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Full text of "Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 113.1939-114.1940"

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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
UND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE sZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE« 


Unter Mitwirkung von 


F. AST-München /J.BERZE-Wien /E. BLEULER-Zürich / K. BONHOEFFER- 
Berlin / M. FISCHER-Berlin-Dahl. /A.GÜTT-Berlin/K. KLEIST-Frankfurt/M. 
E. KRETSCHMER-Marburg / P. NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH- 
Bonn H.REITER-Berlin / E. RÜDIN-München / C. SCHNEIDER-Heidelberg 


herausgegeben von 


HANS ROEMER 


ILLENAU 


Hundertdreizehnter Band 


BERLIN 1939 
WALTER DE GRUYTER & CO. 


VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS- 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 


Es wurden ausgegeben: 
Heft 1/2 (S. 1—232) am 16. IX. 1939 
Heft 3/4 (S.233—392) am 27. X. 1939 


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Alle Rechte vorbehalten 
Archiv-Nr. 580539 — Printed in Germany 


Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 


Dedos st: 


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Inhalt 


Originalarbeiten 


Viernstein, Behandlung Krimineller . . . . noaa aaa aa 

Meggendorfer, Friedrich, Zur Frage der alkoholischen Blastopthorien 

Stumpfl, F., Probleme der Erbcharakterforschung. . . . . . EE 

Kraulis, W., Zur Klinik der Erbpsychosen. . .. .. 22 2.. 

Fischer, Max, Die Vorfahren Immanuel Kants. . . . . 2. 2 2 2.0. 

Scheid, Werner, Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen. Mit 
3 Abbildungen auf 1 Tafel . .. 2. 2 2 2 2 2 22. 


Schmidt-Kehl, Ludwig, Die Erkrankungswahrscheinlichkeit der Enkel für 
manisch-depressives Irresein. . . . . 22.2... En A 


‚Mauz, F., Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff . . . . . . 2... 
Betzendahl, Walter, Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 


Hogrefe, Irma, Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen 
Bild. Mit 4 Abbildungen im Text. . . . 2 2 2 2 2 2 20. 


Sabass, U., Präpsychotische Persönlichkeit und Krankheitsverlauf bei 
Dementia senilis. . . .. 22220. ee he ee KR es 


Schröder, Johann Friedrich, Über Liquorveränderungen bei der multiplen 
IKIETOSEE. zur ze m. Be ee ee Se 


Lohmann, Erna, Wirkung des Insulins und des Cardiazols im Sinne der 
Schokkuren auf Kaninchen. Mit 10 Abbildungen im Text . . 


Eine Feierstunde der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie . . 
Schmitz, H. A., Der Erste Internationale Kongreß für Kriminologie in Rom 


Kretschmer, Ernst, Die konstitutionelle Retardierung und das Problem des 
sozialen Kontaktes und der Neurose. . 2. 2: 2 2 2 2 2 2 0. 


Beckmann, E., Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 

Nachtwey, Hans, Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Ver- 
ursachung, Diagnostizierbarkeit, Lokalisation und die durch sie 
bedingten Veränderungen und Ausfallserscheinungen........... 

Stefan, H., Kümmellsche Wirbelerkrankung und u an 
Mit 1 Abbildung im Text. . . . 22.2 2 2 2 2 20. 

Strobel, Theodor, Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die 
Blut-Hirnschranke? . . aaa ne. 

Schmieder, Fritz, Über Krampfschäden bei der Cardiazolbchandiune.. 


. 185 
. 210 


213 


. 233 


239 


294 


323 


. 330 


341 


IV Inhalt 


Carriere, R., Ein Jahr Cardiazolbehandlung auf der unruhigen Frauen- 


aDLEIUND e 4.3 a r re ea A 349 
Enke, W., und M. Kanthak, Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehand- 
Ma re ea Be Et aG 357 
Dimitrijević, D. T. und N, Zec, Über frühinfantile Einstellungen bei der 
Insulinbehandlung der Schizophrenie . . . 2.2. 22.2.2... . 366 
Möckel, Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan 
und in der Kriegswirtschaft . . . 2 2 Er Er nr ren 367 
Zeitschriftenübersicht: 
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Bd. 42, 1938; Bd. 43, 
Homi TII 0: 2. 2-2: aa sea we u dr Te RT Re 3 218, 387 
The Journal of Nervous and Mental Disease Bd. 88 (1938) Nr.1 (Juli) 
bis 6 (Dezember) :.: » & 2. 2. 4 wa. Ra, ei 224 
Kurze Mitteilungen: 
Eine Feierstunde der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie . . 210 
Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater . . . . 22... 231 
Allgemeiner ärztlicher Fortbildungskurs für Psychotherapie und Kon- 
stitutionsforschung . . . 2: 2 2 2 m nn nn 231 
Persönliches: . . . 2 2.5 2. 5 Ee 37 2 5 %-% eh A 232 
Autorenregister 
Beckmann, E. 139 Kraulis, W. 32 Schmieder, Fritz 241 
Betzendahl, Walter 86 Kretschmer, Ernst 133 Schmitz, H. A. 213 
Carriere, R. 249 Lohmann, Erna 185 Schröder, Johann 
Dimitrijević, D.T. und Mauz, F. 86 Friedrich 172 
N. Zec 366 Meggendorfer, Fried- Stefan, H. 223 
Enke,W., und M. Kant- nen 1 Strobel, Theodor 230 
hak 257. S E Stumpfl, F. 25 
f Nachtwey, Hans 194 g er 
Fischer, Max 63 Sabass, U. 135 Viernstein 1 
Hogrefe, Irma 122 Scheid, Werner 66. Zec, N., s. D. T. Dimi- 
Kanthak, M., s. W. Schmidt-Kehl, Lud- trijević 


Enke 257 wig 83 


» 


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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
UND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1344 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE« 


Unter Mitwirkung von 


F. AST-München / J.BERZE-Wien / K. BONHOEFFER-Berlin / M. FISCHER - 

Berlin-Dahl./ A.GÜTT-Berlin/K.KLEIST-Frankfurt/M. E.KRETSCHMER- 

Marburg ı P. NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH-Bonn ı H. REITER- 
Berlin / E. RÜDIN-München / C.SCHNEIDER-Heidelberg 


i OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
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| herausgegeben von 

i 


d | HANS ROEMER | | 


ILLENAU 


113. Band - Hett 1/2 


| Mit 17 Abbildungen im Text und auf 1 Tafel d 
i Ausgegeben am 16. September 1939 


BERLIN 1939 


WALTER DE GRUYTER & CO. 


VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS f 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. i 


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Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebitte Band 113 / Heft 1/2 


| Inhalt 


Viernstein, Behandlung Krimineller ...... ee 2 


Meggendorfer, Friedrich, Zur Frage der alkoholischen Blastophthorien . . 15 


Stumpfl, F., Probleme der Erbcharakterforschung . . . s... .. 25 
Kyaulis, W., Zur Klinik der Erbpsychosen . . . . esses esso e e 32 
Fischer, Max, Die Vorfahren Immanuel Kants . . . . 2. 2 2 2 2 2 2 0. 63 


Scheid, Werner, Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen. Mit 
3 Abbildungen auf ı Tafel .. 2.2. 2 2 0 0 0 0 ne 66 


Schmidti-Kehl, Ludwig, Die ne a der Enkel für 
manisch-depressives Irresein . . © . 2 2 ek ee oeo osoo o oo 83 


Mauz, F., Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff . . . 2 2... o’ 86 
Betzendahl, Walter, Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 98 


Hogrefe, Irma, Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen 
Bild. Mit 4 Abbildungen im Text... 2. 22 essees o. o o 12 
Sabass, U., Präpsychotische Persönlichkeit und Krankheitsverlauf bei Demen- 
tia senilis a ea a ee ee wa er ne 195 
Schröder, Johann Friedrich, Über Liquorveränderungen bei der multiplen 
SKIETOSE: in. a: une, rn ar Bere ee ar ren Ener 172 
Lohmann, Erna, Wirkung des Insulins und des Cardiazols im Sinne der 
Schockkuren auf Kaninchen. Mit ıo Abbildungen im Text... . 185 
Eine Feierstunde der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie . . . 210 


Schmitz, H. A., Der Erste Internationale Kongress für Kriminologie in Rom 213 


Zeitschriftenübersicht: 
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Bd. 42, 1938 . . . . . 218 


The Journal of Nervous and Mental Disease Bd. 88 (1938) Nr. ı (Juli) bis 
6 (Dezember) . .. . 2. 2 220020. are a 24 


Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater . . 2. 2 e.. ee s s e o 231 


Allgemeiner ärztlicher Fortbildungskurs für Psychotherapie und Konstitutions- 
JOTSCHUNE: u: 2. a ur ee ea a u 


Persönliches . .. 3.2000 2 2 se a eh 


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eo e o e o 232 


2 


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9 


Behandlung Krimineller*) 
Von 
Ministerialrat Prof. Dr. Viernstein, München 


Die Frage der Behandlung Krimineller, heerespsychologisch ge- 
sehen, ist insofern von Bedeutung, als erstens gewisse vorbestrafte 
Personen dem Heere angehören können und zweitens heeres- 
angehörige Personen sich strafgesetzliche Verstöße zuschulden 
kommen lassen oder sonstwie durch kriminelle Geneigtheit in der 
Truppe Schwierigkeiten bereiten. 

Zunächst darf ich Ihnen schildern, wie innerhalb der zivilen 
Strafjustizpflege, also in der Strafverwahrung, die Kriminellen 
typologisch und reaktiv in die Erscheinung treten und wie ihre Be- 
handlung ist. 

Ein Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung der Kri- 
minellenbehandlung sei vorangestellt. 

Bei Georg Jakob Wolf „Das kurfürstliche München 1620—1800“ 
findet sich ein Auszug aus dem „Kommentarium ad jus municipale 
bavaricum“ von Kaspar von Schmid aus dem Jahre 169. 

Dieser Auszug lautet: 


s. ». Von dem allhier erbauten Zuchthaus. 

Damit nun heilloses Gesindel vertrieben, übermütige Herrendiener, trotzige 
und schlimme Ehehalten und heillose Dienstboten, liederliche und insolente 
Handwerksbursche, keinnutzige Lehrjungen und sträfliche Schülerbuben 
in besserem Zaum, Gehorsam und Respekt gegen ihre Herrschaften, Meister 
und Präzeptoren gehalten, die ungeratenen Kinder gegen ihre Eltern zu 
mehrerem Gehorsam gebracht, freche und leichtfertige Menscher, faule und 
in der nötigsten Arbeit aus den Diensten stehende Ehehalten, Bauernknechte 
und Mägde, schlimme und langsame Zimmerknechte und Maurergesellen, 
welche zu Nacht mehr heim- und dem Bauherrn abtragen, als sie den ganzen 
Tag hindurch mit ihrer Handarbeit verdient haben, faule Handlanger und 
Tagwerker, die lieber feiern als um einen rechten Lohn arbeiten, in Summa 
jeder, der sonst nicht gut tun oder sich auf den Bettel und Müssiggang legen 
will, zur Buße, Arbeit und zu bessereın Leben gebracht oder an einen solchen 
Ort gesetzt werde, wo er niemand mehr beschweren noch andere verführen 
kann: 

Sind Ihre kurfürstliche Durchlaucht dahin bemüßigt worden, hierzu ein 
eigenes Zuchthaus in Dero Haupt- und Residenzstadt München aufrichten 


73 ) Vortrag in der Militärärztlichen Akademie Berlin am 18. März 1939 


alten. 
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


2 Viernstein 


zu lassen. Man ist damit auch schon so weit gekommen, daß bereits ein guter 
Teil solcher schlimmer Leute, Manns- und Weibspersonen, untergebracht 
sind, wie sich darin auch verschiedene Personen befinden, welche nach ihrem 
Verschulden, in Eisen und Banden, bei geringer Atzung und schlechtem Lebens- 
unterhalt mit harter Arbeit, Karbaztsch- und Rutenzüchtigung oder in andere 
Weg wohl empfindlich abgestraft und mortifiziert werden. 

So gehören auch hierzu diejenigen, welche wider Geistliche und Weltliche 
allerhand Lügen aufbringen wider diese heilsame Verordnung und diejenigen, 
welche damit zu tun haben, schmähen, und in Summa ein jeder, der nicht 
tut, was sich gebührt. 

Signatum, München, den 4. Juni 1682. 

Die psychologische Seite der geschilderten Behandlungsweise — 
Legen in Eisen, karge und schlechte Nahrung, körperliche Züchti- 
gung, harte Arbeit, gute Aussicht auf Strafbeendigung durch Tod 
— ist offensichtlich ohne jede Spur von Unterschiedlichkeit nur auf 
brutale Härte und Abschreckung abgestellt. Dies entsprach der 
Zeit, dem damaligen Wissens- und Kulturstand und wohl auch dem 
erhöhten Sicherungsbedürfnis nach dem sozial so destruierenden 
30 jährigen Kriege. 

Wir ,„Modernen‘“, um sogleich den Sprung in die Jetztzeit zu 
machen, haben diese eindringliche Methode verlassen und sind 
dank den heutigen Einblicken in die Zusammenhänge kriminellen 
Geschehens mit seelisch geistigen Voraussetzungen des Täters und 
mit den Verhältnissen seiner Umwelt zu anderen Formen über- 
gegangen. Diese sind sachlich richtiger und brauchen deswegen 
keineswegs der Nachdrücklichkeit und Wirksamkeit zu entbehren. 

Es ist aber noch nicht gar so lange her, daß man sich auf den 
heutigen Standpunkt hochschraubte. Denn 1907, als ich Anstalts- 
arzt am Zuchthaus Kaisheim bei Donauwörth wurde, hatten wir 
nach der Dienstanweisung noch einen Strafvollzug alter Schablone 
aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Diese Form der Behand- 
lung Krimineller stellte den letzten Ausläufer jener Übung dar, die 
wir in ihrer krasseren Ausprägung von Kaspar von Schmid ge- 
schildert bekamen. 

Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts war — ich spreche aus 
bayerischer Erfahrung — die Hygiene der Anstalten schrittweise 
gehoben worden. Unterbringung und Verköstigung, ärztliche Be- 
treuung, Arbeitsverwendung waren verbessert worden. Auch die 
Härte der Behandlung war in vielem gemildert. Doch war z. B. das 
Tragen von klirrenden Ketten, der Fußfesseln, „Springer“ genannt, 
noch in Brauch. Sie wurden als abschreckende Zusatzhausstrafe 
nach schweren Ausschreitungen auf die Dauer von mehreren 
Wochen verhängt. Der psychologische Effekt war, daß die Träger, 
wenn sie klirrend über den steingepflasterten Flur gingen, als schnei- 


Behandlung Krimineller 3 


dig von den Genossen bewundert wurden und sich selbst sichtlich 
gehoben fühlten. Im ganzen also ein Unfug! 

Strafpsychologisch waren grundsätzlich eben immer noch als 
maßgeblich stehen geblieben die Strafgesetzzwecke: Abschreckung 
und Vergeltung. 

Eine solche einseitige Normierung förderte die unterschiedslose, 
gedankenlose und bequeme Gleichbehandlung durch Anwendung 
ein und desselben Druckes auf alle, hielt also wenigstens in den 
Resten eine Methodik am Leben, welche die Mühe der Individuali- 
sierung weitgehend ersparte. Die Behandlung war im wesentlichen 
einheitlich auf stärkste Fühlbarmachung der Strafe abgestellt. Das 
wäre nun und ist auch heute noch an sich keineswegs ein Fehler. 
Fehler wurde es und war es nur dadurch, daß eben die Verschieden- 
heit der menschlichen Persönlichkeiten, ihre ganz unterschiedliche 
verstandesmäßige, gefühlsmäßige, charakterliche und körperliche 
Verfassung mindestens unzureichend in Rücksicht gezogen wurde. 
Daher kam es denn auch, daß mit dieser Psychologie der alten 
„Eisenmeisterei‘, die 1907 in ihren letzten Zügen lag, weder dem 
Staate und der Gesellschaft, noch dem Verbrecher gedient wurde. 
Dem Staate und der Gesellschaft war nicht gedient, weil keineswegs 
alle Verbrecher dieser unsanften, einheitlich auf alle zugeschnitte- 
nen Behandlung erlagen und mit Tod abgingen, also ‚‚mortifiziert‘“ 
worden wären, wie Kaspar von Schmid es so deutlich ausdrückt. 
Dem Verbrecher nicht, weil er entweder körperlich krank und siech 
oder geistig gebrochen oder aber sozial aufs äußerste verbittert, 
die ungastliche Stätte wieder räumte. Entweder war er arbeits- 
unfähig und damit Kostgänger der Öffentlichkeit, zum mindesten 
als Bettler, oder er war mutlos geworden und zu weiterem Kampf 
ums Dasein nicht bereit, oder aber er war, wenn er es nicht schon 
vorher gewesen, endgültig in die Reihen der unverbesserlichen 
Gesellschaftsfeinde eingetreten. Soziale Ruinen und verbissene 
Gauner verließen die Strafhäuser, gebessert wurden sie kaum. 


Aber auch in jener Zeit der Nurhärte, der Nurrepression von 
Amts wegen fanden sich unter den Anstaltsbeamten aller Grade 
schon immer Männer mit schätzenswerten Eigenschaften des Ge- 
mütes und mit Weitblick, Menschen, die der geistlosen Uniformität 
des Betriebes so manche Spitze zu nehmen wußten. Indes: solches 
Tun war nicht vorgeschrieben. 

Mit der Strafvollzugsreform von 1909 bahnte sich in Bayern der 
Begriff des Individualisierens seinen Weg. Das war schon ein Fort- 
schritt zu einer besseren Psychologie, indem man sich die Leute 
einmal näher ansah. 
1° 


4 Viernstein 


Dann kam nach dem Weltkriege und nach den eindrucksvollen 
Erfahrungen der Kriegszeit auch auf dem Gebiete der Kriminalitäts- 
bewegung der sogen. Strafvollzug in Stufen. Er wurde zum Aus- 
löser kriminalbiologischer Untersuchungen, die wir in Bayern 
zuerst von allen deutschen Ländern durchführten und ausbauten, 
um ihre Ergebnisse für die strafhäusliche Behandlung unmittelbar 
nutzbar zu machen. 

Fußend auf den bayerischen kriminalbiologischen Erfahrungen 
und Einrichtungen hat der Herr Reichsminister der Justiz Ende 
1937 die Einrichtung eines reichseinheitlich ausgerich- 
teten kriminalbiologischen Dienstes in den deutschen 
Strafanstalten verfügt. 

Das Ziel des damaligen Strafvollzugs in Stufen war in erster 
Linie Besserung des Kriminellen durch Erziehung, Weckung und 
Stärkung sozialen Denkens und Strebens bei schrittweiser Leichter- 
gestaltung des Haftdaseins mittels Gewährung von Vergünstigungen. 

Das damit auftauchende Problem war, durch biologische Unter- 
suchung eines jeden Strafgefangenen, durch Ermittlung seiner 
Erbbeschaffenheit und Umweltverhältnisse einerseits, durch diag- 
nostisch-typisierende Feststellung seiner psychischen Persönlichkeit 
andrerseits zu erkennen, ob Besserungsfähigkeit überhaupt be- 
steht oder Unverbesserlichkeit vorliegt. Das Wahrscheinlichkeits- 
urteil hinsichtlich künftigen sozialen Gebarens, die „soziale Prog- 
nose‘“, trat in den Mittelpunkt, sobald ein ernst zu nehmender 
psychologischer Kontakt mit dem einzelnen Rechtsbrecher ge- 
sucht werden mußte, um mit möglichst geeigneten Mitteln wieder 
ein nützliches Glied der Gesellschaft aus ihm zu machen, ihn zu 
„resozialisieren‘‘. Der Stufenstrafvollzug mußte umgekehrt aber 
auch in reine Ideologie und Operettenhaftigkeit ausarten, wenn er 
des kritischen Behelfes einer biologisch-psychologischen Erfassung 
und Wertung der Persönlichkeit entbehrte. 


Dieses Schicksal erfuhr denn auch der Stufenstrafvollzug überall 
in Deutschland da, wo keine Kriminalbiologie getrieben wurde, 
und wo sich dann die Annehmlichkeiten des Haftdaseins zu einem 
grellen und schreienden Gegensatz zur Wirklichkeit der arbeits- 
losen, verdienstlosen, unterernährten und sich in Resignation 
dahinschleppenden freien Bevölkerung peinlich aufdrängten. Rich- 
ter und Volk verstanden den Strafvollzug nicht mehr, der den 
Bestraften um so vieles besser zu stellen schien als die freie Be- 
völkerung. 

Die Nationalsozialistische Erhebung im Jahre 1933 bereitete 
dem Spuk ein jähes Ende. Jedoch nicht in dem Sinne, daß man 


Behandlung Krimineller 5 


der psychologisch wertvollen Seite der individualisierenden Be- 
handlung Einhalt gebot. Wohl aber wurde jene sinnlose Anreiche- 
rung von Vergnügungsreizen aller Art beseitigt, die schließlich vom 
Strafgefangenen als ihm zustehend und selbstverständlich ange- 
sehen wurde. Heute haben wir wieder in den Strafhäusern den 
eindrucksvollen Ernst einer strengen Situation für alle, aber mit 
der Aussicht auf Ausnahmebehandlung jener kleineren Zahl von 
Insassen, die eine günstige Erwartung für später geben. 

Die ideologische Vorstellung, daß man Verbrechern, um sie zu 
Heiligen zu machen, nur ein paradiesisches Strafhausleben zu be- 
reiten brauche, fand ihre Grenze an der biologisch zu schöpfenden 
Einsicht in die Möglichkeiten der Besserungsfähigkeit. 

Damit ist heute und künftig mehr als je das Ergebnis der krimi- 
nalbiologischen Untersuchung, Diagnostik und Prognostizierung 
maßgebend für das, was während der Strafverbüßungszeit mit einem 
Gefangenen geschieht. 

Klinisch-psychiatrisch ist kurz zu sagen: 

In den Strafanstalten findet sich neben den als geistig normalen 
und nicht auffälligen Verbrechern bekanntlich auch ein buntes 
Gemisch von Schwachsinnigen, Psychopathen und Neurotikern 
zusammen. Ohne Antastung einer schon wegen der Sicherheit un- 
erläßlichen Generallinie der Behandlung im Sinne von Ordnung, 
Disziplin und Strenge muß es ohne Zweifel im Interesse der An- 
stalt, der Rechtsbrecher wie der Gesellschaft liegen, eine psycholo- 
gisch orientierte Einzelbehandlung im gegebenen Rahmen durch- 
zuführen. Verhalten am Strafort, Führung, Reaktion auf Strafe 
und Strafhausdasein sind sehr verschieden. 

Nach meiner Erfahrung lassen sich etwa folgende strafhäusliche 
Reaktionstypen herausheben, die ich schon 1930 beschrieben 
habe: 

1. der Auflehnungs- oder Rebellentyp. 

Er umfaßt 2 Untergruppen, die sowohl psychologisch wie sozial- 
prognostisch sich unterscheiden. 

Die erste Untergruppe wird gebildet von den Antisozialen und 
Asozialen, meist frühkriminellen und rückfälligen Elementen, die 
strafunempfindlich sind, schlechte Führung und ebenso eine schlechte 
Prognose bieten. Um ihre Wiedergewinnung ringen ist verlorene 
Mühe, Zeit und Geld. 

Die zweite Untergruppe hat mit der vorigen die äußerliche Ge- 
meinsamkeit zeitweiser disziplinärer Entgleisungen, also getrübter 
Führung. Aber die Ursache hierfür liegt nicht in der grundsätzlichen 
Unansprechbarkeit und nicht in defekter moralisch-ethischer 


6 Viernstein 


Artung, sondern in einer Neigung zu gelegentlichen Explosionen 
und Konflikten, hinter denen aber eine gutmütige, wenn auch un- 
gehemmte, teils hyperthyme, teils sensitive Anlage steckt. Solche 
passagere Stürme werden zuweilen fehlgedeutet. Äußere Führung 
und inneres Wesen decken sich hier nicht. Der Mensch, der zuweilen 
aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, sondern die deut- 
liche Aussprache bevorzugt, ist auch im Zuchthaus vergleichs- 
weise nicht der schlechteste. Aus der Führung allein kann übrigens 
auch sonst oft nur mit Vorbehalten auf den Charakter geschlossen 
werden, weil gerade im Haftdasein die Rolle der psychogenen 
Reaktionen durch Verarbeitung der Situation und des ganzen 
Schicksals eine sehr bedeutende ist und die Persönlichkeit zu ver- 
biegen vermag. 

Die soziale Prognose dieser zweiten Untergruppe ist denn auch 
häufig günstig. 

2. Der Unterwerfungstyp. Er stellt bei weitgehender Ein- 
heitlichkeit die sogen. Mustergefangenen dar mit ihrer Einfühlung 
in die selbstverschuldete unausweichbare Lage, mit anständiger 
Gesinnung und sozialem Willen sowie meist guter Prognose. Unter 
diesen Gruppen finden sich auch verhältnismäßig weniger Abnorme. 
Die Kriminalität ist mehr exogen als endogen begründet. 

3. Der Opportunitätstyp: äußerlich mit der Schale der 
Unterwerfung, innerlich von reiner Zweckmäßigkeit und bewußter 
Zielstrebigkeit gesteuert. Das Recht fordert in der Tat auch nur 
Legalıtät, nicht Moralität. Diese Leute haben also auch den Schein 
des Gesetzes zur Seite! Von oft bestechender Unterwürfigkeit und 
Liebedienerei, im übrigen nüchterne Zweckpolitiker, sind sie die 
milieusicheren habitués, die die Klippen des Strafrapports ebenso 
gewandt umschiffen wie sie sich die Vorteile des Hauses und der 
Lage mit dem Geschicke erfahrener Diplomaten zu sichern wissen. 

4. Der Versagertyp: die große Gruppe der Insuflizienten 
aus irgendwelchen Gründen, der Neurastheniker, Hysteriker, 
Depressiven, der nach außen hin Affektlahmen, die Menschen mit 
Neigung zu starken psychogenen Verarbeitungen, also seelisch 
irgendwie abnorme Figuren mit dem gemeinsamen Merkmal der 
erhöhten Disposition zum Zusammenbruch, zur Flucht in den 
Ausnahmezustand, Fehlhandlungen und sogar in den Freitod. — 

Ich glaube, daß gleiche oder ähnliche Reaktionstypen auch im 
Heeresverband auftreten, sobald das Dasein in diesem als sub- 
jektiv irgendwie schwierig empfunden wird. 

Eine differenzierende Behandlung dieser so verschiedenen Typen 
von Erlebensweise der Umwelt ist aber nötig. 


Behandlung Krimineller 7 


Im wesentlichen bereiten sichtlich gewisse Formen von Psycho- 
pathie und auch von Schwachsinn Schwierigkeiten. Ich möchte 
diese Tatsache einstweilen besonders unterstreichen. Gerade diese 
Leute dürfen aber bloß deshalb, weil sie seelisch abwegig sind, 
nicht die bevorzugten Nutznießer einer verstehenden individuali- 
sierenden Behandlung sein. Dies würde den psychisch vollwertigen 
Menschen in eine Minderstellung drängen, die er keineswegs ver- 
dient. Die individualisierende psychologische Behandlung hat auch 
grundsätzlich gar nicht den Zweck z. B. einer Strafhausdaseins- 
erleichterung, vielmehr für die überwiegende Zahl der kriminellen 
Psychopathen das genaue Gegenteil. Man ist sich ja heute in der 
Beurteilung und Behandlung vor allem der excedierenden Psycho- 
pathen einig, daß schärfste, rücksichtslose Anfassung das beste und 
wirksamste Mittel ist, um der Uferlosigkeit ihrer Triebe, charakter- 
lichen Unarten und daraus fließenden Verhaltensweisen einen Damm 
zu setzen. 


Soviel über den Grundgedanken der heutigen Kriminellenbe- 
handlung innerhalb der Strafhäuser! 


Einige Worte noch zu dem weiteren strafpolitischen Problem, 
nämlich der Behandlung Strafentlassener: 

Hier steht auf der einen Seite das Gesetz vom 23. November 1933 
betr. die Bekämpfung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher 
durch Sicherungsverwahrung nach erstandener Freiheitsstrafe, auf 
der anderen Seite die Verordnung vom 7. Oktober 1937 des Reichs- 
ministers der Justiz, in welcher die Betreuung, Förderung und 
soziale Wiedereingliederung der hierzu geeigneten und würdigen 
Verbrecher zur gemeinsamen Aufgabe der Generalstaatsanwalt- 
schaften und der NSV. gemacht wird. 


Die Strafrechtspflege geht somit ebenfalls nach dem Grundsatze 
der guten oder schlechten sozialen Prognose vor, deren Stellung 
auch oberste Aufgabe des kriminalbiologischen Dienstes ist. 


Ich will nunmehr zum zweiten Teil meiner Ausführungen über- 
gehen, nämlich zur Frage der Behandlung krimineller Heeres- 
angehöriger. 

Hier möchte ich abermals ausgehen von Erfahrungen, die ich als 
Arzt des Zuchthauses und der Irrenanstalt für Verbrecher in 
Straubing im Kriege und bei Kriegsende mit solchen Menschen 
machen konnte. In Straubing waren die zu Zuchthaus verurteilten 
Heeresangehörigen verwahrt. In der Nacht vom 8./9. November 1918 
wurden auf Befehl der Revolteregierung in München 138 ehe- 
malige Soldaten des Feldheeres entlassen. 


8 Viernstein 


Bei 112 Mann hatte ich eingehende Erhebungen gepflogen und 
zwar durch ärztliche Untersuchung, Fragebogen an die verschiede- 


nen Heimatbehörden, Akteneinsichtnahme usw. 


Militärisch, militärstrafrechtlich und kriminalbiologisch ist hier- 
aus zur Beleuchtung der Besonderheit dieser damals ganz neu aul- 


getretenen Gruppe von Rechtsbrechern zu entnehmen: 


Von den 112 Mann waren 
I. militärisch gesehen: 


Kriegsfreiwillige . . . . . 2... ET aa ||| 
Chargen (bis zum Sergeanten einschl.). ar ; E EE | 
unsichere Heerespflichtige und Soldaten 2. Klasse . r gA 
im Besitz von Kriegsauszeichnungen. . . . .»... ETE 
II. militärstrafrechtlich gesehen: 
bürgerlich vorbestraft . . ..... 38 
militärisch vorbestraft (darunter 14 bürgerlich Vorbestrafte) 34 
nie vorbestralt -e 2 u e ee ee ae a 74 


frühkriminell . . 2 oo rn... 22 


III. kriminalbiologisch gesehen: 


mit Kriminalität in der Familie und weiteren Sippe belastet 41 
persönlich belastet durch familiäre Psychopathie . . . . . 31 
durch Geistesstörungen der Eltern . . . . 2 2 2 2.2..%6 
durch väterlichen Alkoholismus . . . . 2 2 2 2 2202. 3% 
durch mütterlichen Alkoholismus . . . . TE en 4 


Oft zeigten sich mehrere der aufgeführten Belistungenomente 
gleichen Familie gehäuft. 


IV. Der Herkunft nach waren von den 112 Mann: 


Großstädter . 2 2 2 2 2 2 2 2 2. Een ne ee SD 
Mittel- und Kleinstädter DE a er ei De Sen Ben ar ne ae 
Landbewohner ... ee ee 
aus ausgesprochenem Armenmilieu® stammend EN. 
5V. Stammeskriminalität war bei den 112 Mann vertreten: 
durch die Väter. . . 2: 2 2 2 2 2 2 2 2. Be er ie na, IE LO 
durch die Mütter . . . 2. 2 2 2 2 2 2 2 2 2 22... dn 5 
durch die Brüder . . . . 2. 2 2 2 2 2 2 2 2.2... in 15 
durch die Schwestern. . . . er ee ee ie 2 
durch anderweitige Sippenangehörige a ar Br ae a. B 


VI. Die militärischen Straftaten der 112 Mann betrafen: 


Mann 
Mann 
Mann 
Mann 


Mann 
Mann 
Mann 
Mann 


Mann 
Mann 
Mann 
Mann 
Mann 


in der 


Mann 
Mann 
Mann 
Mann 


Fällen 
Fällen 
Fällen 
Fällen 
Fällen 


1. Feigheit vor dem Feinde, unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, 


Selbstverstümmelung, 


2. Aufruhr, Meuterei, Gehorsamsverweigerung, tätliches Vergreifen am 


Vorgesetzten, 


3. Diebstahl von Ileeresgut und bei Kameraden, Plünderung im Felde, 


Mord an Zivilpersonen, 
4. Vaterlandsverrat, Kriegsverrat, 
5. gewöhnlicher Diebstahl in der Eigenschaft als Soldat. 


Behandlung Krimineller 9 


Diese Verbrechen wurden ausnahmslos in höchst kritischer Lage 
des Vaterlandes begangen, vielfach unmittelbar an der Front, 
wurden begangen von Leuten, die zum Teil lang tapfere Soldaten 
waren, dann brüchig wurden und versagten, begangen aber teilweise 
auch von Leuten, die von vornherein nicht die seelische Eignung 
zum Soldaten besaßen. Nicht bloß die communis opinio in der 
schußsicheren, freilich durch Entbehrung und Sorgen den staats- 
gefährlichsten Einflüsterungen zugänglich gewordenen Heimat, 
sondern zuweilen auch sogar das kriegsgerichtliche Urteil war trotz 
der Höhe der verhängten Strafen geneigt, den einen und anderen 
Täter als unzulänglich und als Opfer einer überwältigenden Si- 
tuation zu verstehen und zu bezeichnen. In keinem Falle wurde 
jedoch die Frage des zweifelhaften Geisteszustandes aufgeworfen. 


In der Strafanstalt wurden später zwei Mann wegen Schizo- 
phrenie der Irrenabteilung zugeführt. Außerdem fanden sich zahl- 
reiche Psychopathen und Debile und Neurotiker unter den Leuten. 

Die Mehrzahl aber gab keinen Anlaß zur Annahme eines geistig- 
seelischen Minderwertigkeitszustandes. 

Gemeinsam war allen nach der psychologischen Seite hin die 
in Verbrechen umgesetzte Unlust, weiterhin in soldatischer Pflicht 
sich fürs Vaterland einzusetzen. 

Es ist nun kaum zweifelhaft, daß ein künftiger Krieg wieder 
solche Fehlgänger zeitigen wird. Sie stecken in einzelnen Exem- 
plaren wohl schon im Soldatenrock oder kommen ın ihn, sobald 
mobil gemacht wird. 

Was kann die Heeresleitung tun zur richtigen Er- 
kennung, Behandlung und Erziehung oder aber recht- 
zeitigen Beseitigung solcher Elemente? 

Rüdin bezeichnet die Kriminellenfrage als einen Teilausschnitt 
aus dem Psychopathen- und Asozialenproblem. Das Interesse also 
wird vor allem darauf gerichtet sein, unter der Mannschaft solche 
psychologische Typen zu finden und einer vorbeugenden Behand- 
lung zuzuführen, die eine besondere innere Geneigtheit oder äußere 
Gefährdung für Kriminalität befürchten lassen oder die bereits 
kriminell geworden sind. Damit eröffnet sich eine wichtige Aufgabe 
für den Psychiater. Erleichtert ist diese Aufgabe dann, wenn der Sol- 
dat schon im bürgerlichen Leben vorbestraft war, weil er durch eben 
diese Tatsache von vornherein auffällig ist. Schwieriger ist die Auf- 
gabe, wenn zunächst ein geordnetes Verhalten vorliegt, bis sich 
einmal dienstliche Reibungen irgendwelcher Art als erste Anzeichen 
kundtun. Es empfiehlt sich daher, ärztliche Beobachtung der Mann- 


10 Viernstein 


schaften in unauffälliger Form, gerade auch im Bereiche der psy- 
chologischen Erfassung und Wertung ganz allgemein einzuschalten. 

Tritt dann im Rahmen einer Formation, etwa einer Kompagnie, 
ein Mann als irgendwie auffällig hervor, so wird sein Verhalten 
nicht nur disziplinär zu ahnden, sondern vorher mittels einer 
ärztlich-psychiatrischen Untersuchung zu klären sein. Man wird 
dann sehen, ob die Abwegigkeit, gleichgültig, worin das Verhalten 
bestand, grundsätzlich auf Heeresdienstunwilligkeit zurück- 
geht, oder aber, ob unbeschadet der Entgleisung Heeresdienst- 
willigkeit bei dem Manne bejaht werden kann. Diese zwei ge- 
wissermaßen „heeresprognostischen‘‘ Gruppen dürften sich aus 
im Einzelfalle zu stellenden psychiatrischen Diagnosen als Typen 
aufstellen lassen. Der Heeresdienstunwillige ist seiner Natur nach 
eine unvergleichlich größere Gefahr für Ordnung, Disziplin und 
Sicherheit der Truppe, letzteres vor allem ım Kriege, wie der 
Heeresdienstwillige, der aus irgendwelchen Beweggründen heraus 
vielleicht zufällig dieselbe Entgleisung wie jener sich hat beigehen 
lassen. 

Die Psychologie des Soldatentums ist wesentlich eine solche des 
Willens, der Anerkennung und Befolgung einer inneren Ver- 
pflichtung, also Ausfluß einer Charakterbeschafienheit, die den 
sozialen Menschen mit überindividuellen höheren ethischen Empfin- 
dungen kennzeichnet. 

Die Möglichkeiten und Anstöße zu einem disziplinwidrigen oder 
kriminellen Verhalten sind sehr zahlreich. Natürlich handelt es 
sich aber durchaus nicht in allen Fällen um Verhaltensweisen, die 
ihren Ursprung in einer irgendwie seelisch minderwertigen Be- 
schaffenheit haben müssen und darum im engeren Sinne unter 
psychiatrischen Gesichtspunkten zu betrachten sind. Noch weniger 
kann davon die Rede sein, daß selbst bei Bejahung eines Minder- 
wertigkeitszustandes auch sogleich die schützende Hand des Irren- 
arztes über den Verüber gehalten werden will. 

Aber es heben sich eben doch, wie auch im gewöhnlichen Leben, 
unter den Soldaten meist diejenigen als Konfliktsmenschen hervor, 
die bei näherer Betrachtunginirgend einer Form als Minderwertige des 
Verstandes-, Gefühls- und Willenslebens angesehen werden müssen. 

Unter den Leuten mit ständigen und oft schweren Achtungs- 
widrigkeiten bis zum Vergreifen an Vorgesetzten finden sich häufig 
hyperthyme Psychopathen, die dank ihrer gesteigerten 
Psychomotilität, ihrem Kraftgefühl und ihrer überspannten Selbst- 
einschätzung mit oder ohne Angetrunkenheit zu schweren Aus- 
schreitungen gelangen können. 


Behandlung Krimineller 11 


Vorbeugend wird man sie von Anfang an zweckmäßig dienstlich 
so beanspruchen, daß für eine überschüssige Entfaltung ihres 
Temperaments wenig Raum mehr bleibt. Auf diese Weise können 
sie um die Klippen und Fährnisse der kriminellen Entgleisung, 
zumal wenn sie gutmütig sind, hinweggebracht werden und sich in 
das militärische Gefüge sogar als wertvoll einschalten. Der Strom 
des stark extravertierten Gefühlstebens solcher Leute muß in das 
Bett der soldatischen Hochleistung durch Anspornung des Ehr- 
geizes und Ausnutzung des Tatendranges geleitet werden. 

Diese vorbeugende Behandlung gilt, was vorweg bemerkt sei, 
ebenso für alle übrigen kriminaloid veranlagten und darum ge- 
fährdeten Typen. Vorbeugung hat aber eine Diagnose der Persön- 
lichkeit zur Voraussetzung und des weiteren eine nicht minder 
wichtige sachgemäße, psychologische Behandlung in und außer 
Dienst. 

In letzterem Zusammenhang ist von höchster Bedeutung die 
Auswahl der Dienstgrade, ist ihre Fähigkeit, Menschen zu packen 
und an sich zu ketten, ihnen gleicherweise distanzierter Führer und 
nahestehender Kamerad zu sein, also unantastbare Autorität mit 
Kameradschaftlichkeit zu paaren, um freiwillige Gefolgschaft ab- 
zuringen. Ein guter Truppenführer muß vor allem von Haus aus 
ein guter Psychologe sein. Das ist erstes und allgemein gültiges 
Erfordernis. Er kann streng sein, darf aber niemals das Ehrgefühl 
verletzen, und niemals schikanieren! 

Eine andere Gruppe sind depressive Psychopathen, mit Heim- 
weh, die nach Umständen sich durch Nichteinpassieren, Entfernung 
vom Truppenteil oder gar Fahnenflucht bemerklich machen oder 
auch zum Suicidversuch schreiten. 

Beimischung einer übersehenen oder larvierten Debilität ver- 
führt wohl auch zur Selbstverstüm melung mit dem Ziele des Frei- 
kommens vom Soldatenleben. 

Zu nennen ist ferner auch hier wieder die Gruppe der viel- 
gestaltigen Versagertypen, die Astheniker, Neurastheniker, Af- 
fektlahmen, Feiglinge, selbstsüchtigen Hysteriker, Verführbaren 
und ähnliche zum Schiffbruch geneigte Dürftlinge, deren gemein- 
sames Merkmal der Mangel an Mut, Selbstsicherheit und Ein- 
fühlungsvermögen oder an gutem Willen, dafür der Besitz von 
Unzulänglichkeits- und Förderungsvorstellungen mit Angst oder 
Abneigung, Tendenz zum Ausweichen und Kompensieren usw. 
ist. An einer gewissen Toleranzgrenze angelangt, schreiten auch sie 
zu schweren militärischen Fehlhandlungen in der Kaserne und an 
der Front. 


12 Viernstein 


Vorbeugend müssen sie ebenso in ihrer Eigenheit frühzeitig 
richtig erkannt und behandelt werden. Dabei ist möglichst wenig 
Aufsehenserhebung und Beachtung nach außen hin, dagegen Ge- 
wöhnung an Gefahren, Erziehung zu rascher Entschlußfähigkeit 
und steigenden Leistungen das gerade im Soldatenleben zur Ver- 
fügung stehende Mittel. 


Klinisch, sozialprognostisch und soldatisch im Gegensatz zu 
diesen im Grunde als heeresdienstwillig anzusehenden Typen stehen 
die ausgesprochen und grundsätzlich Heeresdienstunwilligen, 
Führungsunwilligen, deren nähere Verwandtschaft mit dem Typus 
der echten Gesellschaftsfeinde schon erwähnt wurde. 


Diese Typenaufzeigung genügt wohl zum Beweis, daß in der 
Kriminellenfrage auch beim Heere so vorzugehen sich empfiehlt, 
wie dies sonst in der Psychiatrie und in der psychologischen Päda- 
gogik geübt wird. Das Heer ist nach einem alten Worte die Hoch- 
schule der Nation und ist dies vorzüglich als Bildnerin des heroischen 
männlichen Charakters. 


Ich habe mit Absicht die Behandlung all dieser Menschen zu- 
nächst nur vom Standpunkte der Vorbeugung, also der Verhütung 
einer Entwicklung bis zum wirklichen kriminellen Akt besprochen. 
Diese Vorbeugungstätigkeit muß und kann in der Tat alle die 
reichen Quellen einer psychologischen Beeinflussung ausschöpfen. 
Die für den Erfolg ausschlaggebende Wichtigkeit eines richtigen 
psychologischen Verhaltens gerade der Dienstgrade, die am meisten 
um die Mannschaft herum sind, möchte ich nochmals betonen. 


Das militärische Leben und der militärische Geist, der in den 
Kasernen wohnt und umgeht, hat an sich die Mittel und Register 
wie kaum eine andere erzieherische Institution zur Verfügung, die 
ganz allgemein und unterschiedslos auf die gesamte Mannschaft 
wirken. Es ıst dies der kategorische Imperativ, der eiserne Drill, 
die Abhärtung, unausweichliche harte und straffe Disziplin, der 
Gemeinschaftsgeist, Opferbereitschaft, Leistungswille, die gemein- 
same vaterländische und volkliche Idee und nicht zuletzt die 
Tradition und die Uniform als Ehrenkleid des Soldaten. 


Ich bringe aus der Praxis einige Fälle: 


1. Unter den Straubinger Militärsträflingen z. B. waren einige noch sehr 
jugendliche, kräftige Großstadtpflanzen, die, als sie wieder ins Feld sollten, 
sich in Uniform mit Strohhüten bekleideten, in ihrer Garnisonstadt unter 
Grejohle herumzogen und unglaublich ausschreitend und lausbubenhaft auf- 
traten. 

2. Ich kenne drei Mörder, die im Krieg mit der Tapferkeitsmedaille ausge- 
zeichnet wurden und noch andere Orden besaßen. 


| 


Behandlung Krimineller 13 


Einer von ihnen ist leicht debil, stottert, macht psychopathischen Ein- 
druck, hat ein Bauernmädchen vergewaltigt und es dann in der Angst vor 
Entdeckung ermordet. Der andere, ein ehemaliger Sergeant von ungewöhn- 
licher soldatischer Unerschrockenheit — er terrorisierte allein einen 67 Russen 
fassenden Schützengraben und trieb die Leute vor sich her in Gefangenschaft 
— wurde später Jäger bei einem Grafen, trank viel und ermordete im an- 
getrunkenen Zustand seine Frau auf besonders grausame Weise. Der dritte 
ist ein stiller, in sich gekehrter, bescheidener Mensch ohne seelische Abwegig- 
keit, als Soldat von rücksichtsloser Einsatzbereitschaft gewesen und hat 
seine Geliebte ermordet. 


3. Ich beobachtete weiterhin einen während des Krieges zu Zuchthaus 
verurteilten Soldaten. Bei der Novemberrevolte entlassen, wurde er bald 
wegen Widerrufs der Entlassung wieder eingeliefert. Er verfiel in einen hart- 
näckigen hysterischen Ausnahmezustand. Auf der Irrenabteilung versagte 
die übliche Therapie: Nichtbeachtung, Absonderung, schmale Kost, Wickel. 
Erfolg hatte dagegen eine militärisch zugeschnittene, unsanfte Behandlung 
durch den vorerwähnten Sergeanten, der inzwischen Hilfskraft auf der Irren- 
abteilung geworden war. In der Anstalt schrieb jener Psychopath anmaßende 
Briefe an Hindenburg mit der Anrede: ‚‚lieber Kriegskamerad‘“. Die — ohne 
Vorwissen der Pfleger — vorgenommene Therapie seitens eines wirklichen 
Soldaten hatte Dauerwirkung. 

Es wäre verfehlt, gegenüber Psychopathen, zu kriminellen Ent- 
gleisungen Geneigten oder gar gegenüber asozialen Elementen 
Schwäche sehen und Nachsicht walten zu lassen und ihnen eine 
Sonderstellung einzuräumen. Notwendig ist lediglich frühzeitige 
Erkennung und fortlaufende Beobachtung, um sie vor Entgleisungen 
zu schützen und ihnen an seelischen, charakterlichen und willent- 
lichen Eigenschaften mit individualisierendem Verständnis das 
nachholend anzuerziehen, was ıhnen in verschiedenem Ausmaß auf 
einzelnen seelischen Gebieten vielleicht abgeht. Aber die für alle 
gleiche Generallinie des soldatischen Lebens darf nicht verwischt, 
nicht unterschritten werden. 


Im Zeitpunkt einer bereits begangenen Entgleisung ist nun noch 
weniger ein Abweichen von der militärischen Strenge am Platze, 
meist auch gar nicht mehr möglich. Abgesehen davon, daß gerade 
kriminelle Psychopathen durch scharfes Anfassen psychisch gut 
beeinflußt werden, während sie Milde als Schwäche deuten, muß 
man hier auch die generalpräventive Bedeutung der Strafe und 
die psychologische Wirkung auf die ganze Truppe ım Auge be- 
halten, ja in den Vordergrund stellen. Höher als jeder einzelne steht 
die moralische und charakterliche Unversehrtheit des Heeres als 
des Garanten der Sicherheit des Vaterlandes. 

Zur Behandlung der in militärische Sonderanstalten zu ver- 
setzenden Kriminellen glaube ich keine Vorschläge machen zu 
sollen, außer dem Vorschlag, auch hier psychiatrisch-psycholo- 


14 Viernstein 


gische Grundsätze mit den Erfordernissen der ernsten Situation 
und den höheren Interessen der Verantwortung für die Belange 
der Nation in vernünftigem Einklang zu halten. 

Ich fasse zusammen: 


4. Heeresangehörige, die zu kriminellen Entgleisungen neigen, 
bedürfen einer psychiatrisch-biologischen Sonderuntersuchung und 
Typisierung mit dem Ziele, ihnen einen wesensangepaßte, indivi- 
dualisierende Behandlung und Nacherziehung zuteil werden zu 
lassen. 

2. Diese Behandlung hat sich in den Grenzen der für alle Solda- 
ten geltenden militärischen Normen und Anforderungen zu halten; 
sie steht und fällt mit der Auswahl und Führerbegabung der Dienst- 
grade. 

3. Psychopathen unter den Soldaten ist zu ihrem wie der Truppe 
Vorteil niemals die Suggestion der Bevorrechtung und Berück- 
sichtigung zu geben, vielmehr gilt für sie die allgemeine Norm und 
Leistungspflicht. 

4. Kriminelle Entgleisungen von Soldaten müssen unter dem 
Gesichtspunkt der Generalprävention entschieden werden. 

5. Kriminalbiologische Untersuchungsmethodik, kriminalbiolo- 
gische Erkenntnisse und Erfahrungen sind auch gegenüber Krimi- 
naloiden und kriminellen Heeresangehörigen ein empfehlenswerter 
technischer Behelf, der insbesondere die individuelle klinisch- 
psychiatrische Diagnostik in den weitergesteckten Begriff der ras- 
sischen und sozialwertlichen Betrachtung eingliedert und dadurch 


die unmittelbare Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft 
beleuchtet. 


Zur Frage der alkoholischen Blastophthorie 


Von 
Friedrich Meggendorfer, Erlangen 


Schon seit langem wurde von zahlreichen Ärzten angenommen, 
daß Alkoholmißbrauch schädlich auf die Nachkommenschaft ein- 
wirke. Besonders eindringlich wurde hierauf von Forel (1911) hin- 
gewiesen, der die damaligen Erfahrungen in seiner Blastophtho- 
rielehre zusammenfaßte. 

Forel lehrte, es gäbe zwei Formen der alkoholischen Blasto- 
phthorie, eine akute und eine chronische. Die akute Blasto- 
phthorie gehe davon aus, daß während der Zeugung der Zeugende 
berauscht, d.h. sein Körper von Alkohol durchdrungen sei. Löse 
sich während des Rausches eine Keimzelle zur Zeugung eines 
Kindes ab, so könne sie nicht mehr wie die anderen Körperzellen 
nach dem Rausch vom Blut wieder entgiftet werden und die Folge 
sei sehr oft ein minderwertiges oder degeneriertes Kind. Die chro- 
nische Blastophthorie bestehe darin, daß die Einwirkung täglich 
genossener Alkoholdosen die Keimdrüsen beständig alteriere und 
sie schließlich dauernd krank mache. Diese Krankheit der Keim- 
zellen könne bei stärkerer Wirkung bis zum Tod der Zellen führen. 
Würden alle Keimzellen der Drüse getötet, so würde der Keim- 
träger, Mann oder Frau, völlig unfruchtbar. Dieses sei aber nur der 
äußerste Fall bei schwerem langjährigen Alkoholismus. Vorher 
machten die Keimzellen mehrere Krankheitsabschnitte durch, 
meistens seien sogar schwere Alkoholiker noch zeugungsfähig, weil 
ein Teil ihrer Keimdrüsen noch lebende, wenn auch kranke Keim- 
zellen enthalte. In diesen Fällen seien die Erfahrungen an den 
Nachkommen entscheidend. Folgen der akuten Blastophthorie 
seien die entarteten, häufig epileptischen oder schwachsinnigen 
Rauschkinder; Folgen der chronischen Blastophthorie Lebens- 
schwäche, Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten, Schwach- 
sinn, Neigung zu Rachitis, Geisteskrankheiten, Epilepsie, Ver- 
brechen und Stillunfähigkeit. Die alkoholische Blastophthorie sei 
wahrscheinlich vererbbar, doch könne die erblich gewordene 
Blastophthorie durch eine mehrere Generationen hindurch ein- 
gehaltene Nüchternheit wieder rückgängig gemacht werden. 


16 Friedrich Meggendorfer 


Diese Blastophthorielehre Forels hat in der Folge Anklang und 
Verbreitung gefunden; sie wurde, insbesondere hinsichtlich der An- 
nahme einer Neuentstehung minderwertiger Erbanlagen über die 
vorsichtige Fassung Forels hinaus namentlich bezüglich einer Neu- 
entstehung minderwertiger Erbanlagen als feststehende Tatsache 
angesehen. Da die seither gemachten Erfahrungen die Lehre Forels in 
mancher Hinsicht stützen, in vieler Hinsicht ergänzen und zeigen, 
daß das Problem der Schädigung der Nachkommenschaft durch Al- 
kohol erheblich komplizierter ist als Forel und viele seiner Anhänger 
annahmen, erscheint eine Aufrollung dieser Fragestellung berechtigt. 

Auch die weiteren Beobachtungen haben gezeigt, daß die Nach- 
kommen der Trinker in körperlicher und geistiger Hinsicht vielfach 
minderwertig sind. Diese Minderwertigkeit ist jedoch nicht allein 
auf Blastophthorie zu beziehen. 

Einen Teil der bei Trinkerkindern beobachteten Minderwertig- 
keiten kann man ohne weiteres auf die ungünstige Umgebung, 
ın der die Trinkerkinder aufwachsen müssen, beziehen. In den Fa- 
milien der Trinker herrschen vielfach Not und Elend, ungünstige 
hygienische Verhältnisse, kein Wunder, daß die Kinder oft elend 
und unterernährt, anfällıg für Tuberkulose, Rachitis und andere 
Krankheiten sind und daß bei ihnen die Säuglings- und Klein- 
kindsterblichkeit groß ist. Auch eine Vernachlässigung der Kinder 
durch die Eltern, namentlich durch die trinkende Mutter, dürfte bei 
dieser Anfälligkeit und Übersterblichkeit der Trinkerkinder mit 
beitragen. Es liegt auch nahe, daß die häusliche Erziehung schwer 
leidet; es erscheint begreiflich, daß schon hierdurch die Trinker- 
nachkommen vielfach zu einer laxen Einstellung zum Alkohol- 
mißbrauch, zur Ablehnung von Gesetz nnd Sitte bestimmt werden. 

Aber die Trinkernachkommen zeigen nicht nur Minderwertig- 
keiten, die man als Umweltschäden auffassen kann, sondern auch 
körperliche und geistige Abwegigkeiten, die als Erbübel anzusehen 
sind wie Schwachsinn, Epilepsie, alle Arten von Geisteskrankheiten, 
Psychopathien, Neigung zu Verbrechen. Gerade sie hatte Forel 
im Auge, wenn er von einem Erblichwerden der Blastophthorie 
sprach. Die zahlreichen Beobachtungen, die in dieser Hinsicht zum 
Beweis herangezogen wurden, sind jedoch unserer heutigen Er- 
kenntnis nach nicht zu verwerten. Gerade in bezug auf die Gesetze 
der Erblichkeit haben wir heute genauere Einblicke als Forel. 
Fälle wie die Beobachtung Schweighofers, daß eine Frau, die in ihrer 
ersten Ehe mit einem nüchternen Mann diesem mehrere gesunde 
Kinder geschenkt hatte, in ihrer zweiten Ehe mit einem Säufer 
dagegen nur entartete Kinder hatte, erscheinen uns heute im Gegen- 


DT ä—ä—äee SS EEE EEE En EHER En EEE EEE DA EEE, Edi Np EEE 


Zur Frage der alkoholischen Blastophthorie 17 


satz zu früher keineswegs beweisend für die Blastophthorie. Unserer 
heutigen Auffassung nach ist der Alkoholismus in vielen Fällen 
Ausdruck einer in der Familie liegenden erblichen Minderwertig- 
keit. Wir wissen, daß die Anlagen nicht oder nicht voll in Erschei- 
nung zu treten brauchen und doch auf die Nachkommen weiter 
vererbt werden können. Wir wissen auch, daß Schwachsinn, Epi- 
lepsie, Psychosen und Psychopathien, Neigung zur Kriminalität 
auch dann von den Eltern ererbt sein können, wenn diese selbst 
keine derartigen Abwegigkeiten zeigten. 

In all den bisher besprochenen Fällen ist nicht der Alkohol, son- 
dern entweder die ungünstige Umwelt oder die in der Familie lie- 
gende Belastung für die Abwegigkeit der Trinkerkinder verant- 
wortlich zu machen. Bei einer weiteren Gruppe von Minderwertig- 
keiten der Trinkernachkommen ist zwar der Alkohol als Ursache 
des Schadens anzusehen, doch handelt es sich auch hier nicht um 
eine Blastophthorie im Sinne Forels. Es sind die Fälle, in denen 
Kindern von Trinkern Alkohol selbst zugeführt wird. Man 
kann ja leider immer noch feststellen, daß Schulkinder und sogar 
kleinere Kinder regelmäßig alkoholische Getränke bekommen, ein- 
mal, zweimal, selbst dreimal täglich, zum Teil aus der verkehrten 
Anschauung von dem Nährwert der alkoholischen Getränke heraus. 
Kleinere Kinder, Säuglinge, erhalten zuweilen alkoholische Ge- 
tränke zur Beruhigung. Diesen Fällen gleichzusetzen sind die- 
jenigen, in denen die stillende Mutter trinkt; denn der Alkohol 
geht auch ın die Milch über. 

Etwas näher der von Forel angenommenen Blastophthorie stehen 
die Fälle, in denen die schwangere Frau trinkt. Der Alkohol 
geht in das Fruchtwasser und in das Blut des Embryos über. Bei 
der hier möglichen verhältnismäßig hohen Alkoholkonzentration 
und bei der Zartheit der Gebilde ist es wohl möglich, daß eine 
Schädigung der Frucht stattfindet. 

Eine von zahlreichen Möglichkeiten einer Schädigung der Nach- 
kommen durch den elterlichen Alkoholismus stellt sodann der von 
Forel angenommene Fall dar, daß Ei- und Samenzellen entweder 
akut vergiftet oder chronisch geschädigt werden. Die akute 
Blastophthorie im Sinne Forels, die Annahme, daß im Rausch 
gezeugte Kinder schwachsinnig, epileptisch oder sonstwie minder- 
wertig seien, ist kaum zu beweisen, und zwar nicht nur deshalb, 
weil es sich in derartigen Fällen meist nicht um vereinzelte Trun- 
kenheitszustände, sondern um chronischen Alkoholismus handelt. 
Die Schwierigkeiten liegen vielmehr auch hier darin, daß der Ein- 
fluß der Erblichkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Seit wir 
2 Ailgem. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 113. H. 1/2. 


18 Friedrich Meggendorfer 


näher über die Gesetzmäßigkeit der Vererbung, namentlich über 
den rezessiven Erbgang unterrichtet sind, sind wir nicht mehr 
geneigt, Schwachsinn, Epilepsie und andere Minderwertigkeiten 
auf eine Schädigung durch die akute Alkoholvergiftung des Vaters 
oder der Mutter zu beziehen. Hinzu kommt, daß auch sehr zahl- 
reiche Tierversuche sowohl mit isolierten Ei- und Samenzellen 
als auch durch Vergiftung lebender Tiere meist keine Anhalts- 
punkte für eine akute Blastophthorie ergeben haben. 
Besser begründet erscheint die Annahme einer chronischen 
Blastophthorie. Sie stützt sich auf den anatomischen Nachweis 
einer Schädigung der Keimdrüsen von Trinkern und experimentell 
chronisch vergifteten Tieren, ferner auf die Beobachtung, daß sehr 
schwere chronische Alkoholvergiftung zur Unfruchtbarkeit führt. 
Letzteres ist allerdings dahin einzuschränken, daß schwerster, 
andauernder Alkoholismus nur im Endstadium Unfruchtbarkeit 
zur Folge hat; im allgemeinen haben Trinker sogar zahlreiche 
Kinder. Wenn die chronische Alkoholvergiftung die Keimdrüse so 
schwer zu schädigen vermag, daß sich die Schädigung anatomisch 
nachweisen läßt und daß schließlich die Drüse entartet, ist anzu- 
nehmen, daß auch die einzelnen Keimzellen, die Ei- und Samen- 
zellen, schwer geschädigt werden und daß dann auch die aus solchen 
Keimzellen hervorgehenden Lebewesen minderwertig sind. Wie 
bereits dargelegt wurde, können diese Minderwertigkeiten aber 
mindestens zum Teil auch auf ungünstige Umwelteinflüsse, zum 
Teil auf in den Familien liegende Erbanlagen bezogen werden. 
Eine scharfe Unterscheidung und Trennung ist beim Menschen 
nahezu unmöglich. Man hat deshalb versucht, im Tierexperiment 
den Einfluß von Umwelt und Erbverfassung dadurch auszuschal- 
ten, daß man unter sonst gleichen Außenbedingungen stehende Tiere 
gleicher Erbstämme teils chronisch mit Alkohol vergiftete, teils 
alkoholfrei hielt und dann ihre Nachkommen miteinander verglich. 
Zahllose Versuche dieser Art wurden durchgeführt. Manche Unter- 
sucher glaubten eine Schädigung der Nachkommenschaft, nament- 
lich eine erhöhte prae- und postnatale Mortalität und eine Unter- 
gewichtigkeit einzelner Nachkommen feststellen zu können, andere 
wieder fanden keine Unterschiede zwischen den Nachkommen 
der alkoholvergifteten und der alkoholfreien Tiere. Ob der ver- 
schiedene Ausfall von der Art der Durchführung des Versuches oder 
von den Beobachtungsbedingungen abhing, sei dahingestellt. Ein 
eindeutiges Ergebnis ist auch auf diesem Wege noch nicht erzielt 
worden, doch scheinen die sorgfältigeren Untersuchungen dieser 
Artfür das tatsächliche Vorkommen einer Blastophtho- 


AE A EEA R a 


v o. -A a a E 


Zur Frage der alkoholischen Blastophthorie 19 


rie im Sinne einer Keimschädigung, namentlich als all- 
gemeine Beeinträchtigung der Lebenskraft, zu sprechen. 

Übrigens sind auch die positiven Ergebnisse der erwähnten Tier- 
versuche nicht ganz eindeutig. Namentlich amerikanische und eng- 
lısche Untersucher sind geneigt, diese Versuche im Sinne einer Aus- 
lese zu deuten, so zwar, daß eine bestimmte Alkoholkonzentration 
nur die schwächeren Keimzellen schädige oder zum Absterben 
bringe, die kräftigeren Zellen dagegen nicht beeinträchtige. Miß 
Elderton und Pearson erklärten ihre Beobachtung, daß die all- 
gemeine Gesundheit der Alkoholikerkinder etwas besser als die der 
Mäßigen sei, so, daß entweder bei den Nachkommen die Schwäch- 
linge bereits im frühen Alter ausgemerzt wurden oder auch, daß 
schon bei den Eltern eine gewisse Auslese durch eine größere Lei- 
stungsfähigkeit und Genußfähigkeit dem Alkohol gegenüber be- 
stand. 

Eine besonders wichtige Frage ist die, ob, wie Forel meinte, die 
Blastophthorie auch erblich werden könne oder anders aus- 
gedrückt, ob der Alkohol eine Erbänderung, eine Mutation 
bewirken könne. Vom theoretischen Standpunkt aus hält Fritz 
Lenz das Vorkommen von Erbänderungen durch chronische Alko- 
holvergiftung aus der Überlegung heraus für wahrscheinlich, daß 
ein Gift, das bei starker Einwirkung die Keimzellen zu zerstören 
vermag, bei schwächerer Einwirkung die darin enthaltenen Chro- 
mosomen zu verändern imstande ist. Die neuere Mutationsfor- 
schung hat nun zwar mit Strahlen verschiedener Art, nicht aber 
oder nur in geringem Ausmaße mit chemischen Stoffen Mutationen 
bei Pflanzen und Tieren hervorgerufen. Es scheint, daß chemische 
Stoffe, namentlich Alkohol, die Keimzellen und die in ihnen ent- 
haltenen Kernschleifen nur schwer erreichen. Die Erbmasse ist 
offenbar chemischen Einflüssen gegenüber sehr widerstandsfähig. 
Hinzu kommt, daß der Schwellenwert der eben beeinflussungs- 
fähigen Dosis sehr nahe an der Dosis liegt, die Zerstörung bewirkt. 
Alkohol in schwacher Verdünnung ist wirkungslos, in stärkerer 
Konzentration tötet er die Zellen. So kommt es, daß von den be- 
reits erwähnten Tierversuchen mit Alkohol nur wenige für 
eine Erbänderung sprechen. Zum Teil liegt der negative Aus- 
fall vielleicht ın einer fehlerhaften Durchführung der Versuche; 
aber auch die nach heutiger Kenntnis mit einwandfreier Methodik 
und ungemein sorgfältig durchgeführten Versuche von Agnes Bluhm 
konnten einen durchaus schlüssigen Beweis nicht erbringen. Aus 
den Versuchen von Agnes Bluhm geht hervor, daß die Alkoholi- 
sierung des Männchens der weißen Maus eine statistisch gesicherte 


20 Friedrich Meggendorfer 


Vermehrung der vorgeburtlichen Sterblichkeit, eine geringe Wachs- 
tumsverzögerung, eine starke Erhöhung der Zahl der unfruchtbaren 
Tiere in allen beobachteten Kindergenerationen, eine Überzahl 
sogenannter „Kümmerlinge‘, eine Steigerung der Sterblichkeit der 
Alkoholikerkinder bewirkt. Bei den Enkeln war der Unterschied 
gegenüber den Vergleichstieren nur sehr gering und von den Ur- 
enkeln ab schlug die Übersterblichkeit sogar in eine Untersterblich- 
keit um. Dieser Befund entspricht also zunächst dem einer im Laufe 
der Generationen von selbst abklingenden Nachwirkung, einer 
„Modifikation“. Übrigens scheint auch Forel bei seiner Annahme 
von einem wieder rückgängig zu machenden Vererbbarwerden der 
Blastophthorie diese Folge im Auge zu haben. Wurde nun aber ein 
Männchen alkoholischer Abstammung, gleich welcher Generation, 
mit einem normalen Weibchen gekreuzt, so war die Säuglingssterb- 
lichkeit seiner Kinder beträchtlich größer als diejenige der Kinder 
aus der umgekehrten Kreuzung eines Weibchens alkoholischer Ab- 
stammung mit einem normalen Männchen. Hieraus schloß Bluhm, 
daß eine Schädigung besonders den Teil der Keimzellen getroffen 
habe, der sich bei beiden Geschlechtern verschieden verhält, näm- 
lich die Geschlechtschromosomen; es handle sich also um eine echte 
Erbänderung, eine Mutation. Die Tatsache, daß der erwähnte Ver- 
such nur bei Paarung eines männlichen Alkoholikernachkommens 
mit einem normalen Weibchen, nicht aber bei Paarung mit einem 
Weibchen alkoholischer Abstammung gelingt, spricht allerdings 
wieder gegen echte Erblichkeit; Agnes Bluhm suchte aber diesen 
Widerspruch durch die Hilfsannahme zu entkräften, daß die alko- 
holgeschädigten Samenzellen bei der Befruchtung im Eiplasma eine 
von Generation zu Generation zunehmende Abwehrreaktion aus- 
löse, die die Erbschädigung an ihrer Auswirkung verhindere. Ob 
diese geistreiche Erklärung zutrifft, muß noch dahingestellt bleiben. 
Es lassen sich aber auch sonst noch manche Einwände gegen die 
Richtigkeit der Deutung des Versuches als Beweis einer durch 
Alkoholvergiftung erzeugten Mutation geltend machen. Was die 
Beobachtung beim Menschen anlangt, so können die früher 
zum Beweis einer Neuentstehung von Erbanlagen angeführten 
Beobachtungen, das bereits erwähnte Auftreten von Erbkrankheiten 
und Minderwertigkeiten bei den Kindern und Enkeln von Trinkern, 
unserer heutigen Erkenntnis nach nicht viel bedeuten. Ein derartiges 
Hervortreten von Erbmerkmalen oder von Erbkrankheiten läßt 
sich ohne Schwierigkeiten auf die Annahme von bereits vorhan- 
denen, entsprechenden rezessiven Erbanlagen zurückführen. Bei 
genauerer Nachforschung gelingt es auch meist, derartige Erb- 


er ee ae D e E -namai 11 CE gr KT era zer GE TE EEE BETTER EEE 


Zur Frage der alkoholischen Blastophthorie 21 


merkmale bei früheren Gliedern der Familie nachzuweisen. Um- 
gekehrt beobachtet man unter den Nachkommen von Trinkern 
keine der erwähnten Abwegigkeiten, wenn sie in der Aszendenz 
nicht vorgekommen waren. Stellt man Nachkommenuntersuchungen 
bei einem auf möglichst geringe Belastung ausgelesenen Trinker- 
material an (Boß, Pohlich), so kann man bei den Nachkommen 
keine besondere Häufigkeit von körperlichen oder seelischen Min- 
derwertigkeiten nachweisen. Panse u.a. teilten die Nachkommen 
der Trinker in zwei Gruppen: solche aus der voralkoholischen und 
solche aus der alkoholischen Zeit des Trinkers. Es fanden sich in 
beiden Gruppen keine Unterschiede bezüglich Schwachsinn, Epi- 
lepsie, Geisteskrankheiten und Mißbildungen. C. Brugger fand, daß 
die Neffen und Nichten von Trinkern, auch dann, wenn ihre 
Eltern nicht tranken, eine nicht geringere Häufigkeit von 
Schwachsinn und Geisteskrankheiten zeigten als die 
Kinder der Trinker selbst. Ein keimschädigender Einfluß 
des chronischen Alkoholmißbrauches im Sinne einer Neuent- 
stehung der genannten Abwegigkeiten kann damit, soweit er sich 
aus der Kindergeneration ersehen läßt, ausgeschlossen werden. 
Gegenüber der Feststellung, daß bei den Kindern der Trinker 
Anhaltspunkte für eine Erbänderung nicht festzustellen sind, kann 
nun allerdings der Einwand erhoben werden, daß es sich möglicher- 
weise oder sogar wahrscheinlich um Verlustmutationen mit 
rezessivem Erbgang handelt. Neu entstehende rezessive Erb- 
anlagen werden aber, soferne sie nur von einer Seite kommen, in 
der ersten Nachkommengeneration überhaupt noch nicht zur Mani- 
festation des entsprechenden Merkmals führen können. Es wären 
deshalb Untersuchungen über weitere Nachkommengenera- 
tionen erforderlich. Brugger hat nun auch Untersuchungen an 
Enkeln und Urenkeln von Trinkern angestellt. Diese Unter- 
suchungen ergaben, daß die direkten Nachkommen der Trinker 
in der Enkelgeneration seltener schwachsinnig sind als die Neffen 
und Nichten der Trinker. G. Schmidt stellte in der Erlanger 
Psvchiatrischen Klinik Untersuchungen bei Nachkommen von 
trınkenden Ehepaaren an. Es ließen sich durch die Nürn- 
berger Trinkerfürsorge sieben Ehepaare ermitteln, bei denen beide 
Gatten ein schweres Potatorium zeigten. In einer der erwähn- 
ten Familien hatten zudem die beiden Eltern des Mannes, der 
Vater der Frau sowie die beiden Großväter von Mann und Frau 
stark getrunken, in einer anderen Familie waren außer den 
beiden Ehegatten die beiden Eltern der Frau Trinker gewesen, 
ın zwei Familien außer den Ehegatten die beiden Väter von 


22 Friedrich Meggendorfer 


Mann und Frau, in einer Familie der Vater des Mannes und die 
Mutter der Frau, in zwei Familien die Mutter der Frau. In 
diesen Familien lag also bei beiden Eltern der Nachkom- 
men, z. T. auch schon bei den Großeltern und Urgroß- 
eltern, schwerer Alkoholismus vor. Es ist anzunehmen, daß 
in diesen Fällen von beiden Elternseiten etwa entstandene minder- 
wertige Anlagen zusammengekommen sind. Die Nachkommen 
zeigten zwar in mehreren Familien eine große Säuglings- und 
Kleinkindsterblichkeit, doch war diese in der gleichen Weise bei den 
Kollateralen festzustellen. Von den 33 Kindern der sieben Ehepaare 
waren 15 schwachsinnig, sieben schwer psychopathisch, eines körper- 
lich mißgebildet und eines kriminell. Die gleichen Anomalıen lagen 
aber schon vorher in den betreffenden Familien. Bei den Nach- 
kommen waren keine neuen Abwegigkeiten festzustellen. Es ließen 
sich also auch aus diesen den erwähnten Einwand be- 
rück sichtigenden Untersuchungen positive Hinweise 
für eine Neuentstehung minderwertiger Erbanlagen 
durch chronischen Alkoholmißbrauch nicht gewinnen. 

Es ist demnach festzustellen: wenn auch aus theoretischen 
Überlegungen die Annahme einer mutativen Wirkung 
des chronischen Alkoholismus naheliegt, so kann man 
nach den dargelegten bisherigen Erfahrungen nicht 
sagen, daß der sichere Nachweis schon erbracht sei. 
Das mag indessen vielleicht nur an der unzweckmäßigen Art der 
Nachforschung oder an einer zu hoch gespannten Erwartung be- 
züglich des Ausfalls der Mutationsrate liegen. Nach allem, was wir 
von dem Auftreten von Mutationen wissen, treten diese nur bei 
einem Bruchteile aller unter bestimmten Bedingungen stehenden 
Lebewesen auf und es handelt sich auch nicht um gerichtete Mu- 
tationen. Da den einzelnen Untersuchern nur verhältnismäßig 
kleine Zahlen zur Verfügung stehen, können einzelne Mutationen 
der Feststellung leicht entgehen. 

Manche klinische Beobachtungen lassen sich durch die Annahme 
erklären, daß der Alkohol manifestationsfördernd wirkt. 
In diesem Sinne könnte man die Feststellung Rüdiıns verstehen, 
daß in der Gruppe von Familien mit Schizophrenen, in der eines 
der Eltern Trinker war, der Hundertsatz der Schizophrenie größer 
war als in gleichartigen Familien, in denen beide Eltern nicht tran- 
ken. Aus dieser Annahme erführe vielleicht auch die alte Beobach- 
tung einer größeren Häufigkeit von Epilepsie bei den 
Kindern von Trinkern eine neue Erklärung. Auch die kürzlich 
mitgeteilte Beobachtung Gabriels, die allerdings im Widerspruch 


Zur Frage der alkoholischen Blastophthorie 23 


zu der erwähnten Feststellung von Panse steht, würde in diesem 
Sinne sprechen. Gabriel untersuchte die Nachkommen einer großen 
Zahl von Trinkern, die teils auf der psychiatrischen Abteilung, teils 
in der Trinkerheilstätte „Am Steinhof“ in Wien untergebracht 
waren und unterschied dabei die Kinder aus der voralkoholischen 
und aus der alkoholischen Zeit des Trinkers. Von den in der vor- 
alkoholischen Zeit gezeugten Kindern der auf der psychiatrischen 
Abteilung untergebrachten Trinker boten 37,1 v. H. nervöse Stö- 
rungen und Beschwerden und schwere psychische und morpholo- 
gische Erscheinungen, von den in der alkoholischen Zeit gezeugten 
dagegen 62,9 v. H. Bei den Kindern der in der Trinkerheilstätte 
untergebrachten Trinker war das Verhältnis 30,5 v. H. zu 69,9 v. H. 
Sollte sich weiter zeigen, daß der Alkoholismus manifestations- 
fördernd wirkt, so wäre zu erwarten, daß neben der Penetranz 
auch die Expressivität, d.h. die Gradausprägung der in Er- 
scheinung getretenen Abwegigkeiten durch den Alkoholismus be- 
einflußt wird. 

Einen indirekten Einfluß hat der Alkoholismus auf die kör- 
perliche und geistige Beschaffenheit der Nachkommen insoferne, 
als er die Partnerwahl ungünstig beeinflußt. Der Alkohol 
schwächt den Instinkt, er führt zu Verbindungen, die 
ohne seine Mithilfe nicht zustande kämen. Die Trinker- 
frauen sind erheblich häufiger als es der Erwartung entspricht, 
schwachsinnig, gemütslabil, willensschwach; sie sind psychopa- 
thisch und psychotisch in jeder Art, zuweilen auch verbrecherisch 
veranlagt. Zum großen Teil hierauf ıst das Vorkommen 
von Minderwertigkeiten aller Art bei den Trinker- 
nachkommen zu beziehen. Diese Zusammenzüchtung von 
krankhaften und minderwertigen Erscheinungen aller Art könnte 
sich rassenhygienisch vorteilhaft auswirken, wenn sie den Unter- 
gang und die Ausmerze der minderwertigen Stämme beschleunigen 
würde. Erfahrungsgemäß ist dies aber nicht der Fall, da die Trinker- 
familien vielfach kinderreich sind und trotz der bei ıhnen bestehen- 
den großen Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit überdurchschnitt- 
lich viele Nachkommen an die nächste Generation abgeben. So 
trägt der Alkoholismus zur Ausbreitung der verschie- 
densten erblichen Minderwertigkeiten mächtig bei. Auch 
sonst schädigt der Alkohol die Rasse, indem er besonders gesunde, 
kräftige Männer und Frauen direkt oder auf dem Umwege über 
Unfälle und Geschlechtskrankheiten dem Siechtum und vorzeitigen 
Tode entgegenführt und der Volksgemeinschaft schwere wirtschaft- 
liche Lasten auferlegt. 


24 Friedrich Meggendorfer 


Die von Forel herausgestellte alkoholische Blasto- 
phthorie ist zum großen Teile auch heute noch anzu- 
erkennen und zwar vorwiegend als chronische Blasto- 
phthorie und als Dauermodifikation; darüber hinaus 
aber bewirkt der Alkoholismus indirekt eine schwere 
Schädigung der Nachkommenschaft und der Rasse. Diese 
Schädigung der Rasse rechtfertigt die im neuen Deutschland bei 
schwerem Alkoholismus angeordneten rassenhygienischen Maß- 
nahmen, insbesondere die Unfruchtbarmachung, die Rü- 
din bereits ım Jahre 1903 vorgeschlagen hatte. 


i 


Probleme der Erbcharakterforschung 
Von 
Dr. med. habil. F. Stumpfl, München 


Die durch Galton begründete und durch J. Lange weitergeführte 
Erforschung der Erbanlagen, die die Entfaltung des Charakters 
bestimmen, hat trotz großer Schwierigkeiten grundsätzlicher und 
methodischer Art zu Ergebnissen geführt, die den Weg weiterer 
Untersuchungen entscheidend bestimmen werden. Dieser Erfolg 
ist ebensosehr der Entwicklung der Charakterologie und der fort- 
schreitenden begrifflichen Klärung auf diesem Gebiet zu danken wie 
den auf anderen Gebieten schon seit Jahrzehnten gesammelten Er- 
fahrungen der Erbforschung am Menschen. 

Der Charakter oder das, was wir Persönlichkeit nennen, umfaßt 
das gesamte Fühlen und Streben, Werten und Wollen des Menschen, 
also die gesamten Gefühls- und Willensanlagen, im Gegensatz zur 
Intelligenz, welche die Verstandesanlagen umschließt. Persönlich- 
keit (Charakter), Intelligenz und das vitale Gefühls- und Trieb- 
leben sind die drei Seiten, die wir am individuellen psychischen 
Sein eines Menschen unterscheiden können (K. Schneider). 

Für die Charaktereigenschaften gilt in ganz besonderer Weise, 
daß sie nicht wie körperliche Eigenschaften einzelnen korpuskulären 
Genen verknüpft gedacht werden können, vielmehr sind sıe un- 
mittelbar der Ganzheit, die denZusammenhang der Gene bestimmt, 
verbunden (Mandel). Diese Auffassung ergibt sich eigentlich un- 
mittelbar aus dem Wesen der Gefühle selbst. „Wie die Gefühle 
ihrerseits Produkte des totalen psychophysischen Zustands und 
Funktionsganzen sind, so’geschieht es wechselwirkend vornehmlich 
durch sie, daß Ganzheit prall erfüllten Lebens, ohne zu zerbrechen 
noch abzureißen, sich erhält und immer von neuem erzeugt; melır 
noch, daß in dem Wirbel unendlich mannigfaltiger Einflüsse, zu- 
letzt des Weltganzen, diese kleinen Wesen, die wir als lebendig 
kennen, ein paar Stunden wenigstens oder Jahrzehnte — am 
Leben bleiben; dies aber heißt, daß sie eine gewisse Zeit hindurch 
als Gefüge psychophysischer Dauergeformtheit sich behaupten“ 
(F. Krueger). So gewiß demnach Gefühle und seelische Eigenschaf- 


26 | F. Stumpfl 


ten überhaupt niemals fertig, sondern immer irgendwie in Entwick- 
lung begriffen und mannigfachen Wandlungen unterworfen sind, 
so gibt es doch Dauergeformtheiten, die ganze Gruppen solcher 
Eigenschaften zusammenfassen, so wie auch die Persönlichkeit als 
ganzes gesehen in ihren Tiefen durch eine erhebliche Unwandelbar- 
keit, ja Starrheit, gekennzeichnet ist. 

Diese Erkenntnis der Psychologie haben durch neuere natur- 
wissenschaftlich beobachtende Untersuchungen an Zwillingen sine 
volle Bestätigung erfahren. Es zeigte sich nämlich, daß EZ in der 
Oberflächengestaltung ihres Charakters wohl erhebliche Verschie- 
denheiten aufweisen können, nicht anders, wie auch einer und der- 
selbe Mensch zu verschiedenen Zeiten in seinem Fühlen und Werten, 
Streben und Wollen verschieden sein kann. Allein in den tieferen 
Bereichen, die nur durch Charakteranalysen zugänglich gemacht 
werden können, herrscht bei EZ vollkommene Übereinstimmung. 
Dem entspricht der Befund, daß das Leben von EZ an den ent- 
scheidenden Wendepunkten des Lebens Übereinstimmungen auf- 
weist, die nur durch die Annahme einer tiefen inneren Wesens- 
gleichheit zu erklären sind. 

Bei der Vielgestaltigkeit des Charakteraufbaues und seiner Ent- 
wicklungsmöglichkeiten und bei der vollkommenen Durchdringung 
der Einzelzüge mit der Einheit der Persönlichkeit, sind Erblichkeits- 
forschungen auf diesem Gebiet wohl nur unter Zugrundelegung 
von Längsschnitten durch den gesamten Lebenslauf möglich, die 
neben der Kleinarbeit eine ganzheitliche Erfassung der Persönlich- 
keiten gewährleisten. Testuntersuchungen können dieser Methode 
gegenüber nur eine ergänzende oder abrundende Teilarbeit voll- 
bringen, wenn sie nicht von der eigentlichen Aufgabe wegführen 
sollen. Weitere Fortschritte und Erfolge sind auf diesem Gebiete 
nur von einer zunehmenden Verfeinerung der Untersuchungsme- 
thoden zu erwarten, nicht also von vergröbernden Typenlehren, 
sondern von charakterologischen Analysen, die sich der Typen nur 
zur allgemeinen Orientierung bedienen. 

Meine erbcharakterologischen Untersuchungen an Kriminellen 
haben gezeigt, daß Beobachtungen des Verhaltens und akten- 
mäßiges Studium der Handlungen eines Menschen garnicht breit 
genug unterbaut sein können, wenn eine Rückführung auf echte 
Charaktereigenschaften gewährleistet sein soll. Diese Eigenschaften 
allein, und nicht die Verhaltensweisen oder die Scheineigen- 
schaften, dürfen einer erbbiologischen Untersuchung zugrunde- 
gelegt werden. 

Neuere Untersuchungen, über deren vorläufige Ergebnisse ich 


Probleme der Erbcharakterforschung 27 


1937 auf dem Bevölkerungskongreß in Paris berichtet habe!) 
führten zu Ergebnissen, die, wenn sie sich bestätigen, geeignet sind, 
die Methoden der Erbcharakterforschung auf eine neue Basis zu 
stellen. Ausgangspunkt für diese Untersuchungen waren 3 Beob- 
achtungen an Verbrechersippen, die ich 1931 machen konnte. lch 
konnte damals, ohne auf diese Verhältnisse besonders zu achten, 
in 3 verschiedenen Sippen feststellen, daß jeweils zwei Blutsver- 
wandte, die hinsichtlich ıhres sozialen Verhaltens sowie hinsichtlich 
ihrer Charakterbeschaffenheit erhebliche Ähnlichkeiten aufweisen, 
auch in den Gesichtszügen und Einzelmerkmalen der Gesichts- 
bildung auffallende Übereinstimmungen aufwiesen, wie sie sonst 
zwischen den einzelnen Gliedern des engeren Verwandtenkreises 
nicht zu beobachten waren. Diese Beobachtung ließ daran denken, 
daß hier vielleicht ein Weg vorliegt, die rein psychologische Me- 
thode der Erbforschung zu erweitern durch Untersuchungen über 
die körperlichen Grundlagen der Persönlichkeit. Dem psycholo- 
gisch-verstehenden Vorgehen sollte ein biologisches, das ist ein 
naturwissenschaftlich-erklärendes Vorgehen an die Seite gestellt 
werden. Rüdın selbst, dem ich über meine Beobachtung berich- 
tete, hatte schon früher ähnliches in einer Schizophreniesippe beob- 
achtet. Nachdem Persönlichkeit und Körperkonstitution wohl enger 
verknüpft sind als Psychose und Körperkonstitution schienen 
meine Beobachtungen wert, an einem größeren Material nach- 
geprüft zu werden. Zu diesem Zweck erwiesen sich 60 Sippen eines 
schwäbischen Dorfes im Banat als besonders geeignet, weil sie 
bereits genealogisch, anthropologisch und zum Teil auch konsti- 
tutionsbiologisch durchuntersucht worden waren. 

Die Bedingungen, die ich 1936/37 in dem Dorf vorfand, waren 
für die charakterologischen Untersuchungen außerordentlich gün- 
stig, worüber in der ausführlichen Veröffentlichung des ganzen 
Materials eingehender berichtet werden wird. Es ergab sıch mit 
großer Eindeutigkeit, daß innerhalb jeder Sippe zwischen anthro- 
pologischen Merkmalen des Gesichts (Gesichtsbildung) und Per- 
sönlichkeit (Charakter) eine Korrelation in dem Sinne besteht, daß 
bei großer Ähnlichkeit in den Gesichtszügen regelmäßig auch große 
Ähnlichkeiten chrakterologischer Art bestehen und umgekehrt. 
Entsprechende Kontrolluntersuchungen an Psychopathensippen 
und Beobachtungen an Doppelgängern bestätigen dieses Ergebnis. 
Nachdem die Merkmale des Gesichts gleichsam eine Visitenkarte 
der Gesamtkonstitution darstellen, wie Äretschmer es ausgedrückt 
hat, besagt dieses Ergebnis, daß zwischen Persönlichkeit und ıhren 

1!) F. Stum pfl: Untersuchungen über die Vererbung des Charakters, Con- 
grés internat. de la Population 1937. Paris 1958. VIII. S. 124. 


28 F. Stumpfl 


körperlichen Grundlagen feste Zusammenhänge bestehen, die auch 
im Erbgang nicht gelöst werden. Für die kriminalbiologisch unter- 
baute Verbrechensbekämpfung eröffnen sich hier neue Wege und 
Möglichkeiten. Es ist grundsätzlich möglich, aus der Gesamt- 
körperkonstitution die seelische Veranlagung eines Menschen ab- 
zulesen. Einschränkend ist allerdings hier zuzufügen, jedoch nicht 
sein soziales Verhalten, seine Tat. Eine Zusammenstellung großer 
Serien von Bildern einerseits und ausführlichen, aktenmäßig unter- 
bauten Lebensläufen andererseits, könnte hier weiterführen. 

Die große Zahl der noch ungelösten Fragen, die sich an die 
Tatsache der Vererbung von Charaktereigenschaften knüpfen, 
ergibt sich von selbst aus ihrer ganzheitlichen, einer exakten Ge- 
netik unzugänglichen Grundbeschaffenheit. Was auf diesem Ge- 
biet der exakten Genetik verschlossen bleibt, kann jedoch durch 
eine Erforschung der Entwicklungsgesetze wieder ausgeglichen 
werden. Dabei handelt es sich vor allem darum festzustellen, welche 
bleibenden Grundzüge des Charakters sich schon beim Kind er- 
kennen lassen und wie sie sich von den durch die Entwicklung 
unmittelbar bedingten Züge abgrenzen lassen. Das Ziel ist, schon 
an Kindern oder in den Punbertät stehenden Persönlichkeiten die 
tieferen Wesenseigentümlichkeiten zu erkennen und über die 
späteren Verschiebungen, Zuspitzungen und Abschwächungen 
schon vorher ein Bild zu bekommen. 

Wenn so im Rahmen erbpsychologischer Untersuchungen der 
Entwicklungspsychologie ein bedeutender Platz einzuräumen ist, 
so läßt sich die Frage noch nicht mit Sicherheit beantworten, ob in 
den Bereichen des vitalen Gefühls- und Trieblebens nicht doch eine 
exakte Genetik möglich ist. Erbbiologische Untersuchungen über 
das Triebleben der Tiere könnten hier rasch weiterführen und auch 
auf die Verhältnisse beim Menschen neues Licht werfen. Die oft 
ungeheuer komplizierten Instinkte (Triebe) der Insekten beispiels- 
weise, die man bei der Eiablage beobachten kann, sind ganz frei 
von irgendwelchen Erfahrungsmomenten und müssen deshalb als 
ausschließlich erbbedingt angesehen werden. Auch von Haustieren 
und selbst von Raubtieren (Heck) wissen wir, daß etwa die Mutter- 
instinkte Defekte aufweisen können, die vererbt werden und indirekt 
auch die Vererbung der normalen Triebe dieser Tiere beweisen. 
Beim Menschen ist ein familienbiologischer Nachweis an einem 
hinreichend großen Material für die Vererbung der Triebgrundlagen 
und der vitalen Gefühle zwar bisher noch nicht erbracht worden, 
doch sind die erheblichen methodischen Schwierigkeiten, die mit 
einem solchen Nachweis verbunden sind, ein ausreichender Grund 


nn in een, ‚eier EEE EEE. EEE E. Ari GREEN G, En EEE ng — En a eg ET, art "i ed 


Probleme der Erbcharakterforschung 29 


dafür. Angesichts der großen strafrechtlichen Bedeutung der Ab- 
wegigkeiten des sexuellen Trieblebens beim Menschen ist auf die 
Möglichkeiten exakter Forschungen beim Tier hinzuweisen. 

Der wesentliche Unterschied gegenüber dem Tier liegt nun 
darin, daß beim Menschen die Triebgrundlagen und die vitalen 
Gefühle nicht ausschließlich nach der ihnen innewohnenden Eigen- 
gesetzlichkeit die Reaktionen und das Leben des Individuums be- 
dingen und leiten, sondern daß sie vorwiegend nur das Material 
bilden, welches den tieferen seelischen Gefühlen, dem Werten und 
Wollen und letzten Endes auch den freien Entscheidungen irgend- 
wie zugrundeliegt oder zur Verfügung steht. An dieser engen Ver- 
knüpfung der peripheren Triebe mit den tieferen, ichnäheren, seeli- 
schen Gefühlen ist es gelegen, daß beim Menschen eigentliche 
Triebstörungen nur selten sind. Meist handelt es sich primär um 
Abnormitäten der Persönlichkeit, also um Störungen des nicht- 
vitalen Fühlens und Strebens und nicht um eine primäre Störung 
der vitalen Gefühle und des Trieblebens. Doch kommen auch solche 
Störungen vor. Bedeutsam sind unter ihnen gewisse Abnormitäten 
des sexuellen Trieblebens, deren Erbbedingtheit durch Zwillings- 
beobachtungen ziemlich sicher belegt ist. 

Das Problem Sittlichkeitsverbrechen und Vererbung ist ein- 
zehender behandelt in meinem für den ersten Kongreß für Krimi- 
nologie in Rom 1938 erstatteten Gutachten und in einem Beitrag 
zur Erbpsychologie des Charakters im Handbuch der Erbbiologie 
des Menschen, der die gesamte erbcharakterkundliche Literatur 
berücksichtigt. 

Eine der bedeutsamsten Fragen ist die nach der Einzigartigkeit 
und Einmaligkeit jeder Persönlichkeit, weil sie den erbbiologischen 
Deutungen grundsätzlich zu widersprechen scheint. Eine wirklich 
fördernde Bearbeitung wird sie am ehesten durch erbbiologische 
Untersuchungen an schöpferischen Persönlichkeiten, an Führern 
und an Künstlern erfahren können, die bisher noch aussteht. Je- 
doch selbst dann, wenn man hier nicht mit klaren Lösungen wird 
rechnen dürfen, so kann nach den vorliegenden Ergebnissen der Erb- 
ceharakterkunde immerhin als gesichert gelten, daß hervorragende 
Begabungen ebenso durch Charakter- wie durch Verstandesanlagen 
bestimmt werden und daß beide ın ihren wesentlichen Grundzügen 
durch Erbanlagen festgelegt und Umwelteinflüssen nur in be- 
scheidenen Ausmaßen zugänglich sind. 

Die Einmaligkeit jeder Persönlichkeit ist eine Tatsache, die auch 
bei EZ nicht aufgehoben ist. Vielmehr beobachtet man bei geistig 
einigermaßen differenzierten EZ regelmäßig gewisse Verschieden- 


30 F. Stumpfl 


heiten, die schon bei oberflächlicher Beobachtung deutlich hervor- 
treten und manche tiefere Gemeinsamkeit verdecken können. 
Diese Beobachtung widerspricht jedoch nicht unseren Befunden 
über die Beziehungen zwischen Körperform und Charakter. Es ist 
nicht zu bezweifeln, daß im allgemeinen kein unmittelbarer Zu- 
sammenhang zwischen somatischen und psychischen Merkmalen 
bestehen muß, vor allem nicht, wo es sich um Einzelmerkmale 
handelt. So wissen wir etwa, daß auch bei normalem Körperbau 
gleichgeschlechtliche Triebrichtungen vorkommen, daß eine Reihe 
von körperlichen Merkmalen, normale und pathologische, bei grund- 
verschiedenen Persönlichkeitstypen und Persönlichkeitsstrukturen 
anzutreffen sind. - 

Seelisches Verhalten, auch wenn es zunächst bei mehreren Per- 
sonen gleichartig zu sein scheint, kann jedoch in der Regel auf recht 
verschiedene Ursprünge zurückgeführt werden, ist demnach im 
Grunde in der Regel doch ungleich. Es ist dies der Ausdruck dafür, 
daß selbst bei großer Übereinstimmung in gewissen Einzelzügen 
das Genmilieu verschieden ist. Mit Rücksicht auf das, was über 
das Wesen seelischer Eigenschaften zu sagen ist, ist damit zu rech- 
nen, daß das Genmilieu für sämtliche Einzelzüge bestimmend ist. 
Hiernach kann man, unter der Voraussetzung, daß die Eigen- 
schaftsbegriffe in der Psychologie und in der Anthropologie richtig 
gefaßt werden, seelische Übereinstimmung nur dort erwarten, wo 
ganze Gruppen von körperlichen Merkmalen, in unserem Fall der 
Gesamtbau des Gesichts, weitgehende Übereinstimmungen zeigt. 
Nur wenn man von solchen Gesamtformen und Gesamtkonstitu- 
tionen ausgeht, ist es möglich, die Frage nach dem Zusammen- 
hang zwischen Körperbau und Charakter richtig zu stellen. Daß 
sie, so gestellt, zu bejahen ist, haben unsere familienbiologischen 
Untersuchungen gezeigt. 

Es kann nach meinen Beobachtungen als allgemeine Regel 
gelten, daß unter Geschwistern diejenigen, die sich in den Gesichts- 
zügen stark gleichen, auch in ihrer geistigen und seelischen Ent- 
wicklung auffallend ähnlich sind und umgekehrt, daß Geschwister, 
die keine oder nur geringe Familienähnlichkeiten aufweisen, auch 
in Interessenrichtung und Charakter grundsätzlich verschieden 
sind. Dasselbe gilt auch für die übrigen Verwandtschaftsgrade 
und auch für Personen, die nicht nachweislich miteinander ver- 
wandt sind. 

Einen der sichersten Beweise für die engen Zusammenhänge 
zwischen Körperbau und Charakter verdanken wir der Rassen- 
forschung. Daß bei den menschlichen Rassen bestimmter Körper- 


Probleme der Erbcharakterforschung 31 


bauformen und körperlichen Einzelmerkmalen bestimmte seelische 
Wesenszüge zugeordnet sind, ist nicht zu bezweifeln. Die Schwierig- 
keit liegt nur darin, daß oft auch innerhalb der einzelnen Rassen 
Auslesemomente wirksam sind und zu erheblichen Schwankungen 
des Konstitutionstypus führen können. Dazu kommt, daß bei 
Mischungen die einzelnen körperlichen Merkmale sich bei den 
Nachkommen überkreuzen können. Indessen berechtigt uns nichts 
zu der Annahme, daß dabei Seelisches und Körperliches wirklich 
unabhängig voneinander vererbt werden kann. Die methodische 
Schwierigkeit hier vorwärts zu kommen liegt darın, daß die exakt 
naturwissenschaftliche Körperbauforschung und die notwendig 
ganzheitlich bestimmte Psychologie zur Deckung gebracht werden 
sollen. Ich habe versucht sie dadurch zu überwinden, daß ich einen 
gemeinsamen, und zwar ganzeinheitlichen Nenner suchte. Dadurch 
war ich gezwungen mich auf die Merkmale der Gesichtszüge zu 
beschränken und zunächst nur solche Fälle zu berücksichtigen, 
bei denen sehr erhebliche oder nahezu gar keine Übereinstimmungen 
bestanden. Weitere Untersuchungen werden zeigen müssen, ob 
die verschiedenen Einzelzüge gleichwertig sind bzw. wie sich in 
den vorwiegend gemischten Fällen die Beziehungen zwischen 
Körperbau und Charakter gestalten. 

Die Forderungen der aufbauenden Rassenhygiene erfahren durch 
diese erbbiologischen Ergebnisse über die Beziehungen zwischen 
Körperbau und Charakter und über die Vererbung geistiger Eigen- 
schaften ihre stärkste und entscheidende Stütze. 


Zur Klinik der Erbpsychosen 


Von 
W. Kraulis 


(Aus der psychiatrischen Universitätsklinik [Dir.: Prof. H. Buduls] und dem 
Institut für Bevölkerungsforschung [Dir.: Prof. J. Primanis] Riga, Lettland) 


Durch die Einführung der statistischen Methoden in die psychia- 
trische Erblehre ist diese zu einer exakten Wissenschaft geworden. 
Die Arbeiten Rüdins und seiner Schule haben den Beweis erbracht, 
daß bestimmte Gruppen von Psychosen erbbedingt sind und haben 
ihre Erbintensität veranschaulicht. Hier haben die Zwillingsfor- 
schung und die empirische Erbprognoseforschung in gleicher Weise 
befruchtend gewirkt. Die Ergebnisse dieser Forschungen waren die 
Grundlagen großangelegter eugenischer Maßnahmen. 

Trotz des großen Fortschrittes der empirischen Forschung ist 
aber die Frage nach dem Erbgang der Erbpsychosen noch nicht 
geklärt. Kennzeichnend für diese Sachlage ist, daß zwei Autoritäten 
auf diesem Gebiete entgegengesetzter Meinung sind: während 
Luzxenburger bei der Schizophrenie den rezessiven Erbgang für den 
wahrscheinlichsten hält, meint Lenz, daß eine Dominanz den bisher 
gefundenen Tatsachen besser entspräche. Jedenfalls ist es nirgends 
gelungen, eindeutige Mendelziffern zu bekommen. Dieses könnte 
auch durch Manifestationsschwankungen, deren Vorkommen durch 
die Zwillingsforschung sicher festgestellt sind, bedingt sein. Es 
wäre aber auch möglich, daß unsere klinischen Einheiten, wie die 
Schizophrenie und Cyclophrenie, nicht immer dem gleichen Geno- 
typus entsprechen. Die Arbeiten in der psychiatrischen Erblehre 
gehen von der Kraepelinschen Systematik der Geisteskrankheiten 
aus, deren hauptsächlichstes Ergebnis die Aussonderung der Krank- 
heitseinheiten Dementia praecox und manisch-depressives Irresein 
ist. Die Einteilung Kraepelins steht ohne Zweifel über allen frü- 
heren Systemen der Geisteskrankheiten, da sie nicht nur den je- 
weiligen Zustand, sondern auch den Verlauf der Krankheit berück- 
sichtigt. Sie ist jetzt in der ganzen Welt mit wenigen unbedeuten- 
den Ausnahmen anerkannt. Jedoch müssen wir zugeben, daß man 
über die Pathogenese dieser von Kraepelin so plastisch geschilderten 


Zur Klinik der Erbpsychosen 33 


Krankheitsbilder noch recht wenig weiß. Bleuler sagt, daß sie keine 
naturwissenschaftlichen Grenzen haben. Er meint, daß es nicht 
nur eine, sondern mehrere Schizophrenien gebe. Von einigen dieser 
Schizophrenien meint er, daß sie auf einer exogenen Ätiologie be- 
ruhen. Bumke sieht in einem Teil der als Dementia praecox bezeich- 
neten Kranken eine organische Geisteskrankheit mit unbekannter 
Ätiologie und zweifelt an der Rolle der Erblichkeit in diesen Fällen. 
Das manisch-depressive Irrsesein faßt er aber als eine vererbbare 
Degenerationserscheinung auf und vereinigt sie in einer Gruppe 
mit den Psychopathien. 

Kleist sieht neben der Dementia praecox, die er als eine relativ 
kleine Krankheitsgruppe auffaßt, „kinetische Motilitätspsychosen“ 
und ‚„Verwirrtheiten‘‘ mit remittierendem Verlauf. Die aus seiner 
Schule stammenden Arbeiten von Schwab und Leonhard weisen 
darauf hin, daß unter den Katatonıen zwei erbverschiedene Gruppen 
vorhanden sein könnten. In der einen, der sogenannten typischen 
Gruppe, konnten sie fast gar keine Belastung durch Schizophrenie 
finden. Auch eine Gruppe von schwerer, in Verblödung ausgehender 
Schizophrenie fand M. Bleuler weniger belastet, als andere Grup- 
pen. Auch Schulz findet unter seinen Katatonikern mit Angabe 
exogener Einflüsse weniger Belastung als in seinem übrigen Mate- 
rial. Langfeldt teilt alle Fälle, die gewöhnlich als Schizophrenie 
diagnostiziert werden, in zwei Hauptgruppen auf. Die eine ist die 
typische Schizophrenie, beider dıe Insulinschockbehandlung zweifel- 
hafte Resultate geben soll. Eine andere große Restgruppe seien die 
unsicheren Schizophrenien, die gute Prognose geben und auch gut 
auf die Schockbehandlung reagieren. Bleuler ist der Überzeugung, 
daß es symptomatische Schizophrenien und symptomatische Ma- 
nisch-depressive gebe. Klinisch seien diese von den eigentlichen 
Schizophrenien und Cyclophrenien schwer zu unterscheiden. Alle 
diese Forschungsergebnisse lassen Zweifel darüber aufkommen, 
ob die Kraepelinschen klinischen Einheiten wirklichen Erbein- 
heiten entsprechen. Daß ein Teil von ihnen erbbedingt ist, steht 
außer jeglichem Zweifel; die klinische Abgrenzung dieses Teiles 
ist aber schwierig. 

Überhaupt hat sich die Krankheitseinteilung in der klinischen 
Psychiatrie im letzten Jahrhundert sehr geändert, und wir können 
durchaus noch nicht sagen, daß die Systematik Kraepelins den End- 
punkt der Entwicklung bedeutet. Vor 60 Jahren war die haupt- 
sächlichste Diagnose in der Psychiatrie Paranoia, jetzt stellen wir 
diese Diagnose kaum mehr. Sie umfaßte damals fast sämtliche 
endogenen Psychosen; es waren auch oft organische Hirnkrank- 
3 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 113. H. 1/2. 


34 W. Kraulis 


heiten darunter. Wenn ein Erbforscher zur Zeit der großen Ent- 
deckungen Mendels mit der exaktesten Methode psychiatrische 
Erbforschung getrieben hätte und von der Krankheit Paranoia 
ausgegangen wäre, so wäre er bestimmt zu wenig klaren Ergebnissen 
gekommen. Nun sind wir heute in wesentlich besserer Lage, doch 
meinen wir, daß noch weitere Forschungen zur Abgrenzung der 
Erbeinheiten notwendig sind. 

Daß der Verlauf der Krankheit für ihre biologische Einheitlich- 
keit nicht entscheidend ist, zeigen Beispiele aus der somatischen 
Medizin. Eine Peritonitis im Anschluß an eine Appendix-Perfora- 
tion ist manchmal schwer von einer Pneumokokkenperitonitis zu 
unterscheiden — die Pathogenese beider Krankheiten ist verschie- 
den. Man kann manchmal ein Lungencarzinom von einer Lungen- 
tuberkulose schwer unterscheiden — es sind aber ganz verschiedene 
Krankheiten. Andererseits ist die Lungentuberkulose eine gut ab- 
grenzbare Krankheit, der Verlauf aber kann verschieden sein. So 
könnte man meinen, daß der Verlauf bei der Abgrenzung der 
Krankheitseinheiten nicht das einzige und sicherste Kennzeichen 
sein dürfte. 

Andererseits kennen wir Krankheiten, die trotz gleichem Er- 
scheinungsbilde und Verlauf doch genetisch verschieden sind. Die 
Retinitis pigmentosa kann in einer dominanten, rezessiven und 
rezessiv-geschlechtsgebundenen Form auftreten. Klinisch sind diese 
Formen nicht zu unterscheiden. Dasselbe gilt von den Muskel- 
atrophien. Wenn wir Familien mit diesen Erbkrankheiten nach der 
Probandenmethode statistisch bearbeiten würden, könnten wir 
nie zu klaren Mendelziffern gelangen, obwohl solche vorhanden 
sind. 

Alle diese Überlegungen zwingen uns dazu, noch weiter nach 
möglichen klinischen Erbeinheiten zu suchen. Als Wegweiser dazu 
kann die Erblichkeit selber dienen. Bleuler sagt: „Die Grundlage 
‚jeglicher Erblichkeitsforschung ist die Abgrenzung des Begriffs 
und Umfangs der zu erforschenden Krankheit. Bei den Geistes- 
krankheiten sind diese Normen problematisch; sie werden durch 
die Erblichkeit selber bestimmt“. So haben wir in dieser Arbeit 
einige Psychosen untersucht, die wir als erblich betrachteten, da 
sie bei Blutsverwandten vorkamen. Wir wollen damit nicht sagen, 
daß nur solche Psychosen richtige Erbpsychosen sind, die mehrfach 
in der Familie vorkommen. Auch einzelne Psychosen in der Fa- 
milie können sicher erblicher Natur sein. Wir können sie aber nach 
ihrem klinischen Erscheinungsbilde nicht von den nicht erblichen 
unterscheiden. Wır sind uns darüber klar, daß wir eine Auswahl 


Zur Klinik der Erbpsychosen 35 


nach Erblichkeit und Psychosenhäufigkeit getroffen haben, und 
keine Krankheitserwartungsziffern als Ergebnis unserer Unter- 
suchung bringen können. Uns interessiert in dieser Arbeit aber 
hauptsächlich nur die qualitative Seite der Erbpsychosen. Deshalb 
suchten wir in den 4 Lettländischen Irrenanstalten solche Familien 
auf, von denen mindestens 2 Mitglieder an dem Stichtage (1. IV. 
1936) stationär verpflegt wurden. Wir berücksichtigten nur Eltern ` 
und Geschwister. Die Auswahl wurde ganz unabhängig von der Dia- 
gnose gemacht. Im ganzen handelt es sich um 66 Familien. Sämt- 
liche Kranke wurden von mir untersucht, außerdem lagen auch 
Krankheitsgeschichten der Anstalten vor. Wir untersuchten auch 
die kranken und gesunden Geschwister, Eltern, Nachkommen, 
nach Möglichkeit auch Großeltern, Onkel, Tanten, sowie Neffen 
und Nichten der Probanden, die außerhalb der Anstalten waren 
(Sekundärfälle). Mit Absicht berechnen wir keine Prozentziffern, 
die Sekundärfälle wurden nur zum qualitativen Vergleich heran- 
gezogen. 

Mir scheint, daß unser Material nicht als Kasuistik, sondern als 
repräsentativ für asylierte familiäre Psychosen und deren Fa- 
milienglieder unseres Landes betrachtet werden kann, wobei natür- 
lich zu bedenken ist, daß Familien, bei denen mehrere Mitglieder 
besonders oft oder besonders lange asylıert sind, besonders große 
Aussicht haben, erfaßt zu werden. Von den 66 Familien enthielten 
60 nur Probanden, bei denen endogene Psychosen im engeren Sinne 
vorlagen, nur 6 enthielten auch oligophrene, paralytische oder 
epileptische Probanden. Schon dieses Verhältnis zeigt, welch große 
Rolle den endogenen Psychosen unter den Erbpsychosen zukommt. 
Die geringe Zahl der Oligophrenen darf uns nicht verwundern, da 
in unseren Anstalten nur ein kleiner Teil der Olıgophrenen unter- 
gebracht ist. ' 

Wir glauben, daß unsere Kranken eine Stichprobe der wirklich 
vererbbaren Kerngruppe der endogenen Psychosen repräsentieren. 
In die Anstalten kommen ebenso leicht Schizophrenien wie manische 
und atypische Psychosen, so daß man hier von einer einseitigen 
Auslese nicht sprechen kann. Ebenso zeigen unsere Sekundärfälle, 
die nie in Anstalten gewesen sind, qualitativ die gleichen Zustands- 
bilder, quantitativ sind sie vielleicht weniger ausgesprochen. Also 
stellen unsere 66 Familien mit 141 asvlierten Kranken unter 
2974 Anstaltsinsassen unseres etwa 2 Millionen Einwohner zählen- 
den Landes, eine im gewissen Sinne repräsentative Auslese von — 
familiär auftretenden — Psychosen dar, deren Erblichkeit als be- 
sonders gesichert angesehen werden darf. 
ge 


36 W. Kraulis 


Ehe wir zu den Resultaten unserer Untersuchung übergehen, 
folgt eine kurze Übersicht über das bisher auf dem Ge- 
biete der qualitativen Vererbung der Psychosen Ge- 
leistete. 


Schulz hat Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen klinischer 
Form und Vererbung bei der Schizophrenie gemacht. Er teilte seine 660 Pro- 
banden in 7 klinische Untergruppen auf und berechnete die Vererbung 
in jeder Gruppe. Er gelangte zum Resultat, daß die Zahl der Geisteskranken 
in den einzelnen Gruppen unter den Familiengliedern gleich ist. Nur in der 
Gruppe der Katatonien, soweit dort der Proband nach einem Kopftrauma 
erkrankte, fand er dreimal weniger Schizophrene. Schulz denkt hier an die 
Möglichkeit einer biologischen Verschiedenheit. Schwab untersuchte die 
„eigentlichen“ Katatonien. Sein hauptsächlichstes Ergebnis wurde schon 
oben erwähnt. Außerdem findet er eine große Ähnlichkeit der Psychosen bei 
den Geschwistern, ebenso auch bei den Eltern, was auch wir beobachten 
konnten. Der Prozentsatz der Cyclophrenien ist in den Familien erhöht, außer- 
dem scheinen einige Fälle, die vielleicht in anderen Kliniken zur Cyclophrenie 
gerechnet worden wären, als Katatonien gezählt. Leonhard findet in seiner 
Arbeit über schizophrene Endzustände zwei Gruppen, die sich auch erbbio- 
logisch unterscheiden. Bei der atypischen Gruppe findet er eine größere Be- 
lastung als in der typischen. In den Familien der atypischen Gruppe findet er 
wieder atypische Schizophrenien, aber keine Manisch-depressiven. Zu den 
atypischen zählt er Schizophrenien mit vorwiegend periodischem Verlauf und 
nicht erheblichen Defekten im Endzustand. Bei seinen atypischen denkt Leon- 
hard an das Hineinspielen von dominanten Faktoren, bei den typischen an 
rezessive Vererbungsweise mit geringer Genpenetranz. 

Tuczek untersuchte Familien, die durch Schizophrenie und Cyclophrenie 
belastet waren. Er fand mehrfach Kombinationen der beiden Erbkreise, 
atypische Psychosen mit remittierendem Verlauf, die man nur zwangsweise 
einordnen kann. Ähnliche Beobachtungen machte auch Frets. Er nimmt 
zwei Genotypen an: die Cyclophrenie und Schizophrenie und erklärt die 
vielen atypischen Psychosen in seinem Material als Kombination oder Über- 
deckung des einen Genotyps durch den anderen. Zu denselben Schlußfolge- 
rungen kommt auch Smith. Er findet bei Erkrankung der Eltern an ver- 
schiedenen Psychosen bei der Hälfte der Nachkommen atypische und der 
andern Hälfte reine Psychosen (in einem Material von 20 kasuistisch aus- 
gelesenen Familien!). Hoflmann faßt die atypischen Psychosen auch als 
Kombination cycloider und schizoider Psychopathie auf. Da nun aber nach 
Bleuler jeder Mensch synton oder schizoid reagieren kann, können wir diese 
oder jene Komponente fast bei jedem Menschen hervorheben und so alle 
klinischen Bilder ‚‚erklären‘. Deshalb schlägt Lange vor, von Mischpsychosen 
nur in solchen Fällen zu reden, wo in der Aszendenz eine reine Cyclophrenie 
oder Schizophrenie zu finden ist. Bei Rezessivität und kleiner Manifestations- 
wahrscheinlichkeit könnte aber ein solches Verfahren nicht immer das rich- 
tige Bild geben. W’yrsch fand bei den nächsten Vorfahren seiner ‚„Misch- 
psychosen‘‘ keine reinen zirkulären Psychosen. Er wirft die Frage auf, ob 
der manisch-depressive und schizophrene Erbkreis wirklich zwei Krankheits- 
typen, die in diesen Zuständen erscheinen, sind; ist es nur ein verschiedener 
Aspekt der gleichen Störung? Minkowsky konnte in einer Familie mit 
atypischen Psychosen keine reinen Manisch-depressiven feststellen. Araulıs 


Zur Klinik der Erbpsychosen 37 


konnte in einer über sieben Generationen zurückverfolgten Familie mit 
Atvpischen und Manisch-depressiven keine reine Schizophrenie finden. 

Wenn wir die bisherigen Untersuchungen überblicken, müssen 
wir 2 Arten von atypischen Psychosen zugeben: 1. Mischpsychosen, 
bei denen in der Aszendenz Cyclophrenie und Schizophrenie vor- 
kommt und 2. Atypische Psychosen, die in gleicher Art über Gene- 
rationen sich in der Familie vererben. Klinisch sind sie nicht von- 
einander zu unterscheiden, es sind auch die genetischen Unter- 
schiede dieser beiden Arten von atypischen Psychosen nicht so 
groß, wie es am Anfang scheinen könnte. 

Wir bringen nun zunächst eine Übersichtstabelle 
über die von uns untersuchten Familien und die darin 
vorkommenden Probanden: 


Tabelle. 
os Diagnosen bei den Probanden: 
== | Schizo- Atyp , 
SE phren. n Psy- on Ep. | Olig. | P. p. 
«5 |reinelatyp. chos p. 
Schizophrenien (reine) 36 76 | — | — | — | — | — | — | — 
Schizophrenien (atyp.) 7 6 9 — | — |- I- | — — 
Manisch-depressive.... 2 | — | — V — I —- 1 —- I —- | — 
Atyp. + Cycloph...... 4 | — | — 1 7 1 | — | — | — 
Manisch-depressive 
+ Atyp. + Schizophr. | 10 7 3 7 5I- | - | —- | — 
Man.-depr. + Psychop. 1 — | — 1 — 1 — | — | — 
Atyp. + P. P- ----..0.. 1 — — == 1 => == = 1 
Schiz. + Epilep. ...... 1 | — 1 — | — | — 2 | — | — 
Schiz. + Olig. ........ 1 1 — | — |]. | | — 1 — 
Ole: ernst 1I1I-|I|—- | — | - 1 —- | — 2 | — 
Komb. Epil. + Olig. ... 1 — | — | — | —- | — — | — 
Olig. + P. P. ........ — | — | — | | | — 1 1 
Insg. 141 Fälle...... 66 | 90 13 13 13 2 4 4 2 
Prozentuale Verteilung der 
141 Falle sus, 44a 73,0 9,6 | 9,6 | 1,3 | 2,6 | 2,6 | 1,3 
Prozentuale Verteilung der 
Insassen der Irrenanstalten 
Lettlands: 4.404222 65,7 3,9 | — 1,3 | 8,8 | 8,8 | 4,5 


Wenn wir unser Material mit der allgemeinen Statistik ver- 


gleichen, so sehen wir, daß die Zahl der Schizophrenen und Cyclo- 
phrenien in unserem Material prozentuell größer ist als in den 
lrrenanstalten Lettlands; die übrigen Geisteskrankheiten sind in 
unserem Material weniger vertreten. Dieses weist auf die große 
Rolle der Erblichkeit bei der Entstehung der endogenen Psychosen 
hin. Die Manisch-Depressiven sind in unserem Material doppelt 


38 W. Kraulis 


so häufig wie in den Irrenanstalten, ebenso finden sich in ihm auch 
sehr viele atypische endogene Psychosen. 

Wir haben 20 Familien, in denen Eltern und Kinder erkrankt 
waren. 8 von diesen Familien gehören zur Gruppe der affektiv- 
periodischen Psychosen. Unsere Probanden bestehen aus 71 Frauen 
und 70 Männern. In der schizophrenen Gruppe ist das Verhältnis 
von Frauen zu Männern 44:59, in der affektiv-periodischen 11: 15. 

Von 66 Familien sind 43 solche, bei denen unter den 
Probanden nur Schizophrene vorkommen. Davon sind 
36 Probanden mit einem zur Verblödung führenden Verlauf. 
In 3 Familien dieser Gruppe fanden wir aber unter den Sekundär- 
fällen atypische und cyclophrene Psychosen. Diese 36 Familien 
fassen wir in der ersten Gruppe zusammen. Zur zweiten Gruppe 
gehören 7 Familien; auch hier sind die Probanden schizophren, 
waren jedoch in ihrem Verlauf atypisch. In den 43 Familien fanden 
wir 91 asylierte Kranke, in 10 Familien waren nur Geschwister 
krank. Hier alle 91 Krankengeschichten anzuführen, würde nichts 
wesentlich Neues bringen. Wir beschränken uns auf die Anführung 
nur einiger charakteristischer Beispiele: 


Sa18a. Pat. aufgenommen im Alter von 27 Jahren. Ist immer ein schwäch- 
liches Kind gewesen und hat viele Krankheiten durchgemacht. In der Schule 
ging es gut, keine charakterlichen Eigenarten. Erkrankte im Alter von 18 Jahren 
nach seinem Apothekergehilfenexamen. War in den ersten Tagen sehr un- 
ruhig, sagte, schlechte Menschen ließen ihm keine Ruhe, zerschlug Sachen, 
behauptete, dadurch die schlechten Menschen zu besänftigen. Beruhigte sich 
bald und fuhr nach Petersburg, um eine Stelle anzunehmen. Dort erneute 
Verschlimmerung. Unterbringung in einem Irrenhause, wo er 10 Monate war. 
Dort soll er sehr vernünftige Briefe geschrieben haben, in denen er jammerte, 
daß man ihn als gesunden Menschen in einer Anstalt halte. Zu Hause macht 
er gar nichts, will Bücher schreiben, verlangt allerlei, nichts ist für ihn sauber 
genug — die Wäsche müsse chemisch gewaschen werden. Er selbst wäscht 
sich nicht, läßt sich auch nicht die Haare schneiden. Soll früher Gesichts- 
und Geruchshalluzinationen angenehmer und unangenehmer Art gehabt 
haben, glaubte, Wasser tropfe von der Oberlage. Gegen die Mutter oft sehr 
drohend. 

Pat. ist ein sehr kleiner, schwächlich gebauter junger Mann, in schlechtem 
Ernährungszustande. Sehr unsauber an seinem Körper, an Wäsche und 
Kleidung, macht einen sehr verkommenen Eindruck, findet seine Unter- 
bringung in der Anstalt ganz falsch, da er ganz gesund sei, und besser wisse. 
was ihm fehle, als seine Verwandten und die Ärzte, denn er habe sich mit 
der Pharmazie beschäftigt, und daher mehr Erfahrung darin, was dem 
Menschen gut sei als die Ärzte. Läßt sich auf näheres Ausfragen nicht viel 
ein, sondern zeigt überhaupt ein abweisendes Wesen; ist hochfahrend, wird 
dazwischen grob — sein Zustand gehe niemanden was an. 

Nach einem Jahr hat sich der Zustand geändert. Pat. ist schon sehr ver- 
blödet, zeigt nicht das geringste Interesse, beschäftigt sich absolut nicht, 

«hat keine Beziehungen zur Umwelt, liegt meistens stumpf auf dem Bett. 


Zur Klinik der Erbpsychosen 39 


Zum Aufstehen und Umhergehen gezwungen, vernachlässigt er sich in seiner 
Toilette, die Hosen hängen ihm immer herunter. Es muß auch immer darauf 
geachtet werden, daß er sich wäscht, und die Mahlzeiten einnimmt. Dazwischen 
kommt es wiederholt vor, daß er, ohne es zu begründen, nicht essen will, und 
nur durch Androhung künstlicher Ernährung sich zum Essen bewegen läßt. 
Sucht man sich etwas mit ihm zu unterhalten, ihn etwas zu fragen, so weicht 
er aus, antwortet gar nicht, oder im besten Falle nichtssagend. Befindet sich 
noch in der Klinik. Der Zustand ist derselbe geblieben. 


Sa. 18b. Bruder des Obigen. Bei Besuch des älteren Bruders hat die 
Mutter schon mehrfach geäußert, daß auch ihr zweiter Sohn seines Geistes- 
zustandes wegen ihr Sorgen mache. Pat. ist nie gehorsam gewesen, hat auch 
in der Schule wenig gelernt, sich aber durch Lesen und Selbststudium ge- 
wisse Kenntnisse erworben; keinen speziellen Beruf erwählt, und ist schließ- 
lich Arbeiter in einer Seifenfabrik geworden. In letzter Zeit hat er ange- 
fangen, Sachen des kranken Bruders zu verkaufen und sich herumzutreiben;; 
der Mutter gegenüber wortkarg, oft auch unverschämt, lacht oft ohne 
Grund, schläft schlecht. 


Im Krankenhause ist der Pat. seiner Umgebung gegenüber gleichgültig, 
arbeitet nicht, ist nachlässig in seiner Kleidung und unsauber. Verlangt seines 
Bruders Dokumente — er wolle Apotheker werden. Wenn man ihm sagt, 
daß er nirgendwo gelernt habe, antwortet er, daß er nach dem alten russischen 
Gesetz das trotzdem sein könne. Dazwischen spricht der Pat. überhaupt nicht, 
hockt in einer Ecke seines Zimmers. — Nach drei Jahren hat sich der Zustand 
des Pat. verschlimmert. Er beginnt seine Kleider zu reißen, geht nackt in 
seiner Abteilung umher, bittet den Arzt, dem Militär-Bezirksleiter mitzuteilen, 
er wolle zum Militärdienst. Befiehlt allen Kranken ihre Kleider auszuliefern, 
beschimpft die Arzte und den Direktor. Nach einiger Zeit apathisch, geht 
nackt umher und lacht ohne Grund. In den letzten Jahren bedeutend ruhiger, 
apathisch, spricht wenig, verbringt alle Tage im gleichen Zustande, arbeitet 
nicht. 

Aus diesen beiden Fällen sehen wir, daß die Krankheit der beiden 
Brüder stark ähnlich ist. Wohl ist der Beginn der Krankheit im 
ersten Fall akuter, und sind Remissionen deutlicher ausgesprochen, 
doch ist das Endresultat seit ca. 10 Jahren dasselbe. — Nicht in 
allen Fällen ist es uns möglich gewesen, den Beginn der Krankheit 
klarzustellen. Trotzdem kann zusammengefaßt gesagt werden, daß 
der Beginn der Krankheit in einer Familie gewöhnlich ähnlich ist. 
Das oben beschriebene Verhalten gehört zu den Ausnahmefällen, 
außer diesen gibt es nur noch 3 Fälle, in denen ein Familienglied 
akut erkrankt, das andere jedoch allmählich. Von 90 Fällen der 
ersten Gruppe begann die Krankheit in 18 Fällen akut, in den 
übrigen, soviel wir feststellen konnten, allmählich und unmerklich. 


Wenn wir die klinischen Formen nach den Untergruppen ver- 
gleichen, so finden wir, daß von 43 Familien in 37 Familien diese 
Untergruppen gleich sind, nur 6 Familien verhalten sich anders. 
Von 91 Schizophrenien sind 29 Katatoniker, 32 Hebephrene und 


40 W. Kraulis 


30 Paranoide. Nach den Familien gerechnet, sind in 10 Familien 
alle asylierten Familienmitglieder kataton, in 16 Familien alle 
Familienglieder hebephren, und in 11 Familien paranoid. In den 
Familien, in denen die klinischen Formen verschieden waren, 
fanden wir in 3 Fällen neben Katatonen auch paranoide Formen, 
ın anderen 3 Familien fanden wir katatone Formen neben hebe- 
phrenen bei verschiedenen Familiengliedern. 


Familien, in denen neben Hebephrenen auch Paranoide auf- 
getreten wären, fanden wir in unserem Material nicht, ebenso 
wenig Familien, in denen alle 3 klinischen Formen vertreten sind. 


Im allgemeinen muß gesagt werden, daß das Einfügen der Psy- 
chosen in klinische Untergruppen in vielen Fällen mit großen 
Schwierigkeiten verbunden war. Hatte z. B. anfangs die Krankheit 
mehr eine paranoide Färbung, während späterhin hebephrenische 
Elemente hinzu kamen und der endgültige Zustand des Patienten 
dann katatonisch wurde — zu welcher Untergruppe muß ein 
solcher Kranker gerechnet werden ? In anderen Fällen vermischen 
sich hebephrene und katatone Elemente ineinander. Wir konnten 
dem Beispiel von Schulz nicht folgen, und noch kleinere Unter- 
gruppen bilden, wie z. B. paranoide Hebephrenie und katatonisch- 
Paranoide. Unser Material ist dafür zu klein; außerdem ist, wie ge- 
sagt, aus dem obenangeführten Grunde auch bei größerem Material 
eine Einteilung schwer. Gegenüber Schulz finden wir eine größere 
. Ähnlichkeit klinischer Untergruppen bei den einzelnen Familien- 
gliedern: er beobachtete z. B. unter den Geschwistern der Kata- 
toniker ebenso viele Hebephrene und Paranoide wie bei paranoiden 
Familien. Hier fällt vielleicht das Gewicht auf die subjektive Be- 
wertung, aber wichtig ist auch, daß Schulz seine Probanden und 
Sekundärfälle nicht selbst klinisch beobachtet hat. Wenn es schon 
schwer ist, nach den Aussagen der Angehörigen und nach einer 
einmaligen Untersuchung eine allgemeine Diagnose zu stellen, so 
wird es noch schwerer sein, die richtige klinische Untergruppe 
festzustellen. Oft genug wird die Sache erst nach jahrelangem 
Beobachten klar, was sachgemäß nur in einer Klinik erfolgen 
kann. 


Jaspers weist auf ähnliche Psychosen unter nahen Verwandten 
hin. Unsere Feststellungen unterstreichen von neuem diese Ähn- 
lichkeit. Es ist selbstverständlich, daß wir die Psychosen nur in 
einem Stadium vergleichen können: z. B. man kann nicht eine 
akute schizophrene Verwirrtheit mit einem Endzustand der Schizo- 
phrenie beim anderen Bruder vergleichen und behaupten, daß hier 


{ 


TE Er ee EEE EEE EEE Aamasnenmen- fie le ren - 
bu u mer e G E O a A e FE . 


Zur Klinik der Erbpsychosen 41 


verschiedene klinische Formen vorliegen. Besonders kraß fällt die 
Ahnlichkeit in der paranoiden Gruppe auf. Ein charakteristisches 
Beispiel: 

D. Ia und b. Mutter und Tochter wohnen getrennt, die Tochter ist ver- 
heiratet. Beide erkranken gleichzeitig, die Tochter im Alter von 30 Jahren, 
die Mutter 50 Jahre alt. Beide erkranken an paranoider Schizophrenie: sie 
werden verfolgt von Menschen, die Gedanken lesen, sie durch Radio beein- 
lussen. Beide aktiv, etwas deprimiert, sprechen gern. Die Tochter schwer- 
mütig, unternimmt einen Fluchtversuch, um zu ihrem geschiedenen Mann 
zu gehen. Sie macht in der letzten Zeit etwas Handarbeit, auch die Mutter 
arbeitete früher, jetzt gar nichts. Die Mutter hat starke Halluzinationen, 
verstopft die Ohren während des Gesprächs, in der Sprache besondere Ma- 
nieren. Beide sind bereits seit 5 Jahren krank. 


Sind solche Bilder nur durch Vererbung zu erklären ? Die kon- 
stituionellen Grundlagen sind dieselben, sie weisen auf Vererbung 
hin, — bei der Bildung des klinischen Bildes sind auch exogene 
Faktoren beteiligt. Wir haben 10 Familien, wo die asylierten Fa- 
milienglieder zur katatonischen Untergruppe gehören; in keiner 
Familie trafen wir Fälle an, wo alle Familienglieder ausgesprochen 
motorisch kataton waren. 

Gehen wir jetzt zur Übersicht über die Gruppe der 
atypischen Schizophrenien über. Diese zweite atypisch- 
schizophrene Gruppe wurde hauptsächlich nach dem Grade der 
Remissionen gebildet. Hier kommen unter 8 Probanden 4 Fälle 
vor, wo eines von den Familiengliedern ganz gesund geworden 
ist und mehrere Jahre hindurch gesund und arbeitsfähig war. 


Sa. 33a. Geb. 1901. Bibliothekar. Hat das Gymnasium beendet. Ver- 
träglich, froh, liebt in Gesellschaft zu sein. Hat seine Arbeit stets ordentlich 
gemacht. Seit drei Monaten vor Einlieferung ins Krankenhaus wie erstarrt: 
zuerst klagt er, daß alle Bewegungen langsam sind, späterhin arbeitet und 
spricht er nicht. Am 21.11.27 wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Hier 
wird der Pat. vollkommen stuporös, sieht den Arzt an, spricht kein Wort; 
muß künstlich gefüttert werden. Flexibilitas cerea: verharrt stundenlang in 
unnatürlichen Stellungen. Oft unsauber. 25. HI.: Wenn der Arzt erscheint, 
erhebt er sich, antwortet mit ja und nein, auf weitere Gespräche läßt er sich 
nicht ein. Ißt selbst, ist sauber. Flexibilitas besteht noch. 10. IV.: Pat. bessert 
sich sukzessive, unterhält sich langsam, kann Antworten auf Fragen geben. 
Er begreift, daß er krank war, sich in einem merkwürdigen Zustand befunden 
hat, genau kann er sich nicht erinnern. 18. IV.: Es kehrt der alte starre Zu- 
stand wieder, der Pat. ißt nichts, ist unsauber, spricht nicht. 15. II. 28: 
Der Zustand ist unverändert. Er nimmt besondere Stellungen ein: z. B. hält 
stundenlang zwei ausgestreckte Finger in der Luft, hält den Kopf auf eine 
Seite geneigt. 8. III. 28: Beginnt zu essen und zu trinken. In der Sprache 
vollkommener Wortsalat, kein Satz ist verständlich und vollkommen, nur 
vereinzelte unzusammenhängende Worte. 8.V.28: Pat. beginnt allmählich 
vernünftig zu sprechen, verhält sich ordentlich und ruhig. Begreift, daß er 
krank war. Seinen vorherigen Zustand kann er nicht verstehen und ihn sich 


42 W. Kraulis 


nicht erklären. 30. XII. 28: Pat. ist die ganze Zeit über ruhig, vernünftig, 
spricht zusammenhängend. Hat den Wunsch zu arbeiten. Wird entlassen. 
Jetzt seit zirka 8 Jahren arbeitet er wieder, unterhält seine Mutter, ist geistig 
ganz gesund. 

Sa. 33b. Geb. 1898. Entwickelt sich normal, beendet die Schule, arbeitet. 
Erkrankt mit 23 Jahren. Der Beginn der Krankheit ist langsam: wird gleich- 
gültig gegen ihre Umgebung, weint oft, arbeitet nicht. Im Krankenhause 
meint sie, daß sie anscheinend etwas verbrochen habe, fremde Menschen 
sehen sie auf der Straße an, zeigten mit Fingern auf sie. 1924 ins Kranken- 
haus eingeliefert. Schon nach einigen Monaten spricht sie mit niemandem, 
sitzt verstockt in einer Ecke, spuckt, näßt das Bett. In den letzten 11 Jahren 
hat sich der Zustand nicht geändert. Pat. spricht nicht, ist verschlossen, 
spuckt, schläft mit bedecktem Kopf im Bett. Kann zu keiner Arbeit heran- 
gezogen werden. Wenn man ihr das Essen gibt, dann ißt sie es, fragt aber 
spontan nie danach. 


Beide, Bruder und Schwester, gehören zur katatonischen Gruppe. 
Die Schwester hat sich nie in einem ausgesprochen motorischen 
Erstarrungszustand befunden. Der Verlauf der Krankheit bei der 
Schwester ist langsam progressierend, der Bruder dagegen wird 
nach mehr als einjähriger Behandlung gesund. — Bei den 3 übrigen 
Familien ist es ähnlich, auch hier wird eines der Familienglieder 
vollständig gesund. Die klinische Form war in allen Fällen kataton, 
in einem Fall hebephren. Zyklophrenische Elemente waren bei 
diesen Krankheitsbildern nicht festzustellen. 

In der Gruppe der atypischen Schizophrenien sind einige Fa- 
milien, welche durch die Besonderheit ihrer Psychosen interessieren 
könnten: 


Sa. 30a. Geb. 1902. Die ersten Kennzeichen geistiger Erkrankung zeigen 
sich im 28. Lebensjahr. Schon 10 Jahre vor Einlieferung ins Krankenhaus 
beobachtete er, daß der eine seiner Hoden fester sei als der andere. Vor einem 
Jahr empfand er im Hoden Schmerzen und wandte sich an einen Arzt. Es 
wurde Tuberkulose konstatiert und der Hoden wurde am 3.1.31 entfernt. 
Nachdem stellten sich Schmerzen im anderen Hoden ein, worüber sich der 
Patient sehr aufregte. Es wurde nichts Objektives festgestellt. Der Patient 
wurde immer nervöser, konnte nicht mehr arbeiten, fand nirgends Ruhe. 
Im Krankenhaus sagte der Pat., daß der Hoden ganz unnütz entfernt wurde. 
Er sei nicht zeugungsfähig, ganz verloren. Wenn man nach etwas anderem 
fragte, antwortete der Pat. ungern, kehrte stets wieder zur Operation zurück. 
Keine Beruhigungen halfen: der Pat. wiederholte stereotyp immer dasselbe. 
Sprach mit leiser Sitmme, in niedergedrückter Stimmung. Sonst psycho- 
pathalogisch und somatisch keine Anomalie. 30. III. 31: Geht ruhig in seiner 
Abteilung auf und ab, bittet, man solle ihn zum Arzt lassen, vielleicht müsse 
der andere Hoden operiert werden. Wenn ihm bewiesen wird, daß seine Be- 
fürchtungen unbegründet sind, wird er für eine Weile still, jedoch schon nach 
einigen Minuten beginnt er wieder von neuem. 4. V. 31: In einem unbeachteten 
Moment erhängt er sich. 

Sa. 30b. Geb. 1904. Erkrankt mit 28 Jahren (zwei Jahre nach dem Tode 
ihres Bruders). Sie hat die Idee, daß ihr Mann sie sowie auch ihr neugeborenes 


Zur Klinik der Erbpsychosen 43 


Kind mit Lues angesteckt habe. Obwohl die WaR sowohl bei ihr, als auch 
beim Kinde stets negativ war, blieb sie konsequent bei ihrer Auffassung. 
Diejenigen Ärzte, welche das Gegenteil behaupteten, seien von ihrem Mann 
bestochen worden. Ihr einziger Lebenszweck bestehe darin, sich an ihrem 
Mann zu rächen, ihn umzubringen, und dann Selbstmord zu begehen. Sie 
goß ihrem Mann Seifensteinlösung ins Gesicht und wurde daraufhin am 
9. VII. 33 ins Krankenhaus eingeliefert. In den letzten drei Jahren hat sich 
ihr Zustand nicht geändert. Wiederholt stets dasselbe: sie wird ihren Mann 
umbringen, ihr Kind und sich an den Ärzten rächen, welche sie eingeschlossen 
halten. Keiner dürfe ihr die Wahrheit sagen, auch das Gericht sei bestochen 
worden. Pat. versucht sich Schlüssel anzueignen um auszureißen — und 
einmal ist ihr das auch gelungen, wobei sie im Winter im bloßen Hemd weg- 
gelaufen ist; die Polizei hat sie festgenommen und wieder zurückgebracht. 
Sie hatte sich auch Messer und andere scharfe Sachen angeeignet, um sich 
zu rächen. Im allgemeinen haben ihre intellektuellen Kräfte, mit Ausnahme 
der Wahnidee, nicht gelitten. Ihr Geisteszustand ist zum größten Teil nicht 
sehr niedergedrückt, singt oft unzüchtige Lieder, in welchen die Ärzte und 
die Pflegerinnen beschimpft werden. 


In beiden Fällen sehen wir eine paranoid-hypochondrische Psy- 
chose, ohne wesentliche intellektuelle Störungen und andere psy- 
chotische Erscheinungen. Im ersten Falle ist die Depression stärker 
ausgesprochen. Die Schwester gibt zu, daß der Bruder geisteskrank 
war, sich selbst jedoch betrachtet sie als geistig gesund. Da der 
Charakter der hypochondrischen Ideen verschieden ist, so scheint 
uns eine psychische Induktion hier ausgeschlossen, und das ge- 
samte Krankheitsbild ist auf konstitutionelle Umstände zurückzu- 
führen. 

In einer anderen Familie war der Vater ein psychopathischer 
Alkoholiker, die Tochter eine remittierend verlaufende Schizo- 
phrenie. 


S. 1a. Gemütskalt, immer für sich, auch im nüchternen Zustande, schlug 
die Frau und bedrohte sie mit dem Messer, trank sehr viel. Im Alter von 
52 Jahren an Delirium tremens erkrankt. Sah Mäuse und Schlangen im Bett, 
zeitweilig erregt. Nach einigen Tagen klingt die Psychose ab, der Pat. ist aber 
verstimmt, macht sich Vorwürfe. Nach zwei Monaten auf eignen Wunsch 
entlassen. Nach der Entlassung setzt er das Trinken fort, erhängt sich im 
Alter von 55 Jahren. Diagnose: Psychopathia. Alcoholismus chron. De- 
pressio ? 

S. 1b. Tochter des vorigen. Verschlossen, immer für sich. Erkrankt im 
Alter von 19 Jahren an einer akuten Katatonie mit Halluzinationen, psycho- 
motorischer Erregung, die nach zwei Monaten verschwinden. Dann genesen, 
als Lehrerin tätig. Nach einem Jahr wieder krank, las viel die Bibel, hielt 
sich für die Tochter Gottes; schlief nicht, erregt. Nach sechs Monaten genesen. 
Danach neun Jahre unauffällig, im Beruf tätig. Dann wieder krank, traurig, 
verstimmt. Sagte, Kaiser Wilhelm sei unter ihrem Bett, hält den Arzt für 
seinen ‚‚Sekretär‘‘, hört das Radio sagen ‚.genug‘‘. Oft stark erregt, un- 
motivierte stereotype Bewegungen, zerfahren. Seit zehn Jahren in der 
Anstalt. 


44 W. Kraulis 


Sa. 10a. Geb. 1871. Schnell aufbrausend, fröhlich, gesellschaftlich. Er- 
krankt im Alter von 41 Jahren: das Essen sei vergiftet, ißt nicht, spricht nicht. 
aufgeregt, unruhig. Im Krankenhause seit dem 15. VIII. 15. Verhält sic: 
anständig, ruhig, spricht und lacht viel. Anzeichen einer Ideenflucht, im ganzen 
unzusammenhängend: Flachs wiegt man schifundweiß, ja — Schiff uni 
weiß. Spielen, spulen mit dem doppelten i, spulen, Nasen spulen oder spielen, 
sie sind eine Puppe, blond und weiß“. 15. IX. 15: Pat. ist ruhig, anständig 
gekleidet, macht etwas Handarbeit, spricht zusammenhängend. Ihr werden 
alle Sachen ‚‚per Draht‘ mitgeteilt. Alle arbeiten entgegen ihrem Willen. 
nach aufgezogenem Draht wie Marconi. Der Draht erzählt, daß ihrem Bruder 
große Silbergruben gehören, er wird allen Schwestern ein Silberservice 
schenken. Ihr Mann wolle sie ihrem Bruder verkaufen, ihr Bruder flüchtete 
durch die Tür; sie habe deshalb die Scheidung eingeleitet. Deshalb habe ihr 
Mann sich erschossen — vielleicht ist er auch im Duell gefallen. 2. XI. 15: 
Pat. ist psychomotorisch unruhig, singt, tanzt, reißt die Kleider, die Sprach® 
ist unzusammenhängend. 1916: Unruhige Zeiten wechseln mit ruhigen. 
Der Gedankengang ist unzusammenhängend. Neben der manischen Färbung 
ist doch auch stets etwas Stereotypes, Nichtelastisches. In ruhigen Zeiten 
bestehen starke paranoide Ideen, besonders in bezug auf ihren Mann. Ma- 
nieren: begrüßt den Arzt mit gekreuzten Händen, berührt mit einem Finger 
die Stirn. Immer besteht ein affektiver Kontakt mit der Umgebung. Dir 
ausgesprochene Periodizität, welche am Anfang bemerkbar war, verschwindet 
allmählich. Der Zustand ist jetzt folgender: die Pat. begrüßt sich höflich mit 
dem Arzt; wenn man etwas fragt, antwortet sie, jedoch sind die Antworten 
unverständlich, bestehen aus einzelnen unzusammenhängenden Worten und 
Lauten. Dazwischen wird in dieser Art viel gesprochen, mit Begeisterung. Dir 
Stimmung ist immer noch euphorisch, das Verhalten ruhig; macht etwas 
Handarbeit, liest die Zeitung. 


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Sa. 10b. Geb. 1904. Hat die Mittelschule beendet, gesellig, gute Tänzerin. | 


Erkrankt mit 21 Jahren: psychomotorisch erregt, wurde in einer Privatklinik 
behandelt. Nach zwei Jahren ruhig, apathisch, arbeitet nicht, spricht mit sich 


selbst, beschimpft die Nachbarn. Im Krankenhaus 31. X. 30. Antwortet nicht `- 


auf Fragen, macht merkwürdige Bewegungen mit Händen und Füßen, nimmt 
mit dem ganzen Körper merkwürdige Posen ein. Die Bewegungen sind graziös. 
Sagt öfter: „Das ist mir noch geblieben“. Gleichgültig, immer für sich. 


23. XI.: Still, höflich, antwortet zusammenhängend auf Fragen. Erzählt über | 


ihre Erlebnisse in der Schule; soll zu Hause Unterricht erteilt haben, hat 
aber kein Geld verdient, da die Schüler arm waren. Während der Unter- 
redung erhebt sie sich öfter. wirft den Kopf zurück und nach vorn, setzt sich. 
Gibt für ein solches Verhalten keine Erklärung, lächelt nur. Zeichnet viel, macht 
fleißig Handarbeiten. 12. I1: wieder unruhig, tanzt schweigend. Dazwischen 
schreit sie laut, hält sich die Ohren zu, läuft in eine Ecke. Am nächsten Tage 
erzählt sie, daß sie drohende Stimmen gehört habe. — In den letzten Jahren 
wechselt der ruhige Zustand mit dem unruhigen. Es gibt sogar mehrere Monate, 
wo die Pat. beinahe gar keine psychischen Anomalien aufweist, hält sich 
außerhalb des Krankenhauses auf, arbeitet jedoch gar nichts. Dann wieder 
psychomotorische Erregungen, starke Halluzinationen. 


In beiden Fällen schen wir periodische Psychosen, welche 
remittieren, aber nie vollständig. Die Mutter hat mehr affektive 
Elemente: es scheint, als ob hier eine periodische manische Psychose 


Zur Klinik der Erbpsychosen 45 


einen chronischen paranoiden schizophrenen Prozeß überlagert. Die 
Tochter hat wohl manische Elemente, sie sind hier aber geringer. 
Die Remissionen sind vollkommener als bei der Mutter. In 
beiden Fällen dominieren die schizophrenen Erscheinungen. Zu 
bemerken ist, daß die Eltern der Mutter nahe Verwandte sind, in 
der Familie des Vaters der Mutter waren 2 Schwestern psychotisch. 
Auch in der Familie des Vaters der Tochter sind einige psychischen 
Erkrankungsfälle. Die Schwester der Mutter war periodisch geistes- 
krank. Über den Charakter der Psychosen konnten weitere Aus- 
künfte nicht eingeholt werden. 

Der letzte Fall mit seinen manisch-depressiven Elementen ist 
ein guter Übergang zu folgender Gruppe: Familien, bei welchen 
affektive Psychosen festgestellt werden. Solcher sind 
insgesamt 17. Wir teilen diese in kleinere Untergruppen: rein 
manisch-depressive Familien — 2; Familien, in welchen sowohl 
manisch-depressive, schizophrene und atypische Psychosen anzu- 
treffen sind — 10, wo neben dem manisch-depressiven Irresein 
atypische Psychosen vorkommen, sowie auch rein atypische Fa- 
milien — 4. Insgesamt sind hier 37 kranke Individien, von denen 
13 Manisch-depressive, 12 atypische Psychosen, 10 Schizophrene, 
2 Psychopathen und 1 Oligophrener. Einer wurde doppelt gezählt, 
da hier eine Kombination zwischen atypischer Psychose + Oli- 
eophrenie vorlag. Was wir unter atypischen Psychosen 
verstehen, ersieht man aus den angeführten Beispielen: periodi- 
sche Psychosen mit Vollremissionen, bei welchen neben 
affektiven Elementen auch Symptome zu finden sind, 
welche wir gewöhnlich bei der Schizophrenie sehen. 
Diese Gruppen grenzen wir aus dem Grunde ab, weil wir sie nicht 
unter Schizophrenie oder Cyclophrenie einreihen konnten. 

In der allgemeinen Statistik wird eine solche Gruppe nicht ab- 
weerenzt, sondern entweder der manisch-depressiven oder der 
schizophrenen Gruppe zugezählt. So wurden von 12 unserer atypi- 
schen Psychosen in den Anstalten als schizophrene 4, als manische 8 
geführt. Aus den angeführten Beispielen ersehen wir, daß nicht 
die eine und nicht die andere Diagnose dem entspricht, was wir 
gewöhnlich als solche verstehen. Die Schizophrenien dieser Gruppe 
waren nur in den seltensten Fällen typisch. Bei vielen fanden wir 
einen remittierenden Verlauf mit affektiven Schwankungen. Ent- 
scheidend für die Zuordnung zur schizophrenen Gruppe war der 
Ausgang in dauernde Verblödung. Entsprechend rechneten wir 
einen Manisch-depressiven, der zuweilen Halluzinationen oder vor- 
übergehende Wahnideen hatte, nicht zu der atypischen Gruppe, 


46 W. Kraulis 


sondern zur Cyclophrenie. Als atypische Psychosen wurden 


nur solche Fälle bezeichnet, wo wirklich eine Zuord- 


nung zu der einen oder anderen der klassischen Grup- 
pen nicht möglich war. 


Sa. 2a. Geb. 1879. Fröhlich, lebenslustig, dazwischen sehr nachdenklich. 
will nicht nachgeben. Leichte Depressionen im Alter von 23 Jahren. Pat. spricht 
über Selbstmord, will nicht essen, stuporös. Man wolle sie vergiften, das 
Essen schmecke so merkwürdig. Nach 3 Monaten vollständig geheilt, arbeitet 
zu Hause und bei den Eltern im Geschäft. Das zweite Mal erkrankt mit 
27 Jahren, in der Klinik vom 13. V. 06—26. V. 06. Pat. ist psychomotorisch 
erregt, führt heftige impulse Bewegungen aus: läuft auf eine andere Patientin 
zu, schlägt sie, wirft sich auf die Diele. As dieses macht sie wie automatisch. 
ohne jeglichen Gesichtsausdruck. In der Nacht weint sie laut, sagt, man wolle 
sie umbringen, man gäbe ihr Gift, ziehe ihr die Gedanken aus dem kopf. 
Ißt nichts, wird künstlich gefüttert. Zu Hause ist sie noch 3 Monate krank. 
wird dann ganz gesund. Zum zweitenmal im Krankenhaus vom 28. X. 08 
bis 8. I. 09. Anfangs froh, springt singend und tanzend durch die Abteilung. 
Die Antworten sind geschickt, scharfsinnig. Einige Tage wie erstarrt, weint. 
ißt nicht, Vergiftungsideen. Wird gesund. Wieder im Krankenhaus vom 
21. V. 10.—19. IX. 10. Anfangs psychomotorisch erregt, froh. Spricht viel: 
„ich hörte, meine Schwester ist wieder angekommen. Die Oberin soll den 
ganzen Tag mit ihr sein! Sehr komisch, man ist nicht zufrieden. Pardonnez 
der Student nicht schuld zu lillablau kam kratzen lag und weinte. Das sind 
für 15 Jacken Schmerz gewesen.“ Alles das sagt die Patientin in schnellem 
Tempo, mit Betonung, als ob es Sätze von ernster Bedeutung wären, dann 
setzt sie wieder monoton einzelne zusammenhanglose Worte fort. Die Rede 
wird gewöhnlich mit lebhaften Gesten begleitet, zeigt auf etwas, bewegt die 
Hände, legt die Finger an die Zähne, sieht bittend zum Arzt auf, in den Augen 
zeigen sich Tränen. Die Bewegungen sind natürlich, ohne Manieren. 

Allmählich beruhigt sich die Patientin, spricht zusammenhängend, läßt 
die anderen in Ruhe, macht Handarbeiten. Wird entlassen ohne psychische 
Anomalie. Wieder eingeliefert auf einige Monate 1914, 1916, 1921. Das letzte- 
mal bleibt sie schon 2 Jahre lang in der Klinik. Es wechseln ruhige und un- 
ruhige Perioden. Dazwischen vollkommene Remissionen. Kann das Kranken- 
haus nur darum nicht verlassen, weil die unruhigen Perioden sich bereits 
nach kurzer Zeit wiederholen und länger anhalten als die Remissionen. Von 
Ende 1923 ununterbrochen im Krankenhaus. Noch immer ausgesprochene 
Periodizität, teils vollkommene Remissionen, in denen keine geistigen Stò- 
rungen zu bemerken waren: Pat. arbeitet, ist höflich und anständig, besucht 
ihre Angehörigen, fährt mit ihnen an den Strand. Diese freien Perioden waren 
in den letzten Jahren sehr kurz, halten nur einige Wochen an, wogegen der 
unruhige Zustand mehrere Monate dauert. In den erregten Zeiten zeigen sich 
die affektiven Elemente weniger, der Geisteszustand war wohl aufgeregt, aber 
weder froh noch traurig. Vollkommen zerfahren, impulsive Bewegungen. 
schlägt ohne Grund die Mitpatientinnen und reißt sich die Haare. Immer 
sauber, ohne katatonische Manieren, die Bewegungen natürlich. Bis zum 
Jahre 1916 ist die Diagnose des Krankenhauses Psychosis maniaco-depressiva. 
nachdem dementia praecox. 

Sa. 2b. Geb. 1887. Schwester der Obigen. Bereits seit 1900 periodischer 
Wechsel von Depressionen und hypomanischen Zuständen. Im Krankenhaus 


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Zur Klinik der Erbpsychosen 47 


vom 26. I. 07—27. VI. 07. Plötzliche Erregungszustände: wimmernd wirft 
sie sich auf den Boden, verkrampft die Hände, will sich den Kopf verletzen. 
Schreit: ‚will sterben, nur sterben‘! Oft zerschlägt sie ganz ohne Affekt 
Sachen, schlägt Fenster aus. Spricht viel, macht sich Vorwürfe. Hört hinter 
der Tür die Stimme des Vaters, glaubt, man halte Vater und Mutter in einem 
Keller eingeschlossen, sie höre sie wimmern, man vergifte sie. Künstliche 
Fütterung, oft Selbstmordversuche. Im April bessert sich der Zustand. Pat. 
ist froh, singt, das Gesicht strahlt: ‚‚ist das möglich, daß der Mensch so glück- 
lich sein kann ?“ Sie orientiert sich gut, spricht zusammenhängend. Zur selben 
Zeit versichert sie, daß die Eltern vergiftet seien: sie habe das bestimmte 
Gefühl, jemand habe es in der Nacht leise durchs Fenster geflüstert. 

Nach leichter agitierter Depression im Mai ist die Patientin im Juni ganz 
hergestellt und kehrt nach Hause zurück. Hier wiederholen sich die leichten 
affektiven Schwankungen alle 14 Tage. Im Jahre 1909 wieder 7 Monate lang 
im Krankenhaus. Anfangs starke Erregung mit Depressionen, stereotypes 
\Wimmern, wiederholt stundenlang den Satz: ‚ich bin kein Mensch, ich bin 
kein Tier“. Dazwischen ganz ruhig und klar, aber öfter hört sie eine vom Hof 
kommende Stimme: man erschlage ihre Mutter. Springt dann vom Bett auf, 
läuft zum Fenster, schlägt es aus, will hinaus. 

Wird gesund, verbringt 7 Jahre zu Hause, verheiratet sich, geht ordnungs- 
mäßig ihrer Wirtschaft nach. Wiederum im Krankenhaus im Jahre 1916. 
Erstarrter Gesichtsausdruck, aber stets als ob etwas sie quälen würde. Bewegt 
sich langsam, gewissermaßen wie zum Sprung bereit. (Wie geht es Ihnen?) 
„Zink“ (Wie heißen Sie?) ‚17 oder 20°. Die Antworten klingen monoton, 
ohne Affekt. Pat. äußerst spontan: ‚lieber mit Deutschen als mit Russen so 
verwöhnt, daß sie unten sitzen an der Stelle wo der Vater im Ofen gebraten 
wird das nächste Jahr das sind Schmerzen...‘ Keine Manieren oder Stereo- 
typien. Wird gesund. Der Anfall wiederholt sich 1918, dann 1925. Im letzten 
Anfall dominiert ein manischer Zustand: froh, bewegt sich viel, spricht viel, 
doch zerfahren. Beschmiert sich stark, steckt Fäkalien in den Mund, zeigt 
das dem Arzt mit einem glücklichen Lächeln und sagt: ‚Schokolade‘. Später- 
hin eine vollkommene Remission. 1929 noch ein Anfall, ähnlich den vorher- 
gehenden. Dann 7 Jahre zu Hause, führt ihren Haushalt und hat 5 (!) Kinder. 
Nur selten einige größere cyklotyme Schwankungen. 1939 wieder in Rotenberg. 

In der Familie gibt es mehrere Psychopathen und Suicide, Psychosen 
sind nicht bekannt. 


Beide Fälle sind ähnlich. Nach den klinischen Bildern gehören 
sie mehr zur Schizophrenie als zur Cyclophrenie, obgleich bei 
beiden manisch-depressive Elemente vorhanden sind. Der letzte 
Fall ist mehr manisch, auch die Remissionen sind vollkommener. 
Nach dem Krankheitsverlauf sind sie mehr zu den zirkulären 
Psychosen zu rechnen. Es ist klar, daß, falls man diese Psychosen 
der einen oder anderen klinischen Gruppe einfügt, wir gezwungen 
sind, den einen oder den anderen Faktor zu ignorieren; was hat 
aber mehr Bedeutung, der Verlauf oder das klinische Bild ? Nicht 
jede periodische Psychose ist schon manisch-depressiv, die Periodi- 
zität ist eine Eigenschaft, welche oft bei Geisteskrankheiten anzu- 
treffen ist, auch sogar bei organischen Hirnkrankheiten. Im ersten 


48 W. Kraulis 


Falle werden die normalen Perioden stets kürzer, die manischen 
verlieren immer mehr ihre affektive Färbung. Das könnte man als 
Veränderung der Psychose nach der schizophrenen Seite hin an- 
sehen. Doch jede Psychose ist zu Beginn affektiv reicher, so auch 
die Schizophrenie, sogar die progressive Paralyse. Mit der Dauer 
der Krankheit verlöscht die affektive Färbung, das Bild wird ein- 
förmiger. Ähnliche Erscheinungen kommen auch bei zirkulären 
Psychosen vor. Man hat solche Fälle auch als Degenerationspsycho- 
sen bezeichnet. Aber das Wort „Degeneration“ ist eine zweideutige 
Bezeichnung, es trägt mit sich den Begriff des alten Morel über 
progressive Degeneration. Schröders ‚„metabolische Psychosen“ 
haben sich auch nicht eingebürgert, desgleichen sind auch Kleists 
„autochtone Degenerationen‘“ wenig bekannt. Wir benutzen das 
Wort „atypische Psychosen‘, gemeint sind hier endogene Psy- 
chosen. Dieses Wort praejudiziert wenigstens nichts. 

Zu den Familien der atypischen Psychosegruppe gehören noch 
Sa. 27a und b, Vater und Tochter. Diese Psychosen sind den oben- 
beschriebenen ähnlich: in beiden Fällen sind es katatone Bilder 
mit affektiver Färbung, beide geben gute Remissionen. Die Diagnose 
des Krankenhauses: manisch-depressives Irresein. Zu derselben 
Gruppe gehören auch 29 a und b, Mutter und Tochter, welche von 
mir bereits in einer früheren Arbeit beschrieben worden sind: sie 
gehören zur Familie H.!). Wie bereits bemerkt, vererben sich hier 
durch mehrere Generationen atypische Psychosen. In der Familie 
Sa. 3 sind 3 Familienglieder krank: der Bruder und 2 Schwestern. 

Sa. 3a ist eine atypischePsychose. Pat. wurde im Laufe von 4 Jahren 3 mal 
im Krankenhaus behandelt, wobei die Psychose nur einige Wochen anhielt, 
und eine vollkommene Remission folgte. Es war ein manisch-depressives 
Zustandsbild mit Halluzinationen und Wahnideen: sie hört die Stimme des 
Vaters, wird von ihr beeinflußt, hört seinen telepathischen Ruf. Diese Ideen 
bleiben auch nach Abklingen der Psychose bestehen. Beim ersten Anfall ge- 
hobene Stimmung, graziöse psychomotorische Erregung, welche vollkommen 
verschwindet. Das zweite- und drittemal depressive Bilder: Pat. weint, 
spricht von Selbstmord, ißt nichts. Ihre Schwester, Sa. 3b, hat sich 2mal 
im Krankenhaus in einem rein manischen Zustand befunden: ideenflüchtig, 
euphorisch, psychomotorisch erregt ohne irgendwelche Wahnideen und kata- 
tonische Erscheinungen. Gestorben durch Suicid. 

Der Bruder 3c ist Psychopath: von seinem 17. Lebensjahre ein Alko- 
holiker und Kokainist, mehrfach bestraft für Hooliganismus. Hat einmal 
unter Einfluß von Kokain das Haus seines Vaters angezündet und den Vater 
mit einem Beil bedroht, woraufhin er vom Gericht ins Krankenhaus einge- 
liefert wurde. Hier findet man keine Anzeichen von Geisteskrankheit: Pat. 
dichtet, seine Kleidung ist extravagant, will hoch hinaus. Auch jetzt noch 


1) Z. Neur. Bd. 114 (1928). 


Zur Klinik der Erbpsychosen 49 


nach Verlassen des Krankenhauses ein starker Trinker. — Der Vater ist ein 
paranoider Psychopath, sonderbar, unverträglich, befaßt sich mit Okkultis- 
mus, spricht mit Geistern. 


Diese letzte Familie umfaßt nicht nur atypische Psychosen, hier 
gibt es auch eine reine Manie und zwei Psychopathen. Ähnlich 
dieser ist auch eine andere Familie: 


Sa. 26a und b. Die Mutter leidet an periodischen Depressionen. War 
dreimal im Krankenhaus, wurde vollständig gesund. Im psychotischen Zu- 
stand stark gehemmt, jammert: das Ende sei da, die Polizei wird sie fest- 
nehmen. \Weint, ißt nichts. Wird allmählich gesund, ißt dann aktiv, in gutem 
Kontakt mit der Umgebung, intellektuell vollwertig. Der Sohn Sa. 26b 
geistig unausgeglichen, Exhibitionist: zeigt seine Genitalien in den städtischen 
Anlagen, onaniert in Korridoren und auf Treppen, wo es andere sehen. Mehrere 
Selbstmordversuche. Außerhalb des Krankenhauses nicht imstande, ordent- 
lich zu arbeiten, daher schon 8 Jahre asyliert. Hier hilft er in der Küche und 
ist brauchbar. Einmal von der Polizei angehalten wegen schamlosen Ver- 
haltens. Hat schwere Depressionsperioden, in denen er keine Nahrung zu sich 
nimmt, auf Fragen kaum antwortet, viel weint. Versündigungsideen. 


Bei diesen beiden Familien stellen wir neben zirkulären Psychosen 
auch Psychopathien fest. Bumke weist darauf hin, daß zwischen 
diesen Gruppen eine Verwandtschaft besteht. 


Rein manisch sind nur 2 Familien: G 8 und A 3. 

A3a war bereits 17mal im Krankenhause. Sie ist eine periodische Manie 
mit leichten reaktiven Depressionen. Im manischen Zustande fröhlich, scharf- 
sinnig, neckt die anderen, scherzt. Dazwischen depressiv, Mischzustände: 
weint. unruhig, dann wieder erstarrt, dabei froher Gesichtsausdruck. Wird 
vollkommen gesund, dann frei, natürlich, synton. Ihr Sohn A. 3b geb. 1903 
kommt das erstemal 1920 ins Krankenhaus, bleibt dort 4 Monate. Spricht 
viel, beweglich, singt, bittet um Musikinstrumente, tanzt, denkt sich spaßige 
Sachen aus. Wird gesund. Zum zweitenmal im Krankenhaus 1925. Leidet an 
einem schweren Herzfehler. Depression: ißt wenig und spricht nicht, weint. 
Exitus letalis. — In beiden Fällen sind die klinischen Bilder klar. Vielleicht 
ist die letzte Depression des Sohnes durch exogene Ursachen verfärbt. — 
(Schwerer Herzfehler.) 

G. 8a und bsind Brüder. Beide haben mehrfach Depressionen überstanden, 
in welchen sie weinen, Selbstmordversuche machten; der Gedankengang und 
die Bewegungen waren sehr langsam. Bei 8b wiederholen sich die Depressionen 
öfter und sind tiefer. Auch die Mutter dieser Brüder litt an einer ähnlichen 
Krankheit. 


Wir wollen jetzt auf die nächste Untergruppe übergehen, 
bei welcher wir 10 Familien finden; neben affektiv periodi- 
schen Psychosen sind hier auch Fälle von Schizophre- 
nie. Ein Beispiel: 

St. 6a und b. 6a pyknischer Körperbau, lustig. leichtsinnig. Mit 20 Jahren 
zum erstenmal psychisch erkrankt: e. phorisch, unruhig, springt umher, singt 
viel. Wird nach einigen Monaten gesund. Die jetzige Krankheit hat sich all- 


mählich seit 2 Jahren entwickelt: hat viel getrunken, grundlos gestohlen, 
4 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


50 W. Kraulis 


prahlt mit seinem Reichtum, zündet ohne irgendeinen Grund sein Haus an. 
Ins Krankenhaus 1923 im Alter von 48 Jahren eingetreten. Pat. ist recht leb- 
haft. Trotz seiner Korpulenz macht er Turnübungen zwischen zwei Betten, 
wirft Kissen um sich. Erzählt viel, versichert, er sei Millionär, ihm gehörten 
Güter. Springt oft von einem Thema zum anderen, wobei der Zusammenhang 
mit dem Vorhergegangenen nur oberflächlich ist: es ist keine Obervorstellung 
da. Verlacht und attackiert die anderen Kranken, kann nicht eine Minute 
auf einer Stelle sitzen. Es kommen auch ruhigere Perioden, wo es keine psycho- 
motorische Erregung gibt. Der Pat. ist dann vernünftig, spricht zusammen- 
hängend. Diese Perioden sind nur von kurzer Dauer: dann wieder manisch, 
begleitet den Arzt bei der Visite durch die Abteilung, wobei er immer spricht, 
tanzt und singt. Die Bewegungen sind natürlich und frei. Befindet sich noch 
bis jetzt in der Klinik. 

Sein Sohn 6b war schon von Jugend auf etwas merkwürdig: gehorchte nicht 
den Eltern; wenn er böse war, aß er tagelang nichts und sprach auch nicht. 
Abgeschlossen, wenig redselig. Erkrankt mit 35 Jahren, ißt nicht, wäscht sich 
nicht, arbeitet nichts. Beschimpft die Nachbarn, wird dazwischen drohend. 
Vergiftungsideen, Halluzinationen. 3 Jahre zu Hause gehalten, dann wird 
er so antisozial, daß er ins Krankenhaus eingeliefert werden muß. Hier ent- 
wickelt sich allmählich ein Endzustand der Schizophrenie: Autismus, Mutis- 
mus; Pat. ißt nicht, wird künstlich gefüttert. Dann wieder aufgeregt: spaziert 
laut schimpfend durch die Abteilung, maniriert, zerfahren. Die Krankheit 
ist chronisch, ohne Remission. 


In diesen beiden Fällen handelt es sich um eine reine Psychose, 
doch gibt es auch andere Fälle von Familien mit verschiedenen 
Psychosen, wo die Psychosen nicht in der klassischen Art ver- 
laufen. Insgesamt finden wir in diesen 10 Familien 22 asylierte 
Kranke. Von ihnen sind 10 Schizophrene, 7 Manisch-depressive, 
5 atypische Psychosen. Nach ihrer Eigenart sind diese atypischen 
Psychosen ähnlich den bereits beschriebenen. Der Verlauf ist re- 
mittierend, die Remissionen sind vollständig, die Psychose selber 
eine kataton oder paranoid verfärbte Manie oder Depression. Inter- 
essant ıst noch ein Fall, bei welchem anfangs die Diagnose auf 
manisch-depressives Irresein lautet, sich nachher auf Schizo- 
phrenie änderte. Die Schwester ist manisch-depressiv. 


A. 3a. Geb. 1888, erkrankt im Alter von 37 Jahren: traurig, spricht von 
Selbstmord, liegt den ganzen Tag im Bett. Nach 2 Monaten euphorisch, unter- 
nehmungslustig, verschwenderisch, schläft nachts nicht. Im Krankenhaus ab 
VII. 23. Spricht viel, befreundet sich mit anderen manischen Kranken. Hält 
sich für Gottes Sohn. Schlägt einen neben ihm liegenden Kranken, weil der 
einen Löffel hat, mit dem er andere schlagen könnte. Ideenflucht. Dazwischen 
werden sonderbare Manieren beobachtet. Vom Dezember bis März 1924 voll- 
ständig gesund. Im März vergnügt, psychomotorisch unruhig, erzählt Witze, 
lacht. Im Juli zeigt sich eine Depression, weint, klagt über Müdigkeit. Hat 
sich in den Penis eine Gräte gesteckt, wird operiert. November und Dezember 
1925: vollständig gesund, Krankheitseinsicht, arbeitet. Im Juli wieder der 
manische Zustand, welcher 4 Monate anhält. Von 1926 ab wird Pat. apathisch. 
Die Umgebung interessiert ihn nicht mehr, verhält sich isoliert. Im März 


Zur Klinik der Erbpsychosen 51 


Erregung ohne Affekt, überfällt die anderen, ist frech. Motorisch ruhige 
Perioden wechseln mit unruhigen. Verharrt in derselben Stellung, besondere 
Manieren: verbeugt sich, setzt sich, steht wieder auf, wiederholt das mehrfach. 
Im Oktober erzählt er (nach einer Gerichtsexpertise): es gefalle ihm nicht in 
Riga, weil auf den Straßen lettische Aufschriften wären, diese verstehe er 
nicht (Pat. ist selber Lette). Beim Gericht sei eine andere Kranke gewesen, 
die habe Wagenschmiere gehabt. Damit habe er seine Schuhsohlen einge- 
schmiert, damit sie ausdauernder wären. Fragt plötzlich, wieviel Kolophonium 
man nötig hätte, um 130 Millionen Violinbogen einzuschmieren ? Geht fort, 
kommt zurück und fragt: ‚darf man russisch sprechen?“ Schimpft darauf 
grob. 1927. Es wechseln ruhige mit unruhigen Zuständen. Streift Ringe auf 
den Penis, beschädigt auch anderen den Penis; Manieren, Zerfahrenheit. 
Noch jetzt im Krankenhause. Es wechseln ruhige mit unruhigen Perioden. 
In den unruhigen Perioden singt er dazwischen, in den ruhigen ist er still, 
apathisch: lächelt bedeutungsvoll, spricht wenig. 

A. 3b. Geb. 1889. Erkrankt zum erstenmal im Alter von 23 Jahren mit 
Manie, wird gesund. Das klinische Bild ist typisch: Ideenflucht, psycho- 
motorische Erregung, gut gelaunt. Nach 6 Monaten vergeht das, ist ruhig, 
verständig, arbeitet. 7 Jahre lang zu Hause ganz gesund, darauf erkrankt sie 
erneut. Auch jetzt wieder manischer Zustand, welcher nach 5 Monaten in 
Depressionen übergeht: spricht mit leiser Stimme, ißt wenig. Nach einem 
Monat wieder gesund. Wieder 5 Jahre gesund zu Hause, dann zum drittenmal 
Erkrankung. Ist vergnügt, lacht, unruhig. Spuckt recht oft und zeigt die Zunge, 
antwortet nicht auf Fragen, spricht mit sich selber, ideen flüchtig. Wird wieder 
gesund — ist auch jetzt gesund. In der Familie ist noch eine weitere Schwester 
geisteskrank, jetzt ruhig, wird zu Hause behandelt, arbeitet etwas, ist aber 
beschränkt. Ist in einer Anstalt 6 Monate behandelt worden. Diagnose: Manie. 
Jetzt schizophrener Defekt. 

Die ersten Anfälle des A. 3a wirken manisch-depressiv, obwohl 
auch hier bereits schizophrene Elemente zu beobachten sind: 
Wahnideen, unmotivierte Gewalttätigkeit, Selbstverstümmelung. 
Nach 3-jähriger Krankheit entwickelt sich eine Schizophrenie. Es 
verbleibt noch eine gewisse Periodizität, doch gibt es in den letzten 
10 Jahren keine Remission mehr. Die Schwester ist manisch-de- 
pressiv mit wenig atypischen Elementen: spuckt, trotz motorischer 
Ruhe und Euphorie wenig kontaktfähig. 

Sa. 12. In der Familie sind die Eltern und eine Tochter krank. Der Vater 
manisch-depressiv, war bereits 10mal im Krankenhaus. Hat gute Remissionen, 
ist dann arbeitsfähig, ein guter Handwerker. In den manischen Perioden 
manchmal Größenideen, bei welchen der Pat. mit Milliarden um sich wirft, 
sich für einen Feldmarschall hält. In der Remission korrigiert er alles voll- 
ständig. Seine Frau, Sa. 12b ist eine Schizophrene: die Krankheit schreitet 
langsam fort, ohne Remission: Pat. ist aggressiv, grob, hat massenhaft Wahn- 
ideen und Halluzinationen des Gehörs. In letzter Zeit ruhiger, jedoch dement. 
Die Tochter Sa. 12c ist eine atypische Psychose. War bereits zweimal im 
Laufe der zwei letzten Jahre auf einige Monate im Krankenhaus. In der 
Psychose psychomotorisch erregt, impulsive Handlungen, ohne ausgespro- 
chenen Affekt, Beinflussungsideen. Pat. hat auch Erstarrungsperioden, in 
welchen sie nicht spricht, die Umgebung nicht beachtet. Man kann nicht sagen, 
4° 


52 W. Kraulis 


daß sie dann deprimiert ist, sie lächelt dazwischen, ißt stets gut. Nach beiden 
Anfällen gesund geworden und zur Arbeit zurückgekehrt. Ihre Schwester, die 
zweite Tochter dieses Paares, arbeitet nicht, führt einen leichtsinnigen Lebens- 
wandel. Anzeichen von Geisteskrankheit sind nicht vorhanden. Welch einen 
Verlauf die Krankheit bei beiden Schwestern nehmen wird, läßt sich schwer 
voraussagen, da beide noch jung sind (23 und 25 Jahre). 

Wie ist die Entstehung der atypischen Psychosen in unserem 
Material zu erklären ? Sie hängt gewiß mit der Vererbung der Psy- 
chosen in unseren Familien zusammen. In 6 von 17 Familien 
finden wir Schizophrenie und manisch-depressives Irresein in der 
Aszendenz, bei 2 Familien nur atypische Psychosen. Im ganzen 
fanden wir in der affektiv-periodischen Gruppe folgende Sekundär- 
fälle, die durch genaue Erforschung der Familien festgestellt 
wurden. 1. Unter den Eltern: 1 Manisch-depressiver, 2 Depressionen, 
die durch Suicid geendet haben, einen schweren schizoiden Psy- 
chopathen (vielleicht abortive Schizophrenie ?) 2. Unter den Ge- 
schwistern fanden wir 5 Schizophrenien, 1 atypische Psychose, 
4 manisch-depressives Irresein. Außerdem eine schizophrene Groß- 
mutter, 3 Schizophrene, einen Debilen und eine durch Suicid ge- 
storbene Depression unter den Vettern, 4 nicht genauer festzu- 
stellende Psychosen untern den Onkel und den Tanten. Außerdem 
kommen in dieser Gruppe 3 Ehen von Vettern und Basen ersten 
und zweiten Grades vor. Bei einem nach Erblichkeit ausgelesenem 
Material, wie dem unseren, hat es keinen Sinn, genaue Prozent- 
sätze anzugeben. Uns interessiert hier nur die qualitative Seite. 
Den milderen Verlauf der Psychose bei den Sekundärfällen ver- 
anschaulicht die Familie Sa. 27. 

Der Vater ist gesund, streng, verschlossen. Ein Vetter von ihm schizophren. 
Die Mutter hat seit der Pubertät periodische Verstimmungen. Im Alter von 
38 Jahren hängt sie sich in einer Depression unter den Augen ihrer minder- 
jährigen Töchter an einer Türklinke auf. An Kindern sind vorhanden ein Sohn 
und zwei Töchter. Der Sohn und eine Tochter sind unsere Probanden; der 
Sohn litt an einer periodischen Psychose mit manischer Erregung und massen- 
haften Wahnideen, sowie auch an visuellen Halluzinationen. Die Tochter 
ist eine typische Schizophrene mit katatonem Endzustand, seit 10 Jahren in 
der Anstalt. Die andere Tochter leidet seit 5 Jahren an periodischen Gemüts- 
schwankungen. In der manischen Phase sehr unternehmungslustig, verschwen- 
derisch, spricht ununterbrochen, zankt sich mit der Familie. In der depressiven 
Phase still, anschlußbedürftig, macht sich Selbstvorwürfe, weint. Hat auch 
in den ruhigen Zeiten die Idee, von einem gewissen Mann verfolgt zu werden. 
hört seine Stimme im Nebenzimmer. 

Auch ın der schizophrenen Gruppe finden wir eine starke Be- 
lastung. In den 43 Familien stammen unsere Probanden mehrfach 
aus Verwandtenehen, einmal aus einer Ehe zwischen Onkel und 
Nichte, und 7 mal aus Ehen zwischen Vettern ersten und zweiten 


Zur Klinik der Erbpsychosen 53 


Grades. Unter den Eltern der Probanden finden wir noch folgende 
Sekundärfälle: 3 Schizophrenien, 2 Melancholien, 1 atypische 
Psychose, 1 Epilepsie und 2 Senil-Demente. Unter den Geschwistern 
fanden sıch noch 8 Schizophrenien, 2 atypische Psychosen, 3 Ma- 
nisch-Depressive. Außerdem bei den weiteren Verwandten: Bei den 
Vettern: 9 sichere und wahrscheinliche Schizophrenien, 4 De- 
pressionen, davon 3 Suicide, 2 Imbezille und 1 Idioten. Bei den 
Onkeln und Tanten: 8 Schizophrenien und 3 unklare Psychosen. 
Wenn wir die Belastung in beiden Gruppen vergleichen, scheint 
sie uns keine wesentlichen Unterschiede aufzuweisen, auch die Zahl 
der Nachkommen und Geschwister war in beiden Gruppen un- 
gefähr gleich. Ein Beispiel eines schizophrenen Sekundärfalles, 
gleichzeitig eine Familie, in der beide Eltern psychotisch waren: 

Vater und Sohn sind schon 10 Jahre Anstaltsinsassen. Bei beiden typischer 
schizophrener Endzustand mit Stereotypien, Negativismus und Zerfahrenheit. 
Der Vater hat manchmal katatone Erregungszustände, in denen er tagelang 
schreiend einige wenige Sätze wiederholt. Vor einem Jahr erkrankte auch die 
Mutter an einer Psychose: hört zu arbeiten auf, sitzt still in einer Ecke des 
Zimmers, spricht nicht, ißt wenig. Der Gesichtsausdruck erstarrt, ausdrucks- 
los. Diagnose: Spätkatatonie? Von den Kindern dieses Ehepaares sind zwei 
im Alter von 30—40 Jahren, bis jetzt gesund. 

Welche Resultate ergeben sıch nun aus unserem 
Material? Wir müssen vor allem konstatieren, daß es jedenfalls 
Schizophrenien von stabilem Phänotyp gibt. Für die Stabilität 
des Phänotyps zeugt, daß er häufig in unveränderter oder ähnlicher 
Form in derselben Familie anzutreffen ist. Bei ?/; der Familien 
finden wir mehrere Fälle von Schizophrenie, in 35 Familien in der 
klassischen Form. Damit wollen wir nicht sagen, daß in jeder klı- 
nischen Schizophrenie immer der gleiche Genotyp vererbt wird; 
sicher gibt es auch andere Schizophrenien mit anderer Ätiologie 
und anderem Krankheitsverlauf. Die traumatischen Schizophre- 
nien von Schulz sind vielleicht solche reaktiven Schizophrenien. 
Man könnte auch meinen, daß die typischen Katatonien mit pro- 
gressivem Verlauf und Ausgang in Verblödung, bei denen in ihren 
Arbeiten M. Bleuler, Leonhard und Schwab eine geringe oder gar 
keine erbliche Belastung fanden, zum Teil exogen bedingt sein 
könnten. 

Es gibt auch erbliche Schizophrenien, welche von Generation 
zu Generation ihre Form erhalten. Klinisch sind sie schwer von den 
exogen bedingten zu unterscheiden. Als ein Unterscheidungs- 
kriterium können, wie das aus unserem Material ersichtlich ıst, 
gute Remissionen nicht dienen, da diese auch in Familien mit 
mehreren schizophrenen Fällen anzutreffen sind. Ob es auch für 


54 W. Kraulis 


die Cyclophrenie einen stabilen Phänotyp gibt, kann an Hand 
unseres Materials nicht entschieden werden. 

Bei uns kommen Familien mit verschiedenen Psychosen viel 
häufiger vor als rein eyclophrene. Doch andere Autoren haben 
viele Familien sammeln können, in denen sich das manisch-de- 
pressive Irresein rein vererbt. 

Sind überhaupt Kombinationen zwischen cyclo- 
phrenen und schizophrenen Genotypen möglich? Eine 
ganze Reihe von Autoren, mit Strohmayer und Kleist und seiner 
Schule an der Spitze, lehnten eine solche Möglichkeit ab. Sie ver- 
sichern, daß zwischen diesen Psychosen Gegensätze bestehen, und 
daß sie nicht zusammen bei einem Individuum und einer Familie 
vorkommen können. Unser Material lehrt uns das Gegenteil. Wie 
bereits erwähnt, gibt es eine Reihe von Familien, bei welchen 
neben der reinen Schizophrenie auch eine reine Cyclophrenie an- 
zutreffen ist. In der Aszendenz der Schizophrenen dominiert wohl 
die Schizophrenie, es ist aber auch Cyclophrenie anzutreffen. In 
den cyclophrenen Familien sind wieder mehr Cyclophrene da. 
Beide Psychosen finden wir in der Aszendenz der atypischen 
Psychosen. In der Familie Sa. 12 können wir eine Kombination 
der Psychosen feststellen: der Vater ist manisch, die Mutter typisch 
schizophren, die Tochter aber eine atypische Psychose. Mehrere 
ähnliche Fälle sind von Hoffmann, Tuczek und Smith in ihren 
Werken beschrieben. Diese Kombination kann sich verschieden 
auswirken, wie das aus den angeführten Fällen ersichtlich ist. Die 
Cyclophrenie kann den schizophrenen Krankheitsverlauf beein- 
flussen, indem sie ihn periodisch macht und die Psychose affektiv 
verfärbt. Oder aber die Psychose ist anfangs typisch cyclophren 
und geht späterhin in eine Schizophrenie über. In vielen Fällen ist 
die Mischung der cyclophrenen und schizophrenen Komponente so 
gleichmäßig, daß es nicht möglich ist, die atypische Psychose in der 
einen oder anderen Erbkrankheit unterzubringen. Daher ist daran 
zu denken, ob diese Psychosen nicht als eine klinische Krankheits- 
einheit zu betrachten sind. 

Können wir über alle atypischen Psychosen aus- 
sagen, ob sie eine Mischung der Schizophrenie und der 
Cyclophrenie sind? In einigen Fällen vererbt sich die atypi- 
sche Psychose Generationen hindurch unverändert. Z. B. in der 
Familie Sa. 29 konnten wir sogar in 7 Generationen die Entstehung 
dieser Psychosen durch Kombination nicht nachweisen. Ähnliche 
Fälle führt auch Minkovska an, die eine Familie mit atypischen 
Psychosen bis in das Jahr 1750 zurückverfolgen konnte. Auch in 


ee N U U 


Zur Klinik der Erbpsychosen 55 


dem Material von Leonhard und Wyrsch finden wir eine Belastung 
der atypischen Psychosen nur durch atypische Psychosen. Sind 
das besondere Mutationen ? Es sind Familien, in denen nahe Ver- 
wandte mehrfach untereinander geheiratet haben. Im allgemeinen 
kommen solche Ehen in den Familien mit atypischen Psychosen 
besonders oft vor. Baur weist darauf hin, daß durch Kreuzung 
naher Verwandter Mutationen auch experimentell hervorgerufen 
werden können. Wir glauben aber nicht, daß eine Mutation bei 
jeder atypischen Psychose vorliegt: Mutationen sind überhaupt 
seltene Erscheinungen in der Natur. Ob atypische Psychosen durch 
Kombinationen von Psychopathie der Eltern hervorgerufen werden 
können, scheint uns problematisch zu sein. In unserem Material 
finden sich keine Fälle, die dafür sprechen, daß aus einer Psycho- 
pathie der Eltern eine Psychose bei den Kindern entstanden wäre. 
Lenz lehnt eine solche Möglichkeit ab; er meint, daß eine Homo- 
merie und Polymerie wohl bei der Vererbung normaler Tempera- 
mente vorkomme, jedoch bei ausgesprochenen Psychosen, wie die 
Cyelophrenie und atypische Psychose, nicht. 

Wieviel atypische Psychosen in der Durchschnittsbevölkerung 
vorkommen, wissen wir nicht. Man kann aber denken, daß die 
atypischen Psychosen verhältnismäßig ebenso oft in Krankenhäuser 
eingeliefert werden, wie andere Psychosen. In Rotenberg hatten 
wir unter 900 Kranken 0,7% atypischer Psychosen, 6,3%, Cyeclo- 
phrene, und 65% Schizophrene, also hatten wir 9 mal so viel ma- 
nisch-depressive wie atypische Psychosen. Ganz anders ist es in 
dem hier publizierten Material. Hier ist die Zahl der Cyclophrenien 
ebenso groß wie die der atypischen Psychosen. Es sind 4 mal so viel 
Familien mit Cyclophrenien und atypischen Psychosen, als Fa- 
milien mit reiner Cyclophrenie. Wir denken, daß diese Zahlen un- 
vereinbar mit der Ansicht sind, daß die Cyclophrenie und Schizo- 
phrenie unabhängige Genotypen sein könnten. Diese Erscheinung 
kann man auch nicht durch besondere Auslese des Materials 
erklären. Die letzten Ergebnisse der exakten Erblichkeitsforschung 
aus dem Institut Rüdins zeigen, daß in bezug auf Dominanz kein 
wesentlicher Unterschied zwischen Schizophrenie und Cyelophrenie 
vorliegt. Eine Dominanz in der Vererbung der Cyclophrenie wurde 
schon früher von mehreren Autoren angenommen. Koller, auf den 
Zahlen Kallmanns basierend, nimmt an, daß der rezessive Erbgang 
bei der Schizophrenie abzulehnen ıst, dagegen der dominante Erb- 
gang unter tragbaren Voraussetzungen über die Stärke der Gatten- 
wahl zur Erklärung aller empirischen Erbziffern mit ausreichender 
Genauigkeit geeignet ist. Auch Schulz scheint manches für eine 


56 W. Kraulis 


dominante Vererbungsart der endogenen Psychosen zu sprechen. 
Einen einfach dominanten Erbgang hält er aber für unwahrschein- 
lich, zur Manifestierung des ‚Gens für Schizophrenie“ und wohl 
auch für Cyclophrenie hält er weitere Erbanlagen notwendig. 
Wenn wir die letzten Ergebnisse über die Nachkommen und 
Geschwister in cyclophrenen und schizophrenen Gruppen ver- 
gleichen, so sehen wir, daß der Unterschied für die Psychosen- 
häufigkeit bzw. Erkrankungswahrscheinlichkeit in den Grenzen 
des mittleren Fehlers liegt: 
Kallmann bei Schiz. 16,4% +1,4% 
Kinder l Slater bei M.-d. I. nach A. V.1) 12,8% +2,3°% 
; Kallmann bei Schiz, 11,5+0,7 % 
Geschwister | Entres u. Röll bei M.-d. nach A. V.1) 910, +?, 


Dieses allein zeigt schon, daß der Erbgang dieser beiden Psychosen, 
wenn wir sie auch als besonders Gene denken, sehr ähnlich sein 
muß. Wenn man nun aber bedenkt, daß bei unserem nach sicherer 
Erblichkeit ausgelesenem Material die beiden Psychosen sich außer- 
ordentlich häufig kombinieren, und daß die sogenannten ‚reinen‘ 
Fälle insbesondere bei Cyclophrenie und oft auch bei Schizophrenie 
nicht vollkommen frei von den Symptomen der anderen Erbpsychose 
sind, so könnte der Gedanke auftauchen, ob diese beiden Psychosen 
nicht doch phänotypische Erscheinungen eines Gens sind. Zum 
Beweis dieser Behauptungen müßte natürlich ein viel größeres 
Material erforscht werden, sowie auch nach anderen, einwandfreieren 
Methoden zur Lösung dieser Fragen gesucht werden. Allerdings 
dürfte man bei einer solchen Untersuchung nur von einem homo- 
genen Material ausgehen, dessen Erbbedingtheit vollkommen ge- 
sichert ist. 

Man könnte auch annehmen, daß das vermehrte Vorkommen 
der Cyclophrenien und atypischer Psychosen in unserem Material 
durch die vielen Heiraten unter den Verwandten bedingt sei. Man 
könnte meinen, daß gerade dadurch das Zusammentreffen der ver- 
schiedenen Krankheiten unter Blutsverwandten bedingt sei. Es ist 
aber nicht einzusehen, warum durch die Inzucht das Verhältnis 
zwischen den Erbkrankheiten zu Gunsten der einen verschoben 
sein müßte. Brenk beschreibt ein Schweizer Dorf mit 1630 Ein- 
wohnern, wo in den endogamen Familien fast alle (98,5°,) bluts- 
verwandt waren, allerdings im 2.—7. Grade. In dem Dorf waren 
besonders viele Schizophrene und Taubstumme; ihr gegenseitiges 


1) A.V. = Abgekürztes Verfahren der Altersberücksichtigung (nach Wein- 
berg). 


Zur Klinik der Erbpsychosen 57 


Verhältnis blieb aber unverändert. Auch kennen wir viele Erb- 
krankheiten, bei denen trotz stärkster Inzucht das klinische Bild 
vollkommen rein bleibt. 

Gegen nähere Beziehungen des schizophrenen und cyclophrenen 
Erbkreises scheint die Arbeit von Slater zu sprechen. Unter den 
Kindern der Probanden findet er 22,2%, + 3,8% Manisch-De- 
pressive, und 3,1% 1,1% Sehizophrene. Für die Schizophrenie 
ist der Unterschied gegenüber der Durchschnittsbevölkerung nicht 
besonders groß (0,85°%,). Man muß aber bedenken, daß im Material 
Slaters vielleicht auch Fälle eines nicht vererbten manisch-de- 
pressiven Irreseins vorhanden sein könnten. Außerdem finde ich, 
daß die Berechnung der Bezugsziffer nach Strömgren, wie sie Slater 
anstellt, nicht den richtigen Verhältnissen entspricht. Die An- 
fällıgkeitsraten wurden aus den 2532 manisch-depressiven Fällen 
der Kartothek des klinischen Instituts der Forschungsanstalt für 
Psychiatrie in München berechnet. Nun sagt Slater selber, daß 
hierunter psychogene Depressionen, arteriosklerotische Verstim- 
mungen und zirkulär verlaufende Schizophrenien sein könnten. Er 
hat deshalb bei der Auswahl der Probanden für seine erbbiologische 
Untersuchung u.a. alle Fälle, die den ersten Anfall nach dem 
50. Lebensjahr hatten, weggelassen. Nach einer weiteren Sonderung 
auf Grund der Anzahl der Krankheitsphasen blieben von den etwa 
3000 Fällen der genannten Kartothek und der Anstalt Eglfing nur 
noch 315 übrig, von denen nach genauerer Prüfung Slater auch noch 
nicht alle als reine endogene Manisch-Depressive bezeichnen 
konnte. Die Anfälligkeitsraten berechnete er aber aus dem Ge- 
samtmaterial, das auch nicht endogene Fälle enthält. Besonders 
scheint mir der Anfälligkeitsgipfel um das 50. und sogar 60. Lebens- 
jahr kaum von der endogenen Form das manisch-depressive Irre- 
seins herrühren zu können. Es handelt sich hier wohl um Invo- 
lutionsmelancholien und sklerotische Depressionen. Nach Schulz 
sind die als Involutionsmelancholien zusammengefaßten Fälle 
erbbiologisch den endogenen Psychosen in engerem Sinne nicht 
gleichzusetzen. Schon die Zweigipfeligkeit der Anfälligkeitskurve 
weist auf eine Heterogenität des Materials hin. So wäre beim 
manisch-depressiven Irresein aus klinischen Erwägungen das ab- 
gekürzte Verfahren bei der Berechnung der Bezugszifler besser 
geeignet als das Verfahren von Strömgren, so lange wir nicht über 
ein geeigneteres Standardmaterial verfügen. 

Unter den Eltern seiner Probanden findet Slater nur einen Schizo- 
phrenen (Prob. 204). Wenn es eine Schizophrenie ist, so ist sie 
jedenfalls sehr atypisch, mit periodischem Verlauf. Rüdın findet 


58 W. Kraulis 


unter den Nachkommen seiner Schizophrenen keine Manisch- 
Depressiven, ebenso auch Kallmann, Tuczek, u. a. Auch in unserem 
Material hat kein Schizophrener, dessen Partner aus einer nicht 
belasteten Familie stammt, ein manisch-depressives Kind. Anders 
sind die Verhältnisse, wenn doppelseitige Belastung vorliegt. Sogar 
bei einer Kreuzung Schizophrenie x Schizophrenie fand Schulz 10% 
Krankheitserwartung für Manisch-Depressive unter den Kindern, 
wobei er allerdings betont, daß es sich nur um 2 Fälle handelt, 
Ebenso fand Schulz bei Nachkommen von Schizophrenen, deren 
Partner selber gesund, aber belastet war, die Krankheitserwartung 
für Schizophrenie: M.-d. Irresein wie 15,2: 9,5, also weit über die 
Durchschnittsbevölkerung stehende Erwartungen für manisch- 
depressives Irresein. 

Unter den Kindern seiner Probanden findet Slater 26 Manisch- 
depressive und 8 Schizophrene. Nach dem abgekürzten Verfahren 
sind die Erwartungen 12,8: 3,1, also ist das Verhältnis etwa wie 
4:1. Wenn man nur die asylierten Manisch-depressiven nimmt, 
deren Diagnose am sichersten ist (so sind wir auch bei unserem 
Material verfahren), so kommen wir zu folgenden Zahlen: 12 Ma- 
nisch-depressive und 8 Schizophrene, nach A. V. 5,9 Manisch-de- 
pressive zu 3,1 Schizophrenen. Das Verhältnis zwischen beiden 
Gruppen ist wie 2:1. Also kann man aus dem Material von Slater 
folgern, daß unter den Nachkommen von Manisch-depressiven 
verhältnismäßig viele Schizophrene zu finden sind. Dieses hat auch 
schon Rüdin nachgewiesen, der unter den Eltern seiner schızo- 
phrenen Probanden unter 133 Psychosen 23 Manisch-depressive 
und 23 Schizophrene fand. Er kommt zu folgender Schlußfolgerung: 
„es scheint, daß das Auftreten anderer Psychosearten bei den 
Eltern nicht etwa eine nebensächliche Begleiterscheinung der Erb- 
entstehung der Dementia praecox selbst oder ihrer Anlage dar- 
stellt, sondern daß es mit ihr im Wesen innig zusammenhängt“. 
Bleuler meint: „ob es sich überhaupt noch lohne, die Differential- 
diagnose: Schizophrenie und manisch-depressives Irresein ? zu 
machen, wenigstens in all den zahlreichen Fällen, wo vorwiegend 
Manisch-depressive mit schizophrenen Symptomen gemischt sind.‘ 
„Die diagnostische Frage wäre dann, soweit es die Erscheinungs- 
weisen betrifft, nicht mehr: manisch-depressiv oder schizophren ? 
sondern: inwiefern manisch-depressiv, und inwiefern schizophren ? 
Damit wären große diagnostische und systematische Schwierigkeiten 
merkwürdig einfach beseitigt; in den vielen Fällen, wo man sich 
nicht gleich für Schizophrenie oder Affektpsychose entscheiden 
kann, fänden sıch eben Erscheinungen aus beiden Symptomen- 


Zur Klinik der Erbpsychosen 59 


kreisen, und die „reinen“ bisher ‚typischen‘ Formen, wären 
Grenzfälle, wo die eine Komponente bis zur Unsichtbarkeit zu- 
rückgetreten ist.“ 

Kraepelin spricht von den Schwierigkeiten der Unterscheidungen 
. des manisch-depressiven Irresein und Dementia praecox. Er meint, 
daß „die immer deutlicher zu Tage tretende Unmöglichkeit die 
Abgrenzung der besprochenen beiden Krankheiten befriedigend 
durchzuführen, den Verdacht nahelegen, daß unsere Fragestellung 
fehlerhaft sei“. Allerdings glaubt Kraepelin an die grundsätzliche 
Verschiedenheit der Krankheitsvorgänge selbst. Er basiert dabei 
auf Rindenzerstörungen, die bei der Schizophrenie vorkämen, 
ebenso weist er auf die psychologischen Verschiedenheiten und den 
andersartigen Verlauf der Psychosen hin. Die anatomischen For- 
 schungen haben aber bis jetzt keine zwingenden Beweise für die 
Verschiedenheit der Schizophrenen und Manisch-depressiven ge- 
bracht. Ebenso sind die psychologischen Unterschiede, wie Kretsch- 
mer und seine Schule es dargestellt haben, nicht unüberbrückbar. 
Nach Bleuler haben alle Menschen schizoide und cycloide (syntone) 
. Reaktionsformen. „Bei der Einreihung eines Falles in das Schema 
. unserer Psychosen wird diejenige Komponente herausgehoben, die 
anscheinend krankhaft und damit qualitativ und quantitativ auf- 
fällig geworden ist. Die Mischungsverhältnisse der beiden Funktions- 
. arten können ganz beliebige sein: jede derselben kann unabhängig 
von der anderen quantitativ stark oder schwach ausgebildet sein, 
und qualitativ beliebige Formen annehmen.‘ Tuczek sagt: ‚Gerade 
de Gruppe der atypischen zyklischen Psychosen scheint uns 
prognostisch ganz besonders unsicher zu sein. Man wird gut tun, 
die im Hintergrund stehende Schizophreniemöglichkeit nicht zu 
vergessen, auch wenn der Einzelfall noch so günstig verläuft. Im 
groBen und ganzen haben wir uns damit abzufinden, daß, abgesehen 
von einigen von vornherein ganz ungünstig verlaufenden Schizo- 
phrenien, die Prognose des Einzelfalles auch bei zunächst günstig 
scheinendem Verlauf zweifelhaft ist, und daß die gesamte Lebens- 
prognose der Menschen in den gemischterbigen Sippen immer 
einer gewissen Gefährdung unterliegt, wenn sie einmal erkrankt 
waren, oder abnorme Züge zeigen.“ Tuczek spricht hier von Ge- 
mischterbigen. Seine Äußerung könnte sich aber auch auf andere 
atypische endogene Psychosen beziehen, bei denen Mischerbigkeit 
nicht festgestellt werden kann. Auch wir fanden dasselbe in unserem 
Material. Wir können aber auch umgekehrt sagen, daß in diesen 
Familien auch schizophren erscheinende Psychosen einen guten 
Ausgang haben können. 


60 W. Kraulis 


Wenn wir noch die sehr ähnlichen Erbziffern betrachten, di 
wir oben erwähnten, so können wir doch die Möglichkeit nicht aus- 
schließen, daß die endogenen Psychosen im engeren Sinne (Cyelo- 
phrenie und Schizophrenie) irgendwie genetisch verwandt sind. Das 
ist durchaus nicht eine Rückkehr zum Polymorphismus in der 
Vererbung, wie man ihn früher dachte, wo man alle Geistes- und 
Nervenkrankheiten, sowie auch einige körperliche Störungen als 
Erscheinungsweise einer Erbkrankheit auffaßte. Die Forschungen 
haben ergeben, daß zwischen den obengenannten endogenen Psy- 
chosen und anderen Geisteskrankheiten, progressiver Paralyse, 
Arteriosklerose, Epilepsie, Hysterie keine näheren Zusammenhänge 
bestehen. Möglich wären Beziehungen zu gewissen Formen der 
Psychopathie, doch unser Material ist zu klein, um darüber zu ent- 
scheiden. Man muß auch nicht vergessen, daß in den schizophrenen 
Familien mehr Schizophrene, und in den cyclophrenen mehr Cyclo- 
phrene vorkommen. Dieses kann durch die Umweltbedingungen 
nicht erklärt werden; dagegen sprechen auch die Ergebnisse der 
Zwillingsforschung bei Manisch-depressiven und Schizophrenen. 
Die Unterschiede im klinischen Bilde der endogenen Psychosen 
können nur durch Verschiedenheiten des genotypischen Milieus 
oder durch Nebengene erklärt werden. Bei der Schizophrenie 
scheint das genotypische Milieu eine kleinere Rolle zu spielen als 
bei der Cyclophrenie; also könnte diese Krankheit im Wesentlichen 
durch die Hauptgene bedingt sein. 

Nicht jede endogene Psychose, die wir in der Klinik diagnosti- 
zieren, ist erbbedingt. Das haben wir schon anfangs betont. Aber 
auch nicht alle vererbbaren endogenen Psychosen müssen zu 
einer Erbkrankheit gehören. Es ist möglich, daß es verschiedene 
Erbkrankheiten mit gleichen oder ähnlichen Symptomen gibt. Die 
Verhältnisse sind sehr verwickelt, und es wird noch lange Zeit 
dauern, ehe wir zu einer klaren Einsicht in den Erbgang der endo- 
genen Psychose kommen. Das braucht aber unsere eugenischen 
Maßnahmen nicht zu beeinflussen. Sie stehen auf einer objektiven 
Basıs: der empirischen Erbprognose, wie sie von der Schule Rüdins 
ausgearbeitet wurde. 

Zum Schluß noch einige Worte über die übrigen 
Familien, die nicht zum Erbkreise der endogenen 
Psychose gehören. Wir haben nur eine Familie, in der Schizo- 
phrenie und Oligophrenie, sowie auch Schizophrenie und Epilepsie 
in einer Familie festgestellt wurde. In einer Familie waren Schwe- 
ster und Bruder oligophren, in einer anderen Familie hatten zwei 
Schwestern epileptische Anfälle, außerdem ıst eine von ihnen 


men a oM o M 


Zur Klinik der Erbpsychosen 61 


idiotisch, die andere imbezill. Schließlich fand sich in einer Familie 
eine paralytische Mutter, deren Tochter oligophren war. Wir 
fanden bei der Tochter organisch-neurologische Symptome, so daß 
man an eine Fruchtschädigung denken kann; die serologischen 
Reaktionen auf Lues waren bei der Tochter negativ. 

Wir wollen noch über eine Familie unseres Materials berichten, 
in welcher die Schwester an atypischer Psychose litt, der Bruder 
war ein progressiver Paralytiker. Nach zwei psychotischen Schüben 
im Laufe von 10 Jahren, welche manische und katatonische Züge 
aufwiesen und zu vollständigen Remissionen führten (die Patientin 
war Zahnärztin und wurde vollkommen arbeitsfähig), erkrankte 
sie zum dritten Mal. Die Psychose hielt 10 Jahre an. Es wechselten 
manische und depressive Phasen, trotzdem kam es nicht zu einer 
vollkommenen Remission. Es dominierten die katatonischen Ele- 
mente: Kotschmieren, stereotype Posen, impulsives Zuschlagen 
und Beißen, sprachlich vollständiger Wortsalat. Stirbt an Tuber- 
kulose. Affektivität bis zuletzt gut erhalten. 

Der Bruder erkrankt mit 38 Jahren an progressiver Paralyse 
(Argyli-Robertson, positive Reaktionen im Blut und Liquor). Nur 
geringe Gedächtnisstörungen. Stereotypes Jammern, weint, hört 
drohende Stimmen, auch nach einer Malariakur unverändert, jetzt 
3 Jahre in der Anstalt. Wir führen diesen Fall als interessante 
Kasuistik an. Er weist darauf hin, daß vererbte Psychosen, wenn 
sie zufällig mit organischen Hirnkrankheiten zusammentreffen, sie 
spezifisch färben können. 


Ergebnisse: 


1. Unter Familien mit mehreren asylierten endogenen Psychosen 
kommen besonders zahlreich atypische Psychosen vor, die 
durch ihren Verlauf und Symptomatik klinisch einen besonde- 
ren Platz einnehmen. 

2. In belasteten Familien sind die erblichen und klinischen Be- 
ziehungen zwischen Schizophrenien, Cyclophrenien und atypi- 
schen endogenen Psychosen besonders eng, so daß es möglich 
ist, daß sie zu einem Erbkreis gehören. 


Schrifttumverzeichnis 


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Bleuler, E., Lehrb. d. Psych. (1930). — Schweiz. Arch. Neur. (1917). — Z. 
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62 W. Kraulis, Zur Klinik der Erbspychosen 


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Die Vorfahren Immanuel Kants 


Von 
Geh. Medizinalrat Dr. Max Fischer, Berlin-Dahlem 


{Aus dem Kaiser Wilhelm-Institut für Antropologie, menschliche Erblehre 
und Eugenik in Berlin-Dahlem [Direktor: Professor Dr. Eugen Fischer]) 


Der tiefste deutsche Denker, der große Königsberger Philosoph, 
Immanuel Kant (1724—1804), wird in der Regel ganz und gar als 
Preuße, als Prototyp des preußischen Geistes in Anspruch ge- 
nommen, er der Schöpfer und Vorkämpfer des Kategorischen 
Imperativs. 

Seine Ahnentafel, dargestellt in: „Ahnentafel berühmter Deut- 
scher‘, Lieferung 2, 1929, belehrt uns, soweit sie ausgearbeitet 
werden konnte, eines anderen. Danach ist zunächst der Ururgroß- 
vater des Philosophen, Hans Cant, ein Schotte gewesen, der in 
Danzig einwanderte. Echt schottisches Blut kreiste somit, zum 
mindesten mitformend, in der väterlichen Ahnenschaft des Philo- 
sophen. Der Urgroßvater, der sich gleichfalls noch Cant schrieb, 
war Krüger (Krugwirt) in Werden (Ostpreußen). Der Großvater, 
Hans Kant, wanderte über Memel in Königsberg ein und war 
Riemermeister, also Sattler. Der Vater Kants, noch geboren in 
Memel, war Riemermeister in Königsberg. In den weiblichen Linien 
der väterlichen Ahnenschaft finden sich Vorfahren aus Memel 
(Reinsch, Hausbesitzer) und aus Werden (Lieder, Krugwirt); 
diese, außer der Linie Kant selbst, vermutlich eingesessene Ost- 
preußen. 

Nun zur mütterlichen Seite der Familie Immanuel Kants. Hier 
sieht es ganz anders aus. Seine Mutter selbst, Anna Regina Reuter, 
ist zwar geboren in Königsberg, ist aber eine Tochter des Nürn- 
bergers Caspar Reuter, der in Königsberg einwanderte und gleich- 
falls Riemermeister war. Seine Frau, Kants Großmutter, war 
Königsbergerin; ihr Vater war Riemermeister Felgenhauer, ein 
Name, der stark süddeutsch anklingt. Seine Frau ist eine geborene 
Mülcke, deren Vater Pächter eines Krugs bei Königsberg war. Die 
Familie der Mutter Kants, Reuter, stammt somit aus Nürnberg, 
der Stadt Hans Sachsens. Der Urgroßvater Kants von dieser Seite, 


64 Max Fischer 


der Großvater seiner Mutter, Friedrich Reuter, ist Schwarz- und 
Schöngerber in Nürnberg, verheiratet mit Anna Nothelfer, deren 
Vater Schuhmacher in Nürnberg ist. Die Mutter Reuter, eine ge- 
borene Ingelstetter, ist ebenfalls Nürnbergerin; ihr Vater ist Kürsch- 
ner. Die Familie Reuter war damals seit mehreren Generationen in 
Nürnberg ansässig und betrieb das Schwarzfärberhandwerk. Der 
Urahne aber, Valentin Reuter, gestorben 1603, ist aus Tübingen 
(Württemberg) in Nürnberg eingewandert. Sein Sohn heiratet 
wieder eine geborene Reuter; wir haben also hier vielleicht eine 
Verwandtenehe vor uns. Sonst sind in den weiblichen Linien ver- 
treten die Namen Ziegler, deren Vater Schulmeister in Wöhrd bei 
Nürnberg ist, und Grimm, deren Vater Bauer in Ostheim vor der 
Rhön, Bez. Dermbach in Thüringen war. 

Die Familie Nothelfer tritt erstmals in Anna, der Gattin 
Friedrich Reuters auf; sie ist die Urgroßmutter I. Kants. Ihr Vater, 
Schuhmacher, t 1669 in Nürnberg, ist der Sohn Barthel Nothelfers 
in Herdwangen, Amt Pfullendorf, Kreis Konstanz in Baden, also 
aus dem Bodenseehinterland. Der Name Nothelfer kommt auch 
heute noch am Bodensee vor; so gab es z. B. in Überlingen am 
Bodensee, nicht weit von Herdwangen, seinerzeit eine Schreiners- 
familie dieses Namens; Nachkommen leben. Die übrigen Verwandten 
aus dieser Linie heißen Bumayr, Paschetweber in Nürnberg, Weiß 
(?) und Frantz, dieser aus Kreußen in Oberfranken. 

Übersehen wir die Ahnentafel als Ganzes, so finden wir, daß der 
berühmte Preuße einmal väterlicherseits schottisches Blut in 
seinem Erbgut hat und sodann neben einigen ostpreußischen 
Ahnen nicht wenig Ahnenblut aus anderen deutschen ‘Gauen 
bezogen hat. Und zwar treten hier, mit den ostpreußischen Namen 
aus Königsberg und Umgebung aus der väterlichen Ahnenschaft, 
vor allem in der mütterlichen Familie Kants überwiegend, ja fast 
ausschließlich die Einschläge aus Mittel- und Süddeutschland 
(Franken, Nürnberg) stark hervor. In der sechsten Ahnengeneration 
sind allein sechs geborene Nürnberger vorhanden. Eine Linie führt 
nach Schwaben (Tübingen) und eine sogar in dem äußersten Süden 
des Reichs, in die Bodenseegegend. Wir haben also hier einen schwä- 
bisch-alemannischen Einschlag vor uns. Als Geburtsorte der 
Ahnen kommen sonst noch vor Ostheim (Rhön), Kreußen (Ober- 
franken). l 

Zu dieser kurzen stammesgeschichtlichen Übersicht sei noch 
nachgetragen, daß Kant selbst, der das dreizehnte Kind seiner 
Eltern war, unvermählt und ohne Nachkommen blieb. Sein jüngerer 
Bruder jedoch, Johann Kant, Pfarrer in Alt-Rahden, setzte den 


Die Vorfahren Immanuel Kants 65 


Stamm fort. Ein Enkel dieses Bruders lebt, verheiratet, im Staate 
Panama als Kaffeepflanzer und Apotheker (zehn Kinder). 

Die Berufsarten ım Kant’schen Stammbaum weisen einerseits 
das Schankgewerbe (Krugwirt) auf — viermal. Weit zahlreicher 
aber tritt das ganze Ledergewerbe (Färber, Gerber, Sattler, Kürsch- 
ner, Schuhmacher) auf, zusammen A0mal und zwar in beiden 
elterlichen Familien. Je einmal kommt noch vor: Hausbesitzer, 
Schulmeister, Paschetweber, Bauer. Es ist also der einfache Hand- 
werker- und Bürgerstand, der vorwiegt. 

In welcher Weise nun an der Prägung der Persönlichkeit I. Kants 
die Stammeseigenschaften seiner Vorfahren, der schottische, ost- 
preußische, fränkische und schwäbisch-alemannische Einschlag 
verhältnismäßig beteiligt sei, muß hier unerörtert bleiben. Auch 
die an sich wichtige individuelle genealogische und erbbiologische 
Untersuchung, welche seiner Vorfahren speziell im Erbgut Kants 
vorherrschend geworden sind und seine Erscheinungsform bestimmt 
haben, mit andern Worten, wie es kam, daß aus dem einfachen 
Handwerker- und Bürgerstand plötzlich das Genie: Kant empor- 
schießt, erscheint uns zur Zeit nicht durchführbar. Angesichts der 
Lücken in der Ahnentafel und in den Familiennachrichten ließe 
sich eine wissenschaftlich verwertbare Darstellung hierüber vorerst 
nicht geben. 

Der Freude darüber dürfen wir aber Ausdruck geben, daß unter 
den Erblinien des großen Deutschen neben der schottischen und 
den ostpreußischen vorzugsweise solche aus Mittel- und Süd- 
deutschland bis in die entferntesten Gaue am Bodensee beteiligt 
sind und am Erbbild mitgewirkt haben. 


5 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


Zur Klinik 
der intrakraniellen Carcinommetastasen 
Von 
Werner Scheid 


(Aus dem Klinischen Institut der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie 
[Kaiser Wilhelm-Institut] und der Psychiatrischen Abteilung des städt. 
Krankenhauses München-Schwabing [Professor Kurt Schneider]) 


(Mit 3 Abbildungen auf 1 Tafel) 


Mit den großen Fortschritten der Neurochirurgie wuchs das Be- 
dürfnis, die bösartigen intrakraniellen Tumoren mit den Mitteln 
der neurologischen Klinik frühzeitig zu erkennen, um sie von der 
operativen Therapie auszuschließen. Ganz besonders gilt dies von 
den metastatischen Hirntumoren, die einen erheblichen Prozent- 
satz aller intrakraniellen Tumoren ausmachen. Wenn nach Meagher 
und Eisenhart in Cushings Tumormaterial nur 3% Hirnme- 
tastasen von primären Carcinomen, Hypernephromen und Sar- 
komen vertreten sind, und wenn später von Cushing selbst der An- 
teil der Carcinommetastasen mit nur 2,8%, angegeben wurde, so 
erklären sich diese unverhältnismäßig niedrigen Zahlen aus der 
Zusammensetzung des Krankenmaterials einer neurochirurgischen 
Klinik, der metastatische Tumoren nur ausnahmsweise zugeführt 
werden: nämlich vor allem dann, wenn die Artdiagnose der Ge- 
schwulst zuvor nicht gestellt wurde. Einigermaßen zuverlässige 
Angaben über die Häufigkeit intrakranieller Metastasen lassen sich 
nur an einem großen unausgelesenen Obduktionsmaterial gewinnen. 
Elkington schätzt nach Ausschaltung verschiedener Fehlerquellen 
den Anteil der metastischen Tumoren auf 20%; aller intrakraniellen 
Geschwülste. Nach Bailey machen die Hirnmetastasen sogar etwa 
ein Drittel der Hirngeschwülste aus. 

Unter den ins Zentralnervensystem metastasierenden Geschwül- 
sten nehmen die Carcinome die erste Stelle ein. Wenn Gallavardin 
und Varay unter den metastatischen Hırntumoren am häufigsten 
Metastasen von Brustkrebsen fanden, nämlich in 24 von 68 Fällen, 
so bleibt diese Angabe ziemlich vereinzelt. Nach allen neueren 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 67 


Zusammenstellungen sind die vom Bronchialbaum ausgehenden 
Carcinome die häufigste Quelle intrakranieller Metastasen. Die 
große Statistik von Brunner, die sich auf über 12000 Sektionen des 
Krankenhauses München-Schwabing stützt, lehrt, daß etwa 38%, 
aller Hirnmetastasen ihren Ausgang von primären Bronchial- 
carcinomen nehmen. Aber auch in allen jenen Statistiken, die zu 
ermitteln versuchen, wie häufig die einzelnen Carcinome Metastasen 
im Zentralnervensystem setzen, nehmen die Bronchialkrebse die 
erste Stelle ein (Dosquet, Brunner). 

Vor allem von den Bronchialcarcinomen ist fernerhin bekannt, 
daß der Primärtumor häufig noch klinisch symptomlos ist, wenn 
intrakranielle Metastasen bereits schwere neurologische Störungen 
gesetzt haben. Es hat keineswegs an Versuchen gefehlt, für die 
intrakraniellen Metastasen ein möglichst charakteristisches neuro- 
logisches Syndrom herauszuarbeiten, das eine frühzeitige Diagnose- 
stellung mit den Mitteln der neurologischen Klinik gestatten soll. 
Hier sei auf die Beobachtung Baileys verwiesen, daß auf multiple 
Metastasen das Hirn mit den Symptomen geistiger Verwirrtheit 
reagiert, wie sie bei allgemein schädigenden Noxen (Vergiftungen, 
Meningitiden) gesehen werden. Roger und Paillas bauen ein eigenes 
„Syndrome tumoral cerebro-metastatique‘“ auf. Als wesentliche 
diagnostische Merkmale nennen sie vor allem: die relative Selten- 
heit aller Symptome intrakranieller Druckerhöhung, wie etwa der 
Stauungspapille, trotz des beinahe regelmäßig geklagten heftigen 
Kopfwehs, ferner die komplexe neurologische Symptomatologie, 
die Schnelligkeit der Entwicklung aller Symptome, den häufig 
normalen Liquorbefund. 

Wenn wir im folgenden zur Klinik der intrakraniellen Metastasen 
Stellung nehmen und insbesondere der Frage nach der Spezifität 
der beobachteten Symptome nachgehen, so halten wir es für 
zweckmäßig, ausschließlich anatomisch bestätigte Metastasen mit 
gleichem Primärtumor zugrunde zu legen. Läßt doch der 
ähnliche histologische Bau solcher Metastasen am ehesten auch ge- 
meinsame biologische Eigenschaften erwarten, etwa hinsichtlich 
der Wachstumsgeschwindigkeit, der chemischen Eigenschaften und 
der damit auf das Hırngewebe einwirkenden Reize. Schließlich wird 
der Krankheitsablauf weitgehend durch den Sitz und die Eigen- 
schaften des Primärtumors bestimmt, so daß schon aus diesem 
Grunde eine Beschränkung auf intrakranielle Metastasen eines be- 
stimmten Carcinomtyps gerechtfertigt ist. 

Wir wählten die intrakraniellen Metastasen primärer Bronchial- 
krebse nicht nur wegen der besonderen Häufigkeit, sondern vor 


5° 


68 Werner Scheid 


allem auch wegen der erheblichen diagnostischen Schwierigkeiten, 
welche gerade diese Metastasen bereiten. Wird doch in sehr vielen 
Fällen und ungleich häufiger als bei Careinomen anderen Ursprungs 
das klinische Bild ausschließlich bis zum Lebensende durch die 
intrakraniellen Metastasen beherrscht. 

Nach dem anatomischen Sitz lassen sich unterscheiden: Me- 
tastasen im Bereich der Hirnhäute und Metastasen in 
der Substanz von Hirn und Rückenmark. 

Unter den erstgenannten nehmen die Metastasen der Dura eine 
Sonderstellung ein. Klinisch verlaufen sie oft unter dem Bild der 
Pachymeningitis hämorrhagica interna. 

Die diffuse Carcinose der weichen Hirnhäute, die sog. Meningitis 
carcinomatosa muß zu den größten Seltenheiten gerechnet werden. 
Eine hierher gehörige Beobachtung sei im folgenden mitgeteilt. 


I. R., 57 Jahre alte Rentnerin. Aufgenommen: 20.12.32 (6552/32). 

Vorgeschichte: Familienanamnese o. B. — Sie selbst bis vor wenigen 
Monaten völlig gesund. — Mitte Oktober 1932 beim Handarbeiten plötzlich 
stechender Schmerz in der rechten Kopfhälfte. Kurz darauf Übelkeit, dann 
Bewußtseinsverlust. Kam erst am nächsten Tag wieder zu sich, hatte Nacken- 
schmerzen und mußte wiederholt erbrechen. Nach wenigen Tagen wieder 
völlig beschwerdefrei. Etwa drei Wochen nach den ersten Krankheitser- 
scheinungen plötzlich heftiger Schmerz im rechten Auge. Seitdem auf dem 
rechten Auge blind. Wenige Minuten nach dem Schmerzanfall Bewußtlosig- 
keit von einigen Stunden Dauer. In der Folgezeit allgemeine Mattigkeit, so 
daß sie bettlägerig wurde. In den letzten drei Wochen gelegentlich plötzlich 
einsetzende krampfartige Schmerzen in den Waden, die nach 1—2 Minuten 
völlig abklangen. Auch die Nackenschmerzen haben sich vor wenigen Wochen 
wieder eingestellt und haben seitdem an Stärke zugenommen. 

Befund: Mittelgroße, hagere Frau. Mäßiger Allgemeinzustand. Über dem 
rechten Scheitelbein haselnußgroße Vorwölbung, über der die Kopfschwarte 
gut verschieblich ist. Die knotige Vorwölbung, die offenbar dem Knochen 
angehört, ist druckempfindlich. — Innere Organe klinisch o. B. — Neurolo- 
gisch: Leichte Nackensteifigkeit. Geruch o. B. Amaurose rechts. Visus links 
intakt. Links geringe Verwaschenheit der Papillengrenzen mit zahlreichen 
feinsten Blutungen. Fundus rechts o. B. Rechte Pupille reagiert nicht auf 
Lichteinfall, jedoch konsensuell bei Belichtung des linken Auges. Übrige 
Hirnnerven o. B. — An Rumpf und Extremitäten keine Paresen. Bauch- 
hautreflexe ©. Sehr schwache PSR. und ASR. Im übrigen neurologisch 
o. B. — In psychischer Ilinsicht eine gewisse Indolenz ihrem Zustand gegen- 
über, sonst keinerlei Auffälligkeiten. — Röntgenuntersuchung der Brust- 
organe: scharf begrenzte Verschattung, die sich in dem ersten Interkostal 
raum rechts projiziert und nach lateral spindelig ausgezogen ist. — Senkung: 
62/88 (Westergreen). Blutbild o. B. — Im Cisternenliquor: 32/3 Zellen (Lym- 
phocyten). Pandy und Nonne ©. Gesamteiweiß 16 mg°o. Normale Mastix- 
und Goldsolreaktion. 

26. 12.: Dauernd starke Schmerzen in der Wade und im linken Ober- 
schenkel. 

30. 12.: Farbensehen links jetzt deutlich herabgesetzt. Fundus. links un- 


— [e -a me r - p n e Deals i A a 
— u — — =- - 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 69 


verändert. Erbrechen kaffeesatzartiger Massen. — Temperaturen um 38° 
rektal. Pat. ist dauernd bewußtseinsgetrübt. 

Weiterer Visusverfall links. PSR. und ASR. nicht mehr auslösbar. — 
Schwer-besinnlich, erheblich verlangsamt. 

10. 1. 33.: Auch links erblindet. Lichtreaktion beiderseits erloschen. — Im 
Laufe des Tages unruhiger. Ausgesprochen ängstlich, bezieht Gespräche der 
Mitkranken auf sich. Schreit plötzlich, es seien Mörder in der Nähe, man wolle 
sie umbringen. 

12. 1. 33.: Temperaturen bis 40°. Befund einer Bronchopneumonie. Neuro- 
logisch unverändert. — Stärker erregt. Hier seien zwei Kranke umgebracht 
worden. Man habe die Leichen durch eine große Maschine gedreht. Das Blut 
sei in einen Eimer herunter geflossen. Bellt wie ein Hund. 

13. 1.: Exitus letalis. 

Klinische Diagnose: Meningealcarcinose, ausgehend von den Lungen oder 
vom Magen. l 

Bei der Obduktion fand sich ein Carcinom des rechten Oberlappenbronchus 
mit starker anthrakotischer Induration des Gewebes im Geschwulstbereich. 
Metastasen in beiden Lungen und in den Bifurkationslymphknoten. Osteo- 
plastische Metastase im rechten Scheitelbein mit Vorwölbung des Periostes. 
Makroskopischer Befund am Hirn und seinen Häuten wenig eindrucksvoll. 
Geringes Piaödem. An der Hirnbasis, vor allem in der Infundibulargegend 
kleine, flache, weißliche Einlagerungen. Rechter Nervus opticus im Bereich 
des Canalis opticus auf der medialen und unteren Seite von einem weißgrauen 
sewebe abgedrängt. Sehnervenquerschnitt längsoval verschmälert (Abb. 1). 
Auch linker Nervus opticus in seiner Circumferenz infiltriert. Im weiteren 
Verlauf an den Sehnerven, sowie auch an den Bulbi normaler Befund. — Der 
Plexus des dritten und vierten Ventrikels zeigt weißlich-graue Einlagerungen. 
Gleiche Einlagerungen auch an der Pia des Rückenmarks. 

Nach dem histologischen Befund handelt es sich bei dem Bronchialtumor 
um ein hochdifferenziertes, schleimbildendes Adenocarcinom mit stark ent- 
wickeltem bindegewebigen Stroma. Der Befund an den Meningen ist ein 
typischer: Die CGarcinomzellen sind stellenweise nur in einschichtiger Lage 
aneinander gereiht, gelegentlich bilden sie auch kleinere Nester und Ringe, 
zumal über den Hirnfurchen und an der Pia der Basis. Nur vereinzelt schieben 
sich die Zellenbänder auf kurze Strecke längs der Gefäße in die Hirnsub- 
stanz vor. 

Interessante Verhältnisse ergeben sich im Bereich der beiden Nervi trige- 
mini, wo sich Carcinomzellen und -stränge sowohl in den Meningen als inner- 
halb der Nerven selbst finden. Als Ausdruck der Schädigung des peripheren 
Nerven treten im motorischen Trigeminuskern bds. primär gereizte Ganglien- 
zellen auf. Bezüglich der Nervi optici bestätigt das histologische Bild den 
makroskopischen Befund: Beide Sehnerven sind vom Chiasma nach oral 
ringsum von Krebsgewebe umgeben, das aus mehreren übereinander liegenden 
Schichten von Carcinomzellen sich zusammensetzt. Auf einem Längsschnitt 
(Abb. 2) sieht man die Sehnerven umscheidet von den sehr stark schleimbil- 
denden Carcinomzellen. Das Geschwulstgewebe dringt an einzelnen Stellen 
durch das epi- und perineurale Gewebe und drängt sich zwischen die einzelnen 
Nervenfaserbündel. Im Markscheidenpräparat Aufhellungen, Lichtungen 
und Ausfälle der Markscheiden in unregelmäßiger Anordnung. In den auf- 
gehellten Gebieten alle Stadien des Zerfalls der Markscheiden. Im Fett- 
präparat ist Fett in Schollen- und Tropfenform angeordnet. Die Schwannschen 


70 Werner Scheid 


Zellen und die Zellen der mesenchymalen Nervenscheiden sind gewuchert 
und speichern teilweise festthaltige Abbauprodukte. 

Bei der soeben in Kürze mitgeteilten Beobachtung handelt es sich 
um einen der überaus seltenen Fälle von diffuser Carcinose der 
weichen Hirnhäute. Auf eine ausführliche Wiedergabe der feineren 
anatomischen Verhältnisse konnte verzichtet werden, weil die in 
unserem Fall zu erhebenden Befunde in allen wesentlichen Punkten 
mit den Beschreibungen von Schwarz und Bertels, Pette, E. Meyer 
u.a. übereinstimmen. Wiederholt wurde im Schrifttum darauf 
hingewiesen, daß der makroskopische Befund am Hirn und seinen 
Häuten bei reiner Meningealcarcinose wenig eindrucksvoll zu sein 
pflegt, so daß nicht selten erst die histologische Untersuchung eine 
Klärung des vorausgegangenen schweren cerebralen Krankheits- 
bildes bringt (Saenger, Eichhorst, Morse). Typisch am anatomischen 
Befund ist insbesondere die Bevorzugung der basalen Partien, 
sowie eine stärke Infiltration der Meningen überall dort, wo Fissuren 
und Sulci eine ausgedehntere Schichtung der Carcinomzellen er- 
lauben. Eine ähnliche Verteilung kennen wir von der tuberkulösen 
Meningitis her und von Farbstoffversuchen, aus denen zu schließen 
ist, daß auch bei der Meningitis carcinomatosa die Ausbreitung 
der Elemente sich nach rein physikalischen Gesetzen an den Weg 
des Liquorkreislaufes hält. Mit der Pia schieben sich bei der 
Meningitis carcinomatosa die Zellstränge ins Gehirn selbst vor, 
wobei die Rindengrenze durchweg nicht überschritten wird. Auch 
auf die Hirnnerven und die Rückenmarkswurzeln wird das Car- 
cinomgewebe mit der Pia fortgeleitet und drängt sich längs der 
endoneuralen Septen in die Nerven selbst hinein. Degenerative 
Veränderungen der zugehörigen Ganglienzellen, wie wir sie im Be- 
reich des motorischen Trigeminuskernes fanden, sind als retrograde 
Zellveränderungen aufzufassen. 

Die klinischen Symptome der diffusen Carcinose der weichen 
Hirn- und Rückenmarkshäute lassen sich weitgehend aus dem 
typischen anatomischen Befund ableiten. Pette hat eine klassische 
Trias aufgestellt, die folgende Symptomgruppen umfaßt: 1. Menin- 
geale Reizsymptome (Nackensteifigkeit, epileptiforme Anfälle, 
psychische Anomalien u. a. m.). 2. Ausfallssymptome von seiten 
basaler Hirnnerven und spinaler Wurzelnerven. 3. Nachweis von 
Tumorzellen im eiweißreichen Liquor. 

Überblickt man die kasuistischen Mitteilungen über die Meningi- 
tis carcinomatosa, so ergibt sich tatsächlich eine weitgehende Ähn- 
lichkeit der klinischen Befunde, wobei sich die Einzelsymptome 
durchweg in der Petteschen Trias, unterbringen lassen. Größte 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 71 


Mannigfaltigkeit herrscht aber hinsichtlich der zeitlichen Folge der 
einzelnen Symptome. In unserem Fall setzten die klinischen Er- 
scheinungen aus voller Gesundheit heraus mit plötzlichen Bewußt- 
seinsstörungen ein, denen meningeale Reizerscheinungen (Nacken- 
schmerzen) und Reizerscheinungen von seiten der Rückenmarks- 
wurzeln (Wadenschmerzen) folgten. Die alarmierenden Symptome 
bildeten sich jedoch völlig zurück, und erst nach einem mehr- 
wöchentlichen beschwerdefreien Intervall nahm die Erkrankung 
ihren Fortgang. Diese zweite Phase wurde durch eine plötzlich 
auftretende einseitige Amaurose eingeleitet, der später zunehmende 
meningeale Reizerscheinungen folgten, unter denen die starke 
Nackensteifigkeit an erster Stelle zu nennen ist. Als Ausdruck wei- 
terer Wurzelschädigung schwanden die Sehnenreflexe der unteren 
Extremitäten. Schließlich erblindete auch das zweite Auge. Präter- 
minal entwickelte sich ein deliranter Verwirrtheitszustand. 

So konstant die Kuppelung verschiedener Symptomgruppen bei 
der Meningitis carcıinomatosa ist, so verschiedenartig ist die Reihen- 
folge ihres Auftretens. Oft bestehen die ersten Symptome in Kopf- 
und Nackenschmerzen, allgemeiner Mattigkeit, Ermüdbarkeit 
(Scholz, Heimann, Pachantoni), oder Krampfanfälle sind das erste 
alarmierende Symptom (Lissauer, Bertrand und Aranson). Oder 
aber psychische Veränderungen geben den ersten Hinweis auf einen 
intrakranıellen Proszeß. Hier können gesteigerte Reizbarkeit oder 
ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit fälschlich als Ausdruck eines 
psychogenen Versagenszustandes gedeutet werden, wie es offenbar 
bei dem ersten einschlägigen Fall geschah, der im Jahre 18659 von 
Eberth veröffentlicht wurde. Oder aber ein Nachlassen der geistigen 
Leistungsfähigkeit veranlaßt zur Diagnose einer Paralyse (Heyde 
und Curschmann). Selten sind früh auftretende schwere Verwirrt- 
heitszustände wie bei den Fällen von Schwarz und Bertels und von - 
Maaß. Oft kommt es früh zu Symptomen von seiten der basalen 
Hirnnerven, wobei Visusverfall und Hörverlust besonders häufig 
sind. Dabei dürfte eine plötzliche Erblindung wie in unserem Fall 
eine Seltenheit darstellen. Nur in vereinzelten Fällen wurden 
Stauungspapillen festgestellt, so von Stadelmann und Alsberg. 

Von größter diagnostischer Bedeutung ist der Nachweis von 
Tumorzellen im Liquor (Pette, Bertha u.a.), dessen Eiweißgehalt 
durchweg beträchtlich erhöht ist. Aber selbst bei gewissenhafter 
Untersuchung kann, wie in unserem Fall, der Nachweis von Tumor- 
zellen mißlingen. Daß auch die erhebliche Eiweißvermehrung des 
Liquors, auf die immer wieder aufmerksam gemacht wurde, nicht 
als konstantes Symptom der Meningitis carcınomatosa gelten kann, 


72 Werner Scheid 


lehrt unsere Beobachtung. Wir fanden das Gesamteiweiß des 
Liquors mit 16 mg% eher an der unteren Grenze der Norm und 
sahen völlig normale Goldsol- und Normomastixreaktion. Nach 
den bisher vorliegenden Veröffentlichungen kann unser Liquor- 
befund jedoch als große Ausnahme vom durchschnittlichen Ver- 
halten gelten. 

Die mittlere Krankheitsdauer vom Einsetzen der ersten klini- 
schen Symptome bis zum Tode beträgt 5 bis 7 Wochen. Unser Fall 
gehört zu denen mit längerer Krankheitsdauer (3 Monate). Heyde 
und Curschmann teilten eine Beobachtung mit, bei der sogar über 
7 Monate zwischen Krankheitsbeginn und Tod lagen. Diagnostische 
Schwierigkeiten können zumal dann entstehen, wenn der Verlauf 
ein sehr akuter ist wie bei den Fällen von Stadelmann und Löhe. 
die in 4 bzw. 8 Tagen tödlich endeten. Aber auch bei mehr protra- 
hiertem Verlauf können einzelne Symptome das klinische Bild 
von Anfang bis Ende beherrschen. So bot der Kranke, über den 
Maaß berichtete, ausschließlich psychische Auffälligkeiten in Form 
eines schweren Verwirrtheitszustandes mit ängstlicher Ratlosigkeit 
und deliranten Zügen. In derartigen, im klinischen Bild uncharak- 
teristischen Fällen kann höchstens der Liquorbefund zur richtigen 
Diagnose führen. 

Wenn wir jedoch von jenen atypischen Fällen absehen, bei denen 
nur vereinzelte klinische Symptome zur Ausbildung gelangen oder 
bei denen die Liquordiagnostik im Stich läßt, stellt sich das Krank- 
heitsbild der Meningitis carcinomatosa als einigermaßen scharf 
umrissen dar. Dabei ist die Einschränkung notwendig, daß ohne 
Kenntnis des Primärtumors, — und von dieser Voraussetzung 
gingen wir ja aus, — nur auf einen im Liquorsystem metastasieren- 
den Prozeß geschlossen werden kann. In ganz vereinzelten Fällen 
. kann es sich dabei um eine Meningitis sarcomatosa handeln, die 
noch wesentlich seltener ist als die diffuse Meningealcarcinose, 
oder aber um einen primären Hirntumor, der sich in den Liquor- 
räumen ausgebreitet hat. Hierfür kommt vor allem das Medullobla- 
stom in Frage, das jedoch das Kindes- und Jugendalter bevorzust 
und deshalb bei der Differentialdiagnose der Meningealcarcinose 
zurücktritt. 

Ungleich häufiger als zur diffusen Meningealcarcinose kommt es 
zur Ausbildung umschriebener Tochterknoten im Gehirn selbst. 
Nicht selten finden sich gleichzeitig knotige Metastasen der Hirn- 
häute, die jedoch nur in ganz vereinzelten Fällen zur diffusen 
meningealen Aussaat der Geschwulst führen. Siefert teilte im Jahre 
1902 derartige Fälle mit und schloß daraus, daß die Meningeal- 


e 


Tafel I 


Abb. 2 


Abb. 1 


Abb. 3 


Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete Bd. 113 


Zu Werner Scheid, Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 


Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 


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Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 13 


carcinose stets von derartigen knotigen Metastasen der Hirnober- 
fläche oder der Hirnhäute ihren Ausgang nehme. Diese Auffassung 
konnte durch die späteren Beobachtungen nicht bestätigt werden, 
die eher für ein gewisses Ausschlußverhältnis zwischen diffuser 
meningealer Aussaat und einer Metastasierung in Form umschrie- 
bener Geschwulstknoten sprechen. 

Uns stehen 8 eigene Beobachtungen über derartige umschriebene 
intrakranielle Metastasen, ausgehend von primären Bronchial- 
carcinomen, zur Verfügung. In allen 8 Fällen handelte es sich um 
Männer, von denen der jüngste im 35. Lebensjahr stand, der älteste 
im 60. Jahr. Daß aber gerade Bronchialcarcinome nicht selten in 
jüngeren Jahren vorkommen, geht am besten aus einer Statistik 
von Simpson hervor. Simpson stellte 139 Fälle von primären Bron- 
chialcarcinomen zusammen, an denen sich ein Durchschnittsalter 
von 48 Jahren errechnen ließ. Der jüngste Kranke Simpsons stand 
erst im 13. Lebensjahr. 

Da es sich bei unseren Fällen ausschließlich um Beobachtungen 
einer psychiatrischen Abteilung handelte, können wir erwarten, 
daß vorwiegend Symptome von seiten des Zentralnervensystems 
zur Aufnahme in die Klinik geführt hatten. Nur bei einem einzigen 
unserer Kranken wies die Anamnese überhaupt auf den Primär- 
tumor hin. In allen anderen Fällen bot die Vorgeschichte nichts, 
was für ein Bronchialcarcinom zu verwerten gewesen wäre. Aber 
auch die übrigen klinischen Untersuchungen ließen keineswegs in 
allen Fällen an eine maligne Neubildung denken. So war der All- 
gemeinzustand bei 5 unserer Kranken unverändert gut. Bei 2 Fällen 
war die Blutsenkung noch normal. Nur wenige Kranke hatten schon 
ın frühen Stadien der Erkrankung erhöhte Temperaturen. Wenn 
also die Diagnose durchweg schon zu Lebzeiten gestellt wurde, 
so war dies vor allem möglich durch die Röntgendiagnostik, die 
allerdings bei Bronchialcarcinomen nicht selten im Stich läßt, wie 
aus größeren Statistiken hervorgeht. 

Was die neurologische Symptomatologie der cerebralen Metasta- 
sen betrifft, so hat Paß in seiner jüngst erschienenen Arbeit darauf 
hingewiesen, daß die alte Tumortrias, — Kopfschmerzen, Er- 
brechen, Stauungspapille, — bei den metastatischen Geschwülsten 
verhältnismäßig selten gefunden wird. Diese an dem großen Beob- 
achtungsmaterial der neurologischen Klinik Hamburg-Eppendorf 
gewonnene Feststellung ist wichtig im Hinblick auf Ausführungen 
anderer Autoren. Elkington, Dickson, Carnegie und Worster- Drought 
sehen gerade in heftigen Kopfschmerzen, die in keinem Verhältnis 
stehen zu den übrigen Zeichen intrakranieller Drucksteigerung ein 


74 Werner Scheid 


wichtiges Kennzeichen intrakranieller Metastasen. Wir haben an 
unserem Material nicht feststellen können, daß Kopfschmerzen ein 
besonders häufiges und konstantes Symptom darstellen. Wo sıe 
besonders ausgeprägt waren, handelte es sich um einen Hydrocepha- 
lus internus occlusus, der auch mit Stauungspapille vergesellschaftet 
war. Über die Häufigkeit der Stauungspapille herrschen keine 
wesentlichen Meinungsverschiedenheiten. Wir sahen sie bei 4 Kran- 
ken, also in der Hälfte der Fälle. Paß, sowie Ferguson und Rees- 
mond kamen zu ähnlichen Ergebnissen, während Roger und Paillas 
gerade auf die Seltenheit der Stauungspapille hinweisen. Wenn 
eine Stauungspapille nachweisbar sei, so erreiche sie nicht beson- 
ders hohe Grade. Sie könne sich sogar im weiteren Verlauf der Er- 
krankung zurückbilden. Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten. 
daß in nicht einmal seltenen Fällen die Mestatasen infratentoriell 
lokalisiert sind und durch eine Verlegung der Liquorabflußwege 
einen Hydrocephalus internus occlusus zur Folge haben, der dann 
zur Stauungspapille führt. Das klinische Bild wird in derartigen 
Fällen bestimmt durch die besondere Lokalisation der Geschwulst. 
Ein wesentlicher Unterschied in der klinischen Symptomatologie 
kann dann gegenüber anderen infratentoriellen Prozessen nicht 
mehr gegeben sein. 

Wenn, wie auch wir feststellen müssen, im übrigen die Symptome 
der intrakraniellen Drucksteigerung zurücktreten, — etwa im Ver- 
hältnis zu gleich ausgedehnten supratentoriell gelegenen Tumoren 
der Gliomreihe, — so wird hierfür die Wachstumsart der Metastasen 
verantwortlich gemacht. O. Fischer führte bereits im Jahre 1905 aus, 
daß es bei metastatischen Geschwülsten zu einer Zunahme des 
intrakraniellen Volumens nicht komme, da die Metastase substi- 
tuiere und nicht verdränge. Fernerhin sei von Bedeutung, daß die 
Metastasen im Unterschied zu den meisten primären Hirntumoren 
in der Mehrzahl auftreten. Hierdurch sei die Gesamtoberfläche der 
Geschwulstknoten, die das Hirngewebe vernichten, außerordent- 
lich groß im Verhältnis zum Volumen, das die Gesamtheit der 
Tochterknoten in Anspruch nehmen. Ähnliche Erklärungen geben 
Offergeld, Heinemann, Hofkeinz u. a. In der Tat lehren alle späteren 
Zusammenstellungen, daß die intrakraniellen Carcinommetastasen 
zumeist multipel auftreten. Bei unseren Beobachtungen handelte 
es sich nur in einem Fail um eine isolierte, infratentoriell gelegene 
Metastase, in allen anderen Fällen wurden 2 und mehr Geschwulst- 
knoten gefunden. Ob allerdings die Deutung O. Fischers, die später 
immer wieder aufgegriffen wurde, die Seltenheit der Symptome 
intrakranieller Drucksteigerung erklären kann, erscheint uns sehr 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinoınmetastasen 75 


fraglich. Sind diese Symptome doch nicht allein und nicht vor- 
wiegend eine direkte Folge der durch das Geschwulstwachstum be- 
dingten Volumzunahme. Vielmehr ist die Reaktion des Gehirns 
auf das Geschwulstwachstum von entscheidender Bedeutung. Diese 
Reaktion, — in Form der Hirnschwellung, — ist allerdings, wie 
wir nach Durchsicht unseres Materials annehmen möchten, nicht 
so hochgradig wie etwa beim Glioblastoma multiforme. Wir fanden 
nur in einem Fall mit multiplen, bis zu faustgroßen Metastasen 
eine hochgradige Hirnschwellung, während im übrigen bei nur 2 
Beobachtungen von den Zeichen einer mäßigen, vorwiegend lo- 
kalen Hirnschwellung die Rede sein konnte. Zu ähnlichen Ergeb- 
nissen kam Paß, während Behrend und Schilf an ihrem allerdings 
sehr kleinen Material besonders hohe Grade von Hirnschwellung 
fanden. 

Wenn, wie ausgeführt wurde, für die relative Seltenheit der 
Symptome intrakranieller Drucksteigerung das destruierende 
Wachstum der Metastasen verantwortlich gemacht wird, so 
wird eine andere Besonderheit in der Symptomatologie cerebraler 
Metastasen durch das angeblich gerade gegenteilige Verhalten im 
Wachstum der Tochterknoten erklärt. Immer wieder fällt das oft 
erhebliche Mißverhältnis zwischen der Dürftigkeit der neurolo- 
gischen Ausfallserscheinungen und der Ausdehnung der Metastasen 
auf. Auch wir könnten hierfür Beispiele aus unserem Material mit- 
teilen. Veitinger beschrieb ausführlich einen Fall, bei dem neben den 
Zeichen einer motorisch-sensorischen Aphasie nur leichte Halb- 
seitenerscheinungen rechts feststellbar waren, während bei der 
Obduktion die Hälfte des Hirnmantels sich als zerstört erwies. 
Trotz ausgedehnter Vernichtung des linken Okzipitallappens hatte 
eine Hemianopsie nicht nachgewiesen werden können. Bailey fand 
bei einem Rechtshänder die Brocasche Windung der linken Seite 
durch multiple Metastasen weitgehend ersetzt. Klinisch hatte nur 
eine rechtsseitige Hemiplegie vorgelegen, an der jedoch der rechte 
Facialis nicht teilnahm. Für eine Aphasıe hatte nichts gesprochen. — 
Dieses Mißverhältnis zwischen Ausdehnung der Metastase und 
neurologischem Bild wird vor allem damit erklärt, daß die Metastase 
verdrängend wachse und das funktionstragende Nervengewebe 
unversehrt lasse (Roger und Paillas, Putschar, Paß u.a.) Daß dies 
aber nur bedingt gültig ist, kann vor allem an jenen kleinen Me- 
tastasen des Hirnstamms gezeigt werden, die eine besonders genaue 
Lokalisation schon zu Lebzeiten erlauben. — Ein Beispiel sei an- 
geführt. Es betrifft den jüngsten Kranken unseres Materials und 
gleichzeitig jenen einzigen Patienten, dessen Vorgeschichte Sym- 


76 Werner Scheid 


ptome eines pulmonalen Prozesses bot, die sich vor Einsetzen der 
neurologischen Reiz- und Ausfallserscheinungen bemerkbar mach- 
ten. 


H. F. Studienassessor, 35 Jahre alt. Aufgenommen: 21. 11. 32 (5759/32). — 
Familiengeschichte o. B. — Im Feld wiederholt Grippe. Später gesund. März 
1932 wieder ‚‚Grippe‘‘ mit Fieber, das nach 2 Tagen abklang. Danach müde 
und elend. 3 Wochen nach der Entfieberung Rückfall mit hohen Temperaturen. 
Damals zum erstenmal Schmerzen in der linken Brustseite. 8 Tage bettlägrig. 
In den Monaten darauf nicht mehr recht gesund, vor allem dauernd Schmerzen 
in der linken Brusthälfte. Im August 1932 plötzlich Kribbeln und pelziges 
Gefühl in der rechten Hand. Konnte gleichzeitig die Worte nicht recht aus- 
sprechen. Nach einer halben Stunde wieder vollkommen wohl. Ähnlicher Zu- 
stand im Oktober 1932, jedoch im Anfall, der mehrere Stunden dauerte, auch 
vorübergehend bewußtlos. Seit September 1932 Doppelbilder. 

Befund: Rechte Pupille maximal weit, reagiert nicht auf Konvergenz und 
Lichteinfall. Rechts ist auch das Akkomodationsvermögen aufgehoben. — 
Ausgesprochene Hypomimie. Mimische VII-Parese links. Ataxie und Dysdi- 
adochokinese der linken Hand bei erhaltenem Lagegefühl und intakter Ober- 
flächensensibilität. — In der Folgezeit wurden Anfälle beobachtet, bei denen 
F. über Parästhesien in der rechten Hand klagte. Gleichzeitig wurde von ihm 
die rechte Hand eigenartig groß und fremd erlebt. Das Bewußtsein war wäh- 
rend dieser 10 Minuten dauernden Zustände erhalten. — Zu den Zeichen einer 
rechtsseitigen Ophthalmoplegia interna gesellte sich präterminal eine Ptosis 
des rechten Auges. 

19. 1. 1933: Exitus. Die klinische Diagnose auf Bronchialcarcinom wurde 
bei der Obduktion bestätigt. Auszug aus dem Obduktionsprotokoll: (Patho- 
log. Institut des Städt. Krankenhauses München-Schwabing [Prof. Singer] ) — 
Bei der Hirnsektion sind die beiden Hemisphären etwa gleich groß. Am unteren 
Pol des rechten Parietale erkennt man eine erdnußgroße cystische Einlagerung. 
Frontalschnitte durch das Gehirn zeigen in Marklager und Rinde der linken 
Seite mehrere etwa hühnereigroße, zentral ausgedehnt erweichte Metastasen, 
die sich in der hinteren Zentralwindung bis in die Rinde hinein erstrecken. — 
Eine weitere Metastase von Haselnußgröße findet sich in der Haubenregion des 
Mittelhirns unter Substitution des rechten Toten Kerns, der medialen Schleife, 
größerer Abschnitte der rechten Substantia nigra und teilweisem Übergreifen 
auf den rechten Hirnschenkelfuß. (Abb. 3). Die Metastase ist streng auf die 
rechte Seite beschränkt. Der Aquädukt ist deutlich sichtbar. Die Metastase 
erstreckt sich vorn bis in die Stammgangliengegend, nach hinten etwa bis 
zum Beginn der Rautengrube. — Weiterhin finden sich zwei ca. bohnengroße 
erweichte Metastasen im Marklager und in der Rinde beider Kleinhirn- 
hemisphären. Die Meningen sind makroskopisch und mikroskopisch frei von 
Krebs. Histologisch: Serienuntersuchung eines Mittelhirnblockes von der Höhe 
des oralen Teils des Trochlearis - bis in den kaudalen Teil des Oculomotorius- 
kerns hinein: auf der linken Seite sieht man eine Geschwulst von der Fossa inter- 
peduncularis her, medial von der linken Substantia nigra, in die Bindearm- 
kreuzung vorwiegend lateral eindringen. Die Substantia nigra, die dicht am 
lateralen Rand der Geschwulst liegt, und die Augenmuskelkerne, die medial 
von ihr liegen, werden deutlich beiseite gedrängt, so daß ein asymmetrisch 
verzerrtes Querschnittsbild entsteht. Die Fasern der linken Augenniuskel- 
kerne sind zum Teil ebenso wie die Bindearmkreuzung von Geschwulstgewebe 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 77 


durchwuchert. Der laterale Teil der Augenmuskelfasern ist deutlich nach oben 
und lateral gehoben und nach außen und lateral konvex ausgebogen, gleich- 
sam ausgewichen. Die reaktive Gliazone am Rand der Geschwulst ist auf- 
fallend schmal. Fast unmittelbar angrenzend ist das Gewebe normal. Die 
Nervenzellen der umgebenden Kerne (Nucleus III, IV, Subst. nigra) sind 
auffallend intakt. 

Im vorliegenden Fall hatte eine streng halbseitig lokalisierte 
Hirnstammmetastase zu Hypominie, zu einseitigen Koordinations- 
störungen und zu einseitiger Ophthalmoplegia interna geführt, der 
sich erst später eine Lähmung des gleichseitigen Levator palpebrae 
sup. zugesellte. Die anatomische Untersuchung ergab keinen Hin- 
weis dafür, daß etwa eine umschriebene basale Meningitis die 
Augenmuskelparese bedingt hatte. Derartige isolierte Hirnnerven- 
läihmungen durch umschriebene Metastasen des Hirnstamms 
müssen zu den Seltenheiten gerechnet werden. Das gilt ganz be- 
sonders von partiellen Oculomotoriuslähmungen, wie etwa der 
Ophthalmoplegia interna. Die Ophthalmoplegia interna wird nicht 
allgemein in das Gebiet des Hirnstamms, d.h. in das Kerngebiet. 
und in die intracerebralen Faserabschnitte lokalisiert. Nur verein- 
zelte Befunde liegen vor, die für eine zentrale Lokalisation zu wer- 
ten sind (Lenz). Leider erstreckte sich in unserem Fall die histolo- 
gische Untersuchung nicht ausreichend oralwärts, so daß über die 
Verhältnisse etwa im Bereich des kleinzelligen Medialkerns keine 
Klarheit gewonnen wurde. Dadurch lassen sich keine bindenden 
lokalisatorischen Folgerungen aus unserer Beobachtung ziehen. 

Unser Fall lehrt u. a., daß von einem verdrängenden Wachstum 
derartiger Metastasen nicht schlechthin gesprochen werden kann. 
Es kommt vielmehr zu einem umschriebenen Substanzverlust, der 
allerdings oft ungleich geringer ist als nach der Größe der Me- 
tastase vermutet werden könnte. Dies bedeutet, daß der Tochter- 
knoten nicht nur Substanz zerstörend, sondern auch verdrängend 
wächst, was gerade bei jenen einseitigen Hirnstammetastasen ge- 
zeigt werden kann, die benachbarte Kerngebiete zur Seite verlagern 
können. Somit bestehen grundlegende Unterschiede einerseits zur 
Verdrängung etwa eines Meningeoms wie auch gegenüber dem ‚‚in- 
fizierenden‘‘ Wachstum eines malignen Glioblastoms. 

Für die Dürftigkeit der klinischen Symptomatologie, — bezogen 
auf die Größe der Metastase, — ist außer dem teilweise verdrängen- 
den Wachstum dieser Geschwulstknoten noch ein anderer Umstand 
verantwortlich zu machen: nämlich die oft nur geringe Reaktion 
des umgebenden Hirngewebes. Wie in dem soeben mitgeteilten 
Fall wird eine lokale Hirnschwellung gelegentlich völlig vermißt, 
so daß eine der Bedingungen für das Auftreten von Nachbarschafts- 


78 Werner Scheid 


symptomen fortfällt. Die klinische Symptomatologie beschränkt 
sich in diesen Fällen auf das verhältnismäßig kleine, von der 
Metastase ausgestanzte Gebiet. Dieses besondere Verhalten vieler 
Metastasen bedingt auch ihre Bedeutung für lokalisatorische 
Fragen. 

Besondere Hilfshypothesen, die aufgestellt wurden, um die rela- 
tive Symptomarmut der intracerebralen Metastasen zu erklären, 
sind u. E. entbehrlich. Es sei etwa an die Annahme erinnert, Hirn- 
gebiete und Leitungsbahnen der Gegenseite träten ein und ersetzten 
in funktioneller Hinsicht die durch eine Metastase ausgeschalteten 
Gebiete (Veitinger). Wie sehr sich das klinische Bild ändert, wenn 
etwa auf dem Umweg über Zirkulationsstörungen plötzlich Nach- 
barschaftssymptome auftreten, lehren einige Beobachtungen der 
Literatur. Hier sei als Beispiel ein Fall von Puischar angeführt. 
bei dem eine Hirnstammetastase klinisch erst in Erscheinung trat, 
als es in sie und in ihre Umgebung geblutet hatte. 

Die durchweg regellose Verteilung der Metastasen bringt es mit 
sich, daß typische neurologische Syndrome nicht aufzustellen sind. 
Dies gilt auch uneingeschränkt für unsere Beobachtungen, bei 
denen sogar stets dieselbe Ausgangsgeschwulst vorlag. Gelegentlich 
leiten generalisierte Krampfanfälle die Erkrankung ein, dann wie- 
der entwickeln sich langsam Halbseitenerscheinungen, oder aber 
eine Aphasie prägt sich mehr oder weniger schnell aus, so dab 
differentialdiagnostische Schwierigkeiten gegenüber Gefäßprozes- 
sen auftreten können. Paß bringt in seiner Darstellung Beispiele 
dafür, daß etwa auch ein Kleinhirnbrückenwinkel-Syndrom einmal 
das klinische Bild beherrschen oder daß ein Chiasma-Syndrom zu 
Fehlschlüssen Veranlassung geben kann. 

Wenn in unseren Fällen psychische Störungen so gut wie nie- 
mals vermißt wurden, so dürfen hieraus nicht zu weitgehende 
Schlußfolgerungen gezogen werden, da es sich um Kranke einer 
psychiatrischen Abteilung handelte. Dieser Hinweis ist wesentlich, 
weil die Ansichten über die Häufigkeit psychischer Störungen bei 
ıntracerebralen Metastasen noch weit auseinandergehen. Pag etwa 
sah nur bei einem seiner Kranken Verwirrtheitszustände, wie sie 
nach Bailey bei metastatischen Tumoren besonders oft schon früh 
beobachtet werden. Die 8 Kranken unseres Materials boten ans- 
nahmslos psychische Auffälligkeiten. Gelegentlich handelte es sich 
um präterminale Delirien, denen aber durchweg auch schon andere 
psychische Veränderungen vorausgegangen waren. Gelegentlich 
auch wurde das klinische Bild durch die psychischen Auffälligkeiten 
bestimmt. 


= Mieten PH Sa en 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 79 


F. Sch. Reichsbahnoberinspektor. 59 Jahre alt. Aufgenommen: 1. 9. 34. 
(4152/34). 

Nach Angaben der Angehörigen: Seit Juni 1934 Kopfschmerzen und leichtes 
Schwindelgefühl. Hat trotzdem den Dienst weiter versehen. Wurde am 
1. August abends bewußtlos neben einem Waschkorb aufgefunden. Kam bald 
wieder zu sich. Man nahm an, er sei im Dunkeln gestürzt. In den nächsten 
Tagen Klagen über stärkere Kopfschmerzen in Stirn und Hinterkopf. Wollte 
am 8. 8. einen Arzt in München aufsuchen. Unterwegs Erbrechen. Ließ sich 
in ein Krankenhaus aufnehmen. Abends desorientiert. In den nächsten Tagen 
zunehmend auffällig. Wollte vom Bett aus telephonieren. Schließlich auf die 
psychiatrische Abteilung verlegt. — Körperlich: Hagerer Mann mit fahler 
Hautfarbe. Neurologisch völlig o. B. Keine Stauungspapille. — Psychisch: 
Nennt gerade seinen Namen, nickt bei weiteren Fragen nur noch mit dem 
Kopf ohne ein Wort herauszubringen. Folgt mit dem Blick den Geschehnissen 
im Zimmer. Läßt sich willenlos wie ein Paket umbetten. Kommt einfachen 
Aufforderungen nach, perseveriert in den Bewegungen. Führt eigentümliche 
taktierende Bewegungen aus. Wirkt dabei nicht bewußtseinsgetrübt. Auch 
für aphasische Zeichen findet sich kein Anhalt. Allein gelassen liegt er voll- 
kommen antriebsarm im Bett und stiert gegen die Zimmerdecke. Entleert 
Stuhl und Urin ins Bett. — Auch in der Folgezeit psychisch unverändert: 
Auf energisches und wiederholtes Zureden kommen gelegentlich einfachste 
Antworten. Sagt auf Drängen hin selten einmal seinen Namen. Nickt gelegent- 
lich bei Fragen sinnvoll mit dem Kopf. — Mitte Oktober entwickelt sich eine 
durchgehende rechtsseitige spastische Parese. Weiterhin antriebslos. — 
9. 41. 34. Exitus. — Bei der Obduktion fand sich ein kirschgroßes Bronchial- 
carcinom des rechten Lungenoberlappens. Die intrakraniellen Metastasen, 
die etwa Walnußgröße erreichten, waren supra- und infratentoriell lokali- 
siert. Zumal war das linke Stirnhirn und hier besonders die 2. Stirnwindung 
befallen, i 


Es liegt nahe, im vorliegenden Fall die Stirnhirnmetastasen für 
das eigentümliche psychische Verhalten verantwortlich zu machen. 
Selten werden bei multiplen Metastasen überhaupt die Stirnlappen 
frei gefunden. — Gelegentlich sahen wir Korsakow-ähnliche Zu- 
standsbilder mit Desorientiertheit und Störungen von seiten des 
Gedächtnisses und der Merkleistungen. Ein anderer, zuvor sehr 
gebildeter Kranker hatte sich in charakterlicher Hinsicht verändert. 
Er war läppisch und kindisch geworden und erging sich in zwei- 
deutigen Witzen. — Gelegentlich auch ist nur eine gewisse Ver- 
langsamung und Schwerbesinnlichkeit feststellbar, vor allem näm- 
lich dann, wenn die Zeichen intrakranieller Drucksteigerung ein- 
mal deutlich ausgeprägt sind. 

Hinsichtlich der Liquorbefunde verhielten sich unsere Beob- 
achtungen nicht einheitlich. In 2 Fällen war der Liquor in jeder 
Weise normal. Bei den übrigen Kranken fanden sıch Eiweißver- 
mehrungen bis auf das Zwei- und Dreifache der Norm. Pleocytosen 
mäßigen Grades (30/3 Zellen) wurden in zwei Fällen festgestellt. 
Paß sah eitrig getrübten Liquor in einem Fall, bei dem eine er- 


80 Werner Scheid 


weichte Metastase in einen Seitenventrikel durchgebrochen war. 
Die Liquorveränderung waren als Ausdruck einer symptomatischen 
Entzündung aufzufassen, die durch den Reiz der nekrotischen 
Massen ausgelöst war. 

Überblicken wir das, was über die neurologische, psychiatrische 
und humorale Symptomatologie der knotigen Metastasen des Ge- 
hirns gesagt wurde, so erscheint es wenig aussichtsreich, ein Syn- 
drom intrakranieller Metastasen aufzubauen. Das ‚syndrome céré- 
bro-metastatique‘‘ von Roger und Paillas ist ebensowenig scharf 
umrissen wie das Syndrom der geistigen Verwirrtheit, mit dem 
Bailey bewußt nur gewisse diagnostische Hinweise geben will, 
ohne daß dieses Syndrom dieselbe Spezifität beanspruchen soll wie 
etwa das Syndrom der Olfaktoriusrinne. Selbst wenn man, wie wir, 
nur solche Metastasen zusammenfaßt, die den gleichen Ausgangs- 
herd besitzen, ist doch die klinische Symptomatologie derart viel- 
gestaltig, daß die Diagnose allein aus dem neurologischen Bild 
heraus wohl niemals mit hinreichender Sicherheit gestellt werden 
kann. Anders ist natürlich die Sachlage, wenn ein Primärtumor 
bekannt ist. Aber selbst die Kürze der Anamnese, auf die immer 
wieder hingewiesen wird, hat für die Diagnose des metastatischen 
Tumors keine überragende Bedeutung, da auch primäre Hirn- 
tumoren nicht selten eine ähnliche Progredienz der klinischen Er- 
scheinungen zeigen. Hier sei nur an das Glioblastoma multiforme 
erinnert. Umgekehrt kann gerade bei Bronchialcarcinomen der 
Verlauf ein durchaus schleppender sein. So sah Simpson 2 Fälle, 
bei denen nicht weniger als 4 Jahre zwischen ersten klinischen Er- 
scheinungen und Tod lagen. Wenn auch eine derartige Verlaufs- 
dauer ungewöhnlich ist, so ist eine Anamnese von einigen Monaten 
Dauer bei metastatischen Hirntumoren gar nicht so selten. In 
unseren Fällen bestanden die neurologischen Symptome im Durch- 
schnitt 3—6 Monate. Eine derartige Krankheitsdauer wird nun 
auch bei malignen Glioblastomen nicht selten verzeichnet. Nach wie 
vor ist es also unerläßlich, nach Feststellung eines raumbeschrän- 
kenden intrakraniellen Prozesses an die Möglichkeit einer Me- 
tastase zu denken und nach einem Primärtumor zu fahnden. Re- 
latıv Jugendliches Alter des Patienten entbindet nicht von dieser 
Verpflichtung, da die gerade in diesem Zusammenhang besonders 
bedeutsamen Bronchialcarcinome keineswegs das höhere Lebens- 
alter bevorzugen. Fand doch, wie bereits oben erwähnt, Simpson, 
der ein Durchschnittsalter von 48 Jahren errechnete, schon bei 
einem 13jährigen Kranken ein Bronchialcarcinom. Wie schwer es 
oft ist, selbst mit Hilfe der Röntgenuntersuchung ein Bronchial- 


Zur Klinik der intrakraniellen Carcinommetastasen 8l 


carcinom nachzuweisen oder auszuschließen, ist hinreichend be- 
kannt. Erfolgt doch oft die Metastasierung zu einer Zeit, in der die 
Ausgangsgeschwulst sich noch in bescheidensten Ausmaßen hält. 

In hervorragendem Maß vermögen die modernen operativ- 
diagnostischen Methoden zur Erkennung metastatischer Hirntu- 
moren beizutragen. Auf die sich daraus ergebenden speziellen 
Fragen soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 


Zusammenfassung 


An Hand von 9 eigenen Beobachtungen wird zur Symptomato- 
logie der intrakraniellen Carcinommetastasen Stellung genommen. 
Um von möglichst einheitlichen Gesichtspunkten auszugehen, 
wurden ausschließlich Metastasen primärer Bronchialcarcinome zu- 
grunde gelegt. 

Im ersten Fall handelte es sich um das verhältnismäßig seltene 
Bild der diffusen Meningealcarcinose, der sog. Meningitis carci- 
nomatosa. Wie auch die Mitteilungen des Schrifttums lehren, ist 
die Symptomatologie dieser Form intrakranieller Metastasierung 
weitgehend charakteristisch, so daß die Diagnose schon zu Leb- 
zeiten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gestellt werden kann. 

Die knotigen Hirnmetastasen primärer Bronchialcarcinome geben 
uncharakteristische klinische Bilder. Die Symptome des Primär- 
tumors traten auch in unseren Fällen völlig in den Hintergrund. 
Die Angaben des Schrifttums über Symptome, die auf intrakra- 
nielle Metastasen hinweisen sollen, wurden kritisch gewürdigt. 

Es zeigte sich, daß weder aus dem neurologischen Zustands- 
bild noch aus Verlauf oder Lebensalter des Erkrankten im allgemei- 
nen die Diagnose mit genügender Sicherheit gestellt werden kann. 
Wertvolle Hilfen geben die modernen operativ-diagnostischen 
Verfahren. Im übrigen ist genaueste internistische Untersuchung 
notwendig, um in jedem Fall eines raumbeschränkenden intrakra- 
niellen Prozesses die Möglichkeit der Metastase auszuschließen. Beı 
Bronchialcarcinomen mit ausgedehnten Hirnmetastasen kann selbst 
die Röntgenuntersuchung der Brustorgane ım Stich lassen. 


Schrifttumverzeichnis 


Alsberg, J., Dtsch. med. Wschr. 1923 I, 518. — Bailey, P., Die Hirn- 
geschwülste, Stuttgart 1936. — Bailey, P., J. nerv. Dis. 68, 612 (1928). — 
Behrend, C. M.u. E. Schilf, Nervenarzt 11, 57 (1938). — Bertha, H., Mschr. 
Psychiatr. 91, 15 (1935). — Bertrand, I. u. L. Aranson, Revue neurologique 
37, 145 (1921). — Brunner, W., Z. Neur. 154, 793 (1936). — Cushing, Intra- 
kranielle Tumoren. Berlin 1935. — Dickson, W. E. u. C. Worster-Drought, J. of 
Neur. 16, 289 (1936). — Dosquet, H., Virchows Archiv 234, 481 (1921). — 
6 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


82 Werner Scheid 


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Die Erkrankungswahrscheinlichkeit der Enkel 
für manisch-depressives Irresein 


Von 
Ludwig Schmidt-Kehl 


(Aus dem rassenbiologischen Institut der Universität Würzburg) 


(Eingegangen am 30. April 1939) 


Kinder von Manisch-Depressiven haben eine mittlere Erkran- 
kungswahrscheinlichkeit von 24,4%, (Lurenburger!). Diese Ziffer 
bedeutet eine hohe Gefährdung und rechtfertigt zweifellos die Un- 
fruchtbarmachung bei dieser Erbkrankheit. 

Da sich dem Beobachter bei ihr ein dominanter Faktor auf- 
drängt, ist das Auftreten bei den Enkeln von besonderem Interesse. 

Hierüber liegen bisher Erfahrungen noch nicht vor; es wurde 
daher die Erbkartei des Instituts auf solche Manisch-Depressiven 
durchgesehen, die erwachsene Enkel hatten; es waren auslesefrei 
13 Fälle *). In keinem der Fälle war ein Ehepartner oder ein 
Schwiegerkind der manisch-depressiven Ausgangsfälle erkrankt. 

Methodisch wurde das von Rüdin?) erstmals angewandte ‚ab- 
gekürzte Verfahren von Weinberg“ herangezogen. Für die Kinder 
Manisch-Depressiver ergab sich: 


nicht manisch-depressiv 


Alter manisch-depressiv 
gestorben | lebend 
0—19 26 — 1 
20—49 7 | 6 7 
50 u. mehr 


*) Sie sind den Sippschaftstafeln 6, 14, 24, 40, 45, 48, 77, 299, 1387, 2911, 
8002, 8796 und 10795 entnommen. In seiner Dissertation ‚Eine Untersuchung 
über die Nachfahren von Manisch-Depressiven‘‘ Würzburg 1938 hat Schaedler 
die einzelnen Sippen genauer beschrieben. Den Fall aus Sippschaftstafel 10 
habe ich hier unberücksichtigt gelassen, da mir die Diagnose unsicher erschien 
(ein Sohn und eine Enkelin schizophren), ebenso denjenigen aus Sippschafts- 
tafel 270, in der keine Enkel über 20 Jahre vorkommen. 


6° 


84 Ludwig Schmidt-Kehl 


Läßt man bei den Nichtkranken die Unter-zwanzig-jährigen un- 
berücksichtigt, zählt die 20—49 jährigen halb und nur die Über- 
50 jährigen voll, so finden sich auf 54,5 Kinder Manisch-Depressiver 
13 kranke, d. s. 23,9+5,8%. 

Bei der Kleinheit meines Materials ist die Übereinstimmung mit 
der Luxenburgerschen Zahl (24,4) willkommen, um das Vertrauen 
in die Enkelziffern zu erhöhen. 

Für diese ergab sich: 


nicht manisch-depressiv 


Alter manisch-depressiv 


gestorben | lebend 


0—19 


20—49 


50 u. mehr 


Nach dem Weinbergschen Verfahren errechnet sich hieraus: 
3 Kranke auf 90 Enkel, d.i. eine Erkrankungswahrscheinlichkeit 
von 3,3+1,9% für die Enkel von Manisch-Depressiven. 

Die Erbprognoseziffern für Kinder hat ihre Bedeutung in gleicher 
Weise für Eltern wie für Kinder: einerseits müssen sich Manisch- 
Depressive darüber klar sein, daß durchschnittlich fast !/, ihrer 
Kinder gleichfalls erkranken werden, wenn sie das Manifestations- 
alter erreichen; andererseits haben Menschen, die einen manisch- 
depressiven Elter haben, das gleiche Risiko für eigene Erkrankung. 
Bei der Erbprognoseziffer für Enkel liegen die Dinge etwas anders. 
Hier müssen Kranke mit einer Erkrankungswahrscheinlichkeit 
von 3,3 + 1,9% ihrer Enkel rechnen; geht man aber von Personen 
aus, die einen manisch-depressiven Großelter haben, so erhebt sich 
sofort die Frage, ob sie auch einen kranken Elter haben. Wenn 
dies der Fall ist, so gelten für diese Personen dieErbprognoseziffern 
der Kinder. Die Erbprognoseziffern für Enkel, die keinen kranken 
Elternteil haben, müssen kleiner sein als die Erkrankungswahr- 
scheinlichkeit aller Enkel Manisch-Depressiver. 

In dem kleinen Material, das mir zur Verfügung stand, hatten von 
den 3 manisch-depressiven Enkeln 2 auch einen kranken Elternteil, 
bei einem hatte die Krankheit ‚‚eine Generation übersprungen‘“; 
dabei war der in Frage kommende Elternteil schon über das Mani- 
festationsalter hinaus. Weitere Untersuchungen an einem größeren 
Material müssen die Erkrankungswahrscheinlichkeiten für Enkel 
Manisch-Depressiver ermitteln, bei denen das elterliche Verbin- 


Die Erkrankungswahrscheinlichkeit der für manisch-depressives Irresein 85 


dungsglied gesund geblieben ist. Hiervon zu trennen sind diejenigen 
Fälle, in denen das elterliche Verbindungsglied weder völlig gesund 
noch manisch-depressiv, dafür aber geistig auffällig ist; in erster 
Linie wird es sich hier um zyklothyme Psychopathen handeln. 


Zusammenfassung 


Die Luxenburgersche Erbprognoseziffer 24,4%, für Kinder 
Manisch-Depressiver konnte an neuem Material durch die Ziffer 
23,9 + 5,8% bestätigt werden. Für die Enkel wurde eine Er- 
krankungswahrscheinlichkeit von 3,3 + 1,9% errechnet. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Z. Neur. 82, 10 (1936). — 2. Zur Vererbung und Neuentstehung 
der Dementia praecox, Berlin 1916. 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 


Von 
F. Mauz, Königsberg 
(Eingegangen am 23. Januar 1939) 


Nach der Begrifisbestimmung von Kurt Schneider sind psycho” 
pathische Persönlichkeiten solche abnormen Persönlichkeiten, die 
an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Ge- 
sellschaft leidet. 

Was zunächst den Schneiderschen Persönlichkeitsbegriff anbe- 
langt, so unterscheidet er am individuellen psychischen Sein 
3 Seiten: Intelligenz, vitales Gefühls- und Triebleben, Persönlich- 
keit. Die Intelligenz rechnet er nicht zur Persönlichkeit, weil die 
klinische Tradition seit langem die abartigen Intelligenzen, soweit 
sie minderwertig seien, als Schwachsinnszustände, die abartigen 
Persönlichkeiten als Psychopathen behandele. Warum er die vitalen 
Gefühle und Triebe von der Persönlichkeit trennt, ist mir nicht 
klar geworden. Gegenüber anderen Forschern, die diesen Persön- 
lichkeitsbegriff nicht teilen, betont Schneider, daß es unrecht wäre, 
die eine Meinung als falsch, die andere als richtig zu bezeichnen 
und weist darauf hin, daß er ja nicht 3 Teile, sondern 3 Seiten 
unterscheide. Das Blatt sei, so führt er nach einem Zitat von Klages 
aus, ein Teil des Baumes; Farbe und Gestalt eines Blattes seien 
aber Seiten eines Blattes, die man nacheinander betrachten und 
beschreiben, aber nicht voneinander lostrennen könne. Was sich 
also Schneider als Persönlichkeit eines Menschen darstellt, ist im 
wesentlichen sein (nicht vitales) Fühlen und Streben, sein Werten 
und Wollen, sichtbar an seinen entsprechenden Reaktionen auf 
Erlebnisse und seinen spontanen Funktionen auf diesen Gebieten. 

Dazu gehört auch nach Schneiders Meinung etwas Angeborenes 
bzw. Anlagemäßiges. Nur dürfe man darunter nichts Starres ver- 
stehen. Jede Persönlichkeit entwickele sich, und zwar sei die Ent- 


Die Schriftleitung hatte mich um eine Übersicht auf dem Psychopathie- 
gebiet gebeten; es schien mir aber notwendig, erst das Grundsätzliche zum 
Psychopathiebegriff als solchem zu sagen. 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 87 


wicklung das Produkt einerseits der Entfaltung dessen, was als 
außerbewußte körperliche Grundlage hinter der Persönlichkeit 
zu denken sei, andererseits der Erlebnisse und Schicksale, der Um- 
welt im allerweitesten Sinne. 

Abnorme Persönlichkeiten sind nun nach Schneider Variationen, 
Abweichungen von einer ihm vorschwebenden Durchschnittsbreite 
menschlicher Persönlichkeiten, und zwar Abweichungen nach dem 
Mehr oder Weniger, nach oben oder unten. Abnorm im Sinne der 
Schneiderschen Durchschnittsnorm ist alles, was vom Üblichen, 
Gewohnten, Durchschnittlichen abweicht. Zu den abnormen Per- 
sönlichkeitsvarianten gehören alle irgendwie eigenartigen, in irgend- 
einem Zug ihres Wesens markanten Persönlichkeiten, alle extremen 
Charaktere. Wenn Schneider von einer abnormen Persönlichkeit 
redet, so meint er also lediglich folgendes: es schwebt ihm eine 
gewisse Durchschnittsbreite menschlicher Persönlichkeiten vor. 
Was von dieser Durchschnittsbreite abweicht, ist eine abnorme 
Persönlichkeit. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Abweichung in 
sozialer oder ethischer Hinsicht positiv oder negativ zu bewerten 
wäre. Von dieser Durchschnittsnorm aus ist — so sagt Schneider — 
der Heilige oder der große Dichter genau so abnorm wie der Ver- 
brecher; alle drei fallen aus dem Durchschnitt der Person heraus. 
Mit der Bezeichnung einer abnormen oder psychopathischen Per- 
sönlichkeit sei über den biologischen oder ethischen oder sozialen 
oder irgendeinen anderen Wert nicht das geringste ausgesagt. 

Wie sich Kurt Schneider diese Durchschnittsnorm vorstellt, 
kann man nach gelegentlichen Äußerungen nur vermuten. Er sagt 
von ihr, daß man sie nicht errechnen und in Zahlen festlegen könne. 
Oder daß naturgemäß dieser Normbegriff die Menschen unseres 
Kulturkreises und unserer Zeit als Maßstab vor Augen habe. An 
einer anderen Stelle sagte er: ‚Normal ist der farblose Durchschnitt‘. 
Jede Gleichsetzung des Normalen mit dem Gesunden, Zweck- 
mäßigen, Wünschenswerten wird abgelehnt. 

Der Durchschnittsnorm stellt Schneider die Wertnorm 
gegenüber. Diese zweite Norm hängt nach Schneider durchaus von 
der persönlichen Wertordnung ab. Ob jemand Goethe, Franziskus 
oder Bismarck als den normalen Menschen schlechthin betrachte 
und an ihm alle anderen messe, sei Sache der persönlichen Welt- 
anschauung. Entsprechend falle auch der Begriff des Abnormen 
aus, d. h. er richte sich nach der in der persönlichen Weltanschauung 
gesetzten Idee des Menschen. Abnorm im Sinne der Wertnorm sei 
alles, was einem Idealbild, einem Vorbild menschlicher Persönlich- 
keit widerspreche. Mit einer derartigen Wertnorm könne die Psy- 


88 F. Mauz 


chiatrie begreiflicherweise nicht arbeiten. Für sie sei einzig und 
‚allein die wertfreie Durchschnittsnorm zuständig. 

Wenn Schneider aus der Fülle der abnormen Persönlichkeits- 
varianten 2 Gruppen als psychopathische Persönlichkeiten heraus- 
schneidet, so tut er das lediglich aus praktischen Gründen, dem 
„Bedürfnis der Auswahl‘ entsprechend. Lediglich aus Zweck mäßig- 
keit sind also für Schneider abnorm und psychopathisch nicht völlig 
identisch. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen müsse man 
stets bei dem wertfreien Oberbegriff der abnormen Persönlichkeiten 
bleiben. 

Die Leidenden sind nach Schneider diejenigen, die wegen ihrer 
seelischen Erschwernisse, etwa wegen Verstimmungen oder Zwangs- 
gedanken in die Sprechstunde des Arztes kommen. Die Störenden 
dagegen diejenigen, die der Arzt zu begutachten hat, weil sie die 
Allgemeinheit gestört haben, etwa die Kriminellen. Die Grenzen 
dieser beiden Gruppen untereinander sind ebensowenig scharf wie 
die gegenüber anderen abnormen und normalen Persönlichkeiten. 
Es sei in Grenzfällen völlig willkürlich, ob man noch von einer 
normalen oder schon von abnormen (psychopathischen) Persön- 
lichkeiten reden wolle. Auch im Zeitverlauf würden sich mitunter 
die einzelnen Personen verschieden verhalten. Derselbe Mensch 
könne heute als psychopathische Persönlichkeit bezeichnet werden, 
ein anderes Mal lediglich als abnorme Persönlichkeit. Nicht das 
Leiden schlechthin mache die Psychopathie aus, auch nicht das 
Leiden durch oder infolge der Abnormität, so wie z. B. die Asozialen 
infolge ihrer Abnormität durch die Stärke der Gesellschaft leiden 
würden, sondern das Leiden an der Abnormität der eigenen Per- 
sönlichkeit. Ebensowenig sei jeder, unter dem die Gesellschaft 
leide, ein Psychopath. Die Störer, unter denen die Gesellschaft 
leide, würden infolge ihrer inneren Persönlichkeitsstruktur stören. 
Nur soweit Störende auch ihrem Sein nach abnorme Persönlich- 
keiten seien, könne man sie als Psychopathen bezeichnen. 

Es ist nach alledem klar, daß sich für Schneider die Betrachtung 
der psychopathischen Persönlichkeiten ausschließlich im Psycho- 
logischen, im Charakterologischen bewegt. Er ıst der Meinung, 
daß man schon mit der Vermutung, daß den abnormen Persönlich- 
keiten abnorme Körperkonstitutionen, sei es allgemeiner Art, sel 
es ım Sinne von Organsystemkonstitutionen entsprechen könnten, 
den empirischen Boden verläßt. Auch dann, wenn die konstitutio- 
nellen Beziehungen sicherer bekannt seien, werde man schon aus 
Gründen der klinischen Verständigung auf eine konstitutionell 
gewissermaßen neutrale, psychologische Typenlehre nicht ver- 


m 


— - 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 89 


zichten können; denn nur mit ihr sei es möglich, Psychopathen 
kurz und doch anschaulich zu charakterisieren. 

Man würde einen gerade für Schneider wesentlichen Faktor 
außer acht lassen, wenn man nicht erwähnen würde, daß er eine 
scharfe Grenze zwischen jeder Psychopathie und jeder Psychose 
macht und Übergänge oder Grenzzustände strikt bestreitet. Dagegen 
dürfen die abnormen Persönlichkeiten grundsätzlich nicht anders 
gedacht werden als die sogenannten normalen Persönlichkeiten. 

Niemand wird bestreiten, daß Schneider eine klare und saubere 
Begriffsbestimmung von dem gegeben hat, was er unter abnormen, 
bzw. psychopathischen Persönlichkeiten versteht. Die andere 
Frage ist die, ob man in Forschung und Praxis mit diesem: Begriff 
arbeiten kann. Schneider selbst ist sich der Schwierigkeiten, die der 
Anwendung des wertfreien Normbegriffes und einer rein psycho- 
logischen Betrachtungsweise entgegenstehen, durchaus bewußt. 
Er sieht, wie schwer es dem Arzt wird, sich psychischen Erschei- 
nungen gegenüber diesen wertfreien Normbegriff anzueignen und 
weiß, daß die relative Seltenheit reiner Typen, die Unsicherheit in 
der Handhabung der Begriffe, die Verschiedenheit der persönlichen 
Auffassung, die Schwierigkeit, selbst bei längerer Untersuchung 
Persönlichkeiten eindeutig zu beurteilen, einer systematischen 
Psychopathenforschung ebenso im Wege stehen wie das Unter- 
nehmen, Persönlichkeiten auf Grund von Beschreibungen Dritter 
zu erfassen. Er ist auch der Ansicht, daß bisher bei den genealo- 
gischen Untersuchungen, die von Psychopathen als solchen aus- 
gegangen seien, keine so eindeutigen Ergebnisse herausgekommen 
seien, daß die Erblichkeit seiner Typen gesichert sei. Ja, er stimmt 
sogar dem Ergebnis der Riedelschen Untersuchungen an der Nach- 
kommenschaft von schweren Psychopathen zu, daß seine rein 
psychologisch gesehenen Psychopathentypen anscheinend erb- 
biologisch untereinander weder als gleichwertig noch gleicheinheit- 
lich zu betrachten seien. 

Man steht also — wie Schneider selbst sagt — vor großen Schwie- 
rigkeiten. Da Schwierigkeiten noch kein Beweis dafür sind, daß 
der eingeschlagene Weg falsch ist, oder daß man auf ihm endgültig 
nicht weiter kommt, soll versucht werden, an Hand der vorliegenden 
Forschungsresultate und der ärztlichen Erfahrung die Brauchbar- 
keit des Schneiderschen Psychopathiebegriffs zu überprüfen. Vorher 
soll aber die Frage beantwortet werden, wozu wir ihn überhaupt 
brauchen. 

Man kann ganz allgemein sagen, daß der Psychopathiebegriff 
für den Arzt immer dann im Hintergrund bereit steht, wenn eine 


90 F. Mauz 


Krankheit nicht vorliegt. Keine organische körperliche Krankheit, 
keine Geisteskrankheit, kein Schwachsinn. Dann kann die Dia- 
gnose „Psychopathie“ unter ganz bestimmten Gesichtspunkten, 
die wir nachher erörtern werden, in Frage kommen. Praktisch sieht 
es aber etwa folgendermaßen aus: Bei vorwiegend körperlichen Be- 
schwerden und körperlichen Zustandsbildern taucht meistens zu- 
erst eine mehr körperlich orientierte Bezeichnung wie „nervöses 
Herz‘, „vegetative Labilität‘‘, „Magenneurose‘ usw. auf. Wird 
unter entsprechender Behandlung eine Besserung nicht erzielt, 
heißt es „Neuropathie‘‘ und wenn der Patient hartnäckig weiter- 
klagt, ohne daß „organisch“ etwas herauskommt, ist es eben eine 
Psychopathie. 

Ähnlich geht es bei seelischen Klagen und seelischen Zustands- 
bildern. Liegt keine endogene Psychose vor, dann wird im allge- 
meinen zunächst die Frage einer psychogenen, hysterischen oder 
psychopathischen Reaktion aufgeworfen. Findet sich ein äußerer 
Anlaß und klingt der Zustand einigermaßen rasch ab, war es eine 
Reaktion. Halten sich die seelischen Beschwerden und Erschei- 
nungen, trotzen sie jeder Beeinflussung und lassen sie einen deut- 
lichen Zusammenhang .mit irgendeinem Anlaß nicht erkennen, 
ist es eine Psychopathie. 

Nicht viel anders ist es bei Anpassungsschwierigkeiten. Tut 
jemand nicht gut, stört er durch seine Verhaltungsweisen die Um- 
gebung, erhebt sich auch hier zuerst die Möglichkeit einer Reak- 
tion. Stört er weiter, auch wenn etwaige Umweltschwierigkeiten 
aus dem Weg geräumt sind, dann ist es eine Psychopathie. 

Und endlich ist derselbe Vorgang in der verlängerten Rekon- 
valeszenz von echten körperlichen Krankheiten festzustellen, und 
zwar dann, wenn der Betreffende trotz Heilung der organischen 
Krankheit nicht gesunden will. Helfen alle Maßnahmen nicht, ist 
letzten Endes eine Psychopathie daran schuld. 

An diesem ganz gewiß verkehrten Vorgehen ist eines bedeutsam 
und für unsere spätere Formulierung des Psychopathiebegriffs 
bemerkenswert. Ich meine die Tatsache, daß für den Arzt zum 
Psychopathiebegriff ırgendwie das Nichtbeseitbare und das Anlage- 
mäßige gehört. Er sagt dann ‚„Psychopathie‘‘, wenn er als Arzt 
und Erzieher kapituliert, weil er die Ursache für das So- und Nicht- 
anderssein seines Patienten in dessen strukturmäßigen Gegebenheit 
sieht. 

Der Arzt denkt also im allgemeinen nicht daran, jeden, der ihn 
wegen Verstimmungen aufsucht oder den er wegen Störung der 
Allgemeinheit zu begutachten hat, von vornherein als Psycho- 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 91 


pathen zu bezeichnen, obwohl die Schneiderschen Formulierungen 
z. T. die Gefahr eines derartigen Mißbrauchs enthalten. Bezeichnet 
‚Schneider doch gerade in seinen psychiatrischen Vorlesungen für 
Ärzte als die leidende Gruppe der Psychopathen diejenigen, die 
wegen ihrer seelischen Erschwernisse, etwa wegen Verstimmungen 
oder Zwangsgedanken in die Sprechstunde des Arztes kommen. 
Und manche Äußerungen von Riedel, der sich an den Schneider- 
schen Psychopathiebegriff hält, sind auch nicht dazu angetan, die 
rassenhygienisch so notwendige Klärung des Wesens der Psycho- 
pathıie zu fördern. Der Satz: „Die Tatsache, daß alle diese Men- 
schen Objekte einer psychiatrischen Behandlung werden mußten, 
mag ihre Eignung als Erzieher charakterisieren‘ ist in dieser Form 
ebenso irreführend wie die Feststellung: ‚der Staat, die Gemein- 
schaft, die Familie kann an keinem Interesse haben, der es nicht 
fertigbringt, mit sich und der Welt in Einklang zu leben bzw. immer 
den nötigen Ausgleich zu finden‘. (Dabei wird keiner, der die sorg- 
fältigen Riedelschen Untersuchungen kennt, daran zweifeln, daß 
die von ıhm geschilderten Psychopathen zum Erzieher nicht taugen 
und für den Staat eine Last sind.) 

Wir sehen, nicht nur die Schwierigkeiten, auch die Gefahren 
dıs Mißbrauchs sind groß. Darauf hat Luxenburger erst vor kurzem 
eindringlich hingewiesen. Um so mehr müssen wir klarzustellen 
versuchen, für welche Menschen uns zur Kennzeichnung des 
Wesentlichen und Gemeinsamen der Psychopathiebegriff unent- 
behrlich ist. Schneider selbst hat uns vor kurzem wesentlich klarer 
und präziser als früher gesagt, welche Menschen es angeht, nämlich 
diejenigen, „die infolge ihrer Persönlichkeitsabnormität mehr oder 
weniger in jeder Lebenssituation, unter allen Verhältnissen zu 
inneren oder äußeren Konflikten kommen müssen‘ (von mir 
gesperrt). 

In dieser Formulierung, die unseres Erachtens den Kernpunkt 
des Psychopathieproblems berührt, kann man beim besten Willen 
nicht mehr eine wertungsfreie Bezeichnung sehen. Wenn ich von 
jemand feststelle, daß er in jeder Lebenssituation, unter allen Ver- 
haltnissen zu inneren oder äußeren Konflikten kommen muß, so 
sage ich doch damit etwas über seinen biologischen Wert aus. 
Dann heißt das doch: er kann arm oder reich, verheiratet oder 
ledig sein, Erfolg oder Mißerfolg haben, er wird eben leiden oder 
stören. Er kann hundertmal oder mehr dieselben Konflikte haben, 
es wird nichts dabei herauskommen, er wird nie daraus lernen. 
Wer so ist, leidet und stört und sonst nichts. Erfahrung, 
Erziehung und Führung können bei ihm nichts formen 


02 F. Mauz 


und gestalten, weil die Voraussetzung dafür, die Sub- 
stanz, fehlt oder defekt und lückenhaft ist; aus der 
Wechselwirkung von Anlage und Umwelt kann nichts 
reifen und wachsen, weil das zur Anlage gehörende 
„Entwicklungsbereich‘“ (Conrad) gewissermaßen nur 
punktförmig ist. 

Und der andere, der nicht in jeder Lebenssituation, unter allen 
Verhältnissen zu inneren oder äußeren Konflikten kommt, ist er 
vielleicht als der nicht abnorme, nicht psychopathische, also nor- 
male Mensch wertungsfrei zu erfassen ? Leider finden sich in der 
psychiatrischen Literatur kaum Schilderungen normaler Persön- 
lichkeiten. Erfreulicherweise hat uns aber gerade Stumpfl, der mit 
dem Schneiderschen Psychopathiebegriff arbeitet, unter seinen 
einmaligen Rechtsbrechern eine normale Sippe geschildert. Da 
ist der Vater, ein 84jähriger Bauer, der immer noch auffallend 
rüstig ist, regen Anteil an seiner Umgebung nimmt, stets gesund 
war und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Da ist die Mutter, 
die immer gesund war und als tüchtige Bäuerin galt, mit einem 
Bruder, der als kleiner, verhältnismäßig wohlhabender Bauer alt 
geworden ist und mit Vettern und Basen, fast durchwegs Bauern 
oder Bauersfrauen, zähen Naturen von großer Verläßlichkeit und 
innerer Festigkeit. Die zahlreichen Kinder dieser Eltern sind z. T. 
als Bauern, z. T. als Mägde und Knechte in ihrer Heimatgemeinde 
oder in der Nähe ihrer Umgebung tätig und erfreuen sich allge- 
meiner Beliebtheit. Es sind arbeitssame, sparsame und tüchtıge 
Menschen, gemütvoll und gutmütig. 

Warum nennt Stumpfl diese Familie eine normale Sippe ? Sicher 
nicht deshalb, weil er in irgendeiner der genannten Eigenschaften 
das Merkmal des Normalen sieht. Entscheidend ist für ihn ohne 
Zweifel, daß diese Sippe ein bestimmtes einheitliches biologisches 
Niveau verkörpert, dessen Hauptkennzeichen „eine tiefverankerte 
Stetigkeitskomponente‘“ (Lange) ist, die nach Lange als „feste, 
unverrückbare Gesinnungen“ den Hintergrund alles Handelns 
beim normalen Menschen ausmachen. Die normalen Persönlich- 
keiten dieser Sippe haben also gerade das, was wir soeben bei den 
im Kern psychopathischen Menschen als fehlend erkannt haben. 

Nun, das ist doch keine wertungsfreie Durchsechnittsnorm, die 
„farblos“ (Schneider) oder „langweilig und nichtssagend‘““ (Lange) 
ist, sondern eine klare Wertnorm; trotzdem kann man von ıhr 
nicht sagen, daß sie Sache der persönlichen Weltanschauung seli. 
Man kann es auch nicht ablehnen, diese „normale“ Sippe mit dem 
Gesunden, Zweckmäßigen und Wünschenswerten gleichzusetzen. 


DEEE Ce e AEE 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 93 


Ebensowenig kann man behaupten, daß die Psychiatrie mit einer 
derartigen Wertnorm nicht arbeiten könne. Sie muß es sogar tun, 
wenn sie den gestellten Forderungen entsprechen will. Die Psycho- 
pathieforschung soll dem Arzt die Möglichkeit geben, diejenigen 

Menschen, die durchgängig leiden und stören und sonst nichts, 

in ihren erblichen Grundlagen zu erkennen und von denen zu unter- 

scheiden, die durch alle inneren oder äußeren Konflikte hindurch 
ihre Ausrichtung auf die Leistung für das Ganze finden und über 
alle körperlichen und seelischen Unzulänglichkeiten hinweg die 

„Gesamtheit aller in ihrer Anlage angeborenen Verhaltungsweisen“ 

(Luxenburger) zur Persönlichkeit (die ich mit Lurenburger der 

„Person‘‘ gegenüberstellen möchte) vereinheitlichen können. Das- 

selbe meint Luxenburger, wenn er sagt, es komme auf dem ganzen 

Psychopathiegebiet immer nur auf folgendes an: 

4. Den Einzelmenschen darauf zu prüfen, ob er für die Gemein- 
schaft nicht unmittelbar eine unerträgliche Belastung bedeutet 
und innerhalb dieser Gemeinschaft nicht selbst so stark unter 
seiner Abnormität leidet, daß er durch die Folgen dieses Leidens 
mittelbar die Gemeinschaft stört. 

2. Zu entscheiden, ob und auf welche Weise eine Einwirkung auf 
diese abnorme Persönlichkeit möglich ist im Sinne einer Besei- 
tigung dieser Anpassungsstörungen. 

3. Sich über Art und Grad der erblichen Bedingtheit der Psycho- 
pathie klar zu werden. 

Bei dieser Unterscheidung dreht es sich nicht um ein mehr oder 
weniger abnorm, sondern um die saubere Trennung des biologisch 
Unerwünschten von dem biologisch Erwünschten. Es bedarf keiner 
weiteren Begründung, daß hiefür eine Betrachtungsweise, die sich 
ausschließlich im Psychologischen bewegt, nicht ausreichend ist. 

Wenn Bumke von den ‚„Hysterischen‘‘ sagt, daß sie deshalb 
prognostisch so verschieden seien, weil sie sich nur an der Ober- 
fläche ähneln, im Kern aber überaus verschieden, vor allem aber 
von verschiedenem erblichen Herkommen seien, so gilt das für die 
von Schneider beschriebenen psychopathischen Typen ebenso. 
Wenn wir jemand als hyperthym, asthenisch oder selbstunsicher 
rein beschreibend erfassen, so sagen wir damit über seine biologische 
Herkunft und Wertigkeit gar nichts aus. Mit Recht meint deshalb 
Lange, es komme gar nicht so sehr darauf an, daß die rückfälligen 
Schwerverbrecher Stumpfls hyperthym, willenlos oder sonstwie 
noch psychopathisch seien. Fuchs-Kamp habe z.B. dieselben 
Typen, die Stumpfl bei den rückfälligen Schwerverbrechern ge- 
funden habe, auch bei den Leichtkriminellen und Resozialisierten 


94 F. Mauz 


gesehen. Es sei auch nicht entscheidend, ob die von Schneider unter- 
suchten Prostituierten ruhig oder unruhig, bewußt oder widerstands- 
los seien. Wesentlich scheine ihm vielmehr, daß bei den Schwer- 
kriminellen wie bei den Prostituierten auf allen Lebensgebieten, 
soweit sie objektiv faßbar seien, die gleiche trostlose Leere herrsche, 
daß allenthalben die gleiche Bindungslosigkeit, die amorphe, von 
Augenblick und Zufall bestimmte Lebensform zu finden sei. Und 
daß die Entwicklung nichts aus diesem Rohmaterial forme. 

Man wird also im allgemeinen zuerst versuchen, das biologische 
Niveau des Prob. und seiner Sippe zu bestimmen. Stumpfl hat uns 
eindrucksvoll gezeigt, daß die Kriminalitätsziffer unter Umständen 
darüber sehr viel aussagen und Überraschendes zutage fördern 
kann. Niemand würde z. B. erwartet haben, daß diesbezügliche 
Erhebungen an 177 Frauen, die sich beim Hilfsamt für werdende 
Mütter der Stadt München um eine Unterstützung bewarben, eine 
beträchtliche Erhöhung der Kriminalitätsziffer nicht nur bei den 
Frauen selbst, sondern auch bei ihren Brüdern, unter denen be- 
sonders viel Bettler waren, ergeben würden. Der Anteil der Rück- 
fälligen unter diesen Frauen war auffallend hoch. Die Kriminaliıtäts- 
ziffer der Kindsväter dieser 177 Frauen (138 Kindsväter konnten 
erfaßt werden) übertraf die Kriminalitätsziffer von den Vettern 
rückfälliger Rechtsbrecher und wies einen hohen Anteil von Rück- 
fälligen auf. 

Der Kreis der Menschen, in dem wir die von Luxenburger formu- 
lierten Entscheidungen treffen müssen, ist aber viel weiter als die 
Kriminalität reicht. Es muß also noch andere Faktoren geben, 
die uns das jeweilige Niveau anzeigen. Wer bei erbbiologischen 
Untersuchungen oder als Hausarzt durch Monate und Jahre hin- 
durch Familien besucht, lernt mit der Zeit eine Fülle objektiver 
Niveaumerkmale kennen, die ihm eine Einstufung nach der bio- 
logischen Wertigkeit erlauben. Bei dieser Einstufung spielt das per- 
sönliche Wunschbild des betreffenden Forschers oder Arztes keiner- 
lei Rolle. Es ist deshalb auch nicht zu befürchten, daß jeder wieder 
anders einstufen würde. So sicher ich bin, daß bei den von Stumpfl, 
Riedel und Conrad beschriebenen Psychopathen oder bei den von 
Schneider untersuchten Prostituierten, jeder Untersucher wieder 
andere Wesenszüge als wesentlich zusammenstellen würde, ebenso 
gewiß ıst es mir, daß alle Untersucher ın der Einstufung nach der 
biologischen Wertigkeit und in der Kennzeichnung des Niveaus 
übereinstimmen würden. 

Natürlich ist es auf dieser niedersten Stufe menschlicher Anlage- 
formen verhältnismäßig einfach, auf allen Lebensgebieten die gleiche 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 95 


„trostlose Leere“, dieselbe „amorphe, von Augenblick und Zufall 
bestimmte Lebensform‘ festzustellen. Einfach vor allem deshalb, 
weil hier die biologische Beschaffenheit unmittelbar in dem sozialen 
Tiefstand zutage tritt. Jeder Erblichkeitsforscher und Arzt weiß 
aber auch, daß in den sozial einfachsten Verhältnissen hoch- 
wertige Sippen und in sozial glänzenden Verhältnissen biologisch 
unerwünschte Familien zu finden sind.’ 

Wie relativ die Bedeutung der sozialen Anpassung sein kann, 
habe ich bei Untersuchungen an Zuchthausinsassen in den Jahren 
1924/25 erlebt. Damals gab es den sog. Stufenstrafvollzug. In 
die oberste Stufe kamen diejenigen, die sich gut führten. Sie er- 
hielten allerlei Vergünstigungen und hatten die Möglichkeit, vor 
Ablauf der Strafe entlassen zu werden. In der untersten Stufe 
blieben diejenigen, die im Strafvollzug Schwierigkeiten machten. 
Ihnen blieben alle Vergünstigungen versagt. Ich konnte nun da- 
mals feststellen, daß die eigentlichen Berufsverbrecher vorwiegend 
in der obersten Stufe, die nach der sozialen Prognose voraussicht- 
lichen Einmaligen vorwiegend in der untersten Stufe waren. Oder 
man braucht nur an die Inflationszeit zu erinnern, um zu wissen, 
daß geschickte Anpassung und gewinnbringende Betätigung kein 
Maßstab für die biologische Wertigkeit sind. 

Die Frage, wie man dort, wo die äußeren Daten und Fassaden 
das Amorphe und Strukturlose, die „Wertlücken‘ (Lange) und 
Substanzdefekte weit mehr verschleiern als enthüllen, vorgehen 
muß, um das Niveau zu bestimmen, ist deshalb von besonderer 
Wichtigkeit. Es muß aber noch eine andere Frage gestellt werden, 
nämlich die, warum beispielsweise der eine als gewalttätiger Roh- 
ling, der andere als aalglatter Hochstapler und Schwindler ın Er- 
scheinung tritt. DaB sie es dauernd mehr oder weniger in jeder 
Lebenssituation, unter allen Verhältnissen sind, liegt daran, daß sie 
ohne „Entwicklungsbereich‘“ (Conrad), ohne Möglichkeiten sind. 
Daß sie gerade so sind, wird durch die jeweiligen anlagemäßigen 
Merkmalskomplexe bestimmt, d.h. durch die besondere Artung 
der elementaren psychophysischen Radikale. Bei den iktaffinen 
Konstitutionen, die bekanntlich vor den höheren Entwicklungs- 
stufen Halt machen, sind wir auf solche elementare psychophy- 
sische Radikale gestoßen. Auch in den mehrfach erwähnten Ar- 
beiten von Stumpfl, Riedel und Conrad heben sich derartige psycho- 
physische Merkmale deutlich ab, wenn ihre Auswertung auch teil- 
weise unterbleibt. Wir werden darauf noch an anderer Stelle näher 
eingehen. Sicher ist, daß die massive Athletik mit der Insuffizienz 
des Gefäßapparates das psychophysische Radikal eines bestimmten 


96 F. Mauz 


Rohlingstyps ist, und daß der echte Schwindler und Hochstapler 
sich psychophysisch um die reflexhysterische Konstitution gruppiert. 
Dafür liefern gerade auch die Untersuchungen von Stumpfl und 
Conrad eindrucksvolle Belege. Bei einer Gruppe der von Pohlisch 
untersuchten Morphinisten sind es wiederum bestimmte vegetative 
Anfälligkeiten in der Zuordnung zu einer schlaff asthenischen oder 
schwammig-pastösen Körperlichkeit und guter Intelligenz, die bei 
lückenhafter und defekter Substanz das bestimmende psycho- 
physische Merkmal bilden. 

Wer unvoreingenommen das körperliche und seelische Gesamt 
morphologisch und funktionell, von innen und außen betrachtet und 
studiert, wird feststellen müssen, daß er weit häufiger als er zu- 
nächst erwartet, Wesentliches über die psychophysische Formel und 
Dynamik des Untersuchten aussagen kann. Je besser uns derartige 
psychophysische Radikale von den niederen Stufen her, wo sie 
nackt in Erscheinung treten, bekannt sind, desto leichter werden 
wir sie auch dort erkennen, wo äußere Tünche sie überdeckt. 
Geltungsbedürftige Züge und asthenische Körperformen werden 
wir oft finden, ohne auch nur von Ferne an etwas biologisch Un- 
erwünschtes denken zu müssen. Wo aber das Geltungsbedürfnis 
einer ganz bestimmten Körperlichkeit nach Art der reflexhyste- 
rischen Konstitution zugeordnet ist, wird man stutzig werden und 
die Frage, ob „Wertlücken‘‘ vorhanden sind, besonders sorgfältig 
überprüfen. Auch hier wird uns das Ursprungsmilieu, „über das 
letzten Endes die Qualität der Eltern entscheidet“ (Stumpfl), 
wichtige Aufschlüsse geben können. Es gibt aber auch noch andere 
Möglichkeiten, den Prob. selbst auf die normalen Werte hin zu 
untersuchen und sein „Entwicklungsbereich‘‘ abzustecken. 

Damit kommen wir zu einem Gebiet, das in der Psychiatrie bisher 
außerhalb der Äretschmerschen Konstitutionsforschung noch wenig 
Berücksichtigung gefunden hat, obwohl es unseres Erachtens zu 
den dringlichsten Aufgaben gehört, zur Untersuchung und Bewer- 
tung (wir sagen absichtlich nicht Beurteilung) der normalen 
Persönlichkeiten. Der Ausspruch von Bumke: „Es ist schon viel, 
wenn jeder Psychiater so viel Fühlung mit dem gesunden Leben 
behält, daß er auch in dieser Hinsicht das noch Normale jederzeit 
richtig einschätzen kann“, läßt deutlich erkennen, daß hier etwas 
vernachlässigt worden ist. In einer vor dem Abschluß stehenden 
Arbeit über Anlage und Umwelt im Aufbau der normalen und 
psychopathischen Konstitutionen und die sich daraus ergebenden 
therapeutischen und prophylaktischen Richtlinien hoffe ich zeigen 
zu können, daß die Psychopathieforschung nur gewinnt, wenn man 


Grundsätzliches zum Psychopathiebegriff 97 


die normalen, d. h. gesunden, biologisch erwünschten Konstitutio- 
nen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Die psychiatrische 
Untersuchung auf seelische und geistige Gesundheit braucht sich 
nicht mit der Feststellung zu begnügen, daß der Betreffende zur 
Zeit frei von Geisteskrankheit und auffälligen psychopathischen 
Zügen ist. Wir können beträchtlich mehr aussagen und wir können 
die Methoden der Untersuchung normaler Konstitutionen genau 
so lehren, wie diejenigen zur Erfassung des Pathologischen. Das 
läßt sich beweisen. Mehr darüber auszusagen, ist hier nicht der Ort. 

Unsere grundsätzlichen Bemerkungen zum Psychopathiebegriff 
lassen sich nicht abschließen ohne einen Hinweis auf die große 
Bedeutung des Partners und der Partnerwahl bei der Entstehung 
und Verhütung der Psychopathie. Deshalb stellt die Eheberatung 
eine der wichtigsten rassenhygienischen Aufgaben dar, die dem Arzt 
gestellt sind. Auch in dieser Hinsicht werden wir unsere Scheu, zu 
werten, verlieren müssen. 

Unsere Betrachtungsweise aber wird sich nicht an eine „kon- 
stitutionell gewissermaßen neutrale psychologische Typenlehre‘“ 
halten, sondern auf dem von Bunike in einem klinischen Vortrag 
bereits vor 8 Jahren ausgesprochenen Satz fußen: „Wir glauben 
nicht mehr an psychische und an physische Typen, wir glauben an 
die Einheit von Seele und Leib und stellen psychophysische Reak- 
tionen und psychophysische Konstitutionen auf“. 


Schrifttumverzeichnis 


Bumke,Die psychopathischen Konstitutionen und ihre soziale Bedeutung. 
Münchn. Med. Wschr. 1932. — Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 
4. Aufl. München 1936. — Conrad, Erbanlage und Epilepsie V., Beitrag zur 
Frage der ‚epileptoiden‘ Psychopathie, Z. Neur., Bd. 162, Heft 4. — Lange, 
Kurzgefaßtes Lehrbuch der Psychiatrie, Thieme-Verlag Leipzig, 1935. — 
Lange, Psychopathie und Erbpflege, Metzner-Verlag Berlin 1934. — Lange, 
Bemerkungen zu Stumpfl: Erbanlage und Verbrechen. Mschr. Kriminalbiol. 
usw. Heft 7, 1936. — Lu.xenburger, Psychiatrische Erblehre, Lehmanns-Verlag, 
München-Berlin 1938. — Mauz, Aufbau und Behandlung des funktionellen 
Krankseins. Nervenarzt, Heft 7, 1936. — Mauz, Die Veranlagung zu Krampf- 
anfällen, Thieme, Leipzig, 1937. — Mauz, Konstitution und Leistung, Ver- 
handlungen der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft (im Druck). — 
Pohlisch, Die Kinder männlicher und weiblicher Morphinisten, Leipzig, Thieme 
1934. — Riedel, Zur empirischen Erbprognose der Psychopathie. Z. Neur., 
Bd. 159, Heft 4 und 5, 1937. — Schneider, Kurt, Die psychopathischen Persön- 
lichkeiten, 3. Aufl. Leipzig und Wien 1934. — Schneider, Kurt, Psychiatrische 
Vorlesungen für Ärzte, 2. Auflg., Leipzig 1936. — Schneider, Kurt, Über Psy- 
chopathen und ihre kriminalbiologische Bedeutung. Mschr. Kriminalbiol. usw. 
Heft 8, 1938. — Schottky, Persönlichkeit im Lichte der Erblehre. — Leipzig 
1936. — Stumpfl, Erbanlage und Verbrechen, Verlag Springer, Pertin 1935. 
7 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 113. H. 1/2. 


Eine paranoische Episode, 
Entstehung und Ausgleich 
Von 
Dozent Dr. med. habil. et phil. Walter Betzendahl 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charite, Berlin. 
Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Karl Bonhoeffer) 


(Eingegangen am 16. März 1939) 


Wie sehr es auch hinsichtlich der Schaffung von Grundlagen 
für sozialhygienische Maßnahmen förderlich sein mag, den schick- 
salsmäßigen Verlauf von seelischen Veränderungen, wie auch das 
naturkatastrophenartige Auftreten von geistigen Mißbildungen 
zum Ausgangspunkt der Forschung zu machen, erfordert die Be- 
ziehung der Psychiatrie zur Rechtsprechung stets pari passu eine 
Verwertung der Aufschlüsse über das bewußte Leben beim Einzel- 
menschen. In der Jurisprudenz wird man bei der Beurteilung einer 
Tat nie ganz von Erwägungen über Wissen, Einsicht, Vorsätz- 
lichkeit und dementsprechend von der Verwendung von Begriffen 
wie bona fides, dolus und dergl. absehen können. Gerade da nun 
kommen die Juristen nicht weiter, wo ihnen bei dem Täter ein 
scheinbar durchaus klares und entschiedenes Denken und Handeln 
entgegentritt und doch die Rechtsordnung zum mindesten in den 
Interessen Privater in der sinnlosesten Weise verletzt worden ist. 
Die medizinische Wissenschaft gibt nun hier keineswegs aus ihrem 
eigensten Bestande, den Erfahrungen über körperliche Störungen, 
die Mittel an die Hand, klärend einzugreifen. Es ist aber auch nicht 
damit getan, den Richter in seinen Auffassungen zu bestärken, 
indem man ebenfalls findet, daß der Reat, Privatkläger, Be- 
schwerdeführer usw. es an Empfinden für Widersprüche fehlen 
lasse, überhaupt eine verkehrte Einstellung an den Tag lege. Das 
wäre dann dieselbe Lage, wie wenn der Psychiater den einliefernden 
Angehörigen, welche schon ihrerseits dıe Feststellung getroffen 
haben, daß eine Eigentümlichkeit bei ihrem Kranken überhand 
genommen habe, bloß den Gewahrsam abnehmen wollte. 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 99 


In der forensischen Praxis ist es eine wesentliche Erleichterung, 
wenn man sich, wird nicht gar ein Gutachten mit der Konstatie- 
rung einer Krankheit maßgeblich, kriminalbiologischer Gesichts- 
punkte bei der Ermittlung und auch bei der Bestrafung bedienen 
kann. Das gilt in erster Linie für Handlungen, welche eine be- 
stimmte Signatur tragen, und für Gewohnheitsverbrecher der ver- 
schiedenen Typen. Wenn aber eine Tat ganz isoliert dasteht, und 
zwar gerade durch die Besonderheit nicht so sehr der Umstände, 
als vielmehr an und für sich betrachtet, ebenso, wenn jemand gleich- 
sam aus heiler Haut heraus sich wandelt, so daß es schließlich zu 
Gegenwirkungen der Gesellschaft kommen muß, nützen weder 
die sorgfältigste Karthotek noch die eingehendste Theorie etwas. 
Man muß sich den Mann ansehen, wie er als Individuum ist, mit 
seinen Reaktionen und Motivationen. Im Nachstehenden soll ein 
Beispiel gegeben werden. 

Der jetzige Büroangestellte und frühere Polizeibeamte E.T. 
hat drei Verfahren gehabt: zuerst ein Rentenverfahren, dann ein 
Strafverfahren und schließlich ein Unfruchtbarmachungsverfahren. 
Alle drei Prozesse hängen aufs engste zusammen, nicht, was die 
Materie angeht, denn weder hat E.T. eine Dienstbeschädigung 
erfahren, noch auch ist seine Schuld ganz erwiesen, noch liegt end- 
lich eine Erbkrankheit bei ihm vor, sondern in Bezug auf die 
Manifestation einer psychopathischen Veranlagung. 

Worum es sich im einzelnen handelt, geht aus dem Gutachten, 
welches am 22. 6. 1938 auf Ersuchen des Erbgesundheitsgerichtes 
Berlin von dem Verfasser erstattet wurde, hervor. Die Veröffent- 
lichung von Gutachten zur Kasuistik ist ja keineswegs ohne Vor- 
gang, insbesondere nicht auf dem hier in Rede stehenden Felde 
der Lehre von der Paranoia, wo als bemerkenswerteste zu nennen 
sind: „Degenerationspsychose und Paranoia‘ von F. Jolly, „Zur 
klinischen und forensischen Bedeutung gewisser paranoischer Zu- 
stände‘‘ von Bonhoeffer und das, was Gaupp über den Hauptlehrer 
Wagner von Degerloch geschrieben hat, zuerst sein damaliges Gut- 
achten und kürzlich aus Anlaß des jetzt erfolgten Endes: „Krank- 
heit und Tod des paranoischen Massenmörders Hauptlehrer Wagner. 
Eine Epikrise‘‘. Ich selbst habe mich speziell zum Paranoiaproblem 
in der Bonhoeffer-Festschrift unter dem Titel: „Krüppeltum, Er- 
lebnis und Entartung bei der Paranoia‘ geäußert. Dabei hatte 
ich die Formen im Auge, wo das Erlebnis wenn auch eine conditio 
sine qua non darstellt, so doch hinter einer dann erfolgenden an- 
lagemäßigen Progressivität zurücktritt, wo auch eine spezifische 
angeborene Anomalie auf seelischem Gebiete sich herausschälen 
ze 


100 Walter Betzendahl 


läßt, und zwar gerade innerhalb der Erscheinungsformen, welche 
späterhin ausgelöst werden. Die Darstellung beruht auf der Ab- 
straktion von vielen Sondererfahrungen; es schien sich mir doch 
eine nosologische Einheit abzuheben. Ich betrachte die Paranoia 
als eine psychische Entartung sui generis. Der Begriff Krankheit 
jedoch in seiner Verwendbarkeit für die Psychiatrie wird nirgend- 
wo so problematisch wie hier. Hinsichtlich paranoischer Individuen 
oder auch Reaktionen begegnet einem von Laienseite ebensowohl 
die entrüstete Feststellung: das sei doch krankhaft, wie anderer- 
seits eine Toleranz mit völliger Unbelehrbarkeit. Die Paranoia ist 
eben die Domäne der alten Lehre vom partiellen Irresein. Von den 
mit der fraglichen Krankheit Behafteten wird sie am wenigsten 
empfunden: zu klagen haben sie allerdings oft; indessen drehen sie 
dabei den Vorgang um, daß jede Beeinträchtigung und Störung 
eine an sich ausgleichbare Folge schlechter Behandlung sei. 

Ich denke dabei aber nicht daran, der Verflüchtigung der Nor- 
men das Wort zu reden, welche in den letzten Jahrzehnten in den 
Strömungen der Psychologie verfolgbar gewesen ist. Weder den 
ethischen Indifferentismus noch den naturwissenschaftlichen Mate- 
rialismus halte ich für tragbar in der Irrenheilkunde. Man mag bei 
Neurosen bis zu einem gewissen Grade von Zwecken und Bin- 
dungen absehen können, um entweder somatische Eigengesetz- 
lichkeiten oder illusionistische Verfälschungen der Wirklichkeit, 
anankastische Umständlichkeiten des Handelns und dergleichen 
herauszuheben: bei den Paranoikern verfängt das nicht. Diese 
Naturen haben es immer mit der Moral und dem Repräsentativen, 
und wie gesagt: die Krankheit erscheint als sekundär; man muß 
ihnen zunächst einmal mit ihren Wertungen und Folgerungen 
Gehör schenken. Die Probe aufs Exempel, ob es eine 
eigentliche Paranoıa gibt, ist nicht dort zu suchen, 
wo der Wahn unheilbar ist und die Entartung fort- 
schreitet, sondern wo sich die Bedeutung des Erleb- 
nisses, welches doch ein integrierender Bestandteil 
dieser psychischen Störung ist, sich nicht nur bei 
deren Zustandekommen, sondern auch bei deren Be- 
seitigung bekundet. 

Das Erbgesundheitsgericht hat sich am 12. 8. 38 dem Gutachten 
angeschlossen; der Antrag auf Unfruchtbarmachung wurde also 
abgelehnt, wie mir durch Abschrift des entsprechenden Beschlusses 
mitgeteilt wurde. Schon vordem schrieb E. T. an mich einen Brief, 
aus dem, da er für die Stellungnahme des E. T. aufschlußreich ist, 
einiges wiedergegeben werden mag: „.... Durch Bescheid des 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 101 


Erbgesundheitsgerichtes vom 7. 7. 38 war mir die Einsicht in das 
von Ihnen erstattete Gutachten ermöglicht worden. Die Einsicht 
ist auf der Geschäftsstelle der... Kammer erfolgt. Die Ihnen am 
28. Juni von mir schuldig gebliebene Beantwortung betr. Ihre 
Einstellung zu mir und welche Schritte ich weiter zu unternehmen 
gedenke, kann ich nun geben. Zunächst werde ich im Gnadenwege 
auf Streichung der Strafe und den Anspruch auf Schadenersatz 
beim Herrn Minister erheben. In versorgungsärztlicher Hinsicht 
ist mein Anspruch geltend gemacht worden. Das Kommando der 
Polizei ist im Dienstwege auf das Verfahren vor dem Erbgesund- 
heitsgericht aufmerksam gemacht worden. Wenn ich am 28. Juni 
mich nicht festlegen wollte, ob Sie es mit mir wohl gut meinen, so 
kann ich versichern, daß ich innerlich die beste Überzeugung von 
Ihrer Einstellung mit nach Hause nahm! Für die überaus ein- 
gehende Bearbeitung des Gutachtens in all den Grundzügen und 
Schicksalspunkten meines Daseins fühle ich mich infolge der zu 
erwartenden Auswirkung zum tiefsten Dank verpflichtet ...‘“ 


Am 26. 6.38 wird dem Erbgesundheitsgericht Berlin, Vierte Kammer, das 
gewünschte Gutachten erstattet über den am 3.9.1900 geborenen Büro- 
angestellten E.T. Das Gutachten stützt sich auf die Kenntnis der über- 
sandten Akten und auf die ambulanten Untersuchungen vom 18.6. und 
26.6. 38. Das Gutachten soll die Frage beantworten, ob E.T. an Schizo- 
phrenie im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 
14. 7.1933 leidet. 


Aktenauszug 


Am 14. 4. 38 wurde von dem Änstaltsarzt in S. der Antrag auf Unfrucht- 
barmachung gestellt. Es heißt in dem dazu erstatteten Gutachten: Diagnose 
Schizophrenie. Im übrigen wird angegeben: Der uneheliche Erzeuger ist 
nicht bekannt. 3 Halbgeschwister gesund. Von Nerven- oder Geisteskrank- 
heiten nichts bekannt in der Familie. Befund: Pastös, ostischer Typ. Schädel- 
umfang 59 cm. Größe 1,74 m. Gewicht 75 kg. Übererregbarkeit, Lidflattern, 
Tremor. Vorgeschichte: Angeblich Äthervergiftung mit nachfolgenden: At- 
mungsbeschwerden. Vor 10 Jahren angeblich Go., abgeheilt; keine Lues. 
2 Jahre Soldat, 10 Jahre Polizeibeamter. Sonst o. B. in neurologischer und 
körperlicher Hinsicht. Psychisch: mißtrauisch und etwas ablehnend. Leicht 
erregt, gespannt, etwas zerfahren und verschroben. Beeinträchtigungsideen. 
Erzählt, daß in der Untersuchungshaft ein Mitgefangener aus seiner Zelle 
ein staatlicher Agent gewesen sei, der wahrscheinlich den Auftrag gehabt 
hätte, ihn auszuforschen. Dieser habe ihn auch irrezuführen versucht und 
habe ihn mit roten Beeten und Teltower Rübchen bearbeitet. Außerdem 
habe er ihm weiß zu machen versucht, die 44 führe nicht übers Knie. Er sagt 
dann auch: ‚Wenn der mich dauernd mit solchen Sachen bearbeitet, das 
ist selbstverständlich, daß man keine ruhige Stunde mehr hat“. Von T. selbst 
wurde dann noch geschrieben: ‚Während meiner 12jährigen Militär- und 
Polizeidienstzeit keine ernstlichen Erkrankungen. Als Kammerverwalter 
dienstlich mit stark wirkendem Mottenäther gearbeitet. Körperliche Be- 


102 Walter Betzendahl 


schwerden der Atmungsorgane und starker Blutdruck in den letzten Mo- 
naten vor Abgang gemerkt. Gemäß polizeilichem Gesundheitszeugnis vom 
17.10.30 bin ich mit Geräuschen über der Lungenvene und der großen 
Körperschlagader, wie Blutdruck 155 mm, als für gesund entlassen worden. 
Unter diesen Symptomen leide ich heute noch. Mein Zustand wird dadurch 
besonders belastet, daß ich andauernd von gewissen Kreisen psychisch be- 
arbeitet werde.“ Die Ehefrau sagte am 30. 4.38 u.a. aus: „Das Eheleben 
ist ohne Tadel“. Am 12. 5. 38 wurde von Privatdozent Dr. Hallermann vom 
Universitätsinstitut für gerichtliche und soziale Medizin der Universität 
Berlin zu einer Strafsache, auf welche sich T. auch bezogen hatte, u. a. folgen- 
des geschrieben: ‚‚In der Erbgesundheitssache des am 3.9.1900 in L. ge- 
borenen Büroangestellten E. T. wird auf das Schreiben vom 2.5.38 mit- 
geteilt, daß ich den T. am 5.9. 36 vor der Großen Strafkammer des Land- 
gerichts Berlin in einer Strafsache wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses 
in Tateinheit mit Beleidigung begutachtet habe. Ein schriftliches Gutachten 
ist nicht erstattet worden. Aus den Akten ergab sich, daß ein im Jahre 1933 
gegen T. eingeleitetetes Verfahren wegen Päderastie eingestellt worden ist. 
Bei T. handelt es sich um einen unausgeglichenen, reizbaren, stimmungs- 
labilen Psychopathen. Ein organisches Nervenleiden liegt nicht vor. Die Be- 
schwerden und Klagen des Patienten sind zum größten Teil durch eine be- 
stehende vasomotorische Übererregbarkeit als Teilerscheinung einer nervösen 
Veranlagung bedingt. Für die ihm zur Last gelegten Verfehlungen konnten 
die Bedingungen des $ 51 Abs. 1 oder 2 StBO. nicht als vorliegend erachtet 
werden. Auch im Urteil ist angenommen, daß T. für seine Verfehlungen voll 
zurechnungsfähig war. Aus den Handnotizen des hiesigen Institut ist weiter 
hervorzuheben, daß auch die Angaben in den Personalakten keinen Hinweis 
auf ein bestehendes Erbleiden ergeben, das durch das Gesetz zur Verhütung 
erbkranken Nachwuchess berührt wird. Aus seinen eigenen Angaben im 
hiesigen Institut ist besonders hervorzuheben, daß T. nach einer angeblichen 
Vergiftung, die er sich während seiner Dienstzeit bei der Polizei in Berlin 
zugezogen haben will, in querulatorischer Weise Rentenansprüche stellte, 
die abgelehnt wurden. Am Tage seiner Festnahme zu der zur Verhandlung 
stehenden Straftat hat T. einen Selbstmordversuch unternommen. In körper- 
licher Hinsicht fand sich abgesehen von einem leichten Schielen des linken 
Auges und Zeichen nervöser Übererregbarkeit kein besonderer Befund. Bei 
der Erörterung ihm unangenehmer Dinge wich T. genauen Auskünften sicht- 
lich aus, war leicht reizbar und stellte in starker Ichbezogenheit alle ihm 
widerfahrenen Ungerechtigkeiten und Unglücksfälle in übertriebener Weise 
dar. In bezug auf die ihm zur Last gelegten Verfehlungen leugnete er auch 
bei eingehender Befragung jegliche strafbare Handlung.“ Am 31. 5.38 er- 
folgte Termin beim Erbgesundheitsgericht. Hier heißt es: ‚‚Der Beteiligte 
überreichte eine als Anlage beigefügte Sachdarstellung . . . Wie er angab, 
habeersich psychisch insofern bearbeitet gefühlt, als er nicht nur auf Schwierig- 
keiten beim Bezirksamt gestoßen, sondern auch aus seiner bei der NSV aus- 
geübten Tätigkeit entlassen worden sei. Diese Schwierigkeiten seien auch 
in der Untersuchungshaft, in der er unter einer starken Belastung gelebt 
habe, aufgetreten. Er sei 1930 von der Polizei entlassen worden, seine Weiter- 
beschäftigung sei wegen seines Gesundheitszustandes nicht in Erwägung 
gezogen worden. Da im Jahre 1934 seine Gebührnisse aufhörten, habe er 
eine fünfmonatige Pflichtarbeit beim Bezirksamt S. ausgeübt, aus der er 
nach Fristablauf entlassen worden sei. Zwischendurch sei er beschäftigungs- 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 103 


los gewesen, da er unter starken Atembeschwerden zu leiden gehabt habe, 
so daß er Bettruhe benötigte. Er sei von der Polizei als krank entlassen worden. 
Wo er sich nach seiner Entlassung von der Polizei als Anwärter gemeldet 
habe, könne er aus dem Stegreif nicht beantworten. Jedenfalls sei er gesund, 
habe einen ruhigen Schlaf und nehme Interesse an seiner Umwelt. Wegen 
des anhängig gewordenen Verfahrens sei er von der Stempelpflicht beim 
zuständigen Arbeitsamt befreit. Seine Atembeschwerden und seinen hohen 
Blutdruck führe er auf seine 44, jährige Tätigkeit im polizeilichen Kammer- 
dienst zurück, wo die Kleidung mit einem stark wirkenden Äther desinfiziert 
worden sei. Die Ehefrau erklärte, daß sie mit dem Beteiligten seit 1927 ver- 
heiratet sei. Dieser sei in seinem Wesen und Benehmen immer gleich geblieben. 
Er sei ein vollkommen zufriedener Mensch, in seinen Sachen sehr eigen und 
nicht pedantisch. Bei ausgebrochenen Meinungsverschiedenheiten spreche 
man sich aus. Der Beteiligte sei ein Gemütsmensch und verträglich. Dem 
in der Anlage überreichten Bericht von T. ist folgendes zu entnehmen: Es 
steht darüber: ‚Betrifft Untersuchungshaft mit dem Agenten P. und die 
weiteren Auswirkungen‘. ‚Ab 17. 6. 37 bis 25. 9. 37 war ich infolge krimineller 
Anschuldigung in Untersuchungshaft mit dem Agenten P. in Doppelhaft. 
In unaussprechlicher Weise machte er mir das Leben zur Hölle. Ein schrift- 
licher Verlegungsantrag blieb ohne Erfolg. Die Absicht, mich auf jede nur 
erdenkliche Weise fertig zu machen wollen, war klar erkennbar. Seine Arbeits- 
weise gegen mich mußte ich Tag für Tag widerspruchslos als Wehrloser er- 
tragen. Eine Mitteilung an meine Ehefrau in der Sprechstunde über die Haft- 
zustände war infolge der Kontrolle einfach unterbunden .. . P. hat mir 
oft an den Kopf gestoßen, im ersten Schlaf plötzlich angestoßen — ob ich 
schon schliefe? — war seine belästigende Frage. Während meines Essens 
hat er mit einem Streichholz im hohlen Zahn gestochert — die Fäule dann 
fortwährend berochen!!! Dann weiter mein Essen zu verekeln versucht! 
„Deine Marmelade mit Honig sieht richtig nach Blut und Eiter aus!“ Bei 
Käse z. B. wimmelte bei ihm angeblich alles voll Maden und krazte nun 
andauernd mit dem Messer aufs Papier! Tatsache aber war, daß der Käse 
sauber war! Das Mittagessen schmeckte ihm immer nach Soda oder Seife. 
Wenn er meine Portion noch hatte, so verzehrte er auch diese trotz angeb- 


licher Seife und Soda! ‚Von diesem Drang einige Eimer voll — da mache 
ich dir Schweine fett — die ‘so’ dastehen !“ bemerkte er oft! In Abendsuppen 
brauchte er nur ein schwarzes Körnchen finden — dann hieß es gleich — 


schon wieder der reinste Rattenkeetel!!! In diesem Jargon ging es 15 Wochen. 
Während ich zur Freistunde war, hatte P. von meinem Speck und der Mar- 
garine genommen. Mein Karton wurde heimlich nachgesehen! Später bekam 
er Fett- und Kostzulage! Nun brüstete er sich damit, daß er nun mehr Geld 
zum Tabak frei habe und man müsse es schon so drehen! Viele Menschen 
habe ich schon kennengelernt, aber P. ist schon der Abschaum der Menschen 
in Reinkultur! Natürlich war das Zusammensein immer unerträglicher ge- 
worden und die Stimmung gelangte zur Siedehitze. Es fehlte nur sein Schlag 
— so wäre mein Griff zum Messer gewesen! Endlich — nachdem ich eine 
Wahlverteidigung hatte, genügte ein Wort an Med.-Rat Dr. Frommer, um 
seine sofortige Verlegung zu erreichen. Ich gab den Ilinweis, daß P. ein 
„‚Spitzel‘‘ sei. Meinem Anwalt gab ich im Schreiben vom 12. 10. 37 einen 
eingehenden Bericht zur Gesamtlage.‘‘ ‚Nachdem P. in krimineller Hin- 
sicht bei mir ohne Erfolg gearbeitet hatte, versuchte er seine Schäbigkeit, 
mich nun politisch aufs Glatteis zu führen. Staatsfeindliche Äußerungen 


104 Walter Betzendahl 


tat er mir kund, so u.a.:‘. . . T. führt nun eine Reihe von Äußerungen an 
und bemerkt: ‚Zu den belastenden Punkten habe ich unter dem 5. 3.38 
der Geheimen Staatspolizei Anzeige gemacht. Im Schreiben vom 12. 10.37 
habe ich meinen Standpunkt dahin abgegeben, daß ich im Strafverfahren 
völlig für unglaubwürdig gehalten werde, als zu jenem Troß von Agenten 
zu gehören, deren Dasein nur noch Tarnung und Lüge ist.“ Zum Schluß be- 
merkt er: ... . „Als ehrlicher Deutscher und Kriegsfreiwilliger, wie Waffen- 
träger in Deutschlands größter Not, werde ich mich gegen jede feige Bear- 
beitungsmethode durch Agenten mit Händen und Füßen wehren. Daß ich 
die eingenommene Fronststellung beharrlich gegen den Agenten P. verfolge. 
ist mein gutes Recht und diesem Staatsfeind gegenüber meine Pflicht . . .“ 

Es liegen nun noch die Personalakten vor. Aus dem Personalbogen ist zu 
entnehmen: ,,27. 4. 22. T. ist ein körperlich und geistig gut veranlagter Be- 
amter. In allen Dienstzweigen leistet er das Beste. Seine Führung ist sehr 
gut‘. Ferner: ‚Hat seinen Dienst zu meiner Zufriedenheit versehen. Seine 
Führung war sehr gut.“ ‚Am 13. 3. 24: Brauchbarer Beamter. Führung sehr 
gut‘. 19. 4. 25: Gleiche Beurteilung. ‚18. 10. 26: Dienstliches und außerdienst- 
liches Verhalten sehr gut. Wachtmeisterprüfung mit fast gut bestanden. 
Schlußurteil: Ein gut veranlagter Beamter mit zufriedenstellenden Lei- 
stungen. Willig, strebsam, zuverlässig, pflichttreu.‘‘ 14. 3. 27: Gleiche Beur- 
teilung. 15. 3. 28: Gleiche Beurteilung im wesentlichen. Am 16. 3. 29 heißt 
es noch: ‚‚Hat sich als langjähriger Beamter auf der Kleiderkammer gut be- 
währt.“ Sonst ähnliche Beurteilung. Am 1. 4. 30 heißt es bei sonst ähnlicher 
Beurteilung: ‚‚Zur Beförderung und unkündbaren Anstellung geeignet.“ Über 
Krankheiten ist nichts Erhebliches vermerkt. Am 9. 8. 30 erklärte T., daß er 
die unkündbare Anstellung in der Schutzpolizei nicht anstrebe. Am 16. 9. 30 
wurde als ärztlicher Untersuchungsbefund vor der Entlassung aus der Schutz- 
polizei geschrieben: Guter Allgemeinzustand. Innere Organe und Nervensystem 
o. B. Am 19. 10. 30 erfolgte Abschied mit Anerkennung und Dank der Staats- 
regierung. Am 17. 10. 30 wurde geschrieben: Ärztlicher Untersuchungsbefund: 
Leises Geräusch über der Lungenvene und der großen Körperschlagader. 
Reflexelebhaft. Hautnachröten, Zungenzittern, Lidflattern. Polizeidienstfähig. 
In der Folgezeit beantragte T. Versorgung nach dem Reichsversorgungs- 
gesetz. Er hatte schon am 17. 10. 31 geschrieben: ‚‚Ich bitte um Rückkauf des 
Polizeiversorgungsscheines 1930. Wegen meines schweren Herzleidens komme 
ich für den Staatsdienst nicht in Frage.“ Am 17. 9. 34 wurde das Versorgungs- 
verfahren eingeleitet. Es findet sich eine Abschrift eines Beschlusses des Reichs- 
versorgungsgerichts vom 1.6.36. Hier heißt es: „Einen Anspruch auf Rente 
hat der Kläger nicht, da seine Erwerbsfähigkeit nach den übereinstimmenden 
Gutachten der im Verfahren von Amts wegen gehörten Fachärzte nicht um 
wenigstens 25°, beeinträchtigt wird.“ In Übereinstimmung mit den genannten 
Gutachtern kann auch nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, 
daß der jetzige Leidenszustand des Klägers Folge von Polizeidienstbeschädigung 
ist. Ein organisches Nervenleiden ist nicht feststellbar. Die Beschwerden des 
Klägers gelten als leichte vasomotorische Überregbarkeit, als Teilerscheinunz 
einer besonderen nervösen Konstitution. Für eine Thyreotoxikose oder eine 
organische Erkrankung der llerzklappen oder des Herzmuskels fehlt es an 
einem ausreichenden Anhalt. Ein ursächlicher Zusammenhang dieses Leiden- 
zustandes mit dem Polizeidienst ist nicht wahrscheinlich.“ 

Aus den Akten der Staatsanwaltschaft in der Strafsache wegen Erregung 
öffentlichen Ärgernisses in Tateinheit mit Beleidigung ist zu entnehmen, daß 


ze 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 105 


es sich dabei um den 13. 3. 35 handele. T. wurde an diesem Tage angezeigt. 
von einem Passanten, welcher ihn durch die Polizei feststellen ließ, weil er 
ihn wiederholt mit der Hand in seine Seite oder in den Rücken gestoßen habe. 
Daraufhin habe er zunächst nichts gesagt, sondern abgewartet, was T. weiter 
machen werde, und ihn beobachtet. Es sei jetzt zur Bedürfnisanstalt gegangen, 
habe sich dort in die Eingangstür gestellt und zwar so, daß er ihn oben auf 
der Brücke habe stehen sehen. Hier habe er sein Geschlechtsteil herausgeholt 
und etwa 10 Minuten an demselben gespielt. T. bestritt das. Er sei in der Be- 
dürfnisanstalt allerdings gewesen, habe aber nachher lediglich eine Viertelliter 
Cogrnakflasche mit Cognak aus seiner rechten Hosentasche hervorgezogen und 
aus derselben einen Schluck genommen. Nachher sei er in die in der Nähe 
liegende Schankwirtschaft gegangen und habe sich ein Bier bestellt. Dort sei 
er von einem Polizeibeamten aufgefordert worden, ihm nach der Wache zu 
folgen, was er getan habe. Von der Kriminalinspektion wurde am 21.3. 35 
vermerkt: Gegen T. schwebte hier ein Verfahren wegen $ 175, wurde aber 
mangels Beweise eingestellt. Bei dem Anzeigenden handelt es sich um einen 
Arbeitsmann. Auch bei seiner Vernehmung am 23. 12. 35 blieb er bei seiner 
Aussage. T. wurde am 23. 2. 36 zu RM. 200.—, hilfsweise zu 50 Tagen Ge- 
fangnis verurteilt. T. bezeichnete die Anzeige und Angaben des Zeugen dem- 
gegenüber als Beleidigung und Verleumdung. Die Berufung von T. wurde am 
5.9.36 verworfen. Der Zeuge R. hatte eine eidliche Aussage getan, daß er 
das Glied des Angeklagten genau gesehen und nicht etwa mit einer Flasche 
verwechselt habe. Der Zeuge R. bekam im Verlauf des Verfahrens wegen Nicht- 
erscheinens zum Termin eine Ordnungsstrafe. Später wurde über ihn bekannt 
und zwar mit Schreiben vom 6. 11. 36 von der Truppe: ‚Die Kompagnie teilt 
mit, daß R. zur Zeit die Restordnungsstrafe von RM. 50.— nicht einzahlen 
kann, da er seit dem 14. 9. 36 wegen Fahnenflucht und wegen Verdacht auf 
Diebstahl in Untersuchungshaft sitzt. Vorher war schon von der Truppe mit- 
reteilt worden, und zwar am 8. 7.36 sowie am 6. 7. 36, daß R., Schütze in 
Lubeck, bis zum 7.8.36 eine Gefängnisstrafe im Militärgefängnis Torgau 
verbuße. Es sei im übrigen bezüglich des ganzen Vorganges auf die Gründe 
zum Urteil vom 5. 9. 36 verwiesen. T. verbüßte in der Folgezeit und zwar 
vom 6. 2. 37 bis 28. 3. 37 die Ersatz-Freiheitsstrafe. Er richtete dann noch ein 
(such an den Reichsminister der Justiz am 8. 4. 37, die Amnestie auf ihn 
anzuwenden, nachdem ein Gnadengesuch vom 13. 2. 37 der Ehefrau abschlägig 
am 19. 2. 37 beschieden worden war. Hierauf wurde entschieden: ‚‚Ihre Ein- 
gabe gibt mir zu Maßnahmen keinen Anlaß, da die Strafvollstreckung durch 
\erbußung der Ersatz-Freiheitsstrafe erledigt iat.“ 

Es liegen nun noch die Akten des Versorgungsamtes vor, woraus das Gut- 
achten der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle, Abt. für Kreislauf- 
diagnostik vom 13.12. 34 zu erwähnen ist. Hier heißt es: Pyknischer Typ. 
Herz, welches nach allen Richtungen untersucht wurde einschließlich Durch- 
leuchtung und Elektrokardiagramm ohne krankhaften Befund. Auch WaR., 
\einicke Trübung und Klärung 2 waren negativ. Auch sonst kein pathologi- 
scher Befund. Es wurde hierzu ein weiteres Gutachten der Nervenabteilung 
erstattet. Hier heißt es: Achillesreflexe sind nicht zu bekommen. Starke Rö- 
tung des Kopfes nach bloßem Bücken. Dermographie und Hyperhidrosis. Das 
Urteil ist hier: Die Nichtauslösbarkeit der Achillesreflexe vermag Vermutungen 
nach dieser Richtung nicht genügend zu begründen. Offenbar handelt es sich 
bei Herrn T. um eine neuropathische Persönlichkeit mit vegetativen Störungen, 
fur die eine besonders M. d. J. nervenärztlicherseits anzunehmen, kein Anlaß 


106 Walter Betzendahl 


vorliegt. T. bekam daraufhin vom Versorgungsamt am 30. 1. 37 einen ablehnen- 
den Bescheid. 

Außerdem befindet sich bei den Akten die Krankheitsgeschichte des 
Städtischen Robert-Koch-Krankenhauses, Berlin, wo T. vom 10. 2. 38—23. 2.38 
lag. T. lag hier auf der neurologischen Abteilung. Auch hier wurde wieder an- 
gegeben: L. T. gab hier an, was schon erwähnt worden ist (eingangs). 
daß er seit 1930 sehr nervös geworden wäre, im Verlauf seiner Beschäftigung 
unter Ätherwirkungen, wobei es sich um ein Mottenmittel gehandelt habe. 
Er habe davon grauen Auswurf und linksseitige Brustschmerzen bekommen. 
Von 1930 bis 1933 habe er nicht mehr gearbeitet, meist im Bett gelegen. 
Dann für kurze Zeit Afü-Arbeit beim Wohlfahrtsamt mit Registraturarbeiten 
beschäftigt. Dann wieder dauernd ohne Arbeit, beziehe nur Wohlfahrtsunter- 
stützung. Er habe beständig Beschwerden, häufig Kopfschmerzen, besonders 
im Hinterkopf. Wenn er so viel denken müsse, wenn er irgend etwas vorhabe, 
dann steige das immer so nach dem Kopf. Dann habe er immer so einen Druck 
unter der Rippe links. Er habe eine Erleichterung, wenn er die Oberfläche der 
Haut abhebe. Er kneife so in die Haut oder drücke ganz fest hinein, kneife in 
die Brust, daß er davon ganz blaue Flecke habe. In der Leistenbeuge habe er 
beim langen Gehen Schmerzen. Manchmal habe er einen Schweißausbruch 
und kriege keine Luft. Er habe da so eine Aufregung, sei oft ganz geistes- 
verstört. Er denke überhaupt nicht. Wenn der Druck herunter sei, sei er ganz 
abgekämpft. Am 12. 2. 38 wurde notiert: Angeblich keine Änderung. Er sei 
etwas aufgeregt, habe so eine Hitze, das gehe vom Rückgrat von der Seite 
aus links unterhalb der Rippe, wenn er so etwas seitlich sitze, dann gehe das 
bis nach dem Kreuz und wenn er aufgeregt sei, dann steige der Angstzustand 
bis nach dem Kopf. Wenn er atme, und das mache ihn nervös und dann nehme 
er die Hand und drücke das Bauchfell durch. Hierzu nestelte er mit der linken 
Hand an seinem Anzug, griff dauernd eine Hautfalte unter dem Kinn und 
zerrte daran, fuhr sich dann wieder mit der linken Hand über die linke Brust- 
seite. Er sei von dem Polizeispitzel fertiggemacht worden. Dieser habe ihm 
selbst gesagt: Sie haben dich fertig gemacht und sie werden dich wieder fertig 
machen. Er sollte ihn ärgern. Dieser Polizeispitzel sei ein getarnter Gefangener 
gewesen. Er sei während des Strafverfahrens 1937 mit ihm in eine Zelle ge- 
sperrt worden, er habe ihn ständig ausgehorcht und alles der Polizei mitgeteilt. 
Wer das alles veranlaßt habe, wisse er nicht. Er glaube bestimmt, zu Unrecht 
verurteilt zu sein. Das Polizeipräsidium wolle ihn fertig machen, weil er so 
lange krank sei. Der Polizeispitzel habe ihn auf jede Weise beirren wollen. Das 
sei eine große Gemeinheit gewesen, daß man ihm diesen Burschen hereinge- 
bracht habe. Es wurde von T. notiert: Neigung zu fleckförmiger Rötung, 
schwitzt häufig. Es hieß: Reflexe sehr lebhaft, keine Pyramidenzeichen. 
Deutlich Zeichen von vegetativer Überregbarkeit. Dermographie, Schwitzen, 
Tremor, Reflexlebhaftigkeit, respiratorische Arhythmie, Acrocyanose. Bei 
der Beurteilung beim Chefarzt Dr. Kipp am 19. 2. 38: Der Pat. erklärt wieder- 
holt ausdrücklich, daß er von einer größeren Gruppe noch vom Polizeispitzeln 
beobachtet werde, daß, sobald er die Absicht habe, eine öffentliche Bedürfnis- 
anstalt zu benutzen, ein Polizeispitzel da sei, der auf irgend eine Weise sofort 
hiervon benachrichtigt werde, und daß dieser Spitzel ihn sofort in die Be- 
dürfnisanstalt verfolge. Aus diesem Grunde besuche er nie mehr eine öffent- 
liche Bedürfnisanstalt. Er sei sicher, daß er dann von einem Polizeispitzel dort 
festgenommen werde und daß dieser mit erhobener Hand beschwören werde, 
daß er (T.) öffentliches Ärgernis erregt habe, wenn auch in Wirklichkeit nichts 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 107 


vorgefallen sei. — Pat. macht all diese Erklärungen in einer merkwürdig 
affektlosen, gleichgültigen Weise, zeigt keinerlei Absichten, etwas gegen diese 
angebliche Ungerechtigkeit zu unternehmen. Am 23. 2. 38 wurde notiert: 
Verhalten des T. immer gleichbleibend. Er produziert recht wenig. Nach den 
eigenen Aufzeichnungen des T. sei das Bestehen von Wahnideen sehr wahr- 
scheinlich. Gegenüber den übrigen Pat. sei T. sehr zurückhaltend, immer 
für sich, offenbar mißtrauisch. Er stehe oft stundenlang auf einem Fleck. 
ohne den geringsten Anteil an seiner Umgebung zu nehmen. Auf Aufforderung 
schrieb T. am 17. 2. 38: ‚‚Infolge einer kriminellen Verwicklung wurde ich 
in Juni 1937 in der Lehrter Straße mit dem Agenten Reinhold P. zusammen- 
gelegt. Da er mit bestimmten Anweisungen gegen mich zu arbeiten hatte, 
machte er mir das Leben zur Hölle. Gemäß Schreiben an die 22. Straf- 
kammer vom 12. 10. 37 habe ich das Unwesen klargelegt. Bewußt brachte 
er mir verwirrende Gedankergänge bei. P. erdreistete sich sogar, mich zu 
einer Straftat zu verleiten, deren Ausführung die Todesstrafe der Erfolg wäre.“ 
T. äußerte sich nun in ähnlicher Weise wie vordem über seine Erlebnisse. 
Er sagte dann auch zum Standpunkt des Bezirksamts Spandau, er sei 
vorzeitig aus der Polizei entlassen worden, er sei bereit, auf Verlangen das 
betreffende Schreiben vorzulegen. Er bemerkte dann wörtlich: ‚Diese 
falsche Orientierung ist aber auf Grund hinterhältiger Äußerungen des Spitzel- 
apparates entstanden. — Auch sind andere Frechheiten des Geheimdienstes 
gegen mich in Szene gesetzt worden, die mir jetzt nicht gegenwärtig sind. 
Nur im Sicherheitsgefühl, nicht erkannt zu sein, bringen sie ihre Opfer 
immer weiter in das Unglück. Der Agent P. hatte mir sogar eingeredet, 
mich in der Nachbarschaft wegen der Beschuldigungen ins schlechte Licht 
zu bringen. Um mich fertig zu machen für Buch sei die Absicht des 
Geheimdienstes, war die dauernde Erklärung des Agenten. Ich bin zu Un- 
recht seinerzeit beschuldigt worden und fühle mich frei von jeder Schuld. 
Nachdem man mich bewußt in die heutige Lage manövriert hat, sucht man 
weiter, mich zu bedrängen. Ich finde aus diesem Duicheinander nicht mehr 
heraus. da man einer Gegenüberstellung mit den Geheimagenten und deren 
Berichten aus dem Wege geht.“ Es wurde auch im Krankenhaus am 17. 2. 38 
wegen der Stiche in der linken Rippengegend mit Auswurf und des dadurch 
bestehenden Verdachtes auf pleuritische Reizung links oder Adhaesionen eine 
Thoraxdurchleuchtung gemacht: Zwerchfell, Lunge, Herz, Aorta o. B. Die 
Senkungsreaktion war ®,. WaR. negativ. Als Diagnose wurde gestellt: Am 
16. 2. 38: Psychopatie; aber bei der Entlassung am 23. 2. 38: Schizophrenie. 


Befund 


körperlich: Mittelgroßer kräftiger Mann von blasser Gesichtsfarbe. Pastöse 
Hautbeschaffenheit. Hyperhydrosis der Extremitätenenden. Ödematöse Be- 
schaffenheit der Penisvorhaut. Auf der Glans zwei kleine ausgestanzte Ge- 
schwürsnarben. Pupillen mittelweit, re. nicht ganz rund, re. etwas weiter 
als li. Lichtreaktion etwas unausgiebig. Convergenzreaktion erhalten. Lid- 
spalten mittelweit, re. = li. Trigeminusaustrittsstellen nicht druckempfindlich. 
Cornealreflexe beiderseits in normaler Stärke auslösbar. Augenhintergrund 
o. B. Keine Innervationsdifferenzen im Facialisgebiet. Zunge wird gerade 
herausgestreckt, zittert nicht. Sprache o. B. Gaumensegel wird gut gehoben. 
Patellarreflexe beiderseits schwer auslösbar. Achillessehnenreflexe nicht 
sicher zu bekommen. Keine Seitendifferenz. Radiusperiost- und Triceps- 


108 Walter Betzendahl 


sehnenreflexe beiderseits in normaler Stärke auslösbar. Keine pathologischen 
Zehenreflexe (Babinski, Rossolimo, Mendel, Oppenheim negativ). Haut- 
reflexe in normaler Stärke auslösbar und seitengleich. Sensibilität: Keine 
gröberen organischen Störungen, indessen auffallende Unempfindlichkeit bei 
der Lumbalpunktion. Im Ganzen etwas indolent, offenbar psychisch bedingt. 
Koordination: Keine Ataxie, aber sehr ungeschickt, zuweilen etwas aus- 
fahrende Bewegungen, etwa beim Finger-Nase-Zeigeversuch. Romberg: leichtes 
Schwanken zu Anfang. T. neigt dazu, sich zu versteilen, ebenso, wie er bei der 
Reflexprüfung spannt. Bei der Prüfung der Koordination erweist sich, daß 
auch eine deutliche vorhanden Auffassungserschwerung im Spiele ist. Ganz 
besonders linkisch stellt er sich an, als er auf dem Untersuchungsbett knien 
soll, mit herüberhängenden Füßen zur Prüfung der Achillessehnenreflexe. Vor 
der Punktion hat er große Angst, weil man ihm gesagt hatte, daß große Be- 
schwerden danach eintreten könnten. Auch sonst ein etwas zu ängstlicher 
Verwirrtheit neigendes und befangenes Wesen. Trophik, Motilität o. B. 
Nervenstämme nicht druckempfindlich. Lasegue negativ. Herz: Töne rein, 
Grenzen regelrecht. Aktion regelmäßig. Blutdruck: 15°/,,. Lunge o. B. Sonstige 
innere Organe o. B. Blutuntersuchung am 22. 6. 38: WaR. mit 3 Extr. negativ. 
Kahn-R. und Meinicke-R. negativ. Liquoruntersuchung am 22. 6. 38: Globu- 
linreaktion Opaleszenz. Gesamteiweiß !/, pro mille. WaR. negativ. Kahn. R., 
Meinicke K. R. 2. Zellzahl 3: 3. Sediment: Vereinzelte Rundzellen Goldso!l- 
reaktion: Die Kurve beginnt auf der Grenze von Rot bis Rot-Violett. Er- 
reicht bei 1: 40 die Grenze von Rot-Violett und Violett. verläuft etwas unter- 
halb davon bis 1: 80, steigt dann wieder und verläuft bei 1: 320 auf der 
Grenze von Rot und Rot-Violett. Die Normomastixreaktion zeigt eine Trü- 
bungszacke bis zur Grenze der Ausflockung. Urinuntersuchung am 21. 6. 38: 
Reaktion sauer, Essigsäure-Kochprobe negativ. Sediment ohne Befund. Ny- 
lander negativ. 


Angaben und Verhalten 


(Fühlen Sie sich denn jetzt wieder gesund?) ‚„‚Jawohl‘“. (Was ist das denn 
damals gewesen: mit dieser Strafsache?) „Im Rahmen dieses Verfahrens mache 
ich in der Stellungnahme überhaupt keine Ausführungen mehr.“ (Daß Sie 
damals angegeben hatten, es hätte ein abnormer Seelenzustand bestanden ?) 
‚Man hat keine Notiz davon genommen, und durch zwei gerichtsärztliche 
Gutachten bin ich dafür gesund befunden worden.‘ (Hatten Sie denn damals 
einen Kummer?) „Überhaupt nicht.“ (Sie waren damals beschäftigungslos ?) 
„Ja“. (Was waren das für Atembeschwerden ?) ‚Das waren 1. in geschlossenen 
Räumen, in der Straßenbahn und in rauchgefüllten Räumen. Wir hatten für 
das WIIW ein Abendessen und da mußte ich raus infolge der stickigen Luft.“ 
(Und das Herz?) ‚Ich bin wegen Herzneurose in Behandlung gewesen.“ 
(Wie haben Sie die Herzneurose bekommen?) „Das weiß ich nicht, jedenfalls 
hatte ich vorher, als ich die 200 Mark nicht bezahlen konnte, im Gefängnis 
Spandau hatte ich so geschwollene Füße. Und wie ich entlassen wurde, kam 
ich wegen Herzneurose in Behandlung“ — (Sie wollten wieder bei der Polizei 
eintreten damals?) ‚‚Ja.‘“ (Und was war der Grund?) ‚In die Verwaltungs- 
laufbahn, da mußte ich erst ausscheiden und dort wieder eintreten.“ (Was 
waren Sie in der Verwaltungslaufbahn ?) ‚Polizeisekretär.‘‘ (Weshalb lag 
Ihnen die Verwaltungslaufbahn nicht so sehr?) „Ja, das war ja Verwaltungs- 
laufbahn.‘‘ (Hatten Sie erst an eine andere Tätigkeit gedacht?) „Nein.“ (Wie 
kamen Sie denn nun damals zu den Mißtrauensregungen ?) ‚Herr Oberarzt, 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 109 


Sie dürfen schon glauben, ich weiß, daß das ein Spitzel war. Unter welchen 
ungeheuren Belastungen, das muß man erleben, das kann man garnicht sagen, 
wie er mich bearbeitet hat, das waren 15 Wochen, da war ich hin. Herr Medi- 
zinalrat Dr. Frommer hat dann auch sofort den Verlegungsantrag genehmigt.‘ 
(Was hat man denn nun für ein Interesse daran, derartig auf Sie einzuwirken ?) 
„Die Sache spricht ja genügend für sich, weitere Erläuterungen möchte ich 
nicht gern geben. Man weiß ganz gut, was los ist, und ich lasse mich in dieser 
Beziehung nicht irreführen.‘“ (Ja, glauben Sie, daß ich Sie auch irreführen 
will?) „Nein, grundsätzlich nicht“. (Sie hören ja nun bei der Polizei so mancher- 
lei, für mich ist das nur ein Begriff, das Spitzelsystem?) ‚Aus dem Erlebten 
und aus der dienstlichen Erfahrung heraus kenne ich den Aufbau, das System 
und Spitzelwesen.‘‘ (Haben Sie denn auch früher damit zu tun gehabt?) 
„Dienstlich weniger, aber wir sind im Unterricht polizeitechnisch ausgebildet 
worden.‘ (Hat das was mit der Geheimen Staatspolizei zu tun?) ‚‚Nein.“ 
(Es handelt sich nicht um politische Zwecke?) ‚Nur um Recherchierungs- 
und Ermittlungsverfahren.‘ (Und wie geht das vor sich ?) ‚‚Über den internen 
Aufbau vermag ich keine Auskunft zu geben.“ (Wissen Sie eigentlich, worauf 
ich hinaus will?) „Ja, ob ich den ganzen internen Ermittlungsdienst durch- 
schaue, wie es wirklich ist, oder ob ich mir das nur einbilde.‘“ (Wir Gerichts- 
ärzte müssen manchmal so ähnlich fragen wie Polizisten?) ‚Ja, die fragen 
immer so.‘ (Glauben Sie nun, daß wir Ärzte auch was von Ermittlungen ver- 
stehen müssen?) „Die Prüfung eines Arztes hat weniger auf politischem Ge- 
biete zu erfolgen als nur allein psychologisch.“ (Was glauben Sie nun: ob ich 
die Ermittlung richtig anstelle?) „Jawohl, ohne weiteres. Energisch sind Sie 
auch, Sie wissen, was Sie wollen.“ (Woran erkennt man das?) ‚‚Sie haben 
einen Willen und den setzen Sie durch trotz des Widerspruchs von andern, 
und Ihr Wille ist stark.“ (Merken Sie das?) „Jawohl.“ (Mehr im dämonischen 
Sinne oder von klarer Entschiedenheit?) ‚Als Mediziner.‘ Es ist nicht mög- 
lich, T. durch einfache Fragen zu einer klaren Wiedergabe seiner Stellung- 
nahme zu den ihn betreffenden Angelegenheiten zu bringen. Wenn man ihn 
fragt, setzt er ein gespanntes Gesicht auf, setzt sich geradezu in Positur, leicht 
vorgebeugt, kneift das linke Auge zu, schaut den Arzt gleichsam visierend an. 
Die Erkundigung ergibt übrigens auch, daß er immer ein besonders guter 
Schütze gewesen ist. Er sagt selbst, daß er eine Blende vor sich habe und die 
Dinge an sich herankommen lasse, sich ganz passiv verhalte. Was man eigent- 
lich von ihm wolle, das wisse er nicht, und auch seine Vermutungen werde er 
nicht mitteilen. Wieweit er zu gehen habe, wisse er ganz genau. Beleidigende 
Äußerungen einer Behörde gegenüber kommen für ihn nicht in Frage. Was er 
dagegen als ungehörig empfinde, das sei, daß man sich derartig verkommener 
Menschen bediene, wie des P. Mit dem habe man ihn ja zusammen in Unter- 
suchungshaft gesteckt, um ihn eben fertig zu machen. Er habe seinerzeit dar- 
gelegt, daß er unschuldig gewesen sei, aber der R., der kriminell vorbestraft 
gewesen sei, auf dem ersten Termin nicht erschienen sei, und deshalb in Ord- 
nungsstrafe genommen worden sei, habe ja die Hand hochgehoben. Was den 
R. zu seinem Verhalten bewogen haben möge, das lasse er auf sich beruhen, 
das sei für ihn ein abgeschlossenes Verfahren. Seine Berufung sei ja verworfen 
worden und so könne ihn der Fall nicht mehr interessieren. Ein Wiederauf- 
nahmeverfahren komme nach verbüßter Strafe nicht mehr in Betracht. Es sei 
damals eine andere Besetzung bei Gericht vorgenommen worden und so sei 
das eben gekommen und auch juristisch technisch ganz in der Ordnung. Was 
die Fragen nach seinem damaligen Gemütszustand angehe, so sei das ebenfalls 


110 Walter Betzendahl 


jetzt abgeschlossen, nachdem in dem Verfahren das Institut für gerichtliche 
Medizin, und zwar der Öberarzt Dr. Hallermann, sein Gutachten erstattet 
habe, ohne dabei insonderheit auf den Zustand seines Herzens Rücksicht 
zu nehmen. Seine Herzbeschwerden habe er seinerzeit schon bei Abgang von 
der Polizei im Dienstbeschädigungsverfahren geltend gemacht. In alledem 
habe er keinen Erfolg gehabt. Er sei überhaupt ein Mensch, der alles genau 
schriftlich niederlege, zuweilen auch nur in Kennworten zwecks späterer 
Durcharbeitung und Ausführung, und das sei dann für ihn zunächst erledigt. 
In dem besonderen Falle habe er auch die geeigneten Schritte getan, er habe 
die in Betracht kommende Eingabe gemacht und sich auch nachher an die 
Geheime Staatspolizei gewendet. Jetzt erfolge nun das Recherchieren. Er lasse 
sich Ermittlungen durch Amtspersonen gern gefallen, aber nicht durch solche 
Menschen, wie den P. Er wisse ja nun ganz genau, wie solche Dinge sich ab- 
spielen, auch was die Untersuchungshaft angehe. Es gebe gar keine Bestim- 
mung darüber, daß man jemanden zu zweien in eine Zelle sperre. Es habe 
andere Zellen gegeben für 4 Insassen. Der P., wie er ja auch schriftlich nieder- 
gelegt habe, habe dauernd psychisch auf ihn einzuwirken versucht. Er habe 
ihn geweckt, ihn angestoßen und vor allem auch nachts belästigt durch die 
Töne von hinten, damit meine er, daß er sich unanständig aufgeführt habe, 
nur um ihn zu beeindrucken, zu stören, zu belästigen, darüber hinaus aber ihn 
zu kränken und zu beleidigen. In alledem sehe er eine Beleidigung, ihm etwas 
derartiges anzutun durch unanständige Aufführung, ihn die ganze Zeit der 
gemeinsamen Untersuchungshaft zu beunruhigen. Auch sexuelle Ungehörig- 
keiten seien vorgekommen, worüber er aber schweigen wolle. Dann seien die 
politischen Einwirkungen gekommen. Es habe sich dabei geradezu um Ver- 
leitung zum Landesverrat gehandelt. Bei Punkt 8 seiner Aufzeichnungen sei 
er auf ausländische Institute hingewiesen worden, mit der Bemerkung, daß er 
im Schriftverkehr gewandt sei. Er denke, das genüge doch. T. läßt es bei alle- 
dem offen, welches nun eigentlich die Zwecke der Behörde ihm gegenüber 
sind, will aber offenbar andeuten, daß sich die Behörde ihm gegenüber wegen 
der damaligen Verurteilung im Unrecht fühle, und, anstatt einfach nur auf 
den Eid eines so wenig zuverlässigen Menschen hin, seine Verurteilung be- 
stehen zu lassen, suche sie sich nun noch nachträglich nicht nur durch weitere 
Erkundigungen sondern auch durch seine Verleitung zu persönlichen Bloß- 
stellungen zu rechtfertigen. Das ist nach seiner Meinung der Zweck des P., 
der sich als Polizeispitzel, im übrigen als verkommener Mensch, dazu hergibt. 
Man will ihn, wie er denkt, auch politisch ins Unrecht setzen und den Nach- 
weis erbringen, daß er sich zum mindesten gegebenenfalls hergibt zu staats- 
feindlichen Handlungen. Bei alledem betont ergeflissentlich, welche Vorstellung 
er von der Würde einer Amtsperson hat. Er greift es auch mit einer gewissen 
unbefangenen Lebhaftigkeit auf, als ihm vom Gutachter gesagt wird, er sehe, 
obwohl er die Uniform des Polizeibeamten doch längst ausgezogen habe. doch 
immer noch alles mit derartigen Augen an. Er versichert sogleich, natürlich 
sehe er sich zunächst mal überall nach derartigen Gesichtspunkten um. Man 
merkt, wie er an seiner früheren Tätigkeit hängt und eigentlich den Wunsch hat, 
in den Dienst dieser Behörde zurückzutreten. Dabei denkt er an die Verwal- 
tungslaufbahn. Bei seinen Äußerungen ist es notwendig, immer wieder an die 
ursprüngliche Persönlichkeit anzuknüpfen, um im Rapport zu bleiben. Über das 
erste Verfahren erfährt man von ihm auch in einer Art von Kreuzverhör nicht 
viel Einzelheiten, es ist nur die Gewinnung eines allgemeinen Eindrucks 
möglich. Die damit zusammenhängenden Umstände haben bei ihm gewiß 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 111 


einer Fixierung unterlegen, aber gleichzeitig auch einer Objektivierung. Er ist 
davon abgerückt. Aktuell beschäftigt ist er, wie er auch immer wieder selbst 
betont, lediglich mit der Sache P. Hier kehrt alles das wieder, nur in der 
Umkehrung, was die Grundstruktur des ersten Erlebnisses ausgemacht 
hatte. Damals hatte der Anzeigende behauptet, er wäre durch sein Verhalten, 
besonders durch die geschlechtliche Perversität in der Öffentlichkeit mit be- 
sonderer Zuwendung zu ihm beleidigt worden, zumal als Uniformträger. Jetzt 
ist T. selbst derjenige, der beleidigt wird, und zwar als jemand, der nicht 
Fahnenflucht begangen hat, wie der Anzeigende, sondern im Grunde immer 
noch trotz seiner Verabschiedung, die ja ehrenvoll war, sich als Polizeibeamter 
fühlt, auch seinerseits wieder durch Obszönitäten in aller Ungeniertheit beim 
engsten Zusammenleben in einer gemeinsamen Zelle. Auch das hypochondri- 
sche Motiv fehlt nicht, insofern damals in dem Verfahren, welches als abge- 
schlossen zu gelten hat, die Herzneurose anzuführen war, nun aber eine ganz 
erhebliche Gewichtsabnahme erfolgt sein soll. Das Herzleiden, welches bei 
seinen Ansprüchen der Polizeibehörde gegenüber eine zentrale Rolle gespielt 
hatte, bringt sich jetzt nur in seiner Angabe, schließlich sogar geschwollene 
Füße bekommen zu haben, zum Ausdruck. Es wurde auf jede Weise vom 
Gutachter versucht, T. zu konkreten Mitteilungen zu bewegen über die ihm 
zur Kenntnis gelangten Einzelheiten des sogenannten Spitzelsystems und vor 
allem über angebbare Zwecke der behördlichen Stellen ihm gegenüber. Es 
kommt dabei heraus, daß er sich keineswegs für eine bedeutende Persönlich- 
keit hält und sicher keine Größenideen im Hintergrunde stehen, vielmehr für 
ihn alles hinausläuft auf Methoden der Behörde, bei technisch richtig, aber 
sachlich falsch abgeschlossenen Verfahren, noch nachträglich dem andern 
durch zu Tage Förderung irgend welchen Materials zum mindesten zeugen- 
schaftlich erhärtete Gesinnungsbekundungen ins Unrecht zu setzen. Es be- 
steht insofern bei ihm ein Zustand von Entwicklung zur Querulanz. Diese 
Querulanz hat sich bei ihm zunächst nur in einigen wenigen Schriftsätzen und 
Eingaben verdichtet, im übrigen findet sich noch bei ihm eine Art von Wahn- 
stimmung. Auf Schritt und Tritt wittert er auch jetzt noch irgendwelche 
Maßnahmen gegen ihn, bei denen aber, wie er das zu kennen glaubt, die 
eigentliche Urheberin, nämlich die Behörde, aus dem Spiel und geradezu 
unsichtbar bleibt, während die von ihr auf die Beine gebrachten und ge- 
flissentlich verleugneten Spitzel ihr Unwesen treiben. Es bleibt dabei zunächst 
unentschieden, welche Auffassung T. von dem Gutachter und der für ihn 
schreibenden Sekretärin gegenüber gewonnen hat. Auf die dahingehende 
Frage antwortet er freundlich aber vielsagend: Was das betreffe, so werde 
man ja nachher Bescheid wissen. Er verhalte sich jedenfalls vorher ganz 
passiv. Man gewinnt bei T. nicht den Eindruck, daß eine sehr aktive Form der 
Querulanz besteht. Das Rechtfertigungsbedürfnis ist bei ihm ersichtlich 
weniger stark, als das Bestreben, wieder ins Amt zu gelangen. Wenn man ihm 
gegenüber eine humoristische Note zur Anwendung bringt und dabei auch 
ein unverfängliches Thema wählt, kann er auf einmal ganz aufgeräumt werden 
und vertrauend und zugänglich sein. Daß er sich an sich gerne mitteilt, ver- 
sichert er ausdrücklich, weist allerdings auf die häufigen Enttäuschungen hin, 
welche ihm wiederfahren sind. Der freie Ton ist nicht nur sofort beseitigt, 
wenn nun die Rede auf die mißlichen Angelegenheiten in der Vergangenheit 
gebracht wird, sondern auch, wenn man sich mit T. über behördliche Dinge 
unterhält. Dann setzt er sofort eine Amtsmiene auf und gerät in Wichtigtuerei 
hinein. Alles hat dann für ihn auf einmal einen großartigen Hintergrund mit 


112 Walter Beztendahl 


viel Geheimnissen und vor allem ergreift dann das Formale und Technische 
Besitz von seinem Denken und Sprechen. Irgendwelche Zeichen von Zer- 
fahrenheit oder auch Maniriertheit finden sich bei ihm nicht. Der Affekt ist 
gut, es besteht im Gegenteil geradezu ein im Grunde ganz lebhaftes Tem- 
perament bei ihm. Nach außen dringt dabei nicht alles, T. empfindet selbst 
eine gewisse Passivität seines Wesens. Der entscheidende Zug ist die sensitive 
Gemütsbeschaffenheit. Die Grundstimmung bei ihm entspricht dem Typus 
der konstitutionell Depressiven. Trotz seiner verkehrten Auffassung der Ver- 
hältnisse, die er in mancher Beziehung hat, gelangt er doch nicht dazu, etwa 
noch Folgerungen in Bezug auf die Vorstellung erlittenen Schadens anzu- 
knüpfen, sondern alles verbleibt im Bereich der Fragen, wo die Schuld liegt 
und wer im Recht ist. T. versichert auch ausdrücklich, wie gleichgültig ihm 
der R., der damals die Anzeige erstattet hat, sei und wie er keinerlei Vergel- 
tungsbedürfnis ihm gegenüber habe. Das ist für ihn irgend ein verkommener 
Mensch, um den er sich nicht zu kümmern braucht. Was ihn ärgert, ist ledig- 
lich, daß sich der Staat so unlauterer Mittel bedient, um gegenüber dem äußer- 
lich richtigen aber im Endergebnis falschen Verfahrensgang noch nachträglich 
auf mehr oder weniger verborgenem Wege zu einer Begründung zum Zweck 
seiner Rechtfertigung zu gelangen. Welche Ähnlichkeit dabei die befolgte 
Methode mit dem ursprünglichen Vorgang, nämlich seiner eigenen Ärgernis- 
erregung und Beleidigung hat, entzieht sich ganz seiner Wahrnehmung. 
Überhaupt steht er sich nicht kritisch gegenüber und ist ohne Überblick hin- 
sichtlich der Veränderung, welche sich allmählich in seinem Innenleben voll- 
zogen hat. Die ersten Anfänge der Veränderung sind offenbar zu datieren mit 
der von ihm immer wieder in den Vordergrund gerückten Beeinträchtigung 
durch die giftigen Gase bei der Mottenbekämpfung in der Kleiderkammer. Von 
daher rührt eine hypochondrische Einstellung, welche sich zunächst nur auf 
die Atmungsvorgänge richtete, in Sonderheit auch auf den ihn sehr beein- 
druckenden und ihm verdächtig erscheinenden grauen Auswurf, den er zu 
Zeiten im Zusammenhang mit Zwicken im Rücken angeblich hatte, welche 
dann aber in ganz charakteristischer Weise an Stelle allgemeiner Beklemmungs- 
gefühle und unbestimmter Mißempfindungen sich auf die Herzgegend kon- 
zentrierte. Es sieht nach den Bemerkungen von T. hierzu und auch nach dem, 
was in den Akten hierüber enthalten ist, durchaus so aus, als ob gegen Ende 
der zwölfjährigen Dienstzeit mit den damit gegebenen Veränderungen der 
Lebensweise und den besonderen Zukunftserwartungen sich eine etwas ge- 
drückte und bängliche Gemütsverfassung in reaktiver Weise bei T. heraus- 
gebildet hatte. Seine Einstellung ist dabei nach der erfolgten Verabschiedung 
in bezeichnender Weise schwankend gewesen: Erst hat er den Zivilversorgungs- 
schein verkauft, dann hat er ihn wieder haben wollen. Es mag noch angefügt 
werden, daß T. in einigen glaubwürdigen und bezeichnenden Angaben zur 
Vorgeschichte als eine durchaus lebenszugewandte Persönlichkeit erscheint. 
Homosexualität lehnt er strickt ab. Mit seiner Frau soll ein gutes Einver- 
nehmen bestehen. Die Frau ist viel im Amt, betätigt sich in der NS.-Volks- 
wohlfahrt. Geschlechtsverkehr soll noch stattfinden und keinen Hindernissen 
unterliegen. Die besondere Frage, ob er Beziehungen zu Frauen auch vor der 
Ehe gehabt habe, wird von ihm in unbefangener Weise bejaht. Dabei betont 
er, daß er, wonach sich der Gutachter noch im Einzelnen erkundigt, durchaus 
nicht fürs Phantastische, sondern fürs Reelle gewesen sei, wie er sich aus- 
drückt. 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 113 


Beurteilung 


Bei E. T. finden sich keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines 
psvchischen Defektzustandes, speziell einer Veränderung der Per- 
sönlichkeit, wie sie im Verlauf eines schizophrenen Prozesses ein- 
zutreten pflegt. Andererseits fehlt es aber nicht an Auffälligkeiten 
des Wesens und ebensowenig an eigenartigen Verhaltensweisen 
nach Maßgabe des Akteninhaltes. T. macht abgesehen von den 
speziellen Vorfällen und dem, was ihn aktuell beschäftigt, den 
Eindruck eines Psychopathen, und zwar vom Typus der konsti- 
tutionell Depressiven. Eine affektive Verflachung liegt bei ihm 
nicht vor, eine humoristische Haltung läßt sich bei ihm durchaus 
wecken. Es bestehen auch bei ihm in ersichtlicher Weise tiefgehende 
und nachhaltige Interessen familiärer und auch beruflicher Art. 
T. hat seine Dienstzeit damals mit guter Beurteilung von Seiten 
der vorgesetzten Dienststellen absolviert. Offenbar ist er fleißig 
und genau gewesen. Als die zwölf Jahre, auf die er sich zunächst 
verpflichtet hatte, bald um waren, entwickelte er eine hypochon- 
drische Einstellung. In der Kleiderkammer, worin er zu dieser Zeit 
beschäftigt wurde und zwar speziell auch mit der Einmottung von 
Uniformen, konnte er auf einmal nicht mehr recht atmen und meinte 
die dabei verwendeten Konservierungsstoffe wirkten sich nach- 
teilig bei ihm aus. Dabei ıst aber zu berücksichtigen, daß er auch 
Zigarrenqualm nicht vertragen kann und überhaupt nicht den 
Aufenthalt in geschlossenen Räumen. Zu Beginn knüpfte er noch 
ganz an die Umstände seiner dienstlichen Umgebung an, bemerkte 
ein Zwicken im Rücken und stellte zur gleichen Zeit mit einiger 
Beunruhigung einen grauen Auswurf fest. Er konnte nicht recht 
durchatmen, aber als er dann nicht mehr in der Kleiderkammer 
nach seiner Dienstentlassung arbeitete, verblieb die Beeinträchti- 
gung und nun war es das Herz, was nicht richtig funktionieren 
sollte, und zugleich machte sich bei ihm eine bängliche Zukunfts- 
erwartung geltend. Vorübergehend wollte er offenbar etwas anderes 
anfangen, sich eine eigene Existenz begründen, wie das in dem Ver- 
kauf des Zivilversorgungsscheines zum Ausdruck gekommen ist. 
Dann müssen sich bei ihm wohl Zweifel geregt haben, Insuffizienz- 
gefühle aufgekommen sein; jedenfalls hat er den Zivilversorgungs- 
schein zurückkaufen wollen und im übrigen Versorgungsansprüche 
gestellt. Es sollte nun die Verwaltungslaufbahn sein, worin er sein 
Lebensziel erblickte. Wie er später in überzeugender Weise angibt, 
ist er von seinen Gewohnheiten als Polizeibeamter niemals losge- 
kommen, sieht alles mit solchen Augen an. Es ergeben sich Schwie- 
8 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


114 Walter Betzendahl 


rigkeiten, er dringt im Versorgungsverfahren nicht durch, und 
Erfolg in der Gewinnung einer selbständigen Stellung hat er auch 
nicht. Die Angabe, sich mit Selbstmordgedanken getragen zu haben, 
zur Zeit der Straftat, klingt nicht unglaubwürdig. Anscheinend hat 
er sich damals in auffälliger Weise auf den Straßen herumgetrieben, 
was im einzelnen gewesen ist, darüber steht dem ärztlichen Sach- 
verständigen hier kein Urteil zu. T. wurde angezeigt: er habe 
einen Passanten mehrmals angestoßen, dieser ist ihm gefolgt, hat 
ihn im Auge behalten und dann ihn angezeigt mit eidlicher Aus- 
sage, T. habe in einer Bedürfnisanstalt in Ärgernis erregender Weise 
und in beleidigender Zuwendung zu ihm onaniert. Der betreffende 
Zeuge war nach Maßgabe seiner Straftaten nicht nur, sondern auch 
der Situation, in der er sich damals gerade befand, gewiß als eine 
zweifelhafte Existenz zu werten. Jedenfalls ist das von Seiten T.'s 
geschehen. Andererseits ist anzuführen, daß sich doch der Eindruck 
ergibt eines auflälligen Verhaltens von T. zur damaligen Zeit und 
auch wohl einer irgendwie vorhandenen psychischen Störung und 
daß T. selbst angegeben hat, er habe seit längerer Zeit keinen nor- 
malen Geschlechtsverkehr mehr gehabt, übrigens um seine Kräfte 
zu schonen und für die Verfolgung seiner Rentenansprüche ein- 
zusetzen, und daß auch schon einmal eine Anzeige wegen Homo- 
sexualität vorgelegen hat, ohne daß es seinerzeit zu einer weiteren 
strafrechtlichen Verfolgung gekommen ist. T. wurde verurteilt, er 
wehrte sich dagegen, resignierte aber völlig, als die eingelegten 
Rechtsmittel sich als unwirksam erwiesen hatten. Dabei mag zu- 
nächst sein Sinn für Korrektheit bei behördentechnischen Er- 
ledigungen im Spiele gewesen sein: T. hebt immer wieder hervor, 
daß alles dabei äußerlich mit rechten Dingen zugegangen sei und 
Formfehler nicht vorliegen. Von seiner Schuld allerdings ist er 
dabeı ganz und gar nicht überzeugt. Es mag dahingestellt bleiben, 
inwieweit nicht doch auch insofern ein Ausnahmezustand vörge- 
legen hat, daß neben abnormen Antrieben auch die Übersicht über 
die Situation und die spätere Erinnerungsfähigkeit dadurch be- 
einträchtigt gewesen ist. Entscheidend ist das für die Auffassung 
seiner jetzigen seelischen Verfassung jedenfalls nicht. T. bemüht 
sıch garnicht, die damaligen Vorgänge zu rekonstruieren, sondern 
hat vielmehr seit dem gerichtlichen und ministeriellen Abschluß 
der Angelegenheit den Gedanken daran weitestgehend fallen ge- 
lassen, tut, als ob ihn das alles nichts mehr anginge. Seine Stellung- 
nahme setzt scheinbar ohne jede Vermittlung an einem ganz 
anderen Punkte ein: Das sind die Erlebnisse in der Untersuchungs- 
haft! Hier ist T., und zwar tatsächlich, eingesperrt gewesen, nicht 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 115 


mit mehreren sondern mit einem anderen Häftling. Da T. genau 
zu kennen meint, wie die Bestimmungen sind bei solchen Verfahren, 
sofern nämlich seiner Meinung nach sonst immer mehrere zusammen 
sind oder auch wohl einer allein, konnte für ihn diese Zellengemein- 
schaft nur einen ganz besonderen Grund haben. Das war dann ja 
auch dadurch nahegelegt anzunehmen, daß der Betreffende sich als 
ein ganz ungewöhnlich verkommener Mensch erwies. Es scheint 
nichts gegeben zu haben an persönlichen Unanständigkeiten und 
staatsfeindlichen Äußerungen, was nicht von dieser Seite ihm, ohne 
daß er sich wehren oder dem entziehen konnte, geboten wurde. 
Dabei fühlte er sich als eine Art von Uniformträger und dieses Indi- 
viduum war von keinem anderen auf die Beine gebracht, als vom 
Staate selbst. Das war das unmittelbare Erlebnis für T. In der 
Folgezeit hat er darüber nachgedacht und das Endergebnis der 
Systematisierung seiner unmittelbaren Wahrnehmungen, die doch 
wohl in der Hauptsache als Wahnerfahrungen anzusehen sind, ist, 
wie aus seinen versteckten, aber dennoch eindeutigen Äußerungen 
zu entnehmen ist: Es bestehe ein Rechtfertigungsbedürfnis von 
behördlicher Seite ihm gegenüber. Ein Wiederaufnahmeverfahren 
kann nicht stattfinden, schon aus dem Grunde nicht, weil eine 
verbüßte Freiheitsstrafe, wie ja auch das Ministerium entschieden 
hat, nicht rückgängig zu machen ist, nämlich im Gnadenwege. Die 
Berufung war ja schon vordem verworfen worden, weil er ja keine 
neuen Tatsachen hatte beibringen können und überhaupt nicht in 
der Lage war, das Gegenteil der eidlich erhärteten Tatsache zu 
beweisen. Es verblieben nun nur noch folgende beide Auswege, 
die dann auch mehr oder weniger bewußt von T. benutzt wurden. 
Was an ihm lag, so konnte er noch eindringlicher, als er es schon 
getan hatte, auf die Unzuverlässigkeit von Subjekten, mit welchen 
die behördlichen Stellen arbeiten, hinweisen. Das tat er aber nicht 
direkt, nämlich in bezug auf den Mann, der die Anzeige erstattet 
hatte. Den behandelt er vielmehr als jemanden, von dem zu reden 
sich überhaupt nicht lohne; betonte im übrigen, daß er sich nicht 
gegen staatliche Entscheidungen auflehne. Die Sache mußte für 
ihn erledigt sein. Gegenstand zur Beschwerde konnte bei der einmal 
eingetretenen Sachlage und nach Maßgabe der Konsequenz in der 
von ihm betonten disziplinierten Haltung als früherer Beamter 
und jetziger Bewerber um eine Staatsstellung nur das sein, was er 
in der Untersuchungshaft erlitten zu haben glaubte. Hier hat er 
auch das Gefühl, daß nicht er im Anklagezustand sich befand, 
sondern eigentlich die Staatsautorität. Von behördlicher Seite 
hatte man ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Man setzte ihm 
ge 


116 Walter Betzendahl 


nun diesen Kerl vor, damit der tatsächlich etwas durch sein Bei- 
spiel an unanständigen und Ärgernis erregenden Handlungen aus 
ihm herausholte oder ihn gar von seiner staatstreuen Gesinnung 
abtrünnig machte. Das ist nun keineswegs gelungen und T. meint 
auch mit einiger Selbstgefälligkeit, daß so etwas bei ihm ja auch 
gar nicht in Frage käme. Er empfiehlt sich der Behörde auch weiter- 
hin damit, daß er geradezu in nachsichtiger Haltung leise War- 
nungen ausspricht, sich doch nicht derartiger Elemente und zwar 
im Rahmen des sogenannten Spitzelsystems zu bedienen, da da- 
durch ebensowohl das Ansehen des Staates gemindert würde, wie 
auch staatsfeindliche Zwecke gefördert werden könnten. Er läßt 
dabei durchblicken, daß sein Widersacher aus dem Untersuchungs- 
gefängnis sich durchaus nicht an seinen staatlichen Auftrag ge- 
halten habe, sondern ebensowohl ihm Veranlassung dazu gegeben 
habe, sich beleidigt zu fühlen, als auch in Besorgnis zu sein, daß 
dieser Mensch mit seiner eingestandenen Verbindung mit Auslands- 
stellen die Sicherheit des Staates gefährde. T. wendet sich also an 
die Geheime Staatspolizei und deponiert dort eine große Denun- 
ziation gegen den Haftgenossen, wobei Punkt 8 der wichtigste ist, 
daß nämlich dieses Mitglied des heimlichen Spitzeldienstes zugleich 
Korrespondent fremder Mächte ist. Was nun weiter geschehen 
wird, wartet T. gelassen ab. Er hat das Seinige getan, mögen die 
verantwortlichen Stellen zusehen, wie sie sich ihrer Aufgabe ent- 
ledigen und ihre Pflicht erfüllen. Die ganze ihn schwer bedrückende 
Angelegenheit hat nicht nur eine Schwerpunktverschiebung er- 
fahren, sondern von der eigenen Person fort beschwert sie nun die 
Repräsentanten des öffentlichen Lebens. Wenn T. nicht gerade von 
andern an die Ausgangspunkte dieser Entwicklung zurückgeführt 
wird, ist er durchaus nicht niedergeschlagen, sondern beharrt, so- 
weit er nicht überhaupt ganz unbefangen heiterer Anwandlungen 
fähig ist, in einer durchaus befriedigenden Märtyrerpose. Damit. 
daß man dem Zeugnis eines Fahnenflüchtigen Glauben geschenkt 
hat, bloß weil dieser die Hand hochgehoben hat, hat es angefangen 
und damit hat sich die Haltlosigkeit des ganzen Systems bei der 
Polizei und vor Gericht zum mindesten hinsichtlich Beweiserhebung 
und Ermittlungsverfahren kraß an seinem Sonderfall heraus- 
gestellt. Er muß dafür büßen und er wird davon ebensowenig mehr 
Aufhebens zu seinen Gunsten machen, wie seinerzeit von dem 
Gesundheitsschaden in der Kleiderkammer durch den Mottenäther. 
Indessen soll man wenigstens die Lehre daraus ziehen, ihm Recht 
geben. Von beiden Seiten, von der staatlichen und von seiner, 
sollen dann die beiden nun einmal entschiedenen Verfahren er- 


ED el EEE u | 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 117 


ledigt bleiben; aber es soll anerkannt werden, daß er durch den 
zweiten Widersacher, den Zellengenossen aus der Untersuchungs- 
haft, durch dessen Unsauberkeit, Luftverpestung und dergleichen, 
schwer beeinträchtigt worden sei und dementsprechend ein An- 
recht auf Entschädigung und Versorgung habe. Gegen diesen Mann 
soll dann auch im eigenen Interesse des Staates vorgegangen wer- 
den, zwar nicht mit der Geheimen Staatspolizei, aber doch im regel- 
rechten Recherchierungsverfahren durch Personen mit Beamten- 
qualität, wie sich das für eine Behörde gehöre. Es findet sich also auch 
unter den Motiven T. ein Vergeltungsbedürfnis. Im übrigen verfolgt 
er auf einer anderen Ebene seine alten Ziele, in erster Linie Anerken- 
nung von entschädigungspflichtiger Gesundheitsbeeinträchtigung 
und Wiedereinstellung in den Staatsdienst im Wege der Versor- 
gung. Über diese Zusammenhänge ist sich T. selbst sicherlich nicht 
klar. Er denkt überhaupt nicht viel über sich nach, sondern objek- 
tıviert seine Konflikte, knüpft an sekundäre Personen als Adres- 
saten seiner persönlichen Regungen an, nämlich an den Haftgenos- 
sen an Stelle des anzeigenden Zeugen und macht seine Sache zu 
einer Staatsangelegenheit. Im Hintergrund steckt immer das Motiv 
des Uniformträgers. Solch einen Uniformträger hat er damals mit 
seiner ärgerniserregenden Handlung noch ganz im Speziellen be- 
leidigt. Der Betreffende war aber dabei im Grunde fahnenflüchtig 
und kriminell. Er selbst hat zwar die Uniform, wenn auch in allen 
Ehren, ausgezogen, wie er an einer Stelle eigens feststellt, will aber 
doch wieder ins Amt und fühlt sich auch immer als Uniformträger 
und muß sich nun gerade von behördlicher Seite ausgehend die 
Schamlosigkeit eines anonymen Spitzels gefallen lassen. Hier findet 
sich der Kernpunkt der eigentümlichen Konfliktsentstehung, welche 
ganz und gar das Wesen einer paranoischen Entwicklung ausmacht. 
Was diese angeht, so handelt es sich um den sensitiven Typus einer 
paranoischen Reaktion; dementsprechend tritt auch die Queru- 
lanz, d.h. die äußere Verfolgung seiner Ansprüche und seines 
Rechtes weitgehend hinter Vorgängen zurück, welche zunächst ın 
Gewissensregungen ihre Wurzel haben. Die depressive Gemüts- 
verfassung ist im Zuge der paranoischen Entwicklung mehr und 
mehr von einer gewissen Gehobenheit des Selbstgefühls abgelöst 
worden. Nach alledem muß der freilich abnorme psychische Zu- 
stand bei T. doch im wesentlichen als reaktiv bedingt und im Zuge 
einer motivierten Entwicklung entstanden aufgefaßt werden, wenn 
freilich auch neben dem Erlebnismäßigen konstitutionelle Anoma- 
lien auf seelischem Gebiete als Grundlage angenommen werden 
müssen. Die Voraussetzungen zur Annahme eines Erbleidens, ım 


118 Walter Betzendahl 


besonderen einer Schizophrenie, liegen damit aber nicht vor. Die 
vom Gericht gestellte Frage ist daher wie folgt zu beantworten: 
E. T. leidet nicht an Schizophrenie im Sinne des Gesetzes zur Ver- 
hütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933. 

Hierzu sei noch bemerkt, daß ich persönlich von der Schuld 
des T. keineswegs überzeugt bin. Auf der einen Seite steht das 
Zeugnis, und zwar das eidlich erhärtete des straffällig, dann fahnen- 
flüchtig gewordenen R., auf der anderen die sonst untadelige Per- 
sönlichkeit des E.T., vor allem aber der von ıhm selbst so emp- 
fundene und auch wohl objektiv sehr wahrscheinliche psychische 
Ausnahmezustand. E.T. war in eine immer tiefer greifende de- 
pressive Gemütsverfassung hineingeraten, und zwar im Verfolg 
nicht seines mißglückten Rentenkampfes, sondern des schlieBlichen 
Scheiterns seiner Bestrebungen, sich selbständig zu machen und 
zu einer passenden Daseinsausfüllung zu gelangen. Um eine endo- 
gene Verstimmung hat es sich sicherlich nicht gehandelt. E.T. 
ist wohl eine konstitutionell depressive Natur; aber zirkuläre 
Schwankungen sind bei ihm nicht aufgetreten. Er hat in pein- 
lichster Pflichterfüllung und auch mit einem wirklichen Hängen an 
seinem Beruf entscheidende Jahre hingebracht und es ist ihm im 
Grunde nicht recht gewesen, nach Beendigung der aktiven Dienst- 
zeit auszuscheiden. Man findet das vielfach, daß bei einer sich 
vorbereitenden, äußerlich geforderten Umstellung die alte Um- 
gebung zum Gegenstand des Herumnörgelns wird. Bei E. T. ging 
das noch weiter, insofern es ihm geradezu unheimlich zumute 
wurde, als er nun zu guterletzt in der Kleiderkammer tätig war, 
mit der Perspektive, die eigene Uniform demnächst auch an den 
Nagel hängen zu müssen. Daß der Mottenäther eine andere als 
eine bloß symbolische Rolle bei dieser zu Beeinträchtigungserleb- 
nissen disponierenden Seelenverfassung gespielt haben sollte, ist 
nach allem kaum anzunehmen, auch wenn E.T. nicht organisch 
so durchaus intakt, wie er es tatsächlich war, gewesen wäre: Die 
Atmosphäre in übertragener Bedeutung war ihm stickig geworden: 
den Rentenantrag hat er gestellt, weil er sich vor dem Absprung 
in das neue, auf sich selbst gestellte Dasein scheute. . 


Im Grunde hat er ja überhaupt in den Polizeidienst zurückge- 
wollt, wie sich dann späterhin ergab. Der ‚„Uniformträger“ ist er 
geblieben, und es ist scheinbar eine Ironie des Schicksals, daß hier 
der paranoische Konflikt seine Wurzel hat. Gerade beim Para- 
noiker, der ja immer die Umstände anschuldigt, ergibt es sich beı 
näherem Zusehen, daß er nur bei sich selbst die Verantwortung 


Eine paranoische Episode, Entstehung und Ausgleich 119 


zu suchen hat. Es brauchen nıcht unbedingt grobe Verfehlungen 
zu sein, sondern irgendwelche Empfindlichkeiten, die einmal nicht 
die nötige Schonung gefunden haben, denen jedenfalls aber die 
Kraft zum inneren Ausgleich mangelt. E. T. war früher immerhin 
leidlich equilibriert. Im Dienst und in der Familie fand er aus- 
reichenden Halt. Seine Frau hat auch fernerhin in unverrückbarer 
Treue an ihm festgehalten; die staatliche Position aber fehlte ihm. 
Er verzehrte sich in seinem Rentenkampf, nachdem er den vor- 
eiligen Verkauf des Versorgungsscheins zu bereuen hatte. Dabei 
hatte er über Herzbeschwerden und Schlaflosigkeit zu klagen. Er 
führte weiterhin nicht Impotenz an, sondern daß er sich vom ge- 
schlechtlichen Verkehr enthalte, um seine Kräfte für die Durch- 
setzung seiner Ansprüche zusammenzunehmen. Schließlich geriet 
er in Verzweiflung. Er irrte umher, ist auf irgendeine Weise mit 
dem bewußten Uniformträger karamboliert, ging noch in eine 
Bedürfnisanstalt, ehe er — wie er dies nicht unglaubwürdig ver- 
sichert — mit dem Leben Schluß machen wollte. Was sich da ab- 
gespielt hat, weiß man nicht recht. E. T. berichtet nur davon, daß 
er sich noch hätte Mut antrinken wollen, und er ist ja auch dann 
tatsächlich in eine Wirtschaft gegangen; der Inhalt der mitge- 
führten Kognakflasche, aus der er vorher getrunken habe, sei nicht 
ausreichend gewesen. Der Denunziant hat angegeben, E.T. habe 
ihn vorher in einer auf Homosexualität verdächtigen Weise auf 
sich aufmerksam zu machen gesucht, auch durch Anstoßen, und 
habe dann später von der Bedürfnisanstalt aus, so daß er es sehen 
konnte, onaniert. E. T. hat das bestritten. Man wird aber mit der 
Möglichkeit zu rechnen haben, daß er keine klare Erinnerung für 
die Vorgänge gehabt hat; es kann auch die Erfahrung herange- 
zogen werden, daß in Augenblicken höchster Angst, zumal vor 
schweren Entschlüssen, die abverlangt werden, sexuelle Span- 
nungen entstehen und übermächtig werden, wenigstens bei sensi- 
tiver Veranlagung. An Antecedentien, welche eine derartige Inter- 
pretation nahelegen, fehlt es keineswegs. 

Wie dem auch sei, ob also im objektiven Sinne eine Schuld als 
immerhin denkbar erscheint: im subjektiven Sinne gilt sie mir 
persönlich nicht als erwiesen. Das ist natürlich wichtig, um das 
Recht fertigungsbedürfnis von E. T. im vollen Umfange zu verstehen. 
E. T. hat in der Folgezeit in gutem Glauben gehandelt, zu Unrecht 
verurteilt worden zu sein. Es ist nun sehr bemerkenswert, wie der- 
artige Menschen doch nicht so sehr die Aufdeckung der Wahrheit 
zur Befreiung des Gewissens betreiben, als die Verfolgung alter 
Ziele auf der neuen Basis aufzunehmen. Man hätte ja denken 


120 Walter Betzendahl 


können, daß E.T. alles auf die Person des R. abgestellt hätte: 
aber der war ihm merkwürdigerweise völlig zur quantite negligeable 
geworden; ebenso war ihm das Strafverfahren als formell richtig 
ein abgeschlossenes Kapitel. Genau so wie bei seiner letzten dienst- 
lichen Verwendung vor der Entlassung die schädlichen Substanzen 
an Stelle der drohenden Umstellung bei ihm im Blickpunkt der 
Aufmerksamkeit standen, so war es später der mysteriöse Agent, 
welcher ihm mit seinem Verhalten dazu angetan schien, seine 
Meinung von der Anrüchigkeit der staatlichen Methoden zu 
stützen. Das hätte man begreifen können, wenn E.T. einen Zorn 
auf das fragwürdige Subjekt, welches ihn anzeigte, gehabt hätte, 
und ebenso, wenn er noch so nutzlos sein Hirn zermartert hätte, 
Licht in den Tatbestand zu bringen; aber dann wäre eben E.T. 
kein Paranoiker gewesen und das Ganze wäre einfach eine böse 
Geschichte und kein Krankheitsfall. 

Der Kernpunkt der Angelegenheit liegt im Psychopathologischen 
und nur von hier aus — eigentlich durch einen Zufall, nämlich 
durch das in Kraft getretene Erbgesundheitsgesetz — wurde eine 
Wiederaufrollung behördentechnisch möglich. Für den Paranoiker 
verflüchtigt sich die Wirklichkeit. Er kann weder fortlaufend an- 
schauen noch fühlen. Bevor noch das Schlüsselerlebnis der ab- 
normen Entwicklung eingetreten ist, ist er freilich mehr als jeder 
normal Empfindende darauf aus, den Vorhang des Lebens zu 
lüften, verstohlen und lüstern, bis dann der Kontakt da ist, mit 
dem er nicht fertig wird. Damit ist eine grundlegende Wandlung 
bei ihm eingeleitet. Er ist jetzt nicht mehr zu belehren; es kommt. 
ja auch gerade genug zu seiner Kenntnis: in der krankhaften 
Eigenbeziehung mit fälschlicher Deutung der belanglosesten Ge- 
gebenheiten. Dem gegenüber sucht er sich zu behaupten, technisch, 
speziell juristisch. Es ist auch nicht damit getan, daß nun alles 
irgendwie relevant würde an Stelle einer bloß faktischen Be- 
deutung, sondern aus der symbolischen Sphäre tritt der Para- 
noiker mehr und mehr in den querulatorischen Kampf ein, wo ın 
mehr oder weniger schneller Progression erst bei der letzten In- 
stanz haltgemacht wird. 

Mit dem Staat in seiner Absolutheit glaubt es auch E. T. schließ- 
lich zu tun zu haben. Es handelt sich nun darum, wer klein bei- 
geben muß, ob E.T. es ist, der es erreicht, ganz gleich, wie alles 
gewesen sein mag, wieder als der Repräsentant des öffentlichen 
Willens dazustehen. Ich glaube, daß die Prognose in diesem Falle 
doch nicht infaust ist, da E. T. Züge schwerer Entartung nicht 
bietet und die bei ihm beobachteten Auffälligkeiten und Verkehrt- 


Eine paranoische Episode, Entstehuug und Ausgleich 121 


heiten die Diagnose einer paranoischen Reaktion zulassen. Die 
konstitutionell-depressive Gemütsbeschaffenheit und insonderheit 
die sensitive Komponente sind ihm zum Verhängnis geworden, 
nicht etwa bloß die Verkettung von Umständen, wodurch der 
Konflikt provoziert wurde; aber E.T. zeigt nicht die Krüppel- 
haftıgkeit auf seelischem Gebiete, welche eine andere Gruppe der 
Paranoia, wobei der Verlauf unaufhaltsam ad peius führt, charak- 
terisiert. Bei E. T. wird viel von der demnächstigen Gestaltung 
seiner äußeren Lebensverhältnisse abhängen: der Erreichung einer 
gesicherten Position in engstem Rahmen. 


Einzelne Fälle 


von seniler Demenz im histopathologischen Bild') 
Von 
Irma Hogrefe 


(Aus der anatomischen Abteilung [Dr. Jacob] der Psychiatrischen 
und Nervenklinik der Hansischen Universität Hamburg [Direktor: 
Prof. Bürger-Prinz]) 


(Eingegangen am 28. Januar 1939) 


Wenn man von der Herausstellung der Pickschen und Alzheimer- 
schen Krankheit absieht, ist es trotz zahlreicher Bemühungen und 
Arbeiten auf diesem Gebiet bisher nicht gelungen, die klinische 
Sammelgruppe „senile Demenz“ dem anatomischen Hirnbefund 
nach in scheidbare Unterformen zu teilen. Es ist aber kein Zweifel, — 
und Bürger- Prinz hat in letzter Zeit auf Grund eines anamnestisch 
eingehend studierten klinischen Materials erneut darauf hinge- 


wiesen — daß wir klinisch vor allem der Verlaufsform nach, aber ! 


auch nach symptomatologischen Gesichtspunkten zu unterschied- 
lichen Untergruppen kommen können. Der von vielen Anatomen 
unternommene Versuch, die Einzelfälle lediglich nach der Zahl der 
aufzufindenden senilen Drusen zu gruppieren, dürfte von vorn- 
herein schon deshalb zum Scheitern verurteilt sein, weil die Ver- 
teilung dieser Ausfällungen nicht nur im Gesamtbereich der Hemi- 
sphäre sondern auch innerhalb des mikroskopischen Blickfeldes sehr 
variiert. Außerdem hat v. Braunmühl neuerdings betont, daß man, 
wenn auch zunächst nur hypothetisch, annehmen kann, die histo- 
logisch sichtbare Ausfällung von Drusen sei keineswegs ein Grad- 
messer für die tatsächlich vorhandene Menge ‚‚plaquefähiger 
Stoffe‘. Der größte Teil der Autoren stellt sich in den vorwiegend 
anatomischen Arbeiten über die senile Demenz überhaupt nicht 
die Aufgabe, gesonderte Einzelfälle herauszuschälen, sondern be- 
schäftigt sich lediglich mit der Histochemie und der formalen Ge- 
nese der senilen Drusen. Nur für einige wenige Fälle ıst es bisher 
gelungen, sie in ihrer eigenartigen Drusengestalt von den übrigen 
abzutrennen. Wir denken dabei an die von Boumann, Struwe und 
neuerdings von Scholz veröffentlichten Fälle, bei denen es sich vor- 
wiegend um Drusenausfällungen handelt, die um Rindengefäße ab- 


!) Dissertation der Hansischen Universität Hamburg. 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 123 


gelagert sind. Bei diesen Fällen fand sich häufig eine eigenartige, 
‚von der hyalinen Gefäßwandveränderung scharf zu trennende Ent- 
artung der betroffenen Hirnarterien und Kapillaren, die Scholz 
treffend als drusige Entartung der Gefäßwand bezeichnet. 


In letzter Zeit hat Jacob betont, daß sich aber außerdem aus 
der großen Anzahl von Einzelfällen einige, die in bezug auf die 
Drusengestalt einander ähnlich sind, andersartigen gegenüber 
herausheben lassen. 


An einer Reihe solcher Fälle wurde nun versucht, ein objektives, 
einer bloßen Schätzung möglichst entzogenes, Bild über Anzahl 
und Verteilung der verschiedenen Drusenformen beim Einzelfall 
zu gewinnen !!). Dabei zeigte sich, um eines der Hauptergebnisse 
vorwegzunehmen, daß sich bei ausgiebiger Untersuchung 
von Präparaten aus allen Teilen des Hemisphären- 
mantels Fälle, die durch bestimmte Drusenformen cha- 
rakterisiert sind, herausheben und anderen gegenüber- 
stellen lassen, die diese Formen überhaupt nicht auf- 
weisen. Daß eine solche Untersuchungsweise — und vielleicht 
augenblicklich vorwiegend eine solche — außerdem Einblicke in 
die formale Genese der senilen Drusen verschaffen kann, ist ein 
weiteres Ergebnis unserer Arbeit. Um ein möglichst unvoreinge- 
nommenes Bild zu gewinnen sind wir zunächst weder von der Auf- 
fassung, die Fischer, Alzheimer und andere vertreten, daß die ein- 
zelnen Drusenformen sich auseinander entwickeln können, noch 
von der v. Braunmühlschen Annahme ausgegangen, daß jede Druse 
im Zeitpunkt ihres Entstehens in ihrer Gestalt endgültig festgelegt 
ist. Wir verfügen noch nicht über sichere Kennzeichen, die uns 
erlauben könnten, von der Gestalt der Druse auf ihr Alter zu 
schließen. Es erscheint uns demzufolge als sehr hypothetisch, wenn 
einzelne Autoren jetzt schon versuchen, bestimmte Drusenformen 
für jünger als andere zu halten, um dann schließlich noch auf Grund 
des so beurteilten pathologisch anatomischen Befundes Rück- 
schlüsse auf den klinischen Verlauf zu ziehen. 

Wir haben hier lediglich versucht, die einzelnen Formen für jeden 
Fall möglichst genau zu beschreiben und ihr zahlenmäßiges Ver- 
halten zueinander zu verzeichnen. Es hat sich dabei gezeigt, 
daß die Formenfülle und Gestaltungsmöglichkeit durch 
die von Fischer herausgestellten Drusentypen bei wci- 
tem nicht erschöpft ist. Selbst die Drusentypen, die 


1) Aus Platzgründen wurde davon abgesehen, die für jede Drusenform inner- 
halb des Einzelfalles erhobene relative Zahl ım einzelnen anzuführen. 


124 Irma Hogrefe 


man gemeinhin als Kerndrusen bezeichnet, können sich 
von Fall zu Fall wesentlich voneinander unterscheiden. 


Wenn auch das Gesamtbild aller Veränderungen, die wir im 
Rindengrau bei Alterserkrankungen des Gehirns zu sehen gewohnt 
sind, natürlich ebenfalls eingehend untersucht wurde, so haben wir 
in der vorliegenden Beschreibung lediglich die verschiedene Art 
der Ausfällung ‚plaquefähiger Stoffe“ bei den einzelnen Fällen in 
den Vordergrund gestellt. Bei einem größeren Material werden sich 
vielleicht später auch Beziehungen bestimmt gearteter Drusenformen 
zu Veränderungen an den zelligen Elementen nachweisen lassen. 


Fall 4 (J. H., S. N. 65/37). 


Es handelt sich klinisch um einen 77jährigen Mann, der nach den Angaben 
der Angehörigen seit 1% Jahren zunehmend interesseloser und vergeßlicher 
geworden war. Seit einer Woche war er besonders nachts sehr unruhig und 
schimpfte ständig. Bei der Aufnahme in die Klinik war der Patient zeitlich 
und örtlich desorientiert, verhielt sich weiter sehr unruhig, packte dauernd 
mit dem Bettzeug herum und kam unter zunehmendem somatischem Verfall 
unter den Zeichen einer Bronchopneumonie ad exitum. Klinisch bestand neben 
dem als arteriosklerotische Demenz und Verwirrtheitszustand gedeuteten 
Persönlichkeitszerfall eine Körperlues (WaR + + +) und ein Diabetes mellitus 
mit 5,3% Urinzucker. | 


Sektionsbefund: Bronchopneumonien beider Lungen, schlaffes dilatiertes 
Herz mit Myokardschwielen, Koronar- und Aortensklerose. 

Das Gehirn war stark atrophisch besonders Vorder-, Schläfen- 
und Scheitellappen. Die Hinterlappen zeigten die geringste Atro- 
phie; diese reichte medial bis zum Cuneus. Ausgesprochen hoch- 
gradig war die Schrumpfung im gelblich-bräunlich verfärbten Prae- 
cuneus. Im rechten Lobus paracentralis trat diese Verfärbung 
ebenfalls deutlich hervor, und zwar stärker als links. Es bestand 
ein erheblicher Hydrocephalus internus. Das Hirngewicht betrug 
980 g, die Differenzzahl nach Reichardt + 24. 


Histologisch finden sich in allen Schnitten diffuse Ausfällungen 
seniler Drusen. Bei der Auszählung zeigt sich, daß beide Hemisphären 
verschieden stark befallen sind. So sind beide Frontallappen, das 
Gebiet der rechten Area striata, vordere und hintere Central- 
windung und die Temporallappen links besonders reichlich von 
Drusen durchsetzt. Schon hierbei wird deutlich, daß auch in weniger 
atrophischen' Gebieten die Drusenzahl ebenso hoch sein kann, wie 
in dem geschrumpften, daß also die Drusenbildung ein von der 
Schrumpfung weitgehend unabhängiger Prozeß sein kann. 


Die Anzahl der Drusen im Gesichtsfeld beträgt bei 100facher 
Vergrößerung im Durchschnittswert bei Fall 1: 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 125 


| rechts | links 
Im Bereich der 1. Frontalwindung . . . ..2.... 78 71 
2.u.3. „ be ai 89 50 
FR "Gebiet der Area striata, Peristriata u. Parastriata PF 66 36 
,„—— „, vorderen und hinteren Zentralwindung . 28 35 
k ” Bereich aller 4 Temporalwindungen . . ..... 35 48 


An Hand der nach v. Braumühl gefärbten Präparate lassen sich zunächst 
einmal zwei Gruppen voneinander erheblich verschiedener Drusenbildungen 
herausheben. Einmal handelt es sich um solche, bei denen sich im Schnitt eine 
rund oder oval geformte Verdichtung findet, die bei näherer Betrachtung mit 


Abb.1. Drusenformen des Falles1i. 


Die Formen a—d überwiegen bei weitem; die Formen e und f sind äußerst 
selten und vorwiegend im Schläfenlappen zu finden (Beschreibung siehe Text). 


der Ölimmersion aus bräunlichen nicht scharf gegeneinander abgegrenzten 
Flocken besteht (Abb. 1a). Seltener läßt sich hin und wieder ein undeutliches 
Gewirr ineinander verschlungener fädiger bräunlicher Massen erkennen. Diese 
Formen, die 48%, aller Drusen ausmachen, werden wohl am besten als 
„braune argentophobe!) Drusen“ bezeichnet. Diesen stehen nun andere 
Formen gegenüber, bei denen eine deutliche Argentophilie sichtbar wird. 
Aber auch hier sehen wir nicht selten, daß feinfaserige, feinkörnige, stern- 


1) Wir verstehen darunter Gewebsverdichtungen, die sich nur hell- oder 
dunkelbraun anfärben. Diese Bezeichnung halten wir für praktisch, wenn wir 
uns auch der Ungenauigkeit bewußt sind. 


126 Irma Hogrefe 


förmige oder grobästige Ablagerungen in ein ähnliches bräunlich-flockig ver- 
ändertes Grundgewebe eingebettet sind, völlig ähnlich den vorher beschrie- 
benen Drusen (Abb. 1b). Andererseits können aber die gleichen argentophilen 
Brocken — auch bei Betrachtung mit Ölimmersion — im unveränderten 
Grundgewebe eingelagert sein (Abb. 1c). 


Schließlich kann der Ablagerungsort gegenüber der Umgebung auffallend 
hell erscheinen, und wir haben dann Bilder vor uns, die den von Braunmühl 
als Primitivplaques bezeichneten ähnlich sind, nur mit dem Unterschied, daß 
die argentophilen Brocken nicht nur in den Randbezirken sondern auch im 
Zentrum liegen (Abb. 1d). Sicher stellt die genannte Gruppe dieser arge:to- 
philen Drusen den überwiegenden Teil dar. Daneben finden sich gleichgeartete 
argentophile Sternchen, die im histologisch unveränderten Grundgewebe 
einzeln verstreut sind, ohne fleckförmige Anordnung zu zeigen. Gerade solche 
Aussaaten zeigen, da sie sich einer Zählung entziehen, wie wenig eine Angabe 
der Zahl etwas über das Ausmaß der Drusenausfällung aussagt. Besonders 
auffallend ist nun, daß Drusenformen, die man allgemein üblich als Kern- 
oder Radspeichenform bezeichnet, nur im Gebiet der Area striata und im 
Temporallappen und. auch hier nur in äußerst geringer Zahl vorhanden sind. 
Bei näherem Studium dieser Formen zeigt sich ein bräunlich-argentophober aus 
flockigen und fädigen Massen gebildeter Untergrund, der sich von dem der 
„braunen argentophoben Drusen‘ nur durch eine dunklere Nuance unter- 
scheidet. Meist im Zentrum, aber auch peripher, liegen dann dichtverfilzte 
argentophile Fäden, die oft den Eindruck einer zusammengebackenen Masse 
machen, (Abb. 1f). Nur im Ammonshornendblatt zeigen sich Formen wie auf 
der Abb. 1e, bei denen sich eine ästig verfilzte argentophile Substanz durch 
einen lichten Hof von einem argentophoben bräunlichen aus fädigen Massen 
zusammengesetzten Wall abgrenzt. 


Eine Vermehrung von Hortegazellen und Astrozyten in unmittel- 
barer Nähe der Drusen ist deutlich festzustellen. 


Die Alzheimersche Fıbrillenveränderung findet sich nur in ge- 
rıngem Maße ausgeprägt. Die Ganglienzellen zeigen sämtlich eine 
starke Verfettung, die sich auch perivaskulär findet. Die Gliadeck- 
schicht ist verdickt. 


Fall 2 (S. V., S. N. 101/37). 


Es handelt sich um eine 80jährige Frau, die seit 9 Monaten wesensverändert 
war. Sie hatte optische Halluzinationen, war sehr vergeßlich, wurde in den 
letzten Wochen sehr unruhig und versuchte nachts fortzulaufen. In der Klinik 
war sie verwirrt, unruhig, desorientiert und subdelirant. Nach einigen Tagen 
setzten heftige Durchfälle ein, die motorische Unruhe wurde stärker und äußerte 
sich in einem leeren Bewegungsdrang. Eine Woche nach Beginn der Diarrhoen 
kam die Patientin infolge Kreislaufschwäche ad exitum. 


Klinisch bestand neben dem senilen deliranten Verwirrtheitszustand eine 
Thrombose im linken Bein. 


Sektionsbefund: Schlaffes dilatiertes Herz, dünnes brüchiges Myokard, ' 
kleine Schwielen, starke Rechts- und geringe Linksdilatation, sklerotisch ver- _ 
änderte Koronararterien, mäßige Atheromatose besonders des absteigenden 
Teiles der Aorta; Lungenödem, Randemphysem, Fettleber mit verdickter 
Kapsel, chronisch entzündliche Milz, verfettetes Pankreas, Gallensteine (Pig- 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 127 


ment-Cholesterin) arterio- und arteriolosklerotische Schrunipfnieren, faust- 
großes papillöses Ovarialkystom rechts, Kolloidstruma und Thrombose der 
linken Vena femoralis. 


Bei der Eröffnung des Schädels floß reichlich Liquor ab. Die 
Dura war fest mit der Calotte verwachsen, die Pia über denvorderen 
Hirnpartien stark getrübt; diese zeigten ın diesem Bereich eine 
mäßige Windungsatrophie. Es fanden sich auffallend weite basale 
Hirngefäße mit nur geringen Kalkeinlagerungen. Das Hirngewicht 
betrug 970 g, die Differenzzahl D: + 24. 

Bei diesem Fall ist die Drusenanzahl in den atrophischen Ge- 
bieten am höchsten. Auch hier ist eine Hemisphäre, die linke, 
stärker befallen. Die Auszählung brachte folgendes Ergebnis: 


| rechts links 

Im Bereich der Orbitalwindungen des Frontalhirns 20 45 
a - „ 41. Frontalwindung . .. 2. 2.2.2 .. 26 33 
s5 " „ 4. Temporalwindungen. . . m 18 23 
= H „ vorderen u. hinteren Zentralwindung 6 7 
Area striata, Peristriata u. Parastriata h 2 


Auch hier finden sich ähnlich wie beim vorigen Fall einmal argentophobe 
braune Plaques mit und ohne argentophile Einlagerungen (Abb. 2a) dann eben- 
falls meist feingranulierte argentophile Bröckchen auf hellem Untergrund 
ıPrimitivplaques nach ve. Braunmühl) und schließlich eine mehr diffuse Aussaat 
mittleren Grades von kleinsten argentophilen Sternchen und Ästchen in das 
anscheinend unveränderte Grundgewebe. Neben diesen Drusenarten kommen 
bei diesem Fall nur noch Kerndrusen vor, allerdings zum größten Teil anders 
weartet als die kernhaltigen Drusen des vorigen Falles. Man sieht zunächst nur 
einige anscheinend plumpe oder auch zierliche Kerne; bei genauerer Betrach- 
tung ist dann noch ein schwach sichtbarer, meistens etwas bräunlicher Kranz 
zu erkennen, der oft eine beträchtliche Entfernung vom Kern hat. Das Feld 
zwischen Kranz und Kern ist vollkommen hell. Diese Kerne haben bei stärkerer 
Vergrößerung eine unregelmäßige teils rundliche teils eckige Form; der Kranz 
besteht aus feinsten braunen argentophoben Fäserchen oder Flöckchen, die 
nur selten argentophile Einlagerungen zeigen. In einigen Fällen ist der Kern 
stark gezackt, und es gehen feine Fasern von ihm aus, die peripherwärts immer 
dunner werden. Man hat jedoch nicht den Eindruck, daß der Kern aus in- 
einander verfilzten argentophilen Ästchen besteht, wie bei den kernhaltigen 
Drusen des 1. Falles (Abb.2c). Ab und zu liegen in so gearteten Drusen auch 
zwei und drei Kerne; diese liegen dann dicht beieinander und haben einen ge- 
ıneinsamen ovalären Kranz (Abb. 2b). In einzelnen Fällen läßt sich auch bei 
stärkster Vergrößerung nur der Kern auf gelichtetem Grund aber kein Kranz 
feststellen (Abb. 2d). 


Hortegazellen und Astrozyten sind nur in geringem Maße in der 
Umgebung der Drusen vermehrt; Alzheimersche Fibrillenverände- 
rungen finden sich nur ganz vereinzelt. 

Fall 3 (L. H., S. N. 134/37). 


Es handelt sich um eine 76jährige Frau, die vor 3 Monaten eines morgens 
plötzlich verwirrt war. Sie sprach undeutlich und kannte den Sohn nicht, mit 


128 Irma Hogrefe 


dem sie immer zusammen gewohnt hatte. Von diesem Tage an war sie ver- 
geßlich, hatte aber zeitweise Einsicht und Kritik für ihre verschlechterten 
Leistungen. Sie wurde zunehmend ängstlicher, unruhiger, und es traten optische 
Halluzinationen auf. Von dem Tag der Klinikaufnahme an erreichte die Per- 
sönlichkeitsveränderung allmählich stärkere Grade. Die Patientin war nicht 
mehr ansprechbar und starb nach einigen Tagen an Bronchopneumonie und 
Kreislaufschwäche. Die klinische Diagnose lautete auf arteriosklerotischen Ver- 
wirrtheitszustand mit delirantem Zustandsbild. 


Sektionsbefund: Dilatation des rechten Herzens, brüchiges Myokard, 
verfettete Papillarmuskeln, Trübung des Endokards, atheromatöse Arterio- 
sklerose der Koronararterien und der ganzen Aorta, Stauungsleber, Stauungs- 
milz, Lungenödem und kollaterales Emphysem, hämorrhagisch-eitrige Pyelo- 
nephritis, arteriosklerotische Parenchymveränderungen beider Nieren, ver- 
kalktes Uterusmyom und cystisch entartete Ovarien. 

Bei der Eröffnung des Schädels floß wenig Liquor ab; die Dura 
war fest mit der Calotte verwachsen. Die Pia war ödematös ver- 
dickt und zeigte eine diffuse Trübung mäßigen Grades mit stipp- 
chenartigen weißlichen Fleckchen. Das Windungsrelief des Vorder- 
hirns war bis zur Scheitelhinterlappengrenze mäßig atrophisch. 
Beide Hinterhörner der Seitenventrikel waren etwas erweitert. Die 
Epiphyse war unverhältnismäßig groß; die basalen Hirngefäße 
waren mäßig stark verkalkt. Die Differenzzahl betrug D + 13 bei 
einem Hirngewicht von 1280 g. 


Bei der Betrachtung im mikroskopischen Bild sieht man fast 
ausschließlich Drusen mittlerer Größe, die über alle Gebiete gleich- 
mäßig verteilt sind. Die Drusen-Durchschnittszahl auf allen Schnit- 
ten beträgt 16 bei hundertfacher Vergrößerung. 


Die hier gefundenen Formen sind dieselben, wie die der vorher beschriebenen 
Fälle. Bräunlich flockige argentophobe Drusen aller Größen, in denen sich bei 
starker Vergrößerung argentophile feinste Fäserchen und Granula nachweisen 
lassen, liegen im unveränderten Gewebe (Abb. 3a). Daneben finden sich Stern- 
chen einzeln, diffus verstreut und in Konglomeraten. Zum Unterschied von 
Fall 1 sieht man etwas häufiger solche Drusen, die als kernhaltige bezeichnet 
werden müssen. Auch hier hat man den Eindruck, daß die Kerne teilweise von 
einem Filz argentophiler Äste gebildet werden (Abb. 3c). Stellenweise beob- 
achtet man aber auch ringförmige Gebilde mit hellem Zentrum, in denen sich 
kein Kern findet, und von denen oft nicht sicher zu sagen ist, ob es sich nicht 
vielleicht um einen Anschnitt handelt, der zufällig den Kern nicht getroffen hat 
(Abb. 3b). Andererseits trifft man stark argentophile Gebilde an, die denen im 
Zentrum der Kerndrusen ähneln aber auch bei stärkster Vergrößerung keinen 
Hof erkennen lassen und so den Morgensternformen gleichen (Abb. 3d). 


Hortegazellen und Astrozyten sind nur wenig in der Umgegend 
der Drusen zu finden; Alzheimersche Fibrillenveränderungen kom- 
men nur ganz vereinzelt vor. — Perivaskulär besteht erhebliche 
Verfettung; auch die Ganglienzellen sind zum Teil vollkommen von 
Fetttröpfchen, die den Zellkern an den Rand drängen, ausgefüllt. 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 129 


a 
b 
e 
=, A 
` A 
<i d 
d ~ 


Abb. 2. Drusenformen des Falles 2. 


Hier überwiegen Formen wie a, jedoch sind b—d häufiger zu finden als bei 
Fall 1 (Beschreibung siehe Text). 


Abb. 3. Drusenformen des Falles 3. 


Die Drusen a und b überwiegen; c und d treten häufiger auf als bei Fall 2 
(Beschreibung siehe Text). 


Fall 4 (M. W., S. N. 123/37). 


Eine stark demente 83jährige Frau, bei der leider über den Krankheitsbeginn 
nichts zu erfahren war, war bei der Aufnahme in die Klinik örtlich, zeitlich 
und persönlich vollkommen desorientiert und zeigte zeitweise eine starke mo- 
torische Unruhe. Während des Klinikaufenthaltes von 4 4, Monaten wechselten 
ruhige, leicht dösige Zustände ab mit Verwirrtheitszuständen deliranten Charak- 
ters. Die Patientin wurde zunehmend marantisch, soporös und starb dann an 
Kreislaufschwäche. 


Die klinische Diagnose lautete: senile Demenz mit Verwirrtheits- und Be- 
nommenheitszuständen; daneben bestand eine eitrige Endometritis. 

Sektionsbefund: Bronchopneumonien beider Lungen, Dilatation und 
Verfettung beider Herzventrikel, äußerst hochgradige Verkalkung der Mitralis 
9 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


130 i Irma Hogrefe 


und Aortenklappen, Verkalkung und Atheromatose der ganzen Aorta, Aneu- 
rysmabildung am Aortenbogen, Leberzirrhose und Verfettung, Verfettung des 
Pankreas, Zuckergußmilz und hämorrhagische Cystitis. 


Die Schädelcalotte war erheblich verdickt und hatte ein Gewicht 
von 412 Gramm. Es stellte sich eine alte, ziemlich hochgradige 
Pachymeningitis haemorrhagica interna vorwiegend in der rechten 
Schädelhälfte aber auch im linken basalen Teil der Dura heraus. 
Rechts fand sich ein markstückgroßer Herd, der gelbbraun und 
geschwürsartig zerfallen war. An dieser Stelle war die Pia ebenfalls 
bräunlich verfärbt. Über dem rechten Occipitallappen war die Dura 
in Kleinhandtellergröße cystisch abgehoben; die Pia war stippchen- 
artig getrübt und es bestand ein Pialödem über den vorderen Hirn- 
partien. Das Furchenrelief war bis an die Scheitellappengrenze 
stark atrophisch; die Basalpartien des Frontallappens, Temporal- 
und Occipitalhirns zeigten keine Schrumpfung. Die basalen Hirn- 
gefäße waren arteriosklerotisch verändert. Es bestand ein hoch- 


gradiger Hydrocephalus internus. Das Hirngewicht betrug 990 g, 
die Differenzzahl D: + 30. 


Von unseren in dieser Arbeit angeführten 5 Fällen hat dieser die wenigsten 
Drusen; die Durchschnittszahl beträgt 6 im Gesichtsfeld (bei hundertfacher 
Vergrößerung). Die Frontallappen, das Gebiet der Area striata und die Insel- 
rinde sind ungefähr gleichmäßig durchsetzt. Dieser Fall ist sehr formenarm; 
es kommen fast nur Kerndrusen mit plumpem am Rand wie ausgefranst aus- 
sehendem Kern vor, der von teilweise radiär gelagerten argentophilen körnig- 
faserigen Substanzen umgeben ist. Eine Anhäufung von stärker argentophilen 
Körnchen in der Peripherie der Drusen ist nicht vorhanden. Zwischen den 
einzelnen Körnchen liegen reichlich bräunliche Flocken. Die Drusen, die nur 
eine Körnelung aufweisen mit schwach angefärbten Flocken dazwischen, sind 
auch hier möglicherweise als angeschnittene Kerndrusen aufzufassen, bei denen 
der Schnitt oberhalb des zentralen Kerns verläuft. Da sie einen vollkommen 
gleichen Aufbau zeigen, ist diese Annahme wohl berechtigt, jedoch haben wir 
diese Drusen bei der Durchzählung nicht als Kerndrusen gezählt. 


Im Gegensatz zu den vorigen Fällen sind die Achsenzylinder, die durch die 
Plaques hindurchlaufen, kolbig aufgetrieben; andere stark verdrängt, so daß 
sie herumzulaufen scheinen. Stellenweise trifft man auf dunkler getöntes gegen 
die Umgebung unscharf abgegrenztes Gewebe, das seiner Beschaffenheit nach 
den braunen argentophoben Drusen ähnlich ist. Jedoch ist diese Grundgewebs- 
verdichtung ohne bestimmte Form über ein größeres Gebiet ausgedehnt, in 
einem Ausmaß, wie es bei den vorigen Fällen nicht zu sehen war, da die 
braunen argentophoben Drusen der vorigen Fälle meist rund und auch ziem- 
lich scharf begrenzt sind. Auch finden sich zum Teil argentophile feinste 


Fasern in wirrem Durcheinander mit winzigsten Körnchen zwischen bräun- 
lichen Flocken. 


Es besteht eine Randgliose mäßigen Grades; die Ganglienzellen 
sind nur an einigen wenigen Stellen verfettet. Mikrogliaelemente 
finden sich vermehrt an der Peripherie und im Innern der Drusen. 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 131 


Die Ganglienzellen weisen in ausgedehntem Maße die Alzheimersche 
Fibrillenveränderung in den verschiedensten Gestaltungen auf. 


Fall 5 (A.M.; S.M. 66/37). 


Es handelt sich um einen 73jährigen Mann, bei dem nähere Angaben über 
den Krankheitsbeginn nicht zu erheben waren. Bekannt ist nur, daß er in letzter 
Zeit sehr unruhig gewesen und nachts umhergewandert ist. Bei der Aufnahme 
in die Klinik war der Patient verwirrt, unruhig und machte einen sehr ent- 
- kräfteten Eindruck. Er ist dann bereits einen Tag nach der Aufnahme gestorben. 


Sektionsbefund: Dilatation beider Herzventrikel, Hypertrophie des lin- 
ken Ventrikels, Myokardschwielen, Endokardverfettung, Atheromatose des 
kKlappenapparates und der Aorta, alte Pleuraschwarten, Lungenödem, leichte 

Bronchitis, geringe Verfettung der Leber, Balkenblase. 


Die Dura war fest mit dem Schädeldach verwachsen, die Pia 
' über beiden Vorderlappen leicht getrübt. Beide Vorder- und 
Scheitellappen waren hochgradig atrophisch, ebenfalls der rechte 
Schläfenlappen und der Fuß der rechten Zentralwindung. Die 
basalen Hirngefäße waren mäßig verkalkt. Das Hirngewicht be- 
trug 1295 Gramm, die Differenzzahl D + 9. 


Bei diesem Fall ergeben sich die höchsten Drusenzahlen in den 
Temporallappen, die beide ungefähr gleich stark befallen sind. 
Die höchste Zahl von 61 dürfte jedoch noch zu niedrig sein, da 
sich bei der gewählten Vergrößerung die in großer Anzahl vor- 
handenen kleinen argentophoben bräunlichen Plaques wegen 
schlechter Sichtbarkeit einer Zählung entziehen. Die gefundenen 
Werte sind folgende: 


| rechts | links 
Im Bereich der 1. Frontalwindung . ... 2.2.2... 14 8 
X er w B Uode ne 1. Beer mie Aula da 11 22 
i ai „ vorderen 'und hinteren Zentralwindung 16 16 
ie „ 4 Temporalwindungen . ...... 61 41 
Area striata, Peristriata u. Parastriata 6 8 


9 29 


Jeder Schnitt weist reichlich Kerndrusen auf, die als Speichen- oder Rädchen- 
form oder in anderer Abwandlung in großer Anzahl vorhanden sind (Abb. 4a, 
tb). Ein plumper, tiefdunkler am Rande leicht zerbröckelter Kern mit knolligen 
Auswüchsen fällt sofort auf. Diese Auswüchse ziehen auch hier wie Speichen 
zum vorwiegend körnig-flockigen argentophilen z. T. auch bräunlich gefärbten 
Randwall. Der Vergleich der Abbildungen zeigt wohl deutlich, daß diese Kern- 
drusen von denen des 1. Falles völlig verschieden sind. Einige Drusen bestehen 
auch nur aus dem zentralen Kern mit vielen Körnchen herum ohne helleren 
Hof (Abb. 4c). Dann wieder kommen die helleren Hofdrusen vor, oder auch 
Drusen, die in flockigfädiger Substanz kleine stark argentophile Körnchen 
radiär gerichtet enthalten (wahrscheinlich angeschnittene Kerndrusen). Die 
Kerndrusen sind in allen Größen vorhanden, und zwar liegen die großen in 
den tiefen Rindenschichten, nahe der Markgrenze, während die kleinen vor- 
9e 


132 Irma Hogrefe 


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Abb. 4. Drusenformen des Falles 5. 


a—c die weitaus häufigsten Formen. Daneben sind ausschließlich ‚‚argento- 
phobe“ Drusen (d) vorhanden (Beschreibung siehe Text). 


wiegend in den höheren Rindenschichten zu finden sind. Doch stellt dies keine 
Regelmäßigkeit dar. Außer den Kerndrusen kommt hier nur noch eine Drusen- 
form vor, die argentophoben braunen Plaques, die zum Teil so klein sind, daß 
sie nur bei stärkster Vergrößerung sichtbar sind. Die mittleren und großen 
Formen liegen ab und an in Gefäßnähe, scheinen an die Gefäßwand angelagert 
zu sein und haben sich in ihrer Form dem Gefäßverlauf angepaßt. Auch hier 
bestehen fließende Übergänge zu diffusen bräunlichen Grundgewebsverdich- 
tungen. Dabei fällt aber im Gegensatz zu Fall 1 auf, daß sich in den geformten 
oder mehr diffusen flockigen Grundgewebsverdichtungen nur sehr selten wenige 
kleine argentophile Substanzen darstellen lassen (Abb. 4d). 


Fast im Bereich jeder Druse sind Hortegazellen und Astrozyten 
in größerer Menge vorhanden; außerdem finden sich Alzheimersche 
Fibrillenveränderungen, besonders knäuelartig aufgewundene, 
innerhalb der Ganglienzellen. 


Einzelne Fälle von seniler Demenz im histopathologischen Bild 133 


Zusammenfassung 


Unsere Untersuchungen zeigen, daß jeder der fünf 
einzelnen Fälle, die zwar alle das Vorhandensein einer 
Drusenausfällung gemeinsam haben, durch die jeweils 
vorhandenen bestimmten Drusengestalten eine be- 
sondere charakteristische Note erhält. 


Man kann die Fälle zunächst ganz grob ohne weiteres in zwei 
große Gruppen einteilen. Im Falle 1 finden wir eine erhebliche 
Aussaat „argentophober“ brauner Drusen mit und auch ohne Ein- 
lagerung argentophiler Bröckchen, argentophile Primitivplaques 
(nach v. Braunmühl), diffuse Ausstreuungen kleiner argentophiler 
Sternchen in unverändertes Grundgewebe und im Verhältnis zu 
den eben genannten Formen verschwindend wenige kernhaltige 
Drusen (2,4%). 

Demgegenüber steht Fall 5, bei dem sich nur argentophobe 
braune Plaques und kernhaltige Drusen aller Größen im Ver- 
hältnis 6: 8 finden. Wenn auch der Fall 4 dem letztgenannten in 
seinen Drusenformen auffallend ähnelt, so kann für die Fälle 2 und 3 
lediglich gesagt werden, daß sie in bezug auf die Drusengestalt 
eine Zwischenstellung zwischen Fall í und 5 einnehmen. 


Auf Grund unserer Untersuchungen an anderen Fällen, haben wir 
den vorläufigen Eindruck, daß gerade so geartete Fälle wie 2 
und 3 nicht selten beobachtet werden. Fälle mit einigermaßen ein- 
heitlichen Drusenformen, die wir als ‚reine Fälle“ bezeichnen 
möchten (Fall 5), scheinen demgegenüber seltener zur Beobachtung 
zu kommen. Gerade solche Fälle sind es aber, die uns unter Heran- 
ziehung des klinischen Verlaufes über die Pathogenese der Drusen 
Aufschluß geben können. 


Angesichts des klinischen Verlaufes bei Fall 1 (1!/,jährige 
Dauer der Erkrankung) erscheint uns die Annahme berechtigt, 
daß eine beträchtliche Menge der vorhandenen senilen Drusen 
älteren Datums ist. Wir möchten zunächst glauben, wenn wir es 
auch nicht beweisen können, daß es diejenigen Formen sind, die 
durch ihre Argentophilie auffallen. 


Auch die Art und die Hochgradigkeit des Abbaues der einzelnen 
Drusenformen scheint zunächst keinen Schluß auf ein verschiedenes 
Alter der einzelnen Drusen zu erlauben. Zum anderen erhärtet das 
Untersuchungsergebnis des ersten Falles die Annahme v. Braun- 
mühls, daß das Strukturbild einer Druse vom Augenblick der Ent- 
stehung an von vornherein festgelegt sein kann. Würde man eine 
Entwicklung der einzelnen Drusenformen auseinander im Sinne der 


134 Irma Hogrefe, Einzelne Fälle von seniler Demenz usw. 


Fischerschen Hypothese annehmen, so wäre die auffallende Selten- 
heit kernhaltiger, also „älterer“ Drusen unverständlich, da es sich 
hier ja um eine sehr lange Krankheitsdauer handelt. Der Fall 5 
hingegen, der nur in den letzten Wochen vor der Klinikaufnahıne 
der Umgebung auffällig wurde, zeigt überwiegend kernhaltige 
Drusen, nach Fischer also einangeblich ‚älteres‘ Drusenstadiun. 
Wir möchten auf Grund unserer Untersuchungen im Sinne der 
v. Braunmühlschen Auffassung annehmen, daß die Gestalt der 
Druse im großen und ganzen unveränderlich (abgesehen von der 
Gestaltveränderung durch Abbau seitens der Gliazellen) und durch 
Art und Menge des ‚„plaquefähigen Stoffes‘‘ mitbestimmt sein kann. 

Es erhebt sich nun die Frage, sind es besondere Vorbedingungen, 
vielleicht im Physiko-Chemismus des Hirngewebes, die erfüllt sein 
müssen, um nur Kernplaques oder nur kernlose Drusen entstehen 
zu lassen ? Sind es nur im Ablauf gleichmäßige oder auch gleich- 
zeitige Vorgänge, die zu denselben Drusenformen führen ? 

Die Beantwortung dieser Fragen muß weiteren Untersuchungen 
überlassen bleiben. Vielleicht wird man später an Hand eines 
größeren kasuistischen Materials, das in der von uns aufgezeigten 
Form noch nicht vorliegt, anatomisch gleiche und vor allem der 
Drusengestalt nach „reine“ Fälle mit klinisch ähnlichen Verläufen 
in Beziehung setzen können, und damit auch einen Einblick in die 
verschiedenen Verlaufsformen einzelner Gruppen von _ seniler 
Demenz gewinnen. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Die pathologische Anatomie der senilen Demenz und der Alzheimerschen 
Krankheit von E. Grünthal im Handbuch der Geisteskrankheiten, spez. Teil VII 
elfter Band 1930. — 2. Die presbyophrene Demenz von Oskar Fischer Z. 
Neur. 3. Bd. 1910. — 3. Neue Gesichtspunkte zum Problem der senilen Plaques 
von A. vo. Braunmühl Z. Neur. 133. Bd. 1931. — 4. Kolloidchemische Be- 
trachtungsweise seniler und präseniler Gewebsveränderungen von A. v. Braun- 
mühl, Z. Neur. 142. Bd. 1932. — 5. Über die Entwicklung der senilen Plaques 
von Bouman Z. Neur. 94. Bd. 1925. — 6. Die Psychosen des Um- und Rürk- 
bildungsalters von F. Kehrer, Z. Neur. 25. Bd. 1921. — 7. Die Psychosen 
des Rückbildungs- und Greisenalters von Spielmeyer, Aschaffenburg, Handbuch 
1912. — 8. Anatomische und klinische Studien zur senilen Demenz von H. 
Bürger-Prinz und H. Jacob, Z. Neur. 161. Bd. 1938. — 9. Zur Kenntnis der 
Hirnveränderungen bei der normalen Altersinvolution von Nils Gellerstedt. 
Upsala Lack. for Forh. N. F. 38 H. 5/6, 1933. 


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Präpsychotische Persönlichkeit und Krankheits- 


verlauf bei Dementia senilis 


Von 
U. Sabaß 


(Aus der Psychiatrischen und \ervenklinik der Hansischen 
Universität Hamburg. [Direktor: Professor Dr. Bürger- Prinz] ) 


(Eingegangen am 26. April 1939) 


Einleitung 


Die vorliegende Arbeit will einen klinischen Beitrag liefern zur 
Frage nach dem Zusammenhang zwischen seniler Demenz und 
primärer Persönlichkeit. Obwohl schon mancherlei Untersuchungen 
und Arbeiten über diesen Fragenkreis vorliegen, so ist er damit 
noch bei weitem nicht geklärt. Bürger- Prinz wies auf die Forde- 
rung Kehrers hin, der die Durcharbeitung von Einzelfällen ver- 
langte, um dadurch zu einer gewissen Materialsammlung und Klar- 
heit zu kommen. — Zur Analyse des Einzelfalles gehört eine sorg- 
fältige, ausführliche Anamnese. Darum sind hier nur solche Fälle 
verwertet, bei denen von mehreren Angehörigen des betreffenden 
Kranken eine möglichst genaue Vorgeschichte erfahrbar war. Auf 
die Schwierigkeiten und Fehlermöglichkeiten eines solchen Vor- 
gehens hat K. F. Scheid in seinem Aufsatz „Über senile Charakter- 
entwicklung“ ausführlich hingewiesen. Bei den beschriebenen 
Fällen ist eine bestimmte Auswahl hinsichtlich der verschiedenen 
Formen von Altersdemenz nicht getroffen worden. Ferner stehen 
nicht die Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber der arteriosklero- 
tischen Demenz im Bereich der obigen Fragestellung. Nach Runge 
und Bostroem ist die Hirnarteriosklerose allein aus dem klinischen 
Befund nicht mit Sicherheit auszuschließen, außerdem hat Kehrer 
sich mit der Frage dieser Abgrenzungsschwierigkeiten eingehend 
beschäftigt. 

Um hier einen kurzen Überblick zu geben über die Ergebnisse 
neuerer Untersuchungen, die das Problem der Zusammenhänge 
zwischen prämorbider und psychotischer Persönlichkeit bei seniler 


136 U. Sabaß 


Demenz diskutieren, so sei hier gesagt, daß die meisten Autoren 
für die Entstehung des abnormen, senilen Abbauprozesses der 
präpsychotischen Persönlichkeit eine weitgehende Bedeutung zu- 
kommen lassen (Meggendorfer, Weinberger, Bumke, Runge, Bos- 
troem, Bleuler, K. F. Scheid). — Meggendorfer und Bleuler stimmen 
darin überein, daß sie eine von vornherein psychopathische Ver- 
anlagung bei der senilen Demenz annehmen. Nach Bleuler sind 
abnorme Züge in der Vorgeschichte von senil-Dementen fast die 
Regel, und auch bei Meggendorfer finden sich als präpsychotische 
Persönlichkeit 40%, Psychopathen. Letzterer erklärt das Zustande- 
kommen der senilen Demenz aus der Zusammenwirkung zweier 
Faktoren: der eine ist in einer Prozeßanlage gegeben, vielleicht 
in der Anlage für den gewöhnlichen Altersprozeß, der andere ist 
„eine nervöse, reizbare, haltlose, vielleicht auch schizoide Veran- 
lagung‘“. Dieser Ansicht über die Entstehung der senilen Demenz 
schließt sich Bostroem in seiner 1933 erschienenen Arbeit ‚Über 
Presbyophrenie‘‘ an. An Hand eines größeren Materials läßt er 
für die Entstehung der Presbyophrenie, der hypomanischen Ver- 
anlagung und zwar den ‚„sthenischen, energischen, syntonen Na- 
turen‘ einen tiefgehenden, pathoplastischen Einfluß zukommen: 
„Es scheint mir sicher, daß für das Zustandekommen des pres- 
byophrenen Syndroms die Art des Hirnprozesses nicht von aus- 
schlaggebender Bedeutung ist....‘“ und weiter „Diese Voraus- 
setzungen‘‘ (nämlich für das Zustandekommen des presbyophrenen 
Krankheitsbildes) ‚sind offenbar in der Veranlagung gegeben, die 
sich in allen Fällen deutlich bereits in der präpsychotischen Per- 
sönlichkeit bemerkbar machen‘. — Bürger- Prinz hat bei der Un- 
tersuchung von 18 Presbyophrenen die Ansicht Bostroems nicht 
bestätigt gefunden. Er fand, ‚...daß in der Mehrzahl der Fälle 
eine Abhängigkeit der affektiven Struktur des Krankheitsbildes 
vom ursprünglichen Temperament nicht hergestellt werden 
konnte“. — Bostroem ist sogar der Ansicht, daß die sthenische, 
syntone Veranlagung die Kranken meistens vor einen weiteren 
psychischen Verfall bewahrt, so daß aus der Presbyophrenie nie- 
mals eine senile Demenz im engeren Sinne werden kann. 
Ferner spricht Bostroem von der Möglichkeit, daß es sich bei 
den manischen Zustandsbildern, die seine Kranken zeigen, um eine 
„bis dahin latente, manische Krankheitsbereitschaft handeln könnte, 
die durch den senilen Hirnprozeß manifest gemacht worden seien.“ 
Ähnliche Gedankengänge finden sich bei Bleuler und Berze auch, 
welche die Dementia senilis als eine durch den senilen Hirnprozeß 
manifestwerdende Schizophrenie betrachten. — 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 137 


Schließlich sei noch die von X. F. Scheid 1933 herausgegebene 
Arbeit „‚Über senile Charakterentwicklung‘‘ erwähnt. Der Verfasser 
beschreibt hier drei Fälle jener Formen, die sich „kennzeichnen 
als abnorme Charakterentwicklung im Senium bei Unversehrtheit 
oder doch nur geringer Beeinträchtigung des Gedächtnisses und 
des Denkens‘. Er kommt zu dem Schluß, daß es sich hier nur 
um quantitative Verschiebungen in dem System der Triebfedern 
und Strebungen, also um eine Entgleisung nach einer im Charakter 
begründeten Richtung handelt, so daß es also grundsätzlich Über- 
gänge zwischen normaler und pathologischer Persönlichkeit gibt. — 


Bevor ich mit der Beschreibung der in der Landesheilanstalt zu 
Neustadt in Holstein beobachteten 8 Fälle beginne, möchte ich 
noch einige kurze Vorbemerkungen zur Klarlegung der Begriffe 
„senile Demenz‘ und ‚„Presbyophrenie‘‘ geben. Beide Begriffe sind 
nicht ganz scharf und einheitlich umrissen. Jedenfalls stimmen die 
Ansichten der verschiedenen Autoren heute darin überein, daß 
unter Demenz nicht nur oder sogar nicht einmal in erster Linie 
eine Abnahme der intulektuellen Fähigkeiten, sondern der Abbau 
der gesamten Persönlichkeit schlechthin verstanden wird. So faßt 
Reichardt z.B. die Demenz auf als Störung der Intelligenz mit 
gleichzeitiger Anomalie der Zentralfunktionen, nämlich der Affek- 
tivität und des Antriebes. — 


Bürger-Prinz und Kaila stellen bei der ‚‚senilen“ nicht die ,in- 
tellektuelle‘‘ Demenz in den Vordergrund, sondern die Verände- 
rung und Lahmlegung der ‚‚vitalen‘‘ Schicht, die Entpersönlichung. 
Ebenso fehlen bei den drei Fällen, die K. F. Scheid beschrieben hat, 
die Intelligenzstörungen weitgehend, er betont, daß die Demenz 
sich hier fast rein im Gebiet der Persönlichkeit abspiele und daß 
man bei seinen Fällen von einer ‚dementen Persönlichkeit‘ im 
Sinne Bumkes reden könne. 


Unter Presbyophrenie sei hier nicht wie bei Bleuler eine senile 
Psychose verstanden, bei der die motorische Erregung im Vorder- 
grund steht, sondern jenes Zustandsbild, welches Wernicke durch 
die „Attenz und affektive Lebendigkeit‘‘ gekennzeichnet und wel- 
ches Bostroem neu umschrieben hat. Letzterer definiert die Pres- 
byophrenie als ein Krankheitsbild, bei der die geistige Regsamkeit 
und das Urteil erhalten bleibt im Gegensatz zu der schweren 
Merkstörung. 


Die Reihenfolge, in der ich die beobachteten Kranken be- 
schreibe, ist unter dem Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit 
verwandter psychotischer Zustandsbilder geschehen, ohne irgend 


138 U. Sabaß 


welche strengen Richtlinien dabei einzuhalten. Auf den oben ge- 
stellten Fragenkreis soll nach der Beschreibung sämtlicher acht 
Fälle eingegangen werden. 


1. Fall Frau Elie Ssch. Alter: 80 Jahre. 


Diagnose: Senile Demenz mit depressiver Verstimmung. 


Familienanamnese und Lebenslauf (Angaben ihrer Söhne): 


Patientin ist die Tochter eines schwedischen Bauernpaares, das infolge 
eines Unfalles früh starb. Über besondere Erkrankungen in der Familie ist 
nichts bekannt. 3 Brüder der Patientin leben in den Vereinigten Staaten in 
guten Verhältnissen und haben sich angeblich eine Existenz selbständig ge- 
gründet. Elise Sch. ist 1857 geboren und kam als 3jähriges Kind nach Deutsch- 
land, wo sie von Verwandten, die in Holstein eine kleine Bauernwirtschaft 
besaßen, erzogen wurde. Sie war in der Dorfschule eine gute Schülerin, nach 
der Schulentlassung hat sie sich sofort als Haus- und Kindermädchen ihren 
Lebensunterhalt verdient. 14 Jahre lang ist sie in 3 Stellungen tätig gewesen 
und heiratete dann mit 28 Jahren den Arbeiter Fritz Sch. Sie erzog ihre 
beiden Söhne und lebte mit ihrem Manne 50 Jahre lang in glücklicher Ehe. 
1936 begann ihre rasch ablaufende Krankheit, die im Juni 1937 ihre Über- 
weisung nach Neustadt erforderlich machte. Sie starb im August 1937 infolge 
eines Darmkatarrhs. 


Praemorbider Charakter: Als Hauptmerkmale der gesunden Per- 
sönlichkeit sind die starke Vitalität und die große Willensstärke und Streb- 
samkeit bei guter, durchschnittlicher Begabung zu bezeichnen. Die beiden 
Söhne schildern sie als eine starke Frau, die bis ins hohe Alter hinein gesund 
und kräftig war in körperlicher und geistiger Hinsicht. Selbstlos und immer 
einsatzbereit für ihre Familie, schaffte sie unermüdlich in Haus und Garten, 
nähte sämtliche Wäsche für den Haushalt und die Kleidung für sich und 
ihre Kinder, strickte und handarbeitete auch für andere, und wenn in der 
Nachbarschaft jemand krank war, so war sie es, die helfen mußte. Ihr ganzes 
Wesen war beherrscht von einer großen Schaffensfreudigkeit bei guter Lei- 
stungsfähigkeit des Körpers. Sonntags machte sie mit ihrer Familie gern weite 
Spaziergänge und Ausflüge, bei denen ihr Ehemann und oft auch die Söhne 
Mühe hatten, mit ihr Schritt zu halten. — Stimmungsmäßig war sie aus- 
geglichen, zeigte ein gleichmäßig freundliches, hilfsbereites und dennoch zu- 
rückhaltendes Wesen, das niemals durch Verstimmungen oder äußere Ereig- 
nisse nach außen hin verändert wurde. Wenn andere kopflos waren, so wahrte 
sie eine ruhige, selbstbeherrschte Haltung, ließ sich nie zu Affekthandlungen 
hinreißen, sondern handelte sicher und überlegt. Ihren Mann, der leicht erregt 
und über seine Arbeitskollegen oft verärgert war, konnte sie am schnellsten 
beruhigen. Sie gab sich niemals unnötigen Sorgen und Grübeln hin. Auch den 
Schwierigkeiten im Leben sah sie mutig mit gesundem Optimismus entgegen. 
Dieses zeigte sich z. B. als ihre beiden Kinder an einer schweren Diphterie 
erkrankten. Der ältere Sohn erzählt, daß seine Mutter nicht wie die anderen 
traurig war, als ihre beiden Kinder im Weltkrieg an die Front gingen, sondern 
wie immer froh und zufrieden blieb. Bei solchen Gelegenheiten kam ihr starkes 
Gottvertrauen zum Ausdruck, das in ihrer einfachen Religiosität, die sie nur 
ganz selten nach außen hin zeigte, begründet war. 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 139 


In ihrem Hause setzte sie ihren Willen durch. Da sie klug und umsichtig 
handelte, ordneten sich die anderen meistens gern unter, und so kam es selten 
durch ihren Eigenwillen zu Konflikten innerhalb des Familienlebens. Kam es 
zu Meinungsverschiedenheiten, so ließ sie es nie zu einer lauten Auseinander- 
setzung kommen, war scheinbar mit der anderen Meinung einverstanden, 
handelte nachher aber doch nach ihrem Willen. Für die Familie war diese 
Eigenwilligkeit der Mutter etwas Gutes; sie erreichte es durch Fleiß und Spar- 
samkeit, daß die Eheleute sich bei dem kleinen Gehalt ein eigenes Haus und 
einen großen Garten erwarben. Während ihr Mann wünschte, daß die Söhne 
nach der Schulentlassung auf dem Lande arbeiten sollten, ruhte sie nicht eher, 
bis die Kinder ausgelernt und eine sichere und gute Stellung hatten. Ihr näch- 
stes Ziel war dann, ein kleines Vermögen zu ersparen, um sich und ihrem Mann 
einen sorgenfreien Lebensabend zu sichern. Auch diese letzte Lebensaufgabe 
hat sie mit Fleiß und Energie gelöst. Nachdem das Geld durch die Inflation 
verloren gegangen, fing sie wieder von Neuem an zu arbeiten und zu sparen 
für das nahe Alter. Sie sprach zwar oft von dem Geldverlust, war aber trotz- 
dem noch 10 Jahre lang die frische, schaffensfreudige Frau. Noch bei ihrer 
goldenen Hochzeit 1935 war sie in guter körperlicher und geistiger Frische und 
hat als 78 Jährige am Abend viel getanzt. 


Krankheitsbeginn und Verlauf: Drei Wochen nach der goldenen 
Hochzeit begann ihre körperliche Rüstigkeit auffallend zurückzugehen. Es 
fiel ihr schwer, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, die körperliche Arbeit 
strengte sie plötzlich an und machte sie müde. Pat. klagte öfters über große 
Schwierigkeit beim Sehen und Hören. Die Söhne erzählen, daß die Mutter 
im Verlauf des Jahres 1936 acht Kilo abgenommen habe, und daß das greisen- 
hafte, verfallende Aussehen innerhalb dieses Jahres viel deutlicher geworden 
sei. Mit der raschen Abnahme der körperlichen Rüstigkeit trat gleichzeitig 
ebenso rasch eine schwere Wesensveränderung auf. Schon zu Weihnachten 
1935 war auffällig, daß Frau Sch., nicht wie sonst vor dem Fest, für die Kinder 
und Bekannten einkaufte und Kuchen backte. Auf Fragen erklärte sie: ‚Ich 
habe ganz vergessen, daß Weihnachten ist, nun kann ich das nicht mehr alles 
schaffen‘. Sie begann, sich zurückzuziehen, wurde autistisch, teilnahmslos 
und vergeBlich. Sie wußte z. B. nicht mehr, daß ihr ältester Sohn bereits meh- 
rere Jahre in Hamburg verheiratet war. Sie verwechselte die Wochentage und 
die Jahreszeit, in der sie lebte, versagte auch geistig bei ihrer Arbeit, ver- 
wechselte beim Kochen z.B. Salz mit Zucker, so daß die Schwiegertochter 
helfen mußte. Sie veränderte sich auffallend nach der depressiven Seite, 
konnte sich stundenlang in ihre Sorgen und Grübeleien vergraben. Oft sprach 
sie davon, daß ihr Mann und sie im Alter verhungern müßten und ihre Kinder 
ebenfalls. Sie war nicht davon zu überzeugen, daß die Söhne gut versorgt 
waren. Hinzu kamen wahnhafte Ideen, die immer irgendwie das traurige Los 
ihrer Angehörigen als Inhalt hatten: ‚‚Meine Kinder laufen im Wald herum, 
sie haben sich verirrt und haben nichts zu essen“, (Das Haus, das sie bewohnt, 
liegt am Rande eines Waldes. —) oder ‚Nun ist Fritz (ihr Ehemann) ver- 
hungert; ich habe ihm nichts gegeben, jetzt ist er tot. — Das Geld ist nun 
weg. —“ Eine eingehende ärztliche Untersuchung in R. ergab außer der hoch- 
gradigen, allgemeinen Altersatrophie keinen besonderen Krankheitsbefund; 
der Arzt wies die Kranke im Juni 1937 mit der Diagnose ‚‚Altersdemenz“ in. 
die Heilanstalt Neustadt ein. 

Befund und eigene Beobachtungen in Neustadt: (Juni 1937) 
Bei der Achtzigjährigen handelt es sich um eine kleine (Körpergröße 152 cın) 


140 U. Sabaß 


pyknische Greisin in stark reduziertem Kräfte- und Ernährungszustand mit 
sehr dünnen, weißen Haaren, zahnlosem Mund, beiderseits getrübter Cornea 
und erheblicher Schwerhörigkeit. Die Herztöne sind sehr leise und der Puls 
ist weich. An den übrigen Organen ist kein pathologischer Befund festzustellen. 
Das Gesicht hat einen maskenartigen, gleichmäßig müden, teilnahmslosen und 
etwas trübsinnigen Ausdruck. — Pat. liegt still im Bett, ist vollkommen an- 
triebs- und interesselos. Sie ist kaum zum Essen zu bewegen. Unterhaltung 
und Fragen strengen sie an und quälen sie. Über Ort und Zeit ist sie vollkommen 
desorientiert, meint nun (im Juli), es sei Herbst, obwohl sie auf der Veranda 
in der Sonne liegt. Das Gedächtnis für die letzten Jahre ist völlig geschwunden. 
Sie meint, daß ihr Sohn, der bereits 5 Jahre verheiratet ist, in der Lehre sei, 
und daß ihr Mann, der seit 10 Jahren nicht mehr arbeitet, heute beim Bauern 
dresche. Bei jeder Antwort muß sie sich lange besinnen; alles, was sie sagt, 
kommt müde und schwerfällig heraus. Auf die meisten Fragen antwortet sie: 
„Das weiß ich nicht‘ oder ‚‚Das weißt Du besser als ich. Mein Gott, warum 
fragt Ihr mich soviel?“ Auf Sprichworterklärungen geht sie gar nicht ein, die 
Aufgaben 2 mal 2 und 3 mal 4 löst sie richtig. Auf die Frage, wieviel 9 mal 8 
sei, antwortet sie: „Das sind doch 89, nicht?“ Stimmungsmäßig bleibt sie 
depressiv und äußert manchmal trübe, wahnhafte Gedanken: ‚‚Mutter Schlich- 
ting, warum sind Sie so traurig ?“ ‚Dat weißt Du ja!“ — ‚Nein‘. — ‚Dat muß 
ich ja sein“. „Warum denn“ ?. — Darauf stöhnt sie und blickt kummervoll 
vor sich hin. „Früher haben Sie oft gelacht!“ ‚‚Ja, nu geiht dat nich mehr! — 
Auf die Frage nach dem Grunde für ihr Verhalten gibt sie meistens keine Ant- 
wort. Zuweilen sagt sie: „Ech weiß, was mir bevorsteht‘‘. — ‚Ich muß ver- 
hungern‘“. — ‚‚Meinen Kindern gehts so schlecht, die müssen verhungern‘. — 
„Ich soll getötet werden“ oder dgl. Sie ist auf keine Weise zu beeinflussen. 
Auch beim Besuch ihrer Söhne, die sie erst nach langem Besinnen erkennt, 
bleibt sie traurig und teilnahmslos. Die Versicherung ihrer Kinder, daß es 
ihnen gut geht, berührt sie gar nicht. — 


Im Verlauf eines Darmkatarrhs verfällt sie zusehends und stirbt im 
August 1937. 


Epikrise: 


Bei der praepsychotischen Persönlichkeit handelt es sich hier 
um eine begabte, willensstarke Frau von großer Vitalität und 
gleichmäßiger, froher Stimmung. Ihre körperliche und geistige 
Rüstigkeit und Schaffensfreudigkeit behält sie bis ins hohe Alter 
hinein. Noch bei ihrer goldenen Hochzeit zeigt die 78 Jährige 
Greisin eine starke, lebendige Anteilnahme an diesem Ereignis 
und tanzt während des ganzen Abends. — Einige Wochen später 
vollzieht sich bei ihr ein plötzlich einsetzender und sich rasch 
zum Höhepunkt entwickelnder Abbauprozeß der gesamten Per- 
sönlichkeit. Die Arbeitskraft und das lebhafte Interesse für ihre 
Aufgaben lassen schnell nach, Merkfähigkeits- und Gedächtnis- 
störungen verbunden mit Confabulationen treten auf, sie äußert 
Wahnideen mit traurigem, ängstlichem Inhalt und verfällt ın eine 
depressive Stimmung. Sie ist dabei teilnahmslos und schwer an- 


Prüpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 141 


sprechbar, affektiv reagiert sie weder auf freudige noch auf traurige 
Ereignisse. Mit dem geistigen Verfall parallel geht der körperliche 
einher. — Die „senile Demenz“ entwickelt sich hier auffallend 
rasch und erreicht schon in wenigen Monaten ihren Höhepunkt; 
man kann in diesem Fall wohl von einem Krankheitsprozeß 
sprechen, ın dessen Verlauf die geistigen Beziehungen zwischen 
praepsychotischer und kranker Persönlichkeit weitgehend aufge- 
hoben sind. 


2. Fall Frau Marıa J. Alter: 78 Jahre. 


Diagnose: Einfache Dementia senilis. 


Lebenslauf: Sie ist am 10. Juli 1859 als Tochter des Landarbeiters 
Hartwig G. geboren. Über weiteres Auftreten von Altersdemenz in der 
Familie läßt sich nichts ermitteln. Die Patientin hat eine schöne Kindheit 
verlebt; ihre Eltern waren strebsame, fleißige Menschen, die sich ein eigenes 
Haus und einen großen Garten mit einem Stück Feld erwarben. Sie war die 
4. von 5 Kindern. Heute lebt außer ihr nur noch der älteste Bruder (85 Jahre 
alt) in recht gut erhaltener körperlicher und geistiger Frische. Nach der Ent- 
lassung aus der Volksschule Uetersen war sie dort 2 Jahre Hausmädchen, 
lernte danach 1 Jahr schneidern und nähte dann zu Hause für die Mutter, 
Geschwister und auch für fremde Leute. Mit 2% Jahren heiratete sie den 
Schuhmachermeister und Musiker Wilhelm J., mit dem sie fast 50 Jahre in 
glücklicher Ehe lebte. Von den 3 Kindern sind die beiden Töchter im Alter 
von 1 und 12 Jahren gestorben, der Sohn starb mit 38 Jahren im Krankenhause 
Uetersen an einer Endokarditis lenta. Nach dem Tode ihres Mannes, der 1933 
einem Blasenleiden erlag, behielt Frau J. einen Teil ihrer Wohnung, während 
sie die übrigen Zimmer vermietete. Die letzte Zeit verlebte sie im Pflegeheim, 
wo sie nur 8 Wochen blieb. Von dort wurde sie im Juli 1937 in die Neu- 
städter Anstalt überwiesen. 


Praemorbider Charakter: Von Bruder und Nichte wird sie geschildert 
als eine lebhafte, frische Frau mit heiterer Grundstimmung und leicht beweg- 
lichem Temperament. Von ihren 5 Geschwistern war sie die Lebhafteste und 
Geweckteste, war in der Klasse immer die beste Schülerin, mußte bei Schul- 
feiern Gedichte aufsagen, Theater spielen usw. Auch säter liebte sie kleine 
Festlichkeiten und geselligen Verkehr mit anderen, besonders mit ihren vielen 
Verwandten, fuhr gern für einen Tag zu Besuch, fand mit allen schnell Kon- 
takt und nahm an allen Familienangelegenheiten Anteil. Da der Mann neben 
seinem Beruf Musiker war und oft zu Hochzeiten, Tanzfesten usw. aufspielen 
mußte, hatte sie oft Gelegenheit, daran teilzunehmen. — 

Dabei hat sie ihren Haushalt fleißig und sauber besorgt; noch heute zeugt 
die mitgebrachte Wäsche der Alten von ihrer Ordentlichkeit. Ihre Kinder sahen 
ebenfalls immer gepflegt aus. Sämtliche Kleidungsstücke für sich und die 
Kinder nähte sie selbst und schneiderte außerden für Bekannte, um noch 
einen kleinen Nebenverdienst zu haben. Bei ihrer geistigen Regsamkeit hat 
sie neben dem Haushalt in ihren Mußestunden gern gelesen, die Unterhaltungs- 
bücher von Keller, Rudolf, Ganghofer usw. sind ihr bekannt. — Sie besaß 
eine gute Anpassungsfähigkeit und konnte sich auch in schwierige Situationen 
schnell einleben. Bei Krankheitsfällen in der Familie, in den Kriegsjahren, 


142 U. Sabaß 


nach dem Verlust ihrer kleinen Ersparnisse durch die Inflation nahm sie alle 
Sorgen nie zu schwer, und obgleich sie z. B. vom Tode ihrer Kinder zunächst 
gefühlsmäßig tief beeindruckt war, so kam ihr gesundes, heiteres Wesen nach 
kurzer Zeit wieder zum Durchbruch. — Obwohl sie meistens vergnügt und 
bei ihren Mitmenschen beliebt war, so zeigte sie doch eine gewisse Reizbarkeit 
und Empfindlichkeit, so daß eine Kleinigkeit bei ihr recht unangenehme 
Launen und Schrullen hervorrufen und sie mißgestimmt und streitsüchtig 
machen konnte. Doch nach jedem Ärger und Streit reagierte sie wieder schnell 
ab und war nie nachtragend, wenn andere sie beleidigt hatten. — 


Krankheitsbeginn und Verlauf: Ihre Wesensveränderung wurde auf- 
fällig kurz nach dem Tode ihres Mannes, als sie 75 Jahre alt war. Sie begann 
dauernd zu behaupten, ihre Schwiegertochter oder ihre Hausbewohner hätten 
sie bestohlen, hätten ihr Geld und Kleidungsstücke fortgenommen oder Haus- 
geräte versteckt. Dadurch kam es oft zu Streitigkeiten; die Verstimmungen 
und die Reizbarkeit der Patientin nahmen zu; sie zog sich zurück, besuchte 
nicht mehr wie früher ihre Verwandten und ihren Bruder und meinte, ihnen 
zur Last zu fallen. Sie vermißte täglich etwas anderes von ihren Sachen, und 
so wurde sie immer streitsüchtiger und mißtrauischer gegen ihre Umgebung. 
Ferner fiel ihre Teilnahms- und Interesselosigkeit auf; sie vernachlässigte sich, 
vergaß zu kochen, zu essen usw. Schließlich ging sie im Mai 1937 auf Veran- 
lassung ihres Bruders und ihrer Schwiegertochter ins Pflegeheim Uetersen. 
Auch dort verlegte sie oft ihre Sachen, vergaß, wo sie waren und beschuldigte 
das Pflegepersonal, ihr alles zu nehmen oder zu verstecken. Da sie sich auch 
verirrte, Personen verkannte und falsche Handlungen beging (sie goß z. B. 
das Wasser aus ihrer Waschschüssel aus dem Fenster oder auf den Boden 
statt in den Eimer), wurde sie im Juli 1937 der Heilanstalt Neustadt zuge- 
wiesen. 

Beobachtungen in Neustadt: Die Patientin ist in keiner Weise verwundert 
über den plötzlichen Wechsel ihrer Umgebung und lebt sich sofort ein. Sie 
macht sich über die neue Situation keine Gedanken, erfaßt nicht, daß sie mit 
Geisteskranken zusammen ist. Auf die Frage, warum sie hierher gekommen 
sei, antwortet sie nach einigem Nachdenken: ‚Vielleicht soll ich mich hier 
erholen“. — Sie ist freundlich und aufgeschlossen und gibt auf alle Fragen 
bereitwillig und höflich Auskunft. — Das auffallendste Zeichen ihrer Intelli- 
genzstörung findet sich bei ihr im Korsakoffschen Symptomenkomplex. Für 
die Dinge, die sie ungefähr bis zum 70. Lebensjahr in sich aufgenommen hat, 
ist ihr gutes Gedächtnis noch ausgezeichnet erhalten. Sie kann z. B. für ihre 
Sippentafel mehr als 40 Verwandte mit ziemlich genauen Personalien, Daten 
und Verwandtschaftsgraden nennen, die mit den Angaben ihrer Angehörigen 
übereinstimmen. Dazu stehen die große Gedächtnisschwäche für die letzten 
7 Jahre, die Unsicherheit ihrer Angaben und die sich dauernd widersprechenden 
Confabulationen in scharfem Kontrast. Sie ist räumlich und zeitlich voll- 
kommen desorientiert, kann nicht angeben, wann ihr Ehemann und ihr Sohn 
gestorben sind und wielange diese krank waren. Sie hat vergessen, daß sie ihre 
Wohnung vermietet hat, meint, diese stände jetzt leer, erzählt, daß sie zu 
Fuß hierhergekommen sei, ein andermal, daß sie selbst eine Karte gelöst habe, 
um herzufahren. Sie kann nicht angeben, wohin sie gefahren ist; nachdem 
man ihr gesagt hat, daß sie in Neustadt sei, hat sie dieses nach 5 Minuten 
wieder vergessen. Sie verkennt alle Personen, begrüßt mich jeden Morgen als 
alte Bekannte; auf die Frage, woher sie mich kenne, meint sie: „Doch wohl 
von Uetersen her!“ — Sie verirrt sich, wenn sie zur Toilette und in ihr Zimmer 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 143 


gehen will und erkennt ihr Bett nicht wieder. — Das Auffassungsvermögen 
ist noch recht gut erhalten. Sie erfaßt alle Fragen und kleine Erzählungen 
relativ schnell und richtig, kann sie jedoch nach wenigen Augenblicken nicht 
mehr wiedergeben. Auch das Lösen von etwas schwierigeren Rechenaufgaben 
scheitert an ihrer hochgradigen Merkfähigkeitsstörung, während sie z. B. das 
kleine Einmaleins sicher beherrscht. Wie ihre Angehörigen aus den früheren 
Krankheitsjahren berichten, so verlegt sie auch hier ihre Sachen, legt z. B. 
Kleider unter das Bett und findet sie nicht wieder. Obwohl sie dann das Per- 
sonal beschuldigt, die Sachen gestohlen zu haben, ist sie im Gegensatz zu den 
ersten Krankheitsjahren nicht mehr fähig zu einer aflektiven Erregung. Sie 
freut sich zwar, wenn man sich mit ihr beschäftigt, ist dann ansprechbar und 
freundlich, sobald sie sich jedoch überlassen ist, versinkt sie in eine stimmungs- 
mäßig indifferente Stumpfheit ohne sich von irgendeinem noch so auffälligen 
(Geschehen in ihrer Umgebung beeindrucken zu lassen. Sie ist gefügig und mit 
allem zufrieden, hat niemals irgendwelche Klagen, manchmal äußert sie ohne 
Nachdruck: ‚Heut will ich wieder mal zu meinem Sohn hinfahren‘, obgleich 
dieser vor 3 Jahren gestorben ist. Sie ist von solchen Wünschen leicht abzu- 
bringen und gleich wieder zufrieden. Bei der Unterhaltung zeigt sie eine affek- 
tive Labilität, erzählt fröhlich von ihrer früheren Tanzlust und wird traurig, 
sobald von ihrem verstorbenen Mann und ihren Kindern die Rede ist. Diese 
Reaktionen sind oberflächlich und verebben sofort wieder in ihrer indifferenten 
Grundstimmung und Leere. — 

Körperlich: Kleine, pyknische, noch auffallend frisch und gesund aus- 
sehende Greisin mit dichtem, weißem Haar, weichen Gesichtszügen und breiten 
Backenknochen. Sie ist noch in gutem Kräfte- und Ernährungszustand. Die 
Untersuchung der inneren Organe ergibt keinen besonderen pathologischen 
Befund. 


Epikrise: 


Bei Frau J. handelt es sich um einen begabten, lebhaften Men- 
schen mit heiterer Grundstimmung und leicht beweglichem Tem- 
perament. Sie ist allen Anforderungen des Lebens gerecht ge- 
worden und ist auch nach traurigen Ereignissen die vergnügte 
lebenslustige Frau geblieben. Aus einem kleinen Ärger oder einer 
gereizten Stimmung findet sie schnell wieder zu dem ihr eigenen 
frohen und warmherzigen Wesen zurück. — Die senile Persön- 
lichkeitsveränderung wird bei ihr im Alter von 75 Jahren dadurch 
auffällig, daß sie dauernd glaubt, man habe ihr irgendwelche 
Sachen versteckt oder gestohlen. All diese wahnhaften Ideen sowie 
auch die Personenverkennungen beruhen auf ihrer immer deut- 
licher werdenden VergeßBlichkeit. Sie wird immer reizbarer und 
streitsüchtiger, es kommt zu verkehrten Handlungen und zu einer 
allgemeinen Teilnahmslosigkeit. In Neustadt wird eine erhebliche 
Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörung für die letzten 7 Jahre 
mit Neigung zu Confabulationen festgestellt. Räumlich und zeit- 
lich ist sie nicht orientiert, verkennt Personen und findet ıhr Bett 
im Saal nicht wieder. Obwohl sie gut ansprechbar ist und auf alle 


144 U. Sabaß 


Fragen freundlich Auskunft gibt, so fehlt bei ihr doch jegliche 
Spontaneität; sobald man sich nicht mit ihr beschäftigt,. sitzt 
sie völlig stumpf und teilnahmslos da, ohne auf noch so auffal- 
lende Ereignisse in der Umgebung aufmerksam zu werden. — Die 
zeitliche Entwicklung bis zum jetzigen Zustandsbild ist nicht 
genau festzustellen. Jedenfalls kann auch hier nach der Kranken- 
geschichte eine ziemlich rasche Entwicklung des senilen Prozesses 
angenommen werden. Die Wesensveränderung besteht nicht allein 
in der hochgradigen Herabsetzung der Merkfähigkeit und deren 
unmittelbaren Folgeerscheinungen, sondern es kommt zur Inter- 
esse-, Antriebslosigkeit und affektiven Stumpfheit, überhaupt zu 
einem Ärmer- und Leerewerden des ganzen geistigen Menschen. 


3. Fall Frau Margarete L. Alter: 74 Jahre. 


Lebenslauf: Geboren am 21.1.1863 als Tochter des Bauern L. Sie 
war ein lebhaftes, aufgeschlossenes Kind und hat in der Dorfschule gut 
gelernt. Bis zur 1. Ehe arbeitete sie auf dem Hofe ihres Vaters. Mit 26 
Jahren ging sie ihre 1. Ehe ein, die angeblich der Trunksucht ihres Gatten 
wegen unglücklich war und nach 5 Jahren geschieden wurde. Aus dieser 
Ehe waren 2 Kinder hervorgegangen, von denen uns die Ältere eine aus- 
führliche Anamnese geben konnte. — Patientin nahm mit 32 Jahren eine 
Stellung als erste Mamsell im Hamburger Börsenkeller an und hat bei ihrer 
Entlassung auf eigenen Wunsch ein Zeugnis erhalten, worin ihr Fleiß, ihre Zu- 
verlässigkeit und Ordentlichkeit, vor allem auch ihr frohes, heiteres Wesen 
und ihre Verträglichkeit hervorgehoben werden. Danach führte sie 6 Jahre 
lang einen größeren Haushalt in Hamburg, wozu auch die selbständige Ver- 
waltung von 36 Mietshäusern gehörte. Sie gab die Stellung auf, weil sie 1909 
als 46 Jährige die zweite Ehe mit dem verwitweten Bäckermeister Gustav L., 
der eine Bäckerei gepachtet hatte, einging. Sie erzog 7 unmündige Kinder 
ihres Gatten und besorgte den großen Bäckerhaushalt allein ohne Hilfe. Nach 
dem Tode ihres Mannes im November 1935 blieb sie allein in der alten Wohnung 
ihres Hauses, bis sie anstaltsbedürftig wurde. 


Praepsychotischer Charakter: Pat. wird uns geschildert als ein leb- 
hafter Mensch mit leichtflüssigem, beweglichen, fast immer heiterem Tempe- 
rament. Bei den Menschen ihrer Umgebung war sie beliebt, weil sie dem an- 
deren hilfsbereit und gutmütig, dabei meistens vergnügt und lustig zugewandt 
war. Sie liebte die Geselligkeit und war bis ins hohe Alter hinein tanzlustig. 
Sie grübelte den Sorgen, die das Leben ihr brachte, nie lange nach, obwohl 
sie schnell über einen Kummer weinte. Nach kurzer Zeit war sie wieder die 
Alte, Vergnügte. Launen und Verstimmungen sind bei ihr niemals bemerkt 
worden. — Ihren Haushalt besorgte sie tadellos, war fleißig, eigentlich nie 
ohne Arbeit, die sie in bester Stimmung verrichtete. Neben ihrem großen 
Haushalt machte sie viele Handarbeiten und pflegte ihre Blumenbeete. — 
Sie hatte Freude an schönen Kleidern, Putz und Schmuck, — die Tochter 
berichtet, daß sie ihre Mutter auch noch im Alter mit einem neuen kleide 
selbstgefällig vor dem Spiegel stehen sah. — Ihre unverwüstlich vergnügte 
Natur geht daraus hervor, daß sie ihre zweite Ehe, die ebenfalls unglücklich 
war, ohne viel Klagen und Jaınmern ertrug. Die angeblich unberechtigte Eifer- 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 145 


sucht ihres jähzornigen Gatten trieb ihn zu schweren Mißhandlungen seiner 
Frau, wobei er sie mit Fäusten, Schirmen und anderen Gegenständen schlug. 
Frau L. trug ihrem Mann eine solche Behandlung nie lange nach, sondern 
tat nach wie vor vergnügt ihre Arbeit. 


Krankheitsbeginn und Verlauf: (Aus der Krankengeschichte in 
Neustadt und eigene Beobachtungen): 

Im Januar 1935 fiel Referentin auf, daß ihre Mutter anfing, Personen- 
namen zu verwechseln und die Bezeichnung für alltägliche Dinge nicht mehr 
zu finden. Sie verkannte die Personen, erkannte selbst ihre Kinder erst nach 
längerer Zeit. Zum Einkaufen mußte der Mann ihr einen Zettel mitgeben, 
sonst vergaß sie, was sie kaufen wollte. Sie ging in falsche Läden, verlangte z.B. 
beim Schlachter Kartoffeln usw. Die Verkennungen und Erschwerung der 
Wortfindung wurden immer schlimmer. Nach dem Tode ihres Mannes blieb 
sie allein, konnte aber bald kein Essen mehr kochen, weil sie alles durchein- 
anderbrachte und verkehrte Handlungen beging. Im Dezember 1935 verirrte 
sie sich einmal, wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Male ins Altonaer 
Krankenhaus gebracht, aus dem die Tochter sie nach wenigen Stunden her- 
ausnahm. — 

Im Januar 1936 stellte der-Testamentsvollstrecker B. den Antrag auf Ent- 
mündigung mit folgender Begründung: Am 20. 1. 1936 war ich bei der Witwe 
in der Wohnung, um das fällige Unterhaltsgeld zu zahlen. Frau L. wollte gerade 
ihr Herdfeuer anbrennen und nahm dazu in einem unbewachten Augenblick 
die glühende Brikettasche aus dem Ofen des Vorderzimmers. Die Glut fiel 
auf den Lackfußboden, der sofort Feuer fing. Frau L. kümmerte sich um den 
brennenden Fußboden nicht, sondern ging in die Küche. Eine zur Zeit an- 
wesende Schwester und ich beseitigten die Gefahr. Als ich dann in dem Hinter- 
haus war, um etwas zu erledigen, hörte ich aus der Wohnung der Frau L. ein 
Schreien, gleich beim Öffnen der Wohnungstür sah ich wieder den Fußboden 
und Läufer hell brennen, Frau L. stand dabei und lachte. Auf meine Frage, 
warum sie denn Feuer im Herd haben müßte, meinte sie: ‚Papa will warme 
Steine im Bett haben“. — Papa ist ihr verstorbener Ehemann. — Jedes Mal, 
wenn ich zu Frau L. komme, riecht die ganze Wohnung nach Gas, weil Frau L. 
die Gasflamme mit einem nassen Tuch löscht und den Hahn nicht schließt.“ 

Die Einlieferung ins Krankenhaus Altona erfolgte im Februar 1936 durch 
die Polizeibehörde, nachdem Frau L. wegen Altersschwachsinn für gemein- 
gefährlich erklärt worden war. Bei der Aufnahme war sie erregt und zeigte 
lebhaften Rededrang. Ihre Aufmerksamkeit war nicht zu fixieren. Sie sagte 
fortwährend dasselbe: ‚‚Ich gehe nach Tensfeld, kommst Du mit? Einer wollte 
doch mit nach Tensfeld usw.‘“‘. Sie wehrte sich gegen das Entkleiden und kör- 
perliche Untersuchen und schrie laut. Als die Pupillenreaktion mit der Taschen- 
lampe geprüft wurde, versuchte sie die Lampe auszublasen. Ende Februar 1936 
erfolgte ihre Verlegung in die Landesheilanstalt Neustadt. 


Krankengeschichte und eigene Beobachtungen in Neustadt: 
Es handelt sich um eine körperlich gesunde Frau mit pyknischem Habitus und 
frischem, lebhaftem Gesichtsausdruck. Sie befindet sich meistens in gehobener, 
leicht manischer Stimmung. Sie redet alle Leute mit Du an und begrüßt den 
Arzt vertraulich und herzlich in plattdeutscher Sprache: ‚‚Goden Dag, min 
süßen Jung“. Dann verabredet sie mit ihm zusammen nach Hause zu fahren, 
wo er mit Geld, Obst, Speck usw. reich beschenkt werden würde. Durch 
Fragen ist sie kaum zu fixieren, sondern redet vergnügt darauf los, wobei sie 
10 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


146 U. Sabaß 


sich ständig wiederholt. Sie äußert öfters ghicklich Größenideen, erzählt gern, 
wie reich sie sei und und was für schöne Schmuckstücke sie besäße. — Ihre 
Eitelkeit, die ihre Tochter uns schon aus gesunden Zeiten beschreibt, ist bei 
der Greisin stark ausgeprägt. Sie [ragt dauernd nach ihrem Schmuck, um ihn 
anzulegen und ‚‚sehr schön‘ zu sein. — 

Pat. ist über ihre Persönlichkeit nur sehr mangelhaft orientiert. Sie nennt 
zwar ihren Namen richtig, weiß aber weder ihr Alter noch Geburtsdatum usw. 
Ihren verstorbenen Ehemann bezeichnet sie als Papa und spricht von ihm, 
als ob er noch am Leben wäre. Auch örtlich und zeitlich ist sie desorientiert. 
Auf diesbzgl. Fragen geht sie nicht ein, obwohl sie dieselben zu erfassen scheint, 
sondern erzählt statt dessen in ihrer euphorischen und expansiven Art, was 
ihr gerade einfällt. Der Desorientiertheit über Zeit, Raum und ihre eigene 
Person liegen eine hochgradige Herabsetzung der Merkfähigkeit und des Ge- 
dächtnisses zugrunde. 4 und östellige Zahlen kann sie nicht vollständig wieder- 
geben, 2 und 3stellige Zahlen vergißt sie nach wenigen Augenblicken. Das 
Gedächtnis ist äußerst lückenhaft, jedoch beziehen sich diese Lücken nicht 
ausschließlich auf die letzten Jahre. Vorgehaltene Gegenstände werden zum 
großen Teil nicht richtig bezeichnet. Den meisten Fragen weicht sie aus, 
indem sie das bunteste Zeug zusammenredet oder die Lücken in ihrem Wissen 
durch Confabulationen verdeckt. 

Bisweilen treten kurzdauernde Erregungszustände auf, besonders dann, 
wenn sie sich bedroht fühlt. Das ist z. B. beim Umkleiden der Fall, bei Unter- 
suchungen oder dergl. Meistens beruhigt sie sich aber rasch. 

Ein Jahr lang bleibt dieses hypomanische Zustandsbild im wesentlichen 
dasselbe. Dann aber nimmt die Demenz im Laufe des Jahres 1937 erheblich 
und rasch fortschreitend zu. Die Lebendigkeit und Spontanität, mit der die 
Alte von ihren Größenideen erzählt, die manische Stimmung überhaupt, 
lassen immer mehr nach, sie äußert nicht mehr den Wunsch nach schönem 
Schmuck und hübschen Kleidern. Während sie vorher sauber und ordentlich 
war, vernachlässigt sie sich jetzt vollkommen. Sie sitzt leer und stumpf auf 
ihrem Platz, ohne Antrieb und Affekt, ohne irgendwelche Beziehung zur Um- 
gebung. Sie zählt oft stundenlang im Murmelton vor sich hin, ist kaum ansprech- 
bar, nach langem Einreden antwortet sie höchstens: ‚‚Ja schön, min Jung. 
Sehr schön, ja dat is schön, min Jung‘‘. — Sie näßt und schmutzt, spukt auf 
den Fußboden und ist zu keinem anderen Verhalten mehr zu bewegen. 


Eprikise: 


Auch hier handelt es sich um einen syntonen, dem vorigen sehr 
ähnlichen Charakter. Ihre andauernde Vergnügtheit und Heiter- 
keit konnte selbst durch die ungerechten Mißhandlungen ihres 
Mannes nicht wesentlich beeinträchtigt werden. Sie war offen- 
herzig, gutmütig, hilfsbereit und überall beliebt, dabei fleißig, 
strebsam, ordentlich und energisch. — Der senile Prozeß setzt. 
ein ungefähr im Alter von 70 Jahren mit Verwechselung von Per- 
sonennamen und den Bezeichnungen für alltägliche Dinge, mit, 
Vergeßlichkeit und den oben beschriebenen verkehrten Hand- 
lungen. Alles das entwickelt sich innerhalb eines Jahres und macht 
sie anstaltsbedürftig. Es findet sich bei ihr der Korsakoff’sche 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 147 


Symptomenkomplex, also Herabsetzung der Merkfähigkeit, Des- 
orientiertheit und Confabulation, ferner eine deutliche Verstimmung 
zur manischen Seite und Größenideen. Dieses Zustandsbild, wel- 
ches den von Bostroem beschriebenen Presbyophrenien ähnlich ist, 
bleibt jedoch nicht länger als 1 Jahr bestehen. — Die „Demenz“ 
schreitet im Laufe des folgenden Jahres weiter fort und führt 
schließlich zu völliger Antriebslosigkeit, affektiven Leere und 
Stumpfheit. 


4. Fall Frau Dorothea W. Alter: 71 Jahre. 
Diagnose: Einfache Dementia senilis. 


Familienanamnese und Lebenslauf: 


(Angaben von ihr selbst, ihrem Sohne Johann W. und ihrem Ehemann 
Christian W.) Die Patientin stammt aus einem holsteinischen Dorf, wo schon 
ihr Urgroßvater ein kleines Bauerngut besaß. Ihre Eltern und Großeltern 
sind über 70, zum Teil über 80 Jahre alt geworden. Ihre Mutter soll in den 
0er Jahren, wie sie und ihr Sohn angeben, ‚‚tüdelig‘‘ gewesen sein. Angeb- 
lich habe sie sich öfters verirrt, ihre Sachen nicht wiedergefunden, Personen 
verkannt, und ‚‚dummes Zeug‘ geredet. Dabei sei sie aber immer vergnügt 
und gutmütig gewesen, und die ganze Familie habe die Großmutter bis 
zuletzt immer gern gehabt. Außer diesen Angaben ist in der Familien- 
anamnese nichts von besonderen Krankheiten bekannt. 


Dorothea W. ist 1866 als Tochter des Bauern L. geboren. Sie besuchte 
die Dorfschule und war dort die beste Schülerin. Mit 16 Jahren trat sie bei 
einem Arzt eine Stelle als Haus- und kindermädchen an und blieb dort 
8 Jahre lang. 1891 heiratete sie den Bauern Christian W. und lebt bis heute 
mit ihm in glücklicher Ehe. Von ihren 6 Kindern ist 1 Sohn im Dezember 
1935 plötzlich an Ileus gestorben, 2 Söhne sind Handwerker, einer hat ein 
Fuhrgeschäft, der 5. ist Bauer auf seines Vaters Besitzung, und die Tochter 
ist an einen Bauern verheiratet. Die Kinder haben in der Schule zu den 
besten Schülern gehört. 


Praemorbider Charakter: 


Der Ehemann sagt von ihr in seiner plattdeutschen Sprache: ‚Mir gefiel an 
ihr die Lustigkeit und Lebendigkeit. Klug war sie, und fleißig war sie auch‘. — 
Er schildert sie als lebenslustige Frau von großer geistiger Frische und Reg- 
samkeit. Sie sei viel reger gewesen als er, habe eifriger die Zeitung gelesen, 
sich für Politik und alles, was in der Welt passierte, interessiert, während diese 
Dinge den Ehemann weniger beschäftigten. Sie setzte gern ihren Willen durch 
und brachte Leben ins Haus; ihre Kinder sind alle stiller als sie. Bei den Be- 
kannten war sie beliebt durch ihre Gastfreundschaft, meistens stand sie bei 
kleinen Feierlichkeiten im Mittelpunkt. Ihr allein gelang es, den etwas schwer- 
fälligen Bauern zu bewegen, mit ihr zum Tanz oder zum Besuch zu gehen. Oft 
hat sie den Wunsch gehabt, Reisen zu machen, doch weil ihr Mann keine Lust 
dazu hatte, ist es nie dazu gekommen. Sie ist gern zur Kirche gegangen und 
hat nachher die ganze Predigt des Pastors wiedererzählen können. — Bei 
aller Freude an kleinen Unterbrechungen des Alltäglichen hat sie ihre Arbeit — 
sie besorgte den Haushalt und die Geflügelzucht — fleißig und sorgfältig aus- 
10° 


148 U. Sabaß 


geführt und in den Mußestunden viele Handarbeiten gemacht, Strümpfe ge- 
strickt usw. Ihr leicht bewegliches, lebhaftes Temperament hatte sie selbst 
nicht in der Hand, war affektiv leicht erregbar und schnell aus der Fassung zu 
bringen. Ihr Sohn erzählt, bei einem kleinen Ärger, bei Ungezogenheit ihrer 
Kinder oder dergl. sei sie leicht aufgeregt gewesen und habe schnell drein- 
geschlagen. Das erregte Wesen habe manchmal einen ganzen Tag angehalten. 
sei aber bald wieder vergessen gewesen. — Bei Erkrankungen der Kinder 
oder des Mannes zeigte sie sich oft ängstlich und überbesorgt und meinte 
gleich, das Kind könne sterben. Auch um ihre eigene Gesundheit war sie be- 
sorgt. Eine auffällige ängstliche Verstimmung hatte sie vor einer Operation 
in der Chir. Klinik Kiel, wo bei ihr 40 cm Darm reseziert wurden. Ob es sich 
dabei um ein Carcinom gehandelt hat, kann ihr Mann nicht angeben. Sie war 
damals 61 Jahre alt, ist nach dem Rat des Arztes, sich operieren zu lassen. 
sehr deprimiert gewesen, äußerte sogar, sich nun aufhängen zu müssen. Ihr 
Mann hatte damals große Not mit ihr, um sie zu beruhigen und zur Operation 
zu bewegen. Nach ihrer Gesundung war sie wieder die Alte, ein wenig stiller 
zwar, aber doch vergnügt und interessiert für alles, was im Hause vorging. 


Krankheitsbeginn und Verlauf: 


Gegen Ende der sechziger Jahre hatte sie öfters Zeiten, in denen sie ängst- 
lich über ihre Gesundheit nachdachte und hypochondrisch über jedes kleint 
Übel klagte. Diese Perioden wechselten mit besseren Stimmungen ab. in 
denen die vergnügte, freundiche Persönlichkeit wieder zum Ausdruck kam. 
Als im Dezember 1935 ihr Sohn plötzlich an Ileus starb, sagte sie immer 
wieder, er sei gestorben, weil er ‚‚keine Öffnung“, d. h. keinen Stuhlgang 
gehabt habe. Seitdem hatte sie auch große Angst davor, zu „wenig Üf- 
nung‘ zu haben. 


Kurz nach Pfingsten dieses Jahres (1937) stellte der Arzt ein rechtsseitiges 
Mammacarzinom fest. Dieses hat anscheinend wiederum eine schwere, ängst- 
liche Verstimmung hervorgerufen. Sie ging auf keine vernünftige Unterhaltung 
ein, sagte nur immer wieder: ‚‚Ich bleibe tot, ich bleibe tot.‘ Nachts, zuweilen 
auch am Tage schrie sie laut auf. Da sie während dieser Angstzustände auch 
in eine starke motorische Unruhe und Erregung geriet, mit den Fäusten gegen 
die Wände schlug und halbangekleidet auf die Straße lief, mußte sie am 8. Sep- 
tember 1937 in die Anstalt zu Neustadt eingewiesen werden. 


Eigener Befund und Beobachtungen in Neustadt (Sept. 1937): 


Patientin zeigt bei ihrer Aufnahme einen lebhaften Erregungszustand. Sie 
sträubt sich mit aller Kraft dagegen, hier zu bleiben, weigert sich, zu essen. 
versucht dauernd, zur Tür zu laufen oder das Fenster zu öffnen und ruft immer 
wieder ängstlich und weinerlich: ‚Ich will zu meinem Mann, sonst bleib ich 
tot.“ — Gegen Abend beruhigt sie sich, ist nach der Erregung müde und abge- 
spannt und schläft tief und ruhig. Am nächsten Tag ist die Erregung abge- 
klungen, die ängstliche, hypochondrische Verstimmung hält noch 10 Tage an. 
Es ist zwar nicht schwer, sie durch Unterhaltung abzulenken, sie gibt dann 
auf alle Fragen kindliche, aber sinnvolle Antworten, ist räumlich, zeitlich und 
auch über ihre Person vollkommen orientiert. Sobald sie sich selbst überlassen 
ist und zuweilen auch während der Unterhaltung wird sie jedoch ängstlich 
und weinerlich und sagt immer wieder: ‚„lck hew kei Öffnung, ick bün sọ 
stramm.‘“ — Anscheinend handelt es sich um Körpersensationen, in Wirklich- 
keit ist der Leib weich und nicht druckempfindlich; auch nachdem für 4b- 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 149 


führung gesorgt ist, bittet sie unaufhörlich: ‚‚Fru Doktor, krieg ick nu wat för 
Öffnung?“ — Der Inhalt für ihre Verstimmung wechselt öfters, manchmal 
redet sie eine Tag hindurch von ihrem Carzinom: ‚Nu hew ick Krebs, nu geh 
ick daut!‘ — Nach 8 Tagen wird sie freier, vergnügter und lebendiger. Nach 
10 Tagen steht sie auf, geht im Garten spazieren und fühlt sich sehr wohl. 
Sie ist offenherzig, gut ansprechbar, zufrieden und für alles dankbar. Im 
wesentlichen zeigt sie eine sehr kindhafte, kritiklose Art, die jedem törichten 
Einfall nachgibt und eine ausgesprochene Neigung zu Stereotypien hat. Die 
Versicherung ihrer Zufriedenheit kehrt in stereotyper Form immer wieder: 
„Hier is so gaut, Essen is gaut, Trinken is gaut, Behandlung is gaut, alles is 
gaut. Wat schell man mehr verlange?“ — Trotz ihrer Zufriedenheit hat sie 
viele Wünsche, die ihr plötzlich einfallen und die sie in gutmütig-kindlicher 
Weise äußert; sie möchte jetzt Kaffee und Kuchen haben, ihr Mann und ihre 
Kinder sollen heute kommen, sie würde gleich einmal nach Hause fahren, die 
Schwester möge ihr doch die andere Bluse anziehen usw. Sie ist leicht zu über- 
zeugen von der Unmöglichkeit, ih re Wünsche zu erfüllen, nimmt jede Ausrede 
der Schwester gutmütig und kritiklos hin, hat eine kindliche Angst davor, daß 
sie „Prügel bekäme, wenn sie nicht artig wäre“ und zeigt andererseits große 
Freude über ein kleines Geschenk oder über die Erfüllung einer geringfügigen 
Bitte. In altersgeschwätziger Form erzählt sie gern, was ihr gerade einfällt, 
biblische Geschichten, Konfirmationssprüche, berichtet weitschweifig und 
umständlich von der Arbeit zu Hause usw. Bei der Unterhaltung zeigt sie eine 
starke Affektlabilität, kann wie ein Kind zugleich weinen und lachen. Das 
Gedächtnis für die Vergangenheit ist noch sehr gut erhalten, es kommt jedoch 
vor, daß sie bei auswendig gelernten Erzählungen den Faden verliert und dann 
auch den sinngemäßen Zusammenhang, der ihr früher geläufig war, nicht mehr 
findet. Sobald man ihr hilft, entsinnt sie sich wieder darauf. Am stärksten 
herabgesetzt ist bei ihr die Fähigkeit logisch zu denken und zu kombinieren. 
Auf die Frage: „Warum schwimmt das Fett auf der Suppe oben?“ kann sie 
keine Antwort geben. Nachdem sie die Erklärung anscheinend verstanden hat, 
antwortet sie auf die Frage: „Warum bleibt das Wasser unten ?“ unüberlegt 
und stereotyp: ‚‚Ja, weil es leichter ist!“ Kleine ihr unbekannte Erzählungen 
erfaßt sie langsam und schwer, kann sie im Gegensatz zu früher gelernten 
schon nach fünf Minuten nicht mehr wiedergeben; ihre Erklärung dafür lautet: 
„Dat hew ick mir nich so in Kopf gesetzt!“ Während sie früher ihren Kindern 
bei schweren Rechenaufgaben geholfen hat, beherrscht sie nicht mehr das 
große Einmaleins, weil sie die zuerst ausgerechnete Hilfszahl oder die ganze 
Aufgabe während der Weiterrechnung vergißt. Die Aufgabe, aus 3 Wörtern 
(Jäger, Wald, Hase) einen Satz zu bilden, löst sie umständlich und langsam: 
„Der Jäger geht im Wald, ja, im Wald spaziert er, und da im Wald sind viele 
Hasen, und da schießt der Jäger einen Hasen.‘ Sie verfolgt die Intelligenz- 
prüfung mit kindlicher Neugier und Aufmerksamkeit und hat Freude an jeder 
richtigen Antwort, an jedem Lob, das ihr zuteil wird. Sie wiederholt dann 
ständig: ‚Ich bin nich dumm konfirmiert inne Schaul! Ich kann alles lesen, 
alles schreiben, alles rechnen!“ 

Die vergnügte Stimmung und das gutmütig-dankbare und kindlich-auf- 
geschlossene Wesen halten bei Frau W. an. 


Körperlicher Befund: 

Kleine kachektische Greisin mit pyknischem Habitus, vollem, lockigem 
weißen Haar und lebhafter Mimik. Das Abdomen zeigt außer der 15 cm langen 
Operationsnarbe in der Medianlinie keinen krankhaften Befund. Rechtsseitig 


150 | | U. Sabaß 


ist ein taubeneigroßes Mamma-Ca. festzustellen mit Metastasen in den Lympt- 
drüsen der rechten vorderen Achselhöhle. Arteriosklerotische Frühsymptome: 
Kopfschmerz, Schwindel nicht vorhanden, Neurolog. o. B. 


Epikrise: 

Auch in Frau W. haben wir einen befähigten, lustigen Menschen 
vor uns von großer geistiger Frische und Betriebsamkeit. Den 
Mitmenschen gegenüber ist sie warmherzig und aufgeschlossen: 
den Fragen, die innerhalb ihres Lebensbereiches liegen, bringt sie 
lebhaftes Interesse entgegen. Sie hat Freude an Vergnügungen 
und Festlichkeiten und ist an allem aktiv beteiligt. Dabei ist sie 
arbeitsam und ordentlich, nie ohne Beschäftigung, immer betrieb- 
sam. Affektiv ist sie leicht erregbar. Daneben zeigen sich in ihrem 
Charakter ängstliche Züge, die bei besonderen äußeren Umständen 
(Krankheit etc.) deutlich hervortreten und sogar zu einer nach- 
haltigen ängstlichen Verstimmung führen können. — Ein genauer 
Zeitpunkt des Krankheitsbeginnes ist nicht festzustellen, jeden- 
falls sind derartige ängstliche Verstimmungen, deren Inhalt die 
Sorge um die eigene Gesundheit ist, gegen Ende der 60er Jahre 
häufiger und nachhaltiger. — 1937 kommt es bei ihr auf Grund 
der ärztlichen Feststellung, daß sie einen Brustkrebs habe, zu 
einem schweren Angstzustand einhergehend mit einem psycho- 
motorischen Erregungszustand. In der Krankenanstalt klingt die 
Erregung nach einem, die ängstlich-hypochondrische Verstimmung. 
nach 10 Tagen ab. — Jetzt hat die Alte eine andauernde stillver- 
gnügte Stimmung, sie ist zufrieden, freundlich und gut ansprech- 
bar; sie zeigt dabei eine deutliche Affektlabilität, kehrt jedoch 
sofort wieder in ihre flache heitere Stimmung zurück. Bei der 
Intelligenzprüfung wird eine starke Verlangsamung der Auffassung 
und der Assoziationen, ferner eine Herabsetzung der Denk- und 
Urteilsfähigkeit deutlich. Die Merkfähigkeit ist ebenfalls weit- 
gehend aufgehoben. — Dieselben Redewendungen kehren dauernd 
wieder und zeugen von Ideenarmut und Mangel an Assoziati- 
onen. — 


5. Fall Fräulein Marıa T. Alter: 75 Jahre. 


Diagnose: SenileDemenzmitmanischerÄffektverschiebung 


Familienanamnese und Lebenslauf: 

Patientin ist im Jahre 1861 geboren. Ihr Vater war Rektor einer Land- 
schule. In den ersten Schuljahren wurde sie von ihrem Vater unterrichtet, 
und als sie 9 Jahre alt war, wurde ihr Vater als Rektor einer Knabenmittel- 
schule versetzt. Von verschiedenen Seiten erfahre ich, daß ihr Vater ein er- 
fahrener, kluger und gerechter Erzieher gewesen sein muß, der in Stadt und 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 151 


Umgebung sehr beliebt war und nur ‚Vater T.“ genannt wurde. Er hat in 
N. eine neue Knabenmittelschule gegründet, die seinen Namen trägt, war dort 
Rektor und gleichzeitig Direktor der Gewerbeschule. Bis zum 80. Lebensjahre 
hat er in voller geistiger Frische unterrichtet und ist 97 Jahre alt geworden. 
Die Mutter starb mit 79 Jahren angeblich an Herzschwäche und war eben- 
falls bis zuletzt von großer geistiger Regsamkeit. — In der Schule war Maria 
T. nicht so begabt wie ihre 3 Geschwister; sie hat es trotz großen Fleißes in 
der Mittelschule nur zu Durchschnittsleistungen gebracht. Während ihre 
Schwester Lehrerin und ihr Bruder Philologe wurde, erlernte sie nach ihrer 
Konfirmation mit 15 Jahren bei verschiedenen Freundinnen ihrer Mutter 
die Haushaltführung und war dann in einem Pastorenhaushalt mehrere Jahre 
als Haustochter tätig. Vom 25. Lebens jahre ab half sie im Haushalt der Eltern 
und pflegte sie bis zum Tode. Nach dem Tode ihres Vaters 1928 lebte sie 1 
Jahr bei ihrer verheirateten Schwester und danach 4 Jahre im Bürgerstift. Da 
ihr Aufenthalt dort durch die fortschreitende Erkrankung unmöglich wurde, 
brachte ihre Schwester sie zunächst für 6 Wochen in ein Samatorium dann 
für drei Monate in eine Anstalt, von wo aus sie endgültig der Landesheil- 
anstalt Neustadt i. Holst. überwiesen wurde. 


Praepsychotische Persönlichkeit: 


Ihre Schwester, Frau A. Sch. erzählt, daß sie ein stilles, bescheidenes, 
immer folgsames kind gewesen ist, das von den lebhafteren Geschwistern in 
den Hintergrund gedrängt wurde und auch in der Schule unauffällig war. Sie 
ist immer etwas gehemmt gewesen, fremden Menschen gegenüber war sie 
meistens unsicher, als junges Mädchen soll sie besonders Herren gegenüber 
schüchtern und befangen gewesen sein. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, 
die zu Hause gern ihren Eigenwillen durchsetzten, fügte sie sich leicht dem 
Willen der anderen und fiel fast niemals irgendwie aus dem Rahmen. Sie 
ging mit den anderen zum Tanz und kleinen Vergnügungen, machte gern 
weite Spaziergänge mit anderen, fand selbst viel Freude an der Natur, an 
Blumen, auch an Schmuck und schönen Kleidern. Bei den Geschwistern 
und Bekannten war sie beliebt in ihrer ruhigen, bescheidenen, dabei gutherzigen 
Art. Über die Tiefe ihres Gefühlslebens konnte ich nichts Genaues erfahren. 
Die Schwester meint, daß Maria nie zu Affektäußerungen neigte; auch bei 
schwerwiegenden Ereignissen, auf welche die anderen Familienmitglieder 
lebhaft nach außen hin reagierten, blieb sie fast gleichförmig ruhig; in wieweit 
sie dabei an allem innerlich Anteil genommen hat, vermag die Schwester nicht 
zu sagen. — Im Haushalt war sie immer fleißig und hielt bei aller Arbeit auf 
Sauberkeit und Ordnung. Ihre alten Eltern pflegte sie bis zum Tode selbstlos 
und mit großer Sorgfalt. — Bei diesem unauflälligen, ruhigen Mädchen zeigten 
sich —selten im jugendlichen — häufiger im fortgeschrittenen Alter kleine 
Verstimmungen, die eigentlich nur von den nächsten in ihrer Umgebung be- 
merkt wurden. Sie war dann plötzlich ohne Ursache mürrisch und zankisch, 
im Gegensatz zum normalen Charakterbild eigensüchtig und auch neidisch au! 
die Schwägerin und Schwester, die geheiratet hatten. Doch diese Verstimmun- 
gen gingen schnell vorüber und sind in den jungen Lebensjahren gar nicht be- 
sonders auffällig gewesen. 


Krankheitsbeginn und Verlauf: 


Im Anfang ihrer sechziger Jahre beklagte sich der alte Vater, den sie da- 
mals pflegte, bei seinen jüngeren Kindern darüber, daß derartige Verstim- 


152 U. Sabaß 


mungen bei Marie häufiger und in weit sträkerem Maße auftraten als bisher. 
Während sie zu solchen Zeiten vorher zwar reizbar, aber dennoch nach außen 
hin ruhig und verschlossen war, zeigte sie jetzt zuweilen ein ungewöhnlich 
lautes, erregtes Wesen. Sie lief dann dauernd in der Wohnung umher, redete 
fortwährend, schimpfte, schikanierte ihre Umgebung und beklagte sich 
darüber, daß sie immer zurückgesetzt worden sei und daß es den Anderen 
besser ginge als ihr. Die erste besonders auffällige und 14 Tage lang andauernde 
Verstimmung dieser Art hatte die Patientin mit 65 Jahren im Anschluß an 
eine Malleolarfraktur. Nach vierwöchigem Aufenthalt im Krankenhause, in 
welchem sie mit Dauerbädern behandelt wurde, hat sie ihren Vater bis zu 
dessen Tod im Jahre 1928 pflegen können und ist außerhalb der Verstimmungen 
vorläufig noch derselbe stille Mensch geblieben. Mit 70 Jahren zeigte sich 
jedoch auch eine andauernde Wesenveränderung nach der hypomanischen 
Seite. Marie wurde lebhafter, feuriger, redseliger, aufgeschlossener und auf- 
dringlicher als früher. — Daneben fiel ihre Vergeßlichkeit auf. Während sie 
z. B. früher für den Besuch ihrer Schwester tagelang Vorbereitungen traf, 
war sie jetzt jedesmal neu überrascht, wenn man ihr sagte, sie bekomme 
Besuch, obwohl sie die Nachricht davon selbst gelesen hatte. — Zeitweilig 
traten kurze Erregungszustände auf; jedoch wurde ihr Aufenthalt im Bürger- 
stift zu N. durch ihr zudringliches, albernes, leicht erregbares Wesen und ihre 
zunehmende Vergeßlichkeit unhaltbar. 

Aus der Krankengeschichte geht hervor, daß bei ihr unruhige Tage, an 
denen sie mit wirren Haaren umhertobt, schimpft, mit dem Essen herum- 
schmutzt abwechselnd mit anderen, an denen sie sehr ausgelassen und sehr 
gehobener Stimmung ist. Sie dichtet Sprüche und singt viel: „Kommt ein 
Vogel geflogen, ist so dumm als eine Gans, hat vorn einen Schnabel und 
hinten einen Schwanz!“ — ‚Ein junges Mädchen schön wie eine Fee, die einst 
spazieren ging am Plöner See; dort sah sie einen Mann, ich guck Dich garnicht 
an“. Nach einem Monat ist sie meistens heiter, aufgeräumt, läuft gellend 
lachend durch den Garten, zupft Gras und Blätter in großen Mengen ab. 
Eine depressive Patientin nennt sie ‚„Heulboje von Kiel‘, eine andere, die 
sich fortwährend kratzt: ‚Olle Kratzmaschine‘“. Sie ist meistens gutmütig. 


Krankheitsverlauf in Neustadt: (Aus der Krankengeschichte in N.). 

Bei der Aufnahme zeigt die 72jährige ein manisches Zustandsbild: Kritik- 
Jose Euphorie, Rede- und Bewegungsdrang, wobei sie aber gut zu dirigieren 
ist. Sie bleibt in heiterer beschwingter Stimmung und Lebendigkeit. Sie 
schwatzt, lacht, singt, pfeift den ganzen Tag, glossiert alles, was um sie vor- 
geht, hat für jeden einen Titel, einen Vers, kümmert sich um alles, läuft den 
Schwestern nach, überfällt alle Kranken wahllos mit Zärtlichkeiten, läßt sich 
durch Äußerungen und Zurufe darin bestärken, geht auf alles ein und produ- 
ziert sich mit kindischer Selbstgefälligkeit. Das bunteste Zeug schwatzt sie 
fabulierend zusammen, dabei ist auffällig eine Fixierung auf erotische und grob 
sexuelle Inhalte. Sie redet z. B. dauernd von ihrem Mann, beschreibt seinen 
Besuch hier, seine Zärtlichkeiten, bringt die Schwestern in Verlegenheit durch 
indiskrete Fragen und Aufforderungen, will sich ausschütten vor Lachen, 
wenn sich jemand durch ihre Scherze getroffen fühlt. Sie benimmt sich albern 
wie ein Backfisch und ist in keiner Weise zu einer sachlichen Erörterung ihrer 
Situation zu fixieren. Ihre Angaben über ihre Aufenthaltsorte in den letzten 
beiden Jahren sind z. T. falsch, überhaupt werden Gedächtnislücken, welche 
die Ereignisse der letzten zwei Jahre betreffen, durch lebhafte Confabulationen 
ausgefüllt. Die Merkfühigkeit ist deutlich herabgesetzt, dreistellige Zahlen sind 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 153 


nach einer Minute vergessen. In den folgenden Jahren ist ihr Wesen von diesem 
manischen Bilde beherrscht. Die reizbaren Verstimmungen treten öfter auf, sind 
aber nicht so tief und anhaltend wie in den sechziger Jahren. Sie schimpft und 
zankt dann hemmungslos mit Pflegepersonal und Patienten, findet auch für jede 
Anklage Gründe, ist aber verhältnismäßig schnell wieder zu beruhigen. Sie be- 
schäftigt sich mit einfachen Näh- und Strickarbeiten ohne große Ausdauer. 


Eigene Beobachtungen vom September 1937: Die 76jährige zeigt 
immer noch große vitale Frische und das unveränderte manische Zustands- 
bild. In ihrem Wesen ist sie kindisch und albern, bei jeder Visite hat sie ein 
Kindergedicht oder Rätsel bereit, hat daran eine kindische Freude und lacht 
darüber laut und lange. Zuweilen singt sie Kinderlieder oder irgendwelche 
Verse, die sie angeblich früher selbst gedichtet hat: 


„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, 

daß ich so traurig bin. 

Poincare der olle Franzose, 

der kommt mir nicht aus dem Sinn. 

Poincare der olle Franzose, das ist ein gallischer Hahn, 

Und gallische Hähne, die krähen bekanntlich den Völkerbund an.“ 


Auch bei der Intelligenzprüfung zeigt sie kindische Neugier für alle Fragen 
und kommt sich sehr interessant vor, daß man sich so eingehend mit ihr be- 
schäftigt. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist stark herabgesetzt, weil sie zu 
jeder Frage ihre dummen Glossen macht, über die sie dann lachen muß. Sie 
ist kaum zu ernsten und vernünftigen Antworten zu bewegen. Sie neigt zu 
lebhaften Ausschmückungen; als sie z. B. einen Satz aus 3 Worten bilden soll, 
erzählt sie statt dessen eine lange kindliche Geschichte, die zunächst die ge- 
wünschten drei Worte enthält, dann aber mit diesen nichts mehr zu tun hat. 
Ihr Betätigungsdrang wird durch abgegriffenes, dummes, heiteres Gerede be- 
friedigt, in welchen sie vom Hundertsten ins Tausendste gerät. — Die Denk- 
fähigkeit ist herabgesetzt, sie kann z. B. nur ihre bekannten Sprichwörter er- 
klären, bei anderen wie z. B. ‚‚Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ fabuliert 
sie eine lange Geschichte von Äpfeln, Bäumen, Wind und Sturm zusammen. 
Ihre Gedächtnislücken aus den letzten 8 Jahren werden ebenfalls durch leb- 
hafte Confabulationen, die manchmal gar nicht als solche erkennbar sind. aus- 
gefüllt. Sie liest laut kleine Märchen und Erzählungen mit kindlicher Beto- 
nung, hat sie nachher nur unvollkommen behalten, confabuliert dann oft ohne 
einen logischen Zusammenhang zu finden. In ihrem selbstgeschriebenen 
Lebenslauf finden sich mancherlei Täuschungen oder Erfindungen, meist ero- 
tischen Inhaltes: sie sei oft verlobt gewesen, habe sehr viele Verehrer gehabt, 
sie habe dann immer nicht heiraten wollen usw. Auch jetzt spricht sie oft in 
kindischer Selbstgefälligkeit von ihrem guten Aussehen, meint alle Männer 
müssen sich in sie verlieben, ohne Mann könnte sie nicht sein, die Ärzte liebten 
sie alle usw. " 


Pat. ist unfähig zu echtem, traurigem Affekt, wie überhaupt zu einem ge- 
fühlsmäßigen Anteilnehmen an irgendeinem Ergebnis. Als sie vom Tode ihres 
Bruders, des Studienrates T. in K. erfährt, versucht sie einen solchen zu zeigen, 
was ihr jedoch nicht gelingt. Sie entwickelt sofort lebhafte Betriebsankeit, 
läßt sich Trauerkleidung anschaffen, möchte am liebsten gleich zum Begräbnis 
fahren und bemüht sich, eine ernste und traurige Miene aufzusetzen! Jedem 
erzählt sie, wie traurig sie sei über den plötzlichen Tod ihres Lieblingsbruders, 


154 U. Sabaß 


fängt dann geschwätzig allerhand Episoden aus seinem Leben zu erzählen an 
in ihrer alten, vergnügten Art. Sie zeigt großes Gefallen daran, nun unter den 
Patienten im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. 


Ihr ganzes Wesen ist beherrscht von starkem Egoismus, auf den ihre Eifer- 
sucht, Mißgunst, Streitsüchtigkeit und auch Andeutungen von wahnhaften 
Größenideen zurückzuführen sind. In ihrer eitlen Selbstgefälligkeit fühlt sie 
sich verletzt, wenn der Arzt mit einer anderen Patientin länger spricht als 
mit ihr. Sie ist empört, als Ref. sich ausführlich mit einer ihr unsympathischen 
Alten beschäftigt und empfängt mich: ‚‚Wie können Sie sich mit so einer ordi- 
nären Person befassen?“ — Sobald eine Patientin es wagt, ihre Reden als 
dumm zu bezeichnen, oder ihr zu widersprechen, schimpft sie empört darauf 
los und meint, vor Aufregung nicht mehr schlafen zu können. Sie sieht es nicht 
gern, wenn andere Patientinnen Pakete bekommen, ist beim Essen immer auf 
ihren Vorteil bedacht, meint, sie müsse ihr Essen immer zuerst bekommen. 
denn: ‚Ich bin eine Dame und bezahle Kostgeld und bin hier in Pension. Die 
anderen müssen arbeiten, um sich ihr Essen zu verdienen“. 


Sie behauptet, sehr ‚‚gebildet‘‘ zu sein, ist stolz darauf, daß die Schule, 
die ihr Vater gegründet hat, ihren Namen trägt. Trotz der tiefen Trauer, die 
sie angeblich über die Nachricht vom Tode ihres Bruders empfindet, zeigt sie 
ein lebhaftes Interesse für sein Testament, beabsichtigt, zur Eröffnung des- 
selben nach K. zu fahren. Nachdem sie dabei leer ausgeht, ist sie verstimmt 
und gereizt, schimpft ärgerlich auf die eigensüchtige Schwägerin, die alles für 
sich haben will. — Doch sind derartige Verstimmungen, seien sie exogen oder 
endogen bedingt, oberflächlich und wenig nachhaltig und beeinträchtigen 
kaum das submanische Zustandsbild der Alten. Die Merkfähigkeit ist nach 
wie vor stark herabgesetzt, beim Rechnen vergißt sie dauernd die 1. Hälfte 
der Resultate, 4stellige Zahlen werden kaum 1 Minute lang behalten. 


körperlich zeigt die Patientin für ihr Alter gute Rüstigkeit und keinen 
krankhaften Befund. Körperlich gehört sie zum pyknischen Typ, ihr Ge- 
sicht hat viele Runzeln, dabei aber ein sehr lebhaftes Mienenspiel. 


Epikrise: 


Die gesunde Marie T. wird uns geschildert als ein stiller, be- 
scheidener etwas befangener Mensch, der unter den viel lebhaf- 
teren und begabteren Geschwistern immer mehr im Hintergrund 
stand. Außerdem wird uns bei ihr von reizbaren Verstimmungen 
berichtet, deren Häufigkeit, Tiefe und Dauer im Verlauf der 60er 
Jahre zunimmt. Mit 70 Jahren zeigt die T. plötzlich eine rasch 
sich vollziehende Wesensänderung mit einer Affektverschiebung 
nach der hypomanischen Seite, einer gleichzeitig eintretenden Stö- 
rung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses für die jüngeren 
Ereignisse und einer Hinwegtäuschung dieser Gedächtnislücken 
durch Confabulationen. Der oben beschriebene Krankheitsprozeß 
entwickelt sich innerhalb zweier Jahre zu einem Zustandsbild, bei 
dem ın den den folgenden 5 Jahren keine weiteren auffälligen 
Veränderungen beobachtet werden. 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 155 


6. Fall Hinrich H. Alter: 72 Jahre. 
Diagnose: Senile Depression. 


Familienanamnese: 3 Geschwister des Patienten, teils jünger, teils 
älter als er, leben noch in guter körperlicher und geistiger Gesundheit. Die 
Mutter ist 70 Jahre alt geworden und bis zum Tode geistig gesund gewesen. 
Der Vater ist 1 Monat vor seinem Tode mit der Diagnose: Dementia senilis 
ın die Heilanstalt Neustadt eingewiesen worden. Dem Einweisungsschreiben 
des Arztes ist folgendes Gutachten hinzugefügt: 

„Heiligenhafen, 12. 7. 16. 

Der frühere Arbeiter Peter H. aus Heiligenhafen, 81 Jahre alt, ist mir seit 
über 10 Jahren bekannt; er ist früher ein strebsamer, fleißiger Mann gewesen. 
Vor einigen Jahren erkrankte er an grauem Star und wurde in der Augen- 
klinik zu Kiel operiert. Da er seit mehreren Jahren Witwer ist und keines von 
den kindern ihn zu sich nehmen wollte und vielleicht auch nicht konnte, 
wurde Peter H. als Pensionär im hiesigen Armenhaus untergebracht. Seit 
einigen Monaten wurde er häufig unruhig durch Vorstellungen, die den Tat- 
sachen nicht entsprachen. Er zählte häufig sein Geld und erzählte jedem, daß 
er sehr wohlhabend sei und verschiedene Häuser besäße. In den letzten Wo- 
chen wurde er immer unruhiger, kehrte sich nicht an die Hausordnung und 
wurde deshalb, um keine Unannehmlichkeiten für die Insassen des Hauses 
und das allgemeine Publikum zu verursachen, abends eingeschlossen. Darauf- 
hin hat er nachts oft gegen die Tür geschlagen und das Armenhaus beunruhigt. 
Dann ist er in verschiedene Häuser gegangen und hat den Hausbesitzern er- 
klärt, ihm gehöre das betreffende Haus. Aus diesem Grunde hat er auch heute 
noch eine Hausbesitzerin bedroht. Öfters erscheint er morgens in aller Frühe 
im Arbeitskostüm mit Hacke und Schaufel und will zur Arbeit gehen, wohin 
er vermeintlich bestellt worden ist. Neulich abends besuchte ich ihn, als er in 
dem Wahn war, Herr Jakob M. würde kommen, um ihm den Lohn zu bringen 
für die Arbeit, die er natürlich nicht verrichtet hatte. Ein anderes Mal legte er 
sich morgens von 6—8 Uhr vor das Haus eines alten Fräuleins, mit der er sich 
verloben will. Er mußte von anderen Arbeitern wieder in das Armenhaus zu- 
rückgebracht werden. Wenn er von seinen Extravaganzen nach Hause zu- 
rückkommt, legt er sich ruhig ins Bett, bis er wieder zu neuen Plänen und Aben- 
teuern auszieht. — 

Es liegt bei ihm ohne Zweifel eine völlige Geistesstörung vor, die wohl 
durch das hohe Alter bedingt ist. Er lebt fast ausschließlich in Wahnideen 
und es bestehen dazu Halluzinationen. Da Peter H. gegen seine nähere und 
fernere Umgebung aggressiv wird und in einem geordneten Hause nicht mehr 
gelitten werden kann, ist die sofortige Überführung in die Heil- und Pilege- 
anstalt geboten. 


gez. Dr. S.“ 


Aus der Krankengeschichte in Neustadt vom Juli 1916 geht hervor, daß 
der Alte meistens in heiterer Stimmung und oft bettflüchtig ist und fortdrängt, 
er wolle nach Heiligenhafen, um zu heiraten, ihm sei jetzt eine Bauernstelle 
geschenkt worden usw. Auf Fragen nach Ort und Zeit gibt er falsche Ant- 
worten: (Wo hier?) ‚In Heiligenhafen“. (Wie lange hier?) „Ein paar Monate‘ 
(Richtig einige Tage.) (Welches Jahr jetzt?) „1901“. (Monat?) „April (Rich- 
tig Juli). (Wochentag?) ‚Freitag‘, ‚‚Grünsdonnerstag‘“. (Was ist los in der 
Welt?) „Krieg mit den Franzosen, die: Holsteiner sind auch da bei.“ (Wie 


156 U. Sabaß 


alt?) ‚89, 90 Jahre‘. (Da heiratet man doch nicht mehr?) ‚Warum nicht?“ 
Körperlich bietet er außer der allgemeinen Altersatrophie keinen krankhaften 
Befund. Die Sprache ist artikulatorisch nicht gestört, die Reflexe normal, 
Hirnnerven o. B. Im August wird er auffallend ruhiger und schwächer, kann 
nicht mehr aufstehen und verfällt immer mehr. Er stirbt am 18. August im 
Verlauf zunehmender Altersschwäche. 


Über den allmählichen oder rapiden Abbau der allgemeinen intellektuellen 
Leistungsfähigkeit ist hier leider nichts bekannt. Kurze Zeit vor dem voll- 
kommenen Verfall ist es bei dem Kranken zu einem maniakalischen Erregungs- 
zustand gekommen, von dem leider nicht sicher entschieden werden kann, ob 
er auf vorwiegend arteriosklerotische oder atrophische Hirnveränderungen 
zurückzuführen ist. 


Lebenslauf und praemorbider Charakter seines Sohnes, des 
Briefträgers Hinrich H.: Er ist als Sohn des eben beschriebenen Land- 
arbeiters Peter H. am 6. 12. 1865 in Heiligenhafen geboren. Aus seiner Kinder- 
und Jugendzeit ist nichts besonderes hervorzuheben. Nach seiner 2jährigen 
Militärzeit hat er die Beamtenlaufbahn bei der Post eingeschlagen und ist 
dort Briefträger geworden. Mit 30 Jahren hat er geheiratet und lebte bis zu 
seiner Erkrankung (Anfang.1936) in sehr glücklicher Ehe und zufrieden mit 
seiner Frau und 5 Kindern. Von seinen Angehörigen wird er als ein sehr flei- 
Biger, biederer Mensch geschildert, der sich ganz für das Wohlergehen seiner 
Familie einsetzte. In seinem Dienst war er äußerst gewissenhaft und zuver- 
lässig. Dabei war er etwas empfindsam, neigte dazu, kleinen seltenen Kon- 
flikten mit Dienstkameraden oder Vorgesetzten lange nachzugehen und all- 
tägliche Sorgen schwer zu nehmen. Sein Sohn erzählt z. B., daß er einmal 
nicht darüber hinwegkommen konnte, daß ein von ihm abgelieferter Ein- 
schreibebrief, der angeblich Geld enthalten sollte, nur ein Schreiben enthielt. 
Obgleich ihn die Vorgesetzten beruhigten, meinte er immer, jeder müsse den- 
ken, er habe das Geld entwendet, was keiner seiner Bekannten von ihm glaubte. 
Er hörte nicht auf, sich darüber große Sorgen zu machen, bis sich heraus- 
stellte, daß der Absender vergessen hatte, das Geld in den Umschlag zu stecken. 
Seine Frau und die Kinder haben ihm derartige Grübeleien, von denen er nicht 
loskam, öfters auszureden versucht. Durch das glückliche Familienleben ist 
es ihm dann leichter geworden, über alles hinwegzukommen. Neben seinem 
Dienst bearbeitete H. mit Fleiß und Sorgfalt ein Stück eigenes Land und seinen 
Garten. Zu Hause interessierte er sich für alles, tischlerte und bastelte, be- 
sorgte Haus- und Küchengeräte und ging mit der Frau oder allein einkaufen, 
sobald etwas fehlte. Er war ein gutmütiger, selbstloser Mensch, der für die 
Seinen mehr sorgte als für sich selbst, der ohne seine Familie kaum einmal 
ausging, der bei der Anschaffung von Kleidern und Wäsche zuerst an die an- 
deren dachte und selbst mit seinen alten Sachen zufrieden war. Bei Geburts- 
tagen und kleinen Familienfesten wußte er immer durch praktische Geschenke 
Freude zu bereiten. Er plauderte gern mit Freunden und Nachbarn, war dabei 
bescheiden und liebenswürdig und hörte gern teilnahmsvoll zu, wenn andere 
erzählten. — Sein tiefes, weiches Gemütsleben zeigt sich deutlich nach dem 
Tode seiner Tochter, die infolge einer Peritonitis starb. Er ging häufig allein 
auf den Friedhof, blieb lange dort und pflegte das Grab mit immer neuen 
Blumen. — Körperlich war er immer gesund bis auf ein Hämorrhoidalleiden, 
das er 30 Jahre lang hatte. Die Blutungen verschlimmmerten sich so, daß er mit 
62 Jahren pensioniert werden mußte. Das Leiden hat sich dann gegen Ende 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 157 


der sechziger Jahre erheblich gebessert. Nach seiner Pensionierung ist H. 
noch fleißig in Haus und Garten tätig gewesen,-hat auch bei den verheirateten 
Kindern geholfen, wo es etwas zu basteln gab, hat sie täglich besucht und an 
allem Anteil genommen. Mit den Enkelkindern hat er gern gespielt und Kinder- 
lieder gesungen bei den gemeinsamen Spaziergängen. — 


Krankheitsbeginn und Verlauf: Als H. 69 Jahre alt war, bemerkten 
seine Frau und seine Kinder, daß der Vater sein großes Interesse für sein Haus 
und seine Familie, für seine Zeitung, die er sonst täglich las, allmählich mehr 
und mehr verlor, daß er äußerlich stumpfer wurde und immer mehr in sich 
gekehrt. Er verlegte oft seine Sachen, suchte dann ängstlich danach, ohne da- 
von zu sprechen. Er vergaß es, wenn seine Kinder ihn zum Kaffee eingeladen 
hatten oder wenn seine Enkel ihn zu einer festgelegten Zeit zum Spaziergang 
abholen wollten. Während er früher gern für seine Frau Besorgungen machte, 
war er jetzt nur selten dazu zu bewegen, meistens kam er unverrichteter Sache 
aus der Stadt zurück und wußte nicht mehr, was er besorgen sollte. Im Mai 
1936, — er war damals 70 Jahre alt —, zeigten sich neben seiner Vergeßlich- 
keit und Interesselosigkeit Verfolgungsideen, die einen andauernden Angst- 
zustand hervorriefen. Anfang Mai bezahlte er selbst bei seinem Wirt die Miete, 
hatte aber nachher trotz der Quittung immer die Idee, die Miete nicht bezahlt 
zu haben und nun dafür bestraft zu werden. Er behauptete, seine Papiere und 
Bilder seien ihm gestohlen, kramte ängstlich in allen Schubladen herum und 
blieb dauernd in einer inneren Unruhe und Getriebenheit. Er lief von einem 
Fenster zum anderen, sagte dabei: ‚Jetzt kommen sie‘‘, ging nicht mehr auf 
die Straße, weil er meinte, die Menschen müßten ihm ansehen, daß er etwas 
verbrochen habe, behauptete, er bekäme keine Pension mehr, das hätte man 
durchs Radio gesagt. Abends ging er nicht schlafen, weil er kein Bett mehr 
zu haben glaubte, sondern er stand horchend an der Tür voller Angst vor dem 
Mann, der angeblich dort mit dem Licht stände und das Schloß erbrechen 
wollte. In seinem angstvollen Verwirrtheitszustand kam es auch zu unmoti- 
vierten, verkehrten Handlungen. Er zog z. B. aus den Buffetfächern das Pa- 
pier unter den Gläsern hervor, so daß diese zerbrachen. Da er sich völlig ver- 
grub in seine ihn quälenden Ideen, mußte er Ende Mai 1936 in die psychia- 
trische Abteilung des Altonaer Krankenhauses und von dort im Oktober 1936 
in die Anstalt zu Neustadt eingewiesen werden. 


Befund und eigene Beobachtungen in Neustadt: Der Patient 
zeigt ein völlig gehemmtes, ratloses Wesen mit ängstlichem Mienenspiel. Auf 
Frage gibt er meistens keine oder nur ganz kurze Antworten wie: „Ja — Nein — 
weiß nicht‘. Er ist unruhig und oft bettflüchtig und kann nur mit Gewalt 
ins Bett zurückgebracht werden. Er schreit dauernd: ‚‚O wat hew ick mokt, 
o, wat hew ick mokt!‘ Weitere Erklärungen kann er nicht geben. 

Im weiteren Verlauf tritt in dem ängstlich-depressiven, völlig gehemmten 
Wesen des Kranken keine wesentliche Änderung ein. Über seine Situation, 
Zeit und Ort bleibt er desorientiert, gibt z. B. an, daß er in Altona sei. Im 
Garten und Tagesraum läuft er in einer dauernden Unruhe herum, ohne mit 
einem Pfleger oder einem Kranken ein Wort zu wechseln. Sobald man ihn an- 
spricht, schaut er einen stets mit dem gleichen ratlos-depressiven Gesichts- 
ausdruck an, antwortet leise: „Weiß nicht“ oder weicht den Fragen aus, in- 
dem er fortdrängt. Auf die Frage, ob die Briefsachen noch nicht ausgetragen 
seien, schüttelt er mit dem Kopf und nickt, als man ihn fragt, ob er noch ar- 
beiten müsse. Auch bei dem Besuch seiner Angehörigen kommt es zu keiner 


158 U. Sabaß 


Lockerung seiner Hemmung. Auf die Frage, wer denn gekommen sei, schaut 
er seine Kinder lange an, wie wenn er nachdenken müsse und sagt dann nach 
einiger Zeit richtig: „Emma, — Paul.“ Den Namen seines anwesenden Enkel- 
kindes kann er nicht nennen. Während des Besuches stürzt er sich mit kin- 
discher Unbeherrschtheit auf die mitgebrachten Süßigkeiten, zeigt für nichts 
anderes Interesse. Er steht immer wieder auf und drängt fort mit den Worten: 
„Ist Tid‘. Er antwortet nicht, als der Sohn ihn fragt: „Wo willst Du hin, 
Vater?“ — nickt jedoch bejahend auf die Frage, ob er zur Post gehen müsse. 
Er lebt also anscheinend in der wahnhaften Idee, noch Briefträger zu sein. Da 
er nähere Erklärungen und Antworten nicht geben kann, lasse sich etwaige 
rein intellektuelle Störungen nicht genau prüfen. Aus den Angaben seiner 
Angehörigen, daß seine Erkrankung mit zunehmender Vergeßlichkeit begonnen 
habe, aus seiner Desorientiertheit, schweren Besinnlichkeit und Verkennung 
der Personen, sowie aus der Angabe des Patienten, daß er 1 Tag nach dem 
Besuch seiner Angehörigen nichts mehr davon wisse, läßt sich schließen, daß 
es sich bei ihm neben der ängstlichen Verstimmung zum mindesten um eine 
schwere Merkfähigkeitsstörung handelt. 


Körperlich: Der Kranke ist von pyknischem Körperbau, hat noch ein 
frisches Aussehen und einen guten Allgemeinzustand. Die inneren Organe sind 
ohne pathologischen Befund. (r. R. = 140/90 mm Hg.) 


Epikrise: 


Leider ist uns aus der Vorgeschichte des Vaters unseres Pa- 
tienten nichts Näheres bekannt, als daß es sich um einen fleißigen, 
strebsamen Menschen gehandelt hat. Bei ihm entwickelte sich der 
senile Krankheitsprozeß im Alter von 81 Jahren innerhalb einiger 
Monate und bestand in einer manischen Verstimmung mit großem 
Antriebsreichtum, motorischer Unruhe und auf wahnhaften Ideen 
und Vorstellungen beruhenden Handlungen. Seinen Unternehmun- 
gen nach fühlte er sich anscheinend zurückversetzt in ein viel 
früheres Lebensalter. Er war zeitlich, räumlich und über die 
eigene Person vollkommen desorientiert. Der Prozeß lief innerhalb 
einiger Monate rasch ab, der Kranke wurde plötzlich auffallend 
ruhig, verfiel zusehends und starb ‚im Verlauf zunehmender Al- 
tersschwäche‘‘. Sein Sohn Hinrich wird uns geschildert als fleißiger, 
biederer Mensch, der seinen beruflichen und familiären Verpflich- 
tungen mit warmem Interesse und großer Sorgfalt nachkam. 
Kleine Schwierigkeiten und Sorgen nahm er schwer und ging ıhnen 
lange nach. Dabei zeigte er eine hilfsbereite Aufgeschlossenheit. 
und Besorgtheit für seine Familie und seine Mitmenschen, wie 
überhaupt ein warmes und tiefes Gemütsleben. Mit 69 Jahren 
entwickelt sich innerhalb eines Jahres eine Wesensveränderung 
im Sinne einer allgemeinen Interesselosigkeit. Ferner werden seine 
starke Vergeßlichkeit und die häufigen Äußerungen von para- 
noiden Ideen auffällig. Es kommt zur Ausbildung eines andau- 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 159 


ernden, ängstlich-agitierten Depressionszustandes, in welchem er 
in die Heılanstalt eingewiesen wird und der innerhalb der dor- 
tigen einjährigen Beobachtungszeit im wesentlichen unverändert 
bleibt. — Wie sein Vater, so lebt auch er in einer dauernden mo- 
torıschen Unruhe und in der wahnhaften Idee, noch wie in ver- 
gangenen Jahren arbeiten, also Briefe austragen zu müssen. Auch 
er ist räumlich und zeitlich völlig desorientiert, findet nur langsam 
die Namen seiner Kinder, verkennt Personen und ist hochgradig 
vergeßlich. Im Gegensatz zu seinem Vater ist bei ihm die Stim- 
mung zur ängstlich-depressiven Seite verschoben, während es sich 
bei ersterem um eine manische Verstimmung handelte. 


7. Fall Gerhard Friedrich M. Alter: 75 Jahre. 


Diagnose: Senile Demenz auf dem Boden hyperthymer Kon- 
stitution. 


Familienanamnese und Lebenslauf: Die Eltern und Großeltern sind 
nicht über 65 Jahre alt geworden. Frühzeitiges Altern konnte deshalb kaum 
beobachtet werden. M.s Vater war Missionar im Dienste der Herrenhuter 
Brüdergemeine. Sein Großvater war Goldschmied, soll sehr geschickt und 
angeblich ein willensstarker, zu Jähzorn neigender Mensch gewesen sein. Die 
Mutter des Patienten war Tochter und Enkelin von Bischöfen der Brüder- 
gemeine, ihr Großvater, Christian G. soll Lieder religiösen Inhalts die noch 
heute bei den Herrenhutern gesungen werden, gedichtet und komponiert 
haben. M.s Mutter selbst sei musikalisch begabt gewesen und habe mehrere 
Instrumente gut beherrscht. — Der Patient ist 1862 geboren. Mit 6 Jahren 
kam er mit seinem Bruder zusammen nach Deutschland und wurde in einem 
Schulinternat für die Kinder Herrenhuter Missionare in Sachsen erzogen. Nach 
seiner Schulentlassung (Obersekundareife) erlernte er das Goldschmiedehand- 
werk. Mit 19 Jahren hatte er ausgelernt und arbeitete anschließend 6 Jahre 
lang als Goldschmiedegeselle in sehr vielen Städten: Berlin, Leipzig, Naum- 
burg, Jena, Barmen, Köln, Düsseldorf, Trier, Bremen, Hamburg, Kopenhagen 
und kehrte von Dänemark wieder nach Leipzig zurück. Dort ließ er sich bei 
einem berühmten Zahnarzt in der Zahntechnik ausbilden, bestand das Examen 
und arbeitete für seinen Lehrmeister noch 8 Jahre lang. Mit 28 Jahren (1890) 
heiratete er die Tochter eines Hausverwalters, Marie-Elisabeth H.; aus der Ehe 
ging eine Tochter hervor. 1898 eröffnete er in Leipzig eine eigene Praxis, die er 
aber schon nach 2 Jahren wieder aufgeben mußte. Bis 1906 arbeitete er dann 
mit gutem Gehalt als Zahntechniker im zahntecynischen Universitäts-Institut 
in Breslau,‘beaufsichtigte dort angeblich die zahntechnischen Arbeiten der Stu- 
denten. 1906 zog er nach Hamburg, wo er ein zahntechnisches Laboratorium 
gegründet und für viele Hamburger Zahnärzte gute zahntechnische Arbeiten 
geliefert hat. Er ist auf Grund seiner guten Arbeiten nebenbei Lehrer an der 
zahntechnischen Abteilung der Fortbildungsschule für Dentisten geworden, ist 
selbst an deren Aufbau und Erweiterung beteiligt gewesen und hat auch im 
Prüfungsausschuß mit gearbeitet. Nach dem Tode seiner Frau im Jahre 1923 
verkaufte er in der Inflationszeit sein Geschäft und war infolgedessen bald 
mittellos, denn kurz darauf mußte er auch seine Stelle als Gewerbelehrer, die 
durch einen Berufslehrer besetzt wurde, aufgeben. Von 1923 bis 1930 wohnte er 


160 U. Sabaß 


bei seiner Tochter und dem Schwiegersohn, Studienrat H. in Hamburg und 
arbeitete dort in Haus und Garten. 1930 brachten seine Angehörigen ihn in 
das Altersheim Lokstedt, von wo aus er im September 1935 der Landesheil- 
anstalt Neustadt überwiesen wurde. 


Von seinen 3 lebenden Brüdern sind noch 2 Missionssuperintendenten, 
der 3. Studienrat. Über abnorme psychische Veränderungen im Alter ist bei 
ihnen nichts bekannt. 


Praemorbide Persönlichkeit: Bei Gerhard M. handelt es sich ium 
einen außerordentlich vielseitig begabten Menschen mit einem über das Durch- 
schnittsmaß weit hinausgehenden Antriebsreichtum, mit starkem Selbst- 
bewußtsein und leicht erregbarem Temperament. Aus seiner Schulzeit ist be- 
kannt, daß er ein schwieriger Schüler war, der öfters aus dem Rahmen fiel. 
Obwohl er von den meisten Lehrern für befähigt gehalten wurde, und bei die- 
sen auch Gutes leistete, geriet er mit anderen immer wieder aneinander, 
widersetzte sich dauernd und gab sich dann auch im Unterricht nicht die 
geringste Mühe. — Bei seiner vielseitigen Begabung, seiner Aufgeschlossenheit 
und seinem Interesse für alle Dinge, die ihm begegneten, kam es bei ihm bis 
zu seiner Heirat nie zu einer nachhaltigen, ausdauernden Stetigkeit oder 
Zielstrebigkeit, sondern getrieben von immer neuen Einfällen und Wünschen, 
fuhr er nach seiner Lehrzeit bei 3 Meistern in den verschiedensten Gegenden 
Deutschlands herum, kam nach Dänemark und besuchte eine Ausstellung von 
Goldschmiedearbeiten in England. Dabei war er jedoch nie brotlos, überall 
bekam er eine Stelle, in der er seine Arbeit einige Monate tadellos ausführte. 
Dann aber zwang ihn die Unternehmungslust zu etwas neuem, oder er erregte 
sich über eine Zurechtweisung seines Meisters, dem er sich nicht fügen wollte, 
und ging fort. In den Zeugnissen ist manchmal seine produktive Veranlagung 
zu künstlerischen Arbeiten hervorgehoben. Nach seiner Hochzeit, die mit dem 
Abschluß seiner zahntechnischen Lehrzeit zusammenfällt, zeigte sein Leben 
einen ruhigeren und stetigeren Verlauf. Seine Frau muß ihn nach Angabe 
seiner Tochter gut verstanden und einen günstigen Einfluß auf ihn ausgeübt 
haben. Obgleich er sehr eigenwillig war, ist es ihr allein gelungen, ihn von 
manchem neuen Unternehmen zurückzuhalten. Er hat im Vollalter seiner Lei- 
stungskraft sein überaus starkes Trieb- und Affektleben durch Vernunft und 
Willen in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt und seiner Familie zuliebe 
viele Wünsche, wie z. B. zu kostspieligen Ausstellungen und Kongressen zu 
fahren, seine Stelle oder gar seinen Beruf zu wechseln, Maler zu werden, Kon- 
zerte zu veranstalten usw. fallen gelassen. Sein zahntechnischer Lehrmeister, 
der seine große Fingergeschicklichkeit und seine wertvolle saubere Arbeit zu 
schätzen wußte, ihn aber auch kannte mit seiner künstlerischen Veranlagung, 
seiner geringen Ausdauer und seiner Neigung zu Jähzorn und Erregung, be- 
hielt ihn nach seiner Lehrzeit noch 8 Jahre für die eigenen zahntechnischen 
Arbeiten, war ihm ein guter Freund und riet ihm ab, eine eigene Praxis zu 
eröffnen. Der Versuch, eine selbständige Praxis auszuüben, scheiterte dann 
auch bald daran, daß Gerhard M. meistens nicht mit solchen Menschen fertig 
werden konnte, die sich ihm in einer geringfügigen Sache widersetzten. Auch 
in Breslau erregte er sich durch eine Meinungsverschiedenheit mit seinem Chef 
so, daß er im Affekt seine gute Stellung aufgab. Eine gute berufliche Lösung 
war für ihn die Gründung und selbständige Leitung eines eigenen zahntech- 
nischen Laboratoriums, das er 14 Jahre lang besaß, in dem er sich die Arbeit 
nach eigenem Gutdünken einteilen konnte und nicht auf die dauernde Zu- 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 161 


sammenarbeit mit anderen Menschen angewiesen war. Er hat eine große 
Kundschaft und ein gutes Einkommen gehabt. Auch die Berufung zur Mit- 
arbeit bei der zahntechnischen Fachabteilung der Gewerbeschule als Mitauf- 
bauer und Gründer zeugt für sein Können. — In dieser Zeit versuchte er mehr 
als früher, seine vielseitigen künstlerischen Anlagen zur Entfaltung zu bringen. 
Einige recht gute Bilder, Ölgemälde und Bleistiftskizzen, die ich selbst ge- 
sehen habe, sind noch erhalten. Er studierte Harmonielehre, musizierte mit 
einem Hamburger Künstler zusammen, spielte Klavier, Geige, Cello und ver- 
tonte selbst kleine Lieder und Gelegenheitsgedichte, die er zu festlichen Ge- 
legenheiten oder bei Erlebnissen, die ihn stark beeindruckten, verfaßte. Durch 
sein leicht bewegliches Temperament und sein starkes Gefühlsleben nahm er 
Erlebnisse tief in sich auf und brachte sie zum Ausdruck. Bei der Geburt seines 
Kindes schreibt er z. B. ein vor Freude etwas überschwängliches Gedicht, 
nach einem Wobhltätigkeitskonzert in einem Gefängnis, an dem er selbst be- 
teiligt ist, bringt er in einer Bleistiftskizze die Haltung der Gefangenen beim 
Hören der Musik zum Ausdruck. Seine Gedichte haben eine starke Neigung 
zum Sentimentalen, in den Skizzen der Personen kommt allerdings eine scharfe, 
kritische Beobachtungsgabe, die das Wesen des anderen erfaßt und als Kari- 
katur darstellen kann, zum Ausdruck. Die Märchen, die er mit 55 Jahren für 
seine Enkelkinder geschrieben hat, sind reich an Phantasie und ein Ölgemälde, 
das darstellt, wie dem Vollmond in einer stürmischen Nacht von einer grauen 
Wolke ein Zahn gezogen wird, zeugt auch von dieser Gabe. — Bei seiner großen 
Vielseitigkeit, die ihn zu immer neuen Anfängen und Versuchen antreibt, hat 
Gerhard M. es auf keinem Gebiet zu einer außergewöhnlichen Leistung ge- 
bracht. — Auch in diesen nebenberuflichen Liebhabereien brachte seine Frau 
ihm Verständnis entgegen, legte ihm nichts in den \Weg,-wenn er viele Kon- 
zerte und Kunstveranstaltungen besuchte. Von ihr nahm er auch Kritik ent- 
gegen und hat in dieser Zeit seiner Familie wegen auf große Reisen verzichten 
können, obwohl ihm geldliche Beschränkung immer schwer fiel, hat seinen Be- 
ruf durch seine Liebhabereien auf keine Weise vernachlässigt und übte auch 
Selbstkritik an seinen kleinen Werken und an seinem erregbaren Wesen. — 
Durch den Tod seiner Frau verlor er einen Halt und verkaufte bald darauf 
in der Inflationszeit sein Geschäft und sein Haus trotz des Abratens seines 
Schwiegersohnes, um sich nun noch mehr seinen persönlichen Liebhabereien 
widmen zu können, und so stand er, nachdem seine Lehrerstelle durch einen 
Berufsgewerbelehrer ersetzt wurde, völlig mittelos da. Im Hause seines Schwie- 
gersohnes und seiner Tochter fügte er sich zunächst ganz gut ein, malte und 
musizierte, fertigte kunstvolle Laubsägearbeiten und Handschnitzereien an, 
Schmuckkästchen, Bilderrahmen, Serviettenständer usw., bastelte, tischlerte, 
zimmerte, wo es etwas im Hause zu tun gab. Aber dann fiel ihm die geldliche 
Beschränkung und Abhängigkeit von den Kindern immer schwerer. Er ord- 
nete sich nicht mehr in die Hausordnung ein, wurde immer egozentrischer und 
vollkommen rücksichtslos gegen seine Hausgenossen. In den beiden letzten 
Jahren seines Aufenthaltes bei dem Schwiegersohn, — er war damals 67 Jahre 
alt —, paßte er sich nicht mehr seinen beschränkten Verhältnissen an, ver- 
langte mehr Geld von seinem Schwiegersohn, gab es für unnütze Dinge aus, 
war nicht zu bewegen, mit einer Arbeit, die ihm notwendig schien, aufzuhören 
und zum Esssen zu kommen, verlangte, daß sich der ganze Haushalt nach ihm 
richtetete. Er ließ es durch geringfügige Kleinigkeiten zu heftigen Auseinan- 
dersetzungen kommen, die immer häufiger Unfrieden in das Familienleben 
brachten. Zu derselben Zeit bemerkte der Schwiegersohn, daß er nicht mehr 
11 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


162 U. Sabaß 


wie früher irgendwelche Skizzen schnell und spontan hinwarf, sondern tagelang 
über irgendeiner Idee, die er gestalten wollte, und nicht konnte, brütete und 
dann lange an einer Skizze herummalte, aus der schließlich doch nichts wurde. 
Seiner ganzen Handlungsweise stand er vollkommen uneinsichtig und kritiklos 
gegenüber, und je mehr seine Urteilskraft und seine vielseitigen Fähigkeiten 
zurückgingen, um so selbstbewußter wurde er und um so besessener von der 
Idee, künstlerische Großtaten zu vollbringen. — Da der Alte auch durch 
starke sexuelle Erregung seine Enkelkinder sittlich gefährdete, brachte sein 
Schwiegersohn ihn 1931 im Niendorfer Kinder- und Altersheim unter. 

Weiterer Verlauf der senilen Wesensveränderung: Obwohl er 
durch seine Zanksucht und Widerspenstigkeit gegen Menschen, die ihn ge- 
fügig machen wollen, oft Schwierigkeiten macht, bleibt er 4 Jahre im Alters- 
heim. Er empfindet seine Lage als eine Vergewaltigung seiner Freiheit: als 
einer Diphterieepidemie der Kinder wegen auch den Alten der Ausgang ver- 
boten wird, macht er einen Fluchtversuch über die Mauer des Heims und geht 
zu seiner Tochter. Da er sich überhaupt nicht fügen kann und auch dort an- 
fängt, eine sittliche Gefahr für die Kinder zu werden, ist schließlich im Novem- 
ber 1935 seine Einweisung in die Heilanstalt Neustadt erforderlich. 

Aus der Krankengeschichte in Neustadt vom November 1935 
und eigene Beobachtungen: Bei seiner Aufnahme zeigt der Kranke ein 
hypomanisches Zustandsbild, im Affekt wechselnd zwischen einer poltrigen 
Gereiztheit und heiterer, optimistischer Stimmung. Er protestiert lebhaft 
gegen seine Einweisung und fügt sich dann der Not gehorchend, in seine Lage. 
Er ist formal durchaus geordnet und vielseitig orientiert. Bei der Erörterung 
der Gründe für seine Einweisung holt er weit aus, setzt sich dafür erst richtig 
in Positur, um zu ‚‚erklären‘. Er verliert sich dabei fortgesetzt in Nebensäch- 
lichkeiten, schiebt überall Erläuterungen ein und wird ungeduldig, wenn man 
ihn darin unterbrechen und zum Thema zurückbringen will. Dabei gerät er 
leicht in Erregung, schimpft heftig drauf los, so daß er außer Atem ist und 
unterstreicht seine Äußerungen mit lebhafter Mimik und Gestikulieren. Bei 
der Schilderung der letzten Vorgänge im Altersheim kommt seine einseitige, 
egozentrische Einstellung deutlich heraus. Nur was er sagt und denkt, ist 
gültig, nur wer ihm zustimmt, hat Recht. Alles andere ist Verleumdung und 
Feindschaft. Er meine es immer gut und freundschaftlich, nur die Leute ver- 
ständen nicht sein ‚‚lebhaftes Musikertemperament“, bei ihnen sei alles klein- 
licher Neid. Die Hauptfeindin sei die leitende Schwester des Heimes, die ihn 
schikanieren und schlecht machen wolle und damit seine Ehre angreifen würde. 
Er habe nichts getan, als ihr seine Meinung gesagt. Sie aber habe nicht den Mut 
gehabt, ihn anzuhören, sondern einen Beamten zu Hilfe gerufen, und so sei 
er am anderen Morgen abgeholt worden. Er malt die ganze Szene dramatisch 
und weitschweifig aus, am Schluß wird er ganz heiter und aufgeräumt, ver- 
sichert dem Arzt seine Freundschaft und sein Vertrauen und verspricht ihm, 
sich auf eine ganz besondere Art erkenntlich zu zeigen, wenn der Arzt ihm bald 
hier heraushelfe. Der Patient vertraut ihm dann geheimnisvoll an, daß er 
ein großes ‚‚nationalpolitisches Werk“, einen Hymnus: ‚Sang- und Treu- 
schwur‘“‘ gerade jetzt dichten und komponieren würde. Nun werde er auch 
seine letzten Erlebnisse im Heim und hier darin verarbeiten. Darum sei er 
dankbar, daß er Einblick in einen solchen Betrieb bekomme. 

Im weiteren Verlauf entwickelt er eine rege Betriebsamkeit. Er mischt 
sich in alle fremden Angelegenheiten, glossiert alles, neckt und beschimpft 
die anderen, macht sich über alles Notizen und versucht, Pfleger, Ärzte und 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 163 


Kranke für sein großes Werk zu skizzieren. Während er alle, die ihm wider- 
sprechen, mit seiner Kritik und seinen Boshaftigkeiten überhäuft, und es 
dabei auch öfters zu geringfügigen tätlichen Auseinandersetzungen kommen 
läßt, ist er sich selbst gegenüber kritiklos, uneinsichtig und meint, der ganze 
Betrieb drehe sich um ihn, er kommt täglich mit 100 neuen Wünschen und 
törichten Plänen. Dauernd führt er Konflikte mit dem Personal herbei, aus 
denen er jedesmal eine große Angelegenheit macht mit weitschweifigen Er- 
klärungen und langen, schriftlichen, sorgfältig disponierten Eingaben an den 
Direktor, den Stationsarzt usw. Bekommt er kein Recht, so greift er zur Selbst- 
hilfe. Weil z.B. die Tür nach seiner Meinung klemmt, bricht und bohrt er 
mit einem Nagel Span um Span aus der Türkante heraus und begreift nicht, 
daß er derartige Unternehmungen zu unterlassen habe. 


Bis jetzt zeigt er dasselbe hypomanische reizbare-querulatorische Wesen. 
Sein ausgezeichnetes Gedächtnis ist auch für die jüngsten Ereignisse noch recht 
gut erhalten. Sobald er jedoch irgendein Erlebnis erzählt, verliert er sich 
weitschweifig in Einzelheiten, kann diese von Hauptsächlichem nicht unter- 
scheiden und findet oft nicht zum Thema zurück. Bei seinem selbstgeschrie- 
benen Lebenslauf berichtet er z. B. bei der Erwähnung, als Sohn eines Herren- 
huter Missionars geboren zu sein, lang und breit von der missionarischen 
Tätigkeit der Herrenhuter auf der ganzen Welt, während der letzten 3 Jahr- 
hunderte. Das Nichtzurückfinden zum ursprünglichen Thema läßt auf eine 
Störung der Konzentrations- und Merkfähigkeit schließen, die auch daraus 
hervorgeht, daß der Alte das große Einmaleins nicht mehr beherrscht, weil er 
die zuerst errechnete Zahl während der Weiterrechnung vergißt. Er behält 
manchmal nicht, wohin er irgendwelche Sachen gelegt hat, sobald er sie ver- 
mißt, macht er andere dafür verantwortlich, und auch das führt zu erregten 
Auseinandersetzungen. — Trotz des subjektiven Gefühls großer Leistungs- 
fähigkeit, ist ein starker Abbau seiner geistigen Fähigkeiten erkennbar. Er 
zeichnet tagelang an einer kleinen, kindischen Skizze, die er nachher mit Bunt- 
stiften bemalt und umrandet, erzählt dabei mit großem Stolz und völliger 
Kritiklosigkeit, daß diese Arbeit seinen ganzen Geist in Anspruch nehme und 
daß er dabei von den Pflegern nicht gestört werden dürfe. 


Bei seinem ‚‚großen, nationalen Werk: Sang- und Treuschwur“, an dem 
er 3 Monate lang arbeitet, kommt nichts heraus als 2 lächerliche mit Mühe 
und Not zusammengereimte Verse, die er später noch vertonen will. Seine 
Verarmung an Ausdrucks- und Gestaltungskraft ersetzt er durch eine lange 
Einleitung, dauernde Wiederholungen und viele einfache und doppelte Unter- 
streichungen. 


Beispiel (Schluß des 1. Verses:) 


„Rufet Alle, Kommt Alle, 

Schwört Alle, 

Schwört Ihm Alle, 

Schwört Ihm Heilig vor Gott: 

Treu Ihm immerdar! Treu immerdar! Immerdar! 
Immerdar! ‚‚Usw. usw. 


2. Strophe: 


„Seht, wie Sie stehen, 
scheu um sich sehend, 


11® 


164 U. Sabaß 


mit falschem Blick, 

voll Haß und Tück. 

Die Falschen, die Heuchler, 

Die feigen Bauchkreuchler! 

Auf sie! Auf sie! Auf sie! 

Schützt o schützet Ihn, 

Schützt, o schützet Ihn! ‚‚Usw. usw. 


In diesen Worten wiederholt sich das Ganze 4 Seiten lang, ist mit großer 
Sorgfalt geschrieben und viele Worte und Buchstaben sind durch kindische 
Verzierungen und Malereien hervorgehoben. — 


Körperlich: Gerhard M. ist noch relativ rüstig. Er ist 1,65 m groß und 
hat einen pyknischen Habitus. Sein Haar ist voll und gleichmäßig grau, sein 
faltiges Gesicht zeigt ein sehr lebendiges Mienenspiel. 


Pathologischer Befund: Das Herz zeigt eine geringe Verbreiterung nach 
links, Aktion regelmäßig, Töne rein, Puls etwas gespannt. R.R. = 180; 
90 mm Hg. 


Abdomen: rechts hühnereigroße, reponible Leistenhermie. 
Epikrise: 


Zweifellos liegt hier schon vor der senilen Wesensveränderung 
eine von der Norm abweichende hyperthymische Persönlichkeit vor. 
Es handelt sich bei Gerhard M. um einen intelligenten, vielseitigen, 
auch künstlerisch begabten Menschen mit ungewöhnlich großem 
Antriebsreichtum, immer neuen Einfällen und Unternehmungen, 
bei denen die Stetigkeit und die anhaltende Zielstrebigkeit fast 
völlig fehlen. Die regulierende Vernunft und der Wille haben hier 
auf das starke Trieb- und Affektleben nicht so viel Einfluß, als 
daß es zu einer harmonischen Persönlichkeitsentfaltung kommen 
könnte. Stimmungsmäßig gehört er zu den hyperthymisch-reizbaren 
Naturen, affektiv ist er sehr leicht erregbar. — Die Wesensver- 
änderung wird deutlich gegen Ende der sechziger Jahre durch 
immer stärker werdende egozentrische Rücksichtslosigkeit, andau- 
ernde querulatorische Gereiztheit, völlige Kritiklosigkeit dem 
eigenen Verhalten gegenüber und schließlich durch Abnahme der 
intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten. Dieser allgemeine 
geistige Zerfall schreitet hier langsam und kontinuierlich vorwärts, 
die geistige Persönlichkeit wird immer leerer, was in seiner Ideen- 
armut, in seinen kindischen Malereien, in seiner Denk- und Ur- 
teilsschwäche, in Störungen der Konzentrations- und Merkfähig- 
keit sichtbar wird. Mit dem geistigen Abbau parallel gehen die 
Steigerung des subjektiven Leistungsgefühls mit der Bildung 
von wahnhaften Größenideen und die erhöhte sexuelle Erreg- 
barkeit. | 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 165 


8. Fall Frau Anna R. Alter: 73 Jahre. 


Diagnose: senile Demenz mit depressiver Affektverschiebung. 


Familienanamnese und Lebenslauf: Von Gemütskrankheiten, De- 
pressionen oder vorzeitigem Altern in der Familie ist nichts bekannt. Ihr Vater 
war Arbeiter in einer Brauerei und hat viel getrunken. Die Kranke ist 1864 
geboren. Sie selbst gibt an, daß sie ihre Geschwisteranzahl nicht kenne, 
da die Kinder alle klein gestorben seien. Die Mutter ist bald nach der 
Geburt der Patientin an Lungentuberkulose gestorben. Der Vater heiratete 
zum 2. Male, und sie hat nach ihrem eigenen und den Angaben ihres Ehe- 
mannes bei der Stiefmutter eine unglückliche Kindheit verlebt. Die Stief- 
mutter hat sie oft geschlagen, einmal sogar mit dem Messer verletzt, wovon 
Frau R. noch heute eine Narbe am linken Handrücken trägt. Auf Veran- 
lassung ihres Onkels und des Bürgermeisters von L. wurde die 12jährige 
ins Arbeitshaus aufgenommen und auch dort konfirmiert. In der Volksschule 
hat sie mittelmäßig gelernt und die 1. Klasse erreicht. Nach der Schulent- 
lassung ist sie noch einige Jahre im Arbeitshaus geblieben und war danach 
bis zum 26. Lebensjahr in der Nähe von L. Hausmädchen an 2 Stellen. Die 
1. Ehe mit Landarbeiter B. war glücklich, ihre beiden Kinder sind nach we- 
nigen Monaten gestorben. 9 Jahre nach der Hochzeit starb ihr 1. Mann an 
l.ungentuberkulose. Patientin ist dann 7 Jahre als Aufwartefrau tätig ge- 
wesen. Mit 42 Jahren heiratete sie den L.andarbeiter R., der sie schon als 
Kind kannte. Auch diese Ehe war glücklich. Im Dezember 1932 begann ihre 
Erkrankung. 

Praemorbider Charakter: Die Kranke ist ein stilles, folgsames und sehr 
gedrücktes Kind gewesen. Durch die ungünstigen Familienverhältnisse ist die 
depressive Konstitution frühzeitig und deutlich zum Ausdruck gekommen. 
Davon erzählt ihr 2. Ehemann, der sie schon von der Schule her kannte. Sie 
ist immer still und fleißig, vor allem sehr hilfsbereit und in den Häusern, wo 
sie gearbeitet hat, beliebt gewesen. Kleine Fehler, die bei ihrer Arbeit selten 
vorkamen, hat sie sich sehr zu Herzen genommen. Sobald sie jemand etwas 
hart anfaßte, weinte sie leicht und kam über ein strenges Wort nur schwer hin- 
weg. Ihren 1. Ehemann hat sie während seiner Krankheit mit großer Liebe 
gepflegt. Ihr jetziger Gatte berichtet bei seinem Besuch wörtlich: Wir haben 
uns immer gut vertragen. Meine Frau war sehr fleißig, und wenn sie mit der 
Arbeit fertig war, setzte sie sich still hin und machte Handarbeiten. Sie wußte 
gar nicht, was sie alles für mich tun sollte. Meine Sachen waren immer in bester 
Ordnung, und sie kochte gern meine Lieblingsspeisen. Wir haben nie Streit 
miteinander gehabt. Meine 3 Söhne hatten sie auch gern, denn sie sorgte wie 
eine gute, leibliche Mutter für sie. Wir haben ein schönes Familienleben gehabt, 
aber meine Frau zog sich von Anfang an gern immer zurück. Sie war viel allein, 
denn meine Söhne und ich waren tagsüber bei der Arbeit. Ich sagte ihr dann, sie 
solle zur Nachbarin gehen, denn die Menschen hatten sie gern, weil sie gut 
war und jedem half. Aber zum Besuch ging sie nicht. Lieber saß sie allein und 
strickte dabei Strümpfe. Meine Frau war niemals aufgeregt oder launenhaft. 
Sie war nur zu still und ging zu wenig unter Menschen. Ich ging gern einmal 
mit ihr zum Vergnügen ins Dorf, aber sie hatte niemals so rechte Lust dazu. —“ 

Es handelte sich also bei Frau R. um einen fleißigen, gutmütigen und warm- 
herzigen Menschen mit tiefem Gemütsleben und depressiver Konstitution. 


Krankheitsbeginn und Verlauf: Die Erkrankung begann im 69. Le- 
bensjahr. 1932 bemerkte der Ehemann, daß seine Frau immer trauriger und 


166 U. Sabaß 


passiver wurde, daß sie öfter gegen ihre Gewohnheit ohne Handarbeit grübelnd 
und bewegungslos auf ihrem Stuhle saß. Sie vergaß manchmal, das Abendessen 
zu bereiten, fing an, von Hause fortzulaufen, und ist mehrere Male im Walde 
wiedergefunden und zurückgebracht worden. 

2 Monate nach Beginn dieser auffälligen Veränderung wurde Frau R. in 
die Neustädter Anstalt eingewiesen. Aus der Krankengeschichte geht hervor, 
daß sie damals ein depressives Zustandsbild zeigte. Sie weinte viel und war 
dauernd in einer ängstlichen Ratlosigkeit. Schwer ansprechbar gab sie manch- 
mal auf Fragen nach Ort, Zeit, ihren Personalien mit leiser Stimme gehemmte 
und unrichtige Antworten. Von sich selbst sagte sie: ‚„‚Eine ängstliche Natur 
habe ich immer gehabt, jetzt ist das wohl so..., das ist nun wohl so.. .“. 
Weiteres erfuhr man von ihr nicht. Zeitweilig zeigte sich bei ihr eine deutliche 
omtorische Unruhe, oft lief sie innerlich getrieben umher und rannte an die 
Türen. Allmählich fing sie wieder an, Strümpfe zu stricken, behielt aber das 
wenig ansprechbare, gehemmte Wesen. Sie war für alles dankbar und hatte 
über die Pflege, das Essen usw. nie irgend welche Klagen. Auf den dringenden 
Wunsch ihres Mannes wurde sie im August 1933 nach Hause entlassen. — 

Das depressive, antriebslose Wesen hielt zu Hause an. Sie konnte den Haus- 
halt nicht führen, oft war das Essen nicht zubereitet oder verdorben. Beim 
Einkaufen konnte sie nicht mehr ausrechnen, was zu bezahlen war, meistens 
besorgte sie gar nichts. Im November 1933 versuchte sie während der Ab- 
wesenheit ihres Mannes, sich mit dem Küchenmesser die Kehle zu durch- 
schneiden und wurde danach in N. endgültig aufgenommen. 


Befund und eigene Beobachtungen in Neustadt: Frau R. zeigte 
damals 3 übereinliegende Schnittwunden am Halse, die nach 3 Wochen ver- 
heilt waren. Über die Motive zum Suicidversuch erfuhr man von ihr nichts. 
Sie saß teilnahmslos da, ohne sich im geringsten um die Vorgänge in ihrer Um- 
gebung zu kümmern. 

Bis jetzt bleibt das depressive Verhalten bestehen. Obwohl sie von Zeit zu 
Zeit etwas gelöster ist, fällt sie doch immer wieder in die Depression zurück 
und ist von ihr beherrscht. Sie muß manchmal zur Sauberkeit angehalten 
werden, sorgt jedoch, wenn man sie viel dazu anhält, ganz gut für sich selbst. 
Hin und wieder macht sie sogar kleine Handreichungen, füttert hilflose 
Kranke, kleidet sie an und aus. Nach der Arbeit setzt sie sich still auf ihren 
Platz, das ängstliche ratlose Gesicht zum Schoße hingerichtet. Irgendeine 
Ermahnung, sie solle sich doch sauber halten oder dgl., kann die Depression 
sofort vertiefen, so daß sie tagelang weint und die Nahrungsaufnahme ver- 
weigert. Einmal macht sie einen Fluchtversuch aus deın Badezimmerfenster. 
Sie wird sofort von einem Pfleger verfolgt und am nahe gelegenen Wasser ein- 
geholt. — Zuweilen kann man sich mit ihr ganz gut unterhalten. Doch hält 
der ängstliche Gesichtsausdruck an, auch wenn sie gelöster ist und ganz gern 
Auskunft gibt. Sie freut sich, wenn ihr Mann sie besucht, ist dann aufgeschlossen 
und interessiert für alles, was zu Hause passiert ist. Sie ist dabei warmherzig 
und teilnahmsvoll jedoch deutlich verlangsamt und gehemmt. Sie erfaßt die 
Mitteilungen ihres Mannes schwer, versteht manches falsch, so daß es wieder- 
holt werden muß. Sie erzählt sogar, wie sie oft traurig gegrübelt hätte über 
ihre Kinderzeit usw., fragt ohne besonderen Nachdruck, ob sie wieder nach 
lause könne und läßt sich leicht davon überzeugen, daß es besser für sie sei. 
hier zu bleiben. Bei der Mitteilung vom Tod einer Bekannten wird sie gleich 
wieder traurig und schaut ratlos und weinerlich in der gewohnten Weise auf 
ihren Schoß. 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 167 


Das Gedächtnis für frühere Ereignisse ist erhalten, die Merkfähigkeit ist 
herabgesetzt; jüngere Ereignisse z. B. daß ihr Mann sie besucht hat, vergißt 
sie von gestern auf heute. Außerdem sind Störungen der Auffassungs- und Denk- 
fahigkeit vorhanden. Geschichten, die man ihr erzählt, erfaßt sie langsam oder 
gar nicht. Sprichworterklärungen kann s’e nur mangelhaft für ihr bekannte 
Sprichwörter geben. Auf die Frage, warum bei der Salzeselgeschichte die Salz- 
säcke des Esels leichter gewesen wären, nach dem er durchs Wasser gegangen 
war, antwortet sie: „So was hab ich noch nicht gehört“; sie löst nur Rechen- 
aufgaben mit Zahlen unter 5; bei höheren Zahlen gibt sie vollkommen falsche 
Angaben. Ihr Ehemann meint, früher habe sie viel besser denken und beson- 
ders rechnen können. — 

Körperlich zeigt sie nichts besonderes. Sie ist eine kleine, rundliche Greisin 
mit pyknischem Habitus. 


Epikrise: 


Frau R. wird uns geschildert als ein mittelmäßig begabter, 
stiller Mensch, dessen Stimmungslage schon zu normalen Zeiten 
etwas nach der depressiven Seite verschoben ist. Sie zeigt manch- 
mal ein etwas gedrücktes, zurückhaltendes Wesen und nimmt 
kleine Fehler schwer. Sie ist fleißig, hilfsbereit und zufrieden, bei 
den Menschen ihrer Umgebung beliebt und warmherzig. Mit 69 
Jahren (1932) wird sie grüblerisch und teilnahmslos, bleibt be- 
wegungslos und traurig ohne Arbeit auf ihrem Stuhl sitzen, ver- 
gißt, das Essen zu kochen und läuft von Hause fort, ohne zurück- 
zukehren. Da sie suicidverdächtig ıst, muß sie in der Kranken- 
anstalt bleiben. Das depressive, teilnahmslose Zustandsbild, welches 
sich 1932 in kurzer Zeit entwickelt hat, ist bis jetzt, also schon 
5 Jahre lang, im wesentlichen dasselbe. Sie sitzt fast immer mit 
demselben ratlos-weinerlichen Gesichtsausdruck da, nur selten ist 
sie etwas gelöster und ansprechbar. — Die Merk-, Auffassungs- 
und Denkfähigkeit ıst deutlich herabgesetzt, Rechenaufgaben mit 
Zahlen über 5 vermag sie nicht zu lösen. Der zeitliche Beginn 
dieses rein intellektuellen Abbaues ist nicht genau bekannt. 


Zusammenfassung 


Bei Untersuchung des vorliegenden Materials auf den zeitlichen 
und inhaltlichen Verlauf der senilen Wesensveränderungen, sowie 
auf die Frage der Beziehungen zwischen praemorbider und mor- 
bider Persönlichkeit, ergibt sich bei der Verschiedenheit dieser 
wenigen Krankheitsbilder von vornherein die Schwierigkeit, die 
Beantwortung dieser Fragen auf einen Nenner zu bringen. Bei Be- 
trachtung dieser 8 Fälle auf ihren zeitlichen Ablauf stellt sich her- 
aus, daß es bei der großen Mehrzahl unserer Kranken zur raschen 
Ausbildung des senilen Krankheitsbildes kommt, das sich inner- 


168 U. Sabaß 


halb weniger Monate, höchstens innerhalb von 1—2 Jahren zu 
einem Zustandsbild entwickelt, das dann im weiteren Verlauf 
keine wesentlichen Veränderungen mehr erfährt. Besonders deut- 
lich tritt dieser rasche Abbau beim 1. Fall zu Tage, wo der Prozeß 
akut bald nach einem außergewöhnlichen, freudigen Ereignis (gol- 
dene Hochzeit der Kranken) auftritt und innerhalb weniger Wochen 
zu einer depressiven Demenz führt, welche die energische und 
schaffensfreudige Frau von früher nicht mehr erkennen läßt. Ob 
in diesem Fall das außergewöhnliche Ereignis der goldenen Hoch- 
zeit und im 4. Falle die ärztliche Diagnose eines Brustkrebses als 
auslösende Ursache für das Hineingleiten in den Zustand der se- 
nilen Demenz in Frage kommt, bleibe dahingestellt. Jedenfalls ist 
die Möglichkeit derartiger auslösender Faktoren, auf die Bürger- 
Prinz schon hinwies, durchaus gegeben. — Wenngleich sich der 
Persönlichkeitsverfall bei den anderen Kranken auch nicht so dra- 
matisch abspielt wie bei der ersten, so sehen wir doch bei den 
meisten ein rasches, prozeßhaftes Geschehen, das den ganzen 
Menschen nicht nur intellektuell sondern auch in der Affektivität 
und im Antrieb weitgehend verändert. Eine Ausnahme ist nur 
Gerhard Friedrich M., dessen praepsychotische Charakteranlage 
bereits außerhalb der Norm liegt, und bei dem wir die Wesens- 
veränderung und Leistungsverminderung langsam und kontinuier- 
lich fortschreiten sehen. 

Betrachten wir als zweites den Inhalt der senilen Wesensver- 
änderung, so tritt wohl an Hand der beschriebenen Fälle deutlich 
zu Tage, daß es sich hier nicht allein um quantitative Verschie- 
bungen innerhalb der Persönlichkeitsstruktur im Sinne von K. F. 
Scheid handeln kann. Es sei jedoch hier noch einmal betont, daß 
Scheid nur solche Fälle beschreibt, deren Charakterentwicklung 
im Senium zwar abnorm, deren Gedächtnis und Denkfähigkeit 
aber fast unversehrt ist. Es handelt sich bei ihm also um Über- 
gangsformen zwischen normalem Altern und eigentlichem Alters- 
blödsinn! Für diese Kranken nimmt er eine nur quantitative Ver- 
schiebung in dem System der Triebfedern und Strebungen an. 
Bei unseren Kranken handelt es sich zweifellos um mehr: die 
Schnelligkeit der Niveausenkung, die überall in den Gebieten des 
Denkens, Fühlens und Wollens sichtbar wird, die Wesensver- 
änderung durch affektive Umstimmung nach einer bestimmten 
Richtung oder durch wahnhafte Ideen, schließlich das häufige, 
schnelle Zustandekommen von völliger Antriebslosigkeit und 
Stumpfheit sprechen für einen nur qualitativ umschreibbaren 
Krankheitsprozeß. Selbstverständlich können quantitative Ver- 


Präpsychotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 169 


schiebungen im Sinne von Scheids Charakterentwickelungen 
diesem prozeßhaften Verlauf vor- oder nebenherlaufen. So sehen 
wir bei Marie T. (5. Fall) hauptsächlich vor der eigentlichen auf- 
fälligen Wesensänderung eine zunehmende Häufigkeit ihrer schon 
von früher her bekannten Verstimmungen, ebenso werden bei Frau 
W. (4. Fall) die reaktiven ängstlichen Verstimmungen im Alter 
tiefer und nachhaltiger. — 

Den von Scheid beschriebenen Kranken ist hier Gerhard Frie- 
drich M. (7. Fall) am ähnlichsten. Er ist der einzige unserer Kran- 
ken, den man als abnorme Persönlichkeit im Sinne eines hyper- 
tymen Psychopathen bezeichnen kann. Bei M. sehen wir eine Ent- 
gleisung der normalen Charaktereigenschaften ins Extrem. Seine 
Reizbarkeit führt zu einem andauernd erregbaren, querulatori- 
schen Wesen, sein Selbstbewustsein zu Größenideen, die umge- 
kehrt proportional der objektiven Leistungsfähigkeit sind, seine ego- 
zentrische Einstellung zur Rücksichtslosigkeit, seine Neigung zu 
affektbestimmten Handlungen und Urteilen ist nunmehr vollkom- 
men enthemmt. Diese Entgleisungen laufen neben der allgemeinen 
intellektuellen und künstlerischen Leistungsminderung einher. 

Bei der Feststellung, daß gerade bei der senilen Demenz psycho- 
pathischer Naturen die quantitativen Verschiebungen und Ent- 
gleisungen innerhalb der Persönlichkeit im Vordergrund stehen, 
erscheint es einleuchtend, daß es sich hierbei gar nicht immer um 
diesen prozeßhaften Abbau der oben diskutierten Fälle handelt, 
sondern lediglich um einen normalen Alterungsvorgang, der durch 
die oben beschriebenen Entgleisungen gekennzeichnet ist, die natür- 
lich bei abnormen Charakterzügen betontere, viel stärker ausge- 
prägte, quantitativ gesteigerte Formen annımmt als bei normalen 
Eigenschaften. Somit wird erklärlich, daß Psychopathen im spä- 
teren Lebensalter viel häufiger zu den senilen Demenzen gerechnet 
werden als die Normalen, und so kommt es auch, daß Bleuler und 
"Weggendorfer eine abnorme oder sogar schizoide Veranlagung für 
die Entstehung der senilen Demenz verantwortlich machen. Wenn 
wir aber den oben beschriebenen prozeßhaften Abbau von ganz 
normalen Persönlichkeiten als „senile Demenz‘ bezeichnet haben, 
so empfiehlt es sich, die eben angedeuteten Fälle nicht als ‚‚senile 
Demenzen‘‘, sondern als „senile Pychopathen‘‘ zu bezeichnen, da 
beide Gruppen qualitativ etwas anderes darstellen und somit der 
Begriff der eigentlichen ‚‚senilen Demenz‘‘ enger gefaßt und schärfer 
umrissen wird. 

Es bleibt nun noch die Frage zu erörtern, ob sich die Ergeb- 
nisse, dıe Bostroem bei seinen Untersuchungen fand, an unserem 


170 U. Sabaß 


Material bestätigen. Das in der Einleitung klargelegte Krankheits- 
bild der eigentlichen Presbyophrenie ist unter den vorliegenden 
Fällen nicht beschrieben worden. Bei dem klinischen Zustands- 
bild, welches die Marie T. (5. Fall) bietet, könnte man die Diag- 
nose Presbyophrenie stellen, denn die „Attenz und affektive Le- 
bendigkeit‘‘ sind vorhanden, außerdem die Spontaniıtät und Schlag- 
fertigkeit im Gegensatz zu den Störungen der Merkfähigkeit ein- 
hergehend mit Confabulationen. Jedoch 'st hier als präpsychoti- 
scher Charakter ein völlig anderer vorhanden, als ihn Bostroem 
für die Entstehung der Presbyophrenie verantwortlich macht. Der 
Kern der Persönlichkeit, nämlich das Stille, bescheidene, etwas 
befangene Wesen ist hier nicht erhalten, sondern statt dessen 
sehen wir neben dem intellektuellen Abbau eine schon 5 Jahre an- 
dauernde Affektverschiebung nach der manischen, völlig unge- 
hemmten Seite. — Andererseits liegt bei den ersten 4 Fällen (bei 
dem ersten weniger als bei den drei folgenden) jene sthenische, 
syntone Veranlagung vor, die nach Bostroem beim Eintreten einer 
senilen Psychose das Krankeitsbild der Presbyophrenie ergibt und 
den Kranken vor der eigentlichen senilen Demenz bewahrt. Wir 
sehen hier zwar beim 2. und 3. Fall im Beginn der senilen Psy- 
chose die presbyophrenen Störungen im Sinne des Korsakoffschen 
Syndroms, jedoch geht bei Frau Marıa J. damit eine gleichzeitige 
Teilnahmslosigkeit und Verarmung an Spontanität einher. Bei 
Margarete L. bleibt die Attenz und affektive Lebendigkeit, also 
das presbyophrene Krankheitsbild 1 Jahr lang bestehen, dann 
schreitet die Demenz weiter fort und führt zu völliger Stumpfheit 
und affektiver Leere. Bei der ebenfalls lebenslustigen und dabei 
energischen Frau Dorethea W. stellt sich die senile Psychose 
nicht in Form einer Presbyophrenie dar, sondern hier sind Auf- 
fassung und Assoziationen, Denken und Urteilen neben der Merk- 
fähigkeit deutlich herabgesetzt, außerdem zeigt sich hier eine flache, 
heitere Stimmung mit deutlicher Affektlabilität. Die Ergebnisse 
von Bostroems Untersuchungen bestätigen sich also an unseren 
Fällen auch bei umgekehrter Fragestellung nicht. 

Auf der anderen Seite scheinen sich wiederum doch positive 
Beziehungen zwischen normaler und pathologischer Persönlichkeit 
namentlich bei unserer zuletzt beschriebenen Kranken herstellen 
zu lassen. Hier scheint außer dem ıntellektuellen Abbau, dessen 
Beginn zeitlich nicht genau festliegt, ein Hineingleiten in eine an- 
geborene depressive Konstitution vorhanden zu sein. Ebenfalls 
scheinen bei Hinrich H. (6. Fall) im praepsychotischen Charakter 
ängstliche Züge enthalten zu sein, die, wenn man so will, die ängst- 


Präpsvchotische Persönlichkeit u. Krankheitsverlauf bei Dementia senilis 171 


lich-depressive Färbung der senilen Psychose erklären könnte. 
Jedoch steht diese ängstliche Depression quantitativ und auch 
qualitativ in keinem Verhältnis zu der durchaus im Bereich des 
Normalen gelegenen Gewissenhaftigkeit und etwas grüblerischen 
Veranlagung dieses sonst frohen, zufriedenen, warmherzigen 
Mannes, der mit seinen Enkeln Kinderlieder sang, Spaziergänge 
machte usw. 

Bemerkenswert ist noch, daß alle hier beschriebenen Kranken 
den pyknischen Habitus aufweisen. — Ob es sich bei den andau- 
ernden Stimmungsanomalien des 5. und 6. Falles um Phasen aus 
dem Formenkreis des zirkulären Irreseins handeln könnte, die erst 
durch den senilen Hirnprozeß manifest geworden sind, ist fraglich 
und hier nicht zu entscheiden. — 

Aus vorstehenden Darlegungen ergeben sich noch mannigfal- 
tige Unklarheiten und offene Fragen auf diesem Gebiet, und es 
wird noch einer geduldigen und mühevollen Arbeit bedürfen, ehe 
Klarheit geschafft ist. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Albrecht, Die funktionellen Psychosen des Rückbildungsalters. Zbl. 
Neur. 22, 306 (1914). — 2. Berze, J., Die hereditären Beziehungen der Dementia 
präcox, Leipzig und Wien 1910. — 3. Bleuler, E., Lehrbuch der Psychiatrie, 
4. Aufl. Berlin 1923. — 4. Bostroem, A., Über Presbyophrenie, Arch. Psychiatr. 
99, 609 (1923). — 5. Bumke, O., Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 3. Aufl. 
München (1929). — 6. Bürger- Prinz/Jacob, Anatomische und klinische Stu- 
die zur senilen Demenz. Sonderdruck Z. Neur. 161, 538 (1938). — 7. Fischer, O., 
Die presbyophrene Demenz, deren Grundlage und klinische Abgrenzung. 
Z. Neur. 3, 371 (1910). 8. Jaspers, K., Eifersuchtswahn. Ein Beitrag zur Frage: 
„Entwicklung einer Persönlichkeit oder Prozeß?“ Z. Neur. 1, 567 (1910). — 
9. Kehrer, F., Die Psychosen des Um- und Rückbildungsalters. Zbl. Neur. 25, 1 
(1921). — 10. Derselbe und Kretschmer, E., Die Veranlagung zu seelischen 
Störungen, Berlin 1924. — 11. Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl. 1910. — 
12. Lange, J., Seelische Störungen im Greisenalter M. M. W. 81, 1959 (1934). — 
13. Meggendorfer, E., Über die hereditäre Disposition zur Dementia senilis. 
Z. Neur. 101, 387 (1926). — 14. Pritzkat, J., Beitrag zur Psychopathologie der 
senilen Demenz, Allg. Z. Psych. 109, 201 (1938). — 15. Reichardt, M., All- 
gemeine und spezielle Psychiatrie, 3. Aufl. (1923). — 16. Runge, W., Die 
Geistesstörungen des Greisenalters, Handbuch der Geisteskrankheiten Bd. 8 
S. 597, Berlin 1930. — 17. Scheid, K. F., Zur Psychologie des erworbenen 
Schwachsinns, Zbl. Neur. 67, 1 (1933). — 18. Derselbe, Über senile Charakter- 
entwicklung. Z. Neur. 148, 437 (1933). — 19. Spielmeyer, Die Psychosen des 
Rückbildungs- und Greisenalters, Aschaffenburgs Handb. d. Psych. 5, 1912. — 
20. Weinberger. H. L., Über die hereditären Beziehungen der senilen Demenz, 
Z. Neur. 106, 666 (1926). 


Über Liquorveränderungen bei der multiplen 
Sklerose') 


Von 
Johann Friedrich Schröder 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Freiburg 
[Leitung: Prof. Dr. K. Beringer]) 


(Eingegangen am 5. April 1939) 


Die Liquorbefunde bei der multiplen Sklerose (M. S.) fesseln 
unsere Aufmerksamkeit immer wieder von neuem in dreifacher 
Richtung: in diagnostischer, prognostischer und pathogenetischer 
Hinsicht. 

Diagnostisch vor allem bei jenen Fällen, die auf Grund ihres 
neurologischen Symptomenkomplexes eine sichere Diagnose nicht 
erlauben, sowie vor allem bei frischen Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems. Hier vermag unter Umständen das Syndrom der 
albumino-kolloidalen Dissoziation im Liquor für die Diagnose der 
M.S. entscheidend zu werden, die ja bei anderen neurologischen 
Erkrankungen nach neueren Untersuchungen sehr selten zu benb- 
achten ist. 

In prognostischer Hinsicht liegen Folgerungen nahe bei normalen 
Liquoren, oder bei jenen Fällen, bei denen eine Annäherung der 
pathologischen Liquorwerte an die Norm beobachtet wird. 

In pathogenetischer Hinsicht schließlich ıst trotz aller Skepsis 
die Hoffnung keineswegs geschwunden, daß es gelingen könnte, 
bestimmten Phasen und Verläufen der Krankheit auch bestimmte 
Liquorsyndrome zuzuordnen. 

Obwohl es nicht an statistischen Untersuchungen über Liquor- 
veränderungen bei der M. S. fehlt, so regen uns diese drei Gesichts- 
punkte doch zu erneuter Überprüfung der Liquorbefunde an, wobei 
wir den Eindruck haben, daß die bisherigen Untersuchungen den 
Beziehungen der Liquorveränderungen zu definierbaren Stadien 
der Krankheit viel zu wenig Beachtung geschenkt haben. 

Die Betrachtung des Krankheitsgeschehens der M. S. vom Liquor 
aus ist auch noch insofern interessant, als ja die Möglichkeit besteht. 
daß die M. S. kein einheitliches Bild darstellt, selbst dann, wenn 
die histologischen Befunde keine Unterteilung ermöglichen. Wir 


1) Dissertation der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. 


a atore 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 173 


halten es nicht für ausgeschlossen, daß unter diesen Umständen 
eine Gliederung des Krankheitsbildes nach dem Gesichtspunkt des 
Liquorbefundes möglich ist. 

Die vorliegende Untersuchung will nicht mehr als einen Beitrag 
zu den oben genannten Fragen geben und zu einer Nachprüfung 
anregen. Ihre Ergebnisse vermögen hier einige Einzelheiten zu 
beleuchten. 

Das unserer Arbeit zu Grunde liegende Material umfaßt 105 Fälle 
von M.S. mit 119 Liquoren. Hiervon wurden 55 Liquoren, von 
denen 45 pathologisch verändert waren, in unserer eigenen Klinik 
untersucht, während die Ergebnisse der restlichen 64 Liquoren an 
anderer Stelle gewonnen wurden. Um ein einheitliches Material zu 
haben, verwandten wir nur die in unserer Klinik untersuchten 
45 pathologischen Liquoren bei der Auswertung der quantitativen 
Eiweißwerte, weil nur die mit gleicher Methodik (quantitative Be- 
stimmung nach Nissl-Kafka) gewonnenen Ergebnisse uns als ver- 
gleichbar erscheinen. 

Ein Liquor wurde als normal betrachtet, wenn er bei der Occi- 
pitalpunktion nicht mehr als 10/3, bei der Lumbalpunktion nicht 
mehr als 12/3 Zellen aufwies, wenn das Gesamteiweiß nach Kafka 
nicht mehr als 31,2 mg%, die Globuline nicht mehr als 7,2 mg, 
die Albumine nicht mehr als 24,0 mg% betrugen. Ein Ausfall der 
Mastixkurve bis inkl. ‚„milchig‘‘ wurde ebenfalls als noch normal 
angesehen. Wir glauben, bei der Bewertung „pathologischer Li- 
quor‘‘ einen genügend strengen Maßstab angelegt zu haben. 

Als albumino-kolloidal dissoziiert wurde ein Liquor an- 
gesehen, bei dem die Globuline nicht mehr als 7,2 mg% betrugen, 
die Mastixkurve aber mindestens ‚geringer Satz“ aufwies, oder 
wenn der Globulinwert 8,4 mg% nicht überstieg und die Mastıx- 
kurve mindestens bis auf „starker Satz‘‘ ausgefällt war. 

Das Paralyse-Syndrom sahen wir als erfüllt an, wenn ein 
Liquor in mindestens 2 Röhrchen eine maximale Fällung aufwies 
und gleichzeitig die Globuline und der Eiweißquotient beträchtlich 
erhöht waren. 

Die von uns untersuchten Fälle wurden in 4 Gruppen eingeteilt: 

1. Fälle mit einer Krankheitsdauer von noch nicht 1 Jahr. 

2. Fälle mit einer Krankheitsdauer, die zwischen 1 und 5 Jah- 
ren lag. 

3. Fälle, mit einer Krankheitsdauer von mehr als 5 Jahren. 

4. Fälle, die einen typisch schubweisen Verlauf mit Remissionen 
zeigten. In dieser Gruppe wurden nur Fälle aufgenommen, bei denen 
die Patienten zwischen einzelnen Schüben fast oder ganz beschwer- 


174 Johann Friedrich Schröder 


defrei waren; der letzte Schub durfte — von der Punktion an ge- 
rechnet — nicht mehr als 3 Monate zurückliegen. 

Unsere 119 Liquoren verteilen sich folgendermaßen: 

31 Liquoren gehören der Gruppe 1 an, normal waren 38,7°,. 
verändert 61,3%. Pleozytose bestand in 61,1% der Fälle, der 
Durchschnitt der Pleozytosewerte betrug 46/3 Zellen. 7 Liquoren 
waren brauchbar zur Eiweißbestimmung. Das Gesamteiweiß war 
in keinem Falle vermehrt, die Globuline zeigten in 57, 1°, erhöhte 
Werte, der Durchschnitt betrug 11,4 mg%. 

31 Liquoren gehören der Gruppe 2 an, hiervon waren nur 12.9", 
als normal anzusehen, während 87,1%, verändert waren, Pleozytose 
bestand in 42,3% der Fälle. Der Durchschnitt der Pleocytosewerte 
betrug 40/3 Zellen. 17 Liquoren waren brauchbar zur Eiweiß- 
bestimmung. Das Gesamteiweiß war in 17,6°% der Fälle erhöht. 
Der Durchschnitt der Gesamteiweißwerte betrug 37,2 mg°®,. Die 
Globuline waren zu 64,4%, erhöht, ihre Durchschnittswerte be- 
trugen 13,5 mg%. 

31 Liquoren gehören zu Gruppe 3; 35,5% der Liquoren waren 
normal und 64,5%, verändert. Die Pleocytosehäufigkeit betrug 
42,1%, der Durchschnitt der erhöhten Zellwerte betrug 30.3. — 
12 Liquoren brauchbar zur Eiweißuntersuchung. Das Gesamteiweiß 
war in 16,7% der Fälle erhöht, der Durchschnitt der Gesamteiweiß- 
werte betrug 49,2 mg%. Die Globuline zeigten in 83,3°, der Fälle 
eine Erhöhung, ihre Durchschnittswerte betrugen 14,2 mg°... 

26 Liquoren bilden die 4. Gruppe, von diesen hatten 7,6°,, nor- 
male Liquores, verändert waren 92,4%. Eine Pleocytose fand sich 
in 95,7% der Fälle. Der Durchschnitt der Pleocytosen betrug 
36/3 Zellen. — 9 Liquoren brauchbar zur Eiweißuntersuchune. 
Das Gesamteiweiß war in 11,1%, der Fälle vermehrt mit einem 
Durchschnitt von 33,6 mg®,; die Globuline zeigten vermehrte 
Werte in 77,8%, der Fälle, ihr Durchschnitt betrug 12,7 mg?°,. 

Die Häufigkeit unserer Liquorveränderungen bei der M. S. steht. 
mit 76%, an der unteren Grenze der bisher mitgeteilten Statistiken, 
noch weniger, nämlich 63%, fand allein Zwirner, Geller und Sim- 
mendinger fanden 83%, Sternberg und Demme je 90°, Dibbern und 
Ropers und H. Müller 94%, Picht 95%. 

Mit einer Pleocytosehäufigkeit von 61% folgen wir dagegen auf 
Sternberg und Demme, die 67% nennen, Picht und Eskuchen sahen 
eine Pleocytose in rund der Hälfte der Fälle, die niederste Zahl 
fanden Dibbern und Ropers und Merritt mit nur 28, bzw. 26°.. 

Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Akuität des 
Prozesses und Pleocytose ist aus unserem Material ohne weiteres 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 175 


ersichtlich. Mit 96% im Schub (Gruppe IV) steht sie den 61% der 
Frühfälle (Gruppe I) und den 42% der älteren Fälle (Gruppe II 
und III) gegenüber. 

Die Durchschnittszellzahlen sind in den ersten Schüben mit 46/3 
am höchsten und sinken mit Zunahme der Krankheitsdauer auf 
40/3 und 30/3 in Gruppe II und III, bei wiederholten Schüben 
fanden wir 36/3. 

Eine Gesamteiweißvermehrung trafen wir nur in 13% der Fälle 
an, demgegenüber fand aber Picht 24%, Geller und Simmendinger 
50% und Demme sogar 60°;. 

Auffallenderweise konnten wir in keinem Fall der Gruppe I eine 
Gesamteiweißvermehrung feststellen, in Gruppe II und III fand 
sie sich zu 18 bzw. 17%, im Schub nur zu 11%. Schließlich þe- 
trugen die Durchschnittswerte 37,2 mg% in Gruppe II und sogar 
49,2 mg% in Gruppe III, im Schub dagegen ließen sich nur 
33,6 mg% errechnen. 

Die Globuline fanden wir in 71%, der Fälle erhöht, Geller und 
Simmendinger fanden 54%, Picht 72%, Sternberg 75%, Dibbern 
und Ropers ungefähr 80% und Demme 90%. In Frühfällen trat 
eine Globulinvermehrung zu 57%, in Gruppe II zu 64% bei den 
alten Fällen zu 83% und im Schub zu 78% auf. 

Ebenso wie die Gesamteiweißvermehrung scheinen auch die Glo- 
buline in der Höhe ihrer pathologischen Werte nicht von der Akui- 
tät des Falles, sondern wohl mehr von der Dauer der Krankheit ab- 
hängig zu sein, denn während wir in Frühfällen als Durchschnitts- 
wert nur 11 mg% feststellten, stiegen die Werte in Gruppe II auf 
13,5 mg% und in Gruppe III sogar auf 14,2 mg%, im Schub da- 
gegen betrugen die Durchschnittswerte nur 12,7 mg%. Wir halten 
das übereinstimmende Verhalten zwischen den Werten der Gesamt- 
eiweiße und der Globuline für bemerkenswert. Somit ließe sich also 
wenigstens ein Teil der Spätstadien der M. S. durch Zunahme der 
Gesamteiweiße und der Globuline charakterisieren, sowohl in 
bezug auf die Häufigkeit der erhöhten Werte, als auch durch ihre 
Höhe. 

Eine relative Albuminvermehrung hatten wir in unserem Material 
unter Zugrundelegung eines Verhältnisses von 6 zu 7 zwischen 
Albumin und Gesamteiweiß in keinem Falle feststellen können, 
eine absolute Albuminvermehrung nur in 4% der Fälle. 

Über das Wesen der albumino-kolloidalen Dissoziation gehen die 
Meinungen der verschiedenen Autoren noch recht weit auseinander; 
Georgi und Fischer z. B. halten ihr Auftreten für Anzeichen von 
degenerativen Veränderungen, die sich im Zentralnervensystem 


176 Johann Friedrich Schröder 


abspielen, während Demme an die Möglichkeit glaubt, daß kolloid- 
fällende Stoffe unbekannter Art in den Liquor gelangen. Die Häufig- 


keit der albumino-kolloidalen Dissoziation bei der M. S. wird je- 


doch in der Literatur mit ziemlicher Übereinstimmung angegeben. 
Marburg schätzt ihre Häufigkeit auf 30—40%, Dibbern und Ropers 
geben 30% an, Geller und Simmendinger 34%, wir fanden 33% ; nach 
unseren Feststellungen trat sie in Gruppe I am häufigsten auf, 57°, 
in Gruppe II erscheint sie zu 35%, in Gruppe Ill zu 25% und im 
Schub nur noch zu 22%. Wir haben somit den Eindruck, daß die 
albumino-kolloidale Dissoziation kein Hinweis auf eine lange 
Krankheitsdauer ist, sondern daß sie vorwiegend in den früheren 
nicht akuten Stadien des Leidens auftritt. 

Zugleich auftretende albumino-kolloidale Dissoziation und Pleo- 
cytose fanden wir nur in 23% der Fälle. 

Die Häufigkeit des Vorkommens des Paralyse-Syndroms wird 
jedoch recht verschieden angegeben, Zwirner fand es nur in 5°% 
ihrer Fälle, Dibbern und Ropers in 9%, Picht in 20%, Helen Roger 
in 25%, wir dagegen in 29% und Demme sogar in 31%. 

Am seltensten trat in unserem Material das Paralysesyndrom beı 
den Frühfällen auf, nämlich nur zu 14%, in Gruppe II dagegen 
zu 41%, in Gruppe Ill zu 25% und im Schub zu 22%. Es scheint 
demnach ein gewisses gegensätzliches Verhalten zwischen der 
albumino-kolloidalen Dissoziation und dem Paralysesyndrom zu 
bestehen, in dem die albumino-kolloidale Dissoziation mehr in den 
Frühfällen, das Paralysesyndrom jedoch mehr bei den älteren 
Fällen aufzutreten scheint. Dem entspricht auch durchaus das 
bereits erwähnte Verhalten der Eiweiße in bezug auf die Häufigkeit 
und Höhe ihrer pathologischen Werte. Die Schwere der Liquorver- 
änderungen, die das Paralysesyndrom aufweisen, läßt sich in diesem 
Falle sehr gut an Hand der Eiweißquotiente ablesen: während der 
niedrigste Eiweißquotient 0,6 betrug, hatte der höchste 9,0 aufzu- 
weisen; durchschnittlich fanden wir Zahlen, die sich zwischen 1,0 
und 3,0 bewegten. Ebenfalls im Gegensatz zur albumino-kolloidalen 
Dissoziation fanden wir bei den Liquoren, die das Paralysesyndrom 
aufwiesen, in 72%, eine Pleocytose. 

Isolierte Pleocytose bei normalen Eiweißwerten und Kurven fand 
sich bei 3 Liquoren = 7%; Pleocytose und Kurvenausfall bei nor- 
malen Eiweißwerten fand sich in ebenfalls 7%, der Fälle. Hierbei 
ist es auffällig, daß kein Fall, der einen solchen Liquorbefund auf- 
wies, eine ununterbrochene Krankheitsdauer von mehr als 5 Jahren 
hatte. Dieser Befund scheint uns parallel zu gehen mit dem Ergebnis 
unserer Eiweißuntersuchungen, nämlich daß mit Zunahme der 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 177 


Krankheitsdauer die Eiweißwerte häufiger und stärker pathologische 
Werte aufweisen als bei frischen und verhältnismäßig frischen 
Fällen. 

Für die einzelnen Gruppen ließe sich demnach folgendes Bild 
entwerfen: 

im akuten Schub einer M.S. weist der Liquor fast stets Ver- 
änderungen auf. Am häufigsten treffen wir Pleocytosen an, deren 
absolute Werte von denen der chronischen Fälle nicht abweichen. 
Globulinvermehrungen finden wir ungefähr ebenso oft wie bei den 
älteren chronischen Fällen, jedoch bleiben die absoluten Werte 
hinter denen der progredienten Fälle zurück. Gesamteiweißver- 
mehrungen scheinen seltener beobachtet zu werden, ihre abso- 
luten Werte liegen nur wenig über der Norm. Das Paralysesyndrom 
sowie albumino-kolloidal dissoziierte Liquoren finden wir in 
rund !/, der Fälle. 

Im Frühstadium finden sich normale Liquorverhältnisse am 
häufigsten. Pleocytose und Globulinvermehrung finden sich bei 
rund 60% der pathologischen Liquoren, die Pleocytosen weisen 
dabei ihre höchsten Werte auf, Globuline dagegen die niedrigsten 
Werte im Vergleich mit den anderen von uns aufgestellten Gruppen. 
Eine Gesamteiweißvermehrung scheint noch nicht aufzutreten. 
Am häufigsten beobachteten wir hier die albumino-kolloidale 
Dissoziation und am seltensten das Paralysesyndrom. 


In der Zeit von 1—5 Jahren Krankheitsdauer fanden wir an- 
nähernd die gleiche Zahl pathologischer Liquoren wie im Schub; 
die Pleocytosehäufigkeit geht anscheinend etwas zurück, verglichen 
mit der im Frühstadium oder sogar im Schub; die durchschnitt- 
lichen Zellzahlen weisen nicht mehr so hohe Werte auf wie bei Be- 
ginn des Leidens, dagegen finden wir gegenüber den Frühfällen 
einen Anstieg der Globuline, auch in bezug auf die Höhe ihrer 
Werte. In diesem Krankheitsstadium treten erstmals Gesamt- 
eiweißvermehrungen auf; die albumino-kolloidale Dissoziation läßt 
bereits einen Rückgang ihres Auftretens erkennen, während das 
Paralysesyndrom mehr in den Vordergrund tritt: 


Im weiteren Krankheitsverlauf jenseits des 5. Jahres treffen wir 
fast die gleiche Zahl normaler Liquoren an wie im Frühstadıum; 
Pleocytosen werden ungefähr ebensooft gefunden wie in der vorher- 
gehenden Krankheitsphase, bleiben aber mit ihren absoluten Zell- 
zahlen deutlich hinter diesen zurück. Gesamteiweiße und Globuline 
zeigen hier ihre höchsten Werte, die Globuline auch prozentual 
gesehen. Albumino-kolloidale dissoziierte Liquoren oder solche mit 
12 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


178 Johann Friedrich Schröder 


den Paralysesyndromen scheinen nicht mehr so häufig beobachtet 
zu werden. 

Auf Grund dieser Ergebnisse glauben wir sagen zu können, daß 
lediglich im akuten Schub das Fehlen von Liquorveränderungen 
gegen das Vorliegen einer M. S. zu sprechen scheint und daß man 
andererseits Zell- und Globulinvermehrungen mit nicht sehr hohen 
pathologischen Werten im Zweifelsfalle zur Sicherung der Diagnose 
„M. S.“ heranzuziehen berechtigt ist. Für alle anderen Gruppen, 
so wie sie hier aufgestellt wurden, führt in diagnostischer Hinsicht 
der Liquor nur sehr bedingt weiter. 


Wir bringen jetzt übersichtshalber in Tabellenform unsere 
Untersuchungsergebnisse: 


länger 

Gesamt |b. 1Jahr| 1—5 J. S schub- 

5J. weise 

Path. Liquor .......o..oaneenn 75,6% | 61,3% | 87,1% | 64,5% | 92,4% 

Pleocytose: „u.a 61,2% | 61,1% | 42,3% | 42,1% | 95,7°o 

Durchschnitt d. Pleocytosewerte ..| — 46/3 40/3 30/3 36/3 

Gesamteiweißerhöhung .......... 13,3% — 17,62% | 16,7% | 11,129 
Durchschnitt d. Gesamteiweißwerte 

IN IDP Yours — — 48,0 50,4 33,6 

Globulinerhöhung .............. 71,1%, | 57,1% | 64,420 | 83,3% | 77,829 

Durchschnitt d. Globulinwerte 

IN MEI en rer — 11,4 13,5 14,2 12,7 

alb. koll. Diss. ........2222222... 33,3% | 57,1% | 35,39% | 25% 1 22,25 

Paralysesyndrom ............... 28,9%, | 14,3% | 41,195 | 2595 | 22,295 


Schließlich interessierte uns das Verhalten der mehrmals 
punktierten Fälle in bezug auf evtl. Liquor-Sanierung oder 
noch stärkere Ausprägung der pathologischen Werte. Es standen 
uns 13 zweimal punktierte Liquoren zur Verfügung. 


Was die Zellwerte anbelangt, so erscheint es uns beachtenswert, 
daß bei der zweiten Punktion nur in einem Fall die Zellen noch 
höhere Werte aufwiesen als bei der ersten Liquorentnahme = 7,79%, 
während die Zellen bei den anderen 12 Liquoren entweder gleich 
geblieben waren oder niederen Zellzahlen Platz gemacht hatten 
= 92,3%. 

Die Eiweißwerte und Kurven verhalten sich in unserem Mate- 
rial ebenfalls recht einheitlich. Von 11 Liquoren — in zwei Fällen 
war ein Vergleich nicht möglich, wies nur 1 Liquor eine Besserung 
seiner Eiweißwerte auf = 10%, in zwei Fällen war eine weitere 
Zunahme der Eiweißwerte nicht festzustellen, während in 8 Fällen 
= 74%, ein noch stärkeres Verschieben nach der pathologischen 
Seite hin ersichtlich war. 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 179 


Wir finden hier eine Bestätigung unserer bisherigen Erfahrungen: 
mit Zunahme der Krankheitsdauer nimmt die Höhe der Zellwerte 
ab, während die pathologischen Eiweißwerte sich noch mehr 
vertiefen. 

E. Picht hat den Versuch unternommen, Zusammenhänge 
zwischen Kardinalsymptomen und Häufigkeit der Liquorver- 
änderungen zu finden. Die von uns gefundenen Zahlen geben wir 
ebenfalls mit an. 


Picht Freiburg 
Pvramidenzeichen ........2222220essse nn 72% 81,3% 
Öpticusatrophie ......22222ceeeeeeeeeen nn 65% 90 % 
laXIe ee ee ee 76% 78 2o 
Blasen-Mastdarmstörungen . 2.2.2222... 100% 82 % 


Darüber hinaus stellten wir noch bei Hirnnervenstörungen 85%, 
bei Störungen der Sensibilität 83%, des Kleinhirns 78%, bei feh- 
lenden Bauchdeckenreflexen 86%, sowie bei Veränderung der 
Psyche 88% Liquorveränderungen fest. 

E. Picht glaubt, daß man aus diesen Zahlen keine wesentlichen 
Schlüsse ziehen dürfte, denn die Häufigkeit der einzelnen Krank- 
heitssymptome sei zahlenmäßig sehr verschieden voneinander und 
außerdem treten ja im einzelnen Krankheitsbild mehrere Kardinal- 
symptome nebeneinander auf. Schließlich ist es sicher nicht be- 
langlos, ob ein Krankheitsherd nahe oder fern den Liquorräumen 
lokalisiert ist, da die Wahrscheinlichkeit, daß ein liquornaher Herd 
häufiger Liquorveränderungen nach sich zieht, wohl größer ıst 
als bei einem liquorfernen Herd. 

Endlich halten sich die geringen Unterschiede, die sich errechnen . 
lassen, innerhalb der Fehlerbreite jeder statistischen Berechnung. 
Wir können demnach E. Picht nur zustimmen, daß es wohl kaum 
möglich sein dürfte, zwischen einzelnen Krankheitssymptomen und 
der Häufigkeit der Liquorveränderung bestimmte Wechselbe- 
ziehungen zu finden. 

Dagegen haben wir mit E. Picht den Eindruck gewonnen, daß 
die Häufigkeit der Liquorveränderungen in unmittelbarem Zu- 
sammenhang mit der Schwere des Krankheitsbildes steht. E. Picht 
fand in 440% der leichten, in 55%, der mittelschweren, und in 62% 
der schweren Fälle abnorme Liquorwerte. Unsere Zahlen sind noch 
eindrucksvoller: 36% zu 67% zu 86%! 

Eine besondere Beachtung verdient noch die Frage der Häufig- 
keit des Auftretens normaler Liquoren in den einzelnen 


Gruppen. Im Schub treffen wir sie nur zu 8% an, in der I. und 
12° 


180 Johann Friedrich Schröder 


III. Gruppe dagegen zu 39, bzw. 35%, während sie in der II. Gruppe 
zu 13%, vertreten ist. Normale Liquoren werden also zahlenmäßig 
in den Frühstadien am häufigsten gefunden, sofern diese nicht 
gerade mit einem Schub beginnen. Außerdem treffen wir sie haupt- 
sächlich bei alten Fällen mit vorwiegend schleichendem Verlauf 
an. Bei den Frühfällen darf man wohl annehmen, daß der Hirn- 
prozeß im Liquor noch nicht zur Ausprägung gekommen ist, während 
man aus dem Vergleich der Gruppe II und IHI folgern kann, daß 
im Gegensatz zu den Frühfällen sich bei der M.S. der Liquor 
wieder sanieren kann. Eine Rückkehr des Liquorbildes zur Norm 
braucht aber weder einen Stillstand des Prozesses, noch weniger 
aber einer klinischen Heilung zu entsprechen; dies ergaben katam- 
nestische Nachforschungen. In der Hälfte der Fälle nämlich war 
der weitere Verlauf deutlich progredient. Dieses Ergebnis schränkt 
die Bedeutung des Liquors in prognostischer Hinsicht erheblich ein. 
Doch soll nicht verschwiegen werden, daß der klinisch gesehenen 
Remission auch eine solche des Liquors zu folgen vermag, was wir 
freilich — serologisch — nur in einem Fall nachweisen konnten. 
Auf der anderen Seite haben wir Zunahme der Globuline und der 
Gesamteiweiße bei teilweisem Rückgang der Zellen im weiteren 
Krankheitsverlauf sowohl da gesehen, wo sich klinisch der Zustand 
verschlechtert hatte, wie auch da, wo das Bild stationär war. Ver- 
gleichsweise stellten wir katamnestische Nachforschungen bei Pa- 
tienten an, in deren Liquoren wir sowohl das Paralysesyndrom, oder 
auch eine albumino-kolloidale Dissoziation oder eine mit Pleo- 
cytose einhergehende Globulinvermehrung angetroffen hatten. Hier 
war ın rund 70% der Fälle eine eindeutige Progression des Leidens 
festzustellen. 

Für die prognostische Bewertung einer M. S. bedeutet 
demnach das Fehlen von Liquorveränderungen nichts. Liquor- 
sanierung oder normales Liquorverhalten schließt eine Progredienz 
nicht aus. Ob Fälle mit albumino-kolloidaler Dissoziation und mit 
einem Paralysesyndrom eine schlechte Prognose haben, wird nur 
an einem größeren Material zu klären sein. Hierzu können nur 
Richtlinien gegeben werden. 

In pathogenetischer Hinsicht liegen nach diesen Befunden 
die Verhältnisse verwickelter als je. Einerseits ist ein prozentualer 
Rückgang der Pleocytosen, sowie auch ein Rückgang ihrer Durch- 
schnittswerte festzustellen, andererseits steigt — ebenfalls prozen- 
tual gesehen — die Zahl der Gesamteiweiße und Globulinver- 
mehrungen mit der Dauer der Krankheit; dasselbe gilt auch für die 
Höhe ihrer Werte. Im Vergleich zu den Liquorveränderungen im 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 181 


akuten Schub scheint uns dies weniger für eine direkte Auswirkung 
eines entzündlichen Agens oder Reizes, als vielmehr für eine erhöhte 
Eiweißdurchlässigkeit, etwa im Sinne einer Permeabilitätsstörung 
zu sprechen. Nach den Liquorbefunden könnte man zwei Verlaufs- 
gruppen unterscheiden: Fälle mit fortschreitender Liquorver- 
änderung (durch Permeabilitätsstörung) und solche mit Tendenz 
der Liquorsanierung bzw. mit ausbleibender Liquorreaktion. So- 
weit wir sehen, kommen aber diesen Gruppen keine klinisch kenn- 
zeichnende Merkmale zu. Das Überwiegen der albumino-kolloidalen 
Dissoziation gerade in den Frühstadien kann einer Analyse bis jetzt 
nicht zugeführt werden, weil wir nicht wissen, welcher Faktor es ist, 
der die Kolloide zur Flockung bringt. Hierzu bringt unsere Mit- 
teilung keine neuen Gesichtspunkte. 


Zusammenfassung 


In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, die 
bei der M. S. vorkommenden Liquorveränderungen mit der Ver- 
laufsart, der Dauer und dem Zustandsbild der Krankheit in Ver- 
bindung zu setzen und evtl. sich daraus ergebende Häufigkeits- 
beziehungen aufzuzeigen. Zu diesem Zwecke standen uns 119 Li- 
quoren von insgesamt 105 Fällen zur Verfügung. 

Pathologische Liquoren fanden wir in 76%, der Fälle. Am häufig- 
sten ließen sich die pathologischen Liquoren bei der schubweisen 
Verlaufsform mit 92%, nachweisen. Innerhalb des 1. Krankheits- 
jahres fanden wir nur 61% veränderte Liquoren, jenseits des 
5. Krankheitsjahres fast die gleiche Anzahl, 65%, während wir bei 
Fällen mit einer Krankheitsdauer zwischen 1 und 5 Jahren fast 
ebenso häufig wie bei der schubweisen Verlaufsform — 87% — 
pathologische Liquoren antrafen. 

Eine Gesamt-Pleocytose fanden wir in 61% der Fälle. Erwartungs- 
gemäß wurde eine Zellerhöhung am häufigsten im frischen Schub 
angetroffen (96°), in den Fällen jenseits des ersten Krankheits- 
jahres hingegen nur noch in etwa 42%. Die Durchschnittswerte 
der Pleocytosen lagen zwischen 30/3 und 46/3 Zellen, sie stimmten 
sehr gut in ihrer Höhe mit den in den einzelnen Gruppen festge- 
stellten Prozentzahlen der Pleocytosen überhaupt überein. 

Eine Erhöhung des Gesamteiweißes bestand in etwa 13%, unseres 
Gesamtmaterials, im Frühstadium des Leidens fehlte sie auffallender 
weise. Wir trafen also eine Gesamteiweißvermehrung nur bei chro- 
nischen Fällen und in Schüben an. Die Werte lagen hier zwischen 
33,6 mg°/» im Schub und 49,2 mg°% bei alten Fällen chronischen Ver- 
laufes, die die höchsten Werte aufwiesen. Ähnliches gilt auch für 


182 Johann Friedrich Schröder 


die Globuline, die in unserem Material zu 71% erhöht waren. Doch 
finden sich hier bereits in 57% der Frühfälle pathologische Globulin- 
werte gegenüber 64 bzw. 83% der alten Fälle chronischen Verlaufs 
und 77% bei frischen Schüben. Die Werte lagen hier zwischen 11,4 
und 14,2 mg%. — Eine relative Albuminvermehrung konnten wir 
in keinem, eine absolute nur in 2 Fällen feststellen. 

Die albumino-kolloidale Dissoziation ließ sich in einem Drittel 
der Fälle nachweisen. Sie war am häufigsten in frischen Fällen 
(innerhalb des 1. Krankheitsjahres), und zwar in 57%, und sank 
dann ab bis auf 25%, der chronischen Fälle mit einer Krankheits- 
dauer von mehr als 5 Jahren. In frischen Schüben kam sie gleich- 
falls nur in etwa einem Viertel — (22%) — der Fälle zur Beob- 
achtung. Demgegenüber gewannen wir den Eindruck, daß das 
„Paralysesyndrom‘“, das sich in rund 30% der Gesamtliquoren 
vorfand, bei der chronischen Verlaufsform am häufigsten ist 
(zwischen 1 und 5 Jahren in 41%, gegenüber 14%, der Frühfälle 
und 22%, der Schübe). Es kombinierte sich mit einer Pleocytose 
in 72%, der Fälle im Gegensatz zur albumino-kolloidalen Disso- 
ziation, bei der nur in 23%, Pleocytose bestand. 

Eine isolierte Pleocytose fanden wir in 7% der Gesamtliquoren, 
eine solche kombiniert mit Kurvenausfall ohne Eiweißvermehrung 
in gleichfalls 7%. 

13 mindestens zweimal punktierte Fälle konnten die am Gesamt- 
material hinsichtlich Dauer und Verlaufsform der Krankheit ge- 
wonnenen Ergebnisse über das Liquorverhalten aus dem Vergleich 
der Befunde bei der 1. und 2. Punktion von sich aus bestätigen. 
Die aus der geringen Zahl der Bezugsziffern sich ergebenden mög- 
lichen Berechnungsfehler werden bereits einer Kritik unterzogen. 

Entsprechend dem Vorgehen anderer Autoren wurde auch von 
uns versucht, etwaige Beziehungen zwischen den Liquorverände- 
rungen und der Schwere des Leidens bzw. dessen Symptomatik 
aufzudecken. Wir haben den Eindruck, daß mit der Schwere des 
Leidens auch die Häufigkeit der Liquorveränderungen zunimmt; 
während wir beı leichten Fällen nur zu 36% pathologische Liquores 
fanden, waren es bei den mittelschweren Fällen 77% und bei 
schweren Fällen 87%. Einen Zusammenhang zwischen einzelnen 
Krankheitssymptomen und der Häufigkeit von Liquorverände- 
rungen haben wir jedoch nicht feststellen können. 

Auch wir haben den Eindruck, daß die Liquorveränderungen 
der M.S. im großen und ganzen gesehen keine typischen Merkmale 
aufweisen. Wir beobachteten am häufigsten Eiweißvermehrungen, 
vor allen Dingen auf Kosten der Globuline, mit pathologischen 


Über Liquorveränderungen bei der Multiplen Sklerose 183 


Kurven, z. T. mit, z. T. auch ohne Zellvermehrung. Einige Male 
sahen wir isolierte Pleocytosen ohne Eiweißvermehrungen, teilweise 
mit, teilweise ohne pathologische Kolloidkurven; schließlich begeg- 
nete uns das Paralysesyndrom sowie albumino-kolloidal dissoziierte 
Liquoren. In dem Nachweis der Liquor-Einzelsymptome zur Dauer- 
und Verlaufsform der M.S. fallen uns immerhin gewisse Häufig- 
keitsbeziehungen auf. In dieser Hinsicht erscheint uns „die Regel- 
losigkeit der Liquorveränderungen‘‘ doch wohl gewissen Gesetz- 
mäßigkeiten zu unterliegen. 


Das Ergebnis unserer Arbeit möchten wir in kurzer Form dahin- 
gehend zusammenfassen: 


1. Je akuter der Schub, desto häufiger sind die Liquorver- 
änderungen. 


2. Je schleichender der Beginn und der Verlauf der Erkrankung, 
desto geringer die Hinweise im Liquor auf den sich im Zentral- 
nervensystem abspielenden Prozeß. 


3. Je länger die Krankheitsdauer, desto deutlicher prägt sich im 
Liquor, sofern dieser pathologische Veränderungen aufweist, das 
organische Geschehen aus. Normale Liquoren sind kein Zeichen 
für einen stationären Krankheitsverlauf, sie schließen eine weitere 
Progression des Leidens nicht aus. 


4. Pleocytose und Globulinvermehrung mit entsprechenden Kol- 
loidreaktionen, sowie das Auftreten des Paralysesyndroms und der 
albumino-kolloidalen Dissoziation sprechen fast stets dafür, daß 
der Prozeß noch oder wieder im Gang ist. 


5. Die albumino-kolloidale Dissoziation ist das häufigste Syndrom 
der Frühfälle. Ihr Zurücktreten bei chronischen Fällen wird damit 
in Zusammenhang gebracht, daß mit fortschreitendem Krankheits- 
alter die Blut- Hirn-Liquorschranke eine erhöhte Durchlässigkeit 
für Eiweiße aufweist. 


Diese Feststellungen bedeuten nichts Endgültiges. Sie werden 
im Laufe der Jahre sicherlich noch manche Abwandlung erfahren. 
Es wurde zunächst nur der Versuch unternommen, die Liquor- 
veränderungen der M.S. von einem funktionell-genetischen Ge- 
sichtspunkt aus zu betrachten. 


184 Johann Friedrich Schröder, Über Liquorveränderungen usw. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Demme, Hans, Arch. Psychiatr. 92, 1930. — 2. Demme, Hans, Nerven- 
arzt, Heft 12, 1934. — 3. Demme, Hans, Fortschr. Neur. 9, 1937. — 4. Dibbern 
u. Ropers, Deutsche Z. f. Nervenheilk. Bd. 144, 1937. — 5. Geller und Simmen- 
diner, Nervenarzt 6, 1938. — 6. Georgi u. Fischer, Arch. Psychiatr. Bd. 95, 
1931. — 7. Merritt, Brain 57, 1934. — 8. H. Müller, Monschr. Psychiatr. u. 
Neur. Bd. 58, 1925. — 9. Marburg, Handbuch der Neur. 1936. — 10. Picht, 
E., Monschr. Psychiatr. u. Neur. Bd. 102, 1934. — 11. Rogers, H., Journal of 
Neur. 12, 1932.— 12. Sternberg, Monschr. Psychiatr. u. Neur. Bd. 70, 1933. — 
13. Zwirner, E., Dissertation Königsberg 1937. 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols') 
im Sinne der Schockkuren auf Kaninchen 


Von 
Erna Lohmann 


(Aus der Serologisch-Bakteriologisch-Chemischen Abteilung, 
Dr. habil. Riebeling, der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen 
Universität, Professor Dr. Bürger- Prinz) 


(Eingegangen am 4. März 1939) 


Die Einführung des Insulinschocks in die Therapie der Schizo- 
phrenie durch Sakel gab einen erneuten Anreiz zu eingehenden 
Untersuchungen über die physiologisch-chemischen Wirkungen 
dieses Hormons. Meist wurde dabei das menschliche Blutserum 
analysiert. Ebenso veranlaßte die Veröffentlichung von v. Meduna 
über seine Cardiazolmethode Versuche, die pharmakologischen 
Grundlagen und Folgen des Cardiazolschocks zu klären. Tierver- 
suche mit dem Ziel chemischer Untersuchung der Wirkung von 
Insulin sind zahlreich, diejenigen über Cardiazol recht spärlich. 
Insbesondere ist die Wirkung derartiger Anwendung wie Insulin 
und Cardiazol im Sinne der Schocktherapie wenig untersucht. 
Daher ließ Riebeling Kaninchen mit fortlaufenden Insulin- und 
Cardiazolkuren behandeln und Gehirn, Leber, Muskel und Blut- 
serum auf ihren Gehalt an mehreren anorganischen und organi- 
schen Substanzen untersuchen, nachdem die Tiere teils im Anfall 
gestorben waren, teils nach einer Erholungszeit getötet wurden. 

Die Versuchstiere waren gesunde ausgewachsene Kaninchen von 
durchschnittlich 2kg Körpergewicht. Unsere Untersuchungen 
beziehen sich nur auf gereinigtes Insugerman — das ungereinigte 
Präparat wurde nach Prüfung seiner Wirkung (siehe unten) nicht 
weiter verwandt — und Cardiazol-Knoll. Von jeder Versuchsreihe 
wurden einige Anfälle im Film festgehalten. Der Film wird ge- 
trennt von dieser Arbeit veröffentlicht werden ?). 


. 1) Wir sprechen an dieser Stelle den Firmen Knoll und Brunnengräber für 
Überlassung von Versuchsmaterial und Versuchstieren, der Firma Siemens 
für wertvolle Hilfe bei Anfertigung eines Films unseren herzlichen Dank aus. 

2) Dissertation der Hansischen Universität Hamburg 


186 Erna Lohmann 


Insulinkuren: Das Insulin wurde dem hungernden Tier in 
Dosen von 15—20 E/kg Körpergewicht injiziert (ein einzelner Ver- 
such mit Insulinisierung eines Kaninchens, das vorher gefressen 
hatte, ergab die immerhin überraschende Tatsache, daß insgesamt 
310 IE, im Verlauf von 1!/, Stunden injiziert, ohne Schockreaktion 
vertragen wurden). Es ergab sich, daß die Tiere diese Dosis an- 
fänglich vertrugen, aber im Laufe der Kur allmählich stärker rea- 
gierten. Dies entspricht einer Sensibilisierung, wie sie aus der 
Schizophreniebehandlung bekannt ist (Müller, Georgi, Frostig u. a.). 
Die tägliche Dosis wurde daraufhin um 10 IE herabgesetzt. Trotz- 
dem starben 7 Tiere im Verlauf der „Kur“. 

3 Kaninchen erhielten während 15—20 Tagen 15 IE als Tages- 
dosis (5—7 IE pro kg/Körpergewicht) und wurden nach einer 
Ruhepause von 8 Tagen getötet. Während der Ruhepause zeigten 
sie keinen Unterschied gegenüber normalen Tieren. 

An 5 Tieren wurden Versuche mit sogen. ungereinigtem Insulin 
angestellt. 

Früher, als man noch nicht so hochgereinigte Insulinpräparate hatte, 
führte man die danach beobachtete Blutzuckersteigerung auf das Insulin 
zurück (spezifischer Reiz ?) ; später stellte sich heraus, daß die beim Reinigungs- 
prozeß nicht entfernten Eiweißkörper wohl die Ursache waren. Es gelang mit 
dem im Verhältnis zum heutigen Präparat wenig reinen Insulinpräparat 
leicht, einen hypoglykämischen Schock .auszulösen, d.h. scheinbar wirkte 
das alte Insulin stärker, tatsächlich sekundierten seiner Wirkung aber ganz 
andersartige und ursprünglich nicht als Hormon wirkende Körper. 

Es lag nahe, diese an sich unerwünschte Wirkung als unvollkommene 
Reinigungsprozedur therapeutisch auszuwerten, da die Insulinkur ja weniger 
wegen der Blutzuckersenkung als wegen der Begleitumstände der Hypogly- 
kämie zu wirken scheint. Unser Ergebnis mit einem von Brunnengräber zur 
Verfügung gestellten Präparat, sog. halbgereinigten, war aber so entmutigend, 
daß an unserer Klinik an Patienten das Präparat nicht angewandt wurde. 

Den Kaninchen gaben wir 3 Einheiten pro kg/Körpergewicht, 
die solche Wirkungen hervorriefen, wie sie bei gereinigtem Insulin 
z. T. erst nach Verabfolgung der 5 fachen Menge auftraten. 

Takahashi (1) beschreibt den Insulinschock des Kaninchens, den er an 
drei Tieren beobachtet hat, durch allgemein gehaltene Aufzählung von Sym- 
ptomen, unter denen der Krampfablauf nicht genauer erläutert ist. Die Beob- 
achtungen von Demole und Bersot (2) sowie von Fischler (3) über den Ablauf 
des Insulinschocks beim Kaninchen wurden durch unsere Versuche im Wesent- 
lichen bestätigt. 

Die typischen Anfälle verliefen unter folgenden Erscheinungen: 

Etwa 30 Minuten nach der Injektion zeigten die Tiere gesteigerte 
Freßlust. Etwa 1 Stunde nach der Injektion nahm die Lebhaftig- 
keit der Tiere ab. In manchen Fällen war Exophthalmus festzu- 
stellen. Die Atmung begann rascher und tiefer zu werden. Der 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 187 


Insulinwirkung 


Abb. 1: Beginnende Abnahme Abb. 2: Emprosthotonus (kurz 
des Muskeltonus. nach dem Anfall). 


Abb. 3, 4 u.5: 
Das Verhalten zwischen den Anfällen. 


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188 Erna Lohmann 


Tonus der Skelettmuskulatur ließ nach, kenntlich zunächst an 
den vorderen Extremitäten, wo die Krallen über die Ballen schlaff 
hervorragten und die Pfoten langsam nach vorne abglitten (Abb. 1), 
so daß die Tiere allmählich in Bauchlage und von da in Seitenlage 
übergingen. In dieser Lage entwickelten sich die typischen Krämpfe. 
Diese bestanden aus tonisch-klonischen Zuckungen sämtlicher 
Extremitäten — aus unvollständigen Streckkrämpfen (Opistho- 
tonus mit spastischer Haltung der Beine) — aus Laufbewegungen, 
die den normalen Laufbewegungen völlig entsprachen, aber mit 
großer Kraft ausgeführt wurden und von Opisthotonus begleitet 
waren — aus Grabbewegungen, bei denen ebenfalls forcierte Be- 
wegungen in der Körperrichtung caudal-cranial aber nur mit den 
Vorderbeinen abwechselnd gemacht wurden, — aus Rollbewegun- 
gen, bei denen die Tiere sich entweder in einer Richtung auf der 
Unterlage fortwälzten oder sich auf der Stelle teils über den 
Rücken, teils über den Bauch hin- und herwarfen. 

Bei den Lauf- und Grabbewegungen waren die Tiere bestrebt, 
äußeren Einflüssen gegenüber die Seitenlage, in der sie sich be- 
fanden, beizubehalten; wenn man sie auf die andere Seite legte, 
suchten sie sofort, die ursprüngliche Lage wiedereinzunehmen; 
gleichwohl wechselten sie während der Bewegungen von sich die 
Seite. 

Alle diese Bewegungen wechseln während des ganzen Schocks 
miteinander ab, sowohl unmittelbar ineinander übergehend, als 
auch durch Pausen von meist 2—5 Minuten, aber auch von wesent- 
lich längerer Dauer unterbrochen. In den Pausen verhielten sich 
die Tiere ganz verschieden. Waren die Anfälle sehr heftig gewesen, 
erholten sich die Kaninchen meist sehr rasch und begannen sogar 
umherzuhüpfen. Andere waren zwischendurch stark erregt und 
reagierten auf optische und akustische Reize mit Zusammen- 
zucken oder Flucht, bei der sie ohne Halt gegen die Wände rannten. 
Manchmal behielten sie aber auch die Seitenlage bei, bis die schlaffe 
Haltung des Erschöpfungszustandes in Emprosthotonus überging 
(Abb. 2). Aus diesem entwickelte sich dann der nächste Anfall, 
der in diesem Stadium auch durch Berührungsreize (Kneifen der 
Bauchgegend, Schütteln des Tieres) prompt auszulösen war. Aus 
den Rollbewegungen nahmen die Tiere in manchen Fällen während 
der Pause Torsionshaltung an, bei der sich die hintere Körperhälfte 
in Seitenlage befand, während die vordere und der Kopf stark 
dagegen verdreht waren und nach oben zeigten. 

Ebenso wie die verschiedenen Arten der Bewegungen im Anfall 
bei ein und demselben Tier auftraten, wechselte auch das Verhalten 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 189 


während der Pausen im Verlauf des Schocks (Abb. 3—5). Immer- 
hin stand bei jedem Kaninchen über die ganze Kur im Vordergrund 
ein gewisser Typ des Verhaltens, der u. U. auch zu abweichenden 
Erscheinungen (Opisthotonus im Sitzen mit Steigerung bis zum 
Überschlag) führen konnte. Palisa und Flach (4) sprechen beim 
Menschen davon, daß jeder Patient sozusagen ‚seinen‘ Schock 
und ‚‚sein‘‘ Erwachen habe. 

2 Kaninchen, die aus demselben Wurf stammten, zeigten eine 
auffällige Ähnlichkeit in den Reaktionen. 

Besonders heftig verliefen die Anfälle bei 2 Tieren, die nach der 
Insulininjektion eine Stunde lang im Käfig ruhiggehalten wurden. 
Entsprechend den oben angeführten Beobachtungen erholten sie 
sich auffällig rasch. In einem Fall hörten die Anfälle 2 Stunden 
nach der Injektion auf, und das Tier verhielt sich normal. Trotz- 
dem wurden nach einiger Zeit noch 20 cem 50% ige Traubenzucker- 
lösung (T. Z.) injiziert. In sämtlichen andern Fällen wurde eine 
Stunde nach Einsetzen der Anfälle durch Injektion von 24 ccm 
T. Z. 50% die Normoglykämie wiederhergestellt und damit der 
Krampfzustand beseitigt. 

Die Bewegungsformen während des Anfalls gingen, falls er nicht 
von selbst zur Ruhe kam, in einen Streckkrampf mit ausgeprägtem 
Opısthotonus und tonischem Spasmus der überstreckten Extremi- 
täten über: Nachdem in 5 Fällen der Exitus im Streckkrampf oder 
kurz nachher — dann meist durch heftige Schreie angekündigt — 
eingetreten war, wurden von da ab die Anfälle schon in diesem 
Stadium durch intravenöse Injektion von 20ccm T.Z. 50% 
coupiert. In 2 Fällen war die Wirkung der T. Z.-Injektion gering. 
Die Tiere machten weiterhin einen schwerkranken Eindruck mit 
FreBunlust und allgemeiner Mattigkeit. Dieser Zustand steigerte sich 
im Verlauf von 2 Tagen unter Stöhnen und erschwerter Atmung 
bis zum Wiederauftreten von Krämpfen. Die Tiere mußten schließ- 
lich trotz Anwendung von wiederholten T. Z.-Injektionen 50% 
sowie 3%, Lobelin, Kochsalz, Aqua dest., Cardiazol usw., die alle 
keine Wirkung zeigten, getötet werden. 

Bei der Verwendung von ungereinigtem Insulin verliefen die 
Krämpfe schwerer mit besonders kurzen Pausen. 

Cardiazolkuren: Bei den Versuchen mit Cardiazol wurden 
die typischen Anfälle durch intravenöse Gaben von 0,4—1,2 cem, 
also 40—120 mg, erzeugt. Um eine ungefähre Konstanz der In- 
jektionsgeschwindigkeit zu gewährleisten, wurden stets dieselben 
Kanülen (Kammerpunktionsnadeln) verwandt. Außerdem ver- 
mieden wir, daß während der Kur die Injektion von anderer Hand 


190 Erna Lohmann 


gemacht wurde. Für die Heftigkeit der Anfälle spielte außer dem 
Kräftezustand der Tiere auch die Gewöhnung eine Rolle: Wenn 
z. B. in den ersten Tagen schon 0,4 ccm krampfauslösend wirkten, 
so wurden am Ende der Kur 0,9 ccm für dieselbe Reaktion be- 
nötigt. Also war im Gegensatz zum Insulin bei Cardiazol eine 
Desensibilisierung zu beobachten. Besonders kraß zeigte sich das 
in einem Fall, in dem ein Kaninchen nach eintägigem Aussetzen 
der Kur auf 0,8 cem einen Anfall von 40 Min. Dauer bekam, wäh- 
rend es im weiteren Verlauf der Kur auf die gleiche Dosis mit. 
normaler Krampfdauer reagierte. Dies deckt sich mit Beobach- 
tungen unserer Klinik, sowie u.a. den Angaben von Selbach (5), 
daß nach wiederholter Cardiazolinjektion die Krampfschwelle 
erhöht sei. Kastein (6) berichtet auch von einer Desensibilisierung, 
schreibt aber gleichzeitig (als Beweis!), daß bei täglicher Cardiazol- 
injektion Status epilepticus mit langdauerdem Nachstadium auf- 
trete, dagegen bei Applikation an jedem 2. Tag verminderte Emp- 
pfindlichkeit der Kaninchen festzustellen sei. 

Es gelang uns ohne Schwierigkeiten, durch intramuskuläre In- 
jektion ebenfalls Krämpfe auszulösen. Diese waren gelegentlich 
in ihrem Ablauf etwas anders als die am gleichen Tier vorher er- 
zielten Krämpfe nach intravenöser Verabreichung. Es mußt aller- 
dings betont werden, daß die i. m. Injektion erst nach Gewöhnung 
der Tiere an i. v. Injektion versucht wurde. Wie Riebeling mit- 
geteilt wurde, war es verschiedentlich im Laboratorium der Knoll 
A. G. nicht möglich gewesen, i. m. überhaupt Krämpfe auszu- 
zulösen, allerdıngs bei Tieren, die noch nicht i. v. gespritzt worden 
waren. 

Von Meduna berichtete an Riebeling mündlich, daß er z. B. im 
Falle schlechter oder thrombosierter Venen durchaus auch i.m. 
Injektion vornehme. Die unten noch geschilderten Besonder- 
heiten sah er übrigens am Menschen in auffällig ähnlicher Form. 

Schoen (7) injiziert Cardiazol subcutan und stellt dafür die 
Krampfdosis von 50 mg/kg beim Kaninchen fest, die, wie er an- 
gibt, der doppelten i. v. Dosis entspräche. Ungefähr dasselbe Ver- 
hältnis konnten wir zwischen der i. v. und der i. m. Krampfdosis 
feststellen. Unsere Tiere erhielten bei i.m. Gabe 1,5—2,2 cem. 

Bei 4 Tieren trat der Exitus im Streckkrampf ein. 4 Kaninchen 
wurden nach einer Kur von 17—21 Tagen und einem Ruhetag 
getötet. 

Den Cardiazolschock beim Kaninchen beschrieben Demole und 
Bersot (2), Hildebrandt (8), Nyberg (9) u. a. Ihre Ergebnisse wurden 
durch unsere Versuche bestätigt. 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 191 


Nach intravenöser Anwendung von Cardiazol dauerte es 5—15 
Sek., bis die Anfälle auftraten. Der Anfall war meist 4 Min. lang, 
in Ausnahmefällen 2 Min., oft auch länger bis zu 9 Min. und kün- 
digte sich durch ein sehr kurzes Excitationsstadium an: Das Tier 
streckte die Vorderbeine spastisch, die Hinterbeine ebenfalls aber 
in geringerem Grad, so daß sich der Körper etwas aus dem Sitzen 
aufrichtete (Abb. 6 u. 7). Dabei stellte sich Protrusio bulbi und 
Erweiterung der peripheren Gefäße ein. Dann traten klonische 
Zuckungen auf, häufig unter Abgang von Urin und Kot. Die Er- 
scheinungen liefen in wenigen Sekunden ab. Dann fiel das Tier 
in Seitenlage, und der eigentliche Anfall begann mit ausgeprägtem 
Streckkrampf, der dasselbe Bild wie beim heftigen Insulinschock 
bot und bis zu 30 Sek. dauern konnte (Abb. 8). Bei der Lösung 
begann das Nachlassen des Spasmus caudal und schritt langsam 
cranial fort, in der Reihenfolge: Schwanz —Hinterbeine — Wirbel- 
säule — Vorderbeine — Kopf. Nach beendetem Spasmus setzten 
Laufbewegungen ein, die anfangs rasch und heftig waren, all- 
mählich langsamer wurden und meist in Grabbewegungen über- 
gingen. In manchen Fällen waren diese Bewegungen durch Pausen 
von wenigen Sekunden unterbrochen. Das letzte Stadium des An- 
falls war gekennzeichnet durch spastische Erscheinungen wie 
Zähneknirschen, krampfhaftes Atmen, an deren Stelle auch Schreie, 
 Zungenbiß und Bisse in das Fell auf der Brust und in die Vorder- 
beine — auch von Schoen (7) beobachtet, — sowie maximale 
Retroflexion des Kopfes bei Bauchlage treten konnte (Abb. 9). 
Dieser Zustand leitete in Erschöpfung über, in der sich die Tiere 
nicht zum Sitzen erheben konnten, sondern Seitenlage beibehielten. 
Hob man jetzt, kurz nach den letzten Krampferscheinungen, die 
Tiere hoch, so gingen sie aus der schlaffen Haltung (der Kopf hing 
nach unten) zu Torsionsbewegungen — vom Kopf ausgehend — 
über (Abb. 10). Nach 5—10 Min. zeigten sich die Tiere meist schon 
erholt. 

Abweichungen von diesem Verhalten häuften sich mit fort- 
schreitender Dauer der Kur. Sie deuteten stets auf eine einge- 
tretene Desensibilisierung: die Anfälle wirkten sich nur in 
spastischem Redressement des Kopfes, in Manegebewegungen, in 
Rückwärtsgehen und -fallen oder in starker Erregung und Auf- 
stampfen mit den Hinterbeinen aus. 

Ähnlich abgeschwächt verliefen die Anfälle nach intramusku- 
lärer Anwendung — trotz erhöhter Dosis — mit Spasmus nutans, 
Optisthotonus bei aufrechter Haltung mit Überschlag, starker 
Salivation u.a. m. Die Wirkung der Gabe setzte erst nach 3—15 


192 Erna Lohmann 


Cardiazolwirkung 


Abb. 6 u. 7: Excitationsstadium. 


Abb. 9: Max. Retroflexion des Abb. 10: Torsionshaltung bei 
Kopfes bei Bauchlage. Hochheben des Tieres. 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 193 


Min. ein. Auf der anderen Seite dauerten die Anfälle nach i. m. 
Anwendung länger und Rückfälle während der nächsten 2 Stunden 
waren nicht selten. (Das ist daraus verständlich, daß die ersten 
geringen Mengen Cardiazol, die resobiert werden, gefäßerweiternd 
wirken, dann die weiteren Portionen des Depots zur Wirkung 
kommen und daher Dauer und Intensität der Anfälle der i. m. 
ausgelösten Wirkung — auch bei andern Pharmaka — der i. v. 
Wirkung parallelgehen.) 

Intravenöse Verabreichung einer größeren Menge (bis 2,0 ccm) 
in 2—4 Einzelgaben mit 2 Min. Abstand führte zu verlängerten 
Anfällen (bis 30 Min. Dauer), in einem Fall nach 6 Std. zu erneuten 
Krämpfen über eine halbe Stunde. 

Bei einem Vergleich zwischen dem Insulin- und Car- 
diazolkrampf ergibt sich, daß der typische Cardiazolschock 
nach ı. v. Verabfolgung einen bestimmten, geordneten Verlauf 
aufweist. Der Insulinschock dagegen beschränkt sich wohl auch 
auf mehr oder minder fest umrissene Bilder, weist aber in seinem 
Ablauf und der Reihenfolge dieser Bilder keine so ausgeprägte 
Gesetzmäßigkeit auf. Im Einzelnen ist zu sagen, daß Wälzbewe- 
gungen, die zum Bild des typischen Insulinschocks gehören, beim 
Cardiazolkrampf kaum beobachtet werden und hier Rollbewegun- 
gen, bei denen das Tier von der Stelle kommt, nicht auftreten. 
Andererseits gehört der Streckkrampf zum normalen Cardiazol- 
anfall, während er nach Insulingabe erst kurz vor dem Extitus 
letalis in Erscheinung tritt. Endlich finden wir beim Insulin eine 
deutliche Sensibilisierung während wir beim Cardiazol eine 
Desensibilisierung haben. Es ist also doch ein Unterschied 
festzustellen; manche Autoren, z.B. Braunmühl, Georgi und 
Strauß wollen ja keine Differenz zwischen Insulin- und Cardiazol- 
schock anerkennen. 

Analysen: Wir referieren in der nun folgenden Literaturüber- 
sicht nur solche Arbeiten, in denen Untersuchungen in der gleichen 
Richtung wie die unsrigen angestellt wurden. 

Für das Verständnis der Wirkung des Insulins bzw. auch 
des Cardiazols ist zu unterscheiden, daß die meisten Literatur- 
angaben und die in physiologischen Monographien über Insulin- 
wirkung veröffentlichten Resultate nicht eine solche Behandlung 
der Versuchstiere betreffen wie wir sie angewandt haben. Wir 
glauben nämlich, und das hat Riebeling in seinem ersten Vortrag 
(10) über das Thema besonders deutlich hervorgehoben, daß die 
Insulintherapie in der von Sakel ursprünglich angegebenen Form, 
wie auch in den nur qualitativ, aber weniger quantitativ wesent- 
13 Allgem. Zeitschr. f. Psychatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


194 Erna Lohmann 


lichen, späteren Modifikationen nur so zu verstehen ist, daß viel 
(mindestens 5) hypoglykämische Komata gesetzt werden bei einen 
Individuum, das vorher von seiten seines Insel-Adrenalin-Appa- 
rats — nach unserer bisherigen Kenntnis der Schizophrenie — 
gesund war. 

Insofern muß auch wieder betont werden (Riebeling AÄrztl. 
Verein Hbg., Diskussion zu dem Vortrag von Bürger- Prinz), da 
wir bisher keinen Vergleich zu dem Geschehen bei der Insulin- 
schocktherapie kennen. Der naheliegende Vergleich mit den 
Hyperinsulinismus (Inselzellenadenom usw.) ist unbrauchbar. 
Hier steht ein Organismus ständig unter der Einwirkung zu große: 
Insulinmengen — permanente Insulinvergiftung (in mäßigen 
Grenzen), — und es kommt zum Schock nur, wenn Kohlehydrät- 
karenz die Insulinwirkung aus einer latenten Vergiftung zu einer ! 
manifesten werden läßt. Bei der Insulintherapie dagegen ist der 
Körper im Insulin-Gleichgewicht. Stoßweise bekommt er über- 
normale Dosen Insulin, die zu einer maximalen, rasch einher- 
gehenden, manifesten Vergiftung führen. Diese wird nach langer 
Dauer unterbrochen und zwar derart, daß die Insulinwirkung weit 
überkompensiert wird. Man kann nach der Unterbrechung des 
Schocks prinzipiell von einer Zuckervergiftung sprechen. 


nie nen. ne 


= — = 


Wie Gigon (11) angibt, nimmt nach einmaliger Insulininjektion, dir 
aber keine Krämpfe hervorrief, an je einem Kaninchen der Wassergehalt 
im Muskel zu, in der Leber ab. Für den Kontrollversuch entnahm Gigon vor 
der Injektion ein Stück von demselben (lebenden) Tier. Druey und Dels- 
chaux (12) finden nach einmaliger Injektion der Insulin-Krampfdosis an. 
7 Kaninchen in der Leber eine Abnahme des Wassergehaltes gegenüber ihren 
Kontrollergebnissen bei normalen Tieren; die Trockensubstanz des Gehirns 
ist nach ihren Angaben unverändert. 

Den Einfluß des Insulins auf den Stickstoff-Haushalt bei Schizophrenen 
prüften Accornero und Bini (13) mit dem Ergebnis, daß im Coma der N-Gehalt 
des Blutes manchmal vermehrt sei. 

Druey und Delachaux finden in ihren oben erwähnten Tierversuchen 
— also nach einmaliger Insulingabe —, daß der K-Gehalt des Gehirns eine 
Tendenz zum Abnehmen zeige, der K-Gehalt der Leber unzweifelhaft erhöht 
sei. Die Ca-Mittelwerte seien bei diesen Organen etwas erniedrigt. Nach 
Sugimoto (14) wird im Kaninchenserum durch einmalige, geringe, sub- 
kutane Insulingabe der K-Gehalt herabgesetzt, der Ca-Gehalt leicht erhöht. , 
Im schwerhypoglvkämischen Zustand sinkt dagegen nach Jodlbauer uni 
Rösle (15) das Serum-Calcium bei Ziegen von 13 mg% auf 7—9 mg°%. 

Für den menschlichen Mineralstoffwechsel gibt Wespi (16) starke Schwan- 
kungen des K- und Ca-lonenspiegels im Blut während der Insulinkur an. 
Nach Accornero und Bini (13) ist bei ihren Patienten im Blut auch während : 
des comafreien Zustandes der K-Gehalt bis auf das dreifache erhöht; der 
Ca-Gehalt nehme im Coma ab. Im Gegensatz zu diesen Autoren verzeichnet 
Beiglböck (17) in der tiefen Hypoglykämie eine Herabsetzung des K-Gehalt5 - 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 195 


im Blutserum seiner Patienten um durchschnittlich 3,5 mg°, schon nach 
einer Stunde. Das Calcium zeige steigende Tendenz mit einer durchschnitt- 
lichen Vermehrung um 0,75 mg°,. Auch Georgi (18) findet bei Schizophrenen 
einen stärkeren Abfall des K-Spiegels nach Insulininjektion als im sog. Leer- 
versuch — Tagesschwankung bei unbehandelter Schizophrenie —, für das 
Calcium wechselnde Ergebnisse, meist leichten Anstieg. 


Von den zahlreichen Untersuchungen der Insulinwirkung auf den Gly- 
kogenhaushalt verzeichnen Kerr und Ghantus (19) bei 5 Kaninchen nach 
einmaliger Injektion der Insulin-Krampfdosis eine Abnahme des Glykogens 
ım Gehirn. Zum gleichen Ergebnis kamen unter denselben Versuchsbedin- 
gungen Takahashi (1) und Kobori (20), die eine Abnahme des Glykogens 
auch in den andern Organen angeben. Dagegen finden sie an 2 Kaninchen 
nach einmaliger, geringer Insulingabe, die keine Krämpfe auslöst, eine Zu- 
nahme des Glykogens im Gehirn. Und nicht hypoglykämisch wirkende Dosen 
von Insulin verursachen nach HWinterstein und Hirschberg (21) am isolierten 
Zentralnervensystem des Frosches bei Gegenwart von Zucker Glykogen- 
aufbau, während große Dosen Kohlehydrate im Gehirn mobilisieren, wobei 
dann auch Galaktosidzucker abgebaut wird (Winterstein). Von einer Gly- 
kogenzunahme im Muskel der Ratte nach Insulin-Mastkur bzw. Applikation 
kleiner Dosen, berichten weiterhin Bissinger und Lesser (22), die aber eine 
Abnahme des Glykogens in der Leber beobachten. Für die Verhältnisse beim 
Menschen beschreibt Jahn (23), daß die Leber im Schock an verfügbarem 
Kohlehydrat verarme, daß aber der Gehirnstoffwechsel anscheinend durch 
die Änderung im Kohlehydrat-Stoffwechsel des übrigen Körpers wenig beein- 
flußt werde. 

Die Phosphorsäuremengen im Serum wurden von Wigglesworth und Mit- 
arbeiter und zahlreichen andern Autoren (24) untersucht. Sie finden eine Ab- 
nahme der Phosphate im Tierblut. Gross (25) sieht dasselbe beim mensch- 
lichen Blutplasma. 


Für diese Arbeit verwendbare Angaben über Cardiazolwirkungen 
finden sich in der Literatur weit spärlicher als solche über Insulinwirkung. 
Georgi und Strauss (26) verzeichnen im menschlichen Blut einen Anstieg des 
K-Spiegels und einen Abfall des Ca-Spiegels. Gross (25) berichtet, daß sich 
beim Cardiazolschock wie beim Insulinschock ein Abfall des Mineralphosphors 
im menschlichen Blutplasma findet. Ein Absinken der Phosphorsäure im 
Serum läßt sich nur so verstehen, daß die sicherlich zuerst gesteigerte Phosphor- 
saure (Muskelarbeit!) überaus schnell durch den Urin ausgeschieden wird. 


Methodik der Verarbeitung: Die Tiere wurden durch Ent- 
bluten getötet. Das Blut wurde in einem Glaszylinder aufgefangen. 
Das Gehirn, aus jedem Leberlappen ein Stück Leber sowie ein 
Stück Muskel aus den Glutäen des Kaninchens wurden je auf einer 
Glasplatte zu einem homogen erscheinenden Brei zerkleinert. 
Wir bestimmten im Muskel Trockensubstanz (T.S.) und Gly- 
kogen, im Serum: Rest-N, Ca, K, Rest-P, und Lipoid-P, an Ge- 
hirn und Leber alle eben angeführten Substanzen und außerdem 
den Gehalt an Gesamt-N, Chlor und Gesamt-P. 

Die einzelnen Bestimmungen führten wir nach folgenden 


Methoden aus: 
13* 


196 Erna Lohmann 


Trockensubstanz: Je 30—50 mg Organ wurden in kleinen T. S.-Gläschen im 
Trockenschrank bei 100°C bis zur Konstanz des Gewichts getrocknet. 

Gesamt-N: Mikrokjehldalverfahren. 

Rest-N: Das Serum wurde nach Folin enteiweißt, von den Organen je 3g 
mit 30 ccm 10% Trichloressigsäure. K, Ca und Rest-P wurden gleich- 
falls mit Trichloressigsäure-Enteiweißungsmaterial bestimmt. 

Chlor: In einer conc.-salpetersauren n/10 Silberlösung wurde die organische 
Substanz zerstört, das vom Chlor nicht verbrauchte Silber mittels 
Rhodanid gegen Eisenammoniakalaun zurücktitriert. Benutzt wurde 
regelmäßig nur 1 g Ausgangsmaterial. 

Kalium: Bestimmung im Trichloressigsäurefiltrat nach Cramer-Tisdall. 

Calcium: Nach vorheriger Eindickung der Lösung wurde die Methode von 
De Waard angewandt. 


Glykogen: Bestimmung mittels der von Weber für den Muskel ausgearbeiteten 
Modifikation der Pflügerschen Methode. 

Gesamt-P: Der Gesamt-P wurde nach feuchter Veraschung nach Briggs 
modifiziert, stufenphotometrisch bestimmt. 

Rest-P: Bestimmung aus der Trichloressigsäurefällung. 

Lipoid-P: Es wurde nur der alkohollösliche Anteil bestimmt. 

Die Tabellen enthalten nur solche Werte, die sich auf doppelte 
bzw. dreimalige Bestimmungen stützen, mit Ausnahme der Chlor- 
werte. 


Versuchsreihe I. (cf. Tab. I.) 


In der ersten Versuchsreihe wurden die Normalwerte ermittelt. 
6 gesunde, ausgewachsene Kaninchen wurden unbehandelt getötet. 
Tabelle I zeigt die Einzelergebnisse und ihre Mittelwerte in mg°, 
der Feuchtsubstanz; die T. S. ist in Prozenten angegeben. 

Die Einzelergebnisse weisen z. T. erhebliche Differenzen auf, 
insbesondere bei der Glykogenbestimmung, obgleich auch hier 
stets Doppelbestimmungen vorgenommen wurden. Ebenso sind 
die Werte für Ca, K, Cl und Rest-N uneinheitlich. Ähnlich unter- 
schiedliche Befunde wurden aber auch von andern Autoren er- 
hoben (Kerr (27), Druey und Delachaux (12), Hetenyi (28) und 
Takahashi (1)). Die Ca-Werte unter Nr. 3 liegen auffällig hoch. 
Nachdem die gleichzeitig ausgeführte Kaliumbestimmung ìn diesem 
Fall Normalwerte ergab, auch die Anordnung des Versuchs und 
die Reagenzien dieselben gewesen waren, blieben die Abweichungen 
unerklärlich, und wir haben diese Zahlen nicht zur Auswertung 
verwandt. 

Bei den folgenden Versuchsreihen wurden nicht nur die Mittel- 
werte mit den Kontrollergebnissen verglichen, sondern stets auch 
bei den Kontrolltieren aufgetretene Schwankungen in Rechnung 
gestellt. Auch wenn die Mittelwerte deutlich verschieden waren, 
aber Einzelwerte in der Größenordnung der Kontrollwerte lagen, 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 197 


Tabelle I 
Kontrolltiere 

(Die Werte geben mg% an) 

| Mittel- 
Protokoll | | Nr. 4 | Nr. 2 | Nr. 3 | Nr. 9 | Nr. 16 Nr. 19 | Mittel 

| 22,2 | 22,7 
28,9 28,7 

23,9 24,2 

1915 | 1974 

3178 | 3024 


42,56 | 49,5 

141,74 | 155,82 | 114,84 |126,01 | 134,6 

77,47 | 73,8 

76,40 | 46,1 

Calcium [Leber 25,38 | 19,4 
Serum 18,7 16,3 

Gehirn 395,6 | 386,8 

Kalium Leber 370,9 | 381,9 
Serum 24,8 31,4 

Gehirn 95,73 | 76,0 
Glykogen |Leber 662,89 | 685,2 
Muskel 201,26 | 197,3 

Gesamt- |Gehirn 172,8 |177,4 
Phosphor |Leber 182,8 |176,6 
Gehirn 37,02 | 35,3 

Rest- ’ , 
Leber 25,52 | 26,3 
Phosphor [Serum 352| 3» 
Lipoid- |Gehirn 77,5 68,8 
Phosphor |Leber 57,3 | 96,1 
Serum 0,34 0,35 


wurde dies nur als Tendenz zum Steigen oder Fallen aufgefaßt — 
in den Tabellen durch Klammern gekennzeichnet. 


Versuchsreihe II. (cf. Tab. II.) 


5 Tiere starben im Anfall nach mehrfacher Insulingabe, 2 Tiere 
wurden im Nachschock getötet. Die Befunde werden in der Tabelle 
II zusammen aufgeführt, da die Ergebnisse gleichsinnig waren. Die 
Fälle sind nach der Anzahl der Spritzen angeordnet. Ein Einfluß 
der Dauer der Kur ist nicht zu erkennen. 

Bei der Protokoll-Nr. 20 lagen die Organe vor der Verarbeitung 
14 Stunden lang auf Eis. Die eingeklammerten Werte sind deshalb 


Erna Lohmann 


198 


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F 0829 | ESSE | OTIL | SLEg | 67671 L97, | HIT | 6'668 | aqoa uao 
= 8'£6 | Br | 66er] v'E8 | S686 | +88‘S7E LYLO | E99 | unyop 
Y0L'6 +) Er Spe (36s) | 33y | 6'°7 Lge (0951) | ese | wnog 
VON) EEIE | 3987 876E | 998 | L'Z8E 8798 Syze | 668% | J0q9T ummpeM 
(orel—) yeg | oole ELE | YisBe | Tye S'6EZ 980E | c'6ze | uuyap 
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CoL LTt) LY 0°07 LIES | LE 9E | L3% 8961 706 67 aəqə'] unidje)) 
(9069 —) 9'ye | 90'707 gL‘zE | 809% | 5098 12'972 gory | gese | Uayan) 
(°oL'074+) 6'£OL | LOZIE | 92°8L | YL607 | 6L'1Et | 90°68 = Gyl Jaq9] 109 
o9 1+) GOSI | TELYE | sezer | cregy | zesert | 60'202 | Leica | zeg | uyop 
06.21 +) 6'SG | EELS | SIEL] 96'872 6°9% G8'99 8‘IS cy | wng 
Vorl) 6.825 | 90'282 | (6S'LLE)| Es‘0%z | 91°6L1 YZ ZOZ | Sega | EE'vER | saqol NISY 
= L'L6L | ES'LTZ | (68'99z)| To'ssı | 99'861 8688 | 22'222 | 9a°EL1 | unyen 
= 900€ 8282 | (zege) | 881e 8087 080€ 967 0918 43997] N-Jueson 
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Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 199 


nicht berücksichtigt. Ebenfalls war der Rest-N im Serum dieses 
Tieres sehr hoch. 

Im Gehirn waren T.S., Gesamt-N, Rest-N und Lipoid-P un- 
verändert. Für Chlor ergab sich Tendenz zur Vermehrung, für 
Ca und K Tendenz zum Fallen. Eindeutig verringert war der 
Gehalt an Gesamt-P und Rest-P. Beim Glykogen war ein Wert 
auffällig hoch, alle andern entsprachen den Kontrollergebnissen. 

In der Leber blieb der Gesamt-N gleich. Deutliche Tendenz 
zum Anstieg zeigten Cl und Ca, schwache Tendenz zum Fallen 
T. S., Rest-N, K und Lipoid-P. Wie beim Gehirn waren die Ge- 
samt-P- und Rest-P-Ergebnisse deutlich niedriger. Die Glykogen- 
werte zeigten dieselbe große Schwankungsbreite wie in den Kontroll- 
versuchen. 

Im Muskel ergab sich die bekannte Glykogenverarmung, die 
Veränderung des Wassergehalts lag innerhalb der Fehlergrenze, 
etwas über dem Kontrollmittelwert. 

Der Rest-N- und Rest-P-Gehalt des Serums wies eine nennens- 
werte Tendenz zur Erhöhung auf, der Kaliumgehalt eine an- 
gedeutete. Bei den Kaliumwerten ist zu berücksichtigen, daß bei 
Nr. 7 und Nr.20 das Serum hämolysiert war; diese Ergebnisse 
wurden bei der Berechnung des Mittels weggelassen. Das Calcium 
blieb gleich. Der Lipoid-P war beträchtlich vermindert. 


Versuchsreihe III (cf. Tab. III) 


Drei Kaninchen wurden einer Insulinkur von 15 bzw. 20 Spritzen 
mit verringerter Einzeldosis unterzogen und acht Tage nach Ab- 
schluß der Kur getötet. 

T. S., Rest-N-, Cl- und Lipoid-P-Gehalt des Gehirns entsprachen 
dem Kontrollergebnis.. Ca, K, Gesamt-P und Rest-P zeigten 
Tendenz zum Abnehmen. Der Gesamt-N war eindeutig verringert, 
das Glykogen deutlich vermehrt, denn alle Werte hielten sich an 
und über der oberen Grenze der Kontrollwerte. 

Die Leber war in ihrem Gehalt an T. S., Rest-N und Lipoid-P 
unverändert. Gesamt-N, Cl, Ca und Rest-P wiesen Tendenz zum 
Anstieg auf. Bei K und Gesamt-P ließ sich eine Tendenz zum 
Abnehmen feststellen. Die Zahlen für den Glykogengehalt waren 
niedriger als der Durchschnitt der Kontrollwerte, ohne deren 
Schwankungsbreite zu unterschreiten. 

Die Ergebnisse der Glykogenbestimmung im Muskel lagen weit 
über den Kontrollwerten. Der Anteil der T. S. war unverändert. 

Im Serum sprachen die für Rest-N und K gefundenen Werte 
für eine Abnahme. Die Ca-Bestimmung erbrachte teilweise Ver- 


200 Erna Lohmann 


Tabelle III 
Versuche mit Insulin 


2. Kaninchen, die nach einer Erholungspause von 8 Tagen getötet wurden 
(Die Werte geben mg% an) 


Protokoll Nr. 22 | Nr. 24 | Nr.25 | Mittel- | erhöht bzw. 
Nr. des Tieres (751) (778) (767) werte erniedrigt 
Anzahl der Spritzen 20 15 um 


Gehirn 21,0 23,1 21,8 22,0 


S ee Leber | 26,8 29,3 28,9 28,3 ae 
j Muskel | 22,9 25,0 23,7 23,9 T: 


Gehirn | 1865 | 1851 | 1864 | 1860 | — 58% 
Gesamt-N | Leber | 3160 | 3200 | 3491 | 3284 | (+ 8,60) 


a a a a f FREE THE Term ren N RETTET | BESTE ers 


Rest-N Leber 151,23 | 323,00 | 316,14 | 263,4 a 
Serum 23,24 35,14 40,64 33,0 (—33,3°⁄) 
Chlor Gehirn | 138,03 Be 132,34 | 135,1 


Leber 70,77 85,58 | 109,32 88,6 (+19,9%) 


EEE EB rg srrugeo, |) SET Et EU JM u —  G £ 00 U U U 2 


Gehirn | 14,85 | 60,39 | 19,20 | 31,5 (—31,7%) 
Calcium Leber 13,69 | 29,23 | 28,17 23,7 (+22,29%,) 
Serum 19,40 | 19,10 | 16,80 | 18,4 (+12,9) 


EEE G Se | o o | O 


Kalium Leber | 369,4 | 348,5 | 357,7 | 358,5 | (— 636) 


a ee mm aa EEE 


Gehirn | 121,6 113,4 144,5 126,3 (+66,2%) 
Glykogen Leber | 347,3 | 520,0 | 200,8 | 356,0 (—48,0°%%) 


Gesamt- Gehirn | 172,9 137,2 145,6 151,9 (—14,29%,) 
Phosphor Leber | 180,5 141,2 148,0 156,6 (—11,3%) 
Rest- Gehirn 24,51 34,07 29,79 29,5 (—16,4°%) 


Phosphor Leber 25,80 35,78 33,01 31,5 (+19,8%%)) 
Serum 2,71 8.90 3,86 =s — 


Eae -d e—a 


Lipoid- Gehirn 74,3 66,5 60,3 67,0 a 
Phosphor Leber 52,6 61,2 58,4 57,4 e 
Serum 0,22 0,70 0,32 —, — 


mehrung. Bei Rest-P und Lipoid-P überstieg die Schwankungs- 
breite die der Kontrollergebnisse beträchtlich in beiden Rich- 
tungen. 


Versuchsreihe IV (cf. Tab. IV) 


Die Cardiazolkur führte bei vier Kaninchen zum Tod im Anfall 
und brachte für das Gehirn keine Änderung im Gehalt an T. S., 
Gesamt-N, Rest-N, K, Gesamt-P und Lipoid-P, Tendenz zur Ab- 
nahme für Ca und Rest-P, gut ausgeprägte Zunahme — nur eine 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 201 


Tabelle IV 
Versuche mit Cardiazol 


1. Kaninchen, die im Anfall gestorben sind 
(Die Werte geben mg% an) 


Protokoll Nr. 6 erhöht 
Nr. des Tieres (256) erhöht 
Anzahl der A erniedrigt 


Spritzen um 


Gehirn 


22,1 


Trocken- a 
Leber 26,6 24,8 —13,6% 
substanz [Muskel] 251 22,4 | (— 7,4%) 
Gehirn| 2074 1920 1905 == 
Gesamt-N [Leber | 2834 | 3267 2925 = 
Gehirn| 271,14 | 190,87 153,13 | 199,3 = 
Rest-N Leber | 141,81 | 246,27 209,99 | 206,7 | (—21,59%,) 
Serum 57,26 35,14 | 55,1 — 
Chlor Gehirn| 173,2 | 218,37 160,84 | 174,8 | (+29,8%) 
Leber | 144,6 | 230,57 — [167,6 | +127,1 
Gehirn| 35,86 | 19,49 45,26 | 30,3 | (—34,3%) 
Calcium [Leber 26,19 | 18,50 22,06 | 21,4 | (+10,3%) 
Serum| — 18,7 23,8 21,2 +30,3% 
Gehirn| 445,6 | 431,9 393,7 | 406,2 — 
Kalium Leber | 498,1 | 362,9 419,5 | 391,5 — 
Serum| — 83,1 47,1 67,6 +115,3 


101,28 | 107,2 


Gehirn| 154,7 |122,49 | 50,33 (+41,0%) 
Glykogen |Leber | 1418,7 |150,19 | 168,01 | 1171,51 | 727,1 -= 
Muskel| 181,95 | 132,84 | 256,40 76,41 | 161,8 ze 


Gesamt- |Gehirn — 176,8 173,8 | 173,1 — 
Phosphor |Leber — 145,5 145,0 |140,0 —20,7% 
Rest: Gehirn! 17,09 | 33,34 28,48 | 26,2 | (—25,8%) 

Phosphor Leber 22,62 | 31,99 24,73 | 26,4 — 
p Serum| — 9,00 5,92 | 7,31| +96,5% 

SET Gehirn — 69,6 66,8 68,2 — 
es Leber | — 44,0 43,5 | 43,8 | —21,9% 

P Serum | — 0,36 0,38 | 0,37 — 
Beobachtung war niedriger als der höchste Kontrollwert — für 


Cl; das Glykogen war auch bei Berücksichtigung der uneinheit- 
lichen Kontrollzahlen doch etwas vermehrt. 

Bei der Leber war das Auffälligste die eindeutige starke Zu- 
nahme des Chlors. Das Calcium zeigte Tendenz zur Vermehrung. 
Gesamt-N, K, Glykogen und Rest-P blieben normal, der Prozent- 
satz der T. S., der Gesamt-P und der Lipoid-P waren gesunken, 
der Rest-N ebenfalls; er blieb aber noch zwischen den Grenzwerten 
der normalen Tiere. 


202 Erna Lohmann 


Beim Muskel zeigte der Wassergehalt eine angedeutete Zunahme, 
das Glykogen die erwähnte starke Verschiedenheit der Werte, 
die keinen Schluß zuläßt. 

Im Serum waren K und Rest-P erheblich, Ca weniger stark, 
aber noch deutlich vermehrt, Rest-N und Lipoid-P unverändert. 


Versuchsreihe V (cf. Tab. V) 

In Tabelle V sind die Befunde an vier Tieren niedergelegt, die 
nach 17 bis 21 Tagen der Cardiazolkur und einem Erholungstag 
getötet wurden. 

Tabelle V 
Versuche mit Cardiazol 
2. Kaninchen, die nach Erholung getötet wurden 
(Die Werte geben mg°, an) 


Protokoll Nr. 14 | Nr. 15 | Nr. 23 | Nr. 12 erhöht 
Nr. des Tieres (261) (272) (292) | (240) | Mittel- bzw. 
Anzahl der Spritzen[ 17 | 17 20 21, ee ee 
Trocken- | Gehirn| 22,6 22,8 21,6 22,4 
substanz | Leber 28,0 28,9 29,7 29,8 — 

in % Muskel | 23,7 23,7 24,8 24,5 — 


(— 4,299) 


Gesamt-N | Leber | 3195 | 1864 | 1973 | 3055 


Rest-N Leber | 217,65| 209,88 92,51] 209,56 (—30,7°,) 


Serum 28,84 23,80 27,98 33,20 —42,6°, 
Chlor Gehirn | 124,74 145,92 84,36| 137,41 — 
Leber 83,85 81,07 58,59| 107,75 (+12,2°,) 
Gehirn 36,57 30,33 23,70 20,33 (—40,0°,) 
Calcium Leber 21,05 21,87 — 28,26 (+22,7°,) 
Serum 15,03 14,8 17,2 9,1 (—14,1°0) 
Gehirn | 364,1 378,3 400,3 397,6 — 
Kalium Leber 316,2 303,4 370,2 351,2 (—12,2°,) 
Serum 39,8 30,5 36,9 54,5 (+28,7°9) 
Gehirn | 120,94 113,87 159,7 134,91 (+74,2°9) 
Glykogen | Leber |2665,87 |10628,3 |11370,0 | 5704,0 +1009°, 
Muskel | 389,56 799,62 737,5 506,94 + 208°, 
Gesamt- Gehirn — 167,2 164,6 | 170,8 — 
Phosphor | Leber — 127,0 131,5 | 135,8 —25,6°, 
Rest- Gehirn 32,99 31,86 33,23 24,47 (—13,3° ,) 
Phossher Leber 25,26 18,22 6,83 7,49 — 
p Serum| 2,32 2,55 3,25) — — 17,20, 
. : Gehirn 90,1 90,6 78,5 — +25,6°, 
Ram or |Leber | 61,9 30,5 40,7 == (— 20,79) 
P Serum | — 0,96 014) — RR 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 203 


Die Verarbeitung des Gehirns ergab für den Glykogengehalt 
eine ausgesprochene Zunahme, für Ca und Rest-P eine Tendenz 
zur Abnahme und unveränderte Ergebnisse für T. S., Gesamt-N, 
Rest-N, Cl, K und Rest-P. Der Lipoid-P war vermehrt. 

Bei der Leber führte der Nachweis des Gesamt-N und Rest-P 
zu doppeldeutigen Ergebnissen, denn die Werte lagen zur Hälfte 
beträchtlich unter denen der Kontrollversuche, mit welchen die 
andere Hälfte indessen übereinstimmte. Gut ausgeprägt war auch 
die Abnahme des Gesamt-P, angedeutet die des Rest-N, K und 
Lipoid-P; gleichgeblieben war der Prozentsatz der T.S. Cl und Ca 
wiesen eine angedeutete Zunahme auf. Der Glykogengehalt war 
auf den elffachen Betrag gestiegen. 

Auch im Muskel war das Glykogen recht beträchtlich vermehrt, 
im Wassergehalt war keine Änderung eingetreten. 

Im Serum fanden wir den Rest-N und den Rest-P vermindert, 
für das Ca eine Tendenz zur Abnahme, für das K umgekehrt eine 
Tendenz zur Zunahme; uneinheitlich verhielt sich der Lipoid-P. 

Vergleich: Die Tabelle VI bringt eine graphische Auswertung 
vorstehender Ergebnisse. Weil die Tabelle bei einer Verwendung 
der sonst üblichen Kolumnen oder Kreuze an Übersichtlichkeit 
verloren hätte, wurde eine andere Form der Darstellung gewählt. 
Eine eindeutige Zu- oder Abnahme ist durch das Steigen oder 
Fallen eines Pfeiles gekennzeichnet. Der Winkel zur Horizontalen 
gibt unmittelbar die Änderung in Prozenten an. Bei einer Änderung 
um 90—100% ist ein senkrechter Pfeil verwandt, bei 200 und mehr 
Prozenten entsprechend 2 oder mehr Pfeile. 500% sind durch 
einen dicken Pfeil dargestellt. Wenn sich die Versuchswerte mit 
den Kontrollwerten überschneiden, also nur von einer Tendenz 
zur Ab- oder Zunahme gesprochen werden kann, hat der Pfeil 
einen Doppelknick. Wenn die Kontrollwerte durch die Versuchs- 
werte sowohl über- wie unterschnitten werden, ist dies durch eine 
Zick-Zack-Linie gekennzeichnet. 

Welche Schlüsse können aus den Ergebnissen überhaupt ge- 
zogen werden, und ist es möglich, Schlüsse über die Wirksamkeit 
der Cardiazol- bzw. Insulinschocktherapie der Schizophrenie bzw. 
der Erregungszustände zu ziehen ? (cf. Tab. VI). 

Analysiert man die motorischen Phänomene der Insulin- 
bzw. Cardiazolwirkung, so lassen sich doch recht wesentliche 
Differenzen zwischen beiden Arten von Krämpfen erkennen. Wir 
können nicht bestätigen, daß der Insulinschock ein Cardiazol- 
schock in Zeitlupenablauf ist, wie er gelegentlich bezeichnet wurde. 
Wir haben oben ausführlich geschildert, wie deutlich sich Cardiazol 


204 | Erna Lohmann 
Tabelle VI. 


aeee aaaea aaa ai aaa ann a 


R Insulin Cardiazol 
(gestorben) | (erholt) (gestorben) | (erholt) 


Trocken- | Ber DE BERN —> —> 


Gesamt- en 

Stickstoff 

= k eP 
a hee e nen 
a ho e o te 


Glykogen i - \ 
Gesamt- 
Lip ABER? 


und Insulin in ihrer Wirkung unterscheiden. In dem von uns’auf- 
genommenen Film haben wir nur die Krämpfe selbst und die 
Bewegungsformen, die besonders eindringlich waren, festgehalten. 
Es gelang uns und andern Beobachtern mit Sicherheit, Cardiazol- 
krämpfe von Insulinkrämpfen zu unterscheiden. Die obigen Ab- 
bildungen bestätigen das auch unserer Ansicht nach. 

Wir hatten den Eindruck, daß sowohl die Insulinmedikation als 
auch die wiederholten Cardiazolkrämpfe ausgesprochen schwächend 
auf die Tiere wirkten, die dann auch selbst nach Pausen von mehr 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 205 


als einer Woche nach der Insulinserie z. B. noch recht deutlich 
unlustig, bewegungsarm und scheu herumsaßen und weit weniger 
als frische Tiere auf Reize reagierten. Für die Versuchstiere ist die 
heroische Behandlung durchaus schädlich. Das zeigt sich auch 
daran, daß uns viele Insulintiere trotz zeitig eingelegter Pausen 
eingingen. Cardiazolkrämpfe bewirken in abgeschwächtem Maße 
das Gleiche. 

Die Ergebnisse der chemischen Analyse sind recht viel- 
deutig, wie das auch kaum anders zu erwarten war. Wir haben 
aus der Literaturübersicht gesehen und auch bereits aus den recht 
widersprechenden Ergebnissen der deshalb nicht veröffentlichten 
Untersuchungen Aiebelings an Schizophrenen erkennen müssen, 
daß die klaren Verhältnisse, wie sie bei einmaliger Insulinappli- 
kation oder bei Dauerbehandlung mit kleinen Insulindosen er- 
zielt werden, durch die wiederholten Injektionen krampfmachen- 
der Dosen oft verwischt werden. Bezüglich der Cardiazolwirkung 
haben wir kaum Vorbilder aus der Literatur, die unsere Unter- 
suchungen betreffen; wir erwarteten auch nur relativ geringe 
Differenzen. 

Es konnte vermutet werden, daß die ausgiebige den Stall- 
kaninchen sonst ungewohnte Muskelarbeit auf den Glykogen- 
gehalt des Muskels, evtl. auf den der Leber einwirken könnte. 
Ebenso war zu erwarten, daß die Veränderungen im Phosphor- 
säurespiegel des Serums — eventuell auch des Gewebes — ein- 
träten. Der säurelösliche Phosphor zeigte sich bei den im Cardiazol- 
anfall gestorbenen Tieren im Serum dann auch deutlich vermehrt. 
Im Glykogengehalt konnten wir einen einwandfreien Anstieg bei 
den erholten Kaninchen registrieren. Daß die im Krampf ge- 
storbenen Tiere keine Glykogenvermehrung aufwiesen, kann nicht 
überraschen, wenn man daran denkt, daß auch zur Bildung des 
Trainingglykogens im Muskel (Habs) eine bestimmte Erholungszeit 
nötig war. Im Ganzen ist wichtig, daß nicht nur das Muskelglykogen 
sondern auch das Hirnglykogen — in den meisten Fällen — zu- 
nahm. Wieweit sich hier unsere Experimente mit der Therapie 
berühren, müssen allerdings weitere Untersuchungen klären. 

Übrigens steht diese Beobachtung insofern in einem deutlichen 
Gegensatz zu den Befunden von Winterstein (21) mit toxischen 
Insulinmengen, als Winterstein fand, daß zwar bei mäßigen In- 
sulinmengen Glykogen im Gehirn wie auch in der Leber an- 
gereichert wird, bei großen Mengen aber die gesamten Kohle- 
hydratvorräte des Gehirns, sogar der Cerebrosidzucker abgebaut 
werden. Man müßte daraus schließen, daß unsere Insulindosen 


206 Erna Lohmann 


prinzipiell nicht toxisch waren, wenn wir nicht Todesfälle gehabt 
hätten. Möglicherweise ist es aber so, daß die häufig wiederholte 
Wirkung — subletaler Dosen — gefährlicher für den Gesanıt- 
organismus ist und trotzdem Glykogenvorräte des Gehirns nicht 
angreift, sondern eben steigert. 

Zusammen mit den Befunden am Kohlehydratstoffwechsel 
müssen diejenigen des Phosphorstoffwechsel erörtert werden, 
wenn wir auch nicht im Einzelnen bestimmt haben, welche Phos- 
phorfraktionen an den Veränderungen teilnehmen. Daß der 
Traubenzucker zur Glykogenbildung phosphorylisiert werden mul. 
verlangt, daß bei so extremen Glykogenverschiebungen auch — 
wenigstens vorübergehend — Phosphorschwankungen auftreten. 
Tatsächlich sehen wir in allen Untersuchungen auffällig wenig. 
Zwar sank bei den im Insulinkrampf gestorbenen Tieren der 
Phosphor in Gehirn und Leber deutlich ab, doch nur in einem Fall 
zusammen mit dem Anstieg des Hirnglykogens, während alle 
übrigen Glykogenbefunde — auch der Leber — der Norm ent- 
sprachen. Diese Ergebnisse decken sich mit der Beobachtung, dab 
der P-Kalk-Stoffwechsel bei Diabetikern einerseits, bei Schizo- 
phrenen andererseits gestört sein kann. Nur mit der enormen 
Glykogenvermehrung bei erholten Cardiazoltieren ging ein Ab- 
sinken des Gesamtphosphors parallel. Bei den Cardiazoltieren, 
die im Krampf gestorben waren, lagen die Dinge insofern anders. 
als das Glykogen nicht meßbar war, der Phosphor aber absank. 

Deutlicher und ausnahmsloser Chloranstieg ließ sich nur in der 
Leber der mit Cardiazol vergifteten Tiere erkennen, eine Tendenz 
zum Anstieg des Chlors in der Leber ın allen andern Versuchsan- 
ordnungen. Mit dem Chlor muß auch Wasser in der Leber retiniert 
worden sein, sonst wären die T. S.-Werte unerklärlich bei gleich- 
zeitig deutlichem Glykogenanstieg. Bei den enormen Schwan- 
kungen des Lebergewichts im Laufe eines einzigen Tages, dir 
Forsgren beschreibt, sind die Diskrepanzen zwischen den einzelnen 
Befunden ohne weiteres verständlich. 

Auch der Calciumgehalt der Organe schwankt auffällig. Wir 
sehen bei allen Versuchsanordnungen eine Tendenz zum Absınken 
im Gehirn, zum Anstieg in der Leber. Viel deutlicher sind Ver- 
änderungen im Kaliumgehalt erkennbar. 

Anschließend sollen noch die Unterschiede zwischen den Be- 
funden nach Tod im Schock und nach Tötung erholter Tiere auf- 
geführt werden. 

Nach Insulinbehandlung zeigten in beiden Fällen die Cl-, Ca- 
und K-Befunde ein gleichartiges Bild. Das Muskelglykogen war 


= ee U; De Se Te EEA Den Te un nn U 2 Sul wa nn 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 207 


nach Erholung vermehrt. Wie bereits erörtert wurde, braucht der 
Wideraufbau des Glykogens eine bestimmte Spanne Zeit und gibt 
dann gegenüber der Norm erhöhte Werte durch Bildung von 
Trainingglykogen. Der Phosphorspiegel, der bei den gestorbenen 
Tieren abgesunken war, wird in der Erholungsphase wieder auf 
die Norm eingestellt, sowohl beim Gesamt-P als beim Rest-P. 

Eine Erholungspause nach Cardiazolverabreichung ließ den 
Anstieg des Chlors in der Leber wieder absinken und glich auch 
die leichte Abnahme der Trockensubstanz aus. Die Änderungen 
im Calciumbestand blieben bestehen, der Kaliumanstieg im Serum 
wurde nahezu wieder auf normale Werte kompensiert. Auch hier 
trat die Zunahme des Glykogens im Muskel, besonders in der Leber 
erst nach einer Ruhepause in Erscheinung. Der Rest-P im Serum, 
der bei gestorbenen Tieren hoch war, sank nach Erholung bis 
unter die Norm. 

Für das Verständnis der Therapiewirkung bei den mit 
Schocks behandelten Kranken ergeben unsere Versuche an- 
scheinend wenig. Es besteht aber auch kein zwingender Grund 
dafür, denn nicht die Wirkung tödlicher Dosen der Gifte ist ver- 
gleichbar mit dem Geschehen am kranken Menschen, sondern nur 
die Wirkung des Einzelschocks einerseits, wie sie in früheren 
Untersuchungen zur Insulinfrage ausgeführt wurden, und anderer- 
seits die Veränderungen, die etwa nach der Erholung von der 
Therapie bleiben. Mit aller Reserve, die einmal durch den Ver- 
gleich zwischen dem Nagetier Kaninchen und dem omnivoren 
Mensch und dann durch die Differenz zwischen dem gesunden 
Versuchstier und dem primär kranken Behandelten notwendig 
ist, läßt sich folgendes sagen: In fast allen untersuchten Einzel- 
phänomenen sehen wir unter den Bedingungen der Erholung nach 
Insulinkrämpfen wenig Abweichungen vom gesunden, unbehan- 
delten Tier. Auffällig ist ein geringes Ansteigen der Calciumwerte, 
ein nicht regelmäßig zu beobachtendes Ansteigen der Kalıumwerte 
und die deutliche, schon vorher erwartete Anreicherung des Gly- 
kogens. Beim Cardiazol liegen die Dinge insofern anders, als wir 
eine Verminderung des Rest-N im Serum, wenn auch nur um 
geringe Grade, mit Sicherheit annehmen dürfen. Umgekehrt zum 
erholten Insulintier zeigt das erholte Cardiazoltier Tendenz zum 
Absinken im Calcium- und zum Ansteigen im Kaliumgehalt des 
Serums. Viel deutlicher als bei der Insulinbehandlung ist die Gly- 
kogenvermehrung nach der Cardiazol-,,Kur‘ in allen untersuchten 
Organen. Die Therapie scheint den Organismus des Versuchs- 
tiers recht wenig zu beeinflussen, jedenfalls soweit wir Unter- 


208 | Erna Lohmann 


suchungen angestellt haben. Wegen der sicheren Zunahme an 
Körpergewicht bei den meisten sowohl mit Insulin als mit Cardiazol 
behandelten Kranken würde eine Bestimmung des Gesamtfettes 
u. U. deutlichere Differenzen zeigen. Wir glauben jedenfalls, aus 
den so wenig eindrucksvoll wirkenden Versuchsergebnissen gerade 
das herauslesen zu können, was uns für die Anwendung der Be- 
handlungsmethoden in der Klinik besonders wichtig ist: eine 
weitgehende Ungefährlichkeit der Methoden. Keine wesent- 
liche körperliche Veränderung bleibt zurück, Glykogenvermehrung 
kann keineswegs als gefährlich angesehen, sondern muß als thera- 
peutisch besonders günstig beurteilt werden. Ob die Wirkung der 
Therapie eine Anreicherung des Glykogens von unternormalen 
Zuständen zur Norm bedeutet, wie sie für die Schizophrenie zuerst 
von Lingjaerde angenommen wurde, oder eine Anreicherung vom 
normalen Gehalt zum übernormalen darstellt, ist in diesem Zu- 
sammenhang ohne Bedeutung. Schlüsse auf das Wesen der Schizo- 
phrenie und auf das Wesen der Insulintherapie sind bei der geringen 
Prägnanz der gefundenen Veränderungen nicht möglich, sie waren 
auch nicht beabsichtigt. 


Zusammenfassung 


1. Es wurde an Kaninchen der Verlauf des Insulin- und Cardiazol- 
schocks beobachtet. Teils nach Tod im Schock, teils nach einer 
Erholungszeit wurden an Gehirn, Leber, Muskel und Serum Unter- 
suchungen auf quantitative Änderung in der chemischen Zusammen- 
setzung angestellt. Dabei wurde der Trockensubstanzgehalt, der 
Phosphor- (Gesamt-, Rest-, Lipoid-), der Stickstoff- (Gesamt-, 
Rest-) und der Glykogenhaushalt sowie Chlor, Calcium und Kalium 
geprüft. 

2. Der Cardiazolschock zeigte so charakteristische Unterschiede 
gegenüber dem Insulinschock, daß wir auch die motorischen Phä- 
nomene der beiden verschiedenen Zustände glauben voneinander 
trennen zu können. 

3. Chemisch unterscheiden sich die im Insulinkrampf bzw. im 
Cardiazolkrampf gestorbenen Tiere von den gesunden Kontroll- 
tieren in verschiedener Beziehung (siehe Text). 

4. Die nach zahlreichen Insulinkrämpfen oder zahlreichen 
Cardiazolkrämpfen erholten Tiere zeigen kaum Abweichungen 
von der Vergleichsserie. Eindeutig sind nur Glykogenanreicherung 
in verschiedenen Organen und eine Differenz zwischen dem K :Ca- 
Verhalten zwischen Insulin -Erholten und Cardiazol-Erholten 
einerseits und beider gegenüber der Norm andererseits. 


Wirkung des Insulins und des Cardiazols usw. 209 


5. Die schweren Eingriffe in den Körperhaushalt, die sowohl 
Insulinkrämpfe als auch Cardiazolkrämpfe zweifellos darstellen, 
bewirken auffallend wenig bleibende Veränderungen. 

6. Daraus ergibt sich, daß unsere Tierversuche die klinische 
Erfahrung bestätigen, daß die Schocktherapie keine Spätschäden 
setzt. 


Schrifttumverzeichnis 


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H. Bersot, Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. Bd. 39 Erg. Heft (Bericht Mün- 
singen) S. 108, 1937. — 3. Fischler, F., Hoppe-Seylers Z. 165, 68, 1927. — 
4. Palısa, Ch. und A. Flach, Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. Bd. 39 Erg. H. 
(Bericht Münsingen) S. 69, 1937. — 5. Selbach, H., Z. Neur., Bd. 160, H. 3, 
S. 334. — 6. Kastein, Nederl. Tijdschr. Geneesk 1937 IV, 6016. — 7. Schoen, 
R., Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 113, 257, 1926. — 8. Hildebrandt, F., 
Heffter, Handbuch d. exper. Pharm. Bd. V, S. 151. — 9. Nyberg, P., Upsala 
Läkareförenings förhandlingar. Ny följd, Bd. 43, 3—4. — 10. Riebeling, C., 
Neur. Gesellsch. Groß-Hamburg, Dez. 1936. — 11. Gigon, A., Schweiz. med. 
Wschr. 1925 I, 968. — 12. Druey, J. und A. Delachaux, Z. exper. Med. 103, 
264, 1938. — 13. Accornero, F. und L. Bini, Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. 
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endocrin. jap. (Kongr. Zbl. f. ges. inn. Med. 70, 268, 1933). — 15. Jodlbauer, A. 
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16. Wespi, H., Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. Bd. 39 Erg. H. (Bericht 
Münsingen) S. 83, 1937. — 17. Beiglböck, W., Z. klin. Med. 133, 36, 1938. — 
18. Georgi, F., Schweiz. med. Wschr. 1936 I, 935. — 19. Kerr, S. E. und 
M.Ghantus, J. of biol. Chem. 116, 9, 1936. — 20. Kobori, R., Biochem. Zschr. 
173,166, 1926. — 21. Winterstein, H. und E. Hirschberg, zit. n. Asher, Physiol. 
d. inn. Sekretion, Kap. Insulin und: Hdb. Norm. u. path. Physiol., 1925. — 
22. Bissinger, E. und E. J. Lesser, Biochem. Zschr. 168, 398, 1926. — 
23. Jahn, D., Zbl. Neur. u. Psych. 91, 179, 1938 (Bericht Baden-Baden). — 
24. Wigglesworth und Mitarb. und andere Autoren, zit. und Beiglböck (17). — 
25. Gross, M., Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. Bd. 39, Erg. H. (Bericht 
Münsingen) S. 213, 1937. — 26. Georgi, F. und R. Strauß, ebenda S. 55, 
1937. — 27. Kerr, S. E., J. of biol. Chem. 117, 227, 1937. — 28. Hetényi, 
Z. klin. Med. 129, 247, 1936. 


14 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


Eine Feierstunde 
der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie 


Am 6. Mai 1939 feierte die Deutsche Forschungsanstalt für Psych- 
ıatrie (Kaiser Wilhelm-Institut) in München mit einem schlichten 
Festakt den 65. Geburtstag ıhres Leiters, Prof. Ernst Rüdin. Als 
äußerer Anlaß, aber nicht nur als solcher, diente die wissenschaft- 
liche Veranstaltung, die herkömmlicherweise mit der Jahressitzung 
des Stiftungsrats der Anstalt verbunden ist. 

Zu Beginn der Sitzung sprach Prof. Luxenburger einige kurze 
Worte der Verehrung und Dankbarkeit, mit der die zahlreichen 


Schüler und Mitarbeiter Rüdıns dieses Tages gedachten. Er hob - 


insbesondere das Vertrauensverhältnis hervor, das zwischen Lehrer 


und Schülern herrscht und das sich einmal auf das hohe Maß von : 


Verständnisbereitschaft gründet, das Rüdin seinen Mitarbeitern 
stets entgegenbrachte, und weiter hin auf die Großzügigkeit, mit 
der er es verstand, ihren äußeren und inneren Bedürfnissen ge- 
recht zu werden. Ohne ein solches Vertrauensverhältnis hätte die 
reiche Saat der wissenschaftlichen Anregungen und Zielsetzungen, 
die von Rüdın ausgingen, niemals in so schöner Weise Frucht 
tragen können. Einen bescheidenen Einblick in die Arbeit seiner 
Schule bot die Festschrift (112.Band dieser Zeitschrift), die Rüdın 
anschließend ın einem edlen und würdigen Gewande überreicht 
wurde. 

Hierauf ergriff der Vorsitzende des Stiftungsrats, Ministerial- 


m Ei tr a 


rat Frhr. v. Stengel, das Wort zu herzlichen und von warmen 


Humor getragenen Ausführungen. Er kennzeichnete den Gefeierten 


als energischen, zielstrebigen Verwaltungsmann und Anstaltsleiter, _ 
der — gleich großzügig im Geben und Nehmen — den zünftigen | 


Verwaltungsbeamten in vielem ein Vorbild sein könne. Jeder, der 
Rüdins Wirken kennt, wird das Urteil v. Stengels, daß wir in ihm 


die seltene Synthese aus wissenschaftlicher Gründlichkeit, voll- ' 


kommen unbürokratischer Elastizität und organisatorischer Be- 
gabung erblicken dürfen, nur unterschreiben können. 

Im Namen der Schriftleitung und der Herausgeber der Zeit- 
schrift, darüber hinaus aber für die vielen Freunde, Bewunderer 
und Verehrer Rüdıns fand Direktor Roemer herzliche und tretfende 
Worte. Er stellte vor allem auch die Bedeutung Rüdins für eine 


Eine Feierstunde der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie 211 


neuzeitliche Entwicklung der Psychiatrie und ihrer personellen 
wie organisatorischen Grundlagen heraus; er zeigte, wie Erb- 
forschung, Erbgesundheitspflege, psychiatrische Heilkunde und 
Psychische Hygiene unter Rüdıns Führung zu einer Einheit ver- 
schmolzen, aus der zunächst einmal die einzelnen Teilgebiete, 
weiterhin aber die ganze Berufsgemeinschaft und schließlich Volk 
und Staat den größten und schönsten Gewinn zogen. 


Prof. Jahnel endlich brachte warmherzig und daher überzeugend 
die Gefühle der gesamten zur Deutschen Forschungsanstalt für 
Psychiatrie zusammengefaßten Kaiser Wilhelm-Institute zum Aus- 
druck. Er dankte dem stets einsatzbereiten, verständnisvollen und 
für das Wohl des ganzen Hauses besorgten Leiter der Forschungs- 
anstalt für seine unermüdliche, selbstlose und dem großen Gemein- 
schaftswerke treu verbundene Arbeit und sprach ihm die besten 
und aufrichtigsten Wünsche für sein weiteres Wirken aus zum 
Wohle der Forschungsanstalt, der Wissenschaft und des Volkes, 
dem sie zu dienen hat. 


Aus den verschiedenen Ansprachen rundete sich ein schönes, 
klares Bild dieser echten Führernatur, der nichts Menschliches 
freınd und daher alles Menschliche begreiflich ist, die es verstanden 
hat, Fähigkeiten zu sehen und einzusetzen, Schwächen mit klugem 
Sinne zu steuern und so den großen Zielen letzten Endes doch 
dienstbar zu machen, zu wägen, zu wagen und die vielen Fäden, 
die in ihrer Hand zusammenliefen, unverwirrt zu einem Zügel zu 
ordnen, den sie in überlegener Weise meistert. 


Von dieser in ihren Vorbereitungen sorgfältig geheim gehaltenen 
Feier sichtlich überrascht und ergriffen, dankte Rüdin allen Red- 
nern mit bewegten, herzlichen und ernsten Worten. Er sprach 
von den vielen Ehrungen, die ihm zuteil wurden und die er als 
eine Anerkennung der Arbeit, Leistung und Verdienste seiner Mit- 
arbeiter auffasse, deren Führer und Freund zu sein er sich glück- 
lich schätze. Wie seine Mitarbeiter treu zu ihm stünden, so sei es 
aueh sein Glück, ıhnen ın Treue verbunden zu bleiben. Im Fort- 
schritt der Wissenschaft und ım Wohle des Volkes sehe er die un- 
verrückbare Leitidee gemeinsamen Schaffens. Alle ihrer Natur nach 
so vielfältigen Anschauungen, Zielsetzungen und Wege eint, so 
schloß Rüdin, der Dienst am großen Werke des Führers. 


Nach dieser Feierstunde, die allen Teilnehmern unvergessen 
bleiben wird, hielt Prof. Jahnel einen grundlegenden, für den ge- 
samten vielgestaltigen Zuhörerkreis verständlichen und inter- 


essanten Vortrag über „Neuere Ergebnisse der Syphilisforschung 
14° 


212 Eine Feierstunde der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie 


und ihre Lehren“. Er gab dabei zum großen Teil einen sehr an- 
schaulichen und eindrucksvollenÜberblick über seine eigene Arbeit ` 
und die seines Instituts und zeigte, wie sich vor allem aus Beobach- ` 
tungen und Versuchen am Tier, insbesondere an Winterschläfern, 
ganz neue Möglichkeiten für die Bekämpfung der Lues zu eröffnen 
scheinen. Die sehr zeitgemäßen Ausführungen, die sich mit den 
vordringlichsten Fragen der Volksgesundheitspflege aufs engste 
berühren, werden an anderer Stelle veröffentlicht werden. 


L. 


Der Erste Internationale Kongreß für 
Kriminologie in Rom 
Von 


H. A. Schmitz 
leitender Arzt der Rhein. Landesklinik für Jugendpsychiatrie, Bonn 


Der vom 3. bis 8. Oktober 1938 in Rom abgehaltene I. Inter- 
nationale Kongreß für Kriminologie nahm seinen Ausgang von 
der ein Jahr zuvor in Rom gegründeten Internationalen Gesell- 
schaft für Kriminologie, deren Ziele in stärkstem Maße auch Erb- 
biologen, Psychiater und Anstaltsarzt interessieren. Diese Gesell- 
schaft sieht ihre Aufgabe darin, die Zusammenarbeit der verschie- 
denen technischen Wissenschaften mit der Strafrechtswissenschaft 
zu sichern sowie alle Forschungszweige, die sich mit dem Studium 
des Verbrechers in biologischer, soziologischer, pädagogischer und 
psychologischer Hinsicht befassen, für die gemeinsamen Aufgaben 
der Verbrechensvorbeugung, Wiedererziehung des Verbrechers und 
des gesellschaftlichen Schutzes gegen das Verbrechen zu gewinnen. 
Die große Beteiligung, die der Kongreß zu verzeichnen hatte, be- 
weist, daß dieser Aufruf in der ganzen Welt gehört wurde. Die 
Regierungen von 34 Staaten hatten zugesagt und 1350 Gelehrte 
und Praktiker aus den verschiedensten Ländern hatten sich in 
Rom eingefunden. Wie nicht anders zu erwarten, hatte das neue 
Italien die großen organisatorischen Anforderungen, die ein solcher 
Weltkongreß an die Leitung stellt, aufs beste erfüllt und dafür 
Sorge getragen, daß allen Teilnehmern der Aufenthalt in der 
ewigen Stadt zu einem unvergeßBlichen Erlebnis wurde. Der Kon- 
greßB stand unter der Präsidentschaft des Chefpräsidenten des 
Kassationshofes Minister Exzellenz D’Amelio, der mit souveränem 
Geschick die Vollsitzungen leitete. Der Präsident des Organısati- 
onskomitees war der in italienischen wie in ausländischen Kreisen 
gleich hoch geschätzte Senatspräsident am Kassationshofe Exzel- 
lenz G. Novelli. Die amtliche deutsche Delegation wurde von dem 
Staatssekretär im Reichsjustizministerium Dr. Roland Freisler 
zielbewußt und wirkungsvoll geführt. Zu ihr gehörten außer den 
Vertretern der Reichsjustizverwaltung die Vertreter der NSDAP, 
des Reichsgesundheitsamtes, des Reichsrechtsamtes, des Reichs- 


214 H. A. Schmitz 


ministeriums des Innern, des Oberkommandos der Wehrmacht, 
des Auswärtigen Amtes, des Hauptamtes für Volkswohlfahrt und 
zahlreiche Vertreter der deutschen Wissenschaft und der Praxis. 


Die neue Universitätsstadt mit ihren geräumigen, modernen 
Instituten und Lehrgebäuden war eine würdige und zweckmäßige 
Tagungsstätte. Eine täglich erscheinende Kongreßzeitung unter- 
richtete die Teilnehmer in den 5 Kongreßsprachen: italienisch, 
deutsch, englisch, französisch und spanisch über die Ergebnisse 
des Vortages und das Programm des laufenden Tages. Die General- 
berichte lagen gedruckt vor. 


Man tagte nach Sektionen getrennt. 


Die erste Sektion unter Leitung Delaguis, Generalsekretär 
der Internationalen Strafrechts- und Gefängniskommission in 
Bern, nahm Stellung zum Thema: „Ätiologie und Diagnostik 
der Kriminalität d. Minderjährigen und der Einfluß 
solcher Forschungen auf die Einrichtungen des Rechts‘. 
Der Generalbericht wurde von P. de Casabianca (Paris), A. de 
Marsico (Neapel) und D. Pisani (Messina) erstattet, von denen 
nur die beiden letzten persönlich vortrugen. Der Generalbericht, 
der sich auf zahlreiche Gutachten — darunter 5 von deutschen 
Autoren (Clostermann, Schmitz, Seelig, Sievers, Viernstein) — 
stützte, kam zur Aufstellung folgender Forderungen: 


Vereinheitlichung der Einteilungsmethoden und der Klassifizie- 
rung; kriminalbiologische Erfassung und Registrierung der straf- 
fälligen Jugendlichen; Sonderstellung des Jugendrichters für Straf- 
taten sowohl wie für Maßnahmen nichtstrafrechtlicher Art, welche 
die Interessen der Jugendlichen berühren. 


Die zweite Sektion, von Gemelli (Mailand) geleitet, behan- 
delte das „Studium der Persönlichkeit des Verbrechers‘“. 
Den Generalbericht hatten G. Battaglini (Bologna), E. Mezger 
(München), F. Saporito (Italien), L. Vervaeck (Belgien) bearbeitet. 
Der Beitrag Mezgers wurde verlesen, die anderen Berichterstatter 
trugen persönlich vor. Deutschland war mit 13 Gutachtern be- 
teıhgt (Bithorn, Bürger-Prinz, Finke, Kapp, Kretschmer, Loofs, 
Meyer, Mezger, Riedel, Schneider, Stumpfl, Voigtländer, Weber). 
Der Beschluß der Sektionsversammlung ging dahin, daß die Er- 
forschung der Persönlichkeit einheitlich sein müsse und unter Be- 
rücksichtigung aller genealogischen, biographischen, soziologischen, 
biologischen und psychologischen Elemente zu erfolgen habe. In 
allen drei Entwicklungsstufen des gerichtlichen Vorgehens müsse 
ein wirksames Zusammenarbeiten von Richter und Gutachter 


Der Erste Internationale Kongreß für Kriminologie in Rom 215 


stattfinden. Beobachtungs- und Sortierungsabteilungen mit wissen- 
schaftlich arbeitender Besetzung hätten dieses Zusammenwirken 
von Richter und Sachverständigen zu gewährleisten. 

Die dritte Sektion wurde von E. Mezger (München) geleitet 
und beschäftigte sich mit der „Rolle des Richtersim Kampfe 
gegen die Kriminalität und seiner kriminologischen 
Ausbildung‘. Die Generalberichterstatter Givanovit (Belgrad), 
Moriani (Rom) und Santoro (Pisa) trugen alle persönlich vor. 
An deutschen Gutachtern hatten sich 5 beteiligt (Jung, v. Neu- 
reiter, Rambke, Schinnerer, v. Weber). Es wurde eine umfassende 
Ausbildung des Richters in allen kriminologischen Fächern ver- 
langt, die unter Berücksichtigung der vorhandenen örtlichen Ein- 
richtungen in besonderen Instituten zu erfolgen habe. Auf das 
Beispiel Italiens, wo mit bestem Erfolge von Fortbildungskursen 
. Gebrauch gemacht wird, wurde hingewiesen. Die Frage, wie sich 
das engere Zusammenarbeiten zwischen Richter und gerichtlichem 
Sachverständigen im einzelnen gestalten soll, wurde von der Sek- 
tion zur Bearbeitung auf den nächsten Kongreß verwiesen. 

Für die übrigen Themen war eine Beschlußfassung nicht 
vorgesehen, sie wurden daher in Vollversammlungen behan- 
delt. Über die „Organisation der kriminellen Prophylaxe 
in den verschiedenen Ländern‘ trug G. Falco (Neapel) den 
gemeinsam mit O. Kimberg (Stockholm), T. Krichowski (Polen) 
und L. Llombart (Montevideo) verfaßten Generalbericht vor. Zu 
ihm hatten von deutscher Seite 6 Gutachten vorgelegen (Erner, 
Mailänder, Rüdın, Sauer, Strübe, Vogelsang), während den Ge- 
neralbericht über das Thema „Ethnologie und Kriminologie“ 
(mit Harrasser und Thurnwald als deutschen Gutachtern) S. Sergi 
(Rom) erstattete. 

Dassechste Thema schließlich „DieErprobungderSicher- 
heitsmaßnahmen in Italien‘ gab schon am ersten Tage G. 
‚Vovelli (Italien) Gelegenheit von den erfreulichen Erfolgen zu be- 
richten, welche das in Fragen der Verbrechensforschung und Be- 
kämpfung von jeher führende Italien seit der Machtübernahme 
durch den Faschismus aufzuweisen hat. Über die Erprobung der 
Sicherheitsmaßnahmen in Belgien sprach Vervaeck (Brüssel) und 
über die Maßregeln der Sicherung und Besserung in Deutschland 
wurde von dem Führer der deutschen Delegation, Staatssekretär 
R. Freisler, persönlich Bericht erstattet. Über den Verbrecher 
aus Hang äußerten sich G. Novelli vom Standpunkte des Richters, 
während A. Gemelli (Mailand) dieses Thema als Arzt behandelte. 
(Unter dieser Bezeichnung wurde ein Verbrechertyp verstanden, 


216 H. A. Schmitz 


dessen psychische Struktur eine natürliche Neigung aufweist, aus 
Bösartigkeit Verbrechen zu begehen, ohne daß er Psychopath, 
entartet, krank, geborener Verbrecher, moralisch irre oder ein 
Mensch mit aufgehobener oder gemindeter Zurechnungsfähigkeit 
ist.) Auch dieser Typ, darin waren sich die Autoren einig, soll 
durch geeignete Erziehungsmittel der Gesellschaft zurückgewonnen 
werden können. Der faschistische Gedanke von der Geistigkeit 
des Lebens dürfte deshalb auch vor diesen ärgsten Erscheinungs- 
formen des Verbrechertums nicht Halt machen. 

Der sachliche Gewinn, den der großangelegte Kongreß mit 
seinem glänzenden, eindrucksvollen Verlaufe gebracht hat, liegt 
in erster Linie darin, daß von den getrennt marschierenden Ver- 
tretern verschiedener Arbeitsgebiete dringende Probleme als ge- 
meinsam erkannt wurden, und daß aus der verwirrenden Fülle 
der Auffassungen und Standpunkte übergeordnete Gesichtspunkte 
herausgearbeitet wurden, die unabhängig sind von den Grenzen 
des Arbeitsfaches sowohl wie von den Grenzen des Landes. Aber 
kaum weniger bedeutsam als dieser in die Zukunft weisende Er- 
folg erscheint der heute schon greifbare Gewinn, der in den Bei- 
trägen, den die verschiedenen Länder zu den aufgestellten Themen 
beigesteuert haben, vorliegt. Was von deutscher Seite zu diesen 
Fragen gesagt wurde, ist in der von den Staatssekretären Dr. 
R. Freisler und Prof. Dr. Schleberger herausgegebenen Kamerad- 
schaftsarbeit „Römischer Kongreß für Kriminologie“, 
dessen technische Gesamtleitung das große Verdienst des Mini- 
sterialrates Dr. H. Eichler ist, zusammengestellt. (R. v. Deckers 
Verlag P. Schenk, Berlin W 15.) 

In den äußeren Formen, in denen sich der Kongreß abspielte, 
kamen zum Ausdruck die imposante Großzügigkeit des jungen 
Italien und die bezwingende Gewalt der alten Weltstadt Rom. 
War schon bei der sachlichen Zusammenarbeit eine starke An- 
gleichung der deutschen und italienischen Auffassungen festzu- 
stellen, so brachten die Empfänge und festlichen Veranstaltungen 
reichlich Gelegenheit, auch die politische und kulturelle Freund- 
schaft dieser beiden Länder zu pflegen. Die Eröffnung des Kon- 
gresses erfolgte in einer feierlichen Sitzung am Montag, dem 3. Ok- 
tober 1938, vormittags im Kapitol im Saale Julius Cäsar. Am 
Abend des gleichen Tages hatte der Gouverneur von Rom die 
Teilnehmer des Kongresses in das an Kunstwerken reiche Kapitol 
eingeladen. Am folgenden Tage war die amtliche deutsche Dele- 
gation beim italienischen Justizminister zu Gast. Am Mittwoch 
vereinigte eine Einladung des italienischen Justizministeriums 


Der Erste Internationale Kongreß für Kriminologie in Rom 217 


sämtliche Kongreßteilnehmer samt ihren Angehörigen zu einem 
Souper im Grand Hotel. Am folgenden Nachmittag führte ein 
Ausflug den Kongreß zum Agro Pontino, wo die neuentstandenen 
Städte Pontinia, Littoria, Sabaudia und Aprila besucht wurden. 
Die Städte und die in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen 
errichteten Siedlungen des Nationalen Kriegerhilfswerkes ver- 
mittelten einen überwältigenden Eindruck von dem auf Geheiß 
des Duce geleisteten Kultivierungswerke des Faschismus. Mit 
einer Fahrt nach Neapel fand am 8. Oktober der Kongreß sein 
Ende. 

In Neapel wurde das neue Jugendgericht mit dem Centro di 
rieducazione besucht und anschließend die herrlich gelegene Insel 
Nisida, auf deren Hängen sich die Gebäude der vor wenigen Jahren 
eröffneten Besserungsanstalt für Jugendliche erheben. Daß diese 
malerisch schöne Insel, die sich am Fuße des Posilip im Angesichte 
des Vesuv aus dem tiefen Blau des Meeres erhebt, ausersehen 
wurde für eine Erziehungsanstalt für straffällige Jugendliche, 
dürfte symbolisch sein für den Willen des neuen Italien, für die 
Wiedergewinnung der abgeglittenen Jugend keine Mittel und An- 
strengungen zu scheuen, und ein Bekenntnis darstellen zu der 
faschistischen Auffassung, welche die entscheidende Kraft des 
menschlichen Geistes zum Mittelpunkt des Menschentums macht 
(Novelli). 


Zeitschriftenübersicht 
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Bd. 42, 1938 


M. Biro, Warschau: Littlesche Krankheit und Epilepsie. 

Verf. beschreibt 10 Fälle von Littlescher Krankheit, die mit epileptisch?n 
Anfällen einhergingen. Nicht jeder Krampfanfall bei Littlescher Krankheit 
ist epileptischer Natur, aber in 10 von 35 Fällen war dies zweifellos der Fall. 
Die Arbeit befaßt sich mit Krankheitsbild, Verlauf, Verhalten zum Grund- 
leiden und zu den Syndromen und bespricht die gegenwärtige anatomische 
und physiologische Kenntnis über die beiden Krankheiten sowie deren thera- 
peutische Beeinflußbarkeit. 


M. Boß, Knonau b. Zürich: Individuelle Vorbehandlung zur 
kollektiven Arbeitstherapie bei schweren chronischen Schizo- 
phrenen. 

Auf Grund tiefenpsychologischer Untersuchungen wird eine individuell 
angepaßte Spieltherapie als Vorbehandlung für eine kollektive Arbeitstherapie 
ausgearbeitet, mittels welcher auch schwere Defektschizophrene noch thera- 
peutisch beeinflußt werden können. Es müssen den Kranken die ihren Trieb- 
qualitäten adäquaten Spielobjekte angeboten werden, wodurch bei ihnen 
aktive Impulse hervorgelockt und so reale Arbeitsleistungen erzielt werden 
können. Einige Krankengeschichten erläutern die therapeutischen Erfolzr 
bei dieser Behandlungsmethode. 


Jean Druey, Bern: Die Wirkung des Insulins auf den normalen 
Organismus. 

Zusammenfassung der in der Literatur erschienenen experimentellen und 
Laboratoriumsbefunde der Hypoglykämie bei Mensch und Tier und der Theo- 
rien zur Erklärung des hypoglykämischen Syndroms. Verf. kommt zu fol- 
gendem Ergebnis: Große Insulindosen führen über eine starke Blutzucker- 
senkung zu einer mangelhaften Fähigkeit der Zellen, den Sauerstoff aufzu- 
nehmen, und zu ausgeprägten Verschiebungen im Wasserhaushalt. Letztere 
Erscheinung kann als Folge der ersteren betrachtet werden. Diesen Erschei- 
nungen liegen wahrscheinlich Permeabilitätsstörungen zugrunde. Verschie- 
bungen im Mineralhaushalt bekräftigen dies. Man kann vermuten, daß diese 
Permeabilitätsstörungen durch Anlagerung von fettartigen, aus Zucker ge- 
bildeten, heteropolaren Verbindungen bedingt sind. 


Franz Escher: Nachuntersuchungen der in der Heilanstalt 
Burghölzli-Zürich von 1922 bis 1934 mit Malaria behandelten 
Paralytiker. 

Bericht über die Resultate der von Ende 1922 bis Ende 1934 in der Heil- 
anstalt Burghölzli durchgeführten Malariabehandlungen der progressiven 
Paralyse. Es handelte sich dabei meist um ungünstiges Material, da der weitaus 
größte Teil der Kranken erst in einem fortgeschrittenen psychotischen Stadium 
in die Anstalt kam. Von insgesamt 413 aufgenommenen Paralysen wurden 
327 mit Fieber behandelt, davon 310 mit Malaria. An 296 Kranken konnten 


Zeitschriftenübersicht 219 


Katamnesen erhoben werden, auch bei Fällen, die inzwischen verstorben 
waren, soferne sie nach der Kur noch länger als 2!/, Jahre lebten. Vier Fünftel 
dieser verstorbenen Kranken waren ungebessert — eine Bestätigung der be- 
reits früher gemachten Beobachtung, daß die Mortalität bei Fällen mit un- 
günstigem Kurerfolg auffallend hoch ist. Von den 296 malariabehandelten- 
Fällen der Jahre 1922 bis 1934 sind 134 (45,2°,) gestorben, 16 (4,59%) weisen 
eine sehr gute Remission, 55 (18,99) eine gute Remission und 26 (8,8°,) 
eine Remission mäßigen Grades auf. 58 (19,6%) sind ungebessert, bei 7 
(2,120) ist das Resultat unbekannt. Die weitgehende Abhängigkeit des Be- 
handlungserfolges von der Dauer der manifesten Krankheit konnte eindeutig 
nachgewiesen werden. Im übrigen sah man bei den depressiven und euphori- 
schen Formen die höchste Renissionszahl, bei den agitierten die schlechteste. 
Bei 97 der 155 überlebenden Paralytiker ergab eine Liquorkontrolle: bei 
30 Fällen totale Sanierung; unter diesen waren 22 im Zeitraum von 1922 bis 
1929 behandelt worden. Nur 6mal wurde noch das vollständige Paralysesyn- 
drom im Liquor gefunden. Alle 20 Liquoren, die noch positive Luesreaktionen 
im Liquor aufwiesen, stammten aus den Jahren 1930 bis 1934. 


Arthur Kielholz, Königsfelden: Von den Quellen der Querulanz. 

Verf. führt die Querulanz auf eine Auflehnung gegen den Vater zurück 
und belegt diese Theorie mit mehreren Krankengeschichten. Das psychiatrische 
und psychoanalytische Schrifttum wird ebenso wie bekannte literarische Fälle 
von Querulantenwahn auf diesen Gesichtspunkt hin einer Betrachtung unter- 
zogen. 


M. Kraus und K. Mezey, Timisoara, Rumänien: Tryptophanbestim- 
mung im Liquor cerebrospinalis und deren Ergebnisse. 

Beschreibung einer leicht ausführbaren Methode zur quantitativen Trypto- 
phanbestimmung im Liquor. Im Reagensglas wird 1 ccm Liquor mit 3 ccm 
konz. Salzsäure und 3 Tropfen Ehrlichschen Reagens versetzt. Nach 24 Stunden 
wird kolorimetriert, sofern inzwischen eine Blaufärbung eingetreten ist. 
Andernfalls ist die Probe negativ. Es herrschte weitgehende Übereinstimmung 
mit dem positiven Ausfall der Takata-Ara-Reaktion und noch mehr mit der 
Goldsol-Reaktion. Verff. sehen in ihrer Methode daher ein brauchbares Hilfs- 
mittel für die Liquordiagnostik der Neurolues. 


Rudolf Mayer: Auftreten eines schizophrenen Schubes nach 
heftiger Gemütsbewegung. 

Ein Bericht zu dem Problem der psychogenen Auslösung der Schizo- 
phrenie. Im Anschluß an die katatone Erkrankung eines Sohnes erkrankten 
dessen Eltern, und zwar der Vater an einer induzierten Psychose, die Mutter 
aber an einem eindeutigen akuten schizophrenen Schub. Der Sohn brachte 
durch seine Psychose die völlig unvorbereiteten, bis dahin psychisch unauf- 
fälligen Eltern in äußerste Erregung und beide erkrankten in unmittelbarem 
zeitlichem Zusammenhang. Die pathoplastische Bedeutung dieses psychischen 
Traumes wird klargelegt. In der Aszendenz ereignete sich bereits ein ähnlicher 
Fall: ein Onkel der Mutter erkrankte unmittelbar nach dem Tod seines Kindes 
an Katatonie. 


Walter Moos, Zürich: Büchners ‚‚Lenz‘‘. 

Der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der nach dreijähriger dichteri- 
scher Laufbahn an einer Schizophrenie erkrankte, wird im Anschluß an die 
fragmentarische ‚‚Lenz“-Novelle Georg Büchners vom pathographischen 


220 Zeitschriftenübersicht 


Standpunkt aus beleuchtet. Über Lenz, den genialen Jugendfreund Goethes, 
gibt es zahlreiche Äußerungen Goethes, welche die präpsychotische Persön- 
lichkeit von Lenz deutlich erkennen lassen. Büchner vermochte sich in er- 
staunlichem Ausmaß in den Mechanismus der beginnenden schizophrenen 
Veränderung einzufühlen, so daß seine Novelle in dieser Hinsicht eine phäno- 
menologisch hervorragende Darstellung bedeutet. Da Büchner sehr jung, 
bereits mit 23!/, Jahren starb, ist es möglich, daß seine weitere Entwicklung 
denselben tragischen Weg genommen hätte wie die des 41 Jahre alt wer- 
denden Lenz. 


M. Nachmannsohn, Basel: Ist die Hysterie eine Krankheit ? 

Ausführliche Besprechung und allgemeine Darstellung des psychischen 
Krankheitsbegriffes. Erst im Anschluß hieran könne man daran gehen, die 
Frage zu beantworten, ob die Hysterie ein Defekt, ein Pathos oder ein Nosos sei. 


Franz Pollak, Prag: Zur Pathologie und Klinik der Orientierung. 
(Isolierte Orientierungsstörung im Raum infolge übergroßen 
linksseitigen Stirnhirntumors). 

Bericht über einen Fall von Tumor des linken Stirnhirns, der einen faust- 
großen Raum einnahm und rückwärts bis zur Präzentralwindung und nach 
unten gegen die Schädelbasis reichte. Bei der 28 jährigen Patientin konnte 
der Tumor operativ entfernt werden und der postoperative Verlauf war völlig 
komplikationslos bis auf eine Liquorfistel. Bei der histologischen Untersuchung 
wurde ein typisches Meningeom festgestellt. 4 Wochen nach dem Eingriff er- 
gab die neurologische Untersuchung: die Spontansprache war vollkommen 
intakt, ebenso Lesen und Schreiben; bei der Prüfung der Orientierung am 
eigenen Körper ergaben sich schwere Störungen beim Benennen paariger 
Organe in der Erkennung der Rechts-Linksseitigkeit. Zwei Monate nach dem 
Eingriff war die Orientierung am eigenen Körper und im Raum wieder voll- 
ständig und prompt zurückerlangt. Mehr oder weniger leichte Störungen be- 
standen aber noch beim Benennen paariger Organe und beim Zeigen der 
Hauptrichtungen des Raumes. Es handelte sich somit um eine tiefgreifende 
massive Schädigung des linken Stirnhirns, deren Hauptsymptom eine kom- 
plexe Orientierungsstörung im Außenraum war, die nicht nur die egozentrische, 
sondern auch die absolute Lokalisation betraf. Diese Störung wird ausführ- 
lich analysiert und einschlägige Fälle aus der Literatur besprochen. Der 
einzelne Orientierungsakt beim Menschen wird als ein komplizierter und mehr- 
fach gegliederter Automatismus betrachtet, der gleichsam auf einer drei- 
gleisigen Strecke verläuft, nämlich auf der parieto-okzipitalen, der vestibulo- 
labyrinthären und der frontalen. In diesem Fall von linksseitigem Stirnhirn- 
tumor ist die frontale Endstrecke, die im Dienst des Richtungsvollzuges steht, 
besonders betroffen. Zahlreiche weitere Fragestellungen im Zusammenhang 
mit dem Orientierungs- und Raumproblem werden ausführlich erörtert. 


Marie-Louise Preß, Burghölzli: Schizophrenie et remissions après 
Insulinotherapie. (Schizophrenie und Remissionen nach Insulin- 
therapie). 

Bericht über die ersten 32 Schizophreniefälle, die in der Psychiatrischen 
Klinik von Zürich mittels Insulin behandelt wurden. 10 chronische und drei 
schwere Fälle blieben unbeeinflußt. 9 Fälle remittierten teilweise, erkrankten 
aber, abgesehen von zwei Fällen, innerhalb einiger Wochen oder Monaten 
von neuem. Die letzten 10 Fälle führten zu sozialen Remissionen; 8 davon 
waren im ersten Schub behandelt worden. 


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Zeitschriftenübersicht 221 


Walther Riese, Paris: Contributions à l’etude des lois de l’evolu- 
tion du cerveau humain. (Beiträge zum Studium der Entwick- 
lungsgesetze des menschlichen Gehirns). 

Verfasser berichtet über die Fortführung histologischer Untersuchungen 
an menschlichen Embryonengehirnen, wobei er u.a. fand, daß die Ent- 
stehungszeit der Rindenschicht individuellen Variationen unterworfen zu 
sein scheint. 


M. Tramer, Solothurn: Partnertrieb. 

Verf. unterscheidet einen Partnertrieb vom Sexual- und Fortpflanzungs- 
trieb. Der Partnertrieb stamme aus dem Biologischen und Unterbewußten 
und sei daher ein echter Trieb. Es liegt Verf. daran, die Aufmerksamkeit auf 
Begriff und Bedeutung des Partnertriebes allgemein zu lenken, bevor eine 
Strukturanalyse des Partnertriebes gegeben werden kann. Er versteht unter 
Partnertrieb ‚‚ein Sich- getrieben- oder gedrängt-Fühlen nach einem bestimm- 
ten Partner, zwecks dauerhafter Bindung an ihn oder Vereinigung mit ihm‘. 
Die Bedeutung des Partnertriebs in Beziehung zur Ehe sowie zur Freund- 
schafts- und Kameradschaftsbildung und -bindung wird kurz erörtert und 
auf die Aufgabe dieses Triebes für den Aufbau einer Gemeinschaft hingewiesen. 


Carlo Ceni, Bologna: Die Psyche im Lichte der Biologie des 
Mutterinstinkts. 

Nach Ansicht des Verf. ist der Mutterinstinkt ein eigener, selbständiger 
Instinkt, der mit dem sexuellen Instinkt nichts zu tun hat. Vom biologischen 
Standpunkt aus sei der Mutterinstinkt ein Komplex von Kettenreaktionen, 
die abhängig sind von der Nachkommenschaft. Durch vergleichende psycho- 
logische Untersuchungen an Wirbellosen mit differenziertem Nervensystem, 
höheren Wirbeltieren, besonders Vögeln und Säugern, bringt er die Vervoll- 
kommnung des Mutterinstinktes in der aufsteigenden Tierreihe mit der zu- 
nehmenden Differenzierung der vorderen Polgegend des Gehirns in Zusammen- 
hang, der Gegend, die den Sitz der angeborenen psychischen Energien, d.h. 
der impulsiven wie der koordinierten Mutterreaktionen darstelle. Was humo- 
rale Faktoren anbelangt, so spricht er den Hormonen der Eierstöcke, des 
Corpus Luteum und der Plazenta jeden aktiven Anteil an der Bildung des 
Seelenphänomens der Mutterschaft ab und weist vielmehr auf den Hormon- 
komplex von Schilddrüse, Nebenniere und Hypophyse als Förderer des Mutter- 
instinktes hin. 


Beno Dukor: Zur Methode und Technik des psychiatrischen 
Gutachtens. 

Verf. beschäftigt sich mit einer Reihe von Vorwürfen, die, wie er ausführt, 
gegen die psychiatrische Gutachtertätigkeit zwar nicht ganz grundlos er- 
hoben werden, die aber im großen und ganzen doch stark übertrieben und vor 
allem da, wo sie in genereller Form erhoben werden, durchaus unberechtigt 
sind. Obwohl die Ausführungen sich in vielem auf schweizer Verhältnisse be- 
ziehen, enthalten sie mancherlei Allgemeingültiges, das sie lesenswert macht. 


Erich Katzenstein-Sutro, Zürich: Beitrag zur Myotonischen Dystro- 
phie. Ein Schweizer Geschlecht württembergischer Herkunft 
(Arn.). 

Nach einem kurzen Überblick über die Literatur über die myotonische 
Dystrophie berichtet Verf. ausführlich über ein ursprünglich aus Württemberg 


222 Zeitschriftenübersicht 


stammendes Geschlecht (die beiden in Zürich entdeckten erkrankten Ge- 
schwisterschaften gehen auf einen gemeinsamen Stammvater zurück, der 
1750 in Tettnang geboren wurde). Die Sippe umfaßt 107 Mitglieder, von 
denen wahrscheinlich noch 93 leben und von denen die Mehrzahl untersucht 
werden konnte. Eigenartig ist, daß die beiden Familien, in denen das aus- 
geprägte Leiden in der gleichen Generation auftritt, durch einen gemein- 
samen Urgroßvater, der an Altersstar litt, miteinander verwandt sind, und 
daß sich das Leiden erst nach etwa 100 Jahren voll manifestierte. Ferner 
wurde eine progressive Heredität mit Anteposition festgestellt. Der Erbgang 
erfolgte ausschließlich über das männliche Geschlecht, wodurch sich der 
Stammbaum von den anderen in der Literatur mitgeteilten unterscheidet. 
Inzucht spielte keine nennenswerte Rolle. Bei einigen Fällen wurden bereits 
im elften und vierzehnten Lebensjahr typische Symptome der myotonischen 
Bewegungsstörung beobachtet. Die myotonisch dystrophischen Mitglieder 
der Sippe wiesen im Gegensatz zu den gesunden Verwandten deutliche In- 
telligenz- und Affektveränderungen auf, die gegenwärtig besonders unter- 
sucht werden. Die Arbeit enthält die ausführlichen Untersuchungsergebnisse 
mit einem Stammbaum des Geschlechtes und einen guten Überblick über 
die Symptomatologie der Gesamtsippe. Es wird in Übereinstimmung mit 
Waardenburg und Krishova-Bajevskaja ein unregelmäßig dominanter Erb- 
gang angenommen, wobei die Pleiotropie des kranken Gens als Ursache für 
die verschiedenen Formen und den verschiedenen Grad der Expressivität 
angesehen wird. 


F. Lotmar, Bern: Zur Kenntnis derherdanatomischen Grundlagen 
leichterer optisch-agnostischer Störungen. 

Ausführlicher klinischer und pathologisch-anatomischer Bericht über eine 
73jährige Frau, die auf Grund thrombotischer Erweichung im Residuär- 
stadium eine sensorische Aphasie, sehr schwere Alexie und hochgradige 
Agraphie, ideokinetische und ideatorische Apraxie, Störungen beim Nach- 
zeichnen komplexerer Astraktfiguren und daneben mäßige Störungen des 
optischen Dingerkennens aufwies. Die makro- und mikroskopische Unter- 
suchung bestätigte den Verdacht, daß der Herd auch auf die Lateralfläche 
des linken Hinterhauptlappens übergegriffen hatte. Es zeigte sich, daß eine 
Herdschädigung der Konvexität des linken Hinterhauptlappens auch ohne 
begleitende Läsion des Balkenpleniums zu dauernder Beeinträchtigung des 
optischen Objekterkennens führen kann. 


Otto Marburg, New-York: Die Epilepsie als Problem und in ihrer 
Beziehung zur Therapie. 

Nach Ansicht des Verf. tritt die Heredität bei der Epilepsie gegenüber 
anderen Momenten ganz zurück und auch die Konstitutionsforschung hat 
seiner Ansicht nach keine brauchbaren Ergebnisse gezeitigt. Verf. unter 
scheidet, nach Ursachen geordnet, organische, toxische (auch endotoxische) 
und kryptogenetische Epilepsieformen. Die irritative epileptogene Noxe müsse 
operativ oder über den Stoffwechsel angegangen werden. Verf. nimmt an, 
daß die Barbitursäurepräparate durch ihre Einwirkung auf den Stoffwechsel 
quellungsverhindernd wirken und empfiehlt in dieser Hinsicht außerdem 
Magnesium (Magnesiumglukonat). Die beste therapeutische Wirkung sah 
er bei einer Kombinationsbehandlung von Magnesium mit kleinen Barbitur- 
sauremengen. 


Zeitschriftenübersicht 223 


F. Naville und H. Dubois-Ferriere, Genf: Etude sur l’exhibitionnisme 
(Studie über den Exhibitionismus). 

Die Arbeit setzt sich mit den verschiedenen Theorien über die Ursachen 
des Exhibitionismus auseinander und bringt die Beobachtungen des Verfassers 
an Hand von über dreißig Fällen, deren Krankengeschichte mitgeteilt wird, 
wobei zwischen Exhibitionismus auf Grund von Hypersexualität, Hypo- 
sexualität, Schwachsinn, Psychosen und insbesondere Epilepsie, psycho- 
pathischen Konstitutionen sowie anderen Ursachen unterschieden wird. An 
therapeutischen Maßnahmen wird die Psychotherapie besprochen. Bei Kranken, 
die gegenüber therapeutischen oder strafgesetzlichen Maßnahmen refraktär 
sind, ist das letzte Mittel die Kastration. 


J. Ruesch: Beitrag zur pathologischen Anatomie des Zentral- 
nervensystems bei infantiler Akrodynie (Selter-Swift-FeerscherKrank- 
heit). 

Klinischer und anatomischer Bericht über einen Fall von Feerscher Krank- 
heit bei einem 22 Monate alten Knaben. Zahlreiche Serienschnitte durch das 
Zentralnervensystem, die spinalen und sympathischen Ganglien ergaben bei 
ihrer histologischen Untersuchung den sicheren Nachweis einer verzögerten 
Reifung bzw. Entwicklungshemmung in gewissen Teilen des Gehirns und zwar 
hauptsächlich in der Umgebung des dritten Ventrikels und im Zwischenhirn. 
In Anbetracht des vegetativen Kernsyndroms der Feerschen Erkrankung 
sind diese Befunde in den Regionen der zentralen Regulationen für das vege- 
tative Nervensystem von besonderer Bedeutung. 


H.G. Van Der Waals: Über die Beziehungen zwischen dem Asso- 
ziationsexperiment nach Jung und der Psychodiagnostik nach 
Rorschach. 

Die Arbeit, die einen Zusammenhang zwischen dem Assoziationsexperiment 
von Jung und dem psychodiagnostischen Experiment von Rorschach herstellt, 
eignet sich nicht für ein kurzes Referat und muß im Original nachgelesen 
werden. 


H.Wespi: Ein Fall von spontaner Wirbelfraktur im CGardiazol- 
anfall. | 

Bericht über einen Fall von typischer Kompressionsfraktur des 7. Brust- 
wirbels, die im tonischen Stadium des Cardiazolanfalls aufgetreten war. Der 
Kranke starb zwei Wochen später plötzlich im Gipsbett an Lungenembolie. 
Die Sektion stellte das Fehlen jeder primären Erkrankung des betroffenen 
Wirbels fest. Ähnliches wurde bisher nur bei tonischen Krämpfen bei infek- 
tiössem Tetanus beobachtet. Die häufigen Klagen über Rückenschmerzen nach 
der Cardiazolsanfallsbehandlung gewinnen durch diese Vorkommnisse an 
Bedeutung und mahnen, besonders bei älteren Kranken, zur vermehrten 
Vorsicht. 


Sitzungsbericht und Protokoll über die 91. Versammlung der 
Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie vom 14. und 15.5. 
1938 in der Nervenheilanstalt ‚Hohenegg‘“, Meilen. 


Von Interesse ist dabei besonders der Bericht von W. Nagel, Zürich über: 
Vorläufige Erfahrungen mit der neuen Liquorreaktion auf 
Schizophrenie nach Lehmann-Facius. 


224 Zeitschriftenübersicht 


Bei etwas über 150 Reaktionen im Liquor von Schizophrenen fand Verf. 
in etwas über der Hälfte einen positiven Befund, während bei Nichtschizo- 
phrenen in der Mehrzahl der Fälle das Resultat negativ war. Systematische 
weitere Untersuchungen sind im Gange. Vorläufig sei infolge häufiger un- 
sicherer Befunde noch große Vorsicht für die praktische Anwendung der 
Methode notwendig. Harold Widenmeyer, Illenau-Achern. 


The Journal of Nervous and Mental Disease, An American 
Journal of Neuropsychiatrie. Bd. 88 (1938), Nr.1 (Juli) bis 6 (De- 
zember). f 

Nr.14 (Juli). 

Wendell Muncie, Baltimore: Konkretes Vorbild und abstrakte 
Kopie. Eine psychobiologische Auslegung des ‚„Einschluß- 
symptoms“ von Mayer-Groß. 

Im Zusammenhang mit Fällen von konstruktiver Apraxie wies Mayer-Gross 
im Jahre 1935 auf das von ihm als ‚Einschlußsymptom‘“ bezeichnete Phä- 
nomen hin, das nämlich derartig apraktische Kranke einen Drang zur Aus- 
füllung des Raumes haben, der sich bei der Lösung von Aufgaben darin äußert, 
daß sie die Hände möglichst nahe an das konkrete Vorbild bringen. Verf. 
sieht jedoch in diesem Phänomen nicht wie Mayer-Gross eine Störung des 
Wirkraumes der Hand, sondern eine Störung in der Fähigkeit, von konkreten 
Vorbild eine abstrakte Kopie zu machen und stützt seine Auffassung durch 
Beschreibung dreier einschlägiger Fälle. 


Fritz Wittels, New-York, N. Y.: Das Phänomen der Übertragung 
in einem Fall von Phobie (Angsthysterie). 

Bericht über einen 26jährigen Mann, der an allerlei Angstzuständen litt 
und der durch ärztliche Anwendung des in der psychoanalytischen Therapie 
bedeutungsvollen Übertragungsphänomens von seiner Krankheit befreit 
werden konnte. 


Daniel E. Schneider, New York, N. Y.: Die klinischen Syndrome der 
Echolalie, Echopraxie, des Greifens und Saugens: Ihre Be- 
deutung bei Störungen der Persönlichkeit. Siehe unten Nr. 2 (August). 


Wallace Marshall und James S.Tarwater, Appleton, Wis.: Die Ver- 
wendung von Histaminphosphat und Peptonlösung bei der Be- 
handlung von Neurosen und Psychosen. 

Die Verff. behandelten eine Gruppe von Psychosen mit einer 5°,igen 
Peptonlösung in steigenden Dosen und eine andere Gruppe mit einer sub- 
kutan injizierten 1°/ a Lösung von Histaminphosphat, beginnend mit !/,, cem 
und jeden zweiten Tag um !/,. ccm steigend bis zu 1 ccm. Die erste Gruppe 
blieb unbeeinflußt, die zweite Gruppe (35 Kranke, darunter Schizophrene, 
Manisch-depressive, Psychoneurotiker) wies 51% Besserungen auf. Die Verff. 
vermuten, daß die Histaminphosphatbehandlung einer milden Insulin- 
behandlung entspricht. Sie hat den Vorteil, ambulant durchgeführt werden 
zu können. 


Gabriel Steiner, Detroit, Mich.: Multiple Sklerose: 1. Dieätiologische 
Bedeutung des örtlichen und beruflichen Vorkommens. 

Verf. erklärt die Theorie der Bevorzugung bestimmter Rassen, insbesondere 
der nordischen Rasse, durch die multiple Sklerose als nicht genügend be- 


Zeitschriftenübersicht 225 


gründet. Ein häufigeres Befallensein der Stadtbevölkerung gegenüber der 
Landbevölkerung liegt ebenfalls nicht vor. Statistische Erhebungen ergaben 
sogar in Deutschland und Schottland ein bevorzugtes Befallensein der länd- 
lichen Bevölkerung. Sowohl in Europa wie in den Vereinigten Staaten kommt 
die m. S. im Norden häufiger wie im Süden vor. 

Die geographische Verbreitung der m. S. unter den Negern der Vereinigten 
Staaten ist dieselbe wie bei den dortigen Weißen. Ob die m. S. in letzter Zeit 
zugenommen hat, ist noch nicht gründlich genug erforscht. Zwischen Syphilis 
und m. S. besteht kein nachweisbarer Zusammenhang. In Schottland, Eng- 
land und Deutschland scheinen Holzarbeiter häufiger von ihr befallen zu sein. 
Familiäres Vorkommen braucht nicht für eine höhere familiäre Empfänglich- 
keit zu sprechen, sondern kann ebenso für die Infektionstheorie geltend 
gemacht werden. Fälle von m. S. bei Ehepaaren lassen sich am besten durch 
einen infektiösen Ursprung der Krankheit erklären. 


Nr.2 (August). 

Henri Flournoy, Genf: Psychotherapie und Psychiatrie. Bericht 
über zwei Fälle. 

An Hand der ausführlichen Beschreibung zweier Krankheitsfälle werden 
verschiedene psychotherapeutische Wege aufgezeigt. Das eine Mal bei einem 
Fall von induzierter Psychose bei einem 16jährigen leicht schwachsinnigen 
Jungen führte bereits eine Änderung der Umgebung zur Befreiung von pa- 
ranoiden Wahnideen, beim anderen, komplizierter gelagerten Fall war 
auf analytischem Wege eine längerdauernde Psychotherapie notwendig. Es 
handelte sich um eine 66jährige Witwe, die gegenüber einem jungen Arzt 
erotische Gefühle empfand. Anfänglich vermutete sie, der Arzt füge ihr diese 
erotischen Sensationen zu, dann meinte sie, der Arzt habe erotische Bezie- 
hungen zu ihrer Schwiegertochter und verfolge sie selbst, weil sie Mitwisserin 
dieser Beziehungen sei. Diese Verfolgungsideen sind somit sekundärer Art 
und die Folge einer Projektion ihres Konfliktes nach außen, d.h. in diesem 
Fall auf die Schwiegertochter. 


Stephan Weisz, Iowa City, Iowa: Studien über Gleichgewichts- 
reaktion. 

Mit Photographien ausgestatteter Bericht über Gleichgewichtsunter- 
suchungen an 67 Kindern im Alter von zwei Monaten bis zu elf Jahren. Theore- 
tische Erwägungen über die Befunde Rademakers und Anschauungen Gold- 
steins. 


Frank J. Curran, New York, N. Y.: Eine Studie über 50 Fälle von 


Brompsychosen. 
Nach einem Überblick über die bisher erschienene Literatur über Brom- 
psychosen und Bromvergiftungen — die ersten Fälle von Bromvergiftung 


wurden 1869 von Hammond beschrieben — berichtet Verf. über die Methode 
der Brombestimmung im Blut nach Wuth, welche dieser 1927 angab. Wenn 
25—352? der Gesamthalogene des Blutes durch Brom verdrängt sind, treten 
Vergiftungserscheinungen auf und bei einer Verdrängung von 40°, tritt meist 
der Tod ein. Epileptiker scheinen eine große Toleranz gegenüber Bromiden 
zu haben und es treten bei ihnen erst Vergiftungserscheinungen bei einem 
höheren Bromgehalt des Blutes als dem oben erwähnten auf. Der Abusus 
von Brom scheint in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eine gewisse 
Rolle zu spielen, wie systematische Blutuntersuchungen an Neuaufnahmen 
15 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 1/2. 


226 Zeitschriftenübersicht 


in manchen Krankenhäusern zeigten, wo mindestens 2% der Aufnahmen 
psychische Symptome infolge von Bromabusus und 7—40°% der Aufnahmen 
Bromide im Blut aufwiesen. Außer körperlichen und neurologischen Ver- 
giftungserscheinungen tritt auf psychischem Gebiet das Bromdelir in Er- 
scheinung, das meist 3—6 Wochen dauert. Auch wird in seltenen Fällen eine 
Bromhalluzinose beobachtet. Das Korsakowsyndrom ist häufiger. Tödliche 
Ausgänge erfolgen bis über 11,7%. Meist ging Alkoholabusus dem Brom- 
mißbrauch voraus. Die therapeutische Verwendung von Brom bis zu toxischen 
Dosen in Fällen von Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein wird 
erörtert, desgleichen die Therapie der Vergiftungserscheinungen. Verf. tritt 
zum Schluß dafür ein, daß nach der nunmehrigen Einführung des Rezeptur- 
zwanges für Barbitursäurepräparate und Chloralhydrat in einigen Staaten 
Nordamerikas auch ein solcher für bromhaltige Medikamente eingeführt 
werden solle. 


Alfred Gordon, Philadelphia: Cerebellares Koma. 

Bei zwei Fällen von autoptisch festgestellter einseitiger Kleinhirnerkrankung, 
das eine Mal in Gestalt einer Eiterung in der einen Kleinhirnhemisphäre — 
wohl verursacht durch eine chronische Otorrhoe — das andere Mal bei einer 
Kleinhirnrindenerweichung infolge atheromatöser Gefäßveränderungen, 
wurden komatöse Anfälle von 10—12 bzw. 15 Minuten Dauer beobachtet, 
die weder hysterisches noch epileptisches Gepräge trugen und ohne motorische 
Erscheinungen einhergingen. Beim ersten Fall traten die ersten Komazustände 
erst nach 3!/,jährigem Bestehen der ersten sonstigen cerebellaren Krankheits- 
erscheinungen auf, hielten während eines halben Jahres bis zum Tode des 
Kranken an und gingen mit einer starken Gesichtsblässe einher, ohne daß 
sich im Blutbild eine Veränderung fand. Beim zweiten Fall begannen die 
komatösen Zustände mit der cerebellaren Erkrankung und dauerten bis zum 
Tode nach zwei Jahren an. Als Erklärungsmöglichkeiten für diese komatösen 
Zustände kann folgendes in Betracht kommen. 1. eine vorübergehende Eiter- 
resorption im ersten Falle oder 2. Gefäßkrisen im zweiten Fall oder Äqui- 
valente der von Babinski beschriebenen Kleinhirnkatalepsie. Zur Erklärung 
der Blässe vermutet Verf. ebenfalls eine Funktionsstörung des Kleinhirns, 
da eine Mitwirkung des Trigeminus ausgeschaltet werden könne. 


Daniel E. Schneider, New York, N. Y.: Die klinischen Syndrome der 
Echolalie, Echopraxie, des Greifens und Saugens: Ihre Be- 
deutung bei Störungen der Persönlichkeit. 

Während bisher in der Literatur Echolalie und Echopraxie einerseits und 
das Greif- und Saugsyndrom andererseits nicht in Beziehung zueinander 
gebracht wurden, berichtet Verf. über elf klinische Fälle von cerebralen 
Gefäßerkrankungen, degenerativen Erkrankungen, postepileptischen Zu- 
ständen und Psychosen, bei denen diese vier Syndrome gemeinsam beob- 
achtet werden konnten. Außer einer Beschreibung dieser Fälle werden die 
neurophysiologischen Voraussetzungen für das gemeinsame Auftreten dieser 
Syndrome besprochen. 


Unter sonstigen Mitteilungen wird auf eine geplante neue Fachzeitschrift 
„Index de Neurologia y Psiquiatria“ mit Dr. E. C. Krapf in Buenos Aires, 
Argentinien als Herausgeber hingewiesen, die vom 1. Juli 1938 an erscheinen 
und einen Überblick über die neuropsychiatrische Weltliteratur mit besonderer 
Berücksichtigung der latein-amerikanischen Beiträge geben soll. 


Í 


Zeitschriftenübersicht 227 


Nr.3 (September). 


Leslie B. Hohman, Baltimore: Die Verhinderung von Rückfällen 
depressiver Psychosen. 

Verf. berichtet über einige Fälle von Kranken, die an Depressionen litten 
— darunter auch erblich Belastete — welche durch eine ärztliche Überwachung 
und ärztlichen Beistand in Konfliktsituationen nach Ablauf ihrer Krankheit 
vor Rückfällen in diese bewahrt werden konnten. Er weist mit Nachdruck 
auf die Pflichten und Möglichkeiten des Arztes und besonders des Hausarztes 
hinsichtlich einer psychiatrischen nachgehenden Fürsorge hin. 


Samuel M. Weingrow, New York und Thomas S. P. Fitch, Plainfield, N. Y. 
und Albert W. Pigott, Skillman, N. Y.: Einige klinisch-neurologische 
Befunde bei Epilepsie, ein vorläufiger Bericht. 

Bericht über 100 Fälle von meist symptomatischer Epilepsie, bei denen 
auf den verschiedensten neurologischen Gebieten pathologische Befunde 
erhoben werden konnten. Die Ergebnisse sind in mehreren Tafeln übersicht 
lich niedergelegt. 


S. H. Kraines, Chicago, Ill.: Die Indices des Körperbaues und ihre 
Beziehung zur Persönlichkeit. 

Im Zusammenhang mit den Forschungen Kreischmers zeigten Unter- 
suchungen an normalen Menschen mittels des Wertheimer-Hesketh-Index und 
des Gewicht-Höhenindex die Schwierigkeiten auf diesem morphologischen 
Wege in der Konstitutionsforschung weiterzukommen. Verf. vermutet, daß 
durch physiologische Studien (z. B. Feststellung der endokrinen Aktivität) 
die Beziehungen des Körperlichen zum Seelischen eher geklärt werden 
könnten. 


Albert T. Steegmann, Cleveland, Ohio: Neuronitis der Hirnnerven. 

Bericht über drei Fälle von Neuronitis der Hirnnerven, worunter eine 
Art Polyneuritis verstanden wird, die meist nach Allgemeinerscheinungen 
von einem Latenzstadium gefolgt wird und dann akut mit Lähmungser- 
scheinungen zum Ausbruch kommt. Retrobulbäre Neuritis kann als Folge- 
erscheinung auftreten. Die Ursache der Neuronitis ist unbekannt, aber offen- 
bar infektiöser Natur. 


G. D. Woodward, Cincinnati, Ohio: Über die Verwendungsmöglich- 
keiten von Diallylmalonylurea in der Psychiatrie, ein vor- 
läufiger Bericht. 

Ein vorläufiger Bericht über die gute hypnotische und sedative Wirkung 
des D. (Dial mit Urethan) bei intramuskulärer Anwendung in Fällen von 
erregten Psychosen, ohne daß schädliche Nebenwirkungen eintreten. Nach 
intravenöser Anwendung wurde bei katatonen Schizophrenen vor dem Beginn 
der einschläfernden Wirkung des Medikamentes eine Aufhellung ihres psy- 
chischen Zustandes mit Ansprechbarkeit beobachtet. 


Werner S. Bab, Berlin: Blindheit, die viele Jahre lang unbemerkt 
geblieben war. 

Bei einer idiotischen Kranken, die an Littlescher Krankheit litt, war 
trotz sorgfältiger Pflege und obwohl der Vater Arzt war, eine wahrscheinlich 
schon seit der Geburt bestehende Blindheit bis zum 21. Lebensjahr unbemerkt 
geblieben. 
15° 


228 Zeitschriftenübersicht 


N. Tarlau, Central Islip, N. Y.: Prostigmin bei Myasthenia gravis. 

Von der Hypothese von Hamill und Walker ausgehend, daß bei der My- 
asthenia gravis an den Nervenendigungen die Acetylcholinzerstörung durch 
Prostigmin gehemmt werden könne, fügt Verf. den bereits mehrfach in der 
Fachliteratur beschriebenen therapeutischen Erfolgen zwei weitere Fälle von 
günstiger Beeinflussung dieser ätiologisch noch ungeklärten Krankheit durch 
Prostigmin hinzu. Der eine der beiden Fälle führte allerdings trotzdem zum 
Tode, aber durch Prostigmin wurde zumindest das Leben verlängert und 
erträglich gestaltet. Bei ihm wurde außerdem eine rasch zunehmende Toleranz 
gegenüber Prostigmin beobachtet. Beim andern Fall konnte eine völlige 
Remmission erzielt werden und zwar eindeutig durch die Prostigmin-Medi- 
kation, denn nach Absetzen des P. trat ein Rückfall ein. 


Nr.4 (Oktober). 

Leo L. Orenstein und Paul Schilder, New York, N. Y.: Psychologische 
Betrachtungen über die Insulinbehandlung der Schizophrenie. 
Siehe unten Nr.5 (November). 


Max Levin, Mayview, PA.: Krankhafter Hunger in Beziehung zu 
Narkolepsie und Epilepsie. 

Verf. nimmt Bezug auf seine frühere Veröffentlichung über Fälle, die 
periodische Schlafsucht einhergehend mit krankhaftem Hunger zeigten und 
in den Zwischenzeiten symptomfrei waren. Unter Hinweis auf die Fest- 
stellungen von Fulton und anderen Autoren, daß in den Lobi frontales Zentren 
bestehen, die auf die gastro-intestinale Tätigkeit hemmend einwirken können, 
vermutet Verf., daß bei Krankheitsfällen, die periodenweise an Schläfrigkeit 
und unmäßiger Eßlust bei gleichzeitiger motorischer Unruhe und gewissen 
psychischen Symptomen leiden, es sich um eine Störung höchster motorischer 
Zentren handelt. Die Hemmung der höchsten Hirnzentren erkläre die Schläfrig- 
keit und die geistigen Symptome und die Hemmung der von Fulton beschrie- 
schriebenen Zentren bewirke den Hunger und die motorische Unruhe. Wahr- 
scheinliche Zusammenhänge mit Fällen von Narkolepsie und Epilepsie, bei 
denen ebenfalls abnormes Hungergefühl beobachtet wurde, werden erörtert. 


Rowland T. Bellows und William P. Van Wagenen, Rochester, N. Y.: 
Polydipsie und Polyurie bei Diabetes insipidus. 

Größere Arbeit über Tierversuche an Hunden mit Ösophagusfisteln, bei 
denen durch Hypothalamusschädigungen zeitweiliger und dauernder Diabetes 
insipidus hervorgerufen wurde. Die umfangreichen Ergebnisse müssen im 
Original nachgelesen werden, die wichtigste Feststellung ist, daß bei D. ı. 
nicht eine Unfähigkeit vorzuliegen scheint, Wasser im Körper zurückzuhalten, 
sondern vielmehr eine Unfähigkeit, genügend Wasser auszuscheiden. 


Edward J. Humphreys, Thiells, N. Y.: Gegenwärtige Forschungs- 
richtungen auf dem Gebiet menschlicher Minderbegabung. 

Ein Überblick über die vielgestaltige Forschungsarbeit auf anthropolo- 
gischen, genetischen, chemischen, psychiatrischen und anderen Gebieten zur 
Klärung der Ursachen des menschlichen Schwachsinns und sozialer Unter- 
entwicklung mit einem Ausblick auf die Möglichkeiten, die Menschheit einem 
sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Fortschritt zuzuführen. 


Thomas K. Davis, New York: Laute in der Sprache. 
Eine inhaltsreiche Studie über die Zusammenhänge zwischen den ver- 
schiedenen Lauten besonders der englischen bzw. amerikanischen Sprache 


am RE LG 


Zeitschriftenübersicht 229 


und der jeweiligen Bedeutung der Worte, in denen die Laute vorkommen. 
Die Sprache nahm ihren Ausgang vom Handeln und die ersten Laute werden 
als Erscheinungsformen des Verhaltens und Ausdruck von Gemütsbewegungen 
aufgefaßt. 


A. E. Loscalzo, New York, N. Y.: Die Behandlung der Epilepsie 
durch gleichzeitige Anwendung von Phenobarbital und Bella- 
donna. 

Vergleichende Untersuchungen an 32 sorgfältig ausgewählten sicheren 
Fällen von idiopathischer Epilepsie ergaben die überlegene Wirkung von 
Phenobarbital, das mit Belladonnaalkaloiden kombiniert wurde, gegenüber 
der alleinigen Anwendung von Phenobarbital. Bei der Kombinationsbehand- 
lung konnte 23% Ph. weniger gegeben werden und trotzdem war die Zahl 
der epileptischen Anfälle um 24% niedriger wie bei der reinen Phenobarbital- 
behandlung. Die Vergleichsuntersuchungen dauerten je ein halbes Jahr. 


Nr.5 (November). 

Charles Davison und 1.S. Wechsler, New York City: Olivo-Ponto- 
cerebellare Atrophie und einseitige Zerstörung von Hirn- 
nervenkernen. 

Klinischer Bericht über sieben Fälle von O. P. C. Atrophie, von denen 
einer auch histopathologisch untersucht werden konnte. Dieser zeigte außer- 
dem eine einseitige Zerstörung der Kerne von Hirnnerven und der Nuclei 
dentati, was selten vorkommt. Bei zwei der Fälle spielten familäre Faktoren 
eine Rolle und bei zwei anderen Fällen wird über das Vorliegen von Alkoholis- 
mus berichtet. Differentialdiagnostische Erwägungen beschäftigen sich mit 
der Marieschen cerebellaren Ataxie, der Friedrichschen Ataxie und der paren- 
chymatösen cerebellaren Atrophie. 


James W. Watts und Walter Freeman, Washington, D.C.: Psychochirur- 
gie. 

Die 1936 von Egas Moniz vorgeschlagene bilaterale Operation an den 
Großhirnvorderlappen zur Behandlung gewisser Psychosen gründet sich 
auf die Beobachtung über Wesensänderungen bei Vorderlappenerkrankungen 
und auf die Theorie, daß die Unterbrechung gewisser eingelaufener Bahnen 
bei Psychosen zu einer kortikalen Aktivität führen müsse. Nach einer Be- 
sprechung der Technik der präfrontalen Lobotomie berichten Verf. über die 
von ihnen erzielten Erfolge an 20 Kranken, die mehr auf Grund der Symp- 
tomatologie ihrer Psychosen als ihrer speziellen Krankheitsform wegen aus- 
gewählt wurden. Da Moniz fand, daß Spannung, Angst und innere Unruhe 
nach seiner Operation verschwanden, wurden Kranke mit diesen Symptomen, 
darunter agitierte Depressionen, Involutionsdepressionen und Schizophrene 
zur Operation ausgewählt und zwar nur solche Fälle, die auf andere thera- 
peutische Methoden nicht angesprochen hatten. 159%% der Kranken zeigten 
nach der Operation eine weitgehende Besserung und weitere 50° wurden in 
mäßigem Grade gebessert. Eine Buchhalterin und ein Telefonist übten nach 
der Operation wieder ihren Beruf aus. Die Operationsmortalität war 59o. 
Zwei Fälle wurden mit einem gewissen Erfolg ein zweites Mal operiert, aber 
die abgelaufene Zeit seit der zweiten Operation ist noch zu kurz, um den Er- 
folg endgültig zu beurteilen. 


Theodore T. Stone und Eugene I. Falstein, Chikago, Ill.: Pathologie der 
Chorea Huntington. Siehe unten Nr.6 (Dezember). 


230 Zeitschriftenübersicht 


Harold Kelman und Hans Field, New York, N. Y.: Psychosomatische 
Beziehungen bei Prurigoerkrankungen. 

An Hand einer ausführlichen Kranken- und Lebensgeschichte eines 
29jährigen Lastwagenlenkers, der an einem generalisiertten Ekzem vom 
Typus Prurigo Besnier litt, werden die Zusammenhänge mit allerlei psy- 
chischen Traumen, Unausgeglichenheit des Gemütes und starken Minder- 
wertigkeitsgefühlen ausführlich besprochen und darauf hingewiesen, daß 
so wenig wie sonstige Krankheiten auch Hauterkrankungen nicht ohne Be- 
rücksichtigung der Persönlichkeit des Betroffenen richtig beurteilt und einer 
erfolgreichen Therapie zugeführt werden können. 


Leo L. Orenstein und Paul Schilder, New York, N. Y.: Psychologische 
Faktoren bei der Insulintherapie. 

Es wird über psychologische Beobachtungen an Schizophrenen berichtet, 
die mit Insulinschocks behandelt wurden. Besonders berücksichtigt werden 
die Gestaltfunktionen während und kurz nach dem hypoglykämischen Zu- 
stand sowie die Einstellung des Kranken gegenüber seinen Symptomen 
während der Insulinbehandlung. Es ergab sich folgendes: Die Schwierigkeiten 
in der Wahrnehmung und zum Benennen von Gegenständen ist dieselbe im 
Insulinstupor wie nach dem Erwachen. Die Reaktionen sind allgemein ver- 
langsamt und besonders ausgeprägt ist die Schwierigkeit, Gegenstände zu 
benennen. Perseveration ist häufig. Beim Nachzeichnen von Figuren stellte 
sich eine deutliche Primitivität heraus. Nach dem Erwachen aus dem Schock 
ist der Kranke gegenüber seiner Umgebung freundlich eingestellt. Während 
der Erregungsstadien treten öfters: sonst verborgene sexuelle Wesensinhalte 
zutage. Störungen des Zeiterlebens werden beobachtet. Genesene Fälle zeigten 
objektive Krankheitseinsicht, aber kein Verstehen der psychodynamischen 
Vorgänge. Man hat manchmal den Eindruck, daß letzteres während der 
Psychose besser vorhanden ist. Völlige objektive Einsicht fehlt bei nur teil- 
weise geheilten Fällen. 


Nr.6 (Dezember). 

K. S. Lashley, Cambridge, Mass.: Umstände, welche die Wieder- 
genesung nach Schädigung des Zentralnervensystems begrenzen. 

Die Arbeit ist dem Andenken John Hushlinzs Jarkson g:widmet und geht 
von den verschiedenen Auffassungen aus, die über die Ausmaße der Wieder- 
herstellung nach Schädigungen des Zentralnervensystems bestehen (v. Mo- 
nakow, Goldstein, Foerster, Bethe). Verf. glaubt, daß auf Grund neuerer Unter- 
suchungen diese Restitutionsfähigkeit nicht mehr so optimistisch angesehen 
werden dürfe, wie noch vor 10 oder 15 Jahren. Zwar könne durch dauernde 
Übung in Hinsicht auf neue Bewegungskombinationen, auf optisches Ge- 
dächtnis und Wortschatz mancherlei wiederhergestellt werden, aber die 
tiefsten Störungen nach zentralen Schädigungen seien nicht sensimotorische 
Störungen oder Amnesien, sondern vielmehr Ausfälle an Organisations- 
möglichkeiten, Abstraktionsstörungen, verlangsamtes Lernvermögen und 
Gedächtnisschwäche, Verlust an Interesse und spontaner Wirksamkeit. Es 
habe nicht den Anschein, daß diese letzterwähnten Fähigkeiten mit der Zeit 
oder durch Übung zurückkehrten. 


Otto Marburg, New York: Hydrocephalus. 

Kurzer Überblick über die Theorien des Ursprungs des Liquor cerebro- 
spinalis mit Stellungnahme des Verf. gegen die Theorie, welche den Chorioidal- 
plexus als Entstehungsort des Liquors ansieht. 


Zeitschriftenübersicht 231 


Orthello R. Langworthy, Baltimore M. D.: Störungen der Harnent- 
eerung bei multipler Sklerose. 

Störungen der Harnentleerung finden sich sowohl häufig als Frühsymptom 
vie auch bei fortgeschrittenen Fällen von multipler Sklerose. Die verschie- 
lenen Herdlokalisationen der m. S. und die jeweiligeArt von Blasenstörungen, 
velche sie nach sich ziehen, werden an Hand von graphischen Kurven über 
Untersuchungen mittels Wassermanometer dargelegt. Auf die Wichtigkeit 
des WVerständnisses der jeweiligen pathophysiologischen Vorgänge für die 
einzuschlagenden therapeutischen Maßnahmen wird hingewiesen. 


Joshua H. Leiner, New York: Ungleichheit der Nasenöffnungen 
als neues diagnostisches Hilfsmittel. 

Leichtes bis völliges Eingefallensein einer Nasenöffnung weist auf ein 
Betroffensein des Kernes oder auf eine periphere Schädigung des Nervus 
facialis auf der gleichen Seite hin. Bei supranucleären Läsionen ist die gleich- 
seitige Nasenöffnung nicht nur enger, sondern auch die birnenförmige Kontur 
der Öffnung ist verschwunden und die Lage des Nasenflügels ist verschoben. 
Bei bewußtlos aufgefundenen Kranken, die eine Apoplexie erlitten haben, 
ist die Nasenöffnung auf der betroffenen Seite eingefallen. Bei hysterischen 
tlemiplegien und bei Simulation fehlt dieses Zeichen. 


Theodore T. Stone und Eugene I. Falstein, Chicago, Ill.: Pathologie der 
Chorea Huntington. 

Nach einem ausführlichen Überblick über die in der Literatur von 
1841—1935 berichteten neuro-pathologischen Befunde bei Fällen von Chorea 
Huntington mit erblicher Belastung berichten die Verff. über genaue hirn- 
pathologische Untersuchungen an sechs Fällen von klinisch eindeutig fest- 
gestellter Ch. H. Bei allen Gehirnen waren die makroskopischen und mikro- 
skopischen Befunde sich derartig ähnlich, daß man den Eindruck hatte, daß 
es sich um Untersuchungen an nur einem Gehirn gehandelt habe. Die Ver- 
anderungen entsprachen einem atrophischen Prozeß, der das ganze Gehirn 
umfaßte, verbunden mit beiderseitigen Läsionen im Neo-Striatum und den 
cerebralen Hemisphären (besonders den frontalen und präzentralen Regionen). 
Ch. H. wird als heredodegenerative Erkrankung auf Grund einer frühzeitigen 
Atrophie der Zellen der Hirnrinde und des Neo-Striatums aufgefaßt. Während 
der Drucklegung des Heftes ergaben die Untersuchungen an drei weiteren 
Grhirnen von Ch. H.-Fällen dieselben Befunde wie die oben beschriebenen. 
Photos der mikroskopischen und makroskopischen Befunde veranschaulichen 
die Ergebnisse der Untersuchung. Harold W'idenmeyer (lllenau-Achern). 


Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Der Vorsitzende, Professor Dr. Rüdin hat den bisherigen Geschäftsführer 
Professor Dr. Nitsche auf dessen Ersuchen von diesem Amte enthoben und 
Landesrat Dozenten Dr. Creutz in Düsseldorf, Bergische Landstraße 2, zum 
Geschäftsführer ernannt. 


Allgemeiner ärztlicher Fortbildungskurs 
für Psychotherapie und Konstitutionsforschung 
Der Kurs findet im Auftrag der Gesellschaft Deutscher Neurologen und 
Psychiater im Einvernehmen mit der Reichsärztekammer unter Leitung von 
Professor Dr. Kretschmer vom 23. bis 28. September 1939 in Marburg statt. 


232 Persönliches 


Als Vortragende wirken mit: Dozent Dr. Conrad-Marburg, Prof. Dr. Enke- 
Bernburg, Prof. Dr. Klaesı-Bern, Prof. Dr. Kretschmer-Marburg, Prof. Dr. 
Mauz-Königsberg, Prof. Dr. Frhr. von Weizsaecker-Heidelberg. Weitere Mit- 
arbeiter sind vorgesehen. Der Kurs behandelt u.a. folgende Gegenstände: 
Neurosenlehre, Konstitütions-- und Persönlichkeitsdiagnostik, vegetative 
Neurosen, Strukturanalyse, psychische Behandlung der Psychosen und ihrer 
Grenzzustände, Psychotherapie in der Sprechstunde des praktischen Arztes 
und in der Begutachtungspraxis, Psychotherapeutische Technik. Beginn: 
Samstag, den 23. September 1939 nachmittags 16 Uhr im Hörsaal der Uni- 
versitäts-Nervenklinik Marburg, Ortenbergstraße 8. Kurshonorar: 20 RM. 
Der Kurs gilt als zusätzliche Fortbildung im Sinne der Anordnung vom 19. 3. 
1938 über Gewährung von Entschädigungen bzw. der Erweiterung vom 
23.12.1938 (Dtsch. Ärzteblatt Nr. 1/1939). Anmeldung an die Verwaltung 
der Universitäts-Nervenklinik Marburg. Auskünfte und Wohnungsvermittlung 
(Hotel oder privat) durch Verkehrsverein Marburg/Lahn. 
Der Geschäftsführer Creutz 


Persönliches 


Berlin. Dem Ordinarius für Anthropologie, Eugenik und menschliche Erb- 
lehre, Professor Eugen Fischer, wurde anläßlich seines 65. Geburtstages vom 
Führer und Reichskanzler die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft 
verliehen. Er wurde von der medizinischen Fakultät Freiburg zum Ehren- 
doktor ernannt. 

Breslau. Dr. med. habil. Wolfgang Lehmann wurde zum Dozenten für 
menschliche Erb- und Rassenlehre ernannt. 

Freiburg. Dozent Hanns Ruffin wurde zum n. b. a.o. Professor ernannt. 

Großhennersdorf. Als Nachfolger von Obermedizinalrat Dr. Meltzer wirkt 
seit Anfang Mai am Katharinenhof Dr. Daniel, bisher Arzt am Sanatorium 
Kreischa (b. Dresden) der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. 

Jena. Staatsrat Prof. Karl Astel, Präsident des thüringischen Landes- 
amtes für Rassewesen, wurde mit Wirkung vom 14.6. d. J. zum Rektor der 
Universität ernannt. 

München. Dr. med. habil. Alfred Bannwarth ist zum Dozenten für Psych- 
iatrie und Neurologie ernannt worden. 

Pirna (Elbe). Der Psychiater und Neurologe Dr. Rudolf Hecker von der 
psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig wurde zum Leiter 
der Staatlichen Nervenanstalt Maria-Anna-Heim ernannt. 

Bonn. Am 11. Juni verstarb im Alter von 52 Jahren Prof. Dr. phil. et med. 
Walther Poppelreuter, der Leiter des Institutes für Klinische Psychologie. 

Göttingen. Am 7. Juli starb kurz nach Vollendung seines 80. Lebensjahres 
Geh. Rat Dr. med. Otto Snell, früher Direktor der Landesheil- und Pflegeanstalt 
Lüneburg. 

Der norwegische Rassenforscher Dr. Alfred M jöen ist im Juli im Alter von 
76 Jahren gestorben. 


Professor Dr. med. Eugen Bleuler } 
Am 15. Juli 1939 ist Herr Professor Dr. med. Eugen Bleuler, der 


Nestor der Schweizer Psychiatrie, der hochgeschätzte Mitherausgeber 
unserer Zeitschrift, in Zollikon gestorben. 


an 8 - 1947. 


LGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
ND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE! 


Unter Mitwirkung von 


- F.AST-München / J. BERZE-Wien / K. BONHOEFFER. Berlin / M. FISCHER- 

-Berlin-Dahl.,A.GÜTT-Berlin/K.KLEIST-Frankfurt/M. ; E. KRETSCHMER.- 

Marburg ; P. NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH-Bonn / H. REITER- 
Berlin / E. RÜDIN-München / C. SCHNEIDER-Heidelberg 


herausgegeben von 


HANS ROEMER 


ILLENAU 


113. Band - Heft 3/4 


Mit 1 Abbildung im Text 
(Schluß des Bandes) 
Ausgegeben am 27. Oktober 1939 


BERLIN 1939 


WALTER DE GRUYTER & CO. 


As "VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS. 
l E BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT& COMP; 


5 su 
RR. Goog le 


- %* 
ii 


Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiette Band 113 J Heft 3/4 


Inhalt. 


Seite 


Kreischmer, Ernst, Die konstitutionelle Retardierung und das Problem des 


sozialen Kontaktes und der Neurose s sa setea ia 233 
Beckmann, E., Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 239 


Nachtwey, Hans, Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verur- 
sachung, Diagnostizierbarkeit, Lokalisation und die durch sie bedingten 


Veränderungen und Ausfallserscheinungen 
Stefan, H., Kümmellsche Wirbelerkrankung und Rückenmarkssymptome. Mit 
5 Abbildung In Test 0 4 4. a a ee de en . 321 


Strobel, Theodor, Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut- 
Hirnschranke ? f 


Schmieder, Fritz, Über Krampfschäden bei der Cardiazolbehandlung . . . 339 
Carrière, R., Ein Jahr Cardiazolbehandlung auf der unruhigen Frauenabteilung 347 
Enke, W., und M. Kanthak, Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 385 


Dimitrijević, D. T. und N. Zec, Über frühinfantile Einstellungen bei der 
Insulinbehandlung der Schizophrenie . . s s. 2 2 2 2 2 2 22 0. e 366 


Möckel, Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan und 
RE DENIED Se re ee « 373 
Zeitschriftenübersicht: 


Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Bd. XLIII, Heft ı (1939) 387 


Die konstitutionelle Retardierung und das 
Problem des sozialen Kontaktes und der Neurose !) 
Von 
Von Professor Ernst Kretschmer, Marburg 


(Eingegangen am 29. Juni 1939) 


Das Verstehen oder Nichtverstehen, das Finden oder Nicht- 
finden des seelischen Kontaktes zwischen Menschen ist in seinen 
tieferen Gründen nicht immer leicht zu erfassen. Oft sind wir 
geneigt, tiefe, wesensmäßige Gegensätze zu vermuten, wo in Wirk- 
lichkeit nur alte Erlebnisspuren den Kontakt stören. Umgekehrt 
wird oft der Versuch gemacht, das Spiel der Anziehung und Ab- 
stoßung zwischen einem Menschen und seiner Gruppe auf äußere 
Erlebniswirkungen, auf überpersönliche Prinzipien, Erziehungs- 
methoden und ethische Einflüsse zurückzuführen — während in 
Wirklichkeit eine von innen her biologisch gesteuerte Dynamik 
sich ablösender Instinktmechaniısmen und Temperamentsumbil- 
dungen darin ihr Wesen treibt und ihre Gestaltung findet. 

Natürlich sind alle Bezüge zwischen Menschen, wie die großen 
kollektiven Verständnisfragen zwischen Völkern, Stämmen und 
Ständen voll von biologischen Problemen. Der häufig so irrationale 
Verlauf ihrer Affektkurven, ihre scheinbar so ephemeren und doch 
sich gleichförmig und typisch wiederholenden Spannungen und 
Lösungen sind allenthalben gespeist von tief heraufkommenden 
biologischen Einflüssen, von der Endauswirkung klimatischer und 
ständischer Züchtungen, von Blüte und Abbauvorgängen. 

Es ist notwendig, aus diesen umfangreichen Beobachtungen 
eine Reihe herauszugreifen, an der die biologischen Tiefenwirkungen 
hinter den äußeren Formen von Kontakt und Verständigung ärzt- 
lich besonders gut sich herausheben lassen: das ist das Problem 
„der Lebenskurve‘‘, des biologischen Reifens und Welkens, der 
phasischen Lebensabläufe und Krisen, ihrer körperlich-konstitu- 
tionellen Steuerung und der typischen Auswirkungen, die sie 


. !) Bericht erstattet auf der VI. Europäischen Konferenz für psych. Hygiene 
m Lugano am 5. Juni 1939. 
16 Allgem. Zeitschr. f. l’sychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


234 Ernst Kretschmer 


auf den sozialen Kontakt, das Sichverstehen und Mißverstehen mit 
der Umgebung, auf persönliche Erlebnisform und Schicksalsbildung 
einschließlich der Neurosen- und Psychosenentstehung haben. 

Die auffallendsten Kontakt- und Verständigungsprobleme dieser 
Art treten in der Pubertät auf und betreffen u. a. das Eltern- 
Kinderverhältnis. Besonders bekannt ist der sog. „‚Vaterprotest‘*, 
eine jugendliche Haltung, der, äußerlich betrachtet, scheinbar un- 
ausweichliche soziale Faktoren oder aber persönliche Ungeschick- 
lichkeiten in der Erziehung zugrunde liegen und die in den schweren 
Fällen zu einem völligen Abbruch der Verständigung und davon 
ausstrahlend zu einer katastrophalen Gestaltung der familiären, 
beruflichen und allgemein sozialen Beziehungen führen kann. 

Prüft man die direkten äußeren Ursachen dieses Phänomens, so 
entdeckt man bald, daß hier keineswegs eine verständliche Pro- 
portion besteht. Verständige und großzügige Erzieher können von 
solchen Protesthaltungen ihrer Kinder in schwerster Form be- 
troffen werden, während umgekehrt auch unter den primitivsten 
Erziehungsmethoden das Elternkinderverhältnis sich manchmal 
ganz normal durchentwickelt. Persönliche Erziehungsfaktoren und 
geistige Zeitströmungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen 
Alt und Jung können dieses Kernproblem scharf akzentuieren 
oder abmildern, sie schaffen es aber nicht. 

Man ist nun unter dem Einfluß der Neurosenlehre!) daran ge- 
gangen, den Ursachen der puberalen Kontaktstörungen lebenszeit- 
lich nach rückwärts bis in die frühe Kindheit nachzuspüren. Dieser 
Forschungsgang ist sicher ın vielem ertragreich gewesen und hat 
eine Menge kindlicher Erlebnisformen und Erlebnisfixierungen, 
günstiger und ungünstiger Reizwirkungen auf die kindliche Ent- 
wicklung zutage gefördert. Es schien naheliegend, die aktuellen 
Schwierigkeiten mit einer Kette rückwärtsliegender psychischer 
Traumen hinsichtlich des Eltern-Kinderverhältnisses sinnvoll zu 
verbinden und in den frühesten Erlebnissen dieser Art die Ur- 
sache der späteren zu sehen. Diesen Schluß hat man ın der Neu- 
rosenlehre in der Tat vielfach gezogen. 

Dem steht aber nun wieder folgendes entgegen: Diese frühkind- 
lichen Erlebnisse sind auch in der gesunden Bevölkerung so häufig, 
daß sich die weitere Frage erhebt: weshalb wachsen sie sich in 
einigen Fällen zum psychischen Trauma aus, während sie bei den 
meisten Menschen ohne ernstlichen Schaden verarbeitet und ver- 
gessen werden. 


1) Vgl. Kretschmer, Die typischen psychogenen Komplexe als Wirkung 
juveniler Entwicklungshemmungen. Zt. Neur. 127. 1930. 


Konstitutionelle Retardierung u. d. Problem d. soz. Kontaktes usw. 235 


Wir müssen dieses Problem von einer ganz anderen Seite her 
anfassen. Sofern wir den Längsschnitt der Lebensentwicklung 
konstitutionsbiologisch analysieren, bekommen wir eine 
klare Antwort auf unsere Frage. Die Menschen, die die gewöhnlichen 
psychischen Traumen aus der Kinderzeit bis über die Schwelle der 
Pubertät hinüber konservieren, haben ın der Regel bestimmte, 
körperlich konstitutionelle Stigmen. Es sind nämlich Retar- 
dierte, d.h. Menschen, deren körperlich-seelische Pubertäts- 
reifung stockend, unebenmäßig, da und dort gehemmt vor sich geht. 
Dieses Problem des Reifungstempos und innerhalb desselben 
wieder das Teilproblem der Retardierungen, der partiellen und 
unebenmäßigen Reifungshemmungen zeigt sich, je länger wir es 
beforschen, als eines der Zentralprobleme der menschlichen Bio- 
logie. Es wirkt sich nicht nur in der engeren klinischen Psychi- 
atrie, z. B. in der Schizophrenie -und in der Neurosenlehre aus, 
sondern es eröffnet uns auch breite Zugänge in weite soziolo- 
gische Probleme des zwischenmenschlichen Kontaktes, der Ver- 
stärkungen und der Störungen der Bindung und Einordnung des 
Einzelmenschen in seine Gruppe und in die Gemeinschaft über- 
haupt. Wo Teilinfantilismen und Teiljuvenilismen in der psycho- 
physischen Konstitution des späteren Lebens eingesprengt sind, 
da entstehen typische Diskrepanzen und Ambivalenzen innerhalb 
der Persönlichkeit; die ausgereiften und die retardierten Teile der 
Persönlichkeit geraten ın Reibung und Gegenspannung. Dieser 
Tatbestand bleibt aber keineswegs ein individueller, intrapsy- 
chischer. Sondern der so geartete Mensch reagiert auch soziologisch 
anders; seine Einordnung in die Gruppe vollzieht sich schwie- 
riger. Es kommt zu typischen Spannungen und Strebungen, 
die seine intrapsychischen und familiären Reifungsschwierigkeiten 
ın vergrößerter Spiegelung in seinen ganzen sozialen Lebensraum 
projizieren. 

Verfolgen wir die Spuren der konstitutionellen Retardierungen 
durch die Pubertätszeit hindurch, so finden wir auf der körper- 
lichen Seite die verschiedensten Zeichen des stockenden und un- 
ebenmäßigen Funktionierens der endokrinen Reifungsvorgänge, 
teils in dysgenitalen Stigmen des Körperbaus, und natürlich hier 
nicht in massiven Gesamtstörungen, sondern in Teileinsprengungen 
\askulinismen, Feminismen, Infantilismen, Eunuchoidismen, von 
Behaarungsanomalien, Sekretions- und Fettansatzanomalien und 
lokalen Hypoplasien; vor allem aber auch in Unebenmäßigkeiten 
und Erschwerungen des zeitlichen Ablaufs der einzelnen Reifungs- 


symptome, in verspäteter, unregelmäßiger oder beschwerlicher 
10° 


236 Ernst Kretschmer 


Menstruation, in Verzögerung oder Überstürzung des Körper- 
längenwachstums, in Sexualfunktion, Bartwuchs, Stimme usw. 

Wenn man sich die psychischen Korrelate dieser körperlichen 
Symptome klarmachen will, so muß man die psychische Puber- 
tätsreifung nicht als einen einheitlichen Vorgang, sondern als eine 
ganze Reihe von einzelnen Entwicklungslinien begreifen, die beim 
Gesunden in bestimmten Zeitpunkten und mit bestimmtem Tempo 
sich auslösen und synchronisiert nebeneinanderlaufen. Schon fei- 
nere Störungen der körperlichen Reifungsgrundlagen führen nun 
auf der psychischen Seite zur Asynchronie, das feine Ineinander- 
greifen der psychischen Abläufe leidet not, was sofort in seelischen 
Diskrepanzen und Ambivalenzen und weiterhin in neurotischen 
Entwicklungen zum Ausdruck kommt. 

Der puberale Instinktwandel hat bestimmte Ablaufsphasen, die 
in bestimmten Zeitspannen nacheinander gesetzmäßig abge- 
wickelt und vollendet werden müssen. Was das Eltern-Kinder- 
verhältnis betrifft, so ist der Abbau seines instinktmäßigen Charak- 
ters, der mit der ‚‚Brutpflege‘‘ zusammenhängenden Instinkt- 
gruppe, mit dem Aufbau des Sexualtriebs in der Pubertät eng in- 
einandergreifend und geradezu reziprok. Je mehr Elternbindung 
bestehen bleibt, desto weniger kann sich die Gattenwahl glatt ent- 
wickeln. Störungen des Verstehens und der Verständigung ergeben 
sich sofort nach beiden Seiten, wenn dieser Grundvorgang aus 
biologischen Gründen nicht richtig abläuft. Normal ist hier ein 
dreigliedriges Verlaufsschema, indem die positive Instinktbindung 
der kindlichen Phase über die physiologisch in der Frühpubertät 
. einsetzende negative oder Protestphase innerhalb weniger Jahre 
in die Instinktablösung von den Eltern, d.h. in die ruhig neutrale 
Haltung des Erwachsenen zu seinen Eltern übergeht, deren größere 
Herzlichkeit oder Kühle sich nicht mehr nach Instinktmecha- 
nısmen, sondern nach dem Grad der persönlichen Zusammenstim- 
mung der Charaktere richtet. 

Der biologische Untergrund für dieses Verständnisproblem ist 
die Tatsache, daß bei Retardierten jede dieser Phasen zeitlich 
sich in die Länge ziehen oder auch dauernd persistieren kann, wo- 
bei sie dann, entsprechend den entstehenden Diskrepanzen, 
meist qualitativ einen überspannten, überreizten, neuroseartigen 
Charakter annimmt. Der normale Instinkt von gestern kann 
so die Neurose von morgen werden. Es kann sich, wie be- 
kannt, die Instinktbildung an die Eltern ebenso tief ins erwachsene 
Alter hinein erhalten wie die Phase des Pubertätsprotestes. Daß 
sich dabei die überdauernde positive Fixierung häufiger an die 


Konstitutionelle Retardierung u. d. Problem d. soz. Kontaktes usw. 237 


Mutter, der Protest dagegen häufiger an den Vater hängt, ist aus 
dem Aufbau der Familie ohne weiteres verständlich und bedarf 
keiner gesonderten Erklärung. 

Wir verstehen ohne Schwierigkeit, weshalb bei Retardierten 
nicht nur affektive Gesamthaltungen, sondern auch frühe Einzel- 
erlebnisse, die sog. „infantilen Traumen‘ verstärkt haften und 
uns dann später in ihren Neurosen und in ihrem sonstigen sozialen 
Lebensgang des erwachsenen Alters noch begegnen. Dies liegt 
nicht in erster Linie daran, daß z. B. der später neurotische Mensch 
durchschnittlich andere oder schwerere psychische Traumen in 
seiner Kindheit erlebt hätte. Es liegt vielmehr daran, 
daß der körperlich biologisch bedingte puberale Instinktwandel 
beim normalen Menschen dem kindlichen Erlebnismaterial einen 
großen Teil seines Affektwertes entzieht, wodurch es dann mit 
wenigen Ausnahmen entweder bedeutungslos oder überhaupt ver- 
gessen wird. Wo aber infantile oder juvenile Instinkthaltungen 
persistieren, da persistieren auch Teile des entsprechenden Erlebnis- 
materials, der zugehörigen lebenszeitlichen Schicht mit unver- 
minderter und selbst betonter affektiver Dynamik. Die Pubertät 
ist die biologisch entscheidende Cäsur. Der ausgereifte Mensch ist 
von seiner kindlichen Psyche wie durch einen Graben getrennt, 
deutlich distanziert und rechnet sie wie etwas Halbfremdes nur 
noch bedingt zu seinem aktuellen Ich. Soviel aber beim konsti- 
tutionell Retardierten von seinem frühen Gefühlsleben über die 
Pubertät hinaus erhalten bleibt, soviel bleibt auch vom Erlebnis- 
material der Vorpubertät lebendig, aktuell wirksam und im ungün- 
stigen Falle pathogen. Die Begrenzung unseres Themas erlaubt 
es uns heute nicht, die tiefen Auswirkungen dieser Erkenntnisse 
auf die verschiedenen Hauptgebiete der Psychotherapie und die 
Begriffsbildung der Neurosenlehre weiter zu entwickeln. 

Man muß sich aber klarmachen, welch tiefgreifende Auswir- 
kungen die biologische Variantenbildung bei einem einzigen solchen 
Grundvorgang, wie der Pubertät haben muß in Richtung auf die 
Frage, wie weit ein Mensch im späteren Leben Verständnis beı 
seinen Nebenmenschen findet und wie weit er selbst aus seinem 
Instinktuntergrund heraus in der Lage ist, andere zu verstehen 
und sich ihnen anzupassen. 

Wo auf der körperlichen Seite Infantilismen und Juvenilismen 
überdauern, da überdauern in der geistigen Welt ihres Trägers 
Kinderträume und Pubertätsideale, zärtliche Schwärmereien nicht 
nur, sondern vor allem auch pathetischer Schwung, Proteste und 
trotzige Auflehnung gegen das Ehrfurchtgebietende, Beständige, 


238 Ernst Kretschmer, Konstitutionelle Retardierung usw. 


Gefestigte und Autoritative. Beim Durchschnittsmenschen ver- 
pufft dies alles in nutzlosen Reibungen und Verständniskrisen im 
‚engen Rahmen von Beruf und Familie. — Bei Hochbegabten aber 
werden dieselben biologischen Mechanismen zum Motor einer 
hochgespannten geistigen Aktivität, sie werden zu soziologi- 
schen Verständniskrisen. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von 
Puerperal-Psychosen 


Von 
E. Beckmann 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen Universität. 
Direktor: Professor Dr. Bürger- Prinz) 


(Eingegangen am 11. Mai 1939) 


Die Arbeiten (Steinmann, Römer und Schröder), die sich in den 
letzten Jahren mit den Puerperalpsychosen (P.Ps.) beschäftigt 
haben, bemühen sich um die Aufteilung der anscheinend so viel- 
gestaltigen Krankheitsbilder an die drei großen diagnostischen 
Formenkreise, die Schizophrenie, das M. d. I. und die exogenen 
Psychosen. 

In verschieden starkem Maße werden von den Autoren die Ana- 
lyse des Zustandsbildes, die erbbiologische Betrachtungsweise und 
die Ergebnisse von Katamnesen dabei herangezogen. 

Die Beschreibung von P. Ps. taucht außerdem noch auf in der 
Diskussion über das Problem der exogenen Schizophrenien, wie sie 
von Bonhoeffer angeregt und von Leonhard weitergeführt worden 
ist. 

Die vorliegende Arbeit läßt bewußt das Problem der Zuordnung 
zum endogenen, bzw. exogenen Formenkreise außer acht. Unsere 
Aufgabe wurde zunächst als rein katamnestische aufgefaßt. 

Als Ausgangsmaterial dienten sämtliche Fälle von geistigen Er- 
krankungen, die in der Zeit des Puerperiums manifest wurden, 
unabhängig von der zur Behandlungszeit gestellten Diagnose. Es 
sollte untersucht werden, ob auf Grund der Katamnesen Richt- 
linien für die Prognose dieser Krankheitsbilder zu finden seien. 
Im Verlauf der Untersuchungen ergab sich dann noch als weitere 
Frage, ob irgendwelche Gemeinsamkeiten in den Zustandsbildern 
zu erkennen waren, die den Psychosen im Wochenbett ein be- 
stimmtes Gepräge verleihen. Die Anlage der Arbeit schließt die 
Erörterung der Frage aus, ob es sich dabei um eine krankheits- 
spezifische Symptomatik oder lediglich um einen Praedilektions- 
typ der Erscheinungen handelt. 


240 E. Beckmann 


Im bisherigen Schrifttum werden über den Verlauf der P. Ps. 
die unterschiedlichsten Ansichten vertreten. Es zeigt sich jedoch, 
daß die Divergenz der Meinungen eine gewisse Regel erkennen 
läßt, die in der folgenden, einer Arbeit von Hoppe entnommenen 
Tabelle zum Ausdruck kommt: 


Tabelle I. 

Namen Geheilt Gebessert | Ungeheilt Gest. 
Burrow 1828........ 60,4% —,— 19,3% 19,3% 
Gundry 1860........ 51,6% 10,4% 27,6% 10,4% 
Tuke 1865 .......... 76,7% —,— 9,5% 10,9% 
Leidesdorf 1865 ..... 57,0% —,— —,— —,— 
Holm 1874 ......... 43,1% 27,5% 8,6% 8,6% 
Stonehouse ......... 60,0% —,— 26,7% 13,3% 
Weber 1879 ........ 60,6% 6,0% 15,0% 3,0% 
Ripping 1877 ....... 46,3% 11,0% 30,5% 4,7% 
Schmidt 1881 ....... 39,3% 17,8% 32,6% 10,3% 
Porporati 1879 ...... 69,2% —,— —,— —,— 
Clark 1887 .......... 75,0% —,— 6,3% 18,729 
Leod 1887 .......... 76,2% —,— 14,8% 9,025 
Hoppe 1892 ........ 56,0% 9,0% 30,0% 5,0% 


In dieser Tabelle sind die Beobachtungen über den Verlauf von 
P. Ps. niedergelegt, die bis etwa 1892 veröffentlicht worden sind. 
Stellt man nach denselben Gesichtspunkten die nach diesem Zeit- 
punkt veröffentlichten Ergebnisse zusammen, so ergibt sich fol- 
gende Tabelle II: 


Namen | Geheilt Gebessert | Ungeheilt Gest. 
Jaffe 1905 ......... 9 6 9 4 
Reinhardt 1907 ..... 49 17 59 17 
Hermes 1908 ........ 10 5 h — 
Zeiß 1912 .......... 8 18 8 A 


Trotz der verschiedenen Berechnungsart (Prozentzahlen bzw. 
absolute Werte) läßt schon ein Blick auf die beiden Tabellen er- 


| 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 241 


kennen, daß die relative Zahl der Verstorbenen innerhalb geringer 
Grenzen schwankt. (In den Statistiken sind die Fälle nicht mit 
aufgeführt, die an einer einwandfreien Komplikation des Wochen- 
bettes, in erster Linie an einer Puerperalsepsis, verstorben sind). 
Versucht man die Durchschnittswerte aus den beiden Gruppen 
zu vergleichen, so ergibt sich die III. Tabelle: 


| Geheilt | Gebessert | Ungeheilt Gest. 
Bis 1900: .......... 58,3% 7,5% 23,4% 7,6% 
Seit 1900: ......... 38,4% 22,0% 28,725 11,1% 


Diese Aufstellung zeigt, daß auch die relative Zahl der Unge- 
heilten in beiden Gruppen eine erhebliche Ähnlichkeit aufweist. 
Dagegen treten ganz erhebliche Verschiebungen in dem Verhältnis 
der Geheilten zu den Gebesserten auf. Mit anderen Worten: die 
Tatsache, daß die Zahl der eindeutigen Ausgänge sich so weit- 
gehend ähnlich geblieben ist, läßt darauf schließen, daß die Diffe- 
renz der übrigen Resultate weniger einer wirklichen Änderung im 
Verlauf der P.Ps. entspricht, als gewissen Wandlungen der psy- 
chiatrıschen Anschauungen. 

Die neuere Literatur weist einen wesentlich größeren Prozent- 
satz von nur Gebesserten auf, während die älteren Autoren bei 
einer größeren Anzahl völlige Heilung festgestellt haben. Der 
Grund hierfür dürfte wohl darin zu suchen sein, daß sich seit den 
Zeiten Hoche’s und Fürstner’s die gültigen Kriterien für die völlige 
geistige Gesundheit eines Menschen für viele Psychiater geändert 
haben. Unter dem Einfluß vor allem der Bleuler’schen Schizo- 
phrenielehre wurde ein leichter psychotischer Defektzustand weit 
eher angenommen, als früher. Überblickt man die Krankenge- 
schichten der letzten Jahre, so findet man häufig Angaben über 
„Defektheilungen‘“. Zur Kennzeichnung der Symptome, aus denen 
solche Ausgänge erschlossen werden, entnehmen wir unserem Ma- 
terial folgende Beispiele: 


1. (Fall 22): 


„Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen scheinen abgeklungen zu sein 
Pat. ist still, gehemmt, erscheint dement‘. 

Wenige Tage später: 

Stimmung indifferent, meist ordentliches Verhalten, Intelligenz beträcht- 
lich herabgesetzt“. 

Entlassung unter der Diagnose: Amentia mit Ausgang in Dementia. 


242 E. Beckmann 


2. (Fall 14): 


‚„Albern fragende, läppische, affektschwache Kranke, die keine gesunden 
Interessen hat. Die Sprache ist deklamierend geziert‘“. 
Entlassung unter der Diagnose: Dementia praecox. 


3. (Fall 17): 

„Das Verhalten der Kranken ist etwas zu kindhaft und unbeschwert heiter. 
Eine gewisse Affektlabilität, ein teilweiser Verlust der inneren Grazie, (der 
durch einen geschraubten Briefstil erklärt wird), sind unverkennbar“. 

Entlassung unter der Diagnose: Leichter schizophrener Schub. 

Aus den Veröffentlichungen der letzten Zeit lassen sich folgende 
Beispiele anführen: 

1) In einem Falle der Literatur wird die Diagnose: ‚‚Schizophrenie‘‘ aus 
dem ‚‚leichten Defekt“ gestellt, den man nur ‚‚bei Kenntnis der Vorgeschichte 
wahrnehmen‘ könnte, ‚sonst sei die Erhaltung der Persönlichkeit auffallend 

E | 
= 2. In einer weiteren Arbeit wird die Diagnose ‚Schizophrenie‘ wie folgt be- 
gründet: 

„Jedoch zeigen sich in dem Krankheitsbild Züge, die auf Dementia praecox 
hindeuten. Besonders auffällig ist das häufige alberne Lachen, der gelegentliche 
Mutismus und die Haltungsstereotypie, nämlich die Lage im Bett mit steif- 
gehaltenem Kopf, für die die Kranke später keine Motivierung hat“. 

Oder aber 3) 

Hier wird der ‚‚schizophrene Defekt“ aus folgenden Zügen diagnostiziert: 

„Ein alberner kindischer Zug macht sich in ihrem Wesen bemerkbar, sie 
sei krank gewesen, sie habe viel Arger gehabt. Beschäftigt sich fleißig‘. 

Begründung der Diagnose: 

„Es findet sich das häufige alberne Lachen, der Mutismus, dazu gesellt 
sich Negativismus, der sich in absichtlich falschen Antworten äußert“. 

Nicht minder bedeutsam erscheint uns ein zweiter Grund: 

Die Psychosen sind in den letzten Jahrzehnten nicht so lange 
beobachtet worden, wie es früher der Fall gewesen ist. Bei den 
älteren Autoren wurden die Kranken bis zu 2!/, Jahren in statio- 
närer Behandlung belassen. Den neueren Arbeiten zufolge wurden 
bereits nach kürzerer Zeit, nach höchstens bis zu 9 monatiger 
Beobachtung endgültige Diagnosen gestellt. 

Die Nachuntersuchungen, die den Gegenstand der vor- 
liegenden Arbeit bilden, umfassen ein Material aus einem 
Zeitraum von 20—1 Jahr nach Ausbruch der Erkran- 
kung. Mit 4 Ausnahmen wurden alle Frauen von uns selbst ge- 
sehen, zum Teil wurden sie in der Klinik untersucht, zum andern 
Teil aber in ihren Häuslichkeiten aufgesucht. Bei den 4 Ausnahmen 
lagen z. T. Anstaltsberichte vor, z. T. wurden zuverlässig erschei- 
nende Angaben der Angehörigen gemacht. 

Das Problem der Erkennung einer vollkommenen und defekt- 
losen Heilung trat selbstverständlich auch uns entgegen. Vor 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 243 


kurzem hat sich G. Langfeld anläßlich seiner katamnestischen Un- 
tersuchungen bei Schizophrenen wieder mit dieser Frage ausein- 
andergesetzt. Die Kriterien, die wir zur Annahme einer völligen 
Heilung verwendeten, entsprechen weitgehend denen Langfeld’s. 
Voraussetzung war die völlige Wiedereinordnung in Haushalt und 
Beruf, sowie die Angaben der Angehörigen, daß die frühere Per- 
sönlichkeit wieder hergestellt sei. Ebenso selbstverständlich war 
für uns das völlige Freisein von accessorischen Symptomen wie: 
Wahnideen, Sinnestäuschungen und Denkstörungen. Für wirklich 
entscheidend hielten wir die völlige Wiederherstellung des An- 
triebs- und Affektlebens, sowie die Unauffälligkeit im motorischen, 
sprachlichen und mimischen Ausdrucksverhalten. Experimentelle 
Untersuchungen zur Erkennung ‚‚feinster schizophrener Defekte‘‘, 
wie sie von Langfeld mit dem Sprichworttest versucht wurden, 
haben wir allerdings nicht angewendet, da diese Methode beim 
Fehlen anderer Symptome kaum zu entscheidenden Ergebnissen 
führen kann. 


Unser Material umfaßt 35 Frauen. Es ergaben sich nun folgende 
Verlaufstypen: 


1. Heilung. 


2. Heilung — aber späteres Wiederauftreten einer Psychose. 
a) Wiederauftreten einer erneuten P.Ps. 
b) Wiederauftreten einer Psychose ohne Zusammenhang mit dem 
Puerperium. 


3. Ausgang in einen Defektzustand. 


4. Tödlicher Ausgang: 
a) an einer Komplikation des Wochenbettes, 
b) mit finaler Bronchopneumonie, 
c) als unmittelbare Folge der Psychose. 


Im Gegensatz zu den übrigen Arten fehlt bei uns die Rubrik 
der Gebesserten vollständig. Die Gründe hierfür sind bereits ın 
dem oben Ausgeführten angedeutet: es handelt sich bei unseren 
Untersuchungen nicht um Entlassungsbefunde, sondern um Ka- 
tamnesen, die zum größten Teil viele Jahre nach Ausbruch der 
Erkrankung erhoben worden sind. Bei der Entlassung entsprach 
der Anteil der Gebesserten durchaus dem im Schrifttum üblichen. 

Folgende Tabellen veranschaulichen die Verhältnisse: 


Tabelle IVa: 
Geheilt Gebessert Ungeheilt Gestorben 
Bei der Entlassung: 10 10 5 10 


244 E. Beckmann 


Tabelle IVb 


Geheilt Rezidive Defekte Gestorben 
a) P.Ps. b) Ps. a) b)o. 


Kompl. Kompl. 
Bei der Nachunter- 


suchung: 19 1 (3) 3 2 7 3 


Die Gruppen überschneiden sich insofern, als von den rezidi- 
vierenden P.Ps. zwei bei der zweiten Psychose gestorben sind. 
Die Zahlen sind in Klammern angegeben. 

Wie unsere letzte Tabelle zeigt, überwiegen unter den Über- 
lebenden die günstigen Verläufe in einer auffälligen Weise. 

Die Dauer der Psychosen, soweit sie sich aus den Katamnesen 
erschließen läßt, war allerdings sehr unterschiedlich. Sie betrug bei 
12 Kranken bis zu 6 Monaten, bei 6 Kranken bis zu 1 Jahr, bei 
2 Kranken bis zu 2 Jahren und schließlich in einem Fall (Fall 23) 
sogar 3 Jahre. Auf die lange Dauer der günstig ausgehenden P.Ps. 
haben die älteren Autoren oft aufmerksam gemacht. In letzter 
Zeit ist von Bonhoeffer und Leonhard wieder darauf hingewiesen 
worden. 

Einen besonders interessanten Verlaufstypus stellen die rezi- 
divierenden Psychosen dar. In zwei aufeinanderfolgenden 
Wochenbetten traten P.Ps. auf, zwischen denen, soweit anam- 
nestisch erschließbar, symptomfreie Intervalle von unterschied- 
licher Dauer lagen. (Fall 20, 30, 31). Die Kranke, die die zweite 
Psychose überlebte (Fall 20), ıst wieder geheilt. Die andere Gruppe 
von Rezidiven trat außerhalb des Puerperiums auf. Bei Fall 23 
handelte es sich bei dem Rezidiv um eine Depression, die innerhalb 
der Involution auftrat und in deren Verlauf die Kranke gestorben 
ist. Bei Fall 21 trat nach einem Intervall von 10 Jahren eine de- 
pressive Psychose mit paranoider Färbung auf, die nach einer 
kurzen Besserung auch jetzt noch 5 Monate nach Ausbruch der 
Erkrankung besteht. Interessant ist Fall 22, der 1918 erstmalig 
mit einer P.Ps. und 1921 mit einer zweiten P.Ps. erkrankte und 
nach einem Jahr angeblich völliger geistiger Gesundheit mit einer 
Reihe von psychotischen Phasen erkrankte, die wieder von symp- 
tomfreien Intervallen unterbrochen wurden. Jede einzelne dieser 
Phasen ist als Schizophrenie diagnostiziert worden. Trotzdem lassen 
das Krankenblatt und die Angaben des Ehemannes keinen Zweifel 
an der überwiegend aflektiven Färbung des Bildes, für die auch 
der Suicid während der letzten Phase spricht. Wenn man die 
Psychose in einen der üblichen Formenkreise einordnen will, scheint 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 245 


uns die Zuordnung zum M.d.I. berechtigter, als zur Schizophrenie. 
In der Symtomgestaltung unterscheiden sich die Rezidive eindeutig 
von den in den Puerperien aufgetretenen Psychosen: Während 
bei den Letzteren ein amentielles Stadium unverkennbar ist, setzen 
die Rezidive von vornherein unter dem typischen Bilde einer 
endogenen Psychose ein. 

Selbst die schweren psychotischen Erregungszustände im Fall 22 
wurden bei der Katamnese von den Angehörigen als wesentlich 
anders geschildert als die Puerperalpsychose. 

Die beiden chronisch gewordenen Psychosen unterscheiden sich, 
wie aus den Berichten hervorgeht, in nichts von einem Endzustand 
der Dementia praecox. 

Von den 10 Gestorbenen sind 7 an einer autoptisch nachge- 
wiesenen Komplikation gestorben. Es handelt sich 4 mal um 
eine Puerperalsepsis und 3 mal um eine Bronchopneumonie. Her- 
vorzuheben aber sind die übrigen 3 Fälle (Fall 33, 34, 35). bei 
denen die Sektion keinen pathologischen Befund außer einer leich- 
ten Hirnschwellung ergeben hat. Auf diese wird später eingegangen 
werden. 

Wie schon eingangs der Arbeit erwähnt, hat man in der letzten 
Zeit die P.Ps. überwiegend unter dem Gesichtspunkte der drei 
großen Formenkreise der heutigen Psychiatrie gesehen. In allen 
Veröffentlichungen ist hervorgehoben worden, daß die Zuordnung 
der einzelnen Psychosen zu diesen Formenkreisen sehr schwierig 
sein könne, daß Übergänge und Mischbilder vorkämen und oft 
erst der weitere Verlauf die Diagnose klären könne. Dabei ist den 
Arbeiten immer wieder die Überzeugung zu entnehmen, daß die 
als exogen anzusehenden Fälle von Amentia sehr selten seien. So 
behauptet Winter, daß er unter 69 Fällen keine reine Amentia 
beobachtet habe. 

Die Schwierigkeiten in der Differentialdiagnose haben zweifellos 
ihren Grund darin, daß die weit überwiegende Mehrzahl der P.Ps. 
wenigstens in ihrem Beginn eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten 
aufweisen, die zunächst für die den späteren Verlauf charakte- 
rıstischen Züge überdecken. 

Versucht man nun, die Gesamtheit der Fälle unter Zurück- 
stellung der Frage: exogen oder endogen ?, manisch-depressiv oder 
schızophren ? zu betrachten, so erhebt sich die Frage, ob sich 
nicht unabhängig von den anlagemäßigen oder konstellativ-patho- 
genetischen ein formaler Idealtyp des Ablaufes der P.Ps. 
finden läßt. Unser Material scheint diese Frage zu bejahen. Wir 
glauben, daß viele Schwierigkeiten in der Betrachtungsweise da- 


246 | E. Beckmann 


durch überwunden werden, wenn man versucht, den Ablauf 
der P.Ps. in eine Reihe von Stadien einzuteilen, wie es 
bei der Betrachtung gewisser exogener Psychosen seit langer Zeit 
üblich ist. 

Der Beginn der Krankheit kommt aus erklärlichen Gründen 
fast nie zur psychiatrischen Beobachtung). Für die Zeit nach der 
Geburt erwähnt Fürstner mit einigen Worten ein Prodromalsta- 
dium. In unseren Fällen ist dieses Prodromalstadium nur aus den 
Angaben der Angehörigen zu erschließen, die natürlich nicht immer 
ausreichend sind. Es wurden Prodromalsymptome geschildert, die 


z. T. Wochen, z. T. Tage oder gar nur Stunden hindurch bestanden 
haben. | 


Die Frauen äußern verschiedene körperliche Beschwerden, die sich haupt- 
sächlich in Herzsensationen — Kopfschmerzen, sowie Schwindelgefühlen dar- 
stellen. Sie werden ihrer Umgebung gegenüber empfindlich, leicht reizbar und 
verstimmt. (Fall 7, 11, 12, 13, 14, 15.) Wenige Tage, manchmal nur Stunden 
später, werden sie auffällig ängstlich, laufen unruhig herum, — oft finden 
wir die Aussage der Angehörigen: ‚Sie war gar nicht ganz bei sich“. Nun 
entwickelt sich in verschieden langer Zeit aus diesem Bild eine ausgesprochen 
ängstliche Unruhe, die sich bis zu schweren psychomotorischen Erregungen 
steigern kann. Dies ist meistens der Zeitpunkt, an dem die Kranken zur Auf- 
nahme gelangen. 

Die Frauen sind dann psychomotorisch äußerst unruhig. (Fall 1, 3, 7, 9, 
u.a.). Auffällig ist das völlige Ausgeliefertsein an ihre rasch wechselnde Stim- 
mungslage (Fall 1, 3,7, 9, u. a.), sowie die deutliche Bewustseinstrübung, bzw. 
Bewußtseinseinengung (Fall 1, 10, 14, 17). Die sprachlichen Äußerungen sind 
entsprechend dem raschen Wechsel des Bildes zusammenhanglos, oft als ideen- 
flüchtig (Fall 4, 11, 14, u. a.), oft als incohaerent zu bezeichnen (Fall 6, 8, u. a.). 
Es ist wohl eindeutig, daß man dieses Stadium der Psychose als ein amentielles 
Bild im Sinne Meynert’s bezeichnen kann. 


Bis auf 2 Ausnahmen ist dieses Zustandsbild in allen unseren 
Fällen in voller Deutlichkeit ausgeprägt gewesen (vgl. unten). 
Die Dauer dieser Durchgangsphase ist: außerordentlich wech- 
selnd, und ist oft, jedoch nicht immer, von den das Wochenbett 
begleitenden Komplikationen abhängig. Wird das amentielle Sta- 
dium überstanden, so klingt es allmählich ab, um einer motorischen 


Beruhigung Platz zu machen. Die Äußerungen der Kranken werden 
zusammenhängender und verständlicher. 


1) Bei 9 Fällen wird von Verstimmungen berichtet, die schon während der 
Schwangerschaft bestanden haben sollen. Es ist sehr selten mit genügender 
Sicherheit zu erfahren, inwieweit diese Symptome über die üblichen Beschwer- 
den einer normalen Schwangerschaft hinausgegangen sind. 

Da diese Fälle sich prinzipiell im weiteren Verlauf nicht von den übrigen 
unterscheiden, kann das Problem der Vorstadien während der Schwanger- 
schaft hier unberücksichtigt bleiben. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 247 


Während dieses Überganges finden sich bei einer Reihe beson- 
ders gut beobachteter Fälle, z. T. allerdings nur aus Berichten 


des Pflegepersonals erschließbar, ein mehr oder weniger. ausge- 


prägtes paranoid-halluzinatorisches Bild. Wir erfahren von 


. den Kranken, die nun voll orientiert und auch gut ansprechbar 


a 


m en 


w a- — 


en 


sind, daß sie von Stimmen belästigt werden, die sie bedrohen und 
beschimpfen. Gleichzeitig werden in mehr oder minder deutlichem 
Maße Beziehungsideen geäußert, wie: 
„Daß sie durch Gas vergiftet würden, daß man sie mit Strömen 
und Hypnose beeinflusse‘‘. (Fall 1, 2, 5, 6, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 16). 
Wir glauben, daß dieses Stadium, das anscheinend oft sehr 
flüchtig sein kann, häufiger zu beobachten ist, als es in dem vor- 
liegenden Material den Anschein hat. Im weiteren Verlauf der 
Psychose tritt mit der vollständigen Wiederherstellung der Bewußt- 
seinsklarheit und der gedanklichen Ordnung die gesamte übrige 
Symptomatik in den Hintergrund gegenüber der stimmungs- 
mäßigen Komponente. Die Stimmung, die eben noch rasch 
wechselnd vom Heiteren ins schwer Ängstliche umgeschlagen ist, 
wendet sich nun eindeutig nach der einen oder der anderen Seite. 
Vorwiegend wird das Hineingleiten in einen bedrückten Affekt 
mit schwerer Hemmung beobachtet. Aus den noch eben ver- 
worrenen Äußerungen heben sich mehr und mehr schwere Selbst- 
vorwürfe hervor. Die Bewegungen werden immer langsamer und 
können in manchen Fällen einer Akinese bis zum Stupor weichen. 
(Vergleiche vor allem die Krankengeschichten von Schröder und 
Fall 1—9, bes. 6). Den schwer gequälten Kranken geht während 
dieser Zeit die Verbindung mit ihrer Umgebung verloren, hinzu 
tritt Nahrungsverweigerung, ein widerstrebendes Verhalten, oft 
sind sie unrein. Erst nach Ablauf von Wochen — Monaten oder 
Jahren! lockert sich dieses Bild auf, um schließlich, wie wir aus 


' den Katamnesen erfahren haben, oft erst nach der Entlassung zu 


völliger Gesundung zu führen. (Fall 2, 3, 4, 7, 9). 

Die Schnelligkeit, mit der sich ein derartiges eben noch schwer 
gehemmtes Verhalten nach der Entlassung auflockert, ist ein Um- 
stand, der zu denken geben sollte! 

In anderen Fällen bleibt bei zunehmender Orientierung die Be- 
wegungsunruhe bestehen, während die Stimmung mehr und mehr 
gleichbleibend gehoben, euphorisch wird. Der Gedankenablauf ist 
äußerst beschleunigt, wirkt oft sprunghaft zerfahren. In ihrer Be- 
triebsamkeit und oft leeren Art, unzusammenhängendes Zeug her- 
zuleiern, wirken diese Kranken „läppisch und affektschwach‘, wie 
wir es häufig in den Krankengeschichten lesen. (Fall10—17, bes. 14). 


248 E. Beckmann 


Beim Abklingen der Psychose tritt zuerst eine weitgehende Ord- 
nung der Gedankengänge ein, während die Stimmungslage noch 
verändert und das Ausdrucksverhalten der Kranken noch über- 
trieben und geziert bleibt. Auch hier erfolgte bei den meisten 
unserer Fälle die völlige Genesung erst nach der Entlassung. 
(Fall 12, 14, 15, 17). 

Bei zweien unter unseren Kranken läßt sıch in der Vorgeschichte 
ein amentielles Stadium nicht mit Sicherheit nachweisen (Fall 18, 
19). Bei Fall 19 findet sich allerdings die Angabe, daß die Kranke 
im Beginn der Psychose vorübergehend desorientiert gewesen sei. 
Bei Fall 18 ist im Beginn lediglich von einer ‚seelischen Verän- 
derung“ die Rede. Sicher ist aber, daß bei beiden Kranken die 
Verwirrtheit und Erregung schon sehr früh stark ın den Hinter- 
grund traten gegenüber einem rein depressiven Zustandsbild, das 
in völlige Genesung überging. 

Es erscheint durchaus möglich, daß Fälle von dieser Verlaufs- 
art erheblich häufiger sind, als es nach unserem Material den An- 
schein hat. Die Vermutung liegt nahe, daß sie als einfache ‚‚endo- 
gene Depressionen‘‘ diagnostiziert worden sind und somit nicht 
in unserem Material erscheinen. 

Andererseits ist es ebensogut denkbar, daß das amentielle Sta- 
dium besonders kurz dauernd ist, oder daß es in einem nichtpsychi- 
atrischen Krankenhause nicht beachtet wird. Der Psychiater sieht 
dann lediglich das depressive Ausgangsstadium und läßt es somit 
bei der Diagnose: „endogene Depression‘‘ bewenden. 

Eine gewisse Sonderstellung nehmen die beiden chronisch 
gewordenen Fälle ein. Zwar sind auch hier in den ersten Zeiten 
der Psychose Erregungszustände beschrieben, die Schilderungen 
iassen jedoch nicht erkennen, ab es sich um die vorher charakteri- 
sierten amentiellen Zustände gehandelt hat. Auffällig ist aber, daß 
im Beginn der Krankheit bei beiden Fällen deutlich Temperaments- 
symptome, in Form einer depressiven Verstimmung beobachtet 
wurden, die relativ lange anhielten. Dann allerdings trat mehr und 
mehr die charakteristische, affektive Entleerung des Endzustandes 
ın Erscheinung (Fall 24 und 25). 

Bei den Gestorbenen läßt sich wieder eine weitgehende Über- 
einstimmung mit dem oben beschriebenen formalen Idealtyp des 
Ablaufes der P.Ps. feststellen. Selbstverständlich wird in diesen 
Fällen das Bild des Endstadiums der Psychose durch den bevor- 
stehenden letalen Ausgang bestimmt. Es ist ohne weiteres ver- 
ständlich, wenn wir in einer Reihe von Fällen (Fall 26, 27, 28, 29) 
subfinal das eindeutig exogene Bild des Delirs finden. Fast immer 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 249 


läßt sich jedoch deutlich erkennen, daß dem Delir amentielle, ja 
sogar paranoide Bilder vorausgingen (Fall 26, 27, 29). Bei einem 
Fall ist der Krankheitszustand allerdings von Beginn an als vor- 
wiegend delirant beschrieben (Fall 28). 

Finale Delirien sind also in 4 Fällen beobachtet worden. Es 
sind die gleichen Fälle, bei denen autoptisch die Annahme einer 
Puerperalsepsis bestätigt wurde. 

Etwas anders gestaltet sich das Bild bei den drei Frauen, bei 
denen als Todesursache eine Bronchopneumonie nachgewiesen 
wurde (Fall 30, 31, 32). Der Beginn der Psychose bietet nichts 
Abweichendes. Es fehlt aber der Übergang in ein finales Delir. 
Dagegen findet sich in allen drei Krankengeschichten die Angabe, 
daß sich der Verlauf der Psychose die motorische Erregung mehr 
und mehr gesteigert habe, bis mit dem Einsetzen der Agonie ein 
soporöser Zustand mit entsprechendem Abflauen der Unruhe auf- 
getreten sei. Der Temperaturverlauf ist uncharakteristisch: Bei 
Fall 32 bestanden die Temp. schon vor der Aufnahme, bei Fall 30 
traten sie 5 Tage und bei Fall 31 6 Tage vor dem Tode auf. Ob 
und inwieweit die autoptisch nachgewiesene Bronchopneumonie 
für die Temperaturbewegung und für den tödlichen Ausgang ver- 
antwortlich zu machen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung 
über den Rahmen dieser Arbeit hinausgeht!). 

Die Symptomatik der Kranken mit Bronchopneumonieen gleicht 
ın allen wesentlichen Zügen der der letzten Gruppe. Bei diesen 
Kranken ist die Temperatur erst im Verlauf der Psychose ange- 
stiegen und zwar gleichlaufend mit einer schweren Hyperkinese, 
die durch keine Beruhigungsmittel zu bekämpfen war. Mit zu- 
nehmender Austrocknung und Verschlechterung des Allgemein- 
zustandes ist dann unter dem Zeichen des peripheren Vasomotoren- 
kollapses der Tod eingetreten. 

Die Krankenblätter lassen keinen Zweifel darüber, daß es sich 
um Zustandsbilder gehandelt hat, wie Scheidt sie als „akute febril- 
eyanotische Episoden‘ beschrieben hat. In einer neueren Arbeit 
hat Scheidt analoge Fälle bei P.Ps. bereits erwähnt. Der Beginn 
dieser schweren tödlichen, hyperkinetischen Form der Puerperal- 
erkrankungen ist in zwei von den drei Fällen dadurch besonders 
charakterisiert, daß die Psychose ungewöhnlich plötzlich auftrat 
und einen foudroyanten Verlauf nahm (Fall 34, 35). Die dritte 
hatte allerdings ein recht langes Vorstadium (Fall 33). 


1) Zu dieser Frage soll in einer demnächst erscheinenden Veröffentlichun:z 
der hiesigen Klinik Stellung genommen werden. 
17 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3,4. 


250 E. Beckmann 


Überblickt man abschließend die Gesamtheit der dargestellten 
Fälle, so erkennt man, daß ausschließlich exogene oder ausschließ- 
lich endogene Zustandsbilder nur bei einer sehr geringen Minder- 
heit beobachtet worden sind. Bei der überwiegenden Mehrzahl er- 
gibt der Verlauf, daß zeitweilig Zustandsbilder bestanden, die al: 
exogene bezeichnet werden müssen. Es finden sich Bilder, die 
allen Beobachtern als einwandfreie Amentien imponiert haben. 
Aus der Darstellung vieler Krankenblätter geht allerdings hervor, 
daß die Frage exogen — endogen? nicht diskutiert worden ist. 
sondern daß die diagnostische Entscheidung vom Ausgangsstadium 
aus getroffen ist. In allen Fällen lassen aber die Krankenblätter 
deutlich erkennen, daß es sich wenigstens um Bilder gehandelt 
hat, wie sie Bostroem als ‚„verworrene Manie“ unter dem Hinweis 
auf die exogene Mitverursachung geschildert hat. Andererseits ist 
es aber auch unbestreitbar, daß zu anderen Zeiten der Zustand 
nicht von einer endogenen Psychose unterscheidbar war. Diese Zu- 
standsbilder folgen aufeinander in einer bestimmten Weise insofern, 
als der Beginn der Psychose fast ausnahmslos ein exogenes Ge- 
präge, der Ausklang dagegen eindeutig endogenen Charakter trägt. 
Und zwar schält sich bei dem Ausklingen der Psychose immer 
mehr ein rein temperamentsmäßig gefärbtes Bild heraus; dabei 
handelt es sich sowohl um depressive wie um manische Zustände. 
Zwischen diesen beiden Polen des amentiellen Beginnes und des 
temperamentsgefärbten Ausklanges befindet sich ein Übergangs- 
stadium, das überwiegend von paranoiden und halluzinatorischen 
Symptomen beherrscht wird. Oft lassen sich hier deutlich die 
Symptome einer ausklingenden Amentia neben ziemlich weitgehend 
systematisierten Beziehungsideen, Verbalhalluzinosen und gespannt 
mißtrauischer Affektlage bei oft sehr beherrschtem Ausdrucksver- 
halten beobachten. Im Ganzen gesehen zeigt der von uns skizzierte 
Verlaufstyp eine Reihe von Berührungspunkten mit dem von 
Büssow dargestellten Verlauf von Perniciosa-Psychosen. 


Ergebnisse 


1. Die Prognose ist bei den Psychosen des Puerperiums im All- 
gemeinen recht günstig. Katamnesen beweisen, daß auch der weit- 
aus überwiegende Teil der mit ungünstiger Prognose als defekt 
entlassenen Kranken nach kürzerer oder längerer Zeit in jeder 
Hinsicht unauffällig wird. 

2. Rezidive im Puerperium und Auftreten neuer psychotischer 
Phasen ohne äußere Veranlassung sind nicht selten. 


_... pamo E ET re EEE _ m — SEE AEG e m 


gel - -o e he 


= o M O 


—— . 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 251 


3. Die Zahl der Todesfälle, für die die Psychose als solche ver- 
antwortlich gemacht werden muß, liegt mit drei unter 35 Fällen 
in der Größenordnung der in der Literatur angegebenen zehn 
Prozent. 

4. Verhältnismäßig ist der Ausgang in einen schizophrenen De- 
fektzustand der seltenste. 

5. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Psychosen im Puer- 
perium läßt eine Reihenfolge verschiedener typischer Stadien er- 
kennen, die von einem Beginn mit rein exogener Symptomato- 
logie zu einem ebenso typisch endogenen Ausklang mit über- 
wiegender Beteiligung der aflektiven Seite führt. 


Krankengeschichten 


Fall 1. Frau A. (Nr. 65622) geb. 10. 3. 1899. 

Aus der Familienanamnese geht hervor: der Vater soll einen religiösen 
Wahn gehabt haben, er lebte getrennt von der Mutter. Ein Bruder des Vaters 
soll einen ‚‚Verfolgungswahn‘“ gehabt haben. Der Vater des Vaters soll ebenfalls 
nicht ganz normal gewesen sein. Von manifesten in Anstalten beobachteten 
Geisteskrankheiten ist jedoch nichts bekannt. Aus der Vorgeschichte der 
Frau A. geht nach Angaben der Mutter hervor,, daß sie von ihrem 15. Lebens- 
jahr ab sich sehr viel mit religiösen Dingen beschäftigt habe. Seit ihrem 
27. Lebensjahr gehört sie der Sekte der Methodisten an. ‚Im Hause sei sie 
jedoch zuverlässig und fleißig‘. 

1922: I. Partus (Zwillinge) verläuft ohne Besonderheiten. 

1923: Heirat. 

1925: III. Partus (Frühgeburt m. VI) verläuft ohne Besonderheiten. 

1927: IV. Partus (Abort) verläuft ohne Besonderheiten. 

Jetzt: 

Am 2.5.1929 macht die 30 jähr. Frau A. ihren V. Partus durch, das Kind 
lebt und ist gesund. Am achten Tage nach der Geburt erkrankt sie an einer 
hochfieberhaften Thrombophlebitis li., die nach 6 Tagen auf das rechte Bein 
übergeht. Die Temperaturen schwanken zwischen 39,5° und 38,5%. Wie aus der 
Katamnese hervorgeht, beginnt Frau A. sich bereits am ersten Fiebertage, 
also 8 Tage nach der Geburt, alltägliche Dinge sehr zu Herzen zu nehmen. 
Sie habe damals nicht gewußt, ob sie jemals wieder gesund würde. 

Am 28.5.1929, also 26 Tage p. p. wird sie erst stärker psychisch auffällig. 
Wie der Bericht des Krankenhauses Bethanien lautet: ‚‚war sie erst jetzt 
psychisch auffällig“. Es setzt eine motorische Unruhe ein, innerhalb derer 
Frau A. äußerst stimmungslabil ist. Sie singt laut geistliche Lieder, redet dann 
wieder unzusammenhängend. Da sich die motorische Unruhe steigert, ınuß sie 
am 2.5.1929 in die hiesige Klinik mit der Diagnose ‚‚Erregungszustand in 
Wochenbett bei Thrombophlebitis‘ verlegt werden. Bei der Aufnahme bietet 
Frau A. noch das gleiche psychische Zustandsbild. Die Stimmung schlägt 
augenblicklich um, die Reden sind verworren, die motorische Unruhe klingt 
jedoch ab. Aus einer Mitschrift zitieren wir Folgendes: 

„Jch kann nicht mehr, das muß erlebt sein, was red ich nur fürn Blech, 
mir wirds immer klarer, ich kann nicht mehr, der Heiland, der ruft, o! mir ist 
17° 


252 E. Beckmann 


so wohl beim Heiland, der Teufel sitzt in mir, wie schön wie schön, daß ich 
jubeln darf, warum ruft der Heiland — — — — — — oh! mir wird so angst und 
bange, wo bin ich denn nur? — — — — — — 

Jn der folgenden Nacht klingt das Fieber ab, die Kranke wird wesentlich 
ruhiger, die Reden werden geordneter. Frau A. äußerst jetzt plötzlich, daß 
es vor der Tür tuschele, daß man sie holen wolle, sie zerschneiden wolle und 
alles rausreißen wolle. Gleichzeitig ist die Kranke jetzt zeitlich und örtlich voll 
orientiert. In den nächsten Tagen macht sich mit zunehmender Ordnung des 
Gedankenganges eine depressive Stimmung bemerkbar. Die Äußerungen sind 
jetzt Selbstvorwürfe wie: 

„oh ein zerbrochenes und zerlumptes Leben, nein, nein, mir kann man nicht 
mehr helfen“. 

Obgleich die Temperatur erneut anhand der Thrombophlebitis ansteigen 
bleibt Frau A. jetzt geordnet und zugänglich, wenn auch eine leichte Hemmung 
und angedeutet depressive Stimmungslage noch unverkennbar sind. 

Am 6. 6. 1929 wird sie nach Bethanien zurückverlegt und von dort, nachdem 
die Thrombophlebitis abgeklungen ist und gleichzeitig auch die Stimmungs- 
lage wieder ausgeglichen ist am 17.7. 1929, also 2 Monate und 7 Tage nach 
Beginn der Erkrankung als geheilt entlassen. Die Diagnose lautet: Puer- 
peralpsychose — Schizophrener Schub ? 

Bei der Nachuntersuchung macht Frau A. über die 9 Jahre nach ihrer Er- 
krankung folgende Angaben: 

Nach ihrer Entlassung sei sie gleich völlig arbeitsfähig gewesen. Sie habe 
auch keinerlei Stimmungsschwankungen mehr gehabt. 1935 habe sie ihren 
VI. Partus durchgemacht (Zwillinge). Die Geburt sei schwer gewesen und mit 
großem Blutverlust verbunden. 8 Tage p. p. habe sie eine Venenentzündung 
und eine Parametritis bekommen, die nach 4 Wochen abheilten. Psychisch 
trat keinerlei Veränderung auf. Frau A. macht einen warmen zugewandten 
Eindruck. Sie geht offensichtlich ganz in ihrem Haushalt auf. Ihre Pflichten 
werden von ihr stark religiös unterbaut, jedoch ohne den Anstrich des Krank- 
haften. 

Epikrise: 

8 Tage nach der Geburt setzt bei Frau A. mit dem Auftreten einer fieber- 
haften Krankheit die psychische Veränderung ein, die anfangs nur von ihr selbst 
bemerkt sich in einem Vorstadium mit leichter depressiver Färbung äußert. 
Erst 10. Tage später tritt ein massiver Erregungszustand auf, der mit seinen 
raschen Stimmungsschwankungen ein amentielles Gepräge hat. Über ein 
flüchtiges Übergangsstadium mit Beziehungsideen und akustischen Hallu- 
zinationen setzt dann eine weitgehende Ordnung des Ged nkenablaufes mit 
gleichzeitiger motorischer Beruhigung ein, die von einer deutlichen depressiven 
Verstimmung mit Selbstvorwürfen begleitet ist. Nach Abheilung der soma- 
tischen Erkrankung nach insgesamt gut zwei Monaten ist auch die Vertimmung 
wieder zurückgegangen und macht einer endgültigen Genesung Platz. Inner- 
halb eines Zeitraumes von 9 Jahren ist Frau A psychisch nicht wieder er- 
krankt oder auffällig geworden. Bei der Nachuntersuchung konnten keinerlei 
Defektsymptome festgestellt werden. 


Fall 2. Frau D. (Nr. 62068) geb. 4. 8. 1894. 


In der Familienanamnese ist nichts von Geisteskrankheiten bekannt. 
Aus der Vorgeschichte der Frau D. ist zu erwähnen, daß sie 
1923: den I. Partus (Abort) durchgemacht hat. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 253 


1924: II. Partus. Beide Male sind keine psychischen Störungen aufge- 
treten. 


Jetzt: 

Am 19. November 1927 findet der III. Partus statt. Aus den Angaben des 
Mannes erfahren wir, daß Frau D. bereits gegen Ende der Schwangerschaft 
verstimmt gewesen sei, daß sie sich zu nichts mehr habe aufraffen können. 

Im Wochenbett sei sie dann anfangs unauffällig gewesen, sei dann aber 
innerhalb von 18 Tagen zunehmend ängstlicher geworden, habe nach ihrer 
Entlassung aus der Entbindungsanstalt nichts mehr arbeiten können. Im 
Wochenbett sollen vorübergehende Temperaturen bestanden haben. Wegen 
ihrer zunehmenden Minderwertigkeitsideen wird die Kranke schließlich 4 
Wochen nach der Entbindung in die Privatklinik ‚‚Eichenhain‘“ eingeliefert. 
Dem dortigen Krankenblatt ist zu entnehmen, daß Frau D. zeitweise ver- 
wirrt gewesen sei, daß ihre Stimmung äußerst schwankend war, vorwiegend 
jedoch ängstlich gefärbt. Eine interkurrente Angina mit hohen Temperaturen 
bringt keine wesentliche Änderung in das psychische Zustandsbild. Ihre 
Äußerungen zeigen zeitweise eine heitere, glückliche Stimmung an: 

„Bin icn denn hier im Himmel, ihr seid ja alle so nett zu mir“ 
oder: 

‚‚O, wie freu ich mich, mir geht es ja so gut, oh wie freu ich mich, wie hab 
ich immer an allem gezweifelt, und nun ist wieder alles so schön, was soll ich 
nur tun vor lauter Freude“ 
dann wieder die schwer getriebene Angst: 

‚„.Jetzt nageln sie meinen Sarg zu, ich liege doch im Sarg“. 

Bis zum 1. Januar 1928 hält dieses vorwiegend amentielle Bild an. An 
diesem Tage tritt eine Thrombose des l. Beines auf. Frau D. wird wieder er- 
neut unruhig, ist kaum im Bett zu halten. Die Äußerungen werden jetzt 
jedoch zusammenhängender, wenn die Stimmungslage auch noch immeı 
schwankend ist. 

Aus den Äußerungen erfährt man jetzt allerlei Beziehungsideen, bei der 
Nachuntersuchung erfahren wir, daß Frau D. zu dieser Zeit auch vielerlei 
Stimmen gehört habe. Sie äußert: 

„‚Seit ich auf dem Stuhl gesessen habe, der war elektrisch, ist mein Bein 
dick. Da hat man mich geschlagen, ich weiß wer das war, vielleicht Prof. 
Nonne. Sie sind hier alle hypnotisiert, ich muß immer das Gegenteil tun, 
von dem, was sie mir sagen, ich soll im Bett bleiben, wollen sie mir andeuten, 
daß ich immer faul gewesen bin“. 

Die Stimmen hätten ihr gesagt, daß sie umgebracht werden müsse, man 
habe ihr auch ihr Todesurteil verlesen. Am 6. 1. 1928 wird Frau D. in die 
hiesige Klinik verlegt. Am Tage nach der Aufnahme, also 2 Monate nach 
Beginn der Erkrankung, ändert sich das Zustandsbild insofern, daß jetzt 
eine eindeutige Verstimmung nach der ängstlich-depressiven Seite im Vorder- 
grund steht. Die Mimik ist entsprechend regungslos, die Sprache ist weiner- 
lich gedehnt und monoton. Ihre Äußerungen enthalten nurmehr die schwersten 
Selbstvorwürfe: 

‚Sie habe das Kind nicht gewünscht, habe das Kind mit dem Hammer 
erschlagen, sie sei zu schlecht, kein Mensch dürfe ihr helfen...... i 

In der ersten Zeit tauchen hin und wieder auch noch die Beziehungsideen 
auf, die aber im weiteren Verlauf immer mehr gegenüber der stimmungs- 
mäßigen Veränderung in den Hintergrund treten. Bis Anfang März hält 
dieses Zustandsbild unverändert an. Die nun einsetzende Auflockerung hält 


254 E. Beckmann 


stetig an, sodaß Frau D. Mitte April, d.h. 5 Monate nach Beginn der psy- 
chischen Veränderung als geheilt entlassen werden kann. Die Diagnose lautet: 
Postpuerperale Depression. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau D., daß sie nach ihrer Ent- 
lassung anfangs noch scheu und bedrückt gewesen sei, daß sie sich aber nach 
einem weiteren Monat wieder völlig wie vor der Erkrankung gefühlt habe. 
Über die 10 Jahre nach der Erkrankung berichtet Frau D., daß sie bis auf 
leichte Stimmungsschwankungen während der Periode nicht wieder erkrankt 
sei. 

Sie selbst macht bei der Unterhaltung einen offenen, warmen zugewandten 
Eindruck. Irgendwelche Anzeichen für die durchgemachte Erkrankung lassen 
sich nicht mehr feststellen. 

Epikrise: 

Nach einem ängstlich-depressiv gefärbten Vorstadium, das schon am Ende 
der Schwangerschaft einsetzte und innerhalb der ersten Wochenbettage wieder 
auftrat, setzte die stärkere psychische Veränderung ca. 3 Wochen nach der 
Geburt ein und steigerte sich innerhalb weniger Tage zu einem ausgesproche- 
nen amentiellen Bild, das trotz der bestehenden Stimmungsschwankungen 
vorwiegend ängstlich gefärbt war. Mit Wiedereinsetzen der gedanklichen Ord- 
nung geht die Erkrankung nach zwei Monaten in ein reines depressives Rild 
über, das von einem Stadium eingeleitet wird, das durch Beziehungsideen 
und akustische Halluzinationen ausgezeichnet ist. 

Nach weiteren zwei Monaten klingt das depressive Bild mit den gehäuften 
Selbstvorwürfen ab, um nach insgesamt 6 Monaten Erkrankungsdauer nach 
der Entlassung erst in völlige Heilung auszugehen. 

Nach 10 Jahren ist Frau D. nicht wieder erkrankt und zeigt auch keinerlei 
Spuren einer geistigen Erkrankung mehr. 


Fall 3. Frau E. (Nr. 75897) geb. 7. 5. 1904. 


Aus der Familienanamnese ist nicht mit Sicherheit zu erfahren, ob 
eine Belastung besteht. Eine Schwester soll angeblich in einer Anstalt bei 
Schleswig gewesen sein. (Dort ist nichts bekannt). 

Aus der Vorgeschichte der Frau E. ist zu bemerken, daß der I. Partus 
1930 angeblich ohne Besonderheiten verlief. 


Jetzt: 

Am 8. 4. 1934 findet der II. Partus statt, der nach einer normalen Schwan- 
gerschaft ohne Besonderheiten verläuft. 11 Tage pp. klagt Frau E. über 
Schwindelgefühle. In den folgenden Tagen wird sie zunehmend unruhiger, 
ist nicht mehr im Bett zu halten, redet ununterbrochen unzusammenhängend. 
Am 23.4.1934 wird sie deshalb in das U.K. Eppendorf in Hamburg ein- 
gewiesen. Auch dort hält die psychomotorische Unruhe an. Frau E. muß 
laufend unter Narkotika gehalten werden, die jedoch nur sehr unzulänglich 
wirken. Am 25. 4. 1934 wird sie mit der Diagnose: Puerperalpsychose in die 
hiesige Klinik verlegt. Die Kranke ist motorisch und psychisch äußerst erregt, 
sie redet ununterbrochen, schlägt gegen die Steckbretter, lacht und weint 
durcheinander. 

Aus einer Mitschrift erfahren wir ihre Äußerungen, die in dem Kranken- 
blatt als ‚‚iincohaerent‘‘ bezeichnet werden: 

... Und Blitz und Donner und dieser Himmel und diese Hölle hat mit 
mir nichts zu tun — grade dieses Korsett, ich meine Klosett, mein Bett. 
.... Alle diese Steine, die ich auf meinem Grab habe, sind keine Edelsteine 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 255 


. Schweine kommen in die Bohnensuppe und diese Fingernägel, gerade 
diese Fingernägel... die Steine sind ins Wasser gefallen. 

. Ja im Diesseits und im Jenseits ist mein Mutterglück und die Mutter- 
brust und der Muttermund ... mein Harri hat mich mit dem Hammer vors 
Knie geschlagen. Ich habe keine Minute geträumt unter der blauen Brille. 

. aber den Sonntagsjungen haben sie aus dem Wasser gezogen. .... Es 
ist alles erschwindelt auf der Welt mit der Bibel und der Fibel. . 

Die psychomotorische Erregung bleibt unverändert bestehen, die Kranke 
steht laufend unter M/Scop. ohne daß eine ausreichende Wirkung erzielt 
wird. Die Nahrungsaufnahme und der Schlaf sind außerordentlich schlecht. 
Bei der Verlegung auf die unruhige Station wird erstmalig die Diagnose: 
Schizophrenie in Erwägung gezogen. Aus den Einträgen der nächsten Monate 
erfahren wir nur, daß die Kranke laufend im Dauerbad gehalten werden 
muß. Die Pflegerberichte weisen auf die außerordentliche motorische Unruhe 
hin, die auch durch die stärksten Narkotika nur für Stunden zu bekämpfen 
ist. Die Stimmung ist vorwiegend indifferent, jedoch finden sich auch Ein- 
träge, daß die Kranke viel weine. Bis Mitte August bleibt diese Erregung 
anhaltend und unvermindert bestehen. Weder die Temperatur noch der 
Puls können während dieser Zeit sicher kontrolliert werden. Die Kranke 
nimmt innerhalb der 4 Monate insgesamt 11 kg ab. Gegen Ende August 1934 
tritt ganz plötzlich eine weitgehende Beruhigung ein, die mit einer leicht 
gehemmten ratlosen Verstimmung einhergeht. Anfang September tritt noch 
einmal eine ca. 8tägige Unruhe wieder auf, die aber wieder in das depressive 
Zustandsbild ausklingt. Affektiv ist die Kranke jetzt zugewandt, in der Mimik 
und dem ganzen Ausdrucksgesamt noch etwas verlangsamt. Am 20. 9. 1934 
finden wir im Krankenblatt bereits folgenden Eintrag: ‚‚ruhig, geordnet. 
Freundlich und zugänglich“. Am 1. 10 1934 erfolgt die Entlassung unter der 
Diagnose: Verdacht auf Schizophrenie. 

Nachuntersuchung: Da Frau E. zur Zeit nicht mehr in Hamburg 
wohnt, mußten wir uns mit einem schriftlichen Bericht begnügen. Aus dem 
Bericht geht hervor, daß Frau E. gleich nach der Entlassung wieder voll 
arbeitsfähig gewesen ist, daß sie nicht wieder erkrankt ist, daß sie keinen 
weiteren Partus durchgemacht hat. Frau E. schreibt in einer freien und 
offenen Art und einem flüssigen Stil, unter anderem heißt es in dem Bericht: 

„Ich habe das natürliche, vor der Psychose mir eigene Wesen wiederer- 
langt und bin seit meiner Entlassung von dort vollkommen gesund“. 

Epikrise: 

Bei Frau E., bei der eine fragliche Familienbelastung besteht, hat es sich 
um eine recht akut einsetzende psychische Veränderung gehandelt, die 11 
Tage nach der Entbindung mit einem flüchtigen Vorstadium einsetzte. Un- 
mittelbar anschließend an dieses Stadium tritt ein schwerer akuter Erregungs- 
zustand auf, der durch eine äußerste motorische -Unruhe und mit an Ideen- 
flucht erinnernden Äußerungen verbunden ist. Die Stimmungslage, die an- 
fangs schwankend war, wird im weiteren Verlauf immer indifferenter. Aus 
dieser Tatsache und den als incohaerent bezeichneten Äußerungen wird Ende 
Mai, also 1!/2 Monate nach Beginn der Erkrankung die Diagnose: Schizo- 
phrenie erörtert. Nach insgesamt 4 Monaten klingt die schwere psychomoto- 
rische Erregung, die u. E. einen im wesentlichen amentiellen Charakter trägt 
ohne einen beobachteten Übergang ab und geht in ein subdepressives Stadium 
über, das nach einem weiteren Monat abgeklungen ist. Die Gesamtdauer der 
Erkrankung hat also 6 Monate betragen. 


256 E. Beckmann 


Entsprechend dem Bericht der Frau E. müssen wir annehmen, daß eine 
völlige Gesundung eingetreten ist, die bisher 4 Jahre angehalten hat. 


Fall 4. Frau H. Nr. 63672) geb. 13. 11. 1905. 


In der Familie ist über Geisteskrankheiten nichts bekannt. In der Vor- 
geschichte der Frau H. findet sich ebenfalls nichts Bemerkenswertes, 


Jetzt: 


Am 3.8.1928 findet der I. Partus statt. Während der Schwangerschaft 
ist Frau H. angeblich schen recht scheu gewesen, sie habe ihren Zustand 
immer zu verbergen versucht. Nach einem normalen Geburtsverlauf zeigt 
sie schon in den ersten Tagen des Wochenbettes auffallend wenig Interesse 
für ihr Kind. Eine am 13. Tag nach der Entbindung auftretende Mastitis 
ist von einer ängstlichen Verstimmung gefolgt, die sich nach weiteren 13 
Tagen zu einer ängstlichen Erregung steigert, während derer Frau H. äußert, 
daß sie so merkwürdige Gedanken habe. Am folgenden Tage, am 30. 8. 71928 
erfolgt die Einweisung in die hiesige Klinik. Die anfangs noch bestehende 
ängstlich gefärbte Unruhe steigert sich in der Klinik unter ansteigenden Tem- 
peraturen an Hand von zwei tiefliegenden Glutealabscessen zu einer psycho- 
motorischen Unruhe, die mit erheblichen Stimmungsschwankungen einher- 
geht. Die Äußerungen werden immer verworrener wie eine Mitschrift zeigt: 

„Kleine Fliege-nein-bin keine kleine Fliege-man muß den Kopf aufschnei- 
den-ruhig sein- immer laut sein muß man nicht- jetzt schießen sie mit dem 
Motorweg sind alle-alle sind ins Wasser gegangen-nicht weinen deshalb-ich 
will doch auch was trinken bitte bitte usw. .. .““ 

Mitte bis Ende September klingt die Unruhe etwas ab, die stimmungs- 
mäßigen Schwankungen werden von einem teils stuporösen, teils ablehnend 
gereizten Verhalten abgelöst. Aus einem späteren Bericht der Kranken er 
fahren wir, daß sie zu dieser Zeit ihre Umgebung je nach Namen oder Ein- 
drücken verkannt habe und so zu ihrem Verhalten gekommen sei. Sie erlebt 
so durch den Namen Wolf z. B. das Märchen ‚Rotkäppchen‘, sie glaubt, 
das Haus gehöre ihr, da die Broschen der Schwestern den Namen ‚‚Erika“ 
tragen und sie auch Erika heißt. Sie glaubt dann wieder, nur ihr Körper 
läge in ihrem Bett, während ihre Eigenschaften in den anderen Betten lägen, 
weil diese Kranken irgendeine Ähnlichkeit mit ihr hatten. 

Gegen Ende des Monats tritt mit fortschreitender somatischer Gesundung 
der bestehenden Pyämie eine zunehmende Ordnung der Gedanken ein und 
macht einer hoffnungslosen Verstimmung Platz. Um diese Zeit, während derer 
die Kranke auffallend mißtrauisch ist, äußert sie einmal: 

„Sie habe kein Vertrauen zum Arzt, ihre ganze Krankheit rühre daher, 
daß sie nach der Entbindung falsch behandelt sei, ihr komme hier auch alles 
so merkwürdig vor.“ 

In der nun folgenden Zeit überwiegt jedoch mehr und mehr die Hoffnungs- 
losigkeit, die Ratlosigkeit und die Unfähigkeit, sich an ihre Umgebung an- 
zuschließen. Immer wieder äußert sie, daß sie nie gesund werde, daß sie nun 
immer in der Klinik bleiben müsse. In ihrem Ausdrucksgesamt ist eine Hem- 
mung und Verlangsamung unverkennbar. 

Am 6. 11. 1928, also drei Monate nach Beginn der Erkrankung ist die Ver- 
stimmung so weit abgeklungen, daß Frau H. als geheilt unter der Diagnose: 
Symptomatische Psychose bei postpuerperaler Pyaemie entlassen wird. 

Bei der Nachuntersuchung erfahren wir vom Ehemann, daß Frau H. 
noch ca. ein Jahr lang gehemmt und bedrückt gewesen ist und ihrer Um- 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 257 


gebung gegenüber unsicher. Dann allerdings ist sie vollkommen gesund ge- 
worden. Nach Aussage des Mannes ist ihre alte Persönlichkeit hergestellt. 
Ein Il. Partus im Jahre 1930 verläuft ohne jede Auffälligkeit. Frau H. ist 
demnach bisher 10 Jahre nach ihrer Erkrankung gesund geblieben. 

Epikrise: 

Die psychische Veränderung ist bei Frau H. unmittelbar nach der Geburt 
des Kindes im Sinne eines Unbeteiligtseins an ihrer Umgebung aufgetreten. 
An Hand einer Mastitis, die eine schwere Pyaemie mit hohen Temp. einge- 
leitet hat, ist dann eine ängstliche Note hinzugekommen. Erst einen Monat 
pp. treten die stärkeren, psychischen Veränderungen auf, die mit ihrer Un- 
ruhe, ihren massiven Stimmungsschwankungen und der zeitweisen Bewußt- 
seinstrübung einen amentiellen Charakter haben. Interessant sind die Erleb- 
nisse beim Abklingen des Fiebers, die in ihrer Umweltzugewandtheit einen 
ildeenflüchtigen Charakter nicht verkennen lassen. Mit der zunehmenden Be- 
wußtseinsklarheit tritt ein nur sehr flüchtiges Stadium des Mißtrauens gegen- 
über ihrer Umgebung auf, währenddessen unklare Beziehungsideen geäußert 
werden, das dann aber in eine subdepressive Verstimmung überleitet, die 
nach den katamnestischen Erhebungen fast noch ein Jahr lang bestehen 
bleibt, um schließlich in völlige Genesung überzugehen, die bis heute, 10 Jahre 
nach der Erkrankung, angehalten hat. 


Fall 5. Frau H. (Nr. 63488) geb. 19. 7. 1898. 


Jn der Familienvorgeschichte, sowiein der eigenen Vorgeschichte 
finden sich keine Besonderheiten. 

Jetzt: 

Am 7.7.1928 findet der I. Partus statt, bei dem die Placenta manuell in 
Narkose gelöst werden muß. Das W’ochenbett verläuft ohne Schwierigkeiten, 
am 9. Tage nach der Entbindung steht Frau H. auf und versorgt den Haushalt 
wieder selbst. 13 Tage p. p. findet die Schwester der Frau H. sie ‚vollkommen 
benommen‘ vor, sie soll damals geäußert haben: 

„Du ahnst es wohl, ich muß doch bald sterben‘. ‚Muß ich doch bald 
sterben, ich will doch nicht von meinem Mann weg“. 

Dabei habe sie geweint und merkwürdig starr in eine Ecke gesehen. Die 
angstliche Verstinnmung soll die nächsten Tage noch angehalten haben und 
sich schließlich 19 Tage p.p. zu einem ängstlichen Erregungszustand ge- 
steigert haben, der zur Einweisung am 2. 8. 1928 in die hiesige Klinik führte. 
In der Klinik steigert sich die ängstlich-getriebene Unruhe noch weiter. Frau 
H. ist kaum im Bett zu halten. Sie läuft im Saal herum, ist weder zeitlich noch 
örtlich orientiert. Die Nahrungsaufnahme gestaltet sich durch das wider- 
strebende Verhalten sehr schwierig, der Schlaf ist nur sehr ungenügend. Die 
Stimmung ist vorwiegend ängstlich, zeitweise jedoch auch gereizt ablehnend. 
Nach ca. 8 Tagen erfährt man aus den Äußerungen der Kranken, daß sie sich 
bedroht fühlt: 

„Wo ist denn meine Schwester, ich höre sie gar nicht mehr sprechen, da ist 
was los. Ich soll hypnotisiert werden, was machen sie hier alle ?“‘ 

Am nächsten Tage, also 1 Monat p. p. setzt eine zunehmende Beruhigung 

ein, gleichzeitig ist den Äußerungen zu entnehmen, daß sie nun zeitlich und 

örtlich orientiert ist. Gegenüber der wechselnden Stimmungslage tritt nun 
ein vorwiegend depressives und gehemmtes Verhalten auf, das teils noch recht 
ratlos wirkt. Dabei finden wir immer wieder Äußerungen, die die paranoide 
Einstellung der Kranken gegenüber ihrer Umgebung zeigen: 


258 E. Beckmann 


„Ich weiß schon, was hier los ist, mein Jung ist hier auch gestorben — was 
hier nur wieder ein Geruch ist.“ 
oder: ‚Ich weiß genau, was hier vorgeht, das Essen ist vergiftet, die Luft ist 
vergiftet, ich kann beinahe nicht mehr atmen, morden will man hier nur. Ich 
habe doch den Mann gesehen mit dem großen Schwert, der mich morden will.“ 

Während dieser Äußerungen zeigt die Kranke im Gegensatz zu ihrem sonst 
depressiven Verhalten episodenhaft auftretende Erregungszustände, die erst 
Anfang September in den Hintergrund treten, während eine leichte depressive 
Stimmung noch bestehen bleibt. Am 10. 9. 1928 ist die Kranke soweit ausge- 
glichen, daß sie nach Hause entlassen werden kann mit der Diagnose: Puer- 
peralpsychose von exogenem Reaktionstyp. l 

Bei der Nachuntersuchung erfahren wir, daß Frau H. tagsüber in einer 
Fabrik beschäftigt ist und abends noch ihr Haus versorgt. Seit ihrer Er- 
krankung sei sie nicht wieder psychisch auffällig gewesen, sie fühle sich ganz 
so wie früher. 

Das Ausdrucksgesamt der Frau H. ist unauffällig und natürlich, Zeichen 
einer durchgemachten geistigen Erkrankung sind an ihr nicht mehr wahrzu- 
nehmen. 

Epikrise: 

Bei Frau H. hat es sich um eine psychische Veränderung im 1. Wochenbett 
gehandelt, die ca. 13 Tage nach der Entbindung mit einer ängstlichen Ver- 
stimmung eingesetzt hat und sich 26 Tage p.p. zu einem ängstlichen Er- 
regungszustand gesteigert hat. 

Im weiteren Verlauf der Erkrankung trägt das Zustandsbild mit seiner 
schwankenden Stimmungslage, mit der ungenügenden Orientierung und dem 
Ausgeliefertsein an die jeweiligen Stadien der Erkrankung einen amentiellen 
Charakter. Als eine fortschreitende Ordnung des Gedankenganges einsetzt 
mit gleichzeitiger Orientierung, äußert die Kranke erstmalig Beeinträchti- 
gungsideen, die zusammen mit anfallsweisen Erregungszuständen das nun mehr 
und mehr in den Vordergrund tretende depressive Zustandsbild begleiten. 
Kurz bevor die depressive Stimmungslage ausgeglichener wird, treten die 
paranoiden Ideen zurück. Wenige Tage später ist die Kranke soweit ausge- 
glichen, daß sie entlassen werden kann. Insgesamt hat die psychische Ver- 
änderung 7 Wochen gedauert und ist in endgültige vollständige Heilung aus- 
gegangen, die insgesamt bisher 10 Jahre angehalten hat. 


Fall 6. Frau J. (Nr. 75750) geb. 7. 11. 1914. 


Aus der Familienvorgeschichte ist zu sagen: der Vater soll angeblich 
zeitweise getrunken haben und schließlich Selbstmord verübt haben. Eine 
Schwester der Frau J. soll angeblich einmal nervenkrank gewesen sein, Sei 
jetzt aber wieder ganz gesund. 

In der Vorgeschichte der Frau J. findet sich nichts Erwähnenswertes. 


Jetzt: 


Am 14. 3. 1934 wird in der Entbindungsanstalt ‚‚Finkenau‘‘ die Geburt mit 
Beckenausgangszange durchgeführt. Das Kind stirbt nach 2 Stunden. In den 
ersten Tagen des Wochenbettes hat Frau J. Temp. bis 392, die innerhalb von 
8 Tagen lytisch abfallen. Am 25.3.1934 wird sie ohne einen krankhaften 
Befund nach Hause entlassen. Nach Angaben der Mutter ist Frau J. bereits 
unmittelbar nach der Geburt verändert, sie habe sich gar nicht um ihre Um- 
gebung gekümmert, und habe sich nicht über den Tod des Kindes geäußert. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 259 


Am Tage ihrer Entlassung aus der Entbindungsanstalt, also 11 Tage p. p. 
wird sie auffallend unruhig, sie singt und lacht viel, redet über alles, was um 
sie herum vorgeht, dabei nimmt die motorische Unruhe zu, so daß am folgenden 
"Tage die Einweisung in die hiesige Klinik erfolgt. Hier ist die Kranke ebenfalls 
ınotorisch außerordentlich betriebsam, ist nicht im Bett zu halten, wirft mit 
ıhrem Bettzeug im Saal umher, schreit laut und gellend oder redet dauernd 
wor sich hin. Die ersten 7 Tage in der Klinik muß die Kranke laufend mit 
N. Scop Injektionen ruhiggestellt werden, die jedoch nur eine geringe Wirkung 
haben. Die Temperaturen bewegen sich in dieser Zeit zwischen 37° und 391, 
ohne daß ein somatischer Anhaltspunkt gefunden wird. Ihre Reden werden 
kaut Krankenblatt als zerfahren und incohaerent geschildert. 

Anfang April 1934, also 15 Tage nach Beginn der Erkrankung, setzt eine 
leichte Beruhigung der motorischen Unruhe ein, gleichzeitig gehen die Tempe- 
raturen auf normale Werte zurück. In dieser Zeit ist die Stimmungslage nicht 
mehr so schwankend, wie zu Beginn. Die Kranke wird zunehmend ablehnender 
und widerstrebender in ihrem Verhalten. Sie äußert bei dem Versuch einer 
Exploration Beziehungsideen, in den Schwesternberichten finden wir die 
Anmerkung, daß sie häufig die Stimme ihrer Schwester höre. 

‚„.Aleine Mutter ist Freiwild — häßlich sie jagt mich aus dem Hause — sie 
will mich im Gefängnis haben. Von meiner Mutter habe ich Messerstiche be- 
kommen, die Arterien hat sie mir durchgeschnitten — verblutet bin ich. Aus 
dem Rückenmark preßt man mir Blut — ein böses Weib meine Mutter, die 
ınich geboren hat — hingerichtet muß sie werden. Vergiftet hat man mich im 
Krankenhaus, aber die wollten mir wohl helfen. Weil meine Mutter mich ver- 
giften will, muß ich auf den Scheiterhaufen .. .“ 

Während dieser Zeit ist die Kranke zeitlich und örtlich gut orientiert. 
10 Tage später werden die sprachlichen Äußerungen immer weniger, die 
motorische Unruhe macht einem stuporösen Verhalten Platz, das nur ge- 
legentlich durch raptusartige Gewalttätigkeiten unterbrochen wird. Als nach 
insgesamt 2 Monaten sich Mitte Juni 1934 der Stupor löst, zeigt sich eine 
starke stimmungsmäßige Beteiligung des Zustandsbildes. Die Kranke, die 
eben noch ablehnend und zeitweise aggressiv gewesen ist, wird nun zugäng- 
licher. Anfang August finden wir zuerst den Eintrag, daß die Kranke zaghaft 
aber geordnet auf Fragen Antwort gibt. Bis zum September hält diese depres- 
sive Verstimmung an, um dann mit zunehmender Auflockerung in völlige 
Heilung überzugehen. Am 22. 9. 1934 wird Frau J. als geheilt unter der Diag- 
nose: Wochenbettpsychose entlassen. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau J., daß sie unmittelbar nach 
ihrer Entlassung wieder arbeitsfähig gewesen sei und sich so wie vor ihrer 
Erkrankung gefühlt habe. 1937 habe sie durch einen Unfall eine Gehirner- 
schütterung durchgemacht, die aber ohne Komplikationen verlaufen ist. 
Frau J. macht bei der Nachuntersuchung einen offenen, warmen und zuge- 
wandten Eindruck. Irgendwelche Restsymptome ihrer psychischen Erkran- 
kung sind nicht mehr festzustellen. 

Epikrise: 

Bei Frau J. hat die psychische Veränderung unmittelbar nach der Entbin- 
dung eingesetzt mit einem Vorstadium, das durch Gleichgültigkeit gegenüber 
ihrer Umgebung ausgezeichnet war. Kurze Zeit später wird sie stärker auf- 
fällig durch eine zunehmende motorische Unruhe und einer Verwirrung des 
Gedankenganges. Gleichzeitig schwankt die Stimmungslage zwischen betrieb- 
samer Heiterkeit und ängstlichem Getriebensein. Nach ca. 10 Tagen geht das 


260 E. Beckmann 


amentielle Stadium in ein Bild über, das durch Beziehungsideen und akus- 
tische Halluzinationen gekennzeichnet ist. Die Stimmung ist jetzt ablehnend 
bis gereizt. Im weiteren Verlauf tritt ein stuporöses Zustandsbild auf, das erst 
nach 2 Monaten Dauer langsam auflockert und schließlich einer depressiven 
Verstimmung Platz macht, die nach einmonatiger Dauer in Heilung übergeht. 
Nach einer Krankheitsdauer von 6 Monaten ist Frau J. vollständig geheilt und 
ist auch bis jetzt 4 Jahre nach der Erkrankung nicht wieder auffällig geworden. 


Fall 7. Frau P. (Nr. 66122) geb. 3. 4. 1906. 


In der Familienanamnese finden sich keine Besonderheiten. Aus der 
Vorgeschichte der FrauP. ist zu berichten, daß sie nach einer schweren 
Diphterie eine Nacht lang „ängstlich verwirrt“ gewesen sein soll. 

Am 20. 4. 1928 macht sie den ersten Partus durch. Während der Schwanger- 
schaft besteht eine Schwangerschaftsnephrose. Psychisch ist Frau P. jedoch 
unauffällig. 

Jetzt: 

Am 17.7.1929 findet der zweite Partus statt, der durch eine manuelle 
Placentalösung mit großem Blutverlust kompliziert ist. Das Kind stirbt nach 
6 Tagen. 

Unmittelbar nach der Geburt ist Frau P. sehr matt, klagt viel über Kopf- 
schmerzen, Schwindelgefühle und Herzbeklemmungen. Sie äußert einmal, 
daß sie wohl sterben müsse. 

Am 24. 7. 1929, also 7 Tage p. p. wird sie ängstlich unruhig und ruft dauernd: 

„Luft — Luft — ich krieg keine Luft. Ich weiß gar nicht, wo ich bin“. 

Wegen bestehender leichter Temperaturen wird sie in die Frauenklinik 
„Finkenau‘“ eingeliefert, wo eine eitrige Endometritis festgestellt wird. 

Da die psychomotorische Unruhe sich steigert, wird sie am 31. 7. 1929 in 
die hiesige Klinik verlegt. 

Die psychomotorische Unruhe hält unverändert an, dabei ist die Stim- 
mungslage außerordentlich schwankend, zeitweise ängstlich, dann wieder 
äußerst betriebsam, heiter und frech. Die Kranke ist nicht orientiert, macht 
einen leicht benommenen Eindruck.-Die Temperaturen halten sich um 37°. 
Aus ihren Äußerungen ist zu entnehmen, daß sie alle Eindrücke ihrer Um- 
gebung aufnimmt und verarbeitet. So sagt sie: 

„Sie sei im Himmel — weil da eine weiße Decke sei“. Anfang August, 
19 Tage nach Beginn der Erkrankung, wird Frau P. zunehmend orientiert, 
ihre Äußerungen werden geordneter. Wenn auch noch episodenhafte Er- 
regungen auftreten, so ist sie jetzt doch wesentlich ruhiger. Nach weiteren 
6 Tagen finden wir den Eintrag: 

‚„Weint häufig. Etwas verlegen, gebunden, macht einen kontaktlosen Ein- 
druck“. 

Die ratlose, depressive Stimmungslage, die von einer ausgesprochenen 
Hemmung begleitet ist, lockert sich bis Anfang September 1929 so weit auf, 
daß die Kranke als gebessert unter der Diagnose: ‚‚Puerperalpsychose von 
exogenem Reaktionstyp‘‘ entlassen werden kann. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau P., daß sie anfangs nach 
der Entlassung noch bedrückt gewesen sei, daß sie noch nicht recht habe 
arbeiten können. Nach einer 6wöchigen Erholung habe sie sich dann so ge- 
fühlt, wie vor ihrer Erkrankung. 1930 und 1934 habe sie ihren 3. und 4. Partus 
durchgemacht, die beide ohne psychische Veränderung verlaufen seien. Bei 
der Nachuntersuchung macht Frau P. einen unauffälligen Eindruck. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 261 


Epikrise: 

Unmittelbar nach der Entbindung hat bei Frau P. die Erkrankung mit 
einem hypochondrischen Vorstadium eingesetzt. 7 Tage später setzt ein 
amentieller Erregungszustand ein mit äußerst labiler Stimmungslage, Be- 
wußtseinseinengung und psychomotorischer Unruhe. Im weiteren Verlauf 
geht das Bild mit zunehmender Orientierung und Beruhigung in eine de- 
pressive, ratlose Verstimmung über, die erst 6 Wochen nach der Entlassung 
zu völliger Heilung führt. Insgesamt hat die psychische Erkrankung also 
3 Monate gedauert. 

Frau P. ist bis heute, 9 Jahre nach der Erkrankung, psychisch unauffällig 
geblieben. 


Fall 8. Frau W. (Nr. 75595) geb. 24.6. 1909. 

In der Familienanamnese sind keine Nerven- oder Geisteskrankheiten 
bekannt. 

Aus der Vorgeschichte der Frau W. ist hervorzuheben, daß sie im 
Oktober 1932 im Anschluß an eine Frühgeburt traurig und bedrückt gewesen 
ist. Sie habe sich damals viele Gedanken gemacht, habe ihre Arbeit aber 
trotzdem erledigen können. 

Jetzt: 

Am 14. 2. 1934 macht Frau W. nach einer Schwangerschaft ohne Be- 
schwerden ihren 2. Partus durch. Das Kind lebt und ist gesund. Die Geburt 
verläuft in Narkose mit einem Dammriß 1. Grades, der ebenfalls in Narkose 
genäht wird. 

Unmittelbar nach der Geburt ist Frau W. nach ihren eigenen Angaben be- 
drückt. Sie macht sich Gedanken über den Geburtsverlauf und die Zukunft 
ihres Jungen. Es bestehen zu dieser Zeit leichte Temperaturen, die in den 
ersten Tagen abklingen. 5 Tage pp. wird sie erst für ihre Umgebung auffällig. 
und zwar durch einen starken Rededrang. Sie äußert darüber später selbst: 
„Daß sie habe alles sagen müssen, weil ihre Gedanken so durch ihren Kopf 
gerast seien‘. Der Schlaf ist zu dieser Zeit schlecht. Im weiteren Verlauf 
tritt eine zunehmende psychomotorische Unruhe auf, die am 22. 2. 1934, d.h. 
8 Tage pp. zur Einlieferung in die hiesige Klinik führt. 

Hier bietet Frau W. das gleiche Zustandsbild, auffällig ist die Neigung 
zu massiven Stimmungsschwankungen vom Heiteren ins Weinerlich-Ängst- 
liche. Dabei ist sie aber zugewandt und ansprechbar, jedoch kaum zu fixieren, 
da sie in ihrem Gedankengang immer abschweift. Auf die Frage, ob sie sich 
krank fühle, protestiert sie mit einem energischen ‚Absolut nicht“. Auf die 
Frage, warum sie so viel gesprochen habe, äußert sie: 

„Weil ich so viel gedacht habe — da muß ich was bekennen — ich war 
furchtbar geldgierig — o, war ich das? — Ich will nicht berühmt werden. 
Aber mein Mann darf ruhig berühmt werden — der darf das Buch schreiben 
-— dann kriegen wir ganz viel Geld — ebenso viel wie A. H. mit seinem Kampf 
— ich will A. H. aber nicht heiraten (schluchzt los)..... z 

Nach weiteren 3 Tagen treten die Stimmungsschwankungen und die mo- 
torische Unruhe mehr und mehr in den Hintergrund. Die Kranke spricht in 
in dieser Zeit von Flüsterstimmen, die ihr alles sagten: 

„Hier scheint nie die Sonne — und dann ist es auch nur Kulisse — hier 
ist alles nur Kulisse — hier muß ich ja raus — hier wird man verrückt ge- 
macht. Hier wird mein Kopf aufgeschnitten — oder was wird mit mir ge- 
macht ?““ 


262 E. Beckmann 


Gleichzeitig berichtet die Kranke von ihren Stimmen, daß sie ihr das 
Essen verbieten, weil sie kein Herz mehr habe. Während dieser Zeit macht 
sich eine zunehmend bedrückte Stimmungslage, sowie eine ratlos getriebene 
Unruhe bemerkbar. Anfang März, also 3 Wochen nach Beginn der Erkran- 
kung, wird sie immer stiller, ratlos und gehemmt, jedoch in ihrem mit leiser 
zaghafter Stimme gegebenen Antworten geordneter. Zudem ist sie jetzt gut 
orientiert. 

In einer Exploration vom 9. 3. 1934 gibt sie Folgendes über ihre Erkran- 
kung an: 

„Erst sei alles sehr schnell gegangen, sie habe viel erlebt, alles ganz flüch- 
tig, und schnell vergessen. Sie habe viele Stimmen gehört, das seien wohl 
ihre Gedanken gewesen. In der letzten Zeit sei ihr dann 1 Tag wie 1000 Jahre 
vorgekommen“. 

Frau W. ist jetzt voll krankheitseinsichtig, sie bietet nichts Psychotisches 
mehr und wird am 9.3.1934, also 1 Monat nach Beginn der Erkrankung 
mit der Diagnose: Wochenbettpsychose geheilt nach Hause entlassen. 
Bei der Nachuntersuchung erfahren wir von Frau W., daß sie gleich nach 
ihrer Entlassung voll arbeitsfähig gewesen sei und in der Stimmung ausge- 
glichen war. 

Im Mai 1936 hat sie ihren 3. Partus durchgemacht. Die Schwangerschaft, 
Geburt und Wochenbett verlaufen ohne Besonderheiten. Psychisch ist Frau 
W. bei der Nachuntersuchung ganz unauffällig. Sie gibt selbst noch an, daß 
sie seit ihrer Erkrankung stimmungsmäßig viel ruhiger und ausgeglichener 
dem täglichen Leben gegenüber stehe. 

Epikrise: 

Frau W., die nach ihrer 1. Geburt eine vorübergehende ängstliche Ver- 
stimmung durchgemacht hat, die sie aber nicht arbeitsunfähig gemacht hat, 
erkrankt unmittelbar nach ihrer 2. Geburt. Es besteht anfangs ein leichtes 
ängstliches Vorstadium, das nach 5 Tagen in ein amentielles Zustandsbild 
mit Stimmungsschwankungen, motorischer Unruhe und Bewußtseinseinen- 
gung übergeht. Ca. 8 Tage später tritt die Unruhe mehr und mehr in den 
Hintergrund und macht einem paranoid-halluzinatorischen Bilde Platz, das 
zeitweise den Charakter einer Verbal-Halluzinose trägt. Im weiteren Verlauf 
wird dieses Übergangsstadium abgelöst von einer depressiven ratlosen Ver- 
stimmung, die 1 Monat nach Beginn der Erkrankung in völlige Heilung über- 
geht, die auch jetzt, nach 4 Jahren, noch besteht. 


Fall 9. Frau W. (Nr.76816) geb. 22. 1. 1909. 


Aus der Familienanamnese ist zu erwähnen, daß der Vater der Frau 
W. zeitweise sehr stark getrunken hat. 

Aus der Vorgeschichte der Frau W. sind keine Besonderheiten zu be- 
merken. 

Jetzt: 

In den ersten Monaten ihrer 1. Schwangerschaft ist Frau W. oft bedrückt 
„hing herum“. Trotz der Freude auf ihr Kind, ist sie nicht recht fröhlich ge- 
worden. In den letzten Monaten der Schwangerschaft ist es ihr dann sehr 
gut gegangen. 

Am 24.10.1934 erfolgt der 1. Partus. Anschließend an den Partus er- 
krankt Frau W. an einer Pyelitis, die von Temperaturen bis 40 ° am 6. Tage 
pp. begleitet sind. Auf entsprechende Therapie hin klingt die Nierenerkran- 
kung und die Temperatur bis zum 6. 11. 1934 ca. endgültig ab. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 263 


Am 7.11.1934 wird Frau W. zum 1. Male für ihre Umgebung auffällig, 
d.h. 14 Tage pp. Sie redet ununterbrochen, kommt vom Hundertsten ins 
Tausendste. Dabei ist sie motorisch sehr unruhig. In den nächsten Tagen 
äußert sie Beziehungsideen: 

„Sie glaubt sich verfolgt und beobachtet und hört zu dieser Zeit (wie aus 
der Nachuntersuchung hervorgeht) viele Stimmen, die ihre Gedanken durch- 
einander bringen‘. 

Die Kranke ist vorwiegend betriebsam, motorisch außerordentlich un- 
ruhig, singt, pfeift, oder redet dauernd. Vorübergehend schlägt die erregt 
gehobene Stimmung um ins weinerlich Klagende. Auch ihre Äußerungen 
sind dann verzweifelt und hoffnungslos. Am 12. 11. 1934 wird sie wegen der 
anhaltenden motorischen Unruhe in die hiesige Klinik verlegt. 

Hier bietet Frau W. noch weitere 3 Tage das gleiche Zustandsbild. Die 
psychomotorische Erregung bewirkt eine vorübergehende Temperatursteige- 
rung bis zu 38,5%. Durch die bis zur Verworrenheit gesteigerte Ideenflucht 
ist es unmöglich, einen Kontakt mit der Kranken zu erhalten. 

Vom 15.11.1934 ab, also 21 Tage pp. klingt die Bewegungsunruhe ab 
mit gleichzeitigem Zurückgehen der Temperaturen. Die Ideenflucht sowie die 
Betriebsamkeit bleiben anfangs noch bestehen, um jedoch 3 Tage später 
einem leidlichen Geordnetsein und einer guten Orientierung zu weichen. 

Gleichzeitig schwinden auch die Äußerungen paranoider Art. Aus der 
Krankengeschichte geht für die letzten Tage ihres Aufenthaltes nur hervor, 
daß sie ‚noch etwas ratlos“ gewesen sei. Am 24. 12. 1934 wird sie geheilt 
entlassen mit der Diagnose: ‚‚Wochenbettpsychose‘“. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau W. über ihre Erkrankung 
folgendes: Während der ganzen Zeit der Erregung habe sie sich verfolgt und 
gehetzt gefühlt, alle Gespräche hätten nur ihr gegolten, als sie dann ruhiger 
geworden sei, habe auch das aufgehört. 

Nach ihrer Entlassung kann Frau W. anfangs ihre Erkrankung ‚,‚nicht 
überwinden‘. Sie habe bald wieder leidlich arbeiten können, habe sich aber 
immer bedrückt und unsicher gefühlt. Erst nach Ablauf eines Jahres habe 
sie sich ganz frei gefühlt. Seit der Zeit ist Frau W. gesund geblieben. Sie 
macht bei der Nachuntersuchung einen warmen, offenen, ausgeglichenen und 
zugewandten Eindruck. Restsymptome ihrer früheren psychischen Erkran- 
kung sind nicht mehr wahrzunehmen. 

Epikrise: 

Bei Frau W. beginnt 14 Tage nach der Entbindung soweit wir feststellen 
können, während einer hochfieberhaften Pyelitis die psychische Auffälligkeit 
mit einem amentiellen Erregungszustand, der durch teils gehobene, teils 
ängstliche Stimmungslagen charakterisiert ist und von starker motorischer 
Erregung, die nach Abheilung der Pyelitits noch zu mäßigen Fieberanstiegen 
führt, begleitet ist. Noch während des amentiellen Bildes treten paranoid- 
halluzinatorische Züge auf, die mit zunehmender Ordnung des Gedanken- 
ganges und motorischer Beruhigung abklingen. Das nun eintretende sub- 
depressive Ausgangsstadium hält noch über die Entlassung hinaus für 1 Jahr 
an, um dann zu völliger Gesundung zu führen. Die Gesamterkrankungsdauer 
beträgt demnach 1 Jahr und 1 Monat. Frau W. ist bis heute, 4 Jahre, nach 
der Erkrankung, gesund geblieben. 


Fall 10. Frau D. (Nr. 78220/353). geb. 20. 12. 1912. 


Aus der Familienanamnese geht hervor, daß von 14 Geschwistern 
eine Schwester an einem ‚‚religiösen Wahnsinn“ gelitten haben soll und nach 


264 E. Beckmann 


2jähriger Krankheit an einer Nierenentzündung gestorben ist. Daß ferner 
ein Bruder nach seiner Entlassung aus der Schupo sich beide Pulsadern öff- 
nete, jetzt aber gesund sei. 

In der Vorgeschichte der Frau D. finden sich keine Besonderheiten. 


Jetzt: 

Am 24.3.1936 macht Frau D. ihren Partus 41. mit Epitiotomie und un- 
vollkommener Nachgeburt durch. Aus diesem Grunde wird am 2.4.1936 
eine stumpfe Curettage gemacht. 

Bereits in den ersten Wochenbettagen ist Frau D. psychisch verändert. 
Sie kriecht bei der Visite ängstlich unter ihr Bett, schlägt nach den Schwestern 
und spuckt das Essen aus. Im weiteren Verlauf ist sie kaum noch im Bett 
zu halten. 

11.4.1936 abscedierenden Mastitis beiderseits — Incision. 

16.4.1936 teigige Schwellung des linken Unterschenkels. 

20.4.1936 erneute Curettage wegen sanguinolenten Fluors. 

Gleichzeitig neue Abscesse in beiden Mammae. 

Während dieser ganzen Zeit besteht der ängstliche Erregungszustand fort. 
Frau D. redet wirr durcheinander, schreit und singt und verkennt ihre Um- 
gebung. 

Daher wird sie am 6.5.1936 in die hiesige Klinik verlegt. Hier bietet 
Frau D. ein psycho-motorisch äußerst erregtes Zustandsbild, dabei schlägt 
die Stimmung augenblicklich um, die Kranke wird versonnen, ist nicht zu 
fixieren, singt, lacht, schreit oder weint durcheinander. Gleichzeitig besteht 
eine Cysto-Pyelitis mit Temperaturen bis 39°, 

Dieses Zustandsbild bleibt während eines Monates bis Ende Mai unver- 
ändert bestehen. 

Mit Abklingen der Temperaturen wird Frau D. ruhiger, sie ist jetzt orien- 
tiert, dabei ist sie völlig umweltszugewandt. 

In ihrem etwas derben ungenierten burschikosen Verhalten macht sie 
einen maniformen Eindruck. 

Am 6.6.1936 wird sie nach 2!/, monatiger Erkrankung bei allerdings 
noch bestehender hypomanischer Verstimmung mit der Diagnose: Puer- 
peralpsychose entlassen. 

Zu Hause ist sie anfangs ganz geordnet, wird jedoch wenige Tage später. 
am 10.6.1936, zunehmend laut und erregt, sie fühlt sich vom Starkstrom 
belästigt und glaubt, ihre Nerven seien ans Radio angeschlossen. 

Daraufhin wird sie am 13. 6. 1936 erneut in die hiesige Klinik eingeliefert. 

Hier steigert sich das anfangs rein manisch gefärbte Zustandsbild zu 
schwerster psycho-motorischer Erregung. Das in der Krankengeschichte be- 
schriebene Bild katatonen Gepräges gibt Veranlassung, vorübergehend an 
eine Schizophrenie zu denken. Frau D, tobt im Bett herum, wippt auf und 
nieder, rast durch den Saal, reißt die Wäsche entzwei, singt und gröhlt und 
redet in Klangassoziationen. Ob zu dieser Zeit Temperaturen bestanden 
haben, ist nicht festzustellen; jedenfalls wird in der Krankengeschichte darauf 
hingewiesen, daß die motorische Unruhe einen hyperkinetischen Charakter 
trägt. In Bezug auf die Diagnose Schizophrenie wird am 16. 6. 1936 folgender 
Eintrag gemacht: 

„Trotz aller Unansprechbarbeit und trotz des katatonen Erregungszustan- 
des hat man das Gefühl, daß Frau D. den Kontakt mit sich selbst noch nicht 
verloren hat, ja, daß sie sogar Gefallen an ihrem Erregungszustand hat und 
sich darin wohl fühlt“. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 265 


3 Tage später: 

„Die Bewegungen sind in sich geschlossen und wirken, namentlich mit 
dem Gesichtsausdruck zusammen, harmonisch“. 

Bis Ende Juni, d.h. 3 Monate nach Beginn der Erkrankung klingt die 
psycho-motorische Unruhe weitgehendst ab, so daß Frau D. am 29. 6. in aus- 
geglichener Stimmung auf die offene Abteilung verlegt werden kann. 

Da sich noch ein neuer Absceß in der rechten Mamma gebildet hat, kann 
Frau D. erst am 3.9. 1936 mit der Diagnose:Amentia puerperalis entlassen 
werden. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau D., daß sie sich seit ihrer 
Entlassung völlig gesund fühle, ihre Arbeit im Hause ohne jede Schwierig- 
keit erledigen könne. Frau D. macht einen freien ausgeglichenen Eindruck 
und steht mit voller Kritik ihrer durchgemachten psychischen Erkrankung 
gegenüber. 

Epikrise: 

Bei Frau D. setzt die psychische Erkrankung im Wochenbett unmittelbar 
nach der Entbindung ein, gleichzeitig mit einer Mastitis. Die psychische Ver- 
änderung äußert sich anfangs in einer ängstlichen Unruhe, die sich aber 
innerhalb weniger Tage zu einem reinen amentiellen Bilde steigert. Gleich- 
zeitig bestehen bei Frau D. Temperaturen, die auf neue Mamma-Abscesse, 
eine Endometritis und eine.Cystopyelitis zurückzuführen sind. Mit Abklingen 
der Temperaturen setzt eine so weitgehende Ordnung des Gedankenablaufes 
ein, daß Frau D., wenn auch in einer hypomanischen Verstimmung, entlassen 
werden kann. Es zeigt sich jedoch, daß die Erkrankung noch nicht ihr Ende 
gefunden hat, denn im Hause setzt bei Frau D. das paranoid-halluzinatorische 
Übergangsstadium ein, das von einem rein maniformen Ausgangsstadium 
abgelöst wird. Während des Ausgangsstadiums treten derartige katatone 
Züge in dem Zustandsbild auf, daß zeitweise an eine Schizophrenie gedacht 
wird. Der weitere Verlauf zeigt jedoch, daß mit abklingender Unruhe das 
Affekt- und Antriebsleben völlig ungestört ist und nach 3 monatiger Erkran- 
kungsdauer vollständige Gesundung eintritt. Frau D. ist heute 2 Jahre nach 
ihrer Erkrankung, psychisch vollkommen unauffällig. 


Fall 11. Frau H. (Nr. 81686). geb. 24. 9. 1903. 

In der Familienanamnese sind weder Geisteskrankheiten noch Nerven- 
krankheiten bekannt. 

Aus der Vorgeschichte der Frau H. geht hervor, daß sie bereits drei- 
mal entbunden hat. 

1. Partus 1930 mit normalem Geburts- und Wochenbettverlauf. 

2. Partus 1933 mit normalem Geburtsverlauf, im Wochenbett Mastitis. 

3. Partus 1937 Abort im 3. Monat, großer Blutverlust. Bei allen drei Ge- 
burten sind psychische Veränderungen nicht beobachtet worden. 


Jetzt: 

Am 2.6.1938 macht Frau H. ihren 4. Partus durch. 

Bereits vor der Geburt zeigt Frau H. eine große Ängstlichkeit, die aber 
mit der vorangegangenen Fehlgeburt in Zusammenhang gebracht wird. Die 
Geburt selbst verläuft ohne Besonderheiten. Im Wochenbett hat Frau H. 
leichteres Fieber bis 38°, ist sehr matt und schläft ausgesprochen schlecht. 
Bereits in dieser Zeit wird sie ihrer Umgebung gegenüber psychisch auffällig, 
da ihre Stimmung gereizt ist, sie ihrem Manne und ihrer Schwester gegen- 
18 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


266. E. Beckmann 


über Vorwürfe macht über ihre Lebensweise und im allgemeinen leicht er- 
regbar ist. 


17 Tage pp. wird die Kranke stärker auffällig, da sie dauernd in Bewe- 
gung ist, zeitweise ausgesprochen erregt ist und ununterbrochen erzählt, daß 
sie ihr Leben ändern müsse, daß man natürlicher leben müsse. Nachts ist 
sie schwer im Bett zu halten. Zeitweise macht sie einen ausgesprochen ver- 
wirrten Eindruck, ist dann aber wieder gut orientiert. 


Am 20.6.1938, also 18 Tage nach der Entbindung, tritt ein schwerer 
Erregungszustand auf, der ohne Temperaturen verläuft, und der zur Ein- 
weisung ins A.K. Barmbeck führt. 

Frau H. macht dort einen zunehmend verwirrten Eindruck, antwortet nicht 
mehr sinngemäß auf Fragen, verkennt teilweise ihre Umgebung. In der Stim- 
mungslage ist sie deutlich gehoben, singt laut oder ist erregt. 


Am 23.6.1938 wird sie mit der Diagnose ‚‚Amentia puerperalis“ in die 
hiesige Klinik verlegt. 


Hier ist Frau H. außerordentlich erregt, motorisch unruhig, sie singt und 
betet abwechselnd, die Nahrungsaufnahme ist zeitweise gut, zeitweise außer- 
ordentlich schlecht. Der Schlaf muß durch Beruhigungsmittel erzwungen 
werden. In der Stimmung ist sie auffallend labil, weint und lacht durchein- 
ander, ihre sprachlichen Äußerungen sind unzusammenhängend, vorwiegend 
religiös gefärbt und erinnern an Ideenflucht. Aus ihrem Ausdrucksgesamt, 
wie angespanntem Horchen, bzw. Ohrenzuhalten oder Verkriechen unter der 
Decke, ist zu entnehmen, daß sie von akustischen Halluzinationen belästigt 
wird. 


Am 26. 6.1938, also 24 Tage p.p., setzt eine zunehmende Beruhigung der 
Erregung ein, die Äußerungen werden geordneter, jedoch scheinen die Hallu- 
zinationen fortzubestehen. Ende des Monats tritt völlige Besonnenheit ein, 
gleichzeitig wird die Stimmungslage jetzt eindeutig maniform gehoben. 


Anfang Juli 1938 berichtet Frau H. über ihre Erkrankung, daß sie nach 
einem anfänglichen Stadium der Unruhe nicht mehr so recht gewußt habe, 
was um sie herum vorgegangen sei, alles sei so verschwommen gewesen. Als 
ihre Gedanken klarer wurden, habe sie Stimmen gehört, die ihr Befehle gaben, 
und die ihre Handlungen begleiteten. Es seien Ströme durch ihren Körper 
gegangen, die durch Metall abgeleitet worden seien. 


Auch jetzt sei es hier ihr noch unheimlich, sie wisse, daß es hier nicht ganz 
richtig sei, es würden Zeitschriften ausgelegt, damit die Kranken denken 
lernten und zwar in einer bestimmten Reihenfolge, die von den Ärzten be- 
stimmt würde. 


Stimmungsgemäß ist die Kranke jetzt heiter und übertrieben betriebsam, 
sie ist leicht ablenkbar und in ihrer Motorik noch unbeherrscht. 

Nach weiteren 14 Tagen, innerhalb derer die paranoid-halluzinatorischen 
Erlebnisse vollständig schwinden, ist das maniforme Stadium weitgehend 
abgeklungen und hat einer ausgeglichenen Stimmungslage Platz gemacht. 


Einen Monat später, nach insgesamt 2!/, monatiger Erkrankungsdauer, 
wird Frau H. am 15.8.1938 mit der Diagnose: ‚Puerperalpsychose mit 
paranoid-halluzinatorischen Zügen und maniformem Ausgangsstadium‘ 
geheilt entlassen. 


Laut Auskunft des Ehemannes ist sie wieder so wie früher in ihrem Aus- 
drucksgesamt und hat noch keine Auffälligkeiten wieder gezeigt. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 267 


Epikrise: 

Unmittelbar nach der Geburt wird Frau H., die während der Schwanger- 
schaft zeitweise ängstlich gewesen ist, psychisch auffällig. Nach einem 17tägigen 
Vorstadium tritt ein massiv amentielles Bild auf, das mit Erregungszuständen, 
labiler Stimmungslage und Bewußtseinseinengung einhergeht. Nach 10 Tagen 
geht das amentielle Bild in eine maniforme Verstimmung über, die während 
des Überganges von Beeinträchtigungserlebnissen und Halluzinationen, die 
zeitweise an eine Verbalhalluzinose erinnern, begleitet ist. Das maniforme 
Ausgangsstadium klingt innerhalb von 1'/, Monaten ab und führt zu völliger 
Heilung, die jetzt noch besteht. 

Die Krankengeschichte wurde in die Arbeit mit aufgenommen, da sie die 
einzelnen Stadien einer Puerperalpsychose besonders deutlich erkennen läßt. 


Fall 12. Frau M. (Nr. 47959), geb. 26. 6. 1895. 


Aus der Familienanamnese ist zu berichten, daß eine Schwester der 
Frau M. grüblerisch und schwermütig, aber nicht anstaltsbedürftig ist. 
In der Vorgeschichte der Frau M. findet sich nichts Besonderes. 


Jetzt: 


Am 1.4.1921 erfolgt nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus 
(Frühgeburt, Mens 8). 

5 Tage p. p. treten Temperaturen bis 40° auf, die innerhalb von 4 Tagen 
abfallen. 

Am 13. 4. besteht eine leichte Angina mit Temperaturen bis 39°, 

Gynäkologisch findet sich ein hühnereigroßer Tumor hinter dem Uterus 
links. Trotz leichter Abendtemperaturen wird sie am 27. 4. 1921 26 Tage p. p. 
gegen Revers entlassen. 

Nach Angaben des Mannes ist Frau M. gleich nach der Geburt ängstlich 
und bedrückt, sie beklagt sich über die schlechte Behandlung im Kranken- 
haus. Im Hause hält die Verstimmung an und steigert sich im Verlaufe der 
nächsten 8 Tage zu einer deutlichen depressiven Hemmung. Es erfolgt am 
7.5. 1921 die Einweisung in die hiesige Klinik. 


In der Klinik bietet Frau M. anfangs ein fast stuporöses Zustandsbild, die 
Motorik ist äußerst verlangsamt, das Gesicht hat einen bedrückten, unbeweg- 
lichen Ausdruck, es werden keine sprachlichen Äußerungen gemacht, die 
Körperhaltung ist gezwungen, starr und verkrampft. Der Kopf ist ins Kissen 
gedrückt, die Arme werden fest an den Leib gepreßt. Dabei besteht äußerst 
schlechte Nahrungsaufnahme und Schlaflosigkeit. Durch einen akuten Fieber- 
anstieg auf 40,5° am 10.5.1921 an Hand einer Grippe wird das stuporöse 
Zustandsbild unterbrochen und macht einem ängstlich verworrenen, desorien- 
tierten Zustandsbild mit großer Bewegungsunruhe Platz, das obgleich die Tem- 
peraturen abklingen, für 9 Tage unverändert bestehen bleibt. Mit abklingendem 
Fieber äußert die erregte Kranke erstmalig, daß sie Stimmen höre, die sie 
beschimpften, die ihr sagten, daß ihr Mann sie verstoßen habe, daß ihr Kind 
im Himmel sei und ihre Mutter tot sei. Gleichzeitig äußert sie, daß sie schwarze 
Katzen sehe, die ihr die Augen auskratzen wollten. 

Aus ihren Reden ist immer wieder zu entnehmen, daß sie sich von ihrer 
Umgebung bedroht fühlt und glaubt, daß schlecht von ihr geredet würde. 

Gegen Ende Mai 1921 wird die Kranke motorisch ruhiger, die Beeinträch- 
tigungsideen und die Halluzinationen werden als krankhaft angesehen, die 
Stimmung wird zunehmend froher und ausgeglichener. 
18° 


268 E. Beckmann 


Nach kurzen Stimmungsschwankungen Mitte Juni ist Frau M. am 19. 6. 
1921 also 2!/, Monate nach Beginn der Erkrankung soweit ausgeglichen, daß 
sie als gebessert unter der Diagnose: ‚‚Schizophrenie nach Puerperium‘‘ ent- 
lassen werden kann. 

Bei der Nachuntersuchung erfahren wir, daß Frau M. anfangs im 
Hause noch deutlich gehemmt und verlangsamt gewesen ist, bis sie im Juli 
1921 zu ihrer Schwester aufs Land kommt, wo eine weitgehende Auflockerung 
wenn nicht erneute Verstimmung nach der hypomanischen Seite hin auftritt, 
die im Dezember 1921 zu vollständiger Gesundung führt. Frau M. ist bis heute, 
d.h. 17 Jahre nach ihrer Erkrankung, vollständig unauffällig geblieben. 

Epikrise: 

Unmittelbar nach der Geburt setzt bei Frau M. ein ängstlich gefärbtes 
Vorstadium ein, das zu Schwankungen ins Gereizt-Nörgelige neigt. Nach 1 Monat 
vertieft sich die Verstimmung zu einem rein depressiven Zustandsbild, das im 
weiteren Verlauf in einen Stupor übergeht. An Hand einer intercurrenten 
fieberhaften Erkrankung wird der Stupor durchbrochen von einem amentiellen 
Zustandsbild, das über ein paranoid-halluzinatorisches Bild abklingt und in 
eine depressive Verstimmung übergeht. In wieweit das amentielle Stadium 
und sein Ablauf über die beschriebenen Stadien dem Wochenbett zuzu- 
schreiben ist, ist bei dem Auftreten der intercurrenten hochfieberhaften Er- 
krankung nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Sicher ist jedoch, daß Frau M., 
die mit der Diagnose ‚‚Schizophrenie‘“ entlassen wurde, nach einem längeren 
Verstimmungsstadium auch über die Entlassung hinaus wieder ganz gesundet 
ist und bis heute, d. h. während 17 Jahren unauffällig geblieben ist. 


Fall 13. Frau P. (Nr. 70808) geb. 25. 3. 1903. 


Aus der Familienanamnese ist zu entnehmen, daß die Mutter mit 
59 Jahren 1?/, Jahre lang schwermütig gewesen ist, ferner daß ein Bruder des 
Vaters der Mutter gemütskrank gewesen ist und schließlich daß ein Kind eines 
Bruders der Mutter 1928 vorübergehend Beziehungsideen gehabt hat, jetzt 
aber gesund ist. 

In der Vorgeschichte der Frau P. findet sich nichts Besonderes. 
1930 1. Partus, Abort im 4. Monat nach einem Unfall. 


Jetzt: 

Nach einer normalen Schwangerschaft findet am 10. 5. 1931 der 2. Partus 
(Zwillinge) statt. 

4 Tage nach der Geburt macht Frau P. sich Gedanken über Krankheiten, 
die während des Wochenbettes auftreten können. Sie muß in der folgenden 
Zeit viel darüber nachdenken, und sie klagt schließlich 14 Tage p. p. über 
mannigfache Beschwerden, für die sich kein Anhalt findet. Gleichzeitig ist sie 
ängstlich unruhig. Der Schlaf und die Nahrungsaufnahme sind schlecht und 
mit zunehmender Unruhe werden immer neue hypochondrische Ideen geäußert, 
so daß am 27.5.1931, 17 Tage p. p., die Einweisung in die hiesige Klinik 
erfolgt. 

Bei der Aufnahme ist Frau P. gut geordnet, orientiert, fast unauffällig, be- 
kommt jedoch noch am gleichen Abend einen schweren Erregungszustand. 

Die Erregungen wechseln ab mit ruhigen Stunden, während derer Frau P. 
ängstlich gespannt im Bett liegt und offensichtlich unter dem Eindruck vieler 
Halluzinationen steht. Sie verharrt dabei oft in bizarren Stellungen, um dann 
wieder erregt und unruhig im Saale herumzulaufen. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 269 


In dieser Zeit äußert sie: 

„Die Menschen haben alle so komische Gesichter — was ist das — mir 
läuft Quecksilber aus der Nase. Ja, wie ist das — da ist immer ein Loch da- 
zwischen in meinem Gehirn, dann kann ich mal wieder denken und dann ist es 
wieder weg. 

So, nun ist es es wieder gut — nun kann ich wieder denken — mein Kopf 
ist so schwer — meine Glieder sind ganz schlaff — was ist das für ein Zustand“. 

Bisher war die schwankende Stimmungslage durchaus im Vordergrund 
mit der ebenso wechselnden Motorik. 

In der nun folgenden Zeit beherrschen die akustischen Halluzinationen, 
die vielfach geäußerten Beziehungsideen und eine damit verbundene mo- 
torische Unruhe, bei einer widerstrebenden, aggressiven Stimmungslage, 
das Bild. 


In der Krankengeschichte finden wir folgende Einträge: 

„Redet viel, schreit um Hilfe, man habe sie als Kindesmörderin beschuldigt, 
man wolle sie vergiften, den Mund mit einem Schlauch stopfen, die Stimmen 
hätten gesagt, sie hätte Elefantenbabies. Alle wollten nur, daß sie sterben solle‘. 


Oder: 

„Stand öfters horchend und leise sprechend am Fenster, wurde erregt, 
wenn man sie störte, ihr Bett sei mit Blut und Eiter beschmiert, das hätten 
böse Menschen getan“. 

Zudem finden wir in den Pflegerberichten Angaben, daß sie überall Tiere 
sehe, die ihr schaden wollten. 


Von Anfang Juni an, d. h. ca. 1 Monat nach Beginn der Erkrankung, nimmt 
die motorische Beruhigung weiterhin zu, die indifferente Stimmungslage 
schlägt jetzt um in eine ratlose gehemmt antriebslose Verstimmung, die jedoch 
nur vorübergehend besteht, um nach kurzer Zeit einer gereizt maniformen 
Verstimmung Platz zu machen, die durch übertriebene Heiterkeit und An- 
triebsschwankungen und erneute motorische Unruhe ausgezeichnet ist. 

Dieses maniforme Bild hält mit unbedeutenden Stimmungsschwankungen 
bis gegen Ende Juli an. Frau P. tanzt und singt, lacht mit anderen Kranken, 
legt sich mit ihrem Südwester ins Bett, klettert auf den Wäscheschrank, um 
Turnübungen zu machen, und dgl. mehr. 

Am 25.7.1931 nach 2 monatiger Erkrankung wird die Kranke gegen 
Revers als gebessert entlassen. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau P., daß sie sich nach der 
Entlassung gleich völlig gesund gefühlt habe und daß sie seit der Zeit in der 
Stimmung ausgeglichen geblieben sei. 

Epikrise: 

Bei Frau P., die in ihrer Familie eine deutliche Belastung mit M. d. I. zeigt, 
beginnt 4 Tage nach der 2. Entbindung die psychische Erkrankung mit einem 
ängstlich-hypochondrischen Vorstadium, das nach 17 Tagen Dauer in ein 
amentielles Bild übergeht. Im weiteren Verlauf treten nach 4 Tagen paranoid- 
halluzinatorische Symptome in den Vordergrund des Bildes, mit denen die 
Stimmung aggressiv ablehnend wird. End Juni, also nach 1!/, monatiger Er- 
krankungsdauer, tritt nach einer geringen Stimmungsschwankung nach der 
depressiven Seite hin eine maniforme Verstimmung in den Vordergrund, die 
nach 1 monatiger Dauer abgeklungen ist und völliger Gesundung Platz macht. 
Die Gesamterkrankungsdauer beträgt also 2!/, Monate. Frau P. ist seit der 
Zeit bis heute, d.h. 7 Jahre, psychisch völlig gesund geblieben. 


270 E. Beckmann 


Fall 14. Frau R. (Nr. 58560). geb. 1. 11. 1900. 


Aus der Familienanam.nese ist nur bekannt, daß die Großmutter einen 
„Nervenzusammenbruch‘“ gehabt haben soll. 

Aus der eigenen Vorgeschichte der Frau R. ist zu bemerken, dab 
sie als „etwas feintuerig, verschroben und unordentlich‘“ bekannt ist. 


Jetzt: 

Im Mai 1926 macht Frau R. ihren 1. Partus durch. Die Schwangerschaft 
und Geburt verlaufen ohne weitere Besonderheiten. 1!/ Monate nach der 
Entbindung kommt Frau R. in ärztliche Behandlung wegen ‚‚nervöser Herz- 
beschwerden‘, die sie schon seit der Geburt gehabt haben will. !/, Monat 
später wird sie ängstlich erregt, ist nicht orientiert über ihre Umgebung und 
zeigt nach einem ärztlichen Bericht ‚‚Stereotypien und Perseverationen‘. 
Hinzu kommen akustische Halluzinationen und ängstliche Wahnideen, über 
die nichts Näheres ausgesagt wird, die aber in ‚theatralischer Form vorge- 
bracht werden‘. 

Daraufhin erfolgt am 6. 8. 1926 die Einweisung in die hiesige Klinik mit 
der Diagnose ‚‚Schizophrenie‘“‘. 

Bei der Aufnahme ist Frau R. unruhig, euphorisch, redselig, läuft nackt 
im Zimmer herum, lacht viel. 

Dabei ist sie voll ansprechbar und über Ort und Zeit gut orientiert. Die 
maniform gefärbte Unruhe hält den ganzen Monat an. Die Einträge lauten: 

„Negativistisch, geziert, theatralisch, redet völlig zusammenhanglos, nimmt 
unsinnige Handlungen vor, klettert auf Schränke etc.“ 

Gegen Ende August weicht die motorische Betriebsamkeit einer zuneh- 
menden Akinese, während die Stimmungslage unveranden heiter bleibt vergl. 
die Einträge: 

„Patientin lacht laut, lächelt gespannt, glücklich vor sich hin“. 
Dieser Stupor hält fast 3 Monate unverändert an. Ende Januar 1927 löst 
sich die Akinese zunehmend, wir finden folgenden Eintrag in der Kranken- 
geschichte: 

„Albern fragende, läppisch, affektschwache Kranke, die keine gesunden 
Interessen hat“. 

Im weiteren Verlauf beschäftigt die Kranke sich, bleibt jedoch albern in 
ihrer Verhaltungsweise, ihre Sprache ist deklamierend geziert. 

Am 20.2.1927 erfolgt die Entlassung mit der Diagnose ‚‚Dementia prae- 
cox‘“ (Lactationspsychose) als ungeheilt. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau R., die wir in ihrer Häuslich- 
keit aufgesucht haben, die einen äußerst gepflegten und guten Eindruck 
machte, über die Zeit nach ihrer Entlassung folgendes: Sie sei zu ihrer Mutter 
gegangen, habe versucht zu arbeiten, konnte es aber nirgends aushalten, da 
immer noch eine getriebene Unruhe in ihr war. Nach ca. 3—4 Wochen sei 
sie dann wieder ganz die alte gewesen und habe ihren Haushalt allein ver- 
sorgt. Über die Jahre bis zur Nachuntersuchung macht sie folgende Angaben: 
März 1929 2. Partus, der ohne Komplikationen verläuft. Juni 1930 3. Partus, 
der ebenfalls keine Auffälligkeiten bewirkte. 

1936 an Hand einer neuen Schwangerschaft sei sie ängstlich geworden vor 
einer neuen psychischen Erkrankung und habe sich auf eigenen Wunsch 
sterilisieren lassen. Hinterher habe sie es bereut. Bis auf diese leichte ängst- 
liche Verstimmung sei ihre Stimmungslage immer ausgeglichen gewesen. 

Bei der Nachuntersuchung zeigt sich Frau R. als eine lebensfrohe, warme, 
aufgeschlossene, im Affekt völlig zugewandte und erhaltene Persönlichkeit. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 271 


Epikrise: 

Bei Frau R. haben wir das Vorstadium, das offensichtlich unmittelbar 
nach der Geburt eingesetzt hat, sowie das amentielle Stadium, das anschei- 
nend vorübergehender Natur war, als auch das paranoid-halluzinatorische 
Übergangsstadium nur aus den Angaben der Angehörigen und des behandeln- 
den Arztes erschließen können. In unserer Klinik wurde dann das vorwie- 
gend maniforme Ausgangsstadium beobachtet, das durch den 3 monatigen 
Stupor zu der Entlassungsdiagnose Dementia praecox geführt hat. Wir 
möchten annehmen, daß auch der Stupor in das maniforme Zustandsbild 
hineinpaßt, insbesondere, weil ja in der Krankengeschichte immer wieder der 
strahlende Ausdruck der stuporösen Kranken geschildert wird. Bewiesen wird 
diese Annahme durch den Ausgang der Erkrankung in völlige Heilung, die 
heute 11 Jahre später unvermindert besteht. 


Fall 15. Frau S. (Nr. 80116). geb. 18. 4. 1909. 


Aus der Familienanamnese ist bekannt, daß der Vater der Frau S. 
ein Sonderling war, daß außerdem in der Familie des Vaters Alkohol-ab- 
usus vorgekommen ist und daß eine Kusine des Vaters als degenerativ-hyste- 
rische Psychopathin in der Provinzial-Heilanstalt Schleswig gewesen ist. 


Aus der Vorgeschichte der Frau S. ist zu bemerken, 1935 1. Partus 
(Totgeburt, Nabelumschlingung). Anschließend an die Geburt soll Frau S. 
sehr aufgeregt gewesen sein, später soll sich eine Zeit bedrückter Stimmung 
angeschlossen haben. 


Jetzt: 

Im April 1937 macht Frau S. ihren 2. Partus durch (Totgeburt, Sturz- 
geburt). 

Es wird berichtet, daß sie anschließend viel für sich allein gewesen sei, daß 
sie in der Stimmung äußerst labil gewesen sei — teils gereizt — erregt — 
teils bedrückt — weinerlich. Diese Verstimmung hält für 3 Monate bis Juli 
1937 unverändert an, um sich an Hand eines belanglosen Streites zu einem 
massiven Erregungszustand zu steigern, der zur Einweisung in die Universi- 
täts-Nervenklinik Halle führt. Die Stimmungslage der Frau S. wechselt 
zwischen betriebsamer Heiterkeit und ängstlichem Getriebensein, gleichzeitig 
besteht eine starke motorische Unruhe, die zu Temperaturen bis zu 40,3° 
führt, ohne daß ein somatischer Anhaltspunkt dafür zu finden wäre. Alle Se- 
dativa haben nur eine vorübergehende Wirkung, bis schließlich auf eine Me- 
dikation von 3 mal 20 Einheiten Insulin hin, die einen hypoglykämischen 
Schock herbeiführen, eine Beruhigung eintritt. 

Gleichzeitig gehen die Temperaturen zur Norm zurück. 


Am 7.8.1937 findet die Verlegung in die hiesige Klinik statt. Die bisher 
schwankende Stimmungslage hat jetzt einer ausgesprochenen Heiterkeit und 
Betriebsamkeit Platz gemacht, obwohl die motorische Unruhe weiterhin fort- 
besteht. Die Äußerungen der Kranken sind ideenflüchtiger Art, wirken teil- 
weise frech und burschikos. Affektiv ist Frau S. völlig nach außen gewandt, 
voll ansprechbar und gut orientiert. Das maniforme Zustandsbild hält bis 
Ende September, also 2 Monate nach Abklingen der Verworrenheit unver- 
ändert an. Im weiteren Verlauf wird sie zugänglicher, geordneter, ruhiger, 
wenn auch immer noch stimmungslabil. Am 1. 12.1937 endlich ist Frau S. 
soweit geordnet, daß die Entlassung unter der Diagnose ‚‚Puerperalpsychose‘ 
erfolgen kann. 


272 E. Beckmann 


Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau S., daß sie sich erst habe 
einarbeiten müssen, daß sie sich dann aber voll leistungsfähig gefühlt habe. 
Sie gibt noch weiterhin an, daß sie seit ihrer Erkrankung weniger ihren Stim- 
mungsschwankungen ausgeliefert sei, als es vor dieser Zeit der Fall gewesen 
sei. 

Psychisch ınacht Frau S. einen völlig natürlichen und unauffälligen Ein- 
druck. 

Epikrise: 

Nach einem auffallend langen stimmungsbetonten Vorstadium, das un mittel- 
bar nach der Geburt einsetzt, wird Frau S. erst 3 Monate nach der Entbin- 
dung für ihre Umwelt deutlich auffällig. Es setzt ziemlich akut ein amen- 
tielles Stadium ein, das neben der üblichen Symptomatik stärkste Hyper- 
kinese aufweist, die mit Temperaturen einhergeht. Im weiteren Verlauf klingt 
das amentielle Stadium über ein maniformes Zustandsbild von 2 Monaten 
Dauer ab und führt zu vollständiger Gesundung, die auch heute 1! Jahre 
nach der Erkrankung noch besteht. 


Fall 16. Frau St. (Nr. 67437). geb. 6. 1. 1907. 


In der Familienanamnese und der Vorgeschichte der Frau St. 
findet sich nichts Besonderes. 


Jetzt: 


Am 15. 1. 1930 macht Frau St. ihren 1. Partus nach einer normalen Schwan- 
gerschaft durch. Unmittelbar nach der Geburt beklagte sich Frau St. über 
schlechten Schlaf, sie ist in ihrer Stimmung labil und leicht weinerlich. 

10 Tage pp. wird Frau St. erstmalig auffällig durch merkwürdig drehende 
und ziehende Bewegungen ihrer Arme. Sie äußert dabei nur: ‚Ich muß mal 
scharf nachdenken“. 

In der Nacht wird sie ängstlich unruhig und äußert teilweise Todesge- 
danken. In den nächsten Tagen redet sie ununterbrochen und zusammen- 
hanglos, die Stimmung schwankt zwischen ablehnender Gereiztheit und ängst- 
licher Unruhe. Im weiteren Verlauf äußert sie, daß ihre Schwiegermutter 
„es ihr durch Sympathie angetan habe“. 

Vom 28.1.1930 ab, d. h. 13 Tage pp. ist sie in gehobener Stimmungslage 
und redet nach Angabe des Mannes in ‚„humoristischer Weise‘. Gleichzeitig 
verweigert sie die Nahrungsaufnahme, weil „das Essen vergiftet sei‘. 

Daraufhin erfolgt am 30.1.1930 die Einweisung in die hiesige Klinik. 

Hier bleibt Frau St. in dem gleichen maniform erregten Zustandsbild, sie 
redet ununterbrochen, nimmt alle Eindrücke ihrer Umwelt auf und äußert 
u.a. folgendes: 

„Mein Herz sitzt auf der rechten Seite, ich habe Radium drin — über- 
tragen soll ich das auf den Lautsprecher. Das ist ja, was Frieda Voß gesagt 
hat, daß ich verrückt bin, aber das bin ich nicht, ich bin ganz klar im Kopf, 
ich bin Frieda Voß und nicht Martha K....... Biest soll ich heißen, und 
warum ? Ich bin von Ziegenmilch groß gemacht worden, ich bin ne olle Ziege, 
von wegen Pflaster auf den Mund kleben, (Schwester klebt ein Etikett auf) 
das gibt’s nicht. Und jetzt soll ich verrückt werden, das will ich nicht“. 

Im weiteren Verlauf bleibt die maniforme Erregung bestehen, es werden 
immer wieder diffuse Beziehungsideen geäußert, ob Halluzinationen bestehen, 

ist aus der Krankengeschichte nicht zu entnehmen, wird aber bei der Nach- 
untersuchung von Frau St. als zutreffend angegeben. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 273 


Anfang Februar 1930, d.h. 1!/, Monate nach Beginn der Erkrankung, 
tritt eine zunehmende Beruhigung ein, und nach weiteren 8 Tagen ist die 
gehobene Stimmungslage so weit ausgeglichen, daß Frau St. als völlig be- 
sonnen, geordnet und affektiv erhalten unter der Diagnose ‚‚Puerperalpsy- 
chose‘“‘ entlassen werden kann. 

Bei der Nachuntersuchung berichtet Frau St., daß sie seit ihrer Ent- 
lassung immer ausgeglichen geblieben sei. 

März 1934 habe sie ihren 2. Partus durchgemacht, der ebenfalls ohne 
irgend welche Besonderheiten verlaufen sei. 

Epikrise: 

Bei der Erkrankung der Frau St. ist auffällig, daß das Vorstadium und 
das amentielle Stadium unmittelbar nach der Geburt äußerst flüchtig inner- 
halb von 14 Tagen abgelaufen ist, und so nicht zur klinischen Beobachtung 
gekommen ist. In der Klinik wurde das maniforme Ausgangsstadium beob- 
achtet, das innerhalb von 1!/, Monaten in völlige Heilung übergegangen ist, 
die auch heute, also 8 Jahre nach der Erkrankung, andauert. 


Fall 17. Frau V. (Nr. 75702). geb. 11. 4. 1910. 


Aus der Familienanamnese und aus der Vorgeschichte der FrauV. 
geht nichts Besonderes hervor. 


Jetzt: 


Am 25. 2. 1934 erfolgt nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus. 
Am 16. Tage nach der Geburt steht Frau V. zum 1. Mal auf; am nächsten 
Tage, den 12. 3. 1934, wird sie ängstlich erregt, klammert sich an und macht 
einen verdösten Eindruck. Der Zustand steigert sich bis zu einer ausgesproche- 
nen Verwirrtheit, die mit Stunden der Besonnenheit abwechselt. 

Daraufhin erfolgt am 17.3.1934 die Einweisung in die hiesige Klinik. 
Hier ist die Kranke ratlos ängstlich, offensichtlich verdöst und desorientiert. 
Sie macht kaum sprachliche Äußerungen, um wenige Stunden später in eine 
psvcho-motorische Erregung zu verfallen. In der folgenden Zeit bleibt das 
Bild im wesentlichen das gleiche. Auffallend ist der häufige Stimmungs- 
wechsel und die deutliche Bewußtseinseinengung, ihre Handlungen haben 
einen verträumten Zug. Für 6!/, Monate bis Ende September 193% hält 
dieser Zustand unverändert an. 

Es folgt dann eine Zeit, in der die affektive ängstliche Beteiligung bei 
gleichzeitiger zunehmender Orientierung für den Beobachter schwindet. 

Nach der Krankengeschichte wird der Eindruck gewonnen, daß die Kranke 
affektiv verflacht. Ihr Benehmen ist ‚„unruhig-läppisch, sie lacht laut und 
schreit, redet ununterbrochen in derben Ausdrücken“. Auch dieses Stadium 
hält ungewöhnlich lange an und im Juni 1935 wird daher erstmalig die Dia- 
gnose „Schizophrenie“ gestellt. 

Erst im September 1935, also ungefähr nach einem Jahr Dauer, beginnt 
eine langsame Auflockerung einzusetzen. Die Einträge aus dieser Zeit lauten: 

„lächelt einfältig, ist oft unruhig, lacht, macht Faxen, grüßt militärisch 
durch Handanlegen an die Schläfen, sehr albern-Jäppisch‘“. 

Auch mit weiterer Besserung ist die Kranke noch recht fahrig, in ihrem 
Verhalten, sowie in ihrer Sprache etwas kindisch und kokett. 

Wir zitieren aus dieser Zeit noch einen Brief der Kranken: 

„verehrte, sehr geehrte, gnädige Frau, mich gütigst nach Ihrem privaten 
Wohlbefinden erkundigend ..... Man sieht Sie Werteste so selten, da be- 
komme ich direkt Heimweh nach ihrer schönen schönen Gestalt, liebste Gnä- 


274 E. Beckmann 


digste..... Hoffentlich...... wird die Herbstsaison etwas belebter, als die 
jetzt schon seit Monaten herrschende Flaute“. 

Aus einem in dieser Zeit gestellten Gutachten möchten wir folgende Be- 
urteilung der letzten Zeit der Erkrankung zitieren: 

Im weiteren Verlauf der Erkrankung setzte dann ein akuter schizophrener 
Schub ein, mit negativistischen, mutistischen und stuporös-katatoniformen 
Zügen, der bis Ende August 1935 anhielt. Jetzt ist die Patientin weitgehend 
remittiert, jedoch ist es eine Defektheilung, da das Verhalten etwas zu kind- 
haft unbeschwert heiter erscheint. ......... Eine gewisse Affektlabilität, 
ein teilweiser Verlust der inneren Grazie sowie eine geistige Antriebherab- 
minderung sind unverkennbar“. 

Nachdem die Besserung gute Fortschritte gemacht hat, wird Frau V. am 
17. 12. 1935 mit der Diagnose ‚‚Schizophrenie ausgelöst im Wochenbett, auf- 
fallend gute Remission‘“ als gebessert entlassen. 

Bei der Nachuntersuchung stellt sich heraus, daß Frau V. wenige 
Wochen nach ihrer Entlassung wieder ganz ihre praemorbide Persönlichkeit 
erlangt hat. Sie ist heute, 3 Jahre nach ihrer Erkrankung, psychisch völlig 
unauffällig und ist seit ihrer Scheidung wieder voll berufstätig. 

Epikrise: 

Ohne ein nennenswertes Vorstadium setzt bei Frau V. 17 Tage nach der 
Geburt die psychotische Veränderung ein, die mit ihrer deutlichen Bewußt- 
seinseinengung, ihren groben Stimmungsschwankungen und ihrer motorischen 
Erregung ein exogenes Gepräge hat. Nach einer auffallend langen Dauer von 
6!/, Monaten geht dieses Bild über in einen Zustand, der durch teils stuporöse 
Züge, teils durch ein albern-läppisches Gebahren ausgezeichnet ist, und wohl 
in seiner temperamentsmäßigen Beteiligung als ein maniformes Bild ange- 
sehen werden muß. Für diese Annahme spricht auch die ‚auffallend gute 
Remission“, die ja wenige Wochen nach der Entlassung in völlige Heilung 
übergegangen ist. Frau V. ist auch bis heute, 3 Jahre nach ihrer Erkrankung, 
nicht wieder auffällig geworden. 


Fall 18. Frau G. (Nr. 78126). geb. 29. 1. 1910. 


In der Familienanamnese finden sich keine Besonderheiten. 

Aus der Vorgeschichte der Frau G. geht hervor, daß der A. Partus 
1934 schwer und lang andauernd war. Er mußte lt. Krankenblatt operativ 
beendet werden. 

Psychisch verlief die Schwangerschaft sowie das Wochenbett ohne Be- 
sonderheiten. 


Jetzt: 


Bereits vor der Entbindung soll Frau G. ängstlich gewesen sein, was aber 
durch die schwere 1. Geburt erklärt wurde. Mitte Januar 1936 macht sie 
ihren 2. Partus in Narkose mit Episiotomie durch. Unmittelbar nach der 
Geburt soll Frau G. ‚seelisch verändert“ gewesen sein; näheres ist nicht 
bekannt. 

Frau G. ist jedoch nach der Geburt nicht wieder aufgestanden wegen 
„großer Schwäche‘. 5 Wochen pp. wird sie gröber auffällig. Sie äußert mannig- 
fache hypochondrische Ideen, die mit Insuffizienzgedanken verbunden werden, 
Zz. B.: 

„Die Narkose ist noch nicht aus dem Leib, der Körper stirbt von unten 
her ab, der Kopf ist leer — alles ist vergiftet — ich stecke alle an etc.“ 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 275 


Vom 24. 2.—28. 3. 1936 ist Frau G. im Marien-Krankenhause in Hamburg 
in Behandlung. Nach einer vorübergehenden Auflockerung des Zustandes mit 
beginnender Krankheitseinsicht wird Frau G. affektiv und motorisch derartig 
gehemmt, daß die Verlegung in die hiesige Klinik notwendig wird. Gleich- 
zeitig werden die körperlichen Wahnvorstellungen und Entfremdungsgefühle 
bis ins Einzelne systematisiert: 

„Ihr Körper werde geteilt — sie fühle die Zunge gespalten — ein dunkles 
Fremdes bemächtige sich ihrer — es drücke ihr auf die Luftröhre und das 
Herz — es zwinge sie, ihrem Leben ein Ende zu machen — sie dürfe nicht 
schlafen, um nicht zu unterliegen etc.“ 

Im Affekt und in der Motorik wirkt sie äußerst gebunden — steif. Die 
Sprache ist langsam und tonlos. 

10 Tage später setzt eine deutliche Auflockerung des Zustandsbildes ein; 
die Kranke nimmt Verbindung mit ihrer Umgebung auf; wenn auch der stille, 
bedrückt-depressive Affekt noch unverkennbar ist. 

Mitte 1936, d.h. 3 Monate nach Beginn der Erkrankung, ist Frau G. so- 
weit gebessert, daß eine Beurlaubung für 4 Wochen vorgenommen wird. 

Bei ihrer Wiedervorstellung ist sie noch leicht gedämpft — sonst jedoch 
heiter, aufgeschlossen und nah. Sie bietet absolut nichts ‚‚Schizophrenes“ 
und wird am 25. 2. 1936 geheilt entlassen mit der Diagnose ‚‚Depressiv-hypo- 
chondrische Phase im Puerperium“. 

Bei der Nachuntersuchung später ergibt sich, daß Frau G. während 
der Zeit gesund und unauffällig gewesen ist. In ihrer Persönlichkeit ist sie 
warm und offenherzig und bietet keinerlei Krankhaftes mehr. 

Epikrise: 

Über den Beginn der Erkrankung im Wochenbett bei Frau G. ist nichts 
Sicheres bekannt. Wir müssen annehmen, daß kein längeres Vorstadium oder 
amentielles Stadium vorhanden gewesen ist, sondern daß gleich die depressiv- 
hypochondrische Verstimmung aufgetreten ist. Auch während der Beobach- 
tung in unserer Klinik stand die stimmungsmäßige Komponente des Zustands- 
bildes ganz im Vordergrund. Sicher ist nur soviel, daß die Erkrankung in 
völlige Heilung übergegangen ist. 


Fall 19. Frau K. (Nr. 70795). geb. 3. 1. 1902. 


In der Familienanamnese und in der eigenen Vorgeschichte ist 
nichts besonderes zu vermerken. 


Jetzt: 


Am 25. 2. 1931 macht Frau K. nach einer normalen Schwangerschaft ihren 
1. Partus durch, der durch eine schwierige Zangengeburt, eine Episiotomie 
und eine Cystovaginalfistel kompliziert ist. Nach Angaben des Ehemannes ist 
Frau K. bereits im Wochenbett bedrückt gewesen und hat viel vor sich hin 
sinniert. Am 17. 3. 1931 wird sie zur Operation der Cystovaginalfistel in das 
Allg. Krankenhaus St. Georg verlegt. Hier wird sie lt. Krankenblatt am 
27.3.1931, d.h. 1 Monat nach der Geburt psychisch auffällig, dadurch daß 
sie desorientiert ist, apathisch im Bett liegt, sich nicht bewegt und nur Äuße- 
rungen im Sinne von Selbstvorwürfen macht. Die Nahrungsaufnahme ge- 
staltet sich zu dieser Zeit äußerst schwierig. 

Am 15.4.1931, also 2 Monate nach der Geburt, findet die 1. Operation 
statt. Während der ganzen Zeit bleibt Frau K. unverändert gehemmt de- 
pressiv und verweigert die Nahrung, so daß schließlich am 23. 5. 1931 die 


276 E. Beckmann 


Verlegung in die hiesige Klinik vorgenommen werden muß. Die Cystovaginal- 
fistel besteht trotz der Operation weiter. 

In der hiesigen Klinik bietet Frau K. weiterhin ein depressives Zustands- 
bild, das mit Selbstvorwürfen, nihilistischen Ideen und einer ausgesprochenen 
motorischen Hemmung einhergeht und bis Anfang Juli 1931 (4 Monate pp.) 
unverändert bestehen bleibt. Im Juli 1931 setzt eine fortschreitende Auf- 
lockerung ein, die Mitte August eine ziemlich ausgeglichene Stimmungslage 
herbeigeführt hat, so daß Frau K. am 21.8. 1931 mit der Diagnose ‚‚Puer- 
peralpsychose, Schizophrenie?“ als gebessert entlassen werden kann. 

Am 25. 9. 1931, d. h. 1 Monat nach der Entlassung, wird Frau K. wieder in 
St. Georg zu einer erneuten Operation eingewiesen. Psychisch ist sie noch 
deutlich depressiv und gehemmt. Am 7. 11. 1931 findet die 2. Operation statt, 
wiederum ohne befriedigenden Erfolg, und am 23.1.1932 die 3. Operation, 
die anfänglich eine Schließung der Fistel vortäuscht. Am 13. 2. 1932 wird 
Frau K. entlassen. Sie gibt uns selbst an, daß sie zu dieser Zeit immer noch 
recht bedrückt gewesen sei. 

Am 23. 2. 1932 muß sie wieder in St. Georg aufgenommen werden, da der 
Urin wieder durch die Scheide abgeht. Am 2. 3. 1932 findet die 3. Operation 
statt, die mit einer Uterusexstirpation verbunden wird. Am 9. 4. 1932 erfolgt 
die Entlassung. 

Bis zu ihrer Aufnahme am 6.2.1933 im U.K. Eppendorf ist Frau K., wie sie 
selbst angibt, immer noch bedrückt und, wie sie sagt, schwermütig. Im U. K. 
Eppendorf findet am 16. 2.1933 die 4. Operation der immer noch nicht geheilten 
Cystovaginalfistel statt, dienun die endgültige Schließung der Fistel herbeiführt. 

Am 6.5.1933 wird Frau K. geheilt entlassen, nach ihren Angaben wird 
sie unmittelbar hinterher psychisch vollkommen frei. 

Kurz zusammenfassend ist also zu sagen, daß das subdepressive Zustands- 
bild, mit dem Frau K. im August 1931 bei uns entlassen wurde, erst nach 
endgültiger Heilung der körperlichen Wochenbetterkrankung nach 2 Jahren 
abgeklungen ist. 

Bei der Nachuntersuchung macht Frau K. einen natürlichen und ge- 
sunden Eindruck, sie selbst motiviert die lang anhaltende schwermütige Ver- 
stimmung mit dem langen Bestehen der Cystovaginallfistel. 

Epikrise: 

Bei Frau K. finden wir in den Angaben, die die Zeit nach der Entbindung 
angehen, nur einmal den Ausdruck ‚‚Desorientiert‘‘, so daß wir nicht mit 
Sicherheit ein amentielles Stadium feststellen können. Auch das Vorstadium, 
das unmittelbar im Wochenbett eingesetzt hat, trägt schon die depressiven 
Züge, die die eigentliche psychische Veränderung der Frau K. charakterisiert. 
Das depressive Bild setzt 1 Monat pp. ein und besteht über 5 Monate un- 
verändert fort und geht schließlich in eine subdepressive Verstimmung über. 
Bis hierher müssen wir wohl die psychische Veränderung als eine Puerperal- 
psychose auffassen, während das langdauernde Ausklingen der leichten Ver- 
stimmung mehr durch die lange Zeit der Ausheilung der Cystovaginalfistel 
zu erklären ist. Jedenfalls ist Frau K. nach 2 Jahren wieder vollständig ge- 
sund geworden und macht auch heute nach 5 Jahren einen psychisch unauf- 
fälligen Eindruck. 


Fall 20. Frau P. (Nr. 68026). geb. 14. 2. 1905. 


Aus der Familienanamnese geht hervor, daß der Vater, der an Krebs 
litt, 1935 gemeinschaftlich mit der Mutter, die zweimal wegen einer De- 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal- Psychosen 277 


pression in der hiesigen Klinik gewesen ist, Suicid durch Gasvergiftung be- 
gangen hat. Von den 2 Geschwistern der Frau P. ist zu berichten, daß die 
älteste Schwester in ihrem 1. Wochenbett eine ängstliche Verstimmung durch- 
gemacht hat, während die 2. Schwester nach ihrer 1. Geburt unauffällig ge- 
blieben ist. 

Aus der Vorgeschichte der Frau P. geht hervor, daß sie als Minder- 
begabte die Hilfsschule besucht hat, und daß sie 1925 eine Fehlgeburt durch- 
gemacht hat, die ohne irgend welche Auffälligkeiten verlaufen ist. 


Jetzt: 

Am 15.3.1930 macht Frau P. nach einer normalen Schwangerschaft 
ihren 2. Partus durch. Die Geburt ist schwer (Steißlage) und mit großem 
Blutverlust verbunden. 

Unmittelbar nach der Geburt fällt sie ihrer Umgebung durch eine über- 
triebene Heiterkeit auf, die ebenso schnell in eine unruhige ängstliche Ver- 
stimmung umschlagen kann. Die Mutter berichtet, daß ihre Tochter immer 
so merkwürdig gelacht habe, daß sie Faxen gemacht habe, daß man manch- 
mal den Eindruck gehabt habe, daß sie nicht ganz darüber orientiert sei, 
wo sie sich befände und was sie täte. Am 24. 3.1930, d.h. 9 Tage nach der 
Geburt, wird sie aus der Entbindungsanstalt nach Hause entlassen. 

Im Hause schlägt die eben noch wechselnde Stimmungslage eindeutig 
nach der ängstlich bedrückten Seite um, Frau P. äußert jetzt erstmalig Selbst- 
vorwürfe, wie z.B.: 

„Ich habe das Kind umgebracht — habe den Rat meiner Schweter nicht 
befolgt, ja Mutter, ich habe Schuld, ich habe soviel verbrochen, das kann ich 
nie wieder gut machen, ich muß mir das Leben nehmen, denn es hat keinen 
Zweck mehr“. 

Am 10. 4. 1930 wird sie mit dem gleichen Zustandsbild in die hiesige Klinik 
aufgenommen. Eine wenige Tage später auftretende Grippe mit Tempera- 
turen bis 40° ändern das schwer gequälte, ängstlich depressive Bild nicht. 
In der Motorik und in ihren affektiven Äußerungen ist Frau P. ebenfalls 
äußerst gehemmt, so daß sie ohne jede Verbindung zu ihrem Kinde oder zu 
ihrer Umgebung ist. 

Ende des Monats versucht sie, sich mit ihrem zerbrochenen Thermometer 
die Pulsadern zu öffnen. 

Im weiteren Verlauf erfahren wir aus den Äußerungen der Frau P., daß 
die schweren Selbstbeschuldigungen ihr von draußen zugeflüstert werden, 
daß diese Stimmen sie beschimpften und ihr sagten, daß sie ermordet werden 
müßte. Ende Juni 1930, d.h. 31/, Monate nach Beginn der Erkrankung wird 
Frau P. angedeutet freier in ihrem Ausdrucksgesamt, sie berichtet uns, daß 
Ihr die Stimmen nun keine Vorwürfe mehr machten, aber ihr sagten, daß sie 
an schrecklichen Krankheiten leide. Erst Anfang September 1930 tritt eine 
zunehmende Auflockerung ein, die Kranke beginnt Verbindung mit ihrer Um- 
gebung aufzunehmen, beschäftigt sich auch auf der Station. 

Anfang Oktober 1930, d.h. fast 7 Monate nach Beginn der Erkrankung, 
ist Frau P. so weit ausgeglichen, daß am 17. 10. 1930 die Entlassung unter 
der Diagnose ‚‚Depressionszustand‘ im Puerperium‘ erfolgen kann. 

Bei der Nachuntersuchung gibt Frau P. an, daß sie gleich nach der 
Entlassung vollständig gesund gewesen sei und ihren Hausstand habe ver- 
sorgen können. 

Am 24.5.1935 erfolgt der 3. Partus nach einer normalen Schwangerschaft. 


278 E. Beckmann 


Ca. 10 Tage nach der Geburt wird Frau P. still, kann sich nicht mehr freuen, 
weint viel, muß grübeln. Die Verstimmung bleibt diesmal im rein Stimmungs- 
mäßigen, es treten keinerlei Beziehungsideen oder Halluzinationen auf. 

Nach 4 Wochen fühlt sie sich wieder ganz gesund und bleibt auch seit 
dieser Zeit, d.h. 3 Jahre nach der letzten Erkrankung, ausgeglichen in der 
Stimmung und unauffällig in ihrem Ausdrucksgesamt. 

Epikrise: 

Bei Frau P., die mütterlicherseits mit M. d. I. belastet ist, tritt unmittel- 
bar nach einer schweren Geburt ein verwirrter Zustand auf, der 9 Tage an- 
hält und mit seiner schwankenden Stimmungslage und motorischen Unruhe 
bei anscheinender Bewußtseinseinengung wohl als eine Amentia zu bezeichnen 
ist. Im weiteren Verlauf schlägt die Stimmung eindeutig nach der depressiven 
Seite um, es setzt ein schwer gequältes, depressives Zustandsbild ein, das 
in seinem weiteren Verlauf von Halluzinationen und unklaren Beziehungs- 
ideen begleitet wird. Dieses Ausgangsstadium hält bis zu seiner vollständigen 
Ausheilung über 6!/, Monate an. Interessant ist es nun, daß bei Frau P. im 
2. Wochenbett wiederum eine ängstliche Verstimmung aufgetreten ist, wie es 
auch von ihrer ältesten Schwester bekannt ist. 

3 Jahre nach dieser letzten Erkrankung ist Frau P. vollständig unauffällig 
und zeigt keinerlei Restsymptome einer psychischen Erkrankung mehr. 


Fall 21. Frau F. (Nr. 63751). geb. 14. 8. 1905. 


In der Familienanamnese und in der Vorgeschichte der Frau F. 
findet sich nichts Besonderes. 


Jetzt: 


Am 2.9.1928 findet nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus 
statt. 6 Tage pp. fällt Frau F. durch eine weinerliche Stimmungslage auf, 
die sich am folgenden Tage zu einer depressiven Verstimmung mit Selbstvor- 
würfen und einer motorischen Hemmung steigert, die am 9. 9. 1928 zur Ein- 
weisung in die hiesige Klinik führt. 

Hier bietet die Kranke ein vorwiegend ratlos-ängstliches Zustandsbild, 
das innerhalb von wenigen Tagen mit einer schweren motorischen Unruhe 
einhergeht. Die Kranke ist kaum im Bett zu halten, muß immer wieder ins 
Dauerbad gebracht werden, versucht dort, sich aus der Wanne zu stürzen, 
oder trommelt sinnlos gegen die Wannenwände. Zu dieser Zeit bestehen 
laufend Temperaturen um 38°, die jeweils nach einer Injektion von Scop. 
oder Pernocton um weniges zurückgehen. 

Ende des Monats nimmt die motorische Erregung noch weiterhin zu, die 
Äußerungen der Kranken werden verworren, die Stimmungslage ist vorwie- 
gend ängstlich, dann wieder gereizt ablehnend mit Neigung zu Aggressionen. 
Gleichzeitig steigen die Temperaturen infolge eines Mammaabscesses über 
39° an. 

Das erregt, verworrene Zustandsbild bei vorwiegend ängstlicher Stimmungs- 
lage hält unverändert für gut 1 Monat bis Mitte Oktober 1928 an. 

Mit Abfall der Temperaturen, bei gleichzeitiger Entleerung der Abscesse, 
tritt eine zunehmende Beruhigung ein. Anstatt der Verworrenheit, während 
derer die Kranke offensichtlich viele akustische Halluzinationen gehabt hat, 
rückt nun die depressive Verstimmung mit verlangsamter Motorik in den 
Vordergrund. Mitte November 1928 bilden sich neue Abscesse bei Temperatur- 
anstieg bis zu 40°, gleichzeitig fällt Frau F. in das verworrene, erregte und 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 279 


verdöste Zustandsbild zurück, um aber nach 10 Tagen nach Abklingen der 
Temperaturen wieder in ihre depressive Verstimmung zu versinken. 

In der folgenden Zeit vertieft sich dieser Zustand bis zu einer Akinese, 
und beginnt sich erst nach einer Dauer von 3 Monaten im Februar 1929 auf- 
zulockern. 

Artn 27. 2. 1929 wird Frau F. als gebessert mit der Diagnose ‚‚Schizophrenie, 
Wochenbettpsychose‘ entlassen. 

1938, also 9 Jahre nach der Wochenbetterkrankung, macht der Ehemann 
die Angabe, daß seine Frau nach der Entlassung völlig unauffällig gewesen 
sei, daß auch bis heute keine psychischen Veränderungen wieder aufgetreten 
seien. 

Im August 1938 erkrankt die nunmehr 33jährige Frau F. erneut mit einer 
depressiven Verstimmung, der die ratlose, ängstlich-unruhige Komponente 
mit den verworrenen Äußerungen vollständig fehlt. Nach 10 Tagen treten 
Halluzinationen und paranoide Ideen auf. Der Schlaf und die Nahrungsauf- 
nahme sind zu dieser Zeit schlecht. Aus dem Krankenblatt der Nervenklinik 
Zepernick entnehmen wir, daß Ende August 1938 die Stimmung ins Gereizt- 
Ironische umschlägt, während die paranoid-halluzinatorischen Züge bestehen 
bleiben. Durch eine Ca-Schocktherapie wird eine weitgehende Auflockerung 
hervorgerufen, so daß Frau F. am 24. 9. 1938 als gebessert mit der Diagnose 
„paranoide Psychose nicht prozeßhafter Art“ entlassen werden kann. 

Nach einem Bericht vom Oktober 1938 ist Frau F. allerdings kurze Zeit 
später wieder eingeliefert worden und befindet sich auch jetzt noch, 5 Monate 
nach Beginn der Erkrankung, dort. Das jetzige Zustandsbild ist nicht be- 
kannt. 

Epikrise: 

Im Wochenbett erkrankt Frau F. nach einer 1 tägigen leichten Verstimmung 
mit einem depressiven Zustandsbild mit gleichzeitiger schwerster motorischer 
Erregung, das nach 3 Wochen gleichzeitig mit hochfieberhaften Mammaab- 
scessen das exogene Gepräge der Verworrenheit und des Ausgeliefertseins an 
die schwankende Stimmungslage bekommt. Mit Abklingen der Wochen- 
bettskomplikation tritt wieder das depressive Bild in den Vordergrund und 
klingt nach einer Gesamterkrankungsdauer von ca. 6 Monaten vollständig ab 
und führt zu einer 9 Jahre anhaltenden psychischen Gesundheit. Auffallend 
ist, das Parallelgehen der motorischen Erregung der psychischen Verworrenheit 
mit den aufflackernden und abklingenden Mammaabscessen. 

Nach 9 Jahren erkrankt Frau F. an einer paranoiden Psychose, die an- 
fänglich von einer depressiven und im weiteren Verlauf von einer maniformen 
Verstimmung begleitet ist. Die Psychose besteht heute nach 5 Monaten un- 
verändert fort. 


Fall 22. Frau R. (Nr. 47438 und andere) geb. 30. 4. 1892. 


In der Familienanamnese finden sich keine Besonderheiten. 

Aus der Vorgeschichte der Frau R. ist zu berichten: 

Oktober 1914 1. Partus (Frühgeburt, gestorben). 

November 1915 2. Partus. 

Beide Geburten verlaufen ohne Auffälligkeiten. 

Jetzt: 

Am 23.1.1918 macht Frau R. nach einer unauffälligen Schwangerschaft 
ihren 3. Partus durch. Nach der Geburt soll sie leicht erregbar und streit- 
süchtig gewesen sein. 


280 E. Beckmann 


Ca. 5 Monate pp., .während derer diese gereizte Stimmungslage anhielt, 
wird sie durch unsinnige Handlungen auffällig: 

„Sie fährt mit einem Kinderwagen, dem 1 Rad fehlt, läd fremde Leute 
zur Taufe des Kindes ein, putzt sich mit Haaröl die Zähne etc.“ 

Nachts ist sie unruhig, läuft nackt herum, näßt ein, schreit ängstlich auf, 
singt dann wieder, schläft überhaupt nicht. Schließlich fast 8 Monate pp. 
wird sie in die psychiatrische Klinik in Jena eingeliefert, in der sie nach fast 
1 Monat das gleiche Zustandsbild bietet. Besonders auffällig ist die große 
Unsauberkeit der Kranken. 

Im September 1918 wird sie zunehmend geordneter und ruhiger und kann 
Ende September 1918 als geheilt entlassen werden mit der Diagnose ‚‚akute 
Verwirrtheit in der Laktation‘“. 

Nach Angaben des Ehemannes bleibt sie bis zum Jahre 1921 völlig un- 
auffällig. 


2. Erkrankung: 


Am 2.1.1921 macht Frau R. ihren 4. Partus durch, nachdem sie bereits 
in der Schwangerschaft recht ängstlich gewesen ist. 8 Tage pp. tritt wieder 
ein akuter Verwirrtheitszustand auf, der mit labiler, aber vorwiegend ängst- 
licher Stimmungslage einhergeht. Während dieser Zeit packt sie mit ihren 
Betten, schmutzt mit Urin und Kot ein und hat später für diesen Zustand, 
der 12 Tage andauert, keinerlei Erinnerung. Anschließend geht die Erkran- 
kung mit zunehmender Ordnung des Gedankenganges in ein depressives Sta- 
dium über, das mit einer vorübergehenden Entlassung insgesamt 8 Monate 
andauert. Die Diagnose bei der Entlassung lautet:,,Dementia praecox, Psy- 
chose im Puerperium“. 

Nach Angaben des Ehemannes ist Frau R. gleich nach der Entlassung 
wieder ganz gesund gewesen und hat ihren Haushalt so wie früher erledigen 
können. 

Epikrise: 

Frau R. ist nach 2 aufeinander folgenden Entbindungen psychisch er- 
krankt. Das erste Mal im Jahre 1918 nach einem ungewöhnlich langen Vor- 
stadium, das 2. Mal ziemlich unmittelbar nach der Geburt. Während bei der 
1. Erkrankung nach einem Stadium der Verworrenheit, der Desorientierung 
bei maniformer Grundstimmung die Gesundung unmittelbar hinterher ein- 
setzte, ging bei der 2. Erkrankung dieses exogen gefärbte Bild in ein langes 
depressives Stadium über, das jedoch auch zu vollständiger Heilung führte. 

Im weiteren Verlauf erkrankt Frau R. ohne Zusammenhang mit dem 
Puerperium an einer Reihe von Phasen, die jeweils nach Angabe des Ehe- 
mannes von psychisch unauffälligen Zeiten abgelöst werden. 

Zu den jeweiligen Erkrankungen ist zu bemerken, daß ihnen in ihrem 
Beginn das exogen gefärbte Bild fehlt. 

1. August 1923 — November 1923: vorwiegend ängstlich gefärbter Er- 
regungszustand mit akustischen Halluzinationen. 

2. Juli 1926 — August 1926: Vorwiegend ängstlicher gefärbter Erregungs- 
zustand mit akustischen Halluzinationen. 

3. Oktober 1926 — November 1926: ängstlicher Erregungszustand. 

4. Oktober 1927 — Juni 1928: Anfänglich maniformer, später ängst- 
licher Erregungszustand. 

5. Mai 1930 — Juni 1930: Maniformer Erregungszustand. 

3 Jahre psychische Unauffälligkeit. 


w ye e o o —— 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 281 


6. Weihnachten 1933: 14 tägige maniforme Verstimmung. 
7. Pfingsten 1935: Depressive Verstimmung, in deren Verlauf Frau R. 
Suicid verübt duch Veronalvergiftung. 


Fall 23. Frau W. (Nr. 78748). geb. 21. 5. 1873. 


In der Familienanamnese und in der eigenen Vorgeschichte der 
Frau W. finden sich keine Besonderheiten. 


Jetzt: 


Am 1.2.1901 macht Frau W. ihren 1. Partus durch (Steißlage-Extrak- 
tion ohne Narkose. Darmriß 1. Grades). 

Am 5. 2. 1901 besteht leichtes Fieber und leichte Druckempfindlichkeit der 
Parametrien. 

Am 6. 2. 1901 ist das Fiber abgeklungen. Frau W. fühlt sich gut. Seit dem 
7.2.1901, also 6 Tage pp., ist Frau W. unruhig und laut. Teilweise ist sie 
heiter erregt, dann wieder ängstlich unruhig. Sie scheint massenhafte Gehörs- 
und Gesichtshalluzinationen zu haben. 

Am 20.2.1901 erfolgt deshalb die Verlegung in die hiesige Klinik. 

Das amentielle Zustandsbild mit den groben Stimmungsschwankungen, 
der motorischen Erregung und der zeitweisen Bewußtseinstrübung hält un- 
verändert an. 


Am 23. 2. 1901, also 11/, Monate nach Beginn der Erkrankung, gibt Frau 
W. erstmalig zu, Stimmen zu hören, die sie belästigen. Soweit aus der Kran- 
kengeschichte hervorgeht, glaubt sie sich von ihrem Manne betrogen. Andere 
Inhalte werden nicht erwähnt. Dabei läuft das erregte und verwirrte Bild 
unvermindert fort. Nur die Zeiten der Ansprechbarkeit und Bewußtseinsklar- 
heit werden länger. 

Erst am 15. 6. 1901, also nach 4 monatiger Erkrankungsdauer, finden wir 
den Eintrag: 

„Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen scheinen größtenteils abge- 
klungen zu sein. Pat. ist still, gehemmt, erscheint dement‘‘. 

Ende des Monats wird Frau W. beurlaubt und am 2. 9. 1901, also 7 Monate 
nach Beginn der Erkrankung, gebessert entlassen mit der Diagnose ‚Amen- 
tia mit Ausgang in Dementia““. 


Jetzt heißt es in dem Krankenblatt: 

In der nun folgenden Zeit soll Frau W. nach Angaben der Angehörigen 
immer schwer bedrückt und traurig gewesen sein. Sie soll die Arbeit nicht 
haben machen können und soll sich viele Selbstvorwürfe gmacht haben. 

Am 11.5.1903 wird Frau W. geheilt mit der Diagnose ‚Melancholia‘ 
entlassen. 

Schließlich kam es im Juli 1902 zu einem Suicidversuch, auf den hin sie 
am 1.8.1902 wieder in die hiesige Klinik eingewiesen wurde. 

Hier hat Frau W. während 9 Monaten bis Anfang 1903 ein rein depressives 
Bild mit äußerster Hemmung — Selbstvorwürfen — Nahrungsverweigerung 
und Schlaflosigkeit geboten. 


Von Januar 1903 an setzt eine allmähliche Besserung ein, die Anfang 
April 1903 so weit fortgeschritten ist, daß Frau W. beurlaubt werden kann. 

Jetzt heißt es in dem Krankenblatt: 

„Pat. hofft selber, daß sie ihren Haushalt wieder versorgen kann, freut 
sich auf das Zusammenleben mit Mann und Kind. Die Stimmung ist gleich- 
mäßig heiter, kein Intelligenzdefekt, vollständige Krankheitseinsicht‘“. 


19 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


282 E. Beckmann 


Am 11.5.1903 wird Frau W. geheilt mit der Diagnose ‚‚Melancholia“ ent- 
lassen. 

Nach den Angaben der Angehörigen hat es jedoch noch einige Monate 
gedauert, bis Frau W. in ihrer Stimme ganz frei und unauffällig war. Dann 
sei sie allerdings wieder genau so, wie vor ihrer Erkrankung gewesen. 

Insgesamt kann man also die Erkrankungsdauer seit der Entbindung mit 
rund 3 Jahren annehmen. 

Nach einem Intervall von 30 Jahren, während derer Frau W. völlig un- 
auffällig gewesen ist, setzt im Jahre 1932 bei der nun 59 jährigen Frau eine 
erneute psychische Veränderung ein. Die Erkrankung äußert sich in einer 
depressiven Verstimmung mit Selbstvorwürfen und Nahrungsverweigerung 
und zeitweisem ablehnendem Verhalten. Da sich der Zustand bis zu einem 
depressiven Stupor steigert, kommt sie für 7 Wochen in die Privatklinik 
„Eichenhain‘ und von dort nach einer leichten Auflockerung des Stupors für 
2 Jahre in ein Sanatorium. 

Von Ende 1935 ab ist sie wieder zu Hause, bleibt aber unvermindert de- 
pressiv, wenn auch hin und wieder leichte Auflockerungen stattfinden. 

Von Ostern 1936 an wird die depressive Verstimmung zunehmend tiefer 
und führt mit äußerst schlechter Nahrungsaufnahme zu einem schweren 
Stupor und allgemeinen Kräfteverfall. 

In diesem Zustand wird Frau W. im September 1936 erneut eingewiesen 
und stirbt nach 2 Tagen an Kreislaufschwäche. 

Epikrise: 

Die psychische Erkrankung setzt 7 Tage pp. mit einem amentiellen Zu- 
standsbild ein, das nach 4 Monaten über ein die Amentia z. T. noch beglei- 
tendes vorwiegend halluzinatorisches Stadium mit Beziehungsideen in ein de- 
pressives Zustandsbild übergeht, das insgesamt fast 3 Jahre anhält, dann 
aber zu völliger Gesundung führt. Nach 30 Jahren völliger Gesundheit tritt 
in der Involution erneut eine Depression auf, die nach 4 jähriger Dauer zu 
einem schweren Stupor führt, in dessen Verlauf Frau W. an Kreislaufschwäche 
stirbt. 


Fall 24. Frau K. (Nr. 72249/74 120). geb. 5. 8. 1904. 


In der Familienanamnese und der Vorgeschichte der Frau K. 
finden sich keine Besonderheiten. 

Jetzt: 

Am 18.2.1932 macht sie nach einer normalen Schwangerschaft ihren 
1. Partus durch. 

Unmittelbar pp. wird Frau K. auffällig, sie äußert Vergiftungsideen und 
glaubt sich verfolgt, dabei ist sie ausgesprochen ängstlicher Stimmungslage 
und motorisch unruhig, sodaß sie ins A. K. St. Georg eingewiesen werden 
muß. Während ihres 10 tägigen Aufenthaltes dort macht sich eine zuneh- 
mende ängstliche Erregung bemerkbar, die kurz vor ihrer Überweisung in 
die hiesige Klinik mit schweren paranoiden Äußerungen einhergeht. Am 
29. 2. wird sie in die hiesige Klinik mit der Diagnose ‚‚Wochenbettpsychose‘ 
verlegt. 

In der hiesigen Klinik schwindet die motorische Unruhe innerhalb von 
wenigen Tagen zu Gunsten eines stuporösen Zustandsbildes, das anfangs 
noch ängstlich gefärbt ist. 

Anfang April, d.h. 5 Wochen nach Beginn der Erkrankung, verliert sich 
die ängstlich-depressive Stimmung mehr und mehr und macht einem ab- 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 283 


lehnenden, oft aggressiven Verhalten Platz. Gleichzeitig werden die sprach- 
lichen Äußerungen, sowie die Verbindung mit der Umwelt immer weniger. 

4 Monate bleibt der Stupor unverändert bestehen. Frau K. wird am 25. 7. 
1932 auf Wunsch des Mannes ungeheilt mit der Diagnose ‚‚Schizophrenie“ 
entlassen. 

Innerhalb der 9 Monate, die Frau K. zu Hause verbringt, ändert sich das 
Zustandsbild nicht, sie bleibt ohne Kontakt mit ihrer Umgebung und muß 
vollkommen versorgt werden. Hin und wieder wird der Stupor durch eine 
Spontanhandlung durchbrochen, Frau K. springt dann auf, schlägt irgend 
jemanden, um gleich wieder in ihren Stupor zu versinken. 

Am 27.4.1933 erfolgt die erneute Einweisung in die hiesige Klinik. 

Auch diesmal ändert sich das Zustandsbild nicht, anfangs bestehen die 
noch oben beschriebenen Impulsivhandlungen, die später auch nicht mehr 
auftreten. Nach 2 jährigem Aufenthalt wird Frau K. als schizophrener End- 
zustand am 16.4.1935 in eine Versorgungsanstalt verlegt. 

Der Bericht von 1938 lautet: 

„völlig stumpfe Patientin, die nicht spricht, die gefüttert werden muß, 
die einnäßt und einschmutzt“. 


Epikrise: 

Bei Frau K. beginnt die psychotische r unmittelbar nach der 
Geburt und bietet wie bei den geheilten Puerperalpsychosen anfänglich ein 
ängstlich erregtes Zustandsbild mit paranoid-halluzinatorischen Zügen, das 
nach 1 monatiger Dauer in einen stuporösen Zustand übergeht. 

Im Gegensatz zu dem üblichen Verlauf der Puerperalpsychose tritt nun 
keine Auflockerung ein, sondern die ängstliche Note des Stupors schwindet 
mehr und mehr und macht bereits 2 Monate nach Beginn der Erkrankung 
einer affektiven Entleerung Platz. Der Stupor besteht, einige im Anfang auf- 
getretene Impulsivhandlungen ausgenommen, bis auf den heutigen Tag un- 
verändert fort und kann nur als ein Endzustand einer Dementia praecox an- 
gesehen werden, deren Ausbruch, soweit wir erfahren können, im Puerperium 
liegt. 


Fall 25. Frau S. (Nr. 62977 und andere). geb. 19. 6. 1899. 


In der Familienanamnese findet sich nichts Besonderes. 
Aus der Vorgeschichte der Frau S. geht hervor: 

1921 1. Partus. 

192? 2. Partus, beide verlaufen ohne Besonderheiten. 


Jetzt: 

Am 28. 2. 1928 macht Frau S. ihren 3. Partus durch (Drillinge). 
Anfänglich wird die Schwangerschaft als Tumor diagnostiziert, daraufhin 
hatte sie Angst vor der Operation und bildete sich ein, sie müsse 
sterben. Als die Schwangerschaft feststeht, wird sie wieder ausgeglichen 
und unauffällig. Die Geburt verläuft innerhalb von 5 Stunden mit einem 
großen Blutverlust und führt zu einer großen Erschöpfung der Kranken. 
2 Monate nach der Geburt sterben alle 3 Kinder an einem Darınkatarrh. 
2 Wochen pp. steht Frau S. auf, sie ist traurig und bedrückt, kann sich nicht 
zur Arbeit aufraffen, Schlaf- und Nahrungsaufnahme sind schlecht. 

Das depressive Bild bleibt ohne wesentliche Änderungen für 3 Monate 
bis zum Mai 1928 bestehen. 

Am 20. Mai 1928 schildert sie in erregter Weise ihrem Manne folgendes 
Erlebnis: 

19* 


284 E. Beckmann 


„Ihr Mann sei Adam, sie selbst sei Eva, ihre Kinder seien Kain und Abel. 
Jetzt käme das jüngste Gericht, alle müßten sich fest anfassen, dann geschehe 
nichts“. 

Später schildert sie noch weiter: 

„Ich lebte unter dem Einfluß einer Narkose, ich sagte meinem Manne 
alle meine Sünden, dabei habe ich geschrieen. Da kamen alle Nachbarinnen 
zu mir, und ich weissagte ihnen, was Gott mir eingab. Ich habe geoffenbart, 
wie die Weltgeschichte vorher war und nachher wird. Ich war dazu bestimmt, 
der Liebe Gott hat es Dir gesagt. Meistens höre ich nur Schönes, aber auch 
halb Pferd, halb Mensch habe ich gehört, das darf nicht sein“. 

Da die Erregung sich steigert, wird sie am 22.5. 1928 in die Klinik ein- 
geliefert. 

Nach der Aufnahme beruhigt sie sich innerhalb von wenigen Tagen, sie 
äußert Beziehungsideen, daß sie vergiftet werden soll, hat offensichtlich Hallu- 
zinationen, die wahnhaft verarbeitet werden. Ihr Erlebnis erzählt sie ohne 
adaequaten Effekt mit steifem Lächeln, ohne jeden Kontakt zu ihrer Um- 
welt. 

Im weiteren Verlauf bleibt sie abgeschlossen, verharrt oft in bizarren 
Stellungen, bedeckt ihr Gesicht, redet nur aus ihrer wahnhaften Gedanken- 
welt heraus. 

In den folgenden 2 Monaten wird weiterhin keine Verbindung mit der 
Umwelt aufgenommen, sonst verhält sie sich ruhig und gibt kaum noch ir- 
gendwelche Inhalte heraus. 

Am 26.6.1928, d.h. 4 Monate nach Beginn der Erkrankung nimmt der 
Mann sie gegen Revers ungeheilt heraus. 

Zu Hause schließt sie sich ganz ab, zeigt für nichts Interesse, liegt still, 
apathisch und stumpf im Bett und schläft auffallend viel. 

Im März 1929, 1 Jahr nach dem Beginn ihrer Erkrankung, läuft sie, nur 
mit dem Nachthemd bekleidet, fort und wird von dem Ehemann, der sie auf 
der Straße trifft, wieder eingeliefert. 

In der Klinik bewahrt sie ihre gleiche, steife, ablehnende Haltung, zeigt 
ein leeres, maskenhaftes Lächeln und äußert ohne affektive Beteiligung Be- 
ziehungs- und Verfolgungsideen. 

Ende Mai 1929 wird sie wiederum ungeheilt entlassen. 

Im Hause tut sie still ihre Arbeit, bleibt jedoch völlig isoliert, ohne tiefere 
Verbindung mit ihrer Familie. Seit dem Partus besteht keine eheliche Ge- 
meinschaft mehr. 

Im November 1929 beschuldigt sie plötzlich ihre Schwester, daß sie sie 
umbringen wollte, wird dabei sehr erregt, so daß sie erneut eingeliefert werden 
muß. 

Während ihres Aufenthaltes hier ist Frau S. unverändert fern, ohne jede 
sprachliche Äußerung und ohne jede affektive Äußerung gegenüberihrer Umwelt. 

Ende Januar 1930 wird sie mit der Diagnose ‚‚Schizophrenie‘““ entlassen. 

Seit dieser Zeit lebt sie zu Hause, verhält sich meistens geordnet, erledigt 
ihre Arbeit, nur kann man, nach Aussagen des Mannes, nicht an sie heran. 

Gegen Fremde ist sie äußerst mißtrauisch und ablehnend. Während ihrer 
Periode verfällt sie jeweils in einen Stupor und muß dann vollständig ver- 
sorgt werden. 

Epikrise: 

Aus einem auffallend lang anhaltenden depressiven Bild, das unmittelbar 
nach der Geburt auftritt, entsteht 3 Monate später ein paranoid-halluzina- 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 285 


torisches Bild, das nicht wie bei den übrigen Wochenbetterkrankungen in 
ein Stadium der Verstimmung übergeht, sondern von einer affektiven Ent- 
leerung gefolgt ist. 

Vorübergehende Erregungszustände mit paranoiden Ideen machen noch 
2 Mal einen Anstaltsaufenthalt nötig, sonst ist Frau S. wohl in der Lage, 
ihren Haushalt zu versorgen, bleibt jedoch völlig isoliert und ohne jeden Kon- 
takt zu ihrer Umwelt. Es handelt sich also um einen schizophrenen Endzu- 
stand, der sich aus einer depressiv-paranoid-halluzinatorischen Psychose im 
Wochenbett entwickelt hat. 


Fall 26. Frau P. (Nr. 77993). geb. 3. 7. 1904. 

In der Familienanamnese und in der Vorgeschichte der Frau P. 
findet sich nichts Besonderes. 

Jetzt: 

Am 5.1.1936 findet der 1. Partus durch Kaiserschnitt wegen zu engen 
Beckens statt. Die Operation und 10 Tage nach der Geburt verlaufen ohne 
Auffälligkeiten. Am 15.1. 1936 wird die Kranke ohne erkennbare Ursache 
äußerst erregt, so daß die Einweisung in die hiesige Klinik erfolgen muß. 

Hier zeigt Frau P. eine starke Bewegungsunruhe bei ängstlicher Stimmungs- 
lage. Sie wiederholt immer wieder die gleichen Sätze, äußert Todesahnungen, 
alle Menschen seien schlecht zu ihr. Unter zunehmender Unruhe, die zeit- 
weise den Charakter einer Hyperkinese trägt, steigen die Temperaturen auf 
38,4%, ohne daß sich ein organischer Befund finden ließe. Die Kranke ver- 
weigert die Nahrung, tritt, schlägt, kratzt und beißt. 

Nach einem kurzen Absinken der Temperaturen zur Norm mit einer vor- 
übergehenden motorischen Beruhigung am folgenden Tage, steigen die Tem- 
peraturen abends erneut auf 40° an. Jetzt ist Frau P. deutlich benommen, 
ängstlich unruhig, doch hat die Unruhe jetzt mehr ein ‚‚delirantes Aussehen“. 

Erst am nächsten Tag ist es möglich, als organischen Anlaß für die hohen 
Temperaturen eine Schmerzhaftigkeit der Bauchdecken festzustellen. 

Am darauffolgenden Tage, am 19.1.1936, erfolgt nach 4 Tagen nach 
Ausbruch der Psychose unter den Erscheinungen einer akuten Peritonitis 
der Exitus letalis. 

Die Sektion ergibt eine phlegmonöse Endometritis und einen kleinapfel- 


großen Absceß zwischen Uterus und Blase bei freiem Peritoneum — sep- 
tischer Milz und schlaffer trüber Leber. 
Epikrise: 


Bevor klinisch ein Anhaltspunkt gegeben war für das Bestehen einer pu- 
erperalen Sepsis, traten bereits psychische Veränderungen ein, im Sinne eines 
ängstlichen Erregungszustandes. 

Die anfänglich auftretenden Temperaturen waren von einer derartigen 
Hyperkinese begleitet, daß man an eine Motilitätspsychose denken konnte. 
Erst der weitere Verlauf zeigte die exogene Verursachung des Fiebers. Zu 
diesem Zeitpunkt bekam die Psychose auch das Gepräge eines Delirs. 


Fall 27. Frau S. Nr. 78542). geb. 21. 1. 1908. 

In der Familienanamnese und in der Vorgeschichte der Frau S. 
finden sich keine Besonderheiten. 

Jetzt: 

Am 30. Juli 1936 findet nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus 
statt. 


286 E. Beckmann 


5 Tage pp. fällt Frau S. erstmalig durch eine ängstlich erregte Stimmung- 
lage mit sprunghaften Gedankengängen ängstlichen Inhaltes auf. 

Bereits am nächsten Tage werden Beziehungsideen geäußert: 

„Die Schwester schaue sie so seltsam an, der Arzt habe sie magnetisiert“. 
zu denen Halluzinationen besonders auf akustischem Gebiet kommen. 

Wegen anhaltender ängstlicher Erregung erfolgt am 5. 8.1936 die Ein- 
lieferung in die hiesige Klinik. 

Hier wird somatisch eine Endometritis festgestellt. In den folgenden Tagen 
nimmt die motorische Unruhe bis zur Hyperkinese zu, die mit steigenden 
Temperaturen immer matter wird und ein feierlich drehendes, ziehendes Ge- 
präge annimmt. 

Im Krankenblatt findet sich folgende Diagnose: 

„Typische hyperkinetische amentielle Psychose, nichts Schizophrenes, 
exogenes Bild“. 

Gleichzeitig steigern sich die Halluzinationen, die Gedankengänge reißen 
ab und werden schließlich verworren. Dabei bestehen septisch intermittierende 
Temperaturen zwischen 37 und 40°. 

10 Tage nach Ausbruch der Psychose tritt ein atonischer Ileus auf, der 
die Verlegung in die Frauenklinik erfordert. 

Am 18. 8. 1936, also 13 Tage nach Ausbruch der Psychose, erfolgt bei gleich- 
bleibendem psychischem Befund mit motorischer Unruhe, Verwirrtheit und 
zunehmend eingeschränktem Bewußtsein der Exitus letalis. 

Die Sektion bestätigt die diagnostizierte Puerperalsepsis. 

Epikrise: 

Es handelt sich um eine 28 jährige Frau, die im 1. Puerperium durch ein 
ängstlich erregtes Zustandsbild auffällig wird, das sich nach einem 1 tägigen 
Übergang über ein paranoid-halluzinatorisches Bild zu einem hyperkinetisch 
verworrenen Zustand mit deliranten Zügen steigert. Mit steigenden Tempe- 
raturen auf Grund einer Puerperalsepsis erliegt die Frau 15 Tage nach Beginn 
der Psychose einem Kreislaufkollaps. 


Fall 28. Frau T. (Nr. 61163). geb. 10. 4. 1899. 


In der Familienanamnese und in der Vorgeschichte der Frau P. 
sind keine Besonderheiten. 


Jetzt: 


Am 12.8.1927 erfolgt der 1. Partus, dem ein fieberhaftes Wochenbett 
folgt. 

Am 18. 8.1927, d.h. 6 Tage später, steht Frau T. trotz der Temperaturen 
auf. 

7 Tage pp. wird sie unruhig und verwirrt. Am nächsten Tage tritt eine 
Parese des linken Armes auf. Frau T. ist weiterhin unruhig, drängt hinaus, 
ist nur für kurze Zeit zu fixieren und spricht ideenflüchtig mit Klangasso- 
ziationen vor sich hin. Sie äußert: 

„Eine an der Wand sitzende Fliege sei ihr Kind“. 

Es besteht eine auffällige Tachykardie mit Temperaturen zwischen 38 
und 39°, 

6 Tage nach Ausbruch der Psychose wird Frau T. etwas ruhiger und 
klarer. 

An diesem Tage kommt sie hochfieberhaft, desorientiert und halluzinierend 
in die hiesige Klinik. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 287 


In den folgenden Tagen bestehen septisch intermittierende Temperaturen 
bis über 40° bei anhaltender motorischer Unruhe und Verwirrtheit. 

Am 27.8.1927 morgens ist Frau T. subfebril und klar, sie macht einen 
sehr hinfälligen Eindruck. Abends steigen die Temperaturen erneut an. In 
den folgenden Tagen besteht das intermittierende Fieber fort, dabei nimmt 
der körperliche Verfall zu. 

Psychisch ist Frau T. bis kurz vor dem Tode geordnet. 

Am 30.8.1927, 12 Tage nach Ausbruch der Psychose, erfolgt der Exitus 
letalis. 

Bei der Sektion wird die angenommene Puerperalsepsis bestätigt, da- 
neben findet sich eine Purpura haemorrhagica. Auf dem Schnitt sieht man 
an einigen Stellen zahlreiche rote stecknadelkopfgroße Blutungen. 

Epikrise: 

Der Fall nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als hier eine herdförmige 
cerebrale Erkrankung neben der Puerperalsepsis bestanden hat. 

Das psychische Bild unterscheidet sich in nichts von den übrigen Fällen. 
Die schwere motorische Erregung, Ideenflucht, Halluzinationen und Bewußt- 
seinstrübung mit zeitweiligem eindeutig delirantem Charakter kennzeichnen 
das Bild. 

In den Tagen vor dem Tode geht bei zunehmendem körperlichem Verfall 
die Psychose zurück. 


Fall 29. Frau W. (Nr. 55548). geb. 8. 12. 1897 


In der Familienanamnese und in der Vorgeschichte der Frau W. 
lassen sich nicht mit Sicherheit Anhaltspunkte für eine geistige Erkrankung 
finden. 


Jetzt: 


Am 6.4.1925 findet nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus 
statt. Seit der Geburt besteht eine leichte Bronchopneumonie rechts unten. 

5 Tage pp. steht Frau W. auf. 

6 Tage pp. wird sie erstmalig auffällig durch lautes Singen von Liedern, 
ist sonst jedoch noch geordnet. Am folgenden Tage geht sie durch ein Fenster 
„um spazieren zu gehen‘ und entweicht aus dem Krankenhaus. Von der 
Polizei auf der Straße aufgegriffen, wird sie in die hiesige Klinik ein. 
geliefert. 

Seit der Aufnahme ist Frau W. sehr unruhig, betriebsam, dauernd in Be- 
wegung, rüttelt an den Steckbrettern, drängt aus dem Bett. ‚Es besteht 
eine ausgesprochen rythmische, von stereotypen taktmäßigen Worten beglei- 
tete Hyperkinese.‘‘ Anfangs ist Frau W. noch zu fixieren, gibt hier und da 
geordnete Antworten, wird jedoch zunehmend verworrener, bewußtseins- 
getrübter, in der Hyperkinese matter. 


Ihre Äußerungen: 

„Herr Heiderich immer langsam voran, Hamburg, Lübeck, Bremen, Sonne, 
Mond und Sterne, O, Haupt voll Blut und Wunden“. 

Gleichzeitig steigen die Temperaturen bis 40° an mit septischer Verlaufs- 
art. Mit zunehmender Somnolenz wird eine Untersuchung möglich, die einen 
Befund im Sinne einer Bronchopneumonie ergibt. Am 29.4.1925 erfolgt 
21 Tage nach Beginn der psychotischen Veränderung, der Exitus letalis. 

Die Sektion bestätigt eine Bronchopneumonie, Bronchitis purulenta, bei 
ausgedehnter Puerperalsepsis. 


288 E. Beckmann 


Epikrise: 

Es handelt sich um eine 28 jährige Frau, die 6 Tage nach einem ohne Be- 
sonderheiten verlaufenen Partus an einem Erregungszustand mit starker mo- 
torischer Unruhe und Verworrenheit erkrankt, bei gleichzeitig ansteigenden 
Temperaturen von septischem Verlauf bei bestehender Puerperalsepsis. 

23 Tage pp. erfolgt ohne wesentliche Änderung des psychischen Befundes 
der Exitus letalis. 


Fall 30. Frau F. (Nr. 62485). geb. 29. 12. 1902. 


In der Familienanamnese ist nichts Besonderes. 

Aus der Vorgeschichte der Frau F. ist zu sagen, daß sie im Mai 1925 
ihren 1. Partus durchgemacht hat, der ohne Besonderheiten verlief. Im De- 
zember 1926 erfolgt der 2. Partus, der 2 Monate später von einer depressiven 
Verstimmung gefolgt ist. Frau F. soll damals nach einer anfänglichen Über- 
empfindlichkeit herumgesessen haben, antriebslos gewesen sein, viel geweint 
haben und traurig gewesen sein. Nach 5 Monaten soll sie jedoch wieder ganz 
gesund gewesen sein. 


Jetzt: 

Am 19. 2. 1928 erfolgt als 3. Partus eine plötzlich eintretende Frühgeburt 
(mens. VI), die komplikationslos verläuft. Am 6. 3. 1928 Curettage wegen an- 
haltender Blutungen, die daraufhin stehen. Am 12. 3. 1928 innere Untersu- 
chung: o. B. 

Seit Tagen vorher ist Frau F. psychisch auffällig, sie macht einen getrie- 
benen, ängstlich unruhigen Eindruck. Daher erfolgt am 13. 3. 1928 die Ver- 
legung in die hiesige Klinik. Bei der Aufnahme ist Frau F. motorisch unruhig, 
skandiert dabei zeitweise in theatralischer affektierter Weise, ist nicht zu 
fixieren. Dabei schlägt sie gegen die Steckbretter, klopft gegen die Wand, 
reißt an ihrem Zopf und spuckt auf den Fußboden. Am folgenden Tage bleibt 
die motorische Unruhe, die den Charakter einer Hyperkinese trägt, unver- 
ändert bestehen. Gleichzeitig steigen die Temperaturen bis 38° an. Frau F. 
ist nicht zu einer Nahrungsaufnahme zu bewegen. In den folgenden 5 Tagen 
steigert sich die psychomotorische Unruhe noch weiter, gleichzeitig steigen 
die Temperaturen bis 38,8° an, ohne daß ein krankhafter Befund zu erheben 
wäre. Die Kranke verfällt zusehends. 

Am 20. 3. 1938, also 8 Tage nach Ausbruch des Erregungszustandes, macht 
die Kranke einen moribunden Eindruck, die Hyperkinese ist einer völligen 
Apathie bei benommenem Sensorium gewichen. Am folgenden Tage tritt 
unter zunehmendem Kräfteverfall, Kreislaufversagen der Exitus letalis ein. 

Die Sektion ergibt eine proliferativen, tuberkulösen Befund beider Lun- 
genoberlappen — broncho-pneumonische Herde in den Unterlappen und eine 
leichte venöse Stauung im Hirn. 

Epikrise: 

Bei Frau F. ist bereits im Anschluß an das 2. Wochenbett eine depressive 
Verstimmung aufgetreten, die mit einem hyperästhet. emotionellem Bilde 
begann und innerhalb von 5 Monaten zu völliger Gesundheit führte. 

Die im Anschluß an das 3. Wochenbett auftretende psychotische Verän- 
derung setzt diesmal nach einem ängstlichen Vorstadium mit einem akuten 
schweren Erregungszustand ein, der innerhalb von 4 Tagen den Charakter 
einer Hyperkinese mit Fieberanstiegen trägt. 

Durch die anhaltende Nahrungsverweigerung, die nicht zu bekämpfende 
motorische Unruhe tritt im weiteren Verlauf ein starker Rückgang des All- 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 289 


gemeinzustandes auf, der mit einer unbekämpfbaren Kreislaufschwäche ein- 
hergeht, und 9 Tage nach Ausbruch der Psychose zum Exitus letalis führt. 

Inwieweit die pathologisch-anatomisch gefundenen Befunde an der Lunge 
ausreichen, um die Schwere des Krankheitsbildes zu erklären, kann nicht 
mit Sicherheit festgestellt werden. 


Fall 31. Frau Sch. (Nr. 78766). geb. 12. 1. 1913. 


Aus der Familienanamnese ist zu berichten, daß eine Schwester der 
Frau Sch. vom Februar bis Juli 1932 wegen einer Depression in der hiesigen 
Klinik gewesen ist, und daß der Großvater väterlicherseits vorübergehend in 
einer Anstalt gewesen sein soll. 

Aus der Vorgeschichte der Frau Sch. ist Folgendes zu berichten: 
Im Juli 1933 erfolgte nach einer normalen Schwangerschaft der 1. Partus. 
Unmittelbar nach der Geburt wurde Frau Sch. ängstlich und weinerlich und 
äußerte im weiteren Verlauf auch Suicidgedanken. Nach ca. 6 Wochen klang 
die Verstimmung ab und machte einer völligen Gesundung Platz. 


Jetzt: 

Etwa im 3. Schwangerschaftsmonat, Ostern 1936, wird Frau Sch. wieder 
durch eine ängstliche Verstimmung auffällig, die mit Zeiten der Besserung 
und Unauffälligkeit bis zur Entbindung anhält. Am 2.9.1936 erfolgt der 
2. Partus. 

6 Tage pp. wird Frau Sch. durch einen akuten Erregungszustand auffällig, 
der durch eine ängstliche Stimmungslage ausgezeichnet ist. Während dieser 
Zeit nimmt Frau Sch. keinerlei Nahrung zu sich, sträubt sich brutal gegen 
alle Verrichtungen, so daß sie am 1.10.1936, d.h. 4 Tage nach Ausbruch 
der Psychose in die hiesige Klinik verlegt werden muß. 

Bei der Aufnahme wirkt die Kranke deutlich benommen, ist unverändert 
unruhig, wehrt sich gegen jede Berührung. Dieses Zustandsbild bleibt auch 
in den nächsten Tagen unverändert bestehen. Am 2.10. 1936 wird die Diag- 
nose „‚kataton-amentielles Bild“ gestellt. In den nächsten Tagen zeigt sich, 
daß durch die anhaltende Nahrungsverweigerung und die fortlaufende Ruhig- 
stellung mit großen Dosen von Beruhigungsmitteln, ein zunehmendes Zu- 
rückgehen des Allgemeinzustandes eintritt. Gleichzeitig wird Frau Sch. 
deutlich verdöster. 

Am 8. 10. 1936, d. h. 12 Tage nach Ausbruch der Psychose, setzt mit einem 
akuten ‚‚katatoniformen Erregungszustand‘“ ein Temperaturanstieg ein, der 
auch in den nächsten Tagen anhält, obgleich die Hyperkinese zunehmend 
matter wird und die Kranke einen moribunden Eindruck macht. Der jetzt 
eintretende Kreislaufkollaps ist nicht mehr zu bekämpfen, so daß am 13. 10. 
1936 der Exitus letalis eintritt. In der Krankengeschichte heißt es, daß kli- 
nisch keinerlei Anhaltspunkt für das plötzliche Versagen des Kreislaufs mit 
den hohen Temperaturen gegeben ist. 

Bei der Sektion ergibt sich neben belanglosen Einzelbefunden vor allem 
eine blutige Anschoppung beider Lungenunterlappen, sowie eine Dilatation 
sämtlicher Herzhohlräume. Eine sichere Ursache für has hohe Fieber kann 
nicht gefunden werden. 

Epikrise: 

Bei Frau Sch., in deren Familie eine Schwester an M.d.]. erkrankt ist, 
wird bereits von ihrem 1. Puerperium über eine depressive Verstimmung, 
die sich bis zu Suicidgedanken gesteigert hat, berichtet. Die Erkrankung ist 
jedoch in völlige Gesundung ausgegangen. 


290 E. Beckmann 


Im 2. Puerperium erkrankt Frau Sch. erneut und zwar diesmal mit einem 
akuten Erregungszustand, der, wie die Krankengeschichte berichtet, als ein 
kataton-amentielles Bild hingestellt wird. Bei anhaltender schwerster moto- 
rischer Unruhe und Nahrungsverweigerung treten hohe Temperaturen auf, 
für die sich kein Anhaltspunkt findet. Am 30. 10. 1936, also 17 Tage nach 
Ausbruch der Erkrankung, erfolgt der Exitus letalis. Auch post mortal findet 
sich nur eine blutige Anschoppung beider Lungen. Man muß also das akute 
Versagen des Kreislaufs auf die Schwere der Psychose zurückführen. 


Fall 32. Frau Sch. (Nr. 60100). geb. 20. 4. 1891. 


In der Familienanamnese findet sich nichts Besonderes. 
Aus der eigenen Vorgeschichte der Frau Sch. geht hervor, daß Frau 
Sch. eine 17 jährige Tochter und einen 7 jährigen Sohn hat, ferner, daß sie 
vor 2 Jahren eine Fehlgeburt durchgemacht hat, die ohne Besonderheiten 
verlaufen ist. 


Jetzt: 

Während der Schwangerschaft hat Frau Sch. häufig über Kopfschmerzen 
geklagt und ist manchmal aufgeregt gewesen. 

Am 12.3.1937 wird Frau Sch. mit einem fieberhaften Abort mens III 
in die Frauenklinik in der Finkenau eingeliefert. 

Am 13. 3. 1927 erfolgt die Ausstoßung des Foeten und am 14. 3. 1927 die 
Ausräumung der Plazenta. 

Mit dem Abklingen des Fiebers wird Frau Sch. zunehmend unruhiger. 
Sie steht offensichtlich unter dem Eindruck von Halluzinationen und wieder- 
holt immer wieder die gleichen Sätze. 

Am 16. 3.1927 deshalb die Einweisung in die hiesige Klinik. 

Bei der Aufnahme sind die Temperaturen bis auf 37,5° abgeklungen. Frau 
Sch. ist vollkommen orientiert und gibt ganz geordnete Antworten. Soweit 
aus der Krankengeschichte zu entnehmen ist, äußert sie Beziehungsideen und 
spricht von Stimmen, die sie beschimpfen. Affektiv ist sie zugewandt, jedoch 
ängstlich ratlos. Am 18.3.1927 steigen die Temperaturen an Hand einer 
Bronchopneumonie wieder bis auf 40°. Gleichzeitig wird Frau Sch. erneut 
motorisch unruhig bei ängstlich gespannter Stimmungslage; sie äußert mehr- 
fach Beziehungsideen und klagt über Stimmen, die sie belästigen. Am nächsten 
Tage nimmt die motorische Unruhe noch weiter zu, die sprachlichen Äuße- 
rungen werden verworren und unverständlich. 

In den nächsten beiden Tagen tritt eine deutliche Bewußtseinstrübung 
auf, gleichzeitig ist zunehmender Verfall des Allgemeinzustandes zu beobachten. 

Am 22. 3.1927 erfolgt der Exitus letalis. 

Die Sektion ergibt: 

In beiden Lungenunterlappen ausgedehnte bronchopneumonische Herde 
mit eitriger Bronchitis. 

Epikrise: 

Nach einem fieberhaften Abort setzt mit abklingendem Fieber eine Psy- 
chose ein, die nach einem flüchtigen amentiellen Vorstadium den Übergang 
über ein paranoid-halluzinatorisches Syndrom in eine ängstlich-depressive 
Verstimmung bereits erkennen läßt. 

5 Tage nach Ausbruch der Psychose setzt eine mit hohen Temperaturen 
einhergehende Broncho-Pneumonie ein, die mit erneuten Erregungszuständen, 
mit verworrenen sprachlichen Äußerungen und mit zunehmender Bewußt- 
seinsstörung einhergeht und nach 5 Tagen zum Exitus letalis führt. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 291 


Fall 33. Frau A. (Nr. 64507). geb. 16. 2. 1899. 


Aus der Familienanamnese ist bekannt, daß ein Bruder der Frau A. 
Selbstmord verübt hat. Nerven- oder Geisteskrankheiten sind nicht bekannt. 

Aus der Vorgeschichte der Frau A. ist zu berichten, daß sie mit 20 
Jahren nach dem Suicid des Bruders auffallend erregt gewesen ist. Dies wieder- 
holt sich mit 22 Jahren beim Tode der Mutter und mit 26 Jahren bei einer 
schweren Erkrankung der Schwester. 


Jetzt: 


Am 15. 8. 1928 macht Frau A. ihren 1. Partus durch, nach dem sie häufig 
Streitigkeiten mit dem Mann gehabt haben soll, angeblich weil er trank und 
Schulden machte. 

Am 29.12.1928, d.h. 4 Monate pp. kommt es wieder zu einem Streit 
zwischen den Eheleuten, so daß der Mann die Frau mit dem Kind fort schickt. 
Von der Polizei aufgefunden, wird Frau A. am 31. 12. 1928 mit einem Erre- 
gungszustand ins Eppendorfer Krankenhaus eingeliefert. 

Von dort wird durch die außerordentliche motorische Unruhe, die Nahrungs- 
verweigerung, durch das laute Schreien und Singen die Verlegung in die 
hiesige Klinik am 4. 1. 1929 notwendig. Hier hält die motorische Unruhe an, 
die Kranke macht dauernd scheuernde Bewegungen an den Steckbrettern 
und redet ununterbrochen die gleichen Worte vor sich hin. Am nächsten 
Tag steigert sich die Unruhe noch weiter, und macht mit ihren schleudernden 
ruckartigen zwangsmäßigen Bewegungen den Eindruck einer Hyperkinese. 
Gleichzeitig steigen die Temperaturen auf 39,7° an, ohne daß ein krankhafter 
körperlicher Befund zu erheben wäre. Die Kranke verweigert jede Nahrungs- 
aufnahme, spuckt oder erbricht alles zwangsweise Gereichte wieder aus. 

Vom 6. 1. 1929—8. 1. 1929 tritt eine vorübergehende Beruhigung ein und 
damit auch eine bessere Nahrungsaufnahme, sowie ein Abfall der Tempera- 
turen bis zu 37°. Stimmungsmäfßig ist die Kranke während dieser Zeit ängst- 
lich-ratlos. 

Im weiteren Verlauf setzt die Hyperkinese wieder ein und führt bereits 
am 10.1. 1929 wieder zu einem Temperaturanstieg bis 38,2%. Auffällig ist der 
stark reduzierte Allgemeinzustand der Frau A. und die massenhaften Haema- 
tome an allen Extremitäten. Während dieser Zeit schlägt die Kranke sinnlos 
gegen die Steckbretter, packt ihr ganzes Bett aus, drängt iınmer wieder aus 
dem Bett und muß zeitweise von 3 Schwestern gehalten werden. 

Am 12.1.1929 wird die Kranke zunehmend apathischer, die IIyperkinese 
wird matter, unter dem Zeichen des peripheren Vasomotorenkollapses tritt 
am 13.1.1929 der Exitus letalis ein. 

Bei der Sektion findet sich eine Hypostase in beiden Lungen und eine 
geringe Bronchitis, sowie eine leichte Erweiterung der Seitenventrikel. 

Pathologisch-anatomisch: kann das Fieber nicht geklärt werden. 

Epikrise: 

Bei Frau A. setzt unmittelbar nach der Geburt ein fragliches Vorstadium 
gereizter Verstimmung ein, das 4 Monate anhält, und dann zu einem akuten 
Erregungszustand führt und in eine schwere febril-cyanotische Episode über- 
geht, die nach einer Dauer von 13 Tagen unter zunehmendem kreislaufver- 
sagen zum Exitus letalis führt. 


Fall 34. Frau J. (Nr. 44262). geb. 30. 5. 1891. 
Familienanamnese und eigene Anamnese sind nicht bekannt. 


292 E. Beckmann 


Jetzt: 

Am 6.10.1918 erfolgt der 1. Partus, der ohne Komplikationen im Hause 
stattfindet. 

8 Tage nach der Geburt wird Frau J. unruhig, erregt, greift jeden an, 
redet sinnlos durcheinander, zerstört in ihrer Unruhe ihre Wohnungseinrich- 
tung, so daß die Einweisung in die hiesige Klinik erfolgt. 

Hier bietet Frau J. ein Bild äußerster psychomotorischer Unruhe, die 
kaum mit Sedativa ruhig zu stellen ist. 

Sie redet ununterbrochen deutsch und polnisch durcheinander, reagiert 
wohl auf Anruf, ist jedoch nicht zu fixieren. 

Inhaltlich erfährt man nur, daß die Nahrungsaufnahme mit den Worten 

„Weg — weg — Gift — Gift —“ 
abgelehnt wird. 

Gleichzeitig bestehen Temperaturen zwischen 38—39°, für die sich soma- 
tisch keinerlei Anhaltspunkt finden läßt. 

Gegen Ende Oktober tritt eine vorübergehende Beruhigung ein, während 
derer auch die Temperaturen auf subfebrile Werte absinken. 

Anfang November setzt die psychomotorische Unruhe erneut ein, gleich- 
zeitig steigen die Temperaturen wieder bis 39°. 

Durch die anhaltende Nahrungsverweigerung und die nun einer hemmungs- 
losen Hyperkisene gleichenden Bewegungsunruhe wird der Allgemeinzustand 
zusehends verschlechtert. 

Am 9.11.1918 steigen die Temperaturen bis 40° bei anhaltender Hyper- 
kinese. 

Am 11.11.1918, d.h. einen Monat nach Beginn der Erkrankung, erfolgt 
der Exitus letalis unter zunehmender Herzschwäche. 

Die Sektion ergibt keinen Anhalt für die hohen Temperaturen. Außer 
einigen kleinen Blutaustritten am Boden des 3. Ventrikels und einem ver- 
größerten, schlaffen Herzen findet sich kein pathologischer Befund. 

Epikrise: 

Es handelt sich um eine akut, febril zyanotische Psychose im Sinne Scheidits, 
die 8 Tage pp. einsetzt und nach 4 wöchiger Dauer ohne nennenswerte Beruhi- 
gung zum Exitus letalis an Kreislaufschwäche führt, ohne daß auch postmortal 
ein anderer exogener Faktor als eben die Psychose im Puerperium gefunden 
wird. 


Fall 35. Frau K. (Nr. 48922). geb. 14. 7. 1887. 


Die Familienanamnese ist ohne Besonderheiten. 

Aus der eigenen Vorgeschichte der Frau K. ist folgendes zu sagen: 

1914 1. Partus, der ohne Besonderheiten verlaufen ist. 

Ein Abort ohne Komplikationen. 

Am 18.10.1921 3. Partus, die Schwangerschaft und Geburt verlaufen 
ohne Besonderheiten. 


Jetzt: 

Am 24. 11. 1921 stirbt das Kind, d. h. 5 Wochen nach der Geburt. 7 Tage 
später wird Frau K. auffällig. Sie sitzt herum, zieht sich nicht mehr an, glaubt 
an einen unnatürlichen Tod des Kindes, gibt an, daß sie Stimmen höre, die 
ihr das sagten, dabei ist sie ängstlicher Stimmung. 

Am 3. 12. 1921 wird sie in die hiesige Klinik eingewiesen. Frau K. bietet 
das Bild einer schweren ängstlichen Erregung, sie ist jedoch dabei zeitlich 
und örtlich orientiert. Es bestehen Temperaturen bis zu 38,4°. 


Über Zustandsbilder und Verläufe von Puerperal-Psychosen 293 


Körperlich ist weder jetzt noch später irgendein krankhafter Befund zu 
erheben. 

In den nächsten Tagen steigert sich die motorische Unruhe bis zu einer 
schweren Hyperkinese bei ängstlicher Stimmungslage. Die Nahrungsaufnahme 
ist äußerst schlecht. Die Unruhe ist nur auf kurze Zeiten mit Beruhigungs- 
mitteln zu dämpfen. 

Nach dem 10.12.1921 sind die Temperaturen vorübergehend abgefallen, 
steigen aber vom 15.12. 1921 unter zunehmender Austrocknung und allge- 
meinem Kräfteverfall wieder an, um am 19.12.1921 40° zu erreichen. Am 
gleichen Tage, 18 Tage nach Beginn der psychotischen Veränderung; erfolgt 
der Exitus letalis. 

Die Sektion ergibt eine leichte Stauung des Gehirns, sowie eine gestaute 
Fettleber. 

Die Fieberursache kann pathologisch-anatomisch nicht geklärt werden. 

Epikrise: 

Auffallend ist in diesem Fall der lange freie Intervall zwischen Geburt 
und Beginn der Psychose von 6 Wochen, über den nichts Näheres bekannt 
ist. Im übrigen setzt die Psychose mit einem ängstlichen Erregungszustand 
ein, der sich innerhalb von 3 Tagen soweit steigert, daß er das Bild einer 
„akuten febril-cyanotischen Episode“ bietet, die nach einer Dauer von 18 
Tagen bei zunehmender Kreislaufinsuffizenz zum Exitus letalis führt. 


Schrifttumverzeichnis 


Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin 1923. — Bonhoeffer, Die Bedeu- 
tung der exogenen Faktoren bei der Schizophrenie. Mschr. Psychiatr. Bd. 88, 
1934, S. 201. — Bostroem, Zur Frage der verworrenen Manie. Archiv f. Psych. 
u. Nervenkrkht. Bd. 76, S. 671, 1926. — Büssow, Zur Frage der Perniciosa- 
psychosen. Zt. Neur. Bd. 165, S. 314, 1939. — Fürstner, Über Schwanger- 
schafts- u. Puerperalpsychosen. Arch. Psychiatr. Bd. 5, S. 505, 1875. — Hermes, 
Über die im Jahre 1907 behandelten Puerperalpsychosen. Inaug. Dissert. Kiel 
1908. — Hoche, Über puerperale Psychosen. Arch. Psychiatr. Bd. 24, S. 612 
1892. — Hoppe, Symptomatol. u. Prognose d. im Wochenbett entstehenden 
(reistesstörungen. Arch. Psychiatr. Bd. 25, S. 137, 1893. — Jafle, Beiträge zu 
den Puerperalpsvchosen. Inaug. Dissert. Berlin 1905. — Langfeld, The Prog- 
nosis in Schizophrenia and the Fakters influenzing the Course of Disease. Lewin 
u. Muncksgaard 1937. — Leonhard, Exogene Schizophrenien, Mschr. Psychiatr. 
Bd. 91, S. 249, 1935. — Meynert, Die Amentia, die Verwirrtheit. Jahrbücher 
Psychiatr. Bd. 9, S. 1, 1890. — Reinhardt, Beitrag zur Lehre ven den P.Ps. 
Inaug. Dissert. Leipzig 1907. — Roemer jr., Zur nosol. u. erbbiol. Beurteilung 
der Puerperalpsychosen. Z. Neur. Bd. 155, 1936. — Scheidt, Febrile Episoden 
b. schizophr. Psychosen. Leipzig 1937. — Scheidt, Zur Differentialdiagnose 
der symptom. Psychosen. Z. Neur. Bd. 162, S. 564, 1938. — Schröder, Über 
Wochenbettpsychosen und unsere heutige Diagnostik. Allg. Zt. Psychiatr. 
Bd. 104, S. 177, 1936. — Steinmann, Die Verursachung der Wochenbett- 
psychosen. Arch. Psychiatr. Bd. 103, S. 552, 1935. — Winter, Die Wochen- 
bettpsychosen. Inaug. Dissert. Marburg 1908. — Zeiß, Beitrag zu den Puer- 
peralpsychosen. Inaug. Dissert. Göttingen 1912. 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung 

zur Verursachung, Diagnostizierbarkeit, Lokalisa- 

tion und die durch sie bedingten Veränderungen 
und Ausfallerscheinungen 


Von 
Hans Nachtwey 


(Aus der Psychiatrischen und Nerven-Klinik der Universität Münster i. W. 
Direktor: Prof. Dr. F. Kehrer) 


Es sind jetzt erst 20 Jahre her, seitdem von Dandy in Baltimore 
eine neue Methode von grundlegender Bedeutung in die Diagnostik 
der verschiedensten Erkrankungen des Zentralnervensystems ein- 
geführt wurde. Während man früher nur in verhältnismäßig weni- 
gen Fällen Hirn- und Rückenmarkserkrankungen röntgenologisch 
zur Darstellung bringen konnte, ist es Dandy gelungen, mit Hilfe 
eines besonderen Kontrastverfahrens gleichsam eine Innenschau 
oder „autopsia in vivo‘ des Gehirns zu ermöglichen und damit 
ohne Eröffnung der knöchernen Hüllen des Zentralnervensystems 
in der Erkennung der bisher meist nur an ıhren Symptomen fest- 
stellbaren Erkrankungen hinsichtlich ihrer Art und Lokalisation 
einen gewaltigen Fortschritt zu erzielen. 

Bisher war eine röntgenologische Erfassung der krankhaften 
Hirnprozesse nur möglich, wenn dieselben mit im Röntgenverfahren 
kontrastgebenden Erscheinungen wie: Verkalkungen, Knochen- 
veränderungen und Luftansammlungen einhergingen. Von dieser 
Tatsache ausgehend wurden schon vor 40 Jahren von Schüller und 
später von Denk und Payr beim Hunde zur röntgenologischen 
Darstellung der Hirnkammern Luftauffüllungen derselben durch 
direkte oder endolumbale Injektionen vorgenommen. Dandy führte 
1918 diese Methoden zum erstenmal beim Menschen durch, und 
zwar zunächst durch direkte Luftauffüllung von einem Ventrikel- 
vorderhorn und 1919 auch vom Lumbalsack aus. In Deutschland 
war es Bingel, der 1920 die Darstellung der Hırnhohlräume auf 
lumbalem Wege systematisch durchführte und dieser Methode den 
Namen ‚Pneumoenzephalographie‘‘ gab. 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 295 


An dieser Stelle sei noch auf die außerordentlich wichtigen 
Untersuchungen Heiderichs über die Lage der Ventrikel im Gehirn 
und im Schädel sowie auf seine 1920 erfolgte Veröffentlichung 
stereoskopischer Bilder zur Gehirn-Schädel-Topographie hin- 
gewiesen, wodurch er nicht allein — wie er im Vorwort der zuletzt 
genannten Veröffentlichung sagt — dem Praktiker und Chirurgen 
die Orientierung in der Schädelhöhle erleichtert, sondern besonders 
auch der sich gerade entwickelnden röntgenologischen Darstellung 
des Hirnhohlraumsystems wichtige Dienste geleistet hat. Seitdem 
wurde diese Hirnhohlraumdarstellung mittels Luft ständig weiter 
entwickelt, wurde unter dem Namen ‚‚Enzephalographie‘ zu einem 
unentbehrlichen diagnostischen Hilfsmittel und brachte darüber 
hinaus noch wichtige Erkenntnisse über die physikalischen Ver- 
hältnisse sowie über die Sekretion und Zirkulation der Hirnrücken- 
marksflüssigkeit. Man hat als gasförmige Kontrastmittel außer 
Luft auch die verschiedensten Gase wie: Sauerstoff, Wasserstoff, 
Ozon, Kohlensäure und in Tierversuchen Cylopropan, Stickoxydul 
und Äthylen angewandt. Es wurden aber auch flüssige Kontrast- 
mittel bei der Hirnhohlraumdarstellung verwendet. Abrodil, Lipjodol, 
Jodipin, Thorotrastund Jodnatrium wurden von den verschiedensten 
Autoren dazu benutzt, haben sich aber nicht allgemein durch- 
setzen können, da sie zum Teil einen schädlichen Einfluß auf den 
Organismus ausüben, in der Hauptsache aber nicht so gute Resul- 
tate liefern, wie die Darstellung mit gasförmigen Mitteln. Nur das 
Jodipin ist heute in der Diagnostik der Erkrankungen im Bereich 
des Rückenmarkskanales allgemein anerkannt und nicht mehr zu 
entbehren, während von den Gasen heute die Luft das Mittel 
der Wahl ist. 

Die Methode der Luftfüllung der Hirnhohlräume ist je nach der 
Art und Lage des bestehenden Prozesses verschieden. Man ersetzt 
die Hirnrückenmarksflüssigkeit entweder nach Punktion des 
Lumbalsackes, bei der es zu einer besseren Darstellung der Sub- 
arachnoidalräume kommt, oder der großen Hinterhauptszisterne 
allmählich durch Luft. Dieses Verfahren wird heute als Enzephalo- 
graphie bezeichnet, während man im Gegensatz dazu der direkten 
Luftauffüllung der Hirnhohlräume nach Trepanation der Schädel- 
decke und Punktion eines Seitenventrikels und zwar je nachdem 
des Vorder- oder Hinterhorns den Namen ‚Ventrikulographie‘ 
gegeben hat. Diese letztere Methode kommt fast nur in Frage, 
wenn die Luftauffüllung infolge starker Druckerhöhung des Liquors 
bei allen hirndrucksteigernden Prozessen vom Lumbal- oder 
Okzipitalstich aus nicht möglich ist oder dabei eventuell eine 


296 Hans Nachtwey 


„Einklemmung‘“ der Medulla oblongata und der angrenzende 
Hirnteile in das große Hinterhauptsloch mit sehr verhängnisvollen 
Folgeerscheinungen auftreten kann. Die subjektiven Beschwerden 
bei einer Enzephalographie oder Ventrikulographie sind nicht un- 
erheblich, lassen sich jedoch durch geeignete Vor- und Nach- 
behandlung weitgehend mildern und klingen verhältnismäßig 
schnell wieder ab. Dauernd bestehende Folgeerscheinungen oder 
zum Exitus führende Komplikationen werden nach geeigneten 
Vorsichtsmaßnahmen relativ sehr selten beobachtet, so daß man 
diese Methode keineswegs a priori als gefährlich hinstellen kann. 

Es ist uns heute mit Hilfe der technisch jahrzehntelang erprobten 
Enzephalo- bzw. Ventrikulographie möglich, das gesamte Hirn- 
hohlraumsystem röntgenologisch so darzustellen, daß man sich ein 
plastisches Bild des Schädelinnenraumes machen kann, soweit dieser 
aus Hirnflüssigkeitsräumen besteht. Aus der auf diese Weise fest- 
stellbaren normalen „Hirnansicht‘‘ kann man nun weitgehende 
Schlüsse auf die Art, die Lokalisation und Ausdehnung aller ab- 
gelaufenen oder noch in der Entwicklung begriffenen Krankheits- 
vorgänge — einschließlich der durch Traumata verursachten 
Schädigungen — ziehen. Zunächst wurde die Enzephalographie 
in der Hauptsache zur Diagnose aller zu einer Hirndrucksteigerung 
führenden Anomalien herangezogen, die vorwiegend mit Kon- 
pression, Verschluß, Verdrängung oder Erweiterung an den Hirn- 
hohlräumen einhergingen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch ge- 
zeigt, daß man nicht nur diese verdrängenden Prozesse röntgeno- 
logisch erfassen, sondern überhaupt alle, welche zu Formverände- 
rungen der äußeren oder inneren Hirnwasserräume führen, ins- 
besondere aber auch Prozesse mit Schrumpfung von Hirngewebe 
sicherstellen kann. 

Guttmann hat (im Handbuch der Neurologie Bd. 7, 1936) die 
verschiedensten das Hirn betreffende Erkrankungen, die irgendwie 
zu Veränderungen des normalen enzephalographischen Bildes 
führen, zusammenfassend dargestellt. Schrumpfende und hirn- 
atrophische Prozesse wurden danach bisher in mehr oder weniger 
diffuser oder lokalisierter Form beobachtet bei: Epilepsie, zerebraler 
Kinderlähmung, Thrombangitis obliterans (Bürger), progressiver 
Paralyse, Psychosen des schizophrenen Kreises, Arteriosclerosis 
cerebri, Hennmungsmißbildungen und frühkindlichen Entwicklungs- 
störungen, heredodegenerativen Erkrankungen des Gehirns, multi- 
pler Sklerose, Lues cerebri, Meningitis chronica luetica, Lues 
congenita sowie Alsheimerscher und Pickscher Erkrankung. Aus 
dieser Zusammenstellung geht hervor, daß es eine ganze Anzahl 


reiten an. ne EEE 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 297 


hirnatrophischer und schrumpfender Prozesse gibt, denen gerade 
in der letzten Zeit hinsichtlich des erbgesundheitsgerichtlichen und 
Unfallverfahrens eine größere Bedeutung zukommt, als den zu 
Hirnschwellung und Hirndrucksteigerung führenden Prozessen. 
Während bei den letzteren vorwiegend Verlagerungen, Verschluß, 
Erweiterungen und Deformierungen des Liquorraumsystemes beob- 
achtet wird, steht bei den atrophiesierenden und schrumpfenden 
Prozessen hauptsächlich die Verziehung des Ventrikelsystems und 
infolge der Volumenabnahme des Hirnes eine mehr oder weniger 
umschriebene Vergrößerung oder Erweiterung der Subarachnoidal- 
räume im Vordergrund. Derartige enzephalographische Befunde 
kommen allerdings nun nicht ausschließlich bei der einen oder 
anderen Art der erwähnten Hirnprozesse vor, sondern in manchen 
Fällen kann die Entscheidung zwischen hirndrucksteigernden und 
. atrophiesierenden oder schrumpfenden Hirnprozessen nur unter 
. entsprechender Berücksichtigung des sonstigen klinischen Befundes 
und vor allem auch der möglichst genau objektivierten anamnesti- 
schen Angaben betroffen werden, zumal die beiden Vorgänge am 
selben Hirn sich keineswegs ausschließen. In manchen Fällen ist 
. eventuell eine mehrfache Wiederholung der Enzephalographie 
erforderlich, da erst durch den Vergleich der in Abständen von 
einigen Wochen bis zu mehreren Monaten angefertigten Aufnahmen 
der mehr verdrängende oder der einwandfreischrumpfende Charakter 
eines organischen Hirnprozesses erkannt werden kann. 

Besonders in den letzten Jahren war in der hiesigen Nervenklinik 
vielfach Gelegenheit gegeben, gerade die relativ selten im Schrifttum 
behandelten hirnschrumpfenden Prozesse röntgenologisch sicherzu- 
stellen. Diese Tatsache findet darin ihre Erklärung, daß in der über- 
wiegenden Zahl dieser Fälle entweder im Verlauf eines unfall- oder 
erbgesundheitsgerichtlichen Verfahrens hinsichtlich der Ätiologie 
sowohl für den Kranken selbst als auch im Interesse der Allgemein- 
heit recht schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden 
mußten, oder aber auch wichtige Hinweise für die einzuschlagende 
Therapie, besonders im Hinblick auf die Fortschritte der modernen 
Hirnchirurgie erwartet wurden. 

Schon diese Erörterungen zeigen, einen wie wichtigen Faktor 
unter den diagnostischen Hilfsmitteln die Enzephalographie für 
die Neurologie und die Psychiatrie darstellt. Gerade die schrumpfen- 
den Hirnprozesse sind mit den gewöhnlichen neurologischen Unter- 
suchungsmethoden längst nicht so einwandfrei diagnostizierbar wie 
die hirndrucksteigernden Prozesse, die zudem noch im allgemeinen 


viel ausgeprägtere Abweichungen und subjektive Erscheinungen zu 
® Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


298 Hans Nachtwey 


verursachen pflegen. Einer Anregung Kehrers entsprechend sollen 
aus der Gesamtzahl der Fälle der letzten Jahre mit enzephalo- 
graphisch ermittelten Hirnschrumpfungsvorgängen diejenigen aus- 
gewählt werden, bei welchen auch das übrige Bild, insbesondere 
in Hinsicht auf die Vorgeschichte, so vollständig ermittelt werden 
konnte als es heutzutage möglich ist. An Hand dieser Fälle — ihre 
Zahl beträgt 22 — sollen dann ihre Verursachung, Diagnostizier- 
barkeit, ihre Lokalisation, die durch sie bedingten Veränderungen 
und Ausfallserscheinungen und vor allem aber der Einblick be- 
sprochen werden, welchen gerade die Enzephalographie in das ge- 
samte Krankheitsgeschehen vermittelte. 

Der Übersichtlichkeit halber wird auf die ausführliche Wieder- 
gabe der vollständigen Krankengeschichten dieser Fälle verzichtet 
und nur ein Auszug der wichtigsten Angaben und Untersuchungs- 
ergebnisse derselben tabellarisch angeführt. (Siehe Seite 6—17). 

Überschauen wir nunmehr die in dieser Übersicht zusam- 
mengestellten Fälle, so ist zunächst benerkenswert, daß nur in 
44 Fällen überhaupt eine genauere Einweisungsdiagnose 
gestellt wurde und zwar lautete diesedurchweg ziemlich unbestimmt 
auf nervöse oder psychiatrische Ausnahmezustände bzw. Ab- 
weichungen wie: „organisches Nervenleiden‘, ‚„Hirnnervenstörungen 
mit Demenz‘, „Ataxie und Aphasie‘“, „Hemiplegie und Diabetes‘“, 
„epileptische Äquivalente nach schwerer Schädelbasisfraktur‘‘, 
„Verdacht auf genuine Epilepsie‘‘, „seröse Meningitis oder Epi- 
lepsie“, „spastische Parese der Beine nach Geburtstrauma‘“, 
„Kinderepilepsie mit Krämpfen der linken Körperseite‘‘, „Krampf- 
anfälle infolge kleiner Gummen im Gehirn bei vierfach positiver 
Wassermannscher Reaktion im Liquor“, „spinaler Prozeß bzw. 
Rückenmarksgeschwulst mit hysterischer Überlagerung“ und end- 
lich „Folgezustand nach Kopfgrippe“. In 6 der 14 Fälle mit 
irgendeiner Einweisungsdiagnose deckte sich diese ungefähr mit, 
der endgültigen Schlußdiagnose oder dem Schlußurteil (Fall 3, 4, 
8, 12, 16 und 21). Der Grund kann nicht allein darin liegen, daß 
der Klinik viel vollkommenere diagnostische Hilfsmittel zur Ver- 
fügung stehen, sondern ist zum großen Teil in der Tatsache zu 
suchen, daß die Hirnschrumpfungsprozesse vielfach relativ wenig 
ausgeprägte oder aber zu uncharakteristische Abweichungen vom 
normalen neurologischen Befunde ergeben, daß außerdem ihre 
äußeren Erscheinungen — hauptsächlich die mannigfaltigsten 
epileptiformen Krampfanfälle — bei der doch meist ambulanten 
Untersuchungsmethode der freien Praxis nicht hinreichend beob- 
achtet werden können und auf genauere anamnestische Erhebungen 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 299 


nicht genügend Wert gelegt wurde. Nur so kann man sich erklären, 
daß z.B. die in das persönliche Leben des einzelnen sehr tief- 
greifende Diagnose: genuine Epilepsie (Fall 2, 6, 10) gestellt wurde 
oder daß, wie in Fall 17, Krampfanfälle auf eine luetische Er- 
krankung des Zentralnervensystems, die in keiner Weise bestätigt 
werden konnte, zurückgeführt werden oder ein spinaler Prozeß bzw. 
eine Rückenmarksgeschwulst mit hysterischer Überlagerung (Fall 18) 
angenommen wurde, wo die klinische Untersuchung und später 
auch die Autopsie einen stark schrumpfenden Prozeß der Frontal- 
lappen mit ausgesprochener Stirnhirnatrophie aufdeckte. 

In Anbetracht dieser offensichtlichen Fehldiagnosen weisen wir 
auf die große Wiehtigkeit einer sehr sorgfältigen und 
möglichst genau objektivierten Anamnese hin, die in 
sehr vielen Fällen allein schon richtunggebende diagnostische Hin- 
weise ermöglicht. Jedes noch so geringfügig erscheinende Trauma, 
besonders wenn es den Schädel unmittelbar betroffen hat, sei es 
nun während der Geburt oder bei irgendeinem Unfall im späteren 
Leben, muß entsprechend berücksichtigt werden, ebenso wie die 
genaue Art und der Zeitpunkt des Auftretens epileptiformer Er- 
scheinungen. Gerade die durch ein Schädeltrauma hervorgerufenen 
Hirnblutungen sind es, die sehr oft allmählich zu Schrumpfungen 
von Hirngewebe führen, während mehr oder weniger herdbetonte 
Krampferscheinungen wichtige Schlüsse auf die Lokalisation von 
Hirnschädigungen zulassen, anderseits aber durch ihren Herd- 
charakter z. B. eine genuine Epilepsie mit auszuschließen helfen. 
Selbstverständlich muß man bei Erhebung der Anamnese be- 
sondere Aufmerksamkeit auf früher durchgemachte entzündliche 
Erkrankungen des Zentralnervensystems sowie auf das Vorkommen 
irgendwelcher Geistes- und Nervenkrankheiten oder sonstiger 
Eigentümlichkeiten in der Familie richten. 

Betrachten wir unsere 22 Fälle genauer unter diesen Gesichts- 
punkten, so konnte in 10 Fällen ein Geburtstrauma oder ein unfall- 
verursachtes Kopftrauma hinreichend sichergestellt werden; in 
Fall 9, 10, 17, 18 und 21 war die Annahme einer entzündlichen 
Hirnerkrankung rein anamnestisch schon ziemlich wahrschein- 
lich; in Fall 4 bestand eine starke familiäre Belastung mit Schlag- 
anfällen und einem fraglichen Fall von Diabetes, so daß bei der 
Kranken der Gedanke an eine Apoplexie von vornherein sehr nahe 
lag; in Fall 15 berechtigte die Tatsache, daß eine Schwester der 
Kranken wegen Schwachsinns sterilisiert, ihre Mutter ‚‚nerven- 
leidend‘‘ war und sie selbst an Migräne litt zu der Annahme, daß 
sie selbst bei sonst negativem Befunde und trotz eines röntgeno- 
20° 


300 


Hans Nachtwey 


Fazialis- und |der Goldsol- Wa.R. Ø 
Hypoglossus- |kurve (Dege- 

parese, Apha-| nerativer 

sie, Ataxie, Prozeß?) | 
Tonusstörun- 

gen, Demenz 


Indikation Neurologi- buio 
Einweisungs- | der Einwei- scher und en Aurea 
diagnose sung in die | Psychischer Enderunzen BR: 
Klinik Befund g 
í 
Organisches |Krampfanfälle|Nystagmus, | Niedriger o. B. Nystagmu: 
Nervenleiden Fazialisparese,| Eiweißgehalt, Wa.R. Ø rotatoriu:. 
Reflexdifferen-| Rechtszacke, Hyperop: | 
zen, Babinski | positiver i 
Pandy i 
í 
Erbliche Fall-| Begutachtung o. B. o. B. Relative o. B. 
sucht für das E.G.G. Lympho- 
zytose, 
Wa.R. Ø | 
5.| 
Ataxie, De- |Beobachtung |Nystagmus, | Isolierte Zacke o. B. o. B., 
] 


menz, Hirn- |u. Untersu- 
nervenstörun- | chung 
gen, Aphasie 


t 
$ 


Hemiplegie, |Psychische Fazialisparese,|O. P.: Pandy]| Starke Blut- | Fazialisparg 
Diabetes Veränderun- |Reflexdifferen-| positiv, starke| zuckervermeh-| fragliche | 
gen zen, Hemi- Zuckerver- rung; Trigeminvs 

plegie, apha- | mehrung. Wa.R. Ø |störung 


tische Störun-| L. P.: (Anc.) 
gen, vorüber-| Zellvermeh- 
gehend psychi-| rung, geringere 
sche Verände-| Zuckerver- 


rungen mehrung 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 301 


Familie o. B. | Diffus Ätiologisch 
Beginn der schrumpfen- |unklarer 


sschlägi- |Paresen, — 
ıystagmusl Ataxie, 


Familien- ; 
geschichte on N il 
Dauer- Vorüber- nach der Enzephalo- der Cor 
nbefund ver- gehende Ver- | objektiven graphische ira RA 
änderungen | änderungen Anamnese Diagnose ndS ch] 2 
und eigene s dia HAE 
Vorgeschichte puos 
12 
ıselnder |Epileptiforme — Zwilling, Schrumpfung | Geburts- 
tan- Anfälle Krampfanfälle| von Hirn- trauma, Trau- 
ıgmus, gleich nach der| gewebe im lin-| matische Resi- 
aohr- Geburt, zwei |ken post- dualepilepsie 
erhörig- Schiefhals- parietalen 
en Gebiet 
s Kind 
ob 
o. B. Epileptiforme — 1927 Schädel-| Schrump- Schädel- 
Anfälle trauma mit |fungsprozeß |trauma, Trau- 
Bewußtlosig- | der rechten | matische 
keit. Anfälle | Hirnseite, be- | Residual- 
schon seit sonders der Į epilepsie, erb- 
1915/16 hinteren liche Fallsucht 
Scheitelgegend| nicht genü- 
' gend sicher 
ia 
Aphasie geistigen und |der, basal sit-| Schrump- 
Demenz körperlichen | zender Prozeß| fungsprozeß 

Störungen hauptsächlich | im Hirn; in- 

1933 mit 12 |Okzipital- und| fantile De- 

Jahren Kleinhirn- menz 

gegend betref- 
fend 

ria 
ht unter- | Spastische Psychische u. | In der Familie| Stark Diabetes; 
t Parese links |aphatische gehäufte schrumpfender!| Spastische 
Störungen Schlaganfälle, | Prozeß des Hemiplegie 
Diabetes?, rechten links nach 


Tuberkulose | Fronto-Parie- | Apoplex 
talhirnes 


302 


Hans Nachtwey 


H 


Indikation 

Einweisungs- | der Einwei- 

diagnose sung in die 
Klinik 


Neurologi- . 

scher und Liquor- Blutbild 

Psychischer | „ ver- wu 
Befund änderungen 


Augenh- 


Bewußtlosig- 
keitszustände 


Erbliche Fall-| Begutachtung 


sucht [für das E.G.G. 
— Krampfanfälle 

Epileptische | Beobachtung 

Aquivalente jund therapeu- 


nach schwererltische Vor- 
Schädelbasis- [schläge 
fraktur 


Nystagmi- 1. 1933: Zell- | Eosinophilie, 
forme Zuk- |vermehrung, |Wa.R. Ø 
kungen, To- Į positiver 
nus- u. Reflex-| Pandy ; 
differenzen, 2. 1937: Glo- 
athetoseartige | bulinvermeh- 
Bewegungen |rung, positiver 
u. psychische | Pandy, Ei- 
Veränderun- | weißquotient 
gen erhöht 

o. B. o. B. o. B. 

Wa.R. Ø 

Zungenbiß- o. B. o. B. 
narbe, Reflex- Wa.R. © 
differenzen, 
leichte psychi- 
sche Ver- 
änderungen 
Fazialis- und o. B. o. B. 
Reflexdifferen- Wa.R. Ø 


zen, psychi- 
sche Verände- 
rungen (Ver- 
langsamung, 
Erschwerung 
der Auffas- 
sung) 


i 


£. 
o. B 
Hy peropr 


| 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 


nbefund 


iZ 


uld 


ann 


t kon- 
te Ny- 
mus- 
renz 


rbert 
o. B. 


Dauer- 
ver- 
änderungen 


Epileptiforme 
Anfälle, psy- 
chische Ver- 
änderungen 


Epileptiforme 
Aquivalente ? 


Epileptiforme 
Anfälle und 
Dämmer- 
zustände, 
leichte psychi- 
sche Ver- 
änderungen 


Absenzen, 
epileptiforme 
Anfälle, psy- 
chische Ver- 
änderungen 


Vorüber- 
gehende Ver- 
anderungen 


Familien- 
geschichte 
nach der 
objektiven 
Anamnese 
und eigene 
Vorgeschichte 


Bruder der 
Großmutter 
geisteskrank, 
schwere Zan- 
gengeburt mit 


Enzephalo- 
graphische 
Diagnose 


Stark 
schrumpfen- 
der Prozeß der 
rechten Parie- 
tal-Okzipital- 


anschließender| gegend mit me- 


„Formung“ 
des Kopfes 


Familie o. B. 
41919 Fahrrad- 
sturz mit kur- 
zer Bewußt- 


| losiìgkeit 


Familie o. B. 


Mit 6 Jahren!d 


Sturz von 
einem Baum 
(Oberschenkel- 
fraktur); seit- 
dem sind An- 
fälle aufgetre- 
ten 


Familie o. B. 
Mit 4 Jahren 
von 8 Meter 
hohem Balkon 
gestürzt; 

7 Jahre später 


ningealen Ver- 
klebungen 


Diffus 
schrumpfen- 
der Prozeß der 
rechten Hirn- 
hälfte 


Mit geringgra- 
iger 
Schrumpfung 
einhergehen- 
der Prozeß der 
rechten Hirn- 
hälfte, beson- 
ders der hinte- 
ren Parietal- 
gegend. 


Mit gering- 
gradiger 


303 


Schlußurteil 
bezüglich 
der Ver- 
ursachung 
und Schluß- 
diagnose 


Epilepsie nach 
Geburts- 
trauma 
(Hydrocepha- 
lus internus). 
Traumatische 
Residual- 
epilepsie 


Nicht erbliche 
Hirnverände- 
rungen der 
Kindheit; 
Residual- 
epilepsie 


Trauma- 
tische (?) 
Residual- 
epilepsie 


Traumatische 
Residual- 


Schrumpfung | epilepsie 


einhergehen- 
der Prozeß der 
rechten Tem- 


erstmalig An- | poralgegend 


fälle 


304 Hans Nachtwey 


Indikation Neurologi- 


SEM, Liquor- | 
Einweisungs- | der Einwei- scher und E 3 
diagnose sung in die | Psychischer | ¿n an en Blutbild | Augenbefrs 
Klinik Befund 8 


9. 
— Beobachtung |Debilität, O. P.: o. B. Relative Homonynıc 
| Euphorie, L. P.: (Enc.) | Lymphozytose| Hemianops 
VergeBlich- Albumin- und! Wa.R. Ø |Papillenauf 
keit, Konzen- | Zellvermeh- hellung 
trations- rung, Rechts- 
schwäche. zacke der 
Neurologisch: | Goldsolkurve 
o. B. (Reizliquor!) 
10. 
Verdacht auf |Beobachtung |Nystagmus, |Wechselnde |Relative o. B. 
genuine und später |Reflexdifferen-| Zellvermeh- | Lymphozytose 
Epilepsie Begutachtung |zen, Debilität,| rung und Wa.R Ø 
Verlangsa- Linkszacke 
mung der Goldsol- 
kurve (drei- 
malige Unter- 
suchung) 
11. | 
Seröse Menin-| Beobachtung |Nystagmus, o. B. o. B. o. B. 
gitis? Epi- Strabismus, Wa.R. Ø 
lepsie ? Bauchdecken- 
reflexdifferenz | 
i 
| 
12. 
Spastische Beobachtung |Fazialis-, To- |O. P.: Niedri-| Relative Leichter St 
Parese des nus- und Re- |ger Eiweiß- |Lymphozytose|l bismus rech 
rechten Armes flexdifferen- |gehalt Wa.R. Ø 
und Beines zen;spastische| L. P.: (Enc. 
nach Geburts- Parese rechts, | leichte Rechts- 
trauma; i Atrophien, zacke der 
Schwäche- Strabismus, | Goldsolkurve 
anfälle in den Überstreck- | (Reizliquor!) 
Beinen barkeit der Ge- 


lenke, leichte 
Debilität 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 305 


ıbefund 


lf 


Z. 


gmus- 
schaft, 
Irzung 
.opf- 

ien- 

g (wech- 
‚3mal 
sucht) 


odor 


ie Ver- 
ung der 
knochen- 
ng, bei- 
its Resi- 
ıan den 
nmelfellen 


rl-August 


ht unter- 
At 


Dauer- 
ver- 
änderungen 


Epileptiforme 
Anfälle, psy- 
chische Ver- 
änderungen 


Epileptiforme |Sehverschlech- 


Anfälle, Ab- 
senzen, psy- 
chische Ver- 
änderungen 


Schwindel- 
oder epilepti- 
forme Anfälle ? 


Spastische 


tremitäten 
rechts, Jack- 
sonartige An- 
fälle? Psychi- 
sche Verände- 
rungen 


Vorüber- 
gehende Ver- 
änderungen 


terung 


Epileptiforme 
Parese der Ex-| Anfälle 


i 


Familien- 
geschichte 
nach der 
objektiven 
Anamnese 
und eigene 
Vorgeschichte 


Mutter: Mi- 
gräne und 
Rheuma; Va- 
ter: Asthma u. 
Rheuma. 1922 
„Kopfgrippe‘ 
14 Jahre spä- 
ter erster An- 
fall 


1930 Steinfall 
auf den Kopf 
ohne Bewußt- 
losigkeit, eini- 
ge Wochen da- 
nach Absen- 
zen, 5 Jahre 
später erster 
pa ann 
nfall 


Der Vater soll 
in einer An- 
stalt gewesen 
sein (Demen- 
tia senilis). 
Seit einem 
Jahr Kopf- 
schmerzen und 
„Ohnmachts- 
anfälle‘“‘ 


Familie o. B. 
Entbindung 
durch Kaiser- 
schnitt wegen 
Krämpfen der 
Mutter, 3 Mo- 
nate später 
„Zucken‘“‘ der 
Glieder, ab 
13/4 Jahr auch 
Krämpfe 


Enzephalo- 
graphische 
Diagnose 


Mit leichter 
Schrumpfung 
einhergehen- 
der Prozeß der 
linken Schlä- 


‘| fenhinter- 


hauptsgegend 


Diffuser orga- 
nischer Prozeß 
der rechten 
Parietalgegend 
mit Schrump- 
fung 


Verdacht auf 
diffusen 
Schrumpfungs- 
prozeß rechts 


Diffuser mit 
Schrumpfung 
(Substanzver- 
lust) einher- 
gehender Pro- 
zeß der linken 
Hirnhälfte 


Schlußurteil 
bezüglich 
der Ver- 
ursachung 
und Schluß- 
diagnose 


Symptomati- 
sche Epilepsie; 
Enzephalitis- 
Residuum ? 


Ein Tumor ist 
auszuschlie- 
Ben; sehr 
wahrscheinlich 
schrumpfen- 
der Prozeß 
nach Entzün- 
dung 


Fraglicher Tu- 
mor cerebri; 
Art der An- 
fälle bisher 
noch nicht 
sicher geklärt 


Geburts- 
trauma; In- 
fantile Hemi- 


plegie 


Einweisungs- 
diagnose 


Indikation Neurologi- 

der Einwei- scher und 

sung in die | Psychischer 
Klinik Befund 


Beobachtung |Anisokorie, 
und Begut- |sonst o. B. 
achtung (Un- 
fallverfahren 

wegen epilepti- 

former Anfälle 


Begutachtung |1. Aufnahme 
wegen trauma-| 1936: Aniso- 
tischer Anfälle|korie, sonst 


o. B. 
2. Aufnahme 
1937: Reflex- 
differenzen 
Beobachtung o. B. 
auf genuine 
Epilepsie 


Kinderepilep- | Zwecks opera-| Nystagmus, 
sie mit Krämp-|tiver Revision] Fazialis- und 


fen der linkenjeingewiesen 


Körperseite 


Reflexdiffe- 
renzen, spasti- 
sche Parese 
links, Dysdia- 
dochokinese 
links, Atro- 
phien 


Hans Nachtwey 


Liquor- 
ver- 


änderungen 


o. B. 


o. B. 


O. P.: o. B. 
L. P.: (Enc.) 
Isolierte 
Rechtszacke 
der Goldsol- 
kurve (Reiz- 
liquor!) 


o. B. 


Blutbild 


Leichte Poly- | Nicht u 


zythämie, sucht 
Wa.R. Ø 
i; 
o. B. o. E 
Wa.R. Ø 
16. 
o. B. Nicht ua 
Wa.R. Ø sucht 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 307 


befund 


ich 


e 
unter- 


fine 


t unter- 
t 


on 


ht unter- 
ht 


SEM SB E E ee e E a") S A O E Te 


Dauer- 
ver- 
änderungen 


Epileptiforme 
Anfälle 


Epileptiforme 
Anfälle 


Epileptiforme 
Anfälle, Mi- 
gräne 


Epileptiforme 
Anfälle, Spa- 
stische Hemi- 
parese 


Vorüber- 
gehende Ver- 
änderungen 


re Tea ee ech 
(EEE GEARS EEE 


Familien- 
geschichte 
nach der 
objektiven 
Anamnese 
und eigene 
Vorgeschichte 


Familie o. B., 
1928 Unfall, 
dabei mit Kopf 
und Rücken 
auf steinernem 
Trog aufge- 
schlagen; 
1931/32 erste 
Anfälle 


È a a 


Familie o. B., 
Ende 1928 
Verschüttung 
unter Tage, 
kurze Bewußt- 
losigkeit, An- 
fälle seit Sep- 
tember 1934 


Eine Schwe- 
ster wegen an- 
geborenen 
Schwachsin- 
nes sterilisiert; 
Mutter ner- 
venkrank“‘. 
Anfälle seit 
1933 (29. Le- 
bensjahr) 


pA — ss ss sr „nn nn 2 


mit 1 Jahr aus 
dem Wagen 
gefallen; mit 
3 Jahren 
Krämpfe; vom 
5. Jahr ab 
blieb die linke 
körperhälfte 
in der Ent- 
wicklung zu- 


Familie o. B., 
Zangengeburt; 
rück 


Enzephalo- 
graphische 
Diagnose 


Schrumpfen- 
der Prozeß der 
rechten Rin- 
denpartien 


Schrumpfen- 
der Prozeß de 
linken hinte- 
ren Parietal- 
und Okzipital- 
gegend 


Diffuser 
Schrumpfungs- 
prozeß der 
rechten, tiefen 
Frontoparie- 
talgegend 


Erheblich 
schrumpfen- 
der Prozeß der 
rechten Ober- 
fläche, haupt- 
sächlich parie- 
tal-okzipital- 
wärts 


Schlußurteil 
bezüglich 
der Ver- 
ursachung 
und Schluß- 
diagnose 


Traumatische 
Hirnblutung; 
traumatische 
Residual- 
epilepsie 


Schädeltrau- 
ma; trauma- 
tische Resi- 
dualepilepsie 


Atiologisch 
logisch unklar; 
genuin? Epi- 
leptiforme An- 
fälle mit Mi- 
gräne. (Dem 
E.G.G. als 
erbkrankver- 
dächtig ge- 
meldet 


Geburts- 
trauma? 
Kindliche 
Enzephalitis ? 
Little. 


308 Hans Nachtwey 
Indikation Neurologi- Li 
Einweisungs- | der Einwei- scher und io . 
diagnose sung in die | Psychischer | ,, deria en Blutbild | Augenbef« 
Klinik Befund S 8 
17. 
Krampfanfälle| Behandlung |Leichte Fa- |1. O. P.: o. B.,| Relative Anschein 
infolge kleiner zialisdifferenz,| Wa.R. Ø Lymphozyto- | gewisser U 
Gummen im angedeuteter | L. P. (Enc.) |se, Wa.R. Ø |schärfe un 
Gehirn; Babinski Starke Zell- u. Prominen:ı 
Wa. R. im Eiweißvermeh- der Papill 
Liquor 4fach rung, Rechts- 
positiv zacke der 
Goldsolkurve. 
2. O. P.: Zell- 
vermehrung, 
Rechtszacke 
der Goldsol- 
kurve, positi- 
ver Pandy. 
2. L. P.: Li- 
quor nicht we- 
sentlich ver- 
ändert, ent- 
zündlicher 
Prozeß? 
18. ` 
Spinaler Pro- | Behandlung |Fazialis- und o. B. Leukozytose, o. B. 
zeß, Rücken- Reflexdiffe- -. |Wa.R. Ø 
marksge- renzen, Atro- 
schwulst, hy- phien Paresen, 
sterische Kontraktu- 
Überlagerung ren, psychi- 
sche Verände- 
rungen hallu- 
zinatorischer 
Art 
(„Stimmen“), 
mimische 
Starre 
19. 1 
_- Beobachtung |Leichte Pu- o. B. o. B. o. B. 
wegen pillenentrun- Wa.R. Ø Myopie 
Krampfanfäl- | dung, Reflex- 
len und Tonusdif- 


ferenzen, Cha- 
rakterverän- 
derungen 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 309 


| | i 


Dauer- 
ver- 


kenbefund 
i änderungen 


Vorüber- 
gehende Ver- 
änderungen 


Sehin Schlußurteil 
objektiven graphische aaa 
Anamnese Diagnose d Schl R 
und eigene g chluß- 
Vorgeschichte 1agnose 


aF ; 


Familie o. B.,| Diffuser, 


tlabyrin-|Epileptiforme 
bedingte| Anfälle vom 


tagmus- |Jackson-Typ 

erenz; 

nprozeß? 

? 

ht unter- |Extrapyrami- 

ht dale Motili- 
tätsstörungen, 
Stirnhirn- 
ausfalls- 
erscheinungen 

guste 

o. B. Epileptiforme 

Anfälle, Cha- 
rakterverän- 
derungen 


T ee Te 
pea OŘ a a 


erste Anfälle 


rechtsseitiger 


1936 und 1937| Hirnprozeß 


nach voraus- 
gegangenen 
Erkältungen 


Familie o. B. 
1930: Angina 
und Pyelo- 

cystitis; 1933 
Lumbago, 

Bronchitis, 

Insufficientia 
cordis et pul- 
monum; spa- 
stisch-pareti- 
sche Störun- 
gen der Extre- 
mitäten und 
Blasenstörun- 
gen 


Familie o. B. 
Mit 6 Jahren 
Masern und 
Hirnhautent- 
zündung, seit 
dem 29. Le- 
bensjahr 
(1932) 
Krampfanfälle 


mit leichter 
Schrumpfung 


Stark 
schrumpfen- 
der Prozeß der 
Frontallappen 
mit ausgespro- 
chener Stirn- 
hirnatrophie 


Diffuser, 
schrumpfen- 
der Prozeß der 
rechten hinte- 
ren Parietal- 
gegend 
(Schrumpfen- 
der Prozeß nach 
Entzündung?) 


Verdacht auf 
Tumor der 
rechten Hirn- 
hälfte; Ence- 
phalitis ? 
Epileptifore 
Anfälle vom 
Jackson-Typ 


Unklarer zere- 
braler Fall; 
Enzephalitis? 
Pick’sche 
Atrophie? 
(Exitus anEn- 
docarditis ver- 
rucosa) 


Residual- 
epilepsie 


310 Hans Nachtwey 
naaa maana VERRECHNET TEE EEE Er En tn ee. À 
Indikation Neurologi- Liquor- 
Einweisungs- | der Einwei- | scher und - ; 
diagnose sung in die | Psychischer Si Jerin i Biutbild Augenbel 
Klinik Befund 5 
20. 
— Beobachtung |Sympathiko- |O. P.: o. B. o. B. Tortuosita 
wegen tone Pupillen-| L. P.: (Enc.) Wa.R. Ø |vasorum. 
Krampfanfäl- |reaktion; psy-| Zellvermeh- Sympathik 
len chisch: vor- [rung (Reiz- tone Pupil 
laut, neugierig,| liquor!) reaktion 
hypomanisch; 
Enthemmung 
21. 
Folgezustand |Behandlung |Rigor,Tremor,|O. P.: o. B. o. B. Geringe A 
nach Kopf- Salbenglanz, | L. P.: (Enc.) Wa.R. Ø |blasung di 
grippe Amimie, Ver- | Isolierte Papillen 
i langsamung, | Rechtszacke 
Reflexdiffe- |der Goldsol- 
renzen (Blick- kurve (Reiz- 
krämpfe?) liquor!) 
22. 
— Unfallbegut- |Fazialis- und o. B. Polyglobulie, | Nicht unt 
achtung (epi- |und Reflex- relative Lym- | sucht 
leptiforme und] differenzen phozytose; 
und Schwin- a.R. 


delanfälle) 


Ø i 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 311 


später dump- 
fes Gefühl im 
Kopf und 
Schmerzen, 
Unsicherheit 
der Arme und 
Beine, ‚‚Glie- 
derzucken‘“ 


re Schlußurteil 
Dauer- Vorüber- nach der Enzephalo- ee 
` efund ver- gehende Ver- | objektiven graphische i Ben 
änderungen | änderungen Anamnese Diagnose nd S Io: 
und eigene = CATUS 
Vorgeschichte AENOSE 
t 
B. Narkoleptische — Familie o. B. | Beginnender | Narkolepsie; 
i Anfälle, psy- SeitEnde 1937| Schrump- ätiologisch 
chische Ver- (12. Lebens- |fungsprozeß |unklar 
änderungen jahr) Schlaf- | des rechten 
anfälle und Stirnhirnes 
Charakter- 
veränderun- 
gen 
seth 
- anter- | Parkinsonis- — Mutter an Ge-| Vermutlich Hemiparkin- 
mus (Hemi- hirnschlag ge-| schrumpfen- |sonismus en- 
typ) storben. 1924 | der Prozeß der| cephaliticus 
Kopfgrippe; |rechten vorde- 
seit 1934 allge-| ren Großhirn- 
meine Ver- hemisphäre 
langsamung; 
seit 1935 Be- 
ben und Schüt- 
teln des rech- 
ten Armes 
rich 
ische | Epileptiforme — Familie o. B. | Wahrschein- | Gehirnerschüt- 
mg Anfälle, Im September! lich mit terung und 
jmitent-| Schwindel- 1934 Verschüt-| Schrumpfung | Hirnblutung; 
bend erscheinun- tung durch einhergehen- | Traumatische 
gesetz- |gen? Steinmassen, | der organi- Hirnschädi- 
Hörver- war 2 Tage be-|scher Prozeß | gung mit epi- 
n. Sonst wußtlos, am |der rechten |leptiformen 
2. Tage nach | Scheitelbein- | Anfällen 
dem Unfall Hinterhaupts- 
erster Anfall; | gegend 


312 Hans Nachtwey 


logisch nachgewiesenen Hirnschrumpfungsprozesses sehr wahr- 
scheinlich an erblicher Fallsucht litt, weswegen sie auch als erb- 
krank verdächtig gemeldet wurde. 

Andererseits muß nun eine familiäre Belastung nicht 
jedesmal unbedingt für ein erbbedingtes Leiden sprechen wie z. B. 
in Fall 5 und 9, wo im ersten Fall ein Bruder der Großmutter 
geisteskrank war, es aber sehr wahrscheinlich während der Geburt 
außerdem zu einem Schädeltrauma kam, so daß wir im Schluß- 
urteil zu der Diagnose: traumatische Residualepilepsie kamen oder 
im zweiten Fall eine symptomatische Epilepsie auf Grund eines 
früher durchgemachten entzündlichen Prozesses angenommen 
werden mußte, obwohl auch hier bei der Mutter Migräne und 
Rheuma und beim Vater Asthma festgestellt wurde, was ja in 
Familien mit genuiner Epilepsie bekanntlich öfter vorzukommen 
pflegt. Ebenso kann die Tatsache, daß jemand Zwillingskind ist, 
nicht unbedingt zugunsten einer degenerativ-erblichen Erkrankung 
ausgelegt werden, wie z.B. Falli zeigt, wo es gleich nach der 
Geburt zu Krampfanfällen kam und es daher näher lag, das 
Auftreten derselben auf eine Geburtsschädigung des Kopfes zurück- 
zuführen. 

Wenden wir uns nun den Beziehungen der enzephalographisch 
nachgewiesenen Schrumpfungsprozesse zu den klinischen Er- 
scheinungen derselben zu, so ergibt sich die wichtige Tatsache, 
daß in der Mehrzahl der zusammengestellten Fälle (20) irgendwelche 
dauernd bestehende Reiz- oder Ausfallserscheinungen sicher nach- 
weisbar waren, während nur in 2 Fällen (6 und 11) solche als 
wenigstens wahrscheinlich angenommen werden konnten. In der 
Hauptsache (16 Fälle) waren es alle möglichen Abweichungen aus 
dem Bildkreise der Epilepsie und aller ihrer Äquivalente wie: 
Absenzen, Dämmerzustände und Anfälle vom Jackson-Typ bis 
zu den schwersten großen epileptischen Anfällen mit ihren charakte- 
ristischen Symptomen, ferner ihrer Grenzgebiete, Narkolepsie und 
Migräne. Ferner fanden sich in 10 Fällen außerdem mehr oder 
wenig stark ausgeprägte psychische Veränderungen, besonders 
solche des Charakters und der Intelligenz, und zwar Unehrlich- 
keiten, Neugier, Nörgelsucht, Verlangsamung oder Erschwerung 
der Auffassung, Konzentrationsschwäche, Debilität und Demenz, 
sowie in 2 Fällen (18 und 20), in denen das Enzephalogramm und 
im Fall 18 auch die Autopsie Schrumpfungsprozesse des Stirnhirns 
ergaben, gewisse seelische Veränderungen, die man als Zeichen einer 
Stirnhirnschädigung auffassen muß, sowie in Fall 20 auch 
Anfälle von Schlafsucht, die als narkoleptische Anfälle gedeutet 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 313 


wurden. Besonders hervorzuheben ist ein Fall (21) mit Schrump- 
fung der rechten vorderen Großhirnhemisphäre bei dem außer 
einem typischen Parkinsonismus mit Blickkrämpfen und 
den für dieses Krankheitsbild charakteristischen psychischen Ver- 
änderungen sonst keinerlei Abweichungen gefunden wurden. Diese 
Patientin gab an, 1924 eine Kopfgrippe, also wahrscheinlich eine 
Enzephalitis durchgemacht zu haben. Ob nun hierbei ein ursäch- 
licher Zusammenhang zwischen dem rechtsseitigen Hirnschrump- 
fungsprozeß und den rechtsseitigen parkinsonistischen Erschei- 
nungen besteht, konnte nicht sicher entschieden werden, da wir 
noch nicht Gelegenheit hatten, bei parkinsonistischen Zuständen 
derartige enzephalographische Befunde zu erheben. 

An sonstigen dauernden Ausfallserscheinungen boten 
noch Fall 3, 4, 12, 16 und 18 einige Besonderheiten. In Fall 3, 
bei dem die Enzephalographie einen basal sitzenden, hauptsächlich 
das Okzipital- und Kleinhirn betreffenden Schrumpfungsprozeß 
ergab, bestanden neben Hirnnervenstörungen (Fazialis-und Hypo- 
glossusparese), Nystagmus und Tonusstörungen ausgesprochene 
Ataxie, Aphasie und ziemlich hochgradige Demenz. Ätiologisch 
konnte dieser Fall nicht genügend geklärt werden, jedoch ließ eine 
isolierte Zacke der Goldsolkurve bei sonst normalem Liquorbefund 
an einen degenerativen Prozeß denken. 

In Fall 4 mit einer Apoplexie, bei dem auch, wie schon er- 
wähnt, eine starke familiäre Veranlagung zu Schlaganfällen nach- 
weisbar war, blieb eine spastische Parese der linken Seite bestehen 
was ja nach den sehr ausgeprägten Abweichungen im Enzephalo- 
gramm (stark schrumpfender Prozeß des rechten Fronto-Parietal- 
hirnes), nicht anders zu erwarten war. 

Fall 12, eine infantile Hemiplegie nach Geburtstrauma, 
mit diffuser Schrumpfung und Substanzverlust einhergehender 
Prozeß der linken Hirnhälfte, zeigte neben einer leichten Debilität 
und gewissen neurologischen Abweichungen ebenfalls als Dauer- 
ausfall eine spastische Parese der rechten Seite, wozu sich außerdem 
noch Strabismus und fraglich herdbetonte Anfälle im Sinne der 
Jacksonepilepsie gesellten. 

Ein der Littleschen Erkrankung ähnliches Bild bot Fall 16, bei 
dem es sehr wahrscheinlich infolge eines Geburtstraumas, eventuell 
aber auch durch eine kindliche Enzephalitis, zu einem stark 
schrumpfenden Prozeß der rechten Parietal-Okzipitalhirnoberfläche 
kam. Außer entsprechenden neurologischen Abweichungen und 
epileptiformen Anfällen hatte sich auch hier eine dauernde spasti- 
sche Hemiparese der linken Seite entwickelt. 
21 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


314 Hans Nachtwey 


Fall 18 mit starker Schrumpfung der Frontallappen und auch 
autoptisch nachgewiesener Stirnhirnatrophie zeigte gewisse extra- 
pyramidale Motilitätsstörungen, die ebenso wie die schon er- 
wähnten psychischen Veränderungen, die als Stirnhirnausfall- 
symptome aufgefaßt wurden, und die Parese und die Kontrakturen 
sicher als Dauerausfälle bestanden hätten, falls nicht der Exitus 
an einer Endokarditis eingetreten wäre. Eine sichere Klärung 
dieses Falles, den wir übrigens schon weiter oben in Hinsicht auf 
Fehldiagnosen besprochen haben, war nicht möglich; auf jeden 
Fall liegt aber die Vermutung nahe, daß es sich hier um eine 
Picksche Atrophie handelte. 

Vorübergehende Reiz- oder Ausfallserscheinungen 
wurden in 3 Fällen beobachtet. Diese waren bei dem schon ein- 
gehend besprochenen Fall 4 kurz dauernde apathische Erschei- 
nungen und psychische Veränderungen in Gestalt einer halluzina- 
torischen Verwirrtheit mit Unruhezuständen, in Fall 10, bei dem 
noch keine endgültige Entscheidung zwischen dem Vorliegen eines 
Hirntumors oder eines schrumpfenden Prozesses auf entzündlicher 
Grundlage, wofür besonders der Liquorbefund sprach, möglich 
war, eine vorübergehende Sehverschlechterung und bei der auch 
schon näher erörterten infantilen Hemiplegie (Fall 12) vereinzelte 
epileptiforme Anfälle. 

Neben den bisher erwähnten Veränderungen und Ausfalls- 
erscheinungen boten 18 Fälle irgendwelche mit den einfachen 
neurologischen Untersuchungsmethoden faßbaren krankhaften 
Abweichungen. Abgesehen von Fall 13, wo lediglich eine Anisokorie 
vorhanden war und Fall 20, in dem als einzige Anomalie sich eine 
sympathikotone Reaktion der Pupillen fand, bestanden in 16 Fällen 
eindeutige und bei mehrmaliger Nachprüfung konstante Ab- 
weichungen vom regelrechten neurologischen Status, und zwar: 
leichte Reflexdifferenzen ohne Tonusveränderung, unverkennbare 
Hyperreflexien mit deutlichen Tonussteigerungen im Sinne von 
Spasmus und in Fall 21 auch von Rigor, Motilitätsstörungen wie: 
spastische Hemiparesen, extrapyramidalen Hyper- bzw. Hypo- 
kinesen, Dysdiadochokinese und Ataxien (Fall 5 und 21), ver- 
schiedene Hirnnervenstörungen, Nystagmus, aphatische Erschei- 
nungen (Fall 3 und 4), Atrophien und schließlich pathologische 
Reflexe der „Babinski-Gruppe‘. 

Von den 4 Fällen ohne jede neurologischen Veränderungen 
zeigte Fall 9 wenigstens auffallend psychische Veränderungen und 
augenärztlicherseits eine homonyme Hemianopsie, während gerade 
die in bezug auf das Erbgesundheitsgesetz wichtigen Fälle 2, 6und 15 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 315 


weder neurologisch noch psychiatrisch abgesehen von den epilepti- 
formen Anfällen irgendeine Besonderheit boten. Gerade die Sym- 
ptomenarmut in Fall 2 und 6 ist sehr wahrscheinlich die einzige 
Ursache dafür, daß in diesen Fällen, wie bereits schon einmal 
erwähnt, apodiktisch die Diagnose: genuine Epilepsie gestellt wurde, 
die sich jedoch nicht bestätigte. Bezüglich des psychischen Befundes, 
der im Hinblick auf die dauernd bestehend bleibenden Ausfalls- 
erscheinungen schon eingehender besprochen wurde, sei hier nur 
noch erwähnt, daß längst nicht jeder Hirn-Schrumpfungs- 
prozeß psychische Veränderungen zu machen braucht 
und daß von diesen nur ganz selten irgendein Hinweis auf den 
genaueren Sitz eines organischen Prozesses erwartet werden kann. 
Im Gegensatz dazu war es jedoch in den meisten Fällen mit greif- 
baren neurologischen Abweichungen möglich, den später enzephalo- 
graphisch bestätigten Prozeß schon von vornherein wenigstens in 
der rechten oder linken Hirnhälfte, in Hirnoberflächennähe (Fall17), 
in tiefer gelegenen Hirnpartien oder gar an der Hirnbasis sitzend 
(Fall 3) zu vermuten. Eine sichere Lokaldiagnose, wie sie in manchen 
Fällen mit hirndrucksteigernden Prozessen, z. B. Geschwülsten im 
Bereich der Zentralwindungen, möglich ist, konnte jedoch in keinem 
Falle unabhängig vom Resultat des Enzephalogramms gestellt 
werden. Diese Tatsache wird dann erklärlich, wenn wir einmal die 
enzephalographischen Befunde unserer 22 Fälle auf Einzel- 
heiten näher betrachten. 

Die Schrumpfungsprozesse betrafen 16 mal die rechte und Amal 
die linke Hirnhälfte, während in 2 Fällen (3 und 18) nicht ent- 
schieden werden konnte, ob der Prozeß sich mehr rechts oder be- 
sonders links abspielte. Eine relativ genaue Lokalisation war 
in 17 Fällen möglich. So wurden betroffen: 

2mal das rechte Stirnhirn und imal beide Frontallappen, 

2mal das rechte Frontoparietalhirn, 

3mal das rechte und imal das linke hintere Parietalhirn, 

imal das rechte Parietalhirn, 

imal das rechte Temporalhırn, 

Amal das linke Temporal-Okzipitalhirn, 

3mal das rechte und 1mal das linke Parieto-Okzipitalhirn, 

imal die Okzipital-Kleinhirngegend. 

In 4 Fällen konnte nur ein mehr diffuser Schrumpfungsprozeß 
der rechten und in einem Fall der linken Hırnhälfte angenommen 
werden. 

Wie wir sehen, ist immer ein relativ großes Hirngebiet in einen 
Schrumpfungsprozeß mit einbezogen und 5mal war es sogar zu 
21° 


316 Hans Nachtwey 


einer diffusen Schrumpfung einer ganzen Hirnhemisphäre gekom- 
men. Man kann sich daher, wenn man sich einmal die Lokali- 
sationsverhältnisse der einzelnen Hirnzentren klarmacht, nicht 
wundern, daß sich Schrumpfungsprozesse in den seltensten Fällen 
durch einige bestimmte Herdsymptome manifestieren, sondern nur 
mehr allgemeine Hirnsymptome machen, die bestenfalls einen 
Schluß auf den Sitz des Prozesses in der einen oder anderen Hirn- 
hälfte, mehr in den vorderen und hinteren Abschnitten, an der 
Hirnoberfläche oder hauptsächlich in tiefer gelegenen Gegenden 
und an der Hirnbasis zulassen. In den Fällen, bei denen keine oder 
nur einzelne Abweichungen bestanden, war das Bestehen eines en- 
zephalographisch diagnostizierten Schrumpfungsprozesses insofern 
etwas überraschend, als man ihn wegen der geringen klinischen 
Erscheinungen überhaupt nicht vermutet hatte. 


Bevor wir zu unserem letzten Endes den Ausschlag gebenden 
diagnostischen Hilfsmittel, der Enzephalographie, griffen, wurde in 
allen Fällen eine eingehende Liquoruntersuchung durch- 
geführt. Diese war schon insofern unbedingt erforderlich, als durch 
Messen des Liquordruckes ein sehr wichtiger Hinweis auf die durch 
den vermuteten Prozeß im Schädelinneren bedingten Druckver- 
hältnisse erwartet und somit ein hirndrucksteigernder Vorgang schon 
von vornherein erkannt werden konnte. Eine echte Liquordruck- 
steigerung lag jedoch in keinem unserer 22 Fälle vor. — Andere 
Veränderungen der Hirnrückenmarksflüssigkeit fanden sich bei der 
ersten Entnahme derselben nur in 6 Fällen. Diese Befunde waren 
ziemlich uncharakteristisch. Es wurden wurden lediglich leichte 
Eiweißgehaltsveränderungen, isolierte Zacken der Goldsolkurve, 
Zellgehaltsvermehrungen und positive Pandysche Reaktion beob- 
achtet. In dem Diabetes-Fall (4) bestand eine starke Zucker- 
vermehrung. 

Auffallend war, daß in 7 Fällen der bei der Enzephalographie ge- 
wonnene Liquor gewisse Abweichungen zeigte, während bei der einige 
Tage vorhergegangenen Untersuchung sich ein völlig normaler Befund ergeben 
hatte. Es ist dieses wohl so zu erklären, daß durch die erste Punktion, die in 
allen Fällen okzipital durchgeführt wurde, ein gewisser Reiz gesetzt wurde 
und deshalb später im Lumballiquor — wir führten zur besseren Darstellung 
der Hirnoberfläche in sämtlichen Fällen die Enzephalographie vom Lumbal- 
stich aus durch — leichte Zellvermehrungen, kleine Zacken der Goldsolkurve 
oder beides vorkamen, was wir aber auch bei anderen Hirnprozessen mit ursprüng- 
lichen negativen Liquorbefunden öfters zu beobachten Gelegenheit hatten. 
Wir haben diese Erscheinungen daher als Ausdruck eines leichten meningealen 
Reizzustandes aufgefaßt. Nur in Fall 17 war es im Anschluß an die erste 
Ökzipitalpunktion zu ausgeprägteren Liquorveränderungen gekommen, die 
nicht als bloßer ‚‚Reizliquor‘‘ abgetan werden konnten. Ob hierbei eventuell 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 317 


durch die erste Punktion eine alte Enzephalitis zum Aufflackern gebracht 
wurde oder schwerere entzündliche Erscheinungen aufgetreten waren, ließ 
sich nicht entscheiden, zumal der Fall auch sonst noch nicht restlos geklärt 
und vor allem ein Tumor noch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden 
konnte. Die Liquoruntersuchungen gaben uns also keine besonderen Anhalts- 
punkte in der Erkennung hirnschrumpfender Vorgänge, da sie zu selten bei 
solchen Hirnveränderungen irgendeinen eindeutigen Befund bieten, was wohl 
in erster Linie darauf zurückzuführen ist, daß wir es bei Hirnschrumpfungs- 
prozessen meist mit Folgezuständen irgendwelcher akuten, zum Zeil schon 
lange zurückliegenden Hirn- oder Hirnhauterkrankungen, seien es nun Ent- 
zündungen verschiedenster Ätiologie, Traumen oder degenerative Vorgänge, 
zu tun haben. 

In den meisten unserer 22 Fälle haben wir genaue augenärztliche und 
ohrenärztliche Untersuchungen durchführen lassen, was besonders zur 
Ausschließung hirndrucksteigernder Erscheinungen im Schädelinnern un- 
bedingt erforderlich war. Augenärztlicherseits (Univ.-Augenklinik, Direktor 
Prof. Marchesanı) wurden so 19 Fälle untersucht. Dabei fanden sich, ab- 
gesehen von gelegentlicher Feststellung einer Hyper- oder Myopie, in 7 Fällen 
einige Abweichungen wie: Nystagmus, Fazialis- und Trigeminusstörungen, 
homonyme Hemianopsie, leichter Strabismus, Papillenaufhellung, Anschein 
von Unschärfe und Prominenz der Papille, Tortuositas vasorum retinae und 
sympathikotone Pupillenreaktion. Diese krankhaften Veränderungen an den 
Sehorganen sind im Vergleich zu hirndrucksteigernden und sonstigen Er- 
krankungen im Bereich des Schädelinnenraumes verhältnismäßig spärlich und 
uneinheitlich, so daß ihnen bei der Diagnose von Schrumpfungsvorgängen 
keine allgemeingültige Bedeutung beigemessen werden kann. Sie waren nur 
insofern von Wichtigkeit, als durch sie z. B. in Fall 17 ein frisch entzündlicher 
Prozeß bzw. ein Tumor in differenzialdiagnostische Erwägung gezogen werden 
mußte. | 

Die Gehör- und Gleichgewichtsorgane wurden in 15 Fällen ein- 
gehend untersucht (Univ.-Ohrenklinik, Direktor Prof. Herzog). Das Ergebnis 
war insofern etwas günstiger, als in der Hälfte der untersuchten Fälle nämlich 
achtmal, Abweichungen vom normalen Befunde vorlagen. Diese waren in 
der Hauptsache Nystagmus, Nystagmusdifferenzen und Nystagmusbereit- 
schaft, zweimal Verkürzung der Kopfknochenleitung, einmal Innenohr- 
schwerhörigkeit, einmal herabgesetztes Hörvermögen bei chronischer Eiterung 
und je einmal Einziehungserscheinungen und Residuen an den Trommel- 
fellen. Von gewissem Wert waren in erster Linie in bezug auf unsere Fälle 
die zuerst genannten verschiedenen Erscheinungsformen von Nystagmus, da 
sie zumindest doch für einen organischen Hirnprozeß sprechen und nicht 
zuletzt mit eine Indikation für die Vornahme einer Enzephalographie abgaben, 
während die sonstigen Abweichungen meist nicht in irgendeine Beziehung 
zu der jeweils bestehenden Hirnerkrankung zu bringen waren. 

Ein für die Diagnose: schrumpfender Prozeß ausschlaggebender Einfluß 
kommt also diesen augen- und ohrenärztlichen Untersuchungsergebnissen 
nicht zu. Immerhin kann in vielen Fällen deswegen nicht auf sie verzichtet 
werden, weil sich einmal schon bei der neurologischen Untersuchung häufiger 
Befunde wie z.B. nystagmiforme Erscheinungen ergeben, die durch die 
spezialärztlichen Untersuchungsmethoden einwandfrei bestätigt werden 
müssen, andererseits aber öfters bei einer noch nicht sicheren Entscheidung 
zwischen mehreren ätiologisch verschiedenen, organischen Prozessen auch der 


318 Hans Nachtwey 


negative, also normale Befund der Seh-, Hör- und Gleichgewichtsapparat: 
eine Differentialdiagnose ermöglichen hilft. 

Der Vollständigkeit halber sei noch auf den Blutbefund eingegangen. 
Dieser zeigte siebenmal eine relative Lymphozytose, die aber keine Besonder- 
heit ist, da sie in der hiesigen Gegend auch bei sehr vielen anderen Krank- 
heiten beobachtet wird. Im übrigen bestand in Fall 5 eine leichte Eosinopbhilie. 
in Fall 14 eine leichte Polyzythämie, in Fall 18 eine Leukozytose (Endo 
karditis!) und in Fall 22 eine leichte Polyglobulie. Alle diese Abweichungen 
können jedoch in keine Beziehung zu der organischen Hirnerkrankung ge- 
bracht werden. 

Es sei außerdem noch darauf hingewiesen, daß in allen 22 Fällen die Wasser- 
mannsche und auch alle anderen bei uns vorgenommenen Luesreaktionen 
im Blut und Liquor negativ ausfielen. 

Wenn wir nun das Ergebnis aller Untersuchungen, Beob- 
achtungen und Erhebungen unserer 22 Fälle überblicken, so kommt 
man zu dem Resultat, daß die Diagnose von mit Schrumpfung 
oder Substanzverlust von Hirngewebe einhergehenden organischen 
Prozessen nicht gerade als einfach zu betrachten ist. Selbst wenn 
man alle diagnostischen Hilfsmittel, abgesehen von der Enzepahlo- 
graphie, zusammennimmt, kann man damit allein auf keinen Fall 
sicher einen Schrumpfungsprozeß diagnostizieren, geschweige denn 
einigermaßen genau lokalisieren. Man kann in den meisten Fällen 
wohl einen organischen Hirnprozeß vermuten und ihn auch manch- 
mal in bestimmten Hirnregionen erwarten. 


Die durch die Hirnschrumpfung verursachten Veränderungen 
und Ausfallserscheinungen sind ziemlich einheitlich, da es sich 
dabei doch fast ausschließlich um die verschiedensten epilepti- 
formen Erscheinungen, seelischen Veränderungen und verschie- 
densten Bewegungsstörungen von Dauercharakter bei irreparablen 
Defektzuständen handelt. Diese diagnostisch sehr bedeutungsvollen 
Anomalien sind ebenso wie die in ätiologischer Hinsicht wichtigen 
Tatsachen als da sind: leichtere und schwerere Traumata, ent- 
zündliche Vorgänge, familiäre Belastung und dergleichen nur 
durch peinlich genaue Erhebung und Objektivierung der Vor- 
geschichte sowie durch eingehende, genügend ausgedehnte und evtl. 
wiederholte Beobachtungen und Untersuchungen festzustellen. Man 
kann sich ja im Gegensatz zu den mit Hirndruckerscheinungen 
einhergehenden Krankheitsvorgängen, die evtl. ein rasches Ein- 
greifen erforderlich machen, bei der Diagnose der gegensätzlichen 
Vorgänge im Schädelinnenraum, abgesehen von wenigen Aus- 
nahmen, ruhig die nötige Zeit nehmen. 

Schon bei den neurologischen Abweichungen kann nicht mehr 
von einer relativen Einheitlichkeit oder im Hinblick auf unsere 
Fälle von einer gewissen „Spezifität“ die Rede sein, da sie ebenso 


Schrumpfende Hirnprozesse in ihrer Beziehung zur Verursachung usw. 319 


gut auch bei allen anderen Erkrankungen des Hirns überhaupt 
vorkommen. 

Auf die Bedeutung der augen- und ohrenärztlichen Unter- 
suchungen in ihrer Beziehung zur Erkennung von Hirnschrump- 
fungsvorgängen sind wir schon weiter oben eingegangen und zu 
dem Schlusse gekommen, daß auch sie nur im Rahmen aller anderen 
Untersuchungsergebnisse zu werten und ebenso wie das Blutbild 
allein genommen, keine richtunggebende diagnostische Hilfe bilden. 

Das Gleiche gilt von den Untersuchungsergebnissen der Hirn- 
rückenmarksflüssigkeit. 

Es bleibt von allen uns zur Verfügung stehenden diagnostischen 
Möglichkeiten nur noch die Enzephalographie übrig, deren weitere 
Bedeutung wir einleitend schon näher gewürdigt haben. Durch sie 
allein war es überhaupt erst möglich, irgendwelche atrophiesierenden 
und zu Schrumpfung führenden Prozesse wirklich objektiv sicher- 
zustellen. Wir haben besonders an den Fällen mit spärlichen oder 
gar keinen objektiv faßbaren Abweichungen den vollen Wert 
dieser noch nicht sehr lange geübten Methode kennengelernt. Ohne 
die Enzephalographie wäre mancher unserer Fälle sicher falsch 
beurteilt worden, was sich besonders in den erbgesundheitsgericht- 
lichen und Unfallverfahren sowohl für den einzelnen Kranken als 
auch für seine ganze Familie und Sippe verhängnisvoll hätte aus- 
wirken können. 

Was den Wert der Enzephalographie in bezug auf die 
Therapie anbelangt, so ist zu sagen, daß wir gelegentlich beson- 
ders bei Kindern, Gelegenheit hatten, einen direkten therapeuti- 
schen Erfolg zu beobachten, insofern die subjektiven Erscheinun- 
gen des bestehenden Hirnprozesses — wir meinen jetzt vor allem 
die epileptiformen Erscheinungen — seltener wurden oder fast 
völlig verschwanden. Allein aus diesen Gründen haben wir die 
Enzephalographie in einigen Fällen mehrmals mit Erfolg wieder- 
holt. Im übrigen beschränkt sich die Bedeutung der Enzephalo- 
graphie für therapeutische Maßnahmen nur darauf, daß durch sie 
die vom Chirurgen durch die moderne Hirnchirurgie erfaßbaren 
Krankheitszustände von hirndrucksteigernden Charakter, welche 
hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinungsform den Hirnschrump- 
fungsprozessen vielfach sehr ähnliche Bilder machen können, ätio- 
logisch aber völlig anders gelagert sind, mit großer Sicherheit aus- 
geschlossen werden können. Sonst ist von der Enzephalographie 
für die Therapie hirnschrumpfender Erkrankungen leider keine 
Hilfe zu erwarten, da unsere therapeutischen Möglichkeiten bei 
diesen Vorgängen, abgesehen von gelegentlichen Erfolgen der 


320 Hans Nachtwey, Schrumpfende Hirnprozesse usw. 


Röntgenbestrahlung oder von Quecksilberschmierkuren und Jod- 
medikation, schon erschöpft sind. 

Trotzdem kann in allen jenen Fällen, die den hier besprochenen 
ähnlich sind, niemals auf die Vornahme einer Enzephalographie 
verzichtet werden. Es ist sogar zu fordern, daß sie in größeren Ab- 
ständen, gegebenenfalls noch öfters wiederholt wird, um schließ- 
ein einwandfreies Ergebnis zu erzielen. Wir haben sie bisher bei 
entsprechendem Hinweis auf ihren Wert und ihre Ungefährlichkeit 
sowie bei zweckmäßiger Behandlung der durch sie in Kauf zu 
nehmenden Beschwerden noch immer bei unseren Patienten durch- 
führen können und besonders bei Hirnschrumpfungsprozessen 
keine ernstlichen Komplikationen oder gar einen Exitus erlebt. 

‘Betrachten wir das Schlußurteil bezüglich der Verur- 
sachung der 22 Fälle, so konnten wir in 17 Fällen die Ursache 
des schrumpfenden Prozesses völlig sicherstellen oder doch min- 
destens hinreichend wahrscheinlich machen. Die 5 restlichen Fälle 
können entweder nicht weiter geklärt werden oder kommen noch 
zur Untersuchung, so daß bei dem einen oder anderen noch ein 
endgültiges Urteil bezüglich der Ätiologie möglich sein wird. 

Selbstverständlich steht die Gesamtheit aller in Vorstehendem 
besprochenen diagnostischen Maßnahmen nur der Klinik zur Ver- 
fügung und es ist deshalb die Aufgabe des praktischen Arztes bei 
allen das Hirn betreffenden Krankheitserscheinungen, nicht nur 
den Verdacht auf hirndrucksteigernde Prozesse zu äußern, die ja 
allein schon wegen ihrer meist stärkeren subjektiven Beschwerden 
eingewiesen werden, sondern auch auf die Möglichkeit des Vor- 
liegens von Hirnschrumpfungsprozessen in Erwägung zu ziehen 
und diese Fälle dann ebenso wie die gegenteiligen der Klinik zu- 
zuführen. 

Schrifttumverzeichnis 

Guttmann, L., Röntgendiagnostik des Gehirnes und Rückenmarkes durch 
Kontrastdarstellung. Bumke u. Foerster, Handbuch der Neurologie, Bd. 7/2, 
1936. Springer, Berlin. S. 187—522. — Heiderich, F., Beiträge zur Gehirn- 
Schädel-Topographie. Anatom. Hefte von Merkel-Bonnet, H. 170, Bd. 56, 
S. 473—512, 1919. — Heiderich, F., Stereoskopische Bilder zur Gehirn- . 
Schädel-Topographie. 1920. J. F. Bergmann, München u. Wiesbaden. — 
Jüngling, O. und Peiper, H., Ventrikulographie und Myelographie in der 
Diagnostik des Zentralnervensystems, in: Ergebnisse der Medizinischen 
Strahlenforschung, Bd. 2/1. Georg Thieme, Leipzig. 1926. — Kehrer, F. 
Über den Ursachenkreis der Epilepsie. Jahreskurse für ärztliche Fortbildung 
26, 1935, Heft 5, S.44. — Lange, J., Hirnchirurgie und Lokalisationslehre. 
Mschr. Psychiatr. Bd. 99, 1938. — Spatz, H., Die systematischen Atrophien. 
Arch. Psychiatr. Bd. 108, 1938. — W uzel, O. und F. Heiderich, Die anatomisch- 


chirurgische Orientierung für die Gehirnoberfläche und die Gehirnkammern 
(Ventrikel). Zbl. Chirur. 46, Nr. 5, 1919. 


Kümmellsche 


Wirbelerkrankung und Rückenmarkssymptome 
Von 
H. Stefan 
(Aus der Städtischen Nervenklinik Hannover. Chefarzt: Doz. Dr. H. Stefan) 
(Mit 1 Abbildung im Text) 


(Eingegangen am 6. Februar 1939) 


Die Kümmellsche Krankheit stellt eine posttraumatische Wirbel- 
erkrankung dar und entsteht sehr langsam, wobei es zu Deformi- 
täten und Zusammendrücken des betreffenden Wirbelkörpers 
kommt. Dieses Krankheitsbild hat mit einer Spondylitis deformans 
nichts gemeinsam, sondern ist eine ausgeprägte Wirbelkörper- 
nekrose. Erstmalig wurde dieses Krankheitsbild von Kümmell im 
Jahre 1891 beschrieben: Kümmell schreibt: ‚Bei der posttraumati- 
schen Wirbelerkrankung handelt es sich um ein Trauma oft gering- 
fügiger Art, welches die Wirbelsäule direkt oder indirekt trifft, in 
seiner sofortigen Wirkung nach wenigen Tagen abklingt, um nach 
wenigen Monaten scheinbarer Gesundheit mit nur relativ geringen 
Beschwerden einen rarefizierenden Prozeß der Wirbelkörper ein- 
zuleiten und mit einem Substanzverlust derselben, mit Gibbus- 
bildung, zu enden. Bei diesem Krankheitsprozeß kommt es niemals 
zur Eiterung wie bei einer tuberkulösen Spondylitis oder zu Ver- 
dickungen wie bei luischen Prozessen. Auch die Zackenbildungen, 
wie man sie von der Spondylosis deformans her kennt, entstehen 
nicht an dem zusammengebrochenen Wirbelkörper.‘ 

Ein Jahr später, 1892, beschreibt Verneull ein ähnliches Krank- 
heitsbild, nur mit dem Unterschied, daß sich die Spätdeformierung 
eines Wirbels im Anschluß an einen schweren Unfall, an eine Wirbel- 
fraktur ausbilden sollte. In der französischen Literatur spricht man 
deshalb von der Kümmell-Verneullschen Spondylitis. Gegenwärtig 
sind sich die Chirurgen, Röntgenologen und Orthopäden nicht 
ganz einig. Wohl die Mehrzahl erkennen das Krankheitsbild sui 
generis als Kümmellsche Krankheit an. Der übrige Teil lehnt diese 
Krankheitsbezeichnung ab und der Rest hat ein derartiges Krank- 
heitsbild überhaupt nie beobachtet. 


322 H. Stefan 


Von den Gegnern wird angeführt, daß die Kümmellscne Krank- 
heit nichts anderes sei, als übersehene Wirbelfrakturen oder au 
der Basis einer Tuberkulose oder anderer Erkrankung zustande 
gekommenen knöchernen Verletzung der Wirbelkörper. 


Demgegenüber ist zu sagen, daß tatsächlich das Vorkomme:r 
dieser Erkrankung durch einzelne klinische Beobachtungen er- 
wiesen ist. Auch ich hatte im Laufe meiner Gutachtertätigkeit einen 
als Kümmellsche Krankheit anerkannten und diagnostizierten Fall 
beobachtet, bei dem im weiteren Verlauf neurologische Krankheits- 
zeichen in Erscheinung getreten sind, die man wohl mit dieser 
knöchernen Veränderung in ursächlichen Zusammenhang bringen 
kann. /mbert hat unter 88 Wirbelbrüchen in 11 Fällen die Aümmell- 
sche Wirbelerkrankung erkennen können, so daß wir immerhin das 
Krankheitsbild dieser posttraumatischen Wirbelerkrankung an- 
erkennen können. Die pathologischen Unterlagen für die Kümmell- 
sche Erkrankung wurden von Schmorl erbracht. Er fand eine 
hochgradige Zerstörung der Spongiose im Wirbelkörper ohne 
irgendwelche entzündlichen Erscheinungen und ohne Callus- 
bildungen. Schmorl, der wohl sicherlich als Sachkenner bezeichnet 
werden kann, sieht die Ursache dieser Veränderungen in Ernährungs- 
störungen der verschiedenen Wirbel. Die Zwischenwirbelscheiben 
sind stets unversehrt. 

Den Neurologen interessiert dieses Krankheitsbild deswegen, 
weil es im weiteren Verlaufe zu Markschädigungen mit Lähmungs- 
erscheinungen an den Beinen, der Blase und des Mastdarms kommen 
kann. Die Kümmellsche Wirbelerkrankung, die früher als Spondy- 
litis bezeichnet wurde, hat mit einer Entzündung, wie die patho- 
logisch-anatomischen Untersuchungen Schmorls gelehrt haben, 
nichts zu tun. Man soll deshalb den irreführenden Namen Spondy- 
litis fallen lassen und statt dessen von einer posttraumatischen 
Wirbelkörpernekrose sprechen. Dieser Name wird den pathologisch- 
anatomischen Befunden gerecht. 


Mit der Möglichkeit der Entwicklung einer posttraumatischen 
Spätschädigung nach einem Wirbelsäulenunfall muß man rechnen. 
Ihr Vorkommen ist aber äußerst selten. Je mehr Röntgenaufnahmen 
man nach Wirbelsäulenunfällen bald nach dem Unfall macht, um 
keine Fraktur zu übersehen, um so weniger posttraumatische Spät- 
erkrankungen wird man beobachten. Die Prognose der post- 
traumatischen Wirbelkörpererkrankungen ist nicht günstig. Der 
Wirbelkörperschwund schreitet, wenn keine Behandlung erfolgt, 
ungehemmt fort. 


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Kümmellsche Wirbelerkrankung und Rückenmarkssymptome 323 


Einen einschlägigen Fall hatte ich kürzlich im Auftrage eines 
Versorgungsamtes zu begutachten, weswegen ich ihn kurz wieder- 
gebe. 


Vorgeschichte: Aus den Akten geht hervor, daß T. 1914 nach seiner 
Internierung auf einem englischen Schiff ‚‚Saxonia‘“ auf einer Treppe zu Fall 
kam. Kurze Zeit später stellten sich Kopfschmerzen ein, deretwegen T. von 
dem Schiffsarzt behandelt wurde. Nach seiner Entlassung 1918 klagte er 
häufig über Schwindelanfälle und Kopfschmerzen. Genaueres über den Unfall 
1914 kann, wie aus den Akten ersichtlich ist, nicht ermittelt werden. 

Aus einem ärztlichen Attest vom 2.4.1919 ist zu entnehmen, daß T. zu 
dieser Zeit eine Linksskoliose der Wirbelsäule sehr mäßigen Grades hatte. 

1923 wird in einem Auszug aus der Knappschaftsakte mitgeteilt, daß die 
Verbiegung der Wirbelsäule in letzter Zeit zunahm und daß die Beschaffung 
eines Stützapparates für erforderlich gehalten werde. 

Am 13. 4.38 wurde vom Versorgungsamt über T. ein ärztliches Gutachten 
erstattet, in dem von einer Verkrümmung der Wirbelsäule gesprochen wird. , 
Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Zivil-Internierung und dem angeb- 
lichen Unfall 1914 wird jedoch ausgeschlossen. Ein organisches Nervenleiden 
lag damals nach Ansicht des begutachtenden Arztes nicht vor. 

Im Mai 29 wurde von Dr. F. ein ärztliches Zeugnis ausgestellt, das erst- 
malig bei T. die Diagnose ‚„‚Kümmellsche Krankheit‘ feststellt. Diese Diagnose 
ist bei der Rentenfestsetzung maßgebend geblieben. 

Am 2.9.29 wurde eine Rente von 30% durch das Versorgungsamt fest- 
gesetzt. Gleichzeitig wurde eine Verschlimmerung des vorliegenden Ver- 
sorgungsleidens abgelehnt. 


Am 8.3.30 wurde die Rente um 10% auf 40°, erhöht. 

Im Laufe der folgenden Jahre wurde in ärztlichen Attesten und Gutachten 
mehrfach die Frage aufgeworfen, ob es sich bei dem Versorgungsleiden des 
T. tatsächlich um eine ‚„Kümmellsche Krankheit‘ handele und ob eine wesent- 
liche Verschlimmerung bzw. Fortschreiten der Erkrankung festzustellen sei. 

Im Januar 34 wurde T. auf Veranlassung des Versorgungsamtes durch 
Reg.-Med.-Rat N. erneut begutachtet. Das DB-Leiden als solches wird weiter- 
hin anerkannt, eine Verschlimmerung lag zu der Zeit angeblich nicht vor. 
Es wird in diesem Gutachten jedoch von leichten organischen Veränderungen 
am Nervensystem gesprochen, für die DB jedoch früher bereits abgelehnt 
sei. Aus dem neurologischen Befund dieses Gutachtens ist zu entnehmen, 
daß bei der Untersuchung die Bauchdecken- sowie Kremasterreflexe nicht 
auslösbar waren. Die Patellarsehnenreflexe waren sehr lebhaft. Das Rosso- 
lımosche Phänomen war beiderseits positiv. 


Im Juli 36 wurde in einem Bescheid des Versorgungsamtes erneut ein 
Verschlimmerungsantrag abgelehnt. Außer dem Versorgungsleiden ‚„Kümmell- 
sche Krankheit‘‘ wird von keiner anderen Erkrankung in diesem Bescheid 
gesprochen. 

Am 25.6. 37 erneute Untersuchung auf Veranlassung der Landesversiche- 
rungsanstalt. Aus dem Befund: Babinski rechts positiv, Fußkloni rechts 
stärker als links, Patellarsehnenreflexe lebhaft von der Tibiakante und der 
Patella auslösbar. Rossolimo beiderseits positiv. Bauchdeckenreflexe vor- 
handen, in den oberen Etagen jedoch nur schwach. 

Ein ähnlicher Befund findet sich in der Abschrift des Krankenblattes aus 
dem Krankenhaus Y. in N. vom April 37 bzw. Juni 37. 


324 H. Stefan 


Bei einer augenärztlichen Untersuchung im August 37 findet sich zum 
ersten Male die Mitteilung eines augenärztlichen Befundes, nach dem am 
Augenhintergrund keine Besonderheiten erkennbar waren. 

Im Gegensatz zu diesen Befunden steht das Untersuchungsergebnis des 
Gutachtens vom 10.8.37, nach dem am Nervensystem kein krankhafter 
Befund zu erheben war. l 

Im Dezember 37 wurde T. in der versorgungsärztlichen Untersuchungs- 
stelle N. untersucht. In dem nervenfachärztlichen Gutachten sind vermerkt: 
PSR beiderseits sehr lebhaft. ASR rechts = links inkonstant mit klonischen 
Verstärkungen, Babinski rechts inkonstant angedeutet, links negativ. Rosso- 
limo beiderseits positiv. Mendel links positiv. Fehlende Kremasterreflexe. 
Fehlende Bauchdeckenreflexe links und rechts oben. An den Armen beider- 
seits sehr lebhafte Reflexe mit einer Differenz zugunsten der rechten Seite. 
Mayerscher Grundgelenkreflex rechts unsicher. Finger/Nasenversuch rechts 
leicht ataktisch, Romberg leichtes Schwanken. Außerdem werden psychische 
Veränderungen mitgeteilt im Sinne einer auffallenden Euphorie, Stimmungs- 
labilität. Es wurde der Verdacht einer multiplen Sklerose ausgesprochen. 
Eine wesentliche Mitbeteiligung des anerkannten DB-Leidens an dem Auf- 
treten der organisch nervösen Veränderungen sei nicht mit Sicherheit aus- 
geschlossen. Nervenärztlich sei T. vorläufig als arbeitsunfähig anzusehen. 
Hinsichtlich des DB-Leidens keine Änderung, daher auch Fortbestehen der 
40% igen Rente. 

Auf Grund des Ergebnisses der fachärztlichen Untersuchung der fach- 
ärztlichen Versorgungsstelle in N. erfolgte die Zuweisung, die sich zu der 
Frage äußern soll, ob bei T. tatsächlich eine multiple Sklerose vorliegt und 
bejahendenfalls, ob ein Zusammenhang mit dem Schädigungsleiden ,,Kümmell- 
sche Krankheit“ anzunehmen ist. 

Bei der Untersuchung gab T. an: Er leide zur Zeit noch an Rücken- 
schmerzen an der Stelle des früheren Unfalles. Die Schmerzen werden stechend, 
reißend und bohrend beschrieben und sollen gelegentlich beiderseits in die 
Hüften ausstrahlen und zwar oft blitzartig. Er fühle sich schlapp im Rücken, 
könne nicht lange stehen oder sitzen und auch nur kurze Strecken gehen. 
Er müsse sehr viel liegen. Er habe fast ständig ein Gefühl, ‚‚als ob er im Rücken 
abbreche‘‘. Seitdem er auf ärztliches Anraten das Stützkorsett nicht mehr 
trage, seien diese Beschwerden immer stärker geworden, besonders stark seien 
diese vor Witterungswechsel. Er müsse fast ständig gegen seine Schmerzen 
Veramor einnehmen. 

Beim Gehen habe er außer den Schmerzen im Rücken kein Unsicherheits- 
gefühl, nur ganz selten knicke er mit dem rechten Bein im Kniegelenk ganz 
plötzlich ein. Irgendwelche Gefühlsstörungen werden nicht geklagt. In den 
Armen keinerlei Beschwerden. Die Augen seien unverändert gut. Er schieße 
sehr gerne und sei auch heute noch ein sehr guter Schütze. Es sei ihm nicht 
aufgefallen, daß die Sprache sich verändert hätte. Die Frage nach Schwindel- 
anfällen wird verneint. Keine Beschwerden beim Stuhlgang oder Wasser- 
lassen. 


Körperlicher Befund: 42jähriger, 166 cm großer, 68 kg schwerer Mann 
in leidlichem Allgemein- und Ernährungszustand. Haut und sichtbare Schleim- 
häute gut durchblutet. Keine ikterische Verfärbung der Haut und Augen- 
bindehäute. Keine nachweisbaren Drüsenschwellungen. Keine Ödeme. 

Kopf: nirgends klopf- oder druckschmerzhaft. Schädelperkussion o. B. 
Die linke Gesichtshälfte erscheint gegenüber der rechten etwas stärker aus- 


Kümmellsche Wirbelerkrankung und Rückenmarkssymptome 325 


gebildet. Auf uns von T. übergebenen Photographien aus den Jahren 1919 
und 1937 ist diese leichte Gesichtsasymmetrie bereits auf dem Bilde von 1919 
deutlich erkennbar. Das Gebiß ist unten sehr lückenhaft. T. trägt Ober- 
kieferprothese. Der Rachenring ist leicht gerötet, sonst o. B. 


Hals: Schilddrüse nicht nachweisbar vergrößert. 

Brustkorb: Die Atemausdehnungen sind ziemlich mäßig. Es besteht eine 
Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule. In sitzender Stellung wird eine mäßige 
Klopfschmerzhaftigkeit im Bereiche des 10. bis 12. Brustwirbels angegeben, 


Abb. 1 


die in Knie/Elienbogenlage deutlicher wird und dann vom 9. Brustwirbel bis 
zum 1. Lendenwirbel reicht. Die Lungengrenzen sind hinten unten mäßig 
verschieblich, hochstehend, rechts hinten oben auskultatorisch vereinzeltes 
Pfeifen. Perkussion o. B. 

Herz: im wesentlichen ohne krankhaften Befund. Blutdruck 120/75 mm Hg. 
Puls: im Durchschnitt 80 p.M. 

Leib: Leber und Milz nicht vergrößert. Nierengegend, abführende Harn- 
wege o. B. Keine pathologischen Resistenzen fühlbar. Urin: Eiweiß, Zucker, 
Urobilinogen negativ. Sediment: o. B. 


Blutbild: 
Erythrozyten 4,7 Hgb. 95° 
Leukozyten 6800 Index 1,0 
Eos. 190 
Segm. 71% 
Lymph. 289%, 


Blutsenkung: 8 mm in einer Stunde. 

Wassermann und Kahn-Reaktionen: negativ. 

Eine Liquoruntersuchung wurde von T. abgelehnt. 

Extremitäten: alle Gelenke aktiv und passiv frei beweglich, mittelschwere 
Pedes plani. 


326 H. Stefan 


Nervensystem: Pupillen: mittelweit, rechts = links, nicht verzogen. 
Prompte Reaktion auf Licht und Konvergenz. Augenbewegungen frei. Fein- 
schlägiger leicht verlängerter Einstellungsnystagmus mit geringer rotatorischer 
Komponente. Konjunktivalreflexe fehlen beiderseits, Kornealreflexe normal 
auslösbar. Nervenaustrittstellen nicht druckschmerzhaft. 


Stirnfazialis o. B. Der rechte Mundwinkel wird vielleicht eine Spur 
schwächer innerviert als der linke. Die Zunge wird gerade und ohne Zittern 
herausgestreckt. Das Gaumensegel wird gut und gleichmäßig gehoben. 
Würgereflex normal auslösbar. 

Chvosteksches Phänomen links angedeutet positiv, rechts negativ. Leicht 
verstärktes Lidflattern. Der Tonus der Masseteren ist seitengleich, normal. 


Obere Extremitäten: Keine Störungen des Tonus, der Trophik und Motilität. 
Die grobe Kraft ist seitengleich, normal. Radiusperiost- und Trizepssehnen- 
reflexe sind seitengleich etwas lebhaft. Mayer rechts = links normal aus- 
lösbar. Wartenberg beiderseits physiologisch. Keine Knipsreflexe. Finger/ 
Finger- und Finger/Nasenversuch werden beiderseits prompt und regelrecht 
ausgeführt. Feinschlägiger Tremor der ausgestreckten Hände. Kein Inten- 
sionstremor. 


Stamm: Bauchdeckenreflexe: rechts in allen Etagen normal auslösbar, 
links nur in der mittleren Etage auslösbar, sonst fehlend. Kremasterreflexe 
fehlen beiderseits. Das Aufrichten aus der liegenden in die sitzende Stellung 
ist deutlich erschwert und geschieht mit Unterstützung der Hände und einem 
Abrollen über die linke Seite. 

Untere Extremitäten: Tonus, Motilität und Trophik ungestört. Die grobe 
Kraft ist in den Beinen seitengleich, jedoch leicht herabgesetzt. Patellar- 
sehnenreflexe beiderseits lebhaft, links mehr als rechts. Keine Patellarkloni. 
In beiden Richtungen sind gekreuzte Adduktorenreflexe auslösbar. Achilles- 
sehnenreflexe links etwas lebhafter als rechts. Bei Fixierung der Oberschenkel 
sind beiderseits Fußkloni auslösbar, links deutlicher als rechts. Babinski 
rechts positiv, links fraglich. Gordon und Oppenheim beiderseits negativ. 
Rossolimo beiderseits angedeutet. Knie/Hackenversuch wird beiderseits etwas 
verlangsamt und erschwert, aber ohne deutliche ataktische Störungen aus- 
geführt. 

Die Sensibilität ist für alle Gefühlsqualitäten intakt. 

Der Gang ist etwas hinkend, mit geschlossenen Augen leicht unsicher, 
etwas stampfend, jedoch nicht ataktisch. 

Psychischer Befund: Außer einer etwas euphorischen Stimmungslage 
und einem gewissen Rededrang sind keine Auffälligkeiten bemerkbar, vor 
allem sind keine Störungen beim Sprechen festzustellen. Keine intellektuellen 
Störungen, keine Wahnideen, keine Sinnestäuschungen. 


Zusammenfassend ist zu sagen, daß tatsächlich von einer 
Kümmellschen Krankheit gesprochen werden kann und daß neben 
knöchernen Verletzungen der Wirbelsäule auch das Rückenmark 
und die Nervenwurzeln ın ihrer Einheit gemeinsam erkranken 
können. Die engen räumlichen Beziehungen dieser Teile zueinander 
bringen es mit sich, daß die verschiedensten Veränderungen, die 
sich an der gesamten Wirbelsäule oder an einzelnen Teilen der 
Wirbelsäule abspielen, leicht das Rückenmark oder die Nerven- 


. Kümmellsche Wirbelerkrankung und Rückenmarkssymptome 327 


wurzeln in Mitleidenschaft ziehen. Das Auftreten von Rücken- 
marksstörungen, Wurzelreizerscheinungen oder Nervenausfällen ist 
deshalb keine Seltenheit, und die Verhältnisse liegen in manchen 
Fällen sogar so, daß die Störungen von seiten des Nervensystems 
die ersten Zeichen sind, die als Ausdruck einer bestehenden Wirbel- 
säulenerkrankung festgestellt werden. Die Ausfälle des Nerven- 
systems zeigen bei den einzelnen Wirbelsäulenerkrankungen wohl] 
gewisse Unterschiede, aber sie tragen im allgemeinen doch den 
Stempel einer gewissen Gleichförmigkeit. 

Bei dem Kranken T. lag ein Trauma vor, das darin bestand, 
daß T. auf dem englischen Schiff „Saxonia“ auf einer Treppe zu 
Fall kam. Unmittelbar danach stellten sich Kopf- und Rücken- 
schmerzen ein und im weiteren Verlauf kam es zu knöchernen 
Veränderungen an der Wirbelsäule, die man chirurgisch und 
röntgenologisch als Kümmellsche Krankheit im Sinne einer D.B. 
beurteilte. 

Bei der diesmaligen neurologischen Untersuchung wurden einer- 
seits Lähmungserscheinungen an den Gliedmaßen, Störung der 
Blasen- und Mastdarmtätigkeit, Sensibilitätsstörungen und Pyra- 
midenbahnstörungen festgestellt. Diese neurologischen Krankheits- 
zeichen wurden mit dem röntgengeologisch nachgewiesenen Ver- 
änderungen an der Wirbelsäule in ursächlichen Zusammenhang 
gebracht und dieselben als Folge- bzw. Begleiterscheinungen der 
Kümmellschen Erkrankung anerkannt. Eine multiple Sklerose liegt 
sicher nicht vor. 

Der Fall ist lehrreich und in seiner Art selten, weswegen er mit- 
geteilt wird. Die Diagnose Künmmellsche Krankheit im Zusammen- 
hang mit neurologischen Symptomen ist oft sehr schwierig, zumal 
ja auch tatsächlich eine nicht traumatisch bedingte, unabhängig 
vom Unfall bestehende neurologische Krankheit vorliegen könnte. 
Differentialdiagnostisch erscheint in der Unfallbegutachtung die 
Abgrenzung gegenüber einer Artritis deformans der Wirbelsäule 
am wichtigsten. 

Die Diagnose Kümmellsche Krankheit ist ın keinem Fall vom 
Neurologen, sondern vom Chirurgen, Orthopäden und Röntgeno- 
logen zu stellen, die Beurteilung der durch die Kümmellsche Krank- 
heit hervorgerufenen Rückenmarkstörungen muß jedoch stets 
durch den Neurologen geschehen. 


Durchdringt das Wismut 
im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke? 


Von 
Theodor Strobel 


{Aus der Serologisch-bakteriologisch-chemischen Abteilung [Dr. habil. 
Riebeling] der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen Universität 
[Professor Dr. Bürger- Prinz] 


(Eingegangen am 29. März 1939) 


Während bei den üblichen Arsenpräparaten die Wirkung in 
ihrer besonderen organischen Bindung liegt, ist bei der Wismut- 
behandlung das Metall an sich das Ausschlaggebende. Die Aus- 
lösung des Metalles aus seiner jeweiligen Verbindung ist durchaus 
verschiedenartig. Daraus folgen die großen zeitlichen Unterschiede 
der Remanenz bzw. Ausscheidungsdauer der verschiedenen Wismut- 
präparate. Eine monatelange Remanenz besagt — analog dem 
Quecksilber — noch nichts für die Wirkung. Denn aus solchen 
Depots brauchen nur minimale, völlig unzureichende Mengen zur 
Resorption zu kommen. Daneben spielen die gröbere oder feinere 
Struktur der Wismutverbindung, die Gewebs-, Wasser- und 
Lipoidlöslichkeit und die Art und Weise ihrer Ausscheidung eine 
ziemliche Rolle für die therapeutische Wirkung. 


Von den zahlreichen Bestrebungen die Verträglichkeit und Wirksamkeit 
der Wismutverbindungen zu erhöhen, seien vor allem die Versuche von 
Herrmann und Nathan erwähnt; diese führten erstmalig das Lecithin in die 
Luestherapie ein. Sie haben sich mit dem dispergierenden Einfluß des Lecithins 
auf Wismutverbindungen beschäftigt und namentlich mit einer in feinster 
öliger Emulsion befindlichen Adsorptionsverbindung von Wismutchininjodid 
und Lecithin gearbeitet. Sie konnten dabei immerhin feststellen, daß die An- 
wesenheit von Lecithin die Jodwismutchininwirkung beträchtlich erhöht, 
d.h. daß es in 4—6 mal geringeren Mengen als ohne Lecithinzusatz die Pallida 
abzutöten vermag. Dabei war die Resorption des Wismut bei Anwesenheit 
von Lecithin stark erleichtert. Fernerhin konnte durch diese Vereinigung von 
Lecithin und Jodwismutchinin die Bildung wasserlöslicher und leicht aus- 
scheidbarer Komplexsalze verhütet und damit eine protrahierte Remanenz 
erreicht werden. Levaditi konnte die besonders starke und nachhaltige Wir- 
kung dieser lipoidlöslichen Derivate vollständig bestätigen. Nach ihm bedingt 
der Lecithinzusatz die Ausscheidung des Wismuts durch den Darm zu aller- 


| 


D urchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke? 329 


meist und die Niere wird weit mehr geschont als bei dem daneben geprüften 
Bismogenol oder Bisuspen. 


Das Spirobismol solubile der Chemisch-Pharmazeutischen Aktien- 
gesellschaft Bad Homburg ist nach diesen Prinzipien zusammen- 
gesetzt. Dieses neue Präparat hat nun gegenüber den von Herrmann 
und Nathan verwandten Lecithin- und Spirobismollösungen den 
Vorteil, daß die Resorptions- und Ausscheidungsbedingungen 
bessere sind. Zieler betont die gute Wirkung des Spirobismol 
solubile. 

Die Tatsache, daß dieses neue und von der Firma Homburg 
verbesserte Spirobismol solubile ein lipoidlösliches Wismutchinin- 
jodid-Lecithin enthält und durch das Lecithin infolge seiner physi- 
kalischen Eigenschaften die Dispersionsenergie der Wismut- 
verbindung erhöht, führte zu der Ansicht, daß dadurch das nicht 
anionisch gebundene Wismut leichter, schneller und in größeren 
Mengen, als sonst der Fall zu sein pflegt, an die einzelnen Organe 
des Körpers herangebracht wird und somit die therapeutische 
Wirksamkeit eine größere ist. 


Eine Reihe von Autoren haben bisher die klinische Brauchbarkeit; die 
lange Remanenz und, trotz verzögerter und länger dauernder Resorption, die 
Ungiftigkeit des Spirobismol für den menschlichen und tierischen Organismus 
nachgewiesen. Wir gehen auf diese Arbeiten nicht näher ein (zusammen- 
fassende Literaturübersicht ist aus der Arbeit von Schmitz, Eckhardt und ` 
Schwienhorst zu entnehmen), da uns lediglich die Frage nach dem Eindringen 
des Wismut in das Gehirngewebe interessierte. Die Ergebnisse über Speiche- 
rung des Wismut in anderen Organen werden nur gestreift. 

Über die Wismutverteilung im Körper geben die Versuche von Akamatsu 
erstmalig Auskunft. Allerdings verwandte dieser Autor für seine Kaninchen- 
versuche das weinsaure Oxydnatron, das kolloidale Wismut von Merck und 
das bismutothioglycolsaure Natrium. Das Doppelsalz erregte an Fröschen 
und am Kaninchen einen Krampf zentraler Natur, während das kolloidale 
Wismut einen solchen nur an Fröschen und die Thioglycolverbindung an 
keiner der beiden Tierarten Krämpfe hervorrief. Die Vergiftung mit wein- 
saurem Wismutoxydnatron und koloidalem Wismut war dabei nicht sehr 
voneinander verschieden. In beiden Fällen wies die Niere den höchsten Wis- 
mutgehalt auf; darauf kam die Leber. Je länger ein Tier nach der Giftappli- 
kation lebte, desto größer war der Wismutgehalt in der Niere. Im Gehirn 
fand sich dabei eine sehr große Menge Wismut, was bei der Vergiftung mit 
bismutothioglycolsaurem Natrium nicht der Fall war. An der Magenschleim- 
haut der an Wismutvergiftung zugrunde gegangenen Kaninchen fand sich 
eine schwarzbraune Verfärbung, die von dem ausgefallenen Wismut herrührte. 
An der Dünndarmschleimhaut war sie nur ab und zu gesehen. Einschränkend 
sei hier schon bemerkt, daß es sich hier um echte Vergiftungen mit Wismut 
handelte und dadurch eine Öffnung der Bluthirnschranke bewirkt worden war, 
während wir bei unseren Kaninchenversuchen darauf achteten, daß keine 
Vergiftungserscheinungen auftraten. Lomholt stellte mit Viochin und Wismut- 
hydroxyd Kaninchenversuche an. Es ergab sich, daß das Wismut dieser 
22 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


330 Theodor Strobel 


Präparate hauptsächlich durch die Nieren und etwas weniger durch die 
Fäces ausgeschieden wird. Von den Organen enthielten Nieren, Leber, Herz 
und Lungen Wismut in absteigender Reihenfolge und Quantität. Levaditi 
und Girard fanden bei mit Tröpol behandelten syphylitischen Kaninchen, daß 
Nieren, Lungen und Milz das meiste Wismut enthielten, während der Schanker 
nur allerkleinste Spuren aufwies. Nach ihrer Meinung scheint dabei die Ver- 
nichtung der Spirochäten ein Vorgang zu sein, bei dem Spuren von Metall 
die Rolle eines Katalysators für die Wirkung der vom Organismus gebildeten 
spirochätociden Substanzen spielen. An Hunden prüften Thompson, Marvin, 
Cwallina u.a. die Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung von öllöslichen 
und vier-wäßrigen Wismutkompositionen mit verschiedem starken Wismut- 
gehalt. Es zeigte sich hierbei, daß 18 Stunden nach der Einspritzung stets 
Wismut in Nieren und Leber erschienen war. Dabei bestanden zwischen 
Resorptionsquote und Speicherungsquote in diesen Organen feste Beziehungen. 
Nach Verschwinden meßbarer Mengen Wismut aus der Leber (unter 0.03 mg) 
fand sich noch Wismut in den Nieren und, selbst wenn im Harn nur unmeß- 
bare Spuren vorhanden waren, ließ sich noch reichlich Wismuth in den Or- 
ganen nachweisen. Die Speicherung des Wismut im Spirobismol solubile durch 
den Organismus haben bisher, soweit uns das diesbezügliche Schrifttum zu- 
gänglich war, als einzige Levy und Selter nachgeprüft. Sie untersuchten die 
Organe eines mit Spirobismol behandelten kongenital syphylitischen Kindes 
und fanden den größten Wismutgehalt in der Leber. Einen fast gleich hohen 
Anteil wiesen die Nieren und weitaus geringere Mengen Milz, Herz und Lungen 
auf. Über den Wismutgehalt im Gehirn ist nichts verzeichnet. 


Aus den bisher angeführten Versuchsergebnissen ist somit 
ersichtlich, daß das Wismut, ganz gleich in welcher chemischen 
Bindung und Zusammensetzung es vorgelegen hat, in den Körper- 
organen und hier vornehmlich in Leber, Nieren und Milz gespeichert 
wird. 

Uns selbst interessiert aber vielmehr die Frage ob unter Um- 
ständen das Wismut auch im Zentralnervensystem nachweisbar ist. 

Ehe wir im einzelnen auf unsere eigenen Versuche eingehen, 
seien zunächst aus der darüber erwachsenen Literatur die Autoren 
angeführt, die sich vornehmlich mit dem Nachweis des Wismut 
im Gehirn befaßt haben. 

Erstmalig fanden 1923 im Gehirn Wismut Lemay und Jaleustre bei zwei 
Fällen von Paralyse, die mit Wismutoxyd behandelt waren und dann Auten- 
rieth und Mayer (1925) nach intravenöser Einverleibung von 90 mg Neowis- 
molen. (Zit. nach Walter). Späterhin konnten Kassil und Locksina bei Kanin- 
chen, die mit Wismut behandelt worden waren und gleichzeitig verschiedenen 
pyhsiologischen und pathologischen Bedingungen (wie Leuchtgas- und Kohlen- 
oxydvergiftung, Blockade des reticulo-endothelialen Systems, Einverleibung 
von Dyphterietoxin, anaphylaktischer Schock und Unterkühlung) ausgesetzt 
worden waren, fast ausnahmslos sowohl im Liquor als auch im Gehirn Wis- 


mut finden. Beide Autoren machen sich dabei selbst den Einwand, daß das 
Wismut normalerweise nicht in den Liquor übergeht. 


Über ihre Erfahrungen mit endolumbaler Wismutbehandlung berichten 
Bruno, Ciampi und Ansaldı. Bei dem in einem paralytischen Anfall ad exitum 


Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke ? 331 


gekommenen Kranken konnten sie im Liquor und im Gehirn Wismut nach- 
weisen. Klauder und Brown konnten ebenfalls bei einem Kaninchen, das Kali- 
umwismuttartrat erhalten hatte (3 mg pro Körpergewicht, 2 mal wöchent- 
lich und 13—15 Injektionen) Wismut im Gehirn nachweisen. Sie bezweifeln aber 
abschließend selbst, daß das Wismut in nennenswertem Grade in das Zentral- 
nervensystem einzudringen vermag. Denn nach ihrer Meinung ist es zweifelhaft, 
ob das Wismut nach Einverleibung in den Organismus im anionischen Zustand 
bleibt. Sowohl intravenös als auch intramuskulär injizierten Hanzlik und Spaul- 
ding Kaninchen verschiedene Wismutpräparate in unterschiedlichen Mengen. 
Sie fanden dabei, daß das elektronegative (Anion-) Wismut bei der über- 
wiegenden Mehrzahl der Tiere in das Gehirn eindringt. Das elektropositive 
(Kation-) Wismut dahingegen war kaum oder nur in sehr geringer Menge im 
Gehirn nachweisbar. Unter denselben Bedingungen prüfte Tsing das Ein- 
dringungsvermögen des Wismut aus verschiedenen Wismutpräparaten in 
das Gehirn. Er konnte feststellen, daß vor allem das Jodobismitol und Jodo- 
bismutit, die beide elektronegativ geladen sind, d.h. in denen das Wismut 
anionisch gebunden ist, das beste Eindringungsvermögen in das Zentral- 
nervensystem besitzen. 

Mit den neueren Wismutpräparaten wie Casbis, Lecibis u. a. wurden bisher 
unseres Wissens ähnliche Versuche nicht unternommen. 


Wir selbst befaßten uns mit der Frage nach dem Eindringungs- 
vermögen des Wismut in das Gehirn, als von der Firma Bad 
Homburg A.G. das Spirobismol solubile in den Handel ge- 
bracht worden war. 

Bei diesem Präparat handelt es sich um eine physikalische und 
chemische Verbindung von Wismutchininjodid mit : Lecithin. 
Nach den Angaben der Hersteller soll dabei die Lecithinwirkung 
als echte chemische Reaktion anzusehen sein, die die Löslichkeit 
des komplexen Wismutsalzes bedinge. Darüber hinaus sollen 
auch echte molekulare Verhältnisse vorliegen. Die große Bestän- 
digkeit des Spirobismol solubile und seine gleichzeitige große 
Lipod- und Gewebslöslichkeit wird dabei als therapeutisch be- 
sonders wirksam angesehen; denn durch das Chininjodid soll die 
spirochätocide Wirkung des Wismut erhöht werden. Zum andern 
bedinge aber die Bindung des Chininwismutjodid an das Lecithin 
eine schnellere Resorption als bei den übrigen Wismutpräparaten 
und gerade durch das Lecithin werde die Dispersionsenergie des 
Wismut erhöht. 

Mit anderen Worten würde das bedeuten, daß in diesem Präparat 
dem Wismut eine besondere und bisher noch nicht erzielte Neuro- 
tropie für das Zentralnervensystem zuerkannt werden müßte. 
Das Lecithin würde dann gewissermaßen eine Vehikel- und Schutz- 
funktion übernehmen und verhindern, daß das Wismut im Orga- 
nismus zu einer unlöslichen Verbindung (nach Levaditi ausschließ- 
liche Bindung an das Euglobulin ?) abgebaut wird bzw. bewirken, 
22° 


332 Theodor Strobel 


daß der molekulare Zustand des Wismut trotz seiner komplexen 
Bindung gewahrt bleibt. 


Um den Nachweis zu erbringen, daß tatsächlich das Wismut 
des Spirobismol solubile infolge seiner starken neuraffinen Eigen- 
schaften leichter als alle anderen Wismutpräparate imstande ist, 
die Schrankenfunktion des Gehirns zu überwinden, injizierten 
wir einer Reihe von Kaninchen unterschiedliche Mengen von 
Spirobismol solubile — zuletzt sogar in toxischen Dosen — und 
bestimmten den absoluten Wismutgehalt von Nieren, Leber, 
Milz und Gehirn. 


Ehe wir die eigentlichen Versuche ausführten mußten wir uns 
zunächst um den Nachweis des Wismut bemühen. 


Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß die von uns verwandte Methode 
der trockenen Veraschung, wie sie von Schmitz, Eckhardt und Schwienhorst 
zur Prüfung der Ausscheidungsverhältnisse des Wismut durch Urin und 
Fäces angewandt worden war, für unsere Zwecke nicht restlos brauchbar war. 
Es ist nämlich sehr wichtig die Temperatur bei der Veraschung der Körper- 
organe möglichst gleichmäßig zu halten. Im elektrischen Ofen macht das 
keine Schwierigkeiten. Die Veraschung des zu untersuchenden Materials bis 
zu einer rein weißen Asche nimmt aber auch dann noch recht viel Zeit in An- 
spruch. 


Um so umständlicher und zeitraubender waren unsere Versuche, da wir uns 
bei offener Veraschung mit einem Tiegel begnügen mußten und nur versuchen 
konnten im Tonofen die Tiegel über Gas in etwas gleichmäßiger Wärme zu 
halten. Wenn wir auch damit zu brauchbaren Resultaten kamen, so erreich- 
ten wir diese doch nur durch eine ungewöhnlich lange und umständliche Ver- 
aschung und bekamen zwischendurch bei verhältnismäßig geringer Über- 
hitzung Wismutverluste in Kontrollversuchen. Diese sind darauf zurück- 
zuführen, daß Wismutverbindungen in großer Hitze flüchtig sind. Wurde aber 
bei zu niedriger Temperatur verascht, so ergaben die Kontrollen (anorganische 
Wismutverbindungen und ‚‚leeres Gewebe“) zu geringe Ausbeuten wegen 
mangelhafter Aufbereitung. Wir wandten uns deshalb der ‚feuchten‘ Ver- 
aschung zu und konnten bei dieser Zubereitung ein befriedigendes Verfahren 
ausbauen. Damit erzielten wir sowohl bei Kontrollen mit anorganischen Wis- 
mutverbindungen als auch bei Versuchen von Spirobismol solubile zusammen 
mit ‚„leerem Gewebe“ und von anorganischen Wismutverbindungen zusam- 
men mit ‚leereın Gewebe‘ gute und der Theorie entsprechende Doppelbe- 
stimmungen. Diese Methode hatte eine für unsere Zwecke genügenden Fehler- 
breite von 5%,. Das dergestalt aufbereitete Material wurde dann stufenphoto- 
metrisch weiterverabeitet und zwar in der von Schmitz angegebenen Weise. 


Nachfolgend führen wir nun unsere Versuche an, die, da sie 
völlig unpräjudizierlich über die mengenmäßige Wismutverteilung 
in den Körperorganen wie Nieren, Leber, Milz und Gehirn Auskunft 
geben sollen, ın gedrängter Form als Versuchsprotokolle in tabel- 
larischer Übersicht angeführt werden. Zu berücksichtigen ist dabei 
aber, daß die Versuche 1—4 mittels der „trockenen“ Veraschung 


Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke? 333 


gewonnen wurden und aus den oben angeführten Gründen die 
tatsächlichen Mengen Wismut etwas höher liegen können. Die 
Ergebnisse aus den Versuchen 5—13 wurden mittels der „feuchten“ 
Veraschung gewonnen. 

Wir verabreichten zunächst 6 Kaninchen jeweils 1,2 cem Spiro- 
bismol solubile zu 3 gleichen Portionen an drei aufeinanderfolgenden 
Tagen. Jeweils 24 Stunden nach der letzten Injektion nahmen 
wir dann die Veraschung der einzelnen Körperorgane und des 
Gehirnes vor. 


Versuch Nr. 1. 
(Gewicht des Kaninchens: 3160 g) 


Gehirn (10,130 g) .. ». . 2» 2 2.2.2..2..2.8 Wismut 
Milz (0,997 8) . » » 2» 2 2 22.2 2 0..0.12yY 7 
Nieren (16,735g) .. a.. a... . . 102y n 
Leber (109,420 8) ... > 22 2.2.2.2.8340y 


Insgesamt: 454 y er 


Versuch Nr. 2 
(Gewicht des Kaninchens: nicht bestimmt) 


Gehirn (9,7808) : » » 2 22 .2.20.0.0.2.8B Wismut 
Milz (1,0458): . . 2 2 22 2022... 412Y i 
Nieren (14,630 g) .. 2... a... 1139Y he 
Leber (93,840 g). . : . 2 2 2 2202.20. 460 y iS 


Insgesamt: 611 y i 


Versuch Nr.3 
(Gewicht des Kaninchens: 2800 g) 


Gehirn (9,5208). . . aaa aaa” O Wismut 
Milz (0,7708)... 2. 2 2 2 2222020. 10y i 
Nieren (14,880 8) .... 2... . . . 268 y R 
Leber (87,040 g)... . 2.2 aaa na an a 1179Y 


Insgesamt: 457 Y 7 


Versuch Nr. 4 
(Gewicht des Kaninchens: 2900 g) 


Gehirn (8,5508). . -. . 2 2 222.2... Wismut 
Milz (0,7308) . . . 2 22222... By ; 
Nieren (14,735 g) .. : 2 2 222020. .,499y E 
Leber (93,730 g). - - . a... . . 1178Y T? 


Insgesamt: 345 y j 


334 Theodor Strobel 


Versuch Nr. 5 
(Gewicht des Kaninchens: 2190 g) 


Gehirn (7,1508). : . : 2» 2 2 20. .. Ø Wismut 
Milz (1,185 g) =. +. aaa 40 Y a 
Nieren (16,008) . . . -». 2.2... . . . 4105Y P 
Leber (93,150 g). . a aooaa 220. 185 y BR 
Insgesamt: 330 y n 


Versuch Nr. 6 
(Gewicht des Kaninchens: 2200 g) 


Gehirn (8,860 €). : : : 2: 2 2 2 aaa’ Ø Wismut 
Milz (1,2808) o : : ame 22 nn. Ø s 
Nieren (16,275 g) .. : : 2 2 220. . 40y M 
Leber (115,790 g) .. a 2 2 2 2 200. 729 y 2 
Insgesamt: 769 y En 


Wie aus den Tabellen 1—6 zu entnehmen ist, fanden wir im Gehirn kein 
Wismut während es mengenmäßig in Milz, Nieren und Leber entsprechend 
der Größenordnung dieser Organe gespeichert wird. P 

Im Anschluß daran erhöhten wir die zugeführte absolute Wismutmenge 
und unterzogen die Kaninchen einer regelrechten Spirobismolkur. Irgend- 
welche Vergiftungserscheinungen zeigten die Tiere weder im Erscheinungs- 
bild noch pathologisch-anatomisch. 


Versuch Nr.7 
(Gewicht des Kaninchens: nicht bestimmt) 


Injiziert, i. m. 9,0 ccm Spir. sol. (= 270 mg Bi). Jeden 3. Tag eine Injektion 
zu 1,0 ccm; Veraschung 6 Tage nach der letzten Injektion. Ergebnis: 


Gehirn (8,590 8). . : : 2 2 2 2 nn. Ø Wismut 
Milz 12,430 8)... 2.2. 2.8 oe  # 2% . 16y T 
Nieren (20,430 g). . ..... nn. hy Hr 
Leber (124,0208) . . . 2 2 2220. 973 Y a 


Insgesamt: 833 y 5 


Versuch Nr. 8 
(Gewicht des Kaninchens: 2600 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 12,0 ccm Spir. sol. (= 360 mg Bi). Jeden 3. Tag 
eine Injektion zu 1,00 ccm; Veraschung 2 Tage nach der letzten Injektion. 


Ergebnis: 
Gehirn (9,5808)... .... 2.2 .2..8B Wismut 
Milz (1,5308): : mo 2 a 2 ne War. 1Y a 
Nieren (15,570 g) .. 2... . 1112Y ii 
Lieber (74,730 g). : : : 2 2 0 0 20. 234 Y F 


Insgesamt: 347 Y T 


Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke ? 335 


Versuch Nr. 9 
(Gewicht des Kaninchens: 2500 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 120 ccm Spir. sol. (= 360 mg Bi). Jeden 3. Tag eine 
Injektion zu 1,0 ccm; Veraschung 3 Tage nach der letzten Injektion. Ergebnis: 


Gehirn (10,580 8) .. : : 2: 2 2220. Ø Wismut 
Milz (2,5308) .. . 2 2 2 2 2 2 02. — 

Nieren (14,815) : - : : 2 2 2 220. 149 y m 
Leber (78,015 g) . : : 2: 2 2 2220. 121y i. 


Insgesamt: 270 y A 


Aus den Tabellen 7—9 ist ersichtlich, daß auch diesmal kein Wismut im 
Gehirn nachzuweisen war. 

Nachdem wir auf diese Weise feststellen mußten, daß der Nachweis des 
Wismut im Gehirn in keiner Weise von der Höhe der zugeführten Wismut- 
menge abhängt, ja selbst theoretisch für das Kaninchen toxische Wismut- 
mengen keinen Übertritt in das Gehirn herbeiführten, versuchten wir durch 
künstliche Fiebererzeugung eine Öffnung der Hirnschranke zu erzielen. Denn 
wie aus vielfachen Untersuchungen klinischer und experimenteller Art hervor- 
geht, vermag Fieber die Blut-Liquorschranke für manche körperfremde Stoffe 
zu öffnen. Verschiedentlich ist auch versucht worden durch gleichzeitige 
künstliche Fiebererzeugung die Arzneimittel an das Zentralnervensystem 
heranzubringen und dort ihre Wirkung entfalten zu lassen. 

Erwähnt seien besonders die Versuche von Lebedewa und Galanowa. Diese 
fanden, daß bei Einführung eines zusätzlichen Temperaturfaktors (Über- 
hitzung von Mäusen im Thermostaten bei 40 Grad) in die Salvarsantherapie 
eine völlige Sterilisierung der mit Rückfallfieber infizierten Mäuse sowohl in 
den früheren als auch in den späteren Stadien des Infektionsprozesses (Ge- 
hirninfektion) herbeigeführt wird. Sie kamen daher zu dem Schluß, daß der 
chemotherapeutische Effekt des Salvarsans auf das Gehirn erst durch gleich- 
zeitige künstliche Fiebererzeugung wirksam wird, da dadurch die Blut-Hirn- 
schranke durchbrochen wird und das Salvarsan seine Wirksamkeit an Ort und 
Stelle (im Gehirn) entfalten kann. Gleichzeitig konnten sie im Gehirn der 
„überhitzten‘‘ Mäuse das Salvarsan in einem 5—10 fach höheren Prozentsatz 
als im Gehirn der unter gewöhnlichen Temperaturverhältnissen mit Salvarsan 
behandelten Mäuse nachweisen. Dieser Versuch läßt daran denken, daß durch 
das Fieber dem Salvarsan der Weg zum Gehirn gebahnt wurde; denn Fieber 
allein vermochte die Recurrensspirochäten im Gehirn nicht abzutöten. 

Wir versuchten Ähnliches, indem wir bei unseren Kaninchen durch hohe 
Dosen von Pyrifer ebenfalls eine Öffnung der Blut-Hirnschranke zu erzielen 
hofften. Die Ergebnisse sind in den Versuchen 10—13 niedergelegt. 


Versuch Nr. 10 
(Gewicht des Kaninchens: 2830 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 1,2 ccm Spir. sol. (= 36 mg Bi). Jeden Tag eine 
Injektion zu 0,4 ccm + jeweils 1000 E Pyrifer i. v.; Veraschung 1 Tag nach 
der letzten Injektion. Ergebnis: 


Gehirn (14,2358) .. : : 2 2 2200. Ø Wismut 
Milz (1,6208)... : 2 2 02 00. 65 Y 5 
Nieren (13,872g) .. : : 2: 2 22020. 755Y 7 
Leber (83,530 g). .. :: 2 2 22200. 155 Y X 


Insgesamt: 935 y 5 


336 Theodor Strobel 


Versuch Nr. 11 
(Gewicht des Kaninchens: 2176 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 8,0 ccm Spir. sol. (= 240 mg Bi). Verabreicht jeden 
3. Tag eine Injektion zu 1,0 ccm + jeweils 2000 E. Pyrifer i. v. 14 Stunden 
nach der letzten Injektion trat der Tod ein. Sektion ergab: starke Milz-, 
Nieren- und Leberschwellung; ausgeprägte Lebercirrhose; Magen-Darm- 
traktus zeigte das Bild der nach Wismutvergiftung auftretenden pathologisch- 
anatomischen Veränderungen. Veraschung sofort vorgenommen. Ergebnis: 


Gehirn (10,5008) . - . » 2 2 2 2.2.2..$8 Wismut 
Milz (5,1258) . -. . ..... nn. k6Y = 
Nieren (20,335 8) . : . 2 2.2.22..2.270Yy p 
Leber (140,505y) . . . a... . . 379Y z 


Insgesamt: 695 y = 


Versuch Nr. 12 ` 
(Gewicht des Kaninchens: 2520 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 9,0 ccm Spir. sol. (= 270 mg Bi). Jeden 3. Tag eine 
Injektion zu 1,0 ccm + jeweils 500 E. Pyrifer i. v.; Veraschung 15 Tage nach 
der letzten Injektion. Ergebnis: 


Gehirn (7.6808). - -. ». » 2 2.2.2.2.2..8 Wismut 
Milz (1,8308) . >: > 2 2 2 En 2 22. 

Nieren (16,08) : » : 2 2 2 22202. 229 y Br 
Leber (93,150 8). . -. . 2 2 2.2.2.2..2.929y ER 


Insgesamt: 1,154 mg .. 


Versuch Nr. 13 
(Gewicht des Kaninchens: 2000 g) 


Injiziert i. m. insgesamt 120 ccm Spir. sol. (= 360 mg Bi). Jeden 3. Tag eine 
Injektion zu 1,0 ccm und jeweils 2000 E. Pyrifer i. v.; Veraschung 2 Tage nach 
der letzten Injektion. Ergebnis: 


Gehirn (98,458). - -. - 2 222.2... PB Wismut 
Milz (3,1908) s s = p 2 a w a0a za: .DY 5 
Nieren (17,240 g) . . . aaa a a 3055Y i 
Leber (99,800 8). . . a 2 2 2 22..98y 7 
Insgesamt: 368 y Re 


Es ist daraus ersichtlich, daß sich völlig unabhängig von der Höhe der ver- 
abreichten Wismutmenge und der Stärke der injizierten Pyrifereinheiten auch 
hier niemals Wismut im Gehirn nachweisen ließ. Berücksichtigt man die abso- 
lut gespeicherte bzw. nachweisbare Wismutmenge in Nieren, Leber und Milz, 
so zeigt sich, daß bei Versuch Nr. 12 und 13, die als Kontrollversuche zu Nr. 7 
und 8 zu werten sind, eine deutliche Zunahme der gespeicherten Wismutmenge 
zu verzeichnen ist. Mit anderen Worten, die Speicherungsgröße des Wismut 
in den Organen kann u. U. durch gleichzeitige künstliche Fiebererzeugung 
erhöht werden. 

Von weiteren Versuchen dieser Art haben wir Abstand genommen da wir 
zu dem Schluß gekommen sind, daß dem Wismut des Spirobismol solubile 
auch durch gleichzeitige Fiebererzeugung der Weg in das Gehirn nicht ge- 
bahnt wird. 


Durchdringt das Wismut im Spirobismol solubile die Blut-Hirnschranke? 337 


Wenn auch die Übertragung von Tierversuchen zur Klärung 
der Frage der therapeutischen Wirksamkeit bzw. des Wirkungs- 
mechanismus im menschlichen Organismus und auch der thera- 
peutischen Beeinflußbarkeit metaluischer Hirnerkrankungen mit 
einer gewissen Vorsicht zu handhaben ist, so glauben wir doch 
annehmen zu dürfen, daß das Wismut des Spirobismol solubile 
unter normalen Bedingungen und selbst bei gleichzeitiger Fieber- 
behandlung niemals die Blut-Hirnschranke passiert. Die Gründe 
hierfür können sehr verschiedener Natur sein. Diese im einzelnen 
hier anzuführen, sehen wir uns im Rahmen dieser Arbeit außer- 
stande, da hierzu die entsprechenden Versuchsbedingungen fehlen. 
Doch glauben wir, daß es immerhin wichtig ist zu wissen, daß 
selbst ein besonders lipoidlösliches Wismutpräparat, wie es das 
Spirobismol solubile sein soll, auch dann wenn sog. „molekulare 
Verhältnisse“ vorliegen und eine Abspaltung in eine unlösliche 
Wismutverbindung verhindert werden soll, nicht in das Zentral- 
nervensystem heranzubringen ist. 


Zusammenfassung 


1. Es wurde versucht die Frage zu klären ob das Spirobismol 
solubile in das Gehirn eindringt. 


2. Kaninchen wurden mit Spirobismol solubile teilweise einmal 
und teilweise kurmäßig behandelt. Die Tiere wurden getötet und 
mit den Nieren, Leber, Milz und Gehirn Wismutbestimmungen 
angestellt. 


3. Im Gehirn konnte niemals Wismut nachgewiesen werden. 


4. Der Versuch, durch künstliches Fieber die Blut-Hirnschranke 
für das Wismut passierbar zu machen, miBlang. 


5. Offenbar durchdringt das Spirobismol solubile die Blut- 
Hirnschranke nicht, selbst nicht unter Zuhilfenahme von künst- 
lichem Fieber. 


6. Diese Tatsache besagt nichts über die Wirksamkeit des 
Spirobismol solubile auf die Körperlues. 


7. Der Liquor wurde zur Untersuchung nicht herangezogen, 
da es für die Frage des Eindringens in das Gehirn keine Klärung 


bedeuten würde, wenn im Liquor Wismut nachgewiesen worden 
wäre. 


338 Theodor Strobel, Durchdringt das Wismut usw. 


Schrifttumverzeichnis 


Akamatsu, Ref. aus Zbl. Hautkrkh. 1923, 7, 425. — Bruno, A. C., Ciampi 
und Ansaldi, Ref. Zbl. Neur. 65, 657. — Hanzlik, P. und Jean Spaulding, 
Ref. Zbl. Neur. 66, 12, 1932. — Hermann und Nathan, Arch. Kinderhk. Bd. 
75. — Kassıl und Locksina, Ref. Zbl. Neur. 51, 15, 1928. — Katzenellbogen, 
Ref. Zbl. Neur. 41, 812, 1925. — Klauder und Brown, Arch. of Dermatol. 29, 
351—355, 1934. — Lebedewa und Galanowa, Z. Immunit.forsch. Bd. 74, 298, 
1932. — Levaditi und Girard, Ref. Zbl. Hautkrkh. 1935, 17, 343. — Levy 
und Selter, Archiv Kinderhk. Bd. 75. — Lomholt, Ref. Zbl. Hautkrkh. 1924, 
14, 386. — de Pay, Walter, Med. Klin. 1938 II, 1193—1196. — Schmitz, Eck- 
hard und Schwienhorst, Dermat. Wschr. Bd. 104, Nr. 7/8, 1937. — Sobol und 
Sveznik, Arch. Psychiatr. 88, 580—597, 1929. — Stern, Kassil et Locksina, 
Ref. Zbl. Neur. 50, 571, 1927. — Thompson, Marvin, Cwallina u.a., Ref. 
Zbl. Hautkrkh. 1933, 45, 760. — Tsing, Huang Chin, Dermat. Wschr. 1935, 
I, 367—371. — Vonkennel, Münch. med. Wschr. 1924, I, 84. — Walter, Die 
Blut-Liquorschranke. Georg Thieme 1929. 


Über Krampfschäden 
bei der Cardiazolbehandung 


Von 
Fritz Schmieder 


(Aus der Psychiatrisch-neurologischen Univ.-Klinik Heidelberg. 
Direktor: Dr. Carl Schneider) 


(Eingegangen am I3. Januar 1939) 


Bei allen, auch den anerkanntesten, therapeutischen Verfahren 
ist mit einer gewissen, mehr oder weniger großen Gefahrenbreite 
zu rechnen. Um so mehr noch bei neu einzuführenden Mitteln, wo 
es sich darum handelt, die Indikationen und Kontraindikationen 


wie auch Zahl und Schwere der Nebenerscheinungen erst herauszu- 
stellen. 


Ohne den Ergebnissen der bei uns seit etwa %, Jahren in die Reihe 
der übrigen Heilverfahren der Psychosen eingegliederten Cardiazol- 
krampftherapie vorzugreifen, gibt uns ein ungewöhnlicher Zwischen- 
fall Veranlassung, die dabei bisher gemachten Erfahrungen über 
unerwünschte organische Schädigungen mitzuteilen. 


Fall: 50jährige Frau, klein, asthenischer Habitus, graziles Knochensystem. 
In der Jugend bleichsüchtig. 2 normale Geburten, 1 Fehlgeburt. Mehrfache 
langdauernde depressive Zustände mit Zwangsgedanken und Versündigungs- 
ideen. 1937/38 1 Jahr in einer Heil- und Pflegeanstalt. Aufnahme in unsere 
Klinik am 6. Mai 1938. 

Klinische Diagnose: Endogene Depression. Nach Eingliederung in die 
Arbeitstherapie Beginn einer Cardiazolkrampfbehandlung. 

1. Inj. am 1. 7.1938: 5 ccm Cardiazol 10%ig intravenös. Kein Krampf, nur 
leichte Myoklonismen ohne Bewußtseinstrübung. 2. Inj. am 2. 7.1938: 6 ccm 
i. v., Auslösung eines typischen Cardiazolkrampfes. 3. Inj. am 5.7.1938: 
6 cem i. v., typischer Cardiazolkrampf. 4. Inj. am 8. 7.1938: 6 ccm i. v., typi- 
scher Cardiazolkrampf mit mehrere Minuten dauernden Nachkonvulsionen. 
Deutlich merkbare Besserung im psychischen Befinden. Freier, lebhafter und 
aufgeschlossener. 5. Inj. am 15. 7. 1938: 6 ccm i. v., typischer Cardiazolkrampf. 
Ebenfalls nach dem eigentlichen epileptiformen Anfall noch ca. 5 Minuten 
lang Konvulsionen der nicht ansprechbaren Patientin. Stets dabei ärztliche 
Überwachung, bis die Patientin ruhiger geworden ist und einschläft. Nun über- 
nimmt eine Schwester die Wache. Sofort nach dem Aufwachen nach 1% Stun- 
den klagt die Patientin über Schmerzen im rechten Bein. Die Untersuchung 
ergibt: Schmerzen im rechten Hüftgelenk und Oberschenkel, größter Druck- 


340 | Fritz Schmieder 


schmerz am Trochanter major. Flexion, Rotation, Adduktion und Abduktion 
im Hüftgelenk fast ganz eingeschränkt und sehr schmerzhaft. Trochanteren in 
gleicher Höhe, indirekter Druckschmerz von der Fußsohle aus, Unfähigkeit zu 
gehen oder zu stehen. Die Röntgenaufnahme und die chirurgische Unter- 
suchung (Oberarzt Dr. Stöhr, Chirurg. Klinik Heidelberg, Direktor Prof. Dr. 
Kirschner) ergab eine zentrale Luxation mit Fraktur im Bereich des Pfan- 
nenbodens. Bei normaler Stellung des Femurkopfes, der nicht im eigentlichen 
Sinne luxiert war, zeigte sich der Pfannenboden in seiner ganzen Ausdehnung 
samt den benachbarten Teilen des Beckenringes gebrochen, wobei sich dem 
kleinen Becken zu eine nach oben und innen gerichtete Knochenzacke gebildet 
hatte. Um die Kranke, die zu hypochondrischer Verarbeitung neigte, nicht zu 
belasten, wurde von irgendwelchen Verbänden abgesehen. Therapie: Bettruhe, 
Heißluft, nach 10 Tagen zunehmend Bewegungsübungen und Massage. Nach 
5 Wochen wurde das Aufstehen erlaubt und Gehübungen gemacht. 2 Tage 
darauf trat im linken Fußgelenk ein nicht schmerzhafter Erguß auf, der auf die 
Überbelastung des linken Beines infolge der Schonung des rechten zurückzu- 
führen war. Die Schwellung ging nach 3 Tagen zurück. Trotz der natürlich 
erfolgten Absetzung der Krampitherapie blieb das psychische Befinden der 
Patientin abgesehen von leichten Schwankungen ein gutes. Bei der Entlassung 
am 30.9.1938 war die Funktion des rechten Hüftgelenkes praktisch voll- 
kommen wieder hergestellt. Es bestand nur noch ein leichter Schmerz bei 
äußerster Flexion des Oberschenkels. Nachträglich erfuhren wir, daß die 
Patientin sich stets auf dem rechten Bein schwächer fühlte und in den letzten 
zwei Jahren häufig über ischiasähnliche Schmerzen in der rechten Hüfte zu 
klagen hatte. Ein Trauma, eine Hüftgelenkerkrankung oder irgendwelche 
Knochenveränderung waren aber weder anamnestisch noch röntgenologisch 
nachzuweisen. 


Wir haben hier also die Tatsache, daß im Cardiazolkrampf eine 
zentrale Luxation des Hüftgelenkes oder sagen wir besser eine Ein- 
treibungsfraktur der Hüftgelenkspfanne stattgefunden hat, wobei 
man sicher einen Sturz im Anfall oder eine prädisponierende 
Knochenerkrankung als Ursache ausschließen kann. Von einer 
Eintreibungsfraktur (nach Cottalorda) zu sprechen, entspricht eher 
den tatsächlichen Verhältnissen, da es ja nicht zu einer eigentlichen 
Luxation gekommen ist. Den vermutlichen Entstehungsmecha- 
nısmus wollen wir später im Zusammenhang mit den anderen bisher 
bekanntgewordenen Frakturen besprechen. 

Kurz wollen wir hier auch über unsere übrigen Erfahrungen 
mit Komplikationen berichten. Die bekanntermaßen häufig 
vorkommenden Kieferluxationen sahen wir auch oft. Seitdem 
wir aber dem mehrfach gegebenen Rat folgen und beim Gähn- 
krampf mit einem ernergischen Griff am Kinn den Unterkiefer nach 
oben und hinten drücken, sind sie seltener geworden. Außer ihnen 
sahen wir Luxationen nur zweimal. 

Fall: 31jährige Patientin mit angeborener Klumpfußbildung. Klinische 


Diagnose Schizophrenie. Die CGardiazolkrampfbehandlung brachte bald eine 
wesentliche Besserung des Zustandsbildes. Bei dem 7. Krampf nach einer 


Über Krampfschäden bei der Cardiazolbehandlung 341 


Injektion von 6 ccm Cardiazol i. v. trat eine Luxatio humeri axillaris auf der 
linken Seite ein. Trotz unblutiger Reposition machten Versteifungen eine 
länger dauernde Behandlung erforderlich, wodurch sich die Entlassung der 
Patientin um einen Monat verzögerte. Auch bei der Entlassung war das linke 
Schultergelenk noch nicht voll funktionstüchtig. 

Fall: 49jährige kleine grazile Patientin. Klinische Diagnose Schizophrenie. 
Substuporöses Verhalten, teilnahmslos, spricht nicht spontan, arbeitet nur 
mechanisch mit. Beginn einer Cardiazolkur außerhalb der Klinik im Juni 1938. 
Nach 2 Injektionen von 4 ccm Erregungszustand, weshalb die Patientin in die 
Klinik gebracht wurde. Internistische Untersuchung ergab eine dem Alter ent- 
sprechende Arterio- und Aortensklerose und einen erhöhten Blutdruck, wes- 
wegen zur Vorsicht bei der Cardiazolkur geraten wurde. 4. 11. 1938 Injektionen 
von 4 cem Cardiazol i. v. Typischer Cardiazolkrampf. Blutdruck nachher nicht 
verändert. Die bisher wieder in ihren früheren substuporösen Zustand zurück- 
gefallene Patientin beginnt eine sichtliche Lockerung zu zeigen, spricht zum 
erstenmal spontan. 7.11.1938 2. Injektion von 4 ccm. Typischer Cardiazol- 
krampf. Ohne daß man feststellen konnte, in welchem Stadium es erfolgt war, 
wurde gleich nach Beendigung des Anfalles bemerkt, daß der rechte Arm im 
Schultergelenk luxiert war. Reposition in Narkose. Röntgenkontrolle ergibt 
gute Stellung und keine Knochenverletzung. Trotzdem eine Woche ein Velpeau 
getragen werden mußte und die Schulter Schmerzen bereitete, war eine voll- 
ständige psychische Änderung der Patientin festzustellen. Sie lachte, sprach 
frei und zeigte sich unpsychotisch. Die psychische Besserung hielt an, von der 
Luxation blieben keine Folgen zurück, so daß die Patientin am 4.12. 1938 
geheilt entlassen werden konnte. 


Weitere schwere Zwischenfälle sahen wir bisher nicht. Die intra- 
muskuläre Verabreichung des Cardiazols wurde bei uns nur anfangs 
und im ganzen nur viermal ausgeführt und brachte keine Zwischen- 
fälle. Zu welch hohen Dosen man unter besonderen Umständen 
— vermutlich aber nicht immer — gefahrlos gehen kann, sahen 
wir bei einer jungen, sehr kräftigen Schizophrenen, bei welcher im 
Insulinschock zusätzlich Cardiazolkrämpfe ausgelöst wurden. Da- 
beı mußte man schließlich einmal zur intravenösen Verabreichung 
von 14 cem 10°, Cardiazol gehen, was keinen Krampf auslöste. 
Deshalb wurde nach wenigen Minuten 16 ccm i. v. gegeben, wobei 
ein typischer, sehr kräftiger Cardiazolkrampf folgte. Das waren also 
zusammen 30 cem innerhalb weniger Minuten. Am übernächsten 
Tag kam es sogar nach Injektion von 20 cem i. v. zu keinen Erschei- 
nungen. Es wurden sofort durch die selbe Nadel 10 cem nachge- 
spritzt, wonach es nur zu leichten Myoklonismen, aber nicht zu 
einem Krampf kam. Diesmal waren es also wieder 30 ccm, die aber 
mit einer Pause von wenigen Sekunden fast gleichzeitig injiziert 
wurden. Niemals kam es bei der Verabfolgung zu Neben- oder Nach- 
wirkungen, wenn man von Kopfschmerzen absieht. Stärkere Venen- 
sklerosierungen sahen wir weder bei diesem noch bei anderen Pa- 
tienten. 


342 Fritz Schmieder 


Im Vordergrund aller Beschwerden standen bei der Mehrzahl 
der Patienten die Schmerzen in den Schultern und im 
Rücken. Es handelt sich dabei wohl um die Folgen der plötzlichen 
und außerordentlichen Beanspruchung meist ungeübter Musku- 
latur. Das Verbreitungsbereich der Schmerzen entspricht der im 
Cardiazolkrampf auffälligen Bevorzugung der Muskulatur des 
Schulter-und Hüftringes. Wir sahen diese anscheinend oft recht un- 
angenehmen Schmerzen besonders häufig bei korpulenten, zu rheu- 
matischen und arthritischen Veränderungen neigenden Personen. 
Die Häufigkeit und Stärke der Beschwerden veranlaßten ihre regel- 
mäßige Behandlung, wobei uns Heißluftapparaturen gute Dienste 
tun. 


Zweimal bemerkten wir feinste petechiale Blutungen, die 
sofort nach dem Krampf sichtbar waren und beschwerdelos nach 
wenigen Tagen verschwanden. Das eine Mal waren es zahllose punkt- 
förmige Blutungen in den Ober- und Unterlidern, das andere Mal 
ähnliche Blutungen längs des ganzen Musc. sternocleidomastoid. 
der rechten Seite. Dieselben subcutanen Blutergüsse wurden ja auch 
bereits bei epileptischen Anfällen beschrieben. 


Bei unseren Mitteilungen handelt es sich nun nicht darum, gegen 
die von uns gern ausgeübte und geschätzte Cardiazolkrampf- 
therapie Stimmung zu erzeugen, sondern wir stellen die Frage, 
welche Rolle diese Zwischenfälle spielen und wieweit 
ihnen vorzubeugen ist. Daß Frakturen in das Bereich der Mög- 
lichkeiten zu ziehen sind, ist bereits bekannt. 


Sorger und Hofmann berichten über eine Querfraktur des Humerus im 
collum chirurgicum, Wahrscheinlich sei beim maximalen Emporstrecken 
eine Subluxation erfolgt. Im tonischen Krampf habe dann eine Adduk- 
tion des Armes eingesetzt, wobei hörbar die Fraktur erfolgte, ohne daß 
der Arm von einer Pflegeperson gehalten wurde, 

Kraus teilt einmal einen nicht ganz geklärten Fall mit, wobei eine Schädi- 
gung des Schultergelenkes, zugleich mit allmählich nach dem 2.—4. Insult auf- 
tretender Knochenatrophie eintrat, ohne daß Klarheit geschaffen werden 
konnte, daß das Gelenk vorher normal war. Dabei wurde nacheinander die 
Diagnose Osteomyelitis, Tuberkulose, Tumor, Fraktur und aseptische Knochen- 
nekrose nach Perthes gestellt. In einem zweiten Fall hörte er bei einer 51jährigen 
Frau während des tonischen Stadiums des ersten Insultes ein verdächtiges 
Krachen, das sich bei näherer Prüfung als eine doppelseitige Luxation der im 
übrigen normalen Humeri herausstellte, mit einerseits einer Fraktur im Collum 
anatomicum und andererseits einem Losreißen des Tuberculum majus. Unge- 
achtet des operativen Eingriffs blieb eine ernste Funktionsstörung bestehen. 

Janzen berichtet über einen 35jährigen Patienten, bei welchem nach der 
ersten Injektion von 5 ccm im tonischen Stadium unter lautem Krachen eine 
doppelseitige Fraktur des Collum femuris eintrat. Csajaghy und Mezei sahen 
eine Fraktur des Femurhalses, ohne daß der Kalkgehalt der Knochen ver- 


Über Krampfschäden bei der Cardiazolbehandlung 343 


mindert gewesen sei oder daß eine übermäßig entwickelte Muskulatur vor- 
handen gewesen wäre. Stähli und Briner erwähnen zweimal eine Fraktur der 
Scapula; das eine Mal handelt es sich um einen Abriß des unteren lateralen 
Teiles, das andere Mal um einen Abriß des Coracoids. Einer schriftlichen Mit- 
teilung von Leendertz verdanken wir die Angabe, daß Beyermann (St. Joris- 
gasthuis, Delft) bei einer 30jährigen, muskelschwachen, asthenischen Kata- 
tonen nach der 18. Injektion eine sternförmige Fraktur der rechten Scapula 
erlebte. In kurzer Zeit erfolgte völlige Heilung. Außerdem sah er bei einer 
kräftigen, 42jährigen Pat. nach dem 6. Krampf eine Humerusluxation links, 
welche ebenfalls beschwerdelos reponiert wurde. Thumm bringt in seinem 
an gleicher Stelle erschienenen Literaturbericht über den Stand der In- 
sulin- und CGardiazolbehandlung noch weitere drei Fälle zur Kenntnis. Er 
erwähnt die Mitteilung von Wujlfften-Palthe, daß bei einer Schulter- 
luxation ein Abbrechen des Tub. mai. hum. beobachtet wurde. Eine 
Schweizer Anstalt sah (nach einer mündlichen Mitteilung) eine Querfraktur 
der Scapula, während in Illenau eine Schenkelhalsfraktur bei einem Mann 
im mittleren Alter im ersten Insult beobachtet wurde. 

Insgesamt übersehen wir also bis jetzt einmal je doppelseitige 
Frakturen am proximalen Ende des Humerus und des Femurs, 
dazu dreimal einseitige Humerusfrakturen, zweimal eine einseitige 
Femurfraktur an gleicher Stelle, viermal eine Scapulafraktur und 
einmal eine Fraktur des Hüftgelenkpfannenbodens. Das sind 14 
Frakturen in 12 Fällen. Wir stehen hier vor der Situation, daß eine 
neue und stark empfohlene Therapie trotz gelegentlich behaupteter 
Ungefährlichkeit einige unangenehme Zwischenfälle nicht immer 
mit Sicherheit ausschließen läßt, wobei Frakturen eine wesentliche 
Rolle spielen. Die eben angegebene Zusammenstellung nun gegen 
die Cardiazolkrampftherapie einwenden zu wollen, wäre aber 
absurd. Vergleichen wir die Lage z. B. mit der Einführung der 
Äthernarkose, so ist diese doch akzeptiert worden, trotzdem sich 
herausstellte, daß bei ihr plötzliche Todesfälle eintreten können. 
Wir müssen, wie wir es bei den Narkosezwischenfällen auch tun, 
selbstverständlich das Verhältnis zwischen komplikationslosen 
Krämpfen und Krämpfen mit erfolgten Frakturen betrachten, 
da sich sonst ein ganz falsches Bild ergeben würde. In der Welt- 
literatur sind bisher (Oktober 1938) über 4600 abgeschlossene Fälle 
von Cardiazolkrampfbehandlungen mitgeteilt worden. Nehmen wir 
nun nur die europäischen Mitteilungen, so ergeben sich zusammen 
mit den Fällen von Beyermann (85) und von uns (50) weit über 
1600 abgeschlossene Fälle. Daraus kann man mit großer Wahr- 
scheinlichkeit auf mindestens 20000 ausgelöste Krämpfe schließen. 
Zieht man nun in Betracht, daß — soweit wir feststellen konnten — 
während dieser 20000 Krämpfe es nur in 12 Fällen zu Frakturen 
gekommen ist, so kann man wohl mit Recht behaupten, daß Frak- 
turen sehr selten sind. Das Verhältnis wird sich nicht wesentlich 


344 Fritz Schmieder 


ändern, wenn uns einige Frakturen unbekannt geblieben sein 
sollten. 

Diese relative Seltenheit soll uns aber nicht abhalten, den Ver- 
such zu machen, diesen für den Patienten und den Arzt oft recht 
unangenehmen Zwischenfällen vorzubeugen. Weitere Mit- 
teilungen von anderer Seite, die noch eingehender, als es bisher ge- 
schehen ist, gefaßt werden könnten, dürften dazu beitragen. Dabei 
soll nicht vergessen werden, Genaueres über Alter und Zustand 
des Patienten, über Dosis und Häufigkeit der Injektion und über 
Anhaltspunkte für den Entstehungsmechanismus mitzuteilen. 

Im übrigen scheint sich die Möglichkeit der Entstehung von 
Frakturen durchaus nicht auf die Cardiazolbehandlung zu be- 
schränken. So ließ Prof. Fromme (Städt. Krankenhaus Friedrich- 
stadt, Dresden) auf der 29. Tagung Mitteldeutscher Chirurgen im 
Dezember 1938 mitteilen, daß er bei einem 31jährigen Mann eine 
Wirbelfraktur sah, die im Insulinkrampf entstanden war und zu- 
nächst nicht beachtet und erkannt worden war. 

Wir weisen darauf hin, daß in den von uns mitgeteilten Fällen 
sich gewisse Anhaltspunkte für eine Gefährdung ergeben. 
Bei der Fraktur handelt es sich um eine ältere Frau mit schwäch- 
lichem Knochensystem und, wie der Erguß im anderen Bein erweist, 
mit biologisch anfälligen Gelenken. Auch ist der seit 2 Jahren be- 
stehende unbestimmte Schmerz im Hüftgelenk auffällig. Immerhin 
kann daraus kein ursächlicher Schluß gezogen werden. Bei der 
ersten Luxation handelt es sich um eine Patientin, deren angeborene 
Klumpfußbildung auf ein konstitutionell minderwertiges Element 
im Knochen-Bändersystem hinweisen kann. Die zweite Luxation 
traf eine 49jährige schwächliche Patientin. 

Ob und wieweit Stoffwechselveränderungen bei der Verursachung 
von Frakturen im Laufe der Cardiazolbehandlung eine Rolle spielen, 
muß noch dahingestellt bleiben. Der ungeklärte Fall von Kraus 
zeigte im Laufe der Behandlung zunehmende Knochenatrophie. 
Andererseits wird berichtet, daß Frakturen bereits bei der ersten 
Injektion eintraten. 

Eine weitere Frage, die besonders wegen der zu fordernden Ver- 
hütungsmaßnahmen sehr wichtig ist, ist die Frage nach dem Ent- 
stehungsmechanismus. Während einzelne Beobachter bei der 
Fraktur der Hüftgelenkspfanne zuerst der Ansicht waren, daß die 
besonders zu Ende des klonischen Stadiums einsetzenden Muskel- 
zuckungen verantwortlich zu machen waren, so müssen wir nach 
Erfahrungen der übrigen Berichterstatter zu einem anderen Schluß 
kommen. Zwar sind gerade diese terminalen, synchronen Zuckungen, 


Über Krampfschäden bei der Cardiazolbehandlung 345 


die wir feststellen konnten, ganz besonders die Muskulatur der 
Schulter und der Hüfte bevorzugen, von einer kolossalen Kraft. 
Aber alle, denen dadurch, daß sie das Eintreten der Fraktur hörten, 
möglich war, den Zeitpunkt zu bestimmen, sagen einmütig, daß 
die Fraktur im tonischen Stadium eintrat (so Sorger und Hofmann, 
Kraus, Janzen). Demnach sind die Frakturen wohl insgesamt in 
das tonische Stadium zu verlegen, wobei sich die Muskulatur mäch- 
tigst zusammenzieht und ungeheure Zug- und Druckverhältnisse 
auftreten müssen. Wie groß diese sein müssen, gibt ein Vergleich 
mit der Schwere eines Traumas, welches stark genug ist, eine Frak- 
tur des Beckenringes zu erreichen. Wieder fällt die besondere Be- 
anspruchung der Muskulatur der Schulter und Hüftanteile auf, 
worauf u.a. auch die Häufung der Scapulafrakturen hinweist. 

Die Zahl der bekanntgewordenen Frakturen ist noch zu klein 
und ıhre Art zu verschieden, als daß über die wirkenden Kräfte 
Genaueres ausgesagt werden könnte. Diese Fragestellung ist aber 
nicht unwichtig, weil sich ein Einblick in die inneren Zusammen- 
hänge und in den Ablaufmechanismus des Cardiazolkrampfes er- 
geben könnte, abzulesen an der Art und Arbeitsweise der krampfen- 
den Muskeln. In diesem Zusammenhang ist die Heranziehung der 
Erfahrungen über Spontanfrakturen beim epileptischen 
Anfall interessant. Die Beobachtungen beim Cardiazolkrampf 
weisen darauf hin, auch beim epileptischen Anfall mehr als bisher 
darauf zu achten, daß Frakturen auch ohne Einwirkungen des 
Körpers auf harte Gegenstände, wie Sturz auf den Boden usw., 
möglich sind. Bei Vervollständigung unserer Kenntnisse müßte 
sich dann ergeben, ob und inwieweit Unterschiede zwischen den 
Frakturen bei dem epileptischen Anfall und denen beim Cardiazol- 
krampf bestehen, und falls sie sich nachweisen lassen, wären daraus 
auch Schlüsse auf Unterschiede der Krämpfe selbst möglich. 

Zur Verhütung von Frakturen hat man außer der Herausstellung 
von Kontraindikationen den eigentlichen Vorbeugungsmaß- 
nahmen Aufmerksamkeit zu schenken. Bei jedem Verdacht auf 
senile Osteoporose, Gelenkserkrankung, überhaupt auf Krank- 
heitsprozesse der Gelenke und Knochen, ist eine vorherige Röntgen- 
aufnahme zu empfehlen. Daß ım Krampf selbst allzu extreme 
Stellungen vermieden werden müssen, zeigen die Beobachtungen, 
die eine Fraktur erst nach einer Luxation in ungünstiger Stellung 
erfolgen sahen. 

Man kann z. B. durch einen leichten Druck auf die Handgelenke 
darauf hinwirken, daß während des Krampfes die Arme ruhig am 
Körper gehalten werden. Die von amerikanischer Seite empfohlene 
23 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


346 Fritz Schmieder, Über Krampfschäden bei der Cardiazolbehandlung 


Bandage der Unterkiefer zur Verhütung der Unterkieferluxation 
kann wohl als überflüssig bezeichnet werden. Sie wird durch den 
oben erwähnten Griff meist gut ersetzt. Um Schädigungen des 
Schultergelenks zu vermeiden, benutzt Kraus ein kleines Gummi- 
kissen an der Innenseite der Oberarme. Es wäre zu erwägen, ob 
die gleiche beabsichtigte Abpufferung durch ein festes Kissen, 
welches man hoch zwischen die Oberschenkel legt, erzielt werden 
könnte. Erst eine größere Übersicht über die Frakturhäufigkeit 
und Entstehung kann entscheiden lassen, ob diese auf die Patienten 
recht unangenehm wirkenden Manipulationen überhaupt notwendig 
oder wirksam sind. 

Wenden wir der Frage der Komplikationen und dabei den Frak- 
turen eine nicht übertriebene, aber sorgfältige Beachtung zu, so 
werden wir dem Patienten aber auch der Cardiazolkrampftherapie 
einen Dienst erweisen. 


Schrifttumverzeichnis 


Cottalorda, Zeitschr. f. Chir. 1929, S. 3182. — Sorger u. Hofmann, Psych .- 
Neurol. Wschr. 1937, S. 462. — Kraus, Psych. en Neurol. Bladen 1938 Heft 1. 
— Janzen, Psych. en Neurol. Bladen 1938 Heft 1. — Csagaghy u. Mezei, 
Psych.-neurol. Wschr. 1938, S. 3. — Stähli u. Briner, Z. Neur. Bd. 160, S. 149. 
Thumm, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1938, 109. Bd., S. 306. — Wulfften- Palthe, 
Geneesk. Tijdschr. Nederl. Indie 1937, 3010—3023. 


Ein Jahr Cardiazolbehandlung 
auf der unruhigen Frauenabteilung 


Von 


Reg. Med.-Rat Dr. R. Carrière 
(Aus der Landesanstalt Dösen-Leipzig, Ob.-Reg. Med.-Rat Dr. Maaf) 
(Eingegangen am 11. März 1939) 


Nach vereinzelten Versuchen im Sommer und Herbst 1937 wurde 
im November und Dezember 1937 bei einzelnen Kranken der Ab- 
teilung für unruhige Frauen die Cardiazolbehandlung begonnen. 
Von Mitte Januar 1938 an wurden systematisch und serienmäßig 
die schwierigsten, unruhigsten, lautesten, stumpfesten Kranken 
der Abteilung, ganz gleich ob frisch erkrankt oder alter Fall, mit 
Cardiazol behandelt. Nur Schwachsinn, Epilepsie und Paralyse 
wurden nicht behandelt, sonst keine Rücksicht auf die Diagnose 
genommen. Im Laufe des Jahres wurden rund 80 Kranke behandelt, 
davon einige mehrfach. Als Kur wurde die Behandlung nur ge- 
wertet, wenn mindestens 10 Anfälle aufgetreten waren. Daher 
scheiden 10 unzureichend Behandelte aus. Von den 70 Kuren zeigte 
sich bei 24 Kranken keinerlei Wirkung. Bei 16 Kranken kam es 
zu einer vorübergehenden Besserung. Bei den 30 anderen Kuren 
war der Erfolg deutlich. Die Kranken wurden ruhiger, verloren 
ihre Aggressivität, waren nicht mehr so unruhig und störend. Bei 
einigen Kranken wurden ganz unerwartete und völlig verblüffende 
Remissionen erzielt. Die älteste Kranke war 62 Jahre mit einem 
Blutdruck von 185, sie konnte entlassen werden. Die nächstälteste 
Kranke von 57 Jahren hatte sogar einen Blutdruck von 200. Beide 
vertrugen die Anfälle ausgezeichnet. 

Es ist im Laufe des Jahres gelungen, eine wesentliche Beruhigung 
der Abteilung herbeizuführen. Dies sieht man am besten, wenn 
man die in den Tabellen zusammengestellten Angaben betrachtet. 
In den Berichtsbüchern der Abteilung werden im allgemeinen 
anfangs die besonders unruhigen Kranken namentlich aufgezählt. 
Selbstverständlich sind diese Angaben äußerst ungenau, je nach- 
dem die Schwestern den Begriff der Unruhe fassen, auch kommt 
23° 


348 R. Carriere 


es vor, daß tagelang im Berichtsbuch die summarischen Angaben 
unterbleiben. Auch muß man bedenken, daß dieselbe Kranke unter 
anderen sehr unruhigen nicht als besonders unruhig wirkt, während 
sie bei allgemein größerer Ruhe durch ihre Unruhe auffällt. Trotz- 
dem ist es doch sehr auffällig, wenn im Januar 1937 561 Kranke 
in den Tag- und Nachtberichten als besonders unruhig genannt 
werden, Februar 465, März 488. Die Zahl hält sich bis zum Ok- 
tober 1937 auf rund 400. Im Dezember 1937 und Januar 1938 
sind es rund 300 und seit Februar 1938 rund 200, ın den letzten 
Monaten des Jahres 1938 noch weniger. Sicherer als diese Angaben 
ist es wohl aus den Berichtsbüchern herauszuziehen, wie viel Kranke 
ım Laufe des Monats tätlich geworden sind bzw. als äußerst drohend 
gemeldet wurden. Es waren dies 1937 bis zum Oktober monatlich 
rund 100, im Januar 1938 74, seit Juni 1938 rund 45, im Oktober 
stieg die Zahl etwas auf rund 60, Dezember 52. Dabeı hielten sich 
die Angriffe gegen das Personal 1937 in der Höhe von 20—25 Ge- 
schehnissen im Monat, seit Mai 38 waren es unter 15. Ebenso ist 
im Jahre 1938 die Zahl der zerstörenden Kranken deutlich etwas 
zurückgegangen, auch die Zahl der als unsauber gemeldeten 
Kranken. 

Ehe die Cardiazolbehandlung im November 1937 anfing, waren 
bei denselben Kranken natürlich andere Versuche gemacht worden, 
so mit Hormonpräparaten, Eigenblutinjektionen, Elektrisieren. 
Die Gelegenheit zur Arbeitstherapie mußte im Laufe des Jahres 
1937 eingeschränkt werden: Aus Ersparnisgründen mußte die 
Handwäscherei Oktober 1937 geschlossen werden, die eines der 
besten Mittel zur Beschäftigung erregter Kranker war. In reichem 
Maße wurde versucht, durch Schlafmittelkuren die Kranken 
einigermaßen ruhig zu stellen. Der anschaulichste Beweis für die 
Wirkung des Cardiazols dürfte der Verlauf des Verbrauchs von 
Beruhigungsmitteln sein. Es zeigt sich, daß 1937 die Ausgaben für 
Trional, Veronal und Paraldehyd monatlich rund 100 Mark be- 
trugen. Seit Juni 1938 betragen die Ausgaben im Durchschnitt 
monatlich keine 5 Mark mehr. Es zeigt sich, daß die Abteilung 
seit der Einführung der Cardiazolbehandlung mit den Ausgaben 
für Cardiazol einen niedrigeren Geldbedarf für Medizin hat, als 
vor der Einführung des Cardiazols. Nachdem man die ersten beiden 
Monate des Jahres 1939 übersehen kann, wird der Erfolg voll- 
kommen deutlich: Wie schon ın den drei Sommermonaten 1938, 
liegen die Gesamtausgaben für Medizin im Januar 1939 um 50 Mark 
und im Februar um 12 Mark — auch der März wird sich unter 
20 Mark halten! — gegen rund 100 Mark im Jahre 1937. Dabei 


Ein Jahr Cardiazolbehandlung auf der unruhigen Frauenabteilung 349 


sind nunmehr die serienmäßigen Kuren bei alten Kranken völlig 
abgeschlossen. Zu bemerken ist dabei, daß Epileptiker an der 
Unruhe der Abteilung sehr wenig beteiligt sind, und die Ausgaben 
für Luminal nicht eingerechnet wurden. Die Hauptmasse der 
Kranken auf der Abteilung sind Schizophrene. Dazu kommen 
Manische, erregte Paralysen, Schwachsinnige in Erregungszu- 
ständen und vereinzelte ältere Kranke in sogenannten präsenilen 
Verwirrungs- und Erregungszuständen. Mit Cardiazol behandelt 
wurden außer Epileptikern, Paralytikern und Schwachsinnigen 
alle Krankheitsformen. Der Verbrauch von Morphium und Scopo- 
lamin ist nicht gestiegen. Luminal wird bei einzelnen Schizophrenen 
gelegentlich immer wochenlang angewendet. In dem Medizinbuch 
der Abteilung werden die täglich gegebenen Medizinen genau 
eingetragen. 

Eine Zusammenstellung der gegebenen Medizin, wobei nur die 
Epileptiker fortgelassen sind, ergibt folgendes: Zählt man die 
Tage zusammen, an denen die Kranken Medizin bekommen haben, 
so ergibt sich für die Abteilung von 88 Kranken 1937 monatlich 
eine Zahl von 435 bis 783 Medizintagen, wobei in 6 Monaten die 
Zahl über 650 lag: Es wurde also an sehr viele verschiedene Kranke 
sehr viel Medizin ausgegeben, in der Tat sind am Verbrauch der 
Schlafmittel monatlich 61—79 verschiedene Kranke beteiligt, und 
das bei einer Bettenzahl von nur 88. Dabei halten sich die Zu- und 
Abgänge ın mäßigen Grenzen. Im Jahre 1937 hatte die Abteilung 
67 Zugänge und 69 Abgänge, im Monatsdurchschnitt also nur 5—6. 
1938 sinkt die Zahl der Medizintage schlagartig herab, Januar 665, 
Februar 329, März 206, Mai 113. Ebenso sinkt die Zahl der monat- 
lich beteiligten Kranken 1938: Januar 65, März 38, um später auf 
rund 20 zu sinken. Dabei steigt aber die Aufnahmefähigkeit der 
Abteilung, 1938 93 Zugänge, 110 Abgänge. Zugeführt werden 
natürlich nur störende, schwierige, unruhige Kranke, zum großen 
Teil werden sie sogleich mit Tardiazol behandelt mit dem Erfolg, 
daß es zu der Ausbildung dauernd schwieriger Kranker nicht mehr 
kommt. Dabei ist zu bemerken, daß am 24. Februar 1938, als die 
Beruhigung durch Cardiazol schon ganz deutlich eingesetzt hatte, 
durch Verlegung von 16 Kranken in eine andere Anstalt vorüber- 
gehend der Abteilung eine wesentliche Erleichterung verschafft 
wurde. Unter diesen 16 Kranken waren 5 mit Cardiazol anbehandelt, 
davon eine ganz deutlich schon gebessert, eine zweite ebenfalls 
schon ruhiger geworden. Etwa 5 Kranke wird man als schwer 
störend bezeichnen können. Die Plätze wurden natürlich im Laufe 
der nächsten Monate schnell wieder aufgefüllt, es gelang jedoch 


350 R. Carriere 


durch die Möglichkeit, cardiazolbehandelte, ruhig gewordene 
Kranke zu verlegen, die Bettenzahl der Abteilung dauernd um 12 
zu vermindern und trotzdem allen Ansprüchen auf Aufnahme un- 
ruhiger Kranke im bisherigen Rahmen und darüber hinaus zu 
genügen. Dies zeigt, neben der starken Steigerung der Aufnahme- 
ziffern, deutlich die Anzahl der monatlich freien Betten auf der 
Abteilung. Im Jahre 1937 gab es Monate, in denen die Abteilung 
den ganzen Monat hindurch voll belegt war. Der November 37 
mit 65 freien Betten ist eine isolierte Erscheinung. 1938 beträgt 
die Zahl der freien Betten in 6 Monaten über 100, d. h. es konnten 
immer wieder ruhig gewordene Kranke auf ruhigere Abteilungen 
verlegt werden, und das trotzdem seit dem März 1938 durch Ein- 
sparen der 12 Betten monatlich im Durchschnitt sowieso schon 
360 freie Betten vorhanden waren. Mit anderen Worten, durch 
die Cardiazolbehandlung ist nicht nur der Arzneiverbrauch, ein- 
geschlossen das Cardiazol, geringer geworden, sondern es sind 
monatlich rund 400 Verpflegungstage eingespart worden. 
Ganz abgesehen von der Erleichterung des täglichen Dienstes für 
das Personal, ganz abgesehen davon, daß einzelne Kranke in über- 
raschender Remission trotz vorher völlig ungünstiger Prognose 
entlassen werden konnten, daß eine ganze Reihe von Kranken 
von ihren quälendsten Symptomen, grauenhaften Halluzinationen 
u. dgl. befreit wurden, zeigt sich rein volkswirtschaftlich also die 
energische Verwendung von Cardiazol auf der unruhigen Abteilung 
— auch bei alten Fällen — als eine absolute Forderung des Tages. 

Wie weit die Beruhigung der Kranken gegangen ist, zeigt auch 
folgende Feststellung aus dem Medizinbuch: 1937 mußten in den 
meisten Monaten im Durchschnitt über 10 Kranke an 10—14 Tagen 
und im Durchschnitt bis zu 20 Kranken monatlich sogar an 
15—31 Tagen Medizin bekommen. Es sind dies eben die dauernd 
schwierigen, störenden, erregten Kranken, die bevorzugt dann 
mit Cardiazol behandelt wurden. 1938 sinkt die Zahl der Kranken, 
bei denen diese langdauernden Medizingaben nötig sind, um sie 
überhaupt nur einigermaßen ruhig zu stellen, auf 0—2 für die 
Gruppe 10—14 Tage und 3 der Gruppe 15—31 Tage seit Mai 1938, 
d.h. während es 1937 monatlich durchschnittlich 30 schwer- 
störende und erregte Kranke auf der Abteilung gab, sind es seit 
Mai 1938 monatlich nur noch 2—5. 

Daß die Verlegung eines Teiles stumpfer und eines Teiles schwer 
störender Kranker in eine andere Anstalt Ende Februar 1938 nicht 
ausschlaggebend an diesem Erfolg beteiligt war, zeigt sich daran, 
daß erstens einmal alle genannten Zahlen schon im Februar vor 


Ein Jahr Cardiazolbehandlung auf der unruhigen Frauenabteilung 351 


Tabelle 1 
Erfolg bei 70 mit Cardiazol behandelten weiblichen Kranken 
Krankheitsdauer 
unter | !/,—1 | 1—2 2—5 über 
taJ. J. J. J. 5J. 
I Entlassen. .. ... 15 9 A 3 = 2 
II in Familienpflege . . 1 — — — — 1 
III auf ruhige Abteilungen 
verlegt ....... 7 2 — 1 2 2 
IV gebesserst ..... 7 1 — — 3 3 
Deutlicher Erfolg bei . | 30 12 1 4 5 8 
V vorübergehend ge- | 
bessert ....... 16 fast ausschließlich ältere Fälle 
VI unbeeinflußt. . ... . 24 
Gruppe I und II sind ....... 2305 
a Hr und IV :;, Sex 5 42% % 20% 
z Ve und zer ende ne Gurken tee ei 23%, 
35 N 2 ar en E eure 34% 


Für die Ruhigstellung der Abteilung ist die Gruppe V als durchaus wertvoll 
zu bezeichnen. Damit hat sich in ?/, aller Fälle die Behandlung als angezeigt 
erwiesen. 


der Verlegung ganz deutlich absinken, und ein weiteres Absinken 
der Zahlen dann im Mai deutlich wird. Ende Februar ging eben 
die erste große Behandlungsserie zu Ende und im Mai die zweite. 
Es wurden zeitweise über 25 Kranke gleichzeitig behandelt. 

Wie schon erwähnt, spielte die Art der Erkrankung, ausgenommen 
Schwachsinn, Paralyse und Epilepsie, keine Rolle, behandelt 
wurde der Zustand. Als wichtig möchte dabei hervorgehoben 
werden, daß auch bei älteren Kranken (über 55 Jahre) mit einem 
Blutdruck von 185 und 200 die Behandlung sich ohne jede Schwierig- 
keit und mit besonders günstigem Erfolge durchführen ließ. Eine 
62jährige Kranke, die man als hoffnungslos präseniler Halluzinose 
verfallen angesehen hatte, mit dem genannten hohen Blutdruck, 
hat besonders schnell und günstig angesprochen. In einem anderen 
Fall mußte die Diagnose Schizophrenie bei einer der wüstesten 
und lautesten Kranken wegen der völligen Wiederherstellung in 
manisch-depressives Irresein umgeändert werden. Gespritzt wurde 
in der Regel dreimal wöchentlich, und man hat den Eindruck, 
daß die unangenehmen Angstzustände vor dem Anfall zum Teil 
durch höhere Dosierung vermieden werden können. 

Die Durchführung der Behandlung, namentlich in den ersten 
Monaten mit den großen Serien von Kranken, bedeutete selbst- 


R. Carriere 


352 


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96 706 88 GGL | SL’86 0%°621 | — L6 "7 sc} 07'E | 907 L 
ILI 678 871 | SOL | 09EL GE'98 = 69 0 09'9 GE'98 66 c9 
gel Leor YIL | E8L | SL’LS c0%01 | —"95 0 SE'I coyor | Ol 6 
ELI 0901 95; | OEL | 09% 0796 —'07 0 09'9 02'96 8% Eg 
781 459 ES} | SOG | 0285 cE'YEL | — 9S "7 03°% SE'OZE | 001 é 
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2 X XI IHA 


354 R.Carriere, Ein Jahr Cardiazolbehandlung a. d. unruhigen Frauenabteilung 


verständlich für das Personal eine außerordentliche Belastung, 
und seine Bereitwilligkeit und Diensterfüllung verdient besonderen 
Dank. Es kann aber dabei betont werden, daß das gesamte Per- 
sonal nach wenigen Monaten den Erfolg der Mehrarbeit dankbar 
anerkannte, weil der Dienst auf der Abteilung durch die wesent- 
liche Beruhigung der Kranken wesentlich erleichtert worden ist. 
Schon seit langem ist es das Personal, das von sich aus an mich 
herantritt mit der Bitte, die oder jene Kranke doch auch mit 
Cardiazol zu behandeln. Selbstverständlich hat sich der Charakter 
der Abteilung nicht in dem Sinne verändert, daß sie nicht vor- 
wiegend stumpfe oder schwierige Kranke beherbergte, aber die 
vielen Zuführungen und Verlegungen von der Abteilung und die 
wesentliche Verminderung der schweren chronischen Erregungen 
macht doch das Arbeiten auf der Abteilung für Arzt und Personal 
jetzt ganz wesentlich befriedigender als früher, auch dies neben 
den genannten großen Vorteilen, ein nicht zu verachtender Gewinn. 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 


Von 
W. Enke und M. Kanthak 


(Aus der Landesheilanstalt und Anhaltischen Nervenklinik 
in Bernburg. Direktor: Professor Dr. W. Enke) 


(Eingegangen am 16. Mai 1939) 


Die Angaben über die Erfolge der Cardiazolkrampfbehandlung 
weichen im Schrifttum auch weiterhin sehr auseinander; das 
gleiche gilt für die Insulin-Schock-Behandlung. 

Nach einer neuern Statistik v. Meduna’s, die die Ergebnisse der 
Cardiazolbehandlung bei Schizophrenie sowohl in den europäischen 
wie außereuropäischen Ländern umfaßt, ergeben sich bei den 
„akuten Fällen bis 11/2 Jahre“ rund 51%, Remissionen und 20—35% 
„weitgehende Besserungen‘“. Bei 318 nicht schizophrenen Psy- 
chosen betrug der Häufigkeitssatz der ‚„Remissionen und weit- 
gehenden Besserungen‘ 79,2%. Demgegenüber stellen Langfeldt 
und letzthin die ungarischen Autoren Lehoczky, Eszenyi, Horányi- 
Hechst und Bak den Behandlungswert des Cardiazols und In- 
sulins überhaupt in Frage. Ähnlich widerspruchsvoll sind die An- 
sichten über die verschieden große Beeinflußbarkeit der einzelnen 
Schizophrenieformen. Nur darin ist man sich im allgemeinen 
einig, daß die Erfolgsaussichten umso günstiger erscheinen, je 
frischer der einzelne Fall und je „atypischer‘‘ die Schizophrenie- 
form ist. Beide Feststellungen lassen übereinstimmend vermuten, 
daß der Grad der Beeinflußbarkeit davon abhängt, ob die Er- 
krankung die Äußerung einer noch funktionellen Störung ohne 
bereits eingetretenen irreparablen Defekt ist, oder aber davon, ob 
die Anlage zur Schizophrenie in diesen Fällen nur ein Teilfaktor 
ist, dessen Symptome äußerlich reversibel sind. 

Zur Klärung dieser Fragen haben wir die von uns bisher mit 
Cardiazol behandelten Schizophrenieen — 100 Fälle — besonders 
nach folgenden Gesichtspunkten durchgeprüft: 

1. nach der Krankheitsdauer, 

. nach dem Geschlecht, 


2 
3. nach dem Lebensalter bei Beginn der Behandlung, 
4. nach dem Lebensalter bei dem Manifestwerden der Psychose, 


356 W. Enke und M. Kanthak 


5. nach der Körperbau- und Temperamentsform (wie bei allen unseren 
Konstitutionsuntersuchungen auf Grund von Protokollen, die vor 
der Behandlung von uns angelegt wurden), 


6. nach den besonderen Verlaufsformen der Psychose und nach atypischen 
Symptombeimengungen, wie manischen, depressiven, hysteriformen 
Zügen. 

Von der Berücksichtigung der Heredität haben wir vorläufig 
abgesehen, da wir bisher nicht in allen Fällen eindeutige Angaben 
erhalten konnten. 

Die Behandlungsergebnisse teilten wir in folgende 5 Gruppen ein: 


4. Vollremission: voll berufsfähig, frei von Defektsymptomen, Krank- 
heitseinsicht. 


2. Soziale Remission: arbeitsfähig außerhalb der Anstalt, teilweise Krank- 
heitseinsicht, Restsymptome. 


3. Soziale Besserung: beschränkt arbeitsfähig, außerhalb der Anstalt in 
Familienpflege. Keine Krankheitseinsicht, Restsymptome. 


4. Anstaltsbesserungen: eingliederungs- und arbeitsfähig innerhalb der 
Anstalt. 


6. Unbeeinflußte Fälle. 
Unsere 100 behandelten Schizophrenen verteilen sich in die an- 
geführten 5 Gruppen folgendermaßen: 
1. Vollremission: 14 Fälle 
2. Soziale Remission: 8 Fälle 
3. Soziale Besserung: 7 Fälle 
4. Anstaltsbesserung: 30 Fälle 
5. Unbeeinflußt: 41 Fälle 


Gruppieren wir die Behandlungserfolge nach der Krankheits- 
dauer, so erhalten wir folgende Zahlen (Tab. 1): 


Tabelle 1 
E.D Zahl der Besserungen 

jg Behandelten 1. | 2: | 3. | 4. | 5. 

Bis !/, Jahr 17 10 3 2 2 0 

„ 2 Jahre 17 4 4 3 4 2 

„ 6 Jahre 29 0 1 1 411 16 

über 6 Jahre 37 0 0 1 13 23 

| 100 EuEEEZEZE 
Aus dieser Tabelle läßt sich ersehen — in Übereinstimmung 
mit den Ergebnissen der meisten anderen Autoren — daß vor- 


nehmlich diejenigen Fälle eine Aussicht auf Vollremission oder 


weitgehende Besserung haben, deren Krankheitsdauer nicht mehr 
als 2 Jahre beträgt. 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 357 


Die Grade der Behandlungserfolge bei den 34 Schizophrenen 
mit einer Krankheitsdauer bis zu 2 Jahren verteilen sich folgen- 
dermaßen: 


14 Fälle 41,1%, Vollremission 
7 Fälle 20,6%, Soziale Remission 
5 Fälle = 14,7%, Soziale Besserung 


26 Fälle = 76,4%, entlassungsfähige Besserungen 


6 Fälle = 17,6%, Anstaltsbesserungen 
2 Fälle = 6%, Unbeeinflußt. 

Auıs der Tabelle 1 ıst ferner zu ersehen, daß auch bei den alten 
Fällen noch deutliche Erfolge zu erzielen sind. Von den 66 chro- 
nischen Fällen wurden 3 soweit gebessert, daß sie aus der Anstalt 
entlassen werden konnten. Fast die Hälfte derjenigen Fälle, die 
vor der Behandlung sozial unbrauchbar waren, nämlich 30, konnte 
nach der Behandlung zu Arbeiten innerhalb der Anstalt herange- 
zogen werden. 

Die besten Ergebnisse zeigten ganz allgemein die hyperkineti- 
schen Katatonen sowie die Paranoiden; am schlechtesten reagierten 
unsere Hebephrenen sowie die initiativearmen und zerfahrenen 
Katatonen. 

Zur Prüfung der Beziehungen zwischen Konstitution und 
Behandlungsergebnis legten wir in jedem Falle die Körperbau- 
und Temperamentsform im Sinne Äretschmer’s fest, und zwar vor 
der Behandlung durch Messung sowie durch Erhebungen über 
Wesen und Verhalten der prämorbiden Persönlichkeit. Nach der 
Behandlung haben uns in erster Linie diejenigen Fälle bezüglich 
ihrer Konstitution interessiert, die eine eindeutige Vollremission 
aufwiesen, und andererseits die gänzlich erfolglos behandelten 
Fälle. Bei Berücksichtigung der Körperbauform allein ergab sich, 
daß unter den 14 Vollremittierten 6 = 42,8% überwiegend pyk- 
nische Merkmale aufwiesen, und zwar 2 pyknisch mit leptosomen 

Stigmen, 1 pyknisch mit athletischen Einschlägen und 3 pyknisch 
mit Dys- bzw. Hypoplasieen. Ferner fanden sich 7 Leptosome 
und leptosome Mischformen sowie 1 Athletiker. Von diesen 7 Lep- 
tosomen wiesen jedoch 3 Patienten eindeutig zyklothyme Tem- 
peramentseinschläge auf. Bei sämtlichen Vollremittierten waren 
Züge festzustellen, die für den schizophrenen Formenkreis aty- 
pisch sind. 

Bei der körperbaulichen Erfassung der 41 unbeeinflußt geblıe- 
benen Fälle ergab sich, daß von diesen nur 2 vorwiegend dem 
pvknischen Konstitutionstyp zugerechnet werden konnten. Es 


| 


358 W. Enke und M. Kanthak 


überwogen die Leptosomen mit 65,8%, die Dysplastiker mit 17% 
und die Athletiker mit 12,1%. 

Während also unter den Vollremittierten 42,8% vorwiegend 
pyknischer Konstitution waren, fanden sich unter den Versagern 
nur 4,8%, Pykniker (vgl. Abb. 1). 


% 
658 


Vollremittierre 


NB 


NS 


NIS o 
N N Š N 


N 
N 


h, 
Pyknisch Leptosom Athletisch Dysplastisch 
Abbildung 1 


Konstitutionelle Zusammensetzung der Vollremittierten und der Versager 


Die Verteilung der Körperbautypen auf die verschiedenen 
Grade der Behandlungsergebnisse ergibt sich aus nachstehender 
Tabelle 2. 


Tabelle 2 


Besserungen 


Zahl der 
1. | 2. 3. | 4. 5. 


1. Pykniker u. pyknische 


Mischformen 18 2 
11,3% 
2. Leptosomen und 
lept. Mischf. 59 27 
45,7% 
3. Athletiker und 
athlet. Mischf. 13 5 
38,0% 
4. Dysplastiker und 
dyspl. Mischf. 10 7 
0% 
100 | 14 | 8 | 7 | 30 | 4 


Hiernach weisen die Athletiker und die dysplastischen Kon- 
stitutionstypen die schlechtesten Behandlungsergebnisse auf, wäh- 
rend sich unter den Vollremissionen dreimal soviel Pykniker als 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 359 


Leptosome (33,3 zu 11,8%) finden. Bei einer Zusammenfassung der 
Besserungsgrade 1 bis 3 sind die Pykniker noch etwa doppelt so 
häufig als die Leptosomen vertreten (49,3 zu 28,6%), (vgl. 
Abb. 2—4). 


Vollremission: 
Pyknisch Leptos. Athlet Dysplastisch 
Abbildung 2 


7 


Pyknisch leptos Athlet Dysplestisch 
Abbildung 3 


70% 


Unbeeinflußt: 17 


Pyknisch Leptos. Athlet Dysplastisch 


Abbildung 4 
Behandlungserfolg der einzelnen Körperbautypen 


Aus diesen zahlenmäßigen Gegenüberstellungen läßt sich 
schließen, daß die durch Cardiazol erzielten Erfolge offensicht- 
lich von der jeweiligen Konstitution des Erkrankten mit abhän- 
gen, und zwar insofern, als die Pykniker eine wesentlich bessere 
Prognose versprechen als die Leptosomen, und die Athletiker und 
Dysplastiker die schlechtesten Behandlungsaussichten haben. 


360 W. Enke und M. Kanthak 


Die Beziehungen zwischen Behandlungsergebnis und Konsti- 
tution finden eine bedeutsame Erweiterung bei einem Vergleich 
der eingangs erwähnten Faktoren, wie Erkrankungsalter. 
Verlaufsform und Symptomatik in deren Beziehung zun 
. Behandlungsergebnis. 


Daß die bereits abgelaufene Krankheitsdauer für den Be- 
handlungserfolg eine ausschlaggebende Rolle spielt, zeigt sich 
auch an unseren Fällen sehr deutlich. Wichtig erscheint uns ferner. 
daß das Lebensalter bei Beginn der Behandlung sich bei den 
44 Vollremittierten folgendermaßen verteilte: 8 waren zwischen 
30 und 48 Jahre alt, 3 zwischen 28 und 29, und nur 3 wiesen ein 
Lebensalter zwischen 16 und 25 Jahren auf. Es war also unter 
den Vollremittierten das jugendliche Alter bis zu 27 Jahren nur 
mit 21,4%, das Alter zwischen 28 und 50 Jahren in 78,6°% der 
Fälle vertreten. 


Der Zeitpunkt der manifesten Erkrankung, also das Erkran- 
kungsalter, lag bei 10 von den 14 Vollremittierten zwischen 
dem 28. und 40. Lebensjahr und nur bei 4 Patienten zwischen 
dem 14. und 26. Lebensjahr. Mit anderen Worten: Die Geistes- 
störung war bei 10 Vollremittierten = 71,4%, erst jenseits des 
28. Lebensjahres und nur bei 4 Patienten = 28,6%, im jugend- 
lichen Alter manıfest geworden. 


Bezüglich Verlaufsform und Symptomatik ergab sich beı 
den Vollremissionen folgendes Bild: 


4 Fälle hatten eindeutig zirkuläre Verlaufsform, bei 6 Fällen 
waren während der Psychose zahlreiche manische oder depressive 
Symptome vorhanden gewesen, bei 4 Kranken waren ausgesprochen 
hysteriforme Mechanismen beobachtet worden und bei 3 Kranken 
waren in der Anamnese wesentliche reaktive Begleitmomente er- 
wähnt. 


Umgekehrt konnten wir bei den 41 Versagern folgendes fest- 
stellen: Weitaus der größte Teil, nämlich 37 = 92,4%, war bei 
Beginn der Behandlung über 30 Jahre alt. Aber der Er- 
krankungsbeginn lag bei 21 = 51,2% vor dem 28. Lebens- 
jahr und bei 20 Kranken = 48,8%, danach. Vergleichen wir da- 
mit die entsprechenden Zahlen bei den Vollremittierten, so 
zeigen sich sehr sinnfällige Unterschiede: bei ihnen war, wie 
oben angeführt, die Erkrankung nur in 28,6% der Fälle vor 
dem 28. Lebensjahr manifest geworden. Also war bei den 
Versagern die Erkrankung doppelt so häufig (in 51,2% aller Fälle) 
vor dem 28. Lebensjahr in Erscheinung getreten (vgl. Abb. 5 und 6). 


a i: d y na 5 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 361 


JD.ehoczky und seine Mitarbeiter kommen sowohl bezüglich ihrer 
Insulin- wie Cardiazolfälle auf Grund ihrer statistischen Zusammen- 
stellung zu der Auffassung, daß die Fälle unter 30 Jahren eine 

DD 16. -27 Lebensjahr o 


924 
[) 28 -50 l ebensjahr 


16 


Vollremittierte: Versager: 


Abbildung 5 


Lebensalter 


Yo 
714 


‚Abbildung 6 
Erkrankungsalter 


Die Verteilung des Lebens- und Erkrankungsalter bei den 
Vollremittierten und den Versagern 


erheblich größere Heilungstendenz hätten. Anscheinend haben sie 
aber nicht die Gegenprobe angestellt, d. h. nicht beachtet, wie- 
viele von ihren ungeheilten Fällen unter 30 und wieviele über 
30 Jahre alt waren. Unter ihren Cardiazolfällen, die uns hier allein 


interessieren sollen, sind 21 (= 60%) unter 30 Jahre und nur 
24 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113. H. 3/4. 


362 W. Enke und M. Kanthak 


14 Fälle (= 40%) über 30 Jahre. Ersichtlich nähern sich dies 
Zahlenverhältnisse sehr den unsrigen, sodaß wir glauben, es liegt 
nur ein scheinbarer Widerspruch bezüglich der Bedeutung ds 
Lebensalters für den Behandlungserfolg vor. 


Es bleibt noch zu erwähnen, daß die Psychosen bei den unbe- 
einflußt gebliebenen Fällen fast ausschließlich einen kontinurer- 
lich progredienten Verlauf aufgewiesen hatten und symptomato- 
logisch vorwiegend hebephrene Syndrome sowie katatone Zer- 
fahrenheit oder Stumpfheit zeigten. 


Wenn auch die Zahl von 14 Vollremittierten noch zu klein er- 
scheinen mag, um aus den daraus errechneten Häufigkeitssätzen 
eindeutige Schlußfolgerungen zu ziehen, so glaubten wir uns hierzu 
doch berechtigt; erstens durch die Gegenprobe bei den 41 unbe- 
einflußt gebliebenen Fällen und zweitens auf Grund der Nach- 
prüfung der Beziehungen zwischen Erkrankungsalter und Behand- 
lungserfolg. Die letzteren lassen vermuten, daß das Behandlung:- 
ergebnis günstiger zu werden verspricht, wenn die Erkrankung 
nicht im jugendlichen Alter, sondern erst zwischen 30 und 50 
Jahren manifest geworden ist. Unsere Annahme findet eine ge- 
wisse Bestätigung in den Beobachtungen von Stähli, Briner u.a., 
die bei „Spätschizophrenie‘‘ eine besonders hohe Erfolgsziffer 
hatten. 

Auf Grund unserer Untersuchungsreihen können wir aber diese 
Feststellung erweitern und sagen: 


Die Prognose bei der Cardiazolbehandlung schizophrener Psy- 
chosen erscheint umso günstiger, wenn — abgesehen von einer 
möglichst kurzen Krankheitsdauer: — 


1. Die Temperamentsform der prämorbiden Persönlichkeit und 
ihre Konstitution oder die Symptomatik der Psychose Züge aus 
dem zirkulären Formenkreis aufweisen.*) 


2. die Psychose erst zwischen dem dritten und fünften Lebens- 
jahrzehnt manifest geworden ist, 


3. die Psychose sonstige atypische Symptome ın Verlauf oder 
Krankheitsbild hat. Unter diesen ist ein guter Teil derjenigen 
Schizophrenieformen, die, wie z. B. Kögler bei insulinbehandelten 
Fällen beobachtete, „an sich gute Heilungstendenzen“ haben. 
Damit können wir aber in teilweiser Übereinstimmung mit Le- 


*) Zu ähnlichen Ergebnissen kommt H. Ulrich in seiner inzwischen er- 
schienenen Arbeit: Die Konwulsionstherapie mit besonderer Berücksichtigung 
der Depressionen und Wochenbettpsychosen. Psychiatr.-Neur. Wschr. Nr. 12. 
(1939). 


| 


| 
| 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 363 


 hoczky und seinen Mitarbeitern mit großer Wahrscheinlichkeit an- 
nehmen, daß die Prognose bei der Cardiazolkrampfbehandlung 
umso günstiger ist, je weniger der zu behandelnde Fall der klassi- 
schen ‚„Dementia praecox‘‘ Kraepelin’s bzw. der ‚reinen‘ Schizo- 
phrenie Bleuler's und Kreischmer’s in Konstitution und Symp- 
tomenbild entspricht. — Nach unseren bisherigen Erfahrungen 
glauben wir, daß die Behandlungserfolge mit Insulin unter ähn- 
lichen Bedingungen stehen. Jedoch haben wir noch keine genügende 
Anzahl von Fällen, um bereits Bindendes aussagen zu können. — 


Unsere Schlußfolgerungen bezüglich der Cardiazolkrampfbe- 
handlung werden in gewisser Hinsicht bekräftigt durch die über- 
raschend hohe Erfolgsziffer bei 10 während der Berichtszeit behan- 
delten sicher nicht schizophrenen Psychosen. Es handelte sich um 
vorwiegend reaktive Depressionen, die wegen ihrer Schwere 
anstaltsbedürftig geworden waren und bereits !/, bis 1 Jahr jeder 
Therapie getrotzt hatten. 9 von diesen Patienten konnten nach 
4 bis 12 Wochen Cardiazolbehandlung (in der Woche höchstens 
2 Injektionen) völlig geheilt entlassen werden, ohne daß es inner- 
halb eines Jahres (der Zeitspanne der bisherigen Beobachtung) 
zu einem Rezidiv gekommen ist. 


Aus unseren Behandlungsergebnissen könnte man nun schließen 
— wie es z.B. Langfeldt und v. Meduna tun —, daß es sich bei 
den erfolgreich behandelten Fällen garnicht um echte Prozeß- 
schizophrenieen gehandelt habe, sondern um symptomatische 
Schizophrenieen bzw. ‚schizophreniforme‘ Zustände. Zwar können 
wir auf Grund unserer Erfahrungen auch nicht soweit gehen, 
jeden erfolgreich behandelten Fall als nicht zur endogen-here- 
ditären Schizophrenie zu zählen, so müssen wir doch die von uns 
schon andernorts ausgesprochene Forderung unterstreichen: die 
endgültige Diagnose einer endogenen Schizophrenie darf erst nach 
sorgfältigster Berücksichtigung aller Faktoren gestellt werden. 


Namentlich bei den erfolgreich behandelten Fällen ergeben sich 
einige nicht immer leicht zu klärende diagnostische Fragen: 


1. War der Erfolg dadurch bedingt, daß die Erbmasse noch keine irre- 
versible Schäden gesetzt hatte? 

2. Oder war die schizophrene Erbanlage so schwach verankert, daß durch 
die Behandlung die Symptome wieder zurückgedrängt werden konnten 
bzw. latent wurden ? 

3. Oder hat es sich gar nicht um eine Prozeß-Schizophrenie gehandelt, 
sondern nur um eine schizophrenieähnliche Erkrankung? 

4. Oder wurden — wie es besonders für chronische Anstaltsfälle in Be- 
tracht kommt — nur psychische Artefakte, aber nicht eigentliche schizo- 
phrene Symptome beseitigt ? 

24° 


364 W. Enke und M. Kanthak 


Im Zusammenhang damit ergibt sich immer wieder die Frage, 
welche Faktoren den therapeutischen Effekt bewirken. — Wenn 
wir einerseits hören, daß manche Anstalten sowohl die Cardiazol- 
wie die Insulinbehandlung wegen scheinbarer therapeutischer Er- 
folglosigkeit wieder aufgegeben haben, wir andererseits aber die 
mit der Insulin- wie Cardiazolbehandlung von uns erzielten und 
zahlenmäßig mitgeteilten Behandlungserfolge in so untrüglich sinn- 
fälliger Weise beobachteten undweiterhin das gleiche erleben, so 
haben wir dafür nur eine Erklärung: die physiologischen Einwir- 
kungen des Cardiazols oder Insulins allein als Medikament können 
nicht diesen therapeutischen Effekt ausmachen. Vielmehr erscheint 
uns nach wie vor wesentlich der mit beiden Behandlungsarten tief 
im Vidolen einsetzende psychische Schock und die anschließende 
psychotherapeutische Beeinflussung, die wir in allen Fällen aufs 
intensivste betreiben, und zwar nicht allein ärztlicherseits, sondern 
auch von seiten unseres eigens hierzu geschulten Pflegepersonals. 
Ja, wir sind vorläufig geneigt, diese systematische psychothera- 
peutische Nachbehandlung als den vielleicht wesentlichsten Heil- 
faktor zu betrachten. Jedoch möchten wir — entgegen der Auf- 
fassung Langfeldts sowie derjenigen Lehoczkys und seiner Mitar- 
beiter — beide Behandlungsmethoden nicht missen. Sie ermög- 
lichen einen sonst in diesen Fällen nicht erreichbaren raschen und 
nachhaltigen Rapport zwischen dem Patienten und seiner Umge- 
bung. Solange uns weniger eingreifende Verfahren — außer der 
ebenfalls nicht ganz ungefährlichen Dauerschlafbehandlung — 
nicht zur Verfügung stehen, sind sie uns wichtige therapeutische 
Hilfsmittel. 

Über die während der Behandlung aufgetretenen Komplikati- 
onen, die wir bisher beobachteten, werden wir an anderer Stelle 
ausführlich berichten. Wir wollen hier nur bemerken, daß wir 
3 Todesfälle zu verzeichnen hatten (Lungengangrän, Lungenabszeß 
und eine plötzlich einsetzende Lungentuberkulose). In allen drei 
Fällen handelte es sich um chronische Anstaltspatienten mit einer 
Krankheitsdauer zwischen 6 und 15 Jahren. Körperlich waren 
zwei Fälle leptosom und ein Fall stark dysplastisch bzw. hypo- 
plastisch. Offensichtlich war bei alle drei Patienten nach dem 
langen Krankheitsverlauf bereits eine erhebliche Verminderung der 
Wi:derstandskraft eingetreten bei bereits vorhanden gewesener kon- 
stitutioneller Schwäche. Auf Grund dieser Erfahrungen hielten 
wir in der Folgezeit in entsprechenden Fällen das Cardiazol für 
kontraindiziert; seitdem hatten wir keine Todesfälle mehr zu ver- 
zeichnen. 


Die Prognose bei der Cardiazolkrampfbekümpfung 365 


Schrifttumverzeichnis 


Bostroem, A., Atypische Schizophrenien und schizophrenieähnliche Er- 
krankungen im Erbgesundheitsverfahren. D. M. W. Nr. 52, 1938. — Enke, W., 
Pharnrakotherapie in der Psychiatrie. Fortschr. Neur. u. Psychiatr. 10, 1938. 
— Kanthak, M., Cardiazolkrampbehandlung und Konstitution. Ing. Diss. Kiel. 
1939. — Kögler, Überblick über die insulinbehandelten Schizophreniefälle der 
psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg. Arch. Psychiatr. 109, 1939. 
— Langfeldt, G., Untersuchungen über die Prognose der Schizophrenie und 
Betrachtungen über die Diagnose der Schizophrenie. Norsk. Mag. Laege- 
didensk. 99 (1938). Vgl. Zbl. Neur. 91 (1938). — Lehoczky, T., Eszenyi, M., 
Horányi-Hechst B. und Bak, R., Katamnestische Untersuchungen über die 
Insulin-Shock- und Konvulsionstherapie der Schizophrenie. Z. Neur. 166 
(1939). — Meduna, L. von, Die Konvulsionstherapie der Schizophrenie. 
Rückblick und Ausblick. Psychiatr.-Neur. Wschr. Nr. 14. (1939). — Wahl- 


mann, Die Cardiazolkrampfbehandlung der Schizophrenie. Hippokrates 
H. 47. (1938). 


Über frühinfantile Einstellungen 
bei der Insulinbehandlung der Schizophrenie 


Von 
Dr. D. T. Dimitrijević und Dr. N. Zee 


(Aus dem Staatsspitale für Geisteskrankheiten in Beograd. 
Direktor: Dr. Ivan Barbot) 


Die Einführung des Insulins in die Behandlung der Schizophrenie 
regte bald die Erforschung der verschiedenen Erscheinungen an, die 
man während der Hypoglykaemie sieht. So hatte man neben den 
psychischen und sensorischen auch die verschiedenartigen moto- 
rischen Reaktionen beobachtet, die in verschiedensten Formen auf- 
treten können. Der erste, welcher auf diese hinwies, war Sakel, der 
bald erkannte, daß sie immer in einer gewissen Ordnung auftreten, 
wonach zuerst die motorischen Funktionen, als die vollkommensten 
und demnach ontogenetisch jüngsten ergriffen werden. Diese Beob- 
achtungen von Sakel bestätigte auch v. Agyal, welcher bei den 
Insulinhypoglykaemien besonders die motorischen und Tonus- 
störungen hervorhob. Von Angyal fand, daß man auf Grund dieser 
Störungen, die nach der Tiefe der Hypoglykaemie sehr verschieden 
sein können, immer auf ihre Lokalisation im Gehirn schließen kann, 
indem diejenigen, die die jüngsten sind, zuerst verfallen. In der 
Restitution nach dem Schock dagegen kommen diese Symptome 
in umgekehrter Reihe zum Vorschein, so daß man nach einem ko- 
matösen Zustande zuerst die phylogenetisch älteren und dann erst 
die jüngeren sich wieder einstellen sieht. 

Der Fall, den wir vor kurzem beobachteten, betrifft einen 31-jährigen 
Mann, der am 4. August 1937 in das Staatsspitel für Geisteskrankheiten aufge- 
nommen wurde. Aus der Anamnese, welche wir von seinem Bruder erhielten, 
geht hervor, daß sein Vater ein schwerer Alkoholiker war, die Mutter jedoch 
gesund, und daß er als Kind an der Tetanie krank war, und einige Zeit hin- 
durch Enuresis nocturna hatte. Während seiner Schuljahre mied er die Gesell- 
schaft und liebte mehr einsam zu sein, und schon damals zeigten sich die ersten 
Zeichen einer paranoiden Anlage. Später wurde er nervös, jähzornig und zeigte 
eine Neigung zu abrupten Reaktionen, was sich in der Form von verschiedenen 
Ausschweifungen äußerte. Gleichzeitig stellte sich eine affektive Stumpfheit 
ein, er wurde unzugänglich und machte einige grobe Ausfälle. Die ersten An- 
zeichen seiner jetzigen Krankheit zeigten sich im August 1937, als sich die 
ersten Äußerungen von Verfolgungswahn bemerkbar machten und er sich 


Über frühinfantile Einstellungen b. d. Insulinbehandlung d. Schizophrenie 367 


noch mehr in die Einsamkeit zurückzog. Zu gleicher Zeit äußerte er sich, 
daß er für die Gesellschaft nicht geeignet sei, weil er die Winde nicht zurück- 
halten könne, und den Frauen, wenn er mit ihnen spreche, den Mund mit 
Sperma vollmache. Zufolgedessen sowie eines schweren Anfalles wegen wurde 
er nach dem Spitale für Geisteskrankheiten in Vrapče geschickt, wo er einige 
Monate verblieb und nachher der häuslichen Pflege übergehen wurde. Im 
folgenden Jahre erzählte er wieder davon, wie er von einigen Offizieren ver- 
folgt wurde, weswegen er einmal aus einem fahrenden Eisenbahnwagen 
heraussprang. Am 9. August 1936 wurde er nach der Irrenanstalt Kovin 
überwiesen, von wo er nach vier Monaten entlassen wurde, um der häuslichen 
Pilege anvertraut zu werden. Im Jahre 1937 verbrachte er eine Zeit lang in 
einem Privatsanatorium, von wo er am 9. August 1937 wieder in das Staats- 
spital in Beograd überführt wurde. 

Bei der ersten Untersuchung benimmt sich der Kranke vorsichtig, miß- 
trauisch und aggressiv. Er fängt an gleich aufgeregt zu sein und protestiert 
lebhaft gegen seine Ablieferung ins Spital, da ihm nichts fehlt und er ganz 
gesund sei. Sonst war die Orientierung nicht gestört, nur wollte er auf die 
Fragen keine Antworten geben oder antwortete sehr ungern. Einigemale 
unterbrach er die Frage und verlangte, man möge ihn nach Hause schicken, 
da ihm ohnedies nichts fehle, obwohl er weiß, daß mit ihm etwas nicht in 
Ordnung sei. Im Laufe der weiteren Untersuchung äußerte er wieder seine 
Verfolgungsideen und erzählte, wie er ständig verfolgt werde und wisse selbst 
nicht warum und wer diese Leute seien. Als man ihn ins Krankenzimmer 
brachte, wurde er unruhig, arrogant und aggressiv, griff den Krankenwärter 
an, weshalb er in die Abteilung für Unruhige überführt wurde. 


In einem solchen Zustande begann man bei dem Kranken eine Cardiazol- 
behandlung durchzuführen. Als erste Injektion bekam er 8 ccm, worauf 
er einen starken epileptischen Anfall bekam, während dessen er von den 
Krankenpflegern gehalten werden mußte. Nach diesem Anfalle wurde er 
ruhiger, griff niemanden mehr an, zeigte mehr Interesse und wurde einsichts- 
voller. Diese Behandlung wiederholte man bei ihm achtmal und die Folge 
davon war eine sichtliche Besserung, da der Kranke ruhig und zugänglich 
wurde, mit den Ärzten sprach und sich für alles interessierte. Gleichzeitig 
haben sich auch seine paranoiden Ideen deutlich vermindert. Dieser Zustand 
dauerte eine gewisse Zeit, nach welcher seine alten Ideen wiederum auf- 
tauchten. So schritt man diesmal zur Behandlung mit Malaria, von der er 
12 Fieberanfälle durchmachte und nach welcher sich sein Zustand bedeutend 
verbesserte. Zwei Monate nachher fingen aber die Verfolgungsideen an 
wiederum aufzutreten, wonach er wieder mißtrauisch und menschenscheu 
wurde. In solchem Zustande begann man am 29. Dezember 1937 mit der 
Insulinbehandlung, von dem er im ganzen 32 Injektionen erhielt. Die 
erste Injektion betrug 20 Einheiten, jede folgende um 10 Einheiten mehr, 
bis man zu 50 Einheiten gelangte. Nach dieser Dosis stellten sich die ersten 
stärkeren Reaktionen ein, und zwar in Form von Somnolenz, Schweißab- 
sonderung und Ilypersalivation. Von dieser Dosis ging man etwas vorsichtiger 
vorwärts und erhöhte man am Kranken die Dosen nur um 5 Einheiten. So 
erhielt er am 12. Jänner, nachdem ihm drei Injektionen von je 50 Einheiten 
gegeben wurden, zum ersten Male eine Dosis von 55 Einheiten, worauf sich 
schwerere Symptome von Ilypoglykämie einstellten. Der Kranke wurde 
aufgeregt und machte mit dem Kopfe und den Händen ungeordnete und ziel- 
lose Bewegungen. In den folgenden Tagen, als man die Dosis auf 60 Einheiten 


368 D. T. Dimitrijević und N. Zec 


erhöhte, nahmen diese Bewegungen einen bestimmteren Charakter an. Sie 
erhielten das Aussehen von Myoklonien, rhythmischen Lippenbewegungen, 
Saugbewegungen, Kopfwackeln, Muskelzuckungen an Körper und Extre- 
mitäten und Grimmassieren an Gesichtsmuskeln. Zu gleicher Zeit trat 
eine Bewustseinstörung ein, erschwerte Perzeption, Gedächtnisschwäche 
und Gedankeninkohärenz, so daß er das Aussehen hatte, als ob er be- 
nommen sei. 


Am 24. Jänner erhielt der Kranke eine Dosis von 65 Einheiten, welche 
bald darauf auf 75 Einheiten erhöht wurde. Während der fünf Injektionen, 
die er in diesen Stärken erhielt, nahmen die Symptome ein neues Aussehen. 
Neben den oben genannten motorischen Erscheinungen, fing der Kranke auf 
einmal an vom Bette aufzustehen, zusammenhangslos zu sprechen und unarti- 
kulierte Laute von sich zu geben. Inzwischen sobald er jemanden in seiner 
Nähe bemerkte, wendete er sich an ihn kindisch und blöde, mit den unver- 
ständlichsten Fragen, welche er in abgebrochener Form aussprach. Zu gleicher 
Zeit bewegte er sich abwechselnd auf die eine oder die andere Seite, griff und 
tastete nach den ihn umgebenden Gegenständen, die er mit einem blöd- 
lustigen und fröhlichen Gesichtsausdrucke neugierig betrachtete, um sie 
dann wieder außeracht zu lassen oder zornig von sich zu werfen. 


Vom 4. Feber an erhielt der Kranke Injektionen von über 75 Einheiten. 
Bei diesen Dosen bot sich wieder ein anderes Bild, welches sich darin äußerte, 
daß er nun primitive und animalische Bewegungen zeigte. So stand er einige- 
male im Bette auf einmal auf und machte mit den Händen Bewegungen, 
wie es die Vögel beim Fliegen tun. Ein anderes Mal rollte er sich wie ein Knäuel 
zusammen, machte Purzelbäume, oder wälzte sich auf die eine oder andere 
Seite. Daraufhin stand der Kranke aus dem Bette auf, stellte sich wie ein Tier 
auf alle viere und ging mit hängendem Kopfe und den in Ellenbogen ge- 
beugten Händen wie ein Bär herum. Und zuletzt, als man ihn wegen seines 
Herumkriechens vom Bette in ein Gitterbett einsperrte, kletterte er wie ein 
Affe über das Netz empor und blieb so mit zusammengezogenen Füßen und 
Händen einige Minuten hängen, worauf er wieder herunterkroch. 


Im Laufe der weiteren Injektionen von 90 bis 95 Einheiten hatten diese 
Bewegungen einen weniger ausgeprägten Charakter. So hatte der Kranke 
bei den letzten Schocks mit hohen Dosierungen nur noch psychomotorische 
Erregungen ohne irgend welche bestimmte Bewegung. Ebenso bei der späteren 
Verminderung der Dosis kommen diese Erscheinungen nicht mehr zum Vor- 
scheine, so daß es den Anschein hatte, als ob sie ganz verschwunden wären. 


Was die Zeit ihres Auftretens betrifft, so ist zu bemerken, daß sie sich 
immer in praecomatösem Stadium äußerten, in welchem sie gewöhnlich 
!/; bis 1 Stunde dauerten. Ebenso traten sie einige Male während des Er- 
wachens aus dem Koma auf, obwohl sie wegen der raschen Abbruches 
des Schocks durch Glykoseinjektionen von sehr kurzer Dauer waren. Dagegen 
waren sie deutlicher und von längerer Dauer in den Fällen, bei denen man die 
Unterbrechung des Schocks mit verzuckertem Mittel per os ausführte, was 
nur in einigen Fällen geschah. 


Nach 32 Schocks, welche am 6. März 1938 endeten, erholte sich der Kranke 
vollkommen und wurde am 30. März auf einen Probeurlaub nach Hause 
entlassen, nach welchem er später definitiv entlassen wurde. Seit dieser Zeit 
konnte man an ihm keine Störungen mehr bemerken, was sich auch bei einigen 
Untersuchungen bestätigte. 


Über frühinfantile Einstellungen b. d. Insulinbehandlung d. Schizophrenie 369 


Wenn wir dies alles zusammen fassen, so sehen wir, daß sich die 
ersten Erscheinungen bei einer Dosis von 50 Einheiten äußersten, 
als der Kranke nur elementare motorische Bewegungen machte. 
Diese Bewegungen, die stets mit einer Bewußtseinstörung einher- 
gingen, waren einander ähnlich bis zur Dosis von 65 bis 75 Einheiten, 
als man neben ihnen auch andere, wie das schnelle Aufstehen und 
eine unartikulierte Sprache auftreten sah. Zu gleicher Zeit zeigte er 
ein Benehmen, wie man es nur bei den Kindern sehen kann und die in- 
folgedessen einen infantilen Charakter trugen. Bei der Dosierung 
von 75 Einheiten machte der Kranke neben diesen infantilen auch 
einige animalische Bewegungen, wie man sie nur bei den Tieren 
beobachten kann. Alle diese Bewegungen standen im kausalen Zu- 
sammenhange mit den verschiedenen Stärken der Insulindosis und 
waren infolgedessen durch die verschiedenen Stufen der durch die 
Hypoglykämie bedingten Gehirnschädigungen bedingt. Während 
sich die ersten bei einer Dosierung von 55 bis 65 Einheiten zeigten, 
traten die anderen bei der Dosis von 65 bis 75 Einheiten und die 
letzten bei einer Dosis von über 75 Einheiten auf. Aus allem dem 
ist ersichtlich, daß sich nach der Dosierung auch verschiedene Stufen 
der Affektion der psychomotorischen Zentren einstellten, die wegen 
ihrem schichtenmäßigen Aufbau verschieden ergriffen werden 
können. So verschwanden bei den ersten zuerst die phylogenetischen 
und ontogenetischen jüngsten Schichten, welche mit der Mimik und 
den harmonischen Körperbewegungen zusammengehen. Die Folge 
davon waren die Muskelzuckungen, Saugbewegungen, Grimassieren 
und Körperkrümmungen, die man bei Kindern und besonders bei 
postencephalitischen Kindern beobachten kann. Diese infantilen 
Zeichen kamen in einem noch größeren Maßstabe bei größeren 
Dosen von Insulin vor, bei welchen das rasche Aufstehen, Körper- 
krümmungen und Sprachstörungen auftraten, wo sie auf eine schwere 
Gehirnaffektion hinwiesen und einen stärkeren infantilen oder 
infantil-animalen Typ zur Folge hatten, wie man es nur bei erethi- 
schen Imbecillen und, Idioten beobachten kann. Und schließlich 
im dritten Stadium, als die Dosierung über 75 Einheiten betrug, 
traten noch stärkere Hypoglykämien auf, die einen reinen Animal- 
typus zeigten, wie man ihn nur bei den Vierfüßlern beobachten kann 
oder bei Idioten, deren Lebensäußerungen sich auf den tiefsten 
Stufen des Animalischen befinden. 

In der Erforschung dieser Erscheinungen an seinen Kranken 
zeigte v. Angyal, daß sie je nach der Stärke der Insulinwirkung in 
einigen Phasen auftreten können. Nach dieser Einteilung wären die 
Störungen in unserem Falle in die dritte Phase der Anfangszeichen 


370 D. T. Dimitrijević und N. Zec 


der Pyramidalläsion einzureihen, die mit den klonischen Zuckungen. 
den Tonusanomalien, dem Zwangsgreifen, den fasciculären und athe- 
totischen Bewegungen und anderen Störungen einhergehen. Au 
Grund dieser Störungen hatte unser Fall eine gewisse Ähnlichkeit 
mit einigen Fällen von v. Angyal, obwohl er mit keinem von ihnen 
ganz identisch war. 

Was jedoch die Frage der Pathophysiologie dieser Störungen 
betrifft, versuchte v. Angyal; sie auf Grund der heutigen Kenntnisse 
über die einzelnen Gehirngebiete und ihre Funktionen zu erklären. 
So glaubte er, daß man sie mit Rücksicht auf alle Erscheinungen. 
die man beim Insulinschock beobachtet, in einige Typen einteilen 
kann, von denen jeder mit bestimmten hypoglykämischen Erschei- 
nungen in Verbindung steht. Der erste von diesen, der frontopolare 
tritt auf als Träger der motorischen und tonischen Störungen, die 
in diesem Gehirnteile die meisten von ihren Zentren haben. Und 
dennoch kommen, nach v. Angyals Meinung, die Störungen be! 
diesem Typ nicht als Folge definitiver, isolierter und genau abge- 
grenzter Teile vor, sondern nur als Ausfallserscheinungen von ver- 
schiedenen Gehirnfunktionen. Auf diese Weise gehen die Symptome. 
die nach ihm ein phasenartiges Auftreten haben und als Folge der 
Affektionen verschiedener Gehirnteile aufzufassen sind, in der- 
selben Folgenreihe, in welcher diese Teile in Mitleidenschaft gezogen 
wurden. So wären die motorischen und tonischen Symptome, welche 
er in die VI, V und III Phase stellt, nur Folgen von Reiz- und Läh- 
mungsaffektionen erstens der Brodmannschen Felder des fronto- 
polaren Teiles der Gehirnrinde und dann des Cyrus centralis anterior 
des Striopallidums N. ruber und zuletzt der Medulla oblongata. 
Infolgedessen sind die verschiedenen motorischen Störungen, die 
man bei diesen Schocks wahrnimmt, nur eine Folgeerscheinung 
dieses geschichteten Aufbaues der Motorik, welche nach ihrem 
phylo- und ontogenetischen Alter auch ein verschiedenes Aussehen 
haben. Diese Auffassung v. Angyaly fand ihre Bestätigung auch beı 
unserem Falle. Die immer stärkeren Schädigungen der motorischen 
Zentren zogen mit sich auch ein Auftauchen der niederen motorischen 
Formen, die über den infantilen und infantil-anımalen zu einem 
anımalen Typ sanken. Auffallend und besonders charakteristisch 
war in diesem Falle das affenähnliche Klettern am Netze, das sehr 
ähnlich ist den Kletterbewegungen, welche nach Foerster im Pallidum 
als dem phylogenetisch älteren motorischen Kern ihren Sitz haben. 

Ein solches Auftreten von motorischen Erscheinungen bei den 
verschiedenen Phasen der Insulinhypoglykämie bestätigen auch 
für das Insulin das Gesetz von H. Jackson, daß unter seiner Wirkung 


EEE ë ë E E ginge een E 


Über frühinfantile Einstellungen b. d. Insulinbehandlung d. Schizophrenie 371 


zunächst die phylo- und ontogenetisch jüngeren Schichten ver- 
fallen, die als vollkommenste am wenigsten widerstandsfähig sind. 
Dieses Gesetz, welches sich auf den schichtenartigen Bau des Ge- 
hirns als der Resultante einer langdauernden phylogenetischen Ent- 
wicklung gründet, zeigt auch beim Insulinschock, daß die Disso- 
lution tatsächlich ein umgekehrter Prozeß der Evolution ist, und daß 
das allgemeine Gesetz, welches H. Jackson in die Gehirnpathologie 
einführte, auch hier seine Gültigkeit hat. 

Diese Erscheinungen regen uns zu noch einer Frage an: wo liegen 
die Ursachen, daß man diese Erscheinungen als Regression gegen 
die niederen psychomotorischen Mechanismen nur bei einer sehr 
geringen Zahl von Fällen sehen kann, während sie bei den anderen 
in ganz anderen Formen auftreten. In Beantwortung dieser Frage 
muß gleich bemerkt werden, daß solche Reaktionen bei Insulin- 
schocks als Folge der konstitutionellen Eigenschaften des Gehirns 
und seiner Funktionen anzusehen sind. Demgemäß haben gewisse 
Gehirnteile eine ganz besondere Empfindlichkeit für die Insulin- 
wirkung. So kommt es, daß sich bei den einen zuerst die psycho- 
motorischen Erscheinungen einstellen, während sich bei den anderen 
diese in der Sphäre der sensorischen und psychischen Funktionen 
kundgeben. In der Erforschung dieser Erscheinungen bei einer 
größeren Anzahl von Geisteskranken zeigte Benedek, daß sich bei 
gewissen Phasen von Insulinschock manchmal auch Störungen im 
Gebiete des optischen Wahnehmens einstellen können, wie dies bis 
jetzt bei verschiedenen Gehirnprozessen beobachtet wurde. Das 
zwingt uns anzunehmen, daß die Form, in welcher sich diese Stö- 
rungen während des Insulinschocks zeigen, in erster Linie von der 
konstitutionellen Beschaffenheit des Gehirns und seiner Reaktions- 
fähigkeit abhängig ıst. So hatten sie bei Menschen vom frontalen 
Typus einen psychomotorischen Charakter, während sie bei den 
anderen mit dem Überwiegen der Funktionen des parietalen und 
occipitalen Lappens mehr das Aussehen von Gefühl- und Merk- 
störungen aufweisen. Außerdem weist das rasche Auftreten dieser 
Erscheinungen auf labile und nicht genug zusammen gebundene 
Gehirnschichten hin, von welchen die Affektion der höheren sehr 
leicht die Befreiung der niederen mit sich bringt, welche dann selbst- 
ständig in Funktion treten. Unser Fall, bei dem man überwiegend 
psychomotorische Erscheinungen beobachtete, gehört zweifellos 
in die erste frontopolare Gruppe, welche für sie eine besondere 
Neigung hat. 

Eine solche funktionelle Schwäche der Psychomotorik und ihrer 
Zentren würde dann eine Prädilektionsstelle des Insulins beim Insulin- 


372 D. T. Dimitrijević und N. Zec 


schock darstellen. Auf diese Weise wären die motorischen Störungen. 
die hier auftreten, auf die Lädierung der verschiedenen psycho- 
motorischen Schichten zurückzuführen, bei denen die Paralyse der 
höheren immer zur Befreiung der funktionell niedrigeren führt. 
Solche Schädigungen, welche nach de Crinis einen diffusen Charakter 
hätten, haben beim Insulin ein spezielles Aussehen, das in erster 
Linie von seiner Wirkung auf die psychomotorischen Zentre her- 
stammt. 


Schrifttumverzeichnis 


L. v. Angyal, Z. Neur. 157, B. S. 35—80. — L. v. Angyal, Arch. Psychiatr. 
106 Bd., S. 662—681. — Benedek, L., Insulin-Schock-Wirkung auf die Wahr- 
nehmung, Berlin 1931. — M. de Crinis, Aufbau und Abbau der Großhirn- 
leistung und ihre anatomischen Grundlagen, Berlin, 1934. 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten 
im Vierjahresplan und in der Kriegswirtschaft 


Von 
Direktor Dr. Möckel, Wiesloch 


(Eingegangen am 20. Juni 1939) 


Vorbemerkung des Herausgebers 


Der Bericht über die beispielhaften Leistungen der Anstalt Wiesloch 
wurde von H. Direktor Möckel vor geraumer Zeit erbeten. Wenn er heute 
unverändert auch in den Dienst der Kriegswirtschaft gestellt werden kann, 
so beweist dies klar die Richtigkeit dieser auf der Arbeitstherapie aufge- 
bauten Bestrebungen zur positiven Eingliederung der Anstalten in das 
Volksganze. 


Zu dem umfangreichen Aufgabenkreis, den die Heil- und Pflege- 
anstalten von jeher zu erfüllen hatten, sind im neuen Staat ganz 
neue und wesentlich wichtigere Aufgaben hinzugekommen. Neben 
der sachkundigen und gewissenhaften Behandlung und Betreuung 
der ihnen anvertrauten Kranken, die früher, wie auch heute und 
in Zukunft aufs sorgfältigste durchgeführt wird, erwächst den 
Anstaltsärzten im Dritten Reich die wichtige Verpflichtung, 
an der Aufartung unseres Volkes mitzuwirken. Dies 
geschieht 1. durch die Arbeit bei der praktischen Durchführung 
des Sterilisations- bzw. des Eheberatungsgesetzes, wobei den An- 
stalten ein großer Teil der praktisch so überaus wichtigen Begut- 
achtung zufällt. 2. durch die Mithilfe bei der erbbiologischen 
Aufnahme der ganzen Bevölkerung und 3. durch die Mitarbeit 
an der Erforschung der Vererbungsgesetze der Seelenstörungen. 
Alle diese Aufgaben bringen dem Anstaltsarzt eine Fülle von 
neuer Arbeit, die er aber gern leisten wird, weil sie der Zukunft 
des deutschen Volkes dient. Allen diesen Anforderungen, die heute 
an den Anstaltsarzt gestellt werden, kann er nur gerecht werden, 
wenn er sich mit allen sozialen, prophylaktisch-eugenischen und 
individual-therapeutischen Fortschritten der dGeisteskranken- 
behandlung und Geisteskrankenfürsorge, bzw. mit allen Er- 
rungenschaften der wissenschaftlichen und praktischen Psychi- 
atrie aufs genaueste vertraut macht. Denn von seinem Können 


374 Möckel 


hängt heute nicht nur das Wohl und Wehe des einzelnen Kranken, 
den er behandelt, ab, sondern durch seine richtige oder falsche 
Diagnose kann das Schicksal ganzer Sippen entscheidend mit- 
bestimmt werden. 

Zu diesen Aufgaben der wissenschaftlichen und praktischen 
Psychiatrie, die für den Psychiater immer im Vordergrund stehen 
werden, treten aber nun gerade im Rahmen des Vierjahres- 
plans an die Psychiater, vor allem an diejenigen, die in großen 
Anstalten tätig sind, noch ganz besondere Aufgaben und 
zwar auf wirtschaftlichem Gebiet hinzu. Sie gehen zwar 
nicht die Psychiatrie als Wissenschaft an, erfordern aber unbe- 
dingt die Aufmerksamkeit und das tätige Interesse der Anstalts- 
ärzte. Denn wie auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt durch den 
planmäßigen Einsatz der Arbeitskräfte und verbesserte Organisa- 
tion der Arbeitsbedingungen erhöhte Leistungen erzielt werden 
müssen, so muß es auch das- Bestreben der Anstaltsleitung sein, 
eine innerbetriebliche Leistungssteigerung in der Anstalt herbei- 
zuführen und alle Aufgaben, die den Vierjahresplan angehen, zu 
erfüllen. 

Ich möchte daher im folgenden einmal einen kurzen Überblick 
über die wirtschaftlichen Aufgaben, die den Anstalten im Rahmen 
des Vierjahresplanes zukommen, geben und dann an praktischen 
Beispielen zeigen, wie die innerbetriebliche Organisation so durch- 
zuführen ist, daß wir bei der Erfüllung unserer Hauptaufgabe, 
des Dienstes an der Volksgesundheit, auch eine weitere 
wichtige Nebenaufgabe, nämlich Dienst an der Volkswirt- 
schaft lösen können. 

Die meisten unserer modernen Heil- und Pflegeanstalten sind 
Pavillonanstalten mit landwirtschaftlichem Betrieb. Gerade der 
landwirtschaftliche Betrieb bietet aber die größten Mög- 
lichkeiten einer Produktionssteigerung im Sinn des Vierjahres- 
planes und gibt zugleich reichlichste Gelegenheit zur Anwendung 
arbeitstherapeutischer Maßnahmen. Im gleichen Maß, wie draußen 
in den landwirtschaftlichen Betrieben, denen im „Kampf um die 
Nahrungsfreiheit des deutschen Volkes‘‘ eine besonders wichtige 
Aufgabe zufällt, müssen auch die Gutsbetriebe unserer Anstalten 
die neuesten Errungenschaften auf den Gebieten der Boden- 
bearbeitung, der Düngerlehre, der Bebauungsweise (Zwischen- 
ernten), der Tierhaltung, des Pflanzen- und Obstbaus richtig an- 
wenden und den Gesamtbetrieb unter ausgiebiger Beschäftigung 
geeigneter Patienten so intensiv gestalten, daß größtmögliche 
wirtschaftliche Werte erzielt werden. Die Hauptaufgabe des Guts- 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 375 


betriebs ist die Versorgung der Anstaltsküche und des Gutsbesatzes 
(Tierhaltung) mit Nahrungs- und Futtermitteln. Es sind deshalb 
hauptsächlich Gemüsebau — auch feldmäßig —, Obstbau und 
Futterbau besonders intensiv zu betreiben. 

Durch reichliche Belieferung der Anstaltsküche mit 
Gemüse das ganze Jahr hindurch, werden nicht nur die Aus- 
gaben für Lebensmittel bedeutend eingeschränkt, sondern es kann 
dadurch auch auf die Anschaffung größerer Mengen von Teig- 
waren, von Hülsenfrüchten und von Auslandsprodukten, die dem 
Markt ja für die Allgemeinheit erhalten bleiben sollen, verzichtet 
werden. Mit dem Anbau größerer Mengen von Futter ist die so 
wichtige Eigenversorgung auch eines verhältnismäßig großen 
Viehbestandes und damit die Voraussetzung für die zweite Haupt- 
aufgabe des Gutsbetriebs, die Anstaltsküche mit Milch, Fleisch, 
Fett und Eiern zu versorgen, gegeben. 

Mit der Tierhaltung in der Anstalt sollte unbedingt auch Tier- 
zucht verbunden sein, damit durch die richtige Auswahl der 
nachzuziehenden Jungtiere Höchstleistungen erreicht werden 
können. Zuchtziel beim Rindvieh müssen sein: gute Gesundheit 
und Widerstandsfähigkeit neben vorzüglichen Milch- und Fett- 
leistungen. Wenig leistungsfähige Tiere werden durch die Milch- 
kontrolle erkannt und sind möglichst bald auszumerzen; gesunde 
Kälber von leistungsfähigen Kühen sind aufzuziehen, gute Leister- 
innen sind lange beizubehalten. Sorgfältige Behandlung und Pflege 
der Tiere, z. B. gutes Putzen, richtige Streu, Sorge für Licht, 
gute Luft und größte Sauberkeit, Bekämpfung der Fliegenplage 
im Stall, richtige Klauenpflege, Vermeiden des unnötigen Ver- 
stellens der Tiere ım Stall, richtige Euterpflege, sachgemäßes 
Melken und richtiges Ausmelken, gleichmäßige, ruhige, liebevolle 
Behandlung der Tiere erhöhen den Milchertrag ganz beträchtlich. 
Wir schätzen die Zuchttiere nicht nur nach ihrem Phänotyp, 
sondern ebensosehr oder noch viel mehr nach ihrem Genotyp ein 
und treiben danach die Auslese für die Nachzucht. 

Bei den Schweinen ist Zuchtziel, schnellwüchsige Tiere zu er- 
zeugen, die gute Futterverwerter bei bester Gesundheit, Froh- 
wüchsigkeit und Fruchtbarkeit sind. Vor allem ist bei den 
Schweinen auf gute Ausmästung Wert zu legen, weil nur von 
schweren Tieren beträchtliche Mengen Fett geliefert werden, und 
das Fett im Anstaltshaushalt heute wichtiger als das Fleisch ist. 
Neben dem Fleisch- und Fettmarkt sollten die Anstalten auch 
den Eiermarkt möglichst wenig belasten und deshalb die für die 
Anstaltsküche benötigten Eier ın der Hauptsache durch eigene 


376 Möckel 


Hühnerhaltung gewinnen. Inwieweit Pferdezucht, Schafhaltung 
u. dgl. für eine Anstalt nötig und wünschenswert ist, hängt von 
den örtlichen Verhältnissen ab. 

Jedenfalls sollte aber der Gutsbetrieb einer Anstalt ein land- 
wirtschaftlicher Musterbetrieb sein. Denn dann erfüllt 
er nicht nur die Aufgabe, aus dem Boden eine höchstmögliche 
Menge von Lebens- und Futtermitteln herauszuholen, sondern er 
wirkt auch insofern segensreich, als er den bäuerlichen Be- 
wohnern der Umgebung einer Anstalt Anregung zur Nachahmung 
gibt und bei hochentwickelter Tierzucht die bäuerliche Bevöl- 
kerung mit wertvollen Zuchttieren beliefern kann. 

Hier noch ein Wort über den Anstaltsgarten bzw. An- 
staltspark. Beim Bau vieler unserer neuen Anstalten hat man 
noch zuviel Wert gelegt auf parkartige Anlagen, die zum größten 
Teil überflüssig sind und durch Anlage von Obstbäumen und 
anderen Nutzpflanzungen, die bei richtiger Pflege ebenso schön, 
wenn nicht noch schöner wirken, ersetzt werden können. Wir 
werden aber nicht sinnlos sofort auch den letzten Parkbaum 
verschwinden lassen, sondern erst bei einem bestimmten Alter 
und Holzwert den Baum durch einen anderen ersetzen, weil die 
Anstalt sich bei der heutigen Knappheit auf dem Holzmarkt auf 
Jahre hinaus auf diese Weise selbst mit dem notwendigen Werk- 
holz versorgen kann. 

Bei hochentwickelter Organisation mit intensiver Einzelarbeit 
läßt sich im Anstaltsgarten das Nützliche mit dem Schönen ver- 
binden, so daß neben der äußeren Ausnützung des Garten- 
geländes für den Anbau von Nutzpflanzen im Interesse der Kranken 
wie des in der Anstalt tätigen Personals die gartenkünstleri- 
schen Anforderungen nicht ganz in den Hintergrund zu treten 
brauchen. 

Neben den Landwirtschafts- und Gärtnereibetrieben spielen 
die handwerklichen Betriebe für die Produktion der An- 
stalten eine bedeutende Rolle. Auch sie müssen durch volle Be- 
setzung mit in der Anstalt vorhandenen Arbeitskräften der 
Patienten voll ausgenützt werden. 

Neben der innerbetrieblichen Leistungssteigerung und Ratio- 
nalısierung gehört in den Rahmen des Vierteljahresplanes äußerste 
Sparsamkeit auf allen Gebieten des Anstaltsbetriebes. Dies 
geschieht einmal durch haushälterische Verwendung der Waren- 
vorräte neben schonlichster Behandlung der Ausstat- 
tungsstücke; und dazu ist die Mitwirkung des gesamten Per- 
sonals notwendig, das von Zeit zu Zeit zusammengenommen und 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 377 


einschlägig unterwiesen werden muß. Die Hauptverbraucherin ist 
die Anstaltsküche; von dem Küchenpersonal muß verlangt 
werden, daß das Essen sparsam aber schmackhaft zubereitet 
wird, daß die Krankenabteilungen so beliefert werden, daß dort 
möglichst wenig übrigbleibt; wenn das Übriggebliebene auch im 


Gutshof als Schweinefutter verwendet werden kann, so ist es doch 
als Futter viel zu teuer. 


Schonlichst ıst auch mit der Wäsche umzugehen, damit deren 
Lebensdauer eine möglichst lange ist. Soweit auf den Abteilungen 
genügend Wäsche vorhanden ist, muß mit den Reservestücken 
stets gewechselt werden, d.h. die zuletzt aus der Wäscherei ge- 
 kommenen Stücke werden in Reserve und die bisherigen Reserve- 

stücke in Gebrauch genommen, damit die Wäschestücke der glei- 
: chen Art jeweils lang genug „ausruhen“ können. Jedes Wäsche- 
stück soll Gebrauchsnummer und Jahreszahl aufgestempelt er- 
halten, wodurch man eine gute Kontrolle bezüglich des Ver- 
schleißes bekommt und weiterhin die Möglichkeit erhält, Fehler- 
quellen nachzugehen. 


Heizung, Beleuchtung, Warmwasserversorgung und 
Reinhaltung der Abteilungen verursachen in den Anstalten 
zum Teil einen recht großon Aufwand und erfordern deshalb 
auch unsere sorgfältigste Beachtung. Wird es in den Räumen 
zu warm (über 18°C), so sind nicht die Fenster aufzumachen, 
sondern ist die Dampfleitung zunächst zu schließen. Bei der Lüf- 
tung ist es wichtig, daß nur solange gelüftet wird, bis die Luft 
erneuert ist, nicht aber bis auch Wände, Fußboden und Möbel 
durchkältet sind, da zu deren Wiedererwärmung sehr viel Wärme 
verbraucht wird. Die Heizung ist während der Heizperiode an 
Hand der Außentemperatur dauernd zu überwachen, und an nicht 
zu kalten Tagen sind ausgiebige Pausen bei der Dampfabgabe 
an die Abteilungen einzulegen. Der Verbrauch des teueren Warm- 
wassers ist ebenfalls auf das unbedingt Erforderliche einzu- 
schränken. Wannenbäder können zur \Warmwasserersparnis durch 
kurze Brausebäder ersetzt werden. — Bei der Beleuchtung ist 
darauf zu achten, daß die Beleuchtungskörper nicht zu hoch an 
der Decke hängen, und daß die Kerzenstärke der einzelnen Licht- 


quellen keineswegs höher ist, als es zur Beleuchtung des Raumes 
unbedingt erforderlich ist. 


Der Verbrauch der Reinigungsmittel muß sorgfältig 
überwacht werden. Man kann die Abteilungen auch mit ver- 


hältnismäßig geringen Mengen Schmierseife, Parkettwachs, Staub- 
25 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 34. 


378 _ Möckel 


tücher usw. rein halten. Staubtücher braucht man nicht zu kaufen, 
sondern kann sie aus abgängigen Wäschestücken herstellen lassen 
und auf diese Weise wieder Kranke beschäftigen. Parkettwachs 
kann preiswert in der Anstalt selbst hergestellt werden. 

In der Apotheke kann viel gespart werden, wenn man das 
Verordnen der Arzneien, Schlaf- und Verbandmittel auf das 
wirklich unbedingt Nötige beschränkt und den laufenden Bedarf 
regelmäßig überwacht. Neue Spezialitäten sollten nur mit Ge- 
nehmigung des Direktors eingeführt werden dürfen. 

Schließlich ist in den Anstalten im Rahmen des Vierjahresplans 
auch darauf zu achten, daß alle Vorräte so gelagert werden, daß 
sie dem Verderb durch tierische oder pflanzliche Schädlinge, 
z. B. Schimmel, nicht ausgesetzt sind — wie überhaupt auch die 
Ungeziefer- oder Schädlingsvertilgung sowohl ım Feld- und Obst- 
bau, wie auch in den Häusern selbst, energisch zu betreiben sind. 

Ausstattungsgegenstände, die auf den Abteilungen entbehrlich 
geworden sind, sind beim Hauptmagazin zu sammeln und dort 
pfleglich zu behandeln. Schließlich ist es eine Selbstverständlich- 
keit, daß auch Altmaterial, Metall und was dazu gehört, sorg- 
fältig gesammelt und an die entsprechende Stelle abgeliefert 
wird 

Für die Durchführung dieser „wirtschaftlichen Aufgaben‘ ist 
in erster Linie der Anstaltsverwalter zuständig und verant- 
wortlich. Er muß die Vorgänge in allen Betriebszweigen aufs 
genaueste kennen, die Leiter der Betriebe fest ın der Hand haben 
und auch die übrigen Gefolgschaftsmitglieder so beeinflussen und 
begeistern können, daß sie ihr Bestes zum Gelingen des Ganzen 
hergeben. 

Dies sind einige Gesichtspunkte, die den Anstalten die Mög- 
lichkeit geben, zum Gelingen des Vierjahresplans beizutragen. 
Durchschlagende Erfolge können aber nur erzielt werden, wenn 
wir dauernd bestrebt sind, alle uns ın der Anstalt gegebenen 
Möglichkeiten auszunützen und alle Kräfte anzuspannen, um 
jeder Situation gerecht zu werden. Zum Arbeitswillen, zur Ar- 
beitsbereitschaft und zum Pflichtbewußtsein des Gesamtpersonals 
muß die von uns planmäßig eingesetzte Arbeitskraft der 
Kranken kommen, um in den Anstalten volkswirtschaftliche 
Werte in höchstmöglichem Maß zu erzielen. Alle die hierzu not- 
wendigen Maßnahmen lassen sich nicht kurzer Hand diktieren, 
sie müssen folgerichtig durchdacht und in steter Kleinarbeit unter 
Berücksichtigung aller zu Gebote stehenden Möglichkeiten ent- 
wickelt und unaufhörlich gefördert werden. Es ist auch nicht so, 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 379 


daß in jeder Anstalt jeder Zweig produktiver Wirtschaftlichkeit 
praktisch gepflegt werden könnte, sondern gerade die richtige 
Auswahl der förderungswürdigen Betriebszweige und der Einsatz 
gerade des richtigen Kranken am rechten Arbeitsplatz sind das 
Ausschlaggebende für den wirtschaftlichen Erfolg sowohl im 
Sinne des Vierjahresplans wie auch für den Erfolg im Sinn der 
individuellen Arbeitstherapie. Jede einzelne Anstalt wird sich 
nach ihren besonderen Verhältnissen und natürlich auch nach 
der möglichst höchsten Wirtschaftlichkeit richten müssen. Wenn 
sich deshalb auch allgemeingültige, für alle Anstalten zutreffende 
Ratschläge nicht geben lassen, so können vielleicht doch die in 
dem folgenden aus der praktischen Arbeit entnommenen Bei- 
spiele Möglichkeiten aufzeigen, wie man in den Anstalten im 
Rahmen der Arbeitstherapie die im Vierjahresplan geforderte 
Steigerung des Leistungsvermögens zu erreichen vermag. 

Bei dem heute herrschenden Mangel an Arbeitern besonders 
ın der Landwirtschaft ist der Einsatz der Kranken in der Volks- 
wirtschaft nötiger denn je. Die Anstaltsärzte können und müssen 
diesen Einsatz auf verschiedene Weise fördern: 1. Durch die 
Frühentlassung soll der Kranke dem Wirtschaftsleben sobald 
als möglich wieder eingegliedert werden. Sie wird deshalb zweck- 
mäßig schon bei der Aufnahme in Betracht gezogen. Außerdem 
empfiehlt es sich, zu diesem Zweck das UM.-Verfahren, sobald die 
Diagnose der Erbkrankheit einwandfrei feststeht, einzuleiten, da- 
mit durch die notwendigen Verhandlungen beim Erbgesundheits- 
gericht die Entlassung nicht unnötig verzögert wird. 2. Der Volks- 
wirtschaft, insbesondere der Landwirtschaft, kann ferner durch 
eine ärztlich geleitete Familienpflege ganz erheblich genützt 
werden, die den Bauern und Landwirten in der Umgebung einer 
Anstalt landwirtschaftliche Hilfskräfte zuleitet. 3. Endlich sind 
die Kranken, bei denen eine Entlassung aus irgendeinem Grunde 
nicht möglich ist, möglichst intensiv in der Anstalt zu be- 
schäftigen. Je individueller die Arbeit dem Kranken angepaßt 
wird, desto mehr interessiert er sich für sie, desto wirksamer wird 
er von seinen krankhaften Vorgängen abgelenkt, und desto größer 
ist auch der Nutzen, der hieraus für die Anstalt erwächst. Eine 
richtige Arbeitstherapie soll deshalb nicht zur Beschäftigung, 
sondern wirkliche Arbeit mit größtmöglichstem Nutzeffekt sein. 
Anstaltsdirektor und Anstaltsärzte werden bei ihren Visiten ihr 
Augenmerk hauptsächlich darauf richten, wie und wo jeder ein- 
zelne Kranke im Anstaltsbetrieb zu seinem eigenen Nutzen und 
zum Vorteil der Anstalt eingesetzt werden kann. Dabei ist der 


259 


380 Möckel 


Arbeitsbetrieb dauernd von den Anstaltsärzten zu überwachen. 
da man sonst nicht von ‚„Arbeitstherapie‘‘ reden, sondern nur 
sagen kann, daß die Kranken im Dienst der Anstalt beschäftigt 
sind. Voraussetzung für eine wirkliche Arbeitstherapie ist daher, 
daß der Anstaltsarzt sich mit allen Arbeitsbetrieben der Anstalt. 
mit Landwirtschaft, Gärtnerei, Handwerkstätten usw. vertraut 
macht; denn ohne diese Kenntnis kann er weder das Personal 
entsprechend anleiten, noch die Kranken an dem Platz, an dem 
sie das Höchstmaß von Arbeit leisten, einsetzen. Mit einer Orga- 
nisation vom grünen Tisch aus ist hier gar nichts getan — man 
kann hier nicht organisieren und befehlen, sondern muß die rich- 
tig geleitete Arbeitstherapie, wie oben schon ausgeführt, organisch 
sich entwickeln lassen und die notwendige Kleinarbeit leisten. 
Vor allem ist auch bei der Heranbringung der Kranken an die 
Arbeit die tätige Mitarbeit des Pflegepersonals von größter Wich- 
tigkeit. Für unsere Feldgruppen, die weitaus den größten Teil der 
gesamten Arbeit leisten müssen, suchen wir möglichst Pfleger 
aus, die sich durch ihre Herkunft in der Landwirtschaft aus- 
kennen und außerdem die nötige Aktivität entfalten, um einmal 
den Kranken bei der Arbeit die nötige Anleitung und Anregung 
zu geben, daneben aber auch das Bestreben zeigen, mit ihren 
Feldgruppen möglichst viel zu leisten. Sind 2 Pfleger bei einer 
Feldgruppe, so führt der eine vorwiegend die Aufsicht, der andere 
leitet die Kranken bei der Arbeit an oder arbeitet selbst mit. 
Pfleger, die bei der Außenarbeit nicht genügend leisten, werden 
abgelöst und im Innendienst verwendet. Auch die Pflegerinnen 
werden so erzogen, daß sie nie lediglich Aufsicht führen, sondern 
sich dauernd mit der einen oder anderen Kranken beschäftigen, 
indem sie sie aufmuntern, anregen, anleiten. 

Man wird z. B. nicht einen Arbeitsbetrieb einrichten und dann 
hierfür die geeigneten Kranken aussuchen; sondern bei einer in- 
dividuellen Arbeitstherapie ist es viel wichtiger, für den Patienten 
das richtige Tätigkeitsfeld zu suchen und ihm die Arbeit unter 
größtmöglichster Selbstverantwortung immer im Hinblick auf 
größtmöglichen Nutzeffekt zu übertragen. Wie wir das hier prak- 
tisch durchgeführt haben, sei an einzelnen Beispielen gezeigt. 

Einem Patienten, der sich früher mit dem Sammeln von Schmetterlingen 
und der Aufzucht von Schmetterlingsraupen, einer interessanten aber wenig 
nützlichen Tätigkeit beschäftigte, wurde eine Seidenraupenzucht ein- 
gerichtet; die entsprechenden Maulbeersträucher waren vorhanden, wurden 
aber bis dahin nicht benutzt. Der Patient (ein reizbarer haltloser Psychopath, 


der einen Mord begangen hatte) baute die Seidenraupenzucht mustergültig 
aus, schrieb wissenschaftliche Abhandlungen darüber und führte andere 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 381 


Patienten, sowie auch Besucher, die von außen kamen, in die Zuchtmaß- 
nahmen ein. So hat sich in der hiesigen Anstalt eine Seidenraupenzucht ent- 
wickelt, die im vorigen Jahr auf der Reichskleintierausstellung mit einem 
dritten Preis ausgezeichnet wurde, und die jetzt durch die Reichsorganisation 
für Seidenraupenzucht als Zuchtbetrieb für die Nachzucht bestimmt worden 
ist. 

Einem anderen (chron. Alkoholiker), der draußen einen Weinbergschnecken- 
garten betreut hatte, wurde vor Jahren ein eben solcher Schneckengarten 
in der Anstalt eingerichtet. Er organisierte den Betrieb; andere Patienten 
wurden mit dem Einsammeln der Schnecken beschäftigt und eingearbeitet, 
sodaß der Schneckengarten jetzt von anderen Patienten weiter betrieben 
werden kann und auch in diesem Jahre wieder mit 11100 Stück besetzt ist. 
Auf diese Weise wird verhindert, daß die Schnecken Nutzpflanzen zerstören 
und sogar noch einen Nutzen abwerfen. 

Ein Patient (Schizophrener), Landwirt von Beruf, versieht den Geflügel- 
hof und die Hunde- und Kleintierzucht; beide Zweige betreibt er mit 
Geschick und Erfolg. Um ihn an sein Arbeitsgebiet zu fesseln, darf er sich 
eine kleine Kaninchenzucht selbst halten und über die Tiere verfügen. 

Epileptiker mit seltenen und nur bei Nacht auftretenden An- 
fällen werden mit dem Putzen der Kühe beschäftigt. Sie besorgen 
ihre Arbeit mit epileptischer Gründlichkeit und Exaktheit; da- 
durch ist das Vieh dauernd in bestem Pflegezustand, und lediglich 
durch das gründliche Putzen wird, wie oben schon ausgeführt, die 
Milchleistung wesentlich erhöht. 

Für unseren großen Schweinezuchtbetrieb, der eine der 
größten Stammzuchten in Süddeutschland darstellt, werden die 
Kranken, die die Zucht betreuen, sorgfältigst ausgesucht und 
sachkundig eingearbeitet. Das gilt ebenso für alle Haustierzuchten, 
etwa 18 an der Zahl, von der Pferde- bis zur Bienenzucht. 

Von den gesunden Angestellten könnte die Züchtung, d.h. 
Höherentwicklung der Haustierrassen nicht in dem Maß 
betrieben werden, wie dies bei uns geschieht; lediglich durch die 
zusätzliche Arbeit der für jeden Zweig besonders ausgesuchten 
und eingearbeiteten Kranken ist es möglich, hier wirklich Züch- 
tung zu treiben und die Bauernschaft mit hochwertigen Zucht- 
tieren zu versorgen. 

Ganz besonders haben wir in den letzten Jahren mit Hilfe ge- 
eigneter Patienten unseren Obstbau entwickelt, so daß uns von 
den zuständigen Stellen im vergangenen Jahr ın einer Ehren- 
urkunde bestätigt wurde, daß die umfangreichen Obstanlagen 
der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch nach den neuesten For- 
schungsergebnissen der Obstbauwissenschaft bewirtschaftet und 
die Obstpflanzungen der Anstalt zu Musteranlagen gestaltet 
worden sind, die für den deutschen Obstbau vorbildlich geworden 
sind und weit über den Bezirk hinaus Beachtung gefunden haben. 


382 Möckel 


Die Zahl der Obstbäume wurde in den letzten Jahren durch 
Neupflanzungen von 2400 auf 4000 erhöht. Alle obstbaulichen 
Maßnahmen, von Düngung, Bodenbearbeitung, Schädlings- 
bekämpfung, dem Auslichten, Umpfropfen, der künstlichen Be- 
wässerung bis zu den Studien über die Befruchtungsverhältnisse 
und Obstsortenzüchtungen wurden mit Hilfe der Kranken in An- 
griff genommen und zum Teil durchgeführt, so daß unser heutiges 
Obstgut einen von vielen Fachleuten und praktischen Obstbauern 
besuchten Musterbetrieb darstellt, der außerdem der Ausbildung 
der Obstbaumwarte des Kreises dient und ein Lehr-, Versuchs- 
und Forschungsinstitut im kleinen darstellt. Auch das Personal 
lernt dabei vieles, um im eigenen Garten es zu verwenden 
und arbeitet deshalb mit um so größerer Freude und Interesse 
mit. Auch mancher Kranke lernt auf diesem Gebiet Wertvolles, 
um es dann später draußen zu verwerten. 

Die Erzeugung von Edelobst ist außerordentlich vielseitig und 
nimmt viele Arbeitskräfte in Anspruch, so daß hier außerordent- 
lich viele individuelle, den einzelnen Kranken angepaßte arbeits- 
therapeutische Möglichkeiten bestehen. Auch der Anstaltsküche 
kommt der intensive Obstbau zugute, da neben dem Obstverkauf 
nach außen die Anstalt mit edlem Tafelobst versorgt wird und 
auch Dürrobst und Marmelade hergestellt werden, was uns gleich 
im ersten Jahr, als wir zu dieser Produktion übergingen, eine Er- 
sparnis von 5500 Mark brachte. Der im Obstbau leistungsfähigste 
und tüchtigste Kranke hat das Recht bekommen, sich selbst eine 
kleine Baum- bzw. Rosenschule anzulegen und seine Erzeugnisse 
zu verkaufen, wodurch auch er ganz besonders für den Betrieb 
Interessiert worden ist. Alle obstbaulichen Apparate bis zu den 
Motorspritzen werden von dem Kranken selbständig bedient. 

Aber nicht nur die praktischen Fragen des Obstbaus wurden in 
Angriff genommen, sondern auch wissenschaftliche Hilfs- 
arbeiten für alle möglichen Institute geleistet: So werden z.B. 
seit 3 Jahren Blütenzählungen zur Ergründung der Blütenbiolo- 
gie vorgenommen, die, wie uns vor kurzem wieder bestätigt 
wurde, einen wesentlichen Beitrag für den wissenschaftlichen 
Obstbau bilden. Regelmäßig durchgeführte Zeichnungen und 
Photographien der Obstarten und der Roßkastanien, die ebenfalls 
von einem geeigneten Kranken, der früher auf der Kunstakademie 
war, durchgeführt werden und die Vorarbeiten für einen phänolo- 
gischen Kalender Deutschlands bilden, trugen uns vom Reichsamt 
für Wetterdienst die Anerkennung ein, daß diese Arbeit eine ein- 
malige, bisher in Deutschland nicht vorhandene Leistung darstelle. 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 383 


Auch eine vollständige agrarmeteorologische Beobach- 
tungsstelle ist eingerichtet, deren Apparate von den Kranken 
bedient werden. Neben dem dreimal täglichen Ablesen des Ther- 
mometer-, Barometer- und Hygrometerstandes werden Wind- 
richtung, Windstärke, Niederschlagsmengen, Wolkenbildung usw. 
festgestellt. Aber auch genaue Messungen mit dem Sonnenschein- 
autographen, mit Insolationsthermometern und einem Aktino- 
meter werden durchgeführt. Diese Messungen dienen einmal 
unserem land- und obstbauwirtschaftlichen Betrieb, dann aber 
auch der psychiatrisch-wissenschaftlichen Forschung zur Ergrün- 
dung der Frage, inwieweit Witleringse:nflüsse bzw. das Klein- 
klima auf schizophrene Erregungszustände, epileptische Anfälle 
usw. von Einfluß sind; und schließlich dient das Zahlenmaterial, 
das verschiedenen wissenschaftlichen Instituten Deutschlands zur 
Verfügung gestellt wird, der wissenschaftlichen Forschung auf 
allen möglichen anderen Gebieten. 

Ich habe das Beispiel des Obstbaues etwas genauer ausgeführt, 
um zu zeigen, daß in einer großen Anstalt bei genauer Kenntnis 
der Kranken und richtiger Auswahl und Anleitung derselben ein 
nicht zu unterschätzender Dienst an der Volkswirtschaft im Rah- 
men des Vierjahresplans geleistet werden kann, und daß für die 
verschiedensten Zweige praktischer und wissenschaftlicher Be- 
tätigung Hilfskräfte ausfindig gemacht werden können. 

Wie schon erwähnt, muß bei jeder Visite darauf geachtet 
werden, wo und wie jeder einzelne Patient in den Arbeitsbetrieb 
eingegliedert werden kann. Auch hier möchte ich noch an zwei 
Beispielen zeigen, wie dies praktisch möglich ist: 

Ein früherer Fremdenlegionär (Schizophrener) wurde vom Arzt selbst durch 
die verschiedenen Betriebe geführt, zunächst zu seinem erlernten Handwerk 
in die Blechnerei. Er zeigte, daß er etwas von seinem Beruf verstand, hatte 
aber keine Lust, die Arbeit aufzunehmen. Hierauf wurde versucht, ihn im 
Gutshof unterzubringen, wo er ebenfalls nicht recht zugriff. Beim dritten Ver- 
such, ihn in der Ziergärtnerei zu verwenden, nahm er sofort begeistert die 
Arbeit auf mit der Bemerkung, daß er früher die großen Gartenanlagen eines 
arabischen Scheiks versorgt habe — was wohl richtig ist, da er nach seinem 
Dienst in der Fremdenlegion einen großen Teil von Afrika und Asien durch- 
wandert hat. 

Einem anderen Schizophrenen, der jahrelang einer unserer gefährlichsten 
Patienten war, wurde eine selbständige Gärtnerei eingerichtet: Dort erzeugt 
er für jährlich 3—4 000 Mk. Gemüse und versieht seine Arbeit aufs sorgfältigste, 
wohl auch in der Erinnerung an seine frühere Tätigkeit; er war nämlich auf 
der Flucht vor seinen Stimmen nach Nordamerika gekommen und hatte dort 
jahrelang eine von ihm errichtete Farm selbständig bewirtschaftet. 

So hat sich immer wieder gezeigt, daß bei dem individuellen 
Eingehen auf den Kranken bzw. seine Neigungen für ihn ein 


384 Möckel 


Arbeitsfeld geschaffen werden kann, das der Anstalt zu größten 
wirtschaftlichem Nutzen gereicht. Es gehört allerdings dazu, 
worauf ich schon wiederholt hingewiesen habe, daß man sowohl 
die Kranken wie auch die Arbeitsmöglichkeiten der Anstalt bıs 
ins einzelste und eingehendste kennt. Wir machen durch die 
richtig geleitete und dem einzelnen Kranken individuell angepaßte 
Arbeitstherapie den Kranken um so eher sozial brauchbar und 
entlassungsfähig und bewahren ihn vor allem vor dem Autismus. 
Daneben nutzen wir Staat und Volk, weil wir, wenn auch immer 
nur ein kleines Stückchen, dazu beitragen, die Nahrungsfreiheit 
des Deutschen durch Schaffung wirtschaftlicher Werte im Vier- 
jahresplan zu fördern. 

Für die neu aufgenommenen Kranken vollzieht sich die Ein- 
gliederung in den Arbeitsprozeß folgendermaßen: 

Schon auf der Aufnahmeabteilung wird jeder Kranke sofort 
einer Arbeitsgruppe zugeteilt — nur körperlich Kranke werden 
dem Lazarettbau überwiesen. Die unzuverlässigeren Kranken 
sind in Gruppen mit zwei, die zuverlässigeren in Gruppen mit 
einem Pfleger beschäftigt. Bei weiter fortschreitender Genesung 
wird der Kranke unseren Gärtnerei- bzw. Ökonomiearbeitern bei- 
geordnet, um dann im Freien individuell unter Zuweisung eines 
kleinen Wirkungskreises womöglich mit eigener Verantwortung 
beschäftigt zu werden. 

Auch auf den Frauenabteilungen ist es wichtig, die Kranken 
sofort einer Beschäftigung zuzuführen. Für sie kommen in erster 
Linie Hausarbeiten, die in Waschen, Flicken und Stopfen be- 
stehen, neben Küchenarbeiten in Betracht; aber auch Garten- 
arbeiten sind für sie besonders geeignet, wobei'im Rahmen des 
Vierjahresplans zu berücksichtigen ist, daß die mit der Arbeit in 
der Gärtnerei verbundene Förderung der Produktion von Lebens- 
mitteln der Beschäftigung mit unnötigen Handarbeiten, mit dem 
Herstellen von Deckchen und Sofakıssen, vorzugehen hat. Denn 
es ist für uns heute gleichgültig, ob ein Deckchen oder ein Sofa- 
kissen mehr oder weniger auf dem Tisch bzw. Sofa liegen — da- 
gegen ist es nicht gleichgültig, ob wir heute etwas mehr oder 
weniger an Gemüse und Früchten produzieren. 

Bei richtiger Durchführung der Arbeitstherapie können sowohl 
auf der Männer- wie auf der Frauenseite gut 80—90% der Kranken 
beschäftigt werden. Aber nicht nur auf die Beschäftigung im 
Sinne einer gut geleiteten Arbeitstherapie kommt es hier an, 
sondern, wie wir in dieser Arbeit zu beweisen suchen, gerade auch 
auf die größtmögliche Erzeugung wirtschaftlicher Werte. 


ee — ie mpc p „EEE aE EE o pT ER 


Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan usw. 385 


— Auch jeder Kranke, soweit er ein Handwerk gelernt hat, sollte 
ın einer Werkstätte der Anstalt sobald als möglich eingesetzt 
werden, oder es sollte, wenn noch keine solche vorhanden ist, eine 
Werkstätte für seinen Beruf eingerichtet werden. Denn selbst- 
verständlich können wir bei richtiger Organisation auch in unseren 
Werkstattbetrieben erhebliche Werte schaffen! 

Schließlich sei noch erwähnt, daß auch der Anbau von deutschen 
Gewürzpflanzen, die in unserer großen Anstaltsküche alle aus- 
ländischen Gewürze schon längst verdrängt haben, das Sammeln 
von geeigneten Blüten, Blättern und Früchten für 
deutschen Tee und der Anbau von Heilpflanzen recht gut 
in den Anstaltsbetrieb eingegliedert werden können. Wir haben 
hier in Wiesloch schon vor Jahren einen großen Arzneigarten mit 
über 200 verschiedenen Heilpflanzenarten angelegt, der als Lehr- 
und Schaugarten dient, und in dem die Pflanzensammler aus- 
gebildet werden. Die Notwendigkeit hierzu ergab sich durch die 
Verlegung der Gaustelle für Baden und Saarpfalz der Reichs- 
arbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde und Heilpflanzen- 
beschaffung an die hiesige Anstalt. Auch auf diesem Gebiet wurde 
mit Hilfe von Kranken, wie uns von der Reichsstelle bestätigt 
wurde, Mustergültiges geleistet, und durch unsere Organisation 
wurden z. B. im vorigen Jahr über 200000 kg getrockenete Heil- 
pflanzen gesammelt. 

Auch rein geldlich wirken sich die ıinnerbetriebliche Leistungs- 
steigerung in der Anstalt, die äußerste Sparsamkeit und die Be- 
achtung der Forderung „Kampf dem Verderb‘ aus, wie ich noch 
zum Schluß an einigen Beispielen zeigen möchte. Wir haben durch 
die intensive Gestaltung des Obstbaues ın den letzten Jahren 
Obsternten bis zu 30000 RM. jährlich erzielt; aus Gutsbetrieb 
und Gärtnerei betrugen die Einnahmen im vorletzten Jahr 
435000 RM., ım letzten Jahr 140000 RM. 

Während in den früheren Jahren die hiesige Anstalt wie alle 
Heil- und Pflegeanstalten auf erhebliche Zuschüsse aus der Staats- 
kasse angewiesen war, werden seit einer Reihe von Jahren die 
Ausgaben restlos aus den Verpflegungsbeiträgen sowie aus den 
Einnahmen aus den Erzeugnissen bestritten. Dazu wird noch ein 
namhafter Betrag an die Staatskasse abgeliefert. 

Grundbedingung für die gesamtwirtschaftliche Leistungs- 
steigerung einer Anstalt im Rahmen des Vierjahresplans ist, wie 
oben ausgeführt, neben planmäßigen Einsatz aller Arbeitskräfte 
und verbesserter Organisation der Arbeitsbedingungen die har- 
monische Zusammenarbeit aller Anstaltsınstanzen. 


386 Möckel, Die Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten im Vierjahresplan 


Anstaltsdirektor und Anstaltsärzte müssen bei ihren Vi- 
siten dauernd ihr Augenmerk darauf lenken, den richtigen Kranken 
für den richtigen Arbeitsplatz auszusuchen. Anstaltsverwalter 
und die Betriebsleiter müssen bestrebt sein, für Arbeitsmög- 
lichkeiten zu sorgen und die Wirtschaftszweige der Anstalt der- 
artig zu pflegen, daß Höchstleistungen auf wirtschaftlichem Ge- 
biet möglich werden. Das Pflege- und Wirtschaftspersonal 
muß von einem eisernen Arbeitswillen durchdrungen und von 
Pflichtbewußtsein beseelt sein, sein Bestes zum Wohl der Anstalt 
und damit auch des Staates herzugeben. 

Wenn es der Anstaltsleitung gelingt, allen diesen Forderungen 
gerecht zu werden und alle Mitarbeiter auf dieses gemeinsame Ziel 
auszurichten, dann tut eine solche Anstalt ihre Pflicht im Rahmen 
des Vierjahresplans und leistet bei Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, 
des Dienstes an der Volksgesundheit, auch den gerade 
heute so wichtigen Dienst an der Volkswirtschaft. 


Zeitschriftenübersicht 


Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 
Bd. XLIII, Heft 1, 1939 


Robert Bak, Budapest: Verständliche Zusammenhänge in einem Falle 
von parakinetischer Manieriertheit. 

Verf. bringt eine psychopathologische Deutung eines Falles von para- 
kinetischer Manieriertheit bei einem 34jährigen Schizophrenen. Nach Auf- 
hören seines Mutismus erklärte der Kranke den Inhalt der parakinetischen 
Manieren, die in bizarren Reproduktionen ärztliche Funktionen und Eingriffe 
darstellten. Es wird ausgeführt, wie infolge der Ichstörung, der Dissoziation 
des Seelenlebens bei der Schizophrenie und deren Introjektions- und Projek- 
tionsmechanismen sowie symbolistischer Arbeitsweise derartige Manieriert- 
heiten zustandekommen. 


W.G. Deucher und J.G. Love, Zürich: Zur pathologischen Anatomie 
der operativ entfernten hintern Prolapse der Zwischenwir- 
belscheibe. 

Durch hintere Prolapse einer oder mehrerer Zwischenwirbelscheiben in den 
Spinalkanal wird ein Druck auf das Rückenmark oder auf Nervenwurzeln 
ausgeübt, wobei hartnäckige Schmerzen entstehen können. Meist erfolgen diese 
Prolapse nach direkten oder indirekten Traumen der Wirbelsäule. Der Schmerz 
ist meist einseitig und reagiert nicht auf die übliche Therapie, wie sie bei Muskel- 
oder Bänderzerrungen angewandt wird. Meist ist die Erkrankung in der Lum- 
balgegend lokalisiert und bewirkt Kreuzschmerzen oder ischiasartige Beschwer- 
den. Neurologische Befunde sind dabei gering: positiver Lasegue, positiver 
Kernig, Schmerzempfindlichkeit längs des Nervus ischiadicus, Abschwächung 
oder Fehlen des homolateralen Achillessehnenreflexes, Spasmen der Lenden- 
muskulatur, Verminderung oder Fehlen der normalen Krümmung der Lenden- 
gegend mit oder ohne Skoliose. Auf gewöhnlichen Röntgenbildern ist meist 
kein krankhafter Befund zu erkennen. Um den Prolaps darzustellen, bedarf es 
der Injektion eines Kontrastmittels in den Spinalkanal (Lipiodol oder Luft). 
Die Liquoruntersuchung ergibt bei den meisten Fällen von Prolaps der Zwi- 
schenwirbelscheiben eine Erhöhung des Eiweißgehaltes auf mehr als 40 mg 
pro 100 ccm Liquor. Bei positivem Röntgenbefund sollte eine Laminektomie 
durchgeführt und der prolabierte Teil der Zwischenwirbelscheibe entfernt 
werden. Meist verschwinden dann die vorherigen Symptome. Die Prolapse 
bestehen aus dem Annulus lamellosus und dem Nucleus pulposus der Band- 
scheiben. Im prolabierten Gewebe sind die Knorpelzellen oft stark degeneriert 
und häufig besteht in diesem Gewebe eine starke ödematöse Schwellung. 


Viktor E. Frankl, Wien: Zur medikamentösen Unterstützung der 
Psychotherapie bei Neurosen. 

Das B-Phenylisopropylaminsulfat, im Handel Benzedrin genannt, ist eine 

ephedrinähnliche Substanz und wurde zuerst therapeutisch bei Narkolepsie 


388 Zeitschriftenübersicht 


und postencephalitischem Parkinsonismus angewandt. Später verwendete man 
sie auch bei Depressionszuständen, wo sie vor allem dem Symptom der Hem- 
mung entgegenwirkt, welches ja durch das Opium kaum beeinflußt wird. 
Neuerdings empfahl Schilder das Benzedrin für die symptomatische Therapie 
mancher Neurosen und Verf. berichtet an Hand von 4 Krankengeschichten über 
gute Erfolge bei zwei Fällen von Zwangsneurosen, einem Fall von Stottern 
und einem Fall von Depersonalisation. Vorausgehen muß dieser unterstützen- 
den medikamentösen Therapie allerdings die psychotherapeutische Beein- 
flussung der Kranken. 


A.Glaus, Zürich: Die Bedeutung der exogenen Faktoren für die 
Entstehung und den Verlauf der Schizophrenien. 

Die Arbeit ist das Referat des Verfassers, das er an der Herbstversamm- 
lung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie in Lausanne am 19. 11. 
1938 gehalten hat. Verf. vertritt den Schizophreniebegriff Kraepelins und 
Bleulers, bespricht jedoch auch die anderen Theorien über die Ätiologie der 
Schizophrenie. Die Ablehnung exogener Momente bei der Entstehung der 
Schizophrenie darf jedoch zu keiner völligen Ausschaltung äußerer Faktoren 
überhaupt führen, wobei besonders auf die Forschungen Luxenburgers an ein- 
eiigen Zwillingen und diejenigen Rosanoffs hingewiesen wird. Für die Praxis 
vertritt Verf. jedoch den Leitsatz, daß es ohne erbliche schizophrene Veran- 
lagung auch keine Schizophrenie gibt. Als physiogene auslösende Faktoren 
bespricht Verf. in erster Linie die innersekretorischen, infektiösen, toxischen 
und hirntraumatischen Einwirkungen. Besondere Kritik ist angebracht in 
bezug auf eine psychogene Entstehung der Schizophrenie. Nach einer Be- 
sprechung der schizophrenen Haftreaktionen und der Versicherungshebe- 
phrenien wendet sich Verf. den Ansichten Kleists und den neuerlichen Fest- 
stellungen Leonhards zu und hofft, daß eine ausgiebige Nachprüfung der Leon- 
hardschen Ergebnisse zu einer weiteren Klärung der Frage führt, ob die Gruppe 
der Schizophrenien sich nicht aus ganz verschiedenen Formen zusammensetzt. 
Auch für die therapeutischen Maßnahmen ist dies von großem Belang. 


Michel Jequier und Lucien Bovet, Lausanne: Paralysie generale tran: 
matique. (Traumatische progressive Paralyse.) 

Nach einer Übersicht über die Stellungnahme verschiedener Autoren zur 
Frage der traumatischen Auslösung der progressiven Paralyse veröffentlicht 
Verf. 5 entsprechende Fälle. Bei 4 der Fälle handelt es sich bei den Traumen 
um schwere Schädeltraumen, bei einem Fall um eine Lenden- und Gesäß- 
kontusion. Durch genaue Erhebung der Vorgeschichte kann unterschieden 
werden, ob das Trauma, das eine progressive Paralyse ausgelöst hat, einen 
Syphilitiker ohne bereits vorhandene krankhafte neurologische oder psychische 
Symptome betroffen hat, oder aber einen beginnenden Paralytiker. Nur im 
ersten Fall kann man mit vollem Recht von einer traumatischen progressiven 
Paralyse sprechen. Bei einer solchen Annahme muß man im allgemeinen 
verlangen, daß das Trauma den Schädel betroffen hat und schwerer Natur war. 
Um eine traumatische progressive Paralyse anzuerkennen, muß auch die 
Paralysediagnose ganz sichergestellt sein: bei einem der Fälle fehlten die not- 
wendigen serologischen und anatomischen Unterlagen, so daß Verf. die Dia- 
gnose nur mit Vorbehalt stellt. Die geuau erhobene Vorgeschichte bei dem einen 
der geschilderten Fälle ergab keinerlei krankhafte Zeichen vor dem Trauma: 
hier handelte es sich also um einen Fall von echter traumatischer progressiver 
Paralyse; zwei weitere Fälle kann man aber nur als traumatisch verschlechterte 


Zeitschriftenübersicht 389 


Fälle von progressiver Paralyse bezeichnen. Auf die Bedeutung solcher Fälle 
in versicherungsrechtlicher Beziehung wird hingewiesen. 


René Kaech, Lausanne: La thérapeutique des maladies mentales par 
l’insuline à Cery de 1929 à 1938. (Die Insulintherapie von Geistes- 
krankheiten in Cery von 1929 bis 1938.) 

Verf. berichtet über die Anwendung von Insulin bei nahrungsverweigernden 
Geisteskranken, bei Delirium tremens-Kranken, Süchtigen, psychomotorisch 
erregten Geisteskranken und bei Schizophrenen sowie über die jeweiligen dabei 
erzielten Erfolge, die man als sehr zufriedenstellend bezeichnen kann. Bei den 
behandelten Schizophreniefällen ist die Zeitdauer der Remissionen noch zu 
kurz, um ein endgültiges Urteil über die Sakelsche Methode zu erlauben. 


A. Kreindler, Bukarest: Die rhythmischen und synchronen Myoklo- 
nien der Rachenhöhle und des Kehlkopfes. Physiopathologi- 
sche Untersuchungen. 

Im Jahre 1886 beschrieb Spencer ein Krankheitsbild, das er Nystagmus 
des Gaumensegels nannte, wobei es sich um eine Abart von Myoklonien oder 
Myorhythmien im Gebiet bestimmter Hirnnerven handelte. Besonders die 
französischen Neurologen beschäftigten sich mit diesem seltenen Syndrom 
und im Jahre 1931 waren erst etwa 50 Fälle in der Literatur bekannt. Inzwischen 
kamen noch mehrere derartige Krankheitsberichte hinzu und auch der Verf. 
bringt eine Krankengeschichte über eine 63jährige Patientin, die nach einem 
zweiten Schlaganfall das typische Bild einer Pseudobulbärparalyse aufweist 
und bei welcher Myorhythmien der Augen, des Gaumensegels, der Muskeln des 
rechten unteren Facialis, des Larynx, des Mundbodens und des rechten Sterno- 
cleido-mastoideus aufgetreten sind. Genaue Untersuchungen ergaben, daß die 
Rhythmien während der Schluckbewegungen nicht verschwanden, dagegen 
durch das Atemzentrum etwas beeinflußt wurden. 

In seltenen Fällen waren Tumoren, meist jedoch Erweichungsherde vasku- 
lären Ursprunges die Ursache des Syndroms. Der physiopathologische Mecha- 
nismus der Myorhythmien wird als eine durch Enthemmung entstandene 
Automatie angesehen. Beim normalen Menschen wird die Tendenz zur auto- 
matischen Funktion der Zentren des Hirnstammes von übergeordneten Zentren 
gehemmt, denn den in Frage kommenden motorischen Zentren des Hırnstam- 
mes für die Muskulatur des Schlundes, des Kehlkopfes, des Gesichts und der 
Augen usw. fließen kontinuierlich auch normalerweise zentripetale Impulse 
zu, — vielleicht aus dem Sinus caroticus —, die ihre Funktionsweise regeln 
und koordinieren. Eine Analogie besteht hierin mit dem Atemzentrum, das 
ebenfalls in seiner automatischen Funktionsweise durch zentripetale Erregun- 
gen geregelt wird. 


Lorentz Anton Meyer, Zürich: Untersuchungen über die Insulin-Wir- 
kung auf die Blut-Alkohol-Konzentration beim Menschen. 

Die Fragestellung lautete: Inwieweit läßt sich der Ablauf der alimentär- 
hyperalkoholämischen Kurve und die daraus resultierenden psychischen Ver- 
änderungen durch Insulin beeinflussen ? Als Versuchspersonen dienten 10 Gei- 
steskranke, die jedoch keine Alkoholiker sein durften. Die Blut-Alkoholbestim- 
mung erfolgte nach der Mikromethode von Widmark, die Blutzuckerbestim- 
mung nach Hagedorn-Jensen. Die Nüchternwerte der Alkoholkonzentration 
betrugen meist 0,0°/%. Die experimentellen Untersuchungen, die in 53 Blut- 
Alkohol- und 53 Blut-Zucker-Kurven mit 636 Blut-Alkohol- und 636 Blut- 
Zucker-Bestimmungen bestanden, ergaben folgendes: Wie schon Riklin fest- 


390 Zeitschriftenübersicht 


gestellt hatte, erfolgt nach Alkoholgenuß im Blut relativ rasch die maximale 
Alkoholkonzentration (nach ca. 30 Minuten). Wird gleichzeitig mit der Alkohol- 
gabe eine Menge von 0,3 Einheiten Insulin pro kg Körpergewicht subkutan ver- 
abreicht, so wird die alimentär-hyperalkoholämische Kurve gegenüber der 
Kontrollkurve erniedrigt, wobei im Durchschnitt die Werte der größten Alko- 
holkonzentration nach Insulinbeigabe 12% unter den Resultaten der maxi- 
malen Alkoholkonzentration ohne Insulin liegen. Nach Abbruch der Versuche 
(nach 180 Minuten) war sogar eine Differenz von durchschnittlich 19,5% zu 
finden. Die gleichzeitig parallel ausgeführten Blut-Zucker-Bestimmungen 
nach Alkoholgaben und Insulin fielen sofort unter das Niveau der Kontroll- 
kurven und waren nach Schluß der Versuche (nach 180 Minuten) im Durch- 
schnitt 25 mg ĉo tiefer als die Werte der Kontrollblutzuckerkurve ohne Insulin. 
Die Rauschsymptome zeigten sich in den Versuchen mit Insulin geringer als 
bei denen ohne Insulin. Verf. vermutet, daß die Herabsetzung der Blut-Alkohol- 
Konzentration durch Insulin darauf beruhe, daß ein Teil des Alkohols als Er- 
satz vikariierend für den Blutzucker eintritt und dementsprechend rascher 
abgebaut und verbrannt wird. 

Der praktische Wert der Blutuntersuchung auf Alkohol in klinischer und 
gerichtsmedizinischer Hinsicht wird durch die maximale Reduktion des Alko- 
holbefundes im Blut von nicht einmal 20% durch Insulingaben nicht herab- 
gesetzt. Auf Grund der erhaltenen Ergebnisse ist es unmöglich, mittels Insulin 
den Alkohol innerhalb der Zeit aus dem Blute zu entfernen, in der er sonst noch 
in erheblichen Mengen nachweisbar ist. Von praktischer Bedeutung könne es 
dagegen sein, daß die psychischen und somatischen Erscheinungen der akuten 
lebensgefährlichen Alkoholintoxikation durch Insulinzufuhr von ca. 0,3 E. 1. 
pro Kilogramm Körpergewicht sich bis zu einem gewissen Grade reduzieren 
lassen. 


C. v. Monakow, Zürich, Panegyrismus des natürlichen Greisenalters. 

P. v. Monakow veröffentlicht hier den ‚‚Schwanengesang‘‘ seines Vaters, 
den letzten zusammenhängenden Aufsatz, welchen C. v. Monakow wenige 
Monate vor seinem Tode im Jahre 1930 geschrieben hat. Der Aufsatz ist sowohl 
als sehr persönliches Dokument des großen Wissenschaftlers wie auch hinsicht- 
lich der allgemeinen Probleme, die darin aufgeworfen und behandelt werden, 
von großem Interesse. Nach einem Überblick über die körperliche und geistige 
Tätigkeit des Verfassers in seinen verschiedenen Lebensperioden wendet er 
sich vor allem der Frage nach den positiven und negativen Veränderungen in 
der psychischen Verfassung des Greises zu und untersucht, wieweit etwa im 
Alter ein Wertzuwachs die negativen psychischen Symptome überstrahlt 
und so die Gesamtbilanz des Lebens auf ein höheres Niveau setzt. Im Gegensatz 
zu der weit verbreiteten pessimistischen Bewertung des hohen Alters betont 
v. Monakow die Überlegenheit etwa hinsichtlich der Gedankenproduktion im 
Vergleich zu derjenigen in früheren Lebensdezennien. Keineswegs handle es 
sich beim Greis um einen in allen seinen geistigen Funktionen und Fähigkeiten 
gleichmäßig reduzierten Menschen. Die Gebrechen des Alters seien beim 
normalen Greise vornehmlich geweblicher Natur und seien Innervationslücken- 
Symptome. Als psychische Kompensationsleistungen nennt Verf. u.a.: Die 
innere Läuterung, das Ausgeglichensein, die ordnenden Betrachtungen und 
Schlußfolgerungen und die Geduld gegenüber den jüngeren Mitmenschen 
seitens des Greises. 


E. Ramel, Lausanne: Les neurodermatoses fonction nelles. (Die funktio- 
nellen Neurodermatosen.) 


Zeitschriftenübersicht 391 


Dieser Bericht des Direktors der Universitätshauptklinik Lausanne wurde 
vor den Schweizer Gesellschaften für Neurologie und Dermatologie am 25. 6. 
1938 in Genf gehalten. Ein zusammenhängendes Referat folgt, sobald die 
Arbeit vollständig erschienen ist. 


J. Ruesch, Zürich: Über Hirntumoren, die progressive Paralyse 
oder Tabes vortäuschen. 

Vor der Entdeckung der Wassermannschen Reaktion und dem Ausbau 
der Liquordiagnostik war die Verwechslungsmöglichkeit zwischen progressiver 
Paralyse oder Tabes mit Hirntumoren, die paralyse- oder tabesähnliche Krank- 
heitsbilder vortäuschten, recht häufig. Aber auch heute bestehen oft noch be- 
trächtliche diagnostische Schwierigkeiten, mit denen sich Verf. befaßt. Außer 
ausgewählten Beispielen entsprechender Fälle aus der Literatur berichtet er 
von 4 eigenen Fällen, deren Symptome für eine Tabesparalyse oder Tabes 
sprachen, und die sich im Laufe der Zeit bzw. der Beobachtung und Unter- 
suchung als Hirn- oder Hypophysentumoren herausstellten. Nach einer aus- 
führlichen und inhaltsreichen Besprechung der verschiedenen Syndrome, 
die zu solchen Verwechslungen Anlaß geben (Optikusatrophie, Pupillenstörun- 
gen, Reflexstörungen, psychische Veränderungen usw.) verweist Verf. auf 
die differentialdiagnostisch so wichtige Rolle des Liquors. Er empfiehlt bei 
jeder psychischen Erkrankung organischen Charakters eine ophthalmologische 
Untersuchung. 


Elisabeth Schudel, Zürich: Über die Hirnlipoid-Reaktion zur Schizo- 
phrenie-Diagnose nach Lehmann-Facius. 

In der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli-Zürich hat zuerst 
W. Nagel, der die Reaktion von Lehmann-Facius bei diesem in Frankfurt a. M. 
kennengelernt hat, diese Untersuchungsmethode eingeführt und im Jahre 1938 
die vorläufigen Ergebnisse darüber mitgeteilt. Nunmehr wird über 200 Reaktio- 
nen berichtet, die an den Liquoren von 173 Kranken ausgeführt wurden. Unter 
diesen befanden sich 96 Liquoren von Schizophrenen, 28 von Alkoholikern, 
27 von Psychopathen und 59 von anderen organisch Kranken. Von den 
96 Schizophrenenliquoren fielen 80 positiv aus, von den 28 Alkoholikerliquoren 
waren 18 positiv und von den 27 Psychopathenliquoren waren 1% positiv. Die 
von Lehmann-Facıus aufgestellte ‚,,Abbaureihe‘‘ konnte nicht bestätigt werden. 
Eine differentialdiagnostische oder prognostische Bedeutung für die Beurteilung 
von Schizophreniefällen wird der Reaktion nach der bisher angegebenen 
Methode abgesprochen. Die subjektiven Fehlerquellen, die in der Notwendig- 
keit des Aufschüttelns des Sediments begründet sind, seien zu groß. Erst wenn 
eine objektiv ablesbare Methode gefunden sei, könne über den Wert oder 
Unwert der Lehmann-Facius-Reaktion entschieden werden. 


H. Steck, Lausanne: Neurasthenie mercurielle. (Neurasthenie bei Queck- 
silbervergiftung.) 

Bericht über 2 Fälle von chronischer Quecksilbervergiftung. Außer Zitter- 
erscheinungen und Sensibilitätsstörungen kommt es zu einem Nachlassen der 
Libido und der Potenz. Auf psychischem Gebiet besteht eine gewisse Apathie 
und Niedergeschlagenheit, einhergehend mit einer starken Reiz- und Erreg- 
barkeit, die zu heftigen Wutausbrüchen und plötzlichen Zorneshandlungen 
führen kann. Der Rorschachtest gibt die Möglichkeit, diese besondere Art 
von Reizbarkeit festzustellen. Durch die Kraepelinsche Methode läßt sich ferner 
eine gewisse Merk- und Gedächtnisschwäche sowie eine Verlangsamung der 
geistigen Funktionen nachweisen. Die beiden mitgeteilten Krankengeschichten 


392 Zeitschriftenübersicht 


beweisen, daß die Quecksilbervergiftung schwerer und chronischer sein kann, 
als man lange Zeit glaubte. 


L. Michaud, Lausanne: Remarques générales sur J’intoxitation mer- 
curielle professionnelle. (Allgemeine Bemerkungen über die gewerb- 
liche Quecksilbervergiftung.) 

Verf. berichtet über die Begleiterscheinungen der Quecksilbervergiftung 
auf internistischem Gebiet, insbesondere über die Nierenstörungen. Er teilt 
mit, daß bereits die Chemiker früherer Zeiten, die viel mit Quecksilber um- 
gegangen sind, in ihren Briefen und Autobiographien über die subjektiven Be- 
schwerden klagen, die uns heute wohlbekannt sind. Und jene alten Bericht- 
erstatter seien weder versichert noch Psychopathen gewesen. 


Jakob Wyrsch, Bern: Die Bedeutung der exogenen Faktoren für die 
Entstehung und den Verlauf des manisch-depressiven Irre- 
seins und der genuinen Epilepsie. 

Es handelt sich um das Referat des Verf., das an der Hauptversammlung der 
Schweiz. Gesellschaft für Psychiatrie in Lausanne am 19. Nov. 1938 gehalten 
wurde. Bei dem heutigen eng begrenzten Begriff des manisch-depressiven 
Irreseins spielen exogene Ursachen und Auslösungen so gut wie keine Rolle. 
Während so die Klinik die Auffassung vertritt, daß das manisch-depressive 
Irresein völlig durch die Anlage bedingt ist, kommt die Erbbiologie besonders 
durch die Zwillingsforschung zu der Feststellung, daß oft bei eineiigen Zwillin- 
gen nicht nur eine Diskordanz quantitativer, sondern auch qualitativer Art 
besteht, die sich ohne die Annahme der Mitwirkung von Außeneinflüssen nicht 
erklären läßt. Verf. prüft daher die Frage, ob die vermißten exogenen Ein- 
flüsse sich etwa bei denjenigen atypischen Psychosen finden, die man aus dem 
engen Kreis des manisch-depressiven Irreseins ganz oder halbwegs ausge- 
schieden hat und bespricht die zyklothyme Psychopathie, die hyperkinetische 
Motilitätspsychose, die verworrene Manie und die Involutionsmelancholie in 
dieser Hinsicht. Er stellt fest, daß sich gerade bei diesen Randpsychosen die 
gesuchten exogenen Faktoren finden lassen. Es ist nun die Aufgabe der 
Vererbungslehre, festzustellen, ob diese Psychosen wirklich zum manisch- 
depressiven Formenkreis, d. h. zur Krankheitseinheit der zirkulären Psychosen 
gehören. 

Bei der genuinen Epilepsie liegen die Verhältnisse klarer. Verf. bespricht 
eingehend die bekannten Ergebnisse der zahlreichen Arbeiten von Conrad 
und weist darauf hin, daß eine völlige Trennung von genuinen und sympto- 
matischen Formen gar nicht möglich ist. Des weiteren werden die exogenen 
Schädigungen behandelt, die bei den Anlageträgern den ersten Anfall aus- 
lösen und bei den bereits Epileptischen die Zahl der Anfälle beeinflussen. 


Harold Widenmeyer (lllenau-Achern) 


ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
UND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE: 


Unter Mitwirkung von 


F. AST-München / J.BERZE-Wien / K. BONHOEFFER-Berlin / M. FISCHER- 

Berlin-Dahl./A.GÜTT-Berlin/K.KLEIST-FrankfurtM. /E.KRETSCHMER- 

Marburg / P. NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH-Bonn H.REITER- 
Berlin / E.RÜDIN-München / C. SCHNEIDER- -Heidelberg 


herausgegeben von 


HANS ROEMER 


ILLENAU 


Hundertvierzehnter Band 


BERLIN 1940 
WALTER DE GRUYTER & CO. 


VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGS- 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 


Es wurden ausgegeben: 


Heft 1/2 (S. 1—224) am 2. I. 1940 
Heft 3/4 (S. 225—440) am 29. II. 1940 


Alle Rechte vorbehalten 
Archiv-Nr. 580540 — Printed in Germany 


Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 


Inhalt 


Originalarbeiten 


Seite 
Begrüßung der Danziger Kollegen . . . 2.2 22 2 2 2 2 22.0.0. 1 
Holst, von W., Psychiatrische Rassenhygiene . . . Dash, 


Langelüddeke, Albrecht, Die Epilepsiediagnose im T 11 
Dimitrijevic, Dim. T., Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem 


Balkan: Man m eh ra ae ee Di te Bea ed s» 29 
Stefan, Hermann und Osterloh, Das Symptom der Stauungspapille und die 
diagnostische Verwertbarkeit in der Neurologie und Psychiatrie. . 50 
Langhammer, Friedrich, Untersuchungen über den nn Serum- 
titer bei endogenen Psychosen . . . . ; 67 
Strobel, Th., Zur Frage der Verwertbarkeit der Serum-Takata-Reaktion 
bei Psychosen, mit Bemerkungen über das Wesen der Reaktion. . 98 
Haertel, Fr., Über die Veränderungen der Blutzusammensetzung nach dem 
Cardiazolkrampf . . 2. 2 2 2 2 nn nenn... 107 
Silveira, Anibal, Einige Fehlerquellen, die sich bei den modernen Schizo- 
phreniebehandlungen vermeiden lassen. . . 2.2.2 .2.....1425 
Meggendorfer, Wilhelm WeygandtF . . . . 2 22 2 2 2222.20... 140 
Steinwallner, M., rn bzw. psychiatrische Eheverbote im Aus- 
land u a a0 % a eri Be ar ee a a O 
Gruhle, Hans W., Der Peychonalkiehegriit: ee ea e aa 
Sickinger, K., Über Sektionsbefunde bei febrilen EN ee >, 
Oberholzer, W., Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie. IV. 
Über die Veränderung der Toleranz gegenüber Insulin... . . . 271 
Müller, Franz. Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankramp- 
fes unter besonderer Berücksichtigung der Dosierungsfrage . . . 290 
Ferrio, Carlo, Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen des neuen ita- 
lienischen bürgerlichen Gesetzbuches . . 2 2 2.2.2.2.2.2..2.306 
Gresor, A., Minderjährige Schwerverbrecher und ihre strafrechtliche und 
sozial-pädagogische Behandlung . . .....2 2 22.20.0020. 816 
Fischer, M., Otto Snell . 2 2 oo oo... 0.387 


Gruhle, Hans W., Psychologie und Psvehopathologie im Jahre 1938. . . 1392 


IV 


Inhalt 


Verhandlungen 


Bericht über die V. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neuro- 
logen und Psychiater in Wiesbaden vom 26. bis 28. März 1939 . . 16% 


Bericht über die Tagung der Nordostdeutschen Psychiater und Neurologen 
am 4. Februar 1939 in Königsberg Pr. 


. 209 


Bericht über die Tagung der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen 
in Breslau am 28. Juni 1939 f 
Gesellschaft Deutscher Neurologen ind Psychiater 


. 213 


Bericht über die Mitgliederversammlung vom 26. un 1938 in der 
Aula der Universität Köln . 


. 218 


Bericht über die Mitgliederversammlung am 28. März 1939 in Wiesbaden 219 


Therapeutische Bemerkungen: Becker W. H., Hautekzem bei chronischem 


Paraldehydgebrauch 


Buchbesprechungen 
Kurze Mitteilungen 
Persönliches . 


Becker, W.H. 431 
Dimitrijević, Dim. T.29 
Ferrio, Carlo 306 
Fischer, M. 387 
Gregor, A. 316 
Gruhle, Hans W. 233, 
392 
llaertel, Fr. 107 


Autorenregister 


Holst, von W. 3. 


Langelüddecke, Al- 
brecht 11 


Langhammer, 
rich 67 
Meggendorfer, Fr. 140 
Müller, Franz 290 
Oberholzer, W. 271 


Fried- 


.. . 431 
. 221, 433 
. 223, 439 
. 224, 439 


Österloh, s. Hermann 


Stefan 
Sickinger, K. 237 
Silveira, Anibal 125 
Stefan, H., und Oster- 
loh 50 
Steinwallner M. 225 
Strobel, Th. 98 


. 


MERHCA_IBRART 


ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
UND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE: 


Unter Mitwirkung von 


F,AST-München / J. BERZE-Wien / K.BONHOEFFER-Berlin / M. FISCHER- 

Berlin-Dahl. / A.GÜTT-Berlin /K.KLEIST-Frankfurt/M.  E.KRETSCHMER. 

Marburg ı P.NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH-Bonn , H. REITER- 
Berlin / E. RÜDIN-München / C. SCHNEIDER-Heidelberg 


herausgegeben von 


HANS ROEMER 


ILLENAU 


114. Band - Heft 1/2 


Ausgegeben am 2. Januar 1940 


BERLIN 1940 
WALTER DE GRUYTER & CO. 


VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG,VERLAGS- 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP, 


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aitized by KO IQ le 
zZ 


JAN 8 - 1947 


Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebitte Band 114 / Heft 1/2 


Inhalt 


Seite 
Begrüßung der Danziger Kollegen . . . ». 2. 22er. a dl 
Holst, Psychiatrische Rassenhygiene . . . » : : 2 222022020. 3 


Langelüddeke, Albrecht, Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren rı 
= Dimitrijević, Dim. T., Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan z9 


Stefan, Hermann und Osterloh, Das Symptom der Stauungspapille und die 
diagnostische Verwertbarkeit in der Neurologie und Psychiatrie . . . 50 


Langhammer, Friedrich, Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter 


bei endogenen Psychosen . . . » 2: 2 2 2 2 0 m rennen 67 
Strobel, Th., Zur Frage der Verwertbarkeit der Serum-Takata-Reaktion bei 

Psychosen, mit Bemerkungen über das Wesen der Reaktion . . . . . 98 
Haertel, Fr., Über die Veränderungen der Blutzusammensetzung nach dem 

Cardiazolkrampf . . . .. 2... een enne . 107 
Silveira, Anibal, Einige Fehlerquellen, die sich bei den modernen Schizophrenie- 

behandlungen vermeiden lassen . . - » - 2 2 2 222 een. 125 
Meggendorfer, Wilhelm Weygandtf . .. 2:22 2 22 2 nn. . 140 

Verhandlungen 

Bericht über die V. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen 

und Psychiater in Wiesbaden vom 26. bis 28. März 1939 . . . » . - 164 
Bericht über die Tagung der Nordostdeutschen' Psychiater und Neurologen am 

4. Februar 1939 in Königsberg Pr. . . . s.s 2 2 22000. 209 
Bericht über die Tagung der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen 

in Breslau am 28. Juni 1939 . .. 2» 2 2 2 e 2 2 er 2 en. 213 


Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 
Bericht über die Mitgliederversammlung vom 26. September 1938 in der Aula 
der Universität Köln . . . - 2 2 0 20 rennen 218 


Bericht über die Mitgliederversammlung am 28. März 1939 in Wiesbaden . . 219 


Buchbesprechung . .. .. 2: 2 2 2 rn ernennen. . e © 221 
Kurze Mitteilungen . . .. asaue . - 223 


Persönliches s canana 4 3. 2 3 was Da Nee 224° 


Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114. H. 1/2. 
Zu Meggendorfer, Wilhelm Weygandt t 


Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 


1 


Den heimgekehrten Neurologen 
und Psychiatern in Danzig zum Gruß! 


ie deutschen Neurologen und Psychiater begrüßen die 
Heimkehr der ehemaligen Freien Stadt Danzig in das 
Großdeutsche Reich mit besonderer Freude im Gedanken an 
ihre Fachgenossen, die die Sache des Deutschtums auf ein- 
samem und, wie es oft scheinen wollte, verlorenem Posten, mit 
zäher Ausdauer vertreten haben und nun für ihre unbeirrbare 
Standhaftigkeit mit der genialen Heimholung durch unseren 
Führer, Adolf Hitler, belohnt worden sind. 


So, wie wir auf unseren Jahresversammlungen an den schwe- 
ren Bedrängnissen unserer regelmäßig erscheinenden Dan- 
ziger Fachgenossen stets aufrichtig teilgenommen und sie 
bei unseren Besuchen in den Jahren 1923 und 1929 in ihrem 
unerschütterlichen Glauben an ihre deutsche Zukunft be- 
stärkt haben, so fühlten wir uns in der Weihestunde, als der 
Führer die Stadt Danzig feierlich heimgeholt hat, mit ihnen 
innerlich verbunden und gedenken heute voll stolzer Freude 
der Erfüllung ihrer deutschen Sehnsucht. Dabei ist es uns 
eine hohe Genugtuung, daß es unseren Fachgenossen durch 
Ihren zielsicheren und mutigen Einsatz gelungen ist, die erb- 
und rassenpflegerischen Maßnahmen des Dritten Reiches in 
Danzig, allen Widerständen zum Trotz, so frühzeitig einzu- 
bürgern, daß bei der Heimkehr die sofortige restlose Anglei- 
chung im Bereich dieser grundlegenden Forderungen des 
Nationalsozialismus voll gewährleistet ist. 


Herr Dr. W. von Holst hat sich hierbei durch sein bahn- 
brechendes organisatorisches und publizistisches Wirken 
große Verdienste erworben. Sein Bericht, den er auf unseren 
Wunsch in dankenswerter Weise zur Verfügung stellt, vermag 


Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114. H. 1/2. 


uns mit seinen Zahlen und vielleicht noch mehr zwischen 


seinen Zeilen einen Begriff von den Schwierigkeiten und 
den Erfolgen der geleisteten Arbeit zu vermitteln; er ist für 
uns ein gerade in seiner Bescheidenheit stolzes Zeugnis für 
die vorbildliche Leistung unserer Danziger Fachgenossen, 
die sie nur in der festen Gewißheit des endlichen Sieges für 
die Zukunft Großdeutschlands vollbringen konnten. 


In diesem Zeichen heißen wir die heimgekehrten Danziger 
Fachgenossen in den Reihen der deutschen Neurologen und 
Psychiater herzlich willkommen! 


Heil Hitler! 


Für die Gesellschaft Für die Allgemeine Zeit- 
Deutscher Neurologen schrift für Psychiatrie und 
und Psychiater ihre Grenzgebiete 
Der Vorsitzende: Der Herausgeber: 


Rüdin. Roemer. 


Psychiatrische Rassenhygiene 
in der ehemaligen Freien Stadt Danzig 


Von 
W. v. Holst 


Gern erfülle ich den Wunsch der Schriftleitung, einen Bericht 
über die psychiatrischen Verhältnisse und die Entwicklung der 
Erbgesundheitspflege in Danzig zu geben. 

Es handelt sich dabei im wesentlichen um die letzten 6 Jahre. 
Aus der Zeit vorher wäre daran zu erinnern, daß 1923 die Deutschen 
Nervenärzte und 1929 der Deutsche Verein für Psychiatrie ihre 
Tagungen in Danzig abgehalten haben. So dankbar wir für den 
Besuch der Berufsgenossen aus dem Reich und die uns gebrachte 
Anregung waren, so schwierig blieben doch die durch Versailles 
geschaffenen Verhältnisse auf psychiatrischem Gebiet. Mit dem 
westpreußischen Hinterland waren auch die beiden großen Pro- 
vinzialanstalten Konradstein und Neustadt uns geraubt worden, 
für die Danziger Bedürfnisse mußte eine Station des Städtischen 
Krankenhauses ausreichen, die unter Leitung von Prof. Kauffmann 
steht und seit Begründung der Akademie für Praktische Medizin 
als psychiatrische Klinik geführt wird. Chronisch anstaltbedürftige 
Fälle mußten von dort nach Lauenburg in Pommern oder Tapiau und 
Riesenburg in Ostpreußen überführt werden, ein umständliches und 
mit mancherlei Unzuträglichkeiten belastetes Verfahren. Wie man 
notgedrungen dazu kam, Geistesstörungen im Hause zu behandeln, 
die sonst der Anstalt überwiesen werden, und welche Erfahrungen 
man dabei machte, habe ich im Jahre 1925 darzustellen versucht!). 

Neue Aufgaben stellten sich, als nach dem politischen Um- 
schwung die deutschen Erbgesundheitsgesetze durch Rechtsver- 
ordnungen des Senats auch für das Freistaatgebiet Geltung erhiel- 
ten. So folgte dem Gesetz vom 14.7.1933 am 24. 11. desselben Jahres 
die erste Danziger Rechtsverordnung mit einer Reihe Ausführungs- 
bestimmungen, das Gesetz vom 5.12. 33 wurde am 9. 3. 34 übernom- 
men. Genaue Angaben darüber finden sich in dem von mir herausge- 
gebenen „Danziger Ärzteblatt“ aus der Feder des Vorsitzenden des 
Erbgesundheitsobergerichts in Danzig, Senatspräsident Dr. Rumpf. 


1) „Sechs Jahre Psychiatrie ohne Anstalt, 1919—1925.“ Z. Neur. Bd. 101, 
3.171. Festschrift für E. Kraepelin. 
1° 


4 W.v. Holst 


Die besondere Lage der vom Völkerbund ‚‚beschützten‘‘ sog. 
„Freien“ Stadt brachte es mit sich, daß mehr noch als im Reich 
jeder Schritt vorwärts auf diesem Wege von der ganzen Welt feind- 
selig-lauernd verfolgt wurde. Wiederholt kam der Verfasser als 
Mitglied des E. G. Obergerichts in die Lage, den Verdacht des 
Auslandes, daß es sich um Maßnahmen gegen politisch Anders- 
gesinnte handeln könnte, zu bekämpfen und die Bezeichnung 
„Gericht“ und ‚Richter‘, die besonders Engländern unverständ- 
lich war, zu erläutern. Auch bei den Sterilisanden stieß man oft 
auf das Vorurteil, daß es sich um eine Art von Bestrafung handele. 
Der Unterschied zwischen Sterilisation und Kastration konnte nicht 
oft genug erklärt werden. 

Der Widerstand der katholischen Geistlichen dürfte im Reich 
anfangs nicht weniger spürbar gewesen sein als hier, bei uns galt 
es außerdem noch, durch tatkvolle Behandlung der Danziger 
Staatsangehörigen polnischer Nationalität dem Senat unerwünschte 
Weiterungen zu ersparen. Auch unter den evangelischen Pfarrern 
hat es manche gegeben, denen die Sache nicht geheuer erschien, 
da „Ehen im Himmel geschlossen werden und der Mensch nicht 
hineinpfuschen sollte‘! 

Was die einzelnen Ziffern des Gesetzes betrifft, so gab der ange- 
borene Schwachsinn die häufigste Veranlassung zu Meinungs- 
verschiedenheiten. Dabei ist nicht an neurologische Schwierig- 
keiten durch Zusammenfallen mit Littlescher Krankheit, Kinder- 
lähmung, Hydrocephalus, congenitaler Lues oder an die ursächlich 
strittige Mongoloidie gedacht, sondern an die Begrenzung gegenüber 
der Beschränktheit. Der vom Verfasser aufgestellte Fragebogen 
für die Intelligenzprüfung hat sich als wenig geeignet für ländliche 
Kreise erwiesen, ganz ohne einen solchen geht es aber nicht, da 
eine gewisse Einheitlichkeit der Ansprüche gewährleistet werden 
muß. Allerdings soll man sich, wie Bostroem bemerkt hat, darüber 
klar sein, daß der Prüfungsbogen ‚nicht von selbst funktioniert, 
sondern nur als Instrument des untersuchenden Arztes gebraucht 
werden kann. Wie bei jedem Instrument kann man auch mit ihm 
bei falscher Technik Unheil anrichten‘. 

Bei den Anträgen wegen Schizophrenie kam es dem E. G. 
Obergericht vor allem auf die Ausschließung einer symptomatischen 
Geistesstörung an, wenn Wochenbett und Infektionskrankheiten 
mitspielten, oder wenn bisher nur ein kurzer Schub aufgetreten 
war. Daß Krankheitsblätter aus älterer Zeit, in der die Tragweite 
der Schizophreniediagnose noch nicht so erheblich war, nur mit 
äußerster Vorsicht verwertet wurden, bedarf kaum der Erwähnung. 


AA a Fer äh: EE EEE Era 


m rer re Eee. ey Sn nn a 


Psychiatrische Rassenhygiene in der ehemaligen Freien Stadt Danzig 5 


Was die vielfachen Gradabstufungen des manisch-depressi- 
ven Kreises betrifft, so haben wir nur die schwere Form berück- 
sichtigt, bei der mit Recht von Irresein geredet werden konnte. 

Soweit irgend möglich, wurde auf schnelle Erledigung Wert 
gelegt und man war bestrebt, Männer, die im Beruf standen, oder 
Familienmütter, nicht wochenlang ın psychiatrischen Kliniken 
beobachten zu lassen. 

Der weite Spielraum, den der schwere Alkoholismus der 
Beurteilung bietet, verpflichtete zu besonderer Gewissenhaftigkeit. 
Den „Erläuterungen“ (Gütt, Rüdın und Ruttke) entsprechend war 
weder die genossene Menge, noch die Häufigkeit des Rausches ent- 
scheidend, sondern das Bild der Person im nüchternen Zustand. 
Wo der Alkoholmißbrauch als ‚Verräter einer unerwünschten 
psychopathischen Erbmasse‘‘ erschien, gab er das Signal zum 
Eingriff, auch wenn polyneuritische Zeichen, Reflexveränderungen 
und feinschlägiges Zittern noch fehlten. Wichtiger als bei den 
anderen Punkten war hier die Vorgeschichte. Doch galt es auf der 
Hut zu sein, da sowohl mit Beschönigung als auch mit moralisieren- 
den Neigungen und sogar Rachsucht gerechnet werden mußte. 

Bei der Feststellung der erblichen Fallsucht konnten wir uns 
die Meinung von H. Schulte, „daß die Epilepsieforschung vom Gesetz 
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in einem Stadium über- 
rascht worden ist, in dem die Diagnose nur per exclusionem gestellt 
werden kann‘, nicht zu eigen machen. Die besonderen differential- 
diagnostischen Schwierigkeiten wurden fast immer ohne klinische 
Beobachtung und ohne Encephalographie überwunden, indem wir 
durch Berücksichtigung aller körperlichen und geistigen Abwei- 
chungen das Gesamtbild der genuinen Epilepsie zu erfassen suchten. 

Wenn auch Conrads preisgekrönte Arbeiten über „Erbanlage 
und Epilepsie‘ auf Grund seiner Zwillingskasuistik die Frage, ob 
erblich oder nicht, durch Schaffung einer Zwischengruppe und 
Dreiteilung des Materials theoretisch zu umgehen ermöglichen, 
kann sıch der Erbgesundheitsrichter laut Gesetz praktisch der 
Entweder-Oder-Entscheidung nicht entziehen. Um so genauer muß 
er in strittigen Fällen die endogenen und exogenen Faktoren gegen 
einander abwägen, voll Zuversicht, daß die Forschung, die gerade 
für den epileptischen Formenkreis durch die Gesetzgebung einen 
mächtigen Anstoß erhalten hat, bald neue Mittel und Wege der 
Erkenntnis finden wird. 

Nebenstehende Übersicht ist dem Bericht des Verfassers ‚Über 
die Tätigkeit der Danziger Erbgesundheitsgerichte‘‘ vom Juni 1938 
entnommen, es fehlen mithin die Angaben für das letzte Jahr. 


6 W.v. Holst 


Statistische Übersicht 
1934: 1935: 1936: 1937: 1938: in Summa: 


1. Anträge insgesamt: 215 255 219 211 36 936 
216 204 225 192 46 883 

2. Erledigt vor Beschluß- 13 1 5 6 — 25 
fassung: 21 1 4 1 — 27 


3. Es bleiben: 254 214 205 36 911 
195 203 221 1% 46 856 


4. Die U.machung wurde 198 217 177 154 3 749 


5483485845 
N 
© 
(X) 


angeordnet: 191 161 178 146 12 688 
5. Die U.machung wurde 4 36 35 28 2 105 
abgelehnt: 2 31 40 26 4 413 


6. Zu Spalte 4 wegen folgender Krankheiten: 


1. angebor. Schwach- m. 96 109 96 90 — 39%1=54% 
sinn: w. 88 109 106 75 7 385 
2. Schizophrenie: m. 65 56 27 14 1 163 = 24,2°, 
w. 8 26 35 39 4 185 
3. manisch-depressivem m. 5 3 2 2 — 12 = 1,7% 
Irresein: w. 2 2 4 4 — 12 
4. erblicher Fallsucht: m 19 25 25 20 2 91 = 12,4% 
W. 18 20 27 21 1 87 
5. erblichem Veitstanz: m. — — 1 — — 1 
W Vam! Te peene — — — 
6. erblicher Blindheit: m. — 3 3 6 — 12= 1,4% 
WwW. â  — 4 2 2 — 8 
7. erblicher Taubheit: m. 2 3 2 2 — 9= 1,7% 
wW. 6 1 4 2 — 13 
8. schwerer körperlicher m. — 1 2 2 — 5= 0,8" 
Mißbildung: w. 1 1 2 3 — 7 
9. schwerem Alkoholis- m. 11 19 22 19 — 74 = 51% 
mus: w. å — — 2 — — 2 
7. Beschwerde ist 
a) eingelegt: m. 62 84 7 66 2 289 
w. 35 43 62 41 4 185 
b) verworfen: m. 48 67 60 40 — 215 
| | w. 27 35 53 29 — 144 
c) hat zur Aufhebung 
des Beschl. 1. In- m. 8 11 7 5 — 31 
stanz geführt: wW. 7 8 3 1 — 19 
d) hat sich ander- m. 6 5 1 5 — 17 
weitig erledigt: wW. 1 — 2 4 — 7 
8. Der Beschluß ist m. 198 250 202 150 2 802 
rechtskräftig: w. 192 204 215 160 4 775 
9. Die U.Machung ist m. 2 h — — — 6 
ausgesetzt: w. 20 5 6 1 — 32 
10. Die U.Machung ist m. 180 204 148 103 1 633 
durchgeführt: w. 162 4144 150 105 21) 563 


1) Die Zahlen dieser Spalte beziehen sich nur auf Anträge, die aus dem Jahre 
1938 starnmen. 


Psychiatrische Rassenhygiene in der ehemaligen Freien Stadt Danzig 7 


Von Anfang an bemühten wir uns, die ausmerzenden und vor- 
beugenden Maßnahmen der Erbpflege durch fördernde zu ergänzen. 
Als vorläufig einziges Mittel dazu wurde die Gewährung von Ehe- 
standsdarlehen im Herbst 1933 eingeführt und ausschließlich nach 
eugenischen Gesichtspunkten vorgenommen, während im Reich, 
soweit mir bekannt, anfangs mehr Ankurbelung der Wirtschaft be- 
wirkt werden sollte. In Danzig lief das Verfahren zur größtmöglichen 
Sicherung über einen praktischen Arzt nach freier Wahl, den zu- 
ständigen Amtsarzt und den aus rassehygienisch eingestellten 
Fachärzten gebildeten ‚„Eugenischen Beirat des Senats‘‘, dessen 
Aufgabe es war, schwierige Fälle so wissenschaftlich einwandfrei 
als möglich zu klären. Da der Geburtensturz hier nicht so merkbar 
war wie an anderen Orten, konnte der rassenpflegerische Standpunkt 
um so strenger gewahrt bleiben. Einer von Prof. Dr. G. Wagner, 
dem Leiter des Staatlichen Hygienischen Instituts, angeregten 
Dissertation ist nachstehende Übersicht über die ersten 5 Jahre 
entnommen: 


Ehestandsdarlehen in der Freien Stadt Danzig 
Jahr Beantragt Bewilligt Abgelehnt 


1933 365 282 83 = 22,7%, 
1934 677 542 165 = 24,4%, 
1935 296 194 102 = 34,59%, 
1936 154 125 29 = 18,89, 
1937 344 312 32 = 9,3% 
Insgesamt: 1836 1425 411 = 23% 


Aus strafrechtlichen und formalen Gründen abgelehnt 126, 
aus medizinischer Indikation abgelehnt 285, davon wegen geno- 
typischer Mängel 210, wobei nicht nur die Erkrankungsfälle eines 
der Probanden, sondern auch die Fälle mit schlechter Erbprognose 
berücksichtigt wurden. 

Als Obmann des ‚„Eugenischen Beirats‘‘ darf ich behaupten, daß 
nur bei geno- und phänotypisch befriedigenden Ehepartnern die 
Familiengründung auf diesem Wege gefördert worden ist. Wie 
Senatsrat Hagemann nachgewiesen hat, sind aus den durch Dar- 
lehen geförderten Ehen erfreulich zahlreiche Geburten hervorge- 
gangen und zwar 


Anmerkung zu Spalte 6: bei 6 männl. und 11 weibl. Personen ist die U.Machung 
auf Grund von zwei Ziffern angeordnet. 

Anmerkung zu Spalte 7a: bei 26 männl. und 15 weibl. Personen ist das 
Verfahren in der II. Instanz noch anhängig. 

(Die Statistik ist nach dem Stande vom 30. April 1938 aufgestellt.) 


8 W. v. Holst 


1933 35 Geburten 
1934 332 si 
1935 378 i 
1936 334 f 
1937 407 E 


Dabei handelte es sich nicht nur um Erstgeburten, sondern auch 
um eine größere Anzahl dritter und vierter Geburten. 

An diese Stelle gehört ein kurzer Hinweis auf die Tätigkeit der 
„Staatlichen Gutachterstelle für Schwangerschaftsunterbrechung“, 
die von ihrer Einrichtung im November 1934 bis zum September 
1938 vom Verfasser geleitet worden ist. Von den bis Ende 1937 
ärztlicherseits beantragten 196 Unterbrechungen mußten 112 ge- 
nehmigt werden, davon 50 aus psychiatrischen Gründen. Leider 


wissen wir aus den Feststellungen des Oberarztes der Staatlichen | 
Frauenklinik Prof. Granzow, daß die Zahl der kriminellen Unter- 


brechungen die der vorschriftsmäßig begutachteten und gestatteten 
weit überstieg, so daß er von einer gefährlichen ‚Abtreibungs- 
seuche‘‘ gesprochen hat. 

Über die Auswirkungen der auch in Danzig eingeführten neuen 
Ehegesetze ist wegen der Kürze der Zeit noch nichts zu berichten. 
Mit Dankbarkeit sei daran erinnert, daß unser unvergeßlicher 
Kollege J. Lange noch als Schwerkranker kurz vor seinem Tode hier 
bei Gelegenheit der Reichstagung der Ärzte des Öffentlichen Ge- 
sundheitdienstes im Juni 1938 über Erb- und Ehegesundheits- 
gesetze gesprochen hat. 

Aus diesem Bericht dürfte hervorgehen, daß in Danzig alles 


u 


geschehen ist, um den rassehygienischen Neuerungen im Reich so ' 


dicht auf den Fersen zu folgen, daß jetzt im Augenblick der Heim- 
kehr von irgendeiner Angleichung für uns nicht die Rede zu sein 
braucht. Besonders erleichtert wurden die Bestrebungen auf diesem 


Gebiet durch die Einrichtung einer Senatsabteilung für 


Gesundheitswesen und Bevölkerungspolitik mit einem 
Arzt an der Spitze, der allen Bedürfnissen volles Verständnis 
entgegenbrachte. Gründliches Arbeiten wurde ferner erleichtert 
durch die Kleinheit des betreuten Gebietes. Wenn uns diagnosti- 
sches Mißgeschick, etwa Annahme einer erblichen Fallsucht, die 
sich nachher als symptomatische erwies, bisher glücklich erspart 
geblieben ist, so lag das nicht nur an unserem unablässigen Be- 
mühen, das seelische Gesamtbild des genuinen Epileptikers zu 


erfassen, sondern auch an der leichteren Übersehbarkeit der genealo- _ 


gischen Verhältnisse des Freistaats. 


En, 


er S 


| 


Psychiatrische Rassenhygiene in der ehemaligen Freien Stadt Danzig 9 


Von dieser sechsjährigen Erfahrungsgrundlage aus sollen jetzt 
die Erbgesundheitsgesetze im befreiten Westpreußen eingeführt 
werden. Als Nachfolge des Danziger Ärzteblattes wird eine neu- 
begründete Zeitschrift „Die Volksgesundheit im Reichsgau Danzig- 
Westpreußen‘ die Aufgabe haben, die rassenhygienischen Maß- 
nahmen zu erläutern und das Verständnis für ihre sittliche Berech- 
tigung wie für ihre unabweisbare biologische Notwendigkeit zu 
wecken und zu steigern. 


Psychiatrisch-neurologische und rassenhygienische 


1934 


1935 


1936 


1937 


1937 


1938 


Veröffentlichungen im Danziger Ärzteblatt 


Dr. W. v. Holst: Der Sinn der psychiatrischen Richtlinien für die Ehe- 
standsberatung. — Zur praktischen Bedeutung der Epilepsie-Diagnose. 
— Einige Berührungspunkte zwischen Nervenkrankheiten und Frauen- 
leiden. — Ungewöhnliche Formen des Manisch-depressiven Irreseins. 
San.Rat Dr. Kahlbaum-Görlitz: Die Bedeutung der Schlesischen Privat- 
Sanatorien für nervös und psychisch Kranke im öffentlichen Gesund- 
heitswesen. 


Dr. W. v. Holst: Aus der Arbeit des Erbgesundheits-Obergerichts. — 
Das Entwicklungsalter vom neurologischen Standpunkt. 


Prof. Dr. A. Bostroem- Königsberg: Über einige Besonderheiten der Ma- 
nisch-depressiven Konstitution. 

Dr. W. v. Holst: Zur Diagnose der erblichen Fallsucht. — Nervenleiden 
im schulpflichtigen Alter. 

Amts- u. Landgerichtsrat Dr. Kaiser: Die Verhütung erbkranken Nach- 
wuchses in Danzig. 

Senatspräsident Dr. Rumpf: Vom Erbgesundheitsrecht. 

Prof. Dr. F. G. Wagner: Kriminalität und Schwachsinn. 


Referendar E. Beck: Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte. — 
Gesetzliche Maßnahmen zur Höherzüchtung des deutschen Volkes. 


Dr. W. v. Holst: Eugenischer Imperativ. — Über geistige Energie und 
persönliche Leistungsfähigkeit. 
Senatspräsident Dr. Rumpf: Anfechtung der Ehe wegen Erbkrankheit. 


Prof. Dr. A. Bostroem-Königsberg: Die Diagnose der psychiatrischen 
Erbkrankheiten (nach einem Vortrag im Danziger Ärzteverein am 
9. 12. 1937). 

Dr. W. v. Holst: Über die Tätigkeit der Danziger Erbgesundheitsgerichte. 
— Zur Frage der Vererbung geistiger Anlagen. 

Dr. Hans Werner Janz: Die diagnostische Verwertbarkeit der Provoka- 
tion epileptischer Anfälle (aus der Psychiatrischen und Nervenklinik 
der Universität Königsberg). 

Prof. I. Lange-Breslau: Erbgesundheitsgesetz, Ehegesundheitsgesetz, 
Kriminalität. 

Prof. Dr. G. F. Wagner: Das Ehestandsdarlehen als Maßnahme der 
positiven Rassenhygiene. 


10 W.v.Holst, Psychiatrische Rassenhygiene in der ehem. Freien Stadt Danzig 


1939 Dr. Betlewski: Zur Frage der Provokation epileptischer Anfälle (aus der 
Psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Danzig). 
Prof. Dr. R. Gaupp-Tübingen: Marksteine in der Entwicklung der deut- 
schen Seelenheilkunde. 

Dr. W. v. Holst: Die Wandelbarkeit der psychopathischen Erscheinung 
formen. — Über Erkennung und Ursachen des intermittierenden Hin- 
kens. — Über die funikuläre Myelose. 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 


Von 
Albrecht Langelüddeke 


(Aus der Landesheilanstalt Marburg. Direktor: Prof. Dr. Langelüddeke) 
(Eingegangen am 10. Juni 1939) 


I. Allgemeines 


Unter den Erbkrankheiten, die im Gesetz zur Verhütung erb- 
kranken Nachwuchses aufgezählt sind, macht die Diagnose der erb- 
lichen Fallsucht bei weitem die größten Schwierigkeiten!). Sie ist 
manchmal sehr einfach; in einer Reihe von Fällen erfordert sie je- 
doch das ganze Rüstzeug klinischer, serologischer, experimental- 
psychologischer und erbbiologischer Methoden, und es ist nicht zu 
verwundern, daß gerade die Gutachten über die Frage der erblichen 
Fallsucht nicht immer den Anforderungen genügen, die wir an sie 
stellen müssen. Ich komme daher gern der Aufforderung der Schrift- 
leitung nach, die für den Praktiker und Gutachter wichti- 
gen Gesichtspunkte zusammenzustellen, die bei der 
Diagnose der erblichen Fallsucht zu beachten sind. Aus der mir 
gestellten Aufgabe ergibt sich von selbst, daB die Erörterung stritti- 
ger Fragen zurückzutreten hat hinter der übersichtlichen Wieder- 
gabe des Gesicherten. Dabei verzichte ich auf differentialdiagnosti- 
sche Erwägungen gegenüber einzelnen Krankheitsgruppen; sie sol- 
len später behandelt werden. 

Bei der Diagnosestellung im Einzelfall wird der Untersucher je 
nach seiner eigenen Veranlagung verschiedene Wege gehen: Der eine 
wird von der in seiner Ganzheit in künstlerischer Schau erlebten 
Persönlichkeit des Kranken aus zur Bewertung der Einzelsymptome 


1) Wie weit hier die Meinungen auseinandergehen können, wird deutlich 
daran, daß Carl Schneider 1934 den Anteil der genuinen Epileptiker unter dem 
großen Epileptikerbestand der Betheler Anstalten auf 10—20°, schätzte, 
während Villinger 1937 von den 2094 Krampfkranken der gleichen Anstalten. 
also doch wohl zum großen Teil auch denselben Kranken, 1580, d. h. rund 75°, 
als erblich fallsüchtig bezeichnete. Bei einer neuerlichen Durchmusterung fand 
er etwas geringere Änteilszahlen für die erblich Fallsüchtigen, nämlich 1471 
= 649%, unter 2286 Krampfkranken. 


12 Albrecht Langelüddeke 


innerhalb dieser Ganzheit vordringen; der andere wird aus den 
einzelnen Krankheits- und Persönlichkeitsmerkmalen ın kritischer 
Sichtung die Gesamtpersönlichkeit aufbauen. Der erste Typ des 
Untersuchers wird dabei nicht ohne kritische Besinnung auskom- 
men, der zweite nicht ganz der künstlerischen Schau entraten 
wollen. Beide Wege sind einander gleichwertig. Mauz gehört offen- 
sichtlich dem ersten Typ an; hier wird der zweite Weg bevorzugt, 
weil er im allgemeinen leichter lehrbar, dem Verfasser wohl auch 
adäquater ist. 

Zwei Fragen sind es, die in jedem Falle zu beantworten sind: 


1. Liegt überhaupt eine Krampfkrankheit vom Typus der Epi- 
lepsie vor und 

2. wenn eine solche nachgewiesen ist: handelt es sich überwie- 
gend um die idiopathische, genuine, erbliche oder um eine sympto- 
matische!) Form ? 

Bei der Beantwortung der letzten Frage kann man wieder zwei 
Wege gehen: einmal den negativen des Ausschlusses anderer Er- 
krankungen. Damit hat man sich in der ersten Zeit der praktischen 
Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes vielfach begnügt; sehr 
bald jedoch ist man dazu übergegangen, darüber hinaus durch den 
Nachweis solcher Symptome, die bei Ausschluß aller anderen Mög- 
lichkeiten für erbliche Fallsucht kennzeichnend sind, eine positive 
Umgrenzung des Begriffs „erbliche Fallsucht‘‘ zu suchen. Stert: 
hat als Zeichen dafür angegeben: 1. charakteristische Vererbung 
einschließlich sogenannter Mikroheredität, 2. gewisse morpholog!- 
sche und funktionelle Stigmata, Eigenart des Körperbaus und des 
psychischen Habitus, 3. progressive Tendenz: epileptische Wesens- 
veränderung und Demenz. Wenn alle diese Merkmale fehlen, meint 
er, so kann eine isolierte Anfallsbereitschaft kaum als erbliche Fall- 
sucht bezeichnet werden. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Be- 
ziehung die Arbeit von Mauz über ‚Die Veranlagung zu Krampf- 
anfällen“. Mauz schildert die komplexen Bilder zweier Konstitu- 
tionskreise, die er als enechetische Konstitution und als kombi- 
nierte Defektkonstitutionen bezeichnet. Im enechetischen Kon- 
stitutionskreis sieht er die Kerngruppe der geuinen Epilepsie; er 
will jedoch auch die Anfallserkrankungen auf dem Boden der kom- 
binierten Defektkonstitutionen in die erbliche Fallsucht mit ein- 


1) Wir behalten diese eingebürgerten Bezeichnungen, die praktisch und in 
ihrer Bedeutung bekannt sind, bei. Sie sind nicht immer ganz zutreffend; in- 
dessen haben die von Pohlisch vorgeschlagenen Bezeichnungen gleichfalls ihre 
Nachteile. 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 13 


beziehen, obwohl hier der Einfluß exogener Faktoren größer wird!). 
Für ihn ist der Anfall nur Ausdruck der Gesamtkonstitution und 
tritt gegenüber dieser an Bedeutung zurück. 

Die Frage, ob die Erkrankung im Einzelfall als endogen oder 
exogen aufzufassen sei, hat sich dahin verschoben, wie groß der 
Anteil innerer und äußerer Faktoren am Zustandekommen der 
Krankheit ist. Aus dem ‚‚Entweder-oder“ ist ein ,„Sowohl-als-auch“ 
(Schulte) geworden. Bumke sagt dasselbe mit anderen Worten, wenn 
er von einem Continuum spricht „mit gar keiner Krampfbereit- 
schaft am Anfang und mit einer sehr starken am Ende‘. Wir kön- 
nen hieraus ableiten, daß zu den beiden Gruppen von einwandfrei 
genuinen und symptomatischen Fällen weitere Gruppen kommen 
müssen, bei denen die Anlage oder die äußere Ursache überwiegt 
und schließlich eine Gruppe, bei der Anlage und äußere Ursache 
sich etwa die Waage halten. 


II. Der Anfall 


Im Mittelpunkt unseres Blickfeldes steht zunächst der große 
Anfall. Die Beobachtung des Anfalls durch den Gutachter ist 
durchaus nicht immer erforderlich. Gelegentlich ist es möglich, aus 
dem Gesamt des körperlichen und seelischen Seins des Kranken die 
Diagnose so weit zu sichern, daß der Anfall als eine selbst verständ- 
liche Krönung unseres Wissens um die Krankheit anmutet. Im all- 
gemeinen aber bedarf es, worauf Pohlisch mit Recht hinweist, nicht 
nur für die körperliche und geistige Entwicklung des Probanden, son- 
dern auch für den Anfall selbst einer wirklich genauen Anamnese. 
Der Anfall sollte in seinem gesamten Ablauf möglichst eingehend 
festgestellt und beschrieben werden; mit dem Ausdruck „typisch 
epileptische Krämpfe‘, den man nicht selten in Gutachten findet, 
kann der ärztliche Richter wenig oder gar nichts anfangen. Unsere 
Erfahrungen lassen es geboten erscheinen, die Merkmale des psycho- 
genen Krampfes denen des epileptischen Krampfes gegenüber- 
zustellen, zumal die Differentialdiagnose keineswegs in allen Fällen 
leicht ist. So können Schwierigkeiten auftreten, wenn bei der 
Hyperventilation der hysterische Anfall durch tetanische Erschei- 
nungen einen ausgesprochen organischen Anstrich erhält (Krisch); 
in sehr seltenen Fällen kommt es auch zu Anfällen von choreati- 
schem Gepräge, die hysterisch aussehen können, aber organisch 
sınd. Wir haben einen solchen Fall einmal nach einer Kohlenoxyd- 
vergiftung beobachtet. 


1) Ob das in dieser allgemeinen Formulierung möglich ist, werden wir später 
sehen. 


14 Albrecht Langelüddeke 


Psychogen Epileptisch 
Ursache Schreck, Ärger, Streit, Ab- | ohne erkennbare Ursache; nicht 
sicht, irg. etw. zu erreich.| selten jedoch vorher Verstim- 
mung 
Beginn Allmähl. Sichhineinsteigern,| plötzlich, oft mit unartikulier- 


nie aus d. Schlafe heraus] tem Laut oder Schrei, nicht 
selten aus dem Schlafe heraus 


Art der Krämpfe| Vorsichtiges Hinsinken,| Rücksichtsloses Umfallen, in der 
komplizierte Bewegun-| Regel tonische Phase, die je- 
gen, Umsichschlagen,}| doch so kurz sein kann, daß 


Strampeln, Umwerfen u.| sie kaum bemerkt wird. Da- 
Umreißen von Gegen-| nach klonische Phase mit ein- 
ständen. Bei Festhalten] förmigen, primitiven Zuckun- 


Verstärkung gen von geringem Ausmaß. 
Dabei ruhige Lage des Kran- 

Se u E ASE. 

Aussehen manchmal unverändert, sel-| manchmal blaß, häufiger rotblau 
ten blaß, oft rot u. 
schwitzend 

Bewußtsein nicht völlig erloschen, völlige Bewußtlosigkeit 
traumhaft 

Reflexe Pupillen reagieren meist;| Pupillen meist stark erweitert; 
Babinski negativ Lichtreaktion fast immer er- 


loschen. Babinski oft +, 
manchmal erst einige Minuten 
nach dem Anfall. Grundge- 
lenkreflex fehlt fast immer. 


Einnässen sehr selten oft; manchmal Abgang von Stuhl 
Zungenbiß sehr selten häufig; blutiger Schaum 
Verletzungen meist geringfügig manchmal schwer 

Dauer Minuten bis Stunden 1—3 Minuten 

Beendigung wechselnd: manchmal all-| schnarchende Atmung u. Schlaf; 


mähliches Einschlafen,| nicht selten kurze Verwirrt- 
öfter erstauntes Auf-| heitszustände mit Wischen, 
wachen Reiben 


Rückerinnerung| teilw. erhalten ganz aufgehoben 


Einstellung zum| Neigung, irgendwie Kapital] Neigung zum Bagatellisieren der 
Anfall daraus zu schlagen Anfälle 


Wichtig ist, daß der epileptische Anfall häufig mit vereinzelten 
Zuckungen im Gesicht beginnt, und daß der sog. Initialschrei erst 
hinterher kommt. Auch Kopfdrehungen und einseitige Zuckungen 
im Facialisgebiet sind bei genuiner Epilepsie nicht selten. Großes 
Gewicht ist auf die Frage zu legen, in welchem Gebiet die Zuckun- 
gen beginnen, ob die Glieder zunächst nacheinander vom Krampfe 
ergriffen werden und in welcher Reihenfolge. 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 15 


Über eine Aura erfährt man viel seltener etwas, als man nach 
den lehrbuchmäßigen Darstellungen erwarten sollte. Das mag mit 
dem Fehlen der Rückerinnerung der Kranken zusammenhängen. 
Wichtig sind vor allem die Erscheinungen der Makropsie und Mikro- 
psie, des Verzerrtsehens, des Entfernter- oder Nähersehens — einer 
unserer Kranken sah die Sonne in einer Entfernung von etwa 300 m, 
s0 daß er dachte, man könne bequem um sie herumgehen —, des 
übermäßig Lauten oder Leisen, des besonders (namentlich rot) 
Gefärbten der Wahrnehmungen, des übermäßig schnellen oder 
langsamen Zeitablaufs usw. 

Neben den großen Anfällen ist natürlich auch zu fahnden nach 
Absencen, petit-mal-Anfällen, grundlosen Verstim- 
mungen, kurzen Verwirrtheits- und Dämmerzuständen. 
Sie dienen der weiteren Stützung der Diagnose; aus ihnen allein, 
ohne daß jemals ein großer motorischer Anfall aufgetreten ist, wird 
sich im Erbgesundheitsverfahren nur ausnahmsweise, bei Vorhan- 
densein anderer sicherer Hinweise, die Diagnose stellen lassen. 

Vielfach hat der ärztliche Gutachter selbst nicht die Möglichkeit, 
einen Anfall zu beobachten. Es gelingt aber in der Regel doch, von 
den Angehörigen ausreichende Beschreibungen zu erhalten. Freilich 
muß man sich die Mühe machen, den Anfall in allen Einzelheiten 
mit ihnen durchzusprechen, wobei man sich hüten muß, Suggestiv- 
fragen zu stellen. Sind Anfälle anderweitig beobachtet, so sollte 
man nach Möglichkeit den Bericht der Angehörigen durch Zeugenaus- 
sagen ergänzen und erhärten. Dabeisind auch die Tageszeiten (nachts, 
gleich nach dem Aufstehen, nach den Mahlzeiten) zuberücksichtigen. 

Bumke meint, die erbliche Fallsucht beginne gewöhnlich mit 
kleinen Anfällen und erst später sollen sich große motorische 
Krämpfe einstellen. Fettermann und Hall, die der Frage nach der 
Bedeutung der anfänglichen Erscheinungen bei 160 Krampf- 
kranken nachgegangen sind, konnten diese Auffassung nicht be- 
stätigen; sie fanden in etwa 75% einen akuten Beginn mit großen 
Anfällen, unabhängig von der Art der Erkrankung. 

Der asymmetrische Verlauf der Anfälle weist auf eine äußere 
Ursache hin; doch beweisen symmetrische Anfälle keineswegs die 
endogene Natur der Erkrankung: gar nicht selten findet man bei 
genauerer Untersuchung — manchmal freilich erst bei der Sektion 
— die äußere Ursache. 


III. Beginn der Anfälle 


Das Lebensalter, in dem die Anfälle erstmalig auftreten, ist 
für die Frage der endogenen oder exogenen Entstehung wichtig. 


16 Albrecht Langelüddeke 


Gruhle führt noch eine Statistik von Wolffenstein aus Wuhlgarten an. 
die sich auf 2567 Epileptiker stützt. Danach soll das erste Lebens- 
jahrzehnt mit 25,9% am Ausbruch der genuinen Epilepsie be- 
teiligt sein, und das erste Lebensjahr steht wieder bei weitem an 
erster Stelle. Aber schon die wiedergegebene Kurve läßt erkennen. 
daß es sich hier nicht um genuine Epilepsie handeln kann. Ein 
recht beträchtlicher Teil der verwendeten Fälle hat ihren ersten 
Krampf erst jenseits des 40. Lebensjahres erlebt, ja, die Kurve 
reicht sogar bis über das 70. (!) Lebensjahr hin. In diesem Alter 
noch von genuiner Epilepsie zu sprechen, dürfte nach den heute 
geltenden Anschauungen abwegig sein. Auch die übrigen von Gruhle 
angeführten Statistiken von Ehrhardt und Ostmann leiden offen- 
sichtlich unter der zu weiten Fassung des Begriffs der genuinen 
Epilepsie. Aus Ehrhardis Mitteilung geht zudem eindeutig hervor, 
daß er alle Krampfkranke, auch alle zweifelsfrei symptomatischen 
Formen mitgezählt hat. Ostmanns Untersuchungen über diese Frage 
halten m. E. der Kritik gleichfalls nicht stand: Er hat die Epileptıi- 
keraufnahmen in Schleswig während einer langen Periode, be- 
ginnend mit 1900, gewertet. Es ist jedoch in vielen Fällen schlech- 
terdings unmöglich, nach den alten Krankengeschichten zu ent- 
scheiden, welcher Gruppe der Einzelfall angehört. Die Anforde- 
rungen, die heute an die Diagnose gestellt werden, sind ungleich 
höher als vor über 30 Jahren. Ostmann hat unter 392 „genuinen“ 
Epileptikern 128 gefunden, deren Krankheitsbeginn in den ersten 
5 Lebensjahren lag. Wie unsicher jedoch diese Zahl ist, geht schon 
daraus hervor, daß er unter den Ursachen der symptomatischen 
Epilepsien des gleichen Lebensalters die cerebrale Kinderlähmung 
garnicht erwähnt. Auf der anderen Seite rechnet er auch noch 
10 Fälle, ın denen die Anfälle erstmalig mit über 50 Jahren auf- 
traten, zur genuinen Epilepsie. Schließlich sei noch auf die Dar- 
stellung Wilsons hingewiesen. Auch hier finden wir eine Statistik 
über 1000 Fälle, die Turner 1904 oder 1907 publiziert hat. Schon 
aus diesem Grunde hat sie nur noch historisches Interesse, indem 
sie zeigt, daß man ın jener Zeit den Begriff der genuinen Epilepsie 
viel weiter faßte als heute. 

Neuere Untersucher haben demgegenüber festgestellt, daß die 
epileptischen Krämpfe der ersten Lebensjahre nur ausnahmsweise 
das Zeichen einer erblichen Fallsucht sind. So kommt Joh. Lange 
auf Grund genauer und kritischer Untersuchungen an 30 krampf- 
kranken Kindern zu dem Ergebnis, daß die in der ersten Hälfte 
der Kindheit vorkommenden Krampfkrankheiten überwiegend mit 
erblicher Fallsucht nichts zu tun haben. Erst nach dem 6. Lebens- 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 17 


jahr, besonders vom 9. Lebensjahr an, melde sich die erbliche Fall- 
sucht. Die große Mehrzahl der Kinderkrämpfe sei auf Hirnerkran- 
kungen vorwiegend entzündlicher Natur zu beziehen. Krämpfe in 
den ersten Monaten nach der Geburt seien in der Regel Folge von 
Geburtschädigungen. Von 357 „kryptogenetischen‘‘ Epileptikern 
Sjögrens begann die Mehrzahl zwischen dem 10. und 25. Lebens- 
jahr zu erkranken. Schreck fand bei 330 krampfkranken Kindern, 
daß der erste Anfall meist nach dem ersten Lebensjahr auftritt. 
Birk sagt, „ein großer Teil der kindlichen Epilepsie — in der Vor- 
schulzeit zweifellos der größere Teil‘ —sei ‚nicht erbliche Fallsucht, 
sondern symptomatische Epilepsie‘. Besonders wichtig ist aber die 
Feststellung Conrads, daß von seinen 57 eineiigen krampfkranken 
Zwillingspaaren nur eines Krämpfe in der frühen Kindheit zeigte. 
Absolute Konkordanz zeigten die Fälle der genuinen Epilepsie im 
engeren Sinne, die mit Vorzeichen um das 5.—9. Jahr begannen, 
und bei denen die ersten großen Anfälle zwischen dem 9. und 15. 
Jahre, ausnahmsweise auch später, einsetzten. Diesen Ergebnissen 
entspricht denn auch die Stellungnahme von Autoren wie Bumke 
und Pohlisch. Bumke hat bereits in der 2. Auflage seines Lehrbuchs 
sich dahin ausgesprochen, daß die genuine Epilepsie selten vor dem 
6. Lebensjahre auftrete, und Pohlisch bezeichnet das 2. Jahrzehnt 
als Prädilektionszeit, die Schulzeit und das 3. Lebensjahr noch nicht 
als atypisch. 


Das führt uns zu der Frage nach der Beurteilung der Spätepilep- 


sie. Walker fand unter 100 genuinen Epileptikern, bei denen der 


erste Anfallnach dem 20. Lebensjahr auftrat, einen Beginn nach 
dem 40. Lebensjahr in 9%; nach dem 50. Lebensjahr sei genuine 
Epilepsie praktisch auszuschließen. Nach Joh. Lange erkrankten 
70% aller erblich Fallsüchtigen bis zum 20. Lebensjahre, nicht 
ganz 15%, jenseits des 30. Lebensjahres. Das würde mit der Zahl 


von Walker gut übereinstimmen; Walker erfaßt ja, wenn man die 


Hundertsätze von Lange zugrunde legt, nur etwa 30% aller 
genuin Epileptischen. Danach würden knapp 3% aller erblich Fall- 
süchtigen nach dem 40. Lebensjahr erkranken. 


Aus diesen Feststellungen können wir schließen, daß der Beginn 
der erblichen Fallsucht in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle 
zwischen dem 6. und 30. Lebensjahr liegt. Diese Grenzen sınd sogar 
schon ziemlich weit gezogen. Wir müssen mit der Diagnose der erb- 
lichen Fallsucht um so zurückhaltender sein, je weiter außerhalb 
dieser Lebensspanne der Krankheitsbeginn liegt. Man wird sich 
gerade bei solchen Kranken nicht mit dem bloß negatıven Aus- 
2 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114. H. 1/2. 


18 Albrecht Langelüddeke 


schluß besonderer Krankheitsursachen begüngen dürfen, sondern 
eine positive Umgrenzung verlangen müssen. 


IV. Die Frage der Erblichkeit 


Für die Diagnose der erblichen Fallsucht interessiert die Frage 
der Erbprognose kaum. Nur ausnahmsweise können die Zahlen, 
die bei den darauf gerichteten Untersuchungen gefunden sind, auch 
diagnostisch wertvoll sein?). 

Eugenisch Unerwünschte finden sich unter den Kindern nach 
neuen Untersuchungen von Conrad nahezu 50%, darunter etwa 30°, 
psychisch Abnorme. 

Viel wichtiger ist die Frage, wie oft wir bei erblicher Fallsucht mit 
spezifischer Belastung im näheren Umkreis des Probanden zu 
rechnen haben. Darüber gibt es nur wenige Hinweise. Ältere Unter- 
suchungen wie die von H. Müller und Joedicke sind jetzt kaum noch 
verwertbar. Soweit ich sehe, haben neuerdings nur Ewald und 
Villinger Zahlen darüber angegeben. Ewald hat unter 20 Frauen, 
die er für erblich fallsüchtig hielt, 7mal, unter 30 Männern 15mal 
keinen Hinweis auf irgend eine Belastung gefunden, d.h.: in fast 
der Hälfte seiner Fälle war der Nachweis der Erblichkeit nicht aus 
dem Einzelfall zu führen. Villinger fand bei 1580 Epileptikern der 
Betheler Anstalten 443 mal eine gleichartige Belastung, also in 
rund ?/, der Fälle. Bei den nicht anstaltsbedürftigen Krampfkranken 
dürfte die Zahl derer, bei denen sich eine spezifische Belastung nach- 
weisen läßt, noch geringer sein. Es ist daher verständlich, daß über 
diese Frage Meinungsverschiedenheiten entstanden sind. Auf der 
einen Seite will Bonhoeffer nur die Fälle mit erwiesener epilepti- 
scher Belastung der erblichen Fallsucht zurechnen und die übrigen 
Fälle zu einer Gruppe mit unbekannter Ursache zusammenfassen. 
Er steht jedoch mit dieser Ansicht ziemlich allein. Die Mehrzahl 
der Autoren hält eine erwiesene Erblichkeit nicht für erforderlich. 
so Ewald, Demme, Villinger, Conrad und andere. 

Meinen eigenen Standpunkt möchte ich so präzisieren: Wenn ein 
Proband im typischen Alter mit Anfällen erkrankt, und wenn sich 
bei ihm eine mehr oder weniger deutliche Wesensänderung nach- 
weisen läßt, so bedarf es, vorausgesetzt, daß alle äußeren Ursachen 


1) Bei einem älteren Manne, bei dem die ersten Anfälle mit fast 40 Jahren 
auftraten, der im übrigen weder körperlich noch psychisch, noch sonst irgendwie 
Auffallendes bot, haben wir den Umstand, daß keines unter seinen 8, z. T. 
schon erwachsenen Kindern irgendwelche Abweichungen aufwies, gegen dit 
Annahme einer erblichen Fallsucht ins Treffen geführt, da nach den erbpre- 
gnostischen Zahlen wenigstens einige hätten Abweichungen zeigen müssen. 


b eam Mi, mh mei „SE .2 23 000 Sulz nl a na se Ans u an at Bu ne el =D u A ES 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 19 


ausgeschlossen sind, des Nachweises der Erblichkeit nicht. Sind 
jedoch außer vereinzelten Anfällen keinerlei typische Symptome 
vorhanden, wie etwa bei dem oben erwähnten Manne, so halte ich 
den Beweis für das Vorliegen einer erblichen Fallsucht nicht für er- 
bracht, wenn nicht in der Sippe des Probanden eine spezifische 
erbliche Belastung vorhanden ist. Mit Bumke bin ich der Meinung, 
daß es unsere Pflicht ist, jeden Erbgesunden dem Volke zu erhalten; 
es scheint mir auch, als ob eine auf die Quantität gerichtete Bevölke- 
rungspolitik im Augenblick wichtiger sei als die auf die Qualität 
eingestellte. Die letztere kann sich erst im Laufe von vielen Gene- 
rationen auswirken; in einzelnen Fällen begangene Unterlassungen, 
wie etwa das Durchschlüpfenlassen eines erblich Fallsüchtigen, 
lassen sich daher wieder ausgleichen. Die nötige Zahl an Geburten 
zu erreichen, erscheint mir demgegenüber als die vordringliche Auf- 
gabe, die in den nächsten Jahren gelöst werden muß. Unterlassungen 
in dieser Beziehung lassen sich nicht wieder gut machen. 

Die oben aufgestellte Forderung nach einer spezifischen Be- 
lastung bedarf einer gewissen Einschränkung. Findet sich in der 
näheren Umgebung (Eltern, Geschwister, Kinder) gehäuftes 
Vorkommen von Schwachsinn, schweren Psychopathien, Psychosen, 
Alkoholismus, Migräne oder anderen unerwünschten Abartigkeiten, 
so würde ich darin den Ausdruck einer allgemeinminderwertigen 
Anlage sehen. Eine derartige Belastung hat auch Conrad in seiner 
Gruppe der absolut konkordanten erbgleichen Zwillingspaare mit 
Epilepsie gefunden. Diese Gruppe ließe sich den kombinierten 
Defektkonstitutionen im Sinne von Mauz einordnen. Eine solche 
Belastung läßt sich, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, 
für die Diagnose erbliche Fallsucht verwenden; hier wäre außerdem 
mit viel zahlreicheren Defekttypen unter der Nachkommenschaft 
zu rechnen und schon aus diesem Grunde manchmal die Nach- 
kommenschaft unerwünscht. Ist dagegen nur ein womöglich ent- 
iernterer Verwandter des Probanden abartig, etwa schwachsinnig, 
so würde das m. E. micht genügen, zumal Conrad gezeigt hat, daß 
Schwachsinn und Epilepsie nicht in einer genischen Korrelation 
stehen. 

Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß es eine 
scharfe Trennung zwischen erblicher und nicht erblicher Epilepsie 
nicht gibt, daß zum erblichen Faktor eine äußere Ursache treten 
kann. Dann wird der Gutachter die Rolle beider Faktoren sorg- 
fältig abzuschätzen haben. Hier lassen sich genaue Regeln nicht 
geben; innerhalb eines gewissen Spielraumes werden die Urteile 
verschieden ausfallen müssen. 


30 


20 Albrecht Langelüddeke 


Ein Wort sei noch gesagt zur sogenannten Mikroheredität: Wir 
finden in der Umgebung von Epileptikern außer gröberen Defekt- 
zuständen auch kleinere Abweichungen, wie Linkshändigkeit und 
Migräne. In welchem Zusammenhang diese mit der erblichen Fall- 
sucht stehen, wissen wir nicht; Matzdorf hält die epileptische und 
migränöse Reaktionsbereitschaft für etwas Verschiedenes. Wir 
wissen zudem, daß Migräneanfälle verschiedene Ursache haben 
können. Sie können daher, wenn sie allein gefunden werden, nicht 
ohne weiteres als spezifische Belastung angesehen werden. Für 
spezifisch halte ich außer den epileptischen Ausnahmezuständen 
(Krampf, petit-mal, Absence, Dämmerzustand, epil. Delir., Ver- 
stimmung) namentlich persönliche Eigenschaften, die dem epilepti- 
schen Charakter zukommen. Dabei scheinen mir die der ‚‚eneche- 
tischen Konstitution“ (Mauz) eigenen Züge die wichtigsten zu sein; 
doch sind auch andere Besonderheiten nicht zu vernachlässigen. 
Wir fahnden daher vornehmlich nach Umständlichkeit, Schwer- 
fälligkeit und Klebrigkeit, nach Pedanterie — man frage nicht 
danach, sondern nach besonderem Sinn für Ordnung und Genauig- 
keit! —, nach übermäßiger Kirchlichkeit, nach Familiensinn, aber 
auch nach starker Reizbarkeit, Jähzorn, Empfindlichkeit und dgl., 
wobei man sich darüber klar sein muß, daß solche Eigenschaften 
gelegentlich auch bei Nichtepileptikern vorkommen. Daß man Der- 
artiges finde, setzt freilich eine sehr eingehende Besprechung der 
Familienverhältnisse voraus, und trotzdem ist das Ergebnis oft recht 
dürftig. Die Sippenangehörigen zu sehen, ist ja leider nur in Aus- 
nahmefällen möglich. 

Im ganzen befriedigt ım Einzelfall das, was wir über erbliche 
Belastung erfahren, keineswegs immer unser Bedürfnis. 


V. Lebenslauf 


Namentlich bei Krampfkranken des mittleren Lebensalters gibt 
der Lebenslauf mehr oder weniger deutlich Hinweise auf die Er- 
krankung und ein Nachlassen der Leistungfähigkeit. Um das fest- 
zustellen, genügt es nicht, den Lebenslauf in großen Zügen aufzu- 
nehmen. Es muß vielmehr eine möglichst genaue chronologische 
Wiedergabe von Schulbesuch, etwaiger Lehrzeit und späteren Stel- 
lungen erstrebt werden. Obwohl gerade die Zeitangaben der Krampf- 
kranken oft recht ungenau sind, versuchen wir stets, wenigstens 
nach Jahren geordnet eine Übersicht zu erhalten, notieren Namen 
und Adressen der Arbeitgeber und fragen, wenn es uns nützlich er- 
scheint, bei diesen nach Leistungen und Verhalten des Probanden 
an. Durch die Berichte erhalten die nüchternen Zahlen Leben, und 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 21 


gelegentlich gewinnt man aus ihnen ein plastisches Bild von der 
allmählichen Wesensveränderung und von der sich bemerkbar 
machenden Demenz. Manchmal, freilich nicht gerade häufig, macht 
sich ein Nachlassen der Leistungen schon in der Schule bemerkbar, 
so daß es möglich wird, auch bei jugendlichen Krampfkranken aus 
den Schulzensuren der verschiedenen Jahre gewisse Schlüsse zu 
ziehen. Später müssen Krampfkranke vielfach ihren Beruf wechseln, 
weil sie durch die Anfälle gefährdet werden, oder sie werden ent- 
lassen, weil dem Arbeitgeber das Risiko zu groß erscheint. 

Selbstverständlich sollte es sein, daß genau nach früheren Krank- 
heiten und Unfällen gefragt wird. Man sollte sich aber nicht mit dem 
begnügen, was man von dem Probanden selbst oder von dessen An- 
gehörigen erfährt, sondern sich nach Möglichkeit objektives Material 
verschaffen. Dafür kommen Krankengeschichten, Arztberichte, 
aber auch Berichte von Augenzeugen in Betracht. Bestehen Zweifel 
an der Richtigkeit der Zeugenaussagen, so halten wir eine richter- 
liche Vernehmung für zweckmäßig, weil der Richter die Möglich- 
keit hat, den Zeugen zu vereidigen. Schon durch den Hinweis auf 
diese Möglichkeit wird im allgemeinen die Zeugenaussage in die 
Richtung des Wahren gedrängt. 


VI. Der körperliche Befund 


Daß jeder Krampfkranke nach allen Richtungen hin auf das aller- 
gründlichste körperlich zu untersuchen ist, ist eine Forderung, über 
die zu sprechen eigentlich nicht nötig sein sollte. Indessen zeigt die 
Erfahrung, daß dieser Forderung keineswegs immer entsprochen 
wird. Wir müssen daher auch diese Frage in aller Kürze streifen. 
Zunächst ist es wichtig, den Körperbautyp zu bestimmen: Wir 
wissen aus den Untersuchungen von Westphal, daB Dysplastiker 
(29,5°%,) und Athletiker (28,9°5) unter den genuinen Epileptikern 
relativ häufig sind; in etwas geringerer Zahl finden wir auch Lepto- 
some (25,1%), während Pykniker selten sind (5,5%). Praktisch 
werden diese Feststellungen, die an rund 1500 Epileptikern gewon- 
nen sind, bei zweifelhaften Fällen einen gewissen Wert haben: pyk- 
nischer Körperbau wird, wobei natürlich das körperliche und 
psychische Gesamt zu berücksichtigen ist, überwiegend gegen, 
athletischer oder dysplastischer Körperbau überwiegend für Epilep- 
sie sprechen. 

Zu prüfen ist weiter die Haut (tuburöse Sklerose), das Gefäß- 
system, insbesondere auch — möglichst wiederholt — der Blutdruck 
(vasocardiale Epilepsie und Anfälle bei essentiellemm Hochdruck), 
der Harn (Urämie, Eklampsie); es ist weiter erforderlich die Be- 


22 Albrecht Langelüddeke 


stimmung des Blutzuckers (hypoglykämische Anfälle) und des 
Blutstatus (Eosinophilie bei Darmparasıten; dann auch Unter- 
suchung auf Wurmeiner). Bei Verdacht auf Tetanie oder tetanoide 
Epilepsie, die nach einer Mitteilung von Sioli gar nicht selten ist, 
sollte auch der Kalkspiegel und die elektrische Errgebarkeit be- 
stimmt werden. Prinzipiell ist eine Röntegnaufnahme des Schädels 
zu machen. 

Der neurologische Befund kann, wie Mauz und Conrad mit Recht 
bemerken, nur im Rahmen des Gesamtbefundes gedeutet werden; 
manche neurologischen Abweichungen können unabhängig von der 
Krampfkrankheit entstehen, andere sind vielleicht als Folge von 
Anfällen aufzufassen. Mit der letztgenannten Möglıchkeit darf man 
m. E. aber auch nicht zu weit gehen. Pupillenstarre z. B. würden 
wir als Folge von Anfällen nicht gelten lassen; sie spicht auch beı 
völlig negativem Liquor im Verein mit Anfällen doch eher für eine 
durchgemachte Lues. Nonne weist in seinem bekannten Werk über 
die Lues des Zentralnervensystems darauf hin, daß Krämpfe ge- 
legentlich das einzige Symptom einer Hirnlues sein können. Wichtig 
erscheinen mir in diesem Zusammenhang die freilich nicht unbe- 
stritten gebliebenen Beobachtungen Carl Schneiders, nach denen die 
Umkehrung der Fingerlängen an einer Hand Ausdruck einer früher 
überstandenen cerebralen Kinderlähmung sein soll. 

Einer besonderen Besprechung bedürfen der Liquorbefund 
und die Encephalographie. Demme hat früher angegeben, dab 
auch bei genuiner Epilepsie mancherleı kleinere Abweichungen von 
der Norm — in seinem Material in 20%, der Fälle — vorkämen. 
Er fand leichte Zellvermehrungen (bis 12/3), Drucksteigerung (bis 
200 mm), erhöhte Eiweißwerte (bis 0,8 Globulin, 1,5 Albumin, 
1,8 Gesamteiweiß) und Eiweißquotienten bis 0,8. Dazu fand er 
auch isolierte Mastixzacken. Noch weiter ist Gaupp jr. gegangen, 
der auch Zellzahlen von 30/3, Erhöhung der Globulinwerte um das 
3—4-fache, der Albuminwerte (im Anschluß an Christiani) um das 
2!1/,-fache, und Zacken in den Kolloidkurven noch der genuinen 
Epilepsie zurechnet. Dagegen hat sich Stauder gewandt, der ebenso 
wie Scheid isolierte Zellvermehrung als vorübergehende Anfalls- 
folge fand, während Zacken in den Kolloidkurven von Scheid als sehr 
verdächtig auf symptomatische Epilepsie angesehen werden. Ge- 
ringe Eiweißanreicherungen sah Stauder nur im Anschluß an An- 
fälle, während Scheid eine isolierte Eiweißvermehrung auch ohne 
vorhergehenden Anfall fand. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt 
auch nach einer persönlichen Mitteilung Riebeling. Im ganzen 
wird man beim gegenwärtigen Stande der Forschung 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 23 


sagen müssen: Jede gröbere Veränderung des Liquors 
ist verdächtig auf die Mitwirkung einer äußeren 
Ursache. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß in solchen Fällen 
die anlagemäßigen Faktoren nicht die Hauptrolle spielen können. 
Das ist von Fall zu Fall unter Würdigung aller Umstände zu ent- 
‘scheiden. 

Das gilt auch für die Encephalographie. Auch hier sind von 
verschiedenen Autoren geringe Seitendifferenzen, leichte Ventrikel- 
erweiterungen, namentlich des 3. Ventrikels, leichte Erweiterungen 

der subarachnoidalen Räume gefunden worden. Gröbere Verände- 
rungen sind u. E. ein Zeichen für die Mitwirkung einer äußeren 
Ursache. Von der Heydt hat bei jedem Epileptiker die Vornahme 
einer Encephalographie gefordert. Das hält Pohlisch mit Recht für 
zu weitgehend; man kommt sicher in einer ganzen Reihe von Fällen 
ohne Encephalographie aus, nämlich einmal bei sicher symptomati- 
schen (wenn es sich hier nicht um die Klärung der Frage handelt, 
welche Ursache eine Rolle spielt) und weiter bei solchen Kran- 
ken, bei denen die erbliche Belastung feststeht. Mag unter ihnen 
einmal ein sonst symptomloser Tumor sich befinden, die Erblich- 
keit würde in solchen Fällen doch stark ins Gewicht fallen. Zweifel- 
los aber ist die Encephalographie in allen irgendwie unklaren Fällen 
ein wichtiges Mittel bei der Diagnosestellung; sie kann von ent- 
scheidender Bedeutung sein. Man darf natürlich aber auch nicht 
in den Fehler verfallen, aus einem normalen Encephalogramm ohne 
‚weiteres auf eine genuine Epilepsie zu schließen. 

Schheßlich noch einige Worte zu den Provokationsmethoden! 
Geübt werden zur Zeit der Wasserstoffversuch kombiniert mit 
Tonephin oder Pitressin und der Cardıiazolversuch. Spezifisch für 
genuine Epilepsie ist keiner der beiden Versuche; es ist auch in 
Zukunft nicht zu erwarten, daß ein Mittel gefunden werde, mit dem 
man nur bei genuiner Epilepsie Krämpfe auslösen kann. Denn der 
epileptiforme Anfall ist eine „allgemein-menschliche Reaktions- 
form‘*‘, wie Joh. Lange sagt. Obwohl von Scholz, Bostroem und ande- 
ren Bedenken geäußert sind, sind wir der Ansicht, daß diese Ver- 
suche gar nicht selten bei der Diagnose helfen können. Freilich 
sind sie nur im Zusammenhange mit der Gesamtsymptomatik zu 
werten, und sie gehören in die Hand des erfahrenen Fach- 
arztes. Ähnlich denken Langsteiner und Stiefler, v. Steinau-Stein- 
rück und andere!). 

t) Neuerdings hat Nachtsheim bei Versuchen an krampfbereiten und nicht 


krampfbereiten Kaninchen die von uns am Menschen getroffenen Feststellungen 
ım wesentlichen bestätigt. 


24 Albrecht Langelüddeke 


VII. Der psychische Befund 


Mit Bumke unterscheiden wir zwischen Wesensveränderung und 
Demenz, wobei wir betonen, daß eine scharfe Unterscheidung 
nicht immer möglich ist. Die Demenz erblicken wir in Störungen des 
Gedächtnisses, im Nachlassen der Merkfähigkeit und in einer sich 


allmählich bemerkbar machenden Urteilsschwäche und fassen sie 


als Folge von Anfällen auf. Derartige Störungen lassen sich in der 
Regel bei den ungünstig verlaufenden Krankheitsfällen nachweisen, 
und zwar sowohl bei den genuinen wie bei den symptomatischen 
Fällen; kennzeichend für die genuine Form ist jedenfalls die 
Demenz nicht (Stauder). Wichtiger ist der Nachweis der epileptischen 
„Wesensveränderung‘. Dabei ist zu fragen, ob es sich um eine wirk- 
liche Veränderung — vom Nichtepileptischen zum Epileptischen 
hin — handelt, oder ob nicht schon von vornherein eine gewisse 
Persönlichkeitsartung vorliegt, die sich im Laufe der Erkrankung 


—_ 


nur verstärkt. Mauz fand in den Sippen von Epileptikern auch bei - 
Gesunden gar nicht selten die psychischen Merkmale der Epilepsie 


angedeutet (ähnlich Stauder); wir werden also damit rechnen müs- 
sen, daß beide Möglichkeiten vorkommen. Für die Diagnose des Ein- 
zelfalles ist das freilich gleichgültig. Denn wenn sich die Wesens- 
merkmale der Epilepsie verbunden mit epileptiformen Anfällen 
nachweissen lassen, so werden sich hieraus weltgenende Schlüsse 
ziehen lassen. 


Von den zahlreichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die 
früher als spezifisch für den Epileptiker angesehen wurden, hat sich 


- pmi 


nach den neueren Untersuchungen eigentlich nur eines behaupten 


können: Das Haftsyndrom. Dieses bestimmt wesentlich die von 
Mauz als Kerngruppe herausgearbeitete enechetische Konstitution, 
und nach Stauder ist die Perseveration der ‚elementare Ausdruck 
der epileptischen Wesensveränderung‘‘. Zum Haftsyndrom gehört 
„die Erschwerung und Verlangsamung aller psychischen Vorgänge“ 
und die ‚fortschreitende Verarmung des Denkstoffes“‘ (Bumke). 


Es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier all das aufzuzählen, was 
sich um dieses Syndrom gruppiert; wir verweisen in dieser Bezie- 
hung aufdie neueren Lehrbücher. Für den Erfahrenen ist die Wesens- 
änderung, sofern sie nur einigermaßen deutlich ist, ohne Schwie- 
rigkeit zu erkennen. Bei beginnender Erkrankung kann jedoch der 
Nachweis des Syndroms schwer, ja ohne besondere Hilfsmittel un- 


ei ga 


möglich sein. Hier setzt die früher stark überschätzte, später aber | 
zu Unrecht verlästerte experimentelle Psychologie ein. Stauder 
hat mit dem Rorschachversuch wertvolle Ergebnisse erzielt und mit 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 25 


ihm Zeichen der epileptischen Wesensänderung auch im Beginn der 
Erkrankung nachweisen können. Einzelheiten lassen sich hier natur- 
gemäß nicht wiedergeben. Wir selbst verwenden seit langen Jahren 
den einfachen Assoziationsversuch, der schon früher von verschie- 
denen Autoren, so von Jung, Rittershaus u. a. benutzt wurde. Wir 
fanden bei leichteren Formen epileptischer Wesensänderung eine 
mehr oder weniger deutliche Verlängerung der Reaktionszeiten 
(des wahrscheinlichen Mittels), Haftneigung und zwar sowohl des 
Vorstellungsinhaltes als auch der Reaktionsform und einzelne 
eigenartige definierende Reaktionen, z. B. Hut — Bedeckungsgegen- 
stand, Kuß — Berührungsmittel oder dgl. Ein völlig normaler 
Assoziationsversuch läßt jedenfalls ernste Bedenken gegen die 
Annahme einer erblichen Fallsucht aufkommen. 

Schwierig zu beantworten ist die Frage, ob die Wesensänderung 
ein für die erbliche Fallsucht obligates Symptom darstellt. 
Stauder sagt: „Genuine Epileptiker ohne jedes Zeichen der epilepti- 
schen Wesensänderung gibt es nicht. Auch der jüngste Epileptiker, 
wenn er nur ein paar Anfälle überstanden hat, trägt schon ihre 
ersten Spuren.‘ Weiter behauptet er, daß ‚‚die echte Wesensände- 
rung‘‘ bei rein symptomatischen Epilepsien nicht vorkommt. 
Leider sind seine Behauptungen, die er übrigens an einer späteren 
Stelle wieder einschränkt, nicht unbestritten. Wir selbst verfügen 
nicht über eine hinreichende Zahl von Epileptikern, um eine Nach- 
prüfung mit Nutzen durchführen zu können. Villinger indessen, der 
in Bethel ausgezeichnete Möglichkeiten dafür besitzt, hat uns auf 
eine Anfrage mitgeteilt, daß er die epileptische Wesensänderung auch 
bei sicher rein symptomatischen Formen gefunden habe, und daß es 
erblich Fallsüchtige mit lange bestehenden Erkrankungen gibt, 
bei denen weder eine Wesensänderung noch eine Demenz nachzu- 
weisen sei, auch nicht mit dem Rorschachversuch. 

Diese Feststellungen Villingers sind, wie er selbst sagt, sehr be- 
dauerlich; wären die Ansichten Stauders richtig, so wäre die Lage 
für den Gutachter sehr vereinfacht. Man wird sich allerdings fra- 
gen müssen, ob dieser Widerspruch nicht vorauszusehen war. Wir 
kennen bisher kein psychisches Symptom, das beweisend für eine 
bestimmte Erkrankung wäre. Erst die Trias Körperstatus, psychı- 
scher Befund und Verlauf gibt in ihrem Gesamt die Möglichkeit, dıe 
Diagnose zu stellen. Immerhin ist der Nachweis der Wesensände- 
rung ein sehr wichtiges Kriterium, und die Ausnahmen von der 
Regel dürften ziemlich dünn gesät sein. 

Aus dieser Sachlage ergibt sich die Frage, ob es berechtigt ist, 
die von Mauz unter dem Begriff der kombinierten Defektkonstitu- 


26 Albrecht Langelüddeke 


tionen zusammengefaßten Erkrankungen allgemein der erblichen 
Fallsucht zuzuordnen. Bumke nımmt an, daß es sich bei dieser 
Gruppe nicht um eine Konstitution, „sondern um ein Gemenge 
von ererbten und erworbenen organischen Hirnkrankheiten und von 
allen möglichen psychopathischen Formen‘ handele, in das auch 
einmal eine ererbte Neigung zu Krämpfen mit eingegangen sein 
könne, bei dem die Krampfneigung auch durch eine Mischung ver- 
schiedener Erbfaktoren entstanden sein könne. Diese Gruppe all- 
gemein zur erblichen Fallsucht zu rechnen, scheint uns zu weit 
gegangen; man wird nur die Fälle einordnen müssen, bei denen die 
Wesensmerkmale eben dieses Typs nachzuweisen sind. 

Ein eindeutiges Kriterium ist demnach bei dem jetzigen 
Stande der Forschung die Wesensänderung noch nicht. Ob sie es 
jemals sein kann, muß die Zukunft lehren. 


VIII. Der Verlauf der Erkrankung 


Hier nur wenige Worte! Die erbliche Fallsucht verläuft in der 
Regel progressiv, d. h. die Anfälle werden zunächst wenigstens all- 
mählich häufiger; erst in höherem Alter nimmt ihre Zahl manchmal 
wieder ab. Damit Hand in Hand gehen Wesensänderung und De- 
menz; bei zahlreichen Anfällen fehlen sie nur selten. Krampfkranke 
Jugendliche, bei denen um die Zeit der Pubertät die Krämpfe auf- 
hören, gehören u. E. nur ausnahmsweise zu den erblich Fallsüchtigen. 

Schwierigkeiten machen die sogenannten Gelegenheitskrämpfe 
oder, wie Mauz sie nennt, die iktaffinen Diathesen. Es handelt sich 
fast immer um Jugendliche mit einem Anfall oder einigen wenigen 
Anfällen, die bei besonderen Gelegenheiten auftreten, z. B. nach 
starken körperlichen Beanspruchungen, Hitzeeinwirkung, Alkohol- 
exzessen und dgl. Man wird gerade in diesen Fällen auf das sorg- 
fältigste zu prüfen haben, ob nicht irgendwelche andere Zeichen für 
das Vorliegen einer erblichen Fallsucht sprechen. Die Entscheidung 
ist, da es sich fast stets um Krankheiten handelt, von deren Verlauf 
man nur kurze Strecken übersieht, oft recht schwer und manchmal 
kaum zu treffen; man muß sie daher öfters hinausschieben. 

In manchen Fällen läßt sich aus der Gesamtpersönlichkeit ohne 
Schwierigkeit der Schluß ziehen, daß es sich nicht um erbliche Fall- 
sucht handelt. 


IX. Zusammenfassung 


Beim Rückblick auf das Gesagte wird klar, daß das Streben der 
Forschung auf eine präzisere Fassung und damit auf eine Eın- 
engung des Begriffs ‚„erbliche Fallsucht‘‘ geht. Es fragt sich, ob ein 


— nn nn un rer een. 


Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 27 


solches Streben nicht den Absichten des Gesetzgebers entgegen 
wirkt. Darauf ist zu antworten, daß 1934, als das Gesetz zur Ver- 
hütung erbkranken Nachwuchses in Kraft trat, der Begriff der ‚‚erb- 
lichen Fallsucht‘‘ keineswegs schon wirklich als festumrissen gelten 
konnte. Gerade das Gesetz hat wegen der Folgen, die seine Anwen- 
dung nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Sippe und 
für das gesamte Volk hat, zu zahlreichen Bemühungen in der Rich- 
tung auf saubere Herausarbeitung des Begriffs angeregt. Jeder, der 
als Beisitzer oder Gutachter im Erbgesundheitsverfahren tätig ist, 
wird ohne weiteres wissen, wie nötig solche Einengung war. 

Auf der anderen Seite wird es gerade durch die präzisere Fassung 
des Begriffs leichter, den Einfluß der Vererbung auch dort zu sehen, 
wo bisher die äußere Ursache zu dominieren schien, und es wird 
weiter möglich sein, in einer Reihe solcher Fälle, die Mauz zu den 
kombinierten Defektkonstitutionen rechnet, entweder die spezi- 
fische Komponente nachzuweisen oder aber ihre Zugehörigkeit zur 


‚ erblichen Fallsucht unwahrscheinlich zu machen. 


— 


—— 


me 


Wir haben versucht, die für die Diagnose der erblichen Fallsucht 
wesentlichen Punkte herauszustellen. Es sind: 1. die Art des An- 
falles und der Ausnahmezustände, 2. das Lebensalter, in dem die 
Erkrankung beginnt, 3. die Frage der Erblichkeit, 4. der Lebenslauf, 
3. der körperliche Befund, 6. Wesensänderung und Demenz, 7. der 
Verlauf der Erkrankung. Alle diese Punkte können sachgemäß und 
kritisch eingesetzt, zu einer positiven Bestimmung der erblichen 
Fallsucht im Einzelfall führen. Ihr Wert ist natürlich verschieden: 
außer den Anfällen, die als Voraussetzung für die Diagnose zu gel- 
ten haben, haben m. E. die größte Bedeutung die etwa vorhandene 
spezifische erbliche Belastung, die Wesensänderung und das Lebens- 
alter, in dem die Erkrankung begonnen hat. Daß die übrigen Fak- 
toren (Körperbefund, Lebenslauf, Verlauf der Erkrankung) da- 
neben nicht außer Acht zu lassen sind, daß insbesondere der Körper- 
befund unter Umständen von ausschlaggebender Bedeutung sein 
kann, bedarf nach dem oben Gesagten keiner weiteren Begründung 
mehr. 

Man kann mit einer gewissen Willkür, die jeder Einteilung eines 
Continuums zugrunde liegt, 5 Gruppen bilden: 

1. Gruppe: rein erbliche Fallsucht ohne irgendwie erkennbare 
äußere Ursache. 

2. Gruppe: Äußere Ursache vorhanden, aber mehr oder weniger 
deutliches Überwiegen der erblichen Komponente. 

3. Gruppe: Äußere Ursache und Anlage halten sich ungefähr 
die Waage. 


28 Albrecht Langelüddeke, Die Epilepsiediagnose im Erbgesundheitsverfahren 


4. Gruppe: Überwiegen der äußeren Ursache bei geringer noch 
nachweisbarer Anlage. 

5. Gruppe: Rein äußere Verursachung ohne erkennbare Anlage. 

Das ist ein Schema; unfruchtbar zu machen wären die den beiden 
ersten Gruppen dieses Schemas zugehörigen Kranken. Man könnte 
auch 7 Gruppen aufstellen, wie Villinger es getan hat; indessen 
scheint mir das ziemlich gleichgültig zu sein. Denn Leben erhält 
ein solches Schema erst durch den Arzt, der es benutzt. Nicht das 
Schema ist von Bedeutung; wesentlich ist die Gründlichkeit, mit 
der untersucht wird, das Wahrheitsstreben und das Verantwor- 
tungsgefühl des Arztes, dem unsere Ausführungen als Richtlinien 
für seine oft schwere Entscheidung dienen mögen. 


Schrifttumverzeichnis 


Bergmann, Mschr. Kinderhkde 65, 1936. — Birk, Kinderkrämpfe. Enke, 
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4 


Neue Beiträge 
zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 
Von 
Dr. Dim. T. Dimitrijević, Belgrad 


(Nach den Untersuchungen im Staatsspital für Geisteskrankheiten in Belgrad. 
Direktor: Dr. Ivan Barbot) 


(Eingegangen am 5. Oktober 1938) 


Der sehr geringe Anteil, welchen die progressive Paralyse an der 
Gesamtzahl der syphilitischen Infektionen einnimmt, hat uns be- 
reits durch Jahre hindurch gezeigt, daß für deren Auftreten außer 
der Spirocheteninfektion auch noch andere Umstände mithelfen. 
Welche diese Umstände sind und worin sie bestehen, war der Gegen- 
stand vieler Untersuchungen, doch ist es keiner von diesen gelungen, 
sie vollkommen aufzudecken. So ist es noch heute unbekannt, ob 
es im Grunde nur eine besondere Art des syphilitischen Virus ist, 
die eine besondere Neigung zu den Nervenzentren haben dürfte, 
oder ob der Grund dazu in der Konstitution der betreffenden Indi- 
viduen und in der besonderen Widerstandskraft, welche ihr Nerven- 
system dem Virus gegenüber an den Tag legt, zu suchen ist. Viele 
Ergebnisse, die besonders in der letzten Zeit erzielt wurden, sprechen 
dessen ungeachtet mehr für diese zweite Möglichkeit, indem sie 
gleichzeitig auf das Komplizierte dieser individuellen Bedingungen 
hinweisen, welche größtenteils außerhalb des Organismus liegen. 

Aber außer diesen individuellen Unterschieden sind auch große 
Unterschiede in der Neigung verschiedener Völker und Rassen zur 
Paralyse zu verzeichnen. Die Untersuchung der Paralyse bei ver- 
schiedenen europäischen und nichteuropäischen Völkern zeigte, 
daß hinsichtlich ihrer Erkrankung laut festgestellten Tatsachen 
bei den Kulturvölkern große Abweichungen bestehen. Die Erklärung 
dafür wurde in der ersten Zeit in den Rasseneigenschaften und in 
der größeren oder geringeren Widerstandsfähigkeit des Nerven- 
systems der syphilitischen Infektion gegenüber gesucht. Je tiefer 
man jedoch in die Untersuchungen dieser Erscheinungen eindrang, 
um so mehr gelangte man zur Einsicht, daß die Sache doch nicht 


30 Dim. T. Dimitrijevic 


so einfach war und daß die Rassenunterschiede nicht die einzige 
Ursache sind. So stellte sich heraus, daß zuweilen auch rassenver- 
wandte Völker einen verschiedenen Prozentsatz paralytischer Er- 
krankungen aufweisen, ebenso wie die Völker, welche den ver- 
schiedenen Rassen angehören. Desgleichen konnte man bemerken, 
daß in einzelnen Ländern, in welchen die Syphilis sehr verbreitet 
ist, die paralytischen Erkrankungen sehr selten auftreten, während 
aus anderen Ländern zugewanderte Personen daran sehr leicht er- 
kranken. Dies alles zeigt uns schließlich, daß die eigentliche Ur- 
sache von sehr komplizierter Natur ist, und daß sie nicht ın den 
Rasseneigentümlichkeiten selbst, sondern vielmehr in den geo- 
graphischen, ethnographischen und kulturellen Verhältnissen, 
unter welchen die einzelnen Völker leben, und welche ihre indivi- 
duellen Eigenschaften beeinflussen, zu suchen sei. 

Das vergleichende Studium der Paralyse bei verschiedenen Völ- 
kern ist eine ziemlich sichere Art der Untersuchung aller dieser 
Unterschiede, sowie auch anderer Fragen, welche sich bei der Para- 
lyse stellen. Diesem Bestreben entsprang eine ganze Reihe sta- 
tistischer und klinischer Arbeiten, welche hinsichtlich der Verbrei- 
tung der Paralyse und der Bedingungen, unter denen sie auftritt. 
sehr wichtige Ergebnisse bieten. Auf Grund zahlreicher Beiträge ge- 
langte man zu einem ziemlich klaren Bilde, auf welche Weise und 
unter welchen Bedingungen diese Krankheit in der Welt auftritt. 

Die Angaben über die Paralyse bei den Südslaven gaben uns 
Glück und Kötschel, denen zufolge die in Bosnien beschriebene Para- 


lyse als eine sehr seltene Krankheit zu betrachten ist. Auf Grund 


ui Denim ii a 
= 


dessen kam man zur Ansicht, daß die Paralyse als eine auf der : 


ganzen Balkanhalbinsel selbst seltene Krankheit zu betrachten sei. 
welche Ansicht auch im Auslande vollauf angenommen wurde. 
Diese Ansicht wurde jedoch schon 1895 seitens Danić und Cvijetic 
verworfen, welche bereits damals gezeigt haben, daß die Paralyse 
vielmehr eine Krankheit sei, welche in Serbien an erster Stelle steht. 
Diese Behauptung fand in neuerer Zeit ihre Bestätigung auch beı 
Vujić, welcher in einer statistischen Übersicht über die Paralyse 


im Krankenhause für Geisteskrankheiten in Belgrad unumstritten 
bewies, daß die Paralyse bei uns keineswegs seltener auftritt, als 


bei den übrigen Völkern und daß der Prozentsatz der Erkrankung 
im Vergleiche zu anderen Geisteskrankheiten beinahe derselbe ist. 
Desgleichen hat auch Prof. Stanojević hervorgehoben, wie sehr die 
Behauptungen von Glück und Kötsche? unrichtig sind und daß die 
Paralyse in den Balkanländern eine ebenso häufige Krankheit ist, 
wie ım übrigen Europa. 


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Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 31 


Obwohl diese Autoren die Unrichtigkeit der Behauptung zur 
Genüge klargelegt und den Irrtum, daß die Paralyse auf dem Bal- 
kan seltener auftritt, widerlegt haben, sind aus ihren Arbeiten 
viele Angaben, die uns über diese Krankheit aus anderen Ländern 
bekannt sind, nicht ersichtlich. Demzufolge erachteten wir es für 
notwendig, durch eine längere Periode hindurch über diese Krank- 
heit zahlreiche Indizien zu sammeln, welche bis jetzt bei uns des 
näheren nicht untersucht wurden. 

Die Angaben, welche wir hier vorlegen, umfassen die Zeit- 
periode vom Jahre 1900 bis 1933, insgesamt also 34 Jahre. 
Während dieser ganzen Zeit wurden einige wichtige Momente 
untersucht, welche man auf Grund der Krankenhausbücher fest- 


Tabelle 1 
Geamt-| Män- Para-| Män- e 05: 1 9: | 95 er 
Jahr ur | ner Frauen lyse | ner Frauen Broze: lien MMI ITF 
1900 | 169 | 109 60 24 20 4 | 14,2 | 11,8 | 2,4 | 18,3 6,6 
1901 | 194 139 55 4h 41 3 | 22,6 | 21,1 | 1,5 | 29,4 5,4 
1902 | 196 | 122 74 34 27 7 | 1417,3 | -13,7 | 3,6 | 22,1 9,1 
1903 | 215 134 81 37 32 5| 17,2 | 14,9 | 2,3 | 23,8 6,1 
1904 | 254 | 183 71 51 45 6 | 20,0 | 17,0 | 3,0 | 24,5 8,6 
1905 | 238 | 166 72 92 42 40 | 21,8 | 17,6 | 4,2 | 21,3 | 12,5. 
1906 | 220 | 154 66 55 46 9 | 25.0 | 20,9 | 4,1 | 29,9 | 13,6 
1907 | 272 | 190 82 64 54 10 | 23,0 | 19,8 | 3,2 | 28,9 | 10,9 
1908 | 273 | 247 16 63 47 16 | 23,4 | 17,1 | 5,3 | 24,1 | 18,7 
1909 | 315 | 193 | 122 73 60 13 | 23,1 | 19,0 | 4,1 | 31,0 | 10,7 
1910 | 281 188 93 86 68 18 | 30,6 | 24,4 | 6,2 | 36,1 | 19,3 
1911 | 360 | 245 | 115 80 62 18 | 22.2 | 17.2 | 5,0 | 25,3 | 15,6 
1912 | 311 204 | 107 83 69 144 | 26,6 | 22,1 | 4,5 | 33,8 | 13,0 
1913 | 426 | 298 | 128 73 62 11 | 17,1 | 14,5 | 2,6 | 20,8 8,5 
1914 | 297 197 | 100 64 54 10 | 21,6 | 18,2 | 3,4 | 27,4 | 10,0 
1915 | 15: 107 46 25 21 4 | 16,3 | 13,7 | 2,6 | 19,6 8,6 
1916 | 325 | 225 | 100 18 14 4 5,9 4,3 | 1,2 6,2 4,0 
1917 | 255 | 170 85 20 12 8 7.8 4,7 | 3,1 7.0 9,4 
1918 | 215 | 131 84 16 13 3 7,8 6.0 | 1.8 9,8 3,5 
1919 | 504 | 308 | 196 56 44 12 | 11,1 8,5 | 2,6 | 14,1 6,2 
1920 | 646 | 386 | 260 36 | 46 20 5,6 2,4 | 3,2 3,9 8,1 
1921 | 632 | 325 | 307 57 A) 14 8,6 6,3 | 2,3 | 12,3 4,5 
1922 | 369 | 233 | 136 39 32 7 | 10,8 8,7 | 2,4 | 13.8 5,1 
1923 | 398 | 266 | 132 57 46 41 | 14,3 | 11,5 | 2,8 | 17,3 8,3 
1924 | 487 336 | 154 37 14 51 | 10,4 7.2 | 3,2 | 11,0 9,2 
1925 | 499 | 318 | 181 92 12 20 | 18,4 | 14,6 | 3,8 | 22,4 | 11,0 
1926 | 478 | 308 | 170 58 43 15 | 12,1 8,9 | 3,2 | 13,9 8,8 
1927 | 509 | 323 | 186 86 58 28 | 16,9 | 11,3 | 5,6 | 14,7 | 15,0 
1928 | 643 | 430 | 213 | 212 81 31 | 17,4 | 12,6 | 4,8 | 18,8 | 14,0 
1929 | 529 | 345 | 184 79 56 23 | 14,9 | 10,5 | 4,4 | 16,2 | 12,4 
1930 | 521 334 | 187 93 67 26 | 17.8 | 12,8 | 5,0 | 20,0 | 13,3 
1931 | 405 | 275 | 130 78 59 19 | 19,2 | 14,5 | 4,7 | 21,4 | 14,6 
1932 | 373 | 238 | 135 59 42 17 | 15,9 | 11,2 | 4,7 | 17,6 | 12,5 
1933 | 451 285 | 166 84 58 26 | 48,6 | 12,5 | 5,8 | 20,3 | 15,6 


~ 
~- 


32 Dim. T. Dimitrijević 


stellen konnte. So wurde an erster Stelle untersucht, wie oft und 
in welchem Verhältnisse zu den übrigen Geisteskrankheiten die 
Paralyse vertreten war. Die Tabelle 1, in welcher diese Beziehungen 
für die ganze Zeit der Untersuchungsperiode dargestellt wurde, 
zeigt uns ihre absolute und relative Zahl den übrigen Geisteskrank- 
heiten gegenüber. Desgleichen sind darin die Angaben gesondert 
für Männer und gesondert für Frauen angeführt; ‘auch finden wir 
darin den Prozentsatz der Paralyse bei Männern gegenüber der 
gesamten Aufnahmezahl der Männer und den Prozentsatz der 
Paralyse bei Frauen gegenüber der gesamten Aufnahmezahl von 
Frauen. 

Aus dieser Tabelle ist vor allem ersichtlich, daß der Prozentsatz 
der Paralyse schon in den Vorkriegsjahren ein ziemlich großer war 
und daß er sich zwischen 14,2% im Jahre 1900 (niedrigster Wert) 
und 30,6% im Jahre 19140 (höchster Wert) bewegte. Die übrigen 
Jahre zeigen uns Prozentsätze, welche sich zwischen diesen zwei 
Extremen bewegen und welche für das Jahr 1902 17,3%, für 1903 
17,2%, für 1904 20,0°,, für 1905 21,8°%,, für 1906 25,0°% und über 
20,0% für die übrigen Jahre ergaben. Die Durchschnittshöhe dieser 
Prozentsätze während der ersten 15 Jahre betrug 20,7°,, seit 1900 
ständig zunehmend, so daß sie im Jahre 1910 ihren Höhepunkt 
von 30,6% erreichten, um dann neuerdings zu sinken. Seit 1915 
fiel dieser Prozentsatz rasch auf 16,3% und im Jahre 1916 sogar 
auf 5,5°,, dieselben Werte auch in den nachfolgenden Jahren bei- 
behaltend: 7,8°, für 1917, 7,8% für 1918, 11,1% für 1919, 5,65°, 
für 1920 und 8,6% für 1921, also durchschnittlich 8,9%. 

Seit 1922 beginnt wieder ein leichtes Steigen dieses Prozent- 
satzes, welcher jedoch in keinem einzigen Jahre 20°, erreichte 
und sich während dieser ganzen Zeit im Durchschnittswerte von 
15,5% bewegte, die Vorkriegshöhe nicht erreichend. 

Wenn wir die ganze Reihe von Prozentsätzen in Augenschein 
nehmen, so sehen wir, daß wir darin drei verschiedene Perioden 
unterscheiden können. 

Die erste Periode von 1900 bis 1914 zeigte die höchsten Prozent- 
sätze mit einem Durchschnittswerte von 21,7%. Die zweite Periode, 
welche hauptsächlich ın die Zeit des Weltkrieges fällt und die Jahre 
1915 bis 1921 umfaßt, zeigte ein rapides Sinken der Paralyse, 
welche von der Durchschnittszahl 21,7°, in der ersten Periode 
auf 8,9%, sank. Und endlich die dritte Periode von 1922 bis 1933, 
ın welcher die Zahl der angenommenen Paralysekranken wiederun 
stieg, jedoch mit ihren Werten unter 20°, und der Durchschnitts- 


3 
E 


zahl von 15,5°, die Vorkriegshöhe nicht erreichte. 


PER Son 2 on m ara en me ame on A 32.2 302. a a e - Enge 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 33 


Tabelle 2 


D 
1900—1914 1915—1921 1921—1933 


Diese Schwankungen der progressiven Paralyse im Krankenhause 
für Geisteskrankheiten in Belgrad zeigen uns gewisse Eigentüm- 
lichkeiten, mit welchen wir uns besonders befassen müssen. Ver- 
glichen mit den Daten bei anderen Völkern, zeigen sie augenfällige 
Abweichungen, besonders hinsichtlich der Unterschiede in den 


einzelnen Zeitperioden während und nach dem Kriege. So sehen 


wir vor allem, daß beim Vergleiche der ersten Zeitabschnitte mit 


den veröffentlichten Daten über die Paralyse während derselben 


Periode im Auslande, insbesondere in den europäischen Ländern, 
keine besonderen Unterschiede zu bemerken sind. Das ständige 
Steigen der progressiven Paralyse im Laufe des letzten Jahrhun- 
derts erreichte gegen 1910 bei der Mehrzahl der europäischen 
Völkerschaften ihren Höhepunkt. So nach Mönckemöller, während 
die Zahl der Paralyseerkrankungen in den Jahren 1855 bis 1882 


zwischen 3% und 9%, schwankte, stieg diese Zahl seit 1901 bis 1909 


auf 12°, bis 17%. Eine ähnliche Zunahme der Paralyse fand Alt- 
haus in England, wo die Zahl der Paralytiker in der Zeit von 1828 
bis 1842 und 1867 bis 1881 von 12,61% auf 18,91% stieg. 


Unser Prozentsatz, welchen wir in der ersten Zeitperiode von 


1900 bis 1914 fanden, übertrifft diese Prozentsätze und stimmt 


am meisten mit den Prozentsätzen von Junius und Arndt überein, 
welche in vierjährigen Abständen von 1892 bıs 1902 annähernd 
dieselben Zahlen fanden, wie auch mit den Prozentsätzen von 
Dubel, bei dem dieser Prozentsatz annähernd bei 20% anhıelt. 
Demzufolge ist unser Durchschnittsprozentsatz in diesem Zeit- 
abschnitte bedeutend größer als der von Araepelin, welcher auf 
3 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 114. H. 1/2. 


34 Dim. T. Dimitrijević 


Grund seines Materials in München in den Jahren 1904 bis 1913 
12,3% für männliche und 8,1% für weibliche Patienten fand, und 
insbesondere unterscheidet er sich vom Befunde Süßmanns, welcher 
für Kiel in der Zeit von 1902 bis 1908 Zahlen feststellte, welche 
zwischen 14,6% und 7,9% schwankten. 

In der zweiten Periode, welche mit 1915 beginnt und mit 1921 ` 
endet und welche größtenteils in die Kriegsjahre fällt, fanden wir 
ein rapides Sinken der paralytischen Erkrankungen. Dieses Fallen, 
welches bei uns so sehr augenfällig ist, fanden wir in der Literatur 
an keiner anderen Stelle verzeichnet. Ruzniecka und Andau kon- 
statieren zwar in den Jahren 1918 bis 1921 ebenfalls eine Vermin- 
derung auf 10% gegenüber 21% für 1909 und 18,8% für 1910, 
doch war die Verminderung nicht so rapid, noch war der Unter- 
schied zwischen den Vorkriegs- und den Kriegsjahren ein so großer. 
Und doch sind die Angaben dieser Autoren unseren Daten auch ' 
darin ähnlich, daß nach dem Kriege seit 1922 neuerdings ein 
Steigen beginnt und zwar in denselbem Maßstabe wie bei uns, 
d.h. daß die Prozentsätze von 17,5% für 1926 und 15,6% für 1928 
die Vorkriegshöhe noch nicht erreichen. 

Entgegen diesen Befunden, welche annähernd dieselbe Relation 
aufweisen, bestehen auch andere, aus welchen hervorgeht, daß das 
Auftreten der Paralyse während der Kriegsjahre nicht nur nicht 
im Sınken begriffen war, sondern vielmehr ein Steigen aufwies. 
In einer Statistik über die Paralyse der Irrenanstalten in der Schweiz 
fand Hans Maier, daß die Paralyse gerade in der Periode von 1913 | 
bis 1918 der Vorkriegsperiode gegenüber ein Steigen aufwies, da 
in der Zeit von 1903 bis 1911 der Prozentsatz der Paralyse ein viel 
geringerer war. Seit 1918 fiel die Zahl der Paralyseerkrankungen 
von neuem auf ein Minimum, welches mit Ausnahme des Jahres 
1921, in den Jahren 1919, 1922 und 1923 auf das geringste Mab 
herabging. Desgleichen wies auch die Statistik, welche Victora 
Karel über den Stand der Paralyse im Sanatorium Troppau ver- ' 
öffentlichte, ein Sinken erst seit 1922 auf, was bedeuten soll, daß 
sie bis zu diesem Jahre, also während des Krieges im Steigen be- 
griffen war. Ein ähnliches Fallen der Zahl der Paralysefälle konsta- 
tierten auch andere Autoren, so Herschmann in Wien und Prochazku 
in Prag, welcher im Laufe von sechs Nachkriegs ahren ein bedeu- ; 
tendes Sinken gegenüber den Vor- und Kriegsjahren feststellte. 

In der dritten Periode schließlich, welche mit 1922 beginnt. 
wurde ein wiederholtes Steigen des Aufnahmeprozentsatzes der 
Paralytiker konstatiert, welcher mit einem Durchschnittswerte 
von 15,5% die Zahlen während des Krieges bedeutend übertraf. . 


| 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 35 


Diese Erhöhung der relativen Zahl der Paralysefrequenz in dieser 
Nachkriegsperiode erreicht jedoch nicht diejenige der Vorkriegs- 
jahre, so daß sie im Vergleiche mit diesen letzteren trotzdem ein 
Fallen bedeutet. Die Prozentsätze dieser Periode entsprechen an- 
nähernd den Prozentsätzen, welche andere Autoren gefunden 
haben, so daß man im Vergleiche mit den Vorkriegsjahren auch 
hier von einem Sinken der Paralyse sprechen kann. Ungewöhnlich 
ist nur das Sinken der Paralyse während der Kriegsjahre, welches 
ın anderen Ländern nicht beobachtet wurde, und welches nur mit 
den Daten, welche für diesen Zeitabschnitt L. Halpern veröffent- 
lichte, gewissermaßen übereinstimmt. Wenn wir nach einer Auf- 
klärung dieser Erscheinung suchen, so werden wir sehen, daß sie 
nicht so schwierig ist, besonders wenn man alle Umstände, welche 
während des Krieges auf die Paralyse einen Einfluß ausübten, in 
Berücksichtigung zieht. So sind insbesondere die Kriegsjahre 1916 
bis 1918, welche auf die Zahl der Paralytiker und deren Frequenz 
im Krankenhause einen bedeutenden Einfluß hatten, als eine große 
Zahl der männlichen Bevölkerung sich während dieser Zeit außer- 
halb des Landes befand, so daß dies auch an der allgemeinen Auf- 
nahmezahl der Paralysen fühlbar werden mußte. Dazu kommt 
auch der Umstand, daß viele Paralytiker, welche sich im Lande be- 
fanden, seltener ins Krankenhaus überführt wurden, in welchem 
fremde Behörden und ausländische Ärzte walteten. Daraus ist klar 
ersichtlich, warum nicht nur die absolute, sondern auch die relative 
Zahl der Paralyse im Vergleiche zu den übrigen Geisteskrankheiten 
vermindert wurde. Wenn wir noch den Umstand hinzufügen, daß 
während dieser Zeit auch viele Ausländer, die hier als österreichische 
Soldaten tätig waren, in der Krankenanstalt in Behandlung lagen, 
so ist es unzweifelhaft, daß die tatsächliche Zahl der Paralytiker 
in dieser Periode eine noch geringere war. 

Neben diesen bestand jedoch noch ein Umstand, welcher für 
die Anzahl der Paralytiker und deren Frequenz nicht ohne Belang 
bleiben konnte. Das sind die großen Epidemien, welche zu 
jener Zeit in Serbien herrschten, an erster Stelle das Auftreten des 
Flecktyphus und des Typhus recurrens. Diese Infektionen, 
unter welchen insbesondere der Flecktyphus sehr verbreitet war, 
verheerten zu jener Zeit die okkupierten Territorien Serbiens, an 
denen eine sehr große Anzahl der Bevölkerung erkrankte. Dem- 
zufolge ist es außer Zweifel, daß diese Infektionen einen gewissen 
Einfluß haben müßten, oder sogar die Ursache des Sinkens der 
Paralyse während der Kriegsjahre sein konnten, als die Zahl der 
Paralyseerkrankungen auf das niedrigste Niveau fiel. 
ge 


36 Dim. T. Dimitrijević 


Die Abnahme der Paralyseerkrankungen nach dem Kriege, welche 
im Vergleiche zur Durchschnittszahl 21,7%, vor dem Kriege, 15,5°, 
ausmachte, entsprach annähernd denselben Verhältnissen, welche 
in anderen europäischen Ländern gefunden wurden. Und doch 
können die Ursachen, die hier eine Rolle spielten, nicht als dieselben 
angesehen werden. Denn während man die Verminderung der 
Krankheitsfälle in anderen Ländern insbesondere der Anwendung 
von Salvarsan zuschrieb, welches bei Syphilitikern in einem großen 
Ausmaße angewendet wurde, konnte das Sinken der Paralyse in 
unserer Statistik diesen oder nur diesen Grund nicht haben. Die 
große Anzahl von Typhusinfektionen mußte auch für die Zahl der 
Paralyse in diesem Zeitabschnitte von Bedeutung sein, obwohl 
etwa nicht in demselben Maße als während der Kriegsjahre. Dies 
um so mehr, als man neben der Einführung von Salvarsan auch 
die Kuren mit Malaria und Malariainfektionen als eine der Ur- 
sachen für die Verringerung der Paralyse nach dem Kriege in an- 
deren europäischen Ländern annimmt und neben den Typhus- 
erkrankungen auch noch Erkrankungen an Malaria bestanden, ob- 
wohl nicht in jenem Ausmaße wie die Erkrankungen an Typhus. 

An dieser Frequenz der Paralyse gegenüber den übrigen Geistes- 
krankheiten nahm die Paralyse bei Frauen einen geringen An- 
teil. Ihr Prozentsatz bewegte sich ım Vergleiche zum allgemeinen 
Prozentsatze der aufgenommenen Paralysen gewöhnlich zwischen 
2 und 3 und nur in einigen Jahren überschritt er diese Zahl. Dabeı 
war es sehr auffallend, daß das Verhältnis der weiblichen Paralysen 
gegenüber den männlichen in der ersten Hälfte der Beobachtungs- 
zeit größer war, als in der zweiten Hälfte. So wurde ausgerechnet, 
daß in den Jahren bis 1915 einer weiblichen Paralyse gegenüber 
mehr männliche Paralysen zu verzeichnen waren, als in den Jahren 
nach diesem Zeitabschnitte. Wenn wir mit dem Jahre 1900 be- 
ginnen, als dieses Verhältnis 5 betrug (Tabelle 3), d. h. auf eine 
weibliche fünf männliche Paralysen kamen, so sehen wir, daß sich 
diese Zahlen später in folgenden Grenzen bewegten: 1901—13,8, 
1903—6,4, 1904—7,5, 1905—4,2 usw. mit einem Durchschnitts- 
werte von 1: 5,4. Seit 1915 änderte sich dieses Verhältnis zugunsten 
der weiblichen Paralysen, welche gegenüber den männlichen ım 
ständigen Steigen waren, so daß im Jahre 1920 auf eine weibliche 
Paralyse 0,7 männliche kamen, d.h. die weiblichen Paralysen 
prozentuall höher waren als die männlichen. Dieses Steigen der 
weiblichen Paralvsen dauerte bis zum letzten Jahre, so daß sıe 
nur im Jahre 1922 noch 4,7 betrug, während sie in den übrigen Jah- 
ren größtenteils unter 3 ausmachte. Demzufolge betrug die Durch- 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 37 


Tabelle 3 

Jahre | Jahre 
1900 5,0% 1916 3.59% 
1901 13,8% 1917 1,5% 
1902 3,8% 1918 4,30, 
1903 6,4% 1919 3,6% 
1904 7,50, 1920 0,7%, 
1905 4,2%, 1921 2,8% 
1906 5,12% 1922 4,29%, 
1907 RR 1923 4:29 
1998 2.39% 1924 2,6% 
1909 4,0%, |=5% 1925 2,9%, | = 28 
1910 3,7% 1926 3,60% 
1911 3,405 1927 2,100 
1912 4,90% 1928 2,6% 
1913 5,6%, 1929 2,4% 
1914 5,49% 1930 2,50%, 
1915 5,2%, 1931 3,1% 

1932 2,4% 

1933 2,2% 


schnittszahl dieses Verhältnisses nach 1915 bis Ende 1933 im ganzen 
2,8, also die Hälfte der Durchschnittszahl bis 1915. 

Diese Erhöhung der weiblichen gegenüber den männlichen Pa- 
ralysen vom Jahre 1915 ist weiter auffallend dadurch, daß sie mit 
dem Kriege zugleich beginnt, so daß sie gerade in die Zeit fällt, 
als die Ziffer der aufgenommenen Paralysen in ihren absoluten und 
relativen Zahlen am geringsten war. Mit Rücksicht auf diesen Um- 
stand könnte man diese Erhöhung der weiblichen gegenüber den 
männlichen Paralysen nur als eine relative Erhöhung infolge der 
verringerten Anzahl der aufgenommenen männlichen Paralysen an- 
sehen. Doch scheint uns eine solche Erklärung nicht genug glaub- 
würdig, nachdem diese ständige Erhöhung auch nach dem Kriege 
andauerte und auch weiterhin in den letzten Jahren bestand, als 
die Aufnahme der Patienten neuerdings sich erhöhte. Der aus- 
gerechnete Prozentsatz für beide Perioden vor und nach dem 
Jahre 1915 betrug 1: 4,1. 

Diese Verhältnisse, welche wir bei der statistischen Durchsicht 
unseres Materials vorgefunden haben, nähern sich am meisten den 
Feststellungen von Kundt in Deggendorf, nach welchen diese Ver- 
hältnisse 1:4,4 betrugen und des Verhältnisses Heilbronners für 
München, der sie mit 1:4 feststellte. Im Vergleiche mit den Sta- 
tıstiken der einzelnen Ländern würde dieses Verhältnis in ihrem 
Durchschnittswerte während der ganzen Beobachtungsdauer am 
meisten den Daten entsprechen, welche in Ungarn festgestellt 
wurden (1: 4,3), während die Durchschnittszahl von 1: 2,8, welche 


38 Dim. T. Dimitrijevie 


wir nach dem Jahre 1915 vorgefunden haben, als die Paralyse be! 


den Frauen eine Erhöhung aufwies, ganz der in Amerika entsprechen 


würde. Desgleichen wurde auch seitens Kolb in Deutschland ein 
Anwachsen der weiblichen gegenüber den männlichen Paralysen 
konstatiert, wo in der Zeitperiode von 1875—1876 und 1914—1916 
eine ähnliche Erhöhung von 1:5,3 auf 1: 3,2 festgestellt wurde. 


So hatte die Paralyse bei den Frauen auch bei uns ein ähnliches 


Verhältnis gegenüber der Paralyse bei den Männern, wie sie in 
den letzten Jahrzehnten in der Mehrzahl der europäischen Staaten 
konstatiert wurde, und dieselbe Steigerungstendenz, welche auch 
dort bestand. 

Und schließlich der letzte Umstand, welchen zu untersuchen wir 
für wertvoll erachteten, war die Frage, in welchem Verhältnisse 
sich die männlichen Paralysen gegenüber der gesam- 


ten Aufnahmezahl männlicher Geisteskranker im Ver- : 


gleiche zum Prozentsatze der Paralyse bei Frauen 
gegenüber der gesamten Aufnahmezahl weiblicher Gei- 
steskranker befand. Um diese Frage lösen zu können, haben 
wir in der Tabelle 1 die Prozentsätze dieser Verhältnisse während 
der ganzen Beobachtungszeit angeführt. Bei dieser Durchsicht 
sehen wir bei männlichen Paralysen, daß deren Prozentsatz sich 
zwischen 36,1% als der höchsten Zahl im Jahre 1910 und 3,9", 
als der niedrigsten Zahl im Jahre 1920 bewegte. Dieser Prozentsatz 
war besonders während der ersten 15 Jahre hoch, und zwar betrug 
er im Jahre 1905 21,3%, während er in den übrigen Jahren diese 
Ziffer ständig überschritt und einen Durchschnittswert von 26,44 °, 
erreichte. Von 1915 bis 1921 entstand ein fühlbares Sinken des 
Prozentsatzes der männlichen paralytischen Erkrankungen gegen- 
über der gesamten Aufnahmezahl der männlichen Patienten, so 
daß neben dem bereits erwähnten niedrigsten Prozentsatze von 
3,9% im Jahre 1920 noch die Prozentsätze von 6,2% für 1916 und 
7,0% für 1917 hinzukommen, welcher Umstand den Durchschnitts- 
wert der früheren Periode von 26,44°, bedeutend erniedrigte 
(auf 10,41°5). Wenn wir in Betracht ziehen, daß diese Periode 
gerade in die Kriegsjahre fiel, während deren sowohl die absoluten, 
als auch die relativen Zahlen der Paralyse rapid fielen, so folgt 
daraus, daß der Prozentsatz der Paralysen nur bei der männlichen 
Bevölkerung für diese Zeit ein ebenso rapides Sinken aufweist. 
Ebenso aber im Vergleiche mit der Erhöhung der allgemeinen 
Paralysezahl nach dem Kriege, trat auch eine Erhöhung von nur 
männlichen Paralysen auf, welche aber mit einer Durchschnitts- 
zahl von 17,28% die Höhe vor dem Kriege nicht erreicht haben. 


en 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 39 


Gegenüber diesen Prozentsätzen des Auftretens männlicher Pa- 
ralysen war der Prozentsatz der weiblichen gegenüber der Gesamt- 
zahl weiblicher Patienten bedeutend verringert. So betrug er gegen- 
über 26,44%, männlicher Paralysen in der ersten Periode nur 11,21% 
gegenüber 10,11% in der zweiten Periode nur 6,3% und gegenüber 
17,2°, in der dritten Periode nur 8,91%, was fast einen zur Hälfte 
kleineren Wert darstellt. Dieses Verhältnis hielt annähernd während 
der ganzen Beobachtungszeit an, so daß sie für alle drei Perioden 
ausgerechnet 17,94% für Männer und 8,88% für Frauen betrug. 
(Tabelle 4.) 


Tabelle 4 
1900—1914 | 1915—1921 1922—1933 1900—1933 


25—30 S 
24,4% 

20—25 

15—20 E 


Er 
SSH. 2 EUAN 17,9%% 
10—15 EHE nn 
"112%, Be 10,1% Bl TIIE 
5—10 oi wung T 8,9% 8,8% 
1— 5 
Männer mm Frauen sr 


Inwieweit diese Regelmäßigkeit im verringerten Prozentsatze 
der weiblichen gegenüber den männlichen Paralysen aufrecht er- 
halten bleibt, zeigt am besten der Umstand, daß der Prozentsatz 
der weiblichen Paralysen in keinem einzigen Jahre größer war, 
als derjenige der männlichen. Desgleichen ist die größere Prozent- 
differenz in der ersten, im Vergleiche mit der zweiten und dritten 
Periode augenfällig, welcher Umstand jedenfalls auf die große 
Anzahl der männlichen Paralysen zurückzuführen ist, nachdem die 
weiblichen Paralysen in der ersten und dritten Periode annähernd 
den Prozenten nach die gleichen waren. 

Diese Beziehung der männlichen zu den männlichen und der 
weiblichen zu den weiblichen Paralysen, welche wir nur noch in 
der Statistik von L. Halpern veröffentlicht vorfanden, zeigt uns 
zweifellos, daß der Prozentsatz der weiblichen Paralysen ım Ver- 
gleiche zu den männlichen ein kleiner ıst und daß die relativen 
Zahlen der weiblichen Paralysen auch dann gering sind, wenn sie 
mit der Gesamtzahl der übrigen weiblichen Geisteskrankheiten ver- 
glichen werden. Daraus ist ersichtlich, daß die Bedingungen für 
paralytische Erkrankungen für Frauen nicht so günstig sind als 


40 Dim. T. Dimitrijevie 


bei Männern, und daß ebenso im kindlichen, wie auch im weib- 
lichem Organismus gewisse biologische Eigenschaften bestehen, 
welche die Entwicklung der syphilitischen Infektionen zu einer 
Paralyse vereiteln. Und obwohl gegenwärtig schwer mit Sicherheit 
zu sagen ist, worin diese Eigenschaften bestehen, ist es interessant 
festzustellen, daß die konstitutionellen Verschiedenheiten an Pa- 
ralyseerkrankungen zwischen Männern und Frauen auf diese Weise 
bei uns auch auf statistischem Wege ihre Bestätigung finden. 

2. Der zweite Umstand, welchen wir in unseren statistischen 
Untersuchungen festzustellen für nötig hielten, ist das Verhältnis 
der Paralyse der städtischen gegenüber der Dorf- 
bevölkerung. Unter die Dorfbevölkerung nahmen wir nur die 
Leute, welche nicht nur auf dem Dorfe geboren, sondern dort 
ständig ansässig waren. Diese Relation, bezüglich des Sinkens 
seit 1900 (Tabelle 5) verfolgend, konnten wir sofort bemerken, daß 


Tabelle 5 
Jahr |Stadt| Dorf |... Jahr \Stadt| Dorf | „,,.| „0 
aur ‚Pla or! | Stadt g a ori | Stadt | Dorf 
1900 | 22 2 |916 | 84 | 197 18 2 | 90.0 | 10,0 
1901 | 40 4 |909| 91| 1918 | 46 o |1000] 00 
1902 | 31 3 |914| 89| 19%9 | 38 | 18 | 679 | 3214 
1903 | 33 4 |891 | 109| 1920 | 15 4 | 789 | 211 
1904 | 44 7 |862| 138| 1921 | 49 5 | 90l 90 
1905 | 46 6 | 884 | 11.6 | 1922 | 34 4 | 890 | 11,0 
1906 49 6 89,0 11,0 1923 42 15 74,0 26,0 
1907 | 59 6 |91] Tal 1924 | 40 | 14 | 875 | 125 
1908 | 55 8 |873 | 127| 1925 | 39 | 19 | 672 | 328 
1909 | 63 | 10 |863| 13.7 | 1927 61 | 34 | 666 | 334 
1910 66 20 76,7 23,3 1927 55 31 63,9 36,1 
1911 61 19 76,2 23,8 1928 71 41 63,3 36,7 
1912 70 13 84,3 15,7 1929 38 41 48,1 51,9 
1913 65 8 89,0 11,0 1930 68 25 73,1 26,9 
1914 57 7 89,0 11,0 1931 47 31 60,2 39,8 
1915 24 1 96,0 4,0 1923 38 21 64,4 35,6 
1916 16 2 88,8 11,2 1933 54 30 63,3| 36,7 


der Prozentsatz der Dorfparalysen ständig größer war. Mit 8,4% 
im Jahre 1900 beginnend wuchs dieser Prozentsatz stufenweise bis 
1909, wo er 13,7% betrug. Im nächsten Jahre 1910 tritt ein ra- 
pider Sprung in diesem Steigen ein, und zwar bis auf 23,3°,, um 
daraufhin im Jahre 1912 sofort auf 15,7°,, ım Jahre 1913 und 
1914 auf 11,0%, im Jahre 1915 auf 4,0% und 1918 auf 0% zu 
sinken. Das Jahr 1919 wies noch ein rapides Steigen von 32,1% 
auf, welcher Prozentsatz mit einer kleinen Unterbrechung in den 
Jahren 1921 und 1922, als er von neuem auf 9% und 11°% sank, 


— 


pam 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 41 


seit dieser Zeit ständig annähernd an derselben Höhe anhielt. Ein 
besonderes Anwachsen der Dorfparalysen hat das Jahr 1929 auf- 
gewiesen, als der Prozentsatz der Paralysen auf dem Lande größer 
war als in der Stadt und 51,9% ausmachte, um sich im Jahre 1930 
auf 26,9°,, im Jahre 1931 auf 39,8°,, im Jahre 1932 auf 35,6°,, 
und im Jahre 1933 auf 36,7°,, zu halten. 

Daraus ist ersichtlich, daß die Anzahl der Dorfparalysen, deren 
Prozentsatz in der Zeitspanne zwischen 1900 und 1909 sich zwischen 
7,9°, als dem kleinsten und 13,7°, als der höchsten Zahl mit einem 
Durchschnittswert von 10,8%, bewegte, ein erstmaliges rapides 
Steigen in den Jahren 1910 und 1911 aufwies, als er auf 23,3%, 
und 23,8%, stieg. Diese Zahl, welche während der Kriegsjahre 
unterbrochen wurde, fand sofort nach dem Kriege im Jahre 1919 
ihre Fortsetzung, um mit einer Unterbrechung in den Jahren 1921 
und 1922 auch weiterhin zu steigen und während der nächsten elf 
Jahre einen Durchschnittswert von 34,8°, aufzuweisen. 

Diese Zahlen zeigen uns ohne Zweifel, wie die progressive Pa- 
ralyse, welche bis 1909 zu 90°,ig eine Erkrankung der Stadtbevöl- 
kerung darstellte, sich sukzessive auf das Dorf erstreckte, wo sie 
mit der Zeit einen immer größeren Teil der Bevölkerung umfaßte. 
Ein großer Aufstieg trat gegen 1909—1910 ein, als die Zahl der 
Dorfparalysen gegenüber denjenigen in der Stadt sich fast ver- 
doppelte. Dieses Anwachsen wurde auch in den nächsten Jahren 
nicht aufgehalten, obwohl es micht dasselbe Verhältnis aufwies, 
was wohl zu verstehen ist, wenn man berücksichtigt, daß es Kriegs- 
jahre waren, während welcher der Zufluß vom Dorfe infolge außer- 
gewöhnlicher Verhältnisse innehalten mußte. Inwieweit das richtig 
ist, beweist am besten der Prozentsatz der Paralyse, als er von 0°, 
im Jahre 1918 gar auf 32,1%, stieg, um hiermit eine Höhe zu er- 
reichen, bis zu welcher er bis dahin noch nie gestiegen ist. Ein be- 
sonderes Anwachsen der Dorfparalysen den Stadtparalysen gegen- 
über weist die dritte Periode auf, während welcher Zeit sich die 
Zahl der Paralysen im Vergleiche mit der Zahl bis zum Jahre 1900 
bedeutend erhöhte und von 10°, auf 34,82 stieg. 

Diese Angaben über die Verbreitung der Paralyse im Dorfe sind 
sehr bemerkenswert, weil sie uns zeigen, wie und in welchem 
Verhältnisse die Paralyse von der städtischen auf die Dorfbevöl- 
kerung sich ausbreitete. Gleichzeitig geben sie uns auch Anregung 
zu einer zweiten Frage, und zwar, was war das, was eine so rasche 
Verbreitung der Paralyse auf dem Lande veranlaßte, wo sie ın 
einer relativ kurzen Zeit der Paralyse der Stadtbevölkerung gegen- 
über einen fast doppelten Prozentsatz einnahm ? Für die Beant- 


42 Dim. T. Dimitrijević 


wortung dieser Frage bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder kam 
die Paralyse auf das Dorf als eine direkte Folge einer größeren Sy- 
philisverbreitung im allgemeinen, oder als Folge eines bis jetzt 
noch unbekannten Faktors Y, worunter Kolb einen ganzen Komplex 
anderer Bedingungen versteht, zufolge derer die Paralyse nur einen 
Teil der Erkrankten befällt. 

Wenn wir hierbei die erste Möglichkeit in Betracht ziehen, so 
werden wir sehen, daß hierfür ein genügender Grund besteht, nach- 
dem die Syphilis der Dorfbewohner tatsächlich einen größeren Um- 
fang annahm. Für diese Annahme sprechen sowohl die unmittel- 
baren Beobachtungen derjenigen, welche mit dem Dorfe in Be- 
rührung kamen, als auch die offiziellen Angaben unserer hygieni- 
schen Anstalten, welche uns anzeigen, daß sich die Zahl der posi- 
tiven Wassermann-Reaktionen in den letzten Jahren auch be- 
deutend erhöhte. Obwohl das Vordringen der Syphilis im Dorfe 
zweifelsohne eine der Hauptursachen für die Vermehrung der 
Paralyse darstellt, ist es doch nicht der einzige Grund hierfür. 
Die Erfahrungen über die Verbreitung der Paralyse in anderen 
Ländern und die Kurven, welche ihre Frequenz aufweisen, sprechen 
zweifellos dafür, daß auch hier dem Faktor Y eine große Bedeutung 
zuzuschreiben ist. Des weiteren muß die rasche Verbreitung oder 
Abnahme der Paralyse in gewissen, bis dahin noch nicht heim- 
gesuchten Ländern, als Folge dieses Faktors angesehen werden 
(Kolb). So konnte es zu einer so raschen Verbreitung der Para- 
lyse unter der Dorfbevölkerung nur infolge einer Erstarkung des 
Faktors Y während dieser Zeit kommen. Worin dieser jedoch be- 
steht, ist vorläufig unmöglich: zu sagen, höchstwahrscheinlich 
kommt er als Folge verschiedenartiger kultureller Einflüsse, welche 
die Stadt auf das Dorf ausübt. Matauschek und Pilz zeigten uns, 
daß die Paralyse in Österreich besonders unter den Offizieren 
Platz griff, die ihr am meisten unterlagen. Eine ähnliche Erklärung 
konnte man wahrscheinlich auch hier annehmen, wo die Paralyse 
unter der Dorfbevölkerung nur diejenigen befiel, welche mit der 
Stadt am öftesten in Verbindung kamen. 

Eine solche Vermehrung der Paralyse auf dem Lande, wovon 
unsere Angaben ein so klares Bild abgeben, beweist keinesfalls. 
daß von ihr alle Gebiete gleichmäßig befallen wurden. Die Er- 
fahrungen aus den bis jetzt bekannten Ländern zeigen uns, daß 
die Angaben aus einem Lande für alle seine Gebiete nicht immer 
die gleichen waren und stellen demzufolge auch die Angaben aus 
Gebieten, welche zum Belgrader Krankenhause für Geisteskranke 
gravitierten, den Stand über die Frequenz der Paralyse im ganzen 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 43 


Lande nicht dar. Besonders geben sie uns kein klares Bild von 
den Gegenden, in welchen die endemische Syphilis herrscht und 
für welche es schon längst bekannt ist, daß sie zur Paralyse einen 
sehr kleinen Prozentsatz abgeben. Diese Gegenden in welche wir 
hier die Gebiete von Nord-Ost-Serbien zählen, sind wegen der 
starken Haut- und den tertiären Veränderungen bekannt, während 
die Nervenformen sehr wenig vertreten sind. So hätten diese dermo- 
tropen Formen vom Faktor Y nur sehr wenig in sich, welcher bei 
ihnen nur sehr wenig ausgedrückt ist und der für das Entstehen 
der Paralyse von wesentlicher Bedeutung ist. Und doch hat diese 
Tatsache von der endemischen Syphilis, welche bei uns beobachtet 
wurde (M. Nešić, Gj. Guelmino, A. Dojmi) auch unsere Angaben 
bestätigt, jedoch nur für die Anfangsperiode der Beobachtungs- 
zeit. Später in der zweiten und dritten Periode begegneten wir 
immer öfter dem Umstande, daß die Dorfparalytiker auch aus 
Gegenden kamen, wo die endemische Lues stark verbreitet war. 
Obwohl eine Aufklärung hierfür auch auf Grund der Angaben, über 
welche wir verfügten, schwer zu geben ist, so ist es doch glaub- 
würdig, daß man diese Fälle als von anderen Gegenden — nicht 
nur aus den endemischen, — eingeschleppte ansehen darf. /lijev, 
welcher die Statistik der progressiven Paralyse in Bulgarien publi- 
zierte, stellte die Hypothese auf, wonach an der Paralyse nur jene 
Menschen erkranken, welche aus Gegenden der endemischen Lues 
kommen, und welche nur gegen die Spirochäte dieser Luesart 
immunisiert, für andere Spirochötenarten, die bei ihnen die Para- 
lyse immer hervorrufen, jedoch empfänglicher macht. Obwohl wir 
die Meinung des bulgarischen Autors schon aus dem Grunde nicht 
annehmen könnten, weil wir wissen, daß an der Paralyse auch Men- 
schen erkranken, welche nicht nur aus Gegenden der endemischen 
Lues herkommen, so hat die Ansicht /lijevs doch etwas Richtiges 
an sich. Es muß nämlich hier nachdrücklich betont werden, daß 
man hier die Paralyse, welche auf Grund des endemischen Lues 
entstanden ist, von der Paralyse, welche infolge von außen her- 
rührender Lues entstanden ist, unterscheiden muß. So würden 
Paralysen aus den Gegenden der endemischen Lues tatsächlich 
nicht als Folge der endemischen, sondern einer anderen Lues auf- 
treten, die aus anderen Gegenden eingeschleppt wurde, und für 
welche die Immunität gegen das endemische Virus keinen Wert 
hatte. 

Auf Grund alles dessen würde die Erhöhung der Zahl der Dorf- 
paralysen aus zwei Faktoren stammen. Einerseits infolge der all- 
gemeinen Verbreitung der Lues, welche in den letzten 15 bis 20 Jah- 


44 Dim. T. Dimitrijević 


ren auf dem Lande einen viel größeren Umfang nahm, und anderer- 
seits infolge des Faktors Y, welcher bei dieser Verbreitung einen ' 
ebenso großen Anteil hatte. Worin jedoch dieser Faktor, welcher 
nach Kolb besonders in Fällen raschen Steigens und Fallens der 
Paralysenanzahl, auftrat, könnte man schwerlich mit Sicherheit 
sagen, nachdem er einen äußerst zusammengesetzten Begriff dar- 
stellt. Wollten wir ihn jedoch mit einem Worte umfassen, so wären 
es die allgemeinen Veränderungen, welche die kulturelle und soziale 
Entwicklung eines Milieus in der biologischen Zusammensetzung 
der Menschen schaffen. Deshalb können wir die Schlußfolgerungen 
der französischen Autoren Sezary und Barbe, daß die rasche Ver- 
breitung der Dorfparalyse in Frankreich als direkte Folge einer 
größeren Verbreitung der Syphilis anzusehen wäre, nicht gänzlich 
annehmen, da sie nicht auch den Faktor Y in Betracht ziehen, 
der mehr oder weniger überall eine gewisse Bedeutung hat. 


3. Was das Lebensalter anbelangt, in welchem die an Para- _ 
lyse Erkrankten ins Krankenhaus traten, konnten wir während 
der ganzen Dauer der Beobachtungszeit keine besonderen Ände- 
rungen bemerken. Wenn wir einen Blick auf die Tabelle 7 werfen, 
werden wir sehen, daß sich die Durchschnittszahl zwischen 38 Jah- | 
ren als der niedrigsten Zahl im Jahre 1915 und 47 Jahren als der 
höchsten Zahl im Jahre 1918 bewegte. Für die übrigen Jahre be- : 
trug diese Zahl gewöhnlich über 40, mit Ausnahme von drei Jahren, . 
während welcher sie unter 40 betrug. 


Tabelle 7 


Jahr | Alter | + % |Krankkeite | Jahr | Alter 

1900 | 43,0 | 19,0 | 79,1 359 1918 | 47,0 | 18,0 | 90,0 424 
1901 | 43,2 | 31,0 | 70,5 141 1918 | 45,9 | 10,0 | 62,5 241 
1902 | 40,9 | 25,0 | 735 | 394 1919 | 44.2 | 34.0 | 60,7 | 224 
1903 | 45,1 | 26,0 | 76,2 265 1920 | 47,0 | 13,0 | 68,4 425 
1904 | 39,5 | 38,0 | 74,5 375 1921 | 44,4 | 32,0 | 59,0 797 
1905 | 43,0 | 38,0 | 73,0 312 1922 | 44,3 | 30,0 | 76,0 123 
1906 | 43,0 | 41,0 | 76,3 319 1923 | 42,5 | 40,0 | 70,1 158 
1907 | 41,7 | 51,0 | 79,0 302 1924 | 43,4 | 40,0 | 68,9 120 
1908 | 40,0 | 47,0 | 88,0 244 1925 | 43,1 | 54,0 | 59,0 100 
1909 | 79,8 | 58,0 | 79,4 304 1926 | 40,0 | 54,0 | 62,0 73 
1910 | 42,0 | 60,0 | 69,0 314 1927 | 42,0 | 73,0 | 65,0 630 
1911 | 41,3 | 58,0 | 72,5 217 1928 | 44,4 | 54,0 | 68,0 115 
1912 | 40,0 | 63,0 | 75,8 190 1929 | 43,9 | 45,0 | 48,0 166 
1913 | 41,8 | 51,0 | 71,0 232 1930 | 41,9 | 46,0 | 59,0 117 
1914 | 42,7 | 47,0 | 73,0 244 1931 | 43,6 | 27,0 | 45,8 145 
1915 | 38,0 | 18,0 | 72,0 237 1932 | 44,4 | 54,0 | 46,3 128 
1916 | 44,0 | 16,0 | 88,8 158 1933 | 43,2 | 41,0 ' 47,9 173 


<- 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 45 


So betrug die Durchschnittszahl der Jahre, in drei Perioden ein- 
geteilt und für jede von diesen besonders ausgerechnet, in der 
Periode 1900 bis 1910 41,4, in der Periode 1913 bis 1921 43,3 und 
ın der Periode 1922 bis 1933 43,05. Daraus ist ersichtlich, daß die 
Paralyse ım ersten Drittel der Beobachtungszeit in etwas jüngeren 
Jahren‘ auftrat als später, als die Durchschnittszahl der Erkran- 
kungen auf 43,3 stieg und auf diesem Niveau mit einem kleinen 
Falle bis zum Ende verblieb. 


Im Prozentsatze ausgerechnet, in welchem die einzelnen Gruppen 
zu je 5 Jahre an der Paralyseerkrankung teilnahmen, sehen wir, 
daß der größte Prozentsatz auf das Alter zwischen 36 und 40 Jahre 
fiel (Tabelle 8). 


Tabelle 8 
Jahre | 26—30 | 31—35 | 36—40 | 41—45 | 46—50 | 51—55 
Prozentsatz....| 8,9%, | 16,70, | 24,70 | 21,5% | 19,6% | 8,9% 


* Hier bewegte sich der Prozentsatz der Paralysis zwischen 24,32% 
und 29,7%, mit einem Durchschnittswerte von 24,7%. Sofort 
nach diesen kamen die Jahre zwischen 41 bis 45, bei welchen der 
Prozentsatz 21,2%, bis 24,7°,, mit einem Durchschnittswerte von 
21,5% war. Die Erscheinnng. daß die Paralyse im Alter zwischen 
36 und 40 Jahren prozentual öfter auftrat, als zwischen dem 41 
und 46 Lebensjahre, ist dem Anscheine nach auf den ersten Blick 
im Widerspruche mit den oben angegebenen Durchschnittsjahren. 
"Dies ist jedoch nicht richtig, weil daraus hervorgeht, daß die Pa- 
 ralyse in den Jahren nach dem 45. Lebensjahre, also in der Periode 
zwischen 46 und 50 Jahren prozentual viel häufiger war, als ın der 
Periode zwischen 31 und 35 Jahren. Ein Blick auf die Tabelle 
zeigt uns, daß er im ersten Falle 19,6°,, also etwas weniger unter 
‚der Zahl von 21,5°, ausmachte, während er für die Jahre 1931 bis 
"1935 bedeutend darunter stand. Die Lebensalter zwischen dem 26. 
und 30. Jahre und zwischen dem 46. und 50. Jahre waren in diesem 
Prozentsatze der Paralyseerkrankung fast annähernd gleich ver- 
treten, nachdem der Prozentsatz im ersten Falle 16,7°, und im 
zweiten Falle 16,6°, ausmachte. Ebenso auch die Perioden zwischen 
dem 26. bis 30. Lebensjahre und zwischen dem 51. und 55. Lebens- 
"jahre, deren Prozentsatz der Erkrankung je 8,9°, ausmachte. Die 
Prozentsätze für die Jahre über dem 55. Lebensjahre und unter 
dem 26. Lebensjahre waren bedeutend niedriger und waren rasch 
im Sinken. Daraus kann man ersehen, daß die Paralyse ın den 


46 Dim. T. Dimitrijević 


| 
älteren Jahren, auch über dem 65. Lebensjahre etwas häufiger war | 
als unter dem 15. Jahre, wo sie prozentual sehr gering war. 

Die weiblichen Paralysen, ausgeschieden aus dieser allgemeiner. | 
Zahl, zeigten darin im Vergleiche zu den männlichen Paralyser 
fast keinen Unterschied. Unterschiede gibt es nur zwischen der | 
minimalen und der maximalen Durchschnittszahl in den Jahren. ' 
in welchen sie auftraten, indem sie bei den Frauen größer waren. | 
so daß die niedrigste Durchschnittszahl im Jahre 1922 37,5 und 
die höchste im Jahre 1926 52,5 betrug. Außerdem wies der Prozent- 
satz der Frauenparalysen hinsichtlich der Lebensjahre im Ver- 
gleiche zu den männlichen Paralysen keine besonderen Unterschiede 
auf und war während der ganzen Zeit fast die gleiche. Auch hier 
wie bei den männlichen Paralysen fiel der Umstand auf, daß dir 
Paralysen unter 30 Jahren sehr selten waren, während sie über 
50 Jahren verhältnismäßig oft auftraten. 

4. Was jedoch die Sterblichkeit an der Paralyse an- 
belangt, worüber wir Angaben auch für die ganze Periode der 
Beobachtungszeit in Prozenten ausgerechnet vorlegen (die Zalıl 
der Verstorbenen in einem Jahre gegenüber der allgemeinen An- 
zahl der Paralytiker), sehen wir, daß sich diese zwischen 90°; al- 
der höchsten Zahl im Jahre 1917 und 45,8%, als der niedrigsten in 
Jahre 1932 bewegten. Wenn wir jedoch versuchen, auch hier dı- 
ganze Zeit in drei Perioden zu teilen, die Vorkriegszeit von 1% 
bis 1914, die Kriegszeit von 1915 bis 1921 und die Nachkriegszeit 
1922 bis 1933, werden wir sehen, daß diese Prozente für jede von 
den drei Perioden ausgerechnet einzeln verschiedene Werte be- 
trugen. So betrug dieser Prozentsatz für die 15 Jahre der Vor- 
kriegszeit 75,4%, für die Kriegszeit 77,6% und für die Nachkriegs- 
zeit 61,4%. Daraus ist die Erhöhung der Mortalität während de: 
Krieges und die Verringerung derselben nach dem Kriege klar er- 
sichtlich. Daß diese Deutung wirklich der Sachlage entspricht 
zeigt uns am besten die Mortalität in den Jahren 1916 und 1917, 
wo sie 88,8°, und 90,0% betrug, also Werte, welche während der ' 
ganzen Zeit weder vorher, noch nachher erreicht wurden. Der 
Grund dieser augenfälligen Mortalität an Paralyse während der 
Kriegsjahre und die nachherige Verringerung derselben lag wohl 
in der ungenügenden Ernährung und Behandlung der Patienten | 
während dieser Zeit in den Krankenanstalten, als hierfür die un- 
günstigsten Verhältnisse herrschten. Desgleichen kam die Ver- 
ringerung der Mortalität nach dem Kriege aus denselben Gründen: 
Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und bessere Be- 
dingungen, in welchen die Patienten sich hinsichtlich der Behand- 


U ara a 


Gel 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 47 


lung und Ernährung befanden. Außerdem aber ist es nicht aus- 
geschlossen, daß der Verringerung der Mortalität besonders in 
der letzten Zeit in einem gewissen Maße auch die Malariabehand- 
lung beitrug, weshalb auch die Mortalität während der letzten 
vier Jahre durchschnittlich auf 49% fiel, also bedeutend unter 
die Durchschnittsmortalität während der Periode nach dem Kriege. 

Und, wenn wir schließlich unsere Angaben hinsichtlich der 
Krankheitsdauer der Paralyse untersuchen, werden wir 
sehen, daß wir hier Werte hatten, welche sich in Vielem sehr unter- 
schieden. In die Berechnung dieser Dauer zählten wir nur jene 
Fälle, welche mit dem Tode endeten, indem wir hierbei nur jene 
Zeit in Betracht zogen, während welcher sich die Patienten im 
Krankenhause befanden und ohne Rücksicht darauf, welche Zeit 
sie zu Hause krank darniederlagen. Wenn wir die Zeit seit 1900 
und weiter auch hier in drei Perioden teilen, sehen wir, daß die 
Krankheitsdauer in der ersten Periode von 1900 bis 1911 mit Aus- 
nahme des Jahres 1901, wo die Krankheit eines Paralytikers durch- 
schnittlich 141 Tage dauerte, immer über 200 und 300 Tage mit 
einem Durchschnittswerte von 302,6 Tagen dauerte. Die zweite 
Periode dieser Zeit von 1912 bis 1923 wies bereits eine kürzere 
Krankheitsdauer auf, worin die Werte unter 200 Tagen bedeutend 
häufiger waren und die Durchschnittszahl 287 Tage betrug. Endlich 
war die Zahl der Tage in der dritten Periode noch kleiner und be- 
trug immer unter 200 Tage und in zwei Fällen sogar unter 100 Tage 
mit einem Durchschnittswerte von 177 Tagen. Diese augenfällige 
Verringerung der Tage im Krankenhause der Kriegsperiode gegen- 
über derjenigen vor dem Kriege und der Periode nach dem Kriege 
gegenüber der Kriegsperiode läßt sich schwer erklären und stammt 
wahrscheinlich von verschiedenen Faktoren her. Sie steht jedoch 
im Widerspruche mit dem bekannten Umstande, daß die Paralysen 
in den letzten Jahrzehnten infolge der Einführung der Malarıa- 
kuren in der Zeit nach dem Kriege mehr chronisch waren und 
demzufolge auch mehr Krankheitstage erforderten. Aus diesem 
Grunde können unsere Angaben über die Verringerung der Krank- 
heitsdauer der Paralyse nicht so gedeutet werden, daß dıe Paralyse 
akuter wurde, sondern eher als Folge anderer Faktoren. Es könnte 
das Krankheitsstadium, in welchem der Patient ins Krankenhaus 
trat, hier eine gewisse Bedeutung haben, und zwar aus dem Grunde, 
weil sie früher ins Krankenhaus traten und demzufolge auch länger 
verblieben, was sowohl für die Kriegsjahre, als auch für die Jahre 
nach dem Kriege galt. 


* * 
* 


48 Dim. T. Dimitrijević 


Diese Angaben über die Bewegung der progressiven Paralyse in 
Serbien vor, während und nach dem Kriege, bieten uns die Mög- 
lichkeit, uns auf Grund derselben ein ziemlich klares Bild von der 
Paralyse in diesem Lande zu schaffen. Desgleichen geben sie uns 
eine gewisse Stütze auch in der Abschätzung des allgemeinen 
Problems der Paralyse gegenüber der Paralyse bei anderen Völkern. 
So ist es unzweifelhaft, daß diese Angaben keine besonderen und 
prinzipiellen Unterschiede gegenüber der Paralyse bei den übrigen 
europäischen Völkern aufweisen, mit welchen sie in vielem sehr 
ähnlich waren. Hierher zählen wir besonders die Häufigkeit der 
Erkrankung an Paralyse gegenüber den übrigen Geisteskrankheiten, 
welche prozentual den in anderen Ländern veröffentlichten An- 
gaben ähnlich waren. Die Unterschiede bestanden nur in den Er- 
krankungsprozenten untereinander in den Vorkriegs-, Kriegs- und 
Nachkriegsjahren, welche gewisse Abweichungen aufwiesen, welche 
in anderen Ländern nicht verzeichnet wurden und welche mehr von 
äußeren Gründen, als von den inneren Bedingungen bei der Be- 
völkerung selbst herrührten. Was jedoch für die Frage des Auf- 
tretens der Paralyse gilt, gilt auch für die übrigen Umstände, welche 
wir untersuchten, mit Ausnahme der Frage über die Mortalität und 
die Krankheitsdauer, welche wir aus den dargelegten Gründen 
nicht genau erfassen konnten. 

Aus all dem ist ersichtlich, daß der Faktor Y, welcher nach Kolb 
bei der Entstehung der Paralyse den Hauptfaktor darstellt, von 
denselben Umständen bedingt war, wie bei den übrigen Völkern. 
Diese Bedingungen aber sind vor allem innere Bedingungen, welche 
in den Individuen selbst bestehen und welche sich in den sozialen 
und Rassengrenzen bewegen. So würde auch die Frage, warum 
in einem Falle die Paralyse auftritt und in anderen nicht, in erster 
Linie von den individuellen Eigenschaften der Persönlichkeit selbst 
und deren Eigenheiten und den Möglichkeiten der Reaktion auf 
das Virus abhängen. Damit wollen wir nicht sagen, daß das Virus 
selbst und seine Eigenschaften keine Bedeutung hätten, was ın 
keinem Falle den tatsächlichen Umständen entsprechen würde. 
Denn auch das Virus mit seinen Eigenschaften ist nichts Ständiges 
und Unveränderliches, sondern vielmehr etwas Individuelles und 
Veränderliches, weil es nur ein Produkt eines Milieus darstellte, 
welches, indem es sich ihm gegenüber assimiliert, gleichzeitig auch 
selbst seinen Einfluß auf es ausübt. Diese Auffassung, welche 
nach Hoche nur die Ansicht ausdrückt, daß die Paralyse tatsächlich 
nur eine besondere klinische Form des Kampfes zwischen den 
Spirochäten und dem menschlichen Organismus darstellt, er- 


ea e oaa EE EE ee au 


Neue Beiträge zur Frage der Paralyse auf dem Balkan 49 


schließt uns gleichzeitig auch den Unterschied zwischen den dermo- 
und neurotropen Reaktionen, worauf auch Hauptmann seine Theorie 
begründete. So ließen sich mit dieser gleichzeitigen Wirkung des 
einen und des anderen Faktors jene anscheinenden Widersprüche 
aufklären, welche wir in den Angaben verschiedener Völker be- 
gegnen und auf Grund deren manche irrtümliche Ansichten auf- 
gestellt wurden. Und in dieser Veränderlichkeit des syphilitischen 
Virus und seiner Beziehung zuden individuellen Eigenschaften 
der befallenen Personen muß aller Wahrscheinlichkeit nach der 
unbekannte Faktor Y eine Rolle spielen, wovon nach Kolb in erster 
Linie das Auftreten der Paralyse abhängig ist. 


Schrifttumverzeichnis 


Danić u. Cvijetić, Duševne bolesti kod Srba. 1895. — V. Vujić, Srpski 
Archiv, 1929, H. 9—10. — L. Stanojević, Med. pregled. 1928. Nr. 3. — L. Sta- 
nojević, Psych. neur. Woch. 1930. II. — Mönckemoller, zit. nach Kraepelin, 
Lehrbuch der Psych. 8. Aufl. — Althaus, zit. nach Kraepelin. — Junius- 
Arndt, zit. nach Kraepelin. — Dubel, H., Zbl. Bd. 53, 47. — E. Kraepelin, 
Lehrbuch d. Psych. 8. Aufl. — Sußmann, zit. nach Kraepelin. — Ruzniecka 
Andau, Zbl. 55, 1141—11. — H. Mayer, Z. Neur. Bd. 95, 1—2. — K. Victora, 
Revue Neur. u. Psych. 1928, Nr. 2. — H. Herschmann, Wien. Med. Woch. 
1928, II. — H. Prohazka, Revue Neur. u. Psych. 1927, Nr.6. — Kundt, 
zit. nach Kraepelin. — Kolb, Z. Neur. Bd. 77. — H. Haplern, Arch. f. Psych. 
Bd. 94, 1—2. — Kolb, Z. Neur. Bd. 96. — Matauschek u. Pilz, Jahrbuch f. 
Psychiatrie, Bd. 23. — M. Nešić, Syphilis u severoistočnoj Srbiji. 4926. — 
Dj. Guelmino, Med. pregled. 1930, VIII. — Hief, Zbl. Bd. 65, 5—6. — Sezary- 
Barbe, Annales de dermatologie. 1931, 2. 


4 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


Das Symptom der Stauungspapille 
und die diagnostische Verwertbarkeit 
in der Neurologie und Psychiatrie 
Von 
Dozent Dr. Hermann Stefan und Dr. Osterloh, Assistent 


(Aus der städt. Nervenklinik Hannover. Chefarzt: Dozent Dr. H. Stefan) 
(Eingegangen am 19. Juni 1939) 


Die Stauungspapille stellt ein wichtiges und häufiges objektives 
Symptom einer Drucksteigerung innerhalb des Schädels dar. Das 


Zustandekommen ist stets durch einen raumbeengenden Prozeß 
zu erklären, gleichgültig, ob nun eine Geschwulst, ein Absceß, | 


Parasiten, eine luische Erkrankung, Hirntuberkeln, Schädel- 
verletzungen, Hypertonie oder Erkrankungen der Zentralge- 
fäße vorliegen. In allen diesen Fällen können Stauungspapillen 
in Erscheinung treten. Es wäre falsch, stets nur einen 
Tumor im Sinn einer Hirngeschwulst als Ursache einer 
Stauungspapilleanzusehen. Die Stauungspapilleist stets ledig- 
lich der Ausdruck eines gesteigerten intrakraniellen Innendrucks. 

Gleich vorweg möchte ich betonen, daß die Beurteilung, ob eine 


nn a eh - 


Stauungspapille vorliegt oder nicht, in erster Linie Angelegenheit , 


des Augenarztes ist. Aber auch der Neurologe muß in der Lage sein, 
bei der ersten Untersuchung unter Umständen eine eindeutige 
Stauungspapille festzustellen. 

So konnte ich bei einer poliklinischen Untersuchung bei einem 
Epileptiker mit nachgewiesenem Zungenbiß feststellen, daß bei 
demselben infolge der von mir erstmalig festgestellten beider- 


seitigen Stauungspapille erheblichen Grades zweifelsfrei ein raum- 


verengender Prozeß und nicht eine genuine Epilepsie vorlag. 


In allen diesen Fällen empfehle ich auf Grund meiner Erfah- | 


rungen, eine Kontrolle durch einen Augenarzt vornehmen zu 
lassen, da erstens die Beurteilung, ob eine Stauungspapille vor- 
liegt oder nicht, Angelegenheit des Augenarztes ist, und weil man 
auf diese Art und Weise sein Urteil bestätigt oder korrigiert sieht. 
Die Stauungspapille stellt eine Schwellung der Papille dar und 
ist zurückzuführen auf ein reines Ödem. Eine vollentwickelte Stau- 


nn 


Va en ol aa EE 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 51 


ungspapille ıst fast stets ohne Schwierigkeiten mit dem Augen- 
spiegel zu diagnostizieren. Wir finden eine Verbreiterung und pilz- 
förmige Vorwölbung des Sehnervenkopfes, die 1—7 Dioptrien be- 
tragen kann. Dazu kommt die Stauung und die Schlängelung der 
Netzhautvenen, die mit den häufig verengten Arterien auf den 
prominenten Sehnervenkopf hinaufklettern. Ferner finden wir 
einen fehlenden spontanen Venenpuls und als Begleiterscheinung 
bei hochgradigsten Drucksteigerungen die Netzhautblutungen. 
Während eine hochgradige Stauungspapille relativ leicht zu diagno- 
stizieren ist, ist die Entscheidung im Beginn einer Stauungs- 
papille, wenn also nur ein geringes Ödem besteht, oft sehr schwie- 
rig. Es ist am zweckmäßigsten, im Beginn einer Stauungspapille 
von einer sog. Papillenschwellung zu sprechen, da es in diesem Au- 
genblick noch nicht möglich ist, eine Neuritis nervi optici von 
einer beginnenden Stauungspapille ganz bestimmt zu trennen. Die 
Differentialdiagnose zwischen einer beginnenden Stauungspapille 
und einer Entzündung des Sehnervenkopfes, also einer Neu- 
ritis nervi optici, ist häufig kaum möglich. Die Entscheidung wird 
unterstützt durch eine Funktionsprüfung, während wir nämlich 
bei der Stauungspapille kaum gröbere Funktionsstörungen im Be- 
ginn vorfinden, wird bei der Neuritis nervi optici meist schon zu 
Beginn ein zentrales Skotom und eine Verschlechterung der zen- 
tralen Sehschärfe, sowie eine Beeinträchtigung des Rot-Grün- 
Sınnes und der Hell-Dunkel-Anpassung beobachtet. Diese Stö- 
rungen können selbst zu optischen Halluzinationen führen. Ich 
denke dabei an eine Kranke, die an einer Neuritis nervi optici er- 
krankt war und die optische Halluzinationen in der Form hatte, 
daß sie Schlangen und farbige Blumen vor sich sah, ohne daß 
dieselben in Wirklichkeit vorhanden waren. Es handelte sich 
zweifellos um optische Halluzinationen. 

Die Differentialdiagnose wird eingehend erörtert von Marche- 
sani!), wenn er schreibt: | 

Bei der Neuritis nervi optici kann unter Umständen eine gleiche Papillen- 
schwellung wie bei der Stauungspapille vorkommen (z. B. multiple Sklerose). 
Zur Differentialdiagnose ist das Verhalten der Funktion heranzuziehen. Was 
wir mit dem Augenspiegel sehen, ist auch bei der Neuritis nur ein lokales 
Odem an der Papille als Nachbarerscheinung des eigentlichen, entzündlichen 
Prozesses. Wir stimmen Rönne zu, ‚‚daß eigentlich alle leichteren und schwe- 
reren Stauungspapillen und Neuritiden allein von einem ödematösen Zustand 
. der Papille herrühren, gleichgültig ob das Augenhintergrundbild in Zusammen- 


hang mit einem Tumor cerebri, einer Schrumpfniere, einer tuberkulösen Men- 
ingitis mit sekundärer interstieller Neuritis oder einer gummösen Sehnerven- 


1) Handbuch der Neurologie, Verlag Springer, 1935. 
4° 


52 


Art des 
Prozesses 


Hydroce- 
phalus 


echte 
Tumoren 


(Tumoren) 


Tuberkel 
(Granu- 
lome) 


Gummen 
(Granu- 
lome) 


Abszess 


Parasiten 


Hermann Stefan 


Differentialdiagnose des 


Allgemeine 
Symptome 


epileptische 
Anfälle 


epileptische 
Anfälle bei 
Sitz im 
Stirnhirn- 
und Schlä- 
fenhirn- 
lappen 

keine Sym- 
ptome 


keine Sym- 
ptome 


keine Sym- 
ptome 


nach Ventri-im  Endsta- 


Stauungs- Kopf- Vagus- Psychisches 
papille schmerz symptome | Verhalten 
nur bei akutinur bei akut|nur bei akut| Abnahme 
entstande-| entstande-| entstande-| der geisti- 
nem nem nem gen Lei- 
stungs- 
fähigkeit 
Hauptsym- Ifast immer |fast immer 
tome sehr 
äufig 
Metastasen |jkann fehlen,|kann fehlen joft nicht keine Sym- 
hängt ab nachzu- ptome 
von der weisen 
Größe 
kann fehlen [fast immer |fast immer |keine Sym- 
ptome 
kann fehlen,|fast immer {oft nicht keine Sym- 
hängt ab nachzu- ptome 
von der weisen 
Größe 
kann fehlen,‚|fast immer |oft nicht 
hängt ab nachzu- keldurch- 
von der weisen bruch Ver- 
Größe wirrungs- 
zustände 
selten fast immer |oft nicht keine Sym- 
nachzu- ptome 
weisen 
selten fast immer |fast immer 


Meningitis 


* nach Max de Crinis. 


dium Ko- 
ma 


keine Sym- |Im Endsta- 


ptome 


dium Ko- 
ma 


+ 
I 


— 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 53 
raumbeengenden Prozesses 


Röntgen 


einfach Luftfüllung Lokalisation 


Verlauf 


Blut | Liquor 


Befund am |Erweiterung |kein Befund |kein Befund |stationär 
Schädel- der Ven- 


knochen, trikel 
Raum- 
beengung 
allgemeine |Deformation |kein bes. meist xan- |zunehmend 
Zeichen der Ventri-] Befund thochrom. 
der Ranm-| kel Eiweiß- 
beengung vermeh- 
rung 
kein Befund |Deformation |kein bes. meist Xan- |zunehmend 
der Ven- Befund thochrom. 
trikel Eiweißver- 
mehrung 
kein Befund [meist ohne |Blutbild der |oft ohne Be-Izunehmend [meist: Basis, 
Befund Tbe. fund Pons, 
Kleinhirn 
kein Befund [meist ohne |WAR + Luesreaktio- [zunehmend meist: Basis 
Befund nen positiv (Pons) 


kein Befund |meist ohne |lseukocytose [wenn Menin-|zunehmend |Stirnhirn, 


Befund Linksver- | gen frei, Schläfen- 
schiebung | ohne Be- hirn 
fund 
kein Befund [meist ohne |Eosinophilie |o. B. unacharakte-IBasis IV. 
Befund ristisch Ventrikel 


kein Befund [meist ohne |Tbc. Lym- |Tpc. klar |zunehmend |Tbc. Basis 


Befund phocytose,| Spinn- die übrigen 

andere weben- uncharak- 
Formen netze u. teristisch 
Leukocy- paral. 
tose Form Leu- 

kocvtose. 

Eiweißver- 

mehrung. 

Zucker- 


abnahme 


54 Hermann Stefan 


entzündung stand. Immer war es das Ödem, welches den ophthalmoskopischen 
Bild entsprach, ohne daß die pathologisch-anatomischen Veränderungen des 
Gewebes distal der Lamina cribrosa die Erscheinungen darbot, die sich unter 
Umständen proximal von dieser feststellen ließen‘. 

Die Papillenschwellung bei der sog. Neuroretinitis nephritica 
bzw. hypertonica ist der echten Stauungspapille gleichzu- 
setzten. Die pathologisch-anatomischen Veränderungen im Seh- 
nerven sind dieselben. Bei der Nephritis sind außerdem in der Regel 
die charakteristischen Veränderungen in der Netzhaut ausgebildet, 
so daß schon rein ophthalmoskopisch eine Unterscheidung möglich 
ist. Im übrigen ist bei Stauungspapille immer an die Möglichkeit. 
einer nephrogenen Ursache zu denken. 


Große Schwierigkeiten kann die Differentialdiagnose zwischen 
Stauungspapillle und gewissen angeborenen Papillen- 
formen (sog. Pseudoneuritis) bereiten. Neben gewissen Einzel- 
heiten, die besonders am binokularen Ophthalmoskop hervor- 
treten, ist auf das eventuelle Bestehen einer Refraktionsanomalıe 
zu achten. Mitunter ist es jedoch nicht möglich, bei einmaliger 
Untersuchung eine sichere Diagnose zu stellen und es muß die 
längere Beobachtung ergeben, ob sich der Zustand verändert 
oder nicht. 


Verschiedene pathologische Zustände am Auge oder deren Resi- 
duen können die Beurteilung der Papille erschweren; so erscheint 
z.B. bei Trübungen der brechenden Medien die Papille 
röter und unscharf begrenzt. 


Zu einer Prominenz der Papille führen auch die sog. Drusen 
des Sehnervenkopfes. Sie bestehen aus hyalinen, oft verkal- 
kenden Einlagerungen in das Papillengewebe. Die Drusen finden 
sich nach Hoeg in ein Drittel der Fälle in sonst anscheinend ganz 
normalen Augen, häufig sind sie jedoch die Folge von Degene- 
rationserscheinungen im Sehnerven im Anschluß an Stauungs- 
papille, Neuritis oder Atrophie. Wie ıch in einigen durch die Sek- 
tion betätigten Fällen zeigen konnte, ist es oft schwer, das Vor- 
liegen eines pathologischen Prozesses auszuschließen. Das Seh- 
vermögen ist durch die Drusenbildung an sich in der Regel nicht 
beeinträchtigt, bei sehr großer Ausdehnung ist jedoch eine rein 
mechanische Schädigung der Nervenfasern möglich (Lauber). 
Meist sind sie multipel vorhanden, wobei einige an der Oberfläche 
vorragen. Sie erscheinen dabei als kleine, helle, stark lichtbre- 
chende Kügelchen, bei oft tieferer Lage können sie jedoch auch 
das Papillengewebe im ganzen vorwölben und ein stauungspapillen- 
artiges Aussehen bedingen. 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 55 


Das Zustandekommen der Stauungspapille ist heute 
noch umstritten. Wir haben verschiedene Theorien, welche uns 
den Mechanismus, der das Ödem zustande kommen läßt, zu er- 
klären versuchen. 


o. Graefe verdanken wir die grundlegende Entdeckung des Zusammenhanges 
der Stauungspapille mit einem im Gehirn sitzenden Krankheitsprozeß über- 
haupt. Nach ihm sollte bei der Erhöhung des intrakraniellen Druckes eine 
Kompression des Sinus cavernosus zustande kommen, die wiederum zu einem 
Stauungsödem im Bereich der Vena ophthalmica führen sollte. Einer mechani- 
schen Stauung im Gebiet der Zentralvene wird auch heute noch von manchen 
(Knape, Deyl, Dupuy-Dutemps) eine wesentliche Bedeutung beigemessen, wo- 
bei Deyl eine Kompression der Vene im Sehnennervenscheidenraum annimmt. 
Gegen diese Erklärung spricht die Erfahrung, daß eine Abflußbehinderung 
in der Zentralvene allein (Venenthrombose, pulsierender Exophthalmus) 
nicht hinreicht, um eine Stauungspapille zu erzeugen. 

Nach einer anderen Erklärung soll: bei raumverengenden Prozessen im 
Schädel der Liquor in den Sehnervenscheidenraum hineingepreßt werden, 
den wir bei der anatomischen Untersuchung häufig ampullenförmig erweitert 
finden. Das Ödem im Sehnerven entsteht nach Schmidt- Rimpler infolge einer 
Durchtränkung von diesem Scheidenhydrops aus, während Manz eine Ab- 
schnürung des Sehnerven annimmt. Größere Bedeutung hat die Theorie von 
Schieck erlangt, die neuerdings auch von seinem Schüler Kyrieleis vertreten 
wurde. Danach sollte der in den Scheidenraum gepreßte Liquor in den peri- 
vacsulären Lymphräumen der Zentralgefäße einen präformierten Ausweg 
finden und entlang dieser Bahn bis in den Hilus der Papille gelangen. Normaler- 
weise sollte sich ein Lymphstrom in umgekehrter Richtung bewegen. 

Andere Autoren fassen den Scheidenhydrops als sekundär entstanden auf 
und vertreten die Meinung, daß das Ödem im Sehnerven vom Gehirn aus 
fortgeleitet ist ( Parinaud, Sourdile, Ullrich, Kampherstein, Best). Nach Pari- 
naud ist das Sehscheidenödem eine Teilerscheinung des Hirnödems, nach 
Sourdile u. a. wird der Sehnerv vom dritten Ventrikel aus, der ja häufig er- 
weitert gefunden wird, durchtränkt, wobei gleichzeitig die Lymphzirkulation 
im Sehnerven behindert wird. 

Auch nach der Theorie von Behr handelt es sich um eine Lymphstauung 
im Opticus, die bei den verschiedenen Formen der Stauungspapille teils aktiv, 
teils passiv zustandekommt. Die Grundlage seiner Theorie bildet die Annahme, 
daß sich normalerweise im Sehnerven beständig von der Papille gegen die 
Schädelhöhle zu (Liquorräume) eine an das Gliafasersystem gebundene Flüssig- 
keitsströmung vollzieht. Bei raumverengenden Prozessen im Schädel kommt 
es zu einer Verlegung der Abflußwege durch Kompression des Sehnerven am 
Eintritt in das Cranium, vor allem durch die dort ausgebildete Durodupli- 
katur. Es soll nach seiner Angabe das Sehnervenödem in scharfer Trennungs- 
linie am Beginn des intrakraniellen Teiles des Opticus aufhören. In ähnlicher 
Weise soll die Stauungspapille durch passive Lymphstauung bei umgeschrie- 
benen Krankheitsprozessen am Canalis opticus (Aneurysma, Turmschädel) 
oder bei orbitalen Affektionen zustande kommen. Bei Allgemeinerkrankungen 
bzw. Blutkrankheiten (Chlorose, Leukämie, Nephritis) bildet aktive Lymph- 
stauung bzw. übermäßiger Austritt der Lymphe die Ursache. 

Eine untergeordnete Bedeutung kommt heute den Entzündungstheorien 
der Stauungspapille zu. Mit diesen Theorien nichts zu tun hat die Tatsache, 


56 Hermann Stefan 


daß auch entzündliche Prozesse im Schädel z. B. eine Meningitis, eine Stauungs- 
papille auslösen können oder daß bei einer Neuritis nervi optici an der Papille 
das Bild der Stauungspapille entstehen kann. 

Auf Grund der eigenen Untersuchungen ist unsere Stellungnahme folgende: 
Der mechanischen Theorie Schiecks müssen wir wichtige Voraussetzungen ab- 
sprechen. Das Ödem im Sehnerven hört nicht an der Eintrittsstelle der Zen- 
tralgefäße in den Opticus auf, sondern reicht nach rückwärts darüber hinaus. 
Das Ödem ist ferner nicht an die perivasculären Lymphscheiden (Bindegewebe) 
gebunden, sondern liegt, wie oben genauer ausgeführt wurde, im nervösen 
Gewebe, wo es zur Erweiterung der Gliakammerrräume kommt. Nur in die 
präformierten Bindegewebsräume könnte ebenfalls der äußere Liquor ein- 
dringen, obwohl auch dies im Gehirn nachweisbar nur in sehr geringem Grade 
der Fall ist. Die Gliakammerräume stehen mit den Liquorräumen überhaupt 
nicht in Verbindung. Der Sehnerv ist bei der Stauungspapille in den knöchernen 
Kanalteil fest hineingepreßt, so daß die Kommunikation des Scheidenraums 
mit den größeren Liquorräumen aufgehoben ist. Der Scheidenhydrops stellt 
eine lokale Bildung dar und findet sich dementsprechend auch bei lokalent- 
standener Stauungspapille. Die Befunde Behrs können wir eingehend bestä- 
tigen, nicht jedoch seine Erklärung des Mechanismus der gestörten Saft- 
strömung im Opticus. Die Durchtränkung des Sehnerven mit Flüssigkeit hört 
nicht am Eintritt in die Schädelhöle auf, sondern findet sich, wie oben aus- 
geführt, in gleicher Weise im intrakraniellen Teil des Opticus und im Gehirn: 
Eine Schnürfurche ist am Sehnerven nicht nur an der Stelle der Duradupli- 
katur, sondern im ganzen Kanalteil ausgebildet, da der Sehnerv dort eben 
nur in beschränktem Maße schwellen kann. Nach unserer Auffassung ist die 
Stauungspapille bzw. die damit verbundene Sehnervenstörung nur eine Teil- 
erscheinung der allgemeinen Hirnschwellung beim Tumor cerebri und anderen 
hirndrucksteigernden Prozessen. Wir nähern uns damit am meisten der Auf- 
fassung von Parinaud. Lokale Faktoren mögen bei der Ausgestaltung des 
Prozesses wohl eine gewisse Rolle spielen, im wesentlichen darf jedoch das 
Problem der Stauungspapille nicht als lokales, nur den Sehnerven betreffendes 
aufgefaßt werden. Wenn wir beim Tumor cerebri und anderen raumbeengenden 
Prozessen das ganze Gehirn geschwollen finden, darf es uns nicht wundern, 
daß der Sehnerv als ein Teil des Gehirns diese Schwellung mitmacht. Es muß 
unsere Aufgabe sein, vor allem die Hirnschwellung in ihren Ursachen zu 
klären. Die Vorgänge dürften sehr kompliziert sein, sie lassen sich jedenfalls 
nicht durch rein mechanische Momente der Liquorstauung und Gefäßstauung 
erklären. Es handelt sich um eine vermehrte Wasserbildung der nervösen Sub- 
stanz, der ein kolloidchemischer Vorgang zugrunde liegt. Die Beziehungen 
zwischen Stauungspapille und Hirnschwellung sind, wie wir an einem sehr 
großen Material nachgewiesen haben, sowohl hinsichtlich der gröberen als 
auch der feineren anatomischen Veränderungen, sehr enge. Ein direkter Zu- 
sarnmenhang zwischen Stauungspapille und Hydrocephalus läßt sich nicht 
nachweisen. Die Stauungspapille ist gleich der Hirnschwellung auf der Seite 
des Tumors stärker ausgebildet, während der dritte Ventrikel umgekehrt meist 
auf der gegenüberliegenden Seite stärker erweitert ist, da der Ventrikel auf 
der Tumorseite komprimiert wird. Die Stauungspapille bei Allgemeinleiden, 
z. B. Urämie, Hypertonie, ist ebenfalls auf eine gleichzeitig bestehende Hirm- 
schwellung zurückzuführen. Die Stauungspapille bei orbitalen Prozessen kann 
als eine lokale Sehnervenschwellung aufgefaßt werden, ebenso wie eine lokale 
Hirnschwellung in Nachbarschaft verschiedener pathologischer Veränderungen 
im Cerebrum vorkommt. 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 57 


Wie in der Einleitung bereits erwähnt worden ist, ist die diagno- 
stische Bedeutung der Stauungspapille in der Neuro- 
logie und Psychiatrie außerordentlich groß. 

Die Beurteilung, ob eine Stauungspapille vorliegt oder nicht, 
ist in erster Linie Angelegenheit des Augenarztes. Daher ergibt 
sich die enge Zusammenarbeit zwischen dem Ophthalmologen und 
dem Neurologen. 

Wenn wir Nervenärzte die Kranken augenspiegeln, so ist in allen 
Fällen notwendig, diese Kranken von dem zuständigen Augenarzt 
endgültig beurteilen zu lassen. Immerhin kommt es vor, daß man 
auch als Neurologe erstmalig eine Stauungspapille oder eine be- 
ginnende Stauungspapille feststellt, die uns den Hinweis gibt auf 
einen raumbeengenden Prozeß im Schädelinnern. 

Aus meiner Erfahrung in der Klinik erwähne ich einige Fälle, 
die infolge unsachgemäßer Voruntersuchungen unter den ver- 
schiedensten Diagnosen gelaufen sind, und bei denen niemals eine 
augenärztliche Untersuchung vorgenommen worden ist. So er- 
innere ich mich an einen Fall, der mit der Diagnose ‚‚schizophrener 
Defektzustand‘“ eingeliefert worden ist, bei dem es sich um einen 
Schläfenlappentumor gehandelt hat, und der als solcher bei der 
Sektion geklärt wurde. 

Fall K. W.: Wegen völliger Verwirrtheit war eine Anamnese vom Patienten 
nicht zu erheben. Die Ehefrau gibt am 12.1. 1939 folgendes an: Am 13. 12. 
1938 hatte er abends nach dem Dienst heftige’Kopfschmerzen. Es blieb des- 
wegen im Bett liegen, ist nicht mehr im Dienst gewesen. Vor etwa 14 Tagen 
hatte er Erbrechen gehabt. Die ganze Zeit über hatte er viel geschlafen. Gestern 
Abend soll er Fieber bekommen haben (nicht gemessen). Er wurde unruhig, 
wollte mit seinem Rad fortfahren. Heute früh stand er auf und ging zu seiner 
Tochter. Dieselbe brachte ihn zum Arzt, der ihn in die Klinik eingewiesen 


hat. Vor zwei Jahren hatte er eine schwere Kopfgrippe gehabt, sonst sei er 
nie ernstlich krank gewesen. 


Körperlicher Befund: 

Mittelgroßer, kräftiger Mann in mäßigem Ernährungs- und Kräftezustand. 
Haut und Schleimhäute sind gut durchblutet. Keine Ödeme, keine Exantheme 
Rachenring o. B. Tonsillen nicht hypertrophiert. Lymphdrüsen nicht pal- 
pabel. Schilddrüse nicht vergrößert. 

Lunge: Grenzen mäßig gut verschieblich. Keine Dämpfungsfiguren. Über- 
all sonorer Klopfschall, keine Rasselgeräusche. 

Herz: Spitzenstoß im 4. bis 5. Interkostalraum. Töne rein. Keine ver- 
dächtigen Geräusche oder Hinweis auf einen Myokardschaden. Puls regel- 
mäßig, gut gefüllt. Blutdruck: 145/90. 

Bauchorgane: Leber und Milz nicht palpabel vergrößert, kein Druckschmerz. 


Neurologischer Befund: 

Flache Kopfform. Keine Nackensteifigkeit. Keine Druck- oder Klopf- 
empfindlichkeit. Die Austrittsstellen des Trigeminus und Occipitalis sind 
nicht druckempfindlich. 


58 Hermann Stefan 


Facialis: Stirnast o. B. Der Mundast wird links weniger innerviert. Die 
Nasolabialfalte ist verstrichen. 

Augen: Bulbi frei beweglich. Corneal- und Conjunktivalreflex sind beider- 
seits stark abgeschwächt, rechts mehr als links. Kein Nystagmus. Die mittel- 
großen und nicht verzogenen Pupillen reagieren etwas langsam bei Licht- 
einfall. Convergenzreaktion abgeschwächt. 

Augenhintergrund: Links: die gelblich-rote Papille ist nicht scharf be- 
grenzt. Keine radiäre Strahlung. Doch ist eine scharfe Prominenz und wall- 
artige Erhöhung festzustellen. Die Gefäße ziehen von der Mitte ansteigend 
über die Grenze und fallen z. T. abknickend zur Retina ab. Rechts: starke 
Prominenz und wallartige Erhöhung der Ränder. Gefäßverlauf: abgeknickt. 
Keine Radiärstrahlung, aber Verwaschenheit der Grenzen. Beiderseits alte 
Stauungspapille. Re = Li. 

Geschmack und Geruch ist nicht zu prüfen. 

Die Zunge wird gerade herausgesteckt, wogt und zittert nicht. Das Gaumen- 
segel wird seitengleich gehoben. Die Sprache ist etwas verwaschen. Keine 
artikulatorischen Störungen. Kein Silbenstolpern. 

Obere Extremitäten: Tonus und Trophik regelrecht. Die grobe Kraft ist 
links etwas herabgesetzt. Die Sehnenreflexe an den Armen sind lebhaft, rechts 
stärker als links auszulösen. Mayerscher Grundgelenkreflex beiderseits positiv. 
Trömner links angedeutet positiv. Stereognosie gestört. Diadochokinese intakt. 
Finger-Nasenversuch gelingt beiderseits sicher. 

Untere Extremitäten: Tonus, Trophik, grobe Kraft erhalten. Patellar- 
und Achillessehnenreflexe rechts = links positiv. Keine Kloni. Adduktoren- 
reflex beiderseits negativ. Keine Pyramidenbahnzeichen. Gordon links an- 
gedeutet positiv. Babinski beiderseits negativ. Oppenheim rechts negativ, 
links fraglich positiv. Knie Hackenversuch sicher. 

Tiefensensibilität gestört. Der Patient macht ungenaue Angaben. 

Romberg: Es besteht eine deutliche Fallneigung nach rechts vorne. 

Gang: sicher. 

Blutbild: 4,46 Mill. Erythrocyten, 8200 Leukocyten, 88% Hämoglobin. 
Index 0,98. 

Das Differentialblutbild zeigt keine Besonderheiten. 

Die Wassermannschen Reaktionen im Biut und Liquor sind sämtlich 
negativ. 

Liquor: Beschaffenheit klar, Pandy: positiv. Nonne Spur. Zellen 7/3. 
Liquorzucker 45 mgr%. Die zweite Liquoruntersuchung ergab: Pandy + +. 
Zellzahl 102/3. 

Gesamteiweiß: 8,3, Globulin 2,3, Albumin: 6,0. Quotient: 0,38. Links- 
ausfall der Mastixreaktion. 

W. wurde zweimal encephalographiert. Bei der ersten Encephalographie 
waren sämtliche Seiten- und Hinterhörner gefüllt, das linke Vorderhorn war 
nicht gefüllt. Bei Wiederholung der Encephalographie ergab sich derselbe 
Befund. 


Psychischer Befund: 

W. ist bei der Untersuchung zeitlich, örtlich und über seine Person voll- 
kommen desorientiert. Der Gedankenablauf ist verlangsamt. Er antwortet auf 
die ihm gestellten Fragen unrichtig und sinnlos. Wahnideen und Sinnes- 
täuschungen sind nicht festzustellen. Das psychische Zustandsbild ist ähnlich 
dem einer Amenz. 

Eine Intelligenzprüfung ist nicht durchzuführen. 


De Ai a N eg 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 59 


Beurteilung Der ganze Verlauf des Krankheitsbildes und der 
klinisch-neurologische Befund bestand in einem amentiaartigen 
Zustandsbild, mit Desorientiertheit, verlangsamtem Ge- 
dankenablauf, Charakterveränderungen, epileptiformen Anfällen 
und den neurologischen Krankheitszeichen, wie Fallneigung nach 
rechts vorne, Stauungspapille beiderseits, spurweise Re- 
flexdifferenz zugunsten der rechten Seite, positiver Gordon rechts 
und positiver Oppenheim rechts, mangelhafte Füllung des linken 
Vorderhorns im Encephalogramm, positive Eiweißreaktion wie 
Pandy: positiv, Nonne: positiv, Zellzahl 102/3, ausgeprägte Links- 
kurve der Mastixreaktion. 

Die gesamten Krankheitsursachen, sowohl die neurologischen, 
als auch die psychischen, ließen an einen raumbeengenden 
Prozeß im Schädelinnern denken. Darum wurde auch der 
Kranke während der klinischen Bobachtungszeit mit Osmotherapie 
dehydriert und behandelt. Eine genaue Lokalisierung zwischen 
Stirnhirn- und Schläfenlappen war jedoch während der 
klinischen Beobachtungszeit nicht durchführbar. 

Infolge zunehmender Hirndrucksymptome trat am 18. 3. 1939 
Exitus ein. 


Ein anderer Fall wurde eingeliefert mit der Diagnose ‚‚genuine Epilepsie‘, 
die genaue neurolog. Untersuchung ergab einen Stirnhirntumor. Bei der 
poliklinischen Untersuchung wurde festgestellt, daß eine doppelseitige Stau- 
ungspapille vorlag. Anfallsverlauf: Aufschreien, Bewußtlosigkeit für die 
Dauer von 3—4 Minuten, unwillkürlicher Urinabgang, tonische und klonische 
Krämpfe an allen Gliedmaßen wurden beobachtet. Die bei ihm erstmalig fest- 
gestellte Stauungspapille wurde augenärztlich bestätigt und war durch eine 
Osmotherapie nicht zu beeinflussen. Die Stauungspapille trat bei dem 
Kranken nicht unmittelbar an den eleptischen Anfall auf, sondern bestand 
ca. 2 Jahre während meiner Beobachtung. 


Es handelt sich zweifellos um einen raumbeengenden Prozeß: 
Hirntumor am Stirnhirnlappen mit generalisierten An- 
fällen. Daß bei genuinen Epileptikern Veränderungen an der Pa- 
pille unmittelbar nach den Anfällen ın Erscheinung treten können, 
wissen wir aus der Beobachtung. Wiederholt habe ıch unmittelbar 
nach epileptischen schweren Insulten kleine Blutungen im Augen- 
hintergrund und eine leichte Prominenz an der Papille be- 
obachten können, die jedoch wieder nach einem Zeitraum von 
2—3 Tagen nach dem Insult vollkommen verschwunden waren. 

Nicht selten kommt es vor, daß Fälle mit der Diagnose „Hy- 
sterie‘‘ eingeliefert werden, bei denen eine genauere neurologische 
Untersuchung zur Diagnose Hirntumor führte. Im folgenden schil- 


60 Hermann Stefan 


dere ich einen ähnlichen Fall: Einweisungsdiagnose: Ver- 
dacht auf Hysterie. 


Fall G.K.: Pat. wird eingeliefert mit der Diagnose Hysterie mit 
hysterischen Anfällen. Die Untersuchung ergab einen Schläfenlappen- 
tumor. 

F. A.: Vater 1921 an Lungentuberkulose gestorben. Mutter lebt, ist angeb- 
lich gesund. Keine Erbkrankheiten in der Familie bekannt. 

E. A.: Keine Kinderkrankheiten gehabt. Mit 6 Jahren in die Schule ge- 
kommen, nicht sitzen geblieben, mittelmäßiger Schüler gewesen. Nach der 
Schulentlassung bei einem Bauern in Arbeit gekommen. Verheiratet seit 1921, 
Ehefrau gesund, 3 Kinder, gesund. 

41927 schwere Lungenentzündung, 10 Wochen im Krankenhaus gelegen, 
sonst keine Krankheiten mehr gehabt. 

Jetzige Erkrankung: März 1939 stark erkältet gewesen, 14 Tage zu Hause 
im Bett gelegen, dann ins Krankenhaus gekommen. Der Arzt stellte Kopf- 
grippe fest. 

Pat. klagt über Schwindel, Kopfschmerzen und Erbrechen. 


Körperlicher Befund: 

AAjähriger Pat. von leptosomem Körperbau, in mäßigem Ernährungszu- 
stand. Haut und Schleimhäute mäßig durchblutet, Zähne defekt. Rachenring 
gerötet. Tonsillen o. B. Schilddrüse nicht vergrößert. Herz und Lunge o. B. 
Blutdruck 135/90 mm Hg. Puls 78 Temperatur 36°. Keine Ödeme. Keine 
Exantheme. Obstipation. 


Neurologischer Befund: 

Der Schädel ist von dolichocephaler Form. Perkussion: Dämpfung über 
dem rechten Stirn- und Schläfenbein. Austrittstellen des Trigeminus beiders. 
druckschmerzhaft. Geruch nicht gestört. 

Augenhintergrund: rechts Stauungspapille, links unscharf. Augen: frei 
beweglich. Keine Ptosis. Kein Nystagmus. Pupillen rund, reagieren ausreichend 
auf Lichteinfall und Nahesehen. Corneal- und Conjunktivalreflexe beiders. po- 
sitiv. Facialis in allen Ästen ungestört. Zunge: frei beweglich, keine Abwei- 
chungen, keine Atrophie, keine fibrillären Zuckungen. 

Obere Extremitäten: Tonus, Trophik, Motilität o. B. Triceps-, Biceps- und 
Radiuspersiostreflexe sind links Spur lebhafter als rechts. Mayer’scher Reflex: 
beiderseits positiv. Trömner: negativ. Finger/Nasenversuch beiderseits sicher. 

Untere Extremitäten: Tonus, Trophik, grobe Kraft Motilität o. B. Patellar- 
und Achillessehnenreflexe sind links lebhafter auszulösen als rechts. Keine 
Kloni. Adduktorenreflex links positiv. Babinski, Gordon, Oppenheim: beider- 
seits negativ. Bauchdeckenreflexe sind rechts abgeschwächt, links positiv. 
Gremasterreflexe links positiv, rechts abgeschwächt. Oberflächensensibilität 
für alle Qualitäten intakt. 


Gang: unsicher. Romberg’scher Versuch: negativ. 

Elekrocardiogramm: Frequenz ca. 110, PQ 0,12 sec R 2 höher als Ri und 
R 3, ST 1 bis ST 3 isoelektrisch abgehend, T 1 bis T 3 positiv. 

Diagnose: normales EKG, kein Anhalt für Herzmuskelschaden oder Co- 
ronarinsuffizienz. 


Augenärztlicher Befund: Rechts: ausgesprochene Stauungspapille von ca. 
3 Dptr. Prominenz, mit Blutungen und vereinzelten Degenerationsherden. 
Links: beginnende Stauungspapille, bis jetzt noch keine wesentliche Promi- 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 61 


nenz, aber deutliches Papillenoedem in der oberen Hälfte, das auf die Netz- 
haut übergreift. 

Encephalographie: Es ist eine geringe Luftmenge eingedrungen. Der rechte 
Seitenventrikel, sowie der 3. Ventrikel lassen sich bei keiner Lagerung dar- 
stellen. Dagegen füllen sich bei verschiedenen Lagerungen nacheinander Vorder- 
hirn, Hinterhorn und Unterhorn. Im ganzen erscheint der linke Seitenven- 
trikel nach links und hinten verschoben. 

Diagnose: Kompression des rechten Seitenventrikels und des 3. Ventrikels, 
Verdrängung des linken Ventrikels nach hinten und links. 


Diagnose: Schläfenlappentumor rechts. 


Umgekehrt kommt es aber vor, daß Stauungspapillen 
verkannt werden. Es kommt vor, daß vom ungeübten Neuro- 
logen jede Prominenz der Stauungspapille verkannt und leichthin 
die Diagnose Hirntumor gestellt wird. 

Mit dem folgenden Fall schildere ich das Krankheitsbild bei 
Frl. H., welche mit der Diagnose ‚Hirntumor‘ eingeliefert worden 
ist, bei der aber eine angeborene Anamalie vorlag und kein Hirn- 
tumor. Diese angeborene Anomalie am Augenhintergrund 
konnte durch den Augenarzt Herrn Dr. Schrader, Hannover, fest- 
gestellt werden. | 


Fall H.E.: Die Pat. wird wegen der Diagnose Hirntumor eingewiesen. 


F. A.: Mutter mit 58 J. an Darmverschlingung gestorben, viel Kopf- 
schmerzen gehabt. 

Vater mit 70 Jahren an Altersschwäche gestorben. 

Die Geschwister der Pat. sind gesund. 

E. A.: Mit 4—5 Jahren Keuchhusten. Seit dem 16. Lebensjahr Magen- 
beschwerden. Brennen im Magen. Schmerzen, die hochsteigen bis zur Mund- 
höhle und nach hinten ausstrahlen, bis zu den Schulterblättern. 

Vor 6 Jahren Radunfall, auf den Kopf gefallen. Rißwunde am Kopf und 
Schlüsselbeinfraktur. Im Anfang wurde Wärme am Kopf schlecht vertragen. 
Das Fenster mußte immer geöffnet sein. Seit 3 Jahren merkt Pat. ein ge- 
wisses Laufen, Stechen und Rieseln am Rücken herunter. Dieses zieht auch 
über den Kopf bis zur Stirn. Kopfschmerzen und Ohrensausen. Manchmal 
schon beim Aufstehen Prickeln in den Füßen. 


Jetzige Beschwerden: In der letzten Zeit Schmerzen im Rücken. 
Dauernde Kopfschmerzen und Schwerhörigkeit. Menses regelmäßig alle 26 
Tage ohne Beschwerden. 


Neurologischer Befund: 

Schädel normal konfiguriert. Keine Druck- oder Klopfschmerzhaftigkeit. 
Nervenaustrittsstellen im Occipitalgebiet nicht druckempfindlich. Augen: frei 
beweglich. Keine Ptosis. Kein Nystagmus. Pupillen mittelweit, rund, reagieren 
prompt und ausgiebig auf Licht und Convergenz. Corneal- und Conjunktival- 
reflexe erhalten. Augenhintergrund: Stauungspapille? Austrittsstellen des Tri- 
geminus nicht druckschmerzhaft. 


Facialis: Mund- und Stirnast werden symmetrisch innerviert. Die Zunge 
wird gerade herausgestreckt, das Gaumensegel gleichmäßig gehoben. Keine 


62 Hermann Stefan 


Abweichungen, keine Atrophie, keine fibrillären Zuckungen. Sprache o. B. 
Schwerhörigkeit rechts. 

Obere Extremitäten: Tonus, Trophik. Motilität nicht gestört. Grobe Kraft 
beiderseits erhalten. Triceps-, Biceps- und Radiusperiostreflexe sind links 
Iebhafter auslösbar als rechts. 

Mayer’scher Reflex: beiderseits positiv. Trömner: negativ. Finger/Nasen- 
versuch gelingt beiders. sicher. Diadochokinese intakt. 

Untere Extremitäten: Tonus, Trophik, Motilität beiderseits erhalten. 
Grobe Kraft gleichmäßig entwickelt. Patellar- und Achillessehnenreflexe sind 
links lebhafter als rechts auslösbar. Keine Kloni. Babinski: beiders. negativ. 
Gordon: links positiv, rechts negativ. Oppenheim: links positiv, rechts negativ. 
Knie/Hackenversuch wird beiderseits sicher ausgeführt. Freies Aufsetzen des 
Rumpfes möglich. Bauchdeckenreflexe in allen Etagen nicht auszulösen. 
Sensibilität für alle Qualitäten intakt. Gang sicher.: Bei Prüfung des Rom- 
berg kein Schwanken. 


Ohrenärztlicher Befund: Alte Mittelohrschwerhörigkeit beiderseits, rechts 
mehr als links. Vestibularis o. B. 

Augenärztlicher Befund: Brechungszustand objektiv bestimmt beiders. 
Normalsichtigkeit. Sehschärfe für die Ferne beiders. = 5/5 für die Nähe 
beiders. Nieden 1 i. 25cm Motilität nicht gestört, Orthophorie. Pupillen 
rechts = links beiders. rund. Licht und Convergenzreaktion prompt. Gesichts- 
feld: periphiere Grenzen für weiß u. Farben normal. Keine zentralen oder 
parazentralen Skotome. Blinder Fleck am Bjerrum-Schirm: rechts normal, 
links leicht vergrößert (Anlage). Vorderer Augenabschnitt: Brechende Medien: 
beiders. o. B. Hintergrund: rechts: ausgesprochene Rötung der Papille bei 
ausgesprochener radiärer Streifung in der angrenzenden Netzhaut. Papillen- 
grenzen jedoch durchaus scharf, keine Prominenz, keine Trübung des Pa- 
pillengewebes, Gefäßtrichter erhalten und exsudatfrei. Kein Unterschied in 
Bezug auf die Gefäßfüllung. Keine Blutungen im Papillengewebe, keine Ge- 
fäßeinscheidungen. Übriger Hintergrund ebenfalls normal. 

links: die Papille zeigt eine deutliche Prominenz von 1,5 bis 2 Dptr. Die 
Begrenzung ist scharf, das Papillengewebe zeigt eine grau-rötliche Farbe, 
jedoch keine diffuse Trübung. Gefäßtrichter erhalten, exsudatfrei. Keine Blu- 
tungen auf der Papille, keine Gefäßeinscheidungen, kein Unterschied in Be- 
zug auf die Gefäßfüllung. Im Papillengewebe zahlreiche graulichweiße, perl- 
mutterartig aussehende Einlagerungen von runder Gestalt. Übriger Hinter- 
grund normal. »Dr. med. Schrader-Hannover «. 

Entscheidend für die Beurteilung des Papillenbefundes ist die Tatsache, 
daß eine Funktionsstörung (weder der Sehschärfe noch des Gesichtsfeldes) 
nicht besteht. 

Rechts handelt es sich meines Erachtens um den geringsten Grad einer 
Pseudoneuritis (Pseudoneuritis rubra s. striata), also um eine klinisch be- 
deutungslose, angeborene Anomalie. 

Links ist die Differentialdiagnose außerordentlich schwer. 

Bei den weißen fleckenförmigen Einlagerungen im Papillengewebe kann 
es sich um ganglioforme Degeneration der marklosen Nervenfasern bei Stauungs- 
papille oder aber um beginnende Drüsenbildung im Sehnervenkopf handeln. 
Weiter ist zu entscheiden, ob eine Stauungspapille oder nur eine Pseudo- 
papillitis vorliegt. Bei dem Fehlen jeder Funktionsstörung, sowie bei dem 
Fehlen von Blutungen und Gefäßeinscheidungen im Bereich der Papille, 
möchte ich hier ebenfalls eine Pseudopapillitis, also eine angeborene Ano- 


EEE a a en A 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 63 


malie annehmen. Die weißen fleckförmigen Einlagerungen möchte ich für 
eine beginnende Drüsenbildung der Papille halten, eine Veränderung, die zu- 
weilen in ganz gesunden Augen gefunden wird und der eine selbständige patho- 
logische Bedeutung zukommt. 

Auf Grund des Augenbefundes besteht also zur Zeit kein Anhaltspunkt 
für einen Hirntumor. Betonen möchte ich nochmals, daß für die Diagnosen- 
stellung das Fehlen jeder Funktionsstörung ausschlaggebend war, eine Kon- 
trolle des Befundes ist unbedingt erforderlich. 

Augenärztlicher Kontrollbefund: Bei H. E. hat sich der Augenbefund gegen- 
über dem letzterhobenen Untersuchungsbefund nicht verändert. 

Die Liquoruntersuchung ergab folgenden Befund: Pandy: negativ. Nonne: 
negativ. Zellzahl: 7/3. Druck nicht erhöht. Die serologischen Reaktionen 
nach Wassermann, Meinicke und Pallida sind negativ. 


Zusammenfassung: Die neurologische und psychiatrische 
Untersuchung hat ergeben, daß kein Hirntumor vorliegt, auch 
keine Stauungspapille, sondern daß es sich um eine angeborene 
Augenhintergrundanomalie handelt. 


Abschließend erwähne ich noch einen Fall, bei dem es sich um 
ausgesprochene Halluzinationen handelte. Die Kranke sah 
Blumen und Schlangen auf sich zukommen. Es handelte sich um 
Halluzinationen optischer Art, so daß der Verdacht einer 
Schizophrenie nach dem Attest des einweisenden Arztes 
naheliegend war. Eine genaue Untersuchung hat ergeben, daß 
die Ursache dieser Halluzinationen jedoch eine Neuritis 
nervi optici beiderseits war, die auch für das Zustande- 
kommen dieser Sinnestäuschungen verantwortlich zu 
machen ist. 


Fall A.K.: Familienanamnese: Angeblich keine Geisteskrankheiten oder 
Tbc. oder Ca. in der Familie. Vater gestorben mit 53 Jahren nach Leisten- 
hernienoperation. Eigene Anamnese: Außer Masern und Keuchhusten als 
Kind einmal ‚‚Kopfgrippe‘“ gehabt. Sie sei deshalb von Dr. Dunkel in das 
Nordstadtkrankenhaus eingewiesen worden. Wann es genau war, kann Pa- 
tientin nicht sagen. — Tonsillen ebenfalls als Kind entfernt, häufig Polypen 
aus der Nase entfernt. — 1932 und 1933 wegen Unterleibsbeschwerden ein 
ganzes Jahr im Krankenhaus Vincenzstift. Dort Unterleiboperation. — 
Jetzige Erkrankung: Seit mehreren Jahren starke Kopfschmerzen, Stirn und 
beide Schläfen befallen. In letzter Zeit stellte sich Erbrechen ein, das meist 
bei den Kopfschmerzenanfällen auftrat. Deswegen ins Vinzenzstift. Von dort 
wegen motorischer Unruhe und Bewußtseinsstörungen hierher überwiesen laut 
Arztbrief. Patient weiß selbst nichts von der Unruhe und hat auch von dem 
Transport nichts gemerkt. Seit ein paar Wochen hat Patientin Sehstörungen, 
Flimmern, Doppelsehen, Schleier vor den Augen, oft auch doppelte Gestalten, 
die in Wirklichkeit garnicht da sind. 


Körperlicher Befund: 25jährige Pat. von asthenischem Körperbau in 
mäßigen Ernährungszustand. Skelett: Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule 
nach rechts. Haut und Schleimhäute gut durchblutet. Rachen o. B. Zunge 
belegt. Zähne: frische Extraktionsstellen, teilweise defekte Molare. Degene- 


64 Hermann Stefan 


rationszeichen: keine. Schilddrüse nicht vergrößert. Lunge: perkutorisch 
o. B., auskultatorisch: leicht verschärftes Atmen links vorn. Herz: Dämpfung 
normal, Töne rein, Aktion regelmäßig. Blutdruck: 115/70 mm Hg. Bauch- 
organe: Bauchdecken weich, Druckschmerz in der Mitte zwischen Nabel und 
Xiphoides. 

Die augenärztliche Untersuchung ergab hochgradige Neuritis 
Nervi optici mit einer Prominenz von 4,3 Dioptrie und etwas we- 
niger rechts. 

Das Blutbild zeigt 3980000 Erythrocyten, 5500 Leukocyten, Hämoglobin 
77%, Färbeindex 0,96. Keine Poikilocytose, Anisocytose. Die Liquorunter- 
suchung ergab: Zellen: 624,3. Nonne und Pandy positiv. Spinnwebgerinnsel 
positiv. Gesamteiweiß 116 mgr%, Zucker 98 mg%. Die serologischen Reak- 
tionen im Blut nach Liquor waren nach Wassermann, Meinicke, Pallida und 
Kahn negativ. 


Neurologischer Befund: 


Mittelgroße Patientin, Schädel von mesocephaler Konfiguration. Die Per- 
kussion des Schädels ergibt normalen Klopfschall. Die Nervenaustrittsstellen 
sind nicht druckschmerzhaft. Der Geruch ist angeblich herabgesetzt. Augen- 
hintergrund: beiderseits verwaschene Papillen im Sinn einer Sehnervenent- 
zündung. Die Augenbewegungen sind frei. Es bestehen Doppelbilder. Nystag- 
mus negativ. Die Pupillen sind rund, mittelweit, reagieren prompt und Licht 
und Konvergenz. Bindehautreflex: rechts positiv, links negativ. Der rechte 
Mundwinkel steht tiefer als der linke. Die Zungenbewegungen sind frei. 


Triceps- und Bicepssehnenreflexe: seitengleich und gut auslösbar. Die grobe 
Kraft ist nicht herabgesetzt. Finger-Nasenversuch- und Diadochokinese: sicher. 
Untere Extremitäten: Trophik, Tonus und Motilität ungestört. Die grobe 
Kraft ist beiderseits gleich gut erhalten. Patellar- und Achillessehennreflexe: 
beiderseits positiv, Adduktorenreflex: beiderseits schwach positiv. Babinski. 
Gordon und Oppenheim beiderseits negativ. Knie-Hackenversuch: beiderseits 
ataktisch. Die Bauchdeckenreflexe sind in den oberen Etagen gut, in der un- 
teren Etage nicht auszulösen. Romberg: positiv. Sprache: langsam, deutlich. 

Psychischer Befund: Die Patientin ist zeitlich, örtlich und persönlich 
orientiert. Es besteht eine leichte Euphorie. Sie gibt an, sie sehe große 
Blumen und Schlangen durch die Luft auf sich zuschweben. 


Diagnose: Optische Halluzinationen infolge Sehnerven- 
kopfentzündung. 


Die Angaben in der Literatur über die Häufigkeit der Stauungs- 
papille bei Hirngeschwülsten sind sehr verschieden. Eine Erklärung 
hierfür ist darin zu erblicken, daß das Material der einzelnen Ver- 
fasser ein verschiedenes ist. Es wurden Prozentzahlen für das Vor- 
kommen von Stauungspapillen bei Hirngeschwülsten erwähnt, 
wobei Gouvers in 80%, Hohthoff in 70%, Oppenheim in 90%, eine 
Stauungspapille bei Hirngeschwülsten fanden. Meines Erachtens 
sind die angegebenen Prozentzahlen etwas zu hoch. In meiner 
Tumorstatistik komme ich insgesamt nur auf 67%. Die Ver- 
schiedenheit dieser Zahlen macht es verständlich, 


M O O S The rn — ie EEE nn EEE Er nn 


Das Symptom d. Stauungspapille u. d. diagnost. Verwertbarkeit usw. 65 


daß zwischen der Stauungspapille und dem Hirntumor 
keinesfalls immer eindeutige Beziehungen erkennbar 
sind. 

Das Auftreten der Stauungspapille hängt meines Er- 
achtens auf Grund meiner Erfahrungen in erster Linie 
ab von der Größe des Tumors bzw. von der Schwere des 
raumbeengenden Prozesses und von der Lokalisation 
der raumbeengenden Erkrankung. Im allgemeinen kann 
man sagen, daß beı den Geschwülsten der hinteren Schädelgrube 
häufig und dann auch bei relativ kleinem Umfang des Prozesses 
es zu einer Stauungspapille kommen kann, während wir selbst 
bei erheblichen Stirngeschwülsten in einem viel geringeren Pro- 
zentsatz die Stauungspapille beobachten können. 

Das Zustandekommen der Stauungspapille bei Geschwülsten in 
der hinteren Schädelgrube führt nachweislich durch Abflußbehin- 
derung der Hirnflüssigkeit ım Aquäductus Sylvii zur Entwicklung 
eines Hydrocephalus internus und damit zu einer im Röntgenbild 
nachweisbaren Erweiterung des Ventrikelsystems und infolge der 
allgemeinen Inne ndrucksteigerung eben zur Stauungs- 
papille. 

Auf Grund der von mir beobachteten Hirntumorfälle komme ich 
zu folgender Statistik: 

Stauungspapille bei Prozessen der hinteren Schädelgrube: in 82%, 

Stauungspapille bei Prozessen der mittleren Schädelgrube: in 63°), 

Stauungspapille bei Prozessen der vorderen Schädelgrube: in 320%. 

Aus dem Schrifttum erwähne ich Aufzeichnungen von Bollack 
und Hartmann‘), die mitteilen, daß sehr häufig sich die Stauungs- 
papille bei Tumoren des Kleinhirns, der Vierhügelgegend, der Epi- 
physe, des Kleinhirnbrückenwinkels und des IV. Ventrikels findet. 
Weniger häufig bei Tumoren des Okzipitallappens, der Brücke des 
Scheitel- und Stirnlappens. Noch seltener bei Tumoren der grauen 
Kerne, des Centrum semiovale, des Schläfenlappens und der 
Rolandoschen Gegend. Sehr selten bei Geschwülsten des Balkens, 
der III. sowie der Seitenventrikel ( ?), der Hirnschenkel, der Medulla 
oblongata; ebenso bei basilären Geschwülsten, besonders der in- 
fundibulo-hypophysären Gegend, und bei meningealen Tumoren. 

Dieses Schema vermag jedoch nur einen ungefähren Anhalts- 
punkt zu geben, vor dessen schematischer Anwendung bei lokal- 
diagnostischen Erwägungen ausdrücklich zu warnen ist. Es können 


1) Bollack und Hartmann, Diagnostik der Hirngeschwülste. Verlag Urban 
& Schwarzenberg, Berlin 1932. 
5 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 113, H. 3/4. 


66 Hermann Stefan, Das Symptom der Stauungspapille usw. 


doppelseitige als auch einseitige Stauungspapillen auftreten. Ob- 
gleich man keinen sicheren Schluß bei Antreffen der Stauungs- 
papille auf die Lokalisation des raumbeengenden Prozesses ziehen 
kann, so habe ich doch in der Mehrzahl bei Schläfen- 
lappentumoren nnd auch bei Abszessen beobachten 
können, daß die einseitigen Stauungspapillen für einen 
homolateralen Sitz sprechen, wobei zu bemerken ist, daß 
einseitige Stauungspapillen mit Begleitung von epileptiformen 
Anfällen bei unerheblichem neurologischen und sonstigen Befund 
stets für raumbeengende Prozesse im gleichseitigen 
Schläfenlappen sprechen. 


Untersuchungen über den antitryptischen 
Serumtiter bei endogenen Psychosen 
Von 
Friedrich Langhammer 


(Aus der Medizinischen Univ. Klinik [Direktor: Prof. Dr. Bohnenkamp] 
und der Psychiatrischen Nervenklin’k [Direktor Prof. Dr. Beringer) in 
Freiburg i. Br.) 


(Eingegangen am 22. Juni 1939) 


In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1897 stellte Hahn (1) 
zum erstenmal die Tatsache fest, daß tierischem Serum eine Hem- 
mungswirkung gegenüber der Verdauungskraft des Trypsins und 
Pepsins zukomme. Schon vor ihm hatten Hammarsten und Röden 
beobachtet, daß Serum imstande ist, eine andere spezifische Fer- 
“ mentwirkung, die Labgerinnung der Milch, zu verhindern. Es ist 
erklärlich, daß diese auffallende Erscheinung damals, als man kurz 
vorher durch Behring auf die großen biologischen Probleme der 
Immunisierung, auf Begriffe wie Toxin und Antitoxin aufmerksam 
geworden war, bald eine Reihe theoretisch-experimenteller Arbeiten 
zur Folge hatte, die das Wesen der tryptischen Hemmungskraft 
zu ergründen suchten. Aber ebenso früh kehrte sich auch das 
Interesse des Klinikers dieser auch für das menschliche Serum 
bestätigten Eigenschaft zu. Erhoffte man doch durch das Ein- 
dringen in die auftauchenden Fragestellungen gleichzeitig auch 
tieferen Einblick in das Krankheitsgeschehen der verschiedenen 
Krankheiten zu gewinnen. 

Schon Wiens (2) stellte fest, daß die antitryptische Kraft des 
Serums bei verschiedenen Krankheiten erheblichen Schwankungen 
unterworfen, Marcus (3), Brieger und Trebing (4), daß sie 
insbes. bei Carcinomen meist erheblich gesteigert sei und zwar in 
einer gewissen Abhängigkeit zur Schwere der Erkrankung, so daß 
sie berechtigt zu sein glaubten, von der Antitrypsinreaktion als 
von einer Kachexiereaktion zu sprechen. Es handelte sıch dabei 
Jedoch keineswegs um eine für Carcinom spezifische Reaktion, da 
— wie v. Bergmann und Meyer (5) weiterhin fanden — auch bei 
andern Krankheiten, insbesondere bei den fieberhaften Infektionen, 
bei Morbus Basedow, Paralyse, Nephritis stark erhöhte Titelwerte 
vorkommen. 


5° 


68 Friedrich Langhammer 


Zum erstenmal wandte sich in der Arbeit von Jasch (6) das 
Interesse des Psychiaters auf die Antitrypsinreaktien. Dabei 
war die Erkenntnis leitend, daß ein enger Zusammenhang zwischen | 
körperlichem Befinden und seelischem Verhalten nicht zu ver- 
kennen sei, der auch vom Psychiater die Anwendung aller Me- 
thoden der somatischen Medizin erfordere, um Einblick ın das 
körperliche Geschehen der Geisteskrankheiten zu erhalten. Durch 
seine Untersuchungen stellte er fest, daß von 25 Dementia praecox- 
Kranken 21 leicht bis mittelstark erhöhte Titerwerte hatten. Von 
21 Epilepsien waren alle, bes. ein Status epilepticus in ihrem 
Serumtiter ebenfalls erhöht, auch 25 Paralysefälle zeigten aus- 
nahmslos eine stark gesteigerte tryptische Hemmungskraft. 

Spätere Untersuchungen von Rosental (7) konnten dieses Er- 
gebnis für die Epilepsie bestätigen, während Juschtschenko (8) 
bei 8 Epileptikern nur 2 erhöhte Werte, bei 25 Dementia praecox 
Kranken 15 obere Grenzwerte und im übrigen nur mäßig er- 
höhte Werte fand. 10 Manisch-Depressive entsprachen bezüglich 
ihres Serumtiters mit 2 Ausnahmen der Norm, während 11 Para- 
lytiker ausnahmslos erhöht waren. 

Aus einem größeren Untersuchungsmaterial stammen die Er- 
gebnisse von Pfeiffer und De Crinis (9). Sie untersuchten u.a. 
55 Fälle von Dementia praecox, 10 Melancholien und eine größere 
Zahl von Epilepsien und epileptischen Dämmerzuständen. Danach 
waren die Schizophrenien mit Ausnahme von 6 Normalwerten 
mäßig erhöht, die Melancholien zeigten einen durchweg normalen 
Serumtiter, die epileptischen Dämmerzustände und die Epilep- ' 
sien mit Anfällen hatten erhöhte Werte, während in der anfalls- 
freien Zeit auch obere Grenz- und Normalwerte vorkamen. Eine 
Ausnahme bei den Schizophrenien machte anscheinend die Para- : 
noia chronica, die sich normal verhielt. Mit Titersteigerungen | 
gingen außerdem noch einher: luische Gehirnerkrankungen, Ar- | 
teriosklerosis cerebri, senile Demenz, Alkoholhalluzinosen und 
Chorea. 

Etwas später bestätigte Zimmermann (10) im wesentlichen. 
wenn auch in etwas geringerem Umfang, diese Ergebnisse, 
während Bolten (11) aus seinen Untersuchungen schließen 
zu können glaubt, daß alle Krankheiten mit organischen 
Veränderungen im Zentralnervensystem, wozu er auch die 
Schizophrenie rechnet, stets mit erhöhtem Serumtiter einher- | 
gingen. | 

Als letzte Arbeit von psychiatrischer Seite berichtet die von : 
Kafka, Frantisch und Hlava (12) über Titererhöhungen bei De- | 


a 


u 4 


— - u = 


Bed mul 


- 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 69 


mentia praecox, Arteriosklerose des Gehirns, seniler Demenz, sowie 
bei einem Teil der Epilepsien. Bemerkenswert scheint den Autoren 
der Umstand zu sein, daß die Dementia praecox sich in die Gruppe 
von Krankheiten einreiht, die mit progredienten organischen Ver- 
änderungen einhergehen. Auch sie schreiben der Antitrypsinreaktion 
eine gewisse Bedeutung zu bei der Unterscheidung von Dementia 
praecox und Manisch-Depressivem Irresein, von psychogenen und 
epileptischen Dämmerzuständen. 

Die Vielfältigkeit der Fragestellungen bezügl. des ‚„‚Antitrypsins‘“ 
sowohl von der theoretischen, wie auch von der klinisch-praktischen 
Seite wirft noch einmal Chrometzka (13) in einer umfangreichen 
Arbeit auf, die später in anderem Zusammenhang noch zu er- 
wähnen ist. 

Seine an einer großen Zahl von Kranken mit eigener Methode 
gewonnenen Ergebnisse zeigen, daß eine Vielzahl von Krank- 
heiten einen erhöhten antitryptischen Serümtiter aufweist, wie 
es z. T. durch frühere Untersucher schon bekannt war: alle In- 
fektionskrankheiten, bes. die hoch fieberhaften, akute fieberhafte 
Leukämien, Thyreotoxikosen und vor allem die meisten bös- 
artigen Geschwülste. 

Er konnte auch zeigen, daß verschiedene Erkrankungen, wie 
Diabetes mellitus, Vasoneurosen, vegetative Stigmatisierung, von 
den organischen Krankheiten des Zentralnervensystems die mul- 
tiple Sklerose und die funikuläre Myelose mit Erniedrigung der 
Hemmungswerte einhergehen. 

Chrometzkas Untersuchungen umfassen jedoch nur die soma- 
tischen Erkrankungen, ohne das Gebiet der endogenen Psychosen 
mit einzubeziehen. 

Die Tatsache, daß seit den letzten Veröffentlichungen über die 
antitryptische Kraft des Blutserums bei den endogenen Psychosen 
schon 15 Jahre zurückliegen, daß ferner die damaligen Bestim- 
mungsmethoden, zuerst die Löffler’sche Plattenmethode, sodann 
die Methode von Groß-Fould unseren Anforderungen nicht mehr 
entsprechen, sondern vielmehr als Ursache der z. T. widerspre- 
chenden früheren Ergebnisse anzusehen sind, bildet die Recht- 
fertigung für die Versuche, über die später berichtet werden soll. 
In erster Linie maßgebend war jedoch der Umstand, daß die in 
neuester Zeit vorangetriebene somatische Erforschung der endo- 
genen Psychosen (Jahn, Gjessing, Scheid) stoffwechselmäßige Zu- 
sammenhänge aufgedeckt hat, die zur Bewertung des antitryp- 
tischen Faktors neue Gesichtspunkte zu liefern versprechen. 


70 Friedrich Langhammer 


Über die Natur des „Antitrypsins“ 


Die Erörterungen über die Frage nach der Natur des „Antıi- 
trypsins“ sind bis heute noch zu keinem Abschluß gelangt. Es 
konnte natürlich nicht im Rahmen dieser Arbeit liegen, zur Lösung 
dieser schwierigen Frage beizutragen, sondern es soll nur versucht 
werden, die Anschauungen, wie sie sich im Laufe der Zeit ent- 
wickelt und verändert haben, in ihren Hauptpunkten herauszu- 
stellen. 


De) 


Die Arbeit Hahns (1) stellte zunächst nur die Tatsache einer | 
fermenthemmenden Wirkung des Blutserums gegenüber dem 


Trypsin und Pepsin fest, ohne das Wesen dieses auffallenden Be- 
fundes deuten zu wollen. Erst spätere Autoren (Brieger und Tre- 
bing (4), Meyer, v. Bergmann (5)), die sich mit der klinischen 
Auswertung befaßten, kamen zu der Ansicht, daß die antitryp- 
tische Kraft des Serums dem Vorhandensein eines echten Anti- 
fermentes zu verdanken sei, das der Organismus als Reaktion auf 
eine vermehrte Bildung proteolytischer Fermente erzeuge. 
Nachdem Müller und Jochmann (14) auf die proteolytische Wirk- 
samkeit des Eiters aufmerksam gemacht hatten, dachte man an 
einen gesteigerten Leukozytenzerfall und an die dabei freiwerdenden 


Leukoproteasen als antigene Ursache für die Erhöhung der tryp- . 
tischen Hemmungskraft. Doch Leukozytose und Leukozytenzerfall 


wurden bei vielen Krankheiten mit gesteigertem antitryptischen 
Serumtiter vermißt. 

Eine weitere Stütze für die Betrachtung des „Antitrypsins‘“ als 
echtes Antiferment sah man in der von Abderhalden entwickelten 
Lehre von den Fermenten und ihren Abwehrfermenten. Er und 
seine Schüler fanden, daß unter bestimmten physiologischen und 
pathologischen Verhältnissen im Serum bestimmte, organspezi- 
fische eiweißspaltende Fermente auftreten. So untersuchten z.B. 
Fauser (15) und Wegener (16) bei verschiedenen Geisteskrankheiten 
das Abbauvermögen des Serums gegenüber arteigenem Eiweiß und 
fanden, daß das Serum von Paralytikern und epileptisch Dementen 
Hirnsubstanz, das Serum von Dementia-praecox-Kranken außer- 
dem noch Ovarien und Testikel abzubauen imstande sei. 

Weitere Untersuchungen, insbesondere die Feststellung der 
Dialysierbarkeit bestimmter antitryptischer Substanzen des Serums 
(Rosental), sowie der Nachweis von antitryptischen Stoffen im 
Harn (Döblin) (17) ließen an der Betrachtung des „Antitrypsins“ 
als echtes Antiferment erhebliche Zweifel aufkommen. 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 71 


An der „stofflichen‘‘ Natur des ‚„Antitrypsins‘“ hielt man jedoch 
— im Gegensatz zu der später auftauchenden physikalisch-chemi- 
schen Theorie — fest. Die vermeintliche Tatsache, daß die hem- 
menden Stoffe durch Äther und Chloroform extrahierbar seien, 
führte zu der Annahme ARosentals (7), daß es sich um Lipoidstoffe, 
wahrscheinlich umLipoideiweißverbindungen handeln müsse. Eine 
Stütze für die Lipoidnatur des Antitrypsins sah Rosental in der 
Tatsache einer starken Steigerung der antitryptischen Kraft des 
Serums bei allen Abbauvorgängen des Nervensystems, wie pro- 
gressive Paralyse und Epilepsie, die nach seiner Annahme mit 
einer Überschwemmung des Blutes mit den aus dem Nervensystem 
stammenden Lipoiden einhergehen sollen. 

Mit der zunehmenden Erkenntnis von den kolloid-chemischen 
Eigenschaften der Eiweißkörper wurde auch die stoffliche Natur 
des „‚Antitrypsins“ d. h. die Ansicht, daß die hemmende Wirkung 
des Serums ganz bestimmten evtl. chemisch definierbaren Körpern 
zu verdanken sei, bezweifelt. Schon Hedin (18) äußerte den Ge- 
danken, daß das Serumeiweiß das Trypsin vielleicht im Sinne einer 
Adsorption zu binden imstande sei, so daß nur noch der Trypsin- 
rest gegenüber dem als Test-Eiweiß benutzten Casein zur Wirk- 
samkeit gelangt. Schierge (19) schließlich wies darauf hin, daß es 
nicht gelingt, die Lipoide durch Ausschütteln mit Äther und Chloro- 
form aus dem Serum zu entfernen, andere Autoren zeigten ferner, 
daß nach tatsächlicher Entfernung derselben die antitryptische 
Kraft des Serums keine Einbuße erleidet. Das Verschwinden des 
„Antitrypsins‘ nach Chloroformausschütteln führt Schierge auf eine 
Zerstörung des kolloidchemischen Gefüges der Serum-Eiweißkörper 
zurück. Auch nach ihm beruht die antitryptische Kraft auf einer 
Schutzwirkung der Serum-Eiweißkörper. Die Annahme eines be- 
sonderen Antitrypsins sei überflüssig. 

Mit der Beweisführung, daß die Lipoide mit der antitryptischen 
Kraft nichts zu tun haben, war diese Theorie gefallen, nicht aber 
die stoffliche Theorie als solche. Denn nach wie vor blieb noch die 
Frage offen, ob nicht anderen chemischen Körpern z. B. Spalt- 
produkten des gesteigerten oder pathologischen Eiweißstoffwechsels 
antitryptische Eigenschaften innewohnen, in dem Sinne, daß Pro- 
dukte der Fermenttätigkeit ihrerseits die Fermentwirkung behin- 
derten. Abderhalden z. B. schrieb den Peptonen, Willstätter den Spalt- 
produkten der Gelatine und desCaseins, andere wieder den ersten Ab- 
bauprodukten der Pancreas-Eiweißkörper antitryptische Fähigkeiten 
zu (20). Utkin-Ljubowzow (21) schließlich glaubte, mittels beson- 
derer Methoden ein echtes stoffliches Antitrypsin gefunden zu haben. 


72 Friedrich Langhammer 


Den kolloidchemischen Serumverhältnissen sprach er jedoch ihre 
Bedeutung als weiterer Quelle antitryptischer Kraft nicht ganz ab. 

Chrometzka (13), der in neuester Zeit umfangreiche Untersu- 
chungen über das ‚„Antitrypsin‘“ anstellte, gelangte zu dem Urteil, 
daß wir es bei der antitryptischen Hemmung nur mit bestimmten 
kolloidehemischen Verhältnissen zu tun hätten, da nach Dena- 
tierung des Serum-Eiweiß, d.h. nach Zerstörung seiner kolloid 
chemischen Struktur durch Hitze, Alkohol, Dialyse, Quellung oder 
Entquellung, jeweils auch seine antitryptischen Fähigkeiten ver- 
loren gingen. Er schließt sich also der schon von Hedin geäußerten 
Ansicht an, daß die tryptische Hemmungskraft eine Adsorptions- 
erscheinung der Serum-Eiweißkörper sei, die als „Schutzkolloide“ 
einerseits das Casein, andererseits einen Teil des Trypsins vor der 
gegenseitigen Beeinflussung schützte. Begründet war diese Ansicht 
u.a. in der von ihm gemachten Feststellung, daß die Hemmungs- 
kurven steigender Mengen eines Serums vollständig gleichsinnig 
den aus der Kolloidchemie bekannten Adsorptionskurven ver- 
liefen. Chrometzka glaubt den Beweis geführt zu haben, daß es 
lediglich ‚eine einzige Quelle des ‚Antitrypsins‘ gibt: die anti- 
tryptische Wirkung der hochdispersen Proteinlösung‘‘. Die schon 
früher gestellte und verschieden beantwortete Frage, welche der 
beiden Serumeiweißfraktionen verantwortlich sei für die Größe 
der tryptischen Hemmungskraft, entschied Chrometzka dahin, daß 
eine Vermehrung der Globuline meist mit einer Erhöhung der 
antitryptischen Kraft einhergeht. Wie jedoch aus seinen Ver- 
suchen über die pharmakologische und hormonale Beeinflussung 
des antitryptischen Titers und Albumin-Globulin-Verhältnisses, 
sowie aus seinen klinischen Untersuchungen klar hervorgeht, gehen 
diese keineswegs immer parallel. Es muß demnach außerdem noch 
Faktoren geben, die die antitryptische Kraft entgegen dem aus 
einem bestimmten Albumin-Globulin-Verhältnis zu erwartenden 
Maße zu ändern imstande sind. Chrometzka denkt dabei an eine 
zentralnervös-hormonale Regulierung der antitryptischen Kraft des 
Serums, d.h. für ihn der kolloidchemischen Serumverhältnisse. Aus- 
lösende Ursache für die Veränderungen im antitryptischen Titer 
sind nach ihm nicht die heute noch umstrittenen eiweiß-spaltenden 
Fermente des Serums, sondern allgemeine Reizstoffe wie „Bak- 
terien, Tumorsubstanzen, toxische Eıweißspaltprodukte‘‘, die dann 
auf dem Umweg über den ‚Gesamtkomplex aller Stoffwechsel- 
zentren‘‘ diese Titerveränderungen hervorrufen. 

Trotz umfangreicher und mühevoller Arbeiten besteht somit 
noch keine endgültige Klarheit über die Natur des ‚Antitrypsins“, 


| 


San 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 73 


wenngleich es sowohl durch die klinischen, wie auch durch die 
experimentellen Untersuchungen gelang, tiefer in die Fragestel- 
lungen einzudringen und Teilursachen, die zu Veränderungen des 
antitryptischen Titers führen, zu erkennen. 


Methode zur Bestimmung des antitryptischen Titers 


Zur Bestimmung der antitryptischen Kraft des Serums be- 
nutzten wir eine von Chrometzka angegebene und teilweise auch 
in seinen Versuchen angewandte Methode mit geringen Abwei- 


chungen. 


Sie besteht darin, daß die hemmende Wirkung verschiedener 
Mengen eines Serums auf die Caseinverdaung durch Trypsin fest- 
gestellt wird. Es ist, wie alle früheren Methoden, eine Trypsinrest- 


 Bestimmungsmethode, d.h. die antitryptische Kraft kann nicht, 


direkt gemessen werden, sondern muß indirekt daraus ersehen 


= werden, wieviel Trypsin trotz des hemmenden Einflusses der dem 


Casein-Trypsingemisch zugesetzten Serummengen noch zur Wirk- 


' samkeit gelangen konnte. Neu gegenüber früheren Methoden ist, 


daß die Wirkungsgröße des Trypsins nicht geschätzt wird anhand 
der mehr oder weniger deutlichen Trübung des Gemisches durch 
das zur Fällung gebrachte, nicht verdaute Restcasein, sondern 
daß sie durch die COOH-Gruppen Titration nach Willstätter aus- 
titriert wird. Dies ist insofern möglich, als durch die Spaltungs- 
arbeit des Trypsins aus den Eiweißkörpern niederere, COOH- 


. Gruppen tragende Verbindungen frei gemacht werden. 


Im einzelnen stellt sich die Methode folgendermaßen dar: Ein Gesamt- 
versuch besteht aus drei Teilversuchen (= Reihen), die am Schluß mitein- 
ander in Beziehung gebracht werden müssen, um zu einem in Prozentzahlen 
ausdrückbaren Wert der antitryptischen Kraft zu gelangen. 


Reihe 1: in drei saubere, trockene und möglichst sterile, dickwandige 
Reagensröhrchen werden Serummengen von 0,5, 0,25 und 0,10 ccm pipettiert, 
Röhrchen 2 und 3 mit 0,25 bzw. 0,40 ccm einer sterilen phsiologischen Koch- 
salzlösung auf 0,5 ccm aufgefüllt. Hierzu kommen in jedes Röhrchen 3 ccm 
einer 3% igen Caseinlösung vom PH = 7,5, außerdem zur Konstanterhaltung 
dieses Milieus während des ganzen Verdauungsvorganges 3 ccm eines Puffer- 
gemisches (m/15 Na HPO, und m/15 KH,PO, nach Sörensen), ebenfalls vom 
PH = 7,5. Zuletzt wird je 1ccm einer 2%igen Trypsinlösung zugegeben 
und das ganze durch Schütteln gut durchmischt. 

Reihe 2: soll die gesamte verdauende Kraft des Trypsins gegenüber dem 
Casein aufzeigen. Die Ansätze dieser Reihe sind demzufolge genau gleich denen 
der Reihe 1, nur daß durch das Weglassen der Serumbeimengung das Trypsin 
zur vollen Wirksamkeit gelangen kann. 


Reihe 3: enthält im übrigen ebenfalls die gleichen Reagentien wie Reihe 1, 
aber ohne Trypsinzusatz. Sie dient lediglich dazu, bei der späteren Titration 


74 Friedrich Langhammer 


mit n/5 KOH festzustellen, wieviel Lauge allein von den Reagentien, d.h. 
von dem Serum-Casein-Puffergemisch verbraucht wird. 

Anschließend werden sämtliche Röhrchen für 1 Stunde in den Wärme- 
schrank von 37° gestellt. Der hierdurch in Gang kommende Spaltungsvorgang 
wird nach Ablauf dieser Zeit durch Einbringen der Röhrchen ins Eisbad 


unterbrochen. Der Inhalt jedes einzelnen Röhrchens wird sodann sorgfältig . 


in einen Erlenmeyer-Kolben übergeführt, das Röhrchen selbst mit 2 ccm 
Wasser und 15 ccm absoluten Alkohols gut nachgespült. 


Es folgt die Titration nach Willstätter mit n/5 alkoholischer KOH-Lösung. 


Als Indikator benutzten wir Phenolphthalein, weil der ohnehin nicht ganz 
scharfe Farbumschlag bei Thymolphthalein noch undeutlicher wird, besonders 
wegen der ins Bläuliche spielenden Eigenfarbe des durch den Alkohol leicht 
ausgefällten Caseins. Zunächst wird bis zum ersten Farbumschlagspunkt ti- 
triert, hierauf 75 ccm kochenden absoluten Alkohols nachgegossen, worauf 
das Gemisch wieder farblos wird, sodann bis zum zweiten Farbumschlags- 
punkt weiter titriert und die Anzahl der verbrauchten ccm Lauge abgelesen. 

Die prozentuale Berechnung der antitryptischen Kraft wurde so vorge- 
nommen, daß die Gesamtverdauungskraft des Trypsins unter den angegebenen 
Bedingungen = 100% gesetzt wird. Diese selbst errechnet sich aus der Ti- 


— 


= 


trationszahl der Ansätze aus Reihe 2 abzüglich der Titrationszahl des ent- . 


sprechenden Ansatzes aus Reihe 3. Der jeweils dazugehörige Ansatz aus Reihe1 
(ebenfalls nach Abzug der entsprechenden Zahlwerte der Reihe 3) drückt 
dann, in Beziehung gesetzt zur Gesamt verdauungskraft = 100% die trotz 
der Serumwirkung zustande gekommene tryptische Kraft in Prozenten aus. 


— 


Als zahlenmäßigen Ausdruck für die antitryptische Kraft ergibt sich der _ 


Teil des Trypsins, der nicht zur Wirksamkeit gelangen konnte, also 100% 
abzüglich der tatsächlich zur Wirkung gelangten, in Prozenten ausgedrückten 
tryptischen Kraft. 

Zur Erzielung gleichmäßiger und gut miteinander vergleichbarer Werte 
ist es wichtig, daß sowohl die einzelnen Reagentien als auch die Versuchs- 
bedingungen möglichst gleichmäßig gehalten werden. Dies gilt insbesondere 
von dem PH des Caseins und des Puffers, da durch PH-Verschiebungen auch 
die Wirksamkeit des Trypsins verändert wird. Casein- und Trypsinlösung 
sollen dauernd im Eisschrank aufbewahrt werden. Diese soll nur frisch, d.h. 
nicht mehr als zwei Tage alt verwandt werden, während die Caseinlösung 


sich im Eisenschrank mehrere Tage brauchbar erhält. — Einige Übung von | 


seiten des Untersuchers, sowie eine geeignete Beleuchtung, erfordert die Ti- 
tration infolge des schon oben erwähnten nicht ganz scharfen Farbumschlages. 
' Aus diesem Grunde wurden sämtliche Versuche als Doppelversuche aus- 
geführt. 

Unter den angegebenen Versuchsbedingungen stellt sich die tryptische 
Hemmungskraft eines menschlichen Normalserums so dar: 


0,5 ccm Serum 0,25 ccm 0,10 ccm 
50—54% Hemmung 29—34% 9—12% 

Es ist einleuchtend, daß bei den kleinen Serummengen von 0,1 ccm je- 
weils die Schwankungsbreite und die Fehlermöglichkeiten am größten sind, 
da sich hier kleinste Abmeßfehler viel stärker auswirken. 

Die mit dieser Methode gewonnenen Zahlwerte sind mit den Ergebnissen 
Chrometzkas nicht direkt vergleichbar, da Chrometzka den tryptischen Effekt 
viskosimetrisch bestimmt und für diesen Zweck ein PH = 8,7 benützt. Seine 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 75 


Zahlwerte liegen durchweg etwas höher, verlaufen aber vollständig gleich- 
sinnig, wie sich aus seinen Normalwerten ergibt: 

0,5 ccm Serum 0,25 ccm 0,10 ccm 

60—62% Hemmung 40—42% 18% 

Das Serum selbst wurde durch Zentrifugieren von etwa 15 ccm Blut er- 
halten, das jeweils morgens am nüchternen Patienten entnommen worden 
war. Die Verarbeitung des steril entnommenen Blutes erfolgte möglichst am 
gleichen Tage. Andernfalls wurde es, durch Gummistopfen luftdicht ver- 
schlossen, bis zum nächsten Tag im Eisschrank aufbewahrt. 


Eigene Untersuchungen 


Im Folgenden wird über eine Reihe von eigenen Untersuchungen 
über den antitryptischen Serumtiter berichtet. Sie erstrecken sich 
auf: Ä 

27 Schizophrene, 

24 Manisch-Depressive, 

3 Epileptiker, 
sowie auf das Verhalten des antitryptischen Titers im Insulin- 
schock. 

Die Kranken stammen teils aus der Psychiatrischen Universitäts- 
klinik Freiburg, teils aus der Bad. Heil- und Pflegeanstalt Illenau 
b. Achern!). 

Mit wenigen Ausnahmen wurden nur solche Kranke untersucht, 
deren von psychiatrischer Seite gestellte Diagnose feststand und 
die zur Zeit der Serumuntersuchung keinen Anhalt für das Vor- 
liegen einer anderen, mit Titersteigerung einhergehenden Krankheit 
boten. Auch wurde darauf geachtet, daß das Ergebnis durch keine 
gleichzeitigen oder kurz voraufgegangenen therapeutischen Eingriffe 
beeinflußt wurde. Hatten solche stattgefunden, so ist dies genau 
vermerkt. 

Bezüglich der Tabellen ist vorauszuschicken, daß infolge der 
Unmöglichkeit, alle Krankengeschichten einzeln aufzuführen, ver- 
sucht wurde, unter den Spalten „Diagnose“ und „Bemerkungen“ 
das Krankheitsbild, seine Dauer und seinen Verlauf, sowie, wenn 
notwendig, die therapeutischen Eingriffe kurz zu charakterisieren. 

Die im vorletzten Abschnitt erwähnten, von Chrometzka ange- 
nommenen Beziehungen zwischen Albumin-Globulin-Quotient und 
Antitryptischem Titer waren die Veranlassung, bei der Mehrzahl 
unserer Untersuchungen gleichzeitig die Blutkörperchensenkungs- 
geschwindigkeit als am einfachsten zu messende Äußerung einer 


1) Die Untersuchungen wurden ermöglicht durch das freundliche Ent- 
gegenkommen von Herrn Professor Dr. K. Beringer und Herrn Direktor 
Dr. Römer, wofür ich auch an dieser Stelle herzlich danke. 


76 Friedrich Langhammer 


Veränderung des Albumin-Globulin-Quotienten zu bestimmen 
(siehe Tabellen). Doch zeigten sich dabei — um dasErgebnis gleich 
hier vorweg zu nehmen — keine eindeutigen und klaren Beziehungen 
zwischen Höhe der tryptischen Hemmungskraft und Beschleuni- 
gung der Senkungsreaktion: in zahlreichen Fällen ging eine Titer- 
steigerung ohne Beschleunigung der Senkungsgeschwindigkeit ein- 
her, ebenso wie in vielen Fällen trotz erhöhter Senkungsgeschwin- 
digkeit die tryptischen Hemmungswerte normal waren. 


Die Schizophrenien 
(siehe Tabelle 1, II und III) 


Es bestand die Frage, ob die einzelnen Verlaufsformen der 
Schizophrenie auch bezüglich ihres antitryptischen Serumtiters 
Unterschiede aufwiesen. Glaubten doch schon Pfeiffer und De 
Crinis beobachtet zu haben, daß die Fälle von ‚Paranoia chronica“, 
im Gegensatz zu den anderen Schizophrenieformen, ohne Titer- 
steigerungen einhergingen. 

Bei einem Überblick über die Tabelle I, die nach der Größe der 
tryptischen Hemmungskraft geordnet ist, zeigt sich, daß von ins- 
gesamt 27 Fällen 8 Fälle im Bereich der Norm liegen; 2 Fälle 
können als obere Grenzwerte angesehen werden, während der Rest 
durchweg mehr oder minder starke Titersteigerungen erkennen 
läßt. Für die endgültige Beurteilung müssen jedoch Fall 2 und 5 
ausgenommen werden, da bei ihnen mit dem Einfluß der gleich- 
zeitigen oder kurz vorher abgeschlossenen Insulinbehandlung zu 
rechnen ist. Ebensowenig kann Fall19 in Rechnung gezogen werden, 
da die bestehende interkurrente Erkrankung für die Titersteigerung 
mit verantwortlich sein kann. Die Fälle, bei denen eine Insulin- 
behandlung mehrere Monate oder Jahre zurückliegt, wurden jedoch 
berücksichtigt, da bei so langen Zwischenräumen mit einer direkten 
Insulinwirkung auf die Höhe des Antitrypsins nicht mehr zu 
rechnen ist. 

Nach Abzug dieser Sonderfälle ergeben sich in 6 von 24 Fällen 
(= !/,) normale Titerwerte, 2 obere Grenzwerte, sowie 16 
Fälle (= ?/,) mit deutlichen Titersteigerungen. 

Die Frage nach der Zugehörigkeit der einzelnen Schizophrenie- 
formen zu der Gruppe mit oder ohne gesteigerter tryptischer 
Hemmungskraft, kann aus dem vorliegenden Untersuchungsmaterial 
nicht entschieden werden. Wenngleich es auffällt, daß mit den 
höchsten Hemmungswerten ausgezeichnete Fälle fast durchweg 
zur Gruppe der paranoiden Schizophrenie gehören, so zeigt sich 


= 


s. a a a 
. 
n 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 77 


Tabelle I 
Schizophrenien 
Name Hemmungswerte Sen- 
in Proz kung 
Alter l nach | Diagnose Bemerkungen 
Serummenge Wester 
Geschlecht 


0,5 BA a a E 5. EEE 0,25 | 0,1 | green 


Normal- 


werte Soma in 9—12 
He. O., Paranoide 
Aa d., m. 50 29 13 — Form 


1. Schub v. 15 J., 
seit 1,5 J. erneut 
stärkere Wahn- 
ideen. 

Seit !/, J. allmäh- 
lich sich entwick. 
Insulin seit 4 Wo. 
Bisher 7 Schocks, 
2 Halbschocks. 


Neu., E., 
32 J., w. | 51 33 | — | 826 


Paranoide 
Form 


Dö., F. Katatone | Allmähl. Beginn d. 

28 J., m. 50 36 12 — Form Krankheit vor 3 
Monaten. 

Ku., d., Katatone | Beginn vor 8 Ta- 

27 J., m. 51 — 13 3/8 Form gen. 


Kie., 'R., 
41 J., m. 52 31 13 — 


Beginn vor 4 Mo. 
Insulinbehand- 
lung bis vor 3 
Wo. Gute Remis- 
sion. 


Paranoide 
Form 


K. J., Paranoide | Seit 14 Tagen 
41 J., m. 52 36 11 3/7 Form frischer, 1. Schub. 
Rh., A., Paranoide | Beginn vor 2 J., 


26 J., w. 53 — 11 3/8 damals Insulin- 
kur, jetzt neuer 
2. Schub. 

Beginn vor 12 J., 


jetzt Endzustand. 


91 Wa,P, Il | |] |] — | Hebe- |Allmähl. Beginn 
seit 1 Jahr. 
Beginn vor 3 J., 
vor 1 J. Insulin- 
behandlung; 
RR Jetzt 3. Schub. 3. Schub. 


Paranoide on vor 2 Mo. 
Form . Schub. 

Paranoide . Schub vor 7 J., 
Form jetzt etwa 7. Schb. 

keine Temperatur- 


Form 


Bu., R., 
40 J., m. 53 36 12 —- 


Wa., P., 


Hebe- 
1 40J, m. | 53 | 36 | 12 | — | phrenie | jetzt Endzustand. 


Hebe- 
phrenie 
Katatoner 
Erregungs- 
zustand 


19 J., m. 54 
Bu., M., 


40 J., wW. 54 37 19 4/11 


a 


Du., S., 
51J., wW. 57 


erhöhung! 
Re., H., Hebe- Beginn vor etwa 
44 J., m. 57 41 15 5/13 | phrenie 1 Jahr. 
Wi., II, Hebe- | Beginn nicht sicher 


39 J., m. 57 
Gl., Fr., 58 
30 J., m. 


phrenie | festzustellen. 
Paranoide | Beginn vor 2 J. 


Re., F., 
35 J., m. 57 
Form 


78 


16 


17 


18 
19 


20 


21 


Name 
Alter 


Normal- 
werte 


Zu., D., 
41 J., m. 


Hemmungswerte 
in Proz. 
Serummenge 


Geschlecht 0,5 | 0,25 | 0,1 


50—54 


98 


98 


60 
60 


60 


61 


61 


61 


62 
63 
64 
65 


Friedrich Langhammer 


AR 9—12 


48 == 
40 13 
40 15 
43 15 
h4 18 
43 16 
40 
40 — 
39 12 
41 15 
43 18 
90 25 


Sen- 
kung 


nach | Diagnose 


5/15 


14/33 


32/61 


1/2 


23/53 


7/17 


18/42 
6/15 
2/3 


Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 


Hebe- 
phrenie 
Stupor 


Katato- 
nie 


Paranoisch. 

Zustands- 
bild 

Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 
Paranoide 
Form 
Paranoide 
Form 

Stupor 


Bemerkungen 


Beginn vor 6 J., 
früher 2 Insulin- 
kuren; jetzt fri- 
scher Schub. 
Beginn vor 4 J. 
Seither dauernd 
paranoisch. 
Beginn vor 3 Mo. 
1. Schub. 
Beginn vor 1 Mo. 
Temperaturerhö- 
hung! 8 Tage nach 
Untersuchung 
Exitus. Sektion: 
Bronchopneumo- 
nie, Lungenödem. 
1. kurzer Schub v. 
1 Jahr. Jetzt fri- 
scher 2. Schub. 
Seit 3 J. bestehend 
Jetzt Verschlim- 
merung. 
Beginn vor 7 J.; 
vor !/, J. Insu- 
linkur, jetzt fri- 
scher 3. Schub. 
Beginn vor 4 J.; 
jetzt frischer 2. 
Schub. 
Beginn vor 6 J.; 
jetzt neuer 2. Sch. 
Beginn vor 3 Mo. 
1. Schub. 
Beginn vor 2 J.; 
jetzt neuer 2. Sch. 
Beginn vor 8 J.; 
jetzt 6. Schub, De- 


fektzustand.Schübe 


teilweise paranoid. 
teilweise stuporös. 


doch, daß auch auf der Seite der ohne Titersteigerung einher- 
gehenden Fälle ebenfalls einige paranoiden Formen anzutreffen 
sind. Die einzelnen schizophrenen Formenbilder verteilen sich dem- 
nach ohne besondere Bevorzugung ungefähr gleichmäßig auf beide 
Gruppen. 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 79 


Auf der Suche nach klinischen Gegebenheiten, die vielleicht für 

die Höhe des antitryptischen Titers von Bedeutung sind, wurde 

vor allem das Augenmerk auf die Zeitdauer und die Art des Krank- 

heitsverlaufes gerichtet. Zu diesem Zweck wurden die reinen, d.h. 

. unbehandelten Fälle mit normalem Serumtiter (Tabelle II) den 

mit den höchsten Titerwerten einhergehenden Fällen (Tabelle III) 
gegenüber gestellt. Dabei ergab sich: 


Tabelle II 
Schizophrenien ohne Titersteigerungen 
(Auszug aus Tabelle I: Nur unbehandelte Fälle) 


Name Zeitpunkt Hemmungswerte 
i O/ 
Nr Alter Diagnose der Erkrankung ummenge 
Geschlecht und Krankheitsverlauf 0,5 | 0,25 | 0,1 


Normalwerte 50-54 | 29-34 | 9-12 


1| He. O. Paranoide | Beginn vor 15. J. Jahre- 

' 44 J. m. Form lang bestehende Wahn- 
ideen, in stärkerem 

Grade wieder seit 11% 


Jahren. -50 29 13 
3 | Dö. F. Katatone | Allmähl. Beginn vor 
28 J. m. Form 3 Mon. Pat. ist ratlos, 
ängstlich, verwirrt, 
sonst unauffällig 50 36 12 
4 | Ku. d. Katatone Beginn vor 8 Tagen, 
27 J. m. Form verkannte die Umge- 


bung, fand sich räum- 
lich nicht zurecht, rat- 


los, ängstlich. 51 — 13 
6 | Ka. J. Paranoide | Beginn vor 14 Tagen. 
41 J. m. Form Pat. ist hochgradig zer- 


fahren, schwere Denk- 
störungen u. Sinnes- 


täuschungen. 92 36 11 
8 | Bu. R. Hebephre- | Beginn vor 12 Jahren. 
40 J. m. nie Damals 3 Jahre An- 
staltsaufenthalt. Jetzt 

Endzustand. 53 36 12 


In Tabelle II handelt es sich einmal um Kranke, deren Anam- 

- nese schon über viele Jahre zurückreicht, und die in ihrem 
- Krankheitsverlauf besonders während der letztvergangenen Zeit 
keine deutlichen Schwankungen, weder eine wesentliche 
Besserung, noch eine Verschlimmerung erkennen lassen. Anderer- 


80 


Friedrich Langhammer 


seits finden sich darunter Fälle, deren Beginn nur wenige Tage 
oder Wochen zurückliegt. 


Tabelle III 


Schizophrenien mit den höchsten Titerwerten 
(Auszug aus Tabelle I) 


Nr. 


27 


26 


25 


24 


23 


21 


20 


Name 
Alter 
Geschlecht 


Fr. Me 


44 J. 


So. H. 


19 J. 


Sch. A. 
54 d. 


Sch. L. 
25 J. 


Be. H. 


59 J. 


Lo. E 


54 J. 


Mö. W. 
32 J. 


Z 


Diagnose 


Stupor 


Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 


Paranoide 
Form 


Paranoi- 


sches Zu- 


stands- 
bild 


Katatonie 


Zeitpunkt d.Erkrankung | Hemmungswerte 


Art des 
Krankheitsverlaufse 


Normalwerte 


Beginn vor 8 Jahren. 
In Schüben verlau- 
fend, teilweise para- 
noid, teilweise stupu- 
rös. Jetzt frischer 
6. Schub. Wenige ste- 
reotype Bewegungen, 
sonst bewegungslos. 


Beginn vor 2 Jahren. 
Jetzt frischer 2. 
Schub. Hochgrad. 
Erregungszustand. 
Wahnideen. Halluzi- 
nationen. 


Beginn vor 3 Mon. 4. 
Schub. Gereizte Stim- 
mung, Verfolgungs- 
ideen, Halluzinat. 


1. Schub vor 6 Jahren. 
Jetzt frischer 2. 
Schub. Hochgrad. er- 
regt mit euphor. Ein- 
schlag. Wahnideen, 
Halluzinationen. 


Beginn vor 4 Jahren. 
Jetzt frischer 2. 
Schub. Stark erregt, 
schreit laut, Verfol- 
gungsideen. 


Besteht s. 3 Jahren. 
Jetzt plötzl. Ver- 
schlimmerung. Er- 
regt, aggressiv, Ver- 
folgungsideen. Hallu- 
zinationen. 


Vor 1 Jahr kurzer, 
14 Tage dauernder 
Schub. Jetzt fri- 
scher 2. Schub. 


in 2% 


Serummenge 
0,5 0,25 | 0.1 


65 


64 


63 


62 


61 


61 


60 


50-54 | 29-33 | 9-1: 


50 25 


43 18 


39 12 


40 = 


43 16 


PS 
en 
ar% 
I 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 8l 


Demgegenüber zeigt Tabelle III deutlich, daß es sich bei den 
mit den höchsten Titerwerten ausgezeichneten Fällen durchweg 
um ältere Fälle handelt, deren Krankheitsbeginn meist längere 
Zeit (bis mehrere Jahre) zurückliegt, deren Verlauf sich in ty- 
pischen, deutlich abgesetzten Schüben äußert, und die zur Zeit 
der Serumuntersuchung einen frischen Schub oder eine plötz- 
liche Verschlimmerung ihres Zustandes, meist mit Erregungszu- 
ständen, Halluzinationen und Wahnideen durchmachten. 

Aus diesen Feststellungen weitreichende Schlußfolgerungen zu 
ziehen, ist in Anbetracht der nicht sehr großen Zahl der zugrunde 
liegenden Fälle nicht angängig. Dagegen geht aus ihnen hervor, 
daß gewisse Zusammenhänge zwischen der Schwere der psychi- 
schen Erkrankung und ihrer Verlaufsart einerseits und der Höhe 
des antitryptischen Serumtiters andererseits bestehen, Ergebnisse, 
die die von Pfeiffer und De Crinis bestätigen und ergänzen. 

In dem gleichen Sinne spricht auch eine Überprüfung der bereits 


‘ mit Insulin behandelten Fälle (Tabelle IV). 


| 
| 


Wenn wir das Ergebnis zusammenfassen, so zeigt sich, daß in 
den Fällen mit kurz vorangegangener oder gleichzeitiger Insulin- 
schockbehandlung normale Titerwerte bestehen, wobei auch klı- 
nisch eine Besserung des psychotischen Zustandes festzustellen ist. 
Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht Fall 24, dessen Hemmungs- 
werte nach kurzer Insulinbehandlung zur Norm zurückkehren, 
während sie vorher erheblich gesteigert waren. Der Beginn der 
Erkrankung lag in dieser Gruppe von Fällen meist nur wenige 
Monate zurück. 

Bei einer zweiten Gruppe von Fällen war trotz früherer Insulin- 
behandlung, die !/,—2 Jahre jeweils zurücklag, ein neuer Schub 
mit gleichzeitiger Erhöhung der Titerwerte erfolgt. Es handelt 
sich durchweg um ältere, mehrere Jahre bestehende und in Schüben 
verlaufende Fälle, bei denen die Insulinbehandlung nıcht während 
der ersten Phase der Erkrankung einsetzte und die Remissionen 
nur von kurzer Dauer waren. 


Der antitryptische Titer ım Insulinschock 


Untersuchenswert erschien ferner: Wie verhält sich der antı- 
tryptische Titer im Insulinschock ? und: Lassen sich die bei diesem 
außerordentlichen therapeutischen Eingriff in die Gesamtheit aller 
Körperregulationen mit Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Ver- 
änderungen des antitryptischen Serumtiters in die übrigen bis jetzt 
bekannten Stofiwechselvorgänge während des Schocks einreichen ? 
6 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


82 


10 


16 


t 9 
to 


Friedrich Langhammer 


Tabelle IV 


Insulinbehandelte Schizophrenien 


Name 
Alter Diagnose 
Geschlecht 
Kie. R. Paranoide 
41 J. m. Form 
Neu. E. Paranoide 
32 J. w Form 
Sch. L. Paranoide 
25 J. w Form 
Rh. A. Paranoide 
26 J. w. Form 
Bu. M. Katatoner 
40 J. w. Erreg.- 
Zustand 
Zu. G. Paranoide 
47 J. m. Form 
Öt. I. Paranoide 
36 J. w. Form 


Krankheitsverlauf 
Zeit der Behandlung 


Abschluß d. Insulinbe- 
handlung vor 3 Wo. 
Gute Remission. 
Schwinden d. Wahn- 
ideen u. Halluzinatio- 
nen. Jetzt noch nega- 
tivistisch u. ableh- 
nend. Krankheitsbe- 
ginn vor 4 Mon. 

Zur Zeit insulinbe- 
handelt. Beginn vor 
4 Wochen. Bisher 
7 Schocks, 2 Halb- 
schocks. Krankheits- 
beginn vor 1 J. 

Hemmungswerte vor In- 
sulinbehdl. 

Nach 14täg. Insulin- 
behdl. klinisch Besse- 
rung. Erregung ge- 


dämpft. Bisher 5 
Schocks, 2 Halb- 
schocks. Krankheits- 


beginn vor 6 J. Jetzt 
2. Schub. 

Krankheitsbeginn vor 
2 Jahren. Damals In- 
sulinkur. Jetzt fri- 
scher paranoider 
Schub. 

Seit 3 Jahren erkrankt. 
Vor 1 Jahr Insulin- 
behandlung mit guter 
Remission, jetzt fri- 
scher Schub. 

Krankheitsbeginn vor 6 
Jahren. Vor2 Jahren 
u. vor 1%, Jahr ander- 
orts je Insulinkur; an- 
scheinend nur kurze 
Remission. 

Krankheitsbeginn wahr- 
scheinlich vor 7 Jah- 
ren. Abschluß einer 
Insulinkur vor 1 
Jahr. 

Damals gebessert ent- 
lassen. 
Jetzt frischer Schub. 


Hemmungswerte 


` (6) 
n yA 


Serummenge 


0,5 | 0,25 | 0,10 


52 


51 
62 


51 


53 


54 


58 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 83 


Untersucht wurden 4 Kranke, die sich alle schon seit einiger 
Zeit in der Insulinschockbehandlung befanden. Zur Klärung der 
Fragestellung konnte eine einmalige Bestimmung des antitrypti- 


Tabelle V 
Der antitryptische Titer im Insulinschock 


Hemmungswerte | Senkung 
in % nach 
| Serummenge Wester- Bemerkungen 
green 


0,5 1922 0,1 


| Normalwerte | 50-54 | 29-34 | 9-12 
Falli. Ba. H. 22 J. m. Beginn d. Erkran- 
Diagnose: Katatone kung vor 1, Jahr 
Schizophrenie. Insulinkur seit 6 


a) Vor Insulininjektion 
b) 1 Std. nach 180 Eh. 
Ins.. . ; 

c) Im Insulinschock 
d) Nach Schockunter- 
brechung . . 


Fall2. La. E. 18 J. m. 
Diagnose: Katatone 
Schizophrenie. 
a) Vor Insulininjektion 
1 b) 2 Std. nach 210 EH. 
Ins. . 
c) Im Insulinschock et- 
wa 4 Std. nach In- 
Iron : 
d) 1 Std. nach Unter- 
brechung . oo. 


Fall3. Sch. L. 25 J. w. 
Diagnose: Frische para- 
noide Schizophrenie. 
a) Vor Insulininjektion 
b) Im Insulinschock 
(nach Inj. von 160 
EH. Insulin). 
c) Etwa °/, Std. "nach 
Unterbrechung 


Fall 4. Str. I. 19 J. m. 
Diagnose: Frische para- 
noide Schizophrenie 
a) Vor Insulininjektion 


b) 2 Std. nach 100 EH. 


Ins. . 
c) Im Insulinschock . 
d) 3/, Std. nach Unter- 
brechung. . 3 


Ex) 


4h 
42 


34 


42 


29 
43 


10 
10 


3/9 Wo. Bisher 4200 

EH. Insulin. 22 
5/14 Schocks, 3 Halb- 
schocks. 


Beginn der Erkran- 

kung etwa vor 

41 J. Bisher 2550 
— EH. Insulin. 10 

Schocks, 2 Halb- 
— schocks. 


Erster Schub vor 
6J., jetzt 2. 
Schub. Bisher 
1590 EH Insulin. 
5 Schocks, 2 Halb- 
schocks, Erreg.- 
Zustand etwas ge- 
mildert. 


Beginn der Erkran- 
kung v. 3. Mo., 
bisher 4890 HE. 
— Insulin. 36 
Schocks. Klinisch 
leichte Besserung. 


84 Friedrich Langhammer | 


schen Titers im Schockzustand nicht genügen, sondern um ein! 
kurvenmäßiges Bild der Veränderungen zu bekommen, wareı 
mehrere Blutentnahmen und Titerbestimmungen notwendig. Aus 
gangspunkt waren die Hemmungswerte im Nüchternzustand vor 
der Insulininjektion. In drei Fällen wurde ferner je eine Zwischen- 
bestimmung für die Zeit zwischen Insulininjektion und Schock: 
zustand gemacht. Die dritte Entnahme erfolgte im Schock selbst. 
kurze Zeit nach Unterbrechung desselben durch Zuckerinfusion 
per os folgte die letzte Bestimmung. 

Bei Überprüfung der Tabellenwerte (Tabelle V) und der das 
charakteristische Gemeinsame am deutlichsten wiedergebenden. 
kurvenmäßigen Aufzeichnung des Falles 1 (Kurve I) ist folgende: 
bemerkenswert: 


| 


T 8 
—_100 E H. INSULIN 
(m 
(m 


HEMMUNG íN % DER SERUNMENGE 053um 
3 S 


DER ANTITRYPTISHE TTER 1M INSULINSCHOM 


Kurve I 


Im Anschluß an die Insulininjektion erfolgt zunächst meist em? 
mäßige Senkung der tryptischen Hemmungskraft. Diese Tatsache} 
ist wohl als reine Insulinwirkung aufzufassen, da schon Chrometzki 
in seinen Untersuchungen über die hormonale Beeinflussung def: 
antitryptischen Titers auf die titersenkende Wirkung des Insulin: 
hinweisen konnte. 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 85 


Im Schock selbst sind keine nennenswerten Veränderungen fest- 
zustellen, meist kündigt eine leichte Steigerung der Hemmungs- 
kraft gegenüber dem Vorwert die beginnende regulatorische Um- 

| stimmung des Organismus an. 

Das auffallendste ist die starke, fast emporschnellende Titer- 
steigerung nach Unterbrechung des Schocks, die über die Aus- 
gangswerte stets erheblich hinausgeht. Diese Tatsache erscheint 
bemerkenswert insofern, als sie sich zwanglos einreihen läßt in die 
von Jahn (22) und anderen Autoren geäußerte Ansicht, daß das 
Wesentliche der Insulinschockbehandlung nicht die direkte Insulin- 
wirkung, sondern die durch sie hervorgerufene „Umstimmung 
der vegetativen Regulationen‘“, also die Beantwortung des 
Insulinreizes durch den Organismus darstellt. 

Im einzelnen nicht zu entscheiden ist die Frage, nach der direkten 
| Ursache der Titersteigerung im Anschluß an den Insulinschock. 
! Zu denken ist wohl zunächst an die gegenregulatorische Wirkung 
| des Adrenalins oder anderer sympathicotoner Stoffe, deren Einfluß 
auf den antitryptischen Titer im Sinne einer Steigerung seit 
Crometzka bekannt ist. 

Aber auch die von Jahn gezeigte während des Insulinschocks 
stattfindende, vermehrte Eiweiß-Verbrennung als Ersatz für die 
im Schock fehlenden Kohlenhydrate, insbesondere aber eine Ent- 
leerung des bei den Schizophrenen nachgewiesenen Lebereiweiß- 
depots kann, wie ım nächsten Abschnitt im einzelnen ausgeführt 
werden soll, für die Erhöhung der tryptischen Hemmungskraft im 
Anschluß an den Insulinschock verantwortlich gemacht werden. 


| Manisch-Depressiver Formenkreis 


Die in Tabelle VI zusammengefaßten Ergebnisse lassen folgende 
| Gegebenheiten erkennen: 

Von 24 untersuchten Fällen verhalten sich 15 bezüglich ihrer 
tryptischen Hemmungskraft vollkommen normal. Die restlichen 
9 Fälle bedürfen für eine Verwertbarkeit einer Berichtigung. Die 
Fälle 16, 18, 21 und 24 müssen aus der kritischen Betrachtung 

ı ausscheiden, da infolge vorausgegangener therapeutischer Eingriffe 
(Sterilisation, unspezifische Reiztherapie durch Eigenblutinjektion, 
Cardiazol-Insulinkur) oder gleichzeitiger interkurrenter Erkrankung 
(Gicht, Bronchitis) das Ergebnis der antitryptischen Bestimmung 

| beeinflußt sein kann. 

Nach Abzug dieser Sonderfälle ergibt sich die Tatsache, daß 
von insgesamt 20 zu bewertenden Fällen 15 Fälle mit normaler 


86 


Nr. 


p= 


10 


Name 
Alter 
Geschlecht 


Normalwerte| 50-54 | 29-34 9-12 


Ba. Th. 
57 J. w. 


Hemmungswerte 


Serummenge 
0,5 | 0,25 0,1 


49 


50 


51 


51 


52 


92 


53 


93 


93 


53 


Friedrich Langhammer 


in % 


30 


31 


28 


30 


30 


31 


33 


34 


Tabelle VI 


Manisch-Depressiver Formenkreis 


10 


Senkung 
nach 
Wester- 
green 


6/19 


6/13 


12/35 


12/35 


10/27 


15/37 


6/15 


6/18 


2/6 


28/55 


Diagnose 


Manisch- 
Depr. Irre- 
sein VOrW. 
depress. 


M. D.I. 
vorw. de- 
pressiv 


M. D. 1I. 
vorw. depr. 


M. D.I. 


Depressives 
Zustands- 
bild 


M. D. I. 
vorw. depr. 


M. D.I. 
vorw. depr. 


M. D. I. 


M. D.I. 
vorw. 
manisch 


M. D. I. 
vorw. depr. 


Bemerkungen 


Seit 4 Jahren 


bestehend 


Beginn vor 
WY d. 


Seit 9 Jahren 
bestehend 


Beginn vor 3 J. 


Neue Phase 


seit 1 Monat. 


Beginn vor 43 
Jahren. 


Beginn vor 9 
Jahren 


Augenblicklich 
abklingende 
manische 
Phase. 


Beginn vor 
1 Monat. 


mE — e u 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 87 


Name Hemmungswerte | Senkung 
S h l 
Nr. Alter Se Bi KA nge a Diagnose | Bemerkungen 
Geschlecht 


0,5 | 0,25 | 0,1 | green 


Normalwertel50—54|29-34| 9— 


12 


11 | Schr. S. 
45 J. w. 14/21 |M.D.I|. Seit 1, Jahr 
vorw. depr.| erkrankt, seit 
3 Mo. tgl. 20 
Eh. Insulin. 
12 | Mo. R. 

63 J. w 9/26 M. D. I. 1. Phase vor 
vorw. ma- | 43 Jahren. 
nisch 

13 | St. A. 
41 J. m 3/8 M. D. I. Beginn vor 4 
Monaten. 
14 | Ni. M. 

60 J. m. 12/55 |M. D.I. Beginn vor 43 

vorw. depr.| Jahren 
15 | Kü. I. 

74 J. w 3/8 M. D.I. Beginn vor 26 

vorw. depr.| Jahren. 
16 | Gl. J. 

29 J. w 15/35 |M.D.I. Vor 10 Tagen 

vorw. depr.| sterilisatio le- 
galis. 
17 | No. J. 

65 J. w 6/17 M. D.I. Beginn vor 38 

vorw. depr.| Jahren. 
18 | Ja. L. 

68 J. w 37/61 |M. D.I. Beginn vor 39 
vorw. ma- | J., jetzt Bron- 
nisch chitis, Arthri- 

tis urica. 
19 | Het. S. 
51 J. w. 9/24 M. D.I. Beginn vor 14 
J., augenblick- 
lich leichte 
man. Phase. 
Vor 1 Monat 
Grippe. 
20 | Ke. E. 
63 J. w. 6/13 M. D.I. Seit 4 Jahren 


vorw. ma- bestehend. 
nisch 


88 Friedrich Langhammer 


Name Hemmungswerte | Senkung 
in % nach Í 
Nr. Alter Serummeng È Wester- | Diagnose | Bemerkungen 
Geschlecht 


0,5 | 0,25 | oi || green 


Normalwerte 50—54|29—34| 9—12 


21 | Th. B. M. D. I. Seit mehreren 
33 J. m. 60 -— 17 1/2 vorw. Jahren 
depr. bestehend. 
22 | Ho. A. 
47 J. w. 60 48 15 18/38 |M. D.I. Bis vor 4 Mo. 
vorw. depr.| Gardiazol-In- 
sulin-Kur. 
23 | W. M. 
54 J. w. 61 ] 46 | 16 10/29 |M.D.I. Seit 1⁄4 Jahr 
vorw. depr.| bestehend. 
24 | Gei.M. 
45 J. w. 65 48 19 14/40 |M.D.I. Beginn vor 3 


vorw. depr.| J. Eigenblut- 
behandl. bis 
vor 2 Mon. 


und 5 Fälle (=!/,) mit erhöhten Titerwerten einhergehen, 
für die eine exogene Ursache nicht zu finden war. Auch das klinische 
Bild dieser mit Titersteigerung einhergehenden Fälle zeichnete sich 
durch keine auffallenden Besonderheiten aus. Schon Juschtschenko 
hatte darauf aufmerksam gemacht, daß einzelne Fälle des manisch- 
depressiven Formenkreises im Gegensatz zur Mehrzahl der Fälle 
deutliche Titererhöhungen aufweisen. 

Daß sich die beiden großen Kreise des Manisch-Depressiven 
Irreseins und der Schizophrenie in der Größe der tryptischen 
Hemmungskraft deutlich unterscheiden trotz einzelner, noch nicht 
erklärbarer Ausnahmen, läßt die Kurve II deutlich erkennen, die 
den aus sämtlichen reinen Fällen in beiden Gruppen gezogenen 
Durchschnitt darstellt. 

Danach liegen die Durchschnittswerte der Manisch-Depressiven 
nur ganz wenig (etwa um 1%) über der Normaldurchschnitts- 
kurve, während die Schizophreniekurve die Manisch-Depressive 
um etwa 3—4% übertrifft. 

Durch diese Untersuchungen werden die von früheren 
Autoren gemachten Feststellungen bestätigt, daß die 
Mehrzahl der Schizophrenien (etwa ?, der untersuchten 
Fälle) mit Erhöhung der tryptischen Hemmungskraft 
einhergeht, während sich die Mehrzahl der Manisch- 
Depressiven (?/, der untersuchten Fälle) bezüglich ihres 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 89 


_ antitryptischen Serumtitersnormalverhält. In Anbetracht 


der relativ großen Anzahl der ‚Ausnahmen‘ und der vielen Mög- 
lichkeiten anderweitig verursachter Titererhöhung erscheint es 


HEMMUNG {N % 
x 


SERUMMENGE 
Kurve II 


jedoch nicht gerechtfertigt, die Bestimmung des antitryptischen 
Serumtiters zu differentialdiagnostischen Entscheidungen heran- 
zuziehen. 


Epilepsien (Tabelle VII) 


Angefügt seien noch drei Titerbestimmungen bei Epileptikern. 
Obgleich sie alle seit längerer Zeit anfallsfrei waren, wiesen sie 
doch eine gesteigerte tryptische Hemmungskraft auf. Dadurch 


% Friedrich Langhammer 


reihen sie sich ebenso wie in anderen stoffwechselmäßigen Be- 
sonderheiten der Gruppe der Schizophrenien an. 


Die einzelnen Daten sınd aus der Tabelle zu ersehen. 


Tabelle VII 


Genuine Epilepsie 


Name Hemmungswerte | Senkung i 
j e 
Nr. Alter S ERA LOR ge Wi a Diagnose | Bemerkungen 
Geschlecht 


0,5 | 925 | 0,1 | reen 


30 J. w. 57 39 15 5/14 Genuine 1. Anfall vor | 
Epilepsie 14 J., letzter 
Anfall vor et- 


wa 3 Mo. 
2 | Hi. K. | 
26 J. m. 58 38 — 2/5 Genuine Erster Anfall 
Epilepsie vor 7 J. Vor 
1 Jahr Status 
epilepticus, | 
letzter Anfall | 
vor etwa 2° 
Monaten 
3 | Ge. M. 
23 J. w. 63 45 15 35/56 | Genuine 1. Anfall vor 
Epilepsie 5 Monaten 
Debilität 
Schlußbemerkungen 


Zu erörtern ist noch die schwierige Frage: was bedeutet eine 
Erhöhung der tryptischen Hemmungskraft ım allgemeinen 
und insbesondere bei einem Teil der endogenen Psychosen ? Die 
Antwort darauf kann schon deswegen nicht klar und eindeutig 
sein, als — wie bereits erörtert — auch die Natur des ‚Antitryp- 
sins“ keineswegs klargestellt ist. 

Allgemein ausgedrückt kann man sagen, daß Veränderungen 
des antitryptischen Titers Ausdruck einer Störung ım stoff- 
wechselphysiologisch-hormonalen Gleichgewicht sind. 

Die Tatsache, daß es sich um eine Eigenschaft des Serums 
handelt, die eine dem Eıweiß-spaltenden Ferment Trypsin ent- 
gegengesetzte Wirksamkeit entfaltet, weist uns von vornherein 
auf den Eiweiß-Stoffwechsel hin. Versuchen wir ferner, ein Gemein- 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 9] 


sames zu finden, das die mit Titersteigerungen einhergehenden 
somatischen Krankheiten wie z. B. Infektionen, Thyreotoxikosen, 
Nephritis, Carcinome und andere maligne Tumoren auszeichnet, 
so stoßen wir wiederum auf den Eiweißstoffwechsel, insofern als 
bei allen erwähnten Krankheiten qualitative oder quantitative 
Veränderungen desselben mit im Spiele sind. 

Und darin stimmen auch fast alle früheren Untersucher, die 
sich mit den Beziehungen zwischen der tryptischen Hemmungs- 
kraft und den Geisteskrankheiten befaßten, überein, daß ent- 


weder Gewebsabbau, parenteraler Eiweißzerfall oder überhaupt 


> + kd 
-—_— m —— 


Störungen des Eiweißstoffwechsels im Zusammenhang mit dem 
erhöhten antitryptischen Titer bei einem Teil der Geisteskrank- 
heiten stünden. 

Am naheliegendsten war die Annahme, daß die Störung in dem 
Organ zu suchen sei, das als Sitz der Erkrankung galt, im Gehirn. 
Gestützt wurde diese Anschauung durch die Tatsache, daß gerade 
bei den organischen Erkrankungen des Zentralnervensystems, wie 
Paralyse, cerebrale Sklerose erhöhte Titerwerte gefunden wurden. 
Auch die von Fauser (15) und Wegener (16) gefundene und im 
Sinne von Abderhalden als spezifische Reaktion gedeutete Er- 
scheinung, daß sich im Serum von Schizophrenen und Epileptikern 
spezifisch auf Gehirnsubstanz eingestellte Spaltungsfermente be- 
finden, sprach in diesem Sinne. Auch reihte sich die nachher als 
falsch erkannte Meinung, daß die Lipoide, die ja beim Gehirnabbau 
in besonders reichlichem Maße frei werden, die Träger der anti- 
tryptischen Kraft seien, gut in diesen Anschauungskreis ein. 

Dazu ist zu sagen, daß die auf Grund der Abderhaldenschen 
Reaktion gewonnenen Ergebnisse später wohl hauptsächlich auf 
Grund der schwierigen Methodik hart umstritten und zum min- 
desten als organspezifische Reaktion abgelehnt wurden. 

Sodann ist es, trotz vorübergehender gegenteiliger Ansicht bis 
heute nicht bewiesen, daß bei den Schizophrenen und Epileptikern 
tatsächlich ein Abbau von Gehirnsubstanz stattfindet. Es fehlt 
bis heute das entsprechende pathologisch-anatomische Substrat 
dafür. (Spielmeyer, Peters). Die biochemischen Untersuchungen 
auf Lipoidvermehrung im Liquor bei den endogenen Psychosen 
fielen ebenfalls negativ aus ( Riebeling). 

So ist es wohl erforderlich, die Störung des Stoffwechsels nicht 
organgebunden im Gehirn, sondern im allgemeinen Körper-Eiweiß- 
stoffwechsel zu suchen. 

Es besteht somit die Frage: Haben wir Beweise für das Vor- 
handensein von Störungen im Eiweißstoffwechsel bei den endo- 


92 Friedrich Langhammer 


genen Psychosen ? Sie ist zunächst mit Sicherheit für die Schizo- 
phrenie und Epilepsie zu bejahen. 


Schon in der seit langem bekannten gesteigerten Harngiftigkeit | 


bei Dementia praecox und Epilepsie haben Pfeiffer und Albrecht (23) 
einen Hinweis dafür gesehen, daß es sich bei diesen Erkrankungen 
um eine „Eiweißzerfallstoxikose‘‘ handeln könnte. Als objektiver 
Befund dafür konnte zunächst nur die von Rosenfeld (24) und 
Rohde (25) gemachte Beobachtung angeführt werden, daß Geistes- 
‘kranke der Dementia praecox-Gruppe und Epileptiker eine auf- 
fallende Neigung zur Stickstoffretention besitzen. Pfeifer und De 
Crinis (9) konnten schließlich noch auf eine gewisse Ähnlichkeit 
von Retentionsurämie und Epilepsie hinweisen, ferner auf die Dis- 


position der Schwangeren und Tumorkranken zu psychischen Er- 


krankungen und Halluzinationen, an die Delirien bei Verbrühungen 
und Verbrennungen, also auf Erkrankungen, bei denen jeweils 
toxische Eiweiß-Abbauprodukte eine ursächliche Rolle spielten. So 
machten auch sie im Blute kreisende Abbauprodukte des Eiweiß- 
stoffwechsels — die für sie auch zugleich ‚Antitrypsin‘‘ waren — 


direkt für die psychischen Störungen verantwortlich, wobei sie | 


allerdings auf die Schwierigkeiten hinweisen, so vielgestaltige und 
verschiedenartige psychische Krankheitsbilder aus einer übergeord- 
neten Stoffwechselerkrankung zu erklären. 

Im übrigen aber gab es damals kaum eindeutige und unwider- 
sprochene Befunde, die für eine Störung im Eiweißstoffwechsel 
bei den Schizophrenien und anderen endogenen Psychosen sprachen. 
Noch Wuth (26) schreibt bezüglich der Schizophrenien: ‚Was 
den Stoffwechsel anlangt, so scheint der Eiweißstoffwechsel normal 
zu sein, aus den Angaben verschiedener Autoren kann man viel- 
leicht vermuten, daß der Eiweißbedarf ein niedriger ist‘. 

Erst durch umfangreiche systematische Untersuchungen über 
den Stoffwechsel der Geisteskrankheiten in neuester Zeit (Jahn, 
Gjessing) gelang es weiter zu kommen und eine Menge stoflwechsel- 
mäßiger Eigentümlichkeiten, insbesondere im Eiweißstoflwechsel 
aufzudecken. 

Die erwähnte Stickstoffretention wird von Gjessing (27) für das 
wohlumschriebene Bild der periodischen Katatonie, von Jahn (28) 
überhaupt als Eigentümlichkeit des schizophrenen Stoffwechsels 
bestätigt. Daß diese Stickstoffrentention bei den Schizophrenien 
keine zufällige Nebenerscheinung außerhalb des psychischen krank- 
haften Geschehens ist, sondern daß sie in innıgem Zusammenhang 
mit dem Krankheitsbild steht, beweist Gjessing (29) besonders 
eindrucksvoll durch den günstigen therapeutischen Einfluß, den 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 93 


-= Thyroxin sowohl auf die Verhinderung des Stickstoffansatzes, wie 


auch gleichzeitig auf die psychischen Symptome der periodischen 


 Katatonie ausüben konnte. 


Verantwortlich für diese Stickstoffretention ist nach Jahn eine 
fermentative Eiweiß-Abbaustörung in der Leber, die zu einem ver- 
mehrten Leber-E.W-Depot führt. Dieses konnte auch durch die 
prompte Ausscheidung des gespeicherten Stickstoffs nach Erzeugen 


.- eines Phloridzin-Diabetes nachgewiesen werden. Dabei erfuhren die 


Harnsäurewerte zunächst keine Steigerung, ein Zeichen dafür, daß 


. der ausgeschiedene Stickstoff nicht aus dem Körperzellzerfall 


stammen konnte. 
Diese Tatsachen deuten auf eine Funktionsstörung der 


- Leber hin. Daß die Leber im normalen Stoffwechsel eine wichtige 
Stelle einnimmt, ist seit langem bekannt. Aber auch im krankhaft 
- veränderten Stoffwechsel der Schizophrenen, der nach Jahns (30) 


‘ Untersuchungen in vielen Punkten nur eine Steigerung des Asthe- 
- nikerstoffwechsels darstellt, haben wir weitere Hinweise für die 


WA Rs 
— r 


maßgebende Beteiligung der Leber. 


Am meisten interessiert in diesem Zusammenhang die für die 
Mehrzahl der Schizophrenen bewiesene Glykogenarmut der Leber, 


die sich aus dem frühzeitigen Auftreten von Ketonkörpern im Harn 


bei dem schon erwähnten Phloridzindiabetes kund tut. Ihr kommt 
insofern auch für die festgestellte Störung des Eiweißstoffwechsels 
eine erhöhte Bedeutung zu, als bekannt ist, daß ein bestimmter 
Glykogengehalt der Leber Voraussetzung für ıhre regelrechte Funk- 
tion ist. 

Der Beweis dafür wurde im Tierversuch von Fischler (31) er- 
bracht: Schaltet man bei einem Hunde die Leber durch Anlage 
einer sogenannten Eck’schen Fistel, d.h. durch Herstellung einer 
Verbindung zwischen Pfortader und Vena cava inferior aus ihrer 
beherrschenden Rolle im Stoffwechselgeschehen aus, läßt man das 
Tier außerdem hungern oder setzt man es unter Phloridzinwirkung, 


' so entwickelt sich ein Krankheitsbild, das durch Hypoglykämie, 


vollkommene Glykogenverarmung von Leber und Muskulatur, 
Alkalose, verringerten Harnstoflfgehalt des Urins (ohne gleichzei- 
tiges Ansteigen der Ammoniakwerte) gekennzeichnet ist und das 
Fischler „Glykoprive Intoxikation“ nennt. Wichtig ist dabei, daß 
beim Versuchstier gleichzeitig zentralnervöse Störungen beobachtet 
werden: Erregungszustände, eine gewisse Bösartigkeit, schließlich 
tonisch-klonische Krämpfe, die in ein Coma und Exitus über- 
gehen können. Nach Fischler sind infolge ungenügender, durch 
Glykogenarmut verursachter Lebertätigkeit toxische, unvollkom- 


94 Friedrich Langhammer 


men gespaltene Abbauprodukte des Eiweißstofiwechsels entstanden 
und zur Ursache für das erwähnte Krankheitsbild geworden. 

Ungefähr um die gleiche Zeit hatten v. Bergmann und Gulecke (32) 
bei der experimentell erzeugten Pankreasnekrose ein ähnliches 
Krankheits- und Vergiftungsbild hervorgerufen, das vom autoly- 
tisch zerfallenden Pancreasgewebe und den dabei entstehenden 
Eiweißspaltprodukten ausgeht. Beachtenswert ıst dabei, daß sie 
durch Vorbehandlung mit subcutanen Trypsininjektionen eine weit- 
gehende Schutzwirkung dieser Vergiftung gegenüber erzielen 
konnten. 

Jahn (33) stellt vom Standpunkt des Klinikers aus die Frage, 
ob wir körpereigene Abbauprodukte des Eiweißstoflwechsels kennen, 
die ähnliche Stoffwechselveränderungen hervorrufen, wie sie vom 
Stoffwechsel der Schizophrenen her bekannt sind und nennt das 
Histamin und dessen Muttersubstanz das Histidin. Er weist dann 
im einzelnen nach, daß die Alkalose der Schizophrenie infolge 
starker Säureverluste durch den Magen und CO, Abatmung, ferner 
die Neigung zu Hypoglykämien, zu niederen Blutdruckwerten, die 
Bluteindickung, wie sie bei der tödlichen Katatonie besonders auf- 
fällt, der Serumaustritt aus der Blutbahn infolge Kapillarwand- 
schädigung, die vermehrte Neubildung von roten Blutkörperchen, 
zu den ausgesprochenen Histaminwirkungen zählen. 

Durch diese Untersuchungen ist gezeigt, daß wir tatsächlich 
einige der bisher hypothetisch angenommenen toxischen Eiweiß- 
spaltprodukte kennen, die ähnliche Wirkungen auszulösen im- 
stande sind, wie sie in den Stoffwechselstörungen der Schizophrenen 
vorliegen. Jahn (28) ist „auf Grund dieser Ergebnisse überzeugt, 
daß die Ursache der körperlichen Zeichen der Krankheit eine 
aminotoxische ist, ohne vorerst Wert auf die tatsächliche Beteili- 
gung der zu diesem Nachweis benutzten Stoffe zu legen‘. 

Mit dem Nachweis dieser Störungen im Eiweißstoffwechsel bei 
einem großen Teil der Schizophrenen und Epileptiker ist auch 
eine gewisse Erklärungsmöglichkeit für die Erhöhung des antı- 
tryptischen Serumtiters bei der Mehrzahl dieser Kranken gegeben, 
trotzdem die Natur und das Wesen der antitryptischen Fähig- 
keiten des Blutserums noch unklar ist und wir im einzelnen noch 
weit davon entfernt sind, alle mithereinspielenden und ineinander- 
greifenden biologischen Vorgänge zu überblicken. 

Im vorliegenden Fall von untergeordneter Bedeutung ist jedoch 
die Frage, die offenbleiben muß, wodurch im einzelnen die Titer- 
steigerung bei den Schizophrenien und Epilepsien hervorgerufen 
wird. Sind es bei der vorliegenden Eiweißstoffwechselstörung in 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 95 


der Tat vermehrt freiwerdende Eiweiß-spaltende Fermente ? Oder 
sind es toxische Eiweisabbauprodukte, die direkt oder auf dem 
Umweg über nervöse Regulationen das Serum im Sinne einer 
gesteigerten Hemmungsfähigkeit gegenüber der Trypsinwirkung 
verändern ? 

Der Gruppe der Schizophrenien und Epilepsien mit dem eben 
ausgeführten Besonderheiten im Stoffwechsel, sowie im Verhalten 
des antitryptischen Serumtiters steht auf der anderen Seite die 
. manisch-depressive Gruppe gegenüber. 

-  Gleichlaufend mit der Tatsache, daß bis heute keine sicheren Er- 
. gebnisse vorliegen, die den Stoffwechsel der manisch-depressiven 
Gruppe in einzelnen charakteristischen Punkten vom Stoffwechsel 
des Normalen unterscheiden ließen, ferner, daß insbesondere keine 
. Störungen des Eiweißstoffwechsels bekannt sind, geht die Fest- 
stellung, daß auch der antitryptische Serumtiter in der Mehrzahl 
- der Fälle der Norm entspricht. Wenn Allers (34) 1910 über das 
 Manisch-Depressive Irresein schreibt, daß ‚wenn es überhaupt 
eine ätiologisch bedeutsame Störung geben sollte, uns dieselben 
heute noch ganz unbekannt sind‘, so deckt sich dies mit der Fest- 
stellung von Wuth (26) 1928; „daß qualitative und quantitative 
Störungen des Eiweißstofiwechsels nicht mit dem Manisch-de- 
pressiven Irresein verbunden sind‘. 

Das Fehlen nachweisbarer Stoffwechselstörungen bei dem Ma- 
 nisch-depressiven Irresein und das gleichzeitige normale Verhalten 
des antıtryptischen Serumtiters kann als indirekter Beweis für die 
| Richtigkeit der für die Gruppe der Schizophrenien vorgebrachten 

Anschauungen angesehen werden. 


Zusammenfassung 


1. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse über den antitryp- 

tischen Serumtiter bei den somatischen, sowie besonders bei den 
1 Geisteskrankheiten werden angeführt und kurz besprochen. 

' 2. Die Frage nach der Natur des ‚Antitrypsins‘, die ım Laufe 
i der Zeit eine verschiedene Beantwortung, aber bis heute keine 
| endgültige Lösung erfahren hat, wird erörtert. 

3. Die zu den eigenen Untersuchungen benützte Methode wird 
im einzelnen beschrieben. 

4. Es wird über eigene Untersuchungen des antitryptischen 
Serumtiters bei 27 Schizophrenen, 24 Manisch-Depressiven, 3 Epi- 
leptikern, sowie über das Verhalten des antitryptischen Titers ım 
Insulinschock berichtet. 


96 Friedrich Langhammer 


Dabei ergibt sich, daß die Mehrzahl der Schizophrenien (etwa 
2/ der untersuchten Fälle) mit deutlichen Titersteigerungen ein- 
hergeht, wobei ein Zusammenhang von Schwere und Verlaufsart 
der Erkrankung mit der Höhe der tryptischen Hemmungskraft 
festzustellen ist. Eine Bevorzugung bestimmter klinischer Erschei- 
nungsformen der Schizophrenie in der Gruppe mit erhöhter oder 
mit normaler tryptischer Hemmungskraft, war nicht eindeutig 
nachzuweisen. 


Das Verhalten des antıtryptischen Titers im Insulinschock zeigt, 
daß zunächst als Folge direkter Insulinwirkung die tryptische 
Hemmungskraft etwas sinkt, um anschließend an die Schock- 
unterbrechung stark, d.h. über die Ausgangswerte anzusteigen. 


Bezüglich der Manisch-depressiven Gruppe wurde festgestellt, 
daß die Mehrzahl (?/, der untersuchten Fälle) einen normalen anti- 
tryptischen Serumtiter besitzt. 

Somit besteht auch hinsichtlich der tryptischen Hemmungskraft 
ein deutlicher Unterschied zur Gruppe der Schizophrenien. Dieser 
wird an Hand einer kurvenmäßigen Aufzeichnung der Durch- 
schnittswerte beider Gruppen deutlich dargestellt. 

Die 3 Epilepsien zeigen trotz derzeitiger Anfallsfreiheit aus- 
nahmslos erhöhte Titerwerte. 

5. Es wird versucht, die Erhöhung der tryptischen Hemmungs- 
kraft bei den Schizophrenien in Zusammenhang zu bringen mit 
den bei dieser Gruppe nachgewiesenen Störungen im Körper- 
eiweißstoffwechsel. Für diesen Zusammenhang spricht auch das 
Fehlen derartiger Stoffwechselstörungen bei der Manisch-depressi- 
ven Gruppe bei meist normalem Verhalten ihres antitryptischen 
Serumtiters. 


Herrn Professor Dr. Jahn bin ich für die freundliche Überlassung 
des Themas, für die Übernahme des Referates und für viel- 
fältigen Rat während der Durchführung der Arbeit zu großem 
Danke verpflichtet. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Hahn, Berl. kl. W. 1897, 499. — 2. Wiens, Dtsch. Arch. klin. Med. 91. 
465, 1907. — 3. Marcus, Berl. kl. W. 1908, 689. — 4. Brieger und Trebins. 
Berl. kl. W. 1908, 1041, 2260. — 5. v. Bergmann und Meyer, Berl. kl. W. 
1908, 1673. — 6. Jasch, M.M. W. 1909, Heft 44. — 7. Rosental, Z.f.ges. Neur.3. 
588, 1910. — 8. Juschtschenko, Zschr. f. ges. Neur.8, 153, 1912. — 9. Pfeiffer und 
De Crinis, Ztschr. f. ges. Neur. 18, 428, 1913. — 10. Zimmermann, Ebenda, 86. 
59, 1917. — 11. Bolten, Mschr. Psychiatr. 43, 215, 1918. — 12. Kafka, Fran- 


he De en E En a aa 


Sirie 


Zur Konvulsionstherapie der Schizophrenie. 


Auch in Kombination mit Insulin (Summation, alter- 


nierende und gekreuzte Behandlung). 


. Dosierung der ersten Injektion bei der Konvulsions- 
therapie der Schizophrenie nach v. Meduna: zu- 


meist § ccm (bei weiblichen Patienten 4 ccm). 


Wird kein Krampfanfall ausgelöst, Wiederholung 
der Injektion einer um ı ccm erhöhten Dosis nach 


2 Minuten. 


Besonders wirtschaftlich: 


10g Cardiazol-Lösung zur Injektion ie E 
5og Cardiazol-Lösung zur Injektion de er en 


KNOLL A.-G., Ludwigshafen am Rhein 


Untersuchungen über den antitryptischen Serumtiter usw. 97 


tisch und Hlava, Zbl. f. Neur. u. Psych. 86, 56, 1924. — 13. Chrometzka, 
Ztschr. f. ges. Exp. Med. 69, 656ff, 1930, 80, 394 ff, 1932. — 14. Müller 
und Jochmann, M.M.W. 1909, Heft 29. — 15. Fauser, Dtsch. med. Wschr. 
1912, Heft 52. — 16. Wegener, M.M.W. 1913, Heft 22. — 17. Döblin, Z. Immu- 
nitforsch. 4, 224, 1910. — 18. Hedin, Z. physical. Chem. 57, 468, 1908. — 
19. Schierge, Z. exp. Med. 82, 142, 1923. — 20. Rona, Weber, (zitiert) Handb. 
der norm. und path. Physiol. 8. — 21. Utkin, Ljubowzow, Biochem. Z. 188, 
134, 1927. 194, 292, 1928. — 22. Jahn, Verhandl. d. Ges. f. Verd. u. Stoffw. 
Kr. H. XIV. Tagg. Stuttg. 1938. — 23. Pfeiffer und Albrecht, Z. f. ges. Neur.9, 409, 
1912. — 24. Rosenfeld, Allg. Z. Psychiatr. 68, 1906. — 25. Rhode, Dtsch. 
Arch. klin. Med. 95, 1908. — 26. Wuth, in Bumke’s Handb. d. Geisteskrank- 
heiten 8, 1928. — 27. Gjessing, Arch. Psychiatr. 96, 319, 1932. — 28. Jahn, 
Nervenarzt, 11, 500, 1938. — 29. Gjessing, Arch. Psychiatr. 109, 525, 1939. — 
30. Jahn, Kli. Wschr. 17, 1, 1938. — 31. Fischler, Physiol. u. Pathol. der 
Leber, 1926. — 32. v. Bergmann und Gulecke, M.M.W. 587, 1673, 1910. — 
33. Jahn und Greving, Arch. Psychiatr. 105, 105, 1936. — 34. Allers, J. Psy- 
chol. u. Neur. 16, 240, 1910. 


T Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1 2. 


Zur Frage der Verwertbarkeit der Serum-Tataka- 


reaktion bei Psychosen, mit Bemerkungen über 


das Wesen der Reaktion 


Von 
Dr. Th. Strobel 


(Aus dem Serologisch-bakteriologisch-chemischen Laboratorium [Leitender 


Oberarzt: Oberarzt Dr. med. habil. Riebeling] der Psychiatrischen und Nerven- 
klinik der Hansischen Universität Hamburg [Direktor: Prof. Dr. Bürger- Prinz] 


(Eingegangen am 18. August 1939) 


Von internistischer Seite wird die Takatareaktion im Serum für 
eine der zuverlässigsten und gleichzeitig für den Patienten schonend- 
sten Leberfunktionsproben gehalten. Sie eignet sich danach zur 
Differentialdiagnose zwischen diffuser Leberparenchymschädigung 


| 


| 


— vor allem der Hepatitis — einerseits und verschiedener Arten von. 
Stauungsikterus andererseits. Das Ergebnis ist dabei völlig unab- 


hängig von der Bilirubinretention und dem Ausfall der Blutkörper- 
chensenkungsgeschwindigkeit. Darüber hinaus ist die Takatareak- 


tion allerdings auch positiv bei gewissen Fällen vom Myelom, 


Nephrosen bzw. Nephrititiden und Tuberkulose. 

Die zahlreichen experimentellen und klinischen Untersuchungen 
zur Aufdeckung von Stoffwechselstörungen bei Psychosen und vor- 
nehmlich der Schizophrenie haben bisher einige recht wichtige Hin- 
weise ergeben. Hier interessieren uns ausschließlich die Befunde über 
den Leberstoffwechsel bei den schizophrenen Erkrankungsformen. 


Den Anstoß hierzu haben die ausgezeichneten Untersuchungen von - 


Lingjaerde gegeben. 
Aus den Beziehungen zwischen der in etwa 80% der Fälle nach- 
gewiesenen Urobilinurie und Ketonurie und den jeweiligen Kalorien 


Eiweiß-, Fett- und Kohlehydrat der Nahrung konnte er ein Kohle- 


hydratdefizit für den Schizophrenen nachweisen. Es kommt dadurch 


nach seiner Meinung zur Glykogenverarmung und damit zur Leber- 
schädigung. Weiterfolgernd bringt er zum Ausdruck, daß eine er- 


höhte Urobilinurie auch Symptom einer Leberschädigung im eigent- 
lichen Sinne (also toxisch, infektiös oder anatomisch bedingt) sein 


Zur Frage d. Verwertbarkeit d. Serum-Takatareaktion b. Psychosen usw. 99 


kann. Sowohl Zingjaerde als auch Buscaino u. a. nehmen weiterhin 
an, daß „enterogene Intoxikationen‘‘ sowie evtl. auch vom Paren- 
-chym ausgehende Wirkungen für die Pathogenese der Leberstörun- 
gen bei den schizophrenen Erkrankungen von Bedeutung 
sind. 

Aus dieser Vorstellung heraus wurde dann in der Folgezeit zur 
 Aufdeckung der immerhin möglichen Leberschädigung von zahl- 
` reichen Nachuntersuchern neben den üblichen experimentellen 

Untersuchungen, auf deren Ergebnisse hier nicht eingegangen wer- 
den soll, auch die Takatareaktion angewandt. 


Es wurden damit noch sehr unterschiedliche Resultate erzielt. 
Die anfänglich etwas optimistische Meinung hat aber im Laufe der 
letzten Jahre einem gewissen Pessimismus weichen müssen. Man 
fand neben einem prozentual sehr geringen positiven Ausfall der 

‚ Takatareaktion bei der Schizophrenie außerdem noch mehr oder 
minder starke positive Reaktionen bei Cerebralsklerosen, Epilepti- 
kern, Paralytikern, endogenen Depressionen und postencephaliti- 

schen Zustandsbildern. 


Ä So erzielte Cassiano überwiegend positive Resultate bei chronischem 
: Alkoholismus und Schizophrenie, während Büchler bei Enzephalitikern in 
- 50% seiner Fälle positive Ergebnisse, dahingegen bei den Schizophrenen 

nur negative Reaktionen nachweisen konnte. Zu denselben Ergebnissen bei 
den Schizophrenen kam auch Cramer. 


In einem etwa gleich großen Prozentsatz fanden Zanetti und Bianchini 
bei sämtlichen untersuchten Psychosen positive Reaktionen. Den höchsten 
- Prozentsatz stellten sie bei den Senilen fest. Er war sogar höher als bei den 
klinisch manifesten Leberkrankheiten. Sehr viel weniger positive Befunde — 
wenngleich auch immer noch in der Hälfte alle Fälle positiv — erzielten sie 
bei den Schizophrenen. Nach der Malariabehandlung stiegen die positiven 
Resultate wieder an. Inwieweit hier eine Malariaschädigung der Leber vor- 
liegt, ist nicht zu entscheiden. 


Bei jeweils 15 Fällen von progressiver Paralyse und Epilepsie konnte 
La Monica ausnahmslos positive Takatareaktionen erzielen. Er bezieht diesen 
- positiven Ausfall auf einen latenten Hepatismus. Der Tatsache, daß bei den 
‚ Schizophrenen die positiven Reaktionen geringer waren, schenkt er keine 

genügende Beachtung. Sehr optimistisch äußert sich Nagy. Er mißt der 

Takatareaktion zum Nachweis von Leberschädigungen bei den verschiedensten 
-` Nerven- und Geisteskrankheiten sogar diagnostische Bedeutung bei (200 unter- 
suchte Fälle). Über besonders viele positive Befunde bei chronischem Alko- 
. holismus und Paralyse berichtet Contini. Seine 61 Fälle von Dementia praecox 
weisen in 58,5%, positive Ergebnisse auf. 


Einen Schritt weiter geht Padovanı. Er stellte später und unabhängig 
von uns vergleichende Untersuchungen über das Verhalten der Takata- 
reaktion vor und während der Insulinschocktherapie von Schizophrenen an. 
{ Nur in 2,7% von insgesamt 189 untersuchten Seren findet er schwach positive 
Reaktionen. Untersucht wurden 14 Schizophrene und 6 Manisch-Depressive. 


7° 


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100 Th. Strobel 


In seinen Schlußfolgerungen weist er darauf hin, daß die Insulinschock- 
therapie keine zusätzliche Leberschädigung bewirkt bzw. wenn eine solche 
nachweisbar ist, tritt sie geringfügig und zeitlich begrenzt in Erscheinung. 
Darüber hinaus meint Podavanı sogar, daß durch die Insulinbehandlung 
die Leberfunktion eher angeregt als gehemmt wird. Bezüglich der Wertigkeit | 
der Takatareaktion in klinischer und diagnostischer Hinsicht wird neuerdings 
fast übereinstimmend von psychiatrischer Seite zum Ausdruck gebracht, dat 
der Takatareaktion eine Spezifität zur Aufdeckung von Leberschädigungen | 
nur bedingt zuzumessen sei. Es wird darauf hingewiesen, daß es sich vielmehr 
um eine kolloid-chemische Veränderung der Serumeiweißkörper handelt, für 
die die Reaktion ein besonders empfindlicher Nachweis ist. Unter vielen 
anderen Möglichkeiten kann diese Veränderung der Serumeiweißkörper unter 
bestimmten Voraussetzungen auch einmal hepatogenen Ursprungs sein. 

Daß bei alten SchizophrenenVeränderungen der Plasmalabilität oder des 
Fibrinogengehaltes auftreten können, ist vor Jahren von ARiebeling und 
Strömme schon nachgewiesen worden. 


Wir untersuchten die Seren einer Reihe von Psychosen verschie- | 
denster Art auf ihr Verhalten zur Takatareaktion. Das Material um- ' 
faßt 172 Fälle, deren Hauptgruppen in der Tabelle I angegeben sind. 


Tabelle I 
Zahl der Takatareaktion: 
Diagnose untersuchten 

Seren positiv negativ 
Schizophrenie . . 2.22.22... 96 (7 +1) 88 - 
Endogene Depression B p M ng 18 3 (2 + 1) 15 
Manische Erregung . 9 — 9 
Senile Verwirrtheit, Apoplexie; Zer- 

bralsklerose; senile en ; 16 3 13 

Paralyse . . TEN er 12 1 11 
Psychopathie . in a $ 8 — 8 
Chron. Alkoholismus re 5 — 5 
Epilepsie. .. .. ; 2 — 2 
Postenzephalitische Folgezustände i 2 — 2 


Die restlichen Fälle verteilen sich auf je einen Fall von angebore- 
nem Schwachsinn, Amentia bei akuter Glomerulonephritis, Puerpe- 
‘ ralpsychose und akute Polyarthritis. (Alle negativ.) 

Von den positiven Reaktionen müssen ausgeschieden werden ein 
Fall von Schizophrenie, bei dem im Verlauf einer febrilen Episode 
eine akute Glomerulonephritis auftrat, und ein Fall von endogener 
Depression, bei dem die positive Takatareaktion auf einen inter- 
currenten katarrhalischen Icterus zurückzuführen ist. 

Eine Abhängigkeit des Ausfalls der Takatareaktion 
von der Insulinschocktherapie bei den Schizophrenen 
konnten wir nicht nachweisen. Wir untersuchten eine Reihe 
von Seren vor, während und nach der Insulinkur und fanden stets 


Zur Frage d. Verwertbarkeit d. Serum-Takatareaktion b. Psychosen usw. 101 


negative Reaktionen. Die 7 positiven Reaktionen wurden 2mal 
nach Abschluß und 5mal während der Kur gefunden. Gröbere Stoff- 
wechselstörungen bzw. begleitende interne Leiden lagen hierbei 
nicht vor; auch nicht bei den positiven Reaktionen der endogenen 
Depressionen. Die positiven Reaktionen bei den Paralysen und den 
senilen bzw. cerebralsklerotischen Zustandsbildern können natür- 


lieh als durch eine latente Leberschädigung bedingt angesehen wer- 


den. Der Bilirubinspiegel im Blut war nachweislich nicht erhöht. 
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß wir bei Geistes- 
und Nervenkrankheiten nur in sehr wenigen Fällen 
positive Takatareaktionen fanden. 

Die Befunde selbst wurden nach der Vorschrift von Jezler aus- 
gewertet, d. h. es wurde nur dann eine positive Reaktion ange- 
nommen, wenn mindestens in 3 Röhrchen (ab Verdünnung 1 : 32) 
deutliche Flockung nachweisbar war. Bei der Durchsicht unseres 


Materials stießen wir immerhin auf eine nicht unerhebliche Anzahl 


ee 


von Ergebnissen, bei denen sich entweder nur in einem oder auch 
mitunter in zwei Röhrchen Flockung gezeigt hatte. Diese rechneten 
wir nicht zu den positiven Befunden. Eine Abhängigkeit von irgend- 
welchen klinischen und serologischen Voraussetzungen ließ sich mit 
Sicherheit nicht feststellen. Wir verzichten daher auf eine diesbe- 
zügliche Gegenüberstellung. Immerhin konnten wir aus diesen Be- 
funden doch entnehmen, daß es sich beı diesen ein- bzw. zweimaligen 
Flockungen irgendwie doch um eine Labilitätsreaktion handeln muß, 
die ursächlich auf eine — unter anderen möglichen Bedingungen — 
hepatogene Veränderung der Serumeiweißkörper zurückgeführt 
werden kann. Riebeling konnte an Hand seiner Salzsäure-Collargol- 
reaktion nachweisen, daß ein bestimmter Verdünnungsgrad des 
Serums und auch des Liquors von ausschlaggebender Bedeutung 
war für den Kurvenverlauf seiner Reaktion, deren Prinzip darauf 


- beruht, daß die das Silbersol fällende n 500 Salzsäure durch Liquor 
und vor allem durch Serum bis zu einem gewissen Veerdünnungsgrad 


geschützt wird. Das wirksame Prinzip ist restlos noch nicht gefunden; 
geprüft werden die schützenden Kräfte der kolloidalen Lösungen, 
nicht wie bei den anderen Kolloidreaktionen die ‚fällenden‘ Kräfte. 
Offenbar sind nicht nur kolloidal — sondern auch molekular gelöste 
Substanzen andem Ausfall der Reaktion beteiligt. Wir differenzierten 
daher die Takatareaktion mit einer Verdünnungsreihe von 1 :20, 
1:30,1:40,1:50u.f. Dabei ergab sich, daß die ein- oder zwei- 
mal das Quecksilberoxvdsol fällenden Seren, diesmal drei- und mehr- 
mals Flockung bewirkten; allerdings niemals über eine Verdünnung 
von 1 : 90 hinaus. Wenn die Erklärung dieses Phänomens restlos 


102 Th. Strobel 


noch nicht gelingt, so kann man doch mit großer Wahrscheinlich- 
keit annehmen, daß bei der positiven Takatareaktion Faktoren mit- 
wirken, die nicht nur auf die mengenmäßige Verteilung der Eiweiß- 
körper zurückzuführen sind. 

Von internistischer Seite allerdings wird die positive Takata- 
reaktion zumeist auf eine Verschiebung des Albumin-Globulin- 
quotienten (auf unter 1.0) zurückgeführt (Skouges, Lazarros, Vigadas 
u. a.). Wir bestimmten daher mittels der Eiweißrelationsmethode 
(nach Kafka-Samson) den jeweiligen Gesamteiweiß-, Globulin- und 
Albuminanteil der takatapositiven und -negativen Seren (aus Ver- 
dünnung 1 :200). Bei den takatapositiven Seren bewegte sich der 
Globulin-Albuminquotient zwischen den Werten von 1.0 und dar- 
über; bei den takatanegativen Seren völlig unregelmäßig zwischen 
Werten unter 1.0 und über 1.0. Die Streuung der Quotienten (von 
0.22, als dem niedrigsten Wert, bis 4.5, dem höchsten Wert) war 
hierbei aber derart groß, daß es uns unmöglich erschien, eine brauch- 
bare Durchschnittsgröße anzugeben. Auffallenderweise wurden die 
höchsten Globulin-Albuminquotienten gerade bei den takatanega- 
tiven Seren gefunden. Eine Unterteilung in die einzelnen klinischen 
Krankheitsgruppen war ebenfalls nicht möglich. Zusammenfassend 
betrachtet können wir uns nicht der Meinung anschlie- 
ßen, daß der positive Ausfall der Takatareaktion vor- 


bn un m Ami an ne nam E, 


nehmlich abhängig sei von einem Globulinübergewicht - 


der Serumeiweißkörper. 

Da es aber doch naheliegend schien, daß das Globulin irgendetwas 
mit dem positiven Ausfall der Takatareaktion zu tun hat, isolierten 
wir mittels Ammoniumsulfathalbsättigung (zweimalige Aussalzung) 
aus dem takatanegativen und -positiven Seren jeweils die Globulin- 
fraktion und setzten damit die Takatareaktion ein. Die Ergebnisse 
waren folgende: Sämtliche aus takatanegativen Seren isolierten 
Globuline ergeben eine positive Reaktion. Mit Ausnahme eines 
Falles reagierten die aus takatapositiven Seren isolierten Globuline 
ebenfalls wieder positiv; und zwar zumeist in einem viel stärkeren 
Ausmaß als die nativen Seren. Zur Kontrolle isolierten wir auch die 
Albumine mittels Dialyse, die jeweils immer negative Reaktionen 
ergaben. Diese Befunde stimmen durchaus überein mit unseren 
Versuchen der Isolierung der Liquorglobuline und ihrer Wirkung 
auf das Goldsol. Es war dies auch nicht anders zu erwarten, da die 
Takatareaktion ihrem Wesen nach durchaus zu den echten kolloid- 
chemischen Reaktionen zu rechnen ist und damit die dortige Pro- 


- EEE 


blemstellung auf sie in derselben Weise Gültigkeit haben muß. 
Das ‚‚fällende‘‘ bzw. das ‚flockende‘‘ Prinzip ist mit großer Wahr- ,| 


Zur Frage d. Verwertbarkeit d. Serum-Takatareaktion b. Psychosen usw. 103 


scheinlichkeit bei der Goldsol- und bei der Takatareaktion an be- 
sonders geartete Globuline gebunden. Ob nun in mehr qualitativer 
oder auch quantitativer Weise, ist bei der Takatareaktion mit ge- 
nügender Sicherheit noch nicht zu entscheiden. Wenn die Isolierung 
von Globulinen aus den verschiedenen Seren natürlich noch nichts 
Endgültiges über deren Nativzustand aussagt, so bleibt doch immer- 
hin auffällig, daß sie isoliert, sich völlig einheitlich verhalten hin- 
sichtlich ihrer Wirkung auf die Kolloidreaktionen bzw. auf die 
 Takatareaktion und sie in letzterem Falle stets und immer starke 
Flockung bewirken. 


So hat Jezler für die Takatareaktion mit Hilfe seiner „Flockungs- 
zahlen‘ nachgewiesen, daß sich eine Takataflockung als solche auch 
durch Erhöhung der Sublimatkonzentration erzielen läßt. Es hat 
sich dabei gezeigt, daß ätiologisch verschiedene Krankheitsgruppen 
eine verschiedene Flockungszahl aufweisen; sie ist am niedrigsten 
bei den positiven Reaktionen. Das könnte bedeuten, daß es wichtig 
ist, die ional- und molekular-gelösten Stoffe, bzw. deren jeweilige 
. Konzentration, bei den kolloidehemischen Umsetzungen zu berück- 
- sichtigen. Diese fragliche Verschiebung der H-Ionenkonzentration 
kann aber sicherlich zum größten Teil vernachlässigt werden, da 
diese auch bei ätiologisch bzw. pathophysiologisch völlig ver- 
schiedenartigen Krankheitsprozessen keine nennenswerte Ver- 

. schiebung erfährt. 


Wir dialysierten takatapositive Seren einmal gegen Aqua destillata 
und zum anderen gegen physlologische Kochsalzlösung und takata- 
negatives Serum. Dabei zeigte sich, daß bei der Dialyse gegen Aqua 

- destillata und physiologische Kochsalzlösung das ehemals takata- 
positive Serum negativ wurde; die Flockung blieb aus. Das nativ 

“ negative Serum erfuhr durch keine der oben angeführten Versuchs- 
anordnungen eine Beeinflussung seiner ursprünglichen Reaktion. 
Auch das gegen takatanegatives Serum dialysierte takatapositive 
Serum änderte sein ursprüngliches Verhalten nicht. 


Die Vermutung, daß der die positive Takatareaktion hervorrufende 

Stoff etwa in die Außenflüssigkeit eingedrungen sein könnte, mußte 

. schon aus dem Grund fallen gelassen werden, weil die Konzentration 

der dialysablen Bestandteile in der Außenflüssigkeit recht niedrig 

` ist und mitihr— wie die Versuche gezeigt haben — auch keine positive 
Takatareaktion erzielt werden konnte. 


Weiterhin konnten wir aber das „Positivwerden“ eines takata- 
negativen Serums dadurch erzielen, daß wir diesem — aus dem 
i nativen, aber auch aus fremdem Serum — isoliertes Globulin in 


104 Th. Strobel 


bestimmten Mengenverhältnissen zusetzten. Die stärkste Flockung 
trat bei einem Verhältnis von 1 : 4 auf und verschwand bei einem 
solchen von 9 Teilen Serum und 1 Teil isoliertem Globulin (Flockung 
noch in einem oder in zwei Röhrchen). 

Bei allen Zusatzversuchen zu kolloidehemischen Reaktionen läßt 
man bestimmte Faktoren außer acht. Diese sind bei unserer Frage- 
stellung der Hydratations-Koeffizient, der Dispersitätsgrad und die 
Antikörpereigenschaften des jeweiligen Globulins. Daß man damit 
eine Modifizierung der ursprünglichen Serumtakatareaktion er- 
zielen kann, haben unsere Versuche mit isoliertem Globulin ergeben. 
Wie sie letztlich zu deuten sind, kann nicht entschieden werden. 
Ob es nur die quantitative zusätzliche Globulinanreicherung allein 
ist oder ob damit ırgendwelche qualitativen Zustandsänderungen 
des Gesamteiweißkörperverbandes des Serums erzielt werden, sind 
Fragestellungen, die noch offen bleiben müssen. Sicherlich spielt das 
bei schweren Leberstörungen beobachtete Auftreten von Eiweiß- 
spaltprodukten ebenfalls keine gesetzmäßige Handhabe für das 
Wesen der positiven Takatareaktion. Um einen Beleg für unsere 
Meinung zu bekommen, setzten wir zu takatanegativem Serum 
jeweils Tyrosin in absteigenden Mengen von 100—0.195 mg zu. Wir 
konnten bei keinen der 10 Versuchsreihen eine positive Takata- 
reaktion erzielen. Ähnliche Ergebnisse haben die ausgedehnten 
Versuche aus der Schittenhelmschen Klinik zur Beurteilung der 
Serumeiweißkörper bzw. die Zusatzversuche zu Seren mittels nor- 
maler Bestandteile des Blutes bzw. normaler Zwischenstoffwechsel- 
produkte ergeben. Es konnte keinerlei Einfluß auf die Positivität 
der Takatareaktion erzielt werden, wenn ihre Konzentration die 
physlologische Grenze nicht überschreitet. Zugaben großer Mengen 
von Amino- und Guanidingruppen allerdings verstärkten die Flok- 


kung. Weiterhin wird von dort berichtet, daß sich die Flockung am 


stärksten bei Arginin, Histidin und Lysin und noch stärker bei den 
Aminen zeigte. Cystin, Cystein und Glutation hemmen bei positiven 
Seren die Ausflockung. Abschließend wird dann darauf hingewiesen, 


eg ge ee U UHREN u EEE. An EEE in a a 


daß quantitative Eiweißverschiebungen mit einer qualitativen Ver- | 


änderung von deren Zusammensetzung einhergehen, „wie sich aus 
den Bestimmungen verschiedener Aminosäuren‘ ergeben haben soll. 

Psychiatrischerseits ıst auf Grund dieser Ausführungen zu sagen, 
daß bei den Geisteskrankheiten einmal kaum derart weitreichende 
pathophysiologische Veränderungen vorkommen, als daß man damit 
den positiven Ausfall einer Takatareaktion im Serum erklären 
könnte. Da sie eben hier fehlen, sind dementsprechend auch nur in 
sehr wenigen Fällen überhaupt echte positive Reaktionen zu finden. 


i 
! 


Zur Frage d. Verwertbarkeit d. Serum-Takatareaktion b. Psychosen usw. 105 


Daß wir mit der Takatareaktion keine wesentlichen Veränderungen 
bei der Schizophrenie gefunden haben, sagt über das pathophysio- 
logische Verhalten dieser Erkrankung nichts aus. Irgendwelche 
diagnostischen Schlußfolgerungen können weder aus dem Ausfall 
der Takatareaktion noch aus den bisher überhaupt bekannten und 
immerhin schon recht zahlreichen humoralen Störungen bei der 
Schizophrenie gezogen werden. Die Takatareaktion hat für 
die Psychiatrie höchstens die Bedeutung einer unspezi- 
fischen Labilitätsreaktion; eine diagnostische Bedeu- 
tung kommt ihr nicht zu. Ä 


Zusammenfassung 


Es wurde die Takatareaktion an einer Reihe von Seren von Gei- 
stes- und Nervenkrankheiten angestellt. Aus insgesamt 172 untersuch- 
ten Seren verteilen sich die positiven Reaktionen 7 mal auf 96 Fälle 
von Schizophrenie (7.29%), 2mal auf 18 Fälle von manisch- 
depressivem Irresein (11.1%), 3mal auf 16 Fälle von senilen Psycho- 
sen (18.75°5) und 1 mal auf 12 Paralysen (8.44°%,). Ausgenommen 
sind dabei eine positive Takatareaktion bei einem Fall von Schizo- 
phrenie mit febrilen Episoden und interkurrenter akuter Glomeru- 
lonephritis, sowie ein Fall von katarrhalischem Ikterus im Verlaufe 
einer endogenen Depression. Die orientierenden Versuche zur Klä- 
rung des Wesens der Takatareaktion erstreckten sich auf Bestim- 
mung des Globulin-Albuminquotienten, die Blutkörperchensen- 
kungsgeschwindigkeit, die Isolierung der Globuline und Albumine 
aus takatanegativen und -positiven Seren, Zusatzversuche von iso- 
liertem Globulin und Tyrosin zu takatanegativen Seren und die Auf- 
stellung einer neuen Verdünnungsreihe zur kurvenmäßigen Er- 
fassung der ein- bis zweimal flockenden Seren. Die Ergebnisse haben 
gezeigt, daß der Ausfall der positiven Takatareaktion nicht abhängig 
ist vom Globulin-Albuminquotienten oder der Senkungsgeschwindig- 
keit. Isolierte Globuline als solche angesetzt ermöglichen immer eine 
positive Reaktion; die isolierten Albumine, sowohl aus takata- 
negativen und -postiven Seren, ergeben niemals eine Flockung. 
Zusatzversuche zu takatanegativen Seren mit isoliertem Globulin 
ergeben bis zu einem bestimmten Anreicherungsverhältnis jedesmal 
positive Reaktionen. Nach der Dialyse takatapositiver Seren gegen 
Aqua destillata und physiologische Kochsalzlösung verschwand die 
ursprüngliche Flockungsbreite in der Mehrzahl der Fälle völlig; 
die Seren wurden takatanegativ. Wesensmäßig scheint die 
Serum-Takatareaktion an das Auftreten besonders 
gearteter Globuline gebunden zu sein. Diagnostisch 


106 Th. Strobel, Zur Frage der Verwertbarkeit usw. 


hat die Takatareaktion bei Geisteskrankheiten kein: 
Bedeutung. Die für die Schizophrenie von verschiede- 
ner Seite vermutete Leberschädigung prägt sich jeden- 
falls nicht in einer positiven Takatareaktion au: 


Schrifttumverzeichnis 


Büchler, P., Arch. Psychiatr. 102, S. 98—106. — Contini, Mario, R»! 
Zbl. Neur. Bd. 85, S. 374. — Gemeinhardt, Kl. Wschr. 338, 1935. — Rappolt L. 
M. med. Wschr. Nr. 7, S. 253, 1935. — Gohr und Niedegger, Kl. Wschr. Nr. 15 
1937. — Hahn, Kl. Wschr. Nr. 20, 1937. — Jezler, A., M. med. Wschr. Nr. 3°. 
1934. — Jezler, A., M. med. Wschr. Nr. 8, 1935. — Jezler und Bots, Kl. Wschr. 
„Über die Flockungszahl im Serum“. — Kallos-Deffner, Z. exper. Med. 92. 
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J. amer. Assoc. 107, Nr. 17, 1937. — La Monica, Ref. Zbl. Neur. Bd. 86. — 
Nagy-Michael, Z. Neurol. 153, 1935. — Padovani, Giorgio, Rass. Stud: 
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Z. klin. Med. 123, 637, 1933. — Schindel, Klin. Wschr. 1934, I, 221. — Skouse 
E., Klin. Wschr. 1933, I, 1905. — Staub, H. und Jezler, Klin. Wschr. Nr. 4°, 
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Zbl. Neur. Bd. 89, S. 538. — Riebeling und Strömme, Z. Neur. Bd. 147, 1933. — 
Strobel, Zeitschr. Immunitätsf. Bd. 91, 1937, S. 178. 


Über die Veränderungen der Blutzus ammensetzung 
nach dem Cardiazolkrampf 


Von 
Fr, Haertel 


{Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hansischen Universität 
Hamburg [Prof. Dr. H. Bürger- Prinz)) }) 


(Eingegangen am 18. August 1939) 


Wer sich mit der Epilepsieliteratur zu beschäftigen hat, wird 
alsbald die Wahrnehmung machen, daß die ganze letzte Epoche der 
Epilepsieforschung durch die starke Tendenz gekennzeichnet ist, 
den Krankheitsbegriff ‚Epilepsie‘ möglichst von allen scheinbaren 
Schlacken ähnlicher Zustände zu reinigen, ihn durch engste Begriffs- 
definition auf den einfachsten Nenner zu bringen. Diese Tendenz 
gipfelt in der heute noch vielfach vorherrschenden Auffassung, diese 
Krankheit auschließlich anatomisch zu erfassen, ihre Ätiologie in 
einer morphologischen Strukturveränderung des Gehirns zu suchen. 
Es wird jetzt begreiflich, daß diese allzu einseitige Orientierung an 
den vielen vegetativen Zügen des Epileptikers, die sich schon rein 
äußerlich manifestieren können, vorbeisehen ließ. Vor allen Dingen 
vernachlässigte man aber die gründliche Erforschung der physiko- 
chemischen Veränderungen, die sich ın den Säften und Geweben des 
Organismus abspielen und die eng mit der Funktion des vegetativen 
Nervensystems zusammenhängen. In dieser Beziehung wies uns 
Georgy neue Wege. Dieser Forscher unterscheidet zwei in ihrem 
Wesen völlig verschiedene Kolloidstabilitäten, die proteinogene 
Form und die ionogene Form. Man muß sich nach seiner Theorie den 
epileptischen Anfall als eine Art von Faktorenkupplung vorstellen, 
bei der das humorale System lediglich die Rolle eines Vermittlers 
übernimmt und die humoralen Schwankungen als Folge von Ver- 
schiebungen im lonenhaushalt aufgefaßt werden. Man wird hier 
also von dem biologischen Grundgesetz ausgehen, daß das Leben in 
einem Zellstaat auf Spannungsdifferenzen, auf Potentialgefällen der 
verschiedenen lebensnotwendigen Elemente beruht, deren Ausgleich 


1) Unter Leitung von Dozent Dr. Riebeling. 


108 Fr. Haertel 


den Tod des Organismus bedeutet. Wesentliche Voraussetzungen 
und Grundlagen dieser physikalischen Erscheinungen sind Grenz- 
flächen. Diese Grenzflächen sind aber keineswegs starre und un- 
wandelbare Gegebenheiten, deren Funktion als un- oder halbdurch- 
lässige Wand unveränderlich ist. Wie der Übertritt so wichtiger 
Stoffe wie Salz, Zucker oder Aminosäuren vonstatten geht, ist jedoch 
noch ungeklärt. Vielleicht lassen die Zellen diese Stoffe nur in be- 
stimmten Funktionszuständen eintreten. Gleichviel wie die heute 
noch größtenteils unübersichtlichen Vorgänge verlaufen, ist daran 
nicht zu zweifeln, daß an diesen Grenzflächen sich die Lebensvor- 
gänge unter der Einwirkung der Glieder des vegetativen Systems: 
des Wassers, der Salze in ionisierter Form, der Hormone, Fermente, 
Reizstoffe usw. abspielen. Die Grenzflächen selbst sind Gemische 
von Lipoiden und Eiweiß. Nach Kraus steckt schon in der Wechsel- 
wirkung zwischen Kolloidelektrolyten und gewissen’ antagonisti- 
schen Salzelektrolyten für die Hydratation der kolloiden Mem- 
branen und Teilchen alles Funktionieren und alle funktionelle 
Anpassung. Mit anderen Worten: Die Spezialfunktion einer Organ- 
zelle beruht schon auf den Prozessen an ihren Grenzflächen. Höber 
schildert den Prozeß allgemein gefaßt: 


„Die Erregung einer Zelle stellt einen Membranvorgang dar, der durch 
eine Änderung der Ionenkonzentration in unmittelbarer Nachbarschaft der 
Membran ausgelöst wird, und in einer kolloiden Zustandsänderung besteht, 
die mit einer Steigerung der Permeabilität einhergeht. Der Vorgang ist 
reversibel. Die Lähmung hingegen kann dadurch hervorgerufen werden, 
daß man zwischen die Membran und den auf sie wirkenden Ionen als Barriere 
eine Schicht von Narkotikum legt, oder daß man die Kolloide der Membranen 
durch Verdichtung zu starr für die Erregung auslösende Auflockerung macht, 
oder auch dadurch, daß man umgekehrt die Membran so auflockert, daß sie 
bei Reizen keine weitere Auflockerung durchmachen kann. Die normale 
Auflockerung und damit Permeabilitätssteigerung bei der Erregung ermög- 
licht den Zellen, ihren Stoffwechsel ihren Bedürfnissen anzupassen.‘ 


Das Höbersche Modell des dreifachen Weges der Zellähmung läßt 
sıch Interessanterweise gerade an den empirischen Erfahrungen der 
Epilepsie demonstrieren. Der Weg, der also zur Reizung der 
Krampfzelle führt, geht aus von der ıonogenen Kolloidstabilitäts- 
störung und führt über reversible Membranveränderungen und da- 
durch bedingte Permeabilıtätssteigerung zur Reizung primär 
funktionsgeschwächter Rindenpartien. Es folgt dann der Anfall. 
Wir müssen jedenfalls auch hier immer wieder zurückgreifen zur 
Annahme einer abnormen Reizbarkeit der Krampfzelle, beziehungs- 
weise einer spezilischen Erniedrigung der Reizschwelle, da ein 
großer Teil dieser Veränderungen auch beim normalen Menschen vor- 
handen ıst, ohne einen Anfall auszulösen. Es ist also notwendig, 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 109 


daß wir hier das Vorhandensein einer individuellen Konstitution 
annehmen, die sich auf dem Boden einer vielleicht vererbten Stö- 
rung des vegetativen Systems in der Eigenart ihrer Reaktion be- 
kundet. 

Einen großen Fortschritt für die humoralpathologische Erfor- 
schung des Anfallsgeschehens bedeutet die Möglichkeit, den Anfall 
zu beliebiger Zeit künstlich mittels Cardiazol auszulösen. Bei der 
Untersuchung des Serums eines Epileptikers während des Inter- 
valls fand man meistens nur unbestimmte humoralpathologische 
Veränderungen in bezug auf vorhergegangene Untersuchungen. Nur 
dann, wenn der Zufall gleichzeitig eine Untersuchung kurz vor 
Ausbruch des epileptischen Anfalles gestattete, konnte man ein- 
deutige Veränderungen feststellen, wenn man diese präparoxysmalen 
Befunde mit denen des Intervalls verglich. Anders ist es nun beim 
Cardiazolkrampf, der zu therapeutischen Zwecken angewendet wird 
und der in seinem Verlauf weitgehend dem echten epileptischen An- 
fall entspricht. 

Gegen diese Annahme einer vollständigen Übereinstimmung des 
Anfallsgeschehens bei der genuinen Epilepsie mit dem Cardiazol- 
krampf sind verschiedene Einwände erhoben worden. Man sagte, 
daß ein Medikament, das auch bei Nichtepileptikern Krämpfe her- 
vorzurufen imstande ist, nicht geeignet sei, eine solche Überein- 
stimmung zu erklären. Man übersah dabei jedoch, daß der Anlage- 
begriff auf dem Gebiete der Epilepsie eine große Rolle spielt, und 
daß bei einem Epileptiker die konstitutionelle Reizschwellenernie- 
drigung sich in der Möglichkeit einer Verminderung der Cardiazol- 
menge als krampfauslösende Noxe geltend macht. Während man 
in der Medizin bei so manchen anderen Krankheiten schon längst 
so weit war, die äußeren und inneren Ursachen, also die erworbenen 
und die konstitutionellen Faktoren gemeinsam zu betrachten,wäh- 
rend man so schon bei vielen Krankheiten versuchte, einen tieferen 
Einblick in das Krankheitsgeschehen zu erlangen; sank bei der 
Epilepsiediagnostik das Anlagemoment immer mehr auf die Stufe 
eines Behelfsmittels herab, das man erst dann heranzog, wenn eine 
sonstige Ursache nicht gefunden wurde. Entdeckte man aber irgend- 
eine exogene Schädigung, dann dachte man überhaupt nicht daran, 
daß ein Anlagemoment ebenfalls dabei im Spiele sein könnte. Durch 
diesen Umstand wurde ein Gegensatz zwischen äußeren und inneren 
Ursachen, zwischen symptomatischer und genuiner Epilepsie kon- 
struiert. In dieser Situation wirkte Förster wegweisend, indem er 
zeigte, daß der epileptische Anfall das Ergebnis einer Summe von 
pathogenetischen Faktoren ist. Nicht nur daß er uns zeigte, wie 


110 Fr. Haertel 


häufig an dem Zustandekommen der epileptischen Krämpfe be: 
einem und demselben Individuum mehrere Schädlichkeiten, welche 
als Reiz wirken und einen epileptischen Anfall hervorrufen können, 
neben oder nacheinander wirksam sind. Er stellte auch den Satz 
auf, daß die gleiche Noxe von gleichem Sitz, gleicher Intensität 
und gleicher Dauer bei dem einen Individuum einen Anfall aus- 
löst, bei dem anderen nicht. Damit wurde das konstitutionelle 
Moment als wichtiger Faktor in den Ursachenkreis der Epilepsie 
aufgenommen, und zwar nicht nur beschränkt auf die genuine 
Epilepsie als solche, sondern ausgedehnt auf die Krampfkranken 
überhaupt. Dieses konstitutionelle Moment, also die Veranlagung 
zu Krampfanfällen, macht sich auch beim Cardiazolkrampf geltend. 
Es ist hier prinzipiell festzustellen, daß Cardiazol allerdings bei 
jedem Menschen einen Krampfanfall auslösen kann, daß aber bei 
zu Krampfanfällen Veranlagten bereits eine für Gesunde unter- 
schwellige Cardiazolmenge krampfauslösend wirkt. Während wir 
also bei einem normalen Menschen 4—5 ccm Cardiazol intravenös 
geben müssen, um einen Anfall auszulösen, so genügt bei einem 
Epileptiker bereits die Hälfte der angegebenen Menge. 

Rein äußerlich hat man in letzter Zeit unter dem Begriff der 
iktaffinen Konstitution eine ganze Reihe ererbter und famili- 
ärer Merkmale zusammengefaßt, die regelmäßig bei Epileptikern 
zu finden sind. Man hat dort mit schwerer epileptogener Noxe zu 
rechnen, wo zwar Krämpfe auftreten, aber diese äußeren Merk- 
male einer Krampfkonstitution fehlen. In diese letzte Rubrik ge- 
hören auch die Krämpfe, die durch Cardiazol als epileptogene irri- 
tative Noxe ausgelöst werden. Die Übergangsformen zwischen der 
rein genuinen Epilepsie und der rein symptomatischen Epilepsie 
kann man in bezug auf ihren konstitutionellen Anteil unter dem 
Oberbegriff der iktaffinen Diathese zusammenfassen. Die 
Anfälle treten hier wie bei einer Diathese niemals rein endogen auf. 
Es muß gewissermaßen wie beim Asthma ein Allergen hinzukommen. 
Vielleicht ist es sogar möglich, daß bei Menschen mit besonderer 
ererbter Krampfbereitschaft allergische Noxen Krampfanfälle aus- 
zulösen imstande sind. Sicher bewiesen ist dieser Zusammenhang 
für den Menschen allerdings noch nicht. Die Beziehung der Epilepsie 
zur Migräne, das Paroxysmale der Anfälle, die Ähnlichkeit mit 
anaphylaktischen Schocksymptomen ließen jedenfalls schon so 
manchen Autor an die allergisch-anaphylaktische Entstehung 
denken. Klinisch gesehen handelt es sich bei diesen Übergangsfor- 
men der Epilepsie, bei denen das konstitutionelle Moment nicht 
ausreicht, um von sich aus den Anfallsmechanismus in Gang zu 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 111 


bringen, um Kranke, die während ihres ganzen Lebens nur einen 
oder wenige Anfälle haben und die übrige Zeit völlig gesund und 
unauffällig sind. Daraus geht also hervor, daß fließende Übergänge 
bestehen von der Diathese sowohl nach der Seite der Konstitution, 
also der rein genuinen Epilepsie, die als Morbus sacer unverhofft 
und schicksalhaft über den Menschen hereinbricht, als auch nach 
der Seite der rein symptomatischen Epilepsie, bei der alles Konsti- 
tutionelle wegfällt und nur noch schwere äußere Faktoren einen 
Krampf zustandebringen können. 

Als weiteren Einwand, daß das Krampfgeschehen beim sogenann- 
ten genuinen epileptischen Anfall gar nicht mit dem Cardiazol- 
krampf übereinstimmen kann, führte man an, daß die zu einem 
Anfall nötige Menge Cardiazol nicht nur bei verschiedenen Menschen 
verschieden groß sein muß, sondern daß auch bei ein und derselben 
Person zu verschiedenen Zeiten eine verschieden große Menge not- 
wendig ist. Dieser Umstand läßt sich jedoch damit erklären, daß der 
menschliche Organismus und besonders sein Nervensystem den 
Schwankungen der Umwelt unterworfen ist. Schon der Wechsel von 
Tag und Nacht, von Morgenstunde und Abendstunde schafft Ver- 
änderungen im Organismus, so daß man es wohl als Selbstverständ- 
lichkeit ansehen kann, daß die Disposition, auf einen schweren exo- 
genen Reiz mit einem Krampfanfall zu antworten, zu verschiedenen 
Zeiten eine andere sein muß. 
Da rein äußerlich der Cardiazolkrampf mit seinen tonisch-kloni- 

schen Phasen ganz den Eindruck eines echten epileptischen Anfalles 
bietet, so soll es Zweck der folgenden Untersuchungen 
sein, zu zeigen, ob auch im humoralpathologischen Ge- 
schehen dieselben Veränderungen eintreten, wie sie für 
den genuinen epileptischen Anfall heute fast als be- 
wiesen gelten können. Um aber die Blutbefunde richtig zu ver- 
stehen, muß betont werden, daß die Veränderungen im Blute nur 
als Indikator dafür angesehen werden dürfen, daß überhaupt Ver- 
änderungen in der Stoffverteilung des Organismus bestehen. Einen 
pathogenetischen Zusammenhang zwischen der Blutveränderungund 
einer Krankheitserscheinung anzunehmen, ist unberechtigt. Eine 
veränderte Blutzusammensetzung deutet, wie Nonnenbruch sagt, auf 
eine Änderung im Zustand der Gewebe hin. Nicht die Gewebe stellen 
sich auf das Blut ein, sondern das Blut ist der Ausdruck der Be- 
schaffenheit der Gewebe. Es können sich, wie nicht übersehen 
werden darf, aber auch Veränderungen im Stoffaustausch der Ge- 
webe vollziehen, ohne daß sie im Blut zum Ausdruck kommen. 
Die Wertigkeit des Blutbefundes als Indikator wird auch dadurch 


112 Fr. Haertel 


Hildegard Sch. | Elsa L. 
Krankenliste Nr. 82588 | Nr. 81599 
3,5 ccm Cardiazol | 4 ccm CGardiıazı! 


57,0 155,5 161,0 - 


l | vor |57,0 |60,0 |61,0 |59,0 
Refraktion. . . 2... 2.2200. Ä 600 |570 1610 ; 


ı nach | 57,5 60.5 60,0 161,0 


men | nn | mm | sn 


' vor 1,66| 1,76] 1,8 | 1,71 


1,74| 1,63) 1,76 


Viskosität 2 8 83%. 28 4 | nach 1,67 1, 8 1, 8 1 za 1,81 1, '69 1. an | 
vor |1315 |1357 |1427 |1345 |1348 |1249 |1385 1: 
Interferometrie. . . a.. nach | 1315 |1377 |1380 |1440 1375 |1269 | 1372 1; 
i 2 | vor 70/30 65/35 63/37 69/31 99/45|68/ 68/32 69,31 31:7 
Globulin / Albumin . .... . . | nach | 70/30| 60140| 58142|67133. 57/43| 6436| 6931 ; 
Caini or 10,6 [12,3 |10,0 111,2 10,9 |12,6 
ZUM. onen ` nach 11,1 |12.8 |109 |121 104 |121 5 
we vor 23,4 |22,9 '25,2 122,5 |24,5 
Kalüm = 2, #400 2 u 2% nach 22.3 219, 124,6 19.5 25,4, 


beeinflußt, daß das Blut Änderungen seiner Zusammensetzung 
einen gewissen inneren Widerstand entgegensetzen muß, weil die : 
normale physikalische Struktur des Blutes ein wichtiger Faktor für | 
den normalen Ablauf der Lebensvorgänge ıst. 


In erster Linie kommt die Bestimmung der Eiweißkörper vor und 
nach dem Krampf in Betracht, um aus dem Eiweißquotienten vor | 
und nach dem Cardiazolkrampf sich ein Urteil über die kolloidalen 
Veränderungen des Blutserums bilden zu können. In zweiter Linie 
ist es wichtig, die Kalium- und Calziumverhältnisse vor und nach 
dem Krampf zu prüfen, weniger weil eine Verschiebung erwartet 
wird, als wegen der Bestätigung oder Ablehnung der Befunde 
Georgys. Zur Eiweißbestimmung bedient man sich auch heute noch 
mit Vorteil der Methode nach Naegeli-Rohrer. Die im Serum und 
Plasma vorhandenen verschiedenen Eiweißkörper verhalten sich, 
wie Reiß und Robertson gezeigt haben, in ihren Refraktionswerten 
rein additiv. Die Salze, die im Serum vorhanden sind, beeinflussen 
den Brechungswert kaum, zudem macht die Eiweißmenge 83% der 
festen Bestandteile des Serums aus und ist also der absolut maß- 
gebende Faktor. Der an sich geringfügige Fehler der Vernachlässi- 
gung der Salze wird erst recht unbedeutend dadurch, daß der 
Natriumgehalt des Serums den prozentual größten Anteil an der - 
Gesamtsalzmenge ausmacht und weitgehend konstant ıst. Der even- 
tuell störende Fettgehalt des Blutserums kann dadurch vermieden 
werden, daß die Blutentnahme in den Vormittagsstunden an nüch- 
ternen Patienten vorgenommen wird. Die Genauigkeit der Befunde 
könnte lediglich dadurch beeinträchtigt werden, daß durch die 
zwecks Blutentnahme gestaute Vene eine relative Refraktions- 


— 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 113 


i 2 | Marie R. 
Gertrud M. Nr. 81692 | Vera S. | SLR, er 
5 ccm Cardiazol | Eee k ns kocmi 4 ccm Cardiazol 5 ccm i 

i | Cardiazo 


59,0 160,0 61,0 59,5 63,0 62,6 56.5 '56.0 |640 56,5 62,0 59,5 55,5 65,0 154,0 


a Re he en en a en ln er 


158,5 157,0 157,0 160,5 155,5 ‚63,5 TISERTIET 61,0 155,0 #47 96,0 


1,80) 1,65| 1,7 | 1,74] 1,59. 1,8 | 1,731 1,71: 4,93 1,8 | 1,73| 1,61 1,59; 1,73 1,65 
1,74 1,78 1,8 1,71 1,78 1,83 1,67! 1,73 1,83 1,89 1,8 1,73 1.61! 1.9 1,67 


1330 |1282 |1334 |1396 |1240 1440 |1372 1301. 1510 [1520 |1400 |1210 |1225 11375 1281 
340 |1327 |1450 |1335 |1435 1430 |1275 1275 i1825 |1590 |1424 |1333 |1237 1545 |1215 


52/48|71/29|62/38|70/30|77/23 72/28\70/30 52/38 A 73/27|68/32|72/28 70/30|67/33 
65135 6813815149170130 #276 67/33|67/33|72/28 65/35\55/45 


11,8 10,8, 10,6 111,7 "i 9,1 
11,0 11, 4. 11,9 13, „1 | 9,6 
22,1 19,0 22, 3 23237 ‚7 134,8 |19,8 i 
27,7 |17,5 |20,9 15,2 122, 9 24 6 375 16,8 | 


‚änderung durch Wasseraustritt zustande kommt. Es würden in 
diesem Falle Erhöhungen der Refraktionswerte entstehen, die aber 
praktisch deswegen bedeutungslos sind, da es sich um Vergleichs- 
befunde handelt und die Blutnentnahme vor und nach dem Krampf 
unter denselben Bedingungen geschieht. 


Bei einem Vergleich aller 24 Refraktionswerte ergibt sich, daß 
die Werte in 15 Fällen deutlich anstiegen, während sie sich zweimal 
auf gleicher Höhe hielten. In den restlichen Fällen sanken die Werte 
postparoxysmal ab. Eine pathologische Abweichung des Serum- 
eiweißgehaltes, wie sie uns hier die Refraktion aufdeckt, kann grund- 
sätzlich zweierlei bedeuten: Entweder eine Störung des Wasser- 
haushaltes, also eine Hydrämie oder Anhydrämie, oder eine Störung 
des Eiweißkörperhaushaltes, also eine Hyper- oder Hypoproteinä- 
mie. Um einen Einblick in die Strukturveränderungen der Serum- 
kolloide zu gewinnen, benutzt man die refraktometrische Bestim- 
mung in Verbindung mit der Viskositätsbestimmung, da neben der 
Konzentration der Eiweißkörper die Serumviskosität vom physi- 
kalischen Dispersitätszustand und auch vom Verhältnis der Serum- 

albumine und -globuline abhängig ist. Auch die Serumviskosität ist 
` mehr oder wenig unabhängig von dem Salzgehalt des Serums. Man 

kann sie allein schon zur Orientierung über das Serumeiweiß be- 
"nutzen. Die festgestellten Werte sind jedoch nur Annäherungswerte, 
weil mit Zunehmen des Globulinwertes ın Albumin-Globulin- 
mischungen die Viskositätskurve immer steiler ansteigt, während 
die Art der Albumin-Globulinmischung für die refraktometrische 
Untersuchung völlig gleichgültig ist. Da sowohl die Refraktions- 


‚ als auch die Viskositätswerte eine große Abhängigkeit von den 
' 8 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


-< 


114 Fr. Haertel 


Eiweißkörpern zeigen, so kann man aus dem Auseinanderweichen 
der Kurven von Refraktionswerten und Viskositätswerten die pro- 
zentuale Mischung von Albuminen und Globulinen berechnen, da 
die Globuline die Viskosität immer stärker beeinflussen als die Albu- 
mine. Rohner fand nun, daß alle Mischungen von Albuminen und 
Globulinen in das engbegrenzte Feld eines Koordinatensystem: | 
fallen, bei dem die Refraktionswerte die Ordinate, die Viskositäts- 
werte die Abszisse darstellen. Mittels dieser Tabelle sind wir nun 
in der Lage, durch das Aufsuchen des betreffenden Refraktions- 
viskositätspunktes die Mischungsverhältnisse der Albumine und 
Globuline abzulesen. Die Untersuchungen mittels Vıiskosimetrie, 
die parallel zu den vorherigen Untersuchungen angestellt wurden. 
ergaben ein Ansteigen der Fälle 18mal von 24. Auch hier blieben 
sich in zwei Fällen die Werte gleich und in 4 Fällen sanken die Werte| 
ab. Da auch die Viskosität in allererster Linie ebenfalls von der 
Eiweißkörperkonzentration abhängig ist, zeigt das Ansteigen der 
Viskositätswerte eine Zunahme der Eiweißkörper im Serum. Dies 
muß hier ebenso in zweierlei Form beurteilt werden wie die Zunahme 
der Eiweißkörper, die uns schon die Refraktion aufdeckte. Die 
Interferometrie mißt die Gesamtmenge der gelösten Teilchen. 
Diese zeigen in ihrem Ansteigen beziehungsweise Abfallen eine große 
Übereinstimmung mit den Refraktionswerten. Nurimersten Fall zeigt . 
der Interferometerwert sowohl prä- als auch postparoxysmal die- 
selbe Größe. Die entsprechenden Viskositäts- und Refraktionswerte 
zeigen in diesem Fall allerdings auch nur eine sehr mäßige Steigerung 
von 1,66 auf 1,67 beziehungsweise von 57 auf 57,5. Bei Fall 7 blie- 
ben die Viskositätswerte und Refraktionswerte vor und nach dem 
Anfall auf gleicher Höhe, während die Interferometerwerte von 1385 
auf 1372 zurückgingen. Interessant ist insofern der Fall 18, da hier 
die Viskositätswerte deutlich abfielen, während die Refraktions- 
werte sich gleich blieben und die Interferometerwerte sogar stiegen. 
Man kann sich das durch ein starkes Ansteigen der Albumine auf 
Kosten der Globuline erklären, da die Viskosität durch Globuline 
stärker beeinflußt wird als durch die gleiche Menge Albumin. Be- 
zeichnend ist jedenfalls, daß größtenteils die Werte der Re-' 
fraktion, Vıskosimetrie und Interferometrie ansteigen. 
Untersuchungen von Scimone, Ignazio über Refraktion und Visko- 
sıtät des Serums im Insulinschock zeigen, daß auch hier Veränderun- 
gen im Sinne einer Erhöhung zustande kommen. Sowohl die Refrak- 
tion als auch die Viskosität werden durch den Schock nennenswert 
vermehrt. Diese Erhöhung bleibt eine gewisse Zeit über den Schock 
hinaus bestehen. Die Prozentsätze, um die die Werte schwanken, 


“ber d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 115 


ınd für die Refraktion teilweise auffällig hoch, für die Viskosität 
edoch auffällig niedrig. Diese Befunde sind hauptsächlich durch die 
‚Vasserverluste im Insulinschock zu verstehen und sagen noch nichts 
us über die damit etwa verbundenen physiologisch-chemischen 
Veränderungen. Die nach der Rohrerschen Tabelle berechneten 
Albumin-Globulinverhältnisse veränderten sich, wie aus der 
Tabelle ersichtlich ist in 15 Fällen postparoxysmal zugunsten der 
Globuline. In vier Fällen blieben die Werte sich gleich. Wenn wir 
diese vier Fälle unberücksichtigt lassen, so ist eine Zunahme der 
Globuline in ®/, der Fälle zu verzeichnen, während sich das Verhält- 
nis in !/, der Fälle nach der Seite der Albumine verschob. Nach 
‚Vaegeli und Adler bestehen die Serumeiweißkörper normalerweise 
zu 20—409% aus Globulin und zu 60—80% aus Albumin. Diese 
Zahlen werden auch hier im allgemeinen eingehalten. Nicht recht 
zu verstehen ist jedoch bei Fall 19 der außerordentlich hohe Wert 
für die Globuline, und zwar sowohl prä- als auch postparoxysmal. 
Unter gewissen pathologischen Verhältnissen, wie sie die Cardiazol- 
krämpfe auch darstellen, braucht die Viskosität nicht vom Albumin- 
Globulinverhältnis abzuhängen. Nach einigen Autoren spielt hier 
der physikalische Quellenzustand, die Dispersität beziehungsweise 
die Jonisation der Eiweißkörper eine große Rolle. Die Zunahme der 
Serumglobuline nach dem Cardiazolkrampf ist also wohl mehr dem 
Umstand zuzuschreiben, daß die Strukturveränderung der Serum- 
kolloide die Viskosität entscheidend beeinflußt, als der Annahme, 
daß es sich hier um eine tatsächliche Globulinvermehrung handelt. 
Man kann es sich jedenfalls nicht vorstellen, daß in der kurzen Zeit 
des Krampfanfalles derartige einschneidende Veränderungen im 
Bluteiweißbestand des Körpers eintreten. Diese postparoxysmale 
Globulinvermehrung findet sich in demselben Maße, wie wir sie beim 
(ardiazolkrampf gesehen haben, auch beim epileptischen Anfalle. 
Hierin stimmen also die humoralen Veränderungen, die die beiden 
Krampfgeschehen hervorrufen, völlig überein. Aus den Unter- 
suchungen von Frisch über den Einfluß des Eiweißgehaltes der Blut- 
Nüssigkeit auf die Funktionen des Nervensystems, sofern es sich 
micht lediglich um eine Konzentrierung der Blutflüssigkeit, also eine . 
Vermehrung sämtlicher Bestandteile handelt, geht hervor, daß nach 
künstlicher Erhöhung des relativen Globulingehaltes im Serum 
eine Erniedrigung der elektrischen Reizbarkeit der Hirnrinde Platz 
greift. Man kann daraus umgekehrt schließen, daß eine Veränderung 
des Bluteiweißbildes im postparoxysinalem Sinne eine günstige 
Wirkung auf den epileptischen Anfall ausüben müßte. Tatsächlich 


haben auch Versuche an Epileptikern ergeben, daß z. B. der Hunger- 
ye 


116 Fr. Haertel 


zustand, der eine hochgradige Globulinvermehrung im Serum her- 
vorruft, die Krankheit günstig beeinflussen kann. Im selben Sinne 
würde auch die Tatsache sprechen, daß die Tuberkulose, die ja auch 
die Globuline stark vermehrt, einen günstigen Einfluß auszuüben 
vermag. Diese beiden letzten Beispiele sprechen jedenfalls dafür, 
daß nicht nur Veränderungen in der Hydratation der Eiweißkörper, 


| 


sondern tatsächliche Vermehrung der grobdispersen Phase der 
Serumkolloide den günstigen Effekt auf den epileptischen Anfall 


ausüben. Leider hat man über die Herkunft und Entwicklung der 
Eiweißkörper im Serum noch keine Klarheit gewonnen. Feststehend 
ist, daß sie sich vom Zelleiweiß herleiten. Herzfeld und Klinger 


machen in erster Linie die weißen Blutzellen, ferner die Blutplätt- | 


chen und eventuell noch zerfallende Bindegewebszellen verantwort- 
lich. Jedoch befriedigt die Beschränkung auf die genannten Quellen 
des Serumeiweißes nicht. Man glaubt jedenfalls, daß das zerfallende 


Organeiweiß überhaupt sich am Aufbau der Serumeiweißkörper _ 


+ 


beteiligt, wenn wir uns auch zunächst kein Bild von diesem Vorgang 


und von der Einwanderung der Zerfallsprodukte in das Blut machen 
können. Vorherrschend ist gegenwärtig die Herzfeld-Klingersche 
Theorie, daß die einzelnen Eiweißfraktionen verschiedene Etappen 
des Zerfalls hochmolekularer und grobdisperser Organ- und Blut- 
eiweißkörper darstellen, die vom Fibrinogen bis zur hochdispersen 
Phase des Albumins des Blutes eine kontinuierliche Reihe bilden. 
Was die Bedeutung der Veränderungen im Eiweißkörperbestande 
des Menschenserums für die Epilepsie betrifft, so lassen sich natür- 
lich angesichts unserer Unkenntnis der Entstehungsbedingungen nur 
hypothetische Vorstellungen äußern. So ergeben sich beim prä- 
paroxysmalen Zustande der Eiweißkörper des Serums wichtige 
Beziehungen zu anderen Erscheinungen, und zwar zur Wasser- 
retention. Mit dem höheren Dispersitätsgrade steigt ja bekanntlich 
das Wasserverbindungsvermögen einer kolloidalen Lösung. Nach 
Kraus ist der Quellungsvorgang eine Erhöhung des Dispersitäts- 
grades des Systems. Wir dürfen aber nie die Veränderungen im 
Serum für sich allein betrachten, da sie nur eine Funktion der Ge- 
webe darstellen. Nonnenbruch sieht in der Einstellung der Serum- 


eiweißkörper auf den Wasserbestand des Körpers einen wichtigen : 


Regulator zwischen Blut und Geweben. Darin liegt schon der Hin- 
weis, daß es sich hier keinsewegs um eine auf das Blutserum be- 
schränkte Erscheinung handelt. Nach den Vorstellungen Bergers 
muß man den Zustand der Serumeiweißkörper als ein humorales 
Spiegelbild eines gleichgearteten zellulären Vorganges ansehen. 
Die Konsequenzen, die wir aus dieser Vorstellung Bergers ziehen 


! 
J 
i 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 117 


können, sind die, daß wir während und nach dem Anfall auch eine 
Entquellung der Hirngewebe annehmen können. Es ist nur die 
Frage, ob diese allein schon die postparoxysmale Erregbarkeits- 
verminderung bewirkt, oder ob dieser Vorgang noch anderen wirk- 
sameren Vorgängen parallelgeschaltet ist. Im ersten Falle können 
wir in diesen Reaktionen, mit denen der Organismus auf einen Reiz 
der sein Zentralnervensystem trifft antwortet, eine wichtige Kom- 


~ pensationsvorrichtung sehen, die allerdings kein befriedigendes 


- 


"+ 


-e 


Resultat zeitigen kann, da nur die augenblicklichen humoral- 
pathologischen Veränderungen beseitigt werden, während die kon- 
stitutionelle Veranlagung bestehen bleibt. Wir können den Krampf- 
anfall sozusagen als einen vorübergehenden Heilerfolg des Organis- 
mus selbst ansehen. Was den Cardiazolkrampf anbelangt, so hat man 
jedoch auch bezüglich des konstitutionellen Moments die Bedenken 
geäußert, daß diese künstlichen Krämpfe nachteilig, beziehungs- 
weise für spätere Anfälle bahnend wirken könnten, daß es also mög- 
lich wäre, daß eine bis dahin latente Krampfbereitschaft durch die 
Cardiazolkrampfversuche manifest werden könnte. 

Zum Verständnis der kolloidalen Veränderungen der Serum- 
eiweißkörper gehört die Feststellung der Calzium-Kalium- 
bestimmung im Serum, und zwar vor und nach dem Anfall. 
Die Feststellung von eventuellen Veränderungen der prozentualen 
Anteile dieser beiden antagonistisch wirkenden Kationen ist in die- 
sem Zusammenhang schon deswegen von Interesse, da sich ihre 
Wirkungsweise besonders eindrucksvoll in der Beziehung zur Er- 


` regbarkeit des Zentralnervensystems äußert. Normalerweise ver- 


— — aq - 


o 
-m 


fügt der Organismus über Mechanismen, die das normale Kationen- 
verhältnis zu bewahren bestrebt sind. Es kommen hier in Betracht: 
1. die Ausscheidungsorgane und 2. die Austauschvorgänge zwischen 
Blut und Geweben. Das Calziumvorkommen im Blut zeichnet sich 
durch drei verschiedene funktionell überaus wichtige Zustands- 
formen aus. Mindestens die Hälfte des Blutcalziums, also 4—5 mg% 
ist kolloidal gelöst. Dieser Anteil ist nicht diffusibel bei Dialyse und 
Ultrafiltration. Von dem kristalloiden Anteil ist die Hauptmenge 
also rund die Hälfte des gesamten Blutcalziums elektrisch neutral. 
Nur 2 mg%, also etwa mehr als !/, des Blutcalziums ist positiv ge- 
laden, d. h. ionisiert. Die Form der ultrafiltrierbaren nicht ionisier- 
ten Calziummenge ist noch ungeklärt. Es handelt sich wahrschein- 


lich um ein Calziumkomplexsalz. Sowohl das kolloidale als auch das 


kristalloide, elektrisch neutrale Blutcalzium ist nicht fest verankert, 
sondern kann außerordentlich leicht in ionisierte Form übergehen. 
Schon eine ganz geringfügige Verschiebung des Ionenmilieus nach 


118 Fr. Haertel Ä 
der sauren Seite ruft verstärkte Calziumionisation hervor, während ' 
leicht alkalotische Verschiebungen die Calziumionisation zurück- 
drängen. In meinen Untersuchungen, die parallel zu den Eiweiß- 
bestimmungen liefen, wurde der Gesamtkalk, also sämtliche der : 
oben genannten Fraktionen bestimmt, und zwar mittels der Titra- | 
tionsmethode von Cramer und Tisdall. Einzelne Calcıumbestimmun- 
gen fielen aus, weil die Differenz zwischen den Doppelbestimmungen 
zu groß war. Von den 16 gültigen Werten stiegen 11 postparoxys- 
mal an, während 5 abfielen. Wie läßt sich diese Veränderung 
eines postparoxysmalen Calziumanstieges deuten ? Schon lange ist 
auf Grund experimenteller und klinischer Untersuchungen bekannt, | 
daß Calzium erregbarkeitsdämpfend wirkt. Man könnte auch hier 
an eine kompensatorische Calziumeinschwemmung in die Blutbahn 
denken und diesen Vorgang in der Wirkung dem der postparoxys- 
malen Globulinvermehrung gleichsetzen. In den Geweben wird eine ` 
Calziumverarmung stattfinden, die wohl eigentlich die Erregbar- 
keitsherabsetzung in erster Linie bewirken wird. Neuerdings hat ' 
man in bezug auf das Zentralnervensystem festgestellt, daß dem 
absoluten Calziumgehalt überhaupt nicht mehr die Bedeutung zu- \ 
kommt, sondern daß die Erscheinungsform in der das Calzium im 
Blute vorkommt von viel größerer Wichtigkeit ist für die Ansprech- 
barkeit des Nervensystems. Und zwar ist der ionisierte Kalk von 
größter Bedeutung. Entionisierung des Calziums bewirkt Erhöhung 
der Reflexerregbarkeit des Rückenmarkes, die bis zum bekannten 
Bilde der Tetanie führen kann. Der Grad der lonisierung oder Ent- 
ionisierung ist, wie man festgestellt hat, wiederum im hohen Maße 
abhängig vom Säurebasengleichgewicht. Hier ist es vor allen 
Dingen die alkalotische Stoflwechselrichtung, wie sie z. B. nach 
überstarker Ventilation, besonders wenn diese nach größeren Gaben 
von Natrıumbikarbonat ausgeführt wird, oder nach häufigem Er- 
brechen infolge HCl-Verlustes eintritt, die zu einer Entionisierung 
des Calziums führt. Nach Günther und Heubner wird allerdings die 
Bedeutung der aktuellen Ionenkonzentration in der Umgebungs- 
flüssigkeit bei Calzium stark überschätzt. Die Autoren führten in 
Versuchen an Froschherzen den Nachweis, daß die Giftwirkung des 
Kaliumüberschusses auch durch Calzium in nichtionisierter Form 
aufgehoben werden kann. Da uns keine Möglichkeit zur Verfügung 
steht, den ionisierten Anteil des Calziums direkt zu messen, tragen 
Erörterungen dieses Problems von vornherein hypothetischen 
Charakter. Wir können beim Cardiazolkrampf den präparoxysmalen 
Zustand nur retrospektiv sehen und beurteilen. Aus der nach dem 
Cardiazolkrampf auftretenden azidotischen Stoffwechsellage dür- 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 119 


‘ fen wir auf eine präparoxysmale alkalotische schließen. Auch von 
Georgi wurde insbesondere auf Grund der Erfahrung bei der Hyper- 

‚ ventilation, eine Alkalose als maßgebender krampfausJösender 
Faktor angenommen. Auch Jakobi fand zunächst, daß nach länger 
 dauernder Hyperventilation sich die Anfälle häufig bei verminder- 
ter Reizstromstärke auslösen ließen. Sehen wir von den früher be- 

. sprochenen Wirkungen der Hyperventilation auf den Mineralstoff- 
- wechsel ab, die gleichfalls geeignet wären, die Erhöhung der Erreg- 
barkeit hervorzurufen, und berücksichtigen wir lediglich ihre Wir- 
kung auf den Säurebasenhaushalt, so ergibt sich folgender Zustand: 
Die Kohlensäurespannung wird stark herabgesetzt, daraus resultiert 
eine herabgesetzte Wasserstoffionenkonzentration, aber auch die 
 Alkalireserve wird infolge intermediär auftretender Säuren stark 
- erniedrigt. Wir haben also in diesem Zustande nebst einer alkaloti- 
‚schen Verschiebung der Wasserstoflzahl eine Hypokapnie vor uns, 
. somit eine dekompensierte Alkalose. Vergegenwärtigen wir uns die 
Vorgänge beim Asphyxieversuch Jakobis, so verlaufen sie in der Art, 
daß alsbald nach Beginn die Kohlensäurespannung erhöht, die 
- Wasserstoffionenkonzentration somit gleichfalls erhöht, aber die 
 Alkalireserve noch normal ist. Wir finden also hier den Zustand 
einer echten, aber noch einigermaßen kompensierten Azidose. Im 
weiteren Verlauf ändert sich lediglich das Verhalten der Alkalı- 

) reserve, sie wird erhöht, es tritt die Hyperkapnie ein und mit ihr erst 
die verringerte Reizempfindlichkeit. Wir können also schließen, 
daß für die Änderung im Erregbarkeitsgrade beim Asphyxieversuch 
lediglich die Relation der verschiedenen Phasen der Alkalıreserve 
zu der erhöhten Wasserstoffzahl verantwortlich zu machen ist. Wie 
wir sahen, kann also tatsächlich eine alkalotische aktuelle Reaktion 

\ mit einer Hypokapnie gekoppelt sein. Nach Frisch liegt jedoch die 
| Unwahrscheinlichkeit einer solchen, für den Organismus keineswegs 
: gleichgültigen Verschiebung der aktuellen Reaktion darin, daß ein 
‚von so exakt funktionierenden Regulatoren geschützter Faktor 
. plötzlich derartige Veränderungen erleiden sollte. Haggards und 
Henderson stellten Versuche an mit intravenöser Darreichung sehr 

| ‚großer, eben noch mit dem Leben zu vereinbarender Alkalı- und 
' Säuredosen. Der Erfolg war, daß man nur ganz geringe Verände- 

. rungen der Wasserstoflionenkonzentration nach der betreffenden Seite 
erreichte. Frisch kommt so zu dem Schluß, daß eine Störung des 

, Säurebasengleichgewichtes, welche sich in einer Verschiebung der 
‚ aktuellen Reaktion kundgibt, bei der Epilepsie nicht besteht. Viele 
| Autoren haben sich bemüht, den Vorgang der Calziumeinschwem- 
; mung in die Gewebe zu erklären. Man hat an eine Störung der Fixa- 


120 Fr. Haertel 


tion von Calzium in den Geweben gedacht, die mit einer Störung 
der inneren Sekretion und des vegetativen Nervensystems als über- . 
geordnete Regulationsmechanismen wohl in Zusammenhang zu 
bringen ist. Frisch und Weinberg gaben an, daß vor und während 
des Krampfanfalles der Chloranteil des Calziumchlorids in den Ge- 
weben zurückgehalten wird, während das Calziumion in das Blut 
abgegeben wird. Glatzer wies einen Parallelismus nach zwischen 
Calziumgehalt des Blutserums und Aufregungs- und Abspannungs- 
zuständen. Der Weg führt wohl hier wie beim Cardiazolkrampf 
und beim genuinen epileptischen Anfall über eine Azidose, die wohl 
wiederum größtenteils auf Kosten universeller Muskelkrämpfe zu 
setzen ist, beziehungsweise auf die diesen folgende Einschwemmung 
von sauren Stoffwechselprodukten in die Blutbahn. Daß die dem 
epileptischen Krampfanfall vorausgehende Hypokalzämie nicht 
Ursache der epileptischen Anfälle ist, geht daraus schon hervor, 
daß man die Anfälle nicht durch Calziumpräparate beeinflussen 
kann. Daß aber die Azidose die direkte Folge der Anfälle ist, kann 
dadurch bewiesen werden, daß das azıdotisch wirkende Luminal 
die Anfälle zu kupieren vermag, beziehungsweise dadurch, daß im 
Hungerzustande auch eine Azidose auftritt, die einen günstigen Ein- 
fluß auf die Epilepsie ausübt. Unerklärlich ist dann allerdings das 
Auftreten einer höheren Anfälligkeit diabetischer Epileptiker in 
Zeiten azetonämischer Perioden, wie es Volland feststellte. Vielleicht 
spielen hier intermediär auftretende giftige Stoffwechselprodukte 
eine ähnliche krampfauslösende Rolle wie das Cardiazol. Schwer- 
kranke Diabetiker müßte man dann in bezug auf ihren epileptischen 
Konstitutionsanteil in die Reihe der iktaffinen Diathesen stellen. 
Es ıst unwahrscheinlich, daß hier die Azetonkörper die Rolle des 
Cardiazols übernehmen. Das kann man daraus schließen, daß im 
Hungerzustande ebenfalls Azetonkörper auftreten, denen man hier 
sogar einen günstigen Einfluß auf das Anfallsgeschehen zuschreibt. 
Hopkins-Detrick (neben anderen) empfiehlt auch die Herbeiführung 
einer Azetonämie mittels einer Hungerdiät und Fettkost. Nach 
seiner Ansicht geht mit der Azidose eine Transmineralisation Hand 
in Hand: Vermehrung des ionisierten Calziums, Ausscheidung von 
Natrium und Kalium, dadurch Zellentquellung und unspezifische 
Herabsetzung der Erregbarkeit. Neuerdings hat man auch auf die 
Ähnlichkeit dieser Veränderungen mit allergischen Paroxysmen hin- 
gewiesen. Auch hier deuten verschiedene Beobachtungen auf eine 
Alkalose kurz vor den Anfällen. Einige Autoren sprechen aller- 
dings noch vorsichtigerweise von einer „besonderen Gruppe von 
Epileptikern‘, bei denen die iktaffine Diathese mit der allergischen 


- -n eh 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 121 


Diathese zusammentrifft und letztere wohl die Anfälle auslöst. 
Auch Kämmerer ist der Ansicht, daß bei Menschen mit besonderer 
ererbter Krampfbereitschaft des Gehirns auch allergische Noxen 
oder primäre Shockgifte Anfälle auslösen können. Sicher bewiesen 
ist der Zusammenhang bis jetzt noch nicht. Eine sorgfältige Ana- 
mnese und die üblichen Proben auf Allergie würden hierbei auf jeden 
Fall besondere Beachtung verdienen. 

Die aus der Tabelle ersichtlichen 15 Kaliumwerte stiegen in 
9 Fällen an, während sie in 6 Fällen abfielen. Einzelne Befunde 
mußten unverwertet bleiben, da das Serum hämolytisch war. Wenn 
auch der Befund der Kaliumvermehrung im postparoxysmalen 
Serum nicht gerade extreme Veränderungen zeigt, so kann man 
doch im Gegensatz zu den Calziumverschiebungen sagen, daß beim 
Kalium eine größere Tendenz zum postparoxysmalen Abfallen der 
Werte vorhanden ist. Diese Veränderung kann man wohl als eine 
direkte Folge der nach dem Anfall auftretenden azidotischen Zu- 
stände ansehen. Es ist ja auch vom Fieber und anderen azidotischen 
Stoffwechselstörungen bekannt, daß die Calziumionen über die 
Kaliumionen überwiegen. Die funktionelle Bedeutung des Kaliums 
liegt in seiner Wechselwirkung einerseits zum Natrium, anderseits 
zum Calzium. Aus seiner relativen postparoxysmalen Verminderung 
können wir, wenn wir den Cardiazolkrampf mit dem genuinen epi- 
leptischen Krampfanfall vergleichen, eine Kalıumvermehrung retro- 
spektiv feststellen. Mit einem Kaliumübergewicht ist aber die Wir- 
kung des parasympathischen Nervensystems verbunden. Da nun 
bekannt ist, daß durch Überdosierung vagotonischer Substanzen 
alkalotische Zustände auftreten, so kann es auch hierdurch als be- 
wiesen erachtet werden, daß auch beim Cardiazolkrampf 
genau wie beim epileptischen Anfall der Weg von 
einer präparoxysmalen Kalıiumalkalose zu einer post- 
paroxysmalen Calziumazidose führt. 

Auch für die Wasserbewegung ist die Elektrolyteinstellung 
von Bedeutung. Nach Kraus und Zondek verhalten sich hierbei 
Kalium und Calzium meist antagonistisch. Das eine Ion führt der 
Zelle Wasser zu und macht sie aufnahmefähiger, das andere wirkt 
umgekehrt. Nach der schon erwähnten Vorstellung Bergers, wonach 
der Zustand der Serumeiweißkörper als ein humorales Spiegelbild 
eines gleichgearteten zellulären Vorganges angesehen werden muß, 
können wir präparoxysmal analog der höheren Albuminquote eine 
Wasserretention sowohl der Bluteiweißkörper als auch der Gewebe 
folgern. Diese präparoxysmale Quellung vor allen Dingen der ner- 
vösen Gewebe ist wohl ursächlich mit an dem Ausbruch des genuinen 


122 Fr. Haertel 


Krampfanfalles beteiligt. Wie steht es aber mit der Beziehung der 
Elektrolyteinstellung zum Wasserhaushalt. Aus der Tabelle können 
wir ersehen, daß vor dem Anfall die Kaliummenge relativ erhöht ist. 
Gleichzeitig müssen wir aber nach der Ansicht Bergers eine Gewebs- 
quellung konstatieren. Das widerspricht sich aber mit den bekann- 
ten Tatsachen, daß Kalium einen diuretischen Effekt hat. Seit 
langem hat Kalium als Kalium aceticum Eingang in die Ödem- 
therapie gefunden. Sollte hier der Kaliumverlust der Gewebe, den 
wir ja aus dem relativ vermehrten Blutkaliumgehalt folgern dürfen, 
diese diuretische Kaliumwirkung verhindern ? Man könnte dann 
den therapeutischen antiödematösen Kaliumeffekt durch Anreiche- 
rung von Kalium in den Geweben erklären. Das Calzium würde 
demnach, als Antagonist des Kaliums, bei Anreicherung in den Ge- 
weben das Bindungsvermögen derselben für Wasser erhöhen. Aber 
nicht nur für den Wasserhaushalt des Organismus spielen Kalium 
und Calzium eine äußerst wichtige Rolle. Auch das Säurebasen- 
gleichgewicht wird von ihnen entscheidend beeinflußt. Calzıum be- 
wirkt eine saure Stoffwechselrichtung, während Kalium alkalotisch 
wirkt. Auch das morphologische Blutbild wird von dem Kalium- 
Calzium- Quotienten in dem Sinne beeinflußt, das Calziumüber- 
gewicht mit Leukozytenanstieg, Kaliumübergewicht dagegen mit 
Leukozytenabfall und relativer Lymphozytose einhergeht. Ja, 
sogar die Lebenstätigkeit der einzelnen Leukozyten, so vor allen 
Dingen ihre Phagozytosefähigkeit, wird durch eine überwertige 
Calzıumwirkung gefördert, während das antagonistische Milieu auch 
in dieser Beziehung antagonistisch wirkt. Nach Fr. Kraus beein- 
flussen die Elektrolyten alle Zustands- und Leistungseigenschaften 
des Organismus. Hierbei ist das besonders enge Verhältnis von 
Kalium und Calzium zum vegetativen Nervensystem wichtig. 
Sympathicusreiz ist mit Calziumkonzentration genau so identisch 
wie Vagusreiz mit Kaliumkonzentration. Fehlt einer der Elektro- 
lyten, so spricht auch der Antagonist nicht an. Tritt eine Ver- 
schiebung der Elektrolytverhältnisse ein, so kann unter Umständen 
der nervöse Reizeffekt eine Umkehr seiner normalen Wirkung zeigen. 
Trendelenburg konnte den Nachweis führen, daß bei starker Steige- 
rung des parasympathischen und bei Lähmung des sympathischen 
Apparates Adrenalin seine Verwandtschaft zum sympathischen End- 
apparate einbüßt und zum Erreger der parasympathischen End- 
apparate wird. Nach Pick hat überhaupt die isolierte Wirkung der 
sympathischen und parasympathischen Gifte nur für die Mittellage 
der Erregbarkeit Geltung. Trotz der hervorragenden Rolle, welche 
diese Elektrolyten und ihre Verschiebungen während dem Krampf- 


—- | 


-——— æ- 


Über d. Veränderungen d. Blutzusammensetzung nach d. Cardiazolkrampf 123 


anfall spielen, ist jedoch zu betonen, daß sich diese Änderungen 
ganz im Rahmen der komplexen Störungen im vegetativen System 
vollziehen, als deren Folge und Ausdruck sie aufzufassen sind. Unter 


= normalen Bedingungen ändert nicht Calzium und Kalium das 


Gleichgewicht des vegetativen Systems, sondern die Calzium- und 
Kaliumverhältnisse werden durch Änderungen im Gleichgewicht 
des vegetativen Nervensystems bestimmt. Wir haben gesehen, daß 
während des epileptischen Krampfanfalles das vegetative System 
eine vollständige Umstimmung erfährt. In dieser Gesamtumschal- 
tung während des Anfalls können wir den Versuch einer Selbst- 


. heilung des Körpers erblicken. Das Krankhafte können wir also 
= nicht in dem Anfall an sich, sondern in der krankhaften Konstitution 
' beziehungsweise in einer starken exogenen irritativen Noxe er- 


blicken. Wo diese Noxe angreift, spielt an sich keine Rolle. Es ist 
völlig gleichgültig, ob der Reiz an der Krampfzelle selbst, oder über 
den Umweg einer gestörten Kolloidstabilität angreift, da hier die 


- ungeheure Ähnlichkeit des Krampfanfalles und seiner humoral- 
pathologischen Veränderungen zur Diskussion steht und nicht die 
- Ursache des Anfalles. Außerdem ist es ja auch noch reichlich unbe- 
. wiesen, wie ein Reiz, also in diesem Falle das Cardiazol, auf die Zelle 
- wirkt. Man hat gegen eine Übereinstimmung des Krampfgeschehens 
. beim genuinen epileptischen Anfall mit dem Cardiazolkrampf die 
Tatsache ins Feld geführt, daß das Cardiazol direkt auf die Zelle 
=- wirkt, die den Krampf auslöst. Experimentell konnte man das 


zeigen, indem man in Tierversuchen Cardiazol direkt auf die Hirn- 


= rinde applizierte. Dieser Einwand ist völlig unberechtigt. Es treten 
 höchstwahrscheinlich auch hier Änderungen in der kolloidalen 


Struktur der Zelle und vor allen Dingen an ıhren Membranen auf, 
die den Reiz auszulösen imstande sind. 


Zusammenfassung 


Zweck der Untersuchung war, festzustellen, ob die Veränderun- 
sen der Blutzusammensetzung nach dem Cardıazolkrampf analog 
denen sind, wie sie von vielen Autoren für den echten epileptischen 
Anfall im allgemeinen als Regel angenommen werden. Wenn man 
die Unterschiede in dem rein zeitlichen Ablauf der präparoxysmalen 
humoralen Vorgänge bei beiden Krampfgeschehen nicht berück- 
sichtigt, also hier beim Cardiazolkrampf das akute Einsetzen der 
Noxe und dort bei dem echten epileptischen Anfall die mehr schleı- 
chende Anreicherung der krampfauslösenden Schädlichkeit, so er- 
geben sich doch für die Veränderungen während des Krampfanfalles 


124 Fr. Haertel, Über die Veränderungen der Blutzusammensetzung usw. 


weitgehende Übereinstimmungen. Diese beziehen sich sowohl auf 
die Veränderungen der Eiweißkolloide als auch auf die der Elektro- 
lyte. 

1. Refraktion nimmt überwiegend zu. 

2. Viskosität ebenfalls. 

3. Interferometerwerte nehmen entsprechend den Refraktions- 
werten überwiegend zu. 

4. Globulinisierung. 

5. Die Calziumwerte steigen, während die Kaliumwerte fallen. 


Betrachtet man also den Krampfanfall im engeren Sinne, so gibt 
es keinen Unterschied zwischen dem symptomatischen Cardiazol- 
krampf und dem rein epileptischen Anfall, da sowohl der Ablauf des 
Krampfanfalles selbst als auch die humoralpathologischen Ver- 
änderungen bei diesen beiden Formen des Krampfgeschehens weit- 
gehend übereinstimmen. 


Schrifttumverzeichnis 


Becher-Bohnenkamp, Pathologische Physiologie. Jena, Gustav Fischer. — 
Bumke und Foerster, Handbuch der Neurologie Bd. 7. — Foerster, O., Die 
Pathogenese desepileptischen Krampfanfalles. Zbl. Neur. 64, H.11/12 (1926). — 
Frisch, Felix, Das vegetative System der Epileptiker. Berlin, Springer. — 
Frisch und Weinberger, Zentr. Neur. (1927). — Georgy, Zentralblatt Neur. 
Bd. 1 (1926). — Glatzer, Zentralblatt Neur. (1927). — Haggard und Henderson, 
Kongr. Zentralblatt f. d. ges. inn. Med. 15. — Höber, R., Phys. Chemie der 
Zelle. Leipzig, Engelmann. — Hopkins Detrick, California med. 34, 240—246 
(1931). — Kämmerer, Allergische Diathese und allergische Erkrankungen. 
München, J. F. Bergmann. — Mauz, Friedrich, Die Veranlagung zu Krampf- 
anfällen. Leipzig, Georg Thieme, 1937. — Naegeli und Adler, Handbuch d. 
Neur. S. 41. — Volland, Z. Neur. 3 (1910). — 250 Scimone, Ignazio, Ricerche 
sugli Equivalenti chimico-fisici dello shock. I. Indice refrattometrico e 
viscosità del siero di sogetti in shock insulinico. (Instit. di Clin. Med. Gen., 
Univ., Roma.) Cervello 18, 1—10 (1939). 


— m nn 


Einige Fehlerquellen, die sich bei den modernen 
Schizophreniebehandlungen vermeiden lassen ') 


Von 
Anibal Silveira 


(Aus dem Hospital de Juqueri [Direktor: Doz. Dr. E. Pinto Cesar] der Geistes- 
krankenfürsorge des Staates S. Paulo, Brasilien [Direktor: Dr. Milton Pena]) 


(Eingegangen am 11. August 1939) 


Es liegt nicht in unserer Absicht, im folgenden diejenigen Fragen 
näher zu behandeln, die sich auf die eigentliche Technik der Methode 
v. Medunas oder Sakels erstrecken: Einzelheiten solcher Art sind 
schon genügend von çv. Braunmühl (7), Jancke (15), v. Joe (16), 
v. Meduna (22, 23), Nyirö (28) und nebenbei auch von Sakel (34) 
selbst erörtert worden. Wir wollen dagegen hier die Bedingungen 
des Krankenmaterials an sich berücksichtigen, die wir von nicht 
minderer Wichtigkeit für die Anwendung jener therapeutischen 
Methoden halten wie die technischen Besonderheiten. Wir be- 
schränken daher den Gegenstand der vorliegenden Mitteilung auf 
die hauptsächlichsten Fehlerquellen, die sich bei der Auswahl der 
Schizophrenen für die Behandlung und bei der Abschätzung der 
erhaltenen Ergebnisse darbieten. Da die zu berücksichtigenden 
Umstände zahlreich sind, und wir nicht weitschweifig sein wollen, 
so suchen wir nur an konkreten Beispielen darzulegen, in welcher 
Weise die erwähnten Fehlerquellen ihren Einfluß ausüben ?). 

Wir halten es für nötig, diese verschiedenen Umstände, welche 
zum Ausgang oder Nichterfolg der modernen Behandlungsmethoden 
miteinwirken, in Berücksichtigung zu ziehen, in der ausgesprochenen 
Absicht, zu vermeiden, daß ihre ungeeignete Anwendung. und 


1) Mitteilung gelegentlich der Panamerikanischen Tagungen für Neuro- 
psychiatrie, in Lima, Perü, März 1939. Wir danken Herrn Bruno Lindenau, 
Bibliothekar der Assistência a Psicopatas, São Paulo, für seine Hilfe bei der 
vorliegenden Übersetzung des Originaltextes. 

2) Nachträgliche Anmerkung: Bei der 2. Korrektur unserer Arbeit in der 
Z. Neur. 166, 604 (unter Nr. 43 hier zitiert) erhielten wir von der Veröffent- 
lichung Elstes (Z. Neur. 166, 594) Kenntnis, in der ebenfalls einige dieser 
Fehlerquellen an konkreten Beispielen erörtert werden. 


126 Anibal Silveira 


andererseits ihre Verbreitung ohne Maß und Ziel innerhalb des 
besonderen Aktionsbereiches zu ihrer Mißkreditierung führen, wie 
das mit der von dem Genius Broussais’ begründeten „physio- 
logischen Medizin‘‘ der Fall gewesen ist. In diesem Sinne haben 
wir unsere Bemühungen bezüglich der erwähnten modernen 
Methoden, im besonderen der v. Medunas (38—41, 43), orientiert. 

Wir lassen die bei Fällen von Affektpsychosen (v. Joe (16), 


Mader (18), o. Meduna und Foz (24), Stähli und Briner (45), ` 


Uebler (47, 48), Weitbrecht (49)) erzeugten Remissionen beiseite, ° 


da zu deren Behandlung andere wirksame Methoden vorhanden 
sind, ohne daß man zu drastischen Mitteln zu greifen braucht, 
und wollen ihre Anwendung nur im Bereiche der Schizophrenie 
berücksichtigen. Selbst auf diesem Gebiete sind die Fehlerquellen 
bei der Wertung der objektiven Tatsachen häufig: sie erklären 
sich zur Mehrzahl durch die Art der Zusammensetzung des klini- 
schen Materials. Wir wollen also zunächst diese Elemente betrachten 
und sie gemäß ihrer absteigenden Häufigkeit, wie sie in Erscheinung 
treten können, einordnen. 

An erster Stelle erinnern wir an die sporadischen psychotischen 
Schübe mitunter komplexer Struktur, wie diese bei den sogenannten 
Pfropfpsychosen hauptsächlich aus der europäischen Literatur 
bekannt sind und welche im Hospital de Juqueri besonders von 
Almeida Prado (2) studiert wurden; die schizophrene Färbung 
der akuten Symptome kann sowohl von der psychischen Kon- 
stitution des Patienten herrühren wie auch rein gelegentlich sein. 
Aus vielen veröffentlichten Statistiken ıst nicht ersichtlich, ob 
Fälle solcher Art ausgeschlossen worden sind; und selbst a posteriori 
hatten wir Gelegenheit, eine solche Möglichkeit zu bezeugen: 

Fall 1!). — M. P. S., 3, Bras. — Interniert im Hospital de Juqueri am 
7.1.38. 29 Jahre alt. Vorfahren in direkter wie Seitenlinien gesund. Menin- 
gitis (ärztliche Diagnosis) im Vorschulalter. Hierauf ‚‚Reizbarkeit‘, ‚Un- 
stetigkeit, Mangel an intellektuellem Erwerb‘. Im Jahre 1930 postinfektiöser 
Schub mit Gehörshalluzinationen, deliranten Beziehungs- und Verfolgungs- 
ideen, Aggressivität. In ärztlich-klinischer Behandlung auf der ländlichen 
Besitzung seiner Eltern. Vollkommene Remission innerhalb von 3 Monaten. 
Im Juni 37, infolge Alkoholvergiftung, neuer Schub: Gehörshalluzinationen, 
Zoopsien, Schreckreaktionen, Verfolgungswahn, delirante Aggressivität. 
Interniert in einem Privatsanatorium, wurde für schizophren gehalten und 
nach der Methode Sakels behandelt, worauf wiederum Remission. Ende 37 


Rückfall infolge Alkoholmißbrauchs, welcher seine jetzige Internierung ver- 
anlaßte. Bei der Aufnahme im Hospital de Juqueri (Januar 38) hatten sich 


1) Alle klinische Beobachtungen werden in möglichst gekürzter Weise 
wiedergegeben. Die ausführlichen Protokolle sind im klinischen Archiv des 
Hospitals de Juqueri hinterlegt. 


Eee mn 


- 


Einige Fehlerquellen usw. 127 


die Störungen schon vermindert: psychische Orientierung, sogar zeitlich, 
intakt; Gehörshalluzinationen in Rückbildung; delirante intellektuelle Ver- 
arbeitung vorzüglich mit Verfolgungsinhalt; Ausdruck ohne Besonderheiten; 
Mangel an Spontaneität; anscheinend affektive Abstumpfung; zu Hause, 
Reizbarkeit und Aggressivität; Liquor ohne jede Veränderung. 


Es handelt sich also um einen Enzephalopathen, der psychoti- 
schen Episoden nachweislich toxischer Ätiologie, wenn auch mit 
psychischer Symptomatologie von „schizophrener‘‘ Färbung in der 
akuten Phase, unterworfen war. Die infolge der Behandlung mit 
der Methode Sakels aufgetretene Remission kann also nicht thera- 
peutisch im engeren Sinne aufgefaßt werden; sie lag in der Mitte 
zwischen integraler Remission und Milderung des Zustandes; beide 
waren spontan. 


Andere psychotische Abarten, bei denen mitunter anscheinend 
schizophrene Symptome erscheinen, sind die „episodischen Dämmer- 
zustände‘, die von Kleist (17) gut abgegrenzt worden sind und 
genetisch zur epileptischen Gruppe gerechnet werden können, die 
“ phänomenologisch mit der Schizophrenie verwandten ‚Motilitäts- 
psychosen‘“ und ‚„Verwirrtheiten‘‘ (12). Gerade bei diesen Varie- 
täten von „‚Degenerationspsychosen‘‘, wie auch bei dem oben er- 
= wähnten Falle zeigt das Krankheitsbild viel eher Neigung zu 
. phasischer als zu zyklischer Remission; eine solche würde dann 
fälschlich der angewandten Therapie zugeschrieben werden. 


Wir müssen sodann noch berücksichtigen, daß die Symptomalo- 
logie in vielen Fällen von dem schizoiden Typ der Persönlichkeit 
abhängt, welcher als pathoplastischer Faktor bei Infektionsleiden 
mit einwirkt; wir wollen die folgenden Fälle als Beispiele anführen : 


Fall 2. — L.L.P., 3, Bras., verheiratet. Im Hospital de Juqueri am 
-6.7.37 interniert. 39 Jahre alt. Ilereditäre und persönliche Kranken- 
geschichte ohne Bes. — Seit der Pubertät zeigt sich Schizoidie. Im Jahre 
1927 fieberhafte, grippeähnliche Infektion. Während der Genesung asthenische 
Verwirrtheit, von schreckhafter Haltung begleitet. Nach Schwinden des 
akuten Bildes stellten sich Absonderlichkeiten des Benehinens ein. Seitdem 
dauert der anormale Zustand fort, der sich durch Vorherrschen subjektiver 
Erlebnisse, welche nicht von der Außenwelt herrühren, äußert. Intellektueller 
Verfall stellte sich nicht ein. Sporadische Verwirrtheitsschübe, welche nach 
einigen Monaten schwanden. Zur Zeit: intakte psychische Orientierung. 
Keine Halluzination im engeren Sinne. Abstrakter „Automatisme mental“ 
(Clerambault). Schwere Coenästhopathien, die teilweise von echten vegeta- 
tiven Störungen herrühren können. Alogische Denkstörungen (Kleist). 
Krankheitserlebnis mit subjektiver Betonung der viszeralen Störungen. 
Mitunter vorsichtige Zurückhaltung, um die Wahnsysteme zu verbergen. 
Diese stützen sich auf „abstrakten Automatisme mental“ Clerambaults und 
scheinen vorwiegend Verfolgungstvp zu besitzen. Früher erworbene Kennt- 
nisse: im allgemeinen erhalten. Ausdruck ohne B. Mangel an praktischem 


128 Anibal Silveira 


Unternehmen. Zu Hause ist sein Verhalten von subjektiven Erlebnissen 
geleitet, die der Außenwelt nicht entsprechen; zornig erregt, unumgänglich, 
despotische Hyperemotivität. Leichte Liquorveränderungen. Nach den 
üblichen Behandlungen zufriedenstellende Remission. Am 28. 5. 38 entlassen. 


Fall 3. — O. Z., d, Bras. Am 9. 9. 37 im Hospital de Juqueri interniert. 
22 Jahre alt. Älterer Bruder geisteskrank (schizophren). Der Kranke zeigte 
seit der späteren Kindheit verschlossenes Wesen. 41, Jahre vor seiner jetzigen 
Internierung fieberhafter Anfall unbekannter Ätiologie, welchem schwere 
Asthenie, begleitet von einem akuten Verwirrtheitsbilde, vorangegangen war. 
Im Gefolge intellektuelles Defizit, mit ausgesprochenem Mangel an praktischer 
Aktivität: schizophrener Typ. Im Juni 37 neuer Schub; zu Beginn mit akuter 
Verwirrtheit, ähnlich dem ersten; auch auf diese Periode folgte ein Zustand 
psychischen Zerfallenseins, der gelegentlich der Aufnahme im Hospital de 
Juqueri noch fortbestand. Die Orientierung war hinsichtlich der Zeit fehler- 
haft, aber für Umwelt und Ort erhalten. Bewußtsein der eigenen subjektiven 
Welt und des gegenwärtigen Zustandes. Gehörshalluzinationen beleidigenden 
Inhalts. Mitunter Selbstgespräche; antwortet mit lauter Stimme den Gehörs- 
täuschungen. Alogische Fehler gemäß dem Begriff Kleists. Intellektuelle 
Verarbeitung ohne die nötige Unterordnung bezüglich der Außenwelt. Globale 
Verringerung der Ausdrucksfähigkeit infolge von Mangel an Antrieb. Völliges 
Erlöschen der praktischen selbständigen Betätigung. Mitunter angriffslustig 
in der Krankenabteilung. Im allgemeinen gleichgültig hinsichtlich seiner Lage 
als Internierter. Zänkisch zu Hause. Leichte Liquorveränderungen. Volle 
Remission mittels der üblichen Behandlungsmethoden. Entlassung am 
1. 5. 38. 


Diese beiden Beobachtungen sind ausführlicher in einer anderen 
Arbeit berichtet, in der wir gemeinsam mit Dr. J. B. dos Reis die 
Liquorveränderungen bei nicht-neuroluetischen Geisteskranken (44) 
studieren. Bei beiden Fällen handelte es sich um die psychotische 
Enzephalitis Marchands in ihrerchronischen Form, aber in der Phase 
derReaktivierung. Die umfangreiche und genaueLiquoruntersuchung 
gestattete es uns, den wahren klinischen Sachverhalt unzweifelhaft 
festzustellen. Hätten wir irgendeines der modernen Verfahren an- 
gewandt, so würden wir irrtümlicherweise der Spezifität desselben 
das Verdienst der Remission zugeschrieben haben. 

Die Liquoruntersuchung, wie sie im Hospital de Juqueri gehand- 
habt wird, erlaubt häufig die klinische Abtrennung der Schizo- 
phrenie von den symptomatischen Psychosen, eine Unterscheidung, 
die mitunter schwierig ist, wie auch Scheid (36) betont hat. In 
vielen Fällen ist aber das schizophrene Bild lediglich der patho- 
plastische Ausdruck seelischen Konflikts. 

Fall 4. — U.T., 2, Bras. Am 10.1. 36 im Hospital de Juqueri interniert. 
33 Jahre alt. Hereditäre und persönliche Vorgeschichte ohne Bes. Schizoider 
Hang seit der Pubertät. Ende 35 psychisches Trauma, begleitet von Unruhe 
und Erregtheit. — Im Hospital: Zeitlich unorientiert. Teilweise Erkennung 


der Umgebung. Verfälschung von Begriffen, die sich auf die eigene Person 
beziehen. Völlige Loslösung von der Außenwelt. Gehörstäuschungen. Wort- 


Einige Fehlerquellen usw. 129 


motorischer „Automatisme mental‘. Höhere Verstandesleistungen ohne inne- 
‚ wohnende Störungen. Gewöhnlich Mutismus. Schwerste Gebärdenarmut. 
Haltungsverharren. Vollkommener Antriebsmangel (Kleist). Rasch vorüber- 
gehende Perioden von großer Reizbarkeit. Anscheinend gemütliche Ab- 
stumpfung. Keine Liquorveränderung. Nach der Pyretotherapie mit Jod- 
Proteinpräparaten: völliges Orientiertsein. Normale Fühlungnahme mit der 
Umwelt. Völlig normale Vorstellung. Korrekte Ausdrucksweise. Wieder- 
erscheinen der nützlichen Initiative. Normale Affektivität. Entlassung aus 
dem Hospital am 10. 5. 36. 


Fall 5. — M. A. G., $, Bras., verheiratet. Am 14. 8. 35 im Hospital 
de Juqueri interniert. 31 Jahre alt. Die Mutter hatte in der Menopause eine 
vorübergehende Verwirrtheitsphase durchgemacht. Die Kranke zeigte seit 
ihrer Jugend zurückgezogenes Wesen; imaginativ und eigenwillig. Ver- 
heiratete sich im Jahre 1925 infolge Gebärmutterhypoplasie steril. Lebte 
bisher in Harmonie. Im Mai 35 stellte sich ein Verwirrtheitszustand mit 
lebhaftem Oneirismus, Ängstlichkeit und Angriffslust besonders gegenüber dem 
Gatten ein. — Im Hospital: allopsychische Orientierung erhalten. Angaben 
über das eigene psychische Leben, zum Teil verfälscht. Autismus. Voll- 
“ kommene Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt. Echte Halluzinationen 
lassen sich nicht feststellen. Motorischer Automatismus: unbewußt und selbst 
` gegen den eigenen Willen ausgeführte Handlungen. Geistige Abgestumpftheit 
` bei Prüfungsaufgaben. Eingebildete Schwangerschaft. Empfindung, unter 

ständiger Bewachung zu sein. Krankhafte Träumerei (,‚Reverie morbide‘). 

Zusammenhanglosigkeiten. Affektierte Sprache, eigenwillige Schrift; Maniert- 

heit; Bewegungsstereotypie; unmotiviertes Lachen; unsauberes Betragen. 

Mangel an praktischer Aktivität: verbringt den ganzen Tag liegend. Ego- 

zentrismus. Exhibitionismus. Gleichgültigkeit, später Feindseligkeit gegen 
‚ Familienangehörige. Schlaflosigkeit zu Beginn. Keine nachweisbare Liquor- 
= veränderung. — Behandelt mit medikamentöser Pyretotherapie. Schon 

15 Tage nach der Injektionsreihe war das Bild sehr verschieden: Normali- 

sierung der affektiven Empfindungen. Nimmt geistige und praktische Be- 
.. ziehungen wieder auf. Dysmnesie bezüglich der Zeit vor der Internierung. 
Vollständige Remission; Entlassung am 2. 12. 35. 


| Beide Kranke erreichten also vollkommene Remissionen ohne An- 
' wendung der modernen Methoden. Bei Fällen reaktiver Art, sei 
es eine Affektivitätspsychose (24) oder hysterischer Herkunft (8), 
ist die Anwendung dieser therapeutischen Neuerungen unserer 
Ansicht nach wenig angebracht. Oder, besser gesagt, es ist wenig 
angebracht, sie zur Hilfe zu nehmen, ehe die gewöhnlichen medi- 

" kamentösen Mittel nicht versucht worden sind. 


Eine weitere Art der Verfälschung, die sich nicht hinsichtlich der 
Diagnosestellung, wohl aber bei der Abschätzung der Ergebnisse 
darbietet, erwähnen wir im folgenden näher: Obwohl der Patient 
als zweifellos schizophren erkannt worden ist, kann er vorüber- 

~ gehenden Störungen infolge toxisch-infektiöser Enzephalitis, gleich- 
ı falls flüchtigen rein reaktiv-psychogenen Episoden oder auch echt 


| schizophrenen Schüben, die mittels der üblichen Methoden 
9 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


130 Anibal Silveira 


remissionsfähig sind, unterworfen sein. Wir wollen zum Beweise 
konkrete Beispiele anführen: 


Fall 6. — A. A., 3, Bras., Neger. Im Hospital de Juqueri am 16. 5. 37 
interniert. 19 Jahre alt. Hereditäre und persönliche Vorgeschichte ohne 
Bes. — Im Dezember 36 beginnt er geistige Störungen zu zeigen. In Anbetracht 
der persönlichen wie der Familiengeschichte und des im Hospital beobachteten 
Bildes lautet die Diagnose: Schizophrenie, hypokinetische katatone Form. 
Alle gebräuchliche Behandlung verlief völlig ergebnislos. Im September 37 
(4 Monate nach seiner Internierung und 9 nach Krankheitsbeginn) wird mit 
der Krampfbehandlung begonnen. Vollkommene Remission. . Entlassung am 
18. 12. 37. — Am 21. 1. 38 Grippeinfektion, welche am folgenden Tage von 
lebhaften, vielgestaltigen Gehörshalluzinationen, heftiger psychomotorischer 
Erregung, die mitunter in krampfhaftes Weinen endet, begleitet wird; die 
polymorph-deliranten Ideen äußern sich in unbezähmbarer Geschwätzigkeit. 
In diesem Zustande am 5. 2. 38 wieder interniert. Verdacht auf infektiöse 
Enzephalitis; die Liquoruntersuchung bestätigt die klinische Hypothese. Anı 
6. Tage zeigt sich der Kranke beinahe normal und 15 Tage nach seiner Wieder- 
einlieferung befindet er sich vollkommen remittiert; vermag genau alle voran- 
gegangenen Ereignisse anzugeben. 


Bei diesem Patienten, den wir neben anderen analogen Fällen 
in einer besonderen Mitteilung (42) genau studiert haben, konnten 
wir darlegen, daß die Störungen, welche seine Wiederinternierung 
veranlaßt hatten, keinen Rückfall, sondern eine halluzinatorisch- 
delirante Episode infolge „psychotischer Enzephalitis‘‘ Marchands 
darstellten. Gemäß der Praxis, welcher man für gewöhnlich bei dem 
Gebrauch der Shocktherapien folgt, würde sich die sofortige 
Anwendung der Behandlung rechtfertigen; die Folgerung hin- 
sichtlich deren Wirkung würde aber auf einer falschen Voraus- 
setzung beruhen. 


Fall 7. — E.T. S., 3, Bras. Im Hospital de Juqueri am 1. 9. 36 inter- 
niert. 19 Jahre alt. Großvater, väterlicherseits, geisteskrank, im Jahre 1912 
im gleichen Hospital interniert, zusammen mit dem Vater des Pat.; der Vater, 
Katatoniker, wurde nach einigen Monaten entlassen. Die einzige Tante des 
Kranken väterlicherseits ist ‚‚nervös“. Krankengeschichte mütterlicherseits 
ohne Bes. — Im Jahre 1921 wies der Kranke eine Verwirrtheitsepisode auf 
mit einigen hysterieähnlichen Anzeichen oder mindestens reaktiven Ursprungs. 
1933 (16 Jahre alt) neuer Schub; jetzt agitiert, hebephrenisch, mit schwerem 
Zerstörungshang, was seine Internierung in einem Privatsanatorium erforder- 
lich machte. Im Juli 1936, 2 Monate vor seiner Einlieferung in das Hospital, 
dritter Schub. — Persönliche Untersuchung: geringer, harmonischer Gigantis- 
mus. Vollkommene Orientierung hinsichtlich des Orts, der Umgebung und 
der eigenen Person; erschwert bezüglich der Zeit. Gehörshalluzinationen 
waren vorangegangen; zur Zeit sind diese anscheinend nicht mehr vorhanden. 
Bizarres Wesen, Furcht, Hang zur Isolierung, Widerspenstigkeit als Vorboten 
des akuten Schubes (laut Katamnese). Geistige Verarbeitungsprozesse an- 
scheinend langsam, aber ohne inhärente Störungen. Keine eigentliche Aus- 
drucksstörung. Zur Zeit ist die Affektivität sowie die Initiative zum Handeln 
erloschen. Die Diagnose ‚schubartige Hebephrenie‘“ bestätigt sich: psycho- 


Einige Fehlerquellen usw. 131 


gener Beginn infolge seelischen Konflikts. Mit den gebräuchlichen Mitteln 
behandelt, erhielt er, wie auch vorher, vollkommene Remission und verließ 
das Hospital am 26. 2. 37. — Im März 37 neue psychische Konflikte zu Hause 
wie in der sozialen Umgebung; hierauf neuer, schwerer Schub, aber ohne daß 
irgendein Symptom von Verwirrtheit vorangegangen wäre. Wiederauf- 
genommen im Hospital de Juqueri am 4.9.37: vollkommene psychische 
Orientierung. Weder Halluzinationen noch Anzeichen von Automatismus als 
Vorläufer beim jetzigen Krankheitsschub. Delirante Erlebnisse verschiedenen 
Inhalts: Eifersucht, Verärgerung, Nichtachtungs-, Benachteiligungs-, Unheil- 
barkeitswahn; Verfolgungsideen. — Später: mangelhafte Spontaneität zum 
Sprechen und zur Bewegung. Leichte Dysthymie mit Ängstlichkeit. Der 
Liquor weist wiederum kein pathologisches Anzeichen auf. — Abermals voll- 
kommene Remission, ebenfalls mit den üblichen therapeutischen Mitteln. 
Entlassen am 4.3. 38. 


Wir führen nur dieses Beispiel an, um unsere oben erwähnte 
Meinung zu belegen. Zahlreiche andere Fälle, auf die wir jetzt 
stoßen, erlauben es uns, zu behaupten, daß die mit den gebräuch- 
lichen Methoden bei affektiven Episoden endogenen Charakters 
erreichten Remissionen nicht selten sind, selbst wenn der Kranke 
unbestreitbar schizophren ist. Auch die kürzlich veröffentlichten 
Beobachtungen von Foz (24), v. Joe (16), Mader (18), Weitbrecht (49) 


bei nicht schizophrenen Fällen können ebenfalls als für die Be- 


| 


, 
l 


handlung mit den oben angeführten Mitteln geeignet betrachtet 
werden. 

Eine andere Ursache, die zu einer optimistischen Verfälschung 
bei der Auslegung der therapeutischen Wirksamkeit verleiten 
kann, führen wir bei dem folgenden Fall an: 


Fall 8. — A. M. C., 3, Bras. Am 5. 5. 38 zum zweiten Male im Hospital 
de Juqueri interniert. 29 Jahre alt. Keine Psychose in der Familiengeschichte. 
Normale Kindheit. — 1933 erster psychotischer Schub charakteristisch 
schizophrener Entwicklung. Im gleichen Hospital am 29. 1. 34 interniert, 
erhielt vollkommene Remission; am 3.6. entlassen. — Im April 38 neuer 
Schub, welcher seine Wideraufnahme nötig machte. Die psychiatrische 
Beobachtung während der ersten Tage stellte folgendes Bild fest: desorientiert 
hinsichtlich der Zeit, teilweise des Orts; die Möglichkeit, die Umgebung zu 
erkennen, liegt anscheinend nicht vor. Vermutlich besteht Krankheits- 
bewußtsein. Ausgesprochener Mangel an Spontaneität bezüglich der Fühlung- 
nahme mit der Außenwelt. Deutliche Wahrnehmungsstörungen halluzina- 
torischer Art. Weiterhin Gehörshalluzinationen oder vielleicht verbaler 
auditiver Automatismus (Clerambault), auf viszeraler Lokalisation gefühlt, 
vorwiegend mystischen, absurden Inhalts. Shwere alogische Denkstörungen 
(Kleist). Mitunter unmittelbare und sinnlose Antworten. Geistige Ver- 
arbeitung anscheinend brüchig. Gelegentliche Fabulationen. Erhaltungs- 
Stellungs- und Gebärdenstereotypien. Zuweilen anscheinend extrapyramidale 


‚ Bewegungen. Maniertheit. Globaler Mangel an praktischer Tätigkeit. Affek- 


tivität abgestumpft. Die Liquoruntersuchung konnte im ersten Halbmonat nach 


' seiner Wiederinternierung nicht angestellt werden, weshalb die Behandlung 


nicht sofort begonnen wurde. In dieser Zwischenzeit begann Pat. Besserungen 
90 


132 Anibal Silveira 


zu zeigen, die rasch zunahmen; die Liquoruntersuchung ergab in dieser Zeit 
keine Besonderheiten. Der Geisteszustand wurde in kurzer Zeit normal und 
am 3.10.38 erfolgte Entlassung mit vollkommener Remission. 

Es ist bemerkenswert, daß die Behandlung, ‚die wir nach unserer 
persönlichen Praxis in der Anfangsphase der Beobachtung mit den 
üblichen Methoden vornehmen, aus rein zufälligem Grunde nicht 
vor dem Erscheinen der Besserung begonnen wurde; so konnten 
wir im vollen Hospitalbetrieb einer rein spontanen Remission bei- 
wohnen. Diese könnte logischer-, aber fälschlicherweise der an- 
gewandten Behandlung zugesprochen werden. Bei unserem von 
mit der Methode v. Medunas behandelten Kranken glauben wir 
eine solche Fehlerquelle sicher vermieden zu haben, wie wir schon 
besonders betont haben (38—41, 43); wie uns scheint, sind solche 
Fehlerquellen jedoch reichlich bei verschiedenen Statistiken über 
die modernen Behandlungen vertreten, worauf wir ja schon hin- 
gewiesen haben (43); der oben kurz berichtete Fall paßt gut zu den 
drei Patientinnen Teulies (46) und zu einem der Kranken 
Wolfers (50). Der erstgenannte Autor betont allerdings besonders 
die Tatsache, daß die Remissionen spontaner Art waren, wenn 
auch anscheinend mit der Behandlung zusammenhängend, und 
daß eine solche Möglichkeit bei der Geisteskrankentherapie nicht 
selten ist. 


Aber auch wenn die Remission nicht spontan ist, so kann sie bei 
Schizophrenen auch durch andere gebräuchliche medikamentöse 
Verfahren erreicht werden; der Erfolg stellt also nicht immer eine 
Spezifität der in Frage kommenden Methoden dar. Auf diese 
Fehlerquelle, die häufig, wenn nicht alltäglich in der einschlägigen 
Literatur ist, machten wir in einer anderen, schon erwähnten 
Arbeit (43) aufmerksam; wir wollen das Vorkommen derselben 
an den folgenden zwei Beispielen erläutern, die sich unter unserem 
eigenen Schizophrenenmaterial befinden: 


Fall 9. — O. L., 3, Bras. Im Hospital de Juqueri am 23. 8. 37 interniert. 
20 Jahre alt. — Vater, Neuroluetiker, an Gehirniktus gestorben. Kein anderer 


BB: 


Fall von Geistesstörung in der Familiengeschichte. Schizoide, in der Pubertät . 


ausgeprägte Merkmale. 6 Monate vor der Internierung progressives schizo- 
phrenes Bild, das sich ab Juni verschlimmerte. Untersuchung im Hospital: 
genügende allopsychische Orientierung wie auch hinsichtlich der eigenen 
Persönlichkeit. Gewöhnlich abstellbarer Automatismus. Verborgene Wahr- 
nehmungsstörungen halluzinatorischen Typs; befragt, leugnet er sie. Bei 
Selbstgesprächen oft gut vernehmbare Antworten auf ‚Stimmen“. Intellek- 
tuelle Verarbeitung ohne die nötige Unterordnung an die objektive Welt. 
Häufige Widersprüche alogischen Typs (Kleist). Vielfältige, nicht svstemati- 
sierte, delirante Ideen; diese sind bald depressiv (der Kranke hält sich für 
ruiniert), bald drücken sie Größenwahn und politische Herrschaft aus, sind 


Einige Fehlerquellen usw. 133 


aber immer kindlichen Inhalts. Ausgesprochene Abstumpfung des Ausdrucks- 
vermögens. Mangel an praktischer Unternehmung. Affektive Stumpfheit. 
Mitunter trägt der Gesichtsausdruck Angst und Schrecken infolge Wahr- 
nehmungsstörungen zur Schau. Liquoruntersuchung ohne Bes. Nach Beob- 
achtung sowie in Anbetracht der Angaben der Anamnese und Katamnese 
lautet die Diagnose auf paranoide Schizophrenie. Nach der üblichen Be- 
handlung allmähliche Besserung und schließlich vollkommene Remission. 
Entlassung am 30. 6. 38. 


Fall 10. — D. A. M., 3, Bras. Im Hospital de Juqueri am 27. 12. 38 
interniert. 23 Jahre alt. Großmutter mütterlicherseits hatte einen melancholi- 
schen Schub während der Menopause aufgewiesen. Tante von Mutters Seite 
her war im gleichen Hospital interniert. Großmutter väterlicherseits schnell 
aufgebracht; starb greisenschwachsinnig. Väterlicherseits Onkel oligophren, 
Tante „nervös“, unausgeglichen. Der Kranke wies in der Pubertät betont 
schizoide Züge auf. Studierte Medizin, im 4. Jahr; gab Privatunterricht. 
Im Juni 37 dysphonische Episode mit schizothymen Merkmalen; mußte im 
Dezember das Studium infolge Nervosität und Angst abbrechen. Im Juni 38 
brach eine schwere psychotische Episode mit Zerstörungs- und Angriflstrieb 
aus. Sofortige Internierung in einem Privatsanatorium; 3 Monate später 
Überführung in ein anderes; in beiden wurde die Behandlung nach Sakel 
begonnen ohne schätzbaren Erfolg, worauf er im Hospital de Juqueri inter- 
niert wurde. — Wir stellten folgendes Bild fest: Desorientierung hinsichtlich 
der Zeit. Schwierigkeit örtlicher Lokalisierung. Teilweise Verfälschung der 
ichbezüglichen Auffassung. Keine eigentlichen Halluzinationen festzustellen. 
Empfindung von Depersonalisation. Zu geistigen Aufgaben angeregt: fehler- 
haft, mit häufigen Sperrungen und Ideenflucht. Gansersyndrom als wollte 
er Ironie anwenden. Betonte Desintegration und Auflockerung von Vor- 
stellungsvorgängen. Extravagante Assoziationen manieähnlicher Art. Ob- 
szöne Scherze in beleidigender Absicht; Pornolalie; Maniertheiten; Grimassen. 
Übertriebene Gebärden. Dauernd und häufig Bewegungsdrang. Unfähigkeit 
zu nützlicher Betätigung. Motorische Erregung. Sehr häufige Reizbarkeit. 
Angriffslust, sei es aus Absicht oder als motorische Entladung. Invertierte 
Affektivität gegenüber seinen Familienangehörigen. Keinerlei Liquorverände- 
rung. — Nach der üblichen Behandlung, lediglich durch Desintoxikation und 
mittels Proteinshocks, begannen sich am Ende des 1. Monats der Internierung 
Besserungen zu zeigen. Schon Mitte Februar 39 verstärkten sich diese rasch 
bis zur vollständigen Remission, die auch jetzt noch (März) anhält. Der 
Patient steht zwecks Entlassung unter Beobachtung!). 


Wir sehen also, daß eine hebephrene Episode schwerer Form, 


' welche dem Insulinshock widerstanden hatte, lediglich nach einer 


| 


nicht ‚spezifischen‘ Behandlung, bei der wir, wie erwähnt, syste- 
matisch vorgehen, zu schwinden begann. Die verhältnismäßig 
lange Dauer und das Verhalten gegenüber den verschiedenen Be- 
handlungen geben uns Grund, ein nicht zufälliges Zusammen- 
treffen zu vermuten. Der Fall beweist jedenfalls, daß die Möglich- 
keit einer Remission ohne die modernen Behandlungsmethoden 
immerhin besteht, und legt zudem objektiv dar, wie irrig das. 


1) Pat. ist wirklich am 5. 5. 39 remittiert entlassen. 


134 Anibal Silveira 


übliche statistische Kriterium für einen Vergleich dieser modernen 
therapeutischen Verfahren ist (Csajaghy und Mezei (9), Mader (18), 
Salm (35), Teulie (46), Uebler (47)). 

Mit noch größerer Berechtigung muß man daran zweifeln, daß 
die Remission mittels der modernen Methoden uns auf die direkte 
Wirkung der gleichen Verfahren hinweist, wenn der betreffende 
Kranke eine Remission schon bei einem früheren Schub mittels 
anderer Behandlungen erfahren hatte. Auch dieser Vorfall ist 
häufig und verwirrt den Vergleich des Wertes der neuen Behand- 
lungen und der bis vor kurzem üblichen Methoden. Wir schließen 
immer aus unserem klinischen Beweismaterial diejenigen Fälle aus, 
welche sich in diese Gruppe einfügen. Das ist auch bei dem Patienten 
der Beobachtung 11 der Fall: 


Fall 11. — F. M., 3, Bras., Mischling. — Zum drittenmal im Hospital 
de Juqueri interniert, am 5. 2. 38. 24 Jahre alt. — Erbliche und persönliche 
Vorgeschichte ohne Bes. — Erster psychotischer Schub anfangs 1932. Inter- 
niert am 30. 7. 32; am 5. 7. 33 als geheilt entlassen. Neuer Schub, mit Wieder- 
einlieferung ein Jahr später (am 4.8. 34), wiederum Remission und Ent- 
lassung am 13. 7.35. Rückkehr in die soziale Umgebung; 2 Jahre später 
abermals interniert mit dem folgenden Geisteszustand: teilweise allopsychische 
Desorientierung. Begriff der eigenen Persönlichkeit schwer feststellbar. 
Wahrnehmungsstörungen im Bereich des Gehörs, halluzinatorischer Natur: 
Selbstgespräche; antwortet lauten ‚Stimmen‘. Grobe Widersprüche, einige 
anscheinend unter Vorbedacht. Infolge Mangels an Initiative, gewöhnlich 
Mutismus. Globale Verringerung der Gebärden und Bewegungen. Völliges 
Fehlen an praktischer Initiative. Mitunter widersetzlich ohne ersichtlichen 
Grund. Im allgemeinen passiver Gehorsam. Affektivität anscheinend er- 
loschen. Liquor ohne abnormen Befund. 

Obwohl die Symptome der Schizophrenie katatonischer Form 
entsprechen, schlossen wir den Kranken nicht in die Gruppe der 
nach der Methode v. Medunas zu behandelnden Patienten ein, da, 
falls zur Remission gebracht, diese angesichts der früheren Schübe, 
die alle von Remission begleitet waren, als therapeutisch bedingt 
angezweifelt werden könnte. Bei dem gleichen Kranken wurde 
von einem Kollegen die Methode Sakels angewandt, und diesmal, 
also zum vierten Male, remittierte er und wurde am 3. 10. 38 
entlassen. 


Unter Berufung auf konkrete Beispiele der verschiedenen klini- 
schen Typen unseres Untersuchungsmaterials haben wir oben ver- 
sucht, mittels rückschauender Betrachtungen einige der haupt- 
sächlichsten Fehlerquellen auf dem in Rede stehenden Gebiete 
anzugeben. Die gleichen Ursachen, im besonderen die zuletzt 
berichtete, nämlich das Vorkommen von früheren Schüben, die 
mit anderen psychiatrischen Methoden beseitigt wurden, erscheinen 


U 
lt sh A Hal Sa 1 je u nn FT a 1 


Einige Fehlerquellen usw. 135 


mitunter in beträchtlichem Prozentsatz, wie dies aus den Statistiken 
von Csajaghy und Mezei (9), Marzynskı (20), Meier (25), Pacheco 
e Silva und Toledo Ferraz (31), Plattner und Frölicher (32) ersicht- 
lich ist, und wie es auch Enke (11) und Teulié (46) betonen; sie 
wirken sich in der Richtung aus, die sich ergebenden Resultate 
fälschlich zu bessern. 

Umgekehrt übt eine gewisse Anzahl von Bedingungen ihren 


. Einfluß auf dem Gebiete der modernen Behandlungsmethoden bei 


Schizophrenen in dem Sinne aus, daß die Ergebnisse als minder- 
wertiger hinsichtlich des Erfolges, den man mit Recht ihnen zu- 
schreiben kann, erscheinen. Der wichtigste dieser Faktoren besteht 
in der Art der Auswahl der Kranken, wie auch Jancke (14) betont, 
wenn er agt: „Wahllose Anwendung von Schlafkuren, Insulin- 


kuren, Kardiazolkuren müssen unbedingt zu großen Mißerfolgen 


[43 


und schiefen Urteilen führen.“ Es ist nicht angebracht, hier die 


allgemeinen Indikationen für die Auswahl der Kranken anzu- 


führen (26, 45), was wir unsererseits auf etwas verschiedenen 
Grundlagen studiert haben (38, 39, 43). Wir erinnern nur all- 
gemein an zwei Beobachtungen unseres Schizophrenenmaterials: 


Fall 12. — L. S., 4, Bras. — Interniert am 11. 10. 37 im Hospital de 


- Juqueri. 23 Jahre alt. — Fall von Lepra in der Familie, aber keine psycho- 


—— 


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tische Belastung. Schizoide Persönlichkeit. Einige Monate vor der Inter- 
nierung begann er delirante Ideen von Verfolgungstyp zu äußern. Starkes 
Vorherrschen affektiver Faktoren. Angriffslustig, zerstörungswütig. Nahrungs- 
verweigerung. Bei der Untersuchung im Hospital: mangelhafte zeitliche 
Orientierung. Genügende Fühlungnahme mit der Umwelt. Bewußtsein des 
eigenen krankhaften Zustandes. Wahrnehmungsstörungen nicht feststellbar. 
Verschlossenheit, als Mittel zur Dissimulierung. Widersprüche, einige alogi- 
schen Typs. Verborgener Beziehungs- und Verfolgungswahn. Sprachlicher 
Ausdruck ohne innewohnende Störungen. Im Hospital unfähig zu nützlicher 
Betätigung. In der sozialen Umgebung wird seine Betätigung von den deli- 
ranten Erscheinungen beherrscht. Aggressivität in der häuslichen Umgebung. 
Keine Liquorveränderung. 


Gemäß unserer Arbeitshypothese im Rahmen der therapeutischen 
' Eignung müßte in Anbetracht des Vorherrschens affektıver Be- 
_ dingungen (Sitiophobie, Dissimulierungsversuche, Bewußtsein des 
krankhaften Zustandes) das Verfahren Sakels als Methode der 
Wahl angezeigt sein; die Konvulsionsbehandlung dürfte sogar zur 
Steigerung der Störungen beitragen. Dieses letzte Verfahren, 
außerhalb des Hospitals, ambulatorisch angewandt, verursachte 
auch wirklich eine solche Verschärfung der Störungen, ım be- 


$ sonderen der Angrifislust, so daß es nötig wurde, den Kranken 


unter Vermittlung der Polizei in unser Krankenhaus zu über- 
führen. 


136 Anibal Silveira 


Fall 13. — G. S. M., 3, Bras. — Am 22. 11. 38 im Hospital de Juqueri 
interniert. 34 Jahre alt. — Keine Psychose in der Familiengeschichte. Sonder- 
ling, verschlossen; verschieden von den Brüdern, seit der späteren Kindheit. 
Studierte Jura im letzten Jahre des Kurses, als er erkrankte: deutliche Sym- 
ptome von Schizophrenie. Gab das Studium endgültig auf im Jahre 1935: 
interniert im gleichen Jahre während einiger Zeit in einem Privatsanatorium 
(im Staate Minas Geraes), geringer Behandlungserfolg. Hielt sich sodann auf 
einer ländlichen Besitzung bis August 38 auf, worauf er in einem Privat- 


sanatorium São Paulos interniert wurde. Die Diagnose Schizophrenie wurde 


bestätigt; Insulinbehandlung mit wenig Erfolg. — Im Hospital de Juqueri 
interniert, wo wir bei der klinischen Beobachtung feststellten: orientiert hin- 
sichtlich der objektiven Welt wie der eigenen Persönlichkeit. Verneint Wahr- 
nehmungsstörungen. Mitunter jedoch Selbstgespräche. Zeigt betonten Mangel 
an Spontaneität bei geistigen Vorgängen. Zu intellektueller Verarbeitung 


angeregt: mangelhaft, langsam, anscheinend schwerfällig. Äußert delirante ! 


Ideen von Vernichtung, Unheilbarkeit, späterhin von Verfolgung; gibt an. 


unabänderlichen geistigen Niedergang zu empfinden. Depressiver Gesichts- ' 


ausdruck. Gebärdenarmut. Verharrt unendliche Zeit in der angenommenen 
Stellung und am selben Ort. Neigt für gewöhnlich zu Mutismus. Zur Zeit 
vollkommen unfähig zu jeder praktischen Aktivität. Der wirkliche Zustand 
seiner Affektivität läßt sich schwierig bestimmen; gewöhnlich depressiv. 


Bei diesem Kranken stellt der Mangel an praktischer Initiative, 
an Interesse an der Umgebung, an Spontaneität zum Denken und 
Sprechen den hervorstechendsten Zug im psychotischen Gesamt- 
bilde dar. Das Verfahren der Wahl dürfte nach unserer Ansicht 
die Methode v. Medunas sein; wir konnten denn auch den geringen 
Erfolg des Insulinshocks feststellen!). Die Störungen dauern aller- 
dings schon seit fast 4 Jahren an, aber wir müssen anmerken, daß 
Vollremissionen mit diesem Verfahren bei Patienten mit einer 
Krankheitsdauer von 6 bis 18 Jahren im gleichen Privatsanatorıum 
erreicht wurden. 

Selbst ın Fällen, bei denen die betreffende Behandlung angebracht 
ist, können schlechthin einige Fehlerquellen einwirken, wie z.B. 
die ungenügende Dauer der Behandlung hinsichtlich der Ent- 
wicklung und Schwere der Krankheit, die Spärlichkeit an Insulin- 
oder Krampfshocks, der unangemessene Zeitraum innerhalb der 
Behandlungsreihe, der Einfluß von Zwischenfällen, um nur die 
wichtigsten Vorkommnisse aufzuzählen. Neben anderen Autoren 
haben sıch v. Braunmühl (7), Jancke (15), v. Joo (16), v. Meduna 
(21—23), Nicolajev (27), Nyirö (28, 29), Sakel (33, 34) mit jenen 
Faktoren beschäftigt. 

Wir fügen noch hinzu, daß die Ergebnisse seitens der ver- 
schiedenen Autoren mit unterschiedlichem Kriterium verglichen 

1) "Nachträgliche Anmerkung: Mittels Krampftherapie behandelt, zeigt er 


gegenwärtig ausgeprägte Besserung. Die Behandlung ev. Medunas ist noch 
im Gange. 


m el 


. 


Einige Fehlerquellen usw. 137 


werden, wie u.a. Meier (25) und Weitbrecht (49) gelegentlich der 
Klassifikation der Remission an eigenen Fällen erwähnen. 
Unserer Ansicht nach ist es nötig, daß der Psychiater immer 
diese verschiedenen Fehlerquellen im Auge hat, ehe er sich zur 
Anwendung der modernen Verfahren auf dem weiten Gebiete der 
Schizophrenie entschließt. Sie sind nicht ganz ungefährlich; ver- 
schiedene Autoren, in Brasilien (Almeida Prado (1), Arruda (5), 
Marques de Carvalho und Silva (19), Pacheco e Silva und Ferraz (31), 
Yahn und Arruda (51)) wie im Auslande, konnten die Verfahren 
ohne bedeutende Zwischenfälle anwenden, eine Tatsache, die sich 


- vielleicht aus der nicht sehr großen Anzahl von Fällen erklärt; 


es genügt, daran zu erinnern, daß die Zahl der schweren, ein- 
schließlich tötlichen Zwischenfälle in die Zehner geht, wie zahl- 


; reiche Autoren berichten (Alvarenga (3), v. Angyal (4), Bingel (6), 


ang 


—— r 


Csajaghy und Meze: (9), Delgado (10), Gies (13), Müller (26), 
Nicolajev (27), Pacheco e Silva (30), Sakel (33), Silveira (41), 
Stähli und Briner (45), Uebler (47)), angefangen mit Luxationen, 
Brüchen, neurologischen Störungen bis zur Auslösung der ,post- 
insulinotherapeutischen Psychosen‘ (Pacheco e Silva) und selbst 
Todesfälle. Wollte man die modernen Methoden bei Kranken, 
bei denen andere, weniger tief eingreifende Verfahren noch Erfolg 
versprechen, anwenden, so würde uns ein solches Vorgehen nicht 
gerechtfertigt erscheinen. Das will nicht sagen, daß wir diesen neuen 
therapeutischen Verfahren ihren unbestreitbaren Vorzugund dasPrä- 
dıkat einer echten psychiatrischen Neuerung absprechen; ganz ım 
Gegenteil, wir sind überzeugte Anhänger derselben; als solche 
suchen wir jedoch im Schizophrenenmaterial unserer eigenen 
Beobachtung die Ergebnisse, die mittels der üblichen Behandlungs- 
mittel, und diejenigen, die nur mit den modernen Verfahren, be- 
sonders v. Medunas, erreicht werden können, unterschiedlich 
herauszufinden. Unter den Patienten, welche wir mit dem Kon- 


` vulsionsshock behandelt haben — es sind 55 an Zahl!) —, hatte 


kein einziger eine Besserung mit den gebräuchlichen Behandlungen 
erfahren; indem wir bei der Gesamtzahl der Kranken alle oben 
erwähnten Fehlerquellen auszuschließen trachteten, erreichten wir 
unter den 40 Fällen, die ein Urteil schon zulassen, 11 vollkommene 
und 13 teilweise Remissionen; die Zahl der Vollremissionen 
würde jedoch 33 betragen, wenn wir dem in der Literatur gebräuch- 
lichen Kriterium der Auswahl folgten und nicht gemäß unserer 


1) Bis Februar 1939 abgeschlossene Fälle. Gegenwärtig beträgt die Zahl 
unserer krampfbehandelten Schizophrenen 75, wovon 60 schon betrachtungs- 
reif. 


138 Anibal Silveira 


Ansicht weitere 26 Kranke, von denen 22 volle Remission erlangten 
(40, 41, 431)), ausgeschlossen hätten. 

Rückblickend werden wir schließen können: Trotz den mannig- 
fachen Fehlerquellen, von denen einige im Schrifttum, andere von 
uns selbst entsprechend gewürdigt worden sind, zeigen die modernen 
therapeutischen Verfahren bei der reichen Anzahl von psychiatri- 


schen Remissionen viele wichtige und nur ihnen eigentümliche . 


Ergebnisse. Es ist daher Pflicht jedes Psychiaters, das Studium 
derselben zu vertiefen, die eigenen Bemühungen zwecks ange- 
messener Anwendung der Verfahren zu fördern und ihr Eignungs- 
feld im Bereiche der in Frage kommenden Psychosen abzugrenzen, 
welche ehedem als unzugänglich für die aktive Behandlung be- 
trachtet worden sind. 


Zusammenfassung 


Wir berichten über die modernen Shockbehandlungen, wobei wir 
die Fehler der eigentlichen Technik kurz streifen und nur an die 
Ausführungen v. Medunas, Sakels, v. Braunmühls erinnern. Wir 


studieren die Umstände, die uns von größerer und dringenderer , 
Bedeutung zu sein scheinen, nämlich die Fragen, die sich auf das 


klinische Material erstrecken. 

An objektiven Beispielen legen wir die Hauptursachen der Ver- 
fälschung der Ergebnisse zum Besseren dar, nämlich: 1. Kranke, 
die schizophren zu sein scheinen und es nicht sind (Heterointoxı- 
kation bei den Enzephalopathen, episodischer Dämmerzustand 
Kleists); 2. nur schizoide Kranke (mit psychotischer Enzephalitis 
Marchands oder psychogener Reaktion); wirklich schizophrene 
Patienten, die aber ohne Anwendung der erwähnten Methoden 
zur Remission gelangten (reaktiver deliranter Schub, Episoden 
infolge psychotischer Enzephalitis, Spontanremission, Remission 
infolge weniger aktiver Methodne, vorhergegangene remittierte 
Schübe). Wir erwähnen sodann einige Vorfälle, welche das Ergebnis 
zum Schlechteren verfälschen können, nämlich Fälle, für welche 
die betreffenden Behandlungen nicht unbedingt angegeben waren, 
sowie andere, bei welchen sie, obwohl angezeigt, ungenügend oder 
schlecht durchgeführt waren. 

Wir schließen mit der Analyse einiger Statistiken und legen 
angesichts verschiedener eigener Fälle dar, daß die von uns er- 
reichten vollkommenen Remissionen verdreifacht werden könnten 


1) Bei Beendigung der unter 43 zitierten Arbeit schlossen wir 22 Patienten 
aus, von denen inzwischen 20 vollkommene Remission erlangt haben. Unser 
Schizophrenenmaterial betrug damals 264 Kranke; heute umfaßt es 280. 


=e 


Einige Fehlerquellen usw. 139 


(33an Stelle von 11), wenn wir dasim allgemeinen verfolgte Kriterium 
bei der Anwendung der Konvulsionsbehandlung beobachten würden. 


Schrifttumverzeichniis 


1. Almeida Prado, J. N., Arq. Assist. Psicopatas. S. Paulo, 2, 475 (1937). — 
2. Derselbe, Arq. Assist. Psicopatas, S. Paulo, 3, 169 (1938). — 3. Alvarenga, T., 
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Neur. 9, 131 (1937). — 27. Nikolajev, V., Psychiatr.-neur. Wschr. 40, 570 
(1938). — 28. Nyirö, J., Schw. Arch. Neur. 40, 180 (1937). — 29. Derselbe, 
Psychiatr.-neur. Wschr. 40, 33 (1938). — 30. Pacheco e Silva, A. C., Arq. 
Assist. Psicopatas, S. Paulo, 2, 265 (1937). — 31. Pacheco e Silva, A.C. e 
N. T. Ferraz, Arq. Assist. Psicopatas, S. Paulo, 2, 499 (1937). — 32. Plattner, P. 


-und E. Fröhlicher, Z. Neur. 160, 735 (1938). — 33. Sakel, M., Neue Behand- 


——— 


- —. 


lungsmethode der Schizophrenie. Wien, Moritz Perles, 1935. — 34. Derselbe, 
Roczn. psychiatr. 28, 1 (1936). Ref.: Zbl. Neur. 86, 654 (1937). — 35. Salm, 
Psychiatr.-neur. Wschr. 40, 197 (1938). — 36. Scheid, K. F., Z. Neur. 162, 
564 (1938). — 37. Silva, N. T., Esquizofrenia. Sua terapèutica pelo método 
de von Meduna. Dissert. Univ. Paraná, Curityba, Brasil. 1938. — 38. Sil- 


' veira, A., Arq. Assist. Psicopatas, S. Paulo, 2, 391 (1937). Ref.: Zbl. Neur. 
. 92, 393 (1939). — 39. Derselbe (Südamerik. Tagungen f. Neuropsychiatrie, 


t 


~s 


nn 


Montevideo, Jan. 1938), Arq. Assist. Psicopatas, S. Paulo, 3, 53 (1938). — 
+0. Derselbe (Panamerik. Kongr. Med. u. Hyg., Bogotá, 1938), Neurobiologia 
(Recife, Bras.) 1, 327 (1938). — 41. Derselbe, Rev. Assoc. Paulista Med. 14, 
107 (1939). — 42. Derselbe, Rev. Assoc. Paulista Med. 14, H.4 (1939). — 
43. Derselbe, Z. Neur. 166, 604 (1939). — 44. Silveira, A. und J. B. dos Reis, 
Brasil Medico 53, I, 439 (1939). 45. Stähli, R. und O. Briner, Z. Neur. 160, 
649 (1938). — 46. Teulié, G., L’Encephale 33, II, 82 (1938). — 47. Uebler, 
K. R., Psychiatr.-neur. Wschr. 40, 225 (1938). — 48. Derselbe, Psychiatr.- 
neur. Wschr. 40, 519 (1938). — 49. Weitbrecht, H. J., Psychiatr.-neur. Wschr. 
40, 484 (1938). — 50. Wolfer, L., Psychiatr.-neur. Wschr. 40, 7 (1938). — 
54. Yahn, M. e J. Arruda, Rev. Assoc. Paulista Med. 13, 87 (1938). 


Wilhelm Weygandt t 


Auch für den, der um das langdauernde schwere Leiden Wilhelm 
Weygandts wußte, kam sein am 22. Januar 1939 erfolgter Tod 
unerwartet. Schien es doch fast, als ob seine Willenskraft und seine 
Lebensbehauptung den in den letzten Jahren nur zu deutlich 
sichtbaren körperlichen Verfall noch weiter hinauszuschieben 
vermöchten. 


Wilhelm Weygandt war geboren am 30. September 1870 zu 
Wiesbaden. Er entstammte einer alteingesessenen angesehenen 
Bürgerfamilie. Der Vater war Kaufmann, der Großvater väter- 
licherseits Tischler, der Großvater mütterlicherseits Bau- und 
Zimmermeister. Weygandt besuchte von 1876 bis 1880 die städ- 
tische Vorbereitungsschule, dann bis 1889 das Gymnasium seiner 
Vaterstadt. Schon als Schüler gab er Proben seiner geistigen 


pm 0 een — En: 


| 


| 
| 


Vielseitigkeit und Gewandtheit, aber auch seiner Willensstärke 


und Eigenwilligkeit. So erlernte er — welchem Gymnasiasten 
fiele das sonst ein? — alle damaligen deutschen Stenographie- 
systeme gleichzeitig und legte dann einen Vergleich mit kritischer 
Würdigung in einer Schrift dar. 


Schon früh, 1889, verlor Weygandt seine Eltern. Im gleichen 
Jahre bestand er die Reifeprüfung. 


„Als junger Bursch hatt’ ich mich losgerissen, 

Des ew’gen Schulgetriebes endlich satt, 

Die dürren Theorien wollt’ ich missen, 

Vom Baum des Lebens pflücken Blüt’ und Blatt“. 


In völliger Freiheit, nicht beschränkt durch den Wunsch oder den 
Rat eines wohlmeinenden Vaters, auch nicht gehemmt durch 
wirtschaftliche Rücksichtnahme oder durch den Wunsch auf 
baldige Anstellung ging Weygandt 1889 mit den größten Plänen 
nach Straßburg, um dort Germanistik, vergleichende 
Sprachwissenschaft und Theologie zu studieren. Aber der 
trockene philosophische Betrieb stieß ihn ab und auch die Theologie 
vermochte ihn nicht zu befriedigen. So wandte er sich von diesem 
Studium ab, doch behielt er zeitlebens die Vorliebe für Literatur 
und Kunst und alles Feinsinnige. 


Es 


Wilhelm Weygandt t 141 


Von 1891 bis 1893 studierte Weygandt in Leipzig Philo- 
sophie, besonders Psychologie und Pädagogik. Namentlich 
Wilhelm Wundt vermochte ihn zu fesseln; Weygandt gedachte 
stets dieses seines verehrten Lehrers in tiefer Dankbarkeit. Die 
Forschungsrichtung dieser überragenden Persönlichkeit erlöste 
ihn von der quälenden Unsicherheit und Unbestimmtheit der 
Straßburger Jahre. Hier endlich war das Geistige mit dem Exakten, 
Naturwissenschaftlichen verschmolzen, hier bestand die Möglich- 
keit einer Anwendung der mathematischen Betrachtungsweise auf 
psychologischem Gebiete, die einst ein Kant bestritten hatte. 


= Weygandt promovierte 1893 bei Wundt mit einer wertvollen 


— 


Abhandlung über die Entstehung der Träume. Aber so sehr Wey- 
gandt in der Psychologie lebte, so sehr er die Ausbaufähigkeit 
der Experimentalpsychologie bejahte, er mußte, wie er 
später einmal sagte, doch immer mehr erkennen, daß die lediglich 
in der Studierstube betriebene Psychologie nicht weiter führen 


= könne. Er kam zu der Überzeugung, daß man in der Psychologie 


m ~ 


die Schwierigkeiten nur durch ein vertieftes Studium der Natur- 


wissenschaften und der Medizin überwinden könne. 


Weygandt studierte entsprechend dieser Erkenntnis Medizin 
in Freiburg, Berlin und Heidelberg. Fast selbstverständlich 
erscheint es bei dem wissenschaftlichen Bemühen und dem bis- 
herigen Lebenswege Weygandts, daß er als Mediziner zu Kraepelin, 
der damals in Heidelberg lehrte, fand. War doch auch Kraepelin 
von der Experimentalpsychologie eines E. H. Weber, eines G. Th. 


: Fechner und eines Wilhelm Wundt ausgegangen, hatte doch 


en — — — 


auch er in der Experimentalpsychologie den festen Grund und Un- 
terbau seiner psychiatrischen Forschungen gesehen. Weygandt 
hörte als Student begeistert die Klinik und die Vorlesungen 
Kraepelins. In Berlin arbeitete er unter Köppens Leitung in Jollys 
hirnanatomischem Laboratorium. Er lieferte insbesondere einen 
Beitrag zur Histologie der Syphilis des Zentralnervensystems, 
eine Arbeit, mit der er dann 1895 bei Rieger in Würzburg zum 
Dr. med. promovierte. Nach vollendetem medizinischen Studium 
ging Weygandt als Assistent an die Heidelberger Psy- 
chiatrische Klinik. Hier arbeitete er klinisch, vor allem aber 
gab er sich nun wieder, menschen- und wirklichkeitsnäher, der psy- 
chologischen Forschung hin. Es folgten Untersuchungen über den 


- Einfluß des Arbeitswechsels auf die geistige Arbeit, über die geistige 


Überarbeitung, über die psychische Wirkung des Hungers und des 
Schlafmangels, Studien, die Weygandt großenteils an sich selbst 
durchführte und die zuweilen, etwa mit ihren 72 stündigen Hunger- 


142 Meggendorfer 


perioden, mit einem tagelangen Flüssigkeitsmangel, mit der durch 
nächtelange angestrengte Arbeit herbeigeführten Erschöpfung 
eine an Heroismus grenzende Entsagungs- und Opferbereitschaft 


forderten. In klinischer Hinsicht war die reife Frucht der Heidel- 


berger Jahre die Erkennung der Mischzustände des manisch- 
depressiven Irreseins. So lief die äußerst wechselreiche, 
durch viele Enttäuschungen erschütterte wissenschaftliche Sturm- 


und Drangperiode Weygandts fast selbstvertsändlich in der 


Psychiatrie aus. 


Mit einer meisterlich geschriebenen Darstellung der Mischzu- | 
stände des manisch-depressiven Irreseins habilitierte sich 


Weygandt 1899 in Würzburg. Bald konnte er hier einer gewisser- 
maßen selbst gegründeten Poliklinik als Lehrer und Kliniker 
vorstehen. Aber schmerzlich empfand er, der Betätigung wünschte 
und verlangte, den Mangel an Krankenmaterial. Weygandt 
suchte ihn auszugleichen durch besonders eingehende Beschäfti- 
gung mit Einzelfällen, insbesondere mit schwachsinnigen Kindern. 
Aus jener Zeit stammen auch die ersten seiner zahlreichen Arbeiten 
über den angeborenen oder jugendlichen Schwachsinn. Wey- 
gandt beschäftigte sich insbesondere mit dem Kretinismus, mit 
den dabei vorkommenden Skeletanomalien, setzte sich mit Vir- 
chows Lehre auseinander; er studierte die mongoloide Idiotie, 
die Hydrokephalie. Über den engeren ärztlichen und psychia- 
trischen Rahmen hinaus behandelte Weygandt auch die beim 
Schwachsinn auftauchenden pädagogischen und juristischen Pro- 
bleme, er vertiefte sich in die Fragen der Erziehung Schwach- 
sinniger und des Hilfsschulwesens, in die Organisation von Idioten- 
anstalten, stellte psychologische Gesichtspunkte für die Ausge- 
staltung des Unterrichts nicht nur der schwachsinnigen sondern 
auch der gesunden Kinder, ja selbst für Bau und Ausgestaltung 
des Schulhauses heraus. Die Verhütung von Schwachsinn und 
anderen Geistesstörungen, namentlich die Bekämpfung des Alko- 
holismus lag ıhm am Herzen. Aus der poliklinischen Tätigkeit 
entsprangen ferner Weygandts Untersuchungen über die Neu- 
rasthenie und die verschiedenen Formen der Aphasıe. Weygandt 
arbeitete sich weiterhin in die straf- und zivilrechtliche Begut- 
achtung gründlich ein. Er war bald ein wegen seiner Beherrschung 
auch verwickelter Situationen geschätzter Sachverständiger und 
konnte seine Erfahrungen in zahlreichen einschlägigen Schriften 
niederlegen, u.a. auch in zwei Bändchen „Gerichtliche Psy- 
chiatrie‘“, die im Verlag Göschen erschienen. Sein Hauptwerk 
aus jener Zeit aber war sein „Atlas und Grundriß der Psy- 


Wilhelm Weygandt t 143 


chiatrie‘, ein Werk, das bald auch ins Italienische und Spanische 
übersetzt wurde. Später bekundete der bedeutende brasilianische 
Psychiater Juliano Moreira, daß gerade dieses Buch zur Aner- 
kennung und Ausbreitung der deutschen psychiatrischen Syste- 


= matik in Lateinamerika wesentlich beigetragen habe. 


Weygandts Name hatte in der Fachwelt einen guten Klang. 
So kam es, daß er 1908 ım verhältnismäßig jugendlichen Alter von 


'38 Jahren an die Hamburger Staatsirrenanstalt Frie- 


drichsberg berufen wurde. Diese 1864 von Ludwig Meyer ge- 
gründete Anstalt war zwar in älterer Zeit schon einmal vorbildlich 


für eine nach neueren Gesichtspunkten geleitete, zwangsfreie Anstalt 
. gewesen, sie war auch über ein Lebensalter lang von dem um die 


Hamburgische Psychiatrie hochverdienten Wilhelm Reye sorgsam 


betreut worden. Doch hatte sie lange Zeit gegenüber der neu gegrün- 


|} 


deten Anstalt Langenhorn zurücktreten müssen und wäre überhaupt 
beinahe eingegangen, da man sich mit dem Gedanken trug, den wert- 
vollen Grund in Bauplätze aufzuteilen. So ist begreiflich, daß lange 


- Zeit nichts mehr für sie geschehen war. Weygandt setzte sich mit aller 
Energie für ihre Erhaltung ein und betrieb, nachdem diese gesichert 
. war, mit einem unerhörten Aufwand an Geist, Zielstrebigkeit, 
' Arbeit und Energie ihre Reorganisation. Mehrere schon vor seiner 
' Berufung aufgestellte Pläne zur baulichen Ergänzung arbeitete 


er wiederholt bis in alle Einzelheiten durch, mußte sie mit ge- 


wichtigen Gründen verwerfen, erdachte neue Pläne, überarbeitete 


diese mit Bausachverständigen und erreichte schließlich ihre 


- Durchführung. Zahlreiche neue Gedanken hinsichtlich der inneren 


Ausgestaltung mußten, oft gegen erheblichen Widerstand, mühsam 


durchgesetzt werden. Da mußten die alten Zellengebäude ver- 


: schwinden, die hohen Mauern und die Höfe abgetragen und durch 
| „versenkte Mauern‘, die den Blick nicht behinderten und den 


In 


Kranken nicht das Gefühl der Gefangenschaft gaben, ersetzt 
werden. Weygandt stattete die einzelnen Häuser je nach ıhrem 
Zweck als Aufnahme-, als Wachabteilung für unruhige, als solche 


für sieche Kranke, für Jugendliche usw. aus; jede Häusergruppe 


hatte ihre Besonderheiten. Er versah die Wachtabteilungen und 


Baderäume mit optischen Alarmvorrichtungen, ließ Apparate 


. einbauen, die automatisch verhinderten, daß das Badewasser 
= unzuträglich hohe Temperaturen erreichen konnte, usw. Er er- 


setzte in den Siechenhäusern die Treppen durch eine auch für Fahr- 
stühle benützbare schiefe Ebene, sorgte für Liegehallen im Freien, 
. ja er erdachte ein für Geisteskranke besonders geeignetes Bett. 
! Ebenso oder noch mehr lag Weygandt die Erneuerung des Ärzte- 


144 Meggendorfer 


stabes und die Reform, die Ausbildung und Hebung des Pflege- 
personals am Herzen. Er setzte die Schaffung hauptamtlicher 
Oberarztstellen für pathologische Anatomie und für Serologie 
durch. Er berief an die Jugendabteilung einen heilpädagogisch 
ausgebildeten, angesehenen Lehrer. Die klinischen Abteilungen 
stattete er nach und nach mit allen möglichen medizinischen, 
chirurgischen, heilpädagogischen, arbeitstherapeutischen, selbst me- 
dikomechanischen Hilfsmitteln aus; er schuf vorzügliche anato- 
mische, serologische, chemische, röntgenologische, psychologische 
und erbbiologische Laboratorien. Es gelang Weygandt, den 
klinischen psychiatrischen Abteilungen eine offene Station für 


| 


| 


Leichtkranke, für Nervenkranke und Grenzfälle anzugliedern. 
Er trug damit nicht wenig zur Milderung und Beseitigung des : 


Odiums der alten Irrenanstalt bei, deren Umbenennung in „Staats- 
krankenanstalt‘“ er schon bald nach seiner Berufung durchgesetzt 
hatte. Alle diese Veränderungen mußten zum Teil gegen schweren 
Widerstand und oft auch trotz ungünstiger wirtschaftlicher Lage 


des Haushaltes erkämpft werden. Weygandt war ein Sammler . 
großen Stils. Er schuf ein reichhaltiges historisches Museum, 


das die Entwicklung der psychiatrischen Anstalten und Kliniken 


i 


wie der psychiatrischen Behandlungsweisen zeigte. Er legte reich- 


haltige Sammlungen von vergleichenden anatomischen Präparaten, 
von vielen Hunderten von Menschen- und Tierschädeln und 
-gehirnen, von Gehirnen Geisteskranker, Idioten und Verbrecher. 
von vorgeschichtlichen und Rassenschädeln, ägyptischen und 
peruanischen Mumien, von selbstgefertigten Gegenständen und 
Waffen der Geisteskranken, von Zeichnungen, Malereien und sonsti- 
gen Kunstwerken psychisch Kranker an, eine Sammlung, die in ihrer 
Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit ihresgleichen sucht. Daneben ver- 
fügte er über eine umfangreiche Sammlung von Bildern klinischer Be- 
obachtungen, Photographien, Diapositiven u. Aquarellen, von lebens- 
großen Abbildungen, von Kurven, Tabellen und Sippentafeln. Was 
hier alles im Laufe der Jahre teils von Weygandt selbst, oft unter 


großen persönlichen Opfern, teils auf seine Anregung von seinen Mit- 
arbeitern zusammengetragen wurde, kann nur Bewunderungerregen. 
Im Laufe weniger Jahre hat so Weygandt aus einer einfachen Irren- 
anstalt eineForschungsanstalt von Weltruf geschaffen. Die 


aus dieser Forschungsanstalt hervorgegangenen wissenschaftlichen 
Arbeiten nahmen von Jahr zu Jahr zu; aus dem In- und Ausland. 
insbesondere aus Japan, China, Spanien und Südamerika kamen in 
steigender Zahl Wissenschaftler, um sich hier über den neuesten 
Stand der psychiatrischen Forschung zu belehren. 


Wilheln: Weygandt t 145 


Klinisch stand Weygandt das ungemein reichhaltige Kranken- 
material der Weltstadt Hamburg zur Verfügung; rein zahlenmäßig 
waren es 2000 stationäre Fälle bei jährlich über 2000 Neuauf- 

: nahmen. Während seiner Tätigkeit in Friedrichsberg hatte sich 
. Weygandt mit insgesamt etwa 50000 Aufnahmen zu befassen, 
zuweilen sogar recht eingehend. Es liegt nahe, daß er sich im allge- 
meinen mit dem einzelnen Kranken kaum näher beschäftigen 
konnte. Die Bedeutung Weygandts als Arzt liegt vor allem 
. auf organisatorischem Gebiete. Psychotherapeutische Kleinarbeit 
war nicht seine Sache. Dagegen erkannte er mit sicherem Blick 
die tieferen Ursachen der Schäden, wies auf die Wege zu ihrer 
Vermeidung hin und schuf die Möglichkeiten zu ihrer Heilung. So 
organisierte er in großzügiger Weise Diagnose und Therapie. 
" Über den Bereich seiner Anstalt hinaus pflegte er stets die Be- 
ziehungen zur praktischen Psychiatrie. 
Neben dieser großzügigen organisatorischen Tätigkeit fand 
 Weygandt immer noch Zeit zur eigenen Forschung. Erstaun- 
lich ist die gewaltige Zahl seiner Arbeiten und Bücher, 
noch erstaunlicher die Vielseitigkeit der Werke, die selbst 
eine Gruppenbildung erschwert. Es sind zunächst auch in späteren 
Jahren noch die psychologischen Fragestellungen, die 
’ Weygandt wie in seiner Jugend beschäftigten. Immer wieder 
betonte er den Wert der experimentalpsychologischen Forschung, 
‚die seiner Meinung nach trotz des zeitraubenden und mühseligen 
' Verfahrens und trotz der scheinbar nur geringen Ausbeute ge- 
pflegt werden sollte, da jedes durch sie geförderte Ergebnis sicherer 
Gewinn sei. Weygandt legte wiederholt die im Friedrichsberger 
‚psychologischen Laboratorium gewonnenen Ergebnisse und ihre 
ı Verwendbarkeit in der Diagnostik und in Fragen der Begut- 
| achtung dar. Aber auch weitere psychologische Fragestellungen 
‚bezüglich psychischer Erscheinungen, die sich nicht mittels 
< wissenschaftlich exakter Verfahren einfangen ließen, wie die 
= Psychologie der Arbeit, des Krieges und des Friedens, der Großstadt 
- und des Landes, der geistigen Ansteckung und der Sektenbildung 
‚ beschäftigten ihn und fanden ihren Niederschlag in anregenden 
. Arbeiten. Daneben stehen Reihen von Untersuchungen über 
 schädelanomalien, Hirngröße und Hirngewicht bei 
Tieren und bei Menschen der verschiedensten Rassen, 
Forschungen, die schon weit in das Gebiet der zoologischen und 
‚anthropologischen Wissenschaften hineinragen aber doch stets 
auch die psychischen Äquivalente und ihre Beziehung zur Psychia- 
' trie im Auge behalten. „Die Psychiatrie muß, sagte Weygandt, 
10 Algem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


| 
| 


146 Meggendorfer 


um ihren komplizierten Aufgaben gerecht zu werden, eklektisch‘ 
vorgehen. Unerläßlich ist die Neurologie und sie bedarf auch der 
Hilfe des Hirnhistopathologen wie des Neuroserologen; sie muß 
unter Umständen eine Anleihe in der Völkerkunde und Völker- 
psychologie machen, sie will Anlehnung suchen bei der Jugend- 
forschung und Pädiatrie. Aber ihr Rückgrat stellt naturgemäß 
die psychologisch begründete klinische Betrachtung 
dar“. 

Die klinischen Arbeiten Weygandts umfassen alle Gebiete 
der Klinik; die ätiologische, symptomatologische, diagnostische 
und vor allem auch die therapeutische Forschung ist hier vertreten. 
Daraus heben sich einige Gebiete hervor. Da ist vor allem das 
schon erwähnte wichtige, aber von den meisten psychiatrischen 
Schulen vernachlässigte Gebiet des angeborenen Schwach- 
sinns. Mit staunenswerter Geduld und mit überraschendem In- 
teresse beschäftigte sich der sonst so unruhige und geistig an- 
spruchsvolle Forscher immer wieder mit den schwachsinnigen 
Kindern, er untersuchte sie, maß sie, suchte sie zu gruppieren. Er 
stellte nach und nach eine Systematik des angeborenen 
Schwachsinns auf, die etwa hundert Formen umfaßte. Außer 
zahlreichen Einzelschriften gab Weygandt mit H. Vogt, später 
mit Kleefisch die „Zeitschrift zur Erforschung und Be- 
handlung des jugendlichen Schwachsinns auf wissen. 
schaftlicher Grundlage“ heraus; es erschienen von 1906—1914 
insgesamt sieben Bände; sie wurde ein Opfer des Krieges. Ebenfalls 
mit H. Vogt bearbeitete Weygandt das „Handbuch der Er- 
forschung und Fürsorge des jugendlichen Schwach- 
sinns unter Berücksichtigung der psychischen Sonder- 
zustände im Jugendalter“, das 1911/12 erschien. 1927 gab 
er mit Deuchler und Henze die „Wege zur Heilpägagogik“, 
Beihefte zur ‚‚Hilfsschule‘‘ heraus. Sein 1936 erschienenes Buch 
„Der jugendliche Schwachsinn“ stellt ein Standardwerk 
der deutschen Wissenschaft dar. Eine Gesamtübersicht über die 
außerordentlich mannigfachen Schwachsinnsformen von so be- 
rufener Seite war umsomehr zeitgemäß, als ja gerade durch das 
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beim Schwach- 
sinn wegen der hohen Manifestationswahrscheinlichkeit der An- 
lageträger und bei der großen Anzahl der Einzelfälle früher als bei 
anderen Erbkrankheiten Erfolge zu erwarten sind. Weygandt 
war der international anerkannte Vorkämpfer in der Erforschung 
des jugendlichen Schwachsinns. Ein anderes Gebiet der Klinik, 
auf das Weygandt immer wieder zurückkam und das durch ihn 


Wilhelm Weygandt t 147 


eine ganz wesentliche Förderung erfuhr, ist das der Syphilis 
des Nervensystems, dem ja schon seine medizinische Doktor- 
arbeit gegolten hatte. Bei der Durchsicht der Arbeiten finden wir: 
Über die Frage syphilitischer Antistoffe in der Cerebrospinal- 
füssigkeit bei Tabes dorsalis 1907, dann mit seinen Friedrichsberger 
Mitarbeitern: Studien über experimentelle Syphilis des Nerven- 
systems 1913/14, Klinische und experimentelle Erfahrungen bei 
Salvarsaninjektionen in das Zentralnervensystem 1914. Weygandt 
führte als erster deutscher Kliniker die segensreiche Malaria- 
therapie Wagner v. Jaureggs in Friedrichsberg ein. Er berichtete 
iber sie und ihre weiteren Auswirkungen in einer Reihe von wert- 
vollen Beiträgen, in denen er die Erfolge der Behandlung hervor- 
hob, aber auch auf die Bedenken, die man dagegen haben kann, 
anging. Immer wieder bearbeitete er das Thema von neuen Ge- 
ichtspunkten aus, so beispielsweise die forensische Beurteilung 
behandelter Paralytiker, die soziale Einschätzung malariabe- 
skandelter Akademiker usw. Noch nach seiner Emeritierung schrieb 
m: Über die Formen der Neurolues, 1936. In den letzten Jahren 
yefaßte sich Weygandt sehr eingehend mit Fragen der Ver- 
mbung und der Rassenhygiene. Seine gründliche Beschäf- 
gung mit dem Schwachsinn des Jugendalters hatte ihn schon früh 
m dem Problem Vererbung und Entartung geführt. So hatte er schon 
a der Nachkriegszeit über die Vererbung derChondrodystrophie, der 
Iıberösen Sklerose und anderer Formen geschrieben und gesprochen. 
1929 berichtete er über „„Endogene Vererbung‘. Früh setzte er sich 
für die obligatorische Unfruchtbarmachung der Erbkranken ein, 
die er als den psychologisch allein zielsicheren Weg bezeichnete. 
Noch 1932 hatte er darüber eine Auseinandersetzung mit dem 
damaligen Reichsanwalt Dr. Ebermeyer. Es folgten dann: Sterili- 
sation und Kastration als Mittel zur Rassenhebung 1933, Die Ge- 
ahrlosigkeit der Sterilisation und Kastration, Über Erblichkeit 
dei jugendlichem Schwachsinn und bei Epilepsie, Sterilisierung 
wegen angeborenen Schwachsinns, Die erbbiologischen Ergebnisse 
bei organischen Nervenkrankheiten, Die Kastration, alles 1934, 
Erbbiologische Ehegesetze vom psychiatrisch-neurologischen Stand- 
yınkt, Das Problem der Erblichkeit bei jugendlichem Schwach- 
“an und bei Epilepsie, 1935, Erbbiologische und erbgesetzliche 
Bedeutung. der Polydaktylie, Hysterie als Erbkrankheit 1936, 
It mongoloide Entartung eine Erbkrankheit ?, Seelische Spät- 
reife und ihre gesetzliche Auswirkung 1937, Talentierte Schwach- 
tinnige und ihre erbgesetzliche Bedeutung, Der Schwachsinn, 
vi Ursachen und seine erbgesundheitsgesetzliche Beurteilung 
4 


148 Meggendorfer 


1938 und eine seiner letzten, erst nach seinem Tode erschienene Ar 
beit überErbverhütung in der Schweiz, 1939.Weygandt war ein großer 
Kenner der Geschichte der Psychiatrie; wir verdanken ihm 
zahlreiche feinsinnige Würdigungen der Meister unseres Faches, 
so Biographien von Bechterew, von v. Ehrenwall, von Grashey, 
A. Jakob, Kaes, Mingazzini, Moebius, Moreira, Reye und Sommer, 
auch mancherlei biographisch wertvolle Festschriften, wie die für 
Bresler, Buschan, v. Grabe, Rieger u.a. Von der erstaunlichen 
geschichtlichen Kenntnis Weygandts zeugt insbesondere auch 
seine Festschrift zur Rückkehr der Ostmark zum Reich im Jahre 
1938, in der er die Entwicklung der österreichischen Psychiatrie 
und ihrer steten Verbundenheit mit der deutschen Psychiatrie 
eingehend darlegte. Eine Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten 
Weygandts erschien in fremden Sprachen, mehrere seiner größeren 
Werke wurden übersetzt; die ganze wissenschaftliche Welt 
kennt seinen Namen. 

Weygandt ist als einer der Gründer der Hamburger 
Universität anzusehen. Er war einer ihrer eifrigsten Vorkämpfer 
und trat in Wort und Schrift lebhaft für ihre Schaffung ein. Mögen 
andere durch die Kraft und Stärke ihrer Persönlichkeit zur Ver 
wirklichung beigetragen haben, Weygandt war ohne Zweifel 
der geistige Führer. Auch nach der Gründung der Universität 
nahm Weygandt noch viele Jahre lang eifrig an den langwierigen 
Verwaltungsgeschäften teil. Durch seine Beziehungen zu Übersee 
und durch seine Sprachgewandtheit war er der gegebene Mann, 
um jahrelang dem Werbeausschuß dieser Auslands- und Übersee- 
universität vorzustehen. Er gab ein Buch über die Universität in 
deutscher, englischer und spanischer Sprache heraus. Es braucht 
kaum erwähnt zu werden, daß Weygandt der erste Ordinarius 
für Psychiatrie an der neugegründeten Universität wurde; 
1924/25 stand er als Dekan der ll, Fakultät vor. 1934 
wurde er entpflichtet. 

Noch einer anderen verdienstvollen eiskung Weygandts ist hier 
zu gedenken, seiner Bemühungen um die psychische Hygiene. 
Ein Blick auf die lange Reihe seiner Arbeiten, angefangen von den 
Untersuchungen über den Einfluß des Arbeitswechsels auf die fort- 
gesetzte Arbeit, über Ermüdung und Erschöpfung ım Jahre 1897 
bis zur letzten Arbeit über Erbverhütung in der Schweiz im Januar 
1939 zeigt, wie er sich fortgesetzt mit den Fragestel- 
lungen und den Mitteln und Wegen einer großzügigen 
psychischen Hygiene befaßte. So trat Weygandt dann auch 
auf Aufforderung Robert Sommers 1925 bei der Gründung des 


Wilhelm Weygandt f 149 


Deutschen Verbandes für psychische Hygiene als Verbindungs- 
mann dieses Verbandes mit dem Deutschen Verein für Psychiatrie 
in den Vorstand ein. 1930 war er der Führer der deutschen 
Abordnung zu dem Ersten Internationalen Kongreß 
für psychische Hygiene in Washington. Hier wurde Wey- 
gandt zum Vertreter des Deutschen Verbandes im Inter- 
nationalen Komitee gewählt. Wohl kaum ein anderer wäre 
hierfür geeigneter gewesen als er, der infolge seiner tiefen Sach- 
kenntnis, durch seine vielfältigen Beziehungen zur Psychiatrie des 
In- und Auslandes, durch die Eigenart seiner Persönlichkeit und 
die hohe Achtung, der er sich gerade auch im internationalen Aus- 
land erfreuen konnte, alle Voraussetzungen zu einer gedeihlichen 
Zusammenarbeit mitbrachte. 
Weygandts universeller Geist und sein ungeheuerer 
Schaffensdrang konnten sich unter der Last des Doppelberufes 
als Leiter einer der größten deutschen Heilanstalten und For- 
'schungsstätten und eines Hochschullehrers nicht erschöpfen. 
Vielseitig waren die sonstigen Interessen Weygandts. 
Ær war allem Schönen und Feinsinnigen leidenschaftlich ergeben. 
Er beherrschte die Literaturgschichte, war in allen größeren 
Museen Europas zuhause, liebte die Musik, besonders die Richard 
Wagners. Vor allem interessierte ihn das Theater, ja er versuchte 
-sich selbst darin. Er, der ernste Gelehrte, der Mann, auf dessen 
Schultern die Verantwortung für eine große Anstalt ruhte, schrieb 
ein Lustspiel in oberbayerischer Mundart ‚Auf der Zugspitz‘“, 
das auf der Bühne freundlichen Beifall fand. Weygandt war ein 
feinsinniger Dichter; drei Bändchen Gedichte ‚Auf Bergen und 
\feeren‘“‘, „Bilder vom Wege“ und ‚Von den Alpen zur Atlantis“ 
liegen von ihm vor. Weygandt suchte auch die Kunst mit seiner 
Wissenschaft zu verbinden. Er behandelte die abnormen 
‚Charaktere in der dramatischen Literatur bei Shakespeare, 
Goethe, Ibsen, Hauptmann. Er beschäftige sich, so legte er selbst 
ın diesen Studien dar, mit den Nachtseiten des Lebens. Der Dicht- 
kunst vornehmlich sei es beschieden, durch ihren Glanz auch diese 
Nachtseiten des Lebens, den Gegenstand von Furcht und Mitleid, 
zu verklären. Später fühlte sich Weygandt besonders zu Cervantes 
‚hingezogen und widmete ihm eine längere Arbeit. Der große 
Dichter, fand er, stünde der pathologischen Wirklichkeit näher als 
etwa Goethe und Kleist, wenn sie Irrsinnige schilderten, oder bei der 
Steigerung der Leidenschaften ihre Geisteskinder die Grenzen des 
_Pathologischen streifen oder überschreiten ließen. In einem 1923 
zu Ferrara in italienischer Sprache erschienenen Buche „La 


150 Meggendorfer 


psicopatologia nell'arte“, aber auch in zahlreichen kleineren 
und größeren deutschen Veröffentlichungen behandelte Weygandt 
die Verirrungen in der Malerei, die sich als Ausdruck des 
Kulturbolschewismus breit machten. In mehreren Schriften 
ging Weygandt auf die pathologischen Plastiken des Fürsten 
Palagonia zu Bagheria bei Palermo ein, Massenanhäufungen 
krankhafter Phantasieprodukte, die schon Goethe zu lebhaften 
Äußerungen des Unmutes veranlaßt hatten. Und wenn Weygandt 
schließlich auch noch das Werk des geisteskranken Architekten 
Junkers behandelte, so vollendete er damit seine Pathographien 
auf allen Gebieten der Kunst, der Kultur des Schönen. Gerade beı 
seinen kunstkritischen Arbeiten kamen ihm seine große schrift- 
stellerische Gewandtheit und seine meisterhafte Be- 
herrschung der Sprache sehr zustatten. | 

Weygandt reiste leidenschaftlich gerne. Er durchstreifte in 
großzügigster Weise die ganze Welt. Er kannte Europa von einem 
Ende zum andern, war in Nordafrika bis zum Sudan, in Klein- 
asien, Ostasien, Nord- und Südamerika bekannt. Überall be- 
obachtete er eifrigst, überall nahm er Beziehungen zu Fach- 
kollegen, zu Anstalten und Kliniken auf, berichtete nach a 
Heimkehr über das Gehörte und Gesehene. Überall war e 
aber auch bestrebt, für deutsche Wissenschaft und 
Kultur zu werben. In über 20 Ländern hielt Weygandt 90 Vor- 
lesungen in deutscher, englischer, französischer, italienischer, 
spanischer und portugiesischer Sprache. Er, der die Herrlichkeiten 
der Welt kannte, fragte sich schließlich: Wo ist es am schönsten °? 
Gefalle ihm am besten 


„Italiens kunstgetränkte Frühlingsfluren 
Der Blick von Anacapri zum Vesuv? 
Wär’s Taormina wohl? Histor’sche Spuren, 
Wie sie die Zeit so reich in Rom erschuf ? 
In Andalusien der Alhambra Hallen, 

Die reinste Blüte, die der Islam ließ? 

Soll stärker Hellas’ edle Kunst gefallen, 
die hehren Werke der Akropolis ?"“ 


Weygandt ließ im Geiste nochmal der Ägypter Land, das goldene 
Horn, des Kreml Prunk, des Nordkaps Mitternachtssonne, Brasi- 
liens Hauptstadt, Niagaras ungeheure Fälle, den Yellostonepark 
und Kaliforniens Riesencedernhain, Japans Inselreich und Peking: 
Prunktempel vorüberziehen. Ist’s hier am schönsten ? Nein, vor 


Wilhelm Weygandt t 151 


allem preist er „des Vaterlands geliebte Gaue“ und ‚das schöne 
Engadin“. 

Weygandt war körperlich zwar nicht gerade schwächlicher, doch 
in mancher Hinsicht anfälliger Konstitution, aber er stellte an sich 
.wie in geistiger so auch in körperlicher Hinsicht die größten An- 
forderungen. In seiner Jugend war er, seiner Zeit auch in dieser 
Hinsicht vorauseilend, ein eifriger Sportfreund gewesen. Er war 
einer der ersten Motorradfahrer und Automobilisten, er erwarb den 
Führerschein für Freiballonfahrten. Vor allem aber war Weygandt 
ein leidenschaftlicher Bergsteiger, er bestieg viele Viertausender, 
zum Teil als Einzelgänger; er führte auch einige der schwierigsten 
Klettertouren aus. Mit ungeheuerer Willensanspannung überwand 
er alle sich ihm entgegenstellenden Hindernisse. Kennzeichnend 
sind die Zeilen, die wir in der Gedichtsammlung Weygandts ‚Bilder 
vom Wege“ finden: 


Sternwärts ragen 

Die Silberriesen, 

Das Breithorn, 

Der tückische Lyßkamm, 
Und allbändigend 

Der Herrlichkeit Gipfel, 
Das . Matterhorn! 

Das ist die Welt, 

Die Schönheit, 

Das Leben. 

Und das Ichlein 
Windet sich schüchtern: 
Kann ich ? Darf ich ? 
Ich muß hinauf! 

Der Wille wird, 

Morgen geht es hinan. 


Die große Arbeitslast, die auf Weygandts Schultern ruhte, forderte 
eine strenge Einteilung der Zeit, die sich aber oft nur schwer ein- 
halten ließ. Dabei war Weygandt besonders in den letzten Jahren 
seiner Amtstätigkeit durch sein Leiden in der Bewegungsfreiheit 
schwer beeinträchtigt. Trotzdem ging er, wenn er es zeitlich irgend- 
-wie machen konnte, täglich auf die verschiedenen Krankenabtei- 
lungen des weiten Friedrichsberger Geländes. Daß er ständig im 
Kampf mit der Zeit lebte, ist bei der Vielseitigkeit Weygandts, bei 
den großen Entfernungen, aber auch bei seinem unruhigen, rastlosen 


152 Meggendorfer 


Wesen begreiflich. Doch hatte Weygandt immer Zeit für Angelegen- 
heiten des Krankendienstes, für wissenschaftliche Fragen und per- ! 
sönliche Belange der Untergebenen. Nur bei Rückfragen rein büro- 
kratischer Art konnte er ärgerlich werden, ja einmal schrieb er sogar 
in einer Veröffentlichung: ,.... Gibt es doch noch viele Behörden, 
die sich der Einsicht verschließen, daß für eine Stelle, die durch ihre 
akademische Aufgabe zur wissenschaftlichen Mitarbeit verpflichtet, 
die Belastung mit administrativen Aufgaben, die die produktivsten 
Tagesstunden vielmals mit Erledigung von Lappalien vergeuden 
lassen, geradezu zur Marter werden muß“. In der täglichen direk- 
torialen Konferenz, in der Berge von Briefen, Gesuchen, behörd- 
lichen, gerichtlichen, polizeilichen usw. Nachfragen erledigt werden 
mußten, konnte man die erstaunliche Auffassungskraft,. 
Gewandtheit und Routine Weygandts bewundern. Er erfaßte | 
mit einem Blick auf ein Schreiben seinen Zweck, stellte an die Ärzte- | 
schaft die Frage, auf die es ankam, und kaum hatte der Abteilungs- 
arzt darauf geantwortet, war.die Angelegenheit schon erledigt, denn 
Weygandt hatte während des Berichts die Antwort bereits formu- . 
liert und stenographisch so aufgenommen, daß sie zur Reinschrift ı 
in die Schreibstube gegeben werden konnte. Mit den ihm unter- 
stellten Ärzten und Beamten verkehrte er kurz und sachlich; es! 
konnte lange dauern, bis irgend ein persönliches Verhältnis zustande 
kam. Weygandt war aber über die Leistungen jedes Einzelnen, und 
es waren allein etwa 20 Ärzte und ebensoviel Beamte, ganz gut im 
Bilde. Seinen ärztlichen Mitarbeitern gewährte er in der ärztlichen 
und wissenschaftlichen Betätigung die größte Freiheit. Obwohl er 
alle Zeit bestrebt war, Friedrichsberg wissenschaftlich auszubauen, 
drängte er keinen zur wissenschaftlichen Arbeit. Jeder konnte sich 
in größter Freiheit wissenschaftlich betätigen oder nicht, sich diesem 
.oder jenem Gebiete zuwenden. Er ließ sich auch die Arbeiten nicht 
vorlegen, zeigte zunächst überhaupt keine weitere Anteilnahme. 
Konnte jedoch ein Mitarbeiter einige wissenschaftliche Erfolge auf- 
weisen, so war Weygandt sein eifriger und andauernder Förderer. 
Weygandt war eine der eigenartigsten Persönlichkeiten 
unter den psychiatrischen Zeitgenossen. Wenn man in 
seinen Gedichtbüchern, die nicht für die breite Öffentlichkeit be- 
stimmt waren, blättert, fragt man sich, ob dieser Mann während 
seines Lebens, bei aller Anerkennung seiner wissenschaftlichen 
Leistung im bezug auf den inneren Wert seiner Persönlichkeit nicht 
doch verkannt wurde. Darüber war man sich ja einig, daß Weygandt 
ein Mensch von außergewöhnlicher Auffassungsgabe, von glänzendem 
Gedächtnis, von unglaublicher Gewandtheit des Geistes war, daß 


Wilhelm Weygandt t 153 


»in geistiger Hinsicht kaum irgendwelche Schwierigkeiten kannte. 
ber viele, die ihn vielleicht zwar jahrelang aber doch nicht näher 
annten, hielten ihn für äußerlich, nur auf glänzende äußere Wir- 
ung bedacht, ohne tiefere gemütliche Teilnahme, ja für rücksichts- 
ss und selbstsüchtig. Gewiß, auch Weygandt hatte seine Fehler 
nd Schwächen. Er beging manche schwere Irrtümer. Aber vieles 
ar auch hier nur äußere Schale, war nur das Ergebnis einer lang- 
ihrigen harten Lebensschulung, nicht zum wenigsten seiner eigenen 
Jlgerichtigen Selbsterziehung. Demjenigen, der die oft widerspruchs- 
oll erscheinende Persönlichkeit zu verstehen bestrebt ist und sich 
emüht, ihr gerecht zu werden, erscheint Weygandt als eine im 
‚runde weiche, empfindliche und empfindsame, selbst schüchterne 
“satur. Gerade deshalb gewährte er nicht gerne Einblick in sein 
selbst, er vermied es auch deshalb, näher auf andere einzugehen, 
elbst auf die Gefahr hin, als wenig teilnehmend zu gelten. Man lese 
‚ber seine feinen Nachrufe, seine Glückwunsch- und Teilnahme- 
chreiben, auch seine persönlichen Briefe um zu sehen, welch feiner 
emütsregungen dieser Mann fähig war. Weygandt war schüchtern 
ınd kämpfte anfangs schwer gegen die Befangenheit beim öffent- 
ichen Reden. Aber mit großer Sebstbeherrschung kam er hierüber 
ıinweg, ja er erzielte einen Überausgleich, indem er sich zwang in 
ler Öffentlichkeit aufzutreten, eine Rolle zu spielen, bei jedem gesell- 
schaftlichen Ereignis besonders künstlerischer Art mitzutun, im 
lienstlichen Verkehr u. U. sogar zu poltern. Vieles was man Wey- 
randt in weiteren Kreisen verdacht hat, wird man letzten Endes 
\ieraus verstehen können. Manches vielleicht unrichtige Beginnen 
verfolgte er mit der ihm eigenen, sich selbst mühsam anerzogenen 
Willenskraft mit der größten Ausdauer, den Eindruck unbelehr- 
baren Eigensinns erweckend. In seiner persönlichen Lebensführung 
war Weygandt von einer geradezu spartanischen Einfachheit und 
(renügsamkeit. | 

Es ist auch richtig, Weygandt war im gesellschaftlichen und 
politischen Denken ein Kind seiner liberalistischen Zeit. Er war 
in dieser Hinsicht durch sein Vorleben schwer belastet und konnte 
schließlich, so sehr er sich auch bemühte, nicht mehr der Zeitent- 
wicklung folgen. Es wäre jedoch sicher falsch, wollte man an seiner 
tiefen Vaterlandsliebe zweifeln. Kein Unglück traf ihn schwerer und 
drückteihn mehrniederals der unglückliche Ausgang desWeltkrieges. 


„Mein Vaterland! Was ist aus dir geworden ? 
Werkstatt des Fleißes und der Könnerschaft, 
der Ordnung Heim, der geistgelenkten Kraft, 
wardst heut’ ein Tummelplatz entmenschter Horden. 


154 Meggendorfer 


Rachbrunst des Feindes hat unsern Rhein geknebelt, 
entsaugt vampirisch letztes, blasses Blut, 
vom Osten her nach deutschem Land und Gut, 
da gieren Räuberbanden, wahnumnebelt. 


Wohin sank Rechtsgefühl, Pflicht und Gewissen, 
der Mannheit Höhentrieb, der Ordnung Sinn, 
wo schwand die Treue, wo die Ehre hin? 
Mein Deutschland, so verarmt, entehrt, zerrissen! 
So trauernd um des Vaterlandes Nöte 
kehr’ ich, das Haupt gebeugt, zum Heim zurück, 
das Pförtchen öffn’ ich leis, mit feuchtem Blick. 


Es ist kein Zufall, daß das Verzeichnis der wissenschaftlichen 
Arbeiten inmitten sonst reichster Fruchtbarkeit im Jahre 1919 
nur zwei kurze Berichte über Krankenvorstellungen im ärztlichen 
Verein aufweist. Weygandt war stets eifrig und aufrichtig be- 
strebt, an seinem Teile mitzuarbeiten für Deutschlands Ruhm und 
Weltgeltung. 

Einer der Höhepunkte in Weygandts Leben war der Ärztekurs | 
in Friedrichsberg im Jahre 1929, zu dem er eingeladen hatte. 
Von berechtigtem Stolz erfüllt konnte er weit über hundert Teil- 
nehmern aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Auslande 
seine Klinik und seine Forschungsanstalt, die in jeder Hinsicht 
und auf jedem Teilgebiete das Neueste der psychiatrischen Wissen- 
schaft boten, zeigen. In regelmäßig gefüllten Hörsälen folgten die 
Anwesenden mit größtem Interesse den Vorträgen und Vor- 
führungen. Mit Genugtuung durfte Weygandt später sagen, daß 
keine andere Anstalt oder Klinik Deutschlands oder der Welt 
diese Leistung hätte überbieten können. Auch die Feier des sech- 
zigsten Geburtstages und des 25 jährigen Jubiläums als Direktor 
von Friedrichsberg im Sommer 1933 brachten Weygandt zahl- 
reiche Ehrungen. In heiterer Stimmung wie sonst selten konnte 
Weygandt in einer Erwiderungsrede die Jahre rastloser Arbeit 
und des Kampfes an sich und an den Teilnehmern vorüberziehen 
lassen. Er führte in launiger Weise aus, sicher hätte er sich in 
seiner Jugend nicht träumen lassen, einmal Psychiater und Direktor 
einer Irrenanstalt zu werden; ja er hätte in jener Zeit, als er im 
jugendlichen Feuereifer mit den kühnsten Plänen aus seiner Vater- 
stadt Wiesbaden auszog, den, der ihm dies prophezeite, wohl für 


Wilhelm Weygandt t 155 


verrückt gehalten! Aber gleichwohl konnte er befriedigt auf das 
Geleistete und Erreichte, auf ein riesiges Lebenswerk zurückblicken. 

Dann aber kamen für Weygandt schwere Jahre. Mancherleı 
Erschütterungen und Enttäuschungen, Leid und Gram erfüllten 
die letzten Jahre seines Lebens. Es machten sich auch die Aus- 
wirkungen eines tückischen Leidens geltend. Lange wehrte sich 
Weygandt in bewundernswerter seelischer Haltung gegen alle 
anstürmenden Unbilden, bis er schließlich klaren Geistes erkennen 
mußte, daß sein Körper immer mehr verfiel. Aber selbst dann gab 
er sich nicht besiegt. Noch auf seinem Totenbett lagen die Korrek- 
turen einer wissenschaftlichen Arbeit. Bis zuletzt hatte er gewissen- 
haft sein Tagebuch geführt und die eigene Fieberkurve geschrieben, 
bis der Tod ihm den Griffel entwand. 

Vieles von dem, was Weygandts Geist in heißem Bemühen 
errang, wird erhalten bleiben, da es zum gesicherten Bestande der 
ärztlichen Erkenntnis gehört. Weygandts Name wird in der Ge- 
schichte der Psychiatrie weiterleben; er wird genannt werden 
müssen, wenn die besten Namen unserer Wissenschaft genannt 
werden. 

Meggendorfer, Erlangen. 


Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten 
von Wilhelm Weygandt 


Entstehung der Träume, Inauguraldissertation Leipzig, 1893. — Ein Beitrag 
zur Histologie der Syphilis des Centralnervensystems. Inauguraldissertation 
Würzburg 1896. — Über den Einfluß des Arbeitswechsels auf fortlaufende 
geistige Arbeiten. Kraepelin, Psychol. Arb. 1897. — Über die psychischen 
Wirkungen des Hungers. Münch. med. Wschr. 1898. — Über Mischzustände 
im circulären Irresein. Allg. Z. Psychiatrie 1898. — Experimentalpsychologie 
und Überbürdungsfrage. Dtsch. Schulpraxis, 1898. — Kritische Bemerkungen 
zur geistigen Hygiene der Schule. Neur. Zbl. 1898. — Römers Versuche über 
Nahrungsaufnahme und geistige Leistungsfähigkeit. Kraepelin, Psychol. 
Arb., 1899. — Über die Mischzustände des manisch-depressiven Irreseins. 
Habilitationsschrift Würzburg. J. F. Lehmann, München 1899. — Psychische 
Erschöpfung durch Hunger und durch Schlafmangel, Allg. Z. Psychiatr., 1899. 
— Die venezianische Anstalt S. Servolo. Psychiatr. Wschr. 1900. — Psycho- 
logische Beobachtungen bei einer Gasvergiftung. Neur. Zbl. 1900. — Psych- 
iatrisches zur Schularztfrage. Münch. med. Wschr. 1900. — Die Behandlung 
idiotischer und imbeciller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung. 
A. Stuber, Würzburg 1900. — Über die Bedeutung des Hungers in der Kran- 
kenpflege. Z. Krk.pfl. 1900. — Über den Einfluß der Nahrungsenthaltung auf 
den psychischen Zustand. J. N. Kouchnerev, Moskau, 1900. — Psychologie 
und Hirnanatomie mit besonderer Berücksichtigung der modernen Phreno- 


156 Meggendorfer 


logie. Dtsch. med. Wschr. 1900. — Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetz- 
buches für Schwachsinnige und Epileptische. Z. Behdig. Schwachsinnig. 1901. 
— Zur Frage der materialistischen Psychiatrie. Cbl. f. Nervenheilkunde und 
Psychiatr. 1901. — Die Behandlung der Neurasthenie. Würzburg. Abh. 1901. — 
Zur Hilfsschulfrage. Psychiatr. - Neur. Wschr. 1901. — Hirnanatomie, Psycho- 
logie und Erkenntnistheorie. Cbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1901. — Ein Fall 
von tiefstehender Idiotie mit Skelettveränderungen. Münch. med. Wschr. 
41901. — Zur Diagnose und Behandlung der Neurasthenie. Sitzgsber. psych.- 
med. Ges. Würzburg 1901. — Demonstration eines Falles von tiefstehen- 
der Idiotie mit Skelettveränderungen. Sitzgsber. psych.-med. Ges. Würz- 
burg 1901. — Über die Beeinflussung geistiger Leistungen durch Hungern. 
Kraepelin, Psychol. Arb. 1901. — Über das manisch -depressive Irresein. 
Berl. klin. Wschr. 1901. — Beitrag zur Diagnose der Neurasthenie. Münch. 
med. Wschr. 1901. — Psychosen und Neurosen. Jber. ges. Neur. 1901. — 
Psychologische Gesichtspunkte für die Ausstattung des Schulhauses. 
Das Schulhaus 1901. — Ermüdung und Erschöpfung. Sitzgsber. phys.- 
med. Ges. Würzburg 1901. — Zur Frage des Kretinismus. Sitzgsber. phys.- 
med. Ges. Würzburg 1902. — Wilhelm Wundt und seine Psychologie. Cbl. f. 
Nervenheilkunde und Psychiatr. 1902. — Beiträge zur Psychologie des 
Traumes. Wundt, Philosophische Studien. 1902. — Entgegnung auf die Ein- 
wände des Herrn Professor Mendel. Psychiatr.-neur. Wschr. 1902. — Über 
(die Berechtigung der forensischen Psychiatrie. Psychiatr.-neur. Wschr. 1902. 
— Atlas und Grundriß der Psychiatrie. Lehmann, München 1902 (übersetzt 
ins Italienische und Spanische). — Die Fürsorge für schwachsinnige Kinder 
in Bayern. Allg. Z. Psychiatr. 1903. — Beiträge zur Lehre vom Kretinismus. 
Allg. Z. Psychiatr. 1903. — Über Psychiatrie und experimentelle Psychologie 
in Deutschland. Münch. med. Wschr. 1903. — Bilder vom 14. internationalen 
medizinischen Kongreß in Madrid. Münch. med. Wschr. 1903. — Die For- 
schungsrichtung der ‚Psychologischen Arbeiten“. Cbl. f. Nervenheilk. u. 
Psych. 1903. — Psychiatrisches aus Spanien. Psychiatr.-neur. Wschr. 1903. — 
Aus der Geschichte der Epilepsie. Psychiatr.-neur. Wschr. 1903. — Über die 
Leitung der Idiotenanstalten.: Psychiatr.-neur. Wschr. 1903. — Über psych- 
iatrische Begutachtung in Civilsachen, lediglich auf Grund der Acten. Neur. 
Zbl. 1903. — Über epileptische Schulkinder. Intern. Kongr. f. Schulhygiene 
1904. — Epileptische Schulkinder. Psychiatr.-neur. Wschr. 1904. — Der 
Schlaf. Umsch. 1904. — Über die Beziehungen zwischen Unfall, Tuberkulose 
und Geistesstörung. Ärztl. Sachverst.ztg. 1904. — Der heutige Stand der 
Lehre vom Kretinismus. Sig. Abh. Nervenkrkh. 1904.— Über Beerdigungsatteste 
bei Selbstmördern. Allg. Z. Psychiatr. 1904. — Über Virchows Cretinentheorie. 
Neur. Zbl. 1904. — Alte Dementia praecox. Cbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 
1904. — Über atypische juvenile Paralyse. Sitzgsber. phys.-med. Ges. Würz- 
burg 1904. — Psychologische und anatomische Beiträge zur Lehre vom Schlaf. 
Sitzgsber. phys.-med. Ges. Würzburg 1904. — Weitere Beiträge zur Lehre 
vom Cretinismus. Verh. physik.-med. Ges. Würzburg 1904. — Beitrag zur 
Lehre von den psychischen Epidemien, Allg. Z. Psychiatr. 1904. — Verhalten 
des Gehirns bei Situs viscerum transversus, Allg. Z. Psychiatr. 190%. — Über 
alte Dementia praecox, Allg. Z. Psychiatr. 1904. — Psychologie. Iber. Neur. 
1904. — Über den Einfluß von Hunger und Schlaflosigkeit auf die Hirnrinde. 
Neur. Zbl. 1904. — Verhütung der Geisteskrankheiten. Neur. Zbl. 1904. — 
Über leicht abnorme Kinder. Neur. Zbl. 1904. — Idiotie und Schwachsinn im 
Kindesalter. Med. Klin. 1905. — Dementia praecox und Idiotie. Psychiatr.- 


Wilhelm Weygandt t 157 


reur. Wschr. 1905. — Psychologie. Iber. Neur. 1905. — Leicht abnorme Kin- 
ler. Sig Abh. Nervenkrkh. 1905. — Die höhere Schule und die Alkoholfrage. 
3erlin 1905. — Gruppenteilung der Idiotie. Sitzgsber. phys.-med. Ges. Würz- 
Jurg 1905. — Die ersten Zeichen der Geisteskrankheiten. Die Heilkunde, 1905. 
Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Schlafes. Z. Psychol. 1905. — 
Über Idiotie. Neur. Zbl. 1905. — Über Mongolismus. Neur. Zbl. 1905. — 
Psychiatrische Begutachtung bei Vergehen und Verbrechen im Amt eines 
Jegenerativ-homosexuellen Alkoholisten. Neur. Zbl. 1905. — Über die Schwach- 
sinnigenfürsorge in Österreich, Deutschland, Frankreich und England. Neur. 
Zbl. 1905. — Über Idiotie. Sig. Abh. Nervenkrkh. 1906. — Der Einfluß des 
Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen Orga- 
nismus mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung. Neur. Zbl. 1906. — 
Beitrag zur Lehre von der Aphasie. Sitzgsber. phys.-med. Ges. Würzburg, 
1906. — Psychologie. Iber. Neur. 1906. — Zur psychologischen Tatbestands- 
diagnostik. Mschr. Kriminalpsychol. 1906. — Über den Stand der Idioten- 
fürsorge in Deutschland. Neur. Zbl. 1906. — Über die experimentelle psycho- 
logische Untersuchung schwachsinniger Kinder. Neur. Zbl. 1906. — Über 
die Liquidationen bei psychiatrischen Begutachtungen, vorzugsweise in Bayern. 
Münch. med. Wschr. 1907. — Paul Julius Möbius. Münch. med. Wschr. 1907. 
— Über den Stand der Idiotenfürsorge in Deutschland. Münch. med. Wschr. 
1907. — Über die Frage syphilitischer Antistoffe in der Cerebrospinalflüssig- 
keit bei Tabes dorsalis. Sitzgsber. phys.-med. Ges. Würzburg, 1907. — Ibsens 
Figuren vom Standpunkt des Psychiaters. Umsch., 1907. — Die abnormen 
Charaktere bei Ibsen. Bergmann, Wiesbaden, 1907. — Psychisch abnorme 
Kinder in der ambulanten Praxis. Med. Klin. 1907. — Kritische Bemerkun- 
gen zur Psychologie der Dementia praecox. Mschr. Psychiatr. 1907. — Idiotie 
und Dementia praecox. Z. jugendl. Schwachsinn. 1907. — Die höhere Schule 
und die Alkoholfrage. 2. Aufl., Berlin 1907. — Psychologie. Iber. Neur. 1907. 
— Psychologische Untersuchung schwachsinniger Kinder. Leipzig 1907. — 
Beitrag zur Aphasielehre. Klin.-therapeut. Wschr. 1907. — Fürsorge für 
Schwachsinnige. Berlin 1907. — Sind die Einwände gegen gesetzliche Bestim- 
mungen betreffs sexueller Anomalie wissenschaftlich haltbar? Münch. med. 
Wschr. 1908. — Die Ausbildung in der gerichtlichen Psychiatrie. Münch. med. 
Wschr. 1908. — Über mongoloide Degenerationen. Sitzgsber. phys.-med. Ges. 
Würzburg, 1908. — Beiträge zur Lehre vom Mongolismus. Neur. Zbl. 1908. — 
Zur Frage der Selbständigkeit der Irrenärzte. Psychiatr. neur. Wschr. 1908. — 
 Gerichtliche Psychiatrie. Göschen, 1908. — Bericht über den XIV. internatio- 
nalen medizinischen Kongreß in Budapest, 29. August bis 4. September 1909. 
Z. jugendl. Schwachsinn, 1909. — Die Jugendlichen im Vorentwurf zu einem 
Deutschen Strafgesetzbuch. Z. jugendl. Schwachsinn, 1909. — Der Entwurf 
einer Strafprozeßordnung, sowie der Entwurf betr. Abänderung des Straf- 
= gesetzbuches, in ihren Beziehungen zur Fürsorge für normale und schwach- 
sinnige Kinder. Z. jugendl. Schwachsinn, 1909. — Über das englische Kinder- 
gesetz vom Jahre 1908. Z. jugendl. Schwachsinn, 1909. — Bourneville. Z. 
jugendl. Schwachsinn, 1909. — Die Imbezillität vom klinischen und forensi- 
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zum neuen Strafgesetzbuch. Med. Klin. 1909. — Störungen der Wahrnehmung, 
Störung der Assoziationen und des Gedächtnisses — Gefühlsstörungen — 
© Störungen des Willens — Begriff des psychischen Gebrechens und der psychi- 
schen Schwäche — Krankhafte Gemütsbewegungen — Willensstörungen — 
Impulsives Handeln — Automatisches Handeln — Psychische Zwangs- 


158 Meggendorfer 


zustände. Handbuch d. ärztl. Sachverständigen-Tätigkeit, 1909. — Ärztliche 
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novelle. Mschr. Kriminalpsychol. 1910. — Psychiatrische Begutachtung von 
Mördern. Jahbrücher d. Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1910. — 
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Erweiterungen und Reorganisationen in der Hamburger Irrenpflege; ein Bei- 
trag zu der Frage: Umbau oder Neubau. Z. Neur. 1912. — Zum Kapitel des 
Infantilismus. Ztschr. Neur. 12. — Idiotie und Imbezillität, die Gruppe der 
Defektzustände des Kindesalters. Band im Handbuch der Psychiatrie von 
Aschaffenburg 1912. — Der Alkoholgenuß bei Kindern und der heranwachsen- 
den Jugend und seine Gefahren für die Gesundheit von ärztlichen Stand- 
punkt. Alkoholfreie Jugenderziehung, 1913. — Über Infantilismus und Idiotie. 
Z. Neur. 1913. — Weygandt-Jakob, Mitteilungen über experimentelle Syphilis 
des Nervensystems. Münch. med. Wschr. 1913. — Weygandt-Jakob, Experi- 
mentelle Syphilis des Zentralnervensystems. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1913. — 
Sexualproblem und Alkoholfrage in den Jugendjahren. Säemannschriften für 
Erziehung und Unterricht, 1913. — Auszug aus dem Sitzungsbericht des Ham- 


> —— 


Wilhelm Weygandt t 159 


burger Ärztl. Verein vom Dienstag, 8. April 1913. Herr Weygandt demon- 
striert: Hamb. Ärzte-Correspondenz, 1913. — Über Hypophysisstörungen. 


= Arch. f. Psychiatr., 1913. — Über Prosekturen an Irrenanstalten. Allg. Z. 
- Psychiatr. 1914. — Geisteskrankheiten im Kriege. Münch. med. Wschr. 1914. 


— Wevygandt, Jakob und Kafka, Klinische und experimentelle Erfahrungen 


bei Salvarsaninjektionen in das Zentralnervensystem. Münch. med. Wschr. 


1914. — Von einer Automobilfahrt zum westlichen Kriegsschauplatz. Münch. 
med. Wschr. 1914. — Bericht über den internationalen Irrenfürsorgekongreß 
in Moskau. Psychiatr.-neur. Wschr. 1914. — Eindrücke von den Kongressen 
in London und Gent und von Anstaltsbesichtigungen in Großbritannien und 
Belgien. Psychiatr.-neur. Wschr. 1913/14. — Theodor Kaes t. Psychiatr.- 
neur. Wschr. 1914. — Schwachsinn und Hirnkrankheiten mit Zwergwuchs. 
Mschr. Psychiatr. 1914. — Über Zwergwuchs. Zschr. Neur. 1914. — Warum 
werden Syphilitiker nervenkrank ? Dermat. Wschr., 1914. — Über die An- 
wendung des Dauerbades für Psychosen und Neurosen. Med. Klin. 1914. — 
Versorgung der Neurosen und Psychosen im Felde. Med. Klin. 1914. — Über 
die Psychologie des Verbrechers. Jahrbücherd. Hamb. Staatskrankenanstalten. 
1914. — Die Behandlung psychischer Erregung in der allgemeinen Praxis. 
Hamb. med. Überseeh., 1914. — Psychiatrie. Über die Prognose der Psych- 
iatrie — Psychiatrische Übersicht. Jkurse ärztl. Fortbild. 1914. — Soziale 
Lage und Gesundheit des Geistes und der Nerven. Würzburg. Abh. 1914. — 
Zurechnungsfähigkeit und Rechtssicherheit. Vjschr. gerichtl. Med., 1914. — 
Begutachtung der Paralyse und Syphilis des Zentralnervensystems. 
Vjschr. gerichtl. Med., 1914. — Weygandt und Jakob, Beiträge zur 


experimentellen Syphilis des Zentralnervensystems. Z. Neur., 1914. — Über 


die zweckmäßigste Anstaltsgröße. Z. Neur. 1914. — Die Entwicklung 
der Irrenanstalt Friedrichsberg- Hamburg. Jahrbücher d. Hamb. Staats- 
krankenanstalt 1914. — Der Krieg und die Nerven. Umsch. 1915. — 
Psychiatrie. I. Kriegseinflüsse und Psychiatrie. Jkurse ärztl. Fortbildg. 
1915. — Kriegspsychiatrische Begutachtungen. Münch. med. Wschr. 
1915. — Hirntumor nach Kopftrauma. Z. Neur. 1916. — Die Kriegsparalyse 
und die Frage der Dienstbeschädigung. Münch. med. Wschr. 1916. — Unfall 
und Dementia praecox. Jahrbücher d. Hamb. Staatskrankenanstalt. 1916. 
— Psychiatrie. Psychiatrische Aufgaben nach dem Kriege. Jkurse ärztl. 
Fortbildg. 1916. — Über die Frage des Zusammenhanges zwischen Unfall 
und Selbstmord. Vjschr. gerichtl. Med. 1916. — Über Degeneratio adiposo- 
genitalis. Arch. Psychiatr. 1917. — Demonstrationen. Z. Neur. 1917. — 
Diskussion zum Referat Bonhoeffer. Diskussion zum Ref. Meyer-Wilmanns. 
Z. Neur. 1917. — Über Psychologie und Psychopathologie der kriegführenden 
Völker. Jahresbücher d. Hamb. Staatskrankenanstalt 1917. — Geistesstörung 
und Dienstbrauchbarkeit (Kriegsbrauchbarkeit), Dienstbeschädigung, Er- 
werbsunfähigkeit, Verstümmelung im Rahmen der militärischen Gutachter- 
tätigkeit. Jahrbücher d. Hamburg. Staatskrankenanstalt 1917. — Psychiatrie. 
Psychiatrische Gutachtertätigkeit im Kriege. — Forensische Begutachtung. 
Jkurse ärztl. Fortbildg. 1917. — Die phonetische Behandlung von Stimm- und 
Sprachbeschädigten, Kriegsverwundeten und -erkrankten. Internat. Zbl. f. 
experiment. Phonetik, 1917. — Hydrocephalus mit Tumor (Papillom des 


i Plexus chorioideus). Hamb. Ärzte-Correspondenz 1917. — Weygandt und 


Helmcke, Die Sprachbehandlungsstation in Friedrichsberg. Hamb. Ärzte- 
Correspondenz, 1917. — Fall von sporadischem Kretinismus (in Hamburg 
früher als Zitronenjette bekannt). Hamb. Arzte-Correspondenz, 1917. — 


160 Meggendorfer 


Hezel, Marburg, Vogt, Weygandt, Die Kriegsbeschädigungen des Nerven- 
systems. Praktischer Leitfaden zu ihrer Untersuchung, Beseitigung, Be- 
handlung, Bergmann Wiesbaden, 1917. — Sekundäre, hypophysäre Fett- 
sucht. Z. Neur. 1918. — Demonstration über Diensttauglichkeit und Dienst- 
beschädigung bei psychischer Störung. Z. Neur. 1918. — Zur Psychologie . 
des Friedens. Deutschlands Erneuerung, Mschr. f.d. dtsch. Volk. 1918. — 
Die phonetische Behandlung von Stimm- und Sprachbeschädigten, Kriegs- 
verwundeten und -erkrankten. Internat. Zbl. f. experiment. Phonetik. 1918. 
— Über das Problem der Hydrozephalie. Arch. Psychiatr. 1919. — Selbst- 
beschuldigungen. Z. Neur. 1920. — Hydrocephalus und progressive Paralyse. 
Z. Neur. 1920. — Mühlens, Weygandt u. Kirschbaum, Die Behandlung der | 
Paralyse mit Malaria- und Rekurrensfieber. Münch. med. Wschr. 1920. — 
Aquarelle von Hautstörungen bei Geisteskranken. Dermat. Wschr. 1920. — 
Demonstration von zwei Patienten mit Turmschädel. Z. Neur. 1920. — Er- 
kennung der Geistesstörungen (Psychiatrische Diagnostik). Lehmann, Mün- 
chen, 1920. — Psychiatrie und Neurologie. Z. Neur. 1921. — Die Entwirklung 
der Hamburger Irrenfürsorge, Friedrichsberg in der Gegenwart. Z. Neur. 1921. 
— Hautveränderungen bei tuberöser Sklerose. Arch. f. Dermat. 1921. — 
Der Geisteszustand bei Turmschädel. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1921. — Wilhelm | 
Wundt. Münch. med. Wschr. 1921. — Kunst und Wahnsinn. Woche 1921. — 
Psychische Störungen bei hypophysärer Fettsucht. Münch. med. Wsch. 1921. 
— Hypophysäre Adiposität mit psychischer Störung. Zbl. Neur. 1921. — 
Weygandt und Kirschbaum, Mitteilungen über Paralysebehandlung. Zbl. 
Neur. 1921. — Psychische Störungen bei Adiposogenitaldystrophie. Zbl. 
Neur. 1921. — Über aktive Paralysetherapie. Münch. med. Wschr. 1922. — 
Forensische Psychiatrie. II. Teil Sachverständigentätigkeit. Gruyter u. Co., 
Berlin-Leipzig, 1922. — Irrenanstalten. Das Deutsche Krankenhaus. 1922. — 
Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns. Z. jugendl. Schwachsinn 1922. — Tierversuche und klinische 
Beobachtungen bei Darreichung von Zentralnervensystem-Substanz. Med. 
Klin. 1922. — Demonstration im ärztlichen Verein Hamburg, 4. 7. 1922. Zbl. 
Neur. 1922. — Friedrichsberg, Staatskrankenanstalt und psychiatrische 
Universitätsklinik in Hamburg. Ein Beitrag zur Krankenanstaltsbehandlung 
und Fürsorge psychisch Kranker und Nervenleidender. Meißner, Hamburg 1922. 
— Über Malariaimpfbehandlung der Paralyse. Klin. Wschr. 1923. — La psico- 
patologia nell’arte. Industrie Grafiche Italiane Ferrara 123, 1923. — Ärztliches im 
deutschen Strafgesetzentwurf 1919. Hamburg 1923. — Eltratamiento moderno 
de la parálisis general progressiva. Med. germ.-hisp.-amer. 1924. — Tratamiento 
de la Parálisis pro medio de la Vaccinaciön con Malaria. Vox med. 1924. — 
Hubert von Grashey 1839—1914. Dtsch. Irrenärzte 1924. — Der heutige 
Stand der Paralysebehandlung. Ther. Gegenw. 1924. — Kunstwerk und 
Psychopathologie. Zbl. Neur. 1924. — Die Psychopathologie der Sektenbildung 
mit besonderer Berücksichtigung des Falles Häusser. Zbl. Neur. 1924. — 
Chondrodystrophie. Zbl. Neur. 1924. -— Zur Frage der pathologischen Kunst. 
Z. Neur. 1925. — Zu Unnas 75. Geburtstag. Dermat. Wschr. 1925. — Die 
pathologischen Plastiken des Fürsten von Palagonia. Umsch. 1925. — Wer- 
tung ärztlicher Gutachtertätigkeit. Ein Beitrag zur Stellung der forensischen 
Psychiatrie. Münch. med. Wschr. 1925. — Conrad Rieger zum 70. Geburts- ! 
tage. Dtsch. med. Wschr. 1925. — Ökonomische Therapie der Epilepsie. Klin. 
Wschr. 1925. — Der heutige Stand der Behandlung der Metalues. Z. Neur. | 
1925. — Über den Geisteszustand bei Chondrodystrophie. Arch. Psychiatr. ` 


| 


Wilhelm Weygandt f 161 


1925. — Die Notwendigkeit einer alkoholfreien Jugenderziehung. Neuland, 
Hamburg 1925. — Zum 70. Geburtstage des Geh. San.-Rats Dr. von Ehren- 
wall. Psychiatr.-neur. Wschr. 1925. — Beitrag zur Lehre von den Hypo- 
physen-Störungen. (Psychiatr. Univers. Klinik Hamburg) Neurologie Neuro- 
pathologie, Psychologie, Psychiatria, Festschrift für Professor G. Rossolimo 
1884—1924, 1925. — Über phathologische Plastik. Ztbl. Neur. 1926. — 
Der Kampf gegen die progressive Paralyse. Arch. Psychiatr. 1926. — Grup- 
pierung der Idiotie und Imbezillität. Z. Behdlg. Schwachsinnig. 1926. — 
Erfolge und Bedenken bei der Malariabehandlung der progressiven Paralyse. 
Ther. Gegenw. 1926. — Neue Wege in der Psychiatrie. Umsch. 1926. — Ex- 
perimentelle Psychologie bei der gerichtlich-psychiatrischen Sachverstän- 
digentätigkeit. Mschr. Kriminalpsychol. 1926. — Empleo terapéutico de la 
fiebre en el tratamiento de la parálisis progresiva y de otras formas de neuro- 


sifilis. Med. germ.-hisp.-amer. 1926. — O tratamento moderno da paralisis 
geral. Jornal Lisboa Médica 1926. — Gefahren der Malariabehandlung. Allg. 
Z. Psychiatr. 1926. — Die pathologische Plastik des Fürsten Palagonia. 


Z. Neur. 1926. — Gefahren der Malariabehandlung. Allg. Z. Psychiatr. 1926. 
— Über das Wesen der Fieberimpfbehandlung der Gehirnerweichung (pro- 
gressive Paralyse) und Rückenmarksschwindsucht (Tabes dorsalis). Natur- 
wiss. 1926. — Über die Pathogenese des Mongolismus. Psychiatr.-neur. Wschr. 
1926. — Ärztliches über den amtlichen Entwurf eines allgemeinen Deutschen 
Strafgesetzbuches von 1925 und über die Unterbringung vermindert Zu- 
rechnungsfähiger. Zbl. Neur. 1926. — Über Anstaltsversorgung psychisch 
Kranker. Deutsch-Russische Medizinische Zeitschrift 1926. — Behandlung 
der Paralyse. Z. ärztl. Fortbildg. 1927. — Psychiatrisch-neurologische Auf- 
gaben für den Völkerbund. Wien. med. Wschr. 1927. — Julius R. Wagner 
v. Jauregg zum 70. Geburtstag (7. März 1927) Münch. med. Wschr. 1927. — 
Über mongoloide Degeneration. Med. Klin. 1927. — Emil Kraepelin. Allg. Z. 
Psychiatr. 1927. — Beiträge zur forensischen Sexualpathologie. Allg. Z. 
Psychiatr. 1927. — Erblicher hypophysärer Zwergwuchs. Zbl. Neur. 1927. — 
Klinisch und forensisch komplizierter Fall. Zbl. Neur. 1927. — Zur Pathologie 
des Mongolismus. Zbl. Neur. 1928. — Psychiatrische Fürsorge, Lehre und 
Forschung in Hamburg. Psychiatr.-neur. Wschr. 1928. — Über therapeutische 
Verwertung von Zentralnervensystem-Substanz. Psychiatr.-neur. Wschr. 1928. 
— Nekrolog Bechterew. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1928. — Psychohygienisches 
aus Rußland. Z. psych. Hyg. 1928. — Soziale Einschätzung paralytischer 
Akademiker nach Infektionsbehandlung. Wien. klin. Wschr. 1928. — Psych- 
iatrische Anstalten und Kliniken. Med. Klin. 1928. — Die Organisation 
wissenschaftlicher Forschung in der Psychiatrie und Neurologie. Med. Welt 
1928. — Forensisch-psychiatrische Tätigkeit in Friedrichsberg-Hamburg. 
Klin. Wschr. 1928. — Die Einrichtungen der medizinischen Fakultät in 
Hamburg. Klin. Wschr. 1928. — Sicherung, Heilung und Vorbeugung als 
Aufgaben der modernen Psychiatrie. Dtsch. med. Wschr. 1928. — Trau- 
matische Epilepsie mit langer Latenz. Mschr. Unfallheilk. 1928. — Auto- 
toxaemia as a factor in the causation of psychoses. Brit. med. J. 1928. — 
Über krankhafte Selbstbeschuldigung. Mschr. Kriminalpsychol. 1928. — 
Kraepelins psychologische Forschertätigkeit. Psychol. Arb. 1928. — Tier- 
hirngröße. Forschgn. u. Fortschr. 1928. — Schädelfraktur. Zbl. Neur. 1928. — 
Demonstration über tuberöse Sklerose. Zbl. Neur. 1928. — Die absolute 
Größe des Hirns bei Mensch und Tier. Zbl. Neur. 1928. — Über Adipositas 
dolorosa. Zbl. Neur. 1928. — Das Lebenswerk eines psychisch kranken 


11 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H 1/2. 


162 Meggendorfer 


Künstlers. Zbl. Neur. 1928. — Dercumsche Krankheit. Zbl. Neur. 1928. — 
Bericht über den Verband für psychische Hygiene. Zbl. Neur. 1928. — Zur 
pathologischen Kunst. Zbl. Neur. 1928. — Betrachtungen über Sprach- 
störungen. Psychiatr.-neur. Wschr. 1929. — Endokrine Vererbung. Münch. 


m 


med. Wschr. 1929. — Psychohygiene der Großstadt. Med. Welt 1929. — 


Selbstvergiftung als ursächlicher Faktor bei Psychosen. Allg. Z. Psychiatr. 
1929. — Reiseeindrücke von der Irrenfürsorge in Ägypten, Palästina und der 
Türkei. Z. psych. Hyg. 1929. — Cervello e anima. Conferenza tenuta in Roma 
nel Policlinico Umberto I° il 19 Aprile 1928. Ferrara 1929. — Kraepelins 
Bedeutung hinsichtlich der psychischen Entwicklung und Pädagogik. Arch. 
Psychiatr. 1929. — Pubertas praecox. Zbl. Neur. 1929. — Über die Tätigkeit 
des Verbands für Psychische Hygiene im Jahre 1928/29, speziell über die 
Tagung des Verbandes während der Versammlung deutscher Naturforscher 
und Ärzte in Hamburg vom 19. bis 21. 9. 1928. Zbl. Neur. 1929. — Ausge- 


wählte Kapitel aus der forensischen Psychiatrie. Moderne Richtung in der . 


Psychiatrie. Über psychische Hygiene. Psychopathologie und Kunst. Psy- 
chiatr.-neur. Wschr. 1930. — Epiphysenstörungen. Med. Klin. 1930. — Be- 
richt über den I. internationalen Kongreß für psychische Hygiene in Washing- 
ton, 5. bis 10. Mai 1930. Psychiatr.-neur. Wschr. 1930. — Modern treatment 
of mental disorders in German Hospitals. Amer. J. Psychiatry, 1930. — 
Stellungnahme zu einer Aufhebung des $ 175 StGB. Dtsch. med. Wschr. 1930. 
— Zum Andenken an Giovanni Mingazzini. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1930. — 
Über geistigen Austausch in der Psychohygiene. Psychiatr.-neur. Wschr. 1930. 
— Psychogene Analgesie. Zbl. Neur. 1930. — Fürsorge für Geisteskranke 
und Nervenkranke in Japan. Zbl. Neur. 1931. — Irrenfürsorge und Kultur- 
entwicklung. Z. Neur. 1931. — Über die Frage amniogener Störungen im 
Bereich des Zentralnervensystems. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1931. — Zur Ein- 
weihung des Instituts für Hirnforschung Berlin-Buch. Psychiatr.-neur. 
Wschr. 1931. — Psychohygiene der Großstadt und des Landlebens. Hand- 
buch für psych. Hyg. Berlin-Leipzig 1931. — Psychohygienische Tagung und 
Ausstellung in der Schweiz. Z. psych. Hyg. 1931. — Referat über die Tätig- 
keit des Deutsches Verbandes für psychische Hygiene. Zbl. Neur. 1931. — 
Über Beziehungen zwischen Hirn- und Schädelentwicklung. — Z. Neur. 1932. 
— Psychologie und Psychiatrie. Fischer Jena, 1932. — Die Irrenanstalten. 
Dritte Auflage. Jena, 1932. — Alfons Jakob. Z. Neur. 1932. — Zum Andenken 
an Professor Jakob. Dtsch. Z. Nervenheilk. 1932. — Juliano Moreira t. 
Psychiatr.-neur. Wschr. 1933. — Zur Frage der Dementia praecocissima und 
Dementia infantilis. Prof. Dr. Kestner zum 60. Geburtstag gewidmet. Med. 
Welt 1933. — Sterilisation und Kastration als Mittel zur Rassenhebung. 
Münch. med. Wschr. 1933. — Japanische Irrenfürsorge. Z. psych. Hyg. 1933. 
— Schädeldeformation und Trepanation. Extrait du volume jubiliaire en 
l’honneur du professeur G. Marinesco. Marvan, Bucarest, 1933. — Gedächt- 
nisfeier zum 100. Geburtstag von Direktor Prof. Dr. W. Reye. Psychiatr.- 
neur. Wschr. 1933. — Die Darstellung abnormer Seelenzustände in der 
japanischen Kunst. Z. Neur. 1934. — Die Gefahrlosigkeit der Sterilisation 
und Kastration. Mbl. dtsch. Reichsverbd. Gerichtshilfe usw. 1934. — Psy- 
chiatrisch-neurologischer Rückblick auf den Weltkrieg. Psychiatr.-neur. 
Wschr. 1934. — Über Erblichkeit bei jugendlichem Schwachsinn und bei 
Epilepsie. Psychiatr.-neur. Wschr. 1934. — Sterilisierung wegen angeborenen 
Schwachsinns. Med. Welt 1934. — Über Erforschung der Rassenhirne. Med. 
Welt 1934. — Die erbbiologischen Ergebnisse bei organischen Nervenkrank- 


Wilhelm Weygandt t 163 


: heiten. Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat, Lehmann-München, 
1934. — Die Kastration. Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat, 
Lehmann München, 1934. — Referat über: Hoche, Alfred E.: Jahresringe. 


Psychiatr-neur. Wschr. 1934. — Über aktive Schizophreniebehandlung. 
Psychiatr.-neur. Wschr. 1935. — Zur Woche des deutschen Buches. Psychiatr.- 
neur. Wschr. 1935. — Geheimer Sanitätsrat Dr. Carl von Ehrenwall. Psy- 
chiatr.-neur. Wschr. 1935. — Gegenwärtiger Stand der gerichtlichen 


Psychiatrie. Psychiatr. neur. Wschr. 1935. Eine internationale Organi- 
sation zur Verhütung des Verbrechens. Z. psych. Hyg. 1935. — Erbbiologische 
Ehegesetze vom psychiatrisch-neurologischen Standpunkt. Med. Welt 1935. 
— Das Problem der Erblichkeit bei jugendlichem Schwachsinn und bei Epi- 
lepsie. Z. Neur. 1935. — Don Quijote des Cervantes im Lichte der Psycho- 
-~ pathologie. Z. Neur. 1935. — Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrank- 
. heiten. Unter Mitarbeit von Gruhle, Kehrer, Kihn, Meggendorfer, Ritters- 
haus, Rosenfeld, Scholz, Stertz, Veraguth und Walter. Marhold, Halle 
1935. — Zum 70. Geburtstag von Johannes Bresler. Psychiatr.-neur. 
Wschr. 1936. — Zum 70. Geburtstag des Prof. Dr. Eduard von Grabe. 
 Psychiatr.-neur. Wschr. 1936. — Über die Formen der Neurolues. Z. ärztl. 
Fortbildg. 1936. — Erbbiologische und erbgesetzliche Bedeutung der Poly- 
daktylie. Münch. med. Wschr. 1936. — Hysterie als Erbkrankheit. 
Z. Neur. 1936. — Der jugendliche Schwachsinn. Seine Erkennung, Behand- 
. Jung und Ausmerzung. Enke Stuttgart, 1936. — Über amerikanische Psy- 
chiatrie, Irrenfürsorge und -behandlung. Psychiatr.-neur. Wschr. 1937. — 
Ist mongoloide Entartung eine Erbkrankheit ? Psychiatr.-neur. Wschr. 1937. 
— Die Pariser Fachkongresse Sommer 1937. Psychiatr.-neur. Wschr. 1937. — 
Zum Gedächtnis Robert Sommers. Münch. med. Wsch. 1937. — Seelische 
Spätreifung und ihre gesetzliche Auswirkung. Münch. med. Wschr. 1937. — 
Der erste internationale Kongreß für Psychiatrie des Kindesalters in Paris vom 
24. Juli bis 1. August 1937. Z. psvch. Hyg. 1937. — Zum Leben und Wirken 
von Robert Sommer. Z. psych. Hyg. 1937. — Zum Willkommen der öster- 
reichischen Fachgenossen. Psychiatr.-neur. Wschr. 1938. — Dr. phil. et med. 
Georg Buschan zum 75. Gehurtstag. Psychiatr.-neur. Wschr. 1938. — Talen- 
tierte Schwachsinnige und ihre erbgesetzliche Bedeutung. Münch. med. Wschr. 
1938. — Das Höhenklima im deutschen Österreich als Heilfaktor insbesondere 
für Asthma. Münch. med. Wschr. 1938. — Der Schwachsinn. Seine Ursachen 
und seine erbgesundheitsgesetzliche Beurteilung. Klin. Fortbildg. 1938. — 
Über Erbverhütung in der Schweiz. Psychiatr.-neur. Wschr. 1939. — Der 
Okkultismus, seine Grundlagen und Gefahren. Z. Neur. 1939. 


11° 


Verhandlungen der 
Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Kurzbericht 
über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden vom 26. bis 28. März 1939 


Eröffnungsansprache des Vorsitzenden Prof. Dr. Rüdin 


Meine Damen und Herren! 


Ich eröffne die 5. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurolo- 
gen und Psychiater und heiße Sie alle herzlich willkommen. Ich begrüße den 
Vertreter des Herrn Reichsinnenministers, Herrn Oberregierungs- und -medi- 
zinalrat Dr. Engel, den Vertreter des Reichsarbeitsministeriums, Herrn Mini- 
sterialdirektor Dr. Martineck, den Vertreter des Hauptamtes für Volksgesund- 
heit der NSDAP, Herrn Dr. Brunk, die Vertreter des Herrn Heeressanitäts- 
inspekteurs, Herrn Generalarzt Dr. Kittel und Herrn Oberstabsarzt Dr. Ohn- 
sorge, und die sonstigen Vertreter des Staates, der Partei und der Wehrmacht | 
und alle unsere Mitglieder und Gäste des In- und Auslandes. 


Einen besonderen Gruß richte ich an alle deutschen Arbeitskameraden von ` 


Böhmen und Mähren, welche durch die geniale Friedenspolitik des Führers 
im Osten nunmehr ebenfalls wie unsere österreichischen und sudetendeutschen 
Brüder nach langer Trennung in das Deutsche Reich heimgekehrt sind. Freudig 
begrüßen wir auch unsere heimgekehrten deutschen Arbeitskameraden aus 
dem Memelland. Wir sind stolz und ergriffen, daß nunmehr auch wieder dit 
erste und älteste deutsche Universität Prag zu uns gehört und den Kranz der 
übrigen deutschen Universitäten bereichert und verschönt. 

Den Dank für die gastfreundliche Aufnahme hier in Wiesbaden von seiten 
der Regierung von Nassau, der Stadt und der Kurdirektion werde ich den 
Herren Vertretern dieser Behörden heute Abend beim gemeinsamen Essen 
darzubringen mir erlauben. 

Herzlichen Dank schulden wir der Deutschen Gesellschaft für innere Medi- 
zin, die uns in liebenswürdiger Weise ihr schönes Haus für unsere Tagungen 
zur Verfügung stellt. Herr Prof. Dr. Geronne, der Geschäftsführer der Gesell- 
schaft für innere Medizin, der auch zugleich Mitglied unserer Gesellschaft 
ist, hat uns bei den Vorbereitungen in freundlicher Weise mit vielen Opfern 
an Zeit und Mühe unterstützt und uns überall die Wege geebnet. Auch ihm 
unsern herzlichen Dank. 

Leider haben wir seit der Kölner Tagung wieder den Tod einer Reihe von 
Mitgliedern zu beklagen. Ehe ich ihrer namentlich gedenke, muß ich aber an 
den besonders schweren Verlust erinnern, den die ganze Ärzteschaft soeben 
durch den Tod des Reichs-Ärzteführers Gerhard Wagner erlitten hat. Wir 
sind alle Zeugen seines restlosen Schaffens im Dienste der deutschen Ärzte- 
schaft und der Gesundheit des deutschen Volkes gewesen. 

Seit Köln sind uns die folgenden Mitglieder als verstorben bekanntgegeben 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 165 


worden: Prof. Dr. Neuberger--Hamburg, Prof. Dr. Naegeli-Zürich, Ob.-Med.- 
Rat Dr. Berlit-Großschweidnitz. Prof. Dr. Weygandt-Wiesbaden, Dr. Lienau- 
Hamburg, Prof. Hilpert-Halle, Prof. Rieger-Würzburg. 

Dr. Lienau und Prof. Hilpert hatten noch Vorträge für Wiesbaden ange- 
meldet. Wilhelm Weygandt hatte seit vielen Jahren ein tiefes Verständnis für 
die Notwendigkeit, rassenhygienische Vorbeugung treiben zu müssen, und 
trat für diese Auffassung auch im Rahmen des internationalen psychischen 
Hygiene-Verbandes, dessen deutschen Zweig er hatte mitbegründen helfen, 
lebhaft ein. Eine besondere Anhänglichkeit an unsere Gesellschaft hat er noch 
dadurch bewiesen, daß er ihr eine Summe von 10000 RM. vermacht hat, aus 
der Preise an würdige Forscher alljährlich oder jedes zweite Jahr verteilt wer- 
den sollen. Auch der Verlust Prof. Naegelis, des hervorragenden Internisten 
ın Zürich, ist ganz besonders schmerzlich, da dieser Kliniker, allen Internisten 
voran, stets die ungeheuere Wichtigkeit der Erbkonstitution und der Mutations- 
forschung betont hat, weshalb gerade die heutigen deutschen Psychiater und 
Neurologen seinem Geiste ganz besonders nahestehen. Unmittelbar vor unserer 
Versammlung ist auch hochbetagt Prof. Rieger, Würzburg, gestorben, der der 
alten Generation als außerordentlich origineller und anregender Lehrer noch in 
frischer und dankbarer Erinnerung steht. 

Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich 
danke Ihnen. 

Unsere heurige Tagung in Wiesbaden stehtim Zeichen der Zusammen- 
arbeit mit der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin. Sie ist 
ein Ausdruck der Anschauung und des Willens der Psychiater und Neurologen, 
die Beziehungen, wie zur übrigen Medizin, so auch zur internen Medizin, aus 
der sie hervorgegangen sind, nach Kräften zu pflegen und für das eigene fach- 
ärztliche Wissen und Handeln nutzbar zu machen. Innere Medizin, Psychiatrie 
und Nervenheilkunde sollen sich an der heurigen Tagung vor allem auf dem 
Gebiete der Klinik, Physiologie und Anatomie, in den zwei großen Bestrebun- 
gen der Therapie und Individual-Phrophylaxe gegenseitig befruchten. 

Dagegen hoffe ich, daß die für unser nationalsozialistisches Denken, Fühlen 
und Wollen neuen und besonders wichtigen Erörterungen der erbbiologischen 
Beziehungen der drei großen Fachgebiete zueinander, welche sich vor allem 


' mit der Frage der Korrelationen der drei Erbanlagen-Gruppen zueinander 


zu beschäftigen hätten, nach gründlicher Vorbereitung zu Hauptaufgaben 
einer weiteren, späteren gemeinsamen Tagung erklärt werden mögen. 

Für das Ansehen des Faches der Psvchiatrie besteht heute immer noch und 
vielleicht z. T. sogar noch in bedrohlicherem Maße als früher, die Gefahr 
einer gewissen Krise. Diese Gefahr droht ihr aber nicht von innen heraus, 
sondern von außen her. Die Psychiatrie selbst ist in ihren Bestrebungen nicht 
bloß therapeutischer und individualprophvlaktischer Art, sondern namentlich 
auch in ihren rassenhygienischen Bemühungen durchaus gesund, zeitgemäß 
und fortschrittlich. Es ist daher auf das tiefste zu beklagen, daß vielfach das 
Prestige der praktischen Psychiatrie, wenn auch nicht absichtlich, 
so doch tatsächlich, dadurch untergraben wird, daß der Psychiater als auf 
verlorenem Posten stehend, seine Arbeit entwertet, diskreditiert und als nutz- 
los hingestellt wird. Es rührt dies von vollständig falschen Folgerungen aus der 
Beurteilung der Erbkranken her, mit denen es der Psychiater zum großen Teile 
zu tun hat. Dabei besteht die Gefahr, daß die Nichtachtung gegenüber den Erb- 
kranken auch auf anderen Gebieten der Medizin sich auf die Ärzte überträgt. 
welche für sie verantwortlich zu sorgen haben. 


166 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Zunächst ist festzustellen, daß es vor allem der Psychiater war, wel- 
cher Staat und Partei auf die ungeheueren Erbgefahren aufmerksam gemacht 
hat, welche gewisse psychisch und neurologisch Kranke für die Zukunft unseres 
Volkes bedeuten, und es ist eine Großtat des deutschen Staates und Volkes. 
daß es sich dieser Einsicht nicht verschlossen hat, sondern tatkräftig zur Be- 
kämpfung dieser Gefahr übergegangen ist. 

Allein das bedeutet nicht, daß diejenigen recht haben, welche nun meinen. 
die Geistes- und Nervenkranken bräuchten keine oder nur ein Minimum von 
Betreuuug, und der Psychiater werde immer überflüssiger, weil ja auf Grund 
unserer rassenhygienischen Gesetze die Geisteskranken doch bald ausstürben. 
Es bräuchte auch keine Pfleger mehr, die von richtiger Krankenpflege etwas 
verstünden, und überhaupt sei es am besten, man hebe eine Irrenanstalt nach 
der anderen auf. 

Ich weiß freilich, daß kein Verantwortungsbewußter so kurzsichtig denkt. 
Aber die lange andauernde falsche Darstellung der Sachlage durch eine Minori- 
tät kann doch die verhängnisvolle Wirkung nicht verfehlen, welche im Effekt 
auf eine allmähliche Verschlechterung des psychiatrischen Berufsstandes und 
so auch auf eine unverantwortliche Schädigung der ganzen von Führer, Staat 
und Partei gewollten rassenhygienischen Ausrichtung unseres Gesundheits- 
wesens hinausläuft. Dies würde sich bald auch am gesunden Volkskörper rächen. 
Ich habe schon wiederholt ausgeführt, daß wir in der Psychiatrie gute 
und auch der Zahl nach ausreichende Ärzte brauchen. Wir benötigen 
sie für die Grundlage aller ärztlichen Arbeit, die Diagnostik in Forschung 
und Praxis, zur Unterscheidung der Erbkrankheiten von den Umweltkrank- 
heiten, deren Opfer oft genug auch wertvolle Volksgenossen werden und die 
genau das gleiche Anrecht auf Pflege und erstklassige Behandlung haben, wie 
innere, Ohren- oder Augenkranke. Jedem Kundigen ist bekannt, welche ge- 
waltige therapeutische Anstrengungen, von vielen, erfolgreichen psychothera- 
peutischen Bemühungen ganz abgesehen, jetzt durch die Psychiater gemacht 
werden, und wie wir bestrebt sind, dadurch im wohlverstandenen finanziellen 
Interesse aller Beteiligten die Krankheitsdauer auch vieler Erbkranker abzu- 
kürzen. Eine Behandlung der Geisteskranken im Sinne jener unvernünftigen 
Minorität würde aber geradezu zu einer Verlängerung der Verpflegstage und 
so zu einer Verteuerung der Krankenbehandlung anstatt zu einer Verbilligung 
derselben führen, wie sie fälschlicherweise nach den Methoden jener Minorität 
erhofft wird. Aber auch die gesunde, grundsätzliche Einstellung den unheil- 
baren Erbkranken gegenüber, nämlich Verhütung ihrer Entstehung durch 
rassenhygienische Maßnahmen, rechtfertigt nicht Störungsversuche an einem 
geordneten, finanziell richtig durchgerechneten und am Wohl des Volksganzen 
orientierten, die Individualfürsorge nicht überspannenden Irrenwesen. Die 
Feststellung, daß irgendwo auch Erbkranke verpflegt werden, darf nicht dazu 
führen, dort tüchtige Ärzte und Pfleger für unnötig zu halten. Das Gegenteil 
ist richtig! Seit Jahren stellt gerade die Psychiatrie diejenigen Ärzte, welche 
auf Grund ihrer Studien an den Erbkranken und deren Familien zu den be- 
kannten rassenhygienischen Forderungen gekommen sind. Aber man bilde 
sich nicht ein, diese Forschungen seien schon zu Ende, und wir wüßten alles, 
was für rassenhygienische Gesetze und eine von Verantwortung getragene Ehe- 
beratung notwendig ist! Man bilde sich auch nicht ein, eine gediegene erbbio- 
logische Bestandsaufnahme, von der so viel die Rede ist, ohne wirklich tüch- 
tige Ärzte und Diagnostiker durchführen zu können. Man bilde sich nicht ein, 
Erbgesundheitsgerichte und andere Behörden, welche Gutachten über den 


i 
1 
1 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 167 


Geisteszustand brauchen, könnten noch arbeiten, wenn man sich auf die Dia- 
gnosen der Ärzte nicht mehr verlassen dürfte, deshalb, weil durch eine unglück- 
liche Gesundheitspolitik dafür gesorgt wurde, daß der Irrenärztestand verächt- 
lich angesehen und deswegen von vielen tüchtigen Ärzten gemieden wird. 
Wir können umgekehrt sagen, wir brauchen gerade für den Stand, der mit 
vielen und gefährlichen Erbkranken zu tun hat, die tüchtigsten Ärzte. Denn 
ein Individualtherapeut kann zwar durch seine Stümperei das eine oder andere 
Menschenleben verderben oder vernichten, ein schlechter Erbarzt aber ganze 
Generationen. 


Es obliegt mir als Vorsitzendem der Gesellschaft die Pflicht, hier auf diese 
Gefahren hinzuweisen. Noch ist die Gefahr zu bannen. Aber wenn man fort- 
fährt, die irrenärztliche und irrenpflegerische Tätigkeit als minderwertig hin- 
zustellen, weil sie sich zum großen Teil, zum Wohle des gesunden Volkes, an 
Erbkranken orientieren muß, dann wird die durchschnittliche charakterliche 
und Schulungsqualität unserer Ärzte sinken. Es werden sich keine guten 
Kräfte mehr zu unserem Berufe melden, und die noch vorhandenen guten wer- 
den abwandern. Es werden die Diagnosen unzuverlässig, die Krankengeschich- 
ten kürzer und dadurch die spätere Begründung der Diagnosen, eine Haupt- 
voraussetzung der Erb- und Rassenpflege, unmöglich werden. Das gesunde 
Volk, das zu einem großen Teil nah oder entfernt verwandte Kranke in unse- 
ren Kliniken und Anstalten hat, wird nicht mehr die Gewähr haben, die volle 
Wahrheit über ihre Kranken zu erfahren, nicht mehr die Sicherheit, daß die 
Umwelt- oder Erbbedingtheit der Krankheiten von den Ärzten richtig erkannt 
wird. 


Mit dem wahren Geist des Nationalsozialismuus und der Ras- 
senhygiene vertragen sich solche kurzsichtige Anschauungen 
in keiner Weise. Wir brauchen gerade auch für unseren Beruf tüchtige, 
charaktervolle, ausgebildete und dementsprechend angesehene Ärzte und 
Pfleger. In der heutigen Psychiatrie ist ein starker Zug, das Krankheitsübel 
an der Wurzel anzupacken, sei es an der Vererbung als Ursache, sei es an äuße- 
ren Ursachen wie Syphilis, Alkohol usw. Wir sind, vielleicht in etwas höherem 
Maße als unsere anderen Berufskollegen, darauf eingestellt, Ursachenforschung 
und Ursachenbekämpfung zu treiben, daher auch unsere von Anbeginn an 
positive Einstellung zu den rassenhygienischen Richtlinien des Führers und 
zur Erb- und Rassenpflege des Reichsinnenministeriums und der Partei. Wenn 
wir also gegen die Untergrabung des Ansehens unseres Standes Protest erheben, 
so tun wir es im wohlverstandenen Interesse der Gesundheit unseres Volkes 
und der kommenden Generationen, in ernster Mitarbeit an dem rassen- 
hygienischen Werke unseres Führers und seiner Mitarbeiter. 

In diesen Stunden geschichtlicher Größe, in denen Adolf Hitler die Stärke 
des Deutschen Reiches aufs neue gemehrt hat, sind wir besonders stolz und 
glücklich, auch auf unserm Schaffensgebiet unsern Teil am Neubau der deut- 
schen Volksgemeinschaft und Volksgesundheit beizutragen! 

Und so grüßen wir denn unsern Führer, indem wir ausrufen: ‚Unser Führer 
Adolf Hitler Sieg Heil!“ 


Die Erbmedaille wurde an E. Rüdin und H. Pette verliehen, wobei Sprecher 
der Gesellschaft O. Foerster-Breslau war. 


Rüdin und Pette dankten in besonderen Ansprachen. 


168 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


I. Sitzung der psychiatrischen Abteilung am 26. März 1939 


Vorsitzender der Vormittagssitzung Kleist-Frankfurt, in der Nachmittags- 
sitzung Ewald-Göttingen. 


1. Berichte 
Die psychischen Störungen des Rückbildungsalters 


Berichterstatter Bürger-Leipzig: Allgemeiner Teil: Stoffliche und 
funktionelle Alternserscheinungen beim Menschen. 


Bürger gibt als Einleitung zu den Vorträgen: ‚‚Über die psychischen Störun- 
gen des Rückbildungsalters‘‘ einen allgemeinen Überblick für die ‚„stofflichen 
und funktionellen Alternserscheinungen beim Menschen“. Ohne auf eine 
allgemeine Phänomenologie dieser Erscheinungen einzugehen, schildert er die 
mit Hilfe chemischer und physikalischer Methoden nachgewiesenen stofflichen 
Wandlungen des Organismus im Laufe des Lebens. Die Bemühungen, tiefer 
in die stofflichen Wandlungen einzudringen, faßt er unter dem Begriff der 
statischen Alternsforschung zusammen, während unter dem Begriff 
der dynamischen Alternsforschung die funktionellen Alternsveränderungen 
verstanden werden. 

Nach einem einleitenden Bericht über die Organgewichte in den verschiede- 
nen Altersstufen werden Untersuchungen über Größe und Form des normalen 
Hirnventrikelsytems nach Encephalogrammen von 100 hirngesunden Patien- 
ten vorgelegt. Die Ventrikel werden auf Kosten der Hirnmasse mit dem Altern 
dauernd größer. 

Die chemischen Alternsuntersuchungen sind an gefäßfreien brady- 
trophen Geweben durchgeführt, die am Betriebsstoffwechsel nicht beteiligt 
sind. Zu diesen bradytrophen Geweben gehören Knorpel, Linse, Hornhaut 
und gewisse Wandschichten der großen Gefäße. Die wesentlichen Ergebnisse 
der seit zwei Dezennien ssytematisch durchgeführten Untersuchungen bestehen 
in einer Wasserverarmung, der eine Zunahme der stickstoffhaltigen Trocken- 
substanz entspricht. 

Diesem Eintrocknungsprozeß der bradytrophen Gewebe entspricht auf der 
andern Seite die Einlagerung von Schlackensubstanzen. Als Modell solcher 
Schlackensubstanzen wurde das Calcium als anorganische und das Cholesterin 
als organische Schlacke gewählt. Diese Schlackensubstanzen reichern sich mit 
zunehmendem Alter in den bradytrophen Geweben rasch an. Selbst die alternde 
Linse und Hornhaut bleiben von diesem Verschlackungsprozeß nicht verschont. 
Neuere systematische Untersuchungen wurden am Nervus ischiadicus durch- 
geführt, sie zeigen, daß am peripheren Nerven offenbar besondere Alterns- 
vorgänge sich abspielen. Der Gesamtfettgehalt des Nerven nimmt mit dem 
Alter zu, der Cholesteringehalt nach den bisher vorliegenden Erfahrungen 
dagegen ab. 

Diesen statischen Alternsveränderungen entsprechen in den meisten Orga- 
nen resp. Organsystemen solche der Funktion. Für diese dynamischen Vor- 
gänge werden aus allen Gebieten Beispiele beigebracht: die Abnahme der Akko- 
modationsbreite der Linse ist mit der zunehmenden Linsenstarre gut erklärt, 
die mit dem Alter abnehmende Muskelkraft wird auf Änderung der Durch- 
blutungsregulation bezogen. Eine besondere Bedeutung kommt den Änderun- 
gen der Kreislauffunktionen zu: die Zunahme des Blutdrucks und der dermo- 
graphischen Latenzzeit der Kapillaren, die Steigerung der Blutumlaufszeit, 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 169 


die Zunahme der relativen Systolendauer, die mit dem Alter sich einstellenden 
Veränderungen des Elektrokardiogramms im Sinne eines Linkstypus sind 
Beispiel für die altersgehenden Änderungen der Kreislauffunktion. Auf dem 
Gebiete der Atmungsfunktionen ist besonders die mit dem Alter abnehmende 
vitale Kapazität als Funktion des Alterns bekannt geworden. Eine weitere 
dynamische Alternsveränderung ist die Abnahme der normalen Proliferations- 
fahigkeit der Gewebe. Sie kommt besonders deutlich in der Abnahme der Ver- 
narbungsgeschwindigkeit im Alter zum Ausdruck. Interessant ist die Abnahme 
der Wachstumsgeschwindigkeit von Gewebekulturen unter der Einwirkung 
von Plasma oder Serum von jungen und alten Individuen. Das Serum alter 
Menschen hemmt das Wachstum von Gewebekulturen menschlicher Embryo- 
nen. Dasjenige jugendlicher fördert dasselbe. Schließlich wird zum Phänomen 
des Zellgedächtnisses Stellung genommen, insofern wir von allen Ereignissen 
unseres Lebens die organen, homoralen und psychologischen Erinnerungs- 
male in uns tragen. Als Runenträger der materiellen Erlebnisse unserer Zellen 


gilt das Zentralnervensystem — denn es ist das einzige zellkonstante Organ 
unseres Körpers. 


Kehrer-Münster i. W.: Die psychischen Störungen des Rück- 
bildungsalters. Klinischer Teil. 


'  Einleitend weist Ref. auf die allgemeinen Schwierigkeiten hin, zu erkennen, 
was echte Alternsvorgänge bzw. Krankheiten sind, was in späteren Lebens- 
jahren auftretende ‚‚zufällige‘‘ Krankheiten, die nur aus nicht durchsichtigen 
Gründen trotz ihrer Entstehung aus innerer Anlage verspätet in Erscheinung 
treten. Innerhalb der Psychiatrie sind diese Schwierigkeiten noch größer als 
in der übrigen Medizin; denn außer den unmittelbaren Ausdrucksformen des 
- Alterns irgendwelcher Gewebe (insonderheit derjenigen des Gehirns) kommen 
noch — in allen Graden der Bewußtheit — psychische Reaktionen auf jene Vor- 
gänge in Betracht, welche sich gelegentlich bis zu richtigen Psychosen oder 
Psychoneurosen steigern; ein Teil derselben beruht auf dem Versagen eines 
altersspezifischen Lebens- und Gesundheitspflichtgewissens und -willens. 
lm Gegensatz zu der allgemein herrschenden Meinung ist in praxi die Unter- 
scheidung der genannten „zufälligen“ und der echten psychischen Alterns- 
'krankheiten recht schwierig, da sie eine genaue Überschau über das ganze 
Leben der psychophysischen Persönlichkeit — und eigentlich auch über viele 
Jahre nach Beginn der in Rede stehenden Erkrankung —, vor allem der Erb- 
lichkeit, sowie auch eine eingehende internistische Untersuchung voraussetzt. 
Die praktische Bedeutung des Themas des Berichts ergibt sich u. a. daraus, 
daß 1936 mehr als 11 000 Menschen allein in die ‚öffentlichen‘ psychiatrischen 
Kliniken und Anstalten eingewiesen wurden, bei welchen die Diagnose einer 
psychischen Alternskrankheit, d.h. unmittelbar und ausschließlich durch 
Alternsvorgänge verursachter Störungen gestellt wurde. Ref. stellt auf Grund 
seiner neuerlichen Untersuchungen folgende vorläufige Einteilung aller 
im späteren Lebensalter auftretenden Seelenkrankheiten auf: 


Vorläufiges System 
der psychischen Krankheiten im späteren Lebensalter 
A. „Zufällige“ Krankheiten: 
I. Exogene: 


Alterseinflüsse bei progressiver Paralyse, chronischem Alkoholismus 
u. a. 


170 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


II. Symptcmatische Psychosen bei vorzugsweise im Spätalter auf- 
tretenden inneren Krankheiten (perniciöser Anämie, Pellagra, Dia- 
betes mellitus, Carcinom usw.). 

III. Endogene Psychosen, mehr oder weniger unbeeinflußt durch involu- 


tive Vorgänge: 


Be u 


1. organische: 


a) cerebrale Heredodegeneration mit spätem Manifestationstermin. 
pseudosenile Demenz (Picksche Krankheit u.a.?); Begleit- 
psychosen der Parkinsonschen Krankheit. 

b) cerebrale Heredodegenerationen mit verspätetem Manifesta- 
tionstermin (z. B. pseudoseniler Erbveitstanz). 


2. „funktionelle“: 


a) verspätet ausbrechende Erstmelancholie oder -Manie Schizo- 
phrenie erbliche Epilepsie. 

b) Legierungen aus letzteren (verspätete ‚intermediäre Degenera- | 
tionspsychosen‘“). 


IV. Mischformen aus verspäteten endogenen Phasen Schüben mit 
(u. U. kryptogenetischen exogenen Hirnreaktionen (traumat., toxisch. 
infekt./angiopath.?). 

B. Mittelbare Alternskrankheiten: 
Involution in Konkurrenz mit anderen nosoplastischen (,,prädis- , 
ponierenden‘“ und ‚‚präformierenden‘“‘) Faktoren (Geschlecht, Volkstum. 
Milieu im weitesten Sinne, innere Situation und dgl.): Durch die zeitige 
oder verfrühte Involution: 

1. der Geschlechtsorgane, 2. des Hirns, 3. der übrigen Organe (Gefäß- 

system/innere Drüsen). 
I. begünstigte psychopathische Handlungen: Incest, Pädophilie und 
dgl., von Männern um 50, Selbsttötungsversuche der Greise. 


II. ausgelöste 
III. modifizierte 


} endogene Phasen/Entwicklungen/Prozesse: 


Teilgruppe ,,klimakterischer“‘ u. a. späterer Melancholien; 
„Involutionsparanoia“, ,I.-Paraphrenie“‘; 

„Präsenile‘‘ Wahnbildungen, ‚‚pr. Beeinträchtigungswahn‘‘, | 
„pr. Begnadigungswahn lebenslänglich Inhaftierter‘‘, 

„pr. Dermatozoenwahn“ und dgl.), | 
„Spätkatatonie“‘. 

Periodische senile Verstimmungs-, Dämmer-, Drangzustände von 
Thymopathen — Schizoiden — Epileptoiden u. a. Psychopathen. 
Involutive, besonders senile Charakterverschiebungen: 

a) zum Asozialen bei ‚„Mischpsychopathen“ (Hysteroiden/Schizoiden 


Epileptoiden). 


b) zum Sozialeren (bei Gewohnheitsverbrechern; Milderung chron. 


Manien, Schizophrenien, Paranoiden u.a.). 


C. Unmittelbare Alternskrankheiten: 
I. Involution als 2. Hauptursache: 


(4. 


2; 


(ganz hypothetisch!) „Exogene Reaktionen‘ spezifisch disponierter ` 
Hirne auf Endotoxine extracerebraler Involutionsvorgänge? ?). 
Durch die Involution (Klimakterium/Senium) oder mit ihr zusam- 


menhängende Vorgänge verursachte Verstärkungen spezif. kon- 
stitut. Psychopathien bis zur Psychose (?): vielleicht gewisse 


„klimakterische Melancholien“. 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 171 


3. Psychische Reaktionen (,,innere Situationspsychosen‘“) auf Alterns- 
vorgänge. 

Altersfurchtneurosen, -depressionen. Hypochondrische Zustände. 
II. Involution als Grundursache: 

1. Reine und komplizierte Hirninvolutionen: 
senile Demenz, Presbyophrenie, Alzheimersche Krankheit, arterio- 
sklerotische Demenz u.a. 

2. Hirninvolutionen mit begleitenden Syndromen aus dem 

a) konstitutionellen, b) ‚„symptomatischen‘‘ Kreis: paranoide, deli- 
rante u.a. Zustandsbilder. 

3. Eigenreaktionen auf verfrühte Hirninvolutionen? (gewisse Melan- 
cholien und andere Bilder im Klimakterium ? Kraepelins ‚‚präsenile 
Fälle“? u.a.?). 

Ref. erörtert nun in großen Zügen Einzelheiten: Zu allererst bespricht er den 


Einfluß der Alternsvorgänge auf ‚‚zufällige‘‘ exogene und endogene Hirnkrank- 


heiten (z. B. progressive Paralyse, manisch-melancholisches Irresein, Epilepsie), 
und zwar sowohl hinsichtlich Bildfärbung als auch Vorbereitungszeit und Ver- 


- lauf. Er behandelt dann die unmittelbaren Involutionskrankheiten des Gehirns, 


nn nn 


vor allem den Greisenschwachsinn, wobei er betont, daß der alte Satz, 
jeder werde altersschwachsinnig, wenn er es nur erlebe, trotz gegenteilig lau- 
tender Stimmen nach neueren Untersuchungen zu Recht besteht. Ob und welche 
(,„akzessorischen‘“‘) Syndrome den zum amnestischen Syndrom und dann 
(evtl. direkt) zur Demenz führenden Prozeß begleiten, hängt offenbar vorwie- 
gend von dem Vorliegen innerer Anlagen, die den 2—3 großen psychopatholo- 
gischen Erbkreisen (zirkulärem Irresein, Schizophrenie und auch u. U. Epilep- 
sie) zum wenigstens sehr nahe stehen, ab, inwieweit von solchen zu exogenen 
Reaktionen im Sinne Bonhoefjers, ist noch ganz ungeklärt. 

Im Zusammenhang damit wird die Frage erörtert, welche Stellung im System 
der Alternskrankheiten die als Presbyophrenie bezeichnete einnimmt, ob sie 
als Einleitung eines schließlich doch zum Greisenblödsinn führenden Alterns- 
vorgangs aufzufassen ist, welcher eintritt, wenn der Betreffende nur alt genug 
wird, oder ob sie aus der Verbindung einer stenisch-syntonen Anlage und Ver- 
fassung mit einer milden Hirninvolution hervorgeht. An ihr als Modellfall wird 
besonders die Notwendigkeit einer ‚‚mehrdimensionalen‘‘ Betrachtung auf 
Grund einer umfassenden ätiologischen Bilanzaufstellung dargelegt. 

Des weiteren wird die Alzheimersche Krankheit analysiert, welche, 
nach dem, was wir heute über sie wissen, stichwortartig als ‚‚Involutio heredi- 
taria electiva cerebri totalis antecipata et acutissima“ gekennzeichnet wird. 

Wichtiger als letztere für unsere ganze Auffassung von den psychischen 
Alternserkrankungen ist nach Ref. die Picksche Krankheit, von der er sagt, 
daß sie wohl aus den eigentlichen Rückwandlungskrankheiten herauszunehmen 
und den erblich-degenerativen einfachen elektiven Neuronenatrophien, wie 
dem Erbveitstanz, der Strümpellschen spastischen Spinalparalyse u. a., zuzu- 
rechnen sei. Ref. verweist dabei auf die merkwürdige Erscheinung, daß die 
durchschnittliche Ausbruchzeit dieser Gruppe von Erbleiden um so später im 
Leben der Betroffenen fällt, je jünger das betreffende Neuron in der Phylo- 
genese ist. 

In diesem Zusammenhang geht Ref. auch auf die Bezeichnung ‚‚präsenil‘“ 
ein, die man in der Psychiatrie für bestimmte (etwa zwischen dem 55. und 
70. Jahr auftretende) Psvchosen verwendet hat, und legt dar, daß dieser Aus- 
druck — weil nur zu Mißverständnissen führend — zu meiden sei. 


172 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Des weiteren behandelt Ref. eingehend die Frage nach der Existenz sog. 
klimakterischer Psychosen und kommt zu einer Ablehnung solcher, soweit 
mit dieser Bezeichnung ausschließlich oder in erster Linie durch körperliche 
Vorgänge im Klimakterium verursachte Psychosen gemeint seien, anerkennt 
aber, daß das Klimakterium auf körperlichem oder aber viel wahrscheinlicher 
seelischem Umwege — letzteres voran auf Grund der ‚ängstlichen Erwar- 
tungsneurose“ vor den in jeder Beziehung maßlos überschätzten nervösen und 


u 


psychischen Begleiterscheinungen des Klimakteriums — bei von Haus aus 
abnorm Veranlagten die abnormen seelischen Wesenszüge der präklimakteri- 
schen Zeit zur Psychose steigern kann. — In Hinsicht auf die Frage nach _ 
Psychosen eines Climacterium virile vertritt Ref. den Standpunkt. 


daß in der Tat die Jahre zwischen 45 und 55 bei Männern mit entsprechender 
Verfassung eine Gefahrenzone 1. Ordnung bilden, die nicht ungefährlicher sei 
als die beim Weibe. Ref. erörtert in diesem Zusammenhang im einzelnen die 


möglichen Arten psychischer Reaktion auf körperliche (vor allem ‚‚internisti- : 


sche‘‘) und seelische Sensationen bzw. Erlebnisse (Resignation aus Lebens- 
rück- und -vorschau usw.) dieser Altersstufe, betont aber auch hierbei wieder. 
daß im Einzelfalle immer ein Zusammenwirken mehrerer solcher ursächlichen 


Komplexe zugrunde liege. Ref. bespricht im einzelnen die Unterformen der ' 


vermeintlichen ‚‚klimakterischen‘ oder ‚‚involutiven‘“ Psychosen: klimakteri- 


| 
| 
Ä 


sche oder Involutionsmelancholie, Involutionsparanoia bzw. -paranoide, Spät- 


katatonie, wobei er aus der Unsumme von klinischen Termini, die man für die 
beiden ersteren geprägt und als nosognomisch hingestellt hat, den Schluß zieht. 
daß hier ein Krisenpunkt der modernen Psychiatrie gelegen sei. 

Ref. gibt zum Schluß seiner Überzeugung Ausdruck, daß die nächste Ent- 
wicklung derselben einen weiteren Abbau der heute noch als echte Alterns- 


zustände gedeuteten Krankheiten bringen werde, und daß, da ja auch ' 


die senile Demenz höchstwahrscheinlich ein Erbleiden darstelle, jene vermut- 
lich in einer späteren Zeit — schematisch und in Bezug auf Einzelheiten un- 
korrekt ausgedrückt — in die 3 Gruppen der zufälligen, der erblichen und der 
vorwiegend psychogenen Typen von Krankheitszuständen im späteren Leben 
aufgeteilt würden. Daraus ergäben sich für die Behandlung zwei Folgerun- 
gen: Vortreibung der Erbpflege und Bekämpfung der negativen Massen- 
suggestionen über die krankmachenden Wirkungen von Klimakterium und 
Senium und der Diskretierung ‚‚der Alten‘, sowie Propagierung der Kunst, 
gut und schön zu altern (Eugerasie), also Diätetik der Seele (v. Feuchtersleben). 
und somit psychische Hygiene auf breitester Grundlage! 


A.v. Braunmühl-Eglfing-Haar: Die psychischen Störungen des 
Rückbildungsalters. Anatomischer Teil. 


Vortragender versucht, die Anatomie der psychischen Störungen des Rück- 
bildungsalters unter Gesichtspunkten einer kolloidchemischen Pathologie anzu- 
gehen, wobei es ihm nicht so sehr um eine spezielle Histopathologie der einzel- 
nen Erkrankungen zu tun ist, sondern um einesyndromatische Betrach- 
tungsweise der Gewebsveränderungen im Rückbildungsalter überhaupt. 
Die Gewebsveränderungen interessieren dabei vor allem insoweit, als sie von 
der Morphologie Schlüsse auf die Morphogenese und darüber hinaus auf 
pathophysiologische Vorgänge zulassen. Sie interessieren weiter inso- 
weit, als an ihnen morphologisch und morphogenetisch Gleichartiges, ja Gleich- 
wertiges gesehen und daraus pathophysiologisch Synonymes abgeleitet werden 
darf. Die Grenzen der anatomischen Krankheitsforschung sind mit dem Hin- 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 173 


weis auf die Notwendigkeit einer anderen als der rein zellularpathologischen 
Betrachtungsweise mit aller Schärfe gezogen. Auch das Tempo der meist über 
Jahre sich hinziehenden Erkrankung erschwert die Analyse. Weiter gehen 
vasale Momente als konstellative Faktoren ein und mehren die Schwierigkeiten 
anatomischer Deutung. Der Stoff selbst g:iedert sich in zwei Abschnitte. Im 
ersten Abschnitt wird versucht, etwas zur Anatomie jener vielgestaltigen 
Psychosen des Rückbildungsalters zu sagen, die ausschließlich klinisch definiert 
sind. Hier bietet die Anatomie diagnostische Hilfsstellung; Diagnosen kann sie 
nicht machen. Im einzelnen ist die Großzahl der ausschließlich klinisch defi- 
nierten Psychosen des Rückbildungsaltersohnegreifbaren anatomischen Befund. 
Einzelfälle zeigen Bilder cerebraler Kreislaufstörungen. Einigen Fällen, die 
man unverbindlich als perniciöse präsenile Psychosen bezeichnen mag, ist 
eine Vielzahl uncharakteristischer Hirnveränderungen eigen. Drusen und 
Fibrillenveränderungen kommen dabei nicht zur Beobachtung. Schließlich 
finden sich Fälle mit einem mehr oder weniger ausgeprägten involutiven Hirn- 
prozeß, insbesondere mit Plaques. Die Wertung dieser Befunde ist dadurch 
erschwert, daß man so gut wie ausschließlich die Gehirne Psychotischer der in 
Rede stehenden Lebensjahrzehnte studiert hat, nicht aber die Normalen des 
gleichen Zeitabschnittes. Im zweiten Abschnitt wird ganz allgemein über 
atrophisierende Prozesse abgehandelt und gezeigt, daß wir sie nach Art und 
Ausbreitung im wesentlichen auf dem Wege über fakultative, qualitativ 
gleichwertige Veränderungen, nämlich die senilen Plaques und die Alzheimer- 
schen Fibrillenveränderunger studieren. Plaques und Fibrillenveränderungen 
selbst werden am Beispiel kolloidchemischer Modellversuche hinsichtlich ihrer 
Morphogenese studiert. Dabei ergibt sich, daß die in Rede stehenden Verände- 
rungen als Phänomene von Fällung (senile Plaques) und Quellung (Alz- 
heimersche Fibrillenveränderungen) aufzufassen sind. Und zwar handelt es 
sich bei der Bildung dieser Strukturen um sekundäre Bilder, denen primäre 

. Abläufe der Kondensation und Aufteilung des kolloidalen Systems in zwei An- 

| teile verschiedenen Kolloidgehaltes entsprechen (,Synaeresis‘). Zum Schluß 

; wird dargelegt, daß atrophisierende Gewebsprozesse gemäß synaeretischen 
Mechanismen ablaufen, insbesondere, daß Synaeresis und Altern in Systemen von 
großer biologischer Bedeutung ist. Der Wert der Synaeresislehre für eine bio- 
logische Systematisierung geht schließlich auch daraus hervor, daß synaereti- 
sche Vorgänge bei entzündlichen Schäden von großer Bedeutung werden. 
Sokann das Vorkommen der Alzheimerschen Fibrillenveränderung beim post- 
encephalitischen Parkinsonismus nur unter den Gesichtspunkten der Synae- 
resislehre befriedigend gedeutet werden. In das entzündliche Gewebsgeschehen, 
das sich ja vornehmlich am Gefäßbindegewebsapparat abspielt, geht eine mehr 
oder weniger ausgeprägte degenerative, auf das Parenchym zielende Kompo- 
nente ein, auf die das Gehirn gemäß ihm innewohnenden synaeretischen Mecha- 
nismen antworten kann. Eine kolloidchemische Betrachtungsweise zeigt 
schließlich, daß es eine cerebrale Reaktionsform, das synaeretische 
Syndrom gibt. Sie zeigt weiter, daß dem Gehirn nur einige wenige Reaktions- 
weisen zur Verfügung stehen, was uns auf die nahen Grenzen einer anatomi- 
schen Krankheitsforschung bei Psychosen überhaupt verweist. 


; Bischof-Kutzenberg: Die erblichen Beziehungen der Psychosen 
I des Rückbildungsalters. 

Die Erblichkeitsverhältnisse der Involutionsmelancholie werden an 
I Hand von Arbeiten Brockhausens, Schnitzenbergers, Leonhards und 109 eigener 


174 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Probanden (nur Frauen) besprochen. Die Krankheitserwartung für affektive 
Psychosen bei den Eltern, Kindern, Vettern und Basen der Probanden ist bei 
den Untersuchern annähernd die gleiche, eine größere Erkrankungswahrschein- 
lichkeit an affektiven Psychosen wird bei den Geschwistern der 109 weiblichen 
Probanden festgestellt, doch erreicht auch diese kaum die Hälfte der von Luxen- 
burger für die Geschwister Manisch-Depressiver errechneten Hundertsätze. 
Der Aufteilung der involutiven Depressionen nach Leonhardsklinischen Gesichts- 
punkten in agitierte Depressionen mit bzw. ohne Hemmung wird die 
Gruppierung der Ausgangskranken vom biologischen Standpunkt aus in kli- 
makterische und involutive Depressionen gegenübergestellt. Dabei er- 
weisen sich die Geschwister der Probanden mit involutiver Depression als ganz 
erheblich mit affektiven Psychosen, darunter ungefähr zur Hälfte mit klimak- 
terischer und involutiver Depression, belastet, während die klimakterischen 
Ausgangskranken nur eine geringfügige affektive Belastung und keine solche mit 
klimakterischen und involutiven Depressionen zeigen. Für involutive Depres- 
sionen können deshalb Erbeinflüsse aus dem zirkulären Erbkreis nicht völlig 
"ausgeschlossen werden, wenn auch besonders die geringe affektive Belastung 
der Probandenkinder darauf hinweist, daß den involutiven Depressionen doch 
eine Sonderstellung in diesem Erbkreis einzuräumen ist. Klare Abhängigkeits- 
beziehungen der klimakterischen Depression von der manisch-depressiven Erb- 
anlage können aus den Untersuchungsergebnissen nicht abgelesen werden. 
Es ist vielmehr an umfangreicherem Untersuchungsgut zu prüfen, ob nicht in 
der Verursachung der klimakterischen Depression die Erbanlage hinter dem 
biologischen Vorgang so wesentlich zurücktritt, daß sie praktisch vernachläs- 
sigt werden darf. Der Schizophrenie, die in den besprochenen Verwandtschafts- 
graden bei Probanden mit klimakterischer und involutiver Depression kaum 
häufiger vorkommt, als in einer Durchschnittsbevölkerung, kann ein wesent- 
liches Moment in der Verursachung dieser Psychosen nicht zukommen. 

Für die Beurteilung der evtl. Erblichkeit der Involutionsparanoia und 
Involutionsparaphrenie liegen keine verwertbaren genealogischen Unter- 
suchungen vor. In den Sippen paranoid gefärbter Alterspsychosen 
finden sich nach Schulz nur um ein weniges mehr Schizophrenien als in 
einer Durchschnittsbevölkerung, dagegen wesentlich mehr Alterspsychosen, 
unter diesen wiederum über die Hälfte paranoid gefärbte, außerdem sehr viele 
Sonderlinge. Die vermutete Erblichkeit der paranoiden Färbung der Alters- 
psychosen und die evtl. Rolle, welche die Sonderlingseigenschaft dabei spielt, 
wäre zu prüfen. Bezüglich der Erbanlage der senilen Demenz kommen 
Arbeiten von Meggendorfer, Schulz und Weinberger zu dem Schluß, daß senil 
Demente mit Dementia senilis wesentlich stärker, dagegen mit anderen 
Psychosen wie eine Durchschnittsbevölkerung belastet sind. Jedenfalls ist die 
senile Demenz keine ‚modifizierte‘ Schizophrenie und in ihrer Genese 
kann auch der Arteriosklerose beine Bedeutung zukommen. Die Bedeutung 
der Häufung von Psychopathen in allen Verwandtschaftsgraden der Pro- 
banden mit Alterspsychosen bedarf noch der Klärung. Über Alzheimersche 
Krankheit bis jetzt vorhandene genealogische Angaben reichen nicht aus, 
um Sicheres über die Erblage dieser Krankheit oder ihre evtl. genealogischen 
Beziehungen zur senilen Demenz ermitteln zu können. Ob nicht bzw. inwie- 
weit Umweitfaktoren bei der Entstehung der Pickschen Krankheit im 
besonderen und beim frühzeitigen lokal beschränkten Altern im allgemeinen 
ursächliche Bedeutung zukommt, wissen wir nicht. Zukünftige Forschung wird 
diese Frage, wie überhaupt die Frage nach der erblichen Bedingtheit der 


Kurzbericht über die V. J ahresversammlung in Wiesbaden 175 


Pickschen Krankheit zu klären haben. Bei der Huntingtonschen Chorea 
sind von Sjögren und Entres in letzter Zeit Mendelzahlen nachgewiesen worden, 
die für einfach dominanten Erbgang sprechen. Für die Paralysis agitans 
glaubt neuerdings Allan William den Nachweis für einfach dominanten Erb- 
gang eines autosomalen Gens erbracht zu haben. 

Der Bestand an gut gesicherten Erkenntnissen über die Rolle, welche die 
Vererbung bei den Psychosen des Rückbildungsalters zukommt, ist betrübend 
gering. Man sollte endlich daran gehen, mit Rücksicht auf die eugenischen 
Bestrebungen die vielen offenen Fragen an genügend umfangreichem, aus- 
lesefreiem Krankengut zu klären, was bei einer planmäßig auf diese Psychosen 
abstellenden erbbiologischen Bestandsaufnahme durch die Heil- und Pflege- 
anstalten im Rahmen einer Gemeinschaftsarbeit nicht allzu schwer zu erreichen 
sein dürfte. 


2. Vorträge zu den Berichten 


K. Brockhausen-Görden: Erbbiologische Untersuchungen depres- ` 
siver Psychosen des Rückbildungsalters!). 


Genealogische Untersuchungen über involutive Depressionen an einem 
völlig neuen Material von 201 weiblichen Fällen, von denen 123 im Kaiser- 
Wilhelm-Institut für Genealogie und Demographie in München und 78 in der 
Brandenburgischen Landesanstalt Görden (Direktor: Dr. med. habil. Heinze) 
bearbeitet wurden, bestätigen bis auf eine geringgradig erhöhte Belastung dieses 
Materials mit Schizophrenie die an einem früher untersuchten Material von 
31 Fällen ermittelten Ergebnisse (Z. Neur. 157) und die von Schnitzenberger 
erhobenen Befunde (Z. Neur. 159). Es ergibt sich, daß den erstmalig und ein- 
malig im Rückbildungsalter auftretenden Depressionen verschiedenerFärbung 
ım Gegensatz zu den phasisch verlaufenden Melancholien des Rückbildungs- 
alters für die Vererbung nicht die Bedeutung des manisch-depressiven Irreseins 
zukommt und daß aus diesem Grunde diese Psychosen eine Sonderstellung 
verdienen. 


I. H. Schultz-Berlin: Das Endgültigkeitsproblem in der Psycho- 
logie des Rückbildungsalters. 


Entsprechend der Umweltproblematik der modernen Biologie und ver- 
gleichenden Physiologie bedarf die medizinische Anthropologie in dyna- 
mischer Erfassung und ganzheitlicher Schau des Einbezuges äußerer und 
' „innerer“ Umwelt, wenn sie den Beziehungen zwischen Vitalphasen und Geistes- 

- Nervenkrankheiten gerecht werden will. Das Altern darf nicht als ein an sich 
negativer Vorgang, Spätwerke Produktiver sollten nicht als Alterswerke be- 
- zeichnet werden (Rothacker).. Normales Altern ist durch Leistungs- 
 minderung, Leistungswandel und Umbildung der inneren Umwelt 
- gekennzeichnet. Minderung aller Aufnahmefunktionen, Ziel- und Koordina- 
tionsstörungen der reinen und der Psychomotorik mit perseveratorischen 
;, Zügen und gesteigerte Ermüdbarkeit führen zu vielfach schwerer Unsicherheit 
' mit oft neurotischer Kompensation; wichtiger noch als die Störungen der 
Elementarfunktionen sind Veränderungen der Lebensrhythmik, die nach 
Qualität (Belebung und Abstumpfung), Modulation (Beweglichkeit und 


1) Ist ausführlich erschienen in dieser Zeitschrift (Rüdin-Festschrift) 
Bd. 112, 8.179. 


176 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 

1l 
Starre) und Intensität (Steigerung und Abschwächung) leidet, wobei de: 
Rhythmus in Erweiterung der Umschreibung von L. Klages „als Wieder- 
kehr des Ähnlichen in ähnlichen Fristen“ ‚in gestalthafter Weise 
als Inkarnation einer formativen, frei produktiven v. Uexküll- 
schen Regel“ gekennzeichnet wird (I. H. Schultz). Die ‚‚chronisch verstumpif- : 
ten älteren Männer“ und die ‚‚chronisch leicht verwirrten älteren Frauen 
werden als häufige, der üblichen klinischen Diagnostik nicht einfügbare Ver- 
armungsbilder bei Alternden gekennzeichnet, wobei Konzentrationsabnahm- 
und Krisen der Selbstliebe beteiligt sind. Diese Leistungsminderungen gehen 
mit einem Leistungswandel einher, der durch stärkere Belebung der Innen- 
welt, neue Gemeinschaftsbildung, Interessenwandel, Aufstieg zu allgemeiner 
Ordnung und Überschau, Entwicklung von echter Religiosität und Weisheit 
gekennzeichnet ist. Die „innere Umwelt‘ wandelt sich in neuen Perspekti- 
ven nach innen; Real-Raum und -Zeit, die in der Sonne der Lebensmitte das 
Zentrum waren, werden mit Abstand und Einschränkung abgeblendet, au: 
Eroberung und Realerweiterung wird Ordnung und Vertiefung, so daß der 
Umweltswandel des Alterns beim Gesunden ein produktives Geschehen dar- 
stellt. Sachliche Einordnung (besonders Beseitigung von Vorurteilen wie etwal 
dem, daß ‚‚Wechseljahre‘‘ mit Absterben gleichbedeutend seien) und ehrliche 
Selbsterkenntnis lassen eine positive Bilanz erkämpfen, aber trotzdem bleibt, 
oft Angst in Affekten, Symptomen und Träumen zurück, wenn nicht das Pro- 
blem der Endgültigkeit als fundamentale innere Umweltänderung‘ 
bis in alle Tiefen verarbeitet wird. Der Alternde muß sich frei, klar und produk- 
tiv dazu bekennen, nun sein Schicksal nur noch vollenden und einen gesetz-! 
haften Lebensweg harmonisch zu Ende schreiten zu können. Solange dies: i 
Grundtatsache, wenn auch durch Selbsttäuschung verhüllt, als ‚‚Freiheits- 
beraubung‘“‘ quält, ist eine wirkliche und dauernde Gesundung ebenso unmög- 
lich, wie echt produktives Altern, und die so entstehenden Verkrampfungen 
bergen besonders große Gefahrenmomente (Kreislauf). 


W. Betzendahl-Berlin: Über das psychische Altern. 


Die Kennzeichen des Alterns werden auf psychischem Gebiete gesucht unter 
Hervorhebung der Eigenart jeder Stufe an Stelle der Messung an irgendeinem 
Durchschnitt. Hierbei vereinigen sich Betrachtung des Verhaltens mit der 
Heranziehung von Ergebnissen der Innenschau. Auf Selbstzeugnisse histori- 
scher Art wird immerhin verwiesen. Die Verallgemeinerungen, zu denen zu 
gelangen ist, lassen das Erlebnis des Unwiederbringlichen und Endgültigen 
naturgemäß im Mittelpunkt stehen, im übrigen als Stellungnahmen den demon- 
strativen Verzicht auf Berücksichtigung oder im Gegenteil die nutzlose Bemüh- 
ung, von den entschwindenden Lebensgütern etwas zu erhaschen oder Jünge- 
ren den Rang abzulaufen, hervortreten. Gegenüber der normalen Entsagung 
und Änderung der Daseinsinhalte sind hier psychopathische Züge im Spiele. 
Das ist nicht den Jahren zuzurechnen, sondern Manifestation einer abnormen 
Wesensart. Esist fernerhin nicht nur auf die Daseinsbereiche hinzuweisen, welche 
die Abfolge der Generationen mit sich bringt, worauf nun je nach seelischer 
Veranlagung der alternde Mensch reagiert, sondern auch auf die verschieden- 
artige Beurteilung, welche die Altersstufen nach derzeitigen Kulturepochen 
erfahren, um so das Spezifische der seelischen Altersveränderung auch von 
außen her zu bestimmen. Die Merkmale der Seneszenz finden eine Illustration 
in den Bildern der involutiven, präsenilen und presbyophrenen Psychosen. 
Bei der Besprechung von Todesangst und Beeinträchtigungsvorstellungen 


| 


ee nn — 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 177 


ergibt sich ein Hinweis auf den Unterschied zwischen cirkulatorisch bedingten 
Vernichtungsgefühlen und durch Persönlichkeitszerfall gegebener Abbröcke- 
lung im Körperschema. Zur Furcht vor dem Ende wird bemerkt, daß sie vor- 
zugsweise auf dem Lebensgipfel, bei Gefährdung der Daseinszwecke, auftaucht, 
während sie späterhin vor der Gewohnheit des Daseins stetig zurückweicht. 
Die Sorge der Alten heftet sich ebenso an längst Vergangenes, wie ihnen aus 
den gegenwärtigen Wahrnehmungen Altbekanntes hervortritt. 


C. Riebeling-Hamburg: Der Liquor des verschiedenen Lebens- 
alters mit besonderer Berücksichtigung des Rückbildungs- und 
Greisenalters. 

Es wird berichtet über die Besonderheiten des Liquors im Kindesalter und 
im Greisenalter, beziehungsweise wieweit sich Unterschiede gegenüber der 
Norm des gesunden Erwachsenen erkennen lassen. Sowohl in der Beschaffen- 
heit des Liquors als auch in der Reaktionsweise bei Noxen lassen sich gewisse, 
allerdings kleine Differenzen gegenüber der Norm erkennen. Verf. versuchte, 
den Veränderungen des Liquors im Laufe des Lebens die chemischen Verände- 
rungen des Gehirns im Laufe des Lebens parallel zu setzen. Diese Parallele 
prägt sich am deutlichsten aus im Eiweißgehalt und im Ammoniakgehalt. 

Die präsenilen Psychosen zeigen verhältnismäßig oft eine Eiweißvermehrung, 
die überwiegend das Albumin, häufig aber auch das Globulin betrifft und bei 
der keine Kolloidreaktionen erkennbar sind. Bei den Arteriosklerosen wird in 
der Mehrzahl der Fälle eine mäßige Eiweißvermehrung, negative Mastix- 
reaktion und ein besonderer Typ der Salzsäure-Collargol-Reaktion beobachtet. 
Multiple Encephalomalacien geben charakteristische Bilder im Liquor- 
Spektrum. Die Mastixreaktion ist stark positiv, es besteht eine hochgradige 
Eiweißvermehrung bei fehlender Zellvermehrung. Die S.C. R. gibt ein Bild, 
wie wir es nur von schweren organischen Befunden kennen. Fälle wie die von 
Müller beschriebenen mit einer meningealen Reaktion zeigen in der S.C.R. 
eine Kurve, die Ähnlichkeit mit der Meningitiskurve hat, aber trotz hoher 
Eiweißvermehrung wesentlich weniger breit ist. Der Liquorbefund gestattet 
der Prognose quoad vitam bei Encephalomalacien und Arteriosklerosen wesent- 
lich zu helfen. Die Fälle mit dem Typus des langsamen Abfallens der S. C. R. 
sind als prognostisch günstig, diejenigen mit dem meningitischen oder fast 
meningitischen Typ der S. C. R. sind prognostisch infaust anzusehen. 


H. Runge-Berlin-Nikolassee: Einteilung und Behandlung der psy- 
chischen Rückbildungserkrankungen bei Männern durch aktive 
Umstimmung. 

Bei den psychischen Störungen des männlichen Rückbildungsalters nicht- 
organischer Natur wird eine Trennung zwischen den beiden die Krankheit 
ursächlich bestimmenden Faktoren ‚‚primär-psychotisch“ und ‚‚-reaktiv“ 
zu erzielen versucht, wobei die Art der Behandlung (Insulin und Cardiazol bzw. 
Sexualhormon) wertvolle Dienste leistet. Denn die klinische Gruppe mit Über- 
wiegen des Psychose-Anteils (Manisch-depressives Irresein und depressive bzw. 
paranoide Späterkrankungen) reagiert besonders gut auf Insulin und Cardia- 
zol, während die Erkrankungen mit Überwiegen des reaktiven Anteils (Psycho- 
pathen, konstitutionell Depressive und abnorme Spätreaktionen) besser auf 
Sexualhormon ansprechen. In Diagnostik und Therapie sind jedoch Über- 
schneidungen möglich. Bei besonders schwer beeinflußbaren depressiven und 
paranoiden Späterkrankungen bietet eine kombinierte Insulin- bzw. Cardiazol- 
Sexualhormon-Behandlung Aussicht auf Erfolg. 

12 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


178 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Aussprache: K. Leonhard-Frankfurt, Ewald-Göttingen, Schlußwort: 
Bischof-Kutzenberg, Kehrer-Münster, Bürger-Leipzig. 


3. Andere Vorträge 


E. Ljungberg-Upsala: Elektrokardiographie bei Geisteskrank- 
heiten. 

Es wird vonElektrokardiographiebefunden von 90 Fällen von Geisteskrank- 
heiten berichtet, die Mehrzahl von ganz kurzer Krankheitsdauer. Die Ergeb- 
nisse sind aus folgender Tabelle ersichtlich. 


Tabelle 

= P-Zacke gespaltet in . .. . 2 22.2.2..2...78 Fällen 86,5% | 
E Senkung von ST in... De er BO 55 40 % 
a PQ verlängert in (0,18—0, 25 Sek.) . Br 0 22,3% 
3 

3 Myokardschädigung in . . ©... . . . 23 Fällen 25,5% 
© Fragliche Myokardschädigung WE a A 2 341 °% 
5 JOB .... EEE. 43,3% 
A 


Bei Geisteskranken, die erst ganz kurze Zeit krank gewesen sind, finden 
sich Veränderungen des Elektrokardiogramms in ziemlich großer Zahl. In 
Fällen mit längerer Krankheitsdauer findet Verf. ausgeprägte und statio- 
näre Veränderungen. Diese bestanden in Störung des Rhythmus, gespalteten 
P-Zacken, verlängerter PQ-Zeit, verbreitetem und gespaltetem QRS-Kom- 
plex, gesenktem ST-Kurventeil. Verf. hält sich für berechtigt, die Hypothese 
aufzustellen, daß ein Zusammenhang zwischen den geistigen Sym- 
ptomen als Reizerscheinung des zentralen Nervensystems und 
den kardialen Funktionsstörungen besteht derart, daß beide 
auf ein gemeinsames, ursächliches Prinzip zurückzuführen 
seien. 

Von besonderem Interesse schätzt Verf. die Tatsache, daß 7 Fälle eine nicht 
normale QT-Zeit zeigen und dabei keine Störung des Blutcalciumspiegels fest- 
zustellen war. — Irgendeine Deutung oder Erklärung der pathogenetischen 
Zusammenhänge auf Grund dieser Beobachtungen wird nicht gemacht. Ver- 
mutet wird aber, daß die Elektrokardiographie-Veränderungen als ein Aus- 
druck einer allgemeien toxischen Schädigung des Organismus zu verstehen sei. 


G. Schorsch-Leipzig: Die prämorbide Persönlichkeit bei Schizo- 
phrenen. 


Die durch eine Analyse von Handschriften gewonnenen Charakterbilder 
von prämorbiden Schizophrenen werden auf die Beschaffenheit der einzelnen 
Charakterseiten und auf die Proportionen, in denen diese zueinander stehen, 
angesehen. Es wird auf Auffälligkeiten im Entwicklungsgange, zumal während 
der Pubertät, auf graphologisch erkennbare, latent bleibende Vorläufer der 
seelischen Erkrankung und auf verschiedenartige Übergangsformen zwischen 
prämorbider Persönlichlichkeit und Psychose hingewiesen. Nachdem den 
verschiedenartigen Wurzeln gleichartig aussehender Verhaltensweisen wie des 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 179 


Autismus nachgegangen worden ist, wird die praktische Bedeutung der Methode 
für Diagnose, zumal Frühdiagnose und prognostische Schlüsse aus der Art der 
prämorbiden Persönlichkeit und ihrer Entwicklung betont. 


A. Leiter-Leipzig: Zur Vererbung von asozialen Charaktereigen- 
ı schaften. 

Auf Grund der mehrdimensionalen Betrachtungsweise nach Schröder wurde 
der Vererbung von Charaktereigenschaften bei 800 asozialen, schwererzieh- 
baren Kindern nachgegangen. Es besteht der Eindruck, daß die von ‚Schröder 
herausgestellten Charaktereigenschaften sich als Anlageeigenschaften sowohl 
ısoliert, als auch in den verschiedensten Verbindungen nachweisen lassen und 
vererbbar sind. Die Minusvarianten dieser Eigenschaften stellen in ihren ver- 

- schiedenartigsten Verbindungen und in ihren Wechselwirkungen aufeinander, 

die Grundlage der asozialen Verhaltensweisen dar. In der Verwandtschaft 
unseres Ausgangsmaterials fanden sich sehr viel mehr Äuffällige, asoziale 
Charaktere und Kriminelle als bei unauffälligen Kindern. Die Vererbung der 

- Gemütsarmut trat deutlich hervor. Von 300 grob gemütsarmen Kindern 
stammen 40% von einwandfrei gemütsarmen Eltern, von denen 19,3°, kriminell 
waren. Auffallend konstant vererbbar erschien weiterhin die heitere Grund- 

-stimmung der Hypomanischen bei den meisten charakterlich abartigen, hypo- 
manischen Kindern, die fast alle aus stark nivellierten Verhältnissen mit einer 
Kriminalitätsziffer von 16% stammten. Auffallende erbbiologische Beziehun- 
gen der charakterlich Abartigen zur Schizophrenie und zum manisch-depressi- 
ven Irresein fanden sich nicht. 


H. Selbach-Berlin-Buch: Beitrag zur Frage der präsenilen Myelo- 
pathien auf vaskulärer Basis. 


Selbach (Köln) berichtet zur Frage der gefäßbedingten präsenilen Myelo- 
pathien über klinische und pathologisch-anatomische Untersuchungen. Bei 

| einem 58-J ährigen kam es im Anschluß an starke Grippepneumonie in sechs 
Monaten unter starkem Allgemeinverfall zum Bilde einer kombiniertenSystem- 

` erkrankung mit spastischer Paraparese beider Beine und dort distal zunehmen- 
der Hypästhesie. Nach mancherlei differential-diagnostischen Erwägungen 
(u.a. auch perniciöse Anämie, Periarteriitis nodosa) wagte man lediglich die 
Diagnose: multilokuläre degenerative Prozesse im mittleren und unteren Teil 

‘ der Med. spin. Die mikroskopische Untersuchung ergab dortselbst eine allge- 
meine Hyalinose mit stellenweise starken lymphozytären Infiltraten in der 

Adventitia und einen ausgedehnten Markscheidenzerfall in den Hinter- und 
 Seitensträngen. Im Anschluß an Beobachtungen Kuttners 1929 wird angenom- 
men, daß es sich um gegenseitig bedingte Schädigungen handelt im Sinne einer 
eigenen Reaktionsweise des alternden Rückenmarkes auf anhaltende toxämi- 
sche Reize. 

Der Krankheitsfall zeigt, daß Hyalinose mit degenerativen Ausfallserschei- 
nungen der Nervensubstanz verbunden sein kann, so daß das Bild einer kom- 
binierten Systemerkrankung entsteht. 

Aussprache: ‚Scholz-München, Kehrer-Münster. Schlußwort: Selbach- 
Berlin-Buch. 


—— 


Jakob-Hamburg-Eilbecktal: Ein anatomisch und klinisch um- 
schriebener Typ der CO-Vergiftung. 
Vergleichende Untersuchungen eines eigenen Falles mit der diesbezüglichen 


12° 


180 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Kasuistik haben gezeigt, daß die tödlich endenden Fälle von Kohlenoxyd- 
vergiftung, die klinisch eindeutig durch einen intervallären Verlauf der cere- 
bralen Nacherkrankung gekennzeichnet waren, eine Besonderheit im patho- 
logisch-anatomischen Befund gegenüber anderen Verlaufsweisen aufwiesen. 
Es handelt es sich um jene zehn bisher bekanntgewordenen Fälle, in denen im 
Vordergrund des histopathologischen Befundes eine diffuse, mehr oder weniger 
hochgradige Entmarkung des Hemisphärenmarkes mit im Ausmaß etwa parallel 
gestaltetem Achsenzylinderzerfall, hochgradiger Ausstreuung zellgebundenen 
oder freien Fetts und hochgradiger Gliazellwucherung unter vorwiegendem 
Auftreten von gemästeter Glia. Auffallend ist dabei die Geringgradigkeit glia- 
faseriger Wucherung (Fibrillisationsstadium vom Astrocytentyp) und die fast 
fehlende oder geringe Ausprägung mesodermaler Beteiligung. 

Die Fälle von Grinker und der eigene Fall zeichnen sich den anderen gegen- 
über durch das fast völlige Fehlen von Körnchenzellen aus. Hier handelt es 
sich fast ausschließlich um einen fixen Abbautyp. Im Gegensatz zu den Be- 
funden bei den Todesfällen im Initialstadium (Blutungen, Gefäßstauungen. 
ischämisch veränderte Ganglienzellen), im Endstadium nach Jahren (ulegyri- 
sche Windungsveränderungen) und bei gewissen Fällen aus der Zwischenzeit 
(typische Erweichungen in Rinde, Stammganglien und Mark) handelt es sich 
hierbei um einen pathologisch-anatomischen Prozeß, der nicht, wie die eben- 
genannten, auf dem Boden funktioneller Gefäßlähmungen entstanden, sondern 
vermutlich toxischen Ursprungs zu denken ist. Daß nur ein kleiner Teil aller 
Fälle mit eindeutig intervallärer Verlaufsform — trotz gleicher Symptomatolo- 
gie und beträchtlicher Dauer der Nacherkrankung — tödlich endete, erklärt 
sich vielleicht aus der Möglichkeit einer Reversibilität dieser myelopathischen 
Veränderungen; die beobachtete mangelhafte Gliafaserwucherung und die 
geringfügige oder fehlende mesodermale Beteiligung könnten darauf hindeuten. 


K. Ohnsorge-Münster i. W.: Über einen vasomotorisch-psychischen 
Symptomenkomplex. 


In der westfälischen Bevölkerung ist eine eigenartige fleckförmige vaso- 
motorische, zumeist tiefdunkelrote, scharf begrenzte Rötung der seitlichen 
Gesichtspartien relativ häufig (Erwachsene 24%, Kinder 36%). Das Merk- 
mal besteht unabhängig von äußeren Reizen, ist auch während tiefen Schlafes 
nachweisbar. 


Gekoppelt mit der körperlichen Besonderheit ist eine mehr oder minder | 


starke Hemmung der gesamten Psyche, die vor allem bei Kontakt mit Umwelt 
auffällt. Bei körperlicher oder seelischer Belastung treten Symptome der 
Spannung hinzu. 

Das tiefere Wesen der Gesamtauffälligkeit ist noch ungeklärt. Am wahr- 
scheinlichsten erscheint ein übergeordneter endokriner oder stoffwechsel- 
mäßiger Faktor. Lokalisatorisch kommt vor allem die hypothalamische Region 
in Frage. — Da alle Merkmalsträger im kapillarmikroskopischen Bilde deut- 
liche Vasoneurose-Formen zeigen, die nach Gänssle z. B. auch bei reiner Fleisch- 
ernährung aus normalen Kapillaren entstehen können, ist auch noch nachzu- 
prüfen, ob eine Störung des Eiweiß-Stoffwechsels vorliegt. — Da der Sympto- 
menkomplex landsmannschaftlich gesehen gehäuft zu beobachten ist, ist außer- 
dem an rassenbiologische Bedingtheit oder klimatologische oder lokale Er- 
nährungsverhältnisse zu denken. Schließlich kann die Vasoneurose gemein- 
sam mit dem Symptom der Gesichtsröte und der psychischen Hemmung auf 
einen zentral-steuernden Faktor zurückzuführen sein. 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 181 


Der gesamte Symptomenkomplex wurde als vegetative Psychotonie be- 
zeichnet. 
Aussprache: Zucker-Heidelberg, Schlußwort: Ohnsorge-Münster-W. 


II. Gemeinsame Sitzung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 
und der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin am 27. März 1989 


Eröffnungsansprachen von Stepp-München und Pette-Hamburg. 

Begrüßungsansprachen: Oberregierungs- und Medizinalrat Dr. Engel- 
Berlin im Namen des Reichsinnenministeriums. 

Dr. Pütz-München im Namen der Reichsärzteführung. 

Vorsitz: Rüdin-München. 


4. Berichte: Arteriosklerose 


Berichterstatter: L. Aschoff-Freiburg-Br. 


Da der Name Arteriosklerose nur auf die Arterien zugeschnitten ist, muß 
er durch den richtigen Namen der Atherosklerose ersetzt werden. Wir Patho- 
logen haben uns mehr und mehr dem Vorschlag von Marchand angeschlossen 
und sprechen heute von einer Atherosklerose nicht nur des arteriellen Systems, 
sondern auch des Herzens, des Kapillargebietes und des Venen- und Lymph- 
gefäßsystems. 

Die Atherosklerose ist eine Zivilisations- oder Alterskrankheit, welche auf 
die Ausweitung aller arteriellen Gefäße, das gewöhnliche Altersgebrechen, 
wenigstens in unseren Breiten, so gut wie regelmäßig aufgepfropft ist. Sie hat 
aber ebensowenig wie die durch das Alter bedingte Überdehnung des ganzen 
arteriellen Gefäßsystems eine Rückwirkung auf das Herz und bedingt in keiner 
Weise eine Vergrößerung desselben. 

Wenn eine solche Vergrößerung des Herzens besteht, so haben wir es in der 
Regel mit einer Hochdruckkrankheit zu tun, die von selbst entstanden ist oder 
durch eine Nierenerkrankung ausgelöst wird. 

Von einer solchen Hochdruckkrankheit (Hypertonie) sind die spastischen 
Gefäßerkrankungen, wie wir sie z.B. bei der Raynaudschen Krankheit vor 
uns haben, und die infektiösen Erkrankungen der Arterien, wie wir sie z.B. 
in der Syphilis vor uns sehen, zu trennen. Eine Entscheidung, welche Krank- 
heit der Arterien vorliegt, ist mit Sicherheit erst bei der Leichenöffnung zu 
fällen, weshalb auch alle klinischen Beobachtungen, welche nicht durch die 
Leichenöffnung kontrolliert werden, unsicher sind. Darauf ist die Meinung 
der Kliniker von der Nicht-Übereinstimmung zwischen den klinischen und 
pathologisch-anatomischen Veränderungen an den Arterien, wenigstens zum 
Teil, zurückzuführen. Der pathologische Anatom stellt schon die Diagnose der 
Atherosklerose der großen Arterien, auch wenn noch keine klinischen Folge- 
erscheinungen, etwa am Herzen wegen Atherosklerose der Kranzadergefäße 
oder am Gehirn wegen Atherosklerose der Gehirngefäße oder an den unteren 
Extremitäten wegen Atherosklerose der Beingefäße eingetreten sind. 

Bei dieser, während des ganzen Lebens, und natürlich besonders in den 
höheren Altersklassen, hervortretenden Erkrankung der Arterien ist die von 
dem pathologischen Anatom gefundene Formveränderung die wichtigste. 
Das in die Augen fallende Bild, welches vor allem bei älteren Personen deut- 
lich wird, ist die blutförmige Verdickung in der Innenhaut der arteriellen Ge- 
fäße. Sie beruht, wie schon die alten Autoren gewußt haben und die neueren 


182 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Untersucher durch Experimente bestätigen konnten, auf einer Ablagerung 
fettartiger Substanzen. Die wichtige Frage, ob diese fettartigen Substanzen 
zuerst in den Zellen der Innenhaut der Arterien oder in der Grundsubstanz 
abgelagert werden, ist je nach der Provinz des untersuchten Arteriensystems 
verschieden zu beantworten. Die Regel ist, daß die Hauptablagerung in der 
Zwischensubstanz erfolgt. Die Tatsache, daß die Herdbildung immer erst in 
der Tiefe beginnt und allmählich an die Oberfläche der Innenhaut emporsteigt, 
wird durch die physikalisch-chemischen Prozesse, die sich besonders in der 
Tiefe an dem elastischen Grenzstreifen zwischen der Innen- und der Mittelhaut 
der Arterien abspielen, verständlich. Hier findet in erster Linie die Absiebung 
der fettartigen Substanzen statt. Von hier aus steigt der Prozeß allmählich 
zur Oberfläche empor. Diese Ablagerung der Fettsubstanzen beginnt schon in 
der Jugend, in der aufsteigenden Periode des Gefäßlebens. Dieser Prozeß ist 
aber noch rückbildungsfähig. Wenn jedoch der Mensch den Höhepunkt des 
Gefäßlebens erreicht hat oder sich gar in der absteigenden Periode desselben 
befindet, ist der ganze Prozeß nicht mehr rückbildungsfähig, sondern schreitet 
weiter und weiter fort. Schließlich kommt es dann zu einer Erstickung der 
Gewebe, der sog. Nekrose, unter der Anreicherung der Fettsubstanzen. Dann 
tritt der Zerfall innerhalb des Herdes ein, und es kommt gar nicht so selten 
zu kraterförmigen Geschwüren, was wir dann als Atheromatose bezeichnen. 
Der Inhalt dieser Geschwüre ist nämlich ein Grützbrei, wie er auch bei den 
Grützbeuteln der Haut (Atheromen) zu beobachten ist; dort besteht er im 
wesentlichen aus Fetten und Cholesterinkristallen. Ganz ähnlich sind auch die 
Zerfallprodukte in den Herden der Innenhaut der arteriellen Gefäße zusammen- 
gesetzt. 

Allmählich kommt es nun zu einer Kalkablagerung in den verfetteten Her- 
den. Die ursprünglich gelben Herde in der Innenhaut sind durch Binde- 
gewebswucherungen der Nachbarschaft und der bedeckenden Innenhaut all- 
mählich weiß geworden und werden jetzt durch die Ablagerung der Kalksalze 
mehr oder weniger in ein Honiggelb überführt. Damit entwickelt sich aus dem 
Bilde der Atherose diejenige Veränderung zur vollen Höhe, die wir auch als 
Atherosklerose bezeichnen. 

Freilich gibt es neben den Kalkablagerungen in der Innenhaut der arteriellen 
Gefäße auch noch eine Kalkablagerung in der Mittelhaut derselben. Diese 
letztere Kalkablagerung kommt hauptsächlich an den Beingefäßen zustande. 
Sie ist gelegentlich als besondere Veränderung beschrieben worden, gehört 
aber m. E. zu dem Bilde der Atherosklerose. Warum nun in den arteriellen 
Gefäßen der Beine solche Kalkablagerung gerade in der Mittelhaut stattfindet. 
wissen wir nicht. Wahrscheinlich hat die Druckverschiebung des Blutes bei 
der aufrechten Stellung des Menschen irgend etwas damit zu tun. 

Wenn wir so die Ablagerungen der fettigen und der kalkigen Massen als 
das Hauptmerkmal der Atherosklerose bezeichnen müssen, und die Binde- 
gewebswucherung der Innenhaut nur als Folgeerscheinung der Ablagerung 
der fettigen Substanzen in derselben bezeichnen dürfen, so erhebt sich zwei- 
tens die Frage, woher denn diese fettigen und kalkigen Massen, die in den 
verschiedenen Schichten der arteriellen Gefäße abgelagert werden, stammen’ 
Auch hier stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Die einen führen alle diese 
Veränderungen auf die kapillaren Ernährungsgefäße der Arterienwand (Vasa 
vasorum) zurück. Die andere jetzt herrschende Meinung geht umgekehrt 
dahin, daß nur der Blutstrom innerhalb der Gefäße als Quelle der Ablagerun- 
gen in Betracht kommt. Für diese Anschauung spricht der Umstand, daß an 


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Ar 
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Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 183 


den kleineren und kleinsten Arterien, an denen wir auch diese Ablagerung 
beobachten, gar keine kapillären Ernährungsgefäße gefunden werden, also 
die Ernährung der Gefäßwand nur von dem im Innern des Gefäßrohres fließen- 
den Blutstrom ausgehen kann. Somit habe ich der Überzeugung Ausdruck 
gegeben, daß die Ablagerungen der fettigen und kalkigen Massen nur von 
dem Blutstrom aus direkt erfolgen könnten, daß also ein Imbitionsprozeß 
vorliegt, wie ihn Virchow schon für die Entstehung der Atherosklerose oder 
der Endarteritis deformans angenommen hat. 

Unter welchen Bedingungen nun diese Ablagerungen aus dem Blutstrom 
zustande kommen, ist sehr verschieden zu beantworten. Wir unterscheiden 
vor allem innere, im Körper selbst liegende Bedingungen von den äußeren, 
d. h. von außen auf den Körper wirkenden. Zu den inneren Bedingungen zählen 
wir vor allem die im Chemismus und in den physikalischen Kräften des Blut- 
stromes gelegenen Faktoren. Da der Chemismus des Blutes aus den verschieden- 
sten Gründen geändert werden kann, so z. B. von den Drüsen mit innerer 
Sekretion oder von dem Nervensystem her, so spielen diese Fragen in die 
chemische Zusammensetzung des Blutstromes mit hinein. Vielleicht spielt das 
endokrine System bei der Entwicklung der Pubertätsatherosklerose eine wich- 
tige Rolle. Auch das Nervensystem muß bei der Entwicklung der atheromatösen 
Herde beteiligt sein, da alle erfahrenen Ärzte die Abhängigkeit der Athero- 
sklerose von einer starken geistigen Arbeit betonen. 

Daneben aber ist der physikalische Faktor, wie er mit den Pulswellen und 
der Erschütterung durch den vorbeifließenden Blutstrom gegeben ist, wichtig. 
So ist bekannt, daß die Lokalisation der atherosklerotischen Herde besonders 
an den Teilungsstellen der arteriellen Gefäße häufig ist, ein Umstand, der nur 
durch die physikalische Erschütterung der Gefäßwandungen und durch den 
verstärkten Imbibitionsstrom, der eine Folge des physikalischen Druckes ist, 
erklärt werden kann. 

Neben diesen inneren kommen auch die äußeren Faktoren, besonders die 
der wechselnden Ernährung, in Betracht. Gerade in der Ernährung unter- 
scheiden sich ja im wesentlichen die Völker und die Rassen. Je mehr ein Volk 
Fette und Eiweißkörper zu sich nimmt, um so stärker wirkt sich auch die Athe- 
rosklerose aus. Jedenfalls ist es durch die Statistik bekannt geworden, daß bei 
denjenigen Völkern, welche mehr vegetarisch leben, die Atherosklerose im 
höheren Alter geringer ist, wenn sie auch nicht vollkommen fehlt. Daß der 
Chemismus des Blutes, besonders der Gehalt an Fettsubstanzen, von der 
Ernährung abhängig ist, wird durch die Statistik sichergestellt. Aber die Zu- 
sammenhänge im einzelnen entziehen sich noch unserer Kenntnis. Dazu kommt 
noch, daß wir bei dem Chemismus des Blutes immer die Drüsen mit innerer 
Sekretion und das denselben übergeordnete Nervensystem in Betracht ziehen 
müssen. Die Frage nach dem Einfluß der Ernährung auf den Chemismus des 
Blutes ist also nicht so einfach zu beantworten. Ganz bekannt ist ja die Er- 
fahrung, daß bei denjenigen Personen, die an der Zuckerharnruhr erkrankt. 
sind, eine starke Fettbelastung des Blutplasmas und eine stärkere Entwick- 
lung der Atherosklerose zustande kommt. 

Wahrscheinlich hängt der Chemismus des Blutes auch von der Höhenlage 


ı des Ortes ab, wenigstens in gewisser Beziehung. Je höher die Lage ist, desto 
. eher kommt eine Atherosklerose zustande. Dabei spielt auch die Belichtung 


eine entscheidende Rolle. Also ist der klimatische Faktor noch zu berücksichti- 
gen. Auch dafür lassen sich die verschiedensten Beispiele anführen. 
Mit den Nahrungsmitteln kommen aber auch die Vitamine, d.h. die Er- 


184 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


gänzungsstoffe der Nahrung, in Betracht. Von ihnen sind wieder die Sekrete | 


der Drüsen mit innerer Sekretion, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. 
abhängig. Wenn man also die Bedeutung der Vitamine würdigen will, muß 
man auch diejenigen der Hormone, d.h. der Absonderungen der Drüsen mit 
innerer Sekretion, berücksichtigen. Über die Bedeutung der Vitamine und 
Hormone für die allmähliche Entwicklung der Atherosklerose ist viel experi- 
mentell gearbeitet worden. Da nun diese Versuche hauptsächlich an Versuchs- 
tieren vorgenommen worden sind und der Chemismus des Tierblutes sich von 
demjenigen des Menschenblutes sehr wesentlich unterscheidet, sind die Ergeb- 
nisse nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar. 


Endlich müssen noch die verschiedenen Gifte und Medikamente betrachtet 
werden. Von den Genußgiften ist wohl nur der übermäßige Abusus von Nikotin 
als schädlich für die Gefäße und als begünstigender Faktor für die Entwick- 
lung der Atherosklerose zu bezeichnen. Dafür spricht wenigstens die ärztliche 


Erfahrung. Dagegen läßt sich für die Beeinflussung der Atherosklerose durch 


den Alkohol bein Beweis erbringen. Auch für das Blei ist im Gegensatz zu 
früheren Ansichten kein entscheidendes Urteil möglich. Was endlich das Jod 
und den Knoblauch als hemmende Faktoren für die Entwicklung der Athero- 
sklerose anbetrifft, so ist das erstere vor allem mit der Schilddrüse in Beziehung 
gesetzt worden. Ein wirklicher Einfluß des Jods und auch des Knoblauchs auf 
den Blutchemismus ist aber noch nicht sichergestellt. 


Jedenfalls spielt neben den inneren und äußeren Faktoren eine große Rolle 
die Erblichkeitsfrage. Bei den vielfachen Bedingungen, welche mit zunehmen- 
dem Alter zur Atherosklerose führen, ist es allerdings sehr schwierig, eine Ab- 
hängigkeit derselben von dem Erblichkeitsapparat aufzuzeigen. Nur dort, 


wo die Atherosklerose sehr früh im Leben eintritt und wo sie bei verschiedenen . 


Generationen dasselbe Organ befällt, ist die Erblichkeit sozusagen bewiesen. 
Daß bei allen solchen Beobachtungen auch die Gesamtkonstitution, ob voll- 
blütig oder nicht, berücksichtigt werden muß, geht aus den Statistiken der 
Lebensversicherungsgesellschaften hervor. Nach denselben sind die voll- 
blütigen Menschen der Gefahr der Atherosklerose und ihrer Folgen besonders 
ausgesetzt. Vielleicht liegt das am Stoffwechsel und der Ausnutzung, besonders 
der fettigen Substanzen, welche bei den vollblütigen Menschen in anderer Form 
abgelagert werden als bei den schlankgebauten. 


Schließlich möchte ich mich kurz der therapeutischen Behandlung der Athe- 
rosklerose zuwenden. Während die Atherose, die beim Säugling und in der 
Pubertät auftritt, ein reversibler Prozeß ist, müssen die plattenartigen Erhe- 
bungen der eigentlichen Atherosklerose, die besonders im höheren Alter sicht- 
bar werden, als nicht reversibel bezeichnet werden. Es gibt also kein Mittel. 
welches die atherosklerotischen Platten wirklich auflöst. Es wird sich also nur 
um die Vermeidung einer stärkeren Entwicklung der atherosklerotischen 
Platten in höherem Alter handeln. Die Prophylaxe spielt eine größere Rolle 
als die Therapie. Da die Prophylaxe von allen möglichen Faktoren, den chemi- 
schen wie den physikalischen des Blutstromes, der Ernährung, dem Klima, 
den Vitaminen und Hormonen — und wie die Faktoren alle heißen mögen — 


beeinflußt wird, so ist auch die Prophylaxe gegen diese Alterskrankheit bei dem 


modernen Menschen sehr erschwert. Nur wenn sich die ganze Zivilisation ändert. 
ist auch eine Änderung in der Entwicklung der Atherosklerose zu erhoffen. 
So lange diese Änderung nicht eintritt, wird es bei der Entwicklung der not- 
wendigen Alterskrankheit, der Atherosklerose bleiben. 


7 „nn 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 185 


Berichterstatter: W. Frey-Bern. 


Die Erkennung der Arteriosklerose beim Menschen hat in den letzten 
Jahren wichtige Fortschritte gemacht. Mittels der Kymographie läßt sich 
nicht nur eine Herabsetzung der pulsatorischen Amplitude an der Aorta fest- 
stellen, die einer Steigerung des elastischen Widerstands parallel geht, sondern 
bei der Aufnahme von Querkymogrammen auch eine eigentümliche Aufwärts- 
bewegung des relativ starren Arcus im Moment der Anspannungszeit des 
Herzens. Von größtem Interesse ist aber vor allem der Ausbau der Verfahren, 
welche es gestatten, den elastischen Widerstand der Gefäße zu bestimmen und 
zu gleicher Zeit das Windkesselsystem von dem Abschnitt der muskulären 
Arterien und demjenigen der Arteriolen resp. kleinen Arterien abzutrennen. 
Die Physiologie (O. Frank, Wezler und Böger, Brömser) stellt uns gut durch- 
gearbeitete Methoden zur Verfügung, deren Anwendung technisch auf keine 
größern Schrwierigkeiten stößt. Mittels des Valsalvaschen Versuchs läßt sich 
der elastische Widerstand der thorakalen Aorta prüfen, bei fortgeschrittenen 
Arteriosklerosen tritt die Entspannung mit Abnahme des elastischen Wider- 
stands im aortalen Gebiet (Vergrößerung des Quotienten @’/ar) nicht ein. Das 
Windkesselvolumen wird häufig vergrößert gefunden und eine Verstärkung 
des elastischen Widerstands im Bereich des Windkessels viel häufiger, als man 
das nach dem Verhalten des Blutdrucks erwartet hätte. Die von Wezler und 
Böger auf Grund der vorliegenden Daten vorgenommene Unterscheidung 
eines Minutenvolumenhochdrucks, Elastizitätshochdrucks und eines Hoch- 
drucks durch erhöhten peripheren Strömungswiderstand ist für die Klinik 
von größtem Interesse. Untersuchungen von Dr. Steinmann bestätigen die 
Richtigkeit und praktische Brauchbarkeit dieser Systematisierung. Neben den 
3 Formen von Blutdrucksteigerung dürfte es noch eine 4. Form geben mit 
Hypoplasie des arteriellen Windkesselsystems. 

Die Statistik läßt in bezug auf die Pathogenese den Erbfaktor immer 
deutlicher zum Vorschein kommen. Der Einfluß der Ernährungsweise ist immer 
noch unsicher, dasselbe ist zu sagen in bezug über das Tabakrauchen. Zwischen 
Alkoholismus und Arteriosklerose besteht kein Zusammenhang und ebenso 
wirken infektiöse Erkrankungen scheinbar nicht begünstigend. Experimentelle 
Untersuchungen von Dr. Schönholzer haben einige neue Gesichtspunkte er- 
geben. Eingriffe, welche die Durchblutung der Gefäßwand nachweislich hin- 
dern (Adrenalin, Hypertension nach Carotissinus-Denervierung, Rückgang 
der Oxydationen durch Kastration, Hypervitaminose D) führen zu einer 
Veränderung der Eiweißstruktur, einer verstärkten Fällbarkeit der Eiweiß- 
stoffe in der arteriellen Gefäßwand. Weiterhin ist nachweisbar, daß diese kolloi- 
dale Metaplasie, mit vermehrter Anwesenheit von globulinartigen Stoffen sowie 
von mukoider Substanz, die Absorption von Kalk und Cholesterin begünstigt. 
Wir haben es offenbar bei der Arteriosklerose mit einem Prozeß zu tun, der in 
3 Etappen verläuft: Das Primäre ist eine auf verschiedene Arten zustande- 
gekommene Ischämie, daran schließt sich ein Stadium des kolloidalen Umbaus 
an, und schließlich kommt es bei derart veränderten Adsorptionsbedingungen 
zu abnorm starker Aufnahme von Kalk und Cholesterin. Bei der menschlichen 
Atherosklerose ist das mehr oder weniger frühzeitige Altern der Gefäßwand 
die Grundlage des ganzen Prozesses. Eine arterielle Blutdrucksteigerung kann 
das Leiden ihrerseits zur Entstehung bringen oder in seinem Fortschreiten 
begünstigen. Hormonale Correlationsstörungen scheinen sehr wesentlich zu 
sein, sind aber in ihrer Auswirkung noch schwer zu übersehen. Fraglich ist 
der Einfluß von Infektionen, der nervösen Überbeanspruchung der Gefäße 


186 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


und der Ernährung. Die experimentelle Adrenalin- Arteriosklerose ist ein Kunst- 
produkt und genau dasselbe ist zu sagen über die schweren Grade von Arterien- 
verkalkung bei Hypervitaminose D und der Lipoidanreicherung in den Gefäßen 
nach Erzeugung einer hochgradigen Hypercholesterinämie durch Verfütterung 
von Cholesterin. Beim Menschen dürften so schwere Störungen des Kalk- und 
Cholesterinstoffwechsels nicht vorkommen. Geringgradige Anomalien auf dem 
Gebiet des Kalk- und Lipoidumsatzes sind an sich bedeutungslos, zur Erzeu- 
gung einer Arteriosklerose könnten sie höchstens beitragen in Kombination 
mit andern die Durchblutung der Gefäße schädigenden Faktoren. 

Auf dem Gebiet der Prophylaxe sind diejenigen Maßnahmen am wichtig- 
sten, welche die Durchblutung der Organe und der Gefäße fördern und die 
verschiedenen Regulationsmechanismen, durch die sich das Gefäßsystem vor 
Überlastung schützt, trainieren. Den besten Schutz bietet die muskuläre Be- 
tätigung. Aufenthalt im Freien, Hautpflege, die Einwirkung von Wind und 
Wetter halten den ganzen Mechanismus der nervös-hormonalen Regulation in 
Gang, zur Aufrechterhaltung einer allgemein guten Durchblutung und einer 
normalen Durchströmung der Arterienwände selbst. Übung, Aktivierung sind 
die leitenden Gesichtspunkte. 

Im Gegensatz dazu verdient der behandlungsbedürftige Arterio- 
sklerotiker Schonung, Ruhe. Zur Beurteilung der vielen Medikamente und 
Drogen, mit denen der Markt überschwemmt wird, wird man von den neuen 
Methoden Gebrauch machen, die uns die Physiologie geschenkt hat. Es wird 
sich zeigen, ob man beim Menschen tatsächlich in der Lage ist, die Gewebs- 
struktur durch eine Korrektur hormonaler Dysfunktionen zu verbessern, durch 
Verabreichung von Stoffen und Anordnung von Maßnahmen, die die Durch- 
blutung und die Oxydationskraft der Gewebe fördern (Vitamine, Chlorophyll, 
Extrakte körpereigener Organe, Wärmeeinwirkung, Diathermie, Balneo- 
therapie) zu beeinflussen. Von Interesse ist die Kurzwellenbesendung der 
Carotissinusgegend beim Menschen zur Herabsetzung des arteriellen Drucks 
(Vannotti) und die eigentümliche Steigerung des Aufnahmevermögens des 
Serums für Cholesterin durch Artischokenextrakt (Loeper, Tixier). 


2. Vorträge zu den Berichten 


Bürger-Leipzig: Die chemischen Altersveränderungen an Ge- 
fäßen. 
Bericht nicht eingegangen. 


Ch. J. Keller-Leipzig: Die Regelung der Blutversorgung des Ge- 
hirnes. 

Die anatomischen Voraussetzungen für eine lokale Eigenregulation der 
Gehirndurchblutung sind durch den sicheren Nachweis der cerebralen Gefäß- 
nerven und -Anastamosen gegeben. Auch die Lage der Gehirngefäße zu benach- 
barten Strombahnen ermöglicht örtliche Umstellungen ohne Beteiligung des 
Gesamtkreislaufes. 

Die Aufgabe des Gehirnkreistaufes ist die nutritive Versorgung der ner- 
vösen Zentralorgane. Ihre hohe Empfindlichkeit gegen Ernährungsstörungen 
fordert eine stetige optimale Blutversorgung. Die Regulierung erfolgt jedoch. 
wie sich am Beispiel des leichten Kreislaufschockes zeigen läßt, nicht immer 
druckpassiv. Maßgebend ist in erster Linie das durch die Herzarbeit bedingte 
Blutangebot. 


|! 


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Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 187 


Die Ruhedurchblutung des Gehirns ist verhältnismäßig hoch. Sie geht meist 
mit den Blutdruckschwankungen parallel. Es kommt aber auch unter physio- 
logischen Bedingungen nicht selten ein gegensätzliches Verhalten vor. 

Hämodynamisch betrachtet spielt sich die Gehirndurchblutung im wesent- 
lichen in Form einer Pumpwirkung ab, bei der der Druckausgleich in erster 


. Linie über das innere Hirnmilieu erfolgt. Physikalische Reize wie z. B. intra- 


Es 


-~ . 


cerebraler Druck, Zentrifugalkräfte, Wärme, Kälte und elektrische Gefäßreize 
können starke lokale und auch allgemeine Durchblutungsänderungen bedingen. 

Sympathicusreizung führt zu einer Konstriktion und seine Ausschaltung zur 
Dilatation der Gehirngefäße. Der Vagus verhält sich gegensätzlich. Der Effekt 
tritt bei einseitiger Reizung bilateral ein. Zwischen äußerem und innerem 
Schädelkreislauf spielen sich Eigenreflexe ab. Der Sinusnerv hat die Verteilung 
des Blutes zwischen Körper- und Gehirnkreislauf zu regeln. Abgesehen von 
extremen Kreislaufverhältnissen ist letzterer dabei passiver Nutznießer der 
eintretenden Umstellungen. Das Ausmaß der durch nervösen Einfluß bedingten 
Anderung der Gehirndurchblutung ist unter physiologischen Bedingungen 
gering. Zur Kompensation lokaler Störungen scheinen die nervösen Mechanis- 
men von besonderer Bedeutung zu sein. 

Durch chemische, pharmakologische und hormonelle Einflüsse lassen sich 
am dGehirnkreislauf z. T. druckunabhängige Umstellungen erzielen. Das 
Acetylcholin bewirkt eine Mehrdurchblutung. Den gleichen Effekt hat Adrena- 
lin, doch muß hierbei eine konstriktorische Wirkung angenommen werden, die 


| passiv durchbrochen wird. Die Kohlensäure bedingt eine starke Durchblutungs- 


zunahme. Hierbei handelt es sich um einen wichtigen Stelbststeuerungsmecha- 
nismus. Als Überträger der CO, zum Vasomotoren- und Atemzentrum nimmt 
der Gehirnkreislauf auf lebenswichtige Kreislaufregulationen einen dominieren- 


. den Einfluß. Damit wird er selbst zu einem Steuerungsorgan des gesamten 


u 


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Kreislaufes. 


Bericht: Kreislauf und Nervensystem 


H. Spatz-Berlin-Buch: Pathologische Anatomie der Kreislauf- 
störungen des Gehirns. 


Was der pathologische Anatom am Leichentisch oder mit Hilfe des Mikro- 
skopes als Zustand nach dem Tode an den Gefäßen und am abhängigen Hirn- 
gewebe feststellt, sind Spuren von verwickelten Vorgängen, die sich über Jahr- 
zehnte vor der zum Tode führenden Katastrophe erstreckt haben. Der patho- 
logische Anatom geht diesen Spuren nach, um aus ihnen die Vorgänge, welche 
diese Spuren hinterlassen haben, zu rekonstruieren. Die Grundlage aller patho- 
genetischen Erörterungen aber ist eine zutreffende Charakterisierung der ana- 
tomischen Befunde. — Der Referent muß sich auf die Blutungen und Erwei- 
chungen bei organischen Erkrankungen der Ilirnarterien beschränken. Er 
macht im Gegensatz zur Ansicht von Ph. Schwartz mit Böhne und Hiller eine 
grundsätzliche Unterscheidung zwischen der apoplektischen Massenblutung 


‚ einerseits und der Erweichung einschließlich der blutigen Erweichung 


andererseits. Diese Unterscheidung ist auch für die Pathogenese und für die 


‚ klinische Betrachtung von Wichtigkeit. Soweit die Massenblutung mit dem 


genuinen Hochdruck im Zusammenhang steht, findet man bei ihr eine ganz 
bestimmte, nichtarteriosklerotische Erkrankung vorwiegend der kleineren 
intracerebralen Arterien (Zweige). Diese als Iyalinose bezeichnete eigen- 
artige Erkrankung befällt den ganzen Gefäßquerschnitt an engumschriebenen 


188 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Stellen und führt zu einer schweren Wandschädigung mit örtlichem Verlust 
der Elastizität, u. U. zur Bildung miliarer Aneurysmen. Diese Wandschädigung 
geht der Massenblutung voraus, welche in den Stammganglien infolge des 
größeren Querschnittes der Arterien eine große Ausdehnung nehmen kann, 
wobei oft Durchbruch in den Ventrikel oder in die äußeren Liquorräume folgt. 
Dagegen sind dieselben Blutungen aus den kleinen Rindengefäßen durch- 
schnittlich nur von Stecknadelkopfgröße. Diese kleinen Massenblutungen 
sind aber für das Studium der zugrundeliegenden Gefäßveränderungen viel 
geeigneter als die großen. Dabei man kann feststellen, daß der Massenblutung 
im Gegensatz zu der Vorstellung von Rosenblath keine Erweichung voraus- 
geht. Das vorher nicht geschädigte Hirngewebe wird verdrängt. Dagegen gehen 
bei der Erweichung bestimmte Versorgungsgebiete durch Nekrose zugrunde. 
Wenn es nachträglich zu Diapedesisblutung in die graue Substanz eines solchen 
nekrotischen Bezirkes kommt, entsteht als Abart die blutige Erweichung 
(= Infarkt). In beiden Fällen ist ein ganz bestimmtes arterielles Versorgungs- 
gebiet von der Sauerstoffzufuhr abgesperrt gewesen (durch Embolie oder 
Thrombose). Angiospasmen müssen hier nicht vorausgegangen sein; Angio- 
spasmen werden dagegen vom Referenten beim Zustandekommen der ring- 
förmigen Wandschädigung der zu Massenblutung führenden Hyalinose in 
Betracht gezogen. Massenblutung und Erweichung lassen sich in allen drei 
Stadien unterscheiden. Die häufigste Vorbedingung der Erweichung ist die 
Arteriosklerose, welche die basalen Abschnitte der extracerebralen Gefäße 
(Äste) bevorzugt. Unter den ursächlichen Faktoren der Arteriosklerose, die 
von den senilen Gefäßveränderungen abgetrennt wird, spielt wieder der Hoch- 
druck eine besondere, nicht alleinige Rolle. Die Verlaufsform des Hochdruckes 
ist hierbei aber eine andere als bei der Entstehung der zur Massenblutung 
führenden Hyalinose. Das durchschnittliche Todesalter liegt bei den Massen- 
blutungen im 5., bei den Erweichungen im 6. Jahrzehnt. — Von anderen Er- 
krankungen der Hirngefäße wird die Thrombo-Endarteriitis obliterans (v. Wini- 
warter- Buerger) erwähnt. Diese führt im Gehirn — gleichzeitig mit Erscheinun- 
gen an der Peripherie oder offenbar auch ohne solche — zu charakteristischen 
Veränderungen an distalen Abschnitten der extracerebralen Arterien. Im Ge- 
hirngewebe findet sich dann das (auch bei anderen Kreislaufstörungen vor- 
kommende) Bild der nicht seltenen ‚‚granulären Atrophie der Großhirnrinde‘“. 
Man darf annehmen, daß den organischen Veränderungen oft 
längere Zeit funktionelle vorangehen. Für die Klärung dieser 
Frage ist, wie gezeigt wird, klinische Beobachtung und ana- 
tomische Untersuchung der Gefäße des Augenhintergrundes 
wichtig. Zu eigenartigen Veränderungen im Hirngewebe kommt es, wenn die 
Blutsperre nur sehr kurz angedauert hat oder wenn sie unvollständig war 
(Hypoxämie). In diesen Fällen verhalten sich verschiedene Teile des Gehirns 
verschieden, ebenso wie die einzelnen Gewebsbestandteile eine verschiedene 
Sauerstoffbedürftigkeit verraten. — Nach der Todesursachenstatistik 
des Deutschen Reiches von 1934 machten ‚„Hirnblutung, Gehirn- 
thrombose oder -embolie“ 8,25%, der gesamten Todesursachen 
und 71%, der Todesfälle wegen „Krankheiten des Zentralnerven- 
systems und der Sinnesorgane“ aus. 'Die Arteriosklerose ist 
dabei noch nicht mitgerechnet. Die Kreislaufstörungen des 
(rehirns stellen also ein ernstes sozialpolitisches Problem dar. 


Berichterstatter: IWWestphal-Hannover: Die Klinik der Kreislauf- 
störungen des Gehirns vom Standpunkt der inneren Medizin 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 189 


Bericht nicht eingegangen. 


Berichterstatter: Bostroem-Königsberg i. Pr.: Die Klinik der Kreis- 


ıufstörungen des Gehirns vom Standpunkt der Neurologie und 
sychiatrie. 


Die klinischen Symptome der Kreislaufstörungen, seien es neurologische 
der psychiatrische, hängen nicht immer oder doch nicht allein von der Be- 
„nderheit der Erkrankung ab, die das Gehirn ergriffen hat, sondern auch von 
er Art, wie sich die Kreislaufstörung entwickelt, von dem Stadium, in dem 
ie sich befindet, ferner von der Frage, ob sie Hirnherde hervorruft, ob diese 
roßB oder klein, isoliert oder multipel sind, an welcher Stelle sie sitzen und 
chließBlich auch davon, welche Persönlichkeit betroffen ist. Neurologisch relativ 
infach liegen die Verhältnisse bei den isolierten Spontanblutungen, auf deren 
"erschiedenartige neurologische Folgeerscheinungen etwas näher eingegangen 
vird. Immerhin ist auch hier die Symptomatologie nicht einfach ‚‚neurolo- 
sisch“; im akuten Stadium finden wir vielmehr Bewußtlosigkeit oder Bewußt- 
seinstrübungen. Hier handelt es sich nicht um die unmittelbare Wirkung des 
Hirnherdes, sondern um eine Begleiterscheinung seiner Entstehung.Es ist näm- 
lich ein Unterschied zwischen der Wirkung eines Blutungsherdes in ‚‚statu 
nascendi“ und den Folgen seines bloßen Vorhandenseins; so können z.B. 
epileptische Anfälle auftreten bei der Entstehung einer Hirnblutung; sie wer- 


den aber so gut wie nie verursacht durch einen bereits länger vorhandenen 
Blutungsherd. 


Mit Rücksicht auf die langsame Entstehung sollte man erwarten, bei den 
Thrombosen der Gehirngefäße weniger allgemeine bzw. psychische Erschei- 
nungen zu finden als neurologische. Das trifft bei den größeren Erweichungen 
auch zu. Mit Rücksicht auf die hier öfter als bei den Blutungen vorkommende 
Lokalisation an der Hirnrinde sehen wir hier Monoplegien, Aphasien, Apraxien 
usw. Häufiger sind aber die kleineren und ganz kleinen, meist multipel und 
in beiden Hemisphären auftretenden Herdchen, die als besonders charakteri- 
stische Bilder die Pseudobulbärparalyse und die arteriosklerotische Muskel- 
starre hervorrufen. Daneben und unabhängig von solchen Syndromen sehen 

wir auch psychische Erscheinungen, die sich zum Unterschied von den insult- 
artigen Kreislaufstörungen weniger in Bewußtseinsstörungen, als vielmehr in 
allmählich zunehmenden Defektsyiınptomen äußern. 


Symptomatologisch ähnlich den arteriosklerotischen Thrombosen, nur 
meist noch langsamer in der Entwicklung, ist die Thromboendangiitis obliterans. 
Kurz erwähnt wird auch die cerebrale Form der Periarteriitis nodosa. 

Nun entstehen Blutungs- und Erweichungsherde oft nicht in bis dahin 
intakten Gehirnen, und so können sich neurologische Herderscheinungen u. U. 
zu bereits vorhandenen psychischen Störungen hinzuaddieren, oder, was 
noch häufiger ist, sich unentwirrbar so miteinander verschmelzen, daß es 
schwierig ist, hirnpathologische Symptomenkomplexe aus dem scheinbaren 
Wust von Abbausymptomen herauszuschälen. Hinzu kommt, daß sich im Laufe 
des Fortschreitens der Erkrankung auch die Einzelsymptome ändern, sich von 
zunächst scheinbar harmlosen ‚‚Kleinsymptomen‘“ zu schweren organischen 
Ausfallserscheinungen verdichten können, wobei die Grenzen zwischen neuro- 
logischen und psychischen Erscheinungen sich oft völlig verwischen; dies laßt 
sich z. B. an der Entwicklung der emotionellen Inkontinenz zum herdbedingten 
Zwangsweinen zeigen. 


190 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Für die affektive Gesamtlage des Hirnarteriosklerotikers ist kennzeichnen 
die Vermischung von verständlich reaktiven Bildern mit organischen Affekt- 
störungen, vielfach noch gefärbt von den Besonderheiten der betroffenen Per- 


sönlichkeit. Die Persönlichkeitsreste verlieren an Bedeutung, je mehr die | 


Defekterscheinungen sich entwickeln. Diese zeichnen sich auf der Höhe der 
Erkrankung vor allem durch die Merkschwäche aus, zu der sich noch die Demenz 
hinzugesellt; aber auch hier können robuste Persönlichkeiten — meist pyknisch- 
syntone Konstitutionen — dem Verfall lange widerstehen. 

Während bei der Arteriosklerose des Gehirns und bei den verwandten Krank- 
heitszuständen, wie Thromboendangiitis usw. das grob Organische und damit 
die Neigung zur Defektbildung ganz im Vordergrund steht, sind etwaige psych!:- 
sche Veränderungen bei der reinen Hypertonie ohne Schlaganfall ganz anderer 
Art; die Tendenz zum Abbau fehlt hier, auch die emotionelle Inkontinenz ist 
keineswegs charakteristisch für die Erkrankung; es brauchen überhaupt 
keine psychischen Störungen aufzutreten: wenn sie vorkommen, se ist im 
allgemeinen nicht der Hochdruck als solcher, sondern die Blutdruckschwan- 
kungen und wohl auch angiospastische Zustände dafür verantwortlich zu 
machen. Dies sind offenbar relativ wenig eingreifende Vorgänge, die nur dann 
ernstere Erscheinungen psychischer Art hervorrufen, wenn eine gewisse Bereit- 
schaft in der Persönlichkeit vorhanden ist. Es entstehen dann Psychosen, die 
ganz dem exogenen Prädilektionstyp folgen und dabei besonders die bewegten 
produktiven aktiven Syndrome bevorzugen; sie bedeuten im Augenblick stets 
eine Gefahr, ist diese aber überwunden, so ist die Prognose gut und psychische 
Resterscheinungen pflegen nicht zu bleiben. Die Neigung zu Angiospasmen im 
Gehirn schafft auch die Vorbedingungen für das Auftreten epileptischer Anfälle, 
n. b. wohl ebenfalls nicht, ohne eine anlagemäßig gegebene Krampfbereitschaft. 
Ähnliche Störungen wie bei der Hypertonie beobachtet man gelegentlich bei 
der Geisböckschen Form der Polycythämie. Kurz erwähnt werden dann noch 
die Migränedämmerzustände, die klimakterischen Zustände und die seltenen 
psychotischen Störungen bei allgemeiner Kreislaufschwäche, die zur Beein- 
trächtigung der Gehirnversorgung und damit gelegentlich zu psvchotischen 
Episoden führen kann; eine Besserung des Kreislaufes bringt auch ein Ab- 
klingen der Psychose mit sich. Als Gegenstück zur Hypertonie wird zum Schluß 
noch kurz auf die Besonderheiten der hypotonen Zustände (konstitutionelle 
Hypotonie, Addisonsche und Simmondsche Krankheit) eingegangen und hier 
die psychische Adynamie und Mangel an Regsamkeit hervorgehoben. 


Berichterstatter: J. H. Schultz-Berlin: Psyche und Kreislauf. 


Das Psychische als (rätselhaftes) Identitäts-Korrelat der höheren 
Nervenzentren ist in relativer Autonomieim ganzheitlich geschlossenen Organis- 
mus biologische Höchstfunktion; es untersteht dem Vitalzirkel, der unter krank- 
haften Bedingungen zum Circulus vitiosus werden kann; es ist „erlebte 
Hirnfunktion“, medizinische Psychologie ist dynamisch funktio- 
nelle Hirnpsychologie und -pathologie in äußerster Verfassung, 
Psychotherapie, Hirnfunktionsumstellung. 

Grundsätzlich ist die Entstehungstruktueller Kreislaufschäden bei 
Gesunden durch psychische Momente (zentrale neurovegetative Stö- 
rungen) möglich, wenn sie auch praktisch kaum rein vorkommen mag (Delius: 
Strukturelle Entartung von Kriegsherzneurosen; Brückner: EKgstörungen im 
hysterischen Anfall; I. H. Schultz- Plenge: Sektionsbefund und medizinische 
Psychologie). Dadurch wird die klinische Bedeutung der psychischen Faktore 


| 


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Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 191 


(höhere Nervenzentren) nicht vermindert (v. Weizsäcker- Plügge, Stokvis, M. H. 
Göring). Oft sind die entscheidenden psychischen Befunde nur tiefenpsycho- 
logisch zu erheben. Neben Affekten spielt besonders die Mneme eine Rolle 
(Hering-Semon, Pawlow, Métalnikoff), ferner Konzentration, die z.B. im 
autogenen Training entscheidend ist (Mitteilung einer ärztlichen Beobachtung 
von ‚willkürlichem Sterben‘ bei einem Ostasiaten). 

Neurosen gehen meist mit ‚Stigmatisierung‘‘ einher und sind besonders 

: kreislaufgefährdend; die „Überbelastung des Ausdrucksapparates“ 
(J. H. Schultz) wirkt sich sehr stark aus. 

Kreislaufkranke bedürfen nicht nur allgemeinerärztlich-psychologischer, 
sondern häufig speziell psychotherapeutischer Unterstützung (Hypertonie! 
Angina pectoris!). So gelingt die erforderliche Ruhigstellung ohne unnötige 
und nicht immer unbedenkliche chemische Mittel. Psychisch-nervöse Störungen 
Kreislaufkranker entspringen häufig einer Neurose und dürfen nicht ohne 
weiteres als ‚zentrale Zirkulationsstörungen‘“ aufgefaßt werden. 

Prophylaktisch kann Psychotherapie durch Harmonisierung, Entspan- 
nung, Stabilisierung usw. der Persönlichkeit (,‚Cerebrotonus‘‘) zweifellos 
Wesentliches leisten, wobei stets, je nach Lage des Falles alle Methoden heran- 
gezogen werden müssen. 


K.E. Paß-Hamburg-Eppendorf: Über die subarachnoideale Blutung. 


Vortr. stützt sich auf ein rund 60 Fälle umfassendes Krankengut. Der Be- 
-griff der s. Bl. wird kurz umrissen. Ätiologisch handelt es sich in der über- 
wiegenden Mehrzahl der Fälle um ein Aneurysma. Unter den pathogenetischen 
Bedingungen spielt der labile Hochdruck eine besondere Rolle; außerdem sind 
die Menses ein begünstigender Faktor für die Entstehung der s. Bl. — Ein 
wesentlicher Gesichtspunkt für das Verständnis des klinischen Bildes und 
seines Ablaufes sind die stets zu beobachtenden schweren Beeinträchtigungen 
der vegetativen Funktionen, welche häufig die Ursache des tödlichen Aus- 
ganges darstellen. Es kann zu einem akuten Versagen der Blutdruck- oder der 
Wärmeregulation kommen. Außerdem sind die Blasen- und Mastdarmfunk- 
‚tionen meist über längere Zeit gestört. Die psychischen Veränderungen ent- 
‚sprechen dem Korsakoff-Syndrom. Nicht selten ist eine Umkehr des Schlaf- 
| Wachmechanismus zu beobachten. Die Gesamtheit dieser Symptome beruht 
auf einer direkten Schädigung der Zwischenhirnzentren durch die Blutung, 
deren Ursprung zumeist im Bereich des Circulus arteriosus Willisii, also in 
unmittelbarer Nachbarschaft des 3. Ventrikels gelegen ist, und deren Aus- 
| breitung in erster Linie die Hirnbasis betrifft. 


i G. E. Störring-Göttingen: Über Apoplexien in relativ jugendlichem 
Alter. 


Während man früher bei einer Apoplexie in jugendlichem Alter vorwiegend 
die Alternative einer Embolie oder einer Lues stellen zu müssen glaubte, beob- 
achtet man heute viel häufiger als früher Apoplexien bei Jugendlichen aus 
scheinbar völliger Gesundheit ganz anderen Ursprungs. 

Apoplexien können bei der Encephalitis epidemica, der lobären Encepha- 
litis, der multiplen Sklerose, noch häufiger bei Tumoren und Tumor-Metastasen 
iz. B. bei Bronchial-Ca) das erste deutliche klinische Krankheitszeichen sein. 

Eingehender werden die Apoplexien infolge primärer Gefäßstörungen be- 
handelt, und zwar zunächst solche auf Grund meningealer Blutungen. An Hand 
eines Falles von traumatischer subduraler Blutung mit einer Spätapoplexie 


192 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


nach 14 Jahren wird gezeigt, wie schwer unter Umständen die Diagnose sein 
kann. — Den gar nicht so seltenen apoplektiform auftretenden spontane: 
Subarachnoidal-Blutungen im jugendlichen Alter dürften häufiger entzünd- 
liche Gefäßschädigungen durch unspezifische meningo-encephalitische Infekt: 
vorausgehen. Es wird über einige Kranke berichtet, die im blutigen und später 
xanthochromen Liquor eine hochgradige Pleocythose zeigten, die so gedeutet 
wird. — Die auf Grund klinischer Erfahrungen vielfach behauptete genetische 
Beziehung zwischen Migräne und subarachnoidaler Blutung kann durch die 
Beobachtung einer im Migräneanfall gestorbenen Migränekranken nicht nur 
klinisch durch die Xanthochromie und Pleocythose des Liquors, sondern auch 
durch die anatomisch festgestellten frischen und alten Blutungen in die Lepto- 
meningen bewiesen werden. 

Die anscheinend vorhandene Zunahme der Apoplexien im jugendlichen 
Alter wird in Parallele gesetzt zu der beobachteten Zunahme von cerebralen 
Gefäßkrisen vasomotorischer Art. So wurden allein bei der Migräne in relativ 
kurzem Zeitraum auffallend häufig epileptiforme Anfälle, vorübergehende 
Hemiplegien und Aphasien und andere meist vorübergehende neurologische 
Ausfälle gesehen. Ausführlicher wird über die erwähnte im Migräneanfall 
gestorbene Patientin berichtet, die einen apoplektischen Insult mit Hemiplegit ` 
und Blutung in die Leptomeningen erlitt, und bei der anatomisch sowohl dir 
Gefäße in den Erweichungsbezirken als auch in den von frischen und alten 
Blutungen durchsetzten Leptomeningen vollkommen intakt waren. Es ergeben 
sich daraus eine Reihe von Schlußfolgerungen für den Sitz der Gefäßspasmen 
bei der Migräne, für die Beziehung zwischen Migräne und subarachnoidaler 
Blutung und für die einzuschlagende Therapie. 

Als letzte Gruppe werden die jugendlichen Apoplexien bei Hypertonien der! 
verschiedensten Atiologie, vor allem aber bei der essentiellen Hypertonie er- 
wähnt, und es wird auf die erfolgreiche Therapie der als hormonal bedingt er- 
kannten essentiellen Hypertonie hingewiesen. Zum Schluß wird betont, daß 
die Problematik der jugendlichen Apoplexien noch fortbestehe. 

Aussprache: Stadler-Frankfurt a. M., Hoff-Würzburg, Martini-Bonn, Mer- 
tens-Köln, Nordmann-Hannover, Hyes-Würzburg, Stepp-Münster. 


III. Gemeinsame Sitzung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 
und der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin am 28. März 1939 


Vorsitz: Pette-Hamburg. 


Vorträge zu den Berichten 


Marchesani-Münster i. W.: Über die Bedeutung der Kreislauf- 
störungen des Auges im allgemeinen Krankheitsgeschehen. 


Hinweis auf die besonderen Untersuchungsmethoden an den Gefäßen am 
Augenhintergrund und die Möglichkeit, den Krankheitsablauf zu verfolgen. 
Die engsten Beziehungen bestehen zwischen den Gefäßen der Retina und des 
Gehirns auch in pathologischer Hinsicht. An den Netzhautgefäßen werden zwei 
Grundtypen von Kreislaufstörungen unterschieden: der arterielle und der 
venöse Gefäßverschluß. Beim arteriellen Verschluß (Embolie) besteht schlag- 
artiger Funktionsausfall, eine Trübung und weiße Verfärbung der Netzhaut. 
hochgradige Verengerung der Arterien, mitunter Spasmen. Die funktionelle 
Schädigung ist irreversibel. Die Ursache bilden meist obliterierende Gefäß- 
wandveränderungen im Verein mit Spasmen, nur selten echte Embolien. Diese 


Kurzb ericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 193 


Ischaemia retinae ist der anämischen Erweichung des Gehirns gleichzusetzen. 
Beim venösen Verschluß (Thrombose) haben wir ebenfalls eine plötzliche 
Funktionsstörung, ausgedehnte Blutungen und Transsudationen in die Netz- 
haut. Eine teilweise funktionelle Besserung ist möglich, wenn das Auge nicht 
an intraokularer Drucksteigerung zugrunde geht. Die Ursache bilden auch hier 
obliterierende Gefäßwandveränderungen in Verbindung mit Thrombenbildung. 
Das Krankheitsbild ist gleichzusetzen der blutigen Erweichung im Gehirn. 
Die Kreislaufstörungen nehmen häufig von bestimmten Prädilektionsstellen 
ihren Ausgang. Bei den Arterien sind diese die Durchtrittsstelle durch die 
Lamina cribrosa am Eintritt in den Bulbus und die Teilungsstellen, bei den 
Venen ebenfalls die Durchtrittsstelle, ferner die Kreuzungsstellen mit den 
Arterien in der Netzhaut. Prinzipiell gleichartige Vorgänge wie bei der sog. 
Embolie und der Thrombose spielen sich in kleineren Gefäßabschnitten bei 
den sog. Retinitiden ab. Das Grundleiden gibtjedoch dem ophthalmoskopischen 
Bilde häufig ein ganz bestimmtes Gepräge, so daß wir klinisch von einer Reti- 
nitis nephritica (angiospastica), hypertonica, diabetica, anaemica, Periphle- 
bitis retinalis usw. sprechen. Allgemeindiagnostisch sind diese verschiedenen 
Augenhintergrundbefunde und insbesondere auch die Vorläufer manifester 
Kreislaufstörungen (enggestellte Arterien, Erweiterung der Venen, Kreuzungs- 
phänomene, Kaliberschwankungen, Einscheidungen der Gefäße) von gleicher 
Wichtigkeit. Das Leitsymptom bildet in den meisten Fällen die Hypertonie und 
die Arteriosklerose. Die anatomischen Veränderungen an den Gefäßen zeigen 
trotz der Verschiedenartigkeit der klinischen Bilder immer wieder größte 
Ähnlichkeit. Wir finden vorwiegend arteriosklerotische Veränderungen bei 
älteren Patienten und vorwiegend obliterierende Gefäßwandveränderungen 
mit entzündlichem Einschlag bei den jüngeren Patienten. Die Gefäßverände- 
rungen dieser zweiten Krankheitsgruppe gleichen denen bei der sog. Thromb- 
angi tis obliterans. In anderen Organen können sich gleichartige Zirkulations- 
störungen abspielen, einige Male wurde auch Extremitätengangrän beobachtet. 
Manche unklaren cerebralen Symptomenbilder sind auf dieses Gefäßleiden 
zurückzuführen. Die Anamnese, der klinische und der anatomische Befund 
sprechen in vielen Fällen dafür, daß die Erkrankung im Sinne von Rössle 
und Klinge in den Formenkreis des Rheumatismus gehört. 

Die auslösenden Schäden können verschieden sein, das wesentliche Moment 
bildet eine konstitutionelle Krankheitsbereitschaft der Gefäße. 


W. Löhr-Magdeburg: Über Kreislaufstörungen im Gehirn, be- 
dingt durch Gefäßkrankheiten und raumbeengende Prozesse in 
arteriographischer Darstellung. 


Die in dem letzten Jahrzehnt gefundenen Gesetzmäßigkeiten für die Durch- 
blutung des Gehirns außer dem Blutdruck, gelten auch für den Menschen. 

1. Arteriographisch kann man zur Darstellung bringen, daß eine vermehrte 
Durchblutung des Gehirns bei der Unterbindung der A. carotis externa auf der 
gleichen Seite stattfindet. Hier handelt es sich um einen rein hämodynamischen 
Vorgang. 

2. Für eine Reihe von Fällen konnten wir den Nachweis bringen, daß auch 
der sog. Meningeareflex beim Menschen ausgelöst und arteriographisch ge- 
zeigt werden kann. Das zeigt sich einmal in einer Kalibervergrößerung der 
Gefäße und ferner in dem arteriographischen Nachweis der schnelleren Durch- 
strömung des Gehirns (gleichzeitige Darstellung der kapillaren und venösen 
Phase). 

13 Algem. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 114. H. 1.2. 


194 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


3. Arteriographisch ist von anderer Seite für die wichtige Selbstregulation 
der feinsten Hirngefäße gegenüber dem Sauerstoffmangel durch Ausbildung 
eines Kollateralkreislaufes der Beweis angetreten worden, daß nach Drosse- 
lung der A.carotis auf der einen Seite die Injektion von Thorotrast auf der 
anderen Seite sämtliche Gefäße des Gehirns beider Seiten zur Darstellung , 
bringt, ein Beweis, daß das anämisierte Gehirn auf der Seite der gedrosselten 
A. carotis communis den Kollateralkreislauf erzwingt. Das zeigt sich auch in 
prinzipiell gleicher Weise in den ersten Arteriogrammen von Moniz nach Ab- 
drosselung der Carotis auf der Injektionsseite (fehlende Darstellung der A. 
cerebri ant. derselben Seite im Arteriogramm). 

Wir sehen das Prinzip der Blutattraktion eines anämisierten Gehirns und den 
Ausbau von Kollateralen bei Gefäßgeschwülsten (Angiom). Wir sehen dies 
ferner vor allen Dingen bei dem traumatischen arteriovenösen Aneurysma 
der Schädelbasis, das im Laufe von Monaten den Ausbau eines hervorragend 
funktionierenden Kollateralkreislaufes von der gesunden Seite her erzwingt, 
im Gegensatz zu dem echten Aneurysma (z. B. auf mykotischer Basis), bei dem 
peripherwärts des Aneurysmas ein genügend entwickelter Kreislauf bestehen 
bleibt. Hieraus ergibt sich die sehr wichtige Folgerung, daß erfahrungsgemäß | 
die Unterbindung der A. carotis communis oder interna bei einem echten ' 
Aneurysma gefährlich ist und etwa der Gefahr der Unterbindung dieses Ge- 
fäßes beim Gesunden entspricht (30% Hirnschädigungen), wohingegen die 
Unterbindung der A. carotis communis oder interna bei dem arteriovenösen 
Aneurysma relativ gefahrlos ist mit 0,8—3%. 

Grundsätzlich verschieden hiervon sind die Durchströmungsverhältnisse 
bei Gefäßerkrankungen (Lues und Arteriosklerose), bei denen sich im Laufe der 
Zeit die schwersten Veränderungen, bis in die kleinsten Gefäße hinein ausbil- 
den, mit dem Erfolg, daß bei mehr oder weniger starker Verödung selbst von 
Hauptgefäßen von der mehr oder weniger stark außer Ernährung gesetzten, | 
chronisch geschädigten Gehirnhälfte ein Kollateralkreislauf nicht mehr aus- 
gelöst werden kann, offenbar also die Entwicklung des Kollateralkreislaufes 
nur bei dem Vorhandensein einer noch im großen und ganzen wohlerhaltenen 
Gehirnhälfte getätigt werden kann. Bei schwerer Arteriosklerose mit starren 
Gefäßröhren kommt es gelegentlich zu ganz perverser Durchströmung des 
Gehirns infolge von reinen Druckunterschieden im Gefäßsystem. 

Bei allgemeinem Hirndruck (Beispiel Hydrocephalus) erscheinen die Gefäße 
ausgezogen und verdünnt (gespanntes Arteriogramm). Ein Kollateralkreislauf 
zwischen beiden Großhirnhälften scheint jedoch nur ganz ausnahmsweise 
zur Ausbildung zu kommen. Wird aber eine Veränderung in dem Hirndruck 
vorgenommen, z. B. durch ausgiebige Ventrikelpunktion bei ausgedehntem 
Hydrocephalus, so treten arteriographisch sichtbar die schwersten Zirkula- 
tionsstörungen ein und stärkste Inanspruchnahme der Kollateralbahnen. 

Bei Hirnverletzungen tritt bei der Compressio cerebri neben einer maxi- 
malen Verlagerung der einen Hirnhälfte durch das Meningea- oder subdurale 
Hämatom auch eine Kompression der gleichseitigen Gefäße ein. Dagegen kommt 
es nicht bei der schnellen Entwicklung dieses Krankheitszustandes zum Ausbau 
eines Kollateralkreislaufes. Im Gegensatz hierzu liegen bei der Commotio 
und Contusio cerebri die Gefäße im Arteriogramm regelrecht. Sie sind bei der _ 
CGommotio meist gespannt und eng (Kontraktion?) Bei der Contusio cerebri, 
insbesondere bei den schwerstgelagerten Fällen, sind sie platt gedrückt und 
paralytisch. 

Bei den Hirntumoren kommt es je nach der Topographie derselben zu charak- 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 195 


teristischen Dislokationen und Verlagerungen der großen Hirngefäße, die zu 
Durchblutungsstörungen Veranlassung geben. Der venöse Abfluß (Phlebo- 
graphie) erscheint bisweilen in charakteristischer Weise gestört. Besonders 
bedeutsam ist aber eine Durchblutungsstörung des Gehirns, bedingt durch die 
Eigenbildung eines Kreislaufes bestimmter Hirntumoren, wie sich das in 
charakteristischen Arteriogrammen zeigt (besonders bei Meningeomen und 
malignen Gliomen). 


W. Scholz-München: Histologische Untersuchungen über Form, 
Dynamik und pathologisch-anatomische Auswirkungen funk- 
tioneller Durchblutungsstörungen des Hirngewebes. 


Die auf dem Verfahren von Lepehne beruhenden Blutkörperchenfärbe- 
methoden von Pickworth und Słonimski und Cunge ermöglichen ein zuver- 
lässiges Urteil über den Stand der Hirngewebsdurchblutung im histologischen 
Schnittpräparat. Beim gesunden Menschen und Tier ist die Durchblutung nach 
Enthauptung in den gegebenen architektonischen Verhältnissen eine nahezu 
gleichmäßige. Dem Tode vorangehende agonale Zustände mit allmählichem 
Versagen der Herztätigkeit, Absinken des Blutdruckes, allgemeiner Hypo- 
xaemie verändern (unter Ausschluß postmortaler Blutverschiebungen) das 
Durchblutungsbild wesentlich. Es treten örtliche Reaktionen am Blutgefäß- 
apparat auf, das gleichmäßig gezeichnete Kapillarmuster erhält durch zahl- 
reiche ischämische Bezirke ein fleckiges Aussehen. Wegen der agonalen Blut- 
verschiebungen ist die histologische Methode für spezielle Fragen der mensch- 
lichen Pathologie nur beschränkt brauchbar; wohl aber läßt sich damit im 
Tierversuch durch Tötung der Tiere in verschiedenen Phasen gleichartiger Vor- 
gänge ein Einblick in die Dynamik der Hirngewebsdurchblutung gewinnen. 
Deshalb bildet sie eine wertvolle Ergänzung der direkten Beobachtung am 
lebenden Objekt, die sich ja auf die pialen Gefäße beschränken muß. Wie wenig 
sich mit letzterer allein über den wirklichen Stand der Hirngewebsdurchblu- 
tung sagen läßt, zeigt sich bei der histologischen Untersuchung zahlreicher 
ischämischer Kapillarbezirke. Diese sind zwar z. T. auf einen Spasmus der 
vorgeschalteten Hirnarterien zu beziehen; an diesem Spasmus sind die pialen 
Ursprungsarterien aber häufig ganz unbeteiligt. Innerhalb anderer ischämi- 
scher Kapillarbezirke sind sowohl Arterien als auch Venen gefüllt, und manche 
kapillaren Ischämien, wie die der Ganglienzellschichtung folgenden pseudo- 
laminären ischämischen Bezirke, lassen sich aus der Ausbreitung des arteriellen 
Gefäßbaumes überhaupt nicht verstehen. Solche Beobachtungen sprechen für 
die Fähigkeit des Kapillarapparates, sich sowohl gegen arterielle wie venöse 
Zuflüsse zu sperren. Dabei verstehen sich die pseudolaminären Ischämien 
besser aus einer Wechselbeziehung des Kapillarapparates mit den ortsansässi- 
gen speziellen Gewebsstrukturen als aus Spasmen vorgeschalteter Arterien. 
Zur Frage der Intensität und Dauer angiospastisch ischämischer Zustände 
hat sich insbesondere bei experimentellen Cardiazolkräiınpfen ergeben, daß die 
örtlichen Anämien häufig den Grad praktisch örtlicher Blutleere erreichen und 
— wenn zuletzt auch in hyperämischem Milieu — über ganze Krampfserien 
anhalten können (beobachtete, sicher nicht maximale Dauer 7 Minuten). 
Schon daraus muß die Möglichkeit einer Gewebsschädigung zugegeben wer- 
den. Bei der Gegenüberstellung solcher Durchblutungsstörungen mit post- 
paroxysmal gefundenen Gewebsschäden ergibt sich nun auch häufig eine Kon- 
gruenz solcher ischämischer Kapillarbezirke mit Regionen, in denen die Ner- 
venzellen zugrundegegangen sind. Von besonderer Bedeutung ist, daß sich beide 
13° 


196 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Erscheinungsreihen in ihrer bevorzugten Lokalisation in der Rinde der Win- 
dungstäler und hinsichtlich ihrer häufigen pseudolaminären Form entsprechen. 
Aus diesen Gründen kann der Meinung, angiospastische Zustände seien für 
den Bestand des Gewebes bedeutungslos, nicht zugestimmt werden. Freilich 
rufen sie in der Regel keine Totalnekrosen und Erweichungen des Gewebes 
hervor. Vielmehr handelt es sich um unvollständige Gewebsnekrosen, d.h. um 
den Untergang von Nervenzellen und -fasern bei Erhaltung der Reaktions- 
fähigkeit der interstitiellen Gewebe. Deshalb finden sich bei krankhaften Zu- 
ständen, in deren Genese angiospastische Vorgänge erwiesenermaßen eine 
Rolle spielen, z. B. bei generalisierten Krämpfen als Residuen dieser Durch- 
blutungsstörungen (in einmaliger oder in Summationswirkung) gewöhnlich 
auch keine groben Gewebsdefekte in Form von Cysten oder Porusbildungen, 
sondern narbige Gewebsschrumpfungen, angefangen bei der klinisch bedeu- 
dungslosen Ammonshornskerose über narbige Atrophien ausgedehnterer 
Kleinhirn- und Thalamusteile, narbige Schrumpfungen von Großhirnwindun- 
gen bis zur Sklerose und Schrumpfung ganzer Hirnlappen, ja ganzer Hemi- 
sphären. 


O. Förster-Breslau: Operativ-experimentelle Erfahrungen beim 
Menschen über den Einfluß des Nervensystems auf den Kreis- 
lauf. 


Bericht nicht eingegangen. 


F. Volhard-Frankfurt a.M.: Die Behandlung des Hochdrucks. 


In einem umfassenden Vortrag behandelte Volhard-Frankfurt a. M. die 
Therapie des Hochdrucks. Die Abnahme der Dehnbarkeit des Gefäß- 
systems, die eine Erhöhung des systolischen Blutdrucks bewirkt, kann aus- 
geglichen werden durch eine entsprechende Erweiterung des ‚„Windkessels‘“ 
der Aorta. Beides trifft man im Alter an, und nur so ist es zu verstehen, daß 
man nicht regelmäßig bei Älteren oder bei schwerer Atherosklerose eine Blut- 
druckerhöhung findet. Mäßige Grade von Blutdrucksteigerung sind aber im 
Alter etwas Alltägliches und mit zunehmenden Jahren werden immer häufiger 
höhere Blutdruckwerte gefunden. Zur Erklärung: Nimmt die Dehnbarkeit 
des Windkessels stärker bzw. früher ab, als seine Weite zunimmt, so muß bei 
normalen Widerständen und normalem Volumenzuwachs ein stärkerer Druck- 
zuwachs eintreten, d. h. eine Erhöhung des systolischen Druckes die Folge sein. 
Dieser Zustand ist verwirklicht bei der großen Zahl der zum primären oder 
roten Hochdruck zu rechnenden Fälle von rein systolischer Altersdruck- 
erhöhung mit einem systolischen Maximum von 200 und einem diastolischen 
Minimum von 70, also normal. Von diesem systolischen Altershochdruck der 
60—70 Jahre unterscheidet sich der rote, nicht renale Hochdruck niederer 
Alterrstufen (30—40 J.) durch eine mäßige oder stärkere Erhöhung auch des 
diastolischen Druckes. Der blasse Hochdruck stimmt mit dem Wider- 
standshochdruck von Wetzler überein. Die Blutdruckerhöhung kommt nach V. 
durch eine allgemeine hämatogen bedingte Gefäßkontraktion zustande; als 
Prototyp der Hochdruck des Nierenkranken. Der hämatogene Mechanismus 
setzt ein bei der sog. akuten diffusen Glomerulonephritis, wo eine 
vorwiegend funktionell bewirkte angiospastische Durchblutungsstörung der 
Nieren die hämatogene Gefäßkontraktion auslöst. Bei längerer Dauer dieses 
Zustandes treten rückbildungsunfähige Veränderungen an den Glomeruli ein, 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 197 


die eine fortlaufende Durchblutungsstörung der Nieren unterhalten und den 
sekundären Hochdruck der chronischen Nephritis erzeugen. Das gleiche 
Bild auf endogener Ursache der Durchblutungsstörung liegt bei der malignen 
Sklerose und genuinen Schrumpfniere vor; weiter bei den seltenen 
Fällen von Amyloidose der Nierengefäße, bei Cystenniere, bei doppel- oder 
auch einseitiger Hydronephrose, bei pyelonephritischer Schrumpfniere und der 
Periarteriitis nodosa (bei Nierenbeteiligung). Hämatogen bedingter Hochdruck 
außerdem bei Tumoren des Nebennierenmarks einschließlich der Paraganglien 
und bei Nebennierenrindentumoren, dieaußerDauerhochdruck noch durch Inter- 
renalismus mit Störungen der Sexualsphäre, Fettsucht gekennzeichnet sind. 
Schließlich beim basophilen Adenom der Hypophyse (Cushing). Auch bei der 
Schwangerschaftsniere (Eklampsie, Präeklampsie) vermutet V. einen 
renalen Ursprung der Blutdrucksteigerung im Gegensatz zu der Annahme 
eines Dauerhochdrucks infolge Vasopressineinwirkung. Übergang in Schrumpf- 
niere wurde beobachtet. Beim Hochdruck nach Bleivergiftung kann die renale 
Ursache nur als möglich hingestellt werden; die akute Vergiftung gleicht dem 
Bild einer akuten Nephritis, die chronische dem einer genuinen Schrumpfniere. 

Auf Grund der Erfahrungen, daß mit dem Ansteigen des Blutdrucks Harn- 
befund und Nierenleistung sich verschlechtern, mit der Abnahme desselben 
sich verbessern, muß es Aufgabe der Behandlung in jedem Falle sein, den er- 
höhten Blutdruck herabzusetzen. Dieses wird erreicht durch Herabsetzung der 
Ansprüche an den Kreislauf: im akuten Bedarfsfall durch Aderlaß, in chroni- 
schen Fällen durch die Diät. Es gibt kein besseres Mittel, die Ansprüche an 
Herz und Gefäße herabzusetzen als das Fasten, evtl. kombiniert mit Entzie- 
hung auch der Flüssigkeit. V. macht von der Hunger- und Durstbehand- 
lung regelmäßig Gebrauch beim Hochdruck der akuten diffusen Glomerulo- 
nephritis. Dasselbe gilt für die Schwangerschaftsnierenerkrankung und Prä- 
eklampsie. Wichtig ist die Frühdiagnose. Nach Verlauf von längstens 6 Wochen 
sind bei der akuten Nephritis die Veränderungen an den Gefäßschlingen der 
Nieren irreversibel und der chronische Ablauf ist unvermeidlich. Nach völliger 
Beseitigung der Gefahr für Herz und Gehirn folgt Durchflutung der Nieren 
mittels des Wasserstoßes, um die Nierengefäßdurchblutung wiederherzu- 
stellen. Manchmal ist eine Beseitigung der Infektherde vorher erforderlich 
(Tonsillen). Bei allen chronischen Formen von Hochdruck, ob renal oder extra- 
renal, ob blaß oder rot, stellt die Fastenkur ein souveränes Mittel der Behand- 
lung dar. Gemildert durch Obst- und Gemüsesäfte, 3—4 mal tgl. 200 ccm. 
Nur die schwersten Fälle von maligner Sklerose reagieren mit ihrem Blut- 
druck gar nicht auf diese Behandlung. Hervorragend sind die Erfolge beim 
roten Hochdruck: Senkung um 200 mm Hg und darüber nach 8—14 tägigem 
Saftfasten. Die Kranken werden nicht im Bett gehalten, sondern bewegen sich 
frei. In der Nachbehandlung vermag eine strenge Trockenkost,d. h. gewöhn- 
liche gemischte Kost unter starker Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr, bei 
pseudourämischen Erscheinungen infolge Störung der Hirndurchblutung oder 
Druckanstieg in der Schädelhöhle und vor allem beim nächtlichen Asthma 
cardiale der Hypertoniker Wunder zu wirken. Zur Vermeidung des quälenden 
Durstes Salzarmut, NaCl-Entzug wirkt kreislaufentlastend, wie aus den Erfol- 
gen bei allen Herzschwächezuständen und Dekompensationen, auch Angina 
pectoris, hervorgeht. Ihre Wirksamkeit wurde kürzlich von Martini im ganzen 
Umfange bestätigt. Die salzarme Diät ist schwer anzugewöhnen und noch 
schwerer durchzuführen; denn die Salzfreiheit der Kost muß soweit vorgetrie- 
ben werden, daß die 24-stündige NaUCl-Ausscheidung nicht mehr als 0,5 bis 


198 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


höchstens 1 g beträgt. Das setzt eine genaue Kenntnis der Fehlerquellen und 
ein gewisses Maß von Kochkunst voraus, da die Diätsalze nur unvollkommenen 
Ersatz bieten. Erlaubt ist jegliche Art von Gewürzen. Die Furcht vor Hypo- 
chlorämie ist unbegründet. Nur in den Endstadien der Niereninsuffizienz ist 
die Salzentziehung zu mildern. Die günstige Wirkung der salzfreien Kost ist 
sowohl subjektiv wie objektiv (Fundus) erstaunlich. Frühzeitige Beobachtung 
dieser Regel vermag, in allen Formen von Hochdruck ohne Niereninsuffizienz. 
aber auch in manchen mit Niereninsuffizienz das Leben bedeutend zu ver- 
längern. Die Entsalzung wird beschleunigt durch Diuretika (Salyrgan., 
Deriphyllin). Von den Medikamenten sind allein wertvoll die Sedativa. 
Hinzu kommt seelische Führung und richtige Lebensführung. 


W. Tönnis-Berlin: Zirkulationsstörungen bei krankhaftem 
Schädelinnendruck. 


Änderungen des Schädelinnendrucks, und zwar sowohl Steigerungen wie 
Herabsetzungen, bewirken Störungen der Blutzirkulation. Am meisten aus- 
gesetzt ist derartigen Störungen das Venensystem, da seine Wandungen sehr 
dünn sind und der in ihm herrschende Druck schon normalerweise niedriger 
ist als der Liquordruck. 


Meine Ausführungen beziehen sich nur auf die Störungen im Bereich des 
Venensystems und sind gewonnen an einem Krankengut von etwa 1600 raum- 
beengenden Prozessen. 


Wenn man sich die anatomischen und topographischen Verhältnisse des 
Schädelinneren in bezug auf die Gefährdung des Venensystems bei Druck- 
änderungen ansieht, so ergibt sich folgendes: Sinus long. superior, Sinus trans- 
versus, Sinus rectus, Sinus petr. sup. sind durch ihre anatomische Lage in 
Falx und dem Tentorium gegen Kompressionen geschützt. Ungeschützt da- 
gegen und einer Kompression bei Erhöhung des Schädelinnendrucks ausgesetzt 
sind alle Venen der Oberfläche. Die Vena magna Galeni, der Sinus cavernosus, 
Sinus petrosus inf. und von den Blutleitern der Sinus sigmoideus. 


Bei welchen raumbeengenden Prozessen und in welcher Weise kommt es 
nun zu einer Störung der venösen Blutzirkulation ? 


Einer ganz besonderen Gefährdung ist die Vena magna Galeni ausgesetzt. 
Sie kann sowohl Lageverschiebungen als auch eine Kompression erleiden. 
An Präparaten von Hydrocephalus int. occl. sowohl wie bei Großhirnprozessen 
mit Seitenverschiebung als besonders bei Tumoren der Vierhügelgegend ist 
die Möglichkeit einer Lageverschiebung und Kompression seit langem bekannt. 
Die Phlebogramme von Moniz und Riechert haben sie auch intra vitam nach- 
weisen können. Eine Behinderung des Blutabflusses in der Vena magna Galeni 
drückt sich deshalb so ungünstig aus, da in diesem Bereich aus anatomischen 
Gründen kein Collateralkreislauf möglich ist. Eine venöse Stauung im Bereich 
der Vena magna Galeni führt zu einer Stauung im Bereich der Plexus chorioidei 
und zunächst zu einer größeren Kapillardurchlässigkeit, die eine Ver- 
mehrung der Liquorproduktion bedeutet. Bei sehr lange bestehendem 
Hydrozephalus, z.B. bei der Aquäduktstenose, kommt es, worauf schon Dandy 
aufmerksam gemacht hat, schließlich zu einer Atrophie des Plexus. Wir haben 
diese zusammen mit Spatz an vielen Fällen bestätigen können. Ich halte es 
für wahrscheinlich, daß die lang bestehende Stauung im Bereich der Vena 
ınagna Galeni mit zu der schließlichen Atrophie des Plexus chorioideus bei- 
tragen kann. 


un — 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 199 


Bei raumbeengenden Prozessen im Bereich der Großhirnhälften kommt es 
mit fortschreitender Volumenzunahme der Hemisphären zu einer Kompression 
der Venen, auf die Spatz und ich schon seit längerem hingewiesen haben. Sie 
ist durch Riechert im Phlebogramm nachgewiesen worden. Die Kompression 
der Venen führt zu einer Stauung. Jede Zirkulationsstörung führt nun durch 
Sauerstoffmangel und Anreicherung sauerer Stoffwechselendprodukte nach 
Schade und seinen Mitarbeitern zu einer Acidose. Für die p. op. Hirnschwellung 
hat mein damaliger Mitarbeiter Selbach im Liquor eine beträchtliche Ver- 
minderung der Alkalireserve nachweisen können. Es liegt sehr nahe, da die 
Colloide des Markes, wie ebenfalls Selbach nachgewiesen hat, besonders bei 
einer Verschiebung der Reaktion in das saure Bereich quellen können, diese 
venöse Stauung mit der Bestimmung der Hirnschwellung in Verbindung zu 
bringen. 

Für die Parietal- und Occipitaltumoren kommt noch ein zweites Moment 
hinzu. Nach Stockfort münden die Venen des Erwachsenen spitzwinklig in die 
Blutleiter der Hirnhäute ein, und zwar gegen den Blutstrom im Sinus. Hier- 
durch wird erreicht, daß das Lumen der einmündenden Brückenvenen ent- 
gegen dem etwas höher liegenden Liquordruck offen gehalten wird. Da bei 
Parietal- und Occipitaltumoren wegen der Lage zwischen Tentorium, Falx 
und Schädelcalotte eine Ausdehnung des sich vergrößernden Hirnabschnittes 
nur in frontaler Richtung möglich ist, muß es zu einer Störung der spitzwinkli- 
gen Einmündung der Brückenvenen sowohl im Bereich des Sinus long. sup. 
als auch im Bereich des Sinus transversus kommen. Diese erhöhte Gefährdung 
des venösen Kreislaufes bei Parietal- und Occipitaltumoren bestimmt die Tat- 


sache, daß wir gerade bei diesen Geschwülsten die stärksten Grade von Hirn- 


schwellung beobachten. 

Bei einem Verschluß im Bereich des hinteren Abschnittes des Sinus long. 
sup. und des Confluenz sinuum kommt es zu einem typischen Collateralkreis- 
lauf. Außer durch Emmissarien der Schädelcalotte fließt das Blut hier durch die 
Sinus sphenoparietalis in den Sinus cavernosus und von da in die Orbita bzw. 
die Vena jugularis ab. Besteht der Collateralkreislauf über längere Zeit hin, 
wie z. B. bei parasagittalen Meningeomen, die den Sinus long. durchwachsen 
haben, so kommt es zu einer doppelseitigen Erweiterung des Knochenkanals 
der Sinus sphenoparietalis. Ein röntgenologisch wichtiges Zeichen. 

Bei raumbeengenden Prozessen der hinteren Schädelgrube können beide 
Sinus sigmoid. kompr.miert werden. Hierdurch ist der normale Abflußweg : 
über die Vena jugularis gefährdet. Es bildet sich ein Collateralkreislauf über 
Petrosus sup. zum Sinus cavernosus und über die Emmissarien der Hinter- 
hauptschuppe, über die Venen des Knochens und der Weichteile im Bereich 
des Hinterhaupts. 

Dieser Collateralkreislauf ist jedem Neurochirurgen bekannt von dem unge- 
heuren Blutreichtum der Weichteile bei der Trepanation über der hinteren 
Schädelgrube zur Entfernung von Geschwülsten des Kleinhirns und Kleinhirn- 
brückenwinkels. Schon die Angabe von Cushing, daß sich die Blutung aus den 
Weichteilen vermeiden ließe durch eine Herabsetzung des intracraniellen 
Druckes durch Ventrikelpunktion, beweist, daß es sich hier um einen Collateral- 
kreislauf auf die oben geschilderte Weise handeln muß. Da der Hauptabfluß 
des Blutes über den Sinus cavernosus und die Venen der Orbita erfolgt, liegt 
es nahe, das Auftreten von doppelseitigem Exophthalmus bei stark erhöhtem 
intracraniellem Druck insbesondere bei Geschwülsten der hinteren Schädel- 
grube mit diesem Collateralkreislauf in Verbindung zu bringen. 


200 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Diese wenigen Beobachtungen bilden nur einen Teil dessen, was der Neuro- 
chirurg an seinen Kranken immer wieder beobachten kann. Eine genaue Ver- 
folgung dieser Zirkulationsstörungen vor allem nach der Arteriographie und 
bei Herabsetzung des Schädeldruckes werden uns sicher noch die Erklärung 
für manches, bisher schwer verständliche Geschehen bei raumbeengenden 
Prozessen bringen. 


Grewing-Erlangen: Beitrag zur Gefäßinnervation auf Grund 
histologischer Untersuchungen. 


Nicht eingegangen. 


St. Környey-Szeged: Klinische Syndrome bei funktionellen Kreis- 
laufstörungen des Gehirns. 


Den Krankheiten, bei welchen der histologische Befund durch funktionelle 
Kreislaufstörungen bedingten Schadens erhoben wird, geben in klinischer Hin- 
sicht Störungen des Bewußtseins und Krampfzustände ein gemeinsames Ge- 
präge. Die Krampfzustände sind teils corticale Reizerscheinungen, teils Folgen 
einer Enthemmung tieferer Zentren. 

Für eine Analyse nach der Ausbreitung der Schädigung auf der Gehirn 
oberfläche eignen sich occipitale Symptome, welche bei Noxen, die sich au 
dem Wege des Kreislaufs auswirken, nicht selten beobachtet werden (Pseudo- 
urämie, Eklampsie). Die relativ günstige Gefäßversorgung der Area striata 
erklärt es, daß bei der Erholung nach einer Kreislaufstörung zunächst die 
elementaren optischen Leistungen wiederkehren, während Störungen der 
komplexen Funktionen noch bestehen beiben, als Ausdruck einer langsameren 
Erholung oder gar Dauerschädigung der Nachbarfelder. Eine verhältnismäßig 
gute Gefäßversorgung sichert jedoch das Nervenparenchym nicht vor Dauer- 
schäden, wenn die Ernährungsstörung eine generellere ist, aber auch dann nicht, 
wenn diese zwar örtlich gebunden bleibt, jedoch genügend lange andauert. 
So werden zum Beispiel auch in der Area striata selbst schwere Läsionen bei 
verschiedenen Noxen gesehen. 

Als corticale Ausfallserscheinungen werden die von C. Richter und Fulton 
auf eine Schädigung des prämotorischen Rindenfeldes bezogenen Symptome 
bei kreislaufbedingten Schäden beobachtet. Entsprechender histologischer 
Befund bei puerperaler Eklampsie wird gezeigt. Eine Ausbreitung der Schädi- 
gung auf kaudalere Höhen läßt sich sowohl klinisch als auch anatomisch ver- 
folgen. Nur ausnahmsweise läßt sich die Beteiligung der Oblongata durch den 
Nachweis ischämisch erkrankter Ganglienzellen demonstrieren. 

Dem höhenweisen Abbau der Funktionen kann die Erholung zum Beispiel 
nach Erhängen gegenübergestellt werden, da sich hierbei die motorischen Zen- 
tren in caudooraler Richtung erholen. Diese Feststellungen stehen im Einklang 
mit experimentellen Ergebnissen über die Anoxämietoleranz des Nerven- 
gewebes, aus denen ersichtlich ist, daß kaudalere Zentren eine länger dauernde 
Anämie vertragen können als oralere (Heymans u. a.). 

Pathogenetisch am unkompliziertesten scheinen diejenigen Fälle zu sein, 
bei welchen nur eine Drosselung der Blutzufuhr vorliegt. Jedoch können selbst 
unter solchen Umständen sekundäre Faktoren, wie Gefäßreflexe, eine Rolle 
spielen. Dies gilt für Fälle, bei welchen trotz Aufhörens der Einwirkung der 
eigentlichen Krankheitsursache und eventuell auch nach klinischer Erholung 
die Krankheitsentwicklung eine fortschreitende Tendenz annimmt. Bei Ver- 


- — 


— 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 201 


giftungen mit einer Änderung der Blutbeschaffenheit spielt die Oxygenarmut 
die Hauptrolle. Bei einer Reihe von Krankheiten stellen lokale Änderungen 
der Zirkulation den wichtigsten Faktor dar. Schließlich muß die Anschoppung 


- von Stoffwechselschlacken mitberücksichtigt werden. Der gemeinsame Faktor 


im ganzen Krankheitsgeschehen bleibt jedoch die Anoxämie. Der ‚‚vasale‘‘ 
Faktor spielt nur bei einem Teil der anoxämischen Schädigungen eine wesent- 
liche Rolle. Die ‚ischämische‘“ Ganglienzellerkrankung ist eine anoxämische 


: Läsion. 


In diese Gruppe der Erkrankungen werden die hypoglykämischen Zustände 
eingereiht, nicht nur auf Grund des Nachweises zirkulatorisch bedingter 
Herde, sondern auch im Hinblick auf die Wirkung des Insulins auf die Oxy- 
dation des Nervengewebes (Gellhorn). 

Bei Krankheitsfällen mit Bewußtseinsstörung, epileptiformen Erscheinun- 
gen und dem Syndrom einer Ausschaltung höherer Ebenen muß die Möglich- 


. keit erwogen werden, daß sich ein unbekannter ätiologischer Faktor auf dem 


Wege einer Störung der Sauerstoffaufnahme durch die Nervenzellen auswirkt. 
Von der Beachtung dieses Grundsatzes haben wir auf dem Gebiete der kind- 
lichen Encephalopathien Aufschlüsse zu erwarten. 

Aussprache: Gagel, Wolff, Büttner, Flügge, Assmann, Engel, Koch, Erger, 
Rühl, Hartschmann, Vogt, Anders, Thiel, Munk, Matthes, Freude, Wanke, 
Staehelin, Schellong. 


IV. Sitzung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 
am 28. März 1939 nachmittags 


Vorsitz: Bostroem-Königsberg. 


Vorträge zu den Berichten 


Hallervorden-Berlin-Buch: Kreislaufstörungen in der Ätiologie des 
angeborenen Schwachsinns. 


Die Hirnschädigungen bei angeborenem Schwachsinn sind zu einem sehr 
großen Teil auf Kreislaufstörungen im frühkindlichen Alter zurückzuführen. 
Es handelt sich dabei weniger um spezielle Gefäßkrankheiten als um eine 
funktionelle Beanspruchung des Kreislaufes: Geburtsschädigungen, toxische 
und infektiöse Prozesse, Stoffwechselkrankheiten, auch epileptische Anfälle 
sind von Bedeutung. Die Folgen bestehen in Parenchymausfällen geringererund 
größerer Art, in Narben- und Höhlenbildungen infolge von Blutungen und 
Erweichungen. Klinisch handelt es sich um Krankeitsbilder, die unter den 
Begriff der ‚‚cerebralen Kinderlähmung“ fallen. Die Narbenzustände, die man 
später bei der Sektion sieht, lassen noch ihre Gefäßabhängigkeit zum Teil er- 
kennen. Ist der Zufluß des Blutes in einer großen Arterie oder ihren Ästen 
unterbrochen gewesen, so entstehen charakteristische Narben oder Höhlen- 
bildungen in den betreffenden Ausbreitungsgebieten. Ist der Abfluß in den 
Venen behindert gewesen (Thrombosen oder Stauungen), so entstehen bei 
Störungen im Gebiet der Vena magna Galeni vorwiegend Narben im Mark; 
sind dagegen die Venen der Konvexität oder die Sinus betroffen, so ist haupt- 


, sächlich die Hirnrinde der entsprechenden Gebiete erkrankt. 


Auffallend wenig ist das Kleinhirn an diesen Vorgängen beteiligt. — Eine 
Reihe von Entwicklungsstörungen sind durch Kreislaufbehinderung im Embryo- 
nalleben bedingt. 


202 Verhandlungen der Gesellschaft‘ Deutscher Neurologen und Psychiater 


Bei den Kreislaufstörungen kommt der Durchlässigkeit der Kapillaren im 
Gehirn die gleiche Bedeutung zu wie in den inneren Organen. Bei einer Stö- 
rung dieser Funktion (,Dysorie‘‘) kann eine ‚‚seröse Durchtränkung‘“ des 
Gewebes eintreten (Oedem, Schwellung, seröse Entzündung). Wenn dieser 
Zustand nicht reversibel ist, so verschlechtern sich mit der Länge des Aufent- 
halts der Flüssigkeit die Ernährungsbedingungen des Gewebes und es kommt 
infolgedessen zu leichteren oder schwereren Schädigungen des Parenchyms 
bis zum völligen Untergang. Je nach der Mitbeteiligung des gliösen Stütz- 
gewebes ist die Reparation mehr oder weniger vollständig, eine dichte Glianarbe 
oder ein lockerer Status spongiosus. Die Verteilung der Flüssigkeit im Gewebe 
vollzieht sich unabhängig von Gefäßversorgungsgebieten in der Richtung 
des geringsten Widerstandes, also nur nach mechanischen Grundsätzen. So 
entstehen im Gegensatz zu den vertikal orientierten Gefäßnarben die horizon- 
tal ausgebreiteten schichtförmigen Ausfälle in der Hirnrinde (Bielschowsky)\. 
Außerdem können aber auch ganze Lappen, einzelne und beide Hemisphären 


auf diese Weise zugrunde gehen (lobäre Sklerose, Hemiatrophia, Hydranence- . 


phalus), und zwar vorwiegend in kindlichen Gehirnen, die durch ihren reichen 
Wassergehalt besonders zu Schwellung und Oedem neigen. 


Die seröse Durchtränkung des Hirngewebes stellt durch die Art der Aus- 


breitung und des Gewebsuntergangs einen eigenen histologischen Kom- 
plex dar, der sich von der Erweichung unterscheidet. Er kann überall in Be- 


gleitung von Hirnödem und Hirnschwellung auftreten (Pseudourämie, Eklam- 


psie, Luft- und Fettembolie, Vergiftungen, Traumen usw.). 


H. Becker-Berlin-Buch: Experimentelle Verschlüsse von Arterien 
und Venen des Gehirns und ihre Einwirkungen auf das Gewebe. 


—: 


An Hand von 60 Tierexperimenten wird gezeigt, daß bei extracranieller ` 


Drosselung der Blutzufuhr, wie auch bei Stauung, das Gehirn dann stets als 
Ganzes reagiert, also entweder anatomisch unbeeinträchtigt bleibt oder durch 
Versagen der lebenswichtigen Steuerungen ein Weiterleben des Tieres unmöglich 
macht, wenn die Ligaturen der Gefäße liegen bleiben. Anders ist es erfahrungs- 
gemäß, wenn eine totale Blutsperrung nur vorübergehend wirksam ist. Es 
ergibt sich daraus, daß in diesem experimentellen Sonderfall anhaltende Hypo- 
xämie und vorübergehende Anoxämie keineswegs in ihrer Auswirkung gleich- 
zusetzen sind, eine Tatsache, die für die sog. hypoxämische, unvollständige 
Erweichung in ihrer Genese möglicherweise überhaupt bedeutungsvoll ist. 
Aus den Versuchen geht ferner hervor, daß die Fälle von Erweichung nach 
Carotisverschluß beim Menschen wahrscheinlich auf die Wirksamkeit akziden- 
teller Gefäßregulationsstörungen bezogen werden müssen. Das Fehlen ana- 
tomischer Veränderungen trotz klinischer Schädigung läßt sich an Hand 
elektrobiologischer Experimente von Asenjo dadurch erklären, daß das Sauer- 
stoffangebot bei experimenteller Hypoxaemie für den Erhaltungsstoffwechsel 
des Parenchyms ausreicht und nur dem Leistungsstoffwechsel nicht zu genügen 
vermag. 


R. Lindenberg-Berlin-Buch: Über die Anatomie der cerebralen 
Form der Thromboendangiitis obliterans (v. Winiwarter- 
Buerger). 

Den Untersuchungen liegen 22 Fälle zugrunde, die im wesentlichen auf 
Grund des anatomischen Befundes zusammengestellt waren. Nur in 4 Fällen 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 203 


war klinisch die Diagnose gestellt. Hinsichtlich der Lokalisation des Gefäß- 
prozesses haben sich 2 Typen ergeben. Bei dem 1. ist in allen Fällen die Ver- 
teilung der Gefäßveränderung von fast gesetzmäßiger Regelmäßigkeit. Es sind 
die distalsten Abschnitte aller großen Gehirnarterien (Art. cer. ant., med.,post., 
Art. striolenticularis, Kleinhirnarterin) betroffen. Der Gehirnschaden besteht 
in „Granulärer Atrophie‘, die entsprechend der Lokalisation der Gefäßverände- 
rung sich über den Grenzbereich aller Versorgungsgebiete erstreckt. Im Stria- 
:tum und am Kleinhirn kommt es ebenfalls zu kleinen Narben oder kleinen 
Cysten. Das Kennzeichen des 2. Typ ist die Unregelmäßigkeit in der Ver- 
teilung der Erkrankung auf die einzelnen Gefäßgebiete. So können bald der 
eine, bald der andere Gefäßast, oder auch mehrere gleichzeitig erkranken. Der 
(rehirnschaden besteht hier in kleineren Erweichungen, die, vorwiegend die 
Rinde betreffend, sich diskontinuierlich über ein Versorgungsgebiet ausbreiten. 
Im Mark kann es zu Schrumpfungen kommen, die zu Ausziehungen des Ven- 
trikels führen können (Encephalogramm). Histologisch ist der Prozeß in beiden 
- Gruppen der gleiche. Er besteht in einer Verbindung von endarteriitischen 
Prozessen mit Thromben. Unter den ÖOrganisationsformen von Thromben 
kann auch echtes Knochengewebe mit Markbildung in den Gefäßen vorkom- 
men. Entsprechend den anatomischen Verschiedenheiten finden sich auch 
gewisse klinische Unterschiede beider Gruppen. 

Bei den 8 Fällen der 2. Gruppe mit der unregelmäßigen Verteilung des Ge- 
 faBprozesses und den gröberen Herden war der kKrankheitsverlauf durch 
mehrere, schubweise auftretende ‚‚Schlaganfälle‘‘ mit neurologischen Herd- 
symptomen und z. T. psychischen Veränderungen gekennzeichnet. Der Beginn 
war in der Regel akut. Bei 6 Kranken bestand gleichzeitig eine Erkrankung der 
Gefäße an den Extremitäten und dem Augenhintergrund mit entsprechenden 
klinischen Erscheinungen. Zu diesen gehören auch die 4 klinisch diagnosti- 
zıerten. Bei 3 Fällen fanden sich Carotisverschlüsse. 

Bei den 14 Fällen der 2. Gruppe mit symmetrisch ausgedehnter granulärer 
- Atrophie dagegen begann die Erkrankung vielfach mit einer langsam fort- 
- schreitenden Veränderung der Persönlichkeit, deren unklare organische Grund- 
lagen z. B. den Verdacht auf progressive Paralyse oder Alzheimer gelenkt 
hatten. Der weitere Verlauf ließ dann die Gefäßabhängigkeit des Prozesses 
erkennen. Erscheinungen von seiten der Extremitäten wurden in keinem Fall 
beobachtet. Veränderungen im Encephalogramm, wie sie bei der anderen 

uppe wegen der Herdförmigkeit des Prozesses vorkommen, sind bei diesen 
Fällen nach dem anatomischen Befund nicht zu erwarten. 

Von beiden Gruppen ist gemeinsam zu sagen, daß das Erkrankungsalter die 
Spanne von 30 bis rund 80 Jahren umfaßt, wobei über die Hälfte der Patienten 
zu Beginn der Erkrankung das 50. Lebensjahr bereits überschritten hatten. 
Die Thromboendangiitis obliterans kann also nicht als eine Erkrankung des 
Jugendlichen Alters angesehen werden. 

Aussprache: Rosenhagen-Berlin-Buch. 


H. E. Anders und W. J. Eicke-Berlin-Buch: Über Veränderungen an 
(rehirngefäßen bei Hypertonie. 


Es wird über ausgedehnte Serienuntersuchungen an den Gehirngefäßen 
von Hypertonikern berichtet. Es sind von 34 Hypertonikergehirnen aus allen 
(iefäßversorgungsgebieten Serien untersucht worden, und in 31 Fällen Hyali- 
nose an Gefäßen im ganzen Gehirn gefunden worden. Im allgemeinen überwog 
die Hyalinose der Stammgangliengefäße etwas. In den 3 restlichen Fällen 


204 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


wurde nur eine Hyalinose der Rindengefäße aller Versorgungsgebiete festge- 
stellt. Die Hyalinose wird als die Folgeerscheinung der Hypertonie am arteriel- 
len System der Gehirngefäße angesehen, sie wird von der Arteriosklerose und 
Arteriolosklerose scharf abgetrennt. Es werden die im Gefolge der Hyalinose 
entstehenden Veränderungen am Gefäß gezeigt. Die Massenblutung wird 
danach als eine Folge der hyalinen Veränderung am Gefäß angesehen. Bei 
26 Fällen ohne Hypertonus wurden entsprechende Serienuntersuchungen vor- 
genommen undin keinem Fall hyaline Veränderungen an den Gefäßen gefunden. 


R. Janzen-Berlin-Buch: Über das Endstadium der Massenblutung. 


Die anatomische Untersuchung der Gehirne von solchen Kranken, die mehr- 
fache, nicht tödliche Massenblutungen erlitten, ist für pathogenetische Frage- 
stellungen besonders wichtig. Voraussetzung ist, daß man in allen Stadien der 
Abbau- und Ausheilungsvorgänge Massenblutungen von weißen oder blutigen 
Erweichungen unterscheiden kann. Über einzelne Angaben von Böhne, Hiller, 
Neubürger hinausgehend wurde gezeigt, daß eine solche Unterscheidung tat- 
sächlich möglich ist im Gegensatz zu der Auffassung von Schwartz. Ein allge- 
meines Unterscheidungsmerkmal zwischen Massenblutungen einerseits und Er- 
weichungen andererseits ist die Lokalisation und Form der Herde. Die Aus- 
dehnung einer Massenblutung hält sich nicht an ein arterielles Versorgungs- 
gebiet im Gegensatz zur Erweichung. Die Massenblutung breitet sich vorwie- 
gend im Mark aus, dem geringsten Widerstand folgend, und verschont die 
grauen Teile, z. B. die Rindengirlande. Der zeitliche Ablauf der Abbau- und 
Resorptionsvorgänge wurde nach Spatz in 3 Stadien eingeteilt. Im 1. Stadium. 
sind im Zentrum der kompakten Blutmasse in der Regel keinerlei Gewebs- | 
bestandteile nachweisbar im Gegensatz zur blutigen Erweichung, bei der der. 
Gewebszusammenhang gewahrt bleibt. Es kommt zu ausgedehnten Massen- 
verschiebungen. Die Blutungshöhle entsteht ganz überwiegend durch mecha- 
nische Verdrängung. Nekrotische Gefäße in den Randpartien der Blutmasse 
weisen auf einen Gewebsuntergang hin. Dieser ist allerdings nur gering. Der 
Zustand auf der Höhe der Abbau- und Resorptionsvorgänge wird als 2. Stadium 
bezeichnet. Die wie ein Fremdkörper im Gewebe liegende Blutmasse kann 
natürlich nur vom Rande aus abgebaut werden. Es kommt daher zu einer 
bindegewebig-gliösen Kapsel ähnlich wie beim Abszeß. In der bindegewebigen 
Kapsel liegen massenhaft Hämosiderin speichernde Körnchenzellen. Das 
Eisen befindet sich ganz überwiegend im Herdinnern bzw. in der Kapsel. 
Daneben besteht ein lebhafter Abbau durch Fettkörnchenzellen. Makrosko- 
pisch ergibt sich ein charakteristisches Bild. Je nachdem die Abbauvorgänge 
sich ausschließlich auf die Randzone beschränken oder bei kleinen Herden 
gleichmäßig die Blutmasse durchdringen, finden sich innerhalb der intensiv 
rostbraun verfärbten Kapsel entweder die Reste des Blutkuchens je nach dem 
Alter schokoladebraun bis blaßgrau oder aber ebenfalls rostbraun verfärbte 
lockere Massen, denen Reste des alten Blutkuchens noch untermischt sind. 
Der Zustand nach Beendigung der Resorptionsvorgänge, also die vollendete 
Ausheilung, wird als 3. Stadium bezeichnet. Der abgebaute Blutfarbstoff ist 
weitgehend aus dem Herd weggeschafft und liegt in feinkörniger Speicherung 
in der im Gegensatz zur Erweichung außerordentlich dichten gliösen Narbe. 
Die Umgebung der Herde ist daher makroskopisch rostbraun verfärbt. Die Aus- 
heilung erfolgt in Form von Cysten oder bindegewebigen Narben. Nur kleinere 
Herde können vollständig durch eine Narbe ersetzt werden. Diese sind z. T. 
schwielig. Sie können einen beträchtlichen Narbenzug ausüben und zu Defor- 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 205 


- mierungen der Ventrikel führen. Sie sind gefäßarm. Dadurch besteht ein charak- 
teristischer Unterschied gegenüber dem lockeren Maschenwerk der Erweichungs- 
herde im 3. Stadium. Anhäufungen des extrazellulär entstehenden Hämatoidins 
können die Narbe stellenweise hellgelb verfärben. Solche Anhäufungen er- 
scheinen charakteristisch für Massenblutungen. Die großen, meist glatt- 
wandigen Cysten sind auch abgesehen von Lokalisation und Form typisch 
für Massenblutungen, sie kommen als Endstadium von Erweichungen nicht 

‘vor. Gelegentlich findet man bei ventrikelnahen Herden, daß von diesen Ge- 
websstränge zur gegenüberliegenden Wand ziehen oder daß der Plexus mit 
der Narbe fest verwachsen ist. Das wurde bisher nur bei alten Massenblutungen 
beobachtet. Die Erklärung ist darin zu suchen, daß es im 1. Stadium während 
der Massenverschiebung zur Berührung der gegenüberliegenden Wände ge- 
kommen ist. Bei der folgenden Organisation haben sich Verklebungen aus- 
gebildet, die nach Erweiterung der Ventrikel durch Narbenzug zu den genann- 

ten Bildungen führen. Begleiterscheinungen von alten Massenblutungen sind 
lokale rostbraune Verfärbungen der weichen Häute oder rostbraune Verfär- 
bung des Ependyms und des Plexus durch Hämosiderinspeicherung. Sie weisen 
auf den Durchbruch der Blutung in die äußeren oder inneren Liquorräume hin. 
Kleinere Erweichungsherde am Rande der Massenblutung werden als sekun- 
där aufgefaßt. 


R. A. Pfeifer-Leipzig: Die Grundlagen der angioarchitektonischea 
arealen Hirnkarte. (Mit Demonstration vollkommener Gefäß- 
injektionspräparate.) 


An der Hand anatomischer Präparate lassen sich die Grundlagen für eine 
angioarchitektonische areale Gliederung der Großhirnrinde darlegen. Als unter- 
schiedliche Merkmale dienen die Verteilung der Blutquanten über das Rinden- 
band bzw. dessen Schichten, die ortsspezifische Gefäßmorphologie und das 
Verhalten der Rinde zum Mark im Sinne eines Flach- oder Tiefenfeldes, wobei 
den letzteren noch eine besondere Bedeutung für den regulativen Kreislauf- 
abschnitt zukommt. Vorteile der angioarchitektonischen Darstellung sind 
einmal die leichte Erkennbarkeit der Feldergrenzen im Übersichtsbild und 
die Möglichkeit der Isolierung kleinerer topistischer Einheiten, denen auch 
pathoklitische Bedeutung innerhalb größerer Feldabschnitte zukommt. (Der 
Vortrag erscheint in extenso unter dem Titel ‚Die angioarchitektonische areale 
Gliederung der Großhirnrinde‘ mit 300 Abbildungen, Leipzig 1939 bei Georg 
Thieme.) 


W.Sorgo-Berlin: Über den Art. carotis interna-Verschluß bei 
jüngeren Personen. 


Bericht über 4 Fälle von arteriographisch sichergestelltem Verschluß der 
Art. carotis interna bei jugendlichen Patienten als Ursache einer Hemiplegie. 
Mitteilung eines entsprechenden Obduktionsbefundes. 


K. J. Zülch-Berlin-Buch: Die Gefäßversorgung der Gliome. 


Das Bild der Gefäße und des Bindegewebes ist — insbesondere seit den 
Untersuchungen Baileys und Schaltenbrands — für die Malignitätsbestimmung 
der einzelnen Geschwulstgruppen verwandt worden. Der Reifegrad der Aus- 
bildung der Stromagefäße sollte etwa parallel dem der Geschwulstzellen gehen 


206 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


und eine Skala der Lebenserwartung des Geschwulstträgers bilden. Der abso- 
lute Wert dieser Arbeitshypothese muß auf Grund der heute vorliegenden 
Befunde eingeschränkt werden. Zwar haben die gutartigen Geschwülste 
meist ein ruhig gebautes Gefäßnetz, doch finden sich bei ihnen als Reaktion in 
Gebieten mit Zysten- und Nekrosebildung jene bisher als Zeichen der Bösartig- 
keit — ja als artspezifisch für das Glioblastoma multiforme — gedeuteten 
Gefäßformen (Gefäßschlingen, glomerulusartige Bildungen, Adventitia- und 
Endothelwucherungen). Damit entfällt die Möglichkeit einer absoluten Be- 
wertung dieser Formen. Ebenso kann die Ausbildung freien Bindegewebes 
bei den beiden bösartigen Hauptformen — Glioblastome und Medulloblastome 
— nicht in der bisherigen Auffassung bestätigt werden. Bei den ersten scheinen 
sie vielmehr vorwiegend im Rahmen der Organisation, bei den letzten durch 
Einbeziehung der weichen Häute in das Geschwulstwachstum erklärt werden 
zu können. Auch die Überschreitung der Limitansgliae durch Einwachsen in 
die weichen Häute kann nicht als Zeichen der Bösartigkeit gedeutet werden. 
es findet sich auch bei den meisten gutartigen Tumoren. | 
Das Bild des Bindegewebes der Gefäße wird daher nur im Rahmen des | 
innerhalb der Gruppe üblichen Bildes und im Zusammenhang mit andern 
Befunden wie Alter, Sitz, makroskopisches Aussehen, Verhalten gegenüber 
dem Hirngewebe, und Wachstum, Zelltyp und Architektur, Faserbildung, : 
typische Degenerationen, Umgebungsreaktionen und dergl. ausgewertet. | 


H. Bertha-Graz: Beitrag zur Morphologie der Gefäßverteilung 
bei Hirntumoren. 


Zur Darstellung der Gefäße in den verschiedenen Organen stehen uns 
eine Reihe von histologischen Methoden zur Verfügung. Das normale histo- 
logische Bild ergibt nur ein unvollständiges Teilbild in einer dünnen Schnitt- 
ebene. Injektionsmethoden zur Darstellung der Gefäßverläufe sind für den 
speziellen Fall des Hirntumors nicht geeignet. Hingegen gibt die Methode 
von Lepehne-Pickworth durch eine intensive Schwarzfärbung des normalen 
Gefäßinhaltes des Blutes brauchbare Bilder der Gefäßverteilung. Die Methode 
wurde von A.F. Pickworth am dicken Gefrierschnitt (200—300) für das 
Studium der Gehirnkapillaren ausgearbeitet und erweist sich auch für die 
Darstellung der Gefäße im Hirntumor als brauchbar. Es werden im folgenden 
solche Gefäßbilder von Hirntumoren demonstriert, die in der Darstellung 
mit der Benzidinfärbung einen interessanten Einblick in die Bauart einzelner 
Tumorarten gestatten. (Demonstration von 14 Mikrophotogrammen.) Bereits 
in Übersichtsbildern bei ganz schwachen Vergrößerungen zeigt sich eine reich- 
haltige Mannigfaltigkeit verschiedener Gefäßformen. Neben großen Gefäß- 
stämmen finden sich alle Abstufungen bis zu einem dichten Netzwerk regellos 
durcheinanderziehender Kapillaren, die ganz unregelmäßig das Gewebe durch- 
ziehen, und zeigen sich verschieden gefäßreiche Bezirke. Gegen normal versorgte 
Rindengebiete ist das Tumorgebiet bereits durch seinen Gefäßaufbau voll- 
kommen verschieden. In der Randzone findet sich ein dichter Kapillarfilz. 
Neben dieser unregelmäßigen Gefäßverteilung finden sich bei untersuchten 
Glioblastomen auffallend gestaltete Gefäßkonvolute vielfach und eigentümlich 
geschlungener Kapillaren. Diese Kapillarwucherungen werden besonders dar- 
gestellt. Gegen nekrotische Bezirke finden sich teleangiektatische Grenzwall- 
bildungen von weiten Kapillarschlingen. In der Nähe regressiver Verände- 
rungen werden eigenartige Knäuelbildungen als Ausdruck angioblastischer 
Wirkungen im Tumor dargestellt. Bei einem besonderen Fall eines Parietal- 


Kurzbericht über die V. Jahresversammlung in Wiesbaden 207 


tumors werden glomerolusähnliche Schlängelung der Gefäße, träubchenförmig 
angeordnete erweiterte Kapillaren und wurmförmig wuchernde Kapillar- 
schlingen nebeneinander gefunden, die möglicherweise mit einer länger dauern- 
den Röntgenbestrahlung dieses Falles in Zusammenhang gebracht werden. 
Die Gefäßbilder intracerebral gelegener Tumoren sind verschieden von solchen 
in Meningeomen. Es werden 3 Typen von Meningeombildung gezeigt, die je 
nach der Besonderheit des Tumors verschieden aufgebaut sind. Besonders 
- deutlich tritt die reichliche Gefäßbeteiligung bei angioplastischen Meningeomen 
hervor, während ein fibroplastisches Meningeom einen sehr einfachen und pri- 
mitiven Gefäßaufbau zeigt. Die Bildungen zeigen einen deutlichen Unterschied 
dieser beiden Tumorgruppen und es wird auf die Bedeutung der Gefäßmorpho- 
logie für die Systematik der Tumoren hingewiesen. Vielleicht ist es auf dem 
Wege des Studiums der Gefäßmorphologie in dieser Art möglich, einen Beitrag 
für die Sichtung der Tumoren und speziell der Gliome in ihrer biologischen 
- Wertigkeit durchzuführen. Die Einfachheit und elegante Anwendung dieser 
Färbemethode wirft eine Reihe von Problemen morphologischer Art auf. Das 
 Gefäßbild und das Studium der Gefäßmorphologie zeigt in seiner Mannigfaltig- 
keit ein charakteristisches Bild, das für die Beurteilung der Tumoren von 
Wichtigkeit ist. 


R. Jung-Freiburg i. Br.: Epilepsie und vasomotorische Reaktionen 


Bei über 200 kleinen epileptischen Anfällen (Abscencen, petits maux) wur- 
den gleichzeitig mit dem Elektrencephalogramm verschiedene vegetative 
Vorgänge (die peripheren vasomotorischen Reaktionen im Fingerpletysmo- 
gramm, der galvanische Hautreflex, das EKG und die Atmung, bei 10 An- 
fällen auch die cisternalen Liquordruckschwankungen) objektiv registriert. 

- Damit wurde versucht, unter Anwendung physiologischer Registriermethoden 
eine Einzelanalyse der mit dem kleinen Anfall verbundenen Vor- 
gänge zu erhalten und diese besonders für die Frage der vasomotorischen 
Theorie der Epilepsie auszuwerten. Der kleine epileptische Anfall ist ein be- 
sonders geeignetes Modell zum Studium epileptischer Phänomene, weil bei 
‘ihm die vielen sekundären Veränderungen und Artefakte vermieden werden, 
die durch die schweren motorischen Entladungen des großen Anfalls bedingt 
sind, und weil durch die Ableitung des Elektrencephalogramms von der Kopf- 
haut Beginn, Verlauf, Ausbreitung und Ende des kleinen Anfalls einfach 
objektiv darzustellen ist. 


| Neben der Erforschung der epileptischen Disposition oder Anfalls- 
bereitschaft, die außer auf dem Wege erbbiologischer Untersuchungen vor 
allem auch mit physiologischen Methoden durch das Elektrencephalogramm 
geschehen kann, ist eine genaue Darstellung der Einzelfaktoren des 
epileptischen Anfallgeschehens notwendig. Als solche werden unter- 
- schieden: 1. auslösende Faktoren, 2. zentraler Mechanismus, 3. Begleiterschei- 
nungen und Symptome, 4. Folgeerscheinungen des Anfalls, 5. anfallshemmende 
Wirkungen. Die Einzelanalyse dieser Faktoren ist nur unter gleichzeitiger 
Registrierung verschiedener Vorgänge und Funktionen des somatischen und 
vegetativen Nervensystems unter genauer Berücksichtigung der zeitlichen Ver- 
hältnisse möglich. 

Obwohl die vorgetragenen Untersuchungen durch ihre Beschränkung auf 
den kleinen epileptischen Anfall für eine weitreichende Anwendung auf das 
(sesamtgebiet der Epilepsie notwendig unvollständig sind, läßt die Zu- 


208 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


sammenfassung der Einzelergebnisse auch einige allgemeine Folge- 
rungen zu. 

1. Die wesentlichen, regelmäßig darstellbaren Erscheinungen des zentralen 
Mechanismus der kleinen Anfälle sind abnorme Vorgänge in den Nervenzell- 
gebieten der Großhirnrinde, die wir als Krampfpotentiale im Elektrencephalo- 
gramm objektiv registrieren können, deren Auslösungsbedingungen aber offen- 
bar vielseitig und noch nicht übersehbar sind. 


2. Reaktionen im peripheren vegetativen System finden sich ohne äußeren 
Reiz im kleinen Anfall nur ausnahmsweise. Atemstillstand wird fast nur bei 
solchen kleinen Anfällen beobachtet, die nach Hyperventilation auftreten. 


3. Vasomotorische Erscheinungen in der Peripherie (Verengerungen der 
Hautgefäße) können im Verlaufe des kleinen Anfalls auftreten (ohne äußeren 
Reiz 2,5—3 Sek. nach Beginn der Krampfpotentiale). Sie sind seltene, fakul- 
tative und nicht obligate Begleiterscheinungen und Symptome des Anfalls. 


4. Der kleine epileptische Anfall ist einer Hemmung durch äußere Sinnes- 
reize (insbesondere durch Schmerz) zugänglich. Die Hemmung der Krampf- 
potentiale selbst tritt mit einer Latenzzeit von 0,5 bis 1 Sek. ein. Diese Latenz- 
zeit ist trotz ihrer beträchtlichen Länge zu kurz, um etwaige vermittelnde vaso- 
motorische Vorgänge anzunehmen. Dem anfallshemmenden Reiz folgen nach 
1,6 bis 3 Sek. Entladungen im peripheren sympathischen System (Vaso- 
konstriktion und galvanischer Hautreflex). 


5. Konstante Veränderungen des Liquordrucks, die auf eine wesentliche 
cerebrale Durchblutungsänderung schließen lassen, treten vor, während und 
nach den kleinen Anfällen meistens nicht auf. Geringe Änderungen des Liquor- 


drucks sind als sekundäre Begleit- und Folgeerscheinungen des Anfalls anzu- 


sehen. Bei den untersuchten Epileptikern findet sich 8 bis 20 Sek. nach Hyper- 
ventilation immer eine Verminderung des Liquordrucks, die z. T. als cere- 
brale Vasokonstriktion durch Verminderung der CO,-Spannung des Blutes. 
z. T. als Folge einer geringen Blutdrucksenkung nach Hyperventilation auf- 
zufassen ist. Dieser Abfall des Liquordrucks, der eine verminderte Füllung 
der Hirngefäße annehmen läßt, ist manchmal, aber nicht regelmäßig von klei- 
nen Anfällen gefolgt. 


6. Unter Berücksichtigung der zeitlichen Verhältnisse ist es nicht wahr- 
scheinlich, daß vasomotorische Vorgänge, die sicher unter den auslösenden 
Faktoren des Anfalls eine gewisse Rolle spielen können, die obligate Vorbe- 
dingung des Anfalls sind und in konstanter kausaler Beziehung zu den eigent- 
lichen epileptischen Phänomenen im Nervensystem selbst stehen. 


Die VI. Jahresversammlung soll Ende September 1940 in Prag oder 
gegebenenfalls in Wien stattfinden. 

Der ausführliche Tagungsbericht erscheint in der Z. Neur. als Sonderband. 

Auf Grund von Eigenberichten und Protokollen, zusammengestellt von 
Creutz-Düsseldorf-Grafenberg. 


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Bericht über die Tagung der Nordostdeutschen Psychiater usw. 209 


Bericht | 
über die Tagung der Nordostdeutschen Psychiater und Neurologen 
am 4. Februar 1939 in Königsberg Pr. 


Bostroem, Königsberg: Frühluische Meningitiden. 


Die frühluischen Meningitiden sind in den letzten zwei Jahrzehnten zweifel- 
los häufiger geworden. Es handelt sich dabei um meist akut auftretende 
meningitische Formen der Hirnsyphilis, die sich etwa in den ersten 6—10 Mona- 
ten nach der primären Infektion entwickeln und sich pathologisch-anatomisch 
durch das Fehlen gummöser Veränderungen auszeichnen. Die Fälle sind schwer 
erkennbar, da sie unter den mannigfachsten Bildern auftreten (uncharakte- 
ristische Kopf- und Nackenschmerzen, gelegentlich Fieber, aber auch mit 
epileptischen Anfällen oder psychischen Störungen, nicht selten unter dem 
Bilde eines Hirntumors, ganz besonders Kleinhirntumors mit starker Stau- 


- angspapille). Auch hemiplegische Erscheinungen oder Störungen von seiten 
der Hirnnerven (Oculomotorius, Acusticus, Facialis) kommen vor. Die Wasser- 


mannsche Reaktion im Blut ist meistens, wenn auch nicht immer, positiv; 


- dagegen findet sich stets ein stark pathologischer Liquorbefund (Druck- 


erhöhung, oft über 1000 Zellen, Wassermannsche Reaktion positiv, Colloid- 
kurve gelegentlich Paralysetyp). Lumbalpunktion bringt Erleichterung. 
Als Behandlung wird in erster Linie die Quecksilberschmierkur empfohlen, 


die aber unbedingt noch 1—2 mal und bald wiederholt werden muß. Klinisch 
. tritt meist rasche Besserung ein; die Liquorbefunde bilden sich in der Regel 


schnell zurück. Bleibt nach der 2. Kur der Liquor noch stark pathologisch, 


wird Malariabehandlung empfohlen. 


Für die Entstehung ist wichtig die Feststellung von Pette, daß diese Früh- 
formen nach Einführung der Salvarsanbehandlung zahlreicher geworden sind, 
und zwar offenbar deswegen, weil das Neosalvarsan vielfach in zu kleiner Dosis 
und in unzweckmäßiger Art verabfolgt wurde (Hinweise auf die Notwendig- 
keit einer kombinierten Kur, d.h. Quecksilber oder Wismuth + Salvarsan 
und intensive Behandlung). 

Im Sekundärstadium der Lues kommt oft eine Beteiligung der Meningen 
vor (Zellvermehrung, Nonne +, auch Wassermann-Reaktion +), ohne daß, 
vielleicht mit Ausnahme nervöser Beschwerden klinische Symptome zu finden 


sind (meningealer Katarrh, [Jahnel]). Es wird auf einen Übergangsfall hin- 
' gewiesen, bei dem ein schweres Bild der vorhin beschriebenen frühluischen 


Meningitis mit cerebellaren Symptomen, Stauungspapille, Nonne ++, 
550/3 Zellen, Paralysekurven, Wassermann in allen Konzentrationen positiv, 
gleichzeitig mit einem Sekundärexanthem auftrat. 

Die Prognose der einzelnen Krankheiten ist vor allem bei entsprechend oft 
durchgeführter Behandlung gut. Auch die Aussicht für später, insbesondere 
hinsichtlich des Auftretens von Paralyse oder Tabes, ist offenbar günstig. 

Aussprache: von Holst-Birnbaum. Schlußwort Bostroem. 


Dr. Goetze-Allenberg: Die Entwicklung der Psychiatrie in Ost- 
preußen. 

Aus der Ordenszeit ist nur wenig bekannt. Am wichtigsten ist die Nachricht, 
daß im Jahre 1326 ein Tollhaus in Elbing errichtet wurde. Der Umstand, 
daß der Herzog von Preußen, Albrecht Friedrich (1553—1618) geisteskrank 
14 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 1/2. 


210 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


wurde, gibt uns einige Kunde über den Stand der Irrenpflege am Ende des 
16. Jahrhunderts. 

Eng verknüpft ist die Geschichte der Psychiatrie in Ostpreußen mit dem 
Löbenichtschen Hospital in Königsberg, gegründet 1531. Dieses brannte 
1764 ab, dabei wurden alle Urkunden zerstört. Eine Verbindung zwischen 
Zuchthaus und Irrenanstalt hat es in Königsberg nicht gegeben. Dagegen 
diente das Zuchthaus in der Burg zu Rössel, eingerichtet 1779, zur Auf- 
nahme von Geisteskranken mit. Hier herrschten leidliche Verhältnisse, 
während die Zustände im Löbenichtschen Hospital sehr zu wünschen übrig 
ließen. Abhilfe wurde erst nach einer Revision am 14.7.1787 geschaffen. 
Seitdem stand die Irrenabteilung unter ärztlicher Leitung. Diese Anstalt 
hatte 1834 und 1845 unter Bränden zu leiden, Raum zur Ausdehnung war 
nicht vorhanden. Deshalb wurde die Königsberger Irrenanstalt ganz auf- 
gegeben und die letzten 56 Kranken wurden am 1. 9. 1852 in die neu errichtete 
Anstalt Allenberg bei Wehlau überführt. 

Vergebens war der Prof. Heinrich für Königsberg. Die Umgebung von ' 
Königsberg hielt er für besonders geeignet, da hier das Wechselfieber herrsche, 
das bisweilen ‚‚zur wohltätigen Crisis im Irresein‘“ führe. l 

Die Anstalt Allenberg war für 250 Kranke berechnet. Diese Zahl war bald : 
erreicht. Neubauten entstanden. Aber auch diese reichten nicht aus. 1886 
mußte für den Süden des Landes die Anstalt Kortau eröffnet werden. Inner- 
halb von 14 Jahren stieg die Belegung auf über 1000 Kranke. Ab 1898 diente 
die Anstalt Tapiau zur Aufnahme der chronischen Fälle. Die Anstalt für 
Schwachsinnige in Rastenburg, gegründet 1865, ist jetzt zum größten | 
Teil stillgelegt. 

In Allenberg wirkten Kahlbaum und Hecker, die hier Erfahrungen für ihre ' 
Schriften über Katatonie und Hebephrenie sammelten. 

An Privatanstalten gibt es die Anstalt Carlshof, die namentlich zur 
Aufnahme von Epileptikern dient. Sie wurde 1881 vom Superindenten Klapp 
gegründet. Dieser gab schon nach 2 Jahren die Leitung an den Pfarrer Dem- 
bowski ab. Ihm folgte sein Bruder und dessen Sohn ist der jetztige Leiter der 
Anstalt. Ein ähnliches Unternehmen wie Carlshof besitzt das Ermland in der 
Anstalt St. Andreasberg bei Wormditt (1902 eröffnet). 

Sonst hat es Privatanstalten in Ostpreußen kaum gegeben. Im Dorfe 
Paterswalde bei Wehlau waren bis kurz nach dem Kriege 2 kleine Privat- 
anstalten (Rade, gegründet 1877 für ca 15 Männer, Richert, gegründet 1885 
für ca 8 Frauen). 

Ferner betrieb seit 1904 in Speichersdorf bei Königsberg Sanitätsrat 
Steinert eine Privatanstalt. Auch diese ging nach dem Kriege ein. 

Der Ausbau des Psychiatrischen Unterrichts entwickelte sich in Königs- 
berg erst spät. Prof. Meschede habilitierte sich 1875 für Psychiatrie. Er hatte 
unter denkbar ungünstigen Verhältnissen zu lehren, da die Klinik in ungeeig- 
neten Räumen des Städtischen Krankenhauses untergebracht war. Sein 
Nachfolger, Prof. Bonhöfer, blieb nur ein halbes Jahr. Dann kam 1904 Prof. 
Meyer, dem es vergönnt war, den Unterricht in die 1913 erbaute Psychiatrische 
Klinik zu verlegen. 

Im Kriege litt Tapiau schwer unter der Beschießung. Allenberg und Kortau 
wurden von den Russen besetzt. 

Nach dem Kriege wurde 1934 für den Reg.-Bez. Westpreußen die Anstalt 
Riesenburg eingerichtet. Damit ist vorläufig die Zeit der Neubauten be- 
endigt. 


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Bericht über die Tagung der Nordostdeutschen Psychiater usw. 211 


Hempel, Königsberg: Enzephalographische Demonstrationen 


Unter Hinweis auf die im Vorjahre vor diesem Zuhörerkreis gemachten Aus- 
führungen über das Enzephalogramm im allgemeinen wurden auf der dies- 
jährigen Tagung eine Reihe von Einzelbeispielen aus der röntgenologischen 
Diagnostik der Hirnatrophien, der traumatischen Hirnschädigung und der 
Hirntumoren im Bilde gezeigt; die Röntgenbilder aus der letztgenannten 
Gruppe konnten zum Teil durch die Vorweisung von Abbildungen anatomi- 
scher Befunde ergänzt werden. — Bei den Röntgenbildern der Hirnatrophie- 
fälle (Picksche und Alzheimersche Krankheit) liegt das Schwer- 
gewicht der Diagnostik im Bereich der Hirnoberfläche: hier findet sich eine 
reichliche, oft grobfleckige Luftansammlung, vereinzelt kommen auch ver- 
breiterte Furchen zur Darstellung. Früher oder später tritt dann aber zu dem 
diagnostisch wichtigen ‚Hydrocephalus externus‘ auch ein oft hochgradiger 
„Hydrocephalus internus‘“ hinzu, wobei die Ventrikel groß, plump und mit- 
unter leicht asymmetrisch sind, ihre Grundform (,,‚Schmetterlingsfigur‘‘) 
aber doch noch angedeutet bleibt. — Das Enzephalogramm der traumati- 
schen Hirnschädigung ähnelt in manchen Punkten dem der Hirnatrophie, 
z. B. im Hydrocephalus externus, der nach der Fayschen Theorie durch eine 
Störung der Liquorresorption in den traumatisch geschädigten Pacchioni- 
schen Granulationen entstehen soll. Am Ventrikelsystem sind es vor allem 
Asymmetrien im Sinne von Verziehungen der Seitenventrikel oder einzelner 
Ventrikelteile, die den Rückschluß auf eine traumatische Hirnschädigung 
gestatten. Fälle, bei denen wir diese schon anamnestisch und nach dem neu- 
rologischen Befund als erwiesen ansehen mußten und die dann enzephalo- 
graphiert wurden, liefern uns den Beleg dafür, daß schon Form- und Lage- 
veränderungen von verhältnismäßig geringem Ausmaß diagnostisch bedeut- 
sam sein können. — Im Zusammenhang mit den aus der röntgenologischen 
Hirntumordiagnostik gezeigten Beispielen wurde die Frage nach der 
Entstehungsmöglichkeit der recht häufig zu beobachtenden tumorkontra- 
lateralen Ventrikelerweiterung aufgeworfen. Eine mögliche Erklärung ist 
die, daß die durch den Tumor bedingte Hirnschwellung das For. Monroi 
der Tumorseite offenläßt, aber zu Verdrängungserscheinungen führt, die eine 
Abflußbehinderung zunächst am Foramen Monroi der Gegenseite verursachen. 
An Hand von zwei Abbildungen eines anatomischen Präparates (frdl. über- 
lassen durch das Pathol. Institut, Doz. Dr. Müller) konnte diese Erklärungs- 
hypothese wahrscheinlich gemacht werden. 


v. Holst, Danzig: „Die Wandelbarkeit der psychopathischen 
Erscheinungen‘. 


Einführende Sätze aus Langes Lehrbuch: ‚‚Über die Verbreitung der 
Psychopathien läßt sich in der Klinik selbst kein zureichendes Bild ge- 
winnen“ und ‚‚In der ärztlichen Sprechstunde stellen sie sehr erhebliche 
Prozentsätze der Ratsuchenden‘, gaben Veranlassung zu einer Behandlung 
dieses Themas in einem Kreise von Klinikern und Anstaltsärzten. Nachdem 
wir in den letzten Jahren durch das Gesetz zur Verhinderung erbkranken 
Nachwuchses genötigt waren, unsere Aufmerksamkeit bestimmten Psychosen 
zuzuwenden,. was auf die Forschung, vor allem bei der Epilepsie, anregend 
gewirkt hat, lenken die neuen Ehegesundheitsgesetze unseren Blick besonders 
auf die Psychopathien. Es wurde gezeigt, daß die Äußerungsformen der Psycho- 
pathie trotz der gegebenen erblichen Bedingtheit wandelbar sind und nicht 


14° 


212 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


selten durch Zeitumstände mitbestimmt werden. Bei den rassisch weichen 
und verwöhnten Vorkriegsrussen, die der Vortragende damals in Riga in 
großer Zahl behandelte, genügten spielerische Anlässe, um schrullige Erschei- 
nungen aller Art hervorzurufen. Nach dem Kriege und der blutigen Revolution 
traten an die Stelle der Sonderlinge alkoholsüchtig Deprimierte. Ernster und 
lebensnäher waren die Äußerungsformen bei den deutschen Patienten in 
Danzig. In der Nachkriegszeit erzeugte der Verlust der gesicherten Existenz 
Minderwertigkeitsgefühle und krankhaft gesteigerter Sorgen. Auf dem schwan- 
kenden Boden der Inflationszeit gediehen psychopathische Taugenichtse, 
die den Versuchungen der Zeit nicht widerstehen konnten, sie sind nach dem 
Umschwung dem Gesichtskreis des Arztes fast ganz entschwunden. Die heutige 
Zeit ist den Psychopathien nicht günstig; gegenwärtig überwiegen die schweren 
Formen. Leichtere Abweichungen werden still bekämpft, vielfach auch ab- 
sichtlich verheimlicht, was vom erbbiologischen Standpunkt aus nicht zu be- 
grüßen ist. 

Durch diese Beobachtungen über die Wandelbarkeit der Psychopathien 
wird die Feststellung Stranskys nicht berührt, daß der Weltkrieg keine be- 
sondere Form von Kriegspsychosen oder Kriegsneurosen hervorgerufen hat. 


Janz, Königsberg: Untersuchungen über Konstitution und 
Krampfbereitschaft bei Epileptikern. 


An Hand von klinischen Beobachtungen und experimentellen Untersuchun- 
gen an 102 Krampfkranken hat Vortr. versucht, den Beziehungen zwischen 
Konstitution und Krampfbereitschaft nachzugehen. Unter Krampfbereit- 
schaft wird dabei das gesamte Stoffwechselgeschehen des Epileptikers ver- 
standen, soweit es im anfallsfreien Intervall durch ein zunehmendes Über- 
wiegen der vagotonen Vorgänge bestimmt ist und eine ‚zentrale Umsteuerung“ 
nach der sympathicotonen Richtung durch den großen Krampfanfall not- 
wendig macht (Selbach u.a.). Von der ‚absoluten‘ K. B., die sich in der 
Häufigkeit der Spontananfälle äußert, wird die ‚‚relative‘‘ K. B. unterschieden, 
mit der die jeweilige Reaktionsweise der Krampfkranken auf den Wasserstoß- 
Tonephin-Versuch (W.T.V.) als zusätzliche Belastung der vegetativen Regu- 
lationen (durch Flüssigkeitsanreicherung, Diuresehemmung und Gefäßkontrak- 
tion) gemeint ist. 

Die Reaktion auf den W.T.V. zeigt sich I. in der Auslösbarkeit von Krampf- 
anfällen, 2. in der Intensität der vegetativen Funktionsstörungen, und zwar 
in dem jeweiligen Grad der antidiuretischen und der vasomotorischen Wir- 
kung des W.T.V. 

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchungen waren folgende: 

1. Die relative K. B. ist bei weiblichen Krampfkranken größer als die absolute. 
Sie scheint auch bei’Frauen größer zu sein als die relative K. B. der Männer. 

2. Die Krampfkranken mit partieller oder vollständiger Dysplasie des Körper- 
baus haben die größte relative K. B. von allen Körperbauformen. 

Bei den leptosomen Epileptikern scheint die relative K. B. am geringsten 

zu sein. 

3. Die Entwicklung einer Wesensänderung als eines in der Konstitution be- 
gründeten Hauptsymptoms der Epilepsie (Stauder) wirkt der Krampf- 
reaktionsfähigkeit des Gehirns anscheinend nicht entgegen. 

4. Der antidiuretische Effekt (a. E.) hängt offenbar weitgehend von konsti- 
tutionellen Bedingungen ab. Die relative K. B. ist allgemein um so größer, 
je stärker der a. E. ist. 


Bericht der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen in Breslau 213 


5. Eine Ausnahme hiervon machen lediglich die dysplastischen Epileptiker, 
die hinsichtlich der K.B. und der vegetativen Reaktion eine Sonder- 
stellung unter den Körperbauformen einnehmen (große relative K.B. bei 
geringem A.E.). 

6. Die Dysplastiker lassen weiterhin eine Diskrepanz zwischen a. E. und vaso- 
motorischer Reaktion (v. R.) erkennen: Die v. R. ist bei ihnen im Gegen- 
satz zum a. E. sehr ausgeprägt. 

. Bei weiblichen Krampfkranken kommt es im allgemeinen zu stärkeren 
Graden der v.R. als bei Männern. 

Wenn man die von der Konstitution unabhängigen Faktoren, die die K. B. 
beeinflussen können, als Fehlerquellen ausschaltet, wird es mit Hilfe des 
W.T.V. vielleicht möglich sein, die Konstitution der Krampfkranken von der 
funktionalen Seite her zu erfassen. (Wird demnächst ausführlich an anderer 
Stelle veröffentlicht.) 


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Kessler, Königsberg: Neue Behandlungsmethoden der Spät- 
encephalitis. 


Es wird ein kurzer Bericht über die Entwicklung der bulgarischen Kur 
gegeben. Besprochen werden die Methoden von Raeff, Panegrossi und v. W itz- 
leben. In der Psychiatrischen und Nervenklinik-Königsberg wird die Behand- 
lung nach der Methode von Witzleben durchgeführt, weil die Wirkung dieses 
Präparates offenbar am intensivsten ist, so daß im allgemeinen wesentlich 
geringere Alkaloidmengen als bei dem römischen Präparat und auch bei der 
alten Atropinbehandlung erforderlich sind. Außer der medikamentösen Be- 
handlung sind intensive psychotherapeutische Maßnahmen und aktive Bewe- 
gungsübungen anzuwenden. Anschließend wird die Behandlung an einem 
Kranken mit einer Spätencephalitis demonstriert. 


Bericht 
über die Tagung der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen 
in Breslau am 28. Juni 1939 


H. Kreissel: Klinische und anatomische Befunde bei Neuro- 
myelitis optica. 

An Hand von zwei eingehend klinisch und anatomisch untersuchten Fällen 
wurde versucht, das Krankheitsbild der Neuromyelitis optica näher aufzuzeigen. 

Im 1. Fall erkrankte eine einundfünfzigjährige Lehrerin zuerst an schweren 
Sehstörungen. Es bestand beiderseits eine Neuritis optica. _ Der Visus besserte 
sich weitgehend. Jedoch traten 8 Monate später Erscheinungen von seiten des 
Rückenmarkes auf. Innerhalb von 3 Wochen entwickelte sich aufsteigend das 
Bild einer Querschnittsunterbrechung etwa bis Höhe von D,. Neun Monate 
nach Auftreten der ersten Symptome von seiten der Augen erfolgte der Exitus 
an einer Cystitis und Pyelitis. 

Schon bei makroskopischer Betrachtung war im Rückenmark eine völlige 
Zerstörung des Querschnittsbildes von D,—D, zu erkennen. Bei der mikro- 
skopischen Untersuchung zeigte sich auf Markscheidenbildern eine nahezu 
vollkommene Entmarkung des unteren Brust- und oberen Lumbalmarkes. 
Bei starker Vergrößerung beobachtete man auf Markscheidenbildern viele mit 


214 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


bläulich angefärbten Markscheidenabbauprodukten beladene Körnchenzellen, 
auf Scharlachrotbildern massenhaft Fettkörnchenzellen. Die Achsenzylinder 
waren relativ besser erhalten. Die entzündliche Reaktion von seiten des Ge- 
fäßbindegewebsapparates war gering. Meist konnten perivaskuläre Infiltrate 
nicht beobachtet werden. Nur in einem Segment des unteren Brustmarkes 
fanden sich starke Infiltrate, sowohl um die Gefäße wie auch Leukozyten und 
Lymphozyten frei im Gewebe. 

Im Opticus wurde beiderseits auf Markscheidenbildern starke Entmarkung 
festgestellt, auf Fettbildern wurden Fettkörnchenzellen in deutlich perivasku- 
lärer Anordnung beobachtet. 

Als besonderer Befund zeigten sich im Rückenmark vereinzelt doppelkernige 
Ganglienzellen. Im Großhirn, Hirnstamm und Kleinhirn konnten Herde nicht 
gefunden werden. 

Im zweiten Falle erkrankte eine 141,-jährige Schülerin, etwa 3 Wochen nach 
einer fieberhaften Grippe und Kieferhöhlenentzündung, unter Parästhesien 
in beiden Beinen. 

Bald entwickelte sich eine Paraparese mit Stuhl- und Urinretension. Einige 
Tage später trat nacheinander Erblindung auf dem rechten, dann auf dem 
linken Auge ein. Es bestand eine starke Stauungspapille beiderseits von etwa 
vier Dioptrien. Schließlich entwickelte sich das Bild einer Tetraplegie. Etwa 
6 Wochen nacn Auftreten der ersten Symptome erfolgte der Exitus. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigte sich auf Markscheiden- 
bildern, daß das Rückenmark etwa von C, bis zum Coccygealmark fast völlig 
entmarkt war. Auf Nisslbildern war festzustellen, daß der Herd sich bis zum 
obersten Halsmark erstreckte. Bei starker Vergrößerung wurden im Mark- 
scheidenbild noch Zellen, die mit bläulich angefärbten Markscheidenabbau- 
produkten beladen waren, auf Fettbildern massenhaft Fettkörnchenzellen 
beobachtet. Obwohl die Gefäße eine pralle Füllung aufwiesen, wurden peri- 
vaskuläre Infiltrate fast nie beobachtet. Die Ganglienzellen zeigten gelegent- 
lich das Bild der primären Reizung und der Neuronophagie. 

Als Besonderheit wurde hier im Lumbalmark eine Störung im Schließungs- 
mechanismus des Neuralrohres gefunden. 

Im Opticus zeigte sich auf Markscheidenbildern ein diffuser Ausfall von 
Markscheiden. Das entsprechende Scharlachrotbild ließ massenhaft Fett- 
körnchenzellen in dem Ausfallsbezirk erkennen. Der Herd im Großhirn war 
ausschließlich aus Gitterzellen zusammengesetzt. 

Interessant waren auffällige stiftförmige Bildungen, die in beiden Fällen 
im ventrokomissuralen Feld im Brustmark gefunden wurden. Im Mark- 
scheidenbild konnten hier noch mit Eisenhämatoxylinlack sich dunkelblau an- 
färbende Substanzen gefunden werden, während sich in der übrigen Um- 
gebung Markabbausubstanzen in diesem Stadium nicht mehr beobachten 
ließen. Dieser auffällige Befund ist durch die schlechte Gefäßversorgung, die 
diesen Bezirk auszeichnet, bedingt. Bei der äußerst geringen entzündlichen 
Reaktion, die in beiden Fällen nicht über den Grad der symptomatischen 
Entzündung bei Markzerfall hinausgeht, ist eine Abgrenzung in pathologisch- 
anatomischer Hinsicht von der Encephalomyelitis disseminata, die als primär 
entzündlich aufgefaßt wird, und die mit einer starken Infiltration einhergeht, 
leicht. In der Art des Prozesses ist die Neuromyelitis optica von der multiplen 
Sklerose nicht zu unterscheiden. Bei der Abgrenzung dieses Krankheitsbildes 
ist die Ausdehnung und die Topik des Prozesses entscheidend. 

Klinisch ist das Bild der Neuromyelitis optica, wenn man sich das anatomi- 


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Bericht der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen in Breslau 215 


sche Bild veranschaulicht, scharf umrissen. Der ausgedehnte, den ganzen 
Querschnitt betreffende und sich über mehrere Segmente erstreckende Herd 
bedingt wohl immer ein totales Querschnittsyndrom. Der Markzerfall im 
Opticus äußert sich in schweren Sehstörungen. Von der multiplen Sklerose 
unterscheidet sich das Krankheitsbild durch das Fehlen von Symptomen 
von seiten anderer Hirnnerven. 

Hinsichtlich der Symptomatologie und der Morphologie muß dem Krank- 
heitsbild der Neuromyelitis optica eine Sonderstellung in der Gruppe der mit 
Markzerfall einhergehenden Erkrankungen zugesprochen werden. Keinesfalls 
aber besteht ohne Kenntnis der ätiologischen Faktoren ein Grund, die Neuro- 
myelitis optica kurzerhand der Encephalomyelitis disseminata zuzurechnen. 


Aussprache: Gagel. 
Selbstbericht. 


A. Stender: Über Arachnitis spinalis und ihre chirurgische Be- 
handlung. 


Bericht über 6 Fälle mit zum Teilungewöhnlichem Verlauf. Der erste Fall verlief 
unter dem Bilde einer Occipitalneuralgie, die 4 Jahre bestanden und jeglicher 
konservativen Therapie getrotzt hatte. Bei der zum Zwecke der Resektion 
der II. hinteren Cervicalwurzel vorgenommenen Laminektomie fand sich eine 
Arachnoidealcyste, die die II. Cervicalwurzel vollständig ummauert hatte. 
Heilung. Im zweiten Fall bestand eine diffuse Arachnitis im Bereiche der 
mittleren Brustsegmente (typisches Myelogramm). Bei der Laminektomie 
konnte eine kirschgroße Arachnoidalcyste in Höhe des IV. Brustwirbels ent- 
fernt und eine ausgiebige Myelolyse vorgenommen werden. Trotz der diffusen 
Ausbreitung des Prozesses ausgezeichneter operativer Erfolg (völlige Rück- 
bildung des präoperativ vorhandenen Brown-Sequardschen Syndroms). 
In 3 weiteren Fällen bestanden Entwicklungsstörungen im Bereiche der Len- 
denwirbelsäule und des Kreuzbeins; auf Grund einer Mißbildung des knöcher- 
nen Beckens bestand in einem Fall eine Torquierung des Kreuzbeines und der 
Lendenwirkel; der arachnitische Prozeß hatte im Laufe von 30 Jahren all- 
mählich zu einem schweren Caudasyndrom geführt. Myelographisch und bi- 
optisch typischer Befund. In 2 anderen Fällen bestand eine abnorme bioptisch 
bestätigte Verschmälerung des Wirbelkanals im Bereiche der unteren Lenden- 
wirbel (klinisch war eine Pulposus-Hernie angenommen worden). Beide Male 
hatte der arachnoidale Prozeß akut in Form eines Caudasyndroms eingesetzt. 
(Heilung in einem, Besserung im anderen Falle). 

Die Fälle lehren, daß Entwicklungsstörungen im Bereiche des Beckens und 
der Lendenwirbel eine Proliferation der Arachnoidea verursachen können; 
in den meisten Fällen von Arachnitis dürfte eine infektiöse Ätiologie vorliegen, 
aber auch eine traumatische Genese ist in einzelnen Fällen nicht von der Hand 
zu weisen. Sehr schwierig bzw. unmöglich ist im Einzelfall die Stellung der 
Prognose, weil Rezidive eintreten können. Eine operative Intervention ist 
unter allen Umständen indiziert, sobald klinisch ein Anhalt für eine enger um- 
schriebene Läsion des Markes oder der Wurzeln vorliegt, und zwar auch dann, 
wenn das Myelogramm für eine diffuse Ausbreitung des Prozesses spricht. 
(Die Arbeit erscheint ausführlich im Neurochirurgischen Blatt.) 

Selbstbericht. 


Aussprache: Kroll. 


216 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


F.W. Kroll berichtet überBeobachtungen bei 3Rindenoperationen: | 

Bei einem Fall von gliöser Rindennarbe mit Jacksonanfällen wurde 
bei der Reizung des linken Feldes 6a und 6aß mit dem faradischen Strome 
zur genauen Focusbestimmung ein linksseitiger Facialis- und dann Armkrampi 
beobachtet, der auch nach Aussetzen des faradischen Reizes noch etwa 8—10 
Sekunden andauerte. Bei einer erneuten Reizung trat dann erst ein typischer 
kontralateraler rechtsseitiger Anfall auf. Ä 

Bei einem Fall von Astrocytom der rechten Stirn-Schläfenlappenregion 
trat bei der Reizung des Feldes 6a rechts ebenfalls ein isolierter rechtsseitiger 
Facialis-Arm- und Bein-Krampf von tonisch-klonischem Charakter auf, der 
die faradische Reizung ebenfalls überdauerte. Bei nochmaliger Wiederholung 
des faradischen Reizes trat dann ein kontralateraler linksseitiger Jackson- 
anfall erst auf. 

Bei einem Fall von Konvexitätsmeningeom der linken Schläfen-Scheitel- 
lappenregion trat bei der elektrischen Koagulation der in die Rinde führenden 
Pialvenen des linken Feldes 6a ebenfalls ein zunächst isoliert linksseitig ab- 
laufender Krampfanfall im Arm und Bein auf, an den sich dann auch später 
Krampfentladungen der kontralateralen rechten Körperhälfte anschlossen. 

Bei allen 3 genannten Fällen traten vor und nach der Operation spontan 
niemals derartige homolaterale Krampfentladungen auf. 

Diese 3 Beobachtungen bestätigten einerseits die von Verf. schon früher 
beschriebene experimentelle Beobachtung am Hund, dem sämtliche Groß- 
und Kleinhirnbahnen vom Hirnstamm bis zur Oblongata durchtrennt waren, 
daß unter bestimmten Bedingungen die Reizung einer Hirnhemisphäre zu homo- 
lateralen Krampfzuckungen führt. Andererseits ergänzen sie die schon von 
Huzig, Dusser de Barenne, Bucy, Wertheimer, Lepage, Rothmann und C. und 
O. Vogt und Foerster beobachtete Auslösbarkeit homolateraler Muskelkontrak- 
tionen bei Reizung der motorischen Rinde im Sinne der Krampferregbarkeit 
homolateraler Muskelgruppen bei Reizung der motorischen und prämotori- 
schen Rinde. 

Einwendungen wie Stromintensitätsfragen oder die Möglichkeit des Über- 
springens des Reizes auf die andere Hemisphäre werden widerlegt. Dagegen 
scheint dem Verf. die Tatsache nicht unwichtig für das Zustandekommen 
dieser homolateralen Krampfeffekte zu sein, daß in allen 3 beobachteten 
Fällen durch den betreffenden Krankheitsprozeß die Pyramidenbahn sichtlich 
(wenn auch nicht mit Lähmungsfolge, sondern nur mit positiven Pyramiden- 
bahnzeichen) geschädigt war, so daß es für möglich gehalten wird, daß dadurch 
eine bessere Bahnung der wenigen ungekreuzten Pyramidenfasern und ihrer 
Erregbarkeit zustande kommt, wodurch diese homolateralen Krampferfolge 
dann möglich werden. 

Die Foerstersche Annahme, daß wohl alle Muskelgruppen des menschlichen 
Körpers nicht nur in der kontra-, sondern auch in der homolateralen Hemi- 
sphäre ihre Vertretung haben, findet durch diese Beobachtungen eine weitere 
Stütze. 

(Die Arbeit erscheint noch ausführlich.) 

Selbstbericht. 


E. Beck: Veränderungen am Zentralnervensystem bei Neuro- 
fibromatose. | 


Vortr. gibt an Hand von Diapositiven einen kurzen Überblick über die Er- 
scheinungen der zentralen Neurofibromatose auf Grund von 9 anatomisch unter- 


— [em on 


Bericht der Südostdeutschen Psychiater und Neurologen in Breslau 217 


suchten Fällen aus dem Neurologischen Forschungsinstitut Breslau. Der Grad 
der Ausprägung des Krankheitsbildes an der Haut und am Zentralnervensystem 
steht in keiner erkennbaren Korrelation; es gibt auch Fälle von zentralem 
Recklinghausen, die an der Haut gar keine Veränderungen haben. Die häufigste 
Erscheinung bei der zentralen Neurofibromatose sind Tumoren der Hirnnerven 
und Rückenmarkswurzeln; histologisch handelt es sich bei diesen um Neurino- 
fibrome. Neben den Neurinofibromen kommen auch echte Neurinome vor, 
deren hauptsächlichstes Kennzeichen in der Achsenzylinderneubildung zu er- 
blicken ist; sie sind aber nur im Innern des Zentralnervensystems zu finden, 
nicht von Nervenwurzeln ausgehend. Außer diesen zentralen Neurinomen 
kommen innerhalb des Rückenmarks noch Ependymome sowie Spaltbildungen 
zur Beobachtung. An Veränderungen im Bereich des Gehirns sind zu nennen: 
die oben erwähnten Hirnnerventumoren, dann multiple Meningeome der Dura, 
Angiome in der Hirnrinde, Tumoren des Plexus, Gliome verschiedensten Sitzes. 

Sehr charakteristisch sind Zellherde gliöser Natur im Zentralnervensystem, 
die eine deutliche blastomatöse Note tragen. Sie bevorzugen die Großhirnrinde 
sowie das Neostriatum, während sie in den hinteren Hirnteilen und im Rücken- 
mark nursehr selten anzutreffen sind. Neben diesen Herden findet man gelegent- 
lich im Gehirn Partien gliöser Wucherung, welche die Cyto- und Myeloarchi- 
tektonik völlig zerstört haben. 

Über die Pathogenese der Neurofibromatose besteht noch keine genügende 
Klarheit, doch steht fest, daß ihr eine, Entwicklungsstörung zugrunde liegt. 

Selbstbericht. 
Aussprache: Gagel. 


M. Schöpe: Über einen Fall von Chorea Huntington mit diffusen 
Veränderungen im Zentralnervensystem. 


Fälle von Chorea Huntington, bei denen nur eine Läsion des Neostriatums 
(Nucleus caudatus und Putamen) vorhanden ist, sind äußerst selten. Zumeist 
werden ausgedehntere degenerative Veränderungen in Teilen des extrapyrami- 
dalen Systems und in verschiedenen Gebieten der Hirnrinde gefunden. Sehr 
häufig ist die Zentralwindung, und zwar deren zweite und dritte Schicht, in den 
degenerativen Prozeß einbezogen. 

Der dargestellte Fall bringt hinsichtlich der Veränderungen im extra- 
pyramidalen System keine neuen Tatsachen. Zellsklerose und schwere Zell- 
veränderung nach Nissl werden in folgenden Zentren beobachtet: Im Neostria- 
tum, Pallidum, in der Substantia nigra und reticularis (N. giganto-cellularis). 
Ebenfalls finden sich, wie mehrfach beobachtet, krankhafte Veränderungen in 
den vegetativen Kernen des Hypothalamus. Diese werden mit vegetativen 
Störungen im klinischen Bilde in Zusammenhang gebracht. Es werden weiter- 
hin degenerative Veränderungen in verschiedenen Gebieten des Stirn- und Occi- 
pitalhirns beobachtet. 

Der interessanteste Befund des Falles, der wie bisher aus dem Schrift- 


= tum hervorgeht, noch nicht beschrieben worden ist, findet sich an den Beetz- 


schen Pyramidenzellen der vorderen Zentralwindung, dem Beginn der Pyra- 
midenbahn. Diese Zellen zeigen das Bild der primären Reizung. Es werden alle 
Übergänge von der primären Reizung bis zum Zellschatten gesehen. Es muß 
aus dem anatomischen Befunde angenommen werden, daß zumindest eine 
Dysfunktion der Pyramidenbahn bestanden hat, die sich aus verschiedenen 
Gründen über einen längeren Zeitraum erstreckt haben dürfte. 

Klinisch handelt es sich um eine Chorea progressiva chronica, die mit 


218 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


36 Jahren begonnen hat (Untersuchungen über die Erblichkeit sind noch im 
Gange). Choreatische Bewegungen haben bis zum Tode bestanden. Zeichen, 
die für eine Schädigung der Pyramidenbahn sprechen, sind klinisch nicht fest- 
gestellt worden. 

Es werden die Theorien von Anton, Bonhoeffer und Wilson über die Ent- 
stehung choreatischer Bewegungsstörungen zur Erklärung der Diskrepanz 
des anatomischen und klinischen Befundes herangezogen. 

Selbstbericht. 


Aussprache: Wagner, Gagel. 
W. Wagner (Breslau). 


Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Bericht 
über die Mitgliederversammlung vom 26. September 1938 
in der Aula der Universität Köln 


1. Eröffnung der Mitgliederversammlung durch Professor Pette 
um 16 Uhr mit dem Hinweis, daß im Jahre 1939 Wiesbaden als 
Tagungsort bestimmt sei. Die Tagung findet gemeinsam mit der 
Deutschen Gesellschaft für innere Medizin im April statt unter 
dem Leitthema: ,Gefäßsystem und Zentralnervensystem‘“. 


2. Es wird fürderhin eine Einschränkung der Vortragszahl im . 


Sinne des Nummerus clausus in den wissenschaftlichen Sitzungen 
geplant. 

3. Hinweis auf die internationale Neurologentagung in Kopen- 
hagen im August 1939. 

4. Der Vorsitzende teilt mit, daß der Jahresbeitrag nach Vor- 
schlag des Beirats auf 12.— RM. erhöht werden soll, wobei dann 
der Bezug des Sitzungsberichtes einbegriffen wäre. Die Befragung 
der Versammlung ergibt einen Widerspruch von 10% der Teil- 
nehmer. Die Erhöhung des Beitrages ist also angenommen. 

5. Die von der Laehr-Stiftung ausgesetzten Preise für psychiatri- 
sche Arbeiten sind den Herren v. Braunmühl, Küppers, Scheid 
und Panse zugesprochen worden. 

6. Es wird hingewiesen auf die internationale Tagung für Kinder- 
psychiatrie, welche im Jahre 1940 in Leipzig unter dem Vorsitz 
von Schröder (Leipzig) stattfinden soll. 

7. Auf Grund der von den beiden Mitgliedern Roth-Arnsdorf 
und Schmorl-Sonnenstein am 17. 9. 1938 vorgenommenen Kassen- 
prüfung wurde dem Geschäftsführer Entlastung erteilt. 


Der Vorsitzende Der Geschäftsführer 


I. V. I. V. 
Pette Roemer. 


Bericht über die Mitgliederversammlung in Wiesbaden 219 


Bericht 
über die Mitgliederversammlung vom 28. März 1939 in Wiesbaden 
| 4. Der Vorsitzende Professor Dr. Rüdin teilt mit, daß die 
'nächste Tagung der Gesellschaft in der 2. Hälfte des Sep- 
. tember 1940 in Prag oder in Wien stattfinden soll. Der endgültig 
gewählte Tagungsort wird noch rechtzeitig bekanntgegeben. Auf 
dieser Tagung sollen Berichte erstattet werden 
I. über die Wechselbeziehungen der erblichen und exogenen 
< aktoren bei der Entstehung und Gestaltung der Nervenkrank- 
heiten, 
| II. über die Wechselbeziehungen der erblichen und Umwelt- 
faktoren bei der Entstehung der Asozialität und Kriminalität. 
2. Die Kassenprüfung für das Geschäftsjahr 1938/39 ist durch 
die Herren Hoffmann und Pohlisch vorgenommen worden. Der 
| Kassenabschluß wurde für richtig befunden. Daraufhin wird dem 
' Geschäftsführer Entlastung erteilt. 


Kassenbericht (1. IV. 1938 bis 20. III. 1939) 


s Bestand am 3, IV. 1938 1u. 3. De aa 1543,39 RM. 
Einnahmen 
Mitgliedsbeiträge .........2ccenesecsnenunnnn 5106,09 RM. 

` Teilnehmerbeiträge Köln ...........::cc200.. ‚457,01 RM. 

> Restbestand vom Postsparkonto Wien ......... 149,80 RM. 

Erlös aus ausgelösten Wertpapieren und Zinsen 231,38 RM. 

= Für Tagungsberichte ............-2ecccesc0nn 5965,61 RM. 
“ Einlage auf Konto 16862 .........crcceee... 6,35 RM. 11616,24 RM. 
13159,63 RM. 

- Ausgaben . 

. für Tagungsberichte (ausführl. u. Kurzberichte) 6338,71 RM. 

“ Einladungen und andere Drucksachen ........ 886,40 RM. 

- Reisekosten zu Vorstandsbesprechungen ...... 1023,55 RM. 

ı Ferngespräche und Telegramme .............. 269,75 RM. 

2 Portokosten 2... runter 518,97 RM. 

. Schreib- und Papierkosten ...........s.22.20.. 359,70 RM. 
Bankspesen:ar..220us er arena 45,64 RM. 
Gerichtskösten. 24.4.4422... 0242 3 10,84 RM. 

* An Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, 

e- “München. 3.222400. riktu ee er 1500,— RM. 
Winterhilfswerk des Deutschen Volkes ........ 500,00 RM. 

 Zuschuß für den Deutschen Ausschuß für psy- 

- * chische Hygiene a..:.u.4=02 28 re 140,00 RM. 

` Rückzahlung doppelt gezahlten Mitgliedsbeitrags 5,— RM. 

Verschiedene Ausgaben .........222eceer ern 177,90 RM. 11776,46 RM. 
Bestand am 20.111.1939...........2ccceneeeeseeennnnn nn 1383,17 RM. 
und zwar Bankguthaben bei Dresdner Bank 1299,05 RM. 
auf Postscheckkonto Dresden 16862 .......... 20,18 RM. 


IE. Dar sn ne ee ee 63,9 RM. 


220 Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 


Außerdem befinden sich im Depot der Dresdner Bank Dresden folgende . 


Wertpapiere: Auslosungswert 
Deutsche Abl.-Anl. mit Ausl.-Scheinen 387,50 (fünffach) ... 1937,50 RM. 
51% Landsch. Central-Goldpfandbriefe ............ce.200. 1150, — RM. 


| 


44% Preuß. Centralbod. Credit- u. Pfdbk.-Goldpfdbrfe 1 A/O 4000,— RM. 


Der Mitgliederbeitrag wird für das Geschäftsjahr 1939/40 
auf 5.— RM., für die Mitglieder, welche den ausführlichen Tages- 
bericht beziehen, auf 12.— RM. festgesetzt. Die Mitgliederver- 
sammlung in Köln, welche unter dem Vorsitz von Herrn Pette 
stattfand, hat hierzu schon mit großer Majorität ihre Zustimmung 


erteilt. Der Vorsitzende richtet an die Mitglieder die dringende Bitte, 


möglichst alle, soweit es ihnen irgend möglich ist, den ausführ- 
lichen Tagungsbericht zu beziehen. 

4. Herr Nitsche gibt den Geschäftsführerposten nach der 
gegenwärtigen Tagung ab, wird aber weiterhin dem Beirat zuge- 
hören. 


Es übernimmt dann das Amt des Schriftführers Herr Landesrat, | 


Dozent Dr. Creutz, Düsseldorf, Berg. Landstraße 2, das Amt des 
Kassenwartes Herr Professor Dr. Pohlisch, Bonn, Kölnstraße 206. 

5. Da die dreijährige Frist bezüglich der Zugehörigkeit zum 
Beirat satzungsgemäß für einige Herren abgelaufen war, sind 
folgende Veränderungen in der Zusammensetzung des Beirates 
eingetreten. 

Ausgeschieden sind die Herren Demme-Hamburg, Hoffmann- 
Tübingen, Carl Schneider-Heidelberg, Schröder-Leipzig. Als Beirats- 
mitglieder wurden vom Vorsitzenden wieder bestätigt die Herren 
de Crinis-Berlin, Kretschmer-Marburg, Roemer-Illenau. 

Neu in den Beirat berufen wurden die Herren Creutz-Düsseldorf, 
Pohlisch-Bonn, Schaltenbrand-Würzburg. 


- —, 


Der Beirat wird sich also im neuen Geschäftsjahr, nach dem . 


Wechsel im Geschäftsführeramt, zusammensetzen aus dem Vor- 
sitzenden Rüdin, dem stellvertretenden Vorsitzenden Pette und dem 
Geschäftsführer Creutz, sowie den Herren de Crinis, Kretschmer, 
Nitsche, Pohlisch, Roemer, Schaltenbrand, Spatz, Tönnis, v. Weiz- 
säcker. 

6. Die Möbius-Stiftung, welche nach dem Tode des Kollegen 
Möbius ins Leben gerufen worden war, übernimmt auf Antrag des 
bisherigen Vorsitzenden dieser Stiftung, Herrn Bresler, unsere 
Gesellschaft. Die erforderlichen Verhandlungen sind im Gang. 
Die etwa 200.— RM. jährlich betragenden Zinsen dieser Stiftung 
können dann vom nächsten Geschäftsjahr an bestimmungsgemäß 
zur Verteilung von Preisen an die Verfasser neurologischer und 
psychiatrischer Arbeiten verwandt werden. 


= = 


Buchbesprechung 221 


Unser kürzlich verstorbenes Mitglied Herr Weygandt hat unserer 
Gesellschaft ein Kapital von 10000 RM. vermacht, mit der Bestim- 
mung, daß alljährlich die Zinsen dieser Summe zur Verteilung von 
; Preisen an Verfasser psychiatrischer Arbeiten angewandt werden. 
ı Soweit bisher bekannt geworden ist, werden diese Zinsen jähr- 
lich etwa RM. 400.— betragen und erstmalig im nächsten Ge- 
~ schäftsjahr zur Verteilung kommen können. 

Der Vorsitzende erklärt, daß er die Stiftung annehme, und spricht 
den Dank der Gesellschaft dafür aus. 
4 Bekanntlich besteht in der Gesellschaft noch die sogenannte 
| Laehr-Stiftung, aus welcher gleichfalls Verfasser von psychiatri- 
schen Arbeiten durch Geldpreise ausgezeichnet werden können. 
' Dies wird auch wieder im nächsten Geschäftsjahr möglich sein. 

7. Herr Pette macht nähere Mitteilungen über den bevorstehenden 
3. Internationalen Neurologenkongreß in Kopenhagen, 21. bis 
25. August 1939. 


Der Vorsitzende Der Geschäftsführer 
j gez. Rüdın gez. Nitsche 


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Buchbesprechung 


Alfred Späth. Erfolge der öffentlichen Erziehung, Heft 5 der Veröflfent- 
lichungen des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 
Leipzig 1939. 


f Es handelt sich um einen Bericht des früheren Anstaltsleiters von Stutensee 
an seine Behörde. Da dieser nach Erklärung des Verfassers die Ergänzung 
einer früheren Veröffentlichung in der Zeitschrift für Kinderforschung, 
Bd. 43, Heft 1 bildet und der Vorstand des Landesjugendamtes die Arbeit 
't als richtunggebend für künftige Darlegungen der Ergebnisse der Fürsorge- 
a erziehung im Reiche zu erkennen glaubt, erscheint eine kritische Würdigung 
| am Platz. Gegenstand bildet die Belegschaft eines kleinen Erziehungsheims, 
a das durchschnittlich 40—50 schulentlassene Jungen und zwar Fälle von 
i leichter und mittelschwerer Verwahrlosung umfaßte. Es wurden die Jahr- 
, gänge 1924—1933 einer Nachprüfung unterzogen, wobei aber nur diejenigen 
Fälle bearbeitet wurden, die sich während längerer Zeit im Erziehungsheim 
aufgehalten haben und dann von dort aus auf freie Lehr- und Dienststellen 
entlassen worden sind, was methodisch allerdings nicht unbedenklich ist. 
Im Ganzen waren es 125 Jugendliche, welche den Geburtsjahrgängen 1905 
bis 1917 angehören, jetzt seit 5—14 Jahren aus der Heimerziehung entlassen 
| sind und im Lebensalter von 21—33 Jahren stehen. 


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222 Buchbesprechung 


Da der Verfasser, der kein Arzt ist, vielfach psychiatrische Diagnosen | 


gebraucht, ohne auf ein fachärztliches Urteil Bezug zu nehmen, muß ihre 
Tragweite dahingestellt bleiben. Vollends abzulehnen ist die weitere Ein- 


ni _ 


teilung von Psychopathie und Schwachsinn, da dem vieldeutigen Merkmal 


der Triebhaftigkeit ein zu großer Wert beigemessen wird. Hier rächt sich 
übrigens die völlige Ignorierung der einschlägigen Literatur. Nach den Er- 
gebnissen der Untersuchungen von Stumpfl ist heute eine Einteilung eines 
Materials von Verwahrlosten oder Kriminellen unbrauchbar, welche nicht 
die Zahl der Haltlosen bzw. Willensschwachen und Hyperthymen widergibt. 
Endlich finden sich Widersprüche zwischen den Einzeldarstellungen und 
ihrer Diagnose und Klassifikation. 

Der eigentliche Wert der Untersuchung liegt in dem Ausgang von einem 
Material, das der Verfasser als langjähriger Leiter der Anstalt gründlich 
kennt und das von ihm gewissenhaft und über die Zeit des Anstaltsaufent- 
haltes betreut wurde, sowie in den. sorgfältigen Nacherhebungen. Ein kurzer 
Überblick orientiert gut über das Wesen des einzelnen Falles und sein späteres 


Schicksal. Das Ergebnis von 54% gutem und 14% mäßigem Erziehungs- ' 


erfolg entspricht den Forderungen, die wir heute nach den vorliegenden 


Erfolgs-Untersuchungen, über welche am besten Vogel in Mann’sPädagogischem ` 
Magazin orientiert, verlangen müssen. Die Erfolge sind durch die große Zahl 


von Schwachsinnigen herabgedrückt, auf die Referent gelegentlich seines 


Berichtes über das Ergebnis der Untersuchung von Fürsorgezöglingen zwecks | 


Sterilisierung in der Zeitschrift für psychische Hygiene, Bd. 7 aufmerksam 
gemacht hat. 

Einige Feststellungen verdienen trotz des zum Teil kleinen Umfanges der 
Gruppe Beachtung. So ist von 15 Jungen, die vor der Heimeinweisung in 
irgendeiner Form Unzucht getrieben hatten, später wegen desgleichen oder 
eines ähnlichen Deliktes nur einer erneut straffällig geworden. Von 74 Unehr- 
lichen sind später wegen erneuter Unehrlichkeitsdelikte insgesamt 26 mit 
Gefängnis bestraft worden, darunter 14 mit ganz erheblichen Gefängnis- 


strafen. Von 27 Arbeitsscheuen wurden 16 nützliche, zum Teil wertvolle 


Gemeinschaftsglieder. Von den 12 wegen Bettels und Landstreicherei in das 
Heim eingewiesenen Jungen, sind später 9 wieder straffällig geworden, Davon 
haben 5 erneut Haftstrafen wegen Bettels erhalten. 


Die Dauer der Anstaltserziehung hat bei ?/ der Fälle 1—2 Jahre betragen, _ 


in !/, der Fälle 3—4 Jahre. Da Verfasser bemerkt, daß die Dauer der Heim- _ 


erziehung heute in der Regel eine wesentlich kürzere als in den Jahren vor 
1933 ist, muß ich nach meinen kriminalbiologischen Untersuchungen im 
Gefängnis Heilbronn vor dieser Tendenz warnen. Ich habe in meinem Materiale 


nicht nur auffällig viel Füsorgezöglinge aus Erziehungsanstalten gefunden, 


sondern auch feststellen können, daß eine zu kurz bemessene Erziehungszeit 

in Erziehungsanstalten zur Folge hat, daß die versäumte Erziehungsarbeit 

schließlich von der Pädagogik der Jugendgefängnisse nachgeholt werden muß. 
Gregor. 


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1 


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223 


Kurze Mitteilungen 


Vorbeugende Bekämpfung 
des Mißbrauchs von Barbitursäureabkömmlingen. 


Die Polizeiverordnung des Herrn Reichsministers des Innern über Barbitur- 


i säureabkömmlinge vom 25. November 1939 (RGBl. Jahrg. 1939 Teil I S. 2304) 


stellt die Barbitursäureabkömmlinge, ihre Salze und Molekülverbindungen 
sowie die Zubereitungen dieser Stoffe unter den ärztlichen, zahnärztlichen 
bzw. tierärztlichen Verschreibungszwang, wobei die Wiederholung der Abgabe 
an bestimmte Beschränkungen geknüpft wird. Auf Verschreibung eines Den- 
tisten dürfen bestimmte einschlägige Arzneifertigwaren, jedoch nur zum Ge- 
brauch in der Zahnheilkunde, und zwar nur einmalig abgegeben werden. Bei 
Arzneifertigwaren, die Barbitursäureabkömmlinge enthalten, ist dies auf den 
Packungen und in den Gebrauchsanweisungen, Werbeschriften und Ankündi- 
gungen in vorgeschriebener Weise kenntlich zu machen. Vorsätzliche und fahr- 
lässige Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften dieser Polizeiverordnung 
werden mit Geldstrafe bis zu 150 RM. und in besonders schweren Fällen mit 
Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Die Polizeiverordnung tritt am 1. April 1940 
in Kraft. Durch diese Maßnahme wird einem vielfach befürworteten Vorschlag 
im Sinne der psychischen Prophylaxe entsprochen und dem neuerdings stark 
um sich greifenden Mißbrauch der Barbitursäureabkömmlinge, vor allem des 
Veronals, Luminals, Medinals, Veramons, Allionals, Somnifens, Optatidons und 
insbesondere des Phanodorms ein wirksamer Riegel vorgeschoben. 


Die Landesheilanstalt Sonnenstein wird mit Ende des Jahres 1939 
aufgelöst. Bekannte sächsische Ärzte wie Guido Weber, Georg Ilberg und 
zur Zeit Paul Nitsche haben hier als Anstaltsleiter gewirkt, das sächsische 
Irrenwesen maßgeblich beeinfiußt und der Anstalt als Forschungsstätte einen 
Namen von Klang weit über die sächsischen Grenzen hinaus verschafft. Die 
rund 850 Kranken der Anstalt werden nach den Anstalten Leipzig-Dösen 
und Hochweitzschen verlegt, die umfangreichen Baulichkeiten werden anderen 
Zwecken zugeführt. 


Rassen- und bevölkerungspolitische Vorträge in Rom. 


Im Zuge der deutsch-italienischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der 
Rassen- und Bevölkerungspolitik werden im Februar und März in Rom Vor- 
träge halten: Prof. v. Verschuer-Frankfurt, Prof. Rüdin-München. Es werden 
auch sprechen der Reichsgesundheitsführer Staatsrat Dr. Conti und der Leiter 
des rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Prof. W. Groß. 


Die schwedischen Zeitungen vom 8. Oktober melden den Tod des ‚‚großen 
Lehrmeisters der Neurochirurgie“ Harvey Cushing. Es gibt wohl keinen Arzt, 
der den Namen des großen Hirnchirurgen nicht kennt. Er wurde geboren am 
8. April 1869 in Cleveland. Den ersten Hirntumor operierte er am 12. Dezember 
1901, den 2000. am 15. April 1931. 


nung Staatssekretär a. D. wegen leidender Gesundheit i in den Ruhestand ver- 
setzt worden. - 

Reichsgesundheitsführer Dr. Conti ist zum Staatssekretär unter gleichzeiti- 
ger Beauftragung mit der kommissarischen Leitung der „Abteilung Volks- 
gesundheit“ im Reichsministerium des Innern ernannt worden. 

Reichsgesundheitsführer Dr. L. Conti wurde in das Präsidium des Reichs- 
forschungsrates berufen. 

Dem Vizepräsidenten des Reichsgesundheitsamtes Dr. med. Paul Wiedel 
ist das goldene Treudienstehrenzeichen verliehen worden. 


Der Leiter der Forschungsabteilung des Deutschen Instituts für Psycholo- | 


gische Forschung und Psychotherapie Dr. med. et jur. Hans von Hattingberg 
in Berlin beging am 18. November seinen 60. Geburtstag. 

Dr. med. habil. Horst Geyer ist zum Dozenten für Psychiatrie und Neurologie 
ernannt worden. 

Bonn. Dr. med. habil. Friedrich Panse ist zum Dozenten neuer Ordnung 
für Psychiatrie und Rassenhygiene ernannt. 

Dozent Dr. med. habil. Florian Laubenthal wurde unter Aufrechterhaltung 
seiner bisherigen Lehrbefugnis zum Dozenten neuer Ordnung ernannt. 

Freiburg. Dozent Hanns Ruffin ist zum nb. ao. Professor ernannt worden. 

Halle. Dem ärztlichen Direktor Prof. Fritz Flügel in Chemnitz ist unter Er- 
nennung zum ordentlichen Professor der Lehrstuhl für Psychiatrie und Ner- 
venheilkunde übertragen worden. 

Illenau. Assistenzarzt Dr. Widenmeyer bei der Heil- und Pflegeanstalt wurde 
zum Medizinalrat ernannt. 

Königsberg. Dem nb. ao. Prof. Friedrich Mauz-Marburg wurde unter Er- 
nennung zum ao. Professor der Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie 
übertragen. 

Leipzig-Dösen. ORMed. Rat Dr. Maass, Direktor der Heil- und Pflege- 
anstalt ist auf Antrag in den Ruhestand versetzt. 

Merzig. Assistenzarzt Barthel bei der Heil- und Pflegeanstalt wurde zum 
Anstaltsarzt ernannt. 

München. Dr. med. habil. Gerd Peters wurde zum Dozenten für Psychiatrie 
und Neurologie ernannt. i 

Münster. Dr. med. habil. Erich Fischer wurde zum Dozenten für Chirurgie 
und Neurochirurgie ernannt. 

Rostock. Doz. Med.-Rat Dr. Wolf Skalweit wurde zum ao. Professor ernannt. 

Wien. Doz. Dr. Heinrich Ritter von Kogerer wurde zum außerplanmäßigen 
Professor ernannt. Dr. med. habil. Ernst Pichler wurde zum Dozenten für 
Neurologie und Psychiatrie ernannt. 

Winnental. Assistenzarzt Dr. Stidl wurde zum Medizinalrat ernannt. 

Würzburg. Dem nb. ao. Prof. Ludwig Schmidt ist unter Ernennung zum ao. 
Professor der Lehrstuhl für Vererbungswissenschaft und Rassenforschung über- 
tragen worden. 

Zwiefalten. Assistenzarzt Dr. Bischoff bei der Heil- und Pflegeanstalt wurde 
zum Medizinalrat ernannt. 

Baden-Baden. Medizinalrat i. R. Dr. Franz Fischer (früher Arzt der Heil- 
und Pflegeanstalt Wiesloch) ist verschieden. 

Budapest. Professor Karl Schaffer, der — geboren in Wien — als der Be- 
gründer der Hirnforschung in Ungarn galt, ist 74 Jahre alt gestorben. 


224 Kurze Mitteilungen 
Persönliches 
Berlin. Ministerialdirektor Dr. Gütt ist unter Verleihung der Amtsbezeich- 


| 


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| 


JAN 8 - 1947 


ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHIATRIE 
UND IHRE GRENZGEBIETE 


GEGRÜNDET 1844 VON DAMEROW, FLEMMING UND ROLLER 


pn as_ LIBRARY 


OFFIZIELLES ORGAN DER GESELLSCHAFT DEUTSCHER NEURO- 
LOGEN UND PSYCHIATER (PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG) 
MIT BEILAGE »ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHISCHE HYGIENE« 


Unter Mitwirkung von 


F.AST-München / J.BERZE-Wien / K.BONHOEFFER-Berlin / M.FISCHER- 

Berlin-Dahl. /A.GÜTT-Berlin /K.KLEIST-Frankfurt/M.  E.KRETSCHMER- 

Marburg ı P. NITSCHE-Sonnenstein / K. POHLISCH-Bonn , H. REITER- 
Berlin / E.RÜDIN-München / C.SCHNEIDER-Heidelberg 


herausgegeben von 


HANS ROEMER 


ILLENAU 


114. Band - Heft 3/4 


Mit einer Bildnistafel 


Ausgegeben am 29. Februar 1040 


BERLIN 1940 
WALTER DE GRUYTER & CO. 


VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG,VERLAGS- 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP, 
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e 


Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiette Band 114 } Heft 3/4 


Inhalt 


Seite 
Steinwaliner, M., Rassenhygiene bzw. psychiatrische Eheverbote im Ausland 225 
Gruhle, Hans W., Der Psychopathiebegriff. . . . - ». 22.200. 233 
Sickinger, K., Über Sektionsbefunide bei febrilen Hyperkinesen. . .. . . . 237 
Oberholzer, W., Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie. IV. 
Über die Veränderung der Toleranz gegenüber Insulin. .... . . 271 
Müller, Franz, Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes 
unter besonderer Berücksichtigung der Dosierungsfrage . . . . . - 2090 
Ferrio, Carlo, Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen des neuen italieni- 
schen bürgerlichen Gesetzbuches . . . ». . 2.22. .000% 306 
Gregor, A., Minderjährige Schwerverbrecher und ihre strafrechtliche und 
sozial-pädagogische Behandlung . . . . s . 2 2... .. ‘. 316 
Fischer, M., Otto Snell ł. Mit einem Bildnis... ... 2.222000. 387 


Gruhle, Hans W., Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938. . . . 392 


Therapeutische Bemerkungen: Becker W. H., Hautekzem bei chronischem 


Paraldehydgebrauch . . . » 2: Joao e a 431 
Buchbesprechung. . . . » » 2 2: 2 rn nn rn een. . 433 
Kurze Mitteilungen. . - . -: a Ce. . 439 


Persönliches . . . . 2-2 22.0. a ee er ne ee ee De . 439 


Do 


Bar 


| 
| 


Rassenhygienische 
bzw. psychiatrische Eheverbote im Ausland 


Von 
M. Steinwallner, Bonn. 


Eine auf wirkliche Erfolge bedachte Rassenhygiene kann sich 
nicht damit begnügen, die Unfruchtbarmachung Erbkranker zuzu- 
lassen — wenn auch dies das Wichtigste der ausmerzenden Bevöl- 
kerungspolitik bleiben wird —, sie muß weiter ihr Ziel darauf rich- 
ten, Eheschließungen mit Erbkranken und Eheuntaug- 
lichen unmöglich zu machen und mit Hilfe dieser Maßnahme 
ebenfalls der Zwecksetzung der Verhütung erbgeschädigter Nach- 
kommenschaft zu dienen, und weiterhin zu verhindern, daß sich 
erbgesunde Menschen an Fortpflanzungswertlose ketten und so 
für die Gemeinschaft verloren gehen. Diese Gedanken — vor allem 
die Auffassung der Ehe als der natürlichen Keimzelle kommender 
Geschlechter — haben unsere Reichsregierung veranlaßt, am 
18. 10. 1935 ein „Ehegesundheitsgesetz‘‘ zu erlassen; in ihm werden 
solche Ehen verboten, die im Hinblick auf die gesundheitlichen 
Verhältnisse der Brautleute den Keim der Zerrüttung von vorn- 
herein in sich tragen, und ın denen mit der Erzeugung eines erb- 
gesunden Nachwuchses nicht gerechnet werden kann (die in diesem 
Gesetz aufgestellten Eheverbote sind übrigens in das neue deutsche 
Ehegesetz vom 1. 8. 1938 übernommen worden). Dieses Ehegesund- 
heitsgesetz ist nicht die erste und auch nicht die alleinige Regelung 
dieser Art, die die Welt kennt; ın auswärtigen Ländern gibt es eine 
ganze Reihe von — allerdings sehr verschiedenartigen und ver- 
schiedenwertigen — gesetzlichen Eheverboten für Fortpflanzungs- 
ıninderwertige und Eheuntaugliche; allerdings ist im Ausland der 
rassenhygienische Zweck vielfach nicht der Anlaß zur Einführung 
der betreffenden Regelung gewesen, sondern nur die Art der Rege- 
lung bringt eine solche Wirkung mit sich. Immerhin sind die meisten 
dieser auswärtigen Bestimmungen über Eheverbote bemerkenswert, 
so daß eine kurze Erörterung der wichtigsten dieser Regelungen 
recht lohnend erscheint. 

Am frühesten haben sich die Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika mit dem Problem erbgesundheitlicher Eheverbote befaßt. 
15 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


226 M. Steinwallner 


Hier finden wir schon 1867 in Michigan, 1893 in Kentucky und 
Delaware, 1895 in Connecticut, 1904 in New Jersey, 1905 in Ohio. 
Indiana und Minnesota Eheverbote für Eheuntaugliche. Heute he- 
sitzen von 48 Bundesstaaten Nordamerikas 39 solche Heiratsver- 
bote. Die einzelnen Gesetze sind sowohl hinsichtlich der Indikations- 
gründe als auch hinsichtlich der Durchführungsbestimmungen sehr 
verschiedenartig. Alle nennen Geisteskrankheit als Ehehindernıs: 
dann begegnen wir in einer Reihe von Gesetzen Schwachsinn und 
Epilepsie, in anderen ansteckenden Leiden als Eheverbotsgründen: 
mehrmals wird auch Alkoholismus bzw. Rauschgiftsucht als Ehe- 
hindernis erwähnt; Washington nennt noch schwere Kriminalität. 
Jedoch nur in wenigen Staaten ist ein Zwang zur Vorlegung eines 
ärztlichen Ehetauglichkeitszeugnisses als Heiratsvoraussetzung vor- 
geschrieben; die meisten Staaten begnügen sich damit, die genann- 
ten Leiden als Ehenichtigkeitsgründe festzusetzen. Von einer gleich- 
mäßig erfolgversprechend gestalteten Regelung dieses Fragenkreises 
kann also bei den Vereinigten Staaten nicht die Rede sein. 

In Iberoamerika besitzen ausgesprochen zu dem Zwecke der 
Rassenhygiene erlassene Eheverbotsgesetze lediglich Mexiko. 
Panama, Ekuador und Paraguay; die übrigen iberoamerika- 
nischen Staaten verfügen wohl über einige Bestimmungen, die 
psychiatrisch beachtenswert sind, in ihrer Zwecksetzung jedoch 
kaum dem Erbgesundheitsgedanken dienen. In Mexiko darf nach 
dem Bundeszivilgesetzbuch vom 26. 8. 1928 eine Ehe nicht eingehen 
wer eine der folgenden Voraussetzungen aufzuweisen hat: Trunk- 
sucht, Morphinomanie, Ätheromanie, habituellen unmäßigen Ge- 
brauch anderer Rauschgifte, Syphilis, Geisteskrankheit, Idiotie 
oder Imbezillität oder eine andere chronische und unheilbare 
Krankheit, die ansteckend oder vererblich ist; Vorlage eines ärzt- 
lichen Ehetauglichkeitszeugnisses vor der Trauung ist vorgeschrie- 
ben. In Panama verbietet ein Gesetz vom 3. 7.1928 die Eheein- 
gehung u.a. bei Vorliegen von physischer Impotenz oder einer 
übertragbaren schweren Krankheit, z.B. Syphilis, Gonorrhöe, 
Tuberkulose, Lepra, Krebs, Epilepsie oder eines ähnlichen Leidens; 
die Brautleute müssen vor der Eheschließung ein amtsärztliches 
Gesundheitszeugnis vorweisen, in dem das Nichtvorliegen einer 
übertragbaren schweren Krankheit bescheinigt ist. Eine sehr be- 
achtliche ‚Verordnung über die Einführung eines Ehegesundheits- 
zeugnisses““ hat sich am 31.12.1937 Ekuador gegeben; diese 
Verordnung sieht vor: Vor der Eheschließung ist ein Gesundheits- 
zeugnis vorzulegen, das bescheinigt, daß der Verlobte nicht an einer 
der folgenden eine Eheeingehung unmöglich machenden Krank- 


Rassenhygienische bzw. psychiatrische Eheverbote im Ausland 227 


heiten leidet: Syphilis, Gonorrhöe, Tuberkulose, Lepra oder einer 
sonstigen ansteckenden oder auf die Leibesfrucht übertragbaren 
Krankheit; das Ehehindernis ist ım Falle einer solchen Erkrankung 
z.eitbedingt, d.h. es gilt solange, bis das Ergebnis der Behandlung 
den Betroffenen in den Zustand völliger Heilung bzw. Nichtüber- 
tragbarkeit versetzt (was ja bei vererbbarer Geisteskrankheit z. B. 
nicht in Betracht kommt). Im Februar 1938 hat Paraguay ein 
ldekret erlassen, nach dem von jedem Verlobten vor Eheschließung 


-ein von zwei Amtsärzten ausgestelltes Gesundheitszeugnis verlangt 


wird, das bestätigt, daß der Betreffende frei von Geisteskrankheit, 
Lepra, Tuberkulose, Leschimaniosis, Syphilis und Gonorrhöe ist; 
Grewohnheitstrinker sind ebenfalls von der Eheschließung ausge- 
schlossen. Wie schon erwähnt, kennen die übrigen iberoamerika- 
nischen Staaten derartige Eheverbote noch nicht; immerhin ist an- 
zunehmen, daß recht bald in Brasilien und Argentinien Ehe- 
gresundheitsgesetze erlassen werden. Beachtenswert in beiden Län- 
dern ist die Vorarbeit der beiden Rassenhygieniker R. Kehl und 
E. Diaz de Guijarro. So fordert Kehl (vgl. z. B. dessen Lições de 
„Eugenia“, Rio de Janeiro 1935, und ‚Novas diretrizes da Politica 
Eugenia Mundial“, Rio de Janeiro 1937) unter Anerkennung der 
deutschen Ehegesundheitsgesetzgebung weitgehende obligatorische 
Beibringung eines Ehegesundheitszeugnisses sowie überhaupt Rege- 
lung des Eherechts nach konsequenten rassenhygienischen Prin- 
zıpien. Guijarro („La reforma del matrimonio civil por las leyes 
eugenicas‘‘, Buenos Aires 1938) verlangt eine an folgerichtigen rassen- 
hygienischen Gesichtspunkten ausgerichtete Eherechtsreform; in 
dieser Hinsicht müsse das künftige Eherecht Argentiniens eine Be- 
stimmung enthalten, die folgendes vorsehe: Die Eheeingehung ist 
einer Person zu verbieten, die an einem vererbbaren schweren 
körperlichen Gebrechen oder an einer schweren ansteckenden oder 
erblichen Krankheit leide, die geeignet sei, die Gesundheit des 
anderen Ehegatten oder der Nachkommen zu gefährden; stets solle 
ein amtsärztliches Ehetauglichkeitszeugnis gefordert werden, das 
bestätige, daß keines der genannten Leiden oder Gebrechen vorliege. 
Daß eine solche Bestimmung rassenhvgienisch durchaus zweckent- 
sprechend ist, braucht nicht besonders betont zu werden. 

Recht interessante Regelungen finden wir ın einer Reihe euro- 
päischer Staaten. Beachtung verdienen vor allem: Dänemark, 
Island, Estland, Finnland, Lettland, Norwegen, Schwe- 
den, Portugal und die Türkeı. 

In Dänemark darf nach dem Ehegesetz vom 30.6. 1922 keine 
Ehe schließen, wer geisteskrank oder in höherem Grade geistes- 


15° 


228 M. Steinwallner 


schwach ist; doch soll mit königlicher Bewilligung ein Geisteskranker 
zur Eheschließung zugelassen werden, wenn feststeht, daß im Hin- 
blick auf die Art der Krankheit und die geringe Gefahr kränklicher 
Nachkommen die Eheeingehung in diesem Falle verantwortet wer- 
den kann. In Island darf nach dem Gesetz über Eheschließung 
vom 27.6. 1921 ein Mann, der geistesschwach oder geisteskrank ist, 
nicht getraut werden; dies darf auch nicht stattfinden, wenn ein 
Teil des Brautpaares an ansteckender Geschlechtskrankheit, Epi- 
lepsie, Lepra oder ansteckender Tuberkulose leidet. In Estland 
dürfen nach dem am 27.10.1922 erlassenen Ehestandsgesetz ın 
die Ehe nicht eintreten: unheilbar Geisteskranke, Epileptiker ın 
schwerer Form, überhaupt Personen, die sich über den Charakter 
und die Bedeutung ihres Tuns nicht Rechenschaft zu geben ver- 
mögen, oder die ihre Handlungen nicht bestimmen können, Aus- 
sätzige, Geschlechtskranke im Stadium der Ansteckungsmöglich- 
keit. In Finnland gilt eine Verlobung als aufgelöst, wenn ein 
Brautteil schon vor der Verlobung an einer übertragbaren und 
unheilbaren Krankheit, wie z. B. Aussatz, Fallsucht, Geisteskrank- 
heit, Geschlechtskrankheit oder einem abstoßenden und erheblichen 
Fehler oder Gebrechen, leidet; nichtig ist eine Ehe, wenn eine von 
Natur verkrüppelte und zur Ehe gänzlich unfähige oder mit einer 
unheilbaren übertragbaren Krankheit behaftete Person unter Ver- 
schweigung dieses Umstandes eine andere Person veranlaßt, mit 
ihr die Ehe einzugehen. In Lettland ist nach dem Ehegesetz von 
1921 Geisteskranken und ansteckend Geschlechtskranken die Heirat 
untersagt. In Norwegen bestimmt das Gesetz betreffend Ehe- 
schließung vom 15. 5. 1918: Ein Geisteskranker darf keine Ehe ein- 
gehen; wer an Syphilis leidet, darf nicht heiraten; wer an einer 
anderen ansteckenden Geschlechtskrankheit, an Epilepsie oder an 
Aussatz leidet, kann eine Ehe nur eingehen, wenn er den anderen 
Teil damit bekanntgemacht hat und wenn beide Verlobten durch 
einen Arzt eine mündliche Unterweisung über die Gefahren der 
Krankheit erhalten haben. In Schweden bestimmt das Ehegesetz 
vom 11. 6. 1920: Die Ehe darf nicht eingehen, wer geisteskrank oder 
geistesschwach ıst; wer an Fallsucht, die sich zum überwiegenden 
Teil von inneren Ursachen herleitet, oder an ansteckender Ge- 
schlechtskrankeit leidet, darf eine Ehe nicht schließen, sofern der 
König die Heirat nicht genehmigt. In Portugal dürfen nach dem 
Gesetz über die Zivilehe von 1910 keine Ehe eingehen: Die wegen 
Geisteskrankheit Entmündigten, ebenso die Geschiedenen, wenn 
der Scheidungsgrund eine als unheilbar erkannte oder eine zu 
geschlechtlichen Verirrungen führende Krankheit war. Schließlich 


EEE EEE, m VE gr 


Rassenhygienische bzw. psychiatrische Eheverbote im Ausland 229 


dürfen in der Türkei nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1926 
nur Personen, die Urteilsfähigkeit besitzen, eine Ehe schließen; 
Personen, die von einer Geisteskrankheit befallen sind, gelten als 
durchaus unfähig zur Eheschließung; darüber hinaus bestimmt noch 
das türkische Hygienegesetz von 1925: Jede Ehe ist Personen ver- 
boten, die an Syphilis, Gonorrhöe, Schanker, Lepra oder Geistes- 
krankheit leiden; eine Ehe kann in diesen Fällen nur gestattet 
werden, wenn ein amtsärztliches Zeugnis beigebracht wird, daß die 
Gefahr der Ansteckung beseitigt oder daß eine endgültige Heilung 
erfolgt ist!). Die sonstigen europäischen Staaten besitzen keine 
durchgreifenden ehegesundheitsrechtlichen Vorschriften; immerhin 
sei kurz erwähnt, daß die meisten von ihnen (so z.B. Italien in 
seinem Zivilgesetzbuch von 1929 Art. 61) eine Ehe bei Vorliegen 
von Geisteskrankheit verbieten. 

Bemerkenswerte Entwürfe zu Ehegesundheitsgesetzen 
sind in Frankreich, Spanien und England veröffentlicht 
worden. In Frankreich wird gefordert, daß jeder Ehelustige vor 
Eheeingehung dem Registerbeamten ein ärztliches Zeugnis vor- 
legen müsse, daß er nicht an einer ansteckenden oder vererb- 
baren Krankheit leide; bei Vorliegen einer solchen Krankheit 
solle die Ehe verboten sein. Den interessantesten Entwurf hat 
der Spanier de Haro (vgl. dessen Schrift: Eugenesia y matri- 
monio, Madrid 1932) für Spanien aufgestellt; hier wird vorge- 
schlagen: Keine Ehe sollen Personen eingehen dürfen, die an ver- 
erbbarer Geisteskrankheit, Epilepsie oder Nervenkrankheit leiden, 
die zeugungsunfähig sind, die mit Lepra, Tuberkulose, Syphilis oder 
einer anderen ansteckenden oder vererbbaren Krankheit behaftet 
sind, es sei denn, daß der betreffende Kranke sich einer Unfrucht- 
barmachung unterzieht und der andere Brautteil nichts dagegen 
einzuwenden hat; die Standesbeamten müssen von jedem Ehe- 
lustigen ein Gesundheitszeugnis fordern, in dem die Nichtexistenz 
einer derartigen Krankheit bestätigt wird, und ohne ein solches 
Zeugnis sollen sie keine Ehe schließen dürfen. Für die gesetzliche 
Anerkennung rassenhygienischer Eheverbote und für die Verwirk- 
lıchung eines ärztlichen ‚health examination before marriage‘“ 
setzt sich lebhaft die englische „Eugenics Society‘ ein; 
in „Ihe Eugenics Review“ 27. Jg. S. 306f. hat sie Vorschläge in 
dieser Hinsicht gemacht und ein „premarital health schedule‘ 
veröffentlicht; dieser Untersuchungsbogen gibt dem Arzt An- 

1) In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß sich am 8. 8. 1938 


Danzig ein Ehegesundheitsgesetz gegeben hat, das bis auf geringe Einzel- 
heiten völlig dem Deutschen Ehegesundheitsgesetz von 1935 gleicht. 


230 M. Steinwallner 


weisungen, wie er Untersuchungen von Personen auf die gesund- 
heitliche Ehetauglichkeit vorzunehmen hat, wobei das Erbmoment 
weitgehend berücksichtigt ist; jedoch die englische Regierung hat 
bei der kürzlichen Eherechtsreform diese wertvollen Vorschläge 
außer acht gelassen. Schießlich sei noch darauf hingewiesen, daß 
sich in Italien die Stimmen mehren, die für die Einführung eines 
Ehegesundheitsgesetzes nach dem Vorbild der deutschen Regelung 
eintreten ; zu nennen sind hier vor allem Gasteiner, Cogni und Pende, 
die im „Quadrivio‘‘, im „Tevere“ und anderer Stelle die Verwirk- 
lichung eines rassenhygienischen Ehegesetzes lebhaft befürworten: 
daß die Einführung eines solchen Gesetzes in Italien in nicht zu 
ferner Zeit erfolgen dürfte, lehrt übrigens die Tatsache, daß der 
italienische Ministerrat vor kurzem die Gründung eines , Instituts 
für Volksaufartung und Volkspflege‘‘ beschlossen hat, in dem 
besonders Fragen der Rassenhygiene bearbeitet werden sollen. 
Propagiert werden modernen Anforderungen genügende Ehever- 
bote aus rassenhygienischen Gründen noch in manchen anderen 
Ländern, z.B. in Holland, Ungarn, Rumänien usw. 

Soweit die Übersicht über die wichtigsten auswärtigen Bestim- 
mungen hinsichtlich der rassenhygienischen Voraussetzungen bei 
der Eheschließung. Wirklich durchgreifende Regelungen besitzen, 
wie die Übersicht gezeigt haben wird, vorerst nur wenige Staaten. 
In den meisten Ländern kann von einer Verwirklichung rassen- 
hygienischer Prinzipien also kaum oder noch nicht die Rede sein. 
Doch ist zu hoffen, daß der heutige Siegeszug der Rassenhygiene 
durch die Welt recht bald in zahlreichen Ländern ehegesundheits- 
rechtliche Regelungen dieser oder jener Art bringen wird. 

Nimmt man noch kurz zu den erörterten Regelungen kritisch 
Stellung, so ist zu sagen: Als rassenhygienisch bedenklich sind 
solche Möglichkeiten abzulehnen, die vorsehen, daß eine Ehe trotz 
Vorliegens eines schweren Leidens doch geschlossen werden kann, 
wenn der andere — gesunde — Ehepartner damit bekanntgemacht 
wird und dagegen nichts einzuwenden hat (wie dies z. B. in Nor- 
wegen der Fall ist); hier könnte es also gegebenenfalls dazu kommen, 
daß aus solchen Ehen kranke Kinder hervorgehen, was von einem 
rassenhygienisch konsequenten Blickpunkt nie gutgeheißen werden 
kann; denn ein Eheverbot, das rassenhygienisch folgerichtig vor- 
gehen will (sonst wäre ja überhaupt kein Eheverbot erforderlich), 
muß unter allen Umständen — also auch zwangsweise — eine 
erbgeschädigte Nachkommenschaft verhindern, und die Entschei- 
dung darüber darf nicht in das Ermessen der Verlobten gestellt 
werden. 


Rassenhygienische bzw. psychiatrische Eheverbote im Ausland 231 


Die Frage der Verhütung erbkranken Nachwuchses, die auch in 
erster Linie Zweck der Eheverbote für Fortpflanzungsminderwertige 
sein muß, gehört zu den wichtigsten Gesichtspunkten der heutigen 
rassenhygienischen Bevölkerungspolitik. Kein Staat, wie auch seine 
politische Ideologie beschaffen sein mag, kann heute an diesem 
Fragenkomplex achtlos vorübergehen, es sei denn, er legt auf eine 
konsequente, erfolgversprechende Bevölkerungspolitik keinen Wert. 
Jeder Staat, der bevölkerungspolitisch zweckmäßig handeln will, 
muß aber darauf bedacht sein, Ehen zu verhüten, die infolge be- 
stimmter persönlicher — gesundheitlicher — Voraussetzungen der 
Ehepartner für die Volksgesamtheit unerwünscht sind und diese nur 
unerträglich belasten; dies ist aber der Fall, wenn gestattet wird, 
daß kranke (insbesondere erbkranke) oder sonst eheuntaugliche 
Menschen heiraten dürfen. Die erörterten einzelnen Regelungen 
haben gezeigt, daß auf dem Gebiete der rassenhygienischen Ehe- 
gesundheitsgesetzgebung noch meistens ein wirres Durcheinander 
besteht, und daß ın vielen Staaten folgerichtige, wirksam ausge- 
baute Bestimmungen noch fehlen, so interessant in sonstiger Hin- 
sicht diese oder jene der geltenden Vorschriften sein mag. Jeder 
Staat hat die Frage nach seinem Dafürhalten anders geregelt — wo- 
bei meist konsequentes rassenhygienisches Denken zu vermissen 
ist —; in vielen Ländern bestehen aber überhaupt keine ehegesund- 
heitsrechtlichen Vorschriften. Gerade aber hier — wo es sich um 
eine für alle oder doch die meisten Länder gleich wichtige Frage 
handelt — könnten recht gut gleichartige oder ähnliche Regelungen 
verwirklicht werden. Als Idealmindestforderungen wären dabei 
nach den gegenwärtigen rassenhygienischen Erkenntnissen folgende 
Gesichtpunkte zu berücksichtigen: Ein absolutes Eheverbot müßte 
einmal für alle mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheiten, 
die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Eheteils 
und der Nachkommen befürchten lassen, sodann für alle erheblichen 
Erbkrankheiten (so insbesondere für: angeborenen Schwachsinn, 
Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, Huntington- 
sche Chorea, erbliche Blindheit und Taubheit sowie schwere erbliche 
körperliche Mıßbildung) bestehen; weiter müßte die Eheeingehung 
untersagt werden, wenn einer der Verlobten an einer geistigen 
Störung leidet, die die Ehe für das Volksganze unerwünscht er- 
scheinen läßt; dasselbe müßte auch für schweren Alkoholismus bzw. 
schwere Rauschgiftsucht gelten. Diese Grundsätze hat vorbildlich 
das deutsche Ehegesundheitsgesetz vom 18. 10. 1935 verwirklicht. 
Als nachahmenswert gutzuheißen sind bis auf Einzelheiten auch die 
Vorschläge des spanischen Entwurfs de Haros. Weiter müßte ver- 


232 M. Steinwallner, Rassenhygienische bzw. psychiatr. Eheverbote im Auslard 


langt werden, daß jeder Verlobte vor der Eheschließung seine Ehe- 
tauglichkeit — vor allem seine körperliche und geistige Gesundheit 
und das Freisein von Erbleiden — durch ein amtsärztliches Zeugnis 
nachzuweisen hat. Eine Ausnahme von dem Prinzip des absoluten 
Eheverbots bei vererbbaren Leiden könnte lediglich für den Fall 
gemacht werden, daß sich der betreffende Kranke unfruchtkar 
machen läßt; aber auch hier müßte im Interesse des Volksganzen 
und der Erhaltung und Weitervererbung erbgesunden Blutes ge- 
fordert werden, daß sich bei Unfruchtbargemachten die Auswahl 
des Ehepartners auf ebenfalls Unfruchtbargemachte oder Unfrucht- 
bare oder sonstige Erbminderwertige beschränken müßte. Dies 
sind die rassenhygienischen Mindestforderungen, die auch ım Aus- 
land — sofern man hier überhaupt auf eine erbgesunde, sozial 
brauchbare Nachkommenschaft und auf gesunde Ehen und Fa- 
milien Wert legt — Verwirklichung finden müßten. 


Der Psychopathiebegriff 


Von 
Hans W. Gruhle, Zwiefalten 


F. Mauz hat in dieser Zeitschrift 113, 1939, S. 86 „Grundsätz- 
liches zum Psychopathiebegriff‘‘ geäußert und dadurch die folgen- 
den anders orientierten Ausführungen angeregt. 

J. L. A. Koch hat das Verdienst, die Psychopathen zuerst von 
sonstigen Abnormen gesondert zu haben. Das war in der Ge- 
schichte der psychiatrischen Ideenbildung ein wichtiger Fortschritt. 
Aber er beging sogleich den Fehler, dieser Psychopathie den 
Ausdruck ‚minderwertig‘‘ beizufügen. Der Grund lag darin, daß 
er als Arzt und Gutachter natürlich zuerst diese Minderwertigen 
kennenlernte. Als man aber im Lauf der Jahrzehnte den Psycho- 
pathiebegriff auf seine Konsequenzen hin durchdachte, erkannte 
man, daß er doppelt charakterisiert sei: negativ nach der Seite 
der Erkrankung hin, positiv nach der Seite der Norm. Psychopathie 
ist keine Erkrankung, keine Psychose, sondern eine eingeborene 
Abweichung von der Norm, eine Variation (Modifikation, Aber- 
ration). Weitere Merkmale enthält der Begriff nicht. Man sollte 
an seiner Wertfreiheit festhalten. Kurt: Schneider übersieht diese 
Problemlage klar. Er weiß genau, daß er selbst eine willkürliche 
Einschränkung vornimmt, wenn er vorschlägt: Psychopathen seien 
abnorme Persönlichkeiten, die an ıhrer Abnormität leiden, oder unter 
deren Abnormität die Gesellschaft leidet. Es gibt aber nıcht nur 
psychopathische Personen, auf die diese Einschränkung nicht zu- 
trifft (z. B. hyperthyme), sondern auch außerempirisch hat mir die 
Schneidersche Einschränkung nie als vorteilhaft eingeleuchtet. 
Aber Kurt Schneider hat über den Psychopathiebegriff im übrigen 
alles Notwendige folgerichtig und klar gesagt; es wäre überflüssig, 
darüber nochmals zu reden, wenn nicht neuerdings mancherlei 
Konfusion entstanden wäre. 

1. Mit der Vererbung hat der Begriff der Psychopathie nichts 
zu tun. Schon seine Gleichsetzung mit der Modifikation weist 
darauf hin, daß die Anlage der Psychopathie erboedingt sein kann 
oder nicht. Bei einer Anlage an sich bleibt die Frage offen, ob sıe 
ererbt ist oder nicht. Praktisch empirisch wird man bei jeder Anlage, 


234 Hans W. Gruhle 


also auch bei jeder Psychopathie prüfen müssen, ob tatsächlich 
ihre Ererbtheit nachzuweisen seı oder nicht. Der Satz Psychopathie 
und Vererbung haben nichts miteinander zu tun, wird von einem 
eiligen Leser gelegentlich dahin mißverstanden: Psychopathie sei 


nicht ererbt. Das ist ein ganz großer Irrtum. Nur beide Begriffe 


überschneiden sich nicht. 

2. Mit der Erziehbarkeit hat der Begriff der Psychopathie 
nichts zu tun. Es gibt psychopathische Eigenheiten, die weit- 
gehend erziehbar sind, es gibt nicht psychopathische Wesenszüge, 
die unerziehbar sind. Man hat früher vorgeschlagen, geradezu die 


po u 


Erziehbarkeit zum Kriterium der Psychopathie zu machen. Sei 


eine Eigenschaft pädagogisch nicht bildbar, so beweise sie dadurch 
ihre Abwegigkeit von der Norm, denn alles Normale sei erziehbar. 
Dieser Gedanke hat nur als Entschuldigung des gering begabten 
Pädagogen etwas Einleuchtendes. Es gibt eben, wie erwähnt, zahl- 
reiche bildungsfähige psychopathische Eigenheiten. Die ganze 
Existenz der heute leider so stiefmütterlich behandelten Heil- 
pädagogik stützt diese These. Liest man gelegentlich, der Arzt 


von 


wm = 


und Erzieher nenne dann jemanden einen Psychopathen, wenn er 


als Arzt und Erzieher kapituliere, dann ist das eine nicht zu ver- 
antwortende Anwendung des Wortes Psychopathie. 


3. Mit dersozialen Brauchbarkeit hat der Begriff der Psycho- 


pathie nichts zu tun. Zwar liegt es im Wesen mancher Psychopathie- 
formen, daß sie mit Ordnung und Staat kollidieren müssen, aber 
das trıfft eben nur auf manche Psychopathen zu. Es gibt ausge- 
prägte Psychopathen, die-als Psychastheniker in sozialer Hinsicht 
vollkommen unauffällig sind. Aber auch wenn man nicht nur Un- 


auffälligkeit vom Staatsbürger fordert, sondern positive Mitarbeit ' 


am Gemeinschaftsleben, wird man unter denen, die dieser For- 
derung genügen, manchen Psychopathen, z. B. manchen Hysteriker 
finden. Es liegt — genau wie bei J. L. A. Koch — am Erfahrungs- 
material, wenn sich die Meinung so weit verbreitet hat, Asozıalität 
und Psychopathie decken sich. Keineswegs, es ist vielmehr ein oft 
recht bedauerlicher Irrtum mancher gemäß § 42b Str.G. entschei- 
denden Richter, daß ein Unverbesserlicher ein Psychopath sei. 
Muß man den Betroffenen dann in die Anstalt aufnehmen, so zeigt 
selbst eine genaue Analyse gar nichts Psychopathisches an ihm. 
Das Gleiche gilt für die Bezeichnung von Psychopathie und Ver- 
brechen. Wenn Stumpfl fast alle seiner schwer rückfälligen Ver- 
brecher für Psychopathen hält, so widerspricht dies aller bis- 
herigen Erfahrung. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr groß, 
daß sich nicht die Tatsachen, sondern der Maßstab geändert haben. 


u u 


Der Psychopathiebegriff 235 


Schon die Bezeichnung ‚psychopathischer Verbrecher“ gibt zu 
MıßBverständnissen Anlaß. Wenn man von einem psychopathischen 
Tischler redet, so dürfte man mit dieser ungewöhnlichen Bezeich- 
nung einen Tischler meinen, der nebenher psychopathische Sym- 
ptome hat. Niemand würde auf den Gedanken kommen, jener sei 
aus Psychopathie Tischler geworden. Spricht man aber von psycho- 
pathischen Verbrechern, so sollte man nur die letztere Begriffs- 
beziehung meinen, daß jemand aus Psychopathie Verbrecher 
geworden ist. Deren Zahl ist bei den eigentlichen Verbrechern nicht 
groß, bei den Gemeinlästigen größer. Stellt man z. B. bei einem rück- 
fällıgen Eigentumsverbrecher fest, daß er jedesmal bei erneuter 
Verhaftung eine leichte Haftreaktion bekommt, so mag das eine 
leichte Psychopathie verraten, hat aber mit der Motivation seines 
verbrecherischen Lebenslaufes gar nichts zu tun. Finde ich bei 
einem brutalen Einbrecher rückschauend die Tatsache, daß er 1915 
in einem Kriegslazarett große hysterische Anfälle produzierte, so mag 
ihn das unter die Psychopathen einreihen, trotzdem ist er deswegen 
noch lange kein psychopathischer Verbrecher. Ich vermisse bei den 
neueren Bearbeitern dieser Materie so oft den festen logischen Zugriff. 
Ich definiere nochmals: ein psychopathischer Verbrecher 
oder Asozialer ist ein Mann, derinfolge seiner Psycho- 
pathie zur a- oder antısozialen Lebensführung kam. 

Ganz verfehlt wäre der Gedanke, aus der chronischen Asozialität 
an sich rückläufig die psychopathische Anlage zu erschließen. 
Natürlich kann es CGrimina geben, die aus der Art der Durch- 
führung sofort den Verdacht einer seelischen Abwegigkeit er- 
wecken. (Beschmutzung vorbeigehender fremder Frauen.) Unter 
schweren Verbrechern, Gaunern, Landstreichern, Prostituierten und 
Schmarotzern, findet man indessen nicht nur die verschiedensten 
Charaktere, sondern auch Psychopathen und Nichtpsychopathen. 
Allein aus der chronischen Asozialıtät auf psychopathische Wesens- 
art zu schließen, wäre der gleiche Fehler, wie wenn der Lehrer aus 
der Unerziehbarkeit des Kindes (d. h. aus den Grenzen seiner 
eigenen Erzieherbegabung) auf Psychopathie schlösse. 

Hört man gelegentlich den Ausdruck der ‚‚rassenhygienischen 
Klärung des Wesens der Psychopathie“, so hat dies nur in jener 
Weise Sinn, wie sie von W. v. Baeyer so schön bei seiner Studie 
über die Hochstapler durchgeführt wurde: man kann bei einem 
bestimmten psychopathischen Typus empirisch darnach forschen, 
inwiefern er erbmäßig bedingt erscheint. In diesem Falle stellte 
sich das nicht für die Pseudologie, wohl aber für einen umfassen- 
deren Eigenschaftskomplex heraus. 


236 Hans W. Gruhle, Der Psychopathiebegriff 


4. Man hat der hier vertretenen Definition des Psychopathie- 
begriffes oft den Vorwurf gemacht, sie sei zu neutral, farblos, 
lebensfremd, praktisch unbrauchbar u. dgl. Ich habe das in meinem 
nunmehr 34jährigen Kampf gegen das Verbrechen nicht gespürt. 
Dieser Kampf gegen Verbrecher und Schmarotzer, der heute 
` erneut mit so großem Aufschwung aufgenommen ist, kann, wie 
das unsere endlich erreichte Sicherungsverwahrung und andere 
Maßnahmen erweisen, mit aller Sachkenntnis und Strenge geführt 
werden, ohne daß man den Psychopathiebegriff in den Vordergrund 
rückt. Eine Prüfung des einzelnen, ob er für die Gemeinschaft eine 
Belastung darstellt, worauf diese belastende Haltung beruht, ın 
welcher Weise man sie beeinflussen kann, wird im allgemeinen wenig 
praktischen Nutzen von der Feststellung haben, ob man ihn außer- 
dem noch für psychopathisch erklärt oder nicht. Lediglich jene 
wirklich psychopathischen Asozialen, bei denen die Lebenshal- 
tung auf nachweisbaren psychopathischen Wesenszügen beruht, 
aus ihnen hervorgeht, bedürften eines besonderen Eingriffs, einer 
sozialen Heilerziehung. Aber wo stehen heute hierfür Einrichtungen 
und kundige Menschen zur Verfügung? 

Asozialität und Psychopathie gleichzusetzen ist ein Denkfehler. 


— nn ig rn — 


—— 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen‘') 


Von 
K. Sickinger 


(Aus der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Hansischen Universität 
Hamburg. Direktor: Prof. Dr. Bürger- Prinz) 


(Eingegangen am 21. August 1939) 


Fieberzustände bei endogenen Psychosen sind seit Einführung 
der klinischen Thermometrie bekannt. Sie sind Jahrzehnte hin- 
durch wenig beachtet und selbst in Handbüchern nur in Neben- 
sätzen erwähnt, ın den letzten Jahren zunehmend in den Vor- 
dergrund des Interesses getreten. Die inzwischen geführten 
Diskussionen (63. Wanderversammlung der Südwestdeutschen 
Psychiater und Neurologen in Baden-Baden 1938) haben dargetan, 
daß diese Zustände heute im wesentlichen zwei Probleme bieten: 


f. handelt es sich bei diesen Fieberzuständen um das Resultat 
irgendwie gearteter banaler Infektionen, wie sie als Komplikation 
(oder Ursache ?) der ın Frage stehenden Zustände ohne weiteres 
denkbar wären ? 


2. handelt es sich bei diesen fieberhaften Zuständen wirklich 
um eine besonders stark ausgeprägte und darum für die Ursachen- 
forschung wesentliche Manifestation der Krankheitseinheit Schizo- 
phrenie, um ein besonders deutliches Zutagetreten des Morbus 
dementiae praecocis ? 


Hinsichtlich der ersten Frage verficht bekanntlich Scheid (1) 
die Ansicht, daß das Fieber bei gewissen Formen endogener 
Psychosen in banalen Begleiterkrankungen keine zureichende Er- 
klärung finde. Gegen eine derartige Erklärung sprächen die 
Sektionsbefunde. Kleine fokale Herden könnten nicht generell für 
die beobachteten hohen Temperaturen verantwortlich gemacht 
werden. Die Gegenseite wurde vor allem von Kleist (2) vertreten, 


!) Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen einer von Doz. Dr. Büssow an- 
geregten und geleiteten Reihe von Arbeiten über das Problem der febrilen 
Episoden bei endogenen Psychosen entstanden. 


238 K. Sickinger 


der auf die Schwierigkeiten der Erkennung von Fieberursachen 
bei erregten oder stuporösen Kranken hinwies und auch hervorhob, 
daß nicht jede körperliche Erkrankung greifbare pathologisch- 
anatomische Veränderungen hervorrufe. Die Zahl der fieberhaften 
Krankheitszustände, für die pathologisch-anatomisch keine Ur- 
sachen nachgewiesen werden könnten, sei nur sehr gering und 
sicher kleiner, als man nach Scheids Ausführungen annehmen 
könne. Bonhoeffer hat ebenfalls kürzlich bezweifelt, daß das Fieber 
ein konstituierendes Merkmal der hyperkinetischen Zustandsbilder 
sei. Auch er weist auf die durch den Zustand gegebene Möglichkeit 
der Fieberverursachung durch Infekte, durch Hautkontusionen, 
unzulängliche Mundpflege, durch Erkältungen hint). 


Auch hinsichtlich der zweiten Frage sind die verschiedenen 
Standpunkte besonders deutlich von Scheid einerseits und Kleist 
andererseits vertreten worden. Hierbei scheint es so, als ob die 
Stellungsnahme Scheids in seiner bekannten Monographie erheb- 
lich apodiktischer für den engen pathogenetischen Zusammenhang 
der Fiebers mit dem Morbus dementiae praecocis war, als es ın 
seinen späteren Ausführungen auf der erwähnten Versammlung 
zum Ausdruck kam. Kleist hat von vornherein darauf hingewiesen, 
daß ein Teil dieser Zustände zu den heilbaren Degenerations- 
psychosen (Schröder) gehöre. Auch die diagnostische Abtrennung 
von symptomatischen Psychosen sei schwierig. 


Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Klärung der beiden 
aufgeworfenen Fragen bringen. Der Beweis, daß es wirklich Fieber- 
zustände gibt, die nicht irgendwelche Komplikationen, sondern die 
Psychose selbst als Ursache haben, kann selbstverständlich nur 
durch den Ausschluß anderer Fieberursachen erbracht werden. 
Daß hier die pathologisch-anatomische Untersuchung ausschlag- 
gebend sein muß, liegt auf der Hand. Ebenso klar ist es, daß der 
Einzelfall auch bei sorgfältigster anatomischer Untersuchung keine 
Beweiskraft haben kann. Selbst die absolute Zahl der Fälle ohne 
nachweisbare Fieberursache kann nicht so aufschlußreich sein, 
wie es die Gegenüberstellung der Fälle mit nachgewiesener Fieber- 
ursache zu denen mit negativem Sektionsbefund ist. Es erschien 
uns deswegen fruchtbar, dıe Sektionsprotokolle sämtlicher Kranken 
auszuwerten, die im Verlauf einer akuten endogenen Psychose 
unter Fiebererscheinungen verstorben sind. Hierbei machten wir 
die Feststellung, daß Fiebererscheinungen nur bei einer einzigen 


1) Bonhoeffer, In Gegenwartsprobleme der psychiatrisch-neurologischen 
Forschung. Stuttgart 1939, F. Enke Verlag. 


æ- - 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 239 


tödlich ausgegangenen akuten hyperkinetischen Psychose gefehlt 
haben (Fall 70, Protokoll-Nr. 69383, s. S. 269). 

Die Krankenblätter der hiesigen Klinik machten es uns möglich, 
ohne besondere Mühe ein verwertbares Material zusammenzustellen. 
Seit langer Zeit!) ist auf exakte rektale Temperaturmessung bei 
allen Psychosen geachtet worden. Die Sektionen wurden fast aus- 
nahmslos durchgeführt. Die Sektionsprotokolle stammen in der 
überwiegenden Anzahl von vier verschiedenen Obduzenten, so daß 


: ein systematischer persönlicher Fehler für das Ergebnis nicht 


-r 


verantwortlich gemacht werden kann. Über Art und Verlaufsform 
der in Frage stehenden Psychosen soll an dieser Stelle nur das 
gesagt werden, was sich mit einiger Sicherheit zahlenmäßig erfassen 
läßt: 

Wie die Krankenblätter dartun, hat es sich in allen Fällen um 
Zustände von schwerer motorischer Erregung gehandelt. Alle 
weiteren klinischen Einzelheiten sollen unberücksichtigt bleiben. 

Von den 69 Kranken hatten mit Sicherheit 22 früher psychotische 


Zustände durchgemacht. Bei einem Falle finden sich 3, bei vier 2 
_ und bei siebzehn Fällen 1 früherer psychotischer Zustand. Bei 


—, 


diesem hohen Prozentsatz von vorausgegangenen seelischen 
Störungen ist die Tatsache außerordentlich interessant und wohl 
einer eingehenden Bearbeitung wert, daß sich fast sämtliche 
Patienten nach dem ersten Auftreten ihrer geistigen Erkrankung 
wieder jahrelang in ihrer alten Umgebung aufgehalten haben. 
Diese Beobachtung spricht nicht gerade für die Annahme, daß sıch 
unter dem Material ein erheblicher Prozentsatz schwerer Defekt- 
psychosen befunden hat. 

Verwertet wurden von uns die Sektionen aus den Jahren von 
1927—1938. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dar- 
gestellt: 


Tabelle 1 
30 Patienten hatten keinen Befund. 
10 n hatten eine leichte Bronchopneumonie. 
19 X hatten eine schwere Bronchopneumonie. 
10 $ hatten verschiedene andere Befunde. 


Wie aus der Tabelle hervorgeht, hat sich bei annähernd der 
Hälfte (30 von 69) bei der Sektion kein Befund ergeben, der für 
das Fieber verantwortlich gemacht werden könnte. Dieser hohe 
Prozentsatz läßt in Anbetracht der absoluten Zahl irgendwelche 
Fehler bei der Sektion ausschließen. 


1) Schon unter der Leitung des verstorbenen Prof. Weygandt. 


240 K. Sickinger 


Die klinischen Diagnosen, unter denen diese 30 Kranken (ohn: 
Befund) geführt wurden, sind folgende: 


Tabelle 2 


Schizophrenie . 
Dementia praecox . 
Katatonie . 


Erregungszustand ( Schizophrenie ?). 


Spätschizophrenie (Präsenile Psy chose ? ) 


Vitium cordis. (Schizophrenie?) 
Manisch-depressives Irresein. 


Manie. 


Depressives Zustandsbild (Katatonie ?) 


Endogene Psychose 


Präsenile Depression (Arteriosklerose ?) 


Akutes Hirnödem 
Erregungszustand 


Psychose, nervöse Erschöpfung, Ver- 


wirrtheit. . . 
Akute febrile Psychose i 


Der Beginn der tödlich ausgehenden 
60 von 69 Kranken sicher feststellen. — 
bruch der Psychose bis zum Tode bei: 


Tabelle 3 
17 Patienten bis zu 
17 u bis zu 
7 2 bis zu : 
10 bis zu 
9 über 


39 


10 Patienten 


1 


=> mh mò ud ma D NO a d d OO 


Psychosen läßt sıch þe: 
Es verstrichen vom Aus- 


6, 
6, 


şe. 


En mn 


Die Tabelle zeigt, daß es sıch bei der überwiegenden Anzahl | 
um sehr akut auftretende und rasch zum Tode führende Psychosen | 


gehandelt hat. 


Die hyperkinetische Unruhe setzte bei: 


Tabelle 4 
24 Patienten . . . bis zu 5 Tage vor dem 
23 re .. . bis zu 10 ,, vor dem 
12 = .. . bis zu 15 , vor dem 
3 E .. . bis zu 20 , vor dem 
7 i .. . über 20 , vor dem 


Tode 
Tode 
Tode 
Tode 
Tode 


ein 
ein 
ein 
ein 
ein 


| 


| 


Bei der Bewertung des Fiebers haben wir subfebrile Tempera- | 
turen bis 38° nicht in Rechnung gezogen. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 241 


Temperaturen über 38° traten auf bei: 


Tabelle 5 
33 Patienten . . . bis zu 5 Tage vor dem Tode 
17 s . . . bis zu 10 ,„,. vor dem Tode 
10 en . . . bis zu 15 , vor dem Tode 
4 I . . . bis zu 20 , vor dem Tode 
5 P . . . über 20 , vor dem Tode 


Die Diagnose ‚Schizophrenie‘ spielt (mit oder ohne Frage- 
zeichen) die weitaus größte Rolle. Nur in wenigen Fällen sah sich 
der Untersucher veranlaßt, eine exogene Psychose zu diagnosti- 
zieren. „Manisch-depressives Irresein‘‘ ist eine verhältnismäßig 
häufige Diagnose. Der Rest wird unter vorsichtigen Bezeichnungen 
geführt. Die Toten des letzten Jahres werden in Anlehnung an die 
Scheidsche Krankheitsbezeichnung als ‚akute febrile Psychose“ 
diagnostiziert. Daß sich unter diesen 30 Kranken nur 9 befinden, 
bei denen eine anatomisch widerlegte Nebendiagnose als Fieber- 
ursache angenommen wurde, ist bei der bekannten Schwierigkeit 
der Untersuchung Geisteskranker und in Anbetracht des ärztlichen 
Kausalitätsbedürfnisses einem so markantem Fieberzustand gegen- 
über eigentlich verwunderlich. 

In der Tabelle 1 folgen 10 Fälle, bei denen von dem Obduzenten 
„leichte Bronchopneumonien‘ festgestellt worden sind. Bei diesen 
kann die Frage, ob die beobachteten Temperaturen als Folge dieser 
leichten Bronchopneumonien anzusehen sind, streitig sein. In den 
Sektionsprotokollen und den Epikrisen finden wir sie nicht dis- 
kutiert. Es fehlen vor allem Angaben über das mutmaßliche Alter 
der bronchopneumonischen Prozesse. Infolgedessen können über 
diese Frage nur Mutmaßungen geäußert werden, die sich aus dem 
Verlauf und der Dauer des Fiebers bei diesen 10 Fällen ergeben. 
Wir finden nun, daß bei 2 von diesen 10 Fällen die Temperatur 
erst am letzten bzw. vorletzten Lebenstage von annähernd normalen 
Werten auf Werte über 39 stieg. Hier wäre eine Erklärung des 
Fiebers durch die leichte pneumonische Infiltration zum mindesten 
nicht widerlegbar. Bei 3 anderen bestanden 8—41 Tage vor dem 
Tode subfebrile Temperaturen, die ın den letzten Lebenstagen steil 
anstiegen. Hier würde man vielleicht dem Temperaturverlauf 
entsprechend einen ausgedehnteren Lungenbefund erwarten können. 
Vollends unzureichend wird der Lungenbefund bei den restlichen 
> Fällen. Hier bestanden hochfieberhafte Temperaturen schon 
lange Zeit vor dem Tode, mindestens 8, höchstens 28 Tage. Diese 


Fälle legen den Verdacht nahe, daß auch ein positiver anatomischer 
16 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


242 K. Sickinger 


Befund nicht ohne weiteres als zureichende Ursache für die Tempe- 
ratursteigerungen bei endogenen Psychosen betrachtet werden darf. 

Es folgen 19 Kranke, bei denen eine ausgedehnte Broncho- 
pneumonie autoptisch festgestellt wurde. 


Von diesen hatten: 


Tabelle 6 
5 Patienten. . . . 1-— 2 Tage gefiebert 
[A n n ri 3— 5 ,„ gefiebert 
3 = N, 5—10 ,,  gefiebert 
3 y ar 10—15 ,  gefiebert 
A 5 . .über 15 ,, gefiebert 


Unter den letzten 10 Fällen, die in der Tabelle als ‚„Vermischte“ 


bezeichnet wurden, hätten 2 ebensogut als Bronchopneumonien 
geführt werden können (Fall 60 und 61). Bei beiden bestanden 
aber Nebenbefunde, die die Klarheit des Bildes beeinträchtigten. 
Von diesen 10 Kranken hatten 2 Anginen, 2 eine Gastritis. Die 
anderen 6: „Bronchitis fibrinosa mit Tracheitis fibrinosa‘“ — 


\ 
| 


| 
| 
| 
Ä 


„verruköse Endo- und Perikarditis“ — „eitrig-hämorrhagische 


Zystitis, Pyonephritis“ — ‚große Schilddrüse“ — „Thrombose 
der Art. brachialis“ — ‚„Venenthrombose, Embolie“. 
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß in der Hälfte der 
69 Fälle die Sektion keine oder eine sicher nicht ausreichende Ur- 
sache des Fiebers ergeben hat. Im klinischen Bild und im Fieber- 
verlauf unterscheiden sich diese 35 Kranken nicht von den rest- 
lıchen 34 mit deutlichen anatomischen Befunden. Wie wir glauben, 
stützen diese Zahlen hinreichend die Annahme, daß es bei be- 
stimmten Psychosen von endogenem Typ Fieber- 
zustände gibt, deren Ursache man einstweilen noch 
als unbekannt ansehen muß, die jedenfalls nicht als 
Folge banaler Begleiterkrankungen auzusehen sind. 


Handelt es sich nun bei diesem Fieber um eine Erscheinung, die 
für die endogenen Psychosen oder gar lediglich für die Schizo- 
phrenie spezifisch ist oder nicht ? Zur Klärung dieser Frage er- 
schien es uns fruchtbar, andere hyperkinetische Zustände von 
zweifellos exogener Ursache zum Vergleiche heranzuziehen. Dabei 
stießen wir auf die Tatsache, daß das Problem der fieberhaften 
motorischen Erregung ohne anatomischen Befund auch in der 
inneren Medizin aufgetaucht ist, nämlich bei der Diskussion ge- 
wisser Zustandsbilder bei Hyperthyreosen. Soweit wir sehen, 
sind Temperatursteigerungen bei Morbus Basedow ohne klinische 
Erklärungen seit längerer Zeit bekannt. (Ältere Literatur bei 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 243 


F. von Müller (3).) Der Zusammenhang mit der motorischen 
Erregung hat aber anscheinend bisher keine große Bedeutung 
gefunden, da sich erklärlicherweise das Interesse der Beobachtung 
mehr den Stoffwechselproblemen usw. zugewandt hat. Falta (4) 
erwähnt Fälle von perakuter Basedowscher Krankheit, bei denen 
prämortal, zugleich mit hochgradiger Tachykardie, Delirien mit 
Temperatursteigerungen auf 40—41° eıntraten. 

In unserem Material finden sich zwei Kranke, die im Verlauf 
einer Basedowpsychose gestorben sind. Beide Male ist die Diagnose 
„Basedowsche Krankheit‘ vor Ausbruch der Psychose einwandfrei 
in einer medizinischen Klinik gestellt worden (Fall 71 und 72). 
Wie aus den Krankenblättern hervorgeht, ließ sich bei den beiden 
Kranken kein wesentlicher Unterschied im Zustandsbild und Ver- 
lauf der Psychose gegenüber den als endogen bezeichneten fest- 
zustellen. Es bestand ein ängstlich-paranoider Erregungszustand, 
der in eine schwere Hyperkinese mit dem Bild des Delirium acutum 
überging. Der Tod erfolgte unter sehr hohem Temperaturanstieg 

= und Vasomotorenkollaps. In einem Falle wurde anatomisch über- 
haupt nichts gefunden, im anderen Falle beginnende Verdichtungen 
in beiden Lungenunterlappen, die wohl kaum als die Ursache des 
8 Tage vor dem Tode eintretenden hohen Fiebers angesehen werden 
können. 

Bei den Basedowpsychosen handelte es sich, wie gesagt, um 
| Fälle, die im Zustandsbild eine außerordentliche Ähnlichkeit mit 

den endogenen Psychosen aufweisen. Es gibt aber motorische 

Erregungszustände ganz anderer Art, bei denen ebenfalls Tem- 

peraturverläufe von sehr ähnlichem Typ auftreten können, deren 
| anatomische Erklärung in einem wesentlichen Prozentsatz eben- 
' falls nicht möglich ist. Wir meinen den Status epilepticus 
ı (Diskussion der Fieberbewegung im epileptischen Anfall siehe 
| Kinnier Wilson (5)): 

Für die Zeitperiode der letzten 11 Jahre finden wir 13 Sektionen 
| von im Status epilepticus Gestorbenen, die vor dem Tode einen 
, wesentlichen Fieberanstieg zeigten. Bei 7 findet sich keine Er- 
klärung (Fall 73—79). Bei 6 bestanden irgendwelche anatomische 
Veränderungen, bei denen dahingestellt sein soll, ob sie hinreichend 
für die Erklärung des Fiebers sind. Nicht unerwähnt soll — bei 
aller Vorsicht den kleinen Zahlen gegenüber — die Tatsache 
bleiben, daß das Verhältnis der negativen zu den positiven Sektions- 
befunden bei den epileptischen Staten dem der Psychosen ähnlich 
ist. In Anbetracht der kleinen Zahl der Fälle lassen sich weitere 
Schlüsse jedoch nicht ziehen. 
16° 


pee 


244 K. Sickinger 


Unsere Fälle von Basedowpsychose und Status epilepticus 
scheinen uns somit zu beweisen, daß die Verbindung von Tem- 
peratursteigerung und motorischer Erregung nicht spezifisch ist 
für den Morbus dementiae praecocis. Es scheint sogar nicht einmal 
eine Abhängigkeit von einem bestimmten Typ der Erregung ge- 
geben zu sein, wie aus den Befunden bei der Epilepsie hervorgeht. 
Sowohl die komplizierten psychomotorischen Erregungszustände 
der Hyperkinese als auch die elementaren gehäuften Krampf- 
anfälle können mit einem sehr ähnlich verlaufenden Fieber einher- 
gehen. — Die von Scheid beschriebenen febrilen Stuporen sind 
auch uns bekannt. Ihre Existenz spricht nicht gegen unsere An- 
nahme, denn auch sie verraten durch die starke Muskelspannung. 
daß es sich trotz des äußeren Bildes nicht um motorische Ruhe- 
zustände handelt. 

Die angeführten Befunde bei endogenen und exogenen Psychosen 
lassen also erkennen, daß es Fieberzustände ohne ana- 
tomische Erklärungsmöglichkeit im Zusammenhange 
mit motorischer Erregung gibt. Es bestehen begründete 
Bedenken, in diesem Fieberzustand etwas für die exogenen Psy- 
chosen oder gar für den Morbus dementiae praecocis Charakte- 
ristisches zu sehen. Weitere Vorstellungen über die ursächlichen 
Beziehungen zwischen dem psychiatrisch-neurologischen Zustands- 
bild und dem Fieber erscheinen uns einstweilen hypothetisch 
(Büssow (6)). 

Folgende Erklärungen scheinen uns möglich: 


1. Fieber und Erregung sind koordiniert. Irgendeine Noxe be- 
fällt gleichartig Temperaturzentren und motorische Zentren. 


2. Die schwere und anhaltende Muskelarbeit erzeugt fieber- 
erregende Stoffe. 


3. Das Fieber steht im Zusammenhang mit der für die erwähn- 
ten Zustände charakteristischen Nahrungsverweigerung und 
Wasserverarmung. 


Gegen die dritte Möglichkeit sind gewichtige Einwände von 
Scheid und Scheidegger (7) (vgl. Scheid S. 35) erhoben worden. 
Auch die Muskelarbeit hält Scheid nicht für eine ausreichende 
Erklärungsmöglichkeit. Er weist darauf hin, daß die wirklich ge- 
leistete Arbeit gar nicht so erheblich sei, wie es eindrucksmäßig 
erscheine und führt zum Vergleich sportliche Leistungen an. Völlig 
entscheidend scheint uns dieser Einwand allerdings nicht zu sein, 
denn die motorische Erregung dauert bei den Psychosen ohne 
Rücksicht auf die physiologischen Ermüdungserscheinungen Tage 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 245 


und Nächte hindurch, so daß der Vergleich mit sportlichen 
Leistungen nicht ohne weiteres zutreffend sein kann. Die Annahme, 
daß Temperatursteigerung und motorische Erregung koordiniert 
sind, möchten wir für die weitaus wahrscheinlichste halten. 


Anhang: Krankengeschichten 


Die Krankengeschichten können aus Raumersparnisgründen nur 
ganz kurz wiedergegeben werden, negative Befunde sind aus- 
gelassen. 


Die Krankengeschichten der Epileptiker sind ebenfalls aus 
Raumersparnisgründen nicht veröffentlicht worden. Ausführliche 
Krankengeschichten sind in der hiesigen Klinik einzusehen. 


Fall 1. Protokoll-Nr. 62356. 


K.P., 51 Jahre, weibl., in Behandlung vom 23. 2.—28. 2. 1928. 
Beginn: Wochen vor Einlieferung ängstlich und schreckhaft. 1 Tag vor 
der Einlieferung immer ängstlicher, trat die Scheiben des Autos, das sie zum 
Arzt brachte, ein und sprang heraus. 

Aufnahme: 6 Tage a. E.: sehr ängstlich, erregt, verkennt ihre Umgebung, 
fühlt sich bedroht. Temperatur: Die ersten 3 Tage subfebril. 2 Tage a. E. 
bis 39,9%. Puls 100—120. 1 Tag a. E. 38,5—38,8%. Psychisch: Vom ersten 
Tage an ängstlich, Todesgedanken, sinnloses Gerede. 2 Tage a. E. ‚‚Tob- 
sucht‘, dann Erschöpfung und Exitus durch Kreislaufschwäche. Starke 

í Hautsuggillationen. 
Klinische Diagnose: Verwirrtheitszustand. Nervöse Erschöpfung. 
. Psychose. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Leichte Piatrübung. Hirnstauung. 

| Milzstauung. Schlaffes Herz. 


| Fall 2. Protokoll-Nr. 63304. 


© N.O., 36 Jahre, weibl., in Behandlung vom 6. 7.—13. 7. 1928. 

Belastung: Ein Bruder ‚‚unheilbar‘“ in einer Irrenanstalt. 

Beginn: 8 Tage vor Aufnahme lebhafte, sich steigernde Erregung, schlechter 
Schlaf. 
| Aufnahme: 8 Tage a. E. ‚‚Gesperrt, katatone Haltungsstereotypien, 

Katalepsie, Befehlsautomatie, Echopraxie.‘‘ Zeitweise läppisches Lachen und 
-~ stark erotische Züge. Psycho-motorisch steif, gespannt, spricht nicht. Tem- 
| peratur: Am 4. Tage nach der Aufnahme subfebril, dann plötzlich 38,5°. 
1 Tag a. E. 40,4% und 42,0° am Todestage. P. 152. Psychisch: 6 Tage a. E. 
plötzlich motorisch unruhig, erregt, zerreißt Bettwäsche, redet laut. 2 Tage 
a. E. nimmt Erregung höchste Grade an, 1 Tag a. E. infolge Unruhe Kopf- 
platzwunde. Am Todestage bleibt trotz Lumbalpunktion zur Entlastung die 
Erregung bestehen. 

Klinische Diagnose: Katatonie, Sepsis und Selbstbeschädigung, Herz- 
schwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Leichte Hirnschwellung. Sonst 
o. B. 


246 K. Sickinger 


Fall 3. Protokoll-Nr. 64065. 

G. H., 41 Jahre, männl., in Behandlung yom 27. 10.—7. 11. 1928. 

Beginn: 8 Tage vor der Aufnahme zeitweise stark erregt, ‚„Wahnvor- 
stellungen, Versündigungsideen‘“, sehr ängstlich. 

Aufnahme: 10 Tage a. E. sehr unruhig, unverständliche Selbstgespräche. 
Temperatur: 2.—5. Tag nach der Aufnahme leichte Temperatur um 37,3. 
Dann am 6. Tag rapider Fieberanstieg bis auf 39,8%, am folgenden Tag 40.1°. 
Anschließend fällt die Temperatur und beträgt am Todestage nur 35,20. P. 100. 
Psychisch: Sehr stark erregt, stetige Steigerung der psycho-motorischen 
Unruhe, ununterbrochener Rededrang. Abstinenz. 2 Tage a. E. hinfällig, 
somnolent. Am 7.11. Exitus durch Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Katatonie, Erregungszustand. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Leichte Ventrikelerweiterung 
besonders rechts; schlaffes Herz. 


Fall 4. Protokoll-Nr. 65262. 

C. E., 43 Jahre, weibl., in Behandlung vom 10. 4.—1. 5. 1929. 

Frühere Psychosen: Vor 2 Jahren Erregungs- und Verfolgungszustände. 

Beginn: 2 Wochen vor Einlieferung Angstzustände. 2 Tage vor Aufnahme 
plötzlich ängstlich erregte Stimmungslage; hörte Stimmen. 

Aufnahme: 3 Wochen a. E. Anfangs ruhig, später bettflüchtig, unruhig. 
Temperatur: Zuerst 15 Tage subfebril zwischen 37,5—38,2°. Dann 5 Tage 
remittierendes Fieber bis 38,9%, 1 Tag a. E. starker Fieberanstieg bis 39,6°. 
Psychisch: 8 Tage a. E. laut, erregt, Rededrang. 4 Tage a. E. bettflüchtig. 
hochgradige Erregung und Hyperkinese. Dann plötzlich Erblassen und Exitus. 

Klinische Diagnose: Dementia praecox, Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Atrophie des Gehirns, Ventrikel- 
erweiterung. Schlaffes Herz. Pleuritis adhaesiva chronica links. 


Fall 5. Protokoll-Nr. 65996. 

G.M., 25 Jahre, weibl., in Behandlung vom 12. 7.—23. 7. 1929. 

Belastung: Tante vorübergehend in der Anstalt Lüneburg, Diagnose 
unklar. — Kusine ebenfalls in Lüneburg. — Bruder wegen Trunksucht in der 
Heilanstalt Friedrichsberg. 

Frühere Psychosen: Zur Zeit der Menarche fieberkrank, führte wirre 
Redensarten. 1921 ebenfalls ein paar Tage verwirrt und sonderbar. 

Beginn: 3 Tage vor Aufnahme ängstliche Verstimmung, lief umher und 
weinte viel. 

Aufnahme: 11 Tage a. E. Pat. ist mutistisch. Bewegungsarmut, es fehlt 
ihr jede Spontanität. Temperatur: 3 Tage lang subfebril. Am 4. Tag vor- 
übergehend 38,5°, dann 5 fieberfreie Tage. 3 Tage a. E. plötzlich hohes Fieber 
(40,3%). Psychisch: 5 Tage a. E. zunehmende Erregung, spricht wirr. ‚Tob- 
sucht.“ Dann Benommenheit und Exitus. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Venöse Stauung des Gehirnes, 
Ovarialzyste links. 


Fall 6. Protokoll-Nr. 66752. 


B.E., 44 Jahre, weibl., in Behandlung vom 23. 10.—1. 11. 1929. 
Belastung: Ein Sohn in der Anstalt Neustadt i. Holstein. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 247 


Frühere Psychosen: Vom 12.1.—5. 9.1927 in Friedrichsberg: Ver- 
folgungsideen, Suizidgedanken, war desorientiert. Zeitweise katatone Haltung. 
Diagnose: ‚Schizophrenie.‘ 

Beginn: 10 Tage vor Aufnahme aufgeregt, weinte. 2 Tage später immer 
erregter, zerschlug alles. Am 21. 10. ins Krankenhaus Eppendorf. Am 23. 10. 
in unsere Klinik verlegt als ‚‚manischer Erregungszustand‘“. 

Aufnahme: 9 Tage a. E. lärmend, Rededrang, Wortsalat, heitere Stim- 
mung. Temperatur: 6 Tage subfebril, dann 3 Tage fieberfrei. Am Todes- 
tage plötzlich 39,6%. Exitus unter Temperaturabfall am Abend. Psychisch: 
Zuerst ängstlich, unruhig läppisch, dann: 6 Tage a. E. stetig zunehmende 
starke Hyperkinese. 1 Tag a. E. Kollaps mit Zyanose. Am folgenden Tag 
Exitus an Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: ‚Schizophrenie.‘ Schwere Verwirrtheit. Broncho- 
pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Gehirn o. B. Herz sehr schlaff. 
P.arenchymtrübung der inneren Organe. Weiche Milzschwellung. Struma der 
Schilddrüse. 


Fall 7. Protokoll-Nr. 67 58%. 
K. E., 53 Jahre, weibl., in Behandlung vom 16. 2.—22. 2. 1930. 
Frühere Psychosen: Juni 1915 Meningitis serosa mit Verwirrtheits- 
 zuständen; ängstlich; ratlos; weinerlich; depressiv. 1928 eine 14tägige Ver- 
stimmung. 
| Beginn: 14 Tage vor Aufnahme ängstlich, hatte Todesgedanken, war 
unruhig und verwirrt. 
| Aufnahme: 6 Tage a. E. in ängstlichem, widerstrebendem Zustande. 
Zeitweise „kataton‘“. Halluziniert optisch und akustisch. Temperatur: 
Vom Aufnahmetage an hohes Fieber, remittierend zwischen 38° und 39,6°. 
Psychisch: Sehr unruhig. — 3 Tage a. E. stetige Zunahme der psycho- 
motorischen Unruhe. Stärkste Hyperkinese Abstinenz. — 1 Tag a.E. 
Kollaps und Exitus infolge Herzschwäche. 
Klinische Diagnose: Spätschizophrenie? Präsenile Psychose? Herz- 
schwäche. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Gehirn stark durchblutet. Sonst 
ohne wesentlichen Befund. 


Fall 8. Protokoll-Nr. 68420. 
C. B., 41 Jahre, männl., in Behandlung vom 2. 6.—9. 6. 1930. 
Beginn: 3 Tage vor Aufnahme äußerst ängstlich, Verfolgungsideen, 
 Todesgedanken. Grimassiert viel. 
Aufnahme: 7 Tage a. E. Sehr redselig, motorisch unruhig, sehr ängstlich. 
-= Gibt keine sinngemäßen Antworten. Temperatur: Die ersten 2 Tage sub- 
febril. Am 3. Tag 38,6%. (P. 120.) Am 4. Tag Höhepunkt mit 39,6%. 4 Tag 
a. E. morgens 36,2%, am abend wieder 38,9%. (P. 132.) Psychisch: 5 Tage 
a. E. wird Patient zunehmend psycho-motorisch unruhiger. Die Hyper- 
kinese steigert sich von Tag zu Tag. 1 Tag a. E. werden seine Bewegungen 
allmählich matter, und am 9. 6. 1930 tritt der Exitus infolge Hierzschwäche ein. 
Klinische Diagnose: Katatonie, Erregungszustand. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Seitenventrikelerweiterung, be- 
sonders links. Schlaffes Herz. Parenchymtrübung der inneren Organe. 


248 K. Sickinger 


Fall 9. Protokoll-Nr. 70962. 


R. W., 56 Jahre, männl., in Behandlung vom 19. 6.—20. 6. 1931. 

Frühere Psychosen: Patient war schon früher zeitweise sehr still, dann 
wieder sehr laut. 

Beginn: 6 Tage vor Aufnahme sehr redelustig, aufgeregt, schlechter 
Schlaf. Zerschlug später mehrere Scheiben in der Straßenbahn. 

Aufnahme: 1 Tag a. E. Zuerst infolge Schlafmittel noch benommen. 
dann am Abend sehr erregt, ‚Tobsucht“. Temperatur: Am Aufnahmetage 
38,4° Temperatur, die am Abend auf 39,6 absteigt. Psychisch: Stetig zu- 
nehmende psychomotorische Unruhe. ‚‚Tobsucht.‘“ Dann plötzlich Kollaps 
und Exitus. 

Klinische Diagnose: Schwerer Erregungszustand. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Herzhypertrophie, Debilitas cordis. 
Lunge und Milz gestaut. Granulierte Schrumpfnieren. 


Fall 10. Protokoll-Nr. 72636. 


K.K., 36 Jahre, männl., in Behandlung vom 24. 5.—28. 5. 1932. 

Belastung: Schwester des Großvaters in einer Anstalt. 

Beginn: Einige Wochen vor Aufnahme erregt, schrie viel, zog sich merk- 
würdig an. 

Aufnahme: 4 Tage a. E. Redet viel zusammenhanglos und in Phrasen. 
Anfangs lebhaft gereizte Stimmung, dann weinerlich. Hat Verfolgungsideen 
und Todesgedanken. Temperatur: 1 Tag nach Einweisung 38,2. Am 
3. Tag rapider Anstieg auf 40,6° und am Todestag selbst bis auf 42,2%. (Das 
Thermometer zeigte nicht mehr an.) (P. 140.) Psychisch: Vom 2. Tage an 
sehr unruhig, Patient schlägt wild um sich. In den folgenden Tagen steigert 
sich die psycho-motorische Erregung immer mehr, bis am 28.5. der Exitus 
infolge Herzversagens eintritt. 

Klinische Diagnose: Schizophrener Erregungszustand. Zerebrales 
Fieber mit Herzversagen. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. 


Fall 11. Protokoll-Nr. 74342. 


H. A., 25 Jahre, weibl., in Behandlung vom 8. 6.—29. 6. 1933. 
Beginn: 2 Monate vor Aufnahme ängstlich, redete sinnloses Zeug, hielt 


sich für schwanger. Kam ins Krankenhaus Eppendorf. — Dort zeigte sie 
starken Rededrang, war unruhig, führte Selbstgespräche, halluzinierte. Zeit- 
weise kataleptisch. — Verlegung. 


Aufnahme: 3 Wochen a. E. Sehr laut, mäßig orientiert, halluziniert. 
Depressiver Gesichtsausdruck, amimisch ‚‚leichte Katalepsie“. Romberg 
stark positiv, lebhafte Reflexe. Temperatur: Vom 3. Tage bis zum Exitus 
remittierende Temperaturen (37—39°). Puls 2 Tage a. E. 130. Psychisch: 
Meist ängstlich-unruhig, schreit oft laut. 10 Tage a. E. Katalepsie. 3 Tage 
a. E. starker körperlicher Verfall. Exitus am 29. 6. infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, Marasmus, Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Kein grobanatomischer Befund. 
(Schizophrener Erregungszustand.) Gehirn blutreich, sonst ohne Befund. 


Fall 12. Protokoll-\Nr. 74226. 


R. Ph., 53 Jahre, weibl., in Behandlung vom 15. 5.—29. 7. 1933. 
Belastung: Mutter war im Klimakterium auffällig, redete Unsinn. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 249 


Beginn: Sommer 1930 lebhaft, unruhig, erregt. Schlaflosigkeit. 1930 bis 
November 1932 Heilanstalt Illenau. Dann Privatsanatorium und anschließend 
ın unsere Klinik (Januar 1933). Nach Entlassung 3 Wochen zu Hause, dann 
erneute Aufnahme im Mai. 

Aufnahme: 21, Monate a. E. Sehr stark erregt, Redefluß, Wahnideen. 
Temperatur: Die ersten 11 Tage subfebril, dann fieberfrei. 3 Tage a.E. 
plötzlich 39,8%, dann langsames Absinken. 1 Tag a. E. 36,89. Am Abend 
desselben Tages wieder rapider Fieberanstieg. Psychisch: Die erste Zeit 
.„‚manisch‘“. 8 Tage a. E. plötzlich schwere, stetig zunehmende Erregung mit 
Hi y perkinese. Nicht zu beruhigen. 1 Tag a. E. schwacher frequenter Puls 
und bei zunehmender Erschöpfung Exitus am folgenden Tage. 

Klinische Diagnose: Manisch-depressives Irresein. Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. 


Fall 13. Protokoli-Nr. 74579. 


St. K., 46 Jahre, weibl., in Behandlung vom 24. 7.—5. 8. 1933. 

Frühere Psychosen: 2. 5.—11. 6.1932. Psychiatrische Klinik Kiel. 
Schizophrenie.“ 8 Tage nach der Entlassung Rückfall. 27. 7.—14. 12. 1932 
dann in unserer Klinik. ‚‚Manisch-depressives Irresein.‘‘ Nach Entlassung 
angeblich nicht mehr auffällig. 

Beginn: 8 Tage vor Aufnahme. Stark erregt, zerschlug Fenster. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Sehr gereizt, motorisch unruhig, ideenflüchtig, 
leicht paranoid. Temperatur: Fieberfrei bis 1 Tag ante finem. Dann plötz- 
lich 38° und am Todestage 39,0%. Psychisch: Vom 1. Tage an laut, unruhig. 
Dann stetig zunehmende psycho-motorische Erregung. 2 Tage a.E. Er- 
sehöpfung, frequenter Puls, starker körperlicher Verfall. Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Manie. Erregungszustand. Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Schlaffes Herz. 


Fall 14. Protokoll-Nr. 74880. 


P.H., 40 Jahre, männl., in Behandlung vom 24. 9.—24. 10. 1933. 

Frühere Psychosen: 1918 Erregungszustand. Von 18. 1.—20. 3. 1932 
in der Heilanstalt Neustadt in Holstein. ‚Schizophrenie.‘ 

Beginn: 10 Tage vor Aufnahme. Schlechter Schlaf. 

Aufnahme: 1 Monat a. E. Rededrang, motorisch sehr unruhig, lebhaftes 
 Grebärdenspiel. Kontakt schlecht. Temperatur: Die ersten 15 Tage sub- 
= febril (37,6—38,2°). Dann 5 Tage remittierend bis 38,9° max. Am 21. Tage 
37,2° und anschließend unter 37,0%. Am 23. Tage plötzlich 39,20. Die letzten 
5 Tage a. E. subfebrile Temperaturen. Puls wird frequent (134). Psychisch: 
- Während des ganzen Aufenthaltes sehr unruhig. 14 Tage a. E. hochgradige 

psvcho-motorische Unruhe und Abstinenz bis zum Eintritt des Todes infolge 
Herzschwäche am 24. 10. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, Erregungszustand. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Lungenödem. 


Fall 15. Protokoll-Nr. 75146. 


F. W., 39 Jahre, männl., in Behandlung vom 20. 11.—22. 11. 1933. 

Beginn: Etwa 1 Woche vor Aufnahme auffallend still. Bewegungsarmut. 
2 Tage vor Aufnahme ‚‚Erregungszustände‘“. 

Aufnahme: 2 Tage a. E. Sehr unruhig, gröhlt, schlägt um sich, wider- 
strebend. Kein Kontakt und Rapport. Temperatur: steigt am Tage der 


250 K. Sickinger 


Aufnahme auf 41,0%. Am folgenden Tage 41,2° Temperatur, die bis zum Tode 
anhält. (P. 160.) Psychisch: Vom ersten Tage an schwerste, dauernd zu- 
nehmende psycho-motorische Unruhe, bis der Tod infolge Herzschwäche 
eintritt. 

Klinische Diagnose: Akuter Erregungszustand. Tobsucht (Schizo- 
phrenie?). 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. 


Fall 16. Protokoll-Nr. 75094. 


P. G., 19 Jahre, weibl., in Behandlung vom 9. 11.—3. 12. 1933. 

Beginn: Seit 2 Jahren auffällig. Verlor Kontakt mit den Menschen. 
Leistungen ließen nach. 1%, Monate vor Aufnahme sehr ängstlich, unruhig. 
glaubte sie müsse verhungern, sei unheilbar krank. Wollte aus dem Fenster 
springen. 

Aufnahme: 3 Wochen a. E. Negativistisch, gibt keine Antworten. Über 
der rechten Lunge abgeschwächtes Atmen. Temperatur: Vom 4. Tage an 
subfebrile Temperaturen. 6 Tage a. E. 40,4°. (P. 144.) Die beiden nächsten 
Tage sinkt die Temperatur bis auf 37,2%, um 3 Tage a. E. erneut auf 39.4° 
anzusteigen. Kurz vor dem Tode Temperaturabfall auf 37,8%. Psychisch: 
Anfangs sehr ruhig, ‚„‚katatone Haltung‘. 1 Woche a. E. zunehmende psycho- 
motorische Erregung mit anschließendem körperlichen Verfall und Exitus 
infolge Erschöpfung. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Tbc. Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Alte Tbc. der 
Bauchlymphdrüsen. Lungen o. B., dorsal leicht hypostatisch. Uterus prä- 
menstruell, stark durchblutet. 


Fall 17. Protokoll-Nr. 75331. 


O. F., 27 Jahre, weibl., in Behandlung vom 1. 1.—16. 1. 1934. 

Beginn: 4 Tage vor Aufnahme ins Krankenhaus Bergedorf wegen leichten 
Bronchialkatarrhs und subfebrilen Temperaturen. Dort psychisch auffällig, 
Versündigungsideen, Verfolgungsideen. Halluzinierte. 

Aufnahme: 15 Tage a. E. Ruhig, dann wieder heiter, läppisch und un- 
ruhig. Temperatur: Die ersten 3 Tage bis 37,5°, dann rapider Fieberanstieg 
auf 40,0%. Zeitweise remittierend, doch stets über 38,0°. 1 Tag a. E. 41,0° 
(max. Wert). Psychisch: Vom 4. Tage an stetig zunehmende psycho- 
motorische Unruhe. Stärkste Hyperkinese. Am 16. 1. bei hohem Fieber und 
pneumonischen Erscheinungen Exitus. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Dilatation des rechten Herzens. 
Stauungslungen (überall lufthaltig). Stauungsmilz. 


Fall 18. Protokoll-Nr. 75525. 


W. B., 48 Jahre, männl., in Behandlung vom 4. 2.—7. 2. 1934. 

Frühere Psychosen: Januar 1912 bis April 1913 Heilanstalt Langen- 
horn. ‚Dementia praecox.“ Seitdem angeblich unauffällig. 

Beginn: 8 Tage vor Aufnahme. Schlechter Schlaf, Beeinflussungsideen, 
ließ das Haus auf elektrische Ströme untersuchen. Hatte 2 Tobsuchtsanfälle. 

Aufnahme: 3 Tage a. E. Sehr erregt, schlägt wild um sich. Kontakt 
unmöglich. Ausgedehnte Sugillationen (dunkelblau-rötlich) am ganzen 
Körper. Blutwassermann und Liquor positiv. Temperatur: Am Auf- 
nahmetage steigt die Temperatur auf 38,5° und 1 Tag später auf 40,2%. Am 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 251 


4. Tage nach der Aufnahme Exitus bei 39,4°. P. 136. Psychisch: Sehr starke 
motorische Unruhe, die sich von Tag zu Tag steigert. 1 Tag a. E. Abstinenz. 
Es erfolgt ein zunehmender körperlicher Verfall und Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Lues cerebri. Kreislaufschwäche. 
Schwere Erregung. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hyperämie der Pia mit Blutung. 
Schlaffes Herz. Hyperämie der Lunge. Zahlreiche blutunterlaufene Stellen 
anı ganzen Körper. 


Fall 19. Protokoll-Nr. 75545. 

G. K., 49 Jahre, männl., in Behandlung vom 8. 2.—11. 2. 1934. 

Beginn: 4 Tage vor Aufnahme Verfolgungsideen, halluzinierte optisch 
und akustisch. Kam ins Krankenhaus St. Georg. Nach 3 Tagen verlegt 
wegen ‚„Tobsucht‘“. 

Aufnahme: 3 Tage a. E. Sehr erregt, widerstrebend, Rededrang. Zeit- 
lich und örtlich desorientiert. Temperatur: Am 2. Tage 38,0%, am 3. Tage 
39,7%. (P.160.) Gegend Abend Kollaps, am folgenden Tage Exitus bei zu- 
nehmender Kreislaufschwäche. Psychisch: Vom 1. Tage an stetig zu- 
nehmende psycho-motorische Erregung. Stärkste Hyperkinese. ‚Tobsucht‘, 
Abstinenz. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, Erregungszustand, Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes, braunes Herz, Hyper- 
trophie des linken Ventrikels. Hirnschwellung und -hyperämie. Nieren am 
oberen Pol geschrumpft. 


Fall 20. Protokoll-Nr. 77 009. 


U. E., 28 Jahre, weibl., in Behandlung vom 22. 12. 34—31. 1. 1935. 

Beginn: Patientin kommt ohne Attest in die Klinik. Eine objektive 
Anamnese fehlt. 

Aufnahme: 51, Wochen a. E. erregt, aggressiv, schreit laut und lacht 
andauernd. Herz: Über allen Ostien lautes systolisches Geräusch. Tem- 
peratur: 15 Tage a. E. plötzlich 38,0—39,0° Temp. Vom 11.—6. Tag a. E. 
stark remittierend. Max. Werte von 39,6%. Es folgen 5 Tage mit Temp. 
zwischen 37,8 und 38,4°. Am Todestage Fieberanstieg auf 40,0%. (P. 144.) 
Psychisch: Die ersten Wochen ratlos, zeitweise läppisch, albern; im großen 
ganzen ruhig. 15 Tage a. E. plötzlich von Tag zu Tag zunehmende psycho- 
motorische Erregung. Stärkste Hyperkinese, die bis zum Exitus anhält. 

Klinische Diagnose: Vitium cordis. (Schizophrenie?). 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Akute Hirnhyperämie. Akute 
Lungenblähungen. Schlaffheit des Herzens rechts. 


Fall 21. Protokoll-Nr. 77182. 


H. M., 56 Jahre, weibl., in Behandlung vom 29. 1.—13. 2. 1935. 

Frühere Psychosen: Mit 16 Jahren auf den Kopf gefallen, danach 
Krämpfe. 

Beginn: 3 Wochen vor Aufnahme. Verwirrt, klagte dauernd über Be- 
schwerden. 

Aufnahme: 15 Tage a. E. Pat. jammert, klagt, Rapport schlecht, nega- 
tivistisches Verhalten. Temperatur: Bis 1 Tag a. E. bewegt sich Temp. 
zwischen 38,0 und 39,2°. Dann rapider Fieberanstieg auf 41,4° am Todestage. 
(P. 160.) Psychisch: 3 Tage a. E. plötzlich starke Unruhe, die sich zu- 


252 K. Sickinger 


sehends bis zur stärksten psycho-motorischen Erregung steigert. Am Körper 
Suggillationen. Am 13.2. zunehmender körperlicher Verfall, Exitus an 
Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Arteriosklerose? Präsenile Depression? Er- 
regungszustand. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnödem und -hyperämie. 
Schlaffes Herz. Lungenunterlappen leicht hypostatisch. Skoliose der oberen 
Brustwirbelsäule. 


Fall 22. Protokoll-Nr. 77445. 


Z. A., 37 Jahre, weibl., in Behandlung vom 24. 4.—30. 4. 1935. 

Beginn: Am Tage der Einweisung starke motorische Unruhe, Erregung. 
Personalverwechslung, Todesgedanken. 

Aufnahme: 6 Tage a. E. in obigem Zustande. Temperatur: Die ersten 
Tage subfebril. 1 Tag a. E. 38,2%. (P. 156.) Am Todestage plötzlich 40.0°. 
Psychisch: Vom Tage der Aufnahme an dauernde psycho-motorische Un- 
ruhe. Hyperkinese. Dabei ängstlich-ratlos. Körperlich hinfällig, livide Ver- 
färbung. Am 30.4. Exitus an Kreislaufschwäche und körperlichem Verfall. 

Klinische Diagnose: Akutes Hirnödem. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Oedema cerebri et pulmonunı. 
Viele Kontusionsblutungen der Haut. Lungen etwas diffus ödematös, hypo- 
statisch. 


Fall 23. Protokoll-Nr. 77830. 


G. Th., 40 Jahre, weibl., in Behandlung vom 15. 10.—22. 10. 1935. 

Frühere Psychosen: 1928 verwirrt, ratlos, motorisch unruhig, be- 
zichtigte sich der Ungezogenheit. War im Krankenhaus Eppendorf, ‚‚endogene 
Depression‘“‘. Seither unauffällig. 

Beginn: Am Tage der Aufnahme sehr erregt, weinte zeitweise, warf sich 
auf den Fußboden. 

Aufnahme: 7 Tage a.E. AÄngstlich, weinerlich. Verfolgungsideen. 
Temperatur: Die ersten 4 Tage 37,5—38,2°. Am 5. Tag rapider Fieber- 
anstieg auf 39,60 und weiterer Anstieg bis max. 40,0° kurz vor dem Tode. 
(P. 140.) Psychisch: 2 Tage nach Aufnahme plötzlich starke, stetig zu- 
nehmende psvcho-motorische Unruhe. ,Tobsucht.“ 1 Tag a. E. körper- 
licher Verfall, Zyanose, kleiner fadenförmiger Puls. Exitus an Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Lungenödem. Keine broncho- 
pneumonischen Herde. Myodegeneratio cordis rechts. Hirnhyperämie. 


Fall 24. Protokoll-Nr. 78806. 


B. K., 29 Jahre, weibl., in Behandlung vom 8. 10.—3. 11. 1936. 

Belastung: Bruder des Vaters in Landesheilanstalt Haina. 

Frühere Psychosen: 1926 \Wochenbettpsvchose, war zeitlich und örtlich 
desorientiert, halluzinierte optisch und akustisch. Bewegungsunruhe. Seitdem 
angeblich nicht auffällig. 

Beginn: 5 Wochen vor Aufnahme Angstgefühle, Ratlosigkeit. Kam ins 
Krankenhaus St. Georg. Dort Beziehungsideen, Wahnideen, Unruhe. Be- 
lästigte Mitpatienten. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 4 Wochen a. E. Geziertes, maniriertes 
Wesen. Schwer zu fixieren, redet vorbei. Affekt oberflächlich, Kontakt 
schlecht. Temperatur: 2 Wochen a. E. steigt Temp. auf 38,7%, 5 Tage später 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 253 


39,7%. Die nächsten 5 Tage bis 37,0° abfallende Temp., dann (9 Tage a. E.) 
38,8%. In der letzten Woche a. E. remittierende Temp. (37,5—38,4°). Psy- 
chisch: Größtenteils unruhig, laut störend. Abstinenz. Starke Hyperkinese, 
besonders 1 Tag a.E. 

Klinische Diagnose: Manischer Erregungszustand. Akute Herz- und 
Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Mäßige Schwellung und Ödem 
des Gehirns. Kräftiges Herz mit geringer Dilatation. Stauungsmilz, -nieren, 
-Jungen. 


Fall 25. Protokoll-Nr. 79033. 


M. A., 58 Jahre, männl., in Behandlung vom 5. 12.—12. 12. 1936. 

Frühere Psychosen: 13.9. 1924—9. 2.1925 in der hiesigen Klinik. 
„.Psyvchogene Wahnbildung?‘“‘ ‚Organische Hirnkrankheit?‘“ Damals de- 
pressiv, Selbstmordabsichten, Abstinenz. 
mals hier. Gespannt, stark erregt, paranoisch, ‚Schizophrenie ?‘“ — Seither 
angeblich unauffällig. 

Beginn: 3 Tage vor Aufnahme. Redete wirr, hatte Verfolgungsideen, 
Todesgedanken. 

Aufnahme: 7 Tage a.E. Schwerst depressiv, ängstliche Erregungs- 
zustände, Selbstgespräche, Selbstbeschuldigungen. Kontakt unmöglich. 
Temperatur: Am 2.Tag leichtes Fieber, das kontinuierlich ansteigt und 
kurz a. E. über 40,0° beträgt. Psychisch: Nach Aufnahme stetig zunehmende 
psycho-motorische Erregung. ,‚‚Tobsucht.“ Dann allmählich kataton- 
stuporös, zunehmende Bewußtseinstrübung, Pulsverschlechterung und Exitus 
infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Depressives Zustandsbild. Katatonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hyperämie und Ödem des Ge- 
hirns. Herz mäßig dilatiert. Hypostase beider Lungen. — Todesursache: 
Hirnschwellung. 


Fall 26. Protokoll-Nr. 79048. 


K. A., 37 Jahre, weibl., in Behandlung vom 9. 12.—18. 12. 1936. 

Beginn: 2 Wochen vor Aufnahme mißtrauisch, Beziehungsideen, Ver- 
folgungsideen. Pat. lief mit ihren Kindern planlos auf der Straße umher. 
Einweisung ins Krankenhaus. Nach 9 Tagen zu uns verlegt. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 9 Tage a. E. gereizt, nicht zu fixieren, 
ideenflüchtig, kein Rapport, kein Kontakt. Temperatur: 7.—5. Tag a.E. 
zwischen 37,0—39,4° remittierendes Fieber. 4 Tage a. E. bis zum Tode þe- 
wegt sich die Temp. um 39,8%. Puls nicht zu zählen. Psychisch: Vom 
Aufnahmetage an stetig zunehmende psycho-motorische Unruhe. Stärkste 
Hvperkinese. ‚‚Tobsucht.‘‘ 3 Tage a. E. allmähliche Ermattung, stark be- 
schleunigter Puls und am 18.12. Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Endogene Psychose. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Hypostase beider 
Lungen. Ventrikelerweiterung des Gehirns. — Todesursache: Herzdilatation. 


Fall 27. Protokoll-Nr. 81023. 

T.M., 34 Jahre, weibl., in Behandlung vom 14. 2.—28. 2. 1938. 

Beginn: 4 Wochen vor Aufnahme. Hörte Stimmen, wurde ängstlich. 

Aufnahme: 14 Tage a. E. Ratlos, getrieben, ängstlich. An den Extremi- 
täten zahlreiche rötliche Flecken. Temperatur: Die ersten 6 Tage Temp. 


254 | K. Sickinger 


zwischen 37,5—38,5%. Anschließend kontinuierlicher Fieberanstieg, 1 Tag a. E. 
41,4%. (P.160 max.) Psychisch: Während der ersten Woche ängstlich, 
weinerlich. 3 Tage a. E. starke, stetig zunehmende psycho-motorische Er- 
regung, Hyperkinese. Dann tritt unter zunehmendem körperlichem Verfall 
am 28.2. der Tod infolge Herzschwäche ein. 

Klinische Diagnose: Akute febrile Psychose. Bronchopneumonie. 
Herz- und Kreislaufinsuffizienz. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Gestaute Leber 
und Milz. Hypostasen in beiden Lungenunterlappen. Todesursache: Herz- 
muskelschwäche, Kreislaufversagen. 


Fall 28. Protokoll-Nr. 82061. 


N.M., 43 Jahre, weibl., in Behandlung vom 6. 9.—18. 9. 1938. 
Belastung: Ältester Bruder in Heilanstalt Neustadt Holstein gestorben. 
Beginn: 2 Tage vor Aufnahme auffallend ruhig. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Ratlos, desorientiert, unruhig, ängstlich. 
Temperatur: 5 Tage nach Aufnahme subfebril. Vom 6. Tage an kontinuier- 
licher Fieberanstieg bis max. 40,6° am Todestage. Psychisch: Vom 3. Tage 
an stetig zunehmende stärkste psycho-motorische Unruhe, die 1 Tag a.E. 
ihren Höhepunkt erreicht. Am Körper zahlreiche Suggillationen. Dann 
körperlicher Verfall und Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Akute febrile Psychose, unklarer Genese. Ver- 
dacht auf Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hypostasen in beiden Lungen- 
unterlappen. Geblähte Därme. — Todesursache: Kreislaufversagen bei 
febriler Psychose. 


Fall 29. Protokoll-Nr. 82118. 


K.A., 41 Jahre, weibl., in Behandlung vom 17. 9.—22. 9. 1938. 

Beginn: Seit 11, Jahren zeitweilig ängstliche Beziehungsideen und 
Erregungszustände. 4 Tage vor Aufnahme Verfolgungsideen, Erregungs- 
zustand. Zerschlug die Fenster. 

Aufnahme: 5 Tage a.E. Sehr erregt. ‚„Tobsucht“. Temperatur: 
Von Tag zu Tag kontinuierlich ansteigende Temp. 1 Tag a. E. max. Wert 
mit 42,0°. (P. 156.) Psvchisch: Die ersten Tage ruhig. Zeitweilig ängstlich, 
Suizidgedanken. 2 Tage a. E. paroxvsmale Erregungszustände. Stärkste 
Hyperkinese. ‚Tobsucht.‘“ Allmählich körperlicher Verfall und Exitus 
infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Akute febrile Psychose. Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Diffuse IHlämorrhagien im Sub- 
arachnoidalraum im Bereich beider Frontallappen und des rechten Temporal- 
lappens. Bronchitis der linken Lunge. — Todesursache: Herz- und Kreis- 
laufschwäche bei akuter febriler Psychose. 


Fall 30. Protokoll-Nr. 82098. 


L. P., 51 Jahre, weibl., in Behandlung vom 14. 9.—24. 9. 1938. 

Belastung: Großvater ‚nnervenkrank“. — Vater beging Selbstmord. — 
Schwester ‚‚manisch-depressiv‘“. In Anstalt gestorben. — Der älteste Sohn 
dieser Schwester in Anstalt Neustadt (‚‚Wegläufer‘‘). 

Frühere Psychosen: 1935 manische Phase. — 1936 stark depressiv. 

Beginn: 3 Monate vor Aufnahme Rededrang, sehr heiter. Dann Selbst- 
vorwürfe und Selbstbeschuldigungen. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 255 


Aufnahme: 10 Tage a. E. Weint, jammert, leicht ablenkbar. Tem- 
peratur: 4 Tage nach Aufnahme leichte Temp., die am 7. Tage auf 39,8° 
ansteigt. Dann 3 Tage remittierend (38,0—40,0°). 1 Tag a. E. 37,00. Am 
folgenden Tage 38,3%. (P. 140.) Exitus. Psychisch: 5 Tage nach Aufnahme 
plötzliche psycho-motorische Erregung, die sich von Tag zu Tag steigert. 
Abstinenz. Zyanose. 2 Tage a. E. allmählicher körperlicher Verfall. Exitus 
infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Manisch-depressives Mischbild mit fieberhafter 
Episode. | | 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Blutungen im Subarachnoidal- 
raum des Frontal- und Temporallappens beiderseits. Atelektatische Lungen, 
geringe Fettleber. — Todesursache: Kreislaufschwäche bei einer unklaren 
fieberhaften Erkrankung. 


Kranke mit leichten Bronchopneumonien 


Fall 31. Protokoll-Nr. 60834. 


A.A., 59 Jahre, weibl., in Behandlung vom 4. 7.—24. 7. 1927. 

Beginn: Einige Tage vor der Einweisung. Erregt, redete durcheinander, 
lachte grundlos. 

Aufnahme: 20 Tage a. E. Grimassiert, lacht läppisch, redet Unsinn. 
Kein Rapport und Kontakt. Temperatur: Zuerst 10 Tage subfebril, dann 
Temperaturanstieg. Am 14. Tag max. Wert mit 40,2%. Die letzten 9 Tage 
remittierend zwischen 37,5 und 38,5%. Am Todestage selbst plötzlich 40,0°. 
Psychisch: Zuerst läppisch, albern. 2 Wochen a. E. starke, von Tag zu 
Tag sich steigernde psycho-motorische Erregung. 2 Tage a. E. Höhepunkt 
der Hyperkinese. Dann starker körperlicher Verfall, Kollaps und Exitus. 

Klinische Diagnose: Spätschizophrenie, Debilitas cordis. Broncho- 
pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Gehirn o. B. Vereinzelte broncho- 
pneumonische Herde in beiden Unterlappen. Parenchymtrübung der inneren 
Organe. 


Fall 32. Protokoll-Nr. 61118. 


K. J., 53 Jahre, weibl., in Behandlung vom 17. 8.—30. 8. 1927. 

Beginn: 10 Tage vor Aufnahme Verfolgungsideen. 

Aufnahme: 13 Tage a. E. Erregt, gespannt, ängstlich, hört Stimmen. 
Temperatur: Die ersten 11 Tage subfebril (37,5—38,20%). 3 Tage a. E. 
Abfall auf 36,6%. In den letzten beiden Tagen akutes Ansteigen auf 40,6°. 
Exitus. Psychisch: Die ersten 10 Tage ängstlich, gequält. 3 Tage a. E. 
starke psycho-motorische Erregung. Die Hyperkinese hält bis kurz vor dem 
Tode, der infolge Kreislaufschwäche eintritt, an. 

Klinische Diagnose: Präsenile Angstpsychose. Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Venöse Gehirnstauung. Schlaffes 
Herz. Bronchopneumonie rechts unten. Linker Arm geschwollen, blau-rot 
verfärbt. 


Fall 33. Protokoll-Nr. 74335. 

St. R., 22 Jahre, männl., in Behandlung vom 7. 6.—19. 6. 1933. 

Beginn: Einige Wochen vor Aufnahme, ängstlich, unruhig. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Sehr unruhig, muß von 4 Pflegern gehalten 
werden. Rapport und Kontakt unmöglich. Temperatur: Die ersten Tage 


256 K. Sickinger 


remittierend (37,2—39,0°%). Vom 5.—2. Tage a. E. subfebrile Temp. 1 Tag 
später starker Fieberanstieg auf 40,4°. Exitus. Psychisch: Vom 7. Tage 
an starke psycho-motorische Erregung, die sich in den letzten Tagen a. E. 
immer mehr steigert. Dann erfolgt starker körperlicher Verfall, livides Aus- 
sehen und Exitus bei rasch ansteigender Temperatur (40,3°). 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Katatoner Erregungszustand ohne 
wesentlichen path. Befund. Gehirn ziemlich blutreich. In den Lungen beider- 
seits im Unterlappen vereinzelte bronchopneumonische Herde. 


Fall 34. Protokoll-Nr. 75060. 


O. R., 26 Jahre, männl., in Behandlung vom 2. 11.—1B8. 11. 1933. 

Belastung: Vater nahm sich das Leben. — Schwester soll in Nerven- 
klinik gewesen sein. 

Beginn: 7 Tage vor Aufnahme. Größenideen, dabei sehr unruhig. 

Aufnahme: 16 Tage a. E. Wortschwall, gehobene Stimmungslage, 
grimassiert. Rapport und Kontakt unmöglich. Temperatur: Die ersten 
8 Tage Temperaturzacken bis 38,8% infolge Verabreichung von Anästhesulf. 
Dann wird die Kur wegen der Unruhe des Pat. abgebrochen. Es folgen daher 
4 Tage mit Temp. bis 37,5%. 2 Tage a. E. plötzlich 40,0°. Am folgenden Tage 
Exitus bei Temperaturabfall auf 37,00. Psychisch: Vom 1. Tage an erregt. 
. Die psycho-motorische Unruhe steigert sich von Tag zu Tag, nimmt einige 
Tage a. E. die höchsten Grade an. 2 Tage a. E. wird der Pat. hinfällig. 
apathisch. Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, heftiger Erregungszustand. Kreis- 
laufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose) :. Vereinzelte bronchopneumonische 
Herde. Sonst kein path. Befund. 


Fall 35. Protokoll-Nr. 75903. 


F. F., 53 Jahre, männl., in Behandlung vom 26. 4.—8. 5. 1934. 

Frühere Psychosen: Während des Krieges starker Erregungszustand. 
1920 ebenfalls. 

Beginn: Etwa 8 Tage vor Aufnahme. Verfolgungsideen, laut, unruhig. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Gehobene Stimmungslage, Rededrang. Tem- 
peratur: Fieberfrei bis zum Todestage, an dem die Temperatur bis 41,0° 
ansteigt. Psychisch: Schon bei Aufnahme unruhig. In den folgenden 
Tagen dauernd zunehmende starke psycho-motorische Erregung, die 1 Tag 
a. E. ihren Höhepunkt erreicht. ‚‚Tobsucht.‘“ Dann starker körperlicher 
Verfall und Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Erregungszustand. Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Chronische 
Leptomeningitis. Beginnende Bronchopneumonie beider Unterlappen. 


Fall 36. Protokoll-Nr. 77351. 


V. J., 42 Jahre, weibl., in Behandlung vom 22. 3.—14. 4. 1935. 

Frühere Psychosen: Weihnachten 1916 Suizidgedanken. 

Beginn: 214, Wochen vor Aufnahme wegen Thrombose ins Krankenhaus 
Barmbeck. Dort unruhig, Rededrang, bizarre Handlungen. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 23 Tage a. E. Laut, läppisch, Ver- 
folgungsideen. Temperatur: 2.—13. Tag nach Aufnahme subfebril. Dann 
2 Tage 40,0° Temp.; hierauf 3 Tage Remission bis 37,8%. 4 Tage a. E. erneuter 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 257 


Temperaturanstieg auf %0,2° und anschließend 4 Tage remittierendes Fieber 
(38.6— 39,0%). Am Todestage 39,2° (P. 168). Psychisch: In der letzten 
Woche a. E. sehr laut. 2 Tage a. E. hochgradige psycho-motorische Erregung. 
Hvperkinese, die bis zum Eintritt des Todes (infolge Kreislaufschwäche) 
anhält. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie? Akutes Hirnödem. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Tod durch Zirkulationsstörung 
bei diffuser Myodegeneratio cordis. Stauungslunge, Stauungsnieren. Tracheitis. 
Hirnhyperämie. 


Fall 37. Protokoll-Nr. 77853. 


F. S., 43 Jahre, weibl., in Behandlung vom 27. 10.—8. 11. 1935. 

Belastung: Schwester 1924 Depression. 

Beginn: Einige Tage vor Aufnahme. Mißtrauisch, glaubte sich beobachtet, 
unruhig. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Sehr erregt, zeitweise weinerlich, Todes- 
gedanken, optisch und akustische Halluzinationen. Temperatur: 1.—3. Tag 
leichte Temp. um 38,0%. Am 4. Tag Remission auf 36,4°, dann erneuter Tem- 
peraturanstieg auf 38,8° (6. Tag). 2 Tage a. E. plötzlich hohe Temperatur 
(41,00%). Am nächsten Tag leichte Remission und am Todestage abermaliger 
Anstieg auf 39,8°. (P. 120—150.) Psychisch: Die ersten Tage ängstlich, 
ratlos. Dann von Tag zu Tag zunehmende psychomotorische Unruhe. Hyper- 
kinese. „Tobsucht.‘‘ 2 Tage a. E. über der Lunge bronchiales Atmen. Pat. 
verfällt sichtlich. Am 8. 11. Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie? Psychose? Hirnschwellung. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Im linken 
Lungenunterlappen eitrige Bronchitis und Bronchopneumonie. 


Fall 38. Protokoll-Nr. 78959. 


B.M., 48 Jahre, weibl., in Behandlung vom 16. 11.—23. 11. 1936. 

Beginn: 1 Woche vor Aufnahme Grippe. Anschließend erregt, redete 
merkwürdig, kam ins Krankenhaus St. Georg. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 6 Tage a. E. Sehr laut, aggressiv, 
Selbstgespräche. Liquor grob pathologisch. (Tumor?) Temperatur: Die 
ersten 5 Tage 37,6—38,4°. Am 6. Tage Remission bis 37,0%, am Abend er- 
neuter Anstieg auf 39,0%. 1 Tag a. E. noch höhere Werte. Beim Exitus 40,4°. 
(P. 128.) Psychisch: Vom 1. Tage an dauernd zunehmende psycho- 
motorische Unruhe. Abstinenz. ‚Tobsucht.‘“ 1 Tag a. E. starker körper- 
licher Verfall, oberflächliche Atmung. Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Exogener organischer Erregungszustand. Kreis- 
laufschwäche. Finales Lungenödem. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Sehr schlaffes Herz mit starker 
Dilatation. 6 Grallensteine im Choledochus. Trübe Fettleber. Schlaffe Milz. 
Hauptleiden: Hypostatische Pneumonie. — Todesursache: Herz- 
dilatation. 


Fall 39. Protokoll-Nr. 81928. 


B. F., 59 Jahre, männil., in Behandlung vom 8. 8.—12. 8. 1938. 

Beginn: 12 Tage vor Aufnahme. Rededrang, lief unbekleidet herum, 
hatte Tobsuchtsanfälle. 

Aufnahme: 4 Tage a. E. Pat. lallt vor sich hin, gibt keine Antwort, ist 
widerstrebend. Zeitlich und örtlich nicht orientiert. Temperatur: Auf- 
17 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


258 K. Sickinger 


nahmetag 37,6%. Am folgenden Tage rapider Anstieg auf 40,3%. In den nächsten 
3 Tagen bis zum Exitus remittierende Temp. (38,5—40,0%). Psychisch: 
Vom 1. Tage an dauernd zunehmende, stärkste psycho-motorische Unruhe. 
Hyperkinese. Abstinenz. 1 Tag a. E. starker körperlicher Verfall; Puls setzt 
zeitweise aus. Exitus bei plötzlichem Kreislaufversagen. 

Klinische Diagnose: Akute febrile Psychose. Pneumonie. Herz- und 
Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Allgemeine 
Stauungsorgane. Herzhypertrophie und -dilatation. Bronchopneumonie 
beider Lungen. — Todesursache: Doppelseitige Bronchopneumonie mit 
grauer Hepatisation. Akute Kreislaufschwäche. 


Fall 40. Protokoll-Nr. 82164. 


B. O., 47 Jahre, weibl., in Behandlung vom 26. 9.—26. 10. 1938. 

Beginn: 10 Tage vor Einweisung infolge Todesfall in der Familie sehr 
traurig. Dann folgten Erregungszustände. 

Aufnahme: 1 Monat a. E. Sehr laut, erregt. Rededrang. Selbstanklagen. 
Stimmungslabill.e. Temperatur: Dauernd remittierendes Fieber, zeitweise 
Werte von 40,0°. 3 Tage a. E. sinkt Temp. von 40,0% auf 37,5%. Am Todes- 
tage erneuter Anstieg auf 38,7°. Psychisch: Am Aufnahmetage ängstlicher 
Erregungszustand, der innerhalb 3 Tagen sich bis zur Hyperkinese steigert. 
Mit Hilfe der Therapie gelingt es, Pat. nach 9 Tagen ruhig zu stellen. 13 Tage 
a. E. erneute, sich steigernde Hyperkinese. 1 Woche a. E. zunehmend ver- 
döster. Die Unruhe hat jetzt deliranten Charakter. Starker körperlicher 
Verfall und Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Hyperkinetische Psychose mit fieberhaften Epi- 
soden und Verdacht auf Pneumonie ante finem. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Stauung der Pialgefäße. Hämor- 
rhagische Gastritis. Zentrale Pneumonie. — Todesursache: Herzdilatation 
bei zentraler Pneumonie. Hämorrhagische Gastritis bei hyperkinetischer 
Psychose. 


Kranke mit schweren Bronchopneumonien 


Fall 41. Protokoll-Nr. 61 339. 


B.M., 47 Jahre, weibl., in Behandlung vom 19. 9.—25. 9. 1927. 

Belastung: Onkel mütterlicherseits geisteskrank. — Vater hat sich an 
Kindern vergangen. — Bruder soll Krämpfe haben. 

Frühere Psychosen: 29. 9. 1909—17. 2. 1910 depressiv, Suizidversuch. 
(Damalige Diagnose: Dementia praecox.) 1945 in Heilanstalt Lüneburg. 

Beginn: Einige Tage vor Aufnahme. Unruhig, ängstlich. 

Aufnahme: 6 Tage a. E. Sehr still, gehemmt. Antwortet kaum und mit 
leiser Stimme. Ängstlich. Temperatur: 1 Tag nach Aufnahme leichte 
Temp., die kontinuierlich ansteigt und am Todestage mit 40,2° max. Wert 
erreicht. Psychisch: 3 Tage nach Aufnahme hochgradige psycho-motorische 
Erregung, die stetig weiter zunimmt. 1 Tag a. E. ‚‚Tobsucht.‘“‘ Abstinenz. 
Am folgenden Tage körperliche Erschöpfung, Dämpfung über der rechten 
Lunge, Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Lobäre Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz, Stauungsorgane. 
Bronchopneumonie des linken Unterlappens. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 259 


Fall 42. Protokoll-Nr. 65423. 


W. H., 50 Jahre, weibl., in Behandlung vom 3. 5.—7. 5. 1929. 
Belastung: Eine Schwester 1910, die andere 1924/25 in einer Nerven 
klinik. | 
FrüherePsychosen: 24. 9.—9. 11. 1915 in unserer Klinik wegen ‚‚psycho- 
motorischer Erregungszustände“. Anschließend Irrenanstalt Langenhorn bis 
6.6. 1916. Damals erregt und leichte Temp. ohne organischen Befund. 
Beginn: 4 Tage vor Aufnahme. Unruhig, zeitweise erregt. 
Aufnahme: 4 Tage a. E. Schwer erregt, aggressiv. Kontakt unmöglich. 
Temperatur: Vom Aufnahmetage an stetig weiter zunehmende Temperatur. 
1 Tag a. E. max. Wert mit 40,0°. Psychisch: Vom 1. Tage an hochgradige 
psycho-motorische Erregung, die stetig zunimmt. Abstinenz. 1 Tag a.E. 
Höhepunkt. Anschließend starke Erschöpfung und Exitus infolge Herz- 
schwäche. 
Klinische Diagnose: Katatoner Erregungszustand. Bronchopneumonie. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Leichte Hirnatrophie. Stauungs- 
organe. Bronchopneumonie. (In beiden Unterlappen mehrere Herde.) 


Fall 43. Protokoll-Nr. 67825. 


R.M., 51 Jahre, weibl., in Behandlung vom 19. 3.—2. 4. 1930. 

Frühere Psychosen: Juli bis September 1927 wegen Gemütserkrankung 
in der Nervenklinik Kiel. 

Beginn: Objektive Anamnese fehlt. 

Aufnahme: 2 Wochen a. E. Stark erregt, zeitweise rein manisch, redet 
viel, nicht zu fixieren. An den Extremitäten zahlreiche Suggillationen. 
Temperatur: Die ersten 7 Tage zwischen 37,0 und 38,0°. Dann 7 Tage 
zwischen 38,0 und 39,0%. Dann rapider Anstieg auf 41,3° und Exitus. Psy- 
chisch: Dauernde psycho-motorische Unruhe. Stärkste IIyperkinese. Einige 
Tage a. E. Erschöpfung, körperlicher Verfall und Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Katatonie. Debilitas cordis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Bronchopneu- 
monie. Stauungsorgane. Parenchym blutreich. 


Fall 44. Protokoll-Nr. 64478. 


S. W., 31 Jahre, männl., in Behandlung vom 1. 11.—28. 11. 1930. 

Beginn: 8 Tage vor Aufnahme. Laut, erregt, redete Unsinn, hatte Größen- 
ideen. 

Aufnahme: 27 Tage a. E. ‚‚Größenideen‘“, glaubte der ‚Retter des 
Volkes“ zu sein. Örtlich desorientiert. Temperatur: Mit Ausnahme des 
8.—11. Tages, wo Pat. infolge Unruhe nicht zu messen ist, schwankt Temp. 
die ersten 22 Tage zwischen 37,5 und 38,5%. 5 Tage a. E. steigt die Temp. 
bis 40,4° und bleibt 2 Tage auf dieser Höhe. Dann sinkt sie wieder und 3 Tage 
später tritt Exitus ein. Psychisch: Die ersten Tage leichte Unruhe, redet 
dauernd. 1 Woche a. E. plötzlich starke, von Tag zu Tag zunehmende psycho- 
motorische Unruhe. Abstinenz. ‚Tobsucht.“ 1 Tag a. E. Erschöpfung, 
körperlicher Verfall, Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Akute Katatonie. Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Venöse Stauung des Gehirns. 
Schlaffes Herz. Milzstauung. Links Unterlappenpneumonie mit Pleuritis 
exsudativa. 


17* 


260 K. Sickinger 


Fall. 45. Protokoll-Nr. 70157. 


V.O., 50 Jahre, weibl., in Behandlung vom 6. 2.—14. 2. 1931. 
Belastung: Ein Bruder während des Krieges in Nervenheilanstalt. 
Frühere Psychosen: 1920 Suizidversuch. 

Beginn: Etwa 14 Tage vor Aufnahme. Betete viel, arbeitete nicht mehr., 
blieb im Bett liegen, bezeichnete ihren Mann als ‚schwarzen Teufel‘ und schloß 
sich ein. Später wurde sie ängstlich-erregt. 

Aufnahme: 8 Tage a.E. Ängstlich, örtlich desorientiert, macht ge- 
spannten Eindruck. Temperatur: Die ersten 3 Tage subfebril, die näch- 
sten 4 Tage wegen großer Unruhe nicht zu messen, 1 Tag a. E. 39,2°, am 
Todestage selbst 39,8%. (P. 136). Psychisch: Vom Aufnahmetage an 
ängstlich-erregt. Dann von Tag zu Tag stetig zunehmende hochgradig 
psycho-motorische Unruhe. Stärkste Hyperkinese. Abstinenz. 1 Tag a. E. 
Erschöpfung, apathische Ruhe, schlechter Puls. Exitus infolge Kreislauf- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Klimakterische Angstpsychose. Delirium acutum. 
Bronchopneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Schlaffes Herz. Bronchopneu- 
monie. Septische Milz. Parenchymtrübung der inneren Organe. Struma. 
Trübung der Pia. 


Fall 46. Protokoll-Nr. 70742. 


B.B., 48 Jahre, weibl., in Behandlung vom 13. 5.—20. 5. 1931. 

Beginn: 2 Tage vor Aufnahme. Ängstlich, redete wirr, rief „Mörder, sie 
wollen mich umbringen“. 

Aufnahme: 7 Tage a. E. Schreit laut, wälzt sich am Boden, ist nicht zu 
fixieren. Schreit um Hilfe, ist ängstlich. Temperatur: Vom 1. Tage an 
Temperatur. Am 3.—5. Tage wegen starker Unruhe nicht zu messen. Am 
6. Tage 38,8%, am folgenden Tage 39,8° und Exitus. Psychisch: Vom 1. Tage 
an unruhig. 3 Tage a. E. Abstinenz. Dabei hochgradige, dauernd zunehmende 
psycho-motorische Erregung. 1 Tag a. E. allmähliche Erschöpfung, körper- 
licher Verfall, über den Lungen stellenweise Bronchialatmen. Am anderen 
Morgen Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Klimakterische Angstpsychose. Bronchopneu- 
monie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Gehirnstauung. Debilitas cordis. 
Multiple Niereninfarkte. Bronchopneumonie. Parenchymtrübung von Nieren 
und Leber. | 


Fall 47. Protokoll-Nr. 71512. 


P. H., 38 Jahre, weibl., in Behandlung vom 29. 9.—17. 10. 1931. 

Frühere Psychosen: 13. 1.—27. 3.1930 wegen „Schizophrenie“ in 
unserer Klinik. Gegen Revers entlassen. 

Beginn: 6 Monate vor ihrer letzten Aufnahme. Weinte viel, war ängstlich. 
Pat. war dann in unserer Klinik und wurde am 22.9. 31 in eine Privatklinik 
überwiesen, jedoch 7 Tage später wegen großer Unruhe zurückverlegt. 

Aufnahme: 18 Tage a. E. Hochgradig unruhig, spuckt auf den Boden. 
reißt die Handtücher vom Schrank, näßt ein. Temperatur: Die ersten 
5 Tage 37,5—38,5°. In den nächsten 8 Tagen ist die Temperatur wegen starker 
Unruhe der Pat. nicht zu messen. Am 14. Tage 39,2%. Jetzt erfolgt ein konti- 
nuierlicher Fieberanstieg bis max. 40,8° am Todestage. Psychisch: Schon 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 261 


in den ersten Tagen aggressiv, dann wieder gesperrt und negativistisch. Vom 
5. Tage an stärkste von Tag zu Tag sich steigernde psycho-motorische Unruhe. 
‚‚Tobsucht‘“, Abstinenz. 5 Tage a. E. allmähliche Erschöpfung, schlechter 
Puls, körperlicher Verfall. Über der Lunge bronchopneumonisches Atmen. 
Am 17.10. Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Im linken Unterlappen Pneumonie 
mit grauer Hepatisation; im rechten Unterlappen einige größere pneumonische 
Herde. 


Fall 48. Protokoll-Nr. 71656. 


B. E., 29 Jahre, weibl., in Behandlung vom 27. 10.—5. 11. 1931. 

Beginn: 1 Tag vor Aufnahme. Sprach verworren, telephonierte an alle 
Bekannten, lud sie ein, belästigte sie, kletterte auf Bäume. 

Aufnahme: 9 Tage a. E. Läppisch, albern, manieriertes Benehmen, macht 
symbolische Gebärden. Temperatur: Die ersten 2 Tage bis 37,8. Am 
3. und 4. Tage wegen großer Unruhe nicht zu messen. Vom 5. Tage an konti- 
nuierlicher Fieberanstieg. 1 Tag a. E. 41,7%. (P.156.) Psychisch: Die 
ersten beiden Tage ruhig, freundlich. 4 Tage a. E., plötzlich stärkste von 
Tag zu Tag sich steigernde psycho-motorische Unruhe. ‚Tobsucht.‘“ 2 Tage 
a. E. Dämpfung über der rechten Lunge. Am folgenden Tage starke Er- 
schöpfung, apathische Ruhe. Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Katatonie. Pneumonie. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Herz schlaff. 
In den Lungenunterlappen ausgedehnte pneumonische Herde. 


Fall 49. Protokoll-Nr. 72380. 


F. F., 53 Jahre, männl., in Behandlung vom 2. 4.—7. 4. 1932. 

Beginn: Am Tage der Einweisung schwere Erregungszustände. 

Aufnahme: 5 Tage a. E. Hochgradige psycho-motorische Unruhe, affekt- 
labil. Örtlich desorientiert. Nur zeitweise ansprechbar, lacht unmotiviert. 
Temperatur: Die ersten 3 Tage subfebril. 1 Tag a. E. 40,6°. (P. 140.) Am 
folgenden Tage Exitus unter Temperatur- und Pulsabfall. Psychisch: 
Die schon bei der Aufnahme vorhandene psycho-motorische Unruhe nimmt 
1 Tag a. E. die höchsten Grade an. ‚‚Tobsucht.‘‘ Am Todestage wird die 
Unruhe etwas matter, der Puls ist kaum zu fühlen. Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Psychische Erregung. Debilitas cordis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Starke Hyperämie des Gehirns. 
Braunes Herz. Bronchopneumonie. 


Fall 50. Protokoll-Nr. 72455. 


D. B., 54 Jahre, männl., in Behandlung vom 15. 4.—24. 4. 1932. 

Beginn: 2 Tage vor Aufnahme. Vollkommen untriebslos, ließ sich gehen, 
streckte die Zunge heraus. 

Aufnahme: 7 Tage a. E. Vollkommen willenlos, spricht zögernd mit 
leiser Stimme, grimassiert, läßt Zunge heraushängen, muß entkleidet werden. 
Temperatur: Die ersten 3 Tage bis 37,6%. Am 4. Tage starker Fieberanstieg 
über 39,0%. Remission auf 37,4%, am Todestage erneuter Anstieg auf 39,4°. 
Psychisch: Die ersten 2 Tage ziemlich ruhig. Am 3. Tage hochgradige, von 
Tag zu Tag stärker werdende psycho-motorische Unruhe. Abstinenz. (Vor- 


262 K. Sickinger 


übergehend hat Pat. Angina.) 1 Tag a. E. Höhepunkt der Hyperkinese, 
„Tobsucht“. Am folgenden Morgen Exitus infolge Herzschwäche. 
Klinische Diagnose: Katatonie. Herzschwäche. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Herzhypertrophie. In beiden 
Lungenunterlappen ausgedehnte pneumonische Herde. 


Fall 51. Protokoll-Nr. 73746. 


V. F., 38 Jahre, weibl., in Behandlung vom 4. 2.—18. 2. 1933. 

Beginn: Etwa 10 Tage vor Aufnahme. Pat. hatte starke Kopfschmerzen. 
fühlte sich schlapp (Grippe) und kam ins Krankenhaus St. Georg. Dort 
Verfolgungsideen und große Unruhe. 

Aufnahme: 2 Wochen a. E. Sehr lebhaft, ideenflüchtig, redselig. Kontakt 
gut. Manisches Zustandsbild. Temperatur: Vom 1. Tage an zwischen 
37,5 und 38,90 remittierendes Fieber. Psychisch: Vom Aufnahmetage an 
stärkste von Tag zu Tag sich steigernde psycho-motorische Unruhe. Abstinenz. 
Die letzten Tage a. E. erreicht die Hyperkinese ihren Höhepunkt. ‚Tobsucht.“ 
Dann erfolgt körperlicher Verfall, schlechter Puls und Exitus infolge Kreis- 
laufschwäche. 

Klinische Diagnose: Amentia. Delirium acutum bei Grippe. Debilitas 
cordis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Bronchopneumonie. Angina. 
Grippe. Herz schlaff. 


Fall 52. Protokoll-Nr. 73929. 


H. N., 19 Jahre, weibl., in Behandlung vom 14. 3.—20. 3. 1933. 

Belastung: Eine Schwester in einer Anstalt wegen Geistesschwäche. 

Beginn: Die letzten Monate vor Aufnahme. Pat. wurde trübsinnig. 
ruhelos, glaubte unheimliche Geräusche zu hören. 4 Tage vor Aufnahme 
nachts plötzlich unruhig, betete laut, lief weg. 

Aufnahme: 6 Tage a. E. Äußerst unruhig, schlägt um sich, redet sinn- 
loses Zeug religiösen Inhaltes. Temperatur: 2 Tage a. E. 38,0%, am folgenden 
Tage 39,9° und am Todestage selbst 40,3%. Psychisch: Vom Aufnahmetage 
an hochgradige psycho-motorische Unruhe, die dauernd weiter zunimmt und 
in den beiden letzten Tagen a. E. höchste Ausmaße erreicht. ‚Tobsucht.“ 
Dann wird der Puls sehr schlecht und es tritt der Exitus infolge Herz- 
schwäche ein. | 

Klinische Diagnose: Delirium acutum. Debilitas cordis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Im rechten 
Lungenoberlappen ausgedehnte pneumonische Herde. 


Fall 53. Protokoll-Nr. 73939. 


Sch. B., 49 Jahre, weibl., in Behandlung vom 15. 3.—30. 3. 1933. 

Belastung: Schwester der Mutter 1—2 Jahre lang in unserer Klinik. 
Sohn der Pat. besuchte Hilfsschule. 

Beginn: Nicht genau festzustellen. Vor etwa 14 Jahr Angstgefühle. 
klagte über Schmerzen, kam am 11. 3. 33 ins Krankenhaus Eppendorf. Dort 
depressiv, sehr verwirrt, weinte viel. 

Aufnahme (in Psych. KI. Hbg.): 15 Tage a. E. Sehr ängstlich, gehemmt. 
Spricht leise, klebt am Thema. Örtlich und zeitlich desorientiert. Tem- 
peratur: Vom 2. Tage an Temperatur zwischen 37,5—38,5°. Am Todestage 
Fieberanstieg auf 39,4%. Psychisch: Die ersten Tage ängstlich, beschuldigt 
sich selbst, leidet an Durchfall. Dann plötzlich auftretende, von Tag zu Tag 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 263 


sich steigernde psycho-motorische Unruhe. ‚‚Tobsucht.‘“ 7 Tage a. E. wird 
die Hyperkinese matter, Pat. verfällt mehr und mehr. Am 30.3. Exitus 
infolge Herzschwäche. 
Klinische Diögnose: Depression. Enteritis. Debilitas cordis. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Bronchopneumonie im linken 
Unterlappen (ziemlich reichliche Herde). Gastritis (Magenschleimhaut ge- 
rötet und geschwollen). Im Dickdarm einzelne gerötete Schleimhautstellen. 


Fall 54. Protokoll-Nr. 74142. 


L. J., 47 Jahre, männl., in Behandlung vom 2. 5.—24. 5. 1933. 

Frühere Psychosen: 1923 Verfolgungsideen. 1924 Mai bis Juni in der 
Staatsanstalt Friedrichsberg (Diagnose: ‚Organische Hirnerkrankung mit 
Defekt). Ausgeheilte Lues cerebri“? 1930 wieder in Friedrichsberg. Ver- 
folgungsideen, hatte unsinnige Einkäufe gemacht, war dauernd unterwegs, 
sehr betriebsam (Diagnose: Manisch-depressives Irresein).. Nach Entlassung 
nochmals eine depressive Phase (Frühjahr 1932). 

Beginn: 3 Wochen vor Aufnahme. Niedergeschlagen. Schlechter Schlaf. 
Einige Tage später sehr lebhaft, Größenideen, sprach von großen Geschäften. 

Aufnahme: 3 Wochen a. E. Sehr laut, führt unzusammenhängende 
Selbstgespräche. Nicht zu fixieren. Temperatur: Die ersten 19 Tage Fieber 
zwischen 37,5—39,00 (zeitweise intermittierend). Die letzten 3 Tage a. E. 
unter 38,0%. Am Todestage 41,2%. (P. 144.) Psychisch: Anfangs ängstlich, 
depressiv. In der 2. Woche hochgradige von Tag zu Tag sich steigernde 
psycho-motorische Unruhe. 1 Tag a. E. Erschöpfung, allmählicher körper- 
licher Verfall, frequenter Puls. Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Erregungszustand (auf organischer Grundlage). 
Bronchopneumonie. Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Bronchopneumonie. Kleiner Ab- 
szeß im linken Unterlappen. 


Fall 55. Protokoll-Nr. 76754. 


Th. W., 49 Jahre, männl., in Behandlung vom 29. 10.—30. 10. 1934. 

Beginn: 12 Tage vor Aufnahme. Katatoner Stupor. Kam ins U.K. 
Eppendorf. Dort Abstinenz. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 1 Tag a. E. Schwerst depressiv, sehr 
hinfällig, stöhnt, jammert. Der Puls ist sehr schlecht. Reduzierter Körper- 
zustand. Temperatur: 1 Tag a. E. rapider Anstieg auf 39,4%. Am folgenden 
Tage Exitus bei Temperaturabfall auf 36,6%. (P. 120.) Psychisch: Starke 
I.nruhe, die sich im Laufe des Tages zur hochgradigen psycho-motorischen 
Erregung steigert. ‚Tobsucht.‘‘“ Am folgenden Tage starke Zyanose und 
Exitus infolge Kreislaufschwäche. 

Klinische Diagnose: Akute Psychose. Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Akute schwere Hirnhyperämie. 
Hämorrhagische Bronchopneumonie. Bronchitis. 


Fall 56. Protokoll-Nr. 77172. 


G. R., 36 Jahre, weibl., in Behandlung vom 27. 1.—.2. 3. 1935. 

Belastung: Onkel in Irrenanstalt gestorben. 

Beginn: 5 Tage vor Aufnahme. Suizidversuch mit Leuchtgas. Ferner 
versuchte Pat. sich die Pulsader zu öffnen. War sehr depressiv. Kam ins 
A.K. St. Georg. Dort unruhig. ‚Tobsucht.‘ 


264 K. Sickinger 


Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 5 Wochen a.E. Sehr affektlabil, motorisch 
unruhig, zeitweise stuporös. Temperatur: Die ersten 9 Tage 37,5—38.5". 
Dann 4 Tage lang nicht zu messen wegen großer Unruhe. Die letzten 16 Tage 
a. E. hohes, remittierendes Fieber (max. 41,0°, P. bis 168). Psychisch: Nach 
Aufnahme ängstlich, ratlos, jedoch meistens aggressiv und psycho-motorisch 
unruhig. Dann wird Pat. allmählich ruhig. 1 Woche a. E. plötzlich erneuter 
starker Erregungszustand. Am 2.3.35 Exitus infolge Kreislaufschwäche. 
Über der Lunge bronchopneumonisches Atmen. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Eitrige Bronchitis, beginnende 
Bronchopneumonie, links hinten unten Hirnanämie, Hirnödem. Subakuter. 
septischer Milztumor. 


Fall 57. Protokoll-Nr. 77516. 


B. M., 57 Jahre, weibl., in Behandlung vom 18. 5. 1935—19. 6. 1936. 

Frühere Psychosen: Am 30. 3.35 Suizidversuch mit Leuchtgas. 

Beginn: 4 Wochen vor Aufnahme. (Gedrückt, schlechter Schlaf. Ge- 
dankenlosigkeit, keinen Appetit. 

Aufnahme: 13 Monate a. E. Sehr gedrückt, spricht leise, weint. hat 
Todesgedanken. Temperatur: 3 Tage a. E. tritt bei der Pat., die bis dahin 
fieberfrei war, plötzlich Fieber auf, das am Todestage selbst mit 40,4° seinen 
max. Wert erreicht. Psychisch: Pat. bietet ein ängstliches, getriebenes 
Bild, ist jedoch größtenteils ruhig. 3—4 Wochen a.E. plötzlich unruhiger. 
Im Laufe der folgenden Tage nimmt die psycho-motorische Erregung immer 
stärkere Grade an, bis der Exitus unter bronchopneumonischen Erscheinungen 
infolge Herzschwäche eintritt. 

Klinische Diagnose: Endogene Depression. Diffuse Bronchopneumonir. 
Ilerz- und Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Sehr schlaffes Herz mit stärkster 
Dilatation. Diffuse bronchopneumonische Herde in beiden Lungen. In beiden 
Stammganglien je ein älterer, kirschenkerngroßer Erweichungsherd. 


Fall 58. Protokoll-Nr. 79047. 


Ü. E., 37 Jahre, weibl., in Behandlung vom 9. 12.—28. 12. 1935. 

Belastung: Kusine leidet an epileptischen Anfällen und zwei weitere 
Kusinen haben sich vergiftet. 

Frühere Psychosen: 23. 11. 1921—9. 1. 1922 wegen ‚‚Dementia praecox“ 
in unserer Klinik. Nach der Entlassung im selben Jahre mehrere Suizid- 
versuche. Dann nicht mehr auffällig. 

Beginn: 1 Woche vor Aufnahme. Still, traurig, weinte und grübelte viel, 
führte ‚‚wirre Reden‘. 

Aufnahme: 3 Wochen a. E. Sehr affektlabil, gibt keine klaren Antworten. 
verliert sich in Nebensächlichkeiten. Temperatur: Die ersten 8 Tage sub- 
febril. Vom 9. bis 14. Tage Fieber zwischen 38,0—39,0%. 1 Tag a. E. erreicht 
die Temperatur mit 41,0° ihren max. Wert. Am folgenden Tage Exitus bei 
38,20. (P. nicht zu zählen.) Psychisch: Vom 3. Tage an starke, sich stetig 
weiter steigernde psycho-motorische Unruhe; 3 Tage a. E. Abstinenz, körper- 
licher Verfall, schlechter Puls und am 28. 12. Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Manisches Zustandsbild. Lobäre Pneumonie. 
Herz- und Kreislaufschwäche. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 265 


Sektion (Todesursache und Diagnose): Hyperämie des Gehirns. Stauungs- 
milz. Schlaffes, dilatiertes Herz. Pneumonie der ganzen rechten Lunge im 
Beginn. Menstruierender Uterus. — Todesursache: Pneumonie. 


Fall 59. Protokoll-Nr. 79247. 


R. H., 34 Jahre, männl., in Behandlung vom 21. 1.—4. 2. 1937. 

Beginn: 1 Tag vor Aufnahme. Ängstlich, schlechter Schlaf, Todes- 
gedanken. 

Aufnahme: 13 Tage a. E. Stark erregt, ängstlich, fühlt sich bedroht, 
brüllt zeitweise laut, hört Stimmen. Temperatur: Die ersten 4 Tage sub- 
febril. Dann 8 Tage lang zwischen 38,0 und 40,0° remittierendes Fieber. 
Die letzten beiden Tage a. E. 41,409. (P. 120—140.) Psychisch: Zuerst 
meist ängstlich, nur zeitweise laut und störend. Vom 5. Tage an hochgradige, 
von Tag zu Tag weiter zunehmende psycho-motorische Erregung. ‚.Tob- 
sucht“, Abstinenz. 3 Tage a. E. pneumonische Infiltration. Exitus nach 
starkem körperlichen Verfall. 

Klinische Diagnose: Akute katatonie. Pneumonie. Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Bronchopneumonie beider Unter- 
lappen. Atheromatose der Koronarien. Mäßige Balkenblase. Fötale Lappung 
der Nieren. Todesursache: Bronchopneumonie, Kreislaufversagen. 


Kranke mit verschiedenen anderen Befunden 


Fall 60. Protokoll-Nr. 60587. 


B. L., 32 Jahre, weibl., in Behandlung vom 24. 5.—1. 6. 1927. 

Belastung: Vater zweimal wegen Nervenleidens in Sanatorium. — Bruder 
machte mit 19 Jahren Selbstmord. 

Frühere Psychosen: 1926 Selbstmordversuch mit Sublimat. 

Beginn: 3 Tage vor Aufnahme. Depressiv, hatte Todesgedanken, Selbst- 
beschuldigungen, sehr ängstlich. 

Aufnahme: 7 Tage a. E. Bewegungsarmut, spricht zusammenhanglos, 
lächelt, grimassiert. Temperatur: Vom 2.—5. Tage subfebrile Temperatur. 
Dann remittierendes Fieber (38,0—39,0°). Exitus unter starkem Temperatur- 
sturz auf 36,6%. (P. 148.) Psychisch: Zuerst steif und ruhig. 5 Tage a. E. 
plötzlich hochgradige psvcho-motorische Erregung, die von Tag zu Tag 
stärker wird. 1 Tag a. E. ‚‚Tobsucht‘‘. Abstinenz. Am folgenden zunehmender 
körperlicher Verfall, Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Dementia praecox. Katatoner Erregungszustand. 
Debilitas cordis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Thrombose der Arteria brachialis 
rechts. Bronchopneumonie. Schlaffes Herz. 


Fall 61. Protokoll-\Nr. 70395. 


B. A., 47 Jahre, weibl., in Behandlung vom 17. 3.—29. 3. 1931. 

Beginn: 14 Tage vor Aufnahme. Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit, 
1 Tag vor Aufnahme sehr erregt, Verfolgungsideen. 

Aufnahme: 12 Tage a. E. Sehr laut, redet durcheinander. Exploration 
unmöglich. Körperlich: Beginnender Dekubitus, kleinfleckiges makulo- 
papulöses Exanthem auf Brust und Rücken. Temperatur: Vom 1. Tage 
an remittierendes Fieber. Am 5. Tage 40,00 (max. Wert), daraufhin lang- 
sames Absinken. Am Todestage erneuter Anstieg auf 39,8%. Psychisch: 


266 K. Sickinger 


Vom Aufnahmetage an hochgradige, stetig weiter zunehmende psycho 
motorische Unruhe. Abstinenz. Am 29. 3. 31 Exitus bei beginnender Pneu 
monie. i 
Klinische Diagnose: Erregungszustand (Delirium acutum). Broncho 
pneumonie. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Gehirn o. B. Schlaffes Herz 
Trübung der inneren Organe. Bronchopneumonie. Große Schilddrüse. 


Fall 62. Protokoll-Nr. 71326. 


M. H., 39 Jahre, weibl., in Behandlung vom 23. 8.—2. 10. 1931. 

Frühere Psychosen: 1923 Selbstgespräche, war gereizt, bedrohte ihre 
Herrin. 

Beginn: 14 Tage vor Aufnahme. Sehr niedergeschlagen, redete Unsinn. 
hatte Selbstmordabsichten. 

Aufnahme: 6 Wochen a. E. Sehr erregt, bekommt ‚‚Tobsuchtsanfälle‘“, 
weint ab und zu. Temperatur: Die 1. Woche Temperatur zwischen 37,0 
und 37,8%, dann vollkommen fieberfrei. Vom 29.9. an plötzlich Fieber, das 
am 1.10. und 2.10. bis 40,8% steigt, wobei der Tod eintritt. Psychisch: 
Die ersten Wochen sehr ängstlich, weinerlich-ratlos, halluziniert und führt 
Selbstgespräche. 1 Woche a. E. plötzlich starke psycho-motorische Unruhe. 
Suggillationen. 1 Tag a. E. ‚‚Tobsucht‘‘, körperlicher Verfall und Exitus 
infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Akute Exazerbation. Fötide- 
Pharyngitis. Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hyperämie des Gehirns. Akute- 
Gastritis. Sehr schlaffes Herz. 


Fall 63. Protokoll-Nr. 72783. 

K. E., 52 Jahre, weibl., in Behandlung vom 25. 6.—3. 7. 1932. 

Belastung: Vater mit 55 Jahren Suizid. — Mutter war angeblich auf- 
fällig, halluzinierte. 

Beginn: 2 Tage vor Aufnahme. Rededrang, stark erregt, brachte sich 
Schnittwunden bei, hatte Todesgedanken. 

Aufnahme: 8 Tage a. E. Stimmungslabil, sehr widerstrebend, nega- 
tivistisch, ängstlich. Temperatur: Die ersten 4 Tage Temperatur zwischen 
37,0 und 37,8%. Vom 5. Tage an kontinuierlicher Fieberanstieg bis max. 40,6° 
am Todestag. Psychisch: Kurz nach Aufnahme unruhig, erregt. In den 
folgenden Tagen hochgradige psycho-motorische Erregung, die 1 Tag a. E. 
ihren Höhepunkt erreicht. ‚‚Tobsucht.‘“ Dann allmähliche Erschöpfung, 
bronchiales Atmen. Exitus unter urämischen Erscheinungen. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie. Atemlähmung bei Urämie. Dia- 
betes. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Alte Mitralendokarditis. Dilatation 
des linken Ventrikels. Schlaffes Herz. Große, weiße Nieren. Nierenbecken 
und Ureterschleimhaut o. B. Eitrige Zystitis. Lungenödem. 


Fall 64. Protokoll-Nr. 73633. 

D. M., 36 Jahre, weibl., in Behandlung vom 10. 1.—17. 1. 1933. 

Beginn: 3 Tage vor Aufnahme. Gleichgültig, interesselos, schlechter 
Schlaf. | 

Aufnahme: 7 Tage a.E. Affektarm, redet durcheinander. Während der 
Untersuchung erregt, tätlich. Temperatur: Zuerst subfebril. Am 3. und 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 267 


. Tage Fieber bis 40,8°. In den folgenden Tagen bewegt sich die Temperatur 
m 38,00 und steigt am Todestage rapid auf 41,0° an. Psychisch: Kurz nach 
er Aufnahme hochgradige, von Tag zu Tag stärker werdende psycho- 
aotorische Unruhe. 1 Tag a. E. schlechter Puls, zunehmender körperlicher 
ierfall (stark gerötete Tonsillen). Exitus infolge Herzschwäche. 

+ Klinische Diagnose: Schizophrenie. Angina necrotica. Retropharyn- 
waler Abszeß. 

' Sektion (Todesursache und Diagnose): Angina, Tonsillen und Rachen 
naßig geschwollen und bläulich-livide verfärbt. 


Fall 65. Protokoll-Nr. 74 214. 


S. W., 29 Jahre, männl., in Behandlung vom 13. 5.—23. 5. 1933. 

Frühere Psychosen: Vom 27. 6.—2. 8. 1930 bereits in unserer Klinik. 
Diagnose: Schizophrenie. Seither unauffällig. 
| Beginn: 3 Tage vor Aufnahme. Sehr lebhaft, betriebsam, hatte große 
Pläne im Kopf. 

Aufnahme: 10 Tage a. E. Redet ununterbrochen, läßt sich kaum ab- 
lenken. Zeitlich desorientiert. Temperatur: Zuerst subfebril, vom 3. Tage 
an remittierendes Fieber (max. 39,5%). Am Todestage 39,80%. (P. 100—120). 
Psychisch: Vom 2. Tage an starke, sich täglich weiter steigernde psycho- 
motorische Erregung. 4 Tage a. E. Höhepunkt, ,Tobsucht.“ Dann zu- 
n»hmende körperliche Erschöpfung, schlechter Puls. Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Erregungszustand (Schizophrenie?). Herz- 
schwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Hirnhyperämie. Schlaffes Herz. 
Angina. 


| Fall 66. Protokoll-Nr. 76558. 


Sch. M., 33 Jahre, weibl., in Behandlung vom 17. 9.—5. 10. 1934. 
| Belastung: Mutter und Schwester angeblich früher nervenkrank. 

Beginn: Einige Tage vor Aufnahme. Unruhig, erregt, hatte Verfolgungs- 
ideen. 

Aufnahme: 18 Tage a. E. Redet ununterbrochen und zusammenhangslos. 
Macht „bizarre“ Gebärden. Temperatur: Die ersten 11 Tage subfebril. 
Vom 12. Tage an Fieber, das am 14. Tage 41,20 erreicht. Die letzten 4 Tage a. E. 
38,0—39,00° Temperatur. Psychisch: Die ersten Tage singt und lacht Pat. 
nd bietet ein ‚„manisches Zustandsbild‘“. 11 Tage a. E. plötzlich hoch- 
Igradige, täglich stärker werdende psycho-motorische Erregung. ‚Tobsucht.“ 
+ Tage später starke Erschöpfung, allmählicher körperlicher Verfall. Am 
5.10. Exitus infolge Herzschwäche. 
‚ Klinische Diagnose: Manisches Zustandsbild.  Kreislaufschwäche, 
| Herzschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Ältere Lungenembolie links 
infolge ausgedehnter Venenthrombosen im linken Bein. 


Fall 67. Protokoll-Nr. 77643. 


W. M., 29 Jahre, weibl., in Behandlung vom 13. 7.—15. 7. 1935. 
Beginn: 4 Tage vor Aufnahme. Gleichgültig, teilnahınslos, zeitweilig 
erregt. 
Aufnahme: 2 Tage a.E. Abweisend, teilnahmslos, Exploration un- 
; möglich. Temperatur: Am Aufnahmetage 38,6%. Am 2. Tage rascher An- 


| 


268 K. Siekinger 


stieg auf 40,7%. (P. 140.) Psychisch: Am 1. Tage still, affektlos, interesselos. 
1 Tag a. E. hochgradige psycho-motorische Erregung. ‚„Tobsucht.“ In den 
Morgenstunden des 3. Tages Exitus infolge Herzschwäche. | 
Klinische Diagnose: Akutes Hirnödem. Schizophrenie. | 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Schwere Herzmuskeldegenerat ion. 
Leichtes Hirnödem und Hirnhyperämie. Hämorrhagisch-eitrige Zystitis mit 
beginnender Pyonephritis. Ganz im Beginn stehende Pneumonie. 


Fall 68. Protokoll-Nr. 80414. 

Sch. E., 44 Jahre, weibl., in Behandlung vom 11. 10. 1937—4. 6. 1938. 

Frühere Psychosen: 9. 4.—20. 5.1936 im Sanatorium ‚„Ginsterhof‘. 
Diagnose: ‚‚Amentia, hysterische Überlagerung“ (Suizidversuch). | 

Beginn: 1 Monat vor Aufnahme. Angstzustände, Depressionen. Be- 
ziehungsideen, später starke Unruhe. | 

Aufnahme: Etwa 8 Monate a. E. Sehr unruhig, redet sinnlose Dinge. 
zeigt Bewegungsstereotypien. Temperatur: Vom 2. Tage an Temperatur 
zwischen 37,8—39,8%. Zeitweise über 40,5%. Am 22. Tage Temperaturabfall 
auf 37,5° und langsames Übergehen in eine 6%, Monate lange fieberfrei- 
Periode. 7 Tage a. E. plötzlich wieder 39,9%. In den letzten 6 Tagen a. E. 
kontinuierlicher Fieberanstieg bis 42,00. Psychisch: Vom Aufnahmetag- 
an schwerste motorische Unruhe, die etwa 20 Tage dauert. Zahlreiche Suggilla- 
tionen am Körper. Durch therapeutische Maßnahmen zeitweilige Beruhigung. 
In den folgenden Monaten nur noch an einzelnen Tagen erregt. 1 Monat a. E 
erneute hochgradige Hyperkinese, die nach 10 Tagen wieder abklingt. Einige 
Tage später zum dritten Male ein hochgradiger psycho-motorischer Erregung:- 
zustand, der täglich stärker wird. 1 Tag a. E. stärkste Hyperkinese. .‚.Tol:- 
sucht.“ Am folgenden Tage Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Akute Psychose. Herz- und Kreislaufschwäch®. 
Pankarditis. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Verruköse Endokarditis und 
Perikarditis, frische Auflagerungen sind nicht sicher nachweisbar. Todes- 
ursache: Verruköse Endo- und Perikarditis (Pankarditis). 


Fall 69. Protokoll-Nr. 82170. 

B. R., 41 Jahre, männl., in Behandlung vom 26. 9.—5. 10. 1938. 

Frühere Psychosen: 1919—1920 in der Nervenanstalt Kiel. Seither 
unauffällig. 

Beginn: 2 Tage vor Aufnahme. Verwirrt, erregt. 

Aufnahme: 9 Tage a. E. Große Bewegungsunruhe Redet ununter- 
brochen, ist ideenflüchtig. Temperatur: Am 2. Tage nach Aufnahme 40,1. 
anschließend 5 Tage lang leichte Temperatur (37,5—38,5%). 3 Tage a. E. 
40,4° und am folgenden Tage 41,2%. (P. 140.) Psychisch: Vom Aufnahme- 
tage an hochgradige, täglich stärker werdende psycho-motorische Unruhe. 
3 Tage a. E. Höhepunkt, ,Tobsucht.“ Anschließend körperlicher Verfall, 
flacher Puls. (Über der Trachea rasselndes Atmen.) Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

Klinische Diagnose: Manisches Zustandsbild. Febriler Erregunes- 
zustand. Akute Kreislaufschwäche. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Leichte Hirnschwellung. Gestautr 
Gefäße des Hirns. Bronchitis fibrinosa. Tracheitis fibrinosa. Alte Pleura- 
schwarte. Bronchopneumonie. — Todesursache: Kreislaufversagen bei hoech- 
gradiger Bronchitis fibrinosa und Bronchopneumonie. 


Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 269 


Fall 70. Protokoll-N\r. 69383. 


B. E., 18 Jahre, weibl., in Behandlung vom 17. 10. 1930—2. 8. 1831. 

Frühere Psychosen: 30. 3.—7.4.1928 und 6. 7.1929—19. 6. 1930e 
Schizophrenie“. Später angeblich unauffällig. 

Beginn: 2 Tage vor Aufnahme. Sehr laut, schlug Schwester, glaubte 
verstorbenen Vater zu sehen. 

Aufnahme: 91, Monate a. E. Sehr laut, weint zeitweise, redet Unsinn. 
Temperatur: Während der Dauer der Beobachtung kein Fieber. 1 Monat 
a. E. subfebrile Temperatur bis 37,6%. an einzelnen Tagen bis 38,5%. Die 
letzten 7 Tage a. E. 37,2—37,5°. Psychisch: Zeitweise sehr albern. 
stimmungslabil, gereizt. 4. 3. 31 sechstägiger Urlaub, danach sehr erregt, 
trotzig, oft gereizt. 1 Monat a.E. vorübergehend ruhiger. 6 Tage a. E. starke. 
von Tag zu Tag zunehmende psycho-motorische Unruhe. ‚Tobsucht.‘‘ Danach 
‚körperlicher Verfall, Erschöpfung und Exitus infolge Herzschwäche. 

Klinische Diagnose: Schizophrenie, akuter Erregungszustand. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Stauungsorgane In der Milz 
ein walnußgroßer Infarkt. Gehirn o. B. 


* 


Fall 71. Protokoll-Nr. 67 776. 


W.M., 52 Jahre, weibl., in Behandlung vom 12. 3.—28. 9. 19306. 

Frühere Psychosen: 1929 Suizidversuch. Seit 1922 thyreotoxische 
Erscheinungen (Zittern, Schwitzen, Gewichtsverlust). Seit 1928 behandelt 

wegen „Basedow“. 

Beginn: 24, Monate vor Aufnahme. Starke Ängstlichkeit, glaubt sich 
beobachtet. 

Aufnahme: 6%, Monate a. E. Sehr ängstlich-depressiv. Körperlich: 
Deutliche Struma. Starker Tremor der Zunge. Feinschlägiger Tremor der 
Finger. Herzaktion beschleunigt. Temperatur: Bis 8 Tage vor dem Tode 
lieberfrei, dann Temperatur um 39,2°. 4 Tage a. E. steigt das Fieber weiter 

‚und erreicht am folgenden Tage 40,7°. (P.176.) Am 28.9. Exitus bei ab- 
fallender Temperatur. Psychisch: Anfangs ruhig, ängstlich. Im letzten 
Monat vor dem Tode plötzliche Unruhe, die eine Woche a. E. in einen hoch- 
sradigen, täglich stärker werdenden psycho-motorischen Erregungszustand 
übergeht. Dann zunehmender körperlicher Verfall und Exitus infolge Herz- 
schwäche. 

| Klinische Diagnose: Schizophrenie mit Hyperthyreoidismus. 

Sektion (Todesursache und Diagnose): Bronchopneumonie. kleine be- 
sinnende Verdichtung in beiden Unterlappen. Kolloidknoten in der Schild- 
drüse. Debilitas cordis. Parenchymtrübung innerer Organe. 


Fall 72. Protokoll-Nr. 76 126. 


R. M., 57 Jahre, weibl., in Behandlung vom 18. 6.—20. 6. 1934. 

Frühere Psychosen: Seit 1928 Basedow. Starke Nervosität. Im 
März 1934 Angstzustände, glaubte, man wolle sie vergiften. 

Beginn: 7 Tage vor Aufnahme. Große Ängstlichkeit, Nervosität. Ferner 
Schmerzen in der Herzgegend, Haarausfall. Kam ins Krankenhaus Barmbeck. 
Dort Wahnideen und Erregungszustände. 

Aufnahme (in Psych. Kl. Hbg.): 2 Tage a. E. Verfolgungsideen, ängst- 
‚ lich, erregt. Körperlich: Starke Abmagerung, Schilddrüse beiderseits diffus 
vergrößert, hart, derb. Temperatur: Am 1. und 2. Tage 38,0—38,8°. Am 


a EEE BF; 


270 K. Sickinger, Über Sektionsbefunde bei febrilen Hyperkinesen 


3. Tage bei rapid ansteigender Temperatur (41,50%) Exitus. Psychisch: 
Zuerst ängstlich und leicht erregt. Am 2. Tage hochgradige psycho-motorisch: 
Unruhe. ,‚‚Tobsucht.‘“ 1 Tag später Exitus infolge Herzschwäche. | 
Klinische Diagnose: Morbus Basedow. Symptomatische Psychose. 
Erregungszustand. Herzmuskelschwäche. 
Sektion (Todesursache und Diagnose): Kolloidstruma. Fettleber. Sago- 
milz. Nieren fein granuliert. 


Schrifttumverzeichnis 


1. Scheid, 63. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und 
Psychiater am 11. und 12. Juni 1937 in Baden-Baden. — Derselbe, Febrile 
Episoden bei Schizophrenen Psychosen. Verlag Georg Thieme, Leipzig 1937. — 
2. Kleist, 63. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und 
Psychiater am 11. und 12. Juni 1937 in Baden-Baden. — 3. F. von Müller, 
Dtsch. Arch. klin. Med. Bd. 31, S. 389, Jahrg. 1893. — 4. Falta, Die Er- 
krankungen der Blutdrüsen. Wien-Berlin, Verlag Julius Springer (1913 und 
1928). — 5. Wilson, ‚‚The epilepsis“. Bumke-Förster, Handbuch der Neuro- 
logie Bd. 17, S. 26. — 6. Büssow, Zbl. inn. Med. 1939. Tagung der Nordwest- 
deutschen Gesellschaft für innere Medizin. 27. Januar 1939. — 7. Scheidegger, 
Katatone Todesfälle in der Psychiatrischen Klinik von Zürich von 1900—1928. : 
Z. Neur. 120, 587 (1929). 


Arbeiten 
zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 


IV. Über die Veränderung 
der Toleranz gegenüber Insulin 


Von 
Dr. W. Oberholzer 


(Aus der kant. Heil- und Pflegeanstalt Münsingen b. Bern. 
Direktor: Priv.-Doz. Dr. M. Müller) 


(Eingegangen am 20. September 1939) 


Schon die Insulinbehandlung des Diabetes mellitus, dann auch 
die Aufdeckung der Zuckermangelkrankheit haben wertvolle Bei- 
träge zur Erforschung der Physiologie des menschlichen Organis- 
mus geliefert. Die systematische Überdosierung von Insulin zwecks 
Behandlung der schizophrenen Psychosen, von Sakel eingeführt, 
ist gleicherweise geeignet, das Interesse der Stoffwechselforscher 
zu wecken. Mit Recht hat M. Müller darauf hingewiesen, daß die 
Insulinschocktherapie, neben ihrer psychopathologischen und 
praktischen Bedeutung, einen großangelegten Versuch darstellt, 
dem unmittelbarer Einblick in die Verhaltungsweise des Organis- 
mus gegenüber einem Hormon zu verdanken sein werde. Das 
Besondere dieser Situation liegt darin, daß zunächst beim Schizo- 
phrenen keine sich in klinischen Symptomen äußernde Störung 
des innersekretorischen Zusammenspiels, wie zum Beispiel beim 
Diabetes, besteht, daß daher die hohen Insulingaben einen nicht, 
manifest erkrankten Organismus treffen, und die Abweichungen, 
die sich in der Folge daraus ergeben, in Beziehung gebracht werden 
können mit der individuellen Reaktionsweise einerseits und anderer- 
seits mit psychiatrisch zu definierenden Krankheitsgruppen. Daß 
die Schizophrenie, obwohl psychologisch diagnostiziert, mit großer 
Wahrscheinlichkeit eine organische, prozeßhaft verlaufende Krank- 
heit ist, erhöht den Anreiz zur Analyse der Insulinwirkung auf 
den schizophrenen Patienten. So sind denn in den letzten Jahren 
zahlreiche Arbeiten erschienen über das Wesen des hypoglykämi- 
schen Schocks, über die Ursache der Insulintoleranz und der Dosis- 


272 W. Oberholzer 


änderungen, die zur Erzielung eines gleichbleibenden Komas immer 
wieder vorgenommen werden müssen. 

Der Psychiater, der nun in fortlaufender Anschauung hypo- 
glykämischer Zustände steht, kann physiko-chemische Unter- 
suchungen nicht ohne Zusammenarbeit mit dem entsprechenden 
Spezialisten vornehmen. Wohl aber ist er, abgesehen von rein 
nervenärztlicher Bearbeitung, imstande beobachtete Phänomene. 
wie die im folgenden beschriebenen es sind, zu bearbeiten und 
statistisch zu erfassen. 


Die Insulin-Toleranz 


Sie wird nach Falta durch jene Menge Insulin bestimmt, welche 
gerade ertragen werden kann ohne hypoglykämische Symptome 
zu erzeugen. Ihr Maß ist also die Quantität Insulin, während die 
Reaktion des Organismus nach der Injektion als Konstante ge- 
nommen wird. In unserem Falle modifiziert sich diese Definition 
dahingehend, daß nicht der Beginn der Hypoglykämie, sondern 
deren beabsichtigtes Maximum, das Koma, vorausgesetzt wird. 
um daran die zur Erreichung dieses Zustandes notwendige Insulin- 
einheiten abzulesen. Falta findet, daß bei Normalen, auf Standard- 
Kost befindlichen Individuen die Insulintoleranz nicht groß ist. 
meist bei dreimal 10 Einheiten bis dreimal 15 Einheiten pro Tag 
liegt und über dreimal 20 Einheiten nur äußerst selten hinausgeht. 
Hätte Falta hypoglykämische Schocks herbeiführen wollen, dann 
wären wesentlich größere Mengen Insulin hierzu benötigt worden. 
Die Differenz weist auf den auch in dieser Phase noch bestehenden 
„federnden‘“ Widerstand der Gegenregulation hin. Der Organismus 
wehrt sich gegen die weitgehenden Folgen der Insulinüberschwem- 
mung und sucht das Gleichgewicht wieder herzustellen. 

Das hypoglykämische Koma bildet allerdings nur eine relative 
Konstante, insofern als es ebenfalls verschiedene Grade aufweisen 
kann und bei sorgfältigster Dosierung nur annähernd das Minimum 
an Insulin injiziert wird, das zu seiner Herbeiführung notwendig 
ist. Auch ist zu seiner Bestimmung die zeitliche Lage und seine 
Dauer wichtig. Trotzdem fällt diese Fehlerquelle nicht wesentlich 
ins Gewicht, die Dosierung und die Beurteilung des Komas erfolgt 
an ein und demselben Ort immer wieder nach gleichen Grund- 
sätzen, das Resultat ist, wie zum Beispiel der Vergleich doppelter 
Kuren lehrt, im allgemeinen unverändert unter sonst gleichen 
Umständen. Gleichmäßig wirkt sich auch die verschiedene Dauer 
der ersten Phase aus, d. h. der Zeit, in der steigende Dosen Insulin 
gespritzt werden müssen, bis eines Tages die Komadosis erreicht 


Arbeiten zur Insnlinschocktherapie der Schizophrenie 273 


ist. Es ist üblich geworden, mit 10—20 Einheiten zu beginnen und 
täglich um 4—8 Einheiten zu steigern, von 60 Einheiten an um 
10—16 Einheiten. Der Organismus, der von vornherein mehr 
Insulin erträgt, hat dann allerdings mehr Zeit, sich weiter zu ge- 
' wöhnen, aber, da die Länge der ersten Phase bei allen Patienten 
proportional der ersten Komadosis ist, sind die Resultate doch zu 

koordinieren. Man darf kaum sagen, wie Helmut Müller es tut, 
daß, wenn zu langsam vorgegangen werde, das Koma eventuell 
überhaupt nie erreichbar sei. Diese absolute Insulin-Resistenz 
hängt bestimmt von anderen Faktoren ab. 


Die Dosis-Kurve 


Die Komadosen in zeitlicher Aufeinanderfolge mit Strichen ver- 
bunden ergeben die Schocklinien (v. Braunmühl). Bei ihrer Be- 
 trachtung fällt auf: eine relative Kontinuität, d.h. wenn immer 
so niedrig wie möglich dosiert wurde,dann treten in der Verhaltungs- 
. weise des Organismus gegenüber dem Insulin keine sprunghaften 
Änderungen ein. Ferner verläuft die Kurve nicht linear, sondern 
wellenförmig, vorausgesetzt, daß die Kur mindestens einen Monat 
- dauert. Dann schwankt jene um einen virtuellen Mittelpunkt 
herum, der sich erst im Verlaufe der Zeit abzuzeichnen beginnt 
- infolge Sensibilisierung oder Gewöhnung des Patienten gegenüber 
dem Insulin (M. Müller, v. Braunmühl, Küppers, H. Müller, 
Plattner). 
Wir schlagen vor, an dieser graphischen Darstellung folgende 
Größen zu beachten: 
21. Die Anfangsdosıs: Die Insulinmenge, die das erste Koma 
_ herbeiführt, bestimmt die ursprüngliche Toleranz in einem ge- 

wissen Zeitpunkt. Dieses Maß ıst das wichtigste, weil es am Beginn 
der Kur steht, während 

2. die Maximal- und Minimaldosen im Verlauf der II. Phase 

; schon im Zuge einer fortlaufenden Umstimmung entstehen und 
' aus ihrer Differenz 

| 3. die Dosisbreite errechnet werden kann, ihrerseits der 
zahlenmäßige Ausdruck für die wechselnde Ansprechbarkeit des 

_ Organismus in der Zeit. 

: 4. Sind anzufügen: die erwähnte Sensibilisierung und Ge- 
wöhnung. 

Von P. Plattner wurde als Toleranzänderungsfaktor der Quotient 
aus den ersten 5 und den letzten 5 Schockdosen verwendet, aber 
es liegt auf der Hand, daß, abgesehen von den Einschränkungen, 
die der Autor selbst macht, auch die Größe der letzten Komadosen 
13 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3,4. 


274 W. Oberholzer 


absolut abhängig ist von der Dauer der Phase II infolge dauernder 
Dosisschwankungen. Die Beachtung der Dauer der zweiten Phase 
erweist sich überhaupt als Voraussetzung für jede diesbezügliche 
Untersuchung. Die Maximal- und Minimaldosen werden erst in 
einer längeren Kur erreicht. 


60 


Mittlere Dosisbreite 
— > indnsulineinheiten — 

~i Qo 

S S 


30 60 90 7120 150 
— Phase I, Dauer in Tagen ——> 


Fig. 1 


Erst dann kann somit auch die Dosisbreite festgestellt werden. 
Wird letztere in Beziehung zur Anfangsdosis gebracht, so resultiert 
daraus die interessante Tatsache, daß in unserem Material von 
150 Patienten im Durchschnitt die Dosisbreite proportional 
der Anfangsdosis ist. 

Je höher die Anfangsdosis, desto größer wird die voraussichtliche 
Variationsbreite der Schockdosen sein, woraus hervorgeht, daß die 
Dosisbreite keine willkürlich gesetzte Größe ist. Sie ist andererseits 
deshalb nicht durch die Anfangsdosis zu ersetzen, weil im Verlaufe 
der Kur zusätzliche Faktoren sie modifizieren können. Beide 
Größen: die Anfangsdosis und Dosisbreite, sind also gemeinsam 
von der zugrunde liegenden Reaktionsweise des Organismus deter- 
miniert. Die niedrigste Anfangsdosis aller unserer Patienten lag 
bei 10 Einheiten. Bei dieser Patientin schwankten alle Schock- 
mengen zwischen 6 und 16 Einheiten, die Dosisbreite betrug also 
10 Einheiten. Ein Patient mit 460 Anfangsdosis wies dagegen 
eine Breite von 320 Einheiten auf. Innerhalb dieser Extreme ver- 
hielten sich die Anfangsdosis und Dosisbreite proportional zu- 
einander, immer in Durchschnittszahlen gerechnet. 

Es handelt sich im nachstehend verwerteten Material ausschlieb- 
lich um Schizophrene. Vereinzelte Nicht-Schizophrene ließen 
sich der großen Zahl nicht gegenüberstellen. Auch in der Lite- 
ratur sind begreiflicherweise keine größeren Statistiken über die 
Schockdosen Gesunder zu finden, so daß ein Vergleich nicht mög- 
lich ist. 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 275 


A. Die Insulintoleranz bei Beginn der Phase ll 
und die absolute Höhe der Komadosen 


Die individuelle Insulintoleranz 


Es ist nicht verwunderlich, daß sich das dem Körper einverleibte 
Insulin in sehr viel zahlreicheren Varianten von Mensch zu Mensch 
auswirkt, als die meisten anderen Medikamente, selbst wenn 
wichtige Teilfaktoren, wie die Zusammensetzung und Quantität 
der Nahrung, die Muskelbewegung und anderes konstant gehalten 
werden. Denn es handelt sich bei ihm um ein körpereigenes Hormon, 
das differenziert eingreift und auch entsprechend gegenreguliert 
wird. Zahlreiche mögliche nicht-medikamentöse und medikamen- 
töse Einflüsse auf den Blutzuckerspiegel wurden festgestellt, aber 
die Frage, warum der eine Organismus empfindlicher, der andere 
resistenter gegenüber Insulin sich verhält, könnte nur durch eine 
umfassende Betrachtungsweise, die die vielen Theorien wider- 
spruchslos vereinigte, beantwortet werden. Man wird immerhin 
sagen dürfen, daß die Gegenregulation wahrscheinlich humoraler 
Natur ist, hormonal und nervös gesteuert wird, daß unter den 
Inkretdrüsen die Hypophyse besonders wichtig ist, aber auch 
andere wie Nebenniere, Thyreoidea, Sexualdrüsen eine Rolle 
spielen. Zuordnungen, wie sie zum Beispiel veranschaulicht werden 
in dem Schema von Hof (das die komplizierten hormonalen Zu- 
sammenhänge noch in Beziehung setzt mit der vegetativen Inner- 
vation, Mineralstoffwechsel, Säurebase-Haushalt, Blutbild, Körper- 
wärme, Grundumsatz, Blutzucker), zeigen, daß neben dem endo- 
krinen System das vegetative Nervensystem als Regulations- 
Mechanismus eine besonders große Rolle spielt. Eine konstitu- 
tionell-funktionelle, durch Hyper- und Hypofunktion mehr oder 
weniger pathologische Stabilität oder Labilität des komplexen, 
vielfachen Gleichgewichtes würde dann die individuelle Insulin- 
toleranz bedingen, deren beide Extreme, die starke Insulinüber- 
empfindlichkeit und die hohe Insulinresistenz gebildet werden von 
klinisch manifest Erkrankten (Morbus Addison, Hypophysäre 
Kachexie, primärer Hyperinsulinismus, Leberparenchymkrank- 
heiten u. a. m.). Einfacher, aber auch nicht bewiesen ist die Vor- 
stellung eines oder mehrerer Kontrainsuline, Fermente oder der 
erwähnten Hormone, welche beim Insulinresistenten sehr rasch 
und in vermehrter Menge auftreten und beim insulinüberempfind- 
lichen Patienten eventuell sogar fehlen sollen. 


Die individuelle Reaktionsweise bildet den ausschlaggebenden 


Faktor für den Grad der Insulintoleranz. Sie ist vorläufig nur durch 
13° 


276 W. Oberholzer 


das Experiment zu bestimmen, ein anderes Kriterium gibt es nicht. 
Auf ihr beruhen die zahlreichen Ausnahmen, die dem Beobachter 
beim Aufstellen gewisser Gesetzmäßigkeiten immer wieder auf- 
fallen. 


Körperbau, Gewicht 
und Alter in Beziehung zur Anfangsdosis 


Salm-Kaufbeuren befaßte sich kürzlich mit der Frage nach dem 
Zusammenhang von Schockmengen und Körperbauformen. So 
wahrscheinlich solche Beziehungen sind, weil doch der körperbau- 
liche Typ einer inneren Stoffwechsellage entsprechen muß, konnten 
sie doch bisher nicht sichergestellt werden. Salm glaubt, daß 
infolge der spezifisch schizophrenen Gesamtstoffwechselstörung die 
statistischen Resultate uneinheitlich sind und nicht in Einklang 
gebracht werden können mit den Untersuchungen von Hirsch 
und Buschke, die Blutzuckerbelastungen respektive Insulin- 
wirkungen bei den verschiedenen Körperbautypen angestellt 
haben. Wir geben im folgenden unsere Zahlen wieder, in Klammern 
die von Salm: 


Körperbautypen und Höhe der ersten Komadosis 


Männer | Frauen 


leptosom-asthenisch 79 (200) | 55 (100) Einheiten Anfangsdosis 
37 kg 92 kg Körpergewicht 

pyknisch 66 (155) | 55 (120) Einheiten Anfangsdosis 
60 kg 55 kg Körpergewicht 

athletisch 108 (130) | 67 (100) Einheiten Anfangsdosis 
76 kg 67 kg Körpergewicht 

dysplastisch 272 (155) | 57 (90) Einheiten Anfangsdosis 
83 kg 59kg Körpergewicht 


Von den Mischtypen haben die Kombinationen der Dysplastiker 
mit den Pyknikern und den Athletikern bei höchstem Körper- 
gewicht die größten Anfangsdosen, die leptosom-pyknischen 
Patienten benötigen geringere Insulinmengen. Grundsätzlich 
unterscheiden sich unsere Zahlen von denjenigen Salms aus nach- 
stehenden Gründen nur bei Athletikern. 

Es ergibt sich aus dieser Tabelle zweierlei: 

1. die später noch näher erläuterte Abhängigkeit der Anfangs- 

dosis vom Körpergewicht, 

2. die Sonderstellung der Leptosomen. 

Letztere Gruppe enthält die größte Zahl kleinster Anfangsdosen, 
eine relatıv kleine Anzahl von stark Insulinresistenten erhöht aber 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 277 


den Durchschnittswert. In geringerem Maße variieren die Ath- 
letiker, während die wahrscheinliche Schockdosis der Pykniker 
am ehesten aus dem Gewicht und anderen bekannten Einflüssen 
hergeleitet werden kann. Der Insulinbedarf der Dysplastischen 
scheint, je nach der zugrunde liegenden Störung zu schwanken, 
jedoch wie bei den übrigen Typen besonders mit dem Körper- 
gewicht im Zusammenhang zu stehen. 

Mehr können wir über die Rolle des Körperbaus nicht aussagen. 
Sie bleibt hypothetisch, könnte vielleicht ebensogut durch die 
Größen des Körpergewichtes ersetzt werden. Immerhin wider- 
legen diese Zahlen die Befunde einer durchgängigen Kohlenhydrat- 
Labilität der Leptosomen (psychische Resistenzschwankungen ?). 

Die Rolle, die das Körpergewicht bei der Dosierung in der 
Insulinkur spielt, ist bisher auffallend wenig beachtet worden. 
Den Diabetes-Forschern ist sie längst bekannt, meist in Gestalt 
des adipösen oder fettleibigen, oft kreislauf-hypertonen insulin- 
resistenten Zuckerkranken oder der hypoglykämischen Erschei- 
nungen nach kleinsten Dosen bei Unterernährung in amerikani- 
schen Hungerkuren. Begreiflicherweise kann aber der Gewichts- 
einfluß beim Nicht-Diabetiker besser verdeutlicht werden, wo nicht 
die Schwere und die Art einer hormonalen Insuffizienz ausschlag- 
gebend ist für die Wirkung des Insulins. Resistent nennen wir . 
übrigens den Organismus mit hoher Insulintoleranz; beim Diabetiker 
liegen die Verhältnisse komplizierter; dieser kann resistent sein 
gegen die blutzuckersenkende Eigenschaft des Insulins und doch 
eine geringe Toleranz in bezug auf hypoglykämische Erscheinungen 
besitzen. 


Erste Schockdosis und Körpergewicht 


Gewicht x ei 

in kg | 40—55 56—70 71—85 86—100 

Männer 76 91 109 264 Insulineinheiten- 
Anfangsdosis 

Frauen 56 63 103 — Insulineinheiten- 


Anfangsdosis 


Die Körperfülle eines normalen Menschen ist zweifellos in erster 
Linie konstitutionell bedingt, wie zum Beispiel die charakteristi- 
schen Veränderungen im Laufe des Lebens beweisen. Insofern 
kann man, wenn auch mit Fehlerquellen, aus den Gewichtsverhält- 
nissen schließen auf den inneren hormonalen und nervösen Regu- 
lationsmechanismus. Auf die Frage der Pathologie der Fett- 
süchtigen mit ihren zahlreichen unentschiedenen Theorien kann 


278 W. Oberholzer 


hier nicht eingegangen werden. Ob Disposition oder Überernährung, 
hormonale oder zentrale Ursache, insuläre Überbeanspruchung 
oder Arteriosklerose am wichtigsten sind, vermöchten wir ohnehin 
nicht zu entscheiden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, 
daß auch in unserem Material einige Fettleibige Hypertoniker waren. 

Hier, wie bei allen folgenden Statistiken, muß die Beweiskraft 
dieser auf dem Durchschnitt von 70 männlichen und 88 weiblichen 
Patienten beruhenden Zahlen eingeschränkt werden mit dem Hin- 
weis auf die individuellen Schwankungen. Ein Beispiel möge sie 
illustrieren: Eine 26jährige grazil-leptosome Katatone, die naclı 
wenigen Tagen vollremittierte, brauchte bei einem Gewicht von 
44 kg eine Schockdosis von 170 Einheiten. Eine Erklärung für 
diese enorme relative Insulinresistenz konnte nicht gefunden 
werden. 

Analog der Tatsache, daß es kaum insulinresistente, dia- 
betische Kinder gibt, fanden wir auch bei nichtzuckerkranken 
Personen Abhängigkeit der Insulintoleranz vom Lebensalter. 


Anfangsdosis in Insulineinheiten bezogen auf das Lebensalter 
unter Berücksichtigung des Körpergewichtes 


an 40—55 56—70 71—85 86—100 | Kilogramm 
Patienten] M, | Fr. | M. | Fr. | M. | Fr. | M. | Fr. 

bis 20 J.| 93 65 | 154 (55) — — — Anfangsdosis 
21-30 J.| (66) | 65 | 88 | 75 |1436 | — |276 


339 


31-40 J.| 95 | 47 | 74 | 58 |100 | 103 |(245) 
41-50 J.| (86) | 49 |1101 | 44 | & | — | — 
BiGo | ee ee ee 


III 


y. 


Die eingeklammerten Zahlen stammen nur von einzelnen Pa- 
tienten und besagen deshalb wenig. Der jugendliche Organismus 
reguliert besser aus, die durchschnittlichen Anfangsdosen liegen 
höher, aber der Einfluß des Alters ist geringfügig. 

Bei drei Patienten unterbrachen Infekte, zweimal Bronchitiden 
und einmal Scharlach die Kur. Die Anfangsdosis blieb sich nach 
neunwöchigem Scharlach in der zweiten Kur beinahe gleich, nach 
den fieberhaften Katarrhen waren die Organismen ziemlich stark 
sensibilisiert. Eine leichte Leberschädigung nach Typhus mit 
Subikterus und Schwellung des Organs wirkte sich bei der Do- 
sierung nicht aus. 


Zusammenhänge 
zwischen schizophrener Psychose und Insulinbedarf 
Sakel, Dussik und Salm glaubten, dieser letztere hänge von der 
Dauer der Erkrankung ab. Die Angabe Dussiks, daß die 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 279 


Komadosis um so größer ist, je länger die schizophrene Erkrankung 
bereits besteht, und je stumpfer, leerer und ausgebrannter ein Fall 
ist, konnten wir nicht bestätigen. Kranke mit ungewöhnlich 
niedriger Komadosis waren überwiegend alte Fälle, und ın bezug 
auf die normalen Gewichtsklassen bis zu 70 kg halten wir dafür, 
daß die frischerkrankten Fälle mehr Insulin brauchen als die 
alten. Die Adipösen und Fettsüchtigen verhalten sich dagegen 
entsprechend ihrer glandulären Funktionsabweichung. Hinzu 
kommt, daß die Hebephrenen eine Sonderstellung einnehmen. 
Wir kommen später darauf zurück. Nachfolgende Tabelle enthält 
keine Hebephrene. Ihre Erkrankungsdauer wäre ohnehin unsicher. 


Anfangsdosis und Dauer der Erkrankung 


Dauer der Krankheit über 1 Jahr 


bis zu 1 Jahr 
Männer | Frauen | Männer | Frauen 


Gewicht in 40—55 | 68 52 | 47 43 Anfangs- 
Kilogramm 56—70 82 66 70 58 dosis 
7141—85 | 8 | (—) | 108 | ({—) 


Der gesunde ausgeglichene Organismus toleriert nicht wenig 
lnsulin, sogut wie er gegen andere Gleichgewichtsstörungen sich 
wehren kann. Wenn überhaupt die Schizophrenen gegenüber 
Insulin sich anders verhalten als Normale, dann ist es wahrschein- 
lich, daß unter den alten Fällen neben besonders Resistenten, 
viele relativ empfindlich sind. Anders dagegen sind die Hebe- 
phrenen zu beurteilen. 


Anfangsdosis und die schizophrenen Untergruppen 


Gawi Katatone Paranoide Hebephrene 
sewicht 

Männer | Frauen ! Männer | Frauen | Männer | Frauen 
40—55 27 69 — 56 140 69 
56—70 82 56 86 65 116 80 
71—85 84 100 115 122 210 120 
86—100 s = (245) == (460) an 


Sollte es sich bewahrheiten, daß die Katatonen sensibler gegen- 
über Insulin sind als die Paranoiden und die Hebephrenen eine 
besondere Resistenz zeigen!), dann wäre ein auch theoretisch 
wichtiger Schritt getan zur Differenzierung des Stoffwechsels der 
Schizophrenen. Einflüsse von Psychosen auf den Zuckerspiegel 
wurden immerhin schon festgestellt, so nach Wilder bei Manie, 
Melancholie, Amentia und alkoholischen Erkrankungen. Ein Alko- 


u Salm hatte ähnliche Ergebnisse. 


280 W. Oberholzer 


holiker mit Halluzinose unseres Materials erwies sich übrigens als 
besonders resistent. Ob nun damit an eine Beeinflussung des 
Zentralnervensystems zu denken oder die allgemeine Stoffwechsel- 
lage ausschlaggebend ist, oder ob die verschiedene Motorik der 
Schizophrenen allein schon ausreicht als Erklärungsgrund der 
verschiedenen Verhaltungsweisen, kann hier nicht entschieden 
werden. Auffallend und vielleicht entscheidend jedoch ist die Tat- 
sache, daß unsere Hebephrenen zum größten Teil körperbaulich 
in die Gruppen der relativ Insulinresistenten gehören. Es muß 
beigefügt werden, daß, wie man erwarten konnte, die Hebephrenen 
einige Jahre jünger waren als die Katatonen und die Paranoiden, 
diese jedoch älter als die Katatonen. Aber dieser kleine Unter- 
schied dürfte nicht wesentlich mitbestimmend sein. 

Den Einfluß der motorischen Erregung auf die Anfangs- 
dosis konnten wir feststellen an 14 in starker Bewegung befind- 
lichen Männer und Frauen. Die Anfangsdosis der Frauen war im 
Durchschnitt um ein Drittel, die der Männer um ein Fünftel 
erniedrigt gegenüber der Norm bezogen auf Alter- und Gewichts- 
klassen. Die Muskelarbeit setzte auch bei ihnen den Insulinbedarf 
herunter. Stuporöse bilden eine uneinheitliche Gruppe, es kann 
sich darin u.a. eine negativistische Einstellung verbergen; ihre 
Dosen waren dem Durchschnitt angenähert. 

Wenn nicht, wie bei dem Beispiel von H. Fuhry, Wahnideen 
in bezug auf die Insulinwirkung bestehen, so ist es bei Schizo- 
phrenen schwer, psychische Resistenz nachzuweisen oder 
auszuschließen, obwohl es sich hier, wie M. Müller betont hat, 
um einen besonders wichtigen Resistenzfaktor handelt, der vor 
allem zu Beginn der Kur wirksam ist. Petroff hat Störungen der 
endogenen Blutzuckerregulation gerade bei Katatonikern, wo 
Störungen des Bewegungssystems überwiegen, festgestellt. Es 
liegt aber nahe, Befunde, wie die schizophrene Nüchternhyper- 
glykämie von Wuth, zu erklären mit der sehr häufig bestehenden 
psychischen Erregung dieser Patienten. Die psychogene Resistenz 
wäre aber damit nicht identisch, vielmehr entspränge sie der 
speziellen Abwehr gegen die bewußtseinsmindernde Insulinwirkung. 
Bei einem Patienten konnten wir diese Einstellung mit entsprechend 
hoher Anfangsdosıs beobachten. Besondere Insulinempfindlichkeit 
dagegen zeigten einige depressive Katatoniker. 


Anfangsdosıs und therapeutischer Effekt 


Vergegenwärtigt man sich, daß die Hebephrenen in unserem 
Material hohe Anfangsdosen benötigen bei schlechter Prognose, 


—-* 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 281 


während andererseits frische Fälle mit ihren allgemein guten 
Heilungsaussichten gleichfalls ziemlich insulintolerant sind, so kann 
man das Resultat der Untersuchung Helmut Müllers verstehen, 
der hohe Komadosen bei den ungünstig ausgehenden Fällen ebenso 
häufig fand, wie bei den Günstigen. Nur, wenn die Hebephrenen 
unseres Materials beiseite gelassen werden, entsteht der Eindruck 
einer durchschnittlich leicht erhöhten Toleranz der späteren Sozial- 
und Vollremissionen. 


Anfangsdosis und therapeutischer Effekt 


Ungebessert Gebessert 
Männer 83 99 
Frauen 54 59 
Sozialremissionen Vollremissionen 
Männer 109 98 
Frauen 63 68 


Trotzdem dürfte 7. Müller nicht Unrecht haben, wenn er beide 


' Extreme bei den wenig oder gar nicht gebesserten Kranken fand. 


Wir möchten das in erster Linie für die katatonen oder paranoiden 
Patienten mit ganz niedriger Toleranz betonen, welche seit Jahren 
krank, in schlechtem Ernährungszustand, vorwiegend leptosom 
und nach unserer Aufstellung oft schon älter sind. Die Dosisbreite 
bleibt hier gleichfalls niedrig. Dabei könnte diese Empfindlichkeit 
dem Organismus konstitutionell primär anhaften oder durch den 
schlechten Ernährungszustand und die lange Erkrankungsdauer 
bedingt sein. 


Die Insulintoleranz bei zweiten Kuren 


Fruchtbar ist der Vergleich zweier Kuren bei demselben Pa- 
tienten. Eine Analyse unserer 20 Fälle ergab folgendes: In zwei 
Drittel übertraf die zweite die erste Anfangsdosis; wie es scheint 
häufiger, je länger das Intervall war. Trennen nur wenige Wochen 
die erste von der zweiten Behandlung, dann kann ein Teil der 
Patienten sich noch in einer Sensibilisierungsphase befinden. 
Später überwiegt die Anpassung. 

Es wiesen eine Differenz der 1. zu der 2. Anfangsdosis auf: 

5 Fälle mit weniger als 10 Einheiten Insulin, 
9  ,, zwischen 10 und 20 Einheiten Insulin, 
6 ,, über 20 Einheiten Insulin. 

Zweite Anfangsdosen, die unter 10 Einheiten von der ersten 
Anfangsdosis verschieden sind, beweisen die individuelle Toleranz. 
Von den übrigen gingen 8 deutlich mit zum Teil großen Körper- 


282 W. Oberholzer 


gewichtsverschiebungen parallel, sprachen also für den Einfluß 
dieses Faktors, wobei später gezeigt werden soll, daß ein ent- 
sprechender Zusammenhang nur über die zugrunde liegende 
hormonale Umstimmung gedacht werden kann. Eine Verminde- 
rung ergab sich nach einer dreiwöchigen Bronchitis, während 
Erregung eines Patienten, der zu Beginn der ersten Behandlung 
stuporös gewesen war, die Anfangsdosis steigerte. Es blieben 
5 Kranke, deren verschiedenes Verhalten gegenüber Insulin nur 
vermutet werden kann; sämtliche blieben unbeeinflußt. 
1. Patientin: Intervall nur 3 Wochen, explosiv, schimpfend. 
und ohne Menses. 
2. Patientin: grazil, aber insulinresistent, stark erregt, mit un- 
gleichen Schocks. 
3. Patientin: Menses unregelmäßig, sonst o. B. 
4. Patient: Nur 5 Wochen Intervall, in erster Kur ablehnender 
als in der zweiten. 
5. Patient: In zweiter Kur stuporöser. 
Psychische Einflüsse schienen hier wesentlich die Toleranzänderung 
zu bestimmen. 


B. Toleranzänderungen während der Kur 


Im Verlaufe der Kur ergeben sich, wie erwähnt, als Folge einer 
dauernden Umstimmung Schwankungen der Komadosen nach 
oben und unten, die erfaßt werden können in der Differenz der 
Maximal- und Minimal-Insulinmengen (Dosisbreite), der Fest- 
stellung der Sensibilisierungs- und Gewöhnungsphänomene und 
in der Beschreibung der Kurvenqualität. 

Die Dosisbreite und die Empfindlichkeitsschwankungen sind 
dabei voneinander unabhängige Größen. Bei den sensibilisierenden 
Fällen ist die Dosisbreite ungefähr gleich groß wie bei den ge- 
wöhnenden. 


1. Die Dosisbreite 


Sıe beträgt bei Männern durchschnittlich 53, bei Frauen 35 Ein- 
heiten Insulin. Da die Anfangsdosis ihr proportional ist, so be- 
stehen dieselben Beziehungen zwischen ihr und dem Körperbau, 
dem Gewicht, dem Alter, der Dauer der Krankheit, den schizo- 
phrenen Untergruppen und dem therapeutischen Effekt. 

Zum Beispiel ist die Dosisbreite (Männer und Frauen) 

der Katatonen 40, 
der Paranoiden 43, 
der Hebephrenen 53 Einheiten Insulin. 


— 


_— 


- sae 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 283 


\lehr noch, als dies in der Anfangsdosis zum Ausdruck kommt, 
variieren die Durchschnittsleptosomen zwischen Maximal- und 
Minimaldosis, stärker als die Pykniker und als die Athletiker. 
Weiter scheint sie nach großer Gewichtszunahme (über 10 kg) 
und besonders nach einer Gewichtsabnahme (über 5 kg) erhöht 
bzw. erniedrigt. Während spontanepileptische Anfälle die Dosis- 
breite nicht veränderten, verminderte sie in geringem Maße 
langdauernde Luminalmedikation. In der zweiten Kur war sie 
etwas höher entsprechend der Anfangsdosis; die Differenz der 
ersten zur zweiten Kur war bei längerem Intervall kleiner als wenn 
nur wenige Wochen dazwischen lagen. 


2. Sensibilisierung und Gewöhnung 
Die während der Kur eintretende Empfindlichkeitssteigerung 


_ oder Verminderung gegenüber dem Insulin ist physiologisch 


~ 


— 


nn T E m o 


vorderhand nicht erklärbar. Dieses Phänomen ist wahrscheinlich 
mehrfach determiniert, könnte ganz allgemein als Veränderung 
der Gegenregulation angesprochen werden. Exogen ist sie nach 
M. Müller beeinflußt zum Beispiel vom Kohlehydratgehalt der 
Nahrung, wozu sich gesellen würden: das Maß der Glykogen- 
reserven, der relative Mangel an Vitamin B, oder des ganzen 
B- Komplexes, dessen antidiabetische Wirkung gesichert zu sein 
scheint. 

Als endogener Faktor wurde von Dussik u.a. eine relative Be- 
einträchtigung des Nervensystems postuliert, von Wechsler als 
Grundlage der Sensibilisierung Hyperfunktion des Inselapparates 
angenommen, während Kastein genauer die vermehrte Produktion 
an antiinsulärem-diabetogenem Hormon des hypophysären Vorder- 
lappens (Houssay) dafür verantwortlich macht. Plattner zitiert 
eine Differenzierung, die Schur und Pappenheim, allerdings bei 
Diabetikern, vorgenommen haben, in Resistenztypen mit 1. ver- 
mehrter endogener Zuckerbildung, 2. mit Insuffizienz der Depot- 
organe besonders bei Fettsüchtigen und 3. mit verstärktem Einfluß 
hemmender Substanzen. i 

Allergische Zustände, wie sie an urtikariellen Hautveränderungen 
sich gelegentlich zeigen, können kaum zur Erklärung der immer 
gesetzmäßigen Toleranzänderungen genügen. Bei zwei unserer 
Patienten, die urtikarielle Exantheme nach Insulininjektionen be- 
kamen, handelte es sich um hochgewichtige dysplastische Männer; 
einige Hundert Einheiten Insulin, die für ihre Behandlung erforder- 
lich waren, enthielten sicher ein relativ großes Quantum an Eiweiß- 
stoffen. Hier liegen also mit größter Wahrscheinlichkeit die Dinge 


284 W. Oberholzer 


umgekehrt: eine Konstitution tolerierte so viel Insulin bis dessen 
Eiweißfraktion wirksam wurde. 

Sakel hielt dafür, daß diese Empfindlichkeitsschwankungen mit 
dem therapeutischen Vorgang zusammenhingen und daß sie des- 
halb streckenprognostisch wichtig seien. 

Versuchen wir nun, das zahlenmäßige Verhältnis der Sensibili- 
sierung zur Gewöhnung abzuklären. Während Kastein auf Grund 
der Blutzuckeruntersuchung eine vorwiegende Gewöhnung fand, 
das heißt, eine Diabetisierung der Belastungskurve, einen höheren 
Nüchternwert in der Kur, ergab sich im Material anderer Autoren. 
die klinisch beurteilten, ein deutliches Überwiegen der Sensi- 
bilisierung. 

Sensibilisierung überwog auf unserer Station immer, aus- 
genommen einige Fälle mit der längsten Dauer der Phase II: 


Dauer der Phase II bis) 30 Tage | 30-80 T. , 80-130T. 1130-1807. insgesanıt 


M . 396 
320, 


2799 ı 26% 


Prozentsatz derGewöh- 
nungen bei 73 Männer 
und 85 Frauen 


36%, (582o) 


Er. 29%, 


Anfänglich während des ersten Monats der Kur findet eine 
relative Resistenzvermehrung statt, nachher verhalten sich die 
Organismen mit ca. 27% Gewöhnungen konstant gegenüber dern 
Insulin. 

Die folgenden Ausführungen zogen nur Patienten mit einer 
Phase II-Dauer von über 30 Tagen zu Vergleichen heran, da sonst 
häufig noch ein Wechsel von der Sensibilisierung zur Gewöhnung 
eintritt (48 Männer, 66 Frauen). 

Es liegt nahe, zu untersuchen, ob eine hohe Anfangsdosis 
überwiegend eine Sensibilisierung zur Folge hat und umgekehrt 
niedrige Anfangsdosen eher zur Gewöhnung disponieren. 

Männer: Alle S-Fälle weisen eine durchschnittliche Anfangs- 
dosis von 109 Einheiten auf, alle G-Fälle weisen eine durchschnitt- 
liche Anfangsdosis von 97 Einheiten auf. 

Frauen: Alle S-Fälle weisen eine durchschnittliche Anfangs- 
dosis von 62 Einheiten auf, alle G-Fälle weisen eine durchschnitt- 
liche Anfangsdosis von 54 Einheiten auf. 

Im Verlaufe der Kur gewöhnende Organismen haben also be- 
sonders niedrige Anfangsdosen. Dasselbe wird veranschaulicht 
durch folgende Zahlen: Alle Fälle mit einer Anfangsdosis bis zu 
50 Einheiten gewöhnten zu 45%, alle Fälle mit einer Anfangsdosı: 
über 50 Einheiten gewöhnten zu 25%. 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 285 


Darın kommt das Resultat der Durchbrechung der psychischen 
oder rein organischen initialen Resistenz in der nachfolgenden 
Sensibilisierung zum Ausdruck. 

Auch in der Phase II zeigt sich oft diese initiale Resistenz, 

ınämlich dann, wenn man bei fortlaufender Sensibilisierung die 
Insulindosen zu stark senkt, so daß kein Koma eintritt. In den 
folgenden Tagen ist man meist gezwungen, über die letzte Schock- 
dosis hinauszugehen. Es hat eine Adaptation eingesetzt, die 
 Gegenregulation ist stärker geworden. Wahrscheinlich ist dieser 
Vorgang identisch mit demjenigen während kurzer Intervalle, in 
' denen überhaupt jede Injektion sistiert ist (s. u.). Hier wie dort 
also eine Tendenz zur Gewöhnung. Nichts zeigt deutlicher die 
dauernde Umstellung des Organismus. Darüber hinaus scheint diese 
dem Beobachter nicht kontinuierlich, vielmehr ist man geneigt, 
.ın Analogie zu anderen Vorgängen (z. B. normale — Cheyne-Stokes- 
sche Atmung)an prinzipiell sprunghafte Änderungen im organischen 
3 Geschehen zu glauben. In diesem Sinne möchten wir unsere an- 
fängliche Aussage über die relative Kontinuität der Schocklinien 
einschränken. Es wird immer unmöglich sein, der Sensibilisierung 
mit seiner Dosierung sich genauestens anzupassen, sonst würde ein 
stufenweiser Wechsel der Reaktionslage vielleicht charakteristisch 
sich erweisen. Aber an der Stelle und zu dem Zeitpunkt, wo das 
Koma beginnt, findet eine in der initialen Resistenz verdeutlichte 
Schaltung statt zur Schockbereitschaft des Körpers, auch wenn 
‚klinisch diese Diskontinuität nicht sichtbar ist. 

Ebenso ist man versucht zu fragen, inwieweit das absolute 
Gewicht und seine Veränderungen während der Kur die 
Insulin-Empfindlichkeitsschwankungen beeinflussen. Schwere Pa- 

i tienten sensibilisieren eher als sie adaptieren in Übereinstimmung 
| mit dem Verhalten bei hohen Anfangsdosen. Es erschienen gelegent- 
lich besonders große Dosen auch am nächsten Tage im Sinne einer 
Sensibilisierung nachzuwirken. Im übrigen ist nicht an eine 
direkte Beziehung zwischen Körpergewicht und Insulinwirkung zu 
denken. Ein entsprechender Zusammenhang kann, wie wir schon 
erwähnten, nur über eine gemeinsame Ursache, vor allem eine 
hormonale Grundlage vermutet werden. Auch beı besonders deut- 
lichen Gewichtsschwankungen war keine momentane Parallelität 
mit der Toleranz festzustellen. Eine Körpergewichtszunahme 
während der Schockbehandlung ist auch vorwiegend exogen ver- 
ursacht:: das injizierte Insulin mästet zum Beispiel durch Erhöhung 
der Zellavidität und der Kohlehydrathunger des Gewebes wird 
durch vermehrte Kohlehydratzufuhr effektiv gedeckt. Dabei wird 


286 W. Oberholzer 


vorübergehend auch in den meisten Fällen der Inselapparat stimu- 
liert. Grundsätzlich kann man jedoch nur dort eine dauernde 
hormonale Umstellung erwarten, wo gleichzeitig eine günstige 
therapeutische Entwicklung einsetzt, der Patient ıßt nicht nur 
mehr, sondern verwertet auch besser, so daß, mit oder ohne Insulin- 
kur, bleibende Gewichtszunahmen bei Voll- und Sozialremissionen 
eintreten. Unsere von Insulin-Behandelten gewonnenen Zahlen 
lauten: 


Gewichtszunahme in Kilogramm 


Ungebessert Gebessert 
Männer 4,1 5,6 
Frauen 3,4 4,0 
Sozialremissionen Voliremissionen 
Männer 9,5 8,4 
Frauen 5,0 4,7 


Tatsächlich geht bei unseren Voll- und Sozialremittierten der 
Prozentsatz der Gewöhnungen etwas in die Höhe entsprechend 
der größeren Gewichtszunahme, wenn auch nur im Durchschnitt. 
Die Hebephrenen, auch hier wieder als Ausnahme, gewöhnten 
stärker trotz ungünstigem therapeutischem Ergebnis, nahmen aber 
auch über Mittel an Gewicht zu. Über die Bedeutung der Gewichts- 
veränderungen hinaus, darf man also Zusammenhänge der Insulin- 
Empfindlichkeitsschwankungen mit der günstigen oder ungünstigen 
Entwicklung der Psychose nur vermuten. 

Prognostisch günstig scheinen eine größere Zahl von Empfind- 
lichkeitsschwankungen während der Phase lI zu sein, worauf 
H. Müller hingewiesen hat. (Dem Verhalten des Organismus nach 
dem ersten Schock, nach unseren Zahlen vorwiegend eine Sensibili- 
sierung, messen wir dagegen keine prognostische Bedeutung beli.) 
Die Anzahl der Schocklinienwellen korrespondierte einigermaßen mit 
dem therapeutischen Effekt, doch nur bei nicht allzulanger Phase Il- 
Dauer, welch letztere natürlich in erster Linie maßgebend ist. 

Auch bei genauer Synchronisierung kann, was besonders wichtig 
ist, das Auf und Ab der Dosiskurve nicht auf die täglichen psychı- 
schen Schwankungen bezogen werden, so verlockend diese 
Möglichkeit erscheinen möge. 

An Gewicht verloren haben 8% aller Männer, 14°% aller 
Frauen, vorwiegend ungebesserte. Hier nahm die Sensibilisierung 
deutlich zu. Beispiel: Ein ungebesserter Katatoniker machte 
Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme, nahm während der 
Kur 5,8 kg ab, gleichzeitig mit diesem Substanzverlust sensibili- 


— —. 


- 


—— 


REENER ee 


Arbeiten zur Insulinschocktherapie der Schizophrenie 287 


sierte er besonders stark von 190 auf 28 Einheiten. Immer aber 
sind eine Vielzahl anderer Faktoren mitbeteiligt: 

Die psychische Resistenz erhöht die Anfangsdosis und 
dısponiert so zur Sensibilisierung, umgekehrt erniedrigt gesteigerte 
muskuläre Bewegung die anfängliche Schockmenge, so daß, 
wenn eine Beruhigung eintritt, die Toleranz ansteigen wird. Da- 
gegen war die veränderte Empfindlichkeitslage während der Kur 
nıcht ın Abhängigkeit zu bringen mit dem Lebensalter. 

In zweiten Kuren verhielten sich % der Patienten gleich wie 
während der ersten in bezug auf Sensibilisierung und Gewöhnung. 
Im allgemeinen nahmen die Gewöhnungen in der zweiten Kur zu 
als Ausdruck einer Adaptation. 

Schließlich sollen noch passagere Einflüsse auf die Toleranz 
erwähnt werden. Wenn sie geprüft werden müssen, dann nur 
unter der Voraussetzung, daß die Reaktion des Patienten gegen- 
über Insulin momentan stabilisiert ist und hinzu nun ein zusätz- 
liches Moment tritt. Befindet sich nämlich der Organismus im 
Zuge einer Sensibilisierung oder Gewöhnungsphase, dann über- 
wiegt diese Tendenz so stark, daß andere Einwirkungen, weil 
sekundärer Natur, in ihrem Resultat verfälscht werden. 

Unbestritten ist der sensibilisierende Charakter der spontanen 
epileptischen Anfälle. Ausnahmslos konnte die Schockdosis 
nachher gesenkt werden, sofern vorstehende Voraussetzungen er- 
füllt waren. Ihre Wirkung dauert einige Tage, jedoch gewöhnen 
Patienten mit epileptischen Anfällen überhaupt in der ganzen 
Schockphase wesentlich seltener, so daß eine zeitlich weiterreichende 
Wirkung der Krampfanfälle in dieser Richtung wahrscheinlich ıst. 

Kurze Intervalle, wie zum Beispiel Sonntage, hatten in ?/3 
aller Fälle eine Adaptation zufolge bei in genannter Weise aus- 
gelesenem Material. Möglicherweise würde bei noch genauerer 
Minimaldosierung, wie sie allerdings praktisch dem therapeutischen 
Interesse entgegensteht, die Tendenz zur Gewöhnung verstärkt. 
Typisch sensibilisieren die einen Fälle vorwiegend, während andere 
immer wieder gewöhnen unter sonst gleichen äußeren Umständen. 
Darin wird man wiederum die individuelle Verhaltungsweise er- 
blicken dürfen. 

Während der Menses tritt meist Gewöhnung ein und der Kurven- 
verlauf scheint bei Amenorrhoe starrer (H. Müller) zu sein. Daß 
hierin charakteristische Veränderungen aufzeigbar sind, dürfte auf 
der Hand liegen. Die Beziehungen des Pankreas zum Ovar wurden 
in jüngster Zeit besonders hervorgehoben und Insulin sogar zur 
Behandlung gynäkologischer Leiden verwendet. 


288 W. Oberholzer 


Zusammenfassung und Schlußfolgerungen 


In vorliegender Arbeit wurde versucht, Einflüsse auf die Insulin- 
toleranz der Schizophrenen während der Sakelschen Behandlung 
festzustellen. Wie alle lebendigen Vorgänge ist die Empfindlich- 
keitsschwankung gegenüber dem Hormon der Bauchspeicheldrüse 
vielfach determiniert. Beweisend für die Wirksamkeit einzelner 
Faktoren sind besonders typisch liegende Fälle und deren Zu- 
sammenfassung in Statistiken. Es kann sich deshalb nur um eine 
Bearbeitung in diesem Sinne handeln und um allgemein gehaltene 
Schlußfolgerungen aus der Analyse einer großen Zahl. In, jedem 
Falle sämtliche Ursachen und erst noch ihre Wertigkeit zu erfassen, 
dürfte auch der gründlichsten und vielseitigsten Untersuchung 
nicht annähernd möglich sein. Und dann erst müßte die Forderung 
nach einer Synthese dieser Vorgänge gestellt werden, nur so wäre 
der einzelne Fall abzuklären. 

1. Die wichtigste Unbekannte unserer Rechnung ist die indi- 
viduelle Insulintoleranz. Diese löst sich da auf, wo spezielle, 
somatische Erkrankungen sie typisieren. 

2. Der Körperbau, das Gewicht und das Alter, ebenfalls im 
weitern Sinne individuell, aber von außen faßbar, lassen dagegen 
mit Wahrscheinlichkeit darauf schließen, wie hoch voraussichtlich 
der Insulinbedarf eines Patienten sein wird. Er ist proportional 
dem Gewicht und nımmt mit höherem Alter ab. Von den ver- 
schiedenen Körperbauformen variieren die Leptosomen am meisten 
in ihrer Toleranz, die Pykniker am wenigsten. 

3. Ebenso verhalten sich die verschiedenen Untergruppen der 
Schizophrenen different gegenüber Insulin. Die Katatonen sind 
sensibler als die Paranoıden und die Hebephrenen zeigen eine be- 
sonders hohe Resistenz. Auch die Erkrankungsdauer scheint sich 
auszuwirken im Sinne einer Erniedrigung der Toleranz und eine 
gute therapeutische Beeinflußbarkeit fand sich in unserem Material 
häufiger bei relativ hoher Anfangsdosis. 

4. Während der Einfluß der motorischen Erregung als Erniedri- 
gung der Komadosen physiologisch erklärbar ist, bildet die Rolle 
der psychogenen Resistenz ein Beispiel psychophysischer Ver- 
bindung. 

5. Als Bestätigung angeführter Faktoren ist die Wiederholung 
des Insulinexperimentes beim selben Menschen besonders wert- 
voll. Sie erforderte in zwei Drittel der Fälle höhere Anfangsdosen. 
Da wo letztere über 10 Einheiten von der ersten Kur diflerierten, 
waren Körpergewichtsschwankungen, Infekte und psychische Ver- 
änderungen wesentlich bestimmend. 


— 


-e 


Arbeiten zur Insulinsckocktherapie der Schizophrenie 289 


6. Die Differenz der maximalen und minimalen Schockdosis 
erwies sich als proportional der Anfangsdosis. Damit werden 
Grenzen in der Reaktion eines Organismus gegenüber einem 
Hormon aufgezeigt. Sie wurden geringfügig verschoben durch 
Luminalgaben und große Gewichtsschwankungen. 

7. Exogene und endogene, dauernde und temporäre Einflüsse 
verändern die Insulinempfindlichkeit während der Kur. Sensi- 
bilisierend sind: hohe Anfangsdosen, Gewichtsabnahmen, epi- 
leptische Anfälle und muskuläre Bewegung. Adaptierend sind: 
kurze und lange Intervalle, Menses und psychische Erregung. 

8. Das Verhältnis der Sensibilisierung zur Adaptation war durch- 
schnittlich 68% S : zu 32% G. 

9. Das Auf und Ab der Dosiskurve steht in keinem direkten 


Zusammenhang mit den täglichen psychischen Schwankungen, 
doch sind zahlreiche Insulin-Empfindlichkeitsschwankungen wäh- 


\ 


rend der Phase II prognostisch günstig zu bewerten. 


Schrifttumverzeichnis 


v. Braunmühl, Die Insulinschockbehandlung der Schizophrenen. 1938, 
Springer, Berlin. — K. Th. Dussik, Zur Schizophreniebehandlung. Allg. Z. 
Psychiatr. 107, 96—109 (1938). — W. Falta, Die Zuckerkrankheit. 1936. — 
H. Fuhry, Über psychische Insulinresistenz. Nervenarzt. Oktober 1938. — 
G. W. Kastein, Insulinvergiftung. I. Klinische und pathophysiologische Be- 
schreibung. Z. Neurol. 163, 322—341 (1938). — O. Koller, Zum heutigen 
Stand der Hormonforschung in der Gynäkologie. Schweiz. med. Wschr. 
Nr. 39, 1938. — E. Küppers, Die Insulinbehandlung der Schizophrenie. 
D. M. W. 1937. — H. Müller, Die Frage der Dosierung bei der Insulinbehand- 
lung der Schizophrenie. Allg. Z. Psychiatr. Bd. 108, 1938. — M. Müller, 
Die Insulinbehandlung der Schizophrenie. Schweiz. Arch. Neur. 1937, 2. 
Bd. XXXIX. — P. Plattner, Veränderungen der Insulintoleranz und des 
kKörpergewichtes im Verlaufe der Insulinschockbehandlung Schizophrener. 
Z. Neur. 166. Bd., 1. Heft. — M. Sakel, Neue Behandlungsmethode der 
Schizophrenie. 1935. — H. Salm, Erfahrungen und Erfolge mit der Insulin- 
behandlung bei Schizophrenen. (Petroff und Wuth zitiert nach Salm.) Allg. 
Z. Psychiatr. 109. Bd., Heft 1—2. — Wechsler, Über das weiße Blutbild im 
Insulinschock. Psych.-neurol. Wschr. 39, 343—345 (1937). — J. Wilder, 
Klinik und Therapie der Zuckermangelkrankheit. 1936. 


19 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des 
Azomankrampfes unter besonderer Berück- 
sichtigung der Dosierungsfrage 


Von 
Dr. Franz Müller 


(Aus der Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau. Direktor: Dr. H. Roemer) 


(Eingegangen am 20. September 1939) 


Die Tatsache, daß das vor kaum Jahresfrist in den Handel 


gebrachte Krampfmittel „Azoman‘‘ von einem großen Teil der | 
Kliniken und Anstalten, die die Krampftherapie üben, zum Teil 
eingeführt, zumindest aber vielfach ausprobiert worden ist, be- 
weist, daß das Cardiazol nicht allgemein als das ideale Krampf- 


mittel betrachtet wird. 


Die von den verschiedenen Autoren beschriebenen Nachteile - 


des Cardıazols sind folgende: Das Mittel muß in großen Mengen 
und zudem in kürzester Zeit injiziert werden und ruft trotzdem 
bei mehrfacher Anwendung leicht eine Schädigung der Venen- 
wand mit Neigung zu nachfolgender Thrombose hervor!). Des 
weiteren kann das C., wenn geeignete Venen nicht zur Verfügung 
stehen oder für andere Zwischenfälle erhalten bleiben müssen, 
nicht ıintramuskulär appliziert werden. Als weiterer wesentlicher 
Nachteil des C. wird von den meisten Autoren?) beim reinen 
Cardiazolkrampf das Auftreten außerordentlich schwerer, häufig 
mit Todesangst einhergehender Mißempfindungen während der 
Latenzzeit, d.h. in der Spanne zwischen Injektion und Krampf- 
beginn angeführt, die allein schon die Ausschau nach einem 
anderen Mittel ohne diesen, möglichst aber auch ohne die an- 
deren Nachteile des C., kurz also nach dem idealen Krampf- 
mittel, berechtigen. 


Ein Versuch mit dem von der Firma C. H. Boehringer Sohn 
Nıeder-Ingelheim a. Rh. freundlicherweise zur Verfügung gestellten 


1) 2) von Braunmühl, Haddenbrock, Mayer-Groß-Walk und Schulte. 


-< 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 291 


neuen Mittel, das die chemische Formel 3 Äthyl—4 Cyklohexyl —1, 
2, A Triazol hat!) und unter dem Handelsnamen Azoman erschie- 
nen ist, war daher angezeigt und mußte unternommen werden. 

Nach der Arbeit von Mayer-Groß und Walk, die als erste über 
klinische Beobachtungen berichteten, werden dem A. gegenüber 


dem C. folgende Vorzüge nachgerühmt. 


— 


= 
— æ 


1. Zur Krampfauslösung ist eine bedeutend geringere Menge 
des Mittels erforderlich, ein Vorteil, den außer Mayer-Groß und 
Walk, Bingel, Haddenbrock, Schulte, Strickstrock-Leßnig und Uebler 
bestätigen. 

2. Die Injektionsgeschwindigkeit ist belanglos, was auch Hadden- 
brock und Schulte erwähnen. 


3. Die Gefahr der Schädigung der Venenwand ist nicht vor- 
handen; eine solche wurde bisher auch nicht beobachtet, was neben 
Mayer-Groß und Walk auch Bingel, von Braunmühl, Schulte sowie 
Strickstrock und Leßnig hervorheben. 

A. Das A. bietet die Möglichkeit, beim Ausbleiben des Anfalles 
durch Nachspritzen einer kleineren Dosis nachträglich einen Anfall 
hervorzurufen, wovon Atkin, von Braunmühl, Schulte sowie Strick- 
strock und Leßnig Gebrauch machen. 

5. Das A. ist auch imstande, bei intramuskulärer Applikation 
Krampfanfälle auszulösen, ein Vorteil, der fast einmütig — auch 
von den das Azoman im übrigen ablehnenden Autoren — von 
Bingel, v. Braunmühl, Haddenbrock, Schulte, Strickstrock-Leßnig 
und Uebler anerkannt wird. 

6. Nach dem Bericht von Mayer-Groß und Walk verliefen die 
subjektiven Empfindungen bedeutend milder als beim C., so daß 


' die Fortsetzung der Kur selten auf ernstlichen Widerstand von 


seiten der Patienten stieß, eine Beobachtung, die auch Bingel, 
von Braunmühl, Haddenbrock und Schulte machten. 

Diesen von Mayer-Groß und Walk hervorgehobenen und von 
anderen Autoren bestätigten Vorzügen des A.s werden in dem 
bisher erschienenen Schrifttum noch weitere hinzugefügt. 

7. Haddenbrock stellt fest, daß die Alteration des Atemzentrums 
durch A. geringer ist als bei C., da die Atmung bereits während des 
Abklingens der klonischen Phase wieder einsetzt. 


8. von Braunmühl und R. Müller heben hervor, daß infolge der 
präparoxysmal einsetzenden Steigerung des Tonus der Muskulatur, 


1) Bezüglich der chemischen und pharmakologischen Einzelheiten wird 
auf die Arbeit von Behrens, Dinkler und Woenckhaus und die übrigen er- 
schienenen Arbeiten verwiesen. 
19° 


292 Franz Müller 


in den diese durch A. gerät, beim Einsetzen des Krampfes kein so 
unvermitteltes Anspringen der Muskeln wie beim C. erfolgt, und 
somit die Gefahr chirurgischer Komplikationen, insbesondere von 
Frakturen vermindert wird. 


9. Der i.v. oder i.m. hervorgerufene A.-Krampf kann auch zur 
Beruhigung erregter Kranker verwendet werden, und zwar mit 
nachhaltigerer Wirkung als die übrigen uns zur Verfügung stehenden 
Mittel; davon machen von Braunmühl und Strickstrock-Leßnis 
Gebrauch. 

Neben diesen Vorzügen des A. gegenüber dem C. werden von 
verschiedenen Autoren jedoch auch Nachteile geltend gemacht. 


1. Schon Mayer-Groß und Walk berichten in ihrer Arbeit, daß 
das A. langsamer als das C. unwirksam bzw. ausgeschieden wird. 

2. Beim A. besteht infolge einer niedrigeren Mehrkrampfschwelle 
die Gefahr der Anfallshäufung; von dieser Erfahrung berichten 
fast alle Autoren wie Bingel, v. Braunmühl, Strickstrock-Leßnig, 
Uebler und Ulrich, der sogar bei 8 von 9 mit A. behandelten Kranken 
einen status epilepticus beobachtete. 

3. v. Braunmühl, Haddenbrock und Uebler bemängeln die Ver- 
längerung der Latenzzeit als Nachteil, da sie meist mit mehr oder 
minder unangenehmen subjektiven Erscheinungen ausgefüllt sei. 


4. v. Braunmühl, Mayer-Groß und Walk sowie Uebler hatten 
den Eindruck, als ob das Erbrechen nach der A.-Behandlung in 
stärkerem Maß als beim C. auftreten würde. 

5. Strickstrock und Leßnig, Uebler und Ulrich heben hervor, die 
subjektiven Mißempfindungen beim A. seien sogar unangenehmer 
als beim C., so daß manche Kranken die Fortsetzung der Cardiazol- 
krampfbehandlung trotz des mit ihr verbundenen schweren Ver- 
nichtungsgefühls wegen der schnelleren Wirkung vorgezogen hätten. 


6. Haddenbrock ist der Ansicht, die Nebenerscheinungen beim 
A.-Anfall, der nachhaltigere Dämmerzustand und die z. T. länger- 
dauernden motorischen Reizerscheinungen stellten eine vergleichs- 
weise vermehrte Herz- und Kreislaufbelastung dar. 


7. Atkin, Bingel sowie Strickstrock und Leßnig beobachteten 
beim A. sehr rasch eine Gewöhnung an das Mittel. 

8. Haddenbrock, Schulte und Uebler bezeichnen die Dosierung 
des A. als überaus subtil und unsicher. 

9. Endlich erwähnt Uebler, daß die Metallteile der Injektions- 
spritzen durch A. schwarzgrau verfärbt würden. 


Außer Uebler und Ulrich, die die A.-Behandlung ablehnen, da 
sie in ihr überhaupt keinen Fortschritt erblicken können, räumen 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 293 


alle Autoren dem A.-Krampf denselben therapeutischen 


Erfolg und dasselbe Indikationsgebiet wie dem C. ein; 


wobei noch die symptomatische Behandlung erregter Katatoner 


und Hebephrener, die mit C. m. W. nur selten geübt wird, hinzu- 
kommt. 

Trotzdem sind nach verschiedenen Autoren gewisse Unter- 
schiede zwischen dem A.- und dem C.-Krampfanfall vorhanden: 
sie bestehen zunächst in einer Verlängerung und einem Schwanken 
der Latenzzeit, d.h. der Spanne zwischen Injektion und Eintritt 
des Anfalls, beim A. Ferner berichten Bingel und Haddenbrock, 
daß die tonische Phase des A.Krampfes kürzer sei als die des 
C.-Krampfes, während die klonische Phase beim A. von längerer 
Dauer zu sein scheint. Obwohl der Anfall selbst beim A. etwas 


langsamer ausklingt, hebt Haddenbrock hervor, daß die Atmung 


— 


schon während des Abklingens der klonischen Phase, also früher 
als beim C., wieder einsetzt. 

In unserer Anstalt wurden bisher 31 männliche Kranke mit A. 
behandelt, davon 10 mit A. allein und 21 in der Verbindung mit 
Insulin. Unter alleiniger Verwendung von A. wurden 7, mit Insulin 
kombiniert 17 vollständige Kuren durchgeführt, während die 
übrigen Kuren aus äußeren Gründen, wie Verlegung in andere 
Anstalten sowie zufällige interkurente Erkrankungen und einer 
wegen Schenkelhalsfraktur vorzeitig abgebrochen werden mußten. 

Unter den mit A. allein Behandelten befinden sich eine Manie, 
eine Melancholie, eine arteriosklerotische Depression und ein 


 unklarer Fall. Alle übrigen Kranken, auch die kombiniert be- 


ey 


GE _u ann 


handelten, litten an Schizophrenie. 

Bei diesen 31 Kranken wurden insgesamt 369 A.-Injektionen 
vorgenommen, durch die 269 vollständige und 79 abortive Anfälle 
ausgelöst wurden, während nach 21 Injektionen, die in den Beginn 
unserer Versuche fallen, keinerlei Reaktion auftrat. 

Technisch wurden die allgemeinen für die Krampfbehandlung 
angegebenen Vorschriften bezüglich der Vorbereitung (bei schwäch- 
lichen Patienten noch durch körperliches Training und Massage 
ergänzt), der zweckmäßigen Lagerung mit Kniekeil und des Schutzes 
des Kranken vor Verletzung während und nach dem Anfall be- 
achtet. 

Auf Grund unserer Beobachtungen können wir die überein- 
stimmenden Erfahrungen der überwiegenden Anzahl der Autoren 
bestätigen, nach denen der therapeutische Wert des A. sowohl in 
der isolierten wie in der mit Insulin kombinierten Anwendung dem 
des C. ım großen ganzen etwa gleichzustellen ist. 


294 Franz Müller 


In folgendem sollen die im Schrifttum niedergelegten, zum Teil 
weit auseinandergehenden Auffassungen über die einzelnen Gesichts- 
punkte bei dem Vergleich beider Mittel im Hinblick auf unsere 
Wahrnehmungen kritisch beleuchtet und dabei die Frage der 
optimalen Dosierung des A., die für eine volle Ausnützung des 
Mittels entscheidende Bedeutung besitzt, an Hand des hier er- 
probten Vorgehens erörtert werden. 

Die oben angeführten, von den meisten Beobachtern aner- 
kannten Vorzüge des A. gegenüber dem C. konnten bei der 
hiesigen Nachprüfung im allgemeinen bestätigt werden. 

Zweifellos sind die für die Krampferzeugung erforderlichen 
bedeutend geringeren Injektionsmengen des A. und die 
Belanglosigkeit der Injektionsgeschwindigkeit gegen- 
über dem C. unbestreitbare Vorteile. Sie bedeuten nicht nur eine 
erhebliche technische Erleichterung der Injektion, sondern be- 
schränken die Gefahr einer Schädigung der Venenwand auf ein 
Mindestmaß. Hier ist eine solche bisher überhaupt nicht zur 
Beobachtung gekommen. 

Auch ist es technisch leichter, bei Ausbleiben des Anfalles 
durch Nachspritzen doch noch einen Anfall zu erzielen, wovon 
außer Haddenbrock alle anderen Autoren Gebrauch machen. Bei 
dem von uns geübten vorsichtigen Vorgehen bei der Dosierung 
wurde ein großer Teil der Anfälle, nämlich 29,1% erst durch Nach- 
spritzen, und zwar 26,5%, durch einmaliges und 2,6%, durch zwei- 
malıges Nachspritzen ausgelöst. Auf den Zeitpunkt und die 
Jeweilig erforderliche Dosis beim Nachspritzen soll weiter unten 
bei der Erörterung der Dosierung näher eingegangen werden. 
Jedenfalls haben unsere Erfahrungen bisher gezeigt, daß bei vor- 
sıchtiger Dosierung auch zweimaliges Nachspritzen unbedenklich ist. 

Dagegen konnten wir uns von dem vielfach betonten Vorteil der 
ıntramuskulären Injektion nicht überzeugen: einmal ist die 
Latenzzeit zwischen der i.m. Injektion und dem Eintritt des 
Krampfanfalles bedeutend größer als bei der i.v. Anwendung. 
Sie beträgt nach unseren Erfahrungen 10 bis 25, nach anderen 
bis zu 60 Minuten. Dies bedeutet eine erhebliche Belastung für 
das Ärzte- und Pflegepersonal, da die Kranken während dieses 
Zeitraumes dauernd genau überwacht werden müssen. Ferner er- 
schwert das Schwanken dieser Latenzzeit die genaue Bestimmung 
der erforderlichen Schwellendosis außerordentlich und verleitet 
nur allzuleicht zur Überdosierung. Diese ist aber offensichtlich 
als die Ursache der Anfallshäufung und des status epilepticus 
anzusprechen; sınd doch diese gefürchteten Erscheinungen haupt- 


— 


— 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 295 


sächlich nach der i.m. A.-Anwendung beobachtet worden. Es ist 
ohne weiteres verständlich, daß die anscheinend unregelmäßigen 
Schwankungen der Latenzzeiten, wie sie nach der i.m. Einspritzung 
auftreten, eine rationelle Anwendung des Nachspritzens fast un- 
möglich machen. In der hiesigen Anstalt wird deshalb die i.m. An- 
wendung auf die Fälle beschränkt, in denen die i. v., wie z. B. 
bei Erregten, nicht möglich ist. Unsere Angaben in folgendem 
beziehen sich daher, falls nicht anderes vermerkt ist, regelmäßig 
auf die i. v. Anwendung des Mittels. 

Bezüglich der subjektiven Erscheinungen während der 
Latenzzeit wurde hier unter 341 Kranken nur bei zwei, und zwar 
nur nach den ersten Einspritzungen ein stärkeres Angstgefühl 
beobachtet, das jedoch dem durch Cardiazol ausgelösten schweren 


= Vernichtungsgefühl keineswegs gleichgesetzt werden kann und 


SERDENBERE 


übrigens mit der Gewöhnung immer mehr verblaßte. In allen 
übrigen Fällen verliefen die subjektiven Erscheinungen bedeutend 
milder; häufig blieben sie überhaupt ganz aus. Zwei Kranke zeigten 
sogar ausgesprochene Euphorie, eine Reaktion, die auch sonst 
beobachtet worden ist. 

Für den Anfall selbst und meist auch für die Erlebnisse der 
Latenzzeit besteht nach unseren Erfahrungen in den meisten 
Fällen Amnesie. Ein Patient berichtet, nach der Bedeutung des 
Pflasters in der Ellbeuge befragt, daß er eine Spritze zum Ein- 


schlafen bekommen habe, ein anderer Kranker fragte nach dem 


Erwachen aus dem Anfall, wann er nun seine Spritze bekomme. 
Einen ernsteren Widerstand gegen die Einspritzung von seiten 
des Kranken haben wir nie erlebt. Wır können also zusammen- 
fassend hinsichtlich dieses wichtigen Vorzuges des A. gegenüber 
dem C. die günstigen Erfahrungen von Bingel, v. Braunmühl, 
Haddenbrock und Schulte bestätigen. 

Als ganz besonderen Vorzug lernten wir die auch von anderen 
Beobachtern festgestellte Verminderung der Gefähr- 
dung des Kranken durch Alteration des Atemzentrums 
und chirurgische Komplikationen, ınsbesondere Frak- 
turen, schätzen. 

Die Ansicht von v. Braunmühl und Richard Müller über die 
Verhinderung von Knochenbrüchen durch die besonderen Ver- 
hältnisse des Muskeltonus beim A.-Krampf gewinnt nach einer 
hiesigen Beobachtung um so mehr an Wahrscheinlichkeit, als die 
außer einem nachträglich festgestellten Wirbelbruch einzige hier 
bisher beobachtete Fraktur, eine Schenkelhalsfraktur, nach A. 
bei einem Anfall auftrat, der wie beim C. plötzlich einsetzte, und 


296 Franz Müller 


sich nicht wie beim typischen A.-Anfall unter fortschreitender 
präparoxysmaler Steigerung des Muskeltonus entwickelte. Ab- 
gesehen davon, daß zu Beginn unserer Behandlungsversuche die 
vorbeugenden Maßnahmen wie entsprechende Lagerung und 
Kniekeil noch nicht bekannt waren, war diese Komplikation wohl 
durch eine gewisse Überdosierung des Mittels bedingt, durch die 
ein solcher jäh einsetzender Anfall hervorgerufen, außerdem aber 
auch, wie weiter unten noch ausgeführt werden soll, eine Anfalls- 
häufung herbeigeführt werden kann. 

Von der symptomatischen Verwendung des A.-Anfalls 
haben wir ebenfalls Gebrauch gemacht und es gelang, damit stark 
erregte Kranke zum Teil soweit zu beruhigen, daß sie aus der 
unruhigen Abteilung nach dem Behandlungssaal verlegt und so- 
mit der systematischen Therapie zugeführt werden konnten. 

Wir können also auf Grund unserer Beobachtungen die von den 
meisten Forschern anerkannten Vorzüge des A. gegenüber dem 
C. bis auf die uns weniger wichtig erscheinende Möglichkeit der 
im. Anwendung in vollem Umfange bestätigen. 

Wie steht es nun mit den von manchen Autoren bemängelten 
Nachteilen des A. gegenüber dem C. ? 

Den von Mayer-Groß und Walk als unerwünscht bezeichneten 
langsameren Abbau des Mittels vermögen wir nicht als 
Nachteil zu betrachten. Denn diese Abbauverzögerung gegenüber 
dem C. ist es ja, die es uns wesentlich erleichtert, in jedem Fall 
mit kleinen Startdosen zu beginnen und durch Nachspritzen zu der 
Schwellendosis fortzuschreiten, die bei dem einzelnen Kranken in 
seiner jeweiligen Reaktionslage einen Krampfanfall auslöst. 

Allerdings begünstigt der langsamere Abbau des A. das Auf- 
treten der Anfallshäufung und selbst des status epilepticus, Er- 
scheinungen, die bei manchen Beobachtern (besonders Ulrich) 
zu schlechten Erfahrungen geführt haben und von allen als gefähr- 
lich gefürchtet sind. In der hiesigen Anstalt gelang es jedoch, 
durch individualisierende Dosierung zweite Anfälle (oder gar einen 
status epilepticus) bis auf eine einzige Ausnahme zu verhüten; 
auf die Einzelheiten soll im Zusammenhang mit der Dosierungs- 
frage näher eingegangen werden. 

Der ım Vergleich zum C. verlangsamte Abbau des A. kann somit 
als ein ins Gewicht fallender Nachteil bei entsprechender Do- 
sierungstechnik nicht anerkannt werden. 

Das z. T. recht erhebliche Schwanken der Latenzzeiten 
zwischen A.-Injektion und Anfall, die mit mehr oder weniger un- 
angenehmen subjektiven Empfindungen ausgefüllt sind, kann im 


— 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 297 


Vergleich mit dem C. wohl als unerwünscht bezeichnet werden. 
Doch ist die Breite der Schwankungen bei der von uns bevorzugten 
i.v. Einspritzung weniger groß als bei der i.m. Injektion. Vor allem 
aber lassen sich die hierdurch bedingten Unzuträglichkeiten durch 
die schon angedeutete Technik der Dosierung unter Vermeidung 
der Überdosierung bei einiger Übung sicher beherrschen. Zudem 
nehmen wir die im Vergleich zur C.Anwendung längere Latenzzeit 
zugunsten der geringeren Gefährdung des Kranken, namentlich 
durch die allmählich zunehmende präparoxysmale Tonussteige- 
rung der Muskulatur, gern ın Kauf. 

In einzelnen Fällen konnten auch wir feststellen, daß stärkeres 
Erbrechen auftrat. Abgesehen davon, daß dies durch Atropin 
leicht zu beheben ist, konnten wir aber auch die Erfahrung machen, 
daß diese Erscheinung mit der Zahl der Anfälle an Stärke abnahm, 
ın einzelnen Fällen sogar verschwand. 

Die Möglichkeit, daß die im Vergleich mit dem C. zum Teil länger 


‚ andauernden motorischen Reizerscheinungen, eventuell auch der 


nachhaltigere Dämmerzustand eine vermehrte Herz- und 
Kreislaufbelastung darstellen, worauf Haddenbrock hingewiesen 
hat, scheint immerhin, wenn auch nur in geringem Maß, zu be- 
stehen ; sie hat in unseren Fällen keinerlei wesentliche Rolle gespielt. 

Die Beobachtungen Ueblers, daß die Metallteile der Injektions- 
spritze durch A. verfärbt würden, können wir nicht bestätigen. 

Diese im Schrifttum behaupteten Nachteile des A. gegen- 
über dem C. können somit nach unseren Beobachtungen 
nicht als so wesentlich anerkannt werden, daß sie die 
allgemein anerkannten Vorteile des neuen Mittels 
aufheben oder in Frage stellen könnten, sofern nur die 
Bestimmung der jeweiligen Mindestgabe bei jeder Einspritzung 
durchgeführt wird. 

Hinsichtlich der Dosierung des A. mußten wir uns anfangs 
bis zur Entwicklung unseres heutigen Vorgehens den Einwänden 
von Haddenbrock, Schulte und Uebler anschließen, die die Schwierig- 
keit und die Unsicherheit der Dosierung beanstandet haben. Diese 
spiegelte sich deutlich in den von den einzelnen Autoren verschieden 
angegebenen Durchschnittsdosen wider, die zwischen 1,0 und 1,6 
bei intravenöser bzw. 1,3 und 2,8 bei intramuskulärer Applikation 
schwanken. 

Zur Beseitigung dieser Unsicherheit hat v. Braunmühl den 
dankenswerten Versuch unternommen, der Dosierung eine solide 
Grundlage zu geben, indem er die Krampfdosis in Beziehung zum 
Körpergewicht setzte. Die Berichte verschiedener Autoren, ins- 


298 Franz Müller 


besondere von Haddenbrock, zeigen jedoch, daß eine Beziehung 
zwischen Körpergewicht und Krampfdosis nicht besteht, was auch 
unsere Versuche bestätigten. So liegen die nach v. Braunmüll ı 
berechneten Dosen zu Beginn der Kur in den meisten Fällen zum 
Teil erheblich über den hier empirisch gefundenen niedrigsten 
Krampfdosen. Ulrich berichtet von 8 Fällen, bei denen er mit 
geringeren Dosen, als den nach v. Braunmühl berechneten, einen 
status epilepticus erzielte. Andererseits liegen die von v. Braunmühl 
errechneten Gaben gegen Ende der Kur infolge der Gewöhnung 
ın fast demselben Ausmaß unter den erforderlichen Krampfdosen. 

Auch die neuerdings von Bingel vorgeschlagene Berechnung der 
Krampfdosis nach dem Sollgewicht im Verhältnis zur Körpergröße 
hat keine zuverlässigeren Werte ergeben. 

Damit kommen wir zur Frage der Gewöhnung der Patienten 
an das Mittel. Eine solche wurde hier in allen Fällen, allerdings 
in verschiedenem Maß, beobachtet. So waren die niedrigsten, zur 
Krampfauslösung erforderlichen Dosen immer bei den ersten 
Injektionen erforderlich, während die höchsten Krampfdosen, die 
teilweise mehr als das Doppelte der Anfangskrampfdosen betrugen. 
durchweg bei den letzten Injektionen lagen. (Die S. 299 beigefügte 
Darstellung gibt die im vorhergehenden geschilderten Verhältnisse 
wieder.) 

Setzt man die Anfälle nach der von v. Braunmühl angegebenen 
Blockmethode, also an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen, so 
muß die Dosis meist nach je 2 oder 3 Anfällen um ein Geringes 
gesteigert werden, um weitere Anfälle auszulösen. Nach einer 
entsprechenden Pause kann man jedoch mit Erfolg wieder zur 
anfänglichen niedersten Krampfdosis zurückkehren, um dann im 
Verlauf des Blocks wieder langsam anzusteigen. Einen eigent- 
lichen Nachteil stellt die Gewöhnung an das Mittel also nicht dar, 
da man ıhr jederzeit durch vorsichtige Erhöhung der Dosierung 
und nötigenfalls durch Nachspritzen begegnen kann. 

Außer Haddenbrock berichten alle Autoren, daß sie von der 
Möglichkeit des Nachspritzens Gebrauch machen. Als Nach- 
spritzdosis wurden entweder !/, bis Y, bei ı.v., bzw. !, der 
Anfallsdosıs bei intramuskulärer Applikation oder 0,2 bis 0,6 cem 
bei ı.v. bzw. 0,3 ccm bei i.m. Injektion angegeben. Auch die An- 
gaben über den Zeitpunkt des Nachspritzens sind ver- 
schieden. Sie schwanken zwischen 2 und 5 Minuten bei i.v. bzw. 
10 bis 30 Minuten bei i.m. Applikation. Diese Verschiedenheit 
beruht auf der Mannigfaltigkeit der Beobachtungen der einzelnen 
Autoren, die bei i.v. Injektion noch nach 27 Minuten (Hadden- 


299 


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a) Die hier gefundenen Mindestgaben 
b) Die hier gefundenen Höchstgaben 


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Beitrag zur t i 
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Die hier empirisch gefundene 


Säule I: 


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Säule II: 


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gewicht berechnete Dosis 


Säule III: 


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mit Azoman allein behandelten Fällen 


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300 Franz Müller 


brock), bei i.m. noch nach 60 Minuten (Atkin, Strickstrock-Leßnie) 
den Eintritt des Anfalls gesehen haben. Die längste bei uns beob- 
achtete Latenzzeit betrug 9 bzw. 20 Minuten. 

Angesichts dieser Tatsachen liegt der Schluß nahe, daß es eine 
allgemein gültige Festlegung der Dosierung des A. nicht gibt, daß 
vielmehr die Krampfdosis bei jedem einzelnen Kranken durch 
langsames, vorsichtiges Steigern einer kleinen Anfangsgabe fest- 
gestellt werden muß, wobei man die mehr oder minder unan- 
genehmen subjektiven Empfindungen, die bei Unterdosierung 
mitunter auftreten können, im Interesse des Patienten in Kauf 
nehmen kann; schaltet man doch auf diese Weise die ernstere 
Gefahr chirurgischer Komplikationen oder einer Anfallshäufung 
bei einiger Übung so gut wie sicher aus. 

Auf Grund dieser Erfahrungen und Überlegungen sind wir zu 
folgender Technik der Dosierung gelangt. 

Wir beginnen grundsätzlich bei allen männlichen Kranken mit 
einer Startdosis von 0,7 ccm, da diese erfahrungsgemäß imstande 
ist, schon bei vielen Kranken einen Krampfanfall auszulösen. 
Treten nach der Injektion innerhalb von 4 Minuten keine motori- 
schen Reizerscheinungen auf, so kann man nach dieser Zeit un- 
bedenklich 0,5 cem nachspritzen. Sind bei der Injektion von 
0,7 cem jedoch schon starke Zuckungen zu bemerken, so kann 
durch Nachspritzen von 0,2 oder 0,3 cem meist unschwer ein 
Anfall erzielt werden. Unser Prinzip ist esalso,nur entsprechend 
der jeweiligen Reaktion des Kranken nachzuspritzen. 

Genaue Angaben über die Höhe der erforderlichen Nachspritz- 
dosis sind bei diesem Vorgehen selbstverständlich nicht zu machen; 
dafür hat dieses Vorgehen den Vorteil der völlig indi- 
viduellen Behandlung des einzelnen Kranken für sich 
und trägt auch der beim einzelnen Kranken wechseln- 
den Krampfbereitschaft, also seiner jeweiligen Reak- 
tionslage, Rechnung. 

Dasselbe gilt auch für den T Nachspritzens, 
der weder zu früh noch zu spät liegen soll. Auch hier richten wir 
uns nach der Reaktion des Kranken, d. h. nach den motorischen 
Erscheinungen, ob diese zu- oder abnehmen. Nehmen sie an Stärke 
zu, so kann man ruhig bis zu 5 Minuten abwarten, klingen sie 
jedoch sehr rasch wieder ab, so spritzen wir, allerdings frühestens 
nach 4 Minuten, eine entsprechende Dosis nach. 

Als Zeitpunkt des Nachspritzens nehmen wir 4 Minuten an. 
Diese Praxis beruht auf folgender Beobachtung. Wie aus der 
untenstehenden Kurve, die die prozentuale Verteilung der Anfälle, 


ne —i ee E 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 301 


70 
Über5Min17% 


-30” -1' 


-2' -3' 
Latenzzeiten ——e 


Abb. 2. Die Häufigkeit der verschiedenen Latenzzeiten 
bei 156 Anfällen nach einmaliger Azomaneinspritzung 
(in prozentualer Verteilung) 


die ohne Nachspritzen ausgelöst wurden, auf die verschiedenen 
Längen der Latenzzeiten darstellt, zu ersehen ist, sind nach 4 Mi- 
nuten bereits 97,7% der Anfälle aufgetreten, während nach dieser 
Frist nur noch ein verschwindend kleiner Prozentsatz vorkommt. 

Mit diesem Verfahren ist es uns gelungen, wiederholte An- 
fälle oder gar einen status epilepticus bei 369 Ein- 
spritzungen bis auf eine einzige noch zu erwähnende Ausnahme 
zu verhüten. Dabei haben wir uns, um bei der Dosierung der 
Krampfschwelle möglichst nahe zu bleiben, in fast 30 v. H. aller 
Anfälle der Methode des Nachspritzens bedient, die es uns er- 
möglicht, die Dosierung der persönlichen Krampfbereitschaft des 
einzelnen Kranken und ihren zeitlichen Schwankungen anzupassen. 


302 Franz Müller 


Denn nach dem Grundsatz des „nil nocere‘‘ muß bei jeder Krampf- 
behandlung die Regel gelten: die optimale Dosis ist die 
Mınimaldosis. Wir erblicken daher einen ganz wesentlichen 
Vorzug des A. gegenüber dem C. in der Erleichterung der Me- 
thode, die Dosierung des A. vor allem mit Hilfe des Nachspritzens 
der jeweiligen Reaktionslage des einzelnen Kranken soweit anzu- 
passen, daß eine Überdosierung und eine hiedurch bedingte Ge- 
fährdung des Kranken ausgeschlossen ist. 


Allgemein sei noch zu der Dosierungsfrage erwähnt, daß irgend- 
welche gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Konstitution, Lebens- 
alter, Art oder Dauer der Psychose und der Krampfdosis bisher 
nicht nachzuweisen waren. Da unsere Erfahrungen sich lediglich 
auf männliche Kranke beziehen, können wir zu der Angabe Hadden- 
brocks, nach der ein geschlechtsgebundener Unterschied in der 
Empfindlichkeit gegen Azoman nicht besteht, zur Zeit nicht 
Stellung nehmen. 

Nach unseren bisherigen Beobachtungen erfordert auch die 
Kombination des Azomans mit Insulin keine Änderung in der 
Dosierung. 

Die Höhe der erforderlichen Krampfdosis scheint im wesent- 
lichen von der persönlichen Krampfbereitschaft des einzelnen 
Kranken und ihren zeitlichen Schwankungen abzuhängen. Die 
jeweilige Reaktionslage wird ın jedem Fall offenbar durch ver- 
schiedene, im einzelnen noch nicht genügend bekannte Faktoren, 
zu denen nach unseren Erfahrungen höchst wahrscheinlich auch 
meteorologische Einflüsse gehören, bestimmt. 


Hierbei ist auch die Nachwirkung der am Abend vor der 
Einspritzung verabreichten Schlaf- oder Beruhigungsmittel 
von Bedeutung und erfordert Berücksichtigung, wie der oben 
schon erwähnte Fall des hier nur ein einziges Mal beobachteten 
Auftretens eines zweiten Anfalls zeigt. 

Er betrifft einen Kranken, der ursprünglich mit dem A.-Anfall nur syın- 
ptomatisch behandelt wurde und hierbei noch unter Schlafmittelwirkung 
stand; als bei ihm nach einer längeren Pause eine A.-Kur eingeleitet werden 
sollte, wurde zunächst auf die frühere kleinste Krampfdosis von 2,0 cem i.v. 
zurückgegriffen, und zwar mit dem Erfolg, daß sich 8 Minuten nach dem 


ersten Anfall ein zweiter einstellte. Nach zweitägiger Pause konnte bei dem- 
selben Kranken schon mit 1,5 ccm ein Anfall erzielt werden. 


Der Fall bestätigt die auch sonst gemachte Beobachtung, daß 
bei Kranken, die unter der Nachwirkung von Schlafmitteln stehen, 
zur Krampfauslösung eine verhältnismäßig hohe Dosis erforderlich 
ist. Er spricht ferner mit größter Wahrscheinlichkeit dafür, daß 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 303 


die von verschiedenen Beobachtern mit den nach v. Braunmühl 
berechneten Dosen beobachteten Anfallshäufungen auf Über- 
dosierungen zurückzuführen sınd. 

Eine weitere Gefährdung des Kranken, die offenbar durch Über- 

} dosierung bedingt ist, besteht in dem jähen Einsetzen des Krampf- 
anfalls nach Art des Cardiazolanfalls, das infolge des Ausbleibens 

der allmählich ansteigenden präparoxysmalen Tonussteigerung der 
Muskulatur das Auftreten von chirurgischen Komplikationen wie 
Muskelrissen, Verrenkungen, Knochenbrüchen begünstigt oder 
vielleicht überhaupt verursacht. 

An dieser Stelle sei erwähnt, daß auch abortive Anfälle, bei 
denen die A.Dosis also die Krampfschwelle nicht erreicht hat, 

sofern voll ausgeprägte Anfälle vorausgegangen sind, eine psychi- 
sche Lockerung mindestens vorübergehend herbeizuführen ver- 
mögen. 

Daß schon eine Gabe von 0,2 ccm eine Anfallshäufung hervor- 
rufen, also eine Überdosierung darstellen kann, wie dies aus einem 
Bericht Schultes hervorzugehen scheint, konnten wir nicht be- 
stätigen. 

‚ Jedoch kann nach unseren Beobachtungen eine Dosis von 0,4 ccm 
unter Umständen zur Andeutung einer Überdosierung führen. 

Bei geringer Überdosierung kommt es kurze Zeit nach dem 
Anfall, während der sich das Krampfzentrum in einer refraktären 

| Phase zu befinden scheint, nochmals zu vereinzelten, rasch vorüber- 
gehenden Muskelzuckungen; sie hängen in ihrer Stärke offen- 
sichtlich von dem Grad der Überdosierung ab und erfordern als 
warnende Anzeichen einer drohenden Gefahr genaueste Berück- 
sichtigung bei der Dosierung. 

Zusammenfassend ist zu der Frage der Dosierung des A. zu 
sagen, daß die von uns geübte Dosierungsweise des A., 
die die augenblickliche Verfassung des Kranken 
(Schlafmittelnachwirkung, Stadium der Kur usw.) 
genau beachtet, die prä- und postparoxysmalen 
Zuckungen sorgfältig berücksichtigt und die Möglich- 
keit des Nachspritzens planmäßig ausnützt, uns ın 
den Stand setzt, die Überdosierung mit ihren ernsten 
Gefahren für den Kranken zu vermeiden und die der 
jeweiligen Reaktionslage des einzelnen Kranken an- 
gepaßte Mindestgabe mit großer Annäherung aus- 
findig zu machen. 

Bedenkt man, daß nach den vorliegenden Mitteilungen z.B. 
von Carl Schneider die chirurgischen Komplikationen, namentlich 


304 Franz Müller 


die Knochenbrüche, mancherorts die Anwendung des Cardiazols 
geradezu in Frage stellen, so leuchtet der Wert dieses Vorzugs 
des A. gegenüber dem Cardiazol ohne weiteres ein. Bei den Be- 
richten über die Cardiazolerfahrungen fällt auf, daß einige Autoren 
über ein verhältnismäßig häufiges Auftreten solcher bedrohlicher 
Zwischenfälle berichten, während in anderen Instituten die regel- 
mäßige Anwendung des C. kaum einmal oder überhaupt nicht zu 
solchen Komplikationen führt. Diese Verschiedenheit der Er- 
fahrungen dürfte u. E. auf eine unterschiedliche Dosierung des C. 
zurückzuführen sein. Die Feststellung der Krampfschwellendosis 
für den jeweiligen Zustand des einzelnen Kranken gestaltet sich 
bei dem geschilderten Vorgehen beim A. offensichtlich technisch 
erheblich leichter und einfacher als beim C. Da auf diese Weise 
aber die Überdosierung mit ihren gefährlichen Folgen so gut wie 
sicher vermieden werden kann, fällt dieser Vorzug des A. gegen- 
über dem C. besonders stark ins Gewicht. 


Wenn wir die Vorzüge des Azomans und des Cardiazols ab- 
schließend gegeneinander abwägen, so kommen wir zu folgendem 
Ergebnis: 

Das Azoman hat gegenüber dem Cardiazol folgende Vorzüge: 

die einfachere technische Anwendung infolge der geringeren 
Flüssigkeitsmenge und der beliebigen Geschwindigkeit bei der 
Einspritzung, 

das Ausbleiben von Schädigungen der Venenwand, 

die geringere Beanspruchung des Kranken durch Mißempfin- 
dungen in der Latenzzeit und damit die leichtere Durchführbarkeit 
der Behandlungsweise, 


die Möglichkeit, die Dosis nach den prä- und postparoxysmalen 
Zuckungen und mit Hilfe des Nachspritzens der jeweiligen Reak- 
tionslage des Kranken anzupassen und so eine Überdosierung mit 
ihren gefährlichen Folgen so gut wie sicher zu vermeiden. 


Demgegenüber kann der einzige Einwand, der gegen das Azoman 
u. E. aufrechterhalten werden könnte, nämlıch die längere Latenz- 
zeit zwischen Einspritzung und Anfallsbeginn nicht ernstlich ins 
Gewicht fallen, zumal die in diesem Zeitraum gelegentlich auf- 
tretenden Mißempfindungen mit dem nach der Cardiazoleinspritzung 
häufigen Vernichtungsgefühl nicht zu vergleichen sind. 


Mag das Azoman die Anforderungen, die an das ideale Krampf- 
mittel zu stellen sind, noch nicht in vollem Umfang erfüllen, und 
mag die Erforschung der die jeweilige Reaktionslage des Kranken 
beeinflussenden Faktoren die Anwendung der von uns ausgearbei- 


Beitrag zur therapeutischen Bewertung des Azomankrampfes usw. 305 


‚en Doosierungsweise künftig noch verfeinern, so dürfte doch das 
soman bei sorgfältiger Anwendung heute den Vorzug vor dem 
ırdıazol aus den geschilderten Gründen verdienen. 


Schrifttumverzeichnis 


Atkın, A., Triazol 156 (Azoman) bei chronischer Schizophrenie. The Lancet 
39, 435. — Bingel, A., Die Gefahren der Azomanbehandlung. Psychiatr.- 
ur. Wschr. 1939, S. 287. — v. Braunmühl, A., Das Azoman bei der Krampf- 
‘handlung der Schizophrenie. Psych.-neur. Wschr. 1938, Nr. 45. — Derselbe, 
ie lagert man Kranke zur Krampfbehandlung. Psych.-neur. Wschr. 1939, 
285. — Haddenbrock, S$., Erfahrungen bei der Krampfbehandlung der 
"hizophrenie mit ‚„Azoman‘“. Med. Welt 1939, S. 528. — Mayer-Groß, W., 
ıd Walk, A., Cyclohexyl-Ethyl-Triazol in the Convulsion treatment of 
"hizophrenia. The Lancet 1938, S. 1324. — Müller, Richard, Krampf- 
‘handlung der Schizophrenie und Schenkelhalsfraktur. M. M. W. 1939, 
. 525. — ‚Schneider, Carl, Die Behandlung und Verhütung der Geisteskrank- 
:iten. Verlag Springer, Berlin, 1939. — Salm, Erfahrungen mit Neospiran 
ad Azoman bei der Krampfbehandlung der Schizophrenen Psychiatr.-Neur. 
“schr. 1939 S. 469. — Schulte, W., Die Konvulsionsbehandlung der Schizo- 
hrenie mit Azoman. Nervenarzt 1939, S. 191. — Strickstrock, M. und Lefnig, 
“., Erfahrungen mit der Azomanbehandlung. Psych.-neur. Wschr. 1939, 
. 218. — Uebler, Richard, Unsere Erfahrungen mit Azoman in der Konvul- 
onstherapie. Psych.-neur. Wschr. 1939, S. 238. — Ulrich, H., Die Konvul- 
‚onstherapie mit besonderer Berücksichtigung der Depressionen und Wochen- 
ettpsychosen. Psych.-neur. Wschr. 1939, S. 135. 


29 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 114, H. 3/4. 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen 
des neuen italienischen bürgerlichen Gesetzbuches 


Von 
Priv.-Doz. Prof. Dr. med. Carlo Ferrio 


Stellvertretender Abteilungsvorstand der Psychiatrischen Provinzialanstalt 
Collegno (Turin/ltalien) 


(Eingegangen am 20. September 1939) 


Einleitung 


Am 1. Juli 1939 (XVII der faschistischen Ära) ist der erste Teil 
des neuen italienischen Bürgerlichen Gesetzbuches in Kraft ge- 
treten (Libro I. „Delle persone‘‘), der den entsprechenden Teil des 
jetzt seit 1865 geltenden Gesetzbuches ersetzen soll. Ich glaube, 
es sei von Interesse, in dieser Zeitschrift jene Bestimmungen aus- 
einanderzusetzen, die sich in irgendeiner Weise auf die Psychiatrie 
beziehen und sich gerade im ersten Teil des Gesetzbuches befinden. 

Genannte Bestimmungen betreffen folgende Themen: Heirats- 
verbot bzw. Nichtigkeit und Anfechtbarkeit der Ehe 
wegen Geisteskrankheit, Entmündigung, Pflegschaft, 
Geschäftsfähigkeit des ‚„internierten‘ Geisteskranken, 
Gültigkeit der von einem Geisteskranken vorgenom- 
menen Rechtsgeschäfte. 


a) Die Geisteskrankheit in bezug auf die Ehefähigkeit 


Heiratsverbot wegen Geisteskrankheit 


$ 83. „Wer wegen Geisteskrankheit entmündigt ist, kann nicht heiraten. 

Wenn nur der Entmündigungsantrag gestellt wurde, so kann der Staatsanwalt 
verlangen, daß die Eheschließung aufgeschoben wird; ist das der Fall, so kann 
die Eheschließung erst dann erfolgen, wenn sich das Gericht endgültig geäußert hat.“ 


Hierzu ist zu bemerken, daß die Eheschließung eo ipso wohl 
durch die Entmündigung, nicht aber durch den Entmündigungs- 
antrag verhindert wird. Im Gesetzbuche von 1865 lautet $ 61: 


„Die wegen Geisteskrankheit Entmündigten können nicht heiraten. Wenn 
nur der Entmündigungsantrag gestellt wurde, wird die Eheschließung solange 
eingestellt, bis sich das Gericht endgültig geäußert hat.“ 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen usw. 307 


Im neuen Gesetzbuche dagegen hat der Entmündigungsantrag 
erst dann Wirkung, wenn ein Einspruch des Staatsanwalts vor- 
liegt. Es ist vorauszusehen, daß letzterer diesen Einspruch so gut 


' wie in allen Fällen (und zwar spontan oder auf Anfrage der Be- 
| teiligten) erheben wird, und dies nur dann nicht, wenn er Grund 


hat anzunehmen, daß der Entmündigungsantrag in böswilliger 


‚, Absicht gestellt wurde, um die Heirat zu verhindern. 


| 


l 


Im Entwurfe des neuen Gesetzbuches war § 83 viel strenger 
abgefaßt und lautete: 

„Heiratsverbot besteht für den Entmündigten sowie für den nicht ent- 
mündigten Geisteskranken.“ 

Diese Bestimmung, die der Gesetzgeber offensichtig unter dem 
- Gesichtspunkt der Eugenik sowie dem der mangelnden Willens- 
. freiheit und der Unfähigkeit einer geistigen Gemeinschaft getroffen 
hat, ist auf einen wohlbegründeten Widerstand gestoßen. 

Die Psychiater haben eingewandt, die Geisteskrankheiten seien 
durchaus nicht alle hereditär und mit Aufhebung der Willens- 
freiheit sowie der geistigen Gemeinschaft in der Ehe verbunden 
und der Begriff „Geisteskrankheit‘‘ der Laien decke sich hier wie 
in manchen derartigen Fällen nicht mit jenem der Mediziner. Ein 
Beispiel: der politisch delirante Paranoiker wird mit Recht unter 


= die Geisteskranken eingereiht und kann dennoch viel besser als 


ein leicht Debiler den eigenen Willen beherrschen und die Pflichten 


: und Rechte der Eheleute verstehen. 


Die genannte Bestimmung hätte auch gegen die praktische 
Möglichkeit verstoßen, bei jedem Ehekandidat festzustellen, ob 
Geisteskrankheit vorliegt oder nicht. Der Standesbeamte ist ver- 
pflichtet, durch entsprechende Kontrolle festzustellen, ob die Ehe- 
kandidaten die erforderlichen Eigenschaften besitzen; sollte er 
auch das Vorhandensein einer Geisteskrankheit nachprüfen, so 
wären bei jeder Heirat zwei psychiatrische Gutachten notwendig! 

Darum hat der Gesetzgeber mit Recht das Heiratsverbot nicht 
von der Geisteskrankheit, sondern von der Entmündigung (ab- 
solutes Verbot) bzw. vom Entmündigungsantrag (Verbot auf Ein- 
spruch des Staatsanwaltes) abhängig gemacht. Es ist klar, daß 
der Gesetzgeber es für zweckmäßiger gehalten hat, den Staats- 
anwalt einzuschalten, als den Standesbeamten zu verpflichten, eine 
Heirat wegen Geisteskrankheit zu verbieten. 

Es ist aber möglich, daß dem Staatsanwalt das Vorhandensein 
einer Geisteskrankheit bekannt ist, daß aber kein Entmündigungs- 
antrag vorliegt, weil niemand den Antrag auf Einleitung des Ent- 
mündigungsverfahrens gestellt hat. In diesem Falle kann der Staats- 


20° 


308 Carlo Ferrio 


anwalt selbst den Antrag stellen, da er laut $412 (s.u.) zu den 
Personen gehört, die befugt sind, das Entmündigungsverfahren 
einzuleiten. 

Der Gesetzgeber hat auch durch folgenden Paragraph den Fall 
vorausgesehen, wo der geisteskranke Ehekandidat nicht ent- 
mündigt werden kann, weil er minderjährig ist, d. h. das 21. Lebens- 
jahr noch nicht vollendet hat: 

$ 100. — 5. ‚Der Staatsanwalt ist verpflichtet, Einspruch gegen eine Heirat 


zu erheben, wenn ihm bekannt ist, daß ein Hindernis vorhanden ist oder daß ein 
Ehekandidat, der wegen des Alters nicht entmündigt werden kann, geisteskrank ıst.‘“ 


Offensichtlich kann diese Bestimmung nur für minderjährige 
Ehekandidaten Anwendung finden, welche die Altersgrenzen der 
Heiratserlaubnis schon überschritten haben!). 

Es ist ferner klar, daß der Begriff „Geisteskrankheit‘ in bezug 
auf das Heiratsverbot ebenso verstanden werden soll wie in bezug 
auf die Entmündigung, wie im folgenden dargestellt werden wird. 


Nichtigkeit 
und Anfechtbarkeit der Ehe wegen Geisteskrankheit 


Hinsichtlich der Folgen der Geisteskrankheit eines Ehegatten 
für die Gültigkeit und den rechtlichen Bestand der Ehe kommen 
zwei Paragraphen in Betracht, welche sich auf den Fall des ent- 
mündigten sowie auf jenen des nicht entmündigten Geisteskranken 
beziehen. 


$ 117. ,Dıe Ehe des wegen Geisteskrankheit Entmündigten kann vom Vor- 
munde oder vom ‚Staatsanwalt angefochten werden, wenn zur Zeit der Heirat 
ein endgültiges Entmündigungsurteil schon vorhanden war, oder wenn dasselbe 
später gefällt wurde, die Geisteskrankheit aber schon zur Zeit der Heirat vorhanden 
war. Nach der Aufhebung der Entmündigung kann die Ehe auch vom ehemaligen 
Entmündigten angefochten werden. 

Der Antrag kann nicht gestellt werden, wenn nach der “Aufhebung der Ent- 
mündigung die häusliche Gemeinschaft einen Monat gedauert hat.“ 


$ 118. ‚Die Ehe kann von jenem Ehegatten angefochten werden, der be- 
weist, daß er sich bei Eheschließung aus irgendeiner, auch vorübergehenden 
Ursache in einem Zustande der Geisteskrankheit befand. 

Der Antrag kann nicht mehr gestellt werden, wenn die häusliche Gemein- 
schaft einen Monat gedauert hat, nachdem der betreffende Ehegatte die völligen 
geistigen Fähigkeiten wiıedererlangt hat.“ 


1) Diese Grenzen werden von $ 82 bestimmt, der lautet: ‚Der Mann, der 
sein sechzehntes Jahr, und das Weib, das sein vierzehntes Jahr nicht vollendet 
hat, kann nicht heiraten. Der König und die dazu berufenen Behörden können 
aus schwerwiegenden Gründen die Heirat dem Manne gestatten, der sein 
vierzehntes Jahr vollendet hat und dem Weib, das sein zwölftes Jahr voll- 
endet hat.‘ 


TER he Oe e EEE Een TEE er nn ui Fe 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen usw. 309 


Selbstverständlich ist der Begriff „‚Geisteskrankheit‘‘ diesbezüg- 
lich derart aufzufassen, daß derselbe dem Betreffenden nicht ge- 
stattet, die eigene Einwilligung zu geben. Das Gesetzbuch von 
1865 spricht in diesem Sinne nicht von Geisteskrankheit, sondern 
von „freier Einwilligung“ (,libero consenso‘‘); letztere konnte 
natürlich aus mehreren Gründen fehlen, und zwar auch aus Gründen 
die mit der geistigen Gesundheit nichts zu tun haben. Das neue 
Gesetzbuch zieht das Fehlen der Einwilligung aus nicht-psychischen 
Gründen in einem besonderen Paragraphen ($ 120) in Betracht. 


b) Die Geisteskrankheit 
in bezug auf die Geschäftsfähigkeit 


Verschiedene Paragraphen des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches 
behandeln die Folgen der Geisteskrankheit für die Geschäftsfähig- 
keit. Angesichts des fürsorgerischen Charakters der Unterbringung 
in eine psychiatrische Anstalt hat der Gesetzgeber aber jede Be- 
stimmung über die Unterbringung an sich vom Bürgerlichen 
Gesetzbuche streng ausgeschlossen und nur deren Folgen für die 


. Geschäftsfähigkeit berücksichtigt. 


ee en nun gr, jr rn 


Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit 


$ #09. „Der Volljährige sowie der mündig gesprochene Minderjährige, der 
infolge von anhaltender Geisteskrankheit seine Angelegenheiten nicht zu besorgen 
vermag, muß entmündigt werden.“ 

Dieser Paragraph gibt den entsprechenden § 324 des Gesetz- 
buches von 1865 fast wörtlich wieder und weist im Verhältnis zum 
1. Absatz von $6des deutschen BGB. folgende drei Unterschiede auf: 


6 


1. Das deutsche Gesetz sagt ‚„entmündigt kann werden ...“, 
während das italienische „muß“ sagt. Dieser Unterschied scheint 
aber keine besondere Bedeutung zu haben, denn niemand ist 
nach beiden Gesetzen verpflichtet, den Antrag zur Entmündigung 
zu stellen. In der Tat ist der geistige Zustand an sich nur eine 
conditio permittens; notwendige Voraussetzung, d. h. conditio sine 
qua non, ist dagegen das Vorliegen eines Antrages, der immer der 
freien Bestimmung der Berechtigten überlassen ist. 


2. Der Begriff „Geisteskrankheit‘‘ umfaßt im italienischen Ge- 
setze auch die ‚„‚Geistesschwäche‘‘, unter der Voraussetzung, daß 
letztere einen gewissen Grad erreicht; es handelt sich also um eine 
sradmäßige, nicht qualitative Unterscheidung, wie es übrigens im 
deutschen Gesetze der Fall ist. In der Tat kommt es nur auf den 
Grad des Geistesstörung an, ob der zu Entmündigende als geistes- 


310 Carlo Ferrio 


krank oder geistesschwach im Sinne des Gesetzes zu bezeichnen 
ist, wie Meggendorfer*) mit Recht hervorhebt (‚Der Unterschied 
beider Begriffe ist nur in dem Grade der geistigen Anomalie zu 
finden...“ RGZ. 50, S. 203). 

3. Das italienische Gesetz sagt ausdrücklich, daß die Geistes- 
krankheit ‚anhaltend‘ (d.h. nicht vorübergehend) sein soll, 
während nach dem deutschen Gesetze die Voraussetzung des An- 
haltens für die Entmündigung als selbstverständlich angenommen 
wird und aus dem allgemeinen Leitgedanken der Geschäftsunfähig- 
keit ersichtlich ist (§ 104 BGB. — 3.... sofern nicht der Zustand 
seiner Natur nach ein vorübergehender. ist). 

Zu bemerken ist ferner, daß die im §6 BGB. Absatz 2 (Ver- 
schwendung) und 3 (Trunksucht) vorgesehenen Bedingungen nach 
dem italienischen Gesetze als Entmündigungsgründe nicht an- 
gesehen werden, sofern sie nicht als Folgen einer Geisteskrankheit 
zu betrachten sind. Für Verschwendung und Trunksucht sowie 
für andersartige Beeinträchtigungen des Benehmens kommt eine 
ganz andere Vorsorge in Betracht, wie im folgenden dargestellt 
werden wird. 

Über die Folgen der Entmündigung läßt sich folgendes sagen: 

Der Entmündigte wird laut § 419 Abs. 1 einem Minderjährigen 
gleichgesetzt. Bekanntlich ist in Italien der Minderjährige als 
völlig geschäftsunfähig anzusehen, da nach dem italienischen 
Gesetze die Geschäftsfähigkeit erst nach Vollendung des 21. Lebens- 
jahres erreicht wird und eine von selbst kommende beschränkte 
Geschäftsfähigkeit, wie es in Deutschland nach Vollendung des 
7. Lebensjahres der Fall ist, nicht existiert. 

Eine Art beschränkte Geschäftsfähigkeit bildet aber in Italıen 
die Mündigsprechung, die für besondere Fälle nach Vollendung des 
18. Lebensjahres infolge eines besonderen Verfahrens ($ 389) oder 
nach der Heirat eo ipso ($ 388) erfolgen kann. 

Ein Unterschied zwischen der Geschäftsunfähigkeit des Minder- 
jährigen und jener des Entmündigten besteht aber darin, daß beı 
der ersten die Nichtigkeit der Geschäfte eo ipso erfolgt, während 
sie bei der zweiten nur auf einen besonderen Antrag erklärt werden 
kann. Das ersieht man auch aus folgenden Paragraphen: 

$ 421. — 1. „Die von einem Entmündigten nach dem Entmündigungsbeschluß 
vorgenommenen Rechtsgeschäfte können auf Antrag des Vormundes oder der 
Erben oder der Interessenten als nichtig erklärt werden. Es können gleichfalls 
die vom Entmündigten nach der Ernennung des vorläufigen Vormundes vor- 


genommenen Rechtsgeschäfte als nichtig erklärt werden, falls die Entmündigung 
nachträglich ausgesprochen wurde.“ 


1) Meggendorfer, Gerichtliche Psychiatrie. C. Heymanns Verlag, Berlin 1931. 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen usw. 311 


Mit anderen Worten: der in Italien Entmündigte ist nicht ohne 
weiteres als geschäftsunfähig zu betrachten, wie es für den Minder- 
jährigen und für den laut dem deutschen BGB. ($ 104 Absatz 3) 
Entmündigten der Fall ist; sondern eine Nichtigkeitserklärung ist 
für jedes von ihm verrichtete Geschäft erforderlich und diese Er- 
klärung kann nur auf Antrag von bestimmten Personen erfolgen. 

Die Bestimmungen über das Entmündigungsverfahren und über 
die vorläufige Entmündigung werden wir im folgenden besprechen. 


Die Pflegschaft (‚„inabilitazione‘“)!) 
oder beschränkte Geschäftsfähigkeit 


$ 410. „Der volljährige Geisteskranke, dessen Zustand nicht so schwer ist, 
daß er zu entmündigen ist, kann einen Pfleger erhalten. 

Es kann einen Pfleger erhalten auch wer infolge von Verschwendung oder von 
Gewohnheitsmißbrauch von alkoholischen Getränken oder von Betäubungsmilteln 
sich selbst oder die eigene Familie schwerem wirtschaftlichen Schaden aussetst. 

Es kann ferner einen Pfleger erhalten der Taubstumme sowie der Blind- 
geborene, die ungenügend erzogen wurden, sofern für sie die Anwendung von 
$409 (Entmündigung) nicht in Betracht kommt.“ 


Dieser Paragraph weist gegenüber $ 1910 deutschen BGB. be- 
sonders darin ein Unterschied auf, daß die Einwilligung des Be- 
treffenden keine notwendige Voraussetzung darstellt; der Pflege- 
befohlene mag nach dem italienischen Gesetze die Pflegschaft 
billigen oder nicht. 

Die Folgen der Pflegschaft bestehen darin, daß der Betreffende 
laut $419 Abs. 1 einem mündig gesprochenen Minderjährigen 
gleichgesetzt wird. Das heißt, daß er keine Rechtsgeschäfte vor- 
nehmen kann, welche die Grenzen der reinen Verwaltung über- 
schreiten, ohne von einem Pfleger unterstützt zu werden. Es 
handelt sich also um eine Art beschränkter Geschäftsfähigkeit, 
deren Folgen für die Gültigkeit der vorgenommenen Geschäfte 
nicht von selbst eintreten, sondern durch ein besonderes Verfahren 
erfolgen können, wie folgender Paragraph bestimmt: 


$ 421. — 2. ‚Die Geschäfte, welche die Grenzen der reinen Verwaltung über- 
schreiten und von einem unter Pflegschaft Befindlichen verrichtet werden, können 
auf Antrag desselben, seiner Erben oder der Interessenten als nichtig erklärt 
werden, wenn sie ohne Berücksichtigung der im Pflegschaftsurteil enthaltenen _ 
Vorschriften verrichtet wurden, auch wenn zur Zeit der Verrichtung der vorläufige 
Pfleger ernannt, die Anordnung der Pflegschaft aber noch nicht beschlossen 
worden war.“ 


1) Der deutsche Begriff ,Pflegschaft“ ist vielleicht dem italienischen 
„Inabilitazione‘‘ nicht ohne weiteres gleichzusetzen, wie im folgenden dar- 
gestellt werden wird. Angemessener wäre vielleicht der Ausdruck ‚‚beschränkte 
Vormundschaft“. 


312 Carlo Ferrio 


Antrag zur Entmündigung oder zur Pflegschaft 


Das Entmündigungs- bzw. Pflegschaftsverfahren 


$ 412. ‚Das Entmündigungs- bzw. Pflegschaftsverfahren kann durch einen 
‚Antrag eingeleitet werden, der vom Ehegatten, von den Verwandten der vier ersten 
Grade, von den Verschwägerten der zwei ersten Grade, vom Vormund, vom Pfleger 
oder vom Staatsanwalt gestellt werden muß. 

Wenn der Betreffende sich unter elterlicher Gewalt oder unter Vormundschait 
eines der Eltern befindet, kann der Antrag nur von diesem oder vom Staatsanwalt 
gestellt werden.“ 

Offensichtlich entspricht dieser Paragraph im großen und ganzen 
dem $646 der deutschen ZPO. Ein nennenswerter Unterschied 
besteht aber darin, daß der italienische Paragraph keine besondere 
Stellung für die Ehefrau geschaffen hat, wie es laut dem deutschen 
der Fall ist. 

$ 414. ‚Die Entmündigung und die Pflegschaft können nicht beschlossen 
werden, ohne daß eine Vernehmung der betre[Jenden Person stattgefunden hat. 

Diese Vernehmung kann der Richter unter Zuziehung eines Sachverständigen 
vornehmen. Er kann auch von Amtswegen die dafür erforderlichen Erhebungen 
machen, die nahen Verwandten befragen und die notwendigen Erkundigungen | 
einziehen. 

Nach der Vernehmung kann das Gericht, falls es dies für zweckmäßig erachtet. 
einen vorläufigen Vormund für den zu Entmündigenden oder einen vorläufigen 
Pfleger für den unter Pflegschaft zu Stellenden ernennen.“ 

Dieser Paragraph entspricht im großen und ganzen den deutschen 
$$ 653 und 654 ZPO., jedoch mit dem erheblichen Unterschied, 
daß die Zuziehung eines Sachverständigen nach dem italienischen 
Gesetze gestattet, nicht aber vorgeschrieben wird, wie es beim 
deutschen ($ 654 ZPO.) der Fall ist. 

Der vorläufige Vormund und der vorläufige Pfleger haben 


dieselben Befugnisse wie der endgültige. 


Geschäftsfähigkeit eines „internierten“ Geisteskranken 


Das italienische Irrengsetz („Legge sui manicomi e sugli alienati 
del 14 febbraio 1904“) bestimmt in einem besonderen Paragraphen 
($ 50), daß, wer sich in einer psychiatrischen Anstalt befindet und 
nach entsprechender Beobachtung als anstaltsbedürftiger Geistes- 
kranker im Sinne des Gesetzes anerkannt worden ist!), durch ein 
besonderes Urteil des Gerichtshofes als „endgültig untergebracht‘ 
anerkannt wird. Ist das der Fall und hat der Betreffende ein Ver- 
mögen zu verwalten, dann bestellt der Gerichtshof einen vor- 


1) Nach dem italienischen Irrengesetze ist der Geisteskranke nur dann als 
anstaltsbedürftig (geschlossene Fürsorge!) anzusehen, wenn er als ‚‚gefährlich 
gegen sich oder die anderen oder ärgerniserregend‘ anerkannt wurde. 


| 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen usw. 313 


läufigen Vormund (,amministratore provvisorio“), dem die Ver- 
waltung des Vermögens obliegt. 

Dadurch wird vom Gesetze anerkannt, daß die Gültigkeit der 
Verträge eines Anstaltsinsassen wegen der Geisteskrankheit frag- 
lich erscheint, und daß die Freiheitsentziehung denselben ver- 
hındert, seine Angelegenheiten zu besorgen. Damit ist es aber 
nicht gesagt, daß die Anstaltsunterbringung vom zivilrechtlichen 
Standpunkte aus den Wert einer Geschäftsunfähigkeit oder einer 
beschränkten Geschäftsfähigkeit hat, denn die Ungültigkeit eines 
Rechtsgeschäftes infolge von Geisteskrankheit muß ın jedem ge- 
gebenen Falle unabhängig von der Anstaltsbedürftigkeit bewiesen 
werden. Wie bekannt, wird es allgemein anerkannt, daß sich die 


Begriffe „Anstaltsbedürftigkeit‘‘ und ‚„Geschäftsunfähigkeit‘ nicht 


ki ui 
— 


decken. 

Das neue italienische Bürgerliche Gesetzbuch bestätigt in $415 
die in Frage kommende Vorschrift des Irrengesetzes, setzt den 
„endgültig untergebrachten Geisteskranken‘ einem solchen gleich, 
für den das Entmündigungsverfahren schon eingeleitet wurde, und 
schreibt vor, daß ein vorläufiger Vormund laut $414 auch vom 
Gerichtshofe bei Gelegenheit der Anerkennung der „endgültigen 
Unterbringung‘ bestellt werden kann. Nach dieser Bestellung 
kann das Entmündigungsverfahren laut $ 412 weıterschreiten; das 
wird aber selbstverständlich nur ın dem Falle tatsächlich vor- 


į kommen, daß der Beweis der Geschäftsunfähigkeit geführt wird. 


Ist das nicht der Fall, dann bleibt der vorläufige Vormund bis zur 
„endgültigen Entlassung‘ im Amt!). 

Mit anderen Worten: die ‚endgültige Anstaltsunterbringung‘“ 
eines Geisteskranken stellt die Annahme einer Geschäftsunfähig- 
keit dar, welche die Bestellung eines vorläufigen Vormunds recht- 
fertigt; zur Entmündigung bedarf es dagegen des Beweises, daß 
der Betreffende ‚infolge von anhaltender Geisteskrankheit seine 
Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag‘. 


Die von einem Geisteskranken 
vorgenommenen Rechtsgeschäfte 


$ 422. „Die von einem Nichtentmündigten vorgenommenen Rechtsgeschäfte 
können auf Antrag desselben oder seiner Erben oder der Interessenten für nichtig 
erklärt werden, falls bewiesen wird, daß der Betrefjende zur Zeit der Vornahme 
aus irgendeiner, auch vorübergehenden Ursache geisteskrank war und wegen 
dieser Geschäfte einen starken Schaden erlitten hat. 


o?) Über die Bestimmungen des italienischen Irrengesetzes siehe: C. Ferrio, 
Über die Reform der Irrengesetzgebung. Wie sich das Problem in Italien 
gestaltet. Allg. Z. Psychiatrie Bd. 10%, H. 7—8, 1936, S. 38%. 


314 Carlo Ferrio 


Die Nichtigkeüserklärung kann nur dann erfolgen, wenn durch den dem 
Geisteskranken zugefügten oder zuzufügenden Schaden oder durch die Art des 
Geschäftes oder in anderer Weise die böswillige Absicht der anderen abschließenden 
Partei bewiesen wird. 

Das Klagerecht ist auf fünf Jahre begrenzt. 

Jede andere gesetzliche Bestimmung bleibt unberührt.“ 

Der Sinn und die Ausdehnung dieses Paragraphen wird vom 
offiziellen Bericht des Justizministers erklärt, der dem Bürger- 
lichen Gesetzbuche beigelegt ist und dem folgendes zu entnehmen 
ist. 

Der Begriff ‚„Geisteskrankheit‘‘ im Sinne von § 422 ist als eine 
„die Verstandestätigkeit ausschließende Geistesstörung‘‘ aufzu- 
fassen. Diese Auffassung wurde schon für das Gesetzbuch von 
1865 von der Jurisprudenz endgültig und unbestritten festgelegt. 


Die Testier- und Schenkungsfähigkeit werden von $ 722 nicht 


berücksichtigt; für diese kommt nur die Geisteskrankheit, ohne 
Rücksicht auf den Schaden des Vornehmenden, in Betracht, wie 
es von anderen Paragraphen bestimmt wirdt). 

Es ist zu bemerken, daß das italienische Recht, im Gegensatz 
zum deutschen, die Unfähigkeit ausgesprochen geisteskranker 
Personen, ein gültiges Testament zu errichten, eigens hervorhebt, 
so daß diese Unfähigkeit nicht als ein Spezialfall der Geschäfts- 
unfähigkeit überhaupt zu verstehen ist. Die Bestimmungen über 
die Testierfähigkeit sind strenger als jene über die Geschäfts- 
fähigkeit. In der Tat zur Nichtigkeitserklärung eines Testaments 
braucht nur das Vorhandensein einer Geisteskrankheit zur Zeit des 
Testierens bewiesen zu werden, ohne Rücksicht auf mögliche 
Schäden oder auf böswillige Absichten anderer. 


Zusammenfassung 


Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die vom neuen italieni- 
schen Bürgerlichen Gesetzbuche vorgesehenen psychiatrischen 
Voraussetzungen folgenderweise aufzufassen sind: 


Vorsorge Psychiatrische 
bzw. Verfahren Voraussetzung 


1. Heiratsverbot des Voll- | Entmündigung ($ 409). 
jährigen ($ 83). 

2. Heiratsverbot des Min- | Geisteskrankheit im Sinne von $409 (Ent- 
derjährigen ($ 100). mündigung). 


1) Die Bestimmungen über die Testier- und Schenkungsfähigkeit befinden 
sich in einem anderen Teil des bürgerlichen Gesetzbuches, der noch nicht in 
Kraft getreten ist. 


{ 


| | 


Die gerichtspsychiatrischen Bestimmungen usw. 315 


Vorsorge Psychiatrische 
bzw. Verfahren Voraussetzung 


Nichtigkeit und An- | Entmündigung bzw. eine die eigene Willens- 
fechtbarkeit der Ehe bestimmung ausschließende Geisteskrankheit. 
($ 117 und $118). 


. Entmündigung ($ 409). | Eine anhaltende Geisteskrankheit, welche dem 
Betreffenden nicht gestattet, seine Angelegen- 
heiten zu besorgen. 


. Pflegschaft ($ 410). Eine Geisteskrankheit wie oben, doch geringeren 
Grades; Verschwendung, gewohnheitsmäßiger 
Mißbrauch alkoholischer Getränke oder von 
Betäubungsmitteln, falls der Betreffende oder 
dessen Familie schwerem wirtschaftlichen 
Schaden ausgesetzt wird; Taubstummheit 
und angeborene Blindheit, falls keine ge- 
nügende Erziehung erreicht wurde. 


5. Beschränkte Geschäfts- | ‚„‚Endgültige Anstaltsunterbringung‘‘ eines gegen 
fähigkeit eines ‚‚inter- sich oder die anderen gefährlichen oder 
nierten“ (‚endgültig ärgerniserregenden Geisteskranken. 
untergebrachten‘‘) 


Geisteskranken ($415). 
Ungültigkeit eines von | Eine die Verstandestätigkeit ausschließende 


einem Geisteskranken Geisteskrankheit, falls der Betreffende wegen 
vorgenommenen dieses Geschäftes einen starken Schaden er- 
ltechtsgeschäftes litten hat und die böswillige Absicht der an- 
($ 422). deren abschließenden Partei in irgendeiner 


Weise bewiesen wird. 
. Testier- und Schen- | Eine die Verstandestätigkeit ausschließende 
kungsunfähigkeit. Geisteskrankheit. 


Minderjährige Schwerverbrecher und ihre straf- 


rechtliche und sozial-pädagogische Behandlung 


Von 
Professor Dr. A. Gregor 
(Eingegangen am 18. August 1939) 


Die Leitung der kriminal-biologischen Untersuchungsstelle im 


| 


Jugendgefängnis Heilbronn bot Gelegenheit, meine früheren Stu- . 


dien !) an schwer erziehbaren und kriminellen Jugendlichen unter 
neuen Gesichtspunkten fortzusetzen, wozu die zur Diskussion ste- 
hende Neugestaltung des Jugendgerichtsgesetzes einen besonderen 
Anlaß gab. Die Aufgabe dieser Untersuchung soll daher namentlich 
darin bestehen, für diese Kategorie von Fällen präzise Indikationen 
herauszustellen, da es keinem Zweifel unterliegt, daß bei der meist 
noch knapp bemessenen Zeit der Empfänglichkeit für erzieherische 
Einflüsse und Bildsamkeit dieser Persönlichkeiten alles daran ge- 
setzt werden muß, um sie für das soziale Leben zu gewinnen und 
eine geordnete Lebensführung bei ihnen zu sichern. 

Als Schwerverbrecher sind Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche 
aus ihrer Anlage heraus schwere Delikte begehen. Eine Folge dieser 
aus Erblichkeit und psychischer Struktur zu erschließenden Anlage 
bildet Schwererziehbarkeit, die sich im geringen Erfolg der An- 
stalts- und Gefängniserziehung äußert, und wiederholte Straffällig- 
keit, welche Momente wieder als Kriterium für die Beurteilung des 
Charakters zu verwenden sind. Unter diesem Gesichtspunkte ist die 
Auswahl des hier bearbeiteten Materials getroffen worden. Aus- 
gangspunkt bilden die im Jugendgefängnis Heilbronn kriminal- 
biologisch untersuchten Fälle, welche an sich schon eine Auswahl 
aus dem Gefängnisbestand nach der bezeichneten Richtung vor- 
stellen, da in der Regel Jugendliche mit einer Strafzeit von drei 
Monaten und mehr sowie Minderjährige von einer Mindeststrafzeit 
von 6 Monaten zur kriminal-biologischen Untersuchung kommen. 


1) Kine zusammenfassende Darstellung bringt mein Artikel im Band 5 von 
Justs Handbuch der ‚„Erbbiologie des Menschen“. 


ie 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 317 


Es handelt sich um Fälle, die vom Mai 1938 bis Ende Juni 1939 
ın Heilbronn zur Entlassung kamen. Die Gesamtzahl betrug 944. 
Davon wurden gemäß oben genannter Bedingung 285 kriminal- 
biologisch untersucht. Für die vorliegende Arbeit ergaben sich nach 
unserer Definition 150 Fälle. Unsere Fragestellung lautet: 

1. Wie kann auch bei derartigen Fällen noch ein Erfolg erzielt 
werden ? 

2. Wie ist die Gesellschaft vor ihnen zu schützen ? 

Die bezeichnete Anlage schließt erfahrungsgemäß einen Erfolg 
nicht aus. Aber dieser Erfolg ist nur mit bestimmten Maßnahmen 


-zu erreichen, welche über den Gefängnisaufenthalt hinaus noch 


fortgesetzt werden müssen. Es erscheint danach angebracht, diese 
\aßnahmen in den Vordergrund zu stellen, weshalb das Material 
nach der bei der Entlassung gegebenen sozial-pädagogischen Situ- 
ation bzw. Epikrise gegliedert werden soll. 


I. Justizbesserungsanstalt. 


Die Gruppe umfaßt jene Gefangenen, bei denen neben dem Straf- 
vollzug auch Unterbringung in einer Erziehungsanstalt erfolgte. 
Diese Maßnahme ist durch Alter und bestehende Fürsorgeerziehung 
ohne weiteres gegeben. Ich bin in einer früheren Untersuchung!) auf 
die Beziehungen von Gefängnis und Erziehungsanstalt bereits ein- 
gegangen und habe an einzelnen genauer besprochenen Fällen dar- 
vetan, daß eine derartige Maßnahme unter bestimmten Bedingungen 
Erfolg verspricht. Bei dem hier bearbeiteten Material von ausge- 
sprochen kriminellen Fällen liegen besondere Voraussetzungen vor, 
die eine neue Diskussion der Frage veranlassen. 


Karl B., geb. Juli 1922. 

Besuchte von 1929—1937 die Volksschule und wurde dann Schlosserlehr- 
ling. Er hat 1938 auf Veranlassung eines anderen Jungen eine Urkunden- 
fälschung begangen und wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt, die 
Strafe aber auf Bewährung ausgesetzt; verlor daher seine Arbeit und war 
künftig nur als Hilfsarbeiter beschäftigt. Er wurde jetzt durch einen älteren 
Arbeiter zu homosexuellen Handlungen veranlaßt und trieb seinerseits un- 
züchtige Handlungen mit zwei anderen Jungen, die er im Jungvolk kennen- 
gelernt hatte und zwar in den Monaten Juni, Oktober und November 1937 
in einer großen Anzahl von Fällen. Anfang 1938 kam er als Fürsorgezögling 
nach Heidenheim, wo er in der Schreinerei beschäftigt wurde. Juni 1938 ist 
er wegen des Sittlichkeitsverbrechens zu einer Strafverbüßung von zwei 
Monaten nach lleilbronn eingeliefert und hierauf nach Heidenheim zurück 
gebracht worden. In der Folge ist er zweimal aus der Erziehungsanstalt ent- 
wichen und hat dabei Diebstähle begangen. Diese Delikte wurden nun gleich- 


1) Mh. f. Kriminalbiologie. Im Erscheinen. 


318 | A. Gregor 


zeitig mit zwei anderen Einsteigediebstählen, welche er bereits vor der ersten 
Strafverbüßung begangen hatte, verhandelt und B. zu 6 Monaten Gefängnis 
verurteilt. 

B. ist mäßig intelligent, zeigt lebhaftes sprunghaftes Wesen, spricht affektiv 
an, ist aber ungewöhnlich haltlos, willensschwach, oberflächlich und für seine 
Jahre unreif. Es fehlt ihm noch völlig an Einsicht für die Tragweite seiner 
Handlungen. Er geht mit Sorglosigkeit über die Delikte und deren Folgen hin- 
weg, beruhigt sich bei der Erklärung, daß schlechtes Beispiel anderer ihn ver- 
leitet und Mangel an Taschengeld zu Delikten gezwungen habe. Erziehungs- 
anstalt und Gefängnis sieht er als notwendiges Übel an, das man hinnehmen 
müsse. 


Es handelt sich um einen Jungen, der infolge starker anlagemäßig 
bestehender Haltlosigkeit in verschiedenen Richtungen kriminell 
geworden ist und bei dem Anstaltserziehung völlig versagte und auch 
zweimaliger Strafvollzug nur geringen Erfolg erzielte. Eine Ent- ` 
lassung ins soziale Leben hieße den Jungen preisgeben, da er weiter 
verwahrlosen und in kürzester Zeit neue Straftaten begehen würde. 
Andererseits wäre es unrichtig, ihn in die Anstalt, aus der er ent- 
wichen ist, oder in eine Anstalt gleicher Kategorie zu bringen. 


Bedenken anderer Art ergeben sich bei Jugendlichen, die als 
eine besondere Gefährdung ihrer Umgebung angesehen werden ' 
müssen, wie bei dem folgenden sexuell ungewöhnlich triebhaften 
Jungen: 


Gerhard W., geb. Januar 1924. 

Der Vater gehörte früher der Sekte der Bibelforscher an und hat wegen 
staatsfeindlicher Betätigung eine längere Freiheitsstrafe zu verbüßen. Der 
Junge besuchte von 1930—1938 die Volksschule, war ein übermittel begabter 
Schüler und kam anschließend in eine Mechanikerlehre. Mitte August vergriff 
er sich an zwei Kindern. Wegen dieser beiden Vorfälle, die planmäßig und ab- 
gefeimt waren, erhielt er eine Gefängnisstrafe von 3 Monaten, von denen er nur 
einen Monat durch Untersuchungshaft verbüßte, die weiteren zwei Monate 
wurden auf Bewährung ausgesetzt, Fürsorgeerziehung angeordnet und er im 
August 1938 auf den Schönbühl verbracht. Am 10. Dezember durfte er dort 
einen Friseur aufsuchen. Unterwegs begegnete er zwei Mädchen im Alter von 
8 und 4 Jahren, an denen er sich neuerlich vergriffen hat. Er wurde deshalb 
zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten verurteilt. 

Gerhard W. ist ein zart gebauter, gesunder, schlanker Junge von ostischen 
und nordischen Rassemerkmalen. An erbliche Belastung durch den Vater. der 
als ernster Bibelforscher als eigenartige Persönlichkeit anzusehen ist, muß 
gedacht werden. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß die Tochter seiner 
Schwester sexuell verwahrlost ist. 

Der Junge ist intellektuell mindestens durchschnittlich begabt, zeigt un- 
ruhiges, nervöses, ängstlich selbstunsicheres Wesen, spricht gemütlich wenig 
an und ist nicht in dem Maße kindlich, als man nach seinen Körperformen 
erwarten müßte. 


Auffällig ist seine ungewöhnliche sexuelle Triebhaftigkeit. Die 
Stärke des Trieblebens bzw. der Haltlosıgkeit kommt namentlich 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 319 


darin zum Ausdruck, daß er sogar in der Erziehungsanstalt Schön- 
` bühl rückfällig wurde. Die von ihm gegebene Erklärung, daß un- 
sittliche Reden seiner Schulkameraden den Anlaß seiner Hand- 
-lungen waren, trifft keineswegs zu, vielmehr liegt eine primäre 
' Anlage vor. Die sexuelle Triebunsicherheit der Pubertätszeit darf 
` ihm zugute gehalten werden. Andererseits ist er auch jetzt noch 
| kaum fähig, sich zu beherrschen. Eine Entlassung ins soziale 
eben wäre mit baldigem Rückfall gleichbedeutend, weshalb 
| Unterbringung in eine geschlossene Erziehungsanstalt geboten 
erscheint. 
Endlich sind zwei Fälle zu besprechen, bei denen infolge abnor- 
. mer Anlage die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt nur 
~ geringen Erfolg verspricht. 


Willi H., geb. Februar 1922. 


- Vater ist Arbeiter und anscheinend ein fleißiger und ordentlicher Mensch. 
Die älteste Tochter desselben ist verheiratet, sie wurde als außereheliches Kind 
.} geboren und ist sterilisiert. Die nachfolgenden beiden Töchter sind Mütter 
' außerehelicher Kinder, welche sie im Elternhaus aufziehen. Willi verübte in 
“ seinem 16. Lebensjahr den ersten Diebstahl, für den er Strafe mit Bewährungs- 
< frist erhielt. Er beging damals mit zwei anderen Jungen als Haupttäter drei 
- Vergehen des Diebstahls. Es waren jedesmal Fahrräder. Er wurde zu zwei 
Monaten Gefängnis verurteilt. In seiner letzten Stelle lernte er einen früheren 
Fürsorgezögling kennen, der mit seinem Wissen die Mutter bestahl, worauf 
sie beide das gestohlene Geld in leichtsinniger Weise zu Vergnügungen brauch- 

.. ten. Er hatte deshalb 3 Monate Gefängnis in Heilbronn zu verbüßen. 
H. leidet an angeborener Geistesschwäche, er hat die Hilfsschule besucht 
und ist sterilisiert. Seine seelische Struktur ist primitiv, er ist indolent, passiv, 
| leicht bestimmbar und stark von Milieueinflüssen abhängig. Das Jugendgericht 
hat bei seiner Verurteilung die Notwendigkeit von Erziehungsmaßnahmen 
ausgesprochen, deren Auswahl dem Vormundschaftsgericht überlassen wurde. 
Die Strafe hat keinen tiefen Eindruck auf ihn ausgeübt. Er bemerkte lächelnd, 

es sei schon recht so, gefallen habe es ihm hier aber gerade nicht. 


Wilhelm H., geb. August 1922. 


Der Vater ist 49 mal, darunter wegen Sittlichkeitsverbrechen und Kuppelei, 
bestraft und als Trinker bekannt. Die Mutter hat sich sittlich nicht einwand- 
[rei geführt und wurde Prostituierte. Die Eltern lebten seit 15 Jahren getrennt. 
Infolge der schlechten häuslichen Verhältnisse wurde 1925 Fürsorgeerziehung 
angeordnet. Er kam in ein städtisches Jugendheim und anschließend in ein 
Stift. 1930 Familienpflege. Später mußte er wieder in eine Anstalt gebracht 
werden, aus der er mehrfach entwich. Er hat Oktober 1937 eine Taschenuhr 
į gestohlen, wobei der Diebstahl mittels Einsteigens in ein Gebäude erfolgte. 
+ Ferner stahl er zweimal Fahrräder und einen Rock. Er wurde zu einer Gesamt- 
ı gefängnisstrafe von 5 Monaten verurteilt. 

H. ist für seine Jahre noch etwas körperlich zurückgeblieben. Die sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale sind nicht voll entwickelt. Sein Rassetypus ist 
ostisch. Er ist durch beide Eltern stark belastet. Die Kriminalität seines Vaters 
fällt besonders ins Gewicht. 

| 


320 A. Gregor 


Als weiterer Faktor ist seine Geistesschwäche hervorzuheben. Seine Lei- 
stungen sind durch die Gleichgültigkeit beeinträchtigt, aber wesentlich doch 
durch einen pathologischen Intelligenzdefekt bedingt. Daß er nur einmal sitzen 
blieb, hängt wohl nur mit den Verhältnissen der Dorfschule zusammen. 

Das kriminelle Verhalten trägt deutlich den für Schwachsinn charakteristi- 
schen Stempel der Triebhaftigkeit. 

Das Gefängnis hat sein Wesen ebensowenig geändert, wie die Erziehungs- 
anstalt. Er muß zunächst auf dem Wege der Fürsorgeerziehung in eine ge- 
schlossene Anstalt kommen, um einigermaßen für eine soziale Lebensführung 
vorbereitet zu werden. l 

Der Erfolg, welche Fürsorgeerziehungsanstalten bei kriminell ver- 
anlagten Jugendlichen, die uns hier beschäftigen, haben können, 
steht in keinem Verhältnisse zu dem Schaden, der von ihnen auf 
andere Zöglinge ausgeübt wird. Darum wurde von Kreisen der Für- 
sorgeerziehung immer wieder auf Ausscheidung derartiger Elemente 
gedrängt, zugleich aber eine Spezialisierung der Erziehungsanstalten 
in der Richtung angestrebt, daß erbgeschädigte und kriminelle Fälle 
in besonderen Anstalten untergebracht werden. Die Unterbrin- 
gung von Schwachsinnigen, welche ja den Hauptteil der erbgeschä- 
digten Fürsorgezöglinge bilden, in Spezialanstalten ist seit altersher 
geschehen. Was aber schwer kriminell Jugendliche anlangt, kann 
man nur zwei Wege gehen, nämlich die Einrichtung von Fürsorge- 
erziehungsanstalten für kriminelle Fälle, dabei entfallen aber jene, 
die wegen Aussichtslosigkeit aus der Fürsorgeerziehung ausscheiden. 
Darum ist der Weg, den Italien mit der Gründung von Justiz- 
besserungsanstalten betreten hat, aussichtsreicher, weil er den gan- 
zen Umfang derjenigen Fälle umfaßt, bei welchen über den Straf- 
vollzug hinaus durch erzieherische Mittel eine Eingliederung in das 
soziale Leben erreicht werden kann. 

Das neue Jugendgerichtsgesetz sollte also in nachstehender Weise 
ergänzt werden: 

Minderjährige von ausgesprochen krimineller An- 
lage, welche durch die Strafverbüßung nicht so weit 
gebessert sınd, um ins soziale Leben entlassen werden 
zu können, weil sie als gemeingefährlich oder als Ge- 
wohnheitsverbrecher erkannt wurden, sind in Sonder- 
anstalten unterzubringen, in denen sie längstens bis zur Er- 
reichung der Volljährigkeit verbleiben können. Über ihre frühere 
Entlassung entscheidet der Erfolg. Sie verbleiben aber bis zur Voll- 
jährigkeit unter angemessener Schutzaufsicht. Ein Versagen im 
sozialen Leben hat Rückverbringung in die Sonderanstalt zur Folge. 
Ein Antrag für die Unterbringung in eine Sonder- 
‘anstalt ist von der Strafanstalt zu stellen, falls das 
Gericht keine Entscheidung darüber getroffen hat. 


=- 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 321 


Sonderabteilungen würden die Durchführung geplanter Unter- 
bringung schwieriger krimineller Fälle wesentlich vereinfachen. 
Da heute mit einem derartigen Typ noch nicht gerechnet werden 
kann, ergibt sich eine Unsicherheit in der Versorgung kritischer 
Fälle, wie nachstehendes Beispiel erkennen läßt: 


Hans H., geb. Dezember 1920. 

Die Erziehung im elterlichen Hause versagte von Anfang an. Religiös ver- 
wahrloste er schon in früher Jugend. Sein Vater ist ein brutaler Mensch, der 
früher wegen Sprengstoffdiebstahls als Kommunistenführer schwere Strafen 


. zu verbüßen hatte. 1930 suchte er Anschluß an die NSDAP. Eine Tochter 


PS 


PER 


wurde mit 16 Jahren wegen gewerbsmäßiger Unzucht festgenommen und drei 
weitere Brüder wegen Diebstahls vorbestraft. Der Junge hat noch 7 Geschwister 
und besuchte von 1927—1934 die Volksschule. Er blieb einmal sitzen, vor allem, 


” weil er im Rechnen zu schwach war. Nach der Schulentlassung half er zunächst 


seinem Vater in der Landwirtschaft. 
Noch während der Schule bzw. kurze Zeit nach der Schulentlassung war 


“er 4 Wochen bei einem Landwirt in der Pfalz auf Besuch. Hier stieß er wohl 


no a 


ns 


aus Geilheit einer Kuh einen Mistgabelstiel in die Scheide, die infolgedessen 
verendete. Durch Urteil des Amtsgerichts wurden wegen Tierquälerei Er- 
ziehungsmaßnahmen angeordnet und er kam nach Flehingen zur Beobachtung, 
ging aber durch und kam infolgedessen ab August 1935 bis Februar 1937 nach 


= Sinsheim, wo er in der Schreinerei beschäftigt wurde. Auch hier ging er einmal 


durch, wurde aber schließlich in eine Lehrstelle entlassen. Hier verging er sich 


“nun an Hühnern, einem Hund und einer Ziege. Weil ihn das Gewissen plagte, 
: ging er durch und zwar nach Hause und wurde dann nach Sinsheim zurück- 
. verbracht, wo er auf der Zelle beschäftigt wurde. Zur Beobachtung kam er in 


Een GE Egal 


die Psychiatrische Klinik nach Heidelberg und erhielt dann eine Gefängnis- 
strafe von 5 Monaten, zugleich wurde auch seine Einweisung in eine Heil- und 
Pflegeanstalt angeordnet. Zur Verbüßung der Strafe wurde er nach Heilbronn 
eingeliefert. Er fügte sich hier willig in die Ordnung, wurde zunächst im Matten- 


geschäft und später in der Schreinerei beschäftigt und zeigte sich dabei ge- 


schickt und fleißig. 

Das Bild, das er hier bot, war wenigstens nach außen hin erfreulich. Doch 
erschien er gefühlskalt, ohne tiefere seelische Regungen und ohne Reue über 
seine Schandtaten. Er zeigte hier den Willen, sich gut zu führen und vor allem 
auch Interesse für das Schreinerhandwerk, in dem er geschickt und fleißig 
arbeitete und das er gerne auslernen wollte. Gegen die Einweisung in eine 
Heil- und Pflegeanstalt sträubte er sich, ließ sich aber umstimmen in dem 
Gedanken, daß sein Vater sich für seine baldige Freilassung einsetzen werde. 
Angesichts der angeborenen abnormen Veranlagung konnte H. eine gute 
Prognose nicht gestellt werden; immerhin ließ seine Führung hier doch einer 
gewissen Hoffnung auf günstige Entwickelung Raum. Er wurde von hier durch 
seinen Fürsorger in die Heil- und Pflegeanstalt Illenau verbracht. 

In der Illenau zeigte er sich verschlossen, kalt, äußerte keine Reue. Er 
machte dort eine Pleuritis durch und kam später in die Schreinerei. Er äußerte 
gelegentlich Fluchtgedanken, drohte mit Hungerstreik, war unverträglich, 
übermütig, anmaßend und machte immer wieder disziplinelle Schwierigkeiten. 
Beim Schuttabladen mit einem anderen Insassen ging er dann durch. Am 
3. Januar fuhr er mit einer Bahnsteigkarte nach Karlsruhe und von da nach 
Konstanz, überschritt die Reichsgrenze ohne Paß und fuhr am 3. Januar mit 
21 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


322 A. Gregor 


einer Fahrkarte, die nur bis Reichenau Gültigkeit hatte, bis Markelfingen. 
Wegen Paßvergehens und Betrug hatte er nun neuerdings 7 Wochen zu büßen. 

Lebhaft, leicht erregt, affektiv ansprechend, empfindlich, hat ausgesproche- 
nes Schamgefühl, dabei starke vasomotorische Reaktionen, lebhaftes Erröten. 
geht aus sich heraus und will die Lage klären. Er gibt an, daß er mit 12 Jahren 
von einer Zigeunerin im Walde zu sexuellen Handlungen verführt wurde. Als 
er 14 Jahre alt war und in einem Hotel arbeitete, suchte eine Italienerin sich 
ihm zu nähern. Sie gab ihm zunächst einen Kuß. Er habe sich derart geschämt, 
daß er das Zimmer nicht mehr betreten wollte. Nach einiger Zeit fing sie ihn 
aber ab, schloß die Türe und verlangte von ihm sexuelle Handlungen. Er suchte 
sich zu befreien, kratzte und biß. Später gab sie ihm RM. 50.—. Als er in der 
Pfalz war und auf dem Lande arbeitete, lernte er eine Magd kennen, die sich 
ihm nähern wollte. Er habe sich aber geschämt mit ihr zu verkehren. Später 
stellten sich geschlechtliche Erregungen ein, die zu den Handlungen mit der 
Kuh führten. Er erklärt mit Bestimmtheit, daß derartige Anwandlungen jetzt 


-` 


völlig vergangen seien. In der Illenau habe ihn ein Geisteskranker zu Unsitt- ` 


lichkeiten veranlassen wollen, er habe ihn aber fortgestoßen. Später sei er 
entwichen und über die Grenze gekommen. Er fühlt sich im Gefängnis Heil- 
bronn wohl und möchte über die Strafzeit hinaus hier bleiben, auf keinen Fall 
aber nach der Heilanstalt zurückgebracht werden. 


Mein Gutachten lautete wie folgt: 


Wiederholte psychiatrische Untersuchung H.s hat ergeben, daß 
seit seiner am 2.9.1937 erfolgten Verurteilung eine wesentliche 
Änderung in seiner seelischen Verfassung eingetreten ist. Während 
er in der psychiatrischen Klinik Heidelberg und in der Heil- und 
Pflegeanstalt Illenau noch verschlossen und verstockt war, ist e- 
jetzt offen, zugänglich und aufgeschlossen geworden und es hat sich 
bei ihm eine zutreffende Einsicht für seine Vergehen entwickelt. 
Dadurch konnte angenommen werden, daß seine Straftaten mehr 
auf Triebverirrung — an der auch äußere Momente beteiligt waren 
— als auf einer schweren Perversität beruhen. Die Unterbringung 
in einer Heil- und Pflegeanstalt ist im Interesse der öffentlichen 
Sicherheit jetzt nicht mehr erforderlich. Sie könnte sogar von nach- 
teiligen Folgen werden. Es empfiehlt sich vielmehr, auf dem Wege 
der Fürsorgeerziehung in Sinsheim, die im Gefängnis Heilbronn 


mit Erfolg durchgeführte Erziehung fortzusetzen. Daraufhin wurde 


er nach Sinsheim überwiesen; dort ist man aber nicht weiter ge- 
kommen und hat wegen Aussichtslosigkeit Entlassung aus der Für- 
sorgeerziehung veranlaßt. Der Fall hat also nicht ın eine Fürsorge- 
erziehungs-, sondern in eine Justiz-Besserungsanstalt gehört, die 
es aber heute in Deutschland noch nicht gibt. 


Eine Übersicht der 26 Fälle, bei welchen Fürsorgeerziehung in 
einer geschlossenen Anstalt erforderlich war, stellt sich in folgender 
Weise dar: 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 323 


Psychopathie ............ haltlos 12 
ee hyperthym 3 
NER TERN schizothym 1 
esse gemütsarm 5 


VO RER RERNE triebhaft 2 
angeborener Schwachsinn... triebhaft 3 


Summe: 26 
Die Prognose lautete in diesen Fällen: 
Aussicht auf Besserung 13 
zweifelhaft ........... 10 
ungünstig ............ 3 


Naturgemäß war nach Entlassung aus dem Gefängnis bei krimi- 
nellen Fürsorgezöglingen nur in einer relativ geringen Zahl (11) 
der Übergang in offene Fürsorgeerziehung zu empfehlen. Es 
handelte sich zunächst um solche Fälle, bei denen eine nicht allzu 
knapp bemessene Strafe sich besonders wirksam erwiesen hatte 


und bei denen man während des Gefängnisaufenthaltes nicht nur 


- 


— 


eine Wandlung der Persönlichkeit im Denken und Trachten beobach- 
ten konnte, sondern auch die Zuversicht gewann, daß bei geeig- 
neter Nachfürsorge der offensichtliche Forschritt sich noch steigern 
wird. Als Beispiel dieser Art sei nachstehender Fall genannt: 


Fritz W., geb. April 1923. 


W. ist unehelich geboren, seine Mutter hat sich 1926 verehelicht. Natür- 
licher Vater des Jungen ist ein arbeitsscheuer Zimmermann. Die Mutter selbst 
ist unehelich geboren, ihre Mutter heiratete später einen Straßenwart, bei 
dem der Junge bis zu seinem 12. Lebensjahr aufwuchs. Die Mutter arbeitete 
früher in einer Fabrik. Der Junge selbst besuchte von 1929—1937 die Volks- 
schule und war von seinem 13. Lebensjahr ab bei der Mutter. 

Schon in der Schule benahm er sich flegelhaft und unehrlich, stahl mit 11 
Jahren einem Mitschüler einen Wachstuchumhang, ferner später dem Lehrer 
und seinem Vormund je RM. 0,50. 1936 stahl er aus der Ladenkasse eines 
Gärtners RM. 2.—. Nach der Schulentlassung kam er als Formerlehrling zu 
einer Firma nach Heilbronn. Diese Lehrstelle verließ er Anfang 1938, da es 
ihm gesundheitlich nicht zuträglich war. Er kam dann einige Wochen zu einer 
anderen Firma, bei der er aber nur RM. 7.— verdiente und nach etwa 5 Wochen 
wegging. Dann kam er als Ausläufer zu einer anderen Firma in Heilbronn. Dort 
stahl er am Östersamstag RM. 5.— und wurde entlassen. Von Sommer bis 
Ende November 1938 war er bei einem Landwirt in Bad Wimpfen und bald 
darauf bei einem Landwirt H. in Hohenstadt. Bei dem einen mußte er zuviel 
arbeiten, bei dem anderen war ihm die Kost zu schlecht, so trat er am 15. 12. 38 
bei einem Landwirt in Wimpfen als Landhelfer ein. Am 20. Dezember wurde 
er bereits entlassen, weil er grundlos im Bett geblieben war. Während der 
kurzen Zeit, wo er bei dem Landwirt war, stahl er diesem am 18. 12. zwei 
RM. 20-Scheine und nach der Entlassung am 21. Dezember zwei RM. 100- 
Scheine. Das Geld verbrauchte er für Rauchen, Alkohol, Kleider, Schuhe und 


21°% 


324 A. Gregor 


dergleichen und wurde am 21. Dezember in Heilbronn verhaftet, als er in einer 
Metzgerei durch Wechseln des RM. 100-Scheines auffiel. Es konnte ihm noch 
etwas über RM. 100.— abgenommen werden. Außer diesen beiden Diebstählen 
ließ er sich noch zwei weitere zuschulden kommen. Anfang Juli stahl er einer 
Landwirtswitwe RM. 5.— und einem bei dieser beschäftigten Dienstmädchen 
einen Verlobungsring. 

Geordnet, zugänglich, ziemlich offen, im ganzen noch kindliches Wesen. 


gedrückte resignierte Stimmung. Klagt über Behandlung des Stiefvaters, der ’ 


tierisch mit ihm umgegangen sei. Erst war er bei den Großeltern, weil er un- 
ehelich geboren wurde. Mit 13 Jahren kam er zum Stiefvater, da die Mutter 
inzwischen geheiratet hatte. Dieser habe ihn oft ohne Grund geschlagen, sei 
auch mit dem Messer auf ihn los gegangen, so daß er bei der Polizei Klage 
führte. 

Als er von seiner ersten Stelle fortgehen mußte, weil er körperlich ihr nicht 
gewachsen war, habe der Stiefvater den ganzen Lohn für sich abgehoben. 
Seitdem sei er nicht mehr nach Hause. Zuletzt hatte er keinen Verdienst mehr 
und hatte nur bei Arbeiten ausgeholfen. 

Etwas gehobener Stimmung wegen bevorstehender Entlassung. Berichtet 
mit Genugtuung von seinen Leistungen. Habe auch hier der Versuchung zu 
stehlen und zu rauchen widerstanden. Zeigt noch kindliche Züge neben juve- 
niler Überheblichkeit. Der Richter sei gegen ihn eingenommen, weil er und seine 
Kameraden ihn wegen seiner Jugend und vielem Zigarettenrauchen bespöt- 
telten. Er muß schließlich gestehen, daß das Urteil gerecht war, lehnt sich 


` 


aber gegen Anstaltserziehung auf, weil der Richter der Mutter sagte, „dabei ` 


würden die Jungen nur verdorben‘. Er habe kürzlich aber von einem Beamten 
des Jugendamtes erfahren, daß er zu einem Bauern in den Odenwald käme. 

Zart gebauter Junge von vorwiegend nordischen Rassemerk- 
malen. Er ist ziemlich intelligent, spricht gemütlich an und zeigt 
ein auffälliges Gemisch harmloser Kindlichkeit und Abgeschlagen- 
heit. Letzteres ist aus seinem Vorleben, der schlechten Behandlung 
durch den Stiefvater einerseits und seine eigene Verhaltungsweise 
andererseits verständlich. Er zeigt das typische Bild von vorge- 
schrittener Verwahrlosung, für die in erster Linie die Abkunft von 
einem arbeitsscheuen, dem Trunke ergebenen Vater verantwortlich 
zu machen ist. Bezeichnenderweise sind beide Momente auch schon 
in seinem Leben andeutungsweise hervorgetreten. Im übrigen kann 
man ihn trotz seiner zahlreichen Delikte nicht als einen verdorbenen 
Jungen bezeichnen. Der beste Beweis dafür ist die gute Führung im 
Gefängnis. Man gewinnt in offener Aussprache mit dem Jungen die 
Überzeugung, daß seine Vorsätze ernst gemeint sind und daß er nach 
seinen Leistungen im Gefängnis sie auch tatsächlich erfüllen kann. 
Danach scheint auch eine Revision der ursprünglich gedachten Er- 
ziehungsmaßnahmen am Platze. Zweifellos ist Fürsorgeerziehung bei 
ihm dringend erforderlich. Allein Anstaltserziehung scheint jetzt 
nicht mehr unbedingt nötig. Nach den Erfahrungen im Gefängnis 
darf an Unterbringung in einer guten Stelle mit entsprechender Auf- 
sicht durch die NSV gedacht werden. 


— 


- 


= 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 325 


Im Gegensatz zu dem besprochenen Fall steht ein anderer, in dem 
offene Fürsorge trotz schlechter Prognose, wenn auch nur mit Vor- 
behalt empfohlen wurde, weil tatsächlich die Mittel der Anstalts- 
erziehung im Laufe der Jahre erschöpft erschienen. 

Helmut Sch., geb. Juni 1922. | 


Sch. stammt aus ungünstigen Verhältnissen. Der Vater sollgetrunken haben; 
er starb im Jahre 1931 an Lungentuberkulose. Die Mutter ist einfältig, ge- 
schwätzig und zur Erziehung nicht geeignet. Drei Schwestern im Alter von 12, 
13 und 17 Jahren stehen und standen auch unter Schutzaufsicht, die Jüngsten 
gehen noch zur Schule, die Älteste ist in Karlsruhe im Dienst, schläft aber bei 


. der Mutter. Der Haushalt ist ziemlich verwahrlost. Der Junge, der zunächst 


in Karlsruhe die Volksschule besuchte, wo er einmal sitzen blieb, machte schon 


: früh Erziehungsschwierigkeiten, stahl im Jahre 1933 einer Nachbarin RM. 5.— 


und eine Uhr, 1935 einem kleinen Jungen RM. 2.—. Auf Grund dieser Vor- 
kommnisse und weil er von zu Hause oft tagelang wegblieb, in Scheunen über- 
nachtete und sich von Schulkameraden das Essen bringen ließ, kam er am 
15. 1. 1936 in das Jugendheim Weingarten in Baden zur Beobachtung. Dort 
entwich er bereits am 7. Februar mit zwei anderen Jungen. Die drei stahlen 
und bettelten, er selbst nahm Kindern Geld weg, stahl ein Fahrrad, versuchte 
Opferstöcke zu erbrechen und zu berauben, wurde am 13. 2. 36 wieder ergriffen 
und zurückgebracht. Die Beobachtung ergab normale Intelligenz, ruhig, 
zurückhaltend, Lebendigkeit und geistige Frische fehlen, Einzelgänger, unfrei, 
zappelig, aufgeregt, zeigt große Reue, vergießt Tränen, feinfühlig, kann mit 
zutraulicher Offenheit reagieren, weiter aber auch: gerissen, hinterlistig, ge- 
mütlich fast nicht ansprechbar, hartnäckiger Leugner, führt schmutzige 
Redensarten, typischer Hang zur Unwahrhaftigkeit. Dieselben Beobachtungen 
wurden übrigens, was nachzutragen ist, auch in anderen Anstalten, in die er 
vorher eingewiesen war (Ludwigsburg, Baden-Lichtental und Weinheim) ge- 
macht, wo er ebenfalls wiederholt entwich. 

Am 31. 3. 1936 wurde Anstaltserziehung angeordnet. Am 18. 7. 36 entwich 
er wieder mit zwei Kameraden, stahl 1 Fahrrad unterwegs bei Leuten, die ihn 
aufnahmen, 1 Geldbeutel, 1 silberne Uhr, eine Sporthose und einem unbe- 
kannten Kinde RM. 1.—. Er wurde gefaßt und zurückgebracht, entwich 
aber am 17. 10. bereits wieder, nachdem er mit zwei anderen bei einem An- 
staltslehrer aus dessen Kasten mittels falschen Schlüssels RM. 60.— gestohlen 
hatte. Er kaufte sich davon u. a. eine Schreckpistole und ein großes Taschen- 
messer. Am 27. 10. wurde er wieder zurückgeliefert und am 13. 11. 1936 zu 
5 Monaten Gefängnis wegen der letztgenannten Straftaten verurteilt. Es 
wurde Anstaltserziehung in Hüfingen angeordnet, indem zunächst die Straf- 
vollstreckung ausgesetzt blieb. Hier hielt er sich im ganzen ordentlich, zeigte 
sich aber als Sonderling, arbeitete interesselos und log. Am 10. 2. 37 entwich 
er aus Hüfingen, wurde an der Schweizer Grenze am 15. 2. aufgegriffen und 
nun nach Flehingen eingewiesen. Hier zeigte er sich anfangs auch mißtrauisch, 
verschlossen und zurückhaltend, taute aber mit der Zeit auf, wurde im Kreis 
der Kameraden lebhaft und vorlaut, nahm auch teil am Spiel und Gemein- 
schaftsleben, wurde zugleich aber auch allgemeiner Störenfried durch Sticheln, 
Bosheiten u. a. Er verstand es sich zu verstellen, war im übrigen unordentlich 
und schlampig; hier kam er auf die Schneiderei, zeigte aber weder Geschick 
noch Fleiß, noch Interesse, während er in der Schule sehr fleißig, willig und 
aufmerksam war. Es wurde von dem Flehinger Arzt ein Hang zur Land- 


326 A. Gregor 


streicherei und zum Rauben und Stehlen festgestellt, der allem Anschein nach 
ihm im Blute liegt. Er ist nach dortiger Ansicht der typische jugendliche 
Straßenräuber, der vor nichts zurückschreckt und jeder geordneten Arbeit 
und geregelten Lebensweise aus dem Wege geht, ohne dagegen Hemmungen 
aufzubringen. Er wird als seelisch völlig verkommen und verwildert bezeichnet. 
Am 24. 5. 37 kam er nach Sinsheim. Da er dort zu entweichen versuchte, wurde 
Verbüßung der ausgesetzten Strafe in Heilbronn verfügt (28. 10. 37 bis 28. 3. 


38). Er wurde hierauf wieder nach Sinsheim gebracht, wohin er mit Widerwillen < 


ging. Am 16. Mai wurde er wegen Diphterieerkrankung ins Krankenhaus ge- 
bracht und von dort am 4. Juni nach Karlsruhe entlassen. Hier arbeitete er 
zunächst 8 Tage als Ausläufer und fand dann Arbeit als Hilfsarbeiter in einer 
Schneiderei. Die Arbeit war ihm zu schwer und so lief er nach 4 Tagen 
wieder weg, angeblich um eine leichtere Arbeit zu suchen. Gleich fing er wieder 
an, wie er es schon als 11 Jahre alter Junge getan hatte, kleinen Kindern, die 
Ausgänge besorgten, in nicht weniger als 22 Fällen Geldbeträge unter allerlei 
Täuschungsmanövern abzunehmen. Er nahm insgesamt RM. 33.60. Das Geld 
verbrauchte er für Kino, Schleckereien usw. 

Sch. wurde wegen Diebstahls zu. 10 Monaten verurteilt. Die Untersuchungs- 
haft wurde ihm auf die Strafe angerechnet. 


Cai 


Äußerlich geordnetes Benehmen, mäßig intelligent, gemütlich in keiner 


Weise ansprechend. Er berichtet in gleichgültigem Tone von seinen Vergehen. 
Die ersten Verfehlungen hat er z. T. schon vergessen. Diebstähle habe er bei 
der Flucht aus den Anstalten begangen. Nach der Entlassung aus dem Jugend- 
gefängnis bzw. aus Sinsheim habe er ziemlich gut verdient, auch ausreichend 
Taschengeld bekommen. Besuchte aber sehr oft Kinos und verschaffte sich das 
Geld dazu, indem er es Kindern, die Besorgungen machten, stahl. Es gelingt 
in längerer Unterredung nicht, auf irgendeinem Gebiet einen gemütlichen 
Widerhall zu erwecken. Er weiß aber, daß er bei neuerlichem Rückfall Siche- 
rungsverwahrung zu erwarten hat, die er immerhin zu fürchten scheint. 

Mittelgroßer, zart gebauter Junge von vorwiegend nordischen 
Rassemerkmalen. Er ist zweifellos durch seinen Vater belastet, hat 
aber auch anscheinend von der Mutter kein gutes Erbgut erhalten. 
Sie erwies sich auch zu seiner Erziehung unfähig. Er selbst ist in die 
Kategorie der gefühllosen, moralisch minderwertigen Psychopathen 
zu zählen. Bei seiner Jugend hat er schon eine erschreckend hohe 
Zahl von Delikten begangen. Sie tragen vielfach den Zug triebhafter 
Akte. | 

Die Fürsorgeerziehung hat ihn rechtzeitig erfaßt. Die Bemühun- 
gen der Erziehungsanstalten erwiesen sich aber als erfolglos, ebenso 
hat auch der erste Gefängnisaufenthalt keine erziehliche oder ab- 
schreckende Wirkung ausgeübt. Er ist von Heilbronn nach Sıns- 
heim zurückgekehrt, wurde von dort bald entlassen und ist schon 
nach kurzer Zeit rückfällig geworden. Im Gefängnis hat er sich gut 
geführt und ist fleißig gewesen. Man darf in dieser korrekten Haltung 
unter dem Zwang der äußeren Verhältnisse den einzigen Erfolg der 
Gefängniserziehung bei ıhm erblicken. Ebenso konnte ihm hier die 
Einsicht vermittelt werden, daß er bei Fortsetzung seiner bisherigen 


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-—— 


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Minderjährige Schwerverbrecher usw. 327 


Lebensweise die schwerste Strafe zu erwarten habe. Der durch seine 
Anlage gegebene und wohl hereditär bedingte Defekt an Gefühls- 
werten konnte bisher keine Änderung erfahren. So bleiben auch 
wesentliche Voraussetzungen zu weiteren Delikten bestehen. Ob 
bei ihm noch eine Entwicklung des Gefühlslebens erfolgen wird, ist 
zweifelhaft. Eine Möglichkeit hierfür ergibt sich immerhin aus 
einer Beobachtung in Weingarten, wo er zuweilen große Reue 
zeigte, Tränen vergoß, feinfühlig und mit zutraulicher Offenheit 
reagierte. Die Prognose ist jetzt aber schlecht. Da das Gericht be- 
reits erklärt hat, daß er die Laufbahn des gefährlichen Gewohnheits- 
verbrechers betreten hat, ist der Weg, den er künftig gehen wird, 
bezeichnet. Die jetzige Strafe war lang genug, um den Jungen, der 
aus den Erziehungsanstalten oft entwich, die Unbeugsamkeit des 
Gesetzes erfassen zu lassen. Scharfe Aufsicht auf dem Wege der 
offenen Fürsorge ıst im Interesse der Volksgemeinschaft geboten. 
Im Falle des Versagens müßte er als Fürsorgezögling nach Brauweiler 
gebracht werden. 


Im nachstehenden Falle war es das Wesen des Jungen, welches die 
Anstaltserziehung illusorisch machte. 


Jakob S., geb. April 1921. 


S. ist der Sohn des Hausierers Hch. S. in E. Der Vater zog früher als Schau- 
steller mit Schießbuden auf die Jahrmärkte, handelte auch mit Wichse und 
Schmiere. Seit April arbeitet er nach Angabe des Jungen als Tagelöhner. Der 
Junge, der noch 3 ältere Geschwister hat, wuchs in E. auf und wurde, solange 
er noch nicht in die Schule ging, vom Vater auf die Jahrmärkte mitgenommen, 
was ihm sehr gefiel. Es paßte ihm nachher nicht daheim zu bleiben. Die Familie 
wohnt seit 22 Jahren in E. Der Ehemann arbeitet z. Zt. am Bauvorhaben West. 
Früher hat er noch nie eine ständige Arbeit gehabt. Die Familie verdiente ihren 
Unterhalt auf Jahrmärkten und Messen (Unterhaltung von Spielbuden). 
Während der Zeit, in der die Familie in E. ansässig ist, kann ihr nichts Schlech- 
tes nachgesagt werden. Der Iaushalt ist ziemlich sauber und besteht aus 
2 Zimmern und Küche. Freiheitsstrafen haben die Eheleute bis heute noch nicht 
erhalten. Eine Schwester des S. ist verheiratet und verdient ihren Unterhalt 
mit Lumpensammeln. Eine Schwester ist ledig, sie arbeitet in E., ebenso ein 
Bruder. Die ledige Schwester hatte vor einigen Jahren Zwillinge, von denen 
das eine nach der Geburt gestorben ist. Ein Sohn ist verheiratet und ungefähr 
3 Jahre von der Familie fort. Er verdient nach Aussage der Eltern seinen 
Unterhalt durch Bettenreinigen und Besuch der Jahrmärkte. 


S. stahl schon mit 11 oder 12 Jahren 6 Fahrräder und verkaufte sie, um 
sich Geld zu machen. Im November 1934 drang er mit anderen Kameraden in 


\ einen Laden in E. ein und entwendete dort mehrere Uhren, Ringe, einen Re- 


: volver mit Munition und aus der aufgebrochenen Ladenkasse RM. 85.— in 


Schweizer Franken. Daraufhin kam er nach unregelmäßigem Schulbesuch 
am 3. 5. 1935 in Fürsorgeerziehung nach Flehingen, von dort nach einiger Zeit 
in das Augustinusheim nach Ettlingen. November 1937 beging er dort einen 
Taschendiebstahl und flüchtete aus der Anstalt. Er stellte sich beim Jugend- 


328 A. Gregor 


stift Sunnisheim in Sinsheim und wurde nach Ettlingen zurückverbracht. 
Vorübergehend war er im Herbst 1937 bei einem Landwirt in K., ging aber 
auch durch mit dem Fahrrad eines Freundes und wurde nach Ettlingen zurück- 
geliefert. Im Frühjahr 1938 wurde er entlassen und kam zu einem Bürgermeister 
in W. bei Miltenberg. Hier war er bis 28. 4. 38 als Dienstknecht beschäftigt. 
war sehr gut aufgehoben, es gefielihm auch dort, doch reichte ihm sein Taschen- 
geld von RM. 1.50 bis RM. 2.— nicht aus. So beging er eine Reihe von Diebe- 
reien bei seinem Dienstherrn und dessen Angehörigen. Er stahl RM. 1.—, 
später RM. 3.— und RM. 20.—, kaufte sich davon eine Armbanduhr und Hemd, 
den Rest verbrauchte er in einer Wirtschaft. Einer anderen Frau im Hause 
stahl er RM. 1.50 und RM. 3.—, seinem Dienstherrn weitere RM. 5.—, einem 
Bruder desselben aus der Hose RM. 5.—, verbrauchte das Geld für Wirtschaften 
und Kino. In M. erschwindelte er RM. 5.— und weitere RM. 14.50 auf den Na- 
men seines Herrn. In einer Wirtschaft lernte er einen älteren Mann kennen, 
bei dem er bemerkte, daß er viel Geld bei sich hatte. Er begleitete ihn nach Sch. 
um ihm das Geld abzunehmen. Unterwegs gesellte sich jedoch eine Wirtsfrau 
zu ihnen, dieser suchte er nun gewaltsam ihre Handtasche zu entreißen, was 
ihm aber nicht gelang. Er ergriff darauf die Flucht, stahl unterwegs ein Fahr- 
rad und wurde schließlich in Mannheim festgenommen und nach Ettlingen 
zurückverbracht. Am 25. 5. 38 ging er wieder durch und stahl unterwegs ein 
Fahrrad, wurde aber bald wieder verhaftet. S. wurde wegen Diebstahls, Be- 
trugs und einem Raubversuch zu einer Gesamtgefängnisstrafe von 6 Monaten 
verurteilt. 

Verrät in den Formen den alten Anstaltszögling, etwas selbstunsicheres 
Wesen, höflich, gute Haltung, affektiv ansprechend, gibt prompte Antworten. 

Er sei wegen Familienverhältnissen nach E. gekommen und dort zwei Jahre 
geblieben. Dann zu einem Bauer in Stellung, heimlich ausgerissen und sich 
Geld anzueignen versucht. Dann sei er nach Sinsheim gekommen, wo er 8 Mo- 
nate blieb. 

Befangen, etwas aufgeregt, geht wenig aus sich heraus. Anscheinend durch 
bevorstehende Gerichtsverhandlung bedrückt. Über das Delikt spricht er in 
auffällig gleichgültiger Weise. Auch das Anstaltsleben hat außer korrekter 
Haltung keine tieferen Spuren hinterlassen. Namentlich sind gemütliche Re- 
gungen zu vermissen. Schließlich geht er doch etwas aus sich heraus und er- 
klärt mit bebender Stimme, daß ihn ein Aufenthalt in Brauweiler stark mit- 
genommen habe. Als er die älteren dort internierten Menschen sah, habe er den 
Entschluß gefaßt, künftig nicht mehr straffällig zu werden. An einen Vorfall 
in Sinsheim erinnert, bemerkt er, es sei der Trieb gewesen, den sein Freund B. 
zu erregen wußte!). Dieser habe auch andere verführt. Bei ihm handelte es 
sich nur um Onanie auf dem Klosett, während B. zu einem anderen ins Bett 
stieg. Seine Absicht sei es, nach Hause zu gehen und für die alten Eltern zu 
arbeiten. | 


Großer kräftiger, gesunder schlanker Junge von vorwiegend nor- 
dischen und dinarischen Rassemerkmalen. Er ist unterdurchschnitt- 
lich begabt. Der mangelhafte Schulbesuch hat zu Lücken geführt, 


"| 


welche durch den Unterricht in den Anstalten nur teilweise wieder 


aufgefüllt wurden. 


1) Von einer Anklage wegen widernatürlicher Unzucht ist er freigesprochen 
worden. Er war vorübergehend auch in Brauweiler untergebracht. 


— 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 329 


Charakterlich ist Gefühlsarmut, Neigung zu Ungebundenheit, aus- 
gesprochener Stehltrieb, Anhänglichkeit an die Familie hervorzu- 
heben. Im Zusammenhang mit der wenigstens früher unsteten Le- 
bensweise seines Vaters ist an zigeunerhaften Einschlag zu denken, 
ohne daß körperliche Zeichen dafür vorliegen. Zu Hause ist jeden- 
falls seine Schwester verwahrlost. Der Hang zum Stehlen trat bei 


‘, ihm sehr früh in Erscheinung. Die Anstaltserziehung hat seine Aus- 


wirkung verhindert, am Charakter aber anscheinend wenig geändert. 
Sein Vorsatz, sich künftig gut zu führen, um der Sicherungsverwah- 


` rung zu entgehen, ist zweifellos echt. Aber es ist sehr fraglich, ob er 


ihn bei seiner schweren Haltlosigkeit verwirklichen kann. Die Prog- 


. nose ist ungünstig. Weitere Anstaltsfürsorgeerziehung hat keinen 
. Zweck. Ihn von den Eltern trennen zu wollen, wäre verfehlt, weil er 


D 
pr — 


bald flüchtig gehen und wieder kriminell werden würde. Der Zug zu 
seiner Familie, die ja nicht verworfen ist, ist seine einzige wertvolle 
Seelenregung und müßte deshalb gerade gefördert werden. Die zu 
Hause fehlende Aufsicht könnte von anderer Seite geübt werden. 


Die für die offene Fürsorge bestimmten Fürsorgezöglinge stellen 
sich klinisch wie folgt dar: 


Psychisch intakt .. 4 


Psychopathie ..... 6 (haltlos 3 gemütsarm 3) 
Debil ............ 1 
11 


Die Prognose lautete in 6 Fällen günstig, in 3 zweifelhaft und in 2 
schlecht. 

Dem Altersaufbau nach stellt sich die Gesamtzahl der 37 Fälle 
wie folgt dar: 


15 Jahre 1 
16 „ 1 
17 „p 41 
18 „ 13 
19 ,, 1 

37 


Unsere Tabelle krimineller Fürsorgezöglinge zeigt, wenigstens was 
die Anstaltszöglinge anlangt, durchgehend eine psychische Konsti- 
tution, die nach eigenen!) Beobachtungen und jenen von Stumpfl?) 


1) Gregor, Adalbert, Psychologie u. Sozialpädagogik schwererziehbarer Für- 
sorgezöglinge. Zft. f. Kinderforschung Bd. 30. 4./5. Heft 1925. Derselbe, Zur 
Pädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. Badische Anstaltsblätter, 
Heft VIII 1930. 

2) Stumpfl, Friedrich, Erbanlage u. Verbrechen. Berlin 1935. 


330 A. Gregor 


an rückfälligen Verbrechern für die soziale Prognose bedenklich er- 
scheinen muß. Andererseits fand ich bei Prüfung der seelischen Reife. 
daß der größte Teil dieser Fälle noch als unreif bezeichnet werden 
muß, wodurch sich immerhin Aussicht auf Besserung ergibt. Tat- 
sächlich konnte die Prognose bei der Hälfte dieser Zöglinge in die- 
sem Sinne lauten. Während eine absolut schlechte Prognose nur bei 
einem geringen Teil zu stellen war. 

Die erzielten Erfolge der Gefängniserziehung entsprachen aber 
keineswegs jenen, welche bei meiner Nachuntersuchung!) des Fle- 
hinger Materials festzustellen war. Das Ergebnis näherte sich viel- 
mehr jenen Fällen für älteres Flehinger Material, welches von 
Fuchs?) bearbeitet wurde. Es stammte aus einer Zeit, in welcher 
noch keine genügend systematische Fürsorgeerziehung betrieben 
werden konnte. Und in dieser Richtung liegt auch der offensicht- 
liche Mangel in der Behandlung der hier besprochenen Fälle. Wenn 
sich als Ziel in diesem schwierigen Material die Gründung von Justiz- 
besserungsanstalten ergab, wodurch esausdem Bereich der Fürsorge- 
erziehung herausgerückt wird, so ist esnaheliegend, die weitere Frage 
zu stellen, ob es sinnvoll und richtig ist, zwischen Gefängnis und Für- ’ 
sorgeerziehung, wie es hier der Fall war, zu wechseln und schließlich 
noch Sonderanstalten einzuführen. Es bedarf keiner erziehungs- 
theoretischen Begründung, daß ein einheitliches Erziehungssystem 
den Vorzug verdient und weil die Natur dieser Fälle die Gefängnis- 
strafe unvermeidlich macht, muß diese die Vorhand bekommen. 
Da in diesem System auch die unbestimmte Verurteilung ihren Platz 
findet, müssen wir erst auf diese eingehen und wollen später zu der 
berührten Frage zurückkehren. 


II. Unbestimmte Verurteilung 


Dieser Form der Strafe ist für die Bekämpfung des Gewohnheits- 
verbrechers die größte Bedeutung zuzuerkennen. Ihre Anwendung 
ergibt sıch aus der einfachen psychologischen Erwägung, daß, sobald 
die Wiederkehr von Delikten die Entwicklung einer Gewohnheit er- 
kennen läßt, ein ganz entschieden planmäßiges Vorgehen am 
Platze ıst, um einen später kaum mehr zu beseitigenden Schaden zu 
verhüten, denn bei der Seelenstruktur von Minderjährigen bestehen 
ja stets noch vielfache Angriffspunkte zur Gestaltung und Wandlung 
und ein oft beträchtlicher Grad von Erziehbarkeit. All dies ist aber 


1) Gregor, Adalbert, Ergebnisse u. zeitgemäße Aufgaben der Anstaltsfür- 
sorgeerziehung. Zft. f. Kinderforschung Bd. 40. 3. Heft 1932. 

2) Fuchs-Kamp. Adelheid, Lebensschicksale u. Persönlichkeit ehemaliger 
Fürsorgezöglinge. Berlin, 1929. 


— 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 331 


wesentlich geschwunden, wenn gegen einen älteren Verbrecher mit 
den Mitteln der Strafschärfung vorgegangen wird. Die heute noch 
vielfach zu beobachtende richterliche Praxis, nach der Jugendliche, 
die wiederholt kriminell geworden sind, im Urteil richtig als an- 
gehende Gewohnheitsverbrecher charakterisiert, aber mit einer 
Strafe belegt werden, die für eine Besserung ganz unzulänglich ist, 
entspricht keineswegs mehr der heutigen Auffassung von der Natur 
des Verbrechens und der Verantwortlichkeit der Volksgemeinschaft 


gegenüber. 


Es ist wohl kein Zufall, daß die für praktische Psychologie be- 
sonders begabten Engländer das Borstal-System eingeführt haben. 
Italien ist in seiner großzügig angelegten Jugendgerichtsgesetz- 


~- gebung im Jahre 1934 einen ähnlichen Weg gegangen. Ebenso kennt 


auch das österreichische Jugendgerichtsgesetz vom Jahre 1928 eine 


. 
— 


bedingte Verurteilung. 
Im Anschluß an eine neue Darstellung der Verwahrlosung in 
Just’s Handbuch konnte ich für das bezeichnete System eintreten!). 


à Eine kürzliche Bearbeitung?) ausgewählter Fälle aus dem Jugend- 


gefängnis Heilbronn führte mich zu der Alternative, unbestimmte 
Verurteilung oder langfristige Bestrafung von Minderjährigen im 


. Rückfall. Eine weitere Klärung der Frage soll hier an Hand neuer- 


licher Fälle aus dem Jugendgefängnis Heilbronn versucht werden. 
In dem hier bearbeiteten Material krimineller Minderjährigen 
waren es 36 Fälle, bei denen statt der angesetzten Strafe bedingte 
Verurteilung am Platz gewesen wäre. Das Aufnahmealter dieser 
Gruppe zeigt einen wesentlich anderen Aufbau als bei der vorgehen- 
den. Der jüngste ist ein 16jähriger Junge, der nie ın Fürsorge- 
erziehung war und sich für diese bei seinem schwerfälligen, indo- 
lenten, gemütsarmen Wesen auch nicht geeignet hätte. Die Mehr- 
zahl ist 20jährig. Eine Anzahl steht schon im 21. Lebensjahr?). 
Allerdings handelt es sich nicht um die erste Verurteilung. 


46 Jahre 1 


18 „ 6 
19 „ 6 
20 „ 45 
1.8 

36 


1) Gregor, A. Zur Bekämpfung der Kriminalität durch ein neues Jugendge- 
richtsgesetz. Mft. f. Kriminalbiologie, 28. Jahrg., Heft 6, 1937. 

>) Mft. f. Kriminalbiologie. Im Erscheinen. 

3) Bemerkenswerterweise umfaßt in England die Zeitspanne für die unbe- 
stimmte Verurteilung das 17.—23. Lebensjahr. 


332 A. Gregor 


Nach der seelischen Struktur ergab sich eine Einteilung in Halt- 
lose, Hyperthyme, Hochstapler und Gemütsarme. Das größte Kon- 
tingent (18) stellen die Haltlosen vor, von denen einige charakterı- 
stische Fälle besprochen werden sollen. 


a) Haltlose (18 Fälle). 


Albert G., geb. März 1919. 


G. stammt aus einer 1918 nach Stuttgart zugezogenen Familie. Der Vater 
ist Elektroingenieur und hat ein eigenes Geschäft in Stuttgart, das gerade noch 
die Familie ernährt. Zeitweise bestand erhebliche Not in der Familie, da es 
dem Vater in jeder Hinsicht an Energie fehlt. Er kommt vielfach erst gegen 
Mittag in sein Geschäft und läßt seine Kunden stundenlang warten. Der Junge 


hat zwei ältere Schwestern, von denen die eine an einen Bankbeamten ver- . 


heiratet und die andere Kinderschwester ist. Ein Bruder kommt im Frühjahr 


aus der Schule. Er selbst besuchte die Volksschule in Stuttgart bis 1933. Seine 


Schulleistungen waren gut. 
Nach der Schulentlassung kam er in den Betrieb des Vaters, unterschlug 


Geld und verbrauchte es für Schleckereien. Die Eltern wurden nicht mehr mit : 


ihm fertig und der Vater verbrachte ihn im Mai 1935 in ein anderes Elektro- 
Installationsgeschäft. Er war dort fleißig und anstellig, versetzte aber einen 
Radioapparat, um aufs Volksfest gehen zu können und beging weitere Be- 


trügereien, worauf er im August 1935 entlassen wurde. Durch Vermittlung ) 
des Jugendamtes Stuttgart, an das sich die Mutter in ihrer Not wandte, kaın ' 


er als Landhelfer zu einem Bauern. Hier beging er wieder Schwindeleien um 
Schleckwaren zu kaufen und erhielt am 12. 3. 36 eine Strafe von 15 Tagen. 
die amnestiert wurde. Ende November 1936 kam er im Wege der Fürsorge- 
erziehung in die Wilhelmshilfe nach Göppingen, wo er zuerst in der Landwirt- 
schaft und dann wegen seiner fachlichen Tüchtigkeit zu Elektro-Installations- 
arbeiten und dergleichen verwendet wurde. Auch hier beging er Schwinde- 
leien aller Art in verschiedenen Geschäften in Göppingen und in der Anstalt 
selbst. Er ging mit einem Fahrrad des Vorstandes durch, kam nach Berlin und 
nach Pommern zu Verwandten seiner Mutter und beging weitere Diebereien 
und Betrügereien bis er am 28. 6. 37 festgenommen wurde. Er hat hierfür 
6 Monate bis 9. 3. 38 zu büßen. Das Abschlußgutachten des Gefängnisses er- 
klärt: Gefühls- und Willensleben ganz oberflächlich veranlagt. Es fehlt an 
sittlicher Verpflichtung und Widerstandsfähigkeit gegenüber triebhaften 
Regungen des Augenblicks, an die er ohne Skrupel und Hemmung verkauft 
ist. Er kam am 9. März zum Vater zurück und arbeitete in dessen Geschäft. 
Am 6. Juli gab ihm der Vater 14 Tage Urlaub und er fuhr mit dessen Motorrad 
nach Friedrichshafen, wo er sich in einer Wirtschaft einmietete. Er wollte hier 
ein ihm von Stuttgart her bekanntes Mädchen treffen. Als die RM. 15.—. die 
der Vater ihm mitgab, zu Ende gingen, trat er die Rückfahrt nach Stuttgart 
an, bekam eine Panne und erschwindelte nun von dem Jugendamt Biberach 
RM. 7.—, fuhr nach Friedrichshafen zurück, wo er weitere 7 Tage blieb, ver- 
kaufte dann das Motorrad um RM. 40.— und entwendete am 15. Juli in einer 
Wirtschaft eine Handharmonika im Wert von RM. 64.—, die er um RM. 18.— 
verkaufte. Hierfür hat er nun 4 Monate und 4 Wochen Gefängnis zu büßen. 


=n 


G. ist ein großer, kräftiger, gesunder Junge von ausgesprochen 


nordischen Rassemerkmalen. Er ist ziemlich intelligent und hat 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 333 


sich ım Beruf als Elektro-Installateur bewährt, gute Fähigkeiten 
gezeigt und auch in der Arbeit als fleißig und brauchbar erwiesen. 
Er hat keine gemütlichen Defekte, wenn auch sein Gefühlsleben 
durchaus oberflächlich ist. Als bezeichnendes Merkmal ist ungewöhn- 
liche Haltlosigkeit hervorzuheben. Diese erscheint hereditär be- 
dingt, da nach den Berichten des Amtes für Volkswohlfahrt sein 
' Vater ein energieloser Mensch ist, der sein Geschäft vernachlässigt. 
Zu dieser zweifelhaften Anlage gesellte sich eine schlaffe Erziehung, 
so daß sein rasches Absinken verständlich wird. Auch Erziehungs- 
heim und Gefängnisstrafe haben sich wirkungslos erwiesen. Die 
Überschreitung des ihm anläßlich der Gesellenprüfung erteilten 
Urlaubs ist ein bezeichnendes Symptom für die vorhandene Willens- 
schwäche. Er entwickelt auch heute noch große Selbstunsicherheit 
und kommt über allgemeine Vorsätze nicht hinaus. Die Prognose 
ist ganz ungünstig. Es ist sehr fraglich, ob er sich auch nur bis zum 
Eintritt in den RAD. wird halten können. Ebensowenig erscheint 
_ er fähig, den Anforderungen, die vom RAD. und Militär gestellt 
werden, zu entsprechen. 


Rudolf R., geb. Juli 1921. 

R. stammt aus sehr ungünstigen Verhältnissen. Er ist das uneheliche Kind 

der E. R., die Weberin ist. Er hat noch einen 18 Jahre alten unehelich gebore- 
nen Bruder, der bei der Mutter des natürlichen Vaters aufwuchs. Die Mutter 
verdient angeblich in 14 Tagen RM. 38.— und muß RM. 19.50 Miete zahlen 
für die Wohnung. Er selbst wuchs zunächst bei den Großeltern auf, bei denen 
auch die Mutter wohnte. Er kam im Jahre 1928 in die Volksschule und beim 
Übergang von der 7. in die 8. Klasse nahm sich die Mutter eine eigene Woh- 
nung. 1936 kam er aus der Volksschule und hatte hintereinander Stellen als 
Ausläufer, Ziegeleiarbeiter, Gärtnerlehrling, landwirtschaftlicher Arbeiter und 
Streckenarbeiter, war aber nirgends länger als 2 Monate. Die Erziehung war 
von Anfang an eine völlig ungenügende, da die Mutter tagsüber ins Geschäft 
ging. Er macht ihr den Vorwurf, daß sie nie mit seinem Lohn zufrieden gewesen 
sei und er nur deshalb ständig die Stelle habe wechseln müssen. Auch habe die 
Mutter seinen Zahltag abgeholt, obwohl er nüchtern sei und nichts trinke. Von 
seinem Verdienst z. B. als Streckenarbeiter mit RM. 20.— netto habe sie ihm 
nur RM. 0.50 belassen und ihm kaum mal etwas anderes als Essen hingestellt 

. als geröstete Kartoffeln und Kaffee. Nur an den Zahltagen habe es Fleisch ge- 
geben. In die Gärtnerlehre will er auf Wunsch der Mutter gegangen sein, aber 
sehr unwillig, da er lieber Schlosser oder Schmied geworden wäre. Er fand 
dann aber doch Gefallen, wurde aber nach 4 Wochen Probezeit entlassen, da 
er nicht recht mitkam. Im Frühjahr 1938 war er in der Landwirtschaft tätig 
und stahl dort seinem Dienstherrn aus dem Schreibtisch, dessen Schublade er 
erbrach, RM. 30.—. Er kam hierwegen auch in Untersuchungshaft, das Ver- 

. fahren wurde aber nach $ 1 Ziffer 2 des StGB. vom 30. 4. 38 eingestellt. Am 
14. 11. hat er mittels Einsteigens dem Sohn seiner Tante RM. 11.50 gestohlen. 
Wie er angibt, hatte er sich zur Marine gemeldet und sollte sich zu diesem 
Zweck in Freiburg einer Prüfung unterziehen, hatte aber kein Geld um dorthin 
zu fahren. Seine Tante habe ihm geraten, das Geld seiner Mutter zu stehlen. 


334 A. Gregor 


Er habe dann aber nicht bei der Mutter, sondern bei der Tante selbst gestohlen. 
sei dann mit dem Geld nach Freiburg gefahren und habe dort die Prüfung ge- 
macht. Diese Angaben sind im Urteil nicht enthalten. In der Zeit vom 21. 11. 
bis 3. 12. 38 stahl er weiter seiner Mutter 4 alte Unterröcke, 5 Sommerkleider. 
3 Blusen und 1 Jäckchen, die Sommerkleider gehörten angeblich früher der 
Großmutter und 2 weitere Kleider, die ihr selbst gehörten. Er verkaufte diese 
Gegenstände an einen Altkleiderhändler um RM. 12.50. Zu dieser Tat will er 
gekommen sein, weil seine Mutter, während er bei einem Bauern war, die 
Schneeschuhe verkauft habe. Als der erste Schnee gefallen sei, habe er darüber 
so eine Wut gehabt, daß er die Sachen stahl. R. wurde wegen schweren Dieb- 
stahls, wegen einfachen Diebstahls und Betrugs zu einer Gefängnisstrafe von 
A Monaten verurteilt. 4 Wochen Untersuchungshaft wurden ihm auf die Strafe 
angerechnet. 

Großer schlanker, mittelkräftiger gesunder Bursche von nordischen und 
ostischen Rassemerkmalen. Äußerlich fallen seine wulstigen Lippen auf, welche 
dem Gesicht einen sinnlichen Zug verleihen. Nach seiner bisherigen mäßigen 
Lebensweise muß an latente Sinnlichkeit und den Zusammenhang mit seiner 
unehelichen Abkunft gedacht werden. Im gerichtlichen Urteil ist von erblicher 
Belastung durch den Vater die Rede. Dieser Frage muß noch weiter nachge- 
gangen werden. 

R. zeigt gutmütiges, beschränktes, passives Wesen. Eine gute 
elterliche Erziehung hätte aus ihm wohl einen ordentlichen Men- 
schen machen können. Allein sie hat gänzlich versagt. Rechtzeitige 
Einleitung der Fürsorgeerziehung und Anstaltserziehung nach dem 
ersten Delikt wäre wohl am Platz gewesen, da sein häufiger Stellen- 
wechsel auf Verwahrlosung hinwies. Statt dessen blieb sogar der 
beim Bauer begangene Einbruchsdiebstahl ungeahndet und es ist 
daher bei seinem Wesen verständlich, daß er bei der nächsten Ge- 
legenheit wieder zugriff und das gleiche Delikt bei der Tante voll- 
führte. Auf einem anderen Blatt steht der Diebstahl bei der Mutter. 
Hier scheint es sich um ein bei dem beschränkten Jungen verständ- 
liches Affekt-Delikt zu handeln. 

Die kurze Strafe hat bei seiner Wesensart nur eine oberflächliche 
Wirkung entfaltet, die Prognose ist daher unsicher. 


Der Junge, der am 20. 4. 39 aus dem Gefängnis entlassen wurde, fand sofort 
wieder Arbeit als Streckenarbeiter und verdiente wiederum RM. 20.— pro 
Woche, von denen ihm die Mutter RM. 1.— überließ. Da sie angeblich mit 
Schuldenzahlen schwer in Bedrängnis geraten war, kam der Junge am 14. Mai 
-auf den Gedanken, bei der Patin seiner Mutter, einer Kaufladeninhaberin zu 
stehlen. Während sie am Sonntag in der Kirche war, ging er in ihre Wohnstubr 
und stahl dort RM. 60.—. Er wurde aber beobachtet und die Polizei herbei- 
gerufen und alsbald festgenommen. Er räumte dann auch ein, schon im Jahre 
1936 bei der Patin weitere RM. 5.— gestohlen zu haben. Er wurde abermals 
zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt und kehrte am 24. 6. ins Gefängnis zurück. 


R., der jetzt im Rückfall die gleiche Strafe erhielt, die sich bei der 
früheren Verurteilung als wirkungslos erwies, dürfte nach seiner Ver- 
urteilung den gleichen Weg wie früher gehen. Man wird hier an die 


— — 


— | — 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 335 


zahlreichen im Jugendgefängnis heute noch zu beobachtenden Fälle 
erinnert, bei denen Aussetzung der Strafe auf Wohlverhalten kei- 
nerleı Wirkung ausübt und die schon nach kurzer Zeit ihre früheren 
Delikte fortsetzen. Das einigende Moment ist in beiden Reihen, also 
bei Wirkungslosigkeit einer zu kurzen Strafe oder nicht vollzogenen 
Strafe die fehlende sittliche Haltung bzw. der Mangel an Willens- 
energie zu einer sittlichen Lebensführung. 

Eugen M., geb. Mai 1920. 

Er ist der Sohn des Fritz M., Arbeiters in Stuttgart. Er stammt aus 
dürftigen, aber nicht ungünstigen Verhältnissen, genoß aber eine schwache 


nachgiebige Erziehung, da der Vater als Invalide den Jungen nicht in der nöti- 
gen Weise überwachen konnte. Der Vater hat schon die 3. Frau, die vielfach 


` krank ist. Aus 3 Ehen sind 13 Kinder vorhanden; das erschwert auch die Er- 
‚ ziehung, immerhin ist außer dem Jungen sonst niemand straffällig geworden. 


aaa en, EEE ur ur Ferlerenn ae & 


Der Vater hat ein eigenes Haus, das aber mit RM. 9000.— Schulden belastet 
ist. Der Junge hat bis 1934 die Volksschule besucht und dann 3 Jahre als Kes- 
selschmied in einer Maschinenfabrik bis 1937 gelernt. Er blieb zunächst bei 
seiner Firma. Durch einen Koch, namens B., den er zufällig kennengelernt hatte, 
wurde er zu Schwarzfahrten verleitet und beteiligte sich an insgesamt 25 Motor- 
radentwendungen. Hierfür hatte er zwei Monate Gefängnis zu büßen und fand 
dann wieder Arbeit in einer Kesselfabrik. Der HJ. gehörte er von 1933—1935 
an. Mit zwei anderen Burschen, die er beim Fußballspielen traf, führte 
er dann einen schweren Diebstahl in einer Wirtschaft aus. Mit einem 
gestohlenen Motorrad suchte er das Weite, wurde aber ergriffen und 
hatte hier vom 28. 10. bis 26. 3. 38 Strafe zu verbüßen. Das Ab- 
schlußgutachten bringt die Wirkungslosigkeit der Strafe zum Ausdruck und 
stellt ihm eine schlechte Prognose. Er wurde von hier aus zur Fürsorgeerzie- 
hung auf den Schönbühl zurückverbracht und arbeitete in der mechanischen 
Werkstätte in G. Hier kam er mit E. zusammen. Als dieser am 17. August 
ein Mädchen in Sch. besuchen wollte, schloß er sich ihm an, sie fanden unter- 
wegs ein Motorrad, das sie an sich nahmen. Damit waren alle guten Vorsätze 
über den Haufen geworfen, es folgten noch weitere 3 Motorradentwendungen, 
bis er Ende August in Stuttgart ergriffen wurde. M. hat hierwegen neuer- 
dings 7 Monate bis 10. 4.1939 zu büßen. 

Lahmes, schlaffes Wesen, sitzt in passiver Haltung da, spricht mit leiser 
Stimme, erweist sich zugänglich, spricht auch affektiv an, aber in recht mono- 
toner Weise. Ständig spielt ein mattes, verlegenes, fast hilfloses Lächeln um 
seinen Mund. Er glaubt, früher immer kopflos, ohne Besinnung und Überlegung 
sehandelt zu haben. Jetzt sei es ihm in der Zelle klar geworden, daß es nicht so 
weitergehen dürfte. Er denkt dabei auch an seine Eltern, mit denen er gutsteht. 

Er sei immer das Opfer und der Verführte, schließlich der Leidtragende 
gewesen. Nach seiner Darstellung scheint es wirklich so zu sein, daß er sich 
unüberlegt den Unternehmungen anderer anschloß und ein Mensch ist, der 
nicht nein sagen kann. Bezeichnend ist der letzte Fall in Schönbühl. Dort sei 
es ihm gut gegangen. Er hatte auch sonntäglichen Ausgang. Einmal schlug 
ihm ein anderer Junge, der nachts ausging, ur ein Mädchen zu besuchen, vor, 
mit ihm ins Wirtshaus zu gehen. Als sie dort ein Motorrad stehen sahen, fing 
das Übel neu an. M. versichert glaubhaft, daß er bis dahin keine ernste Absich- 
ten auszureißen hatte. Er ließ sich dann weiter treiben, bis er wieder im Jugend- 
gefängnis landete. | 


336 | A. Gregor 


Mittelkräftiger gesunder Junge von vorwiegend nordischen Rass- 
merkmalen mit leichtem ostischen Einschlag. Er zeigt durch 
schnittliche Intelligenz, spricht affektiv in primitiver Form an, er- 
weist sich als gutmütig, passiv und haltlos. Er bemerkte einma: 
selbst, daß er Verführungen nicht widerstehen könne. Andererseits 
weist die Durchführung eine gewisse Zähigkeit auf und bei den Ein- 
bruchsdiebstählen spielte er die entscheidende Rolle. So stellt sich 
als Triebkraft für seine Delikte die ihn beherrschende Neigung 
heraus. Er spricht selbst von seiner Leidenschaft fürs Motorrad- 
fahren. Leider scheinen die häuslichen Verhältnisse eine ernstlich- 
Erziehung ausgeschlossen zu haben. Er erklärt, daß er sich in seinem 
Eigensinn nichts sagen ließ, die Tür zuschlug und fortging. Den: 
Vater dürfte es an körperlicher Kraft gefehlt haben, um den Jungen 
zu meistern. | 

Die erste Strafe war, wie im Schlußbericht vorhergesehen wurde. | 
erfolglos. Aus dem Schönbühl ging er bald flüchtig. Seine jetzig: | 
Strafe war für seine Natur zu kurz bemessen; er bemerkt selbst. 
daß er eine längere Strafe erwartet habe. Dies ist zu bedauern. Ein” | 
ausgiebige Strafe hätte auch bei ihm einen entscheidenden Erfolz 
erzielen können. So bleibt die Zukunft unsicher. | 

Die besprochenen Fälle, denen sich 15 ähnlich geartete anschlie- ' 
Ben, führen wohl schon allein ein System ad absurdum, das bei mehr 
oder weniger richtiger Erfassung der Persönlichkeit und ihrer kri- 
minellen Anlage sich mit dem Ausspruche einer an der unteren 
Grenze des Strafmaßes gelegenen Gefängnisstrafe begnügt und die 
weitere Entwicklung des Falles nicht ins Auge faßt. Die folgenden 
Gruppen werden uns eine ähnliche Sachlage bei anderen Formen 
seelischer Struktur zeigen. 


b) Hyperthyme und Hochstapler (8 Fälle). 


Wir fassen die charakterologisch nahestehenden Vertreter dieser 
psychopathischen Formen zu einer Gruppe zusammen. | 


Josef Johann P., geb. März 1918. i 

P. stammt aus ungünstigen Familienverhältnissen. Er ist unehelich ge- 
boren. Seine Mutter hat aber schon vor 17 Jahren einen Fabrikarbeiter ge- 
heiratet. Sie wohnt mit ihren Eltern zusammen im gleichen Hause, das an- 
geblich einer Tante gehört. Er selbst wurde bei den Großeltern erzogen. Der 
Großvater geht schon 39 Jahre in ein Imprägnierwerk und verdient RM. 25.— 
netto, der Stiefvater verdient RM. 29.— netto pro Woche. Von 1924—193? 
besuchte er die Volksschule. Im ersten Schuljahr erlitt er durch Sturz auf der 
Treppe einen Bruch des rechten Ellenbogens, was ihn ®/, Jahre ins Krankenhaus 
brachte. 

Schon als Schüler versuchte er einen Opferstockdiebstahl, wurde aber dabei 
überrascht. Nach Bericht des Pfarramts wurden auch sonstige Gegenstände 


Au ~ 


- 


- 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 337 


bei ihm gefunden, die auf Enteignung schließen ließen. Darauf Fürsorge- 
erziehung in Kleinzimmern bei Dieburg, wo er einige Male ausriß. 1935 zog 
er sich bei einer solchen Gelegenheit eine Gefängnisstrafe von 3 Monaten zu 
wegen Fahrraddiebstahls, die Vollstreckung bedingt auf 5 Jahre ausgesetzt. 
Nach Ablegung der. Gesellenprüfung hatte er aber keine feste Stelle, 
ging auf Wanderung, beging dabei wieder Diebstähle (Fahrrad) mit anderen 
und wurde mit 21, Monaten Gefängnis bestraft und die Bewährungsfrist der 
ersten Strafe widerrufen. Um sich Geld für Kleider zu verschaffen, versetzte 
er die Nähmaschine seiner Mutter, hierfür erhielt er eine Gefängsnisstrafe von 
2 Monaten und 2 Wochen und noch eine Zusatzstrafe von 1 Woche wegen 
Sachbeschädigung im Gefängnis. Diese Strafen verbüßte er nacheinander in 
Mainz und kehrte dann wieder zu den Eltern zurück. Da er angeblich Hunger 
leiden mußte und nur einen Anzug hatte, versuchte er es mit einer Zech- 
prellerei; in angetrunkenem Zustande beging er mit einem 7 Jahre älteren 
Kaufmann ein Sittlichkeitsdelikt und bestahl ihn dabei, indem er seine Geld- 
börse mit RM. 3.— zu sich nahm. Hierfür wurden die beiden geständigen An- 
geklagten zu 6 Wochen Gefängnis verurteilt. P. hat auch im Hause eines Land- 
wirts eine Brieftasche entwendet. Mit Rücksicht auf seine wirtschaftliche 
Notlage wurde er für diese Vergehen zu je 3 Wochen verurteilt. Ferner ließ er 
sich unter der falschen Angabe, daß er eine feste Stellung habe, bei einem 
Friseur Dauerwellen machen und konnte nicht bezahlen, dafür erhielt er 2 Wo- 
chen Gefängnis, wegen Bedrohung seiner Mutter mit dem Messer 1 Monat. 
Aus all diesen Einzelstrafen wurde eine Gesamtstrafe von 4 Monaten gebildet. 


Ende Januar 1937 entwendete er abermals die Nähmaschine seiner Mutter 
und suchte sie unter Fälschung des Quittungsabschnittes zu verkaufen. Er 
wurde wegen Diebstahls, Betrugsversuchs und Versuchs schwerer Urkunden- 
fälschung zu einer Gesamtstrafe von 10 Monaten Gefängnis verurteilt, die er 
am 5. 7.1937 antrat. 

Kräftiger Junge von gedrungener leicht untersetzter Gestalt, 
Nase und Augen verraten nordischen Einschlag, im übrigen durch- 
aus ostischer Typus. Sein Temperament läßt den Pykniker erkennen. 
Er ist heiter, oberflächlich, anpassungsfähig, spricht in treuherziger 
Weise. Der Lebensernst scheint ihm bisher noch ein unbekannter 
Begriff. Seine Delikte faßt er als kleine Irrtümer auf, welche sich aus 
der Situation ergaben. Ganz ungewöhnlich ist die Wiederholung des 
gleichen Delikts nach Verbüßung einer längeren Gefängnisstrafe. 
Angesichts dessen ist das Fehlen von krankhaften Störungen der 
Geistestätigkeit besonders festzustellen, ferner daß er lediglich nor- 
mal beschränkt ist. Auch die jetzige Gefängnisstrafe war ohne tiefere 
Wirkung. Die Prognose ist daher schlecht, um so mehr, da infolge 
der Kontraktur des rechten Ellenbogengelenks, die erzieherische 
Wirkung des Militärdienstes ausscheidet. 


Albert Sch., geb. Juni 1918. 

Sch. stammt aus kinderreicher Familie, er hat noch 7 Schwestern und 2 Brü- 
der und ist selbst das 10. Kind. Die Geschwister sind mit Ausnahme von einer 
Schwester und einem Bruder verheiratet. Der Vater starb erst am 29. 3. 38 
an einer Herzkrankheit. Im Haushalt der Mutter befindet sich eine 21jährige 
22 Algem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


338 A. Gregor 


Tochter und ein Enkel von einem Jahr. Die Mutter des Kindes ist geschieden 
und verbüßt eine Zuchthausstrafe. 1919 verzogen die Eltern vorübergehend 
nach Ostheim und er besuchte von 1924—1932 die Volksschule dort. An- 
schließend kam er als Mechaniker in die Lehre. Hier stahl er Werkzeug und 
wurde deshalb entlassen. Er kam dann zu einer anderen Firma, wo er weitere 
3 Jahre lernte. Am 12. Februar 1935 wurde er erstmals bestraft wegen wider- 
natürlicher Unzucht, er erhielt 1 Monat auf Bewährung. Dies führte zu seiner 


Einweisung nach Schelklingen Ende 1935, nachdem er übrigens am 6.9.35 
nochmals mit 10 Tagen Gefängnis wegen Entwendung eines Hinter- und Vor- 


derrades bestraft worden war, auch diese Strafe wie die erste wurde durch 
das Straffreiheitsgesetz vom 1.12. 36 amnestiert. In Schelklingen ging er 
wiederholt durch, stahl bei der ersten Flucht einen Schal, wieder zu Gericht 
gebracht, erhielt er 14 Tage Gefängnis. Es kam dann heraus, daß er in Stutt- 
gart im Laufe des Jahres 1935 weitere 4 Fahrräder gestohlen hatte und beim 
Verkauf des einen Rades eine Urkunde gefälscht hatte. Unter Anrechnung 
der 14 Tage erhielt er hierfür am 30. 1. 1936 vom Jugendgericht Blaubeuren 
eine (Gesamtstrafe von 9 Monaten. Am 25. 2.36 ging er zum zweitenmal 
durch, stahl eine Quittungskarte und zwei Steuerkarten, um sich unter 
falschem Namen durchzuschlagen und stahl wiederum ein Fahrrad. Er erhielt 
dafür 3 Monate 10 Tage Gefängnis und hatte beide Strafen bis 14. 3. 37 in 
Niederschönenfeld zu verbüßen. Er kehrte dann zu seinen Eltern zurück, die 
in geordneten Verhältnissen leben und setzte seine Lehrzeit als Mechaniker bei 
einer Firma in Vaihingen fort. Im September 1937 bestand er die Gesellen- 
prüfung und war bis 30. April 1938 bei der Firma tätig. Er war zunächst ein 
fleißiger und brauchbarer Arbeiter, doch ließ seine Arbeitsleistung in den letzten 
Monaten nach und hierwegen, sowie wegen seiner Rüpelhaftigkeit wurde er 
entlassen. Während seiner Tätigkeit bei der Firma W. hatte Sch. Ende 1937 
einem Mitarbeiter, einen Arbeitsanzug für einen Tag entliehen und sich dabei 
RM. 6.— und ein Taschenmesser, die in dem Anzug waren, angeeignet. Am 
22. 3. 38 bemerkte Sch. bei einem Gang auf der Straße im Hof eines Hauses 
ein Herrenfahrrad im Werte von RM. 50.—. Er nahm es und benützte es später 
zu Fahrten ins Geschäft. Als er von seiner Firma entlassen war und aufs Ar- 
beitsamt Cannstatt zur Arbeitssuche ging, bot er das gestohlene Fahrrad 
einem anderen arbeitssuchenden Fabrikarbeiter um RM. 30.— an. Kurz vor dem 
Weggang von der Firma W. entwendete Sch. in einem kleinen Carton mehrere 
der Firma gehörende Gegenstände im Werte von insgesamt RM. 65.—. Er wurde 
bestraft wegen zweier Vergehen des Diebstahls, wegen einer Unterschlagung 
und eines versuchten Betrugs mit einer Gesamtgefängnisstrafe von 7 Monaten. 

Kräftig gebauter gesunder Bursche, intelligent, hyperthymisch, syntones 


Wesen, von sich eingenommen, hält sich auch für einen tüchtigen Sportsmann. : 


namentlich das Radfahren sei seine Leidenschaft. Dabei habe er auch seine 
Braut kennen gelernt, die ebenfalls sehr für das Radfahren ist. Der Verein 
würde ihm gleich nach der Entlassung aus dem Gefängnis ein Rad zur Ver- 
fügung stellen. Die Räder habe er gestohlen, um aus ihren Bestandteilen das 
von ihm benützte ebenfalls gestohlene Rad zu ergänzen. Bei der Flucht aus 
Schönbühl eignete er sich ein Rad an. Nach der Entlassung aus Schönbühl 
kaufte er ein wertvolles italienisches Rad für RM. 200.—, das ihm aber ge- 
stohlen wurde. Er würde in diesem Fall kein weiteres Rad gestohlen haben. 
Anfangs habe er sehr feste Vorsätze gehabt und sich ein Jahr gut gehalten und 
zurückgezogen gelebt. Dann sei er unter den schlechten Einfluß von Kameraden 
geraten, welche ihn zwar nicht direkt verführten, er habe aber von ihnen viel 
über zweifelhafte Unternehmungen gehört. 


r 


-— 3 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 339 


Sch. ist ein hyperthymer Psychopath. Seine geschlechtlichen Be- 
ziehungen passen zu diesem Bild. Die jetzige Straftat hat keine 
tiefere Wirkung entfaltet. Er stellt immer noch keine reife oder 
gefestigte Persönlichkeit vor. Die Prognose bleibt daher zweifelhaft. 

Sch. Fritz, geb. März 1917. 


Sch. stammt aus unglücklichen Familienverhältnissen. Der Vater ist an- 
seblich Rechtsanwalt und von der Frau, einer geborenen Benita von T., von 
` der er seit 1922 schon getrennt lebte, seit 1928 geschieden. Er wurde dann 
bei seinen Großeltern — der Großvater ist Oberst i. R. — in Frankfurt auf- 
vezogen. Der Großvater ist jetzt 83 Jahre alt, die Großmutter starb 1933. Der 
Vater, der als Rechtsanwalt angeblich Güterverwaltungen hat und meist in 
Berlin lebt, kümmert sich um den Jungen nicht. Der Großvater ließ ihm durch 
Privatlehrer Unterricht erteilen bis 1931 und unterrichtete ihn dann selbst 
weiter in verschiedenen Sprachen. So fehlte dem Jungen von Anfang an eine 
geregelte Erziehung und ein festes Ziel. Ende 1931 kam er zum Jungstahlhelm 
und ab Anfang 1932 zur HJ und SA. Nach der Machtübernahme war er für 
die NSV tätig. Hier beging er Unterschlagung und wurde in I. Instanz zu 
10 Monate Gefängnis verurteilt, in II. Instanz aber ist die Strafe amnestiert 
worden. Zuvor war er noch mit Geld des Großvaters in Italien. Nach den Ver- 
handlungen wegen dieser Veruntreuungen veranlaßte sein Vater seine Ein- 
‚ weisung in die Fürsorgeerziehungsanstalt Rengshausen, wo er von November 
1934 bis März 1935 war. Anschließend kam er einige Zeit zur Landwirtschaft, 
ving dann nach Berlin, um seinen Vater um Hilfe anzugehen, fand aber keine 
Unterstützung und ließ sich hier einen Mietbetrug zuschulden kommen, der 
ihm 1 Monat Gefängnis eintrug, was amnestiert wurde. Von da kam er 
wiederum nach Rengshausen zurück, wo er erneut von November 1935 bis 
April 1936 war. Dann kam er zu einem Landwirt bis September 1936. An- 
schließend ging er nach Frankfurt zurück, um den Großvater um Geld anzu- 
gehen, erhielt aber nichts und ging nach Nürnberg, wo er sich erneut einen 
Miet- und Zechbetrug zuschulden kommen ließ, der ihm eine Gefängnisstrafe 
von 6 Wochen eintrug. Er hatte sich hier unter einem falschen Namen ein- 
setragen und war dann unter Hinterlassung seines Gepäcks verschwunden. 
Er fuhr dann weiter nach München. Hier hoffte er von Verwandten Geld zu 
bekommen; doch ohne Erfolg. Er eignete sich eine Eisenbahnnetzkarte und 
einen Paß an und wurde hierwegen erneut wegen Diebstahls zu 3 Wochen 
Gefängnis verurteilt. Nach Berlin mit dieser Karte zurückgekehrt, ging er 
wiederum den Vater um Unterstützung an, stahl dann RM. 20.— und hatte 
deswegen vom 6. November 1936 bis 6. März 1937 4 Monate Gefängnis in 
Kottbus zu verbüßen. Er kehrte dann wieder nach Frankfurt zurück. Zeit- 
weise war er auch in der Landwirtschaft beschäftigt. 

In Frankfurt lernte er einen gewissen G. kennen, der sich offenbar an ihn 
in homosexueller Weise heranmachen wollte, und ihn mit Geld unterstützte, 
ohne daß es, wie er sagt, zu unsittlichen llandlungen kam. Er wußte die Mutter 
des G. zu bestimmen, ihm ihre Steuersachen zur Erledigung zu geben und 
prellte sie dabei um RM. 210.—. Mit dem Geld unterhielt er ein Verhältnis 
mit einer gewissen W., der gegenüber er sich als ein Herr v. T. ausgab und 
prellte auch diese um RM. 440.—, um mit einem Rest des Geldes in Höhe 
von RM. 260.— nach Travemünde am 2.7.1937 zu reisen, da ihm, wie er 
sagt, die Sache über den Kopf wuchs. In Travemünde logierte er sich in 
einer Pension G. als ein Herr v. Th. ein und prellte den Pensionsinhaber um 


ODI | 
Cal 


340 A. Gregor 


über RM. 100.—. Zwei Mädchen, die er dort kennen lernte, schwindelte er 
weitere RM. 40.— ab, um ab 16. 7. in Hamburg mittellos festgenommen zu 
werden. Ab und zu scheint er auch als Saxophonbläser sich betätigt zu haben. 
doch war dies nur aushilfsweise. Er wurde vom Jugendschöffengericht in Frank- 
furt a. M. am 6. XII. 37 wegen Betrugs in 4 Fällen sowie wegen Diebstahls 
in einem Falle zu einer Gesamtstrafe von 1 Jahr Gefängnis verurteilt, wovon 
2 Monate durch die Untersuchungshaft verbüßt waren. 

Geordnetes Verhalten, lässige Haltungs- und Bewegungsformen, etwas fahrig. 
ziemlich intelligent, gewecktes Wesen, affektiv ansprechend, oberflächlich, ge- 
ringe Gemütswerte, das einzige Ziel ist, empor zu kommen; von sich sehr ein- 
genommen, anspruchsvoll, urteilt in leichtfertiger, wegwerfender Weise, neigt zu 
Vorwürfen gegen Eltern und Großeltern, die allerdings nicht unberechtigt sind. 

Seine Mutter habe er kaum gekannt. Die Eltern lebten im Hotel, er hatte 
eine Kinderfrau, die Mutter kümmerte sich nicht weiter. Die Eltern trennten 
sich, als er 6 Jahre alt war. Er kam dann zu den Großeltern, bei denen er es 
sehr gut hatte. Sie ließen ihn zu Hause lernen. Er spricht von Universitäts- 
Professoren, welche ihm Unterricht erteilten. Er sei nie in die Schule gegangen, 
sein Bildungsgrad soll der Untersekunda entsprochen haben. 

Mit 15 Jahren auf Abwege geraten, stahl gelegentlich. In einer Fürsorge- 
erziehungsanstalt habe er nicht viel gelernt. Kam dann zu einem Bauern, wo 
es ihm gar nicht gefiel. Der Vater habe ihn daher bald nach Berlin genommen. 
Der 50jährige Mann hatte damals ein Verhältnis mit einem Mädchen, welches 


im Alter seinem Sohn näher stand. Es scheint zu Eifersuchtsszenen gekommen : 


zu sein und der Vater stieß ihn von sich. Als er später vom Gefängnis zu den 
Großeltern zurückkehren wollte, gab ihm der Großvater RM. 1.— und schickte 
ihn fort. Er erklärt mit G. bestimmt in keinem sexuellen Verhältnis gestanden 
zu haben. Dieser sei vielleicht darauf ausgegangen, doch sei er ihm ausgewichen 
und schlug aus, bei ihm zu nächtigen. 


Kräftiger, gesunder, junger Mann. Von nordischem Typus, intelli- 
gent, oberflächlich, unreif und unerzogen, wenn er auch für seine 
Jahre viel erlebt hat. 

Von Heredität ist zunächst nichts bekannt. Es muß aber erbliche 
Belastung durch seine leichtsinnige Mutter angenommen werden. 
Bei der Beurteilung der Kriminalität ist davon auszugehen, daß er 
nie elterliche Erziehung genossen hat. Die Erziehung durch den 
Großvater kann nur als sinnlos bezeichnet werden. Bemerkenswert 
ist auch, daß Vater und Großvater ihn glatt verstießen, als die 
Folgen ihrer Erziehung zutage traten. 

Der Aufenthalt in der Erziehungsanstalt und die erste Gefäng- 
nisstrafe waren viel zu kurz, um eine Besserung zu erzielen. Der 
neunmonatliche Strafvollzug in Heilbronn bahnte eine solche an, 
doch war die Prognose bei der Entlassung noch zweifelhaft. 

Sch. kam als Hotelbediensteter in Stelle und hat nach kurzer 
Zeit Schwindeleien begangen, wozu er auch einen früheren, aus dem 
Gefängnis entlassenen Burschen, der sich bis dahin ordentlich hielt, 
verführte. Dieser kam mit einer langen Gefängnisstrafe neuerlich 
zur Aufnahme, während Sch. bisher noch nicht gefaßt wurde. 


ee — ee EnE- + en, 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 341 


Robert S., geb. November 1919. 


S. wurde als zweiter Sohn des in geordneten Verhältnissen lebenden Zim- 
mermeisters K. S. geboren. Von 1926—1933 besuchte er die Volksschule, war 
dann als Kaufmannslehrling bei der Firma L. in Karlsruhe, lief aber schon 
nach 3 Wochen fort. Er fuhr nach Berlin, da er sich sehr für den Film inter- 
essierte und nach seiner — unkontrollierbaren Erzählung zu der Filmschau- 
spielerin Liane Haid ging, die ihm eine Nacht Unterkunft bezahlte. In seiner 
hochtrabenden Weise bezeichnet er dies als ‚besondere Prägung zum Illu- 
sionisten‘‘, die ihn dazu trieb. In Berlin fälschte S. u. a. einen Ausweis des 
Reichsjugendführers zwecks Unterkommens und bestahl einen Studenten, 
der ihn als SA-Mann in seine Wohnung aufnahm. Dafür erfolgte Amnestie- 
rung. Von Berlin wurde er bald zurückgebracht, aber entwich seinen Eltern 
wieder und fuhr nach Würzburg, wo er ein Rad stahl. Er kam auf den Partei- 
tag und wurde 1934, weil er bei solcher Gelegenheit Bübereien trieb, aus der 
HJ ausgeschlossen. 

Dann kam er nach Sinsheim in Fürsorgeerziehung und blieb dort 1 Jahr 
6 Monate und lernte Buchbinderei. Am 16. 4. 35 erhielt er dort Urlaub zwecks 
Stellensuche, fand keine und betrog einen Ingenieur um RM. 2.—, auch dafür 
Amnestie. Nach Sinsheim zurückgebracht, nahm er sich besser zusammen, 
war aber als Angeber bei den Kameraden unbeliebt und wurde dort als über- 
heblicher, haltloser Psychopath beurteilt. Am 29.8. 36 aus der Fürsorge- 
erziehung probeweise entlassen, kam er zum RAD nach Durlach, hielt sich 
gut und wollte von dort aus zur Leibstandarte Adolf Hitler oder evtl. in die 
Reichspresseschule. Da ihm das Geld zur Reise nach Berlin fehlte, kam er 
auf Diebereien und Schwindeleien, und wurde zu 8 Monaten Gefängnis ver- 
urteilt. Im Untersuchungsgefängnis Karlsruhe hat er sich noch vor seinem Ab- 
transport mit einer Strafgefangenen auf Briefschmuggel eingelassen. — Seine 
Vergehen motiviert er in großsprecherischer Weise, wobei erseine oberflächliche, 
durch Lesen erworbene Bildung hervorkehrt. Nach der Entlassung will er einen 
\SKK-Lehrgang mitmachen und hofft, auf einer der Ordensburgen unterzu- 
kommen. Schließlich bewirbt er sich um eine Lehrlingsstelle beieinem Bäcker. — 

Im Mai 1937 hat er in verschiedenen Buchhandlungen in Karlsruhe jeweils 
zwei Bücher entwendet und diese verkauft, wobei er unwahrerweise angab, 
er sei vom RAD beauftragt, Buchanschaffungen zu machen. Im Mai und Juni 
des gleichen Jahres hat er in 8 Fällen Personen zur Hergabe von Geld bewogen, 
indem er ihnen vorschwindelte, daß er vom RAD beauftragt sei, ihnen mitzu- 
teilen, daß sie die Patenschaft über ein Arbeitsdienstlager erhielten und dabei 
kleinere, aber auch große Beträge von RM. 29.—, RM. 50.— bekommen und 
für sich verwendet. In einem Falle gab er sogar an, elternlos zu sein, was ihm 
bei Bemessung der Strafe angerechnet wurde. Mit den ersten Beträgen fuhr 
er nach Berlin, weil er angeblich zur Leibstandarte Adolf Hitler sollte, wollte 
sich aber in der Reichspresseschule melden und dort Aufnahme suchen, da 
er sich wiederholt schriftstellerisch betätigt hatte. Er hat dann in Berlin und 
Potsdam die oben erwähnten Schwindeleien fortgesetzt, das Geld zur Tilgung 
der inzwischen entstandenen Schulden verwendet. Dabei gab er phantastische 
Lügen an von seiner Bekanntschaft mit dem Reichsminister Goebbels, der ihn 
auf drei Wochen in das Heim der NS-Frauenschaft eingewiesen hätte. Darüber 
schrieb er Artikel, die er in Zeitungen, die in Karlsruhe und Eppingen erschie- 
nen, veröffentlichte. 

Hierfür wurde er vom Jugendgericht Karlsruhe zu einer Gesamtgefängnis- 
strafe von 8 Monaten verurteilt, auf welche 2 Monate Untersuchungshaft an- 


342 A. Gregor 


gerechnet wurden. Er wurde nach Verbüßung am 26. 2. 37 aus dem Jugend- 
gefängnis Heilbronn entlassen. 

Nach der Entlassung kam er durch Vermittlung des Arbeitsamtes Karls- 
ruhe zu einem Weingutsbesitzer nach Freiburg und bekam dort RM. 20.— 
wöchentlich, soll sich daneben noch RM. 10.— bis RM. 20.— in der Woche 
durch Artikelschreiben verdient haben. Da er aber trotzdem nicht auskam, 
verfiel er wieder auf seine alten Schwindelmanöver. Er begab sich in ein Tri- 
kotagengeschäft und unter dem Vorwand, daß er für notleidende Landhelfer 
Einkäufe zu machen hätte, die aus einer Goebbels-Stiftung bezahlt würden. 
ließ er sich Ware vorlegen und stahl dabei 3 Hemden, 6 Paar Sportstrümpfe, 
7 Paar Socken im Werte von etwa RM. 37.—. Auch steht er in dem Verdacht, 
einen Mantel und mehrere Flaschen Likör und Sekt entwendet zu haben. 
Für die letzteren wurde der Diebstahl festgestellt, der erste Fall blieb zweifel- 
haft. Die Gesamtstrafe für diese Vergehen wurde auf 4 Monate festgesetzt, 
er trat sie am 25. 7. 1938 an. 5 Wochen Untersuchungshaft kommen in Abzug. 


S.ist anscheinend nicht erblich belastet, dagegen wurden von den 
Eltern schwere erzieherische Fehler begangen. S. ist kräftig gebaut, 
ein schlanker Junge mit nordischen und ostischen Zügen. Er ist 
recht intelligent, überschätzt aber seine geistigen Fähigkeiten und, 
wurde darin wohl auch von den Eltern bestärkt. So hält er sich für 
dichterisch begabt, während Gedichte, die bei der Beamtenbespre- 
chung zur Vorlesung kamen, lediglich ein geistloses Reimgeklingel 
vorstellen. Gleiche Halbheit findet man auch in seiner moralischen 
Gesinnung. Er entwickelt hohe Ansprüche: Leibstandarte, Führer- 
schule, Journalistik, für alles fehlt es ihm aber an der primitivsten 
moralischen Basis. Überall ersetzt Phantastik und Renommiersucht 
die Wirklichkeit. Er sprach mir gegenüber von seiner Kenntnis der 
italienischen Sprache, während er, wie ein Versuch zeigte, einen ein- 
fachen Text kaum zu lesen verstand und kein Wort zu übersetzen 
wußte. Die Schamlosigkeit seiner Handlungsweise, welche vom 
Jugendgericht Karlsruhe betont wurde, mußte zur schlimmsten 
Prognose führen. Es ist nicht zu erwarten, daß von der zweiten Straf- 
verbüßung in Heilbronn nachhaltigere Wirkungen als von der ersten 
gleich langen ausgehen. Die Prognose des Jugendgerichtes dürfte 
wohl zutreffen. 

Man wird vielleicht nach dem Grunde der Trennung der im 
Kapitel I und II behandelten Fälle fragen, denen einzelne psycho- 
logische Züge gemeinsam sind. Er liegt darin: 

1. daß in den Fällen dieses Kapitels (Il) auf Fürsorgeerziehung 
nicht zu rechnen war, weil, soweit diese ausgesprochen wurde, ihre 
Mittel bereits erschöpft erschienen. 

2. Weil die Schwierigkeit dieser prognostisch ungünstig zu beur- 
teilenden Fälle ein einheitliches und zielbewußtes Vorgehen nötig 
macht und ein Wechsel des Systems diesem Prinzip zuwiderläuft. 
Dabei bildet eine langfristige Strafe das Mittel der Wahl. 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 343 


3. Ihre Dauer konnte allerdings bei der Natur dieser Fälle zur 
Zeit der Verurteilung nicht annähernd genau bestimmt werden. 

Die gleichen Gesichtspunkte gelten auch für die nächste Gruppe, 
die diesem Kapitel angehört. 


c) Gemütsarme. 


Aus dem Material von 10 Fällen dieser Gruppe werden nach- 
stehende Beispiele besprochen: 


Kurt K., geb. Februar 1918. 

K. ist unehelich geboren; die Mutter hat kurz nach dem Kriege den schwer- 
kriegsbeschädigten Fabrikarbeiter G. in O. geheiratet, der im Konsumverein 
in L. Beschäftigung hat. Der Vater ist am Kopf und der Lunge verwundet und 
daher wohl der Erziehung des großen Burschen nicht gewachsen. Aus der 
Ehe der Mutter ist eine Tochter im Alter von 13 Jahren entsprossen. Er selbst 
besuchte die Volksschule in O. bis zur 8. Klasse und kam 1932 zu einer 
Firma S. in F. in die Lehre. Nach 14, Jahren wurde das Geschäft aber auf- 
gelöst und statt eine andere Lehrstelle aufzusuchen, ging er auf die Wander- 
schaft, auf der er auch Österreich und die Tschechoslowakei besuchte und 
kam erst ein Jahr später wieder heim, um arbeitslos herumzulungern. Angeb- 
lich beschäftigte er sich auch in zwei Gärten, die den Eltern gehören; doch 
handelt es sich hier um kleinere Grundstücke; im übrigen reiste er schwarz 
mit Toilettenartikel. Schon 1933 zog er sich wegen Diebstahl und Urkunden- 
fälschung 2 Strafen von je 3 Tagen Gefängnis zu, die aber amnestiert wurden, 
1935 erhielt er 4 weitere Strafen wegen Betrugs, zweimal wegen Paßvergehen 
und einmal wegen Landstreicherei und Feueranzündens im Walde mit 20 Tagen 
Gefängnis, 11 Tage Haft, 20 Tagen Gefängnis und zuletzt 1 Woche Gefängnis 
und zwei Wochen Haft. Diese Strafen hat er verbüßt. Auf seinem wilden 
Hausierhandel begann er dann im Jahre 1936 zu stehlen, u.a. in Heilbronn 
RM. 70.—. Bei dem Versuch eines schweren Diebstahls in M. wurde er gefaßt 
und erhielt hierfür 6 Monate Gefängnis, die er bis 6. 4. 1937 in Freiburg ver- 
büßte. Nach seiner Entlassung begab er sich sofort wieder auf den wilden 
Hausierhandel und stahl bei dieser Gelegenheit hier in 3 Fällen aus einem 
Schrank RM. 4.10, aus einer im Dachstock stehenden Kommode 2 Herren- 
hemden und aus einer an einer Türklinke hängenden Handtasche einen Geld- 
beutel mit RM. 7.—, wobei er ertappt wurde. Angesichts seiner Neigung zum 
Nichtstun und zum Stehlen hielt das Gericht eine empfindliche Strafe in 
Höhe von 9 Monaten für angezeigt und wegen des Hausierhandels eine Haft- 
strafe von 10 Tagen. 


K. ist körperlich gesund und wohl entwickelt. Seine feingeschnit- 
tenen Gesichtszüge stehen im Gegensatz zu wenig belebtem Gemüt. 
Er ist ein intelligenter, aber gemütsarmer Psychopath. Es muß ıhm 
zugute gehalten werden, daß er lieb- und zuchtlos zu Hause auf- 
wuchs, da sein Stiefvater ein rabiater schwerkriegsbeschädigter 
Mann ist, der seine Frau zu seiner Pflege völlig in Anspruch nimmt. 
Die mangelhafte seelische Entwicklung des Jungen findet zum Teil 
in den häuslichen Verhältnissen ihre Erklärung. Ein moralisches 
Absinken fand zweifellos durch das Vagabundieren statt, auf das K. 


344 A. Gregor 


in seiner Passivität verfallen ist. Hausierhandel bildet in gewissem 
Sinne eine Fortsetzung dieser Wanderjahre und entspricht seinem 
passiven Wesen. Er wurde vollends sein Verderben, da er auf diese 
Weise in Situationen gelangte, die ihn zum Diebstahl verführt ha- 
ben. Die Strafe hat keine völlige Wandlung der haltlosen Persön- 
lichkeit erzielen können. Immerhin ist K. reifer und überlegter ge- 
worden, ob er genügend Willenskraft besitzt, um seinen Entschluß, 
in der Landwirtschaft zu arbeiten, auch durchzuführen, steht dahin. 


Die Prognose ist jedenfalls sehr zweifelhaft, aber nicht absolut 
schlecht. 


Egon Sch., geb. Februar 1922. 

Sch. ist der Sohn des Polizeimeisters M. Sch. in E. Der Vater ist erst 
49 Jahre alt, aber schon seit 1928 wegen Zuckerkrankheit im Ruhestand. 
Außer dem Jungen sind noch zwei Söhne vorhanden im Alter von 17 und 
46 Jahren, die daheim sind. Er selbst ging zunächst 1 Jahr in H., dann 3 Jahre 
in E. in die Volksschule und anschließend 5 Jahre in K. in die Realschule. 
Weil er mit gefälschter Unterschrift auf den Namen seiner Mutter RM. 350.— 
abhob, erhielt er 1935 seine erste Strafe wegen Urkundenfälschung mit 
4 Wochen. Er kam dann weg, war als Beifahrer bei einer Firma U., besuchte 
die Fortbildungsschule 1 Jahr und kam später als Kaufmannslehrling zu der 
Firma U. Wegen Betrugs zum Nachteil seiner Firma in Höhe von RM. 500.— 
wurde er hier wieder entlassen. Hierfür erhielt er weitere 6 Wochen Gefängnis. 
Er machte dann die Kraftfahrerprüfung, kam zu einem Autovermieter, 
später zu einem Dreschmaschinenbesitzer in der Nähe von Frankfurt. Im 
Sommer 1937 verbüßte er dann seine 6 Wochen und kam später wieder zu U. 
als Kraftfahrer, zuletzt zu einem Dreschmaschinenbesitzer. 

Plumpes, schwerfälliges, indolentes Wesen, affektiv wenig ansprechend, 
etwas trotzig, ablehnend, wie zu Beginn seiner Strafzeit.e Gemütsarm, steht 
seinem bisherigen Leben und seiner Straftat gleichgültig gegenüber. Er be- 
hauptet zwar, daß er ein gutes Verhältnis zu den Eltern habe, doch bleibt 
er unberührt, als man ihm klar legt, daß die Krankheit des Vaters ihn zu 
einer besseren Lebensführung veranlassen müßte. 

Von seinem Delikt spricht er kurz und sachlich. Während der Schulzeit 
in der Realschule habe er Beträge von RM. 50.— bis RM. 60.— von der Bank 
auf den Namen der Mutter mittels gefälschten Quittungen abgehoben. um 
Leckereien zu kaufen. 

Daß die Eltern das Geld bei der Krankheit und Pensionierung des Vaters 
nötig brauchten, habe er nicht bedacht und scheint auch jetzt keine Reue 
deswegen zu empfinden. Den Betrug habe er später begangen, als ihm beim 
Kauf von Invalidenmarken für das Geschäft irrtümlich eine um RM. 500.— 
größere Menge ausgehändigt wurde, die er nicht zurückgab. Dieses Geld 
wollte er sparen. Die Diebstähle beging er, um nach Hamburg als Trimmer 
zu gehen. Als man ihn mangels von Papieren nicht nahm, habe er sich selbst 
gemeldet. 


Er ist ein großer kräftiger, gesunder Junge von vorwiegend nor- 
dischem Typus, leidlich intelligent, aber denkfaul, von plum- 
pem Naturell und lahmen Temperament. Gemütsarm, stark ego- ` 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 345 


zentriısch, nur für den eigenen Vorteil bedacht. Genußsucht, die 
schon physiognomisch in den vollen Lippen Ausdruck findet, tritt 
sehr früh in Erscheinung, beschränkt sich zunächst auf engen 
Rahmen, auch geschlechtlich hat er nicht exzediert. Anscheinend 
ist seine moralische Ungebundenheit einigermaßen durch seine na- 
ürliche Trägheit ausgeglichen. 


Bei seiner frühen Kriminalität war es ein Versehen, ihn nicht in 
Anstalts-Fürsorgeerziehung zu bringen, wozu es jetzt schon zu spät 
ist. Diese Unterlassung wird sich vermutlich ebenso rächen, wie das 
kurzfristige Strafmaß durch neuerliche Rückfälle. Der Gefängnis- 
‚aufenthalt in Heilbronn blieb auf einen Monat beschränkt und hat 
nichts an seinem Wesen geändert. Man konnte ihm dringend vor- 
halten, daß die nächste Strafe wesentlich länger sein wird, doch 
lassen ihn vernunftgemäße Überlegungen ziemlich kühl. Die Prog- 


‚nose ıst also schlecht. 
' 


! Gerhard B., geb. Oktober 1918. 
| B.s Vater ist Architekt, die Familie lebt offenbar in geordneten Verhält- 
nissen. Die Mutter starb 14. 4. 1937 an Krebs. Der Vater war seit 1923 an- 
veblich bei der Partei; wegen vorübergehender Erblindung sei er auf einige 
Jahre ausgeschieden, 1926 aber wieder beigetreten. So kam es auch, daß die 
‘alteste Schwester auf der Gauleitung, die zweite beim Kreisgericht in Stuttgart 
beschäftigt sind; der dann folgende Bruder wird Architekt, ein weiterer hat 
‚sich auf 12 Jahre zu den Fliegern verpflichtet, dann kommt er, nach ihm eine 
| Schwester, die Sportlehrerin ist. — Er besuchte 1925—1929 die Volksschule, 
Jann 4 Jahre die Realschule. Er wollte Kaufmann werden, lernte auch 1 Jahr; 
doch gefiel ihm die Lehre nicht, er ist wohl auch nicht begabt genug. Wegen 
schlechter Führung kam er jedenfalls 1934 nach Heidenheim in Fürsorge- 
.rziehung und lernte 3 Jahre als Schneider (Gesellenprüfung!) und fand in 
Stuttgart zunächst bei einem Schneidermeister (9. März bis Juli 1937), dann 
bei einem Schneidermeister K. 1 Monat Arbeit als Geselle. Infolge von Bruch- 
operationen (1933 und 1934) mußte er nun einige Zeit aussetzen. Um keine 
sitzende Tätigkeit zu haben, arbeitete er einige Wochen auf einem Bau, seit 
Dezember 1937 wieder als Schneider bei Schneidermeister N. in Stgt. Er gab 
aber bald diese Stelle ohne durchsichtigen Anlaß auf. 
Schon 1933 wurde er wegen zwei Vergehen des Diebstahls mit 5 Tagen 
: Gefängnis bestraft. Es handelte sich dabei um zwei Lichtmaschinen. 1934 
erhielt er weitere 21, Monate, weil er Geld, Werkzeug und wieder Geld stahl 
und sich zweier Vergehen der Unterschlagung schuldig machte. Für beide 
Strafen erhielt er Bewährung und später Amnestie, so daß er heute die erste 
Strafe verbüßt. 

Die neue Straftat war ein ganz raffiniertes Stückchen. Sein Vater er- 
wartete einen Scheck über RM. 1000.— mit dem Vermerk ‚nur zur Ver- 
rechnung‘. In Abwesenheit des Vaters nahm er den Scheck entgegen und rief 
bei der Bank unter dem Namen seines Vaters an, er werde den Sohn sofort 
zur Einlösung des Schecks schicken. Darauf ging er zur Bank und fuhr mit 
den RM. 1000.— nach Hamburg, um in kurzer Zeit den gesamten Betrag 
(außer RM. 30.50) in Vergnügungslokalen im wesentlichen zu verbrauchen. 


~ 


346 A. Gregor 


Einen Teil des Geldes benützte er auch zur Beschaffung von Kleidungsstücken 
und willum RM. 200.— dabei betrogen worden sein. Da der Vater den Scheck 
nicht ersetzte, ist die Bank zunächst um den Betrag geschädigt. Der Junge 
wollte angeblich als Schiffskoch zur See gehen, was der Vater nicht er- ' 
laubte und hat so diesen Ausweg benützt. 

Äußerlich durch degenerative Merkmale auffällig. Im übrigen 
kräftig, gesund, von ostischen Rassemerkmalen. Die starke Ent- 
wicklung von Bauch und Beckengegend zeigen Andeutung von 
pyknischem Habitus, der seinem Seelenleben aber wenig entspricht. 

Er ist eine indolente, lahme Natur, die sich von äußeren Verhält- 
nissen treiben läßt. Gemütlich mangelhaft veranlagt, intellektuell 
mäßig begabt, fehlt es ihm an Charakter und moralischem Bewußt- 
sein. Der Vater, welcher einer Baptistengemeinde angehört, ist . 
offenbar eine eigenartige Persönlichkeit, von der vielleicht die ano- 
male Veranlagung des Sohnes abzuleiten ist. Da er das jüngste Kind 
ist, dürfte die Beeinträchtigung der mütterlichen Erziehung durch 
die langjährige qualvolle Krankheit und die zeitweise schlechten 
sozialen Verhältnisse der Familie sich bei ihm am meisten ausge- 
wirkt haben. Es ist durchaus verständlich, daß der Vater seinem / 
Wunsche, Schiffskoch zu werden, nicht entsprochen hat. Vermut- ` 
lich würde er bei seinem mangelhaften Eifer und der Interessen- 
losigkeit in Hamburg bald völlig verwahrlost sein. Die Erlernung 
des Schneiderberufes ist immerhin ein Vorteil, welchen er später 
noch besser ausnützen kann. Zunächst hat er noch kein inneres Ver- 
hältnis zu diesem Beruf. 

Der Gefängnisaufenthalt war für ihn als Anstaltszögling von 
keiner einschneidenden Wirkung. Ob der RAD. aus ihm einen 
disziplinierten Menschen machen wird, ist fraglich. Die Prognose ist 
jedenfalls sehr zweifelhaft. 


Ernst M., geb. April 1918. 


Er ist unehelich geboren. Seine Mutter ist Haushälterin in D. So 
wurde er bei einem Onkel und Vormund, dem Schmiedemeister Christian M. 
in L. aufgezogen, in S., etwa 1 km entfernt, besuchte er die Schule (7 Jahre), 
blieb noch ein Jahr bei den Pflegeeltern, um dann bei einem entfernten Ver- 
wandten in D. als Bäcker zu lernen. Hier gefiel es ihm nicht, weil er zuviel 
Schläge bekommen habe. Er lief daher weg und war von Juni 1933 bis April 
1934 in einer Mühle als Knecht beschäftigt. Dann fand er wiederum Arbeit - 
als Bäckerlehrling in F., wo er bis Anfang April 1937 blieb, nachdem er am 
15. 3. 1937 die Gesellenprüfung gemacht hatte. Hier zeigte er sich als wenig 
ehrlich, verbrauchte Kundengelder für sich, wofür ihm der Meister Abzüge 
am Lohn machte, so daß er in der letzten Zeit seiner Lehrjahre nur RM. 1.— 
wöchentlich als Barlohn erhielt. 

Am 17.3. entwendete er aus einer WHW-Büchse vom Ladentisch nach 
gewaltsamen Entfernen der Plombe RM. 1.50. Er stahl dann mit einem 
anderen zusammen aus einem Personenkraftwagen einen Lederkoffer, aus 


-e 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 347 


einem weiteren Kraftwagen eine Aktentasche. Weiter stahl er schon vor 
Jahren ein Kraftrad, um mit diesem eine Schwarzfahrt zu machen. 
Vom 18. 12. 36 bis Mitte März 1937 stahl er Krafträder und einen Kraft- 


‘ wagen, um Schwarzfahrten damit auszuführen. Anfangs besaß er wenigstens 


n. 


noch den Anstand, die Polizei, nachdem er das Benzin verfahren hatte, über 
den Standort der Fahrzeuge zu verständigen. Mit der Zeit aber wurde er 
hemmungsloser. Die Strafe von 5 Monaten zwei Wochen berücksichtigte 
wohl zu Unrecht als strafmildernd, daß er seine Jugend unter fremden Leuten 
verbringen mußte und daß er seine Entwicklung in einer für ihn nicht günstigen 
Umgebung erlebte. 

Daß ihn diese erste Strafe wenig beeindruckte, geht daraus hervor, daß 
er auch in A. zu neuen Diebereien schritt bzw. einen Lehrling zu solchen an- 
stiftete und sich von diesem das Diebesgut teilweise aushändigen ließ. Im 
Gegensatz zu dem Urteil, das die Anstiftung angesichts des Leugnens des M. 
nicht feststellen zu können glaubte, hat er hier diese Anstiftung ohne weiteres 
eingeräumt. Die Strafe von 4 Monaten für diese neuen Diebereien muß daher 
als sehr nieder bezeichnet werden. l 

Mäßig intelligent, wenig zugänglich, geht nicht aus sich heraus. Keine 


' spontanen Äußerungen, aber auch nicht ablehnend. Gibt ausreichend Be- 


ns 


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Li a i: 
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scheid bei eindringlichem Befragen. Indolentes passives Wesen, affektiv 
kaum ansprechend, von großer Gemütskälte. Will von seiner Mutter nicht 
viel wissen, bemerkt dazu, daß sie ihn hinausgeworfen habe, als er keine Arbeit 
hatte. Sie habe ihm wieder ins Gefängnis geschrieben und er will für die erste 
Zeit zu ihr gehen, bis eine Stelle gefunden ist. Er will aber keineswegs in D. 
bleiben, dort sei nichts los. Er wolle nach N. Nach dem Verhältnis zur Mutter 


- gefragt, stellt er Liebe in Abrede. Bemühungen um seine Person könne er 


nicht leiden. Am wenigsten scheint er Kritik zu vertragen. Das immer- 
währende Nörgeln sei ihm zuwider. Seine Kindheit verbrachte er bei einem 
Bruder der Mutter, von dem er gut behandelt wurde, wie dessen eigene Kinder. 
Trotzdem will er auch von diesen Verwandten nichts wissen. 

Die erste Lehrzeit habe er bei einem Verwandten durchgeinacht, der ihn 
viel und angeblich grundlos schlug. In der folgenden Lehre habe er öfters 
kleine Diebereien und Unterschlagungen begangen, im ganzen etwa RM. 9.—, 
anscheinend um Zigaretten zu kaufen. Diese Beträge wurden ihm lediglich 
abgezogen und es erfolgte keine Anzeige. Sein zweites schweres Delikt schloß 
sich unmittelbar an das erste an. Auf die Bemerkung, daß er sich wohl gedacht 
habe, mit der Bestrafung sei es nicht Ernst, da er seine erste Strafe nicht 
gleich verbüßen mußte, sagt er ‚ja genau so habe ich es mir gedacht“. Zum 
zweiten Delikt sei er durch einen Lehrjungen verführt worden. Dieser habe 
schon einen Einbruch gemacht gehabt und ihm solange zugeredet, bis er sich 
an einem zweiten beteiligte. Die Strafe sei ihm nicht sehr nahe gegangen. 


Über hereditäre Verhältnisse können aus unehelicher Geburt 
lediglich Vermutungen gemacht werden. M. ist ungewöhnlich ge- 
mütskalt und autistisch — dabei erscheint er nicht lieblos erzogen 
worden zu sein. — Es ist auch auffällig, daß er selbst zu seiner Mutter 
kein innigeres Verhältnis besitzt. Man gewinnt den Eindruck, daß 
er sich in jugendlicher Unreife gemütlicher Regungen schämt und ın 
seinem autistischen Wesen andern gegenüber verschließt, mit sich 
selbst aber auch nichts anzufangen weiß. Nach der Verwendung 


348 A. Gregor 


seiner freien Zeit befragt, äußert er, meist geschlafen zu haben. Im 
Widerspruch zu seiner betonten Selbständigkeit steht die Tatsache, 
daß er zu seinem letzten Verbrechen, sich von einem jüngeren Bur- 
schen verleiten ließ. Die Strafe hat keine deutliche Wirkung aus- 
geübt. Seine Arbeitsleistungen waren unbefriedigend. Nach alleın 
müßte die Prognose schlecht lauten. Es bleibt immerhin noch mit der 
Möglichkeit zu rechnen, daß seelische Unreife das Bild trübt und M. 
sich gefühlskälter darstellt, als er in Wirklichkeit ist bzw. daß noch 
einzelne Quellen seines Gemütslebens zutage treten. Für seine mora- 
lische Haltung kann Arbeitsdienst und Militär von entscheidenden 
Einfluß werden, doch ist es noch fraglich, ob er sich bis dahin halten 
wird. 

Die Kriminalität der in diesem Kapitel behandelten Fälle hatte 
verschiedene Wurzeln, die in den gewählten Überschriften für die 
einzelnen Gruppen kenntlich gemacht sind. Psychologisch bestehen 
scharfe Gegensätze zwischen den Vertretern der einzelnen Gruppen. 
Auf der einen Seite finden wir Fälle, die lebhaft, leicht erregbar, zum 
Teil empfindlich sind und auch gemütlich leicht, wenn auch ober- ' 
flächlich ansprechen und stark Milieu-Einflüssen unterworfen sind. 
Auf der anderen Seite schwerfällige, torpide, stumpfe Naturen, die 
affektiv wenig ansprechen, geistig zum Teil reduziert sind und aus 
ihrer Triebhaftigkeit handeln. Trotz der tief in ihrem Wesen ver- 
ankerten Kriminalität, die zu frühen Delikten und wiederholter 
Straffälligkeit führten, waren meist unzulängliche Gefängnisstrafen 
zu verzeichnen, die zur Folge hatten, daß bei noch vorhandener Er- 
ziehbarkeit die Fälle mit schlechter oder sehr zweifelhafter Prognose 
entlassen werden mußten und eine direkte Fortsetzung des krimi- 
nellen Handelns vorauszusehen war, was z. T. auch schon ein- 
getreten ist. Ebenso unzulänglich wie die Strafe erwiesen sich auch 
die bisherigen Maßnahmen der Fürsorge und die bisher geübte Auf- 
sicht und ebensowenig konnte die weiter zu erwartende Fürsorge , 
genügen, um die Volksgemeinschaft vor diesen Elementen zu 
schützen. 

Es kommt hier alles darauf an, einen genügenden 
Spielraum zu gewinnen, um die fast durchaus noch be- ` 
einflußbaren und besserungsfähigen Burschen für eine 
soziale Lebensführung zu gewinnen. Andererseits liegt es . 
auf der Hand, daß es unmöglich gelingen kann, dies Ziel gerade in 
der Zeit zu erreichen, welche die festgesetzte und in der Regel recht 
niedrig bemessene Strafe zur Verfügung stellt. Wenn der äußere 
Prospekt schon kein ähnlicher ist, so hat die verschiedene psychische 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 349 


Struktur den besten Beweis geliefert, daß eine nach dem objektiven 
Tatbestand bestimmte Strafe unmöglich in jedem Falle das zur 
Besserung erforderliche Maß treffen kann. 
= Zum Schutze der Volksgemeinschaft und zur Besserung des Indi- 
viduums stehen zwei Wege zur Verfügung: 
1. Der Ausspruch von Strafen, deren Länge dem Gefängnis die 
| Möglichkeit zur intensiven Beeinflussung bietet, 
2. die unbestimmte Verurteilung. 


Wenn Letztere auch Einwänden begegnet, auf welche ich in einer 
früheren Arbeit hingewiesen habe, so bildet sie doch das exaktere 
Verfahren. Es wäre auch unbillig, an den Richter die Forderung zu 

. stellen, seine Strafen nach psychologischen und erzieherischen Ge- 
sichtspunkten zu bemessen. 

= Für die unbestimmte Verurteilung wäre als Mindestmaß eine 

‘ Strafe von 6 Monaten anzusetzen. Wenn einzelne Strafen der hier 

besprochenen Fälle auch unter diesem Maß lagen, so handelt es sich 
doch meist um Individuen, die das 18. Jahr überschritten hatten 

< und rückfällig waren, so daß bei schärferer Strafzumessung auch 
diese hätten erfaßt werden können. 

Eine weitere Frage bildet die Entscheidung der kriminellen Kon- 

. stitution, welche die Vorbedingung der unbestimmten Verurteilung 
, bilden muß. Bei der Sorgfalt, mit der in deutschen Gerichten das 
- Vorverfahren und die Hauptverhandlung durchgeführt wird, kann 
dieser Tatbestand dem erfahrenen Richter keineswegs entgehen. In 
Wirklichkeit fanden wir ja auch in den besprochenen Fällen bei den 
Urteilsgründen vielfach einen Hinweis auf die Entwicklung zum Ge- 
wohnheitsverbrecher ausgesprochen. Soweit aber Zweifel über 
die kriminelle Anlage bestehen, ist Zuhilfenahme 
einer fachärztlichen Beobachtung geboten, wie sie ins- 
besondere auch das italienische Jugendgerichtsgesetz vorgesehen 
hat. Da heute in Deutschland eine Reihe kriminal- 
biologische Untersuchungsstellen verschiedenen Ge- 
fängnissen angegliedert sind, erscheint es zweckdien- 
lich, diese mit der Beobachtung der fraglichen Fälle 
zu betrauen, bei denen eine unbestimmte Verurteilung 
erwogen wird. Gerade dieser Stelle steht auch ausreichende Er- 
fahrung über den Strafvollzug zur Verfügung, die zur Entscheidung 
der Frage von Bedeutung ist. Das System der unbestimmten Ver- 
urteilung schließt aber noch die Lösung einer weiteren Frage in sich, 
die in dem eingangs betonten Mangel geringer Überwachung ent- 
lassener Strafgefangener gelegen ist. Die unbestimmte Verurteilung 


EEE _ EEE 1 


350 A. Gregor 


zwingt ja zu einer strengen Aufsicht der probeweise entlassenen Fälle 


und führt uns so zu einem weiteren System der Nachfürsorge, mit 


dem wir uns in den folgenden Fällen noch befassen werden. 


III. Nachfürsorge 


Die in diesem Abschnitt behandelten Fälle unterscheiden sich 
nicht prinzipiell von jenen des letzten Abschnittes. Auch hier haben 
wir es mit haltlosen, hyperthymen, gemütsarmen Psychopathen 
und einzelnen Debilen zu tun. Allein hier haben die z. T. recht lan- 
gen Strafen den erzieherischen Belangen besser entsprochen. Das 
Strafende brach nicht, wie vielfach in den früheren Fällen, jählings 
die erzieherische Arbeit ab. Die Strafe gewährte vielmehr der er- 
zieherischen Arbeit angemessene Entfaltung. So konnte man an 
deren Ende mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg Indikationen 
aufstellen; gelegentlich auch unter einem gewissen Vorbehalt mit 
der bevorstehenden Arbeitsdienst- und Militärzeit rechnen; denn 
tatsächlich versprachen in einzelnen Fällen diese Institutionen 
gerade das zu bieten, was zur Entwicklung des Charakters noch not 
tat. 


Aus der Zahl (48) dieser Gruppe werden nachstehende Fälle be- 
sprochen. 


Josef B., geb. September 1916. 


B. hat seinen Vater am 1. 9. 34 an galoppierender Schwindsucht verloren. 
der Vater war Alkoholiker. Seit 1919 war die Familie in U., wo der Vater als 
Maurer beschäftigt war, ein Haus baute und auch einige Grundstücke erwarb. 
Die Mutter hat dadurch jetzt ein mäßiges Auskommen. Die Mutter ist eine 
tüchtige Frau und hat die Kinder, die sämtlich gut begabt sind, im ganzen 7, 
gut erzogen. Der Junge hat sich auch während der Schule tadellos betragen 
und gut gelernt. 1931 kam er nach der Schulentlassung zu der Firma T.. 
wo er bis zu seiner ersten Verhaftung blieb und infolge seines Fleißes sich zum 
Laaborantenarbeiter bei einem Monatslohn von RM. 90.— bis RM. 110.— 
herauf arbeitete. Seiner Mutter gab er davon RM. 50.— bis RM. 60.— ab. 
Seine erste Strafe erhielt er 1934 mit 5 Tagen wegen Entwendung einer Fahrrad- 
lampe, 1936 erhielt er wegen Entwendung von zwei Fahrrädern und einen 
Revolver eine Gefängnisstrafe von 15 Wochen. Er verlor infolgedessen seine 
Stelle und durfte nach der Strafentlassung nicht mehr heim. Er hatte schon 
längere Zeit mit einem Mädchen ein Verhältnis. Dies und der Verkehr mit 
besser gestellten Freunden führten offenbar dazu, daß er sich durch die Diebe- 
reien Geld zu verschaffen suchte. Nachdem er nach 5jähriger Arbeit bei der 
Firma T. wegen der zweiten Straftat entlassen worden war, ließ er sich drei 
weitere Fahrraddiebstähle zuschulden kommen, von denen er zwei unter 
Angabe eines falschen Namens und Fälschung einer Bescheinigung wieder 
verkaufte und stahl weiter einen Mantel, den er versetzte. Dafür erhielt er 
eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren wegen Diebstahls i. R. 

B. ist ein mittelkräftiger Bursche von ziemlich reinem nordischen Typ. 
An erbliche Belastung durch seinen Vater, der zum Alkoholgenuß neigte uni 


— m. 


— 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 351 


anscheinend willensschwach war, ist zu denken. Der Prüfling äußert zwar 
Zweifel an der Ehelichkeit seiner Geburt, doch sind diese nicht erwiesen. 
Hier ist auch der flache Brustkorb und die Neigung zu Lungenentzündung 
. anzuführen, die auf Belastung durch den Vater, der an Tuberkulose starb, 
zurückgeführt werden können. 


B. ıst eine egozentrische, passive, willensschwache Natur. Ob sein 
mangelhaft entwickeltes Gemütsleben auf Anlage oder auf die von 
. ihm hervorgehobenen häuslichen Verhältnisse zurückgeht, ist nicht 
zu entscheiden. Wenn er auch keine ausgesprochenen moralischen 
Defekte aufweist, so ist er aber doch auch kein Charakter, sondern 
für seine Jahre noch unreif. Der frühere Gefängnisaufenthalt ist 
. von ihm ohne weiteres abgeglitten und er hat seine verderblichen 
Beziehungen zu einem Mädchen und zu Freunden sofort wieder auf- 
genommen und die Diebstähle fortgesetzt. 

Es ist bedeutsam, daß seine Führung im Gefängnis Heilbronn 
erst allmählich gut wurde und bei seiner Passivität die Einkehr nur 
. langsam erfolgte. Jedenfalls ist eine günstige Wandlung eingetre- 
- ten. Die Ausführungen in den Urteilsgründen, nach denen er an die 
Grenze des Gewohnheitsverbrechers gelangt, sind ihm jetzt noch- 
mals von mir deutlich zum Bewußtsein gebracht worden. 

Ein unmittelbarer Rückfall nach der jetzigen Entlassung ist nicht 
zu befürchten. Bei seiner Charakterschwäche wird er aber doch 
noch längere Zeit milieuabhängig bleiben. Von größter Wichtigkeit 
sınd also die Verhältnisse, in die er nach dem Gefängnisaufenthalt 
gelangt. Die nächste entscheidende Etappe wird der Militärdienst 
bilden. Die Prognose ist zweifelhaft, aber nicht ungünstig. 


Josef R., geb. Juli 1917. 


R. ist der Sohn eines Volksschullehrers und der älteste von 5 Geschwistern. 
Die übrigen Geschwister sind ein Bruder, der noch in die Schule geht, 
zwei Schwestern mit 14 Jahren und 11 Jahren und ein Bruder mit 5 Jahren. 
Er selbst besuchte die Volksschule in O. und nach der Versetzung des Vaters 
nach L. die dortige Volksschule. Hierauf Realschule, kam aber nicht recht 
- mit, so daß er nach 4 Jahr wieder in die Volksschule zurückversetzt wurde. 
Am 14.4.1932 kam er zur Entlassung und trat am 18.4. als Lehrling ein, 
um als Former zu lernen. Nach Beendigung der Lehrzeit von 3 Jahren am 
18. 4. 35 blieb er noch 1 Jahr als Geselle bei 40 Pf. Stundenlohn. Der Vater 
schien für ihn wenig übrig zu haben, weil er bei seiner mäßigen Begabung 
seinen Hoffnungen nicht entsprach und setzte ihn nach Angabe des Jungen 
hinter dem zweiten Sohn zurück. 1928 bis 1929 war er auch ein Jahr bei den 
Großeltern in F. Der Großvater war dort Werkzeugmacher, er verbrachte 
auch seine Ferien regelmäßig dort. Sein Wunsch wäre gewesen, Automechaniker 
zu werden, doch fand sich hierfür nichts Passendes. Er strebte danach, in der 
Autobranche weiter zu kommen und lernte als Fahrschüler in einer Auto- 
zentrale in W. bei L. Das Lehrgeld sollte er sich dadurch ersparen, daß er 
3 Monate umsonst arbeitete. Da ihm der Vater angeblich keine Unterstützung 
zuteil werden ließ, beging er seine erste schwere Straftat, indem er sich eine 


352 A. Gregor 


Urkundenfälschung, Diebstahl und schweren Diebstahl, angeblich Ent- 
wendung einer Geldkassette zuschulden kommen ließ. Zuvor schon ist er 
wegen Fahrens mit einem Kraftwagen ohne Führerschein mit RM. 25.— 
Geldstrafe bestraft worden. Die vorgenannten Straftaten trugen ihm 5 Monate 
Gefängnis ein, zu denen noch eine weitere Strafe von 4 Monaten wegen falscher 
Anschuldigung kam, indem er den Verdacht auf einen Altersgenossen zu lenken 
versucht hatte. Die aus beiden Strafen gebildete Gesamtstrafe von 7 Monaten 
verbüßte er bis 17. 1. 1937 in Freiburg i. Br. Nach seiner Entlassung blieb 
er zunächst bei seiner Großmutter bis 22. 2. und erhielt dann durch Ver- 
mittlung des Vaters Arbeit als Taglöhner. Mit seinem Verdienst will er nicht 
ausgekommen sein. Er kaufte sich, wie er sagt, mehrere Bücher um RM. 7.— 
und kam so ins Gedränge. Eine Not lag aber nach Ansicht des Gerichts nicht 
vor. In gemeiner Weise stahl er nun am 2. 7. aus der Wohnung einer Lehrerin 
in T., in die er mit seinem eigenen Schlüssel Eingang gefunden hatte, ein 
Scheckheft, fälschte mehrere Scheckformulare mit der Unterschrift ‚Karl 
Maier‘ und hob darauf Beträge im Gesamtwert von RM. 475.— ab, die er in 
leichtfertiger Weise für allerlei Anschaffungen verbrauchte Er wurde zu 
einem Jahr und 2 Monaten verurteilt. 


R. ist durch seinen psychopathischen, zum Trunke neigenden 
Vater erblich belastet, intellektuell erscheint er stärker beschränkt 
und weist deutlich schizothyme Züge auf. Die moralische Entwick- 
lung ist anscheinend durch Gefühlsarmut beeinträchtigt; außerdem 
hat er im Elternhause, zumal beim strengen Vater, nicht viel Ver- 
ständnis gefunden. Beim Diebstahl im Elternhaus dürfte Abnei- 
gung gegen den Vater eine Rolle gespielt haben; in T., wo er das 
letzte und schwerste Delikt beging, war der haltlose und noch un- 
reife Junge sich selbst überlassen und geriet ın schlechte Gesell- 
schaft, die ihn immer mehr beherrschte. Die Strafe hat sein Wesen 
nicht verändert und schien zunächst auch keine tiefere Wirkung 
auszuüben. Immerhin konnte man ihm durch verständnisvolle Aus- 
sprache nähertreten und Hemmungen und Sperrungen überwinden, 
so daß er zum Schluß doch zu einer gewissen Einsicht gelangte und 
gute Vorsätze ins Leben mitnimmt. Außerordentlich wichtig ıst, 
daß er von Seiten der Eltern nunmehr vernünftig angefaßt wird 
und in eine geeignete ländliche Stelle gelangt. Der Vater wurde in 
einer längeren Aussprache auf das Erforderliche hingewiesen. 

Die Prognose bleibt immerhin zweifelhaft. 


Wilhelm W., geb. März 1920. 

W. ist der Sohn eines Brauers in N. Vom Vater her ist angeblich noch ein 
21 Jahre alter unehelicher Sohn da, der zur Zeit beim Militär sein soll. Aus 
der Ehe ist außer ihm noch eine Schwester mit 16 Jahren da, die in die Blei- 
stiftfabrik geht und ein Bruder mit 13 Jahren, der noch in der Schule ist. Er 
selbst besuchte von 1926—1934 die Volksschule und lernte dann fast 3 Jahre 
bis Januar 1937 als Sattler. Die Stelle verlor er, weil er seine Firma fortgesetzt 
bestahl, Pferdedecken u. a., Ledertaschen, auch einen erschwerten Diebstahl 
beging und zweimal Rechnungen kassierte, um die Beträge für sich zu be- 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 353 


halten. Hierfür hatte er in Niederschönenfeld ab 15. 4. 38 9 Monate zu büßen. 
Vor seiner Verhaftung war er noch einige Zeit in einer Posamentenfabrik. 
Nach seiner Entlassung wurde er an der Westfront bei einem Beton- und 


; Monierbau beschäftigt. Er wollte sich andere Arbeit suchen und kam am 


ni 


18. November auf den unseligen Gedanken mit einem Kraftomnibus dahin zu 
fahren. Den Omnibus ließ er auf der Reichsautobahn stehen, als der Betriebs- 
stoff ausging. Ferner blieb er Kostgeld schuldig im Betrag von RM. 4.50 
und hat insgesamt 3 Monat 1 Woche zu büßen. 


Mittelkräftiger, gesunder Bursche von ostischen Rassemerkmalen 


. mit leicht dinarischem Einschlag. Die neurologische Untersuchung 
` ergab hysterische Zeichen, denen auch der psychische Befund ent- 


spricht. Auffällig ist in dieser Hinsicht sein egozentrisches Wesen 
und die Beschäftigung mit eigenem Tun und Schicksal, die Anfälle 


- von Reue, endlich ein Selbstmordversuch, über den er berichtet. Er 


sei zwei Tage im Walde herumgelaufen und wollte sich aus Ver- 
zweiflung etwas antun, wurde aber schließlich von seiner Tante nach 


‘ Hause gebracht. 


W. hat lebhaftes Naturell, syntones Temperament, ist stimmungs- 
labil, meist etwas heiter, berichtet aber, daß er in der Zelle weinen 
müsse, wenn er Sonntag die Kirchenglocken höre. Er bemerkt 
aber gleich dazu, das Wichtigste sei, daß er gesund bleibe. Er ergeht 
sich in Betrachtungen über die Schwäche des Fleisches und schildert 
eingehend, wie er im Momente der Tat sich dabei beruhigt, daß sie 
doch nicht entdeckt werden könne. Er empfindet aber gleich Reue, 
wenn es zu spät ist. 

Seine Kriminalität hat in den ersten Lehrjahren begonnen. 
Er besuchte auffällig viel Kinos. Am Samstag und Sonntag wohnte 
er bis zu 8 Vorstellungen bei. Aber auch unter der Woche sei er 
noch hingegangen, besonders in die Spätvorstellungen. Dann war 
er für das Tanzen begeistert und wollte auch immer schön ge- 
kleidet sein. Als sein Taschengeld und das viele Trinkgeld, das er 
bekam, nicht mehr ausreichte, vergriff er sich am Besitz seines 
Dienstherrn. 

Es war für ihn ein Unglück und von der überweisenden Stelle ein 
Fehler, ihn bald nach Rückkehr aus dem Gefängnis an die West- 
front zu schicken. Unter diesen besonderen Umständen ist der Rück- 
fall nicht so schwer zu bewerten, wie, wenn er unter gewöhnlichen 
Lebensverhältnissen erfolgt wäre. Deshalb ist es von der größten 
Wichtigkeit, daß er jetzt zu seinen Eltern zurückkehrt und in N. 
arbeitet. Es ist anzunehmen, daß der Effekt der jetzigen Straf- 
verbüßung anhält, bis er in den Arbeitsdienst kommt. Von diesem 
und von der Militärzeit ist die Reifung der Persönlichkeit zu er- 
warten. 

23 Aligem. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 114, H. 3/4. 


354 A. Gregor 


Wilhelm Sch., geb. Januar 1920. 


Sch. ist der Sohn eines Bauarbeiters. Eine ältere Schwester ist verheiratet. 
dann kommt er, nach ihm ein Bruder, der Mechaniker und ein weiterer, der 
Schreiner ist. Zwei Brüder und eine Schwester gehen noch in die Schule. 
Er selbst besuchte die Volksschule von 1926—1933 und blieb einmal sitzen. 
Dann war er 4% Jahr zu Hause und half dem Vater auf der kleinen Landwirt- 
schaft, anschließend war er noch 1, Jahr auf einem Hofgut und wollte Melker 
werden. Wie er selbst sagt, war es ein Fehler, daß er nicht dabei blieb und in 
die Baumwollspinnerei als Fabrikarbeiter ging, wo er i4tägig RM. 25.— 
Verdienst hatte. Er habe seinen Lohn daheim abgegeben und erhielt sonntags 
RM. 1.— Taschengeld. Da ihm dies offenbar zu wenig war, beging er am 
29.8. 37 einen Einsteigediebstahl bei einem Schreinermeister und stahl aus 
einer Geldkassette RM. 20.—, wovon ihm RM. 10.— wieder abgenommen 
wurden, während er die anderen RM. 10.— verbrauchte und später wieder 
ersetzte. Er erhielt hierfür 3 Monate Gefängnis auf Bewährung, ließ sich aber 
dadurch nicht abschrecken und stahl einem Freund RM. 5.— aus der Sonn- 
tagshose, was ihm eine weitere Strafe von 3 Wochen eintrug, er hatte daher 
die erste Strafe in Heilbronn zu verbüßen und kam am 11. 6. 38 wieder heim, 
um zunächst 14 Tage auf Bau zu arbeiten und dann ins Donautal als Pflicht- 


arbeiter zu kommen und hat hier schon in kurzer Zeit am 27. 8. 38 in G. einem ! 


Arbeiter, bei dem er in Untermiete wohnte, aus einer verschlossenen Schatulle, 
die er aufbrach, erneut Geld und zwar RM. 20.— gestohlen, obwohl er sich 
in keiner Notlage befand. Das Gericht hat mit Recht auf die empfindliche 
Strafe von 8 Monaten erkannt. 

Sch. ist ein kräftig gebauter Junge von ostischen und nordischen Rasse- 
ınerkmalen. Er ist geistig wenig begabt, von primitiver seelischer Struktur, 
spricht affektiv leidlich an, zeigt aber nur oberflächliche seelische Regungen. 
Wenn er auch erklärt, daß er jetzt vom Gefängnisaufenthalt genug habe, so 
ist doch keine tiefere Wirkung festzustellen. 

Seine Straftaten sind als Ausdruck triebhafter Neigungen aufzufassen, wie 
man es bei Geistesschwachen zu finden gewohnt ist. Seine Willensschwäche 
und Haltlosigkeit wurde beim letzten Gefängnisaufenthalt erkannt. 


Sch. ist eine gutmütige lenksame Natur und würde sich bei guter 
Aufsicht längere Zeit im sozialen Leben gehalten haben. Es war aber 
ein großer Fehler, ihn fern vom Elternhaus auf eine Stelle zu ver- 
schicken, die stärkere Ansprüche an die moralische Haltung stellt. 
Solchen ist er auch jetzt nicht gewachsen und wird in einer ähnlichen 
Lage wieder versagen. Es kommt daher alles darauf an, ihn ìn eine 
geeignete Stelle zu bringen und ıhn gut zu überwachen. 


Eugen A., geb. August 1919. 

Vater ist Elektromonteur im Städt. Elektrizitätswerk. Er ist in zweiter 
Ehe verheiratet, die erste Frau starb am 15. Februar 1933, der Vater hat am 
5. Mai 1933 bereits wieder geheiratet. Aus der ersten Ehe entsprossen 13 
Kinder, von denen neun gestorben sind. Der älteste Bruder ist Karosserie- 
spengler, der nächste Chauffeur, beide sind verheiratet, dann folgt noch eine 
Schwester, die Zeichnerin ist, ebenfalls verheiratet. Er selbst ist das jüngste 
Kind aus erster Ehe. Die zweite Mutter hatte zwei uneheliche Kinder, ein 
Mädchen im Alter von 12 Jahren, das sie mit in die Ehe brachte, und einen 


- 


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— 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 355 


Buben, der bei den Großeltern ist. Er selbst besuchte die Volksschule von 
1926—1934 als gut begabter Schüler, anschließend lernte er bei einem Maler- 
meister 31⁄4 Jahre und beendete seine Lehrzeit im Oktober 1937 ohne die 
(resellenprüfung zu machen. Er verlor seine Stelle, weil er sich mehrerer 
Diebereien schuldig gemacht hatte. Seine erste Strafe erhielt er am 8. Mai 
1937, weil er einem Dienstmädchen RM. 25.— aus deren Geldbeutel stahl, 
die zweite Strafe am 9. Oktober 1937, weil er an verschiedenen Arbeitsplätzen 
seines Lehrmeisters Diebereien beging, Farben stahl, ferner einen Regen- 
mantel und einen weißen Mantel. Die Strafen von 7 und 14 Tagen verbüßte 
er vom 16. November bis 3. Dezember 1937. A. war ein leidenschaftlicher 


= Raucher, rauchte täglich 20—25 Zigaretten und kam so auch in Schulden. 


Nach der Lehrzeit fand er kurze Zeit bei einem anderen Meister Arbeit, war 
dann aber bis zu seiner Verhaftung am 29.1.1938 ohne Arbeit. Anläßlich 
der Nachfrage nach Arbeit auf dem Arbeitsamt lernte er einen Maler kennen, 
der den Krieg mitgemacht hatte und in englische Gefangenschaft geraten 
war, in der er sich gleichgeschlechtliche Betätigung angewöhnte. Dieser gab 
ihm des öfteren Zigaretten und weihte ihn, der angeblich zuvor von gleich- 
veschlechtlichen Handlungen nichts gewußt hatte, in diese Dinge ein. Als er 
Ende März mit ihm zusammen eine Wirtschaft besuchte hatte und anschließend 
spazieren ging, fand er sich daher sehr rasch bereit, auf dessen Ansinnen ein- 
zugehen, sich gegenseitig zu onanieren, wofür er RM. 2.— erhielt. Am 


. 16. Januar lernte er einen früheren Klosterbruder Sch. kennen, der im No- 


vember 1936 das Kloster verlassen hatte und sich bereits eine Strafe wegen 
Sittlichkeitsverbrechen zugezogen hatte. Dieser nahm den Jungen in ein 
Bad mit, wobei jeder den anderen unzüchtig berührte. In der Wohnung des 
Sch. sah A. ein Sparguthaben von RM. 600.—. Dadurch lüstern geworden, 
steckte er RM. 50.— ein und verstand es in der Folge durch Vorspiegelung, 
ein Kriminalbeamter wisse von dem Vorfall im Bad, werde aber gegen Schweige- 
reld von einer Anzeige abstehen, den Sch. zu bestimmen, ihm zunächst 
RM. 100.— und am 19. Januar, wo er mit einer Schreckpistole zu ihm kam, 


nochmals RM. 100.— und am 20. Januar weitere RM. 50.— zu geben. Mit 


p—s 


dem Geld fuhr A. nach Hamburg, wo er das Geld in wenigen Tagen verpraßte. 
Auch von dort aus suchte er den Sch. nochmals zu erpressen, doch wurde er 
daran gehindert, da inzwischen der Vorfall zur Anzeige kam. Das Gericht 
brandmarkte die planmäßige Erpressung als ein gemeines Verbrechen und 
verurteilte ihn zu 10 Monaten Gefängnis. 

Mittelkräftiger gesunder Bursche, mit nordischen und ostischen Rasse- 
merkmalen. Mäßig intelligent, ziemlich schwerfällig, affektiv ansprechend, 
sefühlsfähig, aber noch ohne jede Tiefe. 


Erbliche Belastung durch den Vater, von dem bekannt wurde, 
daß er ein starker Trinker ist, muß angenommen werden. Es liegt 


: aber auch nahe, die mangelhafte sittliche Entwicklung mit den häus- 


lichen Verhältnissen in Zusammenhang zu bringen. Die Mutter starb 
am Ende der Schulzeit. Die Stiefmutter, die zwei uneheliche Kinder 
hat, und noch sehr jung ist, konnte als Erzieherin nicht in Frage 
kommen. Der Vater hat sich sehr wenig gekümmert. Offensichtlich 
fehlte es in der Zeit, in der er arbeitslos war und die Delikte beging, 
an Aufsicht. Wenn er jetzt davon spricht, daß es ihm an Halt fehlte, 
dürfte er das Richtige treffen. 


239 


356 A. Gregor 


Er ist nicht gefühlskalt oder gefühlsarm und es kann noch eine 
weitere Entwicklung erfolgen. Hervorzuheben ıst die ganz aus- 
gesprochene psychische Wirkung des Gefängnisaufenthaltes. Im 
Zusammenhang damit steht auch die Führung im Gefängnis. Er 
galt anfangs als vorlaut, rechthaberisch und leichtsinnig. Jetzt wird 
er vom Meister gelobt, da er willig ist, gute und saubere Arbeit leistet. 


Er ist sittlich noch kein reifer Mensch geworden, wird sich aber 
dazu entwickeln, wenn er unter gute Aufsicht kommt. Arbeitsdienst 
und Militärzeit können hier segensreich wirken. Die Erklärung der 
Kreisamtsleitung, daß die Familie von ihr überwacht wird, ist zu 
begrüßen. 


Wilhelm H., geb. August 1917. 


H. stammt aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Der Vater ist 65 Jahre alt 
und Invalide, er wohnt im Gemeindehaus in L. Der Junge hat noch 5 Brüder 
und 8 Schwestern, darunter eine Stiefschwester, die verheiratet ist und aus 
der ersten Ehe des Vaters stammt. Alle Geschwister, bis auf 4 Brüder und 
eine Schwester sind verheiratet, die Brüder sämtliche Hilfsarbeiter. Der 
Junge besuchte von 1924—1932 die Volksschule, blieb einmal sitzen, kam 
dann als Knecht in verschiedene Stellen, u. a. je ein Jahr in H., S. und dann 
wieder in H. Vom 1. 10. 1937 bis 1. 8. 1938 war er beim RAD in I. Am 4. 1. 
1934 wurde er zum erstenmal bestraft mit 20 Tagen, weil er auf erschwerte 
Weise RM. 1.50 stahl, die Strafe wurde auf Bewährung ausgesetzt und Familien 
erziehung angeordnet, was seine Zuweisung zu einem Landwirt in H. zur 
Folge hatte. Weil er für einen Freund, der bei ihm im Speicher schlief, einen 
Teppich entwendete, erhielt er am 17.1.1935 eine weitere Gefängnisstrafe 
von 1 Woche, die ebenfalls auf Bewährung ausgesetzt wurde. Nach dem 
Arbeitsdienst war er 4 Wochen arbeitslos ohne Unterstützung zu bekommen 
und wurde in dieser Zeit kümmerlich vom Vater erhalten. Er fand dann Arbeit 
bei einem Landwirt M. in L. bei RM. 15.— Barlohn und freier Kost. Weil 
er neben seinem Arbeitsanzug nur noch eine, wie er sagt, zerrissene Arbeits- 
hose und einen Sonntagsanzug hatte, also seine Arbeitskleider nicht wechseln 
konnte, entwendete er mittels Übersteigen eines Zaunes ein Paar Hosen im 
Wert von RM. 18.—, die ihm später wieder abgenommen wurden. Das Gericht 
stellte einen Notstand nicht fest. Immerhin scheint der in sehr ärmlichen 
Verhältnissen lebende Junge in einer ziemlichen Bedrängnis gewesen zu sein 
und wurde angeblich auch krank, weil er nichts zum Umziehen hatte. Er hat 
die Mindetsstrafe von 1 Jahr zu verbüßen. 

Mittelgroßer gesunder Bursche von ostischen Rassemerkmalen mit leichtem 
nordischen Einschlag. 


Erbliche Belastung liegt durch Geschwister vor, von denen ein- 
zelne kriminell geworden sind. Seine Schwester scheint leicht ver- 
wahrlost. Er selbst ist mäßig beschränkt, ist einmal ın der Schule 
sitzengeblieben, was er damit erklärt, daß er schon in der Schulzeit 
viel auf dem Felde arbeiten mußte. Er. macht den Eindruck eines 
seelisch armen und verdrossenen Menschen, der durch kümmerliche 
Familienverhältnisse ın seiner seelischen Entwicklung geschädigt 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 357 


wurde. Daneben muß freilich auch an eine spezielle kriminelle An- 
lage gedacht werden. Leider ist man dieser von vornherein nicht 
entsprechend begegnet und erst das dritte Delikt hat ihn in das 
Gefängnis geführt. Hier war die Führung nicht einwandfrei, so daß 
er keinen Strafnachlaß erhielt. Die Strafe hat sich aber trotzdem 
wirksam erwiesen. Doch hat er noch keine sichere moralische Hal- 
tung gewonnen, so daß die Prognose unsicher bleibt. Da von der 
Familie keine wesentlichen erzieherischen Einflüsse zu erwarten 
sind, ist von anderer Seite Sorge für seine Unterbringung und wei- 
tere Aufsicht nötig, um die Zeit bis zum Eintritt in den Heeresdienst 
zu überbrücken. 


Otto K., geb. August 1916. 

K. ist in Zürich geboren, evangelisch. 1919 verließen die Eltern die 
Schweiz und zogen nach W. Dort starb die Mutter 1923 bei einer Geburt, 
Vater zog weg und Otto kam zu einer Tante nach Basel. 1924 Wiederver- 


' heiratung des Vaters, nahm ihn wieder zu sich. Die häuslichen Verhältnisse 


waren ungünstig, Elternehe führte nach einigen Jahren zur Scheidung, die 
Stiefmutter nahm sich 1936 das Leben. 

Schon in der Kindheit Neigung zu Diebstählen, 1926 hat er dem altkath. 
Pfarrer, bei dem er war, eine Geldbörse mit RM. 1.— gestohlen und das Geld 
vernascht. Der Vater brachte ihn dann in das Charlottenheim in Stgt., dort 
erbrach er verschlossene Schränke und entwendete Wäsche und Kleider. 
1928 gab ihn der Vater zu einem Landwirt bei R., aus der dortigen Kirche 
entwendete er in 3 Fällen Opferstockgeld. Auf Antrag des Vaters Fürsorge- 
erziehung, er kam im September 1928 in das Erziehungsheim Rodt b. Freuden- 
stadt. Auf dringenden Wunsch des Vaters wurde Otto Dezember 1929 nach 
Hause genommen und besuchte die 8. Klasse der Volksschule. Im Juli 1930 
teilte das Rektorat der Schule ınit, daß er eine Reihe von Diebstählen 
in der Schule und in einem Geschäft, wo er Ausläufer war, begangen habe. 
Er wurde in die Erziehungsberatungsstelle des Jugendamtes geladen und gab 
die Vergehen zu. Doch blieb die Verwarnung ohne Wirkung. Bald darauf 
stahl er in einer Wohnung, in welcher der Vater arbeitete, eine goldene Uhr. 
Wenige Tage danach eignete er sich in einem Hause, wo sein Vater Malerarbeit 
verrichtete, eine goldene Halskette und zwei silberne Löffel an. — Beim 
Verhör durch den Vater und die Polizei gab er 20—30 Stellen an, wo er die 
Halskette versteckt hatte, beschuldigte auch verschiedene Personen, daß sie 
ihm sie abgenommen hätten, — es wurde jedesmal danach gesucht und die 
Angabe erwies sich als verlogen. — Daraufhin kam er in die Nervenklinik 
Tübingen zur Beobachtung. 

Auch in der Klinik ist er hochgradig verlogen, behauptet, die Frau, die ihm 
angeblich die entwendete Halskette abgenommen habe, hätte unsittliche 
Handlungen an ihm vorgenommen. Kurz darauf gibt er nach einer aus- 
führlichen Unterredung mit einem Kriminalbeamten zu, daß nichts davon 
wahr wäre. 

Sein Verhalten in der Klinik brachte auch keine Veränderung seines Stehl- 
triebes: er verleitete einen anderen Buben in die Kleiderkammer einzudringen, 
um sich seine Taschenlampe zu holen, die mit seinen Kleidern dort deponiert 
war. Die beiden Jungen eigneten sich Mädchenschlupfhosen an, die zum 


358 A. Gregor 


Trocknen hingen. Als er einen Schwerkranken füttern sollte, lief er immer 
wieder davon, bis das Essen kalt war und schlug dem völlig Hilflosen den 
Scheuerlappen ins Gesicht, bewarf ihn mit Kastanien. Bei Vorwürfen findet 
er stets gleich eine erdichtete Ausrede. Vor seiner Entlassung entdeckte man 
in seinem Kopfkissen eine ganze Sammlung von Puppenkleidern, Lappen 
und eine Mädchenschlupfhose. Auf die Frage, warum er diese Dinge ge- 
sammelt habe, blieb er die Antwort schuldig. Dann kam er in das Fürsorge- 
erziehungsheim Heidenheim, wo er in der Landwirtschaft arbeitete und bis 
1935 blieb. 

1936 wegen Eigentumsdelikt mit 3 Wochen Gefängnis bestraft, wegen 
Urkundenfälschung mit 7 Wochen. In der Zeit vom 6.4.36 bis 25. 8. 36 
zog er von Ort zu Ort und verschaffte sich Geld, indem er in Kirchan, Kapellen 
die Opferstöcke erbrach. Im ganzen waren es 29 Fälle, in denen er größten- 
teils zu seinem Ziele gelangte, nur wenige Male mißlang es. 

Außerdem verübte er noch zwei weitere Diebstähle bei Privaten, einer 
Witwe, bei der er sich eingemietet hatte, stahl er aus einer Schublade RM. 19.—, 
einem Zimmergenossen in Ü. Schuhe, Hose und einen Tirolerkittel. Er erhielt 
wegen fortgesetzten schweren Diebstahls und zwei Vergehen des einfachen 
Diebstahls eine Gesamtgefängnisstrafe von 2 Jahren, auf welche 5 Monate 


Untersuchungshaft angerechnet werden. Am 28.1.1937 hatte er sie an- 


getreten. 
Das Gutachten der Klinik fällt dahin aus: 


Otto K. leidet an einer schweren degenerativen Psychopathie im Sinne 
der ‚‚moral insanity“, bei welcher der Trieb zum Stehlen und krankhaft 
phantastisches Lügen im Vordergrunde stehen. K. ist eine unverbesserliche, 
gemütsstumpfe Verbrechernatur mit antisozialen Instinkten. 

Äußerlich geordnet, intellektuell mäßig beschränkt, lebhaftes Wesen, 
spricht viel in etwas monotoner Weise. Anscheinend ziemlich gutmütig. 
tiefere seelische Regungen sind zu vermissen. Die ganze Darstellung des 
Falles dreht sich um seinen Vater. Er erklärt wiederholt, daß, wenn er wieder 
auf diesen hören würde, er in kurzer Zeit rückfällig würde. Auch die Stief- 
mutter habe mit ihm nicht leben können und daher Selbstmord begangen. 
Seine Äußerungen haben keine gehässige Form und wirken daher glaubhaft. 
Der Vater habe ihn immer wieder zu sich geholt, er sei ein unsteter Mensch, 
der vielfach den Wohnsitz gewechselt hat. Aus der Schweiz, wo seine Eltern 
lebten, sei er ausgewiesen worden, während sein Bruder dort bleiben konnte. 
Er mußte mit seinem Vater herumziehen, bis das Jugendamt St. Fürsorge- 
erziehung veranlaßte und ihn in eine Zweiganstalt von Reutlingen brachte. 


Von da kam er nach Heidenheim, hierauf in eine Lehrstelle, aus der ihn der 


Vater wieder fortnahm. Zu Hause habe er sehr schlechte Verhältnisse ge- 
funden. Der Hausrat von früher war nicht mehr vorhanden. Auf die Dauer 
konnte er mit seinem Vater nicht leben und sei daher fortgezogen. Da er keine 
Arbeit fand, habe er zahlreiche Diebstähle begangen. 


Rachitische Körperform, kräftiger Oberkörper, athletische Brust, 
grobknochige Beine. Kopf und Haar verraten nordischen Einschlag, 
doch fehlt der feine Gesichtsschnitt. Intellektuell reduziert, aber 
nicht im pathologischen Ausmaß, von lebhaftem Naturell, dem seine 
zahlreichen Straftaten entsprechen. Oberflächliches Gemütsleben. 
Er ist durch seine Delikte nicht beschwert, da er für alles dem Vater 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 359 


die Schuld zumißt. Man gewinnt unmittelbar den Eindruck, daß 
bei ihm mangels geordneter häuslicher Verhältnisse und schlech- 
ter Erziehung durch den Vater eine seelische Fehlentwicklung statt- 
fand, welche die Erziehungsanstalt nicht mehr verhindern konnte. 
Bei der Art der Delikte und der Lebensführung ist daran zu denken, 
daß die Unstetigkeit des Vaters sich in der moralischen Ungebunden- 
heit des Sohnes projizierte. 

Der Gefängnisaufenthalt hat zweifellos Einsicht und Besserung 
mit sich gebracht. Er hat jetzt gute Vorsätze und will auf einem 
Gutshof arbeiten und sich nicht mehr von seinem Vater bestim- 
men lassen. Es ist wohl möglich, daß bei guter Aufsicht und in liebe- 
voller Pflege verschüttete Gemütswerte noch zutage treten und 
eine sittliche Festigung erfolgt. An eine solche läßt insbesondere die 
Besserung denken, die gegenüber dem geradezu verzweifelten Bild, 
das er an der Klinik bot, erfolgt ist. Doch bleibt die Prognose sehr 
unsicher. 


Unsere Darstellung läßt wohl zur Genüge erkennen, daß auch zu 
dieser Gruppe Fälle von schwerer Kriminalität gehören. Ein großer 
Teil derselben wäre zweifellos auch für die unbestimmte Verurteilung 
zu reklamieren. Allein die Strafe war ausgiebig genug, um bei ihnen 
den Grund zu einer sittlichen Lebensführung legen zu können. Viel- 
fach konnte man sich tatsächlich auch von dem Wandel in der 
charakterologischen Konstellation überzeugen. Die Prognose war 
aber immerhin noch zweifelhaft und damit die Aufgabe für eine 
fernere Betreuung gestellt. Diese kann nicht ernst und sorgfältig 
genug durchgeführt werden, denn mit der Entlassung aus dem Ge- 
fängnis ist alles wieder auf des Messers Schneide gestellt und ein 
Versehen kann das Schicksal der Persönlichkeit entscheiden. Wir 
sind in derobigen Darstellung schon auf Irrtümerin der Nachfürsorge 
gestoßen. Anderenorts!) zu besprechende Fälle aus der jüngsten Zeit 
stellen die schweren Folgen vernachlässigter Aufsicht genauer dar. 

In Bezug auf Nachfürsorge entlassener Gefangener ist zweifellos 
früher und auch jetzt viel geschehen, aber nicht zielbewußt und 
systematisch gearbeitet worden. Neuerdings hat sich eine, wenn 
auch anscheinend nur vorübergehende Hemmung aus der Vorstel- 
lung über Würdigkeit ergeben, wobei die Reflexion auf minder- 
wertiges Erbgut maßgebend wurde. Allein hier kommt es ja erst in 
zweiter Linie auf die Persönlichkeit und deren Erbgut an. Ent- 
scheidend ist vielmehr die unbedingte Pflicht, die Volksgemein- 
schaft vor dem Schaden zu bewahren, den ein Rückfall für dieselbe 


1) Deutsche Jugendhilfe, Jahrg. 31, Heft 6/7 1939. 


360 A. Gregor 


bedeutet. Der Fehler liegt heute wesentlich darin, daß ohne ge- 
nügende Kenntnis der Persönlichkeit und mit ungenügenden 
Nachdruck gearbeitet wird. Das Kapital an persönlicher Beziehung, 
Kenntnis und Autorität, das im Gefängnis gewonnen wurde, geht 
bei der Entlassung zum großen Teil verloren und die danach mit der 
Fürsorge betraute Persönlichkeit muß von vorne anfangen, wodurch 
es zu einem Zeitverlust kommt, der für die Katastrophe entschei- 
dend sein kann. 

Der sicherste Weg liegt darin, Fälle von schwer krimi- 
nellen Minderjährigen so lange unmittelbar vom Ge- 
fängnis aus nach der Entlassung zu betreuen, bis die 
Gefahr überwunden ist. Vielfach handelt es sich dabei, wie die 
obigen Fälle gezeigt haben, nur um die Überbrückung der kurzen 
Zeit bis zum Eintritt in den Arbeitsdienst oder zum Militär. Wie die 
Aufsicht der nach unbestimmter Verurteilung entlassenen Fälle, 
sollte auch die Nachfürsorge für die schwer Kriminellen zu einer 
Aufgabe des Gefängnisses werden. Praktisch wäre ihre Durchführung 
derart zu denken, daß der mit der Nachfürsorge betraute Beamte 
mit dem Jugendlichen schon im Gefängnis in näheren Kontakt tritt 
und zu einer genauen Kenntnis der Persönlichkeit gelangt. Die 
Regel wäre, die zu betreuenden Fälle in einem soweit gezogenen 
Umkreis in Stelle zu bringen, daß die Nachschau ausreichend geübt 
und der Kontakt erhalten bleiben kann. Erweist sich die Entlassung 
auf einen weiter entfernten Ort nötig, dann müßte der zuständige 
Vertreter der NSV. diese Aufgabe übernehmen. Dabei sollte der 
Jugendliche vom Außenfürsorger des Gefängnisses dem neuen Für- 
sorger persönlich übergeben werden und dieser von ihm die nötigen An- 
weisungen erhalten. Da es sich hier um eine beschränkte Zahl von 
Fällen handelt, dıe nur temporär zu betreuen sind, steht die etat- 
mäßıge Belastung ın keinem Verhältnis zu dem materiellen und 
moralischen Schaden, der durch rückfällige Verbrecher entsteht. 


IV. Verwahrung 


In dieser Gruppe werden jene Fälle unseres Materials zusammen- 
gefaßt, die trotz längerer Strafzeit noch derartige kriminelle Dis- 
positionen zeigen, daß ihre Entlassung ins soziale Leben bedenklich 
ıst oder eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit 
vorstellt. 


a) Angeborener Schwachsinn (18 Fälle). 


Karl Z., geb. Januar 1918. 
Vater Maurer, zeitweise arbeitslos, 1933 gestorben. Die Mutter ist eine 
geistesschwache Person, war früher in einer Nervenheilanstalt, liegt jetzt 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 361 


prößtenteils tagsüber zu Bett, vernachlässigt den Haushalt, kann weder 
kochen noch waschen, Vater mußte sich vielfach um das Hauswesen kümmern. 
Die Mutter soll sich auch schon des öfteren strafbar gemacht haben und schon 
in Gefängnis gewesen sein. Älterer Bruder hat Bäcker gelernt, verdiente 
gut, wurde daher zu Hause vorgezogen. Ein jüngerer Bruder kam in der Schul- 
zeit in die Erziehungsanstalt ABınannshausen, weil er zu Hause ausgerissen 
war. Vater sei gut zu ihm gewesen, die Mutter habe ihn oft geschlagen. Hilfs- 
schule besucht. Öfters in Erholung gewesen, weil er körperlich herunter kam, 
später bei Bauern gearbeitet. 

Z. stammt aus denkbar ungünstigen Verhältnissen. Von seiner Mutter 
sagte er einmal: „Wenn ich heimkomme, suche ich meine Alte, sie geht auf den 
„Strich“. Diese Äußerung wirft ein grelles Licht auf das sittliche Niveau 
von Mutter und Sohn. 

Z. ist ein moralisch minderwertiger Mensch. Bereits mit 8 Jahren hat er 
geraucht und mit 14 Jahren mit Dirnen verkehrt. Als Schuljunge trieb er 
sich ständig in den Gassen der Altstadt herum. Im Mai und Juni 1936 wurde 
er erstmals straffällig. Er hat auf der Straße insgesamt drei Fahr- 
. rader gestohlen und für geringe Beträge verkauft. Hierwegen wurde er 
: durch Urteil des Schöffengerichts Frankfurt a. M. vom 16. 9. 1936 wegen 

Diebstahls zu der Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt, die er in 
=- Frankfurt-Preungesheim verbüßte. In dieser Zeit hat er sich im allgemeinen 

zut geführt. Nach der Entlassung war er verschiedentlich auf landwirtschaft- 

lichen Stellen beschäftigt. Am 16. 3.1937 wurde er sterilisiert, nachdem 
bereits durch Beschluß des Erbgesundheitsgerichts Frankfurt a. M. vom 

16. 10.1936 wegen angeborenen Schwachsinns seine Unfruchtbarmachung 

angeordnet wurde. 

Unterm 10. Juli 1937 erfolgte eine weitere Verurteilung, und zwar erkannte 

. das Amtsgericht Frankfurt a. M. gegen ihn auf eine Gesamtgefängnisstrafe 

von einem Jahr, die er hier verbüßt. Dieser Verurteilung liegt folgender Tat- 
bestand zugrunde: 


Am 5. 6. 1937 erbat er sich von einem gewissen Georg H. unter dem Vor- 
bringen, er wolle mit dessen Fahrrad geschwinde um die Ecke fahren, dieses 
Rad, das ihm H. auch überließ. Er ging aber damit seiner gefaßten Absicht 
gemäß flüchtig; einige Tage später, am 9.6.37, traf er einen jungen Mann, 
dem er beim Tornisterpacken half. Er hatte dabei das gestohlene Rad des H. 
bei sich. Der Besitzer des Tornisters fragte Z. nach dessen Schlafstelle, da 
er selbst keine Unterkunft hatte. Hierauf machte ihm Z. den Vorschlag, 
gemeinsam im Freien auf den Mainwiesen zu übernachten und gemeinsam 
auf den Bettel zu gehen. Damit war der junge Mann einverstanden. Den 
Tornister schnallten sie auf das von Z. gestohlene Rad. Als jedoch der andere 


-= 


a 


in einem Hause bettelte, fuhr Z. samt dem Tornister weg. Als jener den Z. 
abends in einer Straße stellen konnte, ließ er ihn festnehmen. 
Lebhaftes Wesen, Glieder sind in ständiger Bewegung, agiert beim Reden 
! mit den Händen; auch die Mimik ist lebhaft, dabei ständig der gleiche geist- 
| lose, lächelnde Gesichtsausdruck, ob er vom Tode des Vaters oder von den 
' häuslichen Verhältnissen, der schlechten Behandlung durch die Mutter oder 
von seinen Delikten spricht, stets das gleiche lächelnde Gesicht. Intellektuell 
sehr tief stehend, es fehlt ihm an jedem positiven Wissen, er versagt ebenso 
in bezug auf die Schulkenntnisse wie in bezug auf Lebenserfahrung und 
| Denken. Für seine Delikte besteht keine Einsicht; eigentlich sei seine Mutter 
daran schuld, denn sie habe ihn nicht heim gelassen. Da wußte er nicht, wo 


362 A. Gregor 


er hin sollte und stahl Fahrräder, die er verkaufte; deshalb 9 Monate Ge- 
fängnis, verbüßt in Preungesheim. Nach Entlassung aus dem Gefängnis habe 
er nichts gehabt und er habe daher wieder gestohlen. An den Betrug und dir 
Unterschlagung, die seine jetzige Straftat vorstellen, hat er nur dunkle Er- 
innerungen und vermag keine Erklärung zu geben. Bemerkt, daß es ihm auch 
jetzt nicht gut gehen werde, weil seine Mutter die Papiere verbrannt hat. 


Zart gebaute, schlanke Persönlichkeit von herabgesetztem Er- 
nährungszustand. Psychisch liegt das Bild des erethischen Schwach- 
sinns höheren Grades vor (Imbezillität). Die Sterilisierung ist be- 
reits erfolgt. Für die kriminalbiologische Beurteilung ist von Wich- 
tigkeit, daß er einerseits eine lebhafte, triebhafte Aktivität ent- 
wickelt, auf der anderen Seite infolge seines psychischen Defektes 
keine moralische Anschauung und keine sittlichen Hemmungen 
besitzt. Er wird daher der Spielball äußerer Verhältnisse bleiben. 
Die Prognose ist schlecht, eine Verwahrung wird kaum zu um- 
gehen sein. Sobald er wieder rückfällig wird, müßte § 42b in Ver- 
bindung mit $51 StGB. zur Anwendung kommen. 

7weite Aufnahme 17. Oktober 1938. 

Vom Schöffengericht Frankfurt a. M. am 28.9. 38 wegen Unterschlagung 


und Betrugs zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. Z. hat am 18. 8.38 von ' 


seiner Arbeitgeberin einen 20 Markschein mit dem Auftrag erhalten, diesen 
wechseln zu lassen. Er hat das Geld für sich behalten und ist nicht zurück- 
gekehrt. 

Am 19. 8. hat er einen früheren Klassenkameraden getroffen, der ein Fahr- 
rad bei sich hatte. Er hat diesen gebeten, ihn doch auf seinem Rad einmal 
fahren zu lassen und gesagt, er sei gleich wieder da und hat ihm zudem eine 
Uhr im Werte von RM. 3.— zum Pfand gegeben. Der Besitzer des Rades 
hat eine halbe Stunde auf ihn gewartet. Z. brachte aber das Rad nicht 
wieder. 

Lebhaft, etwas zerfahren, unklare Angaben über seine jetzigen Delikte. 

Ungewöhnlich zerfahren, spricht durcheinander, lacht über seinen ‚‚Leicht- 
sinn‘‘, bemerkt, daß, wie er das Geld in den Händen hatte, es ‚‚fertig‘‘ war. 
Er hatte nämlich einen Auftrag für seinen Dienstherrn zu erledigen, lief aber 
mit dem Gelde sofort nach Hause, gab RM. 12.— seinen Angehörigen und 
machte um den Rest Einkäufe. Erzählt, daß er schon 8 Tage nach der Ent- 
lassung aus dem Gefängnis mit 6 Wochen bestraft wurde, weil er einem 
Straßenhändler RM. 10.— veruntreute. Jetzt sei er wegen des erwähnten 
Diebstahls und wegen Entwendung eines Rades hier. Letztere empfindet 
er nicht als Diebstahl. Er habe das Rad von einem Freund gegen ein Pfand 
geliehen, diesen aber später nicht getroffen und das Rad stehen lassen. 


Der Verlauf und die neuerliche Untersuchung bestätigen die oben 
geäußerte Auffassung des Falles. Das Gericht nähert sich ihr mit 
der Erklärung, daß er der Sicherungsverwahrung kaum entgehen 
könne, wenn er wieder straffällig wird. Dem psychiatrischen Tat- 
bestand würde allerdings die Unterbringung in einer Heil- und 
Pflegeanstalt besser entsprechen. 


— 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 363 


Ludwig H., geb. Mai 1917. 


In der Schulzeit normale Leistungen. Große Unstetigkeit und dreifacher 
3erufswechsel in der Lehrzeit, deshalb vom Vater aus dem Hause gewiesen. 
Stahl den Eltern aus verschlossener Lade RM. 20.—, darauf in Göppingen 
aufgegriffen, der Fürsorgeerziehung überwiesen, nach Schelklingen gebracht. 
Dort nach eigener Angabe 18mal entwichen und stets zahlreiche Diebstähle 
verübt. $ 

9.7.1932 wegen vier Vergehen des einfachen und drei Verbrechen des 
schweren Diebstahls, eines Vergehens des vollendeten und eines des versuchten 
Betrugs, unter Anrechnung von 10 Tagen Untersuchungshaft zu der Gesamt- 
gefängnisstrafe von 3 Monaten und 10 Tagen verurteilt. 

Vom Jugendgericht Gmünd am 25. 7. 32 wegen eines weiteren schweren 
Diebstahls unter Einbeziehung des Vorhergehenden zu einer Gesamtgefängnis- 
strafe von 4 Monaten und 10 Tagen verurteilt, bis 9. 6. 32 verbüßt. Danach 
wieder nach Schelklingen. Abermals entwichen und im Juni, Juli 1933 
mehrere schwere Diebstähle begangen. Am 14.9.33 vom Jugendgericht 
Blaubeuren wegen eines Vergehens des vollendeten und eines des versuchten 
Diebstahls zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, vom Jugendgericht Aalen am 


' 49. 7. 33 wegen eines Verbrechens des schweren Diebstahls unter Einbeziehung 


des vorigen zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt. Am 15. 6. 34 verbüßt. Darauf 
wurde er nach Sinsheim gebracht, wo er vom 5.1.35 bis 31. 10. 35 verblieb. 


: Am 2.10.35 wegen angeborenen Schwachsinns unfruchtbar gemacht. Von 


— 


u 


einer ihm vom Jugendheim verschafften Stelle entwich er nach zwei Wochen, — 
trieb sich dann wochenlang herum, bis er am 13. 11. in einer Ortschaft aus 
einem Hause RM. 495.— stahl, indem er eine in einem Büffet befindliche ver- 
schlossene Blechbüchse aufriß und dies Geld binnen 3 Tagen bis auf RM. 16.— 
verpraßte. Am 16. 11. in Nürtingen festgenommen. In vollem Umfang ge- 
ständig. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von 3 Jahren, abzüglich 6 Wochen 
Untersuchungshaft verurteilt, Neben der Strafe wird die Unterbringung in 
einer Heil- und Pflegeanstalt angeordnet. 

Kräftig gebaute Persönlichkeit, anscheinend durch den Vater erb- 
lich belastet, derbe Gesichtszüge, primitives, triebhaftes Wesen. 
Die bisherige forensische Beurteilung hat besonders den morali- 
schen Schwachsinn betont und ihm eine relativ gute Intelligenz ein- 
geräumt, was auch im richterlichen Urteil betont wurde. Trotzdem 
ist man mit Recht zur Sterilisation wegen angeborenem Schwach- 
sinn geschritten. Nach den früheren Erfahrungen war unter An- 
wendung von $51 Abs. 2 StGB. auch die Unterbringung in eine 
Heil- und Pflegeanstalt motiviert. Nun hat der Aufenthalt im 
Jugendgefängnis Heilbronn eine überraschende Wendung in seinem 
ganzen Verhalten mit sich gebracht. Man hat ihm zunächst ein- 
fachste Arbeiten in der Korbmacherei übertragen, wobei er aner- 
kennenswerten Fleiß und Geschicklichkeit an den Tag legte. Hier- 
auf ist man schrittweise zur Beschäftigung in der Landwirtschaft 
übergegangen und hat ihn immer wieder brauchbar und arbeitsam 
und gefügig gefunden. Dabei ist auch ein primitives Ehrgefühl und 
ınerkliches Pflichtbewußtsein zutage getreten. 


364 A. Gregor 


Meine Auffassung des Falles geht dahin, daß bei einer primär 
minderwertigen Anlage sich allmählich eine Entwicklung morali- 
scher Qualitäten vollzog, welche bei geringer Intelligenz und vor- 
handenem Sprachfehler bisher starken Hemmungen unterlag. Die 
Sprachstörung hat das an sich empfindliche Individuum immer 
wieder in Konflikte gebracht, aus denen es sich bei seiner Trieb- 
haftigkeit und Brutalität, sowie beschränkter Intelligenz nicht 
emporarbeiten konnte. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß 
er durch das ihm erwiesene Vertrauen bei den Fähigkeiten, über 
welche er verfügt, sich bewußt ins soziale Leben eingliedert. Der 
beschrittene Weg bleibt allerdings ein Versuch, welcher nach vor- 
sichtiger Erwägung aller Umstände unternommen wurde. Der Ver- 
such ist nicht gelungen. Zunächst fühlte er sich dauernd durch die 
monatliche Zahlung von RM. 10.— Gefängniskosten bedrückt. 
Dann konnte er infolge großer räumlicher Entfernung vom Gefäng- 
nis aus nicht in erforderlicher Weise betreut werden. Eines Tages 
ist er aus der ihm zugewiesenen Stelle verschwunden. 


Otto H., geb. April 1915. 


H., das jüngste neben fünf unbescholtenen weiteren Kindern des Schreiners 
H. besuchte bis zum 15. Lebensjahr die Hilfsschulle, kam schon in 
strafunmündigem Alter mit Polizei und Gericht in Berührung (Diebereien! 
und bereitete seinen Eltern, die freilich bei dem vorgeschrittenen Alter des 
Vaters und der Kränklichkeit der Mutter der schwierigen Aufgabe seiner 
Erziehung nicht voll gewachsen waren, schon als Knabe erhebliche Sorgen. 
Ein Handwerk zu lernen war er nicht imstande, nach seinen Angaben, weil 
er aus ihm unbekannten Gründen nicht zugelassen worden sei, nach amtlicher 
Auskunft, weil er sowohl in einer begonnenen Lehre als Feilenhauer und nach- 
her in einer Schmiedlehre nach wenigen Wochen davonlief. 

Die Anstellung als Ausläufer benützte dann der 15jährige alsbald dazu, 
um mit dem Personenkraftwagen seiner Firma (Kohlengeschäft) durchzu- 
brennen. Diese und andere Diebesstücklein brachten ihm seine 1. Gefängnis- 
strafe von 3 Monaten ein (Jugendgefängnis Heilbronn 9.10. 30); 2 Monate 
wurden ihm auf Bewährung ausgesetzt, diese aber zurückgezogen, als im 
August 1931 das Jugendgericht Heilbronn sich abermals mit ihm zu be- 
schäftigen hatte und ihn wegen Unterschlagung, Diebstahl u. a. für 3 Monate 
(Gesamtstrafe unter Einschluß der aufgeschobenen 2 Monaten s. o.) ins Ge- 
fängnis Rottenburg schickte (2. Strafe). Wegen widernatürlicher Unzuchts- 
handlungen, im Jahr 1930 mit andern Volksschülern begangen, war er nicht 
verurteilt, aber in die Erziehungsanstalt Schönbühl gebracht worden, wo er das 
widernatürliche Treiben fortsetzte. Nach 21,jährigem Aufenthalt in dieser 
Anstalt war er etliche Monate beim freiwilligen Arbeitsdienst, auch 2 Monate 
in der Landhilfe, von der er anerkennende Zeugnisse über Fleiß und Ver- 
halten erhielt. Rasch jedoch trübt sich das Bild seiner Führung wieder durch 
die 3. Vorstrafe, die ihm dann die Bekanntschaft mit dem Gefängnis seiner 
Heimatstadt H. vermittelt. Er hatte seine Stellung als Hausdiener bei der 
„Herberge zur Heimat“ dazu benutzt, um trotz freier Station und Kost nebst 
RM. 30.— Monatslohn Gäste der Herberge um Geld (RM.38.—) und Kleidungs- 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 305 


stücke zu bestehlen. Das Gericht bezeichnete ihn als einen energielosen, 
verdorbenen Burschen. Seine Führung in der Anstalt war indessen damals 
schon so einwandfrei wie diesmal. 

Am 17. 2. 36 aus unserer Anstalt entlassen, wird er am 1. April zum Arbeits- 
dienst eingezogen, entweicht aber dreimal nacheinander aus dem Lager und 
wird schließlich mit 30 Tagen Arrest bestraft. 

Mittlerweile ist ruchbar geworden, daß H. die schon in der Schule an- 
gewöhnte und in der Erziehungsanstalt fortgesetzte homosexuelle Betätigung 
in den Jahren 1934/36 an dem Jungen Spr. teils vor, teils nach dessen 14. 
l.ebensjahr abermals fortlaufend ausgeübt und diesen jungen Burschen gründ- 
lich verdorben hatte. Für widernatürliche Unzucht erhielt er somit die 
4. Grefängnisstrafe vom AG. H. am 1. 12. 36, die auf 10 Monate lautete, und 
mit einer weiteren 5. Strafe von 1 Jahr 3 Monaten, die ihm während der Ver- 
büßung der Unzuchtsstrafe hier für einen weiteren Rückfalldiebstahl im März 
1935 in Form eines Gartenhauseinbruchs mit dem schon erwähnten Spr. 
zusammen am 16. 2. 37 vom AG. H. diktiert wurde, zu einer Gesamtgefängnis- 
strafe von 1 Jahr 8 Monaten zusammengezogen wurde, deren Verbüßung in 
unserer Anstalt vom 14.12.36 bis 20, 4. 38 währte. Mehrere eingereichte 


` Grnadengesuche blieben natürlich ohne Erfolg. 


Die Zeugnisse, die H. von den Beamten der Anstalt erhielt, könnten nicht 
wohl günstiger lauten. Sowohl Arbeitswille wie Leistung, Reinlichkeit und 
Ordnungsliebe, wie sein ruhiges, williges, zuvorkommendes, anständiges Be- 
nehmen empfängt einstimmiges Lob: H. ist, mit einem Wort — ein Muster- 
gefangener. 

Psychisch liegt erethische Form von Debilität vor. 

Charakterlich ist er als aktive, triebhafte Persönlichkeit aufzu- 
fassen, der es an Kritik und Hemmungen fehlt. Er ist skrupellos 
seinen Neigungen nachgegangen und wiederholt mit dem Gericht 
ın Konflikt gekommen. 

Auch planmäßige Erziehungsversuche in der Erziehungsanstalt, 
im Gefängnis und im Arbeitsdienst haben keine nachhaltige Wir- 
kung erzielt. Als positiv ist eine gewisse Gutmütigkeit sowie die Tat- 
sache zu buchen, daß er gerne arbeitet und seine Leistungen bei ent- 
sprechender Aufsicht zufriedenstellend sind. Es sind also Verhält- 
nisse denkbar, unter denen er doch noch eine leidliche soziale 
Haltung gewinnt. 

Fritz K.. geb. April 1918. 

K. wurde geboren in W., Krs. Zweibrücken. Vater ist Bergmann, 
vor Jahren im Bergwerk verunglückt. 100°% arbeitsunfähig, bezieht RM. 77.— 
Monatsrente, auf seinem Häuschen noch Schulden, die er schwer abträgt. 


Noch drei Geschwister. Vater durch Krankheit reizbar, war nicht der richtige 
Erzieher, Mutter hatte ihn früher verwöhnt, wohl infolge seiner Kränklich- 


keit. Fritz in der Volksschule dreimal sitzengeblieben, angeblich wegen 


häufiger Krankheit, war tatsächlich wegen Lungenleidens 1, Jahr in Bad 
Kreuznach. Nach der Schule wegen Schwäche 1 Jahr daheim, dann in einer 
Maschinenfabrik als Formerlehrling, auf ärztliche Anordnung nach 1 Jahr 
die Stelle aufgegeben. Darauf Bergarbeiter in Steinkohlengrube. Hier wurde 
er angeblich wegen nationalsozialistischer Propaganda entlassen, — er soll 


366 A. Gregor 


sich aber mit Kleidern seiner Arbeitskameraden zu schaffen gemacht haben 
und dies scheint der Hauptgrund der Entlassung gewesen zu sein. — Er hatte 
sich schon mit 16 Jahren am 19. 12. 1934 strafbar gemacht, als er ein 142,- 
jähriges Mädchen verführte, was ihm 7 Tage Gefängnis eintrug. Im gleichen 
Jahre beging er zweimal Sittlichkeitsdelikte an einem geistesschwachen 
Mädchen, am 28. 8. 35 wurde er zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt, die zu 
einer Gesamtstrafe von 9 Monaten erweitert wurden als er ein Fahrrad ent- 
wendete, das er verkaufte und einem Mitreisenden eine Geldbörse mit RM. 24.— 
Inhalt stahl. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gab es zu Hause 
viel Streitigkeiten mit dem Vater, darauf stahl er dem Vater sein Fahrrad 
und entwich; wollte nach Frankreich, um sich dort in die Fremdenlegion an- 
werben zu lassen. Da er zu schwach befunden wurde, wollte er wieder zurück 
und fiel in Metz in die Hände eines Spionageagenten, dessen Fragen über S.A. 
und Luftschutz er Rede stand. Als er über die Grenze kam, wurde er wegen 
Paßvergehens festgenommen und bald darauf von der Gestapo unter dem 
Verdacht des Landesverrats gefangen gesetzt. 


Vom Volksgerichtshof ist er wegen Landesverrats zu 2 Jahren Gefängnis 
verurteilt, worauf 1 Jahr der erlittenen Untersuchungshaft angerechnet wird. 
Am 25. 5. 1937 trat er die Strafe an. Außer diesem Jahr hat er noch 3 Monate 
infolge Widerruf der bedingten Strafaussetzung im Anschluß daran zu ver- 
büßen. 


Äußerlich geordnet durch leeren Gesichtsausdruck und manierierte Sprech- 
weise auffällig. Schon bei gewöhnlicher Unterhaltung tritt Gedächtnis- 
schwäche in Erscheinung, kann sich an die üblichen Daten für seine Person 
und seine Angehörigen nicht erinnern. Spezielle Untersuchung ergibt starken 
Intelligenzdefekt, welcher nicht auf mangelhaften Schulbesuch beruhen kann. 
Er behauptet, anfangs schwach und krank gewesen zu sein, später erklärt er 
aber, daß ihn der Schulbesuch nicht freute und er auch nicht mitkam. Er ist 
daher aus der 4. Klasse entlassen worden. Affektiv in primitiver Form 
reagierend, meist umspielt ein verlegenes Lächeln seine Lippen. Gemütlich 
nur oberflächlich ansprechend. Er zeigt eine gewisse Anhänglichkeit an seine 
Familie und bemerkt, daß die Mutter sich über einen neuerlichen Rückfall 
grämen würde. Auffällig geringe Kritik für sein Vergehen. Er erklärt zwar, 
zu Recht verurteilt worden zu sein, im übrigen läßt er aber keine Schuld für 
seine Person gelten. Er sei des Diebstahls fälschlich bezichtigt worden. Das 
Mädchen habe ihn verführt. Landesverrat habe er nicht bewußt begangen, 
sondern nur harmlos geplaudert und es später der Polizei selbst gemeldet. 


Bei K. liegt krankhafte Geistesschwäche, und zwar Imbezillität 
vor. Der Sterilisierungsantrag wurde vom Gefängnis gestellt, aber 
vom Erbgesundheitsgericht abgelehnt. Neben dem intellektuellen 
Defekt trıtt besonders auch eine moralische Schwäche zutage, welche 
sich in mangelnder Kritik für seine Vergehen äußert. Auf diese Weise 
wird sein bisheriger Lebensgang verständlich, der eine sehr mangel- 
hafte soziale Eingliederung und Verstöße gegen das Recht nach 
verschiedenen Richtungen zeigt. Der Gefängnisaufenthalt hat ihm 
eine primitive Einsicht ın die Strafbarkeit seines bisherigen Ver- 
haltens vermittelt. Er hat auch erfreuliche Vorsätze gefaßt und will 
sich künftig nur an seine Angehörigen halten und unter der Leitung 


_ 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 367 


seines Vaters, welcher sich jetzt im Baugewerbe betätigt, arbeiten. 
Es ıst dies vielleicht ein gesunder Instinkt, da der in letzter Linie 
noch unreife Mensch infolge seines geistigen und moralischen Defekte 
ımmer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geriet, wenn er selbstän- 
dig handeln wollte. Nur unter obiger Bedingung, d. h. einer stren- 
gen und sorgsamen Aufsicht ist bei ihm zunächst eine soziale Füh- 
rung denkbar. Auf sich selbst gestellt, würde er bald wieder ent- 
gleisen. Die Prognose ist also sehr zweifelhaft. 


Oskar B., geb. November 1919. 


B. war schon einmal hier, er stammt aus ungünstigen Verhältnissen. Die 
Ehe seiner Eltern wurde geschieden, als er 3 Jahre alt war. Seine Mutter 
kennt er gar nicht, sie soll jetzt zum viertenmal verheiratet sein. Sein Vater, 
Maurer, wohnt in Fr. Der Junge kennt ihn auch nicht recht, da er ihn lange 
nicht gesehen hat. B. ist in einem Kinderheim in der Nähe von Fr. gewesen, 
kam dann ins Erziehungsheim Riegel bis zur Schulentlassung 1934. Dann 


. wurde er in die Erziehungsanstalt Ettlingen überwiesen, wo er als Melker in 


m te We E y, a 


a, O a A o 


der Landwirtschaft beschäftigt war. Er blieb da 1 Jahr und kam dann in das 
Erziehungsheim Freimersdorf b. Köln, weil er in Ettlingen mehrmals durch- 
gegangen war. Schließlich kam er nach Sinsheim, ging aber nach 4, Jahr 
dort durch. Er war dann abwechselnd bei verschiedenen Bauern tätig und 
wieder in Anstalten. 


B. hat niemand, der sich um ihn kümmert. Der Junge muß als fast völlig 
gescheitert angesehen werden. Er ist moralisch minderwertig und unreif, 
haltlos und auf dem besten Wege, ein Gewohnheitsverbrecher zu werden. 
Das zeigen auch seine neuerlichen Straftaten. Er hat sich durch die in H. 
verbüßte Gefängnisstrafe von 4 Monaten nicht abschrecken lassen, sondern 
stahl bei einem Ortsbauernführer in A., bei dem er nach seiner Entlassung 
aus dem Gefängnis Heilbronn als Dienstknecht angestellt gewesen war, 
RM. 80.—, obwohl er neben freier Station noch RM. 25.— monatlich erhalten 
hatte. Das gestohlene Geld gehörte dem Vater des Dienstherrn. Er verbrauchte 
es restlos in Kinos und Wirtschaften und kaufte sich Filme. Später stahl er 
noch ein Fahrrad, um in die Welt hinaus zu fahren, wurde aber festgenommen, 


-als er das Fahrrad in W. verkaufen wollte und zu einem Jahre Gefängnis 


verurteilt. 


Äußerlich geordnet, intellektuell deutlich beschränkt, macht fast kindlich 
unreifen Eindruck, selbstunsicher, verlegenes Wesen, gehemmt, wenig zu- 
yänglich, affektiv in primitiver Form ansprechend, doch sind keine stärkeren . 
Reaktionen zu beobachten. Ebenso fehlt es auch am Gefühlsleben. 


Er steht seinem Schicksal hilflos gegenüber, weiß weder seine Persönlichkeit 
noch seine Umgebung einzuschätzen. Entwickelt einen Zug zu seiner Mutter, 
von der er aber nichts näheres weiß und deren moralische Qualitäten ihm 
ebenso wie jene des Vaters unbekannt sind. Sein Urteil ist durchaus kindlich. 
Seiner Sterilisierung steht er harmlos gegenüber. Gefängnis und Anstalten 
werden rein äußerlich beurteilt. In Bauerstellen habe es ihm nicht gefallen, 
weil er in eine Fabrik kommen will. Von dieser Lebensform hat er freilich 
keine Ahnung. Die stärkste Gemütsbewegung in seinem Leben scheint durch 
einen Tanzkurs ausgelöst worden zu sein, der ihm aber verderblich wurde, 
da er das Geld für ihn skrupellos stahl. 


368 A. Gregor 


B. ist ein ziemlich kräftiger, etwas untersetzter gesunder Bursche 
von nordischen Rassemerkmalen mit leicht ostischem Einschlag. Er 
ist durch beide Eltern schwer belastet. Sein Stehltrieb ist verständ- 
lich, da sein Vater schon 20 mal bestraft ist. Seine moralische Gleich- 
gültigkeit hat wohl in der Gewerbsunzucht der Mutter ihre Wurzel. 
Besonders kompliziert wird der Fall durch angeborenen Schwach- 
sinn, der auch zur Sterilisierung Anlaß gab. B. muß als eine intel- 
lektuell und moralisch minderwertige Persönlichkeit angesprochen 
werden, die seelisch noch unreif und unentwickelt ist und deren 
Äußerungen stark vom Triebleben bestimmt werden. 

Die Fürsorgeerziehung hat bei ihm einen vergeblichen Kampf 
gegen die Erbanlage geführt. Auch die erste Gefängnisstrafe in 
Heilbronn war wirkungslos. Er verläßt aber auch jetzt das Gefäng- 
nis wie er gekommen ist. Wenn er nicht in sichere Hände gelangt, 
und streng beaufsichtigt wird, muß er bald entgleisen, da er durch- 
aus unfähig ist, sich im sozialen Leben zu behaupten. 


In keiner der besprochenen Gruppen trat uns eine derartige Häu- 
fung von schweren Delikten, namentlich Sittlichkeitsverbrechen und 
Einbruchsdiebstahl, wie bei den Schwachsinnigen entgegen. In 
keiner jener Gruppen sahen wir ein so völliges Versagen der Erzieh- 
ungsmittel von Erziehungsanstalten und Gefängnissen. Die Natur 
der Delikte, zu denen auch noch Landesverrat und Mord gehören, 
sowie die Tendenz zum Rückfall läßt Maßnahmen zum Schutz der 
Gesellschaft dringlich erscheinen. An sich ist ein solcher gerade in 
diesen Fällen bereits durch $42b StGB. gegeben. Allein nur in 
wenigen Fällen wurde davon Gebrauch gemacht. Besonders auffällig 
ist der besprochene Fall Karl Z., in dem das kriminalbiologische Gut- 
achten zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft kommen mußte, aber 
bei dem weiteren Rückfall unberücksichtigt blieb. Im übrigen bildet 
die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt keineswegs die 
ideale Lösung und es bedeutet geradezu einen Mißbrauch von Kran- 
ken-Instituten zu diesem Zwecke. Man sieht also, daß hier der neuen 
Gesetzgebung noch Aufgaben harren. 

Die Forderungen, die sich aus dem Studium schwer krimineller 
Schwachsinniger ergeben, lauten: 

1. In derartigen Fällen durch Gerichtsbeschluß die Möglichkeit 
zur Verwahrung zu bieten. 

Es liegt im Wesen des Schwachsinns, daß Perioden von guter 
Führung mit Zeiten der Erregung und Aktivität wechseln, so dab 
rechtzeitige Unterbringung vor sich gehen muß, ohne daß erst neue 
Straffälligkeit vorliegt. | 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 369 


2. Bereitstellung geeigneter Anstalten. Denn auch unsere Arbeits- 
häuser und die Anstalten für nicht kriminelle Schwachsinnige sind 
zur Unterbringung dieser Fälle nicht geeignet. 

3. Strenge Überwachung der aus Gefängnis oder Verwahrung 
probeweise entlassenen Fälle. 

4. Sichere Erfassung der verwahrungsbedürftigen Schwach- 
sinnigen, die am besten dadurch gewährleistet ist, daß Gefängnis 
und Fürsorgeerziehungsanstalten zur Stellung eines Antrages auf 
Verwahrung verpflichtet werden. 

Kein neues Problem ergab sich bei zwei Fällen von Epilepsie 
bzw. epileptischem Schwachsinn, die zu der Gruppe der ver- 
wahrungsbedürftigen Individuen zählen. Hier liegen nicht nur ge- 
setzliche Handhaben zur Unterbringung vor, sondern es sind auch 
geeignete Unterbringungsmöglichkeiten in Epileptiker-Anstalten 


. gegeben. 


Eine wichtige Aufgabe erwächst für unsere Betrachtung durch 
die Psychopathen dieser Kategorie, die daher eingehender be- 
sprochen werden müssen. 


b) Psychopathie (9 Fälle). 

Franz A., geb. Oktober 1919. 

A.s Vater ist italienischer Abstammung, hat aber 1918 die deutsche Staats- 
angehörigkeit erworben. Die Mutter starb 1920 und es übernahmen drei ältere 
Schwestern des Jungen, die jetzt verheiratet sind, die Erziehung. 1937 
heiratete der Vater ein zweites Mal, wurde aber nach einem Vierteljahr ge- 
schieden. 1924—1928 war der Junge bei einer Pflegemutter untergebracht, 
im übrigen bis 1930 beim Vater. Eine Schwester kam in Fürsorgeerziehung, 
führte sich später aber gut. Er war ein schwaches skrofulöses Kind, verließ 
frühzeitig das Elternhaus und trieb sich herum. 1929 mehrfach von der 
Polizei spät abends herumstreifend angetroffen. Die Schule bezeichnete ihn 
als Gefahr für die Schüler. Er zeigte komödiantenhaftes Wesen, war begabt, 
aber verträumt. Entwich auch bei Ausflügen. Der Vater hat kein Verständnis. 

19. 12. 1929. Vorläufige Fürsorgeerziehung, 8 Wochen in W., dann Baden- 
Lichtental, dort von mir psychopathische Konstitution festgestellt. 

21. 5. 1930 endgültige Fürsorgeerziehung und Hüfingen. Schmutzte die 
Betten ein, zeigte labiles Wesen, überempfindlich, geltungssüchtig, träume- 
risch, Phantasielügen, Mangel an Ausdauer. Zeigte sich reizbar, stimmungs- 
labil, Erregungszustände, frech und lügenhaft. 3. 6. 1935 kam er ins Blarer- 
Heim, Pforzheim. Dort wurde homosexuelle Neigung festgestellt. 19. 6. 35 
nach Sinsheim, faul, führte unsittliche Redensarten, scheinheilig. 

15. 6. 36 bis 20. 10.1937 Augustinusheim Ettlingen, von dort zur Beob- 
achtung in die Illenau. Sie ergab keine psychotischen Erscheinungen, affektiv 
kühl, autistische Neigungen: psychopathische Persönlichkeit mit schizoiden 
und hysterischen Zügen, haltlos, willensschwach, moralisch minderwertig. 

Von Ettlingen wurde er zu seinem Vater nach Pforzheim entlassen. Ob- 
gleich er da Gelegenheit gehabt hätte, in seinem erlernten Berufe als Schneider 
zu arbeiten, ergab er sich dem Müßiggang und lungerte in der väterlichen 
24 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H 3/4. 


370 A. Gregor 


Wohnung herum. Am 27. 11. 1937, als er sich selbst überlassen blieb, kamen 
mit der ihm verwandten 10jährigen Inge N. noch zwei kleine Mädchen von 
91, und 81, Jahren zu ihm; sie spielten Versteck und Blindekuh und sprangen 
ihm im Übermut vom Bett auf den Rücken. Dabei geriet A. in sexuelle Er- 
regung und verging sich an den beiden, indem er sie nacheinander aufs Bett 
legte und in unsittlicher Weise betastete. Er gibt die strafbaren Handlungen 
unumwunden zu und auch, daß er gewußt habe, daß die Mädchen unter 

14 Jahren alt seien. 

Nach dem Gutachten des Sachverständigen, Medizinalrat Dr. Ludwig, ist 
er strafrechtlich nicht in vollem Umfang verantwortlich. Er ist Psychopath 
mit hysterisch-schizoiden Symptomen. Es wurde auch der Verdacht aus- 
gesprochen, daß eine larvierte Epilepsie im Anzug sei; außerdem ist das Be- 
stehen einer Pubertätskrise offenbar. Unter Berücksichtigung dieser Um- 
stände und der bisherigen Straflosigkeit des A. wurde er zu einer Gesamt- 
strafe von 9 Monaten Gefängnis verurteilt, auf welche die Untersuchungshaft 
von 3 Monaten angerechnet wird. 

Äußerlich geordnet, schlaffes Wesen, macht Eindruck eines etwas be- 
schränkten, haltlosen, passiven, wehleidigen, egozentrischen Jungen, welchem 
längerer Anstaltsaufenthalt ein besonderes Gepräge gegeben hat. 

In Baden-Lichtental machte er große Schwierigkeiten durch Einkoten. 
Dieses blieb auch längere Zeit in Hüfingen bestehen, nahm allmählich ab. 
trat nur in größeren Abständen auf, verlor sich in Sinsheim, trat im Au- 
gustinusheim wieder auf. Er klagt von der dortigen Direktion nicht verstanden 
worden zu sein. Als katholischer Priester hätte der Direktor ihn nicht öffent- 
lich als Schmierfinken bezeichnen dürfen. Wegen seines Trübsinnes sei er für 
3 Wochen nach der Illenau zur Beobachtung gekommen. Dann nach Ettlingen 
zurück. Sollte eine Stelle in Pforzheim bekommen und beim Vater wohnen. 
Als er die Stelle antreten wollte und ihm jemand sagte, daß er im Anfang 
es schwer haben würde, sei er gleich gar nicht hin. Zu Hause habe ihn niemand 
verstanden, seit seine Schwestern fort waren. Er scheint nun Anlehnung an 
kleine Mädchen gefunden zu haben. Spielte mit Mädchen, denen er Sachen 
von seinen Schwestern gab. Die Mädchen seien ihm immer entgegengekommen. 
Er spricht von ‚Notwendigkeit‘. 


Als erbliche Belastung ist seiner Angabe nach Trunksucht des 
Vaters anzunehmen, die insbesondere gegen Ende der ersten Ehe 
groß war. Jetzt soll sie sich gebessert haben, doch ist der Vater herz- 
krank. Auch eine seiner Schwestern kam in Fürsorgeerziehung, 
führte sich aber später gut und hat geheiratet. A ist ein ausge- 
sprochener Psychopath, haltlos, willensschwach, lebensuntüchtig, 
von sich eingenommen, zeigt Züge später Pubertät. Auf der anderen 
Seite steht Unselbständigkeit und Zaghaftigkeit, wofür das gegen- 
wärtige Delikt einen Ausdruck bildet. Er behauptet unter Tränen, 
daß er unter dem Strafvollzug gelitten habe. Er werde nie wieder 
ins Gefängnis kommen, sich vielmehr gleich das Leben nehmen. 
Besonders qualvoll habe er Angstzustände ın der Nacht empfunden. 

A. hat tatsächlich den Vorsatz, sich ordentlich zu halten und zu 
arbeiten. Die Frage ist aber, ob er bei seiner psychopathischen Natur 
und mangelnden Körperkräften imstande ist, durchzuhalten. Im 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 371 


Gefängnis konnte episodische Arbeitsunfähigkeit beobachtet wer- 
den, die auf ein krankhaftes Versagen der Kräfte zurückging. Hierin 
hiegt bei seiner moralischen Schwäche die Gefahr mangelhafter sozia- 
len Eingliederung. Er ist keine Verbrechernatur, darum ist auch die 
Prognose nicht absolut schlecht. Wahrscheinlich wird er die Gesell- 
schaft aber dauernd in irgendeiner Form belasten. Diese Belastung 
auf ein Minimum zu reduzieren, ist Aufgabe weiterer Fürsorge. 


Vom Gefängnis Heilbronn ließ er sich keine Arbeit vermitteln, suchte 
angeblich auch keine und fuhr dann nach Pforzheim. Sein Schwager wollte 
ihn nicht, mit dem Bemerken, er wolle einen solchen Zigeuner nicht im Hause 
haben. Er fand dann Arbeit als landwirtschaftlicher Arbeiter in Br. 3 Wochen, 
. dann weitere 3 Wochen auf einer Domäne in H. und anschließend auf einem 

Hof. Hier soll ihn nach seiner Angabe der Dienstherr mit den Füßen hinaus- 

gestoßen haben mit dem Bemerken, so einen dreckigen Kerl könne er nicht 

gebrauchen. Er nahm dann ein Fahrrad und fuhr damit nach Pf. Wegen 

Fahrraddiebstahls hat er jetzt weitere 3 Monate zu büßen. 


Zweite Aufnahme (6. 2. 39). 
Klagt, daß es ihm draußen schlecht gegangen sei und ist sichtlich froh, 
wieder im Gefängnis zu sein. Seine Angehörigen hätten ihn fortgejagt. In 
der ersten Arbeitsstelle sei es sehr schlecht gewesen. Auf dem K.-Hof sei er 
wegen seiner schlechten Kleidung mißachtet worden. Um sich Sachen anzu- 
schaffen, nahm er ein Rad und fuhr nach der Stadt. Er wäre zurückgekehrt 
und hatte nicht die Absicht, das Rad zu stehlen. 


Trotz des unglücklichen Abschlusses hat man doch den Eindruck 
‚einer aufsteigenden Entwicklung. Er scheint sich nach Kräften 
bemüht, es aber sehr ungeschickt angestellt zu haben. Wenn er zu 
Leuten kommt, welche ıhn gut und nachsichtig behandeln, wird er 
i sich längere Zeit halten können. 

Wenn bei A. auch von einem leichten Aufstieg gesprochen wer- 
den kann, so blieb er doch eine asoziale Persönlichkeit, die bei den 
an sie vom Leben gestellten Forderungen versagt und verwahrlost 
oder Delikte begeht. Seine Unterbringung sollte in einer Anstalt 
geschehen, in der seine Arbeitsfähigkeit ausgenützt, dabei aber auch 
seine abnorme Natur berücksichtigt und die Erziehung der noch 
' unreifen Persönlichkeit angestrebt wird. Wir wollen dafür den Na- 
| men Arbeitserziehungsanstalt wählen. 


' Walter M., geb. Juli 1916. 

| M. ist das 2. jüngste von 7 Kindern des Schuhmachers Gg. M. in T.; die 
‘wirtschaftlichen wie die moralischen Zustände der Familie scheinen nicht eben 
die besten zu sein; der älteste Bruder ist gleichfalls vorbestraft. 

Er selbst ist kein guter Schüler gewesen, mußte die Lehre als Schlosser 
nach zwei Jahren ‚wegen einiger Vorkommnisse“, wie er sich ausdrückt, 
aufgeben. Von da ab führte seine Lebenslinie in zielloser Bewegung zwischen 
Gelegenheitsarbeiten, Wanderschaft, landwirtschaftlichen Dienststellen, einer 
flüchtigen Gastrolle von 5 Wochen beim freiwilligen Arbeitsdienst, 7 Vor- 


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372 A. Gregor 


strafen, mit einer Ausnahme (Tierquälerei) wegen Eigentumsdelikten schließ- 
lich in das Gefängnis Rottenburg, wo er 3 Monate 2 Wochen zu verbüßen 
hatte und am 7.2.36 entlassen wurde. Während er anfangs nur die ver- 
sucherischen Gelegenheiten zum Stehlen genützt hatte, suchte er sie später 
selbst auf. 


So auch bei dem Einbruchsdiebstahl vom 8. 11. 36 in T., bei dem ihm mit 
der Brieftasche eines Melkers RM. 50.— in die Hände fielen, die er mit einem 
Kameraden verjubelte. Die Strafe von 1 Jahr 6 Monaten wegen erschwerten 
Diebstahls i. R. hat M. vom 14. 12. 36 bis 3. 6. 38 im Jugendgefängnis Heil- 
bronn verbüßt. 


Er führte sich während dieser ganzen Zeit ruhig und anständig, gab sich 
bei der Arbeit in der Korbmacherei Mühe, arbeitete willig und sauber, doch 
langsam und verschlafen, wie es seinem Temperament und seiner mangelnden 
Energie entspricht. Seine Zelle lernte er mit der Zeit in Ordnung zu halten. 
Von gelegentlichen Anflügen von Eigensinn abgesehen, war er ein fügsamer 
Gefangener, dem das Gefängnisleben ebensowenig Beschwerden machte wie 
er seinerseits der Beamtenschaft. Ihm näher zu kommen war unmöglich. 
schon weil er viel zu bequem und wortkarg war. Er wurde am 1. 12. 37 in die 
Stufe II versetzt, hat sich auch die ganze Zeit über keine Hausstrafe zu- 
gezogen. 

Athletisch gebaute, schwerfällige, passive, phlegmatische Persön- 
lichkeit, intellektuell nicht wesentlich beschränkt, aber denkfaul, 
affektiv in adäquater Weise ansprechend. Er ist zweifellos gut- 
mütig, aber seine gemütlichen Regungen sind nicht tief, seine 
Lebenslinie scheint bisher in der Richtung des körperlichen Beha- 
gens gelaufen zu sein. Unbequemlichkeiten wußte er sich zu ent- 
ziehen. Er verließ die Lehre, weil sie ihm nicht paßte und begab 
sıch auf Wanderschaft, um dem Zwang der Eltern zu entgehen: 
seine Bedürfnisse wußte er auf Kosten anderer zu stillen, daher die 
üblichen Delikte auf der Wanderschaft: Dinge, die ihm in den Weg 
kamen, wie Füllfederhalter, Fernglas usw. eignete er sich skrupellos 
an. Bei Geldmangel vergriff er sich an fremdem Eigentum. Sehr 
bedenklich muß das letzte Delikt stimmen, da es von einer krimi- 
nellen Aktivität spricht und er sich mit der Bemerkung darüber 
hinwegsetzt, daß man auch ihn schon einmal bestohlen habe. Als 
positiv zu werten ist seine Gutmütigkeit und der im Gefängnis 
bekundete Fleiß. Auch besteht ein Interesse für Landwirtschaft. 
M. ıst keine gefühllose, wohl aber gefühlsarme Persönlichkeit. Seine 
defekte moralische Gesinnung kann noch keine schweren Proben er- 
tragen. Eine Reifung der primitiven und seelisch mangelhaft ent- 
wickelten Persönlichkeit kann noch eintreten. M. ist für das soziale 
Leben vorläufig nicht geeignet. Wille und Kraft reichen dazu nicht 
aus und baldiger Rückfall wäre die Folge. Auch hier erscheint eine 
Arbeitserziehungsanstalt am Platz, um das erwähnte Ziel zu er- 
reichen. 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 373 


Franz B., geb. Oktober 1916. 


B. stammt aus ungünstigen Verhältnissen und war das vierte uneheliche 
Kind seiner Mutter, einer Fabrikarbeiterin. Die Erziehung war schlecht, doch 
fiel er in der Schule nicht auf, bis er in der Pfarrkirche von B. einen Opfer- 
kasten leerte, was zu seiner Einweisung in das Waisenhaus in O. führte. 

Wie er selbst angab, ist er durch ein Verhältnis mit einer Hedwig Sch. 
vom ehrlichen Weg abgekommen, da er für dieses verrufene Mädchen viel 
Geld gebraucht habe. Am 16. 5. 1936 bestimmte er eine Frau, in deren Ge- 
schäft er ein paar Schuhe für RM. 12.50 gekauft hatte, ihm den Betrag von 
RM. 9.50 zu stunden. Zur Bezahlung dieses Betrages war er aber nicht in 
der Lage. Am 21.5.36 veranlaßte er eine Metzgersfrau zur Aushändigung 
von RM. 11.50, indem er falsche Angaben machte. Am 26. 5.36 brachte er 
einer Wirtin gegenüber vor, sein Meister schicke ihn ein Kalb abzuholen. 
Zur Bezahlung fehlten aber RM. 28.—. Dieser Betrag wurde ihm ausgehändigt. 
Das gleiche versuchte er am Vortage bei einem Metzger, ohne sein Ziel zu 
erreichen. Am 26. 5. stahl er ein Fahrrad. Angeblich hatte er nicht die Ab- 
sicht, sondern wollte nur rasch aus der Gefahrzone entweichen. Am 1.5. 36 
entwendete er bei einem Freund, als dieser gerade abwesend war, durch Auf- 
“brechen eines Kastens RM. 25.—. B. wurde wegen schweren Diebstahls u. a. 

zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. Die erlittene Untersuchungshaft wurde 
ihm angerechnet. 

Am 28.10.36 aus dem Gefängnis entlassen, machte er auf der Bahn die 

= Bekanntschaft eines Steinbruchbesitzers, bei dem er am 2. 11. 36 zur Arbeit 
antrat. Er bat ihn um Geld für den Ankauf von Arbeitsstiefel und erhielt 
hierfür RM. 12.—. Diese Stiefel kaufte er nicht, sondern verwendete das 
(seld für sich. In der Folge ging er auch nicht zur Arbeit. Er machte auch 
falsche Angaben bezüglich eines Arbeitsbuches. Er stahl seinen L.ogierleuten 

, einen Photoapparat, ein Hemd, Socken, Sporthalbschuhe, Regenmantel, eine 
Herrenhose und ging davon. 

Am 15.11.36 war er ohne Geld und faßte den Entschluß, sich solches durch 
den Raub einer Ilandtasche zu verschaffen. Dies führte er durch in der Nähe 
einer Kirche in St. gegen 3410 Uhr abends, als er einer 58Jährigen Frau be- 
segnete. Hierfür wurde B. zu einer Gesamtgefängnisstrafe von 2 Jahren 
bh Monaten verurteilt. 

Mäßig intelligent, auffällig finsterer, verschlossener Gesichtsausdruck, 

schwer zugänglich, affektiv wenig ansprechend, gefühlsarın, brutal. Man 


nn 


zewinnt den Eindruck, daß sich sein Seelenleben auch für ihn selbst nur für 
Augenblicke erhellt und er dann wieder in seine Stumpfheit zurücksinkt. 
Er bemerkt zwar gleich von Anfang an, über sich nachgedacht zu haben. 
Künftig werde er die Sachen, welche er begangen, bleiben lassen und nicht 
wieder ins Gefängnis kommen. Doch werden diese Äußerungen nur beiläufig 
und nicht überzeugend vorgebracht. 

Bemerkenswert ist die Erklärung, daß er von seinem älteren Bruder zum 
ersten Delikte verführt wurde. Er war damals 8 und sein Bruder 14 Jahre, 
als sie den Opferstock erbrachen. Die Mutter war meist fort und so gerieten 
‘sie auf Dummheiten. Zum Schluß habe sich der Bruder immer herauszureden 

gewußt und die Schuld sei auf ihn gefallen. Der Diebstahl war Anlaß zu seiner 
Unterbringung im Waisenhaus. Dort sei es ihm gut gegangen, doch sei er 
spater in eine schlechte Lehre gekommen. Er erzählt mit einer deutlichen 
(remütsbewegung, daß er nicht da wäre, wenn er nicht zu diesem Meister ge- 
kommen wäre. Durch ihn und seinen Gesellen sei er verdorben worden. 


374 | A. Gregor 


Beide führten unsittlichen Lebenswandel und der Meister behandelte ihn roh. 
Er kam oft betrunken heim, holte ihn aus dem Bett, hielt Umschau in der 
Wurstküche und ließ schließlich an ihm den Zorn aus, wenn nicht alles in 
Ordnung war. Er verhinderte ihn auch Klage zu führen. Zum Schluß konnte 
er nicht einmal die Gesellenprüfung machen, weil der Meister ihn anzumelden 
vergessen hatte. Die erste Serie von Delikten sei mit einem Liebesverhältnis 
zusammengehangen. 

Kräftiger, gesunder Bursche von nordischen Rassemerkmalen mit 
leichtem ostischen Einschlag. Äußerlich durch rohe Gesichtszüge 
auffällig. Tatsächlich erweist er sich auch als gemütsarm und wie 
das Gericht hervorhebt, egozentrisch und brutal. Dabei ist an erb- 
liche Belastung durch die Mutter zu denken, auf welche wohl seine 
Haltlosigkeit und sittliche Minderwertigkeit zurückgeht. Seine 
Delikte verraten ın erster Linie Gemütlosigkeit. Es ist auffällig, mit 
welcher Skrupellosigkeit er auch Leute bestahl, von denen er nur 
Gutes erfuhr. Seine eigene Deutung, daß sein erster Meister Schuld 
an seinem sittlichen Verfall trage, trifft kaum zu. An seiner Erzie- 
hung hat es zweifellos vielfach gefehlt. Allein die Mängel des Eltern- 
hauses sind durch mehrjährigen Aufenthalt im Waisenhaus aus- 
geglichen worden und die rohe Behandlung durch den Meister 
konnte sich unmöglich als derartige Kriminalität auswirken. 

Als positiv ist zu werten, daß er im RAD. sich ein Jahr anschei- 
nend gut gehalten hat. Darauf brach aber seine Triebhaftigkeit in 
elementarer Weise durch, als er ein Verhältnis mit der Tochter eines 
Gastwirts hatte. Die Schwere seiner Haltlosigkeit kam erst durch 
die zweite Serie seiner Delikte zum Ausdruck, welche er jetzt ver- 
büßt hat. Die mangelhafte Führung im Gefängnis, die öfters zur 
Bestrafung Anlaß gab, beweist, daß eine tiefgreifende Änderung 
seines Wesens nicht erfolgt ist. Es erscheint fraglich, ob er sich auch 
nur bis zur Militärzeit im sozialen Leben wird behaupten können. 

B. hat der Schwere seines Deliktes entsprechend, eine hohe Strafe 
erhalten. Diese hat im Gegensatz zu den sonstigen Erfahrungen mit 
langer Gefängnisstrafe keine merkliche Wirkung ausgeübt. Er ist 
der kalte, brutale Mensch geblieben, als welchen ihn das richterliche 
Urteil charakterisiert hat. Seine Entlassung stellt ein Wagnis und 
eine Gefährdung der Öffentlichkeit vor. Auch hier ist Verwahrung in 
der bezeichneten Form ein Erfordernis. 


Albert J., geb. September 1916. 


J. wurde im September 1916 als Sohn des Xaver J. und der Bertha 
geb. M. in T. geboren. Der Vater ist angeblich schon zur Geburtszeit im Felde 
gefallen. Die Mutter ging erwerbstätiger Arbeit nach und so kam der Junge 
zu Verwandten. Etwa nach einem Jahre heiratete die Mutter einen Schreiner 
Gustav Z. in L. und konnte daher Albert wieder zu sich nehmen. In L. hat 
er dann auch die Volksschule besucht und ist im Jahre 1931 entlassen worden. 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 375 


Sofort danach trat er in eine Mechanikerlehre ein, blieb aber nur 14 Tage. 
Schon Mai desselben Jahres fand sich eine Schneiderlehrstelle, in der er bis 
zum Mai 1932 verblieb. 


In seiner ersten Lehre stahl er 1931 seinem Meister RM. 500.—. Er wurde 
dafür zu 35 Tagen Gefängnis verurteilt, die durch die Untersuchungshaft 
verbüßt waren. 

1932 wurde er vom Jugendgericht L. wegen Diebstahls zu 7 Wochen Ge- 
fängnis verurteilt mit Bewährungsfrist. 1933 abermals 1 Monat Gefängnis 
wegen Diebstahls. 1934 Verurteilung zu 6 Monaten Gefängnis wegen ver- 
suchten Diebstahls und Diebstahls i. R. Im Jugendgefängnis Heilbronn 
verbüßt. Von da am 20.6.35 nach der Erziehungsanstalt Schönbühl ver- 
setzt, wo er die Gesellenprüfung ablegte und 28. 11. 1935 entlassen wurde. 
Darauf war er abwechselnd in kurzen Intervallen bei den Eltern in L. und auf 
Wanderschaft und es setzt eine lange Reihe von Mietsschwindeleien und 
Diebstählen ein, die in geradezu systematischer Gleichartigkeit verübt werden. 
27.1. 1936 Mietsschwindel bei Frau K., die er um RM. 3.— schädigt, indem 
er sich unter falschem Namen einmietet, dort zwei Nächte zubringt und ohne 
zu zahlen verschwindet. Gleiches Vorgehen in G. im Gasthof zum Lamm, 
Miet- und Zechprellerei um RM. 9.85. Den Meldezettel füllt er als Fred Berger 
mit lauter falschen Angaben aus. 18.2. versucht er an zwei Stellen einen 
Vorkriegs-1000-Markschein einzuwechseln. 19.2. hatte er beim Schneider A. 
in B. um Arbeit gebeten und ihm dann bald zwei Anzugsstoffe im Werte von 
RM. 95.— gestohlen und dazu noch aus einer offenen Lade einen 20 Mark- 
schein entwendet. Aus dem einen der Stoffe verfertigte er sich bei einem 
anderen Schneider einen Anzug und gab ihm den zweiten Stoff für die Zutaten. 
Bei einem weiteren Mietsschwindel stahl er einen Photoapparat im Wert von 
RM. 15.— und verkaufte ihn um RM. 5.—. 3.3. bittet er den Schneider W. 

‚ in D. um Arbeit; unter Vorspiegelung von Bestellungen, die er tätigen soll, 
schwindelte er ihm zwei Anzugsstoffe im Werte von RM. 70.— ab und ver- 
' schwindet damit. Gleichzeitig mietete er sich unter falschem Namen bei 
einer Fr. K. ein und entfernt sich wieder ohne Bezahlung. Den einen Anzugs- 
stoff verkaufte er, aus dem anderen ließ er sich seinen Mantel anfertigen. 
16. 3. bat er den Schneidermeister D. in K. um Arbeit. Als dieser sagte, daß 
er niemand einstellen könne, bat er um Aufnahme bloß für einige Tage, um 
wieder zu Essen zu bekommen. Aus Mitleid wurde er aufgenommen und ihm 
į das Fremdenzimmer zur Verfügung gestellt. Nach einigen Tagen, in denen er 
sehr zufriedenstellend arbeitete, stahl er aus dem Schlafzimmer D.s RM. 180.— 
und flüchtete damit. Frau D. merkte den Verlust sofort und verständigte 
ihren sich auf dem Felde befindlichen Mann, dem es gelang festzustellen, 
daß J. per Auto nach Heilbronn geflohen war. Er verfolgte ihn sofort und 
| konnte ihn bald darauf am Bahnhof festnehmen lassen, allerdings hatte J. 
‚ den größten Teil des Geldes inzwischen für Einkäufe verbraucht. Vom 27.1. 
bis 20. 2.36 hatte J. außer den angeführten Diebstählen noch 7 Fälle von 
' Mietsschwindel begangen. Am 21.4.1936 wurde er zu einer Gesamtstrafe 
| von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt, die am 21. Oktober 1938 abge- 
büßt ist. 

Zart gebaut, asthenischer Bursche von vorwiegend nordischem Habitus. 
Er ist intelligent, empfindlich, egozentrisch, aber von keiner gemütlichen 
Tiefe. Seine Delikte erklären sich aus einer konstitutionell bedingten Halt- 
losigkeit und gesteigerten Empfindlichkeit, die eine Triebfeder bildeten, 

| unbequemen Situationen sich dureh Flucht zu entziehen. 


| 


376 A. Gregor 


Er kam 1936 noch als unreifer Mensch ın das Gefängnis Heil- 
bronn. In der Schneiderei schluckte er einige Nadeln. Die damalige 
Strafe machte auf ihn keinen tieferen Eindruck. Dagegen gewinnt 
man jetzt entschieden das Urteil, daß er sich günstig weiter ent- 
wickelt hat. So hat er nicht nur im Handwerk gute Leistungen 
aufzuweisen, sondern er hat auch an Ruhe, Überlegung und Selbst- 
sicherheit gewonnen. Trotzdem kann man ihn noch nicht als einen 
reifen Menschen bezeichnen. Er hat Einsicht für seine Vergehen, 
gute Vorsätze und ein festes Ziel, nämlich die Meisterprüfung zu 
machen. Die äußeren Verhältnisse des sozialen Lebens werden auf 
seine weitere Entwicklung bestimmenden Einfluß haben. Die wesent- 
liche Gefahr liegt aber in dem Mangel an Gemütswerten und der Un- 
stetigkeit. Er wurde daher trotz langen Gefängnisaufenthaltes mit 
zweifelhafter Prognose entlassen. Sein Hochstaplertum kam nach 
kurzer Zeit wieder zum Durchbruch und er wurde wegen Heirats- 
schwindel festgenommen. Die Voraussetzungen zur Verwahrung 
sind für ihn auch nach der bestehenden Gesetzgebung gegeben und 
eine solche auch nötig. 


Adam D., geb. Februar 1916. 

Er wurde als Sohn des Bleilöters Adam D., der bei dem Explosions- 
unglück in O. ums Leben gekommen ist, geboren. Nach dem Tode des Vaters 
kam er, da die Mutter dem Verdienste nachgehen mußte, ins Waisenhaus 
nach Mundenheim. Die Großeltern (Vaters-Eltern) genießen einen guten Ruf: 
die Mutter hingegen hat sich mit Soldaten der französischen Besatzung ein- 
gelassen und führte einen ärgernis-erregenden Lebenswandel. 1933 heiratete 
sie einen geschiedenen Berufsmusiker H., der ebenfalls nicht den besten 
Leumund besitzt und einen Sohn, der so alt wie der Sträfling ist, mit in die 
Ehe brachte. Der Stiefvater holte seinen Stiefsohn aus dem Waisenhaus 
zurück, kümmerte sich aber im übrigen wenig um ihn. Adam D. besuchte 
dann als mittlerer Schüler 8 Jahre lang die Volksschule in Fr. Da er viel 
sich selbst überlassen war, schwänzte er sehr oft die Schule und geriet so in 
schlechte Gesellschaft. Auch bei den Großeltern, die sich im Interesse ihres 
verstorbenen Sohnes öfters um ihn annahmen, tat er nicht gut Er ver- 
bummelte und entwickelte sich zu einem Faulenzer und Taugenichts. Nach 
seiner Schulentlassung wollte er Kaufmann werden; seine Eltern ließen es 
jedoch nicht zu, weil sie einen Koch aus ihm machen wollten. Das zuständige 
Arbeitsamt verbrachte ihn jedoch im Mai 1930 gegen seinen Willen zu einem 
Bauer nach L. Da es ihm dort nicht gefiel, kehrte er bald wieder in das Eltern- 
haus zurück. Nun wurde ihm eine Bäckerlehrstelle vermittelt, in der er aber 
auch nicht lange blieb. Er lief weg und begab sich wieder nach L. zurück, 
wo er dann 34 Jahre lang bei einem Bauer arbeitete. Wegen Unterschlagung, 
Diebstahls und Betrugs mußte er 12 Tage im Amtsgerichtsgefängnis L. büßen. 
Daraufhin kam er in die Erziehungsanstalt Schelklingen, von wo ihn sein 
Stiefvater nach einem vierteljährigen Aufenthalt heimholte. Zu Hause hatte 
man ihm in der' Zwischenzeit in V. eine Lehrstelle als Schreiner vermittelt. 
Auf dieser harrte er ein Jahr lang aus, lief dann wieder weg, weil er an dem 
Beruf und am Lernen keine Freude hatte. Er begab sich zu seinen Eltern, 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 377 


die inzwischen nach E. verzogen waren. Dort wurde er im Lehrlingsheim 
untergebracht, wo er %, Jahr als Gärtner lernte, dann aber das Heim heimlich 
verließ und zu Fuß nach M. wanderte, wohin seine Eltern in der Zwischen- 
zeit verzogen waren. Da diese ihn nicht aufnahmen, begab er sich auf die 
Wanderschaft, und als er diese satt hatte, meldete er sich freiwillig zum 
Arbeitsdienst. Nach % Jahre mußte er sich zwecks Ausheilung einer Ge- 
schlechtskrankheit ins Krankenhaus nach M. begeben. Als er im Dezember 
1933 aus diesem entlassen wurde, hatten seine Eltern bereits wieder ihren 
Wohnsitz gewechselt, weshalb er sich zu einer Tante nach L. begab. Dieser 
entwendete er einen Bedarfsdeckungsschein im Werte von RM. 25.— und 
kleidete sich dafür ein. Er erhielt für dieses Vergehen 8 Monate Gefängnis, 
die er in Freiburg verbüßen mußte. Nach seiner Entlassung aus der Straf- 
anstalt ging er wieder auf die Wanderschaft. Iın Januar 1935 wurde er in B. 
wegen Bettels bestraft. Sodann mußte er wieder wegen seiner Geschlechts- 
krankheit ins Krankenhaus D. eingeliefert werden, wo er bis April 1935 ver- 
blieb. Bald nach seiner Entlassung ließ er sich einen schweren Betrug zu- 
schulden kommen, wofür er vom Schöffengericht D. am 29. 5.35 ein Jahr 
Gefängnis erhielt. Am 16. 12. 35 wurde er von der Zellenstrafanstalt Butzbach 
nach Heilbronn versetzt. 

Adam D. hat den Beamten, die an ihm die Strafe zu vollziehen hatten, 
eine schwere Aufgabe gestellt. \Wiederholt mußte er wegen Schmuggels, 
verbotenen Sprechens und Unverträglichkeit disziplinarisch bestraft werden. 
Auf keinem Arbeitsplatz hat es ihm lange gefallen und er hat nicht durch- 
vrehalten, weder im Mattengeschäft, noch in der Schreinerei, noch in der Korb- 
macherei und als Außenarbeiter. Auch wollte er eine ganze Reihe von Berufen 
erwählen und immer wieder glaubt er, sich zu einer anderen Betätigung 
berufen zu fühlen, und zwar als: Kaufmann, Schreiner, Bergmann, Chaufleur, 
Gärtner, Landwirt, Krankenwärter, Korbmacher und wieder Schreiner. Er 
hat noch kein Arbeitsbuch. Die Anstalt bot ihm Gelegenheit, die Schreinerei 
zu erlernen, aber wegen Unaufmerksamkeit und Gleichgültigkeit mußte er 
nach kurzer Zeit aus der Schreinerei wieder entfernt werden. 


Mittelgroßer, etwas schwächlicher aber gesunder Bursche von 
nordischen Rassemerkmalen. Er ist intelligent, egozentrisch, selbst- 
bewußt und schizothym. Diese bedenkliche Anlage hätte durch 
planmäßige und zielbewußte Erziehung wesentlich gebessert wer- 
den können. Allein der frühe Tod seines Vaters und die Heirat der 
Mutter mit einem Musiker, der es erst spät zu einer festen Anstellung 
brachte, ließen es nicht dazu gelangen. Bedauerlicherweise kam er 
nach seinen ersten Delikten leichten Kaufes davon und die Unter- 
bringung in Schelklingen konnte keinen Erfolg haben, da er nach 


‚ drei Monaten weggenommen wurde, um wieder nur vorübergehend 


in eine Lehrstelle gebracht zu werden. 


D. ist buchstäblich verwahrlost, ohne daß das Jugendwohlfahrts- 
gesetz in entsprechender Weise in Anwendung kam. Ein Schuld- 
gefühl für seine Straftaten besteht nicht. Dagegen behauptet er im 
Gefängnis schwer gelitten zu haben, was anscheinend sich mehr auf 
äußere Momente bezieht. Die Prognose wäre schlecht, wenn er ins 


378 A. Gregor - 


soziale Leben entlassen würde. Er kommt nächster Zeit in den 
Arbeitsdienst. Es ist sehr fraglich, ob dieser und das Militär ihn zu 
einem ordentlichen Menschen machen können. Denn tatsächlich 
fehlen ihm die moralischen Voraussetzungen, um die Pflichten des 
Arbeits- und Militärdienstes zu erfüllen. Der Schaden, welcher im 
Heere durch kriminelle Individuen verursacht werden kann, ist ein 
Anlaß mehr, sich mit dem Problem der Verwahrung zu beschäf- 
tigen. 
Gerhard F., geb. Juli 1918. 


Mütterlicherseits durch eine Tante belastet, die an epileptischen Anfällen 
leidet, zudem sind beide Eltern abnorme Persönlichkeiten, die Mutter hyste- 
risch, der Vater Neurotiker nach Kriegsverletzung. Der Fall hatte mich zum 
erstenmal 1932 in der heilpädagogischen Beratungsstelle beschäftigt, weil 
der Junge damals sich in auffälliger Weise Schulmädchen zu nähern suchte. 
Ein Sittlichkeitsvergehen war nicht festzustellen, sein Verhalten war vielmehr 
als sexuelle Neugier, bedingt durch erwachende Pubertät, zu deuten. Hierzu 
kam der Besuch einer Schule, deren Ruf nicht günstig war. Das Verhalten 
des Jungen wurde von mir dem Jugendamt als ein sehr ernst zu nehmendes | 
Symptom dargestellt und Umschulung sowie Beaufsichtigung des Knaben 
durch den Evangelischen Jugend- und Wohlfahrtsdienst empfohlen. Im 
Dezember 1935 hatte ich den Jungen wegen eines versuchten Sittlichkeits- 
verbrechens während seiner Untersuchungshaft zu begutachten. Er zeigte 
für einen 17jährigen Burschen auffälliges Wesen, erschien schlaff, feminin. 
altklug. Für seine Verfehlungen, die darin bestanden, daß er andere Knaben 
z. T. unter Mißbrauch seines Amtes als stellvertretender Fähnleinsführer bei 
der HJ zu unsittlichen Handlungen veranlaßte, hatte er wenig Einsicht. 
Er suchte sich stets damit zu entschuldigen, daß er in der erwähnten Schule 
durch andere Knaben und Mädchen verdorben wurde, welche ‚‚Doktorbücher 
in die Schule brachten, womit sich die Kinder in Abwesenheit des Lehrers 
stundenlang beschäftigen konnten. Ich habe mein Gutachten dahin ab- 
gegeben, daß der Junge für sein Handeln verantwortlich sei und schon deshalb 
gerichtlich bestraft werden müsse, um sowohl ihm selbst, als auch seinen 
Eltern, welche ihn stets in Schutz nahmen, die Schwere des Vergehens zum 
Bewußtsein zu bringen. Ich bin dabei sogar für eine exemplarische Gefängnis- 
strafe eingetreten, damit der Fall im Jugendgefängnis auch erzieherisch zur 
Erledigung käme. Fürsorgeerziehung war infolge der bestehenden Verwahr- 
losung natürlich nötig, doch habe ich mich gegen eine Erziehungsanstalt 
ausgesprochen, teils weil ein schädlicher Einfluß auf die anderen Zöglinge 
zu befürchten war, teils weil diese Maßnahme bei der verfehlten Einstellung 
der Eltern keine Wirksamkeit versprach. Das Jugendgericht verurteilte ihn 
zu 4 Monaten Gefängnis unter Anrechnung von 1 Monat Untersuchungshaft. 
so daß er noch 3 Monate im Jugendgefängnis zu verbüßen hatte. Das Landes- 
Jugendamt ließ ihn nach Verbüßung dieser Strafe in eine Erziehungsanstalt 
verbringen. Der ärztliche Leiter derselben erklärte nach 2 Monaten, daß der 
Hang des Jungen zu kleinen Knaben unausrottbar sei, er werde immer wieder 
dabei ertappt, wie er kleine Kinder in sein Zimmer zu locken versucht. Nach 
weiteren 5 Monaten äußert sich der Vorstand der Anstalt dahin, daß sich die : 
Neigung zu kleinen Kindern beständig zeige, es sei aber durch den Aufenthalt 
zweifellos eine Besserung in der Haltung eingetreten. Die Mittel, die eine 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 379 


Anstalt ihm gegenüber aufbringen könne, seien erschöpft und es empfehle 
sich, ihn zu entlassen und weiter unter Schutzaufsicht zu stellen. 
Inzwischen hatten die Eltern alle Instanzen bestürmt, den Jungen während 
des kurzen Aufenthaltes in der weit entfernten Anstalt mehrfach besucht und 
Verdächtigungen gegen den Jugendrichter ausgesprochen. Nach 6monat- 
licher Anstaltserziehung wurde probeweise Entlassung verfügt und ein zu- 
verlässiger Fürsorger mit der Aufsicht betraut. Nach 4 Monaten kam er aber 
neuerlich in Untersuchungshaft, weil er sich an Schulmädchen zu vergreifen 
suchte und eines zu unsittlichen Handlungen veranlaßt hatte. 


Mein neues Gutachten lautete wie folgt: 


Gerhard F. ist ein haltloser Psychopath. Seine sexuellen Ver- 
‚Irrungen gehen auf diese Quelle zurück. Er trägt immer noch Zei- 
chen der Pubertät an sich, die ja selbst Schwankungen in der sexu- 
ellen Einstellung mit sich bringt. Man kann erwarten, daß auch bei 
ihm eine Kräftigung des Willens und ein Ausgleich der Haltlosıg- 
keit eintreten wird. Der Aufenthalt im Jugendgefängnis und im Er- 

. zehungsheim war zu kurz, um diesen Effekt zu erzielen. Es ist anzu- 
I nehmen, daß die jetzt verwirkte Strafe dem Jugendgefängnis einen 
' genügenden Spielraum läßt, um seinen Charakter zu festigen. 

Er wurde von der Strafkammer des Landgerichtes zu einer Strafe 
von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt, die er in Heilbronn verbüßte. 

Mein Gutachten bei seiner Entlassung lautete: 

ı F. ist ein Produkt erblicher Belastung und Erziehung durch eine 
‚ hysterische Mutter. Er ist ein haltloser, willensschwacher, unreifer 
i Bursche, der sexuellen Regungen in der Pubertätszeit keinen sitt- 
} lichen Halt entgegensetzen konnte und ihnen unterlegen ist. Die 
` strafrechtlichen Folgen haben ihre Wirkung vorwiegend darum ver- 
fehlt, weil die Mutter das Schuldgefühl allzu früh verwischt hat. 

F. ist an sich keine kriminelle Natur. Seine Willensschwäche und 

Haltlosigkeit wären bei einer normalen Erziehung weitgehend zu 
. bessern gewesen. Sein Schicksal wird davon abhängen, ob und in 
| welcher Zeit trotz der entgegenstehenden Einflüsse der Mutter, 

eine innere Reifung der Persönlichkeit erfolgt. Besonders günstig 
. waren dazu die Zeiten der Strafverbüßung im Gefängnis. Ein Ver- 
gleich seiner jetzigen seelischen Verfassung mit jener während der 
: Untersuchungshaft in Karlsruhe, wo er ebenfalls von mir beobachtet 

wurde, zeigt, daß ein merklicher Fortschritt stattgefunden hat. Die 
‚ allgemeinen Umrisse des unfertigen haltlosen Menschen sind noch 
deutlich erkennbar, aber die damals vorhandene Zerfahrenheit ist 
wesentlich gebessert. Freilich bleiben noch viele Angriflspunkte für 
äußere Gefahren des sozialen Lebens. Die Prognose ist daher vor- 
läufig noch ungünstig. 

Er ist dann auch ın kurzer Zeit rückfällig geworden und hat 


- 


rn 


m 


380 A. Gregor 


jüngere Burschen zu widernatürlicher Unzucht verleitet. Die 
Jugendschutzkammer hat unter Androhung von Sicherungsver- 
wahrung eine mehrjährige Gefängnisstrafe ausgesprochen. 


Die Besprechung von Verwahrungsbedürftigen zeigt, daß diese 
Gruppe aus Individuen sehr verschiedener psychischer Konstitution 
zusammengesetzt ist. Es überwiegen weitaus Schwachsinnige 
(18 Fälle). Für diese besteht bereits heute die Möglichkeit der Ver- 
wahrung, wovon aber nur selten Gebrauch gemacht wird, da Krimi- 
nelle nicht in Krankenanstalten gehören. 

Geringer ist die Zahl der Psychopathen (9), die wir in unserem 
Material als verwahrungsbedürftig erkannt haben. Auch sie setzt 
sich wie bei den anderen Gruppen aus Haltlosen, Hyperthymen 
und Gemütsarmen zusammen, wobei der große Anteil von Hoch- 
staplern (3 Fälle) bemerkenswert ist. 

Naturgemäß handelt es sich hier um ältere Burschen. Das Auf- 
nahmealter betrug nämlich bei ihnen: 


18 Jahre 3 Fälle 


19 „ 1 ,„ 
20 n 8 y 
21 79 5 79 


Auch hier bestand bereits z. T. die Möglichkeit einer Siche- 
runsgverwahrung nach dem geltenden Recht. Man wird sich für 
eine solche angesichts der Jugend dieser Individuen um so weniger 
entschließen können, als dabei heute noch keine ausreichenden Er- 
ziehungsmittel zur Verfügung stehen. Andererseits hat unsere Dar- 
stellung doch zwingende Gründe für die Verwahrung dieser Fälle er- 
geben. Es kommt also wesentlich auf die Form an, in der dieselbe 
vorgenommen werden soll. Ich möchte hier besonders an die Schwei- 
zer Gesetzgebung erinnern, auf die ich schon im Jahre 1926 hin- 
gewiesen habe. (Das deutsche Bewahrungs- und das Schweizer Ver- 
sorgungsgesetz Zentr.Blatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt. 
18. Jahrg. Nr. 7, Berlin 1926.) Es handelt sich um das am 24. Mai 
1925 der Volksabstimmung in Zürich vorgelegte!) Gesetz über die 
Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheits- 
trınkern. | 

$ 5. Personen vom zurückgelegten 18. bis zum zurückgelegten 30. Alters- - 

jahr, die einen Hang zu Vergehen bekunden, liederlich oder arbeits- 


scheu sind, aber voraussichtlich zur Arbeit erzogen werden können, 
sind in einer Arbeitserziehungsanstalt zu versorgen. 


1) Es ist heute in Kraft und hat sich, wie von autoritativer Seite erklärt 
wird, bewährt. 


EEEREN 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 381 


Hier ist tatsächlich alles enthalten, was von einem Verwahrungs- 
gesetz für unsere Zwecke bei Minderjährigen gefordert werden kann. 
Vor allem ist die Grenze richtig angesetzt, da man bis zum 18. Le- 
bensjahr unbedingt der Fürsorgeerziehung die Vorhand lassen darf, 
sofern nicht vorher eine längere Gefängnisstrafe ausgesprochen wird. 


Ferner ist die Betonung der Erziehung als wesentliches Moment 
hervorzuheben, denn tatsächlich muß besonderes Gewicht auf die 
erzieherische Beeinflussung dieser Personen gelegt werden, was sich 
nicht nur aus der relativ tiefen Altersgrenze, sondern auch aus der 
Tatsache ergibt, daß zu diesem Personenkreis eine recht große 
Anzahl von Schwachsinnigen und Psychopathen mit rückständiger 
Entwicklung gehört. Die obere Grenze von 30 Jahren kann man 
als ausreichend ansehen, sie bildet allerdings auch wohl den Ab- 
schluß einer aussichtsvollen Erziehung. 

Eine Ergänzung dieser nach Seite der Erziehung orientierten Ver- 
wahrungsanstalten durch solche für Unerziehbare ist zweifellos 


- nötig. Sie ist in § 8 des genannten Gesetzes gegeben. 


ER, ; 
- 


$ 8. Personen vom zurückgelegten 18. Altersjahre an, die einen Hang 

zu Vergehen bekunden oder liederlich oder arbeitsscheu sind, werden 

in einer Verwahrungsanstalt versorgt, wenn die Einweisung in eine 

Arbeitserziehungsanstalt wegen ihrer besonderen Eigenschaften nicht 

möglich oder wenn sie erfolglos geblieben ist oder von Anfang an als 
aussichtslos erscheint. 

Diese Form von Verwahrung kann durch die bestehende Siche- 

rungsverwahrung und unsere Arbeitshäuser geleistet werden. 


Die Dauer der Verwahrung ist im Schweizer Gesetz in der Regel 
auf 2—3 Jahre angesetzt. Wer nach seiner Entlassung rückfällig 
wird, kann bis auf 5 Jahre eingewiesen werden. Man kann anneh- 
men, daß die Verwahrung schon mit zwei Jahren ihren Abschluß 
finden kann, wenn ihr Zweck bis dahin erreicht wird. 

Im Zusammenhang mit dem Verwahrungsproblem ist die Frage 
von Sicherungsmaßnahmen bei Kapıtalverbrechen zu erörtern. In 
den Fällen der verschiedenen Gruppen fand Mord, Landesverrat, 
Raub Erwähnung. Einige Brandstifter meines Materials fielen über- 
haupt nicht in den Rahmen dieser Ausführungen, weil es sich um 
einmalige Delikte von Individuen handelte, welche ıhrer Kon- 


stitution nach nicht als kriminell veranlagt erkannt wurden. Das 


Verbrechen war hier aus einer verhängnisvollen Konstellation von 


‚inneren und äußeren Momenten entsprungen und ein Rückfall oder 


andersartige Delikte umso weniger zu erwarten, als die bei diesen 
Fällen doch stets ausgiebig bemessene Strafe der Gefängnispäda- 
gogik genügend Zeit bietet, um eine Besserung zu erzielen. Ahn- 


382 A. Gregor 


lich liegt der Fall beim Raub, welcher bei Jugendlichen durch die 
psychologische Analyse vielfach einen ungefährlichen Charakter 
erhält. Die Strafe geht dann wohl auch über das zur Korrektur er- 
forderliche Maß hinaus. Derartige Fälle sind demnach besonders auch 
für die unbestimmte Verurteilung zu reklamieren. 


Dadurch allein wäre schon eine Sicherung für das öffentliche Wohl 
gegeben. Im übrigen halte ich es für angebracht, bei allen Kapital- 
verbrechen, um einen Irrtum auszuschalten, im Interesse der öffent- 
lichen Sicherheit zwei Sicherungen anzubringen, indem 


1. wie es z. B. im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe nach mei- 
ner dortigen Praxis heute schon üblich ist, allgemein derartige Fälle 
einer fachärztlichen Untersuchung zugeführt werden. 


2. Alle minderjährigen Individuen, die ein Kapitalverbrechen 
begangen haben, in der Strafhaft kriminalbiologisch untersucht ' 
werden sollen und der Leiter der kriminalbiologischen Unter- 
suchungsstelle verpflichtet wird, Anzeige für eine Verwahrung zu 
erstatten, wenn aus der Konstitution sich festere Anhaltspunkte für 
einen Rückfall ergeben. 


Schlußbetrachtung 


Zum Schluß ist eine Übersicht über den vorliegenden Fragen- 
komplex angezeigt. Das Reichs- Jugendwohlfahrtsgesetz vom 9. Juli 
1922 hat der verwahrlosten Jugend die Tore der Fürsorgeerziehung 
weit geöffnet und die Justiz hat sie in Mengen einströmen lassen, da 
das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 erzieherische Auf- 
gaben in den Vordergrund stellte. Die Träger der Fürsorgeerziehung 
haben sich dem Material nach Kräften anzupassen gesucht und sind 
zur Einrichtung von Psychopathen-Abteilungen und festen Häusern 
geschritten. 

Die Zahl der Insassen der Jugendgefängnisse ist dementsprechend 
stark zurückgegangen, auf der anderen Seite tauchten aber in den 
Kreisen der Fürsorgeerziehung die Fragen über Pädagogik und 
Maßnahmen bei Schwer-, Schwerst- und Unerziehbaren auf?). 
Schon 1924, bei der Verhandlung des Allgemeinen Fürsorge-Tages 
in Heidelberg, wurde über die Ausscheidung der Unerziehbaren aus. 


1) Gregor, Adalbert, Psychologie und Sozialpädagogik schwer erziehbarer 
Fürsorgezöglinge. Zeitschrift für Kinderforschung Bd. 30, Heft 4 und 5, 
1925. — Derselbe, Psychologie rückfälliger Fürsorgezöglinge. Ebenda Bd. 36, 
Heft 4, 1930. — Villinger, Mann, Cornils, Problem der Schwererziehbaren 
in der Fürsorgeerziehung. Referate des Allgemeinen Deutschen Fürsorge- 
Tages, gehalten am 6. 2. 1931. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1931. 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 383 


der Fürsorgeerziehung beraten!). Frühzeitig ist von Kennern 
der weiblichen Verwahrlosung der Gedanke der Verwahrung aus- 
gesprochen worden und 1920 wurde von Frau Neuhaus darüber ein 
Gesetzesentwurf eingebracht. Die Diskussion dieser Frage hat eine 
ansehnliche Literatur gefunden?). Man erkennt daraus: Der Für- 
sorgeerziehung war eine Aufgabe übertragen, welche sie mit den zur 
Verfügung stehenden Mitteln nicht zu leisten imstande war. Eine 
Hilfe kam für sie durch die Notverordnungen vom November 1932, 
welche aus der Finanznot entsprungen waren. Daraus ergab sich 
mit der Ausscheidung der älteren und wohl auch schweren Fälle mit, 
dem 19. Lebensjahr ein früheres Erfassen der Verwahrlosten und 
eine Verjüngung des Zöglingsbestandes, worüber in dankenswerter 
Weise Anneliese Ohland berichtet hat 3). 

Endlich hat die Neufassung des $73 RJWG. über Entlassung 


aus der Fürsorgeerziehung nach Vollendung des 18. Lebensjahres 


wegen Unausführbarkeit aus Gründen, die in der Person liegen, eine 


- Lücke in das bisherige System der Bekämpfung von Verwahrlosung 


und Kriminalität gerissen, die bis heute noch nicht ausgefüllt ist. 

Ein Zurückfluten der Verwahrlosten aus den Fürsorgeerziehungs- 
Anstalten nach den Jugendgefängnissen war unvermeidlich und fand 
ın um so stärkerem Maße statt, als die Jugendgerichte dem Zuge 
der Zeit folgend, die straffälligen Jugendlichen mit schärferen Mitteln 
anpackten. Eine unmittelbare Folge bildete die weitere Ausgestal- 


tung von Jugendgefängnissen, die z. T. durch Einrichtung von kri- 
- minalbiologischen Untersuchungsstellen zur Lösung wissenschaft- 


licher Fragen bestimmt wurden. 
Wenn wir hier einen Seitenblick auf das befreundete Italien wer- 


' fen, so müssen wir feststellen, daß es durch sein Jugendgerichts- 


A AS Bun. 


= 


gesetz vom Jahre 1934 einen Vorsprung gewinnen konnte. Die Ver- 
hältnisse drängten dort zu einer strengen Scheidung von verwahr- 
loster und krimineller Jugend, weil die caritativen Erziehungs- 
anstalten, wie ich mich selbst überzeugen konnte, kriminelle Ele- 
mente sich fernzuhalten suchten und diese Aufgabe dem Staat über- 
ließen. Dieser hat sie denn auch in dem erwähnten Gesetze gründ- 
lich zu lösen versucht. 


1) Verhandlungen der Tagung des Allgemeinen Deutschen Fürsorge- 


‚, Erziehungstages zu Heidelberg am 15. und 16. September 1924. 


2) Wessel, Helene, Bewahrung — nicht Verwahrlosung. Verlag T. van Gils, 
(Geilenkirchen, 1934. 
3) Ohland, Anneliese, Die Fürsorgeerziehung in Deutschland. Statistik 


> über die Durchführung nach dem Stande vom 31.3.1934. Zentralblatt für 


Jugendrecht Bd. 27, 284—291 und 322—328. — Dieselbe, Die Fürsorge- 
erziehung in Deutschland. Ebenda, Juni bis Juli 1936. 


384 A. Gregor 


Die in den obigen Ausführungen bezeichnete Sachlage zwingt zu 
einer neuen gesetzlichen Regelung. Wir wollen hier in Kürze die An- 
regungen überblicken, die sich dazu aus dem besprochenen Material 
krimineller Jugendlicher ergaben. 

Zunächst ist es dringend nötig, den ebenso ae 
wie kriminologisch verfehlten Schwebezustand zwi- 
schen Erziehungsanstalt und Gefängnis zu beseitigen. 
Zweifellos müssen Fürsorgezöglinge in Gefängnisse kommen und 
ein Teil derselben nach der Strafverbüßung wieder in Erziehungs- 
anstalten zurückkehren. Klare Fälle werden von mir in der Monats- 
schrift für Kriminalbiologie veröffentlicht. Hierbei handelt es sich 
um Verfehlungen, die an sich zur Verwahrlosung gehören, da z. B. 
nach meinen Untersuchungen!) an 440 schulentlassenen Fürsorge- 
zöglingen allein 87% derselben Eigentumsvergehen begangen haben. 


Die Scheidung ist erst bei den zum Rückfall neigenden, also endo- 
gen Kriminellen zu vollziehen. Das italienische Jugend-Gerichts- 
gesetz wird diesen Tatbeständen vollkommen gerecht, indem es bei 
Gemeingefährlichkeit Unterbringung in eine Justiz-Besserungsan- 
stalt nach Verbüßung der Strafe vorsieht und bestimmt, daß ju- 
gendliche Gewohnheits- und Neigungsverbrecher für mindestens 
3 Jahre in einer Justiz-Besserungsanstalt unterzubringen sind. 
Wir haben oben die Forderung nach Sonderanstalten erwähnt, die 
den italienischen Justiz-Besserungsanstalten entsprechen. Ich 
möchte aber hier das Prinzip der doppelten Sicherung ver- 
treten und es nicht alleın bei der Feststellung des Rich- 
ters bewenden lassen. Es müßte vielmehr auch zu einer 
Pflicht der Jugendgefängnisse werden, bezügliche An- 
träge zu stellen, wenn erst dort Gemeingefährlichkeit 
oder schwere krıminelle Anlage, etwa durch die krimi- 
nalbiologische Untersuchung, erkannt wird. 

Es war zunächst logisch, die Frage der unbestimmten Verurtei- 
lung ganz unabhängig von der Einrichtung von Sonderanstalten 
zu erörtern. Nunmehr müssen wir nach den Beziehungen dieser 
beiden Institutionen fragen. Ich möchte hier auf die Gefahren hin- 
weisen, die der künftigen Gesetzgebung drohen. Die eine liegt in der 
Überschätzung der unbestimmten Verurteilung. Erhält sie etwa die | 
Fassung wie im österreichischen Jugendgerichtsgesetz vom Jahre 
1928, dann ist sie zu stark dem Ermessen des Richters überlassen 
und wird keineswegs dazu führen, um anlagemäßig Kriminelle in 
weiterem Umfange zu erfassen. Ich sehe darum nur zwei Wege: 


1) Gregor, Adalbert, Leitfaden der Fürsorgeerziehung. Berlin 1924 


Minderjährige Schwerverbrecher usw. 385 


Entweder man wählt eine derartige dem Richter einen weiten Spiel- 
raum gewährende Fassung, dann ist eine weitere gesetzliche Be- 
stimmung entsprechend der italienischen Gesetzgebung erforder- 
lich, oder man macht tatsächlich die unbestimmte Verurteilung zum 
Instrument für die Erfassung krimineller Elemente. Dann müßten 
die entscheidenden Kriterien in dem Wortlaut des Gesetzes auf- 
genommen werden. Die unbestimmte Verurteilung würde sich dann 
auf nachstehende Fälle .erstrecken: 

a) in denen die erforderliche Strafdauer nicht annähernd zu 
bestimmen ist, 

b) bei Feststellung von Gemeingefährlichkeit, 

c) bei jugendlichen Gewohnheits- und Neigungsverbrechern, 
wenn im Falle b und c die verwirkte Strafe nicht eine Höhe von 
3 Jahren erreicht. 

Mit einem derartigen Gesetze wäre ganze Arbeit geleistet und zwar 
in einer organisatorisch einfachen Form, da der Vollzug den Jugend- 
: gefängnissen übertragen würde. Hier muß aber auf die Gefahr hin- 
gewiesen werden, daß dabei die erzieherischen Belange zu kurz 
kämen. Im Jugendgefängnis steht eben doch das Moment der Strafe 
vor der Erziehung. Aus den Studien von Sieverts?) ist zu entnehmen, 
welche Sorgfalt in England auf die Erziehung und auf die Auswahl 
des sie übenden Beamtenpersonals in Borstal-Anstalten gelegt wird. 


Man muß sich tatsächlich fragen, ob die italienische Gesetzgebung, 
welche Justiz-Besserungsanstalten vorsieht, nicht doch das Richtige 
getroffen hat. Nach meinen Erfahrungen würde ich, vor die Alter- 
native gestellt, dem italienischen Vorbilde folgen. Die vollkommen- 
ste Lösung besteht aber darin, das Ausmaß unbestimmterVer- 
 urteilung dem Richter zu überlassen, in bezug auf Er- 
fassung der kriminellen und gemeingefährlichen Ele- 
mente dem italienischen Beispiel zu folgen und gegen 
sie mit ähnlichen gesetzlichen Bestimmungen wie dort 
vorzugehen; dabei einen Teil derselben den Jugendgefängnissen 
<: zu überlassen, für den anderen Teil Justiz-Besserungsanstalten ein- 
‘ zurichten, bzw. einzelne durch die neue gesetzliche Regelung frei 
werdenden Fürsorgeerziehungsanstalten in Betrieb der Justiz- 
verwaltung zu übernehmen. 

Sollen die hier vertretenen Sonderanstalten auch zur Verwahrung 
-` dienen ? Das italienische Gesetz verwendet die Justiz-Besserungs- 


. 1) Quentin, Leopold und Sieverts, Rud., Die Behandlung der jungen Rechts- 

brecher im Alter von 17—23 Jahren in England unter besonderer Berück- 
sichtigung des Borstal-Systeins. Blätter f. Gef.-Kunde Rd. 68, Heft 3, 1937. 
25 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


386 A. Gregor, Minderjährige Schwerverbrecher usw. 


anstalten zu beiden Zwecken, sondert aber die Fälle nach dem 
21. Lebensjahre ab. Im Hinblick darauf, daß zur Verwahrung doch 
nur ältere Fälle kommen, erscheint es zweckmäßiger, nach denı 
Schweizer Gesetz besondere Verwahrungs-, d.h. Arbeits- 
erziehungshäuser für 18—30 jährige einzurichten, wo- 
durch sich ohne weiteres die Scheidung von Jugendgefängnissen und 
Justizbesserungsanstalten ergibt. 

Die forensische Erfahrung zeigt, daß der Richter bei Jugendlichen 
in der Hauptverhandlung vielfach kein ausreichendes Urteil über 
die moralische Konstitution des Angeklagten gewinnen kann. Es 
ist daher bei der Tragweite der hier in Frage kommenden Urteile 
eine Beobachtung durch einen kriminal-biologischen 
Sachverständigen in allen Fällen, bei denen es sich um 
Verwahrung handelt, angezeigt, soweit diese Frage nicht be- 
reits durch vorliegende Gutachten ausreichend geklärt ist. Ebenso 
dringend erscheint aber auch die Begutachtung der Fälle, 
die unter die unbestimmte Verurteilung fallen oder 
wegen Gemeingefährlichkeit bzw. schwerer krimineller 
Anlage in Sonderanstalten unterzubringen sind. Zu dieser 
Begutachtung erscheinen in erster Linie die kriminal-biologi- 
schen Untersuchungsstellen berufen und es unterliegt keiner 
Schwierigkeit, an den über solche verfügenden Gefäng- 
nissen Beobachtungsabteilungen einzurichten. 

Es erübrigt sich hier, nochmals die eingehend besprochene Frage 
der Nachfürsorge zu erörtern. Auch der Vorschlag eines verant- 
wortlichen Nachfürsorgers aus dem Beamtenstand der 
Jugendgefängnisse ıst wohl ausreichend begründet. Eine der- 
artige Tätigkeit steht auch nıcht ohne Analogie da. Jedenfalls hat 
die Erziehungsbehörde Hannover, welche derartige Erziehungs- 
inspektoren verwendet, diese Einrichtung stets als nachahmenswert 
hingestellt. Der Ausbau der Nachfürsorge ist mit der Er- 
weiterung des Aufgabenkreises der Jugendgefängnisse 
und der persönlichen und sachlichen Erziehungsmittel 
zu denken, welche sich aus der zu erwartenden neuen gesetzlichen 
Regelung ergeben werden. Es werden daraus keine neuen Lasten 
für den Steuerzahler erwachsen, da im gleichen Maße Kräfte und 
Mittel in der Fürsorgeerziehung frei werden. 


Otto Snell f 


Am 7. Juli 1939 verstarb im hohen Alter von über achtzig Jahren 
der Geheime Sanitätsrat Dr. med. Otto Snell in Göttingen. Er ist 
rühmlich bekannt als der Begründer und erste Direktor der großen 
: Hannoverschen Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg. 

Sein Vater war Ludwig Snell, ein sehr angesehener Psychiater 
der älteren Generation (1817—1892), dem sein Sohn Otto in „Deut- 
sche Irrenärzte‘‘ ein schönes biographisches Denkmal gesetzt hat. 
Der Vater Snell war seinerzeit Direktor in den Anstalten Eberbach, 
dann Eichberg und bis zu seinem Tode in Hildesheim. Er refor- 
mierte die Irrenfürsorge in dem Königreich, später der Provinz 
Hannover von Grund aus und sorgte für den Neubau der Anstalten 
in Göttingen und Osnabrück. In Verbindung damit sei erwähnt, 
. daß auch sein zweiter Sohn Richard, also ein jüngerer Bruder 
Otto Snells, gleichfalls Psychiater, Direktor in Eichberg und von 
1911 an Direktor der neugegründeten großen Landesheilanstalt in 
Herborn (Hessen-Nassau) war, gestorben 1934 in Wiesbaden. 
Wie man sieht: Ein tüchtiges Psychiatergeschlecht. 

Otto Snell selbst, geboren den 9. März 1859 ın Hildesheim, 
studierte nach Absolvierung des Gymnasiums Andreanum in 
Hildesheim Medizin in Göttingen, Tübingen, Berlin und Jena. 
Hier in Jena bestand er das Staatsexamen und erwarb den Doktor- 
. grad. Nach weiterer Ausbildung in Berlin kam der junge Arzt 
Ende 1884 als Assistenzarzt an die Kreisirrenanstalt und Psychia- 
- trische Klinik in München zu Bernhard von Gudden. 1885—88 
' war er als Assistenzarzt in Hildesheim unter seinem Vater tätig. 
Dann kehrte er nochmals nach München zurück, wo inzwischen 
nach von Guddens tragischem Tode dessen Schwiegersohn Grashey 
Direktor geworden war. In München hatte O. Snell abwechselnd 
mit einem anderen Assistenzarzt die Betreuung des geisteskranken 
Königs Otto ım Schloß Fürstenried zu übernehmen. Vor ihm 
hatte Franz Nissl längere Zeit diesen Dienst versehen. 1892 wurde 
O. Snell als zweiter Arzt und Direktorstellvertreter nach Hildes- 
heim zu seinem Vater zurückberufen. 

Im Jahre 1896 faßte die Provinz Hannover den Beschluß zum 
Bau einer neuen großen Landesheilanstalt in Lüneburg. O. Snell 


re 
29° 


388 Max Fischer 


wurde unter Zuziehung eines Regierungsbaumeisters damit beauf- 
tragt, das Bauprogramm dazu für 800 Betten, erweiterbar auf 
1000 bis 1500 Betten, zu entwerfen und konnte zuvor auf einer 
Studienreise an bekannte Anstalten neue Erfahrungen auf diesem, 
damals immer wichtiger werdenden Gebiete sammeln. 

Das Ergebnis der mehrjährigen Arbeit ist die im Jahre 1901 
unter Snells Leitung eröffnete neue Heilanstalt in Lüneburg. In 
Bau und Organisation erweist sie die Richtigkeit und Wichtigkeit 
der Beauftragung des Facharztes von Anfang der Planungen an. 
Dadurch ist aus Lüneburg eine der am besten ärztlich orientierten 
Anstalten geworden, die jeder, der selbst mit Neugründungen zu 
tun hatte, mit größtem Gewinne aufsuchte. In ihrer Anlage im 
Pavillonstile bedeutet sie gegenüber der älteren, 1876 eröffneten 
und bis 1906 ausgebauten Musteranstalt Alt-Scherbitz einen be- . 
achtenswerten Fortschritt, indem sie aus der bisherigen Zwei- 
teilung: geschlossene Anstalt (Zentralbauten) einerseits und der, 
Kolonie mit ihren Außenpavillons (offenen Landhäusern) anderer- 
seits zur Einheitsanstalt überging. Im Gelände schlossen sich 
bei weiträumiger, mit Parkpartien untermischter Anordnung an 
die Aufnahme- und Wach- (Bettbehandlungs-)Stationen unge- 
zwungen die ruhigen geschlossenen und dann die offenen Häuser 
an. Die Anstalt besteht aus 25 Krankenhäusern mit zusammen 
über 1000 Plätzen. Neben den im wesentlichen einstöckigen Wach- 
abteilungen für Ruhige und Unruhige stehen die praktischen 
Alt-Scherbitzer Pavillons — Tagräume im Erdgeschoß, Schlaf- 
räume im Obergeschoß —, aber auch Häuser mit zwei gleichen 
Abteilungen in zwei Stockwerken übereinander — Tagräume neben 
den Schlafräumen. Für Kranke der ersten und zweiten Ver- 
pflegungsklasse war in besonderen wohnlichen Villen gesorgt. Dazu 
kommen zweckmäßige Häuser für sieche Kranke mit großen 
Veranden für alle Betten. Ein Zentralbad erwies sich als besonders 
wohltätige Einrichtung. Der Anstalt war eine Poliklinik für Nerven- 
kranke angegliedert. Große Werkstätten jeder Art für Kranken- 
beschäftigung waren eingerichtet. Ein 510 ha großer Gelände- 
komplex diente der landwirtschaftlichen Bebauung durch die‘ 
Pfleglinge. Die Arbeitstherapie wurde ın Lüneburg von Anfang | 
an nach jeder Richtung und in einem Umfange geübt, wie es damals , 
an den Heilanstalten durchaus noch nicht allgemein geschah. Für | 
verheiratete Pfleger und Beamte waren in 14 Doppelhäusern be- : 
hagliche Wohnungen geschaffen worden. 

O. Snell widmete diesem seinem Lebenswerke mit der ihm eigenen 
Energie, Besonnenheit und Stetigkeit seine ganze reiche, unermüd- 


t 


Otto Snell t 389 


liche Arbeitskraft. Mit voller Befriedigung und berechtigtem 
Stolze konnte er sich lange Jahre an dem wohlgeordneten Ganzen 
erfreuen. Mit Erreichung der Altersgrenze trat er im Jahre 1924 
vom Amte zurück und verlegte 1929 seinen Wohnsitz nach 
Göttingen. 

In glücklicher Ehe war S. verheiratet mit Anna Struckmann, 
der Tochter des Oberbürgermeisters Dr. h. c. St. in Hildesheim, 
die ıhn überlebt. Der Ehe entstammen drei Kinder: Werner, 
Landwirt in Oerrel, Bruno, Dr. phil., Professor der klassischen 
Philologie in Hamburg, Gertrud, tätig bei Professor Jaensch in 
Berlin-Charite. 

O. Snell blieb bis in sein hohes Alter hinein körperlich und geistig 
sehr frisch. Erst im letzten halben Jahr stellten sich Alters- 
beschwerden ein, die zu zweimaliger Nierensteinoperation führten. 
: Kurz nach der zweiten Operation starb er, sich völlig klar über 
seinen Zustand. 


Der Verstorbene war in früheren Jahren, aber auch bis in seine 
` letzte Lebenszeit hinein wissenschaftlich und literarisch überaus 
rege tätig. Vor allem war er ein fleißiger Mitarbeiter unserer Zeit- 
- schrift; die meisten seiner Aufsätze kamen hier zum Abdruck. 
Von 1906 bis 1922 redigierte er dann den Literaturbericht unserer 
- Zeitschrift, nachdem er schon 1892 das Referat für allgemeine 
Pathologie, Ätiologie und Therapie übernommen hatte. In das 
vielseitige Interesse und Schaffen O. Snells gibt am besten ein 
Verzeichnis seiner Veröffentlichungen und seiner Vorträge auf 
unseren Fachversammlungen, zumeist vor dem Verein der Irren- 
- ärzte Niedersachsens und Westfalens in Hannover, einen Einblick?): 


1. „Über Empfindung von Schmerz und Druck im Kopfe als Krankheits- 
symptom im Beginn und Verlauf des primären Wahnsinns.‘‘ Dissertation — 
Jena, 1884. 

2. „Über die Färbung der Hirnrindenzellen mit Anilinfarben.‘‘ 1887. 

3. „Die Lungenschwindsucht bei Geisteskranken.‘‘ 1888. 

4. „Präparate aus der Hirnrinde einer an Delirium acutum Gestorbenen.‘“ 


5. „Die zunehmende Häufigkeit der Dementia paralytica.‘‘ 1888. 

6. „Hexenprozesse und Geistesstörung.““ München, J. F. Lehmann, 1891. 

7. „Federknöpfe zum Verschluß von Kleidern Geisteskranker.‘‘ 1891. 

8. „Das Gewicht des Gehirns und des Gehirnmantels der Säugetiere in 
Beziehung zu den geistigen Fähigkeiten.“ Münch. med. Wschr. 1892, S. 98. 

9. „Die Abhängigkeit des Hirngewichts von dem Körpergewicht und den 
geistigen Fähigkeiten.“ Arch. Psychiatr. Bd. 23. 


1) Sofern der Ort der Veröffentlichung nicht angegeben ist, handelt es sich 


_ am diese Zeitschrift. 


390 Max Fischer 


10. „Über die Formen von Geistesstörung, welche Hexenprozesse ver- 


anlaßt haben.“ 1893. 
11. „Die Häufigkeit der Gallensteine bei Geisteskranken.‘‘ 1893. 


12. „Die Pest zu Hildesheim im Jahre 1657.“ Zeitschrift des Harzverein:. 


1894. 


13. „Über Analgesie des U Inarisstammes bei Geisteskranken.‘‘ Berl. klin. 


Wschr., 1895. 
14. ' Zur Atiologie des Othämatomes.“ Münch. med. Wschr., 1895. 


REIRA EEO AE nn aia aia nn E 


15. „Zur Geschichte der Irrenpflege.“ Verlag Gerstenberg, Hildesheim. 


1896. 

16. „Die Behandlung der Geisteskranken zu Hildesheim im 14. und 15. Jahr- 
hundert.“ 1896. 

17. „Grundzüge der Irrenpflege für Studierende und Ärzte.‘ Berlin. 
Reimer, 1897. 

18. „Das ‘Hohle Rad’ nach Hayner.‘‘ Der Irrenfreund, 1897. 

19. „Über Hypothermie bei Geisteskranken.‘“ 1898. 


20. „Tätowierte Korrigendinnen in Hannover.“ Zentralblatt für Nerven- 


heilkunde und Psychiatrie, 1898. 

21. „Gutachten über den Geisteszustand des Arbeiters Friedrich H. au- 
Hannover.‘ Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med., 1899. 

22. „Gutachten über den Geisteszustand des Tischlers Ernst H. au~ 
Linden.‘ Dieselbe Zeitschrift, 1900. 

23. „Die Aufnahmeabteilungen der Irrenanstalt zu Lüneburg.“ 1900. 

24. „Irrenhilfsvereine.‘‘ 1902. 

25. „Beschäftigungstherapie.‘‘ 1911. 

26. „Ausbildung des weiblichen Oberpflegepersonals.‘“ 1912. 

27. „Trinkerheilanstalten nach dem WVorentwurf des deutschen Straf- 
gesetzbuches.‘“‘ 1913. 

28. „Biographie: Bernhard Heinrich Laehr.‘“ Biogr. Jahrb. 1907. 

29. „Biographie: Ludwig Snell.“ Deutsche Irrenärzte, I, S. 268. 

30. „Die Belastungsverhältnisse bei der genuinen Epilepsie. s Z. Neur., 1921. 

31. „Denkschrift über die Notwendigkeit der Schaffung eines deutschen 
Trinkerfürsorgegesetzes.‘“ Die Alkoholfrage, 1925. 

32. „Aufbewahrung der für die psychiatrische Erblichkeitsforschunr 
wichtigen Gerichtsakten.‘‘ 1927 und 1928. 

33. „Die breite Wiese bei Lüneburg. Ein Beitrag zur Kenntnis der Irren- 
pflege in Niedersachsen vom 16. bis 18. Jahrhundert.‘ 1938. 


Aus der gerichtsärztlichen Tätigkeit O. Snells ıst die ausführ- 
liche Begutachtung des berüchtigten Lustmörders Haarmann aus 
Hannover hervorzuheben. Der Trinkerfürsorge wandte O. Snell 
sein besonderes Interesse zu. Angelegentlich befaßte er sich 
mit der Förderung und Ausbildung des Pflegepersonals. So 
beteiligte er sich auch an der Zeitschrift „Geisteskrankenpflege“ 
(früher Irrenpflege) mit insgesamt 13 belehrenden Aufsätzen über 


i 


J 


wichtige Tagesfragen der Krankenbetreuung einschließlich der . 


Erbpflege und aus der Geschichte der Irrenpflege, worin er be- 
sonders reiche Kenntnisse besaß. Diese Mitarbeit führte er bi: 
zu seinem Lebensende fort. 


- 


Otto Snell ł 391 


Im Jahre 1921 arbeitete er einige Zeit an der Deutschen For- 
schungsanstalt für Psychiatrie in München (s. Nr. 30 des Ver- 
zeichnisses). Besonders zu nennen sind die als selbständige Schriften 
herausgegebenen: ‚Hexenprozesse und Geistesstörung‘‘ (Nr. 6) 
und die vorzüglichen „Grundzüge der Irrenpflege für Studierende 
und Ärzte“ (Nr. 17). 

Nach seiner Zuruhesetzung betrieb O. Snell einerseits historisch- 
archivalische Studien (‚Die Breite Wiese‘‘), andererseits lockte es 
ihn, frühere zoologische Arbeiten wieder aufzunehmen. So be- 
schäftigte er sich an der biologischen Forschungsanstalt auf Helgo- 
land in der ornithologischen Abteilung und stellte außerdem neue 
Studien über das Hirngewicht von Tieren an, worüber er früher 
grundlegende Arbeiten veröffentlicht hatte (8 und 9 des Ver- 
zeichnisses). 

Unter den praktischen Psychiatern seiner Epoche war Otto Snell 
eine markante und hochangesehene Persönlichkeit mit überaus 
sympathischen menschlichen Zügen. Auf den Fachtagungen fand 
man sich gern mit ihm zusammen zur Besprechung gerade schwe- 
bender wissenschaftlicher und praktischer Tagesfragen in Kranken- 
behandlung und Irrenfürsorge nach allen ihren Beziehungen. 
Man konnte sicher sein, bei ihm eine gründliche Beurteilung, guten 
Rat und Förderung der eigenen Bestrebungen zu erhalten. 

Wer immer Otto Snell gekannt hat, wird ihm ein treues ehrendes 
Gedenken bewahren. 


Max Fischer, Berlin-Dahlem. 


Psychologie und Psychopathologie 
im Jahre 1938 
Von 
Prof. Hans W. Gruhle, Zwiefalten 


Geschichte. Zur Geschichte der Psychologie und Psychopathologie wurde 
mir im Berichtsjahr nur wenig bekannt, was erwähnt zu werden verdient. 
Unter dem Modenamen ‚Anthropologie‘ laufen heute die verschiedensten 
Gegenstände. Friedrich Oesterle nennt seine 151 Seiten starke Studie ‚‚die 
Anthropologie des Paracelsus“ (Berlin, Junker und Dünnhaupt 1837). Psycho- 
logisches findet sich nur wenig vor. Paracelsus ist heute große Mode. Seine 
Lehre von der engen Beziehung von Körper und Seele, von drinnen und 
draußen, von Ganzheit und Charakter läßt ihn in mancher Hinsicht als Vor- 
läufer heutiger Gedanken erscheinen. — Der historisch Interessierte be- 
achte den Aufsatz von R. Benon in Bull. med. 1938 über die Historie des 
Melancholiebegriffes. Er verweilt lobend bei der Auffassung der griechischen 
Ärzte und sieht den ersten Fortschritt dann wieder in den Gedanken Esquirols. 
Für die Gegenwart trifft B. eine Unterscheidung, die der deutschen Psychiatrie 
nicht geläufig ist: er sondert die (reaktive) Melancholie als echt von der 
meist periodischen melancholischen ‚‚Asthenie‘“ als unecht. Dabei bezieht 
sich B. auf die von ihm geschätzten Arbeiten von Tastevin. 

Allgemeines. Lehrbücher. Wer neue Probleme der Psychologie gern im 
Rahmen der modernen Terminologie kennen lernen will, der greife zu B. Peter- 
manns ‚Wesensfragen seelischen Seins“ (Lpzg, Barth 1938, 222 S.). „Bio- 
logisch“ — das viel mißbrauchte, allzu vieldeutig unbestimmte Wort — 
und ‚‚anthropologisch‘‘ beherrschen das Feld. Der Verf. legt besonderen 
Wert auf das Wortungeheuer des ‚‚wesensdynamisch-vitalpsychologischen 
Betrachtungsansatzes““. Aber auch sonst macht sich leider ein Bombast an 
Worten breit: ‚‚gehaltserfülltes Leben personaler Geschlossenheit‘ oder ‚.das 
Ich ist nichts anderes als das erlebensmäßige Gegenbild, die jeweilige kon- 
krete Erlebensgestalt, in der die Personalstruktur erlebensmäßig lebendig 
wird‘‘. Trotz der viermaligen Verwendung des ‚Lebens‘ in diesem Satz wird 
niemand daraus erkennen, was das Ich ist, wenn er es nicht sonst schon weiß. 
Dieser Schwulst moderner Schlagworte lag auch in dem Lehrbuch der Psycho- 
logie von Th. Elsenhans vor, soweit ihm F. Giese eine völlig neue Gestalt in 
der 3. Auflage gegeben hatte. Nach seinem frühen Tode hat sein Mitarbeiter 
F. Dorsch nach vorhandenen Aufzeichnungen vieles ergänzt. Ich selbst habe 
mich als Mitherausgeber bemüht, den Ausdruck der klugen Gieseschen Ge- 
danken so einfach als möglich zu formen. Giese überblickt das ganze Feld 
der Psychologie; gescheidt, prägnant, vielbelesen, oft allzu zugespitzt formu- 
lierend, aber dadurch anschaulich wirkend. Mir scheint dieses Elsenhans- 
Giesesche Lehrbuch der Psychologie heute das beste der vorhandenen zu 
sein (Tübingen, J. C. B. Mohr 1939, 588 S.). 


— 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 393 


Für den allgemein psychologisch Interessierten ist das 463 S. starke Buch 
von Werner Sombart ‚Vom Menschen‘ (Berlin 1938, Buchholz und Weißwange) 
höchst anregend. Er nennt es den Versuch einer geistwissenschaftlichen Anthro- 
pologie, indem er ein Modewort aufgreift. Er könnte es auch allgemeine 
Soziologie oder mit manchen andern Titeln benennen, denn es birgt eine unend- 
liche Menge des Wissens und der Ideen über die Stellung des Menschen in 
der Kultur. Wie diese Stellung durch den ‚‚Geist‘‘ bestimmt wird, ist sein 
Hauptthema. Den Naturwissenschaften steht er kühl, ihren Übergriffen in 
die Kulturwissenschaften leidenschaftlich feindlich gegenüber. Gegen die 
wissenschaftliche Psychologie ist er besonders ablehnend, er nennt sie eine 
dismal science. Er glaubt sich frei von Werturteilen und fällt diese doch zahl- 
reich in der Form, daß der anders gesinnte ‚‚einfach im Irrtum‘ ist. Das geht 
soweit, daß er z. B. dekretiert, wer ein wahrer und wer ein falscher Tierfreund 
ist. Trotz seiner Abneigung gegen die Psychologie greift er in die Tierpsycho- 
logie ein, indem er festsetzt: das Tier kann das, und das kann es nicht. Er 


: verhöhnt den Instinktbegriff und findet, um ein weiteres Beispiel zu bringen, 


Jakob Grimms Bemühungen über den Ursprung der Sprache ‚‚erstaunlich‘“: 
„die Entstehung der Sprache setze immer schon die Existenz der Sprache 


- denknotwendig voraus“. In dem Bestreben, Berge wissenschaftlichen Schutts 


nach brauchbaren Ideen zu durchstöbern, verliert er oft ganz die wissenschaft- 
liche Haltung. Er wird gereizt, verärgert, schnoddrig und vergißt sich bis 
zu schlechten Witzen. Aber seine gescheidten Gedanken zum Problem des 
Typus, des Charakters, der Volkheit, der Völkerpsychologie, der Völkerbildung, 
der Rasse sind durchaus durchdenkenswert. Gerade die oft eingestreuten ab- 
surden Eigenwilligkeiten reizen den Leser zum eigenen Urteil. Die ewig neuen 
Probleme der Rasse, des Umwelt- und Anlageproblems erfahren interessante 
Beleuchtung, wenn man auch an Sombarts Kriegsbuch ‚Händler und Helden“ 
nicht gern erinnert wird. Nichts ist langweilig. Zu einer enormen wissenschaft- 
lichen Stoffbewältigung, zu einer überreichen mit exakten Nachweisen ver- 
sehenen Litteraturverwertung tritt ein großzügiger Journalismus mit allen 
seinen Vorzügen und Schwächen. 

G. Vulley schrieb ein 134 Seiten starkes Buch über ‚La psychiatrie et les 
sciences de homme“ 1938. Nach der Inhaltsangabe — das Buch selbst 
stand mir leider nicht zur Verfügung — bespricht er die Beziehungen der 
Psychiatrie zu zahlreichen anderen Wissenschaften und die Methodologie der 
Psychiatrie. 

Wer sich mit: der überaus krausen, eigenbrötlerischen und schwer verständ- 
lichen Anthropologie von C. v. Monakow beschäftigen will, findet einen Führer 
in dem Aufsatz von W. Riese in dem Schweiz. Arch. Neur. 40, 1938. 

Unter dem Titel ‚Seele und Geist“ hat Alerander Willwoll S. J., ein 258 Sei- 
ten starkes Buch bei Herder in Freiburg 1938 erscheinen lassen, das ein kurz 
gefaßtes Lehrbuch der Psychologie darstellt. Es ist angenehm zu lesen, ohne 
schwierige Terminologie geschrieben, und macht mit allen modernen Proble- 
men des Faches vertraut. Es legt sich keine Steine in den Weg, um sie zur 
logischen Ausbildung des Lesers dann wieder wegzuräumen. Sondern es gleicht 
aus, wird auch bei ablehnendem Standpunkt niemals scharf, sondern sucht 
überall Wertvolles zu finden. Diese ‚„Weisheit‘‘ wirkt zuweilen vielleicht etwas 
einförmig und unbestimmt. Während das oben besprochene, neu aufgelegte 
Elsenhanssche Lehrbuch gern die Probleme in aller Schärfe, oft fast über- 
spitzt, herausstellt, ist das Willwollsche Buch wegen seiner Ausgeglichenheit 
ınehr für den gebildeten Laien geeignet, wenngleich es keineswegs im schlechten 


394 Ilans W. Gruhle 


Sinne populär ist. Der Fachmann findet in ihm gern manche interessante 
Hinweise auf Quellen aus dem Gebiet katholischer Wissenschaft. 

Das 62 Seiten starke Heft von Gertrud Maassen, „Um das Reiftum der Seele“. 
bringt keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern in gefälliger Form 
eine Art psychologischer Sinnsprüche (M.-Gladbach, Kühlen 1937). — Das 
Problem des Bewußtseins bildet zwar den Hauptgegenstand der Schrift von 
H. A. Wimmer, ‚Neue Dialoge zwischen Hylas und Philonous‘ (Heidelberg. 
Winter 1938, 154 S.), doch ist das in langweiligem Gymnasiumsdeutsch ge- 
schriebene Buch lediglich erkenntniskritisch orientiert und hat mit Psycho- 
logie so gut wie nichts zu tun. — Nach einem Referat scheint das 430 Seiten 
starke Buch von A. Burloud, ‚Principes d’une psychologie des tendances‘“ 
(Paris, Alcan 1938) mehr erkenntnistheoretischer als psychologischer Forschung 
anzugehören. Der Verf. lehnt sich an die Aktivitätspsychologie von Maine de 
Biran an und entwickelt die Modalitäten der seelischen action und des effort 
vital. Empfindung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken werden ebenso wie 
die biologisch niedersten Funktionen als solche Modalitäten betrachtet. — 


Tumlirz, Kreipe, Huth, Köhn, Ziegler finden sich zu einem 46 Seiten starken _ 


Heft zusammen, das den Titel trägt ‚Vom Lebenswert der Seelenkunde‘ 


(Frankfurt, Diesterweg 1938) und in schlichter Form den Nachweis erbringt. _ 


daß die Psychologie zu vielen Idealen und Forderungen unserer Zeit nahe 
Beziehungen hat. — Die zwei Schriften von M. Latour über ‚Premiers prin- 
cipes d’une theorie generale des émotions“ (Paris, Alcan 1938) standen 
mir leider nicht zur Verfügung. — Das Buch von H. Arthus, „L'imagination“ 
(Paris, Hartmann 1938) war mir leider ebenfalls nicht zugänglich. 

M. Tramer schrieb im Schweizer Arch. Neur. 1938 eine Studie über den 
„Partnertrieb‘‘; dieser stamme aus dem Biologischen und Unbewußten und 
sei ein echter Trieb. Man hat sich schon vor diesem Aufsatz mit diesem Problem 
beschäftigt, sowohl in der Kinderpsychologie, als in der amerikanischen Trieb- 
psychologie. Die Erkenntnis stößt auf formale Schwierigkeiten, da man sich 
über den Begriff des Triebes nicht einigen kann. 

An die Wirkungen des Unbewußten sucht Milton Erikson durch experi- 
mentelles automatisches Schreiben heranzukommen (Psychoanalytic Quart.6. 
1937). In ganz anderer Weise interessiert sich für das Bewußtseinsprob- 
lem C. R. Marshall in Vergiftungsversuchen (Brit. J. Psychol. 28, 1938) 
(Stickstoffoxyd, Äthylen, Acetylen). Er studiert die Phänomene des in der 
Narkose langsam schwindenden Bewußtseins und behandelt dabei auch die 
Gefühle. 

Traum. Wer sich für Träume, Einschlafdenken, Hypnagoge Halluzina- 
tionen und Wachträume interessiert, sollte sich mit der großen Studie von 
Gottlob Schmid in der Z. Psychol. 142, 1938 beschäftigen. Wenn man als 
Psychiater auch manchen Gesichtspunkt vermißt, so sind die Beschreibungen 
der „Wachtraumbilder‘‘ doch sehr wertvoll. 

Über den Traum schreibt S. Löwy (Nederl. Tijdschr. Psychol. 6, 1938) 
phantastische Theorien von Affektstoffwechselprodukten u. dig. Ein Buch 
über die Phantasie und den Traum des Kindes bringt Sophie Morgenstern 
französisch in Paris heraus. Zwei wertvolle Kapitel druckt deutsch die Z. f. 
psychoanalyt. Paedag. 11, 1937 ab, über kindliche Tagträume, Träume, Mär- 
chen, Zeichnungen. — Gute Beschreibungen der Flugträume gibt K. Schmeing 
(Arch. Psychol. 100, 1938). — Den Träumen, denen das Bewußtsein zu 
träumen eigen ist, widmet H. von Moers- Messmer eine größere Studie (Arch. 
f. Psychol. 102, 1938), ohne über eine Beschreibung hinaus zu kommen. 


1 


- 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 395 


Solange die Menschheit über den Traum auch schon nachdenkt: die Ge- 
setze des Träumens zu finden, ist bisher noch niemand geglückt. Um so 
erfreuter greift man zu einem 124 Seiten starken Büchlein, das K. Leonhard 
„Die Gesetze des normalen Träumens‘ nennt (Lpzg, Thieme 1939). Aber man 
findet sofort, daß dort nicht Gesetze im eigentlichen Sinne gemeint sind, 
kaum Regeln, sondern daß der Verf. nur Beobachtungen aus eigener Erfahrung 
mitteilt, die ihm häufig vorzukommen schienen. Z. B. daß der zeitliche Ab- 
stand zwischen Realerlebnis und korrespondierendem Traumerlebnis meist 
10 bis 20 Tage beträgt. Aber L. bringt selbst schon Ausnahmen, etwa, daß 


die geträumten Farben — an sich nicht häufig — vom Tag zuvor stammen. 


Man könnte noch reichlich Ausnahmen hinzufügen: die sogenannten Tages- 
reste kehren sehr häufig sofort im Traume wieder, freilich oft in entstellter 
Form. Der Wert der Leonhardschen Studie liegt in seinen eigenen Erfahrungen, 
denn ganz auf diesen ist die Arbeit aufgebaut. Man bedauert sehr, daß er 
die Litteratur nur wenig benutzte, nur acht Autoren werden zitiert. Insbe- 
sondere hätte die Benutzung der aus der Külpe-Schule herausgewachsenen 
Traumlitteratur den Autor sehr gefördert. Aber man ist ihm andererseits 
dankbar, daß er in der realen Beobachtung bleibt und alle Deutungskünste 


-© grundsätzlich ablehnt. Nur vermißt man, daß L. auf eines der Hauptprobleme 


des Traums, die Symbolbildung, eingeht. Denn diese Erforschung der symbol- 
haften Vertretung hat nichts mit Deutungskunst zu tun. Wenn ich in fremder 


. Stadt überraschenderweise zweimal von ehemaligen Kriegskameraden ange- 
- sprochen werde und in der nächsten Nacht träume, ich hätte in unmittelbarer 


Nähe zwei schwere Einschläge erlebt, so genügt es nicht von Entstellung, 
Erlebniszerfall, Mischbildung usw. zu reden, sondern die Erkenntnis sucht hier, 


=- leider allerdings bisher vergeblich, nach tieferen Zusammenhängen, eben nach 
= den Gesetzen des Traumes, die bisher vollkommen in Dunkel gehüllt blieben. 


In dem kurzen Abschnitt über Traumtheorie bekennt sich der Autor zu der 
alten Meinung, daß die ‚‚Gebiete‘‘ des Seelenlebens verschieden tief schlafen. 
Eine Erörterung der Hauptprobleme des Traumes fehlt. So bewahrt die Studie 
dem Traummaterial gegenüber eine gewisse Frische und Naivität. 
Hypnose, Das Problem der Hypnose fand, soweit ihre Technik in Betracht 


| kommt, in dem nunmehr in 2. Auflage erschienenen Buche von Ludwig 


Mayer, „Die Technik der Hypnose“ (München, Lehmann 1937, 204 S.) eine 
befriedigende Darstellung. Mayer hat als Sachverständiger jenen vielbespro- 
chenen Heidelberger Hypnoseprozeß eingeleitet, in dem eine unendlich oft 
hypnotisierte und in Hörigkeit gehaltene Frau zu allerlei Verbrechen gebracht 


- worden war. Diese Frage ‚Verbrechen in der Hypnose‘ wird von Mayer in 


seinem Buch mit behandelt. In der Theorie der Hypnose sind wir leider 
nicht weitergekommen. Was F.Völgyesi über Pawlows Meinungen zur Hypnose 


‚ und zum Schlaf ausführt (Fiziol. Z. 24, 1938), ist belanglos, wie überhaupt 


die Verdienste des russischen Gelehrten nur in Physiologie und Neurologie 
liegen. Sobald er die Grenze ins Psychologische überschreitet, entbehren seine 


-= Ausführungen des Interesses. 


Parapsychologie. Die sog. außersinnliche Wahrnehmung wird von 
D. L. Wolfle in einem Aufsatz behandelt, der sich besonders mit den Ver- 
suchen des Amerikaners Rhine befaßt (Amer. J. Psychiatry 94, 1938). Mit 
dem gleichen Thema setzen sich H. Rogosın (J. of Psychol. 5, 1938) ausein- 
ander. — Wer sich für Parapsychologie interessiert, wird sich aus dem 


: Buche von H. Driesch ‚‚Alltagsrätsel des Seelenlebens‘‘ (D. Verlags-Anstalt, 
- Stuttgart-Berlin 1938, 208 S.) manche Anregung holen können. Während 


396 Hans W. Gruhle 


man meist ungewöhnliche seelische Erlebnisse aus gewöhnlichen abzuleiten 
pflegt, geht Driesch den umgekehrten Weg: er sucht die normale Wahr- 
nehmung als ein Hellsehen gegenüber der aktuellen Dingwelt, die Erinnerung 
als ein Hellsehen in die Vergangenheit darzustellen, ein retrospektives Ge- 
dankenlesen. Von den okkulten Einzelphänomenen handelt Driesch jedoch 
ebensowenig, wie von Psychologie im Sinne der Erfahrungswissenschaft. Sein 
Interesse gilt den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Psychologie. — 
Eine ausführliche Studie über die Panik als Kriegserscheinung stammt von 
Rouppert (Bull. intern. Serv. Santé Armées 10, 1937). 

A. Freiherr von Winterstein bringt in seinem 244 Seiten starken Buche 
„Telepathie und Hellsehen“ (Amsterdam—Lpzg—Wien, Franz Leo 1937) 
eine Zusammenstellung vieler alter okkulter Geschichten, ‚für deren Echtheit 
die Person des jeweiligen Berichterstatters immerhin ziemlich weitgehend 
Gewähr leistet‘‘. Auf ein höheres, kritischeres Niveau hebt sich das Buch nicht. 
Wünscht jemand über dieses Gebiet einen Überblick zu erlangen, so greife er 
besser zu dem älteren zweibändigen Werk von Fanny Moser, ‚„Okkultismus. 
Täuschungen und Tatsachen‘ (Zürich, Orell Füssli 1935). Es ist zwar auch 
„gläubig“, hat aber mehr Kritik und Haltung. 

Methodologie. Hat jemand Freude an methodologischen Erwägungen 
über Verfahrensweisen der Psychologie, so lese er J. Zutts Aufsatz in der 
Moschr. Psychiatrie 99, 1938 und das 120 Seiten starke Buch von Thk. Lit. 
„Die Selbsterkenntnis des Menschen“ (Lpzg, Meiner 1938). Lit interessiert 
sich nicht für die Fragen etwa der Selbstbeobachtung im psychologischen 
Experiment, sondern er meint mit seinem Thema die Selbsterkenntnis der 
eigenen Persönlichkeitsstruktur. Beides sind ganz verschiedene Verfahrens- 
weisen. Schon die ältere Psychologie hat immer darauf hingewiesen, daß sich 
bei der Selbstbeobachtung z. B. von Gefühlen, diese als Objekt gleichzeitig 
ändern, so daß ich mich selbst nie aktuell echt, sondern immer nur abgeleitet 
mnestisch erfassen kann. Forsche ich aber nicht nach meinen Einzelvor- 
gängen, sondern nach meinem psychischen Aufbau, so addiere ich nicht etwa 
jene einzelnen Selbstbeobachtungen, sondern ich suche ihre Beziehungen zuein- 
ander auf, wähle dieses als wichtig aus, lasse jenes als unwesentlich weg und 
entwerfe so von mir theoretisierend meinen Bauplan, indem ich verständliche 
Zusammenhänge reichlich hervorsuche. Litt formuliert, daß die Selbsteinkehr 
demnach ein gestaltendes Tun wie ein Erleiden des selbstätig werdenden Selbst 
bedeute. Oder er sagt, daß im Akte der Selbstfindung die letzte Hand an ein 
Werdendes gelegt werde, das erst im Suchen wie durch das Suchen Bestimmt- 
heit gewinne. — Es lohnt durchaus, Litts Gedanken wie auch seine kritische 
Stellung gegen die Metapher von den seelischen Schichten und gegen die 
Typenlehre durchzudenken. Auch eine Studie von W. Erxleben über die 
Grundgedanken des psychologischen Verstehens bei Dilthey (Intern. Z. Erziehr 
7, 1938) ist lesenswert. 

Das Problem von Echt und Unecht, das in der Philosophie eine anerkannte 
Stellung hat, ist in der Psychologie umstritten. Siegfried Gerathewohl (,,Das 
Problem der Echtheit in der Pädagogik“, Berlin, Junker und Dünnhaupt 
1938, 141 S.) versucht folgenden Gedankengang: Unechtheit sei ohne vor- 
gängige Bewußtheit nicht denkbar. Entspringe ein Modus des Verhaltens 
nicht mehr dem Wesenskern der Persönlichkeit, sondern werde es vom Be- 
wußtsein gewollt, so sprechen wir nicht mehr von Echtheit. Geistigkeit sei 
echt, wenn sie ihren substanziellen Gehalt aus dem ewigen Urquell des Un- 
bewußten schöpfe. — Schon an dieser Stelle müßten wir den Autor verlassen, 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 397 


wenn wir im Bereich der Psychologie bleiben wollen, denn der substanzielle 
Gehalt der Geistigkeit ist nicht mehr Gegenstand der Psychologie. Diese be- 
schäftigt sich nur mit Ablauf und Form der Geistigkeit. — In der Folge spielt 
der Autor mit geistiger Natürlichkeit und natürlicher Geistigkeit, mit dem 
Unterschied von echtem Denken und unechter Form der Überzeugung, 
— kurz er bewegt sich in einem Gefüge von Begriffen, die in der Wertlehre 
der Philosophie und Pädagogik ihre gewichtige Stelle haben mögen (Heidegger, 
Nicolai Hartmann), in der Forschung nach der Wesensart seelischer Abläufe 
aber keine Stätte haben. Für den Psychologen bietet also das Buch Gerathe- 
wohls keine Erkenntnisse. 

Das Problem der Echtheit ist psychologisch nicht leicht anzugehen. 

Ja die Frage ist berechtigt, ob es überhaupt ein psychologisches Problem 
ist. Sieht man von der Simulation ab, die hier natürlich nicht gemeint ist, 
so kann man in der Psychologie des Ausdrucks allenfalls so abgrenzen, daß 
echt derjenige Ausdruck sei, der ohne Willensbeeinflussung aus dem Wesen 
entspringt (z. B. die unwillkürliche Mimik), nicht echt alles, was absichtlich 
an Ausdruck produziert wird, sei es daß es vorhandenen Seelenregungen ent- 
spricht (die aber ohne den Ausdruck auch ablaufen könnten), sei es daß es 
vorgetäuscht wird (Schauspielerproblem). Der Laie meint mit echt und un- 
echt das geschickt Überzeugende und sein Gegenteil. Sonst könnte man in 
der Psychologie als echt noch das urtümlich primäre, als unecht das abgeleitet 
- sekundäre bezeichnen. So ließen sich wohl noch andere Gegensätze finden. 
- Von alledem handelt aber keine Studie der Berichtszeit. 
Verschiedenes Allgemeines. Soziologische und psychologische Mo- 
- mente werden miteinander verwoben, wenn z2. B. Ilse Schmidt feststellt, daß 
diejenigen Dörfler, die in die Stadt abwandern, wesentlich begabter sind als 
die zurückbleibenden. Die Verfasserin zieht daraus auch mancherlei Schlüsse 
im Sinne der heutigen Erbpflege (Arch. Rassenbiol. 32, 1938). 

Die Abhängigkeit der menschlichen Psyche von den Außenfaktoren des 
Klimas, Wetters, Bodens usw. ist ein noch viel umstrittenes Thema. Es geht 
hier wie bei allen Zwischengebieten. Die Psychologen verstehen selten etwas 
von den wirksamen Prinzipien des Klimas, und die Sachverständigen des 
Wetters, Klimas usw. wissen nichts von Psychologie. Ein schönes, wertvolles 
Werk mit 446 Seiten und vielen Schemata, Tabellen, Abbildungen versucht 
. gründliche Kenntnisse über ‚Klima, Wetter, Mensch‘ zu verbreiten; — 
geschrieben von Brezina, Hellpach, R. Hesse, E. Martini, de Rudder, Schitten- 
helm, A. Seybold, L. Weickmann. Die Grundlagen der Klima- und Wetterkunde 
. werden vortrefflich vorgetragen. Der Psychologe findet sein besonderes 
Interesse an Sonnenwirkung, Winden (Föhn, Schirokko), Luftdruck gut be- 
friedigt. Hellpach bespricht besonnen, klar und kenntnisreich das umfassende 
Thema ‚Kultur und Klima‘ (Lpzg, Quelle u. Meyer 1938). — Die Amerikanerin 
L. Brush untersucht mit der in Amerika noch immer gepflegten Fragebogen- 
methode die Wirkung der Menstruation auf den Gesamtzustand der Frau. 
Nur 15°, blieben in unverändertem Wohlbefinden, 21% waren ängstlich 
verstimmt, 34% wurden leicht aktiviert, 25° bekamen Krisen, 49% depressive 
Verstimmungen, 59°, erhöhte Reizbarkeit (Amer. J. Orthopsychiatry 8, 1938). 
= Unter dem abschreckenden Titel „Das Wir“ schreibt Fritz Künkel ein Buch 

von 139 Seiten (Schwerin 1939). Er führt an, daß die Lebensformen des Dritten 
Reiches die wichtigsten Beispiele der Wirpsychologie liefern. Die Wahrheiten 
der Wirpsychologie gelten aber auch für diejenigen Völker und Länder, 
die uns rassisch verwandt sind. Sie seien aus der Erfahrung des Alltags heraus- 


398 Hans W. Gruhle 


gewachsen, für den Alltag bestimmt. Damit legt K. schon den Charakter 
seines Buches fest, ein freundliches, populäres, ungemein glatt geschriebenes 
Büchlein für einen Kreis, der an schlagenden Vergleichen (Typen des Heim- 
chens, Stars, Nero, Tölpels) und kleinen Scherzen Freude hat. 

Der finnische Gelehrte Arvo Lehtovaara hat in deutscher Sprache einen 
Band von 460 Seiten und zahlreichen Tabellen und Abbildungen erscheinen 
lassen (Helsinski 1938), der ‚Psychologische Zwillingsuntersuchungen‘‘ mit- 
teilt (als Jahresband 39 der Finnischen Akademie der Wissenschaften). 
Die Arbeit des Forschers und seiner Mitarbeiter an den 140 Zwillingspaaren 
ist höchst sorgsam und auch kritisch. Er hat nicht nur die altmodischen 
Intelligenzquotienten, Schulleistungen und Ähnliches berechnet, sondern die 
Zwillinge besonders als soziales Gebilde betrachtet, ihre Zuneigungen, Ein- 
ordnungen, Interessen, Freunde und ihr Beisammensein untersucht. Ferner 
widmete er ihrem mimischen Verhalten, der Eidetik und dem Entwicklungs- 
fortschritt Aufmerksamkeit. Dieser großen und sehr exakten Arbeit gegenüber 
ist das Ergebnis etwas schmal. Denn daß eineiige Zwillinge sozusagen mit sich 
selbst identisch sind, ist eine von vornherein zu erwartende und durch die 
: Erfahrung so oft bestätigte Tatsache, daß immer wieder erneute Beweise 
etwas des Interesses ermangeln. Beim mimischen Verhalten sind 10,70, der 
Eineiigen diskordant. Die Frage, die leider in diesem Buche kaum bearbeitet 
wird, ist immer wieder, wie Diskordanzen eineiiger Zwillinge zu erklären sind. 
L. macht mit Recht darauf aufmerksam, daß eineiige Zwillinge so stark an- 
einander gebunden und so viel zusammen sind, daß der Begriff der Umwelt 
hier ganz anders gewertet werden muß, als bei zweieiigen Zwillingen. 

V. E. Fisher hat ein 533 Seiten starkes Buch als ‚An Introduction to ab- 
normal psychology“ geschrieben. London, Macmillan 1937). Es war mir auch 
im Referat nicht zugänglich. 

Neurologische Psychologie. Walter Scheidt nennt sein 192 Seiten starkes 
Buch ‚Aufbau einer neurologischen Psychologie‘ (Jena, Fischer 1938) und 
bezieht sich dabei vielfach auf sein früheres Werk: ‚‚Grundlagen einer neuro- 
logischen Psychologie“ (ebenda 1937). Der Titel erinnert an trockenes Wasser 
oder kalte Hitze. Der Verfasser meint mit dem unglücklichen Titel den Aufbau 
unseres Wissens von der Gehirnphysiologie und deren Zusammenhängen mit 
seelischen Funktionen. Das Buch ist wegen des unmöglichen Stils schwer zu 
lesen: „Denn vom Reizaufbau her gesehen handelt es sich einfach um mannig- 
fache heterogene Reize höherer Synallaxestufe, deren Ineinander trotz der 
Abgrenzbarkeit gewisser ‚Kerne‘ in den dorsalen Hirnstammganglien unent- 
wirrbar sein müßte, wenn nicht die Hirnstammganglienzellen Inzidenzstellen 
und, wegen der allgegenseitigen Verbindungen mit Endhirnzellmassen, auch 
synallaktische Zentren für synallaktische Sektoren zwischen den Stamm- 
ganglien und jenen Endhirnzellmassen wären.“ Aber auch von der Ausdrucks- 


weise abgesehen, ist es schwer, dem Autor zu folgen. Er spricht von Inzidenz- . 


feldern und Inzidenzstellen, Stromflüssen, explikatorischen Sektoren, supra- 
kaudicalem Entfaltungsapparat, Explikat, Applikation usw. 

Einige Proben mögen seine Erkenntnisse charakterisieren: eine Empfindung 
ist ein Stromfluß in den synallaktischen Sektoren eines Entfaltungsapparates. 
aber ein solcher Stromfluß entspricht auch einem Begriff. — Jede Art von 
Reflexion kann Erlebnisteilausfällung bewirken, aber nur die affektive R«- 
flexion verleiht der Ausfällungskette eine scheinbare Richtung, indem sie 
bestimmte „günstige“ Ausfällungen stärker festhält (wahrscheinlicher macht) 
als andere. — Der Psychologe steht dem Werke Scheidts vollkommen ratlos 


= „ = 


"t 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 399 


yegenüber und verweist es in die Rubrik der Hirnmythologie. Ob der Hirn- 
physiologe damit etwas anfangen kann, entzieht sich meiner Beurteilung. 

Charakter. Das Problem des Charakters ist in den letzten Jahren sehr 
gefördert worden. Theophrasts Charakterbilder sind wieder einmal in einer 
neuen, angenehm zu lesenden Ausgabe von H. Rüdiger bei Dieterich, Leipzig, 
herausgegeben worden. Man liest die plastischen Veranschaulichungen mensch- 
licher Eigenschaften, wie sie sich in hellenischer Umwelt offenbarten, immer 
wieder mit viel Vergnügen. Aber Theophrast schilderte einzelne Eigenschaften, 
nicht mehr. Man bezeichnet Klages oft als den Begründer neuer Charaktero- 
logie. Das ist vollkommen unrichtig. Klages hat sich weder für die Frage der 
Typen (s. u.) interessiert, noch die Struktur des Charakters behandelt. Sein 


großes Verdienst liegt darin, zahlreiche wichtige Gesichtspunkte der Charakter- 
‚dlarstellung feinsinnig aufgezeigt und geordnet zu haben. Unausgeglichen, 


locker und nur einfallsmäßig war das Lehrbuch der Charakterologie von 
4. Kronfeld (1932), ebenfalls litterarisch und unsystematisch die Aufsätze 
von H. Prinzhorns ‚‚Charakterkunde der Gegenwart“ (1931), wenngleich 
beide Bücher kluge Gedanken enthalten. Eine wirklich neue Bemühung 
taucht in der Charakterologie erst neuerdings bei jenen Autoren auf, die sich 
einerseits um den Aufbau des Charakters, andererseits um seine Typik be- 
mühen. Der Aufbau, die Struktur, das ist der erschaute Grundriß und Aufriß; — 
die Typik, das ist die empirische Forschung nach dem realen Vorkommen 
der Charaktere. Zum Aufbau haben Paul Helwig, ‚‚Charakterologie‘“ (Lpzg, 
Teubner 1936, 295 S.) und Robert Heiss sehr wertvolle Beiträge geliefert: ‚Die 
Lehre vom Charakter‘ (Berlin, de Gruyter 1936, 273 S.). Sie liegen schon 
vor der Berichtsperiode. Ein weiteres, sorgfältiges, 272 Seiten starkes Buch 
legt Th. Lersch vor (‚Der Aufbau des Charakters“; Lpzg, Barth 1938). Der 
Begriff der Eigenschaft, der meist leichthin genommen wird, erfährt bei ihm 
sorgsames Durchdenken. Die Dispositionen, die Anlagen des Menschen, 
müssen ihrem Wesen nach erfaßt werden, — sie müssen auf ihre Offenbarung 
ım realen Leben (Verhaltensbegriff) studiert und endlich noch auf ihre 
Leistung hin betrachtet werden. Jene Eigenschaften sind aber nicht nur 
lexikonartig aufzuzählen, wenn es sich um die Schilderung eines Charakters 
handelt, sondern sie haben ein Ordnungsverhältnis zueinander: freilich 
keineswegs eine logische, sondern eben eine psychologische Ordnung. Man hat 
es wohl früher so formuliert: sie passen einfühlbar zueinander, oder sie gehören 
zueinander, auch wohl: sie gehen auseinander verständlich hervor. Hierzu 
bringt Lersch kluge Gedanken, ohne freilich den Versuch zu machen, eine 
reale Tatsachen auftürmende Charakterologie als Strukturlehre zu beginnen. 
Er verharrt im Methodologischen. Weiterhin glaubt er der Metapher der 
Schichten nicht entbehren zu können. So richtig es ist, daß man bei der Be- 
schreibung des Seelischen der Bilder nicht immer entbehren kann, so bedenk- 
lich ist es doch, ein solches Bild zum ÖOrdnungsgesichtspunkt zu machen. 
Diese unglücklichen ‚‚Schichten‘ verlocken teils zu unpassender Erinnerung an 
die Schichten der Hirnrinde, teils bergen sie eine Tendenz zu einer psycho- 
logisch unangebrachten Wertung, indem von höheren und tieferen Schichten 


die Rede ist, endlich verleiten sie zu einer unbewiesenen Genetik: frühere und 


. spätere Schichten u. dgl. Doch sind diese Schichten jetzt große Mode: Nicolaı 


Hartmann glaubte sie nötig zu haben, der Psychiater H. F. Hoffmann wid- 


= mete ihnen eine eigene Studie (,‚Die Schichttheorie‘‘; Stuttgart 1935) und 


Erich Rothacker schreibt 1938 eine 107 Seiten starke Studie über ‚Die Schichten 
der Persönlichkeit“ (Lpzg, Barth). Er unterscheidet Ichfunktion, mehr- 


400 Hans W. Gruhle 


schichtige Tiefenperson, Personschicht (Charakter) und kennt außerdem noch 
eine Schichtung der besonderen seelischen Funktionen. Ich kann nicht finden. 
daß die Psychologie durch diesen Gesichtspunkt der Schichtung gewinnt. 
Auch Lersch spricht von vitalen Grundschichten (endothymer Seelengrund| 
und meint damit Grundstimmungen und Willensstruktur des Menschen. 
Zum ‚Grund‘ kommt dann natürlich der ‚Oberbau‘, der den gerichteten. 
bewußten Willen und das Denken enthält. Eine Auseinandersetzung mit 
Intelligenz und Geistigkeit führt, vielleicht nicht überzeugend, aber durchaus 
durchdenkenswert, zu den Unterscheidungen von Scharfsinn und Tiefsinn. 
Auch das Kapitel über die psychische Echtheit mit seinen Unterscheidungen 
von Maske, Schema und Heuchelei ist durchaus persönlich durchdacht und 
wie das ganze Buch äußerst lesenswert. Auch der Fachpsychologe fühlt sich 
durch seine Lektüre durchaus bereichert. 

Typus. Der Begriff des Typus wurde anfangs in der Psychologie sehr 
leichthin gebraucht, so als wüßte jeder, was ein Typus wäre. Allmählich ging 
die Soziologie dazu über, den Typus methodologisch schärfer anzufassen. Das 
führte zur Unterscheidung des Durchschnittstypus und Idealtypus. 
Der letztere Begriff barg das Mißverständnis, als sei darin eine Wertung ver- 
borgen, deshalb wurde er allmählich durch den Begriff des Prägnanztypus 
ersetzt. Ihn verwendet die neuere Psychologie gern; auch die Kretschmerschen 
Körperbautypen gehören am ehesten hierher. Er steht in scharfem Gegensatz 
zu den zwei Typen der physischen Anthopologie: dem Durchschnittstypus und 
dem Häufigkeitstypus. Als letzterer gilt z. B. in einer Population diejenige 
Ganzheit, die am absolut häufigsten vorkommt, selbst wenn sie vielleicht 
nur 10% der Bevölkerung ausmacht; — immer unter der Voraussetzung. 
daß alle anderen dort vorkommenden Typen jeder für sich in noch weniger 
als 10% vorkommen. Es erhellt, daß die Frage der Typenbildung keineswegs 
einfach ist. Albert Wellek versucht im Rahmen der Ganzheitspsychologie von 
F. Krüger die Typenfrage zu klären (Arch. Psychol. 100, 1938). Er greift be- 
grifflich nicht sehr scharf zu. Wenn er z. B. die Polarität als Kennzeichen 
heraushebt, so muß man entgegnen, daß dieser recht unbestimmte Begriff 
z. B. auf den eurysomen und leptosomen Typus mit einigem Recht ange- 
wendet werden kann, für die Gegenüberstellung von eurysom und dysplastisch 
aber belanglos ist. Wenn Wellek weiter erwähnt, daß ‚‚gleitende Übergänge“ 
zwischen den Polen bestehen, so hat das nichts mit dem Begriff der Typen. 
sondern mit ihrem realen Vorkommen zu tun. Wenn Wellek den Typus weiter- 
hin einen Annäherungsbegriff nennt — Helwig gebraucht dafür das Wort 
Lebensbegriff (im Gegensatz zu Gebietsbegriff) — so gilt das nicht für den 
Typus schlechtweg, sondern nur für den Prägnanztyp (Idealtyp). Wenn der 
Autor endlich die Erbbedingtheit des Typus als vielfach aber nicht immer 
gegeben bezeichnet, so ist das ein Sprung in eine andere Begriffswelt, die mit 
der Methodologie nichts zu tun hat. Es gibt natürlich alle die genannten Typen 
auch vom Erbgesichtspunkte aus. | 

Die spezielle Typenlehre wird in der Berichtsperiode nicht erheblich ge- 
fördert. E. R. Jaensch, Kretschmer, Jung, sind die Zentren bestimmter Ge- 
dankenkreise. Der erstere breitet seine schon länger bekannte Integrations- ` 
typologie in der Z. f. päd. Psych. 39, 1938 von neuem aus. Eine sorgsame Ar- 
beit aus dem Jaenschkreise ist die Studie von Hans Eiks über den Einfluß der 
Typen auf das Gestalterfassen (Z. Psychol. 143, 1938). G. Kafka setzt sich mit 
dem Typusbegriff auseinander (Z. Psychol. 144, 1938). Seit 1932 besteht in 
Paris eine von Laugier gegründete biotypologische Gesellschaft mit einem um- 


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Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 401 


fangreichen Programm, das sich leider in der Ausfüllung von Fragebogen 
zu entwickeln scheint: Ichok, La biotypologie. Arch. Mal. prf. 1, 1938. Wie 
sich die amerikanische Psychologie mit den Jungschen Typen der Extra- 
und Introverten auseinandersetzt, geht aus der Studie von R. M. Collier und 
Minna Emch hervor (Amer. J. Psychiatry 94, 1938). Die experimentelle 
Psychologie wendet sich jetzt auch vermehrt dem Typenproblem zu. So 
unterschied in Göttingen Fr. Schnorr beim Stroboskop (Scheinbewegung) die 
Schizothymen-Introverten von den Cyclothymen-Extraverten und glaubte bei 
letzteren eine Tendenz zur Erfassung höherer, sinnvoller Einheiten, bei ersteren 
eine nüchterne Auffassung der Teilinhalte feststellen zu können (,‚Diestrobosko- 
pische Erscheinung und ihre Beziehung zum Persönlichkeitstypus‘‘; Göttingen 
1937, 54 S). In dem gleichen Institut stellte X. H. Schade fest, daß der Intro- 
verte zwar eine höhere motorische Perseveration als der Extraverte habe, daß 
jedoch sichere Ausnahmen vorkommen (,‚Über die motorische Perseveration 
unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsforschung‘“‘ ; Göttingen 1937, 64 S.). 

Will man in der Charakterologie Eigenschaften nicht nur beschreiben, 
sondern sie auch verständlich ableiten, so gelangt man leicht zu einem Schema, 
das psychologisch einleuchtet und dennoch der Fülle der Erscheinungen 
Gewalt antut. Franz Keller, ‚Eitelkeit und Wahn‘ (Bern, A. Francke 1938, 
69 Seiten) versucht, die Eitelkeit abzuleiten. Er kommt zu folgendem 
Schema: Eine letzte nicht weiter ableitbare Eigenschaft ist die Mangelhaftig- 
keit des Temperaments, sei es zu labil, sei es zu stabil, sei es zu oberflächlich. 
Aus allen drei Motiven kann mangelnde affektive Verbundenheit mit der 
Umwelt hervorgehen. Aus dieser Kontaktarmut entsteht die positive Selbst- 
bezogenheit (Narcissmus). Diese ist die erste Quelle der Eitelkeit. — Eine 
nicht weiter ableitbare Eigenschaft ist eine zu große Labilität des Gemüts 
(Sanguinik); aus ihr entsteht das Anerkennungsbedürfnis. Das ist die 
zweite Quelle der Eitelkeit. — Eine Grundeigenschaft ist Mangel an Ge- 
fühls- und Willensintensität und Ausdauer (Psychasthenie). Aus ihr entspringt 


‚ die Neigung zur Scheinverwirklichung. Das ist die dritte Quelle der Eitel- 


keit. Alle drei Quellen müssen zusammentließen, um die Eitelkeit zu erzeugen, 


beileibe nicht summativ — gegen diesen schrecklichen Vorwurf verwahrt 


sich fast jeder moderne Autor — sondern schöpferisch synthetisch, — sonst 


7 sagt man wohl auch strukturell oder gestalthaft. 


Soweit folgt man dem Autor gern, denn es ist immer reizvoll, eine solche Kon- 
struktion durchzudenken. Aber der kritische Leser möchte nun gern eine Probe 
auf das Exempel machen. Hatte der eitle Metternich, auf den sich der 
Autor (nach der Studie von Karl Groos) ausführlich bezieht, denn ein san- 
guinisches Temperament, war er gar ein Psychastheniker? Sicher nicht. — 
Jeder könnte Fälle anführen, in denen Kellers Aufbau nicht stimmt. So sei 


: kurz eine Gegenthese formuliert: Die Eitelkeit hat keine Quellen, keine 


Herkünfte. Sie ist eine primäre Gegebenheit, die sich in recht verschiedene 
Charakterstrukturen eingebaut findet. 
Peter Lips bringt unter dem anspruchsvollen Titel ‚Die Prinzipien der 


| Charakterologie‘‘ (Hamburg, Gildenverlag 1938) eine 62 Seiten starke Ge- 


denkschrift für Carl Huter, jenen seltsamen Autodidakten, der sich ein eigenes 
System der Physiognomik zurechtmachte. Huter gehört für die wissenschaft- 
liche Ausdruckslehre zu den ‚‚Curiosa‘‘, aber es ist interessant, welchen Ein- 


- fluß er auf die Laienwelt gewann. Seine fünf Bände Menschenkenntnis erlebten 


1927 noch eine zweite, sein illustriertes Handbuch 1930 die vierte Auflage, 
außerdem schuf er noch fünf andere Werke. 


26 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3 4. 


402 Hans W. Gruhle 


Die Arbeit von Bernhard Schultze-Naumburg ‚Die Vererbung des Cha- 
rakters‘‘ (Stuttgart, Enke 1938, 50 Seiten) sei hier nicht wegen der Ver- 
erbung erwähnt, die aus diesem Referat entfällt, sondern wegen des Begriffs 
des Charakters, deren sich der Autor bedient. Es ist nämlich interessant zu 
sehen, daß neben der modernen, auf Ganzheit-Gestalt-Struktur gerichteten 
Charakterologie auch noch die alte Elementarpsychologie Vertreter hat, die 
seinerzeit in den berüchtigten Psychogrammen ihren Höhepunkt erreichte. 
Der Autor möchte den Charakter gern behandeln wie die Drosophila. Was 
sich nicht in Elemente auflösen läßt, wird als unwissenschaftlich beiseite 
geschoben. Der Autor ist — ähnlich wie die meisten Psychologen zu- 
zeiten Häckels — auf seine ‚‚naturwissenschaftliche‘‘ Psychologie geradezu 
stolz. ; 

Wen die weltanschauliche Haltung unserer Zeit gegenüber der Typenlehre 
interessiert, findet bei A. Hanse, ‚„Persönlichkeitsgefüge und Krankheit‘ 
(Stuttgart-Lpzg., Hippokratesverlag 1938, 189 Seiten) zweckdienliches. 
Neben einer populären Auseinandersetzung mit den üblichen Autoren stellt 
er folgende Typen auf: den gefühlsbeseelten Leistungsmenschen, den gefühls- 
verhaltenen Leistungstyp, den Ausweichtyp: jede dieser Formen wird unter- 
geteilt, z. B. die erste in den syntonen, gefühlsschwankenden, empfindsamen. 
leistungsunsicheren, Angstkranken. Der Autor vergißt nie, die Beziehungen . 
dieser Typen zu modernen Betätigungen, zu Sport, SA., SS., auch zu Rassen- 
formen u. dgl. aufzuzeigen. Er wendet sich dann in seinem therapeutischen 
Teil ganz zu wohlgemeinten freundlichen praktischen Vorschlägen. Ferner 
trägt er weltanschauliche Überzeugungen aus der ‚neuen deutschen Heil- 
kunde“ vor. So führt er z. B. aus, daß eine akute Erkrankung final orientiert 
sei als eine für die Zukunft bedeutsame naturgewollte Reinigung; sie sei eine 
Heilkrisis, die nicht unterdrückt sondern eher verstärkt werden müsse. 
Zwischen seelischem Geschehen, körperlicher Betriebsstörung und ‚Narbe‘ 
gebe es grundsätzlich keinen Unterschied. Die Aufgabe der ärztlichen Seelen- 
führung bestehe darin, das bewußte Ich mit dem unbewußt waltenden Es 
zu artgemäßen und persönlichkeitseigenen harmonischen Spannungen wieder 
zu verschmelzen. — 

Konstitution, Rasse. Die Begriffe Rasse, Konstitution, Wuchsform., 
Körperbau, Genstruktur, Phänotypus verwirren sich in manchen 
Köpfen untrennbar. Alle diese Begriffe müssen von demjenigen, der sich 
z. B. um die vom heutigen deutschen Staat anerkannten Rasselehren denkend 
bemüht, klar gefaßt werden. Vom Begriff des Typus war oben die Rede. 
Der Begriff der Konstitution hat trotz unendlich vielfacher Bearbeitung 
noch immer keine allgemein anerkannte Definition gefunden. Die Kretschmer- 
schen Körperbautypen sind keineswegs schlechtweg Konstitutionstypen. 
oder doch nur dann, wenn eine ganz bestimmte Definition der Konstitution 
untergelegt wird. Für andere Forscher sind diese Körperbautypen nur Wuchs- 
formen. Waldtraut Kramaschke schließt sich an die Äreischmerschen Typen 
an (Z. f. menschl. Vererb. u. Konstit.lehre 22, 1938). Sie untersuchte 332 
Primaner und teilte sie nach psychischen Typen im Kretschmerschen Sinne 
ein; eine kaum lösbare Aufgabe, wenn man die Untersuchten nicht ganz genau ` 
kennt. Dann untersuchte sie die Schulleistungshöhe im Ganzen und in den 
verschiedenen Fächern bei jenen Typen. Um einiges herauszugreifen, so hatten 
die Schizothymen eine wesentlich bessere Schulleistung als die Gyclothymen. 
nur in der Biologie waren die letzteren im Vorrang. Der Körperbau ist in 
diesen Lebensjahren noch nicht ausgeprägt, bei der Seelenverfassung dürfte 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 403 


es kaum anders sein. So bestehen gegen derartige Untersuchungen schwer- 
wiegende methodologische Bedenken. 

Völkerpsychologie. Friedr. Keiter, der über Rasse und Kultur ein drei- 
bändiges Werk geschrieben hat, setzt sich in der Z. f. Rassenkunde 8, 1938 
mit der Begriffsbildung von Volks- und Rassencharakter auseinander. W. Hell- 
pach äußert sich zu den Problemen nur kurz und schlagwortartig, lenkt 
aber wie immer die Aufmerksamkeit kritisch auf wichtige Punkte (z. B. Völker- 
tum und Volkstum) (Forsch. u. Fortschr. 14, 1938; Z. f. Rassenk. 8, 1938). 

Die eigentliche Völkerpsychologie (Ethnologie) kann hier in diesem 
Rahmen nicht behandelt werden. Für den Interessierten seien nur einige 
wichtigere Arbeiten genannt: Über den Zauberglauben Schneider in Studien 
zur Völkerkunde 13, 1937. — Gestaltung der Erlösungsidee in Ost und West. 
‚ Eranos Jahrbuch 1937, Zürich 1938, 356 Seiten. — Das Verständnis der pri- 
mitiven Zauberei sucht W. Jaide zu fördern (Arch. Psychol. 102, 1938), 
indem er sich in die Situation des Primitiven einfühlt. Vom Zauberding 
entspringt ein Wirkungsstrom, der alles beeinflußt, was im Wege liegt. Die 
Art des Zaubers geht vom Gegenstand aus, dessen Eigenschaften symbolisch 
ausgedeutet werden. Verschlungene Lianenstränge haben eine andere Be- 
deutung als nichtverschlungene. Das Ganze ist durch seine Teile vertretbar. — 
~ K. Beringer zeigt in einer größeren Studie mit allerlei interessanten Aus- 
blicken, welch lebendige Macht noch heute im Volke beim Aberglauben 
liegt. Auch für die Geschichte des Aberglaubens ist der Aufsatz wichtig 
(Arch. f. Psychiatrie 108, 1938). Inwieweit abergläubische oder anthro- 
posophische Gedanken in psychotische Zustände hineinragen, wird von J.Zoh- 
ren an drei Fällen nachgewiesen (Nervenarzt 11, 1938). 

Dem Buche von Richard Eichenauer, ‚Musik und Rasse‘ (München, Leh- 
- mann 1937), war die geschichtliche Entwicklung günstig. 1932 in erster Auf- 
lage erschienen, erlebt es nun die zweite Auflage zu einer Zeit, in der der 
Rassegesichtspunkt weite Kreise interessiert. Der Verfasser führt die For- 
schungen fort, die schon von jeher die Musikwissenschaft fesselten, wenn 
sie das Wesentliche deutscher, französischer, italienischer usw. Musik zu 
ergründen versuchte. Nur treten an die Stelle dieser Ausdrücke die mo- 
 dernen Rassebezeichnungen. Der Verfasser verläßt aber auch das eigentliche 
musikalische Gebiet, indem er aus den Gesichtszügen der Komponisten, 
unterstützt durch den Rat von H. F. K. Günther, rassische Züge zu lesen 
bestrebt ist. Das Buch ist ın seinem Material sehr reich, verwertet eine große 
Litteratur und bemüht sich ernsthaft um die Probleme. 

A. Wellek schreibt eine große gründliche Studie (mit viel Material) über 
„Das absolute Gehör und seine Typen“ (Lpzg., Barth 1938, 368 Seiten). 
Er fügt eine Bibliographie bei und kündigt ein zweites Werk über die Typo- 
logie der Musikbegabung im deutschen Volke an. 

Talente. Eine ‚,‚Pathographie des französischen Symbolisten Paul 
Verlaine“ bringt V. Luniatschek im Archiv f. Psychiatr. 108, 1938; er hält 
den Dichter für einen willensschwachen, hyperthymen Psychopathen. — 
Über den geistvollen Aphoristiker Amiel und insbesondere über seine seelische 
Sexualität schreibt Gregorio Maranon eine 225 Seiten starke Studie: ‚Amiel. 
Une étude sur la timidité“. Traduit de l’Espagnol par L. Parrot. Paris, 
Gallimard 1938. — Über die Psychologie der Musik in Aufnahme und Aus- 
übung liegt ein 102 Seiten starkes Buch von Assen Markoff vor: La musique, 
les musiciens, la fonction musicale. Paris, Maloine 1938, doch konnte ich 
es leider nicht einsehen. 


26° 


404 Hans W. Gruhle 


Intelligenz. Die Psychologen haben sich schon oft um eine befriedigende 
Definition des Intelligenzbegriffes bemüht. Der Erfolg war gering. 
Man behalf sich meist mit der Umschreibung, die Intelligenz sei die geistige 
Anpassung an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens. Arel Wählen 
sucht nach einer neuen Formel (schwedisch). Er hat sicher Unrecht damit, 
daß die Leistungsfähigkeit der Intelligenz von der Menge des verfügbaren 
Erinnerungsmaterials abhängig sei; nur ein gewisses Mindestmaß an Material 
ist notwendig. Deshalb bietet seine neue Definition wohl kaum Vorzüge: 
„Intelligenz ist der Inbegriff der Brauchbarkeit der Gedächtnismasse als 
Mittel für psychische Sachrepräsentation‘“ (Sv. Läkartidn. 35, 1938). 

Wenn man Testversuche, die auf Begriffsbildung, Gedankenablauf u. dgl. 
abzielen, bei Paralytikern, Schizophrenen, Normalen nebeneinander anstellt. 
und nicht auf Untersuchung der vorübergehenden Impulsstörungen (Zer- 
fahrenheit u. dgl.), sondern auf Defekte gerichtet ist, so zeigt man, daß man 
vom Wesen der Schizophrenie nichts begiffen hat. Besonders die ameri- 
kanische Psychopathologie stellt solche, von vornherein verfehlte Unter- 
suchungen an. Z. B. Kasanin und Hanfmann (Chicago), Arch. of Neur. 40, 
1938. — Die Studie von E. Roenau über Perseverationen ist begrüßens- 
wert (Z. Neur. 162, 1938), weil sie der Verwässerung der Begriffe entgegen- 
arbeitet. Perseveration sei nur das sinnwidrige Wiederholen (einmal inner- 
vierter) bestimmter Bewegungen oder das Weiterwirken solcher Innerva- 
tionen bei Richtung der Intention auf etwas Neues. — Der Ausdruck ,Kon- 
fabulationen“ hat sich vor allem bei dem Korsakowschen Komplex ein- 
gebürgert, obwohl ähnliche Symptome auch bei der Paralyse und — selten — 
bei der Schizophrenie vorkommen. G. B. Abramovich behandelt das Thema 
(russisch) und sucht mit Recht die Konfabulationen von Erinnerungsfälschun- 
gen abzugrenzen. Echte Konfabulationen werden ja oft gar nicht mit ‚‚Er- 
innerungsgewissheit‘‘ vorgebracht, sondern nur so ‚‚daher geredet“, um so- 
gleich wieder neuen Einfällen Platz zu machen. Die häufig — etwa im aka- 
demischen Unterricht — vorgebrachte These, Konfabulationen dienten der 
Verlegenheit, um Lücken der Erinnerung auszufüllen, trifft für sehr viele 
Fälle nicht zu (Nevropat. i. t. d. 7, 1938). 

Schwachsinn. Der Mangel an Intelligenz, die Debilität, Imbezillität 
ist in der Berichtsperiode zwar vom eugenischen und statistischen Gesichts- 
punkt mannigfach bearbeitet worden, nicht aber vom Standpunkte der 
Phänomenologie. Nur eine größere Arbeit liegt vor, die die Kenntnis des 
geistigen Schwachsinns bereichert: Das große 481 Seiten umfassende Werk 
von Erik Goldkuhl, ‚Psychische Insuffizienzzustände bei Oligophrenien 
leichteren Grades‘‘, geht aus der Klinik von Lund in Schweden (H. Sjöbring: 
hervor und ist ins Deutsche übersetzt worden (in den Acta psychiatrica et 
neurol., Kopenhagen, Levin und Munksgaard 1938). Es ist hier nicht der 
Ort auf die klinische Bedeutung der Arbeit einzugehen, es sei nur das Psycho- 
pathologische hervorgehoben. G. schließt sich den Ideen von Sjöbring an. 
und da diese in Deutschland noch wenig bekannt sind, sei etwas näher darauf 
eingegangen. Sj. glaubt, vier Grunddispositionen der Persönlichkeit als Ab- 
weichungen der Norm feststellen zu können: 1. nach der Kapazität (= Reich- 
tum an Möglichkeiten, Intelligenz); 2. nach der Validität (= Kraft der Einzel- 
regung); 3. nach der Solidität (= Beharrlichkeit und Festigkeit); 4. nach der 
Stabilität (= Höhendifferenz der Potentialitätskurve).. Wenn man hört. 
daß die Minusvariante von 1. die Oligophrenie, von 2. Psychasthenie, von 3. 
Hysterie und von 4. die manisch-depressive Veranlagung ist, so wird einem 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 405 


Punkt 1—3 ohne weiteres klar, während 4 nicht sogleich einzusehen ist. Ver- 
suche ich in andern deutschen Worten die vier Punkte zu umschreiben, so 
wäre 1 = Reichtum und Armut an Regungen, 2 = Kraft der einzelnen Aktion, 
3 = Beharrlichkeit von Haltung und Grundsätzen, — aber für Punkt 4 
fehlt mir eine befriedigende Fassung, am ehesten würde ich es mit ‚‚Fülle der 
allgemeinen vitalen Energie“ versuchen. Sjöbring hat nur schwedisch oder 
englisch an abgelegener Stelle publiziert, so daß ich ihn im Original leider 
nicht lesen konnte. 

Die Debilen, für die sich G. interessiert — er faßt den Umfang des Begriffes 
ziemlich weit — sind also subkapabel. Sie haben Insuffizienzzustände, nicht 
nur indem sie auf Anforderungen des Lebens negativ reagieren, sondern 
auch antochthon. Die Psychologie der Oligophrenien ist im deutschen Schrift- 
tum nicht sehr gepflegt worden, so daß man mit großem Interesse die Dar- 
legungen von G. verfolgt. Die erste Gruppe seiner Insuffizienzzustände 
sind ‚‚Fälle einfacher Subkapazität‘‘, dann folgen solche, die neben der De- 
bilität noch subvalid sind. Äußerlich drückt sich das so aus, daß sie pedan- 
tisch genau und trocken sind und keine Neuerungen lieben, zudem wenig 
Selbstvertrauen besitzen. Eine weitere Komplikation ist Debilität und Sub- 
solidität, in der deutschen Ausdrucksweise ein debiler hysterischer Charakter, 
beweglich, oberflächlich, launisch, unberechenbar, egozentrisch. Endlich 
vereint sich Debilität und Substabilität zu einer kleinen Gruppe, deren In- 
dividuen sich als anpassungsfähig, dem Leben zugewandt zeigen, denen aber 
doch eine ‚unzweifelhafte Niveausenkung der psychischen Wirksamkeit‘ 
eigen ist, ‚eine dürftige Unbeholfenheit, beinahe Tölpelhaftigkeit in einer 
treuherzig warmen Psyche‘. Bisher war nur von der Kombination eines 
Charakterfehlers mit Debilität die Rede. Der Autor teilt nun auch noch 
kompliziertere Gruppen mit, in denen sich je zwei, ja schließlich drei der an- 
gegebenen Merkmale mit Schwachsinn zusammenfinden. Fragt man sich, 
wie man bisher die 220 debilen Fälle des Autors (= 7,9% der Gesamtauf- 
nahmen der Lunder Klinik) in Deutschland klinisch eingeordnet hätte, so 
hätte man die Mehrzahl wohl als pathologische Reaktion eines Debilen oder 
eines debilen Psychopathen aulfgefaßt, die Minderzahl als Pfropfschizophenien. 
Vor allem die eintönig hypochondrischen, leicht depressiven Zustände, die 
G. meist als endogen subkapabel und subvalid auffaßt, werden anderwärts 
als blande hypochondrische Hebephrenien eingereiht. Auch nach der reich- 
haltigen Studie von G. bleibt es offen, ob es endogene Psychosen allein auf 
der Grundlage der Debilität gibt, die nicht reaktiv sind. Aber der Verfasser 
legt selbst besonderen Wert auf die Persönlichkeitsanalyse. Wenn diese nach 
den vier Sjöbringschen Gesichtspunkten vielleicht auch etwas schematisch aus- 
fällt, und wenn man auch durchaus widersprechen muß, daß es darüber hinaus 
keine weiteren Persönlichkeitskonstituierenden Eigenschaften geben soll, 
so bedeutet die ‚Sjöbringsche Methode und das Goldkuhlsche Buch für die 
deutsche Psychiatrie zweifellos eine Bereicherung. 

Goldkuhls Ansichten zum Problem der Pfropfschizophrenie sollen hier 
nicht referiert werden, da sie nicht zur allgemeinen Psychopathologie gehören. 
Interessant ist aber seine Zusammenstellung, daß die Angabe der Autoren, 
wie oft sich angeborener Schwachsinn bei schizophrenem Prozeß findet, 
zwischen 0% (Neustadt) und 44% (Medow) schwankt, ein Schwanken, an 
dem natürlich die Autoren und nicht die Wirklichkeit schuld sind. 

Demenz. Der Begriff der Demenz, faßt man ihn scharf, ist an der In- 
telligenz im engeren Sinne orientiert. Demenz ist die irreparable geistige 


406 Hans W. Gruhle 


erworbene Schwäche. Sie kann freilich recht verschieden aussehen. Die 
mnestische Demenz des Senilen ist etwas ganz anderes als die strukturelle 
Demenz des Paralytikers oder die apperzeptive Demenz des Epileptikers. 
Mit der letzteren beschäftigt sich vorwiegend Karlheinz Stauder in seinem 
196 Seiten starken Buch über ‚‚Konstitution und Wesensänderung der Epi- 
leptiker‘‘ (Lpzg, Thieme 1938). Nicht die klinischen und therapeutischen 
Ausführungen des Autors sollen hier referiert werden. Die bisher übliche Be- 
schreibung der epileptischen Wesensveränderung bewegte sich in den Stich- 
worten: Schwere Auffassung, langsame Verarbeitung, umständliche Formu- 
lierung, Freude an bestimmten Redewendungen, sog. Klebrigkeit. Stauder 
teilt nun folgendes Ergebnis des Rorschachversuchs mit (den er zur Grundlage 
seiner Studien machte): das Kernsymptom der epileptischen Wesensänderung 
sei „die maximale Perseveration‘‘, diese finde sich aber auch bei ep. Be- 
wußtseinstrübungen; sie sei ‚ein obligates, ebenso unerläßliches Symptom 
der genuinen Ep. wie der Krampfanfall‘. Des Verfassers Interesse gilt vornehm- 
lich der epileptischen Wesensveränderung, die eben in dieser Perseveration 
ihren klarsten Ausdruck findet. Seine 75 genuinen Ep. waren alle in diesem 


Sinn wesensverändert, gleichgültig ob der Krankheitsprozeß kurz oder lang . 


dauerte. St. unterscheidet von der Wesensänderung die Demenz. Man hat 
bisher auf eine solche Unterscheidung wenig Wert gelegt. Da die Perseveration. 
das Beharren an einem geistigen Inhalt oder einer motorischen Einstellung. 
das Gegenteil der geistigen Lebendigkeit ist — so rechnete man diese Eigen- 
heit, diesen Defekt mit zur Demenz. St. will — etwas willkürlich — die Demenz 
auf Störungen der Auffassung, des Urteils und der Kombination einschränken. 
Insofern bringt also die Studie Stauders nichts Neues, als höchstens die For- 
mulierung, daß man das Wesen der ep. Veränderung am besten in der Per- 
severation (Klebrigkeit) sieht. 

Wenn Stauder die These bringt, die Demenz der Epil. habe nichts Spe- 
zifisches, so ist das nur insofern richtig, als diese wohl charakterisierte De- 
menz sonst nur bei Hirntraumatikern mit oder ohne Anfälle vorkommt. 
St. hält die ‚lapidare‘‘ Unterscheidung von ep. Wesensänderung und ep. 
Demenz für eines der wesentlichen Ergebnisse seiner Studie. Man wird ihm 
darin schwer folgen können. Forscht man tiefer nach dem Wesen der In- 
telligenz und ihrem Abbau, der Demenz, so wird man die Perseveration und 
die anderen Züge der Erschwerung geistigen Ablaufs nur gleichsam für den 
Beginn, für die ersten und leichtesten Symptome oder allenfalls für eine 
Variante des Verfalls ansehen. Schreitet diese Demenz dann weiter fort, so 
treten diese leichteren, feineren Züge hinter den groben Ausfällen zurück. 

Sprache und Denken. Welch vorzügliche Gedanken zur gesamten Psy- 
chologie der Sprache von den Denkern der deutschen Romantik hervor- 
gebracht worden sind, stellt Fr. Kainz in einer sorgfältigen kritischen, sehr 
lesenswerten Studie zusammen. Manche moderne sprachpsychologische Arbeit 
verblaßt vor jener hervorragenden Geistigkeit (Z. Psychol. 143, 1938). — 


—— O o 


Sorgfältige Spezialuntersuchungen über Intonation und Lautgebung in eng- : 
lischen Dialekten liegen hier zu weit ab, um darauf einzugehen (Experimental- , 


phonetische Untersuchungen von Horn und Kettrer. De Gruyter, Berlin 
1938). — Über die Art wie sich ein zweisprachiges Kind zu diesen beiden 
Sprachen stellt, sie erlernt und vergißt, liegt eine ausführliche Studie der 
pädagogisch geschulten Mutter vor: Adele Kenyeres, Arch. de Psychol. Genf 2f. 
1938. — Der Holländer Westerman Holstijn macht den interessanten Versuch. 
die eigenartige Magie, die vom Wort ausgeht, bei Kleinkindern, Hysterikern. 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 407 


Zwangsneurotikern, Schizophrenen miteinander zu vergleichen. Auch an 
den Aberglauben sei erinnert: wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt. 
Wenn auch klinisch die Genese der Wortmagie in den genannten vier Gruppen 
ganz verschieden ist, ist es psychopathologisch interessant, einmal über das 
Gemeinsame nachzudenken (Nederl. Tijdschr. Geneesk. 1938, Ref.). — 
Das gesamte Aphasieproblem besteht heute ja aus einem ganz andern Gefüge 
von Einzelfragen, als vor etwa einem Menschenalter. Ich fand in der Berichts- 
periode nur weniges, was unsere Erkenntnis bereichert. Daß auch die fran- 
zuüsischen Forscher die Wandlung der Problematik mitmachen, beweist der 
lesenswerte Aufsatz von J. Lhermitte im L’Encephale 33, 1938. — Gräfin 
Kuenburg beobachtete langfristig einen sensorischen und einen motorischen 
Fall von Hörstummheit. Die Verf. interessiert sich vor allem für die Sprech- 
melodie, bringt aber auch sonst allgemein Wichtiges zur Sprachpsychologie 
(Jb. Kinderheilk. 151, 1938). Emil Bonk gibt mancherlei praktische Hinweise 
zur Erlernung der Sprache beim Taubstummen (D. Sonderschule 5, 1938). — 
G. Teuliö beschreibt ziemlich ausführlich einen Fall von systematischer Sprach- 
neubildung einer schizophrenen Kranken, die 12 Jahre lang an ihrer Sprache 
geschaffen hat. Die ausführlich geschilderte Glossolalie bildet einen guten 
neuen Beitrag, der deutlich ganz analoge Verfahrensweisen im Französischen 
erweist, wie wir sie im Deutschen, besonders von dem schönen Fall von Karl 
Tuczek kennen (Ann. med. psvchol. 96 II, 1938). 

Die Lektüre von R. Grassler, Der Sinn der Sprache (Lahr 1838, 208 Seiten), 
kann nur denen empfohlen werden, die sich tiefer mit der Denkpsychologie 
beschäftigen wollen. Der Autor bemüht sich, aufzuzeigen, was im Vollzug 
unanschaulicher Denkgegebenheiten alles anklingt von auch mit Gemeintem. 
Er sucht aus der älteren Denkpsychologie der Külpeschule wie aus den mo- 
dernen Gestalttheoretikern und aus den Ansichten von E. R. Jaensch zusam- 
ımenzustellen, was die Einsicht in den Denkvorgang fördert. Neue Erkennt- 
nisse stellen sich dabei nicht ein. Der Sprache selbst wird nur ein Drittel 
des Buches gewidmet. Psychologische Gesichtspunkte treten dabei hinter 
logischen oft weit zurück. Die Mischung von Logik und Psychologie, sowie 
die Verwendung einer etwas schwierigen oft allzublumigen Ausdrucksweise 
machen die Lektüre der Arbeit nicht leicht. — Zur Psychologie des Denkens 
liefert der Berner Philosoph C. Sganzini eine wertvolle kleine Studie: Was 
heißt Denken? (Bern, Haupt 1939, 32 Seiten). Durch etwas eigenwillige For- 
mulierungen ist das Heft nicht ganz leicht zu lesen, doch bringt es dem tiefer 
Dringenden unzweifelhaft Erkenntnisgewinn. Auseinandersetzungen mit den 
\Wahrnehmungslehren, der Gestaltstheorie, dem Behaviorisme und Claparède 
fügen des Verfassers Gedanken ein in die geistige Situation der Psychologie 
unserer Zeit. 

Wahrnehmung. A. Verjaal versucht das Wahrnehmungsproblem zu för- 
dern, indem er vor allem den Erinnerungsgehalt der Wahrnehmung prüft. 
Er unterscheidet aktives und passives Erinnern, wobei er dem letzteren ein 
Mitwirken des Gefühls einordnet. Sehr scharf sind seine Unterscheidungen 
nicht, insbesondere ist es nicht glücklich, die durch die Sinneseindrücke von 
außen vermittelten Erlebnisse und die unmittelbare innere Gegebenheit (z. B. 
beim Denken) gleicherweise Wahrnehmung zu nennen (Z. Neur. 164, 1938). 

Wer über die Probleme der Wahrnehmungspsychologie (unmittelbare oder 
mittelbare Gegebenheit, Urteilskomponenten, Gestalttheorie u. dgl.) orientiert 
sein will, sei auf den Aufsatz von Hermann Lesanc im 102. Bande des Archivs 
für Psychologie (1938) aufmerksam gemacht. 


408 Hans W. Gruhle 


DieScheinbewegung ist in der jüngsten Psychologie, vor allem im Rahmen 
der Gestaltpsychologie, sehr bedeutungsvoll geworden. Das Zustandekommen 
von Scheinbewegungen unter den verschiedensten Umständen von Raum 
und Zeit beschäftigte eine große Gruppe von Forschern. Aber auch das Phä- 
nomen der Bewegung selbst — nehmen wir es direkt wahr, oder erschließen 
wir es — ist eindringlich erforscht worden. Th. Erismann (Innsbruck) setzt 
diese Forschungen fort (Arch. Psychol. 100, 1938) und rollt an der Hand von 
Versuchen allerlei Grundfragen der Wahrnehmungslehre auf. — Ed. Claparède 
beschreibt unter perception syncrötique eine undeutliche Gesamtauffassung 
eines Bildes in dem Sinne, den die deutsche Psychologie heute Gestaltzerfall 
nennt. Es handelt sich um ein Kind, das anscheinend an einer bestimmten 
Gestaltauflösung lange festhielt, ohne daß die Ursache aufgeklärt wurde. 
Die einfache Annahme einer Disposition bringt natürlich nicht weiter (Arch. 
de Psychol. Genf 26, 1938). — A. Manou (La psychologie expérimentale en 
Italie. Ecole de Milan. Paris, Alcan 1938) war mir nicht zugänglich. Das 
Buch gibt eine Übersicht über die experimentell psychologischen Arbeiten 
des Institutes Gemelli in Mailand. — Zu den Anomalien des Zeitbewußt- 
seins bringen Louis Cohen und Gregory Rochlin einen etwas verworrenen 
Beitrag einer ungeklärten Psychose, bei der eine mangelnde Zeiteinordnung 
mnestisch nachweisbar war. Solche Curiosa lehren nicht viel. Es führt ` 
nicht weiter, solchen Befund als gestörte zeitliche Eigenwahrnehmung zu 
bezeichnen (Americ. J. Psychiatry 95, 1938). Das Problem des Zeitbe- 
wußtseins, von dem die normale Psychologie so wenig zu sagen weiß, ver- 
diente eine umfassende Bearbeitung. Von den abnormen Zeitsymptomen aus. 
und nur von diesen, könnte die Phänomenologie der Zeitanschauung geklärt 
werden. Einen Schritt in dieser Richtung tut Gerhard Kloos, indem er abnorme 
Zeitphänomene bei drei Melancholien beschreibt (Nervenarzt 11, 1938). 
Man muß unterscheiden, ob die subjektive Zeitveränderung nur eine unter 
anderen gestörten Modalitäten sinnlicher Wahrnehmung ist, oder ob es sich 
um Störungen des Denkens über die Zeit handelt, oder ob sich der Kranke 
nur über das Zeiterlebnis als ein Symbol äußert, an dem ganz andere stim- 
mungsmäßige Störungen nur veranschaulicht werden sollen. Kloos’ Studie 
gibt wertvolle Beschreibungen für einen späteren Bearbeiter. Auch K. Sappers 
Studie über das Zeitbewußtsein in Scientia (Milano) 32, 1908 ist inter- 
essant. 

Die Gestalttheorie, deren Grundgedanken die gesamte Psychologie so 
stark befruchteten und zahllose experimentelle Arbeiten hervorbrachten. 
deren Mehrzahl in den nunmehr 22 Bänden der ‚Psychologischen Forschung“ 
(herausgegeben von Wolfgang Köhler bei Springer, Berlin) erschienen ist, 
wird noch immer verteidigt und bekämpft. In der größeren Studie von Eılks 
(Z. Psychol. 148, 1938) setzt sich die Jaenschsche Typenlehre mit ihr aus- 
einander. 

Eine wohlabgewogene, gründliche und weitsichtige Arbeit scheint G. Reves: 
geliefert zu haben. Sein zweibändiges Buch über die Formenwelt des Tast- . 
sinns, 291 und 293 Seiten stark, mit vielen Abbildungen, bei Martinus Nij- 
hoff 1938 im Haag erschienen, war mir leider nicht zugänglich. Aus einem ` 
Referat entnehme ich, daß sich R. bemüht, am gesamten Raumproblem genau 
abzustecken, was erkenntnistheoretischer und was psychologisch empirischer 
Forschung zufällt. Die Frage des erlebten Tastraums wird an der Hand von 
Analysen haptischer und optischer Täuschungen geklärt, über die R. schon 
1934 in der Z. für Psychologie berichtete. Es gibt einen jeweils eigenen Zu- 


Psychologie und Psychopathologie mi Jahre 1938 409 


gang zu dem Raumerlebnis, sowohl vom optischen als vom haptischen aus. 
Die Phänomene der haptischen Welt werden nach Raum, Ding und Form 
unterschieden. Besonders der Formhaptik wendet sich des Verfassers Interesse 
zu; er glaubt damit die Blindenpsychologie neu zu unterbauen. R. unter- 
scheidet die optische Gestalt von der haptischen Struktur, erstere hat stärkeren 
sanzheitscharakter, letztere sei mehr analytisch erlebt. Über die Form- 
ästhetik und Plastik der Blinden bringt der zweite Band neue Erkenntnisse. 
Nach dem Referat scheint R.s Buch das gesamte Raumproblem neu und auf 
eigenen Erkenntnissen fußend zu behandeln. 

Eine Studie, die die eigentliche Psychopathologie wesentlich bereichert, 
ist von Gerhard Kloos geschrieben worden: „Das Realitätsbewußtsein in der 
Wahrnehmung und Trugwahrnehmung‘“ (Lpzg., Thieme 1938, 66 Seiten). 
In schöner theoretischer und empirischer Beherrschung des Materials läßt 
K. um das Realitätsproblem Gedanken sich entwickeln, die das ganze Wahr- 
nehmungsproblem durchleuchten. Der Vollzug der Wahrnehmung ist nicht 


- eine Summierung von Empfindungsinhalten, sondern das Wahrgenommene 


trägt schon bezeichnende Züge gedanklicher Bestimmung in sich. Der 
Inhalt der Wahrnehmung erhält also nicht nur durch anschauliche Form- 
motive, sondern ebenso unmittelbar auch durch begriffliche Funktionen seine 
Prägung. Kl. stimmt der Meinung von Jaspers nicht bei, daß die ‚Leib- 
haftigkeit‘‘ des sinnlichen Eindrucks den Eindruck der Realität bedinge, 


während die „Bildhaftigkeit‘‘ der Vorstellung diese zu einer ‚‚Nur-Vorstellung‘‘ 


mache. Gerade das, was Jaspers bestreitet, daß nämlich dem Leibhaftigkeits- 
eharakter ein Urteilsvorgang eingeschlossen sei, behauptet Kl. Es gebe 
sprachlich unformulierte Urteile, und ein solches sei in dem Gewißheitserlebnis, 
in der Wirklichkeitsüberzeugung enthalten. — Es ist fraglich, ob das unformu- 
lierte, implizite gegebene Urteil ein von Kloos glücklich formulierter Be- 
griff ist. Er erinnert an unbewußte Überzeugungen und derartige Hilfs- 
konstruktionen. Vielleicht ist es geschickter, den Sachverhalt so zu fassen, 
daß in dem von Husserl-Jaspers festgelegten Leibhaftigkeitscharakter die 
„Annahme“ der Realität primär gegeben sei. Zwischen Annahme und Urteil 
ist durchaus noch ein Unterschied. — Kloos schließt sich ferner den Meinungen 
N. Hartmanns an, daß das Realitätsbewußtsein auch eine affektive Grundlage 
habe: die Drastik des Betroffenseins. Das läßt sich sehr bestreiten. Erst die 
Realitätsannahme bedingt diese affektive Betroffenheit, nicht umgekehrt. 
Das schizophrene Distanzbewußtsein wird wohl kaum zu Recht in diesen 
Zusammenhang einbegriffen. 

Halluzinationen. Kloos beschäftigt sich ferner mit den Begriffen des Wahr- 
nehmungs- und Vorstellungsraums und behandelt schließlich noch eingehend 
die Sinnestäuschungen. Dabei rückt er von der phänomenalen Identität von 
Halluzination und Wahrnehmung ab und schließt sich — wie mir scheint 
nicht mit Recht — manchen Ansichten von C. Schneider an. Der dabei oft 
angeführte Unterschied, den Halluzinationen und Wahrnehmungen für den 
Kranken haben, ist kein Beweis für den fehlenden oder mangelhaften Wahr- 
nehmungscharakter der Sinnestäuschungen. Man gedenke der verschieden- 
artigen Körperschmerzen, die jeder kennt: sicher sind sie verschieden und 
dennoch haben sie Wahrnehmungs- und daher Realitätscharakter. Die Tat- 
sache, daß Schizophrene ihre krankhaften Stimmen von den wirklichen 
Außenstimmen oft — keineswegs immer — unterscheiden, widerspricht nicht 
der Annahme gemeinsamer Realität. Wenn man so an manchen Punkten den 
Gedanken von Kloos widersprechen möchte, so geben seine ausgezeichneten 


410 Hans W. Gruhle 


klugen Darlegungen dem Leser doch gerade erwünschten Anlaß, die eigenen 
Gedanken an dem Gerüst der Begriffsbildung des Autors zu orientieren. 

Lhermitte und Susic schildern die Empfindungen der Amputierten am 
Phantomglied in der gleichen Weise, die uns aus unserer deutschen Litteratur 
wohl bekannt ist. Aber sie fügten interessante neue Versuche an: sie erzeugten 
experimentell am Stumpf lebhafte Wärmeempfindung, und diese ging nicht 
auf das Phantomglied über. Diese und andere Versuche sind für die Theorien 
wichtig, wo denn eigentlich der Reiz ‚sitze‘, der das Phantombewußtsein 
erzeugt (Presse méd. 1938, I). Die Autoren rechnen das Phänomen zu den 
Halluzinationen. Dies ist nur in einer Richtung zu begründen, in anderer 
nicht. Über die Sinnestäuschungen liegen einige interessante Beiträge vor. 
De Morsier (Rev. d’Otol. 16, 1938) sagt nichts Neues, wenn er den organischen 
Charakter der echten Sinnestäuschungen behauntet. Wenn er aber dann 
schematisch den optischen Halluzinationen Störungen des Okzipitalhirns. 
den Stimmen das Schläfenhirn usw. zuordnet, so fördert das die Erkenntnis 
nicht wesentlich. 

Übrigens behauptet G. M. Davidson gerade das Gegenteil. Nach ihm kommen 
z. B. Geruchshalluzinationen bei Erkrankungen des Hippocampus, des Tem- 
porallappens, bei allgemeiner Epilepsie usw. vor (Psychiatr. Quart. 12, 1938). 
J. Lang veröffentlicht einen Bericht eines gebildeten Schizophrenen über seine 
eigenen Sinnestäuschungen. Über deren Wesen liegen sowohl polnische als 
italienische Studien vor. Soviel ich den Referaten entnehmen kann, bringen 
die vier polnischen Autoren J. Dretler, St. Blachowski, H. Jankowska, Jan 
Nelken keine neuen Gewichtspunkte bei (Roczn. psychjatr. 34/35, 1938). 
Blachowski setzt sich besonders mit Jaspers auseinander und schlägt vor. 
Halluzinationen und Pseudohalluzinationen dadurch zu unterscheiden, daß 
erstere die falsche Überzeugung von der realen Existenz im äußeren objektiven 
Raum mit sich bringen, während bei den letzteren beides fehlt. — Man muß 
widersprechen: die Erfahrung ergibt, daß auch lebhafte Vorstellungen beide 
Merkmale besitzen können. Frau Jankowska hält die Unterscheidung zwi- 
schen beiden nicht für wichtig. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem 
eidetischen Phänomen (Jaensch) und betrachtet die optischen Anschauungs- 
bilder als eine ursprüngliche Art der Vorstellungen. Man wird ihr darin sicher 
zustimmen können. Nelken untersucht die Halluzinationen in den Mönchs- 
und Nonnenepidemien vergangener Jahrhunderte, in Gefängnispsychosen. 
Kriegsneurosen u. dgl. Er weist den Wunschcharakter oder sonstige psycho- 
gene Herkünfte dieser Phänomene richtig nach, aber er rechnet sie zu den 
eigentlichen Sinnestäuschungen. Das ist sicher ein Irrtum, echte psychogene 
Halluzinationen kommen nicht vor. Der Italiener G. Padovani bringt einen 
Fall von Mikrohalluzinationen als epileptisches Äquivalent bei einem 25jähri- 
gen Mädchen (Rass. Studi psichiatr. 27, 1938). 

Gefühl. Ein Buch, das die ‚‚Grundformen der Affektivität‘‘ untersuchen 
will, schneidet damit das große allgemeine Thema der Gefühlspsychologie. 
des Gemütes an (Basel-Leipzig, Karger 1938, 104 Seiten). Walter H. v. Wyss 
(Zürich) bedient sich leider nicht der bisher üblichen psychologischen Begriffe. 
legt aber auch nicht etwa neue Definitionen fest, mit denen sich weiterdenken 
ließe, sondern er bezeichnet fast in der Art eines populären Buches bald 
dieses bald jenes als Gefühl. Dabei schließt er sich stark an Scheler an, jenen 
geistreichen Autor, der im eigentlichen Sinn ebenfalls populär zu diesen Proble- 
men Stellung nahm, wenn er sich auch an eine gehobene Leserschicht wendete. 
Populär sind diese Autoren, insofern sie die Begriffe der Fachwissenschaft 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 411 


meiden, und in höchst unbestimmter, schillernder, zuweilen geradezu wort- 
spielerischer, schöngeistiger Weise mit den Begriffen spielen. Für v. Wyss 
sind die Gefühle Wertungen, der Kern unseres Wesens, sie haben Stufen, eine 
Rangordnung, einen schichtenartigen Aufbau u. dgl. Schon durch diese all- 
gemein unbestimmte Stellung scheidet das Buch des Verfassers aus der wissen- 
schaftlichen allgemeinen Gefühlslehre aus. Besonders beschäftigt er sich 
mit der Empfindungsqualität des Schmerzes und geht auf körperliche, außer- 
psychologische Gegebenheiten ein. Der Satz (S. 22), der eigentliche Gefühls- 
vharakter des Schmerzes sei die Funktion einer durch vegetative Nerven- 
fasern übertragenen Erregung, kennzeichnet die methodische Stellung des 
Verfassers. Ferner untersucht er das sog. Lebensgefühl, Hunger, Appetit, 
Durst, Übelkeit, Ermüdung, Erschöpfung, Schwindel, also im wesentlichen 
Körpererlebnisse, und auch die Angst, der er einige Seiten widmet, wird 
hauptsächlich in ihrer Beziehung zu körperlichen Funktionsstörungen be- 
sprochen. Auch mit den Theorien v. Monakows setzt sich v. Wyss auf 10 Seiten 
auseinander. 

Die 61 Seiten starke Schrift von Werner Ewers, „Depressive Gestimmtheit 
und Daseinshaltung des Menschen‘ (Osteuropaverlag, Königsberg 1938) 
hat mit Psychologie nichts zu tun. Sie beginnt mit dunklen, bedeutungsbe- 
schwerten Worten von Kierkegaard und behandelt vornehmlich die Angst 
als ein Grundproblem der modernen Existentialphilosophie. Eine Probe möge 
den in diesem Sinne Interessierten anziehen, den Psychologen fernhalten: 
„‚Gerade in ihren stärksten Formen blickt durch die Gestimmtheit stets der 
Unendlichkeitscharakter des Daseins durch. Sie entreißt das Dasein seinen 
Versteifungen und legt seine in ihm ruhenden Möglichkeiten frei.‘‘ Das 210 Seit. 
starke Buch von M. Montassut, „La Depression constitutionelle‘‘ (Paris, 
Masson 1938) bringt zur Psychopathologie der Depression nichts Neues. 

Ausdruck. Schrift. Immer wieder erneuern sich Bestrebungen, die In- 
tuition des Graphologen, die dem Naturwissenschaftler verhaßt und unheim- 
lich ist, auf eine wissenschaftlich exakte Grundlage zu stellen. 

Rudolph Pophal versucht in einer ‚„Grundlegung der bewegungsphysio- 
logischen Graphologie‘“ (Leipzig, Barth 1939, 172 Seiten) Ergebnisse der all- 
gemeinen Physiologie der Bewegung auf die Schreibbewegung anzuwenden. 


‚ Er schließt sich dabei hauptsächlich an Woachholder an. P. bringt in seiner 


DL We 


Zusammenstellung mancherlei Interessantes, oft auch zu komplizierte Um- 
schreibungen einfacher Sachverhalte. Schreibdruck wird z. B. von ihm fol- 
gendermaßen definiert: „Der Reibungsdruck ist bewegungsphysiologisch auf- 
zufassen als eine Überlagerung einer Bewegungsinnervation vom Typ einer 
llin- und Herbewegung oder aber einer Einzelbewegung mit einer abge- 
wandelten Haltungsinnervation, wobei das schreibende Organ sich Reibungs- 


‚ kräfte an der Schreibfläche erzeugt.“ Was soll der Graphologe mit solcher 


Kenntnis anfangen? Es ist ähnlich, wie wenn der Mimiker und Physiognost 
die Duchenneschen Studien der elektrischen Muskelreizung des Gesichts sehr 
gut kennt: er wird dadurch sicher kein besserer Diagnostiker. Wenn P. ferner 
ausspricht, es müsse einer künftigen Graphologie vorbehalten bleiben, in der 
Handschrift die Auswirkungen des extrapyramidalen Systems von denen des 
Pyramidenbahnsystems im einzelnen zu sondern, so ist man geneigt zu wider- 
sprechen: das steht der allgemeinen Physiologie aber nicht der Graphologie 
zu. Von dem Buche P.s wird nur derjenige Gewinn haben, der sich dafür 
interessiert, wie sich die komplizierten Schreibbewegungen in die allgemeine 
Bewegungslehre einordnen. — Auch Joseph Wirtz macht in von Krüger heraus- 


412 Hans W. Gruhle 


gegebenen neuen psychologischen Studien den Versuch, physiologische Fest- 
stellungen der Graphologie dienstbar zu machen: ‚Druck und Geschwindig- 
keitsverlauf von ganzheitlichen Schreibbewegungsweisen‘‘ (München, Beck 
1938, 55 Seiten). Die sorgfältige gelehrte Arbeit stellt eine große Zahl von 
Einzelbeobachtungen fest, aber man weiß graphologisch nicht viel damit anzu- 
fangen. Wenn der Verfasser z. B. gleitende, schießende, schiebende, schnellende. 
huschende, schleichende Bewegungen unterscheidet, so würde man nun die 
wenigstens relative Bedeutung dieser Arten für die Graphologie erwarten. 
Aber diese fehlt. Nur ganz selten schleicht sich einmal eine graphologische 
Bemerkung im engeren Sinne ein. Denn Graphologie bleibt doch immerhin 
Deutung. Gerade diese unterscheidet sie von der Physiologie der Bewegung. 
Im gleichen Heft widmet Johannes Walther 96 Seiten ‚‚der psychologischen 
und charakterologischen Bedeutung der handschriftlichen Bindungsarten‘. 
An 86 Versuchspersonen werden umfangreiche und mühsame Untersuchungen 
angestellt. Während des Schreibens werden die Schreibenden insgeheim auf 
ihre ganze Motorik hin beobachtet oder gar im Film aufgenommen, ihre sub- 
jektiven Erlebnisse beim Schreiben verschiedener Bindungsarten werden 
festgestellt, und endlich bekommen sie auch einen sehr komplizierten, schwierig 
zu beantwortenden Fragebogen vorgelegt, an dessen Hand sie ihren eigenen 
Charakter hauptsächlich in sozialer Hinsicht analysieren sollen. Diese ver- 
schiedenen Befunde werden dann aufeinander bezogen. Es ergibt sich, daß 
die intuitiven Deutungen der Graphologen im wesentlichen Recht haben: 
Guirlande = positive gefühlsstarke Gemeinschaftsbeziehung mit der Aus- 
nahme, daß tiefgesattelte, linkskurvische, eingeengte Guirlanden empfindsam 
gehemmten Mangel an Vitalität bedeuten. Die Winkelschrift weist auf innerr 
ruhige Gefestigtheit oder Zerrissenheit, auf alle Fälle aber Gesellschaftsabge- 
wandtheit hin. Bei der Arkadenschrift sind die Ergebnisse weniger deutlich. 
Deren Schreiber stehen den Winkelschreibern näher, sie zeigen ‚‚hohe Be- 
wußtheit des Ich‘, Fürsichhalten, Ansichhalten, Vorsicht. Die Bestimmung 
des Formniveaus im Sinne von Klages erscheint dem Verfasser in vielen Fällen 
entbehrlich. Die Arkade sei nicht in allem das Gegenteil der Guirlande. 
Die letztere büßt dadurch in ihrer charakterologischen Deutbarkeit etwas 
ein, als sie gleichzeitig Ausdruck der Schreibgeläufigkeit ist. Die Walthersche 
Studie ist in mancherlei Hinsicht für den graphologisch Interessierten wertvoll. 
Man muß sich über einen schwülstigen Stil und darüber hinwegsetzen, dab 
das Wort Ganzheit tausendfach vorkommt. Wie viele Autoren unserer Zeit 
glaubt auch W. seine Modernität mit der unaufhörlichen Verwendung dieses 
Wortes erweisen zu müssen. „Das ganzheitlich lockernde Gefühl‘ will ‚‚neue 
größere Ganzheiten umschließen‘. Besonders die Leipziger Psychologenschule 
schwelgt in dieser Ausdrucksweise. Was A. R. Kröner im Archiv f. Psychol. 1m, 
1938, bringt, löst sich ganz in Neurologie und Physiologie auf. Der ‚‚Cours de 


Graphologie‘‘ (Les bases de l'analyse de l'écriture) von H. Saint-Morand ` 


(Paris, Vigot Frères 1937, 176 Seiten) war mir leider nicht zugänglich. Einzel- 
heiten graphologischer Forschung werden besprochen von Margret Hartge 
in Z. angew. Psych. 54, 1838 (Kinderschriften). Interessanterweise können 
auch bei eineiigen Zwillingen die Schriften recht verschieden sein. Da dies 
natürlich auch auf verschiedene Charaktereigenschaften trotz Anlagegleichheit 
hinweist, sind diese graphologischen Zwillingsuntersuchungen prinzipiell 
recht wichtig (ZLegrün in Z. menschl. Vererb. u. Konst.lehre 21, 1938). 

W. Enke (Klin. Wo. 1938), Kloos (Z. Neur. 162, 1938) und Klages (Z. Neur. 
163, 1938) ringen immer wieder um die Grundprobleme der Graphologie. 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 413 


Die Naturwissenschaftler bedauern meist die künstlerisch-intuitive Note von 
Klages’ Verfahren, auf die es Älages selbst in seiner Erfassung des Form- 
niveaus natürlich gerade ankommt. Der Naturwissenschaftler sucht nach 
objektiven. meßbaren Größen und geht so an dem Wesentlichen der Hand- 
schrift meist vorbei. Enke rettet sich in die Meßbarkeit des Schriftdrucks, 
für den ja Kraepelin schon vor Jahrzehnten mit seiner Schriftwage zu interes- 
sieren versuchte. Auch der Druck ist natürlich eines unter den allgemeinen 
Ausdrucksmomenten, ob ihm aber eine besondere Wichtigkeit zukommt, ist 
recht fraglich. Kloos behandelt die sog. ‚religiöse Kurve“ der Schrift, die er 
an vier Verbrechern wiederzufinden glaubte, und Klages bemüht sich, dabei 
Irrtümer aufzuzeigen. 

Physiognomik. Das Buch von Ma. Picard, ‚Die Grenzen der Physio- 
enomik“, ist vom Verlag Eugen Rentsch, Erlenbach-Zürich, sehr schön aus- 
gestattet und mit 30 reizvollen Bildtafeln geschmückt (ohne Jahr, 1937, 
191 Seiten). Es wird allen denen Freude machen, die das Gesicht des Menschen 
als ein lockendes Objekt betrachten, über das man denkend und künstlerisch 
bildend, auch dichtend phantasieren kann. In einer ekstatischen Sprechweise, 
in der Form zuweilen fast an Lavaterische Deklamatorik erinnernd, nur ins 
Katholische gewendet, weist der Verfasser auf das Menschenantlitz als eine 
(Juelle religiöser Erkenntnisse hin. Eine Probe möge das Gesagte veranschau- 
lichen (S. 48): „Dem Irrsinnigen gelingt es nicht, das, was das Innere stört, 
ins Äußere, ins Gesicht auszuscheiden, abzuladen. Das Innere des Irrsinnigen 
findet den Weg in das Gesicht nicht, es sucht den Weg zu den Gesichtern des 
Wahns, da es das eigene Gesicht nicht fand. Die Gesichter des Wahns sind 
das Gesicht des Irrsinnigen; als ein Ersatz für das wirkliche Gesicht sind sie 
über seinem Innern.‘ Der Titel läßt an nüchterne Fachwissenschaft denken, 
damit hat aber Inhalt und Stil des Buches nichts zu tun. 

Wer für Vererbung von Gesichtszügen Interesse hat, bediene sich der Arbeit 
von Wilhelm Strohmayer, ‚Die Vererbung des Habsburger Familientypus‘ 
(Halle 1937). Der Verfasser untersuchte 4000 graphische Blätter, hält sich 
freilich an die reine Form und geht auf die physiognostische Symbolik nicht 
ein. 

Bücher, die von Handlesekunst handeln, stehen fast immer so weit 
außerhalb der Wissenschaft, daß es kaum lohnt, auf sie einzugehen. Bei Hugo 
Steindamm-Elsbeth Ackermann, ‚Mysterium Mensch, Eine Einführung in die 
Psychologie auf Grund der Hand“ (Berlin 1938, 126 Seiten, 62 Tafeln u. andere 
Abbildungen), ist zum mindesten der Anspruch vorhanden, wissenschaftlich 
ernst genommen zu werden. Die Verfasser rücken die Handkunde — sie ver- 
. wahren sich dagegen, mit Chiromanten verwechselt zu werden — ganz mit 
Recht in den Umkreis der Ausdruckspsychologie. Wie der ganze Körper 
Ausdruck sei, so auch die Hand. Daß sich ihnen dabei Carus als Wegbereiter 
darbietet, der ja selbst über Hände eine fesselnde Studie geschrieben hat, 
ist selbstverständlich. Die Verfasser machen sich auch vielfach Klages’ Er- 
kenntnisse zu Nutze, insbesondere den Satz, daß kein Einzelbefund etwas 
Sicheres bedeute, sondern daß erst die Überschau über das Ganze — Klages’ 
Formniveau — die richtige Einschätzung des Einzelsymptoms erlaubt. So 
werden z. B. für die konische Fingerform 33 Deutungen bereitgehalten. Aber 
schon die Frage bleibt unbeantwortet, wodurch man denn die Möglichkeit 
gerade dieser 33 Deutungen gewinnt. Darauf gehen die Verfasser nicht ein, 
sondern sie dekretieren: es sei so. Das einzige Verfahren, solche behaupteten 
Zusammenhänge einleuchtend zu machen, ist der Hinweis auf die Evidenz. 


414 Hans W. Gruhle 


Z. B.: Die Finger seien im Gegensatz zum Handrücken der Erscheinungswelt 
am nächsten. Sie symbolisieren die Gaben, die uns die Wahrnehmung der ` 
Welt ermöglichen. Das seien die Gefühle (im psychologischen Sinn). Dem- 
gegenüber verkörpere der Handrücken symbolisch die inneren Schichten der ' 
Persönlichkeit, die der intelligiblen Welt zugewandt sind. Da die Wahr- : 
nehmungswelt eher begriffen zu werden pflegt, als die intelligible Welt, so 
seien die Finger Symbol des Bewußten, der Handrücken Symbol des Unbe- 
wußten. — Man ist als Psychologe sehr erstaunt darüber, daß die Gefühle 
(im Sinn der Psychologie, also Gemütszustände) die Wahrnehmung der Welt 
ermöglichen sollen. Aber auch das Übrige hört man wohl, allein es fehlt der 
Glaube. Diese Haltung des Wissenschaftlers gilt auch den zahllosen sonstigen |! 
Behauptungen des Buches gegenüber, so wenn z. B. der oberste Berg auf | i 
der Palma an der Kleinfingerseite die Freude am Kampf symbolisieren soll. 
In der Aufstellung solcher Behauptungen unterscheidet sich das Buch metho- 
dologisch nicht von seinen zahlreichen chirognostischen Vorgängern. Man be- 
findet sich in der gleichen Lage wie gegenüber einem Werke der Anthro- 
posophie: man hört ungezählte Behauptungen; — nicht mehr. Solange sich die | 
Handbetrachtung nicht von diesen einfachen Behauptungen löst, vermag sir i 
noch nicht in die Reihe wissenschaftlicher Bestrebungen einzugehen. Die Ver- 
fasser sind natürlich anderer Meinung, sie sprechen mit Stolz von ‚einwandfrei | 
erwiesenen und jederzeit wieder zu beweisenden Tatbeständen‘“. Die sorg- 
fältig gedruckten Handabdrücke zahlreicher hervorragender Persönlichkeiten. | 
insbesondere von Musikern, begleiten das Buch. ' 

Experimentelle Psychologie. Die Berichtsperiode bringt natürlich eine 
große Zahl experimentell-psychologischer Arbeiten. Es ist ganz aus- - 
geschlossen, alle diese kleinen Arbeiten mit ihren winzigen, schwer einzu- 
ordnenden Befunden hier zu referieren. Solche oft mühevollen Spezialunter- 
suchungen sollen sicher nicht unterschätzt werden, doch gewinnen sie ihre Be- | 
deutung stets erst in größerem Zusammenhang. Deshalb seien die wichtigeren 
hier nur genannt: Über Reaktionszeiten,: L. Canestrelli (Riv. Psicol. | 
34, 1938); Zur Psychologie des Lesens und der Lesestörungen: R. A. Young ; 
(Am. J. Orthopsychiatry 8, 1938); Zur Intelligenzprüfung: Jeanne Monnin ` 
(Année psychol. 37, 1937); F. H. Taylor (J. ment. Sci. 84, 1938) (10000 männl. 
jugendliche Gefangene); E. Barke und Parry Williams (Brit. J. educat. Psychol. 
8, 1938) (Intelligenz und Sprachunterricht); Zur Merkfähigkeitsprüfung: 
Fr. Courts (J. of exper. Psychol. 20, 1937). Das Gedächtnis und insbesondere | 
die Merkfähigkeit wurde an Schulkindern und pathologischen Fällen von J. Elm- ' 
gren sorgsam untersucht (J. de Psychol. 35, 1938). Das Problem der Auf- 
merksamkeit wird von van der Horst in guter Übersicht dargestellt (Nederl. 
Tijdschr. Psychol. 5, 1938). Zu akustischen Unterschiedsschwellen: 
A. D. Freiberg (Amer. J. Psychol. 49, 1937). Das in der deutschen Psychologie 
viel untersuchte Problem der Synästhesien wird von Theodore Karwoskı 
und Henry Odbert bearbeitet, ohne daß (nach dem Referat) Neues heraus- 
zukommen scheint (Psychologie. Monogr. 50, 1938: Color-music). Die Tiefen- . 
wahrnehmung wird von einem Schüler von E. R. Jaensch auf dessen Typen- | 
lehre bezogen. Es ergibt sich, daß sich die Jaenschschen Typen auch bei dieser 
Aufgabe durch verschiedene Befunde klar herausstellen (Werner Dieckmann 
in Z. Psychol. 143, 1938). 

Rorschach-Test. Einer der beliebtesten Tests ist der Rorschach-Test. 
bald wird er mehr zur Prüfung der Phantasie, bald des Einfallsreichtums 
überhaupt, bald der Impulsivität, bald der geistigen Lebendigkeit benutzt. 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 415 


Ja manche Autoren glauben, daß keine Prüfung so den Kern der Persön- 
lichkeit trifft, als der Rorschach-Test. Mit seiner grundsätzlichen Bedeutung 
setzt sich G. A. Roemer auseinander (Ztbl. Psychother. 10, 1938). Der Test 
ergebe keine Antworten, die sich direkt im wissenschaftlichen Sinne zum Per- 
sönlichkeitsaufbau verwenden ließen, sondern er sei ein Symboltest geworden: 
alle Deutungen hätten Symbolcharakter. Dies war freilich nicht die Meinung 
von Rorschach selbst. Ursprünglich war ihm sein Test ein exakter Leistungstest. 
Allmählich nahm er ihn (nach Roemer) nur noch zum Anlaß, um an ihm 
intuitiv die Persönlichkeitsstruktur des Geprüften zu erkennen. Marguerite 
Hertz befaßt sich mit den sog. Populär-Vulgär-Antworten beim Rorschach-Test, 
d.h. jenen Antworten, die bei einer und derselben Gruppe mindestens eine von 
=- drei Versuchspersonen gibt (gemeinsames Denken). Bei Intelligenten ist der 
Prozentsatz dieser Antworten höher (J. Psychol. 6, 1938). A. Guirdham faßt 
seine (englischen) Studien zum Rorschach-Test-Problem in einem Aufsatz 
im Schweizer Archiv f. Neur. 41, 1938, zusammen. Er hat die Antworten auf 
den Test immer feiner gruppiert und differenciert, und hauptsächlich an Nor- 
malen, Epileptikern und depressiv Verstimmten gearbeitet. Man bewundert 
. die Sorgfalt der Unterscheidungen und bleibt doch skeptisch, ob das Ergeb- 
nis wirklich die Mühe lohnt. H. G. van der Waals vereinigt das Jungsche 
Assoziationsexperiment mit dem Rorschach-Test, da sich beide an recht 
=- verschiedene Seiten der Affektivität wenden (Schweizer Archiv Neur. 42, 
1938). Der Rorschach-Versuch wird auch von dem Holländer V. W. D. Schenk 
«und zwar zur Erfassung organischer Hirnerkrankungen herangezogen. Die 
einzelnen Ergebnisse werden mit denen bei Normalen und Neurotikern ver- 
slichen (Psychiatr. Bladen 42, 1938). Das Gleiche unternimmt G. W. Hyl- 
kema für die Schizophrenie (Nederl. Tijdschr. Psychol. 6, 1938). 

Die Suche nach Typen führt August Löw beim Wiederkennen von akusti- 
schen und optischen Situationen zur Aufstellung der ‚Assoziativen‘‘ (meist 
 Akustiker) und der ‚‚Wiedererkenner‘‘ (meist Visuelle). Ob damit viel ge- 
' wonnen ist? (Z. Psychol. 143, 1938). John Benjamin und Ebaugh Franklin 
setzen sich für die Bedeutung des Rorschach-Testes für die psychiatrische 
Diagnostik und die Beschreibung der Persönlichkeit ein (Amer. J. Psy- 
chiatry 94, 1938). Marguerite Hertz bespricht Methodisches und beson- 
ders die Ergebnisse bei Normalen (Americ. J. Orthopsychiatry 8, 1938). 
Eine Picksche Atrophie wurde mit Rorschach-Tests von Z. Piotrowski 
(Brit. J. med. Psychol. 17, 1937) untersucht. — A. Weber (Waldau-Bern) 
-= verwendet sorgsam den Rorschach-Test bei Delirium tremens und Alkohol- 
psychose, geht aber auch auf andere Störungen ein und erkennt den Wert, 
der Prüfung durchaus an (Z. Neur. 159, 1937). Auch der Holländer van der 
= Sterren lobt den Test und gibt an der Hand der Untersuchung von fünf ver- 
. schiedenen Kindern eine Art Einführung in die Rorschach-Methode (Psychiatr. 
Bladen 42, 1938). Auch die französische Psychologie setzt sich mit der Ror- 
schach-Methode auseinander: M. Monnier in Ann. med. psychol. 96, 1938. 
William Stern und sein Schüler Struve bemängeln am Rorschach-Test die 
Symmetrie und scharfe Abgrenzung und schlagen deshalb ‚Wolkenbilder- 
Tests“ vor (Z. Kinderpsychiatr. 5, 1938). 

M. Mahler-.schoeneberger und J. Silberpfennig hatten den überraschenden 
Einfall, den Rorschach-Test bei Amputierten mit und ohne Phantomerlebnis 
zu verwenden. Es ergab sich, daß ein großer Teil der 17 Amputierten ana- 
tomische Einfälle — bis zu 100°, — vorbrachten, oft inbezug auf die eigene 
Körperlage. Dies seltsame Ergebnis mag zum Teil auf das natürlich leb- 


416 Hans W. Gruhle 


hafte Interesse zurückzuführen sein, das die Versuchspersonen ihrem Körper- 
defekt widmeten, zum Teil liegt es wohl in der Instruktion durch die Ver- 
suchsleiter, ist also ein Kunstprodukt. Eine Versuchsperson ließ es sich nicht 
ausreden, Röntgenbilder gezeigt zu bekommen. Die psychoanalytischen 
Deutungen der Verfasserinnen überzeugen nicht (Schweiz. Arch. Neur. 40. 
1938). K. H. Stauder baut seine, dann freilich weiter ausgreifende Studie 
über die Epilepsie auf Rorschach-Versuchen auf. Beim Demenzbegriff war 
von diesem Buch schon die Rede. 


Psychologie der Arbeit. Zur Psychologie der Arbeit: Dji-Lih Kao 
(Psychologic. Monogr. 49, 1937); Csinddy-Veress (Turnen) (Arb. physiol. 10. 


1938). J. M. Lahy und Korngold stellen aus Litteratur und Statistik allerlei - 


über jene Personen zusammen, die vermehrt zu Unfällen neigen. Sie teilen 
psychctechnische Untersuchungen mit, um so Disponierte von vornherein 
auszuschalten (Recherches expérimentales sur les causes psychologiques des 
accidents du travail, Paris 1936). Zur motorischen Geschicklichkeit der 
oben erwähnte Kao. Über das persönliche Tempo arbeiteten Harrison Ross 
und Dorcus (J. gen. Psychol. 18, 1938). E. Martin (Med. Trav. 9, 1937) 
bringt Wichtiges zur Organisation der Arbeits- und Unfallserforschung. Er 
schildert vor allem die vorzüglichen italienischen Einrichtungen und kriti- 
siert die französischen. Auf Deutschland geht er nicht ein. Ernst Bornemann 


bringt eine größere Studie zur Analyse der Ermüdung insbesondere zur Frage 


der partiellen Ermüdung und schneidet damit wichtige Probleme an. Er er- 
örtert besonders die sog. Willensermüdung (Z. angew. Psychol. 54, 1938). 
H. Delgado analysiert zwar von verschiedenen Gesichtspunkten aus sorgsanı 
den Willensakt, bringt aber für die deutsche Psychologie nichts Neues (Archivos 
Med. leg. 8, 1938). 


Motilität. Nur nach einem Referat vermag ich das Ergebnis der großen | 


(portugiesischen) Studie über die ‚‚klinische Analyse der hyperkinetischen 
Symptome‘ von Fernandes Barahona mitzuteilen (Lissabon, 1938, 266 Seiten): 
Die pathopsychologischen und physiopathologischen Störungen der psycho- 
motorischen Syndrome ergeben sich nicht aus einem Plus oder Minus der 
normalen Aktivität, sie drücken vielmehr ein aliter aus. Daher rührt ihr für 
unsere Auffassung fremder und unbegreiflicher Charakter. Das Wesen der 
hyperkinetischen Syndrome beruht auf einem Bruch der psychologischen 
Einheit der psychomotorischen Aktivität, hervorgerufen durch Zwischen- 
treten neuropsychologischer vitaler Mechanismen, die sich unharmonisch aus 
dem psychosomatischen Zusammenhang des Individuums gelöst haben. 

Neue psychologisch interessante Probleme hat das Flugzeugwesen mil 
sich gebracht, so daß sich innerhalb der Flugmedizin auch eine Psychologir 
des Fliegens herausbildet. J. E. Brouwer handelt vom Fallschirmabspringen 
(Mil. geneesk. Tijdschr. 27, 1938). 

Zur Psychologie des Sports: G. Steger und O. Klemm (Krügers neue psycho- 
log. Studien 9, 1938). Gertrud Burkhardt beschäftigte sich sorgsam mit den 
grundsätzlichen Unterschieden, die die Betreibung des Sportes bei beiden Ge- 
schlechtern zeigt. Ihre Ausführungen über die Beziehungen des weiblichen 
Naturells zur motorischen Leistung zeugen von kluger Einfühlung, auch fügt 
sie eine Reihe von Aussagen sporttreibender Frauen über ihre Stellung 
zum Sport bei (Arch. f. Psychol. 101, 1938). 


Heerespsychologie. Die Psychotechnik und Berufsberatung werden 
hier nicht besprochen. Eine der erfreulichen Anwendungen praktischer Psy- 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 417 


ehologie ist die Auslese des Offiziernachwuchsesim Heer. Bei dem Interesse 
besonders der gebildeten Schichten für diese Auslese haben sich allerlei zum 
großen Teil falsche Gerüchte darüber ausgebreitet, die Mar Simoneit in seinen 
„Leitgedanken über die psychologische Untersuchung des Offiziernachwuchses 
in der Wehrmacht‘ (Berlin 1938, 29 Seiten) zerstreut. Hier wird keine Test- 
psychologie im Sinne amerikanischer Pseudoexaktheit getrieben, sondern 
das Experiment, die Situation dient nur zum Anlaß, um dabei die Wesensart 
des Prüflings möglichst vielseitig kennenzulernen. Auch aus anderen Ver- 
öffentlichungen der Heerespsychologen geht erfreulicherweise die gleiche 
Tendenz hervor. So untersucht K. Mierke in der Z. f. angew. Psychol. 55, 
1938 die sog. ‚praktische Veranlagung‘, die keineswegs mit Handgeschick- 
lichkeit zu verwechseln ist. Auch im italienischen Heer scheinen ähnliche 
Tendenzen sich durchzusetzen, die Eignungsprüfung auf das Gesamtverhalten 
und den Kern der Persönlichkeit der Prüflinge auszudehnen (Gemelli, Trav. 
hum. 6, 1938). 

Lokalisation. Ein immer interessantes, unerschöpfliches Gebiet der For- 
schung sind die durch einen Tumor oder sonstigen umschriebenen Prozeß 
gesetzten Hirnherde und die dabei beobachteten seelischen Anomalien. 
Die Gefahr ist groß, daß sich diese Forschung nur zu einer Sammlung von 
Kuriositäten auswächst. Jeder Fall ist meist anders, und allgemeine Erkennt- 
nisse lassen sich schwer daraus ableiten. Früher verfuhr der Forscher kurz 
und bündig: er stellte bei der Sektion einen so und so gelagerten Hirnherd 
fest und glaubte nun, die zuvor beobachteten seelischen Störungen bzw. die 
gestörte Funktion habe dort ihren ‚Sitz‘. Heute wird die Meinung weithin 
geteilt, daß die seelischen Funktionen keinen ‚‚Sitz‘‘ haben, sondern aus dem 
Zusammenwirken einer ganzen Anzahl von Impulsquellen, Leitungen, Schalt- 
stationen, Hemmungen, Enthemmungen usw. gedacht werden müssen. Da- 
durch sieht die sog. Lokalisationsfrage ganz anders aus: man kann einem 
Hirnpunkte, einer Windung, oder gar einem Lappen nur eine größere oder ge- 
ringere Beteiligtheit an einer seelischen Funktion zusprechen. So richtig das 
Zurückdrängen jener primitiv materialistischer Anschauungen war, so ver- 
wickelt ist freilich heute die Ausdeutung anatomischer Einzelbefunde ge- 
worden. Vor jeder Verallgemeinerung des einzelnen Falles ist dringend zu 
warnen. F. Laubenthal widmet eine gründliche Studie optischen Raumwahr- 
nehmungsstörungen: Mikropsie, Makropsie, Suchen im Sehfeld, Gestaltzerfall 
u. dgl. Wir bedürfen einer großen Zahl solcher sorgsamen Beschreibungen 
einzelner Fälle, um in ferner Zukunft einmal zu einem anatomischen Unterbau 
unter die Lehre von der Wahrnehmung und ihren Störungen zu gelangen 
(Z. Neur. 162, 1938). 

Eine sorgsame, wertvolle aber recht komplizierte Arbeit aus der Berliner 
psychiatrischen Klinik betrifft die wechselseitige Bedingtheit von Haltungs- 
und Wahrnehmungsstörungen. Sie ist ein Beitrag zu der neuerdings viel be- 
sprochenen Frage, inwieweit in der wissenschaftlichen Untersuchung die Iso- 
lierung eines Einzelsymptoms immer ein Kunstprodukt ist, während tatsäch- 
lich verschiedenste ‚‚Lagen‘“, Funktionen und Reize aufeinander Einfluß aus- 
üben (F. A. Quadfasel in Mschr. Psychiatrie 96 u. 97, 1937). — M. Keschner, 
M. Bender und J. Strauß liefern eine wertvolle Übersicht über die seelischen 
Symptome bei 530 nachgewiesenen Hirngeschwülsten. Die kurze Arbeit ist 
war hauptsächlich diagnostisch orientiert, doch darf der Forscher des Zu- 
sammenhangs von Herd und Symptom an dieser Arbeit nicht vorbeigehen 
(J. Amer. med. Assoc. 110, 1938). — 

27 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


418 Hans W. Gruhle 


Daß ausgedehnte Störungen der 1. Schläfenwindung, des Gyrus angularis 
und des Brocaschen Zentrums sowohl rezeptive wie expressive Sprach- 
störungen ergeben, weiß man nun nachgerade schon recht lange (Elinor Ives. 
Bull. Los Angeles neur. Soc. 2, 1937; ein Fall). In einer interessanten Studie 
fährt O. Pötzl in seinen früheren Bestrebungen fort, Sehstörungen, Bewegungs- 
sehen, Körperschemastörungen und Raumstörungen auf einander und auf 
Zerstörungen des Hinterhauptpols der Rinde zu beziehen. Diese Zusammen- 
hänge sind so minutiös und einleuchtend ausgearbeitet, daß man fast Furcht 
hat, die ganze Konstruktion könnte ein Phantasma sein (Arch. f. Psychiatrie 
107, 1937). 

Ein sehr verwickeltes Problem, das nur von einem umfassend gebildeten 
Forscher klargelegt werden kann, ist das des Raums. Der Raum als meta- 
physisches, als physikalisches, als Erlebnisproblem fordert immer wieder neue 
Gesichtspunkte. Das Raumerlebnis als visueller, taktiler, akustischer Raum 
sind besondere und doch zusammenhängende Erlebnisse. Der Raum unseres 
eigenen Körpers, die Beziehungen unseres Körpers zum Raum, die Lokali- 
sation im Binnenraum des Körpers, die Frage der geometrischen Verhältnisse 
als Eindrücke, der Raumerfassung durch das Tier: alles dies wird von Ge:u 
Revesz klug und ausführlich besprochen (Amer. J. Psychol. 50, 1937). — 
Nicht nur bei Hirnherden, auch bei Vergiftungen kommen interessante Raum- 
veränderungserlebnisse vor, wie ein Fall von Urämie des W. Kat (Psvchiatr. 
Bladen 42, 1938) zeigt. — Ein sehr großer, glücklich operierter Tumor des 
linken Stirnhirns gab Franz Pollak Gelegenheit, eine komplizierte Orientie- 
rungsstörung im Außenraum zu studieren, die nicht nur die egozentrische, 
sondern auch die absolute Lokalisation betraf. Mancherlei allgemeine Raum- 
erfassungsprobleme werden an der Hand dieses interessanten Falles erörtert 
(Schweizer Archiv f. Neur. u. Ps. 42, 1938). 

Das reizvolle Phänomen der sog. kongenitalen Wortblindheit wird 
sehr gründlich von Laubenthal behandelt (Z. Neur. 163, 1938). Er schreibt 
ihr eine multiple Lokalisation und sowohl exogene als endogene Bedingtheit zu. 
Natürlich ist sie nur, wie er ausführt, ein Symptom. Aber dieses wie angeborene 
Störungen des Sprachverständnisses u. dgl. sind gerade dann viel weniger 
interessant, wenn sie mit Schwachsinn vereint sind. Die Forschung fördert 
hier viel Wesentlicheres, wenn sie sich Fällen ohne Schwachsinn zuwendet. 
An sich haben jene eingeborenen Sprachanomalien mit Schwachsinn (im Ge- 
gensatz zu Laubenthal) nichts zu tun. — Seltsame Gedanken und Experimente 
bringt der Russe Timofeev (Nevropat i. t. d. 7, 1938). Er glaubt durch Ein- 
spritzung von Adrenalin in den M. cucullaris herauszubekommen, wie sich 
kortikale, subkortikale und peripherische Komponenten an der Affektivitat 
beteiligen, wodurch dann ein Einblick in die Struktur der Affekte gewonnen 
werden soll. — S. di Frisco versucht eine Analyse des Phänomens der Sym- 
pathie (Rass. Studi psichiatr. 27, 1938) und studiert seine Abirrungen, die sowohl 


seelisch als körperlich (hormonal) bedingt sein können und in der Schizo- | 
phrenie am deutlichsten sichtbar werden. Der Nucl.caudatus soll angeblich ein > 


sympathieregulierendes Zentrum enthalten. — Die Aktivität (Initiative: 
in ihren Beziehungen zu Regionen von Stamm und Rinde wird in einer sehr 
sorgfältigen großen Arbeit experimentell an Affen geprüft. Die prämotorische 
Rinde, insbesondere Brodmanns Feld 9 scheinen in Zusammenarbeit mit dem 
Striatum funktionell besonders stark beteiligt zu sein: C. Richter und Marion 
Hines in Brain 61 (1938). — Morsier bespricht sorgfältig drei eigene trau- 
matische Fälle, die ihm zu folgenden Annahmen Anlaß geben: In der Parietal- 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 419 


region liegen kortikale Vestibulariszentren; der Scheitellappen stellt eine Art 
Kreuzweg dar, an welchem die optischen, vestibulären und somatognostischen 
Eindrücke zusammenlaufen (L’Encephale 33, 1938). Morsier und Broccard 
erörtern einen verwickelten Sachverhalt einer Parietalschädigung, bei der 
sich Ähnlichkeiten organisch bedingter und psychogener Symptome ergeben. 
Der Meinung der Autoren, daß der hysterische Anfall durch eine Störung in 
den extrapyramidalen Rindenfeldern bedingt sei, werden nicht viele Sach- 
kenner zustimmen können (Schweizer Arch. Neur. 40, 1938). 

F. A. Pickworth (Brit. med. J. Nr. 4022/1938) glaubt dem Zusammenhang 
von Leib und Seele dadurch näher zu kommen, daß er ‚Zustand des Kapillar- 
mosaiks des Gehirns‘ und seelischer Zustand identifiziert. Er ist der seltsamen 
Meinung, daß in Zukunft ein Studium der Psychosen also im wesentlichen ein 
Studium des Blutkreislaufs sein werde. Wie die unendliche Mannigfaltigkeit 
der seelischen Vorgänge dann auf eine ebensogroße Mannigfaltigkeit des 
Kapillarzustandes bezogen werden kann, bleibt natürlich unaufgeklärt. 
Eine ebenfalls peinliche Verwirrung in den Gesichtspunkten vom Leib-Seele- 
Zusammenhang richtet F. Pollak an. Er glaubt, etwas Wesentliches auszu- 
sagen, wenn er unter hysterischem Syndrom die Summe jener vegetativen 
Innervationsimpulse versteht, die im Palaeencephalon verankert sind. Es mag 
schon sein, daß diese Impulse bei der Hervorbringung körperlicher Symptome, 
wie der Stigmata, mitwirken, aber man wird dadurch doch über das Wesen 
der hysterischen Mechanismen nicht klarer. Man will ja gerade wissen, warum 
bei der Stigmatisation jene Impulse überhaupt und warum sie gerade so mit- 
wirken. Was nützen solche allgemeine Redewendungen für die Erkenntnis 
hysterischer Stigmata, daß ‚‚freigewordene Energiemengen in die Peripherie 
abströmen‘. Noch schlimmer wird es, wenn in diese physiologischen Vorstel- 
lungen dann auch noch ‚‚phylogenetisch alte Energiemassen menschlicher 
Schuld‘ einströmen. Dann wird die Toleranzgrenze des Lesers überschritten 
(Z. Neur. 162, 1938). 

Tierpsychologie. Nadie Kohts, der wir schon früher ausgezeichnete Studien 
über die Seele des Schimpansen verdankten, hat diese Arbeit neuerdings 
fortgesetzt (J. de Psychol. 34, 1937). W. MacDougall untersuchte verschiedene 
Funktionen an Ratten (Brit. J. Psychol. 28, 1938), ebenso Anderson (Comp. 
Psychol. Monogr. 16, 1938). Aus der Haustiererforschung gewann H. Hediger 
interessante Ergebnisse und klärende Begriffe (Z. Tierpsychol. 2, 1938). Auch 
die Arbeit von Monika Holzapfel bringt zu stereotypen Bewegungen der Tiere, 
insbesondere über das sog. ‚‚Weben‘‘ der Pferde wichtige Aufschlüsse (Z. Tier- 
psychol. 2, 1938). 

Aus dem Referat von Révész über neuere Studien J. P. Pawlows bin ich 
nicht klug geworden (portugiesisch erschienen). Anscheinend behandelt der 
Verfasser die Beziehungen bedingter Reflexe zu den Temperamenten (Rev. 
Neur. Sao Paulo 3, 1937). Ein ähnliches Thema behandelt B. P. Babkin in 
Edinburgh med. J. 45, 1938. — Die Zirkusdressurläßt sich tierpsychologisch 
sehr gut ausbeuten. Besonders die Beziehungen zwischen Mensch und Tier 
werden dabei erforscht. Darüber schreibt H. Hediger in den Naturwiss. 1938. 
Die Bildbarkeit tierischer Instinkte, die Erfindung und der Gebrauch von 
Werkzeugen, das Denken wird an Affen untersucht und erläutert von P. Guil- 
laume und J. Meyerson (J. de Psychol. 34, 1937). — Zum Begriff des Instink- 
tes bringt M. Nachmansohn im Schweizer Arch. Neur. 40, 1938 beachtens- 
werte Gedanken. — Carlo Ceni glaubt an einen besonderen (extrasexuellen) 
Mutterinstinkt. Er bemüht sich, ihn sowohl mit der vorhandenen Nachkom- 


2:9 


420 Hans W. Gruhle 


menschaft als mit der zunehmenden Differenzierung des vorderen Gehirnpols. 
als mit dem Hormonkomplex von Schilddrüse, Nebenniere und Hypophyse 
in Beziehung zu setzen (Schweizer Archiv f. Neur. u. Psychiatrie 42, 1938). — 
Art der sinnlichen Wahrnehmung und Bewegungsstil, die beim nördlichen 
und südlichen Menschen verschieden sind, sollen auch bei nördlichen und 
südlichen Hühnern verschieden sein. Die Verantwortung für den Gedanken 
und den Beweis tragen E. R. Jaensch und S. Arnhold in Z. f. Psychol. 144, 
1938. — Tibor Rajka (Riv. Biol. 26, 1938) sucht nach Gemeinsamkeiten 
zwischen dem Affektstupor des Menschen und der Schreckstarre (Immobilisa- 
tion) des Tieres. Nur wer der Begriffsbildung von Pawlow und insbesondere 
seiner unmäßigen Ausdehnung des Reflexbegriffes zustimmt, wird aus der 
Arbeit Gewinn haben. — Fr. Völgyesi, ‚‚Menschen- und Tierhypnose‘ (deutsch 
von Ofner, Zürich, Orell Füssli 1938, 231 Seiten und 138 Abbildungen), war 
mir leider nicht zugänglich. Einem Referat entnehme ich, daß der Verfasser 
eine Geschichte der Hypnose und eine gemeinverständliche Darstellung des 
ganzen Themas bringt, Berichte über eigene Tierexperimente in den zoologi- 
schen Gärten von Budapest und London anschließt, und schließlich eine 
„vasomotorische Dezerebrationstheorie‘‘ aufstellt, nach der die Hypnose auf 
vorübergehende Entblutung der neenzephalen Hirnteile zurückzuführen sei. 
Auch die Technik der Hypnose wird noch erörtert. 

Psychopathie und Neurose. Daß die Psychopathologie der Psychopathie 
stagniert, liegt wohl zum Teil im Gegenstand, der ungezählte Nuancen bietet. 
und so jeder allgemeinen Beschreibung und jeder systematischen Einteilung 
spottet. Noch wenig bekannt ist der oben skizzierte Versuch des Schweden 
Sjöbring, der in Minusvarianten der Kapazität (Debilität), Solidität (Hysterie), 
Validität (Psychasthenie) und Stabilität (Cyclothymie) einteilt. Aber auch 
diesem Schema geht es wie allen solchen Versuchen, daß es zahlreiche Fälle 
gibt, die in keines dieser Fächer passen. Am 7. skandinavischen Kongreß für 
Psychiatrie in Oslo 1938 hat man sich mit dem gesamten Thema befaßt. 
Die nordischen Fachleute weichen von den Anschauungen der deutschen 
Psychiater nur in Kleinigkeiten ab. Die ‚harmonische Genialität‘‘ (gibt es 
sie?) soll aus dem Psychopathiebereich wegbleiben. Epileptoide und hysteri- 
sche Typen seien methodisch noch nicht gesichert. Zwischen psychopathischer 
und neurotischer Persönlichkeit wird unterschieden. Letzterer Begriff scheint 
sich aber nur durch die stärkere Milieubedingtheit zu unterscheiden. — In 
den schwedischen Anstalten scheinen die Aufnahmen an Psychopathen weit 
häufiger zu sein als in Deutschland: 13 bis 29%, in den letzten Jahren steigend. 
20°, davon waren kriminell. Auch in Schweden wird das örtliche Zusammen- 
sein echter Psychotiker und Psychopathen als ein Mißstand angesehen 
(G. Lundgvist in Sv. Läkartidn. 1938 und G. Langfeldt in Nord. med. Tidskr. 
1938). Auch der Pole T. Bilikiewicz bemüht sich um die Neurose, schilt auf 
die materialisierte Schulmedizin des 19. Jahrhunderts und ‚‚die bürokratisierte 
Lohnmedizin des 20. Jahrhunderts‘‘, vermag aber dann auch nur die viel- 
fältigen Herkünfte aufzuzählen, aus denen eine Neurose entspringen kann 
(Polska Gazet. lek. 1938). — Aus den allgemeinen Sentenzen führt ein kurzer 
Aufsatz von Schultz-Hencke heraus (D. med. Wo. 1938), der ernstlich an eine 
Verkettung von gewissen Affekten mit gewissen Körperorganen glaubt, z. B. 
der Schreck mit der Schilddrüse, die Trauer mit der Leber, der Geiz mit dem 
Darm usw. Freilich geht der Verfasser nicht soweit, eine allgemeine Ver- 
knüpfung anzunehmen, sondern er denkt nur an individuell gestiftete Be- 
ziehungen. 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 421 


Julius Gehricke handelt von der Angst als Quelle des Stotterns und von 
der Besserung in verständig geleiteter Gemeinschaft (D. Sonderschule 5, 1938). 

W. vo. Baeyer untersucht sorgsam die abnorme Reaktion mancher Männer 
auf die militärischen Anforderungen. Interessant sind besonders jene Personen, 
die im Zivilleben durchaus angepaßt waren und erst auf das Militär abnorm 
reagieren. ve. B. sagt mit Recht, daß die individuelle Erforschung wichtiger 
sei als die Typisierung (Veröff. Heeressan.wesen 105, 1938). 

Über die Angst in ihren vielen Formen und Verkleidungen schreibt Johannes 
Neumann, ‚Leben ohne Angst“ (Stuttgart-Leipzig, Hippokrates-Verlag 1938, 
185 Seiten), vor allem vom therapeutischen Standpunkt. Manche Schilderung 
ist ganz plastisch, doch ist die Haltung des Verfassers allzu populär, wie seine 
Schlagworte beweisen: ‚Die Liebe ist kein Trockendock, die Liebe ist keine 
Wippe“. 

M. Montassut, La depression constitutionelle (Paris, Masson 1938, 210 Seiten), 
handelt eigentlich nicht von der Depression, wenigstens nicht im phäno- 
menalen Sinn. Das Buch, das mit einer freundlichen Vorrede von Henri Claude 
eingeleitet wird, beginnt und schließt mit einem Hinweis auf Hippokrates. 
In flüssiger verbindlicherWeise wird der großeStoff der neurotischen, neurasthe- 
nischen, hypochondrischen, psychasthenischen Symptome vorgetragen. Am 
Schluß seiner Einleitung sagt der Autor, daß zwar der Name der Beardschen 
Neurasthenie aus der Mode gekommen sei, daß aber die Sache selbst natürlich 
weiter existiere. Es sei nötig, ihr einen neuen Namen zu geben; deshalb ‚‚sub- 
stituiere“ er ihn mit dem der konstitutionellen Depression. Es ergeben sich 
daraus indessen kaum neue Gesichtspunkte. Dieser Begriff wird außerordent- 
lich ausgeweitet und keineswegs mehr so gefaßt, wie er im deutschen Wissen- 
schaftsgebiet üblich ist. 

Zwangssymptome. F. Kehrer nennt seine 88 Seiten starke Studie über ‚‚die 
Verbindung von chorea- und tic-förmigen Bewegungen mit Zwangsvorstel- 
lungen‘ usw. (Basel-Leipzig, Karger 1938) zugleich einen Beitrag zur Psycho- 
pathologie der Ausdrucksbewegungen. Zwar stützt sich X. nur auf vier Fälle, 
in denen sich hyperkinetische Zustände mit Zwangsgedanken vereinigen. 
Aber das Hin und Her-erwägen der Möglichkeiten, was primär, was sekundär 
ist, — wie sich ein Kranker seelisch mit organisch (enzephalitisch) gesetzten 
Symptomen abfindet, — inwieweit hierhinein Anlagefaktoren spielen, — 
inwieweit sich zu primären Zwangssymptomen motorische Ausdrucksmecha- 
nismen gesellen können usw., ist durchaus fruchtbar und lehrreich. Es berührt 
ungemein angenehm, daß der Verfasser nicht auf irgendwelche Theorien fest- 
gelegt ist, sondern das gesamte wissenschaftliche Erwägungserlebnis vor dem 
Leser ablaufen läßt. Zur Phänomenologie des Zwangssymptoms ist K.s Studie 
sehr wertvoll. 

Man hat schon viel über die Frage nachgedacht, ob dieZwangsneurotiker 
eigentlich einen bestimmten Charakter haben. Man wußte bisher nur, daß 
die sog. Psychastheniker, selbstunsichere entschlußunfähige Menschen, zur 
Phobie neigen. N. Praeger bemüht sich weiterzukommen (Z. Neur. 162, 1938). 
Der Charakter der Phobiker habe eine aktive drängende Note, sei dabei miß- 
mutig-depressiv und berge sowohl unsoziale Triebregungen als soziale Trieb- 
kräfte. Sehr klar ist diese Schilderung nicht. Paul Schilder teilt sieben Fälle 
von Zwangsneurosen mit, bei denen sich außerdem sichere organisch-neuro- 
logische Symptome fanden (Amer. J. Psychiatr. 94, 1938). 

Erwin Strauß bringt eine 40 Seiten große Studie über Zwangssymptome 
(Moschr. Psychiatr. 98, 1938). Er glaubt den Phänomenen näher zu kommen, 


422 Hans W. Gruhle 


indem er sie als Symbol für ganz andere Regungen der Seele auffaßt. Er nimmt 
also die Symptome als Verkleidungen an. Bei der Suche nach den urtümlichen 
Regungen, die sich solcher Verkleidungen (warum?) bedienen, stößt er auf 
den Ekel. Dieser ist die Abwehr einer Einung mit dem Verwesenden. Für den 
Zwangskranken ist die ganze Welt voll vom Verwesenden. In dieser Art einer 
m. E. völlig willkürlichen, phantastischen Ausdeutung fährt der Verfasser 
fort, in dem er sich dabei noch unnütz komplizierter Ausdrücke bedient. Die 
Psychologie kann aus solcher Betrachtung m. E. keinen Gewinn ziehen. Der 
Aufsatz ist eine Art philosophischer Dichtung über ein psychisches Phänomen. 
Die Behandlung schwerer Zwangsvorstellungen haben W. Freeman und 
James Watts in Washington dadurch bereichert, daß sie die Bahnen im sub- 
kortikalen Weiß der frontalen Assoziationszentren durchschnitten; bei einem 
der neun Fälle (einer 58jährigen Frau, die seit 35 Jahren an Phobien litt) 
wurde die Operation sogar einmal wiederholt, ohne daß die Zwangsgedanken 
weggingen. Allerdings sei die Angst verschwunden. Man wundert sich, daß 
nicht einfach beide Hemisphären entfernt wurden, dann wären die Erfolge 
sicher noch besser gewesen (Bull. Los Angeles neurol. Soc. 1938). 

V. E.von Gebsattel widmet 64 Seiten drei Fällen von Phobie in der Bonhoeffer- 
schen Monatsschr. Psychiatr. 99, 1938. Von den Friedmannschen Arbeiten 
an bleibt das Zwangsproblem bis heute von verschiedenen Seiten her interes- 
sant. Den Kliniker beschäftigt die Schwierigkeit, psychopathische und schizo- 
phrene Zwangssymptome voneinander zu sondern. Jeder Sachkenner kennt 
Fälle, die jahrelang durch die Heilversuche vieler Psychotherapeuten gingen. 
und sich schließlich als einwandfreie Schizophrene entschleierten. Auch bei 
Gebsattels Fällen taucht diese Vermutung auf. Der Psychotherapeut spricht 
seufzend von der fast vergeblichen Bemühung bei älteren Phobiefällen. Der 
Psycholog wünscht sich immer neue Beschreibungen der phobischen Abläufe, 
nicht so sehr ihrer Inhalte herbei. Die Gebsattelsche Studie läuft nur vorüber- 
gehend einmal in einer dieser Richtungen. Der Verfasser ist kein Freund reiner 
Beschreibung: er durchsetzt alles mit klugen Ideen über Wert, Sinn und tiefere 
Bedeutung der Symptome. Er treibt keine Psychologie, nicht einmal eine 
solche im Diltheyschen Sinne, sondern er philosophiert über Zwangssymptome 
und umrankt kurze Beschreibungen mit zahlreichen Gedankenarabesken. 
die ihm selbst das einzig Wesentliche sind. Er nimmt sozusagen die Phobieen 
nur als Anlaß, um persönliche Meinungen über Welt und Lebenszusammen- 
hänge vorzutragen. Dies ist dadurch möglich, daß ihm alles Geschehen ein 
Gleichnis ist: er hält es für seine Aufgabe, zum ‚‚eigentlichen Sinn‘ zu gelangen. 
Bei einer Kranken, bei der die ‚‚„Gegenwelt‘‘ ‚sozusagen das Gesicht des Hun- 
des‘ hatte, womit sie Grausen und Schmutz meinte, konstituiert der phobische 
Ekelgedanke um sie herum eine Welt des Schmutzes oder bewirkt, daß sie 
in ihr emporsteigt und auf die Dinge übergeht. Diese Störung bricht aus dem 
Grunde ihrer Existenz hervor. Der Schmutz ist eine Exteriorisierung des eige- 
nen Inneren, ein Zwangsprodukt der Phantasie ohne welthafte Dichte. — 
Ein anderer Fall wird den Eigengeruch des Urins nicht los. Das Symptom 
wird symbolisiert als die Unfähigkeit, sich den Aufgaben des Lebens zuzu- 
wenden. Vermag der Kranke so ‚‚die Schuld des Daseins‘ nicht abzutragen, 
so erwacht in ihm ein vages Schuldgefühl, das eben wieder in dem ,,Ver- 
unreinigungsgefühl‘‘ (Urin) symbolisiert ist. Hierin birgt sich ein Nichtlos- 
kommen von der Vergangenheit. Es entsteht eine Art Persönlichkeitsspaltung. 
Von ihr gibt es drei Typen: diejenige der Zwangsneurosen ist die ‚funktionelle‘. 
die der Melancholiker, Psychastheniker und schweren Zwangskranken ist 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 423 


die sejunktive, die der Schizophrenie ist die dissoziative Spaltung. — Dem 
Verfasser liegt nicht so sehr daran, die Herkunft der speziellen Symptome 
seiner Kranken aufzuzeigen; er hebt die Beschreibung vielmehr nur auf ein 
gehobenes, symbolisch-magisches Niveau. Jungsche Gedanken klingen leicht 
an, doch steht diese ganze Weise der Schilderung und Deutung ganz auf den 
Schultern von Freud und Heidegger. v. Gebsattel ist etwa mit Ludwig Bins- 
wanger (ldeenflucht) und Erwin Strauß zu einer Gruppe zu rechnen. Die Mehr- 
zahl der Psychiater wird sich nur schwer in die verwunderlich dichterisch- 
philosophische Sprechweise dieser Autoren einlesen. Doch wird es sicher auclı 
einzelne Psychologen geben, die überzeugt sind, daß erst hier der tiefe ‚‚Sinn‘ 
abnormer seelischer Symptome feinsinnig ans Licht geholt wird. 

Bisher glückte es niemand, das Wesen der Neurose in einen klaren Begriff 
einzufangen. E. Speer definiert: Neurose sei Folge mangelhafter Erlebnis- 
verarbeitung, diese wiederum beruhe entweder auf dem Übermaß dieses 
Erlebnisses oder auf Zermürbung der Persönlichkeit. Ähnliches hat man schon 
bisher immer von der pathologischen Reaktion behauptet. Neurose wäre 
also pathologische Reaktion. Dann wäre also eine Haftreaktion eine Neurose. 
Ob diese Einschränkung gerade glücklich ist? Und was ist ‚„Zermürbung 
der Persönlichkeit‘ für ein populärer unbestimmter Ausdruck! Auch viele 
Einzelbehauptungen Speers überzeugen keineswegs, z. B. daß die Sonder- 
lingsneigung Mutterboden jeder Neurose sei (Vom Wesen der Neurose. Lpzg., 
Thieme 1938, 122 Seiten). Um Definitionsfragen handelt es sich auch bei 
Flinker. Er sucht das Wesen der Hysterie ‚scharf zu fassen‘. Er schließt sich 
dabei am ehesten an Gaupp (1911) an. Die Ursache der Hysterie sei der Mangel 
oder das Fehlen einer ‚‚zielgerichteten Aktivität“. Man erschrickt über die 
Einfachheit dieser Definition, indem man sich daran erinnert, daß Josef Berze 
1914 in wohl abgewogenen Ausführungen ‚‚die primäre Insuffizienz der 
psychischen Aktivität“ als Grundsymptom nicht etwa der Hysterie sondern 
der Schizophrenie betrachtet hatte. Soll dieser Mangel also nun beiden 
Grundstörungen eigen sein, oder faßt Fl. seine Aktivität gedanklich anders? 
Man erfährt darüber nichts Näheres. Bei ihrem Fehlen können nach Fl.s 


` Meinung nun alle möglichen phylo- und ontogenetisch vorgebildeten Mecha- 


—— 2 


nismen, ja jede Vorstellung einer gestörten Funktion die Oberhand gewinnen. 
In a. W. hysterische Erscheinungen seien also solche, ‚‚die nur bei Fehlen oder 
Herabsetzung der zielgerichteten Aktivität zustande kommen, bzw. erhalten 
werden‘. Danach träfe also dieses Fehlen keineswegs das Wesen der hyste- 
rischen Symptome, sondern wäre nur eine ihrer Vorbedingungen. Aber man 
erinnert sich doch zahlreicher Menschen mit hysterischen Symptomen, die 
eine sehr große zielgerichtete Aktivität besaßen, z. B. mancher Verbrecher, 
und andererseits stehen einem zahlreiche Menschen ohne erhebliche Aktivität 
vor Augen, die niemals hysterische Symptome hatten. Da der Verf. dies sicher- 
lich auch weiß, bleibt nur die Annahme übrig, er meine, jemand bekäme 
aus irgendwelchen Gründen irgendein psvchogenes Symptom; dieses werde 
aber erst dann zu einem hysterischen, wenn der Betroffene es nicht sogleich 
mit zielbewußter Aktivität wieder beseitigen könne. Dann wäre z. B. jedes 
Zwangssymptom, ja jedes länger währende psychogene Symptom überhaupt 
hysterisch. In der Ungewißheit, ob diese Interpretation richtig sei, forscht 
man weiter und findet bei Fl., für die Form und den Inhalt der hysterischen 
Symptome seien jeweils ‚gesonderte psychologische Zusammenhänge ver- 


, antwortlich zu machen‘. So sei der kindliche Trotz der Hysterie zuzurechnen, 


ja bei vielen kindlichen, primitiven und tierischen Reaktionen ‚‚liege die Ana- 


424 Hans W. Gruhle 


logie mit dem Verhalten Hysterischer auf der Hand“. Wenn man sich daran 
erinnert, daß der Vergleich mit Tier, Kind und Primitivem auch vielfach 
für schizophrene Symptome durchgeführt worden ist, entsteht eine heillose 
Verwirrung, wodurch sich dann — von diesem Gesichtspunkt aus — nun 
hysterische und schizophrene Symptome unterscheiden sollen. — Wenn Fl. 
an anderer Stelle noch davon spricht, daß es sich bei der Hysterie um den 
Wegfall von Gegentendenzen handle, nähert er sich in der Tat ganz weit der 
alten Gauppschen Definition. Wenn man dem Verfasser auch zugeben wird. 
daß bei manchen hysterischen Symptomen das Fehlen der zielgerichteten 
Aktivität mit wirksam sein kann, so wird man in seiner Schrift doch keinen 
geglückten Versuch sehen, das Wesen der hysterischen Symptome zu neuem 
Verständnis zu bringen (R. Flinker, Die Psychologie und Psychopathologi« 
der Hysterie (Lpzg., Thieme 1938, 63 Seiten). 

Wenn auch die Therapie nicht Gegenstand dieses Referates ist, sei doch 
auf den Selbstbericht eines von J. H. Schultz behandelten psychopathischen 
Mädchens hingewiesen. Es ist von Interesse zu lesen, wie sie den Suggestionen 
des Arztes folgt und sich in seine Weisungen einlebt. Sie schildert anschaulich 
und geschickt ihre Erlebnisse, die zum Teil geradezu einen medialen Charakter 
haben. — Kleine geschickte Skizzen aus der verstehenden Psychologie, z. B. 
über Angst, Selbstzucht, Konzentration, Tatwille, Entspannung, Besinnung 
hat Adolf Zeddies unter dem Titel ‚‚Von der Macht des Seelischen“ (Homburg 
1938, 47 Seiten) zusammengefaßt. In einem zweiten Bändchen ‚‚Die Ursachen 
der seelischen Hemmungen und ihre Bekämpfung“ spricht der gleiche Autor 
von leicht psychopathischen Erscheinungen (Homburg 1939, 48 Seiten). 
Man könnte diese ansprechenden kleinen Schilderungen und Ratschläge auch 
gut dem Laien in die Hand geben. — Zur Frage der Schizoiden bringt Berze 
in der Wiener klin. Wo. (1938 I) eine feinsinnige Studie, die auch forensische 
Gesichtspunkte behandelt und den Begriff der schizoiden Psychopathie sehr 
weit faßt. 

Psychanalyse. Psychanalytische Arbeiten, die ohne neue Gedanken 
in den alten Freudschen Wegen laufen, begegnen heute in Deutschland wohl 
keinem großen Interesse. Sie seien daher hier nur angeführt: Gregory Zilboore. 
Some observations on the transformation of instincts (Psychoanalytic Quart. 
7, 1938); H. F. Dunbar, Heufieber (ebenda); P. L. Goitein, GefäBneurose 
(Psychoanalytic Rev. 25, 1938); L. H. Bartemeier, Dermatitis (Psychoana- 
lytic Quart. 7, 1938); M. Balint, Menstruation (ebenda 6, 1937); J. Kreıs. 
Pruritus (Gynec. 36, 1937); L. S. Kubie, Schmutz (Psychoanalytic Quart. 
6, 1937).; W. Bischler weist den Einfluß sadistischer Motive auf die Arbeit 
der Intelligenz nach. Die amüsante Arbeit prägt den schönen Begriff der 
„intrapsychischen Osmose“: (Psychoanalytic Quart. 6, 1937); B. S. Rob- 
bins, Vaterhaß (ebenda); M. R. Kaufman, Melancholie (ebenda); Melitta 
Schmiedeberg, Analysentechnik (ebenda 7, 1938); N. L. Blitzsten, Psychosen 
(Amer. J. Psychiatry 94, 1938); E. Hadley, Persönlichkeit (ebenda); R. Loe- 
wenstein, Masochismus (Rev. franc. psychanal. 10, 1938); S. Nacht, Masochis- » 
mus (ebenda); R. de Saussure, Griechische Kultur (ebenda); F. W. Dershimer. 
Kinderstörungen (Amer. J. Orthopsychiatry 8, 1938); S. Fuchs, Introjektion 
(Imago 23, 1937); S. Freud, Allgemeines über die Methode (Intern. Z. f. 
Psychanal. 23, 1937); Therese Benedek, Abwehrmechanismen (ebenda): 
Holstiin Westerman, Psychanalyse und Schizophrenie (Psychiatr. Bladen 41. 
1937); Lucile Dooley, Psychologische Geschlechtsunterschiede (Psychiatry 1. 
1938); A. Funk, Das Unbewußte (Riv. sper. Freniatr. 62, 1938); A. Sharp. 


ee ahnen a mn 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 425 


(Gedächtnis (J. of exper. Psychol. 22, 1938). — E. Bonaventura schreibt ein 
412 Seiten starkes (mir nicht zugängliches) italienisches Werk ‚‚La psicoanalisi‘“ 
(Milano, Mondadori 1938). Nach einem Referat handelt es sich um eine Dar- 
stellung der gesamten Freudschen Lehre für den gebildeten Laien. — Wilhelm 
Stekels Buch über ,La femme frigide“ (Paris 1937) war mir nicht zugänglich 
(520 Seiten). Auch nicht das 127 Seiten starke Buch von S. Nacht, „Le maso- 
chisme“ (Paris, Denoël 1938). Nach einem Referat behandelt es das Problem 
im Rahmen der Freudschen Terminologie. Im gleichen Jahr und Verlag gab 
Rene Laforgue eine Neuauflage seiner ‚‚Clinique psychoanalytique‘ heraus 
(214 Seiten), eine Darstellung der Technik und Klinik der Psychanalyse. 

Über Minderwertigkeitsgefühle bringen zwei Amerikanerinnen 
eine der dort üblichen Enquete-Arbeiten. Eine der Fragen behandelt das 
„„Haupthindernis für die Erlangung größeren Glücks“! Es wird sehr interes- 
sieren, zu hören, daß die Neigung zu Minderwertigkeitsgefühlen im umge- 
kehrten Verhältnis zu der Einwohnerzahl der Heimatstadt stand! (A. Feulason 
und H. R. Hertz, Ment. Hyg. 22, 1938). Eine ausführliche Würdigung von 
Alfred Adler und seiner sog. Individualpsvchologie wird von J. van Essen vor- 
gelegt (Nederl. Tijdschr. Psychol. 6, 1938). 

Eine sehr beachtenswerte Auseinandersetzung mit der gesamten Freud- 
schen Lehre und Technik und ihren Beziehungen zu Jung und Adler, voll 
von Kritik und eigenen Gedanken, stammt von Charles Baudouin (Arch. de 
Psychol. Genf 26, 1938). Er setzt sich mit der ein Jahr älteren wertvollen 
Studie von Roland Dalbıez über das gleiche Thema auseinander (Paris 1936). 

Vergiftungen. Die Vergiftungen bleiben stets ein wichtiger Gegenstand 
der psychiatrischen Betrachtung, da sich ja die Theorie erhält, daß auch die 
großen endogenen Psychosen Vergiftungen sind. In der Tat erzeugen auch 
exogene Gifte eine Reihe von Symptomen, die denen der echten Psychosen 
weitgehend gleichen. Auf den französischen Autor Baruk, der die Katatonie 
als Vergiftungssymptom behandelt, wird im Abschnitt über Schizophrenie 
hingewiesen. 

Frau Ch. Palisa verdanken wir schon mehrere interessante Studien über 
die Symptome während der Insulinschockbehandlung. Der praktische Psy- 
chiater ist allzusehr auf die Zwischenfälle und den Erfolg der Behandlung ein- 
gestellt. In der Wiener Klinik untersucht man sorgfältig Symptome und 
Phänomene. Mit W. Birkmayer zusammen bearbeitet P. die Zingerleschen 
Automatosen, die Tonusverteilung (adaptive Zwangskoordination), die 
Streckkrämpfe (Arch. Psychiatr. 109, 1938). — Auch A. H. Fortanier beschreibt 
die Erlebnisse der Insulin- und Cardiazolbehandelten im Schock (Psychiatr. 
Blad. 42, 1938). — Andre Weil benutzt den Insulinschock für psychopatho- 
logische Erkenntnisse über optische Anomalien, Großsehen, Kleinsehen, 
Farbenabblassung, Sinnestäuschungen, Gestaltauflösung. Die gründliche 
Studie gibt einen guten Beitrag zur experimentell-toxischen Erzeugung ab- 
normer Wahrnehmungen (Moschr. Psychiatrie 100, 1938). 

Die interessanten Erfahrungen zur Psychopathologie, die wir den künstlichen 
Vergiftungen verdanken (besonders den Mescalversuchen Beringers), ließen 
hoffen, daß man vielleicht auch bei der Tuberkulose Wichtiges beobachten 
könnte. Manns Zauberbergroman mit seinen plastischen Schilderungen und 
Sterns etwas nüchterne Studie hatten Psychologisch-Spezifisches vermissen 
lassen. Die neue Arbeit ‚Die psychische Symptomatik der Lungentuberkulose“ 
von G. Kloos und E. Näser wird im Vorwort von L. Brauer und W. Weygandt 
als erste systematische Darstellung des Gegenstandes bezeichnet. Systematisch 


426 Hans W. Gruhle 


ist sie nicht gerade, aber außerordentlich reichhaltig, so reichhaltig, daß 
beinahe alles und kaum etwas Spezifisches im Lauf der Tuberkulose beobachtet 
wird. Das einzige, in allen Stadien immer Wiederkehrende, ist die große Er- 
müdbarkeit. Wenn es im übrigen heißt, daß die einzelnen zu beobachtenden 
Symptome stark von der Struktur der Persönlichkeit abhängen, so ist das 
freilich eine Selbstverständlichkeit. 

Visionäre Träume bei Malariaanfällen, die auch mit Wahnideen verknüpft 
sind, werden von G. de Gregorio geschildert und erinnern an die Mescalstörun- 
gen (Riv. Pat. nerv. 50, 1937). Je stärker sich die Hinweise auf das Wesen 
der Schizophrenie als einer inneren Vergiftung häufen, um so wichtiger 
wird das Studium der psychischen Wirkungen äußerer Vergiftungen. Schon 
oben beim Bewußtseinsproblem wurde der Narkose-Studien von Marshall 
gedacht. 

Nihilismus. In der erfreulichen Reihe phänomenaler Studien zur Psycho- 
pathologie, die die Berichtsperiode beschert, nimmt die Arbeit von Arnold 
Weber (Waldau-Bern), ‚Über nihilistischen Wahn und Depersonalisation“ 
eine Sonderstellung ein. Ratlosigkeit, Verwirrtheit, Depersonalisation stehen 
auf einem etwas anderen Niveau als Nihilismus, denn letzterer ist schon in- 
haltlich getönt. Das ist wohl ein Grund, warum Weber an vielen Orten ver- 
ständliche Zusammenhänge konstruiert, um aus ihnen den Nihilismus abzu- ° 
leiten. Aber der Verfasser ist auch deutlich Freudisch orientiert, und über- 
schreitet so die Grenzen einer phänomenologischen Studie. Das ist sein gutes 
Recht, aber der anders eingestellte Leser wird dem Verfasser hier oft nicht 
folgen können; z. B. bei der Annahme, der Nihilismus bedeute gelegentlich 
einen in Gedanken vollzogenen Selbstmord. Weber untersucht die nihilistischen 
Ideen in verschiedenen klinischen Verläufen. Cotard isolierte den Verneinungs- 
wahn 1921 als angeblich selbständig aus der Melancholiegruppe. Weber faßt 
den Umfang dieses Begriffes wie auch der mitbehandelten Depersonalisation 
sehr weit. Z. B. zieht er den Unheimlichkeitscharakter des schizophrenen 
Primärerlebnisses mit herein: ‚‚wie wenn es gar nicht die Schweiz wäre‘‘. Wenn 
er die bei Neurasthenikern, Tabikern und anderen Kranken nicht seltene Be- 
merkung, ‚‚es war mir als wenn ich gar keine Beine mehr hätte“, nicht einfach 
als Ergebnis von Mißempfindungen ansieht, sondern als ‚Ausdruck eines 
Derealisationsgefühls in den Extremitäten‘, so wird nicht jeder Leser zu- 
stimmen können. Noch in anderer Hinsicht ist Webers verdienstvolle Studie 
interessant. Sie spricht — aus der Bernischen Heilanstalt und Klinik Waldau 
hervorgegangen — dagegen, daß die heutige Diagnostik in den deutschsprachi- 
gen psychiatrischen Instituten einheitlich wäre. Man hat sich schon vor vielen 
Jahren nach dem Erscheinen der Bleulerschen Monographie über die Aus- 
dehnung des Schizopheniebegriffes entsetzt. Hier erfährt dieser Begriff noch 
eine weitere Ausdehnung. Wenn z. B. bei einer 68 jährigen Kranken, die erst- 
mals an einer Psychose erkrankt, angenommen wird, dies sei eine Katatonie, 
so ist das ungewöhnlich, wenn aber gar eine Frau mit 57 Jahren an einer 
echten Melancholie erstmals erkrankt, und der Verfasser annimmt, sie habe 
dann später noch eine katatone Depression bekommen, so wird diese Auf- 
fassung bei manchem Leser auf grundsätzlichen Widerstand stoßen. Auch 
wird Webers These, der Nihilismus erwachse stets auf einer Depersonalisation 
oder einem Derealisationszustand, nicht allgemein Beifall finden. Aber diese 
Studie ist doch sehr verdienstvoll: sie hebt wieder einmal aus der allgemeinen 
Psychopathologie eine Reihe der Probleme hervor und stellt die alte Frage 
erneut zur Diskussion, ob denn das Symptom einer organischen Erkrankung 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 427 


. als schlechtweg vorhanden hingenommen werden müsse, oder ob es intra- 
psychischen Tendenzen diene, also einen Zweck habe. 

V. E. von Gebsattel bereichert die Psychopathologie noch um eine zweite 
Studie mit dem Gegenstand der Grundstörung der Melancholie. G. sieht dies 
im Erlebnis der Leere, sei es der inneren eigenen Leere, sei es der Entfremdung 
und Leere der Außenwelt. Die mannigfachen realen und gedanklichen Be- 
ziehungen der Leere zur Depersonalisation werden ausführlich besprochen. 
Die Symptome der Melancholie sind Bilder, Gleichnisse, Umschreibungen 
der Leere, die das Ursymptom der manisch-depressiven Konstitution bilde. 
Daß es sich dabei und bei der Entfremdung der Wahrnehmungswelt um eine 

- Grefühlsstörung handelt, hat man schon bisher immer angenommen, obwohl 
dabei der Begriff Gefühl schon etwas ausgeweitet gebraucht wird. Es ist dieses 
Phänomen der normalen naiven Bezogenheit des Ichs auf die Welt am ehesten 
noch der Gefühlssphäre einzuordnen, wenngleich es keine reine Ichzuständlich- 
- keit ist. Wenn E. Straus dafür das Wort sympathetisch gebraucht, so besagt 
das nichts neues. Überhaupt fragt man sich bei mancher derartigen Erörte- 
. rung, ob nicht der bisherige Wissensbestand einfach in neue Formeln gefaßt 
wird. Gewiß können neue Sprachformen auch neue Gesichtspunkte enthalten. 
Wenn aber alte psychopathische Erkenntnisse nur in Heideggerscher Prägung 
wiederkehren, so scheint mir ein neuer Gesichtspunkt zu fehlen. Wenn man 
7. B. den Satz hört, die depressiven Insuffizienzgefühle seien im Symptom 
-des Nichtkönnens fundiert, so bedeutet das, daß das Bewußtsein des Nicht- 
könnens im Nichtkönnen begründet sei. Wenn man ferner bei Gebsattel liest. 
daß diese Insuffizienzgelühle zum ‚‚Strukturganzen der Existenz im Leeren‘“ 
gehören, so heißt dieser schwierige Ausdruck, daß Insuffizienz und Leerheit 
Beziehungen zueinander haben. Ich bin der Überzeugung, daß die verschro- 
-© benen Finessen Heideggerscher Ausdrucksweise der Psychologie nichts nützen 
«Nervenarzt 10, 1937). 

Ernst Störring schreibt 60 Seiten über ‚‚die Störungen des Persönlichkeits- 
bewußtseins bei manisch-depressiven Erkrankungen“ (Karger, Basel-Leipzig 
1938). Er bemüht sich in die Vielfältigkeit der Symptome eine Ordnung zu 

schaffen, was nur andeutungsweise gelingt, da allerlei Nuancen vorkommen. 
Aber gerade diese Vielgestaltigkeit wird durch diese Studie wieder einmal 
deutlich. Ob freilich eine Persönlichkeitsstörung mehr vom Kranken erschlossen 
wird auf Grund anderer Erlebnisse, oder unmittelbar ‚‚intuitiv‘‘ gegeben ist, 
ob sie eine Seinsmodifikation oder ein Seinsverlust ist, ist vielleicht für die 
Erfassung der Hauptstörung nicht sehr wichtig. Ausgeprägte vegetative 
‚ Störungen kamen sehr häufig dabei vor. 

I Wahn. Die Frage des Wahns, seines Wesens und seiner Herkunft, reift 
| deshalb keiner weiteren Klärung entgegen, weil die Autoren darunter zu viel 
ıt Verschiedenartiges verstehen. Der Wahn des Paralytikers, er habe 10000 
‚Schlösser, — der Wahn der Melancholika, es werde nie mehr regnen, — der 
ı Wahn der Schizophrenen, in der Zeitung stehen ihre geheimsten Gedanken, — 
der Wahn des Psychopathen, er werde immer bei der Beförderung übergangen, 
haben miteinander sowohl ätiologisch wie phänomenal so gut wie nichts zu 
tun. Mit dem letzteren, dem psychopathischen Wahn (der eigentlich keiner ist), 
beschäftigt sich Betzendahl (Mschr. Psychiatr. 99, 1938). Er interessiert sich 
vor allem für sein Zustandekommen und bringt dazu auch manche treffende 
Beobachtung. Nur erschwert er die Lektüre durch allzuviel litterarische Wen- 
dungen, z. B.: Seelenkrüppel; andere sammeln mit verstohlener Lüsternheit 
alle möglichen Verwirklichungsarten ihrer Triebregungen, um sie als Modell 


428 Hans W. Gruhle 


für eigene Betätigung zu benutzen usw. Hier wäre sehr viel weniger mehr 
gewesen. Doch ist die Studie bemerkenswert, weil sie ein selten bearbeitetes 
Thema behandelt: die sog. psychopathische Paranoia. Weniger interessant ist 
die Behandlung des ‚‚Giftmordwahns‘ bei Melancholischen durch H. C. Jel- 
gersma (Psychiatr. Bl. 42, 1938). Die Tendenz der Schwermütigen, sich selbst 
als Verbrecher, Schädling, verdammt usw. hinzustellen, äußert sich gelegen!- 
lich eben auch in der Idee, andere durch Berührung u. dgl. zu vergiften. Dot! 
steckt dahinter kein Sonderproblem. — Margot Möllmann beschreibt eine Walın- 
bildung als psychogene Reaktion, ohne ganz zu überzeugen (Moschr. Psychiatr. 
98, 1938). Zum Wahnproblem bringt K. Schneider wertvolle Gedanken (Ner- 
venarzt 11, 1938). Er scheidet die Wahnwahrnehmung von dem Wahneinfall. 
Letzterer (z. B. der Verfolgung, der hohen Abstammung) schließt sich zu- 
weilen der Wahnwahrnehmung an, meist ist er aber selbständig. Beiden seiri 
die Wahnideen gegenüberzustellen. Sie halten die Realität der Wahnwalır- 
nehmung fest und verarbeiten sie weiter. Schneider bemüht sich mit Recht. 
den eigentlichen echten Wahn näher zu studieren und ihn abzugrenzen von 
dem spielerischen Wahn, wie er etwa in der Manie oder in der Melancholir 
auftritt. Auch E. A. Shevalev scheint (russisch) eine interessante Arbeit über 
die Rückbildung von Wahnideen gefertigt zu haben (Nevropat. i. t. d. 7, 1938:. 
Er unterscheidet sorgsam die eigentliche Kritik des Kranken am Wahn ven 
der Uninteressiertheit am Wahn, ein Unterschied, der für die Beurteilung 
der Insulinremissionen wesentlich ist. 

Die oben erwähnte Studie F. Kellers über ‚Eitelkeit und Wahn‘ (Bern. 
A. Francke 1938, 69 Seiten) greift aus der Charakterologie über in das Gebirt 
des Wahnprobleniss. Keller bemüht sich um dessen verständliche Ableitung 
und bekennt sich zu der alten Theorie, daß die Quelle des Wahns eine krank- 
hafte Affektivität sei. Freilich sucht er nicht wie frühere Autoren nach einem 
spezifischen Affekt, sondern die Gefühle seien zu labil oder zu stabil oder zu 
stark oder zu schwach. Aber Keller greift nun doch eine dieser Abnormitäten 
heraus: die Gefühle seien — in Richtung auf den Wahn — zu stabil, daraus 
entstehe Hochmut und aus ihm zusammen mit dem gestörten Denk vermögen 
der Größen- und Verfolgungswahn. Aber auch aus zu großer Labilität könne 
der Wahn entspringen: jene erzeuge Eitelkeit und aus ihrer Verzerrung gehr 
Größen- und Verfolgungswahn hervor. Wie einleuchtend ist doch diese Kon- 
struktion! Prüfen wir freilich, ob unsere gewöhnlichen schizophrenen Fälle 
von Wahn ursprünglich eitel oder hochmütig sind, so finden wir diese Eigen- 
schaften nur in einem kleinen Bruchteil der Fälle, sicher in keinem größeren 
als in der normalen Bevölkerung. 

Die Studie Kellers weist daraufhin, daß der uralte Streit zwischen den 
Psychikern und Somatikern noch immer weiterglimmt: in diesem Fall glüht 
der Funken normalpsychologischer Ableitung organischer abnormer Symptome 
in dem Umkreis J. Klaesis (Waldau-Bern). 

R. E. Hemphill (Bristol) bringt zwar nichts Neues, weist aber sehr anschau- 
lich an zwei schizophrenen Endzuständen nach, daß die speziellen Wahn- 
inhalte durch zufällige äußere Umstände (Darmstrikturen, Prostatahyper- 
trophie) gesetzt sind, während der Wahn selbst davon unabhängig ist (J. ment. 
Sc. 85, 1939). 

Schizophrenie. Zur Psychopathologie der Schizophrenie liegen nur weng 
ertragreiche Studien vor. P. Schiffs 56 Seiten starke Arbeit über den Ver- 
folgungswahn stand mir leider nicht zur Verfügung (L'évolution des idee 
sur la folie de la persécution, Paris, G. Doin 1937). — J. Kasanın nud Eugen 


Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 429 


Hanfmann arbeiteten (Chikago) über das Begriffebilden bei Schizophrenen. 
Die Fragestellung läuft quer. Schizophrene, die unter einer akuten Störung 
stehen, sind, wie unendlich oft beschrieben worden ist, denkzerfahren und 
werden also bei einer reinen Denkaufgabe versagen. Alte Endzustände sind 
oft so autistisch, daß sie zu einer Konzentration auf eine Denkaufgabe gar 
nicht gebracht werden können. Beide Formen besitzen aber in guten Zeiten 
formal ihr klares Denkvermögen. Worauf will also eigentlich eine solche ex- 
perimentelle Arbeit hinaus? Die Ergebnisse sind denn auch ganz uneinheitlich, 
wie in einer Diskussion, die sich anschloß, von Eugen Kahn, Paul Schilder 
und Gregor Zilboorg richtig bemerkt wurde (Amer. J. Psychiatry 95, 1938). 
Ein Versuch, der schizophrenen Geisteshaltung mit dem Rorschach-Test bei- 
zukommen, scheint keine neuen Ergebnisse gezeitigt zu haben: Maria Rickers- 
Ovsiankina (Brit. J. med. Psychol. 17, 1938). — L. H. Cohen stellte sich die 
Frage, ob wohl der Vorstellungstyp, dem jeder Mensch zugehört (also ob visuell 
oder akustisch usw.), in den Symptomen seiner Schizophrenie wiederkehrt. 
Nach seinen allerdings nur an 19 Schizophrenen gewonnenen Erfahrungen, 
stehen die Inhalte der Sinnestäuschungen zu dem Vorstellungstypus nicht 
in Beziehung, mit Ausnahme der kinästhetischen Personen, bei denen solche 
Entsprechungen vorlagen (J. ment. Sci. 84, 1938). 

Der Begriff des Schismas, den Bleuler in dem Wort der Schizophrenie zuerst 
glücklich eingeführt hat, ist ein durchaus populärer Begriff, da er sich nicht 
klar definieren läßt. Aber der Begriff ist sehr brauchbar, und jeder sich an 
Bleuler orientierende Fachmann wird sich bald darüber klar, was gemeint ist. 
Die Laien, z. B. viele Pädagogen, fassen das Schisma gänzlich falsch auf als 
gespaltenes Bewußtsein, also gleich Doppelbewußtsein, = Depersonalisation. 
M. Levin (Amer. J. Psychiatry 94, 1938) bringt ein ganz anderes Mißver- 
ständnis fertig: das des Schisma als logischer Unterscheidung. Infolgedessen 
haben die Gesunden ein gutes, die Schizophrenen ein schlechtes Schisma- 
tisches Vermögen; eine große Begriffsverwirrung. 

Das Buch von Ch. Nodet, ‚l,a groupe des psychoses hallucinatoires chroni- 
ques“ (Paris, Doin 1938, 163 Seiten), stand mir leider nur im Referat zur Ver- 
fügung. Wenn Nodet ein wesentlicher französischer Forscher ist — das Vor- 


wort von Claude läßt es vermuten — so wundert man sich, daß die franzö- 
sische Psychiatrie sich noch immer mit Problemen herumschlägt, die die 
deutsche Forschung längst „gelöst“ hat; — ‚‚gelöst‘‘ nicht im Sinne völlig 


verbindlicher Ergebnisse, aber ‚‚gelöst‘‘ durch methodologisch saubere Be- 
sinnung. N. plagt sich unfruchtbar mit der Einteilung von Wahnpsychosen 
herum und deutet — nichtssagend — Wahnstruktur als ‚psychischen Ni- 
'veauabfall‘“. 

1. Edelstein schreibt ein 11% Seiten starkes Buch über ‚„‚Endzustände der 
Schizophrenie‘ (Moskau 1938). Einem Referat entnehme ich, daß der Ver- 
fasser dabei auch Bewußtseinsstörungen annimmt. Das ist mißverständlich, 
weil unter Bewußtsein sehr Verschiedenes gefaßt wird. Der Verf. versteht 
darunter Zerfall des Bewußtseins, Zerfahrenheit, Störungen des Ichbewußt- 
seins und der Aktivität. Im übrigen scheint die Arbeit eine gründliche Schil- 
derung der Endzustände zu enthalten. — Das Thema der schizophrenen 
Träume ist wohl deswegen bisher so wenig behandelt worden, weil die me- 
thodischen Bedenken zu groß sind. Schon das, was uns der Normale vom 
Traum erzählt, ist nachträglich komponiert, denn Chaotisches läßt sich nicht 
erzählen. Der Normale muß, um wirklich nur die Erlebnisfragmente des 
Traumes wiederzugeben, sich stark selbstkritisch konzentrieren. Dazu wird 


430 Hans W. Gruhle, Psychologie und Psychopathologie im Jahre 1938 


der Schizophrene selten imstande sein. Wer kann bei den Traumerzählungen 
eines Schizophrenen prüfen, ob dieser Realia oder Phantasmata berichtet. M. 
Boss hat trotzdem solche Traumanalysen versucht. Auf Grund eines großen 
Materials und sorgsamster Arbeit kommt der Verf. zu dem Schluß, daß nicht 
aus dem einzelnen Traum, sondern nur aus ihrer Abfolge Schlüsse auf den 
schizophrenen Zerfall gewagt werden dürfen. Dem könnte man die Parallel- 
der Handschrift hinzufügen. Auch hier klärt nur die Folge der Proben in der 
Zeit auf. Was der Verfasser zur Traumdeutung und überhaupt zur Theorie 
der schizophrenen und der damit verglichenen Träume anderer organischer 
Psychotiker bringt, ist derartig von Freuds Gedanken beherrscht, daß nur 
ein Anhänger Freuds damit etwas anfangen kann. Es ist schade, daß der 
Verfasser sein schönes Material nicht phänomenologisch weiter durchforscht 
hat (Z. Neur. 162, 1938). 

Warum es Alberto Bonhour für notwendig hält, ausführlich zu erzählen, 
wie ein Schizophrener einen Zeppelin u. dgl. bastelte, bleibt unaufgeklart 
(Psiquiatr. y Criminol. 3, 1938). - 

In einer größeren, sorgfältigen Arbeit untersucht Jacob Wyrsch (Bern- 
Waldau) hauptsächlich die Stellung des Kranken zur Psychose, also das. 
was man wohl auch Krankheitsbewußtsein, Krankheitsgefühl, Krankheits- 
einsicht nennt. Er findet (bei 200 Krankengeschichten) vier Formen: 1. der 
Kranke faßt die Krankheit körperlich auf und setzt sie daher in Distanz zur 
Persönlichkeit; 2. ähnlich verhält sich die zweite Gruppe, doch spricht hier 
das Psychische schon herein, wenn auch die Krankheit selbst etwas Sinnloses 
bleibt, das dem Kranken widerfuhr; 3. nun bleibt die Objektivation weg: 
der Kranke hat das volle Erlebnis der Ichveränderung; 4. dazu kommt endlich: 
noch die Projektion der Krankheitssymptome und ihrer Ursachen nach außen. 
so daß sie eine selbständige Existenz erhalten. —Der Verfasser untersucht diese 
vier Gruppen außerdem sorgsam nach allen möglichen anderen Gesichtspunk- 
ten, Körperbau, Temperament, Rückfallshäufigkeit, Geschlecht usw., ohne 
daß sich dabei klare Besonderheiten herausstellen. Die treffliche Arbeit be- 
reichert die Psychopathologie der Schizophrenie (,‚Über akute schizophrenr 
Zustände, ihren psychopathologischen Aufbau und ihre praktische Bedeutung‘. 
Basel-Leipzig, Karger 1937). — H. Baruk, der Direktor der großen alten Heil- 
anstalt Charenton (gegr. 1641), widmet 284 Seiten seines rund 800 Seiten 
starken Buches (,,Psychiatrie médicale, physiologique et expérimentale. Paris. 
Masson 1983) dem Syndrom der Katatonie. Seine klinischen Ansichten — 
er glaubt, die Psychiatrie habe es nur mit seelischen Symptomkomplexen 
körperlicher Erkrankungen zu tun — sollen hier nicht referiert werden. Die 
Katatonie sucht er von der körperlichen Seite her zu erfassen: überall hebt 
er die Gleichheit motorischer Starrezustände beim Tier (bei Vergiftungen: 
und Menschen hervor. Seine Aufmerksamkeit gilt überall dem Körper: — 
was er an Schilderungen seelischer Symptome beibringt, ist dem deutschen 
Leser nichts Neues. B. faßt alle diese Symptome als toxisch auf. — J. Pritzkat 
sucht die senilen Beeinträchtigungen zu analysieren (Allg. Z. Psychiatr. 10%. 
1938). Er fand vor allem Gestaltzerfall, Störungen des Auffassungsvorgangs 
durch Intentionsschwäche und Einstellungsträgheit. 


—- 


— -m pr 


431 


Therapeutische Bemerkungen 


Hautekzem bei chronischem Paraldehydgebrauch? 
Von : 
(Landes-)Oberarzt a. D. Dr. W. H. Becker, Nervenarzt in Stade (Elbe) 
(Eingegangen am 14. Januar 1940) 


In der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift (Nr. 32, 1939) habe ich 
auf das schwierige Dilemma hingewiesen, in das das ärztliche Gewissen gerät, 


- wenn wir einen Hirnverletzten vor uns haben, der, nur durch chirurgische 


Kunst dem Tode entronnen, sein Letztes hergegeben hat (wie sein EK I auf 
seiner Brust beweist) und nun weitgehenden Anspruch darauf hat, Schmerzen 


- oder Beschwerden, die ihn seit mehr als 20 Jahren plagen, gelindert zu be- 
- kommen. Man will keinen Süchtigen schaffen, man will aber auch die Beschwer- 


den nach Möglichkeit lindern. Ich habe darauf hingewiesen, daß hier die ganze 
Kunst der Psychotherapie verschwendet werden muß, das ganze Heer der 
physikalischen Heilmethoden Platz greifen und schließlich die unschädlichen, 


© d.h. opiat- und barbitursäurefreien Präparate, verordnet werden müssen, 


soweit es der Zustand erlaubt. Natürlich wird man bei Jaksonepileptischgewor- 


-© denen ohne Luminal kaum auskommen und bei Agrypnischgewordenen nicht 


ohne Schlafmittel, wobei ich allerdings wieder die Barbitursäure perhorresziere, 


- wenigstens solange Adalin, Phanodorm usw. noch ohne ärztliche Verordnung 


in den Apotheken zu haben sind. Ich habe deshalb mich gewöhnt, in solchen 
Fällen zum Chloralhydrat, lieber noch zum Paraldehyd zu greifen. 
Paraldehyd ist unschuldig, wenn auch sehr schlecht zu nehmen, nach 
meinen Erfahrungen am besten in kalter Milch. Sollte die Magermilch nicht 
genügend den Geschmack verdecken, dann wird es ja nicht schwer sein, dem 
Schwerkriegsbeschädigten dieses kleine Quantum Milch — ein Viertelliter ist 
auch für 6—8 g völlig ausreichend — als Zulage zu verschaffen. Überschrei- 
tung der Maximaldosis ist bis zu 10 g unbedenklich, falls es sich als notwendig 
erweist, weshalb eine Heraufsetzung der Maximaldosis m. E. längst spruchreif 
ist. Manche Leute gewöhnen sich so an Paraldehyd, daß ihnen der Geschmack 


` gar nicht mehr so unangenehm ist. Vielmehr rühmen sie immer wieder, daß 


kein Schlafmittel so rasch den Schlaf herbeiführt, wie gerade Paraldehyd. 

Ein solcher Schwerkriegsbeschädigter (ausgedehnte Lungentuberkulose, 
wiederholte Anlegung eines Pneumothorax, häufige Hämoptoe, daneben auch 
oft Insomnie) suchte oft meinen Rat und bekam dann Paraldehyd verordnet, 
im Wechsel mit anderem Schlafmittel, wobei ich ihm besonders Evipan, Chlo- 
raldydrat (in Form von dem milden Sekurodorm) und Hovaletten empfahl. 
An Paraldehyd hatte er sich — er war mir oft für mehrere Monate wegen der 
Lungenbehandlung in Höhenkurorten aus den Augen entschwunden — so ge- 
wöhnt, daß er fast jeden Abend immerhin 2—3 g nahm. Eines Tages zeigte er 
mir ein Ekzem, etwa entsprechend den Rasierstellen des Gesichts, der Lungen- 
facharzt und auch sein Hausarzt hätten gesagt, es sei möglicherweise das 


' Paraldehyd schuld. Das Ekzem hatte nur eine leichte Rötung mit anscheinend 


etwas Neigung zum Abschilfern. Ähnlich hatte ich es in Erinnerung aus der Zeit, 
wo bei den studentischen Mensuren mehr Äntisepsis als Asepsis getrieben wurde, 
und sich dann ab und zu noch ein Jodoformekzem einstellte bei offenbar 
Jodintoleranten; denn es war trotz damals üblichen reichlichen Jodoform- 
sebrauchs ein verhältnismäßig seltenes Vorkommnis. Auch bei diffusen artifi- 


432 Therapeutische Bemerkungen 


ziellen Ekzemen meine ich aus der Zeit meiner vor 40 Jahren betriebenen 
Allgemeinpraxis ähnlichen Anblick in Erinnerung zu haben. 

Der Nervenarzt denkt nun immer gleich auch an die Möglichkeit, daß durch 
mangelhafte Asepsis bei Rasur ein gutartiges leichtes Ekzem entstanden sein 
könnte, daß nun auf psychischem Wege durch die iatrogene Beeinflussung 
jener zwei Ärzte nach Art einer Hautneurose (siehe meinen Aufsatz ;,Jod- 
vergiftung und Hautneurose‘“, Medizinische Klinik, Nr. 51, 1938) das Ekzem 
chronisch geworden wäre. Immerhin wagte ich nicht, dem Weitergebrauch des 
Paraldehyds zuzuraten, setzte es zunächst ab, worauf das Ekzem rasch ver- 
schwand. Ob post hoc oder propter meines Gutachtens, daß ich nie in jahrzehnte- 
langer reichlicher Paraldehydverordnung Ähnliches gesehen hätte und auch in 
der Literatur nicht auffinden könnte — das wage ich nicht zu entscheiden. 
Ich kann nur hinzufügen, daß, als ich nach Wochen mangels sonstiger geeig- 
neter Schlafmittel vorsichtig mit Paraldehyd wieder begann, kein Ekzem wie- 
der auftrat. Allerdings hatte ich nach nervenärztlicher Gepflogenheit nie wieder 
gefragt, sondern nur das Gesicht des Patienten unauffällig betrachtet und spon- 
tane Klagen abgewartet. 

Dennoch halte ich die Frage für wichtig, ob überhaupt die Möglichkeit be- 
steht, daß nach Paraldehydgebrauch, oder meinetwegen Paraldehydmißbrauch. 
solches Ekzem sich einstellen kann. Auf Anfrage erhielt von den beiden Pro- 
fessoren aus Hamburg und aus Göttingen eine Auskunft. Der Pharmakologie- 
professor meinte, es sei bereits beobachtet worden, daß nach Zufuhr von Paral- 
dehyd in großen Mengen unter anderem auch Hautausschläge auftreten 
könnten, wobei die Rasier- als besonders empfindliche Hautstelle nicht über- 
raschen könnte. Der Dermatologieprofessor war der Ansicht, daß Hautaus- 
schläge durch Paraldehyd nicht öfter vorkämen, und daß man an einen beim 
Rasieren verwendeten Stoff als auslösende Ursache denken müsse. Beide Auto- 
ren gaben der Überzeugung Ausdruck, daß bei Absetzen des Paraldehyds das 
Ekzem bald abheilen würde. 

Da letzteres geschehen ist, mehrere Wochen lang sogar, ohne wesentlichen 
Wandel zu schaffen, so habe ich mich auf den Standpunkt gestellt, daß mög- 
licherweise (aber nicht sicher!) das Paraldehyd schuld ist an dem Auftreten 
des Ekzems, daß aber das Persistieren als Hautneurose aufzufassen ist. Ent- 
sprechend wurde meine Therapie fortgesetzt, leider jetzt wieder unterbrochen 
durch Aufenthalt in südlichem Lungenkurort. 

Immer wieder muß ich das Paraldehyd als unschädliches, rasch wirkendes 
und ohne Nachwirkungen am anderen Morgen anpreisen. Gerade bei Neur- 
asthenikern, die meistens gerade am Morgen sich ‚‚wie zerschlagen“ und arbeits- 
unlustig fühlen, ist jede Barbitursäure, die am anderen Morgen noch irgendwie 
nachwirken kann, kontraindiziert. Für sehr geschmacksempfindliche Patienten 
habe ich auch wohl Paraldehyd in Kapseln geben lassen, doch empfiehlt es 
sich, nach meinen Erfahrungen dann, immer nur frisch bereitete Kapseln 
(a 1,0) zu nehmen, da das Paraldehyd die Eigenschaft hat, allmählich den zum 
Abdichten der Kapseln benutzten Leim zu durchfressen. Nach etwa acht Tagen 
wird man die Kapseln leer finden, dagegen die Schachtel, in der die Kapseln 
sich befanden, intensiv nach Paraldehyd duftend. 

Nachschrift. Nach Fertigstellung vorstehender Ausführungen lese ich. 
daß die Reichsregierung nunmehr die Abgabe jeglicher Barbitursäureprä- 
parate ohne ärztliche Verordnung verboten hat, womit ein langgehegter 
Wunsch der praktischen Nervenärzte, vielleicht auch manchen praktischen 
Arztes erfüllt worden ist. 


Buchbesprechung 433 


Buchbesprechung 


Behandlung und Verhütung der Geisteskrankheiten. Allgemeine 
Erfahrungen und Grundsätze. Technik. Biologie. Von Prof. 
Dr. Carl Schneider. Erschienen in den Monographien aus dem Gesamt- 
gebiet der Neurologie und Psychiatrie, hrsg. von O. Bumke, O. Foerster, 
E. Rüdin. H. Spatz. Heft 67. Berlin, Julius Springer 1939. 

Die Erwartungen, mit denen man dem Erscheinen des angezeigten Werkes 
entgegensah, sind keineswegs enttäuscht worden. Nicht nur, daß es wohl das 
vollständigste ist, was es bisher in bezug auf Sammlung unseres heutigen 
Wissens- und Erfahrungsstoffes auf dem einschlägigen Gebiet gibt. Es ist 
dadurch, daß der Verfasser seiner ganzen Darstellung eine neue ‚‚biologische‘ 
Betrachtungsweise unterlegt und damit eine kritische Auseinandersetzung mit 
der bisher nach seiner Ansicht noch in überkommenen metaphysischen, mate- 
rialistischen und anderen ‚‚unbiologischen‘“ Vorstellungen haftenden Betrach- 
tungsweisen verbindet, etwas Neues und Originales geworden. Wie der Verf. 
am Schluß bemerkt, war es sein Ziel, unter Berücksichtigung aller Gesichts- 
punkte, Standpunkte, Forschungsmethoden und Einzelbefunde eine biolo- 
gische Gesamtbetrachtung anzustellen, in welcher der biologische Zusammen- 
hang aller einzelnen Lebenserscheinungen als Hintergrund und Ziel der For- 
schung wie des ärztlichen Handelns zugleich vorschwebte. Es ist schlechter- 
dings unmöglich, dem sachlichen Inhalt wie der Fülle der aus der Anlage des 
Werkes sich ergebenden z. T. überraschenden Einsichten und Ausblicken 
in einer kurzen Buchbesprechung gerecht zu werden. Es kann sich im fol- 
genden nur um Andeutungen handeln, die zur Vertiefung und zu einer Aus- 
einandersetzung mit ihm anregen sollen. 

Schon die geschichtliche Darstellung der Heilverfahren vom Altertum bis 
in die Gegenwart hat ein ganz anderes Relief als man bisher gewöhnt war. 
Der den einzelnen Epochen von der Warte der heutigen aktiv-biologischen 
Behandlungsverfahren zuzumessende Wert wird scharf herausgestellt, selbst 
der der eben hinter uns liegenden abwartenden ‚,‚‚quietistischen‘ Epoche, die, 
wie V. sagt, nicht minder schwer in der Erinnerung zu tragen ist, wie die 
Zeit der Schaukeln, Wippen, hohlen Räder und Drehstühle, die aber doch 
ein geschichtlich notwendiges Experiment gewesen sei, durch das das unbe- 
einflußte Verhalten des Kranken studiert werden konnte und die Grundlage 
zu einem großen biologischen Vergleich mit den Ergebnissen der neuen biolo- 
gischen Richtung geschaffen wurde. Es ist nach dem V. die Aufgabe der 


= nächsten Entwicklung, unseren bisherigen, durch ein noch ungeklärtes Durch- 


— 


einander von lokalisatorischen, solidär pathologischen, funktionalistischen Ge- 
sichtspunkten bestimmten Krankheitsbegriff durch Einsichten in die ganz- 
heitlichen, sowohl die seelischen wie körperlichen, humoralen, stoffwechsel- 
physiologischen u. a. Vorgänge in sich begreifenden Erscheinungskomplexe 
zu ersetzen. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, aus der rohen 
Empirie heraus zu wissenschaftlich begründeten Heilweisen und Heilanzeigen 
zu gelangen. Andererseits werden aber diese Erscheinungskomplexe bzw. die 
in ihnen wirksamen biologischen Gesetze erst in der Reaktion auf Lebens- 
bedingungen erkennbar sein und erst bei dem Versuch zu handeln offenbar 
werden. Therapeutisches Handeln ist somit zugleich unentbehrliches For- 
schungsmittel. 

An die Spitze der Besprechung der einzelnen Heilweisen stellt V. die 
„(sogenannte) Arbeitstherapie‘“. Es ist klar, daß ihr, von seinem Standpunkt 
aus gesehen, für alle Arten geistiger Störung eine universelle Bedeutung 
28 Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 114, H. 3/4. 


434 Buchbesprechung 


zukommen muß. Jede Störung gewisser Funktionskomplexe, gleichviel ob 
exogener oder endogener Natur, führt infolge der ungemein verwickelten 
inneren Funktionszusammenhänge im Lauf ihres Bestehens zu biologischen 
Symptomgestaltungen, zur Einübung biologisch determinierter Haltungen, 
Instinkte, Einstellungen, Verarbeitungen, welche erst das Gesamt der Krank- 
heit darstellen. Der Versuch einer biologischen Gegenwirkung ist also bei 
jeder Art und jedem Grad geistiger Erkrankung grundsätzlich möglich, und 
als biologisches Experiment, als Mittel zur Erkenntnis des vorliegenden Zu- 
standes, unentbehrlich. Arbeitstherapie ist die Stellung des Kranken in eine 
biologisch wirksame Gesamtsituation, ihre zweckentsprechende Fortführung 
und Umformung bis zur Beseitigung der einzelnen Krankheitserscheinungen. 
Arbeit und Beschäftigung ist nur eines der hierzu brauchbaren Mittel, das 
wesentliche ist die biologische Beanspruchung des Kranken. In mehr unsyste- 
matischer aber sehr eindrucksvoller Weise und an der Hand von Beispielen 
der verschiedensten Störungen gibt V. ein Bild von der praktischen Aus- 
übung der Arbeitstherapie in seiner Klinik, die weiten Fachkreisen bereits 
bekannt ist, und deren Erfolge völlig unbestreitbar sind. Überall kommt es 
dem V. darauf an zu zeigen, wie aus der Wechselwirkung zwischen biologischer 
Beanspruchung und den Reaktionen des Kranken die biologischen Tendenzen 
des Zustandsbildes im Sinne von Ein- und Entübungsfähigkeiten, Festigungs-, 
Erstarrungs-, Einschleifungsvorgängen, erkannt und darnach das therapeu- 
tische Vorgehen geformt werden muß. Besonders erwähnt sei hier die Rolle, 
die V. bei der Bekämpfung der pathologischen Wechselantriebe — er versteht 
darunter die ungünstigen Rückwirkungen der an sich eine ungeheure Gesamt- 
belastung darstellenden Erregungszustände, die Wirkung seelischer und kör- 
perlicher Funktionsstörungen aufeinander in Angst-, Hunger-, Übermüdungs- 
zustände, aber auch der seelischen Störungen untereinander wie z.B. den 
Eigennachahmungstrieb der Kranken, der von größter Bedeutung für die 
Fixierung krankhafter Gewöhnung ist — der Arbeitstherapie zuweist, welche 
sie durch richtige Instinktbeanspruchung mildert und zum Teil gar nicht auf- 
kommen läßt. 

Eine der wichtigsten Grundlagen für die Gewinnung von biologisch fun- 
dierten Heilanzeigen ist das Wissen um die biologischen Strukturgesetze, 
denen die Erscheinungen der Geisteskrankheiten unterliegen. Auf dem Weg 
zu diesem Ziel glaubt der V. auf verschiedenen Wegen, insbesondere aber im 
arbeitstherapeutischen Umgang mit den Kranken — bezüglich näherer Be- 
gründung verweist er auf spätere Veröffentlichungen — für die Schizophrenie 
zu Ergebnissen gelangt zu sein, die wegen ihrer Neuheit etwas ausführlicher 
hervorgehoben seien: die bisher übliche Unterscheidung nach katatonen. 
hebephrenen, paranoiden Erscheinungsformen entsprechen nicht den anzu- 
nehmenden biologischen Strukturgesetzen. Die schizophrenen Symptome 
lassen sich vielmehr in drei biologisch selbständige, auf Anwendung ver- 
schiedener Heileinwirkungen zum Vorschein kommender ‚Symptom- 
verbände‘ ordnen. Der eine gruppiert sich um die innere Erscheinung der 
Flüchtigkeit, objektiv um das Symptom des Gedankenentzugs; dazu gehören 
die Erscheinungen des Entgleisens, der Substitution, der Lückenbildung. des 
Verlustes der Eigenaktivität, der Herrschaft über die eigenen Erlebnis- 
zusammenhänge. Diesem Verband sind keine, bis jetzt wenigstens, klinisch 
erkennbare somatische Störungen, auch keine Stoffwechselstörungen zuge- 
ordnet. Ein zweiter Verband ordnet sich um den inneren Verlust der Eindriny- 
lichkeit der Erlebnisse, objektiv der damit verbundenen Sprunghaftigkeit 


a En (nr Pi 


u 


Buchbesprechung 435 


des Denkens, der Aufmerksamkeit, des Wollens, klinisch am deutlichsten in 
der Hypermetamorphose, im Vorbeireden faßbar. Frühzeitig künden sich in 
diesem Verband Störungen der Vitalgefühle an von der Bereicherung durch 
neue Qualitäten bis zum Gefühl des Gestorbenseins, eng damit verknüpft 
die physikalischen Täuschungen und Halluzinationen im Bereich der Leib- 
wahrnehmungen; in den höchsten Graden tritt schließlich Enthemmung der 
dranghaften Entladungsbereitschaft hinzu, die die hebephrene Erregung kenn- 
zeichnet. Diesem Verband ist eine klinisch erkennbare Stoffwechselstörung 
zugeordnet, in Erscheinung tretend durch den Gewichtsverfall auch bei aus- 
reichender Nahrungsaufnahme. Ein dritter Verband ordnet sich um die innere 


- Tatsache des Gliederungsverlustes der Erlebnisse, objektiv um die Erschei- 


nung des faseligen Denkens; leichtester Grad ist die eigenartige Verschwom- 
menheit des Denkens vieler Schizophrener, in höherem Grad die Bedeutungs- 
bezüge,ausdenen der Primärwahn hervorgeht, schließlich die Verschmelzungen, 
das Symboldenken, der Wortverlust, — auf affektivem Gebiet Störungen der 
Sachwertgefühle, die schwerere Parabulien und Parakinesen. In schweren 
Graden sind immer eigenartige Stoffwechselstörungen vorhanden, Neigung 
zu krankhaftem Wasserverlust, zu subkutanen Blutergüssen, zum Verfall in 
Cachexie, zur Ketonurie, Temperaturerhöhung, peripherer Cyanose; schwerstes 
Bild dieser Art ist die tödliche Katatonie. Diese zu zweien dieser Symptom- 
verbände gehörenden somatopathologischen Symptome sind weder Ursache 
noch Folge der psychischen Störungen, sondern letzteren durch das den ganzen 
Verband beherrschende biologische Gesetz angegliedert. Die therapeutische 
Auswertung dieser Verbände kann zunächst nur ein Anfang sein. V. gibt zu, 
daß er viele Heilsituationen mehr gefühlsmäßig als aus wissenschaftlicher 
Einsicht oder Erfahrung heraus anordnen muß. Jedenfalls kann man praktisch 
bei Kenntnis der Symptomverbände in jedem Fall die Arbeitssituationen 
zweckentsprechend biologisch formen. Regel ist, alle die seelischen Teil- 
leistungen, die außerhalb der in den Symptomverbänden als krank erkenn- 
baren Funktionsketten liegen, zu beanspruchen. Je intensiver man das tue, 
um so sichtbarer ruhen die erkrankten Teile und schweigen die Symptome. 
Beispiele: Unter bestimmten Verhältnissen ist das Weben, das das figurale 
Denken, Raum-Zeit-Koordinations-Distanz-Erlebnisse, Form- und Gestalt- 
gefühle beansprucht, die ideale Arbeit für Schizophrene mit dem Symptomen- 
verband um den Gedankenentzug und um das Faseln zur Ausschaltung des- 
selben; zur Ruhigstellung hebephrener Erscheinungen (Symptomverband mit 
Sprunghaftigkeit, Störung der Vitalgefühle) hiergegen ist geeignet schwere 
körperliche Gartenarbeit, Graben, schweres Tragen, da die körperliche Arbeit 
die Eigenerlebnisse und Wahrnehmungen des eigenen Leibes und die Gefühls- 
erlebnisse um diese Vitalgefühle auf die Wahrnehmung des Leibes als Körper 
und die Zustandsgefühle des Tätigseins umschaltet. 

Wie aus der Symptomatologie, so sucht der V. auch aus der allgemeinen 
Psychologie und Psychopathologie neue Grundlagen für Ausbau und An- 
wendung dre Arbeitstherapie, immer sie zugleich als Forschungsmittel be- 
nützend, zu gewinnen. Die biologische Beanspruchung des Kranken muß sich 
in erster Linie an die bisher noch sehr vernachlässigten Instinktreaktionen 
wenden. V. glaubt bei vielen Schizophrenen eine Verschiebung des Instinkt- 


gesamts nach den Polen der Neugier und der Nachahmungsreaktionen im 


Sinn einer krankhaften Übbarkeit und erleichterten Ansprechbarkeit an- 


` nehmen zu können, während bei der senilen Demenz die Neugier noch gut 


ansprechbar, die Bereitschaft zur Nachahmungsreaktion schon frühzeitig er- 


as® 


436 Buchbesprechung 


loschen sei, bei Benommenen und Verwirrten wiederum diese beiden keine 
Rolle spielen, dagegen die Instinkte des Anregungsbedürfnisses und nach see- 
lischer Beanspruchung überhaupt, welche ihre normale Übungsfähigkeit. 
Entfaltbarkeit und ihre biologischen Rückwirkungen auf den Organismus 
auch bei schweren Benommenheitszuständen bewahren. Ebenso lassen sich 
im Denken biologische Verschiedenheiten einzelner Funktionen unterscheiden. 
Das vergleichende Denken Schizophrener folge offenbar anderen Gesetzen als 
das Finden abstrakter Sachverhaltsbeziehungen. Ein Vergleich zwischen 
Übungsfortschritten Schizophrener auf beiden Gebieten zeigt,daß dem Schizo- 
phrenen bei ersterem ein normaler Übungstfortschritt möglich ist, beim letzteren 


nicht. Bei assoziativen Denkvorgängen ist bei der senilen Demenz die asso- 


ziative Übungsfähigkeit bis in die letzten Verlaufsabschnitte vorhanden, wäh- 


rend sie beim Arteriosklerotiker schon in den ersten Stadien erlischt. Als ` 


analoge Beobachtungen auf affektivem Gebiet führt V. an, daß beim Epi- 
leptiker die feineren Entfaltungsformen der Sympathiegefühle sich sehr früh- 
zeitig verwischen und nur wenig übungsfähig sind, die Sachwertgefühle da- 
gegen bis tief in die Verblödung hinein nicht nur ansprechbar, sondern auch 
übungsfähig bleiben. 

Am Schluß dieses Abschnittes hebt V. nochmals die Bedeutung der Ar- 
beitstherapie als des Grundstocks aller psychiatrischen Heilweisen hervor. 
auf die auch bei der Anwendung anderer Heilverfahren niemals verzichtet 
werden kann. Durch ihre Zuhilfenahme werden für diese erst übersichtliche 
Verhältnisse hergestellt und ihre Wirkung unterstützt. 

Mit der gleichen, das vorliegende Gesamtwissen erschöpfenden Vollständig- 
keit sind die übrigen Kapitel des Buches behandelt, die biologische Um- 
stimmung (s. Fiebererzeugung u. a.), die Behandlung mit Arzneien, darunter 
die für den Praktiker äußerst wertvollen Winke enthaltende Schlafmittel- und 
Dauerschlafbehandlung, Diät-Hormon-physikalische Behandlungsverfahren, 
endlich die moderne Krampf-(Campher, Cardiazol)behandlung und die In- 
sulinbehandlung. Die Auseinandersetzung des V. von seinen biologischen 
Grundideen aus mit den bisherigen psychologischen, humoralpathologischen. 
neuropathophysiologischen Theorien bringen auch hier neue Fragestellungen 
und Ausblicke auf biologisch begründete, verfeinerte Heilanzeigen. Es wird 
Sache der auf den genannten Gebieten kompetenten Autoren sein, sich aufs 
gründlichste mit den Ideen und Anregungen des V. zu befassen und es sei 
deshalb hier auf einen Bericht verzichtet. Zur Abrundung der oben ange- 
schnittenen Lehre des V. von den Symptomverbänden der Schizophrenie sei 
nur kurz angeführt, welche Rolle der V. ihr bei den eben genannten Heil- 
weisen zuteilt. Dieselben verhalten sich auch diesen Verfahren gegenüber ver- 
schieden, wie dies bereits in der Arbeitstherapie und durch sie deutlich ge- 
worden ist. V. glaubt sich zur Vermutung berechtigt, daß der sich um die 
Sprunghaftigkeit gruppierende Symptomverband besonders empfänglich für 
Gardiazoleinwirkung unter bestimmten Umständen, dagegen insulinrefraktär 
bzw. insulinunterempfindlich sei, während die Symptome aus dem Verband 
des Faselns sich der Insulinwirkung besonders zugänglich erweisen, woraus 
sich bestimmte Indikationen für die Anwendung der einzelnen Verfahren und 
ihrer Kombination ergeben. Die Erfahrung, daß viele Schizophrenien mit 
Stupor- und halluzinatorischen Zustandsbildern durch die meisten Heilweisen, 
Arbeitstherapie, Umstimmung, Dauerschlaf, Cardiazol und Insulin gleich 
günstig beeinflußt werden, glaubt V. folgendermaßen erklären zu können. 
Nach der klinischen Erfahrung entstehen die genannten Zustandsbilder erst 


— 


Buchbesprechung 437 


dann, wenn alle drei Symptomverbände in einem gewissen Schweregrad ent- 
wickelt sind. V. glaubt sie deshalb als das Ergebnis des Zusammenwirkens 
der drei Verbände betrachten zu können und hat sie deshalb auch bei der 
Schilderung dieser nicht genannt. Diese pflegen aber für sich allein oder in 
unvollständiger Bildung nur in den sog. atypischen Schizophrenien aufzu- 
treten. Die Hauptmasse aller schizophrenen Krankheitsprozesse zeigt sie je- 
doch sämtlich in mehr oder weniger vollständiger Entfaltung. Nun beein- 
flussen sich aber die einzelnen schizophrenen Teilstörungen (Symptomverbände) 
untereinander wie die nichterkrankten gegenseitig in mannigfacher Weise 
(Interferenzwirkungen). Neuhinzutreten eines Symptomverbandes reißt meist 
die bereits vorhandenen zu voller Entfaltung mit. Umgekehrt bedeutet 
Sanierung eines Verbandes auch die Entlastung der übrigen. Daher tritt mit 
der Beseitigung eines derselben durch ein Mittel, das ihn günstig beeinflußt, 


. auch eine Besserung des Gesamtzustandes ein, in ganz analoger Weise wie bei 


- der Arbeitstherapie. Verbindet man in geeigneter Weise die verschiedenen 


Mittel, so wird sich der Erfolg verstärken, im günstigsten Fall volle Genesung 
eintreten können. Der üblichen Erfolgsstatistik, sei sie mehr positiv oder 
negativ, legt V. nur beschränkten Wert bei, da sie infolge der Fülle der mit- 
wirkenden Umstände im Grunde Unvergleichbares miteinander in Beziehung 
bringe. An den Erfolgen selbst, vor allem der Insulin- und Krampfbehandlung, 
die als unbestrittene Fortschritte gewertet werden, ist nicht zu zweifeln. 
Jedes dieser Verfahren hat offenbar in bestimmten Bereichen und in bestimm- 
ten Kombinationen die Vorzugsstellung und ist bei anderen Syndromen allein 
oder in bestimmter Kombination falsch. 

Auch das Schlußkapitel, die Verhütung der Geistesstörung, zeigt die be- 
reits gerühmten Vorzüge der Darstellung des V. Jeder in gutachtlichen oder 
richterlichen Aufgaben tätige Psychiater wird seine Behandlung der erb- 


hygienischen Gesetzgebung mit größtem Nutzen lesen. Besonders vermerkt 
= sei die Mahnung des V., daß es jetzt, nachdem die Verhütung geistiger Störung 


l 


———n 00 ee 


| 


eine Zeit der Erfüllung erlebe, grundsätzlich falsch sei, ein neues Haus zu 
planen; es sei vielmehr nötig, daß sich der Psychiater in dem Haus einrichte 


‚ und vernünftig arbeite, welches ihm die neue Zeit zur Verfügung gestellt 


habe. Das Fundament, auf dem die Erbgesundheitsgesetzgebung beruht, er- 
scheint also in den Augen des V. durch seine reformeririschen Ideen nicht 
berührt, was man bekanntlich von anderen hie und da vertretenen Lehr- 
meinungen nicht behaupten kann. 

Alles in allem ein epochales Werk, mit dem sich jeder denkende Psychiater, 
einerlei ob er sich vorwiegend der Forschung oder der Behandlung widmet, 
auseinandersetzen muß, insbesondere aber die hierzu berufenen Psycho- 
pathologen und Kliniker, von denen der V., wie er an einer Stelle bemerkt, 
sich eine etwas grundsätzlichere Revisionsbereitschaft wünscht, als bisher 
gezeigt wurde. Auf jeden Fall ist der heuristische Wert der vom V. auf- 
gezeigten Forschungs- und Heilverfahrensmethoden nicht hoch genug einzu- 
schätzen. Die Anstaltsärzte mögen sich der mächtig aufrüttelnden Wirkung, 


' die von dem Buch ausgeht, nicht entziehen und erneut dahin wirken, daß 


so große eindeutige Errungenschaften wie die Arbeitstherapie und die neuen 
körperlichen Behandlungsweisen nicht wieder in der Ungunst der Zeiten und 
Umstände, aber auch nicht durch ein Mißverhältnis zwischen der Schwere 
der Aufgabe und den für sie einzusetzenden Kräften verloren gehe. 

Das Buch ist aber auch in anderer Beziehung von aktuellster Bedeutung. 
Bekanntlich verfällt die an sich wünschenswerte, ja unentbehrliche Werbung 


438 Buchbesprechung 


für die Rassenhygiene nicht selten in den Fehler, die Unheilbarkeit der geistigen 
Erkrankungen und die Unproduktivität der die ‚‚Ballastexistenzen‘“ beherber- 
genden Anstalten in krasser und übertreibender Form zu schildern und damit 
dem durch die Sparmaßnahmen schon weitgehend gesenkten notwendigsten 
Aufwand für die Anstalten die Berechtigung überhaupt ganz abzusprechen, 
wie dies Rüdin noch kürzlich gekennzeichnet hat. Demgegenüber liefert das 
Buch Schneiders den schlagenden Beweis dafür, daß nicht bloß ein gewisser 
Bruchteil der Geisteskranken, dessen Ausmaß durch die Erfahrung noch ab- 
gesteckt werden muß, einer sozialen Wiederherstellung, ja Heilung zu- 
gänglich ist, sondern daß auch ein Großteil der übrigen Kranken, der bisher 
sog. „Unheilbaren‘, so weitgehend einer Besserung zugeführt werden kann. 
daß jene Art von Kranken, deren Anhäufung manchen Anstalten den Charakter 
reiner Verwahrungsanstalten verliehen hat, in absehbarer Zukunft bis auf 
einen kleinen Rest verschwunden sein wird. Ferner liefert das vorliegende 
Werk den Beweis für die Richtigkeit des von Schneider erstmals mit unbeirr- 
barer Folgerichtigkeit durchgeführten Grundsatzes, daß die praktische Be- 
schäftigung mit den Geisteskranken bei den heute zur Verfügung stehenden 
Behandlungsweisen einerseits und die Erforschung der Geisteskrankheiten 
andererseits unlöslich miteinander verbunden sind, und daß somit die Ein- 
schränkung oder Unterbindung der ersteren auch eine unerträgliche Schädigung 
der letzteren zur Folge haben müßte. Es wird Sache der Irrenärzte sein, die 
neu eröffneten therapeutischen Möglichkeiten so tatkräftig wie nur möglich 
auszuschöpfen und bei ihren Leistungen diese engen Beziehungen zwischen 
der Behandlung und der Erforschung der Geisteskrankheiten so sinnfällig wie 
möglich herauszustellen. Ast-München. 


439 


Kurze Mitteilungen 


Der Ärztin und Forscherin Prof. Dr. med. Agnes Bluhm in Berlin-Lichter- 
felde, die bekanntlich bei Tieren den exakten Nachweis der Keimschädigung 
durch Alkohol erbracht hat, wurde anläßlich der Vollendung ihres 78. Lebens- 
fahres vom Führer und Reichskanzler die Goethe-Medaille für Kunst und 
'| Wissenschaft verliehen. 


In der Staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf (Sa.) wurde an der 
‘| dort neu errichteten staatlichen Pflegerschule der erste Lehrgang er- 
öffnet. Die in 1!/,jährigen Lehrgängen zu Pflegern herangebildeten Schüler 
erhalten nach bestandener Prüfung die staatliche Anerkennung als Kranken- 
pflegeperson, die sie zur Ausübung dieses Berufes in allen staatlichen und 
städtischen Krankenanstalten berechtigt. 
| 


Der 4. internationale Kongreß für Rassenhygiene ist für die Zeit 
vom 26.—28. August 1940 in Wien geplant. Ausführender Präsident ist 
Prof. E. Rüdin, München 23, Kraepelinstr. 2. In allen geschäftlichen Angelegen- 
heiten zuständig ist die Kongreßgeschäftsstelle beim Reichsausschuß für 
Volksgesundheitsdienst, Berlin W 62, Einemstr. 11. 


Die Berliner Akademie für ärztliche Fortbildung veröffentlicht 
ihr Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1940. Es werden 25 praktische 
Kurse und 8 Vortragsreihen über Fortschritte auf dem Gebiet der Therapie 
innerer Krankheiten angekündigt, ferner 7 internationale Fortbildungs- 
kurse für das Frühjahr. Anfragen und Anmeldungen: Geschäftsstelle der 
Akademie, Berlin NW 7, Robert-Koch-Platz 7 (Kaiserin-Friedrich-Haus), 
Fernruf 412414. 


Persönliches 


Ansbach. Oberarzt Dr. Hans Priessmann bei der H.- u. Pfl.-Anstalt 
Erlangen wurde zum Med.-Rat I. Klasse an der hiesigen H.- u. Pfl.-Anstalt 
ernannt. 

Berlin. Dozent Dr. Heinrich Schulte (Psychiatrie) wurde zum a. o. Professor 
ernannt. 

Gabersee. Vertragsarzt Dr. Schletz wurde zum Oberarzt an der hiesigen 
H.- u. Pfl.-Anstalt ernannt. 

Hochweitzschen. Reg.-Med.-Rat Dr. Rübbert an der 11.- u. Pfl.-Anstalt 
Sonnenstein wird an die hiesige H.- u. Pfl.-Anstalt versetzt. 

Illenau. Med.-Rat Professor Dr. Egon Küppers wurde zum Direktor der 
Städtischen Nervenklinik Chemnitz berufen. i 

Kaufbeuren. Ass.-Arzt Dr. Hans Erich Schulz bei der hiesigen H.- u. Pfl.- 
Anstalt wurde zum Oberarzt ernannt. 


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440 Kurze Mitteilungen 


Kutzenberg. Ass.-Arzt Dr. Hans Mönius bei der hiesigen H.- u. Pfl.-Anstalt 
wurde zum Oberarzt ernannt. 

Leipzig-Dösen. Reg.-Ob.-Med.-Rat Prof. Dr. Nitsche, der Direktor der 
L..-H.- u. Pfl.-Anstalt Sonnenstein bei Pirna wurde zum Direktor der hie- 
sigen Anstalt unter Beibehaltung seines Amtes als Sachbearbeiter im Sächs. 
Ministerium des Innern in Dresden ernannt. 

Reg.-Med.-Rat Dr. Dannhorn von der L.-H. u. Pfl.-Anstalt Sonnenstein- 
Pirna wurde an die hiesige H.- u. Pfl.-Anstalt versetzt. 

München. Am 15. Januar vollendete Geh. San.-Rat E. Rehm, der Besitzer 
des Sanatoriums Neufriedenheim, sein 80. Lebensjahr. | 

Dr. med. habil. Karl Thums wurde zum Dozenten für Rassenhygiene und 
Erbpathologie ernannt. 

Dr. med. habil. Fritz Roeder wurde zum Dozenten für Neurologie und Psych- 
iatrie ernannt. 

Sonnenstein b. Pirna. Reg.-Med.-Rat Dr. Schmorl von der L.-H. u. Pfl.- 
Anstalt wurde an das Staatliche Gesundheitsamt in Pirna versetzt. 

Weinsberg. Med.-Rat Dr. Junk von der H.-Anstalt Zwiefalten wurde an die 
hiesige H.-Anstalt versetzt. 

Weissenau. Ob.-Med.-Rat Dr. Buder, Vorstand der H.-Anstalt, ist wegen 
Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand getreten. 

Zschadrass. Reg.-Med.-Rat Dr. Schäfer an der L.-H. u. Pfl.-Anstalt in Col- 
ditz wurde an die hiesige L.-H. u. Pfl.-Anstalt versetzt. 

Zwiefalten. Med.-Rat Dr. Stegmann von der H.-Anstalt Winnental wurde 
an die hiesige H.-Anstalt versetzt. 


Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebitte Band 114 /Heft 34 


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Die „Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete‘ nimmt einschlägige 
Originalarbeiten auf und veröffentlicht sie möglichst in der Reihenfolge des Eingangs. Ar- 
beiten, die nicht länger als ein halber Druckbogen sind, werden im Erscheinen bevorzugt. 
Der Unkostenersatz für den Verfasser beträgt für den 16-seitigen Druckbogen RM. 24.—. 
Die Zeitschrift erscheint In zwangloser Folge in Heften; vier Hefte bilden jeweils einen Band 
von ungefähr 28 Druckbogen; jährlich erscheinen etwa drei Bände. Der Preis eines Bandes 
beträgt RM. 25.—, für die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater RM. 20.— 
(außerhalb Deutschlands ermäßigt sich, solange keine andere Regelung getroffen wird, der 
Preis um 25°/., sofern in Devisen oder freien Reichsmark gezahlt wird). 

Bestellungen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes oder direkt an den Verlag. 
Beiträge sowie Veröffentlichungen, die in der Zeitschrift besprochen werden sollen, sind ause 
schließlich zu richten an den Herausgeber 


Direktor Dr. Hans Roemer, Illenau bei Achern (Baden) 


Für die Verfasser von Literaturübersichtsberichten und Besprechungen von Büchern, Sonder- 
abzügen und Jahresberichten gelten besondere Bestimmungen. 

Es wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Annahme des Manuskriptes 
und seiner Veröffentlichung durch den Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für alle Sprachen 
und Länder an den Verlag übergeht, und zwar bis zum 31. Dezember desjenigen Kalender- 
jahres, das auf das Jahr des Erscheinens folgt. Es können also grundsätzlich nur Arbeiten 
angenommen werden, die vorher weder im Inland noch im Ausland veröffentlicht worden 


d. 
Bei Arbeiten aus Kliniken, Anstalten, Instituten usw. ist eine Erklärung des Direktors oder 
eines Abteilungsleiters beizufügen, daß er mit der Veröffentlichung der Arbeit einverstanden 
ist und den Verfasser auf die Aufnahmebedingungen aufmerksam gemacht hat. 
Die Verfasser erhalten von ihrer Arbeit je40 Sonderdrucke kostenfrei, weitere (bis zu 160 Stück) 
gegen die übliche billige Berechnung der Mehrkosten, falls sie diese bei der Rücksendung 
der ersten Korrektur bestellen. 
Alle nichtredaktionellen Angelegenhelten, die die Zeitschrift betreffen, erledigt 


Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35, Woyrschstraße 13 


Aufnahmebedingungen. 


1. Die Beiträge müssen dem Gebiet der Zeitschrift angehören und wissenschaftlich wertvoll 
sein. Arbeiten, die ausschließlich polemischen Inhalt haben, werden nicht aufgenommen, 
Bemerkungen, die ohne neue Belege lediglich Angaben eines Verfassers richtigstellen 
sollen, werden diesem vorgelegt. 

2. Die Beiträge sollen klar, kurz und in gutem Deutsch abgefaßt sein und druckreif, möglichst 
in Maschinenschrift geschrieben eingesandt werden. 

3. Auf eine ausführliche gesehichtliche Einleitung kann stets verzichtet werden. 

4. Über jede Art von Tatbestand (Krankengeschichte, Sektionsbefund, Versuchsergebnis) 
Ist in der Regel nur eine Niederschrift als Beispiel in knappster Form wiederzugeben; 
nötigenfalls können die übrigen Beweismittel im Text oder in Tabellenform gebracht 
werden. Es empfiehlt sich, in einer Fußnote mitzuteilen, an welcher Stelle (Anstalt, Klinik, 
Institut) die gesamten Beweismittel zur Einsicht oder Anforderung niedergelegt sind. 

6. Abbildungen sind auf die notwendigste Zahl zu beschränken, die Vorlagen dazu auf ge- 
sondertem Blatt in einer Form, die sich für die unmittelbare Wiedergabe eignet, zu liefern 
und so ausreichend zu beschriften, daß sich die eingehende Beschreibung im Text erübrigt. 
Eine doppelte Mitteilung von Ergebnissen in Tabellenform und in Abbildung ist ausnahms- 
los unzulässig. 

6. Jedem Beitrag ist in der Regel am Schluß eine Zusammenfassung der Ergebnisse beizu- 
fügen. 

7. Das Schrifttum ist am Ende der Arbeit anzuführen; die Angaben, die nur Im Text be- 
rücksichtigte Arbeiten enthalten dürfen, erfolgen ohne Titel der Arbeit nur mit Band-, 
Seiten-, Jahreszahl; Titelangaben sind nur bei Büchern zulässig; bei den Titelabkürzungen 
der medizinischen Zeitschriften ist das Verzeichnis der „Periodica Medica“ 3. Aufl. 1937 
(Georg Thieme, Leipzig) zu benützen. 

8. An Dissertationen werden nach Form und Inhalt dieselben Anforderungen gestellt wie an 
die anderen Arbeiten. Danksagungen an die Leiter von Kliniken, Anstalten, Instituten usw. 
werden nicht abgedruckt; in einzeiliger Fußnote kann dagegen mitgeteilt werden, wer die 
Arbeit angeregt und geleitet oder wer die Mittel dazu gegeben hat. 


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HIPPOKRATES 


und die Begründung der wissenschaftlichen: Medizin 
Von MAX POHLENZ 
Oktav. VI, 120 Seiten. 1938. Geb. RM 6.— 


Immer deutlicher hat sich in den letzten Jahren gezeigt, wie modern 
die medizinischen Ansichten des größten dergriechischen Ärzte Hippo- 
krates sind. Es ist daher ein besonderes Verdienst des Buches von 
Max Pohlenz, die beiden Schriften über „Die Umwelt‘ und über 
„Die heilige Krankheit“ als echt hippokratisch erwiesen zu haben. 
Im Schlußkapitel dehnt er seine Untersuchung auf die Persönlichkeit 
des Verfassers und seinen geschichtlich und sachlich hochbedeutsamen 
wisscnschaftlichen Einfluß aus. Die Heilkunde der Griechen — das 
ist das Ergebnis der kulturgeschichtlich wie medizinisch gleichbe- 
deutenden Abhandlung — ist wesentlich die Schöpfung des Hippo- 
krates, der gerade auch der Gegenwart noch vieles zu sagen hat. 


DIOKLES VON KARYSTOS 


Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles 
Von WERNER JAEGER 
Oktav. VIII, 244 Seiten. 1938. Geb. RM 8.50 


Inhalt: Einleitung: Das Problem der geschichtlichen Stellung und 
Zeit des Diokles / I. Kapitel: Aristotelisches in Sprache und Denken 
des Diokles / II. Kapitel: Ein vergessener ärztlicher Lehrbrief des 
Diokles an König Antigonus als echt erwiesen / III. Kapitel: 
Theophrastea / IV. Kapitel: Diokles und die peripatetische Natur- 
forschung / V. Kapitel: Diokles und die medizinische Schule des 
Peripatos / Der Peripatos und die Geschichte der griechischen Medizin 
im Lichte der neuen Ergebnisse 


WALTER DE GRUYTER & CO » BERLIN W35 | 


Scubrspadus®nzeigenpreise n, Tarif 5. — Verantwortl. f, d. Anzeigenteili Kurt Dittrich) Berlin. I. v.W.e A 
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