecher Antwort an den Unteroffizier. Nach Beendigung
der aktiven Dienstzeit Eröffnung eines eigenen Geschäftes in Ffm., das bis
vor etwa einem Jahr ganz gut gegangen sei.
Habe seitdem öfters ‚Anfälle‘, die er schon in jungen Jahren gehabt
haben soll und die besonders bei Aufregungen aufträten: Dabei zittere er
am ganzen Körper, sei ängstlich, laufe fort und wisse später angeblich gar
nicht, was und wo er gewesen sei. Seit zwei Monaten verstimmt, schlafe
schlecht, spreche wenig, weine viel. War jetzt zu Hause weggelaufen und
von der Polizei auf der Straße aufgegriffen worden gerade an dem Tag, an
dem er eine wegen Diebstahls zudiktierte Gefängnisstrafe antreten sollte.
Befund: Bei der Untersuchung und während des ganzen Klinikaufent-
haltes pseudodementes Verhalten. Vorbeireden. Imbezillität. Keine organisch-
neurologischen Ausfallserscheinungen. Körperlich o. B. Schädelform erinnert
an diejenige seiner Brüder. Röntgenaufnahmen liegen nicht vor.
Diagnose: Hysterie. Ganserscher Symptomenkomplex. (Strafantritt!)
Imbezillität. Zurechnungsfähig.
Der Patient kam in den nächsten Jahren noch mehrmals in die Klinik
(1911, 1915, 1915, 1916, 1926); Befund und Diagnosen blieben die gleichen.
Er ist mehrmals kriminell geworden:
Im Jahre 1909 stahl er ein Rad; im Jahre 1910 stahl er in einer Wirt-
schaft einen Beutel mit Geld; 1911 ebenfalls in einer Wirtschaft eine Geld-
64 H. Stadler
tasche; 1913 stahl er wieder ein Rad. Machte bald zu seiner Entschuldigung
Trunkenheit, dann Geistesschwäche oder Geisteskrankheit geltend und be-
hauptete dann wieder, sich überhaupt an nichts erinnern zu können. 1916
Bestrafung wegen widerrechtlichen Tragens des E.K. II. Kl.; aus dem Heeres-
` dienst als dienstunbrauchbar und ohne Versorgung entlassen. Stahl 1916
wieder ein Fahrrad, auch Stoffe; machte vor Gericht epileptisch-hysterische
Anfälle geltend, redete von der kolossalen Verschlimmerung seines Leidens,
wollte aus der Haft entlassen sein. In einer Kriegsgerichtsverhandlung wegen
unerlaubter Entfernung war er zuvor als Epileptiker angesehen und freige-
sprochen worden. 1922 Diebstahl von Bleiringen, 1923 einer Damenhand-
tasche; 1923 Einbruchdiebstahl; 1926 Sistierung wegen Bettelns; dabei
massive hysterische Anfälle, die wiederum eine Einlieferung in die hiesige
Klinik (zum 6. Mal!) notwendig machten.
1923 Pegutacntong durch die Psychiatrische Klinik Heidelberg aus
$ 841 StrPO.
Diagnose: immungdläßiler. hysterischer, egozentrischer, unsteter Psycho-
path mit Neigung zu Alkoholmißbrauch. Kein Anhaltspunkt für organische
Erkrankungen des ZNS. Voll zurechnungsfähig.
4. Beobachtung: Marie Blös..., geb. 19. 9. 1909 (Tochter des
Wilh. Blös . . .).
Einweisung in die Klinik am 22. 2. 1947 aus der Kinderherberge wegen
Geistesschwäche und zur Beobachtung.
Befund: Unverträglich, unaufmerksam, unruhig, faul; stiehlt, lügt, nascht.
Körperlich: Kräftiger Ernährungszustand; gut entwickelte Fettpolster,
angewachsene Ohrläppchen; wulstige Lippen. Hoher steiler Gaumen; inter-
nistisch und neurologisch o. B.
Aus der in den Akten befindlichen Photographie geht hervor, daß die Stirn-
höcker ziemlich stark vorspringen, wie gewulstet.
Diagnose: Psychopathische Konstitution.
Therapie: Überführung in Erziehungsheim. (31. 1. 1918.)
Seither nichts mehr über die Pat. bekannt geworden.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Knochen-
erkrankung bei Ostitis deformans Paget und den dabei zu be-
obachtenden psychischen Störungen ist schon häufig diskutiert
worden, ohne daß man bis heute zu einem eindeutigen Ergebnis
gekommen wäre. Die Mehrzahl der Autoren ist geneigt, die psychi-
schen Störungen als Ausdruck eines arteriosklerotischen Prozesses
oder überhaupt einer Kreislaufstörung anzusprechen, ausgehend
von der Feststellung, daß die Kombination von Ostitis deformans
Paget mit Arteriosklerose sehr häufig beobachtet werde und die
Knochenerkrankung meist an Leuten im höheren Alter in Erschei-
nung trete. Gegen diese Annahme hat bereits Stauder angeführt,
daß lange nicht bei allen in Frage kommenden Fällen jedesmal
eine Hirnarteriosklerose oder eine allgemeine Arteriosklerose vor-
handen sei und daß möglicherweise ja auch der arteriosklerotische
Prozeß erst durch die Knochenaffektion ausgelöst oder verursacht
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 65
werden könnte. Jedenfalls lassen sich hier einwandfreie Zusammen-
hänge weder nach der einen oder nach der anderen Richtung nach-
weisen.
Andere Autoren sehen in den psychischen Störungen vorwiegend
die klinischen Zeichen der durch die Schädelknochenerkrankung
hervorgerufenen Raumbeengung, Hirndrucksteigerung und Hydro-
cephalus und glauben dadurch besser als mit anderen Theorien die
große Seltenheit und das häufig sehr späte Einsetzen der Psychosen
bei Ostitis deformans zu erklären (John und Strasser, van Eden,
Stauder). Allerdings bleibt dabei der eigentliche ursächliche Zu-
sammenhang zwischen dem Hirndruck und den als Folge von
ihm angenommenen psychischen Begleiterscheinungen noch recht
unklar, und die Erklärung hält sich als solche in recht allgemeinen
Grenzen.
Bei den nahen Beziehungen der Ostitis deformans Paget zu
Störungen des innersekretorischen Systems dachte man auch
daran, die psychischen Störungen auf Dysfunktionen des Stoff-
wechsels zurückführen zu können (Caan); jedoch sind die hierher-
gehörigen Einzelbeobachtungen derartig verschiedenartig und
einander widersprechend, daß eine Einigung bisher nicht erzielt
werden konnte. Es muß überhaupt solange aussichtslos erscheinen,
auf diese Weise psychische Begleiterscheinungen eines Krankheits-
bildes erklären zu wollen, als dieses selbst trotz der sich häufenden
kasuistischen Mitteilungen über Beziehungen zu innersekretori-
schen Störungen ätiologisch und pathogenetisch vollkommen unge-
klärt ist. Bis zu einem gewissen Grade gilt das auch für die übrigen
Theorien: Man kann eben nicht Teilerscheinungen eines Krank-
heitsprozesses hinsichtlich ihrer Entstehung mit Aussicht auf Erfolg
zu klären versuchen, solange der Grundprozeß und seine Ent-
wicklung nicht erforscht sind. Und die Ätiologie der Ostitis de-
formans Paget ist auch heute noch unbekannt!
Stauder hat ferner betont, man gewinne bei einem vergleichen-
den Überblick über die Literatur den Eindruck, daß es sich bei
einigen Beobachtungen um ein ‚„zufälliges‘‘ Zusammentreffen von
endogenen Psychosen und Schädelknochenerkrankung handle, wo-
bei er besonders an die melancholischen und paranoiden Zustands-
bilder dächte, soweit die jeweiligen Schilderungen überhaupt irgend-
welche Schlüsse ermöglichten. Zur Klärung der Frage der Kausal-
beziehung müsse man sich vorläufig auf die Fälle mit ‚organischen
Zustandsbildern‘“ stützen. — Eine derartige Einteilung nach dem
rein klinischen — oft nicht einmal ausreichend beschriebenen —
Zustandsbild in organische und nicht-organische Psychosen ist
5 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H.13. `
66 H. Stadler
m. E. nicht durchzuführen; gerade die z. B. bei der Hirnarterio-
sklerose oder gelegentlich bei progressiver Paralyse zu beobachten-
den melancholischen oder paranoiden Zustandsbilder beweisen ja
doch eindeutig, daß auch „organische‘‘ Psychosen einmal eine
solche Symptomatologie aufweisen können; und gerade bei den
Ostitis deformans-Kranken handelt es sich meist um Leute im
höheren Lebensalter, wo unter anderem auch die erhöhte Neigung
des Rückbildungsalters gerade zu melancholisch und paranoid ge-
färbten Krankheitsbildern in Rechnung gestellt werden muß.
Das besondere an den von uns geschilderten Fällen stellt das
familiär gehäufte Auftreten von Ostitis deformans Paget in Ver-
bindung mit psychischen Störungen dar. Bei zwei von den drei
in unsere Beobachtung gelangten Kranken war die Knochenerkran-
kung röntgenologisch nachzuweisen; die von mehreren Seiten
stets übereinstimmend gemachten Angaben, daß die „eigen-
artige“ und „große“ Kopfform unserer Patienten in gleicher Weise
auch beim Vater und allen seinen Geschwistern und ebenso auch
beim Großvater (väterlicherseits) beobachtet worden sei und alle
Familienangehörigen deswegen in der Öffentlichkeit aufgefallen
seien, legt die Vermutung nahe, daß es sich dabei um eine anschei-
nend dominant vererbte Anomalie in der Familie Bl. handelt.
Ein endgültiger Beweis ließe sich nur durch eine Röntgenunter-
suchung sämtlicher in Frage kommender Familienmitglieder er-
bringen, die aus äußeren Gründen nicht durchzuführen ist.
Hand in Hand mit den Veränderungen am Knochenskelett
gehen nun aber auch psychische und neurologische Veränderungen,
deren Natur besonders im Fall 1 nicht ganz einfach zu analysieren
ist, weil hier auch noch eine serologisch nachgewiesene luetische
Affektion des ZNS. vorgelegen hat. Immerhin dürfte die im Jahr
1917 zum erstenmal in Erscheinung getretene ‚„rheumatische‘
Facialislähmung, die sich später nie mehr ganz zurück gebildet
hat, sehr viel eher als erstes neurologisches Symptom der vom
Jahr 1920 ab bereits von der Laienumgebung empirisch festge-
stellten Schädelknochenaffektion zu werten sein, denn als Folge
einer wenige Wochen vorher erworbenen Lues, die um diese Zeit
noch nicht einmal zu einer positiven Wa.R. im Blut geführt hatte.
Die 1927 zuerst geklagten Schwindelerscheinungen, sowie die
über einige Monate sich hinziehende etwas unklare „Geistes-
störung‘‘ mit Desorientierung und zeitweiligen Größenideen ohne
psychisch-experimentell nachweisbare Intelligenzdefekte wird man
wohl als Auswirkungen der luetischen Erkrankung aufzufassen
haben; diese selbst ist durch die Malariakur soweit gebessert,
Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans usw. 67
worden, daß bis heute die spezifischen Reaktionen im Liquor nega-
tiv geblieben sind. Wenn später trotzdem weitere Erscheinungen
von seiten des ZNS., wie Absencen, Ohnmachten, Dämmerzustände
und Krampfanfälle aufgetreten sind, so müssen bei dem vollkom-
men negativen Liquorbefund diese Symptome ebenso wie die sich
allmählich entwickelnde amnestische Demenz und die Aspontanei-
tät hinsichtlich ihrer Entstehung doch wohl auf die Schädelknochen-
erkrankung bezogen werden, beziehungsweise auf die dadurch
bedingte Hirndrucksteigerung.
Im Falle Adalbert Bl. fanden sich keinerlei Anhaltspunkte für
organische Veränderungen im Bereich des ZNS.; insbesondere
konnten luetische Prozesse mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Die bei dem Pat. ziemlich rasch unter dem Bild einer expansiven Ein-
gebungspsychose (Kleist) aufgetretene geistige Störung kann ursäch-
lich nicht geklärt und nur per exclusionem mit der gleichzeitig be-
stehenden Knochenerkrankung in Zusammenhang gebracht werden.
Eigenartig ist die Tatsache, daß auch der dritte Bruder psychisch
mehrfach auffällig geworden ist; bei den verschiedenen psychiatri-
schen Beobachtungen erfuhr er fast immer die gleiche Beurteilung
als debiler, haltloser, hysterischer, kriminell gewordener Psycho-
path. Daß auch bei ihm die Anomalie der Schädelknochenbildung
vorhanden ist, soll nicht unerwähnt bleiben.
Besonders bemerkenswert erscheint ferner der Umstand, daß
der Vater der genannten drei Brüder — der auch die eigenartige
Kopfform aufwies — jenseits der 50er Jahre mehrfach geistige
Störungen zeigte: Zeitweise sei er redselig, überschwenglich groß-
sprecherisch gewesen, dann aber wieder ängstlich, untätig, habe
wochenlang nichts gesprochen und nur zu Bett gelegen und ab
und zu Gestalten gesehen. Es liegt nahe, hier an eine (atypische ?)
zirkuläre Erkrankung zu denken und die expansive Note in den
Erkrankungen der beiden erstgenannten Brüder ließe sich mit
einer derartigen Annahme an sich schon in Einklang bringen;
das Eigenartige daran ist nur die Verkoppelung mit der bei jedem
Kranken vorhandenen Knochenerkrankung.
Man kann selbstverständlich behaupten, daß es sich hierbei
um zwei voneinander vollständig unabhängige Erkrankungen oder
Krankheitsanlagen handelt, die „zufällig“ den gleichen Erbgang
aufweisen und bei den gleichen Kranken jeweils auftreten; man
kann aber mit mindestens genau dem gleichen Recht die Behaup-
tung aufstellen, daß hier offensichtlich biologische Gesetzmäßig-
keiten vorliegen, deren Ursachen wir im einzelnen zwar nicht oder
noch nicht kennen, deren Existenz aber empirisch feststeht.
5°
68 H. Stadler, Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis usw.
In diesem Zusammenhang verdient die Beobachtung von
v. Bogaert besonderes Interesse, der in einer Familie durch vier
Generationen hindurch das gehäufte Auftreten einer Ostitis de-
formans Paget verfolgen konnte, die sich bei männlichen Mitglie-
dern auf direktem Wege fortpflanzte und die jeweils mit einer
peripheren Retinitis pigmentosa vergesellschaftet war; v. Bogaert
sieht in den beiden Krankheitsbildern zwei heterophäne Formen
ein und derselben Krankheit oder ein und derselben heredo-degene-
rativen Gruppe, wie z. B. das Adenoma sebaceum und die tuberöse
Hirnsklerose in ihrer Erscheinungsweise zwei heterophäne Formen
einer anderen Degeneration darstellen. Bei zwei der Kranken war
außerdem noch eine deutliche geistige Minderwertigkeit festzu-
stellen. Weitere Beobachtungen über familiär gehäuftes Auftreten
der Ostitis deformans Paget finden sich bei Faugeron, Öttinger
und. Lafont, Pierre Marie und Leri, Pick Chauffard, Lunn, Walter
und Robinson, Laserre.
Bei unseren Beobachtungen verhält sich die Erkrankung eben-
falls wie eine Erbkrankheit vom dominanten Typus. Die Vergesell-
schaftung von psychischen Störungen mit Knochenveränderungen
erscheint nicht als ein zufälliges Zusammentreffen, sondern bedingt
durch innere Gesetzmäßigkeiten, deren pathophysiologische Grund-
lagen noch nicht bekannt sind und wohl dann erst mit Aussicht
auf Erfolg geklärt werden können, wenn das Wesen der Knochen-
veränderung als solches feststeht. Insofern läßt sich unsere Be-
obachtung derjenigen von v. Bogaert bis zu einem gewissen Grad
vergleichen. Solange wir aber die Zusammenhänge zwischen den
verschiedenen Krankheitsbildern nicht eindeutig nachweisen kön-
nen, bleibt uns vorläufig nichts anderes übrig als ihre Kombination
zu registrieren und auf diese Weise vielleicht für später brauch-
bares Material zusammenzutragen.
Schrifttumverzeichnis
Marie u. Lerie, Handb. v. Lewandowsky, Bd. 4, S. 472, 1913. — Caan,
Bruns Beitr. 125, 212, 1916. — Roberts u. Cohen, Ref.: Zbl. f. Neurol. u.
Psych. Bd. 44, S. 227. — Engel, A., Acta med. scand. (Stockh.) S. 69, 1928. —
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ges. Med. 1933, S. 147, 327.
Beitrag zur
Differentialdiagnose und Erbbegutachtung der
„Episodischen Dämmerzustände‘‘ (Kleist)
Von
Dr. Klaus Speckmann
(Aus der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt a. M.
Direktor: Professor Dr. Kleist)
Während durch die Erbgesundheitsgesetzgebung die eugenische
Beurteilung der großen Erbkreise festgelegt worden ist, bereitet
die Einreihung der selteneren Krankheitsbilder, wie sie z. B. von
Kleist als Randpsychosen abgegrenzt worden sind, noch manche
Schwierigkeiten. Soweit sie ebenfalls sicher erblich sind, wird man
sie, ohne ihre theoretische Sonderstellung damit zu berühren, in
der praktischen Begutachtung einem der großen Erbkreise ein-
zuordnen suchen. In diesem Sinne können auch manche Fälle der
„episodischen Dämmerzustände‘“ als erbliche Krankheiten auf-
gefaßt werden. Kleist selbst nımmt Beziehungen zum epileptoiden
Formenkreis an, und Leonhard beschrieb einen Fall mit gleich-
artiger Vererbung. Für andere Fälle jedoch ıst der Nachweis der
Erblichkeit bisher nicht erbracht und auch nicht von vornherein
anzunehmen. Ein Fall, der kürzlich von uns begutachtet wurde,
gibt uns Gelegenheit, die Frage der Ätiologie der episodischen
Dämmerzustände und damit die Frage ihrer praktischen Erb-
begutachtung zu erörtern. Wir möchten dadurch auch erneut die
Aufmerksamkeit auf ein von Äleist abgegrenztes, bisher aber leider
immer noch nicht allgemein anerkanntes Krankheitsbild lenken.
Die Krankengeschichte geben wir absichtlich etwas ausführlicher
wieder, um überzeugend nachzuweisen, daß es sich nicht um eine
schizophrene Erkrankung gehandelt hat, wie man vor uns ange-
nommen hatte, sondern eben um ‚‚episodische Dämmerzustände‘“.
An diese Krankheitsform hatte der Vorgutachter wohl gar nicht
gedacht, obwohl ihm selbst einige für Schizophrenie recht unge-
wöhnliche Erscheinungen aufgefallen waren. Es handelt sich um
ein junges Mädchen M. Sch., das im Dezember 1919 geboren ist.
70 Klaus Speckmann
Aktenvorgeschichte: Krankengeschichte der Heilanstalt in H.:
Die Aufnahme in die Anstalt erfolgte am 9. 2. 1938 auf Grund eines amts-
ärztlichen Gutachtens, das besagt, die S. sei schon längere Zeit in ihrem
Töchterheim in P. durch gewisse Eigenartigkeiten aufgefallen, am 7. 2. 1938
sei sie im Konzerthaus in P. versteckt aufgefunden worden, nachdem sie sich
vorher in dem Kurbüro nur mit Mantel und Schlüpfer bekleidet präsentiert
hatte, ihre Kleider seien auf der Toilette aufgefunden worden. Bei der Unter-
suchung habe sie sich unter der Bettdecke versteckt, eine Unterhaltung sei
mit ihr nicht zu führen gewesen. Die S. leide wahrscheinlich an einer Schizo-
phrenie.
Nach der Aufnahme in die Anstalt war sie dauernd sehr unruhig, laut,
redete ständig, indem sie sinnlos meist französische Worte aneinanderreihte:
. Je suis Greta Garbo — Qui, Madame, je suis Greta Garbo — Mathilde, du
bist Mathilde — ich bin im Bilde — Qui, Madame, ich bin Rosemeyer, bitte,
Rosemeyer, bitte — Rosemeyer, bitte — Göring — je suis Göbbels — Rhino-
zeros, Kanozeros, Rotarius — Qui, Madame, Gisela Heinemann, je suis Gisela
Heinemann. — Qui, Madame c’est vrai, Madame — Je suis, na je suis, na
je suis Greta Garbo — Non, Lisbeth — usw. In dieser Weise sprach sie un-
unterbrochen, dabei gestikulierte sie mit den Armen in der Luft herum, wobei!
sie Drehbewegungen und Überkreuzungen usw. immer wiederholte. Für eine
Unterhaltung war sie nicht fixierbar, meist nahm sie gar keine Notiz von den
Anreden der Ärzte, nur manchmal unterbrach sie nach langem Fragen ihren
Redestrom, um Fragen nach ihrem Namen und Alter ganz nebenbei, wie
eingestreut, zu beantworten. Den Namen der Eltern, ihre Wohnung und den
derzeitigen Aufenthaltsort konnte man nicht von ihr erfahren. Bis zum 14. 2.
blieb sie unverändert unruhig, ihr Bett war dauernd vollständig zerwühlt,
auch der Rededrang war ähnlich der oben geschilderten Art unverändert,
wobei aber auffiel, daß sie zeitweise viel von Hypnose sprach. Vorläufig wurde
eine „Motalitätspsychose, dem weitgehenden sprachlichen Zerfall nach
der Schizophrenie zugehörig“ angenommen.
Am 14. 2. wurde eine Insulinbehandlung eingeleitet, in den nächsten Tagen
blieb das Zustandsbild aber noch unverändert.
Am 18.2. war sie dann offenbar ziemlich plötzlich erstmalig ansprechbar,
über ihre Person orientiert, noch desorientiert über Ort und Zeit. Sie war noch
ratlos, machte aber richtige Angaben aus ihrem Leben, an das Vorgefallene
erinnerte sie sich nicht.
Am 22.2. war sie nach dem Insulinschock freundlich und gesprächig und
beschäftigte sich, blieb aber noch etwas läppisch, schnippig und hatte keine
Krankheitseinsicht.
Am 28.2. war sie ruhig und völlig ansprechbar geworden und örtlich und
zeitlich voll orientiert. Sie machte an diesem Tage erstmalig selbst Angaben
zu ihrer Vorgeschichte, woraus folgendes zusammengefaßt wird: Weihnachten
1937 hatte sie daheim bei ihren Pflegeeltern mit ihrem Freund verlebt, dann
war sie mit ihm zu ihren rechten Eltern nach O. gefahren, hatte dann aber,
nachdem ihr Freund zu seinem Militärstandort zurückgefahren war, einen
anderen jungen Mann kennengelernt, der ihr eifrig den Hof machte und dem
sie sich anscheinend nicht ganz entziehen konnte. Sie kam in Gewissens-
konflikte und von ihren Verwandten wurden ihr zudem noch Vorwürfe gemacht.
Siv war wegen dieser Ereignisse sehr traurig und niedergeschlagen, dazu kam,
daß sie in den letzten Tagen vor ihrer Abreise noch eine fieberhafte Grippe
Wurchmachte und 2 Tage im Bett liegen mußte. Seit Weihnachten fühlte sie
Beitrag zur Differentialdiagnose und Erbbegutachtung usw. 71
sich irgendwie verändert und führte das auf die in ihrer Heimat überstandenen
Aufregungen zurück. Auf der Rückreise nach P., die sie am 9. 1. 1938 traurig
und niedergeschlagen antrat, kam ihr schon alles so komisch vor, sie fühlte
sich beobachtet, glaubte, man habe ihr im Wartesaal in A. ein Notizbuch
gestohlen, wobei sie hinter allem immer den jungen Mann vermutete, dessent-
wegen der ganze Familienstreit entstanden war. Ebenso fühlte sie sich auf
einem Tanztee, den sie am 6. 2. mit ihren Kameradinnen besuchte, nicht wohl,
hatte im Gegensatz zu früher keine Lust zum Tanzen und fühlte sich auch
dort von einem Herrn beobachtet. -
Am 7. 2. besuchte sie mit dem Töchterheim ein Theater, fühlte sich auch
dort nicht wohl, hatte offenbar Angstgefühle, alles kam ihr so unheimlich vor,
die Schauspieler glaubte sie im Wartesaal in A. oder im Zug nach P. schon
gesehen zu haben. Auch dahinter vermutete sie wieder den jungen Mann aus
ihrer Heimat. In diesem Theater ist ihr dann angeblich schlecht geworden,
weshalb sie auf die Toilette ging, um zu kühlen. Sie glaubt, anschließend
wieder in den Saal gegangen zu sein. Daß sie sich tatsächlich aber im Konzert-
haus versteckt hatte und in Mantel und Schlüpfer herumgelaufen sei, kann
sie nicht glauben, sie hat daran ebenso wie an die folgenden Tage keine Erinne-
rung. Nur daß sie am Tage vorher spazieren gegangen ist, weiter an eine
Schwester in schwarzer Tracht und an ihren während der Fahrt in die Anstalt
ihr gegenübersitzenden Vater kann sie sich noch erinnern. An die ersten Tage in
der Anstalt fehlt wieder jede Erinnerung, auf Befragen bestreitet sie, sich
jemals hypnotisiert gefühlt zu haben.
Am 28. 2. wurde die Insulinbehandlung abgebrochen, da eine so weitgehende
Besserung eingetreten war und der weitere Verlauf unbeeinflußt beobachtet
werden sollte.
Am Abend des 4. 3. 1938 war sie ganz plötzlich erneut ausgesprochen ver-
ändert. Ihr Gesichtsausdruck war gespannt, im Bett warf sie sich unruhig
hin und her, außer Bett lief sie planlos umher, im ganzen wirkte ihr Verhalten
sprunghaft und ablehnend, man konnte sich nicht mehr so gut mit ihr in Ver-
bindung setzen wie an den vorhergehenden Tagen, dabei war sie offenbar noch
völlig orientiert.
Am 7. 3. mußte sie wegen starker Unruhe wieder auf die unruhige Abteilung
verlegt werden. Dort drängte sie dauernd aus dem Bett, legte sich in fremde
Betten, wühlte darin herum und sprach auch wieder ununterbrochen vor sich
hin: Qui, Madame, ich bin es — Traumann, wer ist es. Ich sage nicht, wer ich
bin usw.‘ Zwischendurch grimassierte sie. Oft zog sie sich Mäntel anderer
Patienten an und ging damit herum. Durch Zureden war sie nicht zu beein-
flussen, sie verhielt sich dann ablehnend, steckte den Kopf in die Kissen und
lachte laut. Über den Zustand des Bewußtseins ist nichts vermerkt, doch
scheint zeitweise Desorientiertheit bestanden zu haben.
Vom 8.3. an wurde die Insulinbehandlung fortgesetzt, jedoch zunächst
ohne wesentliche Änderung des Befundes. Am 16. 3. noch war die S. albern,
unausgeglichen, ablehnend, aber erstmalig ruhiger. Am 21.3. war sie dann
„nachmittags ruhiger, ging in die Nähstube‘“. Die Besserung hielt auch in
der nächsten Zeit an, sie war ruhig und geordnet aber (am 31. 3.) noch etwas
ablehnend und kurz zu der Umgebung. Nachnnittags beschäftigte sie sich
regelmäßig und am 6.4. wurde sie nachmittags als ‚freundlich und nett“
geschildert.
Etwa am 10.4. (der genaue Zeitpunkt geht aus den Aufzeichnungen nicht
hervor), hatte die S. Besuch von ihrem Freund und wurde, wie die Anstalts-
72 Klaus Speckmann
ärztin in ihrem zusammenfassenden Urteil ausdrücklich schreibt, im Anschluß
an diesen Besuch nochmals heftig erregt. Sie sprang unruhig umher, ging über
Tische und Bänke, warf Sachen aus dem Fenster, lachte und sang dauernd
so laut, daß es weithin schallte. Deshalb wurde am 11.4. zunächst eine Kardia-
zolkrampfbehandlung eingeleitet. Trotzdem blieb sie in der nächsten Zeit noch
unverändert unbeeinflußbar, sang und sprang herum und war noch am 29. 4.
„kaum zu halten‘. Auch am 6. 5. war sie noch unbeeinflußbar wie die vorher-
gehenden Tage, aber am 10. 5. findet sich dann die Eintragung: ‚‚wieder etwas
ruhiger, beschäftigt sich“ und am 14.5. war sie schon wieder am Nachmittag
(die Insulinbehandlung hatte am 13.5. wieder eingesetzt) ‚sehr nett und
fleißig“. In den nächsten Tagen wurde dann ausdrücklich vermerkt, daß ihr
an ihren Erregungszustand wenig Erinnerung geblieben sei. Im weiteren
Verlauf des Mai und Juni 1938 wurde die S. dann durchweg als nett und freund-
lich, fleißig, gefällig und hilfsbereit geschildert. Das Erinnerungsvermögen
an ihre Erregungszustände fehlte ihr auch weiterhin, wie am 22. 5. nochmals
ausdrücklich betont wurde. Im August hielt sie sich zusammen mit ihrer dort
weilenden Mutter viel außerhalb der Anstalt auf, war immer geordnet, aber
zeitweise noch etwas , hastig und unfrei, auch etwas unruhig“. Am 16.8.
wurde sie aus der Anstalt in H. entlassen und in die Nervenklinik Frankfurt
a. M. überführt.
Akten des Erbgesundheitsgerichts in H.: Am 17. 6. 38 stellte der
Direktor der Heilanstalt in H. Antrag auf Unfruchtbarmachung der S. wegen
Schizophrenie. In dem anliegenden Gutachten ist bezüglich Erbkrankheiten
in der Familie S. und ihrer eigenen Vorgeschichte nichts Wesentliches enthalten.
Im Anschluß an einen seelischen Konflikt sei die S. in P. plötzlich erkrankt,
sei verwirrt und erregt geworden mit verkehrten Handlungen. In der Anstalt
sei sie während ihrer Krankheit erregt, verwirrt und desorientiert gewesen, sie
habe grimassiert und teilweise Denkhemmung, Zerfahrenheit und offenbar auch
Sinnestäuschungen gehabt. Es liege eine Schizophrenie vor, wenn auch zu-
gegeben werden solle, daß die Erscheinungen der Psychose manche Ähnlich-
keit mit einer psychogenen Erkrankung gehabt hätten. Die anliegende Sippen-
tafel sowie die sehr eingehenden Nachforschungen des Pflegevaters der S.
ergaben keinen Anhalt für das Vorliegen von Erbkrankheiten, Trunksucht usw.
in der Familie der S. Mehrere Zeugnisse aus verschiedenen Lehranstalten lassen
genügende bis gute Leistungen der S. erkennen.
Angaben der Pflegemutter: S. sei immer ein ruhiges, niemals sehr
mitteilsames Kind gewesen, habe sich aber mit ihren Kameradinnen immer
gut vertragen und auch sehr enge Freundschaften geschlossen. Sie las sehr
gerne und viel, hatte Geigenstunde mit gutem Erfolg und war schon vor 1933
Scharführerin im B.D.M., woran sie sehr viel Freude hatte. Ihre Leistungen
während und nach der Schulzeit seien immer zufriedenstellend gewesen, am
liebsten sei ihr wohl das Landdienstjahr gewesen. Sie habe sich schon immer
sehr nach dem Lande hingezogen gefühlt. Über den plötzlichen Umschwung
ihrer Gefühle für ihren Freund habe in der ganzen Familie große Bestürzungr
geherrscht, man habe ihr Vorhaltungen gemacht, woraufhin sie sich ja auch
gleich umbesonnen habe. In den letzten Tagen vor ihrer Abreise nach P. habe
sie eine fieberhafte Grippe durchgemacht und sei Ref. durch ihr stilles Wesen
aufgefallen, so daß sie sie deswegen auf der Reise bis nach K. begleitet habe.
Von P. aus habe sie nicht mehr geschrieben, man habe sich Sorgen gemacht
und auf einen Anruf bei der Leiterin des Töchterheims habe sie erfahren, ihre
Tochter sei zwar gesund, aber ganz verändert, verstört und aufgeregt. Sie
Beitrag zur Differentialdiagnose und Erbbegutachtung usw. 73
schlafe nachts nicht mehr und weine dauernd. Ref. sei dann nach P. gerufen
worden, dort sei aber die Überführung in die Heilanstalt nach H. schon ange-
ordnet gewesen und sie habe sie auf der Fahrt im Auto begleitet. Dabei habe
sie gar keine Notiz von ihr genommen, sondern dauernd z. T. auf französisch
vor sich hingesprochen. Das sei wohl daher gekommen, daß die Mädels in P.
unter sich immer sehr gern französisch sprachen, um sich zu üben.
Eigene Angaben: Über ihre Familie weiß sie nichts Neues zu berichten.
Ihre Geburt ist normal verlaufen, sie hat zur rechten Zeit laufen gelernt. An
Kinderkrankheiten hatte sie Masern, Keuchhusten, Wasserblattern und Schar-
lach ohne Nachkrankheiten. In ihrem dritten Lebensjahre wurde sie von
ihren Pflegeeltern, die Geschwister ihrer rechten Eltern sind, an Kindesstatt
angenommen. Die Volksschule und das Lyceum besuchte sie bis zu ihrem
14. Lebensjahr, ohne sitzen zu bleiben. Während dieser Jahre war sie niemals
ernstlich krank. Sie besuchte dann 1 Jahr eine Handelsschule und !/, Jahr eine
Kochschule und machte anschließend !/, Jahr Landdienst bei ihrem Schwager
in O. Dort machte sie alle Arbeiten im Haus und auf dem Feld mit und fühlte
sich dabei sehr wohl, es machte ihr Spaß.
Vom 1.10.1937 an war sie in einem Töchterheim in P. zusammen mit
15 Mädels, mit denen sie sich ganz gut vertrug, aber keine engeren Freund-
schaften schloß, zumal sie sich schon von jeher nicht so leicht anschließen
konnte. Sie hatte anfangs sehr unter Heimweh zu leiden, lebte sich dann aber
gut ein. Über die Ereignisse, die Weihnachten 1937 zu einem vorübergehenden
Bruch mit ihrem Freund führten, hat sie sich damals sehr aufgeregt. Der junge
Mann, den sie dort auf einem Tanzvergnügen kennen lernte, hat sie sehr
bedrängt und umworben, aber wie sie selbst sich dazu gestellt hat, ist nicht
recht von ihr zu erfahren, zumal sie offenbar nur sehr ungern darüber spricht.
An die Vorgänge, die zu ihrer Verbringung in die Heilanstalt führten, kann sie
sich nicht erinnern. Es könne wohl sein, daß sie damals seelisch verändert
gewesen sei, aber sie weiß nichts mehr davon. Nach wie vor hat sie sich mit
ihren Kameradinnen gut vertragen, sich weder von diesen noch von anderen
Personen benachteiligt oder gehänselt gefühlt. Auch hat sie niemals bemerkt,
daß über sie gesprochen wurde. Gesichts- oder Gehörstäuschungen gehabt zu
haben, lehnt sie ab. Den Zeitpunkt ihrer Überführung kann sie nicht angeben
und sie hat keinerlei Erinnerung an die erste Zeit in der Heilanstalt, sie weiß
nur noch, daß ihr Vater ihr im Auto gegenübersaß. Später haben ihr die Pile-
gerinnen in der Anstalt erzählt, daß sie sehr erregt gewesen sei und dauernd
französisch gesprochen habe. Die Regel ist bei ihr mit 12 Jahren eingetreten,
sie war immer regelmäßig, aber sehr stark. Vor Eintritt derselben war sie
manchmal etwas matt, aber niemals verstimmt, hatte auch niemals Kopf-
schmerzen. In H. hat sie anfangs noch einmal die Regel gehabt, dann ist sie
ausgeblieben und hat erst Anfang August sehr kurz und schwach wieder
eingesetzt.
Befund: Verhältnismäßig großes Mädchen von altersentsprechendem
Äußeren in reichlichem Ernährungszustand, von etwas massivem, aber nicht
unharmonischem Körperbau. Haut und sichtbare Schleimhäute gut durch-
blutet, regelrechte, aber nicht sehr kräftige Behaarung. Hände und Füße
feucht-kühl, deutlich rotstreifige Hautschrift.
Im übrigen hatte die körperliche und neurologische Untersuchung ein völlig
normales Ergebnis. Auch die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ergab
nichts Krankhaftes.
74 Klaus Speckmann
Seelisches Verhalten: Während der ersten Tage der hiesigen Beobach-
tungszeit machte die S. einen leicht gehemmten, unsicheren Eindruck, die
neue Umgebung bedrückte sie, doch nahm sie von Anfang an steten Anteil
an ihrer Umgebung, beobachtete alle Vorgänge auf der Abteilung genau
(wie man in späteren Gesprächen feststellen konnte) und verhielt sich auch bei
den ersten Untersuchungen völlig situationsgerecht. Über ihre Krankheit
sprach sie offenbar ungern, sie erinnerte sich nicht gerne daran. Von den Vor-
gängen während der letzten Tage in P. und der ersten Zeit in der Heilanstalt
wußte sie auch bei genauer Befragung fast nichts mehr. Über ihre Angstzustände
mit trauriger Verstimmung und ihre Eigenbeziehungen z. B. während ihrer
Rückfahrt nach P. äußerte sie, sie könne sich nicht erklären, wie sie darauf
gekommen sei und war geneigt, die während des Weihnachtsurlaubes über-
standenen Aufregungen dafür verantwortlich zu machen. Für ihre Krankheit
und deren Ernst besaß die S. hier volle Einsicht. In den letzten Tagen, besonders,
nachdem die Beschwerden infolge der Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit
abgeklungen waren, hatte sie sich völlig eingelebt. Sie beschäftigte sich gerne
und aus eigenem Antrieb mit Haus- und Handarbeiten, nahm an den Ge-
sprächen der anderen Kranken ihren Anteil, lachte dabei heiter und benahm sich
völlig frei und ungezwungen.
Eine eingehende psychisch-experimentelle Untersuchung ergab bei einwand-
freier Orientierung und Merkfähigkeit ein etwa ihrem Bildungsgang entspre-
chendes Wissen und genügende Produktivität. Begriffe erklärte sie richtig,
weder umständlich noch weitschweifig. Auch ihr Urteilsvermögen war völlig
erhalten, Unterschiedsfragen beantwortete sie schnell und genau, Sprich-
wörter erklärte sie sinngemäß, Satzbildung aus drei gegebenen Worten gelang
fließend und geschickt und die Bedeutung bildlich dargestellter Vorgänge
erkannte sie nach kurzer Betrachtung. Dabei ergab sich kein Anhalt für
paralogische Denkstörungen oder sprachliche Schiefheiten. Die Stimmungs-
lage war immer situationsgerecht. Auch das gesamte psychomotorische Ver-
halten bot nichts Auffälliges.
S. war im Anschluß an Aufregungen und eine fieberhafte Grippe
seelisch zunächst während einiger Wochen leicht verändert: Sie
war traurig, weinerlich und schlaflos und hatte häufig mit Angst
verbundene Beziehungsideen. Dann erkrankte sie. am 7. 2. 1938
plötzlich akut, war über ihre Umgebung nicht mehr orientiert,
deutlich umdämmert, versteckte und entkleidete sich in diesem
Zustand vor der Öffentlichkeit, am nächsten Tage klingelte sie
bei einem Spaziergang an fremden Haustüren und war auch hier-
bei örtlich und über ihre Umgebung nicht orientiert, so daß ihre
Wohnung von der Polizei ausfindig gemacht werden mußte.
Am 9. 2. wurde sie in die Heilanstalt in H. eingeliefert und bot
dort ein schweres Krankheitsbild: Sie war völlig desorientiert,
nicht ansprechbar oder fixierbar, sie war motorisch unruhig, warf
den Körper im Bett hin und her und machte einförmige drehende
und kreuzende Armbewegungen. Dabei bestand ein Rededrang
mit ideenflüchtigen Wendungen, vor allem aber häufigen Wieder-
holungen einzelner Redewendungen. Gleichzeitig neigte sie zu
Beitrag zur Differentialdiagnose und Erbbegutachtung usw. 75
triebhaftem Umbherlaufen und Fortdrängen mit einzelnen Gewalt-
tätigkeiten. Dieser schwere Zustand klang nach Einleitung einer
Insulinbehandlung, jedoch nicht in eindeutigem zeitlichem Zu-
sammenhang mit derselben, innerhalb dreier Tage rasch ab und
war am 22. 2. fast völlig beseitigt, es bestand lediglich noch keine
volle Krankheitseinsicht. Es fehlte fast jede Erinnerung an die
überstandene Krankheit und ihren Beginn.
Am 4.3. war S. plötzlich erneut seelisch verändert, ablehnend,
gespannt und unruhig, und schon am 7.3. war das Zustandsbild
im ganzen dasselbe wie bei der ersten Erkrankung. Es blieb jetzt
im wesentlichen bis zum 16. 3. unverändert bestehen und klang
dann ebenfalls wieder rasch ab bis zum 21.3. Bei dieser zweiten
Erkrankung ist bezüglich der Bewußtseinslage und des anschlie-
Benden Erinnerungsvermögens in den Akten nichts enthalten, mit
größter Wahrscheinlichkeit hat aber auch in dieser Hinsicht gegen
die erste Erkrankung kein wesentlicher Unterschied bestanden.
Ein drittes Mal erkrankte die S. etwa am 10. 4. 1938, trotzdem
die Insulinbehandlung beibehalten worden war, in unverkenn-
barer Abhängigkeit von einem Besuch des Freundes, der mit ein
Grund für die seelischen Aufregungen während ihres Weihnachts-
urlaubes 1937 gewesen war. Dieses Zustandsbild, bei dem mehr eine
triebhafte Bewegungsunruhe im Vordergrund stand, blieb trotz
sofortiger Einleitung einer Kardiazolkrampfbehandlung bis zum
10.5. bestehen, um dann plötzlich bis zum 14.5. soweit abzu-
klingen, daß die S. als „sehr nett und fleißig“ bezeichnet werden
konnte. Auch dieses Mal fehlt jede Erinnerung an die Zeit der Er-
krankung, wie im Krankenblatt unter dem 14.5. und 22.5. aus-
drücklich bemerkt ist.
Die S. machte also in gut 3 Monaten nach einem ängstlich-
depressiven Vorstadium mit Schlaflosigkeit, das reichlich drei
Wochen anhielt, drei Psychosen durch, von denen die erste 15,
die zweite 14 und die dritte 25 Tage dauerte. Bei der Desorientiert-
heit in den Zuständen und der nachfolgenden Erinnerungslosig-
keit für die Vorgänge während der akuten Erkrankungen hat es
sich um Dämmerzustände gehandelt, die in kurzen Abständen
aufeinander folgten. Da für epileptische oder eine andere Ursache
kein Anhalt besteht, müssen wir sogenannte ‚episodische Dämmer-
zustände‘‘ (im Sinne Kleists) annehmen.
Es ist aus den Akten eindeutig ersichtlich, daß die Erkran-
kungen, wie es auch von Kleist und Leonhard für die episodischen
Dämmerzustände beschrieben worden ist, von verhältnismäßig
kurzer Dauer waren, auffallend rasch kamen und abklangen und
76 Klaus Speckmann
mit einer Trübung des Bewußtseins, Desorientierung über Ort,
Zeit und Umgebung einhergingen. Daneben bestanden inkohärenter
Rededrang, erhebliche motorische Unruhe und Neigung zu im-
pulsiven und triebhaften Handlungen, Erscheinungen, die eben-
falls bei episodischen Dämmerzuständen häufig sind. Die viel-
fachen Wiederholungen in den sprachlichen Äußerungen ent-
sprangen sicher einer Neigung zum Haften (Perseveration) und
sind insofern charakteristisch für eine Bewußtseinstrübung. Schon
in der Heilanstalt H.haben zeitweise Zweifel an der Diagnose
Schizophrenie bestanden (z. B. wurde anfangs Verdacht auf Mo-
tilitätspsychose geäußert, und in ihrem Gutachten gibt die An-
staltsärztin „manche Ähnlichkeit dieser Psychose mit einer psycho-
genen Erkrankung‘ zu). Wir selbst fanden für das Vorliegen einer
Schizophrenie keine Anhaltspunkte. Es ist nach dem Krankheits-
verlauf sehr unwahrscheinlich, daß es sich um eine fortlaufende,
nur durch Insulinbehandlung zeitweise unterbrochene Erkrankung
gehandelt hat, denn der zeitliche Zusammenhang zwischen der
Insulinbehandlung und dem jeweils sehr plötzlichen und raschen
Abklingen der Psychosen ist keineswegs ersichtlich, und die dritte
Erkrankung brach sogar trotz ununterbrochener Behandlung nach
einem Besuch des Freundes aus. Vor allem aber spricht die starke
Bewußtseinstrübung während der Psychosen gegen Schizophrenie.
Auch die bei der S. beobachteten sprachlichen Störungen können
nicht im Sinne eines schizophrenen sprachlichen Zerfalles gedeutet
werden, da sie in einem Zustand weitgehender Bewußtseinstrübung
(mit Perseverationen) vorgebracht wurden. Zwischen den einzelnen
Psychosen war S. offenbar ım ganzen unauffällig, freundlich und
nett, ebenso wie sie auch während der hiesigen Beobachtungszeit
völlig unauffällig war und insbesondere keinerlei spezifisch schizo-
phrenen Zeichen (z. B. paralogische Denkstörungen, sprachliche
Schiefheiten, affektive Störungen oder psychomotorische Auffällig-
keiten) erkennen ließ. Auch die ausführlichen Unterlagen über die
Familie der S. ergaben keine Hinweise auf eine erbliche Belastung
im schizophrenen Sinne. Die körperliche und neurologische Unter-
suchung ließ außer einem massiven Körperbau und leichten vaso-
motorischen Störungen nichts Krankhaftes finden.
Die Ursache der ‚episodischen Dämmerzustände“ ist noch nicht
völlig geklärt. Durch Kleist und Leonhard sind uns erbbiologische
Beziehungen bekannt geworden. Vielfach aber findet man, wie
auch bei der S., keinerlei erbliche Belastung. Auch reaktive Um-
stände scheinen als auslösend ın Frage zu kommen, denn sowohl
Fälle von Kleist als auch in einem Falle Leonhards sind vorher
Beitrag zur Differentialdiagnose und Erbbegutachtung usw. 77
seelische Aufregungen aufgetreten, obwohl bei der Schwere der
Umdämmerung eine Verwechslung mit den rein reaktiv ent-
stehenden hysterischen Zuständen nicht in Frage kam. Ähnlich
liegen die Verhältnisse bei der S.: Der reaktive Anlaß ist gegeben,
ohne daß man ihm mehr als eine auslösende Rolle zuteilen kann;
am eindeutigsten ist der reaktive Anlaß bei dem dritten Dämmer-
zustand ersichtlich. Von Bedeutung ist daneben sicher auch das
Aussetzen der Regel. Da es lange über die akute Erkrankung
hinaus bestand, wird man es nicht einfach als eine auch sonst
häufige Begleiterscheinung der Psychosen auffassen dürfen, sondern
berechtigt sein, es als ätiologisches Moment heranzuziehen. Daß
bei Störungen des Menstruationszyklus Dämmerzustände auf-
treten können, ist ebenfalls bekannt, unter Kleists Fällen findet
sich einer mit regelmäßigen prämenstruellen Verstimmungen oder
Dämmerzuständen. Leonhard führt einen Fall an, bei dem eine
seelische Erregung gleichzeitig eine um 8 Tage verfrühte Regel-
blutung zusammen mit einem Dämmerzustand auslöste. Wahr-
scheinlich führt in solchen Fällen der psychische Anlaß zu einer
Störung im Menstruationszyklus, wie es auch schon normaler-
weise häufig vorkommt, und diese Störung wieder zu einem
Dämmerzustand.
So darf man auch bei der S. den Zusammenhang am ersten an-
nehmen. Die schwere seelische Belastung, der sie durch ihre
erotischen Konflikte ausgesetzt war, führte zu einer Störung im
Menstruationszyklus und damit auf dem Wege innersekretorischer
Veränderungen zu den Dämmerzuständen. Reaktive und inner-
sekretorische Störungen stehen demnach im Vordergrund, während
erblich bedingte Momente nicht zu ermitteln waren. Es besteht
demnach kein Anlaß, die Erkrankung der S.in Zusammenhang
mit einer Erbkrankheit, etwa der erblichen Fallsucht zu bringen.
Die Haftpflicht des Krankenhauses
für Nerven- und Geisteskranke
Von
Verw.-Oberinspektor Sieben,
(Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt am Main,
Leiter: Prof. Dr. X. Kleist)
In der Nachkriegszeit wurde über das Haftungsgebiet des Kran-
kenhauses durch die Rechtsprechung und durch Handbücher
manche Klarheit herbeigeführt, die auch nichtjuristischen Kreisen
wertvolles Anschauungs- und Vergleichsmaterial für die Alltags-
arbeit an die Hand gibt. Verhältnismäßig wenig sind in diesem
Rechtsmaterial Fälle und juristische Erörterungen vertreten, die
in den Bereich der Anstalten für Nerven- und Geisteskranke ge-
hören. Es soll auch nicht der Zweck dieser Ausführungen sein,
gerichtliche oder rechtswissenschaftliche Feststellungen zur Be-
trachtung zu stellen, als vielmehr jene Haftungsursachen im Aus-
gangspunkt zu behandeln, denen die verantwortlichen Leiter von
Kliniken und Anstalten ihre Aufmerksamkeit zuwenden müssen.
Arzt und Verwalter des Fachkrankenhauses haben die Pflicht,
sich über das Ausmaß der Haftungsmöglichkeiten einen zuverlässi-
gen Überblick zu verschaffen dadurch, daß sie die Lebensvorgänge
zwischen Anstalt und Kranken auf ihre haftungsrechtlichen Aus-
wirkungen hin beobachten und aus dieser Kenntnis für genügende
Abhilfe sorgen. Dazu besteht umsomehr Veranlassung, als diese
Vorsorge die gesteigerten Gefahren in Betracht ziehen muß, die
sich aus der besonderen Art der Nerven- und Geisteskranken
ergeben können.
Die Haftpflichtursachen der auch in sonstigen Krankenanstalten
vorkommenden Art sollen hier übergangen werden. Sie sind zwar
eigenartig, aber nicht so häufig und ausgedehnt, wie die Haftpflicht-
möglichkeiten in unseren Kliniken und Anstalten, bei deren Ver-
hinderung die Mitwirkung des Kranken in vielen Fällen fehlt.
Im allgemeinen Krankenhaus und in anderen Fachanstalten fühlt
sich der Kranke selbst zumindest moralisch mitverantwortlich
und berufen, schädigende Vorkommnisse nach Möglichkeit zu ver-
hüten, also in gleicher Richtung aufklärend, hemmend oder ver-
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 79
hindernd tätig zu sein, wie die Krankenhausleitung und ihr Per-
sonal. Diese Zweckeinstellung und Mitarbeit des Kranken kann
in unseren Anstalten nicht immer erlangt werden, weil dem Kran-
ken die Einsicht, die Gefahrenerkenntnis und oftmals auch der
gute Wille fehlt, sei es, daß der verstandesmäßig mögliche Wille
verweigert wird oder nach der Art der Erkrankung nicht aufge-
bracht werden kann.
In welch größerem Maße unsere Anstalten und Kliniken haft-
pflicht-anfällig sind, beweisen die vorkommenden Fälle in ihrer
Vielseitigkeit und durch die oftmals geradezu groteske Art ihres
Ursprungs. Der Bereich der Zufälle (teils: Einfälle des Kranken)
ist ein weit größerer als bei anderen Anstalten, auch scheidet das
in anderen Anstalten manchmal auftretende konkurrierende Ver-
schulden des Kranken ($ 254 BGB.) für unsere Anstalten vielfach
ganz aus. Andrerseits stellt sich deswegen die ordnungsmäßige
Anleitung und Beaufsichtigung des Kranken als erhöhte Sorg-
faltspflicht unseres Personals dar.
Mit den verantwortlichen Leitern unsrer Kliniken und An-
stalten steht der Richter im Einzelfall immer wieder vor einem
in Handlung und Verlauf überraschenden, wenig logischen und
übersichtlichen Tatbestand. Auch der Nichtjurist weiß ungefähr
abzuschätzen, was der $51 StrGB. in solchen Fällen bedeuten
kann. Er schließt bei Geisteskranken und pathologisch behafteten
Menschen die Verantwortung für rechtsgefährliche Handlungen
aus, bei einer Art von kranken Menschen, die zumeist auch die im
Krankenhaus- Aufnahmevertrag selbstverständliche Gehorsams-
pflicht des Kranken gegenüber Hausordnungen und sonstigen An-
ordnungen außer acht lassen. Im zivilen Recht ist die Haftung
des Kranken ebenfalls eingeschränkt durch $ 827 BGB., nach dem
unzurechnungsfähige Personen ihre Schadenverursachung nur be-
schränkt oder überhaupt nicht zu vertreten haben. Auch hieraus
wird der größere Spielraum der Unsicherheit ersichtlich, dem sich
die Richter bei Strafanträgen und Haftungsansprüchen an unsere
Anstaltsleitungen und Anstaltsärzte gegenübersehen. Sie wird da-
durch bestärkt, daß (wie das auch bei Beschwerden von Kranken
im Dienstaufsichtswege immer wieder in Erscheinung tritt) diese
Anträge und Antragsteller in Auftreten, Wort und Schrift den
Gerichtsstellen gegenüber den normalen Anschein erwecken, ob-
wohl es sich nur um ebenfalls krankhafte Wiedergaben und Ent-
stellungen handelt, die als solche zunächst nur vom Facharzt zu
erkennen sind. Mehr als in anderen Fällen und Anstalten spricht
hier also auch noch der Schein gegen unsere Ärzte und Anstalten.
80 Sieben
Die Schwierigkeiten unserer Fälle sind damit nicht erschöpft.
Allgemeine Anstalten schließen bei der Aufnahme des Kranken
in der Regel alsbald einen Aufnahmevertrag mit ihm. Seltener
ist es bei ihnen, daß sie von der Polizei eingewiesene Kranke auf-
nehmen. Ein großer Teil unsrer Kranken wird nicht aus eigenem
Willen aufgenommen, sondern wegen amtsärztlich festgestellter
Gemeingefährlichkeit zwangsweise eingewiesen, in diesen und auch
anderen Fällen oft noch unter Umständen, die den Arzt vor
die Zwangslage der „Geschäftsführung ohne Auftrag‘ stellen.
Zwangseinweisungen lassen oft auch kein Vertrauensverhältnis
zum Arzt und Personal aufkommen. Immer wieder müssen sich
unsere Kliniken und Anstalten gegen den Vorwurf der Freiheits-
beraubung wehren. Zu alledem treten die zahlreichen Selbstschä-
digungen der Kranken, Flucht-, Verstümmelungs- und Selbst-
mordversuche, die Schädigungen dritter Personen an Gesundheit
und Eigentum. Man bedenke dabei, daß nach den durchschnitt-
lichen Erfahrungen bei unseren Aufnahmen bis zu drei Viertel
aller Kranken als selbstmordgefährlich gelten.
Gehen wir zunächst auf die Sorgfaltspflicht ein, die ganz all-
gemein und persönlich, d.h. auf dem Grunde charakterlicher und
berufsverbundener Dienstauffassung den Ärzten und ihrem Hilfs-
personal obliegt. Über alle Einzelheiten hinweg ist immer die innere
Ausrichtung und die richtige Fachausbildung wichtig. Aus Unter-
lassungen, Fehl- und Übergriffen entstehen die Haftpflichtschäden,
manchmal ohne äußerlich erkennbare Schuld. Volle Dienstwillig-
keit und Zuverlässigkeit in der Ausführung der bestehenden Vor-
schriften lassen sie nicht aufkommen. Wo die Vorschriften Lücken
aufweisen, muß im fortentwickelten Geist dieser Richtlinien und
im hohen Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Kranken und
der Allgemeinheit gehandelt werden. Überwiegend liegt die Auf-
gabe der Verhinderung und Eindämmung möglicher Haftpflicht-
ursachen bei dem Pflegepersonal.
Der Umgang mit nichtzurechnungsfähigen Kranken ist sehr
schwierig, auch das in der allgemeinen Krankenpflege gut vorge-
bildete Personal wird bei ihrer Betreuung erst lernen müssen,
welche Umsicht und Geistesgegenwart diese Pflege erfordert. Den-
ken wir dabei nur an den Fall, der sich so häufig in unseren Anstal-
ten ereignet: Der Kranke greift den Pfleger tätlich an, ein (mög-
lichst) unbemerkt hinzukommender zweiter Pfleger umschlingt die
Arme des Kranken von hinten, kann aber die Kraftaufwendung
desselben nur mit größerer Kraft oder einem geschickten Griff
mattsetzen. Der Pfleger läßt — bei der Notwendigkeit schnellen
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 81
Handelns — seine Selbstkontrolle, nicht über das eigentliche Ziel
hinauszugehen, während der Abwehrhandlung auch nur für Se-
kunden außer acht und dem Kranken ist ungewollt und unbewußt
ein körperlicher Schaden entstanden. Ob der Pfleger die genügende
Selbstkontrolle und Vorsicht ausgeübt hat, ist nachträglich nicht
nachweisbar, weil der angegriffene Pfleger bei seiner eigenen Ab-
wehr keine Aufmerksamkeit zu solchen Beobachtungen hatte und
deshalb als Zeuge (Beweisperson) ausfällt. Der beigesprungene
Pfleger ist damit drei Gefahren ausgesetzt: 1. selbst verletzt zu
werden, 2. wegen vermutlich vermeidbarer Schädigung des Kran-
ken in den dienstlichen Verdacht eines Rohlings zu kommen oder
disziplinarisch verfolgt zu werden und 3. Schadenersatz für die
Folgen der Verletzung übernehmen zu müssen.
Auch aus diesem Beispiel, in dem weder vom Pfleger, noch von
der Anstaltsleitung bewußt Fehler gemacht worden sind, ist die
Unsicherheit auf dem Haftungsgebiet ersichtlich. Die sachlichen
Vorgänge bieten nicht genügende Beurteilungsmerkmale, es bleibt
noch die Prüfung der persönlichen Eignung der den Fall verursachen-
den Pflegeperson offen, für deren Ergebnis u. a. auch die Bewäh-
rung oder mangelhafte Dienstleistung in der Vergangenheit maß-
gebend ist. Die grundsätzliche Haftung des Erfüllungsgehilfen
nach $ 831 BGB. ist nicht damit allein ausgeschlossen, daß dieser
Gehilfe bei seiner Einstellung in den Anstaltsdienst mit der im
Verkehr üblichen (d. h. für den besonderen Betrieb notwendigen)
Sorgfalt ausgewählt ıst. Das geltende Recht macht auch zur
Voraussetzung, daß er zur Zeit seiner schädlichen Betätigung die
erforderliche Befähigung und Zuverlässigkeit besessen hat. Ob er
sie besaß, ist wiederum nicht damit allein bewiesen, daß er
vordem keinen Schaden verursacht hat, daß er mit guten Zeug-
nissen in die Stelle eintrat, daß auch sonst Nachteiliges über
ihn nicht bekannt geworden ist usw. Der Betriebsführer ist viel-
mehr verpflichtet, sich hinsichtlich der Eignung des Personals
dauernd auf dem Laufenden zu halten, sich öfters davon zu über-
zeugen, daß eine ursprünglich vorhandene Eignung noch vor-
handen ist und darauf hinzuwirken, daß gelegentlich beobachtete
Mängel in Arbeit und Dienstführung abgestellt werden. Darüber
hinaus wird aber der Richter im gegebenen Falle auch die Gesamt-
umstände im Personalwesen der Anstalt berücksichtigen. Der Ver-
antwortungsdruck für den Betriebsführer, der sich heute in der Per-
sonalauswahl stark beschränkt sieht, würde sonst ein unerträglicher.
Daß die Anstaltsleitung jeder Krankenmißhandlung schärfstens
entgegentritt, ist ebenso selbstverständlich, wie die Pflegeperson
6 Aulgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3
82 Sieben
den rechten Umgangston zu wahren hat, den Kranken weder an-
schreien noch necken, reizen oder duzen darf. Allzu große Ver-
traulichkeit dem Kranken gegenüber muß vermieden, das Ord-
nungs- und Gemeinschaftsgefühl bestärkt werden, ohne es zu
Auswüchsen kommen zu lassen. Jede falsche Haltung in diesen
Punkten kann die Erregung des Kranken, unberechenbare Hand-
lungen und damit Haftungsschäden der verschiedensten Art
hervorrufen.
Der verantwortliche Abteilungsarzt hat die Pflicht, in dieser
Richtung fortlaufend zu kontrollieren und sowohl den Kranken-
verkehr des Personals als auch den der Kranken untereinander zu
überwachen. Er ist verantwortlich für die Einhaltung der Dienst-
ordnung, für die Art der medizinischen und therapeutischen Be-
handlung, insbesondere auch für die Auswahl der dem Heilungs-
verlauf entgegenkommenden Arbeitstherapie, die allein eine ganze
Reihe von Haftungsgefahren in sich schließt. Er muß darauf ach-
ten, daß seine Anordungen für die Speisung hilfloser, unselbstän-
diger Kranken genau beachtet werden, daß die Vorbereitung der
Kranken und der Instrumente für Injektionen usw. zuverlässig
erfolgt, kurzum, er muß sich — wenigstens in großen Zügen —
um alles Mögliche auch außerhalb seiner ganz unmittelbaren ärzt-
lichen Betätigung am Kranken bekümmern. Im übrigen haftet
der Arzt für seine eigenen ärztlichen Fahrlässigkeiten aus unerlaub-
ter Handlung nach dem jeweiligen Stand von Erfahrungen und
Kunstregeln der ärztlichen Wissenschaft und zwar in Geld, soweit
(und das ist meist der Fall) sich der frühere körperliche Zustand
des Kranken nicht wiederherstellen läßt. Man kann vom Arzt
verlangen, daß er mit der durch seinen Beruf gebotenen Sorgfalt
und Gewissenhaftigkeit umgeht, sich die für seine Tätigkeit erfor-
derlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, also Berufswissen und
Berufstechnik aneignet und nicht Fälle in eigene selbständige Be-
handlung übernimmt, denen er mangels genügender Kenntnisse
und Erfahrungen nicht gewachsen ist. Demgegenüber machte sich
die Rechtsprechung aber auch den Grundsatz zu eigen, daß selbst.
dem berühmtesten Arzt menschliche, entschuldbare Fehler in der
Behandlung unterlaufen können, die auf Zufall und Störungen
zurückzuführen sind, auf Ereignisse, die in die ärztliche Handlung
unvorhergesehen und planwidrig eingreifen. Der Begriff fahr-
lässıger Schuld muß also bei einer Verurteilung des Arztes so
weitgehend fundiert sein, daß ihm nicht selbst Unrecht erwächst,
die Berufssicherheit gestört und das Berufsinteresse genommen
wird. Gerade im Arztberuf würde sich eine Verurteilung nach
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 83
dem Effekt, nach dem unglücklichen Verlauf einer an sich sorg-
fältig vorbereiteten und durchgeführten Handlung bzw. Behand-
lung schwer rächen. Ohne dem Arzt allzuviel nachzusehen, wird
sich der Richter im gegebenen Falle doch vorstellen, wie schwer
der ärztliche Beruf an sich ist und wie weitgehend der Arzt sich
seiner volkswichtigen Aufgabe hingibt, ehe er den Vorwurf einer
schuldhaften Körperverletzung gerichtlich anerkennt.
Hinsichtlich der übrigen Dienstpersonen des Hauses, die mehr
gelegentlich mit den Kranken auf der Abteilung zu tun haben
(Aufnahmebeamte, Photographen usw.) besteht die Verpflich-
tung der Anstaltsleitung zu einer allgemeinen, zweckdienlichen
Unterweisung, damit sie den möglichen Zwischenfällen auf der
Krankenabteilung nicht völlig rat- und hilflos ausgeliefert sind
oder in völlig falscher Weise reagieren. Diese Gefahrenquelle wird,
glaube ich, auch nicht überall genügend beachtet. Daß das Per-
sonal der Verwaltung, Werkstätten, Küchen usw. für die arbeits-
therapeutisch zugeteilten Kranken eine besondere Verantwortung
übernimmt, muß ihm jederzeit klar sein. Der Kreis der Erfüllungs-
gehilfen des Arztes im haftungsrechtlichen Sinne ($ 831 BGB.)
ist weit gezogen, auch das Beipersonal kann überraschend vor
unangenehme richterliche Korrekturen seiner Dienstauffassung und
-ausführung gestellt sein. Die Kenntnis jeder möglichen Zufalls-
entwicklung kann selbstverständlich von diesem Personal schon
gar nicht verlangt werden, es wird also sehr auf die Begleitum-
stände des einzelnen Falles ankommen. Jedenfalls wird hier ein
bescheidener Maßstab von Anforderungen anzulegen sein als beim
Arzt oder Pflegepersonal.
Über die allgemeine und persönliche Sorgfaltspflicht des Arztes
und des Hilfspersonals mehr zu sagen, ginge über den Rahmen
eines zusammenfassenden Aufsatzes hinaus. Neben dieser allge-
meinen Pflicht der Dienstpersonen muß aber, bevor wir uns den
sachlichen Haftungsursachen zuwenden, auch die Vorsorge- und
Fürsorgepflicht der Anstaltsleitung, besser gesagt: der Anstalts-
leiter, kurz besprochen werden. Sie haben, wie erwähnt, zunächst
die Aufgabe, das für den gesamten Anstaltsbetrieb benötigte Per-
sonal gewissenhaft auszuwählen, organisatorisch gesehen, die
Dienstposten nach ihren besonderen Anforderungen in der rich-
tigen, zweckentsprechenden Weise zu besetzen, sodann das Per-
sonal, vor allem zahlreicher vertretene Personalkategorien durch
Mittelspersonen, Zwischenvorgesetzte (wie Oberin, Oberpfleger
usw.) ın geeigneter Weise anleiten und überwachen zu lassen. Das
setzt klare Dienstvorschriften allgemeiner Art für das zu beauf-
6*
84 Sieben
sichtigende Personal und nicht minder unmißverständliche be-
sondere Richtlinien für die Zwischenvorgesetzten voraus. Der
Krankenhausleiter trägt als Betriebsführer die höchste Verant-
wortung dafür, daß alle notwendigen Dienstanweisungen (am besten
schriftlich niedergelegt und an das Personal auszugeben) erteilt
werden, die nach Form und Inhalt über die zu beobachtende Sorg-
falt in jeglichem Umgang mit den Kranken keinen Zweifel lassen.
Wo darüber beim auszuführenden Personal Zweifel aufkommen,
haben die Zwischenvorgesetzten selbst zu entscheiden oder aber —
in grundsätzlichen Fällen — die Entscheidung der Leitung herbei-
zuführen. Der Anordnende hat sich stets vom Erfolg zu über-
zeugen, Anordnung und Kontrolle müssen sich einander sinnvoll
ergänzen. Seine Maßnahmen müssen vollständig, richtig und durch-
führbar sein. Das Personal muß daraus verstehen, was gemeint und
gewollt ist, um nicht das Opfer von Mißverständnissen und Irr-
tümern zu werden. Dem Betriebsführer bezw. Verwalter obliegt neben
der allgemeinen Aufsichtsordnung ferner die allgemeine Sorgfalt auf
sachlichem Gebiet. Die Einrichtung des Hauses muß zweckvoll
und gefahrlos, Maschinen, Stromleitungen gesichert, Beschaffun-
gen und Gerätschaften einwandfrei und im Zustand zuverlässig
sein. Die Leitung genügt — zusammengefaßte Rechtsanschauung —
der Haftungsvorsorge, wenn sie geeignete Sicherungseinrichtungen
nach dem jeweiligen Stand der Erfahrungen, der Wissenschaft und
Praxis in sorgsamer Weise trifft und die Ausführung geeigneten Per-
sonen überträgt, diese aber ständig überwacht bzw. überwachen läßt.
An Haftungsursachen sachlicher Art, die sich aus dem Sonder-
charakter unserer Kliniken und Anstalten ableiten, gibt es eine
Menge. Sie alle theoretisch erfassen zu wollen, ist geradezu unmög-
lich. Oft sind sie einfach und sofort erkennbar, manchmal aber
nur umständlich und zeitraubend aus unglücklichen und kompli-
zierten Zusammenhängen aufzuklären. Sie zeigen sich in der Wir-
kung da, wo sie am wenigsten erwartet werden und führen an
wirklichen Schädigungen vorbei, wo sie offen zutage liegen. Glück
und Zufall spielen auch hier ihre Rolle. Die Haftungsvoraus-
setzungen sind bekanntlich lediglich Vorsatz und Fahrlässigkeit.
Den Vorsatz, obwohl hier und da vorkommend, können wir aus
der Betrachtung ausschließen. Fahrlässigkeiten (als Schuld) per-
sönlicher und sachlicher Art sind im Querschnitt des gesamten
Tagesbetriebes überall denkbar, beispielsweise in und bei folgen-
den Handlungen und Unterlassungen:
Körperliche Untersuchung und Kleiderkontrolle, Einziehung ge-
fährlicher Gebrauchsgegenstände, von Morphium u. dgl., Diagno-
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 85
senfeststellung, Verwechslung von Personen, Medikamenten, Instru-
menten und Behandlungsmethoden, Bettdurchsuchung, Besucher-
kontrolle auf mitgebrachte Sachen, Fernhaltung von Alkohol und
sonstigen Betäubungsmitteln, Offenlassen von Schränken, Türen
und Fenstern (ohne Postierung einer Wache), Nichtverwahrung
von Schlüsseln, Messern, Gabeln, Stricknadeln, Scheren, Medi-
kamenten und Chemikalien, Abgabe von Schlüsseln an Kranke,
mangelnde Aufsicht bei der Arbeitstherapie, beim Spaziergang
des Kranken, beim Aufsuchen von Klosetts und abgelegenen, un-
übersehbaren Örtlichkeiten, Zutritt zu elektrischen Schalträumen,
Gruben, Abhängen, Belassung erregter Kranken im Garten, Ver-
wendung von Kranken zu gefährlichen und gefährdenden Boten-
gängen, Einschleppen und Verstecken von Nägeln, Blech, Draht,
Bindfaden usw., Beförderung von Medikamenten, Überwachung
von Kranken mit künstlichem Gebiß oder Nebenkrankheiten,
Zwischenfälle beim Rasieren, bei Speisungen, rechtzeitige Iso-
lierung oder Verlegung nach Wachabteilungen, Überfüllung von
Betten- und Tagesräumen, Aufsichtslockerung (Ermöglichung von
Flucht, Verstümmelung und Selbstmord), Abgabe der Aufsicht
an Kranke, eigenmächtige Urlaubserteilung an Kranke durch
untergeordnetes Personal, Herbeiführung oder Duldung des Zu-
sammenseins beider Geschlechter, vorzeitige Entlassung von Ge-
meingefährlichen, Nichtmeldung wichtiger Vorkommnisse an den
Arzt, Anwendung nicht genügend erprobter Behandlungsmethoden,
Kontrolle von Wärmeflaschen und elektrischen Heizkissen, Be-
leuchtung der Räume mit gefährlichen Kranken, Sicherung elek-
trischer Zimmer-Kontakte, bauliche Mißstände, Schutz bei bau-
lichen Reparaturen, Fernhalten giftiger Gewächse aus dem Garten,
Hilfsstellung bei Bädern und Röntgenaufnahmen usw.
Um das Groteske in den Einfällen und Handlungen der Kran-
ken zu ıllustrieren, sollen nur einige in der Fachliteratur (so vor
allem in der „Geisteskrankenpflege‘‘, Marhold-Verlag, Halle) be-
sprochene Fälle kurz wiedergegeben werden:
4. Ein Kranker fertigt aus einer Bohnerwachsbüchse einen gebrauchs-
fähigen Fensterschlüssel, mit dessen Hilfe ein anderer Kranker abends ein
Fenster öffnet und hinausspringt. 2. Bei einem Kranken fallen Rißwunden
am Handgelenk auf, für die man lange keine Erklärung findet. Schließlich
wird festgestellt, daß er einen mit Stoff überzogenen Metallwäscheknopf vom
Stoff gelöst, durch Reiben am Stein oder Beschlag des Fensters geschärft und
sich damit die Wunden beigebracht hat. 3. Ein isolierter Kranker bringt sich
mit dem Teilstück eines aus Papiermaché hergestellten Nachtgeschirrs eine
klaffende Wunde am Hals bei und durchtrennt damit die Luftröhre. 4. Ein
Kranker läuft, als eine Injektion gemacht wird, plötzlich zum Tisch und
trinkt aus einer dort stehenden Flasche 25 ccm einer 2%igen Morphin-
86 Sieben
lösung, d. i. des 17fache der zulässigen Höchst(verwendungs)menge. — Bei
den hier aufgeführten vier Fällen handelt es sich ausnahmslos um Selbst-
- mordversuche. Solche spielen in unseren Kliniken neben den Fluchtversuchen
eine große Rolle im Haftungssinne. Anschließend sollen einige praktische
Fälle aus unserer Klinik besprochen werden, die u. a. folgendes erkennen
lassen:
Immer wieder trifft man auf die Meinung bei den Kranken oder
ihren Angehörigen, der Geschädigte könne das Krankenhaus für
einen erlittenen Schaden allein deshalb schon in Anspruch nehmen,
weil er sich diesen Schaden in dessen Tätigkeitsbereich zugezogen
hat, ohne aber eine Schuld der Leitung, des Arztes oder des Per-
sonals nachweisen zu können. Der Geschädigte glaubt sich in jedem
Falle an das Krankenhaus halten zu müssen, auch wenn Zufall
und höhere Gewalt eigentliche Ursache gewesen sind, weil er eben
geschädigt ist und jemanden sucht, der ihm einen Ausgleich ver-
schafft. Solcher Anspruch besteht aber dann zu Unrecht, denn
das Krankenhaus haftet im allgemeinen nur aus Vertragsverletzung.
Der Krankenhausarzt und seine Erfüllungsgehilfen haften aber auch
nur für den nachweislich aus unerlaubter Handlung herbeigeführten
Schaden und nicht mit dem Krankenhaus für jeden Schaden schlecht-
hin, der auf dessen Gebiet eingetreten ist.
So haben wir in unserer Klinik einen Fall zu verzeichnen, in dem der
Vater eines 23jährigen Kranken dem Arzt einen Kunstfehler, eine Fahr-
lässigkeit dahingehend vorwirft, daß er von einer Luftfüllung der Hirn-
kammern hätte Abstand nehmen müssen, weil sie nicht den erhofften Erfolg
erbracht habe. Die ärztliche Beratung sei nicht erschöpfend gewesen, die
Einwilligung sei nicht eingeholt, seit dem Eingriff sei der Sohn apathisch,
seelisch und körperlich heruntergekonmen, habe seinen aufrechten, geraden
Gang eingebüßt, leide ständig unter Schmerzen und müsse fast immer zu
Bett liegen. — Es handelt sich um einen Erbepileptiker, sterilisiert, der schon
vor seiner dritten Aufnahme in die Klinik häufig Anfälle und Dämmer-
zustände hatte und auch deswegen bereits in einem Sanatorium war. Die
Encephalographie wurde unternommen, um die Anfälle einzuschränken, bei
denen er sich in der Klinik wiederholt den linken Arm ausgerenkt hatte.
Patient war immer wehleidig und nörgelich, stöhnte, weinte, klagte über
Kopfschmerzen. Letztmals 7 Wochen in der Klinik, ohne Verschlimmerung
aus E., sodann nach einer Landesheilanstalt verlegt. Lt. Aufzeichnungen nach
der E. zunächst Kopfschmerzen und Erbrechen, kurzen Anfall, Temperatur-
steigerung, nach normalem Verlauf der Beschwerden aber ohne bemerkens-
werte Erscheinungen. Die Klinik machte geltend, daß diese Beschwerden
nicht über das übliche Maß hinausgegangen seien, E. werde verschieden gut
vertragen, im ganzen harmloser Eingriff, dessen Unbequemlichkeiten durch
diagnostische Vorteile aufgewogen seien. Bei Epileptikern und anderen
hirndrucksteigernden Erkrankungen werde die Liquorentnahme und der
Luftaustausch gemäß den Erfahrungen der Klinik und nach dem Schrifttum
durchweg mit Erfolg angewandt und tatsächlich sei auch ein Erfolg erreicht
worden (Anfälle herabgedrückt). Pat. sei nachdem wochenlang in der Gärt-
nerei beschäftigt worden, Anfälle seien nur noch selten aufgetreten, also gute
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 87
Besserung erzielt. Angebliche Verschlimmerung nicht auf E. zurückzuführen,
Aufklärung sei gegeben, Einwilligung eingeholt beim Kranken. Vater war
auch in Kenntnis gesetzt. Dieser entgegnet, in der Med. Wochenschrift sei
von gesundheitlichen Schädigungen nach E. die Rede; der Eingriff sei verfehlt
gewesen. Schließlich weist die Klinik darauf hin, nach der Veröffentlichung
Laubenthal über Encephalien der Epileptiker (Med. Weit 1937, S. 267—72),
seien nachteilige Folgen bei 285 Epileptikern und insgesamt 450 Encephalo-
graphierten nicht beobachtet worden. Für die Ansprüche auf Wiederherstel-
lung (!) fehle jede objektive Grundlage.
Aus dem Fall ergibt sich (zusammengefaßt) folgendes: Unglück-
licher Vater, durch allgemeine, aus längerer Vorkrankheit hervor-
gehende, von der Encephalographie unabhängige nachteilige Ent-
wicklung des Zustandes seines Sohnes beunruhigt, klammert sich
an eine Schuldvorstellung, die nicht begründet ıst. Er behauptet
fahrlässige Handlung des Arztes, die durch obigen Literaturhinweis
(Reihenergebnisse) widerlegt wird, unterstellt einen kausalen
Zusammenhang zwischen Eingriff und heutigem Zustand, weil er
diese ohne die E. mögliche Entwicklung nicht voraussehen konnte,
jedenfalls nicht daran geglaubt hat. Ein Zusammenhang ist von ihm
aber nicht nachgewiesen, die Einwilligung des Kranken lag vor.
Wichtig und sogar entscheidend ist, daß nach dem gewöhnlichen
Verlauf der Behandlungsart ein Erfolg mit Wahrscheinlichkeit
erwartet werden konnte und während der klinischen Behandlung
auch eingetreten ist. Die Unterlassung eines möglichen Heil- oder
Besserungsverfahrens kann u. U. dem Arzt als Verschulden ange-
rechnet werden, ein Umstand, der bei einem anderen Verlauf viel-
leicht auch vom Vater geltend gemacht worden wäre. Nach seinem
Berufsgewissen wollte der Arzt das Beste für den Kranken und hätte
die Encephalographie auch anraten müssen, wenn er die heutigen
Einwendungen des Vaters schon vordem gekannt oder gemutmaßt
hätte. Aus Umständen, die mit diesem an sich richtigen Eingriff
zugunsten des Kranken unmittelbar nichts zu tun haben, kann nicht
eine Fahrlässigkeit bzw. unerlaubte Handlung des Arztes konstruiert
werden. Für die Entwicklung des Gesamtzustandes lagen die Aus-
sichten von vornherein nicht günstig, da es sich um einen mehrfach
vorbehandelten Erbepileptiker handelt. Die Wiederherstellung eines
behaupteten früher besseren Zustandes ist unmöglich, sie liegt
außerhalb der vom Arzt mit bestem Wissen und Gewissen durch-
geführten Teilbehandlung, deren Zweck schon bei ihrer Inaussicht- -
nahme ein begrenzter, nur auf die Erleichterung der Krampf-
zustände gerichteter war. Von einer (etwa erwogenen) Haftpflicht-
klage gegen den Arzt wird der Kranke bzw. der Vater kaum Erfolg
erwarten dürfen.
88 Sieben
Wie wenig die Wirkung bereits erprobter Behandlungsmethoden
sich bei jedem Kranken voraussehen läßt und wie leicht ein Zu-
stand eintreten kann, der bei dem Außenstehenden zunächst den
Eindruck einer verfehlten Behandlung hinterläßt, will ich an zwei
weiteren Fällen aufzeigen:
Zur Behandlung einer Katatonie wurde eine Krampfbehandlung durch
Cardiazol begonnen. Bei intravenöser Zuführung einer 5 ccm C.-Lösung pflegt
in der Regel ein Krampfanfall von etwa 1 Minute Dauer mit Bewußtlosig-
keit einzutreten. Im vorliegenden Falle wurde bei gleicher Dosis ein Anfall
ausgelöst, der auffälligerweise vorwiegend die linke Körperhälfte betraf.
Es schloß sich ein Krampfanfall mit Bewußtlosigkeit an, die einen ganzen
Tag anhielt. Nach Erwachen bestand eine Lähmung der linken Körper-
hälfte und leichte Augenmuskellähmung. — In der Literatur waren bis dahin
Zwischenfälle bei solcher Behandlung nicht bekannt geworden, mancherorts
ist sogar die Gefahrlosigkeit dieser Methode betont worden. Erst nachdem
(1937) erschienen Veröffentlichungen mit umfangreichen Behandlungsserien
und gelegentlichen Todesfällen, die z. T. durch vorher nicht erkennbare
Schilddrüsenvergrößerungen oder Herzmuskelschädigungen bedingt waren.
Seit dieser Zeit werden die Angehörigen vor der Behandlung auf die Ge-
fahren hingewiesen, ungeachtet der Wahrscheinlichkeit (die auch anderwärts
dem gewissenhaften Arzt immer wieder in den Weg tritt), daß die Einwilli-
gung verweigert und die für den Kranken wichtige Behandlung damit un-
möglich gemacht wird. Weitere Zwischenfälle solcher Art sind in der Frank-
furter Klinik nicht vorgekommen, trotz der zahlreichen Behandlungsfälle.
(Ein ähnlicher Fall von Halbseitenlähmung nach Cardiazolbehandlung wurde
in der Diskussion beim Münchener Kongreß für Neurologie und Psychiatrie
[1937] erwähnt, bei dem die Ursache der Schädigung ebenfalls nicht ge-
klärt war.) Schadenersatzforderungen wurden in diesem Falle nicht geltend
gemacht, hätten der Sach- und Rechtslage nach auch zu einem Erfolg nicht
führen können.
Ein weiterer, ähnlicher Fall, der zu Schadenersatzansprüchen geführt hat,
ereignete sich in unserer Klinik im Jahre 1933. Die organisch-neurologischen
Krankheitserscheinungen eines Kranken sprachen für eine Friedreichsche
Ataxie oder für eine juvenile Paralyse und machten eine Lumbalpunktion
zur Untersuchung der Nervenflüssigkeit notwendig, womit Patient und An-
gehörige einverstanden waren. Dem behandelnden Arzt gelang es nicht,
wie das wegen Verbiegung der Wirbelsäule, Verwachsungen usw. gelegent-
lich vorkommen kann, den Lumbalsack zu erreichen. Daraufhin wurde die
L.-Punktion in einem anderen Wirbelzwischenraum von einer neurochirur-
gisch besonders erfahrenen Ärztin wiederholt, diesmal mit dem gewünschten
Erfolg. Am Tage darauf stellten sich Fieber und Nackensteifigkeit ein, die
in den folgenden Tagen zunahmen und nun nicht mehr aus diagnostischen,
sondern aus therapeutischen Gründen zu einer weiteren L.-Punktion führten,
bei der Eiter zutage kam, noch ehe der Lumbalsack eröffnet war. Die Punktion
` wurde, um den Liquor nicht zu infizieren, unterlassen, jedoch noch am gleichen
Tage auf dem Wege der Subokzipitalpunktion vorgenommen, weil ein Ab-
lassen von Liquor aus Behandlungsgründen unerläßlich schien. Er war klar,
ohne Eiweißreaktion und zeigte eine geringe Zellvermehrung. Bei zunehmen-
den Krankheitserscheinungen erfolgte Verlegung in die Chirurgische Klinik,
welche eine Eiterung des Wirbelkanals feststellte und operativ eingriff. Daß
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 89
die Eiterung Folge einer der ersten Lumbalpunktionen war, konnte nicht
angenommen werden. Die mit dem Fall beschäftigten Ärzte waren in der
Technik der Lumbalpunktion durchaus bewandert, hatten zahlreiche Punk-
tionen ausgeführt und waren auch nach der aseptischen Seite hin als zuver-
lässig bekannt. Nach den Krankengeschichten der Chir. und Orthop. Klinik
haben sich auch an anderen Körperstellen Eiterungen gezeigt, so u. a. eine
Drüsenvereiterung am linken Unterkiefer und Entzündungsprozesse in den
verschiedenen Gelenken. So war es nicht ausgeschlossen, daß schon zur Zeit
der ersten Lumbalpunktion eine chronisch-eitrige Erkrankung bestand und
bei dem ersten Eingriff der Nervenklinik ein vorhandener Abszeß eröffnet
und verschlimmert wurde. Dem Leiter der Klinik, Prof. Kleist, waren damals
— nach beinahe 14jähriger Führung der Klinik — keine Fälle von Eiterungen
bei (zahlreich vorgenommenen) Lumbalpunktionen vorgekommen. Ein Ver-
schulden der Ärzte konnte der Kranke nicht nachweisen und kein Umstand
ließ ein solches Verschulden unterstellen. Wegen der besonders mißlichen
Verhältnisse des Kranken ließ sich die Haftpflicht-Versicherungsgesellschaft
schließlich ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs herbei, ihn unter
Verzicht auf weitere Ansprüche mit 600 Mk. abzufinden. Der Kranke hat bis
in die neueste Zeit hinein trotzdem versucht, eine monatliche Dauerrente
oder einen leichten Beschäftigungsposten bei der Stadtverwaltung zu erhalten.
In vorstehend besprochenen Fällen handelt es sich um An-
sprüche aus behaupteten Kunstfehlern der behandelnden Ärzte.
Nachstehende Fälle betreffen sämtlich die Aufsichtspflicht des
Personals. Auch sie lagen soweit klar, daß es über mündliche
Vorsondierungen der Geschädigten bezüglich der möglichen Haf-
tung nicht hinauskam. Immerhin machen sie recht deutlich, wie-
viel von der gewissenhaften Pflichterfüllung des Personals auf
diesem Gebiet abhängt und wie weitgehend die Sorge des Auf-
sichtspersonals ausgedehnt sein muß, um wirkliche, wenn auch
im Grunde geringfügige Fahrlässigkeiten und damit berechtigte
Haftungen auszuschließen. Selbst dem unseren Kliniken und An-
stalten Fernstehenden zeigen sie die Möglichkeiten menschlicher
Tragik, in Haftungsfälle hineinzuschlittern, ohne deutlichere Gren-
zen, wann und wo das Personal von dem Arm der Gerechtigkeit
erreicht wird.
Ein Dachdecker, wegen Geistesstörung mit ängstlichen Erscheinungen
(Angstpsychose) behandelt, seit russischer Kriegsgefangenschaft nerven-
leidend, wird unter Verordnung von 20 Tropfen Pantopon nach dem Dauer-
bad verbracht. In der Wanne durch zwei Pfleger festgehalten, beruhigt sich
der Kranke bald wieder, springt dann aber nach etwa 3 Minuten plötzlich
aus der Wanne und sagt, er wolle austreten. Inzwischen hatte der zweite
Pfleger den Baderaum wieder verlassen, um der Arbeit an den anderen Kran-
ken nachzugehen. Der verbliebene Pfleger führt den Kranken zu der im
gleichen Raum eingebauten Kklosettanlage, erhält aber plötzlich einen so
heftigen Stoß vor die Brust, daß er hinfällt. Der Kranke springt auf das den
Heizkörper umschließende Schutzblech, (auf dem die Badetücher getrocknet
werden), schlägt mit dem rechten Arm ein hochgelegenes kleines Fenster
90 Sieben
ein, verletzt sich so schwer an der Beugeseite des Unterarms, daß er ver-
bunden sofort der Chirurgischen Klinik zugeführt wird. Nach AAtägiger
starker Eiterung — Blutvergiftung — muß ihm fast der ganze Arm abgesetzt
werden. Er macht Haftungsansprüche geltend mit der Begründung, es habe
an der nötigen Aufsicht gemangelt, er sei dadurch in seinem Beruf voll erwerbs-
unfähig. Sein Antrag auf Gewährung des Armenrechts lehnt sowohl das
Landgericht, als auch das OberLG. wegen Aussichtslosigkeit des Rechts-
weges ab, da ein Verschulden der Klinik bzw. ihres Personals nicht vorliege.
— Von der Klinik war darauf hingewiesen, die Entfernung des zweiten Pflegers
sei nicht als Fahrlässigkeit anzusprechen, nachdem der Kranke sich sichtlich
beruhigt hatte. Mit einem unmittelbar folgenden Wiederauftreten des Er-
regungszustandes war zu dieser Zeit nicht zu rechnen. Der Vorfall sei aber,
da er vom Kranken vorbedacht und blitzschnell ausgeführt war, selbst dann
noch möglich gewesen, wenn im Augenblick sich auch noch der zweite Pfleger
in dem großen Baderaum zu tun gemacht hätte. Bei der eingetretenen Be-
ruhigung des Kranken wäre der zweite Pfleger nämlich keinesfalls in der
bisherigen Hilfsstellung an der Wanne untätig verblieben. Wäre er aber auch
nur 1—2 m von der Wanne entfernt beschäftigt gewesen, konnte er die schnelle
Handlung des Kranken kaum rechtzeitig erkennen und verhindern. Jeden
solchen Kranken dauernd so stark zu bewachen, daß jedes denkbare und
undenkbare gefährliche Unternehmen eines Kranken von mehreren Pflegern
gleichzeitig zu verhindern versucht werde, würde einen unmöglich hohen
Personalstand beanspruchen, ohne daß dabei praktisch größerer Erfolge
in Überraschungsfällen garantiert werden könnten. Im Zeitpunkt der Be-
ruhigung war dem Kranken ein Pfleger ausschließlich zur Verfügung ge-
stellt, mehr kann an persönlicher Bewachung und Sorgfalt, von akuten Er-
regungszuständen (wie vordem) abgesehen, nicht geboten werden. Tatsäch-
lich bedeutete ein solches Verlangen des Kranken eine ungesunde und unver-
tretbare Überspannung der Haftungsvoraussetzungen. Der weitere Einwand,
die Schutzbleche seien in ihrem wagerechten Oberteil (über dem Heizkörper)
nach unten kantig abgewinkelt gewesen und der Vorfall selbst habe zu einer
Anderung, nämlich zu einer Abschrägung nach vorn und unten geführt, die
ein Aufspringen bzw. Aufschwingen wesentlich erschwere, war auch nicht
durchschlagend. Eine als besser bewährte oder empfohlene Konstruktion war
zur Zeit des Neubaues der Klinik (1930) nicht bekannt, was nicht davon ab-
hielt, sie nach dieser neuen, überraschenden Erfahrung zu verbessern. In
der ersten Konstruktion, in Verbindung mit der 2,30 m hoch beginnenden
Fensterlage, aber einen den Kranken gefährlichen Zustand zu sehen, erschien
vordem geradezu undenkbar. Sämtliche Möglichkeiten für körperliche Ver-
letzungen in der baulichen Gestaltung und Einrichtung von vornherein aus-
zuschließen, war ebenso unmöglich. — Auch dieser Fall stellt sich als echter,
rechter Überrumpelungsfall dar, als ganz zufällige Aktion einer Art, die selbst
von langjährig im Umgang mit Geisteskranken geschulten Personen nicht
vermutet werden konnte.
Ein Pfleger öffnet nach dem Essen zwei nebeneinander gelegene Fenster.
Während der Öffnung des zweiten Fensters wirft sich ein Kranker (Angst-
melancholie) mit großer Geschwindigkeit auf die Fensterbrüstung und hinaus,
ehe ihn der zuspringende Pfleger noch erreichen konnte. Bewußtlos im Hofe
liegend, erfolgt sein Rücktransport nach der Abteilung. Der zur Unter-
suchung beigezogene Chirurg stellt einen Bruch der 7. linken Rippe fest.
Während der durch den Unfall bedingten Bettlägerigkeit tritt eine Lungen-
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 91
entzündung auf, der Patient stirbt. Eine Sektion wurde von den Angehörigen
verweigert.
Ein Kranker wird — im Sinne der Arbeitstherapie — im Treppenhaus
der Männerabteilungen mit Hausarbeiten beschäftigt. Der beaufsichtigende
Pfleger staubt auf dem neben dem Treppenhaus liegenden Gartenübergang
einen Lappen aus. Patient läuft währenddem an ihm vorbei und stürzt sich
in den etwa 4 m tiefer liegenden Hof der Kinderabteilung, zieht sich eine
Platzwunde an der Stirn und eine Luxation zwischen Elle und Speiche der
rechten Hand zu und wird nach der Chirurgischen Klinik verlegt.
Eine Frau hat sich (arbeitstherapeutisch, nach Zwangsdepressionen) in
der Teeküche der Abteilung unter Aufsicht zu schaffen gemacht, eignet sich
ein gewöhnliches Küchenmesser an, läuft damit in den Abort und bringt
sich an der linken Halsseite eine tiefklaffende Schnittwunde bei, wobei die
Luftröhre verletzt wird. Am linken Handgelenk zeigen sich unbedeutende
Schnittwunden. Insgesamt erlitt sie einen erheblichen Blutverlust.
Ein weiterer Fall (Katatonie) nahm einen tragischen Ausgang. Nach-
mittags bemerkt eine Abteilungsschwester, daß die Kranke (in einem 2-Betten-
zimmer, mit einer nicht ansprechbaren Patienten zusammenliegend) stran-
guliert auf der Erde liegt. Die Kranke hatte einen Kopfkissenbezug aufge-
rissen, ein Ende am Bettrahmen befestigt, sich die Schlinge um den Hals gelegt
und unter dem Bett liegend bzw. hängend die Schlinge zugezogen. Durch
die Würgung wurde sie bewußtlos. Wiederbelebungsversuche hinzueilender
Schwestern waren von Erfolg, der Zustand besserte sich, doch traten abends
Krämpfe und Atemstörungen auf. An zwei folgenden Tagen hellte sich das
Bewußtsein auf, jedoch trat Lungenentzündung hinzu und die Kranke ver-
starb. Zur Zeit des Vorfalls hatte eine Schwester die Kaffeeversorgung der
Kranken übernommen, eine zweite befand sich in der Garderobe und eine
dritte bei der Arbeitstherapie im Tagesraum. Die einige Minuten allein zurück-
gebliebene Schwester stand vor einem zur Lüftung geöffneten Saalfenster,
konnte von diesem Standort aus auch den vordersten Teil des fraglichen
Zimmers, aber die Kranken selbst ın den Betten nicht sehen.
Wir sehen hier vier Fälle, in denen es den nach längerer Be-
obachtung ruhigen Kranken ganz plötzlich gelang, trotz bereit-
gestellter und ausgeübter Aufsicht Selbstmordversuche zu unter-
nehmen. In keinem Falle hat sich klar ein Verschulden der beauf-
sichtigenden Pflegeperson ermitteln lassen, in jedem Falle geschah
das unvermutete Vorgehen der Kranken so schnell, daß es nicht
aufzuhalten war. Es handelte sich meist um einen Sekundenvor-
sprung, den die Kranken als solchen blitzschnell erfaßt hatten.
Die dienstältesten und bewährtesten Pflegekräfte vermögen solche
Fälle nicht auszuschließen. Sie sollen ihre Kranken ununter-
brochen im Blickfeld haben, die Blickabwendung für Sekunden
kann ihrer Verantwortung und Stellung zum Verhängnis werden.
Im ersten Falle genügte die Umdrehung des Pflegers zum zweiten
Fenster und die nur kurze Sekunden währende Öffnung des-
selben, um das Unglück geschehen zu lassen. Sollte etwa ein an
andrer Stelle in der Abteilung notwendig gebrauchter zweiter
92 Sieben
Pfleger besonders postiert werden, um die Fensteröffnung durch
den ersten Pfleger zu ermöglichen ? Kann den Kliniken und An-
stalten .ein so zahlreiches Personal zur Verfügung gestellt werden,
daß in einer Krankenabteilung von nur 15—20 ruhigen Kranken
jeder dieser Kranken in jedem Augenblick bewacht werden kann ?
Konnte dem Pfleger im zweiten Fall, da es sich um einen ebenfalls
ruhigen Kranken handelte, der Gedanke naheliegen, daß dieser
einen weniger bewachten Augenblick zu einem Sturz in die Tiefe
benutzen würde ? Im dritten Falle könnte u. U. ein Verschulden
der Schwester mitspielen, weil die Kranke ein Küchenmesser
erlangen konnte. Werden nicht aber überall in den Teeküchen
ruhiger Abteilungen Kranke mit zur Geschirrreinigung herange-
zogen, ohne daß obiger Fall häufiger als ganz selten wäre? Muß
die Schwester wissen oder auch nur ahnen, was in jeder Minute in
der Überlegung der Kranken vor sich geht? Ist es zur Durch-
führung des Küchenbetriebes der vielbeschäftigten Schwester
überhaupt möglich, jederzeit jedes Messer verschlossen zu halten,
wenn sie ruhige und in der Hilfe schon bewährte Kranke mitarbei-
ten läßt? Der vierte, im Ausgang tragische Fall wäre vielleicht
zu vermeiden gewesen durch eine vorsichtigere Diensteinteilung
der Schwestern, d. h. die nach der Garderobe abgegangene Schwe-
ster hätte damit vielleicht warten können, bis die am offenen
Fenster postierte Schwester wieder ihre Bewegungsfreiheit besaß.
Aber auch hier verdient nachgesehen zu werden, daß bei dem
allgemein ruhigen Zustand der Kranken in der fraglichen Zeit
die Vermutung einer Gefahr bei den beteiligten Schwestern nicht
aufgekommen war.
Liegt ein nachweisbares Verschulden nicht vor, wird man mit
Indizien, Verdachtsmomenten und Fehlerkonstruktionen, die an
dem eingetretenen Effekt ihren Ausgang nehmen, vorsichtig
sein müssen. Daß die Schwestern unserer Kliniken und Anstalten,
wenn sie schon durch die Umgebung seelisch belastet sind, unter
solchem Verantwortungs- und Unsicherheitsdruck vielfach in die
allgemeine Krankenpflege hinüberwechseln, ist nicht verwunder-
lich. Die Aufsichtspflicht muß in der Dienstanforderung an sich
eine große sein, sie darf aber für einen Arbeitskreis ewig lauern-
der Gefahren auch keine unerträglich überspannte sein. Kleine
Versehen und menschliche Irrtümer kommen in jedem Beruf vor,
führen in anderen Berufen nur nicht zu den Weiterungen, die
hier an der Tagesordnung sind. Die objektive Schuldfeststellung
beruht dort auf zuverlässigeren Grundlagen, auf normaleren Le-
bensverhältnissen, hier aber nimmt der Schaden seinen Ursprung
Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke 93
und Anlauf auf dem völlig unberechenbaren Niveau geistes-
kranker und lebensmüder Menschen, die ihre Absichten ohne jede
Schonung von Mitmenschen und Material durchsetzen in einer
Reichhaltigkeit von Phantasie und seelischer Verwicklung, wie sie
anderwärts nirgends mehr zu finden ist. Fahrlässigkeit im Ver-
kehr der Menschen untereinander beruht auf dem Willen und der
Geisteshaltung der beteiligten Personen, so daß es für die Be-
urteilung nicht gleichgültig sein kann, welche Menschen und in
welcher Verfassung sie miteinander zu tun haben.
Es wäre falsch und verhängnisvoll, wenn diese Ausführungen vom
Personal unserer Anstalten allgemein oder im gegebenen Falle zur
Entschuldigung herangezogen würden. In der Dienstleistung selbst
kann es kein Nachlassen geben, weil ein erhöhtes Gefahrenfeld
selbstverständlich ernsteste Hingabe an den Beruf verlangt. Wenn
aber schon einem im ganzen gewissenhaften und bewährten Mit-
arbeiter das Mißgeschick widerfährt, in solche Haftungsansprüche
verwickelt zu werden, dann sollten sowohl die Disziplinar-Vor-
gesetzten als auch der Richter diese gesteigerten Gefahren um
den Arzt und die Erfüllungsgehilfen in Rechnung stellen und jene
Zusammenhänge nicht übersehen, die in ihrer Erscheinung auf
dem Haftungsgebiet einmalig und unvergleichbar sind.
Beitrag zur operativen Behandlung der
traumatischen Spätepilepsie ')
Von
Dr. T. Riechert
(Aus der Abteilung für operative Neurologie [T. Riechert] der Nervenklinik
der Stadt und Universität Frankfurt a. M. Leiter: Prof. Dr. med. Karl Kleist)
(Mit 6 Abbildungen auf 3 Tafeln)
Durch die Untersuchungen von Förster und Penfield ist die Ver-
mutung, daß die traumatische Spätepilepsie auf einer Narben-
bildung im Bereich der ehemaligen Hirnverletzung beruht, weiter-
hin gestützt worden. Sie haben die pathologischen Vorgänge, die
sich'im Anschluß an Hirnverletzungen entwickeln, sowohl experi-
mentell am Tier wie auch klinisch untersucht. Danach kommt es
ım Tierexperiment bei einer Verletzung der harten und weichen
Hirnhaut und Kontusion der betreffenden Hirnstelle zu einer
Verwachsung des Hirns mit der Dura. Nach einem gewissen Zeit-
raum tritt eine immer weiter fortschreitende Narbenschrumpfung
ein, an der sieh in der Hauptsache das Hirn beteiligt. Während
der Prozeß zunächst rein lokal ist, dehnt er sich später auf immer
größere Abschnitte des umliegenden ehemals gesunden Hirnge-
webes aus, ein Vorgang, der besonders dafür verantwortlich zu
machen ist, daß die traumatische Epilepsie bei längerer Krankheits-
dauer zur Verschlechterung neigt. Es kommt zu Gefäßneubildungen
aus dem umliegenden Hirngewebe und den Duragefäßen. Die
Hirnkammern werden nach der Verletzungsstelle zu verzogen und
verlieren ihre normale Form. Diese Vorgänge entwickeln sich
nicht weiter, wenn die Narbe bis ins gesunde Hirngewebe hinein
exzidiert wird. In diesem Falle bildet sich eine liquorgefüllte
Zyste, und es kommt zu keiner fortschreitenden Narbenbildung.
Diese Tatsache ist für die Behandlung der traumatischen Spät-
epilepsie von größter Wichtigkeit und sollte jedem operativen
Eingriff die Richtung geben.
1) Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Fachglie-
derung Wehrmedizin.
Beitrag zur operativen Behandlung der traumatischen Spätepilepsie 95
In der Klinik der posttraumatischen Epilepsie haben sich diese
Befunde besonders bei der operativen Freilegung des Hirns weit-
gehend bestätigt.
Neben dem neurologischen Untersuchungsbefund ist für die Be-
urteilung und Behandlung vor allem die Encephalographie ein
wichtiges Hilfsmittel geworden. Bei Kontusionsherden nach ge-
schlossener Schädelverletzung ist es oft nur mit dieser Methode
möglich, die dem Krampfleiden zugrunde liegende Hirnschädigung
nachzuweisen, besonders, wenn die Krampfanfälle keinen Herd-
charakter haben. Am deutlichsten kommen ım Encephalogramm
die Ventrikelveränderungen zum Ausdruck. Der Herdventrikel ist
infolge der bestehenden Hirnatrophie erweitert und nach der Ver-
letzungsstelle zu ausgezogen. Daneben sind auch die krankhaften
Veränderungen der Subarachnoidalräume im Luftbild darstellbar.
Am häufigsten finden sich umschriebene Luftansammlungen an
der Konvexität in der Nähe der Verletzungsstelle als Ausdruck
einer begleitenden traumatischen serösen Arachnitis circumscripta.
Bei gleichzeitigen starken Schrumpfungsvorgängen am Hirn
können diese Bildungen eine beträchtliche Größe annehmen. Leider
ist es nicht in allen Fällen möglich, diese zystischen Bildungen zur
Darstellung zu bringen. Es wird dies nicht der Fall sein, wenn
durch nachträgliche Verklebungen der weichen Hirnhäute diese
Liquoransammlungen mit dem übrigen Subarachnoidalraum nicht
in Verbindung stehen oder wenn es sich um traumatische Por-
encephalien im tiefen Mark handelt.
Wie groß diese zystischen Bildungen in ihrem Ausmaß sein
können, ohne daß sie im Encephalogramm darstellbar sind, soll
der folgende Krankheitsfall, der auch in operativer Hınsicht ge-
wisse Besonderheiten bietet, zeigen. Daneben soll er einen Beitrag
zu der Frage liefern, ob in Ausnahmefällen die Arteriographie hier
weiter hilft.
W.S., 17 Jahre alt. Vorgeschichte: Keine erbliche Belastung mit Nerven-
oder Geisteskrankheiten. Normale körperliche und geistige Entwicklung.
Guter Durchschnittsschüler. Immer zugänglich und gutmütig gewesen. Keine
Züge von erhöhter Reizbarkeit, Umständlichkeit usw.
Am 31. 8.1934 habe er einen Unfall gehabt: Er sei auf dem Fahrrad von
einem Auto angefahren worden und mit der linken Kopfseite gegen die Tür-
klinke geschlagen. Er sei anschließend drei Tage bewußtlos gewesen und im
Krankenhaus operiert worden (Versorgung einer Impressionsfraktur).
Zwei Jahre nach der Verletzung hätten sich bei ihm Krampfanfälle ein-
gestellt. Vor dem Anfall merke er, daß sich Kopf und Augen nach rechts
drehten und daß er Zuckungen in beiden Armen bekäme. Er sinke dann zu-
sammen und werde für mehrere Minuten bewußtlos. Nach einem solchen
Anfall sei er müde und müsse mehrere Stunden schlafen. Während er anfangs
96 T. Riechert
durchschnittlich im Monat einen Anfall gehabt habe, bekomme er diese seit
einigen Monaten jetzt häufig, etwa 3—4mal wöchentlich. In den letzten Mo-
naten sei ihm aufgefallen, daß sein Gedächtnis nachgelassen habe. Er müsse
sich am Abend besinnen, womit er die einzelnen Kunden bedient habe, was
. früher nie vorgekommen sei. Gelegentlich komme es bei der Unterhaltung
vor, daß er ein Wort nicht sofort finde. Außerhalb der Anfälle habe er zeit-
weise leichte Kopfschmerzen, sonst fühle er sich aber völlig wohl.
Der begleitende Vater machte noch folgende ergänzende Angaben: Beim
Erwachen aus der Bewußtlosigkeit hätte sein Sohn etwa 14 Tage nicht sprechen
können. Dabei habe er meistens verstanden, wenn man ihm etwas gesagt
habe. Später habe er die Worte nur nach mehrmaligem Vorsprechen richtig
herausgebracht. Nach dem Unfall sei ein Rückgang der geistigen Leistungen
eingetreten, er sei in der Schule schlechter mitgekommen und im Geschäft
nicht so brauchbar.
Befund: Körperlich: Schädel: normale Beweglichkeit. Die ganze linke
Schädelseite ist deutlich klopfempfindlich. Keine Gefäßgeräusche. Im vor-
deren Teil des linken Schläfen- und Scheitelbeines findet sich eine etwa 6 cm
lange, leicht eingezogene Narbe, in deren Zentrum Hirnpulsationen fest-
stellbar sind (s. Abb. 1).
Rachenorgane: Im Oberkiefer fehlen mehrere Zähne, die S. durch Sturz
im Anfall verloren hat; keine deutlichen Zungenbißnarben. An den inneren
Organen kein krankhafter Befund.
Neurologisch: Augen: Bewegungen frei, kein Nystagmus. Pupillen rund,
gleichgroß, Licht- und Konvergenzreaktion regelrecht. Augenhintergrund,
Gesichtsfeld ohne Besonderheiten. Der rechte Mundfacialis wird besonders
mimisch schlechter innerviert wie links. Übrige Hirnnerven besonders Olfak-
torius ohne krankhaften Befund. Arme: Der Händedruck ist rechts schwächer
wie links. Radiusperiostreflex rechts lebhafter wie links, übrige Armreflexe
nicht gestört. Bauchdeckenreflexe seitengleich auslösbar. Beine: Grobe Kraft
und Muskelspannung nicht gestört. Reflexe seitengleich, keine krankhaften
Reflexe. Das Empfindungsvermögen ist nicht sicher verändert, Zielbewegungen
regelrecht. Seelisch: Bei der psychisch-experimentellen Prüfung waren grobe
Ausfälle nicht feststellbar. Die hirnpathologische Untersuchung ergab als
Reste einer traumatischen Aphasie bei schwierigen Worten noch Undeutlich-
keiten in der Aussprache und eine gewisse Unbeholfenheit in der Lautbildung.
Bei seltener vorkommenden Gegenständen sind noch Mängel der Wort-
findung angedeutet vorhanden. Im Verhalten des S. war eine Unbeholfen-
heit und Umständlichkeit unverkennbar. Weit auffallender war jedoch seine
Neigung mit einem überlegenen Lächeln bei allen Gelegenheiten Witze zu
machen. Über seine Krankheit sprach er in betont nebensächlicher Weise
mit einem gewissen Galgenhumor. Gelegentlich neigte er zu depressiv ge-
färbten Verstimmungen, diese Zustände wären jedoch nicht tiefgehend und
ernstlich und machten sehr schnell einer ausgesprochen euphorischen Grund-
stimmung Platz.
Laboratoriumsuntersuchungen: Wassermannsche Reaktion im Blut
und in der durch Lumbalpunktion entnommenen Nervenflüssigkeit negativ.
In der Nervenflüssigkeit Reaktion nach Nonne und Pandy leicht positiv, nach
Weichbrodt negativ. Zellzahl: 16/3. Blutbild, Blutsenkung ohne Besonderheiten.
Röntgenuntersuchungen: Die Schädelleeraufnahme ergab einen ovalen
Knochendefekt, der sich dicht hinter der Kranznaht projizierte. Keine Zeichen
für erhöhten Hirninnendruck (s. Abb. 2).
\lgem. Zeitschrift für Psychiatrie B
Abb. 1
1) Verletzungsnarbe. 2) Operationsnarbe
Abb. 2. Schädelaufnahme vor der Operation
1) Knochendefekt nach Versorgung der Impressionsfraktur
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Tafel II
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d. 110. Zu T. Riechert ‚‚Beitrag zur operativen Behandlung der traumati
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Tafel III
Abb. 3. 1) Mäßig erweiterter Herd-
ventrikel. 2) Angedeuteter Schrägstand
des 3. Ventrikels. 3) Angedeutete Fül-
lung im Bereich des vorderen Teiles
des rechten Vorderhornes
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Abb. 4. Gefäßbild der rechten (nicht verletzten) Hemisphäre. OF |
1) Sylviische Gefäßgruppe. 2) Art. cersiant. L%\ ef
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rem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu T. Riechert „Beitrag zur operativen Behandıung der traumatise an
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Tafel IV
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Abb. 5. Gefäßbild der linken Hemisphäre (Herdseite)
1) Sylviische Gefäßgruppe. 2) Atypische, zum Narbengebiet zieliende Gefäße aus der
Sylviischen Grefäßgruppe. ) Im Bereich des Stirnhirns sind gegenüber rechts kaum
Gefäße dargestellt. 4) Aus der Carotis externa stammende Gefäße
Abb. 6. Schädelleeraufnahme nach der Operation
1) Mit dem Hirn verwachsenes, im Zentrum der Knochentücke "gelegenes Purastück,
begrenzt durch die zur Blutstilung verwandten Silberklips
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Beitrag zur operativen Behandlung der traumatischen Spätepilepsie 97
Um ein Bild über die bestehenden Hirn- und Ventrikelverände-
rungen zu bekommen, wurde unter Entnahme von 90 ccm Liquor
eine lumbale Encephalographie gemacht. Befund: Auf dem
Längsbild des Schädels sind die beiden Seitenkammern und die
dritte Hirnkammer dargestellt. Der linke Seitenventrikel (Herd-
ventrikel) ist deutlich weiter als der rechte. Das gesamte Ventrikel-
system erscheint eine Spur nach links herübergezogen, wofür be-
sonders der angedeutete Schrägstand des dritten Ventrikels spricht
(Abb. 3). Auf den seitlichen Bildern ist infolge Umlagerung des
Kranken auch reichlicher Luft in die peripheren Hirnwasser-
räume gelangt. Die Aufnahmen bestätigen den schon auf dem
Längsbild erhobenen Befund; zystische Bildungen sind auch hier
nicht zur Darstellung gekommen.
Da der verhältnismäßig geringe encephalographische Befund in
gewissem Gegensatz zu den klinischen Erscheinungen stand, wurde
eine Arteriographie vorgenommen, um gleichzeitig einen Über-
blick über die Gefäßverhältnisse in dem geschädigten Hirnbezirk
und damit einen Hinweis für das operative Vorgehen zu erhalten.
Arteriographie beiderseits (Riechert) inLokalanästhesie. Typische
Freilegung der Carotis communis dicht unterhalb der Teilungs-
stelle im Trigonum caroticum. An den Arterien im freigelegten
Bezirk keine krankhaften Veränderungen. Keinerlei Störungen bei
der Injektion des Kontrastmittels.
Röntgenbefund: Rechte (gesunde) Seite (Abb. 4). Es ist das von der
Carotis interna und externa versorgte Gefäßgebiet zur Darstellung gekommen.
Der CGarotidensyphon und die Sylviaschen Gefäße zeigen keine auffälligen
krankhaften Veränderungen. Die Cer. ant. ist in ihrem Kaliber etwas dicker
wie gewöhnlich. Linke (kranke) Seite (Abb. 5). Auch hier ist das Gefäßgebiet
der Carotis externa und interna dargestellt, die Füllung ist jedoch weniger
stark wie auf der rechten Seite. Auch bei Berücksichtigung dieser Tatsache
ist es auffällig, daß im Stirnhirn kaum Gefäße dargestellt sind. In die Sylviische
Gefäßgruppe hinein, unterhalb des Knochendefektes projizierten sich zahl-
reiche kleinere Gefäße, die aus der Carotis externa zu stammen scheinen.
Von der Sylviischen Gefäßgruppe, deren Arterien auffallend dicht beieinander
liegen, scheinen ebenfalls mehrere Gefäße nach der Verletzungsstelle hinzu-
ziehen.
Operation (T. Riechert) in Lokalanästhesie am 11.5. 1938.
Bildung eines stirnwärtsgestielten Hautlappens (Dandy), der bogenförmig
die Narbe umgibt (Abb. 1). Abpräparieren der Haut. Im Gebiet der Hautnarbe
ist diese mit der Dura fest verwachsen. An den Rändern der Knochenlücke
finden sich ausgedehnte Narben zwischen Hirnhaut und Periost. Unter vor-
sichtigem Abschieben und Lösen der Dura vom Knochen wird dieser soweit
fortgenommen, bis wieder normale Dura sichtbar wird. Bei der Öffnung der
Dura außerhalb des ehemaligen Knochendefektes fließt mehr Liquor als
gewöhnlich ab. Die Dura wird an den Rändern der vergrößerten Knochen-
7 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
98 T. Riechert
lücke umschnitten. An einzelnen Stellen ist sie auch hier noch mit dem darun-
terliegenden Hirngewebe verwachsen, so daß die Knochenlücke noch nach-
träglich erweitert werden muß. Vernähen der Dura mit dem Periost des
Knochens zur Vermeidung einer postoperativen epiduralen Blutung. Aus
den Rändern der völlig umschnittenen im Zentrum gelegenen Dura, die mit
dem Hirn fest verwachsen ist, blutet es stark, ein Zeichen, daß hier Gefäß-
neubildungen zwischen Dura und Hirn bestehen. Versorgung der Blutung
mit Silberklips (Abb. 6). Nach Absaugen des Liquors in den subarachnoidalen
Räumen, der im Sinne einer posttraumatischen Arachnitis stark vermehrt ist,
sinkt das freiliegende Hirngewebe zurück, so daß ein genügend breiter Zwi-
schenraum zwischen hochgenähter Dura und Hirn entsteht, der eine Über-
sicht auch über die unter dem Knochen liegenden Hirnteile ermöglicht. Es
zeigt sich, daß die umschnittene Dura mit der Sylviischen Gefäßgruppe fest
verwachsen ist. Eine Exzision der darunterliegenden Hirnnarbe ist daher wegen
der zu erwartenden Ausfallserscheinungen nicht ausführbar. In der Umgebung
findet sich grau verfärbtes malazisches Hirngewebe. Bei Revision dieser
Hirnteile gelangt man in zwei Zysten, von denen die eine nur von den weichen
Hirnhäuten, die andere, außerdem von einer dünnen Rindenschicht bedeckt ist.
Die erste Zyste findet sich im mittleren Teil des Gyrustemporalis superior, die
zweite durchsetzt den basalen Teil des Stirnhirns nahezu bis zum Pol. Die
Zystenwandungen sind glatt, eine Verbindung mit dem Seitenventrikel be-
steht nicht. Einnähen einer Zellophandeckung im ganzen Bereich des Knochen-
defektes. Schichtnaht der Wunde. Nach der Operation keine Änderung des
neurologischen Befundes. Ungestörte Wundheilung.
Anfälle sind nach dem Eingriff nicht mehr aufgetreten. Aller-
dings muß betont werden, daß die Zeitspanne für die Beurteilung
des endgültigen Operationserfolges noch zu kurz ist.
Bei der klinischen Beurteilung des Krankheitsfalles mußte
unter Berücksichtigung der vorübergehenden motorischen Aphasie
und ihres dauernd bestehenden Restzustandes eine Schädigung
in der Gegend des Fußes der F. 3 angenommen werden. Allerdings
muß betont werden, daß vorübergehende motorische Aphasien
auch bei weiter entfernten Hirnherden auftreten können, wenn ein
stärkere Hirnschwellung vorliegt (v. Stockert (4)). Die Krampf-
anfälle, die mit einer Kopf- und Augendrehung nach der Gegenseite
beginnen, sprechen für eine Auslösung vom Fuß der F.2. Die
Charakterveränderungen lassen an eine Mitbeteiligung basaler Teile
des Stirnhirns (Orbitalhirn nach Kleist) denken. Die allgemeine
Verlangsamung muß als eine Folge der häufigen Krampfanfälle
angesehen werden.
Für das operative Vorgehen bei diesen und ähnlichen Krank-
heitsfällen ist der encephalographische Befund von Wichtig-
keit. Im Encephalogramm findet sich hier nur die Erweiterung
des Herdventrikels, nicht zur Darstellung gekommen sind die
beiden großen Zysten, die den weitaus größten Teil des pathologi-
schen Befundes ausmachen. Derartige zystische Bildungen werden
Beitrag zur operativen Behandlung der traumatischen Spätepilepsie 99
sich naturgemäß nicht darstellen, wenn sie im tiefen Mark gelegen
sind. Ihre Sıchtbarmachung wird aber auch nicht gelingen, wenn
sie zwar eine Verbindung mit dem Subarachnoidalraum haben,
ein Luft-Liquor-Austausch aber nicht möglich ist, weil es hier zu
umschriebenen posttraumatischen Verklebungen der weichen Hirn-
häute gekommen ist. Diese Tatsache, daß grobe patho-
logisch-anatomische Veränderungen vorhanden sein
können, ohne daß sie im Encephalogramm darstellbar
sind, sollte bei der Operation und bei der Begutach-
tung derartiger Fälle stets berücksichtigt werden. Es
fragt sich, ob hier die Arteriographie weitere Ergebnisse liefert.
Man wird erwarten müssen, daß neugebildete Gefäße im Narben-
gebiet mit dieser Methode sichtbar gemacht werden können und
daß so wichtige Hinweise für die Operation gewonnen werden.
Darüber hinaus weist jedoch das arteriographische Bild auf patho-
logische Veränderungen im Stirnhirn hin, die encephalographisch
nicht nachzuweisen waren. Wenn auch der Füllungszustand in
beiden Hirnhälften nicht der gleiche ist, so ist doch eine weitaus
spärlichere Gefäßfüllung im Gebiet des linken Stirnhirns unver-
kennbar. Nach dem erhobenen Befund kann daher in besonderen
Ausnahmefällen die Arteriographie noch Aufschlüsse geben, wenn
die anderen Untersuchungsmethoden einschließlich der Encephalo-
graphie kein eindeutiges Ergebnis geliefert haben. Da diese Me-
thode jedoch schon einen größeren und durchaus nicht gleich-
gültigen diagnostischen Eingriff bedeutet, muß die Indikation
hierfür besonders streng gestellt werden.
Eine operative Behandlung der traumatischen Epilepsie ist in-
diziert, wenn nach dem klinischen Befund Narbenbildungen zwi-
schen Dura und Hirn zu erwarten sind, da sich diese Fälle erfah-
rungsgemäß ohne Operation immer weiter verschlechtern. Der
Sinn der Operation ist die Exzision der Durahirnnarbe im Ge-
sunden. Vom sorgfältigen Arbeiten am Hirn hängt der größte Teil
des Erfolges ab. Auf eine exakte Blutstillung ist zu achten, Hirn-
gefäße sind mit Silberklips zu versorgen. Gerade bei Epileptikern
besteht die Gefahr des postoperativen Hämatoms, das rasch zum
Tode führen kann, wenn es nicht rechtzeitig erkannt wird. Eine
Fettimplantation oder Faszienplastik beim Wundverschluß ist
unweckmäßig, worauf besonders auch Tönnies (5) hinweist. Man
fügt entweder den osteoplastisch entfernten Knochenlappen wieder
ein oder vernäht in den üblichen Schichten den Hautlappen und
verzichtet auf einen primären knöchernen Verschluß. In manchen
Fällen wird man der Forderung, die Hirnnarbe restlos zu ent-
7°
100 T. Riechert, Beitrag zur operativen Behandlung usw.
fernen, nicht nachkommen können, wie bei dem oben beschrie-
benen Kranken. Da die Anfälle teilweise durch einen fortgeleiteten
Zug der mit der Haut verwachsenen Dura zustande kommen,
empfiehlt es sich, die Dura hier in einem Bezirk zu umschneiden,
in dem keine Verwachsungen der harten Hirnhaut mit dem Knochen
und dem Hirn mehr bestehen, so daß das Hirn zurücksinken kann.
Schrifttumverzeichnis
1. Förster, O., Encephalographische Erfahrungen. Z. Neur. 94, 512, 1925. —
2. Förster, O., und Penfield, Der Narbenzug am und im Gehirn bei traumati-
scher Epilepsie in seiner Bedeutung für das Zustandekommen der Anfälle
und für die therapeutische Bekämpfung derselben. Z. Neur. 125, 475—572,
1930. — 3. Kleist, K., Gehirnpathologie, vornehmlich auf Grund der Kriegs-
erfahrungen. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1934. — 4. Röttgen, P.,
Selbach, H., v. Stockert, F. G., und Tönnis, W., Untersuchungen und Be-
obachtungen über die Entstehung vorübergehender postoperativer Herd-
symptome und postoperativer Liquorveränderungen. — 5. Seifert, E., Tönnis,
W., Riechert, T., Kopfverletzungen. Taschenbücher des Truppenarztes
Band 2. München-Berlin, J. F. Lehmanns, 1938.
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer
Ursache (Angst-Eingebungspsychose) und äußerer
Ursache (Symptomatische Psychosen)
Von
Doz. K. Leonhard
Oberarzt der Klinik
(Aus der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt a. M.
Leiter: Prof. Dr. Kleist)
(Mit 1 Abbildung)
I. Angst-Eingebungspsychose
Wernickes und Kleists Abgrenzung der Eingebungspsychose hat
kaum Nachuntersucher gefunden. Das ist nicht recht verständlich,
da es sich oft um sehr eindrucksvolle Krankheitsbilder handelt. Ich
selbst stieß auf die Eingebungspsychose vor allem im Laufe meiner
Untersuchung über Angstpsychosen. Ich fand dort im Wechsel
mit den Angstzuständen eigenartige Gegenphasen freudiger Ver-
stimmung. In den meisten Fällen hatten sie nicht das Gepräge der
Eingebungspsychose, boten vielmehr eine einfache (monosympto-
matische) Freudigkeit ohne wesentlichen Inhalt, ein einfaches
Glücksgefühl (Angst-Glück-Psychose). Gerade die typischen Angst-
psychosen zeigten in ihrer zweiten Phase dieses Bild. In einigen
wenigen Fällen dagegen wechselte die ängstliche Phase mit eksta-
tischen Zuständen ab, in denen es zu Weltbeglückungs- und Grös-
senideen meist maßloser Art kam. Einer meiner dortigen Pro-
banden, dessen Mutter in den Wechseljahren 11, Jahre lang schwer-
mütig gewesen war, der selbst mit 59 Jahren ängstlich depressiv
wurde und 1 Jahr später durch Selbstmord endete, hatte 30 Jahre
vorher im Alter von 29 Jahren schon eine erste Phase durchge-
macht, die zwar vorwiegend auch ängstlicher Färbung gewesen,
aber zweimal für nur kurze Zeit ın eine eigenartige Gegenphase
umgeschlagen war. Der Kranke fühlte damals plötzlich ‚‚eine
große Macht in sich‘, erklärte: „Du weißt doch, daß ich der
Herrgott bin!“ Nach einer ängstlichen Zwischenphase wurde er
später noch einmal, diesmal nur für einen Tag ekstatisch-expansiv
und wollte jetzt die Welt untergehen lassen. 30 Jahre lang war
102 K. Leonhard
er nach dieser ersten Psychose ein fleißiger, solider Mann,
der dabei auch gerne einmal in Gesellschaft ging und sein Glas
Bier trank. Irgendwelche Auffälligkeiten bot er in dieser Zeit
nicht.
Gerade die verschiedene Gestaltung der den ängstlichen ent-
gegengesetzten Phasen ließ mich die Frage aufwerfen, ob es nun
eigentlich die gleiche Angstpsychose sei, die einmal mit einfacher
Freudigkeit, ein andermal mit der viel eindrucksvolleren eksta-
tischen Verstimmung abwechselt. Ich konnte damals noch zu
keinem endgültigen Schluß kommen, muß aber heute auf Grund
meiner weiteren Beobachtung zwei Formen von Angstpsychosen
abgrenzen, die einander nur in vielem verwandt sind, sich aber
nicht bloß in den freudigen Phasen voneinander unterscheiden,
sondern auch in den ängstlichen. Die reine Angstpsychose, die oft
in einfache Freudigkeit aber nie in ekstatische Verstimmung um-
schlägt, bietet im wesentlichen das Bild, wie ich es in meiner Mono-
graphie geschildert habe, die allermeisten der dort verwerteten
Fälle gehören ihr an. Im Gegensatz dazu treten bei der ängstlich-
ekstatischen Erkrankung in der Angstphase, die häufig ratlos ge-
färbt ist, neben den klar ängstlichen Inhalten regelmäßig Be-
ziehungsideen, meist auch mit gleichsinnigen Halluzinationen her-
vor, die wohl den ängstlichen Hintergrund erkennen lassen, damit
allein aber nicht erklärt sind, zumal sie sich oft gerade mit Ab-
klingen der Angst vordrängen. Der eben angeführte Kranke z. B.
erschließt nicht bloß aus einem vorbeifahrenden Leichenwagen
seinen baldigen Tod, sondern fühlt sich auch von Arbeitskollegen
gehänselt und bezieht harmlose Vorgänge der Umgebung auf sich,
einmal sogar das Zwitschern eines Vogels. In dieser Art kommen
Beziehungsideen bei den einfachen Angstpsychosen nicht vor,
Umdeutungen entspringen bei ihnen viel unmittelbarer ihren ängst-
lichen Befürchtungen. Man darf daher von einer paranoiden Form
von Angstpsychose sprechen und vielleicht Beziehungen herstellen
zu dem Krankheitsbild, das Kleist als depressive Beziehungs-
psychose heraushebt. Man darf die paranoide Angstpsychose einer
einfachen oder reinen Angstpsychose gegenüberstellen und wird
gerade in der verschiedenen Färbung der Gegenphasen die Be-
stätigung ihrer Verschiedenheit sehen. Freilich will ich nicht ver-
schweigen, daß ich bei einem Kranken sicher paranoider Angst-
psychose (meiner Monographie) einen Umschlag in eine dem Bilde
nach einfache Freudigkeit sah. Ich erkläre mir das aber heute
damit, daß ekstatische Verstimmungen in leichtester Ausprägung
wohl von den Zuständen einfacher Freudigkeit nicht zu unter-
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 103
scheiden sind. Umgekehrt sah ich dagegen beireinen Angstpsychosen
nie statt der einfachen Freudigkeit eine ekstatische Verstimmung.
In meiner Monographie über Angstpsychosen tritt die paranoide
Form zahlenmäßig sehr zurück. Das kann den äußeren Grund
haben, daß ich dort nur Fälle verwertete, bei denen das Bild der
Angstpsychose von den paranoischen Erscheinungen nicht zu sehr
beeinträchtigt war. An sich scheint die Angst-Eingebungspsychose
nicht so sehr selten zu sein, denn ich konnte seither doch eine
Reihe von Fällen beobachten. Im folgenden führe ich nur die-
jenigen an, bei denen tatsächlich beide Phasen, die paranoid-ängst-
liche und die ekstatische hervortrat (im einen Fall wenigstens im
Familienbild), da ja gerade diese Doppelphase mit ihrer in beiden
Abschnitten eindeutigen Gestaltung so sehr für ein besonderes
Krankheitsgeschehen spricht. Häufiger sind Fälle, die nur die
paranoid-ängstliche Phase bieten — so wie auch die Melancholie
häufiger ist als die Manie —, aber sie sind für die Abgrenzung von
anderen Krankheitsformen weniger beweisend. Andererseits kommt
auch die Eingebungspsychose, wie schon aus Kleists Darstellung
hervorgeht, isoliert vor. In der Frage eines doppel- oder einfach-
phasischen Verlaufs scheinen Angst- Eingebungspsychose, Angst-
Glückspsychose und manisch-melancholisches Irresein im’ engeren
Sinne gleichen Gesetzmäßigkeiten zu folgen, über die allerdings
heute noch verschiedene Auffassungen herrschen.
Fall 1, Karl Kre, geb. 1905, Schuhmachermeister.
Sippe: Vater war lebhaft, etwas streitsüchtig, trank auch
gerne. In späteren Jahren wurde er zuckerleidend und starb auch daran
mit 59 Jahren. Die Mutter ist ruhiger, aber humorvoll, dabei religiös. Von
9 Geschwistern fiel einer, der als gesellig geschildert wird, im Krieg. Ein
zweiter Bruder ist temperamentvoll, ein heller Kopf, ein dritter
Friseur, bekam wegen Sittlichkeitsvergehens (das er selbst abstritt) mit
minderjährigem Lehrpersonal ?/, Jahr Gefängnis. Eine Schwester starb nach
einer Operation an der Bauchspeicheldrüse, war unauffällig. Eine weitere
Schwester ist empfindlich, weint bei jeder Kleinigkeit. Vier weitere
Schwestern sind ausgeglichen, unauffällig.
Selbst: Vorwiegend pyknisch. Er war früher immer tätig und guter
Laune, ging gerne in Gesellschaft, allerdings war er auch reizbar, wußte sich
aber zu beherrschen. Beruflich kam er gut vorwärts. Er ist verheiratet, die
Ehe ist abgesehen von gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten gut. Ein
Kind ist gesund.
Krankheit: Bald nach Weihnachten 37 veränderte sich Kre, er wurde
ängstlich, mußte immer weinen. Er bemerkte, daß die Leute auf der Straße
eigenartig auf ihn sahen und andeuteten, er solle sich doch tot schießen.
Er hörte sie sagen: „Haben Sie kein Schießeisen ?“ — ein andermal: ‚Daß
du auch noch lebst!“ Sowohl Kollegen wie auch fremde Leute auf der Straße
stellten ihm in dieser Weise nach, legten ihm vor allem immer wieder nahe,
doch aus dem Leben zu scheiden. Kre scheint sich nach außen hin noch
104 K. Leonhard
ziemlich beherrscht zu haben, denn zu Konflikten kam es nicht und Klinik-
einweisung wurde zunächst auch nicht nötig. Im April schlug die Stimmung
dann um, die ängstlichen Ideen schwanden und Kre trat jetzt unvermittelt
mit der Idee hervor, er sei ein untergeschobenes Kind, in Wirklichkeit der
Sohn eines Fabrikanten, er habe eine Erbschaft von 1!/, Millionen Mark zu
erwarten, außerdem den Dank des deutschen Volkes, denn er habe Hitler
zur Macht verholfen. Diese Ideen gaben am 4. Mai 38 den Anlaß zur Auf-
nahme in die hiesige Klinik. Kre war deutlich gehobener Stimmung,
immer fröhlich. Für seine expansiven Ideen trat er aber bereits nicht mehr
voll ein, er sprach von selbst nicht davon und lenkte das Gespräch auch gerne
in andere Richtung. Mit etwas unbestimmten Redensarten: ‚Es wird wohl so
sein‘ ging er über bestimmtere Fragen nach seinen Ideen hinweg. Im übrigen
verhielt er sich ruhig, eine Vielgeschäftigkeit war nicht vorhanden, Ideen-
flucht oder eine andere Art von Denkstörung bestand nicht. Die gehobene
Stimmungslage hielt langsam abnehmend nicht mehr länger als etwa 14 Tage
an. Neue Inhalte traten nicht hervor, die früheren wurden allmählich be-
stimmter korrigiert, etwa 2!/ Wochen nach der Aufnahme erklärte Kre bereits:
„Ich muß eine kolossale Verwirrung gehabt haben, ich weiß nicht, wie das
gekommen ist.“ Weiterhin ist er ausgeglichen, die Temperamentslage bleibt
eher etwas gehoben, vielleicht aber nicht anders als er nach eigener Angabe
in seinen gesunden Zeiten ist. Die Krankheitseinsicht ist eine völlige. Nachdem
Kre interkurrent noch eine Angina durchgemacht hat, wird er 6. Juli 38 frei
von seelischen Krankheitserscheinungen entlassen.
Im August stellt er sich auf Wunsch vor, ist ruhig, einsichtig, in seiner
Stimmung immer noch leicht gehoben. Er gibt diesmal an, sich seit seiner
Krankheit eigentlich besonders wohl zu fühlen. Befragt, wie er sich in der
Zeit seiner Größenideen gefühlt habe, erklärt er sofort, da habe ihn ständig
ein „inneres Glücksgefühl‘‘ beherrscht.
Nach einer ängstlich gefärbten Depression mit reichlich Be-
ziehungsideen und auch Halluzinationen ängstlich-paranoischen
Inhalts tritt hier eine Eingebungspsychose raschen Ablaufs hervor.
Wie bei den Angstpsychosen sind solche kurzen, fast mehr episo-
dischen als phasischen Verläufe sehr häufig. Wer nicht selbst Angst-
Eingebungspsychosen ın größerer Zahl beobachtet hat, wird ge-
neigt sein, bei Kre an eine schizophrene Erkrankung mit vorläufig
besonders günstigem Ausgang zu denken. Besonders die maßlosen
Größenideen können leicht in diesem Sinne gewertet werden, zumal
sie — wie auch sonst bei der Eingebungspsychose — ohne jede
Begründung, ja ohne jeden Versuch, sie einem anderen verständlich
zu machen, vorgebracht werden. Aber darin liegt gerade das We-
sentliche dieser Eingebungserlebnisse, es sind auch, wie Kleist
betont, nicht einfach Größenideen, sondern Ideen, die oft viel
mehr im Sinne der Beglückung anderer, der Weltbeglückung gehen.
Auch bei Kre scheint das darin zum Ausdruck zu kommen, daß
er Hitler zur Macht verholfen haben will. Wir müssen selbstver-
ständlich auf die Abgrenzung gegen Schizophrenien noch zurück-
kommen. Gefährlich im Sinne dieser Fehldiagnose ist auch das
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 105
Nachstadium, das man nach ekstatischen Verstimmungen häufig
findet, das Stadium, in dem die Verstimmung schon abklingt,
ın dem keine neuen Ideen hervortreten, die alten aber noch nicht
korrigiert werden. Die gehobene Stimmung in diesen Zuständen,
die denen der einfachen Freudigkeit der reinen Form von Angst-
psychose ähnlich sind, haben bei dem Fehlen neuer Inhalte oft
etwas unbegründetes, Unverständliches an sich, können dadurch
leicht auch als etwas läppisch empfunden werden. Sie deuten aber
keinen Defekt an, sondern leiten nur in die normale Mittellage
der Affektivität über.
Fall 2, Leo Chrob, geb. 1909, Diplomkaufmann.
Sippe: Vater ist sehr tüchtig, hat sein Geschäft hoch gebracht, Optimist
und Realist, keine Stimmungsschwankungen, zu Hause etwas aufbrausend.
Mutter impulsiv, schnell aufgeregt, schwernehmend, sieht immer gleich die
Schattenseiten in allem, beobachtet sich sehr und bildet sich leicht Krank-
heiten ein. Während der Periode besonders empfindlich, aber nie ernstere
Verstimmungen. Von 3 Brüdern des Chrob ist einer klein gestorben, einer
wird als vergnügungssüchtig, dabei aber ‚„hypochondrisch veranlagt“ und
leicht erregbar bezeichnet, ein zweiter als ruhig und ernst. Von 2 Schwestern
wird die eine ruhig, gesetzt genannt, die andere übermütig, heiter, etwas
erregbar. Von Psychosen ist in der Familie nichts zu erfahren.
Selbst: Vorwiegend pyknisch. Hatte ernste Grundhaltung, war immer
etwas ängstlich, konnte in Gesellschaft aber auch lustig sein, war erregbar,
aufbrausend. Machte Realgymnasium und Handelshochschule mit guten
Noten durch, nahm dann eine Stelle als Kaufmann an. 1934 fühlte er sich
in seiner Stellung nicht mehr wohl, hatte ‚seelische Depressionen‘, gab seine
Stelle auf und grübelte auch an der folgenden noch viel, beschäftigte sich mit
Philosophie und Religion. Später fühlte er sich wieder wohler, als ernstere
Krankheit wurde der Zustand nicht aufgefaßt.
Dagegen fühlte er sich seit etwa April 37 ernster verändert, in seiner Stim-
mung ‚teils gehoben, teils gedrückt“, später dann anhaltend gedrückt. Im
September überkam ihn die Verstimmung plötzlich mit großer Heftigkeit.
Als er mit dem Zug nach Frankfurt fuhr, überfiel ihn schon vor dem Ein-
steigen ein heftiges Angstgefühl und eine innere Unruhe. Im Abteil, in dem
er allein war, steigerte sich die Unruhe, er fühlte sich wie gewürgt, die Ge-
danken überstürzten sich. ‚Es ist ein richtiger Wahnsinnsanfall gewesen,
es war furchtbar.‘ Er schrie: „Ich muß sterben‘ und stürzte sich aus dem
fahrenden Zug. ‚Ich habe gehofft, durch den Sprung aus dem Wagen das
furchtbare Angstgefühl los zu werden.“ Er zog sich dabei eine Radiusfraktur
sowie einen Bruch des 7., 8. und 9. Brustwirbels zu. Über die chirurgische
Klinik wird Chrob am 15. September 37 in hiesiger Klinik auf-
genommen. Neurologische Veränderungen waren trotz der Wirbelfrakturen
nicht nachweisbar. Unter entsprechender Behandlung heilten sie auch ohne
Folgeerscheinungen aus. In der Klinik ist Ch. sehr ängstlich, sieht den Teufel,
hört sich beschimpfen: ‚Friß, du Schwein‘, glaubt, seine Angehörigen seien
erschossen. Am 17. 9. ist er dagegen plötzlich ekstatisch, spricht von Offen-
barungen, erklärt sich für den lieben Gott, der alle Menschen glücklich machen
wolle, durch Stimmen sei ihm das mitgeteilt worden. Schon am nächsten
Tag spricht er nicht mehr davon und einige Tage später ist er wieder ängstlich
106 K. Leonhard
und jetzt ausgesprochen ratlos: Es komme ihm alles so komisch vor, er kenne
sich nicht mehr aus. Immer wieder treten aber, oft fast unvermittelt zwischen
die Angst hinein, Eingebungserlebnisse hervor: Eine Zeitenwende sei da, der
Messias komme. In seinen ängstlichen Zuständen fürchtet er, erschossen,
zerstückelt zu werden, weil er zu viel gesündigt habe. Hört: „Wir suchen
einen Mann, der sind Sie, ein Landesverräter‘, hört, er sei rettungslos ver-
loren, bezieht eine harmlose Bewegung des Arztes als ‚wegwerfend‘‘ auf sich.
Unter Schwankungen bessert er sich im Laufe etwa eines Vierteljahres, die
Halluzinationen treten zurück, Beziehungsideen dafür mehr hervor: Das
Krachen in dem Heizkörper könnte ja rein technisch zu erklären sein, es komme
ihm aber doch so vor, als ob es seinetwegen gemacht würde. Wenn im Zimmer
nebenan gesprochen wird, glaubt er, man spreche über ihn. Die Angst ist
in dieser Zeit schon geringer, besteht aber fort, ebenso wie Befürchtungen
und Selbstbeschuldigungen, er habe zu wenig seinen beruflichen Pflichten
gelebt.
Anfang Januar ist er kaum mehr auffällig, nur noch etwas selbstunsicher.
Er weiß jetzt, daß er schwer krank war und korrigiert alle seine krankhaften
Ideen. Er ergänzt auch einiges Wesentliches aus seinen Erlebnissen, so habe er
einmal eine Stimme gehört: ‚Ich will Dir alle Schätze des Himmelreichs
geben‘‘, habe dann geglaubt, zum Papst fahren zu müssen, um als Friedens-
stifter zwischen den Religionen aufzutreten. Zu anderen Zeiten habe er ge-
fürchtet, seine Glieder würden ihm amputiert, sein ganzer Körper würde zu
Sägemehl gemacht. Jetzt steht er völlig über seinen Erlebnissen, erzählt
objektiv und kritisch von ihnen. Die Stimmung ist ausgeglichen, irgendwelche
Störungen des Denkens sind nicht vorhanden. Am 26. Januar wird Chrob
geheilt entlassen, er geht wieder seinem Beruf nach und ist seither nicht wieder
auffällig geworden.
Bei Chrob handelte es sich um eine besonders schwere Form von
Angst-Eingebungspsychose, der drei Jahre zuvor schon eine leich-
tere Verstimmung vorausgegangen ist. Plötzlich und mit unge-
heurer Gewalt muß die Angst über ihn hereingebrochen sein, als
er sich aus dem fahrenden Zug stürzte. In der Klinik war er nur
in seinen ruhigeren Zeiten fixierbar, bei Steigerung der Angst lag
er wie erstarrt im Bett und gab keine Antwort, Erregungen traten
dagegen kaum auf. In den Zuständen ängstlicher und ratloser -
Verstörtheit konnte man bei Chrob sehr im Zweifel sein, ob es sich
nicht um eine fortschreitende Defekterkrankung handelte, zumal
er sehr viel halluzinierte. Aber gerade bei der paranoiden Form
von Angstpsychose ist neben der Angst meist eine Ratlosigkeit
vorhanden und auch das Halluzinieren gehört zu ihrem Bild, wäh-
rend mir bei meinen Fällen reiner Angstpsychose eher die Selten-
heit des Halluzinierens auffiel. Kaum mehr klar abgegrenzt gegen
die Angstzustände schieben sich bei Chrob die ekstatischen Er-
lebnisse, die Weltbeglückungs- und Selbsterhöhungsideen dazwi-
schen, es scheint sich zeitweise um sprunghaftes Hın- und Her-
schwanken der Affektivität zwischen Angst und Ekstase gehandelt
zu haben. Ihrer Art nach sind die Erlebnisse außerordentlich
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 107
charakteristisch für die Eingebungspsychose: Ich bin Gott, der alle
Menschen glücklich macht, eine Zeitenwende ist da, der Messias
kommt! Man durfte sich an ihrer Art nur nicht dadurch irre machen
lassen, daß der Kranke in dem Augenblick, in dem er von seinen
Ideen erzählte, manchmal gar nicht so überfreudig verstimmt
erschien. So wie die Angst wellenförmig verläuft und nur für je-
weils kurze Zeit zu höchster Stärke ansteigt, so auch die Ekstase.
Nur in den kurzen Zeiten ekstatischer Verzückung schießen die
Eingebungserlebnisse auf, sie schwinden aber verständlicherweise
nicht sofort mit Abflachung der freudigen Verstimmung. Es dauert
immer längere Zeit, bis affektiv fixierte Ideen bei ruhigerer Affek-
tivität korrigiert werden. Es ist ja bei den ängstlichen Ideen nicht
anders. Die oft phantastischen Ideen ängstlicher Art, die gerade
bei der paranoiden Angstpsychose häufig sind, die nicht bloß den
drohenden Tod zum Inhalt haben, sondern vielfach eine grausige
Marterung bis zum schließlichen Tod, eine körperliche Zerstücke-
lung bei lebendigem Leibe, diese phantastisch-ängstlichen Ideen
entstehen auch sicher nur in Zuständen höchster Angst, in denen
die Kranken zu eıner Aussprache gar nicht fähig sind. Wenn sie
die Ideen äußern, dann sind sie längst ruhiger geworden, haben sie
aber keinerwegs schon korrigiert. So kann man es auch bei den
Eingebungserlebnissen beobachten. Man soll darum jedenfalls vor-
sichtig sein mit dem Urteil, die Ideen wären „affektlos‘‘. Ich be-
obachtete eben jetzt in der Klinik eine Kranke, die bei der Auf-
nahme etwas vielgeschäftig und im Gedankengang abspringend,
affektiv aber schon ziemlich ausgeglichen erschien. Sie erzählte
von Begnadungserlebnissen, in denen sie von Gott erfuhr, sie
werde Deutschland erretten, ihr Kind, das den vielsagenden Namen
„Christine“ trägt, sei zum Werkzeug erwählt. Gleichzeitig aber
berichtete sie auch von Beziehungsideen, daß man ihretwegen an
die Wand klopfe, das auch von draußen eingenartige Geräusche
hereindrängen, daß man ihr damit etwas androhen wolle. Ich
glaube, daß es sich um eine Angst-Eingebungspsychose handelt,
deren genannte Inhalte aus zwei Phasen stammen, in freudiger
Verstimmung kamen ihr die Begnadungsideen, in leicht ängst-
licher die ängstlich-paranoischen. Trotz ihrer fast mittleren Affekt-
lage korrigierte sie die Ideen zunächst noch nicht, sondern erst
einige Tage später.
Fall 3, Adam Wer, geb. 1891, Presser.
Sippe: Der Vater starb mit 72 Jahren, angeblich an Tuberkulose, die
Mutter mit 46 Jahren an Ilalstuberkulose, eine Schwester mit 5 Jahren an
Diphtherie. Ein Bruder fiel im Krieg. Von erblicher Belastung war auch sonst
nichts zu ermitteln.
108 K. Leonhard
Selbst: Mehr leptosom. Von jeher ernst, mehr für sich, las gerne Bücher
und bastelte. In der Schule lernte er gut. Im Krieg wurde er verwundet und
geriet in Gefangenschaft. In jungen Jahren einmal magenkrank, sonst früher
gesund.
Krankheit: Schon seit 1935 fühlte er sich nicht mehr so gesund wie früher,
war nervös, regte sich leicht auf, war oft von ‚innerer Unruhe und Angst-
gefühlen‘ geplagt. Die Beschwerden beeinträchtigten zunächst die Berufs-
fähigkeit nicht ernstlich. Anfang des Jahres 1937 trat aber eine Verschlimme-
rung ein. Wer hatte jetzt immer eine unbestimmte Furcht vor einem Un-
bekannten, von der er sich verfolgt fühlte. Er glaubte immer, es werde etwas
passieren. Wenn sich in seinem Betriebe Leute unterhielten, dann glaubte er,
man rede über ihn. Am 12. 6. steigerte sich nachts unvermittelt die Angst,
Wer sprang aus dem Bett, weckte alle Hausgenossen, war hochgradig erregt,
in jeder Sekunde müsse ihm etwas passieren, rannte durch das Zimmer, bis
er schweißgebadet war, hörte bedrohliche Geräusche und Stimmen, daß man
ihn totschlagen und fortschaffen wolle. Der herbeigeholte Arzt veranlaßte die
sofortige Aufnahme in die hiesige Klinik.
Hier ist er sehr ängstlich, spricht von dem Unbekannten, der ihn verfolge,
glaubt, daß der Ansager im Radio über ihn spreche, hört von 1000 Stichen,
die er erhalten würde, klagt über Herzschmerzen, glaubt, sein Bett werde elek-
trisch geladen, fürchtet zu Tode massakriert zu werden. Zeitweise steigt die
Angst noch mehr. Wer springt dann aus dem Bett, rennt nach der Türe, zu
den Fenstern, schreit, sein Bett stehe in Flammen. Dann wieder ist er mehr
ratlos: ‚Es ist etwas Geheimnisvolles um mich“, liegt gespannt und ängstlich
abwehrend im Bett, blickt verstört um sich. Am 10. 8. wird eine Gardiazol:
Schock-Behandlung eingeleitet, nach drei Krämpfen aber bereits wieder
abgebrochen, da sich Wer inzwischen bereits so auffällig gebessert hat. Wer
fühlt sich ‚‚wie neu geboren“, ist in seiner Stimmung eher etwas gehoben,
gibt frei und verständig Auskunft. Er erzählt von seinem Zustand: Er habe
„Angst gehabt, furchtbare Angst und nicht gewußt, wovor“, ein furchtbarer
Druck habe ihm über der Brust gelegen. Einmal sei er vom Fenster her be-
droht worden mit einem Flammenwerfer, Stimmen hätten ihn bedroht und
auch ihren Ulk mit ihm getrieben. Es sei ihm ein Rätsel, wie das alles möglich
gewesen sei. Wer hat volle Krankheitseinsicht, bleibt auch weiterhin unauf-
fällig, zeigt keinerlei Störung des Denkens oder der Affektivität. Am 8. 9. 38
wird er entlassen.
In den ersten 3 Wochen nach der Entlassung ist Wer unauffällig, dann
aber wird er zunehmend wieder ängstlich. Die Angst steigt wieder an, Wer
fühlt sich verfolgt, will zum Fenster hinausspringen, verlangt ein Messer,
um sich wehren zu können, hört wieder bedrohliche Stimmen. In der Klinik,
wo er am 20. 10. wieder angenommen wird, ist er von Anfang an schon etwas
beruhigt, fühlt sich aber bedroht, sieht und hört ‚‚Muselmänner‘“, die vorbei-
huschen und ihn ängstigen. Weiter wechselt er stark, ist manchmal ziemlich
ausgeglichen, dann wieder sehr ängstlich, von seinen Halluzinationen ein-
genommen, zeitweise auch heftiger erregt, fühlt sich von Gestalten bedroht
und schlägt verzweifelt um sich. Eine Insulinkur mit 31 Schocks, die zum Teil
mit epileptiformen Anfällen einhergehen, bessert den Zustand nur unwesent-
lich, sie wird daher abgebrochen. Dagegen tritt im Laufe des Januar all-
mählich eine auffällige Änderung ein, die Angst schwindet, an seine Stelle
tritt eine Freudigkeit. Wer fühlt sich jetzt glücklich und äußert maßlos
expansive Ideen, er habe ein Monatseinkommen von 160000 Mk., er sei der
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 109
reichste Mann von Frankfurt, besitze viele Fabriken. Befehlend verlangt er
seine Entlassung. Schon bald wird er wieder ängstlich, dann aber gleicht sich
seine Stimmung mehr und mehr aus. Im Februar ist er verständig, einsichtig,
korrigiert seine ängstlichen wie expansiven Ideen, ist freundlich zugänglich,
zuversichtlicher Stimmung, zeigt keine Denkstörung. Er wird am 25. 2. 38
entlassen, erholt sich zu Hause noch, nimmt dann seine Arbeit wieder auf
und wird August 38 unauffällig geschildert.
Der Verlauf der Psychose ist hier durch die Kardiazol- und In-
sulinbehandlung beeinflußt, dadurch nicht so klar zu übersehen.
Aber auch wenn die Behandlung, vor allem die Kardiazolbehand-
lung beim ersten Klinikaufenthalt, die Heilung wesentlich mit-
bedingt hat, der Verdacht auf eine sonst vielleicht unheilbare schizo-
phrene Erkrankung darf dadurch nicht entstehen. So absolute Hei-
lungen habe ich auch nach Insulin oder Kardiazol nur dann ge-
sehen, wenn bewußt Fälle behandelt wurden, die an sich für heilbar
gehalten wurden, deren Psychose also nur abgekürzt werden sollte.
Der Erfolg ist dann oft sehr eindrucksvoll, noch viel eindrucks-
voller als bei den Besserungen der echten Schizophrenien, die
eben doch nie völlige Heilungen sind. Bei den Angstpsychosen ist
die Kardiazolbehandlung oft zu empfehlen. Gerade bei schweren
ängstlichen Erregungen, die nicht selten das Leben bedrohen, kann
unter Kardiazolbehandlung eine Beruhigung eintreten, die geradezu
lebensrettend ist. Jedenfalls, glaube ich, läßt der Verlauf bei Wer
trotz der Kardiazol- und Insulinbehandlung erkennen, daß es sich
um eine schon an sich heilbare Psychose gehandelt hat. Ihr Symp-
tomenbild ıst ganz das der Angst-Eingebungspsychose. In der
ängstlichen Phase treten wieder Beziehungsideen und Halluzina-
tionen sehr reichlich hervor, die Angst ist häufig von einer schweren
Ratlosigkeit begleitet, in der freudigen Phase werden Weltbe-
glückungsideen nicht ausgesprochen, die ekstatische Grundstim-
mung ist aber an der MaBlosigkeit der Größenideen zu erkennen,
die in der charakteristischen Weise ganz unvermittelt hervor-
treten und vom Kranken in keiner Weise begründet werden. Das
MaßBlose wie der Mangel an logischer Unterbauung kann die Ideen
der Eingebungspsychose paralytischen Größenideen ähnlich ma-
chen, aber der Mangel an Kritik ist bei den Eingebungspsychosen
rein affektiv bedingt, während bei den Paralytikern doch die
intellektuellen Mängel wesentlich daran beteiligt sind.
Fall 4, Bernhard Did, geb. 1895, Bankbeamter.
Sippe: Der Vater trinkt gerne, ist viel in Gesellschaft, gehört auch einem
Gesangverein an. Er lebt noch, ist 74 Jahre alt. Die Mutter starb mit 61 Jahren
an Wassersucht. Sie war sehr fromm katholisch, gehörte dem ‚‚dritten Orden“
an. Im allgemeinen war sie ruhig, konnte aber leicht zornig werden. Von
8 Geschwistern ist ein Bruder im Krieg gefallen, er war nicht recht selbständig,
110 K. Leonhard
nach einem Stellenverlust einmal sehr gedrückt, aber nie eigent-
lich schwermütig. Ein zweiter Bruder, der vorher gesund und unauffällig
war, ist ebenfalls gefallen. Ein weiterer Bruder ist musikalisch, hat bei der
Musik viel Temperament, ist aber sonst ruhig, außerdem empfindlich und
ehrgeizig. Als Kind machte er Schwierigkeiten, da er manche Speisen nicht
essen wollte. Ein vierter Bruder ist ruhig. Zwei Schwestern sind ebenfalls
ruhig, unauffällig. Eine dritte Schwester ist in der Schule etwas zurück-
geblieben, etwas jähzornig, hat viel Streit. Die vierte Schwester war einmal
2 Jahre lang etwas gedrückt, machte aber ihre Arbeit weiter. Sie wurde
dann wieder gesund, ist aber an sich eine stille Natur.
Selbst: Leptosom. War früher lustig und witzig, lernte in der Schule
gut, kam im Beruf vorwärts, verlor aber durch Unternehmungen Geld.
Krankheit: August 1928 im Alter von 33 Jahren wurde er erstmalig
auffällig, schlief schlecht, klagte über Kopfschmerzen, hatte Angst, meinte,
er werde von den Juden verfolgt. Schon nach 3 Wochen änderte er sich wieder,
erklärte jetzt, er sei Christus, er sei der Herrgott, sprach mit seinen Brüdern,
die nicht da waren, „durch das Radio“, lachte viel. 25. 8. 28 wird er in die
Klinik aufgenommen. Hier ist er bereits wieder ängstlich, anfangs schwer
erregt, fürchtet, man wolle ihn umbringen, der Arzt wolle ihm das Herz
herausreißen, die Juden wollten ihn opfern. Er schlägt Scheiben ein und
bringt sich dabei Verletzungen bei, widerstrebt ängstlich allem, wird gegen
die Pfleger aggressiv. Äußerte stereotyp: „Warum werde ich zum Tode
verurteilt?“ Nach einigen Tagen ist er ruhig, bleibt aber ängstlich und ist
jetzt vor allem sehr ratlos, geht auf Fragen kaum mehr ein, antwortet
stereotyp: „Danke schön‘, verweigert die Nahrung, äußert Vergiftungsideen
und muß zeitweise mit der Sonde ernährt werden. An Gesicht und Händen
fallen Parakinesen auf. Wieder zugänglicher äußert er Selbstvorwürfe, er habe
nicht richtig Steuern bezahlt und Schulden gemacht, kommt gleich ins Weinen.
Oktober und November ist er leicht ängstlich, dabei beziehungssüchtig, die
anderen Kranken sprächen über ihn, die Ärzte hetzten sie gegen ihn auf,
man wolle ihm dauernd am Zeug flicken. Dazwischen tritt er mit hypochondri-
schen Ideen hervor. Dezember gleicht sich seine Stimmung weiter aus, sie ist
aber immer noch leicht ängstlich. Ende Dezember wird er von der Frau
abgeholt. Er beschäftigt sich zu Hause wieder, soweit er Arbeit bekommen
kann, ist nicht mehr auffällig.
Aber bereits Juni 29 verändert er sich wieder, er beichtet und will mit
Gott sprechen. 27. 6. kommt er wieder in die Klinik. Hier lacht er viel, bringt
religiöse Ideen vor, er wolle in den Dienst Gottes treten, Gott habe den Haß
gegen die Juden aus ihm genommen. Nach 2 Tagen ist er bereits wieder ängst-
lich, antwortet nicht, macht einförmige Bewegungen, ißt nichts, schlägt den
Kopf gegen die Wand, liegt dann wieder steif im Bett und widerstrebt. Die
folgenden Monate wechselt er immer wieder, bald ist er stark ängstlich, wider-
strebend, unzugänglich oder in ängstlicher Unruhe, teilweise mit Parakinesen,
dann wieder ist er leichter ängstlich, äußert dann Selbstbeschuldigungen,
er habe onaniert, daneben immer auch Beziehungsideen, man hetze gegen ihn.
Für kurze Zeit schlägt die Stimmung öfter auch um, Did ist dann froh, lacht,
wird aber meist rasch wieder ängstlich. Erst Anfang 30 bleibt er gleichmäßiger,
eine leicht ängstliche Stimmung hält aber noch an, so daß die Entlassung
erst Mai 30 erfolgen kann. Bei der Entlassung wirkt er etwas arm an Initiative.
Zu Hause ist er etwas empfindlich, sonst nicht mehr auffällig.
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 111
Schon November 30 tritt er wieder mit seinen religiösen Ideen hervor.
In der Klinik, wo er 25. 11. aufgenommen wird, ist er lebhaft, gesprächig,
spricht dozierend von Gott und den Ereignissen, die kommen sollen, zeigt
zsehobenes Selbstbewußtsein. Lehnt es nicht unbedingt ab, göttlich zu sein:
„Momentan stehe ich als Mensch vor Ihnen, der mit Hilfe Gottes spricht.
Aber manchmal war ich schon in der Lage, Werke in Erfüllung gehen zu
lassen, die ich als Mensch nicht kann.“ Es werde etwas Großes kommen,
das er selbst noch nicht kenne: ‚Ich habe Gott gebeten, er möge uns ein
Weihnachtsfest bescheren so glücklich und vollkommen wie noch nie.“ In
seinem Rededrang wird er oft ideenflüchtig, sogar inkohärent. Für eine
psychisch-experimentelle Prüfung ist er nicht fixierbar. Anfangs Dezember
ist er noch expansiv, will die Widersacher Gottes züchtigen, am 4. 12. schlägt
jedoch seine Stimmung wieder in Ängstlichkeit um, bleibt im Bett liegen,
weint, jammert, wird dann ängstlich-gespannt, abweisend. Ende Dezember
schwindet die Ängstlichkeit, Did wird wieder freudig und selbstbewußt.
„Mein Glaube bestätigt sich von Tag zu Tag mehr.“ Bei psychisch-experimen-
teller Prüfung zeigt er Ideenflucht, keine begrifflich-sprachliche Schiefheiten.
Der Zustand schwankt weiter, ängstliche Phasen von kurzer Dauer treten
mehrmals dazwischen. März 31 ist er nur gelegentlich noch etwas verstimmt,
April bleibt er ausgeglichen, Mai wird er frei von seelischen Störungen ent-
lassen. Diesmal geht es ein Jahr lang gut zu Hause, Did ist nur immer sehr
empfindlich, gleich gekränkt.
Juni 32 beginnen die religiösen Ideen wieder. Did kommt 20. Juni in die
Klinik und zeigt diesmal bei gesteigertem Selbstbewußtsein einen inkohärenten
Rededrang, der sich meist um religiöse Dinge dreht. Das Expansive tritt
darin hervor: ‚Ich bin mit Gott per Du.“ Bald tritt wieder der Wechsel
hervor zwischen Heiterkeit und gespannter Ängstlichkeit. Etwas ausge-
glichener wird er Oktober 32 in die Anstalt verlegt. Hier ist er zunächst ruhig,
geordnet, gibt über seine früheren Erlebnisse Auskunft. Oft habe er Stimmen
gehört, z. B. die Stimme der Mutter Gottes. In Zusammenhang mit seinen
Selbstvorwürfen wegen Selbstbefleckung habe er innerlich gehört: ‚Ge-
ständnis, Geständnis.“ Did steht jetzt kritisch über seinen Erlebnissen.
Ein gewisser Wechsel besteht auch in der Anstalt fort, bald wird der Affekt
leicht depressiv genannt, teils wird darauf verwiesen, daß sich Did mit Er-
findungen und Kompositionen beschäftige. November 33 wird er erregt,
verworren, äußert religiöse Ideen. Anfang 34 ist er wieder ruhig, bringt aber
immer wieder religiöse Ideen vor. August 34 wird er nach Hause entlassen.
Dort gibt es dadurch Schwierigkeiten, daß er allerlei Pläne hat und viel Geld
ausgibt. Unter anderem besucht er das Konservatorium und lernt Harmonie-
lehre und Kontrapunkt. Er wird daher November 34 wieder in die Klinik
gebracht. Hier ist er leicht gehoben, erzählt von Halluzinationen, die er früher
gehabt, unter anderem davon, daß er die Mutter Gottes gesehen. Wird De-
zember 34 wieder in die Anstalt verlegt.
Hier wird Did anfangs unauffällig genannt, dann ist von Liebhabereien
(Französisch, Musiktheorie) die Rede. Mai 35 tritt er mit Erfindungsideen
hervor, ist daneben oft querulatorisch. Es wird in der Krankengeschichte
betont, daß sein Gedankengang völlig geordnet sei und keine Paralogien
zeige. Januar 36 macht er einer früheren Bekannten einen Heiratsantrag,
will sich von seiner Frau scheiden lassen. Öfter ist er, anscheinend aus äußeren
Anlässen vorübergehend gereizt und erregt. Er treibt Studien in Griechisch,
Physik, Chemie, hat viele Wünsche, will einen Flügel haben. 1937 trägt er
112 K. Leonhard j
sich mit dem Gedanken, sein Abitur nachzumachen. Dazwischen ist er wieder
öfter depressiv, äußert finanzielle Sorgen. Dezember 37 entweicht er aus der
Anstalt, wird am Tag darauf durch das Polizeipräsidium wieder in die hiesige
Klinik gebracht. |
Hier verändert er sich März 38 für kurze Zeit, ist ängstlich-ratlos, kniet
viel nieder und bekreuzigt sich, weint, seufzt, liegt dann ängstlich-gespannt
im Bett. Schon nach einigen Tagen ist er wieder ausgeglichen, nachdem er an
einem Tag noch durcheinander gelacht und geweint hatte. Befragt, warum
er denn so viel gebetet habe, erklärt er: „Na, wenn man Angst hat, muß man
doch beten.‘‘ Auf die Frage, wovor er denn Angst gehabt, erklärt er, er habe
das Gefühl gehabt, daß im Haus etwas vorgehe. Abgesehen von dieser kurzen
Zwischenphase, ist Did, der sich heute noch in der Klinik befindet, im wesent-
lichen gleichbleibend. Er wird als arbeitender Kranker beschäftigt und be-
nimmt sich dabei geordnet und umsichtig. Er trägt sich aber dauernd mit
Erfinderideen, will eine Verbesserung zum Benzinmotor bringen, entwirft
viele Zeichnungen und erklärt sie auf Wunsch eingehend. Seine Idee wird
dabei durchaus klar, sie enthält nichts Unsinniges, würde nur wahrscheinlich
keinen Vorteil bringen gegen die bisherigen Konstruktionen. Wenn er von
der Erfindung sprechen darf, wird er lebhaft, spricht mit Hingabe, fast Be-
geisterung. Sonst fällt seine Affektivität nicht auf. Reaktiv ist er manchmal
verstimmt. Er möchte immer entlassen werden, sieht nicht ein, warum er
in der Klinik ist, queruliert auch oft in diesem Sinne. Fragt man ihn aber,
was er zu Hause wolle, dann rückt er mit seinen Plänen heraus, er will seine
Erfindung weiter ausbauen lassen, will sich selbst auch fortbilden, vielleicht
das Abitur nachmachen. Wegen der Geldausgaben, die zu erwarten sind,
kann die Entlassung daher nicht empfohlen werden.
Die ängstlichen Phasen gehen bei Did, wie auch sonst bei der
paranoiden Angstpsychose, mit Ratlosigkeit, Beziehungsideen und
Sinnestäuschungen einher, in der freudigen Phase finden wir wieder
die Selbstüberschätzungsideen, die im wesentlichen im Sinne
göttlicher Begnadung und Beglückung der Menschheit liegen. So-
weit handelt es sich um das typische Bild der Angst-Eingebungs-
psychose. Nicht ganz gewöhnlich ist es dagegen, wenn Did in
seinen ekstatischen Zuständen vielfach erregt, vor allem sprachlich
erregt wird, im Gedankengang ideenflüchtig bis inkohärent. Zu-
stände dieser Art, die an Verwirrtheits- und Motilitätspsychosen
erinnern können, fand ich aber auch schon bei den Angst-Eingebung-
psychosen, die ich in meiner Monographie angeführt habe, da und
dort eingestreut, wir werden sie auch in der noch anzuführenden
Sippe finden. Sie gehören daher wohl doch zum Krankheitsbild
der Angst-Eingebungspsychose, stellen nur Varianten derselben
dar. Die freudige bis ekstatische Stimmungslage ist bei Did auch
in seinen Vrwirrtheitszuständen erkennbar.
Eigenartig ist der Verlauf der Psychose. Während sich in den
ersten Jahren Phasen schwerer Angst- und Eingebungspsychose
aneinander reihen, werden die Schwankungen später viel flacher,
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 113
sie enthalten aber auch hierbei noch das für die Psychose Charak-
teristische. Bei der leichten Schwankung nach der depressiven
Seite hin, die Did im März dieses Jahres in der hiesigen Klinik
durchmacht, stehen Angst und Ratlosigkeit ganz im Vordergrund
des Bildes und Beziehungsideen deuten sich dadurch an, daß Did
glaubt, im Hause gehe etwas gegen ihn vor. Als Schwankung nach
der freudigen Seite hin muß andererseits der Zustand aufgefaßt
werden, in dem sich Did jetzt schon fast im Sinne eines Dauer-
zustandes befindet. Wenn man von den kurzen ängstlichen Phasen
absieht, ist Did seit Jahren von Selbstüberschätzung eingenommen,
von Plänen für sein Vorwärtskommen und Erfinderideen erfüllt.
Gerade wenn man auf seine Ideen eingeht, dann tritt auch die
ekstatische Grundstimmung, wenn auch nur in leichter Form, klar
hervor, dann wird er begeistert, bekommt einen freudig bewegten
Gesichtsausdruck, ist im Augenblick glücklich, als ob alle seine
Pläne schon erfüllt wären. Wenn er daher auch nicht dauernd ek-
statisch verstimmt erscheint, eine abnorme Anregbarkeit in diesem
Sinne ist dauernd vorhanden und sie nährt sicher auch die expan-
siven Ideen, die entsprechend der geringeren Verstimmung nicht
mehr die MaßBlosigkeit an sich haben wie in früheren Phasen. Die
Grundzüge der Eingebungspsychose sind daher auch jetzt noch
erkennbar, aber man würde sie wohl übersehen, wenn man den
früheren Krankheitsverlauf nicht kennte. Man würde dann Did
wohl je nach diagnostischer Einstellung als einen etwas über-
spannten Psychopathen oder auch einen leicht Schizophrenen auf-
fassen und würde mit beiden Diagnosen fehl gehen. Man sieht
daraus einmal, wie schwierig es sein kann, rein aus dem Symptomen-
bild des Augenblicks eine richtige psychiatrische Diagnose und
auch Prognose zu stellen, aber andererseits auch, wie sehr man
rein klinisch weiter kommen kann, wenn man die Krankheit nu:
für längere Zeiträume überblickt. Did ist nicht schizophren, ist
auch nicht manisch-melancholisch im engeren Sinne und nicht
psychopathisch, er leidet an periodischer Angst-Eingebungspsychose
und bietet damit nicht nur diagnostisch, sondern auch prognostisch
seine Besonderheiten.
Did ist nicht geheilt. Wenn man den Krankheitsverlauf der
letzten Jahre überblickt, wird man auch nicht hoffnungsvoll auf
eine Heilung warten dürfen. Es scheint doch so zu sein, daß sich
eine Abnormität der Stimmung mit den dazugehörigen Ideen
irgendwie fixiert hat und nicht mehr zur Mittellage zurückfindet.
Man könnte von einem Restzustand der Krankheit sprechen, und
ich glaube, auf Grund von Fällen, die ich in meiner Monographie
S Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
114 K. Leonhard
über Angstpsychosen angeführt habe, daß solche Krankheitsreste
bei der Angst-Eingebungspsychose öfter vorkommen, vor allem
dann vorkommen, wenn die Phasen in rascher Folge wiederkehren.
Die Heilbarkeit der Psychose ist insofern keine so absolute, wie
die der reinen Angstpsychose (Angst-Glücks-Psychose). Man wird
vielleicht geneigt sein zu folgern: Also sind es eben doch Schizo-
phrenien. Ich möchte, wie ich es schon in meiner Monographie
ausgesprochen habe, nicht streiten, ob man die Angst-Eingebungs-
psychose dieser oder jener Krankheitsgruppe zuteilen, ob man sie
so oder so benennen will. Darauf kommt es nicht an. Es ist ein
Irrtum, wenn man etwa glaubt, die Frage der Angst-Eingebungs-
psychose sei damit gelöst, daß man sie schizophren nennt. Man
ist sich heute im allgemeinen darüber einig, daß Schizophrenie
keine Krankheitseinheit verkörpert, vielmehr eine Summe unge-
klärter Krankheitsformen umfaßt, und doch glaubt man ein Krank-
heitsbild von besonderer Gestaltung vielfach damit erklärt zu
haben, daß man es diesem Begriff der Schizophrenie unterordnet.
Ob man ihr den Namen Schizophrenie zulegt oder nicht, die Ein-
gebungspsychose Kleists und auch die doppelphasige Angst-Ein-
gebungspsychose muß nach Symptomenbild und Verlauf als ein
eigenes Krankheitsgeschehen aufgefaßt werden. Auch so weit man
die Schizophrenie doch noch als Krankheitseinheit auffaßt, wird
man ja doch wohl nicht ein so eigenartig gestaltetes Krankheits-
bild wie die Angst-Eingebungspsychose dazu rechnen wollen. Der
Dauerzustand, in dem sich Did jetzt befindet, ist ja auch nicht
ein schizophrener im üblichen Sinne, stellt vielmehr nur verdünnt
und fixiert die Eingebungspsychose dar. Mag man also den Begriff
der Schizophrenie weit oder eng fassen, die Angst-Eingebungs-
psychose wird dadurch höchstens in der Namengebung, nicht in
ihrem Wesen berührt.
An Psychosen in den Sippen unserer Probanden fanden wir bisher
nur die Depression bei der Schwester von Did, die nach zwei Jahren
abheilt, deren Symptomenbild im einzelnen nicht mehr zu klären
ist. Sehr eindrucksvoll sehen wir dagegen in folgendem Sippen-
bild die Angst-Eingebungspsychose in gleichartiger Belastung ge-
häuft hervortreten.
Fall 5, Ida Schön, geb. 1907.
Sippe s. u.|
Selbst: Pyknisch. Früher lebhaft, fröhlich, nahm aber alles etwas schwer,
gerne in Gesellschaft. 1927, im Alter von 20 Jahren, erkrankt sie erstmalig
im Anschluß an den Tod ihres Bräutigams. Sie kommt 25. 8. 27 in die Anstalt
L. Hier ist sie ängstlich, zaghaft, wird später stärker ängstlich, alles gehe
unter, springt aus dem Bett, man habe nach ihr gerufen. Zu anderen Zeiten
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 115
steht sie wieder bewegungsarm da oder kniet auf dem Boden, verfolgt ängst-
lich die Vorgänge der Umgebung, hält hilfesuchend die Hand des Arztes fest.
Im September macht sie mehrere Selbstmordversuche, drosselt sich mit einem
Strumpf, will sich einen Waschlappen in den Schlund stecken, dann Steine
verschlucken. Wirkt neben ihrer Ängstlichkeit immer ratlos. Um die Jahres-
wende bessert sie sich, ist aber noch bei der Entlassung 15. 2. 28 schüchtern
und zaghaft. 14 Tage später wird sie vom Arzt zu Hause besucht und ganz
unauffällig gefunden, in guter Stimmung, fleißig beschäftigt. Auch bei späteren
«Besuchen des Arztes ist nie mehr etwas Abnormes an ihr feststellbar. 1929
heiratet sie. Eine Geburt übersteht sie ohne Zwischenfall.
1938 erkrankt sie ohne äußeren Anlaß neuerdings, klagt seit Februar
darüber, daß ihr das Herz so schwer sei. Im März wird sie dann nachts plötz-
lich erregt, schreit: „Mach zu, mach zu, der Teufel!“ Sie wird sofort in die
hiesige Klinik gebracht (21.3. 38). Hier ist sie außerordentlich ängstlich,
schreit laut, muß sofort Beruhigungsmittel bekommen. Am nächsten Tag
ist sie ruhiger, aber noch ängstlich, dazu ratlos, horcht bei allen zufälligen
Geräuschen auf. Erzählt, daß sie in ihrer Angst fremde Menschen im Zimmer
gesehen habe, die sie bedrohten, daß sie gefürchtet habe, sterben zu müssen,
geglaubt habe, ihre Schwester komme ins Gefängnis, daß in der Zeitung An-
deutungen für einen Krieg gestanden hätten. Schön entwickelt dabei einen
gewissen Rededrang, ist schwer fixierbar, abspringend in ihren Gedanken.
Sie bleibt ängstlich, äußert die Befürchtung im Gefängnis angekettet zu
werden, hört Stimmen, die ihr ankündigen, ihr Kopf komme herunter, hört
ihr Kind schreien, sieht es am Kreuz hängen. Klammert sich an den Arzt an,
stößt hastig einige Worte heraus, kommt aber in ihrer Angst gar nicht zu
Ende damit. Fühlt sich durch ihre Umgebung bedroht, bezieht harmlose
Vorgänge auf sich, man ‚veruze‘‘ sie, man gönne ihr nichts. Zwischendurch
steigert sich die Angst immer wieder, Schön stößt dann Äußerungen höchster
Angst aus: „O Gott, o Gott, mein Herz, ich muß sterben.“ Bei psychisch-
experimentellen Prüfungen wie auch in einfacher Unterhaltung schweift sie
immer wieder ab, vor allem auf ihre ängstlichen Ideen, zeigt dagegen keine
Paralogien. Auf Fragen, die außerhalb ihrer Befürchtungen liegen, läßt sie
sich schwer fixieren. Im Laufe des Juli bessert sie sich langsam, heftigere
Erregungen kommen nicht mehr vor, Schön wirkt aber noch ängstlich, ratlos,
verstört und bringt immer wieder ihre Sorgen wegen des Kindes vor. Im
August ist sie an manchen Tagen schon völlig frei, an anderen allerdings
noch verstimmt. Oktober wird sie entlassen, Nov. stellt sie sich wieder vor,
ist frei, freundlich, ausgeglichen.
Schön ist mir nicht so sehr wegen ihres eigenen Krankheits-
zustandes von Bedeutung, der eine typische paranoide Angst-
psychose darstellt — das Abschweifende und Abspringende im
Gedankengang sahen wir schon bei Did —, ohne daß bisher eksta-
tische Phasen aufgetreten wären, viel wesentlicher ist mir hier
die Sippe. An Hand der Sippentafel (Abb. 1) soll sie geschildert
werden.
Die Mutter der Schön erlitt, nachdem sie vorher immer unauffällig gewesen
war, im Alter von 55 Jahren einen Schlaganfall und verlor dadurch die Sprache,
konnte dann nur noch unartikulierte Laute wie ‚gode, gode‘‘ von sich geben.
Sie erholte sich von dem Schlaganfall nie mehr, wurde im Gegenteil all-
8e
116 K. Leonhard
mählich immer schwachsinniger. Während sie anfangs noch verstanden hatte,
was man zu ihr sprach, gelang später eine Verständigung überhaupt nicht mehr.
Sie starb verblödet mit 61 Jahren, nachdem sie auch körperlich immer mehr
zurückgegangen war.
Der einzige Bruder der Mutter war Trinker, trank vor allem Schnaps.
Einmal lief er aufs Gericht und beschuldigte sich des Mordes an seinem Bruder,
bald sah er aber die Unrichtigkeit seiner Idee ein. Mit 40 Jahren nahm er
sich das Leben.
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‚gelitten.
/otenkopfe gesehen
Abb.1
Inwieweit Schön von der mütterlichen Linie her belastet ist,
läßt sich nicht sicher sagen. Die Mutter selbst hatte eine Hirn-
arteriosklerose, für eine anlagemäßige Geisteskrankheit besteht
kein Anhalt. Der Bruder der Mutter war im wesentlichen Trinker,
seine eigenartige Selbstbeschuldigung und sein Selbstmord könnten
in Zusammenhang mit abortiven Alkoholpsychosen stehen. Ein
Verdacht auf eine Anlage zu einer Geisteskrankheit im engeren
Sinne ist aber vorhanden. Es könnte doch sein, daß eine doppel-
seitige Belastung zu der, wie wir sehen werden, enormen Häufung
von Psychosen in der Geschwisterreihe der Schön geführt hat.
Weitere Erkrankungen waren aus der mütterlichen Linie nicht
zu ermitteln.
Der Vaters-Vater der Schön war etwas hitzig, schlug seine Kinder
gleich, er war kein Trinker, liebte aber seinen Schoppen und machte auch
einmal Krach nach Alkoholgenuß. Die Vaters-Mutter war ruhig, unauf-
fällig.
Der Vater der Schön war, während dessen beide Geschwister immer
gesund und unauffällig gewesen sein sollen, eine Zeitlang geisteskrank. Er
wurde am 22.1. 94 im Alter von 19 Jahren in die Anstalt L. aufgenommen.
Auf dem Weg zur Anstalt sprach er fast nichts, rief nur ab und zu ‚Jesus‘.
In der Anstalt ist er teils gespannt, unzugänglich, teils erregt, pocht an die
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 117
Türe, greift Pfleger und Mitkranke an, ruft dazwischen ‚Teufel‘, später,
statt auf Fragen Antwort zu geben, immer: ‚In Gottes Namen! Jesus, Jesus,
Jesus.“ Dann wieder läuft er mit gefalteten Händen umher, betet laut, sucht
Personen seiner Umgebung zu küssen. Im Februar setzt ein auffälliger
Stimmungswechsel ein, einen Tag ist der Kranke sehr deprimiert, weint be-
ständig, klagt viel, um so mehr, je mehr man ihn zu beruhigen sucht. Am
nächsten Tag ist er wieder fröhlichster Stimmung, tanzt im Saal umher,
singt. April ist er wieder anhaltend ängstlich, weint und klagt viel. Im Juni
ist er eine Zeitlang ganz regungslos, starrt mit weiten Pupillen (von Angst
ist nichts gesagt) ins Leere. Juli ist er wieder heiter, macht sich über Mit-
kranke lustig, will sich zum Dienst im Jägerbataillon melden. August beruhigt
er sich wieder, wird jetzt verständig und einsichtig, kann 23. 8. 94 genesen
entlassen werden.
In dieser Krankengeschichte ist von Angst kaum die Rede und
doch geht aus der Beschreibung hervor, daß sowohl in den Erregun-
gen wie auch in den gespannten Zuständen die Angst eine ganz
wesentliche Rolle spielte. Die nachfolgenden Stimmungsschwan-
kungen zwischen zwei Polen bestätigen die vorwiegend affektive
Störung. Ekstaseartige Zustände sind nicht sicher festzustellen,
es scheint mehr eine freudige Verstimmung mit viel Ausdrucks-
bewegungen gewesen zu sein. Auffallend ist aber, daß der Kranke
in der Angst immer wieder den Namen Gottes, des Teufels aus-
stößt und eine Zeitlang viel betet. Es ist vielleicht nicht bedeutungs-
los, daß zwar nicht in den freudigen aber den ängstlichen Ver-
stimmungen immer wieder religiöse Ideen hervortreten. Schon bei
Fall 3 Chrob war manchmal nicht klar abzugrenzen, ob eine Idee,
etwa daß der jüngste Tag komme, in der Angst vor dem Gericht
oder der Ekstase über die kommende Erlösung hervortrat. Die
religiöse Färbung ist vielleicht nicht bloß für die ekstatischen Zu-
stände, sondern auch für die ängstlichen charakteristisch. Wenn
sich der freudige Affekt der Angst-Eingebungspsychose von dem
freudigen Affekt der reinen Angstpsychose unterscheidet, dann
hat wahrscheinlich auch die Angst der Eingebungspsychose ihre
besondere Färbung, die vielleicht gerade auch in einer religiösen
Hinwendung ihren Ausdruck findet. Auch Fall4 Did verbringt
seine letzte ängstliche Phase, die er gehabt hat, mit Beten, Knien
und den Zeichen des Kreuzes. Ich möchte also meinen, daß die
Angst bei den beiden Formen von Angstpsychose irgendwie ähn-
lich verschieden ist wie das einfache Glücksgefühl der einen Form
von der ekstatischen Verzückung der anderen. Daß es sich bei
dem Vater der Schön um keine reine Angstpsychose gehandelt hat,
dafür spricht auch die zeitweilig völlige Unberechenbarkeit, in der
er sinnlos auf die Umgebung losging, sichtlich auch von einer
schweren Ratlosigkeit beherrscht war, nicht bloß von Angst.
118 K. Leonhard
Die Katamnese ergibt über den Vater der Schön folgendes: Er erkrankte
nie mehr, ging immer seinem Beruf als Schneider nach, soll aber etwas reizbar,
schnell aufgeregt sein. Ich habe ihn selbst gesprochen. Er ist Pykniker und bot
in sachlicher Aussprache nach keiner Richtung hin etwas Auffälliges, war in
seinem ganzen Benehmen natürlich, aufgeschlossen, in seiner Affektivität
ausgeglichen.
Man kann hier also von einer völligen Heilung sprechen. Ob die
Reizbarkeit, von der berichtet wird, konstitutionell ist, oder viel-
leicht doch Ausdruck gewisser Stimmungsschwankungen, läßt
sich nicht feststellen.
Die Geschwister der Schön:
2 Schwestern von 40 und 37 Jahren sind bisher immer gesund gewesen,
die eine davon ist von mittlerer, ausgeglichener Temperamentslage, die andere
lebhaft, heiter. Eine dritte Schwester von 41 Jahren war auch nie ernstlich
krank, soll aber im Alter von 17 Jahren an ‚Alpdrücken‘“ gelitten und im
Traum Totenköpfe gesehen haben. 3 weitere Geschwister waren ernstlich
krank. |
4. Elisabeth D., geb. 1905, war 13. bis 18. August 1928 in der hiesigen
Klinik. Sie vertrug sich schlecht mit ihrer Dienstherrschaft. Am 13. 8. be-
gann sie plötzlich zu schreien, war ängstlich, mußte sofort in die Klinik ge-
bracht werden. Bei der Ankunft war sie bereits wieder beruhigt, gab an, sie
habe sich über ihre Herrschaft aufgeregt, dann habe sie plötzlich einen Druck
in der Kehle gespürt, als ob sie ersticken müßte und in ihrer Angst geschrien.
Der Zustand wurde als hysterisch aufgefaßt.
D. bleibt dann zunächst gesund, heiratet, ist aber ‚„wankelmütig‘“, fast
jeden Tag anders, bekommt Wutanfälle, in denen sie sich die Kleider herunter-
reißt. 1932 erkrankt sie neuerdings. Sie wird im Juli etwa 14 Tage nach einer
Kropfoperation mit glatter Wundheilung zunehmend ängstlich, klagt über
Luftmangel, will aus dem Zug springen. Sie wird daher am 1.8.32 in die
Anstalt L. aufgenommen. Hier bringt sie hypochondrische Ideen vor, ihr Blut
sei vergiftet, ist aber kaum mehr ängstlich. Über Nacht schlägt die Stimmung
in Freudigkeit um. D. setzt sich im Bett auf, segnet den Arzt, erklärt, sie
heile ihn, sie heile nun alle, ist ‚‚ekstaseartig in gehobener Stimmung“. Einen
Tag später ist auch diese Verstimmung abgelaufen, D. ist höchstens noch
leicht gehobener Stimmung, sie hat jetzt aber bereits Krankheitseinsicht,
will von ihren ängstlichen und ekstatischen Ideen nichts mehr wissen. Sie
bleibt gut und wird am 23. 8. „praktisch geheilt“ entlassen. Diagnose: Schizo-
phrenie.
Sie versorgt zu Hause wieder ihren Haushalt wie vorher. 1934 erkrankt
sie aber wieder, klagt wieder über allerlei körperliche Beschwerden, nachts
bricht dann plötzlich eine Erregungszustand aus, indem sie verzweifelt schreit
und jammert. Sie kommt 14.2. wieder in die Anstalt L., ist hier nur leicht
ängstlich, spricht aber davon, es sei ihr, wie wenn sie sterben müßte, klagt
über Schmerzen am ganzen Körper. Vollends beruhigt wird sie 9. 4. wieder
„praktisch geheilt“ entlassen. Seither ist sie zu Hause, stimmungslabil wie
vorher, aber nicht mehr krank geworden.
Neben den Angstzuständen, die meist plötzlich auftreten und
rasch vorübergehen bzw. in nur leichterer Form weiter bestehen,
tritt einmal ebenso unvermittelt und rasch ablaufend eine schöne
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 119
ekstatische Eingebungspsychose hervor, in der die Kranke seg-
nend ihre Arme ausbreitet und alle Menschen heilen will. Die ek-
statische Grundstimmung ist in der Krankengeschichte ausdrück-
lich vermerkt. Aus jeder Phase geht D. wohl im wesentlichen ebenso
hervor, wie sie hineingeraten ist, sie bleibt eine labile Persönlich-
keit, die vor allem auch zu zornigen Erregungen mit Wutanfällen
neigt. Die gleiche Reizbarkeit sahen wir schon bei ihrem Vater.
Es ist sicher wesentlich, daß es sich hier nicht einfach um zyklo-
thyme Persönlichkeiten handelt, wie sie für den manisch-melan-
cholischen Erbkreis im engeren Sinne charakteristisch sind, sondern,
daß hier noch andere Temperamentseigenheiten hervortreten.
2. Franz U., geb. 1908, Schneider.
War früher fleißig und unauffällig. Januar 25 beginnt er plötzlich zu
trinken, angeblich, um eine innere Krankheit zu vertreiben. Er wird am
2.2.25 in der Anstalt L. aufgenommen, ist zunächst expansiv, glaubt, ein
Geheimnis zu wissen, an dem die ganze Welt hängt und das ihn zu unermeß-
licher Größe erheben wird. Er wird noch am ersten Tag erregt, läuft mit
theatralischen Gebärden im Saal umher, will zum Fenster hinaus, Gegen-
stände zerschlagen. Bereits am Tag darauf ist seine Stimmung umgewandelt,
er ist jetzt weinerlich, äußert Versündigungsideen, er habe große Schlechtig-
keiten begangen. Am Abend ist er in einem eigenartigen Mischzustand, lächelt,
fragt aber gleichzeitig, wann er hingerichtet werden soll. In den folgenden
Tagen tritt die Heiterkeit wieder ohne depressive Beimengungen hervor,
sie wird läppisch genannt. Er beschäftigt sich in dieser Zeit mit philosophischen
Problemen, spricht von Häckels Weltwundern. Ende Februar will er auch
davon nichts mehr wissen, ist ruhig, ausgeglichen, höflich, ‚macht den Ein-
druck eines guten Jungen“. Im März ist er nochmal erregt, macht viel
theatralische Gesten, lacht, schreit, zerreißt sein Bettzeug. April ist er wieder
ruhig, ausgeglichen, wird am 17. 4. „vom Anfall genesen‘ entlassen. Diagnose:
Katatonie.
Er wird in den folgenden Jahren wiederholt vom Anstaltsarzt zu Hause
besucht, ist guter Dinge, fleißig, munter, auch nach Angabe seiner Angehörigen
immer unauffällig.
Januar 29 erkrankt er neuerdings, kommt erst ins Krankenhaus, wo er
eine Türe demoliert, dann am 26. 1. in die Anstalt L. Hier gleich vertraut,
lümmelt sich auf den Tisch, witzelt vorlaut, schwätzt viel, ist dabei ab-
schweifend, schneidet Grimassen. Bald setzt wieder ein rascher Wechsel ein,
lacht und weint durcheinander, klammert sich einmal hilfesuchend an und
verlangt bald darauf dann wieder seine Kleider, um auf den Maskenball zu
gehen. Anfang Februar steigt die Angst an, er schreit ‚‚voll Angst“, man möge
ihn doch um Gotteswillen herauslassen, er sei doch kein Narr, bindet sich den
Geschlechtsteil ab, schlitzt sich später mit einem abgebrochenen Löffel den
Hodensack auf, glaubt geschlechtskrank zu sein, äußert Versündigungsideen,
bietet das ‚Bild größter Zerfahrenheit und ängstlicher Unruhe‘. Erst im
Mai bessert er sich allmählich, im Juni hält er sich gut, im Juli wird er ‚so gut
wie geheilt‘‘ entlassen. Es geht zu Hause weiter gut, er findet wieder Arbeit
in seinem Beruf als Schneider, heiratet 1930 und ernährt seine Familie, ist
aber reizbar, schimpft gleich und schlägt auch zu.
120 K. Leonhard
1934 ist er eine Zeitlang deutlicher verändert, beruhigt sich aber wieder.
1935 erkrankt er ernster. Er hat das Gefühl, der Hals würde ihm zugeschnürt,
geht selbst ins Krankenhaus, spricht hier von bösen Geistern und Menschen,
die ihn hypnotisieren und ihm nach dem Leben trachten, kommt 28. 9. 35
wieder in die Anstalt L. Hier ist er ängstlich, spricht vom Antichrist und
Satan, der ihn durch Menschen verfolgen läßt, hat beim Baden Angst, daß
seine Hand unter das Wasser komme. Anfang Oktober schlägt die Stimmung
wieder um, U. wird wieder laut, heiter, singt, johlt, mischt sich in alles.
November ist er ‚völlig zerfahren‘“, singt und johlt. Dezember beruhigt er
sich und bleibt die folgenden Monate ruhig und ausgeglichen bis zu seiner
Entlassung 2. 4. 36. Er ist seither wieder zu Hause, geht seinem Beruf nach,
ist reizbar wie vorher, bisher aber nicht wieder ernster erkrankt.
Bei diesem Bruder der Schön finden wir vor allem wieder den
raschen Wechsel der Stimmung, der bei Angst-Eingebungspsycho-
sen so häufig ist, anscheinend viel häufiger als bei den Angst-
Glückspsychosen. Die Angstphasen sind zum Teil sehr schwerer
Natur, gehen mit verzweifelter Verstörtheit einher und führen zu
triebhaften Selbstbeschädigungen. Häufiger ist eine leichtere Ängst-
lichkeit mit Beziehungsideen. Das freudige Stadium tritt einmal
in Form einer sehr schönen Eingebungspsychose auf: U. glaubt ein
Geheimnis zu wissen, an dem die ganze Welt hängt, das ihn zu
unermeßlicher Größe erheben wird. Häufiger sind aber auch die
freudigen Phasen leichterer Natur, gehen mit viel Expressivbe-
wegungen und einer Störung des Denkens, die öfter als Zerfahren-
heit bezeichnet wird, einher. Wahrscheinlich hat es sich wieder
um ein Abschweifen des Denkens, teilweise vielleicht bis zur In-
kohärenz gehandelt, mehrfach ist auch von Ideenflucht die Rede.
In dieser Form sahen wir die Denkstörung bei der Schwester,
der Probandin Schön. Man darf daher annehmen, daß das Krank-
heitsbild in diesen Zuständen wieder dem der Motilitäts- und
Verwirrtheitspsychosen ähnlich war, wie wir es schon im Falle
Did und in Fällen meiner Monographie hatten. Diagnostisch bieten
sie also nichts Neues, sie betonen nur wieder diese anscheinend
häufige Variante der Angst-Eingebungspsychose. Die Affektlage
bleibt auch in ihnen charakteristisch.
3. Otto U., geb. 1901, Musiker.
Trinkt öfter, wird dann aufgeregt und bekommt Größenwahn, glaubt
dann, der größte Musiker der Welt zu sein. Nüchtern ist er umgänglich, aber
immer etwas reizbar. Am 13. 2. 29 wird er erstmalig in der Anstalt L. auf-
genommen. Er gibt hier seine Alkoholexzesse zu, schiebt aber die Schuld
auf seinen Schwiegervater. Er hat ‚hochfahrende Ideen, überspannte Ge-
dankengänge, unangebrachtes Selbstbewußtsein‘‘, macht sich aber sonst
nicht wesentlich auffällig und wird 30.3. 29 wieder entlassen. Diagnose:
Psychopathie.
Er hält sich gut bis zum Jahre 1931. In diesem Jahre fängt er wieder an,
stärker zu trinken, äußert unter Alkoholwirkung teils Größenideen, teils auch
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 121
Selbstmordgedanken. 22.7. 31 kommt er wieder in die Anstalt L. Es heißt
diesmal: ‚Merkwürdig selbstbewußt in seinem ganzen Gebaren und Auftreten
(latente Schizophrenie!) Er wirft sich in Pose und’ entwickelt seine eigenen
Weltanschauungen. 5. 9. 31 wird er wieder entlassen.
Er hält sich diesmal bis 1933. Januar 33 muß er jedoch wieder in L. auf-
genommen werden, da er nach Alkoholgenuß einen Erhängungsversuch ge-
macht hat. Er ist diesmal in der Anstalt sehr ernst, nachdenklich, zeigt eine
gedrückte Stimmung, klagt darüber, daß etwas wie ein Schleier vor seinem
Kopf sei. Innerlich freier wird er 31. 1. wieder entlassen. Seither hat er sich
gehalten, ist an einem Stadttheater als Musiker angestellt und gut zu ge-
brauchen.
Die Krankheit dieses Bruders der Schön wird man nur richtig
beurteilen, wenn man die übrige Sippe kennt. Es hat sich wohl
um nichts anderes gehandelt, als um leichte Phasen der Angst-
Eingebungspsychose. Das ekstatische Stadium in den beiden
ersten Phasen deutet sich doch immerhin deutlich an mit den hoch-
fahrenden Ideen, überspannten Gedankengängen, dem merk-
würdigen Selbstbewußtsein, auch der Neigung mit Pathos über
Weltanschauungen zu sprechen. Dieses überspannte Gebaren
fällt so sehr auf, daß in Zusammenhang damit an Schizophrenie
gedacht wird, während die Diagnose sonst nur auf Psychopathie
lautet. In der dritten Phase aber, die sich mit dem Selbstmord-
versuch einleitet, ist die depressive Verstimmung eindeutig, wenn
auch nur so leicht, daB eine genauere Charakterisierung nicht
mehr möglich ist. DaB es sich nicht um eine einfache Psychopathie
handelt, das geht aus dem phasenhaften Verlauf und den Schwan-
kungen nach zwei Polen hin einwandfrei hervor. Man darf aus
diesem Krankheitsfall wohl entnehmen, wie leichte Fälle von
Angst-Eingebungspsychose aussehen können. In der depressiven
Phase wäre bei U. wohl eine Abgrenzung von anderen Formen
von Drepression nicht möglich gewesen, vielleicht aber doch in
den freudigen Phasen gerade auf Grund des eigenartig über-
spannten Selbstbewußtseins. Hier deutet sich das an, was in
stärkerer Ausprägung zu den maßlosen Größenideen führen kann,
während in den freudigen Phasen der reinen Angstpsychose eine
einfache glückliche Zufriedenheit vorherrscht und ein Größen-
wahn auch nicht in Andeutungen auftritt. Vielleicht ist in diesem
Sinne auch in leichteren Fällen freudiger Verstimmung die Ab-
grenzung der Glückspsychose von der Eingebungspsychose zu
treffen, wenn man genau genug beobachtet. Sehr schön ist es,
daß bei U. gelegentlich der Alkohol die sonst noch latente Störung
hervortreten läßt, daß er unter seinem Einfluß gelegentlich Größen-
ideen äußert, sich für den bedeutendsten Musiker der Welt hält.
122 K. Leonhard
In der Sippe Schön finden wir bei vier Geschwistern und ihrem
Vater das Krankheitsbild der Angst-Eingebungspsychose. Neben
Phasen schwerer Erkrankung mit Angst und Ratlosigkeit bzw.
Ekstase und Weltbegglückungsideen, sind leichtere Erkrankungen
mit geringerer Ängstlichkeit bzw. einem lediglich gesteigertem
Selbstbewußtsein wiederholt vorgekommen. Sämtliche Phasen
reihen sich ohne wesentliche Atypien in das Bild der Angst-Eiın-
gebungspsychose ein. Das Dazwischentreten von Erregungen mit
Pseudoexpressivbewegungen und abspringendem Gedankengang
ist, wie gesagt, so häufig, daß es nicht als Atypie gewertet
werden kann, ebenso wie es nicht verwunderlich ist, daß in Zu-
ständen leichterer freudiger Verstimmung die Ideen weniger maß-
los sind. Es ist doch sehr wesentlich, daß sich hier in einer Sippe
die Angst-Eingebungspsychose in gleichartiger Vererbung zeigt.
Die Auffassung derselben als einer besonderen Krankheitsform
findet dadurch eine neue Stütze. Daß die Psychosen in der Mehr-
zahl ala Schizophrenien aufgefaßt wurden, ist nicht verwunder-
lich. Die reinen Angstpsychosen werden vielfach noch dem manisch-
depressiven Irresein untergeordnet, die paranoiden Angstpsychosen
aber mit ihrer oft ausgeprägten Ratlosigkeit, ihren Beziehungs-
ideen und Halluzinationen gehen heute wohl meist im Begriff der
Schizophrenie unter, noch mehr vielleicht dann, wenn sich freudige
Phasen mit maßlosen Weltbeglückungs- und Selbsterhöhungsideen
hinzugesellen. Daß man damit aber Wesentliches übersieht, nicht
bloß diagnostisch, sondern auch prognostisch, das zeigt doch gerade
die Sippe Schön. Wenn eine schizophrene Erkrankung ausnahms-
weise einmal nach einem Schub so weit heilt, daß nichts mehr davon
zurückbleibt, dann wird man sich damit zufrieden geben können,
daß auch ein an sich unheilbares Leiden einmal so frühzeitig zum
Stillstand kommen kann, daß nichts Krankhaftes mehr nachweis-
bar ist. Wenn aber in einer Sippe fünf Glieder „schizophren‘“
werden, zum größeren Teil mehrere „Schübe‘‘ bekommen und
aus jedem Schub wieder so herauskommen, wie sie hineingegangen
sind, so ist das doch sehr auffällig und müßte allein schon Ver-
anlassung geben, die Diagnose nachzuprüfen. Ich sagte aber schon,
daß ich es für wenig glücklich halte, nur zu fragen, ob eine Psy-
chose schizophren genannt werden darf oder nicht. Wenn man
den Begriff der Schizophrenie schon so erweitern will, daß auch
die Sippe Schön darin Platz findet, dann wird das nichts an der
Tatsache ändern, daß die Angst-Eingebungspsychose eine be-
sondere Krankheitsform darstellt. Es führt auch nicht weiter,
wenn man untersucht, ob die Empfindlichkeit, Reizbarkeit, die
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 123
ein Teil der Kranken auch nach ihrer Genesung zeigt, konstitutionell
ist, d. h. von jeher bestanden hat oder ob sie doch einen Krank-
heitsrest darstellt. Letzteres ist möglich, wir mußten auch bei
Did von einem Krankheitsrest sprechen, aber er trübt die Prognose
auch nicht annähernd im selben Maße wie die bei echten Schizo-
phrenien zu erwartenden Defekte, er ist auch ganz anderer Natur,
fügt sich dadurch, daß gerade die affektive Seite der Persönlich-
keit eine Labilität aufzuweisen scheint, in das Bild der akuten
Angst-Eingebungspsychose ein.
Ich möchte gerade mit Bezugnahme auf diese Psychoseform
darauf hinweisen, daß man es auch heute nicht als einen über-
wundenen Standpunkt ansehen darf, wenn man von klinischer
Beobachtung, von Symptomenbild und dem Verlauf her, zur
Abgrenzung verschiedener Krankheitsformen gelangen will. Wenn
die Grenzen dabei nicht immer so scharf gezogen werden können,
wie mit Hilfe serologischer Methoden bei der Paralyse, so darf
das nicht dazu führen, die Versuche überhaupt aufzugeben. Auf
serologische Methoden im Bereich der endogenen Psychosen darf
man vielleicht in dem Sinne hoffen, daß rein reversible Psychosen
von solchen abgetrennt werden können, die zu einem Gehirnabbau
führen, daß man aber verschiedene Krankheitsbilder innerhalb
der einen oder anderen Gruppe serologisch wird scheiden können,
das ist nicht zu erwarten. Daß man einmal eine Melancholie von
einer Angstpsychose wird serologisch trennen können, das ist
heute zum mindesten in keiner Weise abzusehen, aber klinisch
kann man es doch weitgehend, wenn immer auch Fälle übrig blei-
ben, bei denen es nicht mit Sicherheit gelingt. Man könnte hoffen,
daß serologisch einmal entschieden wird, ob es bei der Angst-Ein-
gebungspsychose zu einem Gehirnabbau kommt oder nicht, aber
ihre Abgrenzung sei es von reinen Angstpsychosen und vom ma-
nisch-depressiven Irresein im engeren Sinne, sei es von den Schizo-
phrenien, die doch klinisch weitgehend möglich ist, darf man sero-
logisch nicht erwarten. So sollte man doch auch heute noch mög-
lichst klinisch weiter forschen, sollte Kleist folgen, der durch Ver-
feinerung der klinischen Diagnostik Grenzen zieht. Es ist nicht
ausschlaggebend, wenn das Symptomenbild da und dort trügen
kann. Würde man die Angst-Eingebungspsychose nur in einem
Teil der Fälle rein klinisch richtig diagnostizieren können, es
würde schon genügen, um das Krankheitsbild festzuhalten, ich
glaube aber, man wird, wenn man die Psychose erst noch genauer
studiert hat, in der Mehrzahl der Fälle die Diagnose und damit auch
Prognose rein klinisch stellen können. Mängel dieser Diagnostik
124 K. Leonhard
mögen zu ihrer Verfeinerung aneifern, daß sie nicht grundsätzlich
unbrauchbar ist, das möchte ich wieder unter Hinweis auf die
Angst-Eingebungspsychose und ihre klinische Grenzziehung be-
tonen.
Zusammenfassung
Es werden fünf Fälle von Angst-Eingebungspsychose mit ihren
Sippen beschrieben. Die Psychose hat zwei gegensätzliche Phasen,
eine ängstliche und eine ekstatische. Die ängstliche Phase (para-
noide Angstpsychose) geht in Abweichung von der reinen Angst-
psychose häufig mit Ratlosigkeit, Beziehungsideen und Sinnes-
täuschungen einher, die ekstatische Phase (Eingebungspsychose
Kleists) führt bei ekstatischer Stimmungslage zu Weltbeglückungs-
und Selbsterhöhungsideen oft maßloser Art. Ferner können sich
Zustände pseudoexpressiver Bewegungsunruhe mit ideenflüch-
tigem bis inkohärentem Denken dazwischen schieben. Die Prognose
der Angst-Eingebungspsychose ist günstig, wenn auch nach wieder-
holten Phasen eher einmal leichte Resterscheinungen zurückbleiben
als bei den reinen Angstpsychosen. Rechnet man die Angst-Ein-
gebungspsychose, wie es heute wohl weitgehend geschieht, zu
den Schizophrenien, dann versperrt man sich dadurch den rich-
tigen Weg, der dahin geht, in der Psychose ein eigenes Krankheits-
bild mit besonderer Symptomatologie und besonderem Verlauf
zu sehen. Auf einheitliche erbliche Entstehung deutet vor allem
meine zuletzt angeführte Sippe mit ihrer Häufung gleichartiger
Angst-Eingebungspsychosen hin.
Die aus inneren Gründen entstehende Angst-Eingebungspsychose
ist als Erbkrankheit im Sinne der Erbgesundheitsgesetze anzu-
sehen, besser aber dem zirkulären als dem schizophrenenKereis zuzu-
rechnen.
II. Symptomatische Psychosen
mit ängstlich-ekstatischem Syndrom
Die Begriffe der homonomen und heteronomen Krankheitsbilder,
die von Kleist geprägt wurden, sehen von der Art der Entstehung
aus innerer oder äußerer Ursache ab. Zwar haben die heteronomen
Syndrome mehr Beziehung zur exogenen Entstehung, die homo-
nomen mehr zur endogenen, aber schon die Katatonie zeigt, daß
auch heteronome Bilder aus innerer Ursache zustande kommen
können. Ob umgekehrt eine äußere Ursache allein zu homonomen
Bildern führen kann, ist bis heute umstritten. Specht vertrat be-
kanntlich den Standpunkt, daß der Grad der äußeren Schädigungen
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 125
von ausschlaggebender Bedeutung sei, daß geringere Schädigungen
sehr wohl auch zu homonomen, vor allem melancholischen Bildern |
führen könnten. Das Beispiel der Depressionen nach Grippe spricht
ja sehr in diesem Sinne. Die Gegner freilich glauben in solchen
Fällen immer eine endogene Bereitschaft annehmen zu müssen,
so daß aus der äußeren Ursache dann lediglich äußere Auslösung
würde. Die Entscheidung ist deshalb so schwer, da man die Anlage-
bereitschaft ja nie mit Sicherheit ausschließen kann, vor allem
nicht in Anbetracht der Häufigkeit endogener Psychosen und der
von Luzenburger in diesem Zusammenhang betonten noch viel
größeren Häufigkeit von Teilanlagen für endogene Psychosen. Es
ist erfreulich, daß Formanek aus der Schule Rüdins durch Samm-
lung eines großen Materials Klarheit zu schaffen sucht, wie aus
der Ankündigung eines Vortrags für die Psychiaterversammlung
in Köln hervorgeht. Erhebliche Schwierigkeiten werden sich
aber auch bei einer Untersuchung im großen aus der Unzuläng-
lichkeit unserer heutigen Diagnostik ergeben. Darf man z. B. ein
homonomes paranoisches Zustandsbild einer anscheinend sympto-
matischen Psychose damit erklären, daß in der Familie des Kran-
ken eine Katatonie zu finden ist ? Faßt man all die vielen Syn-
drome, die bei schizophrenen Psychosen vorkommen, als Äuße-
rungen des gleichen Krankheitsvorgangs auf, wie es z. B. Luxen-
burger tut, dann wird man die Annahme dieser Beziehung be-
rechtigt finden. Sieht man aber, wie die meisten Kliniker in der
Schizophrenie keine einheitliche, sondern eine Gruppe verschie-
denartiger Krankheiten, dann wird man sehr im Zweifel sein,
ob ein paranoisches oder auch paranoides Bild bei symptomatischer
Psychose mit einer Katatonie in der Verwandtschaft irgend etwas
zu tun hat. Ist man auf der anderen Seite allzu vorsichtig, bezieht
man nur Syndrome aufeinander, die wirklich identisch sind, dann
wird man tatsächliche Zusammenhänge übersehen; denn die
Äußerungsformen gleicher Krankheitsanlage können erfahrungs-
gemäß erheblich variieren. Das Krankheitsbild der Manie kennen
wir mit seinen verschiedenen Färbungen, wir werden daher ein
wenn auch verworren manisches Bild einer symptomatischen Psy-
chose mit der Manie eines Verwandten in Zusammenhang bringen,
auch wenn es keine verworrene, sondern eine flotte oder gereizte
Manie oder auch nur eine hypomanische Schwankung war. Bei
vielen anderen endogenen Psychosen kennen wir aber diese Varia-
tionsbreite nicht. Der Nachweis etwa, daß endogene Psychosen
schlechthin in der Verwandtschaft der symptomatischen Psychosen
häufiger sind als bei der Durchschnittsbevölkerung, besagt zwar,
126 K. Leonhard
daß mindestens in einem Teil der Fälle ein Zusammenhang besteht,
nicht aber, wie er im einzelnen zu denken ist. Letzten Endes wird
man daher erst dann festen Boden auch zur Beurteilung der symp-
tomatischen Psychosen gewinnen, wenn man die endogenen Krank-
heitsbilder schärfer abzugrenzen gelernt hat, wie es Kleist immer
wieder anstrebt.
Die recht gut umschriebenen rein homonomen Bilder findet man
bei symptomatischen Psychosen, soferne nicht schwerere Grippe-
epidemien herrschen, nicht so häufig, daß ihre klinische Bearbeitung
leicht wäre. Häufiger dagegen sind die Syndrome, die Kleist neuer-
dings zwischen die homonomen und heteronomen Bilder einreiht,
darunter vor allem das ängstliche und ekstatische Syndrom. Ja,
diese beiden, einander entgegengesetzten und doch nahe verwandten
Syndrome finde ich sogar sehr häufig bei symptomatischen Psy-
chosen, wie sie es auch bei den endogenen sind. Sie eignen sich
daher besonders gut, die Verflechtung äußerer und innerer Ur-
sachen zu untersuchen. Voraussetzung ist freilich wieder, daß man
das endogene (neurogene,. Kleist) Krankheitsbild, mit dem die
Syndrome exogener Entstehung so viel Ähnlichkeit besitzen,
kennt, das ist die Angst-Eingebungspsychose.
Daß die anlagemäßige, erbliche Angst-Eingebungspsychose nicht
allzu selten ist, haben wir gesehen, häufig sind aber andererseits
ängstliche und ekstatische Zustände bei allen Psychosen, die auf
allogene oder somatogene Intoxikationen zurückzuführen sind. Es
ist bekannt, daß bei den Infektionspsychosen die Affektivität fast
immer verändert ist; meist herrscht eine ängstliche Färbung vor.
Es ist aber selten eine reine Angst, fast immer eine mißtrauische
Angst, eine Angst, die zu Umdeutungen und Eigenbeziehungen
führt. Sie hat demnach die besondere Färbung, die wir bei der
paranoiden Form der Angstpsychose antrafen. Nichts anderes als
diese mißtrauische Angst ist es auch, was wir bei den ängstlichen
Zuständen der Alkoholhalluzinose oder anderer Intoxikations-
psychosen, etwa des Kokaindelirs finden. Als eine irgendwie soma-
togene Vergiftung darf man wohl einen epileptischen Dämmer-
zustand auffassen; und auch in ihm haben wir wieder diese charak-
teristisch paranoisch gefärbte Angst. Epileptiker begehen in Däm-
merzuständen Gewaltakte wohl fast immer unter dem Einfluß
von Angst. Reine Angst würde aber nicht so aktiv sein. Epilep-
tiker wehren nicht bloß ängstlich ab, wie es reine Angstpsychotiker
tun können, sondern sie gehen sehr aktiv zum Angriff vor und
sind dabei nicht rein ängstlich, sondern gleichzeitig paranoisch,
feindseligauf ihre Umgebung. Eben wegen dieser paranoischen Angst
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 127
gehen sie so leicht zum Angriff über. Umgekehrt sind gerade
von epileptischen Dämmerzuständen ekstatisch-religiöse Ver-
stimmungen sehr bekannt, freudige Zustände also wieder gerade
in der Form der Angst-Eingebungspsychose. Und wieder sehen
wir bei den Infektionspsychosen gerade ekstatische Zustände auf-
treten, oft im Wechsel mit ängstlichen Verstimmungen. Kleist
beschreibt unter seinen Influenzapsychosen mehrere dieser Art.
Ewald weist auf die Tatsache hin, daß gerade im Abklingen von
Infektionsdelirien Größenideen hervortreten, die nicht immer als
„Residualwahn‘ gedeutet werden können. Vielleicht entspringen
sie gerade wieder der besonderen Stimmungslage, die auch bei
den Eingebungspsychosen unvermittelt zu Größenideen führt.
So finden wir das ängstlich-ekstatische Sandrom, das Syndrom,
das bei endogener (neurogener) Entstehung die Angst-Eingebungs-
psychose darstellt, auffallend häufig bei Intoxikations- und Infek-
tionspsychosen.
Freilich tritt das Syndrom selten rein hervor, er steht nur zwi-
schen den für symptomatische Psychosen charakteristischen Symp-
tomen, der Bewußtseinstrübung, Schwerbesinnlichkeit, Auffas-
sungserschwerung. Eine Verwechslung mit den bewußtseinsklaren
Angst-Eingebungspsychosen ist daher in der Regel nicht möglich,
wenn sich auch bei ratloser Angst oft nicht sofort die Bewußtseins-
lage sicher beurteilen läßt. Ausnahmsweise kann aber anscheinend
auch bei symptomatischen Psychosen das ängstlich-ekstatische
Syndrom rein, ohne die für allogene Entstehung charakteristischen
Symptome, vor allem ohne Bewußtseinstrübung hervortreten.
Dann wird die Unterscheidung schwierig und dann taucht die
Frage auf, ob es überhaupt berechtigt ist, eine symptomatische
Psychose anzunehmen, ob nicht eine endogene Psychose zufällig
mit einer äußeren Schädigung zusammentraf oder wenigstens zur
Auslösung durch die äußere Ursache bereit lag. Man wird also
gerade bei solchen Fällen sehr genau das Sippenbild zu beachten
haben.
Fall 14, Adam Pic, geb. 1895, Architekt.
Sippe s.u.|
Selbst: V. pvknisch. War immer etwas ehrgeizig, machte seine Prüfungen
alle sehr gut, war dabei nicht ängstlich. In anderen Dingen fürchtete er jedoch
leicht, es werde schlecht hinausgehen, nahm alles etwas schwer. Seit vor
2 Jahren sein Bruder rasch an einer Lungenentzündung starb, ist er um die
Gesundheit seiner Kinder etwas übertrieben besorgt. Beruflich ist er gut
vorwärtsgekommen. Ernster krank war er früher nicht, doch hatte er öfter
leichtere grippeartige Infekte und dabei meist Bläschen auf den Lippen.
Ende des Jahres 1937 hatte Pic plötzliche Zustände von Schwäche, Zittern,
Schweißausbruch und Heißhunger. Nach Ansicht des behandelnden Arztes
128 K. Leonhard
handelte es sich möglicherweise um hypoglykämische Zustände, eine körper-
liche Krankheit wurde damals nicht festgestellt. Im Februar treten akut
Angstzustände auf, die die Verbringung des P. in die Klinik veranlassen.
Hier werden leichte Temperaturen festgestellt, die Verdacht auf eine Lungen-
tuberkulose erwecken, später aber abklingen und jetzt als bronchopneu-
monisch gedeutet werden müssen. Gleichzeitig besteht ein Herpes labialis.
Bei der Aufnahme sind die Leukozyten nur wenig erhöht auf 8100, aber
deutlich ist schon eine Verschiebung des Blutbildes, indem die Lymphozyten
nur 16, die Segmentkernigen 83% ausmachen. Später steigen die weißen
Blutkörperchen auf 12600 und 14300, die Lymphozyten vermindern sich
relativ weiter auf 12%, 7% Monozyten kommen hinzu. Die Temperatur steigt
nicht höher als auf 38,5, hält etwa 10 Tage an.
Psychisch ist P. bei der Aufnahme sehr verändert, er klagt über ein „kolos-
- sales Angstgefühl‘, schreckliche Träume und das Gefühl, als ob er gar nicht
mehr er selbst wäre. Er hört eine Stimme, die ihm aufträgt, Selbstmord zu
begehen, dann hört er sich wieder Selbstmörder nennen. Er bringt teils in
hästiger Art seine Befürchtungen vor, teils liegt er ängstlich und ratlos ver-
stört im Bett und gibt kaum Antwort. Mit abklingender Temperatur wird er
freier, die Angst wird geringer, paranoische Erscheinungen treten dafür mehr
hervor, P. glaubt sich von den Personen seiner Umgebung verspottet und klagt
seinen Angehörigen gegenüber darüber. Anfang April sind auch diese Erschei-
nungen vorüber, P. ist ausgeglichen und wird am 20.4. frei von psychischen
Störungen entlassen. Er geht wieder seiner Arbeit nach und stellt sich am 5. 8.
auf Wunsch in der Klinik vor. Er ist ruhig ausgeglichen, wirkt nur ein wenig
selbstunsicher, wie er wohl immer war.
P. bietet das Bild einer paranoiden Angstpsychose mit Angst,
Ratlosigkeit, Beziehungsideen und Sinnestäuschungen. Vielleicht
war es auch nichts anderes, als eine aus inneren Gründen ent-
stehende Psychose, die sich mehr zufällig mit dem Infekt kom-
binierte ? Daran muß um so mehr gedacht werden, als nicht geklärt
werden konnte, welcher Art denn die Zustände von Zittern und
Heißhunger waren, die Wochen, ja Monate vor dem Klinikauf-
enthalt aufgetreten waren. Sollte es sich hierbei schon um abortive
Angstanfälle gehandelt haben, dann käme eine symptomatische
Entstehung nicht mehr in Frage. Man wird auch bedenken, daß
der Infekt kein schwerer war, doch besagt das gerade im Hinblick
auf das Sippenbild, das wir gleich kennenlernen werden, wenig,
denn dadurch wird eine psychische Überempfindlichkeit gegen
Infekte (symptomatische Labilität Kleists) erwiesen. Auch die
Möglichkeit einer verschleppten grippeartigen Erkrankung mit le-
diglich bronchopneumonischen Begleiterscheinungen und Beginn
schon etwas vor dem Klinikaufenthalt, erhöht die Wahrschein-
lichkeit symptomatischer Entstehung wieder, da Grippe eher als
eine Bronchopneumonie zu Psychosen depressiver Färbung führt.
Die Sippe läßt uns vielleicht klarer sehen.
Während P. noch in der Klinik ist, nämlich am 14. 4. 38, wird sein Zwillings-
bruder (ihm wenig ähnlich, sicher zweieiig) in die hiesige Klinik aufgenommen.
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 129
Dieser, Leonhard P., geb. 1895, war von je her etwas empfindlich, sonst
psychisch nicht auffällig. Am 4.4. wurde er mit einer schweren lobären
Lungenantzündung ins Krankenhaus aufgenommen, wo sich noch eine blutig
seröse Pleuritis hinzugesellte. Mit abklingender Pneumonie 10 Tage nach der
Aufnahme treten schwere Verwirrtheit und Erregungen auf, welche die Auf-
nahme in die hiesige Klinik nötig machen. Hier spricht P. teils geistesabwesend
vor sich hin, teils wird er schwer erregt, schreit, ist ängstlich, glaubt in der
Hölle zu sein. Zeitlich ist er nicht orientiert, örtlich dagegen wenigstens zeit-
weise, denn er spricht manchmal davon, daß auch sein Bruder hier sei. Die
Unruhe nimmt später mehr deliranten Charakter an mit viel Kurzschluß-
bewegungen, teils geht sie in ein einförmiges Schlagen und Wälzen über. Die
Stimmung wechselt rasch, an Stelle der Angst, in der sich P. in der Hölle glaubt,
tritt manchmal für kurze Zeit eine freudige Verstimmung, in der er erklärt,
im Himmel zu sein. Der Gedankengang ist fast immer inkohärent. Anfang Mai
wird er ruhiger, ist aber noch widerstrebend, muß mit der Sonde ernährt wer-
den. Ferner fällt ein Verlust jeder Spontaneität auf, P. liegt jetzt den ganzen
Tag regungslos mit starrer Miene im Bett.
Inzwischen haben die Temperaturen ohne Unterbrechung weiter bestanden.
Sie bewegen sich in den Tagen nach der Aufnahme um 38, fallen am 4. Tag
auf 36 ab, um gleich wieder zu steigen und am 21. und 22. April je 39,6 zu er-
reichen. Mit allmählichem Abfall wird am 3. Mai 37,0 erreicht. Nach starken
Intermissionen des Fiebers und plötzlichen Steigerungen wieder bis 39,4 wird
am 15. Mai etwa wieder eine Kontinua um 38 erreicht, die weiterhin bis zur
Verlegung in die chirurgische Klinik bestehen bleibt. Die Temperaturen hängen
nur in den ersten Tagen noch mit der Lungenentzündung zusammen, dann mit
einer Paraotitis, schließlich einem Abszeß im Gesäß, der sich bei dem körperlich
außerordentlich geschwächten Kranken entwickelt, wiederholt incidiert wird,
aber immer weiter Eiter absondert.
Der Zustand von Antriebsarmut hält bei P. nicht lange an, der Kranke
wird zunehmend freier, gibt geordnet Auskunft, ist jetzt orientiert, erinnert
sich aber an die Zeit vorher kaum. Am 28. 5. wird er in die chirurgische Klinik
verlegt, da er psychisch nichts mehr bietet. Er ist noch still und einsilbig,
aber fast nur noch im Sinne schwerer körperlicher Erschöpfung. Unter chirur-
gischer Behandlung kehren die Temperaturen erst ab 18. Juli endgültig zur
Norm zurück, gleichzeitig heilt der Abszeß ab. Anfang Juli wird eine Peronäus-
parese auf der Seite des Abszesses festgestellt. Psychisch ist P. in keiner Weise
mehr auffällig geworden. Am 4.8. wird er aus der chir. Klinik entlassen, er
ist körperlich und seelisch genesen, nur die Peroneusschwäche besteht noch.
Am 25.8. stellt er sich auf Wunsch in der hiesigen Nervenklinik vor, ist völlig
unauffällig, lebhaft, affektiv ausgeglichen. Die Peroneuslähmung ist noch vor-
handen.
Bei Leonhard P. kann man nach dem ganzen Symptomenbild
und dem Verlauf gar nichts anderes in Erwägung ziehen als eine
symptomatische Psychose. Im Abklingen einer schweren lobären
Pneumonie mit pleuritischen Erscheinungen kommt es zur Psy-
chose, zunächst mit dem Bilde schwerer Verwirrtheit und Er-
regung, also einer „Amentia‘‘. Später nimmt die Psychose mehr
delirantes Gepräge an, der Charakter des exogenen Reaktionstyps
im Sinne Bonhoeffers bleibt immer erhalten, das Bewußtsein ist
9 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
130 K. Leonhard
dauernd schwer gestört, die Orientierung meist aufgehoben. Erst
das Nachstium mit der Antriebsverarmung bei jetzt schon wieder-
gewonnener Orientierung würde nicht mehr ganz in den Rahmen
passen. Der Verlauf ist völlig der einer symptomatischen Psychose,
mit Besserung der körperlichen Krankheit kommt es zu einem
Abklingen der seelischen Erscheinungen.
Ehe ich weiter darauf eingehe, ergänze ich das Sippenbild: Der Vater starb
mit 83 Jahren an Altersschwäche, er war sehr zuverlässig, hatte als Zimmer-
mann 30 Jahre lang den Vertrauensposten des Sparkassenrechners. Die Mutter
lebt noch, 78 Jahre alt, ruhig, fleißig. Die 5 Geschwister der Zwillingsbrüder
sind im wesentlichen alle von der gleichen Wesensart wie sie selbst, ruhig,
fleißig, lieber zu Hause als in Gesellschaft, aber nicht ungesellig. In der Schule
waren sie alle ehrgeizig, gewissenhaft. Das Leben nehmen sie nicht schwer.
3 Geschwister sind gestorben, einer mit 35 Jahren an Lungenentzündung
nach „übergangener Grippe“, einer mit 41 Jahren an Lungenentzündung.
Beide waren nur wenige Tage krank, so daß eine Tuberkulose ausgeschlossen
werden kann. Ein dritter Bruder starb mit 22 Jahren an Typhus. Von geistigen
Erkrankungen war auch aus der weiteren Verwandtschaft nichts zu ermitteln.
Greifen wir erst die körperlichen Gegebenheiten heraus: Die an-
geführten Zwillingsbrüder erkranken an Lungenentzündung, der
eine davon (Leonhard) kommt nur sehr knapp mit dem Leben
davon, zwei weitere sterben in wenigen Tagen an Lungenentzün-
dung, ein fünfter Bruder stirbt mit 22 Jahren an Typhus. Das ist
denn doch eine auffällige Häufung schwerster, in der Mehrzahl
tödlicher Infekte vor allem von seiten der Lungen, die auf eine
anlagemäßige Überempfindlichkeit hindeuten muß. Die Über-
empfindlichkeit ist zunächst noch keine psychische, denn die drei
gestorbenen Geschwister sollen keine psychischen Störungen in
ihrem kurzen Krankenlager gezeigt haben, es ist zunächst nur
eine körperliche. Indirekt würde das aber vielleicht doch auch die
symptomatischen Psychosen erklären. Wenn sich körperliche
Krankheiten so gefährlich auswirken, dann darf man wohl an-
nehmen, daß sie zu besonders schweren Intoxikationserscheinungen
führen, die sich in allen Organen, auch dem Gehirn, bemerkbar
machen können. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Be-
denken, auch die Psychose des Adam P. als symptomatisch aufzu-
fassen, doch wesentlich geringer. Wenn schon eine derartige Über-
empfindlichkeit gegen Lungeninfekte in der Familie ist, dann mag
sich bei ihm auch die sonst nicht schwere Bronchopneumonie
schwerer ausgewirkt haben. Eine Anlage zu endogenen Psychosen
ist sonst nicht feststellbar, die Familienglieder neigen nur alle
dazu, das Leben ernst und gewissenhaft zu nehmen. Das schon mit
einer Krankheitsanlage etwa für Melancholien in Zusammenhang
zu bringen, würde zu weit führen. Solange nicht auch wirkliche
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 131
Krankheiten aus innerer Ursache nachzuweisen sind, handelt es
sich um normale konstitutionelle Eigenarten, im vorliegendem
Fall sogar recht günstiger Art. _
Sınd die Psychosen der Brüder P. beide symptomatischer Art,
dann stellen sie ein schönes Beispiel für die Auffassung von Specht,
auch Kleist, Ewald, vom Intensitätsfaktor dar, denn Leonhard P.
mit der schweren lobären Pneumonie bekommt ein rein exogenes
Zustandsbild, Adam mit der leichteren Bronchopneumonie ein
Krankheitsbild, das zwar nicht rein homonom ist, sich aber mit
seiner intermediären (Kleist) Stellung doch den homonomen an-
nähert. Die verschiedene Gestaltung der Psychosen wäre damit
erklärt, es bliebe aber die Frage, warum nun Adam P. gerade nach
Art einer paranoiden Angstpsychose erkrankt, nicht mit einem
anderen homonomen oder intermediären Zustandsbild. Hierzu ist
einmal auf die Tatsache, auf die wir oben hinwiesen, zu erinnern, °
daß allogene und somatogene Gifte mit Vorliebe gerade zu einer
seelischen Veränderung im Sinne paranoischer Angst führen. Die
Störung ist bei den exogenen Reaktionstypen meist eingebettet
in weitere seelische Veränderungen, es wäre aber verständlich,
wenn ein für äußere Schädigungen so labiles System auch einmal
elektiv allein gestört wäre. Jetzt wird man sich allerdings daran
erinnern, daß Adam P. selbst wie auch seine Geschwister von Natur
ernst und sehr gewissenhaft veranlagt sind, man wird vielleicht
wieder an eine endogene Krankheitsbereitschaft denken und zum
Ausgangspunkt zurückkehren wollen. Dem gegenüber halte ich
es aber doch für zu einseitig, wenn wir bei einer inneren Krank-
heitsbereitschaft für bestimmte psychotische Zustandsbilder immer
nur an die endogenen Psychosen denken. Die Brüder P. sind von
Natur ernst veranlagt, sie haben eine wahrscheinlich etwas ängst-
lich gefärbte Gewissenhaftigkeit an sich, es mag sich also um eine
konstitutionelle Schwäche eines Systems handeln, das bei äußerer
Schädigung dadurch am frühesten versagt. Aber diese Schwäche
schon mit einer endogenen Psychose in Zusammenhang zu bringen,
das ist vorläufig nicht berechtigt. Das biologische Geschehen ist
so ungeheuer kompliziert, daß wir es nicht ganz unseren paar
Krankheitsbegriffen unterordnen dürfen. Soll jede konstitutionell
ernste, meinetwegen auch depressive Art schon mit der endogenen
Depression in Zusammenhang stehen ? Sollte es biologisch nicht
mehrere, vielleicht viele Möglichkeiten geben, einen Menschen
etwas nach der depressiven Seite hin vom Durchschnitt abweichen
zu lassen ? Ich glaube zunächst einmal schon an die verschiedenen
Möglichkeiten, die mit den meiner Meinung nach verschiedenen
ge
132 K. Leonhard
Krankheiten, der Melancholie, reinen Angstpsychose und paranoi-
den Angstpsychose in Zusammenhang stehen, ich glaube aber
darüber hinaus, daß es auch. konstitutionelle Verschiebungen
nach der einen und anderen Temperamentsseite hin gibt, die gar
nichts mit Psychosen zu tun haben, sondern immer im Bereich
der normalen Temperamentsvarianten bleiben. Ohne Beziehung zu
endogenen Psychosen könnten dann derartige konstitutionelle Be-
sonderheiten bei äußeren Schädigungen Psychosen mit elektiven
Störungen bedingen. Ob es bei den Brüdern so ist oder ob hier
doch wirklich eine Anlage zu paranoider Angstpsychose vorliegt,
das möchte ich gar nicht entscheiden, ich möchte nur darauf auf-
merksam machen, daß man doch nicht allein an die Anlage zu
endogenen Psychosen denken soll, wenn symptomatische Psychosen
da und dort ihnen ähnlich werden. Wenn ein Mensch — um ein
` anderes Beispiel zu nennen — in einer symptomatischen Psychose
kataton wird, so kann das konstitutionell bedingt sein, ob es aber
mit der Krankheit Katatonie irgend etwas zu tun hat, das müßte
doch erst bewiesen werden. Die Vielgestaltigkeit der biologischen
Gegebenheiten spricht jedenfalls nicht dafür.
Wollte man bei den Brüdern P. doch die Anlage zu paranoiden
Angstpsychosen annehmen, bei Adam P. vielleicht sogar eine nur
zufällig mit einem Infekt kombinierte endogene Psychose, dann
würde man beobachten können, daß diese endogene Anlage bei
schweren symptomatischen Psychosen kaum mehr zur Geltung
kommt. Leonhard P. ist großenteils sehr ängstlich, seine Stimmung
scheint zeitweilig auch etwas ıns Ekstatische umzuschlagen, wenn
er sich im Himmel fühlt, diese Affektschwankungen sind aber ja
bei allen symptomatischen Psychosen häufig und gehen bei P.
auch völlig unter in den schweren Symptomen des exogenen Re-
aktionstyps. Sie wären vielleicht sogar übersehen worden, hätte
man nicht eigens darauf geachtet. Auffälliger ist bei Leonhard P.
das antriebsarme Nachstadium, das vielleicht bei manchem Unter-
sucher den Verdacht auf Katatonie erweckt hätte. Für dieses
Syndrom findet man ım Erbkreis keine Begründung, der Bruder
Adam bot in seiner Erkrankung nichts Katatones. Wahrscheinlich
kann doch die Giftwirkung nicht selten mindestens in dem Sinne
elektiv sein, daß sie das eine System schwerer schädigt, so daß es
sich wenigstens langsamer erholt als andere. Es wäre verwunderlich,
wenn das nicht vorkommen sollte.
Fall2, Georg Mög, geb. 1904. Arbeiter.
Sippe: Der Vater ist 60 Jahre alt, gesund. Vor Jahren, als er in einer
chemischen Fabrik tätig war, hatte er mit Asthma zu tun. Er ist von lebhaftem
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 133
Temperament, geht gerne in Gesellschaft, macht Fasching gerne mit. Die
Mutteristgesund, hat fröhliches Temperament. Ein Bruderhatte von Kindheitan
Asthma, Anfälle von Atemnot, die oft einen Tag lang dauerten. Im 35. Lebens-
jahr dauerte der Anfall einmal mehrere Tage, Lungenentzündung kam dazu
und der Kranke starb daran. Er war von Beruf Musiker, leitete eine eigene
Kapelle. Er war sonst ruhig, ging nur beruflich in Gesellschaft, war aber von
seiner körperlichen Krankheit auch sehr behindert. Sonst hatte Mög keine
Geschwister. Eine Schwester des Vaters wird als hitzig bezeichnet, 3 Ge-
schwister der Mutter als lebhaft, gesellig, der Vater der Mutter als hitzig, die
Mutter der Mutter als ‚lustig und fidel“. Von geistigen Erkrankungen in der
Familie ist nichts zu erfahren.
Selbst: Mög ist von lebhaftem fröhlichen Temperament, ist früher nie
ernstlich krank gewesen. Am 11.3. 38 wird er aus der medizinischen Klinik
in die hiesige Nervenklinik verlegt wegen einer expansiven erregten Psychose
bei einer septischen Krankheit noch nicht geklärter Genese und einer Tem-
peratur von 40,8. Verdacht auf paranephritischen Abszeß. Bei der Aufnahme
in die Nervenklinik ist er teils unruhig, geht aus dem Bett, gestikuliert, teils
liegt er ruhig im Bett und zeigt an der Umgebung wenig Teilnahme. Auf
Fragen geht er nicht ein, sondern antwortet immer von neuem: ‚Ich bin der
Herr der Welt, alles ist mein, geht weg!‘ Die Stimmung wird in den folgenden
Tagen mehr ängstlich, Mög wehrt furchtsam ab, wird dabei auch aggressiv.
Im Liquor findet sich nichts Abnormes. Die Temperaturen bewegen sich
intermittierend zwischen 37 und 39. Am 15. 3. wird der Eiterherd an der ver-
muteten Stelle, paranephritisch rechts sicher gestellt und eröffnet. Die Tem-
peraturen klingen in den folgenden Tagen ab, sind ab 20. 3. normal, steigen
nur am 12.4. in Zusammenhang mit einem vielleicht metastatischen Panari-
tium nochmal für einen Tag auf 39,4. Die Eiterung besteht dagegen länger
weiter, erst Ende April reinigt und schließt sich die Wunde. Über die Ent-
stehung der Eiterung war nachträglich zu ermitteln, daß Mög kurze Zeit vorher
an Furunkulose gelitten hatte.
Bis Ende März bleibt Mög sehr ängstlich, teils ängstlich gespannt und ab-
lehnend, teils unruhig, wehrt dann ängstlich ab, wird aggressiv. Zeitweise
verweigert er die Nahrung, muß mit der Sonde ernährt werden. Gegen einen
Pfleger ist er besonders feindselig eingestellt, behauptet, dieser habe ihn ver-
giftet. Anfang April klingt die Angst ab, dagegen treten jetzt die expansiven
Ideen wieder hervor, er sei der Herr der Welt, er habe Millionen zu vergeben.
Dabei ist er freudig gehoben in seiner Stimmung. Auf Einwände gegen seine
Ideen erklärt er nur: Warten Sie nur ab! Dieser Zustand hält, allmählich
abklingend etwa 10 Tage an. Er spricht erst von sich aus nicht mehr davon,
bleibt auf Befragen aber noch dabei, dann korrigiert er, schließlich erklärt er
lächelnd, er wisse selbst nicht, wie er zu solch einem Unsinn gekommen sei.
Damit ist er seelisch völlig frei, bietet auch sonst nichts mehr, ist ausgeglichen
und einsichtig. Die seelische Heilung ist etwa 15. 4. erreicht, die Entlassung
erfolgt am 29. 4., nachdem auch die Eiterung ausgeheilt ist. Bei der Entlassung
ist aber noch eine Schwäche im rechten Bein (Seite des Abszesses) vorhanden,
die neuritisch aufgefaßt werden muß, der A.S.R. ist abgeschwächt, die
Parese ist am deutlichsten im Peroneusgebiet, so daß etwas Steppergang
vorhanden ist.
Am 9.8. stellt sich Mög auf Wunsch in der Klinik vor, er sieht körperlich
jetzt sehr gut aus, ist natürlich, aufgeschlossen, freut sich seiner Gesundheit,
erinnert sich an die Vorgänge während der Krankheit nur sehr unvollkommen.
Die Peroneusparese ist noch angedeutet.
134 K. Leonhard
Bei einwandfrei symptomatischer Psychose in Zusammenhang
mit einem schweren paranephritischen Abszeß bietet Mög ein
Krankheitsbild, das weitgehend an die Angst-Eingebungspsychose
erinnert. Sie beginnt mit Größenideen, die in ihrer Maßlosigkeit
und ihrem unvermittelten Auftreten als Eingebungserlebnisse auf-
gefaßt werden können, sie setzt sich in eine ratlos-paranoide Angst-
psychose mit heftiger Abwehr der Umgebung fort und endet wieder
mit ekstatischen Eingebungserlebnissen, in denen sich Mög als
Gott bezeichnet. Das Bewußtsein war zeitweise, besonders im Be-
ginn während der hohen Temperaturen gestört, die Orientierung
verloren, aber später, vor allem auch während des ekstatischen
Zustandes war eine Bewußtseinsstörung nicht mehr nachweisbar.
Eine klare Trennung von der Angst-Eingebungspsychose ist da-
durch also nicht möglich. In den Zuständen höchster Angst konnte
man bei Mög das Bewußtsein nicht prüfen, wie man es vielfach
auch bei der Angst-Eingebungspsychose bei schwerer ratloser Angst
nicht mehr beurteilen kann. Daß die Psychose gerade mit den
Größenideen endete, erinnert an die Beobachtung Ewalds, aber
sie waren auch im Beginn der Psychose vorhanden, und gerade
dieses Wechseln zwischen Angst und Ekstase erinnert so sehr an
die Angst-Eingebungspsychose.
Soll man bei Mög eine Anlage zu dieser Krankheit annehmen,
die symptomatisch nur geweckt wurde ? Das Sippenbild gibt darü-
ber ähnlich unvollkommenen Aufschluß wie im vorigen Fall. Eine
endogene Geisteskrankheit findet sich nicht, die Temperamente
sind durchaus normal, man findet aber wieder eine gewisse Eigen-
art bei Mög selbst wie auch bei mehreren Familiengliedern. Wenn
wir den Bruder, der durch sein Asthma wesentlich beeinträchtigt
war, außer acht lassen, dann stellen wir immer wieder ein leb-
haftes, fröhliches, teilweise auch hitziges Temperament fest.
Das läßt doch an einen Zusammenhang mit den freudig-eksta-
tischen Zuständen des Mög denken, die ja wohl noch auffälliger
sind als seine ängstlichen. Aber, möchte ich wieder fragen, ist es
angängig, bei diesen normalen, im Leben sogar besonders günstigen
Temperamenten schon wieder an eine endogene Krankheitsbereit-
schaft zu denken ? Deuten diese Temperamente darauf hin, daß
die Anlage zur neurogenen Angst-Eingebungspsychose vorhanden
ist oder auch nur die Teilanlage, daß es beim Probanden daher
nur zu einer Auslösung dieser Anlage zu kommen brauchte ? Ich
möchte wieder die andere Möglichkeit zu erwägen geben. Die fröh-
lichen Temperamente der Sippe Mög können auf ganz anderer
Ebene liegen als die Temperamente, die im Umkreis der zirkulären
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 135
Psychosen vorkommen, sie brauchen keine Anlage und keine
Teilanlage zu diesen darzustellen, sie sind vielleicht normal-seelische
Varianten eigener Art. Aus inneren Gründen würden sie dann nie-
mals zur Psychose führen, sie könnten dagegen, die Schwäche eines
Systems andeutend, bei äußeren Schädigungen eine besondere Ge-
staltung der Psychose bedingen. Ein Zusammenhang zwischen
Temperament und Zustandsbild in der Psychose wäre damit wieder
gegeben, aber nicht zwischen exogener und endogener Psychose.
Man könnte theoretisch weitere Überlegungen daran knüpfen,
könnte sich etwa fragen, wie es sich auswirkte, wenn auf solch
eine Temperamentsvariante, die mit endogener Krankheitsanlage
grundsätzlich nichts zu tun hätte, nun eine Krankheitsanlage oder
Teilanlage träfe. Es müßte dadurch wohl keineswegs zu einer Sum-
mation kommen, beides könnte so sehr in verschiedener Ebene
liegen, daß eine organische Verbindung überhaupt nicht eintritt.
Das ist alles noch ungeklärt. Gerade darauf möchte ich hingewiesen
haben, damit man sich nicht mit den bisherigen Ergebnissen zu-
frieden gibt. Es ist natürlich auch möglich, daß die übliche Auf-
fassung, homonome und entsprechend auch intermediäre Zustands-
bilder entstünden dadurch, daß eine Anlage zur entsprechenden
endogenen Psychose vorliegt, den Tatsachen entspricht, aber sie
ist jedenfalls nicht von vorneherein so wahrscheinlich, daß sie
nicht erst bewiesen werden müßte.
Fall3, Hans Fu, geb. 1897. Kaufmann.
Sippe: Der Vater starb mit 39 Jahren an Herzschlag oder Schlaganfall.
Er soll sich bei dem Bau seines Hauses sehr aufgeregt haben. Früher war er
lebhaft, geschäftstüchtig. 3 Geschwister des Vaters werden ruhig genannt.
Die Mutter ist 71 Jahre alt, lebhaft, fleißig. 2 ihrer Geschwister werden sogar
sehr lebhaft genannt, zwei andere ruhig. Von den Geschwistern des Fu selbst
werden zwei lebhaft und fröhlich genannt, eine dritte ebenfalls, diese neigt
außerdem etwas zum Trinken. Eine Schwester ist ernster. Eine weitere soll
mit 2 Jahren Gehirnhautentzündung gehabt, dann aber gesund gewesen sein.
41937 nach der Geburt eines Kindes war sie etwas gedrückt.
machte sich viel Sorgen. Ernsterer Art war die Veränderung nicht. Auch
sonst ist sie sehr „gefühlvoll“, empfindsam. Eine weitere Schwester war
wiederholt in Anstaltsbehandlung: Grete Fu, geb. 1906. Schon in den
ersten beiden Schuljahren machte sie sich durch Schulschwänzen unangenehm
auffällig. Sie trieb sich während der Schulzeit in der Stadt umher. Sie blieb
daher in der Schule auch zurück. Später wurde sie strenger gehalten und kam
dann mit. Nach der Schulentlassung war sie faul, eigensinnig, stritt viel, schrie
fürchterlich, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzte. April 21 kommt sie zur
Erziehung in eine Anstalt. Hier ist sie kindlich-sorgenlos, renommiert gerne,
erzählt ‚‚glückstrahlend‘“, was sie schon alles gelernt habe, wobei sie ihre Lei-
stung ‚gründlichst überschätzt‘. Manchmal lügt sie und zeigt nachher keine
Einsicht, kann auch patzig und ungezogen werden. August 21 wird sie ent-
lassen, Februar 23 wieder aufgenommen. Hat wieder ihre bekannte ‚‚glückliche
136 K. Leonhard
kindliche Art‘, begrüßt ‚überstrahlend‘“ ihre Bekannten vom ersten Aufent-
halt. Lügt renommierend, sie habe inzwischen eine Schwesternschule besucht.
Die Wiederaufnahme in die Anstalt hat erfolgen müssen, weil sie zu Hause
Wäsche und andere Sachen weggenommen und verkauft hat, um das Geld
zu verschleudern. Weiterhin in der Anstalt recht launisch, bockig, wenn ihr
etwas nicht nach Willen geht, sonst sorglos zufrieden, vorlaut und großtuerisch.
Oktober 23 wird sie versuchsweise in eine Stelle entlassen. Es geht hier aber
nur einige Tage, dann wird sie wieder nach Hause geschickt. Diagnose der
Anstalt: Debilität, Psychopathie. Fu lebt dann zu Hause, fängt allerlei an,
hält aber nirgends durch, verlobt und entlobt sich, gibt das Geld der Mutter
aus. 1934 bekommt sie ‚„‚Anfälle‘‘ und wird deshalb am 13. 4. in die Kuranstalt
H. gebracht. Hier ist sie wehleidig, klagsam, läßt sich aus dem Bett fallen
und behauptet dann auf den Kopf gefallen zu sein. Juni entlassen, wird sie
Oktober wieder aufgenommen. Auch jetzt wehleidig, klagsam. Gynäkologisch
Verdacht auf Gonorrhoe. Es stellt sich heraus, daß sie sich auch prostituiert
und mehrmals Gonorrhoe durchgemacht hat. Täuscht Anfälle vor. Dezember 34
entlassen.
November 37 wird sie in die Psychiatrische Klinik G. aufgenommen.
Erzählt hier von wiederholten Gehirnerschütterungen, die sie gehabt haben
will, behauptet, zu Hause ganz in der Pflege ihres kranken Bruders (Prob.)
aufzugehen, von der Mutter dafür aber nur Undank zu ernten. Anfangs sucht
sie sich in der Klinik durch Gefälligkeit, Hilfsbereitschaft auszuzeichnen,
später läßt das nach, sie klagt jetzt über viele Beschwerden, fühlt sich ver-
nachlässigt, ritzt sich am Handgelenk, verdeckt die Stelle mit der Armbanduhr,
erzählt aber mit Wichtigkeit davon. ‚‚Dauernder Wechsel zwischen schmeicheln-
der Zuwendung und schwankender Abwendung, ganz infantilistisch“. Januar 38
entlassen. Diagnose: Psychopathische Persönlichkeit. Nicht debil. Hysterische
Mechanismen. Die Mutter ergänzt uns dazu noch: Gibt viel Geld aus, hat ihr
schon ein ganzes Vermögen verputzt, erzählt Phantastereien, unwahre Ge-
schichten, legt gerne ein vornehmes Benehmen an den Tag.
Proband selbst: In gesunden Zeiten ruhig, bescheiden, arbeitsam. Er
machte 3mal eine Lungenentzündung durch und soll dabei jeweils auch geistig
etwas verändert gewesen sein, einmal große Pläne für sein Geschäft entwickelt
haben. Oktober 1934 wird er am Magen operiert. Ein Tumor, der ins Pankreas
hineingewachsen ist, kann aber nicht entfernt werden, so daß der Leib ohne
weiteren Eingriff wieder geschlossen wird. 25. 5. 38 wird neuerdings laparo-
tomiert, der gleiche Tumor gefunden und diesmal eine Gestroenterostomie
angelegt. Anschließend an die Operation entwickelt sich ein Verwirrtheits-
zustand mit zeitlicher und örtlicher Desorientierung. Fu wird daher am 31.5.
in die hiesige Klinik verlegt. Hier ist er örtlich orientiert, gibt als Datum
aber den 1. August an und zeigt bei der Prüfung der Merkfähigkeit erhebliche
Ausfälle. Er erzählt, er sei verheiratet mit der Tochter des Großemirs von
Chile, habe viel Geld, das nur alles noch im Ausland sei. Durch viele Tele-
gramme, die von allen Ländern einliefen, sei ihm aber die Berechtigung auf
die Gelder zugesichert. Es seien ihm auch von verschiedenen Firmen Direktor-
posten angeboten worden. Zu seinem Reichtum sei er vor einigen Tagen ge-
kommen, als ein Putsch gegen die Regierung ausgebrochen sei. Man habe ihn
fast nackt durch die Straße geführt, er sei dann aber von der Regierung von
Chile ausgezeichnet worden, weil er dieses Land gerettet habe. Die Ideen hält
Fu in den folgenden Tagen fest, obwohl er jetzt eher mürrisch verstimmt ist.
Am Abend ist das Bewußtsein deutlicher verändert. Am 2. 6. korrigiert er
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 137
seine Ideen, ist jetzt auch klar orientiert. Am 3. 6. aber tritt er, obwohl er
jetzt orientiert ist und keine nachweisbare Bewußtseinsstörung mehr aufweist,
neuerdings mit expansiven Ideen hervor: Er werde als Aufsichtsrat in neuen
Reichsgesellschaften eine große Rolle spielen, die Reichsregierung habe 15
Flugzeuge für ihn bereit gestellt. Am nächsten Tag korrigiert er wieder und
bleibt von da ab frei, kann sich nicht erklären, wie er so törichte Behaup-
tungen aufstellen konnte, meint, das könne er nur im Fieber gesagt haben.
Bleibt völlig unauffällig, wirkt als etwas stiller Mensch, der er von Haus aus
sein soll. Wird nach Abheilung seiner Operationswunde am 25. 6. 38 entlassen.
Die Temperatur betrug am ersten Tag 38.3, erreichte bis zum 10. 6. noch mehr-
mals 37,6, blieb dann immer unter 37. Der Puls bewegte sich dagegen auch
weiterhin dauernd um 110. Die Blutsenkung war außerordentlich beschleunigt,
betrug bei der Aufnahme 118 mm Westergreen in der ersten Stunde.
Bei Fu sehen wir im Anschluß an eine Operation des Magens,
die durch einen nicht ganz geklärten Tumor, wahrscheinlich ein
verhältnismäßig gutartiges Karzinom, nötig wurde, plötzlich
Größenideen hervortreten. Anfangs deutet noch eine leichte Be-
wußtseinstrübung auf die äußere Entstehung der Psychose hin,
später werden aber auch ohne Bewußtseinsstörung nicht bloß die
ersten Ideen beibehalten, sondern neue erst gebildet. Andere psycho-
tische Symptome, vor allem solche des exogenen Reaktionstypus
fehlen jetzt ganz. Der Charakter der Weltbeglückung tritt nicht
so deutlich hervor, ist aber vielleicht angedeutet in seiner Mei-
nung, er habe Chile gerettet. Das es sich um Eingebungserlebnisse
gehandelt hat, darf man aber auch aus ihrem plötzlichen Hervor-
treten und ihrer Maßlosigkeit schließen. Es ist aufgefallen, daß
Fu sogar bei eher mürrischer Stimmung an seinen Ideen festhielt,
wenn er auch nicht mehr gerne davon sprach, ich wies aber schon
darauf hin, daß die ekstatischen Zustände meist nur sehr kurz
dauern, daß sie großenteils schon abgelaufen sind, wenn man von
den Ideen, die in ihnen entstanden, etwas zu hören bekommt. Die
Korrektur der Ideen folgt der Normalisierung des Affekts oft erst
verspätet nach.
Man wird bei Fu von einer postoperativen Psychose sprechen
dürfen. Kleist, der durch seine Monographie unsere Kenntnisse
darüber am meisten gefördert hat, rechnet unter diesen Begriff
allerdings nur Krankheitsbilder, die bei fehlendem oder fast feh-
lendem Fieber auftreten. Andernfalls ist eine Unterscheidung von
Infektionspsychosen kaum durchführbar. Bei Fu aber bestand
Fieber in nennenswerter Höhe nur am ersten Tag, später stieg
die Temperatur nicht mehr über 37,6. Sie ist für das Zustande-
kommen der Psychose also wohl nicht ausschlaggebend gewesen.
Eher wird man, wie Kleist es tut, das Grundleiden, in unserem
Fall das Karzinom, mit verantwortlich machen können. Für unsere
138 K. Leonhard
Fragestellung ist es aber nicht wesentlich, ob man eine post-
operative Psychose im eigentlichen Sinne oder eine Infektions-
psychose annehmen will. Eine symptomatische Erkrankung ist
es bei der eindeutigen Bindung an die äußere Schädigung ja sicher
gewesen. Dafür spricht es auch, daß Fu schon früher bei Lungen-
entzündungen vorübergehend geistig gestört war, also wohl eine
symptomatische Labilität im Sinne Kleists besitzt.
Im Zusammenhang mit der expansiven Psychose exogener Ent-
stehung ist wieder das Sippenbild recht aufschlußreich. In den
beiden vorigen Fällen hatten wir nur ausgeprägte Temperamente
normaler Breite, hier werden die Grenzen des Normalen deutlich
überschritten. Aus der Depression der Schwester im Wochenbett
ist nicht viel zu schließen, sie kann symptomatischer Art gewesen
sein wie bei Fu selbst, zumal die Schwester in der Jugend Menin-
gitis gehabt haben soll. Bemerkenswert bleibt dann aber, daß
wir wieder die beiden verschiedenen Richtungen, die depressive
und expansive verfolgen können. Klarer liegen die Verhältnisse
bei der Schwester. Sie ist nach den vorliegenden Krankengeschich-
ten und der Katamnese, die die Mutter dazu gibt, eine Psycho-
pathin, die sich selbst überschätzt, mit ihren Fähigkeiten prahlt
und sich auch nicht scheut, dazu phantastische Geschichten zu
erfinden. Daß sie affektiv von der Norm abwich, daß geht vor
allem aus ihrem Verhalten beim ersten Anstaltsaufenthalt hervor.
Hier wird betont, daß sie immer selbstzufrieden ist, daß sie „glück-
strahlend‘ von ihren Fähigkeiten erzählt, sich dabei dauernd über-
schätzend. Man wird nicht fehl gehen, wenn man hier Elemente
zu sehen glaubt, die man in der Psychose des Fu wieder findet.
Eine von innerer Beglückung getragene Selbstüberschätzung ist
es ja auch, die ihn in seiner Erkrankung beherrscht. Man darf also
wohl annehmen, daß der symptomatischen Psychose des Fu eine
bestimmte Anlage entgegengekommen ist und seine Färbung be-
einflußt hat. Bei den vorigen Fällen konnten wir sagen, es sei
ungeklärt, ob diese Anlage irgend etwas mit der Anlage zu endo-
gegen Psychosen zu tun hat, ob sie nicht auf einer ganz anderen
Ebene liegt. Bei Fu wird man eher eine Beziehung zu einer endo-
gegnen Krankheitsanlage sehen, denn seine Schwester ist doch
aus inneren Gründen abnorm. Wesentlich ist mir aber die Frage,
ob diese Anlage etwas zu tun hat mit der Anlage zu endogenen
Psychosen, im einzelnen vor allem zur Eingebungspsychose, zu
der doch Beziehungen hinzulaufen scheinen. Eine Psychose hat
die Schwester des Fu nicht gehabt, es ist auch nichts von irgend-
welchen Schwankungen zu erkennen, die Psychopathin, die sie
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 139
schon in der Schule war, die sie mit 15 Jahren schon in die Anstalt
brachte, ist sie auch heute noch. Ein Anhaltspunkt für eine perio-
dische Psychose, wie sie die Angst-Eingebungspsychose doch dar-
stellt, besteht also nicht. Freilich wird auch nicht das Gegenteil
bewiesen, denn wir kennen ja die oft nach dem Sippenbild ein-
wandfrei zum manisch-melancholischen Irresein gehörigen hypo-
manischen Persönlichkeiten, die es von Jugend auf sind und nie
Schwankungen zeigen.
Wie in den vorigen Fällen, kann ich mich auch hier nicht fest-
legen. Ich lasse die Möglichkeit offen, daß die Anlage bei Fu und
seiner Schwester mit der Anlage zu endogenen Psychosen identisch
ist, ich betone aber die andere Möglichkeit, daß die Anlage anderer
Art ist, in einer anderen Ebene liegt. In der Sippe Pic fanden
wir ernste, gewissenhafte Menschen, entsprechend in der sympto-
matischen Psychose ein Angstsyndrom, in der Sippe Mög leb-
hafte, fröhliche Menschen, entsprechend in der symptomatischen
Psychose ein expansives Syndrom, in der Sippe Fu nun finden wir
über normale Temperamentsvarianten deutlich hinausgehend, eine
psychopathische Neigung zu Selbstüberschätzung, die man in der
symptomatischen Psychose gesteigert wieder findet. Die Beziehung
ist also in allen drei Fällen deutlich, aber vielleicht sind es ganz
eigene Anlagen, zu denen die Beziehungen laufen, nicht solche der
endogenen Psychosen. Vielleicht ist das fröhliche Temperament
in der Sippe Mög auch anders bedingt als die Selbstüberschätzung
in der Sippe Fu, und beides beruht möglicherweise auf einer anderen
Erbanlage als der zur Eingebungspsychose.
So kann ich nur auf Möglichkeiten und auf Lücken unseres
Wissens hinweisen. Die Forschungen Kretschmers haben uns in der
Beurteilung der Persönlichkeitstypen sicher außerordentlich viel
weiter gebracht. Sie haben bewiesen, daß krankhafte Teilanlagen
zu Temperaments- und Charakterzügen normaler Breite führen
können. Sie dürfen aber doch nicht dazu Anlaß geben, Tempera-
mentseigentümlichkeiten nur noch in Beziehung zum manisch-
depressiven Irresein, Charaktereigentümlichkeiten in Beziehung zu
den Schizophrenien zu sehen. Letzten Endes wird wohl durch die
Erbbiologie zu entscheiden sein, ob es nicht auch hypomanische
Temperamente gibt, die mit manisch-depressivem Irresein nichts
zu tun haben, aus denen auch bei ungünstigster Erbkonstellation
nie eine endogene Psychose werden kann, oder ob sie doch alle
durch Verdünnung manisch-depressiver Erbanlagen entstanden sind.
Eine Entscheidung wäre natürlich theoretisch und praktisch von
großer Bedeutung. Sieht man in so ausgesprochenen Temperaments-
140 K. Leonhard
eigentümlichkeiten, wie sie die Sippen unserer Probanden auf-
weisen, den Hinweis auf Teilanlagen zu endogenen Psychosen,
dann wird doch aus der symptomatischen Psychose sozusagen eine
endogen-exogene Mischpsychose, die erbbiologisch also nicht un-
bedenklich ist; glaubt man aber, daß auch Erbanlagen, die mit
endogenen Psychosen nichts zu tun haben, die an sich immer in
normaler Breite bleiben, zu symptomatischen Psychosen so eigen-
artiger Färbung führen können, dann sind diese erbbiologisch
unbedenklich. |
Sollte die weitere Untersuchung das, was ich vorläufig nicht für
bewiesen halte, doch bestätigen, daß die Fälle symptomatischer
Psychose, die vorwiegend unter dem Bild des ängstlich-ekstatischen
Syndroms verlaufen, alle die endogene Anlage zur Angst-Einge-
bungspsychose in sich tragen, dann würde das für eine Anlage-
krankheit mit einer sonst in der Psychiatrie bisher wohl nicht
erreichten Klarheit das Zusammenwirken von Anlage und Um-
welt zeigen. Hier würde man die äußere Hilfsursachen klar kennen,
es wären die Infektionen und Intoxikationen, die sonst geeignet
sind, zu symptomatischen Psychosen zu führen. Bei den Schizo-
phrenien dagegen fragt man sich heute noch vergeblich, welche
äußeren Umstände es denn sind, die die Manifestation der Krank-
heit fördern, man weiß aus den erbbiologisch-statistischen Arbei-
ten nur, daß es solche äußeren Hilfsursachen geben muß. Dafür
aber, daß es bei den Schizophrenien Infektionen und Intoxikationen
sind, haben wir keinen Anhalt. Ängstliche und ekstatische Zu-
stände dagegen besitzen einen einwandfreien Zusammenhang ge-
rade mit dieser Form äußerer Schädigung. Auch aus diesem
Grunde wäre die sichere Klärung des Zusammenhangs zwischen
der Angst-Eingebungspsychose und den symptomatischen Psycho-
sen ängstlich-ekstatischer Prägung sehr erwünscht.
Man wird hier noch weiter prüfen müssen, man wird aber erst
durch Kenntnis der Angst-Eingebungspsychose die genügende
Grundlage der Forschung besitzen. Wie könnte man zu einer rich-
tigen Fragestellung kommen, wenn man etwa endogene Psychosen
mit so maßlosen Größenideen oder andererseits mit ratloser Angst,
Beziehungsideen und Sinnestäuschungen schlankweg als schizo-
phren bezeichnete ? Man würde dann in der Verwandtschaft nach
Schizophrenen verschiedener Färbung suchen, würde aber gerade
das spezifische Syndrom zu wenig beachten, man würde ferner die
mannigfachen ‚schizoiden‘‘ Merkmale suchen, um eine Belastung
festzustellen, hätte aber gerade die ernsten und heiteren Tem-
peramente, die so auffällig hervortraten, weniger als Belastung
Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache usw. 141
werten können. Andererseits müßte man, wäre vielleicht zufällig
eine Hebephrenie in den Sippen der symptomatischen Psychosen,
diese als Belastung zählen, sicher zu Unrecht, denn gleichgültig,
wie die Variationsbreite der Anlage zu Hebephrenie ist, mit dem
ängstlich-ekstatischen Syndrom hat sie gewiß keine Berührung.
Es hat natürlich wenig Zweck wahllos alles an sich Belastende zu
zählen, wenn es im speziellen Fall nicht belastend sein kann.
Die Belastung einer Angst-Eingebungspsychose oder einer ihr
gleichenden symptomatischen Psychose mit einer echten schizo-
phrenen Erkrankung ist vielleicht ebenso bedeutungslos, wie die
Belastung einer Schizophrenie mit einer Epilepsie. Ich weiß nicht,
ob ein anderes Syndrom so geeignet ist, endogene und exogene
Entstehung gegeneinander abzuwägen, als gerade das ängstlich-
ekstatische. Ich sah, seit ich darauf achte, bei anscheinend symp-
tomatischen Psychosen keines so frei von den exogenen Symptomen
im engeren Sinne hervortreten wie gerade dieses. Sicher liegt das,
wie schon angedeutet, daran, daß wir hier eine besondere Empfind-
lichkeit für allogene und somatogene Vergiftungen vor uns haben.
Wie die symptomatischen Psychosen von der Angst-Eingebungs-
psychose her befruchtet werden können, so, hoffe ich, hat doch auch
umgekehrt die Betrachtung des ängstlich-ekstatischen Syndroms
bei exogener Entstehung, wieder rückwirkend die Bedeutung der
Angst-Eingebungspsychose unterstrichen. Ich würde wünschen,
daß sie fernerhin die Beachtung findet, die sie seit Kleists Um-
grenzung der Eingebungspsychose verdient hätte.
Zusammenfassung
Das ängstlich-ekstatische Syndrom findet man sehr häufig bei
symptomatischen Psychosen, meist allerdings nicht rein, sondern
zwischen den Symptomen, die im engeren Sinne zum „exogenen
Reaktionstyp‘‘ gehören. Manchmal tritt es aber auch so rein
hervor, daß das Bild der endogenen Angst-Eingebungspsychose
nachgeahmt wird. Drei Fälle dieser Art werden angeführt. Ihre
Sippen zeigen keine endogenen Psychosen, aber deutlich Tempera-
mentseigenheiten, die mit der besonderen Färbung der symptoma-
tischen Psychose ın Zusammenhang gebracht werden können. Es
wird die Frage erörtert, ob diese Temperamente mit der Anlage
oder Teilanlage zu endogenen Psychosen in Zusammenhang ge-
bracht werden müssen, oder nicht auch ganz eigener Natur sein
können. Mag die Frage durch weitere Untersuchungen in dem
einen oder anderen Sinne entschieden werden, unsere Beurteilung
142 = K. Leonhard, Das ängstlich-ekstatische Syndrom usw.
der endogenen wie symptomatischen Psychosen wird dadurch
ganz wesentlich beeinflußt. Das ängstlich-ekstatische Syndrom
regt zu solchen Fragestellungen wegen seiner Häufigkeit sowohl
bei endogenen wie exogenen Psychosen mehr als. andere Syndrome
an. Die Problemlage kann freilich erst klar erkannt werden, wenn
man die Angst-Eingebungspsychose als besondere Krankheits-
form erkannt hat. Daraus ergibt sich wieder die Notwendigkeit
bei den endogenen (neurogenen) Krankheitsbildern zu klareren
Abgrenzungen zu kommen, wie Kleist es anstrebt.
Die praktisch wichtige Entscheidung, ob symptomatische Psy-
chosen, die das ängstlich-ekstatische Syndrom so rein wiedergeben,
daß die Angst-Eingebungspsychose nachgeahmt wird, erbbiologisch
bedenklicher sind als die symptomatischen Psychosen typischer
Gestaltung, hängt von der Lösung der angedeuteten noch offenen
Fragen ab.
Über Asynergie der Wahrnehmungsvorgänge
Von
J. Klaesi
(Aus der psychiatrischen Universitätsklinik Waldau-Bern)
Man weiß, wie ein Tier in der freien Wildbahn sichert; es äugt,
stellt seine Lauscher und saugt Witterung ein; gleichzeitig hält
es sich gespanntest fluchtbereit. Das Zusammenspiel und Zusam-
menwirken der Sinnesfunktionen ist das gleiche, sobald Gesicht,
Gehör, Geruch oder Getast ein Reiz trifit. Jeder solcher wirkt
nicht nur in dem Wahrnehmungsgebiet, welchem er zugehört, mo-
bilisierend, sondern auch in allen andern. Dabei geschieht die Mo-
bilisation nicht nur in allen Wahrnehmungsgebieten gleichzeitig,
sondern auch noch nach der gleichen Richtung, in gleichem Aus-
maß und mit gleichem affektivem Vorzeichen. Man wird mir wohl
recht geben, wenn ich für dieses regelmäßige Sichausrichten aller
Wahrnehmungsvorgänge nach einem Sinnesreiz und ihr wohlabge-
stimmtes Zusammenwirken nach allen Seiten die Bezeichnung
Koordination nicht gut genug finde, gilt diese doch eher einem
Zustand, als einem Vorgang, und würde sie somit das, was ich
meine, nur teilweise ausdrücken. Richtiger wäre der Ausdruck
Eutaxie, doch scheint mir, Synergie passe noch besser, da wir
es in der Psychopathologie in der Regel ja nicht mit dem zweck-
mäßigen Zusammenwirken, sondern mit dem Fehlen desselben zu
tun haben, und dann die Benennung Asynergie weniger Anlaß
gibt zu Ungenauigkeiten und Verwechslungen als Ataxie, mit
welchem Begriff wir schon bestimmte Bewegungsstörungen ver-
knüpfen. Freilich trifft dieser Einwand, wenigstens in Frankreich,
auch auf die Asynergie zu, indem man dort von einer „Äsynergie
cerebelleuse‘“ spricht, wenn beim Ausschreiten der Beine der Ober-
körper sich nicht entsprechend nach vorn mitbewegt u. ä., doch
ist hier eine Form von Asynergie durch das bestimmende Eigen-
schaftswort besonders gekennzeichnet und dadurch Verschleimun-
gen des Begriffs vorgebeugt. Dem Begriff Synergie der Wahr-
nehmungsvorgänge verwandt ist der der Wachsamkeit (Kleist),
doch ist diese nach unsern Darlegungen nur Folgewirkung der
Synergie und darum nicht mit ihr identisch.
144 J. Klaesi
Die Notwendigkeit der Einführung des Begriffes Asynergie ergibt
.sich aus der Sprechstundenerfahrung, daß das harmonische Zu-
sammenwirken der Wahrnehmungsvorgänge durch verschiedene
Ausnahmezustände gestört werden kann, die auch der gesunde
Mensch erleidet, z. B. durch Ermüdung, Zerstreutheit, Befangen-
heit usw., aber vor allem kann sie es durch Auswirkungen von
organischen Hirnschäden tun, und zwar lange bevor klinisch faß-
bare Auffassungsschwächen festzustellen sind, und von Hirn-
schwäche die Rede sein kann. Es ist sogar so, daß die Störung,
sobald wir sie mit unsern bisher üblichen Untersuchungsmethoden
auf Wahrnehmungs- und Auffassungsfähigkeit ermitteln wollen,
sozusagen vor unsern Augen verschwindet, daß sie sich aber alsbald
wieder zeigt, wenn wir das Verhalten im praktischen Leben be-
obachten und hier nicht etwa dadurch zu besonderer Aufmerk-
samkeit auffordern, daß wir sie in bestimmte Richtung lenken,
sondern es der affektiven Angeregtheit und Leitbarkeit durch äußere
und innere Reize überlassen, welcher Grad von Wachsamkeit erreicht
wird. Die Leitbarkeit spielt dabei eine Hauptrolle, doch lege ich
Gewicht darauf, daß es sich nicht allein um eine Angelegenheit der
Aufmerksamkeit handelt; ebenso sehr sind daran primär asso-
ziative Vorgänge und vor allem solche der Empfindung beteiligt,
zeichnet sich doch die Asynergie, so wir sie verstehen, dadurch aus,
daß mit aller Aufmerksamkeit die Ausdeutung eines Sinnesreizes
innerhalb seines eigenen Wahrnehmungsgebiets abgewandelt wird,
dieser aber auf den Beteiligungszwang aller übrigen Wahrneh-
mungsgebiete ohne Wirkung bleibt.
Ein 82jähriger Herr, der keineswegs klinische Zeichen von Se-
nilität zeigt, regelmäßig die Zeitungen durchsieht, sie also nicht
Wort für Wort liest, aber trotzdem über alles Wichtige auf dem
Laufenden ist und im Umgang mit Menschen verblüffend rasch
weiß, wie etwas gemeint ist, und mit wem er es zu tun hat, fährt
auf einer tunnelreichen Strecke Eisenbahn. Nach dem 5. oder
6. Tunnel gibt er seiner Verwunderung Ausdruck, daß dem Zug so
viele andere Züge entgegenfahren und sıch mit ihm kreuzen. Er hat
also nur das in den Tunneln verstärkte Geräusch des Schienen-
schlages usw., nicht aber das gleichzeitige Dunkelwerden wahr-
genommen und darum den verstärkten akustischen Reiz für sich
als Ergebnis des Lärms vorbeifahrender Züge gedeutet. Mit andern
Worten: Der verstärkte Reiz hat auf die übrigen Wahrnehmungs-
gebiete nicht eingewirkt und sie nicht synergetisch gemacht, trotz-
dem der Mann auf den Lärm aufmerksam war und ihm sein Inte-
resse zuwandte.
Über Asynergie der Wahrnehmungsvorgänge 145
In einer Gaststube sitzt er in der nächsten Nähe der Speise-
und Getränkeausgabe und des Lifts in die Küche hinunter. Es
herrscht Vollbetrieb, und man hört immer wieder das Glocken-
zeichen, wenn eine Bestellung aus der Küche oben angekommen
ist. Schließlich fragt er, warum da so viel telephoniert werde, so
wenig hat er beachtet, daß jedesmal, wenn es schellte, eine Ange-
stellte die Türe des Speiseliftes öffnete und die Bestellungen heraus-
nahm, obschon es sozusagen vor seinen Augen geschah. Auf den
Beobachtungsfehler aufmerksam gemacht, äußert er selbst be-
trübt, daß er doch allmählich ungeschickt und alt werde.
Eine 74jährige Dame, die in Familie und Gesellschaft immer
noch ihre beherrschende Stellung behauptet und keinerlei experi-
mentell faßbare Zeichen abnehmender geistiger Fähigkeiten dar-
bietet, frägt fast bei jeder Mahlzeit, nachdem die Platten aufge-
tischt worden sind, was es gebe. Feingehobelte weiße Rüben hält
sie einmal für Sauerkraut. Sie erschrickt, als sie merkt, daß sie
nur auf den optischen Eindruck abgestellt, aber die Prüfung auf
den Geruch ganz vernachläßigt hat. Sie schämt sich deswegen
noch nach zwei Stunden und kommt davon nicht los, weil sie
meint, man denke, es fange schon an, mit ihr schlimm zu werden,
Hierher sind auch die Fälle zu zählen, die, wenn sie uns zur Aus-
sprache gegenübersitzen, nicht merken, daß ein Buch auf den
Boden fällt, oder daß sich unweit des Hauses vor dem offenen Fenster
ein Volkshaufe ansammelt, weil ein Unfall begegnet ist, oder die
während einer klinischen Vorstellung, wenn der Dozent Vorge-
schichte und Zustandsbild erläutert, nicht acht darauf haben, was
gesagt wird, obschon se nicht unheteiligt dreinschauen, und auch
aller Blicke auf sie gerichtet sind. Bemerkenswert genug, daß es
nach meinem Dafürhalten gerade die Asynergie und die dadurch
bedingte geistige Unbehendigkeit und Unachtsamkeit sind, welche,
vorausgesetzt, daß Befangenheit, Stupor, Zerstreutheit, Ermüdung
und Ähnliches, ich wiederhole, nicht vorliegen, den starr leeren
Gesichtsausdruck hervorrufen, der, wie man weiß, oft genug ein
Prodromalsymptom einer organischen Psychose bedeutet.
Zusammenfassend behaupte ich, daß Asynergie bei ungeteilter
Zuwendung zu einer Aufgabe, bei völliger Besonnenheit, und ohne
daß von Ermüdung oder Vergiftung die Rede sein könnte, immer
den Verdacht rechtfertigt, es sei eine organische Hirnstörung vor-
handen oder im Anzug.
10 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
Über Schädigung des N. opticus durch
Arteriosklerose und zur Frage der Stauungspapille')
Von
Prof. Dr. E. Fünfgeld
(Aus der Städtischen Nervenklinik Magdeburg-Sudenburg.
Direktor: Prof. Dr. Fünfgeld)
(Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel)
Über die Erkrankung des N. opticus durch Arteriosklerose der
Carotis interna und ihrer Äste liegt ein reiches, überwiegend augen-
ärztliches Schrifttum vor (Wilbrand und Sänger, v. Hippel, Thiel,
Marchesani u. a. jüngst Siegert, Zullig). Die Schädigung — von
der Symptomatologie des Aneurysmas und der Thrombose wird
hier abgesehen — betrifft regelmäßig den intrakraniellen Verlauf
des Nerven vom Chıasma zum Canalis opticus. Eine geringe Rolle
spielt die Verkalkung der Art. ophthalmica, die nur an ihrer Ein-
trittsstelle den Opticus zu schädigen imstande ist; eine in der
Faserrichtung des Opticus laufende Furche ist bedeutungslos. Da-
gegen entstehen durch die quer über die Optici laufenden Caro-
tides internae recht häufig tiefe Eindellungen und Abplattungen.
Ein typisches Beispiel hierfür zeigt Abb. 1. Die übrigen Möglich-
keiten einer Opticusschädigung, die Siegert noch anführt, stehen
an praktischer Bedeutung weit zurück. Die klinischen Erschei-
nungen, die dadurch bedingt sind, überwiegend nasale Gesichts-
feldausfälle, Sehverschlechterung, Opticusatrophie, seien hier nur
als Tatsachen erwähnt, da der Neurologe sein Urteil darüber auf
den Befund des Facharztes stützen wird. Im augenärztlichen
Schrifttum wird mit Recht hervorgehoben, daß derartige Schnür-
furchen recht häufig als Nebenbefund in Erscheinung treten, ohne
daß klinische Erscheinungen auf eine Opticuserkrankung hin-
weisen. Es. nehmen daher manche Augenärzte für die Fälle einer
deszendierenden Atrophie des Opticus das Hinzutreten anderer
Krankheitsprozesse àn, toxische Schädigungen, arteriosklerotische
Erkrankungen der kleinen Ernährungsgefäße, deren histologischer
1) Nach einem Vortrag in der Leipziger neurolog. Gesellsch. am 30. 5. 1938.
Tafel V
Abb. 1. Plattgedrückte N. optici, die Nerven sind
etwas angehoben
Abb. 2. Schwer veränderte Gefüße im N. opticus
desselben Falls
N
O N ZB
or
bioh
zemeine Zeitschrift für Psychiatrie Band 110. Zu E. Fünfgeld „Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose
p und zur Frage der Stauungspapille‘“. Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35
Digitized „Google
Über Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose usw. 147
Nachweis wiederholt gelang (Alzheimer, v. Stief u. a.). Siegert läßt
in einer neuen Arbeit nur die umschriebene Druckatrophie des
Opticus als die anatomische Folge einer reinen Kompression der
Sehbahn gelten, da im neueren Schrifttum der Einfluß zusätz-
licher arteriosklerotischer Ernährungsstörungen nicht genügend be-
rücksichtigt werde. Auch in einer neuen Arbeit von Zillig wird
dieser Gesichtspunkt nicht erörtert. Insbesondere wendet sich
Siegert gegen eine Überschätzung der ätiologischen Bedeutung einer
röntgenologisch dargestellten Sklerose der Carotis interna, wie sie
insbesondere von Thiel herausgestellt worden ist.
Daß für den Neurologen eine derartige Kompression der Optici
sehr häufig einen Nebenbefund darstellt, hat die eigene Beobach-
tung erwiesen. Im Laufe knapp eines Jahres konnten 13 Fälle zum
Teil schwerster umschriebener Druckatrophien des N. opticus
aus dem Sektionsmaterial arteriosklerotischer Kranke gesammelt
werden, ohne daß auch nur in einem dieser Fälle klinisch der Ver-
dacht einer arteriosklerotischen Opticusschädigung auftauchte.
Allerdings handelte es sich überwiegend um Schwerkranke, in deso-
latem Zustand in die Klinik aufgenommene Menschen, deren Zu-
stand eine Gesichtsfeldprüfung nicht mehr zuließ.
Wie schwer verändert der histologische Befund eines solchen
Sehnerven trotz nicht festgestellter Symptome sein kann, zeigt
die histologische Untersuchung der in der Abb. 1 dargestellten
Optici: Sie ergibt neben ausgedehntem Markscheidenausfall eine
schwerste Sklerose der kleinen Gefäße im Opticus (Abb. 2). Der
Einwand Siegert besteht also zweifellos zurecht. Erst die histo-
logische Untersuchung kann also die Ursache einer Opticusver-
änderung klären. Die histologische Untersuchung anderer Optici
aus den erwähnten 13 Fällen zeigte teilweise nur sehr geringe Schä-
digung trotz deutlicher Sklerose der Gefäße.
Trotz dieser. klinisch scheinbar geringen Bedeutung, die durch
die unten wiederzugebenden Beobachtungen noch eine wichtige
Einschränkung erfahren wird, zeigt eine Durchsicht eines großen
Materials schwerer Carotisverkalkung noch einige Besonderheiten:
Die Schwere der Carotisverkalkung steht in keinem konstanten
Verhältnis zur Opticusschädigung. Schwerste Sklerosen lassen den
Opticus unberührt. Der Röntgenbefund kann somit, wie Siegert
richtig ausführt, in die Irre führen. Dagegen ist der Abstand der
Carotiden und die Dicke des zwischen Carotis und Opticus liegen-
den lockeren Bindegewebes von erheblicher Bedeutung. Überhaupt
stellt sich in den anatomischen Atlanten, die ja das herausge-
nommene Gehirn basal gesehen abbilden, die Beziehung zwischen
10°
148 Ä E. Fünfgeld
Carotis und Opticus nicht richtig dar, weil die nichtsklerotische
Carotis sich bei der der Herausnahme des Gehirns vorangehenden
Durchtrennung retrahiert, während das sklerotische Gefäß die
Überkreuzung richtig zur Darstellung gelangen läßt. Abstand und
Dicke des Zwischengewebes unterliegen sehr starken individuellen
Schwankungen; darüber sich klinisch ein Bild zu machen, scheint
vorläufig unmöglich. Es kann somit eine sklerotische Carotis die
Optici intakt lassen; die Schädigung der Nerven kann durch Er-
krankung der kleinen Gefäße herbeigeführt werden. Sammlung
klinischer Beobachtungen und ihre histologische Bearbeitung kann
somit trotz des großen Schrifttums noch zu neuen Ergebnissen
führen, gerade im Hinblick auf die röntgenologische Darstellbar-
keit der Sklerose. l
Für den Neurologen und Augenarzt von gleicher Wichtigkeit ist
jedoch der Nachweis der Entstehung einer Stauungspapille durch
eine solche Kompression der Optici. Wernickes geniale Konzeption
der Allgemein- und der Herderscheinungen ist — man kann das
ohne Übertreibung sagen — zu einer Standarderkenntnis für die
gesamte Hirndiagnostik geworden. Trotzdem darf dieser Unter-
schied nicht zu einer dogmatisch fixierten Überzeugtheit werden,
weil die fortschreitende Erkenntnis der sog. Allgemeinerscheinun-
gen gezeigt hat, daß auch sie von einer lokalen Schädigung der
Hirnstrukturen abhängig sind. Der praktische Wert der Erkenntnis
Wernickes wird dadurch nur eingeschränkt. Am Beispiel der
Stauungspapille ist aber besonders gut zu sehen, daß die Unter-
scheidung zwischen den Allgemein- und den Herdsymptomen keine
prinzipielle zu sein braucht. Die Stauungspapille als Allgemein-
symptom steht in allen Darstellungen über Tumordiagnostik an
erster Stelle, wenn auch ihre Entstehung durch lokale Vorgänge
durchaus hervorgehoben zu werden pflegt. Daß nicht jede Papillen-
schwellung Stauungspapille bedeutet, ist selbstverständlich; auf
ihre Diagnose braucht hier nicht eingegangen zu werden. Drei
Theorien existieren über die Entstehung der Stauungspapille:
Schieck sieht ihre Ursache in einer Einpressung des Liquors in
den Opticus. Marchesanı und Spatz fassen sie als einen der Hirn-
schwellung analogen Vorgang auf, Behr hält sie verursacht durch
eine Behinderung des kranialwärts gerichteten Blut- und Lymph-
abflusses aus dem Sehnerven in die Schädelhöhle, wobei dem
Autor eine Einschnürung im Foramen opticum und eine dadurch
verursachte seröse Durchtränkung des Gewebes von Wichtigkeit
erscheint. Behr hat in einer neuen Arbeit diese seine Ansicht durch
ausgezeichnete histologische Präparate gestützt.
Über Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose usw. 149
Stauungspapille bei Hypertonie sind in einer Reihe von Fällen
beschrieben; manche Beobachtungen sind nicht einwandfrei, eine
sichere stammt von K. Herrmann, andere sind von Jaburek und
Rothfeld veröffentlicht. Eine entsprechende Beobachtung soll die
weiteren Ausführungen unterbauen; der Fall ist bereits in einer
früheren Arbeit verwendet:
4. M., ein 1867 geborener Kranker, wurde 1932 erstmals in die Nerven-
klinik aufgenommen. Seit etwa 1 Jahr Sehverschlechterung, Augenklinik fand
rechts Papillenprominez von 2,0 D. Hyperämie der Venen, Kaliberschwan-
kungen der Arter., keine Kreuzungsphänomene. Links Prominenz knapp 3,0 D.,
hyperämische Venen, Arterien von wechselndem Kaliber. Visus nach Korr.
beiderseits !/,o, Gesichtsfeld beiderseits konzentrisch eingeengt. In der Nerven-
klinik etwas schwer auslösbare Reflexe, Hypertonie von 180/90 mm Hg. Blut
u. Liquor negativ. Schwerhörig (Kesselschmied). Kein Zeichen für Hirndruck.
Arteriographie (Klinik Löhr) ergab auffallend starre Gefäße von wechselnder
Weite, aber ohne Verlagerungen. Carotis deutlich sklerotisch. Sellaboden
etwas kalkarm, aber normal struktuiert. Ventrikel ziemlich weit. Diagnostiziert
wurde ein Hydrocephalus. Nach einer Schmierkur im Mai 1932 hatte die
Papillenprominenz zugenommen (beiderseits 3,0 D.), Visus u. Gesichtsfeld
hatten sich nicht geändert. Blutdruck damals 230/140 mm Hg.
Nach der Entlassung lebte Pat. zu Hause. Sein Sehen verschlechterte sich
weiter, mindestens seit 1935 war er links blind. März 1937 kam er mit einem
Blutdruck von 180/410 mm Hg und schwer dekompensiert in die medizinische
Klinik. Außer etwas Eiweis im Urin keine Störungen, Konzentration bis 1027.
Reflexe wieder schwer auslösbar, anfangs verwirrt, nach 8wöchentlicher Be-
handlung kompensiert entlassen. Vom Visus ist nichts vermerkt. Am 10. 7. 1937
wieder in die medizinische Klinik. Er war schwer dekompensiert, Blutdruck
220/130 mm Hg, im Urin Eiweiß, aber keine Formelemente, Konzentration
bis 1026. Rest-N normal. Am 15.7. zur Nervenklinik. Hier völlige Blindheit,
beiderseits blasser Opticus mit dünnen, aber gut sichtbaren Gefäßen. Keine
Degenerationsherde in der Netzhaut. Armreflexe regelrecht, Beinreflexe er-
schwert auslösbar, keine Lähmung, keine spastischen Reflexe. Herzverbreite-
rung nach rechts u. links, Ödeme, Rest-N anfangs 72 mg%, später 28,44 mg%.
Urin Spur Eiweiß. Psychisch völlig unfixierbar, stärkste Unruhe, triebhaftes
Widerstreben, Festhalten, Gegenhalten. Am 2.8. Fieberanstieg, am 5.8.
Exitus.
Autopsie: Stärkste Sklerose der beiden Carotides internae, die beide dicht
aufgepreßt auf den deutlich atrophischen Nervi optici aufsitzen. Auch die
übrigen basalen Gefäße stark arteriosklerotisch verändert. Gehirn leicht
atrophisch, Hirnsubstanz derb, weite Ventrikel. Histologisch zeigen beide
Optici erhebliche Lichtung der Markfasern mit schwerer faserigen Gliose; an
den Stellen der Gliose zahlreiche Fettkörnchenzellen, die teils diffus im Ge-
webe, teils bereits perivaskulär angeordnet liegen. Besonders deutlich zeigt
sich der Faserausfall im Chiasma selbst. Im lateralen unteren Kern des Thala-
mus eine frische Blutung von knapp Kirschkerngröße. Die perivaskuläre
Gewebsauflockerung zeigt sich histologisch in der typischen Form. Erhebliche
Veränderungen der kleinen Opticusgefäße fehlten. Körperobduktion (Direktor
des pathol. Instituts Dr. Schultz-Brauns) ergibt schwere allgemeine
Arteriosklerose.
150 E. Fünfgeld
Die Stauungspapille war 1932 so eindeutig, daß trotz der sonsti-
gen körperlichen Veränderungen insbesondere des Gefäßsystems
durch entsprechende chirurgische Intervention ein Tumor ge-
sucht wurde. Es fand sich jedoch bei gefäßspastischem Arterio-
gramm nur eine mäßige Erweiterung der Ventrikel. Schließlich
stellte sich in einem leider nicht beobachteten Verlauf über Jahre
hinaus eine völlige Opticusatrophie ein. Der anatomische Lokal-
befund zeigt absolut einwandfrei, daß die beiden Optici durch
die sklerotischen Carotiden erdrückt worden sind; die Stauungs-
papille muß somit als die Anfangsreaktion auf diesen Druck be-
trachtet werden. Die klinischen Erscheinungen der letzten Zeit
sind durch den anatomischen Hirnbefund durchaus erklärt. Eine
ähnliche Beobachtung ist folgende:
2. H. W., 60 Jahre, wurde am 26. 5. 1937 wegen Hirntumors der Nerven-
klinik zugeführt. Er soll früher stets gesund gewesen sein. Nach einem Fall
auf den Kopf vor 3 Jahren seien gelegentlich Schwindel und Sehstörungen
aufgetreten. Pat. hat aber bis zur Inhaftnahme wegen Betrugs noch regel-
mäßig gearbeitet. In der Haft traten schwere Sehstörungen auf, die zur Auf-
deckung der Stauungspapille führten. Körperlich fand sich bei dem kräftigen
Mann folgendes: Leichte Herzverbreiterung, Blutdruck von 160/90 mm Hg.
im Urin anfangs einige Zylinder und etwas Eiweiß, später nur noch Spuren
Eiweiß. Rest-N normal, Konzentration bis 1027. Geringe Verzögerung der
Wasserausscheidung. Neurol.: Kein Zeichen von Hirndruck. Pupillen rechts
und links absolut starr, völlige Amaurose, beiderseits Stauungspapille mit
peripapillären Blutungen, mindestens 3 D. Sämtliche Reflexe regelrecht,
Gehen und Stehen ungestört. Liquor völlig normal, 5/3 Zellen, Kolloidkurven
normal, Druck nicht gesteigert. Am 4. 6. 1937 Arteriographie (Löhr): Starre
Gefäße, insbesondere CGarotides intern. starrwandig, Gefäße sonst sämtlich
an normaler Stelle, kein Anhalt für Tumor. Ventrikulographie ergibt etwas
weite, aber an normaler Stelle liegende Ventrikel, auch 3. u. 4. Ventrikel sind
dargestellt. Eingriffe wurden gut vertragen. Keine Änderung während des
klinischen Aufenthaltes, keine Klagen außer der Blindheit. Bei Entlassung
haben die Stauungspapillen zugenommen, beiderseits gut 4 D.
Eine restlose Klärung des Falles kann mangels Obduktion nicht
erfolgen; gegen das Vorliegen eines Tumors oder überhaupt eines
raumbeengenden Prozesses — man müßte vor allem an einen arach-
nitischen Vorgang oder an eine Hirnschwellung unbekannter Ätio-
logie denken — sprechen aber alle Befunde, das Fehlen von Hirn-
druck und die völlige Beschwerdefreiheit. Es müssen somit ähn-
liche Verhältnisse am Opticus angenommen werden, wie bei der
ersten Beobachtung.
Daß eine durch Sklerose der Carotis verursachte Schnürfurche
eine erhebliche Abflußbehinderung darstellt, ist einleuchtend. So
sprechen die beiden Fälle sehr wohl für die Auffassung von Behr
über das Auftreten einer Stauungspapille durch seröse Durch-
Über Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose usw. 151
tränkung. Damit ist freilich ein der Hirnschwellung analoger Vor-
gang keineswegs ausgeschlossen, Ödem und Schwellung schließen
sich, wie Pette jüngst mit Recht betonte, keineswegs aus. Stauungs-
papille ist, wie Behr besonders hervorhebt, eine Reaktion des
lebendigen Gewebes, nie tritt sie bei Opticusatrophie ein. Gerade
diese Feststellung zeigt, daß neben der passiven serösen Durch-
tränkung ein aktiver Vorgang stattfindet, eben die Hirnschwellung.
Die pathogenetische Wichtigkeit eines lokalen Druckes auf den
Opticus ist somit wahrscheinlich. Für die Entstehung einer Stau-
ungspapille in solchen Fällen erscheinen mir somit drei Faktoren
von Wichtigkeit: Einmal die Schwere der Sklerose und die Stärke
des Gewebes zwischen dem Gefäß und dem Nerven. Ein zweiter
Faktor ist die Schwellungsfähigkeit des Gehirns; daß diese im
Alter abzunehmen pflegt, ist seit Reichardt bekannt. Außerdem
ist die Neigung zur Hirnschwellung individuell außerordentlich
verschieden und von unübersehbaren Faktoren abhängig. Der
dritte Faktor ist die Stärke des auf die Nerven ausgeübten Druckes.
So kann also eine Carotidensklerose einmal symptomlos bleiben,
' einmal zu einer Opticusatrophie führen, in einem dritten Fall aber
auch zur Stauungspapille.
Das Allgemeinsymptom der Stauungspapille kann somit aus
rein lokalen Ursachen entstehen und durch Verhältnisse, die mit
Hirndruck nichts zu tun haben. Sogar bei echten hirndrucksteigern-
den Prozessen ist eine Einschnürung der Optici nicht ohne Be-
deutung: Bei einem an akuter otogener Meningitis verstorbenen
Mann mit starker Hirnschwellung fand sich beiderseits eine tiefe
Eindrückung der Carotiden in die Optici. Am Tage vor dem Tode
— die Krankheit dauerte nur 2 Tage — fand sich eine leichte nasale
Unschärfe beider Papillen, am Todestag wurde er leider nicht ge-
spiegelt. Daß durch derartige Feststellung die Differentialdiagnose
zwischen Hirntumor und andersartiger Erkrankung des Gehirns
nicht eben leichter wurde, ist leider nicht zu bestreiten. Für die
Stauungspapille aber scheint mir erwiesen, daß sie kein Allgemein-
symptom im eigentlichen Sinne des Wortes ıst, sondern ein be-
sonders leicht bei den bekannten Hirnerkrankungen auftretendes,
nur in seltenen Fällen lokaldiagnostisch verwendbares Symptom,
zu dessen Auslösung es einer lokalen, von der Grundursache nur
bedingt abhängigen Vorgangs bedarf.
Somit scheint mir, trotzdem für den Neurologen eine Carotiden-
sklerose häufig nur einen bedeutungslosen Nebenbefund bedeuten
wird, die Kenntnis ihres Vorkommens und der dadurch sie ge-
setzten Veränderungen im Hinblick auf solche seltenen Beobach-
152 E. Fünfgeld Über Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose usw.
tungen wichtig. Der Schluß auf die Allgemeinerscheinungen anderer
Art ist naheliegend, nur der Beweis nicht so leicht zu führen. Sich
um ihn mit Erfolg bemülit zu haben, ist eines der‘ wissenschaft-
lichen Verdienste des Jubilars, dem die vorliegenden Zeilen in
Dankbarkeit und Verehrung gewidmet sind.
Schrifttumverzeichnis
Frühere Arbeiten zusammengestellt: Fün/geld, Zentr. inn. Med., 1938, 161. —
Marchesani, Handb. Bumke-Förster, Bd. 4. — Siegert, Graefes Arch. 138,
798. — Wilbrand u. Saenger, Die Neurologie des Auges, Bd. 5. Wiesbaden,
Bergmann 1913.
Außerdem: McConnel, Olivecrona, u. a. Nervenarzt 1938, 135. — Zillig,
Nervenarzt, 1938, 457. — Thiel, R., Röntgendiagnostik des Schädels. Berlin,
Springer 1932.
Zur Theorie der Schizophrenie
und der Insulinschockbehandlung
Von
Prof. Dr. Gottfried Ewald, Göttingen
Theorien der Schizophrenie hat es schon viele gegeben ; so möchte
es fast zwecklos erscheinen, abermals mit solchen Gedanken auf-
zuwarten. Es wird jedoch immer notwendig sein, an neuen Erkennt-
nissen und Erfahrungen die alten Vorstellungen zu überprüfen.
Neue Erkenntnisse aber haben sich ergeben insbesondere auf dem
Gebiete der Pathologie des Zwischenhirns. Niemand hat sich so
intensiv und bis ins einzelne gehend mit dieser Materie befaßt,
wie Kleist. Auch die Gamperschen Befunde bei Korsakow-Kranken
bedeuteten einen erheblichen Fortschritt. Neue Erfahrungen über
das Schizophrenie-Problem hat uns die Insulinschock- und die
Kardiazolkrampftherapie gebracht. So verlohnt es sich vielleicht
doch, sich von neuem auf das Wesen und den Ursprung der Schizo-
phrenie zu besinnen.
Ein psychologisch so vorzüglich bewanderter, aber hirnlokali-
satorisch so skeptischer Autor wie Gruhle schreibt noch 1932: „Ein
positives Wissen über Wesen und Ursprung der Schizophrenie be-
sitzen wir nicht“, und weiter: „Kurz, der Spekulation ist hier
freiester Spielraum gelassen‘, und endlich im Hinblick auf die
vergeblichen Bemühungen der vergangenen 100 Jahre: „Die Argu-
mente, mit denen sich die wissenschaftlichen Gegner bekämpfen,
sind nicht besser, diese selbst nicht klüger geworden‘. Es gehört
einiger Mut dazu, dann doch wieder mit neuen Gedanken kommen
zu wollen.
Immerhin, Gruhle äußert auch ganz umrissen: „Die Schizo-
phrenie ist ein endogenes, organisches Leiden, bei dem die Frage,
ob encephalogen oder nicht, unentschieden bleibt‘. Eine funktionelle
Genese schließt er also aus. Das soll heißen, daß es sich nicht nur
um eine „Neurose‘“ handelt, wie es sich etwa die Psychoanalytiker
dachten, sondern um ein irgendwie pathologisch-physiologisch ver-
ankertes, organisches, in vielen Fällen zu einem spezifischen
Defekt führendes, körperliches oder Gehirnleiden. Endogen soll
154 Gottfried Ewald
heißen, daß exogene Einflüsse nur eine untergeordnete, wahr-
scheinlich höchstens gelegentlich auslösende Rolle spielen. Und
schließlich erklärt Gruhle noch: „Da die Psychologie des Leidens
jetzt im wesentlichen sorgsam erforscht erscheint, da wenig Aus-
sicht besteht, von der Konstitutionsseite her neue Aufklärungen
zu gewinnen, wird wohl am ehesten die Aufdeckung neuer körper-
licher Symptome Licht bringen können‘. Er denkt dabei ver-
mutlich in erster Linie an irgendwelche hormonalen oder sero-
logischen Erkenntnisse; jedenfalls gibt er dem somatologisch
eingestellten Forscher das Wort.
Fragt man nun aber doch erst einmal bei den Psychopathologen
an, die bei dieser rätselhaften Erkrankung in der Tat das
erste Wort haben müssen, was sie sich für Gedanken über Wesen
und Ursprung der seltsamen schizophrenen Symptome machen,
so begegnet man allenthalben ıhren Bemühungen, Grundstörungen
oder Ursymptome herauszufinden, um aus einer möglichst geringen
Anzahl derselben den gesamten Symptomenkomplex abzuleiten.
Dabei erkennt man, daß trotz scheinbar erheblicher Differenzen
die Antworten doch nicht so verschiedenartig sind, daß der So-
matiker sogleich die Hoffnung aufgeben müßte, Analogien zu einem
möglichen Gehirngeschehen herauszufinden. Über eines sind sich
zunächst einmal alle Forscher einig: Eine eigentliche „Demenz“
liegt bei der Schizophrenie nicht vor. Die Störungen in erster Linie
im Hirnmantel zu suchen, wird sich der somatisch Eingestellte
also nicht ermutigt fühlen. Die dürftigen anatomischen Befunde,
die man in der Hirnrinde bisher erhoben hat, sind ja auch wirklich
nicht dazu angetan, hier Hauptursache oder Hauptsitz des bunt-
schillernden Leidens zu suchen. Die Ansichten über die Grund-
störung scheinen dagegen zunächst einigermaßen different: ‚‚Intra-
psychische Ataxie‘, sagte Stransky, „Minderung der Assoziations-
spannung‘ meinte Bleuler; er dachte dabei aber offenbar im wesent-
lichen an das gleiche Grundphänomen wie Stransky, wie ein nach-
drücklicher Prioritätsstreit von seiten Stranskys lehrt. „Insuffizienz
der psychischen Aktivität“ oder „Störungen im Aktivitätshaus-
halt‘‘ sagen andere (Berze, Gruhle), ‚Änderung der Vollzugsweise
des Erlebens‘‘ erklärt Carl Schneider. Am verständlichsten drückt
sich vielleicht Berze aus, wenn er von einer „Hypotonie des Be-
wußtseins‘‘ spricht, womit er praktisch offenbar das gleiche meint,
wie Carl Schneider mit der Änderung der Vollzugsweise des Er-
lebens, für die wirim Einschlafdenken und Einschlaferleben
das beste Modell zur Klärung der schizophrenen Störung besitzen.
Die Ähnlichkeiten zum Einschlaferleben waren gewiß schon lange
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 155
bekannt, Kräpelin, Bumke u. a. m. wiesen schon zu Eingang
des Jahrhunderts darauf hin; aber niemand hat die Frage so durch-
gearbeitet wie C. Schneider. Gruhle kennt eine ganze Reihe von
Urphänomenen: Nicht ableitbare Grundsymptome der Schizo-
phrenie sind für ihn die Halluzinationen, die schizophrene Grund-
stimmung, die Impulse (eben jene „Störung im Aktivitätshaus-
halt“), die Denkstörung und der Wahn. Er hält es nicht für mög-
lich, diese Erscheinungen auf einen Nenner zu bringen. Andere
weisen auf „Störungen der Aufmerksamkeit‘ hin, für wieder andere
ist die „Intentionsleere‘‘ von Bedeutung. Die Franzosen bedienen
sich gern des Ausdrucks „Automatismus“.
Hält man sich zunächst einmal an C. Schneider und Berze, so
wird es doch offenbar, daß eine ganz zentrale energetische Stelle
der Persönlichkeit in der Schizophrenie versagt, die jener Grund-
störung, aus der die übrigen schizophrenen Symptome ableitbar
scheinen, dann auch die somatische Basis gibt. „Hypotonie des
Bewußtseins“ und „Modell des Einschlaferlebens‘‘ erinnern so
handgreiflich an gewisse Zwischenhirnfunktionen, daß es wirklich
schwer fällt, an einer Kongruenz psychologischer Analysen und
neuropathologischer Erkenntnisse vorüberzusehen.
Die intensivierte Beschäftigung mit der Physiologie und Patho-
logie des Hirnstammes hat nun Ergebnisse gezeitigt, die m. E. ein
überraschendes Licht auf die Rätsel der Schizophrenie werfen
sollten. Als einer der ersten hat Küppers in seinem „Grundplan des
Nervensystems‘ Gedanken entworfen, die dem Hirnstamm eine
weit zentralere Stellung im Seelenleben zuweisen, als es bislang
geschehen war. Vorher schon hatte Reichardt den ‚Mangel an An-
trieb‘ als hirnstammbedingt propagiert, ein Symptom, dem man
unverkennbar bei der Schizophrenie immer wieder begegnet.
Die Encephalitis lethargica mit ihrer überreichen Symptomatik
ergab dann weitere Aufschlüsse, die so bekannt sind, daß sie hier im
einzelnen nicht wiederholt werden sollen. Die Schlaf-Wachregu-
lation wurde mit Sicherheit als Zwischenhirnsymptom erkannt,
der Bewußtseinsregulationsmechanismus in das vegetative Höhlen-
grau des 3.—4. Ventrikels verlegt. Schon 1924 sprach Kleist nicht
nur die Benommenheitszustände als Zwischenhirnsymptom an, son-
dern er verlegte auch die Delirien und Dämmerzustände in Mecha-
nismen des zentralen Höhlengraus. Die Parallele zum ‚Einschlaf-
Modell“ der schizophren veränderten ‚Vollzugsweise des Erlebens‘“
und zur „Hyptonie des Bewußtseins“‘ wird hier ganz deutlich.
1927 bringt Gamper seine interessanten histopathologischen Befunde
bei der Pseudoencephalitits der Alkoholiker zur Kenntnis und
156 Gottfried Ewald
deckt damit Beziehungen zwischen Korsakowsyndrom und Zwi-
schenhirn auf, eine zentrale Stelle in Gegend der Corpora mammil-
laria, von der aus die „gedankliche Einstellung“ sich reguliere,
und die für die notwendige Verbindung des gegenwärtigen Er-
lebens eines Individuums mit seiner Vergangenheit (dem alten
Gedächtnisbesitz der Hirnrinde) erforderlich sei. Das Dogma der
hirnmantelbedingten Merkstörung wird gelockert. Pick und Grün-
thal hatten von psychologischer Seite mit dem Begriff der „Ein-
stellstörung‘‘ Gamper vorgearbeitet. Bürger-Prinz und Kaila aber
geben eine Definition der Korsakowschen Störung, die in ihrer
allgemeinen Formulierung sogar sehr stark an eine schizo-
phrene Syndromatik erinnert: Als allgemeiner Hintergrund des
Korsakow ergibt sich für sie das ‚Persönlichkeitslose‘‘ der Pa-
tienten, „eine Passivität und Lahmlegung der vitalen Schicht“.
Hinzu träten für alle Gebiete wirksam: ‚Veränderungen im zeit-
lichen Ablauf, Verkleinerung der Quantität, Entdifferenzierung,
Erschwerung des Gestaltenaufbaus‘‘. 1929 wies ich selbst an Hand
einer Reihe von organischen Zwischenhirnfällen verschiedener Ent-
stehung (Enzephalitiden, Hypophysentumoren) auf die Bedeutung
von Zwischenhirnfunktionen für das Auftreten optischer Hallu-
zinationen hin. C. Schneider hebt das Vorherrschen optischer Hallu-
zinationen bei akutem Ausbruch der Schizophrenie ausdrücklich
hervor. Stertz präzisierte ein brauchbares Zwischenhirnsyndrom fol-
gender Zusammensetzung: Schlafsucht, Pupillenstörungen, Blasen-
störungen und vegetative Störungen in Form von Gewichtsschwan-
kungen, .Menstruationsstörungen u. a. m., dazu auf psychischem
Gebiet eine Senkung des Persönlichkeitsniveaus, hinsichtlich des
Gefühlslebens das Auftreten einer flachen Euphorie oder apathisches
Verhalten, auf dem Willensgebiete Initiativelosigkeit bis zum
Stupor. Das alles wurde wiederum an nachweisbar organisch Zwi-
schenhirngeschädigten beobachtet. Am weitesten ging wohl Kleist,
der in seiner Gehirnpathologie eine Zwischenhirnstelle fordert nicht
mehr nur für Benommenheit und Delir, sondern auch für Trug-
wahrnehmungen optischer und akustischer Art, für Merk- und
Zeitstörungen, für die „Steuerung der Besinnung‘, für Depersonali-
sation und Bedeutungserlebnisse, für Störungen der Aufmerksam-
keit und Suggestibilität.
Was kann man nun aus diesem organischen hirnpathologischen
Ergebnis für die Schizophrenie folgern ? Es scheint zunächst so,
als ob nahezu alle psychischen Symptome oder Syndrome, soweit
sie nicht die reine Intelligenz (insbesondere den alten Gedächtnis-
besitz) betreffen, vom Zwischenhirn aus mobilisiert bzw. gestört wer-
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 157
den können. Das Rätsel der Schizophrenie wäre also nur von dem
gesamten Gehirn verschoben auf das enge Gebiet der Zwischen-
hirnsysteme. Immerhin würde dieses schon einen Fortschritt be-
deuten insofern, als die negativen oder allzu dürftigen Befunde
der histologischen Großhirnforschung ihre Erklärung fänden.
Aber freilich, histologisch greifbare regelmäßigere Veränderungen
hat man im Zwischenhirn noch weniger finden können. Es müßte
sich dann um ein Versagen tieferer, vorwiegend wahrscheinlich
vegetativer Systeme des Hirnstammes handeln, für die uns vor-
läufig vielleicht noch zureichende histologische Darstellungsmetho-
den fehlen. Oder aber es könnte sich um ein mehr oder weniger
vorübergehendes partielles Versagen bestimmter zen-
traler vegetativer Systeme handeln, die ihre Funktionen nicht
völlig eingestellt haben, deren Funktion vielmehr nur quantitativ
oder qualitativ energetisch herabgesetzt oder blockiert ist, und
deren histologische Darstellung daher nicht gelingen kann. Denn
nur Ausfälle erfassen wir im allgemeinen im histologischen Bild,
nicht aber veränderte Funktionszustände.
Aus den Parallelen zwischen psychopathologischen Ergeb-
nissen der Schizophrenieforschung und hirnpathologischen Erfah-
rungen bei Zwischenhirnstörungen lassen sich nun in der Tat eine
große Zahl schizophrener Symptome erklären. Im Mittelpunkt der
auch nach Gruhle am besten fundierten psychologischen Theorie
von Berze und Carl Schneider stehen, wie schon gesagt, die Ände-
rung der Bewußtseinslage, die Änderung der psychischen Aktivität,
die „Hypotonie des Bewußtseins‘‘, die Änderung der Vollzugs-
weise des Erlebens analog dem Einschlafmodell und dem Traum.
Hier scheint die Beziehung zu dem Befunde der Neuro-Pathologen
fast mit Händen zu greifen. Eine Minderung der Funktionsspan-
nung der „Wachfunktion‘“ des 3. Ventrikels dürfte sehr wohl zu
der eigenartigen Bewußtseinslage führen, in der die Schizophrenen
leben, in der ihnen die Gedanken zerflattern und zerfließen wie
im Einschlafen, ohne daß sie wirklich schlafen. Daß die schizo-
phrene Psychose sehr häufig, ja eigentlich immer, mit Schlafstö-
rungen beginnt, ist fast ein Gemeinplatz und doch lokalisatorisch
von erheblicher Bedeutung und wird fast nie gewürdigt. In dieser
einschlafsähnlichen Bewußtseinslage vollziehen sich dann aber
auch die charakteristischen Veränderungen der Auffassung, der
Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit, die eine so klare Be-
ziehung zu der Entstehung des zerfahrenen und faseligen Denkens
geben, zum Auftreten auch von Trugwahrnehmungen vorüber-
gehender Art führen können, zu einem Fürwahrhalten und Korri-
158 . Gottfried Ewald
gieren der schemenhaften Erlebnisse, offenbar je nach Akuität des
Prozesses bald mit stärkerem Hervordrängen optischer Erscheinungen
(besonders im Anfang akuter stürmischer Phasen), bald mehr, bald
weniger begleitet von akustisch-halluzinatorischen Vorstellungen mit
Wahrnehmungscharakter. Die gleichzeitige relative Intaktheit der
Hirnrinde mag zuweilen die ‚freisteigenden Gedanken“ klanghaften
Charakters ähnlich wie im Einschlafen als fremdartig und auf-
gezwungen erleben lassen (Gedankenmachen, Fremdheitserleben),
wie ähnliches auch aus den Meskalin-Versuchen Beringers mit ihrer
relativen Bewußtseinsklarheit im experimentellen Modell bekannt
geworden ist. Wer die etwas schwierig zu lesenden Ausführungen
Carl Schneiders aufmerksam durchstudiert, der wird sich dem Ein-
druck nicht verschließen können, daß in der Tat aus jener besonderen
Erlebnisweise, die natürlich einzigartig ist und mit dem Einschlaf-
und Traumerleben durchaus nicht identifiziert werden darf, weil
es sich ja auch somatisch-funktional um etwas Einzigartiges und
Neues und nicht um ein wirkliches Einschlafen handelt, sich eine
große Fülle schizophrener Symptome teils verständlich ableiten,
teils erklären läßt. Die Mattheit des Erlebens und der Mangel
an Nachdruck ist in vielen Fällen beginnender Schizophrenie direkt
leitendes diagnostisches Symptom. Wir begegnen dieser persön-
lichkeitslosen Mattheit und Passivität aber auch bei der psycho-
logischen Analyse des (somatisch natürlich anders fundierten),
zwischenhirnbedingten Korsakows nach Bürger- Prinz und Kaila.
Die scheinbare Aufmerksamkeitsstörung findet hier unmittelbaren
Anschluß. Entsprechendes gilt für die „Einstellstörung‘‘ der Kor-
sakow-Zustände nach Grünthal mit ihrer Verankerung an der
Gamperschen Zwischenhirnstelle.. Auch hier das unaufmerksame
Abgleiten, das Nebeneinander logischer Unmöglichkeiten, die matte
affektive Einstellung zum Ganzen, gewiß sehr „schizophrenie-
nahe“ Erscheinungen. Mehr darf man ja bei der andersartigen
somatischen Grundstörung (kein polioencephalitischer Herd, son-
dern nur ein prozeßhaft-funktionales Versagen ähnlicher oder
gleicher Stelle auf Grund des somatischen Schizophrenieprozesses)
auch gar nicht erwarten, ohne daß dadurch die lokalisatorische
Bedeutung eingeschränkt würde. Daß gleichzeitig eine affektive,
fast läppisch anmutende Mattheit der Euphorie den Korsakow-
Zustand begleitet, paßt durchaus zu den Feststellungen von
Stertz, der als psychische Erscheinungen des Zwischenhirns die
flache Euphorie oder Apathie, auf dem Willensgebiete die
Initiativearmut bis zum Stupor hervorhebt. Aber auch Unheim-
lichkeitserlebnis (,,Wahnstimmung‘‘) und Ratlosigkeit sind von
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 159
Delir und Amentia her als Zwischenhirnstörung begleitende Er-
lebenszustände sehr wohl bekannt. Dort mehr „traumhaft“, werden
die ‚„Weltuntergangserlebnisse‘‘ hier bei der bewußtseinsfreieren
Schizophrenie in der hirnstammbedingten veränderten ‚Vollzugs-
weise‘ offenbar klarer, und doch wieder fremdartig distanziert
erlebt. Aber lokalisatorisch bleibt es dasselbe. Daß die meist
gleichzeitig auftretenden hyperkinetischen oder akinetischen motori-
schen Automatismen hirnstammbedingte Symptome sind, ist nach-
gerade Allgemeingut geworden. Man darf wohl sagen, daß das ganze
Inventar der wesentlichsten schizophrenen Grundelemente in der
organischen Neuro-Pathologie gelegentlich alsZwischenhirnsyndrom
wiederkehrt. Die befremdliche Verbundenheit der Einzelsymptome
aber zu einer psychotischen ‚Pseudoeinheit‘‘ der Schizophrenie —
eigentlich also der „Zerfall‘‘ der Persönlichkeit — geht zurück auf die
mangelhafte Bewußtseinsstraffung, auf das seltsame und spe-
zifische Versagen jener Mechanismen, die ähnliches im Einschlafen
und im Traum geschehen lassen. Es läßt sich schlechterdings nicht
einsehen, warum man diese Zustände nicht auch lokalisatorisch
sollte betrachten dürfen, warum man nicht von den greifbaren
somatischen Veränderungen dort lokalisierter nachweisbarer orga-
nischer Leiden auf die kranken, versagenden Hirnstellen der Schizo-
phrenie schließen sollte. Ich bin der Überzeugung, daß wir nicht
fehlgehen, wenn wir die psychopathologischen Grundphänomene
der Schizophrenie auf ein relatives funktionales Versagen der für
die Konstituierung eines Ichs wesentlichen Hirnstammsysteme
zurückführen, mögen sie nun mehr akut-stürmisch oder mehr
schleichend einsetzen. Natürlich treten unter besonderen lokalisa-
torischen Bedingungen bald mehr diese, bald mehr jene Teil-
symptome in den Vordergrund, bald mehr die motorischen (hyper-
kinetisch-akinetischen) Zustände, bald mehr die Stumpfheit oder
Gefühlsverflachung und die Initiativearmut, bald halb traum-
artiges Unheimlichkeitserleben mit Sinnentrug und Wahnbildun-
gen. Aber alles bleibt, wenn auch nicht immer,sodoch inden meisten
Fällen, unterlegt von der ‚„Hypotonie des Bewußtseins‘‘, die das
logische Denken einschlafmäßig zerfahren werden läßt, die die
„Insuffizienz der Spannweite des intentionalen Bogens‘“ (Beringer)
herbeiführt und so das Zerflattern der Gedanken und fremdartige
Verknüpfungen bewirkt. Daß natürlich trotzdem nach Art der
Persönlichkeit und ihrer Vergangenheit, ihres Kenntnisumfangs
und ihrer Intelligenz, nach Akuität, Lokalisation und Ausbreitung
des Prozesses (jenes funktionalen Versagens der Systeme), das
Bild sich verschieden gestalten wird, ist klar. Das kann aber gegen
160 Gottfried Ewald
die Auswirkung der gezeichneten Grundstörung nichts besagen.
Es ist freilich durchaus möglich, daß bestimmte Funktionszusam-
menhänge nach der Rinde zu sich mehr und mehr und dauernd
lockern, daß dort auch Ausfälle entstehen können, und daß viel-
leicht deshalb nur eine teilweise Wiederherstellung erfolgen kann.
So würde sich vielleicht die Verschiedenartigkeit der Endzustände
und der Verläufe erklären. Wir wissen das nicht. An der Bedeutung
der primären somatischen Zwischenhirnstörung scheint mir dieses
aber nichts zu ändern.
Auch die rein somatischen Begleiterscheinungen der
Schizophrenie weisen auf eine Hirnstammbedingtheit der Störung
hin. Die Schlafstörung wurde schon genannt. Hinzu treten die so
oft geklagten allgemeinen unklaren Kopfbeschwerden und anderen
Beschwerden hypochondrischer Art, die zweifellos durch zentrale
Vorgänge des thalamischen Systems mitbedingt sind, und die
vegetativen Störungen, die von Stertz im Zwischenhirnsyndrom
mit beschrieben wurden: Änderungen des Körpergewichts, Abma-
gerung zum Skelett oder ungesunde Fett- und Wasserspeicherung,
synkopale, mehr vasomotorische Anfälle und Ohnmachten, fast
regelmäßig Menstruationsstörungen. Reichardt ist 1928 in seinem
großen Referat über Hirnstamm und Psyche schon sehr ausführ-
lich auf diese somatischen Hirnstammsyndrome und ihre Be-
ziehungen zur Schizophrenie eingegangen und hat auch schon den
Versuch gemacht, die psychologischen Theorien und Grundsymp-
tome in ähnlicher Weise auf den Hirnstamm zu beziehen, wie ich
es hier auf verbreiteter Basis getan habe.
Welcher Art nun freilich der pathologisch-physiologische Vor-
gang selbst ist, der innerhalb der Zwischenhirnsysteme zu dem
spezifischen Versagen der Schizophrenie führt, entzieht sich vor-
läufig noch ganz unserer Kenntnis. Sicher ist, daß es sich nicht um
einen greifbaren degenerativen Prozeß handelt, wie wir ihn etwa
bei anderen degenerativen organischen Nervenleiden (Friedreich,
amyotrophe Lateralsklerose usw.) finden, die wir ohne weiteres im
histopathologischen Bilde fassen können, sondern es muß sich
um ein mehr passageres Versagen handeln, das je nach Akuität des
Prozesses leichte bis schwerste Ausfälle erzeugen kann, um dann
einer weitgehenden Reparation wieder Platz machen zu können.
Das lehren die oft erstaunlichen Remissionen. Es handelt sich
also um ein mindestens teilweise reversibles Krankheitsgeschehen.
Das ist aber gerade innerhalb der vegetativen Mechanismen durch-
aus nichts Einzigartiges. Schwanken der Funktionen gehört ge-
radezu zum Wesen des auf Labilität abgestellten sympathisch-
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 161
parasympathischen Systems, in dem ja auch alle periodischen
Vorgänge des Organismus verhaftet sind. Passageres Versagen,
Krisen von kürzerer oder längerer Dauer sind auch außerhalb der
Schizophrenie im Funktionsbereich dieses Systems nichts Unge-
wöhnliches. Man denke etwa an die Schwankungen in der Blut-
druckregulation der Hypotoniker, an vasomotorische Labilitäten,
Blutzuckerschwankungen u. a. m. Jedenfalls zeigt die Erkran-
kung, von den selteneren subakut-progredienten Verläufen abge-
sehen, die Neigung zum Rezidivieren und schubweisem Verfall,
ohne daß jemals die letzten lebenswichtigen Funktionen erlöschen.
Die nur versagenden oder blockierten Funktionen bleiben in vielen
Fällen wieder mobilisierbar, wie das überraschende Erwachen
langjährig stuporöser oder abgekapselter Schizophrener beweist.
Daß sich nicht alles wiederbelebt, was vorhanden war, ist nicht
wunderbar. Gerade die Denkstörung bleibt ja oft recht erheblich.
Daß auch jahrelang festgehaltene schiefe Einstellungen, Wahn-
inhalte, krankhafte Erlebnisse usw. später noch nachwirken und
nicht korrigiert werden, kann ebensowenig wunder nehmen;
nehmen wir selbst doch sogar als gesunde Persönlichkeiten die
Wirkung eingreifender Jugenderlebnisse und nachhaltiger Jugend-
einstellungen in unser späteres Leben mit hinüber und vermögen
gerade affektive Einstellungen oft nicht zu lösen. Zum Stillstand
gekommen scheint die schizophrene Erkrankung dann, wenn die
zwischenhirnbedingte Bewußtseinsstraffung wiedergewonnen ist
und mit ihr die relative Anpassung an die Wirklichkeit, trotz selt-
samer Logik, trotz abgeschwächt bleibender Gemütslage und trotz
Eckigkeit und Unausgeglichenheit der Motorik. Dann ist der End-
zustand oder Restzustand da mit seiner besondern Psychopatho-
logie (Berze). Daß manche Kranke auch gar nıcht mehr heraus-
finden, den „Tonus“: des Bewußtseins überhaupt nicht wieder
erlangen, ist eine Sache für sich.
Mit noch größerer Deutlichkeit als es das spotane Wiederlebendig-
werden alter scheinbar defektmäßig erstarrter Schizophrener ge-
legentlich zeigt, hat die Insulintherapie uns gelehrt, wie weit-
gehend es sich wenigstens anfangs bei der Schizophrenie um ein
passageres Versagen durchaus reversiblen Charakters handelt. Wer
die verblüffende Lösung selbst jahrelang festgefahrener, ja schein-
bar ganz verblödeter Kranker gesehen hat, dem wird es verständ-
lich werden, daß man bei solcher Wiederherstellungsmöglichkeit
nicht mit dem Vorliegen eines destruktiven Krankheitsprozesses
rechnen darf, bei dem wir im histopathologischen Bild erhebliche
11 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
162 Gottfried Ewald
Veränderungen finden werden. Natürlich gelingt eine solche Wie-
derherstellung durch die Insulintherapie bei inveterierten Zustän-
den nicht oft, aber es kommt doch Erstaunliches vor. Das legt
den Gedanken sehr nahe, daß es sich in einem großen Teil
der schizophrenen Erkrankungen, wenn nicht sogar immer, in
weitgehendem Maße nur um ein funktionales Ruhen, um ein nur
scheinbares Erlöschen handelt; es läßt sich oft sehr vieles ‚‚wieder
lebendig‘ machen, wenn nur der Hirnstamm wieder energetisch
richtig funktioniert. Für die großen Skeptiker und Neinsager gegen-
über der neuen Behandlungsmethode möchte ich drei eindrucks-
volle Beispiele anführen, die ich selbst unter jahrelanger Beobach-
tung hatte, wo jahrelang festgehaltene Krankheitszustände sich
unter der Behandlung überraschend lösten. Von Braunmühl hat
in seiner hübschen Anweisung zur Insulinschockbehandlung sogar
ein Beispiel mitgeteilt, wo ein 15 Jahre lang schwerkranker Schi-
zophrener nach ıntensiver und konsequenter Behandlung wieder
in die Heimat entlassen werden konnte. Daß das natürlich nicht
immer geht, ist klar. Ein Allheilmittel gibt es nirgends. Ich lasse
unsere Beispiele folgen.
Fall 1. Patientin Gerda St., Stenotypistin, 31 Jahre alt. Von jeher stilles
Mädchen, aber tüchtig und fleißig, feinfühlig. Ausgesprochen leptosomer
Habitus. Erkrankte im April 1932 subakut unter äußerster Schlaflosigkeit
an Vergiftungs- und Beeinträchtigungsideen, halluzinierte, machte mit der
Nahrungsaufnahme Schwierigkeiten. Bei der alsbald erfolgenden Aufnahme
bereits kataton-negativistisches Verhalten, fast mutatistisch, verweigert jede
Nahrung, wiegt 94 Pfd. Ist auf keine Weise zu irgendeiner Beschäftigung zu
bringen. Steht steif und ablehnend in den Ecken umher, hält sich ständig
die Ohren zu oder die Hände vor das Gesicht. Spricht weder mit Arzt noch
mit Pflegerin, mit keiner Mitpatientin. Muß Jahre hindurch mit der
Sonde gefüttert werden. Bei Besuchen zuweilen plötzlich umgewandelt,
spricht ganz nett mit den Angehörigen. Auch bei Besuchen von Kindern zu
diesen liebevoll. Drängt vielfach fort, macht auch Fluchtversuche, wirft sich
vor fremden Besuchern auf die Knie: „Nehmt mich mit‘, und erstarrt dann
wieder sofort in ihrer katatonen Haltung, undeutlich vor sich hinmurmelnd
und sich die Ohren zuhaltend. Im Bett geht sie sofort unter die Decke, wo sie
in zusammengekauerter Haltung liegen bleibt bis sie wieder heraus-
geholt wird. Das Körpergewicht sinkt auf 50 Pfd. Sie ist trotz regelmäßiger
Fütterung zum Skelett abgemagert, ist feindselig ablehnend.
Beim Beginn der Insulinschockbehandlung ist sie bereits über 5 Jahre
in dieser absolut negativistisch-katatonen Verfassung, ununter-
brochen halluzinierend. Im Laufe von 5 Monaten macht sie, durch einige
körperliche Erkrankungen unterbrochen (Angina, Pneumonie) 63 Schocks
(durchschnittlich 80—90 Insulin-Einheiten) durch. Dabei nimmt sie an
Körpergewicht bis auf 90 Pfd. zu. Gegen Ende der Behandlung wird sie freier,
beginnt sich mit der Pflegerin zu unterhalten, ist nicht mehr so ablehnend.
Die Kur muß zunächst wegen mangelnder Kostenhaftung eingestellt werden.
In den folgenden Wochen bessert sich der Zustand aber immer noch weiter.
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 163
Sie spricht schließlich mit dem Abteilungsarzt, auch mit dem Referenten,
wenn auch zunächst nur durch das Telefon. Sie ging nunmehr regelmäßig
zur Stadt, war bei den Bekannten noch weit aufgeschlossener. Begann
nach Diktat zu stenographieren und Maschine zu schreiben und
konnte 6 Wochen nach Abschluß der Kur entlassen werden. Sie
arbeitete bei ihren Bekannten als Schreibhilfe.
Nach 4 Wochen wurde sie jedoch wieder gebracht. Sie war zunehmend wieder
auffällig geworden, aß schließlich nur noch unter der Drohung, wieder in die
Anstalt gebracht zu werden, lief auf die Straße und bat Fremde, ihr zu helfen,
zu ihren Eltern zu kommen. Bei der Wiedereinlieferung war sie in dem alten
Zustand, sprach anfangs noch etwas mit der Pflegerin, um nach wenig Tagen
ganz zu verstummen und wieder negativistisch-kataton in den Ecken umher-
zustehen, die Finger in die Ohren gebohrt oder die Hände vor dem Gesicht.
Sie begann von neuem abzumagern, wog, als sie am 26. 5. mit einer neuen
Insulin-Kur begann, nur noch 68 Pfd. Die Insulin-Kur verlief genau in der
gleichen Weise wie früher. Nach etwa 2 Monaten begann sie wieder zu sprechen
und ist heute (1. X.) nach einer Gewichtszunahme von 40 Pfd. so gut wieder
hergestellt, daß sie regelmäßig nachmittags im Büro flott und fehlerfrei Schreib-
arbeiten verrichtet.
Diese seit fünf Jahren katatonisch erkrankte, fast dauernd künst-
lich ernährte Patientin galt als absolut verloren. Zum Skelett abge-
magert wurde sie gelegentlich von Laien als besonders reif für die
Vernichtung lebensunwerten Lebens bezeichnet. Mehr zur Prüfung
der Leistungsfähigkeit der Insulinmethode, als in der Hoffnung
auf einen Erfolg, wurde die Kranke der Insulinkur unterzogen,
mit dem immerhin beachtlichen Ergebnis, daß sie mehrere Wochen
wieder in der Freiheit leben und sich mit Stenographieren und
Schreibmaschineschreiben beschäftigen konnte. Es war also der
Beweis erbracht, was ja schon gelegentlich mancher Besuche wäh-
rend der Krankheit zu erkennen war, daß die Kranke durchaus
nicht so verblödet war, wie es schien, und daß es nur einer hin-
reichenden vegetativen Ankurbelung bedurfte, um die extrem
körperlich verfallene und psychisch gesperrte Kranke wenigstens
vorübergehend wieder in eine leidliche Verfassung zu bringen. Mit
einer anderen als vegetativ bedingten Störung läßt sich dieser
Erfolg m. E. nicht erklären. Besonders eindrucksvoll ist, daß nach
einem mit schwerem vegetativen Verfall einhergehenden Rückfall
durch eine zweite Insulinkur unter abermaligem enormen vege-
tativ bedingten Körpergewichtsanstieg sich wiederum eine geistige
Wiederherstellung vollzog, über deren Dauer sich natürlıch noch
nichts aussagen läßt. Am 1. XII. (Tag der Korrektur der Arbeit)
ist sie nach wie vor vortreflliche Bürokraft.
Fall 2. Auguste P., 39 Jahre alt, Ehefrau. Früher lebensfroh, gesellig, mehr
pyknische Konstitution, seit ihrer Verheiratung mehr starrsinnig und ein-
sichtslos. Mit 26 Jahren zum ersten Male erkrankt. Galt damals als Melancholie.
Hatte Selbstmordideen, starke Angstzustände, paranoide Einschläge, meinte
11°
164 Gottfried Ewald
ständig, es sei jemand hinter ihr her, schien auch zu halluzinieren. Nach
4 Monat konnte sie jedoch wieder entlassen werden. 2. Erkrankung im März
1935. Ließ plötzlich alles liegen, vernachlässigte den Haushalt, wurde völlig
stuporös, sprach nichts, saß umher, grübelte, äußerte Angst, blieb nachts
nicht im Bett, lief umher. In der Anstalt saß sie steif wie ein Stock im Bett,
blickte ratlos umher, war unsauber mit Urin und Kot, verließ nachts planlos
ohne tieferen Affekt das Bett. Sie ist zu keiner Beschäftigung zu bewegen, sitzt
stumpf und untätig umher, das Strickzeug in der Hand, ohne die geringste
Bewegung. 1936 scheinbar gänzlich leer, ohne die geringste Initiative, muß
sogar an- und ausgezogen werden. Konnex unmöglich, scheint aber ihre
Umgebung zu beobachten. 1937 völlig unveränderte statuenhafte Persönlich-
keit ohne den geringsten Antrieb. Ein Versuch in der Strickstube scheiterte.
In der Schälküche versagte sie, weil sie die Kartoffeln so dick schälte, daß sie
nicht zu gebrauchen waren. Affektiv absolut gleichgültig. Im April 1938
Versuch mit Kardiazol-Krämpfen. Nach dem 4. Krampf wird sie plötzlich
lebendiger, erklärt, sie müsse nach Hause und nach dem Rechten sehen.
Sie fürchte, man habe inzwischen die ganze Wohnung ausgeleert. „Mir ist so
merkwürdig, alles sieht anders aus.“ Am Nachmittag des gleichen Tages
äußerte sie eine Fülle völlig zerfahrener, abstruser Ideen. Nach 15 Kardiazol-
Krämpfen — vorher 3 Jahre in affektleerem Stupor! — ist die Pat. praktisch
geheilt. Sie ist lebhaft, freundlich, beschäftigt sich geordnet auf der Abteilung,
greift zu, erst mehr auf Anregung, später selbständig, steht Rede und Ant-
wort, äußert keine Wahnideen mehr, lehnt das Hören von Stimmen ab.
Affektiv hat man Kontakt. Nur hin und wieder kommt eine Personenverken-
nung vor. Sie wird entlassen. Die Außenfürsorge berichtet, daß sie sich schnell
und gut zu Hause eingelebt habe. Der sehr gutmütige Mann sei überglücklich.
Sie besorgt den Haushalt, kocht selbst. In der Haltung noch leicht paranoid
mißtrauisch mit etwas starrem Blick. Gedanklich gelegentlich leichte Anklänge
an Zerfahrenheit, im großen und ganzen aber durchaus geordnet.
Diese Patientin, deren erster kurzer Schub schon 13 Jahre zu-
rücklag, war bei Beginn der Kardiazol-Krampf-Behandlung (sie hat
kein Insulin bekommen!) bereits seit drei Jahren in einem völlig
iniativelosen Stupor versunken, offenbar gedanklich weitgehend
gesperrt, absolut mutistisch und nicht zur geringsten Arbeit zu
bewegen. Nach dem vierten Kardiazolkrampf wird sie plötzlich
lebendig, äußert ganz vorübergehend eine Menge abstruser schizo-
phrener Ideen. Nach dem 15. Kardiazolkrampf ist sie bereits soweit
geordnet, daß sie entlassen werden kann, ist affektiv kontaktfähig,
ansprechbar und tätig,-und versorgt selbständig ihren Haushalt.
Fall 3. Minna G., 47 Jahre alt, Ehefrau, leptosomer Körperbau. Erkrankte
im praeklimakterischen Alter im Januar 1935 an einer zunächst für klimak-
terisch gehaltenen ängstlich-depressiven Erregung schwersten Grades mit
Selbstmordneigung, aber recht inadaequatem Affekt. Anfangs völlig verwirrt,
bald inkohaerent, bald faselig, bald auch mehr ideenflüchtig. Ihre Eltern
waren Baptisten, sie selbst auch sehr religiös. Oft schrie sie in gellender Angst,
sie werde vom Beelzebub geholt. Es bestand extreme Schlaflosigkeit. Sehr
bald wird sie gleichgültiger, affektlos, fast leer, bekommt etwas Läppisch-
Hypomanisches. Erklärt lächelnd, sie werde nie wieder gesund, weil sie sich
schwer versündigt habe, zeigt inadaequate Stimmung. Zwischendurch Schwie-
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 165
rigkeiten mit der Nahrungsaufnahme, erhebt dann oft ein mörderisches Ge-
schrei. Meint, geschlechtskrank zu sein, den ganzen Saal angesteckt zu haben.
Ihre hypochondrisch-paranoiden Ideen werden immer abstruser. Dabei geht
sie regelmäßig zur Strickstube, strickt mechanisch und ganz fleißig. Erklärt
bei jeder Visite mit leerer Mimik, sie könne ihre Strafe antreten. Sie sei kein
Mensch mehr, sie sei überhaupt ein Tier. Man wolle ihr die Beine absägen.
Draußen stünden die Henkersknechte, die ihr den Kopf absägen und sie zer-
stückeln wollten. Läuft plötzlich laut schreiend durch den Saal, ist dann wieder
stumpf und leer. Spricht davon, daß sie begraben werden will. Es stünde zu
Haus ein altes Spind, da könne sie hineingepackt und lebendig begraben
werden. „Haben Sie doch Erbarmen mit mir und roden Sie mich bei.“ Sitzt
dann wieder und strickt weiter. 1936 wird sie noch oberflächlicher im Affekt.
Die Diagnose wird von klimakterisch-hypochondrischer Depression umgeändert
in Spätschizophrenie. Sie will in einem eisernen Sarg beigesetzt werden. Glaubt,
sie könne nie sterben wie andere Menschen, versteckt sich ,probeweise“‘ in
einer Wäschekiste. Vom einsichtslosen Mann wird sie für 3 Tage nach Hause
geholt und schleunigst wieder zurückgebracht. Sie muß auf die ‚‚Unruhigen-
Abteilung“. Rüttelt an allen Türen, schreit, sie wolle heraus, um begraben
zu werden, ist dabei affektiv leer. Geht öfter an Eßvorräte anderer Kranke
und holt sich die besten Bissen weg. Die abstrusen Wahnideen gehen weiter.
Sie sei kein Mensch, sie lebe nicht mehr, verlangt ein Faß, in das man sie hinein-
stecke. Sie habe keinen Körper, keinen Kopf. Dabei beschäftigt sie sich wieder
ganz fleißig beim Reinigen der Abteilung, ist aber gänzlich unberechenbar.
Bricht die Arbeit plötzlich ab, heult laut los. Sie sei ein reißendes Tier, eine
Teufelsfratze des Teufels Großmutter. Dabei scheint sie immer stumpfer zu
werden, wird immer gieriger auf das Essen, daß sie anderen Kranken weg-
stiehlt. Dann sitzt sie wieder und strickt, lacht albern und läppisch, erzählt
gelegentlich schmutzige Witze, geht psychisch immer mehr zurück.
25. 9.1938 (nach 3!/, Jahren) Beginn einer Insulin-Kardioazol-Kur. Nach
einer kleinen Reihe vom Krämpfen und Schocks ändert sich das Krankheits-
bild grundlegend. Die Patientin korrigiert ihre alten Wahnideen sehr schnell,
erklärt, sie sei nicht mehr unter der Erde, sondern wieder bei den Menschen.
Sie könne gar nicht begreifen, wie sie auf solche Gedanken gekommen sei.
Sie habe jahrelang immer ein Gedicht innerlich vor sich hinsagen müssen.
Dieses Gedicht laute: ‚Heinrich G. (Name ihres Mannes) spielt die Klarinette /
dann geht er schön zu Bette / mit seiner Frau / dann schauen sie sich in die
Augen / und meine Teufelsdinger, / die wollen zu gar nichts taugen.“ Jetzt
sei sie diese Gedanken mit einem Mal los. Sie gerät allmählich in einen kindisch-
hypomanischen Zustand, freut sich, wie sie sagt, „über die Blumen, über die
Menschen und über die eingenäßten Matratzen‘. Die Kur wird mit Insulin
und Kardiazol intensiv fortgeführt. Nach den Schocks oder Krämpfen ist sie
oft sehr erregt, läuft schreiend durch den Saal: ‚Ich bin Minna G., ich bin
Heinrich G., seine Frau aus Hannover. Ich bin wieder auf der Erde. Ich bin
der Sieger. Ich habe allein gesiegt.‘“ Nach 19 Schocks (100—110 Insulin-
Einheiten) und 14 teils selbständigen, teils aufgepfropften Kardiazolkrämpfen
ist die Kranke wieder völlig geordnet, die Erregung hat sich gelegt. Sie ist
im Affekt adaequat und ausgeglichen, vielleicht noch ein wenig distanzlos,
gedanklich geordnet, hat keinerlei Wahnideen mehr. Hilft sehr fleißig und
kann nach 6wöchiger Kur dem Ehemann praktisch geheilt nach Hause gegeben
werden. Sie ist jetzt 4 Monate wieder zu Hause, besorgt den Haushalt. Es geht
ihr gut.
166 Gottfried Ewald
Auch diese Patientin war 34, Jahre schwer psychotisch und
schien in zunehmendem Maße ihrem geistigen Verfall entgegenzu-
gehen, als wir mit einer kombinierten Insulin-Kardiazolkur ein-
setzten. In der erstaunlich kurzen Zeit von 6 Wochen änderte sich
das Bild so vollkommen und fand eine derartige Rückbildung aller
psychotischer Symptome statt, daß die Kranke in praktisch ge-
heiltem Zustande nach Hause entlassen werden konnte.
Man hat begreiflicherweise zunächst versucht, die Insulinwir-
kung der Schockbehandlung als eine spezifische Stoffwechsel-
wirkung aufzufassen und hat wohl geglaubt, aus ihr mit besonderer
Sicherheit auf die extrazerebrale Bedingtheit der Schizophrenie
schließen zu dürfen. Ich glaube, daß dieses nicht richtig ist. Es ist
noch niemandem gelungen, bei der Schizophrenie auch nur einiger-
maßen charakteristische Stoffwechsel- oder innersekretorische Stö-
rungen geschweige denn histologische Veränderungen endokriner
Organe aufzuzeigen, und die Blutzuckerkurven, die man bei der
Insulinbehandlung fand, sind von einer Regelmäßigkeit weit ent-
fernt. Zwarhat Jahn geglaubt, ein gewisses Versagen des sympathico-
adrenalen Systems feststellen zu können insofern, als bei behand-
lungsrefraktären Fällen sich Blutzucker und Milchsäurespiegel nicht
heben wollten, während beide Substanzen bei erfolgreich Behan-
delten alsbald in die Höhe schnellten. Er sieht das Wesentliche der
Insulinschockbehandlung daher in einer Erregung der vegeta-
tiven Zentren, durch die eine Korrektion der fehlerhaften Stoff-
wechselsteuerung erreicht werden kann. Das besagt aber natür-
lich noch lange nicht, daß primär eine Stoffwechselstörung
vorliegen müsse; dieselbe könnte genau so gut eine sekundäre Folge
primärer Störungen (oder Abschwächungen) der vegetativen
Regulationsmechanismen infolge der dort lokalisierten schizo-
phrenen Erkrankung sein. Die Befunde Pfisters über neurovegetative
Störungen bei Schizophrenen weisen durchaus in dieser Richtung!).
Es ist freilich klar, daß der gesamte Stoffwechsel bei dieser
hocheingreifenden Kur mit den gewaltigen Insulindosen zunächst
einmal aufs Äußerste durcheinander gewirbelt werden wird. Man
wird aber mit dem gleichen Recht darauf hinweisen können, daß
1) Keinesfalls kann ich der Ansicht Jahns zustimmen, daß sich die neue
Insulinschockbehandlungsmethode grundsätzlich nicht von der künstlichen
Fiebererzeugung oder von anderen Reizkörperbehandlungen unterscheide.
Dem stehen einfach die Tatsachen entgegen, daß sich durch Fieber- und Reiz-
therapie nach nunmehr allgemein anerkannter Anschauung eine irgendwie
nennenswerte Beeinflussung der Schizophrenie nicht erzielen läßt. Das ist
oft genug mit negativem Erfolg versucht worden, wie der Erfahrene weiß und
wie ein Blick in die Literatur schnell lehrt.
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung 167
auch an das Zwischenhirn mit seinen gesamten Stoflwechselregu-
lationsmechanismen die äußersten Anforderungen gestellt werden,
um alles das, was wir mit unseren Insulineinspritzungen künstlich
in Unordnung gebracht haben, wieder von sich aus in Ordnung
zu bringen; denn dafür sind diese Regulationszentren des Zwischen-
hirns da. Es wird der Organismus zur Abwehr einer schweren Le-
bensbedrohung Tag für Tag immer aufs neue angeregt, seine ge-
samten Regulationsmechanismen des Zwischenhirns intensivst ein-
zuschalten. Und wie jedes Organ, das besonders beansprucht wird,
so wird hier auch das vegetative System, insbesondere die Zwischen-
hirnzentren in einem Ausmaß zur Tätigkeit angestachelt, solange
überhaupt noch etwas anregbar ist, wie es durch keine
bisherige Therapie gelingen konnte. Daß sich eine solche intensive
funktionale Anregung nicht nur auf die zunächst unmittelbar not-
wendigen Stoffwechselzentren beschränken wird, sondern, daß das
ganze vegetative System als solches in Bewegung gebracht wird,
das ist eine Vorstellung, die durchaus in Richtung unserer Er-
fahrungen und unserer biologischen Denkweise paßt. So entsteht
da, wo vorher Schlaffheit und Mattheit war, wieder Leben und
Bewegung, erneute und verstärkte Funktion. In dieser ‚Massage‘
der vegetativen Zentren, wie ich es einmal bildlich ausgedrückt
habe, in diesem Hereintauchen in die Bewußtlosigkeit des Schock-
zustandes und Wiedererwecken zu neuem Leben, in dieser An-
kurbelung des zentralen sympathisch-parasympathischen Systems,
sehe ich den Hauptfaktor der Wirksamkeit der Insulin-
schocktherapie (vgl. hierzu die gewaltigen vegetativen Schwankun-
gen, über die Wespi berichtet). Gerade die oft so erstaunlich wie-
derkehrende gefühlsmäßige und affektive Resonanz, der wieder-
erwachende seelische Kontakt zeigt, daß hier eben die Mecha-
nismen wieder regelrecht arbeiten und schwingen, die für diese
seelischen Entäußerungen am wichtigsten sind, das vegetative
System der Tiefenperson.
Das notwendige Material aber, das der Organismus für diese
neu aufbauende Tätigkeit seiner Funktionen braucht, liefern wir
in der reichlichen Zucker- und vermehrten Nahrungszufuhr, die mit
Heißhunger aufgenommen wird, weil sie für den Organismus lebens-
notwendig ist. Eine solche finale Betrachtungsweise ist bei einer
derartig exquisit biologischen Behandlungsmethode durchaus ange-
bracht. Vielleicht werden wir später die sich abspielenden Vorgänge
auch einmal kausal durchschauen. Vorläufig aber erscheint mir eine
allgemein biologische Überlegung angebrachter, als etwa die Sakel-
schen Spekulationen von allen möglichen zellulären Fehlschaltun-
168 Gottfried Ewald
gen 1). Es ist direkt zweckvoll vom Organismus und liegt in Rich-
tung seiner biologischen Finalität, wenn er sich in solchem Ausmaß
seine Stoffe wieder aufbaut. Die auf diese Weise selbst gewählte
Mast, die mehr ist als eine künstliche Nahrungszufuhr, und die
nicht selten Körpergewichtssteigerungen von 10—20 Pfund und
mehr innerhalb kurzer Zeit erzwingt, (und zwar nicht nur durch
Wasserspeicherung) ist der zweite Faktor, der mir für das Wesen
der Insulinschockbehandlung der Schizophrenie von ausschlag-
gebender Bedeutung zu sein scheint. Gute Ernährung hat man
schon immer für diese Kranken gefordert; nur zu oft ließ sich eine
von außen kommende Hebung des Körpergewichts nicht erreichen.
Hier aber verlangt der Organismus selber nach neuen Kraftquellen,
die wir ihm zur Verfügung stellen. Auch die spontanen Besserungen
pflegten mit einer Körpergewichtssteigerung und einer Hebung
des vegetativen Gesamtzustandes einherzugehen. Hier wird bei-
des durch unsere Therapie dem Organismus abgerungen.
Nur eine Zwischenhirnbedingtheit der schizophrenen Störung
scheint mir auch eine zureichende (biologische) Deutung der noch
als relativ erfolgreich anerkannten Beschäftigungstherapie zu ermög-
lichen. Die immer erneute und nachdrückliche Fremdanregung
verhindert das Versinken in die vegetative funktionale Erstarrung.
Gewiß werden auch andere Komponenten psychologischer Art mit
hereinwirken, aber diese vegetativ anregende über eine Affekt-
anstachelung gehende Komponente ist, scheint mir, nicht zu ver-
kennen. Auch die zuweilen wirksame Dauerschlaftherapie mit nach-
folgendem psychotherapeutischen Training dürfte wohl am besten
durch eine Zwischenhirntheorie zu erklären sein.
Etwas anders als bei der Insulintherapie liegen die Dinge bei der
Kardiazolkrampfbehandlung. Sie ist nach unseren Erfahrungen für
sich allein selten so erfolgreich wie die Insulintherapie, offenbar
weil ihr der vitalitätssteigernde Faktor der vom Organismus selbst
geforderten Körpermast fehlt. Wir verwenden sie trotzdem gern
in Kombination mit der Insulinbehandlung, weil sie am besten
die Lösung von Stuporzuständen erzwingt. Sie ıst zweifellos die
massivere Behandlung, weniger biologisch-adaequat, und irritiert
offenbar auch mehr das ganze Gehirn, wie das nicht so seltene Auf-
treten passagerer amnestischer Zustände im Gegensatz zur Insulin-
2) Eher könnte ich mir die interessanten Ausführungen Georgis über das
chemisch-physikalische Zellgeschehen (Irritation der Zellmembran und damit
einhergehender erleichterter Stoffaustausch) zu eigen machen. Sie würden der
von mir gegebenen Deutung nicht widersprechen, sondern sie eher ergänzen.
Nur glaube ich, daß man sie nicht generell auf ‚die Ganglienzelle‘‘, sondern
speziell auf die vegetative Zelle beziehen sollte.
Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung. 169
behandlunglehrt, wo solches selten vorkommt. Ichhabe daraufschon
kürzlich hingewiesen. Die Insulinbehandlunggreift offenbar zunächst
weit elektiver am Zwischenhirn an im Gegensatz zu der ursprüng-
lich von Sakel gegebenen Darstellung eines Abbaues der Hirnfunk-
tionen von oben her. Das Auftreten des Insulinschocks mit der
maßgeblichen Beteiligung der Pupillensymptome ähnelt auch hin-
sichtlich der Symptomatik viel mehr den Erscheinungen der akuten
Encephalitits mit ihrem schlafartigen Typus der Bewußtseins-
störung und dem starken Hervortreten extrapyramidaler Mecha-
nismen und vegetativer Symptome (Schweißausbrüche, vaso-
motorische Erscheinungen, Speichelfluß, Einnässen). Aber eines
lehrt uns doch die Wirksamkeit des Kardiazolkrampfes, mit dem
eine Besserung, wenn auch seltener, wohl gelingt (unser Fall 2):
Es kann nicht so sehr eine besondere Stoffwechselkomponente
sein, die die Heilung erzwingt, sondern eben offenbar die vegeta-
tive Anregung des Zwischenhirns. Es kann daher aus der Wirk-
samkeit bezw. der Herkunft des Insulins nicht geschlossen werden,
die Schizophrenie müsse nun eine Stoffwechsel- oder eine endokrine
Störung sein. Das wäre ein Kurzschluß. Die Frage, ob somatogen
bedingt oder encephalogen, ob extrazerebral oder zerebral, wird
auf Grund gerade dieser Kardiazolerfahrungen im Zusammenhalt
mit allem, was hier gesagt wurde, im Sinne der zerebralen,
enzephalogenen Bedingtheit zu entscheiden sein.
Damit bin ich am Ende meiner gedrängten Ausführungen über
die Lokalisation schizophrener Störungen und den Wirkungsmecha-
nismus in der Insulinbehandlung. Natürlich binich mirdarüber klar,
daß sehr viele Fragen offen bleiben. Ich weiß auch, daß ich von
manchen nicht verstanden werde, und daß so mancher mir nur sehr
in Grenzen zustimmen wird. Ich habe etwas zur Theorie der Schizo-
phrenie sagen wollen. Was ich zeigen wollte, war nur dies, daß das
vegetative Zwischenhirn von eminentester Bedeutung sein muß für
die Entstehung der Schizophrenie. Es ist wahrscheinlich weit we-
sentlicher als der Hirnmantel. Keinesfalls möchte ich allerdings dahin
verstanden werden, daß die Schizophrenie deshalb nur eine ‚‚vegeta-
tive Neurose‘‘ sei; das führte ja wieder auf die Irrwege der Psycho-
analytiker. Sieist gewiß ein degeneratives Hirnleiden, dasaber offen-
bar in dem erblich bedingten vorzeitigen funktionalen Versagen ge-
wisser vegetativer Zwischenhirnsysteme eine Grundlage hat, deren
Störung eine weitgehende, wenn auch nicht absolute Reversibilität in
sich birgt, ohne alsbald schwere Zerstörungen zu setzen. Deshalb mag
man sie auch histologisch noch nicht fassen können. Vielleicht werden
wir später noch einmal wenigstens die irreversiblen Veränderungen
170 Gottfried Ewald, Zur Theorie der Schizophrenie usw.
finden. Gewisse Hirnrindenveränderungen, vielleicht mehr sekun-
därer Art, sind ja schon nachgewiesen (Fünfgeld u. a. m.).
Die Psychologen sollen sich nicht beschweren, daß ich ihre Er-
gebnisse nicht genug berücksichtigt hätte. Wie ich früher schon
einmal sagte, werden sie uns immer durch vorbildliche gründliche
Analysen wegweisend bleiben, wie eben auch hier. Wenn wir aber
heute ihre Ergebnisse, ihre ‚Grundstörungen‘“ und „Urphänomene“
in Beziehung setzen zu Ergebnissen der neuropathologischen Hirn-
stammforschung, so ist das eine Folge der eifrigen Arbeit somatisch
interessierter Autoren, unter denen Karl Kleist an erster Stelle steht,
der in unermüdlicher Forscherarbeit sich um die Lokalisationsmög-
lichkeit psychischer Phänomene bemüht hat und damit ein Pionier
wurde für eine neurologische Fundierung auch der Schizophrenie.
Schrifttumverzeichnis
Berze-Gruhle, Die Psychologie der Schizophrenie. Berlin, Springer 1929. —
Bleuler, Störung der Assoziationsspannung, ein Elementarsymptom der
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Die Insulinschockbehandlung der Schizophrenie. Berlin, Springer 1938. —
Bürger-Prinz und Kaila, Über die Struktur des amnestischen Symptomen-
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Allg. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 89. 1928. — Wespi, Vorläufige Mitteilung über
Beobachtungsresultate von vegetativen Funktionen bei der Insulinschock-
behandlung Schizophrener. Schweiz. Arch. f. Neur. Bd. 39. Erg.-Heft. 1937.
Über familiäre N arkolepsie und ihre Beziehungen
zum Formenkreis anfallsartiger Erkrankungen
Von
Peter Duus, Assistenzarzt
(Aus der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt a. M.
Direktor: Prof. Dr. Kleist)
Seit den Veröffentlichungen von Westphal, F. Fischer, Gelineau
und Redlich ist über die Narkolepsie eine reichhaltige Literatur
entstanden, so daß das Krankheitsbild heute allgemein bekannt
ist. Über die Ätiologie bzw. über die Pathogenese dieses Leidens
ist jedoch trotz größter Bemühungen heute noch recht wenig Siche-
res in Erfahrung gebracht. Man weiß, daß eine Narkolepsie nach
einer Encephalitis, nach einem Trauma, bei einem Hirntumor,
bei Lues usw. entstehen kann und hat diese Gruppe mit bekannter
Ursache auch als symptomatische bezeichnet. Dieser Gruppe
steht jedoch eine andere große gegenüber, bei welcher man keine
organische Ursache kennt, die man daher auch als genuine oder
idiopathische bezeichnet hat. Bei dieser zweiten Gruppe ist man
dazu geneigt, einen anlagemäßigen Faktor anzunehmen, insbe-
sondere da man mehrere Fälle von familiärer Narkolepsie kennt.
Zu diesem anlagemäßigen Faktor müßte dann irgendeine aus-
lösende Ursache hinzukommen, um die Narkolepsie in Erscheinung
treten zu lassen. Viele Untersuchungen sind angestellt worden, um
irgendwelche Störungen zu finden, die man als auslösende Ursache
ansprechen könnte, und hier war es vor allem das endokrine
System, woran gedacht wurde. Am meisten beschäftigte man
sich mit der Hypophyse, ferner mit der Schilddrüse und den Keim-
drüsen. Die genauen Untersuchungen ergaben auch zahlreiche
vegetative Störungen; diese waren jedoch keineswegs gleichmäßig,
so daß Thiele-Bernhardt in ihrer umfassenden Arbeit über die
Narkolepsie zu der Auffassung gelangten, ‚daß der narkoleptische
Erscheinungskomplex auf eine konstante Funktionsstörung irgend-
einer endokrinen Drüse pathogenetisch mit großer Wahrschein-
lichkeit nicht zu beziehen sei‘. Die Frage, ob den einer Narko-
lepsie nahezu regelmäßig begleitenden vegetativ nervösen Störun-
gen, eine primäre oder sekundäre Bedeutung zukomme, beant-
172 Peter Duus
worteten Thiele-Bernhardt auf Grund ihrer eingehenden Unter-
suchungen dahingehend, daß die Tatsachen vielmehr dafür spre-
chen würden, daß diese auf zentrale Regulationsstörungen zurück-
zuführen seien, so daß ihnen nur die Bedeutung eines Symptoms,
jedoch nicht die eines pathogenetischen Faktors zukomme. Nach
allem, was man wisse, komme eine periphere Erkrankung einer
innersekretorischen Drüse ursächlich nicht in Frage. Verschiedene
Autoren legten das Hauptgewicht auf den anlagemäßigen Faktor
und Kahler ging in dieser Hinsicht so weit, daß er die Auffassung
vertrat, daß es zweifelhaft sei, ob neben der angeborenen Form
der Narkolepsie noch eine erworbene symptomatische Form narko-
leptischer Reaktionsfähigkeit vorkomme. Er meinte, daß bei
allen Erkrankungen der Literatur das endogene, konstitutionelle
Moment eine hervorragende Rolle spiele. Diese Tatsache würde
es möglich erscheinen lassen, daß man es sowohl bei der sympto-
matischen wie bei der endogenen Narkolepsie mit der gleichen
abnormen Reaktionsfähigkeit des Individuums zu tun habe, und
daß Erkrankungen, bei welchen Narkolepsie als Symptom be-
obachtet werde, vielleicht nicht mehr als die auslösende Ursache
darstellten. J. Bauer nahm auf Grund des familiären Vorkommens
der Narkolepsie eine konstitutionelle Minderwertigkeit eines be-
stimmten umschriebenen Hirngebietes an (Narkolepsiesubstrat).
Auf Grund der Untersuchungen v. Economo (Schlafsteuerungs-
zentrum) und verschiedene Beobachtungen (Herderkrankungen,
pharmakologische Versuche, experimentelle Hirnreizungen usw.)kam
man allgemein zu der Überzeugung, daß das in Frage kommende
Hirngebiet wahrscheinlich im Zwischenhirn zu lokalisieren sei.
Man ist sich jedoch heute noch nicht darüber einig, ob man für
die Entstehung der Narkolepsie, das Hauptgewicht auf die an-
lagemäßige zentrale Minderwertigkeit, oder auf die Erkrankung
einer endokrinen Drüse (Hypophyse) legen soll. Gerade in letzter
Zeit vertritt J. Schumacher in seiner Arbeit über die familiäre
Narkolepsie den Standpunkt, daß das Primäre eine Störung der
Hypophyse und das Sekundäre eine Schädigung des Zwischen-
hirns sei.
Viel wurde im Laufe der Jahre auch über die Beziehungen
zwischen Epilepsie und Narkolepsie diskutiert. Die Auf-
fassung, daß die Narkolepsie eine abgeschwächte Epilepsie sei,
wurde fast ausnahmslos bald fallen gelassen und die Narkolepsie
als selbständige Krankheit herausgestellt. Man fand nämlich in
den Familien von Narkoleptikern auffallend selten eine ausge-
prägte Epilepsie und sah auch die Narkolepsie jahraus, jahrein
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 173
bestehen, ohne daß sie sich in eine Epilepsie abwandelte. Wohl
wurden verschiedene Fälle mit Übergang von Narkolepsie zur
Epilepsie bekannt, diese waren jedoch sehr selten und nicht ganz
eindeutig. Dagegen hat die Narkolepsie zweifelsohne, wie auch
die anderen anfallsartig auftretenden Erkrankungen (Pyknolepsie,
Dipsomanie, Epis. Verstimmungen usw.) gewisse Bestandteile mit
der Epilepsie gemeinsam, weshalb Kleist diese Gruppe unter dem
Begriff des Formenkreises anfallsartiger (epileptoider) Erkrankun-
gen als konstitutionelle Krankheiten zusammengefaßt hat. Nach
Kleist setzen sich diese Erkrankungen aus verschiedenen zum Teil
identischen Konstitutionselementen zusammen, wie z. B. aus der
Neigung zu Kopfschmerzen, zu Verstimmungen, zu Umdämme-
rungen, zu Krampfanfällen, sowie aus Degenerationszeichen, wie
Linkshändigkeit, Stottern, Bettnässen usw. Diese verschiedenen
Konstitutionselemente verbinden sich dann in verschiedener Weise,
so daß die verschiedenen Konstitutionstypen, wie Dipsomanie,
Pyknolepsie, Epilepsie usw. entstehen, die als selbständige Krank-
heiten anzusehen sind, um so mehr als sich die verschiedenen patho-
logischen Konstitutionstypen und Konstitutionselemente getrennt
vererben können.
Bei den wenigen Fällen von familiärer Narkolepsie der Literatur
finden wir nun in der Verwandtschaft allerdings auffallend selten
solche epileptoiden Erscheinungen verzeichnet, aber wahrschein-
lich wurde darauf zumeist nicht genügend geachtet.
In unserem Fall von familiärer Narkolepsie begegnen
wir in der Verwandtschaft zahlreichen dieser zum Formenkreis
anfallsartiger Erkrankungen gehörenden pathologischen Konsti-
tutionselementen und Konstitutionstypen. Außerdem findet sich
noch in der Familie eine auffällige Häufung von vegetativ nervösen
Anomalien, auf welche schon Thiele- Bernhardt hingewiesen und
gemeint haben, daß sie wahrscheinlich irgendwie genotypisch mit
der zur narkoleptischen Erkrankung disponierenden Konstitution
zusammenhängen. In Hinblick auf diese interessanten hereditären
Verhältnisse dürfte unser Fall von besonderem Interesse sein und
vielleicht dazu beitragen können, die Beziehungen zwischen Narko-
lepsie und den übrigen zu diesem Formenkreis gehörenden Krank-
heiten klarzulegen.
Von den Familienmitgliedern konnten wir die beiden Geschwister
mit Narkolepsie, sowie deren Vater, der vor Jahren wegen eines
episodischen Dämmerzustandes in unserer Klinik gelegen hatte,
untersuchen. Zunächst die ausführliche Krankengeschichte der
Tochter:
174 Peter Duus
B. Kel., geb. 28. 7.08. Frau K. suchte am 23. 8. 38 unsere Poliklinik auf
und gab zur Familienanamnese an: Genau an denselben Erscheinungen wie
sie selber, leide auch ihr Bruder. Seit etwa 3—4 Jahren werde er tagsüber
öfters plötzlich von einem oft nicht zu überwindendem Müdigkeitsgefühl be-
fallen und müsse kurze Zeit schlafen. Während des Mittagessens, während er
mit dem Fuhrwerk fahre, ja wo er gehe und stehe, werde er vom Schlaf über-
rascht. Es sei schon öfters vorgekommen, daß er Leute auf der Straße im
Schlafzustand angerannt habe, ernstliches sei aber zum Glück noch nicht
passiert. Wenn er nichts zu tun habe, komme der Schlaf besonders häufig. —
Außerdem werde er, genau wie auch sie, wenn er lache, schwach in den Knien
und knicke ein. — Nachts schlafe er unruhig und phantasiere sehr viel. —
Ein zweiter Bruder sei mit eingedrücktem Kopf und mit einer Halbseiten-
lähmung auf die Welt gekommen und am selben Tag noch gestorben. Ein
dritter Bruder sei 9 Monate alt an Lungenentzündung gestorben. Der
Vater und die Mutter seien Vetter und Kusine. Der Vater sei 1928
wegen eines Nervenleidens in unserer Klinik gewesen. Seit seiner Entlassung
werde er periodenweise etwa alle 6 Wochen für 8—14 Tage unruhig,
trübsinnig und ängstlich, könne dann nicht schlafen und esse nichts. Seit
einigen Jahren komme es auch öfters vor, daß er tagsüber mehrmals
kurz einschlafe, vor allem während des Mittagessens. Er leide sehr an
Asthma. Die Mutter sei 32 Jahre alt an einem Gallenleiden gestorben. 2 Stief-
geschwister seien gesund, die eine Stiefschwester leide jedoch an Bettnässen.
Sie selbst habe sich normal entwickelt. Nur Masern gehabt. In der Schule
gut gelernt. Bis zum 14. Lebensjahr Bettnässen. Heirat im 23. Lebensjahr.
2 gesunde Kinder, eins davon heute. noch, im 7. Lebensjahr, Bettnässer.
Periode schwach und etwas unregelmäßig, zumeist eine Woche zu früh. Sie sei
schon immer leicht aufgeregt und zittrig gewesen, schwitze leicht und
bekomme leicht Herzklopfen. Die Hände und Füße seien zumeist feucht.
Vor 8 Jahren sei der Hals nach einer Schwangerschaft ziemlich rasch dicker
geworden und man habe eine Schilddrüsenvergrößerung festgestellt.
Beginn des jetzigen Leidens vor etwa 1!/, Jahren. Werde seit dieser Zeit
plötzlich mehrmals täglich von einem kaum zu überwindenden Müdigkeits-
gefühl befallen und müsse kurz schlafen. Obwohl sie die Nacht gut geschlafen
habe, werde sie schon vormittags um 9 Uhr wieder müde und müsse schlafen.
Alles mögliche habe sie schon ausprobiert um gegen den Schlaf anzukämpfen,
z. B. nasse Tücher auf die Augen gelegt, den Kopf unter den Wasserhahn
gehalten usw., alles aber umsonst, der Schlaf habe sie fast immer übermannt.
Es sei wie ein Zwang, der über sie komme; die Augen würden zufallen, sie
müsse alles stehen und liegen lassen und schlafen ob sie wolle oder nicht. Zu-
meist sei der Schlaf natürlich, öfters aber auch nicht normal. Sie schlafe dann
voller Hast und Unruhe und denke dabei: Du hast ja noch so viel zu schaffen,
wie wirst Du nur fertig jetzt usw. Nach dem Erwachen fühle sie sich oft frisch,
oft aber auch elend und habe öfters einen bleiernschweren Kopf. Der Schlaf
dauere verschieden lang, meistens nur ganz kurz, manchmal aber auch eine
halbe Stunde und noch länger. Das Erwachen erfolge in der Regel von selbst,
oft schrecke sie auch durch irgend ein Geräusch auf. Am häufigsten bekomme
sie die Schlafanfälle, wenn sie sich aufgeregt habe, häufig auch wenn sie im
Haus arbeite, vor allem beim Nähen; am seltensten im Freien. Im Laufe der
Zeit seien die Schlafanfälle überhaupt häufiger geworden. Sie schlafe jetzt oft
beim Mittagessen und oft auch beim Baden ein. Letzthin sei sie in der Bade-
wanne eingeschlafen und erst nach 2 Stunden wieder aufgewacht. Lesen könne sie
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 175
überhaupt nicht mehr, denn sobald sie eine Zeitung in die Hand nehme, über-
falle sie der Schlaf. Auffällig sei, daß sie in der Zeit von 18—21 Uhr abends
nicht zu schlafen brauche, dann müsse sie aber sofort ins Bett und nichts
könne sie davon abhalten. Als sie vor kurzem an einem abendlichen Tanz-
vergnügen teilgenommen habe, sei sie trotz Tanz, Musik und Vergnügen ein-
geschlafen. „Das schönste Vergnügen kann mich abends nicht wach halten.“
Sie habe am Tisch gesessen und geschlafen und sei von den anderen nicht
gestört worden, da alle im Dorf ihre Schlafsucht kennen würden.
Seit etwa 1!/, Jahren werde es ihr beim Lachen und bei Ärger so „komisch“,
Das Gesicht verziehe sich und sie knicke urplötzlich in den Knien ein. In diesem
Augenblick habe sie keine Gewalt über ihre Glieder. Hinstürzen komme nur
selten vor. Vor kurzem sei sie, als sie auf einer Treppe habe lachen müssen,
eingeknickt und die Treppe hinuntergestürzt.
Öfters bekomme sie plötzlich auch einen Schwindelanfall ohne Bewußt-
losigkeit mit Schwärze vor den Augen. In einem solchen Schwindelanfall sei
sie vor kurzem mal hingefallen und habe wie elektrisiert mit schlaffen Gliedern
bei vollem Bewußtsein dagelegen ohne sich rühren zu können. Ein Krampf-
anfall sei nie aufgetreten.
Der Nachtschlaf sei manchmal etwas unruhig, im allgemeinen aber gut.
Sie träume nur sehr viel und spreche im Schlaf. Im Traum habe sie häufig
das Gefühl, als wolle sie jemand umbringen und sie schreie dann derart, daß
man es mit der Angst bekommen könnte, wie ihr Mann schon gesagt habe.
Seit etwa einem Jahr leide sie auch an Kopfschmerzen in der Stirn und
in den Schläfen. Es sei so ein dumpfer Druck.
Seit Beginn des Leidens habe sie im ganzen 40 Pfund an Gewicht zugenom-
men. Die Geschlechtslust sei im Laufe dieser Zeit nahezu erloschen.
Befund: Mittelgroße adipöse Frau von massivem Körperbau. Diffuse,
weiche Struma. Lebhaftes Hautnachröten. Mäßig feuchte Hände und Füße.
Leichtes Händezittern. Herz: o. B. Leichte respiratorische Arrythmie. Blut-
druck: 110/75. Puls kräftig, 60 Schläge pro Minute. Lungen und Abdomen o. B.
Laboratoriumsergebnisse: (Blutbild vor einem Jahr in der medizin.
Poliklinik: Leuko.: 4800; Neutroph.: 48%; Lympho.: 42°,; Eosinoph.: 6%;
Monoz.: 3%; Basoph.: 1%; B.S.G.: 9—20.) Blutbild jetzt: Hb.: 82%; Ery-
throz.: 4,6; Leukoz.: 6800; Neutroph.: 81%; Lymphoz. 12°,; Eosinoph.: 2%;
Monoz. 5%; B.S.G.: 7—21 mm; Blutzucker: 95 mg%; Harn: o. B.
Röntgenaufnahme des Schädels: Sella o. B.
Hyperventilationsversuch: o. B.
Neurologisch: Leichte Schwäche des rechten Mundfacialis, sonst alles
o. B.
Psychisch: Unauffällig. Auffassung gut. Denkablauf normal schnell.
Keinerlei epileptische Wesensveränderung.
Es handelt sich also um eine 32jährige Frau, die etwa mit 30 Jah-
ren an einer typischen Narkolepsie mit Schlafanfällen, sowie affek-
tivem Tonusverlust erkrankt ist. Die Schlafanfälle beschreibt sie
in charakteristischer Weise, wie sie aus der Literatur her bekannt
sind. Daneben bestehen aber auch atypische Schlafanfälle in wel-
chen sie, wie sie angibt, voller Hast und Unruhe schläft und dabei
auch denkt. Diese Schlafanfälle erinnern an die sogenannten
partiellen bzw. dissoziierten Schlafzustände, wenn sie auch nicht
sehr ausgesprochen sind. Die Anfälle von affektivem Tonusverlust
176 Peter Duus
sind ungefähr zur gleichen Zeit wie die Schlafanfälle in Erschei-
nung getreten und werden außer durch Lachen auch durch Ärger
ausgelöst. Dann beschreibt die Kranke noch Schwindelanfälle mit
Schwärze vor den Augen, in denen es ihr kurz schwach im Körper
wird und sie umzufallen droht. Einmal ist sie auch in einem solchen
Schwindelanfall hingestürzt und hat wie elektrisiert völlig schlaff
dagelegen, ohne sich rühren zu können. Dieser letzte ‚Schwindel-
anfall“ läßt an die in der Literatur beschriebenen Anfälle von
nichtaffektivem Tonusverlust, die zu den sog. „Wachanfällen“
hinüberleiten, denken und möglicherweise die Schwindelanfälle als
eine abortive Form solcher Anfälle deuten. — Außerdem klagt
die Kranke noch über Kopfschmerzen, die häufig auftreten, aber
nicht von migräneartigem Charakter sind.
Neben diesem Symptomenbild finden sich bei unserer Kranken
auch, wie in der Literatur so oft angegeben, deutliche vegetativ
nervöse Störungen. Schon von Jugend an war die Kranke leicht
aufgeregt und zittrig und neigte zu Schweißausbrüchen und Herz-
klopfen. Die Periode ist seit Jahren schwach und etwas unregel-
mäßig. Nach einer Schwangerschaft vor acht Jahren bekam sie
plötzlich eine Schilddrüsenvergrößerung und schließlich trat
mit Beginn der narkoleptischen Erkrankung eine recht erhebliche
Fettsucht in Erscheinung. Zugleich nahm die Libido immer
mehr ab und erlosch schließlich.
Von den internistischen Befunden ist vor allem das Blutbild
auffällig. Vor einem Jahr fand sich ein Blutbild, wie man es häufig
bei Zuständen, die mit erhöhtem Vagotonus einhergehen, sieht;
es bestand: Lymphozytose, Neutropenie und mäßige Eosinophilie.
Bei der jetzigen Untersuchung fand sich gerade das Gegenteil
und zwar eine Lymphopenie und Neutrophilie. Auch diese letztere
Blutbildveränderung muß auf eine vegetativ nervöse Dysfunktion
zurückgeführt werden, da sich internistisch sonst keine Erklärung
hierfür fand. Weitere Zeichen vegetativ nervöser Störung sind
auch der recht niedrige Blutdruck und die Pulsverlangsamung, die
bei der bestehenden Schilddrüsenvergrößerung besonders auffällig
ist, ferner auch das lebhafte Hautnachröten, das Händezittern,
die feuchten Hände und Füße und die leichte respiratorische
Arrhythmie. — Bemerkenswert ist noch, daß die Kranke bis zu
ihrem 14. Lebensjahr an Bettnässen litt. —
Dasselbe charakterische narkoleptische Symptomenbild, ge-
paart mit vegetativ nervösen Störungen, fand sich ebenfalls beim
Bruder:
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 177
G. Ki., geb. 11. 12. 07. Untersuchung am 12. 9. 38.
Als Kind normal sprechen, verspätet laufen gelernt. Mehrmals Lungen-
entzündungen. War etwas schwächlich. In der Schule einmal sitzen ge-
blieben, war der schlechteste Schüler. Mit 14 Jahren nochmals Lungen-
entzündung, danach nicht mehr krank. Keine grippöse Erkrankung durch-
gemacht. Kein Unfall. Ist Beidhänder. Nach der Schulzeit bis heute in der
Landwirtschaft und der Mühle der Eltern tätig. Früher jähzornig und streit-
süchtig. Wegen Streitsucht im Alter von 23 Jahren zu RM 50.— Geldstrafe
verurteilt. Seitdem sei er die Ruhe selber.
Beginn des jetzigen Leidens vor 3—4 Jahren. Müsse tagsüber öfters plötzlich
für kurze Zeit schlafen. Schon morgens um 9 Uhr werde er zumeist von einer
kaum zu überwindenden Müdigkeit befallen und müsse kurz schlafen. Dies
wiederhole sich dann um die Mittagszeit aber auch sonst öfters. Vor allem
wenn es langweilig sei, komme der Schlaf zwingend über ihn. Oft kämpfe er
dagegen an und mitunter auch mit Erfolg, häufig merke er aber gar nichts
und denke dann, wenn er wieder wach werde: Kerl, jetzt hast Du ja schon
wieder geschlafen. Er sei schon beim Mittagessen, beim Fahren auf dem Fuhr-
werk oder im Auto, in der Wirtschaft, in Gesellschaft, ja selbst im Gehen
eingeschlafen. Wenn er es nicht eilig habe, lege er sich gleich, wenn die Müdig-
keit komme, hin und schlafe. Wenn er gegen den Schlaf ankämpfe fühle er
sich nicht wohl und das Müdigkeitsgefühl komme dann bald um so stärker.
Im allgemeinen schlafe er nur 5 Minuten und werde dann wieder von selbst
wach. Außerst peinlich sei es ihm, wenn er in Gesellschaft einschlafe und er
meide daher möglichst solche Gelegenheiten.
Seit diesem Frühjahr bemerke er, daß ihm schwach in den Knien werde,
wenn er lachen müsse. Er knicke dann plötzlich mehrmals ein und habe keine
rechte Gewalt über seine Glieder. Hingestürzt sei er noch nicht. Meistens stehe
er mit etwas verzerrtem Gesicht da und wanke in den Knien, als ob er hinfallen
solle. Sein kleiner Bruder kenne diese Erscheinung genau und wolle immer mit
ihm boxen. Er bringe ihn zum lachen und könne dann mit ihm tun was er
wolle, er sei nicht in der Lage sich zu verteidigen.
Bei diesem 31jährigen Kranken traten die ersten Erscheinungen
der Narkolepsie etwa im 28. Lebensjahr auf. Zuerst litt er nur
an Schlafanfällen und erst etwa drei Jahre später gesellte sich der
affektive Tonusverlust hinzu. Hier, wie bei der Schwester, begeg-
net uns die Angabe, daß sie nachts im Schlaf viel träumen und
laut sprechen oder schreien, welches beides auf eine geringe Schlaf-
tiefe schließen läßt. Solche Schlafstörungen sind bei der Narko-
lepsie so häufig beschrieben, daß man die Störung des Nacht-
schlafs mit als Symptom der Narkolepsie ansieht.
Vegetativ nervöse Störungen bestehen bei diesem Kranken nicht
in so auffälliger Weise, wie bei der Schwester, sind aber auch hier
nachzuweisen. Auffällig ist vor allem die Bradycardie von 40 bis
50 Schlägen pro Minute bei intaktem Herzen, die daher nur auf
eine konstitutionell vegetativ nervöse Störung zurückgeführt wer-
den kann, da eine solche ebenfalls beim Vater und bei der Schwester
besteht. — Ferner war eine leichte respiratorische Arrhythmie und
mäßig lebhaftes Hautnachröten nachzuweisen.
12 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
178 Peter Duus
Bemerkenswert ıst noch, daß der Kranke früher jähzornig war,
Beidhänder ist und daß bei ihm ein mäßiger Schwachsinn vorliegt.
Wir geben jetzt die Krankengeschichte des Vaters dieser beiden
Kranken, der sowohl an episodischen Verstimmungen, Dämmer-
zuständen, Neigung zu Schlafanfällen und Asthma leidet, ausführ-
lich wieder:
A. Ki., geb. 3.1. 77. Auszug aus der Krankengeschichte der Nervenklinik
Frankfurt a. M. Aufnahme: 20.1.28, Entlassung 14. 3.28. — Kommt in
Begleitung der Ehefrau mit Rettungswache aus der Wohnung.
Die Ehefrau gibt an: Seit 6 Jahren verheiratet. Aus 1. Ehe des Pat.
2 Kinder, aus der 2. Ehe ebenfalls 2 Kinder. War früher unauffällig, im Wesen
ernst und sehr gewissenhaft. Seit etwa 2 Jahren periodenweise alle 1—4 Wo-
chen für 8 Tage unruhig, ängstlich und verstimmt. Mache sich dann Vorwürfe
und äußere Versündigungsideen. Vor 2 Jahren Selbstmordversuch durch Er-
hängen. — Seit 3 Wochen jetzt ängstlich, unruhig und verstimmt. Äußere
Selbstmordabsichten. Esse und schlafe kaum mehr. In letzter Zeit öfters über
Schwindelgefühl geklagt. Nie Ohnmachtsanfälle. Seit Jahren leide er an
schwerem Asthma. Während der ‚„Zustände‘‘ weniger Asthmabeschwerden.
Bei der Aufnahme nicht orientiert und unruhig. Will nicht im Bett bleiben.
Der Hauptmann habe gesagt er solle mitkommen. Bewußtsein getrübt. Auf-
fassung erschwert. Schwerbesinnlichkeit.
(Wo hier?) ... Bahnhof. (Wer ich?) Herr Dr. (Was tue ich hier?) ...
Sie tun das deutsche Militär untersuchen ... wie die Kranken hier... (Da-
tum? )Wir sind also gekomme . .. hat gar nicht rein gesollt. (Wohin denn?)...
in ein anderes Hospital... (Hier Spital?) das ist der Bahnhof. (Monat?)...
(besinnt sich) ... Januar ... (Datum?) weiß wirklich nicht.
(Krank?) .... freilich. (Wo?) kann nicht gut denken. (Angst?) auch Angst,
hab immer Angst. (Wovor?) das Gemüt halt (Traurig?) so niedergeschlagen
(Schlechtes getan?) was soll ich getan haben ... (Versündigt?) ja, hab mich
auch versündigt ... (Nichts vorzuwerfen?) ... (versinkt, keine Antwort).
Die Merkfähigkeit ist herabgesetzt. Die Wortfindung erschwert. — Sagt
spontan: ‚mit dem deutschen Militär soll ich doch mitgehen, ich bin der erste,
sagt der Hauptmann, wo mitkommt. Diese Nacht ist so'n dicker Herr gekom-
men.“ l
Befund: Mittelgroßer Mann im mäßigen Ernährungszustand. Gerötetes
Gesicht. Faßförmiger Thorax. Schlecht verschiebliche Lungengrenzen (Emphy-
sem). Herzgrenze etwas nach rechts verbreitert. Töne rein, leise. Blutdruck:
105/85. Puls kräftig, regelmäßig, 80 Schläge pro Minute. Innere Organe o. B.
Temperatur zumeist zwischen 36° und 36,5.
Laboratoriumsergebnisse: Harn o.B. Blutbild: Hb. 90%; Erythro.:
5,5; Leuko.: 7600; Segmk.: 73%; Lympho.: 24% ; Eosino.: 1%; Monoz.: 2%;
Wa. R.: negativ. Calcium: 10,8 mg%. Harnsäure: 2,84 mg%. Wasserversuch
nach Volhard: o. B. Bei Kochsalzbelastung verzögerte Ausscheidung. Liquor:
4/3 Zellen, Nonne und Pandy: ø. Wa. R. negativ. Calcium: 5,8 mg%.
Neurologisch: o. B.
Verlauf: 24.1.: Delirant. Verworren. Will mit seinem Bett umziehen,
rollt das Bettzeug zusammen, schiebt das Bett ins Zimmer. Hält den Pfleger
für einen Gastwirt, bezeichnet den Arzt als ,Vołkshausdoktor‘“‘. In seinen
verworrenen Reden kommen zeitweilig depressive Äußerungen vor ohne ent-
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 179
sprechenden Affekt. — Gibt an, in der Nacht Angst gehabt zu haben, der Teufel
habe ihn holen wollen.
24.1.: Macht sich alle möglichen Vorwürfe: Habe seine Bücher nicht
ordentlich geführt, habe Ochsen verkauft, obwohl es verboten gewesen sei,
habe im Krieg Korn schwarz gemahlen usw. Äußert Angst, glaubt vor Gericht
und bestraft werden zu müssen. — In seinen Äußerungen etwas lahm, muß
immer wieder angetrieben werden. Macht einen stumpfen, nicht so sehr de-
pressiven Eindruck.
29. 1.: Ist wieder orientiert und liegt ruhig zu Bett. Noch einzelne depressive
Äußerungen.
1.2: Hat Einsicht für den abgelaufenen Zustand der Umdämmerung. Klagt
noch über Unruhe. Sagt: ich war durcheinander, ich kann jetzt denken. Macht
sich noch Vorwürfe. Äußert Angst.
13. 2.: Nicht mehr depressiv, eher heiter. Sagt, es sei alles Unsinn gewesen
was er gesagt habe, er habe sich nichts zu Schulden kommen lassen.
20. 2.: Wieder zunehmend depressiv. Klagt über Heimweh und weint über
seine vor Jahrzehnten verstorbene Frau.
2.3.: Die Stimmung hat sich wieder wesentlich aufgehellt.
10. 3.: Nichts depressives mehr.
14. 3.: Wird nach Hause entlasssen.
Bei der jetzigen Untersuchung am 14.9.38 machten K. und seine Frau
folgende Angaben zur Familienanamnese:
Der Bruder habe früher viel getrunken. Die Mutter sei sehr religiös
gewesen und habe ins Kloster gehen wollen, ‚so ein religiöser Wahn“. Nach
Angaben von Verwandten sei sie oft tiefsinnig und verwirrt gewesen.
Ein Muttersbruder und eine Muttersschwester hätten an Asthma
gelitten. Eine 2. Muttersschwester habe auch Asthma gehabt. In den
späteren Jahren sei sie tagsüber öfters eingeschlafen, sogar beim
Mittagessen. Sie habe dann gesagt: „ich muß mal kurz ein Nuckelchen
machen‘. Hinterher sei sie gleich wieder frisch gewesen. Sie habe auch viel
mit Kopfschmerzen zu tun gehabt. Ein 2. Muttersbruder sei ebenfalls
Asthmatiker gewesen. Er habe periodenweise sehr viel getrunken.
Einige Wochen habe er fleißig gearbeitet, um dann für 2—3 Tage sehr stark
zu trinken; ‚es sei dann so über ihn gekommen“. Der Großvater mütter-
licherseits sei Trinker und Asthmatiker gewesen. Die erste Frau des
Pt.,seine Kusine, sei leicht erregbar gewesen und habe an Kopfschmerzen
gelitten. Sie sei 32 Jahre alt an einem Gallenleiden gestorben. Aus der 2. Ehe
leide eine Tochter an Bettnässen. Diese habe früher periodenweise einen
juckenden Hautausschlag bekommen. Die Haut sei plötzlich rot ge-
worden und dann seien kleine stark juckende Bläschen aufgetreten. Die
Tochterstochter aus 1. Ehe leide heute im 7. Lebensjahr noch an Bett-
nässen.
Die Ehefrau gab ferner an: Nach der Entlassung aus der Klinik sei ihr
Mann etwa 1 Jahr lang unauffällig gewesen, dann seien die ‚Zustände‘‘ wieder
aufgetreten. Etwa 6 Wochen sei er normal, lache, sei vergnügt, schlafe gut
und arbeite tüchtig. Dann komme ganz plötzlich ein Gefühl der Unruhe
über ihn. Er werde weinerlich, klage über große Angst, sei ganz interesselos,
esse kaum etwas, mache sich Vorwürfe, klage über Minderwertigkeitsgefühle
und könne nachts nicht schlafen. Während dieser Zeit magere er bis zum
Skelett ab. Nach 14—18 Tagen verschwinde dann der ‚Zustand‘ ziemlich
rasch wieder. Er werde wieder vergnügt und ausgeglichen und arbeite
12°
180 Peter Duus
als ob nichts gewesen wäre. Der ‚Zustand‘, erzähle er, sei so fürchter-
lich und schrecklich, daß er diesen seinem ärgsten Feind nicht wünschen
würde. — Es sei auch öfters vorgekommen, daß er bis zu einem Vierteljahr
gesund gewesen sei, im allgemeinen wiederhole sich aber der ‚Zustand‘ alle
6 Wochen. Im letzten Jahr sei er wieder einmal ganz verwirrt gewesen und
habe nicht gewußt, wo er sich befinde. Dabei sei er sehr ängstlich gewesen.
Der hinzugezogene Arzt habe ihn in die Klinik einweisen wollen, was sie
jedoch nicht zugelassen habe. Er habe dann eine Beruhigungsspritze bekommen
und sei nach wenigen Tagen wieder in Ordnung gewesen. Einen ähnlichen
Verwirrungszustand habe er sonst seit seiner Entlassung aus der Klinik
nicht mehr gehabt.
Seit dem Beginn seines Leidens im Jahr 1926 habe er sehr viel mit Asthma
zu tun. Auffällig sei, daß das Asthma während des ‚Zustandes‘ wesentlich
weniger Beschwerden verursache als in der Zwischenzeit.
Seit etwa 1930 schlafe er tagsüber öfters auch kurz ein. Dies
komme besonders vor, wenn er eine Zeitlang ruhig ohne Beschäftigung Sitze,
aber er sei auch schon bei der Arbeit und während des Essens eingeschlafen.
Daß er beim Lachen einknicke, habe sie nie beobachtet. Nachts sei er oft
wach und wenn er schlafe „phantasiere‘ er viel. Seit einiger Zeit klage er
über Kopfschmerzen.
K. selbst gab an, daß den Verstimmungs- und Angstzuständen zumeist
eine kleine Aufregung voranginge Er werde dann plötzlich traurig, sehr
ängstlich und mache sich über alles Gedanken. An seiner Erkrankung, die er
in der Klinik durchgemacht habe, erinnere er sich nicht mehr, er sei durch-
einander gewesen. Auch an den Zustand im letzten Jahr habe er keine rechte
Erinnerung. Die Zustände würden im Sommer und Winter gleichmäßig auf-
treten. Während des Zustandes könne er nicht schlafen, hinterher aber um
so mehr.
Epileptische Anfälle oder Ohnmachten seien in der Familie nicht vor-
gekommen. —
Jetziger Befund: Mittelgroßer, etwas hagerer Mann. Gerötetes Gesicht
(kleine erweiterte Gefäße). Brustkorb faßförmig. Erschwerte etwas keuchende
Atmung. Lungengrenzen kaum verschieblich. Sonorer Klopfschall. Überall
Giemen, Pfeifen und Schnurren. (Emphysem, Asthma bronchiale).
Herzgrenzen kaum zu perkutieren. Töne rein, leise. Blutdruck 125/85;
Puls 60 Schläge pro Minute.
Bds. Narben nach Leistenbruchoperation. Leber nicht tastbar vergrößert.
Cyanotische Hände. Bds. an den Beinen Varicen. Bds. Plattfüße.
Neurologisch: Pupillen bds. leicht entrundet, gleich weit, reagieren nur
träge auf Lichteinfall, etwas besser auf Konvergenz. Geringe Schwäche
des linken Mundfaziales. Kein Chvosteck. Hirnnerven sonst o. B. Kraft,
Tonus, Taxie an Armen und Beinen o. B. Reflexe regelrecht auslösbar.
Sensibilität und Romberg o. B. Neigung zum Haltungsverharren.
Röntgenaufnahme des Schädels: Sella etwas weit, an der oberen
Grenze der Norm. Sellalehne etwas entkalkt. Normale Konfiguration.
Blutbild: Hb. 92%; Erythro.: 4,9. Leuko.: 7400; Segmk. 64% ; Lymphoz.:
27%; Stabk.: 3%; Eosino.: 1%? Mono.: 5%.
Psychisch (hat soeben einen seiner Zustände von etwa 14tägiger Dauer
durchgemacht.) Ist etwas gedrückt, weinerlich, langsam und etwas gehemmt.
Die Merkfähigkeit ist nicht nachweisbar herabgesetzt, er gibt aber an, ver-
geBlicher geworden zu sein. Psychisch experimentell keine Ausfälle.
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 181
Bei diesem 61 jährigen Kranken handelt es sich zweifelsohne um
episodische Verstimmungen und Umdämmerungen. Der
Kranke, der ein von Haus aus ernster und zur Pedanterie nei-
gender Mensch ist, wurde im 49. Lebensjahr zum erstenmal von
einer kurzdauernden ängstlichen Verstimmung befallen und
seit dieser Zeit treten die Verstimmungszustände fast regelmäßig
mit einem Intervall von ungefähr 6 Wochen auf. Mitunter ist das
Intervall etwas kürzer, mitunter auch etwas länger (einmal ein
Jahr). Die einzelne Verstimmung setzt plötzlich ein und klingt
auch rasch wieder ab: Dauer nur 14-18 Tage. Der Kranke wird
traurig, unruhig und von einer quälenden Angst erfüllt. Es ist eine
Angst, die so schwer ist, daß er, wie er angibt, sie nicht seinem
ärgsten Feind wünsche. Er äußert dann auch Versündigungs-
ideen und Selbstmordabsichten. Einmal hat er einen ernsthaften
Suizidversuch durch Erhängen unternommen, im allgemeinen
erforderten die Verstimmungen aber keine Klinikbehandlung.
Nur einmal und zwar 1928 mußte er in die Klinik aufgenommen
werden. Diesmal jedoch nicht wegen eines Verstimmungszustan-
des, sondern wegen eines typischen Dämmerzustandes mit Be-
wußtseinstrübung, Erkennungs-, Gedächtnis- und Orientierungs-
störungen. Auf der Höhe der Umdämmerung gesellten sich auch
noch Halluzinationen visionärer Art zum Symptomenbild hinzu,
wie sie bei den episodischen Dämmerzuständen wohlbekannt sind.
Der Kranke sah z. B. einmal einen dicken Herrn auf sich zu-
kommen, ein andermal den Teufel, der ihn holen wollte. Diese
Halluzinationen gingen mit großem Angstgefühl einher. — Nach
etwa 10 Tagen klang der Dämmerzustand ab und der Kranke war
für etwa 3 Wochen unauffällig. Dann folgte eine 10 Tage andau-
ernde Verstimmung, nach welcher er dann ausgeglichen entlassen
werden konnte. Einen ähnlichen Zustand der Umdämmerung,
wenn auch nicht so schwer, hat der Kranke noch einmal vor einem
Jahr durchgemacht, sonst sind solche Zustände nicht beobachtet
worden.
Interessant ist die Angabe, daß das Asthma, an welchem der
Kranke schon einige Jahre vor Einsetzen der Verstimmungen litt,
Abhängigkeit zu den Verstimmungen zeigt. Während eines Ver-
stimmungszustandes verschwindet das Asthma nahezu, um dann
im Intervall wieder verstärkt aufzutreten.
Außer an Verstimmungen und Dämmerzuständen leidet der
Kranke seit 8 Jahren auch an einem erhöhten Schlafbedürfnis.
Die Angabe, daß er tagsüber mehrmals kurze Zeit einschlafe, läßt
182 Peter Duus
an narkoleptische Schlafanfälle denken, doch ıst man wohl kaum
berechtigt, von einer Narkolepsie zu sprechen, da das 2. Haupt-
symptom, der affektive Tonusverlust, fehlt.
Auch bei diesem Kranken wird angegeben, daß er nachts sehr
viel phantasiere und ferner, daß er in letzter Zeit an Kopf-
schmerzen leide, beides Erscheinungen, die von der Narkolepsie
her bekannt sind.
Vegetativ nervöse Störungen fehlen auch hier nicht. Vor
allem deutet das Asthma, daß ja, wie man annimmt wahrschein-
lich auf abnorme Erregbarkeitsverhältnisse innerhalb des Bereichs
des Vagus beruht, auf eine ähnliche Störung wie bei der Narko-
Asthma Q
Trinker
O Ö oft oft tiefunnig u. Ọ Asthme €) Per ie Dipso- P AA fatina Ọ O0O0O0
wollte í ER Pe schmerzen manie.
erhöhtes unauffallig
Schlafbedürfnis.
€) früher viel OEL Verstimmungen u. Kopfschmerzen
Q getrunken. merzustönde. Asthme. er-
ercht erregbar
hohtes Schlafbedürfnis Bett IH + an Gatlenlerden.
Ö O Bettnassen Nerkolepsie Nerkolepsie 1 Tag att + 9 Mon +
Urtikarıa. Affekt. Tonusver- Affekt. Tonusver- msbiidet an Lungenent z.
132. lust. Bettnassen. lust. Debilität.
Struma. Beidhänder
Q Ọ Bettnassen.
lepsie hin. Weiter sprechen ın diesem Sinne auch der relativ nie-
drige Blutdruck, die Bradycardie, die Hypothermie,
sowie die verzögerte Kochsalzausscheidung.
Wir kommen jetzt zu den sehr interessanten Hereditätsver-
hältnissen, bei welchen gleich vorweg genommen werden soll,
daß wir es hier mit einer Verwandtenehe zu tun haben, die ja etwas
im Sinne eines rezessiven Erbgangs der Narkolepsie spricht.
Überblicken wir sonst den Stammbaum dieser Familie, so
finden wir erstens eine Reihe verschiedener zum Formenkreis
anfallsartiger Erkrankungen gehörende Konstitutionselemente,
zweitens verschiedene hierzu gehörige Konstitutionstypen und
drittens zahlreiche Fälle von vegetativ nervösen Anomalien, wie
z. B. Asthma.
Von den Konstitutionselementen wäre zu nennen: die Neigung
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 183
zu Verstimmungen, zu Umdämmerungen, zu Schlafanfällen, zu
Kopfschmerzen und zu Trunksucht, ferner die Degenerations-
zeichen wie Jähzorn, Pedanterie, übertriebene Religiosität, ver-
kappte Linkshändigkeit und Bettnässen (in drei Fällen).
Von den Konstitutionstypen sind vorhanden: zwei Fälle von
klassischer Narkolepsie, ein Fall mit episodischen Verstimmungen
und Dämmerzuständen und schließlich ein Fall von Dipsomanie.
Von den vegetativ nervösen Anomalien finden wir Asthma in
nicht weniger als sechs Fällen, einmal Urtikaria und einmal eine
Struma und Adipositas.
Bei der Häufung dieser verschiedenen Anomalien und Krankheiten .
in einer Familie, liegt die Frage nahe, ob irgendwelche Beziehungen
dieser drei Gruppen zueinander bestehen und welcher Art diese
sind. -
Was die ersten zwei Gruppen (Konstitutionselemente und Kon-
stitutionstypen) anbelangt, so haben wir auf diese Verhältnisse
schon anfangs hingewiesen. Kleist faßt diese ałs konstitutionelle
Anomalien und Krankheiten zum Formenkreis der anfallsartigen
Erkrankungen zusammen. Auf Grund seiner Beobachtungen ver-
tritt er die Auffassung, daß sich die verschiedenen Konstitutions-
elemente als Genotypen in verschiedener Weise kombinieren kön-
nen, so daß dann je nach der Zusammensetzung sich phänotypisch
die verschiedenen Krankheiten wie Narkolepsie, Dipsomanie usw.
ergeben.
In diesem Sinne spricht auch der Stammbaum unseres Falles,
bei dem wir inmitten zahlreicher derartiger Konstitutionselemente
verschiedene Konstitutionstypen dieses Formenkreises entstehen
sehen.
Da man auf Grund genauer Untersuchungen und Beobachtungen
bei der Narkolepsie zu der Auffassung gelangt ist, daß für das
Zustandekommen dieser Erkrankung eine anlagemäßige Vulne-
rabilität bzw. Minderanlage eines umschriebenen Hirngebietes sehr
wesentlich, wenn nicht ausschlaggebend ist, drängt sich bei der
inneren Verwandtschaft der obigen Erkrankungen die Frage auf,
ob nicht auch diese auf eine solche angeborene Minderanlage, viel-
leicht desselben oder sehr benachbarten Hirngebiets zurückzu-
führen sind.
Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir genauer auf die
Narkolepsie und die vegetativ nervösen Erscheinungen eingehen.
Auf Grund der Beobachtungen vorwiegend an Herdfällen war
man zu der Überzeugung gekommen, daß an der Schlaf-Wach-
steuerung ein größeres Gebiet beteiligt ist, das von der Mittel-,
184 Peter Dhus
Zwischenhirngrenze bis einschließlich zur Commissura media reicht.
Hier liegen der Nucleus paramedianus und der Nucleus reuniens
(Malone), von denen der erstere als „Schlafkern‘‘, der zweite als
„Wachkern‘“ angesehen wird (Kleist). Auf Grund hauptsächlich
der Untersuchungen von Hess, daß der Schlaf auf einem Übergewicht
parasympathischer, das Wachen auf der Vorherrschaft sympathi-
scher Erregungen beruht, nimmt Kleist an, daß diese vegetativen
Erregungen durch Vermittlung der oben genannten Höhlengrau-
kerne auf die sensorischen, motorischen, affektiven und trieb-
haften Einrichtungen des Zwischenhirns übertragen werden.
Bei der Narkolepsie, bei der man eine Minderanlage im Be-
reich des Zwischenhirns annimmt, haben zahlreiche Untersuchungen
ergeben, daß fast nie vegetativ nervöse Störungen vermißt wer-
den. Die Frage, inwieweit es sich hierbei um vegetativ nervöse
Störungen, verursacht durch eine zentrale Regulationsstörung oder
durch Erkrankung einer innersekretorischen Drüse, handelt, darf
man wohl nach den Untersuchungen von Thiele-Bernhardt dahin-
gehend beantworten, daß sie auf eine zentrale Regulationsstörung
zurückzuführen sind.
Thiele-Bernhardt, wie andere auch, fanden fast regelmäßig bei
ihren Fällen eine vagotonische Einstellung des Herz-Gefäß-Appa-
rates und kamen in Hinblick darauf, daß auch der normale Schlaf
mit einer erhöhten Einstellung des Vagotonus einhergehe, zu der
Auffassung, daß die narkoleptische Vagotonie als Symptom einer
Störung des Schlafapparates (im weiteren Sinne) anzusehen sei.
Diese Anschauung deckt sich gut mit der Auffassung, daß der
Schlafmechanismus und die zentralen vegetativen Regulations-
mechanismen sich in einer räumlich engen Nachbarschaft innerhalb
des Zwischen- und Mittelhirns befinden.
Auf dieser Erkenntnis basierend, meinen Thiele- Bernhardt, daß
man in Zukunft noch mehr als bisher auf diese Verhältnisse zu
achten und dabei auch den ganzen Umkreis vegetativer Anomalien
in Betracht zu ziehen habe, die genotypisch mit der zur narko-
leptischen Erkrankung disponierenden Konstitution zusammen-
hängen könnten.
Als solche Genotypen finden wir in unserem Fall von familiärer
Narkolepsie nun nicht weniger als sechs Familienmitglieder mit
Asthma bronchiale und eins mit Urtikaria, Anomalien, die ja
wahrscheinlich auf abnorme Erregbarkeitsverhältnisse innerhalb
des Bereichs des Nervus vagus beruhen. Wir können in dieser
Familie also nicht nur von einer Vererbung der zum Formenkreis
anfallsartiger Erkrankungen gehörenden Anomalien und Krank-
Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis usw. 185
heiten, sondern auch von einer Vererbung einer zur Vagotonie
disponierenden Konstitution sprechen.
Diese Tatsache legt die Vermutung sehr nahe, daß wir es bei
all den oben erwähnten konstitutionellen Krankheiten wahr-
scheinlich mit einer vererbbaren Minderanlage im Zwischen- und
vielleicht Mittelhirn, wo sich die Zentren der vegetativ nervösen
Regulation befinden, wie bei der Narkolepsie, zu tun haben; eine
Vermutung übrigens, die schon von Ratner (Diencephalosen) aus-
gesprochen worden ist. |
Bei den episodischen Dämmerzuständen kann man eine Be-
ziehung zum Zwischenhirn ohne weiteres annehmen, da der Däm-
merzustand dem Schlafzustand sehr verwandt ist, und nach Kleist
Schädigungen in der Gegend, die den ,Schlaf-‘“ und ‚„Wachkern‘“
enthält, zu einer Schlaf-Wachmischung, also einer Umdämme-
rung führen kann. Hinzu kommt, daß wir bei unserem Fall auch
deutliche vegetativ-nervöse Störungen, ähnlich denen bei der
Narkolepsie, nachweisen konnten. Unser Kranker leidet auch an
Asthma bronchiale, das ja alleine schon auf eine vagotonische
Einstellung hindeutet.
Auch bei den episodischen Verstimmungen kann man eine Be-
ziehung zum Zwischenhirn vermuten. Allein die Tatsache, daß
bei einem Kranken außer Dämmerzuständen und der Neigung zu
Schlafanfällen auch episodische Verstimmungen vorkommen, weist
auf eine enge Verwandtschaft dieser Erscheinungen hin. Ferner
spricht auch die Angabe bei unserem Kranken, daß das Asthma
zur Zeit der Verstimmung nahezu verschwinde, um dann im
Intervall wieder verstärkt aufzutreten, für enge Wechselbeziehun-
gen zwischen Verstimmung und vegetativ-nervöser Störung, wohl
infolge einer engen Nachbarschaft der Substrate dieser beiden
Störungen im Gehirn. Auch ist ja, vor allem nach den Beobach-
tungen von Kleist bekannt, daß Schädigungen des Zwischenhirns
zu Störungen des Trieb- und Gefühllebens führen können (Ausfälle
und Erregbarkeitsverschiebungen am Trieb- und Gefühls-Ich). In
diesem Sinne würde sich auch die Dipsomanie, die als eine trieb-
hafte Verstimmung aufgefaßt werden kann, zwanglos in das Zwi-
schenhirnsyndrom einordnen lassen.
Nach alle dem wäre durchaus daran zu denken, daß wir es
bei allen zum epileptoiden Formenkreis gehörenden konstitu-
tionellen Krankheiten tatsächlich mit einer vererbbaren Minder-
anlage innerhalb des Zwischen- und vielleicht auch Mittelhirns
zu tun haben, und halten es daher in Zukunft für erforderlich,
186 Peter Duus, Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen usw.
mehr als bisher auf diese Verhältnisse zu achten und Untersuchun-
gen in dieser Richtung vorzunehmen.
Schrifttumverzeichnis
Bauer, J., Wiener med. Wochenschr. 1929 S. 237. — v. Economo, Der
Schlaf als Lokalisationsproblem (in: Der Schlaf, hrsg. von Sarason, München
1929). — Fischer, F., Arch. f. Psych. u. Neurol. Bd. 8 S. 200. — Gelineau,
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S. 1,1922. — Kleist, K., Gehirnpathologie, 1934. — Kleist, K., Epis. Dämmer-
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S. 631 u. 656, 1877.
Der abnorme Rapport
Von
Dr. Walter Betzendahl
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, Berlin.
Direktor: Geheimrat Professor Dr. Karl Bonhoeffer)
Das Wort Rapport hat seine besonderen Inhaltsbestimmungen
zunächst im Zusammenhang mit den Suggestionsexperimenten
erfahren. Man spricht von einem Zustand der Hypnose, wenn er
sein Maximum erreicht hat. Indessen ist das Bewußtsein dann
ebenso eingeengt, wie die Aufmerksamkeit fixierbar geworden ist.
Die Willensfreiheit ist zwar aufs äußerste eingeschränkt, aber
eine Zugänglichkeit besteht doch nur auf der Basis verhältnis-
mäßig weniger landläufiger oder anschaulicher Gegebenheiten.
Vorausgegangen ist immer eine Ausschaltung der ichbezogenen Er-
lebnisinhalte. In eben diesem Maße besteht eine Erhöhung der
Ansprechbarkeit und Willkürlichkeit. Die Hypnose schließt sich
an eine gesteigerte Labilität an, aber nun sind die Sinnespforten
wieder verschlossen bis auf das, was durch die Suggestion an Wahr-
nehmungsmöglichkeiten gesetzt wird. Auswahl und Gestaltung
der laufenden Eindrücke geschieht durch den Rapport. Motivations-
vorgänge hören auf. Was überhaupt Eingang findet, gilt als exi-
stenziell und schließt auch die Dezision ein. Das Handlungsver-
mögen bekundet sich entgegen seinem bisherigen Durchdrungen-
sein mit Erfahrung, sowie seiner Ichbezogenheit nur noch ın
Primitivreaktionen. Gerade dadurch mißlingen aber auch kom-
plexere hypnotische Aufträge. Logisch gegliederte und aktuell mo-
difizierbare Handlungen liegen außerhalb der Reichweite eines
derartigen Rapportes. Es sind sicher auch keine individuellen
Voraussetzungen, aus denen heraus indezente oder gar kriminelle
Terminsuggestionen einer Beschränkung unterliegen. In entschei-
dendem Maße wird es an der Prägsamkeit der in solchen Zuständen
aktivierten allgemein menschlichen Tiefenschicht liegen.
Im Zuge der Entwicklung der Kenntnis dieser psychischen Phä-
nomene in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat die
Psychiatrie den Ausdruck Rapport übernommen und ihm eine
188 Walter Betzendahl
zentrale Rolle bei den nun aufkommenden Betrachtungsweisen
zugewiesen: nur ist es nicht so sehr die Herbeiführung, als viel-
mehr die Lockerung des Rapportes, worauf sich die Untersuchung
richtet. Bei den Geisteskranken spielt die Natur — in der Psychose
— den Hypnotiseur. Besonders die Schizophrenen kommen schon
mit der Angabe zum Arzt, man suggerierte ihnen etwas oder ver-
setzte sie in Hypnose. Dazu paßt auch das objektive Bild, der
Stupor zumal als Abschließung von der Außenwelt, aber auch die
unmotivierten Ausdrucksbewegungen, sowie Handlungen. An eine
voraufgegangene wirkliche Hypnose wird man wohl kaum jemals
denken, wenn auch dann bestimmte Personen genannt werden.
Mit der nie ausbleibenden Personenverkennung werden ja sicher
nicht in Betracht kommende Personen der aktuellen Umgebung
verantwortlich gemacht, als vermeintliche Bekannte. Man sieht
andererseits, wie es nicht genügt, zur Kennzeichnung des Zu-
standes, bloß das Herausgefallensein aus dem intersubjektiven
Wahrnehmungszusammenhang zu konstatieren. Der Kranke ver-
kennt nicht nur die Personen, denen er die betreffenden anderen
Namen gibt, sondern er entwickelt auch Handlungsantriebe, welche
aus der Situation heraus nicht zu verstehen sind und eben zurück-
weisen auf einen anderweitigen Rapport. Eine solche Disposition
bringt ihn dazu, auf einen Signalreiz seiner Umgebung hin —
denn etwas anderes stellen die in Mitleidenschaft gezogenen Per-
sonen nicht dar — unangemessen zu reagieren. Ein Effekt schwebt
dabei aber nicht vor, sondern es ist eine ohne weiteres sich wieder-
holende und schließlich auch ganz ohne Veränderungsauffassung
oder Zwangsgefühle sich abspielende Folge von Entäußerungen.
Nur im Anfang sprechen die Kranken von Wiederholungszwang
und Beeinflussung; dann aber schwindet, jedenfalls bei Prozeß-
psychosen, die Möglichkeit des Affiziertwerdens, wie auch die
Fähigkeit zur Reflexion auf die eigene Zuständlichkeit. Mit einem
Zwischenstadium von mehr oder weniger akutem Gepräge ist in
der Regel die Herausbildung eines stuporösen Verhaltens gegeben,
wobei nur die ängstlich-ratlose Miene und Gestik Einblick ge-
währen, höchstens, daß einmal Äußerungen über Schlaf und Be-
täubung, oft genug auch unter Verwendung der Bezeichnung
„Hypnose“ erfolgen.
Es war eben die Rede davon, daß präformierte Handlungsweisen
vorliegen, welche nun unter psychotischen Bedingungen immer
wieder zur Manifestation gelangen. Das bedarf einer Präzisierung;
denn es ist noch nicht klar, wieso gegenüber dem bloß Anankasti-
schen sich eine Hergehörigkeit, zum Thema des abnormen Rap-
Der abnorme Rapport 189
portes, ergibt. Bei organischen Psychosen, aber auch bei manchen
manisch-depressiven Erkrankungen, findet man neben entsprechen-
den Verhaltensweisen sehr häufig Klagen über die als quälend
empfundene Wahrnehmung der Reiteration oder der Reproduk-
tion. Es geht da um Bewegungsformen, die zum Grundstock der
Motorik gehören, wie aber auch um komplexere Bestandteile der
Persönlichkeit, welche mit der Erinnerung an ehemaliges Tun,
in Reuegefühl oder Schuldbewußtsein, gegeben sind. Nicht so bei
Kranken, welche Suggestion oder Hypnose, bzw. was die Kranken
sonst an Worten für die hier vorliegende Beeinträchtigung haben,
ın den Mittelpunkt ihrer Beschwerden stellen! Hier sind die Wahr-
nehmungen dieser Einflüsse und Beziehungen teils mimetischer
teils imaginärer Natur. Ich meine folgendes. Der Kranke kennt
aus seinen gesunden Tagen gewisse Personen, die ihm Eindruck
gemacht haben. Er erfüllt sich mit ihrem Bilde und denkt sich
aus, wie sie sich im einzelnen geben und was sie unter besonderen
Umständen tun. Nicht viel anders war er auch früher schon von
ihnen beherrscht. Es ist eine charakteristische Eigenschaft der
Schizophrenen nach ıhrer prämorbiden Persönlichkeit, daß sie in
dieser Weise den Kontakt aufnehmen. Dem Urbild ihres Verhaltens-
schemas begegnen sie dann mit einem Gemisch von vertraulicher
Zuwendung und befremdeter Ablehnung. Das ist ein Spezifikum
der Sensitivität ın diesen Fällen. Zu diesem, dem ambivalenten
Verhalten, kommt ein mehr oder weniger refraktäres, wo keine
Schlüsselerlebnisse da sind.
Man weiß es von der primitiven, aber auch von der infantilen
Psyche, daß auf dem Höhepunkt der Angst das theatralisch dar-
gestellt wird, was man am meisten fürchtet. Es findet ein Ver-
lassen der eigenen Position, des Ruhens in sich selber, statt; der
Blick haftet gebannt an dem gefährdenden Gegenüber; dessen
Aggressionen werden vorweggenommen, aber eben nicht in der
objektivierenden Vorstellung, sondern in der nachbildenden Geste
und Mimik. So wird etwa mit einer schreckenerregenden Pose das
Sein des Feindes, bösen Mannes oder wilden Tieres einfach usurpiert.
Es läßt sich fragen, ob hier nicht von Zweckmäßigkeit zu sprechen
ist: magischer zunächst, insofern die unheimlichen Mächte mit
dem so oder so Leibhaftigwerden eine Handhabe bieten, auch ım
psychologischen Sinne, daß vielleicht der Eindruck der Überlegen-
heit verscheuchend wirken soll. Es geht hier so wie bei aller Teleo-
logie, daß nämlich die objektivierende Erfassung der Naturvor-
gänge und die retrospektive der seelischen Abläufe Sinn und Be-
deutung scheinbar entdeckt, wo im Grunde — beim psychischen
190 Walter Betzendahl
nicht viel anders als beim physischen Geschehen — ein komplexer
Tatbestand mit einer ganz überwiegend transeunten Kausalität
vorliegt. Jedenfalls: auf dem Höhepunkt der existenziellen Ge-
fährdung wird jede Inbeziehungssetzung fallen gelassen, und nun
findet sich nur noch Expressivität, Hyperkinese, Jaktation, alles
eine elementare Behauptung der Persönlichkeit gegenüber der
Wahnerfahrung eines unbestimmten Andringens. Es ist ein Sich-
zurückziehen auf den ganz primitiven Bestand von vitalen Kräften.
Alle psychischen Einwirkungsmöglichkeiten dem Kranken gegen-
über sind damit selbstverständlich aufgehoben, während beim
Stupor und noch mehr beim Autismus Einflußnahme oder Durch-
brechung bis zu einem gewissen Grade gelingen.
Bei Stuporzuständen erfolgt eine Abschließung gegen die Außen-
welt, und zwar nach Maßgabe der sinnlichen Affektionen, welche
etwas Instinktives an sich hat. Alles wirkt hier beunruhigend, nicht
als solches, sondern weil sich die Aufmerksamkeit zuwenden muß.
Dabei ist aber nicht nur der Intensitätsfaktor im Spiele, so daß
dem Grellen, Schrillen, Jähen die Hauptbedeutung zukäme: auf-
fällig ist jede Veränderung und Besonderheit. Die amentiellen
Bilder mit ihrer Hypermetamorphose sind das Extrem hiervon.
Hier legt sich dann in einer durchaus als günstig zu beurteilenden
Art und Weise eine Hülle um den krankhaft erregbaren Sinn. Der
Kranke verharrt nun unbeweglich, wagt sich nicht mehr zu rühren,
um nicht wieder aus sich herausgerissen und in die Vorgänge
bis zum Selbstverlust hineingezogen zu werden. Dem’ gegenüber
stellt der Autismus mehr eine Reaktivbildung innerhalb der Sphäre
des eigentlichen Willens dar. Die Kranken haben hier die Mög-
lichkeit, im Nachdenken über sich zu einer gewissen Reorganisa-
tion zu kommen, ziehen sich dann zurück auf das, was ihnen als
neuer Schwerpunkt weniger ihrer Existenz als vor allem ihrer
Wertsubstanz gilt. Von hier aus widerstreben sie in ziemlich be-
wußter Weise den an sie ergehenden Aufforderungen, nicht so
sehr bloßen Gegenständen der Wahrnehmung. Das sind nicht nur
negativistische Beantwortungen konkreter und aktueller Ein-
drücke, sondern es bilden sich hier auch komplıziertere, freilich
formelhafte Arten der Abweisung oder Erledigung heraus: die
Stereotypien und Manieren.
Es ist sehr die Frage, worauf eigentlich das wirklich Lebendige
einer Beziehung zwischen Menschen beruht, nicht nach der körper-
lichen, sondern eben nach der seelischen Seite. Viele meinen, es
komme darauf an, die Sprache des anderen zu übernehmen, sich
in seine Gewohnheiten zu finden, seine Vergangenheit zu kennen,
Der abnorme Rapport 191
um ihm nun gleichsam als Eingeweihter begegnen zu können. Man
mag sich demgegenüber nun vor Augen halten, was man als
Psychiater bei Schizophrenen immer wieder erleben kann: daß
sie von dem vielbeschäftigten Arzt erwarten, er solle den Faden
in bezug auf Umstände und Unterhaltung genau da wieder auf-
nehmen, wo seinerzeit, und sei es vor einem Jahrzehnt, abge-
brochen wurde. (Ich traf mich in der Hervorhebung dieser Be-
obachtung mit Zutt, der in einem Gespräch darauf hinwies.) Würden
manche enge Lebensgemeinschaften so quälend sein — etwa die
„Strindberg-Ehen‘‘ — wenn nicht gerade durch das Bloßgestellt-
sein des einen Partners mit dem stets präsenten Wissen des anderen
alle Werdemöglichkeiten aufgehoben würden ? Die Verpflichtung
des hierzu Stillhaltens und des Verzichtens auf jede Änderung stellt
eine Verurteilung zum geistigen Tode dar und ist ein aus dem
Mißtrauen geborenes Zerrbild der Treue. Aber greifen wir doch
auf die Schulbeispiele in den Psychosen, in erster Linie bei den
Schizophrenen, zurück! Je älter solche Kranke werden, zumal,
je später ihre Krankheit ausbricht, desto mehr drängt sich das
Wahnerlebnis des Durchsichtiggewordenseins und der Mitwisser-
schaft in den Vordergrund. Ohne weiteres wird angenommen, daß
man längst orientiert sei; es wird gehört, wie durch den Rund-
funk alles zur Kenntnis gebracht wird; was früher dem Kranken
begegnet ist, rollt im Film ab oder es werden Photographien davon
verteilt. Im Initialstadium solcher Krankheiten sind die Kranken
ein sehr dankbares Objekt, wenn auch nicht gerade für kriminelle
Erpresser, so doch für die Intimidations- und Repressivmethoden,
welche sich bei näherem Zusehen auch ım landläufigen Zusammen-
leben als gang und gäbe finden. Um auf die Frage im positiven
Sinne zurückzukommen: es wird schon etwas daran sein, wenn
von Nietzsche gerade das seinen Geboten vorangestellt wird, sich
stets von sich selber loszureißen, über sich hinauszuwachsen, kein
Eckensteher der Moral zu sein.
Es ist eine Besonderheit bei initialen schizophrenen Prozessen,
aber auch bei manchen Psychopathien, vor allem in den degenera-
tiven Ausnahmezuständen, daß entweder der alten Umgebung
gegenüber, auch den vertrautesten Einzelpersonen und gerade
diesen, jede Bekanntschaft, zum mindesten innere Verbindung, ab-
geleugnet wird oder aber im Gegenteil gänzlich harmlosen Leuten
mit der Miene des Untersuchungsrichters, wohl gar gleich mit
dreisten Anschuldigungen, entgegengetreten wird. Die Rapport-
lockerung ist in beiden Fällen gegeben: ob nun die eigenen vitalen
Energien bis zu kriminellen Regungen, von der Gegenstandsseite
192 Walter Betzendahl
her erlebt werden, als Motivspiegelung, wenn es keine Halluzina-
tionen sind, oder ob jede Berührung mit der Realität zu einer
stuporösen Abschließung führt. Man versteht von hier aus, wie
manische Bilder entstehen können und zwar durch die Vortäu-
schung von Kontaktfähigkeit, ebenso depressive, hier wieder unter
Vermittlung der Zustände von Depersonalisation und Alienisation,
wie etwa manchen und zwar eindeutig Manisch-Depressiven es
zum Gegenstand ihrer Minderwertigkeitsgefühle wird, ihr Herz
sei von Stein, sie seien außerstande, sich die abwesenden Ange-
hörigen vorzustellen, sowie bei ihrem Besuch sie mitdem Empfinden
des Sichnahestehens wiederzuerkennen usw. In bezug auf diese
Symptomatik ist übrigens die Skala gleitend. Man wird also nicht
ohne weiteres die Kontaktstörungen und Rapportlockerungen als
solche schon pathognomonisch sein lassen wollen, wie das bei
manchen wesentlich additiv gehaltenen Epikrisen geschieht.
Es ist gerade für die Pubertätskrisen, wo sich mit vielerlei
Schwankungen ein selbständiges Ich herausbilden will, dabei aber
die Konnexmöglichkeiten durch den Zuwachs des Generations-
lebens gesteigert und vermehrt werden, eine sehr kennzeichnende
Verhaltensweise, wie nach überschwenglicher Selbstoffenbarung und
Zugesellung immer wieder Rückschläge von gereizter Ablehnung
und Verleugnung erfolgen. Die subjektiven Regungen dabei kulmi-
nieren in dem Bewußtsein einer heimlichen Freude über die ge-
lungene Integrierung mit einem Unterton von Verzweiflung über
die Unfähigkeit, Nutzen aus der Gemeinschaft zu ziehen, und voll-
ends über die Nötigung, anderen, nämlich den von der Entzweiung
Betroffenen, wehzutun. Lyrik und Blasiertheit, Heroismus und
Katastrophe sind Worte, die in dieser Situation wichtig werden.
Ganz reißt das bei vielen nie ab. Bei Nietzsche wird das vollends
zum tragischen Moment: daß ihn die nie erreichte Stetigkeit und
Gelassenheit zu einer Maxime führte, der unbedingten Wand-
lung im Persönlichen und des Zuhauseseinmüssens in einer ein-
samen Bergwelt: so konnte keiner helfen, mußte es für ıhn auf
die freilich auch ihre Verzückungen in sich bergende Märtyrerrolle
hinauslaufen. Derartige Naturen sind im übrigen das Beispiel von
Selbstvermittlung durch das Werk, welches in demselben Maße
an allgemeiner Bedeutung gewinnt, als die individuelle Existenz
in Befriedigung, Bestätigung, Förderung zum Opfer gebracht wird.
Es gibt Fanatiker der Echtheit, welche jedem Gefühl mißtrauen,
gerade, wenn es ganz hervorgetreten ist, und es nun bestreiten:
soll es sich für die eigene Person oder andere erneuern und be-
währen. Die Menschen, welche, wie zumal Künstler, und hier
Der abnorme Rapport 193
wieder die Dichter in besonderem Maße, zur Objektivation ihres
Inneren geboren sind, kehren sich fortlaufend von den alten For-
mungen ab, solange nur ihre Produktivität anhält, und nur tech-
nisch kann sie noch für eine Weile das eine oder andere ihrer Ent-
würfe und Entäußerungen reizen. Die Glut der Konzeption ist vorbei,
das weitere ist dann bloßes Handwerk. Hier geht es gar nicht um
so etwas wie die soziale Eingliederung des höheren Menschen
(eines der Nietzsche-Probleme), sondern einfach, jenseits aller Gel-
tungsbedürftigkeit und allen Machthungers, um die Selbstbe-
wahrung. Eindrücke und Anregungen sollen nicht das Gemüt be-
lasten und den Willen spornen, sondern die Inhalte werden nach
außen gewendet und dienen nun dazu, im Grunde als magische
Zeichen, die andringenden Erscheinungen zu bannen. Kontemplativ
bis zum Quietismus ıst hier die Gesinnung. Die großen Beispiele
der Genies, welche gegenüber Intrige und Trivialität ihrer Wege
gehen, sind ja Lionardo und Goethe; auch Horaz ist zu nennen:
„Integer vitae scelerisque purus... .‘‘ Gegen das Ideal der Humani-
tät, dem Leben zu gehören, ohne sich gemein zu machen und an-
fechten zu lassen, standen freilich noch nicht die leidvoll zerquälten
Neuerer auf dem Gebiete gesellschaftlicher Ordnungen auf. Die
faustische Seele zollte im Grunde nur der Natur ihren Tribut;
in der Jugend mit dem Drang des Begehrens, im Alter mit dem
Druck der Sorge.
Um psychopathologische Ausdrücke, wie Rapport, nicht nur
zu definieren, sondern mit lebendigem Inhalt zu füllen, muß man
wohl zurückgreifen auf Gegebenheiten, welche geläufig sind, wenig-
stens denen, für die sich der Zugang zu der geistigen Welt unserer
Kultur erschlossen hat. Ist es schon ein interpretativer Grund-
satz, auf Bekanntes und Eindeutiges bei den syllogistischen und
hermeneutischen Verknüpfungen zurückzugreifen, ist es also ge-
fordert, solche festen Grundlagen zu schaffen, so ergibt sich für
diese Untersuchung hier eine weitere Nötigung durch die Tatsache,
daß bei vielen psychischen Veränderungen das Abnorme nur in
der Struktur hervortritt, sonst aber gleichsam maskiert ıst in Ge-
stalt von gewohnten und auch anerkannten Ausdrucksformen.
Natürlich liegt ın solchen Fällen keine wirklich gewollte und voll
bewußte Dissimulation vor, sondern letztlich eine gesteigerte Be-
stimmbarkeit durch Gepflogenheiten und Ansprüche innerhalb des
betreffenden Milieus. Hier hat sich überhaupt gar kein selbstherr-
liches Ich und ebensowenig ein seine Eigenheit bewahrendes Ge-
müt herausgebildet, sondern es besteht neben einer recht arm-
seligen Charakterbeschaffenheit ein fluktuierendes Gebilde von
13 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
194 Walter Betzendahl
außerpersönlichen Direktiven und Formen. In der Jugend schon,
wie auch zu erwarten, bildet sich dieses Gemisch von heteronomen
Anschauungen und Handlungsweisen heraus. Die Rückbildungs-
jahre führen zwar auch zu einer Einbuße an eigentlich persön-
lichem Leben; aber doch nur durch die Verstärkung des Gewohn-
heitsmäßigen. Gegenüber insbesondere dem Haften an der alten
Behausung, dem Hängen an den nächsten Angehörigen, verbleibt
doch, auch noch in den Abortivfällen von Psychosen auf dieser
Grundlage, eine gewisse Verfügungsmöglichkeit über sich, nach
Maßgabe ganz individueller Regungen und Wertungen. Die Kran-
ken dieser Gruppe haben weder selbst unter irgendwelchen norma-
tiven oder mythologischen Gebilden zu leiden, noch quälen sie
andere damit, sondern sie bangen sich einfach um ihren Besitz an
Ruf, Geld, Gesundheit, Liebe, Freundschaft usw., und gelangen
erst aus der vermeintlichen Entfremdung und Gefährdung heraus
zu einer Belästigung anderer. Die Gerichte und Behörden müssen
deshalb herhalten, weil sie in dem Zusammenbruch des bisherigen
Daseinskreises noch als feststehend und auch zugänglich gelten.
Gerade bei den von Haus aus Verrückten und Närrischen ist es
so schwer zu sehen, worin nun eigentlich die Abweichung von der
Norm besteht. Es ist einigermaßen paradox, wenn dann festzu-
stellen ist, daß die Paranoiker geradezu auffallen durch saubere
Handschrift, scharfsinnige Gedankenführung, Wahrung der Form.
Berücksichtigung der öffentlichen Meinung, Fülle der Gegen-
stände, die innerhalb ihres Horizontes liegen — dies allerdings mit
einer verdächtigen Konstanz — in mancher Beziehung dann noch,
wenigstens im Anfang, durch Gewissenhaftigkeit und Genauig-
keit. Freilich liegt es am Tage, daß keinerlei Nutzen damit ge-
stiftet wird, vielmehr alles auf Verwirrung und Aufregung hinaus-
läuft, bis schließlich ein Stolpern, manchmal nur über eine Kleinig-
keit, solch einen Kranken vor den Richter und dann auch wohl
zum Psychiater bringt. Man hat das Recht als das ethische Mini-
mum (Jellineck) bezeichnet: wie irreführend das ist (wie über-
haupt alles, was darauf hinausläuft, einen qualitativen Unter-
schied auf einen quantitativen zurückführen zu wollen), zeigt
sich gerade an dem Beispiel des Querulanten. Der Querulant ver-
wischt nämlich auch die Grenzen von Ethos und Gesetz. Er be-
nimmt sich deshalb einerseits wie ein gänzlich gewissenloser und
schamloser Erpresser, indem er alle möglichen Privatangelegen-
heiten anderer als Verstöße gegen die Rechtsordnung anzuprangern
droht, andererseits mit der größten Tolpatschigkeit sich in Kon-
flikte bringt, wenn er tatsächlich den Boden des Rechtes betritt.
Der abnorme Rapport 195
Hiermit ist aber einstweilen nur die Reichweite der beiderlei
Normen berührt. Wesentlicher noch erscheint zur Verdeutlichung
der Unterschiede die Berücksichtigung des dynamischen Momentes.
Das Natürliche ist es sicher doch, seine individuellen Ausgangs-
punkte zu haben, von hier aus dann unter Umständen den juristi-
schen Apparat in Bewegung zu setzen. Der Querulant aber läßt
sich von dem rechtlich Relevanten nicht bloß bei entsprechenden
Anlässen bestimmen, sondern bezieht fast von Anfang an von daher
Antrieb und Daseinserfüllung. Es ist bei den chronischen Formen
der Verrücktheit nicht ganz so wie bei den paranoiden Ausprä-
gungen von Schizophrenien im Jugendalter, insofern nicht von
vornherein halluzinatorisch fertig und abgegrenzt die autoritären
Begriffe auftauchen und imperativisch, ja existentiell werden:
reale Zusammenstöße liegen immerhin vor, nur eben sehr aufge-
bauscht. Die Einmischung der Behörden bleibt nie aus, weil der
Paranoiker schon selbst darauf hindrängt, über kurz oder lang
die richtende Instanz, eben das, was er mit der sich herausbilden-
den Urteilsschwäche in sich selber verliert, von außen her in An-
spruch zu nehmen. Der sich immer mehr steigernden Unempfind-
lichkeit gegen Widersprüche als Symptom in der logischen Sphäre
entspricht der Standortwechsel des Ich in der existentiellen. Bei
dem Paranoiker spielt nun die Rechtsberatung anderer die Haupt-
rolle, und er fängt an, die Gerichte zu kritisieren. Bei einem Para-
noiker, welcher einen Endzustand darstellte, war ‚‚die sattsam be-
kannte Vertrauenskrise der Justiz‘ zur stehenden Redensart ge-
worden. Parallelfälle zum eigenen Erlebnis interessieren später
nicht mehr, aber auch das abstrakt-formalistische Spiel mit den
öffentlichen Einrichtungen erlahmt. Als einzig Wesentliches bleibt
über die Kodifikation und die Dokumentierung. Der Rechtsanwalt
ist zum bloßen Notar geworden.
Den Ausprägungen der wie immer abnormen Persönlichkeit ge-
sellt sich noch etwas hinzu, was die sich anbahnende Demenz aus-
macht. Das ist das Sinnfremde und darum auch den Rapport Aus-
schließende. Man kann es nur objektiv feststellen, daß ein Para-
noiker von weitreichenden Unternehmungen spricht, nie ohne
das Ziel, hochgestellte Persönlichkeiten von ıhrem Sitz herabzu-
stoßen, um dann fast in einem Atem zu versichern, kaum noch
imstande zu sein, ihre Gedanken zu sammeln oder sich auf den
Beinen zu halten. Auf der einen Seite bedrohen sie alle Welt, auf
der anderen, in buntem Wechsel oft, stellen sie sich als krank und
hilflos hin. Man kann hier nur konstatieren, daß durch eine offenbar
durchaus komplexe Beeinträchtigung das Empfinden einer uni-
13°
196 Walter Betzendahl
versellen Bedrohtheit, körperlich und seelisch, ebenso aber eine
Verblendung in bezug auf die eigenen Möglichkeiten entstehen.
Eben das macht ja die Wahnstimmung aus. Nach außen zeigt sie
sich in der eigentümlich lauernden Gespanntheit, im Blick zumal,
für die Innenschau in der ständigen Nötigung zu deuteln und zu
grübeln, welche vorerst ja noch vom Kranken selbst erlebt und
etwas auch kontrolliert wird. In diesem Stadium ist es meist zu
beobachten, daß beide, der später hochfahrend werdende Para-
noiker wie der autistisch sich abschließende Schizophrene, sich
gemein machen und mit den nichtigsten Dingen abgeben, aus
keinem anderen Grunde jedoch, als um nicht völlig dem aufkom-
menden Gefühl von Haltlosigkeit und Unfähigkeit anheimzufallen.
Etwas Demonstratives für andere, eine Berechnung in diesem
Sinne, liegt bei diesen Verhaltensweisen nicht vor: das sei ver-
merkt angesichts der anscheinenden Unaufrichtigkeit des Ge-
habes. Der Kranke agiert vielmehr vor sich selbst als Publikum
und richtende Instanz. Es ist das ein Spaltungsvorgang ganz inner-
halb der Grenzen der Persönlichkeit, während bei den hysterischen
Veranstaltungen und auch dem querulatorischen Verhalten eine
exzentrische Bezogenheit stattfindet. Man könnte es nun paradox
finden, daß die Progressivität der paranoischen Entwicklungen und
auch der schizophrenen Erkrankungen gerade darauf hinzielt, die
Auseinandersetzung aus dem internen Seelenbereich nach außen
zu verlegen, in das Wechselspiel zwischen den betreffenden, zur
fixen Idee gewordenen scheinbaren Sachverhalte und der eigenen
Person. Damit wäre ja eine Annäherung erzielt eben zur Exzentrizi-
tät als Eigentümlichkeit der leichteren seelischen Abweichungen
und Ausnahmezustände; aber es besteht doch ein Unterschied
insofern, als die Irrealität in Gestalt von illusionären Verkennungen
und bloß repräsentativen Bedeutungen hinzukommt. Damit ent-
fällt die Kontaktmöglichkeit in ihrem eigentlichen Sinne. Man muß
sich einmal genau vergegenwärtigen, wie denn der Geistesgestörte
aus der Welt des Gesunden heraustritt. Er tut es ja doch keines-
wegs in vollkommener Absonderung. Er fühlt sich von der Um-
gebung bedroht und setzt sich oft auch zur Wehr. In Dämmerzu-
ständen geschieht das innerhalb der physischen Wahrnehmungsge-
gebenheiten. Hier gibt es eine ganz enge Raumbezogenheit des
Ich, so daß, wie bei der sogenannten kritischen Distanz aus den
Erfahrungen der Tierdressur (bei nicht domestizierten Tieren, zumal
bei Raubtieren), Reaktionszonen entstehen, weiter auch hervor-
tritt, was Rieger Stereotropismus bei Psychosen genannt hat. An-
ziehung und Angriff erweisen sich dabei als ganz wesentlich von
Der abnorme Rapport 197
Momenten der Struktur und Distanz im Raume abhängig. Weniger
akute, vorzugsweise dann die moralische Sphäre berührende Ver-
änderungen, führen zu Haßverstrickungen und hartnäckiger Ver-
folgung. Also: Verbindung ist bis zur Gemeingefährlichkeit da. Sie
kann freilich hier und da einen spielerischen Charakter tragen,
wie auf einem Maskenfest. Man fragt sich: meint es der Kranke
wirklich so ? Die Entscheidung darüber liegt aber nicht beim Re-
alıtätsbewußtsein, sondern bei dem Ausmaß an Aktivität. Das ist
ganz deutlich zu ersehen, bezeichnenderweise weniger an den
Zuständen von. Daniederliegen der Antriebsenergien, als vielmehr
dort, wo primär ein Drang besteht, welcher zu wenig von der
Phantasie unterstützt wird, um auf andere Eindruck zu machen.
Die offensichtliche Zufallsbestimmtheit, mit der, ohne auch nur
einen Schatten von entsprechendem Anlaß und obwaltender Ähn-
lichkeit, Worte und Gesten, Dinge und Personen herhalten müssen,
zeigt gleicherweise, wo die Störung zu suchen ist, daß jedenfalls
keinerlei Stellungnahme dabei ist. Auch hier, wie wohl in allen
akuten seelischen Störungen mehr oder weniger, ist eine Angst im
Spiele, die sich aber noch nicht einmal zu einem Gefühl des Be-
drohtseins vergegenständlicht, sondern einfach an Stelle von Ab-
wendung oder Vorgehen zu einem exzessiven Sıchhineinsteigern ins
Ausdruckshafte zur Selbstbehauptung führt.
Man könnte sich an dieser Stelle seine Gedanken darüber machen,
weshalb lyrische Dichter oder überhaupt Künstler von großer Sub-
jektivität mit so großer Übereinstimmung versichert haben, daß
das Schaffen bei ihnen aus einer angstvoll bedrängten Verfassung
hervorginge, wie denn Nietzsche sagt: „Ich habe nie eine Wahl
gehabt!‘‘, warum es im übrigen, beim einfach Biologischen ange-
fangen, das Zwingende des Sichpaarens, einer hierin erlebten Ge-
fährdung als Individuum, ist, vollends auch etwas Unstetes und
Ungewisses wie etwa das Landsknechts- und Soldatenleben, woraus
ganz besonders, ohne alles deutliche Vorschweben von Ziel und
Zweck, Lied und Sangesfreudigkeit entspringen. Als Syndrom be-
trachtet befinden sich objektlose Erregung, Spiel und Verkennung,
pseudodemente Abkehr auf einer Linie, nämlıch eines mehr oder
weniger unbedingten Strebens nach psychischer Bewahrung. Eine
Psychose läßt sich ja nicht in einem einzigen Akt des Verständ-
nisses erfassen. Mehr oder weniger bleibt es bei einer Tatbestands-
aufnahme, die freilich umständlich genug sein kann. Verhalten und
Entäußerungen im einzelnen sind natürlich sehr wohl zu inter-
pretieren, d. h. mit Auffassungsweisen und Handlungsbereitschaf-
ten zu verknüpfen, die auch der Normale hat. Weshalb kommt aber
198 Walter Betzendahl
überhaupt jemand in einen Ganserschen Dämmerzustand hinein,
oder ergeht er sich in einer continued story ? Dergleichen ist in
seiner Gesamtheit doch noch etwas anderes, als ein sich dumm
stellen, den Harmlosen markieren, herumalbern, den wilden Mann
spielen, die anderen an der Nase herumführen, Theater machen usw.
Hier liegt eben vor allem eine Lockerheit des psychischen Gefüges
vor, die meist ab ovo vorhanden ist, zuweilen aber auch akquiriert
sein kann, wie etwa eine Sejunktionsbereitschaft dieser Art nach
. Schädeltraumen, wo dann Konfabulation und phantastische Pseudo-
logien zutage treten. Der Kranke gleitet auf geringen Anstoß je-
weils in seinen Ausnahmezustand hinein — daß das so leicht ist
macht eben die Grundstörung aus — um nun hier allerdings Ge-
setzen zu unterliegen, welche, wenn sie auch nicht die des Wach-
zustandes sind und auch nicht ganz die des Traumes, doch zum
Grundstock des Psychischen gehören.
Es ist überhaupt innerhalb dieses Problembereichs, welcher als
einer der zentralen der Psychopathologie — zusammen vielleicht
nur noch mit einem anderen hier nicht näher berührten, nämlich
dem des psychischen Werdens — zu gelten hat (siehe zu alledem
Bonhoeffer, Zutt, von Gebsattel!) von entscheidender Bedeutung, wie
es nämlich jeweils mit dem Verhältnis zwischen Inhalt und Antrieb
steht. (Ein instruktives Beispiel hatte der Vortrag des Verfassers
„Prämorbide Persönlichkeit und symptomatische Psychose‘‘, Mo-
natsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 89/1934, zum Gegenstand, wozu
Zutt eine dahingehende Diskussionsbemerkung machte). Eine Zeit-
lang hat der Begriff der Sublimation eine sehr große Rolle gespielt.
und man darf das wohl, unter Absehen von den mancherlei abwegi-
gen Theorienbildungen, welche sich herumrankten, als ein Zeichen
von sich anbahnender Rückbestimmung auf die vitalen Grund-
lagen, sowie entsprechender Erneuerung, registrieren. Es war na-
türlich verkehrt, Kultur und Religion lediglich als illusionistische
Verfälschung der Wirklichkeit anzusehen. Wohl aber ist es ange-
bracht, zu verfolgen, wie das Triebleben Verflechtungen eingeht
mit den geistigen Gebilden, wobei die Metaphysik sich damit be-
schäftigen mag, aus welchen Gründen diesen eine immanente Kausa-
lität zukommt, statt, daß sie lediglich als Ausläufer und Verzwei-
gungen der vitalen oder gar materiellen Sphäre gelten. Wesentlich
für die hier in Rede stehenden Fragestellungen ist es nur, inwieweit
der einzelne bis zu seinem physischen Berührtwerden oder Sich-
auswirken ein symbolisches Zwischenreich betritt oder auch selbst
erschafft. Man lese hierzu Stendal, um aufs genaueste zu wissen.
was gemeint ist, am besten „Souvenir d’egotisme‘‘. Praktische und
Der abncrme Rapport 199
nicht minder theoretische Bedürfnisse mußten bei einem solchen
— wenn man will — Steckenbleiben auf halbem Wege notwendiger-
weise unbefriedigt bleiben. Dafür erschloß sich Stendal aber der
Blick für die Arten des Irrtums und der Täuschung, die ihm ebenso
deutlich wurden wie anderen Wille und Wirklichkeit. Derartige
Menschen konstatieren Zuständlichkeiten ihrer selbst, haben Mühe,
daß nicht Verlorenes in ihnen übermächtig wird, haben aber auch
keine Eile; sie sind die deskriptiven Psychologen. In einem Aufsatz,
welcher sich nicht beschweren kann mit der Darlegung von Kran-
kengeschichten, sieht man sich zur Verständigung über Anwen-
dungsfälle an Gemeingut aus der Geistesgeschichte gewiesen.
Es mag nun noch ein Wort angefügt werden über die Rolle des
Distanzgefühls bei psychischen Störungen. Es geht dabei keines-
wegs lediglich um raumzeitliche Gegebenheiten wie zumal bei den
exogenen Reaktionsformen, bei der epileptischen Aura, speziell im
Mescalin- oder Haschischrausch, wo dergleichen experimentell fest-
gelegt wurde (Beringer), auch wohl gewissen Empfindungsnuancen
in psychopathischen Verstimmungen, sondern um den persönlichen
Rapport. Manche Schwachsinnige höheren Grades, welche dabei
aber nicht suggestibel genannt werden dürfen, ja doch unfähig
sind, das persönliche Sein eines anderen, welches der signifika-
torischen Vermittlung bedarf, in sich aufzunehmen, erinnern mit
ihrer Zutunlichkeit einfach an Tiere, die auch so ihrer Umgebung
auf den Leib rücken. Befremdlicher, und zwar durch den Kontrast
zur sonst verbleibenen Haltung wirken hirnatrophische Patienten
mit ihrer Neigung, dicht an einen heranzukommen und alles zu
berühren, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob hier irgend etwas
Sexuelles, — das wäre dann im Sinne des sogenannten Kontrek-
tationstriebes — wirksam ist. Die exhibitionistischen Akte, wo die
Entblößung schließlich auch einen Kontakt entgegen der Ver-
weigerung durch Regungen der Scham darstellt, liegen in derselben
Richtung. Anzureihen sind noch Erscheinungen von psychischer
Einbuße im Verlauf von katatonen Psychosen, wo mit den Echo-
symptomen eine pathologisch gesteigerte Beeinflußbarkeit der
motorischen Sphäre von der äußeren Wahrnehmung her und zwar
in ganz sinnloser Weise auftritt. Es kennzeichnet schon die weniger
akuten Zustände, wenn, doch wohl als Reaktion gegen die durch
die dissoziativen Vorgänge gesetzte Anfälligkeit, in der sensorisch
rationalen Schicht illusionistische Verkennungen auftreten, ebenso
wie ein Faxensyndrom im Bereich des Mimischen und Gestischen;
besonders das Faxensyndrom kann freilich aber auch bei ungünsti-
ger Verlaufsweise am Anfang der Entleerung des Bewußtseins
200 Walter Betzendahl, Der abnorme Rapport
in den psychischen Defektzuständen stehen, wo dann nichts mehr
erlebt werden kann und auch die der teleologischen Betrachtung
einigermaßen zugängliche Abwehrhaltung zerbröckelt. Die Resi-
duärwahnvorstellungen verknüpfen sich hier und da mit den Be-
wegungs- und Haltungsfragmenten. Das Bizarre in diesen Bildern
ist vorzugsweise solcher Provenienz.
Eine psychische Auffälligkeit mag noch Erwähnung finden, wel-
che die Symptomatik der Schizophrenie weitgehend beherrscht:
die Inadaequatheit von Gefühl und Vorstellung, sowie die damit
verbundene Ambivalenz im Streben. Grenzbegriffe hierzu, welche
zu den Arten psychopathischen Verhaltens hinüberführen, (in
metaphysischen Schriften als dialektische Methode oder Real-
dialektik, wenn die geistige Bewegung ontologische Bezüge haben
soll, figurieren), sind Verstellung und Zwiespältigkeit. Das psychi-
sche Jetzt ist ja niemals ohne eine polare Spannung. Alle animali-
schen Lebensregungen sind oszillatorischer Natur, die Bewußtseins-
tätigkeit als die höchste davon in ganz besonderem Maße. Rhyth-
misch integriert sich die Innerlichkeit von der fortlaufenden De-
formierung durch die Einwirkungen der Außenwelt einschließlich
der Beziehung zum eigenen Körper, dabei nicht lediglich durch
den Ausgleich der Eindrucksprägung in der Amnesie, sondern
auch durch ihre Absonderung im Vorgang der Objektivierung. Der
Sinn kann bei Fixierung seiner Gegenständlichkeiten leicht genug
in Gegensatz geraten zum Gemüt mit seinen Gefühlsmodifikationen.
Die Unangemessenheit der jeweils vorhandenen Anschauungen der
eigentlichen Gesinnung gegenüber, sowie die Denkbewegung mit
der gegenseitigen Entfremdung der Stufenfolgen des logischen
Fortschritts, gehören ja zur Polarität des Psychischen, machen
sogar seine Lebendigkeit aus und können an und für sich noch
nicht als abnorm oder gar pathologisch gelten. Im einen Fall ist
es wieder das Raumschema, worin sich mit Distanzierung und Pro-
jizierung die Psyche darstellt und abhebt, im anderen das Zeit-
schema, worin die Gegensätze innerlicher Art, wie das vor allem
Hegel erkannt hat, in einem Doppelsinne aufgehoben werden, d. h.
zugleich überwunden und verwahrt. Die Psyche findet sich immer
vor die beiden Aufgaben gestellt: ıhre Kontinuität aufrecht zu
erhalten, ohne Fixierung durch die Vergangenheit dabei, und ebenso
den Rapport mit der Außenwelt, ohne zugleich sympathetisch
oder magisch von einer Fremdgesetzlichkeit sich erfassen zu lassen.
Homologie und anatomische Äquivalenz
Von
Prof. Dr. Eduard Beck
(Aus dem anatomischen Laboratorium der Psychiatrischen und Nervenklinik
der Universität München. Direktor: Geheimrat Bumke)
In seiner Arbeit!): Über das histogenetische Prinzip der Ein-
teilung der Großhirnrinde, sowie in weiteren Arbeiten?), hat Rose
unter anderem den Satz aufgestellt, daß es homologe, aber ana-
tomisch nicht äquivalente und anatomisch äquivalente, aber nicht
homologe Rindenfelder gibt?). Rose stützte sich dabei auf seine
histogenetischen Befunde vom Ammonshorn, vom Praesubiculum,
von der Regio entorhinalis, von dem sogenannten Cortex quin-
questratificatus (früher von Rose als Mesocortex bezeichnet) und
von der Inselrinde. Ausgehend von den Brodmannschen For-
schungen®?), in denen der sogenannte Cortex heterogeneticus nur
negativ definiert worden war, d.h. als ein Cortex, der im Gegen-
satz zur homogenetischen 6- bzw. 7-schichtigen Rinde nie eine
solche 6- bzw. 7-Schichtung durchgemacht hat, kam Rose zu der
Ansicht, daß die entorhinale Rinde einen eigenen Entwicklungs-
modus besitzt, den er als den tektogenetischen Grundtypus
dieser Region anspricht. Rose definiert in positiver Form diesen
Grundtypus dahin, daß es von einem gewissen Zeitpunkt ab (bei
der Maus nach der Geburt) zur Entwicklung einer zweiten, einer
akzessorischen Rindenplatte kommt. Die Neuroblasten wandern
dann nicht mehr in die eigentliche Rindenplatte, sondern legen sich
in der Tiefe zu einer eigenen Schicht zusammen, wodurch die
1) Journal f. Psych. und Neurologie, Bd. 32, H. 3, 1926.
2) Dasselbe Journal Bd. 34, 35, 37, 40 und 43, sowie Handbuch der Neurolo-
gie, herausgegeben von O. Bumke und O. Foerster, Springer 1935.
3) Zum Begriff der anatomischen Äquivalenz siehe C. u. O. Vogt in Psy-
chiatrisch-Neurologischer Wochenschrift, XXIX. Jahrgang, Nr18, 1927
und: Die Grundlagen und die Teildisziplinen der mikroskopischen Anatomie
des Zentralnervensystems im Handbuch der mikroskopischen Anatomie des
Menschen, herausgegeben von W. v. Möllendorff.
4) Siehe: Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde, Joh. Ambr.
Barth 1909.
202 Eduard Beck
zweite oder akzessorische Rindenplatte, die also überhaupt kein
Produkt der eigentlichen Rindenplatte ist, zustandekommt. Diese
zweite Rindenplatte ist durch einen hellen Streifen (eine fast
zellenlose Schicht, die Rose als Lamina dissecans bezeichnet) von
der ersten oder eigentlichen Rindenplatte getrennt. Es entstehen
also auf diese Weise in der entorhinalen Region 2 Rindenplatten,
eine äußere und eine innere, die durch eine fast zellenlose Schicht
getrennt sind. Die äußere Rindenplatte ist die Lamina principalis
externa, die innere die Lamina principalis interna (Pre und Pri).
Dieser Zustand kann erhalten bleiben, kann aber auch zur weiteren
Differenzierung innerhalb Pre und Pri führen. Auch die Lamina
dissecans (Ds) kann aus mehreren Schichten bestehen.
Diesen so zustandegekommenen Rindentyp bezeichnet Rose als
Cortex schizoprotoptychos, kurz Schizocortex. Da er zu
den Rindengebieten gehört, die sich aus dem gesamten Zellmaterial
der Matrix entwickelt haben, hat ihm Rose auch noch die überge-
ordnete Bezeichnung Cortex totoparietinus (Totocortex)
gegeben.
Außer der entorhinalen Rinde hat nach Rose aber auch das Prae-
subiculum genau die gleiche Entwicklung, wenn es auch im end-
gültigen Zustand völlig anders, vor allem viel primitiver gebaut ist.
Auch bei ihm kommt es zur Anlage einer Lamina principalis
externa, die von der Lamina principalis interna durch die Lamina
dissecans getrennt ist. Es ist also das Praesubiculum nach Rose
ebenfalls ein Schizocortex.
Rose hat damit zwei so verschieden gebaute Gebiete wie die en-
torhinale Rinde und das Praesubiculum mit Rücksicht auf ihre
gemeinsame Entwicklung zusammengefaßt und das so ausgedrückt,
daß beide Regionen ihrer Entstehung nach homolog
sind. Mit Rücksicht auf ihren differenten endgültigen
Bau kann man sie aber nicht als anatomisch äquivalent
bezeichnen.
Beim Cortex quinquestratificatus, den Rose anfänglich als Meso-
cortex angesprochen hat (es handelt sich dabei um die limbische
und retrospleniale Rinde) kommt es nach Rose zur Bildung einer
V., VI. und VII. Schicht, die den gleichnamigen Schichten
der homogenetischen Rinde homolog sind. Hingegen hat
sich die Lamina granularis primaria nicht wie üblich in die II., III.
und IV. Schicht differenziert, sondern ist zeitlebens undifferenziert
geblieben. Mithin handelt es sich um eine Rinde mit einem Rand-
schleier (die spätere I. Schicht), mit einer Lamina granularis pri-
maria (der undifferenzierten II. —IV. Schicht), einer V., VI., und
Homologie und anatomische Äquivalenz 203
VII. Schicht, zusammen also um 5 Schichten. Von diesen sind
also nur die inneren (V., VI. und VII.) den gleichnamigen des
Isocortex homolog.
Schließlich hat Rose noch den Begriff des Cortex bigenitus, sive
pallio-striatalis geprägt. Es handelt sich dabei um die Inselrinde,
die in der Entwicklungsperiode ihr Zellmaterial sowohl aus der
Matrix der Stammganglien, als auch durch Vermittelung des
Streifens X aus der Matrix des Holocortex bekommt. Dabei
rechnet Rose das Claustrum als Unterschicht der Inselrinde. Bei
der Inselrinde unterscheidet Rose eine granuläre, propeagranuläre
sowie eine agranuläre Region. Die granuläre und propeagranuläre
Region ist 9schichtig (inkl. Claustrum und Capsula extrema), sie
ist ein Cortex novemstratificatus. Die oberen 7 Schichten der
granulären Inselrinde (also ohne Claustrum und Capsula
extrema) sind nun nach Rose den 7 Schichten der homo-
genetischen Rinde anatomisch äquivalent, aber nicht
homolog.
Rose nımmt also an, daß nicht nur ganze Rindenquerschnitte
anatomisch äquivalent aber nicht homolog und umgekehrt sein
können, sondern sogar wie in seinem Cortex quinquestratificatus
einzelne Schichten, also ein Teilgebiet eines Rindenquerschnittes
homolog sind.
Diese Lehre Roses ist nicht aufrechtzuerhalten. Sie ist ın allen
Teilen falsch und beruht auf folgenschweren Irrtümern. In einer
demnächst erscheinenden Arbeit werde ich nachweisen, daß es
einen Schizocortex im Sinne Roses gar nicht gibt. Eine
zweite oder akzessorische Rindenplatte ist nirgends
zu finden, der Differenzierungsvorgang der einzelnen
Schichten spielt sich nur in der eigentlichen (von Rose
so genannt) Rindenplatte ab. Was wir in der entorhinalen
Rinde zu sehen bekommen, ist eine ungleiche Teilung der Rinden-
platte durch das Auftreten einer hellen Schicht, die im Laufe der
Entwicklung ihre Zellen mehr oder minder stark verliert. Diese
helle oder aufgehellte Schicht, die ich mit 5 bezeichne (es handelt
sich dabei um Dissecans von Rose) verläuft in einer bestimmten
Ebene und kommt nur in der entorhinalen Rinde vor.
Im Praesubiculum beobachten wir wohl auch eine aufgehellte
Schicht (ich bezeichne sie als £ II), diese hat aber mit der
8-Schicht in der entorhinalen Rinde nichts zu tun,
sie verläuft auch in einer ganz anderen Ebene (in einer
tieferen als 5).
204 Eduard Beck
Es kann mithin keine Rede davon sein, daß das Praesubiculum
und die entorhinale Rinde einen gleichartigen Entwicklungsmodus
aufweisen. Sie sind sowohl im Stadium der Entwicklung
als auch im endgültigen Stadium völlig different. Sie
sind also weder homolog noch anatomisch äquivalent.
Wenn man die Roseschen Veröffentlichungen studiert, so hat man
den Eindruck, das alles stimmt, und daß Rose nicht zu widerlegen
ist. Trotzdem ich schon seit länger als 10 Jahren der festen Über-
zeugung war, daß die Rosesche Lehre falsch ist und trotzdem ich
sogar bereits eindeutige Beweise dafür ın Händen hatte, konnte ich
zunächst nicht den Fehler, den Rose bei der Aufstellung seiner
Lehre gemacht hatte, entdecken. Erst bei Nachprüfung an neu ge-
wonnenem embryologischen Material gelang es mir, die Irrtümer
Roses aufzudecken. Rose hat nämlich übersehen, daß die Rinde der
Maus in der entorhinalen Region (und auch sonst) ungemein breit
ist und fast den ganzen Rindenquerschnitt einnimmt. Es bleibt für
die Zwischenschicht und die Matrix im Zeitpunkt der Entwicklung
der entorhinalen Rinde nur ein kleiner Teil übrig. Dadurch kommen
die unteren Zellagen der Rinde, die Rose als Lamina principalis
interna anspricht, ganz in die Tiefe zu liegen und es sieht so aus,
als ob hier eine eigene Rindenplatte sich bildete. Beim mensch-
lichen Embryo kann aber dieser Irrtum erst gar nicht aufkommen,
weil hier die Rindenplatte durch eine sehr breite Zwischenschicht
von der Matrix getrennt ist und in einem frühen Stadium (bereits
bei einem Embryo von 60 mm S. S. L.) die Differenzierungsvor-
gänge in der noch ganz schmalen (eigentlichen) Rindenplatte sich
abspielen. Wir beobachten hier eine mehr minder ausgeprägte
Aufhellung (von mir als 5-Schicht bezeichnet), die gleichzeitig mit
einer Abspaltung aus dem äußersten Teil der Rindenplatte (die
spätere nesterförmige Schicht der Entorhinalis unterhalb der I.)
einhergeht. |
Rose hat aber noch andere Irrtümer begangen, auf die ich hier
nicht weiter eingehen will. Ich muß auf meine spätere Arbeit ver-
weisen.
Weil es von größtem Interesse ist, möchte ich hier vorwegnehmen,
daß beim Menschen bereits bei einem Embryo von 160 mm S. S. L.
die Morphogenie der entorhinalen Region weitgehend vorgeschritten
ist und so die Abgrenzung einer großen Anzahl von Unterfeldern
ermöglicht. Wir müssen infolgedessen eine Protarchitektonik
von einer Deuteroarchitektonik unterscheiden, wobei es noch
besonderer Forschungen bedarf, ob und inwieweit sich beide von-
einander unterscheiden. Die Protarchitektonik ist die des em-
Homologie und anatomische Äquivalenz 205
bryonalen, die Deuteroarchitektonik die des postembryonalen
Gehirns.
Aber nicht nur die Rosesche Lehre vom Schizocortex ist falsch,
sondern auch die vom Cortex quinquestratificatus. Hier konnte ich
nachweisen, daß die Ansicht Roses, die Lamina granularis primaria
bleibe zeitlebens undiflerenziert, nicht richtig ist. Ich werde Ab-
bildungen aus dieser Gegend bringen, die nicht nur eine II., III. und
IV. Schicht erkennen lassen, sondern auch eine ganz besondere
Entwicklung der IV. Schicht, die in ihrer Breite und Differen-
zierung unmittelbar an die Regio!) striata (das von Brodmann als
Feld 17 bezeichnete Gebiet des Okzipitallappens) erinnert.
Was den Cortex bigenitus betrifft (also die Inselrinde) so werde
ich den Beweis bringen, daß auch hierfür die Lehre Roses falsch ist.
Es ist wohl richtig, daß die Inselrinde ihr Zellmaterial sowohl aus
der Matrix der Stammganglıen als auch der Matrix der homo-
genetischen Rinde (Holocortex) bezieht, aber es handelt sıch dabei
um nichts Besonderes. Rose hat hier einen Befund herausgegriffen
und zum Charakteristikum eines Rindengebietes erhoben, der
etwas Allgemeines darstellt, also nicht für die Insel-
rinde spezifisch ist. Wir können auch für die übrige Hirnrinde
wenigstens teilweise nachweisen, daß sie Zellmaterial aus der Matrix
der Stammganglien bezieht, und daß umgekehrt Zellmaterial
aus der Matrix der homogenetischen Rinde zu den Stammganglien
wandert.
Auch die Ansicht Roses, daß das Claustrum ein Teil der Insel-
rinde sei, ist nicht aufrechtzuerhalten, ebensowenig seine An-
nahme, daß das Claustrum erst beim Embryo von 10,5 cm Kopf—
Fußlänge entstünde. Das Claustrum wird schon viel früher ange-
legt und bildet einen Kern sui generis, der mit der Hırnrinde nichts
zu tun hat.
Schließlich werde ich mich noch zur sog. semiparietinen Rinde
(Semicortex) Roses zu äußern haben, über deren Genese ich gleich-
falls ganz anderer Ansicht bin als Rose.
In meiner oben schon angekündigten Arbeit werde ich meine
Behauptungen eingehend beweisen und durch Bildmaterial be-
legen. Ich werde auch zu vielen anderen Ansichten Roses Stellung
nehmen, sowie zu einer neuen Betrachtungsweise über die Ent-
stehung der Hirnrindenschichten vorstoßen, die auch wieder
gestattet, zur Funktionsfrage der Schichten Stellung
1) Vgl. Eduard Beck: Der Occipitallappen des Affen (Macacus rhesus)
und des Menschen in seiner cytoarchitektonischen Struktur. Journ. f. Psych.
u. Neur. Bd. 46, H. 4 u. 5, 1934.
206 Eduard Beck, Homologie und anatomische Äquivalenz
zu nehmen, eine Frage, die nach der Roseschen Lehre unmöglich
war, da Rose den Weg dazu völlig verbaut hatte. Denn was will
man damit anfangen, wenn Rose unter anderem sagt, eine so ein-
fach gebaute Rindenstelle wie z. B. das Subiculum entspräche ın
toto, also in allen Schichten der ganzen Rinde des Homo-
cortex (homogenetischen Cortex), ließe mithin keinen Vergleich
oder eine Inbeziehungsetzung der einzelnen Rindenschichten zu.
Die Rosesche Lehre über die Histogenese der Hirnrinden-
schichten ist falsch. Daher kann man die Roseschen Folgerungen,
daß es homologe, anatomisch aber nicht äquivalente
oder anatomisch äquivalente, aber nicht homologe
Felder gäbe, keinesfalls gelten lassen. Alle darauf basierenden
Schlußfolgerungen bedürfen ebenso einer Korrektur, wie das
Rosesche Prinzip der Histogenese der Einteilung der Großhirnrinde,
das eigentlich ein solches der Morphogenie ist.
Zur Frage des ‚‚Familien- und Selbstmordes‘“‘
Von
Dr. Günter Elsäßer
(Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn und dem Rhein.-Prov.-Institut
für psychiatrisch-neurologische Erbforschung in Bonn.
Direktor: Prof. Dr. K. Pohlisch)
Die Frage des sog. Familienmordes oder erweiterten Selbst-
mordes hat immer wieder zu kriminalpsychologischen und psycho-
pathologischen Bearbeitungen angeregt. Handelt es sich doch hier
um besonders erschütternde und zunächst scheinbar unverständ-
liche Schreckenstaten. 1907 hat dieses Thema sogar den psychiatri-
schen Verhandlungsgegenstand auf der Tagung der Deutschen Ge-
sellschaft für gerichtliche Medizin abgegeben, woraufhin in den
nachfolgenden Jahren eine Reihe einschlägiger Veröffentlichungen
entstanden. In den letzten 10 Jahren ist nun der „Familienmord‘“,
wie es scheint, in Vergessenheit geraten, obwohl derartige Fälle
sicher nicht seltener geworden sind. Wenn ich jetzt einen neuer-
lichen Beitrag zu dieser Frage bringe, so leitet mich dabei der Ge-
danke, daß die grundlegende weltanschauliche Umstellung, die sich
in den letzten Jahren grade hinsichtlich des Wertes der Familie
vollzogen hat, auch die Beurteilung des Familien- und Selbst-
mörders maßgeblich beeinflussen wird. Daß dem so ist, zeigt das
richterliche Urteil in dem von mir begutachteten Falle, welches
nämlich erstmalig in der neueren Rechtsprechung bei diesem Ver-
brechen die Todesstrafe verhing. Das Thema dürfte im übrigen für
den Psychiater von ebenso großem Interesse sein wie für den Ge-
richtsmediziner, da die an sich nicht gerade seltenen Fälle ge-
wöhnlich vom Psychiater begutachtet werden.
Die Bezeichnung ‚„Familienmord‘‘ oder ‚erweiterter Selbstmord“
wird im Schrifttum angewandt, wenn ein zum Selbstmord ent-
schlossener Mensch Frau und Kinder tötet, um sie nicht im Elend
zurückzulassen, und anschließend Hand an sich selbst legt. Die
beiden üblichen Bezeichnungen sind keineswegs glücklich, da als
„Familienmord‘“ z.B. auch Tötungen von Familienangehörigen
beschrieben werden, die nicht aus suizidalen Absichten des Täters
208 Günter Elsäßer
heraus entstanden sind. Man würde daher vielleicht besser vom
„Familien- und Selbstmord‘‘ sprechen, da sich eine eindeutige
Schlagwortbezeichnung für den komplizierten Tatbestand wohl
nicht gut finden läßt.
Der Familien- und Selbstmord hat nun verständlicherweise be-
sonders nahe Beziehungen zum Selbstmordproblem. Die Persön-
lichkeitsstrukturen der verhältnismäßig oft überlebenden Täter
sind vielgestaltig wie die der Selbstmörder. Wie bei diesen ist ein
Teil von ihnen ausgesprochen geisteskrank. Unter den Nicht-
geisteskranken finden sich vor allem verschiedene Formen von
Psychopathen. Typenpsychologische Zuordnungen lassen sich bei
der Verschiedenartigkeit der Motive und Ursachen wohl nur von
Fall zu Fall versuchen. Daß sich auch völlig Gesunde und Voll-
wertige unter den Tätern finden können, soll grundsätzlich zu-
gegeben werden, kommt aber sicher nur äußerst selten vor. Gerade
beim Familien- und Selbstmord ist man geneigt, verhältnismäßig
oft einen sog. „Bilanzselbstmord‘““ anzunehmen, da es sich ja meist
um kinderreiche Familien in armseligen Verhältnissen handelt.
Tatsächlich spielen die äußeren Schwierigkeiten eine große Rolle,
und es werden auch Bilanzen gezogen. Aber das Entscheidende
liegt nicht darin, sondern fast immer in der Persönlichkeit des
Täters. Ihm erscheinen Schwierigkeiten unüberwindlich, die einen
anderen noch längst nicht zum Verzicht gebracht hätten. Und ihm
erscheint die Lage gewöhnlich auch nur in einem bestimmten Augen-
blick oder in einer bestimmten Gemütsverfassung aussichtslos,
wenn etwa zusätzliche Ereignisse eintreten, die ihn übermannen.
Wenn also überhaupt eine Bilanz gezogen wird, so ist sie objektiv
fast immer falsch gezogen, was aber nicht hindert, daß sie der Täter
als richtig empfindet. Damit hängt es wohl zusammen, daß die
Familien- und Selbstmörder nur in Ausnahmefällen Reue über ihre
Tat zeigen.
Während also die Selbstmordfrage in alle echten Fälle von
Familien- und Selbstmord hineinspielt, müssen gewisse Teilfragen
des Selbstmordproblems nur gelegentlich erörtert werden. So kann
z. B. einmal ein Doppelselbstmord vorliegen, wenn beide Eheleute
gemeinsam Selbstmord beschließen und ihre Kinder in den Tod mit-
nehmen, oder Gruppenselbstmord, wenn die Kinder ebenfalls mit
dem Tod einverstanden sind. Hin und wieder kommt auch der Fall
vor, daß die Selbstmordabsicht nicht vom Täter ausgeht, sondern
von der Ehefrau, die sich dann von dem Mann ‚auf Verlangen“
töten läßt. Hier handelt der Mann meist unter dem starken sug-
gestiven Einfluß der Frau, welcher manchmal nur so lange an-
Zur Frage des ‚„Familien- und Selbstmordes“ 209
dauert, wie die Frau noch nicht getötet ist. In einem solchen Fall
unterbleibt dann unter Umständen der Selbstmord des Mannes.
Nicht mehr hierher gehörig, aber gelegentlich schwer davon zu
trennen, sind dagegen solche Fälle, wo die Tötung der Familie und
der Selbstmord des Täters sich nicht aus den gleichen suizidalen
Beweggründen herleiten — sei es, daß ein Familienmörder Selbst-
mord nur vortäuscht, um sich eine mildere Strafe zu sichern, sei es,
daß sein Selbstmord sich mehr wie zufällig dem Familienmord an-
schließt (‚Selbstmord nach Gewalttat‘‘). Familientötungen durch
ausgesprochen Geisteskranke sollen hier ebenfalls im wesentlichen
nicht abgehandelt werden.
Die im Schrifttum vermerkten Fälle von Familien- und Selbst-
mord lassen sich bis in frühere Jahrhunderte zurückverfolgen. Nur
ein Teil dieser Fälle ist psychopathologisch so bearbeitet, daß man
ein klares Bild von der Persönlichkeit der Täter gewinnen kann.
Es ist schon aus diesem Grunde nicht notwendig, und übrigens auch
kaum möglich, die verstreute Literatur lückenlos zusammenzu-
tragen. Eine besonders umfangreiche Zusammenstellung haben
außerdem Gruhle und Wetzel!) bereits 1914 und 1920 versucht,
unter deren 153 Massenmordfällen sich allein 52 Fälle von Familien-
und Selbstmord befinden. In ihren beiden Arbeiten über den
Massenmord sind die Mitteilungen aus dem Schrifttum von etwa
1800 bis 1920 verwertet?). Allerdings stellen ihre Fälle eine Aus-
wahl nach dem Gesichtspunkt dar, daß mehr als eine Person getötet
wurde. Es fehlen also bei ihnen die nicht seltenen Fälle, daß eine zum
Selbstmord entschlossene Mutter ein Kind in den Tod mitnimmt.
Daß derartige Familientragödien — wie nicht anders zu erwarten
— auch in noch weiter zurückliegenden Zeiten vorgekommen sind,
1) H. W. Gruhle und A. Wetzel, Verbrechertypen. 1. Band, 3. Heft: Zur
Psychologie des Massenmordes. Berlin 1914. — A. Wetzel, Über Massen-
mörder. Berlin 1920.
3) In psychopathologischer Hinsicht sind davon wichtig: A. Leppmann,
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 1895 S.229 (1 Fall). — A. Stegmann,
Monatschr. f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform I (1905) S. 115—117
(1 Fall). — L.von Muralt, Über Familienmord. Monatschr. f. Kriminal-
psychologie II (1905) S. 88—109 (5 Fälle). — R. Sommer, Klinik f. psych.
u. nerv. Krankh. I, 1906 S.1 (1 Fall). — F. Straßmann, Vierteljahrsschr. f.
Gerichtl. Med. Bd. 35, 1908, Suppl.-H. S. 137—157 (12 Fälle und 4 Fälle der
Diskussion). — Kühlewein, Ein Beitrag zur Beurteilung des Familienmords.
Monatsschr. f. Krim.psychol. V, 1909 S. 703—710 (4 Fall). — Bittinger,
Psychopath und Ästhetin. Arch. f. Kriminol. Bd. 66, 1916 S. 132—146
(1 Fall). — L.W.Weber, Der Familienmord. Arch. f. Kriminol. Bd. 67,
1916 S. 269—298 (5 Fälle). — F. Straßmunn, Vierteljahrsschr. f. Ger. Med.
3. Folge Bd. 51, 1916, S. 54—68 (2 Fälle).
14 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
210 Günter Elsäßer
zeigt die Arbeit H. von Webers!), der 1937 unter besonderem Ge-
sichtspunkt auch einige Fälle von Familien- und Selbstmord er-
wähnt, die sich am Anfang des 17. und am Ende des 18. Jahr-
hunderts zugetragen haben. Auf eine Besprechung des Schrifttums
soll verzichtet werden, da Wetzel sie im wesentlichen schon vor-
genommen hat. Immerhin ist es interessant, sich wenigstens in
großen Zügen die Einstellung früherer Richter und Sachverstän-
diger zu vergegenwärtigen. Im ausgehenden Mittelalter wurden die
Täter, soweit sie nicht grob geistesgestört waren, im Sinne der „Ver-
geltung‘‘ mit dem Tode bestraft. In der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ist die Rechtsprechung dagegen höchst uneinheitlich.
Neben vereinzelten Todesstrafen (so 1803, 1846, 1851, 1856)?)
kommen verschieden schwere Freiheitsstrafen und sogar Frei-
sprechungen vor, letztere auch dann, wenn der Sachverständige
die Zurechnungsfähigkeit des Täters bejaht hatte. Offenbar bildete
sich allmählich die Überzeugung, daß der Familien- und Selbst-
mord, der so oft aus menschlich verstehbaren und scheinbar edlen
Motiven erfolgte, nicht wie ein gemeiner Mord abgeurteilt werden
dürfe. Nach 1860 ist m. W. die Todesstrafe nicht mehr verhängt
worden.
Auch die wenigen nach Wetzels Arbeit von 1920 entstandenen
Veröffentlichungen?) lassen diese verstehende und entschuldigende
Einstellung durchaus erkennen. Eine ähnliche Beurteilung fand
auch der erste der beiden von mir bearbeiteten Fälle im Jahre 1950
von seiten des Schwurgerichts:
Der 41jährige, nicht vorbestrafte Bergmanns-Invalide Franz Schi. tötete
in der Nacht auf den 3. April 1930 seine Frau und 5 Kinder und verletzte
seinen 2jährigen Sohn schwer. Er betäubte alle Familienmitglieder durch
Hammerschläge auf den Kopf und brachte ihnen dann mit Ausnahme des
Jüngsten, den er offenbar übersah, tiefe Halsschnitte bei. Daraufhin schnitt
er sich beiderseits in die Pulsadergegend und in den Hals. Er wurde infolge
des Blutverlustes besinnungslos, wurde aber am folgenden Morgen vernehmungs-
fähig, wenn auch sehr entkräftet aufgefunden. Er gab die Tat sofort zu und
betonte vor allem, daß er die Tat mit voller Überlegung ausgeführt habe.
Aus seinen Angaben und den Zeugenaussagen läßt sich folgende Vorgeschichte
1) H.v. Weber, Selbstmord als Mordmotiv. Monatsschr. f. Kriminalbiol.
u. Strafrechtsreform Bd. XXVIII (1937) S.162 Anm. 4u. 5, ferner Fall 13
(S. 165) und die Fälle 16, 18 und 20 auf S. 166.
2) Gruhle u. Wetzel, a. a. O., Fall 4, 25, 38 und 44.
3) Angeführt seien: O. Klieneberger, Über Affektspannung und Verant-
wortlichkeit auf Grund zweier Fälle von Selbstmordversuch nach Mord.
Deutsche Zeitschrift f. d. ges. ger. Med. Bd. 5, 1925 S. 254—272 (1 Fall). —
F. Reuter, Über Giftmordversuch. Zschr. f. d. ges. ger. Med. Bd. 9, 1927
S. 431—441 (2 Fälle). — Fürst, Hirschfeld, Riese, Steinschneider, Der Fall
Wiechmann. Referiert in Monatsschrift f. Krim.biol. XX, 1929 S. 192 (1 Fall).
Zur Frage des ‚„Familien- und Selbstmordes“ 211
ermitteln: Schi. hat in der Schule nicht besonders gelernt, ist aber nicht
sitzen geblieben. Vom 17. Lebensjahr an ging er als Bergmann in die Zeche,
mußte aber ein Jahr vor der Tat wegen Augenzitterns seinen Beruf aufgeben.
Er erhielt eine für seine große Familie knappe Rente und geriet nun — vor
allem durch die unwirtschaftliche Hausführung seiner Frau — schnell in
Schulden. Die Familie bezog ihre Nahrungsmittel in den letzten Monaten
nur noch auf Borg, da Schi. zur Deckung seiner Schulden seine Rentenkarte
verpfändet hatte. Die äußeren Verhältnisse waren an sich seit langem schon
jammervoll: die große Familie wohnte in 2 Räumen, von denen die Küche
dem Ehepaar und den 6 Kindern im Alter von 15 bis 2 Jahren zum gemein-
samen Schlafraum diente. Eine Vorstellung dieses Elendsmilieus gibt die
Wohnung des Bruders Wladislaus Schi., der heute noch mit 6 Kindern in
einer ebenfalls kaum beschreiblichen Enge und Verwahrlosung haust. In
dieser schon länger bestehenden trostlosen Lage traten nun in den letzten
Tagen vor der Tat weitere Mißgeschicke ein: Schi. erhielt die Räumungs-
klage, hatte aber keine Möglichkeit, eine andere Wohnung zu bekommen.
Außerdem wurde er aufgefordert, für einen Heilstättenaufenthalt seiner
Tochter einen erheblichen Betrag ans Wohlfahrtsamt abzuführen, während
ihm gleichzeitig der bisherige Milchbezug für die wiederhergestellte Tochter
gestrichen wurde. Er tat nichts gegen diesen Bescheid, bat vor allem auch
nicht um laufende Unterstützung, sondern ergab sich einer stummen Ver-
bitterung. Zu diesen äußeren Schwierigkeiten kamen schwerwiegende häus-
liche Zerwürfnisse. Schi. beobachtete seine Frau mit ständiger Eifersucht,
wobei er übrigens auch Grund hatte, an ihrer ehelichen Treue zu zweifeln.
Sıe hinwieder machte ihm den Vorwurf, daß er seiner ältesten Tochter Maria
nachstelle. Unbegründet ist auch dieser Vorwurf nicht gewesen. Als die Tochter
2 Tage vor der Tat darüber gar verhört wurde, geriet Schi. in eine schwere
Verstimmung. War er schon in den letzten Wochen durch sein gedrücktes,
scheues Wesen aufgefallen, so wurde er in den beiden letzten Tagen mehrfach
geradezu verstört und vor sich hinbrütend beobachtet. Seine drohenden An-
deutungen wurden von der Frau verächtlich abgetan, obwohl diese mit
Tötungsabsichten rechnete und deshalb sogar das Brotmesser in den Weiher
warf. In der Tatnacht wachte Schi. aus festem Schlaf auf, stellte sich sein
ganzes Unglück vor und faßte den Entschluß, aus dem Leben zu scheiden.
Erst nach langem Grübeln will er seinen Entschluß dahin geändert haben,
auch seine Familie in den Tod mitzunehmen. Nur Schi. selbst und der jüngste
Sohn erlagen den schweren Verletzungen nicht.
Schi. wurde nach seiner Wiederherstellung in einer Heilanstalt auf seinen
Geisteszustand beobachtet. In dem Gutachten wird ausgeführt, daß Schi.
sicher nicht geisteskrank, wohl aber neuropathisch veranlagt sei. Durch die
Wucht so vieler mißlicher Lebensverhältnisse sei er in einen ängstlichen
Verstimmungszustand geraten, der in der Tatnacht eine plötzliche Steigerung
erfahren habe. Ein Zustand von affektiv so getrübtem Bewußtsein erfülle
aber die Voraussetzungen des $51. Als Beweis der Bewußtseinstrübung
wird vor allem angeführt, daß Schi. keinerlei Schmerz empfand, als er sich
die Schnitte beibrachte.
Im Gegensatz dazu hält das psychiatrisch-gerichtsärztliche Obergutachten
zwar an der Diagnose ‚reaktive Depression‘ fest, bejaht aber die Zurech-
nungsfähigkeit Schi.s während der Tat. (‚Diese reaktiven Zustände haben
keinen ernstlichen Krankheitswert, insbesondere beeinflussen sie die freie
Willensbestimmung kaum jemals in so hohem Maße, daß die Voraussetzungen
des $ 51 als erfüllt anzusehen wären.‘‘)
14°
212 Günter Elsäßer
Schi. wurde daraufhin wegen Totschlags zu: 10 Jahren Gefängnis ver-
urteilt. In der Haft, die in 2 Jahren abgebüßt ist, hält sich Schi. meist für sich,
ist zeitweilig verstimmt über seine lange Strafe, im übrigen aber hilfsbereit
und wohlgelitten. Im September 1932 machte er einen mehrtägigen Ver-
stimmungszustand durch, der zunächst den Verdacht auf einen katatonen
Stupor erweckte. Er sprach nicht, starrte vor sich hin und verweigerte die
Arbeit. Seither haben sich jedoch keinerlei Anzeichen einer schizophrenen
oder sonstigen Psychose eingestellt. Nach der Haftentlassung will Schi. seinem
überlebenden Sohn ein guter Vater sein. Als Trost gilt ihm, daß die Getöteten
nun sämtlich Engel seien.
Über die — ursprünglich polnische — Familie ist bekannt (z. T. durch
Hausbesuche), daß der Vater nach einem Betriebsunfall mit hysterischer
Pseudodemenz reagierte und deshalb mehrfach psychiatrisch beobachtet
wurde. Organische Krankheitserscheinungen haben sich dabei nicht gefunden.
Er erhielt seit seinem 47. Lebensjahr eine Vollrente. Er soll einmal einen vorher
angekündigten Ertränkungsversuch gemacht haben. Bei der jetzigen Haus-
untersuchung war die Verständigung durch Schwerhörigkeit erschwert,
hysterische Erscheinungen finden sich aber 1938, wo die Rentenfrage längst
erledigt ist, in keiner Weise mehr. Wahrscheinlich ist er von jeher beschränkt
gewesen.
Die Mutter war in den letzten Lebensjahren geistesgestört, wurde jedoch
nie klinisch untersucht. Es läßt sich nach den schlechten Schilderungen der
Angehörigen nicht entscheiden, ob es sich um einen einfachen senilen Abbau
oder um eine Alterspsychose mit Wahnideen gehandelt hat. Sie starb 1926
mit noch nicht 60 Jahren.
Von den 6 Geschwistern ist ein Bruder ein Vagabund, der mit der Familie
keine Beziehungen mehr unterhält. Die anderen Geschwister leben bzw.
lebten in ärmlichen Verhältnissen (Fabrikarbeiter mit großen Familien).
Schi. ist ein energieloser, unterwürfiger und zugleich etwas ver-
schlagener, zu reaktiven Verstimmungen neigender Mensch. Er
hat nicht die Kraft, der Mißwirtschaft seiner Frau zu steuern,
sondern sieht tatenlos zu, wie sich seine Lage, die an sich nicht un-
günstiger ist als die anderer Arbeiterfamilien, mehr und mehr ver-
schlimmert. Unter dem Eindruck wirtschaftlicher Not und häus-
licher Zerwürfnisse trägt er sich Wochen hindurch mit den Gedan-
ken an eine Gewalttat, um diese dann in plötzlichem Entschluß
auszuführen. Er handelt sicher im Affekt, aber doch nicht unüber-
legt. Das Schwurgericht dagegen trägt der Besonderheit dieser
„Morde“ Rechnung und lehnt aus juristischen Erwägungen heraus
die „Überlegung“ bei der Tat ab. Die Neigung zu psychogenen
Reaktionen, die beim Vater deutlich vorhanden ist, spielt bei Schi.
selbst auch eine Rolle, wie unter anderem sein Verhalten in der
Haft zeigt.
Der zweite — von mir begutachtete — Fall fand eine wesentlich
andere Beurteilung durch das Schwurgericht:
In der Morgendämmerung des 8. 7. 1937 tötete der 39jährige, nicht vor-
bestrafte Landwirt Johann M. seine Frau und die 4 Kinder im Alter von
Zur Frage des ‚„Familien- und Selbstmordes‘‘ | 213
7 bis 1!/, Jahren. Er trieb zuerst seiner schlafenden Frau einen Drahtnagel
in die rechte Schläfe, um sie zu „betäuben‘“, und schnitt ihr dann mit dem
Taschenmesser den Hals bis zur Wirbelsäule durch. Die Kinder betäubte er
dem Alter nach durch Hammerschläge und brachte ihnen dann ebenfalls
ausgedehnte Halsschnitte bei. Er selbst flüchtete mit dem Fahrrad weit fort,
um angeblich abseits von seinem Besitztum Selbstmord zu verüben, da er
sein Haus dadurch nicht ‚‚entweihen‘‘ wollte. Er machte jedoch von dem
mitgenommenen Strick nicht Gebrauch und gab auch die Absicht sich zu
ertränken auf. Er besuchte einen Kriegskameraden, den er seit Kriegsende
nicht mehr gesehen hatte, und betete in mehreren Kirchen. Sodann kaufte
er ein Paket Kerzen, die er bei den Leichen aufstellen wollte. Um ungehindert
an sein Haus zu gelangen, durchquerte er — schon von der Polizei verfolgt —
ohne Weg die Wälder. Nachdem er entdeckt hatte, daß sein Hof bewacht
wurde, erwartete er in einer nahe gelegenen Schonung den Morgen und stellte
sich — 24 Stunden nach der Tat — den Polizeibeamten.
Auch M. gab erschöpfend und aufrichtig Auskunft. Er war auf dem elter-
lichen Hof inmitten von 10 Geschwistern, von denen allerdings mehrere klein
starben, aufgewachsen. Das Verhältnis zu den Geschwistern war nicht immer
gut; er konnte ohne triftigen Grund ungemein heftig werden. In der Schule
waren seine Leistungen etwas unter dem Durchschnitt. In den letzten Kriegs-
jahren wurde er eingezogen. Nach der Entlassung vom Militär arbeitete er
wieder in der väterlichen Landwirtschaft bis zu seiner Heirat (1929). Seitdem
wohnte er im Hause seiner Schwiegermutter und war als Knecht in der Land-
wirtschaft bzw. als Straßenarbeiter tätig. Von jeher hatte er den Drang,
voranzukommen und Geld zu verdienen. In schneller Folge gebar ihm seine
Frau 5 Kinder, von denen eines allerdings wieder starb. Durch die große
Familie füblte er sich in seinem Fortkommen gehindert, er wagte es aber
doch, 1934 ein Haus gegen jährliche Ratenzahlungen anzukaufen. Er war
nach dem Zeugnis aller Nachbarn ungemein fleißig und sparsam, und doch
gelang es ihm zu seinem Verdruß nicht, die jährlichen Raten abzutragen.
Daß einige der Nachbarn nicht weniger verschuldet waren als er, gab er selbst
zu. Für bedrohlich hielt eigentlich seine wirtschaftliche Lage niemand außer
ihm selber.
Auch bei M. kamen nun besondere Umstände dazu, die ihn ständig wurmten
und bedrückten: Er hatte als Eingeheirateter im Dorfe einen schwierigen
Stand; so gab es z. B. häufig kleine Streitigkeiten mit Nachbarn. Von seinen
eigenen Angehörigen fühlte er sich aber auch im Stich gelassen, da diese ihm
nicht mit Geld aushelfen wollten. Ein Darlehensgesuch war noch immer
nicht entschieden.
In den letzten Tage vor der Tat klagte ferner seine Frau über Beschwerden,
die von einer erneuten Schwangerschaft ausgingen. Zugleich verendete ein
Maulesel, um den er, da er unvorteilhaft erhandelt war, viel Spott hatte er-
tragen müssen. Seinen Unmut verbarg M. trotzdem so gut, daß niemand ihm
etwas anmerkte. Er galt allgemein als besonders besorgter Familienvater.
Am Tage vor der Tat arbeitete er noch unentwegt im Kreise der Verwandten
auf dem Felde. Am späten Abend kam er heim und besprach mit seiner Frau
wieder seine Notlage. Die Frau beklagte sich dabei anhaltend über ihre neue
Schwangerschaft und machte ihm zugleich Vorwürfe, daß er mehr Pachtland
gepachtet habe, als sie bearbeiten könnte, wenn er zum Straßenbau gehen
müsse oder gar als Reservist eingezogen würde. Diese Gespräche wurden
auch noch im Bett bis tief in die Nacht fortgesetzt, wobei die Frau angeblich
214 Günter Elsäßer
wiederholt den Wunsch äußerte, mit ihren Kindern im Himmel zu sein. Als
die Frau in den frühen Morgenstunden endlich eingeschlafen war, fand er
selbst noch immer keine Ruhe. Wie er angab, überlegte er über eine Stunde
lang seine Lage mit aller Klarheit und kam schließlich zu der Überzeugung.
daß der einzige Ausweg der gemeinsame Tod sei. Es habe ihn so eine „‚Kalt-
blütigkeit‘‘ erfaßt, die Tat auszuführen. Dabei bestärkte ihn in seinem Ent-
schluß der Gedanke, daß Frau und Kinder in ihrer Sehnsucht nach dem
Himmel gleichsam als Märtyrer von fremder Hand sterben und damit die
ewige Seligkeit gewinnen würden. Er glaubte also eine gute Tat zu tun. Zu-
nächst war er entschlossen, anschließend Selbstmord zu begehen, er über-
legte sich aber nach der Tat, daß der Selbstmörder nach den Lehren der
katholischen Kirche ewig verloren sei, und wollte daher selbst die Strafe des
weltlichen Richters erleiden. Die Ausführung der Tat erfolgte aus seiner
verzweifelten Stimmungslage heraus, aber doch mit Bedacht und Über-
legung. Vor allem kam es ihm darauf an, seinen Angehörigen einen schmerz-
losen Tod zu bereiten. Er stieg vorsichtig über seine Frau hinweg, um sie
nicht zu wecken, und holte aus dem Keller Nägel und Hammer. Mit den
Nägeln wollte er seine Familie in ähnlicher Weise betäuben, wie man Großvieh
beim Schlachten betäubt. Tatsächlich blieb der erwartete Erfolg aus, denn
seine Frau richtete sich auf, als der Nagel in die rechte Schläfe eingetrieben
war, und rief: „Ach Johann!“ Er versetzte ihr darauf heftige Schläge mit
dem Hammer auf den Kopf und schnitt ihr mit dem Taschenmesser in den
Hals. In derselben, scheinbar brutalen Weise tötete er dann seine Kinder.
Nach der Tat schrieb er noch einen im ganzen geordneten Abschiedsbrief
und warf der Ziege, die er meckern hörte, Heu vor. Dann folgte die planlose,
24stündige Irrfahrt, bei der er aber ebenfalls von mehreren Personen in
geordnetem Zustand gesehen wurde.
In der Untersuchungshaft benahm er sich den vorhergegangenen Erleb-
nissen entsprechend. Er war leicht depressiv und etwas wehleidig und ver-
suchte immer wieder, seinen widerstrebenden Gefühlen Ausdruck zu geben,
so, wenn er sich z. B. stets bei der Wiederkehr des Wochentages, an dem er
seine Familie getötet hatte, besonders niedergeschlagen zeigte. Widerstrebend
waren seine Gefühle insofern, als er seine Handlung ja für eine gute Tat hielt,
überall aber das Entsetzen feststellen mußte, das die Erwähnung derselben
auslöste. Die verschiedenen Reaktionen der Zuhörer kennen zu lernen, war
ihm offenbar sehr wichtig, denn er nahm jede Gelegenheit wahr, seine Tat mit
allen Einzelheiten anderen mitzuteilen. Aus seiner einfachen, kindlich religiösen
Denkweise heraus lassen sich wohl die folgenden Angaben erklären, daß er
in den ersten 4 Wochen im Gefängnis häufig das Murmeln eines Leichenzuges
oder die ‚‚Schlafatemzüge‘‘ seiner Frau gehört habe. Erst nachdem er wußte,
daß von seinem Gelde Totenmessen gelesen wurden, verschwanden diese
Erscheinungen, die er sich in der Weise erklärte, seine Frau habe ihn dadurch
„erinnern“ wollen. Zuletzt erschien ihm seine Frau im Traume in himm-
lischem Glanze, womit sie ihm — seiner Ansicht nach — anzeigen wollte,
daß ihr der Wunsch nach dem Himmel erfüllt worden sei.
Es geht jedenfalls nicht an, für diese Erscheinungen echte
psychotische Störungen verantwortlich zu machen, da die Unter-
suchung gar keinen Anhalt für eine schizophrene oder sonstwie ge-
artete Psychose ergab. Vor allem war auch seine Ausdrucksweise klar
und folgerichtig. Paralogische Störungen im Sinne Kleists, die
Zur Frage des „Familien- und Selbstmordes‘“ 215
manchmal erst den Verdacht auf eine schleichende Prozeßpsychose
wachrufen, fanden sich in keiner Weise. Aber auch sein gefühls-
mäßiges Verhalten war durchaus einfühlbar. Er wünschte, für seine
Tat bestraft zu werden, und rechnete mit der Todesstrafe.
In meinem Gutachten stellte ich mich auf den Standpunkt, daß
M. für seine Tat verantwortlich zu machen sei, jedoch versuchte
ich, darüber hinaus die psychologischen Hintergründe der Tat auf-
zuzeigen, die aus einer nicht krankhaften, aber vom Selbstmord-
entschluß getragenen, verzweifelten Gemütsverfassung erfolgte.
Die Staatsanwaltschaft erhob dementsprechend Anklage wegen
Totschlags. Das Schwurgericht hielt jedoch unter dem Eindruck
der Angabe M.s, er habe die Tat mit Überlegung ausgeführt, Mord
in 5 Fällen für erwiesen. M. nahm das Todesurteil ohne das ge-
ringste Zögern an und ist bereits hingerichtet worden.
Die nächsten Familienangehörigen, die mir durch Hausbesuche bekannt
sind, sind abgesehen vom ältesten Bruder, unauffällig. Es sind ebenfalls
einfache, etwas mürrische und verschlossene Bauersleute in ärmlichen Ver-
hältnissen. Der älteste Bruder ist schwachsinnig, jedoch handelt es sich hierbei
sicher um einen geburtstraumatisch bedingten Schwachsinn mit spastischen
Symptomen. Bezüglich der weiteren, sehr großen Sippe hat die Durchsicht
der Zentralkartei des Rheinlandes im Erbinstitut in Bonn keine Fälle von
Schwachsinn oder Psychosen ergeben, die anstaltsbedürftig geworden wären.
M. ist von jeher ein stiller, etwas starrer und undurchsichtiger
Mensch gewesen, mit dem kaum jemand Verkehr hatte. Er war nur
auf seinen Vorteil und sein wirtschaftliches Emporkommen bedacht,
schaffte emsig und wirtschaftete äußerst vorsichtig. Trotzdem
geriet er in eine gewisse Notlage, die aber keinesfalls bedrohlich war.
Er war nun allerdings gar nicht der Mensch, Schwierigkeiten ge-
duldig zu überwinden. Schon früher, wenn die Geschwister nicht
nach seinem Kopfe wollten, konnte er furchtbar heftig werden und
Drohungen wie ‚„Halsabschneiden‘ u. dgl. ausstoßen. Die Schwie-
rigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, empfand er als ungerechte
Härte des Schicksals, gerade weil er nur für seine Familie lebte und
ununterbrochen arbeitete. Daß seine Frau ihm in der Tatnacht
Vorwürfe machte, muß ıhn besonders getroffen haben. Seine Vor-
sorge für die Familie war dabei ohne eigentliche menschliche Wärme,
so sehr er das auch beteuerte. Die Familie galt ihm als ein Teil
seines Besitztumes; für Familie und Wirtschaft arbeitete er in der
gleichen, ungeduldigen, verbissenen Art. Auch seine Religiosität,
die seine Tat so maßgeblich beeinflußte, war ihm keine Herzens-
sache, vielmehr erschöpfte sie sich in einigen kritiklos übernom-
menen Lehrsätzen der Kirche, die in seiner sonstigen Lebens-
führung höchstens ganz oberflächlich mitverwertet wurden.
216 Günter Elsäßer
Beide Täter, Schi. und M., lassen die Probleme des Familien-
und Selbstmordes besonders klar erkennen. Vergleicht man zu-
nächst Schi. und M. miteinander, so fallen ohne weiteres eine Reihe
von Gemeinsamkeiten der äußeren Situation und der Tatgestaltung
auf. Beide leben unter schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen,
die aber nach der Ansicht maßgebender Beurteiler nicht un-
günstiger waren als die vieler anderer Familien. Beide werden erst
dann zur Tat gedrängt, als verschiedene, an sich unbedeutende
mißliche Umstände eintreten. Und beide gehen mit größter Bru-
talität, mit Hammer und Messer, zu Werke. Gerade diese äußeren
Merkmale haben sie mit den meisten Familien- und Selbstmördern
gemeinsam. Nicht so die inneren Gegebenheiten der Persönlich-
keit, die gerade bei Schi. und M. grundverschieden sind und — wenn
man einen Analogieschluß ziehen darf — wohl auch bei den anderen
derartigen Tätern verschieden sein werden. Genaueres läßt sich dar-
über bei der Art der durchschnittlichen Literaturmitteilungen
leider nicht aussagen. Schi. und M. sind dagegen gut zu beurteilen:
Schi. ein weichlicher, energieloser, mit Affekten (Eifersucht, in-
zestuöse Bindung an die Tochter) geladener Mensch, der aus
Schwäche alles gehen läßt, wie es will, bis ihn die unhaltbar ge-
wordenen äußeren Verhältnisse und seine zunehmende, allmählich
auch untragbare Affektspannung zu der nicht gerade unüberlegten
Tat drängen. M. ein ungeduldiger, explosibler, starr auf sein Empor-
kommen bedachter Mensch, der bei den ersten größeren Schwierig-
keiten gleichsam persönlich beleidigt ist und in Unmut und Ver-
zweiflung verzichtet. Überraschend ist jedenfalls, daß bei so großer
innerer Verschiedenheit die gleiche Tat entstehen konnte. Äußere
Verhaltensweisen lassen eben nur bedingt einen Schluß auf die
Persönlichkeitsartung eines Menschen zu.
Daß bei beiden Tätern — wie auch sonst — die Brutalität des
Familien- und Selbstmordes nur eine scheinbare ist, braucht wohl
kaum betont zu werden. Je massiver die Tat ausgeführt wird, um
so weniger qualvoll ist der Tod für die Angehörigen.
Wie kommt es nun, daß die Täter verhältnismäßig oft überleben
und damit Mittelpunkt eines Gerichtsverfahrens werden ? Zweifellos
ist hier von Bedeutung, daß die Tötung der Familie den ursprüng-
lichen Affekt weitgehend aufbraucht. Anderseits kann man über-
haupt andere, und vor allem Kinder, mit größerer Erfolgssicherheit
töten als sich selbst. Bei M. trägt ein eigenartiger religiöser Vor-
stellungskomplex die Schuld, daß er den ernsthaft geplanten Selbst-
mord aufgibt — ein Sachverhalt, wie er eigentlich nur bei den
Familienmördern des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben worden
Zur Frage des „Familien- und Selbstmordes“ 217
ist: M. überlegt sich nämlich nach der Tat, daß er als Selbstmörder
nach den Lehren der katholischen Kirche ewig verloren ist, während
der reuige Sünder Vergebung findet. Allein aus diesem Grunde
will er die Strafe des weltlichen Richters erwarten. H. von Weber!)
hat eine größere Anzahl von Fällen des 17. und 18. Jahrhunderts
beschrieben, wo Morde und auch Familienmorde von Lebensüber-
drüssigen ausgeführt wurden, die damit lediglich die eigene Hin-
richtung herbeiführen wollten. H. von Weber glaubt, daß dieses
Motiv seit 1800 mit der zunehmenden Aufklärung verschwunden
sei. Bei M. findet es sich eindeutig, wenn auch nicht als das führende,
so doch als ein wesentlich beeinflussendes Motiv.
Was nun die Frage der Zurechnungsfähigkeit bzw. der „Über-
legung“ bei derartigen Taten anlangt, so befinden sich Schwur-
gericht und Sachverständiger hier in einer gleich unglücklichen
Lage. Denn die Besonderheiten dieser Taten fordern geradezu
heraus, sie anders als sonstige Morde zu beurteilen. Tatsächlich
sind die Familien- und Selbstmorde aber oft seit Wochen geplant
und sorgfältig vorbereitet. Daß gerade bei solchen Fällen der straf-
rechtliche Begriff der „Überlegung“ versagt, betonte Aschaffen-
burg?) schon 1913. Er sagt sehr richtig, daß die Geschworenen
durchweg die Überlegung ablehnen und somit derartige Ereignisse
nicht als todeswürdige Verbrechen ansehen. Dieser Ausweg sei
jedoch eine glatte Rechtsbeugung!
Der Sachverständige seinerseits kann volle Unzurechnungs-
fähigkeit nur annehmen, wenn eine Psychose, vor allem eine echte
Depression, vorlag; und er kann auch den Absatz 2 des $ 51 StGB.
nur gelegentlich anziehen, z. B. für die überhaupt seltenen patho-
logischen Affektreaktionen etwa von Schwachsinnigen. (Die
Grauenhaftigkeit einer Tat beweist eben an sich noch nichts für
ihre pathologische Entstehung!) Im übrigen wird aber der Sach-
verständige meist die Zurechnungsfähigkeit bejahen müssen.
Im Falle M. hat nun das Schwurgericht die Überlegung bei der
Tat bejaht. Hieraus spricht ein Umschwung der Gesinnung, der
nur aus der allgemeinen weltanschaulichen Umwertung in Deutsch-
land zu erklären ist. Wenn man sich den Familien- und Selbst-
mord daraufhin nochmals von kritischer Warte betrachtet, so muß
man zwei Erwägungen anführen: Ein zum Selbstmord entschlosse-
ner Mensch ist unmittelbar vor dessen Ausführung gewiß der vollen
1) a.a. O. In abgewandelter Form findet sich dieses Motiv auch bei A.
Wetzel erwähnt: a.a. O. S. 39.
2) G. Aschaffenburg, Mord und Totschlag in der Strafgesetzgebung. Monats-
schr. f. Krim.psychol. IX, 1913 S. 644—668, insbesondere S. 650.
218 Günter Elsäßer
Überlegung nicht mehr so fähig wie jemand, der dieselbe Tat ohne
Selbstmordabsicht begeht. Anderseits ist die Tötung der eigenen
Familie eine so ungeheuerliche Tat, daß ihrer Begehung die größten
inneren Hemmungen entgegenstehen müssen. Bei M. beeinflußte
offenbar die zweite Erwägung die Urteilsfindung besonders stark.
Verübte M. seine Tat doch schon zu einer Zeit, wo die allgemeine
Aufklärung über den Wert der Familie jeden einzelnen, und auch
M., erfaßt hatte! Die Volksgemeinschaft hat einen Anspruch auf
die gesunde Familie und schützt sie. M.s Darlehensgesuch wurde
von vornherein befürwortet, was M. bekannt war, und wurde von
der zuständigen öffentlichen Stelle auch genehmigt. Leider traf
die Nachricht davon erst ein, als die Tat schon geschehen war.
M. hat also unnötig zu einer „Selbsthilfe“ gegriffen, die überhaupt
nur aus seiner besonderen Wesensart zu verstehen ist. Er hat so
gehandelt, wie wenn er das freie Verfügungsrecht über Tod und
Leben seiner Familienmitglieder besitze.
Bei den früheren, milden Verurteilungen ging man — nachdem
der Vergeltungsstandpunkt sowieso nicht mehr berücksichtigt zu
werden pflegte — wohl auch von der Erwägung aus, daß es sich
beim Familien- und Selbstmord um ein Verbrechen handele, das
vom Täter nur einmalig aus einer besonderen verzweifelten Lage
heraus verübt worden sei. Meine oben mitgeteilten psychopatho-
logischen Schilderungen der Täter Schi. und M. weisen jedoch
gerade darauf hin, daß es sich bei ihnen nicht unbedingt um ein-
malige, sondern um in der Tiefe ihrer Wesensart verankerte und
daher sehr wohl wiederholbare Reaktionen handelt. Der dumpf
leidenschaftliche, energielose Schi. wird sich z. B. andere als jäm-
merliche Umweltverhältnisse gar nicht schaffen können und aus
ihnen möglicherweise einen zweiten Gewaltausweg suchen müssen.
Und der ungeduldige, explosible M. würde vor späteren Schwierig-
keiten vielleicht in derselben maßlosen Weise versagen wie jetzt.
Man kann also solchen Menschen gewiß nicht voraussagen, daß sie
später keine Gewalttaten mehr begehen würden. So bliebe also
nur der Ausweg sehr langer Verwahrung ? Demgegenüber möchte
ich den menschlich naheliegenden Gedanken aussprechen, daß für
einen Menschen, der sein Liebstes so entschlossen ausgetilgt hat,
die Todesstrafe auch eine Gnade sein kann. Ob eine solche Familien-
tötung im Einzelfalle ein todeswürdiges Verbrechen darstellt, das
muß freilich unter besonderer Berücksichtigung der Motive und
Ursachen geprüft werden. Wie grundverschieden gerade diese sein
können, das sollten meine psychopathologischen Schilderungen der
beiden Täter zeigen.
Zur Frage des „Familien und Selbstmordes“ 219
Schrifttumverzeichnis
(abgesehen von dem in den Fußnoten bereits angeführten Schrifttum)
1. A. Th. Brockhans, Zur Psychologie des Selbstmordes der Psychopathen.
Mschr. Kriminalpsychol. XIII, 1922, S. 290ff. — 2. H. W. Gruhle, Motiv
und Ursache in der Kriminologie. Mschr. Kriminalpsychol. XXVII, 1936,
S. 113ff. — 3. R. Haßler, Zur Frage der Überlegung in $ 211 des Reichs-
strafgesetzbuchs. Mschr. Kriminalpsychol. XVI, 1925, S. 37 ff. — 4. P. Naecke,
Über Familienmord durch Geisteskranke. Halle 1908.
Weitere Hinweise auf die in der älteren Literatur beschriebenen Binzel-
fälle enthält die im Text erwähnte Kasuistik von Gruhle und Wetzel.
Kasuistischer Beitrag
zu den postoperativen Psychosen
Von
Dr. F. E. Flügel
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig.
Direktor: Prof. P. Schröder)
Die Tatsache, daß es im Anschluß an eingreifende Operationen mit
großer Wundfläche und starkem Gewebszerfall zu kurzdauernden
Verwirrtheitszuständen mit besonders nächtlichen deliranten Er-
regungen kommen kann und daß diese Zustände meist mit höherem
Fieber verbunden sind, ist eine dem Chirurgen und dem mit ihm
zusammenarbeitenden Psychiater nicht seltene Beobachtung. Diese
Fälle lassen sich vielleicht in Parallele stellen mit den Verwirrt-
heitszuständen und Bewußtseinsstörungen bei manchen mit hohem
Fieber einhergehenden Infektionskrankheiten oder akuten Intoxi-
kationen. Selten ist das Vorkommen von Psychosen nach Opera-
tionen ohne Komplikation mit fieberhaft infektiösen oder toxisch
medikamentösen usw. Vorgängen. Es ist ein Verdienst von Kleist 1)
in einer monographischen Bearbeitung !) ein großes Material solcher
Fälle zusammengestellt und eingehend bearbeitet zu haben. Bei
dem großen Interesse praktischer und wissenschaftlicher Natur,
die diesen „postoperativen Psychosen“ zukommt, ist eine Ver-
öffentlichung von Einzelfällen immer noch lohnend. Im folgenden
soll daher kurz über einen solchen Krankheitsfall berichtet werden.
Otto Sch., 41 Jahre alt. Aus der Familiengeschichte ist von Nerven- oder
Geisteskrankheiten, Trunksucht usw. nichts bekannt geworden (Vater mit
69 Jahren, Mutter mit 72 Jahren an Altersschwäche gestorben. Von 5 Ge-
schwistern ist 1 Bruder gefallen, die übrigen leben und sind gesund). Von
Kinderkrankheiten hat Sch. Masern und Scharlach durchgemacht. 1916
komplikationslos verheilte Granatsplitterverletzung am linken Oberschenkel
und linken Bauch. 1917 Gonorrhoe. 1930 Operation eines linksseitigen
Hodenbruches. 1931 Ikterus. Er ist verheiratet und hat 1 Kind. Frau und
Kind sind gesund.
1) Kleist, Postoperative Psychosen. Berlin, Julius Springer, 1916.
Kasuistischer Beitrag zu den Postoperativen Psychosen 221
Als Sch. von der Arbeit kommend zu Fuß eine Straße überkreuzte, wurde
er von einem von rechts kommenden Auto angefahren und auf die Straße
geworfen. Keine Bewußtlosigkeit, keine Übelkeit, kein Erbrechen. Er ver-
spürte aber sofort einen heftigen Schmerz unter dem linken Rippenbogen,
der bei dem Versuch aufzustehen unerträglich wurde. Transport in die
Chirurgische Klinik.
Die Untersuchung zeigte hier einen allgemein guten Ernährungs- und
Kräftezustand. Gebiß saniert. Zunge feucht. Keine Drüsenschwellungen.
Herzgrenzen regelrecht, Töne rein. Am Nervensystem keine pathologischen
Krankheitszeichen.
Lungengrenzen rechts besser verschieblich als links. Keine Schalldiffe-
renzen, überall Vesikuläratmen. Am Leib heftige defensive Bauchdecken-
spannung. Dämpfung im linken Oberbauch, die bei Lagewechsel verschieb-
lich ist. Leber, Milz nicht palpabel. Heftige Schmerzen am linken Rippen-
bogen. Bei der kurzen Durchleuchtung im Stehen bleibt das linke Zwerchfell
auffallend stark bei der Atmung zurück und steht etwas hoch. Auffallend
großer, dichter, homogener Schatten im Bereich der Milzgegend, der die
Magenblase medialwärts verdrängt und komprimiert, so daß Verdacht auf
Blutung im linken Oberbauch wegen Milzruptur besteht.
Sofortige Operation in Äthernarkose. Linksseitiger Rippenrandschnitt.
Nach Eröffnung des Peritoneums quillt reichlich Blut aus der Bauchhöhle.
Erweiterung des Schnittes. Abtasten zeigt, daß es sich um einen ausgedehnten
Riß handelt. Abklemmung des Milzstieles und Durchtrennung nach Unter-
bindung. Exstirpation der Milz. Während der Operation Aufsaugen und
teilweise Austupfen von ca. 600 ccm Blut, das sofort reinfundiert wird. Schicht-
weiser Wundverschluß unter Einlage eines Drains und eines Tampons.
Der Eingriff wird gut überstanden. Hämoglobin in der Op. 98%, nach
der Op. 78%, am nächsten Tag 85%. Weiterhin unkomplizierter Wund-
verlauf. In den folgenden 8 Tagen subfebrile Temperaturen.
Am 5. Tag fällt auf, daß der Pat. die Einnahme der Medizin verweigert.
Er verlangt mehrmals nach dem Stationsarzt, meint er werde hier vergiftet,
die Schwestern wollen ihn umbringen. Er drängt stark nach Hause. Am
nächsten Tag wegen Zunahme der psychischen Auffälligkeiten Verlegung
in die Psychiatrische und Nervenklinik.
Klinikaufnahme am 3. 9. 1937 13 Uhr 45. Sch. ist zeitlich, örtlich und
persönlich orientiert. Seine Angaben über Unfall, Operation und Wund-
verlauf sind zutreffend und geordnet. Im Laufe der Exploration gibt er dann
an, daß die Ärzte drüben ganz tüchtig gewesen seien, aber die Schwestern
haben ihn nicht gefallen. Die Oberschwester und die Nachtschwestern seien
gegen ihn eingestellt gewesen. Man habe ihn beobachtet, vielleicht wegen
seiner Tochter. Er habe Verschiedenes von verschiedenen Schwestern gehört.
Nachts habe er nie schlafen können, er habe nur geträumt, wie das so ist,
wenn man Spritzen bekommt. In den Tee, den er bekam, habe die Schwester
eine Bohne geworfen. Die muß wohl ihre Regel gehabt haben. Er habe immer
nur ruhig gelegen und gespannt. Es sei dann ein richtiges Angstgefühl ge-
kommen. Wenn die die Türe zumachten, dann sei er immer erschrocken. Im
Jahre 1930 bei der Bruchoperation sei er vom Krankenhaus im Unfrieden
weggegangen und daher werde wohl ein Vermerk über ihn in den Akten sein.
Sein Zimmer sei auch viel zu klein gewesen, er habe da eben keine rechte Luft
bekommen. Im Laufe der Exploration stellt sich ein gewisser Rededrang ein.
Seine Sprechweise bekommt einen eigenartigen abgehackten Tonfall. Zu-
222 F. E. Flügel
weilen irrt er in ideenflüchtiger Weise ab. Die Affektlage wirkt leicht ängstlich
gefärbt. Schließlich bricht Pat. die Exploration ab ‚ach hören wir auf ...
wir machen Feierabend ... Sie wollen doch auch heim!‘
Herz und Lunge zeigen normale Verhältnisse. Der Leib ist weich. Der
Lokalbefund an der Operationswunde ist ordnungsgemäß. Die neurologische
Untersuchung zeigt völlig normale Verhältnisse. Am Spätnachmittag Tem-
peraturanstieg auf 39,2.
Gegen Abend wird Pat. zunehmend unruhiger, drängt aus dem Bett,
wirft die Matratzen in den Saal. Widerstrebend, schleudert die Urinflasche
den Pflegern nach. Jetzt starker Rededrang. Schreit laut, seine Frau bekomme
5000 Mark, wenn er sterbe usw.
4.9. Schimpft den ganzen Vormittag. Hat dauernd Wünsche, die nicht
zu erfüllen sind. Temperatur unter 37. Nachmittag ruhiger, unterhält sich
mit anderen Kranken. Nachts wieder unruhig, führt laute Selbstgespräche.
5.9. Temperatur unter 37. Tagsüber ruhig, Nahrungsaufnahme gut.
Sagt von sich selbst, daß er ein bischen den Größenwahn habe. Nachts wieder
sehr unruhig, tritt um sich, schlägt auf die Pfleger ein.
6.9. Temperatur bis 37,5. Blutserum: WaR Ø. M.T. R. Ø. Pallida Ø.
Führt den ganzen Tag laute Selbstgespräche. Will nicht essen, das Essen
sei vergiftet. Verspricht Pflegern und Mitkranken viel Geld, wenn sie ihn
retten. Schläft den ersten Teil der Nacht gut, fängt dann laut an zu schreien.
7.9. Temperatur 37,6—37,8. Lumbalpunktion: Liquor klar. Pandy +,
Nonne +, Weichbrodt Ø, Zellen 2/3. Goldsol. Mastix: normal. WaR Ø,
Pallida Ø. Drängt dauernd aus dem Bett. Verweigert die Nahrung. Nimmt
nur etwas Flüssigkeit zu sich. Nachts sehr unruhig.
8.9. Temperatur 37,6, gegen Abend 37,2. Dauernder Rededrang. Nicht
zu fixieren. Oberflächliche Ideenassoziationen. Selbstbinder .. rot .. Rosa ..
Luxemburg... Seine Frau habe das große Los gewonnen, sie solle alles
verschenken. Hält dann die Pfleger für Kriminalbeamte. Zeitweise weiner-
lich, dann sehr gereizt. Wirft das Essen in den Saal.
9.9. Temperatur unter 37. Hartnäckige Nahrungsverweigerung. Ab-
lehnend. Spuckt in den Saal. Führt Selbstgespräche.
10.9. Temperatur unter 37. Glatter Wundverlauf. Dauernd laute Selbst-
gespräche, oft getriebenes Vorsichhinsprechen: ‚der Wassergott kommt
wieder .. wir wollen noch leben .. noch fröhlich sein .. der Rotwein soll
leben .. der Omnibus wird eingeführt .. in Amerika hat Julius die starke
Hand (Telephon klingelt). Wer zieht die große Glocke .. wer hat das ge-
sagt .. das bleibt mir übrig .. bin ich tot oder lebendig .. es gibt keinen
Hitler mehr .. grün ist die Schrift... weiß das Papier... Rosa Luxemburg ..
das ist die 53 .. wer sagt 53... Wasserhahn laufen lassen .. usw.“
Beim Besuch der Frau sehr erregt, läuft im Saal herum. Zeitweise ganz
ablehnend, negativistisch. Verweigert energisch die Nahrung, beißt die Zähne
fest zusammen, drückt das Klysma mit aller Kraft heraus. Zeitweise stupor-
ähnlicher Zustand. Liegt steif im Bett, stiert unverwandt an die Decke.
Dann ausgesprochen hyperkinetisch, macht übungsartig fuchtelnde Be-
wegungen. Schneidet Gesichter.
19. 9. Temperaturanstieg auf 37,8. Im ganzen ruhiger, fuchtelt aber noch
viel mit den Händen in der Luft herum.
20.9. Temperatur 37,8. Pulsverschlechterung. Auf Strophantin Besse-
rung. Verlangt viel Wasser zu trinken, verweigert aber jede feste Nahrung.
21.9. Temperatur steigt auf 38,6. Puls sehr beschleunigt. Zunehmender
Verfall.
Kasuistischer Beitrag zu den Postoperativen Psychosen 223
22.9. Nicht mehr ansprechbar. Rascher Verfall. Herzmittel ohne nennens-
werten Einfluß. Glanzauge. Präterminale Euphorie.
23.9. 6 Uhr vorm. Exitus.
Sektionsbefund: Zustand nach Milzentfernung. Beiderseits kleinherd-
förmige frische, eitrige Luftröhren- und Lungenentzündung. Dura mitteldick,
innen glatt, nicht gespannt. Gehirngewicht 1400g. Windungen schmal
gewölbt, Furchen klaffen etwas. Weiche Hirnhäute eine Spur sulzig. Gefäße
am Hirngrund dünnwandig. Schnitte durch das Gehirn ergeben die Mark-
massen weich, feucht, glänzend, von zahlreichen abwischbaren Blutpünktchen
bedeckt. Rinde knapp mittelbreit, blaßgrau. Blutungen und Herderkran-
kungen sind nirgends vorhanden, auch nicht in den Zentralknoten, im Klein-
hirn, in den Hirnschenkeln, in der Brücke und im verlängerten Mark.
Der vorliegende Fall entspricht in seinem zeitlichen Verlauf den
von Kleist geschilderten Erfahrungen. Nach einem zunächst freien
Intervall brach die Psychose am 5. Tag nach dem chirurgischen
Eingriff aus. Bei der Operation handelte es sich um eine Milz-
extirpation nach traumatischer Milzruptur mit Reinfundation
einer größeren Blutmenge. Die Dauer der Psychose währte über
3 Wochen, bis es zum Exitus auf Grund pneumonischer Kom-
plikation kam. Wenn die Gesamtdauer des psychotischen Zu-
standes sich hierdurch auch nicht beurteilen läßt, so kann immer-
hin gesagt werden, daß eine längerdauernde psychotische Er-
krankung vorgelegen hat. Nach der Einteilung Kleists muß sie
zum mindesten in die Gruppe der selteneren Fälle mit mittel-
langer Dauer gerechnet werden. Auch dem Zustandsbild nach
zeigt vorliegender Fall ein typisches Verhalten. Bemerkenswert
ist die bunte Symptomatologie. Anfänglich handelte es sich um
paranoide Erscheinungen, dann kam es zu einem Erregungs-
zustand, der vorwiegend ängstlichen Charakter trug, zeitweise
aber auch manische Züge erkennen ließ. Zeitweise standen hyper-
kinetische Symptome und ein stuporartiges Verhalten im Vorder-
grund. Es ist bemerkenswert, daß sich, wie im vorliegenden Fall,
die von Kleist herausgestellten Zustandsbilder durchmischen und
ablösen können.
Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen
Von
Prof. Dr. J. Zutt
(Aus den „Kuranstalten Westend‘, Berlin. Leitender Arzt: Prof. Dr. J. Zuit)
Jedem für die Problematik der menschlichen Bewegungen
Interessierten muß das Lachen und das Weinen als etwas
Besonderes aufgefallen sein: diese Besonderheit, die in der
nachfolgenden Studie herausgearbeitet werden soll, trennt diese
beiden in ihrer Art und Weise vereinzelten Bewegungsvorgänge
von allen anderen ab. In dieser Einzigartigkeit zeigt sich, wie
kompliziert der Aufbau des menschlichen Bewegungsgesamts sein
muß, wie unzureichend unsere übliche begriffliche Gliederung
in Ausdrucksbewegungen, Zielbewegungen usw. ist. — Von einer
sorgsamen Beschreibung der Phänomene dürfen wir aber nicht
nur Aufklärung über die Kompliziertheit der Wirklichkeit er-
warten, sondern auch einen aufklärenden Einblick in ein Teil-
gebiet.
Die beiden Phänomene lassen sich in folgender Weise beschreiben:
Sie entwickeln sich beide am sichtbarsten in der Gesichtsmusku-
latur mit dem Unterschied der jeweils physiognomisch anders-
artigen Bewegungsgestalt. Ferner ist die Atemmuskulatur be-
teiligt, es kommt zu krampfhaften Atmungsaktionen, wobei beim
Lachen stoßweise, klonische Ausatmung, beim Weinen Einatmung
charakteristisch ist. Durch diese heftige Beteiligung der Atmung
kommt es dazu, daß der ganze Körper vom Lachen oder Weinen —
das wir in seiner heftigsten Form Schluchzen nennen — geschüttelt
wird. Als weiteres Phänomen tritt am auffälligsten beim Weinen
die Tränenentwicklung dazu, die aber auch beim heftigen Lachen
keineswegs fehlt; es gibt Tränen des Schmerzes und der Freude.
Als Letztes ist noch der Einfluß auf den Tonus der Gesamtmusku-
latur zu erwähnen, auf die Bewegungsbereitschaft: Beide sind
herabgesetzt, beim Lachen mehr als beim Weinen. Wer lachen
muß, befindet sich in einem Zustand nahezu völliger Kraftlosig-
keit, Wehrlosigkeit.
Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen 225
Es ist zu betonen, daß wir hier nur das eigentliche Lachen und
Weinen meinen, d.h. wenn wir wirklich lachen müssen, wenn
das Lachen oder Weinen über uns kommt, eben in Gang kommt,
abläuft und endet. Es ist ja für die willenspsychologische Stellung
der beiden Vorgänge von großer Wichtigkeit, daß dieser Ablauf
unserer Willkür nur beschränkt zugänglich ist: wir können nicht
lachen, wenn wir wollen, sondern wir müssen lachen, wenn die
aktuelle innere Situation uns zum Lachen drängt: wir können
versuchen, es zu „unterdrücken“, d.h. den Vorgang nicht zur
Entwicklung kommen zu lassen, was bei großer Spannung zwischen
dieser Tendenz und der andersartigen Affektsituation zum „Her-
ausplatzen‘‘ führen kann oder zum „Losheulen‘. Wir können wohl
auch Dauer und Heftigkeit unterstützen, indem wir uns dem Vor-
gang hingeben, wir können ihn auch in seiner Entwicklung hemmen
und abkürzen. Alle diese Erfahrungen zeigen die sonderbare
Stellung der heiden Bewegungsabläufe in willenspsychologischer
Beziehung, ste treten bei bestimmten inneren Situationen auf, u. U.
auch gegen unseren Willen.
Es ist etwas ganz anderes, daß wir in jedem Augenblick so tun
können, als ob wir weinen oder lachen, etwa als Schauspieler!). Das
„Weinen“ ist in dieser Weise aus zwei Gründen viel seltener als
das Lachen: Erstens spielt bei ihm die Tränenentwicklung eine
viel größere Rolle, und diese kommt nur beim echten Weinen
zur Entwicklung. Die Kombination des Bewegungsvorgangs mit
der dem Willen völlig entzogenen Tränensekretion ist ja gerade
ungemein bezeichnend für die hervorgehobene willenspsycholo-
gische Sondersituation. Zweitens aber gehört das Weinen ent-
sprechend seiner Zuordnung zur Trauer zu den mimischen Vor-
gängen, die auch schon in Andeutungen im Zusammensein mit
andern gemieden werden. Ganz anders das Lachen, das im Zu-
sammensein mit andern eine große Rolle spielt. Es gibt Menschen,
die außerordentlich viel zu lachen scheinen; bei genauerer Be-
achtung ist aber zu merken, daß sie sehr selten wirklich lachen,
was ja von der inneren Bereitschaft zu Humor und Komik ab-
hängt. Solchen Menschen selbst kann das Gefühl für den Unter-
schied verlorengegangen sein, sie befinden sich in einer Selbst-
täuschung, die beim Weinen wegen des ausbleibenden Tränen-
flusses kaum möglich wäre. Aber auch beim Durchschnittsmenschen
1) Vergl. hierzu die Arbeit d. Verfassers: „Die innere Haltung. Eine psy-
chol. Untersuchung und ihre Bedeutung für d. Psychopathologie insbesondere
im Bereich schizophrener Erkrankungen‘. Monatsschrift für Psych. u. Neu-
rologie. Bd. LXXIII.
15 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 13.
226 J. Zutt
spielen „dem Lachen ähnliche“ mimische Vorgänge, z. B. das
Lächeln, eine große Rolle. Man achte darauf, wie oft man ein
paar rhythmische ‚„Lachstöße‘“, eventuell auch nur einen, in das
Sprechen eingliedert. Die Interjektion ‚Ha!‘ ist ja nichts anderes
als ein solcher „Lachstoß““.
Die Vorgänge des Lachens und Weinens sind eben für die Ge-
staltung unserer Gesamtmimik über ihr eigentliches Auftreten
hinaus von wesentlicher Bedeutung: Der Ausdruck der Heiter-
keit und der Bekümmernis und alle verwandten mimischen Va-
riationen haben ihre Gestaltsqualität von diesen Vorgängen her,
sind gewissermaßen nach ihnen gerichtet. Lachen und Weinen sind
elementare Motive, auf denen sich die Melodie unserer Mimik
aufbaut und über die als ein Thema sie variiert.
Es gibt Erfahrungen, die uns das Wesen der beiden Vorgänge
als solcher Grundlagen für die Gestaltung der menschlichen
Mimik — allgemeiner, ihre Besonderheit überhaupt — noch deut-
licher machen und näherbringen können: Hierhin gehört die Tat-
sache, daß die beiden Vorgänge auch zeitlich in der Ontogenese
als Grundlagen angesehen werden können, indem sie die ersten
mimischen Äußerungen sind, die Gemütsregungen des Säuglings
kundtun. Bei Menschen, bei denen die normale Mimik nicht zur
differenzierten Entwicklung kommt, bei Idioten z. B. als Ausdruck
einer allgemeinen Undifferenziertheit des Seelenlebens oder bei
Blinden als Zeichen der durch die mangelnde optische Anregung
ausgebliebenen Gebärdendifferenzierungen, ist stets Lachen und
Weinen deutlich ausgebildet vorhanden. Auch schwerere Formen
der parkinsonistischen Akinese werden stets noch durch Lachen und
Weinen bei entsprechender innerer Situation durchbrochen, wenn
längst keine anderen mimischen Äußerungen, wie Erstaunen,
Mißtrauen oder gespannte Aufmerksamkeit, sichtbar werden.
Eine andere wichtige Erfahrung ist das Symptom des Zwangs-
lachens und Zwangsweinens. Es kommt dabei zu — meist be-
sonders heftigem — Lachen oder Weinen, das der betreffende
Kranke nicht zu unterdrücken vermag. Diese Erscheinung hat
nichts mit affektiver Labilität zu tun, mit der bei manchen Krank-
heitszuständen vorkommenden gesteigerten affektiven Ansprech-
barkeit mit den entsprechenden Ausdrucksbewegungen, sondern
das Charakteristische des Zwangslachens und Zwangsweinens ist
gerade die mögliche Verselbständigung des an sich typischen Be-
wegungsphänomens vom gleichzeitigen Affektzustand. Es kann
wohl ein adäquater Anlaß das Zwangslachen oder Zwangsweinen
in Gang bringen, ein Scherz oder ein betrübender Gedanke; das
Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen 227
Lachen oder Weinen hört dann aber nicht nach einer natürlichen
Zeit auf, sondern es dauert an, und zwar oft in einer für den Pa-
tienten quälenden Weise wegen des Widerspruchs zwischen der
mimischen Äußerung und dem gleichzeitig bestehenden Affekt,
meist des Unmuts, des Ärgers über die Peinlichkeit der Situation.
Ich habe einen Fall gesehen, der durch das Befremdliche des Vor-
gangs in einen Zustand ausgesprochener Angst versetzt wurde,
während er vor Lachen geschüttelt war!). Überhaupt kann das
Zwangslachen und Zwangsweinen auch ganz ohne adäquaten An-
laß in Erscheinung treten. Man kann an diesen Phänomenen
wiederum sehen, daß diese Bewegungsvorgänge etwas Besonderes
sind. Es gibt keine anderen Bewegungsabläufe, die im gleichen
Sinne als „Zwangsphänomene‘“ auftreten können. Auch anderen
Affekten entspricht eine mimische Gestalt: Dem Schreck, dem
Zorn, der Angst. Diesen physiognomischen Gestalten fehlt aber
ganz der Charakter der Selbständigkeit des Ablaufs, das in
einem Augenblick in-Gang-kommen, Ablaufen und zur-Ruhe-
kommen. Es gibt kein „Zwangsstaunen‘“, „Zwangswüten‘ usw.
Ganz offensichtlich sind die diesen Affektzuständen zugeordneten
mimischen Vorgänge nicht in der gleichen Weise selbständige mo-
torische Abläufe und daher auch nicht unter pathologischen Be-
dingungen verselbständigt.
Nun kennen wir aber wohl andere bezüglich der willenspsycho-
logischen Situation und der Selbständigkeit des Ablaufs gut ver-
gleichbare Phänomene: Vor allen Dingen das Gähnen, aber auch
das Niesen, den Singultus, das Husten. Gerade durch eine solche
Zusammenstellung wird man leicht den Einwand hervorrufen,
bei diesen Phänomenen handle es sich doch gar nicht um Ver-
gleichbares; es seien hier ja nicht mehr ‚„Ausdrucksbewegungen‘ —
Bewegungen, die einen seelischen Gehalt in ihrer Gestalt sinn-
fällig machten —, sondern primitive Reaktiohen auf körperliche
Reize.
Darauf ist zunächst zu erwidern, daß jede Bewegung eine Aus-
drucksbewegung ist, insofern sie aus einem inneren Zustand
heraus gestaltet wird und nicht auf ein äußeres Ziel hin. Wir
finden die Bezeichnung Ausdrucksbewegung allerdings erst dann
am Platze, wenn dieser innere Zustand, aus dem heraus die
Bewegung Gestalt gewinnt, ein sinnvolles Erlebnis ist, dessen
Sinn eben in der Ausdrucksbewegung erscheint. Ohne Zweifel
gehört das Lachen und das Weinen als Ausdruck der Freude
1) Zutt, „Migräne mit Zwangslachen und Zwangsweinen“. Zbl. ges.
Neur. u. Psych. Bd. 52. 1929.
15°
228 J. Zutt
und der Trauer zu den Ausdrucksbewegungen. (Die oben be-
schriebenen Besonderheiten lassen diese Bewegungsphänomene aus
dem Gesamt der Ausdrucksbewegungen wiederum mit Sicherheit
aussondern.) Gähnen, Niesen, Singultus und Husten scheinen
primitive Reaktionen auf körperliche Zustände und Reize zu sein.
Sie zeigen aber formal wieder auffällige Gemeinsamkeiten mit dem
Lachen und dem Weinen: Alle diese Bewegungsabläufe verwirk-
lichen sich nämlich im wesentlichen an der Atemmuskulatur und
Gesichtsmuskulatur. Es sind Abläufe, die in Gang gekommen,
mit einer notwendigen Gesetzmäßigkeit ablaufen, bis sie zur Ruhe
kommen. Wir können wiederum ihren Ablauf zulassen oder ver-
suchen, ihn zu unterdrücken. Wir können auch so tun, als ob wir
gähnen,. niesen usw. Wir finden also die gleiche willenspsycho-
logische Situation bei diesen Vorgängen, wie beim Lachen und
Weinen. Dabei ist es sicher nicht ohne Bedeutung, daß an allen
diesen Vorgängen die Atmung wesentlich beteiligt ist. Die Atmung,
die in willenspsychologischer Hinsicht ihre Zwischenstellung
zwischen einem willkürlichen Bewegungsvorgang und einem vegeta-
tiven Funktionsablauf so deutlich erweist: Im Grunde läuft sie von
selbst ab, in Gang gesetzt und gehalten (sogar im Schlaf) von einem
physiologischen Geschehen, das unter Umständen als Lufthunger und
Erstickungsgefühl in Erscheinung treten kann. Andererseits können
wir die Atmung unterdrücken (bis sich die physiologische Not-
wendigkeit durchsetzt — bis man gewissermaßen auch hier ,„her-
ausplatzt‘‘) oder ihr freien Lauf lassen. Wir können aber auch
willkürlich atmen, z. B. hyperventilieren, auch nach Aufhören
jeden Luftbedürfnisses weiteratmen. Diese Weise des Zusammen-
wirkens von gesetzmäßig auf bestimmte innere Zustände ein-
setzenden, in ihrer Form festliegenden Bewegungsabläufen mit
willkürlicher Einwirkungsmöglichkeit finden wir nur bei der At-
mung und bei den erwähnten Bewegungsabläufen: dem Lachen,
Weinen, Gähnen, Niesen, dem Singultus und dem Husten, an
deren Gestaltung die Atmung jeweils einen bedeutsamen Anteil
hat. Sicher sind wir berechtigt, hierin einen keineswegs zufälligen
Zusammenhang zu sehen.
Lassen wir das Husten und den Singultus und das Niesen außer
Betracht. Die Zustände, denen sie zugeordnet sind, sind primitive
Körperreize. Hingegen scheint es fruchtbar, das Gähnen genauer
zu betrachten und zum Lachen bzw. Weinen in Beziehung zu
setzen. Zunächst ist noch einiges über die Ähnlichkeit der Er-
scheinungen zu sagen: Auch das Gähnen hat eine Beziehung zum
Körpertonus. Abgesehen davon, daß es selbst einen tonischen An-
Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen . 229
spannungszustand darstellt, verbindet es sich leicht mit dem
„Sichrekeln‘ zu einer umfassenden tonischen Muskelaktion. Ferner
kommt es auch beim lebhaften Gähnen zu Tränensekretion.
Wer sich nicht mit dem Problem befaßt hat, wird es auf Be-
fragen wahrscheinlich ablehnen oder zum mindesten zögern, das
Gähnen als Ausdrucksbewegung zu bezeichnen, während er die-
selbe Frage für das Lachen und Weinen bejahen wird. Der Grund
für die verschiedene Stellungnahme ist begründet in der obener-
wähnten Begrenzung des Begriffs Ausdrucksbewegung auf Be-
wegungen solcher Zustände, die man als sinnvolle Erlebnisse be-
zeichnen kann. Freude und Trauer, Lachen und Weinen gehören
ohne Zweifel in diese begriffliche Umgrenzung. Müdigkeit und
Gähnen sind aber etwas anderes; man möchte sagen etwas mehr
Körperliches, Primitives, seelisch Undifferenziertes. Die Müdigkeit
ist ja auch kein Affekt wie Freude und Trauer, kein Zustand, der
in Beziehung zum Sinn der erlebten Umweltsituation steht, son-
dern zu täglich regelmäßig wiederkehrendem physiologischem Ge-
schehen, dem Schlafen und dem Wachen. In dieser Hinsicht ist
sie also eher verwandt dem Hunger und dem Durst. (Man sieht
hier, wie verwickelt die Dinge in Wirklichkeit sind!)
Dies alles ist zutreffend, meint zutreffend einen wirklichen, ganz
offenbaren Unterschied. Hingegen darf man auch folgendes nicht
vergessen: Es gibt eine eigenartige Beziehung zwischen Müdig-
keit und Langeweile. Auch Langeweile führt zum Gähnen
oder besser: Es begünstigt sein Auftreten. Bei der Langeweile
handelt es sich aber wieder um einen Zustand, der als Reaktion
auf den Sinn der äußeren und inneren Situation aufzufassen ist.
Die Art dieses Zustandes steht den Affekten zweifellos näher als
die einfache Müdigkeit. Das der Langeweile zugeordnete Gähnen
ist im gleichen Sinn eine Ausdrucksbewegung wie das Lachen
und das Weinen. Andererseits haben auch die Affekte der Trauer
und der Freude ihre — wenn auch weniger wesentlichen — Be-
ziehungen zu körperlichen Zuständen oder Reizen. Die Beziehung
des körperlichen Schmerzes zum seelischen Schmerz ist beim Er-
wachsenen nicht mehr deutlich, beim Säugling und Kleinkind aber
wohl. Das Weinen ist in dieser frühen Entwicklungsperiode auch
noch die adäquate Reaktion auf körperlichen Schmerz. Eigen-
tümlich ist die Beziehung zwischen dem Kitzelgefühl und dem
Lachen. Es muß wohl eine gewisse Bereitschaft zum Lachen vor-
handen sein, damit es auf einen Kitzelreiz hin einsetzt; aber auch
Witze müssen auf günstige Stimmung treffen! Dann kann es aber
unwiderstehlich durch solche Reize in Gang gehalten werden, wo-
230 J. Zutt
bei es beinahe zu einer dem Zwangslachen ähnlichen inneren
Situation kommen kann, weil der innere Zustand des Gequält-
seins gegen das durch das Kitzelgefühl in Gang gehaltene Lachen
kontrastiert.
Wir sehen also dem Zustande des körperlichen Schmerzes, des
seelischen Schmerzes, der Trauer zugeordnet das Weinen; dem
Kitzelgefühl, der Freude zugeordnet das Lachen; der Müdigkeit,
der Langeweile zugeordnet das Gähnen. Zur ergänzenden Orientie-
rung in diesen Bereichen ist noch hinzuzufügen, daß der Müdigkeit
und Langeweile als polarer Gegensatz Wachheit und lebhafte Auf-
merksamkeit zuzuordnensind. Auch hier werden wieder Beziehungen
sichtbar: Müdigkeit und Trauer lähmen die Aktivität, Freude und
Wachheit beleben sie. Der Wachheit und der lebhaften Aufmerk-
samkeit ist aber ein besonderer Bewegungsvorgang wie den Zustän-
den der Trauer, der Freude und der Müdigkeit nicht zugeordnet.
Ferner ist noch zu erwähnen, daß auch das Gähnen in der
Ontogenese zu den ersten menschlichen, in ihrer Gestaltung
fertigen Bewegungsabläufen gehört (ebenso wie Niesen, Singultus
und Husten). Das Gähnen findet sich auch schon bei den Tieren
im Gegensatz zum Lachen und Weinen. Auch hierin ist ein Hin-
weis zu sehen auf den Unterschied unter den drei genannten
Phänomenen. Die Frage, ob es ein dem Zwangslachen entspre-
chendes Zwangsgähnen gibt, ıst nicht zu beantworten. Dies liegt
zunächst an der kurzen Zeitdauer des einzelnen Gähnens, so daß
es kaum jemals so auffällig und so lästig werden kann. Zudem
wird es jeweils im konkreten Fall nicht ebenso leicht sein zu
sagen, ob die vorhandene Müdigkeit und Langeweile ausreicht,
das Gähnen herbeizuführen, wie es jeweils leicht ıst zu sagen, ob
Trauer oder Heiterkeit das Weinen oder Lachen erklärten.
Wir sehen also, daß das Lachen und das Weinen gleichartige,
einzigartige Bewegungsabläufe sind. Sie sind wichtige Ausdrucks-
bewegungen, elementare Bewegungsmotive für den differenzierten
Aufbau der menschlichen Mimik. Als Ausdrucksbewegungen haben
sie Beziehungen zu anderen Ausdrucksbewegungen, unterscheiden
sich aber von ihnen allen durch ihre eigentümliche Stellung in
willenspsychologischer Beziehung, worin natürlich auch eine Be-
sonderheit der entsprechenden physiologischen Vorgänge zu sehen
ist. Durch diese Sonderstellung rücken sie in eine wesensgemäße
Nähe zu anderen Bewegungsphänomenen, vor allem zum Gähnen.
Die Weise des nurbedingten Unterworfenseins unter den Willen
Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen. 231
und das gesetzmäßige Hervorgehen aus bestimmten inneren Zu-
ständen teilen alle diese Bewegungsvorgänge mit der Atembewegung,
die am Aufbau der genannten Bewegungsvorgänge einen wichtigen
Anteil hat. Über diesen willenspsychologischen und formalen Zu-
sammenhang hinaus ergeben sich bemerkenswerte Beziehungen
zwischen den Zuständen der Trauer, der Freude, der Müdigkeit
und der Wachheit.
Schließlich kann noch daran erinnert werden, daß Müdigkeit,
Affekte und unwillkürliche Bewegungsabläufe auch gewisse loka-
lisatorische Hinweise in der Richtung der tiefen Hirnzentren ent-
halten. Im Krankheitsbilde der Narkolepsie finden wir als wesent-
lichste Symptome Störungen im Bereich der Müdigkeit, des Schlafes
und des den Affekten zugeordneten Bewegungsverhaltens (im
sogenannten affektiven Tonusverlust, z. B. im Lachschlag) — eine
Tatsache, durch die — wie in unseren Betrachtungen — Licht auf
die nahen Beziehungen geworfen wird, die zwischen Müdigkeit
und Affektivität — jedenfalls den zugeordneten Bewegungsabläu-
fen — besteht.
Serologisch-analytische Versuche
mit Liquoren und Seren von schizophrenen
bezw. atypischen Psychosen
Von
Prof. Dr. H. Lehmann-Faeius
(Aus der Universitäts-Nervenklinik Frankfurt am Main.
Direktor: Prof. Dr. Kleist)
Im folgenden möchte ich über experimentelle Versuche be-
richten, die mit der von mir angegebenen Hirnlipoidreaktion aus-
geführt worden sind. Ich bin mir zwar bewußt, daß heute nur ein
Teil der Nachuntersucher in der Lage sein wird, derartige Ver-
suche mit der gegenwärtigen Form der Methodik zu reproduzieren.
Anderseits bildet die Hirnlipoidreaktion jedoch in der Hand eines
geübten Untersuchers ein so feines biologisches Reagenz, daß es
nicht nur als Test für bestimmte psychiatrisch-klinische Fragen
geeignet ist, sondern auch bei solchen experimentell-analytischen
Versuchen angewandt werden kann, wo andere bekannte: sero-
logische Verfahren versagen. Von diesem Gesichtspunkt aus möchte
ich trotz des eingangs erwähnten Vorbehaltes über die folgenden
Ergebnisse berichten, zumal ja die Methode der Hirnlipoidreaktion
als solche bereits mehrfach von anderer Seite bestätigt worden ist,
und an der hiesigen Klinik bereits über 3000 Untersuchungen
ausgeführt worden sind.
Die Versuche beziehen sich auf feinere serologische Unterschiede
einerseits zwischen Schizophrenen-Liquoren untereinander, anderer-
seits zwischen schizophrenen und nichtschizophrenen Gehirn-
phosphatiden. Um etwaigen Mißdeutungen zuvorzukommen, möchte
ich im voraus betonen, daß die hier angeführten Untersuchungen
mit dem Phosphatidextrakt aus Katatonikergehirn ausgeführt sind,
das von folgendem Fall stammte: | |
Altvater, Elisabeth, 21 Jahre alt.
Diagnose: Katatonie mit Parakinesen, Echopraxie, Iterationen und Stereo-
typien, akustischen und somatopsychischen Halluzinationen. Frl. A. wurde
eingeliefert wegen Erregungszuständen mit Nahrungsverweigerung. Von
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren usw. 233
Natur aus ruhig, still, zurückhaltend. Einige Tage vor der Aufnahme fiel
Pat. auf durch komische Bewegungen, sie verweigerte die Nahrung, litt an
Sinnestäuschungen, fühlte sich elektrisiert. Bei der Aufnahme Akinese mit
deutlichen kataleptischen Symptomen, zeitweise iterativ-stereotype Be-
wegungsunruhe und parakinetische Erscheinungen. Sprach mit ihren Stimmen,
grimmassierte stark, mußte mit der Sonde gefüttert werden, war ausgesprochen
negativistisch. Am 1.12. nach zunehmender Erregung Kollaps und trotz
Behandlung mit Herz- und Kreislaufmitteln Exitus unter Zeichen von Kreis-
laufschwäche (war 2!/, Monate in der Klinik).
Es muß selbstverständlich weiteren Untersuchungen vorbehalten
bleiben, inwieweit sich die hierbei gefundenen besonderen antigenen
Eigenschaften dieser sogenannten „Katatonie-Hirnextrakte‘‘ ver-
allgemeinern lassen, insbesondere ob sie den Schizophreniegehirnen
als solchen überhaupt zukommen oder etwa nur von einem be-
stimmten Stadium des Prozesses oder der Krankheitsform ab-
hängig sind. Alles, was im folgenden über „Katatonie-Hirnextrakt‘“
gesagt ist, kann sich deshalb naturgemäß zunächst nur auf den
hier benutzten Extrakt beziehen.
Bei dem Phänomen der Hirnlipoidreaktion handelt es sich be-
kanntlich um keine für Schizophrenie spezifische Reaktion, wenn
dieselbe auch infolge einer gehäuften elektiven Affinität von
Liquoren der Schizophreniegruppe zu den Gehirnphosphatiden
für Prozeßpsychosen charakteristisch ist. Denn ich habe schon
früher darauf hingewiesen, daß darüber hinaus auch bestimmte,
mit langsamer, schleichender Progredienz einhergehende organische
Prozesse des Zentralnervensystems die gleiche Reaktion geben
können. Geht man von der Annahme aus, daß die gegen arteigene
Nervensubstanz gerichteten Antikörper auf dem Boden einer so-
genannten Zerfallsimmunität entstehen, so kann man, wie ich das
früher ausgeführt habe, im Hinblick auf die verschieden starke
Ansprechbarkeit der einzelnen Krankheitsgruppen geradezu eine
„Gehirnabbaureihe“ konstruieren, an deren einem Ende die Schizo-
phrenien mit dem höchsten Prozentsatz positiver Reaktionen ver-
zeichnet sind. Die Fälle von Huntington-Chorea und Posten-
cephalitis sind noch zu wenig zahlreich untersucht, um die pro-
zentuale Häufigkeit ihrer Reaktionsfähigkeit berechnen zu können.
Wir können aus diesen empirisch festgestellten Erscheinungen
jedenfalls den Schluß ziehen, daß die Hirnlipoidreaktion nach den
Richtlinien der serologischen Spezifitätsverhältnisse lediglich als
eine für Schizophrenie charakteristische Reaktion aufzufassen ist,
und daß ihre differenitaldiagnostische Bedeutung nicht so sehr
serologisch als vielmehr durch die leichte klinische Abgrenzbarkeit
der meisten übergreifenden Krankheitsgruppen gegenüber der
234 H. Lehmann-Facius
Schizophrenie bedingt ist. Für diese Betrachtungsweise ist es auch
ganz gleichgültig, ob die Reaktion genetisch durch einen „Abbau-
vorgang‘‘ oder etwa umgekehrt durch eine primäre Störung des
Lipoidstoffwechsels beim Zellaufbau verursacht ist.
Alle diese Feststellungen konnten gemacht werden, wenn als
Test für die in Frage stehenden Liquorveränderungen ein Extrakt
verwandt wurde, der aus normalen, d. h. aus Gehirnen Nicht-
schizophrener gewonnen war. In einer früheren Mitteilung hatte
ich jedoch bereits angegeben, daß man bei Verwendung geeigneter
Katatonie-Hirnextrakte unter Umständen zu ganz anderen Er-
gebnissen gelangen kann. Diese Abweichung der sogenannten
„Katatonie-Hirnreaktionen‘‘ von den ‚„Normal-Hirnreaktionen“
bestand darin, daß die ersteren Reaktionen mehr im Sinne einer
ätiologischen Spezifität auftraten und so den immerhin be-
deutungsvollen Schluß nahelegten, daß in den bei diesen Ver-
suchen verwendeten Katatonie-Gehirnen eine besondere Kom-
ponente enthalten ist, welche in der normalen Hirnsubstanz fehlt.
Denkt man sich die Antigenstruktur als eine zusammengesetzte,
so müssen wir über diese Beobachtungen hinaus noch feststellen,
daß diese besondere Teilquote der Katatonie-Hirnextrakte
auch eine höhere antigene Wertigkeit besitzt als die im gleichen
Extrakt enthaltenen offenbar niedriger differenzierten Antigen-
komponenten.
Wie wir zu diesem Ergebnis gekommen sind, soll durch die
folgenden experimentellen Versuche belegt werden.
Für eine unterschiedliche Reaktionsfähigkeit der Normal- und
Katatonie-Hirnextrakte sind natürlich nur Paralleluntersuchungen
beweiskräftig, in denen dieselben Liquoren innerhalb der gleichen
Versuchsanordnung gegenüber den beiden Extrakten geprüft wurden.
Die Tabelle I gibt eine Übersicht über 30 auf diese Weise unter-
suchte Liquoren. Die Technik der Hirnlipoidreaktion war die
gleiche wie bereits früher angegeben. Überblicken wir zunächst
die Normal-Hirnreaktionen, so finden wir, daß etwa die Hälfte
der von Schizophrenien bzw. atypischen schizophrenieverdächtigen
Psychosen stammenden Liquoren sowie die organischen Fälle
positiv reagieren. Es sei bemerkt, daß diese hier zusammen-
gestellten Fälle für die Parallelversuche ausgewählt waren, indem
insbesondere Liquor von solchen Fällen herangezogen wurde, die
klinisch als Schizophrene imponierten, jedoch nach der Hirn-
lipoidreaktion negativ reagierten.
Demgegenüber geben die Katatonie-Hirnreaktion einen ganz an-
deres Bild, indem mit diesem Extrakt allein die Schizophrenie-
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren usw. 235
Tabelle I
Parallelversuche
Hirnlipoidreaktion
mit Extrakten aus:
A 3 f
. . Katatonie-
Normal-Hirn mn
m a e aaam o M aa BPLLLUILn LU ie
aaa eaaa aaa a EEE:
1. Schizophrenien bzw. atypische schizophrenieverdächtige Psychosen
g DENA 28 e oa pa Ko 25% positiv positiv
NICR e ai an ania ea a e e a ae e eg = u
Gunth., % u er 5
SO 90 NI D YTM G9 pO m
ae
&
-y3
eo
40. Jäg. o i R
11. 110.205 8.85 mei we ee i z
12: SCchHMi. », 5.2.2 8 ee negativ positiv
2. Organische Fälle
23. Hartm. M. Sue 2: & 25 we # & positiv negativ
24. Gottsch. p. P. in e ag ii m
25. Reinh. Postencephalitis m ea Be Se 5. 7
28. Strub. Postencephalitis. a rare 5 ’
29. Hal. M. S.. 04 a AS eg rA 5 1
30. Kirschn. M. S. . . . 2 2 2 2 2 2 2. $ 3
liquoren reagieren, und zwar auch diejenigen, welche sich gegen-
über Normal-Hirnextrakt negativ verhalten. Es sei ferner aus-
drücklich darauf hingewiesen, daß die mit Normal-Hirnextrakt
reagierenden organischen Fälle nicht auf Katatonie-Hirnextrakt
übergreifen.
Zusammenfassend gewinnen wir also den Eindruck, daß der
Katatonie-Hirnextrakt sich im Hinblick auf die Schizophrenie-
liquoren bedeutend krankheitsspezifischer verhält als der Normal-
Hirnextrakt. Auf Grund dieser Reaktionsweise können wir dem-
236 H. Lehmann-Facius
nach unter den in der Tabelle I angeführten Schizophrenieliquoren
zwei Gruppen unterscheiden:
1. die sowohl mit Normal- wie mit . Katatonie-Hirnextrakt
reagierenden Fälle,
2. eine isoliert mit Katatoniehirn-Extrakt reagierende Gruppe
von Schizophrenieliquoren.
Wir wollen der Einfachheit wegen diese beiden Reaktionstypen
dementsprechend als Gruppe-I- und Gruppe-II-Liquoren bezeich-
nen Schon diese Feststellung aus den Parallelversuchen läßt den
Schluß zu, daß der Katatonie-Hirnextrakt eine komplexere Kon-
stitution besitzt als der normale Hirnextrakt, d. h. daß in ihm
noch eine dem Normalextrakt fehlende Quote enthalten sein muß,
die den in der II. Gruppe angeführten Schizophrenieliquoren als
Angriffspunkt dient. Daß anderseits die I. Liquorgruppe mit beiden
Extrakten zugleich reagiert, ist nicht verwunderlich, da ja der
Katatonie-Hirnextrakt auch die im normalen Hirnextrakt wirk-
samen Antigenbestandteile enthalten muß. Jedenfalls läßt schon
die Tatsache einer isolierten Reaktionsfähigkeit des Katatonie-
Hirnextraktes vermuten, daß es sich bei den Gruppe-I-Reaktionen
um zwei verschiedene Teilreaktionen handeln könnte. Daß man
diese Erscheinungen nicht einfach mit einer größeren Empfindlich-
keit des einen Extraktes, also durch quantitative Unterschiede in
der Lipoidzusammenstellung erklären kann, geht schon daraus
hervor, daß ja dieser Extrakt nicht mit den organischen Fällen
reagiert, was bei einer solchen Annahme unbedingt der Fall sein
müßte.
Um diese Frage endgültig zu entscheiden, wurden Absorptions-
versuche von Gruppe-II-Liquoren, die also isoliert mit Katatonie-
Hirn reagierten, ausgeführt.
Hierzu wurden je 6ccm
1. Liquor „Weil“,
2. Liquor ‚Schmitt‘
in der üblichen Weise 10 Minuten mit Äther ausgeschüttelt und
je 2ccm des Äther-Rest-Liquors mit dem Abdampfungsrückstand
a) von je 1ccm Normal-Hirnextrakt
b) von je 1ccm Katatonie-Hirnextrakt
verrieben und in verschlossenen Reagenzgläsern 2 Stunden bei
37° ım Brutschrank digeriert; alsdann 10 Minuten zentrifugiert
und zur Hirnlipoidreaktion in der üblichen Weise in fallender Reihe
angesetzt. Als Antigen diente hierbei der Katatonie-Hirnextrakt
Nr. 60.
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren usw. 237
Tabelle II
Absorptionsversuch
Hirnlipoidreaktion mit Schizophrenen-Liquor und Katatonie-Hirnextrakt
B C
Absorb. mit Norm. JjAbsorb. mit
A
Liquor unbehandelt Hirn Ext. Katat. Hirn Ext.
a b
Liquor cem] Weil Weil i Schm.
0,3 +++ | ++ + + — —
0,2 +++ | +++ |++ ++ — —
0,1 ++++| +++ |++ +++ — —
0,075 | ++++ | +++ +++ |++++| — —
0,05 | ++++ | ++++ | ++ +++ — —
0,03 +++ | ++++ | ++ +++ — —
0,02 +++ |+++ |++ ++ — —
0,01 +++ | ++ + ++ — —
Das Ergebnis ist aus der Tabelle II ersichtlich. Wir sehen, daß
die beiden Liquoren in nativem Zustande stark mit Katatonie-
Hirnextrakt reagierten, und daß diese Reaktionsfähigkeit nach der
Absorption mit Normal-Hirnextrakt bestehen geblieben bzw. kaum
abgeschwächt ist, während die Absorption der Liquoren mit dem
homologen Katatonie-Hirnextrakt zu einer restlosen Entfernung
der Antikörper geführt hat.
Die Tabelle stellt nur ein Versuchsbeispiel dar; wiederholte
Absorptionsversuche mit anderen Liquoren der Gruppe II führten
zu dem gleichen Ergebnis.
Es geht hieraus eindeutig hervor, daß die Reaktionsfähigkeit
dieser besonderen Liquoren, die wir als Gruppe II bezeichneten,
mit dem Katatonie-Hirnextrakt Nr. 60 nicht etwa der Ausdruck
einer größeren Empfindlichkeit dieses Extraktes ist, sondern ledig-
lich auf einer qualitativ verschiedenen Antigenstruktur dieser
Extrakte beruht, und daß dementsprechend auch die in diesen
Liquoren enthaltenen Antikörper keineswegs mit den mit Normal-
hirn reagierenden identisch sein können.
Es war deshalb von besonderem Interesse, den Absorptions-
versuch parallel mit Gruppe-I- und Gruppe-II-Liquoren auszu-
führen, d. h. die sich auf diese Weise manifestierenden Antikörper-
strukturen der beiden Liquorengruppen zu vergleichen. Denn wenn
es sich bei den isoliert mit Katatoniehirn reagierenden und den
mit Normalhirn reagierenden Liquoren tatsächlich um verschiedene
Antikörpertypen handelt, war zu erwarten, daß dies auch nach
der Absorption mit den verschiedenen Hirnextrakten seinen Aus-
druck findet.
238 H. Lehmann-Facius
Tabelle III
Absorptionsversuch
Hirnlipoidreaktion mit Schizophrenen-Liquor und Katatonie-Hirn-Extrakt
A B
Absorb. mit Normal-Hirn Absorb. mit Katat.-Hirn-
Extr. Extr.
Liquor ccm a | b a | b
Klüb. Stah. `
(N. H. — (N. H. +
0,3 men Be = ae
0,2 PTF = = =
0,1 ea = = E
0.075 Per = = =
0.05 PI = = =
0.03 vos >= = 5
0,02 F = = —
0,01 2 Wa oz =
Wie die Tabelle zeigt, hat die Absorption des zur Gruppe II
gehörenden Liquors ,Klüber“ mit Normalhirn dessen Reaktions-
fähigkeit gegenüber Katatoniehirn nicht beeinträchtigt, während
der mit Normalhirn reagierende Liquor (Gruppe I) durch die
Vorbehandlung mit Normal-Hirnextrakt seine Reaktionsfähigkeit
vollständig verloren hat. Daß das gleiche auch durch die Vor-
behandlung mit Katatonie-Hirnextrakt bei diesem Liquor der
Gruppe I bewirkt wurde, ist deshalb nicht verwunderlich, da man
ja in diesem Extrakt neben seiner spezifischen Komponente
auch zugleich mit Normalhirn identische Antigenquoten annehmen
muß.
Nachdem auf diese Weise durch die Absorptionsversuche nach-
gewiesen war, daß der Hirnlipoidreaktion unter Umständen ganz
verschiedene Antikörperwirkungen zugrunde liegen können, war
es naheliegend, die Untersuchung auch auf die in den Liquoren
enthaltenen ätherlöslichen Hemmungskörper auszudehnen.
Wir wissen, daß in den Liquoren, die eine positive Hirnlipoid-
reaktion geben, Antikörper und Antigene nebeneinander in einer
leicht dissozierbaren Verbindung vorkommen, und daß durch die
sogenannte Ätherfraktionierung die Hirnlipoidantikörper erst in
Freiheit gesetzt werden müssen, wenn man sie mit der Reaktion
nachweisen will. Auf diesem Prinzip habe ich die sogenannte
Hemmungs- oder Bestätigungsreaktion aufgebaut, bei der nicht
die Liquoren, sondern deren Ätherextrakte auf antigene Eigen-
schaften gegenüber Test-Lipoidantikörpern geprüft werden.
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren usw. 239
Nachdem nun durch die Absorptionsversuche erwiesen war, daß
die in den Liquoren der Schizophrenen bzw. mancher atypischer
endogener Psychosen enthaltenen Hirnlipoidantikörper nicht ein-
heitlicher Natur sind, war zu prüfen, ob diese Hemmungskörper
dieselben Spezifitätsunterschiede zeigen.
Zu diesem Zwecke wurden je 1,5 ccm Testliquor mit dem Äther-
rückstand aus je 2ccm Liquor 2 Stunden im Brutschrank bei 37
digeriert, dann mit dem Liquor-Ätherextraktgemisch die Hirn-
lipoidreaktion in der üblichen Weise in fallender Reihe gegenüber
Katatonie-Hirnextrakt angesetzt.
Als Testliquoren dienten:
a) Liquor „Molitor‘‘ (Gruppe II),
b) Liquor ‚Ohler‘‘ (Gruppe I).
Auf Hemmungswirkung geprüft wurden die Ätherextrakte aus
je 2 Gruppe-Il-Liquoren (Molitor, Kiehne) und einem Gruppe-I-
Liquor (Ohler).
Tabelle IV
Hemmungsversuch
Hirnlipoidreaktion von Testliquor und Katatonie-Hirn-Extrakt nach Vor-
behandlung des ersteren mit:
Ätherrückständen aus Liquor Ätherrückständen aus Liquor
a b c a b c
Molitor Kiehne Ohler
(Kat.H.+|(Kat.H.+|(Kat.H.+
Liquor ccm| Norm. | Norm. Norm.
H. —) H. —) H. +)
Ba El nee
Testliquor Molitor (Kat. H. + )| Testliquor Ohler (Norm. H. +)
_ {= Gruppe Il} (= Gruppe I)
0,3 — — ++ ++ ++ —
0,2 — — +++ ++ +++ —
0,1 — — +++ +++ | +++ —
0,075 — — +++ +++ | +++ —
0,05 — — | +++ +++| +++ —
0,03 — — ++++ | ++ + —
0,02 — — +++ ++ + —
0,01 — — ++ + + —
-<
Wie die Tabelle zeigt, sind die Hemmungswirkungen der ge-
prüften Liquoren-Äther-Extrakte ganz entgegengesetzt, je nach-
dem sie mit dem Testliquor Gruppe l oder Gruppe II zusammen-
gebracht wurden. Hierbei ist es von besonderem Interesse, daß die
Ätherextrakte aus Gruppe-Il-Liquoren (Molitor, Kiehne) nur
gegenüber dem homologen Gruppe-Il-Testliquor eine Hemmungs-
240 H. Lehmann-Facius
wirkung entfaltet haben, während ein aus Gruppe-I-Liquor stam-
mender Ätherextrakt die Reaktionsfähigkeit dieses Testliquors
nicht beeinträchtigt hat (Teil A der Tabelle). Umgekehrt sind
dieselben Gruppe-II-Ätherextrakte gegenüber dem mit Normal-
hirn reagierenden Gruppe-I-Testliquor völlig unwirksam (Teil B
der Tabelle), während hier der homologe Ätherextrakt (Ohler)
eine volle Wirkung ausgeübt hat.
Die Tabelle veranschaulicht wiederum nur ein Beispiel einer
Anzahl gleichartig ausgefallener Versuchsreihen.
Wir können hieraus schließen, daß bei den verschiedenen Typen
der Hirnlipoidreaktion (Gruppe I und Gruppe II), welche wir
herausgestellt haben, sich nicht nur die Lipoidantikörper in der
erörterten Weise voneinander unterscheiden, sondern daß auch die
gleichzeitig in den Liquoren enthaltenen ätherlöslichen Substanzen
ein hinsichtlich ihrer spezifischen Bindungsfähigkeit verschiedenes,
und zwar dem betreffenden Antikörpertypus entsprechendes Ge-
präge besitzen.
Da also die Gruppe-II-Liquoren isoliert mit Katatonie-Hirn-
extrakten reagieren, bedeutet dies, wie aus der Tabelle hervor-
geht, daß die Ätherextrakte solcher Liquoren nicht imstande sind,
Normal-Hirnreaktionen zu hemmen, d.h. mit Gruppe-I-Liquoren
eine Bindung einzugehen, ebensowenig wie umgekehrt die Äther-
extrakte die Gruppe-I-Liquoren bei der Versuchsanordnung der
Hemmungsreaktion mit Gruppe-II-Antikörpern abgesättigt werden
können. Dies bedeutet also, daß die bei der Hemmungsreaktion
sich manifestierenden biologisch wirksamen Substanzen der Äther-
extrakte aus Gruppe-Il-Liquoren einem in engerem Sinne krank-
heitsspezifischen Faktor gleichzusetzen sind. Vom immunologischen
Gesichtspunkt aus entsprechen also die Ätherextrakte aus solchen
Liquoren in ihrer Bindungsfähigkeit jener besonderen Komponente,
durch die sich der Katatonie-Hirnextrakt von den Normal-
Hirnextrakten unterscheidet; sie sind also mit jener durch die
Absorptionsversuche nachgewiesenen spezifischen Teilquote des
Katatonie-Hirnextraktes zu identifizieren.
Bei der Erfassung dieser feineren serologischen Unterschiede bei
der Hirnlipoidreaktion war vorausgesetzt worden, daß es sich bei
den in Frage stehenden Antikörperwirkungen um organspezifische
Hirnlipoidantikörper handelte. Diese Annahme schien schon des-
wegen gerechtfertigt, weil ja das Gehirn und ganz besonders seine
lipoiden Bestandteile in serologischem Sinne durch eine aus-
gesprochene Organspezifität charakterisiert sind. Diese serologische
Sonderstellung der Gehirnlipoide kommt bekanntlich dadurch zum
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren usw. 241
Ausdruck, daß bei der Immunisierung von Tieren mit Gehirn-
lipoiden ganz vorwiegend eben nur Gehirnantikörper entstehen,
ohne Rücksicht auf die Art, von der das Untersuchungsmaterial
stammte.
Um nun zu entscheiden, ob die schon erörterten serologischen
Differenzierungsversuche sich tatsächlich im Rahmen einer solchen
„Gehirnspezifität‘‘ darstellen, wurde wiederum die Methodik des
Absorptionsversuches angewandt.
Und zwar wurden positive Liquoren sowohl mit Gehirnphos-
phatıd wie mit verschiedenen anderen menschlichen Organphos-
phatiden vorbehandelt. Diese Versuche fielen stets identisch aus.
Als Beispiel für diese Absorptionswirkungen möchte ich jedoch
in der folgenden Tabelle V das mit einem Schizophrenen-Blut-
serum gewonnene Ergebnis anführen. Es gelingt nämlich, Gehirn-
lipoidreaktionen nicht nur mit Liquor, sondern auch mit dem
Blutserum auszuführen, wie mehrere 100 bisher noch unveröffent-
lichte Versuche gezeigt haben.
Methodische Voraussetzungen für das Gelingen der Serum-
reaktion sind:
1. Verdünnung des Serums mit physiologischer Kochsalzlösung
auf 1/200,
2. Anwendung des sogenannten Kältebindungsverfahrens durch
Digerieren der Serum-Extraktgemische während etwa 18 bis 24
Stunden (über Nacht) ım Eisschrank bei etwa plus 3 bis 5°C.
Im übrigen ist die Technik die gleiche wie bei der Liquorreaktion,
nur daß eine vorherige Ausschüttelung des Serums mit Äther nicht
unbedingt erforderlich ist, da sich die Hemmungskörper bei der
hohen Verdünnung nicht mehr bemerkbar machen. Nach der
Kältebindung werden die Gemische nur 3 Minuten bei 2500 Um-
drehungen zentrifugiert und die Sedimente vorsichtig aufgeschüt-
telt, wobei außer einer etwaigen grobscholligen Ausflockung bei
positiven Fällen auch eine ausgesprochene Klärung der Zwischen-
flüssıgkeit zu beachten ist.
Zur Absorption wurden je 2ccm Serum mit dem Rückstand
aus 2ccm Phosphatidextrakt 1 Stunde im Brutschrank bei 37°
vorbehandelt; dann scharf zentrifugiert, der Abguß 10 Minuten
mit der 10fachen Menge Äther ausgeschüttelt (zwecks Entfernung
von Lipoidresten aus der Abgußflüssigkeit).
Mit den so vorbereiteten Abgußflüssigkeiten wurde die Hirn-
lıipoidreaktion in der oben beschriebenen Weise in fallender Reihe
angesetzt.
16 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 119, H.1'3.
242 H. Lehmann-Facius
Tabelle V
Hirnlipoidreaktion mit Schizophrenen-Serum
Nach N mit
|
|
Wie aus der Tabelle V hervorgeht, hat allein die Vorbehandlung
des Serums mit dem Hirnphosphatid zu einer vollständigen Ent-
fernung der Lipoidantikörper geführt; während die Vorbehandlung
mit menschlichen Nieren- oder Herzphosphatiden die Hirnlipoid-
reaktion nicht oder nur ganz geringgradig beeinträchtigt hat.
Hieraus ergibt sich, daß Schizophrenenserum und ebenso Liquor
keine allgemeine Lipoidaffinität besitzt, sondern nur eine elektive
Bindungsfähigkeit gegenüber dem Gehirnphosphatid, daß also die
ın diesen Körperflüssigkeiten enthaltenen Lipoidantikörper tat-
sächlich im Sinne der „Gehirnspezifität‘‘ abgestimmt sind.
Tabelle VI
Suena en e e o en
Lipoidreaktion mit Phosphatidextrakten aus
; , Lecithin
| #im | Niere | Leber | Herz | (Merck)
—
Nieren-
phosphatid
Herz-
| phosphatid
Hirn-
phoshhatid
++++
++++
nasse
+++++
++++
Bee
++4++
+
++++++++
w
m 1/200
k I. Schizophrenie-Serum
0,3 +++ | — = ee | =
0,2 +++ | — = ar | eu
0,1 t — — == | Si
0,075 +++ | — — em en
0,05 + = =; ur —
0,02 + | an ER | sr
Il. Wa. positives Serum
S ++ +++ ! +++
0,2 = — ++ +++ 1 +++
0,1 = = F — | ++
0,075 _ Se ee en | Es
0,05 = = — = ! —
0,02 = = = | T | u
Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren usw. 243
Diese Erscheinung ließ sich schließlich auch auf andere Weise
bestätigen, nämlich dadurch, daß einfach die verschiedenen Organ-
phosphatide sowie Lecithin (Merck), das ja auch ein Phosphatid
darstellt, in der Versuchsanordnung der Hirnlipoidreaktion an
Stelle des Gehirnextraktes als Prüfungsantigene verwendet wurden.
Die Tabelle VI zeigt cin Beispiel derartiger Versuche. Hier wurde
ein Schizophrenen-Serum parallel mit einem Wassermannpositiven
Lues-Serum in der beschriebenen Weise gegenüber den verschie-
denen Phosphatiden geprüft. Wir sehen, daß das Schizophrenen-
Serum allein mit dem Gehirnextrakt reagiert, ohne auf die übrigen
Organphosphatide oder Lecithin überzugreifen, während das
Wassermann-positive Luesserum im Gegensatz hierzu negativ mit
dem Gehirnextrakt reagiert, jedoch auf Leber, Herzphosphatid
und Lecithin anspricht. Hierdurch dokumentiert sich nicht nur die
verschiedene Spezifität der in beiden Seren vorhandenen Lipoid-
antikörper, indem die Lipoidaffinität des Schizophrenen-Serums
eben eine elektive gehirnspezifische, die des Wassermann-positiven
Serums eine allgemeinere undiflerenzierte ist, sondern es wird durch
derartige Versuche auch von vornherein der Einwand entkräftet,
daß diese Reaktionsfähigkeit des Schizophrenen-Serums nur eine
scheinbare sei. Denn wenn auch angenommen werden muß, daß das
Gehirn ein lipoidreicheres Organ darstellt, als die anderen Organe,
aus denen die Phosphatide bereitet wurden, so zeigt doch das zu-
letzt angeführte Versuchsbeispiel eindeutig, daß trotz solcher et-
waiger quantitativer Unterschiede die spezifische Bindungsfähig-
keit dadurch nicht beeinträchtigt wird, und daß auch die mit dem
Schizophrenen-Serum negativen Organphosphatide gegenüber dem
Wassermann-positiven Serum durchaus reaktionsfähige Antigene
darstellen.
16°
Zur Behandlung der Hypophysengangszysten
Von
Prof. Dr. W. Tönnis
(Aus der Neurochirurgischen Universitätsklinik Berlin, Dir.: Prof. W. Tönnis,
und der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des
Gehirns am Kaiser- Wilhelm - Institut, Leiter: Prof. W. Tönnis, für Hirn-
forschung in Berlin-Buch, Dir.: Prof. H. Spatz)
(Mit 6 Abbildungen auf 3 Tafeln)
Die Behandlung der Hypophysengangszysten bildet noch immer
ein recht unerfreuliches Kapitel der Neurochirurgie. In der Mehr-
zahl der Fälle handelt es sich um sehr große, teils solide, teils
zystische Tumoren, die infolge ihrer Lage und Ausdehnung eine
völlige Entfernung unmöglich machen. Nur in einer kleinen Zahl
ist eine völlige Entfernung möglich.
Unter meinem Material befinden sich vier Fälle dieser Art, die
sich gut entfernen ließen. Über die Technik dieses Vorgehens
berichtet Dandy in seinem Buche über „Hirnchirurgie‘‘. Seiner
meisterhaften Darstellung, die dank der Bemühungen von H. Köbcke
jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt, ist kaum etwas hinzu-
zufügen. |
Über einen Fall ist bereits früher berichtet worden. Die drei
weiteren Fälle sollen im folgenden kurz mitgeteilt werden.
Falli. M. H. 54 Jahrealt. Eintritt 27. 11. 35, gestorben 22. 12. 35.
Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit 1 Jahr Kopfschmerzen, seit 5 Monaten Sehstörungen.
Befund. Gesichtsfeld: bitemporales, parazentrales Skotom mit bitempo-
raler Einengung der Außengrenzen. Sehkraft rechts 3/60, links 0,5/15. Fundus:
primäre Atrophie. Übriger Befund o. B., keine innersekretorischen Störungen.
Röntgenologisch keine Veränderungen an der Sella. Wegen einer Bronchitis
muß die geplante Operation hinausgezögert werden.
Diagnose: suprasellärer Tumor, dessen Art nicht sicher angegeben wer-
den kann. Dem Alter würde ein supraselläres Meningeom entsprechen. Un-
gewöhnlich wäre hierfür die gleichmäßige beiderseitige Gesichtsfeldstörung.
Operation: 20.12. Rechtsseitiger frontaler, osteoplastischer Lappen.
Nach Punktion des linken Vorderhornes wird intradural an der Basis der
vorderen Schädelgrube gegen den rechten Opticus zu vorgegangen. Vor und
unter dem Chiasma findet sich eine blau-gräuliche Zyste, die den Raum zwi-
schen den beiden Sehnerven und dem Tuberculum sellae völlig ausfüllt.
Zur Behandlung der Hypophysengangszysten 245
Zweifellos handelt es sich um eine Hypophysengangszyste. Nach Durchtren-
nung der Arachnoidea wird die Zyste eröffnet. Es entleert sich klare gelbliche
Flüssigkeit. Die zusammengefallene Kapsel wird durch sanftes Anziehen von
der Umgebung abgelöst. Es gelingt, sie vollständig zu entfernen. Es blutet
danach noch aus einer kleinen Arterie auf dem Diaphragma sellae, die durch
Aufdrücken eines kleinen Muskelstückes verschlossen wird. Drainage, üblicher
Schichtverschluß.
Am Tage nach der Operation verschlechtert sich der Zustand des Kranken
ziemlich rasch. Die Pulsfrequenz steigt. In der Nacht weitere Verschlechterung.
Benommenheit. Tod unter Absinken des Blutdrucks, Ansteigen der Atem-
frequenz und Pulsfrequenz. Keine Hyperthermie.
Sektion. Keine Nachblutung, an der Durchtrittsstelle des Hypophysen-
stiels durch die Dura liegt das aufgedrückte Muskelstückchen. Hypophyse
normal. Die übrigen Organe ergeben eine Coronasklerose, alte Herzmuskel-
schwielen und eine mäßige Atheromatose der Aorta. Histologische Diagnose
des Tumors: Craniopharyngeom.
Fall2. M.H. 42jährige Frau. Eintritt 14. 12. 37, Austritt 7.1. 38.
Graniopharyngeom, Totalexstirpation.
Vorgeschichte. Seit 8 Jahren Menopause, seit 7 Jahren etwa einmal
jährlich ein Ohnmachtsanfall, dem Übelkeiten und Erbrechen vorausgehen.
In den letzten Jahren haben sich die Anfälle gehäuft. Seit der gleichen Zeit
Drehschwindel. Seit 2 Jahren Sehstörungen. Das Sehvermögen hat besonders
in den letzten 5 Wochen sehr stark abgenommen. Seit der gleichen Zeit heftig-
ste Kopfschmerzen von der Stirn bis in den Nacken ausstrahlend. Seit 1 Jahr
stark vermehrtes Durstgefühl.
Befund. Primäre Atrophie der Optici. Visus links 0,25, rechts 0,50. An-
gedeutete bitemporale Hemianopsie. Außer einer Unsicherheit beim Romberg
und beim Gang mit geschlossenen Augen wird kein neurologischer Befund er-
hoben. Röntgenologisch findet sich eine Verkalkung dicht oberhalb der Sella.
Beurteilung. Es handelt sich um einen Tumor im Bereich der Chiasma-
gegend; den Verkalkungen entsprechend dürfte ein Craniopharyngeom vor-
liegen.
Operation am 20. 12. 37. In örtlicher Betäubung wird ein rechtsseitiger,
osteoplastischer, frontaler Lappen gebildet. Nach Punktion des linken Vorder-
hornes wird die Dura eröffnet. Nach Rückverlagerung des Kopfes kann an
der Basis der vorderen Schädelgrube der rechte Opticus zugänglich gemacht
werden. Die Cisterna chiasmatis wird eröffnet. Das Chiasma ist nach hinten
und oben gedrängt. Vor und unter ihm liegt ein teils solider, teils zystischer
Tumor. Zwei Zysten werden eröffnet. Dann wird der Tumor in Stücken ent-
fernt. Üblicher Schichtverschluß. Histologisch: Craniopharyngeom. Heil-
verlauf ungestört. Röntgennachbestrahlung. Nach brieflicher Mitteilung gutes
Allgemeinbefinden. Subjektiv wesentliche Besserung des Sehvermögens.
Fall3. G. B. 32jähriger Mann. Eintritt 3.5.38, Austritt 25. 5. 38.
CGraniopharyngeom, Totalexstirpation.
Vorgeschichte. Seit dem 20. Lebensjahre ab und zu Kopfschmerzen in
der Scheitelgegend mit Ausstrahlung in beide Schläfen. Er hat dabei ein
Druckgefühl, als ob der Schädel platzen wollte. Dabei häufig Übelkeit. Seit
Mai vorigen Jahres wurde eine temporale Einschränkung des Gesichtsfeldes
auf dem linken Auge festgestellt. Seit 5 Wochen temporale Einschränkung
des Gesichtsfeldes des rechten Auges.
246 W. Tönnis
Befund. Links leichte Hyposmie, rechts Papille temporal abgeblaßt,
ebenso die linke, aber stärker als die rechte. Röntgenologisch besteht keine
Erweiterung der Sella, keine Verkalkung.
Beurteilung. Es handelt sich um einen Tumor im Bereich des Chiasmas.
Hypophysenadenom oder Craniopharyngeom sind unwahrscheinlich. Möglicher-
weise kann es sich um ein Cholesteatom handeln.
Operation am 4.5.38. Rechtsseitige transfrontale, intradurale Frei-
legung des Chiasmas. Nach Rückverlagerung des Kopfes findet man vor dem
beträchtlich nach hinten verlagerten Chiasma eine bläulich durchschimmernde
Zyste. Bei der Eröffnung entleert sich aus ihr braungelbe, Cholesterinschollen
enthaltende Flüssigkeit. Die zusammengefallene Zystenwand wird vorsichtig
abpräpariert. Besonders mit dem linken Chiasma-Opticuswinkel bestehen
stärkere Verwachsungen. Vollständige Entfernung ist möglich. Schicht-
verschluß der Wunde in üblicher Weise. Histologisch: Craniopharyngeom.
Postoperativ bestehen, am 3. Tage beginnend, psychische Störungen im Sinne
eines manischen Zustandsbildes. Auf dem linken Auge war das Sehvermögen
zunächst vollständig geschwunden. Die Lichtreaktion war aber noch etwas
auslösbar. Rechts reagierte die Pupille gut auf Licht. 8 Tage nach der Ope-
ration sind die psychischen Störungen geschwunden. Das Sehvermögen auf
dem linken Auge hat sich wieder eingestellt. Bei der Entlassung bestand rechts
ein vollständiger Ausfall der temporalen Hälfte. Links war im temporalen
oberen Quadranten ein kleines Blickfeld vorhanden.
Leider ist die Prognose der Fälle, die nicht total exstirpiert wer-
den können, weniger gut, als die der eben geschilderten. Läßt sich
bei der Operation der Tumor nur durch Entleerung der Zysten
verkleinern, so erreicht man eine vorübergehende, gelegentlich
jahrelange Beseitigung der Hirndruckerscheinungen und eine
Besserung des Sehvermögens. Die Mehrzahl der suprasellär er-
öffneten Zysten verschließt sich aber wieder durch Verklebungen
mit der Arachnoidea der Zisterna chiasmatis. Wirksamer kann
die von Rhinologen gelegentlich ausgeführte Eröffnung der Zyste
in die Keilbeinhöhle sein, wenn auch die Gefahr einer Meningitis
dauernd besteht. Aus diesem Grunde ist eine intracranielle Ent-
lastung vorzuziehen.
Eine sehr eigenartige Beobachtung ließ uns eine andere Mög-
lichkeit der intracraniellen Entlastung erfolgversprechen-
der erscheinen.
Fall 4. P.F. 5Sijähriger Bankbeamter. Eintritt 10.3. 36, Aus-
tritt 12.3. 36. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit dem 10. Lebensjahre besteht eine temporale Ein-
schränkung des Gesichtsfeldes links. Es fehlt jeglicher Bartwuchs. Im Alter
von 16 Jahren hat er zweimal Anfälle von Bewußtlosigkeit gehabt mit nach-
folgendem Erbrechen. Eine Libido sexualis hat nie bestanden. Ebenso soll
von jeher eine Störung des Geruchsempfindens vorhanden gewesen sein. In
den letzten Jahren hat sich eine sehr heftige Obstipation eingestellt.
Befund. Uintersetzter, kräftig gebauter Mann mit beträchtlicher Fett-
anlagerung im Bereich des Stammes. Starke Hyposmie beiderseits. Am linken
Zur Behandlung der Hypophysengangszysten 247
Auge wird nur Lichtschein empfunden, rechts besteht eine Sehschärfe von 4/5.
Rechts findet sich eine temporale Hemianopsie. Links primäre Opticusatrophie,
rechts temporale Abblassung der Papille. Der linke Bulbus ist einwärts rotiert
und bleibt bei der Abduktion zurück. Sonst neurologischer Befund o. B. Feh-
lender Bartwuchs, hypophysärer Habitus. Spärliche Achsel- und Scham-
behaarung, letztere vom femininen Typus. Trockene, leicht gelblich gefärbte
Haut. Grundumsatz um 21,6°, erniedrigt. Röntgenologisch: massive Verkal-
kung im Bereich des Türkensattels.
Die Verkalkung im Bereich des Türkensattels zusammen mit
den innersekretorischen Störungen lassen wohl an dem Vorliegen
eines Craniopharyngeoms keine Zweifel auftauchen. Allem An-
schein nach haben während des Wachstumsalters auch Hirndruck-
erscheinungen bestanden. Die Anfälle von Bewußtlosigkeit, die
wohl durch Kompression des Temporallappens hervorgerufen
sein dürften, sprechen ebenso dafür wie die jetzt noch im Röntgen-
bild vorhandenen vertieften Impressiones digitatae. Vermutlich
ist es zu einer Spontanperforation der Zyste in die Liquorräume
gekommen, so daß eine dauernde Verbindung zwischen Zyste
und Liquorräumen besteht, die das Auftreten von Hirndruck-
erscheinungen verhindert. Der Fall zeigt, daß ein Craniopharyn-
geom, falls es keine Hirndruckerscheinungen macht, seinem Träger
ein werktätiges Leben gestattet. Der Fall war für uns der Anlaß,
nach sichereren intracraniellen Entlastungen zu suchen. Als bester
Weg hierzu erschien die Verbindung der Zyste mit dem Ventrikel-
system selbst. In zwei Fällen dehnte sich das Craniopharyngeom
in den Temporallappen aus. Hier war es verhältnismäßig einfach,
die Zyste in breite Verbindung mit dem Temporalhorn zu bringen.
Fall 5. J.K. 8jähriges Mädchen. Eintritt 27.7.36, Austritt
21.8.36. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit 3 Jahren Erbrechen. Seit 2 Jahren Erblindung des
rechten Auges. Seit 1 Jahr anfallsweise, im Anschluß an das Erbrechen ein-
setzende Streckkrämpfe in beiden Armen und Beinen. Dabei starke Er-
weiterung der Pupillen. Seit 1 Jahr Kopfschmerzen und unsicherer, taumeln-
der Gang.
Befund. Vollständige Amaurose rechts, links Fingerzählen in 3 Metern.
Das rechte Auge ist etwas nach außen abgewichen. Es besteht beiderseits ein
starker, grobschlägiger Nystagmus, beiderseits primäre ÖOpticusatrophie.
Übriger neurologischer Befund o. B. Deutliche allgemeine Fettsucht. Rönt-
genologisch: Verkalkung im Bereich der Sella, die sich weit in die rechte
mittlere Schädelgrube erstreckt.
Operation in Avertin. Rechtsseitige transfrontale, intradurale Frei-
legung der Chiasmagegend. Man findet hier einen sehr großen zystischen
Tumor mit linsen- und erbsengroßen Kalkeinlagerungen in der Wand. Der
Tumor erstreckt sich bis in die rechte Fissura Sylvii und in die rechte mittlere
Schädelgrube. Durch Punktion werden 160 ccm gelbbräunliche Flüssigekit ent-
leert. Dann wird die Vorderwand der Zvste eröffnet. Man sieht nun, daß es
sich um eine, die ganze Hirnbasis einnehmende Zyste handelt, die sich außer-
248 W. Tönnis
dem noch in die rechte mittlere Schädelgrube erstreckt. Die rechte Arteria
cerebri media und Carotis interna sind nach vorne und schädelbasiswärts vom
Tumor verlagert. Aus dem vorderen Teil des Schläfenlappens wird ein etwa
5-Markstück-großer Rindenbezirk umschnitten. Die Exstirpation reicht bis
in das Unterhorn, so daß nun Zyste und rechtes Unterhorn in breiter Ver-
bindung stehen. Schichtverschluß der Wunde. Bei der Entlassung am 21. 8.
1936 war der Befund am linken Opticus der gleiche, wie bei der Aufnahme.
Rechts bestand die Amaurose weiter. Nach brieflicher Mitteilung hat sich
das Sehvermögen nicht verändert, der Allgemeinzustand ist gut.
Fall 6. J.M. 17jähriges Mädchen. Eintritt 20.11.37, Austritt
14.12. 37. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit 1 Jahr Kopfschmerzen, gelegentlich mit Nacken-
steifigkeit. Seit einem halben Jahr anfallsweise Erbrechen. Seit 5 Wochen
Abnahme der Sehkraft, häufiges Gähnen, große Müdigkeit.
Befund. Beiderseits Stauungspapille von 2—3 Dioptr. Visus links 0,7,
rechts 0,62. Mimische Facialisparese links. Romberg leichtes Schwanken nach
links. Gangabweichung nach links bei geschlossenen Augen. Ataxie und
Adiadochokinese links. Röntgenologisch finden sich feine Kalkschatten über
der Sella.
Operation in örtlicher Betäubung. Rechtsseitiger temporaler osteopla-
stischer Lappen. Die Fissura Sylvii ist nach vorne und oben verlagert und
stark abgeplattet. Die oberste und mittlere Temporalwindung sind verbreitert.
Aus der Mitte derselben wird eine 5-Markstück-große Rindenresektion ge-
macht, die in etwa 3 cm Tiefe in einen zystischen Hohlraum führt, der innen
mit einer Art Schleimhaut überzogen ist, die deutliche Kalkeinlagerungen
erkennen läßt. Auf dem abfließenden Zysteninhalt sieht man Cholesterin-
schollen schwimmen. Das Unterhorn wird eröffnet und so die Zyste mit dem
Ventrikelsystem in Verbindung gebracht.
Entlassung am 14. 12.37 bei sehr gutem Allgemeinbefinden.
Die ın Fall 5 und 6 beobachtete Ausdehnung des Craniopharyn-
geoms ın den Temporallappen wird seltener beobachtet als die in
den nächsten Fällen zu schildernde Ausdehnung gegen das Zwi-
schenhirn und den Seitenventrikel zu, eine Tatsache, auf die vor
allem H. Spatz hingewiesen hat. Wie aus Abb. 1 ersichtlich, wölbt
der Tumor die Wand des 3. Ventrikels nach oben vor und drängt
sie gegen das Foramen Monroe. Beim Einblick in den Seiten-
ventrikel sieht man in solchen Fällen das Foramen Monroe stark
erweitert und ausgedehnt durch einen, sich von der Basis her vor-
wölbenden Tumor. In solchen Fällen erschien es uns leicht, eine
Verbindung zwischen den sich in den Ventrikel vorwölbenden
Tumor und den Seitenventrikel herzustellen).
Fall 7. H.P. 29jährige Frau. Eintritt 27.5. 38, gestorben 29.5.
1938. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit 4!/ Jahren Störungen der Menses. Seit 4 Wochen
Kopfschmerzen, Erbrechen. Vorübergehend Doppelsehen, Abnahme der Sehkraft.
1) Nach mündlichen Mitteilungen haben Jefferson, Dott und Olivecrona ein
ähnliches Vorgehen angewandt.
wi t J
er;
Abb. 2. L.uftdarstellung der Hinterhörner von Fall7. Man sieht im parietaleh Teiden Hsillung=-ı' > kt
durch den sich aus dem Bereich des 3. Ventrikels gegen den Seitenventrikel’vördrangenten |
Tafel VI
Abb. 1. Horizontalschnitt
durch ein Gehirn mit Hy-
drocephalus int. occlusus
durch Verschluß beider
Foramina Monroe. Das
linke Foramen Monroe ist
sehr stark erweitert durch
den sich in den Seiten-
ventrikel vordrängenden
Tumor (T). V = Vorder-
hörner, H = Hinterhörner
Tafel VII
Abb. 3. Operationsskizze zu Fall 7. Freilegung des rechten Stirnhirns. Resektion
eines 5-Markstück-großen Bezirkes aus dem mittleren Drittel der zweiten Stirnwindung
Abb. 4. Schematische Darstellung zu Fall 7. J |
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Abb. 6. Luftdarstellung der Vorderhörner zu Fall 9.
Tafel VIH
Abb. 5. Operationsskizze zu
Fall 7. Durch die bis in den
Ventrikel durchgeführte Re-
sektionsstelle im Frontalhirn
sieht man den Tumor (T) im
erweiterten Foramen Monroe
CI kle
Hydrocephalus int. occlusus durch |
Digitized „Google
Zur Behandlung der Hypophysengangszsyten 249
Befund. Beiderseits Stauungspapille mit Blutungen. Links Abduzenz-
parese, rechts Parese des Occulomotorius. Leichte mimische Facialisparese
rechts. Rechtsseitige Glossopharyngeusparese. Deutliche Hypotonie in beiden
Armen und Beinen. Röntgenologisch ausgedehnte Zerstörung der Sella. Im
Ventrikulogramm (s. Abb. 2) erkennt man deutlich die Vorwölbung des
Tumors in den Seitenventrikel. Trotz der fehlenden Verkalkung ist ein Cranio-
pharyngeom das Wahrscheinlichste.
Operation in örtlicher Betäubung. Linksseitiger osteoplastischer, fron-
taler Lappen. Die vorliegenden Hirnwindungen sind gleichmäßig abgeplattet
und verbreitert. Aus der Mitte der zweiten Frontalwindung wird ein etwa
5-Markstück-großes Rindenstück reseziert (Abb. 3). Dann wird der er-
weiterte linke Seitenventrikel eröffnet. Das Foramen Monroe ist auf fast
Markstückgröße erweitert. In ihm erscheint ein bläulich durchschimmernder
Tumor (Abb. 4—5). Durch Inzision wird das Foramen Monroe erweitert.
Eine oberflächlich gelegene Zyste im Tumor wird eröffnet. Hierdurch erlangt
man eine bessere Übersicht und kann so die seitlichen Tumorränder darstellen.
Mit der Faßzange wird das Innere des größtenteils soliden Tumors stückweise
entfernt. Man kommt so bis in die Gegend des Tuberculum sellae. Der Tumor
muß sich aber noch sehr weit nach hinten erstrecken. Beim Versuch ihn vor-
sichtig hervorzuziehen, hat man das Gefühl, daß er nach hinten zu entweder
sehr groß sein muß oder stark verwachsen ist. Beim weiteren Verkleinern der
Geschwulst kommt es zu einer stärkeren arteriellen Blutung, die auf Tam-
ponade mit Muskelstücken zum Stillstand gebracht werden kann. Zur Sicher-
heit wird die linke Garotis suprasellär durch eine Silberklemme verschlossen.
Trotz ausreichender Bluttransfusionen Exitus am 29.5. unter den Zeichen
einer zentralen Kreislauflähmung.
Sektion. Sehr ausgedehntes Craniopharyngeom der Hirnbasis, das bis
in die hintere Schädelgrube reicht.
Fall 8 W.P. 5jähriger Junge. Eintritt 3.1.38. Gestorben
9.1.38. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit August 1937 unsicherer, breitspuriger Gang. Seit
derselben Zeit Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit. Seit Ende September Er-
brechen, Doppelsehen, Abnahme der Sehkraft.
Befund. Starke Vergrößerung des Kopfes (54 cm Umfang). Beiderseits
Stauungspapille von 3 Dioptr. Beim Versuch zu gehen, fällt das Kind nach
hinten. Nystagmus nach beiden Seiten. Deutliche Fettsucht, starke Som-
nolenz. Röntgenologisch sehr großer Kalkschatten über der zerstörten Sella.
Operation in Avertin. Rechtsseitiger frontaler osteoplastischer Lappen.
Nach Resektion eines 5-Markstück-großen Stückes der zweiten Stirnwindung
wird der rechte Seitenventrikel eröffnet. Das rechte Foramen Monroe ist auf
etwa 2-Markstückgröße erweitert. Es schimmert ein blauschwarzer Tumor
hindurch. Durch Punktion werden 25 ccm xanthochromer Flüssigkeit mit
Cholesterinschollen entleert. Die Kapsel wird danach breit geöffnet. Schicht-
naht der Wunde in üblicher Weise. 8.1.38: Das Kind hat die Operation
verhältnismäßig gut überstanden. In der Nacht tritt ein plötzlicher Verfall
auf, kurz darauf erfolgt Erbrechen von kaffeesatzartigem Mageninhalt. Nach
einer Bluttransfusion von 400 ccm bessert sich der Zustand schlagartig.
9.1.38: Das Kind bietet deutliche Zeichen einer allgemeinen Kreislauf-
schwäche. Durch Ventrikelpunktion wird festgestellt, daß keine stärkere
Drucksteigerung besteht. Gegen abend verschlechtert sich der Zustand er-
neut; trotz Infusion zunehmender Verfall und Exitus.
250 W. Tönnis
Bei der Sektion fanden sich im Magen und Duodeum mehrere frische
blutende Ulcera.
Fall 9. A.R. Ai4jähriges Mädchen. Eintritt 17.1.38, Austritt
23. 2. 38. CGraniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit Sommer 1936 Kopfschmerzen, besonders in der
Stirne. Seit Dezember 1937 Sehstörungen und Erbrechen.
Befund. Allgemeine Fettsucht. Geringe Hyposmie rechts. Beiderseits
Stauungspapille von etwa 3 Dioptrien. Bitemporale Hemianopsie. (briger
neurologischer Befund o. B. Röntgenologisch keine Veränderung an der Sella.
keine Verkalkung. Die Ventrikulographie (Abb. 6) ergibt einen Hydrocephalus
int. occlusus durch Verlegung beider Foramina Monroe.
Operation in örtlicher Betäubung. Rechtsseitiger osteoplastischer fron-
taler Lappen. Resektion eines 5-Markstück-großen Bezirkes aus dem mittleren
Drittel der zweiten Frontalwindung. Nach Eröffnung des Seitenventrikels
findet sich das rechte Forman Monroe auf etwa 10-Pfenniggröße erweitert.
Ein zystischer Tumor von bräunlicher Farbe schimmert hindurch. Die Zyste
wird durch Koagulation der Wand eröffnet. Es entleert sich schokoladen-
farbiger Inhalt mit Cholesterinschollen. Schichtverschluß der Wunde in üb-
licher Weise. Bei der Entlassung am 23. 2. ist die Stauungspapille zurück-
gegangen. Das Gesichtfeld ist normal. Nach brieflicher Mitteilung besteht
gutes Allgemeinbefinden. Gewichtsabnahme um 10 Pfund, keine Störungen
des Sehvermögens.
Fall 10. 10jähriger Junge. H. St. Eintritt 19.3.38, Austritt
12. 4. 38. Craniopharyngeom.
Vorgeschichte. Seit 1!/, Jahren Kopfschmerzen, Erbrechen. Seit 14 Tagen
Krampfanfälle, Abnahme der Sehkraft.
Befund. Beiderseits Stauungspapille. Visus rechts 30/30, links 15,30.
Konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung mit besonderem Ausfall der unteren
und temporalen Gesichtsfeldanteile. Röntgenologisch ausgedehnte Verkalkung
über der zerstörten Sella.
Operation in örtlicher Betäubung. Rechtsseitiger frontaler Lappen.
Resektion aus der zweiten Stirnwindung. Das Foramen Monroe ist erweitert.
Ein grünbräunlicher stark verkalkter Tumor schimmert hindurch. Nach Er-
öffnung der Kapsel wird mit dem Löffel der breiige, verkalkte Inhalt entleert.
Nach Kontrolle der Blutstillung üblicher Schichtverschluß der Wunde. Bei
der Entlassung am 12.3. besteht die Stauungspapille noch. Eine vorüber-
gehende Hirndrucksteigerung wurde durch Ventrikelpunktion behandelt.
Der in Fall 6 bis 10 beschriebene intraventrikuläre Weg
zur Eröffnung der gegen das Ventrikelsystem sich vor-
wölbenden Hypophysengangszysten erscheint in entspre-
chend gelagerten Fällen, in denen der Tumor mehr zystisch als
solide ist, als gangbar. Fall 6, der nur in geringem Maße zystisch
und wesentlich mehr solide war, war zweifellos für jede Operation
ungeeignet. Fall 7 erlag einer Magenduodenalblutung. Wenn auch
die Zahl der Fälle noch zu gering ist, um den endgültigen Wert
des operativen Vorgehens zu beurteilen, so bietet sich hier doch
eine Möglichkeit, die als prognostisch so ungünstig bekannten
Craniopharyngeome in gewissen Fällen einer langdauernden
Besserung, vielleicht in manchen sogar einer Heilung zuzuführen.
Zur Behandlung der Hypophysengangszysten 251
Operationssterblichkeit bei Hypophysengangszysten
Gesamtzahl 30 Operiert 27 Gestorben 7
suprasellär 21 5
Foramen Monroe 4 2
Unterhorn 2 0
(269%)
Schrifttum
1. Dandy, W. E., Hirnchirurgie, Leipzig 1938, Ambr. Barth. — 2. Tönnis, W.,
Z. Neur. 158, 1937, S. 346. — 3. Wittermann (Spatz), Nervenarzt 1936, S. 441.
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie
Von
Prof. Dr. F. Sioli
(Aus der Prov. Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg und der
Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf)
Der Psychiater, der praktisch an der Arbeit mit dem Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt ist, sei es als
Antragsteller, sei es als Gutachter, sei es als richterlicher Beisitzer,
kann von dem Bewußtsein getragen sein, daß er für die Zukunft
seines Volkes arbeitet in der Erfüllung der rassenhygienischen
Ziele der Einschränkung kranken Erbnachwuchses.
Er kann außerdem mit Befriedigung fühlen, daß sich für unser
Fach schon jetzt eine Fülle von Befruchtung ergeben hat, die sich
für die einzelnen Krankheiten, ihre Erkennung und die Stellung-
nahme zu ihnen neben den rassenhygienischen Zielen einstellt:
eine erhöhte Sauberkeit der Krankheitsbegriffe und eine vertiefte
differentialdiagnostische Unterscheidung und Untersuchung. Das
ist bei allen Krankheiten der Fall, die im Kreise oder Umkreise
der vom Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses genannten
Krankheiten liegen.
Die genaue erbgerichtliche Fragestellung in Zusammenarbeit
mit dem richterlichen Vorsitzenden wirkt sich dahin aus, daß die
rein ärztliche Krankheitsdiagnostik präziser und schneller wird,
und daß die den Arzt manchmal bedrohende Neigung zu etwas
amorpher Krankheitserfassung unterdrückt werden muß.
Schwierigkeiten der genauen Diagnostik einzelner Krankheiten
drücken sich unter anderm ın der Zahl der im Erbgesundheits-
verfahren durch Beschlüsse von Erbgesundheitsgerichten oder
Erbgesundheitsobergerichten erforderten Gutachten aus.
Dabei hat sich gezeigt, daß die Frage der erblichen Fall-
sucht eine der oft schwierig zu entscheidenden ist. Die Abgrenzung
jedes einzelnen Falles von erblicher oder genuiner Epilepsie führt
immer in die volle Problematik aller epileptischen Erkrankungen
hinein und zwingt dazu, alle Schwierigkeiten des Gesamtgebietes
zu durchlaufen.
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 253
Die Schwierigkeiten im Epilepsiegebiet sind deshalb so groß,
weil sie in zwei Reihen nebeneinander liegen, nämlich in der:grund-
sätzlichen, die sich um den Krankheitsbegriff der Epilepsie über-
haupt gruppiert und dann in der speziellen Diagnostik, die auch
dann noch besteht, wenn die begriffliche Auflösung der einzelnen
Formen erfaßt ist.
Wenn wir von Schwierigkeiten sprechen, so muß ausdrücklich
hervorgehoben werden, daß es sich nicht um Schwierigkeiten des
Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses handelt, sondern
um Schwierigkeiten der Diagnose in einzelnen Fällen, die unserem
Fach der Psychiatrie und dem Gesetzgeber immer vertraut waren.
Dadurch, daß jetzt in erhöhtem Maße das Vorhandensein solcher
Schwierigkeiten auch nicht psychiatrischen Kreisen klar wird,
erwachsen neue Erkenntnisse.
In der nachfolgenden Tabelle ist die Zahl der Beobachtungsgutachten
zusammengestellt, die von der Anstalt Grafenberg auf Beschluß von Erb-
gesundheitsgerichten bzw. Erbgesundheitsobergerichten in der Zeit vom
1.4.36 bis 30. 9. 38 erstattet worden sind, untergeteilt in halbjährige Ab-
schnitte.
Tabelle 4
Von der Anstalt Grafenberg wurden auf Beschluß von Erb-
gesundheitsgerichten bezw. Erbgesundheitsobergerichten an
Beobachtungsgutachten erstattet:
Im Halbjahr . .. . . .1. 4. 3611.10.36|1. 4. 3711. 10.3711. A. 38] insges-
| 30. 9. 36131. 3. 37130. 9. 37131. 3. 38130. 9. 38| samt
Insgesamt. . . .... ; 76 68 109 96 84 433
Davon erbliche Fallsucht. 31 22 45 59 43 200
Angeborener Schwachsinn 22 29 34 22 20 127
Schizophrenie . ..... 20 15 25 12 17 89
Manisch-depress. Irresein 1 1 1 2 1 6
schw. Alkoholismus . . . 2 — — — — 2
Veitstanz . . . 2.2... — — 2 — — 2
erbliche Mißbildung . . . — — — — 2 2
Erbkrankheiten . . ... — 1 2 1 1 5
Die Tabelle zeigt, daß die Fragestellung nach der erblichen Fallsucht die
weit überwiegende Zahl hat, der in weitem Abstande erst die Frage nach dem
Vorliegen angeborenen Schwachsinns und dann der Schizophrenie folgen.
Wir glauben mit Recht annehmen zu können, daß die Verhältnisse, wie
sie sich in unserer Anstalt in den Begutachtungen im Erbgesundheitsverfahren
darstellen, ungefähr allgemeinen Verhältnissen entsprechen.
In der nachfolgenden Tabelle 2 sind die 200 in der Fragestellung der Epi-
lepsie erstatteten Erbgesundheitsgutachten, aufgelöst in die diagnostischen
Einzelformen, denen sie nach der gutachtlichen Überzeugung unserer Anstalt
zugehören, aufgeführt.
254 F. Sioli
Diese Tabelle belegt die Schwierigkeiten der Epilepsiediagnostik; sie
belegt aber außerdem die Gewissenhaftigkeit der Rechtsprechung im Erb-
gesundheitsverfahren, wenn man bedenkt, daß die Epilepsiegutachten die
größte Rolle unter den Gutachten für die Erbgesundheitsgerichte spielen,
und daraus ersieht, daß die Erbgesundheitsgerichte und Obergerichte bei
den durch das Sieb der Antragsgutachten gegangenen Entscheidungen eine
so große Gutachtenanzahl beschlossen.
Tabelle 2
Von 200 wegen erblicher Fallsucht beantragten waren nach
Ansicht des Gutachters:
Im Halbjahr. ..... 1. 4. 361.10. 361. 4. 3711.10. 371. 4. 38| insge-
30. 9. 36/31. 3. 37/30. 9. 37|31. 3. 38|30. 9. 38| samt
Insgesamt . . ..... 31 22 45 59 43 200
Genuine Epilepsie. . . . 9 5 16 14 14 58
Ang. Schwachsinn, keine
sichere Epilepsie . . . 2 4 1 1 — 8
Epilepsie, nicht sicher
unterscheidbar, ob exo-
gen oder genuin . . 1 | — 2 6 3 12
Epilepsie durch Trauma . 1 1 2 2 1 7
Exogene Absencen — — — — 1 1
Herdepilepsie . . .... 3 1 3 4 8 19
Epilepsie aus Lues con-
genita . . 2.2... 1 — 1 1 — 3
Pyknolepsie ...... 1 1 1 — — 3
Progressive Paralyse. . . 1 — — — — 1
Encephalitis . . .... 1 — — 1 — 2
Nicht epileptische Anfälle
bei Psychopathie . . 1 2 1 1 1 6
Nicht epileptische Anfälle
bei reizbarer. Schwäche
des vegetativen Nerven-
systems . .. a.a.. 1 1 — — — 2
Nicht epileptische Anfälle
(Ohnmacht) nach Alko-
holmißbrauch . . 2 1 — — 3
Anfälle bei cereb. inf. He-
miplegie . . ..... — — — 1 1 2
Hirntumor . ...... — — — — 3 3
Schwangerschaftstetanie . 2 — — — — 2
Übererregbarkeitsepilepsie 3 5 16 27 11 62
Wahrscheinlichst u 1 2 — — — 3
.Wahrscheinlich 1 — — — 1 2
Keine Anfallskrankheit — — 1 — — 1
Die Tabelle 2 ist eine Musterkarte der Differentialdiagnosen der erb-
lichen Fallsucht und der Trennung der verschiedenen Möglichkeiten der
Diagnose. Es fehlen in ihr fast nur nephrogene und im engeren Sinne
toxische Krankheiten, um die differentialdiagnostische Musterkarte zu ver-
vollständigen.
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 255
Diese Einzelaufteilungstabelle bringe ich hier aber weniger zum
Beleg der gesamten differentialdiagnostischen Aufteilung, sondern
vielmehr zum Beleg dessen, daß unter den von uns erforderten
Gutachten die Gruppe, die wir als Übererregbarkeitsepilepsie
bezeichnen, eine ganz außerordentliche Rolle spielt.
Ihr außerordentlicher Umfang unter unseren Gutachten war
für uns eine Überraschung. Die Überraschung über den großen
Umfang dieser Form zwingt mich dazu, persönlich zu betonen,
daß ich in den letzten 21; Jahren nicht ohne Sorge unsere Auf-
fassung der Übererregbarkeitsepilepsie verfolge und es daher für
dringend notwendig halte, durch die jetzige Darstellung der soge-
nannten Übererregbarkeitsepilepsie die wissenschaftliche Kritik
zu erbitten.
Unter der Übererregbarkeitsepilepsie verstehen wir im Anschluß
an Heinrich Fischer die tetanische oder von andern auch als
tetanoide Epilepsie bezeichnete Form.
Wenn wir das Wort Übererregbarkeitsepilepsie gebrauchen,
so müssen wir den Sondernamen rechtfertigen. Man kann mit
Recht fragen, ob man diese Form, die Gegenstand meiner Er-
örterung ist, überhaupt als Epilepsie bezeichnen soll, besonders
mit Hinblick auf die kürzlichen Ausführungen von Pohlisch, der
die Bezeichnung Epilepsie nur der genuinen vorbehalten wissen
will; und man kann weiter fragen, warum man das Wort Über-
erregbarkeitsepilepsie gebrauchen will und nicht das Wort tetanische
und tetanoide Epilepsie.
Praktische Gesichtspunkte sprechen dafür, daß die weitere
Diskussion auf der Grundlage des Namens Übererregbarkeits-
epilepsie geführt wird:
Zunächst zu der Bezeichnung ‚Epilepsie‘ und der Abhandlung dieser
Form unter dem Dachnamen der Epilepsie. Die Antwort darauf ergibt sich
aus den Tatsachen der Tabelle 2: Wenn eine so große Zahl als erbliche Fall-
sucht, also unter der Begriffsbildung ‚‚Epilepsie‘“, beantragter Kranker zu der
Epilepsie schlechthin gerechnet werden, dann ist es praktisch richtig, diese
Form bei den Epilepsien abzuhandeln und ihr die Bezeichnung Epilepsie
nicht zu nehmen.
Der Grund, weshalb ich die Bezeichnung Übererregbarkeitsepilepsie statt
tetanische Epilepsie vorläufig weiterhin vertreten und empfehlen möchte,
ist zum Teil in der vorgenannten Begründung der Namensbeibehaltung
Epilepsie enthalten und beruht zum andern Teil darauf, daß es auch vor-
läufig praktisch erscheint, das Wort Tetanie nicht in den Vordergrund zu
drängen, weil die Tatsache der Übererregbarkeit die in Frage stehenden
„Epilepsien“ beherrscht und ihre tetanische Begründung erst in langwierigen
und schwierigen klinischen Untersuchungen und Überlegungen erwiesen
werden muß.
256 F. Sioli
Als weitere Begründung für die vorläufige Beibehaltung der Bezeichnung
Sbererregbarkeitsepilepsie tritt hinzu, daß der Gebrauch dieser Bezeichnung
es offen läßt, daß wir noch andere als tetanische Übererregbarkeiten einmal
klar klinisch erfassen und als Ursache eines epileptischen Zustandes auf-
fassen können. Die Bezeichnung Übererregbarkeitsepilepsie habe ich, wie
schon oben erwähnt, von Heinrich Fischer übernommen. Soweit ich die Lite-
ratur übersehe, sind die Krämpfer der Tetaniker auch schon früher als Über-
erregbarkeitskrämpfe bezeichnet worden (Frankl-Hochwart).
Man muß schließlich in diesem Zusammenhange noch die erklärende
Unterbezeichnung tetanisch oder tetanoid streifen. Mit der Bezeichnung
tetanische Epilepsie würde gesagt sein, daß man die Epilepsie in den all-
gemeinen und regelmäßigen Symptomenkomplex der Tetanie hineinzieht.
Wenn man die Bezeichnung tetanoide Epilepsie festhalten wollte, würde
man wahrscheinlich etwas zu stark betonen, daß nur tetanieähnliche Störungen
dieser Epilepsieform zugrunde liegen. In Verbindung mit dem vorausgehenden
Gedankengang, daß die Bezeichnung Übererregbarkeitsepilepsie es offen läßt,
daß auch noch andere als tetanische oder tetanoide Eigenschaften für eine
solche Gruppe von Krampfkrankheiten genau bestimmt werden können,
spricht diese Überlegung für die Verwendung der Bezeichnung Übererregbar-
keitsepilepsie. Die gleichen Überlegungen lassen es mir wünschenswert er-
scheinen, auch die Bezeichnung ‚‚Nebenschilddrüsenepilepsie‘‘, die Hoesch
seiner Monographie dieser Gruppe gibt, nicht aufzunehmen, sondern an
unserer älteren psychiatrischen Bezeichnung der Übererregbarkeitsepilepsie
festzuhalten !).
Aber alle diese Nomenclaturangelegenheiten sind unwichtige
Spitzfindigkeiten gegenüber der ungeheuer wichtigen Fragestellung,
ob man unter den Krampfkrankheiten eine Gruppe herauslösen
kann, der man die Eigenschaften, wie sie unter den verschiedenen
genannten Namen gemeint sind, beilegen kann, und ob diese Gruppe
einen solchen Umfang hat, wie wir ihn jetzt zu sehen glauben.
Die Gesamtheit solcher auch anderweitig bestimmbarer Über-
erregbarkeitsepilepsien würde man als funktionelle Epilepsien
von den echten oder organischen Epilepsien abtrennen.
Die tetanisch erklärte Übererregbarkeitsepilepsie ist ein Modell
für den Begriff der funktionellen Epilepsie.
Dieser Begriff drängt sich in der letzten Zeit auch literarisch auf
(Mauz). Er hat eine historische Vorgeschichte. Nicht darin, daß
früher die Epilepsie als funktionelle Neurose bezeichnet wurde,
sondern schon aus der Zeit, in der sich aus der Epilepsieforschung
1) Sollte das Bedürfnis nach einer Änderung der Nomenclatur bestehen,
so kann man für die Zukunft vielleicht überlegen, ob man solche und evtl.
andere Formen nicht als ‚Epilepsie‘ sondern als ‚‚Epileptoid‘ bezeichnet
und man kann vielleicht zukünftige Wortkonstruktionen wie „tetanisches
Epileptoid‘ oder eines andern endokrinen, vasomotorischen oder sonstartig
genauer bestimmten Epileptoids finden. Ehe man solche Nomenclatursent-
schlüsse allgemein faßt, müssen aber die pathogenetischen Bedingungen der
Zustände eindeutiger erklärt sein als sie es heute sind.
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 257
lange die große Trennung der genuinen und symptomatischen
Epilepsien durchgesetzt hatte, die beide als nicht funktionelle
zu betrachten sind. Ein Beispiel dafür sind die klaren Äußerungen
Bumkes in den ersten Auflagen seines Lehrbuches (1919 und 1924),
daß es neben der genuinen und symptomatischen möglicherweise
eine dritte funktionelle Form gibt. Später will ich ausführen, daß
die Übererregbarkeitsepilepsie die Anforderungen, die an eine funk-
tionelle Epilepsie zu stellen sind, deckt.
Da wir als vorläufig genauer bestimmbare Übererregbarkeits-
epilepsie die tetanische betrachten, muß sie von den zwei Seiten
der Epilepsie her und der Tetanie her noch einmal betrachtet
werden. In den Lehr- und Handbüchern der Psychiatrie spielt bei
der Epilepsie diese tetanische Form eine außerordentlich geringe
Rolle. Oft ist sie überhaupt nicht erwähnt, weder in Bezugnahme
auf die Tetanie noch in Bezugnahme auf die Epithelkörperchen. In
andern kommen Beziehungen zwischen Tetanie oder Epithel-
körperchen und Epilepsie ganz kurz zur Geltung, ohne sich in die
von mir seit 1927 vertretene Einreihung als Modell des Begriffs
der funktionellen Epilepsie einzuordnen.
Die Beziehungen der Tetanie zur Epilepsie kommen wesentlich
stärker zum Ausdruck in den Lehr- und Handbuchartikeln, die
von der Tetanie handeln, in diesen aber geht die epileptische Folgen-
reihe unter in der Fülle der Tetaniesymptome.
Eine große Anzahl von Einzelveröffentlichungen, häufig nur
einzelner kasuistischer Art, unterstreicht die Beziehung von Tetanie
und Epilepsie. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß der Mehrzahl
der praktischen Psychiater die Beziehung von Tetanıe und Epilepsie
fremd ist und daher der Weg zur Feststellung dieser Übererreg-
barkeitsepilepsie noch nicht geöffnet ist.
Die Frage, ob man überhaupt berechtigt ist, Epilepsien in un-
mittelbare Beziehung zur Tetanie zu bringen, hat eine autoritäre
Entscheidung durch das Kommentar des Gesetzes zur Ver-
hütung eerbkranken Nachwuchses erhalten. Das Kommentar
nennt als exogene Ursache der Epilepsie die Epithelkörperer-
krankung und erkennt damit an, daß es die Ätiologie der Epithel-
körpererkrankung als Ätiologie von Epilepsien kennt und aner-
kennt.
Wenn man weiter dem Kommentar folgt, so muß man den Nach-
weis des exogenen Schadens führen durch Klarlegung der ‚von der
medizinischen Wissenschaft anerkannten, diesen exogenen Ur-
sachen zuzuordnenden klassischen Folgen“. Die klassische Folge
der Epithelkörperchenerkrankung ist die Tetanıe. Man kann hier
17 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 110, H. 1:3.
258 F. Sioli
wirklich sagen, daß die Kommentatoren des Gesetzes eine Frage,
die im Strudel komplizierter wissenschaftlicher Diskussionen sich
noch nicht zur Klarheit durchgerungen hatte, eindeutig gelöst haben.
Sie haben die ätiologische Bedeutung einer eindeutigen Tetanie für
die Auffassung einer Epilepsie aus exogener Ursache autoritär
festgelegt.
Es fragt sich dann nur weiter, warum wir unter dieser Sachlage
nicht einfach von symptomatischer Epilepsie sprechen wollen,
sondern das komplizierte Wort Übererregbarkeitsepilepsie brauchen.
Der Grund dafür liegt darin, daß diese Form der tetanisch be-
stimmten Übererregbarkeitsepilepsie sich in Symptomatologie und
Prognose von der sonstigen symptomatischen Epilepsie soweit
unterscheidet, daß man sie im reinen Fachgebiet der Psychiatrie
von den andern symptomatischen Epilepsien ablösen muß.
Um mich nicht in weiteren begrifflichen Spitzfindigkeiten zu verlieren,
möchte ich die Lage der begrifflichen Einteilung der Epilepsie dahin kurz
skizzieren, daß wir unterscheiden müssen zwischen den echten organischen
Epilepsien. Diese zerfallen in die als genuin oder idiopathisch oder essentiell
benannten Epilepsien, welche auf einer erblichen Anlage der Hirnkonstitution
beruht und weiterhin in eine symptomatische Form, bei welcher die gleiche
Verfassung des Gehirns verursacht ist durch eine exogene cerebrale Schädigung,
gleichgültig ob entzündlicher oder traumatischer oder vasculärer oder toxischer
Art. Diese beiden Epilepsien sind organische Epilepsien mit den über kurz
oder lang auftretenden Folgen der fortschreitenden Beeinträchtigung der
(resamtpersönlichkeit. Beide sind cerebral bedingt. Daneben haben wir eine
funktionelle Form der Epilepsie zu unterscheiden, die nicht zu diesen Ein-
wirkungen auf die Gesamtpersönlichkeit führt und deren Anfälle überwiegend
Gelegenheitskrämpfe sind, das ist ‘die funktionelle Epilepsie, von der wir
vorläufig die Übererregbarkeitsepilepsie klinisch erfassen können und unter
, den möglichen funktionellen Epilepsien die tetanisch bedingte durch klinische
Untersuchungen ausreichend sicher abgrenzen können.
Die Bedeutung dieser Zusammenfassung soll darin gesehen
werden, daß es Epilepsien gibt, die bestimmt sind durch das Merk-
mal der immer wiederkehrenden Krampfanfälle, wie sie allen
Epilepsieformen eignet, bei deren genaueren Durchforschung alle
oder die Mehrzahl der Anfälle als Gelegenheitskrämpfe erscheinen,
ohne daß eine vorübergehende Krankheit diese Krämpfe erklären
kann und die nicht die Folge der Persönlichkeitsveränderung
epileptischen Gepräges haben.
Das Vorkommen dieser Epilepsien war immer ein mehr oder
weniger deutlich ausgesprochener Punkt der Schwierigkeit der
begrifflichen Zusammenfassung der Epilepsie.
Die Ärzte und Fachärzte der allgemeinen Praxis wußten mehr
als die Kliniker und Anstaltspsychiater vom Vorkommen dieser
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 259
Form. Wie schon oben gesagt, haben nicht alle in den Anstalten
tätıgen Psychiater die Form überhaupt gekannt.
Die Psychiater, die sie kannten und erkennen konnten, haben
diese Form geliebt wegen ihrer günstigen Prognose für die Per-
sönlichkeit und ihrer therapeutischen Dankbarkeit.
Im Durchgangsmaterial der Anstalten und der Kliniken hat
diese Form eine geringe Rolle gespielt. Wir in der Anstalt und
Klinik Grafenberg waren früher froh, wenn wir zwei Fälle im Jahre
erkennen und aus den andern Epilepsien herausheben und vor-
stellen konnten. Jetzt auf einmal sehen wir, daß diese Form viel
häufiger ist, als wir es bisher wußten. Die Erklärung liegt auf der
Hand: Die Arbeit mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses führt zu uns als den Gutachtern sehr viele Fälle unter
dem Verdacht oder der Annahme der erblichen Epilepsie, die wir
früher nie gesehen hatten, weil sie relativ selten in klinische Be-
handlung kommen.
Es handelt sich für uns darum, ihr Krankheitsbild so zu um-
reißen, daß wir ihrer Erkennung sicher sein können. Dem sollen
die nachfolgenden Ausführungen dienen.
Ich beginne mit einer Anzahl von Beispielen:
Fall 1: Max R., geboren am 9.5.96: In der Kindheit Rachitis. Vom
15. Lebensjahre an Anfälle, ungefähr alle 8 Tage, im Frühjahr und Sommer
mehr; angeblich richtige große Krampfanfälle zum Teil mit Zungenbiß. War
fast dauernd in Behandlung mit Brom, Morphium und Luminal; zuletzt
energisch mit Luminal behandelt, danach Verschlimmerung der Anfälle und
seines Unglücksgefühls. Deshalb am 26. 7. 26 in die Anstalt aufgenommen.
Hatte dort nach zwei Anfälle, die vom Personal für epileptische gehalten
wurden.
Wurde von uns als Übererregbarkeitsepilepsie angesprochen aus der
mangelnden Stammbehaarung, den hypoplastischen Zähnen, der elektrischen
Übererregbarkeit, dem starken Chvostek, den Beschwerden von Schwindel-
gefühl, von Hitze im Kopf, von sanften Schmerzen im Hinterkopf, dem
psychischen Wesen, welches nicht dem eines echten Epileptikers glich, sondern
immer agil, lebendig und empfindlich war.
Es wurde eine Afenilkur durchgeführt und durch Erklärung der Bedeutungs-
losigkeit der Anfälle und Mutmachung psychotherapeutisch auf ihn ein-
gewirkt. Am 27. 8. 1926 entlassen mit dem Rat, regelmäßig Frühjahrskuren
mit Kalkpräparaten durchzumachen. Der Mann war damals ein kleiner,
wegen seiner Krankheit unglücklicher, oft arbeitsloser Angestellter. Er ist
seitdem ein angesehener Prokurist eines guten Geschäftsunternehmens ge-
worden, in welchem er 1927 als kleiner Angestellter unterkam.
Anfälle hat er noch. 1927: 2 Anfälle, 1928: 4 Anfälle, 1929: 6 Anfülle,
1930: 14 Anfälle. Von 1930 an ist keine Liste mehr geführt bis zum Jahre
1936, in diesem Jahre 5 Anfälle. Seine Anfälle kennt er seitdem ganz genau.
Er weiß, daß sie jetzt noch auftreten, wenn er in seiner beruflichen Tätigkeit,
die ihm eine ganze Reihe geselliger und gesellschaftlicher Pflichten auferlegt,
17°
260 F. Sioli
viel ausgehen muß und sich im Essen und Trinken nicht die von ihm gewünschte
Zurückhaltung auferlegen kann, und lange aufbleiben muß. Dieses Leben
steht im Zusammenhange mit seinen gelegentlichen Anfällen, z. B.: Der zur
Zeit der letzten Untersuchung Ende 1936 letzte Anfall habe folgende Vor-
geschichte: Nachdem er vom 30.11. bis 8.12. täglich bzw. nächtlich aus-
gehen mußte zu geselligen Veranstaltungen, fiel er am 9. 12. früh nach dem
Aufstehen beim Frisieren um, war bewußtlos und hatte seinen Krampf;
Dauer 5 Minuten. Danach vollständig frisch, ging ins Geschäft und leistete
seine Arbeit. Seine andern Anfälle verliefen im großen Ganzen ebenso, manche
leiteten sich ein mit einem Zucken im Nacken, dann fange er an zu zucken
Bild 2. Pat. Nr. 1: Hypoplasie der Zähne.
Bild 1. Pat. Nr. 1: Im Alter von 40 Jahren.
Zierlicher Knochenbau. Sehr guter Ernäh-
rungszustand. Keine Stammbehaarung.
und wisse nichts mehr. Die Frau sage, er sei erst eine Zeit lang steif, manch-
mal schreie er auf. Dann sei er bewußtlos und hätte kurze Zeit Zucken am
Körper. Immer nach dem Erwachen sei er voll bei sich.
Die Bevorzugung des Frühjahrs von Dezember bis Juli ist in den ganzen
Zwischenjahren von 1926 bis 1936 immer deutlich gewesen.
Die geistige Leistungsfähigkeit hat garnicht gelitten, wie das einerseits
seine Geschäftserfolge zeigen, wie das anderseits das Ergebnis seiner Unter-
suchungen bei seinen gelegentlichen Besuchen erweist.
Die beigefügten Bilder 1 und 2 aus dem Ende des Jahres 1936 sollen bei
dem damals 40jährigen Manne die mangelnde Stammbehaarung zeigen und
die Hypoplasie der Zähne.
Epikrise: Der als genuin-epileptisch geltende Mann, der seit dem 15. Jahre
Anfälle hat, die als typisch-epileptische, auch von unserem Personal, be-
trachtet sind, ist durch Brom- und Luminalbehandlung in seinem Zustande
nicht gebessert, eher verschlechtert worden und ein unglücklicher Mensch;
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 261
mit der Erkenntnis, daß es sich nicht um eine genuine Epilepsie handelt, wird
er erlöst und kann sich, entsprechend seinem Wesen, auch im geschäftlichen
Erfolg durchsetzen. Anfälle hat er immer noch. Die Anfälle sind Gelegenheits-
anfälle. Sie sind bedeutungslos, nachdem ihre Natur erkannt ist, und sie für
ihn kein Hindernis mehr sind. Kalkbehandlung und Psychotherapie helfen,
ohne die Anfälle ganz zu unterdrücken in ihrer Prädilektion für Dezember
bis in den Frühsommer.
Die Aufführung dieses Krankheitsfalles als des ersten der
einschlägigen wird durch die lange Kenntnis gerechtfertigt.
Bild 4. Pat.!Nr. 2: Kleingebildete hypo-
plastische Zähne mit Schmelzdefekten.
Bild 3. Pat. Nr. 2:
Gesamtfigur asthenisch. Im Knochenbau
zierlich. Mangelnde Stammbehaarung.
Fall 2: A. W., geboren 1890: Im Alter von 4—5 Jahren einmal nach
starker Überfütterung einen Anfallszustand. Sonst normale Entwicklung.
1912 schwere Typhuserkrankung mit Endocarditis. Im Kriege ruhrartige
Erkrankung. Heirat 1924. Auf der Hochzeitsreise ein Anfall mit Zungenbiß.
Am nächsten Tage Kopfschmerzen und Mattigkeit.
41930 nach der Geburt des 3. Kindes wieder ein Anfall: er wurde starr,
der Kopf bog sich nach links und wurde ganz nach links gezogen. Er saß steif
auf seinem Stuhl mit Drehung nach links. Es traten keine klonische Krämpfe
ein. Er war bewußtlos und wurde hingelegt. Als er zu sich kam, klagte er über
allgemeine Kopfschmerzen.
Nach weiteren 6 Jahren, am 5.11. 36, ein nächtlicher Anfall, nach einer
halben Stunde ein anderer und im Anschluß daran ein dritter und noch ein
weiterer, immer mit einer Spannung und Drehung nach links im Laufe von
zwei Stunden. Am nächsten Tage sehr müde. Bekam dann Brom und Luminal
und war, so lange er dieses nahm, ganz taumelig. Als er es wieder weg ließ,
fühlte er sich wohl.
262 F. Sioli
Untersuchung in der Anstalt Grafenberg im Dezember 1936: Kommt un-
glücklich und verdüstert, weil er sich selbst für einen Epileptiker hält.
Befund: Asthenischer Habitus mit pigmentarmer Haut und mangelnder
Stammbehaarung (Bild 3). Alle Zähne außer den beiden mittleren oberen
Schneidezähnen ausgesprochen klein gebildet (Bild 4), Schmelzdefekte. Rosen-
kranz. Elektrische Übererregbarkeit. Wesen lebendig, flink, empfindlich.
Diagnose: Übererregbarkeitsepilepsie.
Er macht jährlich eine Kalkkur und ist ein befreiter Mensch. Er stellt
sich mitunter in der Anstalt vor.
Bild 6. Pat. Nr. 3:
Hypoplastisch mißgestaltete Zähne mit
außerordentlichen, zum Teil rillenförmi-
gen Schmelzdefekten.
Bild 5. Pat. Nr. 3:
Asthenisch zierlicher Knochenbau.
Mangelnde Stammbehaarung.
Epikrise: Drei einzelne, je im Abstand von sechs Jahren auftretende
Anfälle sind Gelegenheitsanfälle. Ihr Charakter ist aus der Schilderung nicht
genau bestimmbar.
Die nächsten Krankheitsfälle sollen aus dem Gutachtenmaterial,
das im Erbgesundheitsverfahren von uns erstattet worden ist,
entnommen werden:
Fall 3: Leonhard K., Dreher, geboren 1900: Wurde 1934 als erbliche
Fallsucht beantragt und vom EG. beschlossen. Das Antragsgutachten ent-
hält: 1924 Kropfoperation. 1925 Lungen- und eitrige Rippenfellentzündung.
Im Anschluß daran Psychose und drei Monate in einer Anstalt. 1928 zum
ersten Male Krämpfe, zunächst häufig, dann seltener.
Nach dem Beschluß des Erbgesundheitsgerichts wurde K. am 17.7. 3%
in die Anstalt Grafenberg wegen eines Erregungszustandes aufgenommen.
Befund hier: Strumektomienarbe, spärliche Stammbehaarung, Chvostek,
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 263
elektrische Übererregbarkeit, Tetaniestar. Das beigezogene Krankenblatt
der Heil- und Pflegeanstalt, in der K. 1925 war, zeigt: Anstaltsaufenthalt
April bis Juli. Verwirrter Erregungszustand, in dieser Zeit ein Anfall beob-
achtet, der als typisch epileptischer betrachtet wurde.
Epikrise: Aus unserem Befunde ist an dem Bestehen einer Tetanie
kein Zweifel. Ihre Entstehung als parathyreopriv im Jahre 1924 ist aus der
Vorgeschichte eindeutig.
Der von uns benachrichtigte Amtsarzt legte gegen den Beschluß aus
seinem Antrag Beschwerde ein und der Beschwerde wurde stattgegeben.
Fall 4: Hans R., geboren 1909: Aufnahme in die Anstalt Grafenberg
am 19.10. 36 auf Beschluß des Erbgesundheitsobergerichts. Ist wegen erb-
licher Fallsucht beantragt und beschlossen. Vorgeschichte: Vater soll Trinker
gewesen sein. Guter Schüler. Gesellenprüfung als Kürschner, seit 5 Jahren
a
E.
Bild 7. Pat. Nr. 4: Tetanische Pfötchenstellung in der Hyerventilation.
als technischer Zeichner in Arbeit. Anfälle: Im Alter von 16 Jahren 5 An-
fälle von März bis August. 1930: 5 Anfälle von Februar bis August. 1936:
3 Anfälle von Januar an. Befund: Schmächtiger Knochenbau, mangelnde
Stammbehaarung (Bild 5), Haut blaß, pigmentarm. Zähne hypoplastisch
und mit außerordentlichen Schmelzdefekten, rillenförmige Gestaltung (Bild 6).
Fingernägel brüchig. Puls labil. Leichter Horner links. Starker Chvostek.
Erhöhte Dermographie. Calciumspiegel im Blut 9.7 mg%. Elektrische Über-
erregbarkeit (KÖZ 3.4 mA). Nach augenärztlichem Befund Verstärkung der
Linsenfaserzeichnung. Psychisch: Gar nicht epileptisch in seiner Wesensart,
sondern agil, schnell, prompt. Während der Beobachtung bei uns zwei Spontan-
anfälle vom Personal beobachtet: Plötzliches Hinstürzen mit Aufschrei in
gestreckter Haltung, einige Sekunden tonische Starre des ganzen Körpers,
dann Anziehen der Beine, Kreuzung der Arme über der Brust, Ballung der
Hände. Augen nach oben gerichtet. Gesichtsfarbe blaß. Einige klonische
Zuckungen. Im Anfall Einnässen. Dauer des Anfalles ca. 1 Minute. Danach
verwirrt und dann längerer Schlaf. Für den Anfall Amnesie. Provokations-
versuch mit 2 ccm Cardiazol bewirkt keinen Anfall. Hyperventilationsversuch
führt zu klassischem tetanischen Anfall mit Kieferkrampf und Mundkrampf
bei Pfötchenstellung der Hände und tonischer Steifheit am ganzen Körper,
ohne Bewußtseinstrübung.
264 F. Sioli
Epikrise: Der in seinem Gesamtkörperzustande mit den Merkmalen der
Grundlage der Übererregbarkeitsepilepsie ausgestattete junge Mann hat
in mehreren Jahren vom Frühjahr bis August eine Anzahl Anfälle bekommen.
Die Untersuchung läßt ihn als tetanische Konstitution erscheinen. Die Spontan-
anfälle undeutlich beschrieben. Auf Cardiazol kein Anfall. Bei Hyperventila-
tion klassischer tetanischer Anfall (Bild 7 und 8). Er kann nicht als genuine
Epilepsie, sondern nur als tetanische Überregbarkeitsepilepsie erklärt werden
aus Vorgeschichte, körperlichem und psychischem Befund und Reaktions-
form auf Provokation.
Bild 8. Pat. Nr. 4: Tetanischer Kieferkrampf und Karpfenmaul
in der Hyperventilation.
Fall 5: Anna L., geboren 1915. Aufnahme in die Anstalt Grafenberg zur
Beobachtung am 20. 7.38 auf Beschluß eines Erbgesundheitsgerichts.
Das Erbgesundheitsgericht äußert im Beschluß die Meinung, daß es sich
nicht um erbliche Fallsucht handelt und wünscht sichere Diagnose.
Bedeutungslose Vorgeschichte. Oktober 1934 erster Anfall zur Zeit der
Periode nachts im Bett. Dezember 1937 zweiter Anfall nach viel Arbeit und
Übermüdung und bei den Menses: Blaß, bewußtlos, starr geworden. Am
nächsten Tage kleiner Zungenbiß bemerkt. Beantragt wegen erblicher Fall-
sucht (?). Befund: Pigmentarme Haut. Asthenisch straffer Körperhabitus.
Chvostek. Lebhafte mechanische Muskelerregbarkeit. Erhöhte Dermographie.
Schwitzen an Hand- und Fußflächen. Gyanose der Hände. I.eukonychie der
Fingernägel. Elektrische Übererregbarkeit (KÖZ 3.0 mA). Blutkalk 10.5 mg°,.
Psychisch: Aufmerksam gespannt, lebhaft. — Auf den Provokationsversuch
mit 2ccm Cardiazol keinerlei Erscheinungen. Beim Hyperventilationsver-
such nach 1 Minute Beginn tetanischer Handspannungen, die sich zu aus-
gesprochener Spannung fortsetzen, dabei Schnauzkrampf zum Karpfenmund
(Bild 9 vor der Hyperventilation; Bild 10 in der Hyperventilation). Nach
4 Minuten Hyperventilation stridoröse Atmung, deshalb Abbruch des Ver-
suchs.
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 265
' Augenärztlicher Befund an der Linse: Flächenhafte und flockige Trübungen
der Linse. i
Epikrise: Aus der Gesamtfigur, der Linsenveränderung, der elektrischen
Erregbarkeit, dem Chvostek, dem Ergebnis des Hyperventilationsversuchs
folgt die Diagnose der latenten Tetanie, welche gelegentliche Anfälle erklärt
und sie nicht zur erblichen Fallsucht rechnen läßt.
Bild 10. Patientin Nr. 5: In der Hyperventilation mit Gesichtskrämpfen
und Handkrämpfen.
266 F. Sioli
Es sollen zwei Schwangerschaftstetanien aufgeführt
werden:
Fall 6: Josefine K., geboren 1910: Aufnahme in die Anstalt Grafenberg
am 9. 6. 1936 auf Beschluß des Erbgesundheitsgerichts. War beantragt wegen
des Verdachtes auf erbliche Fallsucht mit der Bemerkung, daß Anstalts-
beobachtung notwendig sei.
Als Kind Krämpfe, schwer gelernt. 1933 Heirat, 1. Geburt November 1933
durch Kaiserschnitt. Im ersten Monat dieser Schwangerschaft hatten Krämpfe
begonnen, die bis zur Geburt sich wiederholten. Nach der Geburt keine
Krämpfe mehr, aber gelegentlich Kopfschmerzen. Nach !/, Jahr wieder
schwanger. Von Beginn der Schwangerschaft an wieder Krämpfe mit zu-
nehmender Verschlimmerung während der ganzen Schwangerschaft. Häutig
Wadenkrämpfe. Geburt 16.1. 35: 4 Tage danach ‚Nervenzusammenbruch‘“.
‚nämlich verwirrter Erregungszustand, der 3 Monate dauerte. Dann psychisch
normal, aber von da an ‚‚Anfälle‘‘ von dumpfem Kopf und Durcheinander-
reden besonders bei der Periode und bei Aufregungen. Juni 1935 zweiwöchiger
Verwirrtheitszustand. Seit Februar 1936 wieder schwanger, seitdem Anfälle,
gehäufter und schwerer. Im ganzen vergeßlicher und apathischer. Aufnahme
in Grafenberg am 9. 6. 1936. Befund: Pigmentarme Haut, rachitischer Rosen-
kranz, starke Zahnhypoplasien, Chvostek, Dermographie, Händeschwitzen.
Akrozyanose. Elektrische Übererregbarkeit (KÖZ 4.2 mA). Auf Hyper-
ventilation klassich tetanischer Anfall. Beim Versuch der Gysternenpunktion
Streckkrampf mit Bewußtlosigkeit. Psychisch: Im ganzen dauernd ganz
leicht dösig.
Epikrise: Schwangerschaftstetanie, das heißt tetanische Konstitution.
die in der Schwangerschaft sich zu schweren psychischen und Anfallsstörungen
manifestiert. Keine erbliche Fallsucht. Da die wiederholten Schwangerschafts-
tetanien die Frau mit deletärer Entwicklung der Tetanie und ihrer Folgen
bedrohen müssen, wird die medizinische Indikation zur Schwangerschafts-
unterbrechung als vorliegend erachtet und dem Amtsarzt ein entsprechendes
Gutachten zugesandt.
Fall 7: Frau Lina B., geboren 1903. Aufnahme in die Anstalt Grafenberg
am 16. 7.36 auf Beschluß des Erbgesundheitsgerichts.
Während der Schulzeit oft Kopfschmerzen und Erbrechen, diese Be-
schwerden vergingen mit Eintritt der Periode. 1928 Heirat, 2 Kinder. Seit
Januar 1936 neue Gravidität und seitdem Anfälle. Befund: Pigmentarme
Haut, an den Zähnen Schmelzdefekte, Chvostek, Dermographie, starkes
Schwitzen, Akrozyanose. Ophthalmologisch Tetaniecataract. Blutkalk
8.2 mg%. Starke elektrische Übererregbarkeit (KÖZ 3.0 mA). Auf Hyper-
ventilation tetanischer Anfall, auf Cardiazol kein Anfall.
Epikrise: Eindeutige Schwangerschaftstetanie. Kann mit Behandlung
die Schwangerschaft beenden. Keine erbliche Fallsucht trotz einer collateralen
Belastung mit genetisch unklaren Anfällen.
Für die letzte Patientin ist zu bemerken, daß sie die Unfruchtbarmachung
selbst beantragt hatte und für die beiden letzten Patientinnen, daß sie mit
ihrer Unfruchtbarmachung aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses einverstanden waren, „weil sie nicht Kinder mit Krämpfen haben
wollten“.
Die Überreregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 267
Fall 8: Christine G.-F., geboren 1911: Aufnahme in die Anstalt Grafen-
berg zur Beobachtung am 22.6.1938 auf Beschluß eines Erbgesundheits-
gerichtes im Wiederaufnahmeverfahren, das vom Reichs- und Preußischen
Minister des Innern auf Grund einer Empfehlung vom Reichsärzteführer an-
geregt war, nachdem im ersten Verfahren die Unfruchtbarmachung vom
Erbgesundheitsgericht und Erbgesundheitsobergericht beschlossen war: Der
Reichsärzteführer äußerte Bedenken an der Diagnose erbliche Fallsucht, da
jegliche einschlägige Belastung fehle, der Körperbau der Patientin im Gegen-
satz zu ihren Geschwistern zierlich sei und eine Wesensänderung bisher nicht
bestehe.
Vorgeschichte bedeutungslos. 1932 Blinddarmentzündung mit nach-
folgender Lungenentzündung. Im Anschluß daran erster Anfall. Seit der
Zeit mehrfach Anfälle, zunächst ungefähr alle vier Wochen, meist zur Zeit
des Unwohlseins. 1934 oder 1935 weniger Anfälle und auch 1936, 1937 noch
weniger Anfälle. Letzter Anfall im Frühjahr 1937. Anfälle bei Aufregungen
und Anstrengungen leichter.
Befund: Sehr zierlicher Knochenbau; zarte pigmentarme Haut bei
dunkler Behaarung; Behaarungsanomalie im Sinne der Hypertrichose mit
zusammengewachsenen Augenbrauen und maskuliner Schambehaarung;
leichte Anzeichen durchgemachter Rachitis; ausgesprochene Schmelzdefekte
der Kauflächen der Schneidezähne mit ausgefransten Rändern; sehr starker
Chvostek ; sehr lebhafte Sehnenreflexe;; erhöhte mechanische Muskelerregbarkeit
am ganzen Körper; erhöhte vasomotorische Erregbarkeit der Haut auf Be-
streichen; stark erhöhtes Schwitzen der Handinnenflächen und der Fußsohlen ;
sehr starke elektrische Übererregbarkeit der peripheren Nerven (KÖZ am N.
ulnaris 2.4 mA); Blutkalkspiegel 10 mg°%,. Psychisch: hastig, schnell, motiviert,
empfindlich. Augenärztlicher Befund: Keine Linsenveränderungen. Bei Hyper-
ventilationsversuch sehr starker Chvostek, Andeutung von Pedalspasmus und
Knipsreflex rechts. Nach der Hyperventilation Trousseau in klassischer Form
schnell auslösbar. Beim Cardiazolversuch tetaniformer Anfall: Beginn und
Hauptzeit des Anfalls: Pfötchenstellung der Hände und Pedalspasmus, dann
kurze pseudoklonische Bewegungen vom Charakter des groben und sich ver-
gröbernden Tremors; zum Schluß Benommenheitszustand mit teilweise aus-
gesprochener Karpfenmaulstellung.
In der sechswöchigen Beohachtungszeit wurden vom Pflegepersonal 8 An-
fälle beobachtet. Sie wurden als typisch epileptische Anfälle beschrieben.
Die Pflegerinnen, welche den Anfall beohachtet hatten, wurden zu dem Car-
diazolversuch hinzugezogen. Sie gaben an, daß die von ihnen beobachteten
Anfälle dem Cardiazolanfall bis in alle Einzelheiten entsprachen, bei sehr
genauer Beobachtung sich demnach als tetaniforme Anfälle enthüllten, wie
sie oben beschrieben sind. Der Cardiazolanfall ist im Film festgehalten und
daher kann jederzeit der tetaniforme Charakter des Anfalls sichtbar gemacht
werden und durch langsames Vorüberlaufenlassen des Filmstreifens die Beob-
achtungszeit verlängert werden.
Epikrise: Die die Merkmale der tetanischen Verfassung tragende G.-F.
bekommt seit dem 21. Lebensjahre nach einer Pneumonie Anfälle, die sich
seitdem in wechselnder Häufigkeit einstellen, hei Aufregungen und Anstren-
gungen und im Zusammenhange mit der Periode mehr und daher noch als
Gelegenheitsanfälle bezeichnet werden können. Der Cardiazolversuch deckt
den tetaniformen Charakter der Anfälle auf. Bei Hyperventilation tetanische
Zeichen und Knipsreflex rechts, der alleinstehend ohne cerebrale Symptome
268 F. Sioli
bedeutungslos ist. Psychisch keine Wesensänderung. — Tetanische Verfassung,
fehlende Wesensänderung, tetaniformer Anfallstyp sprechen für eine Über-
erregbarkeitsepilepsie und gegen genuine Epilepsie.
Fall 9: Charlotte U., geboren 1905: Aufnahme in die Anstalt Grafenberg
am 29.5. 37 zur Beobachtung und Erstattung eines Gutachtens zur Vorlage
beim Erbgesundheitsgericht beim Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens
Die Beobachtung wird durchgeführt auf Empfehlung des Reichsärzte-
führers, der nach den Akten eine Übererregbarkeitsepilepsie für möglich hält,
nachdem vom Erbgesundheitsgericht und Erbgesundheitsobergericht die
Unfruchtbarmachung beschlossen war.
Aus der Vorgeschichte: Mit 8 oder 9 Jahren dreimal operiert an Furunkel
oder Knochenhautentzündung am rechten Oberschenkel. Entfernung von
Halswucherungen, angeblich wegen schlechten Hörens. Mit 17 oder 18 Jahren
Magengeschwür. Leichtes Schwitzen der Handinnenflächen und des ganzen
Körpers bei Anstrengungen und Verlegenheit. Sehr leichtes Erröten. Bei Auf-
regungen Kribbelgefühl in den Händen. Häufig Wadenkrämpfe. In der Schule
mittel gelernt. Heirat 1932. 1 Fehlgeburt. 2 normale Geburten. Ist zur Beob-
achtungszeit im 3. Monat schwanger. Erster Anfall Februar 1927 nach sport-
licher Betätigung. Weitere Anfälle, insgesamt 10, nach besonderen Anstren-
gungen und Ereignissen, davon 1934 Anfall nach der Geburt, anschließend
Anfallshäufung. Letzter Anfall am 17.1. 1936. Luminalkur und Xifalmilch-
einspritzungskur ohne Einfluß.
Befund: Sehr feingliederiger Knochenbau. Zähasthenische Gesamtfigur.
Zarte, sehr pjgmentarme Haut, Schmelzdefekte der Zähne, vermehrte Schweiß-
absonderung der Handinnenflächen. Chvosteksches Phänomen positiv. Er-
hebliche elektrische Übererregbarkeit (KOZ 3.0 mA). Blutkalkspiegel 11 mg°,.
Psychisch: Fix, behende, schnell, motiviert empfindsam. Bei der Hyper-
ventilation subjektive Sensibilitäts- und Spannungsangaben. Cardiazolversuch
ist wegen der bestehenden Schwangerschaft nicht durchgeführt.
Spontaner anfallsartiger Zustand wurde bei der Entnahme von 30 ccm
Blut morgens in nüchternem Zustand beobachtet. Zu Beginn des Zustandes
äußerte Frau U.: ‚Mir wird schlecht‘, nach einiger Zeit: „Mir wird ganz
schlecht“; sie wurde blaß und sank auf den Stuhl zurück, zuckte mit den
Gliedern ganz kurz und war anscheinend schlaff und bewußtlos. Pupillen-
untersuchung war wegen der Kürze des Zustandes nur unvollkommen mög-
lich. Nach 30 Sekunden war der Zustand vorüber. Anschließend gerötetes
Gesicht und Schweißausbruch.
Epikrise: Seltene Gelegenheitsanfälle bei einer 31jährigen Frau mit
typischen Zeichen einer latenten Tetanie. Elektrische Übhererregbarkeit.
Anfallshäufung nach der Schwangerschaft. Psychisch: keine Wesensänderung.
Der beobachtete anfallsartige Zustand nicht epileptisch, sondern nicht ent-
scheidbar, ob vegetativ nervös oder Ohnmachtszustand. Bei der Hyperventi-
lation subjektive Sensibilitäts- und Spannungsangabe. Anamnese, körper-
licher und psvchischer Befund und Anfallsauftreten sind charakteristisch für
eine Übererregbarkeitsepilepsie und sprechen gegen eine genuine Epilepsie.
Die angeführten Auszüge genügen, um das Krankheitsbild der
Übererregbarkeitsepilepsie zu umreißen. Schon aus ihnen läßt
sich das ableiten, was wir aus unserer älteren Erfahrung, die un-
geheuer verbreitert ist durch unsere Gutachtenerfahrung anläßlich
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 269
des Gesetzes vom 14.7.1933, wissen und was kurz noch dahin
zusammengefaßt werden soll: |
Wenn wir bei einem Menschen, der Anfälle hat— auch wenn
diese Anfälle als rein epileptische von der Umgebung be-
schrieben sind — finden, daß
1. die Anfallsverteilung eine Prädilektion zum Frühjahr und
Herbst hat, sei es nur in diesen Zeiten auftretend, sei esin
diesen Zeiten überwiegend; und weiterhin daß psychische
Erregungen oder körperliche Anstrengungen oder Diät-
fehler als oft auslösend angegeben werden;
2. diese Personen in der Untersuchung als Merkmale tragen:
a) Im Körperlichen: Im Gesamtkörperbau zierlich, schmäch-
tig oder mit wesentlichen Anzeichen alter Rachitis. In
der Haut: zart, blaß, pigmentarm. In der Behaarung:
mangelnde Stammbehaarung bei Männern (bei Frauen an-
scheinend häufiger Hypertrichose bei pigmentarmer Haut).
An den Zähnen: Hypoplasien mit Schmelzdefekten. In
der Muskulatur: Erregbarkeitserhöhung. In der elek-
trischen Erregbarkeit: eindeutige Erhöhung. In der Vaso-
motorik und Sekretion: Labilität. An der Linse: Schicht-
starerscheinungen, auch nur leichte. Im Blutserum: Hypo-
kalkaemie.
Im Psychischen: Keine Schwerflüssigkeit, Pedanterie,
Langsamkeit, sondern Agilität, Empfindlichkeit, Labili-
tät, Fixigkeit.
In der Anfallsprovokation: Auf Hyperventilation teta-
nischreagierend, aufCardiazolnichtepileptischreagierend,
dann sind wir berechtigt, diese Störungen von den beiden
echten Epilepsien, der genuinen und der symptomatisch-
cerebralen, abzutrennen und sie als Übererregbarkeits-
oder tetanoide Epilepsie zu bezeichnen.
b
~
c
~
Dann wissen wir für diese Erkrankungen zwei wichtige Punkte:
Ihre Träger verfallen nicht dem dunklen Lose der
echten Epilepsien, nämlich nicht der epileptischen Wesens-
änderung und Demenz, und sie sind in ihren Anfällen nicht pro-
gredient, sondern ihre Anfallshäufigkeit ist wechselnd, je nach der
Lage ihrer latenten Tetanie und den Gelegenheiten.
Sie sprechen weiterhin sowohl in ihren Anfällen als auch in
ihren subjektiv wechselnden Dauerbeschwerden gar nicht auf
Brom und Luminal an, diese cerebralen Dämpfungsmittel, sie
sprechen aber außerordentlich an auf eine Tetanie-
therapie, die uns altbekannt ist als Kalktherapie und Psycho-
therapie und die durch das AT. 10 in der jüngsten Zeit außerordent-
lich erweitert ist.
Diese Übererregbarkeitsepilepsien stecken, vorläufig meist noch
unerkannt, in den Epilepsien, die von den Nichtkennern der Über-
270 F. Sioli
erregbarkeitsepilepsie als genuine betrachtet werden, weil sie wegen
des Fehlens neurologischer oder ausgesprochener Herdanfalls-
symptome nicht als symptomatische erkannt werden und aus der
rein negativen Beweisführung für die genuine Epilepsie als genuine
betrachtet werden.
Daß die Zeit der rein negativen Beweisführung der Feststellung
der genuinen Epilepsie vorüber ist, ist eines der vielen Ergebnisse
der aktiven Arbeit mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses. Das Ergebnis schlägt sich in den beiden Auflagen
des Kommentars (Gütt- Rüdın- Rutike) nieder.
Das Kömmentar stellt tatsächlich ein vollständiges Lehrbuch
auch der klinischen Erfassung der einschlägigen Krankheiten dar,
man muß nur jedes Wort beachten.
In den beiden Auflagen des Kommentars von 1934 und 1936
drückt sich das aus, was ich eine Änderung der Beweisführung der
Diagnose genuine Epilepsie aus der Phase der rein negativen Fest-
stellung in die positive nenne. Die führenden Gesichtspunkte der
2. Auflage sind die, daß zur Annahme. der genuinen Epilepsie ge-
hört, daß man an die Wesensänderung epileptischer Art glauben
kann und daß für die genuine oder erbliche Epilepsie in Zweifels-
fällen die Sippschaftserhebung entscheidend wirkt mit Berück-
sichtigung nicht nur der epileptischen Krankheiten, sondern auch
der epileptischen Charaktere in der Sippschaft. Von Linden ist
das ın die knappe Form gebracht, daß in Zweifelsfällen der zweite
Fall in der Sippe gefunden werden muß. Entwicklung der prak-
tischen Sippschaftserhebung in der erbbiologischen Bestands-
aufnahme hat ihrerseits zu der Klarheit des Strebens geführt, daß
die Feststellung von Krankheiten in der Sippe nicht sich auf all-
meine Angaben beschränken darf, sondern eine fachkundige Ein-
deutigkeit der Erhebung haben muß. Aus dem Kommentar ist
für das Sondergebiet der Epilepsie weiterhin zu übernehmen, daß
ein klar diagnostizierter Epilepsiefall in der näheren Blutsver-
wandtschaft, gleich ob exogen oder endogen, keine überkritische
Betrachtung verlangt, weil die einfache Wahrscheinlichkeit es aus-
schließt, daß in derselben Verwandtschaft eine exogene Ursache
jedesmal eine Epilepsie auslösen soll ohne erbliche Anlage.
Insgesamt zeigen die Ausführungen über die erbliche Fallsucht
in der zweiten Auflage des Kommentars (S. 139—143) das, was
in den Lehrbüchern der Psychiatrie und in Einzelarbeiten noch
gar nicht genug zur Geltung kommt, nämlich daß im Gebiet der
Epilepsie sich eine außerordentlich erhöhte Klarheit der Erkenntnis
gebildet hat. Und gerade der Kommentar weist auf die Gelegen-
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 271
heitskrämpfe hin mit dem Satz, daß ‚aus der großen Zahl von
Krankheiten, bei denen der epileptische Anfall als Gelegenheits-
ergebnis betrachtet wird, ein geschlossenes Krankheitsbild heraus-
zuheben, welches zwar durch das Leitsymptom des epileptischen
Syndroms, darüber hinaus aber oft durch fortschreitende Beein-
trächtigung der Gesamtpersönlichkeit gekennzeichnet ist“, näm-
lich das der erblichen Fallsucht, das Verdienst der erbwissenschaft-
lichen Forschung ist.
Das Bild der Übererregbarkeitsepilepsie, wie es oben
zusammengefaßt ist, ist das Vorbild für die Epilepsie-
form, die sich von der erblichen Fallsucht unter-
scheidet in Prognose und Therapieansprechbarkeit, in
den Anlässen und der Verteilung der Anfälle — aller-
dings bis in sehr schwer differenzierbare Unterschiede
hinein — und in der Auswirkung auf die intakt blei-
bende Persönlichkeit.
Wenn man dieses Krankheitsbild von den andern echten Epi-
lepsıen, den symptomatisch cerebral-bedingten und den anlage-
bedingten erblichen, trennen kann, so ergeben sich neben den
Folgerungen der Begutachtung im Hinblick auf das Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses ohne weiteres wichtige progno-
gnostische und dadurch schon therapeutisch wirksame, weiterhin
auch unmittelbar therapeutisch wirksame Gesichtspunkte.
Ehe diese kurz gestreift werden, müssen aber noch einige be-
griffliche und diagnostische Probleme erörtert werden.
Erneut taucht die vorhin schon gestreifte Frage auf, ob man
derartige Krankheiten unter dem Dachnamen der Epilepsien er-
fassen kann. Erneut muß dazu gesagt werden, daß sie praktisch
unter diesem Namen an uns herantreten, folglich dabei abgehandelt
werden müssen.
Nennen wir diese Zustände Übererregbarkeitsepilepsie oder
tetanische oder tetanoide, so betrachten wir als ihren wesentlichen
Grund die tetanische Verfassung. Wir müssen uns aber fragen,
ob die tetanische Verfassung allein die Ursache von Anfällen
sein kann oder muß, die sich als epileptiforne entäußern.
Dieser Punkt ist wichtig. Vorläufig finden wir uns mit dieser
Fragestellung ab, indem wir aussagen, daß die Tetanie auch als
eindeutig epileptische Anfälle erscheinende Anfälle machen kann,
wie das die Tetanielehre zeigt; daß weiterhin wir ın den auch von
sachkundigen Personen, wie unserem Pflegepersonal, für typisch
epileptisch gehaltenen Anfällen doch noch bei unserer genaueren
Analyse erweisen können, daß sie die Merkmale des tetanischen
272 F. Sioli
Krampfherganges als führend tragen, sich also von den eigentlich
typisch epileptisch cerebralen Anfällen unterscheiden.
Mit dieser vorläufigen Abfindung ist aber die endgültige Proble-
matik der Übererregbarkeitsepilepsie nicht erledigt. Selbstver-
ständlich steht für uns weiter in Frage, ob die latenten Tetaniker,
die als Anfallskranke nicht nur mit sinnfälligen rein tetanischen
Anfällen in unsere Beobachtung kommen, außer der tetanischen
Grundverfassung noch andere — eventuell erblich epileptische —
Faktoren haben.
Zu dieser Frage können wir gegenwärtig noch keine Stellung
nehmen. Die Sippschaftsdurchforschung der von uns begutachteten
Übererregbarkeitsepilepsien ist durch eine studentische Arbeits-
gemeinschaft bei uns im Gange. Diese Arbeit strebt an, in der Sipp-
schaft die tetanische Konstitution und alle Arten von Krampf-
zuständen zu erfassen. Das Ergebnis der Arbeit ist zur Zeit noch
nicht übersehbar.
Eine andere Frage ist die, wie sich die Personen mit den An-
zeichen der latenten Tetanie und der Manifestierung ihrer Tetanie
in Anfällen unterscheiden von den latenten Tetanikern, deren
Tetanie sich nur in der Fülle anderer Tetaniemanifestationen, wie
z. B. Magen- oder Herz- oder unklaren Versagungserscheinungen
manifestiert. Diese Frage führt zu der Formulierung der Spiel-
breite der tetanischen Symptome und ihrer Bedingungen oder
Hilfsbedingungen und ist zur Zeit von uns noch unübersehbar.
Vorläufig müssen wir uns an der Feststellung halten, daß es
Epilepsien gibt mit guter Prognose und Besonderheiten der An-
fälle, die sich in der Formulierung „Gelegenheitsanfälle‘‘ aus-
drücken, welche nicht auf die üblichen cerebralen Dämpfungs-
mittel ansprechen und die wir diagnostisch bestimmen können
durch den Nachweis tetanischer Verfassung als Übererregbarkeits-
epilepsien.
Die Berechtigung zu dieser Abtrennung erwächst außer aus den
genannten prognustischen und therapeutischen Besonderheiten
aus den Ergebnissen der Tetanieforschung, welche die Entstehung
von Epilepsie aus der Tetanie ausreichend sicher erwiesen haben.
Praktisch handelt es sich also um die Gewinnung des Anschlusses
an die Tetanieerkennung. Es kann hier nicht auf die Geschichte
der Tetanie, ihre Erkennung und Forschung eingegangen werden.
Es mögen an historischen Daten die Erwähnungen genügen, daß
das Krankheitsbild zuerst von dem deutschen Arzt Steinheim 1830
beschrieben und 1831 von dem Franzosen Dance zusammenfassend
beschrieben worden ist; es erhielt später von dem Franzosen
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 273
Corvisart den Namen Tetanie, wurde 1880 in ursächliche Beziehung
mit der Kropfoperation gebracht; im gleichen Jahre wurden die
Epithelkörperchen entdeckt. Es folgt 1896 der Nachweis, daß die
Mitentfernung oder Schädigung der Epithelkörperchen bei der
Kropfoperation die Tetanie verursacht. 1925 wurde das Neben-
schilddrüsenhormon, das Parathormon, durch Collip dargestellt
und schließlich das AT.10, das Bestrahlungsprodukt des Ergo-
sterins, das sich vom Vigantol etwas unterscheidet, durch Holtz.
Daß die Tetanieforschung, ihre Erkennung und ihre Behandlung
in neuester Zeit einen großen Auftrieb erhalten hat, liegt vor-
wiegend an den neuen therapeutischen Möglichkeiten aus dem
Parathormon und dem AT 10.
Dieser erhöhte Auftrieb der Tetanieforschung drückt sich im
Schrifttum der inneren Medizin deutlich und weiterwachsend aus.
Von der inneren Medizin aus ist auch gerade in neuester Zeit durch
die Monographie von Hoesch ein wichtiger Eingriff in das Epilepsie-
gebiet erfolgt mit Hoeschs Monographie „Die Nebenschilddrüsen-
epilepsie“ (1937).
Die Psychiatrie geht an diesen Fortschritten der inneren Medizin
bisher zu schweigsam vorbei, obwohl sie mit ihrer viel älteren
Kenntnis der Übererregbarkeitsepilepsie mehr noch als die Inter-
nisten die Grenzen dieses Gebietes suchen soll.
Wenn man die in der obigen Tabelle 2 angeführten Zahlen der
als Übererregbarkeitsepilepsien begutachteten bedenkt, dann muß
klar werden, daß die Grenzziehung der Übererregbarkeitsepilepsie
zur cerebral-symptomatischen oder genuinen Epilepsie ein für uns
ungeheuer wichtiges Arbeitsgebiet sein muß.
Die außerordentliche Zahl der Übererregbarkeitsepilepsien in
unserem Gutachtenmaterial betrachte ich nicht als allgemein
gültig, sondern durch Sonderverhältnisse hoch: mehrere Erb-
gesundheitsgerichte der weiteren, aber noch immer heimatlichen
Umgebung schicken zweifelhafte Diagnosen bevorzugt zu uns,
weil ihnen das Krankheitsbild der Übererregbarkeitsepilepsie schon
bekannt ist. Weiterhin zeigen die oben angeführten Beispiele, daß
auch auf Veranlassung des Reichsärzteführers für dieses Sonder-
gebiet unsere Begutachtung aus weiterer Umgebung manchmal
veranlaßt wird. Aber auch, wenn wir diesen zahlenmäßig nicht
genau abtrennbaren, unsern eigentlichen Bereich überschreitenden
Zustrom berücksichtigen, so bleiben doch noch die von uns jetzt er-
wähnten Zahlen der Übererregbarkeitsepilepsien unter den ge-
samten Krampfkrankheiten überraschend groß.
18 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
274 F. Sioli
Wir schließen daraus, daß unter den Krampfkrankheiten
schlechthin eine ziemlich große Zahl solcher Übererregbarkeits-
epilepsien ist und dieser Schluß wird durch die neuesten Veröffent-
lichungen aus der inneren Medizin unterstützt.
Die Frage, warum sie früher nicht in dieser Zahl uns, den Psy-
chiatern, bekannt wurden, scheint einfach erklärt dadurch, daß
die Mehrzahl dieser Kranken mit ihren mehr oder weniger seltenen
Anfällen und Gelegenheitsanfällen ein- oder zweimal oder auch
mehrfach den Arzt fragten, schließlich aber schon von selbst auf
weitere Behandlung verzichteten, weil die allgemein gültige Auf-
fassung und Behandlung mit Brom und Luminal ihnen doch nichts
half und sie sich mit ihren Gelegenheitsanfällen abzufinden lernten.
Nur vorübergehende Zeiten der Epilepsieverschlechterung drückten
evtl. länger auf sie, aber lösten sich schließlich doch aus der natür-
lichen günstigen Prognose. In Anstalten und Kliniken kamen
solche Kranke wenig und darum haben wir sie selten gesehen, wie
ich das für meine Anstalt Grafenberg auch schon erwähnt habe.
Jetzt werden alle Anfallskranken bei irgend einer Gelegenheit von
dem aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
fließenden Klärungsstrom erfaßt und kommen deshalb erheblich
häufiger als je zu unserer Kenntnis. Auch wenn unsere Zahlen dieser
Übererregbarkeitsepilepsien aus rein persönlichen Bedingungen
ungewöhnlich hoch sind, auch wenn ganz allgemein im anstalts-
mäßigen Fürsorgewesen der Übererregbarkeitsepilepsie keine große
Rolle zugesprochen werden muß, so bleibt die Rolle, die sie im
Gutachterwesen spielt, doch noch eine so ungeheuere, daß sie es
verdient, als Sonderproblematik den Psychiatern, die sie meist
überhaupt nicht kennen, energisch kundgemacht zu werden.
Aus ihrer Kenntnis erwächst das genannte Bedürfnis nach ihrer
Abgrenzung unter den Fällen von „Epilepsie schlechthin‘.
Ihre Abgrenzung hat eine außerordentliche praktische Bedeu-
tung: die genannte, von den sogenannten echten Epilepsien ge-
trennte, andere Prognose und therapeutische Ansprechbarkeit.
Diese Bedeutung fängt an mit der Diagnose und ergibt außer-
ordentlich wichtige Beurteilungen der Behandlung und Ein-
schätzung einer Persönlichkeit.
Über diese individuellen Gesichtspunkte hinaus aber greift die
Übererregbarkeitsepilepsie in das Gebiet der Epilepsieprobleme
im wissenschaftlichen Sinne ein.
Diese Probleme sollen hier ganz kurz gestreift werden: Die
Anfälle der Übererregbarkeitsepilepsie beruhen nicht
auf einer besonderen epileptischen Verfassung des Ge-
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 275
hirns, sondern auf einer besonderen und erhöhten
Krampfbereitschaft des Gesamtorganismus. Infolge-
dessen sind diese Krampfzustände nicht der Ausdruck
einer progredienten und deletären Hirnverfassung und
bewirken auch keine solche.
In den letzten Jahrzehnten sind wir gewohnt, in der individuell
verschiedenen Krampfschwelligkeit einen wichtigen Schlüssel zum
Verständnis der Epilepsie zu sehen. Die Krampfbereitschaft als
individuelle und wahrscheinlich anlagebedingte Eigenschaft gilt
als ein Maßstab für unsere begriffliche Annäherung an die Krank-
heit Epilepsie. Es wird dabei Krampfbereitschaft und Epilepsie-
bereitschaft begrifflich gleichgesetzt.
An Hand der Übererregbarkeitsepilepsie muß man diese Begriffs-
bildung verändern: wir müssen unterscheiden zwischen erhöhter
Krampfbereitschaft und erhöhter Epilepsiebereitschaft. Der
Krampf an sich ist eine vielwertige Reaktion auf vielerlei Reize
bei einer individuell verschiedenen Krampfschwelligkeit und einer
auch in ihrer Art verschiedenen Krampfbereitschaft.
Wo die erhöhte Krampfbereitschaft auf einer Veränderung des
Gehirns beruht, die chronisch ist und nicht mehr eine anders faß-
bare akute Einwirkung auf das Gehirn ausdrückt, nennen wir sie
eine echte Epilepsie und betrachten diese als eine cerebrale.
Das ist die Epilepsiebereitschaft aus der Verfassung des Gehirns.
Ihr Gebiet zerfällt in die genuine Epilepsie, bei welcher die Erb-
anlage das Gehirn epileptisch macht, und in die symptomatische
Epilepsie, bei welcher eine Gehirnschädigung, gleichgültig ob
traumatischer oder toxischer oder infektiöser Art, das Gehirn
epileptisch macht.
Daneben haben wir Anfälle aus einer erhöhten Krampfbereit-
schaft des Gesamtorganismus. Als ihr Beispiel können wir die
tetanische Übererregbarkeitsepilepsie umschreiben. Bei dieser
bedient sich die übererregbare Körperverfassung des allgemeinen
Krampfmechanismus ohne cerebrale Schädigung, und es ist ohne
weiteres verständlich, daß Prognose und Therapie anders als bei
den sogenannten echten oder organischen Epilepsien sein müssen.
Wenn diese Gesichtspunkte richtig sind, dann kommt man von
dem Modell der Übererregbarkeitsepilepsie ohne weiteres zu der
Begriffsbildung, daß diese „Epilepsieform‘“ die funktionelle
Epilepsie repräsentiert.
Das Bedürfnis nach einer solchen Erfassung ist in der Literatur
langsam wachsend erkennbar: von den schon oben zitierten
Äußerungen Bumkes über die Möglichkeit einer dritten Form,
18°
276 F. Sioli
nämlich der funktionellen Epilepsie, 1919 und 1924, zu den Ar-
beiten von Lange und Guttmann, zu meiner kurzen Stellungnahme
dazu 1927 und meiner etwas ausführlicheren 1931, zu den mehr-
fachen Darstellungen von Mauz, zuletzt in seinem Buche ‚Die Ver-
anlagung zu Krampfanfällen‘“ 1937.
Was sich in diesen literarischen Formulierungen ausdrückt, ist
das Suchen nach der Formulierung dessen, was fast alle erfahrenen
älteren Psychiater und Ärzte manchmal bewegt hat: nämlich,
daß sie alle mehr oder weniger viele Fälle von Epilepsie sehen,
die typische Anfälle haben, aber keiner Wesensveränderung unter-
liegen, deren die gewohnte Epilepsietherapie nichts hilft und die
ohne die gewohnte Epilepsietherapie nach Jahren unverändert oder
wechselnd gleich sind. Die alten erfahrenen Ärzte haben immer das
Gefühl gehabt, daß solche Krankheitsfälle nicht zur erblichen
Epilepsie gehören, es fehlte ihnen jedoch der Schlüssel zum Ver-
ständnis und zur Formulierung.
Den Schlüssel zur verständlichen Begriffsbildung kann die Über-
erregbarkeitsepilepsie leihen:
Die sogenannte Übererregbarkeitsepilepsie ist eine funktionelle
Epilepsie. Es erscheint begrifflich unbenommen, daß es noch andere
funktionelle Epilepsien gibt und wir können wohl daran denken,
daß andere endokrin oder vasomotorisch oder vegetativ ge-
steuerte Zustände des Organismus auch noch als Grundlage anderer
Übererregbarkeitsepilepsien für uns klar erfaßbar werden.
Bisher ist keine der anderen, möglichen, mit klinischen Mitteln
so eindeutig herauszuschälen wie die tetanoide Übererregbarkeits-
epilepsie, aber man kann durchaus die Hoffnung aussprechen, daß
die gewissenhafte Arbeit mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses durch die aus dem Gesamtgebiet der psychopatho-
logischen und der nicht nur psychiatrischen Pathologie stammen-
den Erkenntnisse solche genau bestimmten anderen Typen nicht
übersehen lassen wird. Die Bücher von Mauz und Stauder sind
Fortschritte auf diesem Wege.
Wenn wir weitere Formen der Übererregbarkeitsepilepsie als
funktionelle Epilepsien anerkennen wollen, so werden wir für sie
so sichere Bestimmungen verlangen, wie wir es für die tetanoide
Übererregbarkeitsepilepsie jetzt schon bieten können.
Praktische Gesichtspunkte zwingen dazu, daß ich die hier über
die tetanoide Epilepsie vertretene Anschauung nicht breiter aus-
führe, ihnen aber noch Richtlinien, welche zur Herausschälung der
Übererregbarkeitsepilepsien aus der Gesamtheit der Epilepsien
beachtet werden wollen, anhänge:
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 277
Es handelt sich darum, bei der Untersuchung von Epilepsien
Auffälligkeiten zu erkennen in Vorgeschichte oder Entwicklung
oder Art der Krampfanfälle und der Persönlichkeit, die sie mit
Recht von den echten Epilepsien symptomatischer oder genuiner
Art trennen lassen können.
Diese Auffälligkeiten können in drei Reihen liegen:
1. In der Vorgeschichte, die andere der Tetanie verbundene
wechselnde Störungen aufweist, insbesondere Magen- oder Herz-
störungen, gewöhnlich als neurotisch betrachtet; wechselnde
psychisch-körperliche Indispositionen; Entwicklung der „Krampf-
krankheit“ nach konsumierenden Krankheiten. Weiterhin für die
Anfälle selbst Gelegenheiten; dieser Punkt ist ein praktisch sehr
schwieriger: der Untersucher unterliegt leicht der Suggestion oder
der Opposition gegen Angaben über Gelegenheiten wie Aufregung
und Anstrengung, Diätfehler oder Menstruation oder Schwanger-
schaft und Lactation. Um vorurteilslose Wertung nach beiden
Seiten muß sich der Untersucher bemühen.
2. In den Merkmalen des Konstitutionstyps, der die tetanoide
Übererregbarkeit hat, wie er in der Zusammenstellung auf S. 269,
dieser Arbeit zusammengefaßt ist.
3. In der Anfallsart, für welche wir im allgemeinen noch gar
keine ausreichend ausgebildete Formulierung haben: gerade bei
den Beobachtungsgutachten, welche im Erbgesundheitsgerichts-
verfahren den Hauptanlaß zu dieser Veröffentlichung geben, haben
wir gesehen, daß eindeutig tetanische Anfälle als typisch epilep-
tische beschrieben worden sind. An Hand unseres Falles 8 habe
ich darzustellen gesucht, daß auch unser geübtes Pflegepersonal
Anfälle für typisch epileptische hält, die bei erhöht sachkundiger
Erfahrung nur atypisch tetanische sind.
Ohne Provokationsmethoden etwa überschätzen zu wollen, muß
hier betont werden, daß die Provokationsmethoden von großer
Bedeutung für uns sind: wir können eine latent tetanische Ver-
fassung zur Manifestation vieler, sonst nicht beobachtbarer,
klassisch tetanischer Erscheinungen provozieren durch Hyper-
ventilation: die Carpo-Pedalspasmen oder nur den Spontan-
Trousseau, den Laryngospasmus, das tetanische Karpfenmaul und
den tetanischen Anfall. Soweit unsere Kenntnis reicht, können wir
durch Cardiazol weniger an tetanischen Erscheinungen provozieren,
trotzdem in seltenen Fällen Anfälle, die uns in ihrem pseudo-
epileptiformen Ablauf die Merkmale des tetanischen zeigen.
Wenn unsere Untersuchung diese drei wichtigen Punkte mit
einem gewissen Umfang der Erfahrung prüfen läßt, dann sind wir
278 F. Sioli
imstande, sogenannte Übererregbarkeitsepilepsien tetanoider Art
zu bestimmen und sie von den echten, den genuinen und sympto-
matisch cerebralen, zu trennen, deren positive Charakterisierung
den verantwortungsvollen — insbesondere rassenhygienisch ver-
antwortungsvollen — Entschluß, eine Übererregbarkeitsepilepsie
anzunehmen, stets vorauszugehen hat.
Vorgeschichte, Körperkonstitution des beschriebenen Typs,
übererregbare Reaktionsform zu manifesten Tetaniesymptomen
bei Provokation und genaue Analyse der Anfälle und ihrer Ge-
legenheiten sind die Kardinalpunkte, die wir in der Untersuchung
für die Feststellung einer anzuerkennenden Übererregbarkeits-
epilepsie verfolgen.
Der Konstitutionstyp wird erschlossen aus den Störungen des
Kalkstoffwechsels und seinen Folgen, die im Anschluß an Holtz,
in etwas anderer Gruppierung als in meiner Übersicht auf S. 269,
noch einmal so zusammengefaßt werden können:
Hypokalkaemie;
trophische Störungen: an Haut, Haaren, Nägeln, Zähnen, Linsen;
sekretorische und vasomotorische Störungen (Schweiße, Dermographie,
Blässe, Erytheme, niedere Temperaturen, verlangsamter Herzgang);
mechanische, elektrische, sensible Übererregbarkeit von Muskeln und
Nerven;
die gleiche Übererregbarkeit im intestinalen Tractus (Magenbeschwerden,
Durchfälle, Obstipation); E
psychische Störungen, von Verwirrtheitszuständen an, die Ahnlichkeit
mit epileptischen Dämmerzuständen haben;
Anfälle tetanischer und epileptischer Art.
Es liegt auf der Hand, daß nicht einzelne Symptome die Annahme
der tetanischen Konstitution bilden können, insbesondere nicht
etwa der Chvostek oder auch nur die elektrische Übererregbarkeit.
Ebenso liegt auf der Hand, daß nicht etwa alle Merkmale der teta-
nischen Konstitution und Reaktionsbereitschaft durch Unter-
suchung gleichzeitig nachgewiesen werden können. Die Spielbreite
der Symptome, die die Erkennung der Übererregbarkeitsepilepsie
sichert oder wahrscheinlich macht, muß in jedem Falle kritisch
ausgewogen werden.
Ein deutlicher Tetaniecataract bei einem jungen Menschen hat
ein ungeheures Gewicht; das Fehlen von Linsenveränderungen
beweist nicht das Fehlen der tetanischen Verfassung und ihrer
Wirksamkeit. Die Hypocalcaemie ist für eine große Zahl unsrer
Fälle zur Zeit der Untersuchung nicht nachzuweisen.
Man muß sich in der Wertung der Spielbreite der Symptome
immer wieder dahin orientieren, daß es sich darum handelt, die
Epilepsien zu erkennen, die das Wesen des Trägers nicht verändern,
Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie 279
die auf Brom und Luminal nicht ansprechen, aber auf eine Therapie,
deren Grundlage Kalktherapie und Psychotherapie ist, und bei
der auch das AT 10 eine Rolle spielen kann.
In diesem Zusammenhange muß ich erwähnen, daß wir unter
unseren Gutachten auch Fälle mit einer Reihe von tetanischen
Symptomen für genuine Epilepsien gehalten haben, weil uns allein
eine Reihe tetanischer Körperkonstitutionsmerkmale nicht zur
Annahme der Übererregbarkeitsepilepsie genügen kann.
Ein Punkt, der in diesen Ausführungen nur angedeutet war,
der uns aber besonders am Herzen liegen muß, ist der des psy-
chischen Zustandes. Genügend betont ist der Mangel der üb-
lichen epileptischen cerebralen Wesensänderung bei der Über-
erregbarkeitsepilepsie, und ich habe wohl auch genügend betont
die gegensätzliche Eindrucksbeschreibung als agil, empfindlich,
labil, fix. Diese Gegensätzlichkeit genauer zu beschreiben, scheint
mir ein nahe erstrebenswertes Ziel.
In den Büchern von Mauz und Stauder zeichnet sich die Mög-
lichkeit, die bisher mehr intuitiv erkannte Gegensätzlichkeit auch
klarer darzustellen und untersuchbar zu machen, bereits ab, ohne
daß in diesen Büchern der nach unserer Ansicht ungeheuer wich-
tige komplexe Typ der Übererregbarkeitsepilepsie sich darstellt.
Noch nicht publizierte Untersuchungen meines Mitarbeiters Weißen-
feld mit der Rorschachmethode scheinen uns in der Formulierung
der Gegensätzlichkeit ım psychischen Wesen auch in unserer
Typentrennung weiterführen zu wollen. Auf jeden Fall ist schon
aus der intuitiven Erfassung die psychische Gegensätzlichkeit ein
sehr wichtiger Punkt.
Wenn wir für das Bild der Übererregbarkeitsepilepsie die teta-
noide so genau umschreiben können, daß wir sie von andern
Epilepsien trennen und als eine besondere Art darstellen können,
so erwächst selbstverständlich die Pflicht, außer dem schon ge-
nannten Problem ihrer Erkennung und der besonderen pseudo-
epileptiformen Anfallsgestaltung und ihrer Bedingungen bevorzugt
mitzuarbeiten an der Frage der Genese der tetanıschen Konstitution
und an den Fragen, wann und wie die tetanische Verfassung er-
worben wird und sich als akuter und subakuter Hergang mani-
festiert und wie sie dann in den Zustand der latenten tetanischen
Konstitution übergeht, der zeitweilig und bei Gelegenheiten und
in Prädilektionszeiten sich mit so brutalen Symptomen, wie den
Anfällen, wiedermanifestiert.
Diese Fragestellungen biegen zurück in die Gesamtproblematik
der Tetanie, die hier nicht aufgerollt werden soll.
280 F. Sioli, Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie
Ihre Aufrollung aber ist ein in Gang befindliches wichtiges
Problem: die Tetanie in der Bevölkerung und ihre frühzeitige Er-
fassung in der Zusammenarbeit des Pädiaters, des Internisten, des
Ophthalmologen, des Odontologen und des Psychiaters ist eine der
wichtigen Gesundheitsaufgaben für unser Volk. Die Rolle der Erb-
biologie muß sich dabei noch abzeichnen.
Schrifttumverzeichnis
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Bd. 15, 1937. — Phleps, Die Tetanie. In: Handbuch d. Neurologie, Bd. 4
(1913). — Pohlisch, Epilepsie. Erbarzt 1938, 1. — Plügge, Zur Symptomato-
logie der Tetanie. Dtsch. med. Wschr. 1938, 521. — Römer, Das Erbsche
Phänomen bei Epilepsie. Z. Neur., Bd. 84, 1 (1923). — Redlich, Epilepsie.
In: Handb. d. Neurologie, Ergänzungsbd. 1 (1924). — Siolı, Epilepsie, Krank-
heitsbegriff und psychische Störungen. Münch. med. Wschr. 1927, 791. —
Ders., Epilepsie. Handbuch d. ärztl. Begutachtung, herausgegeben von
Liniger-Weichbrodt-Fischer, Bd. 2, 261 (1931). — Ders., Über die Über-
erregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie. Referat in: Der öffentl. Gesund-
heitsdienst 1937, 3. Jg., Teilausgabe A, S. 38. — Ders., Tetanie ohne Epithel-
körperchenerkrankung? Nervenarzt 1938, 1. — Stauder, Konstitution und
Wesensänderung der Epileptiker (1938). — Westphal, Weiterer Beitrag zur
Lehre der Tetanie. Berl. kli. Wschr. 1901, 33.
Über atypische
symptomatische Erschöpfungspsychosen
Von
Oberarzt Dr. Ilse Graf
(Aus der psychiatrischen und neurologischen Abteilung des Bürgerhospitals
Stuttgart. Direktor: Prof. Dr. Wetzel)
Wir haben in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, eine ganze
Reihe von Psychosen zu beobachten und dann später katamnestisch
weiter zu verfolgen, die unserer Meinung nach keinem der bekannten
Formenkreise des manisch-depressiven Irreseins, der Schizo-
phrenie, der Epilepsie usw. angehören, sondern besonderer Art
sind. Wir haben sie als „atypische symptomatische Erschöpfungs-
psychosen‘“ bezeichnet — atypisch in Hinsicht auf die Sympto-
matologie und auch deshalb, weil keine massiven Erschöpfungs-
momente nachzuweisen waren, sondern, für sich genommen,
leichtere aber meist verschiedenartige und schon länger bestehende
derartige Einflüsse, und zwar bei bestimmter psychopathischer
Konstitution. Um psychopathische Naturen handelte es sich
durchweg, dabei z. T. um besonders differenzierte Menschen,
die von diesen heilbaren Psychosen betroffen wurden. Außerdem
fanden sich bei allen diesen Krankheitsfällen — mehr oder weniger
ausgeprägt — exogene psychische Momente im Sinne einer oft
schweren Konfliktssituation oder auch weniger bedeutsam er-
scheinender Aufregungen, Konflikte und besonderer Ereignisse.
Es fiel uns dabei einmal die Häufung dieser oft schon lange Zeit
wirkenden psychischen Faktoren auf und erschien uns anderer-
seits ihre Kombination mit körperlich belastenden Umständen
in der Vorgeschichte dieser besonders strukturierten Persönlich-
keiten wesentlich.
Um vor weiterer Erörterung der Fragestellung zunächst darzu-
legen, was für eine Art von Psychosen von uns gemeint ist, und
wie sie verliefen, soll zuerst die Kasuistik gebracht werden. —
Wir verfügen über eine ganze Reihe von Einzelbeobachtungen
innerhalb der letzten 8—10 Jahre, von denen wir leider hier aus
282 Ilse Graf
Raumgründen nur zwei kurz darstellen können. Es wurden deshalb
die betreffenden Fälle aus der Gruppe der uns besonders charak-
teristisch erscheinenden herausgesucht.
Fall 1. Sophie M., geb. 1.7. 91, Landratsgattin. Aufgenommen
auf der spychiatr. Abt. des Bürgerhospitals vom 31. 1.—29. 3. 34.
Vorgeschichte: Mutter der Pat. starb an Ca.; sonstige besondere körper-
liche Krankheiten sowie Belastung mit Nerven- oder Gemütsleiden sollen
in der Familie nicht vorgekommen sein.
Pat. machte von Kind auf sehr viele körperliche Affektionen durch — häu-
fige grippöse Infekte oft schwerer Natur, Nierenentzündung, einmal Venen-
entzündung mit Lungenembolie und noch einiges mehr, besonders auf Suba-
zidität zurückgeführte Magenbeschwerden und gelegentlich schwere Durchfälle.
Zudem seit vielen Jahren häufiges Kopfweh, z. T. migräneartigen Charakters,
öfters Neuralgien und Gelenkschmerzen wie auch wiederum in den letzten
Monaten. — Vor der Aufnahme bei uns wegen erneuter, unbestimmter Magen-
störungen auf der inneren Abt. eines hiesigen Krankenhauses aufgenommen.
Die eingehende interne Untersuchung ergab nichts Wesentliches, sondern
nur subazide Säurewerte — offenbar von jeher vorhanden — und möglicher-
weise eine chronische Coliinfektion der Harnwege. Alle Beschwerden seien,
wie hervorgehoben wurde, psychisch überlagert erschienen, und Pat. habe
auch neben den verschiedenen körperlichen Leiden und Beschwerden in den
letzten Jahren sehr viele Schicksalsschläge durchzumachen gehabt und
gerade auch in allerletzter Zeit vor der Krankenhausaufnahme wieder mancher-
lei erhebliche Aufregungen.
Nach etwa 10-tägigem Aufenthalt in diesem Krankenhaus akuter Beginn
der Psychose. Nach Krankenblattaufzeichnungen zunächst hervortretende
wechselnde Geruchshalluzinationen mit z. T. wahnhafter Ausdeutung. Nächt-
liche Unruhe. Stimmung im Beginn dieser psychischen Veränderung vielleicht
ein wenig gedrückt, jedoch ziemlich gleichmäßig; später dann Schwanken
der Affektlage zwischen auffälligem Wohlbehagen mit Glücksgefühl und
andererseits Depressionen mit Weinen und unklaren, offenbar z. T. wahn-
haften Vorstellungen traurigen Inhaltes. In derselben Weise häufiger Wechsel
zwischen mitteilsamem und in-sich-gekehrtem Wesen. Wurde bald darauf
ängstlich, hörte etwas von ‚Blut‘ rufen, klagte über ‚sonderbares Gefühl“
im rechten Ohr und in der rechten Kopfseite. Zwei Tage nach diesen Äuße-
rungen entfernt Pat. die Bilder im Zimmer und sammelt sie auf dem Tisch an,
ist unruhig; Stimmung oft innerhalb weniger Minuten zwischen Depression
und Gehobenheit schwankend. Ratlosigkeit; stellt Fragen wie: „Bin ich denn
tot?“ usw., erweist sich als zeitlich desorientiert, verwechselt den Abend mit
dem Morgen. Wird eigentümlich pathetisch in ihrer Sprechweise; es äußert
sich dabei inhaltlich, daß Pat. sich häufig ‚in der Zeit gar nicht mehr aus-
kennt‘, daß sie weiterhin an Geruchstäuschungen leidet, außerdem an Beein-
flussungsideen unklarer Art. Die Gerüche habe man vielleicht gemacht,
erwähnte Frau M.; der Grund dazu sei, sie zu prüfen, zu beeinflussen oder
vielleicht, sie zu chloroformieren. Eine Erklärung für die eigenartigen Hal-
tungen, die zeitweise eingenommen wurden, erhielt man von Frau M. nicht.
Bei der konsiliarischen psychiatrischen Untersuchung eigentümlich unbe-
teiligt, offenbar uninteressiert, aber vor allem auch abgelenkt. Gelegentlich
einmal kurz zu fixieren, dann wieder nicht; fortwährendes Wechseln zwischen
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 283
Möglichkeit und Unmöglichkeit aufzumerken und sich zu konzentrieren;
immer wieder plötzlich ganz verlorener Gesichtsausdruck. Zunächst auch
örtlich nicht orientiert, nach einiger Zeit dann über ihren Aufenthaltsort im
Bilde, vermag jedoch nicht zu sagen, seit wann sie aufgenommen ist. Zeitliche
Orientierung unsicher, abgesehen davon, daß der gegenwärtige Jahrgang
richtig genannt wird. Inhaltlich wenig herauszubringen. Geht auf die Fragen
nach Geruchstäuschungen nicht ein, deutet jedoch selbst Beeinflussungsideen
nicht sehr ausgeprägter und auch noch unklarer Natur an. Dann jedoch:
Es würde ihr gut gehen, wenn ihr Wille frei wäre; — beim Versuch, hier
weiterzuforschen, bereits wieder bei einem ganz anderen Thema, wie dies
schon oft während der Unterhaltung beobachtet worden ist. Schon infolge
der Abgelenktheit sehr wortkarg; einmal auf bestimmte Frage ausführliche
Darstellung einer gar nicht zugehörigen früheren Begebenheit, die zudem
ganz nebensächlicher Art ist und bei deren Bericht neben Schwanken der
Aufmerksamkeit ein deutlicher Einschlag von Ratlosigkeit auffällt. Zu er-
wähnen noch, daß die im ganzen ausdrucksvolle Mimik bei ausgesprochen
weichen Gesichtszügen einmal deutlich forcierte Heiterheit und ganz kurz
darauf depressive Spannung zeigen kann, welche Übergänge zwischen zwei
entgegengesetzten Affekten sich öfters während der Unterredung bei Pat.
beobachten lassen. Nimmt an der Unterhaltung der Ärzte, ihre Krankheit
betreffend, anscheinend gar keinen Anteil und läßt sich am gleichen Tag ohne
Widerstand oder irgendwelche Ablehnung zu uns überführen.
Nach Angaben des Ehemannes uns gegenüber war Pat. bisher niemals
psychotisch. Weiche, sehr sensitive, ja überempfindliche, labile Persönlichkeit.
Nehme alles schwer, leide schon unter kleineren Ärgernissen, um so mehr unter
erheblicheren Aufregungen und schwerwiegenden Erlebnissen. Habe tat-
sächlich in den letzten Jahren in ihrer Familie sehr viel durchgemacht, unter
einer ungerechten beruflichen Zurücksetzung des Ref. schwer gelitten und
auch die über die letztere Angelegenheit entstandenen Klatschereien besonders
tragisch genommen. Dazu mehrfach längere körperliche Erkrankungen in
den vergangenen Jahren, dabei auch häufig Magenstörungen, die dann schließ-
lich zur Aufnahme ins Krankenhaus führten. Dort Beginn der jetzigen Psychose.
Beobachtungsergebnis: Zuerst äußerlich ruhig und geordnet; ge-
hemmt, etwas ratlos. Geht auf Orientierungsfragen nicht ein, erwidert über-
haupt meistens nur mit Ja oder Nein; ist vielleicht abgelenkt, hat besonders
aber sehr große Mühe, der Unterhaltung folgen zu können. — Kurze Zeit nach
der Aufnahme ist Pat. bewegungsarm, sitzt dabei mit leicht ineinander ver-
krampften Händen im Bett. Mimik ratlos und ängstlich. Bei einem kurzen
Gespräch einerseits schwer besinnlich, andererseits abgelenkt und immer
wieder in charakterisch amentieller Art ‚versinkend‘. Faßt manche Fragen
sichtlich nicht richtig auf, so wie jene, wie lange sie in dem anderen Kranken-
haus gelegen habe. Versteht schließlich, weiß jedoch die Dauer des Aufent-
haltes nicht und kann sich erst nach einiger Zeit daran entsinnen, daß sie
schon in diesem anderen Spital gewesen ist und nicht nur dort hinkoınmen
sollte. Weiß auch nicht, wie lange sie bei uns hier ist — obwohl sie erst am
gleichen Tag gekommen ist — und ist in zeitlicher Hinsicht ebenfalls nicht
genau orientiert. Freundliche und extrovertierte Gesamthaltung; gibt sich
alle Mühe, alles so gut wie möglich zu beantworten, wobei man immer wieder
Ratlosigkeit und Insichversinken bemerkt. Schon am ersten Tag ab und zu
ängstliche Blicke zur Tür hin; scheint etwas zu hören, ruft verschiedentlich
plötzlich angstvoll nach der Schwester.
284 Ilse Graf
In der folgenden Zeit noch ratloser und hilfloser, zugleich stärker ver-
langsamt, ausgesprochen schwer-besinnlich. Zeitlich nicht orientiert, örtliche
Orientierung fraglich; nicht klar darüber, daß sie von einem Krankenhaus
in das andere verlegt wurde. Immer neue Versuche, sich zurechtzufinden,
wobei Pat. meistens über ein hilfesuchendes und flehendes: ‚Frl. Doktor‘
nicht hinauskommt. Muß immer wieder aus ihrer Verlorenheit von neuem
herausgeholt werden, um ganz kurze Zeit gelegentlich auf die Unterhaltung
eingehen zu können. Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, sich über die
Situation klar zu werden. Hilflosigkeit und eine gewisse Traumbefangenheit
treten mimisch und in langsamen, fragenden Gesten sehr ausdrucksvoll zu
Tage. Ab und zu verlorenes Lächeln, dann wieder Versuche sich auf die Unter-
redung einzustellen; gelegentlich wieder halb erstauntes, halb ängstliches
Hinübersehen zur Wand, das in seiner Art Gehörstäuschungen vermuten läßt.
Bejaht auf entsprechende Frage sofort, daß sie Stimmen höre, ohne daß es
möglich ist, Näheres zu erfahren. Kurze und diffuse Andeutungen paranoischer
Inhalte; erwähnt etwas von Beeinflussung und spricht einmal von einem
Zwang, der auf sie ausgeübt werde, was gegenüber der bisher zu beobachten-
den Unsicherheit bei allen Äußerungen auffallend bestimmt, wie etwas für sie
Bedeutungsvolles, betont wird. Trotzdem jedoch kann auch dieses Thema
nicht so lange beibehalten werden, bis eine Auskunfterteilung darüber über-
haupt durchführbar ist, und die relative Sicherheit, für einen Augenblick da,
weicht schnell wieder der bisherigen fragenden Ängstlichkeit und Unsicherheit.
Nicht so allgemein gehaltene, sondern etwas eindeutigere Bemerkungen über
Angst vor dem Rundfunk z. B. werden außerdem — einige Tage nach der Auf-
nahme schon — gemacht.
Große Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme, daherrührend, daß
Frau M. Flüssigkeiten aus dem Mund herauslaufen läßt und feste Speisen nicht
herunterschluckt, was ganz offenbar damit zusammenhängt, daß sie dabei
psychisch gänzlich unbeteiligt ist, manchmal einen gedankenverlorenen, dann
wieder einen bewußtseinsgetrübten Eindruck machend. Ist auch unrein mit
Urin, wobei ebenfalls ihren Worten und ihrer Mimik nach eine ausgeprägte Rat-
losigkeit im Spiele ist. Spricht gerade dann, wenn sie unter sich gelassen hat,
zuweilen in infantiler Art: ‚Nase geputzt und naß gemacht‘ und ähnliches, was
vielleicht auch ihre sonst bei einem Kind angemessene Hilflosigkeit der jetzigen
Situation gegenüber, die Pat. nicht zu durchschauen vermag, ausdrückt! Bei
Aufforderung meint Pat., ihre krampfhaft ineinander verschlungenen Hände
nicht lösen zu können, macht aber auch keinerlei Versuche dazu. Als es dann
mit etwas Nachhilfe gelingt, drückt Pat. ihr Erstaunen in einer zum Teil rat-
losen Weise aus, mehr aber so wie ein Mensch, der ein merkwürdiges Traum-
erlebnis hat — schwer darzustellen, jedoch aus ihrer Mimik und ihrer ganzen
Verhaltensweise zu erkennen.
Am folgenden Tag zugänglicher und gesprächiger. Der Zwang gehe von
einem Regierungsrat E. aus; — sagt als Begründung, dieser sei ihr immer so
unheimlich gewesen, ohne daß man Pat. sonst auf das Thema fixieren kann.
Auf Frage, wann das gewesen sei, folgt eine damit gar nicht erkennbar zu-
sammenhängende Geschichte, die sichtlich irgendwelche Reminiszenzen
bringt und in der inhaltlich ein Mittagessen daheim, bei dem es plötzlich
in den Wänden krachte und polterte, als wollte das Haus zusammenstürzen,
besonders hervorgehoben wird, — was evtl. ein Angsterlebnis oder eine ängst-
liche Erinnerung wiedergibt, während die übrigen, bruchstückhaften Bestand-
teile dieser Erzählung Dinge betreffen, bei denen irgendeine Bedeutsamkeit
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 285
auch für die Kranke nicht zu erkennen ist. Auch heute — also noch in den
ersten Tagen nach der Aufnahme — nicht genau orientiert; als man Pat. auf
eine falsche Antwort in dieser Hinsicht aufmerksam macht, verharrt sie einige
Zeit in einem eigenartigen Lachen, so, als ob sie gar nicht richtig dabei wäre.
Auch die Wiedergabe ihr besonders naheliegender Dinge ist beeinträchtigt
— Frau M. kommt entweder gar nicht auf das Alter und den Geburtstag ihrer
Kinder, oder sie muß sich außerordentlich lange darauf besinnen! Ist immer
wieder weit fort mit ihren Gedanken, traumbefangen, versunken; einmal, als
sie aus solcher Abwesenheit wieder herausgeholt worden war, macht sie die
Bemerkung, daß ein Schleier über ihr gelegen habe.
Sehr bald Zunahme der Unruhe und Verwirrtheit — schon in der ersten
Zeit — sowie eigenartige motorische Symptome. Versucht immer, die Beine
beide gleichzeitig in die Luft zu strecken, den ganzen Körper übermäßig zu
dehnen, macht hin und wieder strampelnde Bewegungen mit den Beinen. Bald
wird dieses eigenartige Bewegungsspiel reichhaltiger, immer mehr zeigt es eine
organische Färbung, schließlich kommt es zu Iterativbewegungen, katalepti-
schen Symptomen und besonders ausgesprochenen Parakinesen. Beim Dar-
reichen des Essens eigenartiges, geradezu automatisch erscheinendes Zusam-
menpressen der Lippen, das sichtlich ganz außerhalb der Willenssphäre sich
einstellt und die Kranke immer wieder verhindert, die selbst flehentlich erbetene
Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die Bewegungsunruhe steigert sich nach etwa
8—10tägigem Hiersein zu schwerster und quälendster motorischer Unruhe mit
ununterbrochenem Sich-umher-Wälzen, ziellosem Herumgreifen, geradezu
erschütternder Rastlosigkeit, wodurch schließlich ein Bild entsteht, wie es bei
schweren toxischen Zuständen bekannt ist — hier selbst während der Höhe-
punkte der Bewegungsunruhe kombiniert mit parakinetischen Hand- und
Fingerbewegungen, Verharrungstendenzen und der eigenartigen Erscheinung,
daß bei im übrigen großer Unruhe die linke Hand sehr häufig fast unbeweglich
in Gesichtshöhe gehalten wird. Diese schwere organische Störung im Bereich
der Motorik bildete sich innerhalb weniger Tage fast ganz zurück. — Allerdings
ist hier möglicherweise mit in Betracht zu ziehen, daß der, abgesehen von
schlaffem Turgor, anfangs normale körperliche Befund bei zurzeit nicht
krankhaft veränderten inneren Organen sowie normalem neurologischen Be-
fund sich während des Unruhestadiums in bedrohlicher Weise verschlechtert,
wobei Pat. zunehmend verfällt, die Schleimhäute austrocknen, Durchfälle auf-
treten und besonders trophische Hautstörungen — vom Hautspezialisten als
Pemphigus neuroticus bezeichnet und als prognostisch ungünstig beurteilt.
Bei Ausbreitung der Hautaffektion wird der Zustand bedenklich; kleiner und
weicher Puls, Facies der Schwerkranken.
Die Hautstörung heilt in verhältnismäßig kurzer Zeit. Pat. erholt sich und
bietet bereits nach wenigen Tagen nichts Bedrohliches mehr in körperlicher
Hinsicht. — Während des Stadiums der Bewegungsunruhe und des körper-
lichen Verfalls psychisch, was die gelegentlich vorgebrachten Inhalte und Art
sowie Grad der Verwirrtheit anbetrifft, nicht wesentlich verändert. Immer
wieder zeigen sich Orientierungsstörungen, fast von den ersten Tagen ab auch
hypersensorische Symptome, die erwähnten, recht diffusen Wahnideen im
Sinne der Beeinflussung, stets nur andeutungsweise, die ebenfalls nicht von
Pat. durchgeführte oder auf Fragen irgendwie erklärte Meinung, daß ein
Zwang auf sie ausgeübt werde, gelegentliche phantastische Einschläge — all
diese Erscheinungsformen eingefügt in ein Krankheitsbild, das zur Zeit mehr
an Begleitpsychosen echter organisch-cerebraler Affektionen als an eine solche
-~
286 Ilse Graf
symptomatischer Natur erinnert. — Halluzinationen bis jetzt fraglich, viel-
leicht hin und wieder vorhanden bei gleichzeitig ausgesprochener Verwirrtheit;
wohl gelegentlich auch illusionäre Verkennungen. Paranoide Ideen ganz diffus,
wenig greifbar; keine Äußerungen über Hypnotisiertwerden, besonders auch
nicht über Willens- und Gedankenbeeinflussung, überhaupt bisher keine
schizophrenen oder schizophrenieverdächtigen Symptome.
Von Mitte Februar ab deutliche depressive Komponenten innerhalb noch
ausgeprägter Verwirrtheit; macht nunmehr gelegentlich Andeutungen über
Aufregungen und besonders eheliche Konflikte seit Jahren, von neuem vor Be-
ginn der Erkrankung. Bittet in dieser Zeit einmal um eine Aussprache. Mit
stark depressivem Affekt erzählt Pat. von schon lange bestehenden und zahl-
reichen äußeren Schwierigkeiten, Ärgernissen und Aufregungen mehr oder
weniger wesentlicher Art, zum Teil schwerwiegend, was alles sie ihrer Schilde-
rung nach besonders mitgenommen hat. Es geht vom Klatsch der Mitbewohner
über an sich unwesentlichere Dinge bis zu schwerer Alteration über berufliche
Zurücksetzung und andererseits ganz besonders über den recht einfühlbaren
und wohl begründeten Verdacht auf eheliche Untreue des Mannes. Als das
Schwerste ihres Lebens bezeichnet Frau M. die freundliche Mitteilung einer
Bekannten, daß ihr Mann zu einem Dienstmädchen Beziehungen hatte und ein
uneheliches Kind da sei — was, wie offenbar im großen und ganzen alle die
Dinge, die Pat. alterierten, real ist, der Kranken jedoch vorher nicht bekannt
war. Es ist hervorzuheben, daß dieses schwerste Erlebnis die letzten diffusen
körperlichen Beschwerden einleitete, denen dann unmittelbar der akute Aus-
bruch der Psychose folgte. — Es werden bei dieser Aussprache von der Kran-
ken noch mancherlei andere Alterationen angeführt; sie erörtert auch, wie wenig
sie ihren Heimatort liebt, in dem alle sie aufregenden Erlebnisse in ihrer Ehe
bekannt seien und durchgesprochen würden — was ebenfalls bei der beruflichen
Stellung ihres Mannes evident, wenn auch vielleicht aus der Empfindsamkeit
der Pat. heraus ein wenig übertrieben erscheint. Am Anfang ihres Berichtes
entgleitet Pat. wiederholt in andere, meist nebensächliche Erlebnisse und
merkt selbst, daß sie es ‚‚nicht recht zusammenbringt‘‘, was dann in gleicher
Weise auch wieder bei zunehmender Ermüdung der Kranken beobachtet wird.
Die eigentliche, stark affektbetonte Erzählung, die sehr ausführlich ist, ver-
läuft formal völlig geordnet und unauffällig bei kurz vor dieser Unterredung
noch ausgesprochener Verwirrtheit. Erheblich depressive Einstellung zu diesen
Erlebnissen, die oft eine leicht sentimentale Prägung hat. Bezeichnend in diesem
Sinne auch, daß Pat. berichtet, von ihrem Mann früher ‚‚Seelchen‘‘ genannt
worden zu sein, und daß sie sich so danach sehne, daß er dies einmal wieder
sagen würde, woraus zugleich die sicher sehr zwiespältige innere Stellung zum
Ehemann leicht zu ahnen ist.
Das geordnete Verhalten während der Unterredung hält nicht an. Es kommt
zunächst wieder zu einem häufigen Wechsel zwischen amentiell-psychotischem
und verhältnismäßig klarem Verhalten und in den psychotischen Stadien zu
häufigem Abgleiten beim Sprechen, teilweise bis zur Inkohärenz, schwerer
Unkonzentriertheit und gelegentlich zum Wiederauftauchen paranoischer
Elemente — letztere wie immer verwaschen, nicht nur nicht systematisiert,
sondern überhaupt in keiner Weise sprachlich bis zu irgendeiner Zielvorstellung
verfolgt. Die Verwirrtheitspsychose wird dann wieder schwerer, und es tritt
in dieser Zeit wiederum die Bewegungsunruhe mit ihren Parakinesen, der
Neigung zum Herumwälzen im Bett, auch zum fast delirant aussehenden
Zupfen an den Fingern usw. zutage. Inhaltlich vorwiegend bunt durchein-
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 287
ander gewürfelte Reminiszenzen, Sich-verlieren in Nebensächlichkeiten, plötz-
lich auftauchende Vorstellungen und Erinnerungen, die wiedergegeben werden
und deren Zustandekommen erleichtert ist; ab und zu wohl Erinnerungs-
fälschungen, einmal auch auf Suggestivfragen hin eine deutlich konfabulatori-
sche Ausschmückung. Wechselnd richtige und falsche örtliche und zeitliche
Orientiertheit, ab und zu auch wohl einfallsmäßiges Daherreden dessen, was
ihr gerade einfällt — so, daß wir hier bei Tietz seien, während gleich danach
richtig das Bürgerhospital angegeben wird. Meint, schon viel länger als 1 Jahr
hier zu sein, ohne dieses Thema durchzuführen. Bei einer von ihr selbst mit
Herrn Professor gewünschten Unterredung zuerst, durch die ärztlichen Fragen
gleichsam wach gehalten, wieder sehr natürlich und geordnet, einfühlbar
depressiv ihre schweren Erlebnisse wiedergebend, dann jedoch sehr bald ab-
gleitend, wobei sie plötzlich überraschend die Frage stellt, wo sie eigentlich
hier sei! Spricht, wie in den Zeiten des schwersten Stadiums ihrer Psychose
und auch sonst öfters, wieder in fast epileptisch anmutender Umständlichkeit
und Schwerfälligkeit, muß alles, — auch äußerst langsam sprechend — der
Reihenfolge nach und mit sämtlichen noch so nebensächlichen Einzelheiten
erzählen.
Es folgt eine Zeit, in der ein gleichzeitig gereizt-moroses, ängstliches, labiles
und unbeherrschtes Verhalten auffällt, wie es von abklingenden toxischen
und Infektionspsychosen her ja als recht charakteristisch bekannt ist, in
welcher Phase nun auch hin und wieder wohl als psychopathisch zu deutende
Züge herausleuchten und Pat. auch den Schwestern gegenüber sehr häufig
von ihrer Ehe usw. erzählt. Als man den Eindruck eines beginnenden Ab-
klingens der Psychose hat, wird sie nochmals manifest, und zwar jetzt, wo die
formale Denkstörung, das inkohärente Vorbeireden usw. zurücktreten, mit
bis jetzt noch nicht zutage getretenen, schwer paranoischen Symptomen. Es
ist alles unheimlich, so unruhig — das Bett ist elektrisch, Pat. kann sich nur
denken, daß sie unter Hypnose steht oder daß sie in ein Konzentrationslager
entführt worden ist. Diese Wahnerlebnisse werden interessant und mit manchen
charakteristischen Bemerkungen dargestellt; sie bilden sich nach kurzer Zeit
wieder zurück. Zunächst noch gelegentliches Wiederauftauchen der früheren
psychotischen Symptome in immer milder werdender Form bei gleichzeitig ein-
deutig erkennbarem psychopathischem Wesen. Nochmals gewisses Aufflackern
der schon abklingenden Erkrankung mit ausgeprägten hypersensorischen Er-
scheinungen. Es gibt keinen Sinneseindruck, der nicht bemerkt, aufgegriffen
und in die immer noch etwas langsamen und weitschweifigen Reden eingefügt
wird — keine Handlung, ja, kaum eine Bewegung einer Person der Um-
gebung, die nicht Erwähnung findet und zeitweise — allmählich immer
weniger — auch in einem für Pat. selbst nicht greifbaren Sinn bedeutungsvoll
erscheint, und Frau M. führt sogar bei der Schilderung eines tatsächlichen auf-
regenden Erlebnisses als Erstes an, wie sie damals, als ihr Mann nachts von drei
SA-Männern zu einer Vernehmung aus dem Schlafzimmer geholt wurde, auf
ihrem Bett saß, wie sie die Arme hielt, in welcher Weise sie die Beine heraus-
hängen hatte!
Nach Abklingen dieses Stadiums bilden sich sämtliche Symptome rasch
zurück und Pat. macht lediglich noch in ihrer immer deutlicher werden-
den psychopathischen Wesensart — kombiniert mit Gereiztheit und Moro-
sität der eben abgeklungenen Psychose — gewisse Schwierigkeiten. — Sie
wird in dieser Verfassung auf Wunsch des Mannes nach Hause ent-
lassen.
288 Ilse Graf
Zeigt sich bei späteren Vorstellungen sehr zugänglich und mitteilsam, weich,
extrovertiert, ganz ausgesprochen sensitiv und aussprachebedürftig wegen
erneuter schwerer Konflikte sowie hilfesuchend wegen körperlicher Störungen.
Sie hat volle Einsicht für die durchgemachte Erkrankung, vollkommen
adäquate Stellungnahme dazu; keinerlei Persönlichkeitsveränderung. Offenbar
nur lückenhafte Erinnerung an die Psychose, über die sie auch nicht gerne
ausführlich spricht, da die Tatsache der durchgemachten Gemütskrankheit,
was bei ihrer sensitiven Wesensart verständlich ist, jetzt noch alterierend auf
sie wirkt.
Zusammenfassung: 43jährige Pat., deren Vorgeschichte
sehr zahlreiche körperliche Affektionen aufweist, teils schwere
Erkrankungen, andererseits zahlreiche Störungen leichterer Art,
u.a. auch vegetativ-vasomotorische Symptome, was alles der Pat.
viele Beschwerden verursachte und zu solchen Zeiten, die sehr
häufig waren, große Anstrengung zur Erledigung der täglichen
Arbeit erforderte. Persönlichkeit der Pat. ausgesprochen sensitiv,
schwernehmend, enthält auch hysterische Züge, ist besonders
aber infolge ihrer Empfindlichkeit äußerst alterierbar, nicht nur
durch schwere Konflikte und Erlebnisse, sondern auch durch an
sich nebensächliche Ereignisse. Seit vielen Jahren Häufung zahl-
reicher seelischer Belastungen durch familiäre Aufregungen, ganz
besonders infolge schwerwiegender ehelicher Konflikte, die bekannt
wurden und in der Kleinstadt, in der Frau M. lebt, zu Klatschereien
und Anspielungen führten, die bei der beruflichen Stellung des
Mannes durchaus evident waren, und unter denen Pat. nun auch
wieder ganz besonders litt. Immer wieder neue äußere Schwierig-
keiten und erneute Alterationen, die eben auch bei an sich harm-
losen Dingen ihrer Wesensstruktur entsprechend viel stärker als
von anders gearteten Menschen empfunden wurden. Das schwerste
Erlebnis ihrer Ehe — wie Pat. es selbst bezeichnet — nämlich
Untreue des Mannes, führte zu einleitenden diffusen körperlichen
Beschwerden, denen in wenigen Tagen der akute Ausbruch der Psy-
chose folgte.
Schwere psychische Erkrankung reichhaltiger Symptomatologie,
die mit echten symptomatischen Psychosen sehr viel Ähnlichkeit
hatte, meist sogar nicht von einer solchen zu unterscheiden war.
Ausgeprägte amentielle Bestandteile, bei denen Desorientiertheit,
schwerste Unkonzentriertheit, Inkohärenz, rascher Wechsel
zwischen relativer Klarheit und andererseits Traumbefangenheit
bis zu völliger Versunkenheit, Hypersensorik mit Aufgreifen und
Verwenden jeglicher, noch so nebensächlicher Sinneseindrücke,
— besonders zufällig beobachteter Bewegungen anderer — im
Vordergrund standen, wurden, ebenso wie bei den üblichen sym-
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 289
ptomatischen Psychosen, bei unserer Kranken während des größten
Teils des Krankenhausaufenthaltes festgestellt. Auch die Angst,
die ganz diffusen paranoiden Gedankengänge, die fast immer nur
andeutungsweise, niemals klar, geäußert wurden, und das Auf-
treten depressiver Symptome bei langsamem Abklingen der Er-
krankung ließen neben noch anderen zugehörigen Symptomen
die symptomatische Prägung des Krankheitsbildes deutlich er-
kennen. Sie waren kombiniert mit sehr ausgesprochenen orga-
nischen Bewegungsstörungen wie Hyperkinese, Parakinesen, Ite-
rativbewegungen, delirant erscheinendem Umhergreifen und Her-
umnesteln usw. sowie — auf psychischem Gebiet — mit stärkster
Verlangsamung, Schwerfälligkeit, Haften, Klebrigkeit und epilep-
toider Umständlichkeit beim Sprechen, welche Symptome be-
sonders deutlich auf eine cerebrale Schädigung hinwiesen. Ebenso
zeigte der vorübergehende, bedrohliche Verfall der Kranken mit
schwersten trophischen Störungen, Durchfällen, Kreislaufschwäche
sehr eindeutig, wie stark überhaupt körperliches Aran kneitage
schehen bei dieser Psychose mitwirkte.
Eine bestimmte, klinisch diagnostizierbare, körperliche Krank-
heit ging der.psychischen Störung nicht voraus und ließ sich auch
während der Beobachtung der Kranken nicht nachwiesen, auch
keine einmalige schwere Erschöpfung oder eine der sonst sympto-
matischen Psychosen zugrunde liegenden körperlichen Ursachen.
Es bestand jedoch seit Jahren eine Häufung körperlicher Störungen
und seelischer Belastungen und ein Ineinandergreifen körperlich-
erschöpfender Faktoren mit alterierenden Erlebnissen und Kon-
flikten bei einer ausgesprochen psychopathischen Persönlichkeit,
die zu dieser einmaligen, geheilten Psychose geführt hatten.
Fall 2. Hedwig G., geb. 18.8.85, gesch. Studienratsehefrau.
i. Aufnahme im Bürgerhospital (psychiatr. Abt.) vom 12. 10. bis
10. 11. 22.
Vorgeschichte: Vor dieser ersten Aufnahme bei uns war Frau G. 4 Tage
lang in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn untergebracht. Die dortige
Krankengeschichte besagt, kurz zusammengefaßt, folgendes: Während ihrer
Ehescheidung in einem akuten Erregungszustand eingewiesen. Bei der Auf-
nahme Singen, Schreien und Johlen, läßt das Deutsche Reich hochleben,
glaubt sich von Franzosen verfolgt. Hat leicht verletzte Hände, da sie während
des Transportes dauernd gegen die Scheiben des Wagens schlug. Vollkommen
desorientiert über Ort und Zeit. — Auf der Abteilung weiterhin die gleichen
Orientierungsstörungen, außerdem Personenverkennungen, sieht angeblich
auch bekannte Menschen an ihrem Bett vorübergehen. Ab und zu „lichte
Momente“, dann gleich wieder ausgesprochene Verwirrtheit. Psychomotorisch
so erregt, daß dauernd Medikamente notwendig sind. — Von dort am 12. 10. 22
zu uns verlegt; Diagnose im Krankenblatt nicht niedergelegt.
19 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
290 Ilse Graf
Hier erfuhr man zur Anamnese, daß der Vater der Pat., von Beruf Studien-
direktor, gesund und unauffällig sei, ebenso wie Mutter und Bruder der Kran-
ken. Von erblicher Belastung soll nichts bekannt sein. — Pat. selbst war, abge-
sehen von einer Blinddarmoperation, niemals wesentlich krank, weder in der
Kindheit noch später. Lernte in der Schule gut; ergriff keinen Beruf, sondern
pflegte daheim künstlerische Interessen. Heiratete einen Studienrat, lebe zur
Zeit in Scheidung, habe ein 5-jähriges, gesundes Kind.
In der Gemütslage schon in gesunden Zeiten „‚himmelhoch jauchzend — zu
Tode betrübt“, angeblich sehr temperamentvoll; nervöse Veranlagung und
psychopathische Züge wurden verneint, desgleichen Verstimmungen sicher
endogener Natur.
Lebte in sehr unglücklicher Ehe und machte dadurch viele Aufregungen
durch. Der Mann soll sie grob behandelt, geschimpft und vor anderen herab-
gesetzt haben, wollte sie einmal zu einer Abtreibung zwingen und hinterging
sie schließlich mit einer anderen Frau. Es folgten langdauernde und vergeb-
liche Bemühungen der Pat., ihren Mann für sich zurückzugewinnen, die neue
Beleidigungen und Beschimpfungen durch den Ehemann zur Folge gehabt
haben sollen, bis dieser im März 1922 — also im Jahre der ersten Psychose der
Frau G. — Scheidung beantragte, wogegen Pat. nun nochmals vorzugehen
versuchte, um schließlich ihre Bemühungen aufgeben zu müssen. Äußerst
alteriert über diese Erlebnisse; wurde sehr nervös und brach dann völlig
zusammen, als sie durch irgendeine Äußerung, die gemacht wurde, glaubte
befürchten zu müssen, daß ihr Kind dem Manne zugesprochen würde. — Sagte
nun, sie sei ganz kaputt in den Nerven, wußte nicht recht, was sie tun sollte;
ging schließlich in ein Erholungsheim, von wo aus sie dreimal ganz verwirrt
ihrem Mann telegraphierte. Am 8.10.22 Erregungs- und Verwirrtheits-
zustand, der die Einlieferung in die Bonner Anstalt zur Folge hatte.
Befund bei der ersten Aufnahme: Im Aufnahmezimmer erregt.
ängstlich und ratlos; spricht von Franzosen, die sie verfolgten, während inhalt-
lich sonst vorerst nichts zu fassen ist. Will nicht wissen, wo sie hier ist und von
woher sie kam, ohne daß sich dies vorläufig sicher nachweisen läßt — zumal
Pat. ‚wie ein kleines Kind spricht“, was also auf eine psychogene Natur der
Erkrankung hinweisen konnte.
Am folgenden Tag im wesentlichen unverändertes Zustandsbild. Beschäftigt
sich immer noch mit den sie angeblich verfolgenden Franzosen, ab und zu
auch damit, ob ihr Kind noch lebe oder gestorben sei, versichert, sie sei nicht
schlecht gewesen und spricht im übrigen ziemlich zusammenhangslos und ver-
worren von ihrem Bonner Aufenthalt. Zeitlich und räumlich anscheinend
ungenau orientiert, jedoch oft Vorbeireden in leicht puerilistischem Tonfall
und Neigung zu kindlichem Jammern und einem Sich-Hineinsteigern in
Erregung, so daß Zweifel herrschen an der Echtheit der Orientierungsstörung,
d.h. an ihrer organischen Genese. Für Sinnestäuschungen keine Anhalts-
punkte. — Aus späteren Einträgen ist wesentlich, daß immer wieder einmal
kindliches, manchmal auch läppisch-infantiles Wesen beobachtet wird. Ferner
ist die Bemerkung, es sei alles ‚verkehrt und verwechselt‘‘, hervorzuheben.
Bis zum Abklingen der Psychose immer wieder einmal schwer zu fixieren,
unkonzentriert, nicht mit Sicherheit richtig orientiert. Häufig ängstlich erregt,
auch öfters Weinen, meint, sie werde von allen böse angesehen und zeigt auch
sonst gewisse depressive Elemente neben den Symptomen der Verwirrtheit.
Kann die Schwester richtig als solche bezeichnen und einen von ihr zu erfüllen-
den Wunsch äußern und dann doch hinterher fragen, ob die Schwestern hier
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 291
denn überhaupt Wirklichkeit seien! Es folgt eine Zeit der Bewegungsunruhe,
Pat. läuft planlos und der Beschreibung nach getrieben herum, klopft an Bett
und Türen. Zwischendurch erkundigt sie sich immer wieder, ob denn hier
alles wirklich zugehe und auch, ob sie wieder gesund werde! — Gegen Ende
Oktober richtig orientiert, ruhiger, bedient sich immer noch gern einer kind-
lichen Sprechweise, ist jetzt aber zu sprachlicher Auskunft fähig; es zeigt sich,
daß sie sich an die Ereignisse der letzten Wochen nach und nach erinnert, daß
jedoch wohl noch einiges ausgefallen ist. Depressiver als bisher, weint öfters,
erscheint sogar zeitweise lebensüberdrüssig. — Es kommt nochmals zu einem
kurzen Aufflackern ungefähr sämtlicher Symptome, insbesondere der motori-
schen Unruhe, außerdem zu Äußerungsformen einer hypersensorischen Über-
erregbarkeit. Anfang November rasch fortschreitende Besserung. Pat. arbeitet
mit, ist zuletzt noch etwas labil, leicht ängstlich, schreckhaft, sonst der Schilde-
rung nach nicht mehr auffällig. — Am 10. 11. 22 gebessert nach Hause ent-
lassen.
Zweite Aufnahme vom 15. 6. bis 3. 9. 34.
Zur Zwischenanamnese erfährt man von den Angehörigen, daß Frau G.
damals ganz gesund wurde und psychisch gesund geblieben ist. Sie sei ebenso
wie früher eine leicht alterierbare, empfindsame Frau gewesen, die man wegen
dieser Eigenschaften stets mit einer gewissen Vorsicht behandeln müsse.
Vor wenigen Tagen akuter Beginn der erneuten Psychose, in zeitlichem
Zusammenhang mit einer Anzeige, die eine Köchin bei der politischen Polizei
gegen sie erstattete. Zahlreiche Vernehmungen alterierten sie sehr, obgleich
offenbar gar nichts an der Sache war und sie auch nicht weiter verfolgt wurde;
— zu gleicher Zeit weitere Aufregungen durch ein kleines Vergehen ihres Sohnes
im Geschäft. Alles dieses ‚warf sie um‘, Pat. wurde ängstlich, aufgeregt, lief
schließlich planlos davon; wurde aufgegriffen und heimgebracht. Dort voll-
kommen verwirrt, sprach von einer Parole, wollte direkt zu Hitler und war auf
keine Weise aus dem Auto herauszubringen, so daß sie dann mit ärztlicher
Hilfe sogleich zu uns gebracht wurde.
Befund bei der zweiten Aufnahme: Weigert sich bei der Ankunft
auch wieder, das Auto zu verlassen, will durchaus zuerst zu Hitler oder nur aus-
steigen, wenn er da wäre, kann nur mit Mühe herausgeholt werden. Erregt,
getrieben, läuft auf und ab. Geht auf Orientierungsfragen nicht ein, stärkere
Bewußtseinstrübung sicher nicht vorhanden. Flüstert Ref. ins Ohr, ihr Sohn
und Adolf Hitler seien ihr Mann. Auf Fragen nicht zu fixieren, inhaltlich sonst
nichts zu fassen. — Auf der Abteilung sehr bald ruhiger, jedoch in den ersten
Tagen immer wieder eigenartige, verworrene Äußerungen, die sich auf Hitler
beziehen, dessen Braut sie jetzt ist! Gelegentliche Nahrungsverweigerung
wegen angeblicher Vergiftung des Essens — die Behauptung, die Schwester
mit den blauen Augen sei ein Teufel — und einige andere Äußerungen werden
in einer etwas demonstrativ anmutenden Weise vorgebracht. Kann ab und zu
angeblich nicht mehr laufen und sprechen, klagt über Schmerzen, springt jedoch
oft ziellos im Raum umher, ohne daß irgendwelche Bewegungshinderung dabei
zu bemerken wäre. Spricht viel, inhaltlich einfallsmäßig, formal ziemlich inko-
härent, ohne daß wesentliche Inhalte bisher zu fassen sind. Wechselnd forcier-
tes, abweisendes, ja drohendes Verhalten den Ärzten gegenüber, Gereiztheit
und Aggressivität gegen die Schwestern — ausdrucksvoll, aber oft etwas stark
aufgetragen und theatralisch erscheinend. Zwischendurch einmal eigenartige
Abwesenheit während der Visite; eigentümlich verlorenes Lachen, so, als sei
19°
292 Ilse Graf
Pat. in Gedanken weit fort. — Bei einer in dieser Zeit, also einige Tage nach
der Aufnahme, möglichen kurzen Unterhaltung erweist sich Frau G. als zeit-
lich sehr ungenau orientiert. Rät in zerstreuter Weise herum, kommt bei Frage
nach dem Datum auf dasjenige ihres Geburtstages zu sprechen, kommt schließ-
lich vom Thema ab. Weist auf mancherlei Aufregungen hin, die sie infolge
ihrer Ehescheidung gehabt habe. Jetzige Inhalte noch nicht herauszubringen;
die Sache mit Hitler sei Einbildung gewesen, was Pat. merkwürdig unbeteiligt
verkündet. Auffallend einförmige Bewegungen mit den Armen, die zu den
Inhalten des Gesagten gar nicht passen.
Etwa 8 Tage nach der Aufnahme recht geordnet, natürlich, ruhig. Berichtet
in einfühlbarer Weise über die Alterationen und Sorgen der letzten Zeit,
so daß man gegenwärtig — querschnittsmäßig — eine rein reaktive Er-
krankung würde annehmen können, wie übrigens auch bei der ersten Auf-
nahme die Diagnose einer Hysterie gestellt wurde. — Schon am Tag danach
wieder gelegentliche eigenartige Äußerungen, dem sonst geordneten Ver-
halten nicht adäquat, fragt plötzlich, ob jetzt Taufe gewesen seil — Wird in
diesen Tagen, gegen Ende Juni 1934, genauer exploriert, da Pat. jetzt auf
eine derartige Untersuchung zu fixieren ist. Macht hierbei nun mancherlei
charakteristische Äußerungen, von denen nur ein Teil wiedergegeben werden
kann. So z. B. sagt Pat., sie habe soviel Chloroform geschluckt und erzählt
dann von der Narkose bei ihrer Entbindung weiter, während von der jetzigen
Erkrankung die Rede ist. (Taufe?) „Weil ich das alles geträumt habe“.
(War es wirklich ein Traum?) „Ja — es waren die richtigen Stimmen“.
Berichtet dann von Männern und Frauen, die in ihrem Garten gewesen seien
und dicht vor dem Fenster gesprochen hätten; dann, verträumt, nochmals:
„Im Garten, — so wars“. Kommt wieder auf einen Traum, den sie gehabt
habe — es war vor einigen Jahren der Falll Eigentümlich unkonzentriert
und fahrig, dabei lebhafte Gesten, ab und zu Betrachten der Hände, die sie
fast bei der ganzen Unterhaltung etwas angehoben hat. Sie könne nicht mehr
denken — habe wohl so lange geschlafen — führt darauf auch die immer
noch vorhandene Störung der zeitlichen Orientierung zurück. Das wie auto-
matisch auftretende Erheben der Hände mit Verharren in dieser Stellung
wird immer wieder beobachtet. Bei Besprechung der diesmaligen Krankheit
redet Frau G. zunächst wieder von der ersten; fühle sich jetzt so gesund
wie noch nie und wisse nicht, was mit ihr sei. Plötzlich, wie erwachend: ‚Ach
so — weil ich immer träume“. Eine andere wichtige Äußerung ist wohl:
„Dann habe ich nicht mehr gewußt, was Wahrträume sind, was ich erlebt
und was ich nicht erlebt habe‘. Auf die eigentliche Frage nach der Ursache
der diesmaligen Krankheit geht Pat. nicht ein; erst bei Vorhalt der ver-
schiedenen aufregenden Erlebnisse verhält sie sich so, als ob ihr diese Dinge
durch die Fragestellung erst wieder einfallen würden, — sie werden wohl auch
durch die Fragen des Arztes wachgerufen. Berichtet dann verschiedene,
auch unwesentlichere Ereignisse, wobei eine besondere Betonung gänzlich
nebensächlicher äußerer Sinneseindrücke, die sie dabei empfing, auffällt.
Schweift oft unkonzentriert ab, weiß dann nicht weiter, bis ihr wieder bei
Fortsetzung der Befragung dies und jenes ‚einfällt‘, das ihr ganz entfallen
gewesen sei. Als Antwort auf die Frage nach einer etwa sonst noch in Betracht
kommenden Alteration vor Ausbruch der Erkrankung folgt der Bericht, daß
sie sich im ‚Wald verirrt und verwirrt“ habe, daß sie lauter Kreise gegangen
sei und nicht wußte, wo es anfing! Vielleicht sei sie im Wald eingeschlafen —
es sei immer wieder etwas anderes gewesen, habe immer wieder gewechselt
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 293
— es seien Gesichte gewesen. Schweift weiter auf den Sternenhimmel, auf
Berge, Burgen, den Heiligenberg usw. Scheint selbst ihre Unkonzentriertheit
zu bemerken, entschuldigt sich mit den Worten: „Es geht alles durcheinander,
weil ich eben nie weiß, wo es anfängt und aufhört“. Angeblich schwankt auch
alles im Zimmer, geht herauf und herunter und zittere alles, wenn sie die
Augen zumache. Aus dem Zusammenhang heraus: „Da hab’ ich eben doch
geträumt, dreifach und vierfach; ich weiß eben gar nicht, was Wirklichkeit
und was Traum ist‘. Zwischendurch deutliche hypersensorische Symptome,
was aus Äußerungen der G. zu entnehmen und auch objektiv zu beobachten
ist. Beachtet unter manchem anderen die Kinderstimmen von draußen her,
das Trillern der Vögel; sieht einmal alles grün usw. Konfabulatorische Ele-
mente bei freier Erzählung und hervorgerufen durch Suggestivfragen. Öfters
Perseverieren, zunehmend bei der Ermüdung am Ende der Exploration.
Wenige Tage später wieder bedeutend psychotischer; erregt, läuft planlos
umher, räumt ihre Kissen aus und ein, faßt diesen und jenen Gegenstand an.
Inhaltlich dabei nichts Neues, also immer noch nichts Wesentliches zu er-
fahren bezüglich der Erlebnisse in der Psychose. — Beruhigt sich wieder, zeigt
ein moroses, nörgelndes Verhalten, ist weinerlich und weiterhin ziemlich
unruhig. — Der Zustand verschlechtert sich wieder; Pat. wird nochmals laut,
fällt durch häufiges unbeherrschtes Weinen auf, leistet bei Pflegemaßnahmen
Widerstand. Zugleich fallen gerade jetzt auch wieder die hypersensorischen
Elemente, die besondere Beeinflußbarkeit durch Sinneseindrücke, sehr auf;
spricht oft auch dadurch zusammenhanglos, daß ohne Beziehung zum eigent-
lichen Thema über die erwähnten äußeren Eindrücke Auskunft gegeben
werden muß. Wird jetzt übrigens auch ‚‚gespiegelt‘‘, sieht Filme abrollen,
bemerkt, daß die Gesichter der Umgebenden sich immer verändern und
betont — offenbar selbst etwas unsicher — daß dies alles ‚‚wirklich wahr“ sei.
Hört nunmehr auch auf Grund objektiver Beobachtung sicher Stimmen,
bedeckt die Schalldose des Radios mit der Hand und dergl. mehr. Auch
charakteristische Sensationen: Das Bett schaukelt — sie fährt von hier nach
Heidelberg — das Zimmer ist elektrisiert! Ebenso wie schon vorher öfters
festgestellt, zeigen sich auch in diesem besonders ausgesprochenen psycho-
tischen Stadium immer wieder Puerilismen und gewisse demonstrative
Verhaltensweisen.
In der Ärztekonferenz vorgestellt, will Pat. zunächst nicht hereinkommen,
ist wohl auch befangen; übertreibt jedoch ikre Verlegenheit und bringt sie
sehr ausdrucksvoll vor — wobei ihr eine Erleichterung der Entstehung von
Ausdrucksbewegungen zu statten kommt. Verhält sich dabei etwas schau-
spielerisch, bedeckt immer wieder das Gesicht mit der Hand usw. Spricht
dann fast durchweg in nörgeligem Tonfall, hat etwas ausgesprochen Moroses
in ihrer ganzen Art. Gerade heute wieder in den Äußerungen reichlich ver-
worren und auf eine eigentliche Exploration nicht zu fixieren. Kurzdauernd
immer geordnet; gerade während einer solchen, an sich unauffälligen, Unter-
haltung mit ihr plötzlich die Bemerkung: ‚Und jetzt läßt er lauter Filme
rumlaufen‘“. Auf entsprechende Frage, was sie damit meine: „Daß ich immer
wieder aufwachen muß‘. Dann: ‚Ich sehe den Film, der immer rauf und
runter geht, dann kann ich einschlafen. Einen Palästinafilm habe ich auch
schon gesehen — in der Kirche —“. Hier also ideenflüchtige Gedankenver-
bindung, wie sie inmitten inkohärenter Äußerungen und auch für sich ge-
legentlich, oft noch ausgesprochener, bei Pat. beobachtet wird. Schlägt ver-
schiedene Themen an; spricht von ‚Suggerieren‘‘; sagt dann, nachdem sie
294 Ilse Graf
soeben gefragt hatte, wann sie eigentlich heim dürfe, sozusagen im gleichen
Atemzug: ‚Wer hat denn meinen Prozeß gestohlen? — Ich weiß nicht, wer
mir das genommen hat‘, über welche Äußerung, wie meist, trotz intensiver
Befragung nichts von der Pat. zu erfahren ist. Sie geht auf die Fragen nicht
ein oder kommt auf ein ganz anderes Thema zu sprechen. Zwischendurch
immer wieder einmal korrekte und geordnete Auskunft, stets bald wieder
Entgleiten in teils einfallmäßiges, teils ausgesprochen verworrenes Reden
in moroser Sprechweise. Außerdem auch heute in ihrer ganzen Art etwas
Infantiles, in den Bewegungen etwas Lässiges, Schlaffes. — Erwähnenswert
eine Äußerung der Mutter der Pat.: ‚Sie galt überall als das Kind, wo sie
auch war“. — Frau G. selbst sagt am Schluß dieser Vorstellung noch: „Ich
bin gar nicht verwirrt. Man kann jeden Menschen verrückt machen, wenn
man den Film überall rumlaufen läßt“ — wobei es auch diesmal nicht möglich
ist, irgendeine Erklärung oder Deutung der Kranken zu erhalten.
Von Ende Juli 34 ab sehr rasche Besserung; Pat. wird immer ausgeglichener,
ruhig. Lediglich noch Klagen über viele Träume des Nachts, sowie über eine
auch objektiv sehr gut wahrnehmbare Geräuschempfindlichkeit; noch etwas
hastige, sich überstürzende, nervöse Sprechweise. Erwähnt ab und zu, daß
sie sich gar nicht mehr vollständig an die Erlebnisse und Äußerungen hier im
Krankenhaus erinnern könne, daß ihr manches ganz unbegreiflich sei; regt
sich immer derartig auf, wenn das Thema ihrer psychischen Erkrankung
berührt wird, daß aus psychotherapeutischen Gründen zur Zeit von einer
Exploration darüber abgesehen werden muß. Ist auch noch etwas labil,
zeigt Neigung zu forcierter Heiterkeit, spricht noch mehr als nötig. — Bis
zur Entlassung am 3.9. 34 unter geringen Schwankungen weiter fortschreitende
Erholung. Auffällig noch einige Zeit eine immer wieder einmal hervortretende,
starke affektive Labilität, Erregung aus den geringsten, meist familiär be-
dingten Anlässen heraus, sowie eine eigenartig kindliche, oberflächlich er-
scheinende Heiterkeit, hinter der jedoch: öfters einwandfrei eine ratlose Resi-
gnation den komplizierten und — gerade für solche Menschen — besonders
schwer zu tragenden äußeren Verhältnissen und ihren inneren Kämpfen und
Sorgen gegenüber versteckt ist.
Anzuführen ist noch der körperliche Befund. Frau G. befindet sich
in etwas reduziertem Ernährungszustand, ist hager, zeigt asthenische Züge,
an den inneren Organen jedoch nichts Krankhaftes. Neurologisch bei wieder-
holter Untersuchung normal auslösbarer rechter P. S. R., während der linke
und die A. S. R. bds. nicht zu bekommen sind. Sonst bei sehr genauer Durch-
untersuchung kein pathologischer neurologischer Status. Serologisch einmal
ganz schwach positive Meinicke’sche Reaktion im Blut bei neg. Wassermann
und Sachs Georgi, was unserer Erfahrung nach nicht verwertet werden kann —
zumal später dann auch hier ein völlig negatives Resultat da war. Lumbal-
punktion verweigert.
Bei einer Exploration Anf. Sept. 1934 geordnet, wie schon länger
völlig orientiert, natürlich — abgesehen von einer ab und zu immer noch
beobachteten Neigung zu einem etwas spielerischen Verhalten. Erzählt jetzt
auch ausführlich von den exogenen Schwierigkeiten, deren Häufung und für die
besondere Art der Pat. bestehende Bedeutung klar hervortritt. Es handelt
sich neben dem schon anfangs erwähnten Ereignis mit der Anzeige bei der
politischen Polizei und der Aufregung wegen des Verhaltens des Sohnes —
das sie übrigens begreiflicherweise seinem Meister nicht glauben wollte —
um Arbeitsüberlastung infolge Notwendigkeit der Übernahme einer Heim-
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 295
arbeit neben ihrer täglich vollen Arbeitszeit als Büroarbeiterin — nebenbei
um von ihr allein zu erledigende Pflege des schwer arteriosklerotischen und
unruhigen Vaters und der an psychischen Altersveränderungen leidenden
Mutter, auch angeblich stets nächtliche Betreuung derselben mit Störungen
ihrer eigenen Nachtruhe — Kummer über die aus finanzieller Notwendigkeit
bestehende Trennung vom Sohn, obwohl ihr Bruder ihr angeblich da bei-
stehen könne, da er in glänzenden Verhältnissen lebe. — Es zeigt sich in der
Art, wie Frau G. die Rücksichtslosigkeit ihres Bruders kritisiert, und auch
noch in anderen Bemerkungen, ein deutliches Ressentiment — außerdem
verschiedentlich, z. B. in der Mitteilung, wie arg es für sie sei, daß sie von den
Eltern, für die sie sich aufopfere, so gar nicht richtig verstanden werde —
besonders auch in der Art und Weise, in der diese Dinge vorgebracht werden,
ein Bedürfnis, ihre Leiden dem Arzt auch klarzumachen und Mitleid mit sich
hervorzurufen, wobei es sich um typische Züge ihrer psychopathischen Wesens-
art, bisher schon ab und zu herausleuchtend, handelt. Andererseits ist dieses
Schicksal der gegen ihren Willen geschiedenen Frau und vom einzigen Sohn
getrennten Mutter keineswegs ein leichtes.
Über die durchgemachte Psychose läßt Pat. sich jetzt explorieren, wenn
sie sich auch nicht gerne daran erinnert. Berichtet die bekannten einleitenden
äußeren Umstände, weiß mancherlei über die Symptome ihrer Krankheit
zu sagen, scheint sich an sehr vieles — fraglich ob an alles — zu erinnern und
steht der Psychose völlig einsichtig sowie in der Stellungnahme adäquat
gegenüber. Nur eines ist davon auszunehmen: Pat. meint immer noch, was
sie in der lezten Zeit einige Male erwähnte, daß hier bei uns durch einen
Gynäkologen ihr Uterus wieder aufgerichtet worden sei (sie leidet an einer
Retroflexio) und daß ihr auch dadurch geholfen wurde. — Am 3. 9. 34 in ein
Erholungsheim entlassen.
In der Folgezeit häufige Besuche bei Herrn Prof. Wetzel, reichlich Briefe
an ihn, öfters Geschenke. Einsicht in die Briefe ergibt eine stark sentimentale
Note, Kenntnis der Gedichte, die sentimental und schlecht sind, vorwiegend
ein Bedürfnis, Mitleid zu erregen, sowie ein Genießen ihrer Leiden — was
ebenso in einer im vorigen Jahr stattfindenden Unterredung mit Ref. zutage
trat. Die ausgesprochen psychopathische Konstitution der G. mit egozen-
trischer Einstellung, Geltungssucht, Leid- und Beichtbedürfnis und einigen
anderen dazugehörigen Symptomen kam gerade bei dieser Nachuntersuchung
ganz bedeutend klarer und eindeutiger zum Vorschein als während der Be-
obachtungszeit. Steht jetzt über der Psychose, hat völligen Abstand, normale
Einsicht, keine wesentlichen Ausfälle im Sinne der Amnesie — nur immer noch
ein Festhalten an dem gynäkologischen Eingriff, unbeeinflußt durch alle
Erklärungen des Arztes. Im übrigen, abgesehen von der zutagetretenden
Psychopathie, unauffällig.
Zusammenfassung: Bei der ersten Erkrankung 37-jährige,
bei der zweiten 49-jährige Pat. mit deutlich hysterisch-psycho-
pathischer Wesensstruktur, vermengt mit mancherlei sensitiven
Zügen, erkrankt zweimal im zeitlichen Zusammenhang mit gewissen,
für sie begreiflicherweise alterierenden exogenen Umständen an
ausgesprochenen Verwirrtheitspsychosen amentiellen Charakters,
die, abgesehen von einem noch bestehenden „‚Residualwahn“
geheilt sind. Körperlich erschöpfende Momente waren bei der
296 Ilse Graf
entsprechend der körperlichen und seelischen Struktur der Pat.
vorhandenen Arbeitsüberlastung mit anstrengender häuslicher
Pflegetätigkeit und fast immer gestörter Nachtruhe ebenfalls
anzunehmen. Wesentlich, daß keine schwere Erschöpfung be-
gründet gewesen wäre, daß auch die verschiedenen Aufregungen,
Alterationen, Sorgen — für sich genommen — für viele gut ertragbar
sein würden, daß jedoch erschöpfende .und seelisch belastende
Umstände sich miteinander kombinierten und schon länger dauerten,
und zwar auch hier wieder auf der Basis einer psychopathischen
Konstitution. Nachuntersuchungen zeigten, daß seit 1934 keine
psychische Erkrankung mehr auftrat, daß hingegen ausgesprochener,
als man zunächst annehmen konnte, die Psychopathie in mancherlei
Äußerungsformen zutage trat. — Gerade jetzt wieder hörten wir,
daß es der Pat. gut gehe.
Wir haben an dieser Stelle aus einer Anzahl von Krankheitsfällen,
die wir beobachteten und als „atypische symptomatische
Erschöpfungspsychosen‘“ bezeichneten, nur zwei Kranken-
geschichten mitteilen können. Das für uns Wesentliche ließ sich
daran wohl zeigen:
Anamnestisch ein Zusammenwirken von Symptomen körper-
licher und seelischer Erschöpfung mit exogenen Einwirkungen
— aufregenden und alterierenden Erlebnissen, Konflikten, lange
dauernden seelischen Belastungen u. dgl. — auf dem Boden einer
psychopathischen Konstitution und schließlich eine heilbare
akute Psychose organischer Symptomatologie.
Diese anamnestischen und symptomatologischen Ge-
sichtspunkte waren Voraussetzung für uns, um diese atypischen
Psychosen als eine besondere Krankheitsgruppe einerseits’von den
echten symptomatischen Erkrankungen und andererseits von
endogenen Psychosen abzugrenzen.
Wir haben bei den hierzu gehörenden Kranken das Erschöpfungs-
moment schen in der Benennung dieser Psychosen besonders
hervorgehoben. Der Grund dafür ist, daß, abgesehen von den in
der Vorgeschichte stets nachweisbaren Erschöpfungsfaktoren,
diese besonders auch symptomatologisch so ausgesprochen waren
und häufig so sehr im Vordergrund standen, daß diese Krankheits-
bilder dann denjenigen, die uns von Ermüdungs- und Erschöpfungs-
zuständen her — von den leichtesten bis zu den schwersten Formen
— bekannt sind, weitgehend ähnelten. Da es sich — die Er-
schöpfungsbestandteile zunächst für sich genommen — in einem
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 297
großen Teil der Fälle nicht um schwerwiegende derartige Einflüsse
handelte, so fragt es sich, ob man berechtigt ist, unsere Erkran-
kungen durchweg als Erschöpfungspsychosen zu bezeichnen.
Es könnte der Einwand erhoben werden, daß unter Umständen,
die besonders zu Erschöpfungen disponieren müßten, wie z.B.
im Weltkrieg, dann sehr ausgesprochene Erschöpfungszustände
und so aufzufassende Psychosenformen hätten nachgewiesen
werden müssen, die jedoch, wie bekannt, obwohl sich ja hier in
vielen Fällen schwerste körperliche und seelische Erschöpfungs-
momente vereinigten, im Kriege kaum beobachtet wurden. Man
weiß auch, daß manche psychopathischen Persönlichkeiten — und
um solche Konstitutionen handelt es sich ja bei unseren Fällen
— außerordentlich viel leisten und ertragen können, ohne er-
schöpft“ zu werden, auch, daß ausgesprochene Hysteriker z. B.
gerade bei schweren körperlichen Anforderungen — besonders,
wenn sie ein Sich-Opfern von ihnen verlangen — nicht selten
ihre sonstigen abnormen Verhaltensweisen aufgeben und sich,
gefärbt durch ihre besondere Konstitution, der vorliegenden
Situation angepaßt zeigen. —
Wir glauben, daß unsere Fälle gerade durch die Kombination
von Psychopathie, körperlicher Erschöpfung und seeli-
schen Alterationen,wobei diese körperlichen und psychi-
schen Belastungen oft schon sehrlange Zeit hindurch vor-
handen sind und dadurch zermürbend auf den Kranken
wirken, doch etwas anders gelagert sind. Die erwähnte Kombi-
nation war natürlich auch im Kriege in vielen Fällen gegeben; jedoch
müssen die Gesamtsituation des Krieges und auch sonstiger Kata-
strophen, sowie der Erlebniswert von derartigen schweren, neben dem
Einzelnen die Masse betreffenden Kriegserlebnissen und der zer-
mürbender Konfliktssituation, lange beim Kranken nachwirkender
Zurücksetzung, jahrelanger schwerer Sorgen usw. als so ver-
schiedenartig angesehen werden, daß keine rechte Vergleichsbasis
besteht. Über die Folge der Erschöpfungseinflüsse im Weltkrieg
und der an sich viel geringgradigeren, jedoch dafür meist lange
schon bestehenden oder immer wieder auftretenden, erschöpfend
wirkenden Momente bei unseren Fällen ist das gleiche zu sagen.
Es fiel auf, daß häufig eine neue körperliche Belastung oder see-
lische Alteration dem Ausbruch der Psychose unmittelbar voraus-
ging. Man hatte dann bei Kenntnis der ganzen Umstände geradezu
das Empfinden, daß in diesem Moment die Resistenzfähigkeit des
Kranken gegenüber seinen Konflikten, Erlebnissen und Er-
schöpfungsmomenten einfach überschritten sei. Man hätte sich
298 Ilse Graf
geradezu zwingen müssen, keinen Zusammenhang zwischen der
Psychose und den vorausgehenden Ereignissen anzunehmen —
zumal nun eben die Symptome im wesentlichen die einer „svm-
ptomatischen Psychose“, vereint mit Äußerungsformen der kon-
stitutionellen Eigenart des Pat., waren.
Die Wesensstruktur der Kranken war stets eine psycho-
pathische. Besonders oft fanden wir sehr ausgesprochen sensitive
Züge, außerdem Neigung zu Verstimmungen, gelegentlich von
jeher leicht paranoide Einstellungen, auch hysterische Beimen-
gungen, welche Besonderheiten der Wesensart dann auch in der
Psychose mehr oder weniger, beim Abklingen derselben meistens
deutlich, zu erkennen waren. Die vorwiegend sensitiv veranlagten
Menschen waren unter unseren Kranken wohl am häufigsten, und
es ist evident, daß gerade sie, die ja auch auf körperliche Schädi-
gungen aller Art sehr oft besonders stark reagieren, die durch
entsprechende körperliche und psychische Einwirkungen rasch
ermüdbar sind, bei dem Zusammenwirken körperlicher Störungen
und seelischer Alterationen leichter als andere in pathologische
Zustände geraten können. Auch Frau M., deren Krankengeschichte
hier an erster Stelle mitgeteilt wurde, ist ein sehr ausgesprochen
empfindsamer, ja übersensitiver Mensch, in stärkstem Maße
beeinflußbar durch selbst geringfügige aufregende Erlebnisse,
sehr wenig widerstandsfähig jedem Schicksalsschlag gegenüber
und körperlich anfällig; bei ihr beobachteten wir eine besonders
charakteristische Form der hier beschriebenen Psychosen. Frau
G., der außerdem dargestellte Fall, war weniger differenziert als
die erste Patientin, galt jedoch als künstlerisch begabt und in-
teressiertt — welch letzteres ebenfalls öfters bei den Kranken
festzustellen war, besonders allerdings bei den auch sonst diffe-
renzierteren unter ihnen. Wir beobachteten überhaupt, daß häufig
gerade geistig sehr rege, begabte, differenzierte Persönlichkeiten
von diesen Psychosen betroffen wurden. Wir verfügen in dieser
Hinsicht über verschiedene Beobachtungen, besonders über einen
sehr ausgeprägten Fall — eine Arztfrau, deren Krankengeschichte
an dieser Stelle leider nicht gebracht werden konnte, da, um das
Wesentliche und Wichtige schildern zu können, eine zu ausführ-
liche Wiedergabe notwendig gewesen wäre.
Da zur Darstellung dieser Erkrankungen und auch zur Ausein-
andersetzung darüber, warum es sich bei ihnen, besonders auch
bei Fällen, die nicht so deutlich und nicht in jeder Phase den
organischen Charakter der Psychose vermitteln, sondern
die streckenweise schizophrenieverdächtige oder auch rein depressiv
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 299
erscheinende Symptome z. B. zeigen können, dennoch um unseren
hier zu schildernden Psychosen zugehörige Bilder handelt, eine
eingehende Erläuterung des ganzen wechselvollen Verlaufs un-
umgänglich ist, eine solche aber bei der Zahl der dafür in Betracht
kommenden Krankengeschichten hier aus Raummangel nicht
möglich ist, so soll die Arbeit demnächst in größerem Umfang
erscheinen.
Es kann hier deshalb nur nochmals allgemein darauf hingewiesen
werden, daß bei sämtlichen von uns beobachteten einschlägigen
Fällen die besonders wichtige Kombination seelischer und körper-
licher Einflüsse ungünstiger oder für den Kranken alterierender
Natur vorhanden war, und daß die Psychosen selbst — die sich
öfters, nicht immer, im Anschluß an eine erneute körperliche
oder seelische Belastung anschlossen — einen organisch-sympto-
matischen Charakter hatten. Trotz vorübergehend auftretender
andersartiger Symptome, die streckenweise ein nicht ohne weiteres
mit dem exogenen Reaktionstypus in Einklang zu bringendes
Krankheitsbild hervorrufen konnten, traten doch stets sehr bald
wieder die organischen Symptome in den Vordergrund und waren
auch während der andersgefärbten, meist nur sehr kurz dauernden
Zwischenphasen bei genauer Beachtung immer zu erkennen. Diese
wesentlichen Bestandteile der Erkrankung traten in so charak-
teristischer Form auf, daßan der organisch-symptomatischen
Natur der Psychose nicht gezweifelt werden konnte.
Es konnten, abgesehen von einer Kranken, sämtliche Patienten
nachuntersucht werden — von der übriggebliebenen hörten
wir durch den Ehemann, daß sie völlig gesund und unauffällig
sei — und es war in allen Fällen völlige Heilung, einwandfreie
Krankheitseinsicht, normale affektive Stellungnahme zur durch-
gemachten Psychose festzustellen, während die schon bei der
Krankheit bekannten oder z. T. vermuteten psychopathischen
Wesenszüge noch klarer als damals sich zeigten.
Es kamen symptomatologisch bei den Psychosen immer
wieder die von Ermüdungs- und Erschöpfungszuständen bekannten
Zeichen zum Vorschein, in manchen Fällen in einem sehr ausge-
sprochenen Maße, so daß streckenweise eine Abgrenzung von
schweren toxischen Zuständen oder echten körperlichen Begleit-
psychosen dem derzeitigen Bild nach nicht möglich war. Es standen
einmal amentielle Symptome im Vordergrund, ein andermal
Störungen des Denkens, der sprachlichen Äußerungen und der
300 Ilse Graf
Motorik, die als organische bezeichnet werden sollen wegen ihrer
besonders auch bei organischen Hirnprozessen beobachteten
Symptomatologie, die jedoch auch in ausgesprochenen Fällen
häufig bei echten symptomatischen Psychosen ebenso wie bei den
von uns hier beschriebenen atypisch-symptomatischen Erkran-
kungen vorkommen.
Bei dem von uns beschriebenen Krankheitsfall der Frau M.
waren neben deutlich amentiellen gerade auch diese organischen
Symptome — hier im Sinne des Perseverierens, stärkster Denk-
verlangsamung, epileptoid erscheinender Umständlichkeit sowie
motorischer Störungen in Form von Iterativbewegungen, Para-
kinesen usw. — sehr ausgeprägt. Außerdem konnte in diesem
Fall eine mehrere Tage dauernde schwerste motorische Unruhe
mit Wälzbewegungen usw. beobachtet werden, die bei der gleich-
zeitigen Rastlosigkeit und Gequältheit der Patientin ganz so wie bei
schweren toxischen Störungen sich zeigte. —
Bei Frau G. waren die amentiellen Symptome noch ausge-
prägter, Erscheinungen einer organischen Bewegungsunruhe nur
geringgradig; es konnte gerade hier bei dieser Patientin eine äußerst
charakteristische amentielle Verwirrtheit mit allen dazu gehörenden,
in der Krankengeschichte wiedergegebenen, Erscheinungsformen
beobachtet werden.
Es waren, wie schon kurz erwähnt, nicht alle von uns beobach-
teten einschlägigen Erkrankungen von vornherein so klar als
symptomatische und mit aller Sicherheit als nicht-endogene
zu erkennen, wie es bei diesen beiden Patientinnen der Fall gewesen
ist. Es gab Kranke, die massiv halluzinierten, wobei dieses Phä-
nomen jedoch so gut wie immer in einer Weise ausdrucksvoll war,
wie es bei schizophrenen Psychosen nur selten beobachtet wird.
Es wurden auch zeitweise kataton anmutende Erscheinungen
beobachtet, sprachliche Entgleisungen, die an Paralogien denken
ließen, bis eine gleichzeitige Inkohärenz erkennbar war, und andere,
für sich mit der symptomatischen Natur der Erkrankung nicht in
Einklang zu bringende Symptome. Diese waren jedoch stets nur
gelegentliche Beimengungen, meistens eingebettet in typisch
organische Bestandteile, sonst rasch wieder durch diese ersetzt,
wobei auch zu erwähnen ist, daß das Gesamtverhalten der Kranken
eigentlich stets, auch bei solchen zunächst hin und wieder zu
Zweifeln und Überlegungen veranlassenden Krankheitsstadien,
extrovertiert, zugänglich oder zum mindesten von außen her
beeinflußbar war, was dann bei einiger Erfahrung allein schon auf
die Diagnose einer heilbaren Psychose hinwies.
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 301
Im übrigen kamen alle Äußerungsformen symptomatischer
Psychosen bei der Gesamtheit der Fälle vor, wie es im einzelnen
dann aus der späteren ausführlicheren Darstellung zu ersehen
sein wird. Hypersensorische Erscheinungen waren gerade bei
diesen Krankheitsformen oft äußerst ausgesprochen, häufig ausge-
prägter als bei echten symptomatischen Psychosen, in einem der
zugehörigen Fälle so ım Vordergrund, daß man die Erkrankung
geradezu als hypersensorische Psychose hätte bezeichnen können.
Die sehr schönen Selbstschilderungen dieses Kranken und auch
anderer Patienten über diese Phänomene müssen ebenfalls später
ausführlich wiedergegeben werden.
Zu erwähnen wäre noch, daß diese Erkrankungen ganz vor-
wiegend bei weiblichen Patienten beobachtet wurden — wie ja
überhaupt alle atypischen Psychosen bei Frauen viel SANlBe
vorkommen als bei männlichen Kranken.
Differentialdiagnostisch wurde der Vergleich mit echten
symptomatischen Psychosen schon gezogen, indem die „sympto-
matischen Bestandteile‘ in den Vordergrund gestellt wurden.
Die oft sehr weitgehende Ähnlichkeit, ja, manchmal Gleichartig-
keit der typischen Psychosen und unserer atypischen Fälle bezieht
sich auf die Symptomatologie. Ein wesentlicher Unterschied liegt
darin, daß bei den echten Formen dieser Erkrankung eine sicher-
gestellte körperliche Grundlage zu fordern ist, die erfahrungs-
gemäß oder auch der Schwere der Störung nach das Auftreten
einer Begleitpsychose verständlich macht, während es sich bei
unseren Fällen — wie ausgeführt wurde — so gut wie immer
um eine Häufung an sich oft geringfügiger körperlicher Affek-
tionen, gemeinsam mit ebenfalls gehäuften oder sehr nachhaltig
wirkenden psychisch alterierenden Momenten, handelt. Ein dritter
wichtiger Bestandteil der Anamnese ist die psychopathische
Wesensstruktur, die bei den von uns beschriebenen Krank-
heitsformen stets vorhanden ist, bei den echten Begleitpsycho-
sen jedoch keine ausschlaggebende Rolle spielt. — An nächster
Stelle ist darauf hinzuweisen, wie häufig die von uns geschil-
derten Psychosen in ihrer Symptomatologie und im Verlauf sich
anderen, ebenfalls atypischen Psychosen näherten, nämlich den
von Kleist und anderen hauptsächlich beschriebenen Degenera-
tionspsychosen. Das jeweilige Zustandsbild war gelegentlich
nicht von dem einer Degenerationspsychose zugehörenden zu
unterscheiden, und unser vollständiges Material enthält Fälle,
in denen man der Symptomatologie und dem Verlauf der Er-
krankung nach sehr zweifeln konnte, ob man dieselbe nicht den
302 Ilse Graf
Degenerationspsychosen zurechnen mußte, so daß dann nur aus
der Anamnese die Entscheidung zu fällen war. Eine genaue Dar-
stellung der Beziehungen unserer Krankheitsformen zu den Degene-
rationspsychosen und eine Beweisführung, daß solche vorhanden
sind, und zwar oft weitgehend, ist nur bei Darlegung unseres
vollständigen Materials möglich, so daß dann an dieser Stelle noch
näher darauf eingegangen werden soll. Aus der hier wiedergegebenen
Krankengeschichte der Frau M. ist wohl schon zu ersehen, wie sehr
die besondere Form der Bewegungsunruhe dieser Kranken zu
einem Vergleich mit den Motilitätspsychosen veranlaßte, so wie es
auch bei einem Teil der anderen Fälle vorwiegend die motorischen
Erscheinungen waren, die Bilder, wie wir sie sonst von den Degene-
rationspsychosen her kennen, hervorriefen. Auch wir beobachteten
einige Male mehrere Psychosen, wobei anamnestisch auch wieder
die hier wesentlichen körperlichen und seelischen Erschöpfungs-
momente nachgewiesen werden konnten, die Frage einer evtl. perio-
dischen Degenerationspsychose jedoch besonders nahe lag.
Aus welchem Grunde wir der Ansicht sind, daß die in Frage
stehenden Erkrankungen von endogenen Psychosen zu trennen
sind, wurde in den bisherigen Erörterungen über Genese und
Symptomatologie dieser Krankheitsformen schon ausgedrückt.
Es war einige Male eine zirkuläre Belastung nachweisbar, einmal
mit Epilepsie und ebenfalls nur in einem der Fälle mit Schizo-
phrenie, die einen Vetter dieser Pat. betroffen hatte. Depressive
Beimengungen der Psychosen waren, ebenso wie bei den echten
symptomatischen Formen, häufig vorhanden, desgleichen auch von
der Schizophrenie her bekannte Symptome, was jedoch auch bei
den sonstigen symptomatischen Psychosen, sowie bei den Degene-
rationspsychosen, nicht ungewöhnlich ist. Gerade Kleist betont mit
Recht, daß man auf einzelne schızophrene Symptome innerhalb
atypischer Psychosen keinen besonderen Wert legen soll, sondern
daß dabei im wesentlichen der Verlauf entscheidet, wofür ja seine
Erfahrungen bei Degenerationspsychosen sprechen. Eigene Be-
obachtungen an der Kleistschen Klinik vermittelte die Bekannt-
schaft mit einigen derartigen Kranken, die anfangs ein ganz schizo-
phrenes Zustandsbild boten und dann später, bei katamnestischer
Nachforschung über viele Jahre, ja Jahrzehnte hinaus, mit Sicher-
heit nicht als Schizophrene anzusehen waren.
Bei der Nachuntersuchung unserer eigenen Patienten, öfters viele
Jahre später, zeigte sich niemals ein Anhaltspunkt für eine Per-
sönlichkeitsveränderung im schizophrenen Sinne. Die Kranken
waren geheilt, hatten meist nur lückenhafte Erinnerung an die
Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen 303
Psychose und schilderten die Symptome, deren sie sich noch ent-
sinnen konnten, so, daß man auch daraus nachträglich noch die
symptomatische Form der durchgemachten Erkrankung erkennen
konnte — auch bei Fällen, die zeitweise reichlich schizophrenie-
verdächtige Erscheinungen geboten hatten.
Vielleicht hat sich auf dem Wege dieser vorläufig nur kurzen Aus-
führungen bei Verwendung von nur zwei einschlägigen Fällen doch
einigermaßen zeigen lassen, was das Charakteristische der von uns
beobachteten atypischen Psychosen ist, und warum wir sie als eine
besondere Form von Erschöpfungspsychosen auffaßten.
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz
Von
D. Miskolezy und H. Csermely
(Aus dem Institut für Hirnforschung der Universität in Szeged)
(Mit 8 Abbildungen auf 6 Tafeln)
Seitdem die Zahl der klinisch-anatomisch genau durchforschten
Fälle der Pickschen Krankheit beträchtlich gewachsen ist, sind
wir mit Erfolg bestrebt, diese Demenzform schon im Leben zu er-
kennen. Zu einer Bestätigung der klinischen Frühdiagnose kann
uns die Encephalographie (Bumke, Miskolezy, Lemke u. a.), gege-
benenfalls auch in Kombination mit der Arteriographie (Benedek
und Horanyi) verhelfen; mit diesen Untersuchungsmethoden können
wir im Röntgenbild die umschriebene Atrophie gewisser Gehirnteile
leicht nachweisen. Mit der Verfeinerung unserer Differentialdiag-
nostik mehren sich auch die Berichte über atypische Erscheinungs-
formen, wie z. B. über Manifestation der Krankheit in allzu frühen
Lebensdezennien oder im späten Greisenalter, über rapiden oder lang
hingezogenen Verlauf, Beimischung schizophrener Krankheitszüge
zu den bekannten psychischen Ausfällen, Hinzutreten von ver-
schiedenen neurologischen Symptomen zum Verblödungsprozeß usw.
Unser unten zu beschreibender Fall verdient aus dem Grunde
eine Veröffentlichung, weil der eigentümliche klinische Verlauf ın
einer atypischen Lokalisation des Prozesses eine Erklärung fand.
Der Kranke, J. Süli, stand seit 27. 11. 1931 bis zu seinem Tode am 18. 10.
1936 in unserer klinischen Beobachtung.
Zur Zeit der Aufnahme war er 64 Jahre alt. Nach Angabe der Frau
war die Mutter des Kranken geisteskrank, sonst kamen in der Familie keine
Nerven- oder Geisteskrankheiten vor. Heirat mit 27 Jahren. 3 gesunde Kinder.
Bis zum Beginn des Weltkrieges war der Kranke ein sehr fleißiger, arbeit-
samer Landwirt und guter Familienvater. Während des Weltkrieges hat er
Kriegsdienst geleistet. Er war schon 50 Jahre alt, als er vom Kriegsschauplatz
zurückkehrte. Damals fiel es den Angehörigen auf, daß er gleichgültig, wort-
karg wurde, auf Fragen keine Antwort gab, daß seine Sprache unverständlich
war. Ähnliches haben auch schon seine Kameraden im Felde an ihm bemerkt.
Der Kranke ist Rechtshänder.
e oo
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 305
Der geistige Verfall schritt seither allmählich fort. Zur Zeit der Aufnahme
(1931) reagiert er nicht mehr auf Anreden. Er ist sehr gefräßig, verzehrt alles,
was er in die Hände bekommt, auch wenn es ungenießbar ist. Er hat alle
Arbeiten, die er früher gut verrichten konnte, vergessen. Neulich wollte er
mit der Sense Holz sägen.
Befund. Pupillenränder etwas unregelmäßig, träge Lichtraktion. Sonst
neurologisch nichts bemerkenswertes. Wassermann im Blut und Liquor:
negativ. Liquorbefund auch sonst völlig negativ. Blutdruck 140 Hg mm.
Muskeltonus, Reflexe normal.
Der Kranke versteht keine Fragen und Aufforderungen, reagiert auch auf
Schimpfworte nicht. Auf unerwartete starke Geräusche zuckt er zusammen.
Einige Befehle werden nachgesprochen, ohne verstanden zu werden. Auf
Winken mit der Hand nähert sich der Kranke uns. Sonstige Ausdrucksbewe-
. gungen werden nicht begriffen. Die Gegenstände werden nicht mit Namen
genannt. Sich selbst überlassen sitzt er stundenlang wortlos auf der Bank.
Stehende Redensarten: „No also, soso, arg ist es.“ In die Hand gelegte Zigarette
und Zündhölzer schaut er gleichgültig an. Das angezündete Streichholz hält
er solange in der Hand, bis die Finger angebrannt werden. Das Eßbesteck
wird richtig gehandhabt; die Kleider zieht er sich richtig an, die Knöpfe
knöpft er zu.
Gegenüber der Untersuchung benimmt er sich meistens gleichgültig. Nur
dann widersetzt er sich, wenn er angefaßt wird. Beim Versuch einer Röntgen-
aufnahme wird er jedesmal so aufgeregt, daß die Röntgenuntersuchung erst in
leichter Narkose ausgeführt werden kann. Die Stereognose kann nicht geprüft
werden. Das Gesichtsfeld scheint, soweit es sich beurteilen läßt, frei zu sein,
den Hindernissen weicht er aus. Wenn wir den Augen einen spitzen Gegen-
stand nähern, so führt er Fluchtbewegungen aus. Wünsche, Hunger äußert
er nicht; die ihm vorgesetzten Speisen werden — mit Hilfe des Eßbestecks
— verzehrt. — Der Kranke ist sehr unrein.
14.10.1933. Der geistige Verfall schreitet fort. Auch die nächsten Ange-
hörigen werden nicht mehr erkannt. In der häuslichen Pflege aß er alles auf,
was er erblickte. Im Garten verzehrte er die Blätter der Pflanzen, in der Küche
die Seife, den Waschlappen. Gewisse zielbewußte Handlungen konnte er doch
ausführen: z. B. öffnete er die abgesperrte Tür der Speisekammer mit Gewalt.
Wurde das Gartentor geschlossen, um ihn am ziellosen Herumschweifen zu
verhindern, so hat er den Zaun abgerissen. Sonst konnte er keine geordnete
Handlung mehr ausführen, nicht einmal zum Wassertragen war er zu gebrau-
chen.
31.1.1934. Der Patient ist ganz wortlos, gleichgültig, nimmt alles in den
Mund. Beim Waschen will er immer die Seife aufessen. Die Kleider kann er
nicht mehr allein anziehen. Gelegentlich ist der Greifreflex an beiden Händen
auszulösen. Keine Lähmungen oder sonstige Störungen des Muskeltonus.
Auf Grund der oben geschilderten Symptome dachten wir an
eine Form der Pickschen Krankheit, bei der die hochgradige
Schrumpfung der Parietallappen mit jener des Stirnhirns einher-
geht. Zur Lokalisation konnten die schwere Verblödung, das Fehlen
der Initiative, das allmähliche Stummwerden, die hochgradige
Störung des Sprachverständnisses, die stereotypen Wortwieder-
holungen (stehende Redensarten) verwertet werden. Das Fehlen
20 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110, H. 1/3.
306 D. Miskolczy und H. Csermely
der Logoklonie ließ den Verdacht auf Alzheimersche Krankheit
ausschließen.
Bei der Luftfüllung des subarachnoidalen und ventriculären Raumes
(Abb. 1) konnte eine bedeutende Schrumpfung des Schläfen- und Stirnhirns
sowie ein beträchtlicher innerer Hydrocephalus nachgewiesen werden 1).
Im Verlaufe der weiteren klinischen Beobachtung sind noch folgende
Symptome erwähnenswert.
24. 9. 1934. Völliges Fehlen der Initiative. Lebhafter Saugreflex. Bei der
Untersuchung des Muskeltonus ist ein am wiederhołten Bewegungsversuche
immer stärker werdendes Gegenhalten (Kleist) an den Extremitäten fest-
zustellen.
Bald wird auch der Greifreflex beider Hände konstant. Auch die
Halsmuskeln zeigen ein Gegenhalten.
31. 8. 1934. In allen Extremitäten ist eine starke Muskelspannung gegen
passive Bewegungen zu vermerken. Keine Symptome einer Pyramiden-
bahnläsion, pathologische Reflexe, Muskelcloni sind nicht nachweisbar.
Oraler Einstellreflex. Die in den Mund gelegten Speisen werden so gierig ver-
schluckt, daß er dabei oft kaum Luft bekommt. Koprophagie. Sitzt den ganzen
Tag wortlos, mit gerunzeltem, ausdruckslosem Gesicht.
Am Ende 1935 beginnt sich eine Flexionskontraktur an der rechten Hand
und am rechten Arm auszubilden. Später ist auch die Hypertonie des rechten
Fußes mehr ausgesprochen. Beim Gehen schleppt er den rechten Fuß nach.
Keine pathologischen Reflexe.
Das Eßbesteck kann er nicht mehr allein benutzen. Gegenstände, die ihm
in die Hand gegeben werden, führt er gleich zu seinem Mund. Auf den Tisch
gelegte Speisen werden mit der Hand nicht mehr angerührt, nur kommt er
immer den Speisen mit dem Mund nahe. Wenn ihm Gegenstände von einer
Entfernung von 40—50 cm gezeigt werden, so will er sie mit dem Mund er-
fassen. Auch nach einer brennenden Kerze schnappt er mit dem Mund. Nähern
wir den Finger seinen Augen, so macht er keine Fluchtbewegungen, sondern
will den Finger in den Mund nehmen. Sich selbst überlassen lutscht er ununter-
brochen an den Fingern seiner linken Hand. Ertönt hinter seinen Ohren ein
starker Knall, so fährt er zusammen.
25. 6. 1936. Er kann nicht mehr allein gehen. Beim Stehen ohne Hilfe fällt
er nach rechts. Die Kontrakturen der rechten Extremitäten schreiten fort, die
Finger sind zur Faust geballt, diese Flexionskontraktur kann passiv nicht mehr
ausgeglichen werden. — Gesteigerte Reflexe. Rechts fehlen die Bauchdecken-
reflexe. Kein Babinski, keine sonstigen pathologischen Reflexe. Kein Clonus.
Gesteigerter Muskeltonus am ganzen Körper. Der Kranke ist völlig verstummt.
Auch die ‚‚stehenden Redensarten‘ wurden nicht mehr geäußert. Exitus am
18. 10. 1936 infolge Bronchopneumonie nach 5jähriger klinischer Beobachtung
und nach ungefähr 18jähriger Dauer der Krankheit.
Innerhalb von 2 Jahren wurde also die Verblödung noch tiefer.
Es erloschen alle spontanen psychischen Äußerungen. Die Greif-
reflexe und der Schnappreflex wurden konstant, es bildete sich
eine progressive Versteifung der Gesamtmuskulatur aus. Das an-
1) Vgl. die klinische Mitteilung des Falles von Miskolezy: Die Erkennung
der umschriebenen Großhirnatrophie. Magyar Rgt. Közlöny 1934. H. 1—2.
Tafel IX
Abb. 1. Encephalogramm. Im Gebiet des Schläfen- und Stirnlappens und in der Sylvi-
schen Furche beträchtliche Luftansammlung. Erweiterte Seitenkammer
Abb. 2. Infolge der hochgradigen Erkrankung des Temporalpols ist die Sylvische Fissur
klaffend, wodurch die Inselwindungen sichtbar werden SS" `
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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu D. Miskolezy und H. Csermely ‚Einatvpischer Fall von Pick-
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 307
fängliche Gegenhalten bei passiven Bewegungen wandelte sich in
eine allgemeine Rigidität und später in eine spastische Kontraktur
der rechten Seite um. Es ist besonders hervorzuheben, daß während
der ganzen Beobachtungszeit keine epileptiformen oder apoplekti-
formen Anfälle vorkamen. Auch die rechtsseitige Hemiparese bildete
sich beim rechtshändigen Kranken äußerst langsam aus. Zu be-
tonen wäre es noch, daß pathologische Reflexe, die auf eine Mit-
beteiligung der Pyramidenbahn hingewiesen hätten, bis zum Tod
weder an der rechten, „spastisch-paretischen‘‘, noch an der linken,
„rigiden‘‘ Körperseite ausgelöst werden konnten.
Pathologisch-anatomischer Befund. Das Gehirn ist im
ganzen verkleinert, es wiegt unfixiert 970 g. Die Gehirnhäute sind
an der Konvexität mäßig verdickt, gräulich-weiß, leicht ablösbar.
Die Atrophie der linken Hemisphäre ist stärker als jene der rechten.
Nach Abtrennung des Mittelhirns mitsamt dem Rhombencephalon
wiegt die linke Hemisphäre nach Formolfixierung 360 g, die rechte
dagegen 460 g, die linke ist also um 100 g leichter als die rechte.
Die linke Gehirnhälfte wiegt bei der Pickschen Krankheit nach
v. Braunmühl durchschnittlich um 52 g weniger als die rechte.
Am stärksten ist das linke Schläfenhirn atrophisch (Abb. 2),
dann folgen die rechte Temporalgegend, das Stirnhirn und die
Windungen des Lobulus parietalis inferior. Die Zentralgegend,
besonders der rechten Seite, sowie der Okzipitalpol scheinen am
atrophischen Prozeß nicht teilzunehmen.
Infolge der hochgradigen Schrumpfung des Schläfenhirns ist
die Sylvische Furche klaffend, so daß die Inselwindungen, die
alle atrophisch sind, frei sichtbar werden (vgl. Abb. 2). Bemerkens-
wert ist das relative Verschontsein des mittleren Drittels der
ersten Schläfenwindung und der Heschlschen Windungen. Sehr
verschmälert ist auch die 2. und 3. Temporalwındung, ihnen folgen
der G. fusiformis und hippocampi. Die Atrophie der Frontal-
windungen ist ebenfalls ziemlich fortgeschritten. Sie ist hier gleich-
mäßig sowohl an der Konvexität als auch an der Orbitalfläche;
die Furchen sind überall klaffend. Es ist bemerkenswert, daß die
Schrumpfung besonders an der linken Hemisphäre nicht so scharf
an den Zentralwindungen absetzt, wie wir es sonst bei der Pickschen
Krankheit zu sehen gewohnt sind, sondern allmählich auch auf
diese übergreift. Die hinteren Zentralwindungen, der Lobulus
parietalis superior, und der Okzipitalpol sind am meisten verschont.
Das Überwiegen der Atrophie an der linken Gehirnhälfte ist
aus der Pathologie der Pickschen Krankheit genügend bekannt,
wenn sie auch in diesem Falle ganz exzessive Grade aufweist. An
20°
308 D. Miskolczy und H. Csermely
der weniger atrophischen rechten Hemisphäre sind auch die
Zentralwindungen besser erhalten.
An den Frontalschnitten der Hemisphären ist eine deutliche
Verschmälerung der Rinde der atrophischen Windungen und die
Reduktion des Markkörpers der ergriffenen Gebiete, die Ab-
plattung beider Nuclei caudati, die Volumreduktion der übrigen
zentralen grauen Kerne, die hochgradige Atrophie des Sehhügels
und eine deutliche konsekutive Erweiterung der Seitenkam mern
zu verzeichnen.
Das Kleinhirn ist im ganzen etwas kleiner, zeigt aber keine
Atrophie seiner Windungen.
An den etwas atrophischen Hirnschenkeln ist eine deutliche
Asymmetrie festzustellen. Der linke Pes pedunculi ist bedeutend
schmäler und etwas abgeplattet (vgl. Abb. 7).
Die Gefäße der Hirnbasis sind dünnwandig, an ihrer inneren
Fläche sind nur spärliche mohn- und kleinlinsengroße, platte,
buttergelbe Flecke zu sehen.
Das atrophische Zentrum, die Stelle der stärksten Atrophie ist
also der Temporalpol, dann folgen die Insel, die Frontalrinde und
der Lobulus parietalis superior. Der makroskopische Befund weicht
daher vom klassischen Bild dadurch ab, daß die am Temporal-
und Frontalpol betonte Atrophie gleichmäßiger sich auf das Ge-
hirn ausdehnt. Diese Erscheinung, die übrigens in der Literatur
schon bekannt ist (v. Braunmühl, E. Becker) wäre mit dem Alter
des Patienten (69 Jahre) in Zusammenhang zu bringen. Zu der
endogenen, krankhaften Atrophie des Gehirns hat sich noch eine
mehr gleichmäßig umschriebene Volumreduktion infolge der all-
gemeinen, physiologischen senilen Involution addiert.
Die Asymmetrie der Hirnschenkel wird bei Besprechung des
mikroskopischen Befundes eingehend gewürdigt.
Der mikroskopische Befund stimmt im wesentlichen mit
dem bekannten Prozeß der Pickschen Gehirnatrophie überein.
Es wäre aber vorweg zu erwähnen, daß die sehr charakteristischen sog.
Alzheimerschen Kugeln mit den Methoden von Bielschowsky, v. Braunmühl,
Alzheimer- Mann und Mallory nicht nachgewiesen werden konnten. Ihr Fehlen
spricht aber überhaupt nicht gegen die Diagnose der Pickschen Krankheit,
weil das Vorhandensein dieser sonst sehr bezeichnenden Degenerationsgebilde
der Nervenzellen bei kaum einem Drittel der in der Literatur dargelegten Fälle
vermerkt wird (van der Heide).
Als ein weiteres Negativum ist hervorzuheben, daß mit der Bielschowskyschen
und vr. Braunmühlschen Imprägnation keine einzige Alzheimersche Fibrillen-
veränderung und sog. senile Plaque zur Darstellung gelangte. Es steht zwar
fest, daß diese pathologischen Veränderungen nicht zum mikroskopischen
Gesamtbilde der Pickschen Krankheit gehören, — wenn auch ihr spärliches
Tafel X
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Abb. 4. In der Area TA des Temporallappens ist die Rindenstruktur verhältnismäßig
gut erhalten. — Die vordere Zentralwindung (FA) der rechten Hemisphäre ist bezüglich
der Schichtenanordnung ziemlich intakt. Nissibild. 80 x
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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu D. Miskolezy und H. Csermely ‚‚Einatypischer m vonPicksch:
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Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 309
Vorkommen gelegentlich beobachtet wurde, — doch verdient diese Feststel-
lung aus dem Grunde betont zu werden, weil Gellerstedt unter 50 Normalfällen
von hochbetagten Individuen in 42 Plaques und in 41 Alzheimersche Fibrillen-
veränderungen fand.
Die dritte negative Feststellung ist das Fehlen jeglicher gefäßbedingten
Gewebsdestruktion. Im ganzen Gehirn waren keine vasogenen Lichtungen,
Erbleichungen, oder gar gröbere Veränderungen, wie Erweichungen, Blu-
tungen oder Zysten, festzustellen.
Die charakteristischen cytoarchitektonischen Störungen der
Großhirnrinde möchten wir kurz an Hand von einigen typischen
Stadien schildern.
1. Das Endstadium unseres Falles findet man am Temporalpol der
linken Gehirnhälfte, wo an der hochgradig verschmälerten Rinde die laminären
Grenzen vollkommen verwaschen sind. Der Kernreichtum der Rinde wird
von der Lamina molecularis bis zur Marksubstanz durch die Proliferation aller
Gliaarten verursacht, wodurch der hochgradige Ausfall der Nervenzellen
gewissermaßen verdeckt wird. In der IIIb. sind einige atrophische Pyramiden-
zellen noch vorhanden. Die untere Körnerschicht, sowie die subgranulären
Zellagen enthalten noch zahlreiche gesunde Nervenzellen.
2. Zum beschriebenen Stadium gelangte die Rinde durch eine Zwischen-
phase, in welcher die einzelnen Schichten noch mit Mühe zu erkennen sind,
die supragranulären Zellagen hochgradig ausgefallen sind (vergl. Abb. 3.
TG der rechten Hemisphäre), mit Ausnahme der etwas verschonten Illa.
Auf dieser Stufe steht die Erkrankung des rechten Temporalpols, der übrigen
Temporalwindungen mit Ausnahme der TA-Region, des Gyrus fusiformis.
Durch die Vermehrung der Gliaelemente ist der ganze Rindenquerschnitt
dicht mit ihren Kernen übersät, und besonders die Lamina molecularis fällt
durch ihre abnormen Kernschichten auf.
3. Als eine Vorstufe zum obigen cytoarchitektonischen Befund
kann das Zellbild des Frontalpols betrachtet werden (Abb. 3, FE). Die Rinde
ist sehr schmal, besonders bezüglich der supragranulären Schichten, doch ist
das Zellbild gewissermaßen leer: die Nervenzellen sind nämlich schon stark
rarefiziert und die Proliferation der Glia erreichte noch keine höheren Grade.
Zu diesem Typ gehören außer dem Frontalpol die Orbitalwindungen, die
anderen Teile der Frontalrinde, die Area supramarginalis, angularis, und die
Inselrinde.
4. Die makroskopisch verhältnismäßig verschonten Gebiete
sind in cytoarchitektonischer Hinsicht nicht intakt. Man kann sagen, daß wir
in unserem Falle ein vollkommen gesundes Rindenbild nicht sahen. Überall
war eine mehr oder minder ausgesprochene Gliakernvermehrung, bzw. diffuser
Untergang der Nervenzellen durch Atrophie, Schwund oder Neuronophagie
festzustellen. Doch sind die einzelnen Schichten schon bedeutend breiter, wenn
auch ihr Zellbestand durch diffuse oder umschriebene Lichtungen verringert
ist. Als Beispiel einer mäßigen architektonischen Störung möchten wir den
Zustand der TA-Formation ansehen (Abb. 4), wo die deutliche Lichtung der
Schicht II mit der beginnenden Gliavermehrung der I. verglichen werden
kann.
5. Eine gewisse Annäherung zum Normalbilde finden wir endlich in
den Zentralwindungen (besonders rechts), im oberen Parietalläppchen, und
im Occipitalpol (vgl. Abb. 4, FA).
310 | D. Miskolczy und H. Csermely
Die infragranulären Schichten sind überall besser erhalten, wie es seit
den cytoarchitektonischen Untersuchungen von Onari und Spatz wiederholt
festgestellt wurde.
Das Verhalten der motorischen Rinde verdient eine nähere Be-
trachtung. In der linken, vorderen Zentralwindung sind die Betzschen Zellen
hochgradig rarefiziert, viele sind geschwollen mit seitlich verlagertem Kern.
Dasselbe Bild wiederholt sich, aber in mäßigeren Graden, im mehr verschon-
ten rechten FA-Gebiete.
Die Riesenpyramidenzellen zeigen das Bild der Nissischen primären Reizung
(vgl. Abb. 5 bei b), oft mit Einbuße der Pyramidenform, Kernverlagerung
und einem peripheren Schollenkranz. Der Zelleib wird durch eine dunkelblau
gefärbte homogene Masse ausgefüllt.
Der Kern ist atrophisch, deformiert. Neben den Schwellungsformen liegen
hier und da auch neuronophagische Restknötchen von Gliazellen (Abb. 5
bei a), welche gewiß eine der Möglichkeiten des Zellunterganges in der Lamina
ganglionaris darstellen. Es findet also ein Untergang der Ursprungszellen der
Pyramidenbahn statt. Auf diesen Befund müssen wir noch später zurück-
greifen.
Das Striatum ist im ganzen atrophisch, mit einer beträchtlichen Glia-
proliferation. Die kleinen neuronalen Elemente sind anscheinend in normaler
Anzahl vorhanden, die großen Zellen sind etwas rarefiziert. Im Globus pallidus
ist kein auffallender Zelluntergang zu vermerken. Die Thalamuskerne bieten
das gewohnte Bild der sekundären Atrophie.
Die melaninhaltigen Nervenzellen der Substantia nigra sind an Zahl
mäßig verringert. Die Zellen erleiden zweierlei pathologische Veränderungen
(Abb. 6). 1. Es spielt sich in den meisten Zellen ein DepigmentierungsprozeB
ab. Das Melanin der Zellen geht allmählich verloren, dabei erscheint dieses
Pigment frei im Gewebe oder in Gliazellen einverleibt. 2. Zugleich erleiden
die Zellen eine Schwellung, welche der Nissischen axonalen Reizung ähnlich
aussieht.
Das Kleinhirn ist in den Prozeß nicht einbezogen worden. Auch der
Hypothalamus ist weitgehend intakt.
Dagegen finden wir in der Brücke und im verlängerten Mark des
öfteren Neuronophagien, Gliaknötchen in unregelmäßiger Verteilung. Auch
einige Zellen des Locus coeruleus zeigen den Vorgang der Depigmentation.
Ein auffallender Befund ist die Häufigkeit der Schwellungsformen im
Sinne der Nissischen primären Reizung. Sehr viele geschwollene Zellen sahen
wir in den Brückenkernen, im Nucleus arcuatus, in den Goll- und Burdach-
schen Kernen, ferner im Nucleus reticularis tegmenti und im Nucl. lateralis
med. oblongatae.
Im Rückenmark fanden wir diese Schwellungsformen an den großen
Neuronen im Apex und Collum des Hinterhorns sowie im Gebiet der Clarke-
schen Säulen, wo aber auch sonst gewöhnlich viele Zellen an das Bild der
Nissischen Schwellung erinnern. Doch scheint die Zahl dieser krankhaft
veränderten Zellen den normalen Zustand zu überschreiten. Dagegen sind
die Kernsäulen des Vorderhorns im ganzen Rückenmark weitgehend intakt,
ohne Verringerung ihrer Neurone.
Im Imprägnationsbild (Bielschowsky) ist als charakteristischer Befund die
diffuse Verteilung der feinkörnigen Degeneration der intrazellulären Fibrillen
zu erwähnen, wie es schon von H. Richter festgestellt wurde (1918).
Tafel XII
b
5 . 2. — “
Abb. 5. Lobulus paracentralis der rechten ITemisphäüre. a: Neben einer müBig ge-
schwollenen Betzschen Zelle mit hochstehendem Kern belindet sich ein Gliaknötchen
mit Resten der ehemaligen Riesenpyramidenzelle. —- b: Betzsche Zelle mit hoch-
gradig geschwollenem, deformiertem Zelleib, seitlich verlagertem, zusammenge-
knicktem Kern und peripherem Schollenkranz. In der Mitte der Zelle liegt cine
dunkelblau gefärbte homogene Masse. Nisslbild. 5300 x
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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu D. Miskolczy und H. Csermely „Ein atypischer Fallvon Plekscher Demenz‘
Voerine von Walter de Gruvtor & Caoa Rerin W 07
Tafel XII
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Abb. 6. Depigmentierungsvorgang in der Substantia nigra. Y.inige Zellen sind geschwollen
(c,e,f). Der Kern ist meistens seitlich verlagert (a,c, f), deformiert, pyknotisch, oder
mit Falten versehen (b). Die Melaninschollen sind in einigen Zellen hochgradig ge-
schwunden (c, d), in anderen Neuronen in eine umschriebene Stelle der Zelle verdrängt
(a, e). Nissibild. 600 >».
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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu D. Miskolezy und H. Csermely ‚‚Einatypischer Fallvon Pickscher |
Vorlar vnan Walter le Ürnvtaor & Ca HRarlin W RA
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Tafel XIV
N
p]
Abb. 7. Der linke Hirnschenkelfuß ist bedeutend verschmälert. Im Bereiche der Pyra-
midenbahn ist eine deutliche Lichtung des Markbildes zu sehen, aber auch die am Um-
fang mäßiger reduzierten fronto- bzw. temporopontinen Bahnen sind etwas markarm ge-
worden. — Bemerkenswert ist noch die Verschmälerung der Substantia nigra und Ver-
kleinerung des roten Kerns auf der linken Seite. Die Atrophie des letzteren ist wohl als
Folge der Rindendegeneration anzusehen. Die aus dem linken roten Kern entspringende
(Weisschedel) zentrale lIlaubenbahn ist — wie an kaudaleren Schnitten feststellbar — bis
zu ihrer Einmündung in die gleichseitige untere Olive mäßig aufgehellt. Weigertbild. 3 x
D ' Abb. 8. Weigertprä-
parate. a: verlän-
gertes Mark. Das
linke Pyramiden-
bündel ist sehr
schmal und mark-
arm. b: Halsan-
schwellung. Im
rechten Seiten-
strang ist im Be-
reich der gekreuz-
ten Pyramide ein
starker Markausfall
zu sehen. Mäßig auf-
gehellt sind: dasGe-
biet der gekreuzten
Pyramide im lin-
ken Seitenstrang,
femer beide direk-
ten corticospinalen
Bündel in den Vor-
dersträngen. Infolge
der zufälligen unvoll-
ständigen, asym-
metrischen Teilung
der gekreuzten und
direkten Bündel
sind die direkten
Pyramidenfaszikel
in den Vordersträn-
gen nicht gleich-
stark, das linke,
direkte Bündel ist
ganz schmal, es
liegt in der Nähe
h : der vorderen Kom-
ES iad ts ». y missur. c: Lenden- 7
4 mark. Beide Pyraz4j '
midenseitenstrang
>
b
bündel sind merklich gelichtet, das rechte, aus der linke m6eazsdäanhmrhdle) @tüicker. 3
+
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 110. Zu D. Miskolezy und H. Csermely ,,Ein atypischer Fall von Picks
Digitized „Google
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 311
Mit der Sudanfärbung konnten wir eine sehr ausgedehnte hochgradige
Verfettung der Nervenzellen sowie überall eine mäßige perivaskuläre Lipoid-
ablagerung feststellen. Wir möchten aber gleich hier betonen, daß im Mark-
lager der stark atrophischen Rindengebiete sowie im Markkörper der vorderen
Zentralwindung, wo doch die Betzschen Zellen im Abbau gefunden wurden,
keine floride Markscheidendegeneration mit Hilfe der Sudanreaktion nach-
gewiesen werden konnte.
Mit der Markfärbung von Spielmeyer stellten wir das erwartete Bild des
Markschwundes fest, welcher mit dem cytoarchitektonischen Abbau gleichen
Schritt hält. Im Bereiche der schwersten Atrophie sind alle Faserschichten
hochgradig rarefiziert, das supraradiäre Flechtwerk ist verschwunden, das
intraradiäre hochgradig rarefiziert, und auch die Markstrahlen sind dünner
geworden.
Im Striatum ist kein Status fibrosus, im Pallidum keine namhafte De-
myelinisation wahrnehmbar.
Die Ersatztätigkeit der Glia ist überall sehr lebhaft, wie es mit Hilfe der
Holzerfärbung nachzuweisen ist: ein starker gliöser Faserfilz befindet sich
in den oberen Rindenschichten und eine dichte Gliose überall im Marklager
und den angrenzenden Zellschichten.
Nun möchten wir unsere Aufmerksamkeit den Folgen zuwenden,
welche die Erkrankung der Betzschen Zellen nach sich ziehen.
Es läßt sich eine deutliche sekundäre Degeneration der Pyramidenbahn von
der linken inneren Kapsel, durch den Pes pedunculi (Abb. 7), Brücke, das
verlängerte Mark (Abb. 8 b, c) verfolgen, wie dies nicht nur die mit Sudan-
färbung nachweisbaren Lipoidschollen in der ganzen Länge der Bahn, sondern
auch die beträchtliche Lichtung an den entsprechenden Bahnstellen im
Weigertbild eindeutig beweisen.
Aber auch die andere corticospinale Bahn, die ihren Ursprung aus der
rechten vorderen Zentralwindung nimmt, ist nicht völlig intakt. Nur ist die
schwache Marklichtung dieses Faserbündels erst im Halsmark bemerkbar
und von da an bis zum Lumbalmark zu verfolgen. Während aber in der
Pyramidenbahn aus der linken Gehirnhälfte der lebhafte Abbau sich im
Lipoidstadium befindet, sind im Bereich der kontralateralen Pyramide nur
sehr spärliche Spuren eines lipoiden Abbauprozesses zu bemerken. Nur hier
und da sehen wir degenerierende Markscheiden und perivaskuläre Lipoid-
anhäufung.
Die genaue Betrachtung des Markbildes in der Zervikalanschwellung
(Abb. 8 b) ergibt noch folgendes. Offenbar ist in unserem Fall die Verteilung
der direkten und gekreuzten Pyramidenbündel eine ungleiche gewesen, denn
der gelichtete Bezirk der Vorderstrangpyramide der rechten Rückenmarks-
hälfte, welche ihre Fasern aus der rechten Hemisphäre enthält, ist viel größer,
als jenes der linken Rückenmarks- und Gehirnhälfte. Mit anderen Worten,
im hochgradig gelichteten Bereich des rechten Seitenstrangs und im kleinen,
mäßig aufgehellten Gebiet im linken Vorderstrang nahe an der ventralen
Kommissur, verläuft die aus der stärker affizierten linken Hemisphäre stam-
mende Pyramidenbahn. Der ganz schwach erkrankten corticospinalen Ver-
bindung aus der rechten Zentralwindung entspricht der mäßig gelichtete
dreieckige Bezirk im linken Seitenstrang, und der deutliche Markschwund
in der medialen Seite des rechten Vorderstranges.
Die Pyramidenbahn ist also in unserem Falle in ungleichem Maße affiziert.
Die Affektion des betroffenen Systems ist wohl bilateral, aber asymmetrisch,
312 D. Miskolezy und H. Csermely
um uns mit Spatz auszudrücken. Die Asymmetrie, welche im verschiedenen
Tempo des Abbaues ihre Erklärung findet, kommt besonders schön am Quer-
schnittsbild des Mittelhirns zum Ausdruck (vgl. Abb. 7). Hier ist nicht nur
der ganze Pes pedunculi der linken Seite im allgemeinen verschmälert, sondern
außerdem sieht man noch im Bereiche der Pyramidenbahn eine deutliche
Aufhellung. Aber auch der Bezirk der fronto- und temporopontinen Bahnen
ist etwas heller als auf der anderen Seite. Spatz bringt die Aufhellung dieser
Bahngebiete sehr richtig mit dem unvollständigen Ausfalle der subgranulären
Neuronen in der atrophischen Frontal- bzw. Temporalrinde in Zusammen-
hang. Die Axone der erwähnten Zellen bilden eben die betreffenden Pro-
jektionsbahnen.
Als eine interessante Einzelheit möchten wir noch erwähnen, daß die
lebhafte isomorphe Gliose längs der schwerer erkrankten Pyramidenbahn
auch schon am Nissibild an der dichten Anordnung der Gliakerne im Bereiche
dieses Faserzuges an den Querschnitten des Mittelhirns, der Oblongata und
des Rückenmarks auch mit freiem Auge festzustellen ist. — Nicht nur das
Tempo des Abbaues zwischen den beiden Pyramidenbahnen, sondern auch
die Differenz der erkrankten Bahnlänge ist in unserem Falle erwähnenswert.
Die corticospinale Bahn aus der linken Ga befindet sich von der inneren
Kapsel abwärts in einer Degeneration. Die Markreduktion der kontralateralen
Pyramide ist aber erst vom Halsmark abwärts unzweideutig nachweisbar.
Dieser Befund spricht dafür, daß die Degeneration dieser langen Bahn distal
beginnt.
Das histologische Bild ist noch mit der kurzen Beschreibung der Gefäß-
veränderungen zu vervollständigen. In den atrophischen Gebieten der
grauen Substanz ist überall eine relative Vermehrung der Kapillaren mit
Cerlettischen Gefäßknäueln zu sehen. Außerdem finden wir an mehreren
Stellen der Rinde und der übrigen Gehirnsegmente dann und wann peri-
adventitielle Räume mit der Spielmeyerschen sogenannten reparativen Ent-
„ündung, wie es schon von v. Braunmühl, Kufs u. a. erwähnt und gewürdigt
wurde. Sie kommen bekanntlich bei rein degenerativen Prozessen, ohne
echte Entzündung, wie auch in unserem vorliegenden Falle, öfters vor.
Mit der ungleichmäßig starken Affektion der Pyramidenbahn läßt sich die
Hemiparese und Hemikontraktur des Kranken gut in Einklang bringen.
Merkwürdig bleibt es dabei, daß eine derartig fortgeschrittene Erkrankung
der Pyramidenbahn keine pathologischen Reflexe entstehen ließ. Vielleicht
ist diese Eigentümlichkeit durch das gleichseitige Bestehen einer extra-
pyramidalen Muskelrigidität zu erklären.
Das Atypische unseres Falles ersehen wir aber nicht allein in
dem ungewohnt stark ausgeprägten ungleichmäßigen Tempo der
neurocytogenen Degeneration der in den neoencephalen Rinden-
gebieten liegenden Systeme (Schaffer), sondern vielmehr in dem
Übergreifen des Prozesses auf die Pyramidenbahn.
Vergleicht man die gefundenen Veränderungen der neuronalen
Glia- und Leitungselemente, so ist die primäre Rolle der Er-
krankung der Nervenzellen und die konsekutive Degeneration der
Markscheiden bzw. durch den Schwund und Abbau ins Werk ge-
setzte Tätigkeit der Glia nicht zu verkennen. Gerade die Mit-
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 313
erkrankung der Pyramidenbahn in unserem Falle bietet ein schönes
Beispiel dafür. Voraussetzung ıst natürlich, daß wir die Nissischen
Schwellungsbilder nicht als Ausdruck einer ‚„axonalen Reizung‘
ansehen, d.h.nicht als eine sekundäre Folgeerscheinung aufeine fern
von der Zelle liegende Schädigung des Axons beziehen, sondern
daß wir auch diese als eine primäre, im pathologischen Chemismus
der Zelle selbst liegende, also neurocytogene Veränderung auf-
fassen. Hat doch Huszak in unserem Laboratorium ähnliche Zell-
veränderungen der pH-Konzentration im überlebenden Rücken-
mark (beipH = 8,0; physiologische Konzentration pH = 7.2—7,6)
experimentell hervorbringen können. In unserem Falle ist eine
„axonale Schädigung“ schwer vorzustellen; die Vorderhornzellen
des Rückenmarks waren weitgehend gesund, die Synapse zwischen
den spino-muskulären und kortikospinalen Neuronen mag kaum
primär an der Artikulationsstelle unterbrochen gewesen sein. Die
Degeneration der Pyramide ist demnach nur durch die Störung
des aus dem Ursprungsneuron zufließenden trophischen Einflusses
zu erklären. Der Markzerfall und die Gliose sind die Folgezustände
dieser neuronalen Erkrankung. Dabei mag es sein, daß ın ge-
wissen Fällen der Abbau der Markscheiden so leise verläuft, daß
er mit unseren heutigen Methoden sehr unvollständig zur Dar-
stellung gelangt und dadurch manchmal die Gliose der Mark-
degeneration voranzueilen scheint. Das Beispiel der Pyramiden-
degeneration in unserem Falle beweist aber doch das geschilderte
Nacheinander am ganzen krankhaften Vorgang. Wir verweilten
an dieser Erscheinung aus dem Grunde, weil bei der Pickschen
Krankheit die Rolle des Markabbaus bzw. der Gliose infolge der
schweren Überblickbarkeit der ziemlich verwickelten Verhältnisse
wiederholt in den Vordergrund gerückt worden ist (vgl. C. Schneider,
v. Braunmühl). Unser Fall ist u. E. geeignet, in dieser prinzipiellen
Frage entscheidend verwertet zu werden. Wir möchten dabei be-
tonen, daß wir den Fall nicht als ein Kombinationsbild zweier
endogener Krankheiten — der Pickschen Krankheit und der
spastischen Heredodegeneration — auffassen, sondern als eine
einfache Ausbreitung des Prozesses auf die vordere Zentralrinde
ansehen. Dazu berechtigt uns das Vorhandensein der charakte-
ristischen Schwellungsformen in der FA-Formation. In den Mit-
teilungen lesen wir oft, daß die geschwollenen Nervenzellen ge-
wöhnlich in den leichter erkrankten Gebieten vorkommen, während
sie in den schwer affizierten Stellen gänzlich fehlen können (Stief).
Auch unser Fall ist ein schönes Beispiel dafür. Bemerkenswert ist
es dabei, daß außer der Erkrankung der Substantia nigra auch ım
314 D. Miskolczy und H. Csermely
Rhombencephalon mehrere Zellgruppen geschwollene Zellen ent-
hielten. Der Prozeß breitet sich also nicht allein an der Konvexität
der Rinde aus, sondern greift auch Neurone der tieferliegenden
Segmente (Mesencephalon, Rhombencephalon, Rückenmark) an,
ohne eine kompakte Degeneration wie in der Pyramide zu ver-
ursachen. |
In der Literatur finden wir öfters Angaben über die Miter-
krankung der vorderen Zentralwindung (Spielmeyer, Onari und
Spatz, Verhaart, van Husen). Von einer deutlichen Pyramiden-
bahnläsion lesen wir aber erst bei v. Braunmühl und Leonhard.
Klinisch wurden pathologische Reflexe an den unteren Extremi-
täten beobachtet. Eine Kombination der Pickschen Krankheit
mit der amyotrophischen Lateralsklerose konnte v. Braunmühl
beobachten.
Wir halten die weitere sorgfältige Sammlung von derartigen
atypischen Formen von Pickscher Krankheit für die Klärung der
pathogenetischen Fragen sehr wichtig.
An unserem eigenen Fall sehen wir die endogen-neurocytogene
Natur der Erkrankung verwirklicht. Zu seiner Charakterisierung
sind also die Schafferschen Leitsätze anwendbar. Es handelt sich
doch um eine ausschließliche Erkrankung von ektodermalen
Zentren und Systemen auf primär neurocytogener Grundlage !).
Spatz (1938) hat in einer sehr lesenswerten Studie den Begriff
der „systematischen Atrophie“ für eine Gruppe der Erbkrank-
heiten des Nervensystems geprägt. In diese Gruppe werden u.a.
die Picksche Demenz, die spastische Spinalparalyse, die Hunting-
tonsche Krankheit, die ponto-olivo-cerebellare Atrophie (Thoma
und Dejerine), die endogenen Hinterstrangdegenerationen, die
spinale bzw. bulbäre Muskelatrophie, die Hallervorden-Spatzsche
Krankheit usw. eingeordnet. ‚Die Atrophie betrifft offenbar bei
allen hierhergehörigen Krankheiten Zentrum und Leitungsbahnen
eines Systems.“ Wenn auch der sehr bemerkenswerte Gedanken-
gang von Spatz vielfach anregend ist, so läßt er sich jedoch auf
unseren soeben geschilderten Fall nicht ohne Schwierigkeiten an-
wenden. Wir fanden doch unzweifelhafte Zeichen einer Degeneration,
daher können diese Erscheinungen im Begriffe der Atrophie nicht
mehr Platz fassen. Es geschieht eben hier mehr als bei einer
Atrophie. Die kurzlebigen Systeme und Zentren innerhalb des
1) Näheres darüber in der Monographie von Schaffer und Miskolezy,
Histopathologie des Neurons. Acta med. Szeged. Bd. 9 (1938). J. A. Barth.
Leipzig.
Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz 315
Gesamtorgans sterben auf andere Weise ab, als wir es bei der
Altersatrophie zu sehen gewohnt sind. Spatz möchte bei seinen
Bemühungen, gewisse Erbkrankheiten des Nervensystems einheit-
lich zu betrachten, eher sehr scharfe Grenzen ziehen. Schaffer und
seine Schüler erstreben eine allgemeine, umfassende Charakteristik
der endogenen, systematischen Gehirnkrankheiten. Weitere For-
schungen mögen entscheiden, welcher Weg eher zum gemeinsamen
Ziele: zur Erkennung der wahren Natur der heredodegenerativen
Krankheiten des Nervensystems führt.
Zusammenfassung
In einem atypischen Fall von Pickscher Krankheit griff der
Prozeß in ungleicher Stärke auf die vorderen Zentralwindungen
über, wodurch im klinischen Bilde eine rechtsseitige Hemiparese
und anatomisch eine ungleiche, aber bilaterale Degeneration der
Pyramidenbahnen vom Ursprungszentrum bis zum Sakralmark
entstand. — Bemerkenswert ist ferner die Ausdehnung der Ganglien-
zellschwellung, auch kaudalerer Segmente des Zentralorgans.
Es gereicht uns zur aufrichtigen Freude, diese bescheidenen Bei-
träge zur Frage der Pickschen Demenz Herrn Prof. X. Kleist, dem
eifrigen Förderer der Hirnlokalisationslehre, zu seinem 60. Ge-
burtstage zueignen zu können.
Schrifttum
Akelaitis, Amer. J. Psychiatry 94 (1938), ref. Zbl. Neur. 90 (1938). —
Austregesilo, Arqu. Brasil. Neuriatr. 20 (1937), ref. Zbl. Neur. 90 (1938). —
Becker, Mschr. Psychiatr. 92 (1935). — Benedek und Horanyı, Arch. Psychiatr.
106 (1937). — Braunmühl, v., Zbl. Neur. 61 (1932) und Leonhard, Z. Neur.
450 (1934). — Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten. S.592 (1929).
Bergmann, München. — Hurukawa, Psychiatr. et Neur. Japonica 42 (1938),
ref. Zbl. Neur. 90 (1938). — Husen, van, Allg. Z. Psychiatr. 101 (1934). —
Huszák, Z. Neur. 165 (1938). — Lemke, Arch. Psychiatr. 101 (1934). —
Löwenberg, Arch. of Neur. 36 (1936). — Nichols and Weigner, Brain 61 (1938). —
Miskolezy, Magvar Rgt. Közlöny 1934, H. 1—2, ref. Zbl. Neur. 72 (1934). —
Richter, Z. Neur. 38 (1938). — Schaffer und Miskolezy, Acta med. scand.
Suppl. 78 (1936). — Acta med. Szeged 9 (1938). Leipzig, J. A. Barth. Hier
ausführliches Literaturverzeichnis bis Frühjahr 1938. — Spatz, Z. Neur. 158
(1937). — Arch. Psychiatr. 108 (1938). — Stief, Z. Neur. 128 (1930).
Über Gedankenzwang und automatisiertes
Denken bei der Encephalitis lethargica')
Von
Dr. R. Persch, Oberarzt
(Aus der ostpreußischen Prov. Heil- u. Pflegeanstalt Kortau.
Direktor: Dr. Hauptmann)
Zwangszustände der verschiedensten Art sind bei organischen
Hirnerkrankungen im allgemeinen und im Zusammenhang mit den
Hirnstammerscheinungen besonders bei der Encephalitis lethargica
eingehend beschrieben worden. Dabei wurde auf den Unterschied
zwischen dem iterativen Denkzwang bei der chronischen Encepha-
litis und dem Zwangsdenken der Neurotiker hingewiesen (u.a.
Steiner). Der Neurotiker denke abwechslungsreicher und in bun-
teren Bildern, während der Denkzwang bei der Encephalitis einen
ausgesprochen monotonen Inhalt habe. Steiner hat einen Parkinson-
Kranken beschrieben, der immer nur ‚schwarz-weiß‘ denken
mußte. Anklänge an die Denkstörungen der Schizophrenen sind
hier erkennbar. Den Zwangsvorgängen der Encephalitiker fehle
die Neigung zur Ausgestaltung. Außerdem seien ihre Beziehungen
zum Motorischen auffallend. Alle Veränderungen im Wesen und
Verhalten der erkrankten Persönlichkeit seien mit den motorischen
Erscheinungen eng verknüpft (Bostroem). Besonders deutlich zeigen
dies die von Ewald beschriebenen Fälle, bei welchen anfallsweise
Palilalie verbunden mit Blickkrämpfen auftraten. Ewalds Kranke
empfanden die Schauanfälle als Zwang oder Drang, welchem sie
sich nicht entziehen konnten. Ähnliche Beobachtungen haben
Creak u.a. bei Chorea verbunden mit Tics beschrieben. Nach
Bostroem ist bei den encephalitischen Zwangsvorgängen der auto-
matische Gedankenablauf primär gestört. Es komme dabei ‚zu
einem Anhalten der Gedanken‘. Hiermit sei die Bereitschaft zum
1) Nach einem Vortrag anläßlich der Zusammenkunft ostpreußischer
Anstaltspsychiater in der Heil- u. Pflegeanstalt Allenberg am 16. 10. 1938.
Über Gedankenzwang und automatisiertes Denken usw. 317
Zwangsdenken gegeben. Bostroem sieht als zentrale Störung bei
der Encephalitis die Beeinträchtigung der Willensvorgänge an; da-
durch sei die freie und selbständige Verfügung über die an sich er-
haltenen motorischen und seelischen Funktionen gestört. Schar-
fetter spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sakkadierung des
Gedankenablaufs‘‘ und von einer „extrapyramidalen Störung der
Denkbewegung‘. Nach Stern lehrt die Encephalitis, daß Zwangs-
erscheinungen nicht als rein funktionelle seelische Zustände auf-
gefaßt werden dürfen. Er schilderte eine Kranke, deren Gedapken
auf einem Punkte stehen blieben: „Es ist ihr zumute, als ob sie
eine heißgelaufene Maschine sei, die nicht vor und zurück könne“.
Es komme geradezu zu einem Krampf der Vorstellungen oder Ge-
danken, der dem Blickkrampf analog sei. Störring, der ähnliches
ausführt, hält den „starken Affekt oder die Spannung“ für die pri-
märe Ursache des Gedankenstockens. v. Economo glaubt, daß die
psychischen Zwangszustände auch ohne Störung der Motilität ein-
treten können. Die Subjektivierung der zwangsmäßig empfundenen
Vorgänge lasse darauf schließen, daß in diesen Fällen Zentren be-
troffen sind, ‚deren motorische Funktion unmittelbar zur Kon-
stitution des Persönlichkeitsgefühls mit beiträgt“. Traumhafte
Zwangszustände bei der Encephalitis hat Nardi mit dem Meskalın-
rausch und oneiroiden Zuständen infektiös-toxischer Art verglichen.
Dretler vermutet, daß die Verknüpfung der Denkautomatismen mit
neurologischen Symptomen (Blickkrämpfe) ein Hinweis dafür ist,
daß Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen auf zentralen
Regulationsstörungen beruhen. (Ähnlich Ödegard.) Eine Kranke
Dalmas hatte einen ausgesprochen automatischen Denkzwang, in
welchem sie an bestimmte Namen denken und deren Buchstaben
umstellen mußte. Jacob-Klefjner sieht die Hypervigilität der Auf-
merksamkeit im Stadium der chronischen Encephalitis als Ausdruck
einer Hypermetamorphose im Sinne Wernickes an, die zu einer
mangelhaften Lenkbarkeit der Gedanken führe. Bürger- Prinz kenn-
zeichnet die Zwangsvorgänge bei der Encephalitis als mehrdimen-
sional im Sinne Äretschmers: „Ein Ineinanderspiel von automati-
schem Geschehen, triebhaftem und biologisch Deutbarem mit der
Stellungnahme und Abwehr der Persönlichkeit bis an die Grenze,
wo das Zwangsgeschehen selbst einem psychologischen Zufassen
entgleitet‘‘. So beschreibt Bürger einen Kranken, der gehörte Worte
zu Reihenbildungen umwandeln mußte: „Frisch, Fleisch, Fisch“.
Solche Beispiele zeigen zur Genüge, daß einmal in Gang gesetztes
Geschehen automatisch bis zu seiner Erschöpfung abläuft. So kann
man mit Bürger- Prinz feststellen, daß sich vom Denkautomatismus
318 R. Persch
bis zu affektbetonten und neurotisch bedingten Zwangserscheinun-
gen mannigfache Übergänge finden lassen. K. Schneider ist der Auf-
fassung, daß für das Zustandekommen von Zwangszuständen eine
erhöhte Klarheit des Bewußtseins erforderlich sei: „Diese eigen-
tümliche Bewußtseinshelligkeit findet man nun ausgeprägt bei
Encephalitikern mit Zwangssymptomen‘“. Das Zustandekommen
des Zwangs sei sowohl organisch als auch durch bestimmte Hal-
tungen des Ichs bedingt. Skalweit hebt hervor, daß Encephalitis-
symptome oft denselben Mechanismus erkennen lassen wie hyste-
rische Phänomene und daß rein funktionell aufgefaßte Krankheits-
bilder eine organisch bedingte Genese haben können.
Nach diesem kurzen Überblick über das Schrifttum der Zwangs-
erscheinungen bei der Encephalitis lethargica schildere ich im fol-
genden einen Spätencephalitiker mit Gedankenzwang und auto-
matisiertem Denken.
G. M. geb. am 28. 10.1910 war vom 3.—10. 1. 38 zur Begutachtung in
der Heil- und Pflegeanstalt Kortau, um zu entscheiden, ob er an Schizophrenie
leidet!). Ein Amtsarzt hatte am 24. 8. 37 die Unfruchtbarmachung des M.
wegen Schizophrenie beantragt. Über Erbkrankheit war in der Familie nichts
bekannt. Ein Bruder des M. soll geistig auffällig und ausgesprochen willens-
schwach sein. M. selbst hat acht Jahre die Volksschule besucht und ausreichend
gelernt. Seit vielen Monaten arbeitet M. nicht mehr. Er sei ‚in Gedanken
versunken‘“. Er selbst äußerte sich hierzu: ‚Alle meine Gedanken enden
mit heit oder keit: Ewigkeit, Üppigkeit, Gesundheit, Krankheit‘. Der Amts-
arzt nahm eine Schizophrenie mit beginnender Sprachverwirrtheit an. Gegen
den Sterilisierungsbeschluß erhob M. Einspruch mit der Begründung, daß
seine Krankheit keine Erbkrankheit, sondern Folge einer Kopfgrippe sei.
Daraufhin beschloß das E. G. G., ihn in der Anstalt begutachten zu lassen.
Hier machte M. über seine Familie folgende Angaben: Vater war Chaussee-
wärter, seit 1928 Invalidenrentenempfänger wegen Lungenleidens; Mutter
1934 an Schlaganfall mit Lähmung im Alter von 60 Jahren gestorben. Von
8 Geschwistern starben 4: eine Schwester 1918 an Grippe, die übrigen als
Kleinkinder. Von den lebenden Geschwistern leidet ein Bruder an Magen-
geschwüren und bekommt Invalidenrente. Drei Schwestern sind angeblich
gesund. Er selbst habe im Alter von 13 Jahren (1923) eine „Kopfgrippe‘“
gehabt, an welcher er 6 Wochen mit hohem Fieber gelegen habe. Der Arzt,
der ihn damals behandelte, bestätigte auf Anfrage die Angaben des Kranken.
Er habe dauernd schlafen müssen. Nach der Krankheit sei er wieder zur Schule
gegangen; habe aber bemerkt, daß er nicht mehr so gut denken konnte wie
früher: „Ich mußte immer an Worte denken, die mit heit oder keit enden.
Wenn einer sagte Kohle, dann sagte ich Kohlenfritzigkeit. Solche dreckigen
Worte habe ich mir angewöhnt. Wenn einer sagt Holz, dann denke ich mir
das Wort Holzigkeit; ich spreche es nicht aus. In der Schule sagte der Lehren,
es solle jemand einen Satz mit dem Wort Kartoffeln bilden; seitdem habe
ich Kartoffelheitgedanken; ich habe mir das in den Kopf genommen“. In den
1) Für Überlassung des Falles spreche ich Herrn Direktor Dr. Hauptmann
auch an dieser Stelle meinen ergebensten Dank aus.
Über Gedankenzwang und automatisiertes Denken usw. 319
Schulstunden sei er oft eingeschlafen; einmal sei er in der Turnstunde vom
Reck heruntergefallen. Nach der Schule habe er versucht, Schuhmacher zu
lernen; habe aber nur 1!/, Jahr ausgehalten. Der Meister habe ihn fortgeschickt,
weil er ständig in Gedanken versunken gewesen sei. Dann habe er in einem
Sägewerk Holz geschält. Länger als ein Jahr sei auch das nicht gegangen.
Er habe es nunmehr als Steinschläger versucht. Aber seine Gedanken habe
er nicht zusammenhalten können: ‚‚Ich dachte immer an etwas anderes, aber
nicht an die Steine‘. Er sei dann umhergewandert und schließlich ein Jahr
auf einem Gut in Mecklenburg gewesen. Nach seiner Rückkehr habe er ver-
sucht, Müller zu lernen; er sei jedoch nach 9 Monaten wieder fortgeschickt
worden: „Ich war immer in Gedanken versunken. Ich habe 2—3 Unglücks-
tage in der Woche, Unglückstagigkeit; da quäl’ ich mich mit den Gedanken
herum. Solange ich die Dreckigkeit, Angewohntigkeit aus dem Schädel nicht
’rausbekommen kann, fühle ich mich als der unglücklichste Mensch der Erde.
Wenn jemand sagt Bahnhofsgelände, bilde ich das Wort Bahnhofsgeländig-
keit-Fritzigkeit‘‘. Sinnestäuschungen und Wahnideen waren nicht nachzu-
weisen. Im Juni 37 unternahm er einen Selbstmordversuch und durchschnitt
sich die linke Pulsader mit einer Rasierklinge: „Weil ich von Gott und den
Menschen geplagt bin mit der Wortgeplagtheit.‘‘ Er habe nie längere Zeit
hintereinander arbeiten können: „Ich mußte fast jeden dritten Tag feiern
wegen der Gedanken“. An solchen ‚gedankenvollen“ Tagen gelinge ihm
keine Arbeit. Von Blickkrämpfen war nichts zu bemerken; wohl aber fühlt
er sich an seinen ‚„‚Unglückstagen‘“ schwach, so daß er sich zu Bett legen muß.
Er müsse dann grübeln und Worte wie ‚„Sorgenheit, Geruchheit‘‘ usw. bilden.
Am 4.1.38 bekam er am Nachmittag einen Schwächeanfall: er fing an zu
weinen, zitterte am ganzen Körper; der Kopf war mit Schweiß bedeckt. Am
7.1. hatte er einen ähnlichen Schwächeanfall mit starkem Schweißausbruch:
er taumelte und mußte sich ins Bett legen. Vereinzelt trat auch Angstgefühl
während solcher Zustände auf.
Körperlich-neurologischer Befund: starrer, fast maskenartiger Gesichts-
ausdruck; das linke Oberlid hing etwas herab; das linke Auge wich nach außen
ab. Die Sprache war undeutlich. In beiden Händen und im rechten Bein be-
stand feinschlägiges Zittern; der Gang war steif und schwerfällig. Es wurde
„Folgezustand nach Encephalitis epidemica mit Zwangsdenken“ diagnostiziert.
Symptome einer schizophrenen Denkstörung waren nicht nachweisbar. Er
wurde für nicht erbkrank erachtet.
Am 24. 8. 38 konnte ich den Kranken in seiner Wohnung nachuntersuchen.
Seit seiner Entlassung habe er nicht gearbeitet. Er müsse viel schlafen und
grübeln: ‚Mit Fritzigkeit allgemeine Gedanken. Dünger heißt Fritzigkeit
und Hocken heißt Fritzigkeit; ich grübel’ mich kaputt. Wenn einer lange
Dingwörter sagt, dann muß ich gleich denken an die Dreckigkeit, Angewohn-
tigkeit“. An seinen ‚„Gedankentagen“ sei er auch körperlich stärker behindert;
das Zittern werde stärker, und er habe einen Zustand von ‚Starre in den
Augen“. Er müsse dann ‚‚die Menschen unverwandt anschauen; er könne das
Sehen gar nicht lassen“.
Eigentliche Blickkrämpfe bekommt er jedoch nicht. Bei seiner ‚Starre‘“
handelt es sich mehr um ein zwangsmäßiges Anstarren von Personen. Beim
Erklären von Begriffen und Sprichwörtern waren keine Paralogien schizo-
phrener Art nachweisbar. Beim Assoziationsversuch sagte er z.B. auf das
Wort Lampenschirm: ‚„Lampenschirmheit-Fritzigkeit; ein anderes Wort
fällt mir nicht ein. Mit heit oder keit enden meine Gedanken und damit basta“.
320 R. Persch
Er grüble an solchen Tagen immer über dasselbe und komme mit seinen Ge-
danken nicht vom Fleck. Wenn er in einem Buch das Wort Gerechtigkeit
lese, dann mache er sich ‚‚Gerechtigkeitsgedanken‘““ und sinne darüber nach,
was wohl gerecht sei. Längere Worte seien für ihn eine „Gedankenschranke“,
über welche er nicht so leicht hinwegkomme. Er müsse die Worte umbilden
und über alles nachdenken, was mit dem betreffenden Wort zusammenhänge.
Das ermüde ihn so, daß er ganz erschöpft sei und schließlich einschlafe. Am
nächsten Tag fühle er sich dann wieder wohler. Er könne besser und rascher
denken, weil die ‚Gedankenheit‘‘ fehle. Nach einigen Tagen wiederhole sich
dann ein solcher ‚„Gedankenanfall‘“.
Neurologischer Befund: rechte Pupille enger als die linke; nur geringe
Lichtreaktion wahrnehmbar; horizontaler Nystagmus, beim Blick nach
rechts stärker als nach links. Internusparese und Hemiptose links; masken-
artiger Gesichtsausdruck. Linker Facialis schwächer innerviert; Zunge wird
beim Hervorstrecken nach rechts gedreht und zeigt fibrilläres Zittern. Arm-
reflexe links gesteigert, links Rigor mehr ausgeprägt als rechts. Die linke
Hand zittert stärker als die rechte, Diadochokinese ungestört. Geringes
Vorbeizeigen links. Bauchdeckenreflexe seitengleich vorhanden. P.S.R.
rechts mehr als links gesteigert; A. S. R. gesteigert. Fußklonus links; Ba-
binski, Oppenheim, Gordon negativ; Rossolimo bds. vorhanden, rechts etwas
deutlicher. Romberg negativ. Rigor im linken Bein stärker als im rechten.
Rumpfmuskulatur rigorfrei, Steifigkeit der Nackenmuskulatur, so daß Kopf-
bewegungen aktiv wie passiv kaum möglich sind. Es macht den Eindruck,
daß der Zustand des Kranken sich im Laufe der Monate verschlechtert hat.
Der geschilderte Kranke weist eigenartige Zustände von Ge-
dankenzwang auf, welcher sich zu automatisiertem Denken stei-
gern kann und mit körperlichen Schwächeanfällen und Schweiß-
ausbruch verbunden ist. Mit dem eigentlichen Zwangsdenken der
Neurotiker haben die geschilderten ‚„Gedankentage‘“‘ nur wenig ge-
meinsam und sind rein psychologisch kaum verstehbar. Die Wort-
umbildungen sind so einförmig und mechanisiert, daß der Vergleich
mit der Kranken Sterns naheliegt, die sich wie eine heißgelaufene
Maschine vorkam. Man könnte den Vorgang ebensogut mit einer
defekt gewordenen Grammophonplatte vergleichen, welche immer
die gleiche Stelle einförmig wiederholt, oder Bruchstücke unvoll-
kommen aneinanderreiht, so daß die Übertragung keinen Sinn mehr
ergibt. Hirnpathologisch muß man sich den Vorgang wohl so er-
klären, daß die in den Sprachzentren entstehenden Wort- und Laut-
bilder irgendwie gestört sind, oder daß sie infolge der Erkrankung
des Hirnstammes unvollkommen umgesetzt und rein automatisch
verarbeitet werden. Manche der eigenartigen Wortbildungen des
Kranken erinnern an schizophrene Wortneubildungen und an
schizophasische Störungen. Kleist hat ın früheren Untersuchungen
auf die sensorisch-aphasische Natur gewisser schizophrener Sprach-
störungen hingewiesen: „Die paralogische Denkstörung ist auf der
gedanklichen Vorstufe der Sprache dasselbe, was auf der Stufe der
Über Gedankenzwang und automatisiertes Denken usw. 321
Wort- und Namenwahl die Paraphasie ist, nämlich eine Störung
in der Ordnung und Kontrolle der Abläufe. Sie ist eine sensorische
Denkstörung‘‘. Die Zwangserscheinungen der Encephalitiker können
nur durch die entzündlichen Veränderungen des Hirnstammes her-
vorgerufen werden, da die Hirnrinde vom encephalitischen Krank-
heitsprozeß meist verschont bleibt. Art und Schwere der Hirn-
stammschädigungen bedingen die verschiedenen Abstufungen und
Abtönungen vom gefühlsbetonten reinen“ Zwangsdenken bis zum
mechanisierten Denkautomatismus. Hieraus ist m. E. auch die
mehr oder weniger starke Beteiligung des Motoriums ableitbar.
Beim zwangsneurotischen Denken sind motorische Ausfallser-
scheinungen nicht unbedingte Voraussetzung. Je automatisierter
der Gedankenzwang in die Erscheinung tritt, desto weniger ver-
dient dieser Vorgang noch den Namen ‚Denken‘; denn es handelt
sich dann, wie der Fall G. M. lehrt, mehr und mehr um Anfälle von
mechanisierten Automatismen, die sich bis zur völligen seelischen
und körperlichen Erschöpfung des Kranken entladen und meist
mit motorischen Ausfallserscheinungen des Hirnstammes vergesell-
schaftet sind. Ein längerer Schlaf beendet häufig den Anfall. In
ihrer regelmäßigen und einförmigen Wiederkehr erinnern diese
organisch bedingten „Gedankenkrämpfe‘ geradezu an die anfalls-
artigen Erkrankungen aus dem epileptischen Formenkreis.
Nach Kleist werden die vom Stammhirn ausgehenden psycho-
motorischen Erscheinungen als icheigen erlebt, während die dem
Stammhirn angehörenden myostatischen Störungen ichfremd sind.
Die psychomotorischen Erscheinungen des Hirnstammes beruhen
auf Störungen feinerer Automatismen; während bei den myostati-
schen Erscheinungen gröbere Automatismen gestört sind. Itera-
tionen fand Kleist als Folgeerscheinungen von Erweichungsherden
im Caudatum; Sprachiterationen gingen vom Kopf des Caudatum
aus: „Stereotypien sind offenbar die Restleistungen, die bei um-
fangreichen Zerstörungen des gesamten Zellapparates der Caudata
übrig bleiben‘. Die Stereotypien — auch im Denken und Sprechen —
sind nach Kleist den psychomotorisch-katatonen Erscheinungen
gleichartig: „Vielfach besteht eine allgemeine, sich in wechselnden
Formen äußernde stereotype Tendenz‘. Kleist unterscheidet die
sensorischen Stereotypien, die aus einer subjektiv empfundenen
Beharrungsstrebung hervorgehen, von den motorischen Stereo-
typien, bei welchen wahrscheinlich nur die Entäußerung einer
solchen Strebung betroffen sei. Die Zwangserscheinungen sind den
Stereotypien verwandt. Drang- und Zwangsvorgänge, die nach
Kleist den Trieben am nächsten stehen, gehen wahrscheinlich z. T.
21 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 110 H.13.
322 R. Persch
vom Zwischenhirn aus. Ausfallserscheinungen dieser Hirnteile be-
dingen die Wesensveränderungen der Encephalitiker. Auch beim
Zustandekommen der Zwangsvorgänge spielen die Ausfallserschei-
nungen der Zwischenhirnstufe sicher eine Rolle. Die ‚Bradv-
phrenie‘‘, der „Gedankenstopp‘, die für das Eintreten des Ge-
dankenzwanges von Bedeutung sind, müssen wohl als temperament-
artige Erregbarkeitsverschiebungen diencephaler Herkunft ange-
sehen werden. Solche Schwankungen im Temperament — der
seelischen Temperatur nach Kleist — scheinen mir für alle Zwangs-
erscheinungen der Encephalitiker von großer Bedeutung zu sein.
Gerade das anfallsartige Auftreten mit Terminalschlaf weist auf
Beziehungen zum Zwischen- und Mittelhirn hin.
Man muß die Stereotypien von den einförmigen Unruheerschei-
nungen unterscheiden. Diese sind frontal bedingt und äußern sich
in Restworten, Resthandlungen und Restgedanken ohne Zwangs-
charakter und ohne Iteration; während die Stereotypien durch einen
gewissen Wechsel in der Entäußerung gekennzeichnet sind, so daß
ein bestimmter stereotyper Inhalt von Zeit zu Zeit mit einem
anderen abwechselt, der seinerseits ebenfalls nur eine Zeitlang be-
stehen bleibt. Die Quelle der Stereotypien liegt nach Kleist zu-
weilen in den Anregungen zu Entäußerungen, die von Trieben,
Zwangsregungen und gefühlsbetonten Dauereinstellungen ausgehen
können. Dieses trifft besonders für die drang- und zwangshaften
Stereotypien der Encephalitiker zu. Auch der Fall Gustav M. läßt
erkennen, daß hier eine anfallsweise auftretende Tendenz zur
Stereotypie im Denken und auch im Sprechen besteht, die im Be-
ginn subjektiv als Zwang empfunden wird, bis sie sich mehr und
mehr in rein automatischen Entäußerungen erschöpft. Goldstein
hat einen eigenartigen Fall beschrieben, und ‚von einer Neigung
gesprochen, in seelischen Einstellungen zu verharren‘“ (s. Kleist:
Gehirnpathologie, S. 1087), wobei es jedoch zweifelhaft ist, ob es
sich in diesem Fall um echte Zwangserscheinungen gehandelt hat.
Gustav M. wehrte sich gegen die in ihm aufsteigenden Tendenzen,
unterlag aber schließlich, obwohl er das Zwecklose und Unsinnige
solcher Beharrungsstrebungen einsah. Man könnte in diesem Zu-
sammenhang von einem pathologischen Eigensinn sprechen, da
nach Kleist die Beharrungstendenz normalpsychologisch mit dem
Eigensinn nahe verwandt ist. Stereotypien sind 1907 von Aleist
als „Gewohnheitsbewegungen‘“ in seinem Fall Gräfe beschrieben
worden (Gehirnpathologie: S. 1089). Hier fanden sich grobe Herde
in beiden Caudata, während die Putamina weniger schwer betroffen
waren. Auch die Zwangserscheinungen der Encephalitiker werden
Über Gedankenzwang und automat;isiertes Denken usw. 323
ihre Ursache wahrscheinlich in Veränderungen der Caudata haben,
da sie den Stereotypien sehr ähnlich sind. Wie der Fall Gustav M.
zeigt, entspricht der Gedankenzwang mit seiner subjektiv stark
empfundenen Beharrungsstrebung den sensorischen Stereotypien
Kleists. Im weiteren Verlauf nahmen die Erscheinungen einen mehr
motorischen Charakter an und wurden zum automatisierten
Denken, wobei mehr die Entäußerungen der Beharrungsstrebungen
im Sinne der motorischen Stereotypien betroffen waren. Inwieweit
eine Bewußtseinstrübung eintritt und für das Zustandekommen der
Erscheinungen von Bedeutung ist, erscheint noch unklar. In Gold-
steins Fall bestand für die Dauer der ‚seelischen Einstellung‘ ein
eigentümlicher Abwesenheitszustand, wobei das Bewußtsein für
andere Reize gesperrt war. Man könnte eher von einer Bewußtseins-
enge sprechen, bei welcher die Helligkeit des Bewußtseins nicht
herabgesetzt zu sein braucht. Ob sie jedoch als erhöht anzusprechen
ist, wie K. Schneider für das Zustandekommen von Zwangszu-
ständen annimmt, erscheint im Hinblick auf die Zwangserschei-
nungen bei Encephalitikern mit Schauanfällen fraglich. Bei
Gustav M. kam es im Verlauf seiner Anfälle von Gedankenzwang zu
einer Einengung des Bewußtseins, ohne daß jedoch weder eine
deutliche Trübung noch ein gesteigerter Helligkeitsgrad des Be-
wußtseins nachzuweisen waren.
Gedankenzwang und automatisiertes Denken erweisen sich als
kompliziert zusammengesetzte Störungen der Hirnstamm-Zentren.
Das Zusammenspiel mannigfacher Hıirnapparate ist gestört, und
die Ausfallserscheinungen gehören verschiedenen Hirnschichten an.
Zusammenfassung
Ausgehend vom Schrifttum über die seelischen Zwangserschei-
nungen bei der Encephalitis lethargica wird ein Krankheitsfall ge-
schildert, bei dem Gedankenzwang und automatisiertes Denken in
verschiedengradigen Abstufungen anfallartig auftreten. An Hand
der Untersuchungen Kleists wird eine hirnpathologische Erklärung
der komplexen Erscheinungen versucht.
Schrifttum
1. Bostroeem, Zum Verständnis gewisser psychischer Veränderungen bei
Kranken mit Parkinsonschem Symptomenkomplex. Z. Neur. Bd. 76, 1922.
2. Ders., Die Encephalitis u. ihre Bedeutung für die Psychiatrie. Münch.
med. Wschr. 1927, Nr. 38 u. 39. — 3. Ders., Die psychischen Folgeerschei-
nungen der epidemischen Encephalitis. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 93, 1930. —
4. Bürger, Über Encephalitis u. Zwang. Z. Neur. Bd. 113, 1928. — 5. Bürger
u. Mayer-Groß, Über Zwangssymptome bei Encephalitis lethargica u. über
21°
324 R. Persch
die Struktur der Zwangserscheinungen überhaupt. Z. Neur. Bd. 116, 1928.
— 6. Bürger-Prinz, Kasuistischer Beitrag zum Zwangsproblem. Nerven-
arzt Bd. 3, 1930. — 7. Creak, Mildred and Guttmann, Chorea, Tics and com-
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torno ad un caso di ideazione coatta in fanciulla postencefalitica. Cerv. 6,
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maine Höp. Paris, 1933. — 10. v. Economo, Die Encephalitis lethargica,
1929. — 11. Ewald, Schauanfälle als postencephalitische Störung usw. Mschr.
Psychiatr. Bd. 57, 1925. — 12. Jacob-Kleffner, Über pathologische Neugier
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zu den Motilitätsstörungen bei Erkrankungen der Stammganglien. Mschr.
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tori ed ossessivi a sontenuto sessuale mistico nella encefalite cronica epidemica.
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phalitis accompanied by obsessions and disturbance of ideation. Act. psych.
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1926. — 19. Schneider, K., Die allgemeine Psychopathologie i. d. J. 1928/31,
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Striatumerkrankungen. Vereinigung d. nordwestdeutschen Psych. u. N.
1927. — 21. Ders., Über Zwangsantriebe u. psychische Zwangszustände im
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Arch. Psychiatr. Bd. 89, 1930.
NINE
19.
20.
Verzeichnis
der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Kleist 1903—1938
Zusammengestellt von
Dr. phil. Elisabeth Schwarzhaupt
A. Selbständige Schriften und Zeitschriftenaufsätze
. Die Veränderungen der Spinalganglienzellen nach der Durchschneidung
der peripherischen Nerven und der hinteren Wurzel. Berlin: Reimer 1903.
22 S. München, Med. Diss. von 1903.
Dass. Virchows Arch. Bd. 173. 1903.
. Experimentell-anatomische Untersuchungen über die Beziehungen der
hinteren Rückenmarkswurzeln zu den Spinalganglien. Virchows Arch.
Bd. 175. 1904.
. Über Leitungsaphasie. Mschr. Psychiatr. Bd. 17. 1905.
. Carl Wernicke t. (Nachruf.) M. m. W. Jg. 52, Nr. 29. 1905.
. Über Apraxie. Mschr. Psychiatr. Bd. 19. 1906. .
. Kortikale (innervatorische) Apraxie. Jb. Psychiatr. Bd. 28. 1907.
. Über die psychischen Störungen bei der Chorea minor nebst Bemerkungen
zur Symptomatologie der Chorea. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 64. 1907.
. Über nachdauernde Muskelkontraktionen. J. Psychol. u. Neur. Bd. 10.
1908.
. Untersuchungen zur Kenntnis der psychomotorischen Bewegungs-
störungen bei Geisteskranken. Leipzig: Klinkhardt 1908. VIII, 171 S. 8.
. Weitere Untersuchungen an Geisteskranken mit psychomotorischen Stö-
rungen. Leipzig: Klinkhardt 1909. XI, 309 S. 8°,
. Die Streitfrage der akuten Paranoia. Ein Beitrag zur Kritik des manisch-
depressiven Irreseins. Z. Neur. Orig. Bd.5. 1911.
. Der Gang und der gegenwärtige Stand der Apraxieforschung. Ergeb.
Neurol. Bd.1. 1912.
. Die Involutionsparanoia. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 70. 1913.
. Aphasie und Geisteskrankheit. M. m. W. Jg. 61, I. 1914, Nr. 1. 5
. Nervenärztliche und psychiatrische Kriegstätigkeit. In: Erlangen in der
Kriegszeit. Ein Gruß d. Universität an ihre Studenten. Erlangen 1915:
Jacob.
. Postoperative Psychosen. Berlin: Springer 1916. IV, 31 S. 8%. (Mono-
graphien aus d. Ges. Gebiet d. Neurol. u. Psychiatr. H. 11.)
. Über Leitungsaphasie und grammatische Störungen. Mschr. Psychiatr.
Bd. 40. 1916.
. Berichtigung zu meiner Arbeit ‚Über Leitungsaphasie und grammatische
Störungen‘. Mschr. Psychiatr. Bd. 41. 1917.
Zur Auffassung der subkortikalen Bewegungsstörungen (Chorea, Athetose,
Bewegungsausfall, Starre, Zittern). Arch. Psychiatr. Bd. 59. 1918.
Psychische und nervöse Störungen bei Influenza. Neur. Cbl. Jg. 38. 1919.
326
21.
22.
23.
24.
25.
26.
22;
28.
29.
30.
Elisabeth Schwarzhaupt
Die Influenzapsychosen und die Anlage zu Infektionspsychosen. Berlin:
Springer 1920. III, 55 S. (Monographien aus d. Ges. Geb. d. Neurol. u.
Psychiatr. H. 21.)
Zur Psychopathologie der unerlaubten Entfernung und verwandter Straf-
taten. Von Kleist u. Wißmann. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 76. 1920/21.
Autochthone Degenerationspsychosen. Z. Neur. Bd. 69. 1921.
Die psychomotorischen Störungen und ihr Verhältnis zu den Motilitäts-
störungen bei Erkrankungen der Stammganglien. Mschr. Psychiatr. Bd. 52.
1922.
Emil Sioli t. (Nachruf.) Allg. Z. Psychiatr. Bd. 78. 1922.
Die Auffassung der Schizophrenien als psychische Systemerkrankungen
(Heredodegenerationen). Vorl. Mitteilung. Kl. W. Jg. 2. 1923, Nr. 21.
Die gegenwärtigen Strömungen in der Psychiatrie. Allg. Z. Psychiatr.
Bd. 82. 1925.
Las corrientes contemporaneas de la clinica psiquiatrica. La Medicina.
An. 2, Nr. 11. 1925.
Paralysis agitans, Stammganglien und Mittelhirn. D. m. W. Jg. 51, II.
1925.
Die einzeläugigen Gesichtsfelder und ihre Vertretung in den beiden Lagen
der verdoppelten inneren Körnerschicht der Sehrinde. Kl. W. Jg.5, 1.
1926, Nr. 1.
Gehirnpathologische und gehirnlokalisatorische Ergebnisse, vornehmlich
auf Grund von Kriegshirnverletzungen. In: Festschrift für Woldemar
- Bechterew. Leningrad 1926. (Gehirnpathologische und -lokalisatorische
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
Ergebnisse. Mitteilung 1: Störungen der Motilität u. Sensibilität, Ataxie
u. Zittern, Apraxie, Störungen der Sehleistungen.)
Psychosen bei Stoffwechselstörungen (Diabetes, Urämie, Cholämie, Gicht).
In: Stoffwechselkrankheiten. Hrsg. von G. Herzheimer. Berlin: Karger
1926.
Episodische Dämmerzustände. Ein Beitrag zur Kenntnis der konstitu-
tionellen Geistesstörungen. Leipzig: Thieme 1926. 80 S. 8°.
Gegenhalten (motorischer Negativismus), Zwangsgreifen und Thalamus
opticus. Mschr. Psychiatr. Bd. 65. 1927.
Zur Entschädigungsfrage bei den sogenannten Unfallneurosen. Kl. W.
Jg. 6. 1927, Nr. 28.
Bewegungsstörungen und Bewegungsleistungen der Stammganglien des
Gehirns (Myostase und Psychomotorik). Naturwissenschaften. Jg. 15.
1927, Nr. 50.
Über zykloide, paranoide und epileptoide Psychosen und über die Frage
der Degenerationspsychosen. Schweiz. Arch. Neur. Bd. 23. 1928.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 2: Über Hör-
störungen, Gerauschtaubheiten und Amusien. Mschr. Psychiatr. Bd. 68.
1928.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 3: Über sen-
sorische Aphasien. J. Psychol. u. Neur. Bd. 37. 1928.
Zur gutachtlichen Bedeutung der ungewöhnlichen autochthonen Psychosen,
sog. Degenerationspsychosen. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 90. 1929.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 4: Über mo-
torische Aphasien. J. Psychol. u. Neur. Bd. 40. 1930.
Über zykloide, paranoide und epileptoide Psychosen und über die Frage
der Degenerationspsychosen. Psychiatr.-Neur. Wschr. Jg. 32. 1930.
Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Kleist 1903—1938 327
42.
43.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
5i.
57.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 5: Das Stirn-
hirn im engeren Sinne und seine Störungen. Z. Neur. Bd. 131. 1931.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 6: Die Stö-
rungen der Ich-Leistungen und ihre Lokalisation im Orbital-, Innen- und
Zwischenhirn. Mschr. Psychiatr. Bd. 79. 1931.
. Geleitwort zu: Hirnpathologische Arbeiten. Hrsg. von Æ. Kleist. J.
Psychol. u. Neur. Bd. 43. 1931.
Neuere Ergebnisse in der Erforschung von Bau, Leistungen und Störungen
der Sehsphäre. Von Kleist u. Beck. Forschungen u. Fortschritte. Jg. 7. 1931,
Nr. 32.
Nuevos resultatos en la investigacion de la estructura, funciones y per-
turbaciones del centro cortical de la vision. Investigacion y Progresso.
Madrid. An. 7. 1933, Nr. 6.
Der Neubau der Städt. und Universitätsklinik für Gemüts- und Nerven-
kranke in Frankfurt a. M. Von Kleist u. Herz. D. m. W. Jg. 57. 1931,
S. 508.
Dass. Z. Krkhswes. Jg. 1931, H. 12.
Nekrolog Vorkastner. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 98. 1932, S. 215f.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 7: Die psycho-
kinetischen, katatonen und myostatischen Störungen des Stammhirns.
Jb. Psychiatr. Bd. 50. 1933.
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 8: Geruchs-
und Geschmacksstörungen. Mitt. 9: Störungen des Bewußtseins, Wach-
seins (Schlafens) und Wesens. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 101. 1933. -
Gehirnpathologische und -lokalisatorische Ergebnisse. Mitt. 10: Der Bau-
und Funktionsplan der Großhirnrinde. Nervenarzt. Jg. 7. 1934.
Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation
und Hirnpathologie. In: Handbuch d. ärztlichen Erfahrungen im Welt-
kriege. Bd. 4: Geistes- u. Nervenkrankheiten. 1922—1934.
Auch erschienen u. d. T.:
Gehirnpathologie vornehmlich auf Grund der Kriegserfahrungen. Leipzig:
Barth 1934. XV, S. 343—1408. 4°. Aus: Handb. d. ärztl. Erfahrungen
i. Weltkriege. Bd. 4.
. Über Form- und Ortsblindheit bei Verletzung des Hinterhauptlappens.
Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 138. 1935.
3. Die Katatonie auf Grund katamnestischer Untersuchungen. T. 1: Die als
Katatonien verkannten Degenerationspsychosen, Psychosen der Schwach-
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Bd. 157. 1937.
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wartsprobleme der Augenheilkunde. Hrsg. von R. Thiel. Leipzig: Thieme
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. Eigenbericht über: Die Katatonie auf Grund katamnestischer Unter-
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Fragestellungen in der allgemeinen Psvchopathologie. Vortr., Jena 1905.
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328 Elisabeth Schwarzhaupt
58. Über die Motilitätspsychosen Wernickes. Vortr., Frankfurt a. M. u. Gießen
1907. Neur. Cbl. Jg. 26. 1907, S. 534 fl.
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Heidelberg 1908. Neur. Cbl. Jg. 27. 1908, S. 1045.
Dass. Dtsch. Z. Nervenheilk. Bd. 36. 1909, S. 176ff.
61. Über Störungen der Rede bei Geisteskranken. Vortr., Stuttgart 1911. Allg.
Z. Psychiatr. Bd. 68. 1911, S. 556f.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 30. 1911, S. 698.
Dass. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 3. 1911, S. 429.
62. Die klinische Stellung der Motilitätspsychosen. Vortr., München 1911.
Allg. Z. Psychiatr. Bd. 69. 1912, S. 109ff.
Dass. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 3. 1911, S. 914ff.
63. Über chronische wahnbildende Psychosen des Rückbildungsalters, be-
sonders im Hinblick auf deren Beziehungen zum manisch-depressiven Irre-
sein. Vortr., Kiel 1912. Neur. Cbl. Jg. 31. 1912, S. 872ff.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 69. 1912, S. 705ff.
Dass. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 5. 1912, S. 485 ff.
64. Vorstellung einer Kranken mit rechtsseitiger choreatischer Bewegungs-
störung (Bindearmchorea mit Gehirnbefund). Erlangen 1912. M. m. W.
Jg. 59. 1912, Nr. 20 u. 21.
65. Anatomische Befunde bei der Huntingtonschen Chorea. Vortr., Halle 1912.
Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 6. 1913, S. 423.
Dass. Psychiatr.-Neur. Wschr. Jg. 14. 1913, S. 489.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 50. 1913, S. 1014.
66. Über Bewußtseinszerfall. Vortr., Breslau 1913. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 7.
1913, S. 5521.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 32. 1913, S. 1057.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 70. 1913, S. 850 ff.
67. Über den Gehirnmechanismus der Pseudospontanbewegungen (im Anschluß
an einen Fall von Thalamusverletzung mit homolateralen Pseudospontan-
bewegungen). Vortr., Erlangen 1913. M. m. W. Jg. 61,1. 1914, S. 271.
68. Zur Kenntnis der symptomatischen Psychosen bei Herzkranken. Vortr.,
Erlangen 1913. M. m. W. Jg. 60, I. 1913, S. 1011.
69. Über Sprachstörungen bei Geisteskranken. Vortr., München 1913. Z. Neur.
Ref. u. Erg. Bd. 7. 1913, S. 812ft.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 71. 1914, S. 181ff.
70. Aphasie und Geisteskrankheiten. Vortr., Jena 1913. Z. Neur. Ref. u. Erg.
Bd. 8. 1914, S. 386.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 53. 1913, S. 762f.
S. auch weiter oben Nr. 14.
71. Über Behandlungsversuche bei progressiver Paralyse mit lumbalen Neo-
salvarsaninjektionen. Vortr., Jena 1913. Arch. Psychiatr. Bd. 53. 1914,
S. 743.
72. Über paranoide Erkrankungen. Vortr., Straßburg 1914. Z. Neur. Ref. u.
Erg. Bd. 10. 1914, S. 97ff.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 33. 1914, S. 9961.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 71. 1914, S. 764 ff.
Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Kleist 1903—1938 329
73.
74.
75.
77.
86.
87.
88.
Besprechung zu dem Thema ‚‚Schädelschüsse‘“ auf d. Kriegschirurgen-
tagung Brüssel 1915. Bruns’ Beiträge. Bd. 96. 1915, S. 477f.
Zur Frage der Operation und zur Prognose bei den Schußverletzungen des
Rückenmarks und der Cauda equina. Aussprache zu: Gehirn- u. Nerven-
schüsse, insbesondere Spätchirurgie. Berlin 1916. Bruns’ Beiträge. Bd. 101.
1916, S. 117f.
Schreckpsychosen. Vortr., Hamburg-Friedrichsberg 1917. Z. Neur. Ref.
u. Erg. Bd. 15. 1918, S. 234f.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 74. 1918, S. 1711.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 37. 1918, S. 569.
. Die Hirnverletzungen in ihrer Bedeutung für die Lokalisation der Hirn-
funktionen. Vortr., Würzburg 1918. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 16. 1918,
S. 336 ff.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 74. 1918, S. 542ff.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 37. 1918, S. 414ff. -
Berichte über endogene Verblödungen. Klin. Teil (mit Krankenvorstel-
lungen). Vortr., Rostock-Gehlsheim 1918. Z. Neur. Ref. u. Erg. Bd. 17.
1919, S. 263 ff.
Dass. Neur. Cbl. Jg. 38. 1919, S. 75ff.
Dass. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 75. 1919, S. 242ff.
. Diagnostische und therapeutische Erfahrungen an Hirntumoren. Vortr.,
Rostock 1918. Neur. Cbl. Jg. 38. 1919, S. 207f.
. Autochthone Degenerationspsychose. Vortr., Bad Nauheim 1920. Z. Neur.
Ref. u. Erg. Bd. 23. 1921, S. 48ff. s. auch weiter oben Nr. 23.
. Die psychomotorischen Störungen und ihr Verhältnis zu den Motilitäts-
störungen bei Erkrankung der Stammganglien. Vortr., Frankfurt a. M.
1922. Zbl. Neur. Bd. 28. 1922, S. 481f. È
Dass. M. m. W. Jg. 69, I. 1922, S. 412.
S. auch weiter oben Nr. 24.
. Wesen und Lokalisation der Paralogie. Vortr., Erlangen 1922. Zbl.
Neur. Bd. 33. 1923, S. 82f.
. Episodische Dämmerzustände. Vortr., Frankfurt a. M. 1923. Zbl. Neur.
Bd. 33. 1923, S. 83f. |
. Dass. Vortr., Baden-Baden 1923. Zbl. Neur. Bd. 34. 1924, S. 421f.
S. auch weiter oben Nr. 32.
. Über die gegenwärtigen Strömungen in der klinischen Psychiatrie. Vortr.,
Innsbruck 1924. Zbl. Neur. Bd. 40. 1925, S. 114fl.
. Filmvorführungen von Bewegungsstörungen bei Geistes- und Nerven-
kranken. Vortr., (Kleist u. Strauß). Frankfurt a. M. 1924. Zbl. Neur.
Bd. 40. 1925, S. 663f.
Zur Physiologie und Pathologie der weiteren Sehsphäre (optisch-motorische
Störungen, optische Aufmerksamkeitsstörungen und Beirrungen der abso-
luten Lokalisation). Vortr., Frankfurt a. M. 1924. M. m. W. Jg. 71, I.
1924, S. 384.
Weitere Beobachtungen über episodische Dämmerzustände. Vortr.,
Tübingen 1925. Zbl. Neur. Bd. 42. 1926, S. 614ff.
Über cycloide Degenerationspsychosen, besonders Verwirrtheits- und
Motilitätspsychosen. Vortr., Baden-Baden 1926. Zbl. Neur. Bd. 44. 1926,
S. 655 ff.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 78. 1926, S. 416ff.
330
89.
90.
91.
92.
93.
94.
95.
96.
97.
98.
99.
100.
101.
102.
103.
104.
Elisabeth Schwarzhaupt
Gegenhalten (motorischer Negativismus), Zwangsgreifen und Thalamus
opticus. Vortr., Frankfurt a. M. 1926. Zbl. Neur. Bd. 46. 1927, S. 51f.
S. auch weiter oben Nr. 33.
Über extrapyramidale Bewegungskoordination. Vortr., Düsseldorf 1926.
Ber. Physiol. usw. Bd. 38. 1926, S. 162f.
Psychomotorische Störungen, Caudatum und Pallidum externum. Vortr.,
Frankfurt a. M. 1927. Zbl. Neur. Bd. 47. 1927, S. 71418f.
Dass. KI. W. Jg. 6, II. 1927, S. 1924.
Cycloide, paranoide und epileptoide Psychosen (sog. Degenerations-
psychosen). Vortr., Bern 1927. Zbl. Neur. Bd. 50. 1928, S. 270.
S. auch weiter oben Nr. 36 u. 44.
Klinik und Diagnose der Katatonie im Film. Vortr., Frankfurt a. M. 1928.
M. m. W. Jg. 75, I. 1928, S. 586f.
Schlafstörungen bei Herderkrankungen des Gehirns. Vortr., Baden-Baden
1928. Zbl. Neur. Bd. 51. 1929, S. 235f.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 86. 1929, S. 303 ff.
Zur hirnpathologischen Auffassung der schizophrenen Grundstörungen:
Die alogische Denkstörung. Vortr., Basel 1929. Zbl. Neur. Bd. 56. 1930.
S. 457ff.
Dass. Schweiz. Arch. Neur. Bd. 26. 1930, S. 99 ff.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 90. 1930, S. 850 ff.
Ansprache bei der Eröffnungsfeier der neuen Städtischen und Universitäts-
klinik für Gemüts- und Nervenkranke in Frankfurt a. M.-Niederrad.
Heinrich-Hoffmann-Str. 10, am 6. 12. 1930. Westdtsche Ärzteztg. Jg. 21.
1930, Nr. 26.
Ärztliche Gedanken zum Neubau der Frankfurter Klinik für Gemüts- und
Nervenkranke. Vortr., Frankfurt a. M. 1931. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 9».
1932, S. 438 ff.
Zur Frage der eugenischen Sterilisierung vom psychiatrischen Standpunkte.
Vortr., Frankfurt a. M. 1933. Westdtsche Ärzteztg. Jg. 24. 1933, S. 1151.
Die Hirngrundlage von Persönlichkeit und Wesen. Vortr., Frankfurt a.M.
1933. Kl. W. Jg. 13. 1934, S. 965.
Dass. Ärztebl. f. Hessen. Jg. 2. 1934, S. 171.
Leitvortrag über Gehirnpathologie und Klinik der Persönlichkeit und
‚Körperlichkeit. Vortr., Baden-Baden 1934. Zbl. Neur. Bd.75. 1935.
S. 710ff.
Dass. Arch. Psychiatr. Bd. 103. 1935, S. 301fl.
Über Form- und Ortsblindheit bei Verletzung des Hinterhauptlappens.
Vortr., Baden-Baden 1935. Zbl. Neur. Bd. 78. 1936, S. 618.
S. auch weiter oben Nr. 52.
Wesensstörungen bei Hirnverletzungen. Vortr., Frankfurt a. M. 1935.
Ärztebl. f. Hessen-Nassau u. Kurhessen. Jg. 1936, H.3, S. 30.
Dass. M. m. W. Jg. 83, I. 1936, S. 581.
Der Hochschulfilm in seiner Bedeutung für Psychiatrie und Neurologie,
mit Vorführung von Teilen aus drei neuen eigenen Filmen. Vortr. (Kleist
u. Pittirich), Dresden 1935. Zbl. Neur. Bd. 78. 1936, S. 170f.
Dass. Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 139. 1936, S. 227f.
Katatonie und Degenerationspsychosen (nach katamnestischen Unter-
suchungen). Vortr. (Kleist u. Driest), Dresden 1935. Allg. Z. Psychiatr.
Bd. 104. 1936, S. 124 ff.
S. auch weiter oben Nr. 53.
Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Kleist 1903—1938 331
105.
106.
107.
108.
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111.
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119.
120.
121.
122.
123.
Aussprache zum Vortrag Tönnıs: Die Geschwülste der Hirnkammern.
Dresden 1935. Dtsch. Z. Nervenhk. Bd. 139. 1936, S. 68.
Bericht über die Gehirnpathologie in ihrer Bedeutung für Neurologie und
Psychiatrie. Vortr., Frankfurt a. M. 1936. Z. Neur. Bd. 158. 1937.
Dass. Ref. Zbl. Neur. Bd. 82. 1936, S. 685 ff.
Schlußwort zum Vortr. Kleist: Bericht über die Gehirnpathologie....
Z. Neur. Bd. 158. 1937, S. 334ff.
Vorführung eines Filmes: Erbliche und erworbene Epilepsie. Vortr.
Frankfurt a. M. 1936. Ärztebl. f. Hessen-Nassau u. Kurhessen. Jg. 1936,
Nr. 15, S. 212.
S. auch weiter unten Nr. 124.
Zustandsbilder und Krankheitsarten im Lichte der Gehirnpathologie.
Vortr., Budapest 1937. Psychiatr.-Neur. Wschr. Jg. 39. 1937, S. 420 ff.
C. Filme
Alzheimersche Krankheit (Kleist u. Herz). Med. Filmwoche. Jg. 2.
1925/26, Nr. V/18.
Starrezustand (Parkinsonismus) bei Encephalitis epidemica (Kleist u.
Herz). Med. Filmwoche. Jg. 2. 1925/26, Nr. II1/10.
Encephalitis epidemica II (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1927, Nr. 4.
Encephalitis epidemica III (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1927,
Nr. 23/24.
Die Motilitätspsychosen (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1926, Nr. 3.
Die Katatonie (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1928, Nr. 18.
Dass. Med. Filmwoche. Jg. 2. 1925/26, Nr. VI/23.
Psychomotorische Akinesen bei Katatonie (Kleist u. Herz). Med. u. Film.
Jg. 1928, Nr. 18.
Dass. Med. Filmwoche. Jg. 3. 1926/27.
Psychomotorische Hyperkinesen bei Katatonie (Kleist u. Herz). Daselbst.
Psychomotorische Dyskinesien bei Katatonie (Kleist u. Herz). Daselbst.
Psychomotorische Störungen bei Herderkrankungen des Gehirns. 1.
Psychomotorische Hyperkinese, Pseudoexpressivbewegungen, Para-
kinesen, Stereotypie (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1928, Nr. 18.
Torsionen und Torsionsdystonie (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1928,
Nr. 16.
Die Verwirrtheiten (Kleist u. Herz). Med. u. Film. Jg. 1928, Nr. 16.
Motorischer Negativismus (Gegenhalten) (Kleist u. Herz). Med. u. Film.
Jg. 1928, Nr. 16.
Neurologisch-psychiatrische Lehrfilme. Hergest. u. bearb. in Gemein-
schaft mit d. mediz.-kinematograph. Universitätsinstitut Berlin. I. Amyo-
statische Störungen. II. Psychomotorische Störungen. Berlin (um 1930).
423a. Fortschreitende Versteifung mit zwangsläufiger antagonistischer Inner-
124.
125.
vation, epileptischen und halluzinatorischen Anfällen (Beck, Kleist,
Pittrich). Reichsstelle für d. Unterrichtsfilm Berlin, Hochschulfilm
Nr. C 47. 1936.
Erbliche und erworbene Epilepsie (Kleist, Pittrich, Duus). Veröffent-
lichung d. Reichsstelle f. d. Unterrichtsfilm z. d. Hochschulfilm Nr. C 111.
1936.
Linker Stirnhirn- und Balkentumor mit Druck auf das Stammhirn.
Bewegungsmangel, Haltungsverharren, Kontraktionsnachdauer, Apraxie
332
126.
127.
128.
129.
130.
131.
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134.
135.
136.
137.
138.
Elisabeth Schwarzhaupt, Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten
u.a. (Kleist u. Pittrich). Veröffentl. d. Reichsstelle f. d. Unterrichtsfilm
z. d. Hochschulfilm Nr. G 192. 1936.
Rechtsseitige Hemiplegie mit linksseitiger Apraxie und Hyperkinese bei
Arteriosklerosis cerebri (Kleist u. Pittrich). Veröffentl. d. Reichsst. f. d.
Unterrichtsflm (im Erscheinen).
Alzheimersche Krankheit (Kleist u. Pitrich). Reichsst. f. d. Unterrichts-
film (im Erscheinen).
Cerebrale Kinderlähmung mit Athetose und Mitbewegungen (Kleist u.
Pittrich). Reichsstelle f. d. Unterrichtsfilm (im Erscheinen).
Athetose (Kleist u. Pittrich). Reichsstelle f. d. Unterrichtsfilm (im Er-
scheinen).
Hyperkinetische Motilitätspsychosen (Kleist u. Pittrich). Reichsstelle
f.d. Unterrichtsfilm (im Erscheinen).
D. Besprechungen
Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie. 4. Aufl. Berlin: Springer 1923. Bespr.
D. m. W. Jg.50, I. 1924, S. 857.
Küppers, Über den Ursprung und die Bahnen der Willensimpulse. Z.
Neur. Bd. 86, S. 274. 1923. Bespr. Zbl. Neur. Bd. 37. 1924, S. 244 fl.
Magnus, Körperstellung. Experimentell-physiol. Unters. über die ein-
zelnen bei d. Körperstellung in Tätigkeit tretenden Reflexe, über ihr
Zusammenwirken u. ihre Störungen. Berlin: Springer 1924. (Monogr. aus
d. Ges. Geb. d. Physiologie d. Pflanzen u. d. Tiere. Bd. 6.) Bespr. Z.
Kinderforsch. Bd. 31. Ref. 1925, S. 82fl.
Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten. 2. Aufl. München 1924. Bespr.
Arch. Psychiatr. Bd. 75. 1925, S. 410ff.
'
' E. Herausgegebene Schriftenreihen
Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin.
Unter Mitred. von K. Kleist u.a. hrsg. von H. Roemer. Bd. 74. 1918 ff.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Unter Mitwirkung von
K. Kleist u.a. hrsg. von K. Bonhoeffer. Bd. 51. 192211.
Hirnpathologische Arbeiten. Hrsg. von Karl Kleist. Nr.4 u. 2. 1931 ff.
In: J. Psychol. u. Neurol. Bd. 43. 1931 ff.
Zentralblatt für Neuro-Chirurgie. Unter Mitarbeit von Ä. Kleist u.a.
hrsg. von W. Tönnis. Jg.1. 1936 ff.
Tagesnachrichten
Der 8. Internationale Neurologenkongreß
findet in Kopenhagen vom 21. bis 25. August 1939 statt.
Verhandlungsthemen:
4. Das endokrin-vegetative System in seiner Bedeutung für die Neurologie,
2. Die hereditären Nervenkrankheiten unter besonderer Berücksichtigung
ihrer Genese,
3. Avitaminoseprobleme unter besonderer Berücksichtigung des peripheren
Nervensystems.
Vortragsmeldungen deutscher Neurologen sind lediglich, und zwar bis
spätestens 1. März 1939, zu richten an Prof. Dr. Pette, Hamburg 20, Uni-
versitätsnervenklinik Hamburg-Eppendorf.
Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater
hält ihre 5. Jahresversammlung in Wiesbaden in der Zeit vom 25. bis
28. März 1939 ab, zum Teil gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für
innere Medizin.
Sonnabend den 25. März vormittags veranstaltet der Ausschuß für
praktische Psychiatrie eine Sitzung, zu der die geladenen Gäste und die
Mitglieder beider Gesellschaften Zutritt haben.
Beratungsgegenstände:
1. Bericht: J. Hallervorden, Berlin: Über die Einrichtung von Prosekturen
in Heil- und Pflegeanstalten.
2. Bericht: W. Creutz, Düsseldorf: Die Ausbildung des Pflegepersonals für
Geisteskranke.
Am gleichen Tage 20 Uhr Begrüßungsabend im Kurhaus.
Sonntag den 26. März: Psychiatrische Sitzung.
Bericht: Die psychischen Störungen des Rückbildungsalters.
Berichterstatter: Bürger, Leipzig.
v. Braunmühl, Eglfing-Haar.
Kehrer, Münster.
Bischoff, Kutzenberg.
Vorträge.
Montag den 27. März: Gemeinsame Sitzung beider Gesell-
schaften.
1. Bericht: Arteriosklerose.
Berichterstatter: Aschoff, Freiburg i. Br.
Frey, Bern.
Vorträge.
2. Bericht: Kreislauf und Nervensystem.
Berichterstatter: Spatz, Berlin-Buch: Pathologische Anatomie der Kreis-
laufstörungen des Gehirns.
Westphal, Hannover: Die Klinik der Kreislaufstörungen des Gehirns (vom
Standpunkt der innern Medizin).
334 Tagesnachrichten
Bostroem, Königsberg: Die Klinik der Kreislaufstörungen des Gehirns
(vom Standpunkt der Neurologie und Psychiatrie).
I. H. Schultz, Berlin: Psyche und Kreislauf.
Vorträge.
Dienstag den 28. März vormittags: Gemeinsame Sitzung beider
Gesellschaften.
Vorträge.
Nachmittags: Sitzung der Gesellschaft Deutscher Neurologen
und Psychiater.
Vorträge.
Alles Nähere ist aus den Programmen beider Gesellschaften zu ersehen.
Der Internationale Ausschuß für Kinderpsychiatrie wird Diens-
tag den 28. März nachmittags tagen. Näheres wird noch bekanntgegeben.
Die Reichsbahn gewährt den Teilnehmern folgende Fahrpreisermäßi-
gung:
A. Besucher aus dem Inland erhalten Sonntagsrückfahrkarten
(331/,°5 Fahrpreisermäßigung) von allen Bahnhöfen im Umkreise von 250 km
um Wiesbaden. Die Karten gelten zur Hin- und Rückfahrt vom 23. März
0 Uhr bis 31. März 24 Uhr (Ende der Rückfahrt).
Diese Sonntagskarten sind für die Rückfahrt nur gültig, wenn sie
auf der Rückseite mit einem Stempel versehen sind, der im Geschäftszimmer
in Wiesbaden einzuholen ist.
Für Teilnehmer, die einen größeren Reiseweg als 250 km haben, gibt es
zwei Möglichkeiten: 1. Am Abfahrtsbahnhof gegen eine Telegrammgebühr
von 60 Pfg. Vorbestellung einer Sonntagsrückfahrkarte für den in Betracht
kommenden Bahnhof der 250-km-Grenze. Das wären die Orte: Bad Wildungen,
Köln, Bamberg, Düsseldorf, Duisburg, Bebra, Kassel, Krefeld, M.-Gladbach
Offenburg, Karlsruhe, Saarbrücken und Stuttgart. — 2. Benutzung einer
Urlaubskarte mit 20 und mehr Prozent Ermäßigung. Hierbei ist zu be-
achten, daß die Rückreise frühestens am 7. Geltungstage angetreten werden
darf.
B. Ausländische Besucher erhalten 60% Fahrpreisermäßigung. Die
Rückfahrt kann jederzeit angetreten werden. Bedingung ist hierbei nur, daß
die verbilligten Fahrscheinhefte bei den ‚Mer‘“-Ausgabestellen im Ausland
oder auf deutschen Schiffen oder in deutschen Hafenorten gelöst und mit
ausländischen Zahlungsmitteln bezahlt werden.
Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin ist Pro-
fessor Dr. Geronne, Wiesbaden, Schwalbacherstr. 62, Geschäftsführer der Ge-
sellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Professor Dr. Nitsche, Pirna,
Bezirk Dresden.
Cardiazolbehandlung Geisteskranker auf Kosten der Krankenkassen
Der Reichsarbeitsminister hat am 2. 11. 1938 an die Träger der Kranken-
versicherung folgendes Schreiben gerichtet: „Nach meinem Erlaß vom 25. 5.
1938 — Il a 5032/38 — (Reichsarbeitsbl. [AN] S. IV 225) hat sich die In-
sulinbehandlung Schizophrener als so wirksam erwiesen, daß unter ge-
wissen Voraussetzungen die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen
gerechtfertigt erscheint. Nach einem Gutachten des Reichsgesundheitsamtes
trifft das über die Insulinbehandlung abgegebene Urteil auch auf die Car-
Tagesnachrichten 335
diazolbehandlung zu. Ich habe daher keine Bedenken, wenn Kranken-
kassen auch in Fällen, in denen die Anwendung der Cardiazolbehandlung
ärztlicherseits als zweckmäßig und erfolgversprechend angesehen wird, die
Kosten der Behandlung übernehmen.“
Die Akademie für ärztliche Fortbildung in Dresden
gibt ihr Vorlesungsverzeichnis für das Jahr 1939 bekannt. Die in der ärzt-
lichen Fortbildungsschule des Rudolf-Heß-Krankenhauses stattfindenden
Kurse über „Naturheilkunde im Rahmen der Gesamtmedizin‘“ sind
für das Jahr 1939 durchweg voll besetzt. Anmeldungen für solche Kurse können
für 1940 an die ärztliche Fortbildungsschule am Rudolf-Heß-Krankenhaus,
Dresden A 16 Fürstenstr. 74 über die zuständigen ärztlichen Bezirksvereini-
gungen gerichtet werden.
Außerdem finden folgende Sonderkurse statt:
1. „Moderne medizinische Diagnostik“ mit klinischen Demonstrationen
und Laboratoriumsarbeiten für praktische Ärzte (im Rudolf-Heß-Kranken-
haus) 16.—21. 1. 1939.
2. „Röntgendiagnostik und Indikation für Strahlentherapie“
(Rudolf-Heß-Krankenhaus und Stadtkrankenhaus Friedrichstadt Dres-
den) 13.—18. 2. 1939.
3. „Naturheilkunde in der Praxis‘ (Rudolf-Heß-Krankenhaus) 6. bis
11. 3. 1939.
4. „Frühdiagnose der Tuberkulose‘ mit klinischen Demonstrationen
(Krankenhäuser in Dresden, Coswig, Klotzsche, Zwickau, Bad Reibolds-
grün) 17.—22. 4. 1939.
5. „Gesundheitsführung als Aufgabe des praktischen Arztes“
mit Besichtigung verschiedener Betriebe (Deutsches Hygienemuseum)
24.—29. 4. 1939.
6. „10. Sportärztelehrgang (Bad Elster) 14.—27. 5. 1939.
7. „Radioaktive Stoffe in der Therapie‘ (Radiumbad Oberschlema,
Bad Elster, Bad Brambach) 5.—10. 6. 1939.
8. „Stoffwechselerkrankungen‘“ (Karlsbad) 26. 6.—1. 7. 1939.
9. „11. Sportärztelehrgang‘ (Bad Elster) 13.—27. 8. 1939.
40. „Naturheilkunde in der Praxis‘ (Rudolf-Heß-Krankenhaus) 4. bis
9. 9. 1939.
11. „Psychiatrie und Neurologie‘ (Landes-H.- u. Pfl.-Anst. Arnsdorf
b. Dresden) 9.—1A. 10. 1939.
42. „Naturheilkunde in der Praxis“ (Rudolf-Heß-Krankenhaus) 6. bis
11. 11. 1939.
Außerdem veranstaltet die Akademie das ganze Jahr laufend je nach Mel-
dung und Bedarf Fortbildungskurse über Geburtshilfe und Gynä-
kologie an nachstehenden Kliniken: 1. Städt. Frauenklinik Dresden (Prof.
Eufinger), 2. Universitätsfrauenklinik Leipzig (Prof. Schröder), 3. Staatl.
Frauenklinik Dresden (Prof. Warnekros).
Die Teilnehmerzahl für alle Kurse ist beschränkt. Die Kursusgebühr be-
trägt RM. 50.—, die auf das Postscheckkonto der Akademie Dresden 6499
einzuzahlen oder bei Beginn des Kurses zu entrichten ist. Anfragen und An-
meldungen sowie ausführliche Vorlesungsverzeichnisse und Vermittlung von
Unterkunft durch das Sekretariat der Akademie für ärztliche Fortbildung,
Dresden A 1, Lingnerplatz 1, Fernruf 25951.
336 Tagesnachrichten
Kurze Mitteilungen
Professor Oswald Bumke-München hat auf Einladung der Medizinischen
Fakultät und des Senats der Universität am 29. und 30. November 1938 in
Sofia Vorträge aus seinem Arbeitsgebiet gehalten. Er erhielt bei einem
Empfang durch den König das Großoffizierskreuz des Bulgarischen Zivil-
verdienstordens.
Prof. W. Tönnis-Berlin Nat in Belgrad zwei Vorträge zur Neurochirurgie
gehalten.
Obergeneralarzt Prof. Dr. Berthold von Kern, Berlin-Steglitz, der am 5. De-
zember seinen 90. Geburtstag beging, ist in Anerkennung seiner Leistungen
durch Verleihung der Goethe-Medaille ausgezeichnet worden.
Die nächstjährige 15. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ver-
dauungs- und Stoffwechselkrankheiten findet voraussichtlich in der
zweiten Septemberhälfte unter dem Vorsitz von Professor Eppinger in Wien
statt. Vorläufige Themata: 1. Fettstoffwechsel in quantitativer und quali-
tativer Hinsicht; 2. Insulinschocktherapie; 3. Leberparenchymerkrankungen ;
4. Der Stoffwechsel in großen Höhen.
Der Führer und Reichskanzler, als Schirmherr des Deutschen Roten
Kreuzes, hat den französischen Ärzten Prof. Dr. Baumgartner und
Dr. Paul als Zeichen seines Dankes für ihre mit großer menschlicher Teilnahme
erfüllten Bemühungen um den durch Meuchelmord tödlich verletzten Ge-
sandtschaftsrat vom Rath die I. Klasse des Ehrenzeichens des Deutschen Roten
Kreuzes verliehen.
Persönliches
Breslau. Oberarzt Dr. med. habil. W. Wagner wird im Wintersemester
1938/39 die Vertretung der durch das Ableben von Prof. Lange freigewordenen
- Professur für Psychiatrie und Neurologie sowie die Leitung der Psychiatrischen
Klinik wahrnehmen.
Hamburg. Professor Theodor Neuberger, Direktor der Anstalt Friedrichs-
berg, ist im Alter von 62 Jahren gestorben.
Kaufbeuren-Irse. Dr. Maier, Med.Rat 1. Klasse bei der Kreis-Heil- und
Pflegeanstalt ist in den Ruhestand getreten.
Kiel. Dem n.b.a.o. Professor H. Gerhardt-Creutzfeldt ist unter Ernennung
zum o. Professor der Lehrstuhl für Psychiatrie übertragen worden.
Klingenmünster. Oberarzt Dr. Kolkmann an der Kreis-Heil- und Pflege-
anstalt wurde auf Antrag entlassen.
Lippe. Oberarzt Dr. Müller bei der Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus
wurde zum Direktor ernannt.
Möhringen a. F. (Württ.). Obermedizinalrat i. R. Dr. Gustav Weinland,
früher langjähriger Vorstand der Anstalten Zwiefalten und Weinsberg, ist
im Alter von 72 Jahren gestorben.
Regensburg. Oberarzt Dr. Plank an der Kreis-Heil- und Pflegeanstalt wurde
zum Medizinalrat 1. Klasse ernannt.
Sonnenstein. Regierungsmedizinalrat Dr. Hoffmann bei der Landesheil-
und Pflegeanstalt wurde zum Stellvertreter des Direktors ernannt.
Tübingen. Der a.o. Professor Wilhelm Gieseler (Rassenbiologie) wurde
zum Ordinarius ernannt.
Werneck. Assistenzärztin Dr. Schiffmann an der Kreis-Heil- und Pflege-
anstalt wurde zum Oberarzt ernannt.
Be ia O SMART Z I
A ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
- FÜR PSYCHIATRIE
UND IHRE GRENZGEBIETE
sfo
z GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER
R OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO-
0... LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG)
= — MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE!
Fr hut Unter Mitwirkung von
A
F. AST-München / J. BERZE-Wien ! E. BLEULER-Zürich ! K. BON-
J EEO EErEE Berlin ı M.FISCHER-Berlin-Dahl. / A.GÜTT-Berlin / K.KLEIST-
- Frankfurta. M. / E. KRETSCHMER-Marburg ; P. NITSCHE-Sonnenstein
H REITER-Berlin ı E. RÜDIN-München ; C. SCHNEIDER-Heidelberg
herausgegeben von
I HANS ROEMER
ILLENAU >
Hundertzehnter Band - Heft 1/3
Mit 1 Porträttafel und 35 Abbildungen im Text und auf 14 Tafeln
Ausgegeben am 31. Januar 1939
Ja | Karl - Kleist- Festschrift
BERLIN 1939
WALTER DE GRUYTER & CO.
VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS-
. | . _ BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT& COMP.
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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete Band 110 / Heft 4/3
Inhalt
Karl Kleist 60 Jahre alt
Widmung
Gustav Specht, Über den vitalen Faktor im manischen Krankheltszustand ee
A. Bostroem, Über krankheitsverändernde, insbesondere krankheitsmildernde Einflüsse
der manisch-depressiven (thnymopathischen) Konstitution . . . 2» 2 222 ..
G. Zillig, Über paragrammatische Störungen . . » s.s 2 2 2er rer rennen. 21
F. G. von Stockert, Metamorphotaxie — ein Beitrag zur Symptomatologie des Riechhirns 48
H. Stadler, Über psychische Störungen bei familiär auftretender Ostitis deformans Io
des Schädels. Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel . . . x 2 2 2 20. F- TENT
Klaus Speckmann, Beitrag zur Differentialdiagnose und Re der „‚Episodi-
schen Dämmerzustände“ (Kleist) - - » » 2 2 2 220. ` E E E AET
Sieben, Die Haftpflicht des Krankenhauses für Nerven- und Geisteskranke . . . . . .. 78
T. Riechert, Beitrag zur operativen Behandlung der traumatischen Spätepilepsie. Mit
6 Abbildungen auf 3 Tafeln . . . 2 2 2 2 2 2 0. Er er 9
K. Leonhard, Das ängstlich-ekstatische Syndrom aus innerer Ursache (Angst-Eingebungs-
psychose) und äußerer Ursache (symptomatische Psychosen). Mit 1 Abbildung . 101
J. Klaesi, Über Asynergie der Wahrnehmungsvorgänge . . . » 2 2 2 22220020. 0.143
E. Fünfgeld, Über Schädigung des N. opticus durch Arteriosklerose und zur Frage der
Stauungspapille. Mit 2 Abbildungen auf 1 Tafel . . . - «2 2 2 2 2 2 2 20.0.7146
Gottfried Ewald, Zur Theorie der Schizophrenie und der Insulinschockbehandlung . . . 153
Peter Duus, Über familiäre Narkolepsie und ihre Beziehungen zum Formenkreis anfalls-
artiger Erkrankungen . . © x 2 2 ee... ar ee 5 |
Walter Betzendahl, Der abnorme A e a 0 ri ee
Eduard Beck, Homologie und anatomische Äquivalenz . 2 2 2 2 2 m un u m ran
Günter Elsässer, Zur Frage des „Familien- und Selbstmordes" . . . 2» 2 2 2.2. TE |
F. E. Flügel, Kasuistischer Beitrag zu den postoperativen Psychosen . . . . 2 2 2... 220
J. Zutt, Über das Lachen, das Weinen und das Gähnen. ... . . EREET >s. . 224
H. Lehmann-Facius, Serologisch-analytische Versuche mit Liquoren und Seren von
schizophrenen bzw. atypischen Psychosen . . 2 2 2 2 2 2 2 2 2 0.0 er ER
W. Tönnis, Zur Behandlung der Hypophysengangzysten. Mit 6 Abbildungen auf 3 Tafeln 244
. t
F. Sioli, Die Übererregbarkeits- oder tetanoide Epilepsie. Mit 10 Abbildungen im Text 252
Jise Graf, Über atypische symptomatische Erschöpfungspsychosen . . . 2 2 22.2. .281
D. Miskolczy und H. Csermely, Ein atypischer Fall von Pickscher Demenz. Mit 8 Abbil-
dungen auf 6 Tafeln .... 2 2 2 2 02. ER ER aa rer EM
R. Persch, Über Gedankenzwang und automatisiertes Denken bei der Encephalitis
lethargica Een a rt re te er b = . + . > . . 316
Elisabeth Schwarzhaupt, Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Kleist
1903—1938 .. u. a a we E E “0° 4 O VA te D A i ee we va eh 325
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiette Band 110 / Heft 1/3
Die „Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete‘“ nimmt einschlägige
Originalarbeiten auf und veröffentlicht sie möglichst in der Reihenfolge des Eingangs. Ar-
beiten, die nicht länger als ein halber Druckbogen sind, werden im Erscheinen bevorzugt.
Der Unkostenersatz für den Verfasser beträgt für den 16-seitigen Druckbogen RM. 24.—.
Die Zeitschrift erscheint in zwangloser Folge in Heften; vier Hefte bilden jeweils einen Band
von ungefähr 28 Druckbogen; jährlich erscheinen etwa drei Bände. Der Preis eines Bandes
beträgt RM. 25.—, für die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater RM. 20.—
(außerhalb Deutschlands ermäßigt sich, solange keine andere Regelung getroffen wird, der
Preis um 25°/., sofern in Devisen oder freien Reichsmark gezahlt wird).
Bestellungen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes oder direkt an den Verlag.
Beiträge sowie Veröffentlichungen, die in der Zeitschrift ER werden sollen, sind aus-
schließlich zu richten an den Herausgeber .
Direktor Dr. Hans Roemer, Illenau bei Achern (Baden)
Für die Verfasser von Literaturübersichtsberichten und Besprechungen von Büchern, Sonder-
abzügen und Jahresberichten gelten besondere Bestimmungen.
Es wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Annahme des Manuskriptes
und seiner Veröffentlichung durch den Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für alle Sprachen
und Länder an den Verlag übergeht, und zwar bis zum 31. Dezember desjenigen Kalender-
jahres, das auf das Jahr des Erscheinens folgt. Es können also grundsätzlich nur Arbeiten
RER, werden, die vorher weder im Inland noch im Ausland veröffentlicht worden
d.
Bei Arbeiten aus Kliniken, Anstalten, Instituten usw. ist eine Erklärung des Direktors oder
eines Abteilungsleiters beizufügen, daß er mit der Veröffentlichung der Arbeit einverstanden
Ist und den Verfasser auf die Aufnahmebedingungen aufmerksam gemacht hat,
Die Verfasser erhalten von ihrer Arbeit je40 Sonderdrucke kostenfrei, weitere (bis zu 160 Stück)
gegen die übliche billige Berechnung der Mehrkosten, falls sie diese bei der Rücksendung
der ersten Korrektur bestellen.
Alle nichtredaktionellen Angelegenheiten, die die Zeitschrift betreffen, erledigt
Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35, Woyrschstraße 13
-
Aufnahmebedingungen.
1. Die Beiträge müssen dem Gebiet der Zeitschrift angehören und wissenschaftlich wertvoll
sein. Arbeiten, die ausschließlich polemischen Inhalt haben, werden nicht aufgenommen.
Bemerkungen, die ohne neue Belege lediglich Angaben eines Verfassers richtigstellen
sollen, werden diesem vorgelegt.
2. Die Beiträge sollen klar, kurz und in gutem Deutsch abgefaßt sein und druckrelf, möglichst
in Maschinenschrift geschrieben eingesandt werden.
3. Auf eine ausführliche geschichtliche Einleitung kann stets verzichtet werden.
4. Über jede Art von Tatbestand (Krankengeschichte, Sektionsbefund, Versuchsergebnis)
ist in der Regel nur eine Niederschrift als Beispiel in knappster Form wiederzugeben;
nötigenfalls können die übrigen Beweismittel im Text oder in Tabellenform gebracht
werden. Es empfiehlt sich, in einer Fußnote mitzuteilen, an welcher Stelle (Anstalt, Klinik,
Institut) die gesamten Beweismittel zur Einsicht oder Anforderung niedergelegt sind.
5. Abbildungen sind auf die notwendigste Zahl zu beschränken, die Vorlagen dazu auf ge-
sondertem Blatt in einer Form, die sich für die unmittelbare Wiedergabe eignet, zu liefern
und so ausreichend zu beschriften, daß sich die eingehende Beschreibung im Text erübrigt.
Eine doppelte Mitteilung von Ergebnissen in Tabellenform und in a. ist ausnahms-
los unzulässig.
6. Jedem Beitrag ist in der Regel am Schluß eine Zusammenfassung der Ergebnisse beizu-
fügen.
7. Das Schrifttum ist am Ende der Arbeit anzuführen; die Angaben, die nur im Text be-
rücksichtigte Arbeiten enthalten dürfen, erfolgen ohne Titel der Arbeit nur mit Band-,
Seiten-, Jahreszahl; Titelangaben sind nur bei Büchern zulässig; bei den Titelabkürzungen
der medizinischen Zeitschriften ist das Verzeichnis der „Periodica Medica‘' 3. Aufl. 1937
(Georg Thieme, Leipzig) zu benützen.
8. An Dissertationen werden nach Form und Inhalt dieselben Anforderungen gestellt wie an
die anderen Arbeiten. Danksagungen an die Leiter von Kliniken, Anstalten, Instituten usw.
werden nicht abgedruckt; in einzeiliger Fußnote kann dagegen mitgeteilt werden. wer die
Arbeit angeregt und geleitet oder wer die Mittel dazu gegeben hat.
Soeben erschien:
MINERVA
JAHRBUCH DER GELEHRTEN WELT
Herausgegeben von Dr. GERHARD LÜDTKE
33. Jahrgang
Abteilung: UNIVERSITÄTEN UND FACHHOCHSCHULEN
Band Il: DIE AUSSEREUROPÄISCHEN HOCHSCHULEN
1029 Seiten, gebunden RM. 38.—
Von der Abteilung „Universitäten und Fachhochschulen‘‘ der Minerva erscheint
jetzt der 2. Band mit den Angaben über die außereuropäischen Anstalten.
Die Herausgabe in 2 Bänden bot die Möglichkeit einer wesentlichen Erwei-
terung des Stoffes und dürfte den ohnehin seit Jahrzehnten erkannten und
anerkannten Nutzen dieses unentbehrlichen Nachschlagewerkes noch weiter
erhöhen.
Frühersinderschienen:
Band I: EUROPA
1330 Seiten, gebunden RM. 42.—
Abteilung Forschungsinstitute, Observatorien, Bibliotheken,
Archive, Museen, Kommissionen, Gesellschaften.
32.Jahrgang. Oktav. 1765 Seiten. 1937. Gebunden RM. 58.—
WELTKALENDER DER GELEHRTEN
Herausg. von Dr. Gerhard Lüdtke, redaktionelle Leitung Dr. Friedrich
Richter. Oktav, VIII, 1481 Seiten. 1936. Gebunden RM. 45.—.
’ERLAG WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN
Anzeiganpreise nach Tarif3. — Verantwortlich für den Anzeigenteil: Kurt Dittrich ‚Berlin. I. v. W. g-
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