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Full text of "Psychiatrie [electronic resource] : ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte"

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200931105 


INST.  PSYCH. 


UBRARY 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2015 


https://archive.org/details/b21295967_0001 


PSYCHIATRIE 

EIN  LEHRBUCH 
FÜR  STUDIERENDE  UND  ÄRZTE 

VON 

Dr.  EMIL  KRAEPELIN 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  MÜNCHEN 

ACHTE,  VOLLSTÄNDIG  UMGEARBEITETE  AUFLAGE 

'v 

I.  BAND 

ALLGEMEINE  PSYCHIATRIE 
MIT  38  ABBILDUNGEN  UND  EINER  EINSCHALTTAFEL 


LIBRARY 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH 

1909 


LIBRARY 


Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  Leipzig 


Dem  Andenken 


Bernhard  von  Guddens 


gewidmet 


Vorwort  zur  8,  Auflage. 


Die  wachsende  Ausdehnung  unserer  Wissenschaft  wie  die  Über- 
lastung mit  Berufsgeschäften  nötigt  mich,  die  vorliegende  Neu- 
bearbeitung der  allgemeinen  Psychiatrie  zunächst  für  sich  heraus- 
zugeben. Sie  ist  beträchtlich  erweitert  worden,  da  viele  Lücken 
auszufüllen  waren;  das  vordringliche  Interesse  der  klinischen 
Forschung  hat,  im  Gegensatze  zu  früheren  Zeiten,  heute  die  Be- 
schäftigung mit  den  allgemeineren  Fragen  der  Psychiatrie  viel- 
leicht etwas  zu  sehr  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Tiefgreifende 
Umwandlungen  mußte  besonders  der  erste  Abschnitt  erfahren,  in 
dem  neben  den  Erörterungen  über  Rindenlokalisation  die  Darstel- 
lung der  allgemeinen  und  persönlichen  Prädisposition  fast  völlig  neu 
geschrieben  wurde.  In  den  vierten  Abschnitt  wurde  ein  Kapitel 
über  allgemeine  Diagnostik  eingefügt,  im  fünften  die  Darstellung 
des  Anstaltswesens  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  vervoll- 
ständigt. Vielfach  wird  man  ferner,  wie  ich  denke,  dem  Streben 
begegnen,  die  Beziehungen  der  Psychiatrie  zu  anderen  Wissens- 
gebieten, zur  Psychologie,  Biologie  und  Gesundheitslehre,  zur  Sitten- 
geschichte, Gesellschaftskunde  und  Rechtswissenschaft,  stärker  zu 
betonen.  Zur  besseren  Veranschaulichung  habe  ich  dem  Buche 
eine  größere  Zahl  von  Diagrammen  und  Abbildungen  beigegeben. 

München,  den  28.  Februar  1909. 

E.  Kraepelin. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

  I 

Einleitung   ^ 

I  Die  Ursachen  des  Irreseins  /  \,'  '  " 

Außere  und  innere,  rohe  und  wahre  Ursachen  -  Exogene  und  endogene 
Erkrankungen. 

 lo 

A.  Äußere  Ursachen  

I.  Körperliche  Ursachen  

^^^"SSaSrungen  (Blutandrang/ Blutleere,  f  rSur;;en'" 
mische  Wirkungen,   Zerstörungen,  psychische  Wirkungen  - 

Krankheitsbilder  •.•   •   '   •   :. ,■.  ' 

Meningitis  -  Sonnenstich  -  Hitzschlag  -  Hirngeschwulste  - 
Kopfverletzungen  -  Apoplektischer  Schwachsinn  -  Hunting- 

tons  Chorea  •  \, '  a^o 

Lokalisation  der  psychischen  Störungen  -  Vergleichende  Ana- 
tomie -  Phrenologie  (Gall,  Möbius)  -  Verschiedenheit  der 
Nervenzellen  —  Anordnung  in  der  Rinde  —  Giftwirkungen  — 
Landkartenartige  Abgrenzung  —  Cytoarchitektonik  —  Myelo- 
architektonik —  Markreifung  (Flechsig)  —  Tierversuche  — 
Klinische  Ausfallserscheinungen  —  Agnosie  und  Apraxie  -— 
Geschwülste  —  Topographisch-pathologische  Rindenanatomie 

—  Restitution  und  Kompensation  —  Giftversuche  —  Isolierte 

Krankheitszeichen  

Nervenkrankheiten  ■t-\  ■ 

Tabes  —  Polyneuritis  (Beri-Beri)  —  Chorea  —  Epilepsie  —  Tetanie 

—  Migränepsychosen   —   Schmerzdelirien,  Reflexpsychosen 
(Dysphrenia  neuralgica)  5° 

Operative  Eingriffe  c     ■  / 

Delirium  traumaticum  (Alkohol,  Urämie,  Jodoform,  Sepsis)  — 
Künstliches  Klimakterium  —  Delirien  im  Dunkelzimmer    .  54 

Erschöpfung  yC.  '   '  ••  j  '  ' 

Vermehrter  Verbrauch;  ungenügender  Ersatz  —  Übermüdung, 
Schlaflosigkeit,  Hungern  —  Klinische  Formen  (Amentia,  Er- 
schöpfungsstupor,  Neurasthenie,  Kollapsdelirium)  —  Chronische 
Erschöpfung  55 

Infektionskrankheiten   „  ■   •  .' 

Akute  Infektionskrankheiten  (Giftwirkungen,  Fieber,  Kompli- 
kationen, persönliche  Widerstandsfähigkeit)  —  Delirien  — 
Lyssa  —  Nachkrankheiten  (Erschöpfung,  Gifte)  —  Residual- 
wahn, Kollapsdelirien,  Depressionszustände,  akute  Demenz  — 

Auslösung  anderer  Psychosen  60 

Chronische  Infektionskrankheiten  —  Syphilis  (Neurasthenie,  fort- 
schreitende Krankheitsbilder,  Schwächezustände,  Entwicklungs- 
hemmungen) —  Metasyphilis  (Paralyse)  —  Schlafkrankheit  — 
Tuberkulose  —  Lepra  ^7 


Inhaltsverzeichnis.  VII 

Seite 

Stoffwechselkrankheiten  '.  •   ■  ' 

Blutveränderungen  (Gifte,  Alkalescenz,  Cytolysine,  Isotonie,  Zahl 
der  roten  und  weißen  Blutkörper)  —  Kohlensäurevergiftung  — 
Urämie  —  Cholämie  —  Krebssiechtum  —  Darmgifte  —  Dia- 
betes, Glykosurie  —  Osteomalacie  —  Gicht  —  Schilddrüsen- 
erkrankungen (Myxödem,  Basedowsche  Krankheit)  — Hypo- 

physis  —  und  Nebennierenerkrankungen  74 

Vergiftungen   ^3 

Akute  und  chronische  Vergiftungen  —  Mittelbare  Giftwirkungen  .  83 
Pellagra  —  Ergotismus  —  Alkohol  (Häufigkeit  der  Erkrankungen, 
Verbreitung  des  Alkoholverbrauchs,  verschiedene  Getränke, 
Dauerwirkungen,  entartende  Wirkungen,  wirtschaftliche  Be- 
gleiterscheinungen, klinische  Formen)  —  Äther  —  Paraldehyd 
(Petroleum,  Benzin,  Chloroform)  —  Morphium  (Opium,  Dionin, 
Heroin)  —  Cocain  —  Haschisch  —  Fliegenschwamm  —  Arznei- 
mittel (Bromsalze,  Sulfonal,  Jodoform  usw.)  —  Quecksilber,  Blei 

—  Phosphor  —  Kohlenoxydgas  —  Schwefelkohlenstoff  —  Anilin  85 
Organerkrankungen  ^  °2 

Ohrenerkrankungen  (Psychose  der  Schwerhörigen,  Taubstumm- 
heit) —  Aprosexia  nasalis  —  Lungenleiden  —  Herzleiden  — 
Gefäßerkrankungen  (Lues,  Arteriosklerose)  —  Erkrankungen 
der  Verdauungswerkzeuge  (Darm,  Magen,  Leber)  —  Nieren- 
erkrankungen —  Genitalerkrankungen  („Hysterie")  103 

Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft   .  109 

Ausschweifungen  —  Onanie  —  Nuptiales  Irresein  —  Geschlechtliche 
Enthaltsamkeit  —  Sexueller  Ursprung  der  Neurosen  und  Psy- 
choneurosen  (Freud)  —  Menstruationsstörungen  —  Klimak- 
terium —  Fortpflanzungsgeschäft  (Schwangerschaft,  Wochen- 
bett, Säugegeschäft)  

2.  Psychische  Ursachen  ^^9 

Gemütsbewegungen   121 

Akute  und  dauernde  Gemütsbewegungen  —  Körperliche  Begleit- 
erscheinungen —  Krankhaftes  Haften  —  Bewußtseinstrübung 

—  Verdrängung  —  Emotionspsychosen,  Angstdelirien  —  Hyste- 
rie,  Unfallsneurose,    Erwartungsneurose,  Zwangsirresein  

Querulantenwahn  —  Auslösende  Wirkungen  121 

Überanstrengung  129 

Gefangenschaft  ^3° 

Untersuchungshaft  (Ganser scher  Dämmerzustand)  —  Straf haft 

—  Verschie'dene  klinische  Formen  —  Komplexe  131 

Kriege  und  Katastrophen  ^35 

Psychische  Ansteckung  •   136 

Psychische  Epidemien  —  Induziertes  Irresein  —  Irresein  nach 
hypnotischen  und  spiritistischen  Versuchen  I37 

B.  Innere  Ursachen  (Prädisposition)  140 

I.  Allgemeine  Prädisposition  141 

Lebensalter  ^4^ 

Kinderpsychosen  (Entwicklungshemmungen)  —  Entwicklungs- 
jahre  (Hebephrenie,   Hysterie,   manisch-depressives  Irresein) 

—  Lebenshöhe  (Alkohol  und  Syphilis)  —  Rückbildungsjahre 
(Arteriosklerose,  Klimakterium)  —  Greisenalter  141 

Geschlecht   ^So 

Volksart  

Kultur-  und  Naturvölker  —  Juden  und  Neger  —  Klinische  Formen 

—  Tierpsychosen  —  Selbstmordstatistik  —  Besondere  Formen 
(Latah,  Amok,  Koro)  —  Klinische  Spielarten  i53 


rr-rr-t  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Klima  

AllEcmeine  Lebensverhältnisse 

Anwachsen  der  Geisteskranken  —  Stadt  und  Land  —  Kultur- 
einflüsse (Unfallversicherung,  Steigerung  der  Anforderungen, 
Verweichlichung,  Abschwächung  des  Auslesevorganges)  — 
Änderung  klinischer  Formen  i6i 

Beruf  ■  :  ^■   '  n  ' 

Berufslosigkeit  (Verbrecher,  Landstreicher,  Prostituierte)  —  Ge- 
fahren bestimmter  Berufe  —  Armee  und  Marine  170 

Zivilstand  ^74 

2.  Persönliche  Prädisposition  ^75 

Erblichkeit  ^75 

Keimschädigung  und  Vererbung  —  Unmittelbare,  atavistische, 
kollaterale,  verschiedenartige  Vererbung  —  Erbliche  Belastung 
bei  Gesunden  und  Geisteskranken  —  Gehäufte  Vererbung  — 
Unehelich  Geborene  —  Einzelne  klinische  Formen  —  Zwillings- 
irresein —  Gleichartige  und  umwandelnde  Vererbung    ...  175 

Entwicklungsstörungen  

Entartung  ^87 

Erbliche  Entartung  —  Blutsverwandtschaft,  Blutsverschieden- 
heit —  Psychische  und  körperliche  Entartungszeichen  —  Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften  —  Verschärfung  des  Daseins- 
kampfes (Verlust  der  Freiheit,  Verantwortlichkeit,  Angstzu- 
stände) —  Verkümmerung  —  Einseitige  Züchtung  seelischer 
Eigenschaften  —  Domestikation,  Verweichlichung  —  Ab- 
schwächung der  natürlichen  Triebe  —  Einschränkung  und 

Verkehrung  der  natürlichen  Auslese   .  187 

Erziehung  203 

Persönliche  Eigenart  206 

Bedeutung  der  einzelnen  Ursachengruppen  208 

IL  Die  Erscheinungen  des  Irreseins  210 

A.  Störungen  des  Wahrnehmungsvorganges  211 

Sinnestäuschungen  211 

Spezifische  Reaktion  —  Elementare  Trugwahrnehmungen  —  Wahr- 
nehmungstäuschungen —  Bedingungen  derselben  (Fortfall  äuße- 
rer Reize,  Aufmerksamkeit,  Anregung  durch  äußere  Reize)  — 
Einseitige  Täuschungen  —  Negative  Sinnestäuschungen  — 
Halluzination  und  Illusion  —  Reperzeption  —  Einbildungs- 
täuschungen (Doppeldenken,  Gedankensichtbarwerden)  —  Extra- 
campine  Halluzinationen  —  Auffassungsverfälschungen  — 
Reflexhalluzinationen  —  Klinische  Bedeutung  der  Sinnestäu- 
schungen —  Verschiedenheiten  ihrer  Entstehung  —  Gesichts-, 
Gehörs-,  Geruchs-,  Geschmacks-,  Gefühlstäuschungen  — 
Klinische  Unterschiede  211 

Trübungen  des  Bewußtseins  237 

Bewußtsein  — Dämmerzustände  — Schlaf,  Schlafstörungen  (Fehlen 
des  Schlafbedürfnisses,  krankhafte  Müdigkeit,  Änderungen  der 
Schlaftiefe,  Störungen  des  Erwachens)  —  Krankhafte  Träume  237 

Störungen  der  Auffassung  243 

Verlangsamung  der  Auffassung  —  Verständnislosigkeit  —  Un- 
besinnlichkeit  —  Agnosie  243 

Störungen  der  Aufmerksamkeit  247 

Enge  des  Bewußtseins  —  Inneres  Blickfeld,  innerer  Blickpunkt 
—  Aktive  und  passive  Aufmerksamkeit  —  Abstumpfung  der 
Aufmerksamkeit  —  Sperrung  —   Hemmung  —  gesteigerte 


Inhaltsverzeichnis.  IX 

Seite 

Lebhaftigkeit  —  Bestimmbarkeit  —  Erhöhte  Ablenkbarkeit  der 
Aufmerksamkeit  —  Fesselung  der  Aufmerksamkeit  247 

B.  Störungen  der  Verstandestätigkeit  253 

Störungen  des  Gedächtnisses   254 

Merkstörungen  —  Erinnerungslosigkeit  (retrograde  Amnesie)  — 
Verdrängung  —  Gedächtnisschwäche  —  Umschriebene  Amne- 
sien —  Verlust  der  Bekanntheitseigenschaft  —  Erinnerungs- 
fälschungen —  Hypermnesien  —  Paramnesien  —  Konfabula- 
tion —  Assoziierende,  identifizierende  Erinnerungstäuschungen  255 

Störungen  der  Orientierung  265 

Zeitliche,  örtliche,  sachliche  Orientierung  —  Desorientiertheit 
(apathische,  stuporöse,  deliriöse,  halluzinatorische,  amnestische, 

wahnhafte)  265 

Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe     ....  270 
Allgemeinvorstellungen  (Sprachsymbole)  —  Unvollkommene  Ent- 
wicklung der  Begriffe  —  Verschwommenheit  270 

Störungen  der  Vorstellungsverbindungen  275 

Äußere  und  innere  Vorstellungsverbindungen  (Koexistenz,  sprach- 
liche Übung,  Klangassoziationen,  logische  Beziehungen)  — 
Analytische  und  synthetische  Urteile,  Subsumtionen  und  prädi- 
kative Beziehungen  —  Persönliche  Unterschiede  275 

Störungen  des  Gedankenganges  279 

Leitvorstellungen  —  Haften,  Perseveration  —  Stereotypie  —  Ein- 
förmigkeit —  Umständlichkeit  —  Ablenkbarkeit  (Ideenflucht, 
Weitschweifigkeit,  Aufzählungen)  —  Zerfahrenheit  (Wort-  und 

Klangspielereien)  —  Verwirrtheit  279 

Zwangsvorstellungen  297 

Motorische  Einstellung  —  Kontrastvorstellungen  —  Verantwort- 
lichkeit, Zweifelsucht  —  Grübel-  und  Fragesucht  297 

Störungen  der  Einbildungskraft  302 

Lähmung  (Schwerfälligkeit)  —  Denkhemmung  —  Interesselosig- 
keit —  Steigerung  der  Einbildungskraft  (krankhafte  Lügner  und 

Schwindler)  —  Pathologischer  Einfall  302 

Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung  307 


Wissen  und  Glaube  —  Irrtum,  Aberglaube  und  Wahnidee  — 
Überwertige  Ideen  —  Wahnbildung,  egozentrische  Anknüpfung, 
psychologische  Macht  —  Beziehungswahn  (Transitivismus)  — 
Erklärungswahn  —  Entstehungsbedingungen  des  Wahns  (Ge- 
fühlsregungen, Bewußtseinstrübung,  Urteilsschwäche)  —  Mono- 
manien —  Lokalisation  der  Wahnideen  —  Klinische  Formen 
(deliriöse ,  schwachsinnige  ,  wechselnde ,  fixierte  Wahnideen, 
Residualwahn,  Wahnsysteme)  —  Kleinheits-  und  Größenideen 
—  Versündigungs-,  Verfolgungs-,  Eifersuchtswahn,  Telepathie, 
Verwandlungswahn,  hypochondrischer  Wahn,  Größenwahn, 

Mangel  des  Krankheitsbewußtseins  307 

Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes  328 

Verlangsamung  —  Schwankungen  —  Beschleunigung    ....  328 

Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit  y  330 

Psychische  Grundeigenschaften  —  Übungsfähigkeit  ' —  Übungs- 
festigkeit —  Anregbarkeit  —  Ermüdbarkeit  —  Erholungsfähig- 
keit (Schlaftiefe)  —  Ablenkbarkeit  —  Gewöhnungsfähigkeit  .  330 

Störungen  des  Selbstbewußtseins  333 

Verfälschungen  —  Depersonalisation  —  Beeinflussung  durch 
die  Stimmung  —  Vernichtung  —  Spaltung,  Zerfall  der  Indi- 
vidualität (Sejunktion)  — ■  Lücken  —  Doppeltes  Bewußtsein 
(Ekmnesie)  333 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

C.  Störungen  des  Gefühlslebens  338 

Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit  ....  339 
Teilnahmlosigkeit  —  Einschränkung  der  Gefühlsbeziehungen  — 
Niedere  und  höhere  Gefühle  —  Beeinflußbarkeit  —  Krankhafte 
Lebhaftigkeit  der  Stimmungen  —  Stimmungswechsel  ....  339 

Krankhafte  Gemütsarten  343 

Gesteigerte  Unlustempfindlichkeit  —  Ängstlichkeit  —  Reizbar- 
keit —  Verschlossenheit  —  Sonnennaturen  —  Schwärmer  und 

Schwindler  —  Leichtsinn  344 

Krankhafte  Gemütsbewegungen  347 

Angst  —  Phobien  (Situations-,  Funktionsphobien)  —  Erwartungs- 
angst —  Niedergeschlagenheit  —  Gereiztheit  —  Übermut  — 
Humor  —  Glücksgefühl  —  Heiterkeit  —  Verzückung,  Ekstase  348 

Störungen  der  Gemeingefühle  361 

Müdigkeit  —  Hunger  —  Langeweile  —  Ekelgefühle  —  Schmerz 

—  Schamgefühl  —  Geschlechtliche  Gefühle  361 

D.  Störungen  des  Wollens  und  Handelns  366 

Herabsetzung  der  Willensantriebe  366 

Lähmung  und  Verödung  des  Wollens  366 

Steigerung  der  Willensantriebe   369 

Unruhe  —  Betätigungsdrang  (Manie)  —  Bewegungsdrang  (Kata- 
tonie)  369 

Behinderung  der  Willenshandlungen  371 

Psychomotorische  Hemmung  —  Stupor  —  Willenssperrung  .   .  371 

Erleichterung  der  Willenshandlungen  373 

Erhöhte  Beeinflußbarkeit  des  Willens   375 

Willensfreiheit  —  Bestimmbarkeit  —  Willenlosigkeit  (Hypnose)  — 
Befehlsautomatie  (Katalepsie)  —  Nachahmungsautomatie  (Echo- 
lalie,  Echopraxie)  —  Ablenkbarkeit  des  Willens  (Unstetigkeit)  375 

Verminderte  Beeinflußbarkeit  des  Willens  380 

Negativismus  (Mutacismus,  Vorbeireden,  Befehlsnegativismus)  — 
Widerstreben  —  Eigensinn,  Unlenksamkeit  —  Bindung  des 

Willens  (Pedanterie)  380 

Störungen  im  Ablaufe  der  Willkürhandlungen  385 

Zielvorstellung  —  Handlungsformel  —  Ideatorische  und  moto- 
rische Apraxie  385 

Verschrobenheit  und  Stereotypie  388 

Willensdurchkreuzung  (Nebenantriebe)  —  Stereotypie  (Haltungs- 
und Bewegungsstereotypen)  —  Verschnörkelungen  (Manieren) 
und  Entgleisungen  des  Handelns  (Paramimie,  Drumherumreden)  388 

Zwangshandlungen  und  Zwangshemmungen  393 

Schutzhandlungen  —  Manie  de  l'au  delä  — Tics  (Maladie  des  tics) 

—  Einschränkung  des  Willens  (Phobie  du  metier)  —  Unfähig- 
keit, anzufangen  und  aufzuhören  (Kleben)  393 

Triebhandlungen  299 

Krankhafte  Triebe  ^01 

Nahrungsverweigerung,  Gefräßigkeit  —  Suchten  —  Selbstver- 
letzungen —  Krankhafter  Geschlechtstrieb  —  Onanie  — 
Konträre  Sexualempfindung  —  Sadismus  (Mädchenstecher, 
Lustmörder)  —  Masochismus  (Flagellanten)  —  Fetischismus 
(psychische  Onanie,  Zopfabschneider,  Diebstähle)  —  Sodomie, 
Zoophilie  —  Sammeltrieb  —  Kauftrieb  (Oniomanie)   Stehl- 
trieb —  Brandstiftungstrieb  —  Mordtrieb  (Giftmischer)  .   .  .401 

Störungen  der  Ausdrucksbewegungen  

Bewegungen  (Verlust  der  Grazie)  —  Allgemeines  Verhalten,  Ge- 
bärden —  Mimik  —  Lachen  und  Weinen  —  Sprache  (Klang- 


Inhaltsverzeichnis.  XI 

Seite 

stärke,  sprachliche  Melodie,  rhythmische  Gliederung,  Aus- 
sprache, Satzbildung,  Zeitmaß)  -  Verbigeration  (Stranskys 
Versuche)  —  Sprachverwirrtheit  —  Wortneubildungen  (Traum- 
sprache) —  Schrift  (Gröbere  Störungen,  Inhalt,  Druck  und 
Geschwindigkeit)  -  Zeichnungen  -  Musikalische  Leistungen 

—  Geisteskranke  Schriftsteller  —  Dichter  und  Gelehrte  (Patho- 
graphien)  —  Kunstwerke  4" 

Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen  '   \-\  '  '  ^ 

Handeln  aus  Wahnideen  -  Leistungsfähigkeit  -  Schicksale  der 
Kranken  (Fremdenlegion,  Psychopathenkolonien)  —  Gefahr- 
liche Handlungen  —  Geisteskranke  Herrscher  —  Geschäftsfähig- 
keit —  Zurechnungsfähigkeit  (gerichtliche  Psychopathologie)  431 

III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins  438 

 438 

A.  Verlauf  des  Irreseins  

Krankhafte  Vorgänge  und  Zustände  -  Angeborene  und  erworbene 

Störungen  (Endzustände)  

Beginn  der  Erkrankung  

Höhe  der  Erkrankung  ;   '  :   ;      '  r>'   •'  ^';,iVaf 

Gleichmäßiger  oder  schwankender  Verlauf  -  Anfalle,  Periodizität 

—  Intermissionen  und  Remissionen  44° 

■  443 

Genesungszeit  

Verhalten  des  Körpergewichtes  

 446 

B.  Ausgänge  des  Irreseins  

 447 

Prognose  

"^'^  Alfgemeine  Prognose  des  Irreseins  —  Krankheitseinsicht  —  Ein- 
fluß fieberhafter  Krankheiten  447 

Unvollständige  Heilung  45 

Heilung  mit  Defekt  

Unheilbarkeit  /   '  „  .^a 

Residualwahn  —  Fortschreitender  Verlauf  —  Verblödung  ...  454 

  457 

Todesursachen  —  Selbstmord  —  Tuberkulose   457 

.   .  458  ■ 

C.  Dauer  des  Irreseins 

4,  CO 

Spätheilungen  •  

IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins  460 

A.  Krankenuntersuchung  

^"'^^ErbUchkeit,'  Angehörig^—  Schädigungen,  Krankheiten  -  Frühere 

Anfälle  '   ■   ■  löd 

Zustandsuntersuchung  '    c '  /       '  . 

Körperliche  Untersuchung  —  AUgemeinzustand  —  Entartungs- 
zeichen —  Schädel  —  Hirnleistungen  —  Gesicht  und  Gehör 
—  Pupillenuntersuchung  (Licht-,  Akkommodations-,  Schmerz- 
reaktion, psychische,  galvanische,  sekundäre  Reaktion)  —  Mo- 
torische Leistungen  (Sprache  und  Schrift)  -  Agraphie  und 
Apraxie  —  Rückenmark,  Sympathicus,  periphere  Nerven  — 
Sphygmographie  und  Plethysmographie,  Blutdruck  —  Blut- 
veränderungen —  Harn-  und  Stoffwechseluntersuchungen  — 

Cyto-  und  Serodiagnostik  '   '  . '   '  ' 

Psychische  Untersuchung  —  Intelligenzprüfungen  (Fragebogen, 
Fabelmethode,  Sprichwörtermethode,  Ergänzungsmethode,  Witz- 
methode) --  Riegers  geistiges  Inventar  -  Feinere  Methoden  - 


XII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Mental  tests  —  Auffassungsprüfung  —  Psychische  Zeitmes- 
sungen —  Aufmerksamkeitsprüfung  —  Untersuchung  des  Ge- 
dächtnisses und  der  Merkfähigkeit  —  Assoziationsversuche 
(Vorstellungsinventar,  Komplexe,  Psychoanalyse)  —  Wahl- 
reaktionen  —  Schriftwage  —  Stimmkurven  —  Ergographie, 
Dynamometrie  —  Zitterbewegungen,  Ausdrucksbewegungen  — 
Reflexuntersuchungen  —  Gemütsbewegungen  (galvanischer 
psychophysischer  Reflex)  —  Psychische  Grundeigenschaften  .  477 

Beobachtung   505 

Leichenbefund  507 

Anatomische  Diagnose  —  Schädel  —  Blutfüllung  —  Windungen  — 
Gewicht  des  Gehirns  und  der  Teile,  absolutes  und  spezifisches  — 
Zellveränderungen  —  Örtliche  Ausbreitung  —  Pathologisches 
Gesamtbild  der  Rinde  —  Abbaustoffe  —  Erkennung  von  Krank- 
heitsvorgängen  207 

B.  Die  Diagnose  '  515 

Zustandsbilder  51^ 

Habitualformen  —  Melancholie  —  Tobsucht  —  Stupor  —  Delirien 
—  Paranoia  —  Amentia  —  Korssakowsches  Zustandsbild  — 
Demenz  —  Allo-,  Auto-,  Somato-,  Motilitätspsychosen  .   .   .  515 

Krankheitsvorgänge  ^22 

Krankheitstöpfe  —  Wandlungen  der  Diagnostik  522 

Lokalisation  ^29 

Kombinierte  Psychosen  ^^i 

C.  Grenzen  des  Irreseins  533 

Klinische  Formen  —  Krankhafte  Vorgänge  und  Zustände  —  Grenz- 
gebiete (Beschränktheit,  verkannte  und  wahre  Genies,  sittliche 
Unfähigkeit)  533 

D.  Verstellung  und  Verleugnung  540 

V.  Behandlung  des  Irreseins  

A.  Vorbeugung  545 

Heiraten  Geisteskranker  (Eheverbote,  Kastration)  —  Kampf  gegen 
Keimschädigungen  —  Geburtsschädigungen  —  Diätetik  der  Säug- 
linge —  Erziehung  (Willensentwicklung,  körperliche  Kräftigung)  — 
Überbürdungsfrage  (Prüfungen)  —  Schulärzte  —  Häusliche  Er- 
ziehung —  Jugendfürsorge  —  Berufswahl  —  Kampf  gegen  Trunk- 
sucht, Syphilis,  Morphinismus  —  Irrenfürsorge  —  Nervenheilstätten 
—  Hilfsvereine  —  Aufgaben  des  Staates  (Wissenschaft  und  Unter- 
■^'«^ht)  

B.  Körperliclie  Beliandlung  ^60 

Arzneimittel  

Narkotica  (Opium,  Morphium,  Dionin,  Peronin,  Kodein,  Hyoscin 
Duboisin,  Haschisch,  Pellotin)   '560 

Schlafmittel  (Chloralhydrat,  Isopral,  Neuronal,  Bromural,  Amylenl 
hydrat,  Dormiol,  Sulfonal,  Trional  Tetronal  Urethan,  Hedonal 
Veronal,  Proponal,  Paraldehyd,  Alkohol)   '  eg, 

Chloroform,  Äther   •   •   •  0  ^ 

Brompräparate  (Bromsalze,  Bromalin,  Bromipin,  Sabromin,  Broml 

glidine)  

Blausäure  —  Valeriana  (Bornyval,  Valyl)  ' 

Amylnitrit,  Digitalis  

Thyreoidin,  Adrenalin,  Tuberkulin,  Bacterium  coli   ZI 

Terpentinöl,  Blasenpflaster,  Brechweinstein,  Drastica  •   ■  574 


Inhaltsverzeichnis;  Verzeichnis  der  Abbildungen.  XIII 

Seite 

Operative  Eingriffe  'r^  '   \  \  '  ^'^^ 

Hirnpunktion,  Lumbalpunktion  —  Kraniektomie  —  Gynäkolo- 
gische Eingriffe  (Kastration)  ~-  Künstlicher  Abortus  und  Früh- 
geburt —  Beseitigung  adenoider  Wucherungen  —  Thyreoidek- 
tomie  —  Infusionen  (Kochsalz,  Öl,  Meerwasser,  Hirnemulsionen)  574 

Physikalische  Heilmethoden  578 

Wasserbehandlung  —  Bäder  (Dauerbäder)  —  Feuchte  Einwick- 

lungen  —  Duschen,  Abreibungen  —  Eisbeutel  578 

Elektrotherapie  (Galvanisation,  Faradisation)  587 

Massage  —  Körperliche  Bewegung  (Gymnastik,  Sport)  ....  588 
Klimatotherapie  (Seereisen)  —  Tenttreatment  —  Freiluftbäder  .  589 

Diätetische  Maßregeln  59« 

Ernährung  —  Alkohol  als  Genußmittel  —  Mastkur  590 

Bettbehandlung  593 

Separierung  —  Isolierung  (Zellenlose  Behandlung)  594 

Zwangsmittel  (Restraint)  596 

C.  Psychische  Behandlung  599 

Weibliche  Ärzte  —  Offenheit  und  Wahrheitsliebe  —  Verhalten  gegen- 
über den  Wahnideen  und  Erregungszuständen  —  Disziplinierung  — 
Besuche  —  Tätigkeit  —  Aufregende  Nachrichten  —  Gemütliche  Be- 
einflussung —  Zuspruch  —  Beschäftigung  (Übung)  —  Versetzung 

—  Überredung,  Scheinoperationen  —  Intimidation  —  Hypnose  — 
Kathartisches  Verfahren  (Psychoanalyse)  599 

D.  Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen  613 

Psychische  Erregung  —  Angst  —  Schlaflosigkeit  —  Selbstmordneigung 

—  Zerstörungssucht  —  Unreinlichkeit  —  Masturbation  —  Nah- 
rungsverweigerung (Sondenernährung,  Nährkly  stiere ,  Kochsalz- 
infusion, Öleinspritzung)  613 

E.  Die  Irrenanstalt  

Geschichtliches  (Mißhandlungen,  Zwangsmittel,  Drehmaschinen)  — 
Verbringung  in  die  Anstalt  —  Förmlichkeiten  —  Besuche,  Brief- 
wechsel —  Staatsanstalten,  Privatanstalten  —  Irrenärzte  —  Pflege- 
personal (weibliche  Pflege  bei  Männern)  —  Stadtasyle  —  Wach- 
abteilungen (Nachtwachen)  —  Irrenanstalten  —  Pavillonstil  — 
Mammutanstalten  —  Offentürsystem  —  Kolonien  —  Familiäre  Ver- 
pflegung—  Abteilungen  für  gefährliche  Geisteskranke  —  Entlassung 
aus  der  Anstalt  —  Hilfsvereine  —  Trinkerheilstätten  —  Nervenheil- 
stätten —  Pflege-  und  Siechenanstalten  —  Fürsorge  für  Epileptiker 

und  Idioten  ^24 

Register  •  


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Seite 

I.  Prozentsatz  der  Trinker  bei  verschiedenen  Geistesstörungen  (Mün- 
chen 1906  und  1907)  •  ^^ 

II.  Verteilung  der  Geisteskranken  und  der  Gesamtbevölkerung  auf  die 

einzelnen  Altersstufen  (Heidelberg)  •  ^47 

III.  Beteiligung  der  beiden  Geschlechter  am  Irresein  auf  den  verschie- 
denen Altersstufen  (Heidelberg)  


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Seite 

IV.  Beteiligung  der  beiden  Geschlechter  an  einigen  Hauptformen  des 

Irreseins  (Heidelberg)  152 

V.  Geistesstörungen  auf  Java  und  in  Ufa  156 

VI.  Zahl  der  auf  10  000  Einwohner  in  Anstalten  verpflegten  Geistes- 
kranken (Niederlande  und  Preußen)  162 

VII.  Vergleich  der  Krankheitsformen  in  den  Kliniken  Heidelberg  und 

München  165 

VIII.  Verhältnis  der  Paralytiker,  Epileptiker  und  Alkoholdeliranten  zu  den 

übrigen  Geisteskranken  in  verschiedenen  preußischen  Provinzen  166 

IX.  Flache  Ohrmuschel  mit  Darwinschem  Knötchen  190 

X.  Umgerolltes  Ohr  mit  angewachsenem  Ohrläppchen  190 

XI.  Henkelohren  191 

XII.  Verkrüppelung  des  zweiten  und  dritten  Fingers  mit  Schwimmhaut- 
bildung  191 

XIII.  Entwicklungshemmung  der  beiden  letzten  Finger   192 

XIV.  Mißbildung  beider  Füße  192 

XV.  Verkümmertes  Gebiß  193 

XVI.  Bärtige  Frau   193 

XVII.  Gruppierung  von  4079  Fällen  nach  den  Krankheitsursachen  (Mün- 
chen)  208 

XVIII.  Normale  Schlaftiefenkurve  239 

XIX.  Die  Seele  des  Menschen  im  Maßstabe  i  :  4  der  beobachteten  Größe  428 

XX.  Skulpturen  von  der  Villa  Palagonia   431 

XXI.  Kinematogramm  einer  Pupillenreaktion  auf  Lichteinfall     ....  467 
XXII.  Prozentische  Zusammenstellung  der  Kranken  in  der  Heidelberger 

Klinik  1892 — 1907  nach  Diagnosen   527 

XXIII.  Deckelbäder  aus  alter  Zeit  581 

XXIV.  Dauerbad  der  Münchner  Klinik  582 

XXV.  Zwangsstuhl  und  Zwangsjacke  596 

XXVI.  Wandpolster,  Zwangsjacke  und  Beinkorb  597 

XXVII.  Kranker  mit  Drahtmaske  597 

XXVIII.  Gitterbett  598 

XXIX.  Alter  Zellenkorridor   625 

XXX.  Angekettete  Kranke  in  einer  Irrenzelle  626 

XXXI.  Kaulbachs  Narrenhaus  627 

XXXII.  Drehschaukel  629 

XXXIII.  Wachsaal  644 

XXXIV.  Grundriß  der  Münchner  psychiatrischen  Klinik  646 

XXXV.  Grundriß  der  ehemaligen  Kreisirrenanstalt  München   648 

XXXVI.  Heil-  und  Pflegeanstalt  Eglfing  (Ballonaufnahme)  649 

XXXVII.  Ansicht  von  Gabersee  650 

XXXVIII.  Arbeitende  Kranke  in  Altscherbitz  655 

Einschaltblatt:  „Das  Weltproblem"  428 


Erster  Band 

Allgemeine  Psychiatrie 


Einleitung. 


Psychiatrie  ist  die  Lehre  von  den  psychischen  Krank- 
heiten und  deren  Behandlung.    Ihren  Ausgangspunkt  bildet  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  des  Wesens  der  Geistesstörungen. 
Bei  den  Naturvölkern  pflegt  das  Irresein  auf  den  Einfluß  feind- 
licher Dämonen  zurückgeführt  zu  werden,  und  im  Orient  gelten 
Geisteskranke  noch  heute  als  Personen,  die  von  der  Gottheit  ge- 
zeichnet sind.    Demgegenüber  waren  die  Ärzte  des  klassischen 
Altertums!)  bereits  so  weit  vorgeschritten,  daß  sie  den  Sitz  des  Irre- 
seins in  das  Gehirn  verlegten  und  es  mit  gewissen  körperlichen 
Störungen  in  Verbindung  brachten,  namentlich  mit  dem  Fieber 
und  mit  Veränderungen  der  Körpersäfte;  einzelne  unserer  heutigen 
Bezeichnungen  („Melancholie",  „Hypochondrie")  stammen  daher. 
Leider   gingen  diese  schon  zu  Lehrgebäuden  entwickelten  An- 
schauungen mit  dem  Zusammenbruche  der  alten  Kultur  fast  völlig 
wieder  verloren.    Dafür  drangen  im  Mittelalter  einerseits  scho- 
lastisch-philosophische,  andererseits   religiös-abergläubische  Vor- 
stellungen in  die  Auffassung  des  Irreseins  ein  und  verdrängten 
rasch  die  vorhandenen  Ansätze  eines  naturwissenschaftlichen  Ver- 
ständnisses.   Die  Geistesstörung  war  nicht  mehr  Krankheit,  son- 
dern Werk  des  Teufels,  Strafe  des  Himmels,  bisweilen  auch  gött- 
liche Verzückung.  Nicht  der  Arzt  beschäftigte  sich  mehr  mit  der 
Erforschung  und  Behandlung  des  Seelengestörten,   sondern  der 
Priester  suchte  ihm  die  bösen  Geister  zu  vertreiben;  das  Volk 
betete  ihn  als  Heiligen  an,  und  die  Hexenrichter  ließen  ihn  in  der 
Folterkammer  wie  auf  dem  Scheiterhaufen  für  seine  vermeint- 
lichen, wahnhaften  Sünden  büßen. 

Mit   der  Wiedererneuerung   der   Wissenschaften   und  insbe- 
sondere mit  dem  Aufschwünge  der  Medizin  begann  allmählich 

1)  Falk,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  XXIII,  429. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^ 


2 


Einleitung. 


auch  das  Interesse  der  Ärzte  sich  wieder  den  Geisteskranken 
zuzuwenden.  Allein  es  dauerte  Jahrhunderte,  bevor  die  klare  Er- 
kenntnis sich  überall  Geltung  zu  erringen  vermochte,  daß  die 
Seelenstörungen  nur  vom  ärztlichen  Standpunkte  aus  richtig  er- 
forscht und  erkannt  werden  können.  Noch  Kant  vertrat  die 
Anschauung,  daß  zur  Beurteilung  krankhafter  Geisteszustände 
mehr  der  Philosoph  als  der  Arzt  berufen  sei.  Erst  die  Errichtung 
besonderer  Anstalten  für  Geisteskranke  unter  ärztlicher  Aufsicht 
begann  allmählich  die  Entwicklung  einer  wissenschaftlichen  Be- 
trachtungsweise des  Irreseins  anzubahnen.  Wenn  wir  von  ver- 
einzelten Vorläufern  absehen,  so  gibt  es  erst  seit  dem  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  wirkliche  Irrenärzte.  Seit  jener  Zeit 
hat  sich  die  Psychiatrie  trotz  gewaltiger  innerer  und  äußerer 
Schwierigkeiten  überraschend  schnell  zu  einem  kräftigen  Zweige 
der  medizinischen  Wissenschaft  fortentwickelt. 

Allerdings  waren,  namentlich  bei  uns  in  Deutschland,  zunächst 
noch  schwere  Kämpfe  zu  überstehen  i).  Zwar  hatte  der  auf  die 
Autorität  der  Bibel  sich  stützende  Besessenheitsglaube 2)  bereits 
seine  Macht  verloren,  wenn  er  auch  heute  noch  hier  und  da  im 
Verborgenen  zu  blühen  scheint.  Dagegen  erstand  der  jungen 
psychiatrischen  Wissenschaft,  wie  sie  damals  gerade  von  Es- 
quirol  an  der  Hand  einer  reichen  klinischen  Erfahrung  begrün- 
det wurde,  ein  gefährlicher  Feind  in  gewissen  moraltheologischen 
Auffassungen  des  Irreseins,  die  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  letzten 
Jahrhunderts  von  Heinroth,  Beneke  u.  a.  in  die  Lehre  vom 
Irresein  hineingetragen  wurden.  Nach  diesen  Anschauungen  sollte 
die  Geistesstörung  wesentlich  eine  Folge  der  Sünde  sein,  welche 
durch  eigene  Verschuldung  Gewalt  über  den  Menschen  gewinne 
und  am  Ende  Leib  und  Seele  verderbe.  Gegen  diese  und  ähnliche, 
mit  großem  Scharfsinn  ausgeklügelten  Anschauungen  kämpften 
mit  den  Waffen  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  die  „So- 
matiker",  an  ihrer  Spitze  Nasse  und  Jacobi"),  welche  das  Irre- 
sein für  den  Ausdruck  körperlicher  Störungen  erklärten. 


1)  Friedreich,  Historisch-kritische  Darstellung  der  Theorien  über  das  Wesen 
und  den  Sitz  der  psychischen  Krankheiten.  1836. 

2)  Behr,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  1906,  i. 

3)  Jacobi,  Beobachtungen  über  die  Pathologie  und  Therapie  der  mit  Irresein 
verbundenen  Krankheiten.  1830. 


Einleitung. 


3 


Ihnen  ist  es  gelungen,  Sieger  zu  bleiben.  Was  noch  vor 
siebzig  Jahren  mühsam  erstritten  werden  mußte,  ist  heute,  wenn 
auch  in  vielfach  veränderter  Ausgestaltung,  die  selbstverständ- 
liche Grundlage  unserer  Wissenschaft  geworden.  Niemand  wagt 
es  mehr,  zu  bezweifeln,  daß  Geistesstörungen  Krankheiten  sind, 
die  der  Arzt  zu  behandeln  hat.  Wir  wissen  jetzt,  daß  wir  in  ihnen 
die  psychischen  Erscheinungsformen  mehr  oder  weniger  feiner 
Veränderungen  im  Gehirne,  insbesondere  in  der  Rinde  des  Groß- 
hirns, vor  uns  haben.  Mit  dieser  Erkenntnis  hat  die  Psychiatrie 
bestimmte,  klare  Ziele  gewonnen,  denen  sie  mit  den  Hilfsmitteln 
und  nach  den  Grundsätzen  naturwissenschaftlicher  Forschung  ent- 
gegenstrebt. 

Vor  allem  wird  uns  die  Beobachtung  am  Krankenbette 
eine  möglichst  umfassende  und  eingehende  Kenntnis  der  klini- 
schen Krankheitsformen  zu  liefern  haben.   Wir  müssen  zu- 
nächst durch  sorgfältige  Sammlung  immer  neuer  Tatsachen  einen 
vollständigen  Überblick  über  den  gesamten  Erfahrungsstoff  zu  ge- 
winnen suchen,  den  uns  die  Natur  liefert.    Sodann  aber  gilt  es, 
aus  der  fast  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit  der  Einzelheiten  nach 
und  nach  das  Regelmäßige  und  Wesentliche  herauszuschälen  und 
auf  diese  Weise  zu  einer  Abgrenzung  und  Gliederung  der  zusammen- 
gehörigen Beobachtungsreihen  zu  gelangen.  Gerade  diese  Aufgabe 
hat  sich  auf  unserem  Gebiete  bisher  als  ganz  besonders  schwierig 
erwiesen.    Krankheitsbilder,  die  ihrem  Wesen  nach  voneinander 
völlig  verschieden  sind,  können  zeitweilig  die  größte  äußerliche 
Übereinstimmung  darbieten,  und  umgekehrt  fassen  wir  heute  mit 
gutem  Recht  Zustände  als  Äußerungen  eines  und  desselben  Krank- 
heitsvorganges auf,  die  zunächst  durchaus  unvereinbar,  ja  als 
schärfste  Gegensätze  erscheinen.   Um  also  zur  Aufstellung  wirk- 
licher Krankheiten  zu  gelangen,  werden  wir  dort  die  vielleicht 
ganz  unscheinbaren  Unterschiede  ausfindig  zu  machen  haben,  die 
trotz  aller  Ähnlichkeit  doch  immer  zwischen  verschiedenen  klini- 
schen Bildern  bestehen  müssen.   Hier  dagegen  ist  es  unsere  Auf- 
gabe, in  den  wechselnden  Erscheinungen  diejenigen  gemeinsamen 
Grundzüge  klarzulegen,  welche  die  Einheitlichkeit  des  Krankheits- 
vorganges durch  den  Wechsel  der  Erscheinungen  hindurch  kenn- 
zeichnen.   Im  einen  wie  im  andern  Falle  wird  unter  Umständen 
eine  sehr  lange  Fortsetzung  der  Beobachtung  nötig  sein,  bevor 


^  Einleitung. 

sich  die  wesentlichen  und  darum  dauernden  klinischen  Störungen 
von  den  nebensächlichen  abgrenzen  lassen,  die  oft  ungleich  stärker 
und  auffallender  hervortreten. 

Was  man  mit  Recht  vom  Arzte  verlangt,  ist  die  Vorher- 
sage des  Kommenden.  Sobald  wir  imstande  sind,  aus  dem 
gegenwärtigen  Zustande  eines  Kranken  die  weitere  Entwicklung 
seines  Leidens  mit  Wahrscheinlichkeit  vorauszubestimmen,  ist  der 
erste  wichtige  Schritt  zu  einer  wissenschaftlichen  und  praktischen 
Beherrschung  des  Krankheitsbildes  geschehen.  Wir  werden  daher 
gut  tun,  dieser  Aufgabe  zunächst  unsere  volle  Aufmerksamkeit 
zu  widmen.  Die  meisten  übrigen  Zweige  der  Heilkunde  haben 
mit  derselben  im  wesentlichen  bereits  abgeschlossen.  Wir  wissen, 
wie  ein  Typhus  oder  ein  Beinbruch  verlaufen  wird,  und  kennen  alle 
die  Zwischenfälle,  die  den  Heilvorgang  durchkreuzen  können.  In 
der  Psychiatrie  besitzen  wir  höchstens  die  ersten  Ansätze  zu  einer 
derartigen  Kenntnis.  Wohl  erwirbt  sich  der  einzelne  Irrenarzt  im 
Laufe  seiner  persönlichen  Erfahrung  die  Fähigkeit,  aus  gewissen 
Zeichen  Schlüsse  auf  die  Heilbarkeit  oder  Unheilbarkeit  seiner 
Kranken  zu  ziehen.  Allein  er  stößt  auf  erhebliche  Schwierigkeiten, 
sobald  er  seine  Vermutungen  näher  begründen,  und  namentlich, 
sobald  er  über  die  voraussichtliche  klinische  Weiterentwicklung 
eines  gegebenen  Falles  irgendwelche  genauere  Angaben  machen  soll. 

Einer  der  Hauptgründe  für  diese  Unvollkommenheit  unserer 
Wissenschaft  liegt  in  der  ungemein  langen  Dauer  der  Geistes- 
krankheiten. Einerseits  gibt  es  viele  unheilbare  Formen,  die  in 
allmählichem  Wechsel  der  Zustände  das  ganze  Leben  ausfüllen; 
andererseits  aber  sehen  wir  bei  einigen  Hauptgruppen  des  Irre- 
seins das  Leiden  in  abgegrenzten,  weit  auseinander  liegenden  An- 
fällen verlaufen  oder  doch  jahrelang  Stillstand  machen,  so  daß 
die  innere  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Anfälle  oder  Nach- 
schübe nur  bei  genauer  Kenntnis  der  ganzen  Vergangenheit  über- 
blickt werden  kann.  Jeder  Irrenarzt  erlebt  zahlreiche  Überraschun- 
gen, sobald  er  in  die  Lage  kommt,  die  späteren  Lebensschicksale 
seiner  einstigen  Kranken  verfolgen  zu  können.  Namentlich  wird  er 
stets  erkennen,  daß  die  rasch  und  günstig  verlaufenden  Geistesstörun- 
gen in  überwiegender  Mehrzahl  nichts  anderes  sind,  als  die  Äuße- 
rungen eines  dauernden  krankhaften  Zustandes,  der  freilich  lange 
Zeit  gar  nicht  hervorzutreten  braucht.   Gerade  diese  trügerischen 


Einleitung. 


5 


Augenblicksbilder  sind  es,  welche  uns  die  Klärung  der  klinischen 
Erfahrung  so  sehr  erschweren.  Es  ist  daher  vor  allem  wichtig, 
den  gesamten  Lebenslauf  unserer  Kranken  durch  Jahrzehnte  hin- 
durch im  Auge  zu  behalten;  öfters  wird  es  erst  dann  möglich  sein, 
den  richtigen  Standpunkt  für  die  klinische  Beurteilung  zu  gewinnen. 

Ganz  besondere  Vorsicht  ist  ferner  bei  der  Feststellung  der 
Krankheitsursachen  geboten.  Der  Laie  ist  geneigt,  ohne  weiteres 
irgend  ein  zufälliges  Ereignis,  eine  gemütliche  Erregung,  einen 
Mißerfolg,  ein  körperliches  Leiden,  eine  Überanstrengung  für  den 
Ausbruch  des  Irreseins  verantwortlich  zu  machen.    Die  weiter- 
blickende klinische  Erfahrung  lehrt  indessen,  daß  die  ursächliche 
Bedeutung  derartiger  äußerer  Einflüsse  eine  verhältnismäßig  recht 
geringe  ist.   Sehr  häufig  werden  sogar  die  ersten  Erscheinungen 
des  beginnenden  Irreseins  fälschlicherweise  für  dessen  Ursachen 
gehalten.   Wenn  wir  sehen,  daß  die  gleichen  Krankheitsfälle,  die 
heute  durch  einen  bestimmten  Anstoß  erzeugt  zu  werden  scheinen, 
bei  demselben  Kranken  ein  anderes  Mal  ganz  ohne  jeden  Anlaß 
sich  einstellen,  so  werden  wir  gegen  die  erste,  anscheinend  so  be- 
weisende Beobachtung  mißtrauisch  werden.  Auch  auf  diesem  Ge- 
biete ist  noch  außerordentlich  viel  zu  tun.  Die  gleichen  Ursachen 
müssen,  wie  überall,  so  bei  dem  Vorgange  der  psychischen  Er- 
krankung die  gleichen  Wirkungen  haben.   Begegnen  uns,  wie  so 
häufig,  vermeintliche  Abweichungen  von  jenem  Gesetze,  so  sind 
zweifellos  entweder  die  Ursachen  oder  die  Wirkungen  nicht  wirk- 
lich gleich  gewesen.    Nach  beiden  Richtungen  hin  wird  eine  ge- 
duldige Häufung  zuverlässiger  und  namentlich  vollständiger  Be- 
obachtungen allmählich  Klarheit  bringen. 

Ist  es  uns  gelungen,  die  klinischen  Erfahrungen  so  weit  zu 
verarbeiten,  daß  wir  Krankheitsgruppen  mit  bestimmten  Ursachen, 
bestimmten  Erscheinungen  und  bestimmtem  Verlaufe  aufstellen 
können,  so  wird  es  unsere  Aufgabe  sein,  indasWesendesein- 
zelnen  Krankheitsvorganges  einzudringen.  Ein  wich- 
tiger und  auch  bereits  vielfach  betretener  Weg  zu  diesem  Ziele  ist 
derjenige  der  pathologischen  Anatomie.  Leider  hat  diese 
Wissenschaft,  der  die  übrige  Medizin  so  viel  verdankt,  auf  unserem 
Gebiete  mit  ganz  außerordentlichen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen. 
Sie  liegen  einmal  in  unserer  unvollkommenen  Kenntnis  vom  Bau 
der  gesunden  menschlichen  Hirnrinde,  sodann  in  der  Unmüglich- 


6 


Einleitung. 


keit,  den  Tierversuch  in  größerem  Umfange  zur  Klärung  krank- 
hafter Vorgänge  heranzuziehen,  da  die  Kluft  zwischen  Tier  und 
Mensch  hier  größer  ist,  als  bei  irgend  einem  anderen  Organe.  Aller- 
dings hat  namentlich  die  Erforschung  der  Hirnrindenvergiftungen 
sehr  wichtige  Aufschlüsse  gebracht,  da  es  hier  möglich  ist,  ein- 
deutige Beziehungen  zwischen  krankmachenden  Ursachen  und 
Rindenveränderungen  herzustellen  und  zugleich  die  einzelnen  Ent- 
wicklungsstufen des  Krankheitsvorganges  zu  verfolgen.  Bei  der 
überwiegenden  Mehrzahl  der  Geistesstörungen  jedoch  müssen  wir 
auf  jenes  Forschungshilfsmittel  schon  deswegen  verzichten,  weil 
wir  die  Ursachen  entweder  überhaupt  nicht  kennen  oder  sie  doch 
nicht  künstlich  herzustellen  vermögen. 

Aber  auch  die  einfache  Untersuchung  der  erkrankten  Hirn- 
rinden hat  uns,  dank  der  rasch  fortschreitenden  Vervollkommnung 
unserer  Hilfsmittel,  bereits  eine  außerordentliche  Fülle  von  Be- 
funden geliefert.  Freilich  sind  wir  noch  weit  davon  entfernt,  etwa 
für  jeden  klinischen  Krankheitsvorgang  eine  bestimmte  anato- 
mische Grundlage  aufweisen  zu  können.  Abgesehen  davon,  daß 
es  bei  einer  großen  Zahl  von  seelischen  Erkrankungen  nur  durch 
besondere  Zufälligkeiten  einmal  möglich  wird,  eine  verwertbare 
Leichenuntersuchung  vorzunehmen,  stehen  wir  bei  der  Deutung 
der  Befunde  vor  ganz  ähnlichen  Schwierigkeiten  wie  bei  der  kli- 
nischen Betrachtung.  Einzelheiten  des  anatomischen  Bildes  können 
sich  bei  den  verschiedenartigsten  Krankheitsvorgängen  wieder- 
holen, und  dieselbe  Krankheit  kann  in  ihren  einzelnen  Abschnitten 
durchaus  verschiedene  Befunde  darbieten.  Für  den  Kliniker  löst 
sich  diese  Schwierigkeit  dadurch,  daß  im  weiteren  Verlaufe  der 
Krankheit  die  wesentlichen  Züge  durch  ihre  Beständigkeit  immer 
deutlicher  hervortreten,  und  die  Entwicklung  der  wechselnden  Zu- 
standsbilder  auseinander  unmittelbar  verfolgt  werden  kann.  Der 
Anatom  dagegen,  dem  gewissermaßen  immer  nur  ein  einzelner 
Durchschnitt  durch  den  körperlichen  Erkrankungsvorgang  vor- 
liegt, hat  einen  weit  dornenvolleren  Weg  zurückzulegen,  bevor  er 
zu  erkennen  vermag,  welche  der  von  ihm  aufgedeckten  Verän- 
derungen des  Rindenbildes  für  den  Krankheitsfall  kennzeichnend 
sind.  Er  muß  nicht  nur  eine  große  Zahl  von  Vergleichsfällen  zur 
Verfügung  haben,  die  ihm  gestatten,  das  überall  gleichmäßig 
Wiederkehrende  herauszuschälen,   sondern  er  bedarf  auch  einer 


Einleitung. 


möglichst  vollständigen  Beobachtungsreihe  aus  den  verschieden- 
sten  Abschnitten  der  Krankheit,  um  so  den  Entwicklungsgang 
der  anatomischen  Veränderungen  schrittweise  verfolgen  zu  können. 

Das  Gehirn  ist  ein  Teil  des  Gesamtkörpers.   Seine  Erkrankun- 
gen sind  vielfach  nur  der  Ausdruck  von  Schädigungen,  die  zu- 
nächst in  irgend  einem  anderen  Körpergebiete  entstanden  smd. 
Um  zu  einem  Verständnisse  der  Krankheitsvorgänge  zu  gelangen, 
die  dem  Irresein  zugrunde  liegen,  haben  wir  daher  dem  Zustande 
des  ganzenOrganismus  die  genaueste  Beachtung  zu  schenken  und 
alle  Hilfsmittel  in  Anwendung  zu  bringen,  die  uns  dort  irgendwo 
Störungen  aufdecken.  Außer  den  von  außen  eindringenden  Giften 
und  Krankheitskeimen  sind  es  namentlich  Stoffwechselstörungen, 
die  das  Gehirn  in  Mitleidenschaft  ziehen  und  Geistesstörungen  ver- 
ursachen können.    Es  steht  daher  zu  erwarten,  daß  die  wichtigen 
Entdeckungen,  die  wir  schon  heute  der  Untersuchung  der  Aus- 
scheidungen und  der  Körperflüssigkeiten,  namentlich  des  Blutes, 
auf  mikroskopischem,  chemischem  und  biologischem  Wege  ver- 
danken, in  absehbarer  Zeit  eine  rasche  Erweiterung  erfahren  und 
insbesondere  die  Beziehungen  zu  den  übrigen  Zweigen  der  klini- 
schen Medizin  immer  enger  knüpfen  werden. 

Ihnen  gegenüber  hat  die  Psychiatrie  lange  Zeit  hindurch  eine 
gewisse  Sonderstellung  eingenommen.    Die  seelischen  Vorgänge, 
mit  denen  sie  es  zu  tun  hatte,  lagen  außerhalb  der  Vorstellungs- 
kreise, welche  die  wissenschaftliche  Medizin  beschäftigen,  und  die 
dürren  Gedankenspielereien  der  spekulativen  Psychologie,  die  den 
Irrenärzten  zunächst  die  einzige  Anknüpfung  für  eine  Bearbeitung 
ihres  Gebietes  lieferten,  mußten  die  Entwicklung  der  Seelenheil- 
kunde zu  einer  klinischen  Wissenschaft  nachhaltig  hindern.  All- 
mählich jedoch  machte  sich  eine  immer  kräftigere  Gegenströmung 
geltend,  die  das  Schwergewicht  der  psychiatrischen  Forschung  auf 
die  körperlichen  und  insbesondere  auf  die  anatomisch  nachweis- 
baren Veränderungen  legte.  Es  ist  indessen  unbestritten,  daß  uns 
auch  die  vollkommenste  Kenntnis  der  Hirnrindenstörungen  beim 
Irresein,  der  Nachweis  aller  sich  dort  vollziehenden  Abweichungen 
in  Form  und  Verrichtung,  durchaus  im  unklaren  darüber  lassen 
würde,  ob  und  welche  Beziehungen  zwischen  jenen  Störungen 
und  den  psychischen  Krankheitserscheinungen  bestehen.   Ja,  wir 
könnten  das  eindringendste  Verständnis  für  alle  in  der  Hirnrinde 


8 


Einleitung. 


sich  abspielenden  körperlichen  Vorgänge  besitzen,  ohne  an  sich 
auch  nur  einen  Augenbhck  zu  der  Vermutung  gezwungen  zu  werden, 
daß  wir  in  jenem  Gewebe  den  Träger  des  Seelenlebens  vor  uns 
haben.  Aus  diesen  Erwägungen  ergibt  sich  die  Notwendigkeit, 
außer  den  körperlichen  Zuständen  der  Hirnrinde  auch  die  see- 
lischen Erscheinungsformen  jener  letzteren  gesondert  zu 
erforschen.  Wir  erhalten  auf  diese  Weise  zwei  Reihen  innig  mit- 
einander verbundener,  aber  ihrem  Wesen  nach  unvergleichbarer 
Tatsachen,  das  körperliche  und  das  psychische  Geschehen.  Aus 
den  gesetzmäßigen  Beziehungen  beider  zueinander  geht  das  kli- 
nische Krankheitsbild  hervor. 

Wir  müssen  es  daher  als  unsere  Aufgabe  betrachten,  auch  jene 
Gesetze  kennen  zu  lernen,  welche  den  Ablauf  der  Seelenvorgänge  be- 
herrschen. Glücklicherweise  hat  sich  aus  dem  Schöße  der  Physiologie 
heraus,  namentlich  in  den  letzten  Jahrzehnten,  auch  die  Psycho- 
logie zu  einer  Erfahrungswissenschaft  entwickelt,  die  auf  dem 
Wege  der  Naturforschung  ihren  Gegenstand  erfolgreich  zu  bear- 
beiten begonnen  hat.  Es  ist,  wie  schon  die  bisherige  Arbeit  gezeigt 
hat,  nicht  unmöglich,  mit  Hilfe  jener  jungen  Wissenschaft  zu  einer 
Physiologie  der  Seele  zu  gelangen,  die  auch  der  Psychiatrie 
eine  brauchbare  Grundlage  zu  liefern  vermag.  Sie  wird  uns  einer- 
seits dazu  dienen  können,  verwickelte  Erscheinungen  in  ihre  ein- 
facheren Bestandteile  zu  zerlegen.  Wir  werden  aus  der  Zergliede- 
rung des  gesunden  Seelenlebens  die  Anhaltspunkte  für  die  Beur- 
teilung und  Erklärung  krankhafter  Störungen  gewinnen,  und  wir 
werden  auch  in  der  Lage  sein,  in  geeigneten  Fällen  das  Hilfsmittel 
des  psychologischen  Versuches  unmittelbar  zur  genaueren  Erfor- 
schung von  Krankheitszuständen  heranzuziehen. 

Andererseits  aber  dürfen  wir  von  einer  wissenschaftlichen 
Psychologie  wertvolle  Ergänzungen  unserer  Vorstellungen  über  die 
Entstehung  des  Irreseins  erwarten.  Vor  allem  sind  es  wieder  die 
Gifte,  deren  Einwirkung  auf  den  Ablauf  unserer  psychischen  Vor- 
gänge wir  grundsätzlich  schon  heute  mit  ziemlicher  Genauigkeit 
m  ihre  Einzelzüge  zu  zerlegen  imstande  sind.  Die  hier  noch  im 
Bereiche  des  Gesunden  gewonnenen  Erfahrungen  können  uns  dann 
das  Verständnis  auch  für  die  klinischen  Krankheitserscheinungen 
eroffnen,  wie  sich  das  bereits  für  einzelne  Gifte  gezeigt  hat.  Auch 
eine  Reihe  anderer  Einflüsse,  denen  wir  gewöhnt  sind,  Wirkungen 


Einleitung. 


9 


auf  unser  Seelenleben  zuzuschreiben,  lassen  sich  in  ganz  ähnlicher 
Weise  untersuchen.    Wir  können  die  Veränderungen,  die  durch 
Hunger,  mangelhaften  Schlaf,  geistige  und  körperliche  Überan- 
strengung im  Verhalten  unserer  psychischen  Vorgänge  hervor- 
gerufen werden,  von  ihren  leisesten  Anfängen  an  genau  verfolgen 
und  aus  den  geringeren  Gleichgewichtsschwankungen  beim  sonst 
gesunden  Menschen  Schlüsse  auf  die  Deutung  der  ausgeprägteren 
Störungen  im  Krankheitszustande  ableiten.    Endlich  aber  wird 
die  psychologische  Zergliederung  der  einzelnen  Persönlichkeit  mit 
Hilfe  des  Versuches  geeignet  sein,  uns  einen  Überblick  über  die 
unermeßliche  Mannigfaltigkeit  der  seelischen  Veranlagungen  zu 
verschaffen,  über  deren  Bedeutung  für  die  Häufigkeit  wie  für  die 
besondere  Ausgestaltung  der  verschiedenen  Formen  geistiger  Störung 
wir  noch  so  wenig  wissen.   Namentlich  werden  wir  nur  aus  einer 
verfeinerten  „Individualpsychologie"  die  Grundlagen  für  das  Ver- 
ständnis jener  weit  ausgedehnten  und  vielgestaltigen  Gruppe  von 
Krankheitszuständen  zu  gewinnen  vermögen,  die  man  unter  dem  ge- 
meinsamen Namen  des  Entartungsirreseins  zusammenzufassen  pflegt. 

Wie  wir  vielleicht  hoffen  dürfen,  wird  uns  das  Zusammen- 
arbeiten von  klinischer,  anatomischer  und  psychologischer  For- 
schung, unterstützt  durch  andere  Hilfswissenschaften,  allmählich 
auch  dem  letzten,  höchsten  Ziele  unserer  Wissenschaft  näher- 
bringen, der  Aufdeckung  der  gesetzmäßigen  Beziehungen  zwischen 
den  körperlichen  und  seelischen  Veränderungen.   Wenn  auch  bei 
der  grundsätzlichen  Verschiedenheit  beider  Reihen  von  Vorgängen 
eine  eigentliche  ,, Erklärung"  der  einen  durch  die  andere  nicht 
möglich  ist,  so  erscheint  doch  das  Ziel  erreichbar,  aus  den  vorlie- 
genden seelischen  Störungen  auf  ganz  bestimmte  körperliche  Ver- 
änderungen zu  schließen  und  umgekehrt,  ferner  die  psychischen 
Erscheinungen  vorauszusagen,  die  im  Anschlüsse  an  eine  bestimmte 
Art  der  Rindenschädigung  eintreten  werden.   An  einigen  wenigen 
Punkten,  so  namentlich  bei  den  Vergiftungen,  sind  wir  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  schon  näher  gekommen.  Im  allgemeinen  steht  uns 
jedoch  hier  überall  die  Schwierigkeit  entgegen,  daß  die  Gestaltung 
der  seelischen  Störungen  nicht  nur  von  der  Art,  sondern  in  weit 
höherem  Grade  von  dem  Angriffspunkte  der  Hirnrindenschädigung 
abhängig  ist.    Hier  liegen  die  Berührungsflächen  zwischen  Psy- 
chiatrie und  Lokalisationslehre.   Die  Erfahrungen  bei  gröberen 


10 


Einleitung. 


Hirnerkrankungen  haben  gezeigt,  daß  unter  Umständen  je  nach 
deren  Sitz  verschiedene  Ausfallserscheinungen  auftreten,  zu  deren 
Nachweis  und  genauerer  Kennzeichnung  eigenartig  entwickelte 
psychologische  Versuchsverfahren  geführt  haben. 

Allerdings  haben  wir  uns  ohne  Zweifel  die  körperlichen  Grund- 
lagen des  Irreseins  nicht  als  umschriebene,  sondern  als  ausge- 
breitete, wenn  auch  jeweils  in  ganz  bestimmter  Weise  angeordnete 
Veränderungen  der  Hirnrinde  zu  denken.   Darum  sind  jene  Hirn- 
erkrankungen, welche  die  Erfahrungen  für  die  Ausbildung  der 
Lokalisationslehre  geliefert  haben,  weder  ihrer  Art  noch  ihrer  Aus- 
breitung nach  den  feinen  und  weitschichtigen  Abweichungen  irgend- 
wie vergleichbar,  die  uns  das  Mikroskop  bei  unseren  Geisteskranken 
zeigt.    Auch  der  Tierversuch,  dem  jene  Lehre  so  unendlich  viel 
verdankt,   vermag  uns,  abgesehen  von  der  Verschiedenheit  des 
Hirnbaues,  keine  Aufschlüsse  zu  geben,  solange  er  sich  auf  gröbere 
Eingriffe  beschränkt.    So  gewiß  daher  auch  der  weitere  Ausbau 
der  Lokalisationslehre  eine  unerläßliche  Vorbedingung  für  die  Er- 
reichung unserer  höchsten  wissenschaftlichen  Ziele  bildet,  so  be- 
denklich erscheint  es  doch,  die  aus  der  Untersuchung  grob  um- 
grenzter Hirnschädigungen  gewonnenen  Vorstellungen  ohne  wei- 
teres auf  das  unendlich  verwickeitere  Gebiet  der  geistigen  Er- 
krankungen zu  übertragen.    Nur  das  allgemeine  Bestreben,  Be- 
ziehungen zwischen  den  Erscheinungen  des  Irreseins  und  der  beson- 
deren Ausbreitung  der  Rindenveränderungen  aufzusuchen,  wird 
auch  auf  die  Psychiatrie  übertragbar  sein;  verwertbare  Ergebnisse 
aber  werden  wir  erst  erwarten  dürfen,  wenn  wir  daran  gehen,  in 
dieser  Richtung  unser  eigenstes  Gebiet  zu  bearbeiten. 

Wenn  der  Seelenheilkunde  aus  der  Beschäftigung  mit  den 
höchsten  und  verwickeltsten  Lebensäußerungen  und  deren  körper- 
lichen Grundlagen  auf  Schritt  und  Tritt  schier  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  erwachsen,  so  verleiht  andererseits  die  Eigenart 
des  Gegenstandes  ihren  Ergebnissen  eine  Bedeutung,  die  weit 
über  das  Gebiet  der  Fachwissenschaft  hinausreicht.  Nicht  nur 
wird  der  psychiatrisch  geschulte  Arzt  aus  ihr  ein  tieferes  Ver- 
ständnis für  zahlreiche  Beobachtungen  am  Krankenbette  gewinnen, 
die  ihm  sonst  unklar  geblieben  wären,  sondern  die  Lehre  von  den 
geistigen  Störungen  liefert  auch  für  alle  diejenigen  Wissenschaf- 
ten wichtige  Bausteine,  die  sich  überhaupt  mit  dem  Seelenleben 


Einleitung.  ^  ^ 


des  Menschen  beschäftigen.  So  kommen  die  innigsten  wissen- 
schaftlichen Wechselbeziehungen  zur  Psychologie  und  ihren  ver- 
schiedensten Zweigen  zustande,  zur  Völkerpsychologie,  Kriminal- 
psychologie,  Persönlichkeitskunde,  Psychologie  der  Altersstufen,  der 
Geschlechter,  ferner  zur  Pädagogik,  Ethik,  Erkenntnistheorie  usf. 

Unmittelbar   wichtiger,    als   diese   weitausgedehnten  wissen- 
schaftlichen  Anknüpfungen,  sind  die  praktischen  Aufgaben, 
welche  die  Psychiatrie  zu  lösen  hat.  Zunächst  wird  es  sich  dabei 
um  die  Verhütung  des  Irreseins  handeln.    Die  Gesichtspunkte 
für  diesen  Zweig  der  Gesundheitspflege  können  naturgemäß  nur 
aus  der  Lehre  von  den  Ursachen  geistiger  Erkrankungen  gewon- 
nen  werden.  Bedeutsame  Fortschritte  jener  letzteren  werden  daher 
vielfach  auch  Ausblicke  auf  vorbeugende  Maßregeln  zu  eroffnen 
imstande  sein.   Von  allergrößter  Bedeutung  ist  dabei  die  Beant- 
wortung der  Frage,  ob  und  wieweit  unsere  gesamten  Lebens- 
verhältnisse Gefahren  für  die  geistige  Volksgesundheit  in  sich 
bergen,  und  mit  welchen  Hilfsmitteln  wir  Schädigungen  unserer 
Widerstandskraft  gegen  krankmachende  Einflüsse  zu  bekämpfen 
vermögen.   Insbesondere  wird  unsere  Kenntnis  von  der  Rolle,  die 
Erblichkeit,  Alkohol,  Syphilis  bei  der  Entstehung  des  Irreseins 
spielen,  dem  Arzte  eine  gewisse  Richtschnur  für  sein  Handeln 
geben,  mag  der  tatsächliche  Erfolg  seiner  Bemühungen  auch  heute 
noch  ein  bedauernswert  geringer  sein. 

Leider    ist    auch    der  Nutzen,    den    die    Behandlung  der 
Geistesstörungen  aus  der  Erkenntnis  ihrer  Ursachen  zieht,  bisher 
noch  nicht  sehr  groß.   Wo  uns  die  Ursachen  bekannt  sind,  ver- 
mögen wir  sie  meistens  nicht  zu  beseitigen,  wie  zum  Beispiel  bei 
der  erblichen  Entartung.    Darum  muß  hier  die  Erfahrung  am 
Krankenbette  selbst  unsere  Lehrmeisterin  werden.    Sie  hat  uns 
in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  einen  weiten,  weiten  Weg  gefuhrt. 
Von  dem  Zeitpunkte  an,  in  welchem  Ärzte  die  Fürsorge  für  die 
Geisteskranken  übernahmen,  seitdem  sie  in  der  Lage  waren,  kli- 
nische Beobachtungen  zu  sammeln,  hat  sich  das  Los  unserer 
Kranken  stetig  gebessert.    Die  Entwicklung  unseres  ganzen  An- 
staltswesens, einer  der  großartigsten  Schöpfungen  menschlichen 
Mitleids,   ist  auf  das  engste  verknüpft  gewesen  mit  den  Fort- 
schritten in  unserem  Verständnisse  des  Irreseins.    Je  klarer  sich 
die  Überzeugung  Bahn  brach,  daß  die  Irren  Kranke  sind,  daß 


12 


Einleitung. 


ihren  Störungen  bestimmte  körperliche  Veränderungen  zugrunde 
hegen,  um  so  mehr  haben  sich  die  Irrenanstalten  in  ihren  ganzen 
Einrichtungen  denjenigen  anderer  Krankenhäuser  genähert,  so 
daß  heute  ein  Asyl  für  frisch  Erkrankte  fast  vollständig  einer  Ab- 
teilung für  körperlich  Kranke  gleichen  darf. 

Ein  Punkt  ist  es  jedoch,  welcher  den  Geisteskrankheiten  eine 
besondere  Stellung  gegenüber  allen  übrigen  Leiden  anweist:  das 
ist  ihre  außerordentliche  soziale  Bedeutung.    Das  Irresein  ge- 
hört unter  allen  Umständen  zu  den  schwersten  Erkrankungen, 
die  es  überhaupt  gibt.   Dazu  kommt  aber,  daß  der  Geisteskranke 
in  der  Regel  nicht  imstande  ist,  selbständig  für  sich  zu  sorgen. 
Man  kann  ihn  in  seinem  Handeln  nicht  nach  seinem  Belieben  ge- 
währen lassen,  sondern  er  bedarf  fremder  Aufsicht  und  Fürsorge. 
Aus  dieser  Tatsache  erklärt  es  sich,   daß  dem  Irrenarzte  noch 
eine  Reihe  von  Aufgaben  zufallen,  welche  anderen  Gebieten  der 
Heilkunde  fremd  sind.    Die  Verbringung  des  Geisteskranken  in 
die  Anstalt  geschieht  meist  nicht  auf  seinen  eigenen  Wunsch,  son- 
dern auf  Veranlassung  seiner  Angehörigen  oder  der  Behörden.  Er 
wird  behandelt  und  festgehalten  ohne  und  nach  Umständen  selbst 
gegen  seinen  Willen.   Die  gesetzliche  Regelung  der  hier  erwach- 
senden, sehr  schwierigen  Fragen  hat  von  jeher  die  Aufmerksam- 
keit der  Irrenärzte  auf  das  ernsthafteste  beschäftigt.   Wie  die  Er- 
fahrung lehrt,  sind  die  Fälle,  in  denen  Geisteskranke  schwerstes 
Unheil  über  sich  oder  ihre  Angehörigen  bringen,  überaus  häufig. 
Darum  ist  rasches  Einschreiten  beim  Ausbruche  geistiger  Erkran- 
kung mit  Rücksicht  auf  den  Kranken  selbst  wie  auf  seine  Um- 
gebung dringend  geboten,  um  so  mehr,  als  die  Heilungsaussichten 
unter  solchen  Umständen  am  günstigsten  sind.   Andererseits  gibt 
es  nicht  wenige  Kranke,  die  nur  mit  größtem  Widerstreben  in  der 
Anstalt  bleiben,  ja  zweifellos  unter  der  Freiheitsentziehung  leiden. 
Es  leuchtet  ein,  daß  es  schwer  genug  ist,  zwischen  den  widerstre- 
benden Wünschen  des  Kranken  und  den  Forderungen  der  öffent- 
lichen Sicherheit  jederzeit  entscheiden  zu  müssen. 

Für  die  richtige  Würdigung  der  Rolle,  die  das  Irresein  im 
Gemeinwesen  spielt,  ist  es  wichtig,  sich  zu  vergegenwärtigen,  daß 
sich  im  Jahre  1906I)  in  den  öffentlichen  und  privaten  Anstalten 

•  PI'^l'l^''^  Anstalten  für  Psychisch-Kranke  in  Deutschland,  Deutsch-Öster- 
reich, der  Schweiz  und  den  Baltischen  Ländern,  6.  Auflage.  1907. 


Einleitung. 


13 


des  Deutschen  Reiches  für  Geisteskranke,  Idioten  und  Epileptiker 
nicht  weniger  als  etwa  114  400  Kranke  befanden.  Es  kam  i  An- 
staltskranker auf  524  Einwohner.    Nach  allgemeiner  Erfahrung 
beträgt  die  Anzahl  der  überhaupt  vorhandenen  Geisteskranken 
mindestens  das  Doppelte,  so  daß  wir  mit  einer  Zahl  von  etwa 
230000  derartiger  Kranker  im  Deutschen  Reiche  zu  rechnen 
haben.    Ob  damit  die  Wahrheit  bereits  erreicht  ist,  müssen  wir 
freilich  sehr  dahingestellt  sein  lassen.    In  manchen  Gegenden 
Deutschlands  bieten  heute  die  Anstalten  Raum  für  einen  Kranken 
auf  3—400  Gesunde,  ja  man  hat  in  der  Schweiz  schon  auf  je 
200  Einwohner  einen  Platz  in  der  Irrenanstalt  gefordert,  nach- 
dem Zählungen  unter  ärztlicher  Mitwirkung  im  Kanton  Bern 
1902  nicht  weniger  als  8,5,  im  Kanton  Zürich  sogar  9.7  Geistes- 
kranke auf  1000  Einwohner  ergeben  hatten!    Jedenfalls  bedeutet 
die  gewaltige  Zahl  der  Geisteskranken,  welche  außerstande  sind, 
ihr  Leben  selbständig  zu  führen,  vielfach  sogar  einer  sehr  sorg- 
fältigen und  kostspieligen   Pflege   bedürfen,   eine   schwere  Be- 
lastung unseres  Volkes,  namentlich  der  Gemeinden  und  Armen- 
verbände, die  meistens  für  die  unbemittelten  Kranken  einzutreten 
haben.    Die  zweckmäßige  Gestaltung  dieser  umfassenden  Für- 
sorge ist  eine  ebenso  wichtige  wie  umfangreiche  praktische  Auf- 
gabe unserer  Wissenschaft. 

Noch  verwickelter  fast  und  schwieriger  sind  die  Beziehungen 
unserer  Kranken  zu  den  verschiedenen  Zweigen  der  Rechts- 
pflege.  Das  Strafgesetz  aller  gesitteten  Völker  betrachtet  höhere 
Grade    geistiger  Erkrankung   als  Strafausschließungsgrund;  das 
Bürgerliche  Gesetzbuch  spricht  den  Handlungen  des  Irren  die  recht- 
liche Verbindlichkeit  ab.    Nach  beiden  Richtungen  hin  hat  das 
Gutachten  des  Irrenarztes  sehr  gewichtige  Folgen  für  das  Lebens- 
glück der  Betroffenen.  Wenn  irgendwo,  so  gilt  hier  der  Satz,  daß 
die  Entscheidung  solcher  Fragen  nur  auf  der  Grundlage  einer 
tiefgehenden  Sachkenntnis  geschehen  kann.  Auf  Schritt  und  Tritt 
tauchen  Schwierigkeiten  auf,  die  ausschließlich  durch  vollkom- 
menste Beherrschung  aller  Einzelheiten  der  klinischen  Erfahrung 
überwunden  werden  können.    Ja,  nicht  selten  entdeckt  erst  der 
Wissende  dort  Schwierigkeiten,  wo  sie  dem  Unerfahrenen  ver- 
borgen bleiben.   Unter  allen  Umständen  wird  derjenige  der  beste 
Gutachter  sein,  welcher  der  beste  Kliniker  ist. 


Einleitung. 

Von  der  endgültigen  Lösung  der  im  vorstehenden  gekenn- 
zeichneten Aufgaben  ist  die  Psychiatrie  leider  nur  allzu  weit  noch 
entfernt.  Sie  ist  eine  junge,  im  Werden  begriffene  Wissenschaft, 
und  sie  muß  sich  in  hartem  Ringen  erst  langsam  die  Stellung  er- 
obern, die  ihr  nach  Maßgabe  ihrer  wissenschaftlichen  und  prak- 
tischen Bedeutung  gebührt.  Kein  Zweifel,  daß  sie  dies  erreichen 
wird  —  stehen  ihr  doch  dieselben  Waffen  zu  Gebote,  die  sich 
auf  den  übrigen  Gebieten  der  Medizin  so  glänzend  bewährt  haben: 
die  klinische  Beobachtung,  das  Mikroskop  und  das  Experiment. 


H.  Emminghaus,  Allgemeine  Psychopathologie  zur  Einführung  in  das  Studium 

der  Geistesstörungen.  1878. 
Maudsley,  The  pathology  of  mind.  1895. 
Stör  ring,  Vorlesungen  über  Psychopathologie.  1900. 

Ausführliche  Darstellungen  der  allgemeinen  Psychiatrie  enthalten  auch  die 
meisten  der  im  zweiten  Teile  dieses  Buches  aufgeführten  Lehrbücher. 


L  Die  Ursachen  des  Irreseins/) 


Die  Entstehungsgeschichte  einer  geistigen  Erkrankung  ist  fast 
immer  eine  sehr  verwickelte.  Nur  recht  selten  finden  wir  hier 
einfache  und  durchsichtige  Beziehungen  zwischen  greifbaren  Ur- 
sachen und  entsprechenden  Wirkungen  vor;  fast  immer  sind  wir 
in  der  Lage,  mit  einer  ganzen  Reihe  von  verschiedenen  Möglich- 
keiten rechnen  zu  müssen,  deren  besondere  Bedeutung  im  ein- 
zelnen Falle  wir  oft  kaum  annähernd  abzuschätzen  vermögen. 

Die  Lehre  von  der  Entwicklung  des  Irreseins  kennt  daher 
nur  ausnahmsweise  einen  unverbrüchlichen  Zusammenhang  zwi- 
schen bestimmter  Krankheitsursache  und  Krankheitsform;  viel- 
mehr pflegen  wir  allgemein  den  gleichen  äußeren  Einwirkungen 
die  Erzeugung  mannigfaltiger  Formen  des  Irreseins  zuzuschreiben 
und  andererseits  die  gleichen  psychischen  Erkrankungen  aus 
einer  Anzahl  der  verschiedenartigsten  Ursachen  herzuleiten.  Dieser 
Widerspruch  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Grundgesetze,  der 
sich  übrigens  bei  allen  unentwickelten  Erfahrungswissenschaften 
wiederfindet,  beruht  zunächst  darauf,  daß  wir  auf  unserem  Ge- 
biete vielleicht  noch  mehr,  als  irgendwo  sonst,  die  beiden  großen 
Gruppen  der  äußeren  und  inneren  Ursachen  auseinanderzu- 
halten haben. 

Unser  Gehirn  ist  ein  überaus  reich  und  vielseitig  entwickeltes 
Werkzeug  und  zeigt  daher  eine  außerordentlich  mannigfaltige 
Ausbildung  bei  verschiedenen  Personen.  Aus  diesem  Grunde 
werden  wir  bei  der  Entstehung  des  Irreseins' der  Eigenart  des  ein- 
zelnen Menschen  eine  besonders  hohe  Bedeutung  einräumen 
müssen.  Die  gleiche  Schädlichkeit  wird  bei  der  Einwirkung  auf 
verschiedenartige  Wesen  notwendigerweise  auch  verschiedenartige 


1)  Toulouse,  les  causes  de  la  folie,  prophylaxie  et  assistance.  1896;  Meyer, 
Die  Ursachen  der  Geisteskrankheiten.  1907. 


i6 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Krankheitserscheinungen  nach  sich  ziehen  müssen.  Während  sie 
in  einem  Falle  an  der  inneren  Widerstandsfähigkeit  des  Betrof- 
fenen ohne  weiteres  abprallt,  kann  sie  ein  anderes  Mal  vielleicht 
eine  heftige,  aber  kurze  Erschütterung  des  seelischen  Gleich- 
gewichtes erzeugen,  bei  einem  Dritten  etwa  eine  schlummernde 
Krankheitsanlage  wecken,  die  nun  ihrerseits  zu  langdauerndem 
geistigem  Siechtum  führt.  Überall  wird  dabei  der  Satz  Geltung 
haben,  daß  äußere  und  innere  Ursachen  in  einem  gewissen  Er- 
gänzungsverhältnisse zueinander  stehen.  Je  weniger  ein  Mensch 
zum  Irresein  veranlagt  ist,  um  so  stärker  muß  die  äußere  Schä- 
digung sein,  die  ihn  krank  macht,  und  umgekehrt  gibt  es  Personen, 
die  schon  unter  dem  Einflüsse  der  kleinen  Reize  des  täglichen 
Lebens  geisteskrank  werden,  weil  ihre  Widerstandsfähigkeit  zu 
gering  ist,  um  selbst  diese  ohne  tiefere  Störung  ertragen  zu  können. 

Dazu  kommt,  daß  wir  heute  überall  wesentlich  nur  die  rohen, 
nicht  aber  die  wahren  Ursachen  und  Wirkungen  zu  berücksich- 
tigen vermögen.  Wäre  z,  B,  eine  bestimmte  chemische  Verän- 
derung in  der  Zusammensetzung  des  Blutes  die  wahre  Ursache 
einer  eigenartigen  Geistesstörung,  so  könnten  sehr  verschiedene 
rohe  Ursachen,  etwa  das  Krebssiechtum,  häufige  Blutungen,  chro- 
nische Malariavergiftung,  Erkrankungen  der  blutbildenden  Organe 
usf.  neben  anderen  Wirkungen  gerade  den  gemeinsamen  Erfolg 
haben,  daß  die  Ernährungsflüssigkeit  nach  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Richtung  hin  untauglich  wird.  Erst  seitdem  wir  die 
Bedeutung  der  Schilddrüse  für  den  Körperhaushalt  kennen,  wird 
es  uns  verständlich,  warum  die  verschiedensten  Erkrankungen, 
Tuberkulose,  Lues,  Geschwulstbildungen,  das  endemische  Gift 
des  Kretinismus,  operative  Eingriffe,  das  gleiche  klinische  Bild 
erzeugen  können,  wenn  sie  nämlich  gerade  die  Leistungsfähig- 
keit jener  Drüse  zerstören.  Andererseits  ist  es  denkbar,  daß  eine 
und  dieselbe  Schädlichkeit  einmal  durch  unmittelbare  Einwirkung 
auf  das  Gehirn  eine  geistige  Erkrankung  erzeugt,  dann  aber  auch 
noch  anderweitige  Störungen  im  ganzen  Körper  hervorzurufen 
vermag,  die  nun  ihrerseits  völlig  abweichende  psychische  Krank- 
heitsbilder hervorrufen  können.  Die  Deutung  der  verschieden- 
artigen Formen  des  Irreseins  beim  chronischen  Alkoholismus  sowie 
bei  den  syphilitischen  und  metasyphilitischen  Geisteskrankheiten 
legt  derartige  Erwägungen  nahe. 


Exogene  und  endogene  Erkrankungen. 


17 


Jeder  Versuch  einer  Ursachenlehre  wird  endlich  die  Tatsache 
zu  berücksichtigen  haben,  daß  psychische  Störungen,  die  der  äußer- 
lichen Betrachtung  völlig  verschieden  erscheinen,   in  Wahrheit 
doch  nahe  verwandt,  etwa  nur  verschiedene  Entwicklungsstufen 
oder  Stärkegrade  eines  und  desselben  Krankheitsvorganges  sein 
können.  So  wird  man  vielleicht  den  Größen-  und  den  Kleinheits- 
wahn des  Paralytikers  zunächst  als  Anzeichen  völlig  entgegen- 
gesetzter Störungen  anzusehen  geneigt  sein,  bis  man  entdeckt, 
daß  beide  als  Erscheinungsformen  desselben  Grundleidens  ohne 
weiteres  ineinander  übergehen,  sich  sogar  miteinander  mischen 
können.    Namentlich  die  vielgestaltigen  Zustandsbilder  des  ma- 
nisch-depressiven Irreseins  verführen  leicht  zu  falschen  Schlüssen 
über  ursächliche  Zusammenhänge,  je  nachdem  sie  als  Amentia, 
Erschöpfungsstupor,  als  Neurasthenie,  Hysterie,  periodische  Para- 
noia, Altersmelancholie,  Zwangsirresein  aufgefaßt  werden.  Aus 
diesen  Überlegungen  ergibt  sich,  daß  eine  brauchbare  Ursachen- 
lehre ohne  die  genaueste  Kenntnis  der  klinischen  Krankheits- 
formen nicht  möglich  ist.    Solange  wir  nicht  am  Krankenbette 
Wesensgleiches  zusammenfassen  und  Verschiedenes  zu  trennen 
vermögen,  werden  auch  unsere  ätiologischen  Anschauungen  not- 
wendig unklar  und  widerspruchsvoll  bleiben. 

Dennoch  beginnt  sich  schon  jetzt  allmählich  die  Auffassung 
Bahn  zu  brechen,  daß  dem  Überwiegen  der  äußeren  oder  der  inne- 
ren Ursachen  im  allgemeinen  zwei  große  Gruppen  von  Geistes- 
störungen entsprechen,  die  von  Möbius  als  exogene  und  endo- 
gene Erkrankungen  auseinandergehalten  worden  sind.  Jene 
erstere  Gruppe  zeigt  wesentlich  abgerundete  Verlaufsarten  von 
bestimmtem  Gepräge  mit  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  der  ge- 
samten Entwicklung;  dieser  letzteren  dagegen  ist  vielfacher  Wech- 
sel der  Krankheitserscheinungen  nach  Stärke  und  Art,  schwan- 
kender, unregelmäßiger  Verlauf  oder  Fortbestehen  der  Störungen 
durch  das  ganze  Leben  hindurch  eigentümlich.  Es  liegt  indessen 
auf  der  Hand,  daß  sich  eine  strenge  Scheidung  auf  diesem  Gebiete 
nicht  durchführen  läßt.  Vielmehr  muß  es  naturgemäß  alle  mög- 
lichen Mischungen  in  dem  Verhältnisse  der  äußeren  zu  den  inneren 
Ursachen  geben.  Das  Gewicht  des  gleichen  äußeren  Anstoßes 
kann  je  nach  dem  uns  wesentlich  unbekannten  inneren  Zustande 
ein  sehr  verschiedenes  sein.  Auf  diese  Weise  entstehen  praktisch 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


i8 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


die  mannigfaltigsten  Beziehungen  zwischen  rohen  äußeren  Ur- 
sachen und  kUnischen  Formen  des  Irreseins,  so  daß  die  zugrunde 
liegenden  Gesetzmäßigkeiten  tatsächlich  überaus  schwer  zu  ent- 
wirren sind.  Immerhin  sind  uns  auch  heute  schon  gewisse  An- 
haltspunkte in  den  Krankheitsbildern  selbst  gegeben.  Wir  wissen 
von  einer  ganzen  Reihe  klinischer  Formen  aus  vielfältiger  Erfah- 
rung, daß  sie  überwiegend  äußeren  oder  inneren  Ursachen  ihre 
Entstehung  verdanken,  und  wir  können  daher  aus  der  Art  der 
Krankheitszeichen  nicht  selten  auch  dann  die  exogene  oder  endo- 
gene Natur  des  einzelnen  Falles  mit  größter  Wahrscheinlichkeit 
feststellen,  wenn  uns  der  grobe  Augenschein  zunächst  zu  einer 
falschen  Auffassung  zu  verführen  drohte. 

A.  Äußere  Ursachen. 

Die  große  Klasse  der  äußeren  Ursachen  des  Irreseins  pflegt 
man  zur  besseren  Übersicht  weiter  in  die  beiden  Gruppen  der 
körperlichen  und  psychischen  Ursachen  auseinander  zu 
trennen.  Die  ersteren  greifen  unmittelbar  in  den  körperlichen 
Bestand  unseres  Seelenorgans  ein,  die  anderen  erst  durch  Ver- 
mittlung psychischer  Vorgänge,  durch  Erzeugung  von  Vorstel- 
lungen oder  Gemütsbewegungen.  Eine  grundsätzliche  Verschie- 
denheit zwischen  beiden  Gruppen  besteht  selbstverständlich  nicht, 
da  nach  den  überall  festzuhaltenden  Grundanschauungen  jeder 
Veränderung  auf  psychischem  Gebiete  durchaus  eine  Störung  im 
Ablaufe  der  körperlichen  Vorgänge  entspricht. 

I.  Körperliche  Ursachen^). 

Hirnkrankheiten^).  Da  die  letzte  Grundlage  aller  Formen  des 
Irreseins  höchstwahrscheinlich  in  krankhaften  Vorgängen  oder 
Zuständen  der  Großhirnrinde  gesucht  werden  muß,  äo  werden  wir 
allen  wahren  Ursachen  die  gemeinsame  Eigenschaft  zuschreiben 

1)  Weber,  Die  Beziehungen  zwischen  körperlichen  Erkrankungen  und  Geistes- 
störungen. 1902. 

2)  Nothnagel,  Topische  Diagnostik  der  Gehirnkrankheiten.  1879;  Wernicke, 
Lehrbuch  der  Gehirnkrankheiten.  1881;  Gowers,  Vorlesungen  über  die  Diagnostik 
der  Gehirnkrankheiten,  deutsch  v.  Mommsen.  1886;  Renschen,  Klinische  und 
anatomische  Beiträge  zur  Pathologie  des  Gehirns.  1892;  v.  Monakow,  Gehirn- 
pathologie, 2.  Aufl.  1905;  Oppenheim,  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten,  4.  Aufl. 
1905. 


Hirnkrankheiten. 


19 


dürfen,  daß  sie  Erkrankungen  der  Hirnrinde  bewirken.  Der  ana- 
tomische Nachweis  solcher  Erkrankungen  ist  schon  bei  einer 
großen  Reihe  von  psychischen  Störungen  gelungen,  wenn  auch  die 
Deutung  der  Befunde  und  namentlich  ihre  gesetzmäßige  Beziehung 
zu  den  klinischen  Erscheinungen  meist  noch  recht  unklar  ist. 
Auf  der  anderen  Seite  muß  es  bei  großen  Gruppen  von  geistigen 
Erkrankungen,  insbesondere  bei  den  Entartungszuständen,  als 
recht  zweifelhaft  bezeichnet  werden,  ob  die  Veränderungen,  die 
ihnen  zugrunde  liegen,  überhaupt  oder  doch  mit  unseren  heutigen 
Hilfsmitteln  sichtbar  gemacht  werden  können.  Daß  übrigens  die 
wahrnehmbaren  Veränderungen  durchaus  nicht  immer  die  Ur- 
sache der  klinischen  Störungen  zu  sein  brauchen,  bedarf  wohl 
kaum  der  Erwähnung. 

Bei  den  Gehirnerkrankungen  im  engeren  Sinne  werden  wir 
ausgeprägtere  psychische  Erscheinungen  dann  erwarten,  wenn  das 
Leiden  entweder  gerade  in  der  Rinde  seinen  Sitz  hat  oder  doch 
durch  Erhöhung  des  Hirndruckes,  Störungen  der  Blutverteilung, 
Giftwirkungen  und  dergleichen  die  Rinde  in  Mitleidenschaft  zieht. 
Es  kommt  indessen  vor,  daß  selbst  greifbare  Rindenerkrankungen, 
wenn  sie  umschrieben  sind  und  sich  langsam  entwickeln,  die  psy- 
chischen Leistungen,  wenigstens  anscheinend,  völlig  unbeeinflußt 
lassen.  Zur  Erklärung  derartiger  Tatsachen  ist  vielleicht  die  Mög- 
lichkeit einer  teilweisen  Stellvertretung  erkrankter  Rindenpartien 
durch  gesunde,  namentlich  aber  der  Umstand  in  Erwägung  zu  ziehen, 
daß  eine  ganz  allmählich  eintretende  leichte  Verminderung  der 
psychischen  Leistungsfähigkeit  mit  unseren  heutigen  unvollkom- 
menen Hilfsmitteln  sehr  schwer  aufzufinden  und  genau  zu  bestim- 
men ist. 

Als  das  wichtigste  Bindeglied  zwischen  Schädlichkeiten  und 
Hirnrindenerkrankungen  hat  man  früher  vielfach  die  Störungen 
des  Hirnkreislaufes  betrachtet,  durch  deren  Vermittlung  noch 
Meynert  verschiedene  psychische  Krankheitsbilder  zu  erklären 
suchte.  Obgleich  diese  Anschauung  heute  nicht  mehr  haltbar  ist, 
so  kann  doch  nicht  bezweifelt  werden,  daß  wesentliche  Änderungen 
in  der  Blutzufuhr  einen  entschiedenen  Einfluß  auf  das  Seelen- 
leben ausüben,  namentlich,  wenn  sie  sich  rasch  ausbilden.  Ins- 
besondere pflegt  man  auch  den  Gefäßerkrankungen,  wie  wir  sie 
bei  einer  Reihe  von  Geistesstörungen  auftreten  sehen,  die  Ent- 


20 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


stehung  schwerer,  die  Hirnernährung  schädigender  Kreislauf- 
störungen zuzuschreiben,  ohne  daß  bisher  unsere  Vorstellungen 
über  den  inneren  Zusammenhang  der  Vorgänge  besonders  klare 
wären.  Gewöhnlich  denkt  man  in  erster  Linie  an  Steigen  oder 
Sinken  des  Blutdrucks  und  dadurch  bedingte  Veränderungen  der 
Strömungsgeschwindigkeit. 

Vermehrten  Blutandrang  zum  Gehirn  beobachten  wir  im  Fieber, 
bei  gewissen  Gemütsbewegungen,  bei  Hypertrophie  des  linken 
Ventrikels  und  bei  denjenigen  Giften,  die  eine  Förderung  der  Herz- 
arbeit oder  eine  Erweiterung  der  Hirngefäße  bewirken.  Ferner 
dürften  auch  die  Erscheinungen  bei  starker  Wärmebestrahlung 
des  Kopfes,  insbesondere  beim  ,, Sonnenstich",  auf  eine  Blutüber- 
füllung an  der  Hirnoberfläche  zu  beziehen  sein;  vielleicht  ver- 
binden sich  damit  örtliche  Wärmestauungen.  Offenbar  fehlen  uns 
hier  Ausgleichsvorrichtungen,  welche  die  mit  rasiertem  Schädel 
unter  der  Mittagssonne  arbeitenden  Tropenbewohner  besitzen 
müssen;  ein  Europäer  würde  unter  gleichen  Bedingungen  binnen 
ganz  kurzer  Zeit  die  schwersten  Störungen  darbieten.  Endlich 
werden  wir  örtliche  Steigerungen  der  Blutzufuhr  bei  allen  ent- 
zündlichen Vorgängen  anzunehmen  haben,  welche  die  Hirnrinde 
in  Mitleidenschaft  ziehen. 

Das  Abschneiden  der  Blutzufuhr  vom  Gehirn  wird  am  raschesten 
durch  Zusammenpressen  der  beiden  Halsschlagadern  bewirkt,  wie 
es  wohl  auch  beim  Erhängen  vorkommt.  Hier  dürfte  jedoch  in 
der  Regel  zugleich  oder  vornehmlich  die  Behinderung  des  Blut- 
abflusses durch  Verschluß  der  großen  Halsvenen  eine  wesentliche 
Rolle  spielen.  Weiterhin  kommt  Blutleere  des  Gehirns  nament- 
lich durch  starke  Blutverluste  und  durch  Herzschwäche  zustande; 
hier  entwickeln  sich  Sinken  des  Blutdruckes,  Abnahme  der  Strö- 
mungsgeschwindigkeit und  weiterhin  Stauungen.  Rasch  vorüber- 
gehende Verminderung  der  Blutzufuhr  zum  Gehirn  wird  durch 
solche  Gemütserschütterungen  bewirkt  (Schreck),  die  mit  einer 
krampfhaften  Zusammenziehung  der  Hirngefäße  einhergehen.  Ähn- 
liche Wirkungen  können  Gifte  entfalten;  vielleicht  sind  auch  die 
unmittelbaren  Folgen  der  Hirnerschütterung  zum  Teil  auf  Ge- 
fäßkrämpfe zurückzuführen,  doch  spielen  dabei  nach  Kochers 
Darlegungen  die  plötzlichen  Druckschwankungen,  denen  das  Ge- 
hirn durch  rasche  Lageverschiebungen  ausgesetzt  ist,  wohl  die 


Hirnkrankheiten.  21 


Hauptrolle.  Örtliche  Beeinträchtigung  oder  Aufhebung  des  Blut- 
kreislaufs kann  durch  die  teilweise  oder  völlige  Verstopfung  von 
Hirngefäßen,  ferner  durch  den  Druck  von  Geschwülsten  verur- 
sacht werden,  welche  die  Gefäße  zusammenpressen.  Wachsen  die 
Geschwülste,  so  kann  die  zunächst  umschriebene  Wirkung  eme 
allgemeine  werden,  indem  sich  die  Raumbeschränkung  in  der 
Schädelkapsel  durch  Vermittlung  der  Cerebrospinalflüssigkeit  auf 
den  gesamten  Schädelinhalt  überträgt. 

Wie  wir  durch  Grasheys  Untersuchungen i)   wissen,  fuhrt 
jede  Erhöhung  des  Druckes  im  Schädel  über  ein  bestimmtes  per- 
sönliches Maß  hinaus  sehr  rasch  zur  Zusammendrückung  der 
Hirnvenen  in  ihren  freien  Abschnitten,  weiterhin  aber  zur  Ent- 
stehung von  Gefäßschwingungen  mit  erheblicher  Verlangsamung 
der  Kreislaufsgeschwindigkeit  und  deren  Folgezuständen  (Stau- 
ungen, Ödeme).    Die  größere  oder  geringere  Leichtigkeit,  mit 
welcher  eine  derartige  Drucksteigerung  im  einzelnen  Falle  zu- 
stande kommt,  hängt  wesentlich  ab  von  der  Ausbildung,  welche 
die  Abflußbahnen  der  Cerebrospinalflüssigkeit  besitzen.  Vermag 
diese  letztere  bei  einer  Vermehrung  des  Schädelinhaltes  rasch 
nach  allen  Richtungen  hin  auszuweichen,  so  bleibt  der  Druck 
im  Schädel  unverändert,  und  die  Blutversorgung  erleidet  keine 
Störung.    Sind  aber  die  Ausgleichsvorrichtungen  mangelhaft,  so 
genügt  schon  eine  mäßige  Zunahme  des  Schädelinhaltes,  um  das 
Auftreten  schwererer  Ernährungsstörungen  einzuleiten.  Vielleicht 
verdient  gerade  nach  dieser  Richtung  die  von  Thoma  festge- 
stellte Tatsache  besondere  Beachtung,  daß  von  sämtlichen  Ge- 
fäßen des  Körpers  das  Gebiet  der  Carotis  interna  bei  weitem  am 
meisten  der  Erkrankung  an  Arteriosklerose  infolge  von  Über- 
dehnung der  Gefäßwand  ausgesetzt  ist.    Weit  günstiger  liegen 
bei  einer  Zunahme  des  Schädelifihaltes  die  Verhältnisse  dann, 
wenn  sie  sich  langsam,  allmählich  einstellt,  so  daß  die  Abfluß- 
bahnen sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den  wachsenden  An- 
forderungen anzupassen  vermögen.  Hier  kann  die  lähmende  Wir- 
kung auf  die  Hirnrinde  ziemlich  lange  hintangehalten  werden. 
Dagegen  hat  jede  rasche  Vermehrung  des  Schädelinhaltes,  wie  sie 

1)  Grashey,  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Blutzirkulation  in  der 
Schädel-Rückgratshöhle.  1892;  Kocher,  Hirnerschütterung,  Hirndruck  und  chi- 
rurgische Eingriffe  bei  Hirnkrankheiten.   Nothnagels  Handbuch  IX,  3,  2.  1902. 


22 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


namentlich  durch  Blutungen,  nach  Reichardts  Darlegungen 
auch  durch  Schwellung  der  Hirnmasse  zustande  kommen  kann, 
unausbleiblich  die  Erstickung  der  Hirnrinde  zur  Folge. 

In  geringerem  Maßstabe,  als  bei  der  Entwicklung  von  Ge- 
schwülsten oder  gar  beim  Eintritt  von  größeren  Blutungen,  bilden 
sich  Blutstauungen  in  der  Schädelkapsel  regelmäßig  aus,  wenn 
ein  Mißverhältnis  zwischen  dem  Drucke  in  den  Blutgefäßen  und  in 
der  Schädelhöhle  entsteht.  Dauernde  Blutwallungen  dürften  ebenso 
zu  Stauungen  in  der  Schädelhöhle  führen  wie  eine  Abnahme  der 
Triebkraft  des  Herzens. 

Die  letzten  Folgen  aller  Kreislaufstörungen  im  Gehirn  können 
immer  nur  Beeinträchtigungen  des  Stoffwechsels  im  Nerven- 
gewebe, also  chemische  Wirkungen  sein.  Nach  unseren  heutigen 
Vorstellungen  wird  dabei  einmal  die  Anhäufung  von  Zerfallsstoffen, 
sodann  aber  ein  mangelhafter  Ersatz  des  Verbrauchten  in  Frage 
kommen.  Aus  diesem  Grunde  wird  es  für  den  Ablauf  der  Hirn- 
vorgänge nicht  nur  auf  die  Menge,  sondern  vor  allem  auch  auf  die 
Beschaffenheit  des  durchströmenden  Blutes  ankommen.  Diese 
letztere  aber  ändert  sich  bei  allen  Kreislaufsbehinderungen  sehr 
rasch,  da  sich  das  Blut  mit  Zerfallsstoffen  beladet,  die  sonst  in 
anderen  Stätten  des  Körpers  möglichst  bald  unschädlich  gemacht 
werden.  Wir  haben  uns  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  mehr 
und  mehr  daran  gewöhnt,  diesen  und  anderen  giftigen  Bei- 
mischungen der  Ernährungsflüssigkeit  eine  Hauptrolle  bei  der 
Entstehung  von  Krankheitserscheinungen  zuzuschreiben.  Nicht 
unwahrscheinlich  ist  eine  solche  Erklärung  für  die  sogenannte 
Wärmestauung,  den  Hitzschlag i),  bei  dem  es  sich  anscheinend  um 
eine  allgemeine  Erhöhung  der  Körperwärme  durch  Versagen  der 
natürlichen  Ausgleichsvorrichtungen  handelt.  Schwer  bepackte 
Soldaten  auf  anstrengenden  Märschen  bei  schwülem,  feuchtem 
Wetter  und  bedecktem  Himmel,  ferner  die  Heizer  auf  unseren 
großen  Dampfern,  namentlich  in  tropischen  Meeren,  sind  am 
meisten  gefährdet,  aber  auch  bei  sehr  lange  fortgesetzten  feuchten 
Einpackungen  widerstrebender  Kranker  sind  Hitzschläge  beob- 
achtet worden.  Begünstigend  wirken  Schädigungen  der  Wärme- 
regelung  durch  Alkoholgenuß  oder  Gefäßerkrankungen.    Wir  kön- 

1)  Steinhausen,  Die  klinischen  und  ätiologischen  Beziehungen  des  Hitz- 
schlags zu  den  Psychosen  und  Neurosen,  Leu thold -Festschrift,  II. 


Hirnkrankheiten.  ^3. 

nen  uns  vielleicht  vorstellen,  daß  unter  dem  Einflüsse  der  er- 
höhten Eigenwärme  eine  Beschleunigung  des  Stoffumsatzes  emtritt, 
ohne  daß  die  Zerfallsstoffe  genügend  schnell  fortgeschafft  werden 
können  Auch  beim  Fieber,  bei  Entzündungsvorgängen,  wie  sie  ent- 
weder unmittelbar  in  der  Hirnrinde  ihren  Sitz  haben  (Encephalitis) 
oder  von  den  benachbarten  Hirnhäuten  dahin  übergreifen  können 
(Meningitis),  ferner  bei  der  örtlichen  Reizwirkung  von  Herder- 
krankungen  denken  wir  in  erster  Linie  an  den  reizenden  und  zer- 
setzenden Einfluß  im  Blute  kreisender  oder  an  Ort  und  Stelle  ge- 
bildeter Gifte. 

Außer  den  Wirkungen  auf  Kreislauf  und  Stoffwechsel  kommen 
vielfach  noch  sehr  wesentlich  einfach  mechanische  Zerstörungen 
in  Betracht.  Das  gilt  außer  den  unmittelbaren  Zertrümmerungen 
bei  Kopfverletzungen  namentlich  von  der  Hirnkontusion,  bei  der 
nicht  nur  an  den  unmittelbar  betroffenen  Stellen,  sondern  auch 
an  den  Gegenpolen  durch  den  Anprall  Zerreißungen  des  Nerven- 
gewebes wie  der  Gefäße  stattfinden  können,  ferner  von  den  Blu- 
tungen und  wohl  auch  von  dem  Drucke  sehr  schnell  wachsender 
und  die  mannigfachsten  Verheerungen  bedingender  Geschwulste. 

Endlich  aber  haben  wir  darauf  hinzuweisen,  daß  bei  den  ver- 
schiedensten Hirnkrankheiten  neben  den  unmittelbaren  Wirkungen 
auf  das  Hirngewebe  noch  mittelbare  Beeinflussungen  der  Seelen- 
vorgänge eintreten  können.    Wir  haben  uns  wohl  vorzustellen, 
daß  die  durch  das  Hirnleiden  erzeugten  Störungen  allerlei  Gemüts- 
bewegungen auslösen  können,  die  nun  ihrerseits  wieder  psychogene 
Begleiterscheinungen   erzeugen.    Daß   diese  mittelbaren  Krank- 
heitszeichen vielfach  durch  diejenigen  des  Hirnleidens  beemflußt 
werden  und  daher  unter  Umständen  als  eine  Übertreibung  und 
Vergröberung  derselben  erscheinen,  wird  man  kaum  verwunderlich 
finden.    Bei  sorgfältiger  Prüfung  ergibt  sich,  daß  die  Verknüp- 
fung   psychogener,    sog.    „hysterischer"  Krankheitsäußerungen 
mit  schweren  Schädigungen  der  Hirnrinde  ein  überaus  häufiges 
Vorkommnis  ist.  Möbius  hat  sogar  gewisse  Krampf erscheinungen 
und  Dämmerzustände  bei  wiederbelebten  Erhängten^)  als  hyste- 
rische aufgefaßt;  doch  spricht  ihre  Übereinstimmung  mit  den  nach 

1)  Wagner,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  VIII,  313;  Möbius,  Neurologische  Bei- 
träge I,  5S;  Wollenberg,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  241;  Sommer,  Monatsschr. 
f.  Psychiatrie  XIV,  221. 


24 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


schweren  Kopfverletzungen  beobachteten  Störungen  mehr  für  die 
Verursachung  durch  die  Hirnschädigungen,  wie  sie  der  Erstickungs- 
vorgang bedingt. 

Wenn  wir  von  jenen  mittelbaren  Störungen  absehen,  pflegen 
sich  die  psychischen  Krankheitsbilder  bei  gröberen  Hirnleiden  in 
verschiedenartiger  Weise  aus  den  allgemeinen  Zeichen  der  Erregung 
und  der  Lähmung  auf  den  einzelnen  Gebieten  des  Seelenlebens 
zusammenzusetzen.  Von  den  ersteren,  die  im  allgemeinen  gerin- 
geren Graden  des  Leidens  entsprechen,  sind  Schlaflosigkeit,  Ideen- 
flucht, Delirien,  ängstliche  oder  heitere  Verstimmung,  Unruhe 
und  mehr  oder  weniger  heftige  motorische  Erregung  zu  nennen. 
Der  psychische  Ausdruck  einer  plötzlichen  allgemeinen  Läh- 
mung der  Hirnrinde  ist  dagegen  eine  rasch  einsetzende,  tiefe  Be- 
wußtlosigkeit. Bei  leichteren  Graden  der  Störung  kommt  es  zu- 
nächst zu  einer  Erschwerung  der  Auffassung  und  Verarbeitung 
äußerer  Eindrücke,  zu  Unbesinnlichkeit,  Gedächtnisschwäche, 
Gedankenarmut  und  Verlangsamung  des  Vorstellungsverlaufes, 
Urteilslosigkeit,  großer  Ermüdbarkeit;  bei  höherer  Ausbildung 
entwickelt  sich  geradezu  Schlafsucht,  traumartige  Benommen- 
heit, Blödsinn.  Ferner  besteht  gemütliche  Stumpfheit,  verdrieß- 
lich weinerliche  oder  kindisch  heitere  Stimmung,  Bestimmbarkeit 
oder  Eigensinn,  endlich  völliges  Erlöschen  der  Willensregungen. 

Da  der  Lähmung  des  Hirngewebes  zumeist  ein  Zustand  der 
Reizung  vorauszugehen  pflegt,  werden  wir  in  den  klinischen 
Äußerungen  der  Hirnrindenerkrankungen  den  mannigfachsten  Ver- 
knüpfungen von  psychischen  Lähmungs-  und  Erregungserschei- 
nungen begegnen.  Noch  verwickelter  können  die  entstehen- 
den Krankheitsbilder  dadurch  werden,  daß  die  Beeinträchtigung 
oder  der  Ausfall  höherer  psychischer  Leistungen  noch  Störungen 
ganz  anderer  Art  nach  sich  ziehen  kann.  Wenn  wir  berechtigt 
smd,  als  den  seelischen  Kern  der  Persönlichkeit  eine  gewisse,  ' 
durch  Anlage  und  Lebenserfahrung  bestimmte  Summe  von  Vor- 
stellungen, Denkgewohnheiten,  Gefühlsrichtungen  und  Strebungen 
anzusehen,  so  ist  es  einleuchtend,  daß  durch  diesen  Kern  die 
Emheithchkeit  und  Stetigkeit  der  psychischen  Persönlichkeit  be- 
dmgt  wird.  Wird  aber  die  Festigkeit  seines  Gefüges  durch  krank- 
hafte Vorgänge  geschwächt,  so  ist  die  Folge  eine  stärkere  Beein- 
flußbarkeit  des   Seelenlebens    durch    äußere   und   zufällige  Ein- 


Hirnkrankheiten. 


25 


Wirkungen.  Wir  finden  daher  unter  den  Zeichen  der  Hirnerkran- 
kungen, namentlich  in  den  Anfängen  ihrer  Entwicklung,  häufig 
eine  verminderte  psychische  Widerstandsfähigkeit,   die  sich  in 
rascher  Erschöpfbarkeit,  erhöhter  Ablenkbarkeit  und  Zerstreutheit, 
gemütlicher  Reizbarkeit  und   Haltlosigkeit  des  Willens  äußert. 
Dazu  gesellt  sich  gewöhnlich  auch  eine  größere  Empfindlichkeit 
gegen  Alkohol.    Natürlich  können  sich  die  genannten  Störungen 
wieder  in  der  verschiedenartigsten  Weise  mit  Zeichen  der  psychi- 
schen Lähmung  und  Erregung  verbinden.    Weiterhin  beobachten 
wir  bei  allen  diesen  Krankheitsbildern  natürlich  unter  Umständen 
jene  umschriebenen  Reizungs-  und  Ausfallserscheinungen  auf  see- 
lischem Gebiete,  die  durch  den  besonderen  Sitz  des  Leidens  bedingt 
werden.  Dahin  gehören  einerseits  Sinnestäuschungen,  andererseits 
Ausfall  gewisser  Gruppen  von  sinnlichen  Erinnerungsbildern  und 
dadurch  bedingte  Asymbolie,  insbesondere  die  Worttaubheit,  die 
Schriftblindheit,   sodann  die  mannigfachen  Störungen   der  Aus- 
drucksbewegungen und  des  Handelns,  wie  wir  sie  in  der  motorischen 
Aphasie,  der  Agraphie  und  neuerdings  in  der  Apraxie  kennen 
gelernt  haben.    Daß  endlich  auch  auf  körperlichem  Gebiete  eine 
Menge  von  Krankheitszeichen  zur  Entwicklung  gelangen  können, 
die  uns  Rückschlüsse  auf  Art  und  Sitz  des  Hirnleidens  gestatten, 
bedarf  hier  nur  kurzer  Erwähnung. 

Für    die    klinische    Psychiatrie    haben    die    gröberen  Hirn- 
erkrankungen im  allgemeinen  keine  allzu  große  Bedeutung.  Die 
meningitischen  und  encephalitischen  Erkrankungen  begegnen  uns 
vor  allem  in  den  Zuständen  von  Idiotie  und  ImbecilHtät,  die  sie 
bei  Kindern  so  oft  erzeugen.    Späterhin  kann  die  traumatische, 
die  tuberkulöse  und  besonders  auch  die  epidemische  Cerebrospinal- 
meningitis  ausgeprägte  psychische  Krankheitsbilder  Hefern,  die  im 
wesentlichen  durch  delirante  Benommenheit,  traumhafte  Sinnes- 
täuschungen und  Wechsel  zwischen  Erregungszuständen  ängst- 
licher  oder  heiterer  Färbung  mit  stumpfer  Willenserschlaffung 
gekennzeichnet    sind.     Auf    Sonnenstich   werden   hier    und  da 
psychische   Erkrankungen   zurückgeführt,    doch   ist   große  Vor- 
sicht in  der  Beurteilung  am  Platze.    In  der  Regel  scheint  der 
Sonnenstich  nach  der  rasch  einsetzenden  Bewußtseinstrübung  mit 
Krämpfen,  die  unter  Umständen  zum  Tode  führt,  keine  dauern- 
den psychischen  Schädigungen  zu  hinterlassen;  höchstens  bleiben 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

gelegentlich  psychogene  Störungen  zurück.  Meist  kann  man  sich 
auch  bei  genauerer  Prüfung  überzeugen,  daß  ein  angeblicher 
Sonnenstich  der  erste  paralytische,  katatonische  oder  epileptische 
Anfall  war,  dessen  Auftreten  durch  die  Schädlichkeit  vielleicht 
begünstigt,  aber  nicht  verursacht  wurde.  Ähnliches  dürfte  für  den 
bei  uns  freilich  ungleich  häufigeren  Hitzschlag  gelten.  Die  nächsten 
Erscheinungen  bestehen  meist  in  tiefer  Bewußtlosigkeit,  hier  und 
da  auch  in  deliranten  Zuständen  mit  Krämpfen  oder  vorübergehen- 
den Sprachstörungen.  Im  weiteren  Verlaufe  aber  kommt  es  öfters 
zur  Entwicklung  von  psychogenen  Krankheitsbildern,  die  durch- 
aus denjenigen  nach  Unfällen  zu  ähneln  scheinen^). 

Kranke  mit  Hirngeschwülsten  geraten,  nur  gelegentlich  unter 
falscher  Diagnose  in  die  Irrenanstalt,  meist  als  Paralytiker  oder  Epi- 
leptiker. Dagegen  hat  sich  der  Irrenarzt  nicht  selten  mit  den  krank- 
haften Seelenzuständen  nach  Kopfverletzungen  2)  zu  beschäftigen. 
Allerdings  werden  hier  vielfach  ursächliche  Zusammenhänge  an- 
genommen, die  sich  bei  genauerer  Betrachtung  als  irrig  erweisen. 
Insbesondere  können  Kopfverletzungen,  die  in  einem  epileptischen 
oder  paralytischen  Anfalle  stattgefunden  haben,  als  die  Ursache 
des  späterhin  deutlicher  hervortretenden  Leidens  angesehen  werden. 
Es  gibt  indessen  einige  Krankheitsbilder,  aus  deren  Eigenart  sich 
mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  der  Rückschluß  auf  eine  er- 
littene Schädelverletzung  ziehen  läßt,  ein  Beweis  dafür,  daß  hier 
wirklich  ursächliche  Beziehungen  vorliegen.  Während  sich  un- 
mittelbar an  die  Schädigung  traumartige  Bewußtseinstrübungen 
mit  Auffassungs-  und  Merkstörung,  retrograder  Amnesie,  Er- 
innerungsfälschungen und  deliranten  Zügen  anzuschließen  pflegen, 
entwickeln  sich  späterhin  vorwiegend  Zustandsbilder  mit  den 
Zeichen  verminderter  psychischer  Widerstandsfähigkeit,  oft  auch 
vasomotorischen  Störungen.  Dazu  gesellen  sich  dann  sehr  häufig 
allerlei  psychogene  Erscheinungen,  so  daß  es  nicht  selten  recht 
schwierig  wird,  ihren  Anteil  am  Gesamtzustande  von  demjenigen 
zu  trennen,  der  unmittelbar  durch  die  Verletzung  des  Hirns  be- 
dingt ist.  Ist  es  zu  tiefergreifenden  Zerstörungen  mit  Narbenbil- 
dung gekommen,  so  entsteht  der  traumatische  Schwachsinn,  der 

1)  Finkh,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXIII,  804. 

2)  Werner,  Vierteljahrsschr.  f.  gerichtl.  Medizin,  XXIII,  Suppl.  1902;  Meyer, 
American  Journal  of  insanity,  1904,  Januar. 


Hirnkrankheiten. 


27 


durch  mehr  oder  weniger  umfassende  körperliche  und  seeHsche 
Ausfallserscheinungen  gekennzeichnet  und  oft  von  epileptischen 
Störungen  begleitet  ist.  Den  traumatischen  Delirien  ähneln  die 
psychischen  Erkrankungen  nach  Erhängungsversuchen,  wenn  sie 
auch  in  der  Regel  rascher  und  günstiger  zu  verlaufen  pflegen, 
wohl  entsprechend  der  geringeren  Schwere  der  Hirnschädigung. 

Eine  weitere  klinische  Gruppe  bildet  der  Schwachsinn  nach 
Apoplexie,  der  in  der  Regel  den  Stempel  einer  einfachen  psychischen 
Lähmung,  nach  Umständen  mit  aphasischen  und  apraktischen 
Störungen,  trägt  und  nur  beim  Auftreten  von  Erregungszuständen 
in  die  Hand  des  Irrenarztes  zu  gelangen  pflegt.     Ähnliches  gilt 
von  der  multiplen  Sklerose;  auch  die  seltenere  Form  der  umschrie- 
benen Hirnsklerose  verläuft  gewöhnlich  mehr  unter  dem  Bilde 
eines  Hirnleidens,  als  einer  Geistesstörung.  Stärker  in  den  Vorder- 
grund treten  dagegen  die  psychischen  Störungen  bei  gewissen 
Verblödungsformen,  die  ihre  Grundlage  in  ausgebreiteten  Erkran- 
kungen der  Hirnrinde  haben,  namentlich  bei  den  arteriosklero- 
tischen und  syphilitischen  Gefäßerkrankungen  und  einigen  diffusen, 
vielfach  familiären  Erkrankungen  des  gesamten  Nervensystems, 
deren  bekannteste  'die  H  u  n  t  i  n  g  t  o  n  sehe  Chorea  ist.  D  lese  letzteren 
bilden  pathologisch  -  anatomisch  wie  klinisch   den  Übergang  zu 
denjenigen  Hirnerkrankungen,  die  wir  ohne  weiteres  dem  Gebiete 
der  psychischen  Störungen  zuzuweisen  pflegen,  zur  Paralyse  und 
zum  Altersblödsinn,  zur  Epilepsie  und  zur  Dementia  praecox.  — 
Das   leuchtende   Vorbild   der   Hirnpathologie   und  besonders 
der  Aphasielehre  muß  auch  dem  Irrenarzte  den  Gedanken  nahe 
legen,  daß  die  Seelenvorgänge  an  bestimmte  Orte  des  Hirnes, 
insbesondere  der  Rinde,  gebunden  sind.   Die  allgemeine  Möglich- 
keit einer  derartigen  örtlichen  Umgrenzung  kann  bei  dem  heutigen 
Stande  der  Lokalisationsfrage^)  nicht  wohl  mehr  in  Zweifel  ge- 
zogen werden,  ja,  es  gibt  Tatsachenreihen  der  verschiedensten 
Art,  die  uns  immer  mehr  zu  der  Annahme  drängen,  daß  unsere 
Hirnrinde  sich  aus  einer  großen  Zahl  von  Einzelorganen  mit  be- 

1)  Luciani  u.  Seppilli,  Die  Funktionslokalisation  auf  der  Großhirnrinde, 
deutsch  V.  Frankel.  1886;  v.  Monakow,  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Frage 
nach  der  Lokalisation  im  Großhirn,  Ergebnisse  der  Physiologie,  I,  533-  1902;  VI, 
334,  1907;  Hitzig,  Alte  und  neue  Untersuchungen  über  das  Gehirn,  Arch.  f. 
Psychiatrie,  XXXIV,  XXXV,  XXXVI,  XXXVII,  auch  in  den  gesammelten  Abhand- 
lungen. 1904;  Tschermak,  Nagels  Handb.  d.  Physiologie,  IV,  i,  S.  14^^- 


28 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


sonderen  Aufgaben  zusammensetzt.  Soviel  sich  heute  übersehen 
läßt,  kommt  von  ihnen  für  die  einfache  Auffassung  von  Sinnes- 
reizen wie  für  die  Auslösung  von  Bewegungen  nur  ein  verhältnis- 
mäßig kleiner  Teil  in  Betracht,  so  daß  wir  für  die  übrigen  ausge- 
dehnten Gebiete  nähere  und  in  der  mannigfaltigsten  Weise  ge- 
gliederte Beziehungen  zu  den  höheren  Seelenvorgängen  vermuten 
dürfen. 

Einen  beachtenswerten  Hinweis  auf  derartige  Zusammenhänge 
gibt  uns  schon  die  Entwicklung  der  Hirnrinde  in  der  Tierreihe, 
die  im  großen  und  ganzen  vollkommen  der  immer  reicheren  Ent- 
faltung des  geistigen  Lebens  entspricht.    Schon  die  Vergrößerung 
k  der  Hirnoberfläche  durch  das  Auftreten  von  Furchen  und  Wülsten, 

die  bei  den  höheren  Affen  und  namentlich  beim  Menschen  so 
sehr  in  die  Augen  fällt,  deutet  auf  allgemeine  Beziehungen  dieses 
höchstentwickelten  Hirnteiles  zu  den  seelischen  Leistungen  hin. 
Es  läßt  sich  aber  ferner  erkennen,  daß  manche  Gebiete  der  Hirn- 
rinde sich  besonders  stark  vergrößern.  Vor  allem  gilt  dies  vom 
Stirnhirn,  das  beim  Menschen  eine  mächtige  Ausdehnung  gewinnt; 
aber  auch  die  Scheitelgegend  scheint  bei  den  höchststehenden 
Tieren  ihre  Umgebung  einigermaßen  zu  überflügeln.  Andererseits 
erfahren  Rindenteile,  denen  für  unser  Seelenleben  offenbar  keine 
wesentliche  Bedeutung  mehr  zukommt,  eine  sehr  starke  Rück- 
bildung, so  die  Riechrinde  und  das  Ammonshorn, 

Gerade  diese  letzten  Beispiele  lehren  uns  die  Abhängigkeits- 
verhältnisse zwischen  Hirnbau  und  Bedeutung  einzelner  Sinnes- 
gebiete im  Seelenleben  kennen;  ganz  ähnliche  Beziehungen  be- 
stehen unzweifelhaft  auch  zu  den  Bewegungsleistungen.  Die  Hirn- 
rinde eines  Gesichtstieres  ist  wesentlich  verschieden  von  derjenigen 
eines  Geruchstieres,  und  ein  Wesen,  das  eine  solche  Fülle  fein  ab- 
gestufter Willensbewegungen  auszuführen  vermag  wie  ein  Menschen- 
affe, verfügt  über  Organe,  die  ein  einfaches  Lauftier,  wie  Rind  oder 
Schaf,  nicht  besitzt. 

Ganz  grobe  derartige  oder  ähnliche  Verschiedenheiten  können 
sich  schon  in  der  äußeren  Form  des  Hirnmantels,  ja  unter  Um- 
ständen sogar  im  Bau  des  Schädels  ausprägen.  Solche  Beobach- 
tungen haben  seinerzeit  Gall  zu  dem  Versuche  geführt,  auch 
beim  Menschen  aus  der  Betrachtung  des  Hirns  und  Schädels, 
weiterhin  aus  der  äußeren  Kopfform,  Schlüsse  auf  geistige  Eigen- 


Rindenlokalisation. 


29 


Schäften  herzuleiten.  Als  Anhaltspunkte  für  die  Verknüpfung 
der  Formabweichungen  mit  bestimmten  seelischen  Eigenschaften 
dienten  ihm  einerseits  der  Vergleich  mit  den  Gehirnen  solcher 
Tiere  die  irgendeine  Fähigkeit  in  besonders  hohem  Grade  zu 
besitzen  schienen,  sodann  aber  die  Untersuchung  möglichst  zahl- 
reicher Personen,  deren  Seelenleben  nach  irgendeiner  Richtung 
hin  auffallende  Züge  darbot;  die  hier  beobachteten  Eigentüm- 
lichkeiten der  Schädelform,  Einsenkungen ,  Vorwölbungen,  galten 
ihm  dann  als  Hinweis  auf  den  Sitz  bestimmter  Seeleneigen- 
sclis-f  tcn. 

Der  allgemeine  Satz,  der  die  Voraussetzung  der  Gallschen  Schä- 
dellehre darstellt,  daß  die  Ausbildung  bestimmter  geistiger  Leistungen 
mit  der  Vervollkommnung  umschriebener  Hirnteile  Hand  m  Hand 
gehen  muß,  ist  durch  die  Fortschritte  unseres  Wissens  eher  be- 
stätigt als  erschüttert  worden.    Dennoch  vermögen  wir  die  harte 
Verurteilung,  die  seine  Anschauungen  neben  überschwänglicher 
Lobpreisung  schließlich  gefunden  haben,  wohl  zu  begreifen.  Sehen 
wir  ganz  ab  von  dem  sehr  unvollkommenen  Parallelismus  zwischen 
äußerer  und  innerer  Schädeloberfläche,  auch  von  der  Verborgen- 
heit der  inneren  und  der  Grundflächen  des  Gehirns,  so  ist  ein- 
mal zu  betonen,  daß  sich  die  Vergrößerung  eines  umschriebenen 
Hirnteiles  zunächst  nicht  in  einer  örtlichen  Vorwölbung,  sondern 
in   einer  seitlichen  Verdrängung  der  benachbarten  Teile  kund- 
gibt, daß  also  höchstens  die  allgemeine  Form  des  Hirns  eine 
naturgemäß   sehr   schwer   erkennbare  Veränderung  zu  erleiden 
braucht.     Sodann  aber  ist  es  gewiß  äußerst  unwahrscheinlich, 
daß  irgend  höhere  geistige  Leistungen  an  eng  umgrenzte  Stellen 
des   Hirnmantels    gebunden   sein  sollten;    vielmehr  spricht  die 
schon   bei    einfachen  Wahrnehmungen  und  Willenshandlungen 
eintretende  Verknüpfung  von  Seelenvorgängen  verschiedener  Art 
für   ein   stetes   Zusammenwirken   mannigfaltiger  Rindenorgane. 
Die  von  G all  über  die  Hirnoberfläche  verteilten,  der  herrschenden 
Lehre   von   den   Seelenvermögen   entsprechenden  Eigenschaften 
sind  zumeist  so  verwickelte,  daß  von  einem  Sitz  derselben  an  den 
ihnen  angewiesenen,   eng  umschriebenen   Orten  schlechterdings 
nicht  die  Rede  sein  kann.    Zudem  ist  übrigens  Gall  in  seinen 
phrenologischen  Beobachtungen  und  Schlußfolgerungen  vielfach 
mit  äußerster  Willkür  verfahren. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

In  zielbewußtem  Anschlüsse  an  Gall  hat  neuerdings 
Möbius^)  versucht,  eine  besondere  geistige  Fähigkeit,  die  , .An- 
lage zur  Mathematik",  an  eine  umschriebene  Hirngegend,  die 
vorderen  Teile  der  ersten  und  zweiten  Stirnwindung  der  linken 
Seite,  zu  knüpfen.  Er  ist  dabei  ähnlich  verfahren  wie  Gall 
und  hat  sich,  wie  es  ja  auch  kaum  anders  möglich  war,  wesentlich 
auf  die  Feststellung  gestützt,  daß  die  entsprechende  Schädel- 
gegend bei  vielen  hervorragenden  Mathematikern  eine  Vorwöl- 
bung zeigte.  Auch  bei  den  bildenden  Künstlern,  den  Musikern 
und  Mechanikern  hat  er,  ebenfalls  den  Angaben  Galls  folgend, 
kennzeichnende  Vorwölbungen  in  der  Stirn-  und  Schläfengegend  auf- 
gefunden. Es  hat  nicht  fehlen  können,  daß  alle  Einwände,  die  gegen 
Gall  gemacht  worden  sind,  auch  diesem  Versuche  einer  Erneuerung 
der  alten  Schädellehre  entgegengehalten  wurden.  Mir  scheint,  daß 
unsere  Unsicherheit  in  den  Lokalisationsfragen  selbst  dort,  wo  uns 
unvergleichlich  vielseitigere  und  zuverlässigere  Hilfsmittel  für  ihre 
Lösung  zu  Gebote  stehen,  einstweilen  nicht  gerade  zur  Wieder- 
aufnahme des  trügerischen  Gall  sehen  Verfahrens  ermutigen  kann. 

Weit  eher,  als  von  einer  Betrachtung  der  äußeren  Form,  dürfen 
wir  von  der  Erforschung  des  feineren  Baues  der  Hirnrinde  Aufschluß 
über  ihre  Gliederung  in  einzelne  Organe  erwarten.  Der  eigentlich 
kennzeichnende  Bestandteil  der  Hirnrinde  sind  die  Nervenzellen  mit 
ihrem  ungeheuren  Netzwerk  verflochtener  Fortsätze.  Allerdings 
treten  die  Zellkörper  im  Rindenbilde  des  Erwachsenen  verhältnis- 
mäßig weniger  stark  hervor  als  beim  Neugeborenen  und  beim  Tiere ; 
sie  sind  durch  sehr  viel  stärker  entwickeltes  nervöses  Zwischen- 
gewebe voneinander  getrennt.  Wir  sind  jedoch  berechtigt,  anzu- 
nehmen, daß  die  Vermehrung  des  Zwischengewebes  wesentlich  oder 
ausschließlich  durch  eine  weitere  Verästelung  der  Zellenfortsätze  be- 
dingt wird,  also  einer  reicheren  Entwicklung  der  Nervenzellen  selber 
entspricht.  Wenn  somit  das  Auseinanderweichen  der  Rindenzellen 
uns  wahrscheinlich  besonders  eindringlich  auf  die  hohe  Bedeutung 
jener  Gewebsbestandteile  für  das  Seelenleben  hinweist,  so  werden 
wir  in  ihrem  Verhalten  vor  allem  nach  Anhaltspunkten  für  die  An- 
nahme örtlicher  Verschiedenheiten  in  den  Leistungen  der  Hirnrinde 
zu  suchen  haben. 

1)  Möbius,  über  die  Anlage  zur  Mathematik.  1900;  Über  Kunst  und  Künstler. 
1901. 


Rindenlokalisation.  3^ 

In  der  Tat  ergeben  sich  uns  hier  ohne  weiteres  zwei  Haupt- 
tatsachen, die  von  höchster  Bedeutung  für  unsere  Frage  sein 
dürften    Die  erste  Beobachtung,  die  sich  uns  aufdrangt,  ist  die 
außerordentliche  Verschiedenheit   der   Nervenzellen  in 
der  Hirnrinde.    Durch  Nissls  Untersuchungen  wissen  wir  nicht 
nur   daß  der  Bauplan  jener  Zellen  kein  einheitlicher  ist,  sondern 
auch  daß  dort,  wo  wir  ihre  Verrichtungen  kennen,  ähnliche  Formen 
wiederkehren.    Mit   anderen   Worten,    der   Verschiedenheit  des 
Baues  entspricht  eine  Verschiedenheit  der  Leistung,   em  Satz 
der  für  alle  anderen  Körperzellen  ganz  selbstverständlich  erscheint 
und  nur  auf  dem  Gebiete  des  Nervengewebes  sich  auffallend  schwer 
Geltung  verschafft.    Wenn  man  jedoch  die  zahlreichen  gesetz- 
mäßigen Verschiedenheiten  in  Größe,  Umriß  und  innerem  Aufbau 
der  Nervenzellen  betrachtet,  so  wird  es  völlig  unmöglich,  dann 
etwas  anderes  zu  sehen,  als  den  Ausdruck  einer  verschiedenen 

Bestimmung.  .       o-  n  • 

Dafür  spricht  auch  die  Anordnung  der  Zellen  in  der 
Rinde.    Fast  überall  finden  wir  kleinere  oder  größere  Mengen 
gleichartiger  Rindenbestandteile   zu  einheitlichen  Gruppen  und 
Schichten  verbunden;  seltener  mischen  sich  Zellen  verschiedener 
Bauart  untereinander.  In  der  Tierreihe  bietet  der  Bau  der  Rinden- 
zellen wie  ihre  Anordnung  die  größten  Verschiedenheiten  dar. 
Während  gewisse  Formen  der  Nervenzellen,  wie  die  großen  Ge- 
bilde der  motorischen  Centren,  schon  bei  niederen  Wirbeltieren, 
wenn  auch  nicht  in  der  Rinde,  auftreten,  erscheinen  die  kleinen 
Zellen  der  zweiten  Schicht  erst  beim  Affen  und  vor  allem  beim 
Menschen.    Hier  bilden  sie  eine  riesige  Lage,  von  der  beim  Ka- 
ninchen auch  nicht  eine  Spur  vorhanden  ist.  Aber  auch  die  großen 
Pyramidenzellen  zeigen  beim  Menschen  einen  durchaus  eigen- 
artigen Bau;  sie  sind  zudem  durchschnittlich  kleiner,  als  z.  B.  die 
entsprechenden  Zellen  des  Kaninchens.  Wir  werden  kaum  zweifeln 
können,  daß  diese  freilich  noch  wenig  bekannten  Unterschiede  in 
irgendeiner    Beziehung    zu    der    verschiedenen    Ausbildung  des 
Seelenlebens  stehen  müssen. 

Endlich   hat   Nissli)    gezeigt,    daß    verschiedene  Zellarten 
durch   Gifte   in   verschiedener   Weise   beeinflußt  werden 


1)  Nissl,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  i. 


22  !•  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

« 

können.  Während  z.  B.  der  Alkohol  die  meisten  Bestandteile  der 
Hirnrinde  auf  das  schwerste  schädigt,  läßt  er  die  großen  Zellen 
des  Ammonshorns  fast  gänzlich  unberührt;  das  Blei  vernichtet 
ebenfalls  den  größten  Teil  der  Rindenzellen,  verändert  aber  nur  in 
sehr  geringem  Maße  die  Spinalganglien.  Auch  beim  Menschen 
läßt  sich  dartun,  daß  allgemeine  Krankheitsursachen  (Infektionen 
Fieber)  die  verschiedenen  Bestandteile  der  Rinde  in  sehr  ver- 
schiedenem Grade  schädigen.  Alle  diese  Erfahrungen  deuten  in 
gleicher  Weise  darauf  hin,  daß  den  Verschiedenheiten  im  Bau  der 
Nervenzellen  eine  tiefere  Bedeutung  zukommt,  und  diese  Be- 
deutung kann   nur   in   ihrer  verschiedenen   Verrichtung  liegen. 

Eine  besondere  Beleuchtung  erfährt  dieser  Satz  durch  die  Tat- 
sache, daß  die  Gruppierung  der  Zellenschichten  in  der  Hirnrinde 
gewisse  durchgreifende  Regelmäßigkeiten  erkennen  läßt.  Nach 
Brodmanns  Untersuchungen  läßt  sich  durch  die  ganze  Säuge- 
tierreihe hindurch  die  Gliederung  der  Hirnrinde  in  sechs  Schichten 
verfolgen,  von  denen  einzelne,  wenn  auch  in  wechselnder  Stärke, 
überall  wiederkehren,  während  andere  verschwinden  oder  sich 
durch  eingeschobene  Zwischenschichten  teilen  können.  Der  Nach- 
weis eines  solchen  allgemeinen  Grundplanes  in  der  Anordnung  der 
Rindenschichten  könnte  darauf  hindeuten,  daß  die  Leistungen  der 
Nervenzellen  verschiedenen  Baues  in  einem  bestimmten  engeren 
Zusammenhange  untereinander  stehen,  etwa  zu  einer  Einheit  ver- 
schmelzen. So  wäre  an  die  regelmäßige  Verknüpfung  von  Emp- 
findungen mit  Gefühlen  und  Willensregungen  zu  denken,  wie  sie 
am  innigsten  in  dem  ursprünglichsten  unserer  Seelenvorgänge,  im 
Triebe,  gegeben  ist;  auch  der  Bildung  allgemeinerer  Vorstellungen, 
Gefühle  oder  Strebungen  aus  der  Verschmelzung  einzelner  sinn- 
licher Erlebnisse  könnte  eine  Zusammenordnung  verschieden- 
artiger Rindenschichten  allenfalls  dienen. 

Die  Anschauung,  daß  der  ganze  Rindenquerschnitt  ein  einheit- 
hches  Werkzeug  darstelle,  ist  bisher  der  Ausgangspunkt  fast  aller 
Versuche  gewesen,  Gebiete  verschiedener  Bedeutung  voneinander 
abzugrenzen.  Nachdem  Gall  die  erste  „landkartenartige"  Eintei- 
lung der  Hirnoberfläche  vorgenommen  hatte,  haben  die  Hitzig- 
schen  Entdeckungen  und  ebenso  die  fast  unübersehbare  Reihe  der 
an  sie  anknüpfenden  Forschungen  wesentlich  immer  wieder  zur 
Aufstellung  flächenhaft  ausgebreiteter  „Centren"  geführt,  ohne 


Rindenlokalisation. 


33 


daß  der  gänzlich  verschiedene  Bau  der  einzelnen  Rindenschichten 
dabei  genügende  Berücksichtigung  gefunden  hätte.   Eine  gewisse 
Berechtigung  scheint  dieser  Auffassung  die  schon  von  Meynert 
angedeutete  und  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Forschern 
mit  größter  Sorgfalt  festgestellte  Tatsache  zu  geben,   daß  sich 
in  der  Hirnrinde  des  Menschen  eine  bedeutende  Zahl  von  Teil- 
gebieten unterscheiden  lassen i),  die  durch  die  Verschiedenheit  ihres 
Schichtenbaues  gekennzeichnet  sind  und  sich  an  manchen  Stellen 
linienscharf  voneinander  abgrenzen.  Sehr  bemerkenswert  ist  dabei, 
daß  diese  Gebiete  nur  in  ziemlich  lockeren  räumlichen  Beziehungen 
zu  den  Furchen  und  Wülsten  der  Hirnoberfläche  stehen.  Ihre 
Lage  kann  daher  bei  verschiedenen  Tierarten  wesentliche  Ver- 
schiebungen erfahren,  ein  schlagender  Beweis  für  die  Unsicherheit 
der  Schlüsse,  die  etwa  aus  der  Ausbildung  gewisser  Hirnwindungen 
auf  die  Befähigung  zu  bestimmten  seelischen  Verrichtungen  ge- 
zogen werden.   Dagegen  lassen  einzelne  der  durch  ihren  feineren 
Bau  gekennzeichneten  Rindengegenden  schon  heute  unzweifel- 
hafte Beziehungen  zu  besonderen  Leistungen  erkennen.  Dahin 
gehören  namentlich  die  beiden  scharf  unterscheidbaren  Centrai- 
windungen, von  denen  die  vordere  mit  ihren  großen  Betzschen 
Riesenpyramiden  die  Auslösungsstätten  von  Willkürbewegungen 
enthält,  während  die  viel  schmälere  hintere  mit  breiter  innerer 
Körnerschicht  höchst  wahrscheinlich  Muskel-   und  Gelenkemp- 
findungen übermittelt,  ferner  das  Calcarinagebiet,  das  sich  ebenso 
wie  die  genannten  durch  die  ganze  Säugetierreihe  hindurch  ver- 
folgen läßt  und  die  Rindenausstrahlung  des  Sehnerven  einschließt. 

Wenn  demnach  der  Schluß  berechtigt  erscheint,  daß  sich  an 
die  örtlichen  Verschiedenheiten  des  Rindenbaues  auch  dort  ver- 
schiedene Leistungen  knüpfen,  wo  wir  über  diese  noch  nichts 
wissen,  so  bleibt  dabei  zunächst  die  Frage  völlig  offen,  ob  als  Träger 
solcher  Verschiedenheiten  überall  der  gesamte  Rindenquerschnitt 
oder  nicht  vielmehr  jene  bestimmten  Schichten  anzusehen  sind, 
durch  deren  Auftreten,  Schwinden  oder  Teilung  im  einzelnen 
Falle  die  Abweichung  von  den  Nachbargebieten  bedingt  wird.  Hin- 

1)  Brodmann,  Journ.  f.  Psycho!,  u.  Neuro!.,  II,  79.  132;  IV,  177;  VI,  108; 
27s;  X,  231;  Vogt,  ebenda  II,  160;  Ramon  y  Cajal,  Studien  über  die  Hirnrinde 
des  Menschen,  deutscti  von  Bresler.  1900— 1906;  Campbell  Clark,  Histological 
studies  on  the  localisation  of  cerebral  functions.  1905. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  3 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

34 

deuten  würde  auf  solche  schichtweise  Umgrenzung  z.  B.  die 
unverkennbare  Verwandtschaft  der  in  den  unteren  Lagen  des 
Bewegungsgebietes  zerstreuten  Riesenpyramiden  mit  den  großen 
motorischen  Zellen  des  Vorderhorns  im  Rückenmark,  sodann  die 
starke  Entwicklung  der  inneren  Körnerschicht  in  denjenigen 
Rindengegenden,  die  wir  als  Endstätten  von  Sinnesnerven  ansehen. 
Ferner  ist  zu  betonen,  daß  die  Abgrenzung  der  verschiedenen 
Rindengebiete  bisweilen  nur  einzelne  Schichten  betrifft,  während 
andere  gar  keine  oder  ganz  allmähliche  Umwandlungen  erfahren. 
Endlich  aber  unterscheiden  sich  die  Schichten  des  Rindenquer- 
schnittes fast  durchgängig  viel  deutlicher  voneinander  als  benach- 
barte Rindengebiete.  Schreiben  wir  also  diesen  letzteren  ver- 
schiedene Verrichtungen  zu,  so  ist  die  Annahme  kaum  zu  um- 
gehen, daß  auch  die  so  stark  voneinander  abweichenden  Zell- 
reihen der  übereinander  gelagerten  Schichten  gesonderte  Aufgaben 
haben  müssen.  Möglich  ist  es  ja,  daß  sie  wie  die  Stimmen  eines 
Musikwerkes  immer  zusammenarbeiten;  gerade  die  immer  deut- 
licher hervortretende  Mannigfaltigkeit  in  der  örtlichen  Zusammen- 
setzung der  Rinde,  das  wechselnde  Auftauchen  und  Schwinden 
einzelner  Zellformen  und  Schichten,  scheint  mir  indessen  mehr 
für  eine  gewisse  Selbständigkeit  dieser  letzteren  zu  sprechen.  Wir 
hätten  uns  unter  diesem  Gesichtspunkte  die  Rinde  als  Aufbau  aus 
einer  Menge  von  über-  und  nebeneinander  gelagerten,  schalen- 
artigen Organen  zu  denken,  die  sehr  verschiedene  Ausdehnung, 
Gestalt  und  Zellformen  besitzen.  Es  gibt  sogar  Erfahrungen  an 
Hemmungsbildungen,  die  dafür  sprechen,  daß  auch  innerhalb 
ein  und  derselben  Schicht  noch  Zellen  von  verschiedener  Bedeu- 
tung zwischeneinander  liegen  können. 

Die  einzige  Lokalisationslehre,  welche  dem  geschichteten  Bau 
der  Hirnrinde  gerecht  zu  werden  versucht,  ist  diejenige  von 
Wernicke,  der  das  Bewußtsein  der  KörperHchkeit  in  die  der 
Markleiste  zunächst  stehende  Zellenschicht  verlegt  und  das  von 
ihm  vermutete  Fortschreiten  des  paralytischen  Krankheitsvor- 
ganges von  der  äußersten  Rindenschicht  nach  innen  in  Beziehung 
setzt  zu  der  aufeinanderfolgenden  Störung  des  Bewußtseins  der 
Persönlichkeit,  der  Außenwelt  und  der  Körperlichkeit.  Er  be- 
spricht die  Annahme,  daß  ,,eine  Art  schichtenweiser  Ablagerung 
der  Vorstellungen,  ähnlich  den  Sedimentbildungen  der  jüngsten 


Rindenlokalisation. 


35 


Erdschichten"  stattfinde,  das  Bewußtsein  der  Persönlichkeit  dem- 
nach als  „die  jüngste  Bildung"  in  die  äußerste  Rindenschicht 
zu  verlegen  sei,  und  lehnt  sie  nur  deswegen  ab,  weil  spät  erwor- 
bene Erinnerungsbilder  durch  Herderkrankungen  gruppenweise  zer- 
stört werden  können,  was  die  Zerstörung  einer  einzelnen  Schicht 
ohne  Verletzung  der  benachbarten  bedeuten  würde.  Jede  der  Ein- 
heiten, welche  die  hier  vorgenommene  Dreiteilung  des  Bewußtseins- 
inhaltes schafft,  ist  sicherlich  aus  einer  solchen  Mannigfaltigkeit 
seelischer  Bestandteile  zusammengesetzt,  daß  ihnen  unmöglich  die 
Gliederung  der  Hirnrinde  in  einige  Schichten  entsprechen  kann; 
auch  die  weitgehenden  örtlichen  Verschiedenheiten  des  Rinden- 
baues sprechen  sehr  entschieden  gegen  eine  so  einfache  Auffassung. 

In  weit  geringerem  Maße,  als  die  „Cytoarchitektonik"  der 
Rinde,  die  Anordnung  der  Nervenzellen,  ist  zumeist  diejenige  der 
Fasern,    die    „Myeloarchitektonik",   verwertet  worden,   um  uns 
einen   tieferen  Einblick   in  die  örtlichen  Verschiedenheiten  des 
Rindenbaues  zu  liefern,  obgleich  die  wechselnde  Beteiligung  von 
dünneren  und  dickeren  Fasern,  ihre  Gruppierung  und  die  Rich- 
tung ihres  Zuges  bestimmte  Beziehungen  zu  den  Schichtungs- 
gebieten aufzuweisen  scheint.   Genauere  Aufschlüsse,  als  die  rein 
anatomische  Betrachtung,  haben  bisher  die  Beobachtungen  über 
die  sekundäre  Entartung  von  Fasern  und  Zellen  nach  Ausschnei- 
dungen und  Durchtrennungen  geliefert.    Diesem  von  Guddens 
Hand  zuerst  in  weitestem  Umfange  zur  Erforschung  des  Hirn- 
baues angewandten  Verfahren  verdanken  wir  die  ersten  unzweifel- 
haften Aufschlüsse  über  die  Abhängigkeit  einer  bestimmten  Bahn, 
der  Pyramiden,  von  umgrenzten  Stellen  der  Hirnrinde.  Seiner 
weiteren  Verwertung  zur  Aufklärung  des  feineren  Rindenbaues 
steht  einigermaßen  der  Umstand  im  Wege,  daß  es  hier  nicht  mög- 
lich ist,  einzelne  Organe  völlig  und  zugleich  gesondert  zu  zerstören, 
ferner,  daß  eine  sekundäre  Entartung  zugehöriger  Gebiete  nur  dann 
einzutreten   scheint,    wenn    ganz   einseitige  Abhängigkeitsbezie- 
hungen bestehen,  ein  Fall,  der  in  der  Rinde  höchstens  hinsichtlich 
der  unmittelbaren  Stabkranzverbindungen  zutreffen  dürfte.  Immer- 
hin konnte  Nissl  bei  jungen  Kaninchen  nachweisen,  daß  durch 
Lostrennung  der  Rinde  aus  allen  ihren  nervösen  Verbindungen 
ganz  vorzugsweise  die  beiden  unteren  Schichten  in  ihrer  Ausbil- 
dung geschädigt  wurden. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Auch  die  Entwicklungsgeschichte  hat  ungemein  wichtige  Bei- 
träge zur  Kenntnis  der  örtlichen  Verschiedenheiten  des  Rinden- 
baues geliefert.  Brodmann  konnte  für  manche  Gegenden  die 
Schichtenbildung  aus  der  ursprüngHch  überall  gleichförmigen  An- 
ordnung dicht  gedrängter  senkrechter  Zellreihen  verfolgen.  Er 
fand,  daß  der  späteren  Mannigfaltigkeit  regelmäßig  ein  sechs- 
schichtiger Durchgangszustand  vorausging,  dem  das  Ausein- 
anderrücken und  Schwinden  einzelner  Schichten,  ihre  Teilung 
durch  Einschieben  von  Zwischenschichten  oder  durch  verschieden- 
artige Entwicklung  ihrer  Bestandteile  folgte.  Die  Unterschiede 
der  einzelnen  Rindengebiete  treten  bei  unfertigen  Gehirnen  mit 
überraschender  Deutlichkeit  hervor. 

Zur  Aufstellung  einer  reich  gegliederten  Hirnrindenkarte  ist 
sodann  Flechsig^)  durch  die  entwicklungsgeschichtliche  Ver- 
folgung der  Markscheidenentwicklung  im  Gehirn  gelangt.  Sein 
Verfahren  stützt  sich  vor  allem  auf  die  Beobachtung,  daß  die  Um- 
hüllung der  Achsencylinder  mit  Markscheiden  in  verschiedenen 
Gegenden  des  Stabkranzes  und  der  Rinde  zu  sehr  verschiedener 
Zeit  erfolgt.  Flechsig  nimmt  an,  daß  diese  Unterschiede  in 
innigstem  Zusammenhange  mit  der  Funktion  der  Faserzüge  stehen, 
daß  Bündel  mit  gleicher  Bestimmung  zu  gleicher  Zeit  markreif 
werden  und  umgekehrt.  Da  er  ferner  zu  der  Überzeugung  kam, 
daß  nur  bestimmte  Gegenden  der  Hirnrinde  Stabkranzbündel  auf- 
weisen, während  in  anderen  wesentlich  nur  Verbindungszüge  zu 
anderen  Rindengebieten  auftreten,  so  schloß  er,  daß  die  Rinde  in 
Stabkranzfelder  und  in  Binnenfelder  zu  zerlegen  sei.  Zu  den 
ersteren  gehören  namentlich  die  ,, Sinnescentren",  welche  die  Ver- 
bindung mit  der  Außenwelt  herstellen,  dann  auch  das  zugleich 
motorische  Gebiet  der  Centraiwindungen.  Die  in  den  Binnen- 
feldern liegenden  ,, Assoziationscentren"  umfassen  den  Stirnpol 
des  Gehirns  nebst  den  angrenzenden  Teilen  namentlich  der  zweiten 
und  dritten  Stirnwindung,  sodann  die  Scheitelgegend,  übergreifend 
auf  die  Medianfläche,  den  größten  Teil  des  Schläfenlappens,  die 
Unterfläche  und  kleinere  Gebiete  der  Oberfläche  des  Hinterhaupts- 
lappens.   Es  handelt  sich  hier  nach  Flechsigs  Ansicht  um  die- 

1)  Flechsig,  Gehirn  und  Seele,  2.  Aufl.  1896;  Neurol.  Centralbl.,  XVII, 
977;  XIX,  828;  Berichte  der  Sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften,  1904, 
50;  177- 


Rindenlokalisation. 


37 


jenigen  Organe,  in  denen  sich  die  höheren  Seelentätigkeiten,  ins- 
besondere die  assoziativen  Leistungen  abspielen. 

Gegen  diese  Aufstellungen,  die  weite  Verbreitung  gefunden  haben, 
sind  eine  Reihe  der  hervorragendsten  Hirnforscher  aufgetreten, 
Hitzig,  Sachs,  v.Monakow,  Dejerine,  Nissl,  Vogt,  Siemer- 
ling  u.  a.  Sie  haben  zunächst  geltend  gemacht,  daß  der  allgemeine 
Zusammenhang  zwischen  Markreife  und  Funktion  keineswegs  er- 
wiesen sei.  So  tritt  die  Markreifung  auch  bei  Mißbildungen  ein,  die 
jede  Möglichkeit  einer  Funktion  ausschließen;  ferner  fand  Brod- 
mann große  Unregelmäßigkeiten  in  der  zeitlichen  Folge  von  Zell- 
reifung und  Markumhüllung  der  zugehörigen  Fasern.  Weiterhin  ist 
bestritten  worden,  daß  die  Markreifung  wirklich  regelmäßig  in  ab- 
grenzbaren Faserzügen  erfolge;  vielmehr  schreite  der  Reifungs- 
vorgang in  weiten  Gebieten  ganz  allmählich  und  gleichmäßig  fort, 
greife  auch  wohl  von  einem  Punkte  auf  die  benachbarte  Gegend 
über.  Endlich  aber  wurde  vielfach  betont,  daß  die  Ausbreitung 
des  Stabkranzes  in  der  Rinde  durchaus  nicht  die  von  Flechsig 
behaupteten  Unterschiede  erkennen  lasse.  Damit  würde  aber  die 
Einteilung  der  Rinde,  die  nach  Flechsig  anfangs  neun,  später 
vierzig  und  dann  sechsunddreißig  verschiedene  Felder  enthalten 
sollte,  hinfälHg.  Daß  darum  die  Ergebnisse  der  Markreifungs- 
forschung, die  sich  in  manchen  Punkten  mit  denen  andersartiger 
Beobachtungen  decken,  innerhalb  der  Fehlergrenzen  des  Verfah- 
rens ihren  Wert  behalten,  bedarf  keiner  weiteren  Ausführung. 

Um  die  Bedeutung  der  örtlichen  Verschiedenheiten  im  Rinden- 
bau für  die  Leistungen  aufzudecken,  stehen  uns  im  allgemeinen 
zwei  Wege  offen:  wir  können  uns  an  die  Erscheinungen  halten, 
welche  die  Reizung  oder  die  Zerstörung  der  einzelnen  Gebiete 
begleiten,  und  zwar  entweder  bei  willkürlichen  Eingriffen,  im 
Tierversuche,  oder  bei  Krankheitsvorgängen.  Die  Entdeckung  von 
Fritsch  und  Hitzig,  denen  es  im  Jahre  1870  zuerst  gelang,  durch 
elektrische  Reizung  der  Rinde  des  Hundes  Bewegungen  auszu- 
lösen, hat  der  Erforschung  der  Beziehungen  zwischen  Rindenbau 
und  Leistung  den  stärksten  Anstoß  gegeben,  und  noch  heute  bildet 
die  Kenntnis  von  der  Lage  der  ,, Centren"  für  eine  große  Zahl 
einfacher  Bewegungen  unseren  sichersten  Besitz  auf  diesem  schwie- 
rigen Gebiete.  Besonders  wichtig  war  es,  daß  die  klinische  Beob- 
achtung  reichliche   Fälle   lieferte,    in   denen  Reizerscheinungen, 


o  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

38 

insbesondere  Krämpfe,  durch  örtliche  Erkrankungen  und  Schädi- 
gungen in  der  Nähe  jener  Centren  hervorgebracht  wurden,  und 
daß  endlich  bei  notwendigen  Eingriffen  vielfach  Gelegenheit  ge- 
geben war,  auch  am  Menschen  die  motorischen  Reizpunkte  auf- 
zusuchen. Hinsichtlich  der  übrigen  Rindenorgane  wissen  wir 
allerdings  über  Reizerscheinungen  sehr  wenig,  doch  werden  Fälle 
berichtet,  in  denen  Gehörstäuschungen  anscheinend  mit  Erkran- 
kungen des  Schläfenlappens  in  Zusammenhang  standen. 

Weit  ergiebigere  Ausbeute  für  die  Verlegung  seelischer  Leistungen 
in  bestimmte  Hirnbezirke  haben  jedenfalls  die  Ausfallserscheinungen 
geliefert,  wenn  sie  auch  lange  keine  so  genaue  Ortsbestimmung 
gestatten.  Zunächst  haben  Tierversuche  Bewegungsstörungen, 
wesentlich  Ungeschicklichkeit  und  Verlust  des  Lagegefühls,  bei 
Verletzung  der  motorischen  Centren  ergeben;  ferner  wurde  Aus- 
fall der  gegenseitigen  Gesichtsfeldhälften  bei  einseitiger  Zerstö- 
rung des  Hinterhauptspols  und  der  Umgebung  der  Fissura  cal- 
carina  festgestellt,  während  Vernichtung  der  ersten  Schläfenwin- 
dung völlige  oder  fast  völlige  Taubheit  des  entgegengesetzten 
Ohres  nach  sich  zu  ziehen  pflegt.  Bei  der  großen  Schwierigkeit 
solcher  Feststellungen  gehen  die  Angaben  der  Forscher  in  den 
Einzelheiten  vielfach  noch  auseinander;  außerdem  zeigen  ver- 
schiedene Tierarten  erhebliche  Unterschiede,  so  daß  eine  Über- 
tragung  auf  den  Menschen  nur  mit  äußerster  Vorsicht  angängig 
ist.  Über  den  Sitz  höherer  seelischer  Vorgänge  haben  die  Tierver- 
suche bisher  fast  gar  keine  verwertbaren  Tatsachen  ergeben.  Nur 
hat  Goltz  die  Beobachtung  gemacht,  daß  Verlust  der  vorderen 
Rindengebiete  bei  Hunden  neben  anderen  Veränderungen  große 
Reizbarkeit  und  planlose  Unruhe  erzeugt,  während  Entfernung 
der  Hinterhauptslappen  im  Gegenteil  Trägheit  und  Stumpfheit 
selbst  bei  vorher  bösartigen  Tieren  zur  Folge  hat. 

An  diesem  Punkte  dürfen  wir  nur  von  der  Beobachtung  am 
Menschen  Fortschritte  erwarten,  nicht  nur,  weil  sein  reicher  ent- 
wickeltes Seelenleben  die  Durchführung  viel  feinerer  Untersu- 
chungen ermöglicht,  sondern  namentlich  deswegen,  weil  wir  hier 
über  das  unvergleichlich  wertvolle  Hilfsmittel  der  inneren  Wahr- 
nehmung verfügen.  Den  Erkrankungen  der  menschlichen  Hirn- 
rinde verdanken  wir  daher  auch  die  bei  weitem  wichtigsten  Er- 
fahrungen über  die  örtliche  Umgrenzung  von  Seelenorganen;  sie 


Rindenlokalisation. 


39 


wurden  gewonnen  vor  allem  durch  die  Erforschung  der  Sprach- 
störungen.   Die  beiden  Grundtatsachen,  an  die  sich  die  heutige, 
ungemein   verwickelte   Lehre   von    den   Sprachstörungen  ange- 
knüpft hat,  sind  einmal  die  hauptsächlich  von  Broca  gemachte 
Entdeckung,  daß  Zerstörung  des  Fußes  der  linken  dritten  Stirn- 
windung Unfähigkeit  zur  Hervorbringung  von  Sprachlauten  ohne 
Lähmung  der  dazu  nötigen  Muskeln,  d.  h.  motorische  Aphasie, 
bewirkt,  andererseits  die  Feststellung  Wernickes,  daß  Ausfall 
des  hinteren  Teiles  der  ersten  linken  Schläfenwindung  Verlust  des 
Wortverständnisses  ohne  Taubheit  bedingt.    Daraus  ergibt  sich 
zunächst,  daß  die  rein  sinnliche  Wahrnehmung  der  Sprachlaute 
an  andere  Rindengebiete  geknüpft  sein  muß,  als  ihr  „Verständ- 
nis", bzw.  daß  für  dieses  letztere  die  Mitwirkung  anderer  Gegenden 
erforderlich  ist. 

In  der  Tat  ergibt  die  psychologische  Betrachtung,  daß  sich  all- 
gemein der  Entstehung  eines  Sinneseindruckes  ein  weiterer  Vorgang, 
seine  Zuordnung  zu  früher  erworbenen  Erinnerungsbildern  oder 
Allgemeinvorstellungen,  hinzugesellen  muß,  wenn  er  von  uns  ver- 
standen werden  soll.  Erst  dieser  Vorgang  gestattet  uns  eine  weitere 
geistige  Verarbeitung  des  neuen  Eindruckes.  Insbesondere  bei  der 
Worttaubheit"  bleibt  das  Gehörte  ein  leerer  Schall,  wie  der  Klang 
einer  fremden  Sprache;  weder  das  Schriftbild  des  Wortes  noch  die 
zugeordnete  innere  Sprachbewegung  und  ebensowenig   die  ent- 
sprechende Sachvorstellung  mit  allen  ihren  Bestandteilen  und  An- 
knüpfungen wird  wachgerufen.  Wir  können  aus  diesen  Erfahrungen 
schließen,  daß  sich  der  Sinnesreiz  von  den  Endstätten  der  Sinnesbahn 
in  der  Rinde  auf  andere,  benachbarte  oder  entferntere  Gebiete  aus- 
breiten muß,  um  dort  durch  eine  Art  von  Mitklingen  diejenigen 
Vorgänge  anzuregen,  die  eine  Anknüpfung  an  früher  erworbenen 
geistigen  Besitz  bedingen.   Nach  der  herrschenden  Annahme  kann 
diese  Ausbreitung  dadurch  verhindert  werden,  daß  die  in  Betracht 
kommenden  Rindengegenden  zerstört  oder  von  den  Endstätten 
der  Sinnesbahnen  abgeschnitten  sind.    Endlich  scheint  es,  daß 
zwar  ein  beschränktes,  rein  lautliches  Verständnis  der  Eindrücke 
stattfinden  kann,  während  doch  die  Auffassung  ihres  Sinnes,  die 
Verknüpfung  mit  Vorstellungen  anderer  Sinnesgebiete  oder  mit 
Willenshandlungen  unmöglich  ist. 

Bei  der  Worttaubheit  handelt  es  sich  vor  allem  um  das  Ver- 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

sagen  der  früher  erworbenen  Wortklangbilder  nebst  den  an  sie 
sich  knüpfenden  sprachlichen  und  sachlichen  Vorstellungsreihen. 
Offenbar  haben  wir  jedoch  hier  nur  einen  Einzelfall  vor  uns,  dessen 
Bedeutung  für  die  Psychiatrie  wesentlich  darin  liegt,  daß  er  all- 
gemeinere Schlüsse  auf  den  Ablauf  des  Wahrnehmungsvorganges 
gestattet.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  nicht  nur  die  Sprachlaute, 
sondern  auch  alle  sonstigen  Gehörseindrücke,  ja  wohl  alle  Sinnes- 
reize überhaupt,  über  die  unmittelbaren  Endstätten  der  Sinnes- 
bahnen hinausdringen  müssen,  um  in  ihrer  Eigenart  erkannt  zu 
werden.  Der  Worttaubheit  würde  die  allgemeinere  Störung  der 
Seelentaubheit  zur  Seite  stehen,  die  auf  doppelseitigen  Erkran- 
kungen im  Schläfenlappen  beruhende  Verständnislosigkeit  für 
Gehörseindrücke.  Ferner  kennen  wir  eine  Seelenblindheit  bei 
doppelseitiger  Zerstörung  der  Hinterhauptsrinde,  die  durch  die 
Unfähigkeit  gekennzeichnet  wird,  gesehene  Dinge  auch  wirklich 
zu  erkennen.  Eine  Unterform  der  Seelenblindheit  bildet  die  an 
linksseitige  Hinterhauptserkrankungen  gebundene  Alexie,  die  Un- 
fähigkeit zu  lesen.  Ob  und  wieweit  auch  auf  den  niederen  Sinnes- 
gebieten entsprechende  Störungen  vorkommen,  ist  bei  deren  ge- 
ringerer Bedeutung  für  die  Bildung  von  Vorstellungen  schwer 
festzustellen. 

Die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  angeführten  Störungen, 
die  wir  mit  Liepmann  unter  dem  Namen  der  ,,Agnosie"i)  zu- 
sammenfassen können,  liegt  in  dem  Ausbleiben  der  mehr  oder 
weniger  weit  ausgebreiteten  seelischen  Resonanz  für  Sinnesein- 
drücke. Dabei  sind  aber  die  einzelnen  Fälle  untereinander  doch 
wieder  verschieden.  Bei  der  Worttaubheit  und  Schriftblindheit 
ist  die  nächste  Aufgabe  des  Erkennungsvorganges  die  Einordnung 
des  Eindruckes  in  eine  bestimmte  Gruppe  fest  eingelernter  Gehörs- 
oder Gesichtsvorstellungen,  die  in  engster  Beziehung  zu  den  Aus- 
drucksbewegungen des  Sprechens  und  Schreibens  stehen.  Gerade 
dieser  letztere  Umstand  bringt  die  Rindengebiete,  in  denen  sich 
jene  Vorstellungen  bilden,  in  Abhängigkeit  von  unserer  Rechts- 
händigkeit. Die  auf  Willkürbewegungen  von  Jugend  auf  in  weit 
höherem  Grade  eingeübte  linke  Hirnhälfte,  die  zudem  das  Schreiben 
ganz  ausschließlich  vollführt,  wird  auch  die  alleinige  oder  doch 


1)  Liepmann,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1908,  609. 


Rindenlokalisation. 


41 


sehr  bevorzugte  Bildungsstätte  aller  jener  Vorstellungen,  die  den 
sprachlichen   Ausdrucksformen    angehören.     Anscheinend  bilden 
sich  hier  Einrichtungen  heraus,  die  ohne  Mitwirkung  höherer  see- 
lischer Tätigkeit  im  Anschlüsse  an  den  äußeren  Eindruck,  den 
Sprachlaut  oder  das  Schriftbild,  ohne  weiteres  das  Auftauchen  des 
entsprechenden  eingelernten  Erinnerungsbildes  und  fernerhin  die 
Auslösung  von  Sprach-  oder  Schreibbewegungen  vermitteln.  Fällt 
dieser  Vorgang  aus,  so  erscheint  die  Sprache  als  unbestimmtes 
Geräusch,  das  Schriftzeichen  als  sinnloses  Gestrichel.   Aber  auch 
im  anderen  Falle,  wenn  wir  Laute  und  Wortbilder  als  solche  richtig 
erkennen,  kann  uns  noch  das  Verständnis  für  ihre  inhaltliche 
Bedeutung  fehlen;  wir  können  „mechanisch"  nachsprechen  und 
lesen,  ohne  daß  der  Sinn  des  Gesprochenen  oder  Gelesenen  zum 
Bewußtsein  kommt.    Soll  dieses  letztere  geschehen,  so  müssen 
wir  nicht  nur  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  dargebotenen  Sinnes- 
eindrücke richten,  sondern  es  müssen  sich  auch  an  sie  diejenigen 
Sachvorstellungen    knüpfen,    deren    Sinnbilder    die  sprachlichen 
Ausdrucksformen  sind. 

Wir  haben  somit  neben  einer  sinnlichen  Agnosie,  der  Unfähig- 
keit, die  Eindrücke  in  ihrer  sinnlichen  Eigenart  zu  erfassen,  noch 
eine  weitere  Form  zu  unterscheiden,  die  wir  nach  Liepmanns 
Vorschlag  als  „ideatorische"  Agnosie  bezeichnen  können.  Dieser 
Form  gehört  die  Seelenblindheit  und  die  Seelentaubheit  im  weiteren 
Sinne  an.    Die  Scheidung  zwischen  sinnlicher  und  ideatorischer 
Agnosie  bedeutet  heute  für  uns  auch  die  Grenze  für  die  Anknüp- 
fung der  Störungen  an  bestimmte  Rindenbezirke.    Wir  dürfen 
vielleicht  annehmen,  daß  es  eine  Reihe  sehr  einfacher  und  fest 
eingeübter  Erkennungsvorgänge  gibt,  die  nahezu  oder  ganz  unab- 
hängig von  unserer  Aufmerksamkeit  ablaufen;  namentlich  dürfte 
es  sich  um  solche  Wahrnehmungen  handeln,  die  in  irgendeiner 
Weise  mit  der  Auslösung  von  Bewegungen  verknüpft  sind,  wie  die 
Sprach-  und  Musiklaute  und  deren  Sinnbilder,  andererseits  sehr 
gefühlsstarke  Eindrücke.    In  allen  diesen  Fällen  scheint  das  Er- 
kennen an  Rindengebiete  geknüpft  zu  sein,  die  den  Endstätten 
der  Sinnesbahnen  benachbart  sind;  vielleicht  gilt  das  für  das  sinn- 
liche Erkennen  überhaupt.    Nahe  Verknüpfung  mit  Ausdrucks- 
bewegungen begünstigt  zudem  noch  die  Beschränkung  des  Rinden- 
gebietes auf  eine  Hirnhalbkugel.    Dagegen  haben  wir  uns  wohl 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

42 

den  Vorgang  des  ideatorischen  Erkennens  schwerlich  als  so  eng 
räumlich  begrenzt  zu  denken.  An  ihm  sind  so  verschiedene  see- 
lische Gebiete  beteiligt,  daß  wir  als  seine  Grundlage  weit  über 
die  Hirnrinde  verbreitete  Vorgänge  anzunehmen  veranlaßt  sind. 
Tatsächlich  beobachten  wir  auch  die  ideatorischen  Formen  der 
Agnosie  nicht  bei  umschriebenen,  sondern  nur  bei  weit  ausgebrei- 
teten Erkrankungen. 

Ganz  ähnliche  Erwägungen  lassen  sich  an  die  Tatsachen  der 
motorischen  Aphasie  anknüpfen.   Die  Unfähigkeit,  Sprachlaute  zu 
äußern  oder  Schriftzeichen  niederzuschreiben,   ist  nur  eine  be- 
sondere Form  jener  allgemeineren  Störung  der  Apraxie,  deren 
Wesen   durch    Liepmanns   Untersuchungen   besonders  geklärt 
worden  ist.   Nach  seinen  Darlegungen  haben  wir  vor  allem  zwi- 
schen ideatorischer  und  motorischer  Apraxie  zu  unterscheiden. 
Die   Voraussetzung   jeder   Willenshandlung   ist   die  Vorstellung 
einmal  von  deren  Endziel,  dann  aber  von  allen  Einzelvorgängen, 
die  zur  Verwirklichung  des  Zieles  ablaufen  müssen.    Jeder  dieser 
Einzelvorgänge,  die  sich  in  eine  beliebige  Zahl  zeitlich  einander 
folgender  Abschnitte  zerlegen  lassen,  setzt  außerdem  das  stetige 
Zusammenwirken  von  Wahrnehmung  und  Bewegung  voraus,  in- 
sofern sich  die  Bewegung  in  jedem  Augenblicke  der  erreichten 
Sachlage   anzupassen,   Störungen   auszugleichen,    Hindernisse  zu 
beseitigen,  neue  Wege  einzuschlagen,  innezuhalten  hat.    Die  Ge- 
samtheit der  Teilzielvorstellungen,  in  denen  die  geplante  Willens- 
handlung zusammengefaßt  wird,  bildet  nach  Liepmanns  Aus- 
druck die  „Bewegungsformel".     Die  Bewegungsformel  kann  von 
vornherein  falsch  oder  unvollkommen  sein,  oder  es  können  bei 
ihrer  Verwirklichung  Auslassungen,  Zusätze,  Verschiebungen  ein- 
treten,  so   daß   die   beabsichtigte   Handlung   gar  nicht  oder  in 
verstümmelter,  unreiner  oder  verschobener  Form  zur  Ausführung 
gelangt.    In  allen  diesen  Fällen  haben  wir  es  mit  ideatorischer 
Apraxie  zu  tun,  der  etwa  die  paraphasischen  und  paragraphischen 
Störungen  entsprechen  würden.   Wie  bei  der  ideatorischen  Agnosie 
ist  eine  Verknüpfung  dieser  Apraxieformen  mit  der  Zerstörung 
umschriebener  Rindengebiete  zurzeit  nicht  möglich.   Da  aber  bei 
den  Verfälschungen  der  Bewegungsformel  vielfach  auch  leichtere 
oder  schwerere  agnostische  Störungen  eine  Rolle  spielen  können 
und  die  Hauptsinnesgebiete  mehr  in  den  hinteren  Hirnabschnitten 


Rindenlokalisation. 


43 


zu  suchen  sind,  so  scheint  die  ideatorische  Apraxie  mehr  auf  Er- 
krankungen dieser  Gegenden  hinzudeuten.  Sie  ist  regelmäßig 
eine  ganz  allgemeine  Störung,  als  deren  Grundlage  wir  daher 
auch  weit  ausgebreitete  Rindenerkrankungen  voraussetzen  dürfen. 

Ist  nicht  die  Aufstellung  der  Bewegungsformel,  sondern  deren 
Umsetzung  in  wirkliches  Handeln  gestört,  so  entsteht  die  mo- 
torische Apraxie.     Wie  es  scheint,  kann  diese  Störung  dadurch 
zustande  kommen,  daß  die  Teilantriebe,  welche  die  aus  dem  Zu- 
sammenwirken weiter  Hirngebiete  entstandene  Bewegungsformel 
wachruft,   nicht   die   eigentlichen   Auslösungsstätten   der  Bewe- 
gungen zu  erreichen  vermögen.    Herde,  welche  diese  letzteren  m 
größerem  oder  kleinerem  Umfange  von  ihren  Verbindungen  ab- 
schneiden, würden  also  motorisch  apraktische  Störungen  bedmgen. 
Dabei   können   gewisse   Bewegungsreihen,    die   durch  vielfache 
Übung  selbständig  geworden  sind,  vollkommen  richtig  ablaufen, 
allerdings  ohne  Zusammenhang  mit  zielbewußten  Absichten.  Wir 
wissen,  daß  schon  die  elektrische  Reizung  der  Bewegungszentren 
unserer  Hirnrinde  nicht  einzelne  Muskelzuckungen,  sondern  das 
Zusammenspiel    bestimmter    Muskelgruppen    zu    einfachen  Be- 
wegungen auslöst.     Weiterhin  aber  dürfen  wir  annehmen,  daß 
sich  in  der  Rinde  unter  dem  Einflüsse  der  Übung  Zusammen- 
ordnungen ausbilden,  die  ein  selbsttätiges  Ablaufen  ganzer  Be- 
wegungsreihen unter  steter  Regelung  durch  Muskel-  und  Gelenk- 
empfindungen, vielleicht  auch  durch  andere  einfache  Sinnesein- 
drücke   ermöglichen.      Solche  maschinenmäßig  wirkenden  Ein- 
richtungen bestehen  für  Sprache,  Schrift  und  verwandte  Fertig- 
keiten- sie  sind  in  ihrer  Einförmigkeit  fester  an  bestimmte  Rin- 
dengegenden   gebunden,    als    die    sonstigen,    freier  ablaufenden 
Willenshandlungen  und  können  daher  durch  umschriebene  Herde 

leichter  gestört  werden. 

Die  Unmöglichkeit,  eine  Bewegungsformel  in  wirkliches  Han- 
deln umzusetzen,  kann  natürlich  auf  einzelne  Glieder  oder  auf 
eine  Körperseite  beschränkt  bleiben,  da  die  Auslösungsstätten  für 
die  verschiedenen  Bewegungsgruppen  selbst  einen  streng,  um- 
grenzten Sitz  haben.  Motorische  Aphasie  und  Agraphie  werden 
in  der  Regel  durch  linkssitzende  Herde  erzeugt,  da  die  Bewegungs- 
gliederung für  Sprechen  und  Schreiben  gewöhnlich  in  der  linken 
Hirnhälfte  erfolgt,  anscheinend  in  denjenigen  Teilen  der  Stirn- 


44 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Windungen,  die  den  Centren  für  die  jeweils  beanspruchten  Muskel- 
gruppen benachbart  sind.  Liepmann  hat  gezeigt,  daß  die  Be- 
vorzugung der  rechten  Hand  der  linken  Hirnhälfte  überhaupt 
ein  gewisses  Übergewicht  für  die  Auslösung  und  Regelung  von 
gewohnheitsmäßigen  Willkürhandlungen  gewährt.  Die  Entwick- 
lung solcher  Einrichtungen,  welche  alltägliche  Bewegungsreihen 
in  ähnlicher  Weise  selbsttätig  ablaufen  lassen,  wie  das  Sprechen 
und  Schreiben,  erfolgt  ebenfalls  vorzugsweise  links.  Wird  die 
Verbindung  dieser  maschinenmäßig  eingeübten  Rindengebiete  mit 
der  rechten  Hirnhälfte  durch  Zerstörung  der  entsprechenden  Balken- 
faserung  unterbrochen,  so  fällt  damit  der  gesamte,  in  den  beson- 
deren Einrichtungen  der  linken  Seite  niedergeschlagene  Übungs- 
erwerb fort,  und  die  Bewegungen  der  linken  Glieder  werden  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  apraktisch. 

Die  aus  der  Aphasielehre   im  weitesten   Sinne  gewonnenen 
allgemeinen  Erkenntnisse  werden  sich  voraussichtlich  auch  für 
die   Erforschung   von  Ausfallserscheinungen   bei  Geisteskranken 
als  fruchtbar  erweisen.    Agnostische  Störungen  begegnen  uns  in 
ausgeprägtester  Form  bei  einer  ganzen  Reihe  von  psychischen 
Krankheiten,  auch  wenn  wir  von  den  ausgebreiteten  Zerstörungs- 
vorgängen in  der  Rinde  bei  Paralyse,  Hirnlues,  Arteriosklerose 
ganz  absehen.     Besonders  auffallend  pflegt  die  Agnosie,  auch  in 
der  Form  des  Verlesens  und  Mißverstehens,  beim  Delirium  tremens, 
ferner   in  den   infektiösen  und  traumatischen   Delirien  und  in 
Dämmerzuständen,  namentlich  der  Epileptiker,  zu  sein;  bisweilen 
zeigen  uns  die  deliranten  Verwirrtheitszustände  der  Manischen  und 
der  Altersblödsinnigen  ähnliche  Störungen.    Andererseits  begegnen 
uns  ganz  eigenartige  Formen  der  Apraxie  und  Parapraxie  in  Aus- 
drucksbewegungen und  Handeln  bei  der  Katatonie.     Man  wird 
wohl  annehmen  dürfen,  daß  es  sich  zumeist  um  ideatorische  Stö- 
rungen handeln  wird,  über  deren  Sitz  wir  einstweilen  noch  nichts 
zu  sagen  wissen;  nur  bei  den  obengenannten  gröberen  Rinden- 
erkrankungen stoßen  wir  gelegentlich  auf  agnostische  oder  aprak- 
tische Erscheinungen  umschriebeneren  Ursprungs. 

Sehr  geringe  Ausbeute  für  die  Anknüpfung  seelischer  Vor- 
gänge an  bestimmte  Hirngegenden  liefern  uns  leider  die  Er- 
fahrungen über  die  Störungen  höherer  geistiger  Leistungen  bei 
umgrenzten  Hirnerkrankungen.    Nur  so  viel  scheint  festzustehen, 


Rindenlokalisation. 


45 


daß  Geschwülste  des  Balkens  in  der  Regel  mit  tiefgreifender  Zer- 
rüttung der  Verstandestätigkeit  einhergehen.    Das  kann  mit  der 
Zerstörung  zahlreicher  Verbindungen  zwischen  den  beiden  Hirn- 
halbkugeln oder  mit  der  gleichzeitigen  Beeinträchtigung  größerer 
Rindenabschnitte  auf  beiden  Seiten  zusammenhängen.    Viel  um- 
stritten ist  die  Rolle,  die  dem  Stirnhirn  für  das  höhere  Seelen- 
leben zugeschrieben  wird.    Für  eine  solche  Beziehung  spricht  der 
Umstand,  daß  es  beim  Menschen  besonders  stark  entwickelt  ist, 
und  daß  ihm  sonst  anscheinend  keine  Verrichtung  zukommt,  die 
eine  derartige  Ausbildung  erklären  würde.    Weniger  sichergestellt 
scheint  die  Behauptung  zu  sein,   daß  Zerstörungen  des  Stirn- 
hirns in  besonders  hohem  Grade  Verstandesstörungen  bewirken^). 
Es  ist  natürlich  ungemein  schwierig,   einen  derartigen  Satz  zu 
beweisen,  da  nur  scharf  umschriebene  Verletzungen  ohne  Fern- 
wirkungen bei  vorher  völlig  gesunden  Menschen  verwertbar  sind. 
Zudem  kommt,  wie  Bruns  betont,  in  Betracht,  daß  Stirnhirn- 
geschwülste, ohne  das  Leben  zu  gefährden,  sehr  groß  werden 
können   und   schon   deswegen  unter  Umständen  stärkere  psy- 
chische Ausfallserscheinungen  bedingen.     Allerdings  ist  nament- 
lich von  Oppenheim  auf  ein  besonderes  Zeichen,  die  Witzel- 
sucht", hingewiesen  worden,  das  sich  bei  Stirnhirngeschwülsten 
auffallend  stark  und  häufig  zeigen  soll  und  in  einem  Falle  durch 
die  Operation  mit  beseitigt  wurde.   Es  muß  indessen  einstweilen 
wohl   dahingestellt  bleiben,    ob  das  Auftreten  der  Witzelsucht 
wirklich  den  Schluß  auf  eine  Stirnhirnerkrankung  gestattet.  Jeden- 
falls beobachten  wir  Störungen,  die  wir  klinisch  davon  nicht  ab- 
zutrennen vermögen,   bei  einer  Reihe  von  Erkrankungen,  die 
sich  sicher  über  weite  Rindenabschnitte  erstrecken,  so  nament- 
lich beim  Altersblödsinn,  bei  syphilitischer  Gefäßerkrankung  und 
bei  der  Katatonie.   Natürlich  ist  das  nicht  etwa  ein  Gegenbeweis. 

Bei  den  bedeutenden  Fortschritten,  die  unsere  Kenntnis  vom 
Bau  und  den  Leistungen  der  Hirnrinde  in  den  letzten  Jahrzehnten 
gemacht  hat,  wird  trotz  der  heute  über  den  „Sitz  der  Seele"  noch 
herrschenden  Unklarheit  die  Möglichkeit  nicht  abzuleugnen  sein, 
daß  wir  einmal  auch  über  die  örtliche  Ausbreitung  jener  Rinden- 

1)  Bruns,  Die  Geschwülste  des  Nervensystems.  1897;  Oppenheim,  Die  Ge- 
schwülste des  Gehirns,  2.  Aufl.  1902;  Schuster,  Psychische  Störungen  bei  Hirn- 
tumoren. 1902. 


46 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


erkrankungen  klarere  Vorstellungen  gewinnen,  die  vorzugsweise 
oder  ausschließlich  Seelenstörungen  erzeugen.      Zunächst  aller- 
dings erscheinen  die  Schwierigkeiten  unüberwindlich.    Jeder  Ver- 
such, über  die  einfachsten  Sinnesempfindungen  und  Bewegungs- 
auslösungen  hinaus   seelische   Vorgänge   in   bestimmte  Rinden- 
gebiete zu  verlegen,  scheitert  vor  allem  an  der  UnvoUkommen- 
heit  unserer  psychologischen  Kenntnisse.  Auch  die  gewöhnlichsten 
Bewußtseinserscheinungen  erweisen  sich  bei  genauerer  Betrach- 
tung als  so  ungemein  verwickelt,  daß  wir  gut  begreifen,  warum 
das  Werkzeug  unseres  Seelenlebens  einen  so  hoffnungslos  un- 
entwirrbaren Aufbau  besitzt.    Insbesondere  fehlt  uns  die  Klarheit 
darüber,  welche  Vorgänge  wir  als  grundlegende  und  einheitliche 
ansehen  und  demgemäß  versuchen  dürfen,  mit  einer  Einheit  des 
Rindenbaues  in  Beziehung  zu  setzen.    Unsere  landläufigen  psy- 
chologischen Begriffe  sind  äußerst  verschwommene  Ableitungen 
aus  inneren  Erfahrungen  und  daher  kaum  geeigneter,  die  Grund- 
lage für  eine  Funktionslehre  abzugeben,  als  die  G  all  sehen  Seelen- 
vermögen.   Bevor  es  uns  gelingen  kann,  die  feineren  Zusammen- 
hänge zwischen  körperlichen  und  seelischen  Vorgängen  aufzu- 
decken, bedürfen  wir  daher  unbedingt  einer  Zerlegung  der  psy- 
chischen Erscheinungen  in  ihre  einfachsten  Bestandteile,  einer 
wirklichen  Physiologie  der  Seele,  wie  sie  uns  nur  der  psychologische 
Versuch  am  gesunden  und  kranken  Menschen  liefern  kann, 
i-    Es  steht  zu  hoffen,  daß  uns  gerade  die  Ausfallserscheinungen 
bei  den  Geisteskranken  einmal  wichtige  Aufschlüsse  über  die  be- 
sondere Bedeutung  gewähren  werden,  welche  die  Zerstörung  be- 
stimmter Gegenden  oder  Bestandteile  der  Hirnrinde  für  das  Seelen- 
leben besitzt.  Allerdings  wird  bis  dahin  eine  Aufgabe  gelöst  werden 
müssen,  die  heute  noch  kaum  in  Angriff  genommen  werden  konnte, 
die  Feststellung  der  örtlichen  Verteilung  krankhafter  Ver- 
änderungen in  der  Rinde.   Schon  bei  der  Umgrenzung  gröberer 
Krankheitsherde  ergeben  sich  vielfach  Schwierigkeiten  durch  die 
Ausbreitung  feinerer  Zerstörungen  über  die  weitere  Umgebung  oder 
selbst  entlegene  Hirngegenden.    Bei  den  verhältnismäßig  unschein- 
baren, nur  den  feinsten  Untersuchungen  zugänglichen  und  dabei 
Uber  weiteste   Rindengebiete  sich  erstreckenden  Veränderungen, 
wie  sie  den  Geisteskrankheiten  zugrunde  liegen,  stellt  natürlich 
die  Erforschung  ihrer  genauen  Umgrenzung,  die  sich  namentlich 


Rindenlokalisation.  47 


auch  auf  die  BeteiUgung  der  einzelnen  Schichten  zu  erstrecken 
hätte  ganz  ungeheure  Anforderungen  an  Sachkenntnis,  Geduld 
und  Arbeitskraft.  Es  ist  daher  begreiflich,  daß  wir  bisher  nur 
über  die  Ausbreitung  des  immerhin  leichter  erkennbaren  para- 
lytischen Krankheitsvorganges  einige,  für  die  Frage  des  Sitzes 
von  Seelenvorgängen  noch  kaum  verwertbare  Angaben  besitzen. 

Eine  weitere  erhebliche  Schwierigkeit  für  die  Feststellung  des 
Zusammenhanges  zwischen  Ort  der  Zerstörung  und  Krankheits- 
zeichen   liegt   in   der   Flüchtigkeit  vieler  Ausfallserscheinungen 
Es  ist  längst  bekannt,  daß  nach  Eingriffen  in  die  Hirnrinde  auch 
sehr  auffallende  Störungen  sich  überraschend  schnell  völlig  oder 
bis  auf  ganz  geringfügige  Spuren  wieder  verlieren  können.  Diese 
Erfahrung,  die  eine  Hauptstütze  für  die  Lehre  von  der  „funk- 
tionellen Indifferenz"   der  Hirnrinde  gebildet  hat,   suchte  man 
sich  dadurch  zu  erklären,  daß  entweder  eine  Wiederherstellung 
der   zerstörten  Teile   oder,    wahrscheinlicher,    eine  Übernahme 
ihrer  Verrichtungen  durch  benachbarte,  symmetrische  oder  unter- 
geordnete  Hirngebiete  erfolge.      Es  mag  dahingestellt  bleiben, 
wieweit  eine  oder  die  andere  dieser  Möglichkeiten  wirkhch  zu- 
trifft   Dagegen  muß  betont  werden,  daß  unter  Umständen  noch 
ein  ganz  anderer  Weg  beschritten  wird,  den  man  im  Gegensatze 
zu  der  „Restitution"  als  denjenigen  der  „Kompensation"  einer 
Leistung  bezeichnet  hat.    Ewald  hat  durch  eine  sehr  lehrreiche 
Versuchsreihe  dargetan,  daß  sich  der  Ausgleich  der  Bewegungs- 
störungen nach  Ausschneidung   der  motorischen  Rindengebiete 
keineswegs  durch  eine  wirkliche  Wiederherstellung  der  verlorenen 
Leistung  vollzieht.    Vielmehr  zeigte  es  sich,  daß  die  Herrschaft 
über  die  Bewegungen  drei  voneinander  völlig  unabhängige  Hilfs- 
mittel besitzt,  den  Labyrinthsinn,  die  Gelenkempfindungen  und 
das  Auge.   Die  Lösung  derselben  Aufgabe  kann  also  auf  drei  ganz 
verschiedenen  Wegen  und  mit  ganz  verschiedenen  Werkzeugen 
geschehen.   Jedes  derselben  vermag  für  die  anderen  nur  insofern 
einzutreten,  als  der  gleiche  Zweck  erreicht  wird;  dagegen  ist  die 
einmal   vernichtete   Leistung   selbst   unwiederbringlich  verloren 
Solange  indessen  noch  einer  der  verfügbaren  Wege  offen  steht, 
kann  die  Störung  für  den  Beobachter  wieder  verdeckt  werden; 
erst  dann,  wenn  auch  der  letzte  versperrt  wurde,  tritt  sie  plötz- 
lich in  voller  Stärke  hervor,  um  nunmehr  unverändert  fortzu- 


48 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


bestehen.  Die  hier  gewonnenen  Erfahrungen,  die  mit  großer  Ent- 
schiedenheit für  eine  feine  örtliche  Umgrenzung  der  Hirnleistungen 
sprechen,  lassen  sich  ohne  Zweifel  auch  auf  das  höhere  Seelenleben 
übertragen.  Ja,  wir  dürfen  wohl  erwarten,  daß  zur  Lösung  ver- 
wickelterer  Aufgaben  noch  weit  mannigfaltigere  Hilfsmittel  und 
Wege  zur  Verfügung  stehen.  Vielleicht  liegt  darin  der  Haupt- 
grund für  die  Tatsache,  daß  umgrenzte  Rindenzerstörungen  ohne 
Druck-  und  Fernwirkungen,  selbst  wenn  sie  recht  ausgedehnt 
sind,  keine  erkennbare  Schädigung  der  geistigen  Leistungen  nach 
sich  zu  ziehen  pflegen.  Nur  die  häufig  beobachtete  Steigerung 
der  Ermüdbarkeit  könnte  etwa  auf  eine  Einschränkung  der  ar- 
beitsfähigen Gebiete  bezogen  werden. 

Klarheit  über  diese  Fragen  kann  uns  bei  der  eigentümlichen, 
schichtweisen  Anordnung  und  flächenhaften  Ausbreitung  der  Rin- 
denorgane weder  krankhafte  noch  künstliche  Zerstörung  geben. 
Es  erscheint  so  gut  wie  ausgeschlossen,  daß  einmal  ein  Krank- 
heitsvorgang oder  ein  Eingriff  nur  ein  einziges  Organ  und  zu- 
gleich dieses  wirklich  vollständig  zerstören  könnte.  Damit  fehlen 
uns  aber  gerade  diejenigen  Hilfsmittel,  die  uns  bei  der  Orts- 
bestimmung für  einfachere  Hirnleistungen  so  sicher  geführt  haben. 
Soviel  ich  sehe,  bleibt  uns  zurzeit,  außer  den  Schlußfolgerungen 
der  vergleichenden  Anatomie  und  Physiologie,  nur  eine  einzige 
Möglichkeit,  die  Frage  nach  dem  Sitze  höherer  Seelenvorgänge 
mit  Aussicht  auf  Erfolg  in  Angriff  zu  nehmen,  die  Vergiftung. 
Durch  psychologische  Versuche  haben  wir  gelernt,  daß  gewisse 
Gifte  nur  einzelne,  ganz  bestimmte  Seiten  unseres  Seelenlebens 
beeinflussen,  andere  unberührt  lassen;  andererseits  scheint  die 
Untersuchung  der  Nervenzellen  vergifteter  Tiere  darzutun,  daß 
auch  die  verschiedenen  Arten  der  Rindenbestandteile  nicht  in 
gleichem  Maße  dem  Gifte  zugänglich  sind.  Vielmehr  dürfte  eine 
Auswahl  stattfinden,  entsprechend  etwa  der  verschiedenen  che- 
mischen Zusammensetzung  und  damit  vielleicht  auch  der  eigen- 
artigen Leistung  der  Zellen.  Hier  wäre  also  eine  ferne  Aussicht, 
nebeneinander  die  Veränderung  im  Ablaufe  der  psychischen  Vor- 
gange und  im  Verhalten  ihrer  körperlichen  Grundlage  festzustellen. 

Eine  erste  Anknüpfung  klinischer  Erfahrungen  an  die  Er- 
gebnisse der  Giftversuche  könnten  die  durch  Gifte  erzeugten 
Geistesstörungen  liefern.     Es  wäre  z.  B.  denkbar,  daß  den  Er- 


Rindenlokalisation. 


49 


scheinungen  des  Rausches  Veränderungen  in  verschiedenen  Rin- 
dengebieten zugrunde  liegen,   die  sich  mit  den  uns  bereits  be- 
kannten  psychischen   Wirkungen   des   Alkohols   in  Verbindung 
bringen    ließen.    Weiterhin    aber   ist    darauf   hinzuweisen,  daß 
wir  eine  ganze  Reihe  von  psychischen  Krankheitsbildern  kennen, 
bei  denen  einzelne  Störungen  ganz  besonders  ausgeprägt  sind. 
Dem  Rausche  am  nächsten  steht  die  manische  Erregung.  Beiden 
Zuständen  gemeinsam  ist  die  erleichterte  Auslösung  von  Hand- 
lungen; dagegen  fehlen  in  der  Manie  die  Zeichen  der  Lähmung, 
wie  sie  sich  beim  Rausche  in  der  Abnahme  der  Kraft,  in  der  Ver- 
langsamung der  Bewegungen,  in  dem  Auftreten  ataktischer  Stö- 
rungen kundgeben;  zudem  bestehen  wohl  auch  auf  anderen  psy- 
chischen Gebieten  wesentliche  Unterschiede.     Soweit  diesen  Ab- 
weichungen   verschiedene    Angriffspunkte    der  krankmachenden 
Schädlichkeit  entsprechen,  müßte  es  grundsätzlich,   wenn  auch 
vielleicht  noch  lange  nicht  tatsächlich,  möglich  sein,  ihre  Ursache 
aufzudecken  und  damit  aus  dem  Vergleiche  der  klinischen  und 
anatomischen  Übereinstimmungen  und  Unterschiede  Aufschlüsse 
über  den  Sitz  dieser  oder  jener  Störung  zu  erhalten.  Freilich 
wird  dieser  Weg  erst  dann  gangbar  sein,  wenn  außer  der  sorg- 
fältigen psychologischen  Zergliederung  der  einzelnen  Krankheits- 
bilder auch  die  feineren  Veränderungen  der  Hirnrinde  und  deren 
Ausbreitung  unserem  Verständnisse  weit  mehr  erschlossen  sind, 
als  heute. 

Gibt  es  überhaupt  irgendwie  umgrenzte  Rindengebiete  für 
höhere  psychische  Leistungen,  so  werden  sich  für  die  Klärung 
dieser  Frage  besonders  diejenigen  Krankheitsbilder  fruchtbar  er- 
weisen, bei  denen  einzelne,  sehr  ausgeprägte  Störungen  hervor- 
treten. Dahin  gehören  z.  B.  die  Presbyophrenie  und  die  Korssa- 
kowsche  Krankheit  mit  ihrer  hochgradigen  Merkstörung,  die 
eigentümliche  Gruppe  der  Kranken  mit  Sprachverwirrtheit,  die 
Formen  mit  einfacher  halluzinatorischer  Verblödung,  die  Kata- 
tonien mit  starkentwickelten  Willensstörungen  usf.  Ihnen  stehen 
andere  Erkrankungen,  wie  etwa  die  Fieberdelirien,  die  Paralyse,  die 
syphilitischen  und  arteriosklerotischen  Hirnerkrankungen,  gegen- 
über, bei  denen  sich  die  Krankheitszeichen  mehr  auf  mannigfaltige 
Gebiete  des  Seelenlebens  verteilen.  Aus  der  verschiedenen  Um- 
grenzung  der   anatomischen  Veränderungen    bei   den  einzelnen 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8,  Aufl.  4 


50 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Krankheitsformen  ließen  sich  daher  vielleicht  einmal  Aufschlüsse 
über  den  besonderen  Sitz  der  eigenartigen  klinischen  Störungen 
gewinnen. 

Nervenkrankheiten.   Zwischen  Nervenkrankheiten  und  Geistes- 
störungen bestehen  mannigfache  Beziehungen.  In  der  Regel  handelt 
es  sich  jedoch  nicht  um  ein  ursächliches  Verhältnis,  sondern 
beide  sind  die  Äußerungen   desselben  Krankheitszustandes,  der 
die  verschiedenen  Gebiete  des  Nervensystems  in  Mitleidenschaft 
zieht.     So   haben  wir  es  bei  den   tabischen  Geistesstörungen 
zumeist  mit  dem  Fortschreiten  einer  im  Rückenmarke  beginnen- 
den  paralytischen   Erkrankung   auf  die  Hirnrinde  zu  tun,  zu- 
weilen  wohl  auch  mit  einer  Verbindung  von  tabischer  Hinter- 
strangsverödung mit  dem  aus  gleicher  syphilitischer  Ursache  her- 
vorgehenden paralytischen  Hirnleiden.    Weiterhin  aber  scheinen 
bei  der  Tabes  noch  andersartige,  nichtparalytische  Krankheits- 
bilder vorzukommen,  sowohl  einfache  geistige  Schwächezustände 
wie  akute  und  chronische  halluzinatorische  Formen.  Nament- 
lich die  letztgenannten  klinischen  Bilder  erinnern  sehr  an  ge- 
wisse syphilitische  Psychosen,  so  daß  der  Gedanke  an  eine  Ver- 
bindung von  Tabes  mit  syphilitischer  Hirnerkrankung  recht  nahe 
liegt.   Leider  läßt  sich  diese  Vermutung  bisher  noch  nicht  durch 
anatomische  Befunde  stützen,  doch  konnte  Alzheimer  Verände- 
rungen in  der  Hirnrinde  Tabischer  nachweisen,  die  sicher  nicht 
paralytischer  Art  waren.    Daß  hier  und  da  die  Tabes  auch  rein 
zufällige  Begleiterin  von  ihr  ganz  unabhängiger  Geistesstörungen 
sein  kann,  bedarf  kaum  der  besonderen  Erwähnung. 

Auch  das  polyneuritische  Irresein  dürfte  wesentHch  dahin 
aufzufassen  sein,  daß  die  gleiche  Schädlichkeit,  die  eine  Erkrankung 
der  Nervenstämme  bewirkt  hat,  auf  die  Hirnrinde  übergreift.  Wir 
werden  uns  daher  auch  nicht  wundern,  wenn  gelegentlich  die 
psychische  Störung  allein,  ohne  Beteiligung  der  Nerven,  beobachtet 
wird;  die  I^rankheitsursache  kann  eben,  wie  es  scheint,  die  ver- 
schiedenen Abschnitte  des  Nervensystems  getrennt  oder  gemein- 
sam schädigen.  Diese  Ursache  selbst  besteht  ohne  Zweifel  in 
einer  Giftwirkung.  Bei  weitem  am  häufigsten  handelt  es  sich  um 
den  Alkohol,  wenn  es  auch  zweifelhaft  ist,  ob  er  unmittelbar  oder 
erst  durch  Vermittlung  von  Stoffwechselstörungen  die  Neuritis 
wie  das  begleitende  Irresein  erzeugt;  für  die  letztere  Annahme 


Nervenkrankheiten. 


würde  der   gewöhnliche  Anschluß  letzterer  Erkrankung  an  ein 
Delirium  tremens  sprechen.   Ähnliche,  wenn  auch  leichtere  psy- 
chische Störungen  sind  bei  der  Arsenneuritis  beobachtet  worden. 
Tuberkulose  scheint  die  Entwicklung  des  polyneuritischen  Irre- 
seins zu  begünstigen.    Ferner  aber  kommen  hier  und  da  nach 
den  verschiedensten   Infektionskrankheiten  Geistesstörungen  mit 
Polyneuritis  vor,  so  namentlich  nach  Typhus  und  Malaria;  auch 
nach  der  eigenartigen  Polyneuritis  der  Tropen,  nach  Beri  -  beri^), 
das  in  der  Regel  ohne  Beteiligung  der  Hirnrinde  verläuft,  sind 
einzelne  Fälle  von  Irresein  beschrieben  worden,  deren  klinisches 
Bild  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  den  genannten  Formen  auf- 
zuweisen scheint.    Als  kennzeichnende  Züge  der  Geistesstörungen 
bei  Polyneuritis  pflegt  man  eine  ungemein  starke  Merkstörung 
mit  ausgedehnten  Erinnerungslücken,  Erinnerungsfälschungen  so- 
wie Unklarheit  über  Zeit,   Ort  und  Umgebung  zu  betrachten. 
Da  jedoch  ganz  ähnliche  Krankheitsbilder  nicht  nur  durch  die- 
selben Ursachen  ohne  begleitende  Neuritis  erzeugt  werden,  sondern 
auch  auf  ganz  anderer  Grundlage,  bei  Hirngeschwülsten,  Hirnlues, 
nach  Kopfverletzungen  und  Erhängungsversuchen,  im  Greisenalter 
vorkommen,  ist  jene  Gruppe  von  Erscheinungen  offenbar  nicht  der 
Ausdruck  einer  klinischen  Einheit.   Bei  der  endgültigen  Feststellung 
der  verschiedenen  Krankheitsvorgänge,  die  den  einander  so  ähn- 
lichen Zustandsbildern  zugrunde  liegen,  werden  voraussichtlich  die 
neuritischen  Erscheinungen  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielen. 

Eine  einheitlichere  Bedeutung  dürfen  wir  wohl  dem  chorea- 
tischen^)  Irresein  zuschreiben,  soweit  es  die  Sydenhamsche 
Chorea  begleitet.  Auch  hier  haben  wir  es  mit  einer  infektiösen  Krank- 
heitsursache zu  tun,  deren  Einwirkung  bald  mehr,  bald  weniger 
deutlich  auf  die  Hirnrinde  übergreift.  In  der  Regel,  wenn  nicht  aus- 
schließlich, ist  es  der  Krankheitserreger  des  akuten  Gelenkrheuma- 
tismus, der  hier  in  Betracht  kommt.  Wartmann  und  Westphal 
konnten  ihn  aus  dem  Hirn  einer  Choreatischen  züchten.  Das  Krank- 
heitsbild ist  gekennzeichnet  durch  erhöhte  gemütliche  Reizbarkeit, 
kindisches,  launenhaftes  Wesen,  raschen  Stimmungswechsel,  Schlaf- 
losigkeit ;  in  schweren  Fällen  kommt  es  zur  Entwicklung  verwirrter, 

1)  Nina- Rodrigues,  Annales  medico-psychologiques,  1906,  I,  177. 

2)  Koppen,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XX,  3;  Zinn,  ebenda,  XXVIII,  4";  Bern- 
stein, Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIII,  538. 

4* 


52 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


deliriöser  Aufregungszustände.  Völlig  davon  zu  trennen  sind  natür- 
lich einmal  die  auf  psychischem  Wege  entstehende  hysterische 
Chorea  und  dann  die  als  Familienkrankheit  auftretende  Hunting- 
tonsche  Chorea,  die  auf  ausgebreiteter,  chronischer  Erkrankung 
des  Centrainervensystems  beruht  und  regelmäßig  zu  mehr  oder 
weniger  ausgeprägtem  Schwachsinn  führt. 

Wie  hier  die  Krampferscheinungen  nur  ein  einzelnes,  besonders 
auffallendes  Zeichen  einer  allgemeinen  Hirnerkrankung  darstellen, 
so  ist  auch  der  klinische  Begriff  der  Epilepsie  nur  die  Zusammen- 
fassung bestimmter  äußerer  Erscheinungen,  von  denen  die  Krampf- 
anfälle als  die  kennzeichnendsten  betrachtet  werden.  In  Wirklich- 
keit haben  wir  es  hier  mit  einer  ganzen  Reihe  von  verschiedenen 
Krankheitsvorgängen  zu  tun,  die  alle  mit  mehr  oder  weniger  aus- 
gedehnten Hirnrindenveränderungen  einhergehen  und  neben  den 
Krämpfen  in  der  Regel  noch  dem  gesamten  Seelenleben  allerlei 
gröbere  oder  feinere  Krankheitsspuren  aufprägen.  Außer  der 
großen  Hauptgruppe,  die  wir  als  ,, genuine"  Epilepsie  zu  bezeich- 
nen pflegen,  sollen  hier  nur  kurz  die  alkoholischen  und  arterio- 
sklerotischen, die  syphilitischen  und  traumatischen  Formen  ge- 
nannt werden.  Ob  den  vielfach  nachgewiesenen  Stoffwechsel- 
störungen die  Rolle  von  Ursachen  oder  nur  von  Begleiterschei- 
nungen zukommt,  muß  einstweilen  dahingestellt  bleiben.  Die 
psychischen  Zeichen  sind  außer  einer  allgemeinen  Veränderung 
des  Charakters  namentlich  periodisch  auftretende  Verstimmungen 
und  ziemlich  rasch  ablaufende  Bewußtseinstrübungen  von  vor- 
wiegend ängstlicher  oder  gereizter  Färbung. 

Bei  der  Tetanie  sind  von  v.  Frankl -Hochwart  und  Fr. 
Schultze  deliriöse  Zustände  mit  Sinnestäuschungen  beschrieben 
worden;  auch  ich  habe  wiederholt  derartige  Zustände  gesehen. 
Es  ist  möglich,  daß  sie,  ähnlich  den  choreatischen  Störungen,  auf 
einer  Vergiftung  durch  das  mutmaßliche  Tetaniegift  beruhen,  dessen 
Enstehung  mit  dem  Wegfall  der  Nebenschilddrüsen  in  Beziehung 
steht.  Einigermaßen  unsicher  ist  zurzeit  noch  die  Deutung  der 
sog.  „Migränepsychose n"i).   Abgesehen  von  den  gewöhnlichen 

1)  Möbius,  Die  Migräne,  76.  1894;  v.  Krafft- Ebing,  Arbeiten,  I,  iio,  135; 
Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXI,  38;  Koppen,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1898,  269; 
Mingazzini  e  Pacetti,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXV,  401:  Forli. 
ebenda  XXXIII,  220. 


Nervenkrankheiten. 


53 


Erscheinungen  der  HinfäUigkeit  und  Willenlosigkeit,  der  Reizbar- 
keit und  Niedergeschlagenheit  mit  Überempfindlichkeit  der  Sinne 
und  einzelnen,  meist  einfachen  Trugwahrnehmungen  (Rauschen, 
Glockenläuten,  Pfeifen,  Funken,  Farben,  Nebel,  Gerüche  usf.)  wer- 
den rasch  verlaufende   Dämmerzustände   mit  deliriösen  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnbildungen  geschildert.   Offenbar  gleichen 
diese  letzteren  Bilder  klinisch  völlig  gewissen  epileptischen  Störungen. 
Da  wenigstens  die  schwereren,  mit  Augenerscheinungen  einher- 
gehenden Formen  der  Migräne  vielfach  mit  der  Epilepsie  in  Be- 
ziehung stehen,  halte  ich  es  für  wahrscheinlich,  daß  auch  die 
geschilderten  Zustände  als  epileptische  aufzufassen  sind,  zumal 
leichtere  Zeichen  der  Epilepsie,  namentlich  die  periodischen  Ver- 
stimmungen, sehr  häufig  übersehen  werden. 

Ähnliche  Zustände  rasch  verlaufender  deliriöser  Verworrenheit 
mit  nachheriger  Erinnerungslücke  sind  mehrfach  nach  dem  Auf- 
treten heftiger  Nervenschmerzen,  namentlich  in  Verbindung  mit 
krankhaften  Zähnen,  auch  bei  menstruellen  Beschwerden,  be- 
obachtet worden.    Man  hat  diese  „Schmerzdelirien" i)  durch  die 
Einwirkung  des  Nervenreizes  auf  das  Gehirn,  vielleicht  mit  Er- 
zeugung eines  Gefäßkrampfes,   zu  erklären  gesucht;    auch  die 
Auslösung  starker  gemütlicher  Erschütterungen  dürfte  dabei  eine 
Rolle  spielen.   Diese  Erfahrungen  erinnern  an  die  Fälle  von  sog. 
Reflexepilepsie,  bei  denen  ebenfalls  peripheren  Nervenreizungen 
eine  ursächliche  Rolle  zugeschrieben  wird.   Man  hat  ferner  eine 
Gruppe  von  „Reflexpsychosen"  aufgestellt,  die  durch  dauernde 
Zerrung  narbig  eingeheilter  Nervenäste  bedingt  sein  sollen,  und 
namentlich  Schüle  hat  die  ursächliche  Wirkung  körperlicher  Reize 
in  seiner  „Dysphrenia  neuralgica"  sehr  weit  ausgedehnt.   Es  ist 
gewiß  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  lebhafte  Schmerzen 
einen  starken  Einfluß  auf  das  Seelenleben  ausüben  und  unter  Um- 
ständen auch  jemanden  „rasend"  machen  können,  doch  handelt 
es  sich  dabei  gewiß  nur  selten  um  ausgeprägte  psychische  Er- 
krankungen.   Am  leichtesten  wird  man  derartige  Störungen  bei 
solchen  Personen  auftreten  sehen,  die  ohnedies  eine  erhöhte  gemüt- 
liche Beeinflußbarkeit  darbieten,  bei  Psychopathen  und  Hyste- 
rischen. 

1)  Laquer,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXVI,  8i8;  v.  Kraf ft  -  Ebing,  Arbeiten, 
I,  8i;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVIII,  463. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Operative  Eingriffe.  Als  Delirium  nervosum  oder  traumati- 
cum  sind  seit  Dupuytren  gewisse  deliriöse  Geistesstörungen  zu- 
sammengefaßt worden,  die  sich  bisweilen  an  schwere  chirurgische 
Eingriffe^)  anschließen.  Die  genauere  Zergliederung  derartiger  Er- 
fahrungen zeigt,  daß  es  sich  dabei  um  eine  ganze  Reihe  sehr  ver- 
schiedenartiger klinischer  Bilder  handelt.  In  einer  großen  Zahl 
von  Fällen  ist  der  ursächliche  Zusammenhang  zwischen  Eingriff 
und  psychischer  Störung  nur  ein  ganz  lockerer.  Das  trifft  zu  für 
die  manischen,  katatonischen,  epileptischen,  paralytischen  Zu- 
standsbilder,  dann  auch  für  die  senilen  Delirien,  die  auf  dem  schon 
krankhaft  vorbereiteten  Boden  durch  die  Schädigung  ausgelöst 
werden.  Ähnliches  gilt  natürlich  von  den  ungemein  häufigen 
alkoholischen  und  von  den  urämischen  Delirien.  Entscheidender 
schon  ist  die  Rolle  des  chirurgischen  Eingriffes  bei  den  hysterischen 
Zufällen,  obgleich  ja  auch  hier  die  wesentlichste  Ursache  immer 
in  der  erkrankenden  Persönlichkeit  selbst  gesucht  werden  muß. 
Der  psychische  Eindruck,  die  Angst  und  Aufregung,  die  schon 
vor  dem  Eingriffe  besteht,  ist  das  wirksame  Bindeglied.  Die  Ope- 
ration selbst  kann  durch  starken  Blutverlust  schädigen  und  da- 
durch CoUapszustände  erzeugen;  auch  Giftwirkungen,  etwa  Jodo- 
formdelirien, können  hineinspielen.  Im  weiteren  Verlaufe  dürfte 
die  Erschöpfung  durch  schwere  Eingriffe  mit  mangelhafter  Er- 
nährung schädigend  wirken;  andererseits  können  sich  Eiterungen 
und  Blutvergiftungen  entwickeln  und  die  eigenartigen  Krankheits- 
bilder der  septischen  Delirien  hervorbringen.  Endlich  aber  ist  noch 
von  verschiedenen  Seiten  der  starke  gemütliche  Eindruck  betont 
worden,  den  gewisse  verstümmelnde  Operationen  ausüben,  Ampu- 
tationen, Kastration,  Anlegung  eines  Anus  praeternaturalis  u.  dgl. 
Ob  die  nach  solchen  Eingriffen  beobachteten,  länger  dauernden, 
unter  Umständen  zur  Unheilbarkeit  führenden  Depressionszustände 
wirklich  eine  kUnische  Sonderstellung  beanspruchen  dürfen,  ist  mir 
einstweilen  noch  zweifelhaft. 

Ebenso  erscheint  es  unsicher,  ob  der  besonderen  Art  der  Ein- 
griffe, abgesehen  von  ihren  allgemeinen  Wirkungen,  eine  be- 
stimmte ursächliche  Bedeutung  zukommt.   Allerdings  werden  bei 

1)  Picque,  Annales  medico-psychol.,  1898,  II,  91, 113,  453;  Picque  et  Briand, 
ebenda,  249;  Simpson,  Journal  of  mental  science,  1897,  Januar;  Pilcz,  Wiener 
klin.  Wochenschr.,  1902,  36. 


Operative  Eingriffe;  Erschöpfung. 


55 


weitem  am  häufigsten  Geistesstörungen  nach  Operationen  an  den 
weibUchen  Genitalorganen  beobachtet.  BekanntUch  hat  man  der 
Entfernung  der  Eierstöcke  vielfach  einen  hervorragenden  Einfluß 
auf  das  Seelenleben  der  Frau  zugeschrieben  und  dabei  namentlich 
auch  auf  die  starken  geistigen  und  gemütlichen  Umwälzungen 
im  Klimakterium  hingewiesen.  Wenn  es  auch  bezweifelt  werden 
muß,  daß  gerade  die  Rückbildung  der  Eierstöcke,  etwa  das  Aus- 
bleiben einer  inneren  Sekretion,  die  wichtigste  oder  gar  die  einzige 
Ursache  der  klimakterischen  Störungen  bildet,  so  ist  doch  wohl 
anzunehmen,  daß  der  Verlust  der  Geschlechtsdrüsen  auch  für  das 
seelische  Gleichgewicht  kein  ganz  bedeutungsloser  Eingriff  ist. 
Immerhin  scheinen  ausgeprägte  psychische  Störungen  sich  keines- 
wegs besonders  häufig  daran  anzuschließen.  Wir  dürfen  jeden- 
falls nicht  außer  acht  lassen,  daß  längere  Zeit  hindurch  die  Kastra- 
tion vielfach  bei  psychisch  bereits  nicht  mehr  ganz  gesunden  Per- 
sonen ausgeführt  wurde,  in  der  freilich  meist  getäuschten  Hoff- 
nung, sie  dadurch  von  ihren  Leiden  zu  befreien. 

Bei  den  Operationen  in  der  Bauchhöhle  und  am  Darm  soll 
nach  der  Ansicht  von  Pilcz  Kotstauungen  mit  Aufsaugung  von 
Krankheitsgiften  durch  den  Darm  eine  wichtige  Rolle  zukommen. 
Nach  Kataraktoperationen  und  überhaupt  nach  längerem  Auf- 
enthalte im  Dunkelzimmeri)  hat  man  nicht  selten  deliriöse  Zu- 
stände mit  lebhaften  Sinnestäuschungen,  namentlich  des  Gesichts, 
aber  auch  des  Gehörs,  seltener  reine  Gesichtstäuschungen  bei 
klarem  Bewußtsein  auftreten  sehen,  die  eine  gewisse  Ähnlich- 
keit mit  den  in  der  Einzelhaft  beobachteten  Störungen  darbieten. 
Hier  wie  dort  scheint  der  Abschluß  gewisser  Sinnesreize  das  Auf- 
treten von  Trugwahrnehmungen  auf  dem  betreffenden  Gebiete  zu 
begünstigen.  Im  übrigen  sind  jedoch  vor  allem  das  Greisenalter, 
unter  Umständen  auch  schlechte  Ernährung,  gemütliche  Erregung 
oder  alkoholische  Gewohnheiten  als  Entstehungsursachen  zu  berück- 
sichtigen. 

Erschöpfung.  Als  Erschöpfung  bezeichnen  wir  die  Zerstörung 
der  körperlichen  Träger  unseres  Seelenlebens  infolge  zu  starken 
Verbrauches  oder  ungenügenden  Ersatzes.  Während  wir  uns  die 
Ermüdung  lediglich  durch  die  Anhäufung  lähmend  wirkender  Zer- 

1)  V.  Frankl- Hochwart,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  IX,  i  u.  2,  1889;  Löwy, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LH,  166;  Lapinsky,  ebenda,  LXIII,  665. 


56 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


fallsstoffe  im  Blute  zu  erklären  pflegen,  würde  die  Erschöpfung 
dann  beginnen,  wenn  der  Verbrauch  im  Nervengewebe  den  Ersatz 
bis  zur  dauernden  Gefährdung  des  Bestandes  überschreitet.  Die 
Ermüdung  wäre  eine  Narkose,  die  wir  zu  Zwecken  der  Behand- 
lung auch  wohl  durch  andere  ähnliche  Narkosen  ersetzen  können; 
die  Erschöpfung  dagegen  ist  der  erste  Schritt  zu  einer  Selbstver- 
nichtung des  Nervensystems  durch  die  eigene  Tätigkeit.  Die  Er- 
müdung führt  unter  normalen  Bedingungen  zum  Schlafe;  sie  ist 
eine  Art  Selbstschutz  gegen  den  Eintritt  der  Erschöpfung. 

Im  Schlafe  werden  die  Ermüdungsstoffe  aus  den  Geweben 
herausgeschafft  und  unschädlich   gemacht;   außerdem  wird  der 
Verbrauch  herabgesetzt.    Weiterhin  aber  führt  das  Blut  den  Ge- 
weben diejenigen  Bestandteile  zu,  die  zum  Ersatz  des  Verbrauchten 
nötig  sind.    Für  eine  gewisse  Zeit  können  dazu  die  Vorräte  des 
Körpers  ausreichen;  auf  die  Dauer  aber  bedürfen  wir  unbedingt 
der  Nahrungsaufnahme.    So  wenig  wir  durch  Sparsamkeit  allein 
ohne   Einnahmen   ein  Vermögen   in   seinem   Bestände  erhalten 
können,  so  wenig  vermag  der  Schlaf  uns  die  verbrauchten  Kräfte 
zu  ersetzen.   Als  die  eigentliche  Ursache  der  Erschöpfung  haben 
wir  daher  die  mangelhafte  Ernährung  zu  betrachten.  Freilich 
tritt  das  Mißverhältnis  zwischen  Verbrauch  und  Ersatz  natürlich 
um  so  rascher  hervor,  je  flotter  verbraucht,  je  weniger  gespart 
wird.  So  kommt  es,  daß  die  drohende  Erschöpfung  durch  äußerste 
Ruhe  lange  Zeit  hindurch  verhütet  werden  kann,  und  daß  die 
Gefahr  ihres  Eintretens  bei  gleichzeitiger  Nahrungsverweigerung, 
Unruhe  und  Schlaflosigkeit  ganz  außerordentlich  groß  wird.  Im 
einzelnen  Falle  kann  die  Erschöpfung  auf  sehr  verschiedene  Weise 
zustande  kommen.   Rascher  Verbrauch  durch  angestrengte  Arbeit, 
Fieber,   Blutverluste,   ungenügendes  Sparen  infolge  von  Schlaf- 
störungen, endlich  Fehlen  des  Ersatzes  durch  die  Nahrung  sind 
die  drei  Hauptursachen,  welche  auf  die  Entstehung  der  Erschöp- 
fung hinarbeiten.   Beim  Hungern  und  namentlich  bei  Entziehung 
des  Schlafes  sind  an  den  Nervenzellen  auch  von  verschiedenen 
Forschern  Veränderungen  beschrieben  worden,  die  jedoch  nichts 
Eigenartiges  zu  haben  scheinen^) ;  Daddi  fand  sie  bei  künstlich 
erzeugter  Schlaflosigkeit  besonders  im  Stirnlappen. 

1)  Agostini,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXIV,  i.   1898:  Daddi, 
Rmsta  dl  patologia  nerv,  e  mentale,  III,  1898. 


Erschöpfung. 


57 


Es  muß  vorderhand   noch  dahingestellt  bleiben,   ob  die  psy- 
chischen  Wirkungen   aller   dieser   Ursachen   die   gleichen  sind. 
Den  Einfluß  24 — 48  stündigen  Hungerns   mit  und  ohne  gleich- 
zeitiges Dursten  hat  Weygandt^)  näher  untersucht.   Er  kam  zu 
dem  Ergebnisse,  daß  die  Entziehung  der  Nahrung,  namentUch 
ohne  Flüssigkeitsaufnahme,  die  geistige  Arbeit  des  Rechnens  und 
Lernens  deutlich  erschwert,  die  Ablenkbarkeit  steigert  und  den 
Gedankengang  durch  die  Begünstigung  von  äußeren  und  Klang- 
assoziationen verflacht,  ohne  anscheinend  die  Wahrnehmung  er- 
heblicher zu  beeinflussen.    Entziehung  des  Schlafes  erwies  sich 
schon  nach  weit  kürzerer  Zeit  wirksam.    Eine  Verzögerung  des 
Abendschlafes  um  3  Stunden  hatte  eine  Herabsetzung  der  Ge- 
dächtnisleistung um  50%  zur  Folge;  nach  6 stündiger  Schlaf ent- 
ziehung  war  die  Auffassungsfähigkeit  derart  geschädigt,  daß  nicht 
mehr  40%  richtig  gesehen  wurden.   Nach  i — 1V2  Stunden  Schlaf 
waren  für   einfachere   Leistungen  die  Ermüdungserscheinungen 
bereits  wieder  ausgeglichen,  für  schwierigere  noch  nicht.  Anderer- 
seits stellte  Aschaffenburg  an  mehreren  Personen  fest,  welche 
Veränderungen  die  Art  und  Dauer  gewisser  psychischer  Leistungen 
im  Verlaufe  einer  ohne  Nahrungsaufnahme  durcharbeiteten  Nacht 
erfuhren.  Dabei  ergab  sich  eine  allgemeine  Abnahme  der  geistigen 
Leistungsfähigkeit,  Erschwerung  der  Wahrnehmung  mit  gleich- 
zeitigem Auftreten  selbständiger  Sinneserregungen,  Verlangsamung 
des  Gedankenganges,   Entstehen  ideenflüchtiger  Vorstellungsver- 
bindungen 2),    endlich    erleichterte    Auslösung    von  Bewegungs- 
antrieben.   Patrick  und  Gilbert 3),  die  drei  Personen  neunzig 
Stunden  lang  wachen  ließen,  fanden  Abnahme  der  Muskelkraft, 
Verlängerung  der  psychischen  Zeiten,  eine  sehr  starke  Störung 
der  Aufmerksamkeit  und  der  Merkfähigkeit,  dagegen  Zunahme 
der  Sehschärfe  und  Auftreten  massenhafter  einfacher  Gesichts- 
täuschungen. Ganz  ähnliche  Beobachtungen  wurden  bei  unsinnigem, 
sechs  Tage  und  Nächte  hindurch  fortgesetztem  Radrennen  in  New- 
York  gemacht. 

Sehr  beachtenswert  ist  es,  daß  sich  nach  Ausweis  von  Ver- 
suchen die  durch  Hungern  und  Schlaflosigkeit  erzeugten  psychi- 


1)  Weygandt,  Psychologische  Arbeiten,  IV,  45. 

2)  Aschaffenburg,  Psychologische  Arbeiten,  II,  i. 

3)  Patrick  and  Gilbert,  Psychological  Review,  Sept.  1896. 


58 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


sehen  Störungen  erst  allmählich  wieder  ausgleichen.  So  ließ  sich 
die  Wirkung  einer  durcharbeiteten  Nacht  noch  bis  zum  vierten 
folgenden  Tage  in  einer  abnehmenden  Herabsetzung  der  Arbeits- 
fähigkeit erkennen.  Die  krankmachenden  Wirkungen  der  Er- 
schöpfung sind  jedenfalls  keine  einheitlichen;  sie  wechseln  je  nach 
der  Art  der  einwirkenden  Schädlichkeit.  Im  allgemeinen  werden 
wir  annehmen  können,  daß  ein  Teil  der  beobachteten  Störungen 
als  Reizwirkung  durch  die  in  größerer  Menge  gebildeten  und  un- 
genügend beseitigten  Zerfallsstoffe  gedeutet  werden  muß.  Diese 
werden  voraussichtlich  besonders  hervortreten,  wenn  die  Er- 
schöpfung durch  sehr  anstrengende  oder  sehr  lange  fortgesetzte 
Arbeit,  oder  aber  durch  Schlafentziehung  entstanden  ist.  Ferner 
werden  wir  Ausfallserscheinungen  erwarten  dürfen,  sobald  der 
Ersatz  der  verbrauchten  Gewebsteile  ungenügend  wird;  hier  könnte 
neben  den  genannten  Umständen  besonders  auch  die  mangelhafte 
Nahrungszufuhr  von  Bedeutung  werden.  Außer  dem  Sinken  der 
Leistungsfähigkeit  und  raschem  Eintreten  von  Ermüdungszeichen 
ist  wohl  auch  die  Herabsetzung  der  Widerstandsfähigkeit  gegen 
gemütliche  Einflüsse,  der  Verlust  der  inneren  Festigkeit,  als  Aus- 
fallserscheinung zu  deuten. 

Über  die  Bedeutung  der  Erschöpfung  als  Ursache  von  Geistes- 
störungen herrschen  weitgehende  Meinungsverschiedenheiten.  Meist 
pflegt  man  ihr  eine  ziemlich  große  Rolle  zuzuschreiben.  So  sollte 
die  von  Meynert  zuerst  abgegrenzte  Amentia,  ferner  der  „Er- 
schöpf ungsstupor",  die  akute  Demenz,  ihr  klinischer  Ausdruck 
sein,  und  auch  in  der  Entstehungsgeschichte  der  Paralyse  ist  der 
Überarbeitung  und  Überreizung  des  Gehirns  durch  erhöhte  In- 
anspruchnahme ein  wichtiger  Platz  eingeräumt  worden.  Endlich 
hat  man  die  Modekrankheit  unserer  Zeit,  die  Neurasthenie,  ge- 
radezu als  die  unmittelbare  Folge  der  erschöpfenden  Einflüsse  in 
unserer  hastenden  und  unruhigen  Lebensführung  angesehen.  Wie 
ich  glaube,  haben  sich  diese  Anschauungen  zum  größten  Teile 
als  irrig  erwiesen.  Die  Paralyse  befällt  in  weitem  Umfange  Men- 
schen, bei  denen  von  einer  Erschöpfung  gar  nicht  die  Rede  sein 
kann;  der  Erschöpfungsstupor  und  die  akute  Demenz  sind  zu 
einem  erheblichen  Teile  Zustandsbilder  der  Dementia  praecox  und 
des  manisch-depressiven  Irreseins,  bei  denen  wir  mit  ganz  anderen 
Ursachen  zu  rechnen  haben;  ein  Rest  kommt  durch  infektiöse 


Erschöpfung. 


59 


Krankheitsgifte  zustande.  Ähnliches  gilt  von  der  Amentia,  deren 
Gebiet  bei  sorgfältiger  Prüfung  und  Verfolgung  der  Fälle  bis  auf 
eine  kleine  Gruppe  im  Gefolge  von  ansteckenden  Krankheiten 
zusammenschrumpft;  auch  hier  wird  die  Verursachung  durch  Gifte 
immer  wahrscheinlicher.  Die  Neurasthenie  endlich  in  ihrer  ge- 
wöhnlichen Ausdehnung  umfaßt  ganz  überwiegend  Zustände,  die  als 
Ausdruck  krankhaft  minderwertiger  Veranlagung  anzusehen  sind. 

Jedenfalls  bedarf  demnach  die  Annahme,  daß  eine  Reihe  ver- 
schiedener Krankheitsbilder  durch  Erschöpfung  erzeugt  werden 
kann,   sehr  erheblicher  Einschränkungen.    Ich   bin  sogar  sehr 
zweifelhaft  geworden,   ob  jene  beim  Fieberabfall  nach  akuten 
Krankheiten  ganz  plötzlich  einsetzenden,  rasch  verlaufenden  deli- 
riösen  Erregungszustände,  die  man  als  „Collapsdelirien"  zu  be- 
zeichnen pflegt,  nicht  richtiger  auf  Vergiftung  durch  Krankheits- 
erzeugnisse  zurückzuführen   sind.    Immerhin   werden   bei  Ver- 
hungernden und  namentlich  Verdurstenden,  bei  Schiffbrüchigen 
und  Verschütteten,  bei  denen  allerdings  noch  heftige  Gemüts- 
bewegungen mitspielen,  schnell  zum  Tode  führende  verworrene 
Aufregungen  beobachtet,  die  kaum  eine  andere  Erklärung  zu- 
lassen als  die  Erschöpfung.    Leider  kommen  sie  fast  niemals  in 
die  Hände  des  Irrenarztes.   Zweifelhafter  schon  ist  die  Deutung 
bei  langsam  sich  entwickelnder  Erschöpfung.   Hysterische  können 
durch  planmäßiges  Hungern  ihr  Körpergewicht  jahrelang  auf  ein 
Mindestmaß  herunterbringen,  ohne  dadurch  bedingte  psychische 
Störungen  darzubieten.    Anscheinend  vermag  sich  unser  Körper 
durch  allerlei  Auskunftsmittel  sehr  lange  gegen  eine  verhängnis- 
volle Schädigung  des  Hirns  durch  Hungern  zu  schützen.  Wenn 
wir  daher  bei  schweren  Blutentmischungen  geistige  Störungen 
eintreten  sehen,  werden  wir  jedenfalls  immer  an  die  Möglichkeit 
zu  denken  haben,  daß  giftige  Zerfallsstoffe  dabei  mitgespielt  haben. 

Weit  verhängnisvoller,  als  ungenügende  Ernährung,  wirkt  jeden- 
falls die  Beeinträchtigung  des  Schlafes,  wie  sie  besonders  durch 
andauernde  Gemütsbewegungen,  Kummer,  Sorge,  aufreibende,  ver- 
antwortungsvolle Tätigkeit,  Überlastung  mit  Pflichten  herbei- 
geführt wird.  Ihre  Folgeerscheinung  ist  neben  den  Störungen  des 
Schlafes  und  der  Ernährung  das  Bild  der  nervösen  Erschöpfung, 
das  sich  aus  Niedergeschlagenheit,  Steigerung  der  gemütlichen 
Reizbarkeit,  Abnahme  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  und  Sinken 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

der  Tatkraft  zusammensetzt.  Erstrecken  sich  leichtere  oder 
schwerere  derartige  Störungen  über  größere  Lebensabschnitte,  so 
bewirken  sie  zweifellos  eine  dauernde  Herabsetzung  der  Wider- 
standsfähigkeit gegen  krankmachende  Schädlichkeiten.  Weiter- 
hin dürfen  wir  wohl  auch  annehmen,  daß  sie  ein  rasches  ,, Ver- 
brauchtwerden" bedingen  und  damit  vorzeitiges  Eintreten  von 
Rückbildungserscheinungen  und  Greisenveränderungen  begünstigen. 

Infektionskrankheiten.^)  Eine  kleine,  aber  ungemein  wichtige 
Gruppe  bilden  die  Geistesstörungen,  die  durch  Infektionskrank- 
heiten erzeugt  werden.  In  den  Irrenanstalten  pflegen  sie  kauiji 
mehr  als  i — 2%  der  Aufnahmen  zu  bilden,  da  sich  ein  großer 
Teil  dieser  meist  ziemlich  rasch  verlaufenden  Formen  in  den 
Krankenhäusern  oder  in  häuslicher  Pflege  abspielt.  Dies  gilt 
namentlich  von  den  auch  hierher  gehörigen  einfachen  Fieber- 
delirien, über  deren  klinische  Stellung  gegenüber  den  ausge- 
sprocheneren und  länger  dauernden  Geisteskrankheiten  merk- 
würdigerweise bis  in  die  jüngste  Zeit  große  Meinungsverschieden- 
heiten herrschen.  Was  dem  Irresein  durch  Infektionskrankheiten 
seine  besondere  Bedeutung  gibt,  das  ist  die  Klarheit  der  ursäch- 
lichen Verhältnisse.  Wir  haben  bestimmte,  mächtig  und  vielfach 
ganz  plötzlich  eingreifende  Schädigungen  vor  uns,  die  sehr  auf- 
fallende Krankheitsbilder  und  greifbare  Rindenveränderungen  her- 
vorbringen. Dabei  bilden  die  sogenannten  Fieberdelirien  offenbar 
nur  die  leichtesten  Formen  von  Störungen,  die  in  anderen  Fällen 
eine  eigenartige  Weiterentwicklung  erfahren  können.  Im  ganzen 
scheinen  die  durch  akute  Infektionen  bedingten  psychischen  Er- 
krankungen, dank  der  Verbesserung  unserer  Vorbeugungs-  und 
Behandlungsverfahren,  seltener  zu  werden.  Die  Krankheiten,  die 
hier  wesentlich  bei  uns  in  Betracht  kommen,  sind  vor  allem 
Typhus^),  Gelenkrheumatismus,  Pneumonie,  Kopfrose^), 
Influenza^),  sodann  Pocken,  Scharlach,  Masern,  Keuch- 

1)  Kraepelin,  Arch.  f.  Psychiatrie,  Bd.  XI  u.  XII;  Adler,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  LIII,  740;  Siemerling,  Deutsche  Klinik,  VI,  363. 

2)  Friedländer,  Über  den  Einfluß  des  Typhus  auf  das  Nervensystem.  1901; 
Rouge,  Annales  medico-psychologiques,  1905,  I,  i;  1907,  I,  i;  Farrar,  American 
journal  of  insanity,  LIX,  i. 

3)  Frenkel,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVIII,  383. 

4)  Jutrosinski,  Influenzapsychosen,  Diss.1890;  Kirn,  Volkmanns klin.  Vor- 
träge, Neue  Folge,  XIII,  1890;  Fahr,  Influenza  som  aarsag  til  sindssygdom.  1898; 
Klemm,  Psychosen  im  ätiologischen  Zusammenhang  mit  Influenza.   Diss.  1901. 


Infektionskrankheiten.  6l 

husten^),  Wechselfieber  und  Cholera.  Dazu  kämen  noch 
die  verschiedenen  Formen  der  infektiösen  Encephalitis  und  Menin- 
gitis, die  schon  früher  kurze  Erwähnung  gefunden  haben,  und 
endlich  die  unter  dem  Namen  der  Blutvergiftung  zusammen- 
gefaßten Infektionen  verschiedener  Herkunft. 

Die  eigentlich  schädigende  Ursache  muß  nach  unseren  heutigen 
Anschauungen  hier  überall  zunächst  in  den  Giftwirkungen  der 
Krankheitserreger  gesucht  werden.  Ganz  sichere  Anhaltspunkte 
für  diese  Annahme  geben  uns  jene  Beobachtungen,  in  denen  sich 
ausgeprägte  psychische  Störungen  während  des  fieberlosen  oder 
doch  sehr  gering  fieberhaften  Verlaufes  der  Krankheit  entwickeln. 
Das  kommt  einmal  vor  bei  schwerer  Sepsis,  bisweilen  bei  Malaria, 
dann  aber  im  Beginn  des  Typhus  und  der  Pocken,  vielleicht  auch 
der  Influenza  und  des  Scharlach.  Da  solche  Fälle  durchweg  sehr 
schwere  zu  sein  pflegen,  haben  wir  es  hier  anscheinend  von  vorn- 
herein mit  einer  besonders  starken  Schädigung  des  Nervengewebes 
durch  Krankheitsgifte  zu  tun. 

Diejenige  Erscheinung,  der  man  von  jeher  den  Hauptanteil  an 
der  Erzeugung  von  Irresein  durch  akute  Krankheiten  zugeschrieben 
hat,  ist  das  Fieber  mit  den  begleitenden  Störungen  der  Herztätig- 
keit, des  Kreislaufs,  der  Nahrungsaufnahme,  des  Stoffwechsels. 
Für'  diese  Auffassung,  die  in  der  landläufigen  Bezeichnung  der 
Fieberdelirien  ihren  Ausdruck  gefunden  hat,  spricht  der  Umstand, 
daß  in  der  Tat  die  „Delirien"  vielfach  genau  dem  Gange  der  Eigen- 
wärme parallel  gehen,  ein  Verhalten,  das  sich  namentlich  deutlich 
bei  dem  regelmäßigen  Verlaufe  der  Typhuskurve  herauszustellen 
pflegt.   Eine  Schädigung  der  Nervenzellen  durch  Erwärmung,  die 
freilich  schwerlich  als  eigenartig  angesehen  werden  darf,  ist  denn 
auch  von  Goldscheider  und  Flatau  wie  von  Lugaro  festgestellt 
worden.   Wir  sind  jedoch  wohl  heute  geneigt,  das  Fieber  nicht 
als  eine  selbständige  Krankheitserscheinung,  sondern  als  eine  Ver- 
teidigungsmaßregel des  Körpers  gegen  die  Krankheitserreger  anzu- 
sehen; das  Ansteigen  der  Körperwärme  würde  uns  demnach  nur 
einen  verstärkten  Angriff  jenes  letzteren  anzeigen.  Weniger  dem 
Fieber  selbst,  als  den  Giftwirkungen,  die  es  auslösen,  werden  wir 
daher  das  Auftreten  der  psychischen  Störungen  zuzuschreiben 


1)  Neurath,  Obersteiners  Arbeiten,  XI,  258. 


62 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


haben.  Dafür  spricht  namentlich  auch  die  Erfahrung,  daß  bei 
manchen  Leiden,  z.  B.  bei  der  Tuberkulose,  lange  dauernde,  be- 
trächtliche Temperatursteigerungen  verhältnismäßig  sehr  selten  mit 
auffallenderen  seelischen  Veränderungen  einhergehen.  Etwas  anders 
sind  vielleicht  die  namentlich  beim  Gelenkrheumatismus  und  bei 
Blutvergiftungen  beobachteten  Fälle  von  ganz  außerordentlicher 
Erhöhung  der  Körperwärme,  bis  zu  43  °  und  selbst  44  °,  anzusehen ; 
hier  werden  wir  die  Möglichkeit  zugeben  müssen,  daß  die  Er- 
wärmung selber  eine  schwere  Schädigung  des  Hirngewebes  be- 
deutet, die  sich  zu.  derjenigen  durch  das  Krankheitsgift  hinzu- 
gesellt. 

Eine  gewisse  Bedeutung  für  die  Entstehung  der  Delirien  bei 
Infektionskrankheiten  hat  weiterhin  zweifellos  der  Zustand  der 
Kreislaufsorgane,  vielleicht  auch  der  Lungen,  da  wir  jene  Stö- 
rungen nicht  nur  verhältnismäßig  häufig  bei  begleitenden  Herz- 
erkrankungen (Gelenkrheumatismus),  sondern  bei  den  verschie- 
densten Formen  der  Herzschwäche  und  ebenso  bei  ausgedehnter 
Verdichtung  der  Lungen  auftreten  sehen.  Wir  dürfen  vielleicht 
annehmen,  daß  Kreislaufsstörungen  und  Behinderung  der  Sauer- 
stoffzufuhr dem  Körper  die  Vernichtung  kreisender  Krankheits- 
gifte wesentlich  erschweren.  Ebenfalls  mittelbare  Wirkungen 
werden  wir  beim  Scharlach  der  Nierenerkrankung,  bei  der  Malaria 
den  Blutveränderungen,  bei  der  Cholera  der  starken  Wasserent- 
ziehung zuzuschreiben  haben  usf.  Endlich  ist  zu  berücksich- 
tigen, daß  auch  durch  meningitische  Begleiterkrankungen  Hirn- 
erscheinungen ausgelöst  werden  können,  so  besonders  beim  Ge- 
lenkrheumatismus, seltener  bei  Influenza,  Kopfrose,  Keuchhusten. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  persön- 
liche Empfindlichkeit  für  die  Entstehung  von  Seelenstörungen  bei 
akuten  Infektionskrankheiten  nicht  ohne  Bedeutung  ist.  Bei 
Kindern  und  Frauen,  ferner  bei  nervösen,  erregbaren  Menschen 
treten  nicht  nur  erhebliche  Fiebergrade,  sondern  auch  delirante 
Erscheinungen  auffallend  leicht  hervor;  sie  sind  daher  als  ver- 
hältnismäßig harmlos  zu  betrachten.  Eine  besondere  Gruppe 
bilden  die  Trinker,  bei  denen  jede  ernstere  Gleichgewichtsstörung 
im  Körperhaushalte  gern  die  durch  ihr  Leiden  schon  lange  vor- 
bereiteten alkoholischen  Störungen  auslöst.  Säufer  delirieren  daher 
erfahrungsgemäß  bei  fieberhaften  Erkrankungen  ungemein  häufig. 


Infektionskrankheiten. 


63 


und  ihrem  Zustande  pflegen  dann  in  mehr  oder  weniger  deutlicher 
Ausprägung  die  Erscheinungen  beigemischt  zu  sein,  welche  dem 
chronischen  Alkoholismus  eigentümlich  sind.  Uns  begegnen  daher 
bei  ihnen  alle  möglichen  Übergangsformen  vom  gewöhnlichen 
Fieberdelirium  zum  vollentwickelten  Delirium  tremens. 

Die  kennzeichnende  klinische  Form,  in  der  das  akute  infektiöse 
Irresein  auftritt,  ist  das  Delirium,  ein  Zustand  von  traumhafter 
Benommenheit  und  Unklarheit  mit  wechselnden,  szenenhaften 
Sinnestäuschungen  und  verworrenen,  zusammenhangslosen  Wahn- 
bildungen. Dazu  gesellt  sich  zunächst  meist  eine  gewisse  Erregung, 
die  sich  zu  den  höchsten  Graden  steigern  kann;  mit  zunehmender 
Schwere  der  Erkrankung  treten  dann  die  Zeichen  der  Lähmung, 
Unbesinnlichkeit,  Schlafsucht,  Betäubung,  mehr  und  mehr  in  den 
Vordergrund. 

Der  Wirkungsweise  einiger  der  genannten  Infektionskrank- 
heiten in  mancher  Beziehung  verwandt  ist  diejenige  der  Lyssa, 
insofern  es  sich  auch  hier  wohl  um  eine  unmittelbare  Vergiftung 
der  Hirnrinde  handelt.  Emminghaus^)  führt  als  einleitende 
Symptome  traurige  Verstimmung  und  Ängstlichkeit  an;  auf  der 
Höhe  der  Erkrankung  wechseln  die  Erscheinungen  höchster  psy- 
chischer Erregung,  heftige  Delirien,  Sinnestäuschungen,  Gewalt- 
taten mit  vorübergehender  völliger  Klarheit  des  Bewußtseins  ab, 
bis  endlich  mit  dem  Eintritte  psychischer  Lähmung  das  Leiden 
abschließt. 

Weit  größere  Schwierigkeiten,  als  die  bisher  betrachteten  Formen, 
setzen  diejenigen  Geistesstörungen  unseren  Erklärungsversuchen 
entgegen,  die  nicht  im  Beginne  oder  auf  der  Höhe  der  akuten 
Infektionskrankheit,  sondern  erst  nach  ihrem  Ablaufe,  in  der 
Genesungszeit,  zur  Entwicklung  gelangen.  Bei  einem  Teile  dieser 
Krankheitsbilder  lassen  sich  allerdings  die  ersten  Zeichen  bis  in 
die  fieberhafte  Zeit  zurückverfolgen,  oder  sie  erscheinen,  wenn 
auch  in  veränderter  Form,  geradezu  als  unmittelbare  Fortsetzung 
ausgeprägter  Fieberdelirien.  Hier  wird  man  sich  vorstellen  dürfen, 
daß  durch  das  infektiöse  Gift  tiefergreifende  Krankheitsvorgänge 
in  der  Hirnrinde  angeregt  worden  sind,  die  sich  erst  allmählich, 
unter  Umständen  auch  gar  nicht  mehr  ausgleichen.    Wenn  wir 

1)  Emminghaus,  Arch.  d.  Heilkunde,  XV,  239;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psy- 
chiatrie, XXXI,  5. 


64 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


in  den  tötlich  verlaufenden  Fällen  die  schweren  und  ausgebreiteten 
Veränderungen  der  Nervenzellen,  die  frischen  Gliawucherungen, 
die  entzündlichen  Vorgänge  sehen,  werden  wir  uns  nicht  wundern, 
daß  die  durch  sie  bedingten  psychischen  Störungen  den  fieber- 
haften Abschnitt  der  Krankheit  längere  Zeit  überdauern  können. 
Hier  und  da,  namentlich  nach  Typhus,  Pocken  und  Malaria,  be- 
obachten wir  denn  auch  die  Anzeichen  gröberer  Schädigungen  des 
Hirns  und  Rückenmarks,  ja  der  gesamten  Nerven  (Polyneuritis) ; 
auch  kann  es  zur  Entwicklung  unheilbarer  geistiger  Schwäche- 
zustände kommen. 

Wo  indessen  die  psychischen  Störungen  erst  nach  dem  Schwin- 
den aller  sonstigen  Krankheitserscheinungen  zum  ersten  Male 
hervortreten,  ist  eine  Erklärung  durch  unmittelbare  Giftwirkungen 
des  ursprünglichen  Krankheitserregers  offenbar  unbefriedigend. 
Man  begreift  nicht  recht,  warum  das  schon  so  lange  den  Körper 
schädigende  Gift  erst  so  spät  die  Hirnrinde  ergriffen  haben  soll. 
Hier  pflegt  meist  der  Begriff  der  Erschöpfung  einzutreten.  Die 
Schädigung  der  gesamten  Körperernährung  durch  den  schweren 
Krankheitsvorgang  soll  nach  dem  Aufhören  des  Kampfes  ge- 
wissermaßen einen  Zusammenbruch  herbeiführen,  der  bald  unter 
plötzlichem  Abfall  der  Körperwärme  und  der  Pulsbeschleunigung 
ganz  rasch  und  stürmisch  erfolgt,  bald  sich  riiehr  allmählich  in 
einem  allgemeinen  Darniederliegen  aller,  auch  der  seelischen  Ver- 
richtungen äußert. 

Wie  mir  scheint,  erheben  sich  auch  gegen  diese  Auffassung 
allerlei  Bedenken.  Wenn  wir  auch  absehen  wollen  von  der  Er- 
fahrung, daß  sehr  tiefgreifende  erschöpfende  Einflüsse  anderer  Art 
gar  keine  oder  doch  ganz  abweichende  Veränderungen  im  Seelen- 
leben herbeizuführen  pflegen,  so  ist  doch  die  Tatsache  auffallend, 
daß  den  einzelnen  Infektionskrankheiten  in  ganz  verschiedenem 
Grade  die  Fähigkeit  zukommt,  psychische  Nachkrankheiten  zu  er- 
zeugen; neben  dem  Typhus  ist  namentlich  der  Gelenkrheumatis- 
mus beteiligt.  Wollte  man  auch  annehmen,  daß  beide  wegen 
ihrer  langen  Dauer  besonders  stark  erschöpfend  wirken,  so  steht 
dem  einmal  die  Influenza,  die  ebenfalls  verhältnismäßig  oft  gei- 
stige und  nervöse  Nachkrankheiten  erzeugt,  andererseits  das  Bei- 
spiel der  Tuberkulose  gegenüber,  bei  der  trotz  äußerster  Er- 
schöpfung psychische  Erkrankungen  recht  selten  sind.  Ferner 


Infektionskrankheiten. 


65 


beobachten  wir  nach  Lungenentzündung  und  Kopfrose  ziemlich 
häufig  fieberlose  Delirien,  nach  der  doch  mindestens  ebenso  ein- 
greifenden Diphtherie  dagegen  fast  niemals.  Diese  und  ähnliche 
Erfahrungen  deuten  darauf  hin,  daß  doch  wohl  besondere  Unter- 
schiede zwischen  den  einzelnen  Erkrankungen  eine  Rolle  spielen, 
nicht  ihr  allgemeiner  erschöpfender  Einfluß. 

Natürlich  ist  es  schwer,  sich  darüber  genauere  Vorstellungen 
zu  machen,  aber  es  gibt  doch  einzelne  Tatsachen,  die  dafür  spre- 
chen, daß  der  Vorgang  der  Infektion  viel  verwickelter  ist,  als  es 
von  vornherein  den  Anschein  hat.    Vor  allem  seien  hier  gewisse 
Schwankungen  im  Verlaufe  der  Infektionsdelirien  erwähnt,  die  auf 
verschiedene  Abschnitte  der  Giftwirkung  hinzuweisen  scheinen.  Die 
Initialdelirien  des  Typhus,  die  schon  vor  dem  Erscheinen  des  Fiebers 
beginnen  können,  schwinden  nicht  selten  mit  dem  Ansteigen  der 
Körperwärme,  um  dann  nach  einer  klaren  Zwischenzeit  durch 
gewöhnliche  Fieberdelirien  abgelöst  zu  werden.    Bei  den  Pocken 
werden  nach  den  einleitenden  Delirien  der  Eruptionszeit  mit  dem 
Sinken  der  Körperwärme  öfters  ganz  andersartige  Zustände  be- 
obachtet, denen  während  des  Eiterungsfiebers  von  neuem  Fieber- 
delirien folgen  können.   Ferner  ist  beim  Gelenkrheumatismus  so 
oft  ein  mehrfacher  Wechsel  zwischen  Gelenkschwellung  und  psy- 
chischer Störung  beschrieben  worden,  daß  man  kaum  an  Be- 
obachtungsfehler oder  zufälliges  Zusammentreffen  denken  kann. 
Endlich  sei  hier  an  die  besonders  bei  der  Diphtherie  verhängnis- 
vollen „nervösen  Nachkrankheiten"  erinnert.  Es  hat  demnach  den 
Anschein,  als  ob  in  demselben  Krankheitsverlaufe  nacheinander, 
vielleicht  auch  nebeneinander,  Gifte  mit  verschiedenartigen  Wir- 
kungen auftreten  können.    Ob  wir  es  dabei  mit  Umwandlungen 
der  Krankheitserreger  selbst,  mit  krankhaft  veränderten  oder  an- 
gehäuften Zerfallsstoffen,  mit  den  Folgeerscheinungen  von  Organ- 
erkrankungen oder  mit  noch  ganz  anderen  Vorgängen  zu  tun  haben, 
muß  einstweilen  dahingestellt  bleiben. 

Die  klinischen  Formen  der  psychischen  Nachkrankheiten  bieten 
eine  weit  größere  Mannigfaltigkeit,  als  die  Infektionsdelirien;  sie 
zeigen  auch  vielfach  eine  weit  längere  Dauer  und  eine  selbstän- 
digere Entwicklung.  Zunächst  können  sich,  besonders  nach  Typhus, 
einzelne  im  Fieber  entstandene  Wahnbildungen  noch  einige  Zeit 
fortspinnen;   Sinnestäuschungen  können  noch  andauern,  ebenso 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^ 


66 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Merkstörungen,  mit  der  Neigung,  die  Erinnerungslücken  durch 
abenteuerliche  Erfindungen  auszufüllen.  Eine  zweite  Gruppe  bil- 
den die  besonders  nach  Lungenentzündung  und  Kopfrose  auf- 
tretenden, stürmisch  verlaufenden  halluzinatorischen  Verwirrtheits- 
zustände, die  nach  Webers  Vorgang  als  ,, Kollapsdelirien"  be- 
zeichnet zu  werden  pflegen.  Ihnen  stehen  klinisch  nahe  die  weit 
langsamer  verlaufenden  sogenannten  Amentiaformen,  welche  die 
Hauptmasse  der  Beobachtungen  umfassen.  Auch  hier  handelt  es 
sich  um  Unklarheit  der  Auffassung  und  Orientierung  mit  mehr 
oder  weniger  reich  entwickelten  Sinnestäuschungen,  Erschwerung 
des  Denkens  mit  verworrenen,  seltener  zusammenhängenden  Wahn- 
bildungen, Stimmungswechsel  und  Unruhe,  die  sich  zeitweise  zu 
heftiger  Erregung  steigern  kann.  Weiterhin  begegnen  uns,  vor- 
zugsweise nach  Influenza,  aber  auch  nach  Gelenkrheumatismus, 
einfache  Depressionszustände  mit  hypochondrischen  oder  Beein- 
trächtigungsideen und  nörgelnder,  mißtrauischer  Stimmung,  die 
ohne  scharfe  Grenze  in  die  gewöhnliche  reizbare  Schwäche  der 
von  schwerer  Krankheit  Genesenden  übergehen.  Endlich  aber 
haben  wir  noch  als  schwerster  Form  jener  Zustände  mit  gänz- 
lichem Darniederliegen  aller  geistigen  Leistungen  zu  gedenken, 
die  das  Bild  der  ,, akuten  Demenz"  darbieten;  auch  bei  ihnen  ist 
übrigens  in  der  Regel  noch  völlige  Wiederherstellung  möglich; 
unheilbare  Veränderungen  scheinen  namentlich  nach  Typhus  und 
Pocken,  seltener  nach  Gelenkrheumatismus  vorzukommen. 

In  einer  großen  Anzahl  von  Fällen  handelt  es  sich  bei  den 
Geistesstörungen  nach  körperlichen  Krankheiten  um  solche  For- 
men des  Irreseins,  die  in  Wirklichkeit  aus  ganz  anderen  Ursachen 
entstehen.  Die  Schädigung  gibt  hier  nur  den  letzten  Anstoß  zur 
Entwicklung  des  schon  mehr  oder  weniger  weit  vorbereiteten 
Leidens.  Das  ist  der  Fall  bei  den  verschiedenen  Formen  des 
manisch-depressiven  Irreseins  und  der  Katatonie,  bei  den  senilen 
Delirien,  bisweilen  auch  bei  den  paralytischen  Erkrankungen.  Ge- 
wöhnlich ist  hier  auch  der  zeitliche  Zusammenhang  zwischen 
körperlicher  Krankheit  und  Irresein  ein  ziemlich  lockerer;  Ge- 
legenheitsursachen, z.  B.  Gemütsbewegungen,  spielen  eine  ziem- 
liche Rolle.  In  einzelnen  Fällen  beginnt  die  Störung  bei  dem  wenig 
widerstandsfähigen  Rekonvaleszenten  erst  Wochen  oder  gar  Monate 
nach  dem  Ablaufe  der  hier  eigentlich  nur  noch  vorbereitenden 


Infektionskrankheiten. 


67 


Erkrankung,  ja  es  scheint,  daß  namentlich  nach  Typhus  unter 
Umständen  selbst  jahrelang  eine  reizbare  Schwäche  zurückbleiben 
kann,  welche  der  Entwicklung  späterer  Geistesstörungen  Vorschub 
leistet. 

Von  den  chronischen  Infektionskrankheiten  kommt  für  uns  als 
Ursache  von  Geistesstörungen  wesentlich  nur  die  Syphilis^)  in 
Betracht,  freilich  in  ganz  hervorragendem  Maße.   Nach  Breslers 
Angaben  ist  das  Nervengewebe  an  den  durch  ererbte  Syphilis  er- 
zeugten Erkrankungen  mit  13%  beteiligt;  namentlich  Epilepsie, 
Idiotie  und  juvenile  Paralyse  entstehen  auf  diesem  Wege.  Sodann 
sollen  bald  nach  dem  Ausbruche  der  Krankheit  psychische  Stö- 
rungen  hervortreten,   als   deren   körperliche   Grundlage  Kowa- 
lewsky  Blutveränderungen  betrachtet,  die  in  einer  Abnahme  der 
roten  Blutkörperchen  und  ihres  Farbstoffgehaltes  sowie  in  einer 
Zunahme  der  weißen  Blutkörperchen  bestehen  und  zur  Zeit  des 
Ausschlags  ihre   größte   Entwicklung  erreicht  haben.     Wie  wir 
durch  die  serologischen  Untersuchungen  wissen,  findet  sich  auch 
nicht  selten  Complementablenkung.    Späterhin  kommt  es  dann  zu 
den  von  Heubner  vor  allem  beschriebenen  Gefäßerkrankungen, 
zu  den  verschiedenen  Formen  der  syphilitischen  Encephalitis  und 
Meningitis  oder  zu  umschriebenen  gummösen  Veränderungen.  Bei 
allen  diesen  Erkrankungen,  die  schon  nach  i — 3  Jahren  zur  Ent- 
wicklung kommen  können,  handelt  es  sich  wohl  zweifellos  um 
örtliche  Wirkungen  des  Krankheitserregers,  wenn  auch  der  Nach- 
weis größerer  Mengen  von  Spirochaete  pallida  bisher  nur  in  den 
Erzeugnissen  der  Erbsyphilis  gelungen  ist.    Wenn  außerdem  in 
manchen  Fällen  Blutveränderungen  durch   übertriebene  Queck- 
silberbehandlung oder  Furcht  vor  den  möglichen  Folgen  der  An- 
steckung als  krankmachende  Umstände  angeführt  werden,  so  ist 
damit  natürlich  der  Zusammenhang  mit  der  Syphilis  selbst  ver- 
lassen. 

Den  klinischen  Ausdruck  der  luetischen  Krankheitsvorgänge 
bilden  Zustände,  die  man  zunächst  unter  der  Bezeichnung  der 


1)  Heubner,  v.  Ziemssens  Handbuch,  Bd.  XI,  i;  Rumpf,  Die  syphili- 
tischen Erkrankungen  des  Nervensystems.  1887;  Kowalewsky,  Arch.  f.  Psy- 
chiatrie, XXVI,  552;  Jolly,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1901,  i;  Bresler,  Erbsyphilis 
und  Nervensystem.  1905;  Fournier  et  Raymond,  Paralysie  generale  et  Syphilis. 
1905;  Nonne,  Syphilis  und  Nervensystem,  2.  Aufl.  1909. 

5* 


68 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


syphilitischen  Neurasthenie,  Hypochondrie  oder  Hysterie  zusammen- 
zufassen pflegt.  Schon  zur  Zeit  des  ersten  Ausschlags  sollen  der- 
artige Krankheitsbilder  hervortreten  können,  um  sich  nach  dem 
Schwinden  desselben  oder  unter  dem  Einflüsse  der  Quecksilber- 
behandlung rasch  wieder  zu  verlieren.  Im  weiteren  Verlaufe  deuten 
manche  Begleiterscheinungen,  starke  Kopfschmerzen,  Schwindel- 
anfälle, leichte,  flüchtige  Sprachstörungen  oder  Lähmungen,  Doppelt- 
sehen, halbseitige  Empfindungsstörungen,  vielleicht  auch^  einmal 
eine  Ohnmacht  oder  ein  epileptiformer  Anfall  neben  den  Zeichen 
von  Zerstreutheit,  Versagen  des  Gedächtnisses,  Reizbarkeit,  Er- 
müdbarkeit, Arbeitsunlust,  Niedergeschlagenheit  und_  Willens- 
schwäche vielfach  schon  auf  ein  ernsteres  Leiden  hin,  dem  viel- 
leicht die  allmähliche  Entwicklung  der  Gefäßerkrankungen  oder 
fortdauernde  leichte  Giftwirkungen  zugrunde  liegen.  Wo  aus- 
geprägte psychogene  Erscheinungen  hervortreten,  haben  wir  uns 
wohl  vorzustellen,  daß,  ähnlich  wie  bei  anderen  Hirnerkrankungen, 
die  unmittelbaren  körperlichen  Veränderungen  durch  Vermittlung 
gefühlsstarker  Vorstellungen  Störungen  herbeiführen,  die  mehr 
oder  weniger  weit  über  den  Rahmen  jener  ersteren  hinausgreifen. 
Die  Fortentwicklung  dieser  Krankheitsbilder  führt,  wenn  sie  nicht 
durch  die  Behandlung  unterbrochen  wird,  zu  geistigen  Schwäche- 
zuständen. Gedächtnis  und  Merkfähigkeit  nehmen  ab;  das  Urteil 
wird  schwach;  die  Fähigkeit  zu  planmäßiger,  geordneter  Tätig- 
keit geht  verloren.  Zugleich  können  sich  nun  eine  Reihe  von 
ausgeprägten  psychischen  Krankheitszeichen  einstellen,  reizbares, 
nörgelndes  Wesen,  Wahnbildungen  meist  flüchtiger,  aber  oft 
ganz  abenteuerlicher  Art,  Sinnestäuschungen,  heitere  oder  miß- 
trauisch-gereizte Stimmung,  Erregung,  Prahlsucht,  Verschwen- 
dungssucht. Schließlich  können  die  Kranken  vollkommen  ver- 
blöden. In  der  Regel  ist  aber  diese  Entwicklung  von  den  deut- 
lichen Zeichen  eines  schweren  Hirnleidens  begleitet,  namentlich 
von  halbseitigen  Lähmungen,  apoplektiformen  oder  epileptiformen 
Anfällen,  Opticusatrophie ,  Augenmuskellähmungen,  aphasischen 
Störungen. 

Bisher  noch  kaum  übersehbare  Beziehungen  der  Lues  zu  den 
psychischen  Entwicklungshemmungen  scheinen  uns  die  serologi- 
schen Untersuchungen  des  Blutes  aufzudecken.  Plaut  konnte 
bei  einer  Reihe  von  Idioten,  Schwachsinnigen,  Minderwertigen, 


Infektionskrankheiten. 


69 


die  von  syphilitischen  Eltern  abstammten,  den  Nachweis  syphi- 
litischer Veränderungen  führen.  Wir  werden  somit  darauf  hin- 
gewiesen, daß  die  Lues  auch  dort,  wo  sie  sonst  keine  erkenn- 
baren Erscheinungen  mehr  darbietet,  in  deutlichen  Zeichen 
fortzuwirken  vermag  und  es  liegt  sehr  nahe,  die  beobachteten 
seelischen  Entwicklungshemmungen  auf  Keimschädigungen  durch 
das  syphilitische  Gift  zurückzuführen,  ähnlich  wie  wir  es  beim 
Alkohol  zu  tun  berechtigt  sind.  Dort  wie  hier  hätten  wir  neben 
jenen  schweren  Störungen,  die  den  vorzeitigen  Untergang  der 
reifenden  Frucht  oder  ihre  Lebensschwäche  herbeiführen,  mit  leich- 
teren Wirkungen  zu  rechnen,  die  zur  Entstehung  eines  minder- 
wertigen, mangelhaft  entwickelten  und  krankhaft  veranlagten  Ge- 
schlechtes führen. 

Von  ungleich  größerer  Bedeutung  noch,  als  die  im  engeren 
Sinne  syphilitischen  Geistesstörungen,  ist  die  progressive  Paralyse, 
von  der  wir  heute  wissen,  daß  sie  sich  ausschließlich  auf  dem 
Boden  einer  vorausgegangenen  Lues  entwickelt.   Die  Beweise  für 
diesen  Zusammenhang,  der  früher  nur  für  einen  mehr  oder  weniger 
großen  Teil  der  Fälle  angenommen  wurde,  haben  sich  in  den  letzten 
Jahren  derart  gehäuft,  daß  wir  heute  an  der  Einheitlichkeit  der 
syphilitischen  Krankheitsursache  bei  der  Paralyse  nicht  wohl  mehr 
zweifeln  können.    Insbesondere  scheint  mir  der  Nachweis  von 
syphilitischen  Veränderungen    im   Blute   von  Paralytikern,  der 
heute  so  gut  wie  ausnahmslos  gelingt,  auch  die  letzten  Bedenken 
zu  beseitigen,  die  etwa  die  rein  statistische  Begründung  der  ursäch- 
lichen Beziehungen  zwischen  Paralyse  und  Lues  noch  übrig  ge- 
lassen hat.  Allerdings  wird  sich  die  ätiologisch  einheitliche  Form 
der  Paralyse  nicht  immer  mit  der  klinischen  Gruppe  decken.  Viel- 
fach sind  Fälle  für  Paralysen  gehalten  worden,  die  in  Wahrheit 
andersartigen  Krankheitsvorgängen  angehörten,  der  Arteriosklerose, 
den  alkoholischen  oder  syphilitischen  Hirnerkrankungen.  Um- 
gekehrt haben  sich  einzelne  Beobachtungen  als  zur  Paralyse  gehörig 
erwiesen,  die  bis  dahin  etwa  der  Idiotie  oder  dem  Altersblödsinn 
zugezählt  wurden.    Die  Führung  auf  diesem  Gebiete  klinischer 
Forschung  hat  die  pathologische  Anatomie  übernommen.  Seit- 
dem es  ihr,  vor  allem  den  Bemühungen  Nissls  und  Alzheimers, 
gelungen  ist,  aus  dem  Leichenbefunde  den  eigenartigen  paraly- 
tischen Krankheitsvorgang  mit  Sicherheit  zu  erkennen,  hat  auch 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

die  klinische  Umgrenzung  der  Krankheitsbilder,  die  diesen  einheit- 
lichen Befund  liefern,  bedeutende  Fortschritte  gemacht.  Endlich 
aber  hat  uns  das  serologische  Untersuchungsverfahren  in  den 
Stand  gesetzt,  dem  anatomisch  und  klinisch  geläuterten  Begriffe 
der  Paralyse  nun  auch  eine  unzweideutige  ätiologische  Grundlage 
zu  geben. 

Leider  vermögen  wir  uns  über  die  Art  des  Zusammenhanges 
zwischen  Syphilis  und  Paralyse  noch  keine  genauere  Vorstellung 
zu  machen.  Man  nimmt  im  allgemeinen  an,  daß  etwa  i — 2%  der 
Syphilitischen  späterhin  paralytisch  werden.  Um  die  Besonderheit 
dieser  Fälle  zu  erkläreri,  hat  man  von  einer  ,, Syphilis  ä  virus  ner- 
veux"  gesprochen,  von  einem  Gift,  das  gerade  das  Nervengewebe 
zu  schädigen  geeignet  sei.  Eine  gewisse  Stütze  geben  dieser  An- 
schauung die  Beobachtungen  gleichartiger  oder  nahe  verwandter 
Hirn-Rückenmarkserkrankungen  bei  Ehegatten  oder  solchen  Per- 
sonen, die  sich  aus  derselben  Quelle  ihre  Ansteckung  holten. 
Weiterhin  ist  besonders  von  Fournier  betont  worden,  daß  nament- 
lich die  gar  nicht  oder  ungenügend  behandelten  Fälle  von  Lues 
die  Gefahr  einer  paralytischen  Erkrankung  mit  sich  brächten. 
Gerade  die  von  vornherein  leicht  verlaufenden  Ansteckungen  seien 
daher  am  bedenklichsten,  weil  sie  ihren  Träger  sorglos  machten. 
Dadurch  könnte  sich  die  immerhin  noch  erhebliche  Zahl  von  Be- 
obachtungen erklären,  in  denen  die  Vorgeschichte  nicht  den  ge- 
ringsten Anhalt  für  eine  überstandene  Lues  liefert.  Fournier 
teilt  mit,  daß  von  79  Paralytikern,  deren  syphilitische  Krankheits- 
geschichte er  genau  verfolgen  konnte,  nur  4  eine  wirklich  ernst- 
hafte, weitere  12  eine  wenigstens  annähernd  genügende,  über 
2  Jahre  sich  erstreckende  Behandlung  durchgemacht  hätten, 
während  37  weniger  als  ein  halbes  Jahr  behandelt  wurden  und 
I  gar  nicht.  Auf  der  anderen  Seite  scheint  aber  auch  die  Empfäng- 
lichkeit des  Körpers  für  das  Gift  von  maßgebender  Bedeutung  zu 
sein.  So  erhöht  der  Alkoholmißbrauch  unzweifelhaft  die  Gefahr, 
paralytisch  zu  erkranken;  die  großen  Unterschiede  in  der  Be- 
teiligung der  Frauen  an  der  Paralyse  in  verschiedenen  Ländern 
dürften  damit  in  einem  gewissen  Zusammenhange  stehen.  Vor 
allem  aber  kennen  wir  zahlreiche  Völker,  durchgängig  solche  mit 
einfacher,  natürlicher  Lebensführung,  bei  denen  trotz  weiter  Ver- 
breitung der  Syphilis  die  Paralyse  sehr  selten  oder  unbekannt  ist. 


Infektionskrankheiten. 


71 


Da  die  mit  ihnen  zusammenlebenden  Europäer  durch  dasselbe 
Gift  paralytisch  werden,  müssen  hier  Unterschiede  in  der  Wider- 
standsfähigkeit der  Rassen  vorliegen.  Auch  die  an  sich  schon 
weit  geringere  Empfänglichkeit  der  Affen  für  das  syphilitische 
Gift  wechselt  bei  den  einzelnen  Arten  sehr  und  nimmt  bei  den 
niedriger  stehenden  bedeutend  ab.  Wir  werden  uns  daher  über 
die  Rassenunterschiede  in  den  Äußerungen  der  Lues  beim  Menschen 
nicht  allzusehr  wundern;  sie  weisen  darauf  hin,  daß  die  Kultur- 
rassen Schutzeinrichtungen  verloren  haben,  die  bei  Naturvölkern 
die  Entwicklung  der  Paralyse  aus  der  Lues  erschweren.  Daß  alle 
diese  Ausführungen  in  ähnlicher  Weise  auch  auf  die  Tabes  zu- 
treffen, soll  hier  nur  angedeutet  werden. 

Zur  weiteren  Kennzeichnung  der  paralytischen  Erkrankung  ist 
zu  betonen,  daß  sie  der  syphilitischen  Ansteckung  gewöhnlich  erst 
nach  einer  längeren  Reihe  von  Jahren  folgt,  daß  sie  durch  anti- 
luetische Kuren  nicht  günstig  beeinflußt,  geschweige  denn  geheilt 
wird,  und  daß  sie  somit  nicht  geradezu  als  syphilitische  Hirn- 
erkrankung im  engeren  Sinne  aufgefaßt  werden  darf.  Möbius 
hat  daher  hier  und  bei  der  offenbar  sehr  nahe  verwandten  Tabes 
von  einer  „Metasyphilis"  gesprochen.  Manche  Erfahrungen  scheinen 
mir  darauf  hinzudeuten,  daß  es  sich  bei  der  Paralyse  nicht  um 
eine  örtliche  Erkrankung  handelt,  wie  bei  der  eigentlichen  Hirn- 
syphilis, sondern  daß  wir  es  mit  sehr  tiefgreifenden  und  allgemeinen 
Störungen  im  gesamten  Körper  zu  tun  haben.  Die  häufigen  Nieren- 
und  Herzerkrankungen  wie   die  Aortitis  der  Paralytiker  zeugen 
für  eine  ausgebreitete  Beteiligung  der  Blutgefäße,  Ob  diese  letztere 
allein  dann  weiter  die  Brüchigkeit  der  Knochen  und  die  große 
Neigung  zum  Druckbrand  bewirkt,  muß  zweifelhaft  bleiben.  Ich 
möchte  vielmehr  an  Veränderungen  im  Stoffwechsel  und  in  der 
Blutzusammensetzung   glauben.    Dafür   würden   auch   die  ganz 
außerordentlichen  Schwankungen  in  dem  Ernährungszustande  der 
Kranken  wie  die  nicht  selten  beobachteten  andauernden  Tempe- 
ratursenkungen  sprechen,    die   wohl   zuverlässiger   auf  schwere 
Schädigung  des  Allgemeinzustandes,  als  auf  Störungen  der  Wärme- 
regelung zurückgeführt  werden. 

Die  namentlich  im  Gebiete  der  großen  Seen  Afrikas  verbreitete 
und  dort  außerordentlich  verheerend  auftretende  Schlafkrank- 
heit, die  ursprünglich  nur  Neger,  neuerdings  aber  auch  Europäer 


„  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

7z 

befallen  hat,  ist  für  uns  zunächst  nur  deswegen  von  Bedeutung, 
weil  sie  in  Entstehungsgeschichte,  klinischer  Entwicklung  und 
anatomischem  Befunde  gewisse  Berührungspunkte  mit  der  Para- 
lyse aufweist.  Die  Krankheit  wird  verursacht  durch  das  Trypano- 
soma  gambiense,  das  in  einer  Stechfliege,  der  Glossina  palpalis, 
schmarotzt  und  durch  deren  Stich  übertragen  wird.  Nach  anfäng- 
lichen Fiebererscheinungen  verläuft  das  Leiden  ohne  auffallende 
Störungen,  obgleich  sich  lebende  Trypanosomen  in  den  Lymph- 
drüsen, namentlich  des  Nackens,  aber  auch  im  Blute  und  in  der 
Cerebrospinalflüssigkeit,  nachweisen  lassen,  bis  nach  i,  2,  auch 
5  Jahren  der  letzte,  in  etwa  4 — 6  Monaten  zum  Tode  führende 
Abschnitt  der  Krankheit  einsetzt.  Auf  psychischem  Gebiete  zeigt 
sich  Reizbarkeit  und  rasche  Ermüdbarkeit,  die  sich  bald  zu  völliger 
Schlafsucht  steigert;  daneben  wird  läppische  Euphorie  oder  das 
Auftreten  unsinniger  hypochondrischer  Vorstellungen  beobachtet. 
Dazu  gesellen  sich  die  Zeichen  einer  gröberen  Hirnerkrankung, 
Paresen,  Spannungen,  Störungen  der  Reflexe,  Zittern,  artikula- 
torische  Sprachstörung,  epileptiforme  Krämpfe,  Lymphocytose  der 
Cerebrospinalflüssigkeit.  Die  Leichenöffnung  ergibt  nach  den  Be- 
funden von  Mott  und  S piel meyer^)  ausgebreitete  Nervenzellen- 
erkrankungen, Gliawucherung,  diffuse  Infiltration  der  Hirnhäute 
und  der  Gefäßscheiden  mit  Lymphocyten  und  Plasmazellen,  Wuche- 
rungen an  der  Intima  und  Adventitia  der  Hirngefäße,  Gefäßneu- 
bildung, zahlreiche  Stäbchenzellen. 

Die  Ähnlichkeiten  dieses  Krankheitsbildes  mit  der  Paralyse  hat 
Spielmeyer  insofern  noch  besonders  betont,  als  er  auf  die  nahe 
Verwandtschaft  der  Trypanosomen  mit  den  Spirochäten  hinge- 
wiesen und  die  von  ihm  bei  Hunden  mit  einem  anderen  Trypano- 
soma  erzielten  Erkrankungen  der  hinteren  Wurzeleintrittsgegend 
im  Rückenmark  mit  der  Tabes  in  Parallele  gestellt  hat.  Ob  wir 
aber  wirklich  schon  berechtigt  sind,  die  Schlafkrankheit  als  ein 
Gegenstück  zur  „Metasyphilis"  aufzufassen,  bedarf  wohl  noch 
weiterer  Bekräftigung.  Die  dauernde  Anwesenheit  der  Krankheits- 
erreger in  den  Geweben  und  Körpersäften,  die  ja  gerade  bei  der 
Metasyphilis  fehlt,  stellt  die  Schlafkrankheit  zunächst  wenigstens 
wohl  mehr  in  eine  Reihe  mit  der  tertiären  Lues  oder  der  Malaria. 


)  Spielmeyer,  Münch,  med.  Wochenschr.  1907,  1065. 


Infektionskrankheiten. 


73 


Eine  ganz  auffallend  geringe  Bedeutung  für  die  Entstehung 
von  Geistesstörungen  kommt  der  Tuberkulose^)  zu,  obgleich  wir 
hier  neben  der  Giftwirkung  des  Krankheitserregers  diejenige  der 
Mischinfektionen,    ferner    lange    andauernde  Fieberbewegungen, 
äußerste  Entkräftung  und  endlich  auch  jene  gemütlichen  Schädi- 
gungen in  Anschlag  zu  bringen  haben,  die  ein  schweres  Siechtum 
mit  sich  bringt.   Allerdings  scheinen  leichtere  Veränderungen  der 
Stimmung  und  der  Willensleistungen  den  Verlauf  des  Leidens 
häufig  zu  begleiten.    Reizbarkeit,  Niedergeschlagenheit,  Empfind- 
samkeit, dann  wieder  unbegreifliche  Zuversichtlichkeit  und  Unter- 
nehmungslust, ausgeprägte  Selbstsucht,  geschlechtliche  Erregung, 
Eifersucht  sind  die  Züge,  welche  die  seelische  Veränderung  kenn- 
zeichnen.   Außerdem  aber  kommen  hier  und  da  delirante  Er- 
regungszustände mit  Verwirrtheit,   lebhaften  Sinnestäuschungen 
und  Verfolgungs-  oder  Größenideen  zur  Beobachtung,  die  wir  wohl 
als  Infektionsdelirien  auffassen  dürfen.   Einmal  sah  ich  bei  einer 
später  durch  Operation  geheilten  Bauchfelltuberkulose  einen  viele 
Monate  andauernden,  aber  in  Genesung  ausgehenden  geistigen 
Schwächezustand.    Dupre  hat  besonders  den  wohl  durch  Gift- 
wirkung bedingten  Zerfall  von  Nervenzellen  und  Fasern  m  der 
Stirnrinde  für  die  psychischen  Störungen  der  Tuberkulösen  ver- 
antwortlich gemacht. 

In  manchen  Fällen  trägt  das  Irresein  der  Schwindsüchtigen  die 
Züge  alkoholischer  Erkrankungen;  insbesondere  scheint  das  Auf- 
treten polyneuritischer  Formen  durch  die  Verbindung  der  Tuber- 
kulose mit  Alkoholismus  begünstigt  zu  werden.  Noch  andere 
Krankheitsbilder  können  durch  meningitische  Veränderungen  oder 
umschriebene  Tuberkel  erzeugt  werden.  Endlich  pflegt  man  der 
Tuberkulose  einen  erheblichen  verschlechternden  Einfluß  auf  die 
Veranlagung  der  Nachkommenschaft  zuzuschreiben,  auch  hinsicht- 
lich ihrer  seelischen  Eigenschaften. 

Im  Verlaufe  der  Lepra^),  die  ja  unzweifelhaft  das  Nerven- 
system häufig  in  Mitleidenschaft  zieht,  sollen  Depressionszustände 


1)  Heinzelmann,  Münch,  med.  Wochenschr.  1894,  5;  Chartier,  de  la 
phthisie  et  en  particulier  de  la  phthisie  latente  dans  ses  rapports  avec  les  psy- 
choses.  These,  Paris  1899;  Morselli,  la  tuberculosi  nella  etiologia  e  patogenesi 
delle  malattie  nervöse  e  mentali.  1903. 

2)  Moreira,  Archivos  Brasileiros  de  psychiatria,  II,  41- 


74 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


mit  Schlaflosigkeit  und  starker  Selbstmordneigung  vorkommen. 
Erfahrene  Forscher,  wie  Hansen  und  Moreira,  erklären  in- 
dessen, daß  die  etwa  einmal  bei  Lepra  beobachteten  Geistes- 
störungen durchaus  nichts  Kennzeichnendes  haben,  sondern  auf 
zufälliges  Zusammentreffen  zurückzuführen  sind. 

Stoffwechselkrankheiten.  Vielleicht  eines  der  wichtigsten,  sicher 
aber  das  dunkelste  Gebiet  der  ganzen  psychiatrischen  Ursachen- 
lehre ist  dasjenige  der  Stoffwechselerkrankungen.  Wir  dürfen  ja 
wohl  erwarten,  daß  jede  krankhafte  Änderung  im  Stoffwechsel 
auch  die  Ernährung  des  Nervensystems  mehr  oder  weniger  stark 
in  Mitleidenschaft  ziehen  und  unter  Umständen  geradezu  giftige 
•Stoffe  in  die  Blutbahn  gelangen  lassen  muß.  Dagegen  wissen  wir 
über  die  chemischen  Einzelheiten  dieser  Vorgänge  leider  noch 
ungemein  wenig.  Es  liegen  allerdings  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen über  die  Veränderungen  der  Ausscheidungen  und  des 
Blutes  bei  Geisteskranken  vor,  über  die  Giftigkeit  des  Schweißes 
und  Harns^),  über  die  Alkalescenz,  die  bakterientötenden  und 
giftigen  Eigenschaften,  die  Cytolysine  des  Blutes,  über  die  ,,Isotonie" 
der  roten  Blutkörperchen,  ihre  Zahl,  ihren  Hämoglobingehalt, 
ihr  Verhältnis  zu  den  Leukocyten,  —  aber  die  Ergebnisse  aller 
dieser  mühevollen  Erhebungen  ermöglichen  uns  einstweilen  durch- 
aus keine  zuverlässigen  Schlüsse  über  das  Wesen  der  Krankheits- 
vorgänge. Insbesondere  bleibt  es  meist  unklar,  ob  wir  es  mit  Ur- 
sachen, zufälligen  Begleiterscheinungen  oder  Folgen  des  Irreseins 
zu  tun  haben.  Wesentlich  erhöht  werden  die  Schwierigkeiten  der 
Verwertung  solcher  Befunde  durch  die  Vieldeutigkeit  der  klinischen 
Bezeichnungen,  die  nur  für  einige  wenige  Krankheitsformen  die 
Vergleichung  der  Ergebnisse  verschiedener  Beobachter  gestattet. 

Abweichungen  von  dem  Verhalten  Gesunder  sind  allerdings 
vielfach  festgestellt  worden.  Namentlich  das  Blut,  der  Haupt- 
träger des  Stoffwechsels,  zeigt  sich  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen hin  krankhaft  verändert.  So  ist  Berger 2)  auf  Grund  aus- 
gedehnter Versuchsreihen  zu  dem  Schlüsse  gekommen,  daß  im 
Blute  der  Kranken  mit  Dementia  praecox  zeitweise  ein  Stoff  kreise, 
der  bei  Einspritzung  unter  die  Haut  die  großen  Rindenpyramiden 

1)  Cabitto,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  36;  Pellegrini,  ebenda, 
144;  Massaut,  Bull,  de  la  societe  de  medic.  ment.  de  Belgique,  Decembre  1895. 

2)  Berger,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVI,  i. 


Stoffwechselkrankheiten. 


75 


des  Hundes  zu  schädigen  vermag  und  auch  beim  Menschen  be- 
drohhche  Erscheinungen  verursacht.  Dragotti  fand  die  Giftigkeit 
des  Blutes  erhöht  bei  Amentia,  Dementia  praecox  und  polyneu- 
ritischer  Psychose,  besonders  im  Beginne.    Rebizzi^),   der  die 
Veränderungen  der  Nervenzellen  von  Blutegeln  untersuchte,  die 
er  sich  bei  verschiedenartigen  Kranken  hatte  vollsaugen  lassen, 
fand  Atrophie  der  Fibrillen  durch  das  Blut  von  Epileptikern,  Para- 
lytikern und  Altersblödsinnigen,  Schwellung  und  körnigen  Zerfall 
durch  dasjenige  von  Amentiakranken  und  pellagrös  Verwirrten, 
während  das  Blut  der  Alkoholisten,    Idioten  und  Hebephrenen 
wirkungslos  blieb.  Die  Alkalescenz  des  Blutes  fand  Pugh^)  herab- 
gesetzt bei  manischer  Erregung  und  Paralyse,  ferner  bei  der  Epi- 
lepsie, besonders  kurz  vor  und  nach  den  Anfällen;  zu  ähnlichen 
Ergebnissen  kam  Lambranzi,  der  auch  bei  der  Katatonie  und  der 
Amentia  eine  Abnahme  feststellte.  Demgegenüber  betont  Schultz^) 
auf  Grund  seiner  mit  allen  Hilfsmitteln  der  physikalischen  Chemie 
durchgeführten  Untersuchungen,  daß  eine  Alkalescenz  des  Blutes 
im  wissenschaftlichen  Sinne  überhaupt  nicht  bestehe,  und  daß 
sich  auch  keine  Änderung  dieses  Verhaltens  bei  Geisteskranken 
nachweisen  lasse. 

Über  die  Cytolysine  des  Blutes,  insbesondere  die  nicht  wärme- 
beständigen Komplemente,  erfahren  wir  durch  Ibba*),  daß  sie  bei 
Epileptikern,  namentlich  kurz  vor  den  Anfällen  und  während  der- 
selben, auf  die  roten  Blutkörperchen  des  Menschen  und  des  Hundes 
stark  auflösend  wirken,  während  das  gesunde  Serum  nur  die  letz- 
teren zerstört,  und  zwar  in  sehr  geringem  Grade.  Auch  die  Blut- 
flüssigkeit der  Manischen,  vielleicht  ebenso  der  Melancholiker  und 
Paralytiker,  wirkt  stark  auf  die  roten  Blutkörperchen  des  Hundes, 
schwach  auf  die  des  Menschen;  noch  schwächere  Grade  der  Wir- 
kung finden  sich  bei  Alkoholismus  und  Dementia  praecox.  Die 
Widerstandsfähigkeit  roter  Blutkörperchen  gegen  Kochsalzlösungen 
fanden  Obici  und  Bonon^)  besonders  stark  herabgesetzt  in  der 

1)  Rebizzi,  Rivista  di  patologia  nervosa  e  mentale  1906,  XI. 

2)  Pugh,  Journal  of  mental  science  1903,  71. 

3)  Schultz,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XXII,  21. 

+)  Ibba,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXXII,  642. 

•1)  Abundo,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XVIII,  292;  Obici  e  Bönen, 
Annali  di  nevrologia,  XVIII,  5,  1900;  Tirelli,  Annali  di  freniatria  e  science 
affini,  1902,  i. 


4 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Paralyse,  beim  pellagrösen  Irresein  und  in  den  ersten  Stadien  der 
Dementia  praecox;  Tirelli  sah  sie,  der  Erregung  entsprechend, 
abnehmen  bei  der  Manie  und  bei  der  Epilepsie  zur  Zeit  der  An- 
fälle, gleichbleiben  oder  zunehmen  bei  der  Melancholie,  Die  Zahl 
der  roten  Blutkörperchen  fand  Schultz  etwas  vermindert  bei 
Katatonie,  besonders  in  den  Endzuständen,  ferner  bei  Epilepsie; 
hier  trat  im  Anfalle  eine  Zunahme  der  weißen  Blutzellen  hervor, 
besonders  der  kleinen  Lymphocyten.  Paralytiker  zeigten  unregel- 
mäßige Schwankungen,  in  den  letzten  Abschnitten  der  Krankheit 
zahlreichere  rote  Blutkörper,  wohl  als  Folge  von  Austrocknung 
des  Körpers  und  örtlichen  Stauungen.  Bei  einigen  Idioten  schien 
ihm  ein  Mißverhältnis  zwischen  der  geringen  Zahl  der  roten  Blut- 
zellen und  dem  erhöhten  Hämoglobingehalte  zu  bestehen;  hohe, 
sogar  sehr  bedeutende  Hämoglobinwerte  fanden  sich  weiterhin 
auch  vielfach  bei  Hysterie  und  Nervosität.  Di  de  endlich  berichtet 
über  Verminderung  der  roten  Blutkörper  bei  Vergiftungen  und 
Infektionen,  zugleich  mit  Vermehrung  der  vielkernigen  Leuko- 
cyten,  die  bei  längerer  Dauer  der  Zustände  durch  einkernige  er- 
setzt werden  sollen.  Vermehrung  der  roten  Blutzellen  beobachtete 
er  bei  Aufregungszuständen,  Wechsel  im  Verhalten  der  roten  und 
weißen  Blutkörper  bei  der  Epilepsie. 

Offenbar  handelt  es  sich  bei  allen  diesen  und  ähnlichen  Fest- 
stellungen, die  übrigens  zum  Teil  noch  sehr  der  Nachprüfung 
bedürfen,  vorderhand  nur  um  einzelne  Bausteine,  von  deren  Zu- 
gehörigkeit wir  uns  noch  gar  kein  rechtes  Bild  zu  machen  ver- 
mögen; irgendein  gesetzmäßiger  Zusammenhang  zwischen  den 
gefundenen  Veränderungen  und  den  Krankheitsbildern  ist  in  der 
Regel  gar  nicht  nachzuweisen.  Allerdings  liegt  eine  sehr  große 
Zahl  von  Beobachtungen  vor,  in  denen  die  Geistesstörung  mit 
dieser  oder  jener  Form  der  Selbstvergiftung  in  Beziehung  gebracht 
wird.  Verhältnismäßig  selten  aber  enthalten  solche  Vermutungen 
mehr  als  bloße  Möglichkeiten.  Der  Grund  liegt  hauptsächlich  in 
dem  Umstände,  daß  die  Krankheitsbilder  selbst  uns  heute  durch- 
aus noch  keinen  Schluß  auf  eine  ursächliche  Selbstvergiftung  er- 
lauben; höchstens  läßt  sich  aus  dem  Auftreten  schwerer  deliranter 
Verwirrtheit  die  Annahme  einer  ursächlichen  Vergiftung  oder  Infek- 
tion mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  begründen,  nament- 
lich dann,   wenn  ein  ungünstiger  Ausgang  den  Nachweis  aus- 


Stoffwechselkrankheiten. 


77 


I 


gebreiteten  Zerfalles  des  Nervengewebes  nebst  frischen  Wuche- 
rungsvorgängen in  der  Glia  ermöglicht.    Andererseits  lehrt  aber 
das  Beispiel  einzelner  Formen  psychischer  Störung,  die  wir  auf 
Stoffwechselstörungen  zurückzuführen  berechtigt  sind,  nament- 
lich dasjenige  des  Delirium  tremens,  ganz  abgesehen  von  den  ge- 
wöhnlichen Vergiftungen,  daß  dort,  wo  wirklich  eindeutige  Ur- 
sachen vorhanden  sind,  auch  die  klinischen  Bilder  ihre  ganz  aus- 
geprägte Färbung  erhalten.  Es  ist  daher  zu  hoffen,  daß  es  allmäh- 
lich gelingen  wird,  für  diejenigen  Gruppen  des  Irreseins,  welchen 
bestimmte  Stoffwechselstörungen  zugrunde  liegen,  auch  eigenartige 
klinische  Formen  aufzufinden,  die  ohne  weiteres  den  Rückschluß 
auf  die  Krankheitsursache  gestatten. 

Im  allgemeinen  wird  man  annehmen  dürfen,  daß  diejenigen 
Ernährungsstörungen,  die  wesentlich  eine  allgemeine  Verschlech- 
terung der  Blutbeschaffenheit  herbeiführen,  wie  etwa  die  Chlorose, 
die  Leukämie,  dauernde  Unterernährung,  wiederholte  Blutverluste, 
eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Abnahme  der  gesamten 
psychischen   Leistungen    erzeugen,    Herabsetzung    der  geistigen 
Arbeitsfähigkeit,    gesteigerte  Ermüdbarkeit,    Zerstreutheit,  Ver- 
geßlichkeit,  gemütliche  Reizbarkeit  mit  vorwiegend  depressiver 
Färbung,  Einbuße  an  Willensfestigkeit  und  Tatkraft.   Diese  Stö- 
rungen sind  bei  schweren  körperlichen  Allgemeinleiden  so  häufig, 
daß  sie  gar  nicht  als  krankhaft  aufzufallen  pflegen.  Sie  entsprechen 
ungefähr  den  Zeichen  einer  dauernden  Ermüdung,  die  wir  ja  ge- 
wöhnt sind,  auf  die  ungenügende  Beseitigung  und  Vernichtung 
giftiger  Zerfallstoffe  in  den  arbeitenden  Geweben  zurückzufuhren. 

Dazu   treten   aber   weitere   Krankheitserscheinungen,  sobald 
irgend  eine  bestimmte  Einrichtung  im  Getriebe  unseres  Stoff- 
wechsels ihren  Dienst  versagt.  Bei  chronischen  Störungen  werden 
wir  allerdings  deren  besondere  Wirkungen  in  dem  Krankheits- 
bilde  meist  kaum  nachweisen  können;  stellt  sich  aber  die  Verän- 
derung im  Körperhaushalte  plötzlich  ein,  so  sind  die  Kankheits- 
erscheinungen  oft  sehr  stürmische.     Unzulänglichkeit  des  Gas- 
austausches, wie  sie  durch  Erkrankungen  der  Lungen  und  der 
Kreislauforgane  herbeigeführt  werden  kann,  erzeugt  die  Erschei- 
nungen rauschartiger  Benommenheit  und  heftige  Angstgefühle,  in 
höheren  Graden  Bewußtlosigkeit.  Mangelhafte  Ausscheidung  durch 
die  Nieren  führt  zur  Urämie  mit  epileptiformen  Krämpfen,  deli- 


78 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


riösen  und  komatösen  Zuständen,  namentlich  bei  vorgeschrittener 
Schwangerschaft;  infolge  der  Ansammlung  von  Gallenbestand- 
teilen im  Blute  (Cholämie)  kommen  Benommenheit  und  psy- 
chische Depression,  bei  der  akuten  gelben  Leberatrophie  (Phosphor- 
vergiftung) furibunde  Delirien  mit  starker  ängstlicher  Erregung 
und  Sinnestäuschungen,  im  weiteren  Verlaufe  Sopor  und  Koma 
zur  Beobachtung. 

Recht  unklar  sind  bisher  noch  die  Beziehungen  zwischen  dem 
Krebssiechtum  und  den  hie  und  da  bei  demselben  beobachteten 
Geistesstörungen.  Wenn  auch  die  Annahme  immer  mehr  an 
Boden  gewinnt,  daß  die  Krebsgeschwülste  irgendwie  durch  Lebe- 
wesen erzeugt  werden,  so  fehlt  doch  jeder  Anhalt  für  eine  Ent- 
scheidung der  Frage,  ob  diese  Krankheitserreger  unmittelbar 
oder  durch  giftige  Ausscheidungsstoffe  die  Hirnrinde  schädigen, 
oder  ob  die  psychische  Erkrankung  erst  durch  die  allgemeinen 
Stoffwechselstörungen  bedingt  wird,  die  dem  Krebssiechtum  eigen- 
tümlich sind.  Da  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Krebskranken 
keine  ausgeprägten  psychischen  Störungen  erkennen  läßt,  erscheint 
es  zweifelhaft,  ob  wir  es  wirklich  mit  ursächlichen  Beziehungen 
und  kennzeichnenden  Psychosen  zu  tun  haben.  Die  Krankheits- 
bilder bieten  in  der  Regel  die  Form  ängstlich  deliranter  Zustände 
mit  Sinnestäuschungen,  Verworrenheit  und  lebhafter  Unruhe  dar; 
im  weiteren  Verlaufe  treten  immer  mehr  die  Benommenheit  und 
Schwäche  in  den  Vordergrund.  Elsholz^)  legt  Wert  auf  den 
Wechsel  zwischen  deliranter  Verwirrtheit  und  zeitweise  fast  völliger 
Klarheit. 

Endlich  scheinen  auch  krankhafte  Zersetzungen  des  Darm- 
inhaltes  die  Quelle  von  Allgemeininfektionen  mit  geistigen  Stö- 
rungen bilden  zu  können.  So  hat  v.  Wagner 2)  Fälle  von  Irresein 
beschrieben,  in  denen  er  bei  Darmstörungen  Aceton,  Acetessig- 
säure,  Oxybuttersäure  im  Harn,  auch  vermehrte  Indicanausschei- 
dung  auffand.  Auch  von  Sölder^i)  sind  als  Ursache  einiger  von 
ihm  beobachteten  psychischen  Erkrankungen  Kotstauungen  mit 
Zersetzung  des  Darminhaltes  und  Aufsaugung  von  Giften  ins 
Blut  angenommen  worden.    Die  klinischen  Bilder  waren  überall 


1)  Eisholz,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVII,  144. 

2)  V.  Wagner,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXII,  177. 

3)  Sölder,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVII,  147. 


Stoffwechselkrankheiten. 


79 


verwirrte  Erregungszustände,  die  als  Amentia  oder  Delirium  acu- 
tum bezeichnet  werden.    Dragotti  betrachtet  Darminfektionen 
auch  als  Ursache  der  Dementia  praecox.    Hoppe^)  fand  unter 
325  Epileptikern  bei  8,5%  Aceton  im  Harn,  meist  im  Status  epi- 
lepticus   oder   bei  Verwirrtheit   mit   mangelhafter  Nahrungsauf- 
nahme, ferner  in  Hungerzuständen  und  bei  einem  Drittel  seiner 
akuten  Geisteskranken,  bei  Paralytikern  fast  nur  zur  Zeit  der  An- 
fälle, aber  schon  vor  deren  Beginn.  Wahrscheinlich  darf  die  Ace- 
tonurie  als  ein  Zeichen  abnormer  Spaltung  von  Körpereiweiß  oder 
Fett  angesehen  werden,  ohne  an  sich  krankmachende  Bedeutung 
zu  haben.    Das  Indican,  das  in  geringen  Mengen  auch  im  Harn 
Gesunder  vorkommt,  stammt  wohl  vorwiegend  aus  der  Eiweißfäul- 
nis im  Darme,  aus  deren  Abbaustoff  Indol  es  sich  durch  die  Zwi- 
schenstufe des  Indoxyls  bildet.    Es  wird  daher  vermehrt  durch 
reichliche  Eiweißnahrung,  ferner  durch  Anhäufung  von  Kotmassen 
im  Darm,  auch  wohl  durch  abnorme  Zersetzungsvorgänge.  Nach 
den  Angaben  von  Coriat,   Townsend,   Bruce,   Pardo^)  ist 
die  Indicanausscheidung  im  Harn  bei  Depressionszuständen,  auch 
im  epileptischen,  paralytischen,  katatonischen  Stupor  gesteigert. 
Da  das  Indican  selbst  die  psychischen  Störungen  sicherlich  nicht 
erzeugt,  kann  seine  Vermehrung  im  Harn  nur  die  Bedeutung 
haben,  daß  es  auf  die  Möglichkeit  des  Eindringens  von  Darmgiften 
hinweist.   Wir  werden  nicht  bestreiten  können,  daß  durch  solche 
Vorgänge  Rindenerkrankungen  zustande  kommen  können,  handle 
es  sich  nun  um  Bakteriengifte  oder  um  Zerfallsstoffe.  Leider  fehlen 
uns  jedoch  einstweilen  noch  die  Anhaltspunkte,  um  im  einzelnen 
Falle  einen  derartigen  Zusammenhang  nachweisen  zu  können. 

Sehr  eingehend  sind  die  Beziehungen  des  Diabetes  und  der 
Glykosurie»)  zu  den  Geistesstörungen  untersucht  worden.  Aus- 
geprägter Diabetes  ist  im  ganzen  bei  Geisteskranken  nicht  sehr 
häufig;  man  hat  ihn  namentlich  bei  Paralyse,  dann  auch  beim 
Alkoholismus  und  bei  Melancholie  beobachtet.  Dagegen  scheinen 
sich  leichtere  Veränderungen  des  Seelenlebens  doch  vielfach  bei 

1)  Hoppe,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXIX,  1174.  w  • 

2)  Easterbrook,  Journal  of  mental  science,  1906,  766;  Pardo,  Kivista 
sperimentale  di  freniatria,  XXXIII,  275.  -„^or 

s)  Bond,  Journal  of  mental  science,  1896,  Januar,  April;  Laudenheimer, 
Arch.  f.  Psychiatrie,  XXIX,  2;  Berl.  klin.  Wochenschr.  1898,  21;  Raimann, 
Zeitschr.  f.  Heilkunde,  XXIII,  2,  1902. 


8o 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Diabetes  zu  entwickeln,  Abnahme  des  Gedächtnisses  und  der 
geistigen  Leistungsfähigkeit  oder  Schlafsucht  und  Stumpfheit.  Da- 
bei ist  jedoch  zu  berücksichtigen,  daß  der  Diabetes  sich  gern  im 
höheren  Lebensalter  entwickelt  und  dann  oft  mit  Gefäßerkran- 
kungen verknüpft  ist,  deren  Anteil  an  dem  klinischen  Bilde  sich 
kaum  abgrenzen  läßt.  Laudenheimer  hat  indessen  auch  eine 
diabetische  ,, Pseudoparalyse"  beschrieben,  ein  Krankheitsbild,  das 
durch  die  Verbindung  einer  ausgeprägten  geistigen  Schwäche  mit 
einzelnen  nervösen  Störungen,  Stocken  der  Sprache,  Hemiparesen, 
epileptoiden  Anfällen,  Steigerung  der  Sehnenreflexe  gekennzeich- 
net ist.  Alle  diese  Störungen  sollen  der  Besserung  durch  antidia- 
betische Kuren  zugänglich  sein.  Im  Hinblicke  auf  das  diabetische 
Koma  ist  die  Möglichkeit  schwerer  Hirnstörungen  bei  Diabetes 
nicht  wohl  zu  bezweifeln,  doch  wird  es  noch  weiterer  Erfahrungen, 
namentlich  auch  anatomischer  Befunde  bedürfen,  um  die  klinische 
Deutung  derartiger  Fälle  sicherzustellen. 

Glykosurie  ist  bei  Geisteskranken  sicher  häufiger  als  bei  Ge- 
sunden, namentlich  unmittelbar  nach  dem  Delirium  tremens  und 
bei  lebhaften  Angstzuständen;  ich  sah  sie  wiederholt  in  Fällen, 
die  ich  als  syphilitische  Gefäßerkrankungen  auffassen  möchte. 
Dementsprechend  fand  Rai  mann  die  Fähigkeit,  eingeführten 
Zucker  zu  verbrennen,  herabgesetzt  in  der  Melancholie,  beim 
Altersschwachsinn,  bei  der  Paralyse,  beim  Schwinden  des  Delirium 
tremens  und  bei  der  ätiologisch  unklaren  Gruppe  der  Amentia. 
Es  hat  demnach  den  Anschein,  daß  die  alimentäre  Glykosurie  bei 
denjenigen  Formen  des  Irreseins  besonders  leicht  zustande  kommt, 
bei  denen  wir  Anlaß  haben,  an  Stoffwechselstörungen  zu  denken. 

In  vereinzelten  Fällen  scheint  sich  die  Osteomalacie  mit 
Dementia  praecox  zu  verbinden;  es  muß  dahingestellt  bleiben, 
ob  es  sich  dabei  um  ein  mehr  als  zufälliges  Zusammentreffen 
handelt. 

Eine  erhebliche  Rolle  ist,  namentlich  von  französischen  und 
englischen  Forschern,  vielfach  der  Gicht^)  zugeschrieben  worden. 
Anhäufung  von  Harnsäure  im  Blute  soll  einerseits  Neurasthenie 
erzeugen  können,  auf  der  anderen  Seite  wieder  eine  wesentliche 
Ursache  von  Angstzuständen  sein.    Lange  hat  auch  periodische 


1)  Kowalewsky,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1901,  593. 


Stoffwechselkrankheiten. 


8i 


Depressionszustände  mit  Schwankungen  der  Harnsäureausschei- 
dung in  ursächUche  Verbindung  gebracht.  Nach  der  Schilderung 
hat  es  sich  um  Anfälle  gehandelt,  die  dem  manisch-depressiven 
Irresein  angehören  dürften.  Ob  wir  es  hier  überall  mit  ursächlichen 
Beziehungen  oder  mit  einfachen  Begleiterscheinungen  zu  tun 
haben,  muß  weiterer  Prüfung  überlassen  bleiben;  für  die  manisch- 
depressiven Formen  ist  mir  die  erstere  Annahme  aus  vielen  Grün- 
den äußerst  unwahrscheinlich.  Auch  bei  der  Epilepsie  zeigt  die 
Harnsäureausscheidung  sehr  auffallende  Schwankungen,  die  mit 
dem  Auftreten  der  Anfälle  in  nahen  Beziehungen  zu  stehen  scheinen ; 
welcher  Art  sie  sind,  ist  vorderhand  unklar. 

Auf  einem  etwas  sichereren  Boden  bewegen  wir  uns  bei  der 
Erörterung  des  Zusammenhanges  zwischen  Geistesstörungen  und 
Schilddrüsenerkrankungen,  da  uns  hier  zur  Klärung  der  Tier- 
versuch wertvolle  Aufschlüsse  geliefert  hat.    Wir  wissen  sicher, 
daß  Ausfall  der  Schilddrüsentätigkeit  die  schwersten  Folgen  für 
das  Seelenleben  nach  sich  zieht.    Bei  jugendlichen  Personen  be- 
wirkt die  Vernichtung  oder  krankhafte  Umwandlung  jener  Drüse 
kretinistische  Entartung  des  gesamten  Körpers,  wie  wir  sie  auch 
künstlich  bei  Tieren  erzeugen  können.   Dagegen  stellt  sich  beim 
Erwachsenen  nach  Entfernung  der  ganzen  Schilddrüse  das  Bild 
der  Kachexia  strumipriva  ein,  dessen  wesentliche  Züge  in  einem 
allmählich  fortschreitenden  Schwachsinn  mit  myxödematösen  Ver- 
änderungen der  Haut  und  gewissen  nervösen  Reizerscheinungen 
(Krampfanfälle,  Tetanie)  bestehen.   Nahe  Verwandtschaft  zu  die- 
sem Krankheitsbilde  zeigt  dasjenige  des  spontanen  Myxödems,  wie 
es  durch  Schrumpfung  oder  krankhafte  Zerstörung  der  ganzen 
Schilddrüse  zustande  kommt.  Hier  gesellen  sich  zu  dem  leichteren 
oder  schwereren  Schwachsinn  öfters  die  Erscheinungen  einer  psy- 
chischen Depression,  selbst  lebhafte  Angstzustände  hinzu.   Als  die 
gemeinsame  Grundlage  aller  dieser  Störungen  ist  wohl  die  Anhäu- 
fung von  Stoffen  im  Blute  anzusehen,  die  sonst  durch  die  Schild- 
drüsentätigkeit zerstört  werden.   Blum  konnte  bei  Hunden,  die  er 
nach  Entfernung  der  Schilddrüse  durch  Vermeidung  der  rasch 
zum  Tode  führenden  Fleischfütterung  am  Leben  erhalten  hatte, 
psychische   Störungen,  Unruhe,  Sinnestäuschungen,  Verblödung 
beobachten;  er  bezieht  sie  auf  Gifte,  die  durch  Eiweißfäulnis  im 
Darme  entstehen.  Wie  weit  an  diesen  Störungen  neben  dem  Aus- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^ 


82 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


falle  des  Schilddrüsengewebes  derjenige  der  Epithelkörper  be- 
teiligt ist,  wird  die  Zukunft  lehren  müssen. 

I  Umgekehrt  dürfen  wir  vielleicht  annehmen,  daß  die  beim 
Morbus  Basedowii^)  beobachteten  Störungen  durch  krank- 
hafte Vermehrung  und  wohl  auch  Veränderung  der  Schilddrüsen- 
ausscheidungen hervorgerufen  werden;  zum  Teil  wenigstens  decken 
sie  sich  mit  denjenigen,  die  wir  nach  Einführung  von  Schilddrüsen- 
bestandteilen in  den  Körper  des  gesunden  und  kranken  Menschen 
auftreten  sehen.  Die  psychischen  Erscheinungen  sind  diejenigen 
einer  Herabsetzung  der  psychischen  Widerstandsfähigkeit,  erhöhte 
gemütliche  Reizbarkeit,  heitere  oder  ängstliche  Verstimmung, 
Stimmungswechsel,  flüchtige  Wahnbildungen,  Eifersuchtsideen, 
Selbstanklagen,  Unruhe,  große  Ermüdbarkeit,  Schlaflosigkeit. 

Diese  Tatsachen,  die  uns  die  Wichtigkeit  eines  unscheinbaren 
Organs  für  den  Stoffwechsel  auf  das  deutlichste  dartun,  machen  es 
wahrscheinlich,  daß  wohl  auch  noch  von  anderen  Seiten  unter  Um- 
ständen ähnliche  Selbstvergiftungen  ausgehen  können.  So  hat  bereits 
Vassale  gezeigt,  daß  Zerstörung  der  Hypophysis  bei  Tieren  den 
Tod  zur  Folge  hat,  während  beim  Menschen  Hypophysisgeschwülste 
bekanntlich  häufig  mit  Akromegalie  einhergehen.  Auch  psychische 
Störungen  können  sich  hinzugesellen,  Gedächtnisschwäche,  Arbeits- 
unfähigkeit, gemütliche  Stumpfheit  bis  zur  völligen  Versunken- 
heit,  zeitweise  auch  delirante  Erregung.  Es  muß  jedoch  dahin- 
gestellt bleiben,  wieweit  hier  Wirkungen  der  Geschwulst  als  solcher 
oder  die  Zerstörung  des  Hirnanhanges  in  Frage  kommen.  Vi- 
gouroux  und  Delmas  haben  einen  nörgelnden  Verstimmungs- 
zustand mit  gemütlicher  Stumpfheit,  Vergiftungs-  und  Verfolgungs- 
ideen bei  tuberkulöser  Zerstörung  der  Nebennieren  beschrieben. 

Es  ist  •  zurzeit  nicht  abzusehen,  welche  Aufschlüsse  uns  die 
Verfolgung  der  hier  sich  darbietenden  Fragen  liefern  wird.  Ge- 
waltige Umwälzungen  im  Körperhaushalte  finden  sich  bei  den 
verschiedensten  Geistesstörungen,  ohne  daß  wir  imstande  wären, 
zu  entscheiden,  ob  sie  Ursachen  oder  Begleiterscheinungen  sind. 


1)  Buschan,  Die  Basedowsche  Krankheit.  1894;  Möbius,  Die  Base- 
dowsche Krankheit.  1896,  32ff.;  Maude,  Journal  of  mental  science,  1896,  Januar; 
Krauß,  Die  Krankheiten  der  Schilddrüse  im  Handbuche  v.  Ebstein  -  Schwalbe. 
1898;  Homburger,  Über  die  Beziehungen  des  Morbus  Basedowii  zu  Psychosen 
und  Psych oneurosen.   Diss.,  Straßburg  1899. 


Vergiftungen.  83 

Abgesehen  von  der  Epilepsie  ist  es  namentlich  die  große  Gruppe 
der  Dementia  praecox  und  die  Paralyse,  bei  denen  wir  Stoffwechsel- 
störungen vermuten  dürfen,  vielleicht  auch  das  manisch-depressive 
Irresein;  dazu  kommt  endlich  noch  das  ganze  Heer  von  Infektionen 
und  Vergiftungen. 

Vergiftungen.  Von  den  Giften,  die  überhaupt  unsere  Hirnrinde 
beeinflussen,  besitzt  zum  mindesten  ein  großer  Teil  die  Eigen- 
schaft, ganz  bestimmte  seelische  Leistungen  in  eigenartiger  Weise 
zu  schädigen.    Bei  rasch  tötlich  wirkenden  Vergiftungen  freilich 
verwischen  sich  diese  Unterschiede;  die  ausgebreitete  Vernichtung 
des  Hirnrindengewebes  hebt  sofort  das  Bewußtsein  völlig  auf. 
Tritt  aber  die  Wirkung  langsamer  und  weniger  überwältigend  auf, 
so  entwickeln  sich  schnell  einsetzende  und  ablaufende  psychische 
Störungen,   deren  Gestaltung  vielfach  sofort  einen  Rückschluß 
auf  ihre   giftige   Ursache   gestattet,   namentlich  wenn  wir  die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  mit  beachten.     Da  die  mei- 
sten akuten  Vergiftungen  der  Hirnrinde  mit  einer  gewissen  Be- 
wußtseinstrübung verbunden    sind,    tragen    die  entsprechenden 
Geistesstörungen  die  Züge  eines  Rausches,  oder,  wenn  sie  auch 
mit  Sinnestäuschungen  verknüpft  sind,  eines  Deliriums.  Aller- 
dings ist  bei  der  Seltenheit  der  meisten  derartigen  Vergiftungen 
unsere  Kenntnis  von  den  besonderen  psychischen  Wirkungen  der 
einzelnen  Gifte  noch  eine  ungemein  dürftige.   Alles  aber,  was  wir 
bisher  durch  den  Versuch  über  diese  Frage  wissen,  spricht  mit 
großer  Entschiedenheit    für    deren   Eigenart.     Genauere  Unter- 
suchungen liegen  bisher  vor  über  Alkohol,  Coffein,  Trional  und 
Brom,  vorläufige  über  Morphium,  Paraldehyd,  Chloralhydrat,  Äther, 
Amylnitrit,  Chloroform,  Cocain  und  Tabak,  aber  schon  diese  Er- 
fahrungen haben   gezeigt,   daß   die   psychische  Wirkung  keines 
dieser  Gifte  derjenigen  irgend  eines  anderen  völlig  gleicht,  so  sehr 
sich  auch  die  chemische  Verwandtschaft  auf  diesem  Gebiete  gel- 
tend macht.    Diese  Tatsache  entspricht  durchaus  dem  Befunde 
Nissls,  daß  die  Zellveränderungen  bei  nicht  allzu  rascher  Ver- 
giftung je  nach  der  Art  des  eingeführten  Giftes  ein  ganz  bestimmtes 
Gepräge  zeigen.   Erschwert  wird  die  Erkenntnis  der  psychischen 
Giftwirkungen  durch  den  Umstand,  daß  sich  gelegentlich  Vergif- 
tungen mit  anderen,  von  ihnen  unabhängigen  Geistesstörungen 
verbinden,  so  z.  B.  Alkoholrausch  mit  epileptischem  Dämmer- 

6» 


I,  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

zustande  oder  Bleivergiftung  mit  paralytischer  Erregung.  Vor 
einer  falschen  Deutung  der  ursächlichen  Beziehungen  zwischen 
Vergiftung  und  Krankheitsbild  muß  hier  die  Forderung  schützen, 
daß  jedes  in  Betracht  kommende  Gift  eine  ganz  bestimmte  Wir- 
kung auf  unser  Seelenleben  entfaltet,  deren  Züge  eben  erkennbar 
sein  müssen.  So  vermögen  wir  in  der  Tat  nicht  selten  in  einem 
klinischen  Krankheitsbilde  etwa  eine  begleitende  alkoholische 
,, Färbung"  neben  den  andersartigen  Krankheitszeichen  nach- 
zuweisen. 

Allerdings  gibt  es  Tatsachen,  die  dafür  zu  sprechen  scheinen, 
daß  ein  und  dasselbe  Gift  ganz  verschiedene  Krankheitsbilder  er- 
zeugen kann;  so  beobachten  wir  außer  dem  Rausche  im  Ver- 
laufe des  chronischen  Alkoholismus  noch  die  wesentlich  ab- 
weichenden Geistesstörungen  des  Delirium  tremens  und  des  Alko- 
holwahnsinns. Allein  die  akute  Alkoholvergiftung  bietet  doch 
immer  das  gleiche  Bild,  das  nur  in  Einzelheiten  durch  die  Bei- 
mischung fremder  Krankheitszüge  verändert  werden  kann.  Wenn 
wir  demnach  beim  chronischen  Alkoholismus  andersartige  klini- 
sche Formen  auftreten  sehen,  so  werden  wir  zu  dem  Schlüsse 
kommen  müssen,  daß  wir  in  ihnen  eben  nicht  mehr  unmittelbare 
Alkoholwirkungen  vor  uns  haben,  daß  vielmehr  bei  ihrer  Ent- 
stehung in  irgend  einer  Weise  die  Umwälzungen  mitspielen,  die 
durch  den  dauernden  Alkoholmißbrauch  im  Körper  erzeugt  wurden. 
Kennten  wir  diese  Bindeglieder  genauer,  so  würde  sich  auch  hier 
ohne  Zweifel  ein  durchaus  bündiger  Zusammenhang  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  feststellen  lassen,  die  Erzeugung  ganz  be- 
stimmter psychischer  Krankheitszeichen  durch  ganz  bestimmte 
körperliche  Veränderungen.  Mittelbare  Geistesstörungen,  die  mit 
der  ursprünglichen  Gifteinwirkung  gar  keine  Beziehung  mehr 
haben  und  daher  ganz  andersartige  klinische  Bilder  aufweisen, 
können  z,  B.  dort  vorkommen,  wo  ein  Gift  Stoffwechselwerkstät- 
ten des  Körpers  außerhalb  der  Hirnrinde  schädigt;  dahin  würden 
die  ikterischen  Delirien  bei  Phosphorvergiftung  oder  die  urämischen 
Störungen  bei  solchen  Vergiftungen  gehören,  welche  die  Nieren 
angreifen. 

Durch  länger  fortgesetzte  Vergiftung,  wie  sie  bei  den  giftigen 
Genußmitteln  und  manchen  Gewerbegiften  vorkommt,  entwickeln 
sich  dauernde  psychische  Schwächezustände,  oft  mit  bestimmten 


Vergiftungen.  85 

# 

nervösen  Begleiterscheinungen,  die  ihnen  dann  die  Bezeichnung 
,, Pseudoparalyse"  einzutragen  pflegen.  Auch  diese  Zustände  dürf- 
ten je  nach  der  Art  des  Giftes  verschieden  sein,  wenn  wir  auch 
über  ihre  kennzeichnenden  Züge  noch  außerordentlich  wenig 
wissen.  Im  ganzen  sind  diese  Krankheitsbilder,  wenn  sich  nicht 
die  Zeichen  immer  wiederkehrender  akuter  Vergiftungen  hinzu- 
gesellen, wenig  ausgeprägt,  da  die  Ausfallserscheinungen  in  ihnen 
überwiegen.  Es  ist  auch  bisher  nicht  gelungen,  bei  chronischen 
Vergiftungen  den  einzelnen  Giften  eigentümliche  Zellverände- 
rungen aufzufinden. 

Eine  erste  kleine  Gruppe  von  Vergiftungen,  die  wir  hier  zu 
betrachten  haben,  steht  in  enger  Beziehung  zur  Volksernährung. 
Dahin  gehört  zunächst  die  hauptsächlich  in  Oberitalien,  Südfrank- 
reich, Nordspanien  und  Rumänien  vorkommende  Pellagra^). 
Offenbar  handelt  es  sich  bei  dem  Leiden,  das  mit  sehr  starken  Ver- 
dauungsstörungen, Schwund  der  Darmschleimhaut,  Abmagerung 
und  Hautausschlägen  einhergeht,  um  eine  chronische  Vergiftung, 
die  zumeist  auf  den  Genuß  von  verdorbenem  Mais  zurückgeführt 
wird;  Hilfsursachen  sollen  Armut  und  Elend  aller  Art  bilden. 
Ceni  hat  in  neuerer  Zeit  mit  besonderem  Nachdruck  die  Giftwir- 
kungen von  Schimmelpilzen,  Penicillium  glaucum  und  Asper- 
gillus fumigatus,  für  die  Entstehung  der  Pellagra  verantwortlich 
gemacht.  Wahrscheinlich  haben  wir  es  wohl  mit  einem  organi- 
sierten Gifterzeuger  zu  tun,  da  Übertragung  von  Person  zu  Person, 
übrigens  auch  Einfluß  der  Erblichkeit,  beobachtet  wurde,  und  da 
häufig  mildere  Rückfälle  des  Leidens  eintreten,  wenn  alle  genannten 
Schädlichkeiten  längst  weggefallen  sind.  Von  einigen  Forschern 
wird  angegeben,  daß  die  Krankheit  durchaus  nicht  an  den  Mais- 
genuß gebunden  sei  und  sich  langsam  ausbreite.  Die  psychischen 
Störungen  zeigen  das  Bild  erhöhter  gemütlicher  Reizbarkeit,  ferner 
sehr  einförmig  verlaufende  Depressionszustände  mit  Stumpfheit, 
dürftigen  Wahnbildungen,  starker  Selbstmordneigung  und  Aus- 
gang in  Verblödung,  endlich  Verwirrtheit  mit  Erregung,  die  sich 


1)  Lombroso,  La  pellagra.  1892,  deutsch  v.  Kurella.  1898;  Belmondo, 
Rivista  sperim.  di  freniatria,  XV,  XVI;  Tuczek,  Klinische  und  anatomische  Stu- 
dien über  die  Pellagra.  1893;  Finzi,  Bollettino  del  manicomio  provinciale  di  Fer- 
rara,  XXIX,  1901;  v.  Zlatarovic,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XIX,  283;  Gregor, 
ebenda  XXVIII,  215;    Vedrani,  Sui  sintomi  psichici  della  pellagra.  19öS- 


86 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


im  sog.  Typhus  pellagrosus  zu  lebensgefährlichen  Graden  steigern 
kann.  Ob  alle  diese  Formen  eine  klinische  Einheit  bilden  und  allein 
auf  die  Giftwirkungen  zurückzuführen  sind,  ist  zurzeit  noch 
zweifelhaft;  jedenfalls  handelt  es  sich  bei  einer  ganzen  Reihe  der 
als  pellagrös  beschriebenen  Geistesstörungen  um  die  einfache 
Verbindung  auch  sonst  bekannter  Krankheitsbilder  mit  Pellagra. 
Im  Rückenmark,,  besonders  im  Lendenteile,  findet  man  Hinter- 
seitenstrangsklerose,  auch  zerstreute  Herde;  der  klinische  Aus- 
druck dieser  Veränderungen  sind  Parästhesien,  Herabsetzung  der 
Hautempfindlichkeit,  Zittern,  Muskelzuckungen,  Steifigkeit,  ge- 
steigerte Kniereflexe,  Lähmung  und  Schwäche  der  Beine,  spasti- 
scher oder  spastisch-paretischer  Gang. 

Durch  eine  Vermengung  des  Brotgetreides  mit  Mutterkorn 
entsteht,  bei  uns  glücklicherweise  recht  selten,  der  Ergotismus, 
der  öfters  von  psychischen  Störungen i)  begleitet  ist.  Bisweilen  hat 
man  es  dabei  anscheinend  mit  Vergiftungsdelirien  zu  tun;  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  dagegen  entwickeln  sich  länger  dauernde 
Krankheitszustände,  die  aber  bei  geeigneter  Behandlung  wieder 
verschwinden  können,  selbst  nach  längerer  Zeit.  Die  psychischen 
Anzeichen  sind  im  allgemeinen  Herabsetzung  der  Verstandes- 
leistungen, mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Bewußtseinstrü- 
bung bis  zur  Betäubung,  Verlangsamung  des  Denkens,  Gedächt- 
nisschwäche, Verwirrtheit,  daneben  häufige  Angstzustände  und 
tiefes  Krankheitsgefühl.  Bisweilen  treten  articulatorische  Sprach- 
störungen ein;  die  Patellarreflexe  schwinden,  um  bei  günstigem 
Verlaufe  wiederzukehren.  Ferner  kommt  es  regelmäßig  zu  epi- 
leptischen Krämpfen,  unter  Umständen  zu  einer  fortschreitenden 
epileptischen  Erkrankung.  Durch  die  Leichenöffnung  ist  in  mehre- 
ren Fällen  eine  Hinterstrangsklerose  des  Rückenmarks  festgestellt 
worden. 

Die  bei  weitem  größte  Rolle  bei  der  Erzeugung  von  Vergiftungs- 
psychosen spielen  die  Genußmittel,  von  denen  für  uns  der  Alkohol-) 

^WTT?  ^'■^h-  f-  Psychiatrie,  XI,  i  u.  2;  Tuczek,  ebenda  XIII,  i; 

XVIII,  2;  Jahrmärker,  ebenda  XXXV,  109. 

Baer,  Der  Alkoholismus.  1878;  Die  Trunksucht  und  ihre  Abwehr,  2.  Aufl. 
1907;  Smith,  Die  Alkoholfrage.  1895;  Grotjahn,  Der  Alkoholismus.  1898; 
Hoppe,  Die  Tatsachen  über  den  Alkohol,  3.  Aufl.  1904;  Matti  Helenius,  Die 
Alkoholfrage.  1903;  Zeitschriften:  Internationale  Monatsschrift  zur  Bekämpfung 
der  Trinksitten;  Der  Alkoholismus;  Die  Alkoholfrage. 


Vergiftungen. 


87 


eine  ganz  ungeheure  Bedeutung  besitzt.  Die  Angaben  über  die 
Häufigkeit,  mit  welcher  der  Mißbrauch  dieses  Genußmittels  zur 
Aufnahme  in  die  Irrenanstalt  führt,  schwanken,  je  nach  dem 
Volksstamm  und  den  besonderen  Verhältnissen,  zwischen  lO — 30, 
ja  bis  40  Prozent  aller  psychisch  Erkrankten.  In  der  Münchener 
Klinik  waren  unter  den  1906  und  1907  aufgenommenen  Kranken 
22,4%  mit  rein  alkoholischen  Geistesstörungen.  Außerdem  aber 
befanden  sich  unter  den  übrigen  Kranken  noch  22,1%,  bei  denen 
sich  Alkoholmißbrauch  nachweisen  ließ.  Einen  Überblick  über 
deren  Verteilung  auf  die  einzelnen  Krankheitsformen  gibt  die 
Fig.  I.  Wir  ersehen,  daß  der 
Prozentsatz  der  Trinker  be- 
sonders hoch  ist  bei  den  Epi- 
leptikern und  den  Unfallsner- 
venkranken, daß  er  aber  auch 
bei  der  Arteriosklerose  und  bei 
der  Paralyse  noch  eine  erheb- 
liche Rolle  spielt.  Hier  haben 
wir  es  wohl  überall  mit  gewis- 
sen ursächlichen  Beziehungen 
zum  Alkoholmißbrauche  zu 
tun.   Weiterhin  jedoch  begeg- 


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net  uns  eine  Gruppe  von  Er-  ".^ 

KS     33,0     35,0     33,9     33,3     28.1     ZZf     SI.7  fZß 

krankungen,  bei  der  durch  die  Fig.  I. 

,  .    ,  Aii^-     Prozentsatz  der  Trinker  bei  verschiedenen 

Verbmdung  mit  dem  Alko-  G,i3tesstörungen  (München  1906  und  1907). 
holismus  wesentlich    nur  die 

Erscheinungen  des  Leidens  verschlimmert  werden,  was  natürlich 
für  die  erstere  Gruppe  außerdem  auch  zutrifft.  Hierhin  gehören 
Idiotie  und  Imbecillität,  ferner  die  psychopathischen  Zustände  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  die  Dementia  praecox.  Bei  den 
übrigen  Formen  des  Irreseins,  wenn  wir  etwa  noch  vom  Morphi- 
nismus absehen,  tritt  die  Bedeutung  des  Alkoholmißbrauches  mehr 
zurück.  Die  Beteiligung  des  männlichen  Geschlechts  am  Alkoho- 
lismus ist  aus  naheliegenden  Gründen  überall  eine  unvergleich- 
lich viel  stärkere.  Auf  eine  alkoholische  Geistesstörung  bei  Frauen 
kamen  während  des  angeführten  Zeitraumes  in  München  7,9 
bei  Männern,  und  auch  bei  den  übrigen  Trinkern  stellte  sich  das 
Verhältnis  der  Geschlechter  wie  i  :  6,8.    Der  Anteil  der  Trinker 


88 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


an  den  einzelnen  Formen  des  Irreseins  erhöht  sich  daher  für  die 
Männer  allein  ganz  erheblich,  so  bei  der  Epilepsie  auf  48,3%,  bei 
den  Unfallsnervenkranken  auf  46,2%,  bei  den  Arteriosklerotikern 
auf  47,1%,  bei  den  Paralytikern  auf  42,7%,  bei  Imbecillen  und 
Idioten  auf  48,7%,  bei  den  Psychopathen  auf  52,6%;  auch  unter 
den  hysterischen  Männern  fanden  sich  41,8%,  die  als  Trinker  zu 
bezeichnen  waren.  In  den  niederen  Gesellschaftsschichten  allein 
ist  das  Verhältnis  für  die  Frauen  ungünstiger,  in  den  höheren  er- 
heblich günstiger. 

Der  Alkoholgenuß  ist  auf  der  Erde  ungemein  verbreitet.  Die 
meisten  Völker  haben  es  gelernt,  sich  auf  irgend  eine  Weise  das 
berauschende  Gift  zu  bereiten,  die  alten  Ägypter  aus  Getreide,  die 
alten  Deutschen  und  die  Abessinier  aus  Honig,  die  Ostasiaten  aus 
Reis,  die  Tropenbewohner  aus  Palmen,  die  Mexikaner  aus  Agaven  usf. 
Man  hat  daraus  vielfach  den  Schluß  gezogen,  daß  der  Alkohol  für 
den  Menschen  ein  natürliches  Bedürfnis  sei.    Demgegenüber  ist 
darauf  hinzuweisen,  daß  bei  den  meisten  Naturvölkern  der  Alkohol 
nicht  regelmäßig,  sondern  nur  bei  besonderen  Anlässen  erzeugt  und 
getrunken  wird,  vor  allem  aber,  daß  auch  heute  noch  Hunderte  von 
Millionen  Menschen  vollständig  ohne  Alkohol  leben.   Das  ist  freilich 
allein  das  Verdienst  der  Religionsstifter.  Buddha  wie  Mohammed 
und  in  neuerer  Zeit  der  Gründer  der  Mormonensekte,  Joseph 
Smith,  haben  ihren  Anhängern  den  Alkoholgenuß  untersagt,  und 
dieses  Verbot  wird  überall  strenge  eingehalten,  wo  seine  Wirksam- 
keit nicht  durch  das  schlechte  Beispiel  und  den  Handelsgeist  der 
Europäer  untergraben  wird. 

Die  germanische  Rasse  scheint,  worauf  schon  die  Schilderungen 
des  Tacitus  hinweisen,  in  ganz  besonderem  Maße  zum  Miß- 
brauche des  Alkohols  geneigt  zu  sein.  Zu  einer  rasch  anwachsen- 
den Gefahr,  ja  zu  einer  Lebensfrage  ist  der  Alkoholmißbrauch 
geworden,  seitdem  die  fortschreitende  Technik  immer  größere 
Mengen  billigen  und  konzentrierten  Alkohols  erzeugt,  andererseits 
das  Braugewerbe  wie  die  Weinfabrikation  mit  allen  Hilfsmitteln 
der  Wissenschaft  eine  ungeahnte  Höhe  erreicht  hat.  Unter  diesen 
Umständen  hat  der  Alkoholverbrauch  im  Laufe  der  letzten  Jahr- 
zehnte fast  überall  zugenommen.  Nur  die  skandinavischen  Länder, 
welche  vor  etwa  sechzig  Jahren  infolge  der  ungeheuren  Aus- 
breitung  des  Alkoholismus  am  Rande  des  Abgrundes  standen, 


Vergiftungen. 


89 


haben  es  vermocht,  durch  geeignete  Maßregeln  den  furchtbaren 
Feind  wirksam  zu  bekämpfen,  so  daß  sie  heute  in  der  Trunk- 
suchtsstatistik mit  die  günstigste  Stelle  einnehmen.  Auch  in  Finn- 
land, Island,  Kanada  und  einigen  Staaten  der  Nordamerikanischen 
Union  hat  die  Gesetzgebung  außerordentliche  Erfolge  in  der  Ein- 
dämmung des  Alkoholmißbrauches  und  zusammenhängend  damit 
in  der  gesundheitlichen  und  sittlichen  Hebung  des  Volkes  zu  ver- 
zeichnen. In  den  meisten  übrigen  Ländern  und  namentlich  in 
Deutschland  läßt  sich  leider  ein  Anwachsen  des  Alkoholismus 
nicht  verkennen.  Eine  besonders  verderbliche  Rolle  scheinen  in 
dieser  Richtung  die  großen  Städte  mit  ihrer  zahlreichen  Fabrik- 
bevölkerung und  ihrem  Reichtum  an  Kneipen  aller  Art  zu  spielen, 
der  das  ohnedies  rasch  steigende  ,, Bedürfnis"  womöglich  noch  zu 
überflügeln  sucht.  So  kommt  es  denn,  daß  in  Deutschland  für 
geistige  Getränke  jetzt  jährlich  2826  Millionen  Mark  ausgegeben 
werden,  während  der  gesamte  Aufwand  für  Reichsheer  und  Marine 
85872»  derjenige  für  die  Arbeiterversicherung  488  und  der  für 
die  öffentlichen  Volksschulen  419  Millionen  beträgt i).  Der  Bier- 
verbrauch ist  im  Deutschen  Reiche  zwischen  1872  und  1900  von 
81,4  auf  125,0  Liter  für  den  Kopf  der  Bevölkerung  angewachsen. 
Die  jährlichen  Ausgaben  der  Berliner  Lohnarbeiter 2)  für  geistige 
Getränke  betragen  durchschnittlich  5,2  bis  7,7%  des  Jahresein- 
kommens, steigend  mit  dem  Wohlstande,  während  für  Kleidung 
5,3 — 9,6%,  für  Bildungszwecke  gar  nur  1,2—1,6%  ausgegeben 
werden.  Bei  Industriearbeitern  in  Baden  wurde  eine  durchschnitt- 
liche Ausgabe  von  12,3%  des  Jahreseinkommens  für  geistige  Ge- 
tränke ermittelt;  für  die  Wohnung  wurden  nur  10,8%  verwendet. 
Es  gibt  aber  nicht  wenige  Arbeiter  in  unserem  Vaterlande,  welche 
17 — 20%  ihres  täglichen  Arbeitsverdienstes  für  Alkohol  verbrauchen. 
Ich  kannte  einen  Sackträger,  der  jährlich  etwa  vierhundert  Mark  für 
Alkohol  ausgab.  Als  ein  ganz  besonders  schlimmes  Zeichen  muß  es 
angesehen  werden,  daß  in  letzter  Zeit  auch  die  Beteiligung  des  weib- 
lichen Geschlechtes  an  der  Trunksucht  erheblich  zuzunehmen  scheint. 

1)  Wein,  Bier  und  Schnaps,  Beiträge  zur  Alkoholfrage  aus  dem  Reichsarbeits- 
blatt, 8,  2.  Aufl.,  1906. 

2)  Lohnermittelungen  und  Haushaltsberechnungen  der  minder  bemittelten  Be- 
völkerung im  Jahre  1903,  Berliner  Statistik,  3.  Heft.  1904;  Die  Verhältnisse  der 
Industriearbeiter  in  17  Landgemeinden  bei  Karlsruhe,  Bericht  der  Großh.  Badischen 
Fabrikinspektion.  1904. 


gQ  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Die  bei  weitem  verderblichste  Form  alkoholischen  Getränkes 
ist  der  Schnaps,  besonders  der  Kartoffelbranntwein,  der  häufig 
außer  dem  Äthylalkohol  auch  die  noch  giftigeren  höheren  Alko- 
hole, namentlich  den  Amylalkohol,  enthält,  und  der  in  Südfrank- 
reich und  Oberitalien  verbreitete  Absinth  (ätherisches  Öl  der  Ar- 
temisia  Absynthium).  Im  biertrinkenden  Süddeutschland  und 
selbst  in  den  Weinländern  spielen  daher  die  schweren  Formen 
des  Alkoholismus  auch  nicht  im  entferntesten  die  Rolle,  wie  etwa 
im  Nordosten,  wo  der  Kartoffelfusel  das  wichtigste  alkoholische 
Genußmittel  des  Arbeiters  bildet.  Freilich  wird  der  geringere  Gift- 
gehalt der  schwächeren  Getränke  zumeist  durch  die  größeren 
Verbrauchsmengen  reichlich  wieder  ausgeglichen.  Außerdem  macht 
sich  bei  dem  in  ungeheuren  Mengen  genossenen  Bier  noch  eine 
andere  Schädlichkeit  geltend,  die  Wirkung  der  übermäßigen  Zufuhr 
kalter  Flüssigkeit  auf  Magen,  Nieren,  Kreislaufsorgane  und  Stoff- 
wechsel. So  kommt  es,  daß  die  Häufigkeit  der  einzelnen  alko- 
holischen Geistesstörungen  in  den  Gegenden  mit  vorwiegendem 
Bier-  oder  Schnapsgenuß  ein  wesentlich  verschiedenes  Bild  dar- 
bietet. Während  der  Schnaps  neben  den  schweren  Formen  des 
chronischen  Alkoholismus  Alkoholepilepsie,  Delirium  tremens  und 
Korssakowsches  Irresein  erzeugt,  haben  wir  es  in  Bierländern 
mehr  mit  einer  schleichenden  Abnahme  der  körperlichen  und 
geistigen  Leistungsfähigkeit,  mit  einer  allgemeinen  Vertrottelung 
zu  tun,  der  sich  die  Begleiterscheinungen  der  Aufgeschwemmtheit 
und  Unbeholfenheit  sowie  die  Neigung  zum  Versagen  des  Herzens 
und  zu  Hirnblutungen  hinzugesellen.  Da  der  Biergenuß  wegen 
seiner  vermeintlichen  Harmlosigkeit  sich  über  viel  weitere  Be- 
völkerungsschichten erstreckt,  pflegen  die  durch  ihn  erzeugten 
Veränderungen  mehr  das  Gesamtbild  der  Bevölkerung  zu  beein- 
flussen, als  der  doch  immer  nur  in  den  niederen  Schichten  wirk- 
lich regelmäßig  getrunkene  Schnaps.  Übrigens  greift  auch  der 
Biertrinker  zum  Schnapse,  wenn  ihm  infolge  seines  wirtschaft- 
lichen Niederganges  das  Bier  zu  teuer  wird.  Von  den  in  der  Bier- 
stadt München  1905  bei  uns  eingelieferten  Trinkern  nahmen  40% 
neben  dem  Biere  auch  Schnaps  zu  sich. 

Die  ursächliche  Bedeutung  des  Alkohols  für  die  Erzeugung 
von  Geistesstörungen  beruht  vor  allem  auf  der  durch  ihn  herbei- 
geführten Vergiftung  der  Hirnrinde.    Tierversuche  haben  gezeigt. 


Vergiftungen. 


91 


daß  wiederholte  Alkoholgaben,  die  einzeln  noch  nicht  als  tötliche 
anzusehen  sind,  ausgebreitete  und  tiefgreifende  Zerstörungen  an 
den  Nervenzellen  der  Hirnrinde  herbeizuführen  vermögen.  Dieser 
Befund  steht  in  Übereinstimmung  mit  psychologischen  Versuchen, 
die  von  Fürer^)  und  Rüdin^)  angestellt  worden  sind.  Bei  den- 
selben ergab  sich  nämlich,  daß  sich  die  Nachwirkung  eines  mäßigen 
Rausches  in  dem  psychischen  Verhalten  der  Versuchsperson  12 
bis  24,  unter  Umständen  sogar  48  Stunden  lang  deutlich  nach- 
weisen ließ.  Sie  bestand,  ganz  wie  die  akute  Alkoholwirkung,  in 
einer  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungsfähigkeit,  einer  ge- 
steigerten motorischen  Erregbarkeit  und  der  Neigung  zu  gewohn- 
heitsmäßigen und  Klangassoziationen. 

Bei  dauerndem  Gebrauche  des  Alkohols  müssen  sich  die  Wir- 
kungen der  einzelnen  Gaben  naturgemäß  allmählich  häufen.  In 
der  Tat  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  sich  im  Gehirne 
des  Trinkers  schließlich  Veränderungen  herausbilden,  welche  den 
einzelnen  Rausch  weit  überdauern.  Bei  einem  Trinker  konnte 
ich  eine  starke  Herabsetzung  der  Auf fassungsfähigkeit ,  wahr- 
scheinlich verbunden  mit  erhöhter  psychomotorischer  Erregbarkeit, 
vierzehn  Tage  nach  dem  Beginne  vollständiger  Enthaltsamkeit 
nachweisen.  Wie  schnell  solche  Veränderungen  zustande  kommen, 
läßt  sich  von  vornherein  schwer  sagen;  sicherlich  wird  hier  die 
persönliche  Widerstandsfähigkeit  eine  erhebliche  Rolle  spielen. 
Immerhin  hat  Smith=^)  den  Nachweis  geführt,  daß  eine  tägliche 
Alkoholmenge,  die  etwa  zwei  Litern  Bier  entsprach,  bereits  vom 
zweiten  Tage  an  eine  dauernde  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit bewirkte.  Sobald  nach  zwölf  Tagen  der  Alkoholgenuß 
ausgesetzt  wurde,  verlor  sich  diese  Schädigung  freilich  sofort; 
allein,  als  sieben  Tage  später  von  neuem  Alkohol  genommen  wurde, 
trat  nunmehr  die  Wirkung  des  Giftes  bereits  am  ersten  Tage 
mit  voller  Deutlichkeit  wieder  hervor.  Ganz  ähnliche  Versuchs- 
ergebnisse erhielt  Kürz").  Diese  nunmehr  bei  vier  Personen 
übereinstimmend  gewonnenen  Erfahrungen  sprechen  dafür,  daß 

1)  Für  er,  Bericht  über  den  V.  internat.  Kongreß  zur  Bekämpfung  des  Miß- 
brauchs geistiger  Getränke  in  Basel,  1896,  355. 

2)  Rüdin,  Psychologische  Arbeiten,  IV,  i  u.  495. 

•'')  Smith,  Bericht  über  den  V.  internat.  Kongreß  zur  Bekämpfung  des  Miß- 
brauchs geistiger  Getränke  in  Basel,  1896,  341. 

4)  Kürz  und  Kraepelin,  Psychologische  Arbeiten,  III,  417. 


92 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


eine  dauernde  Nachwirkung  des  regelmäßigen  Alkoholgenusses 
schon  nach  verhältnismäßig  sehr  kurzer  Zeit  sich  einstellen  kann. 
Freilich  mag  sie  lange  äußerst  geringfügig  bleiben  —  dennoch 
dürften  die  mitgeteilten  Versuche  geeignet  sein,  uns  einen  Einblick 
in  die  ersten  leisen  Anfänge  des  chronischen  Alkoholismus  zu  ge- 
währen. 

Sie  geben  uns  zugleich,  wie  ich  denke,  einen  Anhaltspunkt  für 
die  Beantwortung  der  wichtigen  Frage:  Wer  ist  als  Trinker  zu 
betrachten?  Da  die  dauernden  Wirkungen  des  Alkohols  sich  bei 
regelmäßigem  Gebrauche  sehr  rasch  einstellen,  wenn  die  Zwischen- 
zeit zwischen  zwei  mittleren  Gaben  weniger  als  ein  bis  zwei  Tage 
beträgt,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  daß  sich  wahrschein- 
lich bei  der  Mehrzahl  derjenigen  Personen,  welche  täglich  80 
bis  100  g  Alkohol  zu  sich  nehmen,  Andeutungen  psychischer  Ver- 
änderungen werden  nachweisen  lassen.  Dafür  spricht  auch  die 
Erfahrung,  daß  vielfach  das  Aufgeben  eines  mäßigen  täglichen 
Alkoholgenusses  bereits  eine  deutlich  merkbare  Besserung  der 
gesamten  Leistungsfähigkeit  und  des  Allgemeinbefindens  zur  Folge 
hat.  Über  die  Rolle,  welche  der  Gewöhnung  bei  regelmäßigem 
Alkoholgenuß  zukommt,  ist  noch  wenig  Sicheres  bekannt.  Es 
scheint  nicht,  als  ob  die  Dauer  der  Enthaltsamkeit  bei  vorher 
mäßigen  Personen  einen  wesentlichen  Einfluß  auf  die  Empfindlich- 
keit gegen  den  Alkohol  hat.  Dagegen  steht  die  Abnahme  der  akuten 
Alkoholwirkungen  bei  regelmäßigem  Trinken  wohl  außer  Zweifel; 
andererseits  nimmt  bei  alten  Säufern  die  Empfindlichkeit  gegen 
das  Gift  wieder  zu.  Im  Hinblicke  auf  die  bei  anderen  Giften  noch 
viel  ausgeprägteren  Gewöhnungserscheinungen  werden  wir  wohl 
annehmen  dürfen,  daß  es  sich  dabei  um  dauernde  Nachwirkungen 
des  Alkohols  in  unserem  Nervengewebe  handelt,  die  nicht,  wie 
die  Folgen  der  Übung,  eine  Kräftigung  bedeuten,  sondern,  wie  die 
Unempfindlichkeit  gegen  Morphium,  als  krankhafte  Verände- 
rungen aufgefaßt  werden  müssen. 

Bei  schwererem  und  lange  dauerndem  Alkoholmißbrauche 
stellen  sich  regelmäßig  außer  den  Wirkungen  auf  Gehirn  und 
Seelenleben  auch  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Veränderungen 
in  den  verschiedensten  Organen  des  Körpers  ein;  namentlich  die 
Blutgefäße  werden  verhältnismäßig  früh  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen.  Es  kommt  auf  diese  Weise  schließlich  zu  einem  schweren 


Vergiftungen. 


93 


Siechtum,  das  nur  sehr  langsam  und  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Rückbildung  noch  fähig  ist.  Aber  auch  die  leichteren 
Grade  des  Alkoholismus,  wie  sie  von  der  öffentlichen  Meinung 
und  namentlich  auch  vom  Trinker  selbst  gar  nicht  weiter  beachtet 
werden,  sind  schon  imstande,  eine  dauernde  Beeinträchtigung 
der  Gesundheit  zu  erzeugen.  Dafür  sprechen  mit  Sicherheit 
die  über  Jahrzehnte  sich  erstreckenden  Erfahrungen  der  eng- 
lischen Lebensversicherungsgesellschaften,  nach  denen  die  Lebens- 
erwartung der  Enthaltsamen  um  20 — 30%  größer  ist,  als  die- 
jenige der  übrigen  Versicherten.  Daß  auch  die  Widerstandsfähig- 
keit gegen  ansteckende  Krankheiten  durch  dauernde  Alkohol- 
einwirkung herabgesetzt  wird,  lehren  die  klinische  Erfahrung  wie 
die  Versuche  Laitinens,  dessen  alkoholisierte  Tiere  schwerer  zu 
immunisieren  waren,  weniger  reichliche  Hämolysinbildung  zeigten 
und  daher  bei  künstlicher  Infektion  rascher  oder  auf  kleinere 
Gaben  erlagen. 

Ganz  besonders  folgenschwer  wird  das  Alkoholsiechtum  durch 
den  Umstand,  daß  es  anscheinend  einen  äußerst  verderblichen  Einfluß 
auf  die  Nachkommenschaft  auszuüben  imstande  ist.  Demme^) 
hat  zur  näheren  Beleuchtung  dieser  Frage  im  Laufe  von  zwölf 
Jahren  die  Kinder  in  zwei  Gruppen  von  je  zehn  Familien  unter- 
sucht. In  der  ersten  dieser  Gruppen  waren  die  Eltern  Trinker,  in 
der  anderen  nüchterne  Leute.  Auf  die  Trinkergruppe  entfielen  ins- 
gesamt 57  Kinder;  von  denselben  waren  nur  10,  also  i7»5%>  völlig 
normal.  Die  übrigen  litten  an  verschiedenartigen,  auf  eine  Ent- 
artung hinweisenden  Leiden,  Mißbildungen,  Zwergwuchs,  Veitstanz, 
Epilepsie,  Idiotie;  25  Kinder  starben  in  den  ersten  Lebensmonaten. 
Aus  den  nüchternen  Familien  gingen  61  Kinder  hervor.  Von  diesen 
starben  nur  5;  4  Kinder  litten  später  an  Krankheiten  des  Nerven- 
systems, 2  an  Bildungsfehlern.  Der  Rest  von  50  Kindern  dagegen, 
mithin  81,9%,  war  und  blieb  völlig  gesund. 

Diese  Erfahrungen  haben  seither  sehr  vielfache  Bestätigung 
erfahren.  So  fand  Plaut,  daß  von  183  Trinkerkindern  32,7  im 
ersten  Lebensjahre  starben  und  59%  der  Überlebenden  psychisch 
nicht  gesund  waren.  Auch  unter  den  übrigen  wiesen  fast  die  Hälfte 
körperliche  Erkrankungen  oder  Entwicklungsstörungen  auf.  Ar- 


1)  De  mme,  Über  den  Einfluß  des  Alkohols  auf  den  Organismus  der  Kinder.  1891. 


94 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


rive^)  stellte  durch  den  Vergleich  von  433  Kindern  aus  Trinker- 
familien mit  847  aus  mäßigen  Familien  die  größere  Häufigkeit 
der  Fehl-  und  Totgeburten  wie  die  größere  Sterblichkeit  der  ersteren 
fest.  Das  sechste  Lebensjahr  erlebten  aus  den  Trinkerfamilien  50,4, 
aus  den  mäßigen  69,7%  der  Früchte.  Die  größere  Empfindlich- 
keit der  Trinkerkinder  gegen  Tuberkulose  wurde  durch  Bunge^) 
dargetan.  Bourneville  berichtet,  daß  unter  2554  von  ihm  unter- 
suchten, psychisch  kranken  Kindern  235  sicher  und  86  wahr- 
scheinlich im  Rausche  erzeugt  waren.  Bezzola  hat  die  Zeit  der 
Empfängnis  für  8196  schwachsinnige  Kinder  in  der  Schweiz  aus- 
gerechnet und  sie  mit  der  entsprechenden  Jahreskurve  für  die 
Empfängnis  aller  Kinder  verglichen.  Die  dabei  gefundenen  Ab- 
weichungen ergeben,  daß  in  der  Zeit  um  Neujahr,  zu  Fastnacht 
und  während  der  Weinlese  unverhältnismäßig  mehr  schwachsin- 
nige Kinder  gezeugt  werden,  ein  Verhalten,  dessen  Beziehung  zum 
Alkoholmißbrauch  kaum  bezweifelt  werden  kann.  Durch  solche 
Erfahrungen  gewinnt  die  alte  Behauptung,  daß  im  Rausch  er- 
zeugte Kinder  entarten,  neue  Stützen,  ja,  es  ist  schon  darauf  hin- 
gewiesen worden,  daß  die  bekannte  körperliche  und  geistige  Minder- 
wertigkeit der  unehelich  Geborenen  zum  Teil  vielleicht  auf  der 
häufigen  Mitwirkung  des  Alkohols  bei  ihrer  Erzeugung  beruhen 
könne.  Allerdings  wird  bei  den  angeführten  und  ähnlichen  Er- 
hebungen zu  berücksichtigen  sein,  daß  außer  der  unmittelbaren 
Keimschädigung  durch  den  Alkohol  noch  eine  Menge  mittelbarer, 
für  die  Nachkommenschaft  ungünstiger  Einflüsse  mit  hinein- 
spielen, so  vielfach  eine  angeborene  Minderwertigkeit  des  Trinkers, 
sein  wirtschaftliches  Elend,  der  Mangel  an  Fürsorge  für  die  Familie, 
häufige  Aufregungen,  unregelmäßige  Lebensführung  usf.  Anderer- 
seits würde  sich  die  volle  Größe  des  Unheils,  das  der  Alkoho- 
lismus der  Erzeuger  für  die  Kinder  bedeutet,  erst  ermessen  lassen, 
wenn  man  die  gesamten  Schicksale  dieser  letzteren  bis  zu  ihrem 
Tode  verfolgen  könnte.  Aber  auch  so  schon  werden  wir  überall 
mit  erschreckender  Deutlichkeit  auf  die  Tatsache  hingewiesen,  daß 
die  chronische  Alkoholvergiftung  nicht  nur  den  Einzelnen  ver- 
nichtet, sondern  auch  dem  kommenden  Geschlechte  schon  im 
Keime  den  Stempel  der  Entartung  aufdrückt. 

1)  Arrive,  Influenae  de  l'alcoolisme  sur  la  depopulation.  1899. 

2)  Bunge,  Virchows  Archiv  CLXXV,  196. 


Vergiftungen. 


95 


Eine  weitere  Erläuterung  dieses  Satzes  gibt  uns  die  Tatsache, 
daß  30 — 40%  der  Trinker  von  trunksüchtigen  Eltern  abstammen. 
Bourneville  fand,  daß  unter  den  von  ihm  untersuchten  idio- 
tischen, epileptischen,  hysterischen  oder  imbecillen  Kindern  36,5% 
einen  trunksüchtigen  Vater,  3,1%  eine  trunksüchtige  Mutter 
hatten,  während  bei  1,5%  beide  Eltern  Trinker  waren.  Auch 
sonst  läßt  sich  nachweisen,  daß  20 — 30%  der  Epileptiker  und 
Idioten  und  ein  noch  größerer  Anteil  der  Verbrecher,  Zwangs- 
zöglinge und  Straßendirnen  trunksüchtige  Erzeuger  hatten.  Bon- 
höf f  er  konnte  bei  seinen  großstädtischen  Bettlern  und  Land- 
streichern in  35%,  bei  den  Prostituierten  in  44,7%  der  Fälle  elter- 
lichen Alkoholismus  feststellen;  Mönkemöller  erhob  bei  300 
Zwangszöglingen  nach  Ausschluß  von  50  unehelich  Geborenen 
145  mal  Alkoholismus  des  Vaters,  12  mal  der  Mutter  und  4  mal 
beider  Eltern ;  zahlreiche  Schädelnarben  bei  diesen  Kindern  mußten 
auf  Mißhandlungen  durch  den  betrunkenen  Vater  zurückgeführt 
werden.  Auch  die  Fähigkeit  zum  Stillen  soll  nach  Bunges^) 
Untersuchungen  in  Trinkerfamilien  erlöschen. 

In  seiner  verhängnisvollen  Einwirkung  auf  den  Einzelnen  und 
sein  ganzes  Geschlecht  wird  der  Alkohol,  wie  schon  angedeutet,  zu- 
meist noch  unterstützt  durch  eine  Anzahl  ähnlicher  Schädlichkeiten, 
die  mit  dem  Mißbrauche  jenes  Genußmittels  Hand  in  Hand  zu  gehen 
pflegen.  Der  Schnaps  ist  vorzugsweise  das  Getränk  des  armen 
Mannes,  der  von  ihm  Anregung  und  Erwärmung  erwartet,  ja  dem 
er  zum  Teil  die  Nahrung  ersetzen  soll;  die  tägliche  Not  des  wirt- 
schaftlichen Elendes ,  ungenügende  Ernährung ,  schlechte  Woh- 
nungs-  und  Arbeitsverhältnisse  ebnen  seinem  Einflüsse  hier  den 
Weg.  So  kommt  es,  daß  der  anfangs  nur  aus  bestimmtem  An- 
lasse, nach  starker  Anstrengung,  am  Lohntage  oder  in  verführe- 
rischer Gesellschaft  genossene  Schnaps  allmählich  zum  Lebens- 
bedürfnisse wird,  und  der  Gewohnheitstrinker  nun  regelmäßig, 
Tag  für  Tag,  bei  und  nach  der  Arbeit  wie  an  den  Sonntagen,  zu 
Hause  wie  in  der  Kneipe  zum  Alkohol  greift.  Umgekehrt  aber  ist 
es  gerade  der  Alkohol,  der  durch  seine  vernichtenden  Wirkungen 
auf  das  körperliche,  geistige  und  soziale  Wohlergehen  des  Trinkers 
mit  Notwendigkeit  den  wirtschaftlichen  Zusammenbruch  herbei- 


)  Bunge,  Die  zunehmende  Unfähigkeit  der  Frauen,  zu  stillen,  6.  Aufl.  1909. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

führt  und  auf  diese  Weise  einen  Kreislauf  herstellt,  aus  dem  es 
kein  Entrinnen  mehr  gibt.  Die  Gefahr,  auf  diese  schiefe  Ebene 
zu  geraten,  ist  wegen  der  anheiternden  Wirkungen  des  Alkohols 
und  wegen  der  überall  bereiten,  zur  Volksunsitte  gewordenen 
Verführung  weit  größer,  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Leider 
können  wir  unserer  Gesetzgebung  den  schweren  Vorwurf  nicht 
ersparen,  nahezu  untätig-  dem  Anwachsen  der  Trunksucht  gegen- 
überzustehen, ja  sie  durch  liebevolle  Begünstigung  der  verschie- 
denen Alkoholgewerbe  geradezu  zu  fördern.  Sie  folgt  damit  aller- 
dings nur  dem  Beispiele  der  ,, öffentlichen  Meinung",  welche  in 
Deutschland  das  Recht  auf  den  Trunk  unter  allen  Umständen  ge- 
sichert wissen  will.  Selbst  in  den  Kreisen  der  Ärzte,  die  aus  viel- 
fältiger trauriger  Erfahrung  die  zerstörende  Wirkung  des  Alkohols 
genugsam  kennen  sollten,  wird  dieser  schlimmste  Feind  unseres 
Volkes  in  unbegreiflicher  Gedankenlosigkeit  noch  vielfach  als  Stär- 
kungsmittel für  Schwache  und  gar  für  Kinder  angepriesen. 

Es  mag  immerhin  zugegeben  werden,  daß  die  nachteiligen 
Folgen  eines  mäßigen  Alkoholgenusses  und  selbst  eines  gelegent- 
lichen Übermaßes  von  kräftigen  Naturen  ohne  schwere  Schädi- 
gung ertragen  werden.  Allein  die  Zahl  derjenigen,  die  infolge 
ihrer  schwächeren  Veranlagung  oder  ungünstiger  Verhältnisse 
tagtäglich  durch  den  Alkohol  um  Gesundheit  und  Lebensglück 
gebracht  werden,  ist  wahrlich  übergroß!  Die  Mitschuld  fällt  auf 
uns  alle.  Niemand  wird  leugnen  wollen,  daß  in  den  gebildeten 
Kreisen  kaum  weniger  als  in  den  breiten  Massen  unseres  Volkes 
der  Alkoholmißbrauch  mit  einer  Nachsicht  geduldet,  ja  mit  einem 
Wohlwollen  gezüchtet  wird,  welches  eine  der  wichtigsten  Ur- 
sachen für  die  gewaltige,  verderbenbringende  Macht  jener  Volks- 
seuche bildet.  Alljährlich  zahlen  wir  nicht  nur  an  Landstreichern 
und  Tagedieben  oder  ähnlich  wertlosem  Menschenausschuß,  sondern 
auch  an  tüchtigen,  ja  hochbegabten  Naturen  dem  Gifte  einen 
reichen  Tribut.  Freilich  sind  es  vorzugsweise  haltlose  und  schwache 
Persönlichkeiten,  die  dem  Einflüsse  des  Alkohols  unterliegen,  aber 
wir  dürfen  dabei  nicht  vergessen,  daß  dieses  Gift  gerade  selbst 
den  Willen  und  die  Widerstandskraft  des  Menschen  vernichtet  und 
sich  auf  diese  Weise  die  günstigen  Bedingungen  schafft,  die  ihm 
den  endlichen  Sieg  ermöglichen. 

Die    psychischen  Störungen,    die    der  Alkoholmißbrauch  er- 


Vergiftungen. 


97 


zeugt,  sind  außer  dem  Rausche  und  dem  einfachen  alkoholischen 
Schwachsinn  vor  allem  das  Delirium  tremens,  ferner  der  Alkohol- 
wahnsinn, der  Eifersuchtswahn  und  der  halluzinatorische  Schwach- 
sinn der  Trinker,  endlich  die  Hauptmasse  der  Korssako wschen 
Geistesstörung.  Die  Häufigkeit,  mit  der  sich  die  einzelnen  Formen 
entwickeln,  wird  sehr  wesentlich  von  der  Art  der  genossenen  Ge- 
tränke bestimmt.  So  erzeugt  der  übermäßige  Biergenuß  in  München 
außer  den  Rauschzuständen  ganz  vorwiegend  den  einfachen  alko- 
holischen Schwachsinn,  während  die  Deliranten  nur  etwa  9,2% 
der  Alkoholisten  ausmachen.  Demgegenüber  werden  in  Breslau, 
wo  vorwiegend  Schnaps  getrunken  wird,  jährlich  8 — 9  mal  soviel 
Deliranten  beobachtet;  auch  die  Korssakowsche  Psychose  und 
der  Alkoholwahnsinn  sind  bei  Schnapstrinkern  sehr  viel  häufiger, 
als  bei  Bieralkoholisten.  Weiterhin  pflegt  der  Alkohol  bei  frischen 
Aufregungszuständen  verschiedenster  Art,  besonders  bei  manischen 
und  paralytischen  Kranken,  eine  rasche  und  sehr  erhebliche  Ver- 
schlimmerung aller  Erscheinungen  herbeizuführen.  Zu  beachten  ist 
indessen,  daß  häufig  die  Neigung  zum  Alkoholmißbrauche  nicht  so- 
wohl die  Ursache,  sondern  vielmehr  ein  Zeichen  des  ausgebrochenen 
Irreseins  darstellt.  Bei  epileptischer  Veranlagung  können  unter 
Umständen  schon  mäßige  Alkoholmengen  die  schwersten  psychi- 
schen Störungen  auslösen ;  auch  bei  Psychopathen  und  Hysterischen 
sehen  wir  häufig  genug  unverhältnismäßig  heftige  Erregungen 
unter  Alkoholeinfluß  auftreten. 

Dem  Alkohol  stehen  chemisch  sehr  nahe  der  Äther^)  und 
das  Paraldehyd^).  Der  erstere  ist  schon  seit  längerer  Zeit  in 
Irland  und  neuerdings  auch  in  Ostpreußen  in  größerem  Maßstabe 
als  billiges  Ersatzmittel  für  den  Alkohol  in  Gebrauch,  meist  mit 
Branntwein  gemischt;  hie  und  da  wird  er  auch  eingeatmet.  Wie 
Sommer  mitteilt,  wurden  im  Kreise  Memel  schon  im  Jahre  1897 
nicht  weniger  als  8580  1  Äther  zu  Trinkzwecken  verkauft.  Der 
Äther  berauscht  stärker  als  der  Alkohol;  er  scheint  gerade  wie 
jener  ein  dauerndes  Siechtum  mit  Erkrankung  der  Nieren,  der 
Leber  und  Verfettung  des  Herzens  herbeizuführen.  Auch  das 
Petroleum  und  das  Benzin  sind  bisweilen  als  Genußmittel  zur 
Erzeugung  von  Rauschzuständen   benutzt  worden,   seltener  das 

^)  Sommer,  Neurol.  Centralbl.  XVIII,  194.  1899. 
2)  Rein  hold,  Therap.  Monatsh.,  1897,  Juni. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  7 


I-  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Chloroform;  letzteres  kann  auch  im  Anschlüsse  an  die  Narkose 
Delirien  mit  heiterer  Erregung  und  rückschreitendem  Erinnerungs- 
verluste auslösen. 

Die  Wirkung  des  Paraldehy  ds  auf  das  Seelenleben  ist  derjenigen 
des  Alkohols  sehr  ähnlich.  Nur  erreicht  die  lähmende  Wirkung 
auf  Auffassung  und  Denken  viel  rascher  sehr  hohe  Grade,  während 
die  psychomotorische  Erregung,  die  beim  Alkohol  so  stark  aus- 
geprägt ist,  verhältnismäßig  geringfügig  bleibt.  Aus  diesen  Gründen 
findet  das  Paraldehyd  im  allgemeinen  nur  als  Schlafmittel,  nicht 
als  Genußmittel  Anwendung.  Es  sind  jedoch  Fälle  bekannt  ge- 
worden, in  denen  eine  allmählich  eintretende  Gewöhnung  zur 
dauernden  Anwendung  sehr  hoher  Gaben,  bis  zu  30  und  40  g  im 
Tage,  und  damit  zu  einem  dem  chronischen  Alkoholismus  ent- 
sprechenden Siechtume  geführt  hat.  Die  Erscheinungen  waren 
Schwinden  der  Eßlust,  Sinken  der  Ernährung,  Abnahme  des  Ge- 
dächtnisses und  der  geistigen  Leistungsfähigkeit,  Zittern.  Einige 
Male  wurden  Zustände  beobachtet,  die  genau  dem  Delirium  der 
Trinker  glichen.  Probst  sah  nach  Verbrauch  von  150  g  in  36 
Stunden  ein  Paraldehyddelirium,  das  binnen  sieben  Tagen  in  Ge- 
nesung ausging. 

Eine  chronische  Vergiftung,  die  zwar  weniger  verbreitet  ist 
als  der  Alkoholismus,  aber  dafür  noch  immer  erschreckend  zu- 
nimmt, haben  uns  die  letzten  Jahrzehnte  in  der  Morphiumsucht 
kennen  gelehrt,  wie  sie  sich  bei  lange  fortgesetztem  Gebrauche 
von  Morphiumeinspritzungen  entwickelt.  Auch  beim  Morphium 
begegnen  wir  im  allgemeinen  einer  Verbindung  von  lähmenden  und 
erregenden  Wirkungen  des  Giftes  auf  die  Hirnrinde;  wie  es  in- 
dessen scheint,  betreffen  die  ersteren  mehr  dijs  Willensantriebe, 
die  letzteren  mehr  die  Auffassung  und  die  Verstandesleistungen. 
Da  das  anfängliche  Wohlbehagen  schon  nach  einigen  Stunden  einer 
sehr  quälenden  Erschlaffung  und  Niedergeschlagenheit  weicht,  die 
nur  durch  das  Mittel  selbst  wieder  beseitigt  werden  kann,  so  bildet 
sich  überall  dort,  wo  dem  Kranken  das  Morphium  zugänglich  ist, 
ein  beständiger  Wechsel  zwischen  scheinbarem  Wohlbefinden  unter 
dem  Einflüsse  des  Giftes  und  jenem  unangenehmen  Nachstadium 
des  morphinistischen  Katzenjammers  heraus.  Dazu  kommt,  daß 
mit  der  Zeit  eine  wachsende  Gewöhnung  an  das  Mittel  eintritt, 
die  gebieterisch  eine  oft  ins  Unglaubliche  gehende  Erhöhung  der 


Vergiftungen. 


99 


Gabe  fordert.  Auf  diese  Weise  entsteht  das  Bild  des  chronischen 
Morphinismus  mit  seinen  schweren  Folgen  für  die  körperliche, 
geistige  und  sittliche  Leistungsfähigkeit,  mit  dessen  Betrachtung 
im  einzelnen  wir  uns  späterhin  noch  sehr  eingehend  zu  beschäf- 
tigen haben  werden.  Ihm  entspricht  offenbar  in  allen  wesentlichen 
Zügen  dasjenige  der  Opiophagie,  wie  sie  in  Ostasien  so  weit  ver- 
breitet ist,  doch  scheint  das  Opium  mehr  als  das  Morphium  die 
Entstehung  heiterer,  farbenreicher  Traumzustände  zu  begünstigen. 
Die  neuesten  Abarten  des  Morphinismus  sind  der  Dioninismus 
und  der  Heroinismus der  besonders  bedenklich  zu  sein  scheint. 
Das  Heroin  ist  Diacetylmorphin  und  wird  gegen  Schmerzen,  Schlaf- 
losigkeit, Nervosität,  Husten  angewendet;  die  Gaben  können  sich 
dabei  rasch  auf  mehrere  (angeblich  selbst  bis  zu  20)  Gramm  täglich 
steigern.  Die  Wirkung  ist  ein  rascher  psychischer  Verfall.  Bei 
der  Entziehung  treten  sehr  schwere  Störungen  auf,  Hinfälligkeit, 
starke  Schweiße,  Atemnot  bis  zum  Atmungsstillstande,  die  nur 
durch  Morphium  mit  Äther,  nicht  aber  durch  das  Heroin  beseitigt 
werden  können. 

Zur  Milderung  der  Entziehungserscheinungen  bei  der  Morphium- 
entwöhnung ist  vielfach  das  Cocain  in  Anwendung  gezogen 
worden.  Nur  zu  bald  hat  sich  indessen  herausgestellt,  daß  dieses 
Mittel  noch  schlimmere  Gefahren  mit  sich  führt  als  das  Morphium. 
Der  psychische  Verfall  des  Cocainisten  schreitet  weit  rascher  fort, 
als  derjenige  des  Morphinisten,  ja  auch  des  Trinkers,  und  führt 
sehr  bald  zu  hochgradigster  Abschwächung  der  gesamten  psychi- 
schen Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  mit  den  Erscheinungen 
psychomotorischer  Erregung.  Außerdem  aber  entwickelt  sich  unter 
dem  Einflüsse  jenes  Giftes  ein  eigenartiges  Krankheitsbild,  der 
Cocainwahnsinn.  In  ihrem  Heimatlande  Peru  ist  die  Coca  ein 
beliebtes  Genußmittel ;  auch  dort  sind  die  schweren  Folgen  des  regel- 
mäßigen Cocagebrauches  für  die  leibliche  und  geistige  Gesundheit 
hinlänglich  bekannt. 

In  größter  Ausdehnung  wird  ferner  in  Vorderasien  und  Nord- 
afrika das  Haschisch  geraucht.  Warnock^)  berichtet,  daß  in 
die  Anstalt  bei  Kairo  von  253  aufgenommenen  Kranken  80,  da- 

1)  Duhem,  Progres  medical,  23.  Febr.  1907. 

2)  Warnock,  Journal  of  mental  science,  Januar  1903,  96;  Scholtens, 
Psychiatrische  en  neurologische  Bladen,  1905,  244. 

7* 


2QQ  ^'        Ursachen  des  Irreseins. 

runter  nur  fünf  Frauen,  durch  Haschisch  vergiftet  waren.  Er 
unterscheidet  einmal  die  akuten,  traumhaften  HaschischdeUrien, 
dann  länger  dauernde  ängstliche  Erregungszustände  und  endlich 
Verblödungszustände  mit  großer  Willensschwäche  und  erhöhter  ge- 
mütlicher Reizbarkeit.  Ähnliche  Erkrankungen  scheint  das  in  Nord- 
sibirien gewohnheitsgemäß  genossene  Gift  des  Fliegenschwam- 
mes  zu  erzeugen. 

Von  den  Arzneimitteln  geben  vielleicht  die  Bromsalze  am 
häufigsten  Anlaß  zu  psychischen  Störungen.  Ihre  zu  lange  fort- 
gesetzte Anwendung  bewirkt  eine  Abschwächung  der  psychischen 
Leistungen  bis  zur  völligen  Stumpfheit  mit  gleichzeitigen  nervösen 
Lähmungserscheinungen.  Dazu  gesellen  sich  Verdauungsstörungen, 
bronchitische  Erkrankungen  und  die  bekannte  Acne.  Der  hier 
und  da  beobachtete  Mißbrauch  des  Sulfonals  führt  zu  bedeuten- 
der Verlangsamung  der  Auffassung  und  des  Denkens,  Unbesinnlich- 
keit,  Verworrenheit,  Schläfrigkeit;  zugleich  stellen  sich  Schwindel, 
Ataxie,  Schwäche  in  den  Beinen,  epileptiforme  Anfälle,  Paräs- 
thesien,  ferner  Übelkeit,  Erbrechen  und  Verdauungsstörungen  ein. 
Nach  Jodoformgebrauch^)  ist  ängstliche,  weinerliche  Unruhe 
beobachtet  worden,  die  sich  bis  zu  deliranter  Verwirrtheit  mit 
Sinnestäuschungen  steigern  kann;  ob  bei  den  übrigen  auf  Jodo- 
formwirkung zurückgeführten  Krankheitsbildern  ein  ursächlicher 
Zusammenhang  besteht,  erscheint  mir  zweifelhaft.  Vereinzelte  Fälle 
von  Vergiftungsdelirien  liegen  ferner  vor  bei  Atropin,  Hyoscin, 
Chinin,  Salicylsäure,  Leuchtgas,  Schwefelwasserstoff, 
Stickstoff oxydul  usf. 

Größere  praktische  Bedeutung  haben  gewisse  Vergiftungen,  die 
als  Gewerbekrankheiten  auftreten.  Dem  Quecksilber,  wie  es 
in  Bergwerken,  Spiegelfabriken,  unter  Umständen  auch  bei  anti- 
luetischen Kuren,  massenhaft  aufgenommen  wird,  schreibt  man 
Geistesstörungen  zu  mit  sehr  erhöhter  Reizbarkeit,  Schreckhaftig- 
keit, Verlegenheit,  Verwirrtheit,  Sinnestäuschungen,  ängstlichen 
Träumen  und  Schlaflosigkeit.  Auf  dieser  Grundlage  sollen  dann 
weiterhin  Aufregungszustände  verschiedener  Art  oder  aber  eine 
allmähliche  Abnahme  aller  psychischen  Leistungen  zur  Entwick- 
lung gelangen,  Schwäche  des  Gedächtnisses  und  Urteils,  Gemüts- 


1)  Schlesinger,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  979. 


Vergiftungen. 


lOI 


Stumpfheit  und  Willenlosigkeit.  Die  besonders  bei  Malern,  Gießern 
und  Schriftsetzern  beobachtete  ,,Ence phalo pathia  saturnina"^) 
erzeugt  einmal  akut  verlaufende  Bleidelirien  mit  tiefer  Bewußt- 
seinstrübung und  Sinnestäuschungen,  sodann  aber  ausgeprägte  psy- 
chische Schwächezustände  mit  Abnahme  des  Gedächtnisses,  gemüt- 
licher Stumpfheit,  Angstgefühlen,  Verfolgungsideen,  Selbstmord- 
neigung und  Ausbrüchen  von  Gewalttätigkeit.  Dazu  gesellen  sich 
Alkoholintoleranz,  Kopfschmerzen,  epileptische  Krämpfe,  Muskel- 
zuckungen, Zittern,  Sprachstörung,  Radialislähmung  und  die  sonsti- 
gen bekannten  Zeichen  der  chronischen  Bleivergiftung.  Die  Nerven- 
zellenveränderungen bei  rascher  Einfuhr  von  Blei  hat  Nissl  näher 
verfolgt. 

Die  Vergiftung  mit  Phosphor  scheint  nach  meinen  Be- 
obachtungen in  den  letzten  Lebenstagen  deliriöse  Zustände  mit 
Verworrenheit,  Stimmungswechsel  und  ausgeprägt  paraphasischen 
Reden  unter  Übergang  in  tiefstes  Koma  erzeugen  zu  können. 
Die  Rindenzellen  zeigen  sich  in  der  Weise  verändert,  daß  sich 
die  nicht  färbbare  Substanz  sehr  stark  färbt,  der  feinere  Aufbau 
sich  verwischt,  der  Umriß  des  Kernes  undeutlich  wird;  schließlich 
verschwinden  die  Zellen  ganz,  oder  sie  bleiben  als  schattenartige 
Gebilde  ohne  deutliche  Gliederung  in  ihren  früheren  Umrissen 
noch  annähernd  erkennbar.  Das  Kohlenoxydgas^),  das  den 
Sauerstoff  aus  dem  Hämoglobin  verdrängt  und  Stauungen,  Blu- 
tungen und  Erweichungsherde  im  Hirn  herbeiführt,  erzeugt  ein- 
mal schwere  Verworrenheit  mit  Delirien  und  Erinnerungsverlust, 
der  vielfach  auf  die  Zeit  vor  der  Vergiftung  zurückgreift.  So- 
dann aber  kann  sich  einige  Tage  nach  der  Erholung  aus  diesem 
Zustande  ein  geistiger  Schwächezustand  entwickeln,  der  nament- 
lich durch  hochgradige  Gedächtnisschwäche  neben  Unklarheit  und 
Stumpfheit  gekennzeichnet  ist  und  unter  Umständen  unheilbar 
wird  oder  selbst  zum  Tode  führt.  Lähmungen,  Schwindelanfälle, 
Erschwerung  der  Sprache,  Unsicherheit  der  Bewegungen,  Steige- 
rung der  Reflexe  weisen  dabei  auf  greifbare  Hirnschädigungen  hin. 


1)  Jolly,  Charitöannalen,  XIX;  Probst,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  IX,  444; 
Quensel,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXV,  612;  Hübner,  Geisteskrankheiten  nach 
Bleivergiftung.    Diss.  1904. 

2)  Greidenberg,  Annales  m6dico- psych.,  VIII,  12,  58,  1900;  Sibelius, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVIII,  Ergänzungsband,  39. 


102 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Da  das  Kohlenoxydgas  selbst  sich  nur  wenige  Tage  lang  im  Körper 
nachweisen  läßt,  muß  es  sich  bei  den  fortschreitenden  Krank- 
heitsfällen um  zerstörende  Nachwirkungen  des  Giftes  auf  irgend- 
welche Körperorgane  handeln;  Sibelius  denkt  besonders  an  Gefäß- 
erkrankungen. Bei  höherem  Alter  und  bei  starker  Giftigkeit  des 
zugeführten  Gasgemisches  scheint  die  Gefahr  des  Wiedereinsetzens 
schwerer  Krankheitserscheinungen  nach  Ausgleich  der  anfänglichen 
Störungen  am  größten  zu  sein. 

Eine  ganz  besondere  Bedeutung  für  die  Entstehung  von  Geistes- 
krankheiten ist  auch  dem  Schwefelkohlenstoff zugeschrieben 
worden,  der  neben  Verdauungsstörungen  Kopfschmerzen,  Schwindel- 
gefühl, Schlaflosigkeit,  Gedächtnisschwäche,  Muskelschwäche  und 
Empfindungsstörungen  hervorzurufen  vermag.  Eine  ganze  Reihe 
verschiedenartiger,  zum  Teil  selbst  unheilbarer  oder  tötlich  ver- 
laufender Psychosen  soll  durch  die  Einatmung  der  Dämpfe  jenes 
Stoffes  in  Gummifabriken  erzeugt  werden.  Abgesehen  indessen  von 
gewissen  rasch  verlaufenden  deliranten  Zuständen  mit  heiterer, 
seltener  trauriger  Verstimmung,  Schwindelanfällen,  Schwere  in  den 
Gliedern,  Appetitlosigkeit  und  hartnäckiger  Verstopfung,  entsprechen 
die  bisher  bei  Schwefelkohlenstoffarbeitern  beobachteten  psychi- 
schen Störungen  im  allgemeinen  völlig  solchen  Krankheitsbildern, 
die  wir  auch  ohne  die  Einwirkung  jenes  Giftes  auftreten  sehen, 
namentlich  der  Hysterie  und  der  Dementia  praecox;  einzelne  er- 
innern an  zirkuläre  Erkrankungen  oder  an  Infektionsdelirien.  Der 
Nachweis,  daß  die  Schwefelkohlenstoffvergiftung  hier  die  wirkliche 
Krankheitsursache  gewesen  sei ,  scheint  mir  noch  nicht  erbracht 
zu  sein.  Endlich  liegen  noch  einige  Beobachtungen  von  plötzlichen 
rauschartigen  Erregungszuständen  nach  Vergiftungen  durch  Anilin, 
Binitrotoluol  und  Toluidin^)  vor, 

Organerkrankungen.  Einer  der  schwierigsten  und  umstritten- 
sten Abschnitte  in  der  Ätiologie  der  Psychosen  ist  die  Lehre  von 
dem  Einflüsse  der  Organerkrankungen.  Hier  ist  der  Zusammen- 
hang  naturgemäß  stets  ein  sehr  verwickelter,  selbst  durch  große 

1)  H  a  m  p  e ,  Über  die  Geisteskrankheiten  infolge  Schwefelkohlenstoff  Vergiftung. 
I89S;  Reynolds,  Journal  of  mental  science,  XLII,  25;  Laudenheimer ,  Die 
Schwefelkohlenstoffvergiftung  der  Gummiarbeiter.  1899;  Köster,  Arch.  f.  Psy- 
chiatrie, XXXir,  569,  903;  Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenheilk.,  XXVI;  Quensel, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVI,  48,  246. 

2)  Friedländer,  Neurol.  Centralbl.,  XIX,  155,  294,  1900. 


Organerkrankungen. 


103 


Zahlen  nicht  immer  sicher  nachweisbarer,  so  daß  die  Deutung 
der  einzelnen  Erfahrung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zumeist 
dem  persönlichen  Ermessen   des   Beobachters  überlassen  bleibt. 
Unter  den  Erkrankungen  der  Sinnesorgane  sind  es  nament- 
lich Ohrenleiden       welchen  ein  Einfluß  auf  die  Entstehung  von 
Psychosen  zuzukommen  scheint.    Einerseits  findet  man  bei  lange 
dauernden  Gehörstäuschungen  häufiger  alte  Mittelohrerkrankungen 
mit  Veränderungen  der  elektrischen  Akusticusreaktion,  so  daß  man 
sich  der  Annahme  eines  gewissen  Zusammenhanges  nicht  wohl 
erwehren   kann;    insbesondere   liegt   sie  bei  einseitigen  Gehörs- 
täuschungen  nahe.     Bisweilen  knüpfen   sich   die  Trugwahrneh- 
mungen geradezu   an  Ohrgeräusche,   Sausen  und  Klingen,  an, 
bessern  und  verschlechtern  sich  mit  ihnen,  können  auch  durch 
die  Behandlung  von  Ohrenleiden,  unter  denen  namentlich  alte 
Mittelohreiterungen,  aber  auch  Sklerosen  in  Betracht  kommen, 
günstig  beeinflußt  werden;  es  werden  Fälle  berichtet,  in  denen 
schon  die  Beseitigung  eines  Ohrenschmalzpfropfes  die  Täuschungen 
zum  Verschwinden  brachte.  Hier  und  da  hat  man  auch  ängstliche 
Aufregungszustände  bei  akuteren  oder  bei  Verschlimmerung  chro- 
nischer Ohrenleiden  gesehen.   Bei  erworbener  Schwerhörigkeit  be- 
obachtet man  gelegentlich  einförmige  Beeinträchtigungsideen  mit 
Gehörstäuschungen  und  Beziehungswahn,  die  anscheinend  viele 
Jahre  hindurch  fortbestehen  können,   ohne  sich  weiter  zu  ent- 
wickeln.  Wenn  es  auch  bei  der  Schwierigkeit  der  Verständigung 
fast  unmöglich  ist,  sich  ein  klares  Bild  von  dem  Seelenzustande 
solcher  Kranken  zu  verschaffen,  so  ist  man  doch  versucht,  diese 
„Psychose  der  Schwerhörigen"  mit  dem  Ohrenleiden  in  ursäch- 
Hche  Verbindung  zu  bringen.  Sie  erscheint  gewissermaßen  als  eine 
Weiterbildung  des  bekannten  Mißtrauens,  das  sich  bei  Schwer- 
hörigen so  leicht  einstellt,  verknüpft  mit  den  Täuschungen,  die 
auf   dem  Gebiete    des  Gehörssinnes   teils  durch  Krankheitsvor- 
gänge, teils  durch  die  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  bei  Weg- 
fall äußerer  Eindrücke  entstehen.    Der  wichtigen  Beziehungen  der 
Taubstummheit  zu  geistigen  Schwächezuständen  kann  hier  nur 
kurz  gedacht  werden.   Wo  jenes  Leiden  durch  Hirnveränderungen 

1)  Jacques,  Des  accidents  psychiques  lies  aux  maladies  de  l'oreille,  These. 
1905;  Bryant,  Journal  of  nervous  and  mental  diseases,  1906,  553;  ßechterew, 
Monatsschr,  f.  Psychiatrie,  XIV,  205. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


bedingt  wird,  pflegen  diese  in  der  Regel  auch  die  gesamte  geistige 
Entwicklung  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen.  Aber  auch  dann,  wenn 
der  Taubstummheit  nur  Ohrenerkrankungen  zugrunde  liegen,  kann 
das  Fehlen  des  mächtigen  Denkhilfsmittels  der  Sprache  und  die 
Erschwerung  der  Verständigung  mit  der  Umgebung  nicht  ohne  die 
verhängnisvollsten  Folgen  für  das  ganze  geistige  Leben  bleiben, 
denen  nur  ein  frühzeitiger  und  erfolgreicher  Sprachunterricht  wirk- 
sam vorzubeugen  vermag. 

Ebenfalls  von  Bedeutung  für  die  geistige  Ausbildung  können 
die  adenoiden  Wucherungen  des  Nasenrachenraumes  werden,  die 
unter  Umständen  eine  sehr  erhebliche  Größe  erreichen  und  durch 
Behinderung  der  Atmung  wie  des  Schlafes,  vielleicht  auch  durch 
Störungen  der  Blut-  und  Lymphbewegung  oder  durch  Erzeugung 
giftiger  Ausscheidungs-  oder  Zersetzungsstoffe  Beeinträchtigung  des 
Gehörs  und  jene  Unfähigkeit  zu  scharfer  Anspannung  der  Auf- 
merksamkeit bei  Kindern  herbeiführen,  die  Guye  als  ,,Aprosexia 
nasalis"  beschrieben  hat.  Beweisend  für  diesen  Zusammenhang 
ist  die  nicht  seltene  Erfahrung,  daß  teilnahmlose,  unaufmerk- 
same, vergeßliche  Kinder  nach  Ausräumung  des  erkrankten  Nasen- 
rachenraumes lebhaft  und  aufgeweckt  werden  können.  Augen- 
erkrankungen pflegen,  soweit  sie  nicht  Teilerscheinungen  eines 
Gehirnleidens  sind,  in  keiner  näheren  Beziehung  zum  Irresein  zu 
stehen;  daß  nach  Augenoperationen  halluzinatorische  Delirien  vor- 
kommen, wurde  bereits  früher  erwähnt. 

Von  den  Lungenleiden  haben  wir  die  Tuberkulose  und  die 
akuten  fieberhaften  Erkrankungen  schon  besprochen;  es  läßt  sich 
über  sie  weiter  nicht  viel  sagen,  als  daß  die  Verkleinerung  der 
Atmungsfläche  mit  ihren  Folgen  für  den  Gasaustausch,  dann  aber 
die  Beklemmungsgefühle  bei  emphysematischen  und  namentlich 
asthmatischen  Beschwerden  wohl  auch  auf  den  Ablauf  der  psy- 
chischen Vorgänge  einigen  Einfluß  gewinnen  können. 

Herzleiden!)  scheinen  bei  Geisteskranken  etwas  häufiger  vor- 
zukommen als  sonst;  sie  dürften  einmal  (bei  Hypertrophie  des 
linken  Ventrikels)  durch  gelegentliche  Blutwallungen,  namentlich 


in 


1)  Witkowski,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXII,  347;  Karrer 

Hagen,  Statistische  Untersuchungen  über  Geisteskrankheiten.  1876;  Reinhold, 

Münch,  taed.  Wochenschr.,  1894,  16;  Stransky,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie, 
■XlV,  128, 


Organerkrankungen. 


105 


aber  (bei  unausgeglichenen  Klappenfehlern,  bei  Perikarditis  und 
Entartung  des  Herzmuskels)  durch  venöse  Stauungen  und  allgemeine 
Abschwächung  des  Blutkreislaufes  von  Bedeutung  werden.  Als  An- 
deutung derartiger  Einwirkungen  darf  wohl  schon  die  in  der  Ge- 
sundheitsbreite gelegene,  bekannte  gemütliche  Reizbarkeit  Herz- 
kranker gelten.  Daß  außerdem  die  Beklemmungsgefühle  und  das 
Herzklopfen  nicht  ohne  Einfluß  sind,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Bis- 
weilen sieht  man  bei  schweren  Kreislaufstörungen  vorübergehend 
delirante  Zustände  auftreten,  wobei  allerdings  die  Mitwirkung 
anderer  Krankheitsursachen  (Alkoholismus,  Nierenleiden,  Alters- 
veränderungen) nicht  immer  ausgeschlossen  werden  kann.  Smith 
hat  bei  Angstzuständen  und  Verstimmungen  verschiedener  Art,  auch 
unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols,  sehr  erhebliche  Erweiterungen 
des  Herzens  beschrieben,  doch  sind  seine  Angaben  auf  lebhaften 
Widerspruch  gestoßen.  Jedenfalls  ist  nicht  außer  acht  zu  lassen, 
daß  viele  Störungen  der  Herztätigkeit  nicht  Ursache,  sondern  Be- 
gleiterscheinung oder  Folge  der  Geisteskrankheit  sein  dürften.  So 
fand  Reinhold  namentlich  bei  Melancholischen  ungemein  häufig 
leichtere  Abweichungen,  Fehlen  oder  Abschwächung  des  Spitzen- 
stoßes, Verbreiterung  der  Herzdämpfung,  Beschleunigung  der  Herz- 
tätigkeit, Veränderungen  an  den  Herztönen,  die  er  als  die  Wirkungen 
des  körperlichen  Allgemeinleidens  auffaßt,  welches  der  psychischen 
Verstimmung  zugrunde  liegt.  Er  denkt  dabei  geradezu  an  Ver- 
giftungserscheinungen durch  Stoffwechselprodukte.  Im  manisch- 
depressiven Irresein  scheint  vielfach  dauernde  Pulsbeschleunigung 
zu  bestehen,  die  mit  zunehmender  Besserung  allmählich  schwindet. 
Auch  bei  der  Dementia  praecox  ist  Beschleunigung  oder  starke 
Verlangsamung  der  Herztätigkeit  sehr  gewöhnlich,  während  bei 
den  psychogenen  Erkrankungen  besonders  die  Erregbarkeit  des 
Herzens  erhöht  zu  sein  pflegt.  Daß  greifbare  Schädigungen  des 
Herzmuskels  beim  Alkoholismus,  bei  der  Paralyse,  bei  den  Geistes- 
störungen der  höheren  Lebensalter  sehr  häufig  sind,  lehrt  der 
Leichenbefund. 

Recht  ungenügend  bekannt  ist  bisher  die  Bedeutung  der  Ge- 
fäßerkrankungen bei  Psychosen.  Früher  war  man  geneigt, 
möglichst  viele  Formen  des  Irreseins  auf  Lähmung  oder  Krampf 
von  Hirngefäßen  und  dadurch  bewirkte  Störungen  der  Ernährung 
in  einzelnen   Rindengebieten   zurückzuführen.    Neuerdings  wird 


io6 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


mehr  den  eigentlichen  Erkrankungen  der  Gefäße  eine  wichtige 
Rolle  zugeschrieben,  namentlich  den  luetischen  und  den  arterio- 
sklerotischen Veränderungen.  Ausgebreitete  Gefäßerkrankungen 
finden  sich  außerdem  beim  chronischen  Alkoholismus,  bei  der 
Paralyse,  beim  Altersblödsinn.  Die  Verdickung  und  Erstarrung 
des  Gefäßrohres,  der  Verlust  der  Elastizität,  unter  Umständen 
auch  die  Verengerung  seines  Innenraumes,  die  Verstopfung,  er- 
schweren die  Blutversorgung  oder  heben  sie  auf,  während  die 
Bildung  von  kleinen  Ausbuchtungen,  die  Blutaustritte  das  Hirn- 
gewebe unmittelbar  zerstören  können.  Recht  klar  sind  unsere 
Vorstellungen  von  den  Folgen  der  Gefäßerkrankungen  für  die  Hirn- 
ernährung indessen  leider  noch  nicht.  Soweit  die  Intima  der  Ge- 
fäße in  Mitleidenschaft  gezogen  wird,  ist  wohl  auch  daran  zu  den- 
ken, daß  der  Stoffwechsel  des  Blutes  selbst  gestört  wird,  zumal  die 
Erkrankung  sich  in  der  Regel  über  weite  Gefäßgebiete  auch  in 
anderen  Teilen  des  Körpers  zu  erstrecken  pflegt.  Eine  nicht  un- 
wichtige Rolle  dürften  ferner  Veränderungen  des  Blutdruckes  und 
namentlich  des  Pulsdruckes  spielen,  der  Druckschwankung  im 
einzelnen  Pulse.  Erhöhung  beider  Größen  findet  sich  häufig  bei 
Arteriosklerose,  in  geringerem  Grade  anscheinend  auch  im  Ver- 
laufe manisch-depressiver  Anfälle. 

Die  Zeichen  erhöhter  vasomotorischer  Erregbarkeit,  leichtes 
Erröten,  Dermatographie  bis  zur  Quaddelbildung,  begegnen  uns 
bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins,  namentlich  bei  der  Para- 
lyse, der  Dementia  praecox  und  bei  den  psychogenen  Geistes- 
störungen. Bei  katatonischen  Kranken  entwickeln  sich 'im  Stupor 
ungemein  häufig  die  allerstärksten  Grade  der  Cyanose.  Da  diese 
Störung  durchaus  keine  klaren  Beziehungen  zu  dem  Grade  der 
Bewegungslosigkeit  zeigt  und  bei  anderen  Stuporformen  weit 
weniger  hervortritt,  haben  wir  es  hier  schwerlich  allein  mit  mecha- 
nisch bedingten  Stauungen,  sondern  wohl  mit  Gefäßlähmung 
inneren  Ursprunges,  vielleicht  auch  mit  Veränderungen  im  Blute 
selbst  zu  tun.  Lange  fortdauernde  Schwankungen  des  gemütlichen 
Gleichgewichtes  scheinen  die  Entwicklung  von  Gefäßerkrankungen 
zu  begünstigen,  möghcherweise  nach  Thomas  Annahme  in  der 
Weise,  daß  die  Muskelschicht  der  Gefäßwand  durch  die  häufigen 
Änderungen  der  Gefäßweite  geschädigt  wird.  Vielleicht  spielt 
dieser  Umstand  beim  manisch-depressiven  Irresein  und  bei  der 


Organerkrankungen. 


107 


traumatischen  Neurose  eine  Rolle,  in  deren  Verlauf  gern  arterio- 
sklerotische Veränderungen  auftreten. 

Eine  sehr  weitgehende  ursächliche  Bedeutung  hat  man  von  jeher 
den  Erkrankungen  der  Verdauungswerkzeuge  zugeschrieben; 
namentlich  in  der  älteren  Psychiatrie  spielten  die  Hämorrhoiden, 
die  Stauungen  im  Pfortadersystem,  die  ,, Verstimmungen"  der 
Unterleibsgeflechte  eine  sehr  große  Rolle.  In  der  Tat  ist  schon 
der  Einfluß  leichter  Verdauungsstörungen  auf  das  allgemeine  psy- 
chische Wohlbefinden,  namentlich  bei  nervös  veranlagten  Personen, 
ganz  unverkennbar^).  Es  scheint  sich  bei  diesem  Zusammenhange 
einerseits  um  die  psychische  Wirkung  unangenehmer,  dauernder 
Organgefühle,  dann  aber  um  Selbstvergiftungen  oder  vielleicht 
auch  um  Störungen  der  allgemeinen  Blutverteilung  durch  Stau- 
ungen im  Unterleibe  zu  handeln.  Für  letztere  Erklärung  spricht 
die  bekannte  Erfahrung  von  Nikolai  (des  „Proktophantasmisten" 
aus  Goethes  Walpurgisnacht),  dessen  Halluzinationen  durch  eine 
Blutentziehung  am  After  verschwanden.  Bei  chronischen  Magen- 
und  Darmleiden  kommt  als  wichtiger  Umstand  noch  die  empfind- 
liche Beeinträchtigung  der  allgemeinen  Ernährung  hinzu.  Ver- 
dauungsstörungen, namentlich  Verstopfung,  sind  bei  frischen  Geistes- 
krankheiten ungemein  häufig,  besonders  in  Depressionszuständen 
aller  Art,  aber  sie  sind  sicherlich  vielfach  als  Folge  der  psychisch 
bedingten  Unregelmäßigkeiten  in  der  Nahrungsaufnahme  und  nicht 
als  Ursache  derselben  anzusehen.  Wagner  hat,  wie  früher  er- 
wähnt, bei  gewissen  akuten  Geistesstörungen  eine  Selbstvergiftung 
durch  Zersetzungsstoffe  vom  Darm  aus  angenommen.  Bei  schwerem 
Darniederliegen  aller  psychischen  Leistungen  scheint  häufiger  Herab- 
setzung der  Salzsäureabscheidung  im  Magen  vorzukommen;  auch 
starke  Schwankungen  des  Salzsäuregehaltes  im  Magensafte  sind 
bei  verschiedenartigen  Geistesstörungen  nicht  selten").  Mangelhafte 
Verarbeitung  der  Nahrung  müssen  wir  wohl  in  jenen  hier  und  da 
beobachteten  Fällen  annehmen,  in  denen  trotz  massenhafter  Speisen- 
zufuhr bei  wahrem  Heißhunger  das  Körpergewicht  sich  durchaus 
nicht  heben  will.  Meist  handelt  es  sich  um  Paralytiker  und  nament- 
lich Katatoniker.    Parasiten  im  Darm  können  anscheinend  bei 

1)  Herzog,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  170. 

-)  Leubuscher  und  Ziehen,  Klinische  Untersuchungen  über  die  Salzsäure- 
abscheidung des  Magens  bei  Geisteskranken.  1892. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Kindern  deliriöse  Erregungszustände,  auch  Pruritus  in  den  Geni- 
talien und  allerlei  Stimmungsanomalien  herbeiführen.  Psychische 
Störungen  als  Ausdruck  von  Lebererkrankungen  sind  hauptsäch- 
lich von  Klippel  und  Mongeri  beschrieben  worden,  ohne  daß 
ihre  Kennzeichnung  schon  völlig  befriedigen  könnte;  auch  dem 
Delirium  tremens  soll  eine  Selbstvergiftung  zugrunde  liegen,  di 
durch  Versagen  der  Lebertätigkeit  bedingt  wird.  Im  ganzen  wissen 
wir  über  alle  diese  Verhältnisse  sehr  wenig  Sicheres. 

Unter  den  Nierenerkrankungen ^)  dürften  hauptsächlich 
diejenigen  in  Anschlag  zu  bringen  sein,  die  zur  Entstehung  von 
akuten  oder  chronischen  urämischen  Vergiftungen  Anlaß  geben. 
Eiweiß  im  Harn  sieht  man  vorübergehend  oder  dauernd  nament- 
lich bei  Trinkern  und  Paralytikern  auftreten.  Von  dem  Bestehen 
eines  klar  gekennzeichneten  ,, urämischen  Irreseins",  außer  den 
früher  erwähnten  deliriösen  Zuständen,  die  anscheinend  den  alko- 
holischen sehr  ähneln  können,  habe  ich  mich  noch  nicht  über- 
zeugen können. 

Weitaus  die  größte  Bedeutung  für  die  Entstehung  des  Irre- 
seins ist  von  Seiten  der  Irrenärzte  den  krankhaften  Vorgängen  in 
den  Geschlechtsorganen  zugeschrieben  worden.  Insbesondere 
hat  der  bessernde  Einfluß  gynäkologischer  Eingriffe  auf  manche 
nervösen  und  psychischen  Störungen  zu  der  Ansicht  geführt,  daß 
Lageveränderungen  des  Uterus,  Erosionen  am  Muttermund,  Er- 
krankungen der  Ovarien  und  Tuben,  Pruritus  vulvae,  Vaginisraus 
unter  Umständen  psychische  Störungen  zu  erzeugen  imstande 
seien^).  Als  der  klinische  Ausdruck  dieser  Wirkungen  wurde,  ja 
wird  vielfach  heute  noch  das  formenreiche  Krankheitsbild  der 
Hysterie  betrachtet.  Gerade  hier  sehen  wir  eben  häufig  genug 
überraschende  Besserungen,  wahre  Wunderkuren,  durch  Beseiti- 
gung der  verschiedenartigsten  leichteren  oder  schwereren  Störungen 
eintreten.  Es  läßt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  es  sich  bei  den 

1)  Hagen,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXVIII,  i;  Auerbach,  ebenda 
LH,  337;  Vassale,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XVI,  1890;  Vigouroux, 
Annales  medico-psychologiques,  1903,  I,  274. 

2)  L.  Mayer,  Die  Beziehungen  der  krankhaften  Zustände  und  Vorgänge  in 
den  Sexualorganen  des  Weibes  zu  Geistesstörungen.  1869;  Hegar,  Der  Zusammen- 
hang der  Geschlechtskrankheiten  mit  nervösen  Leiden  und  die  Kastration  bei 
Neurosen.  1885;  Windscheid,  Neuropathologie  und  Gynäkologie.  1897;  Rai- 
mann, Beiträge  zur  Geburtshilfe  und  Gynäkologie.  1903  (Chr ob ak- Festschrift). 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


109 


wohltätigen  Folgen  körperlicher  Eingriffe  öfters  um  die  Beseiti- 
gung bestimmter  schädlicher  Reizwirkungen  auf  ein  krankhaft 
empfindliches  Nervensystem  handelt.  Wir  wissen  jedoch  anderer- 
seits sicher,  daß  bisweilen  der  gleiche  Erfolg  durch  ganz  andere, 
selbst  unsinnige  Mittel  erreicht  werden  kann.  Daraus  geht  hervor, 
daß  wir  es  in  derartigen  Fällen  wesentlich  mit  psychischen 
Wirkungen  zu  tun  haben.  Auch  die  Entstehung  der  Krankheits- 
erscheinungen wird  damit  natürlich  auf  das  psychische  Gebiet 
verlegt. 

In  der  Tat  können  wir  heute  auf  Grund  unserer  klinischen  Er- 
fahrung mit  Sicherheit  sagen,  daß  Erkrankungen  der  weiblichen 
Geschlechtsorgane  im  allgemeinen  nur  dann  zum  Irresein  führen, 
wenn  bereits  eine  krankhafte  Veranlagung  den  Boden  genügend 
vorbereitet  hat.  Aus  diesem  Grunde  tragen  die  so  entstehenden 
Geistesstörungen  auch  durchaus  kein  einheitliches  klinisches  Ge- 
präge; dieses  letztere  ist  vielmehr  ganz  abhängig  von  der  Eigenart 
des  Erkrankenden.  Meist  wird  es  sich  daher  um  eine  der  vielen 
Formen  des  Entartungsirreseins  handeln.  Immerhin  soll  nicht 
geleugnet  werden,  daß  häufige  und  starke  Blutverluste,  wie  sie 
z.  B.  bei  Myomen  vorkommen,  schmerzhafte  chronische  Entzün- 
dungen der  Beckenorgane,  ferner  dauernde  Behinderung  des  Ge- 
schlechtsverkehrs, Kinderlosigkeit  für  die  Vorbereitung  von  psy- 
chischen Störungen  von  Bedeutung  werden  können.  Beachtens- 
wert ist  jedoch  für  die  ganze  Frage  der  Umstand,  daß  gerade  die 
schwersten  Erkrankungen  der  Geschlechtsorgane,  die  bösartigen 
Geschwülste,  verhältnismäßig  selten  Anlaß  zu  Geistesstörungen  zu 
geben  scheinen.  Allenfalls  beobachten  wir  bei  ihnen  solche  Formen 
des  Irreseins,  die  auch  sonst  bei  schweren  Allgemeinerkrankungen 
zur  Entwicklung  gelangen.  Den  Geschlechtsleiden  bei  Männern 
scheint  eine  irgend  erhebliche  ursächliche  Bedeutung  für  das  Irre- 
sein nicht  zuzukommen. 

Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft.  Die  nahen  Be- 
ziehungen, in  welchen  das  Geschlechtsleben^)  zu  den  psychischen 
Zuständen  des  Menschen  steht,  wird  deutlich  genug  durch  die 
eigentümlichen  Wandlungen  der  Entwicklungsjahre  und  der  Rück- 
bildungszeit wie  durch  die  Schwankungen  des  gemütlichen  Gleich- 

1)  Löwenfeld,  Sexualleben  und  Nervenleiden,  3- Aufl.  1903;  Aschaffen- 
burg, Münch,  med.  Wochenschr.   1906,  37. 


110 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


gewichtes  bezeugt,  die  schon  beim  Gesunden  den  Ablauf  der  Ge- 
schlechtsvorgänge begleiten.  Es  erscheint  daher  begreiflich,  wenn 
die  verschiedenen  Umwälzungen  und  Störungen  auf  diesem  Ge- 
biete, wie  sie  den  gesamten  Körper,  insbesondere  das  Nervensystem, 
in  Mitleidenschaft  ziehen,  auch  im  Bereiche  des  Seelenlebens 
krankhafte  Vorgänge  auszulösen  vermögen. 

In  erster  Linie  werden  als  Ursachen  des  Irreseins  geschlecht- 
liche Ausschweifungen  und  Onanie^)  beschuldigt.  Aus  den 
zum  Beweise  herangezogenen  Erfahrungen  sind  natürlich  zunächst 
alle  diejenigen  Fälle  auszuscheiden,  in  welchen  ängstliche,  zur 
Selbstbeobachtung  oder  zur  Selbstanklage  geneigte  Kranke  Jahre 
oder  gar  Jahrzehnte  zurückliegende  ,, Jugendsünden"  als  die  Ur- 
sache ihrer  Leiden  angeben;  die  Lektüre  einer  gewissen  Gattung 
von  Schriften,  welche  die  Folgen  der  Onanie  in  den  grellsten  Farben 
schildern,  liefert  dazu  nicht  selten  die  Anregung. 

Dennoch  läßt  sich  die  Möglichkeit  einer  gelegentlichen  wirk- 
lichen Schädigung  des  Nervensystems  durch  die  hier  besprochenen 
Ursachen  nicht  ganz  in  Abrede  stellen,  zumal  ja  auch  auf  diesem 
Gebiete  ohne  Zweifel  das  Maß  der  persönlichen  Leistungs-  und 
Widerstandsfähigkeit  ein  äußerst  verschiedenes  ist.  Es  wäre  denk- 
bar, daß  einmal  (wohl  nur  bei  Männern  und  im  jugendlichen  Alter) 
der  Säfteverlust  eine  gewisse  Bedeutung  für  die  Gesamternährung 
gewinnen  kann;  es  wäre  ferner  möglich,  daß  die  häufige  starke 
Erregung  des  Nervensystems  die  allgemeine  Reizbarkeit  desselben 
steigert  und  seine  Widerstandsfähigkeit  herabsetzt.  Dann  ist  aber 
namentlich  auch  auf  den  entsittlichenden  Einfluß  hinzuweisen, 
den  das  stete  Unterliegen  im  fruchtlosen  Kampfe  mit  übermächtig 
angewachsenen  Antrieben  auf  die  Willensfestigkeit  des  Menschen 
ausübt.  Nach  allen  diesen  Richtungen  hin  dürfte  die  Masturbation 
deswegen  verderblicher  wirken,  als  der  natürliche  Geschlechts- 
verkehr, weil  sie  ihr  Ziel  viel  häufiger  und  leichter  zu  erreichen 
vermag  als  der  letztere.  Beachtenswert  sind  übrigens  auch  jene 
vereinzelten  Beobachtungen,  in  denen  (namentlich  bei  jungen 
Frauen)  der  erste  Coitus  akute  Aufregungs-  oder  Depressions- 
zustände  herbeiführt  („Nuptiales  Irresein") 2).  Wahrscheinlich  han- 

1)  V.  Krafft- Ebing,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  4. 

2)  Dost,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIX,  876;  Obersteiner,  Jahrb.  f. 
Psychiatrie,  XXII,  313.  ' 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


III 


delt  es  sich  hier  nur  um  die  Auslösung  schon  vorbereiteter  Er- 
krankungen, meist  wohl  aus  der  Gruppe  des  manisch-depressiven 
Irreseins.  So  waren  in  einem  derartigen  Falle  meiner  Beobach- 
tung die  Anzeichen  der  beginnenden  Erregung  bereits  vor  der 
Hochzeit  vorhanden,  ja  man  hoffte  törichterweise,  die  Erkrankung 
durch  die  Heirat  heilen  zu  können. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ist  die  hartnäckige, 
unausrottbare  Neigung  zur  Masturbation  ohne  Zweifel  ein  Zeichen, 
nicht  die  Ursache  der  Geistesstörung;  wir  haben  es  einfach  mit 
einer  krankhaft  gesteigerten  geschlechtlichen  Erregbarkeit  zu  tun. 
Das  gilt  gewiß  für  jene  Fälle  von  Idiotie  und  Schwachsinn,  in  denen 
die  Masturbation  bereits  in  der  frühesten  Kindheit,  sogar  schon 
im  ersten  Lebensjahre,  beginnt  und  allen  Erziehungsmaßregeln 
trotzt;  es  gilt  aber  ferner  auch  für  diejenige  Form  des  Irreseins, 
die  man  vielfach  als  besondere  Eigentümlichkeit  der  Onanisten 
betrachtet  hat.  Die  Zeichen  desselben  sind  fortschreitende  Ab- 
nahme der  psychischen  Leistungsfähigkeit,  Unvermögen  zur  Auf- 
fassung und  geistigen  Verarbeitung  äußerer  Eindrücke,  Gedächt- 
nisschwäche, Interesselosigkeit,  Gemütsstumpfheit;  in  anderen 
Fällen  treten  mehr  die  Erscheinungen  erhöhter  Reizbarkeit  in  den 
Vordergrund,  barocke  Ideenverbindungen,  Neigung  zu  Mystizis- 
mus und  exaltierter  Schwärmerei  oder  hypochondrische  und  de- 
pressive Verstimmung.  Dazu  gesellen  sich  dann  mannigfaltige 
nervöse  Störungen,  besonders  Gemeinempfindungen,  aus  denen 
sich  nicht  selten  unsinnige  Wahnideen  von  dämonischer  oder  ge- 
heimnisvoller physikalischer  (magnetischer,  elektrischer,  sym- 
pathischer) Beeinflussung  herausentwickeln.  Wir  erkennen  darin 
unschwer  das  Bild  der  Dementia  praecox,  wie  sie  vorzugsweise 
den  Entwicklungsjahren  angehört.  So  manche  Gründe  sprechen 
dafür,  daß  dem  Geschlechtsleben  bei  dieser  Krankheit  eine  gewisse 
Rolle  zukommt,  aber  sie  wird  keinesfalls  durch  Onanie  verursacht. 
Es  gibt  zahlreiche  begeisterte  Onanisten,  die  nicht  hebephrenisch 
werden,  und  umgekehrt  fehlt  die  Onanie  bei  Hebephrenischen, 
namentlich  bei  weiblichen,  nicht  selten  gänzlich,  trotz  starker 
geschlechtlicher  Erregung. 

Für  jene  umschriebene  Gruppe  der  Dementia  praecox,  die  man 
mit  dem  Namen  der  Katatonie  bezeichnet,  hat  Tschisch  als  Ur- 
sache eine  Selbstvergiftung  durch  geschlechtliche  Enthaltsam- 


112 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


keit  angenommen.  Er  stützt  sich  darauf,  daß  seine  Kranken 
sämtlich  jugendUche  Landbewohner  und  von  blühendem  Körper- 
bau gewesen  seien,  zudem  keine  Äußerungen  über  früheren  Ge- 
schlechtsverkehr gemacht  hätten  und  ohne  greifbare  äußere  Ur- 
sache erkrankten.  Ohne  darauf  hinzuweisen,  daß  jene  Kennzeich- 
nung der  Kranken  schwerlich  eine  klinische  Gruppierung  gestattet, 
daß  viele  Katatoniker  regelmäßigen  Geschlechtsverkehr  gehabt 
haben  oder  ausgiebig  masturbieren,  gibt  es  meines  Wissens  durch- 
aus keine  Erfahrung,  die  dazu  berechtigte,  der  geschlechtlichen 
Enthaltsamkeit  einen  derartig  verderblichen  Einfluß  auf  das  Seelen- 
leben zuzuschreiben^).  Die  Mädchen  der  gebildeteren  Stände 
müßten  sonst  in  erschreckendem  Umfange  katatonisch  werden. 

Im  allgemeinen  nimmt  bei  gesunden  Menschen  nach  länger 
dauernder  Enthaltsamkeit  allmählich  die  geschlechtliche  Erreg- 
barkeit ab.  Etwas  anders  liegen  die  Dinge  vielleicht  bei  krank- 
haft veranlagten  Personen;  hier  scheint  der  Kampf  gegen  die 
aufsteigenden  Begierden  Angstzustände  auslösen  zu  können.  Die 
gemütliche  Beunruhigung  durch  Gewissensbedenken  oder  die  Furcht 
vor  Ansteckung  und  Schwängerung  dürften  dabei  jedoch  stärker 
in  Betracht  kommen,  als  körperliche  Zustände.  Erzwungene  Ent- 
haltsamkeit, namentlich  nach  vorheriger  Gewöhnung  an  geschlecht- 
liche Befriedigung,  verführt  leicht  zur  Onanie  und  kann  auf  diese 
Weise  schädigend  wirken;  andererseits  sehen  wir  freilich  häufig 
genug  die  Masturbation  neben  geregeltem  geschlechtlichem  Ver- 
kehr fortbestehen.  Freiwillige  Enthaltsamkeit  muß  wohl  rich- 
tiger als  Folge  und  nicht  als  Ursache  einer  krankhaften  Anlage 
aufgefaßt  werden,  die  ja  öfters  mit  unvollständiger  Entwicklung 
des  Geschlechtstriebes,  unter  Umständen  auch  der  Fortpflanzungs- 
organe einhergeht.  Eine  gewisse  Rolle  bei  der  Entstehung  von 
Verstimmungen  und  Angstzuständen  scheinen  endlich  auch  häu- 
fige geschlechtliche  Reizungen  ohne  gehörige  Befriedigung  („Coi- 
tus  interruptus")  zu  spielen,  wie  sie  mit  der  Durchführung  des 
„Zweikindersystems"  verbunden  zu  sein  pflegen. 

Mit  großem  Nachdrucke  ist  in  neuerer  Zeit  die  ursächliche  Be- 
deutung von  Störungen  des  Geschlechtslebens  für  die  „Neurosen" 
(Neurasthenie  und  Angstneurose)   wie  für  die  „Psychoneurosen" 

1)  Lewitt,  Geschlechtliche  Enthaltsamkeit  und  Gesundheitsstörungen.  1905; 
Jacobsohn,  Petersb.  med.  Wochenschr.    1907,  11. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


113 


(Hysterie  und  Zwangsneurose)  von  Freud  betont  worden.  Ursprüng- 
lich vertrat  er  die  Anschauung,  daß  die  Neurasthenie  durch  Mastur- 
bation, die  Angstneurose  durch  ungenügende  geschlechtliche  Be- 
friedigung entstehe,  während  die  Psychoneurosen  durch  die  Nach- 
wirkung infantiler  geschlechtlicher  Erlebnisse  zustande  kommen 
sollten,  deren  Erinnerung  von  den  Kranken  ,, verdrängt"  werde.  In 
dieser,  den  Widerspruch  stark  herausfordernden  Form  hat  Freud 
seine  Lehre  nicht  aufrecht  erhalten,  doch  ist  er  auch  jetzt  noch 
geneigt,  den  Ereignissen  des  Geschlechtslebens  ein  ganz  außerordent- 
liches Gewicht  bei  der  Entstehung  der  genannten  Krankheitsformen 
zuzuschreiben.  Insbesondere  meint  er,  daß  die  Hysterie  für  den, 
der  ihre  Sprache  zu  deuten  verstehe,  nur  von  der  verdrängten 
Sexualität  der  Kranken  handle.  Er  stellt  sich  weiterhin  die  in  Be- 
tracht kommenden  Störungen  des  Geschlechtslebens  als  Stoff- 
wechselanomalien vor  und  denkt  geradezu  an  eine  gewisse  Ähnlich- 
lichkeit  mit  den  Erscheinungen  der  Basedowschen  und  A d di- 
so nschen  Krankheit.  Einzelne  seiner  Anhänger  haben  die  Spuren 
geschlechtlicher  Kindheitserlebnisse  auch  bei  anderen  Geistes- 
störungen, so  in  den  Wahnbildungen  der  Dementia  praecox,  wieder- 
gefunden. Wenn  wir  auch  sicherlich  die  Rolle  nicht  unterschätzen 
dürfen,  welche  die  geschlechtlichen  Vorgänge  im  Seelenleben  des 
Menschen  spielen,  so  werden  wir  für  die  Begründung  der  von 
Freud  vorgetragenen  Anschauungen  doch  weit  zwingendere  Be- 
weise verlangen  müssen,  als  sie  seine  an  Quellen  der  Selbsttäu- 
schung wie  an  Deutungskünsten  überreiche  ,, psychoanalytische 
Methode"  bisher  zutage  gefördert  hat.  Die  Tatsache,  daß  ge- 
schlechtliche Erlebnisse  der  von  Freud  geschilderten  Art  unend- 
lich häufig  sind,  während  doch  nur  ein  Bruchteil  der  Menschen 
an  einem  der  aufgeführten  Leiden  erkrankt,  weist  eben  mit  aller 
Bestimmtheit  auf  die  jetzt  auch  von  Freud  etwas  näher  gerückte 
Erklärung  hin,  daß  die  besondere  Art  der  Verarbeitung  geschlecht- 
licher Erfahrungen  bei  seinen  Kranken  mehr  Erscheinung,  als 
Ursache  ihres  Leidens  ist.  Überdies  ist  durchaus  zu  bestreiten,  daß 
ein  geschlechtlicher  Hintergrund  jenen  Erkrankungen  auch  nur 
entfernt  so  häufig  zukomme,  wie  Freud  annimmt.  Daß  man 
solche  Zusammenhänge  bei  sehr  gutem  Willen  von  selten  des  Arztes 
und  der  Kranken  nach  langem  Bemühen  schließlich  aufzufinden 
vermag,  ist  nicht  besonders  verwunderlich. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^ 


^  ^  .  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

114 

Beim  weiblichen  Geschlechte  pflegt  der  Vorgang  der  Men- 
struation^) regelmäßig  von  einer  leichten  Steigerung  der  nervösen 
und  psychischen  Reizbarkeit  begleitet  zu  sein,  die  bei  einzelnen 
Personen  sogar  fast  krankhafte  Grade  (äußerste  Verstimmung, 
lebhafte  Erregung,  triebartiges  Handeln)  erreichen  kann.  Diese 
Veränderungen  scheinen  sich  in  der  Zeit  vor  den  Menses  ganz 
allmählich  vorzubereiten,  um  sich  dann  mit  deren  Eintritt  wieder 
auszugleichen,  so  daß  man  geradezu  von  einer  ,,menstrualen  Wel- 
lenbewegung" (Goodmann)  im  Organismus  des  Weibes  ge- 
sprochen hat,  die  einerseits  leichte  Schwankungen  der  Körper- 
wärme, der  Pulszahl  und  Atmung  bedingt,  andererseits  sich  auch 
im  seelischen  Verhalten  wieder  erkennen  läßt.  Beim  erstmaligen 
Eintritte  der  Menses  kann  sich  die  hysterische  oder  epileptische 
Veranlagung  in  ohnmachtsartigen  Anfällen,  Aufregungs-  oder 
Dämmerzuständen  äußern,  eine  Verbindung,  die  bisweilen  auch 
weiterhin  fortbesteht.  Ebenso  gibt  jene  Umwälzung  nicht  selten 
Anlaß  zum  Auftreten  der  ersten  leisen  Andeutungen  des  manisch- 
depressiven Irreseins  in  Form  grundloser  Verstimmung  oder  leich- 
ter Erregung.  Diese  Anfälle  können  sich  noch  eine  Zeitlang  regel- 
mäßig an  die  Menses  anknüpfen,  bisweilen  schon  einige  Tage 
vorher  einsetzend  („Menstruelles  Irresein").  Fried  mann  hat 
ferner  auf  jene  nicht  allzu  häufigen  Fälle  hingewiesen,  in  denen 
schon  vor  dem  Eintritte  der  ersten  Menses  in  regelmäßigen 
Zwischenzeiten  kurzdauernde  verwirrte  Aufregungszustände  be- 
obachtet werden,  die  mit  der  Regelung  der  Menstruation  ver- 
schwinden und  daher  wohl  unzweifelhaft  mit  den  Vorboten  der 
Geschlechtsentwicklung  in  ursächliche  Beziehung  gesetzt  werden 
müssen.  Auch  diese  Fälle  halte  ich  für  den  Beginn  manisch- 
depressiver  Formen,  die  später,  wenn  auch  erst  nach  Jahren,  von 
neuem  einsetzen,  um  sich  nun  in  der  gewöhnlichen  Weise  fort- 
zuentwickeln. 

Im  Verlaufe  psychischer  Störungen  kommt  dem  Eintritte  der 
Menstruation  und  noch  mehr  vielleicht  ihren  Unregelmäßigkeiten 
ohne  Zweifel  eine  erhebliche  Bedeutung  zu 2).    Namentlich  Erre- 

1)  Schüle,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVII,  i;  Hegar,  ebenda  LVIII, 
357;   V.  Kr  äfft  -  Ebing,  Psychosis  menstrualis.  1903. 

2)  V.  Krafft- Ebing,  Arch.  f.  Psychiatrie,  VIII,  i;  Powers,  Beitrag  zur 
Kenntnis  der  menstrualen  Psychosen,  Diss.  1883;  Schäfer,  Allgem.  Zeitschr.  f. 
Psychiatrie,  L,  384. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


"5 


gungszustände  aller  Art  pflegen  sich  zu  diesen  Zeiten  (einzustellen 
oder  zu  steigern.  Aussetzen  der  Menses  beobachten  wir  öfters 
in  zirkulären  Depressionszuständen ,  noch  häufiger  während  der 
Entwicklung  der  Dementia  praecox.  Sie  pflegen  dann  mit  der 
Besserung  des  Zustandes  oder  aber  mit  dem  Eintritte  endgültiger 
Verblödung  wiederzukehren.  Ob  das  Ausbleiben  der  Menses  eine 
ursächliche  Bedeutung  hat  oder  nur  Begleiterscheinung  des  Krank- 
heitsvorganges ist,  entzieht  sich  zurzeit  noch  unserer  Kenntnis. 
Die  letztere  Annahme  dürfte  indessen  die  größere  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  haben. 

Einen  bedeutenden  Einfluß  auf  die  Entwicklung  von  Geistes- 
störungen müssen  wir  endlich  dem  Klimakterium  zuschreiben. 
Es  steht  fest,  daß  in  dieser  Zeit  die  Neigung  der  Frauen,  psychisch 
zu  erkranken,  erheblich  anwächst.  Allerdings  wird  man  für  diese 
Tatsache  in  erster  Linie  wohl  die  allgemeinen  Veränderungen 
verantwortlich  machen  müssen,  welche  das  beginnende  Greisen- 
alter, die  Rückbildungszeit,  einleiten.  Dafür  spricht  der  Umstand, 
daß  wir  beim  männlichen  Geschlechte,  wenn  auch  nicht  so  häufig, 
dieselben  klinischen  Formen  des  Irreseins  im  gleichen  Lebensalter 
beobachten.  Dahin  gehört  vor  allem  das  manisch-depressive  Irre- 
sein, das  nicht  selten  in  dieser  Zeit  erst  einsetzt;  auch  gewisse  para- 
noide Erkrankungsformen,  deren  klinische  Stellung  noch  zweifel- 
haft ist,  ferner  vielleicht  die  ,,Spätkatatonien"  scheinen  Beziehungen 
zu  den  geschlechtlichen  Rückbildungsvorgängen  zu  haben. 

Besonders  deutlich  zeigt  sich  die  hervorragende  Rolle,  welche 
das  Geschlechtsleben  auch  für  die  psychische  Persönlichkeit  des 
Weibes  spielt,  in  jener  Gruppe  von  Geistesstörungen,  deren  Ent- 
wicklung sich  im  Zusammenhang  mit  den  verschiedenen  Vorgängen 
des  Fortpflanzungsgeschäftes,  der  Schwangerschaft,  dem  Wochen- 
bett und  der  Säugezeit  vollzieht i).  Die  Angaben  über  die  Häufig- 
keit dieser  Ursachen  beim  Zustandekommen  psychischer  Erkran- 
kungen gehen  ziemlich  weit  auseinander;  im  Mittel  sind  etwa 
14%  aller  in  Irrenanstalten  beobachteten  Geistesstörungen  bei 
Frauen  auf  dieselben  zurückzuführen.  Davon  kommen  3%  auf 
die  Schwangerschaftspsychosen.  Der  ursächliche  Zusammen- 

^)  Fürstner,  Arch.  f.  Psychiatrie,  V,  505;  Ripping,  Die  Geistesstörungen 
der  Schwangeren,  Wöchnerinnen  und  Säugenden.  1877;  Siemerling,  Deutsche 
Klinik,  VI,  399. 

8* 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

hang  scheiAt  während  dieser  Zeit  hauptsächlich  durch  die  Ver- 
änderungen in  Mischung  (Abnahme  der  Blutkörperchen  und  der 
Salze,  Vermehrung  des  Fibrins)  und  Verteilung  des  Blutes  (Aus- 
bildung des  Placentarkreislaufs)  vermittelt  zu  werden;  vielleicht 
ist  auch,  namentlich  bei  erstmalig  und  bei  unehelich  Schwange- 
ren, den  psychischen  Ursachen  (Angst  vor  den  Gefahren  der  Ge- 
burt, Sorgen,  Selbstvorwürfe)  ein  gewisser  Einfluß  zuzuschreiben. 

Unter  klinischem  Gesichtspunkte  haben  wir  es  hier  jedoch 
sicherlich  nicht  mit  einer  einheitlichen  Gruppe  des  Irreseins  zu 
tun,  sondern  die  einzelnen  Fälle  können  eine  sehr  verschiedene 
Bedeutung  haben.  Zunächst  kommt  es  nicht  selten  vor,  daß  ein- 
zelne Anfälle  des  manisch-depressiven  Irreseins,  namentlich  De- 
pressionszustände,  durch  die  Umwälzungen  der  Schwangerschaft 
ausgelöst  werden.  Hier  werden  wir  regelmäßig  weitere  Anfälle 
auch  ohne  diesen  und  sogar  ohne  jeden  äußeren  Anlaß  auftreten 
sehen;  andererseits  kann  sich  die  psychische  Erkrankung  in  meh- 
reren Schwangerschaften  wiederholen.  Entschieden  häufiger,  als 
die  genannten  Krankheitsbilder,  ist  die  Dementia  praecox,  in  Form 
von  Depression,  Stupor  oder  Erregung.  Auch  diese  Störungen 
können  in  wiederholten  Schwangerschaften  hervortreten,,  nachdem 
sie  in  der  Zwischenzeit  mehr  oder  weniger  vollständig  geschwun- 
den waren;  meist  bringt  dann  jede  folgende  Schwangerschaft 
eine  deutliche  Verschlechterung  des  psychischen  Gesamtzustandes 
mit  sich.  Ebenso  können  alte  Katatonien  oder  Hebephrenien 
unter  dem  Einflüsse  einer  Schwangerschaft  frische  Nachschübe 
zeigen.  Zu  den  selteneren  Erkrankungsformen  gehören  hyste- 
rische Aufregungszustände,  die  ebenfalls  in  jeder  Schwangerschaft 
wiederkehren  können,  und  die  äußerst  gefährliche  Chorea  der 
Schwangeren;  hier  und  da  sieht  man  auch,  natürlich  ohne  ursäch- 
liche Beziehung,  Paralysen  sich  in  der  Schwangerschaft  entwickeln. 
Durch  die  Geburt  wird  außer  der  Hysterie  und  der  Chorea  keine  der 
besprochenen  Formen  des  Irreseins  nennenswert  beeinflußt ;  vielmehr 
geht  jene  meist  ohne  besondere  Begleiterscheinungen  vonstatten; 
zuweilen  sieht  man  eine  Verschlimmerung  des  Zustandes,  beim 
manisch-depressiven  Irresein  Umschlag  der  Depression  in  Erregung. 
Eine  von  mir  beobachtete  stuporöse  Frau  gebar  ihr  totes  Kind  in 
den  Nachtstuhl,  ohne  einen  Laut  von  sich  zu  geben,  so  daß  man 
erst  später  durch  die  Blutung  auf  das  Ereignis  aufmerksam  wurde. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


117 


Mehr  als  doppelt  so  häufig  (bei  6,8%  aller  in  die  Irrenanstalten 
aufgenommenen  Frauen;  unter  etwa  400  Wöchnerinnen  bei  je 
einer)  wird  das  Wochenbett^)  Ursache  des  Irreseins,  hier  und 
da  auch  ein  Abortus  mit  starkem  Blutverluste.  Erstgebärende 
sind  stärker  gefährdet.  Wir  haben  auch  hier  wieder  zu  unter- 
scheiden zwischen  solchen  Erkrankungen,  die  wirklich  durch  das 
Wochenbett  erzeugt,  und  solchen,  die  nur  dadurch  ausgelöst  wer- 
den. Zu  den  ersteren  sind  zunächst  plötzliche,  äußerst  heftige, 
deliriöse  Erregungszustände  zu  rechnen,  die  sich  während  der 
Geburt  einstellen  können  und  wegen  der  starken  Neigung  zu  Ge- 
walttaten eine  große  forensische  Bedeutung  besitzen;  ihre  Dauer 
beträgt  meist  nur  wenige  Stunden.  Bei  ihrer  Entstehung  spielen 
einerseits  wahrscheinlich  die  Schmerzen,  der  Blutverlust,  die  raschen 
Kreislaufsänderungen  sowie  die  psychischen  Einwirkungen  der 
Geburt  selbst  und  etwaiger  Störungen  bei  derselben  eine  ge- 
wisse Rolle.  Eine  Wöchnerin  meiner  Beobachtung  stürzte  sich  in 
einem  derartigen  Zustande  aus  dem  Fenster  durch  das  darunter 
befindliche  Glasdach  eines  Treibhauses.  Andere  erdrosseln  ihre 
Kinder  oder  lassen  sie  doch  unbeachtet  ohne  Nahrung  und  Pflege 
zugrunde  gehen.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier,  wofür  die 
klinische  Form  sprechen  würde,  öfters  um  epileptische,  auch  wohl 
hysterische  Dämmerzustände,  welche  durch  die  besonderen  Er- 
schütterungen des  Gebärvorganges  auch  bei  solchen  Personen  aus- 
gelöst werden  können,  die  sonst  nur  geringfügige  und  leicht  über- 
sehene Krankheitszeichen  darbieten. 

Eine  zweite  Gruppe  der  Puerperalpsychosen  kommt  durch 
Gifte  zustande.  Hierher  gehören  wahrscheinlich  die  eklampti- 
schen  Delirien,  die  sich  schon  während  der  Geburt  oder  in  den 
ersten  Tagen  nachher  einzustellen  pflegen.  Weit  häufiger  sind 
die  etwa  am  5.  bis  10.  Tage  des  Wochenbettes  einsetzenden  Geistes- 

t Störungen,  denen  fieberhafte  Erkrankungen  zugrunde  liegen,  Ma- 
stitis, Endokaritis  ulcerosa,  Perimetritis,  Sepsis,  Pyämie.  Die 
Geburtshelfer  sind  geneigt,  einen  großen  Teil  der  Wochenbett- 


1)  Hansen,  Zeitschr.  f.  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie,  XV,  i;  Olshausen, 
ebenda  XXI,  2;  Hoppe,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXV,  137;  Aschaffenburg,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVHI,  337;  Siegenthaler,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVII, 
87;  Dupouy,  les  psychoses  puerperales  et  les  processus  d'autointoxikation,  These. 
1904. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

I  lo 

psychosen  auf  derartige  Infektionen  zurückzuführen.  Es  hat  sich 
jedoch  gezeigt,  daß  solche  Erkrankungen  in  noch  nicht  ^/g  der 
Fälle  nachweisbar  sind  und  gewiß  noch  viel  seltener  die  wirk- 
lichen Ursachen  der  geistigen  Störung  bilden.  Wo  aber  letzteres 
der  Fall  ist,  begegnen  uns  im  wesentlichen  die  klinischen  Bilder 
der  Fieber-  und  Infektionsdelirien,  Benommenheit,  Sinnestäu- 
schungen, traumartige  Verworrenheit,  ängstliche  oder  heitere  Er- 
regung, Neigung  zum  Übergang  in  Schlummersucht  und  Koma. 
An  sie  können  sich  unter  Umständen  längerdauernde  infektiöse 
Schwächezustände  anschließen. 

Daß  ferner  die  mächtigen  Umwälzungen  des  Körperhaushaltes 
im  Wochenbett  (Blutverlust,  Ausscheidungen,  Gewichtsabnahme) 
nicht  ohne  Bedeutung  für  das  Seelenleben  bleiben,  wird  durch 
die  erhöhte  gemütliche  Erregbarkeit  und  Erschöpfbarkeit  der 
Wöchnerinnen  dargetan,  die  wir  kaum  noch  als  krankhaft  zu 
betrachten  pflegen.  Ausgeprägtere  Geistesstörungen  scheinen  sich 
auf  diesem  Boden  jedoch  nur  dann  zu  entwickeln,  wenn  sich  noch 
andere  Ursachen,  namentlich  krankhafte  Veranlagung,  hinzu- 
gesellen. Wir  können  daher  dem  Wochenbette  unter  solchen  Um- 
ständen wesentlich  nur  eine  krankheitsauslösende  Rolle  zuschreiben. 

\  Unter  den  klinischen  Formen  sind  hier  in  allererster  Linie 
Katatonien  zu  nennen.  Die  Häufigkeit,  mit  der  sich  im  Wochen- 
bette katatonische  Krankheitsbilder,  Erregungen  wie  Depressionen 
und  namentlich  Stuporzustände,  entwickeln,  ist  sehr  auffallend, 
zumal  auch  schon  bestehende  katatonische  Schwächezustände  ge- 
wöhnlich ungünstig  beeinflußt  werden.  Ich  sah  einen  Fall,  in 
dem  eine  in  Schüben  verlaufende  Katatonie  nach  jedem  Wochen- 
bette stärker  hervortrat,  bis  endlich  der  vierte  Anfall  zu  tiefer, 
endgültiger  Verblödung  führte.  Solche  Erfahrungen  können  den 
Verdacht  erwecken,  ob  nicht  etwa  eine  besonders  innige  Beziehung 
zwischen  dem  Wochenbette  und  der  Katatonie  bestehe,  zumal 
auch  die  Vorliebe  der  Katatonie  für  die  Entwicklungsjahre  und 
das  Rückbildungsalter  an  dunkle  Einflüsse  des  Geschlechtslebens 
auf  jene  Krankheit  denken  läßt.  Auf  der  anderen  Seite  scheinen 
sich  jedoch  die  Katatonien  des  Wochenbetts  durchaus  gar  nicht 
von  anderen  Formen  zu  unterscheiden,  so  daß  wir  wenigstens 
einstweilen  nicht  berechtigt  sind,  sie  als  klinische  Gruppe  mit 
besonderer  Verursachung  abzugrenzen. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


119 


Zur  Vorsicht  in  dieser  Frage  werden  wir  namentlich  durch 
das  Beispiel  des  manisch-depressiven  Irreseins  gemahnt,  dem  wir 
fast  ebenso  häufig  im  Wochenbette  begegnen  wie  der  Katatonie. 
Depressive  Formen  überwiegen,  aber  auch  manische  fehlen  durch- 
aus nicht.  Gar  nicht  selten  sehen  wir  die  Anfälle  bei  mehreren 
Wochenbetten  in  gleicher  Weise  wiederkehren,  aber  sie  treten 
fast  immer  auch  außerhalb  derselben  aus  anderem  Anlasse  oder 
ganz  von  selbst  hervor,  ein  Zeichen  für  die  Selbständigkeit  der 
Störung  gegenüber  der  auslösenden  Schädlichkeit.  Auch  hier  gleichen 
die  im  Wochenbett  beobachteten  klinischen  Formen  völlig  den  sonst 
bekannten.  Die  manischen  und  katatonischen  Erregungszustände 
nebst  den  weit  selteneren  Infektionsdelirien  bilden  die  große  Masse 
der  sogenannten  ,,Puerperalmanien" ;  diese  stellen  somit  keineswegs 
ein  einheitliches  Krankheitsbild  dar,  sondern  umfassen  eine  Reihe 
von  Erkrankungen,  die  nach  Entwicklung  und  Ausgang  sehr  ver- 
schieden sind.  Hier  und  da  sieht  man  im  Wochenbette  auch  noch 
ganz  andersartige  Formen  des  Irreseins  beginnen,  so  z.  B.  die  Paralyse. 
Der  Zusammenhang  ist  hier  natürlich  ebenfalls  ein  sehr  lockerer. 

In  der  Mitte  zwischen  den  Geistesstörungen  der  Schwanger- 
schaft und  des  Wochenbettes  stehen  nach  ihrer  Häufigkeit  (4,9% 
aller  weiblichen  Aufnahmen  in  Irrenanstalten)  die  psychischen 
Erkrankungen  der  Säugezeit,  zu  denen  man  meist  die  später  als 
sechs  Wochen  nach  der  Geburt  auftretenden  Fälle  rechnet.  Als 
Schädlichkeit  wird  man  die  Erschöpfung  durch  Wochenbett  und 
SäugegeschäfJ,  vielleicht  auch  die  durch  beide  hervorgerufenen 
Umwälzungen  im  Körperhaushalte  zu  betrachten  haben.  Wir  haben 
es  indessen  hier  wesentlich  nur  mit  der  Auslösung  schon  ander- 
weitig vorbereiteter  psychischer  Störungen  zu  tun;  die  krankhafte 
Veranlagung  spielt  eine  besonders  wichtige  Rolle.  Darauf  weisen 
auch  die  klinischen  Formen  hin,  die  hier  zur  Beobachtung  kommen. 
Ganz  im  Vordergrunde  stehen  die  verschiedenen  Krankheitsbilder 
des  manisch-depressiven  Irreseins,  vorzugsweise  Depressionszustände. 
Fast  ebenso  häufig  sind  sodann  Katatonien.  Die  Zeit  des  Ausbruchs 
der  Störung  ist  meist  der  3.  bis  5.  Monat  nach  der  Entbindung. 

2.  Psychische  Ursachen. 

Über  die  Größe  des  Anteils,  den  wir  seelischen  Ursachen  an 
der  Entstehung  des  Irreseins  zuzuschreiben  haben,  sind  die  An- 


120 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


schauungen  der  Irrenärzte  vielfach  auseinandergegangen.  Wäh- 
rend die  Volksmeinung  die  Entwicklung  von  Geistesstörungen 
aus  falschen  Vorstellungen  oder  Gemütsbewegungen  geradezu  als 
die  Regel  betrachtet  und  auch  Griesinger  geneigt  war,  den  psy- 
chischen Ursachen  ein  ziemlich  bedeutendes  Übergewicht  über  die 
körperlichen  zuzugestehen,  ist  neuerdings,  namentlich  unter  dem 
Einflüsse  anatomischer  und  chemischer  Entdeckungen,  das  Be- 
streben stark  hervorgetreten,  den  Wirkungsbereich  der  psychischen 
Ursachen  immer  mehr  einzuschränken.  Man  erkannte,  daß  nicht 
selten  die  anscheinend  ursächlichen  Gemütserschütterungen  schon 
die  Folge  krankhafter  Störungen  waren;  man  fand  schwere  und 
ausgebreitete  Rindenveränderungen  bei  Krankheitsformen,  die  man 
bis  dahin  als  rein  auf  psychischem  Gebiete  ablaufende  angesehen 
hatte,  und  man  gewöhnte  sich  daran,  den  Begriff  der  Stoff- 
wechselstörungen im  weitesten  Sinne  aus  dem  Gebiete  der  inneren 
Medizin  und  namentlich  auch  aus  demjenigen  der  Blut-  und  Serum- 
forschung auf  die  psychiatrische  Ursachenlehre  zu  übertragen,  frei- 
lich meist  nur  in  der  Form  unbestimmter  Vermutungen. 

Auf  der  anderen  Seite  jedoch  sind  die  Tatsachen  der  ,,Psycho- 
genie",  der  psychischen  Entstehung  und  Beeinflussung  von  Krank- 
heitserscheinungen, zu  augenfällig,  als  daß  sie  gänzlich  übersehen 
werden  könnten.  Es  scheint  zwar,  daß  wir  im  allgemeinen  die 
Fähigkeit  besitzen,  auch  heftige  Erschütterungen  des  psychischen 
Gleichgewichtes  allmählich  ohne  dauernden  Schaden  wieder  aus- 
zugleichen, eine  Einrichtung,  deren  Bedeutung  ohne  weiteres  ein- 
leuchtet, da  wir  ja  ohne  Gemütsbewegungen,  die  unserem  Han- 
deln die  Triebkraft  liefern,  nicht  leben  und  nicht  streben  könnten. 
Allein  offenbar  ist  die  Wijrkungsweise  wie  die  Dämpfung  ge- 
mütlicher Erregungen  außerordentlich  großen  persönlichen  Ver- 
schiedenheiten unterworfen.  Die  Stärke  und  Art  der  Gefühle,  die 
durch  ein  Ereignis  ausgelöst  werden,  ist  ein  unmittelbarer  Grad- 
messer für  die  Innigkeit  der  Beziehungen,  die  er  zum  Kerne 
der  geistigen  Persönlichkeit  gewinnt.  Daher  sind  es  gerade  die 
Verschiedenheiten  in  der  gemütlichen  Verarbeitung  der  wechseln- 
den Eindrücke  des  Lebens,  in  denen  sich  uns  die  fast  unabsehbare 
Mannigfaltigkeit  der  „Individualitäten",  „Naturen",  „Charaktere", 
„Temperamente"  ausdrückt!  Die  persönliche  Eigenart  ist  für  die 
Wirkungen  gemütserschütternder  Erlebnisse  durchaus  maßgebend. 


Gemütsbewegungen. 


121 


Während  wir  im  allgemeinen  der  wirklich  ursächlichen  Bedeutung 
von  seelischen  Einflüssen  nur  einen  recht  beschränkten  Spielraum 
zugestehen  dürfen,  gibt  es  mancherlei  Formen  psychopathischer 
Veranlagung,  auf  deren  Boden  die  psychischen  Ursachen  eine 
höchst  unheilvolle  krankmachende  Wirkung  zu  entfalten  vermögen. 

Gemütsbewegungen.  Soviel  sich  erkennen  läßt,  werden  wirk- 
liche Krankheitserscheinungen  überall  nur  durch  solche  Seelen- 
vorgänge hervorgerufen,  die  mit  lebhaften  Gemütsbewegungen  ein- 
hergehen. Lebenserfahrungen,  die  lediglich  verstandesmäßig  auf- 
gefaßt werden,  ohne  das  Gemüt  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen, 
können  zur  Entstehung  von  Irrtümern,  niemals  aber  zu  Wahn- 
bildungen Anlaß  geben.  Dagegen  sind  die  Gemütsbewegungen  im- 
stande, nicht  nur  unsere  Willenshandlungen,  sondern  auch  unsere 
Auffassung  und  unser  Denken  in  der  entscheidendsten  Weise  zu 
beeinflussen,  und  dieser  Einfluß  kann  unter  Umständen  krank- 
hafte Größe  und  Richtung  annehmen.  Natürlich  sind  es  fast  aus- 
schließlich die  traurigen  Gemütsbewegungen,  die  dabei  in  Be- 
tracht kommen;  entfesseln  sie  doch  die  mächtigsten  und  dauernd- 
sten Stürme  im  Menschen,  während  selbst  die  höchsten  Grade 
der  Freude  rasch  in  das  ruhige  Gefühl  des  gesicherten  Glücks 
überzugehen  pflegen.  Angst  vor  einem  bevorstehenden  Unglück, 
Schreck  über  ein  unerwartetes  Ereignis,  Zorn  über  ein  wider- 
fahrenes Unrecht,  Verzweiflung  über  einen  erlittenen  Verlust 
werden  uns  daher  am  häufigsten  als  Ursachen  psychischer  Stö- 
rungen begegnen. 

Außer  den  plötzlichen  Erschütterungen  dürfte  jedoch  auch 
ein  dauernder  gemütlicher  Druck  imstande  sein,  krankhafte 
Störungen  des  Seelenlebens  herbeizuführen.  Im  allgemeinen  ver- 
mögen wir  sogar  den  Einfluß  schnell  eintretender,  aber  kurz 
dauernder  Schädigungen  leichter  zu  verwinden,  als  jene  lang- 
samen, nachhaltigen  Einwirkungen,  welche  eine  beständige  Trü- 
bung des  Stimmungshintergrundes  herbeiführen,  mit  immer  stär- 
kerem Drucke  allmählich  jede  freiere,  freudige  Regung  zurück- 
drängen und  das  Gefühl  des  Unglücks  bis  zur  Unerträglichkeit 
anwachsen  lassen.  Hierher  gehört  namentlich  die  Sorge  in  ihren 
mannigfaltigen  quälenden  Formen,  der  Kummer  über  erlittene 
Enttäuschungen,  unglückliche  Liebe,  Trennung  von  geliebten  Per- 
sonen  und  Versetzung  in  ungewohnte,   peinigende  Verhältnisse 


122 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


(Heimweh),  endlich  die  Reue  über  begangene  Fehltritte.  Aller- 
dings bleibt  bei  solchen  schleichend  sich  entwickelnden  Schädi- 
gungen der  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung  mehr 
oder  weniger  unklar;  immerhin  kennen  wir  Krankheitsformen, 
die  wir  Anlaß  haben,  als  die  Folge  eines  dauernden  gemütlichen 
Druckes  anzusehen.  Im  übrigen  haben  wir  aber  wohl  auch  hier 
vor  allem  die  ursprüngliche  Fähigkeit  des  Kranken,  gemütliche 
Veränderungen  wieder  auszugleichen,  als  wesentliches  Glied  bei  der 
Abschätzung  ihrer  ursächlichen  Bedeutung  in  Rechnung  zu  stellen. 

Wie  sich  der  Vorgang  der  Erkrankung  durch  gemütliche  Schä- 
digungen im  einzelnen  vollzieht,  ist  uns  zurzeit  noch  völlig  un- 
bekannt. Wir  wissen  nur  ganz  im  allgemeinen,  daß  Gemüts- 
bewegungen anscheinend  die  Entladung  von  Spannungszuständen 
bedeuten,  die  zum  Teil  schon  in  der  Anlage  vorgebildet,  zum  Teil 
durch  die  Lebensarbeit  erworben  worden  sind.  Der  Eindruck,  der 
eine  gemütliche  Erschütterung  auslöst,  wirkt  ja  in  der  Regel  nur 
durch  die  Vorstellungen,  die  sich  an  ihn  knüpfen  und  ihrerseits 
wieder  lawinenartig  Gefühle  und  Willensantriebe,  die  grundlegen- 
den Triebkräfte  des  Seelenlebens,  entfesseln.  Hand  in  Hand  mit 
diesen  Stürmen  im  Bereiche  der  Seelenäußerungen  gehen  regel- 
mäßig mehr  oder  weniger  ausgeprägte  körperliche  Veränderungen, 
die  unter  Umständen  das  Allgemeinbefinden  nachdrücklichst  be- 
einflussen können.  Dahin  gehören  namentlich  Schwankungen 
der  Herztätigkeit,  des  Blutkreislaufes  (Pulszahl,  Blutdruck) 
und  der  Atmung,  die  eine  genauere  Untersuchung  schon  bei  den 
leichtesten  Gemütsbewegungen  nachweist;  auch  Verdauungs- 
störungen scheinen  durch  psychische  Ursachen  sehr  häufig  her- 
vorgerufen zu  werden,  wie  die  alltägliche  Erfahrung  des  Appetit- 
mangels nach  heftigem  Ärger  oder  bei  großem  Kummer  dartut. 
Von  weitaus  größter  Bedeutung  ist  aber  wohl  die  Beeinträch- 
tigung des  Schlafes,  um  so  mehr,  als  sie  regelmäßig  auch  eine 
Störung  der  Nahrungsaufnahme  nach  sich  zieht.  Wo  die  lebhafte 
Erregung  des  Gehirns  die  Möglichkeit  des  Ruhens  und  weiterhin 
eines  gehörigen  Ersatzes  der  verbrauchten  Körperbestandteile  aus- 
schließt, können  schwere  Folgen  für  die  Gesamternährung  nicht 
ausbleiben. 

Zu  der  Wirkung  gemütlicher  Schädigungen  pflegt  sich  endlich 
fast  immer  noch  diejenige  mannigfacher  körperlicher  Schwächungen 


Gemütsbewegungen. 


123 


durch  Elend,  Entbehrungen,  schlechte  Ernährung,  unregelmäßige 
Lebensweise,  Ausschweifungen  aller  Art  hinzuzugesellen,  so  daß  es 
im  Einzelfalle  vielfach  unmöglich  ist,  den  Anteil  der  verschiedenen 
Ursachen  an  dem  Zustandekommen  des  krankhaften  Gesamtergeb- 
nisses auch  nur  annähernd  festzustellen. 

Die  gewöhnliche,  unmittelbare  Wirkung  einer  stark  gefühls- 
betonten Vorstellung  ist  ihr  Übergewicht  im  Bewußtseinsinhalt; 
sie  verdrängt  andere   Seelenvorgänge   und  haftet  ungewöhnlich 
lange,  taucht  auch  immer  von  neuem  wieder  hervor.   Auf  diese 
Weise  kann  sie  auf  die  Stimmung  und  weiterhin  auch  auf  das 
Handeln  einen  sehr  nachhaltigen  Einfluß  ausüben.    Das  ist  zu- 
nächst leicht  verständlich,  wenn  es  sich  um  Erlebnisse  handelt, 
deren  Folgen  für  die  gesamte  Gestaltung  unserer  Lebensverhält- 
nisse maßgebend  sind  und  sich  daher  dauernd  unsere  Beachtung 
erzwingen.    Aber  auch  einmalige  widrige  Eindrücke,  die  unser 
Wohl  und  Wehe  im  übrigen  nicht  tiefer  berühren,  können  wir 
oft  „nicht  los  werden",  ja,  es  knüpfen  sich  bisweilen  auch  die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  des  Ekels  oder  der  Angst,  Brech- 
neigung, Herzklopfen,  Blaßwerden,  mit  großer  Lebhaftigkeit  an 
die  peinlich  hartnäckige  Erinnerung  an.    Eine  Steigerung  dieser 
noch  im  Bereiche  des  Gesunden  sich  abspielenden  Vorgänge  führt 
auf  krankhaftem  Gebiete  zum  immer  wiederholten  Hervortreten 
quälender  Vorstellungen,  die  in  schweren  Fällen  das  ganze  Leben 
vergiften  können.   Manchmal  sind  es  bestimmte,  sehr  eindrucks- 
volle Ereignisse',  ein  miterlebter  Unglücksfall,  eine  große  Gefahr, 
eine  demütigende  Lebenslage,  die  den  Anknüpfungspunkt  für  die 
unablässige  Beunruhigung  bilden ;  häufig  genügen  aber  auch  schon 
ganz  allgemeine  Erwägungen,  der  Gedanke  an  die  Möglichkeit, 
sich  eine  ansteckende  Krankheit  zu  holen,  sich  bei  wichtigen 
Geschäften  zu  irren,  unvermutet  hilfsbedürftig  zu  werden,  um 
dauernde  und  unüberwindliche  Angstzustände  auszulösen.  Ge- 
rade dieser  Umstand  zeigt  deutlich,  daß  hier  von  einer  eigentlich 
ursächlichen  Bedeutung  der  Gemütsbewegungen  kaum  mehr  ge- 
sprochen werden  kann.    Maßgebend  ist  vielmehr  die  persönliche 
Veranlagung,  die  Art,  wie  die  Lebensreize  gemütlich  verarbeitet 
werden.  Wer  in  der  angedeuteten  Weise  erkrankt,  leidet  in  Wirk- 
lichkeit an  dem  Mangel  jener  Seeleneigenschaften,  die  dem  völlig 
Gesunden  den  Ausgleich  gemütlicher  Schädigungen  durch  Humor 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

oder  Ablenkung,  durch  Selbstbescheidung  oder  Selbstbehauptung 
ermöglichen. 

Auf  krankhaft  langes  Nachwirken  einer  gemütlichen  Er- 
schütterung pflegt  man  auch  jene  schleichend  verlaufenden  Seelen- 
störungen zurückzuführen,  die  man  unter  dem  Namen  der  trau- 
matischen Neurose  zusammenfaßt.  Wie  es  scheint,  trifft  indessen 
diese  Entstehungsweise  nur  für  einen  kleineren  Teil  der  Fälle 
zu,  in  dem  dann  zugleich  als  Überbleibsel  der  Schreckwirkung 
Dämmerzustände  oder  umschriebene  Ausfallserscheinungen  fort- 
bestehen. Zumeist  jedoch  dürfte  nicht  sowohl  die  einmalige  ge- 
mütliche Erschütterung,  als  vielmehr  die  Willenslähmung  maß- 
gebend sein ,  die  durch  unsere  Unfallgesetzgebung  künstlich  ge- 
züchtet wird.  Da  dem  zum  Zwecke  der  Heilung  sorgsam  geschonten 
Kranken  jeder  Arbeitsversuch  sofort  das  Gespenst  der  Renten- 
entziehung heraufbeschwört,  verliert  er  mehr  und  mehr  den  Mut 
und  die  Fähigkeit,  die  inneren  Reibungen  zu  überwinden,  und 
findet  unter  dem  Drucke  seines  Hilfsbedürftigkeitsgefühles  das 
einzige  Heil  in  der  Anklammerung  an  die  Rente.  Dieses  Ein- 
wurzeln der  Arbeitsunfähigkeit  geschieht  selbstverständlich  um 
so  leichter,  je  geringer  das  Maß  von  Widerstandsfähigkeit  und 
Willenskraft  war,  über  das  der  Kranke  von  Hause  aus  verfügte. 

In  der  Regel  kommt  es  bei  den  geschilderten  Vorgängen  nicht 
zu  einer  auffallenderen  Verfälschung  der  Verstandesleistungen. 
Immerhin  aber  bedeuten  Gemütsbewegungen  eine  gewisse  Gefahr 
für  die  Sachlichkeit  des  Urteils,  und  wir  wissen,  daß  Irrtümer 
um  so  schwerer  ausgerottet  werden  können,  je  mehr  sie  uns  ,,ans 
Herz  gewachsen",  von  Gefühlen  begleitet  sind.  Die  volkstümliche 
Anschauung  stellt  sich  etwa  in  dieser  Form  allgemein  die  Ent- 
stehung von  Wahnideen  vor,  indem  sie  annimmt,  daß  sich  der 
Kranke  ,, etwas  in  den  Kopf  gesetzt"  habe.  Auch  in  wissenschaft- 
lichen Kreisen  ist  die  Meinung  verbreitet,  daß  Vorstellungen  ,, über- 
wertig" werden  und  dadurch  Gewalt  über  das  Seelenleben  gewinnen 
können. 

Da  uns  Unlustgefühle  stärker  zu  erschüttern  pflegen  als  die 
Freude,  werden  wir  erwarten  dürfen,  in  der  angedeuteten  Weise 
am  häufigsten  Beeinträchtigungsvorstellungen  entstehen  zu  sehen. 
Unangenehme  Lebenserfahrungen,  Mißerfolge,  deren  Ursachen 
nicht  in  der  eigenen  Brust,  sondern  in  äußeren  Einflüssen  gesucht 


Gemütsbewegungen. 


125 


werden,  können  zu  Verbitterung  und  damit  zu  einer  feindselig 
vorurteilsvollen  Beurteilung  von  Erlebnissen  und  Personen  führen, 
die  schließlich  jeder  Belehrung  unzugänglich  wird.  Daß  die  Ge- 
dankenkreise der  Rechthaber  und  der  Pseudoquerulanten  ihren 
krankhaften  Anstrich  durch  derartige  Vorgänge  erhalten,  wie  sie 
auch  der  alltäglichen  Bildung  von  Vorurteilen  und  einseitigen 
Kampfesmeinungen  zugrunde  liegen,  wird  man  nicht  bezweifeln 
können.  Weniger  sicher  ist  es,  ob  auch  ausgeprägte,  fortschrei- 
tende Wahnbildungen  auf  dem  gleichen,  rein  psychologischen 
Wege  entstehen  können;  immerhin  scheint  die  Entwicklung  des 
Querulantenwahns  im  Anschlüsse  an  vermeintliche  rechtliche  Be- 
nachteiligung diese  Auffassung  nahe  zu  legen.  Noch  strittiger  ist 
die  Frage,  ob  man  berechtigt  ist,  auch  das  Auftreten  von  Sinnes- 
täuschungen, wie  es  bei  Strafgefangenen  so  oft  beobachtet  wird, 
unmittelbar  als  die  Wirkung  des  Mißtrauens  und  der  Verzweiflung 
auf  das  durch  die  Abgeschlossenheit  empfänglicher  gemachte  Sinnes- 
gebiet zu  betrachten.  Jedenfalls  ist  unsere  Kenntnis  von  derartigen 
Zusammenhängen  noch  sehr  erweiterungsbedürftig. 

Dagegen  dürfen  wir  bestimmt  annehmen,  daß  lebhafte  Ge- 
mütsbewegungen unter  Umständen  Trübung,  ja  völlige  Aufhebung 
des  Bewußtseins  bewirken  können.  Das  „Vergehen  der  Sinne", 
das  „Stillstehen  des  Verstandes"  sind  die  ersten  leisen  Andeu- 
tungen jener  Ohnmächten  und  Dämmerzustände,  die  uns  gar  nicht 
selten  im  Anschlüsse  an  starke  gemütliche  Erregungen  begegnen. 
Traumhafte  Verfälschungen  der  Auffassung  und  Verarbeitung 
der  Außenwelt,  bald  unter  Fortspinnen  der  aufregenden  Erleb- 
nisse, bald  unter  Umwandlung  oder  völliger  Ausmerzung  der- 
selben aus  dem  Bewußtsein,  kennzeichnen  derartige,  aus  Gemüts- 
bewegungen hervorgehende  Krankheitsbilder. 

Anstatt  zum  dauernden  Mittelpunkte  des  Seelenlebens  zu  wer- 
den, sieht  man  bisweilen  das  krankmachende  Ereignis  anschei- 
nend gänzlich  aus  dem  Bewußtseinsinhalte  verschwinden,  wäh- 
rend doch  seine  Wirkungen  fortbestehen.  Man  kann  sich  etwa 
vorstellen,  daß  die  Unmöglichkeit,  sich  mit  dem  Vorgefallenen 
in  befriedigender  Weise  abzufinden,  unwillkürlich  zu  dem  Aus- 
wege führt,  es  einfach  aus  dem  Bewußtsein  zu  verdrängen,  wie 
wir  uns  irgendeinen  unerfüllbaren  Wunsch  „aus  dem  Sinn  schla- 
gen", ein  peinliches  Erlebnis  baldmöglichst  zu  vergessen  trachten. 


126 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Allein  wie  es  uns  dabei  im  geheimen  dennoch  immer  noch  „wurmt", 
an  uns  nagt,  wie  ein  dumpfes  Unbehagen  zurückbleibt,  auch  wenn 
wir  seines  Anlasses  nicht  mehr  gedenken,  so  kann  auf  krankhaftem 
Gebiete  der  Inhalt  des  Geschehenen  der  Erinnerung  entrückt  sein, 
während  die  durch  ihn  erzeugte  Gemütserschütterung  mit  ihren 
Folgen,  namentlich  in  Form  einer  Bewußtseinstrübung,  andauert. 
Breuer  und  Freud  haben  sich  viel  mit  diesem  sehr  merkwür- 
digen Vorgange  beschäftigt  und  auch  versucht,  durch  Wieder- 
erweckung der  verlorenen  Erinnerung  deren  psychische  Wirkungen 
zu  beseitigen.  Insbesondere  wurden  frühzeitige  geschlechtliche 
Erlebnisse  als  allgemeine  Ursache  der  Hysterie  bezeichnet;  die 
verdrängten  Erinnerungen  sollten  jene  eigentümliche  Spaltung 
des  Bewußtseins,  die  Ausscheidung  einzelner  Seelengebiete  aus 
dem  Zusammenhange  der  übrigen,  bedingen,  welche  die  Krank- 
heit kennzeichnet. 

Wenn  diese  Auffassung  auch  sehr  weit  über  das  Ziel  hinaus- 
schießt, so  ist  doch  nicht  zu  bezweifeln,  daß  die  Verdrängung 
von  Erinnerungsbildern  durch  Gemütsbewegungen  tatsächlich  statt- 
finden kann.  So  sehen  wir  in  den  Dämmerzuständen  der  Hysteri- 
schen oder  in  der  Hypnose  nicht  selten  Erinnerungen  mit  großer 
Lebhaftigkeit  hervortreten,  die  dem  wachen  Bewußtsein  anschei- 
nend völlig  unzugänglich  waren;  regelmäßig  handelt  es  sich  dabei 
um  aufregende  Ereignisse.  Bald  entsprechen  diesen  Bildern  wirk- 
liche Vorkommnisse,  freilich  in  wirkungsvoller  Ausschmückung, 
bald  waren  es  nur  Träume  oder  Einbildungen.  Vielleicht  dürfen 
wir  sogar  die  gesamten  hysterischen  Ausfallserscheinungen  unter 
diesem  Gesichtspunkte  auffassen.  Eine  Lähmung  oder  Empfin- 
dungslosigkeit, die  sich  an  die  erschreckende  Berührung  oder 
Verletzung  eines  Gliedes  anschließt,  könnte  dadurch  zustande 
kommen,  daß  die  begleitende  Gemütserschütterung  die  gesamte 
seelische  Vertretung  jenes  Gliedes  aus  dem  Bewußtseinsinhalte 
des  Kranken  verdrängt.  Er  vergißt  es  so  vollständig,  daß  kein 
Reiz  von  daher  über  die  Schwelle  des  Bewußtseins  gelangen  kann, 
daß  er  keinen  Willensantrieb  dorthin  zu  senden  vermag. 

Von  den  klinischen  Krankheitsformen,  die  man  in  ursächliche 
Beziehung  zu  Gemütsbewegungen  gesetzt  hat,  wären  zunächst 
jene  Fälle  zu  nennen,  die  unmittelbar  nach  plötzlichen  Gemüts- 
erschütterungen entstehen  und  als  „Emotionspsychosen"  bezeichnet 


Gemütsbewegungen. 


127 


worden  sind.  Leider  bin  ich  aus  eigener  Erfahrung  nicht  im- 
stande sie  genauer  zu  kennzeichnen,  da  sie  wegen  ihres  raschen 
Ablaufes  äußerst  selten  in  die  Hände  des  Irrenarztes  kommen. 
Wir  hören  indessen  öfters,  daß  bei  großen  Unglücksfällen  diese 
oder  jene  Person  plötzlich  anfängt,  irre  zu  reden,  sinnlos  davon 
zu  laufen,  die  Umgebung  anzugreifen;  meist  steht  dann  der  Tod 
nahe  bevor.  Derartige  Fälle  erinnern  an  das  Grauen,  das  in  un- 
heimlichen Lebenslagen  die  Klarheit  des  Blickes  trübt  und  das 
Handeln  lähmt,  an  die  Erscheinungen  der  Panik,  die  ganze  Men- 
schenmassen rasch  zu  einer  Herde  kopflos  ins  eigene  Verderben 
rennender  Tiere  machen  kann.  Es  ist  indessen  zu  berücksichtigen, 
daß  wenigstens  in  den  rasch  tötlich  verlaufenden  Fällen  regel- 
mäßig außer  den  gemütlichen  Erschütterungen  schwere  ander- 
weitige Schädigungen  eingewirkt  haben,  namentlich  längere  Schlaf- 
losigkeit, äußerste  geistige  und  körperliche  Überanstrengung, 
Hunger,  Kälte,  Entbehrungen  aller  Art.  Wir  werden  daher  als 
Grundlage  dieser  „Angstdelirien"  tiefgreifende  und  ausgebreitete 
Zerstörungen  der  Hirnrinde  anzusehen  haben. 

Wo  dagegen  wirklich  nur  starke  Gemütsbewegungen  einge- 
wirkt haben,  trägt  die  psychische  Störung  das  Gepräge  der  hy- 
sterischen Irreseinsformen;  sie  geht  dann  in  der  Regel  mit  Be- 
wußtseinstrübung, vielfach  auch  mit  kennzeichnenden  Lähmungs- 
und Krampferscheinungen  einher.  So  sah  ich  ein  junges  Mäd- 
chen in  einen  mehrtägigen  hysterischen  Aufregungszustand  mit 
allgemeiner  Chorea  verfallen,  als  sie  bei  einem  geschlechtlichen 
Abenteuer  ertappt  worden  war;  ein  anderer  Kranker,  der  einen 
Eisenbahnunfall  erlitten  hatte,  geriet  jedesmal  bei  Erwähnung  des 
Wortes  Eisenbahn,  beim  Vorzeigen  einer  Kinderlokomptive  oder 
eines  entsprechenden  Bildes  in  einen  lebhaften,  ängstlich-deliranten 
Erregungszustand.  Hierher  gehört  auch  die  Mehrzahl  der  in  der 
Untersuchungshaft  auftretenden  Seelenstörungen.  Eine  besondere 
Gestaltung  dieser  psychogenen  Erkrankungen  ist  die  schon  oben  er- 
wähnte Unfallsneurose.  Ferner  gehört  hierher  die  Erwartungsneurose, 
Angstzustände  mit  mannigfachen  körperlichen  Begleiterscheinungen, 
die  sich  als  mehr  oder  weniger  klar  bewußte  Erinnerung  an  pein- 
liche Erfahrungen  bei  bestimmten  Anlässen  regelmäßig  einstellen. 
Ähnliche  psychogene  Anknüpfungen  finden  sich  auch  nicht  selten 
bei  den  verschiedenartigen  Gestaltungen  des  Zwangsirreseins. 


128 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Weit  lockerer  ist  die  ursächliche  Verknüpfung  zwischen  Ge- 
mütsbewegungen und  Geistesstörung  bei  den  übrigen  Formen 
des  Irreseins.  Allerdings  sehen  wir  den  Querulantenwahn  sich 
regelmäßig  an  einen  Rechtsstreit  anknüpfen,  und  auch  bei  der 
Entwicklung  anderer  paranoischer  Erkrankungen  scheinen  äußere 
Vorgänge  öfters  bestimmend  mitzuwirken.  Es  muß  indessen  daran 
festgehalten  werden,  daß  die  besondere  Art  der  gemütlichen  Ver- 
arbeitung von  Lebenserfahrungen  hier  überall  schon  das  Krank- 
hafte ist.  Die  Erlebnisse  geben  den  Wahnbildungen  wohl  Stoff 
und  Inhalt,  aber  sie  verursachen  sie  nicht.  Näher  liegt  die  An- 
nahme eines  wirklich  ursächlichen  Zusammenhanges  vielleicht  für 
gewisse  Erkrankungen,  die  wir  in  der  Strafhaft  entstehen  sehen. 
Beim  manisch-depressiven  Irresein  schließen  sich  die  einzelnen 
Anfälle,  wie  an  andere  Anlässe,  nicht  ganz  selten  an  gemütliche 
Aufregungen  an.  Dabei  ist  die  klinische  Färbung  des  Anfalls  von 
derjenigen  des  auslösenden  Affektes  ganz  unabhängig.  Heitere 
Verstimmung  kann  sehr  wohl  einem  traurigen  Anlasse  folgen  und 
umgekehrt.  Einer  meiner  Kranken  wurde  bei  der  Beerdigung 
seiner  Tochter  manisch;  andererseits  sah  ich  eine  Dame  mit  ver- 
wirrten Angstzuständen  und  peinigenden  Sinnestäuschungen  er- 
kranken, anscheinend  in  der  Freude  über  die  glückliche  Verlobung 
ihrer  Tochter.  Hier  war  jedoch  schon  vor  langer  Zeit  eine  ähnliche 
Erkrankung  vorausgegangen.  Verschlechterungen  des  Zustandes 
oder  selbst  schwere  Rückfälle  werden  bei  depressiven  Kranken 
öfters  durch  unzeitige  Besuche  ihrer  liebsten  Angehörigen  veranlaßt. 

Die  Folgezustände  der  Gemütsbewegungen,  insbesondere  die 
Schlafstörung  in  Verbindung  mit  der  allgemeinen  Beeinträchtigung 
der  Ernährung,  können  das  Krankheitsbild  der  nervösen  Erschöp- 
fung herbeiführen.  Von  den  Blutdruckschwankungen  nimmt  man 
an,  daß  sie  für  die  Entwicklung  von  arteriosklerotischen  Er- 
krankungen von  Bedeutung  werden  können.  Leute  mit  sehr 
aufreibender  Lebensarbeit,  die  häufigen  Gemütserregungen  aus- 
gesetzt sind,  sollen  früher  verbraucht  werden,  insbesondere  der 
Arteriosklerose  anheimfallen.  Auch  die  Häufigkeit  der  Arterio- 
sklerose beim  manisch-depressiven  Irresein  und  bei  der  Unfalls- 
neurose könnte  auf  die  andauernden  gemütlichen  Schwankungen 
bei  diesen  Erkrankungen  bezogen  werden.  Es  ist  indessen  nicht 
außer  acht  zu  lassen,  daß  hier  überall  auch  noch  andere  Schäd- 


Überanstrengung. 


129 


lichkeiten  in  Frage  kommen,  namentlich  Alkohol  und  Syphilis, 
deren  ursächliche  Beziehungen  zur  Arteriosklerose  zweifelloser 
sind,  als  diejenigen  der  Gemütsbewegungen. 

Überanstrengung^).  Geistige  Tätigkeit  und  Gemütsbewegung 
beruhen  auf  den  Lebensvorgängen  in  unserer  Hirnrinde;  das  aus 
ihnen  entspringende  Lebensgefühl  ist  eine  der  wichtigsten  Grund- 
lagen unseres  Wohlbefindens.  Dennoch  kann  ein  Übermaß  jener 
Vorgänge  unter  Umständen  Schädigung  unserer  geistigen  Gesund- 
heit herbeiführen.  Freilich  haben  wir  hier  von  vornherein  auf 
einen  grundlegenden  Unterschied  zwischen  Verstandes-  und  Ge- 
mütsleistung hinzuweisen.  Die  einfache  geistige  Arbeit  führt 
nach  einer  gewissen  Zeit  zur  Ermüdung.  Die  subjektive  Beglei- 
terin derselben,  die  Müdigkeit,  erzwingt  in  wachsender  Stärke 
schließlich  Einstellung  der  Tätigkeit,  erzeugt  Schlaf  und  schafft 
damit  von  selber  die  günstigen  Bedingungen  für  den  Ersatz  des 
verbrauchten  Nervengewebes.  Demgegenüber  verscheucht  die  ge- 
mütliche Erregung  das  Warnungszeichen  der  Müdigkeit  trotz  tat- 
sächlich vorhandener  Ermüdung.  Die  Arbeitsleistung  kann  da- 
her unter  ihrem  Einflüsse  bis  zur  Erschöpfung,  bis  zur  unmittel- 
baren Schädigung  der  körperlichen  Grundlagen  unseres  Seelen- 
lebens, fortgesetzt  werden.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  geschieht 
das  schon  bei  jeder  geistigen  Arbeit,  die  wir  mit  sehr  lebhaftem 
„Interesse"  verrichten.^  Hier  kann  die  Ermüdungsabnahme  der 
Leistungsfähigkeit  eine  Zeitlang  durch  wiederholte  starke  Willens- 
anstrengung, durch  den  „Antrieb",  ausgeglichen  werden,  ja  wir 
sehen  unter  solchen  Umständen  in  den  ersten  Stadien  der  Er- 
schöpfung neben  dem  entschiedenen  Sinken  der  Arbeitsleistung 
die  Zeichen  der  psychischen  Erregbarkeitssteigerung  durch  gemüt- 
liche Einflüsse  deutlich  genug  hervortreten. 

Es  ist  demnach  in  erster  Linie  die  mit  gemütlicher  Er- 
regung einhergehende  Arbeit,  welche  die  Gesundheit  zu  gefähr- 
den vermag.  Je  lebhafter  von  vornherein  die  Gefühlsbetonung  einer 
Arbeitsleistung,  und  je  ausgeprägter  überhaupt  die  gemütliche  Er- 
regbarkeit des  Arbeiters  ist,  desto  größer  wird  im  einzelnen  Falle 
die  Gefahr  sein,  daß  die  Zeichen  des  Ruhebedürfnisses  verwischt 
werden  und  damit  eine  wirkliche  Überanstrengung  zustande  kommt. 


1)  Manaceine,  Le  surmenage  mental  dans  la  civUisation  moderne.  1890. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Au{l.  ^ 


130 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Vollzieht  sich  dieser  Vorgang  häufiger  oder  gar  gewohnheitsmäßig, 
so  werden  die  Folgen  der  Überanstrengung  durch  die  alltäglichen 
Ruhepausen  nicht  mehr  vollständig  ausgeglichen:  es  kommt  zu 
einer  dauernden  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit,  Ausbleiben 
der  Müdigkeit  und  erheblicher  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit infolge  von  chronischer  Erschöpfung.  Das  klinische  Bild, 
welches  sich  bei  krankhafter  Ausdehnung  dieser  Störungen  ent- 
wickelt, ist  dasjenige  der  Neurasthenie.  Die  leichtesten  Formen 
derselben  kann  wohl  ein  jeder  gelegentlich  einmal  an  sich  be- 
obachten, wenn  irgendeine  Lebenslage  erhöhte  Anforderungen  an 
seine  psychischen  Leistungen  stellt  (Prüfungen). 

Im  praktischen  Leben  können  wir  trotz  der  oben  angedeuteten 
Übergänge  die  wesentlich  geistige  von  der  gemütlichen  Über- 
anstrengung einigermaßen  abscheiden.  Der  ersteren  Form  be- 
gegnen wir  namentlich  bei  Schülern,  Studenten,  Gelehrten,  der 
zweiten  dagegen,  der  Überbürdung  mit  gemütlichen  Erregungen 
und  Pflichten  verschiedener  Art,  bei  Krankenpflegerinnen,  Ärzten, 
Politikern,  Heerführern  im  Kriege.  Übermäßige  Verstandes- 
arbeit birgt  ernstere  Gefahren  wohl  nur  für  jugendliche  oder  krank- 
haft veranlagte  Personen;  in  der  Regel  pflegen  sich  die  etwa 
auftretenden  neurasthenischen  Erscheinungen  bei  angemessener 
Ruhe  leicht  wieder  zu  verlieren.  Wo  dagegen  die  geistige  Über- 
anstrengung von  beständiger  gemütlicher  Anspannung,  vom  Gefühle 
schwerer  Verantwortlichkeit  und  vielleicht  noch  von  körperlichen 
Strapazen  und  Ausschweifungen  begleitet  wird,  entwickeln  sich  zu- 
meist schwerere  und  länger  dauernde  psychische  Veränderungen. 
Solche  Tätigkeit  ist  es,  die  den  Menschen  rasch  verbraucht,  seine 
Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  dauernd  herabsetzt,  ihn 
stumpf  und  reizbar  zugleich  macht.  Am  besten  sehen  wir  das 
vielleicht  bei  dem  Wartpersonal  in  älteren  Irrenanstalten,  das 
nach  langjährigem  Anstaltsdienste  fast  regelmäßig  die  Zeichen  einer 
dauernden  Schädigung  der  gesamten  Persönlichkeit  darbietet.  Ohne 
Zweifel  bilden  derartige  Veränderungen  den  günstigen  Boden  für 
das  Auftreten  weiterer  psychischer  Erkrankungen,  einerseits  der 
hysterischen  Formen,  andererseits  der  Alterserkrankungen,  ins- 
'f)esondere  der  Arteriosklerose. 


Gefangenschaft.  Eine  ganze  Reihe  von  psychischen  Ursachen 
findet  sich  vereinigt  in  der  Gefangenschaft,  die  erfahrungsgemäß 


Gefangenschaft. 


131 


nicht  selten  Geistesstörungen  erzeugt^),  anscheinend  etwa  zehn- 
mal so  viel  wie  das  Leben  in  der  Freiheit.  In  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  besteht  jedoch  schon  eine  mehr  oder  weniger 
schwere  krankhafte  Veranlagung,  teils  auf  Grund  angeborener 
Entartung,  teils  durch  mannigfache  Lebensschicksale  (uneheliche 
Geburt,  schlechte  Erziehung,  Krankheiten,  Traumata,  Alkoho- 
lismus) erworben.  Dazu  kommen  die  ungünstigen  hygienischen 
Verhältnisse  des  Gefängnislebens  (einförmige,  knappe  Kost,  un- 
genügende Bewegung,  Mangel  frischer  Luft),  sodann  lebhafte  ge- 
mütliche Erregungen,  der  quälende  Verlust  der  Freiheit,  die  starre 
Knebelung  aller  selbständigen  Willensregungen  und  endlich  die 
Einsamkeit  und  Abgeschiedenheit,  welche  dem  Eingesperrten  zur 
grübelnden  Beschäftigung  mit  den  eigenen  Gedanken  gründliche 
Muße  gibt  und  ihn  die  Angst  vor  der  Zukunft,  die  Reue  über  das 
Begangene  um  so  lebendiger  empfinden  läßt,  je  weniger  ihn  sein 
Bildungsgrad  und  sein  Charakter  zur  sittlichen  Selbsterziehung 
befähigt'-). 

In  der  Untersuchungshaft  wird  während  der  ersten  Tage  öfters 
das  Delirium  tremens  beobachtet,  namentlich  bei  Landstreichern 
und  Bettlern.  Man  könnte  hier  versucht  sein,  eine  schädliche  Wir- 
kung der  plötzUchen  Alkoholentziehung  anzunehmen,  wenn  nicht 
die  Erfahrungen  der  Trinkerheilanstalten  dagegen  sprechen  würden. 
Es  müssen  daher  wohl  die  übrigen,  oben  angeführten  ungünstigen 
Einflüsse  der  Gefangenschaft  die  Hauptrolle  spielen.  Das  eigentlich 
kennzeichnende  Irresein  der  Untersuchungsgefangenen  aber  sind 
psychogene  Dämmerzustände  mit  Vorbeireden  und  Erinnerungs- 
lücken, wie  sie  Ganser  beschrieben  hat.  Sie  entwickeln  sich  un- 
mittelbar aus  der  gemütlichen  Erregung  über  die  drohende  Gefahr 
heraus,  beginnen  öfters  mit  einem  Selbstmordversuche,  einem  hy- 
sterischen Anfalle  oder  plötzlicher  Tobsucht  und  erwecken  sehr 
vielfach  den  Anschein  absichtlicher  Verstellung.  Es  liegt  nahe,  hier 
an  Verdrängungserscheinungen  im  Sinne  Freuds  zu  denken.  Der 
plötzliche  gewaltige  Eingriff  in  die  gesamten  Lebensverhältnisse, 

1)  Gutsch,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XIX,  i;  Kirn,  ebenda  XLV,  i; 
Rüdin,  ebenda,  LVIII,  447;  LX,  852;  Skliar,  Monats^chr.  f.  Psychiatrie,  XVI,  441; 
Siefert,  Die  Geistesstörungen  der  Straf haft.  1907;  Wilmanns,  Über  Gefängnis- 
psychosen. 1908. 

2)  Leu  SS,  Aus  dem  Zuchthause.  1903;  Auer,  Zur  Psychologie  der  Gefangen- 
Schaft.  1905. 

g* 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

132 

den  die  Verhaftung  bedeutet,  mit  allen  sich  daran  knüpfenden 
Demütigungen  und  Befürchtungen  führt  bei  dazu  veranlagten  Per- 
sönlichkeiten zu  einer  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Trübung 
des  Bewußtseins  mit  dem  unwillkürlichen  Bestreben,  sich  von  den 
peinigenden  Erinnerungen,  Ereignissen  und  Einwirkungen  ab- 
zuschließen. Weiterhin  kommen  Fälle  von  Dementia  praecox,  oft 
in  der  katatonischen  Form,  zur  Beobachtung,  bisweilen  auch  als 
plötzliche  halluzinatorische  Erregungszustände  nach  lange  bestehen- 
der leichterer,  schleichender  Verblödung. 

Die  Strafhaft  erzeugt  bei  weitem  am  häufigsten  in  der  Stille 
der  Isolierzelle  halluzinatorische  Krankheitsbilder,  namentlich  akut 
auftretende,  rasch  verlaufende  Formen,  meist  Verfolgungswahn, 
seltener  Größenideen,  vorwiegend  mit  Gehörstäuschungen,  heftigen 
Angstzuständen  und  Selbstmorddrang.  Starke  innere  Spannung, 
das  Gefühl  eines  lastenden  Druckes,  Erschwerung  des  Denkens 
unter  aufdringlicher  Wiederkehr  derselben  einförmigen,  trüben  Vor- 
stellungen ,  Lebensüberdruß ,  dazu  Kopfdruck ,  Schwindelgefühl, 
Schlaflosigkeit,  Verdauungsbeschwerden,  Appetitmangel  leiten  die 
krankhafte  Veränderung  ein.  Der  Ausbruch  der  Psychose  erfolgt 
bisweilen  schon  sehr  bald,  häufiger  nach  einigen  Monaten,  unter 
Umständen  erst  nach  Jahr  und  Tag  oder  selbst  nach  zahlreichen, 
ohne  geistige  Erkrankung  überstandenen  Freiheitsstrafen.  Am  wirk- 
samsten scheint  die  Einzelhaft  zu  sein,  deren  Aufhebung  vielfach, 
aber  durchaus  nicht  immer,  rasches  Schwinden  der  Krankheits- 
zeichen herbeiführt.  Langjährige  Zuchthausstrafen  wirken  in  hohem 
Grade  zerstörend  auf  die  geistige  Gesundheit.  Die  Wahnbildungen 
der  Kranken  knüpfen  sich  an  die  hilflose  Abhängigkeit  des  Ge- 
fangenen von  seiner  Umgebung,  insbesondere  den  Aufsehern,  an, 
die  zu  vorurteilsvoller  Deutung  kleinlicher  Erlebnisse,  gespanntem 
Mißtrauen,  eifersüchtiger  Wahrung  der  spärlichen  Rechte  führt. 
In  der  Stille  der  Isolierzelle  schärfen  sich  die  Sinne,  und  die  Ein- 
förmigkeit des  Tageslaufes  gibt  jedem  Ereignisse  eine  besondere  Be- 
deutung ;  vielfach  spielen  auch  traumhafte  Wahrnehmungen,  wie  sie 
die  erregte  Einbildungskraft  im  Halbwachen  der  langen,  einsamen 
Nächte  erzeugt,  eine  wahnbildende  Rolle. 

Die  eingehende  klinische  Betrachtung  einer  großen  Zahl  von 
Gefängnispsychosen  hat  mir  gezeigt,  daß  wir  es  hier  nicht  mit  einer 
klinischen  Einheit  zu  tun  haben.  Auf  der  einen  Seite  haben  wir  eine 


Gefangenschaft. 


Gruppe  abzutrennen,  die  in  das  Gebiet  der  psychogenen  Geistes- 
störungen gehört,  Bilder,  die  meist  von  einer  leichten  Bewußtseins- 
trübung begleitet  sind;  sie  pflegen  sich  nach  der  Versetzung  in  Ge- 
meinschaftshaft oder  in  eine  Krankenabteilung  mehr  oder  weniger 
rasch  zu  bessern.  Sodann  aber  finden  sich  zahlreiche  Fälle,  die  voll- 
ständig die  Züge  der  Katatonie  darbieten,  wie  sie  außerhalb  der 
Gefangenschaft  beobachtet  wird;  auch  der  Ausgang  in  eigenartige 
Verblödung  ist  der  gleiche.  Recht  häufig  scheint  hier  der  akuten 
Erkrankung  schon  lange  Zeit  eine  schleichend  oder  mit  leichten 
Angstzuständen  einsetzende  Verblödung  vorauszugehen,  oder  es  han- 
delt sich  um  frühzeitig  ausgeprägte  Gewohnheitsverbrecher,  bei  denen 
dann  irgendeine  längere  Freiheitsstrafe  das  halluzinatorisch-kata- 
tonische Krankheitsbild  zur  Entwicklung  bringt.  Weitere  Gruppen 
bilden  nach  Rüdins  Darlegungen  die  Alkoholisten,  vereinzelte  Para- 
noiker,  Imbecille  und  namentlich  Epileptiker.  Bei  diesen  letzteren 
handelt  es  sich  in  der  Regel  um  gelegentliche  heftige  Aufregungs- 
zustände  mit  Angst  und  deliriösen  Sinnestäuschungen  oder  um  ein- 
fache reizbare  Verstimmungen  (,, Zuchthausknall"),  in  einer  kleineren 
Zahl  von  Fällen  aber  auch  um  lange  festgehaltene  und  geistig 
verarbeitete  Verfolgungsideen  mit  lebhaften  Gehörstäuschungen. 
Hier  und  da  begegnet  uns  auch  einmal  eine  konstitutionelle  Er- 
regung. 

Alle  diese  Krankheitsbilder  sind  nicht  als  eigenartige  Erzeug- 
nisse der  Gefangenschaft  anzusehen;  sie  lassen  sich  auch  ohne 
besondere  Schwierigkeit  den  außerhalb  des  Gefängnisses  gemachten 
Erfahrungen  einordnen.  Immerhin  sind  sie  durch  die  große  Leb- 
haftigkeit der  Gehörstäuschungen  sowie  durch  die  Wiederkehr 
gewisser  naheliegender  Wahnvorstellungen  ausgezeichnet,  der  Vor- 
stellung, verspottet,  hingerichtet,  vergiftet  zu  werden,  oder  um- 
gekehrt, unschuldig  verurteilt,  begnadigt  worden  zu  sein  und  nun 
widerrechtlich  festgehalten  zu  werden.  Daran  schließt  sich  dann 
weiterhin  die  Neigung  zur  Unbotmäßigkeit ,  zu  Verhetzungen, 
feindseligen  Handlungen  gegen  bestimmte  Personen,  endlich  zum 
Querulieren,  Abfassen  von  Beschwerdeschriften  und  Anträgen  auf 
Wiederaufnahme  des  Strafverfahrens.  Wir  dürfen  somit  anneh- 
men, daß  die  besonderen  seelischen  Eindrücke  der  Gefangen- 
schaft den  sonst  bekannten  klinischen  Krankheitsbildern  eine  be- 
stimmte Färbung   zu   geben   imstande   sind.    Wilmanns  weist 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

darauf  hin,  wie  nahe  sich  die  mißtrauischen  Verfolgungsideen  an 
die  Vorstellungen  anlehnen,  die  auch  bei  den  gesunden,  freilich 
geistig  tiefstehenden  und  dauernd  von  dem  Drucke  der  strafenden 
Gerechtigkeit  gepeinigten  Verbrechern  verbreitet  sind.  Außerdem 
aber  ist  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß,  namentlich  bei  lange 
dauernden  Freiheitsstrafen,  noch  eigenartige,  paranoide  Krank- 
heitsbilder entstehen  können.  Zu  denken  gibt  in  dieser  Richtung 
der  Umstand,  daß  nicht  nur  manche  Verbrecher  ihre  klar  bewiesene 
Straftat  niemals  eingestehen,  sondern  daß  auch  alte  Zuchthaus- 
gefangene öfters  nach  langen  Jahren  ihr  früheres  Geständnis  wider- 
rufen und  eine  frei  erfundene  Darstellung  der  in  Betracht  kom- 
menden Ereignisse  geben,  an  der  sie  mit  der  größten  Hartnäckigkeit 
festhalten,  um  eine  neue  Verhandlung  zu  erzwingen.  Anscheinend 
handelt  es  sich  hier  um  eine  Verdrängung  unangenehmer  Erinnerungen 
mit  anschließenden  Erinnerungsfälschungen ;  Beeinträchtigungsideen 
pflegen  sich  hinzuzugesellen.  Auch  chronisch-halluzinatorische  Er- 
krankungen scheinen  vorzukommen,  die  vielleicht  Erzeugnisse  der 
Gefangenschaft  darstellen.  So  sah  ich  bei  einem  manisch-depressiven 
Zuchthausgefangenen,  der  viele  Jahre  hindurch  nur  ein  erhöhtes 
Selbstgefühl  und  gesteigerte  Reizbarkeit  dargeboten  hatte,  im  An- 
schlüsse an  zahllose  schwere  Disziplinarstrafen  mit  Dunkelarrest, 
Fesselung,  Entziehung  von  Kost  und  Lagerstatt  ziemlich  plötzlich  Ge- 
hörstäuschungen und  Verfolgungsideen  auftreten,  die  seit  mehreren 
Jahren  unverändert  fortbestehen.  In  anderen  Fällen  können  hallu- 
zinatorische Erregungszustände  mit  Beeinflussungsideen  nach  kurzer 
Zeit  wieder  verschwinden,  ohne  wahnhaft  weiter  verarbeitet,  aber 
auch  ohne  berichtigt  zu  werden.  Ich  habe  mich  davon  überzeugt, 
daß  dabei  weder  früher  noch  später  Zeichen  einer  Verblödung  auf- 
findbar sind.  Leichtere  derartige  Fälle  mögen  vielfach  in  den  Ge- 
fängnissen selbst  ablaufen.  Der  weiteren  Forschung  muß  die  Ent- 
scheidung darüber  überlassen  bleiben,  ob  wir  es  hier  mit  eigen- 
artigen Krankheitsbildern  psychischer  Entstehung  zu  tun  haben 
oder  nicht. 

Endlich  soll  noch  kurz  auf  die  allgemeine  seelische  Verän- 
derung hingewiesen  werden,  die  jeder  langjährige  Verlust  der 
Freiheit  erzeugt,  auch  wenn  es  nicht  zu  auffallenderen  Krank- 
heitserscheinungen kommt.  Der  Wegfall  der  Berührung  mit  dem 
Leben  erzeugt  eine  Verarmung  der  Interessen  und  eine  Einschrän- 


4 


Kriege  und  Katastrophen. 


kung  des  Gedankenkreises,  eine  Weltfremdheit,  die  auch  durch 
Unterricht  und  Lektüre  nicht  verhindert  werden  kann.   Vor  allem 
aber  bedingt  die  Erstickung   der  selbständigen  Willensregungen, 
die  Wehrlosigkeit  gegenüber  der  Staatsgewalt  eine  Abstumpfung 
der  gemütlichen  Regungen  und  den  langsamen,  aber  sicheren  Ver- 
lust der  Tatkraft.    Mag  auch  das  eigenartige  Wesen  der  alten 
Einwohner   unserer  Zuchthäuser   und  Arbeitshäuser  zum  guten 
Teile  auf  ihrer  minderwertigen  Veranlagung  beruhen,  so  scheint  mir 
doch  der  ungeheure  Druck  der  Freiheitsentziehung  ihnen  allen  mehr 
oder  weniger  stark  den  gemeinsamen  Zug  der  geistig  verarmten, 
abgestumpften  und  gebrochenen  Persönlichkeit  aufzuprägen,  ähn- 
lich wie  es  bei  den  Insassen  unserer  Irrenanstalten  der  Fall»  war, 
bevor  die  immer  reichlicher  gewährte  Freiheit  und  selbständige 
Tätigkeit  dieser  künstlichen  Verkümmerung  entgegenarbeitete.  / 
Kriege  und  Katastrophen.    Ganz  besonders  reich  an  psychischen 
Ursachen  des  Irreseins  ist  der  Kriegt).  Kriegsjahre  pflegen  darum 
regelmäßig  mit  einer  mächtigen  Steigerung  der  psychischen  Er- 
krankungen in  der  Armee  einherzugehen.    Der  Grund  dieser  Er- 
fahrung liegt  zum  Teil  in  der  größeren  Häufung  von  Gelegenheits- 
ursachen, insbesondere  von  Kopfverletzungen  und  akuten  Krank- 
heiten (Typhus!),  hauptsächlich  aber  in  der  dauernden  Schädigung 
durch  körperliche  Überanstrengungen,  Schlaflosigkeit,  tiefgreifende, 
anhaltende  gemütliche  Erregungen  und  vielfach  auch  Alkoholmiß- 
brauch. Auf  dem  Schlachtfelde  selbst  entstehen  hauptsächlich  hyste- 
rische Erregungszustände ;  ferner  haben  wir  schwere  neurasthenische 
Erkrankungen  und  Unfallspsychosen,  andererseits  Gehirnerschütte- 
rungspsychosen, alkoholische  und  infektiöse  Geistesstörungen,  Epi- 
lepsie und  ganz  besonders  Paralyse  zu  verzeichnen,  deren  Entstehung 
wir  auf  Rechnung  der  im  Feldzuge  so  vielfach  erworbenen  Syphilis 
zu  setzen  liaben.    Häufig  genug  entwickelt  sich  das  Irresein  in- 
folge der  genannten  Schädigungen  erst  nach  längerer  Zeit,  um 
dann  meist  einen  schleichenden  und  ungünstigen  Verlauf  zu  nehmen. 
Andererseits  treten  manche  schon  vorbereitete  Geistesstörungen  erst 
unter  den  erhöhten  Anforderungen  des  Krieges  deutlich  hervor,  so 
bei  den  Offizieren  Paralyse  und  Arteriosklerose,  deren  Ausbruch 
beschleunigt  werden  soll,  bei  den  Mannschaften  Dementia  praecox 

1)  Sanitätsbericht  über  die  deutschen  Heere  im  Kriege  gegen  Frankreich 
1870/71,  Bd.  VII;    Awtokratow,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXIV,  286. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

136 

und  Imbecillität.  Von  den  durch  die  gleichen  SchädUchkeiten  auch 
sonst  erzeugten  Formen  des  Irreseins  unterscheiden  sich  die  im 
Kriege  entstehenden  Geistesstörungen  nicht,  doch  Uefern  natürlich 
die  mächtigen  Eindrücke  des  Krieges  den  krankhaften  Vorstellungen 
und  Gemütsbewegungen  Inhalt  und  Färbung. 

Ähnliches  gilt  für  die  seelischen  Erkrankungen  bei  anderen 
großen,  Gemüt  und  Einbildungskraft  weiter  Kreise  lebhaft  er- 
greifenden Ereignissen.  Auch  hier  ist  es  erklärlich,  daß  die  krank- 
haft Veranlagten  und  Minderwertigen  dem  Einflüsse  der  Schädigungen 
am  raschesten  und  zahlreichsten  unterliegen.  Bei  politischen  Un- 
ruhen, Volksbewegungen,  Erdbeben,  Katastrophen  sehen  wir  da- 
her einmal  unter  dem  Einflüsse  plötzlicher  Gemütserschütterungen 
bei  leicht  erregbaren  Personen  hysterische  Störungen  oder  Angst- 
zustände auftreten,  ferner  Anfälle  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins, neurasthenische  Erkrankungen,  im  Anschlüsse  an  Verletzungen 
auch  Unfallspsychosen;  zugleich  aber  wird  sich  überall  in  den 
Krankheitsbildern  gern  dasjenige  Ereignis  widerspiegeln,  das  zur- 
zeit  gerade  die  Gedankenwelt  der  Massen  beherrschte. 

Psychische  Ansteckung.  Zum  Schlüsse  haben  wir  noch  des 
Vorganges  der  uneigentlich  sogenannten  ,, psychischen  Kontagion" 
zu  gedenken,  der  Ausbreitung  psychischer  Störungen  durch  „An- 
steckung". Daß  gewisse  einfache  unwillkürliche  Bewegungen, 
das  Gähnen,  Lachen,  Räuspern,  Husten,  Erbrechen,  durch  Nach- 
ahmung, d.  h.  durch  die  Erzeugung  der  Vorstellung  dieser  Be- 
wegungen, hervorgerufen  werden,  ja  daß  sogar  Ohnmächten 
(Soldaten  beim  Impfen),  Zittern  und  Krämpfe  (Mädchenschulen) 
auf  gleiche  Weise  ausgelöst  werden  können,  ist  eine  sehr  bekannte 
Tatsache.  Das  Bindeglied  bildet  überall  die  gemütliche  Erregung 
und  der  durch  sie  geweckte  Nachahmungstrieb.  Ereignisse  und 
Einwirkungen,  die  das  Denken  und  Fühlen  in  lebhaften  Aufruhr 
bringen,  drängen  bei  willensschwachen  Menschen  auch  zum  Han- 
deln; so  ist  es  bekannt,  daß  nicht  nur  der  Tollkühne,  sondern 
auch  der  Selbstmörder,  namentlich  bei  der  Wahl  sehr  auffallender 
Mittel,  bald  Nachahmer  zu  finden  pflegt.  Auf  religiösem  und 
politischem  Gebiete  mit  ihren  stark  gefühlsbetonten  Vorstellungen 
vermag  das  von  Begeisterung  getragene  Schlagwort  Leidenschaften 
von  außerordentlicher  Tragkraft  zu  entfesseln.  Schließlich  ist  ja 
die  gegenseitige  Beeinflussung  durch  Gefühlserregungen  die  Grund- 


Psychische  Ansteckung. 


läge  aller  Erziehung  und  Gesittung.  Mode  und  Sitte  verdanken 
der  ausgleichenden  Wirkung  des  Nachahmungstriebes  ihre  Gewalt 
über  die  Menschen;  auch  an  der  ungeheuren  Verbreitung  der 
Genußgifte,  des  Alkohols,  des  Opiums  und  Morphiums,  hat  die 
psychische  Ansteckung  hervorragenden  Anteil. 

Den  erregenden  Einfluß  des  Beispiels  zeigen  in  sehr  schlagender 
Weise  die  Erfahrungen  über  das  Verhalten  großer  Volksmassen,  die 
durch  aufreizende  Reden  und  Taten  zu  Handlungen  getrieben  werden 
können,  welche  jeder  einzelne  für  sich  niemals  begehen  würde. 
Von  der  unwiderstehlichen  Flut  der  allgemeinen  Aufregung  wird 
das  Verantwortlichkeitsgefühl,  das  den  einzelnen  zurückhalten 
würde,  rücksichtslos  fortgeschwemmt.  Endlich  berichtet  uns  die 
Geschichte  der  Medizin  von  großen  geistigen  Epidemien^),  vorzugs- 
weise religiösen  Gepräges,  die  weite  Kreise  ergriffen  und  zu  wider- 
sinnigem Denken  und  Treiben  geführt  haben.  Ganz  ähnliche 
Vorgänge  werden  unter  verschiedenen  Bezeichnungen  noch  heute 
bei  gewissen  leicht  erregbaren  Völkerstämmen  und  religiösen 
Sekten  beobachtet.  Die  letzten  derartigen  Epidemien  in  der  Ge- 
gend von  Kiew  hat  Sikorski^)  eingehend  beschrieben.  In  einem 
Falle  handelte  es  sich  um  einen  Mann  mit  religiösem  Größen- 
wahn, dem  sich  zunächst  einige  unzweifelhaft  kranke  Personen, 
weiter  aber  eine  große  Schar  einfach  unwissender  und  leichtgläu- 
biger Bauern  hinzugesellten.  Sie  alle  glaubten  an  die  göttliche 
Sendung  des  Sektenstifters,  an  die  von  ihm  getanen  Wunder,  den 
von  ihm  ausgehenden  himmlischen  Geruch.  In  einer  zweiten  Epi- 
demie, bei  der  eine  Bäuerin  die  Hauptrolle  spielte,  kam  es  da- 
zu, daß  sich  in  vier  Gruppen  25  Personen  lebendig  begraben 
ließen,  weil  sie  den  Weltuntergang  für  bevorstehend  hielten.  Auch 
der  abenteuerliche  Zug  der  Duchoborzen  in  Kanada^)  gehört 
zu  diesen  Erscheinungen.  Bei  den  großen  geistigen  Volksseuchen 
handelt  es  sich  natürlich  nur  in  beschränktem  Umfange  um  wirk- 
liches Irresein;  die  Mehrzahl  der  Teilnehmer  befindet  sich  in  Zu- 
ständen stärkster  gemütlicher  Erregung,  von  denen  wir  wissen, 

^)  Hecker.  Die  großen  Volkskrankheiten  des  Mittelalters  herausgegeben 
von  Hirsch.  1865;  Sergi,  psicosi  epidemica.  1898;  Weygandt,  Beitrag  zur 
Lehre  von  den  psychischen  Epidemien.  1905;  Vigouroux  et  Jaquelier,  la  con- 
tagion  mentale.  1905. 

2)  Sikorski,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  L,  778;    ebenda  LV.  326. 

3)  Spitzka,  Arch.  f.  Kriminalanthropol.  u.  Kriminalistik,  XIV,  i. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

daß  sie  die  Besonnenheit  trüben  und  die  Selbstbeherrschung  auf- 
heben. 

Es  gibt  aber  andererseits  auch  gar  nicht  selten  Fälle,  in  denen 
mehrere  miteinander  in  Berührung  lebende  Personen  gleichzeitig 
oder  kurz  nacheinander  unter  ihrem  gegenseitigen  Einflüsse  psy- 
chisch erkranken  [induziertes  Irresein^),  folie  ä  deux] ;  so  hatte  ich 
Gelegenheit,  im  Zeitraum  von  acht  Tagen  drei  mit  religiöser  Auf- 
regung und  Sinnestäuschungen  erkrankte  Geschwister  in  die  Anstalt 
aufzunehmen.  Die  Geistesstörung  kann  dabei  entweder  einfach 
durch  die  gemütliche  Erregung,  die  sie  bei  der  Umgebung  er- 
zeugt, als  Gelegenheitsursache  krankmachend  wirken;  es  handelt 
sich  dann  meist  um  Anfälle  des  hysterischen  oder  manisch-depres- 
siven Irreseins.  Die  klinischen  Erscheinungen  können  hier  einander 
gleichen  oder  nicht.  Weiterhin  aber  können  einzelne  Störungen, 
unter  Umständen  auch  ganze  Krankheitsbilder,  durch  eine  Art  von 
Suggestion  dauernd  oder  vorübergehend  von  einer  Person  auf  die 
andere  übertragen  werden  (,, folie  imposee").  Nur  in  diesem  letzteren 
Falle  hat  man  das  Recht,  von  einer  psychischen  Ansteckung  zu 
reden.  In  erster  Linie  kommt  dabei  die  Übertragung  hysterischer 
Störungen  in  Betracht.  Sodann  aber  macht  man,  namentlich  bei 
religiös  Verrückten  und  bei  Querulanten,  aber  auch  bei  anderen 
paranoiden  Kranken,  ferner  bei  konstitutionell  Erregten  und  patho- 
logischen Schwindlern,  nicht  selten  die  Beobachtung,  daß  sie  die  eine 
oder  andere  Person  ihrer  nächsten  Umgebung  gänzlich  in  ihre  Wahn- 
ideen hineinziehen  und  von  der  Berechtigung  ihrer  Ansprüche  und 
ihres  Auftretens  vollständig  überzeugen.  Offenbar  haben  wir  es 
hier  nicht  eigentlich  mit  einer  geistigen  Erkrankung  zu  tun,  die 
derjenigen  des  Ersterkrankten  an  die  Seite  zu  setzen  wäre;  dem 
entspricht  die  Erfahrung,  daß  meist  auch  keine  selbständige  weitere 
Verarbeitung  der  Wahnideen  stattzufinden  pflegt.  Die  Beeinflußten 
sind  vielmehr  regelmäßig  krankhaft  veranlagte,  beschränkte  Per- 
sonen mit  sehr  geringer  psychischer  Widerstandsfähigkeit,  vor- 
zugsweise Frauen.  Sie  nehmen  einfach  urteilslos  auf,  was  eine 
stärkere  Persönlichkeit  ihnen  aufdrängt,  und  sie  kommen  wieder 

1)  Lehmann,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XIV,  i;  Jakowenko,  Wjestnik  Psy- 
chiatrii.  1887;  Werner,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIV,  399;  Ast, 
ebenda  LXIII,  41 ;  Wollenberg,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XX,  i;  Schönfeldt,  ebenda 
XXVI,  202. 


Psychische  Ansteckung. 


139 


in  ihr  altes  Geleise,  sobald  sie  deren  übermächtigem  Einflüsse 
entzogen  werden.  Es  kommt  auf  diese  Weise  noch  heute  nicht 
selten  zur  Bildung  kleiner  Sekten  und  Gemeinden,  die  an  die  höhere 
Sendung  eines  von  Wahnvorstellungen  erfüllten  Oberhauptes  glau- 
ben und  für  ihn  Opfer  bringen.  Grohmann  hat  eine  solche  Ge- 
meinde beschrieben,  und  ich  selbst  hatte  Gelegenheit,  einen  Schuh- 
macher zu  sehen,  der  sich  für  den  ,, himmlischen  Hochzeitsmahl- 
geber" aus  dem  biblischen  Gleichnisse  hielt,  durch  Sendboten 
zweimal  seine  Einladungen  in  einer  Anzahl  von  bayrischen  Städten 
ergehen  ließ  und  eine  Reihe  von  Anhängern  besaß.  Einer  der- 
selben, ein  noch  heute  im  Dienste  stehender  Briefträger,  versicherte 
mir,  daß  der  in  der  Tat  sehr  schreib-  und  redegewandte  Kranke 
viel  gescheiter  sei,  als  alle  Theologen;  ihm  war  für  das  künftige 
Leben  der  Adelsstand  des  Reiches  Gottes  nebst  Standarte  und 
Petschaft,  der  Ritterschlag  mit  dem  Schwerte  des  Lichtes,  der 
Orden  beider  himmlischen  Bräute,  ein  Ordensgehalt  von  43000 
Gulden  Reichsgotteswährung,  ein  Fideikommiß  und  der  Name 
Anakletus,  Ritter  zur  Burg  Morgenthau,  versprochen  worden.  Auch 
in  der  Irrenanstalt  werden  oft  genug  unselbständigere  Kranke 
durch  die  Äußerungen  ihrer  Genossen  beeinflußt. 

Ganz  selten  endlich  sieht  man  wohl  einmal  eine  wahre  Geistes- 
störung mit  den  gleichen,,  von  außen  aufgenommenen  Wahn- 
bildungen, aber  in  durchaus  selbständiger  Entwicklung  zustande 
kommen  (folie  communiquee).  Diese  Fälle  sind  es,  wie  Schön - 
fei  dt  zutreffend  ausgeführt  hat,  welche  im  engsten  Sinne  als  Irre- 
sein durch  psychische  Ansteckung  zu  bezeichnen  wären.  Allerdings 
wird  man,  wo  es  sich  um  Blutsverwandte  handelt,  immer  mit  der 
Möglichkeit  einer  gleichartigen  Erkrankung  aus  inneren  Gründen 
zu  rechnen  haben.  Der  Ausbruch  manisch  -  depressiver ,  hebe- 
phrenischer,  katatonischer  oder  paranoider  Störungen  bei  mehreren 
Mitgliedern  einer  Familie,  auch  ohne  persönliche  Berührung,  ist 
so  häufig,  daß  wir  aus  der  Gleichzeitigkeit  noch  nicht  berechtigt 
sind,  auf  ursächliche  Beziehungen  zu  schließen.  Wenn  wir  auf 
der  einen  Seite  auch  die  erschütternde  Wirkung  nicht  verkennen 
wollen,  die  das  Auftreten  einer  geistigen  Störung  auf  das  gemüt- 
liche Gleichgewicht  der  nächsten  Umgebung  ausübt,  so  werden 
wir  doch  annehmen  dürfen,  daß  nur  solche  Personen  selbständig 
erkranken,  die  den  Keim  des  Leidens  schon  in  sich  trugen. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

140 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  Vorgange  der  psychi- 
schen Ansteckung  zeigen  die  in  der  neueren  Zeit  mehr  beachteten 
Erfahrungen  von  geistigen  Störungen  im  Anschlüsse  an  hypno- 
tische und  spiritistische^)  Sitzungen.  Die  Aufregungen,  die 
damit  verbunden  sind,  die  abergläubischen  Deutungen,  die  sich 
an  die  geheimnisvollen  Vorgänge  knüpfen,  bilden  für  empfäng- 
liche und  haltlose  Naturen  eine  entschiedene  Gefahr.  Natürlich 
ist  von  ursächlichen  Beziehungen  nicht  die  Rede  in  den  zahlreichen 
Fällen,  in  denen  bei  Geisteskranken  einfach  die  Wahnvorstellung 
hypnotischer  oder  spiritistischer  Beeinflussung  auftaucht;  der  In- 
halt des  Wahnes  spiegelt  hier  nur  die  landläufigen  Erklärungs- 
versuche von  Fernwirkungen  wider.  Dagegen  kann  namentlich  die 
Entwicklung  von  autohypnotischen  Zuständen  sehr  ernste  Folgen 
nach  sich  ziehen,  wie  ich  in  einem  zum  Selbstmorde  führenden 
Falle  erlebt  habe.  Im  allgemeinen  handelt  es  sich  um  hysterische 
Aufregungs-  und  Dämmerzustände,  um  das  Ausspinnen  abergläubi- 
scher Vorstellungskreise,  weiterhin  aber  auch  um  die  Züchtung 
gemütlicher  Erregbarkeit  und  willenloser  Abhängigkeit  vom  Hyp- 
notiseur oder  Medium.  Ohne  Zweifel  spielt  auch  hier  die  Veran- 
lagung eine  wesentliche  Rolle,  zumal  von  vornherein  nur  solche 
Menschen  sich  mit  großem  Eifer  spiritistischen  oder  hypnotischen 
Sitzungen  hinzugeben  pflegen,  die  dafür  besonders  empfänglich 
sind.  Bei  wirklich  sachverständiger  Handhabung  der  Hypnose  durch 
den  Arzt  läßt  sich  übrigens  nach  meiner  Erfahrung  jede  Gefahr 
mit  vollster  Sicherheit  ausschließen. 


B.  Innere  Ursachen  (Prädisposition). 

Mit  der  Betrachtung  der  krankhaften  Veranlagung  betreten  wir 
jenes  zweite  große  Gebiet  der  ätiologischen  Forschung,  welches 
sich  mit  den  in  der  Persönlichkeit  des  Erkrankten  selbst 
gelegenen  Ursachen  beschäftigt.  Die  Forderung,  ein  vollständiges 
Verständnis  für  die  Entstehung  der  Erkrankung  zu  gewinnen,  weist 
uns  zurück  auf  die  gesamte  Entwicklungsgeschichte  der  gegebenen 
psychischen  Persönlichkeit  und  führt  uns  zur  Untersuchung  aller 


1)  Henneberg,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXIV,  3;  XXXVII,  673. 


Lebensalter. 


141 


jener  inneren  und  äußeren  Einwirkungen,  die  an  ihrer  eigenartigen 
Ausprägung  mitgearbeitet  haben.  Der  Übersichtlichkeit  wegen  pflegt 
man  diese  Einflüsse  in  zwei  Hauptklassen  abzutrennen,  in  all- 
gemeine und  persönliche,  je  nachdem  sie  sich  auf  größere 
Gruppen  von  Menschen  insgesamt  erstrecken  oder  nur  einzelne  Mit- 
glieder derselben  betreffen  und  somit  diesen  letzteren  eine  Sonder- 
stellung gegenüber  ihrer  Umgebung  verleihen. 


I.  Allgemeine  Prädisposition. 

Zwei  verschiedenartige  Bedingungen  sind  es,  die  man  zumeist 
unter  der  Bezeichnung  der  allgemein  prädisponierenden  Ursachen 
zusammenfaßt,  nämlich  einmal  die  Herabsetzung  der  psy- 
chischen und  körperlichen  Widerstandsfähigkeit,  wie  sie 
durch  die  besondere  Veranlagung  oder  die  besonderen  Lebens- 
verhältnisse einer  Gruppe  von  Personen  begründet  wird,  dann  aber 
auch  die  von  den  gleichen  Umständen  abhängige  größere  oder 
geringere  Häufigkeit  der  äußeren  Ursachen  psychischer 
Erkrankung.  Streng  genommen  kann  natürlich  nur  im  ersteren 
Falle  von  einer  wirklichen  Prädisposition  die  Rede  sein,  doch 
empfiehlt  es  sich  aus  praktischen  Gründen,  auch  die  Betrachtung 
der  letztgenannten  Verhältnisse  hier  anzuschließen. 

Lebensalter^).  Von  den  anthropologischen  Eigenschaften,  welche 
die  Ausbildung  der  psychischen  Persönlichkeit  entscheidend  beein- 
flussen, sind  die  wichtigsten  das  Lebensalter  und  das  Geschlecht. 
Das  Gehirn  des  Neugeborenen  ist  in  gewisser  Beziehung  ein 
unbeschriebenes  Blatt.  Wohl  ist  die  allgemeine  Anlage  vorhanden, 
die  es  zu  seinen  späteren  hohen  Leistungen  befähigt,  und  es  be- 
stehen gewiß  auch  schon  persönliche  Eigentümlichkeiten,  welche 
die  weitere  Entwicklung  in  eine  bestimmte  Bahn  zwingen,  aber  der 
Inhalt  des  Bewußtseins  ist  noch  äußerst  dürftig,  die  Verknüpfung 
der  einzelnen  psychischen  Vorgänge  unvollkommen  und  die  Er- 
innerungsfähigkeit infolgedessen  überaus  beschränkt;  es  ist  noch 
keine  feststehende,  den  Bewußtseinsinhalt  und  die  Triebbewegungen 


^)  Angiolella-Obici,  XII.  congresso  della  societä  freniatrica  italiana,  Ri- 
vista  di  freniatria  sperimentale,  XXXI,  105. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

142 

"beherrschende,  von  der  Außenwelt  abgegrenzte  psychische  Per- 
sönlichkeit vorhanden. 

Allerdings  wird  dieser  Mangel  sehr  rasch  ausgeglichen  durch 
die  große  Leichtigkeit  und  Schnelligkeit,  mit  der  das  kindliche 
Gehirn  die  ungeheure  Aufgabe  löst,  die  Eindrücke  der  Außenwelt 
zu  einem  festen  Kern  von  Lebenserfahrungen  zu  verarbeiten.  Diese 
erstaunliche   Entwicklung   vom   Triebwesen   zur  selbstbewußten 
Persönlichkeit  ist  nur  möglich  dank  der  außerordentlichen  Emp- 
fänglichkeit   und    Bildungsfähigkeit    des    jugendlichen  Nerven- 
gewebes.  Damit  stehen  wieder  die  allgemeinen  Eigenschaften  der.J 
Kindesseele  in  engstem  Zusammenhange.    Wir  finden  hier  eine  | 
größere  Erregbarkeit  der  Aufmerksamkeit,  die  naturgemäß  mit 
leichterer  Ablenkbarkeit  einhergeht,  starke  Übungsfähigkeit  neben 
großer  Ermüdbarkeit,  sehr  leistungsfähiges,  aber  unzuverlässiges 
Gedächtnis,  lebhafte  Einbildungskraft,  die  den  Hang  zu  spiele- 
rischem Dahinträumen  und  „märchenhafter  Belebung"  der  Außen- 
welt in  sich  schließt.   Dazu  gesellt  sich  Heftigkeit  und  Unbestän- 
digkeit der  Gemütsbewegungen  sowie  Bestimmbarkeit  und  Trieb- 
artigkeit des  Handelns.   Physiologisch  drücken  sich  diese  Eigen- 
tümlichkeiten des  Kindesalters,  wie  wir  durch  Soltmanns  Unter- 
suchungen wissen,  in  der  geringeren  Ausbildung  der  hemmenden 
Einflüsse  im  Nervensystem  aus. 

Man  sollte  erwarten,  daß  die  geringere  Widerstandsfähigkeit 
des  jugendlichen  Gehirns,  wie  sie  auch  im  Seelenleben  des  Kindes 
hervortritt,  eine  entschiedene  Neigung  zu  geistiger  Erkrankung 
mit  sich  bringe.   Für  diese  Ansicht  würde  die  tägliche  Beobach- 
tung sprechen,  indem  sie  uns  zeigt,  daß  gewisse  Schädlichkeiten, 
die  den  Erwachsenen  nicht  tiefer  berühren,  namentlich  leichte 
fieberhafte  Erkrankungen,  im  Kindesalter  ausgeprägte  psychische 
Veränderungen  herbeizuführen  vermögen.    Allein  die  unerschöpf- 
liche Spannkraft  der  kindlichen  Gewebe  ermöglicht  auch  wieder 
einen  raschen  und  vollständigen  Ausgleich  der  Störungen.  Dazu 
kommt,  daß  eine  ganze  Reihe  jener  Schädigungen,  die  im  Laufe 
des  späteren  Lebens  die  wichtigsten  Ursachen  des  Irreseins  bil- 
den (Alkohol,  Geschlechtsvorgänge,   dauernde  Gemütsspannung), 
im    Kindesalter    so    gut    wie   ausgeschlossen    sind.     Trotz  der 
an  sich  geringeren  Widerstandsfähigkeit  sind  daher  psychische 
Störungen  nach  der  Angabe  aller  Beobachter  in  den  ersten  Lebens- 


Lebensalter. 


jähren  verhältnismäßig  selten i);  alle  genauen  Zahlenangaben  ver- 
bieten sich  wegen  der  unsicheren  statistischen  Grundlagen  von 
selbst. 

Für  die  richtige  Würdigung  dieser  Verhältnisse  ist  indessen 
der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  schon  vor  der  Geburt 
und  in  den  ersten  Lebensjahren  eine  ganze  Reihe  von  Krankheits- 
vorgängen einsetzen,  die  zwar  nicht  klinisch  reicher  entwickelte* 
Geistesstörungen,  wohl  aber  psychische  Schwächezustände  von 
den  leichtesten  bis  zu  den  schwersten  Formen  in  ungemein  großer 
Zahl  erzeugen.  Nur  in  einem  Bruchteil  der  Fälle  handelt  es  sich 
dabei  um  Entwicklungsstörungen ;  zumeist  haben  wir  es  mit  Rinden- 
erkrankungen sehr  verschiedener  Art  zu  tun,  die  unter  mehr  oder 
weniger  ausgedehnten  Zerstörungen  heilen,  aber  natürlich  die  weitere 
psychische  Ausbildung  hindern.  Außer  den  gröberen  encephalitischen, 
porencephalischen,  hydrocephalischen,  syphilitischen  und  tuber- 
kulösen Veränderungen  finden  sich  mannigfache  feinere  Zer- 
störungsvorgänge in  der  Hirnrinde,  deren  Ursachen  zumeist  noch 
ganz  unklar  sind.  Vielleicht  dürfen  wir  vermuten,  daß  öfters 
Infektionen  oder  Selbstvergiftungen  eine  Rolle  spielen.  Hierher 
würde  namentlich  der  Kretinismus  gehören,  die  Entwicklungsstörung 
durch  Ausfall  der  Schilddrüsentätigkeit.  Man  hat  ferner  an  Gift- 
wirkungen vom  Darm  her  gedacht,  da  Verdauungsstörungen  bei 
kleinen  Kindern  so  leicht  Hirnreizerscheinungen  auslösen.  Ein 
Teil  der  in  der  Jugend  zur  Verblödung  führenden  Erkrankungen 
dürfte  mit  der  Hebephrenie  wesensgleich  sein,  da  gewisse  klinische 
Bilder  der  kindlichen  Schwächezustände  eine  weitgehende  Über- 
einstimmung mit  denen  der  Entwicklungsjahre  aufweisen  und  über- 
dies diese  letzteren  oft  genug  nur  die  Fortbildung  von  Krankheits- 
zuständen  darstellen,  die  in  früher  Jugend  eingesetzt  haben. 

Außer  der  Idiotie  und  ImbeciUität  beobachten  wir  im  Kindes- 
alter vornehmlich  Delirien  bei  fieberhaften  Krankheiten,  chorea- 
tische,  epileptische  und  hysterische  Störungen.  Hier  und  da  be- 
gegnen wir  ferner  in  Form  von  leichten,  dauernden  oder  wechseln- 


^)  Emminghaus,  Die  psychischen  Störungen  des  Kindesalters.  1887;  Mo- 
reau,  La  folie  chez  les  enfants,  deutsch  von  Galatti.  1889;  Ireland,  The  mental 
affections  of  children,  idiocy,  imbecillity  and  insanity.  2.  Aufl.  1900;  Manheimer, 
Les  troubles  mentaux  de  l'enfance.  1899;  Infeld,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXII, 
326;  Ziehen,  Die  Geisteskrankheiten  des  Kindesalters.    1902 — 1904. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

144 

den  Verstimmungen  und  Erregungen  den  ersten  Vorläufern  des 
manisch-depressiven  Irreseins.  Außerdem  zeigen  sich  allmählich 
die  mannigfachen  Formen  krankhafter  Veranlagung,  die  zur  Aus- 
bildung psychopathischer  Persönlichkeiten  führen,  namentlich  er- 
höhte Erregbarkeit  oder  Ängstlichkeit,  Haltlosigkeit  und  Un- 
stetigkeit  des  Willens,  krankhafte  Gemütlosigkeit,  Neigung  zum 
tügen  und  Schwindeln;  auch  Zwangsvorstellungen  und  Zwangs- 
befürchtungen begegnen  uns  nicht  selten.  Bisweilen  gleichen  sich 
diese  Störungen  mit  dem  Fortschreiten  der  Entwicklung  zum  Teil 
oder  völlig  wieder  aus;  wir  haben  dann  wohl  anzunehmen,  daß  es 
sich  um  eine  Ungleichmäßigkeit  in  der  Reifung  des  Seelenlebens 
handelt,  durch  die  vorübergehend  das  innere  Gleichgewicht  beein- 
trächtigt wird.  Endlich  beginnen  schon  jetzt  gewisse  familiäre 
Erkrankungen  des  Nervensystems  und  die  vereinzelten  Fälle  von 
jugendlicher  Paralyse. 

Mit  der  fortschreitenden  Ausbildung  der  psychischen  Persön- 
lichkeit und  mit  dem  gleichzeitigen  Hervortreten  mannigfacher 
neuer  Krankheitsursachen  nimmt  die  Reichhaltigkeit  der  Geistes- 
störungen allmählich  zu.  Die  Entstehung  des  Irreseins  aus  äußeren 
Ursachen  wird  dabei  wesentlich  durch  deren  Häufigkeit  'in  den 
einzelnen  Lebensabschnitten  bestimmt,  während  der  Ausbruch  endo- 
gener Geistesstörungen  sich  ganz  vorwiegend  an  gewisse  Alters- 
stufen knüpft.  Zunächst  kommen  hier  die  mächtigen  körperlichen 
und  seelischen  Umwälzungen  während  der  Entwicklungszeit in 
Betracht. 

Die  eigentlich  kennzeichnende  Geisteskrankheit  dieses  Alters 
scheinen  gewisse  Formen  der  Dementia  praecox  zu  sein,  nament- 
lich diejenigen,  denen  von  Hecker  geradezu  die  Bezeichnung  des 
„Jugendirreseins",  der  Hebephrenie,  beigelegt  wurde.  Gewisse  Züge 
in  diesen  Krankheitsbildern,  das  läppische,  sprunghafte,  unaus- 
geglichene Wesen,  der  unvermittelte  Wechsel  der  Stimmungen, 
das  Auftauchen  von  allerlei  Plänen  und  Einbildungen,  die  ge- 
schlechtlichen Erregungen,  die  gesteigerte  Reizbarkeit  können  wie 
krankhafte  Verzerrungen  mancher  Veränderungen  erscheinen,  wie 
sie  die  ,, Flegeljahre"  des  Gesunden  begleiten.  Indessen  diesen  Ähn- 
lichkeiten stehen  doch  auch  sehr  tiefgreifende  Verschiedenheiten 


1)  W.  Wille,  Die  Psychosen  des  Pubertätsalters.  1898. 


Lebensalter. 


und  vor  allem  der  Umstand  gegenüber,  daß  dem  „Jugendirresein" 
schwere  Zerstörungen  in  der  Hirnrinde  zugrunde  liegen,  die  sehr 
häufig  zu  tiefer  Verblödung  führen.  Dazu  kommt,  daß  die  ur- 
sächlichen Beziehungen  der  Dementia  praecox  zu  den  Entwick- 
lungsjahren, auch  wenn  man  mit  einer  späteren  Ausscheidung 
einzelner  Krankheitsgruppen  aus  diesem  Sammelbegriffe  rechnet, 
doch  keine  unverbrüchlichen  sein  dürften.  Immerhin  aber  läßt 
sich  bei  der  großen  Häufung  solcher  Erkrankungen  in  der  Zeit 
zwischen  dem  18.  und  25.  Jahre  der  Gedanke  nicht  von  der  Hand 
weisen,  daß  dieses  Alter  aus  irgendeinem  Grunde  ganz  besonders 
günstige  Entstehungsbedingungen  für  sie  bieten  muß. 

Außer  der  Dementia  praecox  treffen  wir  in  den  Entwicklungs- 
jahren häufig  die  ersten  Anfänge  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins in  Form  von  leichteren  oder  schwereren  Aufregungs-  und 
Depressionszuständen.  Ihre  Entstehung  ist  vielleicht  in  Verbin- 
dung zu  bringen  mit  der  bekannten  größeren  gemütlichen  Erreg- 
barkeit dieses  Lebensalters,  wie  sie  sich  auch  in  der  Häufigkeit 
von  Leidenschaftsverbrechen,  von  Körperverletzungen  und  Wider- 
stand kundgibt.  Ferner  treten  jetzt  epileptische  und  hysterische 
Krankheitserscheinungen  deutlicher  hervor,  ebenso  die  vielgestaltigen 
Formen  des  Entartungsirreseins,  namentlich  die  krankhaften  Angst- 
zustände. 

Endlich  aber  beginnen  nunmehr  auch  eine  Anzahl  von  äußeren 
Schädlichkeiten  ihren  Einfluß  zu  entfalten,  da  allmählich  der 
Schutz  des  elterlichen  Hauses  mit  einer  größeren  Selbständigkeit 
der  Lebensführung  vertauscht  wird.  Allerlei  Verführungen  und 
Kämpfe  treten  an  die  noch  unfertige  Persönlichkeit  heran;  die 
Schädigungen,  die  der  Kampf  ums  Dasein  mit  sich  bringt,  äußern 
ihre  ersten  Wirkungen.  Dabei  macht  sich  die  Unzulänglichkeit 
der  persönlichen  Anlage  allmählich  stärker  geltend.  Jene  psy- 
chischen Krüppel,  die  dem  Kampfe  ums  Dasein  nicht  gewachsen 
sind ,  beginnen  durch  ihre  eigentümliche  Entwicklungsrichtung, 
durch  unzweckmäßige  Verarbeitung  der  Lebensreize  und  geringere 
Widerstandsfähigkeit  sich  mehr  und  mehr  auszusondern.  Für 
das  männliche  Geschlecht  wird  jetzt  ganz  besonders  der  Alkohol 
gefährlich,  für  das  weibliche  das  Fortpflanzungsgeschäft.  Auch 
akute  Krankheiten,  heftige  Gemütserschütterungen,  gelegentlich  ein- 
mal Kopfverletzungen  oder  Überanstrengung  können  zu  Störungen 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^° 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

führen.  Gleichwohl  ist  die  Häufigkeit  geistiger  Erkrankungen  hier 
noch  keine  allzu  große. 

Die  größte  statistische  Häufigkeit  der  Geistesstörungen  fällt  in 
die  Zeit  der  vollen  Kraftentfaltung  vom  20.  bis  zum  40.  Lebens- 
jahre. Sicherlich  ist  der  Grund  nicht  die  besondere  Verletzlichkeit 
der  entwickelten  körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit,  sondern 
lediglich  die  Zahl  der  von  außen  auf  sie  einstürmenden  Krankheits- 
ursachen. Die  Widerstandsfähigkeit  ist  in  diesem  Alter  zweifellos 
am  größten,  aber  die  Schädlichkeiten  sind  in  rascherem  Fortschritte 
angewachsen  als  jene.  Die  Schwierigkeiten  der  Lebensführung  ver- 
größern sich  mit  der  zunehmenden  Selbständigkeit  und  der  Sorge 
um  Weib  und  Kind;  aus  der  weiter  reichenden  Verantwortlichkeit 
entspringen  ernstere  Kämpfe  und  Sorgen;  die  höher  strebenden 
Hoffnungen  bringen  Enttäuschungen  mit  sich,  und  die  dauernde 
Anspannung  aller  körperlichen  und  geistigen  Kräfte  im  Daseins- 
kampfe geht  mit  der  Gefahr  der  Abnutzung  und  Abstumpfung  ein- 
her. Dazu  gesellen  sich  die  vielfachen  Erkrankungen,  denen  die 
rücksichtslose  Arbeit  den  Menschen  aussetzt,  die  verhängnisvollen 
Vorgänge  des  Geschlechtslebens  beim  Weibe,  ganz  besonders  auch 
die  verderbliche  Wirkung  der  Ausschweifungen  in  Trunk  und  Liebe 
nebst  deren  tückischer  Begleiterin,  der  Syphilis.  Eine  Reihe  ver- 
schiedenartiger Formen  des  Irreseins  gewinnen  daher  in  diesem  Alter 
ihre  weiteste  Verbreitung.  Entschieden  im  Vordergrunde  jedoch 
stehen  die  Paralyse  und  der  Alkoholismus,  namentlich  beim  männ- 
lichen Geschlechte;  bei  den  Frauen  treten  demgegenüber  die  ein- 
zelnen, nunmehr  sich  häufenden  Anfälle  des  manisch-depressiven 
Irreseins  stärker  hervor.  Seltener  sind  die  Verblödungsformen  ge- 
worden, doch  gehören  gerade  die  paranoiden  Erkrankungen  vielfach 
diesem  Alter  an;  auch  die  echte  Paranoia  pflegt  hier  zu  beginnen. 
Dagegen  treten  die  mit  leichterer  Beweglichkeit  des  Seelenlebens 
in  Zusammenhang  stehenden  hysterischen  Störungen  etwas  zurück ; 
auch  manche  Erscheinungsformen  des  Entartungsirreseins,  soweit 
sie  mit  erhöhter  Beeinflußbarkeit  des  Seelenlebens  einhergehen, 
erfahren  eine  gewisse  Abschwächung. 

In  welchem  Lebensalter  die  größte  Häufigkeit  des  Irreseins 
erreicht  wird,  hängt  für  jedes  Gebiet  wesentlich  von  dem  Vorkom- 
men des  manisch-depressiven  Irreseins  und  der  Dementia  praecox 
einerseits,   der  Paralyse  und   des  Alkoholismus  andererseits  ab. 


Lebensalter. 


Erstere  beide  Erkrankungen  beginnen  am  häufigsten  in  der  Zeit 
zwischen  dem  18.  und  25.  Jahre,  während  sich  der  Alkoholismus 
meist  zwischen  dem  25.  und  40.,  die  Paralyse  zwischen  dem  30. 
und  45.  Lebensjahre  zu  entwickeln  pflegt.  Die  Fig.  II,  die  einen 
Überblick  über  die  Verteilung  des  Irreseins  auf  die  einzelnen  Lebens- 
alter geben  mag,  stammt  aus  der  Heidelberger  Klinik,  in  der  jene 
früher  einsetzenden  Erkrankungen  verhältnismäßig  zahlreich  ver- 
treten waren.  Infolgedessen  finden  wir  hier  ein  rasches  Ansteigen 
der  Säulen  zwischen  dem  15.  und  25.  Jahre,  ein  Zeichen  für  den 
mächtigen  Einfluß,  welcher  der  Entwicklungszeit  für  den  Ausbruch 
des  Irreseins  zukommt. 


156     ]ß,e    lifi    aip  JO,T    9fl     7;t     S;i     2jB    1^    Xs     0,e  CH  OH 

»,l     tZ,5     M,S     8,a      7,3     S,S      e,6     6.0     *^     3.3  1,3      0,5  0,1 


Fig.  II.   Verteilung  der  Geisteskranken 
und  der  Gesamtbevölkerung  auf  die  einzelnen  Altersstufen. 

Jenseits  des  25.  und  noch  entschiedener  nach  dem  35.  Jahre 
nimmt  die  Häufigkeit  des  Irreseins  wieder  ab.  Im  allgemeinen  ist 
jetzt  das  Ziel  einer  gesicherten  Lebensstellung  erreicht  und  damit 
eine  Anzahl  von  Sorgen  und  Aufregungen  in  Wegfall  gekommen; 
sodann  ist  das  reifere  Alter  der  Verführung  zu  Ausschweifungen 
weniger  zugänglich,  und  beim  Weibe  treten  die  Gefahren  des  Fort- 
pflanzungsgeschäftes zurück.  Dazu  kommt  aber  vor  allem,  daß 
die  späteren  Lebensalter  gewissermaßen  bereits  ,, durchseucht" 
sind;  die  große  Mehrzahl  der  Gefährdeten  ist  schon  früher  aus- 
geschieden. Sehr  deutlich  zeigt  diese  Verhältnisse  die  Figur  II. 
Hier  wurde  die  Verteilung  der  Heidelberger  Geisteskranken  auf  die 
einzelnen  Lebensalter  bei  Beginn  ihres  Leidens  verglichen  mit  der 
Häufigkeit  der  entsprechenden  Altersklassen  in  der  gesamten  badi- 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

sehen  Bevölkerung.  Da  im  allgemeinen  nur  Erwachsene  in  die  Klinik 
kommen,  mußte  der  Vergleich  auf  die  Zeit  nach  dem  15.  Jahre 
beschränkt  bleiben.  Dabei  tritt  einerseits  die  starke  Gefährdung 
zwischen  dem  20,  und  25.  Lebensjahre,  andererseits  die  Abnahme 
der  erstmalig  Erkrankenden  nach  dem  50.  Jahre  hervor.  Bis  zum 
50.  Jahre  ist  die  Erkrankungshäufigkeit  größer,  nachher  geringer, 
als  dem  Bevölkerungsstande  entsprechen  würde. 

Allerdings  vermögen  die  Schädigungen  des  Lebens  gewisser- 
maßen eine  erworbene  Prädisposition  zu  schaffen,  indem  sie  die 
Widerstandsfähigkeit  des  verbrauchten  Gehirns  untergraben.  So 
haben  wir  in  dem  Überragen  der  Säulen  für  die  Kranken  zwischen 
dem  30.  bis  45.  oder  50.  Jahre  vorzugsweise  den  Ausdruck  der 
syphilitischen,  metasyphilitischen  und  alkoholischen  Erkrankungen 
zu  sehen.  Weiterhin  aber  wird  das  Alter  selbst  zur  Krankheit,  der 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  schließlich  ein  jeder  erliegen  muß^). 
Die  Aufnahmefähigkeit  des  Greises,  seine  geistige  Beweglichkeit 
nimmt  ab;  er  beginnt  allmählich,  fremd  in  seiner  Umgebung  und 
in  seiner  Zeit 'zu  werden.    Sein  Gedächtnis  wird  unzuverlässig, 
namentUch  für  die  jüngste  Vergangenheit;  der  Gesichtskreis  ver- 
engt sich  wegen  der  Unzugänglichkeit  für  neue  Anregungen;  der 
Vorstellungsschatz  verarmt,  da  der  fortschreitende  Verlust  an  Vor- 
stellungen nicht  mehr  durch  neuen  Erwerb  ausgeglichen  wird. 
Auch  auf  gemütlichem  Gebiete  kommt  es  zu  einer  gewissen  Ver- 
ödung, zu  einer  Einschränkung  der  Gefühlsregungen  auf  die  aller- 
nächsten und  unmittelbarsten   Interessen.    Ohne  Zweifel  liegen 
dieser  psychischen  Umwandlung  bestimmte  körperliche  Verände- 
rungen zugrunde.    Wir  erinnern  nur  an  das  Klimakterium  der 
Frauen  und  die  entsprechenden,  freilich  weit  weniger  einschnei- 
denden Vorgänge  beim  Manne,  ferner  an  die  augenfälligen  Rück- 
bildungen in  den  gesamten  Organen  des  alternden  Körpers.  Unter 
diesen  hat  man  den  Gefäßveränderungen,  der  Arteriosklerose,  eine 
besondere  Bedeutung  zugeschrieben;  sie  sind  nicht  nur  Begleit- 
erscheinungen des  eigentlichen  Greisenalters,  sondern  sie  können 
auch  schon  früher  sehr  hohe  Grade  erreichen,  namentlich  unter 
dem  Einflüsse  des  Alkoholmißbrauches  und  der  Syphilis.  Anderer- 
seits beobachten  wir  zu  dieser  Zeit  im  Rindengewebe  selbst  eine 


1)  Friedmann,  Die  Altersveränderungen  und  ihre  Behandlung.  1902. 


Lebensalter. 


149 


Reihe  verschiedener  Krankheitsvorgänge,  die  nicht  als  einfache 
Folgen  der  Gefäßveränderungen  aufgefaßt  werden  können.  Die 
Höhe  der  Säulen  auf  unserem  Diagramm  nimmt  zwischen  dem 
40.  und  55.  Jahre  langsam,  dann  ziemlich  plötzlich  ab,  ein  Aus- 
druck für  die  stärkere  Gefährdung  der  Rückbildungsjahre.  Die 
höheren  Altersklassen  sind  nur  noch  vereinzelt  vertreten.  Vom 
50.  und  namentlich  vom  55.  Jahre  ab  bleibt  ihre  Zahl  weit  hinter 
den  entsprechenden  Altersklassen  der  gesunden  Bevölkerung  zurück. 
Wer  bis  dahin  gesund  geblieben  ist,  hat  große  Aussicht,  auch  ferner- 
hin gesund  zu  bleiben,  ein  Hinweis  darauf,  daß  der  Einfluß,  den 
die  Schädigungen  des  Lebens  auf  die  geistige  Gesundheit  der  höheren 
Altersstufen  ausüben,  von  Alkohol  und  Syphilis  abgesehen,  jeden- 
falls ein  recht  geringer  ist. 

Als  klinischen  Ausdruck  des  Rückbildungsalters  dürfen  wir 
zunächst  den  Umstand  betrachten,  daß  jetzt  wieder  mit  Vorliebe 
gewisse  Geistesstörungen  beginnen,  die  wir  auf  eine  ursprüngliche 
krankhafte  Veranlagung  zurückzuführen  pflegen.  Dahin  gehört 
namentlich  das  manisch-depressive  Irresein;  bisweilen  ist  schon 
ein  vereinzelter  erster  Anfall  im  Entwicklungsalter  vorhergegangen. 
Vielleicht  verrät  sich  in  der  besonderen  Häufigkeit  schleppend  ver- 
laufender Depressionszustände  noch  eine  nähere  Beziehung  zu  dem 
Sinken  der  Spannkraft  und  Lebensfreudigkeit  in  diesen  Jahren. 
Sodann  beginnen  in  diesem  Lebensalter  eine  Reihe  eigenartiger,  zur 
Verblödung  führender  Irreseinsformen,  die  wir  allerdings  jetzt  noch 
mit  unter  dem  Begriffe  der  Dementia  praecox  zusamenfassen. 
Einerseits  sind  es  paranoide  Bilder  mit  abenteuerlichen  Wahn- 
bildungen und  Sinnestäuschungen,  andererseits  die  noch  wenig  be- 
kannten „Spätkatatonien".  Endlich  haben  wir  des  senilen  und 
präsenilen  Beeinträchtigungswahnes  hier  zu  gedenken,  dem  sich 
noch  einige  andere,  einstweilen  nicht  näher  abgrenzbare,  ungünstig 
verlaufende  Krankheitsformen  anreihen  dürften. 

Mit  dem  Eintritte  des  eigentlichen  Greisenalters  gewinnen  die 
Geistesstörungen  immer  mehr  den  gemeinsamen  Grundzug  der 
psychischen  Schwäche.  Abnahme  des  Gedächtnisses  und  der 
Merkfähigkeit,  Unfähigkeit  zur  Auffassung  und  Verarbeitung  neuer 
Eindrücke,  Verwirrtheit  und  Zerfahrenheit,  Oberflächlichkeit  der 
Gemütsbewegungen,  hypochondrische  Befürchtungen,  nächtliche 
Unruhe,  dabei  Neigung  zu  rascher  Verblödung  sind  die  hervor- 


150 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


stechendsten  Züge  der  hierher  gehörigen  Krankheitsbilder,  unter 
denen  neben  dem  einfachen,  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Alters- 
blödsinn die  senilen  Depressionszustände,  die  deliriösen  Erregungen, 
die  Presbyophrenie  und  die  arteriosklerotische  Verblödung  im  Vorder- 
grunde stehen.  Vereinzelt  begegnen  wir  noch  den  letzten  Ausläufern 
des  manisch-depressiven  Irreseins.  Bemerkenswert  ist  überall  die 
Häufigkeit  von  Gehirnerscheinungen,  Schwindel,  aphasischen  und 
apraktischen  Störungen,  Schlaganfällen,  Krämpfen  und  Lähmungen. 

Geschlecht.  Die  Frage  nach  der  Veranlagung  der  beiden  Ge- 
schlechter zu  psychischer  Erkrankung  ist  auf  Grund  statistischer 
Erhebungen  vielfach  verschieden  beantwortet  worden.  Ohne  wei- 
teres Eingehen  auf  die  Würdigung  der  Fehlerquellen  derartiger 
Angaben  sei  hier  nur  bemerkt,  daß  die  Statistik  im  allgemeinen 
keine  erheblichen  und  sicheren  Unterschiede  in  der  Häufigkeit 
des  Irreseins  zwischen  beiden  Geschlechtern  erkennen  läßt;  unter 
den  Kranken  der  Heidelberger  Klinik  betrugen  die  Männer  durch- 
schnittlich etwa  53%.  Diese  Tatsache  ist  insofern  auffallend,  als 
das  weibliche  Geschlecht  sowohl  am  Selbstmorde  wie  am  Verbrechen 
sehr  erheblich  schwächer  beteiligt  ist.  Wir  können  daher  kaum 
daran  zweifeln,  daß  das  Weib  mit  seiner  zarteren  Veranlagung,  mit 
der  geringeren  Ausbildung  des  Verstandes  und  dem  stärkeren  Her- 
vortreten des  Gefühlslebens  weniger  Widerstandsfähigkeit  gegen  die 
körperlichen  und  psychischen  Ursachen  des  Irreseins  besitzt  als  der 
Mann.  Allein  die  Bedeutung  dieses  Umstandes  wird  ausgeglichen 
durch  die  verhältnismäßig  geschützte  Stellung,  die  das  Weib  dem 
unvergleichlich  stärker  gefährdeten  Manne  gegenüber  einnimmt. 
Alle  jene  Schädlichkeiten,  die  der  Kampf  ums  Dasein  mit  sich  bringt, 
treffen  in  erster  Linie  und  vorwiegend  den  Mann,  dem  die  Sorge 
für  die  Familie  obliegt,  wenn  auch  die  Mühsalen  des  Lebensunter- 
haltes für  das  unverheiratete  Weib  vielfach  weit  größer  sein  mögen. 
Ungleich  wichtiger  jedoch  ist  die  Wirkung  der  Ausschweifungen 
nach  den  verschiedensten  Richtungen,  deren  Gefahren  ganz  vorzugs- 
weise der  Mann  wegen  der  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen 
Unabhängigkeit  seiner  Stellung  ausgesetzt  ist.  Alkohol  und  Syphilis 
schädigen  ihn  viel  mehr  als  das  Weib,  das,  durch  Erziehung  und 
Sitte  gebunden,  ein  eintönigeres,  regelmäßigeres  und  ruhigeres  Leben 
zu  führen  gezwungen  ist.  Wo  dieser  Zwang  einmal  durchbrochen 
und  der  Leidenschaftlichkeit  der  weiblichen  Natur  freier  Spielraum 


Geschlecht. 


gegeben  ist,  bei  Prostituierten,  sehen  wir  die  geringere  Widerstands- 
fähigkeit des  weibHchen  Geschlechtes  in  erschreckenden  Prozent- 
sätzen des  Irreseins,  der  RückfälHgkeit  und  der  Selbstmorde  zum 
Ausdruck  gelangen^).  Allerdings  dürfte  gerade  hier  das  Gewicht 
krankhafter  Veranlagung  wesentlich  mit  in  Rechnung  zu  ziehen  sein. 

Die  Häufigkeit  des  Irreseins  beim  Weibe  steht  in  naher  Bezie- 
hung zu  den  Vorgängen  des  Geschlechtslebens.   Die  Bedeu- 
tung der  Sexualerkrankungen  und  des  Fortpflanzungsgeschäftes 
ist  schon  früher  berührt  worden.    Besonders  kennzeichnend  aber 
tritt  diese  Eigentüm- 
lichkeit  des  Weibes 
in  der  Fig.  III  hervor, 
die  uns  ein  Bild  von 
dem  Verhältnisse  der 
beiden  Geschlechter 
unter    den  Geistes- 
kranken verschiede- 
ner Altersstufen  lie- 
fert.   Wir  erkennen 
hier,    daß    die  Zeit 
der  Geschlechtsent- 
wicklung, zwischen 
dem  15.  und  25.  Jah- 
re, das  Weib  in  weit 
höherem   Grade  ge- 
fährdet als  den  Mann. 
Später,  zwischen  dem 
30.  und  45.  Jahre,  bedingen  Alkohol  und  Syphilis  (Paralyse)  wie 
die  sonstigen  Schädigungen  des  Daseinskampfes   für  den  Mann 
eine  größere  Häufigkeit  des  Irreseins.    Dann  aber,  zwischen  dem 
45.  und  60.  Jahre,  in  der  Zeit  der  Rückbildung,  erkrankt  wieder 
das  Weib  verhältnismäßig  oft;  es  erliegt  den  bekannten  Gefahren 
des  Klimakteriums,  vielfach  auch  der  Vereinsamung  und  Hilfs- 
losigkeit.    In  den  60 er  Jahren  scheint  diese  Gefährdung  wieder 
etwas  abzunehmen.   Ob  die  stärkere  Vertretung  der  Frauen  unter 
den  Geisteskranken  noch  höheren  Alters  mehr  bedeutet,  als  die 

1)  V.  Dettingen,  Moralstatistik.  3.  Aufl.  1882,  767. 


-10  -15  -ZO  -2S  -30  -SS  -W  -4S  -SO  -SS  -SO  -BS  Ü2xr65 
e9,7    S2^  *?»■    SS,0    SS,y    ».S    SStS    Sf,S    Sf,7    SO,e    Sit  *0,« 


Fig.  III. 

Beteiligung  der  beiden  Geschlechter  am  Irresein  auf 
den  verschiedenen  Altersstufen. 


152 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


größere  Langlebigkeit  des  weiblichen  Geschlechtes  überhaupt,  ist 
mir  zweifelhaft. 

Den  Verschiedenheiten  in  den  ursächlichen  Verhältnissen  bei 
beiden  Geschlechtern  entspricht  auch  das  Vorwalten  der  einzelnen 
Krankheitsformen  bei  ihnen.  Wie  die  Fig.  IV  lehrt,  auf  der  die 
Beteiligung  der  beiden  Geschlechter  an  einigen  Hauptformen  des 
Irreseins  nach  den  Erfahrungen  der  Heidelberger  Klinik  wieder- 
gegeben ist,  erkranken  die  Männer  vor  allem  am  Alkoholismus,  an 
der  vielfach  mit  ihm  in  Beziehung  stehenden  Epilepsie  und  an  der 

Paralyse,  während  die  Dementia  praecox 
beide  Geschlechter  ziemlich  gleichmäßig 
befällt.  Das  Überwiegen  der  Frauen 
bei  den  senilen  Geistesstörungen  dürfte, 
wie  schon  angedeutet,  wesentlich  auf 
ihrer  Langlebigkeit  beruhen.  Dagegen 
steht  die  große  Häufigkeit  des  manisch- 
depressiven Irreseins  bei  ihnen  offenbar 
in  Abhängigkeit  von  der  sekundären 
Geschlechtseigenschaft  erhöhter  gemüt- 
licher Erregbarkeit.  Die  einzelnen  Ab- 
schnitte des  Leidens  pflegen  sich  oft 
genug  an  die  periodischen  Umwälzungen 
im  Geschlechtsleben,  andererseits  an  die 
Zeiten  der  Entwicklung  und  der  Rück- 
bildung anzuschließen.  Mit  der  beson- 
deren Lebhaftigkeit  der  gemütlichen 
Regungen  steht  auch  wohl  die  Häufig- 
keit hysterischer  Erscheinungen  beim  Weib  ein  Zusammenhang,  die 
ebenfalls  besonders  gern  in  den  Entwicklungsjahren  hervorzutreten 
pflegen.  Andererseits  begegnet  uns  beim  Manne  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Berufslebens  häufiger  der  Morphinismus  und  die  trau- 
matische Neurose,  dann,  durch  Alkohol  und  Syphilis  gefördert,  die 
Arteriosklerose. 

Volksart.  Sehr  wenig  Sicheres  läßt  sich  bei  dem  jetzigen  Stande 
der  Statistik  und  der  großen  Schwierigkeit  der  Frage  über  die  Nei- 
gung der  einzelnen  Volksstämme ^)  zu  geistiger  Erkrankung  aus- 

1)  Selvatico  Estense,  Ricerche  e  studi  di  psichiatria,  neurologia,  antropolo- 
gia  a  filosofia,  Morselli -Festschrift.    1906;   Macpherson,  Journal  of  mental 


Mki^hsnu  EptUpsJbrtä^Deiupmrr.  Senile  Ma/ifdepressiFKS 
I^dtosm  Irresei/h 
miaier    93.5    8^S     80^    S^ß     HS  33.6 

Fig.  IV. 

Beteiligung  der  beiden  Geschlech- 
ter an  einigen  Hauptformen  des 
Irreseins (3185  Fälle,  Heidelberg). 


Volksart. 


sagen.  Zunächst  sind  die  Zählungen  der  Geisteskranken  in  den 
meisten  Ländern  so  unsicher,  daß  sie  durchaus  keine  vergleichbaren 
Bilder  geben.  Sodann  aber  ist  es  unmöglich,  die  Wirkung  der 
verschiedenen  Einflüsse,  welche  die  Häufigkeit  des  Irreseins  be- 
dingen, voneinander  zu  trennen,  der  Volksart,  der  Lebensgewohn- 
heiten, des  Klimas,  der  Ernährung,  der  allgemeinen  Gesundheits- 
verhältnisse usf.  So  kommt  es,  daß  wir  bei  der  Beurteilung  der 
Häufigkeit  geistiger  Störungen  in  verschiedenen  Ländern  zumeist 
auf  ganz  allgemeine  Eindrücke  angewiesen  sind,  und  daß  diese 
Eindrücke  zudem  noch  das  Zusammenwirken  einer  Reihe  von  sehr 
verschiedenartigen  Ursachen  wiedergeben,  unter  denen  die  Eigenart 
des  Volkscharakters  vielleicht  durch  den  Einfluß  der  äußeren 
Lebensbedingungen  stark  überwogen  wird;  allerdings  wird  ja  auch 
sie  selbst  durch  diese  letzteren  wesentlich  mit  gestaltet.  Trotz 
alledem  können  wir  jedoch,  wie  ich  glaube,  schon  heute  nicht 
mehr  bezweifeln,  daß  die  besondere  Veranlagung  eines  Volkes  auch 
in  seinen  Geisteskrankheiten  zu  bestimmtem  Ausdrucke  gelangt, 
ja,  daß  Häufigkeit  und  Formen  des  Irreseins  dereinst  eine  reiche 
Fundgrube  für  das  tiefere  Verständnis  seiner  Eigenart  bilden 
werden. 

Dort,  wo  die  Geisteskrankheiten  am  besten  bekannt  sind,  bei 
den  weißen  Rassen,  scheinen  sie  auch  bei  weitem  am  häufigsten 
zu  sein;  nur  in  Japan  liegen  die  Verhältnisse  ähnlich.  Dagegen 
wird  von  fast  allen  sogenannten  Naturvölkern,  aus  den  verschie- 
densten Gegenden  Afrikas  und  Australiens,  von  den  Indianern  und 
Negern  Amerikas  berichtet,  daß  Seelenstörungen  überaus  selten 
seien;  auch  bei  Persern  und  Abessiniern,  bei  Arabern,  Indiern  und 
Chinesen  sollen  sie  in  weit  geringerer  Zahl  vorkommen  als  bei  uns. 
So  bestimmt  diese  Angaben  vielfach  auftreten,  werden  wir  sie  doch 
aus  den  oben  angeführten  Gründen  mit  größter  Vorsicht  aufzu- 
nehmen haben ;  es  handelt  sich  um  Schätzungen  bei  Völkern,  deren 
gesamte  Lebensverhältnisse  den  unsrigen  nicht  entfernt  vergleich- 
bar sind.  Zuverlässigere  Ergebnisse  würden  sich  nur  dort  gewinnen 
lassen,  wo  verschiedene  Rassen  möglichst  unvermischt,  aber  doch 
unter  annähernd  gleichen  Bedingungen  zusammenleben.    Das  ist 

science.  1905,451;  Kraepelin,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1904,433;  Buschan, 
Gehirn  und  Kultur.  1906;  Sioli,  Festschr.  der  39.  Versammlung  der  Deutschen 
anthropolog.  Gesellschaft.  1908. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

z.  B.  bei  den  Juden^)  einerseits,  bei  den  Negern  in  Nordamerika 
andererseits  der  Fall.  Von  den  ersteren  wissen  wir,  daß  sie  wenig- 
stens in  Deutschland  und  ebenso  in  England  stärker  zu  geistiger 
und  nervöser  Erkrankung  veranlagt  sind  als  die  Germanen.  Von  den 
Negern  wird  berichtet,  daß  sie  früher  weit  seltener  geistig  erkrankt 
seien  als  die  mit  ihnen  zusammenlebende  weiße  Bevölkerung;  erst 
seit  ihrer  Befreiung  aus  der  Sklaverei  soll  die  Häufigkeit  des 
Irreseins  bei  ihnen  rasch  und  stetig  zugenommen  haben,  besonders 
in  den  Nordstaaten.  Während  1870  nur  367  Geisteskranke  auf  eine 
Million  Neger  gezählt  wurden,  waren  es  1880  schon  912  und 
1890  980.  White^)  gibt  an,  daß  in  den  Südstaaten  das  Verhältnis 
der  Geisteskranken  zur  gesunden  Bevölkerung  für  die  Neger  i  :  1,277, 
für  die  Weißen  i  :  456  betrage,  in  den  höher  entwickelten  Nord- 
staaten I  :  542  bzw.  I  :  520. 

Weit  wichtiger  indessen  für  das  Verständnis  der  Beziehungen 
zwischen  Volksart  und  Geistesstörung  ist  die  Betrachtung  der 
Formen,  welche  diese  letztere  bei  den  einzelnen  Völkern  annimmt. 
Wenn  wir  prüfen,  aus  welchen  Krankheitsbildern  sich  eine  größere 
Menge  von  Kranken  zusammensetzt,  so  müssen  uns  die  Unter- 
schiede einigermaßen  einen  Einblick  in  die  Besonderheiten  der 
einzelnen  untersuchten  Gruppen  gewähren.  Allerdings  können 
auch  hier  wichtige  Fehlerquellen  das  Bild  trüben.  Einmal  muß 
die  Auswahl  der  verglichenen  Kranken  unter  annähernd  gleichen 
Voraussetzungen  erfolgt  sein;  es  kann  also  z.  B.  nur  die  Bevölke- 
rung von  Anstalten  einander  gegenübergestellt  werden,  die  ihre 
Kranken  nach  denselben  Grundsätzen  aufnehmen.  Sodann  muß 
die  Diagnosenstellung  eine  einheitliche  sein,  am  besten  demnach 
von  demselben  Beobachter  besorgt  werden.  Da  ein  solcher  Ver- 
gleich sich  zudem  auf  größere  Zahlen  stützen  muß,  ist  er  fast  nur 
bei  Völkern  möglich,  die  schon  eine  geregelte  Irrenfürsorge  be- 
sitzen. 

Aus  der  großen  Zahl  von  Beobachtungen,  die  wir  über  die  Häu- 
figkeit der  einzelnen  Krankheitsformen  bei  verschiedenen  Völkern 
besitzen,  genügen  bisher  leider  nur  wenige  annähernd  strengeren 
Anforderungen.    Dennoch  ist  es  sicher,  daß  ausgeprägte  Unter- 

1)  Pilcz,  Wiener  klin.  Rundschau.  1901,  47  u.  48;  Jahrb.  f.  Psychiatrie, 
XXVI,  294;  Sichel,  Neurolog.  Centralbl.  1908,  351. 

3)  White,  Journal  of  nervous  and  mental  diseases.    1903,  257. 


Volksart. 


schiede  bestehen.  Sie  sind  ohne  weiteres  verständlich,  soweit 
es  sich  um  Krankheiten  handelt,  die  durch  äußere  Ursachen  her- 
vorgebracht werden,  durch  den  Mißbrauch  von  Alkohol,  Opium, 
Haschisch  oder  Coca,  durch  die  Krankheitserreger  der  Malaria, 
des  Kretinismus  oder  der  Schlafkrankheit.  Die  besondere  Ver- 
anlagung der  Völker  kommt  dabei  nur  in  einer  größeren  oder 
geringeren  Widerstandsfähigkeit  gegen  jene  Schädlichkeiten  in  Be- 
tracht, die  von  seiner  psychischen  Eigenart  ganz  unabhängig  sein 
kann.  Höchstens  kann  man  schon  die  Hinneigung  zu  diesem 
oder  jenem  Genußmittel,  wie  diejenige  der  Germanen  zum  Alkohol, 
der  Orientalen  zum  Haschisch,  der  Chinesen  zum  Opium,  als  Aus- 
fluß ihres  Volkscharakters  ansehen.  Auch  das  Vorkommen  der 
Paralyse  wird,  wie  es  scheint,  wesentlich  durch  Bedingungen  be- 
herrscht, die  nichts  mit  den  seelischen  Eigenschaften  der  Völker 
zu  tun  haben.  Sie  ist  bei  zahlreichen  Völkern,  so  bei  den  Türken, 
Persern,  Abessiniern,  bei  Malayen,  Austrainegern  und  bei  den  afrika- 
nischen Negervölkern  trotz  reichlichster  Verbreitung  der  Syphilis 
ungemein  selten.  Eine  gewisse  Bedeutung  scheint  dabei  dem  Fehlen 
des  Alkoholmißbrauches  zuzukommen,  doch  werden  dadurch  allein 
die  höchst  merkwürdigen  Unterschiede  gewiß  nicht  erklärt. 

Zwei  Beispiele  für  die  Verteilung  der  Krankheitsformen  bei 
verschiedenen  Rassen  geben  *die  nachstehenden  Diagramme.  In 
dem  ersten  derselben  sind  Ergebnisse  einer  Untersuchung  wieder- 
gegeben, die  ich  in  der  Irrenanstalt  Buitenzorg  auf  Java  über  die 
Geistesstörungen  der  dort  verpflegten  Europäer  und  Eingeborenen 
anzustellen  Gelegenheit  hatte.  Man  sieht  hier,  daß  unter  den  unter- 
suchten Eingeborenen,  übrigens  auch  bei  dem  Rest  der  damals  in 
der  Anstalt  befindlichen  Kranken,  weder  Alkoholismus  noch  Para- 
lyse oder  Hirnlues  vertreten  war,  im  Gegensatze  zu  den  damit 
verglichenen  Europäern.  Ähnlich  fand  Sokalski,  nach  dessen 
Angaben  das  zweite  Diagramm  entworfen  wurde,  bei  den  Basch- 
kiren in  Ufa  Alkoholismus  und  Paralyse  erheblich  seltener,  als  bei 
den  in  der  gleichen  Anstalt  untergebrachten  Russen. 

Diese  Darstellungen  ermöglichen  uns  ferner,  der  Frage  näher 
zu  treten,  wie  sich  diejenigen  Erkrankungen  verhalten,  für  die  wir 
im  allgemeinen  keine  äußeren  Ursachen  kennen.  In  erster  Linie 
ist  hier  die  Dementia  praecox  zu  nennen,  der  weitaus  die  Haupt- 
masse der  eingeborenen  Kranken  auf  Java,  77%,  angehört.  Auch 


156 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


unter  den  Europäern  spielt  sie  mit  72%  die  Hauptrolle,  doch  ist 
dabei  zu  beachten,  daß  die  Kolonialbevölkerung  ganz  ungewöhnlich 
viele  jugendliche  Personen,  namentlich  Soldaten,  umfaßt  und 
daher  mit  derjenigen  des  Heimatlandes  nicht  zu  vergleichen  ist. 
Das  starke  Überwiegen  der  Dementia  praecox  fand  auch  Wolff 
in  Syrien  (45%)  und  Urstein  in  Transkaspien  (65%);  ebenso 
gilt  es  für  die  Baschkiren.  Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  daß 
sie  an  sich  dort  häufiger  wäre,  sondern  nur,  daß  ihr  Anteil  an  den 
gesamten  psychischen  Erkrankungen  größer  wird,  zum  Teil  auf 


Demmtia.  -praecooo 
Itcralfse, 
Mrnbies 
Mkolwüsrmis 

ImbecHIbtäb 
JümiscTv-deprJiTeseni 
Yersckiedenes 

% 


Geistesstörung  erv  cacFIava,. 
EuTopäerl'IOOJ  Fingebarene/ 1100) 


20 


60 


ZO 


W 


60 


80 


'J)cmmiicL-pTXLexX)CD 
J'ardfyse, 
JlköhöUsmiLS 
Epilepsie. 
ISnbeaUäät 
ibrdsährdeprJdreseiih 

% 

Kosten  des  Alkoholismus  und  der  Paralyse.  Soviel  sich  nach  den 
bisher  vorliegenden  Erfahrungen  beurteilen  läßt,  ist  die  Dementia 
praecox  über  die  ganze  Erde  verbreitet,  in  Japan  und  Indien  wie  in 
Amerika;  ich  selbst  sah  sie,  abgesehen  von  den  europäischen  Völ- 
kern, bei  Chinesen  und  Armeniern.  Ähnliches  gilt  wohl  vom  ma- 
nisch-depressiven Irresein  und  sicher  von  der  Epilepsie  und  Hy- 
sterie. Alle  diese  Erkrankungen  scheinen  daher  in  der  Entwick- 
lungsgeschichte der  Menschheit  sehr  weit  zurückzureichen.  Epi- 
lepsie und  Hysterie  sind  sogar  bei  Tieren  wiederholt  beschrieben 
worden.  Es  muß  jedoch  als  sehr  fraglich  betrachtet  werden,  ob  die 
geschilderten  Zufälle  den  genannten  Erkrankungen  beim  Menschen 


Geistesstönmgerv  iw  Vfh,  (SoTccdskv) 
Süssem  (569J  SascKktreJV  (120J 


Fig.  V. 


Volksart. 


irgendwie  entsprechen.  Nach  Dexlers^)  Ausführungen  scheinen 
bei  Tieren  neben  der  Lyssa  und  den  infektiösen  Hirnerkrankungen 
nach  der  Staupe  keine  eigenthchen  Psychosen  vorzukommen,  und 
auch  den  epileptischen  Störungen  dürften  Hirnerkrankungen  anderer 
Art  zugrunde  Hegen,  als  beim  Menschen. 

Schwächer  ausgeprägte  Unterschiede  in  der  Zusammensetzung 
des  Krankenmaterials  finden  sich  auch  zwischen  einander  näher 
stehenden  Völkern,  ja  sogar  zwischen  den  verschiedenen  Stämmen 
desselben  Volkes.  Pilcz  hat  sich  bemüht,  dafür  Belege  beizu- 
bringen, doch  ist  es  aus  naheliegenden  Gründen  schwer,  solche 
Erfahrungen  genügend  zu  sichern.  Bei  den  Juden  treten  nach 
seinen  Darlegungen,  vielleicht  wegen  ihrer  Vorliebe  für  Verwandt- 
schaftsheiraten, jene  Störungen  in  den  Vordergrund,  die  wir  auf 
erbliche  Entartung  zurückzuführen  pflegen,  das  manisch-depres- 
sive Irresein,  die  Nervosität,  die  Phobien;  auch  Paralyse,  Dementia 
praecox  und  schwere  Formen  der  Idiotie  sind  nicht  selten;  dagegen 
treten  die  alkoholischen  Formen  sehr  in  den  Hintergrund.  Am 
überzeugendsten  wird  die  Verschiedenheit  der  psychopathischen 
Erscheinungen  durch  die  Selbstmordstatistik'^)  dargetan,  die  uns 
lehrt,  daß  eine  Erscheinung,  deren  Häufigkeit  dem  zahlenmäßigen 
Vergleiche  verhältnismäßig  leicht  zugänglich  ist,  von  Stamm  zu 
Stamm  und  noch  mehr  von  Volk  zu  Volk  den  auffälligsten  Schwan- 
kungen unterworfen  ist.  Bekanntlich  stuft  sich  die  ungemein 
starke  Selbstmordneigung  der  Sachsen,  der  diejenige  der  Dänen 
zur  Seite  steht,  nach  allen  Seiten  hin  allmählich  ab,  um  bei  den 
Romanen  und  Slaven  ganz  in  den  Hintergrund  zu  treten. 

Wenn  wir  demnach  auch  in  der  Verteilung  der  Geistesstörungen 
bei  den  einzelnen  Völkern  weitgehende  Verschiedenheiten  anneh- 
men dürfen,  scheint  es  doch  bisher,  daß  gänzlich  neue  Formen 
anderswo  nicht  zu  finden  sind.  Wir  sehen  dabei  natürlich  von 
solchen  Erkrankungen  ab,  die  durch  äußere  Krankheitsursachen 
von  umgrenzter  Verbreitung  erzeugt  werden,  wie  die  Vergiftungen 
durch  Genußmittel,  die  Schlafkrankheit,  die  Psychosen  bei  Malaria, 
Beri-beri  usf.    Das  ,,Latah"  der  Malayen  äußert  sich  in  Anfällen 

1)  Dexler,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVI,  Ergänzungsheft,  99;  Neurol. 
Centralbl.  1907,  98;    Mainzer,  ebenda  1906,  438. 

2)  Morselli,  Der  Selbstmord,  deutsch  von  Kurella.    1881;  Dürkheim, 
Le  suicide,  etude  de  sociologie.  1897. 


^-  ^'■^  Ursachen  des  Irreseins. 

von  Befehlsautomatie  oder  Koprolalie,  die  durch  Schreck  ausgelöst 
werden,  und.  steht  in  nächster  Verwandtschaft  zur  Hysterie.  Das 
gleiche  gilt  von  einer  Anzahl  ähnlicher  Zustände,  die  unter  ver- 
schiedenen Bezeichnungen  bei  anderen  Völkern  beschrieben  wurden. 
Auch  das  ebenfalls  bei  den  Malayen  häufige  ,,Amok"  ist  schwerlich 
eine  eigene  Krankheit.  Es  besteht  in  plötzlich  oder  nach  kurzer  Ver- 
stimmung einsetzenden  Dämmerzuständen,  in  denen  die  Kranken, 
denen  es  dunkel  vor  den  Augen  (,,mata  glap")  geworden  ist,  mit 
ihrem  Kris  rücksichtslos  alles  niederstechen,  was  ihnen  in  den  Weg 
kommt ;  nachher  ist  keine  oder  nur  sehr  unklare  Erinnerung  vor- 
handen. Unter  den  Amokläufern,  die  ich  in  Java  untersuchen 
konnte,  befanden  sich  mehrere  zweifellose  Epileptiker.  Bei  den 
übrigen  ließ  sich  eine  epileptische  Grundlage  nicht  nachweisen, 
muß  aber  nach  dem  klinischen  Bilde  wohl  als  sehr  wahrscheinlich 
angenommen  werden;  höchstens  könnten  vielleicht  einmal  Malaria- 
anfälle einen  ähnlichen  Zustand  erzeugen.  Auf  dem  Diagramm 
habe  ich  diese  Fälle  schraffiert  der  Epilepsie  hinzugefügt,  die  übri- 
gens auch  ohnedies  bei  den  Malayen  nicht  selten  ist.  Die  von 
van  Brero  bei  Malayen  beschriebene  ,, Zwangsvorstellung"  Koro, 
daß  sich  der  Penis  in  den  Leib  zurückziehe,  beobachtete  ich  vor 
kurzem  bei  einem  europäischen  Kranken  mit  zirkulärer  Depression. 

Einen  wesentlichen  Einfluß  scheint  die  Volksart  auf  die  be- 
sondere Ausgestaltung  der  einzelnen  klinischen  Krankheitsbilder 
auszuüben;  allerdings  wissen  wir  darüber  so  gut  wie  nichts.  So 
wenig  ich  in  Java  nach  dem  Gesamtbilde  der  eingeborenen  Kranken 
im  Zweifel  sein  konnte,  daß  es  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  um 
die  Krankheitsgruppe  handle,  die  wir  Dementia  praecox  nennen, 
so  ausgeprägt  waren  doch  die  Unterschiede  gegenüber  den  euro- 
päischen Kranken.  Die  bei  uns  so  häufige  einleitende  Depression 
war  fast  niemals  nachzuweisen;  die  Krankheit  begann  in  der  Regel 
mit  verwirrter  Erregung,  um  dann  sehr  bald  zu  einer  faseligen 
Verblödung  zu  führen.  Gehörstäuschungen  fanden  sich  nur  in 
einer  kleinen  Zahl  von  Fällen;  auch  Wahnbildungen  waren  selten 
und  äußerst  dürftig.  Ausgeprägte  katatonische  Erscheinungen, 
insbesondere  negativistischer  Stupor,  kamen  nur  ganz  ausnahms- 
weise zur  Beobachtung.  Ähnliche  Abweichungen  ließ  das  manisch- 
depressive Irresein  erkennen.  Depressionen  fehlten  ganz  oder 
waren  doch  nur  schwach  angedeutet  gegenüber  den  manischen 


4 


Volksart. 


Anfällen.  Daneben  fand  sich  eine  kleine  Gruppe  von  periodischen 
verwirrten  Erregungszuständen,  deren  Zugehörigkeit  zuna  ma- 
nisch-depressiven Irresein  mir  nicht  ganz  gesichert  erschien;  sie 
ist  auf  dem  Diagramm  schraffiert  hinzugefügt. 

Es  wird  gewiß  eine  dankbare  Aufgabe  sein,  derartigen  Unter- 
schieden bei  möglichst  vielen  Völkern  planmäßig  nachzugehen. 
Andeutungen  derselben  finden  sich  aber  auch  schon  bei  uns.  So 
ist  es  eine  häufig  gemachte  Beobachtung,  daß  die  zirculären  Er- 
krankungen der  Juden,  namentlich  im  Osten,  sich  durch  Bei- 
mischung von  katatonischen  Zügen,  von  Stereotypien  und  Ver- 
schrobenheiten, ferner  durch  die  Häufigkeit  schleppend  verlaufender 
Mischzustände  auszeichnen ;  die  Diagnose  kann  dadurch  wesentlich 
erschwert  werden.  Weiterhin  scheinen  mir  in  München  im  Vergleich 
zu  Heidelberg  die  Depressionszustände  über  die  Manien  stärker 
zu  überwiegen;  Gaupp  hat  das  für  Tübingen  in  noch  verstärktem 
Maße  beobachtet.  Auch  die  Selbstmordneigung  unserer  Kranken 
wird  durch  die  Volksart  wesentlich  beeinflußt;  sie  ist  am  stärksten 
in  Sachsen.  In  Buitenzorg  wurde  mit  einer  Selbstmordgefahr  bei 
den  Eingeborenen  kaum  gerechnet,  da  sie  noch  nicht  ein  Drittel 
so  stark  war  wie  bei  den  europäischen  Kranken,  und  auch  in  Athen 
kann  man  ängstliche  Kranke  mit  einer  Sorglosigkeit  behandeln, 
die  sich  bei  uns  bitter  rächen  würde.  Ähnliche  Unterschiede  be- 
stehen hinsichtlich  der  Gewalttätigkeit  und  der  Unruhe  der  Kranken. 
Die  bajuvarischen  Kranken  gehen  weit  leichter  zum  Angriffe  über, 
als  etwa  die  sächsischen.  Die  Kranken  in  der  Pfalz  zeichnen  sich 
durch  ihre  große  Unruhe  aus;  demgegenüber  sah  ich  in  der  Irren- 
anstalt zu  Granada  unter  etwa  200  Kranken  keinen  einzigen,  der 
in  nennenswertem  Grade  erregt  gewesen  wäre.  Leider  ist  es  aus 
vielen  Gründen  zurzeit  nicht  möglich,  über  diese  und  andere  Unter- 
schiede mehr  als  allgemeine  Eindrücke  zu  gewinnen. 

Klima.  Die  mannigfachen  Einflüsse,  die  wir  unter  der  Bezeich- 
nung Klima^)  zusammenfassen,  scheinen  im  ganzen  keine  sehr 
große  Bedeutung  für  Häufigkeit  und  Gestaltung  des  Irreseins  zu 
besitzen;  zudem  verknüpfen  sich  mit  ihnen  regelmäßig  noch  ein- 
schneidende Änderungen  in  der  gesamten  Lebensweise,  deren  Wir- 

1)  Rasch,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  745;  Moreira  et  Peixoto, 
Archivos  Brasileiros  de  psychlatria,  II,  222;  Van  Brero,  Handbuch  der  Tropen- 
krankheiten I.  1905. 


i6o 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


kungen  sich  nicht  abtrennen  lassen.   Es  ist  indessen  wohl  anzu- 
nehmen, daß  die  uralte  Abhängigkeit  alles  Lebenden  von  Sonne, 
Luft  und  Feuchtigkeit  auch  beim  Menschen  noch  fortbesteht,  wenn 
auch  in  abgeschwächter  Form.   Mit  Bestimmtheit  sprechen  dafür 
vor  allem  die  ganz  unzweideutigen  Erfahrungen,  die  man  über  die 
Abhängigkeit  der  Selbstmorde  und  Verbrechen  von  Jahreszeiten 
und  Klima  gemacht  hat.    Ferner  habe  ich  den  Eindruck,  als  ob  die 
Aufregungszustände  unserer  Kranken  im  Sommer  meist  heftiger 
verlaufen  als  im  Winter;  bei  zirculären  Fällen  sieht  man  nicht  selten 
die  Depression  gerade  in  den  Winter  fallen.  In  Italien  scheinen  plötz- 
liche triebartige  Erregungszustände  häufiger  vorzukommen  als  bei 
uns;  andererseits  sind  mir  bei  den  Esten  keine  wesentlichen  Ab- 
weichungen gegenüber  unseren  Kranken  aufgefallen.  Moreira 
konnte  in  Brasilien  keine  Beziehung  zwischen  den  Temperatur- 
schwankungen und  der  Häufigkeit  psychischer  Störungen  auf- 
finden.   Neuerdings  haben  Rasch  und  Plehn  über  den  Einfluß 
des  Tropenklimas  auf  eingewanderte  Europäer  berichtet.    Sie  kom- 
men zu  dem  Ergebnisse,  daß  sich  im  Laufe  der  Jahre  allmählich 
Schlaffheit,  Gleichgültigkeit,  Abnahme  des  Gedächtnisses,  Verlust 
der  gemütlichen  Widerstandsfähigkeit,  Reizbarkeit  und  Empfind- 
lichkeit (,, Tropenkoller"),  Selbstüberschätzung,  Beeinträchtigungs- 
gefühl, endlich  Schwinden  der  Tatkraft  einstelle.    Einen  wesent- 
lichen Anteil  an  dieser  Entwicklung  hat  wohl  die  Lebensweise, 
die  vielfach  nicht  den  veränderten  klimatischen  Verhältnissen  an- 
gepaßt wird.    Beibehaltung  der  gewohnten  reichlichen  Fleisch- 
nahrung, das  Unterlassen  ausreichender  körperlicher  Bewegung 
unter  dem  erschlaffenden  Einflüsse  der  Hitze,  geschlechtliche  Aus- 
schweifungen, vor  allem  aber  der  Alkoholgenuß,  der  in  den  Tropen 
doppelt  gefährlich  ist,  können  die  Anpassung  des  Europäers  an 
das  heiße  Klima  in  empfindlichster  Weise  stören.   Dazu  kommen 
dann  noch  die  besonderen  Gefährdungen  durch  Tropenkrankheiten, 
Hitzschlag  und  Sonnenstich,  Dysenterie,  Malaria,  Schwarzwasser- 
fieber. Plehn  beschreibt  insbesondere  als  Folgen  schwerer  Malaria 
Dauerzustände  von  außerordentlicher  gemütlicher  Reizbarkeit  mit 
Neigung  zu  triebartigen  Gewalttätigkeiten.    Einen  derartigen  Fall 
nach  sehr  schwerer  Malariaerkrankung,  bei  dem  nach  Alkohol- 
genuß epilepsieartige  Aufregungszustände  ohne  sonstige  Zeichen  von 
Epilepsie  auftraten,  hatte  ich  vor  kurzem  zu  beobachten  Gelegenheit. 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


i6i 


Allgemeine  Lebensverhältnisse.  Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  die  gesamten  Lebensbedingungen,  unter  denen  ein  Volk  sich 
befindet,  einen  nachhaltigen  Einfluß  auch  auf  die  Häufigkeit  des 
Irreseins  gewinnen  müssen;  hängt  doch  von  ihnen  nicht  nur  die 
allgemeine  Widerstandsfähigkeit,  sondern  auch  die  Verbreitung  der 
besonderen  Krankheitsursachen  ab.  Tatsächlich  scheinen  daher 
auch  zwischen  den  Völkern,  die  unter  verschiedenen  Verhältnissen 
leben,  sehr  weitgehende  Unterschiede  hinsichtlich  ihrer  Neigung  zu 
geistigen  Erkrankungen  zu  bestehen.  Eine  Reihe  hierher  gehöriger 
Erfahrungen  haben  wir  schon  berührt,  vor  allem  die  Seltenheit  des 
Irreseins  bei  Naturvölkern,  die  Verschlechterung  des  geistigen  Ge- 
sundheitszustandes der  nordamerikanischen  Neger  seit  ihrer  Befrei- 
ung, dann  die  Häufigkeit  der  Paralyse  bei  den  höchstentwickelten 
Nationen,  die  verschiedenartige  Gefährdung  der  einzelnen  Völker 
durch  die  von  ihnen  bevorzugten  Genußmittel,  die  reichere  Entwick- 
lung der  Krankheitsbilder  bei  den  Europäern.  Diese  Erfahrungen 
würden  darauf  hindeuten,  daß  die  Gefährdung  durch  psychische  Er- 
krankungen mit  steigender  Gesittung  zunimmt,  daß  neue  Erkran- 
kungsformen auftreten  und  die  Mannigfaltigkeit  der  alten  größer 
wird.  Andererseits  scheinen  auch  einzelne  Formen  mehr  zurückzu- 
treten, so  namentlich  die  bei  unentwickelteren  Völkern  noch  häu- 
figen psychischen  Epidemien,  deren  Spielraum  sich  bei  uns  seit  den 
Zeiten  des  Mittelalters  doch  wesentlich  eingeengt  hat. 

Wir  stehen  hier  vor  einer  Frage,  deren  Beantwortung  für  das 
Dasein  der  gesamten  Kulturvölker  die  allergrößte  Tragweite  be- 
sitzt, vor  der  Frage  nämlich,  ob  der  Fortschritt  unserer  Gesittung 
tatsächlich  mit  einer  Einbuße  an  geistiger  Gesundheit  einhergeht, 
und  welche  Umstände  wir  gegebenenfalls  dafür  verantwortlich  zu 
machen  haben.  Über  die  erste  dieser  Fragen  herrschen  heute  unter 
den  Fachgenossen  noch  sehr  erhebliche  Meinungsverschieden- 
heiten. Was  unbestreitbar  feststeht,  ist  das  unheimlich  rasche 
Anwachsen  der  in  den  Anstalten  versorgten  Geistes- 
kranken bei  allen  Kulturvölkern^).  In  der  italienischen 
Kolonie  Erythräa  hat  sich  überhaupt  noch  kein  Bedürfnis  nach 

1)  Vocke,  Psychiatr. -neurol.  Wochenschr.  1906,  427;  Hackl,  Das  An- 
wachsen der  Geisteskranken  in  Deutschland.  1904;  Grünau,  Über  die  Frequenz, 
Heilerfolge  und  Sterblichkeit  in  den  öffentlichen  Irrenanstalten  von  1875 — 1900. 
1905;   Gaupp,  Münch,  med.  Wochenschr.  1906,  26,  27. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


102 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


'15 


10 


einer  Unterkunft  für  Geisteskranke  herausgestellt;  in  Indien  be- 
finden sich  von  304  Millionen  Einwohnern  nur  4300  in  Anstalten, 
also  einer  auf  70000,  in  Java  einer  von  etwa  50000  Eingeborenen. 
Demgegenübersind  wir  bei  uns  genötigt,  schon  für  höchstens  500 
Einwohner  einen  Platz  in  einer  Irrenanstalt  bereitzuhalten.  Nach 
den  vorliegenden  Zählungen  kommen  in  Sachsen  25,0,  in  Preußen 
26,0  in  England  40,8,  im  Kanton  Bern  56,1,  in  Zürich  97,0  Geistes- 
kranke überhaupt  auf  10  000  Einwohner.  Mögen  auch  die  Fehler- 
quellen dieser  Zählungen  sehr 
^  ^  -,    -,  große  sein,  so  deuten  sie  doch 

auf  Unterschiede  zwischen  de 
genannten  Ländern  hin,  und' 
sie  liefern  außerdem  eine  über- 
raschend große  Zahl  von 
Kranken  für  die  kleinen  und 
daher  wohl  sorgfältiger  durch- 
forschten Bezirke.  Die  Zu- 
nahme der  in  Anstalten  ver- 
pflegten Geisteskranken  im 
Verhältnisse  zur  Bevölkerung 
zeigen  die  nebenstehenden 
Diagramme.  In  den  Nieder- 
landen wuchs  demnach  die 
Zahl  der  Anstaltspfleglinge  auf 
10000  Einwohner  in  der  Zeit 
zwischen  1850  und  1899  von 
5,16  auf  14,12,  in  Preußen 
zwischen  1875  und  1900  von 
5,7  auf  16,9.     Für  England 


Jj 


■JO 


i 


1850-59  J860-69   1870-79    1880-89  1890-90 


1875  1880  1885  1890  1895  1900 

Znlü,  äercajf  10000 Mmmlmer  TwJnstiütm- 
Terpflefftm-  Geisteskranken. 

Fig.  VI. 


erhalten  wir  von  1869 — 1903  ein  Anwachsen  von  24,0  auf  34,1, 
für  Bayern  von  4,0  auf  17,1.  Ähnliche  Ergebnisse  liefern  alle 
Länder,  in  denen  eine  geordnete  Irrenfürsorge  besteht. 

Allerdings  beweisen  alle  diese  Zahlen  zunächst  nur  eine  Zu- 
nahme der  versorgungsbedürftigen  Geisteskranken;  ein  unver- 
hältnismäßiges Anwachsen  der  Erkrankungsfälle  selbst  ist  dadurch 
noch  nicht  dargetan.  Mannigfaltige  Umstände  wirken  zusammen,  i 
um  die  Anstaltsbedürftigkeit  der  Kranken  zu  steigern,  auch  wenn 
ihr  Verhältnis  zur  Bevölkerung  das  gleiche  bliebe.    Dahin  gehört 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


163 


vor  allem  die  bessere  Kenntnis  des  Irreseins,  die  nicht  nur  bei  den 
Zählungen  höhere  Werte  liefert,  sondern  auch  viele  Kranke  der 
Irrenanstalt  zuführt,  die  sonst  durch  Selbstmord  und  Unglücks- 
fälle geendigt  hätten  oder  in  andere  Krankenanstalten,  in  Ge- 
fängnisse und  Arbeitshäuser  geraten  wären.  Weiterhin  kommt 
wesentlich  in  Betracht  die  mit  der  Entwicklung  der  psychiatrischen 
Wissenschaft  immer  fortschreitende  Vervollkommnung  der  An- 
stalten, die  nach  und  nach  das  tief  eingewurzelte  Vorurteil  gegen 
das  Irrenhaus  vermindert  und  darum  den  Eintritt  der  Kranken  m 
die  Anstalten  befördert,  namentlich  dort,  wo  die  Aufnahmeförm- 
lichkeiten  einfache  sind.  Endlich  aber  wird  die  Anstaltsbedürftig- 
keit der  Kranken  auch  durch  die  Erleichterung  des  Verkehrs,  durch 
die  Zunahme  der  Bevölkerung,  die  Entwicklung  der  Industrie  und 
namentlich  durch  das  Anwachsen  der  großen  Städte  gesteigert.  Je 
mehr  Irrenanstalten  es  gibt,  je  rascher  sie  erreichbar  sind,  desto 
näher  wird  den  Angehörigen  eines  Kranken  der  Gedanke  seiner 
Unterbringung  daselbst  gerückt.  Ferner  wächst  die  Schwierigkeit 
seiner  Überwachung  und  damit  die  Größe  der  Last  und  Gefahr, 
die  er  bedeutet,  mit  der  Erleichterung  seines  Entweichens  durch 
die  vielen  Verkehrsmittel,  mit  der  Dichtigkeit  der  Bevölkerung,  die 
den  Kranken  allen  möglichen  Unzuträglichkeiten  und  Zusammen- 
stößen aussetzt.  Die  scharfe  Ausnutzung  jeder  einzelnen  Arbeits- 
kraft läßt  den  Kranken  als  ein  äußerst  störendes  Familienglied 
erscheinen,  zu  dessen  Pflege  und  Beaufsichtigung  niemand  ver- 
fügbar bleibt,  und  das  enge  Beisammenwohnen  in  den  Städten 
macht  dem  minder  Bemittelten  die  häusliche  Verpflegung  eines 
Geisteskranken  wegen  der  damit  verbundenen  Störungen  und  Ge- 
fahren so  gut  wie  unmöglich.  Aus  allen  diesen  Gründen  muß  die 
Entwicklung  unseres  Zusammenlebens  fortschreitend  die  Neigung 
der  Bevölkerung  verstärken,  ihre  Geisteskranken  der  Anstaltsfürsorge 
zu  übergeben. 

Diese  Verhältnisse  erhalten  eine  besondere  Beleuchtung  durch 
die  Erfahrungen,  die  wir  über  die  verschiedene  Beteiligung  von 
Stadt  und  Land  an  der  Bevölkerung  der  Irrenanstalten  machen. 
White  hat  darauf  hingewiesen,  daß  in  Nordamerika  die  Häufig- 
keit des  Irreseins  annähernd  mit  der  Bevölkerungsdichtigkeit 
wächst;  der  Nordosten  und  dann  wieder  die  Westküste  liefern 
unverhältnismäßig  mehr  Geisteskranke  als  die  dünn  bevölkerten 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

104 

Staaten  des  Innern.  Auch  bei  uns  ist  der  Zufluß  von  Kranken  in 
die  Anstalten  aus  den  Städten  überall  erheblich  größer  als  vom 
Lande  her.  So  gelangen  aus  München  nach  Vockes  Darlegungen 
auf  1000  Einwohner  3,4  mal  so  viel  Kranke  alljährlich  in  die  An- 
stalten wie  aus  dem  übrigen  Oberbayern.  Allerdings  sind,  wie 
Gaupp  gezeigt  hat,  von  den  in  München  Erkrankten  nur  V4 — V5 
auch  dort  geboren;  von  70  Hysterischen,  die  1905  in  unsere  Klinik 
aufgenommen  wurden,  stammten  nur  10  aus  München. 

Gerade  die  außerordentliche  Fruchtbarkeit  der  Großstädte  in 
der  Erzeugung  geistiger  Erkrankungen  ermöglicht  es  uns,  einen 
etwas  tieferen  Einblick  in  deren  Ursachen  zu  tun.  Vocke  hat 
festgestellt,  daß  sich  im  Laufe  der  letzten  20  Jahre  das  Verhältnis 
von  Männern  und  Frauen  in  der  Münchener  Anstalt  stetig  ver- 
schoben hat,  seitdem  sie  nur  mehr  die  Kranken  aus  der  Stadt  selbst 
aufnimmt.  Nachdem  es  vorher  5  :  4  betragen  hatte,  änderte  es 
sich  von  1883 — 1892  auf  4  :  3  und  im  folgenden  Jahrzehnt  auf  3  : 2. 
Während  die  Frauen  53%  der  Münchener  Bevölkerung  ausmachen, 
stellen  sie  doch  nur  40%  der  Aufnahmen  in  die  Anstalt.  In  den 
gleichen  Zeitabschnitten  betrug  das  Verhältnis  in  der  nur  für 
die  ländliche  Bevölkerung  bestimmten  Schwesteranstalt  Gabersee 
5  :  4,  dann  5  :  5.  Daraus  geht  hervor,  daß  die  ungünstige  Wir- 
kung der  Großstadt  vorzugsweise  das  männliche  Geschlecht  be- 
trifft; es  waren  in  erster  Linie  Trinker,  Epileptiker,  Paralytiker 
und  gesellschaftsfeindliche  Psychopathen,  die  den  Zuwachs  be- 
dingten. 

Sehr  deutlich  treten  diese  Verhältnisse  in  dem  Vergleiche  des 
Krankenmaterials  der  Heidelberger  und  Münchener  Klinik  her- 
vor, wie  er  in  Fig.  VII  versucht  wurde.  Allerdings  ist  ein  sehr 
wesentlicher  Teil  der  Verschiedenheiten  auf  die  freieren  Aufnahme- 
bedingungen in  München  zurückzuführen ;  dennoch  dürfte  die  Eigen- 
art der  Großstadtkranken  gegenüber  denjenigen  einer  mehr  ländlichen 
Bevölkerung  in  guter  Übereinstimmung  mit  Vockes  Darlegungen 
erkennbar  sein.  Trinker,  Psychopathen  und  Epileptiker  bilden  die 
Hauptmasse  und  drängen  durch  ihre  große  Zahl  sogar  das  Ver- 
hältnis der  Paralytiker  etwas  zurück;  überall  spielt  hier  der  in 
der  Großstadt  gezüchtete  Alkoholmißbrauch  eine  wichtige  ursäch- 
liche Rolle.  Er  ist  fernerneben  der  Syphilis  mitbeteiligt  an  der 
größeren  Häufigkeit  der  Arteriosklerose  und  der  angeborenen  oder 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


165 


früh  erworbenen  Schwachsinnsformen,  vielleicht  auch  des  Alters- 
blödsinns. Durch  das  Berufsleben  der  Großstadt  endlich  wird  die 
größere  Häufigkeit  der  traumatischen  Neurose  bedingt,  ebenfalls 
nicht  ohne  wesentliche  Mitwirkung  des  Alkohols. 

Einen  weiteren  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Unterschiede  zwischen 
Stadt  und  Land  gewährt  die  folgende  Übersicht. 


z'i.zßi  msBfi   taxm    exw»    •/.sn.s  3j  m   1.72/1    ia  z,t  o./np 

Dpmerüiir  3fanrdipr.  Paraljse  Alkohol.  Epilepsie  Systirie  Sfmle,  Idiotie  Ajieriosläcrose  Tnzumat. 
praecac     Irresein  Psyütose  Tsyrhttpaütie  Hcmem  ImbeeiUittU  ycurose 


Fig.  VII. 
Vergleich  der  Krankheitsformen 
in  den  Kliniken  Heidelberg  und  München. 


Geisteskranke  in  Anstalten  1875 — 1900. 

Paralyse  Epilepsie 


Überhaupt 
verpflegt 


Delirium  B^.^ölkerung 
m  1000 


tremens 


1897 


I  Fall 
auf  Ein- 
wohner 


Berlin    .   .  . 

138  417 

21  976 

22 

708 

13 

139 

1677 

348 

Hessen-Nassau 

67  021 

4631 

4 

725 

613 

1757 

688 

Rheinprovinz 

137975 

9  444 

7 

545 

I 

471 

5106 

973 

Schlesien  .  . 

105  726 

8830 

9 

819 

3 

559 

4415 

1123 

Westfalen .  . 

51  699 

2  023 

2 

391 

189 

2701 

1364 

Man  erkennt  hier  sofort  den  unheimlichen  Einfluß  der  Groß- 
stadt Berlin  auf  die  Zahl  der  verpflegten  Kranken;  diese  ist  gerade 
doppelt  so  groß  wie  in  Hessen-Nassau  mit  annähernd  gleicher  Be- 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

lOO 

Völkerungsziffer,  trotz  der  dort  mitzählenden  Großstädte  Frank- 
furt und  Wiesbaden.  In  dem  mehr  Landbevölkerung  aufweisen- 
den Westfalen  und  Schlesien  beträgt  die  Anstaltsbedürftigkeit 
nur  i/g — 1/4  derjenigen  von  Berlin,  obgleich  man  von  der  reich 
entwickelten  Industrie  eher  einen  ungünstigen  Einfluß  erwarten 
sollte.  Das  Verhältnis  ist  demnach  ein  ganz  ähnliches  wie  das- 
jenige zwischen  München  und  dem  übrigen  Oberbayern.  Gehen 
wir  auf  die  Einzelheiten  ein,  so  finden  wir,  daß  Berlin  mehr  als 
doppelt  soviel  Paralytiker  liefert  wie  die  3  mal  größere  Rheinprovinz, 
mehr  als  10  mal  soviel  wie  das  um  die  Hälfte  größere  Westfalen. 
Ähnlich  groß  sind  die  Unterschiede  bei  der  Epilepsie,  weit  größer 
aber  noch  beim  Delirium  tremens,  über  dessen  Häufigkeit  allere 
dings  die  Anstaltsberichte  keine  verwertbaren  Aufschlüsse  geben. 


Berten, 
Eessen-Tassa 
Wieniprovtiiz 
SMesi£Tv 


TVestnaerv      m.  I 


0  10  ZO  30 

M  dm,  2.^  Jahren,  rmv  1815-1900  l-xonen-  mif10000:Fimw}nmr 

Fig.  VIII.    Verhältnis  der  Paralytiker,  Epileptiker  und  Alkoholdeliranten  ■ 
zu  den  übrigen  Geisteskranken.  I 

Noch  deutlicher  vielleicht  werden  die  Verhältnisse,  wenn  wir,  wie 
in  Fig.  VIII  geschehen,  die  in  den  25  Jahren  durchschnittlich  auf  je 
10000  Einwohner  entfallenden  Geisteskranken  berechnen.  Hier  tritt 
klar  hervor,  daß  Berlin  nicht  nur  verhältnismäßig  2— 4  mal  soviel 
Geisteskranke  zu  versorgen  hat,  wie  die  doch  auch  große  Städte  ent- 
haltenden Provinzen,  sondern  daß  auch  die  Zusammensetzung  des 
Krankenmaterials,  die  bis  jetzt  freilich  nur  sehr  unvollkommen 
bekannt  ist,  wesentlich  abweicht.  Paralyse,  Epilepsie  und  Deli- 
rium tremens  bilden  in  Berlin  41,  in  Hessen-Nassau  14,  in  der 
Rheinprovinz  13,4,  in  Schlesien  21  und  in  Westfalen  8,8%  der 
anstaltsbedürftigen  Geisteskranken,  Paralyse  allein  bzw.  i5)9l 
6,9;  6,8;  8,4  und  3,8%.  Wäre  auch  der  Alkoholismus  in  der 
Statistik  gesondert  behandelt,  so  würden  die  Unterschiede  wohl 
noch   ausgeprägtere  sein.    Jedenfalls   ist  der  Schluß  berechtigt. 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


167 


daß  in  der  Großstadt  vor  allem  Paralyse,  Epilepsie  und  Alkoholis- 
mus gedeihen,  also  Erkrankungen,  die  wesentlich  den  Wirkungen 
der  Syphilis  und  des  Alkohols  entsprechen.  Berücksichtigen  wir, 
das  die  beiden  genannten  Schädlichkeiten  wichtige  Ursachen  der 
Arteriosklerose  sind,  daß  sie  ferner  einen  äußerst  verhängnisvollen 
Einfluß  auf  den  Nachwuchs  ausüben  und  hier  wiederum  Schwach- 
sinn, Epilepsie,  Prostitution  und  Psychopathie  erzeugen,  so  werden 
wir  kaum  noch  bezweifeln  können,  daß  die  Großstädte  nicht  nur 
die  Anstaltsbedürftigkeit  unserer  Kranken  steigern,  sondern  daß 
sie  unmittelbar  als  verderbliche  Brutstätten  geistiger  Krankheiten 
betrachtet  werden  müssen.  Dafür  spricht  auch  die  das  Land  weit 
überragende  Selbstmordhäufigkeit  in  diesen  Kulturmittelpunkten. 

Sind  wirklich  nur  Alkohol  und  Syphilis,  deren  Verbreitung 
durch  das  Großstadtleben  außerordentlich  gefördert  wird,  die 
Quellen,  aus  denen  die  Vermehrung  der  Geistesstörungen  fließt, 
so  werden  wir  nicht  unsere  Kultur,  sondern  nur  unseren  Mangel 
an  wahrer  Gesittung  anzuklagen  haben.  Es  erheben  sich  indessen 
immer  wieder  Stimmen,  die  noch  andere  Begleiterscheinungen 
unseres  modernen  Lebens,  vor  allem  die  Heftigkeit  des  Daseins- 
kampfes und  die  dauernde  Anspannung  aller  Kräfte,  die  Unrast 
unseres  mit  der  Minute  geizenden  Arbeitsbetriebes,  die  Fülle  von 
aufregenden  Vergnügungen,  die  ungenügende  Dauer  und  Tiefe 
des  Schlafes  und  ähnliche  Umstände  für  die  Zunahme  der  all- 
gemeinen Nervosität  verantwortlich  machen.  Es  ist  gewiß  zu- 
zugeben, daß  die  genannten  Schädigungen,  besonders  bei  ge- 
ringer Widerstandsfähigkeit,  nervöse  Erschöpfungs-  und  Erregungs- 
zustände erzeugen  und  damit  auch  den  Boden  für  ernstere  Störungen 
vorbereiten  können.  Namentlich  solche  Menschen,  die  aus  ein- 
facheren Verhältnissen  in  das  Getriebe  der  Großstadt  hineingeworfen 
werden,  sind  deren  Gefahren  und  Verführungen  anscheinend 
stärker  ausgesetzt,  bis  eine  gewisse  Gewöhnung  erfolgt  ist.  Da- 
für spricht  die  große  Zahl  der  Zugezogenen  unter  den  Erkran- 
kenden. 

Auf  der  anderen  Seite  läßt  sich  geltend  machen,  daß  der 
Kampf  die  Kräfte  stählt,  und  daß  unsere  soziale  Entwicklung 
durch  die  fortschreitende  Besserung  der  Gesundheitsverhältnisse, 
die  Fürsorge  für  Arme  und  Kranke,  die  Erleichterung  des  Reisens 
und  der  Erholung,  die  wirtschaftliche  Hebung  der  Arbeiter  wohl 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

mehr  Übel  beseitigt,  als  erzeugt  hat.  Allein  gerade  die  Folge- 
erscheinungen einer  großen  sozialen  Wohltat,  der  Unfallgesetz- 
gebung, zeigen  uns  an  einem  sehr  lehrreichen  Beispiele,  daß  in  der 
Tat  unsere  Lebenseinrichtungen  imstande  sind,  Geistesstörungen 
hervorzurufen.  Die  Entschädigung  für  die  Arbeitsunfähigkeit 
nach  Unfall  durch  eine  Rente,  die  mit  der  Wiederherstellung  er- 
lischt, hat  die  ungeahnte  Folge  gehabt,  daß  eine  große  Zahl  von  Un- 
fallverletzten in  unheilbares  Siechtum  verfällt.  Durch  die  fort- 
laufende Entschädigung  fällt  nicht  nur  der  Antrieb  fort,  die  Un- 
fallsfolgen aus  eigener  Kraft  zu  überwinden,  sondern  jeder  Ver- 
such dazu  wird  geradezu  mit  dem  Verlust  der  Rente  bedroht  und 
dadurch  von  vornherein  unterdrückt.  Vielleicht  ist  das  Beispiel 
der  Unfallsneurose,  die  wir  unter  unseren  Augen  sich  haben  aus- 
breiten sehen,  vorbildlich  auch  für  andere  Störungen,  die  mit 
unseren  allgemeinen  Lebensverhältnissen  in  ursächlicher  Beziehung 
stehen.  Namentlich  das  große  Gebiet  des  Zwangsirreseins  ist 
es,  bei  dem  mir  solche  Beziehungen  nahe  zu  liegen  scheinen. 
Das  Gefühl  der  steten  Verantwortlichkeit,  das  durch  Erziehung 
und  Leben  in  uns  mit  beherrschender  Stärke  gezüchtet  wird,  bildet 
den  Ausgangspunkt  für  eine  Menge  von  Zweifeln  und  Befürch- 
tungen, die  unsere  Kranken  quälen,  und  es  erzeugt  vielfach  jenen 
Mangel  an  Selbstvertrauen,  der  vor  jeder  entscheidenden  Hand- 
lung zurückschreckt  und  bei  den  einfachsten  Leistungen  durch 
Angstgefühle  behindert  wird.  Diese  Erkrankungen  sind  bei  Völ- 
kern, die  unter  einfacheren  Bedingungen  leben,  anscheinend  gänz- 
lich unbekannt;  so  habe  ich  bei  den  javanischen  Eingeborenen 
Versündigungsideen  oder  Selbstvorwürfe  überhaupt  nicht  beob- 
achtet. In  den  krankhaften  Gedankenreihen  und  Gefühlen,  die  sich 
an  das  Bewußtsein  der  Verantwortlichkeit  anknüpfen,  haben  wir  so- 
mit vielleicht  wirkliche,  unmittelbare  Erzeugnisse  unserer  Gesittung 
zu  erblicken. 

Es  ist  aber  sehr  wohl  möglich,  daß  auch  noch  nach  einer  anderen 
Richtung  hin  die  Züchtungseinflüsse,  denen  wir  unterworfen  sind, 
eine  ungünstige  Wirkung  auf  unsere  Widerstandsfähigkeit  aus- 
geübt haben.  Die  Tatsache,  daß  zahlreiche  Völker  trotz  reich- 
lichster Durchseuchung  mit  Syphilis  von  metasyphilitischen  Er- 
krankungen ganz  oder  nahezu  verschont  werden,  während  die 
mit  ihnen  zusammenwohnenden  Europäer  daran  zugrunde  gehen. 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


169 


deutet  darauf  hin,  daß  wir  aus  irgendeinem  Grunde  verletzlicher 
geworden  sind;  auch  das  verhältnismäßig  späte  Bekanntwerden 
der  Paralyse  läßt  an  ein  allmähliches  Auftauchen  derselben  im 
Laufe  der  letzten  Jahrhunderte  und  damit  an  eine  Herabsetzung 
unserer  Widerstandsfähigkeit  gegen  das  krankmachende  Gift 
denken.  Allerdings  wissen  wir  nicht,  welches  die  Ursache  für  unsere 
Empfindlichkeit  gegen  die  metasyphilitischen  Schädigungen  sein 
mag.  Bedenken  wir  jedoch,  daß  unsere  Haustiere  ebenfalls  viel- 
fach für  Krankheiten  empfänglicher  werden,  gegen  die  ihre  wilden 
Verwandten  gefeit  sind,  so  werden  wir  auf  die  Möglichkeit  geführt, 
daß  wir  hier  vielleicht  eine  Teilerscheinung  jener  körperlichen 
Verweichlichung  vor  uns  haben,  der  wir  durch  unsere  gesamte 
Kulturentwicklung  ausgesetzt  sind.  Wir  werden  späterhin  Gelegen- 
heit haben,  auf  diese  Frage  noch  näher  einzugehen. 

Endlich  haben  wir  noch  eines  weiteren  Umstandes  zu  geden- 
ken, durch  den  unsere  Gesittung  die  Zunahme  der  Geistesstörungen 
befördert.  Während  ein  großer  Teil  unserer  Kranken  ohne  die 
sorgfältigste  Fürsorge  zugrunde  gehen  würde,  hat  die  opferwillige 
Hilfsbereitschaft  der  Kulturvölker  ein  großartiges  Netz  von  Ein- 
richtungen geschaffen ,  durch  welche  die  Unfähigen ,  Verkom- 
menen, Minderwertigen  und  geistigen  Krüppel  erhalten,  die  Kranken 
gepflegt  und  geschützt  werden.  Dieses  Werk  des  Mitleids  hat 
natürlich  zur  Folge,  daß  eine  große  Zahl  von  Krankheitsanlagen, 
statt  mit  ihren  Trägern  zu  verschwinden,  die  Möglichkeit  finden, 
sich  auf  kommende  Geschlechter  zu  vererben.  Die  Wirksamkeit 
der  natürlichen  Auslese  wird  dadurch  erheblich  beeinträchtigt. 
Einen  gewissen  Ersatz  dafür  gewährt  der  Umstand,  daß  ein  erheb- 
licher Teil  der  für  das  Gemeinschaftsleben  untauglichen  Menschen 
in  Irren-,  Siechen-  und  Idiotenanstalten,  in  Arbeitshäusern  und 
Gefängnissen  abgeschlossen  gehalten  wird;  freilich  trifft  dieses 
Schicksal  dauernd  fast  nur  diejenigen,  die  ohnedies  wenig  Aus- 
sicht gehabt  haben  würden,  ihre  entartete  Anlage  fortzupflanzen. 

Mehrfach  ist  die  Ansicht  ausgesprochen  worden,  daß  die  kli- 
nischen Krankheitsformen  schon  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte 
gewisse  Wandlungen  durchgemacht  hätten.  So  soll  die  demente 
Paralyse  häufiger,  die  klassische  Form  seltener  geworden  sein, 
während  die  Neigung  zu  Remissionen  zugenommen  habe.  Anderer- 
seits soll  das  circuläre  Irresein  öfters  beobachtet  werden  als  früher. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Da  wir  selbst  und  unsere  Diagnosen,  auch  auf  dem  anscheinend 
so  sicheren  Boden  der  Paralyse,  fortwährendem  Wandel  unter- 
liegen, ist  es  sehr  schwer,  über  solche  Fragen  ein  zuverlässiges 
Urteil  zu  gewinnen.  Es  ist  gewiß  möglich,  daß  Verschiebungen 
vor  sich  gegangen  sind.  So  begegnen  wir  der  Paralyse  bei  Frauen 
und  Kindern  anscheinend  häufiger,  während  die  paralytischen 
Anfälle  selfener  geworden  sein  dürften.  Aber  auch  bei  denjenigen 
Tatsachen,  die  einigermaßen  sichergestellt  sind,  bleibt  für  die 
Deutung  noch  ein  weiter  Spielraum. 

Beruf.  Die  Gefährdung  einzelner  Berufsarten  durch  Geistes- 
störungen ist  natürlich  zumeist  nur  in  der  größeren  Häufigkeit 
und  Wirksamkeit  der  mit  ihnen  verknüpften  Schädlichkeiten  be- 
gründet; höchstens  könnte  man  aus  der  Wahl  mancher  künst- 
lerischer Berufsarten,  z.  B.  des  dichterischen  und  schauspiele- 
rischen, einen  bisweilen  zutreffenden  Rückschluß  auf  eine  stärkere 
gemütliche  Empfänglichkeit  und  Erregbarkeit  machen.  Ferner 
dürfte  die  Berufslosigkeit  (Landstreicher,  Gewohnheitsver 
brecher  usf.)  zumeist  durch  unvollkommene  oder  krankhaft 
Entwicklung  der  Persönlichkeit  bedingt  werden.  Erfahrungs 
gemäß  findet  sich  unter  den  Insassen  der  Gefängnisse,  Zucht 
häuser  und  Arbeitshäuser  eine  bedeutende  Zahl  von  mehr  oder 
weniger  ausgeprägt  Geisteskranken;  die  Angaben  schwanken  um 
2 — 4%  herum,  gehen  bei  den  Männern  jedoch  erheblich  höher. 
Am  häufigsten  scheinen  Trinker  zu  sein,  die  freilich  nur  mit  Vor- 
behalt als  krank  angesehen  zu  werden  pflegen;  in  Preußen  sollen 
sie  über  40%  der  Strafanstaltsbevölkerung  ausmachen.  In  der 
Regel  hat  sich  hier  wohl  die  Trunksucht  schon  auf  dem  Boden  einer 
minderwertigen  Veranlagung  entwickelt,  die  allerdings  dann  ihrer- 
seits wieder  in  ungünstigster  Weise  beeinflußt  wird.  Schwach- 
sinnige, psychopathische  Schwindler  und  Hysterische  enden  eben- 
falls häufig  in  den  Strafanstalten;  auch  Epileptiker  sind  nicht 
selten,  besonders  unter  den  Roheits-  und  Sittlichkeitsverbrechern 
wie  unter  den  Brandstiftern.  Bei  allen  diesen  Gruppen  spielt  der 
Rausch  und  die  Trunksucht  meist  nebenbei  noch  eine  bedeutende 
Rolle.  Weiterhin  findet  sich  namentlich  unter  den  unverbesser- 
lichen Dieben  eine  Anzahl  von  hebephrenisch  oder  katatonisch 
Schwachsinnigen,  bei  denen  in  früherem  Lebensalter,  öfters  im 
Gefängnisse,  eine  akute  Geistesstörung  mit  ängstlicher  Verwirrt- 


Beruf. 


171 


heit  und  Sinnestäuschungen  zu  tiefgreifender  Schädigung  des  Ge- 
fühlslebens und  des  Willens  geführt  hat.  Umgekehrt  sehen  wir 
gar  nicht  selten  verwegene  Verbrecher  bei  Gelegenheit  einer  län- 
geren Freiheitsstrafe  an  Dementia  praecox  erkranken  und  dann 
entweder  in  die  Irrenanstalt  wandern  oder  zu  harmlosen  Land- 
streichern herabsinken. 

Gerade  die  Landstreicher^)  aber  bilden  eine  höchst  eigen- 
artige Menschengruppe.  Sie  sind  fast  ausnahmslos  geistig,  oft 
auch  körperlich  minderwertig  und  enthalten  einen  erheblichen 
Bruchteil  von  ausgeprägt  Geisteskranken.  Außer  angeborenem 
Schwachsinn  und  psychopathischer  Veranlagung  spielt  nament- 
lich der  Alkoholmißbrauch  eine  hervorragende  Rolle;  Bon- 
höffer  fand  seine  Spuren  in  63%  seiner  Fälle.  In  12%  be- 
stand Epilepsie.  Von  den  zweifellos  geisteskranken  Landstreichern 
und  den  ihnen  so  sehr  nahestehenden  Prostituierten  gehört  die 
Mehrzahl  dem  Bilde  der  Dementia  praecox  an,  die  sich  aller- 
dings ziemlich  häufig  auf  dem  Boden  einer  schon  von  Jugend 
auf  bestehenden  Verblödung  entwickelt.  Bisweilen  erfolgt  das 
Versinken  in  das  Landstreichertum  im  unmittelbaren  Anschlüsse 
an  eine  akute  Geistesstörung;  in  anderen  Fällen  vollzieht  sich  die 
Verblödung  ganz  schleichend,  so  daß  sie  schon  einen  sehr  hohen 
Grad  erreicht  hat,  wenn  sie  endlich  als  krankhaft  erkannt  wird. 
Wilmanns  konnte  feststellen,  daß  die  von  ihm  untersuchten 
52  Landstreicher  mit  Dementia  praecox,  von  denen  32  erst  infolge 
ihrer  Krankheit  auf  die  abschüssige  Bahn  gerieten,  nicht  weniger 
als  1682  Strafen  erlitten,  bevor  sie  in  der  Irrenanstalt  landeten. 
Von  anderen  Geistesstörungen  führen  hier  und  da  die  Paralyse 
oder  leichte  manische  Erregungen  zum  Landstreichertum.  Unter 
den  190  von  ihm  untersuchten  Prostituierten  fand  Bonhöffer 
21%  angeboren  Schwachsinnige  und  23%  Epileptische,  Hysterische 
und  Psychopathen;  diejenigen,  die  erst  nach  dem  25.  Jahre  zu 
ihrem  Gewerbe  übergingen,  standen  meist  unter  dem  Einflüsse 
des  Alkoholismus.    Zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  kam  Müller. 

Bei  einem  nicht  unerheblichen  Bruchteile  der  unverbesserlichen 
Verbrecher,  Landstreicher  und  Dirnen  haben  wir  es  zwar  nicht  mit 
ausgeprägtem  Irresein,  wohl  aber  mit  krankhaften  Mängeln  und 

1)  Bonhöffer,  Zeitschr.  f.  d.  gesamte  Strafrechtswissenschaft,  XXI,  1902; 
XXIII,  106;  Wilmanns,  Zur  Psychopathologie  des  Landstreichers.  1906. 


^-         Ursachen  des  Irreseins. 

Eigentümlichkeiten  der  psychischen  Veranlagung  zu  tun,  die  von 
vornherein  ihre  Lebensschicksale  in  die  bestimmte  Bahn  drängen. 
Meist  handelt  es  sich  um  eine  Verbindung  von  Genußsucht  mit 
Arbeitsscheu,  Leichtsinn  und  Haltlosigkeit,  seltener  um  ausge- 
prägte Gemütlosigkeit  mit  rücksichtsloser  Selbstsucht ;  hier  ,  kann 
man,  wenn  man  will,  von  ,, geborenen  Verbrechern"  reden.  Ganz 
vereinzelt  endlich,  namentlich  bei  gewissen  Sittlichkeitsverbrechern, 
Brandstiftern  und  Giftmischern,  begegnen  wir  geradezu  mächtigen 
verbrecherischen  Trieben.  Von  den  entschieden  krankhaften  Per- 
sönlichkeiten dieser  Art  führen  fließende  Übergänge  ganz  allmäh- 
lich zu  den  einfachen  Gewohnheitsverbrechern  hinüber. 

Im  übrigen  sind  es  entweder  psychische  oder  körperliche  Ur- 
sachen, welche,  an  eine  bestimmte  Art  der  Lebensführung  sich 
knüpfend,  eine  größere  Häufigkeit  des  Irreseins  zur  Folge  haben. 
Da  die  überwiegende  Zahl  der  psychischen  Störungen  nicht  durch 
greifbare  äußere  Schädlichkeiten  erzeugt  wird,  haben  wir  es  zu- 
meist nur  mit  Einwirkungen  zu  tun,  die  eine  allgemeine  Beein- 
trächtigung des  seelischen  Gleichgewichtes  nach  sich  ziehen;  die 
persönliche  Widerstandsfähigkeit  und  besonders  die  Veranlagung 
zu  bestimmten  Erkrankungen  ist  vielfach  wichtiger  als  die  Ge- 
fahren des  Berufes.  Mangel  an  Schlaf  soll  die  Bäcker  und  die 
Setzer  großer  Tageszeitungen  besonders  schädigen.  Geistige  Über- 
anstrengung kann  bei  Gelehrten  oder  im  jugendlichen  Alter  bei 
Schülern  gefährdend  wirken,  vielleicht  auch  auf  anderweitig  vor- 
bereitetem Boden  dem  Ausbruche  des  Irreseins  Vorschub  leisten. 
Auffallend  häufig  sieht  man  junge  Leute  hebephrenisch  erkranken, 
die  sich  auf  der  Schule  besonders  ausgezeichnet  haben,  ohne  daß 
sich  jedoch  ein  ursächlicher  Zusammenhang  sicherstellen  ließe. 
Gemütliche  Erregungen  spielen  bei  Soldaten  im  Kriege,  bei  Börsen- 
männern, bei  Künstlern,  bei  Erzieherinnen  ihre  verderbliche  Rolle. 
Starke  gemütliche  Spannung  und  ständige  Verantwortlichkeit,  ver- 
knüpft mit  Nachtwachen  und  körperlichen  Anstrengungen,  bilden 
die  Gefahren  der  Krankenpflege;  sie  bedrohen  erfahrungsgemäß 
in  hohem  Maße  das  Personal  der  Irrenanstalten,  sei  es  wegen  des 
besonders  aufreibenden  und  angreifenden  Verkehrs  mit  den  Geistes- 
kranken, sei  es,  weil  dieser  Tätigkeit  vielfach  schon  psychopathisch 
veranlagte  Personen  zuströmen.  Dagegen  drückt  der  Fluch  der 
Not,  der  Entbehrung,  der  Nahrungssorgen,  gesundheitlicher  Miß- 


Beruf. 


stände  hauptsächlich  die  handarbeitenden  Massen  der  Bevölkerung. 
Körperliche  Überanstrengung,  Nachtwachen,  große  Verantwort- 
Hchkeit  schädigen  im  Verein  mit  den  vielleicht  nicht  ganz  gleich- 
gültigen beständigen  Erschütterungen  des  Fahrens  den  Eisenbahn- 
bediensteten. Matrosen,  Kellnerinnen,  Prostituierte  sind  dem  Ein- 
flüsse der  Ausschweifungen,  dem  Trünke  und  der  Syphilis  aus- 
gesetzt; auch  Studenten  und  Kaufleute,  besonders  Reisende,  haben 
darunter  zu  leiden.  Den  in  den  Alkoholgewerben  tätigen  Personen, 
Brauern,  Weinhändlern,  Schnapsbrennern,  Likörfabrikanten,  Wirten 
und  Kellnern,  drohen  die  Gefahren  des  Alkoholismus,  die  nicht  nur 
ihr  Leben  verkürzen,  sondern  auch  die  ganze  Reihe  der  alkoho- 
lischen Geistesstörungen  mit  sich  bringen.  Eine  Berufskrankheit 
der  Ärzte,  Apotheker,  Krankenpflegerinnen  und  ihrer  Angehö- 
rigen ist  der  Morphinismus  und  Morphiococainismus.  Wärme- 
bestrahlung, Kopfverletzungen,  Vergiftungen  verschiedener  Art 
(Blei,  Quecksilber)  sind  weitere  Gelegenheitsursachen,  denen  wie- 
der andere  Berufsarten  vorzugsweise  ausgesetzt  zu  sein  pflegen. 
Der  klinische  Ausdruck  dieser  Gefährdung  wird  natürlich  wesent- 
lich durch  die  besondere  Art  der  vorherrschenden  Ursachen  be- 
stimmt; wir  können  daher  in  dieser  Beziehung  auf  die  frühere 
Besprechung  der  betreffenden  ursächlichen  Verhältnisse  zurück- 
verweisen. 

Eine  kurze  Erwähnung  verdienen  noch  die  Verhältnisse  der 
Armee  und  Marine^).  Alljährlich  scheidet  aus  deren  Mannschaften 
ein  langsam  wachsender  Prozentsatz  (0,6  auf  1000  Mann  der  Ist- 
stärke, bei  der  Marine  etwas  mehr)  wegen  Geistesstörung  aus. 
Dazu  kommt,  daß  die  Selbstmordneigung  beim  Militär  etwa  i  ^/g  mal 
so  groß  ist  wie  diejenige  der  entsprechenden  männlichen  Bevölke- 
rung; bei  der  Marine  ist  das  Verhältnis  günstiger.  Die  Selbstmorde 
geschehen  namentlich  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Einstellung, 
dann  wieder  in  erhöhter  Zahl  bei  den  Unteroffizieren.  Die  Ursache 
dieser  Erscheinungen  ist  jedoch  im  allgemeinen  nicht  darin  zu 
suchen,  daß  der  Dienst  eine  unmittelbar  krankmachende  Wirkung 
ausübt.  Vielmehr  zeigt  sich,  daß  es  sich  bei  den  Selbstmördern 
wie  bei  den  Erkrankten  wesentlich  um  Personen  mit  unzuläng- 
licher Veranlagung  oder  schon  beginnenden  Leiden  handelt.  In 

1)  Sommer,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIII,  13;  Stier,  ebenda  LIX,  i; 
Ilberg,  Über  Geistesstörungen  in  der  Armee  zur  Friedenszeit.  1903. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

174 

erster  Linie  sind  es  Schwachsinnige  und  Minderwertige,  die  den 
besonderen  Anforderungen  des  militärischen  Dienstes  nicht  ge- 
wachsen sind  und  nun  in  den  fremdartigen  Verhältnissen,  unter 
dem  Drucke  der  Machtmittel  militärischer  Erziehung,  in  verzweifelte 
Gemütsstimmungen  oder  in  krankhafte  Erregungen  hineingetrieben 
werden.  Eine  weitere  Gruppe  bilden  die  Epileptiker,  die  ihrer 
Reizbarkeit  wegen  Schiffbruch  leiden,  in  krankhaften  Rausch- 
zuständen sich  schwere  Dienstvergehen  zu  schulden  kommen 
lassen  oder  in  Dämmerzuständen  fahnenflüchtig  werden.  Auch 
die  Dementia  praecox,  namentlich  in  ihren  schleichend  sich  ent- 
wickelnden und  daher  schwer  erkennbaren  Formen,  spielt  eine 
nicht  unbedeutende  Rolle.  Endlich  ist  noch  der  Alkoholismus  zu 
erwähnen,  dessen  mannigfaltigen  Folgen  ein  nicht  geringer  Teil 
der  Unteroffiziersselbstmorde  seine  Entstehung  verdanken  dürfte. 
Für  die  Offiziere,  die  vielfach  durch  Ehrgeiz,  gesellschaftliche  Ver- 
pflichtungen, Ausschweifungen,  die  strengen  Anforderungen  des 
Dienstes  zu  rücksichtsloser  Vernachlässigung  ihrer  körperlichen 
Gesundheit  veranlaßt  werden,  liegt  die  Hauptgefahr  in  dem  durch 
die  Trinksitten,  namentlich  der  kleinen  Garnisonen,  begünstigten 
Alkoholismus  und  in  der  Syphilis,  deren  Nachkrankheit  Paralyse 
gerade  unter  ihnen  unverhältnismäßig  viele  Opfer  fordert.  f 
Zivilstand.  Ein  nicht  unerheblicher  Einfluß  auf  die  Häufig- 
keit des  Irreseins  muß,  wie  es  im  Hinblick  auf  statistische  Zu- 
sammenstellungen den  Anschein  hat,  dem  Zivilstande  zugeschrie- 
ben werden.  Allerdings  hat  Hagen  mit  Recht  darauf  hingewiesen, 
daß  die  zunächst  sich  ergebenden  Unterschiede  vor  allem  auf  die 
verschiedene  Gefährdung  des  durchschnittlichen  Lebensalters  zu- 
rückzuführen sind,  in  welchem  sich  die  Ledigen  und  die  Ver- 
heirateten befinden.  Haben  wir  doch  oben  gesehen,  daß  psychische 
Erkrankungen  in  den  jüngeren  Lebensjahren  überhaupt  häufiger 
zu  sein  pflegen  als  in  späterem  Alter.  Auf  der  anderen  Seite  ist 
es  unzweifelhaft,  daß  in  einer  großen  Zahl  von  Fällen  die  Ehe- 
losigkeit schon  als  Folge  einer  unvollkommenen  psychischen  Ent- 
wicklung, einer  bestehenden  oder  (namentlich  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte) überstandenen  Geistesstörung  anzusehen  ist.  Endlich 
aber  kann  auch  der  Ehe  selbst  trotz  der  aus  dem  Fortpflanzungs- 
geschäfte erwachsenden  Gefahren,  trotz  der  Sorgen,  die  sie  mit  sich 
bringt,  dennoch  wegen  der  größeren  Befriedigung  und  Sicherheit 


Erblichkeit. 


175 


des  gemeinschaftlichen  Lebens,  namenUich  auch  wohl  wegen  der 
geringeren  Verführung  zu  Ausschweifungen,  eine  gewisse  schützende 
Bedeutung  nicht  abgesprochen  werden.  Am  meisten  gefährdet 
scheinen  die  Verwitweten  und  Geschiedenen  zu  sein;  haben  sie  doch 
häufig  fast  alle  Sorgen  und  Gefahren  der  Ehe  zu  tragen,  ohne 
deren  schützende  und  sichernde  Wirkungen  zu  genießen. 

2.  Persönliche  Prädisposition. 

Wenn  uns  die  bisherige  Betrachtung  gezeigt  hat,  wie  den  ver- 
schiedenen Gruppen  von  Menschen  entweder  nach  ihrer  allge- 
meinen Anlage  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegen  schä- 
digende Einflüsse  zukommt,  oder  wie  sie  nach  ihrer  eigentüm- 
lichen Veranlagung  und  den  besonderen  Lebensverhältnissen  einer 
größeren  oder  geringeren  Zähl  von  Gefahren  ausgesetzt  sind,  so 
werden  uns  ähnliche  Gesichtspunkte  einen  Einblick  in  das  zwei- 
fache Wesen  jener  vielgestaltigen  Krankheitsursachen  verschaffen, 
die  man  unter  dem  Namen  der  persönlichen  Prädisposition  zu- 
sammenzufassen pflegt. 

Erblichkeit^).  Die  Zergliederung  einer  gegebenen  Persönlich- 
keit weist  uns  auf  ihre  Entstehung  und  damit  über  das  Einzel- 
leben hinaus  auf  dasjenige  der  Erzeuger  zurück,  welches  uns  über 
die  erste  und  ungemein  wichtige  Frage  Aufschluß  zu  geben  hat, 
über  den  Einfluß  der  Erblichkeit.  Bei  der  oft  überraschenden 
Treue,  mit  der  sich  nicht  nur  körperliche,  sondern  namentlich 
auch  geistige  Eigenschaften  von  Eltern  und  Voreltern  auf  die 
Nachkommen  übertragen,  werden  wir  uns  nicht  wundern  dürfen, 
daß  auch  die  Anlage  zu  psychischer  Erkrankung  in  großem  Um- 
fange der  Vererbung  unterliegt.  Scheint  doch  gerade  das  Nerven- 
gewebe in  besonderem  Maße  der  Beeinflussung  durch  die  Ver- 
erbung zugänglich  zu  sein.  Von  der  Vererbung  im  strengen  Sinne 
ist  grundsätzlich  zu  trennen  einmal  der  unmittelbare  Übergang 

1)  Sanson,  l'her^dite  normale  et  pathologique.  1893;  Ribot,  Die  Vererbung, 
deutsch  von  Kur  eil  a.  1895;  Orschansky,  Die  Vererbung  im  gesunden  und  im 
krankhaften  Zustande.  1903;  Graßmann,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LH,  960; 
Turner,  Journal  of  mental  science,  Juli  1896;  Farguharson,  ebenda,  Juli  1898; 
Warda,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  IV,  388,  189;  Hähnle,  Neurol.  Centralbl. 
1904,  843;  Sommer,  Familienforschung  und  Vererbungslehre.  i907- 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

von  Krankheitskeimen  auf  das  werdende  Kind  durch  Ansteckung, 
sodann  aber  die  Keimschädigung  durch  Krankheit  oder  Siechtum 
der  Eltern.  Dieser  letztere  Fall  ist  anscheinend  sehr  häufig.  Eine 
ganze  Reihe  von  Leiden  vermögen  unmittelbar  oder  durch  Ver- 
mittlung von  allgemeinen  Gesundheitsschädigungen  einen  ver- 
hängnisvollen Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  kommenden  Ge- 
schlechtes auszuüben.  So  wissen  wir,  daß  Syphilis  der  Eltern  nicht 
nur  als  solche  auf  den  Keim  übergehen  kann,  sondern  daß  auch  dort 
Verkümmerungen  und  Entwicklungsstörungen  auftreten  können, 
wo  keine  erkennbare  syphilitische  Erkrankung  bei  den  Früchten 
vorliegt.  Auch  die  Tuberkulose,  ferner  Malaria,  Gicht,  Diabetes, 
bösartige  Geschwülste,  kurz  alle  Krankheiten,  die  allgemeine  Er- 
nährungsstörungen erzeugen,  vermögen  anscheinend  in  ähnlicher 
Weise  zu  wirken.  Ganz  besonders  aber  gilt  das  von  den  gewohn- 
heitsmäßig in  den  Körper  eingeführten  Giften,  unter  denen  der 
Alkohol  die  bei  weitem  schlimmste  Bedeutung  hat. 

In  der  Regel  pflegt  man  bei  der  Feststellung  der  erblichen  Ver- 
anlagung die  genannten  Vorgänge  zusammenzufassen.  Für  das 
wissenschaftliche  Verständnis  der  Vererbungsfragen  wird  es  je- 
doch unerläßlich  sein,  die  Übertragung  endogener  Eigenschaften 
von  der  Keimschädigung  und  gar  der  Ansteckung,  die  freilich  auf 
unserem  Gebiete  nicht  allzuhäufig  in  Betracht  kommt,  scharf  zu 
unterscheiden.  Leider  ist  die  begriffliche  Trennung  leichter,  als 
die  Anwendung  auf  den  einzelnen  Fall.  Die  uns  bisher  vorliegenden, 
überaus  zahlreichen,  aber  auch  sehr  weit  auseinandergehenden  An- 
gaben über  die  Rolle  der  Erblichkeit  in  der  Entstehung  von  Geistes- 
krankheiten (zwischen  4  und  90%)  gestatten  uns  daher  keinen 
Einblick  in  die  Bedeutung,  die  der  Keimschädigung  und  der  Ver- 
erbung gesondert  zukommt.  Natürlich  haben  aber  in  solchen  Be- 
rechnungen zumeist  nur  solche  keimschädigende  Ursachen  mit  Be- 
rücksichtigung gefunden,  die  schon  bei  den  Vorfahren  Geistes- 
störungen bewirkt  hatten.  Wenn  wir  von  den  vereinzelten  Fällen 
psychischer  Erkrankung  bei  Tuberkulose,  Bleivergiftung  u.  dgl.  ab- 
sehen, kommen  unter  jenem  Gesichtspunkte  ernstlich  nur  Alkohol 
und  Syphilis  in  Frage.  Nur  dort  also,  wo  die  Erkrankung  der  Vor- 
fahren durch  diese  Gifte  bedingt  wurde,  und  selbstverständlich  nur 
bei  unmittelbarer  Geschlechtsfolge,  kann  die  Frage,  ob  Vererbung 
oder  Keimschädigung  vorliegt,  zweifelhaft  sein.    In  allen  übrigen 


Erblichkeit. 


177 


Fällen  werden  wir,  soweit  überhaupt  ein  Zusammenhang  zwischen 
den  beiden  Erkrankungsfällen  besteht,  berechtigt  sein,  eine  erb- 
liche Übertragung  anzunehmen. 

Am  einleuchtendsten  ist  ein  solcher  Zusammenhang,  wenn 
eine  Geistesstörung  bei  Eltern  und  Kindern  auftritt.  Da  aber  die 
Erfahrung  lehrt,  daß  Eigenschaften  durch  Zwischenglieder  vererbt 
werden  können,  bei  denen  sie  gar  nicht  zum  Ausdruck  kommen, 
so  haben  wir  nicht  nur  die  Eltern,  sondern  auch  entferntere  Vor- 
fahren mit  in  Betracht  zu  ziehen.  Genau  genommen,  ist  ja  der 
einzelne  das  Erzeugnis  seiner  ganzen,  unabsehbaren  Ahnenreihe, 
deren  Einfluß  sich  mit  dem  wachsenden  Abstände  der  Glieder  wohl 
abschwächt,  aber  doch  gelegentlich  wieder  in  stärkerer  oder  schwä- 
cherer Ausprägung  zum  Durchbruch  gelangen  kann.  Solche  ,, ata- 
vistische" Rückschläge  auf  weiter  zurückliegende  Ahnen  scheinen 
besonders  dann  vorzukommen,  wenn  Ehen  zwischen  Abkömm- 
lingen derselben  Voreltern  geschlossen  werden. 

Die  Tatsache  schlummernder  Vererbungsneigungen,  deren  ge- 
setzmäßiges Auftreten  durch  Mendels  Untersuchungen  an  Pflan- 
zen nachgewiesen  wurde,  nötigt  uns,  bei  der  Frage  nach  der  Erb- 
lichkeit auch  die  Seitenglieder  der  Geschlechtsfolge  zu  beachten. 
In  ihrem  Verhalten  können  sich  krankhafte  Anlagen  einer  Familie 
kundgeben,  die  bei  den  direkten  Vorfahren  des  Erkrankten  schlum- 
merten, in  ihm  selbst  aber  zur  Entwicklung  gekommen  sind.  Eine 
solche  ,, kollaterale",  in  Seitenlinien  sich  zeigende  krankhafte  Ver- 
anlagung kommt  am  schärfsten  zum  Ausdruck,  wenn  die  Geschwister 
des  Kranken  selbst  ebenfalls  erkrankt  sind,  ohne  daß  bei  den  direkten 
Vorfahren,  insbesondere  bei  den  Eltern,  geistige  Störungen  sich 
gezeigt  hätten.  In  schwächerem  Grade  werden  uns  aber  auch 
Erkrankungen  der  Geschwister  der  Eltern,  vielleicht  auch  der  Groß- 
eltern, allenfalls  selbst  von  deren  Nachkommen,  Fingerzeige  für 
den  Nachweis  erblicher  Einflüsse  liefern  können.  Wie  weit  sich 
das  Gewicht  eines  solchen  Zusammentreffens  mit  der  Entfernung 
der  Beziehungen  vom  Erkrankten  und  von  seiner  unmittelbaren 
Ahnenreihe  abschwächt,  bedarf  natürlich  besonderer  Untersuchung, 

Noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  muß  die  Erblichkeits- 
forschung eine  Ausdehnung  erfahren,  wenn  sie  den  Tatsachen  ge- 
recht werden  will.  Auf  der  einen  Seite  ist  es  klar,  daß  bei  den  Geistes- 
störungen,  die  durch  grobe  äußere  Schädigungen,  Infektionen, 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  12 


„  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

178 

Vergiftungen,  Kopfverletzungen,  erzeugt  werden,  die  Erblichkeit 
höchstens  insoweit  eine  Rolle  spielen  kann,  als  sie  der  Einwirkung 
jener  Ursachen  auf  irgendeine  Weise  den  Weg  ebnet.     Auf  der 
anderen  Seite  aber  wird  sich  die  psychopathische  Veranlagung  einer 
Familie  nicht  nur  in  dem  Auftreten  von  Geistesstörungen,  sondern 
auch  in  anderen  Erscheinungsformen  kundgeben  können.  Dahin 
gehören  vor  allem  jene  mannigfachen  leichteren  Abweichungen 
von  der  geistigen  Gesundheit,  die  das  Grenzgebiet  gegenüber  dem 
ausgeprägten  Irresein  bilden,  die  Nervosität,  die  Angst-  und  Zwangs- 
zustände,  die  konstitutionellen  Verstimmungen,  leichte  hysterische 
Störungen  und  Schwachsinnsformen,  Tiks,  ferner  auffallende  Cha- 
raktere, Absonderlichkeiten  in  der  Lebensführung,  verbrecherische 
Neigungen,  Haltlosigkeit,  Trunksucht,  Abenteuerlust,  Lügenhaftig- 
keit, Selbstmord  aus  inneren  Gründen.   Endlich  hat  man  auch  den 
Hirn-  und  Nervenkrankheiten  im  engeren  Sinne,  den  Geschwülsten, 
Apoplexien,  Rückenmarksleiden,  eine  gewisse  Bedeutung  als  Zei- 
chen krankhafter  Veranlagung  des  Nervengewebes  zugeschrieben. 

Untersucht  man  unter  diesen  Gesichtspunkten  eine  größere 
Anzahl  von  Geisteskranken,  über  deren  Familiengeschichte  einiger- 
maßen zuverlässige  Angaben  vorliegen,  so  stellt  sich  bei  sorgfältiger 
Nachforschung  ziemlich  allgemein  heraus,  daß  in  etwa  70—80% 
der  Fälle  bei  der  näheren  Verwandtschaft  eine  oder  mehrere  der 
genannten  Störungen  zur  Beobachtung  gekommen  sind.  Natürlich 
können  die  Zahlen  nicht  nur  wegen  der  verschiedenen  Genauigkeit 
der  Erhebungen,  sondern  auch  wegen  der  weiteren  oder  engeren 
Fassung  der  berücksichtigten  Störungen,  endlich  auch  nach  der 
Zusammensetzung  des  verarbeiteten  Krankenmaterials  erheblich 
voneinander  abweichen.    Für  die  Würdigung  der  zunächst  rein 
statistischen  Ergebnisse  ist  aber  weiter  zu  bemerken,  daß  ein  Zu- 
sammentreffen psychopathischer  Züge  bei  Gliedern  derselben  Fa- 
milie noch  nicht  notwendig  einen  ererbten  Zusammenhang  zwischen 
diesen  Störungen  erweist.     Ein  solcher  wird  vielmehr  erst  dann 
einigermaßen  wahrscheinlich,  wenn  sich  herausstellt,  daß  sich  in  der 
Verwandtschaft  geistig  gesunder  Personen  die  genannten  Erschei- 
nungen gar  nicht  oder  doch  in  wesentlich  geringerem  Grade  nach- 
weisen lassen.   Ausreichende  Untersuchungen  in  dieser  Richtung^) 

1)  Koller,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXVII,  268;  Wagner,  Wiener  klin.  Wochen- 
schr.  1902,  113s;    Diem,  Arch.  f.  Rassen-  und  Gesellschaf tsbiol.,  1905,  215. 


Erblichkeit. 


179 


sind  erst  in  jüngster  Zeit,  namentlich  von  Diem,  angestellt  wor- 
den; auch  von  Kalmus  liegen  Untersuchungen  über  die  psycho- 
pathische Erblichkeit  von  Geistesgesunden  und  -kranken  vor.  Nach- 
dem schon  vorher  Jenny  Koller  aus  dem  Vergleiche  von  370  Ge- 
sunden und  Geisteskranken  zu  dem  Schlüsse  gekommen  war,  daß 
sich  bei  jenen  in  59,  bei  diesen  in  76,8%  der  Fälle  psychopathische 
Abweichungen  bei  den  nächsten  Anverwandten  finden,  dehnte 
Diem  die  Nachforschungen  auf  11 93  Gesunde  aus  und  verglich 
sie  mit  den  nach  gleichen  Gesichtspunkten  an  einer  großen  Zahl 
von  Geisteskranken  gewonnenen  Ergebnissen,  Der  folgenden  Über- 
sicht sind  die  Erfahrungen  zugrunde  gelegt,  die  sich  bei  1850  Auf- 
nahmen von  Geisteskranken  in  Burghölzli  herausgestellt  haben; 
dabei  wurde  überall  nur  die  ,, nächstliegende"  Störung  berück- 
sichtigt, nicht  alle  etwa  gleichzeitig  in  der  Familie  beobachteten 
Abweichungen, 


Psychopathische  Störungen  bei  den  Angehörigen  Gesunder 
(1193)  und  Geisteskranker  (1850): 


Bei  allen  Verwandten 

Bei  den  Eltern 

Indirekt 

Kollateral 

Gesunde  Kranke 

Gesunde  Kranke 

Gesunde 

Kranke 

Gesunde 

Kranke 

Geisteskrankh.  7,1    38,3  (5,4) 

2,2    18,1  (8,2) 

4,0 

10,9 

1,0 

9,3 

Nervenkrankh.  8,2      2,0  (0,2) 

5,7      1,0  (0,2) 

1,3 

0,2 

1,2 

0,8 

Trunksucht 

17,7    16,0  (0,9) 

11,5  13,3(1,2) 

4,9 

1,8 

1,3 

0,9 

Apoplexie 

16,1      4,1  (0,3) 

5,9     3,2  (0,5) 

9,7 

0,7 

0,5 

0,2 

Abn.  Char. 

10,4    14,9  (1,4) 

5,9    12,8  (2,2) 

3,7 

0,7 

1,0 

1,5 

Selbstmord 

1,1  1,0(1,2) 

0,4     0,5  (1,5) 

0,6 

0,3 

0,1 

0,2 

Insgesamt 

66,9    78,2  (1,2) 

33,0    50,3  (1,5) 

29,0 

15,2 

5,0 

12,7 

Aus  dieser  Übersicht,  die  überall  Prozentverhältnisse  zu  der 
Gesamtzahl  der  Untersuchten  wiedergibt,  geht  zunächst  hervor, 
daß  in  der  Tat  auch  in  der  Verwandtschaft  geistig  Gesunder  eine 
sehr  erhebliche  Zahl  von  psychopathischen  Abweichungen  vor- 
kommt. Ja,  der  Unterschied  gegenüber  den  Geisteskranken,  70 
gegen  78%,  erscheint  so  gering,  daß  damit  die  Bedeutung  der 
Erblichkeit  geradezu  in  Frage  gestellt  erscheint.  Das  Verhältnis 
zwischen  Gesunden  und  Kranken,  wie  es  in  Klammern  beigefügt 
ist,  würde  sich  hinsichtlich  der  krankhaften  Veranlagung  wie 
I  :  1,2  berechnen.  Allein  die  genauere  Musterung  der  Ergebnisse 
lehrt,  daß  sich  dieses  Verhältnis  schon  auf  i  :  i,5  erhöht,  sobald 
nur  die  unmittelbaren  Erblichkeitsbeziehungen  zu  den  Eltern  be- 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

rücksichtigt  werden.  Wir  können  also  schließen,  daß  hier  wirklich 
ursächliche  Zusammenhänge  vorhanden  sind.  Gleiches  gilt  auch 
für  die  kollaterale  Erblichkeit,  während  der  indirekten  Erblichkeit, 
wie  sie  sich  von  den  Großeltern  und  den  Geschwistern  der  Eltern 
herleitet,  nach  den  von  Diem  gesammelten  Zahlen  keinerlei  krank- 
machende Bedeutung  zugeschrieben  werden  darf.  Auch  die  Kol- 
ler sehen  Erfahrungen  hatten  gelehrt,  daß  Erblichkeit  von  Seite 
der  Eltern  sich  in  28%  bei  den  Gesunden,  in  57,3%  bei  den  Kran- 
ken nachweisen  ließ ;  das  Verhältnis  der  Gesunden  zu  den  Kranken 
betrug  hier  1:2,  während  es  sich  bei  Berücksichtigung  der  ge- 
samten Verwandten  nur  auf  i  :  i,3  stellte. 

Weitere  Einblicke  in  die  Erblichkeitsbeziehungen  gewinnen  wir 
durch  die  Betrachtung  der  einzelnen,  bei  den  Angehörigen  auf- 
gefundenen Abweichungen.  Wir  erkennen  ohne  weiteres,  daß 
vor  allem  die  Geisteskrankheiten  selbst  als  belastende  Umstände 
gelten  müssen,  ganz  besonders  dann,  wenn  sie  bei  den  Eltern 
vorhanden  waren.  Bei  den  Kranken  ist  das  achtmal  häufiger 
der  Fall  als  bei  den  Gesunden.  Auch  das  Erkranken  von  Geschwi- 
stern ist  bei  den  Kranken  neunmal  so  oft  beobachtet  worden  wie 
bei  den  Gesunden,  während  die  Geistesstörung  anderer  Familien- 
glieder offenbar  ein  wesentlich  geringeres  Gewicht  hat.  Den  Ner- 
venkrankheiten und  der  Apoplexie  scheint  gar  keine  belastende 
Bedeutung  zuzukommen,  wohl  aber  dem  Selbstmorde  und  den 
abnormen  Charakteren,  namentlich  bei  den  Eltern  selbst,  letzteren 
auch  bei  den  Geschwistern.  Die  Trunksucht  endlich  würde  nur 
bei  den  Eltern  in  Betracht  zu  ziehen  sein.  Die  beherrschende 
Stellung  der  Eltern  geht  auch  aus  den  Zahlen  hervor,  die  Diem 
über  die  Verteilung  aller  überhaupt  nachweisbaren  belastenden 
Umstände  gibt.  Von  diesen  entfallen  bei  den  Gesunden  22,8,  bei 
den  Kranken  44,0  auf  die  Eltern,  außerdem  dort  18,8,  hier  30,4 
auf  die  Geschwister. 

Es  ist  unter  diesen  Umständen  nicht  verwunderlich,  daß  die 
Vererbung  bei  weitem  am  stärksten  wirkt,  wenn  beide  Eltern  (ge- 
häufte Vererbung),  und  wenn  sie  schon  bei  der  Zeugung  des  Kindes 
geisteskrank  waren;  doch  kann  auch  auf  ein  vor  dem  Ausbruche 
des  Irreseins  erzeugtes  Kind  die  schon  früher  bestehende  krank- 
hafte Veranlagung  übertragen  werden.  Der  Einfluß  des  Vaters 
scheint  bei  der  Vererbung  im  allgemeinen  mächtiger  zu  wirken, 


Erblichkeit. 


i8i 


als  derjenige  der  Mutter,  Er  überträgt  sich  mehr  auf  die  Söhne, 
während  die  Mutter  mehr  die  Töchter  beeinflußt.  Dabei  ist  aber 
das  weibliche  Geschlecht  überall  etwas  empfänglicher  für  die  erb- 
liche Übertragung  von  Krankheitsanlagen  als  das  männliche.  Die 
ersten  Kinder  einer  Ehe  sollen  nach  Orschanskys  Angaben 
durch  Krankheitszustände  der  Eltern  mehr  gefährdet  sein,  als  die 
späteren,  weil  sich  in  dem  Alter  der  Jugendblüte  der  besondere  Ein- 
fluß der  noch  lebensfrischen  Persönlichkeit  stärker  auf  die  Keime 
geltend  macht  als  später.  Es  soll  indessen  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  in  bezug  auf  alle  angeführten  Regeln  die  Anschau- 
ungen der  Forscher  noch  vielfach  auseinandergehen. 

Eine  gewisse  Sonderstellung  hinsichtlich  der  Erblichkeitsver- 
hältnisse nehmen  die  außerehelich  Geborenen  ein.  Es  ist  bekannt, 
daß  ihre  Sterblichkeit  im  ersten  Lebensjahre  fast  doppelt  so  groß 
ist  wie  diejenige  der  ehelichen  Kinder,  und  daß  sie  späterhin  in  den 
Strafanstalten  und  Arbeitshäusern  sowie  unter  den  Prostituierten 
und  unehelich  Gebärenden  trotz  jener  Verluste  unverhältnismäßig 
stark  vertreten  sind.  Bolte  fand  auch  eine  größere  Häufigkeit  bei 
den  endogenen  Psychosen  und  Neurosen.  Die  Ursachen  dieses  Ver- 
haltens sind  jedoch  offenbar  zusammengesetzte.  Wir  dürfen  ein- 
mal annehmen,  daß  die  Eltern  unehelicher  Kinder,  namentlich  die 
Mütter,  vielleicht  abgesehen  von  manchen  ländlichen  Gegenden, 
teilweise  schon  zu  den  Minderwertigen  gehören;  besonders  trifft 
das  dort  zu,  wo  die  Kinder  nicht  durch  eine  spätere  Eheschließung 
eheliche  werden.  Sodann  spielt  bei  der  Erzeugung  unehelicher 
Kinder  vielfach  der  Alkohol  eine  Rolle,  dessen  ungünstiger  Ein- 
fluß auf  die  Nachkommenschaft  früher  bereits  erwähnt  wurde. 
Endlich  aber  entbehren  die  außerehelich  Geborenen  von  frühester 
Jugend  auf  in  der  Regel  den  Schutz  der  Familie  und  sind  daher  so 
vielen  Gefahren  und  Verführungen  ausgesetzt,  daß  schon  dadurch 
sich  ihre  ungünstige  Stellung  im  Leben  einigermaßen  erklären 
würde. 

Die  einzelnen  Formen  psychischer  Erkrankung  werden  durch 
die  erbliche  Veranlagung  in  sehr  verschiedenem  Grade  beeinflußt. 
Am  stärksten  macht  sich  deren  Wirkung  naturgemäß  geltend  bei 
denjenigen  Störungen,  die  aus  inneren  Ursachen  entstehen.  Dahin 
gehören  das  manisch-depressive  Irresein,  die  epileptischen  und  hy- 
sterischen Geistesstörungen,   ferner  die  Nervosität,  das  Zwangs- 


I.  Die  Ursachen'  des  Irreseins, 

irresein,  das  impulsive  Irresein,  die  geschlechtlichen  Verirrungen, 
die  verschiedenartigen  Formen  krankhafter  Persönlichkeiten,  end- 
lich wohl  auch  die  Verrücktheit,    Verhältnismäßig  wenig  durch 
die  Erblichkeitswirkungen  beeinflußt  zeigen  sich  die  wesentlich 
durch  äußere  Schädigungen  verursachten  Infektionspsychosen,  die 
progressive  Paralyse  und  die  ihr  verwandten  Rindenerkrankungen, 
der  senile  und  arteriosklerotische  Schwachsinn,  während  die  De- 
mentia praecox,  die  Idiotie  und  die  chronischen  Vergiftungen  eine 
Art  Mittelstellung  einnehmen.     Es  ergibt  sich  somit,  daß  erblich 
belastete  Personen  im  allgemeinen  die  Neigung  haben,  konstitutionell, 
dauernd  oder  doch  in  häufiger  wiederkehrenden  Anfällen  zu  er- 
kranken.  Nicht  selten  erscheint  dabei  die  Störung,  rein  nach  ihren 
Erscheinungen  beurteilt,  als  eine  verhältnismäßig  geringe,  da  wir 
es  mehr  mit  einem  eigenartig  entwickelten,  aus  der  Art  geschla- 
genen Menschen,  als  mit  einem  Krankheitsvorgange  von  um- 
grenztem Ablaufe  zu  tun  haben.    Bei  den  einzelnen  psychischen 
Erkrankungen  bedingt  die  erbliche  Entartung  Sprunghaftigkeit 
und  Flüchtigkeit  der  Erscheinungen,  starkes  Hervortreten  von 
psychogenen  Zügen,  Mißverhältnisse  in  der  Entwicklung  der  ver- 
schiedenen Krankheitszeichen.    Auch  das  Auftreten  gewisser  auf- 
fallender Krankheitserscheinungen,   rascher  Verlust  der  Scham- 
und  Ekelgefühle  bei  erhaltener  Besonnenheit,  Triebartigkeit  und 
Verschrobenheit  im  Benehmen  und  Handeln,  Neigung  zu  Heimtücke 
und  Roheit  pflegen  mit  mehr  oder  weniger  Recht  als  Zeichen  der, 
erblichen  Entartung  betrachtet  zu  werden. 

Nur  bei  den  schwersten  Formen  der  psychopathischen  Ver- 
erbung treten  krankhafte  Zustände  schon  in  der  frühesten  Jugend 
hervor;  in  der  Regel  findet  nur  die  Übertragung  einer  Krankheits- 
anlage, einer  geringeren  Widerstandsfähigkeit  des  Seelenlebens 
statt,  welche  erst  dann  zu  wirklichem  Irresein  führt,  wenn  un- 
günstige Einflüsse  auf  dem  Boden  der  ererbten  Anlage  ihre  ver- 
derbliche Wirksamkeit  entfalten.  So  erklärt  es  sich,  daß  der  Be- 
ginn der  Geistesstörung  bei  erblich  Belasteten  besonders  gern  in 
jene  Lebensabschnitte  zu  fallen  pflegt,  in  denen  aus  inneren  oder 
äußeren  Gründen  das  psychische  Gleichgewicht  stärkeren  Schwan- 
kungen ausgesetzt  ist,  namentlich  in  das  Entwicklungsalter  und 
in  die  Zeit  der  Rückbildungsvorgänge.  Wenn  wir  diesen  Erfah- 
rungen gegenüber  bei  ,, rüstigen",  nicht  erblich  belasteten  Menschen 


Erblichkeit. 


183 


im  allgemeinen  Geistesstörungen  nur  durch  sehr  eingreifende 
Schädlichkeiten  entstehen  und  dann  entweder  in  Genesung  oder 
aber  in  mehr  oder  weniger  schweres  geistiges  Siechtum  ausgehen 
sehen,  so  bedarf  es  kaum  besonderer  Betonung,  daß  es  natürlich 
zwischen  diesen  beiden  Grenzfällen  alle  möglichen  Übergänge 
geben  muß.  Das  erklärt  sich  eben  aus  dem  sehr  verschiedenen 
Gewichte,  mit  welchem  die  erbliche  Veranlagung  die  Entstehung 
der  einzelnen  klinischen  Formen  des  Irreseins  beeinflußt.  Ebenso 
ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Beziehungen  zwischen  Erblich- 
keit und  bestimmten  psychischen  Krankheitsbildern  zunächst  nur 
statistische  sind,  daß  also  im  gegebenen  Falle  die  erbliche  Ver- 
anlagung wohl  auch  durch  eine  Häufung  andersartiger  ungünstiger 
Einflüsse  ersetzt  werden,  und  daß  umgekehrt  auch  ein  hochgradig 
erblich  belasteter  Mensch  an  einer  exogenen,  nicht  periodischen, 
heilbaren  Geistesstörung  erkranken  kann. 

Die  klinische  Form  wie  der  Verlauf  der  psychischen  Störung 
wiederholen  in  einzelnen  Fällen  mit  größter  Treue  das  Krank- 
heitsbild des  Vorfahren,  von  dem  sich  die  Vererbung  herleitet 
(gleichartige  Vererbung).  Mehrere  Geschlechtsfolgen  können 
auf  diese  Weise  nacheinander  mit  Selbstmord  endigen,  oder  es 
kann  bei  gleichen  Anlässen,  im  gleichen  Lebensalter  dieselbe  Er- 
krankung bei  Vorfahren  und  Nachkommen  zur  Entwicklung  ge- 
langen. Sehr  häufig  sieht  man  auch  Geschwister,  namentlich 
Zwillinge^),  in  ganz  gleicher  oder  doch  ähnlicher  Weise  erkranken, 
bisweilen  mit  verblüffender  Übereinstimmung  in  den  Einzelheiten, 
bald  unabhängig  voneinander,  bald  unter  gegenseitiger  Beeinflus- 
sung. Meist  handelt  es  sich  dabei  um  das  manisch-depressive 
Irresein  oder  die  Dementia  praecox.  Ferner  scheinen  nach  Siolis 
sorgfältigen  Untersuchungen  die  affektiven  Formen  des  Irreseins 
einerseits  und  die  Verrücktheit  andererseits  bei  der  Vererbung  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  einander  auszuschließen^).  Ebenso  fand 
Vorster,  daß  die  Dementia  praecox  und  das  manisch-depressive 
Irresein  in  hohem  Grade  die  Neigung  zeigen,  sich  in  der  gleichen 


1)  Herfeldt,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVII,  25;  Soukhanoff,  An- 
nales m^dico-psychol.,  1900,  II,  214. 

2)  Sioli,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XVI,  113,  599;  Vorster,  Monatsschr.  f.  Psy. 
chiatrie,  IX,  161;  Tr6nel,  Annales  m6dico-psych.,  1900,  i,  96;  Pücz,  Ober 
st  ein  er -Festschrift.  1907. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Grundform,  wenn  auch  in  verschiedenen  kUnischen  Spielarten, 
erblich  zu  übertragen;  er  betrachtet  das  Band  der  Erblichkeits- 
beziehungen, das  die  eine  wie  die  andere  Gruppe  von  oft  so  mannig- 
faltigen Zustandsbildern  verknüpft,  geradezu  als  einen  Beweis  für 
ihre  innere  klinische  Zusammengehörigkeit. 

Die  Untersuchung  von  2000  Fällen  mit  erblicher  Veranlagung 
gab  Pilcz  die  Möglichkeit,  diesen  Beziehungen  noch  näher  nach- 
zugehen. Er  fand,  daß  die  erbliche  Belastung  durch  Alkoholismus 
sich  am  häufigsten  bei  Alkoholismus,  Epilepsie  und  Imbecillität 
nachweisen  ließ,  diejenige  durch  Selbstmord  oder  ,, affektive  Geistes- 
störungen" bei  den  Formen,  die  wir  als  manisch-depressive  zu- 
sammenfassen. Epilepsie  wurde  bei  den  Vorfahren  der  Epileptiker 
besonders  oft  beobachtet,  ebenso  Migräne,  die  sich  auch  bei  an- 
deren periodischen  Formen  auffinden  ließ.  Apoplektiker  wies  die 
Familiengeschichte  vielfach  auf  bei  Paralyse,  Arteriosklerose,  se- 
niler Demenz,  auch  bei  der  ,, Melancholie",  Charakteranomalien 
bei  Dementia  praecox  und  moralischem  Schwachsinn,  Psycho- 
pathie bei  Dementia  praecox  und  Paranoia.  Senile  Demenz  pflegte 
der  Paralyse  o'der  Arteriosklerose  voraufzugehen,  einfacher  Schwach- 
sinn der  Dementia  praecox.  Sehr  merkwürdig  ist  es,  daß  Tabes 
und  Paralyse  häufiger  in  der  Ascendenz  nicht  nur  der  Paralytiker, 
sondern  auch  bei  der  Dementia  praecox  vorkamen.  Endlich  ist  zu 
erwähnen,  daß  die  einzelnen  Formen  der  alkoholischen  Psychosen 
die  Neigung  zeigten,  sich  in  gleicher  Weise  bei  den  Nachkommen 
zu  wiederholen. 

Auch  aus  diesen  Erfahrungen  läßt  sich  schließen,  daß  im  großen 
und  ganzen  durchaus  die  gleichartige  Vererbung  vorherrscht.  Ganz 
besonders  gilt  das  für  das  manisch-depressive  Irresein,  für  die 
Epilepsie  und  den  Alkoholismus,  in  geringerem  Maße  wohl  auch 
für  die  Arteriosklerose.  Weniger  klar  liegen  die  Verhältnisse  bei 
der  Paralyse,  die  anscheinend  nicht  nur  durch  die  gleiche  Er- 
krankung, sondern  auch  durch  Arteriosklerose  oder  Altersblöd- 
sinn der  Vorfahren  vorbereitet  werden  kann.  Nachdem  ihre  Ver- 
ursachung durch  die  Syphilis  zweifellos  feststeht,  könnte  es  sich 
dabei  wohl  nur  um  die  Vererbung  mehr  nebensächlicher  Unvoll- 
kommenheiten  (etwa  im  Gefäßsysteme?)  handeln.  Noch  rätsel- 
hafter sind  die  Angaben  über  die  Dementia  praecox.  Soweit  die 
Erblichkeitsbeziehungen  zu  Charakteranomalien,  zu  Psychopathie 


Erblichkeit. 


185 


und  einfachem  Schwachsinn  in  Betracht  kommen,  bleibt  die 
Möglichkeit,  daß  es  sich  zum  Teil  vielleicht  um  weniger  aus- 
gebildete Erkrankungen  gleicher  Art  gehandelt  haben  könnte. 
Weiterhin  aber  wäre  es  denkbar,  daß  sich  jenes  Leiden  gern  auf 
einem  nur  im  allgemeinen  psychopathisch  vorbereiteten  Boden 
entwickelt,  ohne  Beziehung  zu  der  besonderen  Art  der  krankhaften 
Veränderung.  Wenn  aber  endlich  auch  Tabes  und  Paralyse  der 
Dementia  praecox  voraufgehen,  so  dürften  wir  es  hier  gewiß  nicht 
mit  einer  Erblichkeitsbeziehung,  sondern  höchstens  mit  einer  Keim- 
schädigung durch  die  Lues  der  Vorfahren  zu  tun  haben,  ähnlich 
wie  wir  auch  Imbecillität  und  Epilepsie  bei  den  Nachkommen 
syphilitischer  Eltern  auftreten  sehen.  Die  gleiche  Erklärung  gilt 
auch  wohl  für  die  Rolle  des  Alkohols  bei  der  Erzeugung  der  Epi- 
lepsie und  des  angeborenen  Schwachsinns;  außerdem  aber  haben 
wir  bei  der  Trunksucht  der  Alkoholistenkinder  neben  der  Ver- 
erbung besonderer  persönlicher  Eigenschaften  wesentlich  auch 
noch  die  ungünstigen  Einflüsse  der  häuslichen  Erziehung  mit 
in  Rechnung  zu  stellen. 

Das  allgemeine  Bild,  das  wir  uns  auf  Grund  der  bisher  vor- 
liegenden, freilich  noch  ganz  unzureichenden  Erfahrungen  von  dem 
Wirken  der  Vererbung  auf  dem  Gebiete  der  Geistesstörungen 
machen  können,  ist  demnach  etwa  folgendes.  Wir  haben  es  einer- 
seits in  einer  sehr  erheblichen  Zahl  von  Fällen  mit  einer  wahren 
Vererbung  krankhafter  Eigenschaften  zu  tun,  die  sich  dann  ent- 
weder als  angeborene  Abweichung  oder  aber  als  schlummernde 
Anlage  überträgt,  um  bei  äußerem  Anstoße  oder  in  den  Übergangs- 
zeiten des  Lebens  hervorzutreten.  Überall  trägt  das  ererbte  Lei- 
den hier  wesentlich  die  gleichen  Züge  wie  dasjenige  des  Vorfahren, 
wenn  auch  kleinere  Abweichungen,  namentlich  in  der  Heftigkeit 
der  Erscheinungen,  ebenso  vorkommen,  wie  wir  sie  bei  der  Ver- 
erbung anderer  Eigenschaften  beobachten.  Demgegenüber  gibt 
es  auch  eine  Übertragung  von  krankhaften  Anlagen  und  Zustän- 
den, bei  der  es  sich  nicht  um  die  Wiederholung  der  elterlichen 
Leiden,  sondern  um  ganz  andersartige  Schädigungen  handelt,  die 
sehr  mannigfache  Formen  annehmen  können.  In  diesen  Fällen 
der  sogenannten  ,, umwandelnden"  oder  ,, polymorphen"  Ver- 
erbung haben  wir  es  wahrscheinlich  mit  wesensverschiedenen 
Vorgängen  zu  tun,   die  wohl  zum  großen  Teile  als  allgemeine 


i86 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Keimschädigungen  durch  Vergiftungen,  Erkrankungen  usf.  oder 
durch  ungünstige  Züchtungseinflüsse  aufgefaßt  werden  dürfen. 
Außerdem  aber  kann  dabei  unter  Umständen  irgendeine  körperliche 
oder  seelische,  wirklich  vererbte  Eigenschaft  nur  die  Grundlage 
abgeben,  auf  der  sich  je  nach  den  Lebensschicksalen  dieses  oder 
jenes  Leiden  späterhin  entwickelt. 

Entwicklungsstörungen.  Unter  den  Ursachen,  die  einen  ein- 
schneidenden ungünstigen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  kommen- 
den Geschlechtes  ausüben  können,  sind  in  erster  Linie  die  Keim- 
schädigungen zu  nennen.  Von  ganz  besonderer  Bedeutung  sind 
für  die  Nachkommenschaft  alle  diejenigen  Krankheiten  der  Eltern, 
die  tiefgreifende  Umwälzungen  im  Gesamtzustande  des  Körpers 
herbeiführen  und  dadurch  mittelbar,  bisweilen  auch  wohl  un- 
mittelbar die  Wachstumsvorgänge  in  den  ■  Keimzellen  beeinträch- 
tigen. Abgesehen  von  wirklichen  Mißbildungen  und  Entwicklungs- 
hemmungen, wie  wir  sie  im  Tierversuche  hervorbringen  können, 
wäre  besonders  auch  an  solche  Veränderungen  der  Keimstoffe  zu 
denken,  die  zur  Entwicklung  von  lebensschwachen,  minderwertigen 
und  entarteten  Früchten  führen.  In  erster  Reihe  sind  hier  der 
Alkoholismus  und  die  Syphilis  zu  nennen,  deren  verheerender  Ein- 
fluß auf  Lebensfähigkeit  und  Gesundheit  der  Kinder  bekannt  genug 
ist;  Berauschtheit  während  des  Zeugungsvorganges  soll  sogar  Epi- 
lepsie der  Nachkommen  zur  Folge  haben.  Ähnliche,  wenn  auch 
schwächere  Wirkungen  werden  der  Tuberkulose,  dem  Diabetes, 
dem  Morphinismus  und  vielen  anderen  Formen  des  Siechtums  zu- 
geschrieben. Auch  ungenügende  Ernährung,  zu  hohes,  sehr  jugend- 
liches oder  sehr  verschiedenes  Alter  der  Eltern,  gehäufte  Geburten, 
eingreifende  Gemütsbewegungen  in  der  Zeit  der  Zeugung  sind  viel- 
leicht nicht  ohne  Bedeutung  für  die  psychische  Anlage  des  Kindes. 

Auf  den  weiteren  Verlauf  der  Entwicklung  können  Krankheiten, 
gemütliche  Erschütterungen  der  Mutter,  Stöße  auf  deren  Leib  mög- 
licherweise ungünstig  einwirken.  Außerdem  aber  kann,  wie  es 
scheint,  die  Frucht  auch  unabhängig  von  der  Mutter  erkranken. 
Die  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Idiotie  haben  ergeben, 
daß  es  sich  hier  nur  in  einem  kleinen  Bruchteile  der  Fälle  um  Ent- 
wicklungsfehler, zumeist  aber  um  mehr  oder  weniger  ausgebreitete 
Erkrankungen  der  fötalen  Hirnrinde  handelt.  Soweit  über  diese 
Frage  ein  Urteil  möglich  ist,  liegt  es  nahe,  an  Vergiftungen  durch 


Entwicklungsstörungen;  Entartung. 


187 


Stoffwechselerzeugnisse  oder  an  Infektionen  zu  denken.  Manche 
dieser  Erkrankungen  hinterlassen  gar  keine  gröberen  Verände- 
rungen; bei  anderen  stoßen  wir  auf  Hydrocephalie,  Porencephalie, 
Mikrogyrie,  Mikrocephalie  und  ähnliche  Zerstörungen,  die  ohne 
weiteres  die  schwere  Schädigung  des  Hirns  erkennen  lassen. 

Den  Abschluß  der  ersten  Entwicklung  bildet  die  Geburt,  die  eben- 
falls mit  Gefahren  für  die  geistige  Gesundheit  des  Kindes  verbunden 
ist.  Die  bei  schwierigen,  verzögerten  Geburten  sich  herausbildende 
Asphyxie  kann  bei  längerer  Dauer  schwere  Schädigungen  des  Hirn- 
gewebes erzeugen,  die  zur  Idiotie  führen.  Ferner  können  durch 
starke  Verschiebung  der  Kopfknochen  bei  Mißverhältnis  zwischen 
Beckendurchmesser  und  Schädelumfang,  auch  beim  Anlegen  der 
Zange,  Zerreißungen  und  Blutungen  im  kindlichen  Hirn  erfolgen, 
die  natürlich  ebenfalls  mehr  oder  weniger  schwere  geistige  Ver- 
kümmerungen nach  sich  ziehen  müssen. 

Entartung.  Mit  dem  Namen  der  Entartung  bezeichnen  wir  das 
Auftreten  vererbbarer  Eigenschaften,  welche  die  Erreichung  der 
allgemeinen  Lebensziele  erschweren  oder  unmöglich  machen.  Von 
einfacher  Krankheit  oder  Siechtum  unterscheidet  sie  sich  eben  da- 
durch wesentlich,  daß  ihre  Wirkung  sich  nicht  auf  das  Einzelwesen 
beschränkt,  sondern  durch  ungünstige  Beeinflussung  der  folgenden 
Geschlechter  eine  Verschlechterung  der  Art  selbst  herbeiführen 
kann.  Am  leichtesten  verständlich  ist  das  bei  denjenigen  Formen 
der  Entartung,  die  selbst  schon  durch  die  Blutmischung  entstehen 
und  somit  von  den  Eltern  her  übertragen  werden;  wir  fassen  sie 
als  erbliche  Entartung  zusammen.  Die  erbliche  Entartung  kann 
zunächst  durch  die  Fortpflanzung  von  krankhaften  Anlagen  der 
Vorfahren  zustande  kommen,  die  durch  zufällige  Einflüsse,  nament- 
lich aber  durch  Zusammentreffen  ähnlicher  Eigenschaften  bei 
beiden  Eltern,  sich  in  den  Nachkommen  wesentlich  verstärken  und 
somit  zu  einem  Niedergange  des  Geschlechts  führen.  Solche  Er- 
fahrungen sind  es  gewesen,  die  MoreP)  veranlaßt  haben,  für  die 
fortschreitende  erbliche  Entartung  folgende  allgemeine  Reihe  auf- 
zustellen: I.  Generation:  nervöses  Temperament,  sittliche  Unfähig- 
keit, Ausschweifungen.  2.  Generation:  Neigung  zu  Schlaganfällen 
und  schweren  Neurosen,  Alkoholismus.   3.  Generation:  psychische 

1)  Morel,  Traite  des  d6gen6rescences  physiques,  morales  et  intellectuelles  de 
l'espece  humaine.    1857;   Fere,  la  famille  neuropathique.  1894. 


i88 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Störungen,  Selbstmord,  geistige  Unfähigkeit.  4.  Generation:  an- 
geborene Blödsinnsformen,  Mißbildungen,  Entwicklungshemmungen. 
Es  würde  also  diese  Art  der  Züchtung  von  selbst  mit  Notwendigkeit 
den  Untergang  des  entarteten  Geschlechtes  herbeiführen. 

Von  einer  so  einfachen  Regelmäßigkeit  ist  jedoch  bei  diesen  un- 
gemein verwickelten  und  nur  in  den  gröbsten  Umrissen  bekannten 
Verhältnissen  keine  Rede.  Vor  allem  ist  dabei  zu  berücksichtigen, 
daß  neben  den  verschlechternden  Einflüssen  überall  auch  entgegen- 
gesetzte Strömungen  wirksam  sind,  welche  auf  den  Ausgleich  der 
Störungen  und  auf  eine  gesunde  Fortentwicklung  hinarbeiten.  Wäre 
das  nicht  der  Fall,  so  wäre  längst  das  ganze  Menschengeschlecht 
zugrunde  gegangen.  Tatsächlich  kommt  es  daher  nur  unter  sehr 
ungünstigen  Umständen  zu  einer  derartigen  absteigenden  Stufen- 
leiter; in  zahllosen  entarteten  Familien  sehen  wir  durch  die  Mischung 
mit  gesundem  Blute  die  Spuren  der  krankhaften  Veranlagung  sich 
bei  den  Nachkommen  wieder  verwischen.  Immerhin  dürfte  gerade 
das  häufigere  Auftreten  angeborener  Schwächezustände,  bisweilen 
neben  hervorragender  Begabung  bei  anderen  Familiengliedern,  die 
schwersten  Grade  erblicher  Belastung  ankündigen.  Ein  unter  dem 
Einflüsse  der  Mor eischen  Lehren  stehendes  Beispiel  familiärer  Ent- 
artung gibt  die  Romanreihe  Zolas  über  die  Rougon-Macquarts. 

Als  eine  strittige  Frage  muß  es  zurzeit  noch  gelten,  ob  auch,  wie 
man  vielfach  gemeint  hat,  nahe  Verwandtschaft  der  Eltern^) 
an  sich,  ohne  das  Hineinspielen  von  Krankheitsanlagen,  schon  eine 
Entartung  der  Kinder  zur  Folge  hat.  Bei  Tieren  ist  eine  fortgesetzte 
Inzucht  nicht  nur  möglich,  sondern  zur  Erzielung  bestimmter,  aus- 
geprägter Eigenschaften  geradezu  notwendig.  Allerdings  pflegt  dabei 
allmählich  eine  Abnahme  der  Fruchtbarkeit  und  der  allgemeinen 
Lebenskräftigkeit  einzutreten.  Nach  beiden  Richtungen  hin  wirkt 
die  Vermischung  mit  fremdem  Blute  verbessernd,  während  sie  die 
Ausbildung  der  hervorragenden,  kennzeichnenden  Eigenschaften  be- 
einträchtigt. Die  Erfahrungen  beim  Menschen  beschränken  sich 
im  wesentlichen  auf  die  Vererbung  von  Krankheitsanlagen.  Mayet, 
der  eine  große  Zahl  von  Heiraten  Blutsverwandter  untersuchte, 
fand  allerdings,  daß  aus  ihnen  leicht  idiotische  und  imbecille  Kinder 
hervorgingen,  auch  wenn  keine  Krankheitsanlagen  nachzuweisen 

1)  Peipers,  AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVIII,  793,  1901;  Feer,  Jahrb. 
d.  Kinderheilk.,  LXVI. 


Entartung. 


189 


waren.  Ist  letzteres  der  Fall,  so  kommt  es  zu  einer  Häufung  der 
Krankheitsfälle,  da  die  gleichartigen  Anlagen  sich  bedeutend  ver- 
stärken. Bei  der  angeborenen  Taubstummheit  wie  bei  der  Retinitis 
pigmentosa  ist  dieser  unheilvolle  Einfluß  der  Verwandtenheiraten 
ungemein  deutlich.  Wir  werden  daher  annehmen  dürfen,  daß  auch 
in  psychopathischen  Familien  eine  ähnliche  Häufung  der  Krank- 
heitsanlagen stattfindet,  wenn  Inzucht  getrieben  wird.  Dafür  spricht 
das  Beispiel  namentlich  vieler  jüdischer  Familien  sowie  mancher 
Adelsgeschlechter  und  Fürstenhäuser i).  Wo  dagegen  beide  Eltern 
völlig  gesund  sind,  wird  die  Entwicklung  der  Nachkommenschaft 
durch  die  Blutsverwandtschaft  schwerlich  in  krankmachender  Weise 
beeinflußt;  vielmehr  werden  wir  annehmen  dürfen,  daß  dadurch 
unter  Umständen  bei  Verstärkung  wertvoller  Eigenschaften  gerade 
besonders  hochbegabte  Menschen  entstehen;  freilich  darf  die  In- 
zucht aus  den  oben  angeführten  Gründen  nicht  lange  fortgesetzt 
werden. 

Von  entschieden  ungünstigem  Einflüsse  auf  die  Nachkommen- 
schaft scheint  allzu  große  Verschiedenheit  der  Eltern  zu  sein,  wie 
sie  namentlich  bei  der  Mischung  einander  fernerstehender  Rassen 
vorkommt.  In  solchen  Fällen  entstehen,  wie  Darwin  gezeigt  hat, 
sehr  leicht  atavistische  Bildungen;  die  uralten,  in  langer  Ahnenreihe 
gefestigten  Vererbungsneigungen  gewinnen  die  Oberhand  über  die 
persönlichen,  einander  nicht  genügend  verstärkenden  Eigenschaften 
der  Eltern.  Daraus  erklärt  sich  auch  wohl  die  meist  ungünstige 
Veranlagung  der  Mischlinge.  Es  wäre  denkbar,  daß  in  abge- 
schwächtem Maße  große  Unähnlichkeit  der  Eltern  auch  bei  gleicher 
Rasse  dem  erblichen  Einflüsse  früherer  Geschlechter  einen  weiteren 
Spielraum  ließe. 

Den  allgemeinen  Ausdruck  erblicher  Entartung  bildet  neben 
dem  Auftreten  ausgeprägter  geistiger  Erkrankungen  namentlich  die 
Ungleichmäßigkeit  der  psychischen  Veranlagung,  hohe  einseitige 
Begabung  neben  auffallender  Unfähigkeit  auf  anderen  Gebieten. 
Glänzende  Verstandesleistungen  verbinden  sich  mit  Roheit  und 
Gemütlosigkeit  oder  mit  weichlicher  Empfindsamkeit  sowie  mit 
Schwäche  und  Haltlosigkeit  des  Willens,  hervorragende  künstlerische 
Fähigkeiten  mit  geistiger  Beschränktheit  und  Unfähigkeit  zu  ge- 

1)  Brächet,  Pathologie  mentale  des  rois  de  France,  Louis  XI  et  ses  ascen- 
dants.  1903. 


190 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Fig.  IX. 
Flache    Ohrmuschel  mit 
Darwinschen  Knötchen. 


ordnete!-  Lebensführung,  Überwuchern  der  Einbildungskraft  mit 
peinlicher  Gebundenheit  im  Handeln  usw.  Auf  diese  Weise  ent- 
stehen die  zwiespältigen,  unausgeglichenen, 
rätselhaften  Persönlichkeiten,  deren  Ent- 
wicklung und  Leistungen  trotz  vielverheißen- 
der Ansätze  immer  wieder  durch  ihre  un- 
begreiflichen Mängel  verkümmert  werden. 
Von  ihnen  führen  allmähliche  Übergänge 
zu  den  genialen  Naturen,  bei  denen  ein 
glückliches  Zusammentreffen  der  elterlichen 
Anlagen  zwar  auch  gewisse  Fähigkeiten  zu 
besonderer  Höhe  gesteigert  hat,  ohne  aber 
daneben  allzu  empfindliche  Lücken  zu  lassen. 
Dort,  wo  wir  es  mehr  mit  Rückschlags- 
erscheinungen zu  tun  haben,  wird  das  Bild 
im  allgemeinen  ein  anderes  sein.  Wie  bei 
den  Mischlingen,  treten  diejenigen  Eigen- 
schaften stärker  hervor,  die  bei  längst  ver- 
gangenen Geschlechtern  besonders  ver- 
treten waren,  Schlauheit,  rücksichts- 
lose Selbstsucht  und  Triebartigkeit  des 
Handels. 

Als  körperliche  Begleiterscheinungen 
der  erblichen  Entartung  (stigmata  here-^^ 
ditatis)  pflegt  man  manche  Abweichungen 
zu  betrachten ,  die  sich  mit  einiger 
Häufigkeit  bei  erblich  belasteten  Personen 
vorfinden.  Dahin  gehören  Verbildungen 
des  Skeletts,  des  Schädels,  der  Zähne, 
der  Kiefer,  des  Gaumens,  der  Ohren^), 
der  Augen,  der  Genitalien,  Asymmetrien, 
Albinismus,  Irisflecke,  Muttermale,  ge- 
wisse Veränderungen  an  der  Haut,  Feh- 
len, Überreichlichkeit  oder  eigenartige 
Verteilung  des  Haarwuchses,  ferner  eine 
Reihe  von  nervösen  Störungen,  Zittern,  Muskelzuckungen,  Stottern, 
Schielen,  Stammeln,  Bettnässen,  Nystagmus,  Wiederkäuen  u.  dgl. 
1)  Binder,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XX,  514. 


Fig.  X. 
Umgerolltes  Ohr  mit  an- 
gewachsenem Ohrläppchen. 


Entartung. 


191 


Fig.  XI.  Henkelohren. 


Die  Mannigfaltigkeit  der  Entartungszeichen  oder  derjenigen  Ab- 
weichungen, die  als  solche  gedeutet  werden,  ist  eine  außerordentlich 
große.    Um   von  ihnen 
wenigstens  eine  allgemeine 
Vorstellung    zu  geben, 
haben  wir  in  Fig.  IX — XVI 
einige   Beispiele  zusam- 
mengestellt, die  meist  von 
Idioten  stammen;  Fig.  X 
wurde  von  einem  Psycho- 
patheri,  Fig.  XVI  von  einer 
Depression  gewonnen,  Fig. 
XII  von  einem  hypomani- 
schen Kranken.  Von  den 
zahllosenOhrverbildungen 
haben  wir  in  Fig.  IX  ein 
solches  mit  sehr  breiter, 
flacher  Muschel,  ein  sog. 
Makakenohr,  wiedergegeben;  es  zeigt 
außerdem  am  Rande  eine  sehr  deut- 
liche Darwinsche  Spitze  und  ein  auf- 
fallend dickes,  fleischiges  Läppchen. 
Im  Gegensatze  dazu  gibt  Fig.  X  ein 
Ohr  mit  sehr  stark  eingerolltem  Rande 
wieder,  dessen  Läppchen  zudem  an- 
gewachsen ist.    Fig.  XI  stellt  einen 
kleinen  Idioten  mit  weit  abstehenden 
Henkelohren  dar.  An  der  in  Fig.  XII 
abgebildeten  Hand  sehen  wir  eine  Ver- 
krüppelung  des  zweiten  und  dritten 
Fingers  mit  Schwimmhautbildung  zwi- 
schen ihnen,  während  in  Fig.  XIII  die 
beiden  letzten  Finger,  namentlich  der 
vierte,  in  ihrem  Wachstum  sehr  be- 
trächtlich hinter  den  übrigen  zurück- 
geblieben sind.  Eine  ausgeprägte  Miß 


Fig.  XII.    Verkrüppelung  des 
zweiten  und  dritten  Fingers 
mit  Schwimmhautbildung. 


bildung  beider  Füße,  Verwachsung  der  ersten  beiden  und  Ver- 
kümmerung der  übrigen  Zehen,  zeigt  uns  Fig.  XIV.   Ein  Beispiel 


192 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


von  den  ungemein  häufigen  und  verschiedenartigen  Verbildungen 
des  Gebisses  geben  wir  in  Fig.  XV.   In  beiden  Kiefern  finden  sich 

hier  nur  je  zwei  Schneidezähne,  von  denen 
die  unteren  noch  dazu  verkümmert  sind; 
die  oberen  haben  ausgezackte  Schneiden. 
Auch  die  übrigen  Zähne  sind  sehr  mangel- 
haft entwickelt.  Die  Fig.  XVI  endlich  zeigt 
uns  das  Bild  einer  Frau,  bei  der  sich  im 
Laufe  ihrer  Geistesstörung  ein  starker  Bart- 
wuchs einstellte. 

Die  Entstehungsgeschichte  der  Entartungs- 
zeichen ist  noch  wenig  aufgeklärt.   Ein  Teil 
derselben  wird  als  Rückschlag  und  Tierähn- 
lichkeit, ein  anderer  als  Entwicklungshem- 
mung aufgefaßt.  Soweit  diese  Deutung  richtig 
ist,  wäre  die  Beziehung  der  Abweichungen 
zur  psychischen  Entartung  immerhin  noch 
verständlich.    Wir  können  uns  wenigstens 
vorstellen,  daß  dort,  wo  sichtbare  Zeichen 
einer  fehlerhaften  Ausbildung  des  Kör- 
pers zutage  treten,  vielleicht  auch  die- 
jenigen Gewebe  gelitten  haben,  die  wir 
als  die  Träger  der  psychischen  Persön- 
lichkeit ansehen.    Weit  unsicherer  ist 
dieser  Schluß  dann,  wenn  die  Störungen 
durch  bestimmte  krankhafte  Vorgänge 
bedingt  sind.    Wir  werden   ihnen  in 
diesem  Falle  eine  gewisse  Bedeutung 
nur  beilegen  dürfen,  wenn  sie  wenig- 
stens irgend  einen  Abschnitt  des  Nerven- 
systems betreffen.  Es  ist  jedoch  zu  be- 
tonen, daß  sich  schwere  seelische  Ent- 
artung  bei   tadelloser  Körperbildung, 
ja  neben  hervorragenden  körperlichen 
Eigenschaften  finden  kann. 

Eine  zweite,  reichlich  fließende  Quelle 
der  Entartung  bildet  die  Keimschädigung  durch  Krankheiten  und 
Gifte.  Unter  den  ersteren  spielen  Syphilis  und  Tuberkulose,  unter 


Fig.  XIII. 
Entwicklungshemmung 
der  beiden  letzten  Finger. 


Fig.  XIV. 

Mißbildung  beider  Füße. 


Entartung. 


Fig.  XV. 
Verkümmertes  Gebiß. 


den  letzteren  bei  uns  der  Alkohol  die  Hauptrolle.  Ihre  Wirkungen 
äußern  sich  einmal  im  Auftreten  von  Mißbildungen  und  Lebens- 
schwäche, sodann  aber  in  Minder- 
wertigkeit der  körperlichen  und 
geistigen  Veranlagung,  deren  Be- 
sonderheiten anscheinend  durch  die 
Art  der  Ursachen  einigermaßen  be- 
stimmt werden.  Auf  psychiatrischem 
Gebiete  haben  wir  es  in  erster  Linie 
mit  den  Keimschädigungen  durch 
Lues  und  Alkohol  zu  tun,  als  deren 
Ausdruck  uns  namentlich  angebo- 
rener Schwachsinn  leichteren  oder 

schwereren  Grades  begegnet.  Weiterhin  kommt  aber  auch  die 
Epilepsie,  ferner  die  angeborene  Willensschwäche  und  damit  zu- 
sammenhängend die  Neigung  zum  Gewohnheitsverbrechen,  zur 
Landstreicherei  und  zur  Prostitution  in 
Betracht,  besonders  bei  den  Nachkom- 
men der  Trinker.  Die  Wirkung  dieser 
Keimschädigungen  erlischt  nicht  mit  dem 
zunächst  betroffenen  Geschlecht;  sicher- 
lich wird  auch  die  fernere  Nachkommen- 
schaft davon  in  Mitleidenschaft  gezogen. 
Zum  Teil  mag  es  sich  dabei  um  die  ein- 
fache Vererbung  ungünstiger  und  durch 
das  Zusammenfließen  mit  ähnlich  minder- 
wertigem Blute  noch  verstärkter  Eigen- 
schaften handeln,  die  schon  vor  der 
Keimverderbnis  bestanden  und  ihrer  Ent- 
stehung Vorschub  geleistet  haben.  Da- 
zu kommen  dann  vielleicht  persönlich 
schädigende  Lebensschicksale.  Endlich 
aber  werden  wir  erwarten  dürfen,  daß 
die  aus  krankhaft  veränderten  Keimen 

hervorgegangenen  Sprößlinge  auch  ihrerseits  minderwertige  Keime 
hervorbringen  und  somit  eine  Verschlechterung  der  Art  herbei- 
führen werden,  die  erst  durch  entgegengesetzt  wirkende  Einflüsse 
wieder  beseitigt  werden  kann. 


Fig.  XVI. 
Bärtige  Frau. 


Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


13 


194 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Wir  stehen  hier  vor  der  überaus  wichtigen  Frage  nach  der  Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften.  Es  kann  zweifelhaft  erscheinen, 
ob  die  Fortwirkung  von  Keimschädigungen  über  mehrere  Ge- 
schlechter dem  Vorgange  der  Vererbung  an  die  Seite  gestellt  werden 
darf,  wenn  auch  das  eigenartige  Gepräge,  das  z.  B.  der  Alkohol 
der  Nachkommenschaft  aufdrückt,  diesen  Gedanken  nahe  rückt. 
Anders  liegt  aber  die  Sache,  sobald  wir  es  mit  den  Entartungs- 
erscheinungen zu  tun  haben,  die  durch  allgemeine  Lebensbedingungen 
erzeugt  werden.  Die  besonderen  Formen,  die  der  Kampf  ums 
Dasein  im  Wechsel  der  Zeiten  annimmt,  üben  auf  unsere  geistige 
und  körperliche  Beschaffenheit  einen  umwandelnden  Einfluß  aus; 
wir  unterliegen  ihren  züchtenden  Wirkungen  in  ähnlicher  Weise 
wie  eine  Herde,  deren  Lebensbedingungen  der  Züchter  nach  seinem 
Willen  ändert.  Die  Gesichtspunkte,  unter  denen  sich  diese  Züch- 
tung der  Völker  vollzieht,  werden  einmal  durch  den  Drang  der 
äußeren  Umstände  geliefert,  die  den  einzelnen  zwingen,  sich  den 
umgebenden  Verhältnissen  anzupassen,  andererseits  durch  die  all- 
gemeinen Willensrichtungen  der  Massen,  die  auf  bestimmte,  nur 
langsam  wechselnde  Ziele  lossteuern.  Gezüchtet  werden  also  fort- 
dauernd diejenigen  Eigenschaften,  die  es  uns  ermöglichen,  uns  im 
Wettkampfe  des  Lebens  zu  behaupten,  und  die  in  der  Richtung 
unseres  Entwicklungsstrebens  liegen. 

Die  Tatsache,  daß  eine  solche  Züchtung  von  jeher  stattgefunden 
hat  und  sich  auch  heute  noch  vollzieht,  steht  über  allem  Zweifel 
fest.  Sie  wäre  unerklärlich,  wenn  nicht  die  vom  einzelnen  er- 
worbenen Fähigkeiten  in  Form  von  Anlagen  auf  seine  Nachkommen 
übertragen  und  so  allmählich  befestigt  und  verstärkt  werden 
könnten.  Allerdings  wird  das,  wie  auch  Sommer  hervorgehoben 
hat,  wenigstens  beim  Menschen  in  erster  Linie  und  vielleicht  aus- 
schließlich für  solche  Eigenschaften  gelten,  die  durch  den  Willen 
erworben  und  körperlich  fixiert  worden  sind.  Wir  erleben  es  tag- 
täglich, daß  die  Willenstätigkeit  durch  Vermittlung  der  Übung 
Muskeln  verändert,  und  man  wird  sich  vorstellen  dürfen,  daß  der 
Erleichterung  eingeübter  Seelenvorgänge  ebenfalls  die  Herstellung 
bestimmter  körperlicher  ,, Bahnungen"  entspricht.  In  unserem  Ge- 
hirn besitzen  wir  eine  große  Zahl  vorgebildeter  Einrichtungen  von 
ähnlicher  Art,  wie  wir  sie  durch  Übung  selbständig  erwerben  können, 
so  die  Zusammenordnung  bestimmter  Bewegungen  oder  die  Ver- 


Entartung. 


195 


knüpfung  von  Sinnesempfindungen  mit  Bewegungsvorstellungen. 
Manche  dieser  Einrichtungen,  namentlich  die  beherrschende  Stel- 
lung der  linken  Hirnhälfte,  tragen  noch  deutlich  die  Zeichen  ihrer 
Entstehung  aus  Willensleistungen  an  sich. 

Wir  kommen  somit  zu  dem  Schlüsse,  daß  höchst  wahrschein- 
lich nicht  nur  ganz  allgemeine  Eigenschaften,  wie  größere  oder 
geringere  Widerstandsfähigkeit  und  Lebensfrische  des  gesamten 
Organismus,  sondern  auch  durch  Übung  erworbene  besondere  Fähig- 
keiten bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Ausbildung  der  Keime  be- 
einflussen können.  Allerdings  ist  es  schwierig,  sich  von  der  Mög- 
lichkeit solcher  Einwirkungen  irgend  eine  Vorstellung  zu  machen. 
Man  könnte  dieser  Schwierigkeit  mit  dem  Hinweise  auf  die  Rätsel- 
haftigkeit der  Vererbungstatsachen  überhaupt  ausweichen,  oder  man 
könnte  darauf  hinweisen,  daß  z.  B.  bei  der  Neubildung  verlorener 
Glieder,  wie  Wolff  nachgewiesen  hat,  ein  gestaltender  Einfluß  des 
Nervensystems  unerläßlich  ist.  Ferner  wäre  geltend  zu  machen,  daß 
gewiß  immer  nur  Spuren  dessen,  was  im  Leben  erworben  wurde, 
vererbt  werden  können.  Endlich  aber  werden  doch  den  Keimzellen, 
wenn  sie  auch  schon  bei  der  Anlage  vorgebildet  sind,  während  des 
Lebens  immerfort  die  Stoffe  für  ihre  Weiterentwicklung  aus  dem 
Körper  zugeführt,  so  daß  sie  an  den  in  ihm  sich  abspielenden  Vor- 
gängen auf  das  innigste  beteiligt  sind. 

Wenn  wir  demnach  den  Geschicken  des  einzelnen  und  nament- 
lich auch  den  körperlichen  Niederschlägen  seines  Wollens  und  Stre- 
bens einen  Einfluß  auf  die  Keime  der  künftigen  Geschlechter  bei- 
messen, so  werden  wir  die  Einwirkung  unserer  Lebensverhältnisse 
auf  die  geistige  Gesundheit  unserer  Rasse  nach  drei  Hauptrichtungen 
ins  Auge  fassen  dürfen.  Zunächst  wäre  diejenige  Seite  zu  berühren, 
der  man  gewöhnlich  die  größte  Bedeutung  beizulegen  pflegt,  die 
Verschärfung  des  Daseinskampfes.  Man  wird  nicht  in  Ab- 
rede stellen  können,  daß  unser  Leben  vielfach  andere  Formen  an- 
genommen hat,  als  in  früheren  Zeiten.  Der  allmählich  sich  voll- 
ziehende Übergang  vom  Ackerbau  zur  Industrie,  die  damit  verknüpfte 
Vernichtung  des  Handwerks,  die  Umgestaltung  des  Arbeitsbetriebes 
durch  Dampf  und  Elektrizität,  die  fortschreitende  Arbeitsteilung,  die 
ungeahnte  Entwicklung  des  Verkehrs,  die  den  einzelnen  in  tausend- 
fache Verbindungen  einspinnt,  die  rasche  Zunahme  der  Bevölkerung, 
das  Anwachsen  der  großen  Städte  und  der  in  ihnen  herrschende 

13* 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Wettbewerb  bedingen  für  einen  großen  Teil  des  Volkes  eine  Er- 
höhung der  zu  bewältigenden  Anforderungen,  zugleich  eine  größere 
Zersplitterung  der  Tätigkeit,  Unrast  und  Unregelmäßigkeit  der 
Lebensführung.  Insbesondere  im  drängenden  Getriebe  der  Städte 
oder  der  Industriegegenden  wird  der  einzelne  gezwungen,  dauernd 
mit  erhöhter  Willensspannung  und  unter  dem  Drucke  eines  ver- 
stärkten Verantwortlichkeitsgefühls  zu  arbeiten,  der  ihn  zu  immer 
höherer  Steigerung  seiner  Leistungen  anfeuert. 

In  diesen  Bedingungen  liegt  einmal  der  Antrieb  zur  Fortent- 
wicklung unserer  Fähigkeiten.  Andererseits  führen  sie  vielfach  zu 
Überarbeitung,  vielleicht  auch  zu  frühzeitigem  Verbrauche  der 
Kräfte,  wenn  die  Erholungsmöglichkeit  den  Anforderungen  und  der 
Leistungsfähigkeit  nicht  entspricht.  Ganz  besonders  verhängnisvoll 
aber  scheint  mir  der  Verlust  der  inneren  Freiheit  zu  sein,  wie  er 
durch  das  immer  mehr  sich  verdichtende  Netz  von  Verpflichtungen 
und  Beziehungen  bedingt  wird.  Er  macht  sich  für  den  einzelnen 
um  so  empfindlicher  geltend,  je  umfassender  der  Wirkungskreis  ist, 
in  den  ihn  seine  Leistungen  und  Fähigkeiten  stellen.  Die  unbe- 
kümmerte Sorglosigkeit  des  Naturmenschen,  der  nach  Befriedigung 
der  unmittelbarsten  Daseinsbedürfnisse  in  den  Tag  hinein  lebt,  ist 
uns  für  immer  verloren  gegangen;  unser  ganzes  Denken,  Fühlen 
und  Handeln  wird  dauernd  beherrscht  durch  Erwägungen,  Rück- 
sichten, Hemmungen,  Forderungen,  welche  die  freie  Betätigung 
unserer  Persönlichkeit  zugunsten  des  Gemeinschaftslebens  be- 
schneiden. Daß  diese  Bindung  der  Seelenregungen  durch  Her- 
kommen und  Sitte,  durch  Erziehungsgrundsätze,  Pflichten  und 
Gesetze  der  Entwicklung  willenskräftiger,  selbständiger  Persönlich- 
keiten nicht  günstig  sein  kann,  liegt  auf  der  Hand;  je  enger  der 
Spielraum  wird,  in  dem  die  freie  Betätigung  eigenen  Willens  mög- 
lich ist,  desto  unfreier  und  zaghafter  werden  die  Entschließungen, 
desto  verhängnisvoller  der  Druck,  den  die  Aufgaben  des  Lebens  auf 
das  Handeln  ausüben. 

Gerade  mit  diesen  Verhältnissen  dürfte  das  häufige  Auftreten 
von  Angstzuständen  in  einer  gewissen  Beziehung  stehen,  die  das 
Vertrauen  auf  das  eigene  Können  und  damit  die  Handlungsfähig- 
keit selbst  auf  das  empfindlichste  beeinträchtigen,  um  so  mehr,, 
als  auch  unsere  gesamte  Erziehung  leider  mehr  auf  eine  Art  DressurJ 
als  auf  die  selbständige  Entwicklung  des  Willens  gerichtet  ist.  Ein 


Entartung. 


197 


schlagendes  Beispiel  für  das  Versagen  des  Willens  ist,  wie  schon 
früher  erwähnt,  die  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  bei  uns  ge- 
züchtete traumatische  Neurose,  bei  der  wir  unmittelbar  die  Ent- 
stehung geistigen  Siechtums  aus  dem  künstlich  befestigten  Ge- 
fühle hervorgehen  sehen,  der  Arbeit  nicht  mehr  gewachsen  zu 
sein.  Überall,  wo  ein  Mißverhältnis  zwischen  der  Spannkraft  des 
Willens  und  den  herantretenden  Anforderungen  besteht,  werden  sich 
ähnliche  Vorgänge  abspielen  können.  Das  Gefühl  des  Unvermögens 
spornt  dann  den  schwachen  Willen  nicht  zu  neuen  Kraftanstren- 
gungen an,  um  die  Leistungsfähigkeit  durch  Übung  zu  steigern, 
sondern  es  führt  zum  Erlahmen  des  Willens,  der  vor  der  Aufgabe 
zurückschreckt  und  durch  den  Mißerfolg  zu  immer  weiter  gehen- 
den Einschränkungen  seiner  Betätigung  geführt  wird.  Nicht  selten 
kleidet  sich  dabei  dieses  Erlahmen  aus  Angst  in  die  Form  der  Müdig- 
keit. In  anderen  Fällen  wird  zwar  die  Arbeit  geleistet,  aber  der 
Mangel  an  Vertrauen  zu  der  eigenen  Fähigkeit  im  Verein  mit  dem 
gesteigerten  Verantwortlichkeitsgefühl  läßt  die  Befriedigung  des  Ab- 
schlusses nicht  aufkommen,  und  der  Wille  erschöpft  sich  in  nutz- 
losen Anstrengungen,  durch  Wiederholungen  Ruhe  zu  finden.  Viel- 
fach bewirkt  dann  auch  die  ängstlich  gesteigerte  Spannung  das  Ein- 
greifen des  Willens  in  sonst  selbsttätig  ablaufende  Verrichtungen, 
die  dadurch  gehemmt  oder  doch  empfindlich  gestört  werden. 

Es  liegt  nahe,  diese  Vorgänge,  denen  wir  im  einzelnen  bei  der 
Zweifel-  und  Grübelsucht,  bei  den  Phobien,  bei  der  Erwartungs- 
neurose und  bei  der  Arbeitsunfähigkeit  der  Nervösen  begegnen,  mit 
den  oben  erwähnten  Änderungen  unserer  allgemeinen  Lebensverhält- 
nisse in  eine  gewisse  Beziehung  zu  bringen.  Soviel  ich  sehen  kann, 
fehlen  Naturvölkern  diese  bei  uns  so  unendlich  verbreiteten  Angst- 
zustände durchaus,  ebenso  wie  ihnen  die  dem  Verantwortlichkeits- 
gefühl entspringenden  Selbstvorwürfe  und  Versündigungsideen  fast 
völlig  fremd  sind.  Natürlich  wird  es  bei  uns  immer  ängstliche 
Menschen  gegeben  haben,  deren  Mangel  an  Selbstvertrauen  den 
Willen  lähmte  oder  sie  zu  fruchtlosen  Anstrengungen  antrieb,  aber  es 
ist  vielleicht  doch  kein  Zufall,  daß  die  genauere  Kenntnis  dieser  Zu- 
stände, deren  Gestaltung  ja  vielfach  mit  dem  Berufsleben  in  engster 
Beziehung  steht,  nur  wenige  Jahrzehnte  zurückreicht.  Wären  sie 
früher  schon  so  häufig  gewesen  wie  heute,  so  wäre  es  kaum  zu 
begreifen,  wie  sie  den  alten  Irrenärzten  hätten  entgehen  können. 


jpg  I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

Auch  jetzt  noch  stammt  ihre  genaueste  Kenntnis  aus  Frankreich, 
aus  demjenigen  Lande,  in  dem  die  Anzeichen  einer  kulturellen 
Entartung  am  deutlichsten  ausgesprochen  sind. 

Eine  unheilvolle  Begleiterscheinung  der  kapitalistischen  Pro- 
duktionsweise wie  der  Großstadtentwicklung  ist  die  Entstehung 
eines  Proletariates.  Der  Druck,  den  die  Armut  dem  Fabrikarbeiter 
und  dem  Großstadtbewohner  auferlegt,  ist  aus  vielfachen  Gründen 
unvergleichlich  härter  als  beim  Landbewohner,  dem  wesentliche 
Daseinsbedingungen,  Luft,  Licht  und  Schlaf,  niemals  in  gleicher 
Weise  verkümmert  werden  können,  und  der  zudem  den  Wirkungen 
des  Alkohols  und  der  Syphilis  sehr  viel  weniger  ausgesetzt  ist.  Ganz 
besonders  ungünstig  wirkt  nach  allen  diesen  Richtungen  das  ent- 
setzliche Wohnungselend  der  Großstädte.  Das  Dahinleben  in  aus- 
sichtslosem Elend  vernichtet  aber  schließlich  mit  der  Hoffnung  auch 
den  Wunsch  und  die  Kraft  zum  Aufschwung.  Auch  hier  liegen  da- 
her Ursachen,  die  auf  eine  Verschlechterung  der  Volksart  hinwirken. 

Eine  zweite  beachtenswerte  Seite  unserer  Entwicklung  bildet  die 
einseitige  Züchtung  seelischer  Eigenschaften.  Allerdings 
hat  die  körperliche  Kraft  und  Rüstigkeit  noch  in  einer  großen  Reihe 
von  Berufen,  namentlich  den  handarbeitenden,  ihren  hohen  Wert, 
und  auch  für  das  weibliche  Geschlecht  spielt  die  körperliche  Be- 
schaffenheit eine  wesentliche  Rolle.  Dennoch  läuft  fast  unsere 
ganze  Erziehung  darauf  hinaus,  vor  allem  Wissen  und  sittliches 
Gefühl  auszubilden.  Diese  hohe  Einschätzung  seelischer  Fähig- 
keiten, die  ja  die  Grundlage  jeder  Gesittung  bildet,  hat  zur  Kehr- 
seite die  Vernachlässigung  des  Körpers  und  seiner  Leistungen.  Es 
kommt  zu  einer  Arbeitsteilung,  bei  der  die  Einseitigkeit  der  Züch- 
tung immer  weiter  getrieben  wird,  schließlich  zur  Bildung  von 
Kasten  mit  engherzigen  Zielen  und  beschränkter  Weltanschauung, 
denen  ihr  Tun  und  Treiben  zum  Selbstzwecke  wird,  da  ihnen  der 
Zusammenhang  mit  der  Volksgemeinschaft  und  damit  der  richtige 
Maßstab  für  die  Bewertung  ihrer  Leistungen  verloren  gegangen 
ist.  Diesem  Vorgange  verdanken  wir  neben  der  Vergeistigung  und 
Veredelung  unseres  Seelenlebens  auch  die  Zerrbilder  des  ver- 
trockneten Stubengelehrten  und  Bücherwurms,  des  verstiegenen 
Ästheten  und  des  weltfremden  Schwärmers. 

Weit  wichtiger  indessen,  als  die  bisher  betrachteten  Kultur- 
wirkungen, ist  die  durch  sie  herbeigeführte  ,, Domestikation",  die 


Entartung. 


199 


Abkehr  von  der  Natur.  Die  Lebensbedingungen,  die  wir  uns 
geschaffen  haben,  sind  mehr  und  mehr  unnatürliche  geworden. 
Wir  haben  uns  unabhängig  gemacht  von  dem  Wechsel  der  Jahres- 
zeiten und  von  Tag  und  Nacht;  wir  verzichten,  wenigstens  in  den 
großen  Städten,  notgedrungen  auf  den  ausgiebigen  Genuß  von 
Sonne  und  frischer  Luft;  wir  meiden  körperliche  Anstrengungen  und 
benutzen  unsere  Glieder  kaum  noch  zur  Fortbewegung;  wir  ge- 
nießen die  Speisen  in  verkünstelter  und  stark  gewürzter  Form;  wir 
verscheuchen  den  Schlaf,  um  ihn  dann  wieder  künstlich  herbei- 
zurufen. Unsere  Bedürfnisse  werden  immer  mannigfaltigere  und 
vielseitigere ;  wir  sind  weit  davon  entfernt,  sie  auch  nur  zum  kleinsten 
Teile  selbst  befriedigen  zu  können,  befinden  uns  vielmehr  in  hilf- 
loser Abhängigkeit  von  der  Gesellschaft,  die  uns  umgibt.  Die 
staatliche  Gemeinschaft  gewährt  uns  weitgehenden  Schutz  gegen 
alle  möglichen  Gefahren,  die  unserem  Leben,  unserer  Gesundheit, 
unseren  Rechtsgütern  drohen.  Sind  wir  in  der  Lage,  erwerben  oder 
die  Früchte  der  Arbeit  unserer  Vorfahren  genießen  zu  können,  so 
stehen  uns  mühelos  alle  Genüsse  offen,  die  unsere  Sinne  begehren, 
und  die  Steigerung  unserer  Ansprüche  an  Üppigkeit  und  Wohl- 
leben findet  ihre  Grenze  nur  in  den  uns  zu  Gebote  stehenden  Geld- 
mitteln. 

Die  große  Gefahr  dieser  Entwicklung  liegt  in  der  Verweich- 
lichung. Wie  die  Haustiere  des  Menschen  durch  die  Domestika- 
tion den  Zusammenhang  mit  ihren  natürlichen  Lebensbedingungen 
verlieren  und  dadurch  an  allgemeiner  körperlicher  Widerstands- 
fähigkeit und  Tüchtigkeit  einbüßen,  so  geht  auch  dem  unter  künst- 
lichen Bedingungen  aufwachsenden  und  sorgsam  gehegten  Kultur- 
menschen, namentlich  dem  Großstädter,  ein  mehr  oder  weniger 
erheblicher  Teil  seiner  Spannkraft  und  Lebensfrische  verloren,  ganz 
besonders  dann,  wenn  ihm  der  Kampf  ums  Dasein  leicht  gemacht 
wird.  Von  höchster  Bedeutung  sind  für  uns  in  dieser  Richtung 
die  Untersuchungen  Fahlbecks^)  über  die  Schicksale  des  schwe- 
dischen Adels,  bei  dem  das  Stadtleben  in  gesellschaftlich  hervor- 
ragender Stellung  schon  nach  wenigen  Geschlechtern  eine  Abnahme 
der  Fruchtbarkeit,  frühes  Absterben  der  Kinder  und  Neigung  zur 
Ehelosigkeit  bewirkt  hat.  Nur  im  Kampfe  wächst  der  Wille;  daher 


1)  Fahlbeck,  Der  Adel  Schwedens.  1903. 


200 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


der  Aufschwung  der  Völker  nach  großen  Kriegen,  selbst  wenn  sie 
unglücklich  verlaufen.  Mühelose  Erfüllung  der  Wünsche,  rascher 
Erfolg  jedes  Strebens  macht  die  Stählung  des  Willens  unmöglich. 
Zeiten  wirtschaftlichen  Gedeihens  sind  daher  für  die  Entwicklung 
des  Volkscharakters  nicht  ungefährlich,  und  die  Nachkommen  der 
Männer,  die  durch  ihre  Willensarbeit  Wohlstand  geschaffen  haben, 
gehen  nicht  selten  an  dem  Fehlen  eines  Willensstachels  zugrunde. 
Die  Gruppe  von  Entarteten,  die  hier  entsteht,  sind  die  willens- 
schwachen Müßiggänger,  die  oberflächlichen  Genußmenschen  und 
die  gewissenlosen  Wüstlinge.  Ihr  gehäuftes  Auftreten  ist  das  Kenn- 
zeichen alternder  Völker,  die  durch  Überfeinerung  der  Bedürfnisse 
und  Wohlleben  Neigung  und  Fähigkeit  zu  zielbewußter  Entwick- 
lung aller  Kräfte  im  Daseinskampfe  eingebüßt  haben. 

Eine  allgemeine  Begleiterscheinung  der  Kulturentartung  ist  die 
Abschwächung  der  natürlichen,  lebens-  und  arterhalten- 
den Triebe.  Die  Erfahrung  lehrt  uns,  daß  Teile  und  Verrichtungen 
unseres  Körpers  sich  zurückbilden,  sobald  sie  nicht  geübt  werden. 
Geruchsorgan  und  Riechrinde  sind  bei  uns  verkümmert,  weil  sie 
für  unsere  Lebensbedürfnisse  keine  Bedeutung  mehr  besitzen; 
unsere  Zähne  gehen  zugrunde,  weil  wir  unsere  Nahrung  weich 
kochen,  und  die  Brustdrüsen  schwinden,  wo  das  Stillen  der  Kinder 
aufgegeben  wird.  Auch  der  Selbsterhaltungstrieb  bedarf  einer 
steten  Anstachelung,  wenn  er  seine  sieghafte  Ursprünglichkeit  be^ 
wahren  und  das  Handeln  unter  allen  Umständen  zuverlässig  leiten 
soll.  Für  ihn  bedeutet  das  Gemeinschaftsleben  eine  dauernde,  fort- 
schreitende Abschwächung.  Die  Sicherheit  für  Leib  und  Leben, 
die  es  uns  bietet,  entfernt  aus  unserem  Dasein  fast  ganz  die  Ge- 
fahren, die  wir  durch  eigene  Kraft  zu  überwinden  haben.  Uns  fehlt 
nahezu  völlig  jene  Nötigung  zur  Anspannung  aller  Kräfte  im  un- 
mittelbaren Kampfe  um  unser  Leben,  die  uns  seinen  Wert  immer 
wieder  mit  größter  Lebendigkeit  empfinden  lassen  würde.  Dazu 
kommt,  daß  für  uns  das  persönliche  Dasein  seine  Bedeutung  als 
der  Güter  höchstes  verloren  hat.  Höheren,  weit  über  das  Leben 
des  einzelnen  hinausreichenden  Zielen  streben  wir  nach,  bei  deren 
Verfolgung  die  naive  Freude  am  Dasein  planmäßig  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  wird. 

Insbesondere  sind  es  die  Anforderungen  des  Gemeinschafts 
lebens,  die  von  dem  einzelnen  in  weitem  Umfange  Unterordnung 


Entartung. 


201 


seiner  Neigungen  und  Wünsche  unter  die  allgemeinen  Interessen, 
ja  unter  Umständen  die  Aufopferung  seines  Lebens  zur  Vertei- 
digung anderer  fordern.  Auch  jene  religiösen  Weltanschauungen, 
die  von  ihren  Anhängern  Selbstentäußerung  und  Entsagung  ver- 
langen, das  irdische  Leben  nur  als  armselige  Vorstufe  weit  herr- 
licherer Daseinsformen  betrachten  und  vielfach  zur  Weltflucht  und 
Selbstpeinigung  geführt  haben,  tragen  wirksam  dazu  bei,  den 
Schätzungswert  des  persönlichen  Lebens  zu  verringern.  Die  gemein- 
same Folge  aller  dieser  Einflüsse  ist  jene  Abschwächung  des  Selbst- 
erhaltungstriebes, die  unverkennbar  unsere  Kulturentwicklung  be- 
gleitet. Während  der  Selbstmord  beim  Tiere  unbekannt  ist  und  bei 
den  Naturvölkern  zu  den  seltensten  Ausnahmen  gehört,  wächst 
seine  Häufigkeit  mit  Zunahme  der  Gesittung  in  erschreckendem 
Maßstabe,  besonders  in  den  Großstädten.  Der  Wille  zum  Leben  hat 
seine  ursprüngliche,  alles  überwindende  Macht  in  uns  verloren; 
in  zahllosen  Fällen  genügen,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  die  nich- 
tigsten Anlässe,  um  die  tiefste  Grundlage  unseres  Daseins  zu  er- 
schüttern und  die  freiwillige  Selbstvernichtung  herbeizuführen.  Eine 
schwerere  und  verhängnisvollere  Form  der  Entartung  ist  nicht 
denkbar. 

Beim  Tiere  ist  der  beherrschende  Trieb  der  Hunger.  Im  ge- 
regelten Tageslaufe  des  Kulturmenschen  findet  sich  für  ihn  kaum 
mehr  eine  Stelle;  das  Bedürfnis  wird  zumeist  befriedigt,  bevor  es 
überhaupt  gefühlt  wurde.  Er  ist  uns'längst  kein  natürlicher  Mahner 
mehr.  Wo  die  Hast  der  erzwungenen  Tätigkeit  es  erfordert,  wird  er 
zurückgedrängt,  namentlich  bei  Schulkindern  am  Morgen;  dem 
Genußmenschen  tritt  an  seine  Stelle  die  Sucht  nach  immer  größerer 
Kostspieligkeit,  Üppigkeit  und  Verkünstelung  der  Speisen.  Die  plan- 
mäßige Verkümmerung  des  natürlichen  Triebes  bewirkt  dann  Ab- 
hängigkeit von  bestimmter  Auswahl,  Beschaffenheit  und  Zuberei- 
tungsart  der  Speisen,  die  zu  völliger  Sklaverei  werden  kann,  wenn 
sie  nicht  ein  gesunder  Hunger  durchbricht.  Der  gleichen  anspruchs- 
vollen Launenhaftigkeit  des  Nahrungstriebes,  wie  er  durch  die  Ver- 
zärtelung gezüchtet  wird,  begegnen  wir  vor  allem  bei  der  Hysterie, 
bei  deren  Kulturformen  das  Zurücktreten  der  natürlichen  Triebe 
eine  überaus  wichtige  Erscheinung  bildet;  aber  auch  bei  der  Nervo- 
sität und  bei  der  Erwartungsneurose  ist  sie  unter  dem  Einflüsse 
ängstlicher  Bedenken  nicht  selten. 


202 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Sehr  tiefgreifende  Umwandlungen  erfährt  durch  das  Kultur- 
leben unser  Schlafbedürfnis.  Durch  den  häufigen  Zwang,  das 
Müdigkeitsgefühl  zu  unterdrücken,  sei  es  unter  dem  Antriebe  zur 
Arbeit,  sei  es  bei  den  späten  Vergnügungen  des  gesundheitswidrigen 
„Nachtlebens",  verliert  es  seine  Bedeutung  als  zuverlässiger  Warner 
und  Vorbote  des  Schlafes.  Die  geistige  Anspannung  des  Tages  und 
Abends  setzt  sich  in  die  Nacht  fort  und  macht  den  Schlaf  ober- 
flächlich ;  auch  der  Mangel  an  körperlicher  Tätigkeit,  die  Helligkeit 
und  der  Lärm  der  Städte,  späte  Mahlzeiten,  aufregende  Zerstreu- 
ungen beeinträchtigen  den  Nachtschlaf.  So  kommt  es,  daß  Schlaf- 
störungen zu  den  häufigsten  und  wichtigsten  Begleiterscheinungen 
der  verschiedenartigsten  psychopathischen  Zustände  gehören.  Die 
natürliche  Selbstverständlichkeit  des  Einschlafens  nach  Eintritt  der 
Ermüdung  ist  infolge  der  Verkünstelung  unserer  Lebensbedingungen 
in  erschreckendem  Umfange  verloren  gegangen.  Zahllose  Menschen 
finden  ihren  Schlaf  nur  unter  ganz  besonders  ausgeklügelten  Be- 
dingungen oder  unter  Beihilfe  mehr  oder  weniger  bedenklicher 
Arzneien  und  Genußmittel. 

Auch  der  Arterhaltungstrieb  endHch  hat  längst  seine  un- 
bestechliche Zuverlässigkeit  eingebüßt.  Abgesehen  davon,  daß  weite 
Kreise  des  Volkes  durch  Vorschriften  oder  Umstände  zum  ehelosen 
Leben  gezwungen  werden,  ist  unter  dem  Drucke  des  Daseins- 
kampfes die  Spätehe  zur  Regel  geworden.  Das  gilt  namentlich  für 
die  körperlich  Tüchtigeren,  bei  denen  der  Militärdienst  die  Er- 
langung einer  gesicherten  Lebensstellung  hinausschiebt.  Dem 
Manne  bietet  allerdings  die  Prostitution  auch  vorher  mühelose  Be- 
friedigung seines  Geschlechtstriebes,  der  aber  gerade  dadurch  gewiß 
keine  Stärkung  erfährt.  Für  die  Eheschließung  selbst  sind  nur  allzu 
häufig  nicht  Gründe  der  geschlechtlichen  Zuchtwahl,  sondern  ganz 
äußerliche  Rücksichten  maßgebend,  bestenfalls  auch  seelische  Eigen- 
schaften. Alle  diese  Verhältnisse  sind  geeignet,  den  Arterhaltungs- 
trieb abzuschwächen  und  damit  eine  gefahrdrohende  Verschlechte- 
rung unserer  Art  herbeizuführen.  Sie  begünstigen  einerseits  die 
Entwicklung  der  Onanie  und  der  sinnlosen  geschlechtlichen  Ver- 
irrungen;  andererseits  ertöten  sie  auch  im  weiblichen  Geschlechte 
den  Muttertrieb,  so  daß  empfängnisverhindernde  Mittel  und  Ver- 
fahren nicht  mehr  dem  natürlichen  Abscheu  begegnen. 

Noch  einer  letzten,  schon  früher  erwähnten  schweren  Kultur- 


Erziehung. 


203 


Schädigung  haben  wir  hierzu  gedenken,  der  Einschränkung  und 
Verkehrung  der  natürlichen  Auslese.  Eine  der  schönsten 
Blüten  unserer  Gesittung,  die  Menschenliebe,  hat  die  häßliche 
Schattenseite,  daß  ihre  Hilfe  die  Untauglichen  und  Bresthaften,  ins- 
besondere auch  die  geistig  Minderwertigen  und  Kranken,  am  Leben 
hält  und  unter  Umständen  zur  Fortpflanzung  gelangen  läßt.  Ja,  sie 
legt  die  daraus  erwachsende  Last  auf  die  Schultern  der  Tüchtigen 
und  erschwert  ihnen  damit  den  Daseinskampf.  Weiterhin  aber  fallen 
auf  diese  Letzteren  auch  alle  Gefahren,  die  im  Kampfe  für  den 
Fortschritt  wie  für  die  äußere  Sicherheit  zu  überwinden  sind.  Un- 
glücksfälle, Gewerbekrankheiten  und  Kriege  raffen  vorzugsweise  die 
Leistungsfähigen  dahin,  während  die  Schwächlinge  überleben. 

Überblickt  man  alle  hier  angeführten  Gesichtspunkte,  so  wird 
man  dem  Eindrucke  kaum  entgehen  können,  daß  unsere  Kultur- 
entwicklung ganz  anderen  Zielen  zustrebt,  als  einer  Verbesserung 
der  Volksart  im  psychiatrischen  Sinne.  Vielmehr  bedeuten  die 
Steigerung  der  Lebensanforderungen  ohne  gleichzeitige  planmäßige 
Entwicklung  des  Willens,  die  einseitige  Züchtung  seelischer 
Leistungen  bei  Vernachlässigung  des  Körpers,  endlich  die  vielfach 
einsetzende  Verzärtelung  durch  Wohlleben  und  Verkünstelung  der 
Lebensbedingungen  ernsthafte  Gefahren  für  unsere  Rasse,  wenn  die 
Wirkungen  dieser  Umstände,  woran  nicht  zu  zweifeln  ist,  sich 
in  vererbbaren  Eigenschaften  weiter  Volkskreise  niederschlagen. 
Nimmt  man  hinzu,  daß  wir  unter  Keimschädigungen  mehr  zu  leiden 
haben  als  die  meisten  Naturvölker,  daß  unser  Mitleid  die  Wirkung 
der  natürlichen  Auslese  abschwächt,  und  daß  die  einmal  ent- 
standene Entartung  die  Neigung  hat,  sich  erblich  fortzupflanzen, 
so  werden  wir  es  verstehen  lernen,  warum  wir  mit  einer  Zunahme 
der  psychischen  Störungen  bei  uns  zu  rechnen  haben.  Es  ist  in 
der  Tat  kaum  mehr  ein  Zweifel  möglich,  daß  sie,  wenn  auch  viel- 
leicht nicht  durchaus  notwendige,  so  doch  tatsächliche  Begleit- 
erscheinungen unserer  Kulturentwicklung  bilden. 

Erziehung.  Unserem  unmittelbaren  Verständnisse  leichter  zu- 
gänglich erscheint  die  Bedeutung  der  Erziehung  für  die  Entwick- 
lung der  psychischen  Persönlichkeit.  Allerdings  wissen  wir  heute 
noch  nicht,  wie  weit  die  Erziehung  überhaupt  in  das  Wesen  des 
Menschen  einzugreifen  und  dasselbe  umzugestalten  vermag.  Die 
Anschauungen  über  diesen  Punkt  schwanken  zwischen  Fatalismus, 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 

204 

Zweifel  und  Hoffnungsfreudigkeit  vielfach  hin  und  her.  Die  ein- 
fache Erfahrung  scheint  mir  zu  lehren,  daß  hier  die  verschieden- 
artigsten Verhältnisse  in  der  Natur  wirklich  vorkommen.  Auf  der 
einen  Seite  gibt  es  angeborene  allgemeine  Eigenschaften,  die  von 
vornherein  die  Eigenart  des  einzelnen  kennzeichnen.  Dafür  spricht 
neben  vielen  anderen  Gründen  die  überraschende  Deutlichkeit,  mit 
der  sich  öfters  schon  bei  ganz  kleinen  Geschwistern  Verschieden- 
heiten in  der  Veranlagung  herausstellen,  die  späterhin  durch  die 
mannigfachsten  Lebensschicksale  in  keiner  Weise  verwischt  werden. 
So  kennen  wir  Menschen,  die  unrettbar  auf  die  psychische  Er- 
krankung zutreiben,  während  andere  schon  von  den  ersten  Kinder- 
jahren an  in  Denken  und  Handeln  eine  vertrauenerweckende  Sach- 
lichkeit an  den  Tag  legen,  die  sie  durch  das  ganze  Leben  begleitet. 
Offenbar  handelt  es  sich  hier  um  sehr  tief  begründete  Unterschiede, 
die  bereits  in  der  Anlage  festgelegt  sind,  sei  es  durch  erbliche  Ein- 
flüsse, sei  es  durch  sonstige  Vorbedingungen. 

Andererseits  aber  wird  man  kaum  in  Abrede  stellen  können, 
daß  dennoch  die  Art  der  Jugenderziehung  für  die  weitere  Aus- 
bildung der  einmal  gegebenen  Anlagen  und  damit  auch  für  die 
gesamte  Gestaltung  der  Lebensschicksale  von  eingreifender  Be- 
deutung werden  kann.  Wir  erkennen  das  nicht  nur  aus  der  starken 
Beteiligung  der  unehelich  Geborenen  und  Verwahrlosten  am  Ver- 
brechen, am  Selbstmord  und  Irresein,  sondern  auch  an  der  Aus- 
bildung von  Menschentypen,  je  nach  den  Eindrücken  der  Kindheit. 
Die  Gegensätze  zwischen  Stadt-  und  Landbevölkerung,  die  Eigen- 
tümlichkeiten der  Strand-,  Gebirgs-  und  Grenzbewohner  verwischen 
sich  auch  dann  nicht  völlig,  wenn  die  Menschen  später  in  ganz 
andere  Verhältnisse  hineingeworfen  werden.  Allerdings  ist  hier 
überall,  wie  bei  den  Verbrecher-,  Gelehrten-  und  Künstlerfamilien, 
der  Einfluß  der  Erblichkeit  von  demjenigen  der  Erziehung  schwer 
abzutrennen. 

Die  allgemeinen  Aufgaben  der-  Erziehung  sind  neben  der  körper- 
lichen Entwicklung  einmal  die  verstandesmäßige  Ausbildung 
des  Kindes,  die  es  befähigt,  Erfahrungen  zu  sammeln  und  zu  ver- 
arbeiten, dann  aber  die  Begründung  eines  festen,  das  Handeln  nach 
einheitlichen,  sittlichen  Grundsätzen  leitenden  Charakters.  Nach 
beiden  Richtungen  hin  kann  die  Erziehung  hinter  den  Anforde- 
rungen zurückbleiben,  die  der  Kampf  des  Lebens  an  die  Leistungs- 


Erziehung. 


205 


und  Widerstandsfähigkeit  stellt.  Vernachlässigung  der  Verstandes- 
bildung gibt  den  Menschen  allen  Gefahren  der  Urteilslosigkeit  und 
des  Aberglaubens  preis  und  erschwert  ihm  die  Überwindung  jener 
Schwierigkeiten,  welche  die  Erringung  einer  selbständigen  Lebens- 
stellung bietet.  Andererseits  kann  aber  auch  die  Überanstrengung 
des  jugendlichen  Gehirns  durch  Beeinträchtigung  des  Schlafes,  der 
Ernährung  und  der  körperlichen  Ausbildung  ernste  Schädigungen 
mit  sich  führen.  Dies  gilt  namentlich  für  solche  Kinder,  die  schon 
von  Hause  aus  große  Erregbarkeit  oder  rasche  Ermüdbarkeit  mit- 
bringen. Behinderung  der  freien  persönlichen  Entwicklung  durch 
übermäßige  Strenge  und  Peinlichkeit  macht  den  Menschen  eng- 
herzig und  verschlossen  und  erstickt  im  Keime  jene  gemütlichen 
Regungen  des  Wohlwollens  und  der  Menschenliebe,  von  deren 
Stärke  vor  allem  die  sittliche  Ausbildung  des  Willens  abhängig 
ist.  Verzärtelung  endlich  durch  weichliche  Nachgiebigkeit  läßt  die 
augenblicklichen  Launen  und  Begierden  zur  unbezwinglichen 
Herrschaft  über  das  Handeln  gelangen  und  verhindert  dadurch  die 
Entwicklung  einer  abgeschlossenen  und  einheitlichen,  fest  in  sich 
selbst  gegründeten  Persönlichkeit. 

Den  Einflüssen  der  Erziehung  schließen  sich  diejenigen  der 
späteren  Lebenserfahrungen  an,  bald  bessernd  und  veredelnd,  bald 
zerrüttend  und  untergrabend,  was  jene  schuf.  Alle  die  schon  früher 
aufgezählten  körperlichen  und  psychischen  Ursachen,  Verletzungen, 
Krankheiten  und  Vergiftungen  aller  Art,  erschöpfende  Einflüsse, 
Überanstrengungen,  Gemütsbewegungen,  Ausschweifungen  usf. 
können  hier,  soweit  sie  nicht  geradezu  eine  psychische  Erkrankung 
herbeiführen,  umwandelnd  und  vorbereitend  auf  den  einzelnen  ein- 
wirken. Auch  hier  zeigt  uns  die  typische  Gestaltung,  welche  die 
verschiedenen  Stände,  Berufsarten  und  sonstigen  gesellschaftlichen 
Gruppen  ihren  Mitgliedern  in  der  gesamten  Weltauffassung,  in 
ihren  sittlichen  Anschauungen,  in  der  Lebensführung  und  selbst 
in  allen  möglichen  Äußerlichkeiten  aufprägen,  daß  nicht  nur  die 
Anlage  des  einzelnen  seine  Lebensschicksale  bestimmt,  sondern  daß 
umgekehrt  auch  eine  Rückwirkung  dieser  letzteren  auf  die  besondere 
Entfaltung  seiner  persönlichen  Eigenart  stattfindet.  Freilich  fehlt 
uns  heute  noch  jeder  Anhaltspunkt  für  die  genauere  Beurteilung 
des  Einflusses,  den  etwa  die  Erziehung  durch  das  Leben  auf  die 
Häufigkeit  und  die  Gestaltung  des  Irreseins  im  einzelnen  Falle  ausübt. 


206 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Persönliche  Eigenart.  Daß  die  persönliche  Eigenart^),  die  Summe 
der  durch  Anlage  und  Lebensschicksale  bedingten  Eigenschaften 
des  Menschen,  für  die  Entstehung  des  Irreseins  eine  ungemein 
wichtige  Rolle  spielt,  ja  den  größten  Teil,  namentlich  der  leich- 
teren Formen,  geradezu  bedingt,  kann  nicht  bezweifelt  werden. 
Weniger  durchsichtig  ist  der  Einfluß,  den  sie  auf  die  besondere 
Gestaltung  des  Krankheitsbildes  ausübt.  Bei  den  grob  zerstörenden 
Krankheitsvorgängen  wird  ihr  schwerlich  viel  Spielraum  bleiben, 
wenn  auch  Sommer  meint,   daß  die  neurasthenisch  -  depressive 
Paralyse  ihre  besondere  Färbung  durch  die  Gemütsart  der  Be- 
troffenen erhalte.   Im  übrigen  jedoch  sehen  wir  bei  der  Paralyse 
in  verblüffender  Weise  dieselben  psychischen  Störungen  wieder- 
kehren, so  daß  ein  Kranker  dem  anderen  überaus  ähnlich  ist, 
ein  Zeichen  dafür,  daß  hier  die  Persönlichkeit  ganz  hinter  dem 
Krankheitsvorgange  zurücktritt.  Höchstens  in  den  Einzelheiten  der 
Wahnbildung  macht  sich  noch  ein  gewisser  Einfluß  der  Lebens- 
erfahrungen geltend.  Ähnliches  gilt  in  abgeschwächtem  Grade  von 
der  Arteriosklerose  und  vom  Altersblödsinn,  dann  auch  von  den 
Fieberdelirien  und  den  infektiösen  Schwächezuständen.  Deutlicher 
tritt  die  persönliche  Eigenart  bei  den  Vergiftungen  hervor.  Wir 
wissen,  daß  schon  das  Bild  des  einfachen  Rausches,  die  Mischung 
von  Erregungs-  und  Lähmungserscheinungen,  bei  verschiedenen 
Menschen  wesentlich  abweicht.   Noch  deutlicher  wird  das  bei  den 
pathologischen  Rauschzuständen,  denen  regelmäßig  eine  besondere 
Veranlagung  zugrunde  liegt.   Auch  in  dem  Bilde  des  chronischen 
Alkoholismus  dürften  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Verschieden- 
heiten des  Charakters  zum  Ausdrucke  kommen,  in  dem  Vorherrschen 
der  Gewalttätigkeit  hier,  der  Willensschwäche  dort.   Ob  auch  die 
Gestaltung  der  übrigen  alkoholischen  Geistesstörungen  durch  die 
psychische  Eigenart  wesentlich  beeinflußt  wird,  wie  Bonhöffer 
angenommen  hat,  ist  mir  zweifelhaft.  Zwar  scheint  es  von  inneren 
Ursachen  abzuhängen,  ob  jemand  überhaupt  an  Delirium  tremens 
oder  Alkoholwahnsinn  erkrankt,  doch  spielen  hier  vielleicht  körper- 
liche Vorgänge  und  Eigenschaften  mit  hinein,  die  mit  der  psychischen 
Persönlichkeit  nichts  zu  tun  haben. 

Ganz  unklar  bleibt  es  zurzeit  noch,  wieweit  die  Erscheinungen 

1)  Tiling,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  XXVI,  561;  XXIX,  92;  Neißer,  Indi- 
vidualität und  Psychose.  1906. 


Persönliche  Eigenart. 


207 


der  Dementia  praecox  durch  die  persönliche  Eigenart  bestimmt 
werden.  Die  große  Mannigfaltigkeit  der  hier  beobachteten  Krank- 
heitsbilder legt  ja  die  Möglichkeit  nahe,  daß  vorgebildete  Unter- 
schiede dabei  mitwirken,  allein  auf  der  anderen  Seite  begegnen  uns 
doch  wieder  so  viele  durchaus  gleichartige  Gestaltungen,  daß  die 
Persönlichkeit  in  dem  Ausdrucke  des  Krankheitsvorganges  ganz 
imtergegangen  zu  sein  scheint.  Die  Art  dieses  letzteren  und  nament- 
lich vielleicht  seine  Ausbreitung  möchte  ich  daher  zunächst  für 
maßgebender  halten.  Allerdings  hat  sich  die  Züricher  Schule  be- 
müht, durch  Assoziationsversuche  engere  Beziehungen  der  Krank- 
heitserscheinungen zu  persönlichen  Anschauungen  und  Erlebnissen 
aufzudecken,  einstweilen  ohne  überzeugenden  Erfolg.  Auf  der 
anderen  Seite  beobachtet  man  öfters  schon  von  Jugend  auf  bei  den 
Kranken  einzelne  Züge,  die  sich  später  im  klinischen  Bilde  einfach 
verstärken ;  es  läßt  sich  aber  dabei  an  die  Möglichkeit  denken ,  daß 
jene  Züge  schon  die  ersten,  bis  in  die  Jugend  zurückreichenden 
leisen  Anzeichen  des  Leidens  darstellen.  Sehr  ausgeprägt  tritt  uns 
ein  ähnliches  Verhalten  oft  beim  manisch-depressiven  Irresein  ent- 
gegen: der  Ausbruch  der  Krankheit  erscheint  hier  nicht  selten  als 
eine  einfache  Steigerung  von  Eigentümlichkeiten,  die  sich  schon 
lange  vorher  zeigten  und  in  abgeschwächter  Form  durch  das  ganze 
Leben  fortbestehen,  dauernde  leichte  Verstimmung  oder  Erregung. 
Andererseits  kann  der  Krankheitsanfall  auch  gerade  einen  merk- 
würdigen Gegensatz  zu  dem  sonstigen  Verhalten  bilden,  aber  wir 
dürfen  nicht  vergessen,  daß  die  Eigenart  der  Manisch-Depressiven 
nicht  in  einer  bestimmten  Färbung  der  Stimmung,  sondern  in  der 
Leichtigkeit  besteht,  mit  der  Stimmungsschwankungen  verschiedener 
Färbung  zustande  kommen.  In  den  schwereren  Erregungs-  und 
Depressionszuständen  ist  von  einer  persönlichen  Gestaltung  meist 
nicht  viel  zu  bemerken,  doch  macht  sich  immerhin,  wie  früher  an- 
gedeutet, ein  höherer  Grad  der  Entartung  in  besonderer  Gewalt- 
tätigkeit, ekelerregenden  Handlungen,  plötzlichen  Antrieben,  Stereo- 
typien, namentlich  auch  in  der  Entwicklung  schleppend  verlaufender 
Mischzustände  geltend. 

Dasjenige  Gebiet,  auf  dem  die  persönliche  Eigenart  unmittelbar 
auch  die  Ausprägung  des  Krankheitsbildes  bestimmt,  sind  die 
psychogenen  Neurosen,  die  originären  Krankheitszustände  und  end- 
lich selbstverständlich  die  krankhaften  Persönlichkeiten.  Hier  fällt 


208 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


30,0 


mit  geringfügigen  Einschränkungen  Veranlagung  und  Erkrankung 
zusammen.  Auch  dort,  wo  die  Krankheitserscheinungen  selbst 
ziemlich  plötzlich  oder  stürmisch  hervortreten,  läßt  sich  regelmäßig 
ihr  Zusammenhang  mit  vorher  bestehenden  Eigentümlichkeiten  er- 
kennen. In  der  Hauptsache  gehört  hierhin  auch  wohl  die  Paranoia; 
es  spricht  wenigstens  vieles  dafür,  daß  es  sich  bei  ihr,  wenn  nicht 
ausschließlich,  so  doch  vorwiegend  um  die  Fortentwicklung  einer 
von  vornherein  bestehenden  Anlage  handelt,  — 

Machen  wir  zum  Schlüsse  noch  den  Versuch,  uns  über  die 
Größe  des  Anteils  Rechenschaft  zu  geben,  den  wir  nach  unserer 
heutigen  Kenntnis  den  einzelnen  Ursachengruppen  an  der  Er- 
zeugung des  Irreseins  zuschreiben  dür- 
fen, so  kann  zur  Veranschaulichung 
vielleicht  die  Fig.  XVII  dienen,  welche 
die  Erfahrungen  der  Münchener  Klinik 
wiedergibt.  In  der  ersten  Säule  ist  die 
Zahl  derjenigen  Fälle  dargestellt,  in 
denen  das  Irresein  durch  körperliche 
Erkrankungen,  insbesondere  Infektions- 
krankheiten, oder  durch  grobe,  um- 
schriebene Gehirnleiden  erzeugt  wurde. 
Weit  größer  ist  der  Anteil  der  zweiten 
Gruppe,  in  der  die  durch  Syphilis  und 
Metasyphilis  verursachten  Psychosen- 
zusammengefaßt  wurden.  Die  Haupt- 
masse bildet  hier  die  Paralyse,  der  die  syphilitischen  Hirnerkran- 
kungen schraffiert  hinzugefügt  wurden.  Noch  umfangreicher  ist 
die  dritte  Gruppe,  welche  die  Vergiftungen  umfaßt,  vor  allem  die 
alkoholischen  Erkrankungen,  zu  denen  der  schraffiert  wieder- 
gegebene Morphinismus,  Cocainismus,  Heroinismus  nur  einen  klei- 
nen Zusatz  bildet.  Selbstverständlich  würde  in  einer  mehr  länd- 
lichen Bevölkerung  diese  ganze  Gruppe  erheblich  zurücktreten.  Die 
vierte  Säule  umfaßt  die  aus  psychischen  Ursachen  entstehenden 
Geistesstörungen,  hier  wesentlich  die  traumatische  Neurose,  auch 
einzelne  Fälle  von  Gefangenschaftspsychosen.  Gewiß  ist  mit  dieser 
kleinen  Zahl  die  Bedeutung  der  psychischen  Ursachen  nicht  er- 
schöpft. Insbesondere  hätte  man  viele  Aufregungszustände  bei 
Hysterischen  und  Psychopathen  hier  mitzählen  können,  doch  habe 


0,0 


r,3%    1H3%  Zlß%    ZJ%    S6%   27,1%  303% 

(s,u  (22,1^  iz,t>  /fr,s) 


Fig.  XVII. 
•  Gruppierung  von  4079  Fällen 
nach  den  Krankheitsursachen 
(München) . 


Persönliche  Eigenart. 


209 


ich  geglaubt,  bei  ihnen  die  krankhafte  Veranlagung  als  die  Haupt- 
sache betrachten  zu  sollen. 

Weit  weniger  klar  werden  die  ursächlichen  Beziehungen  in  den 
letzten  drei  Gruppen.  Die  fünfte  umfaßt  jene  Erkrankungen,  bei 
deren  Entstehung  die  allgemeinen  Lebensschicksale  eine  wichtige 
Rolle  zu  spielen  scheinen,  die  senilen  und  präsenileri  Psychosen  und 
die  Arteriosklerose;  erstere  sind  von  der  letzteren  durch  Schraffierung 
abgehoben.  Wieweit  hier  Arbeit,  Entbehrungen,  verkehrte  Lebens- 
weise, Gemütsbewegungen,  wieweit  Alkohol  und  Syphilis  und  end- 
lich die  Veranlagung  zusammenwirken,  läßt  sich  heute  nicht  ent- 
scheiden. In  der  sechsten  Gruppe  sind  Krankheitsformen  von  im 
wesentlichen  unbekannter  Entstehung  vereinigt.  Dahin  gehören  die 
schraffiert  angedeutete  Dementia  praecox,  dann  hauptsächlich  Epi- 
lepsie, Idiotie  und  Imbecillität.  Bei  einem  nicht  unerheblichen  Teile 
dieser  letzteren  Erkrankungen  haben  wir  es  vermutlich  mit  Keim- 
schädigungen durch  kachektische  Zustände  der  Eltern,  in  einer 
weiteren  Reihe  von  Fällen  mit  Infektionen  vor  oder  bald  nach  der 
Geburt  zu  tun.  Die  letzte  Gruppe  gibt  solche  Formen  wieder,  die 
nach  unserer  heutigen  Auffassung  wesentlich  durch  erbliche  Über- 
tragung zustande  kommen.  Das  sind  in  der  Hauptsache  die  Psycho- 
pathen und  Hysterischen  einerseits,  die  manisch-depressiven,  hier 
schraffiert  angedeuteten  Kranken  andererseits.  Allerdings  scheinen 
wenigstens  für  jene  ersteren  unter  Umständen  auch  Keimschädi- 
gungen eine  gewisse  ursächliche  Bedeutung  zu  haben. 

Was  uns  dieser  kurze  Rückblick  lehrt,  ist,  daß  die  bei  weitem 
wichtigsten  Ursachen  des  Irreseins  bei  uns  einmal  durch  Alkohol 
und  Syphilis  in  ihrer  Wirkung  auf  den  einzelnen  und  seine  Nach- 
kommenschaft, dann  aber  durch  die  erbliche  Entartung  gebildet 
werden.  Gegen  alle  diese  Gefährdungen  unserer  geistigen  Volks- 
gesundheit sind  wir  nicht  ohnmächtig.  Haben  wir  deren  Bedeutung 
erst  einmal  klar  erkannt,  so  werden  wir  auch  Mittel  und  Wege 
finden,  ihren  verderblichen  Einfluß  zu  bekämpfen. 


Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


14 


IL  Die  Erscheinungen  des  Irreseins 


Die  Gesamtheit  der  klinischen  Erscheinungen,  welche  durch 
den  Krankheitsvorgang  des  Irreseins  hervorgebracht  werden,  be- 
zeichnen wir  als  die  Symptome  desselben.  Von  diesen  Krankheits- 
zeichen bedürfen  nur  diejenigen  hier  einer  eingehenderen  all- 
gemeinen Betrachtung,  welche  uns  als  psychische  Verände- 
rungen entgegentreten.  Die  verschiedenen  körperlichen  Krank- 
heitserscheinungen, nervöse  Reizungs-  und  Lähmungssymptome 
aller  Art,  vasomotorische,  trophische  Störungen  usf.,  gehören 
ihrer  Natur  nach  dem  Gebiete  der  Nervenheilkunde  an.  Ebenso 
werden  wir  auf  die  Schilderung  der  eigentlichen  psychischen  Herd- 
symptome verzichten  können,  da  sie  in  den  Lehrbüchern  der  Hirn- 
krankheiten abgehandelt  zu  werden  pflegen.  Alle  diese  Störungen 
besitzen  zwar  für  die  Erkennung  des  besonderen  vorliegenden 
Krankheitsvorganges  eine  vielfach  ganz  hervorragende  Bedeutung, 
aber  sie  gehören  nicht  zu  den  Erscheinungen  des  Irreseins  als 
solchen  und  werden  daher  erst  später,  bei  der  Darstellung  der 
klinischen  Krankheitsformen,  nähere  Berücksichtigung  finden. 

Drei  Hauptrichtungen  sind  es  im  großen  und  ganzen,  in  denen 
sich  die  psychischen  Lebenserscheinungen  bewegen,  die  Auf- 
nahme, Einprägung  und  geistige  Verarbeitung  des  Er- 
fahrungsstoffes, die  Schwankungen  des  gemütlichen 
Gleichgewichts,  endlich  die  Auslösung  von  Willens- 
antrieben und  Handlungen.  Auf  diesen  drei  Gebieten  werden 
wir  daher  die  Grundstörungen  der  psychischen  Leistungen  auf- 
zusuchen haben,  aus  deren  verschiedenartiger  Verbindung  wir  die 
einzelnen  klinischen  Krankheitsbilder  hervorgehen  sehen.  Bei 
weitem  die  größte  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  bietet  dabei 
unserer  Zergliederung  diejenige  Gruppe  von  psychischen  Vorgängen 
dar,  welche  die  Sammlung  und  Aufbewahrung  sinnlicher  Eindrücke, 


Sinnestäuschungen. 


211 


die  Verarbeitung  derselben  zu  Vorstellungen  und  Begriffen,  endlich 
die  Ausbildung  der  höheren  Verstandesleistungen  in  sich  schließt. 

A.  Störungen  des  Wahrnehmungsvorganges. 

Die  Wahrnehmung  eines  äußeren  Sinnesreizes  ist  im  all- 
gemeinen von  zwei  verschiedenen  Bedingungen  abhängig,  nämlich 
einmal  von  Bau  und  Leistung  des  gesamten  peripheren 
und  zentralen  Sinnesgebietes,  dann  aber  von  dem  Zustande 
des  Bewußtseins,  welches  den  zugeführten  Eindruck  in  sich 
aufnehmen  soll.  Alle  Störungen,  welche  das  eine  oder  das  andere 
dieser  beiden  Gebiete  in  krankhafter  Weise  verändern,  sind  auch 
imstande,  die  Wahrnehmung  der  Außenwelt  in  mehr  oder  weniger 
hohem  Grade  zu  beeinträchtigen.  Wo  die  äußeren  reizaufnehmen- 
den Organe  leistungsunfähig  geworden  sind  (Blindheit,  Taubheit), 
oder  wo  sich  Hindernisse  entwickelt  haben,  welche  die  Fortleitung 
der  Reize  unmöglich  machen,  fallen  bestimmte  Arten  von  Sinnes- 
vorstellungen in  dem  Erfahrungsschatze  einfach  aus.  Hier  hängt 
es  von  der  allgemeinen  psychologischen  Wichtigkeit  derselben  sowie 
von  der  Möglichkeit  einer  Stellvertretung  durch  andere  Sinne  ab, 
wie  weit  dadurch  die  Gesamtausbildung  der  psychischen  Persön- 
lichkeit zurückgehalten  wird.  Die  bei  weitem  größte  Bedeutung 
für  die  geistige  Entwicklung  scheint  dem  Gehörssinn  zuzukommen, 
offenbar  wegen  seiner  innigen  Beziehungen  zur  Lautsprache,  der 
wir  ja  in  erster  Linie  die  Übermittlung  des  geistigen  Erwerbes  ver- 
gangener Geschlechter  verdanken.  Wenn  auch  vereinzelte  Fälle 
(Laura  Bridgeman,  Helen  Keller)  bekannt .  sind ,  in  denen  durch 
eine  überaus  mühevolle  Erziehung  sogar  der  Verlust  des  Gesichtes 
und  Gehörs  mit  Hilfe  des  Tastsinnes  einigermaßen  wieder  aus- 
geglichen werden  konnte ,  so  bleiben  doch  nicht  unterrichtete 
Taubstumme  lebenslänglich  auf  der  Stufe  des  Schwachsinns  stehen, 
auch  dann,  wenn  nicht,  wie  so  häufig,  die  Taubheit  nur  Begleiterin 
einer  allgemeineren  Hirnerkrankung  ist.  Blinde  dagegen  pflegen 
in  ihrer  geistigen  Entwicklung  durch  den  Ausfall  der  Gesichts- 
wahrnehmungen durchaus  nicht  in  höherem  Grade  gehindert  zu 
werden. 

Sinnestäuschungen.  Ein  weit  größeres  klinisch -psychiatrisches 
Interesse  nehmen  indessen  diejenigen  Störungen  des  Wahrnehmungs- 

14» 


212 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Vorganges  in  Anspruch,  die  nicht  durch  vollständiges  Fehlen, 
sondern  durch  krankhafte  Vorgänge  im  Gebiete  der  Sinnesbahn  be- 
dingt sind,  durch  die  somit  nicht  ein  Ausfall  von  Sinneserfahrung, 
sondern  eine  inhaltliche  Veränderung,  eine  Verfälschung  der- 
selben, erzeugt  wird.  Jedes  Sinneswerkzeug  wird  durch  irgend- 
welche Reize  in  einer  ihm  eigentümlichen,  ,, spezifischen"  Weise 
erregt.  Es  muß  daher  überall,  wo  der  Reiz,  der  einen  Eindruck 
erzeugt,  nicht  der  gewohnte,  dem  getroffenen  Sinne  angemessene 
ist,  eine  Täuschung  über  die  Natur  der  Reizquelle  entstehen.  So 
ist,  streng  genommen,  der  Lichtblitz,  die  Klangempfindung  bei  elek- 
trischer Durchströmung  des  Auges  und  Ohres,  der  Geschmacks- 
eindruck bei  mechanischer  Reizung  der  Chorda  tympani  als  eine 
Trugwahrnehmung  anzusehen,  wenn  wir  sie  auch  auf  Grund  unserer 
physiologischen  Erfahrungen  und  mit  Hilfe  der  Überlegung  sogleich 
als  solche  erkennen,  so  daß  eine  weitere  Verfälschung  unseres 
Bewußtseinsinhaltes  daraus  nicht  hervorgeht.  Dennoch  können 
unter  Umständen  bei  Geisteskranken,  namentlich  bei  stärkerer  Be- 
wußtseinstrübung, die  subjektiven  Lichterscheinungen  infolge  von 
Blutüberfüllung  des  Auges,  das  Brausen  und  Klingen  in  den  Ohren 
die  Vorstellung  drohender  Feuers-  und  Wassersgefahren  u.  dgl. 
wachrufen  und  auf  diese  Weise  das  Zustandekommen  einer  wirk- 
lichen, nicht  ausgeglichenen  Täuschung  vermitteln.  Derartige 
peripher  bedingte  Sinnestäuschungen  hat  man  elementare 
genannt,  weil  sie  eben  wegen  ihres  Entstehungsortes  in  den  reiz- 
aufnehmenden Flächen  die  Kennzeichen  einfacher,  nicht  zusam- 
mengesetzter Sinnesempfindungen  tragen.  Wir  könnten  sie  auch 
als  Sinnestäuschungen  im  engeren  Sinne  den  weiterhin  zu  be- 
sprechenden Wahrnehmungs-  und  Einbildungstäuschungen  gegen- 
überstellen. 

Verfolgen  wir  die  Bahn  der  Sinnesnerven  weiter  gegen  die 
Hirnrinde  zu,  so  gelangen  wir  zu  denjenigen  Stätten,  in  denen 
sich  die  einzelnen  Wahrnehmungsbestandteile,  wie  sie  vom  Sinnes- 
werkzeuge geliefert  werden,  zu  einem  Gesamteindrucke  verbinden, 
der  sodann  als  Sinnesvorstellung  ins  Bewußtsein  gelangt.  Über 
die  anatomische  Lage  dieser  Zentren  können  wir  freilich  bisher 
nichts  Sicheres  aussagen;  am  wahrscheinlichsten  ist  es  jedoch, 
namentlich  im  Hinblick  auf  die  klinischen  und  experimentellen 
Erfahrungen   über  die  , .Seelenblindheit",   daß,   wenigstens  beim 


Sinnestäuschungen. 


213 


Menschen  und  bei  höheren  Tieren ,  die  sog.  zentralen  Sinnes- 
flächen, d.  h.  die  nächsten  Endstätten  der  Sinnesbahnen  in|  der 
Rinde,  als  solche  zu  betrachten  sind.  Es  ist  ohne  weiteres'^klar, 
daß  auch  hier  nicht  sinnliche  Reize,  also  z.  B.  Veränderungen 
in  der  Blutversorgung,  Gifte  u.  dgl.  Erregungszustände  hervor- 
zurufen vermögen,  welche  den  gewohnten  Reizungen  durch  Sinnes- 
eindrücke sehr  ähnlich  sind,  um  so  leichter,  wenn  die  Erregbar- 
keit der  betreffenden  Hirnstelle  im  gegebenen  Augenblicke  durch 
irgendwelche  Einflüsse  ohnedies  gesteigert  ist.  Unter  solchen  Um- 
ständen kann  daher  irgendeine  mehr  oder  weniger  zusammen- 
gesetzte Sinnesvorstellung  in  das  Bewußtsein  eintreten,  die  nicht 
durch  einen  sinnlichen  Reiz,  sondern  durch  physiologische  oder 
krankhafte  Erregungszustände  in  den  höheren  Abschnitten  des 
betreffenden  Sinnesgebietes  hervorgerufen  wurde.  Da  sie  gleich- 
wohl auf  einen  äußeren  Gegenstand  bezogen  wird,  so  haben  wir 
es  demnach  hier  mit  einer  Fälschung  des  Wahrnehmungsvorganges 
zu  tun,  die  auf  einer  Täuschung  über  den  wahren  Ursprung  der 
Sinnesreizung  beruht^). 

Diese  Gruppe  der  Sinnestäuschungen,  die  man  wegen  ihrer 
vermutlichen  Entstehung  in  den  ,,Perzeptionszentren"  vielleicht 
'  als  Perzeptionsphantasmen  (Wahrnehmungstäuschungen)  be- 
zeichnen kann,  ist  es,  welche  der  gewöhnlichen  Wahrnehmung 
am  nächsten  steht.  Allerdings  pflegen  diese  Täuschungen  beim 
gesunden  Menschen,  bei  dem  sie  sich  häufig  vor  dem  Einschlafen 
einstellen  (hypnagogische  Halluzinationen),  nur  ganz  ausnahms- 
weise eine  größere  Lebhaftigkeit  zu  gewinnen.  Unter  krankhaften 
Verhältnissen  dagegen  kann  die  sinnliche  Deutlichkeit  der  Trug- 
wahrnehmungen so  groß  werden,  daß  eine  Berichtigung  der  Fäl- 
schung nur  mit  Hilfe  der  anderen  Sinne  möglich  ist.  Wie  die 
Bilder,  die  bei  geschlossenen  Augen  im  Gesichtsfelde  auftauchen, 
sind  sie  vom  Willen  und  vom  sonstigen  Gedankengange  im  all- 

1)  Johannes  Müller,  Über  die  phantastischen  Gesichtserscheinungen.  1816; 
V.  Krafft  -  Ebing,  Die  Sinnesdelirien.  1864;  Kahlbaum,  Allgem.  Zeitschr.  f. 
Psychiatrie,  XXIII,  i;  Hagen,  ebenda  XXV,  i;  Kandinsky,  Kritische  und  klinische 
Betrachtungen  im  Gebiete  der  Sinnestäuschungen.  1885;  Parish,  Über  die  Trug- 
wahrnehmung. 1894;  Berze,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVI,  285;  Uhthoff,  Monatsschr. 
f.  Psychiatrie,  V,  241,  1899;  Norman,  Journal  of  mental  science,  1903,  454;  Tanzi, 
Rivista  di  patologia  nervosa  e  mentale,  VI,  12;  Goldstein,  Arch.  f.  Psychiatrie, 
XLIV,  584. 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 

gemeinen  unabhängig  und  treten  auch  deswegen  dem  Bewußtsein 
als  etwas  Fremdes,  Selbständiges,  von  außen  Kommendes  gegen- 
über, dessen  subjektive  Entstehung  ihm  völlig  verborgen  bleibt. 
Aus  demselben  Grunde  haben  sie  auch  meist  einen  ziemlich  gleich- 
förmigen, wenig  wechselnden  Inhalt  (stabile  Halluzinationen  Kahl- 
baums):   Wiederholung   derselben,   bisweilen   sinnlosen  Worte, 
häufiges  Wahrnehmen  desselben  Geruches,  Sehen  bestimmter  Muster, 
Blumen,  Tiere  u.  dgl.    Da  sie  auf  zentralen  Erregungszuständen 
beruhen,  so  sind  sie  nicht  an  die  Tätigkeit  der  äußeren  Sinnes- 
werkzeuge gebunden  und  kommen  auch  bei  gänzlicher  Vernichtung 
der  Sinnesnerven  und  ihrer  ersten  Endigungen,  der  Nervenkerne, 
zur   Beobachtung.    Besonders  klar  weisen  auf  ihre  Ursprungs- 
stätten diejenigen  Fälle  mit  halbseitigem  Gesichtsfeldausfall  hin, 
in  denen  die  Lücken  durch  Trugwahrnehmungen  ausgefüllt  werden. 
Hier  erzeugt  offenbar  der  Krankheitsvorgang  in  der  Hirnrinde, 
der  die  Wahrnehmung  wirklicher  Gesichtseindrücke  aufhebt,  zu- 
gleich die  täuschenden  Bilder.    In  den  seltenen  Fällen,  bei  denen 
Täuschungen  in  der  erhaltenen  Gesichtsfeldhälfte  auftraten,  fanden 
sich  beide  Hinterhauptsrinden  verändert.   Auch  das  plötzliche  Auf- 
tauchen lebhafter  Lichtempfindungen  ist  bei  rascher  Entstehung 
doppelseitiger  Rindenblindheit  beobachtet  worden. 

Eine  wesentliche  Vorbedingung  für  die  Entstehung  von  Wahr- 
nehmungstäuschungen ist  offenbar  die  Steigerung  der  Erregbar- 
keit in  den  Sinneszentren.  Eine  solche  Steigerung  scheint  sich, 
entsprechend  etwa  dem  Adaptationsvorgange  in  der  Netzhaut, 
bei  Abschwächung  oder  Ausschluß  der  äußeren  Sinnesreize  ein- 
zustellen. Schon  beim  Gesunden  bieten  Dunkelheit  und  Stille  am 
häufigsten  Gelegenheit,  das  Auftreten  von  lebhaften  Gesichts- 
bildern oder  von  akustischen  Trugwahrnehmungen  zu  beobachten. 
Ebenso  sehen  wir  bei  Alkoholisten  sehr  gewöhnlich  die  Täuschungen 
auf  dem  Gebiete  des  Gesichts  und  Gehörs  sich  mit  dem  Anbruche 
der  Nacht  erheblich  verstärken;  mitunter  genügt  schon  das  Ver- 
hängen der  Augen  mit  einem  Tuche,  um  Gesichtsbilder  hervor- 
zurufen. Auch  bei  anderen  Kranken  pflegen  sich  die  Gesichts- 
täuschungen ganz  vorzugsweise  in  der  Nacht  einzustellen.  In 
der  lautlosen  Einsamkeit  des  Zellengefängnisses  sind  Gehörstäu- 
schungen überaus  häufig.  Bei  starker  Schwerhörigkeit  oder  Taub- 
heit begegnen  uns  nicht  selten  ausgeprägte  und  hartnäckige  Ge- 


Sinnestäuschungen. 


215 


hörstäuschungen;  Ranschburg  beobachtete  eine  Kranke,  die 
vorzugsweise  auf  ihrem  rechten,  tauben  Ohre  halluzinierte.  Blinde 
mit  Erkrankungen  des  Sehnerven  oder  des  Auges,  Linsen-  oder 
Hornhauttrübungen  haben  bisweilen  sehr  lebhafte  Gesichtstäu- 
schungen; sie  stellen  sich  öfters  nach  Augenoperationen  im  Dunkel- 
zimmer ein. 

Begünstigt  wird  das  Hervortreten  solcher  Täuschungen  über- 
all dadurch,  daß  sich  die  Aufmerksamkeit  auf  das  betreffende 
Sinnesgebiet  richtet,  namentlich,  wenn  deren  Spannung  durch  Ge- 
mütsbewegungen dauernd  erhöht  wird.  Wir  sehen  daher  die  Täu- 
schungen vielfach  schwinden,  sobald  der  Kranke  sich  beruhigt 
oder  durch  ein  Gespräch,  geistige  oder  körperliche  Beschäftigung, 
die  Versetzung  in  eine  neue  Umgebung  u.  dgl.  abgelenkt  wird. 
Manche  Kranke  sperren  sich  von  wirklichen  Eindrücken  nach 
Möglichkeit  ab,  um  ungestörter  ihre  Sinnestäuschungen  ver- 
folgen zu  können;  andere  suchen  im  Gegenteil  lebhafte  Wahr- 
nehmungen zu  erzeugen,  um  jenen  zu  entgehen.  So  kannte  ich 
einen  Ingenieur,  der  sich  mit  den  einfachsten  Hilfsmitteln  ein 
kleines  Läutewerk  herstellte,  um  die  ihn  quälenden  Stimmen  zu 
übertäuben. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  nun  aber  nicht  zu  verkennen,  daß 
auch  äußere  Reize  bei  der  Entstehung  von  Sinnestäuschungen 
außerordentlich  häufig  eine  unterstützende  Rolle  spielen.  Darin 
liegt  nur  scheinbar  ein  Widerspruch.  Während  deutliche  und 
klare  Sinneswahrnehmungen  die  Aufmerksamkeit  fesseln  und  die 
Eigenerregungen  des  Sinnesgebietes  zurückdrängen,  handelt  es 
sich  hier  um  solche  Reize,  die  nicht  imstande  sind,  scharfe 
Eindrücke  zu  vermitteln,  sondern  nur  der  Aufmerksamkeit  die 
Richtung  auf  ein  bestimmtes  Sinnesgebiet  geben  und  so  dessen 
Eigenerregungen  verstärken.  Die  in  dieser  Frage  vorliegenden 
Erfahrungen  sind  ungemein  mannigfaltige.  Täuschungen  können 
unter  Umständen  aufhören,  sobald  die  entsprechende  Sinnesquelle 
ausgeschaltet  wird;  wir  müssen  also  annehmen,  daß  die  leisen, 
vom  Sinnesorgane  ausgehenden  Eigenerregungen  den  Anstoß  zu 
ihrer  Entstehung  gegeben  haben.  So  sieht  man  Gehörshalluzi- 
nanten  sich  bisweilen  die  Ohren  verstopfen,  um  die  Stimmen  nicht 
mehr  zu  hören.  Dabei  muß  es  allerdings  zweifelhaft  bleiben,  ob 
sie  nicht  nur  durch  die  Erwartung  geleitet  werden,  sich  gegen 


2l6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sie  wie  gegen  äußere  Wahrnehmungen  absperren  zu  können. 
Häufig  scheinen  Täuschungen  durch  Reizzustände  in  den  Sinnes- 
organen veranlaßt  zu  werden.  Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung 
der  Bericht  von  Nägeli,  der  nach  einer  Verbrennung  seiner  Horn- 
haut mit  heißem  Spiritus  vor  seinen  verbundenen  Augen  längere 
Zeit  ausgeprägte  Gesichtstäuschungen  von  vollkommener  sinnlicher 
Deutlichkeit  beobachten  konnte.  Hudovernig  berichtet,  daß 
einer  Kranken  ein  Wattepfropf  im  linken  Ohr  zunächst  Geräusch 
und  Summen  verursachte,  aus  dem  sich  weiterhin  dann  Stimmen 
entwickelten,  während  Pick  das  Übergehen  bis  dahin  einseitiger 
Gehörstäuschungen  auf  das  so  lange  taube  und  nicht  halluzinierende 
Ohr  beobachtete,  nachdem  aus  ihm  ein  Cerumenpfropf  entfernt 
worden  war.  Im  einen  Falle  dürfte  der  krankhafte  Reiz,  im.  an- 
deren die  Wiederkehr  äußerer  Erregungen  in  der  empfänglichen 
zentralen  Sinnesfläche  Eigenerregungen  ausgelöst  haben. 

Bei  Alkoholdeliranten  gelingt  es,  wie  Liepmann  gezeigt  hat, 
durch  leichten  Druck  auf  die  geschlossenen  Augen  selbst  nach 
Ablauf  der  stürmischeren  Krankheitserscheinungen  deutliche  Ge- 
sichtstäuschungen zu  erzeugen,  die  in  ihrer  bunten  Gestaltung 
durchaus  den  sonst  bei  jener  Krankheit  vorkommenden  Trug- 
wahrnehmungen gleichen;  nur  scheinen  sie  weniger  in  Verbindung 
mit  der  Gedankenwelt  der  Kranken  zu  stehen  und  nicht  zu  schwan- 
ken, vielleicht  weil  der  Einfluß  der  unruhigen  Augen-  und  Kopf- 
bewegungen fortfällt.  Bonhöffer,  der  ähnliches  auch  im  Ge- 
biete des  Hautsinnes  beobachtete,  legt  nach  seinen  Erfahrungen 
das  Hauptgewicht  hier  auf  das  Einreden.  Dafür  spricht  die  Er- 
fahrung, daß  die  Alkoholkranken  auf  Aufforderung  auch  Worte 
und  Zahlen  von  einem  weißen  Blatte  ablesen;  sie  sehen  die  Tiere, 
die  man  ihnen  am  Boden  zeigt,  hören  das  Summen  einer  Fliege 
in  der  an  das  Ohr  gehaltenen  Hand,  Anrufe  aus  dem  dargebotenen 
Telephon  und  beschreiben  die  Gegenstände,  die  man  ihnen  schein- 
bar in  die  geschlossene  Hand  gesteckt  hat.  Die  durch  Zuspruch 
bewirkte  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  das  Sinnesgebiet 
läßt  hier  die  erwartete  Wahrnehmung  entstehen;  es  ist  jedoch 
unverkennbar,  daß  dabei  zumeist  unbestimmte  Eindrücke,  die 
Schatten  auf  dem  ungleich  beleuchteten  Papier,  die  Flecken  am 
Boden,  Ohrensausen  usf.,  den  äußeren  Anhalt  für  die  angeregten 
Täuschungen  liefern.    Ähnlich  scheinen  die  eigentümlich  rhyth- 


Sinnestäuschungen. 


217 


mischen  Stimmen  beim  Alkoholwahnsinn  sich  an  den  Takt  des 
Carotispulses  anzuknüpfen.  Auch  bei  anderen  Kranken  werden 
namentlich  Gehörstäuschungen  sehr  häufig  durch  leise  Geräusche, 
das  Tröpfeln  des  Wassers,  das  Sausen  des  Windes  angeregt;  Bech- 
terew beobachtete,  daß  in  der  Hypnose  erzeugte  Trugwahrneh- 
mungen regelmäßig  an  die  Stelle  eines  schnurrenden  Induktions- 
apparates verlegt  wurden.  Ferner  finden  sich  bei  alten  Gehörs- 
halluzinanten  nicht  selten  chronische  Erkrankungen  des  Mittel- 
ohrs und  Abweichungen  in  der  elektrischen  Reaktion  des  Acu- 
sticus^).  Außer  der  einfachen  Hyperästhesie  stellt  sich  hier  und 
da  paradoxe  Reaktion  des  nicht  armierten  Ohres  heraus  und  na- 
mentlich auch  die  schwerste  Form  der  Störung,  die  Umkehrung 
der  Formel  für  die  einfache  Hyperästhesie.  Jolly  hat  gezeigt,  daß 
es  hier  öfters  gelingt,  durch  elektrische  Reizung  des  Acusticus  die 
Täuschungen  hervorzurufen. 

Wie  es  scheint,  spielt  der  Zustand  der  Sinnesorgane  vielfach  bei 
der  Entstehung  einseitiger  Wahrnehmungstäuschungen  eine  Rolle. 
Halbseitige  Gesichtstäuschungen  zeigen  niemals  hemiopische  Be- 
grenzung, wie  man  bei  ihrer  Entstehung  in  den  Sinneszentren  er- 
warten sollte.  Seglas  berichtet  von  dem  Schwinden  linksseitiger 
Gesichtstäuschungen  durch  Bedecken  des  linken  Auges,  trotz  der 
doppelseitigen  Vertretung  jeder  Sehfläche  in  jedem  Auge.  Man  hat 
ferner  Wandern  der  Trugwahrnehmungen  mit  den  Augenbewegungen 
und  Verdoppelung  durch  Prismen  oder  bei  seitlichem  Druck  auf 
den  Augapfel  gesehen,  Erscheinungen,  die  auf  die  Beeinflussung  der 
Trugwahrnehmung  durch  wirkliche,  wenn  auch  vielleicht  ganz  un- 
klare Gesichtsbilder  hinweisen  könnten.  Es  wäre  aber  möglich, 
daß  die  feste  Gewohnheit,  die  räumliche  Lage  des  Gesehenen  aus 
den  Augenmuskelbewegungen  zu  erschließen,  auch  die  Verlegung 
der  Täuschungen  nach  außen  beeinflußte,  und  daß  die  prismatische 
Verdoppelung  nebenher  wirklich  gesehener  Gegenstände  auch  auf 
die  unabhängig  von  der  Netzhaut  entstandene  Trugwahrnehmung 
übergriffe,  wie  es  bei  hypnotischen  Täuschungen  beobachtet 
worden  ist.  Solche  und  ähnliche  psychische  Einflüsse  können  auch, 
wie  Seppilli  beobachtete,  bewirken,  daß  die  Gesichtstäuschungen 

1)  Jolly,  Arch.  f.  Psychiatrie,  IV,  495;  Buccola,  Rivista  di  freniatria  speri- 
mentale,  XI,  i,  1885;  Redlich  u.  Kaufmann,  Wiener  klin.  Wochenschr., 
^896,  33. 


2l8 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sich  beim  Sehen  durch  ein  Opernglas  vergrößern  und  verkleinern, 
ja,  daß  sie  auch  im  Spiegel  erscheinen.  Farbige  Gläser  scheinen 
die  Gesichtstäuschungen  nicht  mitzufärben. 

Einseitige  Gehörstäuschungen^)  werden,  wie  schon  erwähnt, 
nicht  selten  bei  krankhaften  Zuständen  des  betreffenden  Gehör- 
organs beobachtet.  Immerhin  dürfen  wir  diesen  keine  allzu  große 
Bedeutung  beimessen,  weil  sehr  häufig  im  weiteren  Verlaufe  die 
Täuschungen  auch  auf  das  andere  Ohr  übergehen.  Maßgebend 
ist  also  auch  hier  ohne  Zweifel  immer  das  Verhalten  der  zentralen 
Sinnesfläche.  Öfters  ist  der  Inhalt  der  von  beiden  Ohren  gelieferten 
Trugwahrnehmungen  ein  ganz  verschiedener;  feindselige  Stimmen 
scheinen  häufiger  von  der  linken  Seite  zu  kommen.  Es  ist  sehr 
verführerisch,  das  Auftreten  von  Gehörstäuschungen  verschiedener 
Art  in  verschiedene  Rindengebiete,  etwa  in  die  beiden  Hirnhälften 
zu  verlegen.  Seglas  hat  jedoch  in  überzeugender  Weise  die  Un- 
haltbarkeit  dieser  Vorstellung  dargetan.  Er  weist  einmal  darauf 
hin,  daß  die  Sprache  nur  linksseitig  vertreten  sei,  somit  also  auch 
Gehörstäuschungen  sprachlichen  Inhaltes  nicht  in  der  rechten 
Hirnhälfte  entstehen  dürften.  Sodann  aber  führt  er  jene  nicht 
seltenen  Fälle  ins  Feld,  in  denen  nicht  nur  zwei,  sondern  weit  mehr 
verschiedenartige  Stimmen  nebeneinander  bestehen,  und  in  denen 
ihr  Sitz  nicht  nur  in  die  Ohren,  sondern  auch  in  den  Bauch,  die 
Brust  oder  alle  möglichen  anderen  Körperteile  verlegt  wird.  Man 
wird  daher  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß  auch  hier,  wie  bei  den 
Gesichtstäuschungen,  die  räumliche  Lokalisation  der  Trugwahr- 
nehmungen wesentlich  nicht  durch  die  Beimischung  wirklicher 
Sinnesempfindungen,  sondern  durch  verwickelte  psychische  Vor- 
gänge bedingt  wird.  Wo  periphere  Reize  mitspielen ,  dienen  sie 
doch  nur  als  Anknüpfungen  für  die  weitere  allgemeine  Verarbei- 
tung. Bechterew  konnte  die  Gehörstäuschungen  eines  Kranken 
durch  einfaches  Bestreichen  in  verschiedene  Körperteile  verlegen. 

Außer  der  Entstehung  von  Wahrnehmungen  ohne  äußeren 
Reiz  beobachtet  man  zuweilen  auch  das  Ausbleiben  der  Wahr- 
nehmung wirklicher  Reize.  Wir  sprechen  hier  nicht  von  der  Nicht- 
beachtung äußerer  Eindrücke  wegen  mangelnder  oder  abgelenkter 

1)  Robertson,  Journal  of  mental  science,  1901,  April,  277;  Seglas,  Annales 
medico - psychologiques ,  1902,  I,  353;  Lugaro,  Rivista  di  patologia  nervosa  e 
mentale.    1904,  228. 


Sinnestäuschungen. 


219 


Aufmerksamkeit  oder  bei  Trübung  des  Bewußtseins,  noch  weniger 
von  den  Ausfällen,  die  durch  Störungen  in  den  Sinnesorganen  oder 
der  Fortleitung  zum  Gehirn  bedingt  werden.  Vielmehr  erschei- 
nen unter  Umständen  gewisse  Eindrücke  oder  auch  ganze  Wahr- 
nehmungsgebiete trotz  im  übrigen  ungestörter  Auffassungsfähig- 
keit gleichsam  ausgelöscht.  Wenn  man  will,  kann  man  hier  von 
,, negativen  Sinnestäuschungen"  sprechen.  Sie  sind  immer  psycho- 
gener Entstehung  und  werden  nur  in  der  Hypnose  oder  bei  der 
Hysterie  beobachtet.  Das  bekannteste  Beispiel  dafür  ist  die  hy- 
sterische Anästhesie,  der  sich  die  hysterische  Blindheit  und  Taub- 
heit anschließt.  Die  halbseitigen  Gesichtstäuschungen  dürften 
ebenfalls  hierhergehören;  es  gelang  Seglas,  die  Verdoppelung 
einer  einseitigen  Gesichtstäuschung  durch  ein  Prisma  zu  erzielen 
und  damit  nachzuweisen,  daß  die  Trugwahrnehmung  auch  mit 
dem  anderen  Auge  gesehen,  aber  nicht  aufgefaßt  wurde. 

In  der  Regel  pflegen  sich  die  Fälschungen  der  äußeren  Er- 
fahrung nur  auf  ein  einzelnes  Sinnesgebiet  zu  erstrecken.  Mit- 
unter bestehen  aber  doch  gewisse  Beziehungen  zwischen  ver- 
schiedenartigen Störungen.  Eine  Kranke  von  Seglas  mit  links- 
seitigen Gesichtstäuschungen  war  zugleich  auf  dieser  Seite  emp- 
findungslos; der  schon  oben  erwähnte  Kranke  Ranschburgs 
hörte  links  nur  selten  Stimmen,  dann  aber  immer  mit  linkssei- 
tigen Empfindungen  an  der  Schulter.  Bei  weitem  am  häufigsten 
sind  Täuschungen  im  Gebiete  des  Gehörs  und  Gesichts,  seltener 
in  demjenigen  der  drei  übrigen  Sinne  und  in  dem  dunklen  Bereiche 
jener  Wahrnehmungen,  die  wir  unter  dem  Sammelnamen  der  Ge- 
meinempfindungen zusammenfassen. 

Für  die  klinische  Betrachtung  hat  Esquirol  und  nach  ihm 
aus  praktischen  Gründen  die  Mehrzahl  der  Forscher  zwei  Arten 
von  Sinnestäuschungen  unterschieden,  solche  nämlich,  bei  denen 
eine  äußere  Reizquelle  gar  nicht  vorhanden  ist:  Halluzina- 
tionen, und  solche,  die  nur  als  die  Verfälschung  einer  wirk- 
lichen Wahrnehmung  durch  eigene  Zutaten  zu  betrachten  sind: 
Illusionen^).  Im  Einzelfalle  ist  diese  Trennung  nicht  selten 
äußerst  schwierig  oder  gänzlich  unmöglich.  So  sind  wir  nament- 
lich bei  den  Berührungssinnen  (Geruch,  Geschmack,  Hautsinn) 


1)  Sully,  Die  Illusionen.   Internat,  wissenschaftliche  Bibliothek.  1883. 


220 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


fast  niemals  imstande,  mit  Sicherheit  das  Vorhandensein  irgend 
einer  äußeren  Reizursache  (Zersetzungsvorgänge  in  Mund-  oder 
Nasenhöhle,  Veränderungen  der  Blutfüllung,  Schwankungen  der 
Eigenwärme  u.  dgl.)  auszuschließen ,  noch  weniger  natürlich  bei 
den  Störungen  der  Gemeinempfindungen.  Auch  beim  Gesicht 
geben,  wie  schon  angedeutet,  unter  Umständen  nicht  nachweis- 
bare Reize,  z.  B.  das  Eigenlicht  der  Netzhaut,  beim  Gehör  ent- 
otische  Geräusche  usf.,  gewissermaßen  den  Rohstoff  für  die  Aus- 
bildung der  Trugwahrnehmungen  ab.  In  anderen  Fällen  jedoch 
ist  die  verschiedenartige  Entstehungsweise  ohne  weiteres  klar. 
Der  Furchtsame,  der  ragende  Baumstämme,  wallende  Nebel  für 
Gespenster  hält  (,, Erlkönig"),  der  Kranke,  der  aus  dem  Läuten 
der  Glocken,  dem  Kritzeln  der  Feder,  dem  Pfeifen  der  Eisenbahn, 
dem  Bellen  der  Hunde,  dem  Knarren  der  Wagen  Schimpfworte 
und  Vorwürfe  heraushört  —  sie  haben  zweifellos  ,, Illusionen", 
während  wir  die  allbekannten  Gesichtstäuschungen  des  Alkoho- 
listen, die  ,, Stimmen",  welche  den  Sträfling  im  stillen  Zellen- 
gefängnisse quälen  oder  beglücken,  höchst  wahrscheinlich  als 
Halluzinationen  zu  bezeichnen  haben.  Zwischen  beiden  Formen 
gibt  es  alle  möglichen  Übergänge;  ist  doch  die  Illusion  im  Grunde 
nichts  anderes,  als  eine  vielfach  wechselnde  Mischform  von  ge- 
sunder Sinneswahrnehmung  mit  täuschenden  Zutaten.  Wir  er- 
innern uns  hierbei  der  Tatsache,  daß  auch  unsere  gesunden  Wahr- 
nehmungen regelmäßig  nicht  eine  untrügliche  Wiedergabe  des 
Sinneseindruckes  darstellen,  sondern  von  vornherein  eine  erheb- 
liche Beimischung  uns  selbst  unbewußter  Wahrnehmungsfehler 
enthalten. 

Die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  dieser  ganzen  Gruppe  von 
Sinnestäuschungen  liegt  in  ihrer  vollkommen  sinnlichen  Deut- 
lichkeit. Der  Erregungszustand  im  Gehirn  entspricht  durch- 
aus demjenigen  beim  gewöhnlichen  Wahrnehmungsvorgange,  und 
die  entstehende  Trugwahrnehmung  ordnet  sich  daher  unterschieds- 
los in  die  Reihe  der  übrigen  Sinneseindrücke  ein.  Die  Kranken 
glauben  nicht  nur,  zu  sehen,  zu  hören,  zu  fühlen,  sondern  sie 
sehen,  hören,  fühlen  wirklich. 

Ein  in  vieler  Beziehung  abweichendes  Verhalten  bieten  da- 
gegen diejenigen  nur  uneigentlich  so  genannten  Sinnestäuschungen 
dar,  die  nichts  anderes  sind  als  Vorstellungen  von  beson- 


Sinnestäuschungen. 


221 


derer  sinnlicher  Kraft.  Das  Wiederauftauchen  eines  früheren 
Eindruckes  pflegt  in  der  Regel  niemals  die  unmittelbare  Deut- 
lichkeit der  Sinneswahrnehmung  selbst  zu  erreichen,  sondern  sich 
jederzeit  ganz  unzweideutig  durch  die  geringere  Lebhaftigkeit 
und  Schärfe  von  jener  zu  unterscheiden.  Indessen  bestehen  in 
dieser  Beziehung  bedeutende  persönliche  Verschiedenheiten.  Wäh- 
rend von  manchen  Beobachtern  den  Erinnerungsbildern  jede 
genauere  Ausprägung  nach  Farbe  und  Form  abgesprochen  wird, 
versichern  andere,  besonders  bildende  Künstler,  daß  dieselben 
bisweilen  an  sinnlicher  Kraft  der  unmittelbaren  Wahrnehmung 
nur  sehr  wenig  nachgeben;  es  sind  das  die  bekannten  Unterschiede 
in  der  Lebhaftigkeit  des  Gedächtnisses  für  Farben,  Formen,  Töne, 
Auch  die  persönliche  Sinnesveranlagung  spielt  hier  eine  große 
Rolle.  Wo  die  Gesichtsvorstellungen  das  geistige  Leben  beherrschen, 
werden  sie  naturgemäß  einen  weit  größeren  Reichtum  an  scharfen 
Einzelheiten  aufweisen,  als  dort,  wo  Gehörs-  oder  Bewegungs- 
vorstellungen das  wesentliche  Werkzeug  des  Denkens  bilden. 

Unter  krankhaften  Verhältnissen  können  offenbar  auftau- 
chende Vorstellungen  und  Erinnerungsbilder  bisweilen  einen  so 
hohen  Grad  von  sinnlicher  Deutlichkeit  erreichen,  daß  sie  von 
den  Kranken  als  wirkliche  Wahrnehmungen  besonderer  Art  auf- 
gefaßt werden.  Eine  ganze  Reihe  von  Forschern  ist  sogar  der 
Ansicht,  daß  alle  Trugwahrnehmungen  unmittelbar  als  Einbil- 
dungsvorstellungen von  außergewöhnlicher  sinnlicher  Lebhaftig- 
keit aufzufassen  seien.  Allein  der  Umstand,  daß  bei  Halluzi- 
nanten  durchaus  nicht  alle,  sondern  nur  bestimmte  Gruppen  von 
Vorstellungen  in  den  Sinnestäuschungen  eine  Rolle  zu  spielen 
scheinen,  und  daß  neben  diesen  letzteren  stets  auch  Vorstellungen 
von  der  gewöhnlichen,  abgeblaßten  und  gestaltlosen  Art  zu  ver- 
laufen pflegen,  deutet  darauf  hin,  daß  noch  eine  besondere 
Ursache  hinzukommen  muß,  wenn  eine  Vorstellung  die  greifbare 
Deutlichkeit  der  Wahrnehmung  erhalten  soll. 

Die  nächstliegende  und  zumeist  anerkannte  Erklärung  dieses 
Verhaltens  ist  die  Annahme  einer  gleichzeitigen  rückläufigen 
Erregung  der  Sinnesstätten  im  Gehirn.  Wir  haben  früher 
gesehen,  daß  die  Erregungszustände  dieser  letzteren  die  Form 
sinnlicher  Wahrnehmung  annehmen  müssen,  weil  ja  alle  Sinnes- 
eindrücke eben  nur  durch  Vermittlung  jener  Erregungen  in  unser 


222 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Bewußtsein  eintreten  können.  Wenn  es  demnach  diese  Hirn- 
abschnitte sind,  durch  deren  Erregung  die  Wahrnehmung  ihre 
sinnliche  Eigenart  erhält,  so  liegt  es  nahe,  eine  größere  oder 
geringere  Beteiligung  derselben  an  dem  Vorgange  der  lebhaften 
Wiedererneuerung  früherer  Eindrücke  zu  vermuten.  Eine  der- 
artige Anschauung  würde  namentlich  gut  die  Tatsache  erklären, 
daß  zwischen  der  Sinnestäuschung  von  vollkommenster  sinnlicher 
Deutlichkeit  und  der  abgeblaßtesten  Erinnerung  eine  ununter- 
brochene Reihe  von  Übergangsstufen  liegt,  ein  Verhalten,  das 
sich  durch  die  Annahme  einer  stärkeren  oder  schwächeren  Mit- 
erregung der  Sinnesstätten  am  ungezwungensten  erklären  lassen 
würde.  Möglich,  daß  sogar  beim  gewöhnlichen  Denken  die  rück- 
läufige Reizung,  die  ,,Reperzeption",  wie  Kahlbaum  sie  ge- 
nannt hat,  in  sehr  geringer  Stärke  immer  stattfindet,  und  daß 
erst  dann,  wenn  dieser  Vorgang  eine  krankhafte  Ausdehnung  ge- 
winnt, oder  wenn  die  Sinnesstätten  sich  in  einem  Zustande  er- 
höhter Erregbarkeit  befinden,  die  Lebhaftigkeit  des  Erinnerungs-. 
bildes  derjenigen  der  sinnlichen  Wahrnehmung  sich  annähert.  Es 
würde  somit  gewissermaßen  ein  bestimmtes  Verhältnis  zwischen 
der  Stärke  der  Reperzeption  und  der  Reizbarkeit  der  Sinnesstätten 
bestehen:  Je  größer  die  Reizbarkeit  dieser  letzteren,  desto  leichter 
würden  die  Erinnerungsbilder  das  Gepräge  der  sinnlichen  Deut- 
lichkeit erhalten,  desto  schwächer  brauchte  die  rückläufige  Er- 
regungswelle zu  sein,  um  sie  auszulösen,  und  desto  unabhängiger 
würden  sie  vom  Vorstellungsverlaufe  sein.  Der  Grenzfall  wäre  in 
den  früher  besprochenen,  auf  örtlichen  Reizungsvorgängen  be- 
ruhenden Wahrnehmungstäuschungen  gegeben,  die  dem  Kranken 
ganz  fremdartig,  wie  etwas  von  außen  sich  Aufdrängendes  gegen- 
überstehen. 

Die  Grenze  nach  der  entgegengesetzten  Seite  bilden  jene 
Fälle,  in  denen  es  sich  deutlich  erkennbar  gar  nicht  um  eigent- 
liche Sinnestäuschungen,  sondern  lediglich  um  Vorstellungen  von 
großer  Lebhaftigkeit  handelt.  Bei  genauerem  Eingehen  gelingt 
es,  die  zunächst  auf  Trugwahrnehmungen  deutenden  Äußerungen 
der  Kranken  dahin  zu  begrenzen,  daß  die  Eindrücke  nicht  eigent- 
lich sinnliche,  sondern  ,, innerliche"  gewesen  sind,  die  aber  den- 
noch wegen  ihrer  aufdringlichen  Deutlichkeit  von  den  gewöhn- 
lichen Vorstellungen    unterschieden  werden.     Hier  würde  man 


Sinnestäuschungen. 


223 


sich  etwa  die  Reperzeption  sehr  stark  entwickelt,  aber  die  Reiz- 
barkeit der  Sinnesstätten  nicht  erhöht  vorzustellen  haben.  Für 
diese  Auffassung  spricht  der  Umstand,  daß  diese  letztgenannte 
Gruppe  der  Einbildungstäuschungen,  die  man  auch  als  psy- 
chische Halluzinationen  (Baillarger) ,  Pseudohalluzi- 
nationen^) (Hagen)  oder  Apperzeptionshalluzinationen 
(Kahlbaum)  bezeichnet  hat,  zumeist  mehrere  oder  alle  Sinnes- 
gebiete in  zusammenhängender  Weise  umfassen,  und  daß  sie  stets 
in  nahen  Beziehungen  zu  dem  sonstigen  Bewußtseinsinhalte  stehen, 
während  die  an  der  entgegengesetzten  Seite  unserer  Stufenreihe 
befindlichen  Wahrnehmungstäuschungen  begreiflicherweise  in  der 
Regel  nur  einem  einzelnen  Sinnesgebiete  anzugehören  pflegen  und 
dem  Vorstellungsverlaufe  gegenüber  sich  durchaus  selbständig  ver- 
halten. 

Eine  bedeutsame  Erläuterung  erhält  die  Auffassung  der 
Sinnestäuschungen  durch  jene  eigentümliche  Störung,  die  man 
als  „Doppeldenken"  bezeichnet  hat.  Sie  besteht  wesentlich  im 
,, Lautwerden"-)  der  Gedanken  des  Kranken.  Unmittelbar  an  die 
auftauchende  Vorstellung  schließt  sich  eine  deutliche  Gehörs- 
wahrnehmung des  gedachten  Wortes.  Am  häufigsten  tritt  dieses 
Mithalluzinieren  beim  Lesen,  etwas  seltener  beim  Schreiben  auf, 
also  dann,  wenn  eine  sprachliche  Vorstellung  sich  mit  einer  ge- 
wissen Stärke  ins  Bewußtsein  drängt;  bisweilen  ist  sie  auch  beim 
einfachen  Denken  vorhanden,  oder  sie  knüpft  sich  an  irgendeine 
gleichgültige  Wahrnehmung,  ein  Geräusch.  Dem  auslösenden 
Vorgange  kann  sie  vorausgehen  oder  folgen:  Die  Stimme  liest 
vor  oder  spricht  nach,  bisweilen  auch  beides.  Leises  oder  lautes 
Aussprechen  der  Worte,  gelegentlich  auch  das  Schreiben,  pflegt 
die  halluzinatorischen  Mitklänge  zum  Verschwinden  zu  bringen. 
Stets  bestehen  außerdem  noch  anderweitige  Gehörstäuschungen. 
Ich  kannte  einen  Kranken,  der  seinen  weit  zerstreuten  Bekannten 
mit  Hilfe  des  Doppeldenkens  zu  deren  Vergnügen  vorzulesen  glaubte 
und  deren  Randbemerkungen  dazu  hörte. 

Wie  es  scheint,  handelt  es  sich  beim  Doppeldenken  nicht  immer 
um  ein  wirkliches  Hören,  sondern  oft  um  eine  Art  inneren  Sprechens; 

^)  Lugaro,  Rivista  di  patologia  nervosa  e  mentale,  1903,  i  u.  2. 
2)  Klinke,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXVI,  147;  Döllken,  ebenda  XLIV,  425; 
Probst,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XIII,  401. 


224 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


es  sind  dann  nicht  Wortklangbilder,  sondern  Sprachbewegungs- 
vorstellungen,  in  die  sich  die  Gedanken  kleiden.  Cramer  schil-. 
dert  einen  taubstummen  Kranken,  der  unanständige  Dinge  in 
der  Fingersprache,  außerdem  aber  Lobsprüche  in  der  Lippen- 
sprache ,, hörte".  Auch  das  Sprechenhören  in  anderen  Körper- 
teilen kann  in  der  Wahrnehmung  von  Sprachbewegungsvorstellungen 
bestehen.  Manche  Kranke  geben  geradezu  an,  daß  sie  dabei  Emp- 
findungen in  den  Sprachwerkzeugen  haben.  Halbey^)  berichtet  von 
einem  Kranken  mit  Gesichtstäuschungen,  der  die  gehörte  Predigt 
in  stenographischen  Zeichen  vor  seinem  Auge  auftauchen  sah. 

Zur  Erklärung  dieser  Erscheinungen  ist  zunächst  wegen  der 
Halluzinationen  eine  erhöhte  Reizbarkeit  der  zentralen  Sinnes- 
flächen anzunehmen.  Als  solche  kommt  bei  der  Entstehung  von 
sprachlichen  Halluzinationen  wohl  nur  das  Rindengebiet  für  Wort- 
klangbilder in  der  zweiten  linken  Schläfenwindung  in  Betracht. 
Dafür  spricht  wenigstens  sehr  eine  Beobachtung  Picks,  der  einen 
Luetiker  mit  sensorischer  Aphasie  verstümmelte  sinnlose  Silben 
halluzinieren  sah.  Sodann  haben  wir  uns  etwa  zu  denken,  daß 
unter  dem  Einflüsse  der  Reperzeption  entweder  unmittelbar  eine 
dem  Gedankengange  folgende,  fortlaufende  Kette  von  abnorm 
lebhaften  Wortvorstellungen  entsteht,  oder  daß  die  Erregung  auf 
das  Gebiet  der  Sprachbewegungsvorstellungen  übergreift.  Maß- 
gebend wird  hier  wohl  sein ,  welches  dieser  sprachlichen  Hilfs- 
mittel gewohnheitsmäßig  bevorzugt  wird  und  daher  leichter  an- 
sprechbar ist.  Dementsprechend  findet  das  Gedankenlautwerden 
auch  immer  nur  in  der  Sprache  statt,  in  der  die  Kranken  denken. 
Es  erscheint  auf  diese  Weise  erklärlich,  daß  die  Störung  beim 
wirklichen  Aussprechen  der  Gedanken,  also  bei  Ablenkung  der 
Erregung  auf  motorische  Bahnen,  verschwinden  kann;  wo  es  sich 
ohnedies  schon  um  ein  inneres  Sprechen  handelte,  fällt  dieses  nun 
mit  der  willkürlichen  Ausdrucksbewegung  zusammen.  Auch  an- 
dere Formen  der  Willensspannung  können  die  Erscheinung  stören. 
Köppen  berichtet  von  einem  Kranken,  bei  dem  sie  verschwand, 
solange  er  angestrengt  und  mit  Interesse  arbeitete,  während  sie  beim 
Nichtstun  wiederkehrte.  Beim  Gedankensichtbarwerden"  werden 
durch  die  Wortklangbilder  auf  dem  überempfindlichen  optischen 
Sinnesgebiete  die  Schriftbilder  wachgerufen, 

1)  Halbey,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXV,  307. 


Sinnestäuschungen. 


225 


Zu  der  Gruppe  der  Einbildungstäuschungen  ist  auch  eine  Form 
von  Gesichtstäuschungen  zu  rechnen,  auf  die  Bleuler^)  unter 
der  Bezeichnung  ,,extracampine"  Halluzinationen  aufmerksam 
gemacht  hat.  Es  handelt  sich  dabei  um  angebliche  Gesichtswahr- 
nehmungen außerhalb  des  Gesichtsfeldes.  Der  Kranke  sieht  etwa 
einen  Vogel  hinter  sich  herumfliegen,  ein  braunes.  Messer  hinter 
seinem  Rücken.  Ich  erinnere  mich  eines  Kranken,  der  von  hinten 
in  seinen  Körper  hineinzusehen  vermochte.  Offenbar  sind  das 
nur  Einbildungen  mit  lebhaften  Gesichtsvorstellungen,  die  jedoch 
durchaus  nicht  das  Gepräge  von  sinnlichen  Wahrnehmungen  tragen. 

Die  Schwierigkeit,  Einbildungsvorstellungen  von  fast  sinn- 
licher Lebhaftigkeit  scharf  von  der  wirklichen  Wahrnehmung 
zu  trennen,  ist  die  Ursache,  warum  bei  Geisteskranken  gerade 
die  Vermischung  von  Sinneseindrücken  mit  Bestandteilen ,  die 
dem  eigenen  Vorstellungsschatze  entstammen,  eine  so  verhängnis- 
volle Quelle  der  Verfälschung  ihrer  Erfahrung  wird.  Dieser  Vor- 
gang, den  wir  als  Apperzeptionsillusion  (Auffassungsverfäl- 
schung)  den  früher  berührten  Formen  der  Illusion  gegenüber- 
stellen können,  ist  in  geringerem  Umfange  schon  unter  gewöhn- 
lichen Verhältnissen  überaus  häufig.  Das  Übersehen  der  Druck- 
fehler ist  dafür  ein  vielgenanntes  Beispiel.  Die  Schnelligkeit, 
mit  der  wir  bekannte  Formen  und  Laute  aufzufassen  vermögen, 
beruht  eben  wesentlich  darauf,  daß  wir  die  rasch  empfangenen  all- 
gemeinen Eindrücke  ohne  weiteres  durch  Erinnerungsbilder  ver- 
stärken und  ergänzen,  in  der  Hauptsache  vielleicht  richtig,  oft 
genug  aber  auch  falsch.  Niemandem  kann  es  entgehen,  wie  sehr 
auch  die  Wahrnehmung  des  Gesunden  unter  dem  Einflüsse  der 
vorgefaßten  Meinung  steht,  namentlich  dann,  wenn  lebhafte  Ge- 
mütsbewegungen die  klare  und  sachliche  Auffassung  unserer  Um- 
gebung trüben.  Selbst  der  ruhigste,  naturwissenschaftlichste  Be- 
obachter ist  nicht  immer  ganz  sicher,  daß  seine  Wahrnehmungen 
sich  nicht  unmerklich  den  Anschauungen  anpassen,  mit  denen 
er  an  seinen  Gegenstand  herantritt,  und  die  Gemütsbewegungen 
sind  bekanntlich  imstande,  unserer  Gesamtauffassung  der  Ereig- 
nisse eine  so  verschiedene  Beleuchtung  zu  geben,  daß  uns  nach- 
träglich die  Abweichungen  von  der  Wirklichkeit  oft  ganz  un- 


1)  Bleuler,  Psychiatrische  Wochenschr.  1903,  261. 
Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


226 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


begreiflich  erscheinen.  Bei  Geisteskranken  sind  aber  die  Be- 
dingungen für  die  Entstehung  von  Auffassungsverfälschungen 
häufig  außerordentlich  günstige:  starke  gemütliche  Erregungen, 
große  Lebhaftigkeit  der  Vorstellungen  und  endlich  —  ein  später 
noch  näher  zu  berücksichtigender  Umstand  —  Unfähigkeit  zu 
einer  verständigen  Sichtung  und  Berichtigung  der  Erfahrungen. 
So  kommt  es,  daß  hier  vielfach  die  sinnlichen  Eindrücke  in  der 
Auffassung  des  Kranken  ganz  abenteuerliche  Formen  annehmen 
und  auf  diese  Weise  auch  dort,  wo  keine  eigentlichen  Sinnes- 
täuschungen vorhanden  sind,  die  Bausteine  zu  einer  verfälschten 
Anschauung  von  der  Außenwelt  zn  liefern  imstande  sind.  Dahin 
gehört  es,  wenn  eine  Kranke  die  Geräusche  draußen  für  das 
Schreien  ihrer  zu  Tode  gemarterten  Kinder  oder  für  das  ,, Knistern 
der  Hölle"  hält. 

Am  leichtesten  kommt  natürlich  eine  derartige  Verfälschung 
der  Erfahrung  dann  zustande,  wenn  die  von  den  Sinnen  ge- 
lieferten Eindrücke  nicht  klar  und  scharf  ausgeprägt,  sondern 
unbestimmt  und  verschwommen  sind.  Wie  wir  im  gewöhn- 
lichen Leben  undeutliche  Wahrnehmungen  am  häufigsten  miß- 
verstehen ,  d.  h.  unwillkürlich  durch  eigene  Beimischungen  er- 
gänzen und  auslegen,  so  spielen  auch  bei  Geisteskranken  die 
Auffassungstäuschungen  besonders  dann  eine  große  Rolle,  wenn 
die  Deutlichkeit  der  Sinneseindrücke  durch  irgendwelche  Ursachen, 
namentlich  durch  Störungen  des  psychischen  Gesamtzustandes, 
beeinträchtigt  wird. 

Die  Verfälschung  der  Auffassung  kann  unter  Umständen  auch 
durch  Eindrücke  von  anderen  Sinnesgebieten  her  ausgelöst  werden. 
Kahl  bäum  hat  diesen  Vorgang  mit  dem  Namen  der  Reflex- 
halluzination  belegt.  Die  Wahrnehmungen  der  einzelnen  Sinne 
stehen  miteinander  in  so  vielfältiger  Verknüpfung,  daß  ein  leb- 
hafter Eindruck  leicht  andere  Sinnesgebiete  mit  erregen  kann. 
Im  Grunde  gehört  hierher  schon  das  Auftauchen  des  Gesichts- 
bildes einer  Katze,  wenn  wir  ihr  Miauen  hören.  Viel  unmit- 
telbarer treten  diese  Beziehungen  der  einzelnen  Sinne  bei  den 
sogenannten  ,, Sekundärempfindungen"  hervor,  dem  Sehen  von 
Farben  bei  bestimmten  Klängen  (,,audition  color^e"),  Gerüchen  usf. 
Sinnliche  Deutlichkeit  erhalten  die  unangenehmen  Empfindungen 
des   Zuschauers   bei   schmerzhaften  Eingriffen,    die  Belästigung 


1 


Sinnestäuschungen. 


227 


im  Kehlkopf  beim  Anhören  eines  heiseren  Sängers,  der  Kitzel 
bei  drohender  Berührung  empfindlicher  Stellen,  die  Wahrnehmung 
eines  blinden,  gegen  uns  gerichteten  Stoßes.  Mourly  Vold  hat 
ferner  nachgewiesen,  daß  sich  auch  in  unseren  Träumen  vielfach 
eine  derartige  Umsetzung  von  Reizen  in  Vorstellungen  eines  an- 
deren Sinnesgebietes  vollzieht. 

In  Krankheitszuständen  spielen  ähnliche  Vorgänge  oft  eine 
bedeutende  Rolle.  Moravsik  konnte  Gesichtstäuschungen  durch 
Stimmgabeltöne  oder  die  Laute  einer  Drehorgel  auslösen.  Nament- 
lich Bewegungsempfindungen,  wie  sie  sich  schon  unter  gewöhn- 
lichen Verhältnissen  so  häufig  an  Sinneseindrücke  anschließen, 
scheinen  vielfach  auf  diesem  Wege  zu  entstehen^).  So  gibt  es 
Kranke,  welche  die  in  ihrer  Umgebung  gesprochenen  Worte 
in  ihrer  Zunge  fühlen,  denen  ein  Blick,  eine  Berührung  eigen- 
tümliche Spannungs-  oder  Erschlaffungsempfindungen  im  Körper 
erregt.  Umgekehrt  berichtet  Juliusburger  von  einem  tauben 
und  Winden  Knaben,  der  jedesmal  Glöckchen  eine  Melodie  spielen 
hörte,  sobald  er  die  gelähmten  Augen  im  Rhythmus  nach  rechts 
zu  bewegen  suchte.  Bisweilen  nehmen  solche  Zusammenhänge 
sehr  absonderliche  Formen  an;  die  Kranken  fühlen  sich  mit  der 
Suppe  „ausgefüllt",  von  ihrer  Nachbarin  ,, eingenäht",  ,, einge- 
strickt" u.  ähnl.  In  der  Regel  dürfte  es  sich  bei  allen  diesen  Er- 
scheinungen übrigens  nicht  um  einfache  Übertragungen  der  Sinnes- 
reize in  eine  andere  Bahn,  sondern  um  die  Mitwirkung  von  Ein- 
bildungen handeln,  die  lange  vorbereitet  sind  und  auf  dem  Wege 
mehr  oder  weniger  klar  bewußter  Überlegung  die  Anknüpfung 
der  Mitempfindungen  an  den  ursprünglichen  Eindruck  vermitteln. 

Eine  sehr  bemerkenswerte  Eigenschaft  der  Sinnestäuschungen, 
welche  einmal  auf  ihre  Entstehungsweise  hindeutet,  andererseits 
ihre  Wichtigkeit  als  Krankheitserscheinung  kennzeichnet,  ist  die 
gewaltige,  unwiderstehliche  Macht,  die  sie  alsbald  über  den 
gesamten  Bewußtseinsinhalt  des  Kranken  zu  erhalten  pflegen. 
Es  ist  wahr,  daß  auch  bei  geistig  völlig  gesunden  Menschen 
ausnahms^Veise  einmal  eine  ausgesprochene  Trugwahrnehmung 
auftreten  kann,  und  daß  andererseits  im  Beginne  oder  am  Ende 
einer  Geistesstörung  die  Täuschungen  nicht  selten  als  solche  er- 

^)  Gramer,  Die  Halluzinationen  im  Muskelsinn  bei  Geisteskranken  und  ihre 
klinische  Bedeutung.  1889. 

15* 


228 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


kannt  werden.  Allein  man  sieht  fast  immer,  wie  andauernde  Sinnes- 
täuschungen das  gesunde  Urteil  überwältigen,  und  wie  schon  nach 
kurzer  Zeit  selbst  die  unsinnigsten  und  abenteuerlichsten  An- 
nahmen von  dem  Kranken  erfunden  werden,  um  an  der  Wahrheit 
der  Trugwahrnehmungen  allen  besonnenen  Gegengründen  zum 
Trotz  festzuhalten  Ja,  wenn  etwa  in  der  Genesungszeit  die  Über- 
zeugung von  der  krankhaften  Natur  der  Täuschungen  sich  schon 
zu  befestigen  beginnt,  wird  der  Kranke  im  Augenblicke  ihres  Auf- 
tauchens selbst  doch  fast  regelmäßig  wieder  von  ihnen  mit  fort- 
gerissen. 

Diese  eigenartige  Erscheinung,  die  in  der  Ohnmacht  der  wirk- 
lichen Wahrnehmungen,  des  offenbaren  Augenscheins,  gegenüber 
der  krankhaften  Täuschung  eine  weitere  Erläuterung  findet,  kann 
eben  deswegen  natürlich  nicht  etwa  in  der  sinnlichen  Deutlichkeit 
der  Trugwahrnehmung  ihren  einfachen  Grund  haben;  im  Gegen- 
teile scheint  die  Erfahrung  dafür  zu  sprechen,  daß  die  Macht  der 
Täuschungen  mit  dem  Zurücktreten  ihrer  alltäglich  sinnlichen  Be- 
schaffenheit eher  wächst  als  abnimmt.  Die  Erklärung  ist  daher 
vielmehr  in  dem  tiefgehenden,  dem  Kranken  vielleicht  selber  un- 
bewußten Zusammenhange  mit  den  ihm  geläufigen  Gedanken- 
kreisen, in  der  inneren  Übereinstimmung  der  Täuschungen  mit 
seinen  krankhaften  Befürchtungen  und  Wünschen  zu  suchen.  Ganz 
besonders  sind  es  Gemütsbewegungen  und  Stimmungen,  die  den 
Täuschungen  Inhalt  und  Färbung  geben,  gerade  so,  wie  sie  das 
Auftauchen  bestimmter  Vorstellüngsreihen  unterstützen  und  die 
wirkliche  Wahrnehmung  beeinflussen.  Sehr  häufig  beobachten 
wir,  namentlich  in  den  Endzuständen  der  Dementia  praecox,  daß 
Täuschungen  sich  nur  in  Verbindung  mit  den  hier  so  häufigen 
periodischen  Stimmungsschwankungen  einstellen,  in  den  Zwischen- 
zeiten dagegen  völlig  zurücktreten.  Die  überwältigende  Beein- 
flussung des  Denkens  und  Handelns  durch  die  Täuschungen  nimmt 
erst  ab,  wenn  entweder  Genesung  eintritt  oder  mit  der  Ausbildung 
fortschreitender  Verblödung  die  gemütliche  Regsamkeit  schwin- 
det. In  beiden  Fällen  können  die  Täuschungen  zunächst  noch 
fortdauern,  aber  der  Kranke  ,, achtet  nicht  mehr  so  darauf";  sie 
hören  auf,  eine  Rolle  zu  spielen.  So  gibt  es  ungezählte  Blödsinnige, 
die  andauernd  Stimmen  hören,  ohne  den  Inhalt  derselben  irgend 
weiter  zu  verarbeiten,  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Macht  der  Tau- 


Sinnestäuschungen. 


22g 


schungen  ganz  von  dem  Widerhall  abhängig  ist,  den  sie  im 
Seelenleben  des  Kranken  finden. 

Diese  Erwägungen  sind  es,  die  mit  großer  Entschiedenheit 
gegen  die  verbreitete  Auffassung  sprechen,  daß  die  Sinnestäu- 
schungen regelmäßig  oder  doch  häufig  die  eigentliche  Ursache 
für  die  wahnhaften  Gedanken,  die  Gemütsbewegungen,  das  Han- 
deln unserer  Kranken  bilden  sollen.  Freilich  weisen  die  Kranken 
in  ihren  Erzählungen  nicht  selten  geradezu  auf  die  Täuschungen 
als  die  Quelle  und  die  Begründung  ihrer  Krankheitserscheinungen 
hin,  allein  es  kann  doch  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  Täu- 
schungen in  demselben  Hirn  entstanden  sind  wie  die  übrigen  Er- 
scheinungen der  psychischen  Erkrankung.  Tatsächlich  verhalten 
sich  die  Kranken  ja  zu  den  Täuschungen  auch  ganz  anders  wie 
zu  wirklichen  Wahrnehmungen.  Kein  Gesunder  würde  die  Worte 
eines  Vorübergehenden:  ,,das  ist  der  Kaiser"  sofort  auf  sich  be- 
ziehen oder  sich  gar  deswegen  wirklich  für  den  Kaiser  halten  — 
auf  den  Geisteskranken,  bei  dem  sie  den  Abschluß  einer  Kette  ge- 
heimer Hoffnungen  und  dunkler  Ahnungen  bildet,  kann  eine  der- 
artige halluzinatorische  Wahrnehmung  den  allertiefsten,  über- 
wältigendsten Eindruck  machen  und  unmittelbar  die  feste  Über- 
zeugung hervorbringen,  nicht  nur,  daß  jene  Worte  wirklich  ge- 
sprochen seien,  sondern  daß  sie  auch  die  tatsächliche  Wahrheit 
enthalten.  Ebenso  würden  wir  niemanden  für  entschuldigt  halten, 
wenn  er  die  an  ihn  wirklich  gerichtete  Aufforderung  ,,Töte  dein 
Weib!"  etwa  einfach  ausführen  würde,  während  wir  beim  Kranken 
der  Sinnestäuschung  ohne  weiteres  eine  zwingende  Kraft  zuzu- 
schreiben gewöhnt  sind. 

Es  läßt  sich  allerdings  nicht  von  der  Hand  weisen,  daß  mög- 
licherweise die  Entstehung  einer  Sinnestäuschung  auf  sehr  ver- 
schiedenem Wege  erfolgen  kann.  Gerade  unsere  früheren  Aus- 
einandersetzungen deuteten  schon  darauf  hin,  daß  gewisse  Formen 
der  Täuschungen  vielleicht  mehr  in  den  Anfangsgebieten  der 
Sinnesbahn,  andere  dagegen  mehr  in  denjenigen  Hirnteilen  ihren 
Ursprung  nehmen,  die  den  höheren  psychischen  Leistungen  dienen. 
Man  hat  daher  auch  wohl  von  einer  primären  und  sekundären 
Entstehung  der  Sinnestäuschungen  gesprochen,  je  nachdem  sie 
als  unabhängige  Einflüsse  in  das  Seelenleben  eingreifen  oder  um- 
gekehrt aus  ihm  hervorwachsen.     Wie  die  Erfahrung  lehrt,  be- 


230 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sitzen  jedoch  gerade  die  sogenannten  sekundären  Sinnestäuschungen 
die  bei  weitem  größte  Macht  über  Denken,  Fühlen  und  Handeln. 
Nicht  die  Tatsache  der  Sinnestäuschung  oder  ihr  Inhalt  an  sich 
ist  es  demnach,  was  so  zwingend  auf  den  Kranken  wirkt,  sondern 
einzig  und  allein  der  Umstand,  daß  eben  die  Täuschung  nichts 
anderes  ist  als  sein  eigenstes  Erzeugnis.  Wir  können  daher,  ab- 
gesehen von  den  oben  bereits  besprochenen  klinischen  Unter- 
schieden, keinen  besonderen  Wert  darauf  legen,  zu  entscheiden, 
ob  im  einzelnen  Falle  die  Wahnidee,  die  Stimmung  oder  die  zu- 
gehörige Sinnestäuschung  sich  zuerst  geltend  gemacht  habe.  In 
der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle,  und  namentlich  dann, 
wenn  die  Täuschungen  mit  dauernden  Wahnbildungen  einher- 
gehen, sind  alle  jene  Krankheitserscheinungen  gewiß  nur  die  Wir- 
kungen einer  und  derselben  gemeinsamen  Ursache,  die  verschie- 
denartigen Zeichen  des  gleichen  krankhaften  Gesamtzustandes. 

Der  Inhalt  und  die  Form  der  Trugwahrnehmungen  zeigen 
auf  den  einzelnen  Sinnesgebieten  eine  große  Mannigfaltigkeit. 
Unter  den  Gesichtstäuschungen  sind  am  häufigsten  nächt- 
liche ,, Visionen",  leuchtende  Gestalten,  Gott,  Christus,  Engel, 
Verstorbene,  Blumen,  oder  schreckhafte  Fratzen,  Teufel,  Schatten- 
spiele, wilde  Tiere  u.  dgl.  Diese  Erscheinungen  werden  bald  als 
übersinnliche  Offenbarungen,  bald  als  täuschende  Vorspiegelungen 
aufgefaßt,  oder  aber  sie  ähneln  in  ihren  fremdartigen  und  aben- 
teuerlichen Formen,  in  ihrem  raschen  Wechsel  und  ihrer  Viel- 
gestaltigkeit den  Trugwahrnehmungen  des  lebhaften,  unruhigen 
Traumes,  wie  im  Fieberdelirium.  Mehr  den  wirklichen  Wahr- 
nehmungen nähern  sich  die  weit  selteneren  Gesichtstäuschungen, 
die  bei  hellem  Tageslichte  auftreten.  Dahin  gehören  namentlich 
die  Täuschungen  der  Alkoholdeliranten,  huschende  Ratten  und 
Kobolde,  zahlloses  kriechendes  Ungeziefer,  Schmetterlinge,  Vögel 
und  Flocken  in  der  Luft,  Münzen  am  Boden,  Drähte  und  ge- 
spannte Fäden,  lebhaft  bewegte,  bunte  Menschenmengen.  Bei 
andern  Kranken  sind  es  einzelne  Gestalten,  ein  schwarzer  Hund, 
Löwenköpfe,  die  zum  Fenster  hineinsehen,  Gesichter  auf  der  Bett- 
decke, dunkle  Schatten,  Gehenkte  an  einem  Baume,  Blut,  ein 
Leichenantlitz.  Bisweilen  verdecken  die  Bilder  die  wirklichen 
Gegenstände,  oder  sie  lassen  sie  gerade  noch  durchschimmern. 
Im  Essen  befinden  sich  Schimmel,  kleine  abgeschnittene  Köpfe 


Sinnestäuschungen. 


231 


mit  beweglichen  Augen,  wimmelndes  Gewürm;  die  Gegenstände 
der  Umgebung  haben  ein  ganz  anderes  Aussehen  angenommen, 
zeigen  Verzerrungen,  Totenköpfe,  bewegen,  verändern  sich,  na- 
mentlich im  seitlichen  Sehfelde.  Hierhin  gehören  auch  gewisse 
Fälle  von  Personenverwechslung,  bei  denen  die  Kranken 
in  fremden  Personen  ihre  Angehörigen  zu  erblicken  glauben  oder 
umgekehrt  ihre  Angehörigen  nicht  als  solche  anerkennen,  be- 
haupten, daß  dieselben  Personen  immer  andere  Gesichter  und  Ge- 
stalten annehmen,  Fratzen  schneiden  u.  ähnl.  Im  allgemeinen 
sind  Gesichtstäuschungen  einer  Aufklärung  durch  andere  Sinne, 
namentlich  den  Tastsinn,  verhältnismäßig  leicht  zugänglich  und 
werden  daher  von  Gesunden  unter  einigermaßen  günstigen  Ver- 
hältnissen auch  regelmäßig  als  solche  erkannt.  Nur  wo  Verworren- 
heit, heftige  Gemütsbewegungen,  namentlich  Angst,  oder  weit 
fortgeschrittene  psychische  Schwäche  eine  unbefangene  Prüfung 
der  Täuschung  verhindern,  werden  selbst  gröbere  und  fremdartigere 
Verfälschungen  der  Gesichtswahrnehmung  als  wirkliche  Sinnes- 
erfahrungen hingenommen  und  verarbeitet. 

Weit  verderblicher  pflegen  in  dieser  Beziehung  jene  Ge- 
hörstäuschungen zu  sein,  die  als  ,, Stimmen"  auftreten,  ein 
Ausdruck,  den  der  wahre  Gehörshalluzinant  fast  immer  sogleich 
richtig  versteht.  Der  Grund  dafür  liegt  offenbar  in  der  tiefgreifen- 
den Bedeutung,  welche  die  Ausbildung  der  Sprache  für  unser 
Denken  besitzt.  Da  wir  zumeist  in  Worten  denken,  pflegen  die 
,, Stimmen"  in  sehr  innigem  Zusammenhange  mit  dem  Gesamt- 
inhalte des  Bewußtseins  zu  stehen,  ja  sie  sind  häufig  nichts  als 
der  sprachliche  Ausdruck  dessen,  was  die  Seele  des  Kranken  be- 
wegt, und  haben  daher  für  ihn  eine  weit  größere  überzeugende 
Gewalt,  als  alle  sonstigen  sinnlichen  Täuschungen  und  insbe- 
sondere als  die  wirklichen  Reden  der  Umgebung  selbst.  Der 
Kranke  hört,  zuerst  gewöhnlich  hinter  seinem  Rücken,  allerlei 
Bemerkungen,  die  sich  auf  ihn  beziehen,  jede  seiner  Handlungen 
begleiten,  die  geheimsten  Vorgänge  seiner  Vergangenheit  offen 
besprechen,  ihn  beleidigen,  bedrohen  oder  beglücken.  Namentlich 
nicht  ganz  deutliche  Reden,  halblaute  Worte,  unbestimmte  Ge- 
räusche gewinnen  Inhalt;  die  Wagen  ,, knarren  und  ertönen  auf 
ganz  ungewöhnliche  Weise  und  liefern  Erzählungen,  die  Schweine 
grunzen   Namen   und   Erzählungen   sowie  Verwunderungsbezeu- 


232 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gungen,  die  Hunde  schimpfen  und  bellen  Vorwürfe,  Hähne  krähen 
solche,  selbst  Gänse  und  Enten  schnattern  Namen,  einzelne  Re- 
densarten und  Bruchstücke  von  Referaten."  Aus  dem  Schwirren 
der  Stahlfedern,  dem  Läuten  der  Glocken,  dem  Knarren  der  Diele 
tönen  dem  Kranken  Rufe  entgegen,  oder  aus  der  Wand,  aus  dem 
Bette,  in  dem  er  liegt,  ja  aus  den  eigenen  Ohren  heraus,  im  Kopfe, 
im  Unterleibe  vernimmt  er  die  Stimmen.  Nicht  selten  haben  sie 
verschiedene  Höhe  und  Klangfarbe  und  werden  daher  verschie- 
denen Personen  zugeschrieben;  bisweilen  ist  es  eine  ganze  Schar, 
deren  einzelne  Mitglieder  genau  unterschieden  werden,  auch  wohl 
Wechselreden  führen;  bisweilen  sind  es  nur  einige  wenige  oder 
eine  einzige.  Die  Stimmen  der  eigenen  Angehörigen,  untreuer 
Liebhaber,  boshafter  Nachbarn,  endlich  diejenige  Gottes  oder 
des  Teufels  pflegen  am  häufigsten  vorzukommen.  Vielfach  sind 
die  Stimmen  leise,  flüsternd  oder  zischelnd,  wie  aus  der  Ferne, 
von  oben  herunter,  oder  dumpf,  aus  dem  Boden  heraufkommend; 
weniger  häufig  sind  sie  laut  und  schreiend,  alles  andere  übertönend. 
Sie  können  so  vollständig  den  wirklichen  Wahrnehmungen  gleichen, 
daß  die  Kranken  ihren  Glauben  an  sie  geradezu  damit  begründen. 
,,Wenn  Ihre  Worte  wirklich  gesprochen  werden,"  so  sagen  sie 
dem  Arzte,  „so  muß  das  auch  bei  den  anderen  der  Fall  sein, 
die  ich  ganz  ebenso  höre."  Verhältnismäßig  selten  sprechen  die 
Stimmen  längere,  zusammenhängende  Sätze;  meist  handelt  es  sich 
um  kurze,  abgerissene  Bemerkungen.  Außer  den  Stimmen  werden 
hier  und  da  laute  schießende  und  knatternde  Geräusche,  Glocken- 
läuten,  wirres  Geschrei,  seltener  angenehme  Musik,  Gesang  u.  dgl. 
gehört.  Meist  vermögen  die  Kranken,  auch  wenn  sie  es  zunächst 
ablehnen,  den  Inhalt  des  Gehörten  wortgetreu  anzugeben;  wo 
das  nicht  der  Fall  ist,  haben  wir  es  in  der  Regel  nicht  mit  Wahr- 
nehmungen sinnlichen  Gepräges  zu  tun ,  sondern  mit  eindring- 
lichen Gedanken,  die  allerdings  oft  auch  fremder  Eingebung  zu- 
geschrieben werden. 

Gerade  in  diesen  Fällen  wird  den  Stimmen  häufig  ein  über- 
natürlicher Ursprung  zugeschrieben;  sie  sind  dann  nicht  selten 
von  Gesichtstäuschungen  begleitet.  Gott  oder  Christus  geben 
dem  Kranken  einen  Auftrag,  eine  Verheißung  oder  klären  ihn 
über  ein  Geheimnis  seiner  Persönlichkeit  auf.  Der  ganze  Vor- 
gang  hat   hier   gewöhnhch   etwas  Traumhaftes,  Übersinnliches. 


Sinnestäuschungen. 


233 


Im  Fieberdelirium  und  bei  sehr  verwirrten  Kranken  zeigen  auch 
die  Gehörstäuschungen  den  raschen  Wechsel  und  die  unklare 
Verworrenheit  der  unter  gleichen  Verhältnissen  vorkommenden 
Gesichtstäuschungen. 

Von  den  gewöhnlichen,  den  sinnlichen  Wahrnehmungen  ähneln- 
den Gehörstäuschungen  sind,  wie  schon  angedeutet,  die  sogenannten 
,, inneren  Stimmen",  ,, Einflüsterungen",  die  ,, Weltsprache",  das 
,, Gedenk",  das  ,,Telephonieren",  ,, Telegraphieren"  u.  dgl.  ab- 
zutrennen, die  von  dem  Kranken  selbst  nicht  als  wirkliches  Hören, 
sondern  als  Eingebungen  oder  künstliche  Beeinflussungen  auf- 
gefaßt werden.  ,,Es  ist  zwischen  Hören  und  Ahnen,"  meinte  ein 
Kranker.  Hier  ist  der  Ursprung  aus  dem  eigenen  Gedankengange 
in  der  Regel  sehr  deutlich.  Offenbar  handelt  es  sich  aber  um  ähn- 
liche, nur  krankhaft  ausgestaltete  Vorgänge  wie  bei  der  ,, inneren 
Stimme"  oder  der  ,, Stimme  des  Gewissens",  die  auch  zum  Ge- 
sunden ,, spricht".  Bisweilen  schließt  sich  dieses  innere  Sprechen 
in  der  Art  der  Wechselrede  im  Bewußtsein  des  Kranken  an- 
einander, so  daß  die  Wahnidee  einer  förmlichen  stillen  Unter- 
haltung mit  fernen  Personen  entsteht.  Oder  aber  die  ,, Gewissens- 
stimmen" begleiten  jede  Handlung  des  Kranken  mit  entsprechenden 
Bemerkungen,  feuern  ihn  an,  erteilen  ihm  Befehle  oder  Verbote. 
In  allen  diesen  Fällen  entwickelt  sich,  ebenso  wie  bei  dem  früher 
beschriebenen  ,, Doppeldenken",  leicht  die  Vorstellung,  daß  die 
eigenen  Gedanken  der  Umgebung  bekannt  seien,  oder  gar,  daß 
sie  durch  fremde  Einwirkung  gemacht  und  beeinflußt  würden. 
,,Ich  bin  durchsichtig,"  sagte  mir  ein  derartiger  Kranker. 

Der  Inhalt  der  Gehörstäuschungen  ist,  wie  schon  ange- 
deutet, nur  selten  ein  ganz  gleichgültiger  und  dann  in  der  Regel 
unsinnig  und  eintönig.  Zumeist  stehen  die  Stimmen  in  sehr  nahen 
Beziehungen  zu  dem  Wohl  und  Wehe  des  Hörers,  den  sie  auf- 
reizen und  quälen,  seltener  beglücken  und  erheben.  Sie  können 
dann  einen  mächtigen  Einfluß  auf  das  Handeln  gewinnen.  Die 
fortwährenden  Schmähungen,  Beschimpfungen  und  höhnischen 
Bemerkungen,  der  Jammer  gemißhandelter  Angehöriger  machen 
den  Kranken  mißtrauisch  ünd  aufgeregt  und  bringen  ihn  zu  ent- 
rüsteter Abwehr  gegen  seine  vermeintlichen  Peiniger;  furchtbare 
Drohungen  setzen  ihn  in  Angst  und  Verwirrung  und  zwingen  ihn 
zu  rastloser  Flucht,  um  den  Verfolgern  zu  entgehen;  gebieterische 


234 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Befehle  lassen  ihn  die  unsinnigsten  und  bisweilen  unnatürlichsten 
Taten  begehen,  weil  er  übernatürlichen  Mächten  gehorchen  zu 
müssen  glaubt. 

Von  weit  geringerer  unmittelbarer  Bedeutung,  als  die  Trug- 
wahrnehmungen des  Gesichts  und  Gehörs,  deren  Gebiet  ja  vor  allem 
der  sinnliche  Rohstoff  unserer  Vorstellungen  entnommen  wird, 
sind  die  Täuschungen  im  Bereiche  der  übrigen  Sinne  für 
das  psychische  Leben  des  Kranken.  Der  geängstigte  Kranke 
empfindet  den  Geruch  giftiger  Dünste,  die  ihn  töten  sollen,  oder 
den  Schwefelgestank  des  Teufels,  der  ihn  bedroht;  er  schmeckt 
allerlei  unappetitliche  und  schädliche  Dinge,  Menschenfleisch, 
Kot,  Arsenik,  Canthariden  in  seinem  Essen,  die  ihm  von  seinen 
Feinden  beigebracht  werden.  Diese  Trugwahrnehmungen  haben 
ihren  Ursprung  zumeist  in  den  Gedankenkreisen  des  Kranken, 
weit  seltener  in  umschriebenen  Störungen  der  Sinnesgebiete,  wie 
z.  B.  Geruchstäuschungen  bei  Druck  von  Geschwülsten  oder  Kno- 
chenauswüchsen auf  den  Olfactorius  oder  bei  Rindenerkrankungen 
in  der  Gegend  des  Gyrus  hippocampi  auftreten  können.  In  der 
Regel  haben  wir  es  somit  hier  mit  dem  Ausdrucke  allgemeiner 
psychischer  Umwälzungen  zu  tun.  Ähnliches  gilt  von  den  ent- 
sprechenden Täuschungen  im  Bereiche  des  Haut-  und  Muskelsinnes 
sowie  der  Gemeinempfindungen,  Sie  finden  sich  auf  der  Grund- 
lage der  Denk-  und  Willenshemmung  öfters  in  äußerst  quälenden 
Formen  bei  zirkulären  Depressionszuständen :  Schmerzen  und 
Mißempfindungen  aller  Art  in  den  verschiedensten  Körperteilen, 
Gefühl  der  Erstarrung,  der  Veränderung  an  Haut,  Weich  teilen 
und  selbst  Knochen.  Wo  uns  die  Wahnideen  des  Elektrisiert- 
werdens, des  Besessenseins,  der  Verwandlung,  der  inneren  Ver- 
steinerung und  Eintrocknung,  des  Verschwindens  von  Kopf,  Mund, 
Magen,  After  usf.  begegnen,  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  ein- 
fache Verfälschungen  der  Wahrnehmung,  sondern  um  die  krank- 
hafte Verarbeitung  von  Empfindungen,  die  an  sich  meist  zu  un- 
bestimmt sein  würden,  um  etwa  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Ge- 
hörs- und  Gesichtstäuschungen  den  Bewußtseinsinhalt  beeinflussen 
zu  können. 

Die  große  Mannigfaltigkeit  der  Sinnestäuschungen  hatte  uns 
zu  der  Anschauung  geführt,  daß  ihre  Entstehungsweise  eine  sehr 
verschiedene  sein  müsse.    Eine  wichtige  Bestätigung  erfährt  diese 


Sinnestäuschungen. 


235 


Meinung  durch  die  Erfahrung,  daß  die  Art  der  Täuschungen  in 
sehr  entschiedener  Weise  durch  die  klinischen  Krank- 
heitsformen bestimmt  wird.  Bei  den  Fieber-  und  Infektions- 
delirien haben  wir  es  mit  bunten,  wechselnden,  traumartigen 
Trugwahrnehmungen  zu  tun,  bei  denen  verschiedene  Sinnesgebiete 
zur  Vortäuschung  verworrener,  abenteuerlicher  Erlebnisse  zu- 
sammenwirken. Ähnlich  verhalten  sich  die  Täuschungen  des 
Trinkerdeliriums,  doch  ist  hier  der  Zusammenhang  der  Einzel- 
erlebnisse meist  klarer.  Die  Täuschungen,  die  neben  Gehör, 
Hautsinn  und  Muskelsinn  ganz  vorzugsweise  den  Gesichtssinn  be- 
treffen, haben  ferner  eine  außerordentliche  sinnliche  Deutlich- 
keit; sie  verknüpfen  sich  zudem  so  innig  miteinander,  daß  sie 
den  Stoff  für  ein  ,, Beschäftigungsdelirium"  abgeben  können.  Be- 
merkenswert ist  endlich  die  Massenhaftigkeit  der  gleichartigen 
Trugwahrnehmungen  und  ihre  vielfach  lebhafte  Bewegung,  die 
wohl  mit  der  zitternden  Unruhe  der  Kranken  in  Zusammenhang 
steht,  das  Auftauchen,  Schwinden,  Zerfließen.  Wie  bei  den  Fieber- 
delirien knüpfen  sich  auch  hier  die  Täuschungen  gern  an  un- 
deutlich aufgefaßte  Eindrücke  an;  sie  können  durch  Einreden 
hervorgerufen  und  beeinflußt  werden.  Ihnen  nahe  verwandt  sind 
die  durch  Cocain  erzeugten  Täuschungen,  die  sich  auf  Gesicht, 
Gehör  und  Gemeinempfindungen  zugleich  erstrecken  können.  Be- 
sonders kennzeichnend  sind  für  dieses  Gift  die  eigentümlichen 
,, mikroskopischen"  Gesichtstäuschungen,  die  Wahrnehmung  zahl- 
loser gleichartiger,  winziger  Einzelheiten,  Tierchen,  Löcher  in 
der  Wand,  Pünktchen.  Demgegenüber  begegnen  uns  bei  den 
epileptischen  Delirien,  bei  denen  ebenfalls  ein  Zusammenwirken 
verschiedener  Sinnesgebiete  häufig  ist,  vorzugsweise  Täuschungen 
mit  lebhafter  Gefühlsbetonung,  das  Sehen  von  Blut,  Feuer, 
Schreckgestalten,  himmlischen  Erscheinungen  oder  das  Hören 
von  Drohungen,  Schüssen,  Kriegslärm,  Verheißungen  und  Engels- 
musik. 

Wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß  es  sich  in  allen  diesen  Fällen, 
da  sich  die  Täuschungen  verschiedener  Sinne  miteinander  ver- 
binden, um  ausgebreitete  Krankheitsvorgänge  in  der  Hirnrinde 
handelt.  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  daß  hier  regelmäßig 
mehr  oder  weniger  starke  Trübungen  des  Bewußtseins  bestehen. 
Allerdings  deuten  andererseits  die  unverkennbaren  klinischen  Ver- 


236 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


schiedenheiten  in  der  Gestaltung  der  Täuschungen  darauf  hin,  daß 
die  Eigenart  der  einzelnen  Krankheitsvorgänge  sich  dennoch  deut- 
lich geltend  macht,  sei  es  in  der  Verschiedenheit  der  Störungen 
selbst,  sei  es  in  deren  verschiedener  Ausbreitung  und  Verteilung. 
Mehr  vorübergehende  delirante  Zustände  mit  ganz  ähnlichen  zu- 
sammengesetzten Täuschungen  mehrerer  Sinne  kommen  noch  in 
manchen  anderen  Krankheiten  vor,  so  im  manisch-depressiven  Irre- 
sein, beim  Altersblödsinn,  bei  der  Dementia  praecox,  bei  der  Hysterie. 
Wieweit  den  genannten  Krankheitsvorgängen  sonst  Besonderheiten 
in  der  Gestaltung  der  deliriösen  Sinnestäuschungen  entsprechen, 
ist  noch  sehr  ungenügend  bekannt.  Im  allgemeinen  darf  man 
vielleicht  annehmen,  daß  bei  den  Erregungszuständen  der  Dementia 
praecox  die  Gehörstäuschungen  im  Vordergrunde  stehen,  während 
bei  denjenigen  des  manisch-depressiven  Irreseins  daneben  solche 
des  Gesichts  und  namentlich  der  Gemeinempfindungen  eine  große 
Rolle  spielen  dürften.  Auch  bei  der  Hysterie  überwiegen  Gesichts- 
täuschungen, meist  von  eigentümlich  spannendem  Gepräge,  tief  ver- 
schleierte Gestalten,  verstorbene  Anverwandte,  Männer  mit  langen 
Messern. 

Eine  weit  enger  umgrenzte  Gruppe  bilden  diejenigen  kli- 
nischen Formen,  bei  denen  sich  die  Täuschungen  auf  ein  einzelnes 
Sinnesgebiet  beschränken  oder  doch  kein  Zusammenwirken  der  ver- 
schiedenen Sinne  erkennen  lassen.  Ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  da- 
für liefert  der  Alkoholwahnsinn  und  gewisse  alkoholische  Schwäche- 
zustände, bei  denen  ganz  ausschließlich  Gehörstäuschungen  auf- 
zutreten pflegen,  meist  drohenden,  seltener  verheißenden  Inhalts. 
Ähnlich  verhalten  sich  manche  Gehirnerkrankungen  syphilitischer 
Entstehung,  namentlich  gewisse  Tabespsychosen,  bei  denen  sich 
dann  noch  die  Empfindungen  des  Elektrisiertwerdens  hinzugesellen 
können.  Auch  bei  epileptischen  Geistesstörungen  kommen  hier 
und  da  nur  Gehörstäuschungen  zur  Beobachtung.  In  den  zirku- 
lären Depressionszuständen  hören  die  Kranken  einzelne  kurze  Be- 
merkungen beängstigenden  Inhaltes,  während  bei  den  anderen  ge- 
nannten Erkrankungen  oft  längere  zusammenhängende  Reden  ge- 
hört werden,  in  die  sich  mehrere  Personen  einmischen,  und  die  sich 
fast  niemals  unmittelbar  an  den  Kranken  wenden. 

Bei  weitem  am  häufigsten  sind  Gehörstäuschungen  in  jener 
großen  Gruppe  von  Krankheiten,  die  wir  einstweilen  unter  dem 


Trübungen  des  Bewußtseins. 


237 


Namen  der  Dementia  praecox  zusammenfassen.  Dauernd  fehlen 
sie  nur  selten.  In  der  Regel  bilden  sie  eines  der  ersten  Krank- 
heitszeichen und  bleiben  oft  genug  die  einzigen  Täuschungen,  die 
überhaupt  auftreten.  Es  gibt  jedoch  eine  größere  Zahl  von  Fällen,  in 
denen  sich  neben  den  Gehörstäuschungen  dauernd  solche  des  Haut- 
sinns und  namentlich  der  Gemeinempfindungen,  auch  wohl  des  Ge- 
ruchs und  Geschmackes  entwickeln.  Hier  am  häufigsten  begegnet 
uns  die  merkwürdige  Störung  des  Doppeldenkens  und  Gedanken- 
lautwerdens. Der  Inhalt  der  Täuschungen  ist  oft  nur  im  Anfange 
aufregend  oder  erfreuend,  späterhin  vielleicht  ganz  gleichgültig 
oder  unsinnig,  im  Gegensatze  zu  den  oben  angeführten  Formen. 
Diese  Erfahrungen  weisen  darauf  hin,  daß  der  Krankheitsvor- 
gang, der  diesen  Geistesstörungen  zugrunde  liegt,  das  Zustande- 
kommen von  Gehörstäuschungen  in  ganz  besonderem  Grade  be- 
günstigt, und  daß  dabei  gemütliche  Einflüsse  keine  maßgebende 
Bedeutung  haben.  Wir  dürfen  hier  vielleicht  daran  erinnern,  daß 
die  Gehörstäuschungen  in  sprachlicher  Form  auftreten,  und  daß 
wir  es  gerade  bei  den  Krankheiten,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
ungemein  häufig  auch  mit  Störungen  des  sprachlichen  Ausdruckes 
zu  tun  haben.  Es  wäre  denkbar,  daß  diese  beiden  Krankheits- 
zeichen in  tieferer  Beziehung  zueinander  stünden. 

Trübungen  des  Bewußtseins.  Außer  den  Vorgängen  in  den 
verschiedenen  Abschnitten  der  Sinnesgebiete  ist  für  die  Erwer- 
bung von  Erfahrungen  noch  ein  weiterer  Umstand  von  hervor- 
ragender Wichtigkeit,  nämlich  das  Verhalten  unseres  Bewußt- 
seins. Äußere  Reize  erzeugen  in  unserem  Innern  gewisse  eigen- 
tümliche, nicht  näher  erklärbare  Zustandsveränderungen,  die  wir 
unmittelbar  auffassen  und  als  Vorstellungen,  Gefühle,  Antriebe  usf. 
auseinanderhalten.  Diese  allgemeinste  Tatsache  der  inneren  Er- 
fahrung bezeichnen  wir  im  Anschlüsse  an  Fechners  Anschau- 
ungen als  das  Bewußtsein.  Überall,  wo  äußere  Eindrücke  in 
psychische  Vorgänge  umgesetzt  werden,  ist  Bewußtsein  vorhan- 
den, denn  es  ist  eben  nichts  anderes,  als  ein  Ausdruck  für  das 
Stattfinden  dieser  Umwandlung.  Der  Bestand  des  Bewußtseins 
ist  nicht  nur  im  allgemeinen  von  den  Verrichtungen  der  Hirn- 
rinde abhängig,  sondern  auch  die  einzelnen  Erscheinungen  des 
Bewußtseins  sind  höchstwahrscheinlich  an  bestimmte,  bisher  noch 
unbekannte  Vorgänge  in  unserem  Nervengewebe  gebunden. 


238 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Wie  von  der  Beschaffenheit  der  Sinneswerkzeuge  die  Um- 
setzung der  äußeren  Reize  in  Sinneserregung  abhängig  ist,  so 
sind  weiterhin  die  Zustände  der  Hirnrinde  für  die  Umwandlung 
der  physiologischen  Erregungen  in  Bewußtseinsvorgänge  von 
entscheidender  Bedeutung.  In  welchem  Maße  eine  solche  Um- 
wandlung jeweils  stattfindet,  das  ist  bisher  im  Einzelfalle  oft 
äußerst  schwierig  zu  erkennen,  da  uns  die  innere  Erfahrung 
eines  anderen  nicht  durch  unmittelbaren  Einblick,  sondern  nur 
durch  einen  Rückschluß  aus  seinem  äußeren  Verhalten  zugäng- 
lich ist.  Aus  diesem  letzteren  allein  entnehmen  wir  mit  größerer 
oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit,  ob  es  als  Ausdruck  psychischer 
Vorgänge  zu  betrachten  ist  oder  nicht. 

Denjenigen  Zustand,  in  welchem  die  Umsetzung  körperlicher 
in  seelische  Vorgänge  gänzlich  aufgehoben  ist,  bezeichnen  wir 
als  Bewußtlosigkeit.  Jeder  Reiz,  der  die  Schwelle  des  Be- 
wußtseins überschreiten  und  damit  einen  psychischen  Eindruck 
hervorrufen  soll,  muß  eine  gewisse  Stärke  besitzen,  die  nicht 
unter  einen  bestimmten  Wert,  den  sogenannten  Schwellen- 
wert, heruntersinken  darf.  Allein  die  Größe  des  Schwellen- 
wertes wechselt  je  nach  den  Zuständen  unserer  Hirnrinde  außer- 
ordentlich. Während  sie  bei  gespannter  Aufmerksamkeit  ihre 
niedrigsten  Werte  erreicht,  kann  sie  in  tiefster  Ohnmacht  un- 
endlich werden,  d.  h.  es  genügen  hier  bisweilen  selbst  die  aller- 
stärksten  Reize  nicht  mehr,  um  Bewußtseinsvorgänge  auszu- 
lösen. Man  kann  demnach,  je  nach  der  Größe  des  Schwellen- 
wertes, verschiedene  Helligkeitsgrade  des  Bewußtseins  unter- 
scheiden. Sinkt  die  Helligkeit  des  Bewußtseins  unter  ein  gewisses 
Maß,  so  entsteht  ein  mehr  oder  weniger  tiefer  ,, Dämmerzustand", 
in  dem  äußere  wie  innere  Reize  nur  noch  schwache  und  unklare 
psychische  Gebilde  erzeugen.  In  Form  vorübergehender,  sich  oft 
ungemein  scharf  gegen  das  gesunde  Leben  absetzender  Störungen 
beobachten  wir  derartige  Bewußtseinstrübungen  bei  der  Epilepsie 
und  Hysterie.  Als  lange  dauernde  Dämmerzustände  können  wir 
dagegen  gewisse  Stuporformen  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins betrachten,  bei  denen  sich  der  psychophysische  Schwellen- 
wert wesentlich  erhöht. 

Unter  Umständen  kann  anscheinend  der  Schwellenwert  für 
äußere  und  für  innere  Reize  in  ungleichmäßger  Weise  verändert 


Trübungen  des  Bewußtseins. 


239 


werden;  während  die  Einwirkung  äußerer  Eindrücke  erheblich 
erschwert  ist,  können  dennoch  durch  innere  Erregungen  lebhafte 
Bewußtseinsvorgänge  ausgelöst  werden.  Das  ist  der  Fall  bei  den- 
jenigen Zuständen,  die  wir  als  Delirien  zu  bezeichnen  pflegen. 
Umgekehrt  sehen  wir  bei  den  Verblödungen  nicht  selten  äußere 
Reize  noch  verhältnismäßig  leicht  Empfindungen  erzeugen,  wäh- 
rend sich  innere  Vorgänge  fast  gar  nicht  mehr  im  Bewußtsein 
geltend  machen.  Hier  handelt  es  sich  aber  in  der  Regel  gar  nicht 
um  eine  Steigerung  des  Schwellenwertes,  sondern  um  ein  dauern- 
des Sinken  der  psychophysischen  Erregung.  Gerade  dadurch  unter- 
scheidet sich  die  Verblödung  vom  Dämmerzustande. 

Der  häufigste,  auch  dem  Ge- 
sunden wohlbekannte  Dämmerzu- 
stand ist  der  Schlaf.  Bei  ihm  ist 
es  gelungen,  durch  Feststellung  der 
Reize,  die  in  den  einzelnen  Ab- 
schnitten der  Nacht  genügen,  um 
das  Aufwachen  herbeizuführen,  die 
Schwankungen  der  Schlaftiefe,  also 
die  Helligkeitsgrade  des  Bewußt- 
seins im  Schlafe,  durch  den  Ver- 
such genauer  zu  verfolgen.  Ein 

Beispiel   einer   gesunden   ,, Schlaf-  ^  ^.^^x 

tiefenkurve"  gibt  die  Fig.  XVIII,  in  Normale  Schlaftiefenkurve, 

der  die  Abszissen  die  Nachtstunden 

von  12 — 7  Uhr,  die  Ordinaten  Schallstärken  in  Grammzentimetern 
angeben,  wie  sie  durch  fallende  Stahlkugeln  auf  einer  elfenbeinernen 
Unterlage  erzeugt  wurden.  Wie  ersichtlich,  nehmen  die  ,, Weckwerte" 
im  allgemeinen  nach  dem  Einschlafen  zunächst  rasch  zu  und  sinken 
dann  ebenso  schnell  wieder,  um  mit  Schwankungen  gegen  Morgen 
ihre  niedrigsten  Werte  zu  erreichen.  Bei  Morgenarbeitern  liegt  die 
größte  Schlaftiefe  am  Ende  der  ersten  Schlafstunde  und  ist  nach 
wenigen  Stunden  bereits  ungemein  gering.  Dagegen  scheinen 
Abendarbeiter  ihre  größte  Schlaftiefe,  die  zudem  erheblich  geringer 
bleibt,  als  diejenige  der  ersteren  Gruppe,  viel  später  zu  erreichen. 
Sie  sinkt  dann  auch  langsamer  und  hält  sich  bis  zum  Erwachen 
auf  einer  beträchtlicheren  Höhe. 

Störungen  des  Schlafes  sind  bei  unseren  Kranken  unge- 


240  Erscheinungen  des  Irreseins.  ^ 

mein  häufig,  so  wenig  Genaueres  wir  auch  noch  davon  wissen. 
Sie  können  das  Einschlafen,  die  Schlaftiefe  und  das  Erwachen 
betreffen.  Das  Einschlafen  wird  in  der  Regel  durch  das  Gefühl 
des  Schlafbedürfnisses,  die  Müdigkeit,  eingeleitet.  Dieses  Schlaf- 
bedürfnis kann  völlig  fehlen  in  Erregungszuständen,  namentlich 
bei  manischen  Kranken,  die  sich  bei  äußerst  ungenügendem  Schlafe 
und  schwerster  Erschöpfung  der  Kräfte  doch  andauernd  frisch 
und  munter  zu  fühlen  pflegen.  Wir  werden  hier  an  die  Erfahrung 
erinnert,  daß  bei  angestrengter,  weit  über  das  Maß  hinaus  fort- 
gesetzter Arbeit  auch  dem  Gesunden  das  anfangs  eindringlich 
mahnende  Gefühl  der  Müdigkeit  abhanden  kommen  kann,  die 
Einleitung  der  Schlaflosigkeit.  Beim  Alkoholdelirium  und  beim 
Altersblödsinn,  beides  Krankheitsformen,  bei  denen  die  Unruhe 
nachts  auftritt  oder  sich  steigert,  scheint  ebenfalls  das  Schlaf- 
bedürfnis zu  fehlen,  um  sich  dann  allerdings  bei  letzterer  Krankheit 
am  Tage  oft  in  verstärkter  Form  einzustellen.  Ein  gesteigertes 
Schlafbedürfnis  ohne  eigentliche  Ermüdung  begegnet  uns  öfters 
bei  Nervösen;  bei  ihnen  handelt  es  sich  in  Wirklichkeit  um  eine 
die  Leistungsfähigkeit  lähmende  Angst,  die  ihnen  als  Zeichen 
des  Schlafbedürfnisses  erscheint.  Auch  in  manchen  Abschnitten 
der  Dementia  praecox  wird  ein  sehr  gesteigertes  Schlafbedürfnis 
beobachtet. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  große  Müdigkeit  vorhanden  sein, 
ohne  daß  der  Schlaf  sich  einstellt.  Das  trifft  namentlich  für  jene 
Formen  der  nervösen  Schlaflosigkeit  zu,  bei  denen  der  lebhafte 
Wunsch,  zu  schlafen,  und  die  Angst  vor  dem  Mißlingen  den  Ein- 
tritt des  Schlafes  verhindert.  Ganz  ähnlich  verhalten  sich  die 
Depressionszustände.  Hier  kann  zwar  die  herrschende  gemütliche 
Spannung  die  Müdigkeit  verscheuchen;  oft  genug  aber  fühlen  sich 
die  Kranken  auf  das  äußerste  müde  und  schlafbedürftig,  ohne 
doch  Schlaf  finden  zu  können.  Vielfach  ist  das  Einschlafen  ver- 
zögert, erfolgt  erst  nach  langem,  vergeblichem  Zuwarten  oder 
immer  wiederholtem  ruckartigem  Aufschrecken. 

Über  das  Verhalten  der  Schlaftiefe  bei  unseren  Kranken  lassen 
sich  nur  sehr  unsichere  Angaben  machen.  Wir  dürfen  vermuten, 
daß  verzögertes  Einschlafen  im  allgemeinen  mit  geringer  und 
noch  dazu  spät  erreichter  Schlaftiefe  einhergehen  wird;  bei  ma- 
nischen Kranken  pflegt  dagegen  der  Schlaf  kurz,  aber  sehr  tief  zu 


Trübungen  des  Bewußtseins. 


241 


sein.  Bei  manchen,  namentlich  jugendUchen,  Psychopathen  finden 
wir  den  Schlaf  lang  und  zugleich  ungemein  tief,  während  andere, 
wohl  mehr  Ängstliche  und  Depressive,  regelmäßig  beim  leisesten 
Geräusch  emporschrecken.  Häufig  ist  auch  eine  sehr  rasche  Ver- 
flachung des  Schlafes  nach  ganz  kurzer  Dauer;  die  Kranken 
schlafen  bald  und  tief  ein,  erwachen  aber  schnell  wieder  und  liegen 
nun  stundenlang,  ohne  von  neuem  einschlafen  zu  können.  Das 
Gegenstück  bilden  jene  Kranken,  deren  Schlaf  morgens  noch  so 
tief  ist,  daß  sie  lange  Zeit  hindurch  mit  ganz  allmählich  sich  ver- 
lierender, bleierner  Müdigkeit  zu  kämpfen  haben.  Ähnlich  ,, er- 
müdend" scheint  sich  der  Nachmittagsschlaf  für  die  Morgen- 
arbeiter mit  sehr  steiler  Schlaftiefenkurve  zu  gestalten.  Während 
der  Abendarbeiter  nach  kurzem  Schlafe  von  geringer  Tiefe  frisch 
erwacht,  bedingt  sehr  rasche  Vertiefung  des  Schlafes  eine  längere 
Schlafzeit  mit  Erwachen  aus  großer  Tiefe,  welches  anscheinend 
das  Gefühl  der  Erquickung  nicht  aufkommen  läßt. 

Erhebliche  praktische  Wichtigkeit  haben  die  Störungen  des 
Erwachens.  Dasselbe  erfolgt  beim  Gesunden  zumeist  fast  plötzlich ; 
nur  kann  zunächst  noch  eine  gewisse  Schwere  der  Glieder  und 
des  Kopfes  vorhanden  sein,  namentlich  beim  Erwachen  aus  grö- 
ßerer Schlaftiefe.  Wie  Gudden^)  ausgeführt  hat,  kann  sich  der 
Vorgang  in  der  Weise  verschieben,  daß  nicht  Besonnenheit  und 
Handlungsfähigkeit  gleichzeitig  wiederkehren,  sondern  jene  früher, 
diese  später  oder  umgekehrt.  Im  ersteren  Falle  ist  der  Erwachende 
zunächst  noch  wie  gelähmt  und  gewinnt  erst  allmählich  die  Herr- 
schaft über  seine  Glieder;  im  letzteren  bleibt  er  einige  Zeit  un- 
besinnlich und  verwirrt  und  kann  dabei  unter  Umständen  äußerst 
gefährliche  Handlungen  begehen.  Dieser  Zustand  der  „Schlaf- 
trunkenheit" entwickelt  sich  am  leichtesten  bei  plötzlichem  Er- 
wecken aus  sehr  großer  Schlaftiefe,  also  in  den  ersten  Stunden 
.des  Schlafes  und  bei  jugendlichen  Personen,  deren  Schlaftiefe 
allgemein  größer  zu  sein  pflegt,  namentlich  nach  starken  An- 
strengungen. Gesteigerte  gemütliche  Spannung,  wie  z.  B.  bei 
Soldaten  im  Kriege,  ferner  lebhafte  ängstliche  Träume,  endlich 
Alkoholvergiftung  begünstigen  das  Zustandekommen  der  Schlaf- 
trunkenheit,  ebenso   unbequeme  Lage,    Hitze   im  Schlafzimmer 

1)  Gudden,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XL,  989. 
Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^ 


242 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


und  fremdartige  Umgebung,  die  ein  rasches  Verständnis  der  Lage 
erschwert.  Die  schwereren  Grade  der  Schlaftrunkenheit  werden 
nur  bei  psychopathisch  veranlagten  Personen  beobachtet,  beson- 
ders bei  Epileptikern  und  Hysterischen. 

Auch  im  Schlafe  dürfte  sich  das  Verhältnis  des  äußeren 
Schwellenwertes  zum  inneren  zu  Ungunsten  des  ersteren  verschie- 
ben. Dafür  spricht  die  Erscheinung  des  Traumes,  die  allerdings 
im  Tiefschlafe  fehlen  oder  doch  spurlos  werden  kann.  Die  Träume 
haben  vielfach  große  Ähnlichkeit  mit  den  Dämmerzuständen. 
De  Sanctis^)  weist  insbesondere  darauf  hin,  daß  die  Träume 
der  Epileptiker  und  Hysterischen  denselben  Inhalt  haben  können 
wie  die  Delirien  der  Kranken,  dort  schreckhafte  Wahrnehmungen 
von  Blut,  Flammen,  andrängenden  Ungeheuern,  himmlische  Er- 
scheinungen oder  wollüstige  Erlebnisse,  hier  theatralische  Ereig- 
nisse, Auftreten  Verstorbener,  einzelner  drohender,  mahnender 
oder  rührender  Gestalten.  Er  meint  sogar  nicht  mit  Unrecht,  daß 
Träume  dieser  Art  geradezu  Äquivalente  der  im  Wachen  auf- 
tretenden ähnlichen  Störungen  bilden  könnten.  Sie  wiederholen 
sich  bisweilen  periodisch  in  genau  gleicher  Form.  Die  gleiche 
Bedeutung  haben  die  Zustände  von  Nachtwandeln  (Somnam- 
bulismus), in  denen  die  Kranken  aus  dem  Bett  gehen,  mit  ge- 
schlossenen oder  starr  geöffneten  Augen  allerlei  einfache  Ver- 
richtungen vornehmen,  um  sich  dann  wieder  zu  legen.  Leichtere 
Störungen,  Sprechen  und  ängstliches  Auffahren  im  Schlafe,  werden 
auch  bei  Gesunden  beobachtet,  namentlich  bei  Kindern  und  bei 
Behinderung  der  Nasenatmung. 

In  Depressionszuständen  pflegen  die  ängstlichen  und  er- 
schreckenden Träume  der  Verstimmung  im  Wachen  zu  entsprechen. 
Auch  Wahnbildungen  können  sich  in  den  Träumen  fortspinnen. 
Namentlich  begegnen  wir  häufig  der  Angabe  nächtlicher  feind- 
seliger Beeinflussung.  Die  Kranken  erzählen  von  nächtlichen  Be- 
gattungen, beklagen  sich  darüber,  daß  man  ihnen  die  ,, Natur 
abgezogen",  Veränderungen  an  ihrem  Körper  vorgenommen  habe. 
Es  ist  allerdings  zweifelhaft,  wie  weit  derartige  Angaben  wirklich 
auf  Traumerlebnisse  zurückgehen;  Pilcz  fand  geradezu,  daß 
paranoische  Kranke  nicht  von  ihren  Wahnvorstellungen  träumen. 

1)  De  Sanctis,  I  sogni.  1899,  deutsch  von  O.  Schmidt.  1901 


Störungen  der  Auffassung. 


243 


Gar  nicht  selten  aber  vermengen  die  Kranken  Traum  und  Wirk- 
lichkeit; ich  erinnere  mich  eines  Kranken,  der  fast  täglich  dem 
Arzte  über  das  Vorwürfe  machte,  was  er  ihm  wieder  im  Traume 
angetan  habe.  Bei  fortschreitender  Verblödung  schwindet  mit 
dem  Verluste  der  geistigen  Regsamkeit  auch  die  Häufigkeit  und 
Lebhaftigkeit  der  Träume. 

Störungen  der  Auffassung.    Das  Anwachsen  der  Wirkung  eines 
äußeren  Reizes  erfordert  eine  gewisse  Zeit.    Wie  der  Versuch 
lehrt,  wird   die   größte  Klarheit   einer  Sinneswahrnehmung  erst 
nach  Verlauf  einiger  Sekunden  erreicht.     Dieser  Vorgang  kann 
unter  Umständen  eine  erhebliche  Verlangsamung  erfahren.  Die 
Kranken  vermögen  dann  Reize,  die  sich  ihnen  nur  kurze  Zeit 
darbieten,  gar  nicht  oder  doch  nur  höchst  unvollkommen  auf- 
zufassen, während  sich  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  keinerlei 
Erschwerung  der  Auffassung  geltend  zu  machen  braucht.    Ist  aber 
die  Verlangsamung  im  Anwachsen  der  Sinnesempfindungen  eine 
sehr  bedeutende,  so  kann  deren  Verblassen,  das  nach  kurzer  Zeit 
beginnt,  die  volle  Entwicklung  der  Auffassung  gänzlich  verhin- 
dern;  die  Wahrnehmungen  versinken  schon  wieder,   bevor  sie 
noch  volle  Deutlichkeit  und  Stärke  erlangt  haben.   Natürlich  wer- 
den einzelne,  von  vornherein  sehr  kräftige  Eindrücke  doch  auf- 
gefaßt werden  können,  aber  sie  bleiben  mehr  oder  weniger  zu- 
sammenhanglos, weil  die  Zwischenglieder  und  die  begleitenden 
Ereignisse  nur  in  unklarer  und  verschwommener  Form  dem  Be- 
wußtsein übermittelt  werden.     In  ausgeprägtester  Gestaltung  be- 
gegnen  wir   dieser   Auffassungsstörung   bei   der  Presbyophrenie 
und  beim  Korssakowschen  Irresein,  doch  dürften  sich  leichtere 
Andeutungen  derselben  wohl  auch  bei  manchen  anderen  Erkran- 
kungen, namentlich  deliriöser  Art,  auffinden  lassen. 

Die  Auffassung  eines  äußeren  Eindruckes  erfordert  indessen 
außer  dem  Anwachsen  der  Wahrnehmung  zu  einer  gewissen  Stärke 
noch  deren  Eingliederung  in  unseren  Erfahrungsschatz.  Die 
große  Mehrzahl  der  Eindrücke,  die  w  r  tagtäglich  in  uns  auf- 
nehmen, ist  an  sich  ziemlich  undeutlich  und  verschwommen;  sie 
werden  erst  dadurch  zu  klaren  und  verwertbaren  Erfahrungen, 
daß  sie  in  den  bereitliegeriden  Erinnerungsbildern  gewissermaßen 
einen  Widerhall  finden,  welcher  den  sinnlichen  Reiz  verstärkt. 
Durch  diesen  Vorgang,  den  Wundt  als  „Apperzeption"  bezeich- 

i6» 


244 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


net,  bildet  sich  auch  sofort  die  Verknüpfung  der  einzelnen  Wahr- 
nehmung mit  unserer  Gesamterfahrung,  ein  Zusammenhang  mit 
zahlreichen  anderen  Vorstellungen  und  damit  das  „Verständnis" 
des  vorliegenden  Eindruckes.  Dabei  finden  ungenau  erfaßte  Ein- 
drücke ihre  Ergänzung  durch  auftauchende  Erinnerungsbilder,  ein 
Vorgang,  der  die  Empfindlichkeit  unserer  Auffassung  bekannten 
Eindrücken  gegenüber  außerordentlich  steigert,  zugleich  aber  auch 
die  Gefahr  der  Wahrnehmungsverfälschung  in  sich  schließt.  Gerade 
die  Beobachtungen  über  die  alltäglichen  Illusionen  zeigen  uns  am 
besten,  in  wie  hohem  Maße  die  sinnliche  Erfahrung  immerfort  durch 
die  Mitwirkung  unseres  Erinnerungsschatzes  beeinflußt  wird. 

Die  Anklänge,  die  ein  Eindruck  in  unserem  Innern  wachruft, 
bestehen   zunächst   in    den   Erinnerungsbildern   früherer  gleich- 
artiger Erfahrungen.    Da  sich  aber  jede  Wahrnehmung  aus  einer 
großen  Zahl  von  Einzeleindrücken  zusammensetzt,  so  wird  ein- 
mal jeder  dieser  Bestandteile  für  sich  einfache  Erinnerungen  an- 
regen können,  wie  z.  B.  ein  bestimmter  Ton  oder  eine  Farbe,  und 
ferner  werden  sich   wiederum  Vorstellungen  verwickelterer  Art 
an  die  zusammengesetzteren  Glieder  des  Gesamteindruckes  an- 
schließen.   So  erkennen  wir  in  gewissen  Umrissen  eines  Bildes 
Bäume  oder  Tiere,  in  einer  Tonfolge  eine  bekannte  Melodie.  Die 
wachgerufenen   Vorstellungen   können   dabei    bestimmte  Einzel- 
erinnerungen oder  allgemeine  Begriffe  sein;  ein  Bild  rückt  uns 
ein  persönliches  Erlebnis  vor  Augen,  oder  es  erscheint  uns  etwa 
als    ,, Landschaft   in   Abendstimmung".     Endlich    aber  erstreckt 
sich  die  Anregung  früherer  Erfahrungen  auch  auf  andere  Sinnes- 
gebiete.   Das  Gesichtsbild  eines  Hundes  ruft  die  Vorstellung  seines 
Bellens,  seines  Geruches,  der  Weichheit  seines  Felles,  der  Kälte 
seiner  Schnauze  mit  wach,  und  auch  hier  mischen  sich  überall 
persönliche  Einzelerinnerungen  mit  Allgemeinvorstellungen.  Da 
dann  auch  noch  die  verschiedenartigen  Sprachsymbole  nebst  den 
an  sie  sich  knüpfenden  Gedankenbeziehungen  sich  anschließen 
können,  gewinnt  das  Netz  von  mehr  oder  weniger  klar  auftau- 
chenden Vorstellungen  je  nach  der  geistigen  Regsamkeit  und  dem 
Erfahrungsreichtum  des  Wahrnehmenden  unter  Umständen  eine 
außerordentlich  weite  Ausdehnung. 

Das  rein  sinnliche  Verständnis  eines  Eindrucks  bildet  die  Grund- 
lage für  seine  weitere  geistige  Verarbeitung,  die  nach  den  ver- 


Störungen  der  Auffassung. 


245 


schiedensten  Richtungen  hin  erfolgen  kann.  An  die  Deckung 
mit  ähnUchen  früheren  Wahrnehmungen  schUeßt  sich  das  Auf- 
tauchen weiterer  Vorstellungen  und  Gedankengänge,  die  ein  immer 
tieferes  Eindringen  in  die  Bedeutung  und  den  Wert  des  Aufge- 
faßten, seine  engeren  und  weiteren  Beziehungen  zu  anderen  Er- 
fahrungen und  zu  unserem  eigenen  Ich  vermitteln.  Wir  erkennen 
nicht  nur,  daß  ein  Bild  eine  Landschaft  vorstellt,  nicht  nur  die 
Gegend,  die  es  wiedergibt,  sondern  auch  seine  malerischen  Eigen- 
schaften, die  Urheberschaft  eines  bestimmten  Malers,  die  Technik, 
das  Alter,  den  Handelswert;  wir  fassen  nicht  nur  die  Einzelheiten 
der  Sprachlaute  auf,  sondern  wissen  auch,  welcher  Sprache  sie 
angehören,  was  sie  bedeuten,  die  Besonderheiten  der  Aussprache 
und  Ausdrucksweise,  einen  verborgenen  Sinn.  Dürfen  wir  die 
unmittelbare  Auffassung  des  sinnlichen  Eindrucks  und  vielleicht 
auch  die  Verknüpfung  mit  den  zu^'ehörigen  Erfahrungen  anderer 
Sinne  wesentlich  in  die  zentralen  Sinnesflächen  verlegen,  so  werden 
die  Voraussetzungen  für  ein  sachliches  Verständnis  durch  so  ver- 
wickelte geistige  Vorgänge  gebildet,  daß  an  seinem  Zustande- 
kommen weite  Gebiete  unseres  Seelenorganes  beteiligt  sein  müssen. 

Sobald  die  Mitwirkung  unseres  früheren  geistigen  Erwerbes 
beim  Wahrnehmungsvorgange  fortfällt,  wird  dieser  unklar  und 
inhaltlos.  Es  können  sich  wohl  einzelne  stärkere  Eindrücke  in 
unser  Bewußtsein  eindrängen,  aber  sie  haften  nicht  und  werden 
nicht  verstanden,  da  ihnen  die  Einordnung  in  den  Zusammen- 
hang unserer  Vorstellungen  und  Begriffe  mit  allen  ihren  Folgen 
für  die  weitere  geistige  Verarbeitung  fehlt.  In  dieser  Lage  be- 
finden wir  uns  z.  B.  gegenüber  dem  uns  völlig  Unbekannten  oder 
Unverständlichen,  sofern  nicht  etwa  besondere  Nebenumstände, 
Erwartung  u.  dgl.  die  Anregung  bestimmter  Vorstellungen  durch 
die  Wahrnehmung  vermitteln.  Die  Einzelheiten  eines  auf  dem 
Kopf  stehenden  Landschaftsbildes,  einer  fremden  Sprache  können 
uns  vollkommen  entgehen,  obgleich  die  sinnlichen  Eindrücke  an 
sich  ebenso  lebhaft  auf  uns  wirken  wie  das  aufrechtstehende 
Bild  oder  die  Muttersprache.  Einsilbige  und  selbst  zweisilbige 
Wörter  lesen  wir  sehr  viel  schneller,  als  sinnlose  Silben  von  weit 
geringerer  Buchstabenzahl. 

Die  häufigste  Form  der  Auffassungsstörung  ist  die  Erhöhung 
des  Schwellenwertes  für  äußere  Reize,  die  verminderte  Ansprech- 


246 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


barkeit  unseres  Bewußtseins.  Je  stärker  die  Reize  sein  müssen, 
um  überhaupt  Empfindungen  zu  erzeugen,  desto  verschwommener 
und  lückenhafter  wird  das  Bild,  das  die  Außenwelt  in  unserem 
Innern  entwirft.  Die  Kranken  fassen  nur  einen  mehr  oder  weniger 
beschränkten  Teil  der  Eindrücke  auf,  die  auf  sie  einwirken;  sie 
bemerken  und  verstehen  nicht  mehr,  was  um  sie  herum  vor- 
geht. Wir  bezeichnen  diesen  Zustand,  in  dem  die  Besonnenheit 
schwindet,  als  Unbesinnlichkeit.  Kann  hier  zunächst  noch 
vorübergehend  oder  durch  besonders  kräftige  Reize  eine  Wahr- 
nehmung erzwungen  werden,  so  löst  sich  bei  den  stärkeren  Graden 
der  Benommenheit  die  Verbindung  mit  den  äußeren  Gescheh- 
nissen mehr  und  mehr.  Sehr  häufig  vermögen  die  Kranken  hier 
einzelne  Eindrücke  noch  ganz  gut  aufzufassen,  ohne  sie  doch 
zu  einer  Gesamtanschauung  verarbeiten  zu  können.  Sie  gewinnen 
daher  kein  Bild  von  ihrer  Umgebung  und  von  ihrer  Lage ;  alle  Vor- 
kommnisse erscheinen  ihnen  unverständlich,  geheimnisvoll,  rätsel- 
haft. Die  allmähliche  Entwicklung  dieser  Auffassungsstörungen 
begegnet  uns  bei  der  einfachen  Ermüdung  und  ihren  Übergängen 
zum  Schlafe,  ebenso  aber  auch  bei  den  krankhaften  Zuständen 
schwerer  geistiger  Erschöpfung.  Mit  größter  Gewalt  und  Schnellig- 
keit geschieht  die  Absperrung  unseres  Bewußtseins  von  der  Außen- 
welt durch  die  Betäubungsmittel  Äther  und  Chloroform.  Ganz 
ähnlich  sind,  soweit  die  Prüfung  durch  den  psychologischen  Ver- 
such reicht,  die  Beeinträchtigungen  der  Wahrnehmung  zu  be- 
urteilen, die  durch  eine  Anzahl  von  Schlafmitteln  erzeugt  werden; 
genauer  nachgewiesen  wurde  eine  schwerere  Auffassungsstörung 
bis  jetzt  bei  Alkohol,  Paraldehyd  und  Trional.  Nach  unseren  kli- 
nischen Erfahrungen  ist  sie  ferner  bei  den  Fieber-  und  Vergif- 
tungsdelirien, beim  Delirium  tremens  sowie  bei  den  epileptischen 
und  hysterischen  Dämmerzuständen  vorhanden,  vielfach  auch  in 
den  verschiedenen  Zuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins,  be- 
sonders im  depressiven  und  manischen  Stupor  wie  in  den  stärkeren 
Graden  der  manischen  Erregung. 

Auf  der  Stufe  der  einfachen  Wahrnehmung  bleibt  die  gesamte 
Sinneserfahrung  in  der  ersten  Zeit  der  geistigen  Entwicklung 
stehen.  Solange  die  Einwirkungen  der  Außenwelt  noch  keine 
bleibenden  Erinnerungsspuren  zurückgelassen  haben,  ist  auch 
jenes  Netz  von  psychologischen  Beziehungen  noch  nicht  geknüpft. 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


247 


welches  alle  kommenden  Lebenserfahrungen  sofort  mit  dem  gei- 
stigen Erwerbe  der  Vergangenheit  in  Verbindung  setzt.  In  den 
schwereren  Formen  der  psychischen  Entwicklungshemmungen 
dauert  dieser  Zustand  unverändert  fort;  die  Möglichkeit  einer 
fortschreitenden  Aufhellung  dieses  geistigen  Dämmerlebens  ist 
für  immer  abgeschnitten.  Das  Bewußtsein  bleibt  von  einem  un- 
klaren Gemisch  einzelner  verschwommener  Vorstellungen  und 
dunkler  Gefühle  erfüllt,  in  welchem  keine  deutliche  Auffassung, 
keine  übersichtliche  Ordnung  und  Gruppierung  möglich  ist.  Von 
dem  Grade  der  geistigen  Entwicklung,  der  erreicht  wird,  hängt 
die  Ausbildung  eines  tieferen  sachlichen  Verständnisses  der  Er- 
fahrungen ab.  UnvoUkommenheit  und  Dürftigkeit  desselben  kenn- 
zeichnen jene  Zustände,  die  wir  unter  dem  Namen  des  Schwach- 
sinns zusammenfassen. 

Bei  mehr  umschriebenen  Störungen,  der  Unfähigkeit,  die  sich 
darbietenden  Sinnesreize  mit  früheren  ähnlichen  Erfahrungen  des- 
selben Sinnesgebietes  oder  mit  den  zugeordneten  Erinnerungen 
anderer  Sinnesgebiete  zu  verknüpfen,  entstehen  die  als  Agnosie 
bezeichneten  Erscheinungen.  Hier  kann  die  Erkennung  der  Außen- 
welt trotz  ungestörter  Wahrnehmung  in  einem  Sinnesbereiche 
schwer  beeinträchtigt  sein,  während  sie  in  anderen  ohne  Schwie- 
rigkeit vonstatten  geht. 

Störungen  der  Aufmerksamkeit.  Die  Tatsache,  daß  nur  eine 
beschränkte  Zahl  von  psychischen  Gebilden  jeweils  in  unserem 
inneren  Blickfelde  vorhanden  ist,  bezeichnen  wir  als  die  ,,Enge 
des  Bewußtseins".  Indem  die  ganze  Kette  unserer  psychischen 
Ereignisse  diese  Enge  durchwandert,  stellt  sich  unser  inneres 
Leben  als  ein  fortwährendes  Kommen  und  Gehen,  als  ein  Auf- 
tauchen und  Versinken  von  Seelenvorgängen  dar.  Zunächst  noch 
undeutlich  und  schwach,  tritt  ein  inneres  Erlebnis  nach  dem  an- 
deren aus  dem  Dunkel  des  Unbewußten  empor,  um  nach  kurzer 
Zeit  die  höchste  Klarheit  und  Stärke  zu  erreichen,  dann  aber 
wieder  zu  versinken  und  dem  nächsten  Platz  zu  machen.  Auf 
dem  Höhepunkte  seiner  Entwicklung  wird  dieser  Vorgang  be- 
stimmend für  die  Richtung  jener  inneren  Willenstätigkeit,  die 
wir  Aufmerksamkeit  nennen;  unsere  Sinneswerkzeuge  wenden 
sich  dem  lebhaft  sich  aufdrängenden  Eindrucke  zu,  und  es  tau- 
chen solche  Vorstellungen  auf,  die  den  Vorgang  verstärken,  der 


248  Erscheinungen  des  Irreseins. 

unsere  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  genommen  hat.  Diese  „An- 
spannung" der  Aufmerksamkeit,  die  sehr  verschiedene  Grade 
und  Richtungen  aufweisen  kann,  ist  von  gewissen  körperlichen 
Erscheinungen  begleitet,  die  deutlich  genug  ihre  Eigenschaft  als 
Willenshandlung  erkennen  lassen,  Innervationsempfindungen  in 
Auge  und  Ohr,  ja  ausgesprochene  Bewegungen,  Veränderungen 
der  Atmung  und  des  Pulses  wie  des  Blutdruckes. 

Die  Tätigkeit  der  Aufmerksamkeit  dient  aber  nicht  nur  dazu, 
den  auftauchenden  Seelenvorgang  zu  verstärken,  sondern  sie  übt 
auch  einen  sehr  entschiedenen  Einfluß  auf  die  weitere  Gestaltung 
der  Bewußtseinsvorgänge  aus.  Das  Anwachsen  und  Schwinden 
einer  Vorstellung  nimmt  eine  gewisse  Zeit  in  Anspruch.  Nach 
den  Erfahrungen,  die  über  die  Einwirkung  einer  Sinneswahrneh- 
mung auf  die  Stärke  einer  ihr  folgenden  vorliegen,  dürfen  wir 
annehmen,  daß  die  größte  Deutlichkeit  für  die  einzelnen  Glieder 
einer  Vorstellungsreihe  erreicht  wird,  wenn  sie  in  einem  zeitlichen 
Abstände  von  etwa  zwei  Sekunden  sich  aneinander  anschließen. 
Diese  Zeit  scheint  somit  für  die  volle  Entwicklung  einer  Vorstellung 
bzw.  der  Aufmerksamkeitsspannung  erforderlich  zu  sein.  In  Wirk- 
lichkeit folgen  jedoch  die  einzelnen  Wahrnehmungen  und  Vor- 
stellungen weit  rascher  aufeinander.  Das  ist  deswegen  möglich, 
weil  die  Enge  des  Bewußtseins  nicht  für  ein  einziges  psychisches 
Gebilde,  sondern  für  eine  ganze  Anzahl  derselben  Raum  läßt,  von 
denen  allerdings  immer  nur  eines  jeweils  am  hellsten  beleuchtet 
ist,  während  die  übrigen  entweder  erst  in  der  Entwicklung  be- 
griffen sind  oder  schon  wieder  verblassen.  Wir  haben  es,  wie  man 
es  auszudrücken  pflegt,  nicht  mit  einem  inneren  Blickpunkte, 
sondern  mit  einem  Blickfelde  zu  tun,  in  welchem  neben  einer 
Stelle  von  höchster  Deutlichkeit  der  inneren  Wahrnehmung  die 
verschiedensten  Abstufungen  bis  zum  Unbewußten  zu  finden  sind. 

Die  Verstärkung  eines  auftauchenden  Eindruckes  durch  die 
Aufmerksamkeit  hat  ohne  Zweifel  die  Wirkung,  sein  Abblassen 
zu  verzögern.  Er  gewinnt  dadurch  einen  Einfluß  auf  die  nach 
ihm  entstehenden  psychischen  Gebilde,  deren  Entwicklung  er  je 
nach  seinen  inneren  Beziehungen  zu  ihnen  hemmen  oder  fördern 
kann.  Auf  diese  Weise  wird  die  ursprünglich  passive,  ziellose 
Aufmerksamkeit  zur  aktiven,  auswählenden.  Nicht  die  Stärke 
der  äußeren  Eindrücke,   sondern  weit  mehr  ihre  Begünstigung 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


249 


oder  Unterdrückung  durch  die  Aufmerksamkeit  werden  für  die 
innere  Erfahrung  maßgebend. 

Der    Bewußtseinsinhalt    des    Kindes    steht    in    hilfloser  Ab- 
hängigkeit von  der  zufälligen  Umgebung;  es  nimmt  nur  die  jeweils 
stärksten  Reize  wahr,  ohne  Rücksicht  auf  den  inneren  Zusam- 
menhang der  Dinge,  weil  ihm  jene  allgemeinen  Vorstellungen 
fehlen,  welche  auch  die  weniger  aufdringlichen  Wahrnehmungen 
als  wesentliche  Glieder  in  der  Kette  der  Erfahrungen  hervortreten 
lassen.    Beim  Erwachsenen  dagegen  wird  der  Wahrnehmungs- 
vorgang mehr  und  mehr  durch  die  besonderen  Neigungen  be- 
herrscht, die  sich  allmählich  aus  der  persönlichen  Lebenserfahrung 
heraus  entwickeln.    Wir  üben  uns  darin,  einzelne  Eindrücke  vor- 
zugsweise zu  beachten,  indem  sich  die  Ansprechbarkeit  unserer 
Vorstellungen  für  sie  fortschreitend  verstärkt,  so  daß  schon  leise 
Anklänge  genügen,  um  in  unserem  Innern  lebhaften  Widerhall 
zu  finden.    Andererseits  gewöhnen  wir  uns  daran,  alltägliche 
Reize  unbeachtet  zu  lassen  und  ihnen  keinen  Einfluß  auf  den 
Ablauf  unserer  psychischen  Vorgänge  mehr  einzuräumen.  Diese 
Ausbildung   bestimmter    „Gesichtspunkte",    gewisser  Richtungen 
unseres  „Interesses",  führt  zu  einer  außerordentUchen  Veränder- 
lichkeit des  Schwellenwertes,  so  daß  wir  im  gleichen  Augenblicke 
sehr  starke  Reize  völlig  unbeachtet  lassen  können,  wo  wir  die 
feinsten  Veränderungen  irgendeines  Gegenstandes  mit  der  größten 
Schärfe  auffassen. 

lln  krankhaften  Zuständen  kann  das  Verhalten  der  Aufmerk- 
samkeit die  mannigfachsten  Störungen  darbieten.  Überall,  wo  die 
psychische  Ansprechbarkeit  überhaupt  herabgesetzt  ist,  in  allen 
vorgeschrittenen  Verblödungszuständen,  finden  wir  auch  eine  Ab- 
stumpfung der  Aufmerksamkeit.  An  die  Wahrnehmungen 
knüpfen  sich  nicht  rasch  und  lebhaft  verstärkende  Erinnerungs- 
bilder an;  sie  gewinnen  keine  Beziehungen  zu  den  Erfahrungen 
des  Kranken  und  veranlassen  ihn  daher  auch  nicht,  aus  eigenem 
Antriebe  den  Ereignissen  weiter  zu  folgen.  In  der  Umgebung  eines 
verblödeten  Paralytikers  können  sich  die  aufregendsten  Vorgänge 
abspielen,  ohne  daß  sie  ihn  berühren,  auch  wenn  er  vielleicht 
Aufforderungen  und  Fragen  noch  aufzufassen  vermag.  Etwas 
anders  ist  die  sehr  ausgeprägte  Störung  der  Aufmerksamkeit 
zu  beurteilen,   die  wir  in  der  Dementia  praecox  so  ungemem 


250 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


häufig  beobachten,  in  der  Regel  schon  vom  ersten  Abschnitte 
der  Krankheit  an.  Auch  hier  erweisen  sich  die  Kranken,  nament- 
lich in  den  Stuporzuständen,  vielfach  gegen  alle  Versuche,  ihre 
Aufmerksamkeit  zu  erregen,  völlig  unzugänglich,  so  daß  selbst 
Nadelstiche  und  Berührungen  der  Hornhaut  keinerlei  Willens- 
bewegung auslösen.  Allein  man  kann  sich  leicht  davon  überzeugen, 
daß  keine  Abstumpfung  der  Aufmerksamkeit,  sondern  eine  krank- 
hafte Unterdrückung  derselben  vorliegt.  Die  Kranken  nehmen 
oft  recht  gut  wahr,  was  um  sie  herum  vorgeht,  aber  sie  sträuben 
sich  unwillkürlich  gegen  jede  Beeinflussung  ihres  Denkens  und 
Handelns  durch  diese  Wahrnehmungen.  Auch  die  äußeren  Zei- 
chen der  Aufmerksamkeitsspannung,  das  Hinwenden  des  Kopfes 
und  Blickes,  das  Einstellen  der  Blickrichtung,  anscheinend  auch 
die  Veränderungen  der  Atmung,  des  Pulses,  der  Pupillen  können 
vollständig  fortfallen.  Wir  wollen  diese  Störung,  die  durchaus  den 
negativistischen  Vorgängen  auf  anderen  Willensgebieten  entspricht, 
als  Sperrung  der  Aufmerksamkeit  bezeichnen. 

Äußerlich  ähnlich,  aber  dem  Wesen  nach  verschieden  ist  die 
Hemmung  der  Aufmerksamkeit,  der  wir  in  gewissen  Stu- 
porzuständen des  manisch-depressiven  Irreseins  begegnen.  Auch 
hier  ist  es  schwer,  sich  mit  dem  Kranken  in  geistige  Verbindung 
zu  setzen,  aber  nur  deswegen,  weil  bei  ihm  der  innere  Widerhall 
fehlt,  der  die  Verknüpfung  der  äußeren  Eindrücke  mit  dem  eigenen 
Erfahrungsschatze  herstellt  und  dadurch  die  auswählende  Tätig- 
keit der  Aufmerksamkeit  anregt.  Das  Auftauchen  von  Vorstellungen 
ist  erschwert,  aber  nicht  durch  Verödung  des  geistigen  Lebens, 
sondern  durch  Hemmungsvorgänge,  so  daß  die  Wahrnehmungen 
keinen  weiterreichenden  Einfluß  auf  das  innere  Leben  gewinnen 
können.  Dagegen  pflegen  die  äußeren  Zeichen  der  Aufmerksam- 
keitsspannung, im  Gegensatze  zu  den  Erfahrungen  bei  der  De- 
mentia praecox,  erhalten  zu  sein;  die  Kranken  blicken  fragend, 
wenn  auch  verständnislos,  um  sich,  betrachten  die  dargebotenen 
Gegenstände,  wenden  den  Kopf  bei  Geräuschen  usf.  Im  Gegen- 
satze zu  dieser  Störung  kann  man  eine  gesteigerte  Lebhaftig- 
keit der  Aufmerksamkeit  vielfach  in  den  manischen  Ab- 
schnitten des  manisch-depressiven  Irreseins  beobachten.  Die 
Empfänglichkeit  für  äußere  Eindrücke  ist  hier  erhöht;  jeder  Reiz 
wird  rasch  und  mit  großer  Entschiedenheit  aufgefaßt,  jede  Klei- 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


nigkeit  beachtet.  Der  Kranke  „interessiert  sich"  für  alle  mög- 
lichen Dinge,  die  ihm  aufstoßen,  vermag  an  nichts  gleichgültig 
vorbeizugehen. 

Eine  unmittelbare   Folge   der   Erschwerung  psychischer  An- 
knüpfungen, sei  es  durch  Abstumpfung  oder  Hemmung  der  Auf- 
merksamkeit, ist  der  Verlust  ihres  bestimmenden  Einflusses  auf 
die  Wahrnehmung.    Dabei  kann  sehr  wohl  der  einzelne  Eindruck 
noch   die   Aufmerksamkeit   erwecken   und   durch   sie  verstärkt 
werden,  aber  es  fehlt  die  Fortdauer  dieser  inneren  Bewegung  über 
den  Augenblick  hinaus  mit  ihren  Folgen  für  die  Auswahl  der 
kommenden  Wahrnehmungen.  Die  Kranken  verweilen  vielleicht 
längere  Zeit  bei  dem  einmal  dargebotenen  Eindrucke,  aber  sie 
können  ohne  weiteres  durch  einen  neuen  Reiz  abgezogen  werden, 
sofern  er  nur  kräftig  genug  ist.     Diese  Bestimmbarkeit  der 
Aufmerksamkeit  beobachten  wir  namentlich  bei  der  Paralyse 
und  beim  Altersblödsinn,  aber  auch  bei  den  erwähnten  Stupor- 
formen des  manisch-depressiven  Irreseins  und  bei  manchen  in- 
fektiösen Schwächezuständen.    Die  Kranken  gleichen  in  gewisser 
Beziehung  dem  Kinde  ohne  Erfahrung,  bei  dem  eben  darum  keine 
Vorstellungen  und  Erinnerungen  geweckt  werden,  die  auf  die  Auf- 
merksamkeit richtunggebend  wirken  könnten.  In  denjenigen  geistigen 
Schwächezuständen,  in  denen  sich  die  geistige  Entwicklung  dauernd 
auf  der  Stufe  des  Kindes  erhält,  bleibt  auch  die  Aufmerksamkeit 
zeitlebens  unselbständig  und  bestimmbar. 

Eine  wesentlich  andere  Entstehungsweise  dürfte  diejenige 
Aufmerksamkeitsstörung  haben,  die  man  gewöhnlich  als  er- 
höhte Ablenkbarkeit  bezeichnet.  Es  handelt  sich  dabei  um 
einen  häufigen  Wechsel  in  der  Richtung  der  Aufmerksamkeit 
aus  inneren  und  äußeren  Beweggründen.  Während  die  Bestimm- 
barkeit der  Aufmerksamkeit  wesentlich  durch  das  Fehlen  solcher 
Vorstellungen  bedingt  wird,  die  den  Auffassungsvorgang  zu  be- 
einflussen vermöchten,  haben  wir  es  hier  vermutlich  mit  einer 
größeren  Flüchtigkeit  der  psychischen  Vorgänge  zu  tun.  Dafür 
spricht  der  Umstand,  daß  hier  die  Aufmerksamkeit  auch  dann 
rasch  von  einem  Eindrucke  zum  anderen  abspringt,  wenn  man 
sich  bemüht,  sie  in  derselben  Richtung  zu  erhalten.  Zudem  fm- 
den  wir  diese  Störung  ganz  vorzugsweise  in  solchen  Zuständen, 
die  mit  den  Zeichen  einer  erhöhten  Erregbarkeit  einhergehen. 


252 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Wir  dürfen  uns  daher  wohl  vorstellen,  daß  bei  der  erhöhten  Ab- 
lenkbarkeit  der  Aufmerksamkeit  die  einzelnen  Eindrücke  rasch 
wieder  verblassen  und  daher  keinen  richtunggebenden  Einfluß 
auf  die  kommenden  Wahrnehmungen  gewinnen.  Sie  bilden  keine 
engverschlungene  Kette,  sondern  eine  lockere  Reihe  innerlich 
unverbundener  Einzelvorgänge.  Je  nachdem  die  Ablenkung  durch 
auftauchende  Vorstellungen  oder  durch  äußere  Reize  erfolgt, 
kann  man  von  der  inneren  die  äußere  Ablenkbarkeit  unterschei- 
den, die  sich  zwar  häufig,  aber  nicht  immer  zu  jener  hinzugesellt. 

Die  leichtesten  Grade  dieser  Störung  begegnen  uns  in  jenem 
Zustande  von  Zerstreutheit,  der  sich  neben  den  Zeichen  einer 
gewissen  Unruhe  bei  der  Ermüdung  einzustellen  pflegt.  Wir  be- 
merken dabei,  daß  die  aufgenommenen  Eindrücke  eine  sehr  ge- 
ringe Nachhaltigkeit  besitzen,  rasch  versinken  und  den  inneren 
Zusammenhang  verlieren.  Trotz  aller  Anstrengung  sind  wir  nicht 
mehr  imstande,  einer  Reihe  von  Ereignissen  planmäßig  zu  fol- 
gen, sondern  ertappen  uns  immer  wieder  darauf,  daß  wir  durch 
zufällige  Nebendinge  abgezogen  werden  und  unsere  Aufgabe 
nur  bruchstückweise  erfassen.  Bei  der  chronischen  nervösen  Er- 
schöpfung kann  diese  Unfähigkeit  längere  Zeit  andauern,  ebenso 
in  der  Genesungszeit  nach  schweren  geistigen  oder  körperlichen 
Erkrankungen.  Weit  stärker  ausgeprägt  ist  die  erhöhte  Ablenk- 
barkeit in  den  Erregungszuständen  der  Paralyse  und  bei  den  in- 
fektiösen Geistesstörungen,  besonders  aber  in  der  Manie,  wo  sie 
sich  mit  gesteigerter  Lebhaftigkeit  der  Aufmerksamkeit  verbinden 
kann.  Hier  genügt  oft  schon  ein  Zwischenruf,  ein  einzelnes  Wort, 
das  Vorzeigen  irgendeines  Gegenstandes,  um  sofort  die  Richtung 
der  Aufmerksamkeit  zu  ändern.  Es  muß  allerdings  einstweilen 
dahmgestellt  bleiben,  ob  es  sich  in  diesen  verschiedenartigen  Er- 
krankungen überall  um  dieselbe  Aufmerksamkeitsstörung  handelt. 

Als  dauernde  Eigentümlichkeit  findet  sich  erhöhte  Ablenk- 
barkeit der  Aufmerksamkeit  bei  gewissen  Formen  der  psycho- 
pathischen Veranlagung.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diese  Stö- 
rung auf  die  gesamte  geistige  Ausbildung  einen  weitreichenden 
Einfluß  ausüben  muß.  Je  ablenkbarer  ein  Mensch  ist,  je  mehr 
seine  Auffassung  durch  zufällig  sich  darbietende  Reize  statt  durch 
planmäßige  Auswahl  geleitet  wird,  desto  weniger  ist  er  imstande, 
sich  einen  zusammenhängenden  und  einheitlichen  Vorstellungs- 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


schätz  zu  erwerben.  Bruchstückweise  und  unvermittelt  werden 
sich  die  verschiedenartigen  Wahrnehmungen  aneinander  schheßen, 
ohne  jenes  innere  Band,  welches  durch  die  Herrschaft  leitender 
Allgemeinvorstellungen  gebildet  wird.  Die  Auffassung  haftet  da- 
her immer  nur  an  Einzelheiten,  ohne  einen  Überblick  über  das 
Ganze  zu  vermitteln;  sie  wird  oberflächlich  und  flüchtig  und 
dringt  nirgends  in  den  tieferen  Zusammenhang  der  Erscheinungen 
ein.  So  kann  es  kommen,  daß  zwar  die  Auffassung  des  einzelnen 
Eindruckes  keine  wesentlichen  Störungen  darbietet,  während  doch 
die  Unstetigkeit  der  Wahrnehmung,  die  vollkommene  Unfähigkeit, 
zu  beobachten,  ein  tieferes  Verständnis  der  Außenwelt  und  da- 
mit die  höhere  geistige  Ausbildung  überhaupt  unmöglich  macht. 

Das  Gegenstück  zur  erhöhten  Ablenkbarkeit  bildet  jene  Fes- 
selung der  Aufmerksamkeit  durch  einzelne  äußere  oder 
innere  Vorgänge,  die  uns  für  andere  Wahrnehmungen  unzugäng- 
lich macht.  Dahin  gehört  die  fälschlicherweise  sogenannte  Zer- 
streutheit des  Gelehrten,  soweit  sie  auf  höchster  Einseitigkeit  der 
Aufmerksamkeitsrichtung  beruht.  Vielleicht  haben  wir  es  auch 
in  manchen  Krankheitszuständen  mit  derartigen  Vorgängen  zu 
tun.  So  sind  namentlich  deprimierte  Kranke  bisweilen  derart  mit 
ihren  traurigen  Vorstellungen  beschäftigt,  daß  sie  dadurch  für 
die  Eindrücke  der  Außenwelt  gleichgültig  werden,  auch  wenn  die 
Auffassungsfähigkeit  an  sich  keine  erheblichen  Störungen  dar- 
bietet. In  manchen  deliriösen  und  stuporösen  Zuständen  dürfte 
die  schwere  Beeinträchtigung  der  Auffassung  zum  Teil  vielleicht 
auch  durch  die  Lebhaftigkeit  der  inneren  Vorgänge  mit  bedingt 
werden,  durch  die  Sinnestäuschungen  und  Einbildungsvorstellungen, 
welche  die  Aufmerksamkeit  ganz  in  Anspruch  nehmen.  Am  wenig- 
sten scheint  das  im  katatonischen  Stupor  der  Fall  zu  sein,  bei 
dem  übrigens  auch  die  Auffassungsfähigkeit  gar  keine  oder  doch 
verhältnismäßig  unbedeutende  Störungen  darzubieten  pflegt. 


B.  Störungen  der  Verstandestätigkeit. 

Der  von  den  Sinnen  gelieferte  und  durch  die  Aufmerksamkeit 
geklärte  Erfahrungsrohstoff  bildet  die  Grundlage  aller  weiteren 
geistigen    Arbeit    und    somit    auch    des    gesamten  Vorstellungs- 


254 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Schatzes  des  Menschen.  Man  begreift  daher,  daß  die  aufgeführten 
Störungen  der  Sinneserkenntnis,  wie  sie  durch  die  Sinnestäu- 
schungen, durch  Verdunkelung  des  Bewußtseins,  endhch  durch 
die  Unfähigkeit  zu  planmäßiger  Auswahl  der  Eindrücke  erzeugt 
werden,  nicht  ohne  die  weitreichendsten  Folgen  für  die  Gestal- 
tung des  Bewußtseinsinhaltes  und  der  psychischen  Persönlich- 
keit bleiben  können.  Je  unvollkommener  und  verfälschter  die 
Nachrichten  von  der  Außenwelt  zur  Wahrnehmung  gelangen, 
desto  lückenhafter  und  unzuverlässiger  wird  die  Anschauung 
bleiben,  welche  sich  im  Bewußtsein  des  Menschen  von  seiner 
Umgebung,  vom  eigenen  Ich  und  von  seiner  Stellung  zur  Um- 
gebung entwickelt.  Dazu  kommt,  daß  zu  jenen  Störungen,  welche 
die  Sammlung  des  Erfahrungsstoffes  beeinträchtigen,  fast  ausnahms- 
los sich  noch  solche  gesellen,  die  eine  weitere  Verarbeitung  des- 
selben in  krankhafter  Weise  beeinflussen. 

Störungen  des  Gedächtnisses.  Die  allgemeinste  Grundlage  aller 
geistigen  Tätigkeit  ist  das  Gedächtnis i).  Jeder  einmal  ins  Be- 
wußtsein getretene  Eindruck  hinterläßt  nach  seinem  Schwinden  eine 
allmählich  schwächer  werdende  Spur,  die  seine  Wiedererneuerung 
durch  eine  zufällige  Vorstellungsverbindung  oder  durch  eine  Willens- 
anstrengung, das  Besinnen,  erleichtert.  Diese  bleibende  Spur,  welche 
die  einmal  gemachte  Wahrnehmung  auf  längere  Zeit  hinaus  dem 
Erfahrungsschatze  des  Menschen  einreiht  und  sie  seinem  Gedächt- 
nisse zur  Verfügung  stellt,  erhält  sich  im  allgemeinen  um  so  stärker 
und  länger,  je  klarer  der  ursprüngliche  Eindruck  aufgefaßt  worden 
und  je  allseitiger  er  zu  dem  übrigen  Bewußtseinsinhalte  in  Be- 
ziehung getreten  war,  je  mehr  er,  mit  anderen  Worten,  das  Inter- 
esse des  Menschen  erregt  hatte.  Ferner  aber  wird  die  Festigkeit,  mit 
welcher  frühere  Eindrücke  haften,  in  hohem  Maße  durch  Wieder- 
holungen verstärkt.  Die  ungeheure  Mehrzahl  unserer  Vorstellungen 
und  selbst  ein  großer  Teil  der  Vorstellungsverbindungen,  mit  denen 
wir  tagtäglich  arbeiten,  ist  uns  so  geläufig,  daß  sie  ohne  irgend- 
welches Besinnen,  von  selbst,  in  uns  auftauchen,  sobald  sich  irgend- 
eine Anregung  dazu  bietet. 

Die  Betrachtung  der  Gedächtnisstörungen  hat  daher  zwei  ganz 
verschiedene  Leistungen  auseinanderzuhalten,  die  unabhängig  von- 

1)  Ribot,  Das  Gedächtnis  und  seine  Störungen.  1882;  Sollier,  les  troubles 
de  la  memoire.  1892. 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


einander  beeinträchtigt  sein  können.    Die  erste  derselben  ist  die 
von  Wernicke  so  bezeichnete  Mer kf ähigkeit^),  die  Einprägung 
und  das  Festhalten  bestimmten,  neu  dargebotenen  Erfahrungs- 
stoffes.  Die  Merkfähigkeit  ist  im  allgemeinen  am  größten  für  Ein- 
drücke, die  mit  möglichster  Klarheit  aufgefaßt  und,  noch  besser, 
mit  Hilfe  der  auswählenden  Aufmerksamkeit  nach  bestimmten  Ge- 
sichtspunkten verfolgt  wurden.  Alle  Bedingungen,  die  geeignet  sind, 
die  Stärke  und  Schärfe  der  Eindrücke  sowie  deren  Widerhall  in 
unserem  Seelenleben  abzuschwächen,  werden  somit  die  Merkfähig- 
keit herabsetzen.    Dahin  gehören  Erschwerungen  der  Auffassung 
einerseits,  Ablenkbarkeit  und  Gleichgültigkeit  andererseits.  Wir  be- 
obachten daher  jene  Störung  bei  allen  ausgeprägteren  Bewußtseins- 
trübungen, in  geringerem  Grade  schon  bei  der  einfachen  Zerstreut- 
heit infolge  von  Ermüdung,  bei  Behinderung  der  Nasenatmung,  im 
Rausche,  ferner  bei  manischer  Erregung,  endlich  bei  vorgeschrittener 
Verblödung,  bei  der  Paralyse,  beim  epileptischen  Schwachsinn,  bei 
der  Idiotie  und  bei  denjenigen  Endzuständen  der  Dementia  prae- 
cox, die  mit  einer  Abstumpfung  der  Anteilnahme  an  der  Außen- 
welt einhergehen.   Die  höchsten  Grade  der  Merkstörung  aber  tref- 
fen wir  in  der  Korssakowschen  Krankheit  und  beim  Alters- 
blödsinn, insbesondere  bei  der  Presbyophrenie  an,  auch  wenn  hier 
die  geistige  Regsamkeit  und  die  Auffassungsfähigkeit  noch  leidlich 
gut  erhalten  ist.    Nach  den  bisher  bei  solchen  Kranken  vorliegen- 
den Versuchen  scheint  es  indessen,  daß  sich  bei  ihnen  die  Wahr- 
nehmungen ungemein  langsam  entwickeln,  so  daß  bei  Reizen, 
die  nur  sehr  kurze  Zeit  einwirken,  auch  eine  bedeutende  Herab- 
setzung der  Auffassungsfähigkeit  hervortritt.  Zugleich  vollzieht  sich 
das  Verblassen  der  Bewußtseinsvorgänge  unverhältnismäßig  schnell. 
Gerade  dieser  Umstand  dürfte  für  die  geringe  Erneuerungsfähigkeit 
der  Erfahrungen  bei  den  genannten  Kranken  in  erster  Linie  ver- 
antwortlich zu  machen  sein. 

Auch  bei  den  manischen  Kranken  scheint,  wie  die  erhöhte 
Ablenkbarkeit  dartut,  das  Verblassen  der  Vorstellungen  sich  rasch 
zu  vollziehen.  Wenn  trotzdem  ihre  Merkfähigkeit  verhältnis- 
mäßig wenig  gestört  ist,  könnte  das  darauf  beruhen,  daß  die  Wahr- 
nehmungen  sich   vorher   mit   genügender   Geschwindigkeit  ent- 

1)  Kraepelin,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  VIII,  245,  1900;  Ranschburg, 
ebenda  IX,  241,  1901. 


256  Erscheinungen  des  Irreseins. 

wickeln.  Vielleicht  ist  es  nicht  unnütz,  darauf  hinzuweisen,  daß 
im  gesunden  Leben  auch  unsere  Traumerinnerungen  eine  sehr 
geringe  Festigkeit  darbieten.  Sie  erreichen  ja  an  und  für  sich 
keine  große  Lebhaftigkeit  und  versinken  in  der  Regel  außerordent- 
lich schnell.  Namentlich  Worte  und  Reden  aus  dem  Traume  sind 
wir  gewöhnUch  auch  dann  nicht  imstande,  wirklich  zu  behalten, 
wenn  wir  sie  uns  schon  im  Halbwachen  durch  mehrfache  Wieder- 
holung einzuprägen  versucht  haben. 

Da  schwere  Bewußtseinstrübungen  in  der  Regel  zeitlich  ziem- 
lich scharf  umgrenzt  zu  sein  pflegen,  so  kann  auch  die  Merk- 
fähigkeit nur  für  einen  bestimmten  Zeitabschnitt  herabgesetzt 
oder  aufgehoben  sein.  Auf  diese  Weise  entstehen  Erinnerungs- 
lücken, aus  denen  meist  auf  eine  Aufhebung  des  Bewußtseins 
während  des  betreffenden  Zeitabschnittes  zurückgeschlossen  wird. 
Ja,  streng  genommen  ist  die  Erinnerungslosigkeit,  die  Amnesie, 
fast  der  einzige  Anhaltspunkt,  welcher  uns  mit  einiger  Sicher- 
heit die  Annahme  einer  vorangegangenen  Bewußtlosigkeit  ge- 
stattet. Allein  die  tägliche  Erfahrung  des  Vergessens  von  Träu- 
men, an  die  wir  bisweilen  nur  durch  einen  zufälligen  Eindruck 
wieder  erinnert  werden,  zeigt  uns,  daß  sehr  wohl  ein  psychisches 
Leben,  also  Bewußtsein,  bestehen  kann,  ohne  daß  doch  die 
Spuren  der  Eindrücke  und  Vorstellungen  fest  genug  im  Gedächt- 
nisse haften,  um  ohne  Schwierigkeit  eine  Wiedererneuerung  zu 
gestatten.  Ganz  ähnlich  sind  sicherlich  jene  Bewußtseinsstörungen 
der  Epilepsie,  vieler  Delirien,  des  schweren  Rausches,  des  Hyp- 
notismus  zu  beurteilen,  in  denen  die  klinische  Beobachtung  häufig 
genug  unzweideutige  Anzeichen  psychischer  Tätigkeit  aufzufinden 
vermag,  obgleich  nachher  nicht  die  mindeste  Erinnerung  an  sie 
besteht  oder  wachgerufen  werden  kann.  Für  diese  Auffassung  sind 
besonders  wichtig  die  bisweilen  beobachteten  Fälle,  in  denen  un- 
mittelbar beim  Abklingen  der  Störung  noch  eine  gewisse,  späterhin 
rasch  schwindende  Erinnerung  an  das  Vorgefallene  möglich  ist,  oder 
in  denen  sie  durch  die  Hypnose  wieder  wachgerufen  wird,  wie  das 
namentlich  bei  den  Erinnerungslücken  der  Hysterischen,  bisweilen 
auch  der  Epileptiker  möglich  ist. 

Unter  Umständen  kann  durch  gewisse  krankhafte  Vorgänge 
nachträglich  auch  noch  dauernd  oder  vorübergehend  die  Erinne- 
rung an  Zeiten  ausgelöscht  werden,   in  denen  zweifellos  keine 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


Bewußtseinsstörung  bestand.  Eine  solche  „retrograde  Amnesie"^), 
ein  rückschreitender  Erinnerungsverlust,  wird  nach  epileptischen, 
hysterischen,  eklamptischen,  paralytischen  Anfällen,  nach  Kopf- 
verletzungen, Erhängungsversuchen  und  Vergiftungen  beobachtet. 
Die  Kranken  wissen  sich  nicht  nur  an  den  betreffenden  Vorfall, 
sondern  auch  an  die  Ereignisse  in  den  Stunden,  Tagen  und  selbst 
Wochen  vorher  nicht  mehr  zu  erinnern.  Bisweilen  taucht  später- 
hin allmählich  die  Erinnerung  mit  oder  ohne  suggestive  Nach- 
hilfe wenigstens  teilweise  wieder  auf;  in  anderen  Fällen  ist  sie 
für  immer  verloren  gegangen.  Sibelius  konnte  für  die  aus- 
geprägten retrograden  Amnesien  nach  Kohlenoxydvergiftung  fest- 
stellen, daß  sie  sich  nach  kurzer  Bewußtlosigkeit  regelmäßig  mit 
Merkstörungen  verbanden,  nach  längerer  Dauer  aber  ohne  solche 
auftraten.  Er  nimmt  an,  daß  in  längerer  Frist  sich  die  zunächst 
einsetzende  Störung  des  Einprägungsvorganges  wieder  ausgleiche 
und  daher  nur  die  Auslöschung  der  unmittelbar  vorher  erwor- 
benen Erinnerungsbilder  zurückbleibe.  Wenn  die  retrograde  Am- 
nesie so  häufig  und  nach  bestimmten  Schädigungen  fast  regel- 
mäßig beobachtet  wird,  so  spricht  das  dafür,  daß  die  feste  Ein- 
fügung neuer  Eindrücke  in  unseren  Gedächtnisschatz  weit  län- 
gerer Zeit  bedarf,  als  wir  zumeist  annehmen.  Wir  erinnern  uns 
hier  daran,  daß  unmittelbar  nach  der  Aufnahme  zahlreicher  neuer 
Eindrücke,  etwa  nach  einem  Konzert,  deren  Sichtung  und  Wie- 
dergabe weniger  leicht  zu  fallen  pflegt,  als  nach  einer  Zwischen- 
zeit ruhiger  Sammlung;  auch  der  später  zu  erwähnende  An- 
schluß assoziierender  Erinnerungsfälschungen  an  ein  Erlebnis  nach 
längerer  Zwischenzeit  deutet  darauf  hin,  daß  dieses  letztere  erst 
allmählich  beginnt,  Wirkungen  auszuüben. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  wäre  es  erklärlich,  daß  eine 
plötzliche  schwere  Hirnschädigung  nicht  nur  die  Auffassung  und 
Einprägung  neuer  Eindrücke  unmöglich  macht,  sondern  auch  die 
noch  nicht  genügend  befestigten  Erfahrungen  der  allerletzten 
Zeit  beeinträchtigt  oder  zerstört.  Allerdings  wird  eine  derartige 
Erklärung  für  sehr  weit  zurückreichende  Amnesien  versagen. 
Wenn  Konrad  einen  Fall  berichtet,  in  dem  nach  seelischer  Er- 
regung der  Inhalt  des  ganzen  bisherigen  Lebens  vergessen  wurde, 


1)  Paul,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXII,  251,  1899. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


17 


258 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


SO  muß  hier  ein  ganz  andersartiger  Vorgang  zugrunde  liegen. 
Offenbar  handelt  es  sich  in  allen  derartigen  Fällen  um  psycho- 
gene Störungen.  Wir  wissen,  daß  durch  lebhafte  gemütliche  Er- 
schütterungen ganze  Gebiete  des  Seelenlebens  aus  dem  Zusam- 
menhange mit  den  Bewußtseinsvorgängen  abgespalten  werden 
können.  Das  bekannteste  Beispiel  dafür  sind  die  hysterischen 
Lähmungen  und  Empfindungsstörungen.  Sie  verhalten  sich  ge- 
nau so,  als  ob  der  Kranke  ,, vergessen"  hätte,  daß  er  einen  Arm, 
eine  rechte  Seite,  ein  Auge  besitzt,  obgleich  sich  nachweisen  läßt, 
daß  Bewegungen  ausgeführt  und  Empfindungen  verwertet  wer- 
den können.  Nach  den  von  Freud  und  seinen  Anhängern  ver- 
tretenen Anschauungen  ist  das  ,, Vergessen"  von  gefühlsstarken 
Erlebnissen  durch  Verdrängung"  auch  bei  nichthysterischen 
Personen  eine  ungemein  häufige  Erscheinung.  Jung  sucht  sogar 
den  Nachweis  zu  führen,  daß  der  Grund  für  den  Ersatz  einer  Asso- 
ziation bei  der  Wiederholung  des  Versuches  durch  eine  andere 
regelmäßig  oder  doch  sehr  vielfach  durch  die  verdrängende  Wir- 
kung eines  gefühlsstarken  ,, Komplexes",  die  Erinnerung  an  ein 
persönliches  Erlebnis,  bedingt  sei.  Ich  halte  diese  Anschauung 
für  viel  zu  weitgehend,  glaube  jedoch,  daß  man  starken  Gemüts- 
bewegungen, wie  sie  die  Auffassung  und  Einprägung  von  Ein- 
drücken hindern,  unter  Umständen  auch  nicht  nur  einen  um- 
wandelnden, sondern  auch  einen  verdrängenden  Einfluß  auf  Er- 
innerungen zugestehen  kann.  Insbesondere  die  sehr  weit  aus- 
gedehnten retrograden  Amnesien  scheinen  mir  eine  solche  Er- 
klärung nahe  zu  legen. 

Wesentlich  verschieden  von  der  Merkfähigkeit  für  gegenJ 
wärtige  ist  die  Erinnerungsfestigkeit  vergangener  Eindrücke.  Sie 
hängt  nicht  nur  von  der  Merkfähigkeit  in  früheren  Zeiten, 
sondern  auch  von  der  Häufigkeit  der  voraufgegangenen  Wieder- 
holungen, endlich  von  der  Zähigkeit  des  Gedächtnisses  im  all- 
gemeinen ab.  Wir  pflegen  die  Gedächtnisfestigkeit  zumeist  nach 
der  Sicherheit  zu  beurteilen,  mit  welcher  früher  gut  eingelernte 
Kenntnisse  noch  zur  Verfügung  stehen,  Lernstoff  aus  der  Schule, 
wichtige  persönliche  Erinnerungen  und  ähnliches.  Wie  die  Erfah- 
rung lehrt,  pflegt  Herabsetzung  der  Gedächtnisfestigkeit,  Gedächt- 
nisschwäche, gewöhnlich  mit  einer  Verminderung  der  Merk- 
fähigkeit einherzugehen,  nicht  aber  umgekehrt.    Die  Merkfähig- 


Störungen  des  Gedächtnisses.  259 

keit  ist  beeinträchtigt  ohne  Gedächtnisschwäche  bei  den  vor- 
übergehenden Bewußtseinstrübungen.  Ferner  beobachten  wir  ein 
Mißverhältnis  zwischen  starker  Störung  der  Merkfähigkeit  und 
weit  geringerer  Gedächtnisschwäche  namentUch  im  höheren  Alter, 
Die  Auffassung  neuer  Eindrücke  geschieht  hier  gewohnheitsmäßig 
ohne  rechte  innere  Anteilnahme,  und  die  Erneuerungsfähigkeit 
bleibt  daher  für  sie  eine  beschränkte,  während  so  oft  die  Erinne- 
rungen aus  vergangener  Zeit,  nicht  mehr  verdrängt  durch  frischen 
Erwerb,  mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit  und  Treue  im  Vorstel- 
lungsverlaufe wiederkehren.  Mit  dieser  Erfahrung  steht  die  Tat- 
sache in  bestem  Einklänge,  daß  von  allen  Vorstellungsverbin- 
dungen, mit  denen  wir  zu  arbeiten  pflegen,  etwa  70%  aus  der 
Jugend  stammen.  In  den  krankhaften  Störungen  des  Greisen- 
alters tritt  das  geschilderte  Verhalten  oft  recht  auffallend  her- 
vor, wenn  auch  mit  fortschreitender  Verblödung  mehr  und  mehr 
die  früheren  Erinnerungen  gleichfalls  verblassen.  Ähnlich  kann 
in  der  Paralyse  die  Merkfähigkeit  zunächst  sehr  viel  stärker  ge- 
stört sein,  bis  sich  später  auch  eine  rasch  zunehmende  Gedächtnis- 
schwäche hinzugesellt.  Bei  der  Korssakowschen  Geistesstörung 
kann  die  Erinnerungsschwäche  sich  bis  zu  einem  bestimmten  Lebens- 
abschnitte zurückerstrecken,  während  der  Erwerb  der  früheren 
Zeit  ungestört  haftet. 

Nur  kurz  erwähnt  soll  hier  noch  werden,  daß  außer  den  zeit- 
lich begrenzten  Erinnerungslücken  bekanntlich  auch  der  Verlust 
bestimmter  Gruppen  von  Vorstellungen  beobachtet  wird, 
ein  Vorgang,  dessen  bestgekannte  Beispiele  die  Worttaubheit  und 
die  Seelenblindheit  darstellen.  .  Wolff  hat  Fälle  beschrieben,  in 
denen  anscheinend  gewisse  Klassen  sinnlicher  Erinnerungsbilder 
verloren  gegangen  waren,  während  die  Allgemeinvorstellungen 
fortbestanden.  Äußerst  merkwürdige  Beispiele  ganz  umschriebenen 
Vorstellungsausfalls  hat  ferner  Rieger  bei  der  Untersuchung  eines 
Falles  von  schwerer  Hirnverletzung  beobachtet.  Die  Deutung  solcher 
Erfahrungen  ist  außerordentlich  schwierig.  Beachtenswert  erscheint 
es,  daß  auch  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  das  Gedächtnis  für 
verschiedene  Gruppen  von  Vorstellungen  bei  einzelnen  Personen 
sehr  verschieden  entwickelt  ist.  Das  Orts-,  Zahlen-  und  Namen-, 
Farben-,  Tonhöhen-,  Formengedächtnis  sind  anscheinend  in  hohem 
Maße  voneinander  unabhängig.    Manche   Erfahrungen  sprechen 

17* 


26o 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


ferner  dafür,  daß  die  verschiedenartigen  Bestandteile  der  Vor- 
stellungen, wie  sie  von  den  einzelnen  Sinnesgebieten  und  sprach- 
lichen Ausdrucksformen  geliefert  werden,  mit  verschiedener  Festig- 
keit haften  können,  so  daß  schließlich  auch  eine  allgemeinere 
Störung  je  nach  der  besonderen  Zusammensetzung  der  gegebenen 
Vorstellung  eigentümlich  begrenzte  Ausfallserscheinungen  zur  Folge 
haben  könnte. 

Sehr  quälend  ist  zuweilen  ein  eigentümliches  Verblassen  der 
Erinnerungsbilder,  das  von  den  Kranken  als  Gedächtnisschwäche 
aufgefaßt  wird,  obgleich  sich  zeigen  läßt,  daß  Festigkeit  und 
Treue  der  Erinnerung  durchaus  keine  Einbuße  erlitten  haben.  Die 
Kranken  klagen  darüber,  daß  sie  sich  nichts  ,, vorstellen",  sich 
kein  Bild  von  wohlbekannten  früheren  Erlebnissen,  Personen, 
Gegenden  machen  könnten.  Die  Störung  findet  sich  sehr  ausge- 
prägt in  oder  nach  zirkulären  Depressionen  und  läßt  sich  viel- 
leicht mit  der  dort  bestehenden  Denkhemmung  in  Verbindung 
bringen.  Auch  von  Psychopathen  hört  man  ähnliche  Klagen, 
denen  ebenfalls  versteckte  ängstliche  Denkhemmungen  zugrunde 
liegen  könnten.  Damit  steht  wohl  auch  das  Gefühl  des  ,, Fremd- 
seins" in  Beziehung,  das  Fehlen  der  ,,Bekanntheitseigenschaft" 
bei  den  äußeren  Eindrücken,  dem  wir  öfters  bei  denselben  Kranken 
begegnen.  Die  Wahrnehmungen  finden  keinen  Widerhall  in  ihrem 
Inneren  und  gewinnen  deswegen  keine  Beziehungen  zum  eigenen 
Seelenleben. 

Von  großer  wissenschaftlicher  und  praktischer  Bedeutung  sind 
jene  mannigfaltigen  und  erheblichen  Störungen,  welche  die  Treue 
der  Erinnerung,  die  inhaltliche  Übereinstimmung  des  Gedächtnis- 
bildes mit  der  vergangenen  Erfahrung,  bei  Geisteskranken  dar- 
bieten kann.  Wir  wissen  aus  Versuchen  wie  aus  alltäglichen  Er- 
fahrungen, daß  selbst  die  allereinfachsten  Erinnerungsbilder  schon 
unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  niemals  vollständig  den  Wahr- 
nehmungen gleichen,  sondern  sofort,  eben  durch  die  Aufbewahrung 
im  Gedächtnisse  und  die  Einordnung  in  den  sonstigen  Bewußtseins- 
inhalt, sehr  beträchtliche  Wandlungen  durchzumachen  pflegen. 
Man  denke  nur  daran,  wie  klein  dem  Erwachsenen  nach  langer 
Abwesenheit  die  Größenverhältnisse  erscheinen,  die  ihm  als  Kind 
Eindruck  machten.  Mit  der  Veränderung  des  allgemeinen  Größen- 
maßstabes ist  hier  auch  das  Erinnerungsbild  unvermerkt  gewachsen, 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


261 


SO  daß  dann  der  Widerspruch  desselben  mit  der  Wirklichkeit  völlig 
überraschend  wirkt.  Aber  auch  schon  die  einfache  Schilderung 
eines  und  desselben  Erlebnisses  durch  verschiedene  Personen  oder 
durch  dieselbe  Person  zu  verschiedenen  Zeiten^)  lehrt,  daß  die 
Erinnerung  nichts  weniger  ist,  als  ein  treues  Abbild  der  Wirklich- 
keit. Sehr  wichtig  ist  dabei  der  Umstand,  daß  die  innere  Sicherheit 
der  Wiedergabe  durchaus  nicht  von  der  Übereinstimmung  mit  dem 
Urbilde  abhängig  ist.  Völlig  frei  erfundene  Züge  können  von  dem 
Gefühle  der  zuverlässigen  Erinnerungen  begleitet  sein,  während 
wirkliche  Gedächtnisspuren  vielleicht  unsicher  erscheinen.  Ja, 
nicht  selten  läßt  sich  nachweisen,  daß  gerade  solche  Einzelheiten, 
die  mit  besonderer  Klarheit  in  der  Erinnerung  hervortreten,  nicht 
der  Wirklichkeit  entsprechen.  Diese  Erfahrung  mahnt  zur  Vor- 
sicht bei  der  Annahme  einer  ,,Hypermnesie",  einer  krankhaften 
Steigerung  der  Erinnerungsfähigkeit.  Wenn  sich  auch  einzelne 
Ereignisse  mit  sehr  starker  Gefühlsbetonung  unter  Umständen 
sehr  fest  einprägen  und  mit  quälender  Deutlichkeit  wieder  her- 
vortreten können,  wird  man  bei  auffallend  ins  einzelne  gehender 
Erinnerung  in  der  Regel  mit  Fälschungen  zu  rechnen  haben. 
Nur  auf  ganz  umschriebenen  Gebieten  kommen  wirklich  abnorm 
hohe  Gedächtnisleistungen  vor,  besonders  beim  Behalten  von 
Namen,  Zahlen,  Zeitangaben,  vielfach  bei  sonst  sehr  geringen 
geistigen  Anlagen.  So  vermögen  die  großen  Rechner^)  sich  4  bis 
7  mal  so  viel  Ziffern  nach  einmaligem^^Anhören  einzuprägen  wie 
andere  Menschen,  bald  in  Gesichts-,  bald  in  Gehörsvorstellungen. 

Durch  die  krankhaften  Veränderungen  der  psychischen  Per- 
sönlichkeit werden  sehr  häufig  nachträglich  auch  die  Erinnerungen 
aus  der  Vergangenheit  verfälscht.  In  besonders  hohem  Maße  ge- 
schieht das  durch  gemütliche  Einflüsse,  namentlich  durch  die 
Regungen  der  Eigenliebe.  Bei  Menschen  mit  lebhafter  Einbildungs- 
kraft und  ausgeprägtem  Selbstgefühl  erfahren  die  früheren  Er- 
lebnisse ganz  unvermerkt  sehr  tiefgreifende  Wandlungen  in  dem 
Sinne,  daß  allmählich  die  eigene  Person  immer  mehr  in  den  Vor- 
dergrund rückt.  Die  Schatten  verwischen  sich,  und  das  Licht  der 
eigenen  Vortrefflichkeit  strahlt  heller  und  heller.  Unter  Umständen 

1)  Stern,  Zur  Psychologie  der  Aussage.  1902;  Beiträge  zur  Psychologie 
der  Aussage,  Zeitschrift. 

2)  Binet,  Psychologie  des  grands  calculateurs  et  joueurs  d'6checs.  1894. 


202 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


kann  es  bei  diesem  unwillkürlichen  Bestreben  nach  Selbstverherr- 
lichung geradezu  bis  zur  Erfindung  oder  doch  sehr  freien  Aus- 
schmückung wirkungsvoller  Geschichten  kommen,  die  am  Ende  vom 
Erzähler  selbst  nahezu  für  wahr  gehalten  werden,  wie  bei  den 
Münchhausiaden  und  dem  Jägerlatein.  Sehr  hübsch  hat  Daudet 
diesen  Vorgang  bekanntlich  in  seinem  ,,Tartarin"  geschildert. 
Kinder,  bei  denen  die  Einbildungskraft  lebendig  und  die  Selbst- 
kritik noch  unentwickelt  ist,  neigen  sehr  zur  Erdichtung  oder  Um- 
dichtung  von  Erlebnissen  ohne  Bewußtsein  der  Fälschung  und 
werden  durch  äußere  Einwirkungen  darin  ungemein  leicht  beein- 
flußt; sie  sind  daher  als  Zeugen  vor  Gericht  völlig  unbrauchbar. 
Nicht  selten  verschwindet  die  Unzuverlässigkeit  ihrer  Erzählungen, 
die  meist  als  Lügenhaftigkeit  aufgefaßt  wird,  erst  mit  dem  Ein- 
tritt der  geistigen  und  sittlichen  Reife;  bei  den  ausgeprägt  krank- 
haften Lügnern  bleiben  die  Aussagen  dauernd  ein  auch  für  sie 
selbst  nicht  entwirrbares  Gemisch  von  Dichtung  und  Wahrheit. 

Auch  bei  anderen  Kranken  begegnen  uns  vielfach  Verfäl- 
schungen der  Erinnerung.  Dem  Deprimierten  erscheint  sein  ganzes 
Vorleben  als  eine  Kette  von  trüben  Erfahrungen  oder  schlechten 
Handlungen;  der  Verfolgungs-  und  der  Größenwahn  werfen  ihren 
Schatten  zurück  auf  frühere  Zeiten  und  lassen  den  Kranken  schon 
in  der  Jugend  die  Andeutungen  eines  feindseligen  Verhaltens  seiner 
Umgebung,  auffallender  Beachtung  durch  hochgestellte  Personen 
oder  hervorragender  Leistungsfähigkeit  auf  den  verschiedensten 
Gebieten  menschlichen  Könnens  ausfindig  machen. 

In  der  Regel  handelt  es  sich  dabei  nur  um  ,,Paramnesien", 
um  teilweise  Vermischung  wirklicher  Erlebnisse  mit  eigenen 
Zutaten,  also  um  einen  Vorgang,  der  in  gewissem  Sinne  etwa 
den  Illusionen  entsprechen  würde.  Bisweilen  jedoch  kommt  es 
auch  zu  ,, Halluzinationen  der  Erinnerung"  (SuUy),  zu 
völlig  freier  Erfindung  scheinbarer  Reminiszenzen,  denen  gar 
kein  Vorbild  in  der  Vergangenheit  entspricht i).  So  können  wir 
uns  im. Traume  an  Vorkommnisse  mit  voller  Deutlichkeit  erinnern, 
die  niemals  stattgefunden  haben;  ferner  sind  wir  imstande,  der- 

1)  Kraepelin,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XVII  u.  XVIII;  Behr,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  LVI,  918;  Bernard-Leroy,  l'illusion  de  fausse  reconnaissance. 
1898;  Coriat,  American  Journal  of  neurology  and  psychiatry,  1904,  577;  Albes, 
De  l'illusion  de  fausse  reconnaissance.  1906. 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


263 


artige  Erinnerungsfälschungen  durch  Einreden  in  der  Hypnose 
zu  erzeugen;  hier  und  da  geUngt  es  auch  in  epileptischen  oder 
hysterischen  Dämmerzuständen.  Sehr  abenteuerliche  Erinnerungs- 
fälschungen pflegen  die  Kranken  mit  Dementia  phantastica  vor- 
zubringen. Sie  erzählen  von  fabelhaften  Reisen,  die  sie  gemacht, 
wunderbaren  Erlebnissen,  gewaltigen  Kämpfen,  die  sie  überstanden, 
schrecklichen  Verwundungen,  die  sie  erlitten  haben,  und  lassen  sich 
durch  Zwischenfragen  und  Einwürfe  zu  vielfach  einander  wider- 
sprechenden Einzelangaben  verleiten.  Meist  liegen  solche  Erlebnisse 
Jahre,  selbst  Jahrhunderte  oder  Jahrtausende  zurück.  Auch  bei 
Paralytikern  ist  das  ,, Konfabulieren",  die  Schilderung  frei  erfundener 
Erlebnisse,  gelegentlich  stark  ausgebildet,  namentlich  aber  bei  der 
Korssakowschen  Geistesstörung  und  der  ihr  in  vielen  Punkten  so 
ähnlichen  Presbyophrenie.  Hier  werden  die  Lücken,  welche  die 
starke  Merkstörung  bedingt,  aus  freien  Stücken  oder  auf  Anregung 
glatt  durch  Erinnerungsfälschungen  ausgefüllt,  die  sich  demgemäß 
bis  in  die  jüngste  Zeit  hinein  erstrecken  können. 

Offenbar  handelt  es  sich  hier  in  der  Regel  um  das  Bedürfnis, 
sich  irgendein  Bild  von  der  Vergangenheit  zu  machen,  die  keine 
wirklichen  Spuren  hinterlassen  hat.  Meist  werden  daher  auch 
alltägliche  Vorgänge  angeführt,  die  sich  recht  wohl  in  der  ge- 
schilderten Weise  hätten  abspielen  können.  Bei  anderen  Kranken 
macht  sich,  im  Zusammenhange  mit  Stimmungen  und  Wahn- 
bildungen, die  Neigung  geltend,  abenteuerliche  Erlebnisse  vor- 
zubringen, die  dann  mit  allen  möglichen  Einzelheiten  ausge- 
schmückt werden.  Bisweilen  sind  selbst  bei  tiefgreifenden  Er- 
innerungslücken nur  durch  starkes  Einreden  dürftige  ,,Verlegen- 
heitskonfabulationen"  zu  erzeugen;  die  Kranken  machen  allge- 
mein gehaltene  Angaben,  um  sich  keine  Blöße  zu  geben  und  sich 
halb  und  halb  über  ihre  Unfähigkeit  hinwegzutäuschen. 

In  manchen  Fällen  werden  die  Erinnerungsfälschungen  nicht 
frei  erzeugt,  sondern  sie  schließen  sich  an  irgendwelche  zufällige 
äußere  Eindrücke  an  (assoziierende  Form).  Die  Kranken  glau- 
ben, einzelne  Personen  oder  Gegenstände  ihrer  Umgebung  früher 
schon  einmal  gesehen  oder  von  ihnen  gehört  zu  haben,  ohne  sie 
doch  auf  wirkliche  Erinnerungsbilder  zu  beziehen.  Sie  verkennen 
daher  jene  Objekte  keineswegs,  wie  das  bei  den  Auffassungsver- 
fälschungen, bei  der  Beeinflussung  von  Wahrnehmungen  durch 


264 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  Erinnerung  der  Fall  war,  sondern  es  vollzieht  sich  hier  der 
umgekehrte  Vorgang:  an  die  vollkommen  scharf  aufgefaßte  Wahr- 
nehmung knüpft  sich  eine  durchaus  erfundene  Erinnerung,  deren 
vermeintliches  Vorbild  gewöhnlich  einige  Monate  oder  seltener 
Jahre  zurückdatiert  wird.  Dabei  pflegt  das  frühere  Erlebnis  meist 
erst  nach  einigen  Stunden  oder  selbst  Tagen  aufzutauchen,  dann 
aber  rasch  volle  Deutlichkeit  zu  gewinnen.  Bisweilen  wird  das 
Urbild  in  den  Traum  zurückverlegt,  so  daß  die  Wirklichkeit  wie 
eine  Erfüllung  des  Traumgesichtes  erscheint.  Behr  weist  darauf 
hin,  daß  in  solchen  Täuschungen  die  Erklärung  für  manche  „Wahr- 
träume" liegen  könne.  Nicht  selten  tritt  die  Störung  einige  Wochen 
oder  Monate  hindurch  in  gehäuftem  Maße  hervor;  Neißer  glaubt 
sie  daher  auf  Erregungsvorgänge  zurückführen  zu  dürfen. 

Die  letzte  Form  der  Erinnerungsfälschung,  der  wir  hier  noch 
zu  gedenken  haben,  ist  am  besten  von  Sander  beschrieben 
worden.  Schon  im  gesunden  Leben  begegnet  es  uns  bisweilen, 
namentlich  in  der  Jugend  und  im  Zustande  einer  gewissen  Ab- 
spannung, daß  sich  uns  in  irgendeiner  Lage  plötzlich  die  Vor- 
stellung aufdrängt,  als  hätten  wir  dieselbe  schon  einmal  in  ganz 
derselben  Weise  erlebt.  Zugleich  haben  wir  eine  dunkle  Ahnung 
dessen,  was  nun  voraussichtlich  kommen  wird,  ohne  uns  jedoch 
ein  klares  Bild  davon  machen  zu  können.  In  der  Tat  scheint  uns 
irgendein  alsbald  eintretendes  Ereignis  wirklich  unsere  Ahnung 
zu  erfüllen.  Auf  diese  Weise  stehen  wir  eine  kurze  Zeitlang  ge- 
wissermaßen als  untätige  Zuschauer  dem  eigenen  Vorstellungs- 
verlaufe gegenüber,  der  in  unbestimmten  Andeutungen  dem  wirk- 
lichen Gange  der  Dinge  vorauseilt,  bis  plötzlich  die  ganze  Er- 
scheinung verschwindet.  Gefühle  einer  peinlichen  Unsicherheit  und 
Spannung  pflegen  sich  regelmäßig  mit  derselben  zu  verknüpfen. 

In  sehr  ausgeprägter  Weise  wird  diese  Störung  hier  und  da 
unter  krankhaften  Verhältnissen,  besonders  bei  Epileptikern  im 
Zusammenhange  mit  den  Anfällen,  beobachtet.  Was  sie  von 
den  früher  genannten  Formen  der  Erinnerungsfälschung  unter- 
scheidet, ist  die  völlige  Gleichheit  der  gesamten  Situation, 
unter  Einschluß  der  eigenen  Person,  mit  einer  anscheinenden 
Erinnerung  (identifizierende  Form).  Während  dort  einzelne  Ein- 
drücke als  von  früher  her  mittelbar  oder  häufiger  unmittelbar 
bekannt  aufgefaßt  werden,  ist  hier  die  ganze  Lage  mit  allen  Ein- 


Störungen  der  Orientierung.  265 

zelheiten  vermeintlich  nur  das  getreue  Abbild  eines  völlig  gleichen 
Erlebnisses  aus  der  eigenen  Vergangenheit.  So  kommt  es,  daß 
in  den  recht  seltenen  Fällen,  in  denen  sich  diese  Fälschung  Wochen, 
Monate,  ja  durch  Jahrzehnte  hindurch  fortspinnt,  mit  einer  ge- 
wissen Notwendigkeit  in  dem  Kranken  die  Vorstellung  erzeugt 
wird,  daß  er  ein  sich  selbst  wiederholendes  Doppelleben  führe. 
Pick  hat  sogar  einen  Fall  beschrieben,  bei  dem  eine  Vervielfachung 
der  Erinnerung  eintrat.  Die  Grundlage  dieser  Störung  ist  durch- 
aus dunkel.  Möglich  ist  es,  daß  . bisweilen  wirkliche  verschwommene 
Erinnerungen,  namentlich  aus  Träumen,  auf  Grund  entfernter 
Ähnlichkeiten  mit  der  vielfach  nur  in  allgemeinen  Umrissen  auf- 
gefaßten gegenwärtigen  Situation  fälschlich  in  Verbindung  ge- 
bracht werden,  doch  spricht  die  Häufigkeit,  mit  der  sonst  Erinne- 
rungsfälschungen ganz  frei  entstehen,  wenig  für  diese  Erklärung. 
Die  unangenehmen  Erwartungsgefühle  lassen  sich  wohl  am  wahr- 
scheinlichsten auf  das  vergebliche  Ringen  nach  einer  deutlichen 
Auffassung  des  verschwommenen  Bewußtseinsinhaltes  zurückführen. 

Störungen  der  Orientierung.  Die  fortlaufende  geistige  Verarbei- 
tung der  Lebensereignisse  hat  die  Folge,  daß  wir  uns  dauernd  über 
die  jeweilige  allgemeine  Lage,  in  der  wir  uns  befinden,  und  über 
ihre  Entwicklung  aus  vergangenen  Ereignissen  Rechenschaft  zu 
geben  vermögen.  Diese  Klarheit  der  Beziehungen  zur  gegenwärtigen 
Umgebung  wie  zur  Vergangenheit  bezeichnen  wir  als  Orien- 
tierungi).  Natürlich  haben  wir  es  dabei  mit  einer  recht  verwickel- 
ten geistigen  Leistung  zu  tun,  an  deren  Zustandekommen  die  ver- 
schiedensten Gebiete  unseres  Seelenlebens  beteiligt  sind.  Zunächst 
entwickelt  sich  die  zeitliche  Ordnung  unserer  Erfahrungen  aus 
der  ununterbrochenen  und  allseitigen  Verknüpfung,  welche  durch 
das  Gedächtnis  zwischen  allen  gleichzeitigen  und  unmittelbar  auf- 
einanderfolgenden Vorgängen  in  unserem  Bewußtsein  stetig  her- 
gestellt wird.  Auf  diese  Weise  ordnet  sich  die  ganze  Summe  unserer 
Erinnerungen  in  eine  fortlaufende  Reihe  ein,  deren  Endpunkt  der 
gegenwärtige  Augenblick  bildet,  während  das  Anfangsglied  mehr 
oder  weniger  weit  in  die  Vergangenheit  zurückreicht.  Nur  die  jüng- 
sten Bestandteile  dieser  Reihe  sind  jeweils  in  größerer  Vollständig- 
keit und  Klarheit  Inhalt  unseres  Gedächtnisses;  je  weiter  wir  nach 


^)  Finzi,  Rivista  di  patologia  nervosa  e  mentale,  IV,  8.  1899. 


266 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


rückwärts  gehen,  desto  mehr  verwischen  sich  die  Einzelheiten,  und 
desto  rascher  schrumpft  die  Reihe  auf  wenige,  besonders  bedeut- 
same Erinnerungstatsachen  zusammen,  an  welche  sich  ein  Ge- 
misch von  Einzelreminiszenzen  in  mehr  oder  weniger  lockerer 
Weise  anknüpft.  Jene  Marksteine  sind  es,  welche  sich  in  bestimmte 
Beziehungen  zu  allgemeineren  Ereignissen,  insbesondere  zur  Zeit- 
rechnung, setzen  und  uns  damit  eine  wenigstens  annähernde 
zeitliche  Ordnung  unserer  Erfahrungen  in  der  Vergangenheit  er- 
möglichen. 

Auch  die  Klarheit  über  den  Ort,  an  dem  wir  uns  befinden, 
ist  zum  Teil  an  die  Leistungen  des  Gedächtnisses  geknüpft.  Einer- 
seits vermögen  wir  mit  Hilfe  früher  erworbener  Erinnerungs- 
bilder die  Einzelheiten  unserer  augenblicklichen  Umgebung  wieder- 
zuerkennen; andererseits  können  uns  die  vorangegangenen  Er- 
eignisse auch  über  eine  uns  sonst  ganz  unbekannte  Umgebung 
Klarheit  verschafft  haben,  wenn  eben  durch  jene  die  Ortsverände- 
rung in  eindeutiger  Weise  vorbereitet  und  von  uns  vorausgesehen 
wurde.  Allerdings  werden  wir  weiterhin  für  die  örtliche  Orien- 
tierung vielfach  auch  der  Auffassung  eine  wesentliche  Rolle  bei- 
zumessen haben.  In  allen  Lebenslagen,  in  denen  wir  nicht  vorher 
wissen,  wohin  wir  kommen,  oder  durch  irgendwelche  Umstände 
in  unserer  Erwartung  getäuscht  worden  sind,  klärt  uns  die  Wahr- 
nehmung regelmäßig  bald  über  die  wirkliche  Lage  auf,  indem 
sie  in  irgendeiner  Weise  die  Anknüpfung  der  neuen  Eindrücke 
an  frühere  Erfahrungen  herstellt.  Freilich  wird  es  sich  dabei 
öfters  nicht  um  eine  einfache  Deckung  der  gegenwärtigen  Um- 
gebung mit  Erinnerungsbildern  handeln,  sondern  das  Verständnis 
der  Umgebung  wird  vielleicht  erst  durch  mehr  oder  weniger  um- 
ständliche Überlegungen  und  Schlüsse  gewonnen.  Ganz  dasselbe 
gilt  für  die  Orientierung  über  die  Personen,  bei  der  ebenfalls  Ge- 
dächtnis, Auffassung  und  Urteil  zusammenwirken  müssen. 

Aus  diesen  Darlegungen  geht  hervor,  daß  die  Orientierung 
unserer  Kranken  durch  sehr  verschiedene  Störungen  beeinträch- 
tigt werden  kann.  Es  empfiehlt  sich  daher  vielleicht,  ganz  all- 
gemein drei  Hauptformen  der  Desorientiertheit  auseinanderzu- 
halten, je  nachdem  die  Ursache  wesentlich  in  krankhaften  Ver 
änderungen  der  Auffassung,  des  Gedächtnisses  oder  des  Urteils 
liegt.    Im  einzelnen  Falle  kann  sich  dabei  recht  wohl  die  Wirkung 


Störungen  der  Orientierung.  267 

mehrerer  dieser  Störungen  miteinander  verbinden.  Ferner  kann 
sich  der  Umfang  der  Störung  entweder  auf  alle  Gebiete  der 
Orientierung  erstrecken  oder  sich  auf  einzelne  Beziehungen  be- 
schränken, so  daß  wir  gänzliche  und  teilweise  Desorientierung 
auseinanderhalten  können. 

Das  Bild  der  Störung  ist  demnach  ein  sehr  verschiedenes, 
um  so  mehr,  als  die  Beeinträchtigung  der  psychischen  Leistungen, 
aus  der  die  Unklarheit  der  Kranken  hervorgeht,  sehr  mannig- 
facher Art  sein  kann.  So  kann  die  Auffassung  der  Umgebung 
dadurch  behindert  sein,  daß  die  Kranken  nicht  die  genügende 
geistige  Regsamkeit  besitzen,  um  die  äußeren  Eindrücke  zu  ver- 
arbeiten, durch  eine  Denkhemmung,  durch  Trübung  des  Bewußt- 
seins mit  oder  ohne  Verfälschung  der  Wahrnehmung.  Der  erste 
Fall  ist  sehr  häufig  in  der  Dementia  praecox.  Bei  dieser  apa- 
thischen Desorientierung  fehlt  den  Kranken,  obgleich  sie  ohne 
Schwierigkeit  wahrnehmen,  jede  Neigung,  sich  über  die  Bedeu- 
tung dessen,  was  sie  sehen  und  hören,  Rechenschaft  zu  geben, 
so  daß  sie  sich  nach  Wochen  oft  noch  nicht  darum  gekümmert 
haben,  wo  sie  sich  befinden,  wer  die  Personen  ihrer  Umgebung 
sind,  wie  lange  Zeit  verflossen  ist.  Nur  scheinbar  ähnlich  ist  die 
Wirkung  der  Denkhemmung,  wie  sie  uns  im  manisch-depressiven 
Irresein  begegnet.  Hier  wird  die  zusammenhängende  Auffassung 
der  Umgebung  durch  die  Erschwerung  der  Denkarbeit  verhindert, 
so  daß  der  Zustand  der  Ratlosigkeit  entsteht.  Die  Kranken 
nehmen  wohl  Einzelheiten  wahr,  vermögen  sich  aber  aus  ihnen 
kein  Bild  ihrer  Lage  zusammenzusetzen.  Ähnlich  ist  vielleicht  die 
Desorientierung  bei  heftiger  manischer  Erregung  zu  beurteilen, 
die  ebenfalls  regelmäßig  mit  starker  Erschwerung  der  Auffassung 
und  der  Verarbeitung  äußerer  Eindrücke  einhergeht.  Auch  die 
verschiedenen  Formen  der  Bewußtseinstrübung,  wie  sie  bei  Herd- 
erkrankungen, bei  der  Epilepsie,  im  Rausche  beobachtet  werden, 
bedingen  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Beeinträchtigungen  der 
Orientierung.  In  den  deliriösen  Zuständen,  die  uns  als  selbständige 
Krankheitsbilder  hauptsächlich  bei  Infektionen  und  Vergiftungen 
sowie  bei  der  Epilepsie  und  Hysterie  begegnen,  tragen  außer  der 
Unklarheit  der  Auffassung  noch  wirkliche  Trugwahrnehmungen 
dazu  bei,  das  Bild  der  Umgebung  zu  trüben  und  zu  verfälschen. 
Wenn  man  will,  kann  man  alle  diese  Formen  der  Desorientiert- 


268 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


heit  als  stuporöse,  deliriöse,  halluzinatorische  auseinander- 
halten, doch  wird  man  immer  zu  bedenken  haben,  daß  im  ein- 
zelnen Krankheitsfalle  die  Entstehung  der  Störung  gewiß  nie- 
mals ganz  einheitlich,  sondern  stets  durch  das  Zusammenwirken 
verschiedener  Ursachen  bedingt  ist. 

Ein  gutes  Beispiel  dafür  gibt  die  Desorientiertheit  im  Delirium 
tremens.  Hier  bestehen  Sinnestäuschungen  und  eine  Auffassungs- 
störung. Dennoch  ist  das  Mißverhältnis  zwischen  der  Besonnen- 
heit der  Kranken  und  ihrer  völligen  Unklarheit  über  ihre"  ganze 
Lage  höchst  auffallend.  Zum  Teil  mag  hier  wohl  der  Umstand 
eine  Rolle  spielen,  daß  die  Auffassung  der  Lautsprache  weit  we- 
niger gestört  ist,  als  diejenige  von  Gesichtseindrücken,  die  eher 
bei  der  Orientierung  von  besonderer  Wichtigkeit  sind.  Allein  dk 
Kranken  kommen  auch  dann  nicht  zur  Klarheit,  wenn  man  si« 
über  ihre  Lage  eingehend  unterrichtet,  obgleich  sie  diese  Aus- 
einandersetzung ganz  gut  verstehen.  Die  inneren  deliriösen  Er- 
lebnisse verdrängen  rasch  wieder  die  Wirkung  der  aufklärender 
Worte.  Dazu  kommt,  daß  der  Inhalt  dieser  letzteren,  wie  dei 
wirklichen  Wahrnehmung  überhaupt,  nicht  haftet,  sondern  sehi 
bald  einfach  vergessen  wird.  Durch  diesen  letzteren  Umstanc 
wird  besonders  die  kennzeichnende  Unklarheit  über  die  Erleb- 
nisse und  die  zeitlichen  Verhältnisse  der  jüngsten  Vergangenheil 
erzeugt. 

In  denjenigen  Fällen,  in  denen  sich  an  das  Delirium  tremens 
die  Korssakowsche  Krankheit  anschließt,  tritt  die  amnestische 
Desorientiertheit,  wie  wir  sie  etwa  bezeichnen  können,  immei 
mehr  in  den  Vordergrund,  da  die  Störung  der  Auffassung,  die 
Sinnestäuschungen,  die  Delirien  sich  ganz  oder  bis  auf  geringe 
Reste  verlieren  können.  Demgemäß  werden  die  Kranken  meisl 
über  ihre  Umgebung  und  ihre  Lage  klar,  vermögen  sich  abei 
durchaus  nicht  in  der  Zeit  zurechtzufinden.  Sie  wissen  nicht 
wann  sie  in  die  Anstalt  gekommen  sind,  wann  sie  zuletzt  Besuch 
gehabt,  ja  wann  sie  zu  Mittag  gegessen  haben,  da  die  Eindrücke 
bei  ihnen  zu  locker  haften,  um  sich  zu  jener  festgegliederten  Reihe 
aneinanderschließen  zu  können,  welche  dem  rückschauender 
Blicke  die  Abschätzung  der  zeitlichen  Entfernung  von  der  Gegen- 
wart gestattet.  Ähnlich  wie  wir  uns  nach  einförmigen,  reizlosen 
Wochen  des  letzten  bedeutsamen  Ereignisses  entsinnen,  als  sei  es 


Störungen  der  Orientierung. 


269 


„erst  gestern"  gewesen,  so  erscheinen  diesen  Kranken  die  Mo- 
nate, die  keine  bleibende  Spur  in  ihrer  Erinnerung  zurückgelassen 
haben,  wie  wenige  Tage.  Oder  aber  die  Bilder  der  letzten  Ver- 
gangenheit verblassen  so  schnell,  daß  sie  ihnen  weit  zurückzuliegen 
scheinen  und  die  Kranken  sich  schon  Monate  in  der  Umgebung 
glauben,  in  die  sie  gerade  erst  eingetreten  sind.  Das  gewohnte  Maß 
des  Wechsels  der  Tageszeiten,  das  uns  vor  dem  unwillkürlichen 
Schätzungsfehler  bewahrt,  hinterläßt  hier  keine  Spuren,  welche  eine 
zeitliche  Entfernungsschätzung  ermöglichen  könnten.  Auf  der 
anderen  Seite  wird  sie  durch  das  Auftauchen  von  Erinnerungs- 
fälschungen ganz  besonders  erschwert. 

Noch  stärker  ausgeprägt  kann  die  amnestische  Desorien- 
tierung in  denjenigen  Formen  des  Altersblödsinns  sein,  die  wir 
mit  Wer  nicke  als  Presbyophrenie  bezeichnen.  Die  überaus 
starke  Merkstörung  macht  hier,  wohl  in  Verbindung  mit  einer 
Erschwerung  der  Auffassung,  gewöhnlich  auch  die  geistige  Ver-_ 
arbeitung  der  augenblicklichen  Eindrücke  unmöglich,  so  daß  die 
Kranken  von  ihrer  Umgebung  kein  klares  Bild  zu  gewinnen  ver- 
mögen, obgleich  sie  Einzelheiten  ohne  erhebliche  Schwierigkeit 
verstehen.  Auch  die  bekannte  zeitliche  Desorientierung  der  Pa- 
ralytiker ist  wesentlich  amnestischen  Ursprungs.  Bei  ihnen  haben 
wir  einmal  die  Unfähigkeit,  überhaupt  Zeitangaben  zu  machen 
und  Widersprüche  darin  zu  erkennen,  sodann  aber  die  Unklarheit 
über  die  zeitliche  Ordnung  der  jüngsten  Erlebnisse  auseinander- 
zuhalten. Außer  der  Gedächtnisschwäche  und  der  meist  gar  nicht 
sehr  hochgradigen  Merkstörung  spielt  hier  auch  der  Verlust  der 
geistigen  Regsamkeit  eine  Rolle. 

Als  eine  besondere  Form  der  amnestischen  Desorientierung 
können  wir  endlich  noch  jene  Unklarheit  über  Zeit  und  Umgebung 
betrachten,  die  durch  eine  Erinnerungslücke  erzeugt  wird.  Beim 
Erwachen  aus  dem  Schlafe  oder  aus  einer  Ohnmacht  empfinden 
wir  sofort  das  lebhafte  Bedürfnis,  uns  über  unsere  gesamte  Lage 
klar  zu  werden  und  damit  die  Anknüpfung  an  die  früheren  Er- 
lebnisse wieder  zu  gewinnen.  Haben  sich  inzwischen  eingreifende 
Veränderungen  abgespielt,  so  kann  die  Lösung  dieser  für  gewöhn- 
lich so  einfachen  Aufgabe  recht  schwierig  werden,  zumal  wenn 
zunächst  vielleicht  noch  gewisse  Behinderungen  der  Auffassung 
oder  des  Denkens  fortbestehen.    Aus  diesen  Gründen  sehen  wir 


270 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


nach  länger  dauernden  Zuständen  schwerer  Bewußtseinstrübung 
und  dadurch  bedingten  Erinnerungslücken  sehr  gewöhnlich  eine 
Zeitlang  mangelhafte  Orientierung  andauern.  Unter  Umständen 
kann  dabei  auch  die  Nachwirkung  von  Täuschungen  und  Delirien 
aus  der  abgelaufenen  Störung  mitspielen. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  die  bisher  besprochenen 
Formen,  hat  endlich  die  wahnhafte  Desorientierung.  Hier  ist 
es  nur  die  geistige  Verarbeitung  der  an  sich  richtig  aufgefaßten 
und  eingeprägten  Eindrücke,  die  nicht  zu  einer  Unklarheit,  son- 
dern zu  einer  falschen  Ansicht  über  Zeit  und  Umgebung  führt. 
Eine  bewußte  Überlegung  braucht  dabei  nicht  stattzufinden;  es 
handelt  sich  nur  darum,  daß  sich  die  Kranken  in  ausdrücklichen 
Gegensatz  zum  Augenschein  und  zu  den  Aussagen  ihrer  Um- 
gebung stellen.  Unter  Umständen  können  jedoch  wohl  illusionäre 
oder  halluzinatorische  Wahrnehmungen  den  besonderen  Anstoß 
zu  der  wahnhaften  Deutung  geben.  Hierher  gehören  namentlich 
viele  Personenverkennungen ,  die  Angaben  deprimierter  Kranker, 
sie  seien  im  Gefängnis,  in  der  Hölle,  in  einem  schlechten  Hause, 
die  hartnäckigen  Verschiebungen  von  Tag  oder  Jahreszahl  bei 
paranoiden  Kranken  usf. 

Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe.  Die 
einfachsten  Vorstellungen  enthalten  nur  Bestandteile  aus  einem 
einzigen  Sinnesbereiche.  Mit  dem  Fortschritte  der  geistigen  Aus- 
bildung jedoch  entstehen  immer  verwickeitere  Gebilde ,  deren 
einzelne  Glieder  den  verschiedensten  Gebieten  der  Sinneserfah- 
rung entstammen.  Meistens  ist  dabei  wohl  der  Anteil,  den  die 
einzelnen  Sinne  liefern,  ein  sehr  verschiedener.  Nicht  nur  kommt 
gewissen  Gruppen  von  Wahrnehmungen  für  die  Vorstellungs- 
bildung überhaupt  eine  weit  größere  Bedeutung  zu  als  anderen, 
sondern  es  werden  auch  je  nach  der  persönlichen  Anlage  bald 
mehr  diese,  bald  mehr  jene  Gebiete  der  Sinneserfahrung  bei  diesem 
Vorgange  bevorzugt.  Während  im  Vorstellungsleben  des  einen 
diejenigen  Bestandteile  überwiegen,  die  durch  das  Auge  aufge- 
nommen wurden,  treten  bei  anderen  die  vom  Gehör  oder  durch 
die  Bewegungsempfindungen  gelieferten  Eindrücke  besonders  in 
den  Vordergrund.  Bei  völligem  Ausfall  ganzer  Sinnesgebiete  werden 
auch  die  Vorstellungen  eine  eigentümliche  Einseitigkeit  darbieten 
müssen,  ja,  es  kann  der  Fall  eintreten,  daß  sich  die  gesamten  Vor- 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe.  27 1 

Stellungen  ausschließlich  aus  den  Wahrnehmungen  des  Tast-  und 
Bewegungssinnes  zusammensetzen  müssen.  Auch  in  diesem  Grenz- 
falle ist  übrigens  noch  eine  hohe  Entwicklung  des  Vorstellungs- 
lebens möglich. 

Es  ist  erklärlich,  daß  unvollkommene  Ausbildung  und  ge- 
ringe Nachhaltigkeit  der  sinnlichen  Eindrücke  die  Entwicklung 
zusammengesetzter  Gestaltungen  unserer  Vorstellungstätigkeit  in 
hohem  Grade  beeinträchtigen  müssen.  Die  einzelnen  Wahrneh- 
mungsbestandteile treten  in  keine  näheren  Beziehungen  zueinander 
und  zu  den  früheren  Erfahrungen;  vereinzelt  und  ohne  An- 
knüpfung nach  irgendeiner  Richtung  hin,  gehen  sie  in  dem  unter- 
schiedslosen Gemenge  rasch  und  vollständig  wieder  verloren.  Der- 
artige Zustände  haben  wir  wohl  bei  den  schwersten  Formen  des 
angeborenen  und  erworbenen  Blödsinns  tatsächlich  anzunehmen. 
Hier  findet  vielfach  eine  engere  Verknüpfung  der  einzelnen  Wahr- 
nehmungen überhaupt  nicht  statt.  Die  Glieder  der  Erfahrungs- 
kette schließen  sich  nicht  aneinander,  sondern  jeder  Eindruck 
fällt  rasch,  wie  er  entstanden  war,  ungenutzt  wieder  dem  Ver- 
gessen anheim. 

Mit  der  reicheren  und  vielseitigeren  Ausbildung  der  Vorstel- 
lungen wird  der  Bau  derselben  notwendigerweise  immer  ver- 
wickelter. Die  Zahl  und  die  Verschiedenartigkeit  der  miteinander 
verknüpften  Bestandteile  nimmt  zu,  so  daß  schließlich  der  ganze 
Umfang  eines  derartigen  psychischen  Gebildes  sich  nicht  mehr 
ohne  weiteres,  sondern  nur  bei  der  Betrachtung  von  den  verschie- 
densten Seiten  her  vollständig  ermessen  läßt.  Gleichzeitig  verlieren 
auch  die  Bestandteile  selbst  mehr  und  mehr  ihre  sinnliche  Be- 
stimmtheit, da  sie  nicht  einem  einzelnen  Sinneseindrucke,  sondern 
vielfach  wiederholten  Wahrnehmungen  entsprungen  sind.  Das 
Zufällige  und  Nebensächliche  der  Einzelerfahrungen  verwischt 
sich,  während  das  Wesentliche,  immer  Wiederkehrende  sich  stärker 
ausprägt  und  befestigt.  Auf  diese  Weise  werden  eben  die  ursprüng- 
lichen Erinnerungsbilder  zu  wirklichen  Vorstellungen;  sie  sind  nicht 
mehr  der  einfache  Nachklang  einer  bestimmten  Sinneserfahrung, 
sondern  der  allgemeine  Ausdruck  sämtlicher  Erfahrungen  einer 
gewissen  Art,  die  überhaupt  auf  das  Bewußtsein  eingewirkt  haben. 

Dieser  Punkt  der  Entwicklung  ist  es,  an  welchem  die  sprach- 
lichen Bezeichnungen  ihren  Einfluß  auf  das  geistige  Leben 


Erscheinungen  des  Irreseins. 

ZU  entfalten  beginnen.  Der  Umfang  und  die  Vielseitigkeit  der 
Sachvorstellungen  macht  es  unmöglich,  im  Gedankengange  überall 
den  gesamten  Niederschlag  einer  Erfahrungsreihe  nach  allen 
Richtungen  hin  ins  Bewußtsein  zu  rufen.  Vielmehr  tauchen  beim 
Denken  zunächst  immer  nur  die  am  kräftigsten  entwickelten  Be- 
standteile eines  derartigen  psychischen  Gebildes  auf,  wenn  nicht 
durch  besonderen  Anlaß  andere  Seiten  der  Vorstellung  mehr  in  den 
Vordergrund  gedrängt  werden.  Bei  häufiger  Wiederholung  dieses 
Vorganges  werden  am  Ende  jene  stärker  ausgebildeten  Teile  im 
abgekürzten  Denkverfahren  dauernd  zu  wirklichen  Vertretern  der 
Gesamtvorstellung. 

Diese  Vertretung  kann  an  sich  natürlich  jedem  beliebigen  Be- 
standteile derselben  zufallen.  Auch  hier  bestehen  ohne  Zweifel 
sehr  weitgehende  persönliche  Verschiedenheiten.  Zunächst  werden 
wohl  überall  einzelne  sachliche  Erinnerungsbilder,  bald  aus  diesem, 
bald  aus  jenem  Sinnesgebiete,  diese  Rolle  übernehmen,  ein  Ver- 
halten, das  um  so  länger  und  ausgeprägter  fortbestehen  bleibt, 
je  besser  die  sinnliche  Einbildungskraft  entwickelt  ist.  Im  all- 
gemeinen aber  treten  an  die  Stelle  der  sachlichen  Erinnerungen 
immer  mehr  deren  sprachliche  Zeichen.  Je  umfassender  die  ein- 
zelne Vorstellung  wird,  je  allgemeiner  ihr  Inhalt,  desto  mehr  ver- 
blaßt ihre  sinnliche  Färbung,  desto  größer  wird  das  Gewicht,  welches 
in  ihr  die  immer  in  gleicher  Form  wiederholte  sprachliche  Be- 
zeichnung gewinnt.  Die  höchsten  Entwicklungsformen  der  Ver- 
standestätigkeit pflegen  sich  daher  zum  guten  Teile  ganz  außer- 
halb der  schwerfälligen  Sachvorstellungen  zu  vollziehen  und  nur 
hier  und  da  einmal  das  Gebiet  der  sinnlichen  Erinnerungen  flüch- 
tig zu  streifen.  Wie  es  scheint,  wird  gerade  dadurch  das  willkür- 
liche Denken,  das  beliebige  Heranziehen  von  Vorstellungen  aus 
unserem  Erfahrungsschatze,  wesentlich  erleichtert,  vielleicht  sogar 
erst  ermöglicht.  Das  Auftauchen  rein  sinnlicher  Erinnerungs- 
bilder ist,  wie  das  Beispiel  der  hypnagogischen  Halluzinationen 
zeigt,  von  unserem  Willen  im  allgemeinen  unabhängig,  ähn- 
lich den  wirklichen  äußeren  Eindrücken.  Dagegen  vermögen 
wir  die  an  sie  geknüpften  Sprachbewegungsvorstellungen  jederzeit 
willkürlich  wachzurufen.  Es  wäre  denkbar,  daß  der  ungeheure 
Fortschritt,  den  die  Sprache  für  die  geistige  Entwicklung  be- 
deutet, zu  einem  wesentlichen  Teile  auch   in  der  Anknüpfung 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe.  273 

der  Erinnerungsbilder  an  innere  Willenshandlungen  zu  suchen 
wäre. 

Unter  krankhaften  Verhältnissen  kann  der  hier  geschilderte 
Entwicklungsgang  an  irgendeinem  Punkte  zum  Stillstande  kom- 
men. Bei  unvollkommener  geistiger  Veranlagung  bleibt  die  Aus- 
bildung der  Vorstellungen  auf  der  Stufe  der  sinnlichen  Erinne- 
rungsbilder stehen.  Die  Kranken  haften  an  der  Einzelerfahrung, 
ohne  das  Gemeinsame  aus  verschiedenen  gleichartigen  Eindrücken 
herausschälen  zu  können.  Sie  gewinnen  keinen  kurzen,  geschlos- 
senen Ausdruck  für  größere  Erfahrungsreihen;  das  Unwesent- 
liche scheidet  sich  ihnen  nicht  vom  Wesentlichen,  das  Allgemeine 
nicht  vom  Besonderen.  Das  gesamte  Denken  vermag  sich  daher 
nicht  über  das  Gebiet  des  unmittelbar  sinnlich  Gegebenen  hinaus 
zur  Erfassung  höherer  und  weitblickender  Gesichtspunkte  zu  er- 
heben. Daraus  ergibt  sich  notwendig  die  Beschränkung  der  ge- 
samten Lebenserfahrung  auf  den  nächsten  und  engsten  Kreis,  die 
Unfähigkeit  zur  Ausbildung  allgemeiner  Begriffe,  welche  als  Grund- 
lage  einer  abstrakteren  Gedankenarbeit  zu  dienen  vermöchten. 

Bei  der  großen  Bedeutung,  die  das  vorhandene  Wissen  für 
die  Sammlung  neuer  Erfahrungen  besitzt,  muß  die  mangelhafte 
Ausbildung  von  Allgemeinvorstellungen  das  Anwachsen  des  Vor- 
stellungsschatzes in  sehr  ungünstiger  Weise  beeinflussen.  Frühere 
Erfahrungen  schärfen  unseren  Blick  für  andere  ähnliche  Ein- 
drücke; Neues  wird  weit  leichter  aufgenommen  und  festgehalten, 
sobald  es  sich  an  Bekanntes  anknüpfen,  in  bestehende  Gedanken- 
kreise einordnen  kann.  Je  reicher  der  Vorstellungsschatz  ist, 
desto  aufnahmefähiger  wird  er  für  jede  neue  Bereicherung,  weil 
die  Beziehungen  deg  Seelenlebens  zur  Außenwelt  immer  zahl- 
reichere und  vielseitigere  werden.  So  kommt  es,  daß  die  unvoll- 
kommene Entwicklung  der  Vorstellungen  selbst  zugleich  die  Emp- 
fänglichkeit für  neue  Eindrücke  herabsetzt.  Sie  finden  keine 
Anknüpfung  im  Erfahrungsschatze,  werden  nicht  fest  eingeglie- 
dert und  gehen  daher  rasch  und  leicht  wieder  verloren.  Zu  der 
sinnlichen  Beschränktheit  des  Gedankenganges  gesellt  sich  regel- 
mäßig Enge  des  Gesichtskreises,  Vorstellungsarmut  und  Gedächtnis- 
stumpfheit. 

Natürlich  treten  alle  diese  Störungen  in  ausgeprägter  Form 
nur  dort  hervor,  wo  die  krankhafte  Grundlage  von  Jugend  auf 

KraepeUn,  Psychiatrie  I,    8.  Aufl.  18 


274 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


besteht.  Beim  erworbenen  Schwachsinn  wird  der  Vorrat  früherer 
Erfahrungen  die  Unfähigkeit  zur  Aufnahme  neuer  Eindrücke,  zur 
Bildung  neuer  Vorstellungen  lange  Zeit  hindurch  mehr  oder  we- 
niger vollständig  verdecken  können.  Im  weiteren  Verlaufe  freilich 
wird  man  jene  Störungen  allmählich  immer  deutlicher  sich  geltend 
machen  sehen.  Bei  der  Paralyse,  bei  der  Dementia  praecox,  beim 
Altersschwachsinn  beobachten  wir  in  gleicher  Weise ,  wie  der 
Vorstellungskreis  sich  einengt ,  wie  die  allgemeineren ,  begriff- 
lichen Gedankengänge  zurücktreten  gegenüber  dem  Greifbaren, 
Alltäglichen  und  Naheliegenden.  Neue  Eindrücke  werden  nicht 
mehr  aufgenommen  und  verarbeitet,  und  die  jüngsten  Erfah- 
rungen werden  schnell  vergessen,  auch  wenn  die  Erinnerungen 
aus  vergangenen  Tagen  noch  mit  überraschender  Festigkeit  und 
Treue  haften. 

Kaum  weniger  verderblich,  als  die  mangelnde  Ausbildung  der 
Vorstellungsverbindungen,  pflegt  für  das  Seelenleben  die  krank- 
hafte Beweglichkeit  der  psychischen  Gebilde  zu  werden,  welche 
mit  verwegener  Leichtigkeit  die  verbindende  Brücke  zwischen 
den  verschiedenartigsten  Erfahrungen  zu  schlagen  weiß.  Hier 
genügen  schon  entfernte  Ähnlichkeiten  und  teilweise  Überein- 
stimmungen, um  zwei  Vorstellungen  in  nahe  Beziehungen  zu 
setzen;  der  Mangel  an  Zwischengliedern  wird  rasch  durch  immer 
bereite  Vermutungen  ergänzt,  und  die  Widersprüche  werden  in 
mehr  oder  weniger  freier  Umgestaltung  verwischt.  So  entwickelte 
mir  ein  kranker  Ingenieur  einmal  an  der  Hand  umfangreicher  und 
sehr  eingehender  Zeichnungen  die  Idee,  durch  die  verschieden- 
artige Anordnung  gewisser  schmückender  Bauglieder  ganze  Musik- 
stücke in  übertragener  Form  wiederzugeben  und  auf  diese  Weise 
Auge  und  Ohr  gleichzeitig  künstlerisch  anzuregen.  Eine  solche 
Willkürlichkeit  der  Ideenverbindung  macht  natürlich  bei  der  Be- 
griffsbildung eine  Auswahl  des  Zusammengehörigen  und  die  Aus- 
scheidung des  Unwesentlichen,  Entlegenen,  fast  gänzlich  unmög- 
lich. Die  Begriffe  müssen  auf  diese  Weise  durchaus  jener  Schärfe 
und  Klarheit  entbehren,  welche  sie  zur  Grundlage  höherer  Geistes- 
arbeit tauglich  macht;  sie  werden  verschwommene  und  un- 
klare psychische  Gebilde,  mit  deren  Hilfe  nur  einseitige  und  ver- 
schrobene Urteile  von  zweifelhaftem  Werte  sowie  unbestimmte 
und  unsichere  Analogieschlüsse  zustande  kommen  können,  sobald 


Störungen  der  Vorstellungsverbindungen. 


sich  der  Gedankengang  aus  dem  Bereiche  der  unmittelbaren  Sinnes- 
erfahrung entfernt.  Als  klinischen  Ausdruck  der  hier  geschil- 
derten Störung  können  wir  den  Hang  zum  Schwärmen  und  Träu- 
men, den  Mangel  des  Sinnes  für  Tatsachen  und  Einzelheiten,  die 
Verzettelung  der  geistigen  Arbeitskraft  in  unausführbaren  Plänen 
und  Hirngespinnsten  betrachten.  Diese  Eigentümlichkeiten  bilden 
das  Kennzeichen  gewisser  psychopathischer  Persönlichkeiten;  wir 
begegnen  ihnen  ferner  auch  bei  Verrückten  und  in  den  paranoiden 
Zuständen. 

Störungen  der  Vorstellungsverbindungen.  Die  Verbindung  der 
fertigen  Vorstellungen  untereinander  vollzieht  sich  nach  bestimmten 
Gesetzen,  die  uns  wenigstens  in  ihren  allgemeinen  Zügen  bekannt 
sind.  Wir  können  zunächst  zwei  große  Gruppen  von  Vorstellungs- 
verbindungen auseinanderhalten,  die  äußeren  und  die  inneren. 
Bei  jenen  ersteren  wird  die  Verknüpfung  der  beiden  Vorstellungen 
nur  durch  eine  rein  äußerliche,  zufällige  Beziehung  vermittelt, 
während  wir  es  bei  den  inneren  Assoziationen  mit  sachlichen, 
aus  dem  Inhalte  der  Vorstellungen  selbst  hervorwachsenden  Zu- 
sammenhängen zu  tun  haben. 

Im  einzelnen  gliedern  sich  beide  Hauptgruppen  noch  weiter  in 
Unterformen,  je  nach  der  Art  des  verknüpfenden  Bandes^).  Eine 
äußerliche  Verbindung  kann  zunächst  hergestellt  werden  durch 
häufige  Vergesellschaftung  derselben  Eindrücke.  Dies  geschieht  z.  B. 
dann,  wenn  zwei  W^ahrnehmungen  oft  oder  regelmäßig  in  nahe 
räumliche  oder  zeitliche  Beziehung  zueinander  treten.  Haus  und 
Fenster,  Blitz  und  Donner  entsprechen  dieser  Bedingung.  Ein  ganz 
ähnlicher,  aber  noch  äußerlicherer  Zusammenhang  kann  sich  durch 
die  sprachliche  Einübung  herausbilden.  Bestimmte  Wort-  und  Satz- 
verbindungen befestigen  sich  bei  uns  durch  häufige  Wiederholung 
derart,  daß  jeder  Bestandteil  derselben  die  übrigen  regelmäßig  auch 
ins  Bewußtsein  ruft.  Dahin  gehören  die  Wortzusammensetzungen, 
die  stehenden  Redensarten,  die  Zitate.  Vielfach  hat  sich  in  diesen 
Verbindungen  die  Denkarbeit  früherer  Geschlechter  niedergeschla- 

1)  Aschaffenburg,  Experimentelle  Studien  über  Assoziationen,  Psycho- 
logische Arbeiten,  I,  2;  II,  i;  IV,  2;  v.  d.  Plaats,  Vrije  Woordassociatie.  Diss. 
1898;  Claparede,  Tassociation  des  idees.  1903;  Van  Erp  Taalman  Kip,  Psy- 
chiatrische en  neurologische  Bladen,  1903,  i;  1906,  81;  1908,  93,  293;  Bouman, 
Onderzoekingen  over  vrije  Woordassociatie,  Verhandl.  der  Akademie  der  Wissensch, 
in  Amsterdam,  XII,  i.  1905. 

18* 


276 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gen;  dem  sprachlichen  entspricht  zugleich  ein  sachlicher  Zu- 
sammenhang. Für  uns  aber  ist  diese  innere  Verbindung  längst 
in  den  Hintergrund  getreten  gegenüber  der  einfachen,  gedanken- 
losen sprachlichen  Gewöhnung.  In  noch  höherem  Grade  ist  das 
der  Fall,  wenn  der  einzelne  Bruchteil,  wie  nicht  selten,  völlig  sinn- 
los ist  und  nur  durch  die  mechanische  Anfügung  des  Fehlenden 
zu  einem  sinnvollen  Ganzen  wird. 

Diese  letztere  Form  der  äußeren  Vorstellungsverbindungen 
bildet  bereits  den  Übergang  zu  den  für  die  Psychiatrie  besonders 
wichtigen  Klangassoziationen.  Bei  diesen  handelt  es  sich  um 
die  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen  lediglich  auf  Grund  des 
sprachlichen  Gleichklanges.  Übereinstimmung  einzelner  Buch- 
staben, nicht  selten  in  der  Form  des  Reims,  genügt  hier,  die  ver- 
bindende Brücke  zu  schlagen,  ganz  ohne  jede  Rücksicht  auf  den 
Inhalt.  Auch  hier  wird  die  Eigenart  des  Vorganges  am  klarsten 
in  jenen  Beispielen,  in  denen  der  assoziierte  Gleichklang  überhaupt 
keinen  sprachlichen  Inhalt  mehr  besitzt,  sondern  völlig  sinnlos  ist. 
Welcher  Bestandteil  der  sprachlichen  Ausdrucksformen,  das  Wort- 
klangbild oder  die  Sprachbewegungsvorstellung,  bei  den  Klang- 
assoziationen die  Verknüpfung  übernimmt,  läßt  sich  von  vornherein 
nicht  sagen.  Es  ist  jedoch  bemerkenswert,  daß  die  Klangasso- 
ziationen sich  in  der  Regel  dort  finden,  wo  ein  gewisser  Rededrang 
auftritt,  so  bei  der  manischen  Erregung,  dann  unter  Alkoholein- 
fluß und  nach  schnellem  Spazierengehen.  Diese  Erfahrung  dürfte 
mehr  für  eine  Beteiligung  der  Sprachbewegungsvorstellungen 
sprechen.  In  gleichem  Sinne  wäre  die  Tatsache  zu  deuten,  daß 
unter  Alkoholwirkung  die  Reimzeiten  bei  Assoziationsversuchen 
trotz  erschwerter  Auffassung  verkürzt  erscheinen. 

Bei  der  zweiten  großen  Gruppe  von  Vorstellungsverbindungen 
begegnet  uns  zunächst  die  Verknüpfung  nach  Über-,  Neben-  und 
Unterordnung.  Der  Entwicklungsgang  der  Vorstellungen  voll- 
zieht sich  ja  in  der  Weise,  daß  wir  von  sinnlichen  Einzelerfah- 
rungen durch  Eingliederung  ähnlicher  Eindrücke  allmählich  zu 
einer  Stufenleiter  von  immer  allgemeineren  Vorstellungen  ge- 
langen. Alle  einzelnen  Glieder  dieser  Entwicklung  stehen  natur- 
gemäß miteinander  in  näherer  oder  fernerer  Verbindung,  so  daß 
unser  Gedankengang  jederzeit  den  Schritt  vom  Besonderen  zum 
Allgemeinen  wiederholen  kann,  mit  dem  er  einstmals  seine  Aus- 


Störungen  der  Vorstellungsverbindungen. 


277 


bildung  begonnen  hat.  Der  gleiche  Weg  ist  aber  auch  in  umge- 
kehrter Richtung  gangbar,  und  endlich  vermögen  wir  dauernd 
den  Vorgang  zu  erneuern,  der  uns  von  Anfang  an  die  Verknüp- 
fung innerlich  übereinstimmender  Erfahrungen  untereinander  er- 
möglichte. Alle  diese  Verbindungen  bilden  zusammen  die  psycho- 
logische Grundlage  derjenigen  (,, analytischen")  Urteile,  welche  das 
gegenseitige  Verhältnis  unserer  Vorstellungen  zueinander  von  den 
sinnlich  einfachsten  zu  den  verwickeltsten  und  allgemeinsten 
Formen  zum  Ausdrucke  bringen. 

Demgegenüber  können  wir  eine  andere  Form  der  inneren 
Assoziationen  wohl  als  die  Vorstufe  jener  (,, synthetischen")  Ur- 
teile auffassen,  bei  denen  es  sich  um  die  Bereicherung  unserer 
Vorstellungen  durch  neue  Bestandteile  handelt.  Wir  bezeichnen 
diese  Vorstellungsverbindungen  vielleicht  am  besten  als  prädi- 
kative. Sie  fügen  zu  einer  gegebenen  Vorstellung  irgend  ein  Merk- 
mal hinzu,  welches  nicht  notwendig  zur  Begriffsbestimmung  ge- 
hört, sondern  eine  mehr  oder  weniger  eng  begrenzte  Gruppe  von 
Einzelerfahrungen  aus  der  Gesamtzahl  der  Vorstellungsbestandteile 
heraushebt.  Diese  beschränkte  Aussage  kann  dabei  sowohl  gegen- 
wärtigen Eindrücken  wie  der  Erinnerung  entnommen  werden.  Die 
prädikativen  Assoziationen  enthalten  demnach  meist  Eigenschaften, 
Zustände,  Tätigkeiten,  durch  welche  die  voraufgehende  Vorstellung 
nach  irgendeiner  Richtung  hin  näher  bestimmt  wird.  Es  werden 
gewisse  Bestandteile  derselben,  seien  sie  längst  oder  gerade  erst 
erworben,  heller  beleuchtet,  die  an  sich  beim  Auftauchen  jener 
Vorstellung  nicht  mit  ins  Bewußtsein  getreten  wären.  So  wird 
etwa  die  Vorstellung  Hund  in  uns  neben  der  sprachlichen  Be- 
zeichnung durch  die  allgemeinen  Umrisse  des  Tieres  vertreten; 
vielleicht  werden  wir  uns  dabei  noch  dunkel  dessen  bewußt, 
daß  der  Hund  ein  Tier,  daß  er  schwarz  gefärbt  ist,  daß  er  läuft. 
Alle  diese  unklaren  Bestandteile  der  Hauptvorstellung  können 
durch  den  weiteren  Verlauf  des  Gedankenganges  zur  deutlichen 
Ausprägung  gebracht  werden.  Nur  der  erstgenannte  aber  ist 
ein  notwendiges  Glied  der  Vorstellung  Hund;  die  beiden  letzteren 
und  zahllose  andere  ähnliche  enthalten  eine  nähere  Bestim- 
mung, die  nicht  auf  alle  Hunde  ohne  Ausnahme  zutrifft.  Folgt 
daher  auf  die  Vorstellung  Hund  die  Vorstellung  Tier,  so  haben 
wir  es  mit  einer  Assoziation  nach  Überordnung  zu  tun,  während 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  beiden  anderen  Anknüpfungen  prädikative  Bestimmungen  ent- 
halten. 

Die  Gruppierung  der  Vorstellungsverbindungen  bei  einzelnen 
Personen,  wie  sie  durch  den  Assoziationsversuch,  die  Anknüpfung 
der  ersten  auftauchenden  Vorstellung  an  zugerufene  Worte,  auf- 
gedeckt wird,  kann  sich '  sehr  mannigfaltig  gestalten.  Bouman 
unterscheidet  verschiedene  Typen,  je  nachdem  unter  den  Asso- 
ziationen die  Koordinationen,  die  prädikativen,  die  Wortergän- 
zungen, die  Klangassoziationen  oder  die  sprachlichen  Erinnerungen 
überwiegen;  auch  Jung  und  Ricklin  kennzeichnen  einen  prädi- 
kativen Typus,  der  sich  zugleich  durch  geringere  Ablenkbarkeit 
auszeichnen  soll.  Eine  gewohnheitsmäßige  erhebliche  Vermeh- 
rung der  Klangassoziationen  entsteht  beim  Assoziieren  in  einer 
fremden  Sprache;  sonst  deutet  sie  fast  immer  auf  mehrsprachige 
Jugenderziehung  hin.  Außer  diesen  mehr  oder  minder  gut  ab- 
grenzbaren persönlichen  Assoziationsgewohnheiten  kann  aber  der 
einzelne  Versuch  durch  allerlei  Zufälligkeiten,  namentlich  durch 
Einstellungserscheinungen,  wesentlich  beeinflußt  werden.  Irgend 
eine  Assoziationsform,  die  gerade  auftaucht,  z.  B.  ein  Reim,  eine 
Eigenschaft  oder  Tätigkeit,  eine  Übersetzung,  kann  gelegentlich 
eine  größere  Zahl  ähnlicher  Verbindungen  nach  sich  ziehen.  End- 
lich ist  auch  der  allgemeine  Zustand  der  Versuchsperson  von  Be- 
deutung. Ermüdung  nach  durchwachter  Nacht,  körperliche  Erre- 
gung, Alkoholgenuß  steigern,  wie  schon  angedeutet,  die  Neigung 
zu  sprachlichen  und  Klangassoziationen.  Nach  Jungs  Angaben 
sollen  gefühlsstarke  Vorstellungskomplexe,  die  durch  das  Reizwort 
angeregt  werden,  eine  Verlängerung  der  Assoziationszeiten,  die 
sich  auch  auf  die  folgenden  Versuche  erstrecken  kann,  das  Auf- 
treten unsinniger  Assoziationen,  Wiederholung  des  Reizwortes,  Miß- 
verstehen desselben,  Versprechen,  Übersetzen  in  fremde  Sprachen 
und  noch  andere  Abweichungen  bewirken.  Ich  halte  diese  An- 
gaben, bei  deren  Begründung  der  willkürlichen  Auslegung  weiter 
Spielraum  gegeben  ist,  für  viel  zu  weitgehend,  und  auch  die  neuer- 
liche Nachprüfung  Schnitzlers  hat  sie  nicht  bestätigen  können. 

Die  Assoziationsreihen  unserer  Kranken  weichen,  soweit  es 
sich  nicht  um  Bildungsunterschiede  handelt,  im  allgemeinen  auf- 
fallend wenig  von  denen  der  Gesunden  ab.  Das  erklärt  sich  nament- 
lich aus  der  überwiegenden  Rolle,  die  der  Sprache  für  den  Ausfall 


Störungen  des  Gedankenganges. 


279 


des  Versuches  zukommt.  Was  sich  in  ihm  ausdrückt,  ist  in  der 
Hauptsache  der  Niederschlag  der  Sprachgewohnheiten,  die  ja  zu- 
meist durch  die  Krankheit  verhältnismäßig  wenig  beeinflußt  werden. 
Immerhin  läßt  sich  natürlich  zeigen,  daß  bei  verblödenden  Kranken 
eine  größere  Gedankenarmut  und  Einförmigkeit  in  den  Versuchs- 
ergebnissen hervortritt,  daß  öfters  unsinnige  Antworten,  Wieder- 
holung des  Reizwortes,  Mißverständnisse,  Versager  vorkommen; 
auch  Haften  der  gleichen  Antwort  begegnet  uns.  Anscheinend  ist 
die  einzige  Erkrankung,  bei  der  die  Assoziationen  eine  kennzeich- 
nende Veränderung  aufweisen,  die  manische  Erregung.  Hier  tritt 
meist  sehr  deutlich  die  Neigung  zu  Klangassoziationen,  insbeson- 
dere Reimen,  Zitaten  und  Wortergänzungen  hervor,  die  schließ- 
lich alle  anderen  Formen  verdrängen  können.  Offenbar  bestehen 
gewisse  Beziehungen  zum  Rededrange,  der  eben  die  sprachlichen 
Bestandteile  der  Vorstellungen  in  den  Vordergrund  schiebt. 

Störungen  des  Gedankenganges.  Die  Verbindung  unserer  Vor- 
stellungen pflegt  sich  nur  dann  nach  den  geschilderten  Assoziations- 
regeln zu  vollziehen,  wenn  wir  unsere  Gedanken  planlos  schweifen 
lassen.  Beim  geordneten  Denken  jedoch  verfolgen  wir  einen  be- 
stimmten Gedankengang,  d.  h.  der  Ablauf  unserer  Verstandesarbeit 
wird  von  irgend  einer  allgemeinen  Vorstellung  beherrscht,  die 
jeweils  die  Richtung  der  weiteren  Anknüpfungen  bestimmt.  Diese 
Leitvorstellung  oder  ,, Obervorstellung"  kann,  wie  Liepmann  aus- 
geführt hat,  das  Gesamtbild  einer  wirklichen  Lebenslage,  eines 
Vorganges,  oder  eine  abgezogene,  zusammenfassende  Vorstellung 
sein.  Unter  ihrem  fortdauernden  Einflüsse  werden  von  den  auf- 
tauchenden Vorstellungen  immer  diejenigen  Bestandteile  beson- 
ders kräftig  angeregt,  die  mit  ihr  in  näherer  Beziehung  stehen. 
Aus  der  großen  Zahl  möglicher  Anknüpfungen  kommen  auf  diese 
Weise  nur  diejenigen  wirklich,  zustande,  die  in  einer  bestimmten, 
durch  die  allgemeinen  Ziele  des  Gedankenganges  bedingten  Rich- 
tung liegen.  Neben  der  umfassendsten  Vorstellung,  die  dauernd 
maßgebend  bleibt,  sind  vielfach  noch  untergeordnete  Leitvorstel- 
lungen vorhanden,  die  in  den  einzelnen  Abschnitten  des  ablaufen- 
den Gedankenganges  einander  ablösen,  aber  in  jener  ersteren  zu- 
sammenfließen. So  entsteht  die  innere  Einheit  und  Geschlossen- 
heit unseres  Denkens,  die  geistige  Freiheit,  die  uns  in  den  Stand 
setzt,  unseren  Vorstellungsverlauf  nach  Gesichtspunkten  zu  lenken, 


28o 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  aus  der  Entwicklungsgeschichte  unserer  gesamten  psychischen 
Persönhchkeit  hervorgegangen  sind.  Allerdings  erreichen  wir  die 
volle  Einheitlichkeit  eines  Gedankenganges  nur  durch  besonders 
darauf  gerichtete  Willensanstrengung,  die  es  uns  ermöglicht,  un- 
verrückt die  Leitvorstellung  festzuhalten,  also  etwa  bei  planmäßiger 
geistiger  Arbeit.  Für  gewöhnlich  pflegen  auch  in  kürzeren  Zeit- 
räumen die  Leitvorstellungen  vielfach  zu  wechseln. 

In  Krankheitszuständen  kann  der  einheitliche  Fortschritt  des 
Gedankenganges,  wie  er  durch  kräftige  Ausbildung  der  Leitvor- 
stellungen gewährleistet  wird,  auf  verschiedene  Weise  gestört 
sein.  Wir  betrachten  zunächst  diejenigen  Vorgänge,  die  eine  Be- 
hinderung seiner  Entwicklung  bedingen.  Allerdings  sind  wir  bei 
der  Beurteilung  des  Vorstellungsablaufes  lediglich  auf  die  sprach- 
lichen Äußerungen  der  Kranken  angewiesen,  die  uns  zweifellos 
nur  ein  sehr  unvollkommenes  und  häufig  verzerrtes  Bild  des  wirk- 
lichen Verhaltens  liefern.  Die  einfachste  jener  Störungen  ist  das 
Haften  der  Vorstellungen^).  In  erster  Linie  handelt  es  sich 
dabei  um  die  ungewollte  Wiederkehr  der  gleichen  sprachlichen  Be- 
zeichnungen und  Wendungen.  Im  Zustande  der  Ermüdung  begeg- 
net es  uns  nicht  selten,  daß  uns  zu  unserem  Verdrusse  immer  die- 
selben Worte  auf  die  Zunge  oder  in  die  Feder  kommen;  gewöhnlich 
verbindet  sich  damit  häufiges  Versprechen  im  Sinne  der  voran- 
gegangenen Wendungen.  In  krankhafter  Ausbildung  treffen  wir 
diese  Störung  bei  Hirnerkrankungen  an,  namentlich  bei  der  Arterio- 
sklerose. Die  Kranken  bringen  die  einmal  gebrauchten  Bezeich- 
nungen wiederholt  vor;  sie  belegen  Gegenstände  fälschlich  mit 
emem  Namen,  den  sie  gerade  gehört  oder  ausgesprochen  haben, 
oder  mischen  richtige  und  haftende  Wortbruchstücke  durchein- 
ander. Namentlich  unter  dem  Einflüsse  der  Ermüdung  kann  die 
Störung  rasch  so  stark  werden,  daß  man  keine  richtige  Antwort 
mehr  erhält,  sondern  nur  wechselnde  oder  einförmige  Wieder- 
holungen der  früheren  Angaben. 

Auch  nichtsprachliche  Vorstellungen,  allerdings  vorzugsweise 
oder  ausschließlich  motorische,  können  haften.  Die  Kranken 
gebrauchen  vorgezeigte  Gegenstände  fälschlich  so,  wie  sie  es  kurz 
vorher  richtig  mit  anderen  gemacht  haben.    Neißer  hat  diese 

1)  Sölder,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVIII,  479,  1899;  Heil  bronner,  Monatsschr. 
f.  Psychiatrie,  XVIII,  Ergänzungsheft,  293. 


Störungen  des  Gedankenganges. 


Störung  treffend  mit  dem  Namen  der  Perseveration  gekenn- 
zeichnet. In  einigen  Fällen  von  Altersblödsinn  mit  ausgeprägtem 
Haften  konnte  Schneider  nachweisen,  daß  die  Entwicklung  der 
angeregten  Vorstellungen  ungemein  verlangsamt  war.  Die  Bezeich- 
nung eines  Bildes  wurde  vielfach  erst  dann,  aber  nun  richtig,  vor- 
gebracht, wenn  inzwischen  schon  ein  oder  zwei  andere  Bilder  ge- 
zeigt worden  waren,  so  daß  also  eine  regelmäßige,  erhebliche  Ver- 
spätung anzunehmen  war.  In  der  Tat  hat  man  bei  der  Perseveration 
vielfach  den  Eindruck,  als  ob  die  Kranken  zunächst  der  neuen 
Wahrnehmung  völlig  verständnislos  gegenüberstehen  und  auf  das 
Drängen  daher  einfach  das  Vorangegangene  wiederholen.  Heil- 
bronner  fand  in  postepileptischen  Dämmerzuständen  das  Haften 
stärker  bei  der  Lösung  schwierigerer  Aufgaben;  er  ist  daher  der 
Meinung,  daß  die  Unfähigkeit,  einer  gestellten  Anforderung  zu  ent- 
sprechen, den  Willensantrieb  wieder  in  die  vorher  beschrittenen 
Bahnen  drängt.  Auch  Vogt  weist  darauf  hin,  daß  an  sich  jede 
Willenshandlung  die  Neigung  zeige,  sich  zu  wiederholen,  wie  es 
durch  die  arbeiterleichternde  Wirkung  der  Anregung  dargetan 
wird.  Die  Perseveration  würde  demnach  nicht  durch  eine  besondere 
Hartnäckigkeit  der  haftenden  Vorstellung  bedingt  werden,  sondern 
dadurch,  daß  der  Ausfall  neu  hervortretender  Vorstellungen  eine 
Lücke  entstehen  läßt,  die  nun  unwillkürlich  durch  Wiederholung 
des  eben  abgelaufenen  Vorganges  ausgefüllt  wird.  Bei  der  Para- 
phasie, die  sich  sehr  gewöhnlich  mit  Haften  verbindet,  ergibt  sich 
die  Lücke  durch  die  Schwierigkeit  der  Wortfindung. 

Sorgfältig  von  der  Perseveration  zu  unterscheiden  ist  die  Nei- 
gung, dieselben  Vorstellungen  ,,zu  Tode  zu  hetzen",  wie  sie  uns 
in  ausgeprägtester  Form  bei  der  Dementia  praecox  begegnet.  Sie 
ist  hier  nur  ein  Ausfluß  der  allgemeinen  Stereotypie  der  Wil- 
lensvorgänge. Andeutungen  dieser  Erscheinung  kommen  auch 
bei  Kindern  gelegentlich  vor.  Sie  besteht  in  der  triebartigen,  oft 
ins  Ungemessene  fortgesetzten  Wiederholung  derselben  sprach- 
lichen Äußerungen,  bald  für  sich  allein,  bald  unter  Einflechtung 
in  andere,  mehr  oder  weniger  zusammenhanglose  Gedankenreihen. 
Der  Inhalt  dieser  stereotypen  Vorstellungen  ist  dabei  ein  ganz 
zufälliger  und  wird  nicht,  wie  beim  Haften,  durch  das  Vorauf- 
gegangene bestimmt.  Vielmehr  kann  eine  Vorstellung  über  kurz 
oder  lang  von  einer  anderen  abgelöst  werden,  die  dann  ebenso 


282 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zähe  haftet,  oder  es  schieben  sich  durcheinander  in  einen  längeren 
Gedankengang  eine  Reihe  verschiedener,  immer  wiederkehrender 
Vorstellungen  ein.  Offenbar  spielt  demnach  bei  dem  Vorgange 
nicht  die  besondere  Eigenschaft  der  einzelnen  Vorstellung,  sondern 
der  Gesamtzustand  des  Seelenlebens  die  entscheidende  Rolle.  Da 
wir  wohl  annehmen  dürfen,  daß  die  Stereotypie  nur  beim  Fehlen 
einer  zielbewußten  Willensrichtung  zustande  kommt,  werden  wir 
uns  nicht  wundern,  daß  sich  die  triebartige  Wiederholung  der- 
selben Vorstellungen  regelmäßig  mit  einer  Zerfahrenheit  des  Ge- 
dankenganges verbindet ,  die  auf  ungenügende  Ausbildung  von 
Leitvorstellungen  hinweisen  dürfte.  Sehr  deutlich  tritt  das  in  den. 
folgenden  Beispiele  hervor: 

,,Herr  Vetterlieb,  es  war  nicht  so,  Herr  Vetterlieb,  es  war  nicht  so,  es 
war  nicht  so,  A  Lauer  für  S  Lauer,  A  Lauer  für  S  Lauer,  nur  das  einzige, 
A  Lauer  für  S  Lauer,  Herr  Vetterlieb,  weil  ich  für  Ihr  einziges  Kind  ge- 
betet habe,  wie  ich  in  Tauberbischofsheim.  Herr  Vetterlieb,  lieber  Herr 
Vetterlieb,  mein  einzig  Vetterlieb,  ich  will  sagen,  wie  es  gelebt  hat,  ein 
gutes,  ein  böses,  Herr  Vetterlieb,  M,  R,  I,  S.  Herr  Vetterlieb,  Schnaps  gegen 
Branntwein,  Vergiftung  gegen  Vergiftung.  Ich  hänge  meine  Zunge  bald 
so,  bald  so,  hinten  hinaus,  bald  vorn  hinaus.  Herr  Vetterlieb  (fünfmal 
wiederholt),  das  war  Wucht,  Herr  Vetterlieb,  eine  Kupferschlange,  durch- 
löchert, Herr  Vetterlieb,  wegen  des  wahren,  wegen  des  wahren,  wegen  des 
wahren  Willens"  usf. 

Wiederum  eine  andere  Bedeutung,  als  die  häufige  Wieder- 
kehr- derselben  Vorstellungen  in  einem  bestimmten  Gedanken- 
gange, hat  die  gewohnheitsmäßige  Erneuerung  gleichartiger 
Vorstellungsreihen  bei  den  verschiedensten  Gelegenheiten.  Wäh- 
rend dort  der  Inhalt  der  stereotypen  Vorstellungen  von  Fall  zu  Fall 
wechseln  kann,  haben  wir  es  hier  mit  dem  erstarrten  und  darum 
fast  unveränderlichen  Niederschlage  früherer  Erfahrungen  zu  tun. 

Unsere  ganze  geistige  Ausbildung  beruht  auf  dem  Umstände, 
daß  sich  unsere  Vorstellungsverbindungen  durch  häufige  Wieder- 
holung allmählich  mehr  und  mehr  befestigen.  Das  Ergebnis  früher, 
geleisteter  Gedankenarbeit  steht  uns  auf  diese  Weise  schließlich 
fast  mühelos  jederzeit  zu  Gebote,  so  daß  wir  auf  der  einmal  er- 
arbeiteten Grundlage  ohne  weiteres  fortbauen  können.  Ja,  auch 
der  gesamte  Erfahrungs-  und  Gedankenschatz  vergangener  Ge- 
schlechter wird  uns  in  den  festen  Formen  der  Muttersprache  als 
fertiges  Werkzeug  für  jederlei  Denkarbeit  überliefert.   Die  Bedeu- 


Störungen  des  Gedankenganges. 


283 


tung  dieser  gegebenen  Formeln  im  Vorstellungsverlaufe  ist  natür- 
lich je  nach  der  persönlichen  Befähigung  zu  eigenem  Schaffen 
eine  sehr  verschiedene;  sie  kann  jedoch  kaum  überschätzt  werden. 
Wir  alle  wissen,  daß  wir  beständig  mit  einer  großen  Zahl  von  ste- 
henden Wendungen  und  festen  Ideenverbindungen  arbeiten,  die 
mit  erstaunlicher  Unvermeidlichkeit  bei  gegebenem  Stichworte 
auftauchen  und  ablaufen,  ohne  unser  Zutun,  ja  selbst  gegen  unseren 
Willen.  Ich  konnte  nachweisen,  daß  von  einer  größeren  Gruppe 
eingeübter  Assoziationen  nach  fast  zwei  Jahren  noch  etwa  70% 
in  völlig  gleicher  Form  wiederkehrten. 

In  Krankheitszuständen  wird  dieses  Verhältnis  ohne  Zweifel 
vielfach  noch  sehr  bedeutend  überschritten.  Namentlich  dann, 
wenn  die  Fähigkeit  zur  Sammlung  und  Verarbeitung  neuer  Ein- 
drücke durch  das  Irresein  vernichtet  wird,  pflegen  die  Vorstellungs- 
überreste aus  gesunden  Tagen  allmählich  in  steter  Wiederholung 
zu  erstarren.  So  sehen  wir  beim  Greise,  in  der  Paralyse  und  bei 
verschiedenen  anderen  Verblödungsformen  den  Vorstellungsver- 
lauf mehr  und  mehr  auf  einzelne,  immer  wiederkehrende  Gedanken- 
reihen einschrumpfen,  die  keinerlei  neue  geistige  Arbeitsleistung 
mehr  enthalten.  Es  entwickelt  sich  auf  diese  Weise  eine  mehr 
oder  weniger  hochgradige  Einförmigkeit  der  Bewußtseinsvor- 
gänge. Selbstverständlich  verbindet  sich  damit  stets  eine  beträcht- 
liche Verarmung  des  Vorstellungsschatzes.  Was  nicht  in  fest- 
geschlossener, unveränderlicher  Verbindung  erhalten  bleibt,  geht 
rettungslos  verloren.  Schließlich  können  sich  die  gesamten  sprach- 
lichen Äußerungen  einer  früher  reich  entwickelten  Persönlich- 
keit auf  die  Abwandlung  einiger  weniger  dürftiger  Gedanken  zu- 
rückziehen. 

Die  folgende  Nachschrift  von  einer  altersblödsinnigen  Kran- 
ken mag  das  erläutern: 

„Wir  haben  den  ganzen  Tag  nichts  gegessen  —  Kaffee  und  Brot  — 
Kaffee  —  die  Frau  würde  gern  kochen,  wenn  sie  etwas  kriegte,  aber  den 
ganzen  Tag  hat  sie  nichts,  als  Kaffee  und  Brot  —  aber  das  geht  nicht;  die 
Frau  muß  etwas  zu  essen  haben  —  das  geht  nicht;  der  Mann  muß  auf- 
hören, zu  essen,  die  Kinder  müssen  essen  —  ei,  ei,  ei,  das  ist  doch  stark; 
die  Kinder  nichts  mehr  zu  essen,  nichts  wie  Kartoffeln  —  der  Vater  hat 
die  Kartoffeln  gegessen;  die  Mutter  hat  nichts,  die  Kinder  haben  nichts 
—  so  ist  es  fortgegangen  von  einem  Tag  zum  andern,  haben  die  Kinder 
nichts  gegessen  wie  Kartoffel  und  Kaffee  —  ach  Gott,  da  sind  wir  fertig, 


284 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


da  haben  wir  nichts  gegessen,  gar  nichts,  gar  nichts;  das  darf  nicht  sein 
—  wo  wir  hin  sind,  haben  wir  den  Kaffee  fort  und  die  Kartoffeln  —  das 
ist  gar  nichts  —  nichts  wie  Kaffee,  Kaffee,  Kaffee"  usf. 

In  nahen  inneren  Beziehungen  zu  der  Einförmigkeit  des  Ge- 
dankenganges steht  eine  andere,  ihr  äußerlich  ziemlich  unähn- 
liche Störung,  die  Umständlichkeit.  Wir  verstehen  darunter 
jene  Gestaltung  des  Vorstellungsverlaufes,  bei  der  nicht  nur  die 
wesentlichen  und  notwendigen  Glieder  eines  Gedankenganges, 
sondern  auch  eine  größere  Anzahl  nebensächlicher  und  zufälliger 
Begleitvorstellungen  mit  voller  Deutlichkeit  erzeugt  werden.  Da- 
durch wird  einerseits  der  Abschluß  der  Vorstellungskette,  die  Er- 
reichung des  vorgesteckten  Zieles,  immer  wieder  hinausgeschoben 
und  verzögert;  andererseits  wird  der  ganze  Gedankengang  un- 
übersichtlich, da  die  Nebendinge  sich  ebenso  in  den  Vordergrund 
drängen  wie  die  Hauptsachen.  Diese  Störung  beruht  demnach 
auf  einer  unvollkommenen  Sichtung  der  Vorstellungen  nach  ihrer 
Bedeutung  für  den  jeweiligen  Gedankengang.  Darum  beschränkt 
sich  der  Fortschritt  des  Denkens  nicht  auf  die  gerade  Richtungs- 
linie, sondern  er  berührt  auch  alle  möglichen  gleichgültigen  Neben- 
umstände. Dennoch  pflegt  er  sein  Ziel  schließlich  zu  erreichen, 
weil  die  Leitvorstellung  über  den  Einzelheiten  nicht  ganz  verloren 
geht. 

Den  einfachsten  Formen  der  Umständlichkeit  begegnen  wir 
in  der  Gesundheitsbreite  bei  ungebildeten  Menschen,  bei  denen 
die  Ordnung  der  Vorstellungen  nach  ihrer  Wichtigkeit  nur  un- 
vollkommen durchgeführt  wird.  v.  d.  Steinen  beobachtete  sie 
in  ausgeprägtester  Weise  bei  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens. 
Je  weniger  das  begriffliche  Denken  entwickelt  ist,  je  stärker  auch 
in  den  allgemeineren  Vorstellungen  noch  die  sinnlichen  Bestand- 
teile hervortreten,  desto  größer  wird  die  Neigung  sein,  im  Gedanken- 
gange am  Einzelnen  und  Nebensächlichen  festzukleben.  Daher 
die  große  Schwierigkeit,  von  ungebildeten  Leuten  knappe,  sachliche 
Antworten  zu  erhalten,  ihre  Unfähigkeit,  das  Unwesentliche  aus 
ihren  Erzählungen  auszuscheiden,  über  einen  Vorgang  anders 
als  vom  ersten  Beginn  an  zu  berichten.  Gesehenes  und  nur  Gedach- 
tes oder  Vermutetes  scharf  zu  trennen.  Nicht  minder  bekannt 
ist  ferner  die  Umständlichkeit  des  Greisenalters.  Infolge  der  all- 
mählichen  Erstarrung   der   Gedankengänge   laufen   hier  längere 


Störungen  des  Gedankenganges. 


285 


Reihen  von  Vorstellungen  ganz  gewohnheitsmäßig  ab,  sobald  sie 
durch  irgendeinen  Anlaß  angeregt  werden.  Diese  Ketten  von  Er- 
innerungsbildern, Lieblingsgedanken,  allgemeinen  Lebenserfah- 
rungen schießen  überall  an  die  einzelnen  Glieder  des  jeweiligen 
Gedankenganges  an  und  verhindern  den  raschen,  zielbewußten 
Fortgang,  da  sie  nicht  unterdrückt  werden  können,  sondern  erst 
erledigt  werden  müssen. 

Große  Ähnlichkeit  mit  dieser  Störung,  die  natürlich  beim  krank- 
haften Altersblödsinn  am  stärksten  entwickelt  zu  sein  pflegt,  zeigt 
die  Umständlichkeit  der  Epileptiker.  Die  Einengung  des  Gesichts- 
kreises macht  es  solchen  Kranken  unmöglich,  ein  fernes  Ziel 
als  Richtpunkt  dauernd  klar  im  Auge  zu  behalten ;  nur  an  der  Hand 
des  Einzelnen  und  Nächstliegenden  finden  sie  gleichsam  tastend 
ihren  Weg.  Darum  müssen  sie  auch  immer  die  gleichen  Um- 
wege an  den  gleichen  Merkzeichen  vorüber  machen,  wenn  sie  über- 
haupt ihr  Ziel  erreichen  sollen.  Ein  Beispiel  dafür  gibt  folgende 
Stelle  aus  einer  sehr  umfangreichen  Lebensbeschreibung: 

,,Ehe  man  etwas  glauben  tut,  was  einem  andere  Leute  erzählt  haben, 
oder  was  man  in  den  Kalendern  gelesen  hat,  man  muß  sich  da  erst  fest 
überzeugen  und  selbst  nachsehen,  ehe  man  sagen  kann  und  glauben,  die 
Sache  ist  schön,  oder  die  Sache  ist  nicht  schön,  erst  untersuchen  und  selbst 
mitmachen  und  nachsehen,  und  dann,  wenn  der  Mensch  alles  untersucht 
hat  und  selbst  mitgemacht  hat  und  alles  nachgesehen,  dann  kann  der 
Mensch  erst  sagen,  die  Sache  ist  schön,  oder  sie  ist  nicht  schön,  oder  nicht 
gut;  deshalb  sage  ich  auch  selbst,  wenn  man  über  eine  Sache  eine  Aus- 
kunft geben  oder  etwas  ganz  genau  feststellen  will,  oder  der  Wahrheit 
gemäß  sprechen  will,  die  Sache  ist  richtig  oder  die  Sache  ist  nicht  richtig, 
so  muß  ein  jeder  Mensch  die  Sache  so  untersuchen,  wie  er  es  vor  dem 
dreieinigen  Gott  und  vor  seiner  Majestät,  dem  Könige  von  Preußen,  Wil- 
helm der  Zweite,  und  Kaiser  von  Deutschland,  zu  verantworten  gedenkt. 
Ich  will  nun  wieder  an  der  Erzählung,  welche  mir  die  Soldaten  mitgeteilt 
haben,  weiter  schreiben." 

Eine  letzte  große,  eigenartige  Gruppe  von  Störungen  des  Ge- 
dankenganges ist  durch  den  Mangel  an  innerem  Zusammenhange 
gekennzeichnet.  Die  einzelnen  Glieder  ordnen  sich  nicht  bestimm- 
ten Gesichtspunkten  unter,  deren  Wirksamkeit  in  ihrer  Auswahl 
und  Verknüpfung  hervortritt,  sondern  sie  stehen  mehr  oder  we- 
niger unvermittelt  nebeneinander;  die  Reden  zeigen  keinen  ein- 
heitlichen  Fortschritt,    sondern   eine   ziellose  Aneinanderreihung 


286 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zusammengewürfelter  Vorstellungen.  Es  ist  unmöglich,  aus  ihnen 
einen  bestimmten  Inhalt  herauszuschälen;  vielmehr  lassen  sich 
die  verschiedenartigsten  Gedankenkreise  nachweisen,  aber  alle 
nur  in  Andeutungen  und  Bruchstücken,  ohne  Durchbildung  und 
Abschluß.  Vielfach  macht  sich  der  Einfluß  von  Zufälligkeiten, 
namentlich  äußeren  Eindrücken,  auf  die  auftauchenden  Vorstel- 
lungen bemerkbar. 

Unter  den  klinischen  Gestaltungen  der  hier  besprochenen 
Störung  sind  wir  vielleicht  imstande,  zwei  Hauptformen  von 
wesentlich  verschiedener  Bedeutung  auseinanderzuhalten.  Bei  der 
ersten  besteht  noch  ein  gewisser,  wenn  auch  lockerer  und  viel- 
fach ganz  äußerlicher  Zusammenhang  der  einzelnen  Glieder,  der 
allerdings  in  den  Äußerungen  der  Kranken  nicht  immer  mehr 
erkennbar  ist,  da  sie  ja  nur  Bruchteile  des  Gedankenganges  wieder- 
geben. Die  Grundlage  bildet  wesentlich  Flüchtigkeit,  rascher 
Wechsel  und  gelegentlich  völliges  Versagen  der  Leitvorstellungen. 
Infolgedessen  zeigt  der  Gedankengang  vielfache  Richtungsände- 
rungen und  Entgleisungen.  Die  fortwährend  auftauchenden  Neben- 
vorstellungen, die  zufälligen  Sinneseindrücke,  die  beim  planmäßigen 
Denken  durch  die  richtungggebende  Macht  der  Leitvorstellungen 
unterdrückt  werden,  ziehen  sofort  die  steuerlose  Aufmerksamkeit 
auf  sich  und  verhindern  damit  die  Fortführung  des  Gedanken- 
ganges auf  der  eingeschlagenen  Bahn.  Die  kennzeichnende  Stö- 
rung ist  somit  die  erhöhte  Ablenkbar keit.  Meist  gelingt  es 
nur,  auf  einfachere  Fragen  kurze  Antwort  zu  erhalten,  auch  wenn 
die  Auffassung  an  sich  nicht  so  sehr  gestört  ist.  Verlangt  man  die 
Leistung  schwierigerer  Denkarbeit,  so  ist  es  in  der  Regel  unmög- 
lich, den  Kranken  genügend  lange  bei  der  Aufgabe  zu  „fixieren", 
da  die  angeregten  Vorstellungen  sofort  wieder  von  anderen  in  den 
Hintergrund  gedrängt  werden.  Wir  belegen  diese  Form  der  krank- 
haften Zusammenhangslosigkeit  des  Gedankenganges,  dieses  plan- 
lose Umherschweifen  des  Vorstellungsverlaufes  ,,vom  hundertsten 
ins  tausendste"  mit  dem  Namen  der  Ideenf lucht^). 

Li ep mann  hat  die  Ideenflucht  als  eine  Aufmerksamkeits- 
störung gekennzeichnet,  gewiß  mit  Recht.  Die  Aufmerksamkeit 
hat  nicht  nur  die  Aufgabe,  die  auftauchenden  Vorstellungen  in  den 

1)  Aschaffenburg,  Psychol.  Arbeiten,  IV,  235;  Liepmann,  Über  Ideen- 
flucht. 1904. 


Störungen  des  Gedankenganges. 


287 


Blickpunkt  des  Bewußtseins  zu  ziehen  und  dadurch  in  hellere  Be- 
leuchtung zu  bringen,  sondern  auch  jene  Leitvorstellungen  festzu- 
halten, unter  deren  Einfluß  die  Auswahl  der  sich  darbietenden  Vor- 
stellungen erfolgt;  vielleicht  fallen  beide  Vorgänge  zusammen. 
Unaufmerksamkeit  und  Ablenkbarkeit  sind  daher  stets  miteinander 
verknüpft.  Allein  die  Aufmerksamkeit  ist  in  letzter  Linie  eine. 
Willensleistung;  sie  ist  auch  regelmäßig  von  Andeutungen  äußerer 
Willenshandlungen  begleitet.  Die  Ideenflucht  findet  sich  daher 
überall  dort,  wo  die  Fähigkeit  zum  Einhalten  dauernder,  gleich- 
mäßiger Willensspannung  beeinträchtigt  ist,  sei  es,  daß  der  Wille 
einfach  erschlafft,  sei  es,  daß  sich  seine  Regungen  in  einzelnen, 
wechselnden  Antrieben  entladen.  Andeutungen  eines  Versagens 
der  Leitvorstellungen  können  wir  schon  im  gesunden  Leben  auf- 
finden, wenn  wir  im  süßen  Nichtstun  unseren  Gedanken  freien 
Lauf  lassen,  die  Fessel  lösen,  welche  sie  beim  ,, Nachdenken"  in 
bestimmte  Bahnen  zwingt.  Noch  deutlicher  wird  die  Erscheinung 
im  wirklichen  Traume,  wo  die  Allgemeinvorstellungen  gegenüber 
den  sinnlichen  Erinnerungsbildern  in  den  Hintergrund  treten. 
Hier  empfinden  wir  ja  gerade  die  Unmöglichkeit  äußerst  peinlich, 
einen  Gedanken  weiter  zu  verfolgen,  eine  auftauchende  Vorstel- 
lungsreihe festzuhalten.  Daher  die  vielen  überraschenden  Wen- 
dungen in  den  Traumbildern,  die  sprunghaften,  unvermittelten 
Änderungen  des  ganzen  Bewußtseinsinhaltes.  Vielleicht  trägt  auch 
diese  Eigentümlichkeit  unseres  Traumbewußtseins  mit  dazu  bei, 
den  wechselnden  Bildern  das  Gepräge  wirklicher  Erlebnisse  zu 
geben;  sie  sind  unabhängiger  von  unserem  Gedankengange,  als  es 
sonst  die  Schöpfungen  unserer  Einbildungskraft  sein  könnten. 

Es  kann  zweifelhaft  erscheinen,  ob  diese  Erfahrungen  der 
Ideenflucht  zugehören.  Dagegen  dürften  wir  in  der  Ermüdung 
nicht  selten  leichte  Grade  jener  Störung  vor  uns  haben.  Auch  hier 
verlieren  wir  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Herrschaft  über 
unseren  Gedankengang.  Wir  vermögen  das  Ziel  nicht  mehr  fest 
im  Auge  zu  behalten  und  ertappen  uns  immer  häufiger  auf  Ab- 
schweifungen nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin,  von  denen 
wir  uns  erst  zwingen  müssen,  zu  unserem  Ausgangspunkte  zurück- 
zukehren. Schließlich  sind  wir  ganz  außerstande,  länger  bei  dem 
gleichen  Gegenstande  zu  bleiben;  gleichzeitig  geht  das  zusammen- 
hängende Verständnis  für  unsere  Aufgabe  mehr  und  mehr  verloren. 


288 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Ein  ganz  ähnlicher  Vorgang  vollzieht  sich  unter  dem  Einflüsse  des 
Alkohols.  Die  ziellosen  Faseleien  Betrunkener  sind  ja  zur  Genüge 
bekannt.  Der  Berauschte  vermag  nicht,  einer  Auseinandersetzung 
zu  folgen,  und  er  bleibt  auch  in  seinem  Denken  und  Reden  keinen 
Augenblick  bei  der  Stange,  sondern  verliert  immer  von  neuem  den 
Faden,  selbst  wenn  man  ihn  durch  wiederholte  Hinlenkung  auf 
den  Ausgangspunkt  im  Zusammenhange  zu  erhalten  sucht. 

Mit  der  Bezeichnung  Ideenflucht  verknüpft  sich  gewöhnlich 
die  Vorstellung  einer  beschleunigten  Aufeinanderfolge  der  einzel- 
nen Gedanken.  Man  hat  geradezu  von  einer  Überstürzung  der 
Vorstellungsbildung,  von  einer  so  massenhaften  Erzeugung  neuer 
Vorstellungen  gesprochen,  daß  die  Zusammenhangslosigkeit  ledig- 
lich durch  das  Ausfallen  zahlreicher  Zwischenglieder  bedingt 
sein  soll,  die  nicht  schnell  genug  ausgesprochen  werden  können. 
Diese  Auffassung  erweist  sich  bei  genauerer  Prüfung  als  unhaltbar. 
Zunächst  ist  der  Vorstellungsreichtum  des  Ideenflüchtigen  nichts 
weniger  als  groß,  sondern  wir  begegnen  jener  Störung  sogar  häufig 
genug  bei  auffallender  Gedankenarmut.  Sodann  aber  ist  die  Ge- 
schwindigkeit der  Vorstellungsverbindungen  im  Versuche  niemals 
beschleunigt,  meist  im  Gegenteil  deutlich  verlangsamt;  Ideen- 
flüchtige sprechen  auch  bisweilen  ganz  langsam.  Dagegen  ist  es 
richtig,  daß  die  einzelnen  Vorstellungen  ungemein  flüchtig  sind, 
rasch  auftauchen  und  wieder  verschwinden,  und  daß  sie  wegen 
ihres  beständigen  Abspringens  in  kurzer  Zeit  die  verschiedensten 
Gebiete  berühren  können.  Durch  diese  Flüchtigkeit  des  Ablaufes 
und  den  schillernden  Wechsel  der  mannigfachsten  Vorstellungen 
entsteht  vielleicht  der  Anschein,  daß  Manische  schneller  denken, 
als  Gesunde. 

Die  Richtung  des  Gedankenganges  bei  der  Ideenflucht  wird 
im  einzelnen  durch  äußere  Eindrücke,  ferner  durch  auftauchende 
Vorstellungen,  endlich  aber,  wo  derartige  Durchbrechungen  fehlen, 
durch  die  assoziativen  Beziehungen  der  aufeinanderfolgenden 
Glieder  bestimmt.  Da  keine  dauernden  Leitvorstellungen  die 
Verknüpfung  nach  innerem  Plane  regeln,  so  können  die  verschie- 
densten Bestandteile  der  Vorstellungen  ihren  Einfluß  auf  die  An- 
regung neuer  Bewußtseinsvorgänge  geltend  machen.  So  kennen 
wir  Zustände,  in  denen  die  Ideenverbindung  ganz  vorzugsweise 
durch  einzelne  sinnliche  Erinnerungsbilder  vermittelt  zu  werden 


Störungen  des  Gedankenganges. 


289 


scheint,  im  Traume,  in  gewissen  Vergiftungsdelirien,  namentlich 
im  Opiumrausche.  Lebhafte  Einbildungsvorstellungen  schließen 
sich  hier  in  bunter  Folge  aneinander,  entwickeln  sich  ausein- 
ander, losgelöst  von  dem  festgefügten  Gerüste  der  abstrakten 
Vorstellungen.  Infolgedessen  entsteht  eine  lockere  Reihe  reiner 
Hirngespinste  ohne  inneren  Zusammenhang  und  ohne  Klärung 
durch  die  allgemeineren  Lebenserfahrungen,  deren  schärferes 
Hervortreten  in  unserem  Bewußtsein  sofort  die  zahlreichen  Wider- 
sprüche und  die  innere  Unwahrheit  der  abenteuerlichen  Erlebnisse 
deutlich  erkennen  lassen  würde. 

Dieser  deliriösen  Form  der  Ideenflucht  steht  die  hypomanische 
Weitschweifigkeit  nahe,  bei  der  die  Kranken  sich  überall 
durch  Nebenvorstellungen,  Erinnerungen,  Einfälle  ablenken  lassen, 
jeder  Versuchung  zu  Zwischenbemerkungen,  Einschiebungen  und 
Ausschmückungen  unterliegen,  immerfort  auf  Abwege  geraten 
und  nur  durch  unausgesetzte  Einwirkungen  zu  ihrem  Gegenstande 
zurückgeführt  werden  können.  Ein  Beispiel  dafür  gibt  folgendes 
Bruchstück  einer  Antwort  auf  die  Frage:  „Sind  Sie  krank.?" 

>,  in  M.  hat  meine  Mutter  noch  einen  Bruder,  ein  reicher,  an- 
gesehener Mann;  er  hat  jetzt  seine  zweite  Frau,  ja,  ich  bin  nicht  so  wie 
Sie  meinen;  meine  Geschwister  haben  mich  um  meine  Sache  immer  ge- 
bracht, ich  bin  verkürzt;  den  Mann,  den  ich  habe,  haben  sie  nicht  gemocht; 
ich  bin  die  älteste,  aber  auch  die  kleinste.  Von  zwölf  Jahren  an  habe  ich 
viel  schaffen  müäsen  bis  48;  ich  habe  es  am  härtesten  gehabt.  Mein  Mann 
läßt  mich  nach  Mariä  Einsiedeln  wallen,  ein  rechter  Dummer!  Wenn  ich 
gewußt  hätt',  ich  käm'  da  herein,  nicht  für  2000  Mark  wär'  ich  da  herein; 
nach  Mariä  Einsiedeln  hab'  ich  gewollt;  darum  ist  hier  so  ein  Altar  er- 
schienen; ich  hab'  Äpfel  und  Birnen  haben  wollen  vom  Paradies;  der  Dr. 
K.  hat  von  dem  Kuchen  gegessen  und  süßen  Wein  getrunken.  Ich  habe 
schwarze  Trauben,  die  sind  aufgeplatzt  und  heruntergefallen;  jetzt  hab' 
ich  sie  ausgedrückt  in  einem  sauberen  Tuch  und  in  einen  irdenen  Krug 
hinein;  jetzt  hat  es  süßen  Most  gegeben.  Es  ist  Samstag  gewesen;  auf  den 
Sonntag  muß  man  doch  Kuchen  haben;  früh  hab'  ich  Teig  gemacht,  das 
hat  unser  Bäcker  S.  in  K.  gebacken  und  hat  nichts  zu  backen  gekostet, 
denn  ich  hol'  als  meine  Weck'  beim  Bäcker.  Da  hat  der  Dr.  K.  gesagt, 
seine  Frau  könnt'  nicht  so  backen;  er  hätte  so  ein  Luder"  usf. 

Bisweilen  macht  sich  in  den  Abschweifungen  deutlich  der  Ein- 
fluß gewisser  Gedankenrichtungen  geltend,  die  zufällig  angeregt 
werden,  aber  nicht  auf  ein  Ziel  lossteuern.  Es  kommt  dann  zur 
Aufzählung  verwandter  Vorstellungsreihen,  die  erst  durch  irgend- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  19 


290 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


eine  Nebenassoziation  wieder  unterbrochen  wird,  Aschaffen- 
burg hat  dafür  sehr  merkwürdige  Beispiele  eines  manischen  Kran- 
ken angeführt,  der  einmal  bei  der  Aufzählung  seiner  Bekannten 
589  Namen  hintereinander  niederschrieb.  Ein  anderes  Mal  lieferte 
er  49  Ortsnamen,  unter  denen  sich  die  folgende  Gruppe  befand: 

Coburg-Gotha-Eisenach-Gastein-Ems-Mainz-Mayence-Mayonnaise-Hum- 
mer-Stockfisch-Enterich-Pfau-Truthahn-Erfurt-Apolda- 

Man  erkennt  hier  deutlich  die  planlose  Aneinanderreihung  der 
Städtenamen,  die  Unterbrechung  der  Reihe  durch  eine  Klangver- 
wandtschaft, das  Entstehen  einer  neuen  Aufzählung  ganz  anderen 
Inhaltes  und  die  unvermittelte  Rückkehr  zu  der  ersten  Reihe. 
Das  verknüpfende  Band  ist  hier  in  der  Hauptsache  noch  der  Inhalt 
der  Vorstellungen,  anscheinend  deswegen,  weil  bei  den  schrift- 
lichen Aufzeichnungen  der  Klang  gar  keine  Rolle  spielen  konnte. 
Immerhin  ist  ein  gewisser  Einfluß  der  sprachlichen  Übung  — 
,, Coburg-Gotha"  —  und  des  Gleichklanges  —  ,,Mayence-Mayon- 
naise"  —  angedeutet.  Je  stärker  aber  der  Einfluß  der  Sprach- 
vorstellungen für  den  Gedankengang  anwächst,  desto  mehr  kommt 
es  an  Stelle  des  inhaltlichen  Zusammenhanges  zu  einer  Häufung 
sprachlich  eingeübter  Assoziationen,  gewohnheitsmäßiger  Wort- 
verbindungen, stehender  Redensarten,  endlich  zur  Verknüpfung 
der  Vorstellungen  nach  reiner  Klangähnlichkeit.  .  Diese  Störung 
ist  es,  die  man  auch  wohl  im  engeren  Sinne  als  Ideenflucht  bezeich- 
net; vielleicht  könnte  man  sie  der  durch  inhaltliche  Bestandteile 
der  Vorstellungen  vermittelten  ,, inneren"  Ideenflucht  als  ,, sprach- 
liche" gegenüberstellen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  sprachliche  Ideenflucht  im  all- 
gemeinen dann  zustande  kommen  wird,  wenn  überhaupt  die  Nei- 
gung besteht,  den  Gedankeninhalt  in  sprachliche  Formen  zu  fassen. 
Das  trifft  vor  allem  beim  Rededrang  zu,  der  sich  allerdings  auch 
vorwiegend  oder  ausschließlich  in  schriftlichen  Erzeugnissen  äußern 
kann.  Ideenflucht  findet  sich  nicht  selten  auch  bei  äußerlich  ge- 
hemmten Kranken;  sie  klagen  darüber,  daß  sie  immerfort  an  die 
verschiedensten  Dinge  denken,  sich  die  ganze  Welt  durchs  Hirn 
schlagen  müßten.  In  der  Regel  wird  es  sich  dabei  nicht  um  sprach- 
liche Formen  handeln.  Ohne  Zweifel  kommt  aber  auch  ein  inner- 
licher Rededrang  vor,  bei  dem  sich  das  Denken  trotz  äußerer  Hern- 


Störungen  des  Gedankenganges.  29 1 

mung  in  sprachlichen  Wendungen  abspielt.  Schon  aus  der  gesun- 
den Erfahrung  ist  es  bekannt,  daß  man,  namentlich  in  Zuständen 
gemütlicher  Erregung  mit  Ermüdung,  am  Einschlafen  gehindert 
werden  kann  durch  den  Drang,  innerlich  Reden  zu  halten  oder 
Briefe  zu  schreiben.  Wo  ein  solcher  innerer  Rededrang  mit  äußerer 
Willenshemmung  sich  in  krankhaften  Zuständen,  beim  manisch- 
depressiven Irresein,  findet,  dürfte  auch  sprachliche  Ideenflucht 
ohne  wirkliche  sprachliche  Äußerungen  zustande  kommen. 

Die  besondere  Art  der  assoziativen  Anknüpfungen  in  der  sprach- 
lichen Ideenflucht  macht  ein  Überwiegen  der  Sprachbewegungsvor- 
stellungen  dabei  wahrscheinlich.  Bei  der  Neigung  zu  Gleichklängen 
könnten  wohl  auch  die  Wortklangbilder  die  Hauptrolle  spielen. 
Dagegen  deutet  die  Häufigkeit  von  Wortergänzungen,  von  stehen- 
den Redensarten  und  von  Übersetzungen,  die  wir  sicherlich  vor- 
zugsweise durch  das  Sprechen  und  nicht  durch  das  Ohr  erwerben, 
weit  mehr  auf  das  Überwiegen  sprachlich  eingeübter  Verbindungen 
hin.  Auch  für  die  Reime,  die  uns  ja  unwillkürlich  zum  Mitsprechen 
auffordern,  dürfte  dasselbe  gelten.  Außerdem  aber  findet  sich  das 
gleiche  Zeichen  des  Hervortretens  rein  sprachlicher  Assoziationen 
in  einer  Reihe  von  Zuständen,  die  alle  mit  motorischer  Erregung 
einhergehen,  im  Rausche,  nach  körperlichen  Anstrengungen  und 
nach  Nachtwachen.  Bedenken  wir,  daß  ausgeprägte  sprachliche 
Ideenflucht  nur  bei  Erkrankungen  mit  Rededrang  beobachtet 
wird,  mag  er  sich  in  Schreiben,  innerlichem  oder  äußerem  Reden 
kundgeben,  so  wird  die  besondere  Bedeutung  der  Sprachbewegungs- 
vorstellungen  für  die  Gestaltung  dieser  Form  der  Ideenflucht,  wie 
sie  namentlich  Aschaffenburg  betont  hat,  sehr  wahrschein- 
lich. Bei  schwerer  manischer  Erregung  kann  der  Redeschwall 
den  Gedankengang  gewissermaßen  vollständig  mit  sich  fortreißen. 
„Der  Nagel  an  der  Wand",  begann  eine  solche  Kranke,  auf  einen 
Nagel  zeigend,  fuhr  aber  sodann  fort:  „hört  seine  eigene  Schand." 
Schließlich  geht  auch  die  Form  der  Rede  verloren,  und  es  kommt 
zu  einer  Folge  einzelner,  abgerissener  Bruchstücke.  Ein  Beispiel 
für  die  völlige  Auflösung  des  inhaltlichen  Zusammenhanges  bietet 
die  folgende,  bei  einem  manischen  Kranken  gewonnene  Nach- 
schrift: 

„Flut -Maul -Mammut- schwarzweiß -slip- abgebaut  den  Kopf -schnipp, 
schnapp-schnipp ,  schnapp,  schnurr-Orsowa  und  Gradisca-Pump-Devrient- 

19* 


292 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Kersowa-Kousso-Odessa-Carmen-Großmann-Ernestin-zick ,  zack ,  zuck-De- 
cluse-Levit  -Trier  -Treviran  -Tribites-Trevianda  -Demimonde-Mandeck-Hirsch- 
dreck-Jod-Wasser-ApoUinaris-Edinburg-Gries-Aumüller-Abel-Babel-Babylon- 
Schlauch-Mauer-Respirator-Bärenfeind-Schuwaloff-Rechberg-Cicero-Manuta- 
Mantua  -Kalakaua  -Sendelbachergasse-Nauplia-nobel  -Adria-Licht  -  nach  Belt- 
Grindach  -Tegernbach  -  hintennaus  -  Sedelmayer  -  Meer  -  Au  -Ringseis  -  linksum- 
horch,  der  Lump  hat  seine  Mutter  umgebracht- schwarz  werden -ja,  sehr 
schön-Kakao-Mumps-Kaiser  und  Reich-Zoroaster-Hansa-38  Köpf-Nicaea- 
Constanz  -Verbrennung  -  Huß-Schwager-Dreck  -Theriak  - pereat  mundus  -  ans- 
Hansa"  usw. 

An  einigen  Stellen  (Wasser-Apollinaris,  Nicaea-Constanz-Ver- 
brennung-Huß)  erkennt  man  noch  eine  innere  Beziehung  der  auf- 
tauchenden Vorstellungen.  Meist  aber  spielen  Anklänge  die  Ver- 
mittlerrolle, soweit  überhaupt  noch  eine  Verbindung  ersichtlich 
ist.  Da  die  Reihe  in  ziemlich  langsamem  Zeitmaße  vorgebracht 
wurde,  kann  natürlich  auch  manches  Bindeglied  unausgesprochen 
geblieben  sein. 

Der  Ideenflucht  möchten  wir  hier  als  zweite  Form  einer  Locke- 
rung des  Gedankenganges  die  Zerfahrenheit  gegenüberstellen, 
wie  sie  der  Dementia  praecox  im  weitesten  Sinne  eigentümlich  ist. 
Da  wir  von  den  tieferen  Grundlagen  dieser  Störung  noch  nichts 
wissen,  so  ist  es  recht  schwierig,  ihr  Wesen  genauer  zu  kenn- 
zeichnen. Wir  haben  es  hier  bei  leidlich  erhaltener  äußerer  Form 
der  Rede  mit  einem  mehr  oder  weniger  vollständigen  Verluste  des 
inneren  und  äußeren  Zusammenhanges  der  Vorstellungsreihen 
zu  tun.  Der  Gedankengang  zeigt  nirgends  mehr  Beziehungen  der 
einzelnen  Glieder  zueinander,  wie  bei  der  Ideenflucht,  sondern 
die  verschiedensten  Vorstellungen  reihen  sich  völlig  unvermittelt 
aneinander  an.  Dort  waren  wir  imstande,  noch  einigermaßen  den 
Gedankensprüngen  zu  folgen,  durch  die  wir  zu  immer  neuen  Vor- 
stellungen gelangen;  hier  dagegen  sind  fast  nirgends  Bindeglieder 
zwischen  den  aufeinanderfolgenden  Vorstellungen  erkennbar.  Wäh- 
rend ferner  der  Vorstellungsverlauf  bei  der  Ideenflucht  immerfort 
wechselnden  und  daher  nie  erreichten  Zielen  zustrebt  und  stets 
neue  Kreise  zieht,  findet  hier  ein  Fortschreiten  des  Gedanken- 
ganges nach  irgend  einer  Richtung  überhaupt  nicht  statt,  sondern 
nur  ein  planloses  Herumfahren  in  denselben  allgemeinen  Bahnen 
mit  zahlreichen,  verblüffenden  Abirrungen.  Vielfach  wiederholen 
sich  ähnliche  Wendungen,  freilich  meist  in  ganz  unklaren  und 


Störungen  des  Gedankenganges. 


293 


widerspruchsvollen  Formen.  Die  Ablenkbarkeit  durch  innere  und 
äußere  Einflüsse  kann  hier  ebenfalls  sehr  groß  sein,  aber  die  neu 
erweckten  Vorstellungen  bedingen  keine  Richtungsänderung,  son- 
dern schieben  sich  einfach  zusammenhangslos  in  die  zerfahrenen 
Gedankengänge  ein.  Es  gelingt  oft  ohne  Schwierigkeit,  durch 
Fragen  mitten  in  dem  Wirrwarr  von  Vorstellungen  eine  Reihe 
vollständig  geordneter  Antworten  zu  erzielen.  Die  folgende  Nach- 
schrift von  einer  katatonischen  Kranken  mag  dazu  dienen,  diese 
Eigentümlichkeiten  näher  zu  erläutern;  in  Klammern  sind  die 
Fragen  des  Arztes  eingefügt. 

(Warum  sind  Sie  hier?)  ,,Weil  ich  Kaiserin  bin.  Die  lieben  Eltern 
waren  schon  da,  und  alles  war  schon  da  und  hat  mir  die  Erlaubnis  gegeben; 
ich  habe  auch  stenographieren  gelernt.  Na,  David,  wie  geht's  denn?  Ja, 
so,  als  Ersatzreservist.  Größenwahn.  Kaiserin.  (Gefällt  es  Ihnen  gut?) 
0,  danke,  ganz  gut,  weil  die  Herrschaft  die  Erlaubnis  dazu  gegeben  hat, 
ja,  wir  wollen  wieder  die  besten  Freunde  sein.  Ach  Gott,  mein  Bruder  Karl 
David  der  erste  und  Olga  von  Mühlhausen.  Ach,  laßt  mich  doch  auch  ein- 
mal schreiben.  (Warum  sind  Sie  hier?)  Irrsinnig,  Größenwahn.  (Was?) 
Altes  Faß,  von  Heidelberg,  Studiosus  als  Kaufmann,  für  unsern  Willy, 
Kaufmann  dürfe  auch  dazu.  Ja  so,  weiter.  Ich  will  ja  nicht  schuld  sein; 
ich  habe  ja  niemand  dazu  aufgefordert;  ach  Gott,  von  damals  abends,  wie 
wir  beisammen  waren,  ja.  (Was  war  da?)  Nichts,  gar  nichts.  Heilbronn 
(lacht)  gar  nichts.  Um  Gottes  willen,  so  genau  wird  das  alles  genommen. 
Ja,  so.  (Wie  alt  sind  Sie?)  22.  VII.  1872.  (Wollen  Sie  wieder  fort?)  Ich 
weiß  nicht;  wenn  er  kommt,  bin  ich  da;  ich  werd'  ihm  doch  nicht  nach- 
laufen. (Lacht.)  Ich  muß  immer  knappen  (klappt  mit  den  Zähnen).  Ihr 
dürft  mich  auch  noch  einmal  über  die  Backen  streichen;  ich  hab'  nichts 
dagegen.  (Greift  nach  der  Uhrkette.)  Die  Kette  ist  aber  nichts.  Jetzt  will 
ich  doch  einmal  nach  der  Uhr  sehen.  Ich  will  mir  die  Freiheit  erlauben; 
unter  Verwandten  ist  alles  erlaubt.  Adam  und  Eva;  o,  die  ist  aber  nicht 
von  Gold.  Was  ich  gesagt  habe,  es  wäre  alles  wahr,  alles,  was  zur  Verwandt- 
schaft gehört;  ich  habe  ja  gesagt  von  a  bis  tz;  ich  kann  doch  nicht  alles 
mit  einmal  essen;  die  war  auch  nicht  schuld;  ich  will  an  allem  schuld  ge- 
wesen sein"  usw. 

Die  Ablenkung  durch  Anreden,  Klänge,  Gesichtseindrücke  läßt 
sich  hier  leicht  verfolgen.  Eine  Wiederkehr  einzelner  Wendungen 
ist  angedeutet;  stärker  tritt  sie  in  dem  folgenden  Beispiel  hervor, 
das  einer  langen  Nachschrift  bei  einem  katatonischen  Kranken 
entnommen  ist. 

,, Gehen  Sie  weg,  so  kommt  die  Kaufmanns  fr  au  und  sagt,  sie  ist  reich 
und  ich  bin  arm;  da  meint  sie,  ich  wäre  der  Weinstock;  da  geht  sie  hin 


294 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


und  betet  an  den  Weinstock.  Unter  Beten  verstehen  die  Katho- 
liken ,,oren".  Die  Frau  handelt  aber  nicht  im  Bewußtsein  der  tat- 
sächlich bewußten  Handlung.  Die  haben  das  Walzertempo  in  sich;  sie 
hören  und  hören  nicht,  weil  alles  durcheinander  ist;  der  eine  spricht 
französisch,  der  andere  lateinisch.  Ich  werde  in  ganz  Heidelberg  als  der 
größte  Sünder  angesehen,  bin  aber  nicht  der,  für  den  mich  die  katholische 
Kirche  hält.  Sie  verehrt  mich  als  zu  ideell.  Die  Dame,  die  nach  Amerika 
geflohen  ist  auf  dem  untergegangenen  Schiff,  hat  das  Eisen  und  den  Farb- 
stoff genommen  durch  den  Händedruck,  aber  nicht  durch  den  blutigen 
Händedruck,  durch  das  pulsierende  Blut,  sondern  durch  den  eisernen 
Händedruck.    Meine  Kraft  ist  vom  Eisen  abhängig"  usf. 

In  der  ganzen,  etwa  achtmal  so  langen  Unterredung  kehrten 
in  ähnlicher  Weise  ungezählte  Male  die  Ausdrücke  Eisen,  Gold, 
Stahl,  Messing,  Phosphor,  Silber,  Geld,  Elektrizität,  Kraft,  Ther- 
mometer, Handgelenk,  Meeresgrün,  Topfpflanze,  Wurzel,  Religion 
und  einige  andere  wieder,  aber  nicht  unmittelbar  hintereinander, 
sondern  an  ganz  verschiedenen  Stellen.  Die  langsam  vorgebrachten 
Äußerungen  schienen  zunächst  einen  gewissen  Sinn  zu  haben; 
erst  bei  genauerer  Prüfung  stellte  sich  die  gänzliche  Zerfahrenheit 
deutlich  genug  heraus.  Manche  Kranke  gefallen  sich  in  eigen- 
tümlich verblüffenden  Vorstellungsverbindungen.  Eine  ganz  klare 
und  besonnene  Kranke  äußerte  im  Tone  ruhiger  Rede:  ,,Da  oben 
haben  Sie  einen  echten  Hemdenknopf,  der  pflegt  erst  durch  mich 
in  Bereitschaft  zu  kommen.  Der  Feldwebelgeist  liegt  in  dem  Ge- 
schmeiß. Ist  es  nicht  rund,  auch  in  den  Kastengeist  zu  drehen. 
Ich  habe  der  sechsjährigen  Ehepflicht  genügt.  Sie  nehmen  ja 
schon  aus  dem  Mund  die  Kinder  heraus." 

Die  Anknüpfung  der  Vorstellungen  nach  dem  Klange  macht 
sich  hier  weniger  geltend  als  bei  der  Ideenflucht.  Nicht  selten 
aber  zeigt  sich  ein  Einfluß  des  Sprachklanges  auf  den  Gedanken- 
gang in  der  Form  der  ,, Wortspielerei".  Es  handelt  sich  dabei  um 
Verdrehungen  und  Verzerrungen  einzelner  Wörter  oder  Redens- 
arten; sie  sind  als  ein  Ausfluß  jener  Störung  zu  betrachten,  die 
wir  späterhin  als  Manieriertheit  kennen  lernen  werden.  So  sang 
eine  Kranke  stundenlang:  ,, Undank  ist  der  Welt  Lob".  Ein  an- 
derer sprach  von  ,,Fromage  de  Brüh",  als  er  Suppe  und  Käse  er- 
halten hatte,  verlangte  Heringssalat  gegen  seine  ,,Katertonie", 
meinte,  er  leide  nicht  an  Katatonie,  sondern  an  ,,Miezetonie",  er- 
widerte, als  von  einem  Douceur  gesprochen  wurde,  es  sei  noch 


Störungen  des  Gedankenganges. 


295 


nicht  zwölf  Uhr  (douze  heures).  Derselbe  Kranke  witzelte  aber 
auch  ohne  Beziehung  zum  Wortklange:  „Sie  sind  wohl  Moltke; 
Sie  sagen  ja  gar  nichts";  ,,ich  bin  bald  zweimal  neun  Monate  hier; 
jetzt  schicken  Sie  mich  doch  mal  in  die  Frauenklinik,  daß  ich 
endlich  niederkomme."  Diese  Reden  erinnern  an  die  bei  Hirn- 
geschwülsten beobachtete  ,, Witzelsucht". 

Bei  wachsender  Erregung  können  Klang  und  Rhythmus  die 
Äußerungen  der  Kranken  vollständig  beherrschen.  Allerdings  trägt 
das  Ergebnis  ein  ganz  anderes  Gepräge  als  bei  der  Ideenflucht. 
Insbesondere  fehlt  das  überraschende  Abspringen  von  einer  Vor- 
stellung, einer  Klangassoziation  auf  die  andere.  Dafür  tritt  die 
gleichförmige  Wiederkehr  derselben  Anklänge  und  Worte  und  dem- 
gemäß die  Eintönigkeit  und  Inhaltlosigkeit  der  Wendungen  deut- 
lich hervor.    Ein  Beispiel  gibt  die  folgende  Reimerei: 

,,  Li  eher,  lieber  Retter  mein  — •  rette  doch  nur  Dich  allein  —  Liebste 
Lieb',  wie  kann  ich  sein  allein  — •  was  ich  schein'  —  Lieber  Hand  —  ist 
doch  nur  Land  —  Lieber  Gott,  ich  wache  bald  wieder  —  wenn  Du  nur 
gibst  die  Mutter  wieder  —  Lieber  Gott,  was  will  ich  haben  —  als  nur  die 
alte  Gaben  —  In  Dir  nur  allein  —  ist  Mutter  gänzlich  ein  —  lieber  Gott, 
ich  kann  ja  warten  —  ich  will  ja  nichts  als  Mutterle  halten  —  Liebe,  Liebe, 
Liebe  mein  —  kann  nimmer  ein  Gedanke  sein  —  Gedanken  raten  tu  ich 
nicht  —  Die  Hand  allein  ist  Pf lichtespf licht"  usf. 

Schließlich  können  sich  die  sprachlichen  Äußerungen  der  Kran- 
ken in  eine  Reihe  von  Silben,  Buchstaben  oder  Lauten  auflösen. 
Während  aber  bei  den  schwersten  Formen  der  Ideenflucht  die  Kette 
der  Gleichklänge  einen  fortschreitenden  Wechsel  erkennen  läßt, 
während  dort  immer  noch  die  Mehrzahl  der  vorgebrachten  Sprach- 
gebilde wirkliche  Wörter  darstellen,  kommt  es  hier  zu  einer  völlig 
sinnlosen  Wiederholung  derselben  Bestandteile  mit  ganz  gering- 
fügigen Abänderungen,  zu  ,, Klangspielereien"  nach  Art  des  folgen- 
den Beispiels: 

„ellio,  ellio,  ellio  altomellio,  altomellio  —  selo,  elvo,  delvo,  helvo  —  f, 
f,  f,  lieber  7ater  ■ —  f,  f,  f  —  lieber  Vater  —  e,  e,  f  —  alte  und  neue  —  f, 
i  —  f,  f  —  katholische  Kirche  —  w,  e,  f  —  katholische  Kirche  — ,  w,  e,  f" 
und  so  zahllose  Male  in  eintöniger  Wiederholung. 

Der  Gedankengang  schreitet  hier  durch  den  Sprachklang  nicht 
zu  neuen  Vorstellungen  fort,  sondern  klebt  an  ihm  fest,  ohne  jede 


296 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


begleitende  Sachvorstellung,  Kennzeichnend  sind  namentlich  die 
sinnlosen  Reime, 

Die  gemeinsame  Folge  aller  Störungen,  die  den  inneren  Zu- 
sammenhang der  Vorstellungen  lockern  oder  zerstören,  ist  das 
Auftreten  eines  sehr  häufigen  Krankheitszeichens,  der  Verwirrt- 
heit, Die  Entstehungsweise  dieser  Erscheinung  ist,  wie  wir  ge- 
zeigt haben,  eine  vielfach  verschiedene.  Wo  die  Lockerung  des 
Gedankenzusammenhanges  wesentlich  durch  Flüchtigkeit  der  Leit- 
vorstellungen bedingt  wird,  da  entsteht  die  ideenflüchtige  Ver- 
wirrtheit mit  erhöhter  Ablenkbarkeit  und  Neigung  zu  äußeren, 
vielfach  sprachlichen  Assoziationen.  Unvermitteltes  Auftauchen 
ganz  verschiedenartiger  Vorstellungen  ohne  jedes  Bindeglied  er- 
zeugt die  zerfahrene  Verwirrtheit,  die  vielfach  mit  Andeutungen 
von  Stereotypie  und  Wortspielereien  einhergeht.  Vielleicht  können 
wir  ferner  eine  traumhafte  Verwirrtheit  unterscheiden,  wie  sie 
den  deliriösen  Zuständen  eigentümlich  ist.  Bei  ihr  dürfte  neben 
der  Auffassungsstörung  und  dem  raschen  Verblassen  der  Wahr- 
nehmungen das  starke  Hervortreten  rein  sinnlicher  Vorstellungs- 
bestandteile eine  gewisse  Rolle  spielen,  insofern  sie  uns  bunte, 
abenteuerliche  Erlebnisse  vorspiegelt,  ohne  daß  wir  imstande 
wären,  die  inneren  Widersprüche  aufzufassen. 

Überraschendes  Auftauchen  massenhafter,  locker  sich  anein- 
ander schließender,  neuer  Gedankenreihen  kann,  wie  es  scheint, 
zu  einer  ,, kombinatorischen"  Verwirrtheit  führen;  uns  schwin- 
delt der  Kopf,  weil  wir  nicht  imstande  sind,  die  plötzlich  aufschießen- 
den Vorstellungen  zu  ordnen  und  zu  überblicken.  Diese  Form  der 
Verwirrtheit  findet  sich  in  jenen  Krankheitsformen,  in  deren 
weiterem  Verlaufe  die  rasch  entstandenen  Einbildungen  zu  einem 
dauernden  Wahngebäude  verarbeitet  werden,  ähnlich,  wie  auch 
wir  eine  uns  anfangs  verwirrende  neue  Idee  allmählich  in  unsere 
Gedankenkreise  hineinarbeiten  und  dadurch  die  innere  Einheit 
und  den  Zusammenhang  derselben  wiederherstellen.  Ein  solcher 
Kranker  bezeichnete  mir  dieses  verwirrende  Anstürmen  von  Ah- 
nungen und  Vermutungen  als  eine  wahre  ,, Hunnenschlacht  des 
Geistes",  Hier  findet  sich  vielfach  auch  das  Auftauchen  von  Er- 
innerungsfälschungen unter  dem  Einflüsse  der  lebhaft  arbeitenden 
Einbildungskraft.  Vielfach  wird  ferner  das  Bestehen  massen- 
hafter Sinnestäuschungen  als  Ursache  einer  halluzinatorischen 


Zwangsvorstellungen. 


297 


Verwirrtheit  betrachtet,  ähnlich  wie  beim  Gesunden  die  Orien- 
tierung verloren  geht,  wenn  er  sich  plötzlich  in  ein  unentwirr- 
bares Gemisch  neuer,  rätselhafter  Sinneseindrücke  versetzt  sieht. 
Bei  alten  Halluzinanten  sehen  wir  indessen,  daß  vollkommene 
Ordnung  der  Gedanken  trotz  zahlreicher  Sinnestäuschungen  be- 
stehen kann. 

Auch  die  psychische  Hemmung,  die  das  Verständnis  und  die 
geistige  Verarbeitung  äußerer  Eindrücke  erschwert,  scheint  eine 
eigenartige  Form  der  Verwirrtheit  erzeugen  zu  können,  die  wir 
wohl  am  besten  als  ,,stu poröse"  Verwirrtheit  bezeichnen.  Öfters 
handelt  es  sich  dabei  allerdings  ohne  Zweifel  um  die  Verbindung 
von  Stupor  mit  Ideenflucht.  Endlich  spielen  eine  sehr  wichtige 
Rolle  bei  der  Entstehung  der  verschiedenen  Formen  der  Verwirrt- 
heit die  Gemütsbewegungen.  Ihren  gewaltigen  Einfluß  auf  den 
klaren  Zusammenhang  der  Gedanken  lehrt  uns  schon  die  gesunde 
Erfahrung,  von  den  leisesten  Regungen  der  Verlegenheit  und  Be- 
fangenheit an  bis  zu  den  mächtigen  Gefühlsschwankungen  der 
Angst,  des  Zornes  und  der  Verzweiflung.  In  Krankheitszuständen 
mit  ihren  heftigen  Erschütterungen  des  gemütlichen  Gleichgewichtes 
ist  dieser  Einfluß  natürlich  noch  unvergleichlich  viel  mächtiger. 
Wir  haben  es  daher  wahrscheinlich  sehr  häufig  mit  Hemmungen 
und  Störungen  des  Gedankenganges  durch  Gemütsbewegungen  zu 
tun,  die  sich  in  den  verschiedenen  Krankheitszuständen  mit  wech- 
selnder Stärke  geltend  machen  können. 

Zwangsvorstellungen.  Als  Zwangsvorstellungen  bezeichnete 
1867  ,v.  Krafft -Ebing  solche  Vorstellungen,  die  sich  dem  Be- 
wußtsein zwangsmäßig  aufdrängen.  Griesinger  gebrauchte  kurz 
darauf  diese  Bezeichnung  in  einem  engeren  Sinne  für  Vorstel- 
lungen, deren  Hervortreten  im  Bewußtsein  als  Zwang  empfunden 
wird. 

Im  gewöhnlichen  Flusse  der  Gedanken  vermag  sich  keine  ein- 
zelne Vorstellung  längere  Zeit  hindurch  auf  voller  Höhe  zu  er- 
halten, wenn  sie  nicht  durch  besondere  Ursachen  immer  von  neuem 
angeregt  wird.   Unablässig  drängen  sich  neue  Eindrücke  und  Vor- 

1)  Westphal,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1877,  46;  Wille,  Arch.  f.  Psychiatrie, 
XII,  i;  Löwenfeld,  ebenda  XXX,  679;  Warda,  ebenda  XXXIX,  239;  Meynert, 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1888.  5.-7;  Tuczek,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1899,  6; 
Fried  mann,  Psych.  Wochenschr.  1901,  40;  Psych.  Monatsschr.,  XXI,  214. 


298 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Stellungen  ins  Bewußtsein,  um  das  Übergewicht  zu  gewinnen, 
sobald  die  Lebhaftigkeit  vorangegangener  Bilder  zu  verblassen 
beginnt.  In  diesem  Kampfe  können  sich  einzelne  Vorstellungen 
im  allgemeinen  nur  behaupten,  wenn  sie  von  uns  willkürlich  fest- 
gehalten werden.  Es  gibt  indessen  gewisse  Gruppen  von  Vorstel- 
lungen, fast  immer  solche  von  rhythmischer  Gliederung,  Verse, 
Zitate,  Melodien,  die  sich  uns  wegen  ihrer  eindringlichen  Form 
eine  Zeitlang  immer  wieder  aufdrängen.  Wir  können  sie  nicht 
loswerden  und  müssen,  vielleicht  zu  unserem  größten  Verdrusse, 
in  steter  Wiederholung  auf  sie  zurückkommen,  bis  ihre  Macht 
sich  abgeschwächt  hat. 

Was  hier  durch  die  zwingende  Kraft  einer  Art  psychomoto- 
rischer Einstellung  bewirkt  wird,  entspringt  in  weit  mannigfaltigeren 
Formen  aus  der  Unlustbetonung  von  Vorstellungen.  Der  einfachste 
Fall  ist  die  peinliche  Erinnerung  an  irgendein  schreckliches  Er- 
eignis, einen  widerwärtigen  Eindruck,  die  eine  aufdringliche  Macht 
über  unseren  Gedankengang  gewinnen  kann  und  sich  trotz  eifrig- 
ster Bemühungen  nicht  verscheuchen  läßt.  Das  Bild  dessen,  was 
wir  erlebt  haben,  schiebt  sich  mit  quälender  Deutlichkeit  immer 
wieder  vor  unser  geistiges  Auge;  wir  niüssen  die  Vorgänge  von 
neuem  überdenken,  uns  jede  Einzelheit  vergegenwärtigen,  nach 
den  verschiedensten  Richtungen  darüber  nachgrübeln.  Bisweilen 
tauchen  solche  Bilder  nur  bei  bestimmtem  Anlasse  auf,  überwältigen 
dann  aber  unseren  Willen.  Die  Erinnerung  an  ein  blutendes  Tier 
kann  sich  beim  Genüsse  von  Fleisch  regelmäßig  einstellen  und 
Widerwillen  dagegen  erregen;  ein  geöffnetes  Fenster  weckt  etwa 
die  Vorstellung  eines  mit  erlebten  Sturzes,  die  uns  zwingt,  es  wieder 
zu  schließen. 

Eine  weitere  Gruppe  von  Zwangsvorstellungen  bilden  die  Kon- 
trastvorstellungen. Solche  Gedankenkreise,  deren  Inhalt  stark 
unlusterregend  wirkt,  und  die  deshalb  ängstlich  vermieden  werden, 
können  gerade  dadurch  eine  besondere  Macht  gewinnen.  Wie  die 
Gespenster-  und  Schauergeschichten  für  den  Furchtsamen  einen 
geheimnisvollen  Reiz  besitzen,  können  sich  dem  religiös  Veran- 
lagten gotteslästerliche  Gedanken  aufdrängen,  namenthch  dann, 
wenn  er  sich  am  meisten  vor  ihnen  fürchtet,  beim  Gottesdienst; 
ja,  diese  Furcht  selbst  ist  es,  die  sie  herbeiruft  und  ihnen  zwin- 
gende Kraft  verleiht.    In  anderen  Fällen  sind  es  unanständige. 


Zwangsvorstellungen. 


299 


geschlechtliche  Vorstellungen  und  Bilder,  die  sich  aufdrängen, 
öfters  in  Verbindung  mit  religiösen  Gedanken.  Der  Kranke  muß 
immer  an  die  Geschlechtsteile  der  ihm  Begegnenden  denken,  sie 
sich  nackt  vorstellen,  geschlechtliche  Gedanken  an  die  Person 
Christi  oder  der  Jungfrau  Maria  knüpfen.  Der  auch  dem  Gesunden 
bekannte  Reiz  des  Verbotenen  bewirkt  hier,  daß  gerade  diejenigen 
Vorstellungen  mit  zwingender  Macht  auftreten,  die  dem  Kranken 
die  peinlichsten  Gemütsbewegungen  verursachen.  Ganz  besonders 
ist  es  die  Vorstellung,  irgendein  Verbrechen  begangen  zu  haben, 
die  mit  allen  möglichen  Einzelheiten  ausgemalt  werden  kann.  Die 
Kranken  müssen  immer  wieder  denken,  daß  sie  bei  dieser  oder 
jener  Gelegenheit  ein  wichtiges  Papier  achtlos  vernichtet,  ein 
Stückchen  der  Hostie  beim  Abendmahl  verstreut,  daß  sie  sich 
beim  Herausgeben  von  Geld  zum  Nachteil  eines  anderen  geirrt 
haben  könnten,  daß  sie  bei  der  Fällung  eines  Urteils  nicht  mit  der 
nötigen  Gewissenhaftigkeit  verfahren,  durch  unvorsichtiges  Um- 
gehen mit  Feuerzeug  zu  Brandstiftern  geworden  seien.  Daran 
knüpfen  sich  dann  endlose  Grübeleien  über  die  Einzelheiten  der 
Vorgänge,  Selbstverteidigungen  und  Selbstbeschuldigungen.  Bis- 
weilen nehmen  diese  Vorstellungen  ganz  abenteuerliche  Formen 
an.  Vielleicht  haben  die  Kranken  ihnen  begegnende  Frauen  oder 
Kinder  vergewaltigt,  Päderastie  oder  Sodomie  getrieben.  Weichen 
verstellt,  Eisenbahnzüge  zum  Entgleisen  gebracht.  Während  sonst 
bei  den  Zwangsvorstellungen  das  klare  Bewußtsein  ihrer  Grund- 
losigkeit und  Krankhaftigkeit  erhalten  bleibt,  kann  bei  diesen 
Formen  zeitweise  die  bündige  Berichtigung  der  quälenden  Vor- 
stellungen versagen.  Die  Kranken  sind  nicht  sicher,  ob  sie  nicht 
doch  eine  der  sie  beunruhigenden  Handlungen  ausgeführt  haben, 
ja  sie  können  sogar  überzeugt  sein,  daß  es  wirklich  geschehen  sei, 
und  sich  den  Vorgang  mit  allerlei  Einzelheiten  ausmalen,  aller- 
dings niemals  mit  der  unantastbaren  Gewißheit,  die  wir  bei  den 
eigentlichen  Wahnbildungen  beobachten.  Eine  meiner  Kranken 
konnte  niemals  allein  sein,  sondern  mußte  immer  jemanden  um 
sich  haben,  um  sich  von  ihm  bestätigen  zu  lassen,  daß  sie  nichts 
von  dem  begangen  habe,  was  ihr  sich  aufdrängte. 

Eine  reiche  Quelle  von  Zwangsvorstellungen  liefert  das  all- 
gemeine Gefühl  der  Unsicherheit  und  Verantwortlichkeit,  wie  es 
durch  alle  möglichen  Einrichtungen  unseres  Kulturlebens  gezüch- 


300 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


tet  wird,  indem  es  in  ängstlichen  Menschen  eine  dauernde  innere 
Spannung  erzeugt,  die  von  stetem  Mißtrauen  gegen  die  eigenen 
Leistungen  begleitet  ist.  Aus  der  Befürchtung,  irgendetwas  zu 
versehen,  aus  dem  quälenden  Zweifel,  ob  jede  Möglichkeit  eines 
Fehlers  oder  Irrtums  ausgeschlossen  sei,  entwickelt  sich  bei  den 
Kranken  eine  übertriebene  Peinlichkeit  in  Denken  und  Handeln, 
Sie  werden  daher  mit  keiner  Aufgabe  fertig,  wiederholen  sie  un- 
gezählte Male,  müssen  sich  immer  von  neuem  vergewissern,  ob 
eine  Handlung  richtig  ausgeführt,  ob  nicht  etwas  unterlassen, 
jemand  geschädigt  wurde.  Einer  meiner  Kranken  war  nicht  im- 
stande, eine  Zahlung  zu  machen,  ohne  daß  ihm  die  Richtigkeit 
von  anderen  ausdrücklich  versichert  wurde;  andere  müssen  sich 
über  alle  Vorkommnisse  Aufzeichnungen  machen,  sie  sich  immer 
wieder  mit  allen  Einzelheiten  ins  Gedächtnis  zurückrufen.  Alle 
diese  Maßregeln  sind  jedoch  höchstens  vorübergehend  imstande, 
die  Kranken  zu  beruhigen  und  die  Unsicherheit  zu  verscheuchen; 
die  Möglichkeit,  zu  einem  endgültigen,  bündigen  Abschlüsse  zu 
gelangen,  wird  durch  die  aus  dem  Mangel  an  Selbstvertrauen  immer 
wieder  emporschießenden  Zweifel  ausgeschlossen.  Friedmann 
hat  mit  Recht  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  der  Zweifel  seinem 
Wesen  nach  zu  den  ,, unabgeschlossenen"  Vorstellungen  gehört, 
deren  den  Willen  anspornende  Wirkung  zwar  tatsächlich,  nicht 
aber  grundsätzlich  ein  Ende  erreichen  kann.  Die  gleiche  gewaltige 
Macht,  die  uns  zu  einer  immer  weiter  getriebenen  Vervollkommnung 
unserer  Leistungen  zwingt  und  somit  die  Grundlage  allen  Fort- 
schrittes bildet,  verleiht  auch  der  ,, Zweifelsucht"  ihre  Herrschaft 
über  das  Seelenleben;  dieselbe  Eigenschaft,  deren  planmäßiger 
Züchtung  wir  unsere  Gesittung  verdanken,  die  Gewissenhaftigkeit, 
wird  zum  Hemmnis  jeder  Tätigkeit,  sobald  sie  nicht  ein  kräftiger 
Wille  in  den  richtigen  Schranken  hält. 

Knüpft  sich  die  ,, Zweifelsucht"  an  das  Verantwortlichkeits- 
gefühl an,  wie  es  die  Beziehungen  der  Menschen  zueinander  er- 
zeugen, so  erwächst  die  Grübel-  und  Fragesucht  aus  den  allgemeinen 
Denkgewohnheiten  heraus,  allerdings  ebenfalls  aus  einer  krank- 
haften Steigerung  des  Bedürfnisses,  gewisse  geistige  Leistungen 
auf  die  äußerste  Spitze  zu  treiben.  Jeder  Gesunde  legt  Wert  darauf, 
die  Namen  der  ihn  umgebenden  Personen  zu  kennen.  Bei  dem 
krankhaften  ,, Namenzwange"  kann  das  Bedürfnis,  sich  die  Namen 


Zwangsvorstellungen. 


301 


anderer  Menschen  ins  Gedächtnis  zu  rufen,  so  stark  und  so  quälend 
werden,  daß  die  Kranken  zur  Befriedigung  desselben  große  Ver- 
zeichnisse anlegen  und  am  Ende  den  Namen  jedes  beliebigen  Men- 
schen zu  erfahren  suchen,  der  ihnen  begegnet.  Der  „Zahlen- 
zwang" knüpft  an  die  Rechenkünste  an,  die  wir  zur  Beherrschung 
der  Zahlenreihe  in  der  Jugend  üben  müssen.  Er  veranlaßt  den 
Kranken,  alle  möglichen  unsinnigen  Zählungen  der  sich  ihm 
darbietenden  Dinge  auszuführen  oder  mit  den  Zahlen,  die  ihm 
aufstoßen,  zwangsmäßig  Rechnungen  vorzunehmen.  Als  ,, Aus- 
druckszwang" kann  man  die  krankhafte  Neigung  bezeichnen, 
denselben  Gedanken  unter  kleinlichster  Abwandlung  aller  Einzel- 
heiten immer  in  eine  neue  Form  zu  kleiden,  ohne  daß  doch  jemals 
die  befriedigende  Lösung  gefunden  würde.  Dadurch  entsteht  eine 
merkwürdige  Häufung  von  Wiederholungen,  die  jeden  Fortschritt 
des  Gedankens  aufhalten.  Andere  Formen  sind  der  ,, Erinnerungs- 
zwang", der  zu  genauer,  unter  Umständen  schriftlicher  Vergegen- 
wärtigung früherer  Erlebnisse  drängt,  der  „Nachforschungszwang", 
sich  mit  der  Feststellung  irgendwelcher  ganz  gleichgültiger  Vor- 
gänge und  Tatsachen  zu  befassen.  Bei  der  „Fragesucht",  die 
an  die  Neigung  des  Kindes  zu  ausschweifenden  und  läppischen 
Fragen  erinnert,  drängen  sich  dem  Kranken  in  nie  endender 
Folge  unfruchtbare  und  zwecklose  Fragen  auf,  die  ihn  beunruhigen 
und  in  Atem  halten,  ohne  daß  er  sich  ihrer  zu  erwehren  ver- 
möchte. 

Auch  bei  diesen  letztgeschilderten  Formen  der  Zwangsvor- 
stellungen, bei  denen  der  Inhalt  an  sich  ein  gleichgültiger  ist,  haben 
wir  es  mit  „unabgeschlossenen"  Vorstellungen  zu  tun,  die  eben 
deshalb  erregend  wirken.  Überall  handelt  es  sich  um  das  Gefühl 
der  Ungewißheit,  das  die  Kranken  zu  ihren  Anstrengungen  an- 
spornt und  doch  niemals  ganz  beseitigt  werden  kann,  weil  jede 
vor  ihnen  auftauchende  Aufgabe  sofort  eine  Reihe  anderer  nach 
sich  zieht.  Der  Namen,  der  Zählungen,  der  Ausdrucksformen,  der 
Erinnerungen  und  Fragen  ist  kein  Ende,  und  die  abschließende 
Beruhigung  ist,  sobald  überhaupt  dem  bohrenden  Drange  nach- 
gegeben wurde,  nicht  zu  erreichen.  Die  tiefste  Wurzel  dieser 
Zwangsvorstellungen  liegt  also  in  denselben  Unlustgefühlen,  die  uns 
dazu  treiben,  Klarheit  und  Wahrheit  zu  suchen,  aber  sie  sind  nicht 
mehr  die  Diener,  sondern  die  Herren  der  geistigen  Persönlichkeit, 


302 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


weil  dieser  letzteren  die  Kraft  fehlt,  sie  zu  unterdrücken,  wo  sie 
den  Fluß  des  Denkens  hindern. 

Die  ausgeprägteren  Formen  der  Zwangsvorstellungen  gedeihen 
nur  unter  dem  Einflüsse  einer  mehr  oder  weniger  deutlich  ängst- 
lich gefärbten  Gemütslage.  Ich  habe  mich,  wenn  man  von  den 
noch  im  Bereiche  des  Gesunden  liegenden  Fällen  rhythmischer 
Zwangsvorstellungen  absieht,  niemals  davon  überzeugen  können, 
daß  wir  es  hier  mit  reinen  ,, Denkstörungen"  zu  tun  haben,  wie 
nach  West phals  Vorgang  noch  vielfach  angenommen  wird.  Auch 
dort,  wo  ihr  Inhalt  anscheinend  ein  gleichgültiger  ist,  liegen  ihnen 
lebhaft  betonte  Gemütsbedürfnisse  zugrunde,  die  sich  gegen  die  ver- 
standesmäßige Überlegung  behaupten.  Innerhalb  gewisser  Grenzen 
wird  die  innere  Unruhe,  die  alles  Zwangsdenken  begleitet,  durch 
die  Unterwerfung  unter  den  Zwang  gemildert;  der  offene  Wider- 
stand pflegt  sie  erheblich  zu  steigern.  Im  weiteren  Verlaufe  aller- 
dings und  bei  den  Zwangsvorstellungen  mit  peinigendem  Inhalte 
macht  sich  auch  eine  Angst  vor  diesen  selbst  geltend.  Die  Kranken 
fühlen  sich  gequält  und  unterjocht;  sie  suchen  sich  des  Zwanges 
zu  erwehren,  in  der  Regel  mit  dem  Erfolge,  daß  die  peinliche  Er- 
fahrung der  Ohnmacht  die  Beunruhigung  steigert  und  dadurch  der 
Wiederkehr  immer  von  neuem  den  Weg  ebnet. 

Die  Zwangsvorstellungen  begegnen  uns  meist  auf  dem  Boden 
erblicher  Veranlagung,  bei  Psychopathen,  die  von  Jugend  auf  ein 
geringes  Selbstvertrauen  gehabt  haben,  grüblerisch,  unfrei,  ängst- 
lich und  peinlich  in  allen  Leistungen  gewesen  sind.  Hier  können 
sie  mit  Schwankungen  das  ganze  Leben  hindurch  fortbestehen. 
Sodann  aber  treten  sie  gar  nicht  selten  im  Verlaufe  der  zirkulären 
Depressionszustände  hervor,  um  nach  der  Genesung  spurlos  wieder 
zu  verschwinden.  Gelegentlich  beobachtet  man  auch  hierher  ge- 
hörige Störungen  im  Beginne  einer  Dementia  praecox. 

Störungen  der  Einbildungskraft.  Der  Schatz  unserer  früher  er- 
worbenen Erfahrungen  gewinnt  erst  dadurch  seinen  vollen  Wert 
für  uns,  daß  wir  imstande  sind,  aus  ihm  willkürlich  Vorstellungen 
und  Erinnerungen  in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins  zu  heben 
und  sie  in  die  mannigfachste  Verknüpfung  zu  bringen.  Wir  dürfen 
diese  Fähigkeit,  die  eine  Reihe  von  Leistungen  in  sich  schließt, 
hier  wohl  vorläufig  als  Einbildungskraft  kennzeichnen.  Sie 
setzt  natürlich  auf  der  einen  Seite  erneuerungsfähige  Spuren  frü- 


Störungen  der  Einbildungskraft. 


303 


herer  Seelenvorgänge  voraus;  auf  der  anderen  Seite  aber  ist  sie  es, 
die  es  uns  ermöglicht,  aus  den  einfachen  Erinnerungsresten  neue 
psychische  Gebilde  zusammenzusetzen,  uns  über  die  Sinneserfahrung 
zu  erheben  und  schöpferische  Geistesarbeit  zu  leisten.  So  bildet 
die  sinnliche  Einbildungskraft  die  Grundlage  des  malerischen 
oder  musikalischen  Schaffens,  und  auch  die  Entdeckerarbeit  des 
Erfinders  oder  Forschers  wie  die  Gedankengänge  des  Weltweisen 
nehmen  ihren  Ausgang  von  der  willkürlichen  Verbindung  getrennt 
erworbener  Erfahrungsbestandteile. 

Die  freie  Verfügung  über  die  schlummernden  Vorstellungen 
wie  ihre  Verknüpfung  kann  in  Krankheitszuständen  sehr  beträcht- 
lich erschwert  sein.  Vor  allem  ist  das  der  Fall  bei  der  geistigen 
Lähmung,  wie  sie  sich  in  leichteren  Graden  schon  bei  der  ein- 
fachen Ermüdung,  sodann  bei  Vergiftung  mit  betäubenden  und 
schlafmachenden  Mitteln,  namentlich  aber  bei  den  schweren  Ver- 
blödungen der  Paralyse,  des  Altersirreseins  und  anderer  Hirn- 
erkrankungen entwickelt.  Bei  diesen  letzteren  Störungen  verbindet 
sich  das  Versiegen  der  Einbildungskraft  regelmäßig  mit  einer  Ab- 
nahme der  Gedächtnisleistungen;  die  Vorstellungen  stehen  nicht 
nur  nicht  mehr  zu  Gebote,  sondern  sie  gehen  in  weitem  Umfange 
völlig  verloren.  Wo  dieser  Verlust  weniger  ausgedehnt  ist,  wie  zu- 
meist beim  epileptischen  Schwachsinn  und  beim  Kretinismus,  ent- 
wickelt sich  eine  einfache  „Schwerfälligkeit".  Die  Kranken 
sind  wohl  noch  imstande,  über  ihren  Vorstellungsschatz  zu  ver- 
fügen, aber  sie  bedürfen  dazu  einer  unverhältnismäßig  langen  Zeit 
und  lebhafter  Anregung. 

Der  Schwerfälligkeit  äußerlich  ähnlich  ist  die  Denkhem- 
mung, der  wir  namentlich  in  den  depressiven  und  gewissen  Misch- 
zuständen des  manisch-depressiven  Irreseins  begegnen;  vielleicht 
ist  auch  die  Denkstörung  in  manchen  hysterischen  und  epilep- 
tischen Dämmerzuständen  hierher  zu  rechnen.  Während  es  sich 
bei  der  Schwerfälligkeit  um  eine  dauernde  Verlangsamung  und 
Unbeholfenheit  der  geistigen  Leistungen  handelt,  haben  wir  es 
bei  der  Denkhemmung  mit  einer  vorübergehenden  Erschwerung 
durch  starke  Widerstände  zu  tun.  Sie  ist  regelmäßig  begleitet 
von  Änderungen  des  Stimmungshintergrundes,  deren  Bedeutung 
für  die  Tätigkeit  der  Einbildungskraft  uns  ja  aus  dem  gesunden 
Leben  geläufig  ist.    Die  Verarbeitung  äußerer  Eindrücke  ist  er- 


304 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Schwert,  unter  Umständen  bis  zur  völligen  Ratlosigkeit,  weil  der 
Widerhall  rasch  auftauchender  Erinnerungsbilder  fehlt;  die  Kranken 
können  sich  auf  nichts  besinnen,  finden  nicht  die  Anknüpfung  an 
frühere  Erlebnisse,  wissen  bisweilen  nicht  mehr  die  Namen  ihrer 
nächsten  Angehörigen  anzugeben,  Ihnen  fällt  auch  durchaus 
nichts  ein;  die  Gedanken  scheinen  geradezu  still  zu  stehen.  Solche 
Kranke  können  den  Eindruck  ausgeprägtesten  Blödsinns  machen. 
Als  Hemmung  wird  aber  die  Störung  dadurch  gekennzeichnet, 
daß  unter  gewissen  Bedingungen  alle  diese  schweren  Störungen 
ziemlich  plötzlich  verschwinden  können.  Außerdem  wird  von  den 
Kranken  selbst  der  Widerstand,  mit  dem  sie  zu  kämpfen  haben, 
deutlich  empfunden.  Es  fehlt  ihnen  nicht  an  der  geistigen  Reg- 
samkeit; sie  sind  nicht  stumpf  und  gleichgültig  wie  die  verblödeten 
Kranken,  aber  sie  vermögen  trotz  der  größten  Anstrengungen  nicht, 
die  Gebundenheit  und  Unfreiheit  ihres  Denkens  zu  überwinden. 

Ganz  anders  liegt  die  Sache  bei  der  krankhaften  ,, Interesse- 
losigkeit", wie  sie  jenen  Krankheitsformen  eigentümlich  ist, 
die  wir  als  Dementia  praecox  zusammenfassen.  Hier  ist  die  geistige 
Beweglichkeit  an  sich  nicht  wesentlich  behindert;  dagegen  fehlt 
mehr  oder  weniger  vollständig  die  Triebfeder  der  Gedankenarbeit. 
Auf  bestimmte  Anregungen  hin  vermögen  die  Kranken  ohne 
Schwierigkeit  beliebige  Vorstellungen  wachzurufen,  aber  sie  werden 
nicht  aus  eigenem  Antriebe  zu  geistiger  Tätigkeit  gedrängt,  geben 
sich  keine  Rechenschaft  über  das,  was  mit  ihnen  geschieht,  denken 
nicht  nach,  machen  sich  kein  Bild  von  der  Zukunft.  Da  auf  diese 
Weise  das  geistige  Leben  mehr  und  mehr  stockt  und  die  Erneue- 
rung alter  Vorstellungen  ausbleibt,  vollzieht  sich  allmählich  auch 
eine  Einschrumpfung  des  Erfahrungsschatzes,  eine  Art  Verkümme- 
rung durch  Nichtgebrauch.  Man  kann  sich  jedoch  bei  diesen  Kran- 
ken, im  Gegensatz  etwa  zu  den  Paralytikern,  nicht  selten  davon 
überzeugen,  daß  gelegentlich  noch  überraschend  viel  mehr  Vor- 
stellungen bei  ihnen  auftauchen,  als  man  bei  ihrer  völligen  Gedan- 
kenleere erwartet  hätte.  Daraus  geht  hervor,  daß  es  sich  hier  in 
erster  Linie  um  den  Verlust  der  geistigen  Regsamkeit  gehandelt 
haben  muß. 

Krankhafte  Erregungen  der  Einbildungskraft  geben  sich  in 
besonderer  Lebhaftigkeit  der  Einbildungsvorstellungen  kund,  die 
unter  Umständen  fast  sinnliche  Stärke  gewinnen  können.  Wir 


Störungen  der  Einbildungskraft. 


305 


sehen  das  vor  allem  in  den  verschiedenartigen  deliranten  Zu- 
ständen; damit  verbindet  sich  dann  regelmäßig  eine  ausgeprägte 
Auffassungsstörung.  Wenn  man  will,  kann  man  auch  gewisse 
Angstzustände  bei  Zirkulären  und  Psychopathen  hierher  rechnen, 
in  denen  die  Kranken  sich  ihre  Befürchtungen  mit  peinlicher 
Deutlichkeit  und  Ausführlichkeit  ausmalen.  Es  handelt  sich  hier 
offenbar  um  eine  ganz  ähnliche  Erregung  der  Einbildungskraft, 
wie  wir  sie  bei  den  entsprechenden  Gemütsbewegungen  der  Ge- 
sunden beobachten. 

Zweifelhaft  muß  es  bleiben,  ob  wir  es  auch  in  den  manischen, 
paralytischen  oder  katatonischen  Erregungszuständen  mit  einer 
Steigerung  der  Einbildungskraft  zu  tun  haben.  Am  ehesten  würde 
man  vielleicht  noch  für  die  Manie  eine  solche  Annahme  machen 
können,  doch  ist  der  wirkliche  Gedankenreichtum  selbst  hier 
schwerlich  vermehrt,  oft  genug  sogar  geradezu  herabgesetzt.  Aller- 
dings behaupten  einzelne  Kranke,  daß  ihnen  so  viele  Gedanken 
zuströmten,  und  auch  in  den  zirkulären  Depressionszuständen 
hört  man  hier  und  da  derartige  Angaben.  Es  sprechen  jedoch 
manche  Gründe  dafür,  daß  es  sich  dabei  mehr  um  eine  erhöhte 
Sprunghaftigkeit  und  Flüchtigkeit  der  inneren  Vorgänge,  als  um 
eine  gesteigerte  Erzeugung  von  Vorstellungen  handelt. 

Dauerndes  Überwuchern  der  Einbildungstätigkeit  über  die 
nüchterne  Verarbeitung  der  Erfahrung  findet  sich  bei  einer  großen 
Gruppe  von  psychopathischen  Persönlichkeiten.  Dahin  gehören 
zunächst  die  krankhaften  Erfinder  und  Abenteurer,  die  bei  der 
Verfolgung  ausschweifender  Pläne  vollständig  den  sicheren  Boden 
der  Wirklichkeit  verlieren  und  nur  den  Erfolg,  aber  nie  die 
Schwierigkeiten  und  die  Unzulänglichkeit  ihrer  Mittel  vor  Augen 
haben.  Ihnen  verwandt  sind  die  Träumer,  die  sich  gewohnheits- 
mäßig in  willkürlich  erdachte  Lebenslagen  versenken  und  sie 
liebevoll  mit  feinsten  Einzelheiten  ausmalen.  Endlich  haben  wir 
hier  der  krankhaften  Lügner  und  Schwindler  zu  gedenken,  die 
in  den  wechselnden  Gebilden  ihrer  geschäftigen  Einbildungskraft 
höchste  Befriedigung  finden  und  dadurch  zu  immer  neuen,  kühnen 
Erfindungen  und  Ausschmückungen  getrieben  werden,  so  daß  ein 
unentwirrbares  Gemisch  von  Wahrheit  und  Dichtung  entsteht^). 

^)  Delbrück,  Die  pathologische  Lüge  und  die  psychisch-abnormen  Schwindler. 
1891. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ,  20 


3o6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Große  Lebhaftigkeit  der  Einbildungsvorstellungen  geht  in  der 
Regel  mit  erhöhter  Beeinflußbarkeit  der  Gedankenwelt  durch 
äußere  und  innere  Ursachen  einher,  da  sie  der  Ausdruck  einer 
gesteigerten  Beweglichkeit  der  psychischen  Gebilde  überhaupt 
zu  sein  pflegt.  In  der  Gesundheitsbreite  zeigt  sich  das  beim  kind- 
lichen und  beim  weiblichen  Seelenleben.  Krankhafte  Suggestibi- 
lität  und  Autosuggestibilität  ist  die  Begleiterscheinung  vieler  psy- 
chopathischer Zustände,  namentlich  der  hysterischen  Veranlagung. 
Sie  äußert  sich  hier  nicht  nur  in  der  Zugänglichkeit  des  Denkens 
und  Empfindens  für  lebhafte  Eindrücke  und  Einreden,  in  der 
Herrschaft  unvermittelt  auftauchender  Einbildungen,  sondern 
namentlich  auch  in  dem  Auftreten  von  allerlei  körperlichen  Folge- 
erscheinungen,  die  durch  Vermittlung  von  Gemütsbewegungen 
ausgelöst  werden.  Nicht  selten  begegnet  man  hier  auch  jener 
Störung,  die  Bonhöffer  als  ,, pathologischen  Einfall"^)  beschrie- 
ben hat.  Es  handelt  sich  dabei  um  das  plötzliche,  bisweilen  durch 
äußere  Anlässe  angeregte  oder  doch  begünstigte  Auftauchen  von 
Größenideen,  die  auch  das  Handeln  bestimmen  können.  Die  Kran- 
ken träumen  sich  in  eine  ihren  Wünschen  entsprechende  Lage 
hinein,  treten  als  reiche  Leute  auf,  legen  sich  hochtrabende  Titel 
bei,  knüpfen  Verhandlungen  über  Käufe  oder  Übernahme  von 
Geschäften  an,  erscheinen  in  Uniform,  wechseln  Briefe  mit  vor- 
nehmen Verlobten,  die  sie  sich  selbst  beantworten.  In  der  Regel 
ist  dabei  noch  ein  gewisses  dumpfes  Gefühl  für  die  Widersprüche 
mit  der  Wirklichkeit  vorhanden;  die  Kranken  fallen  gelegentlich 
aus  Her  Rolle,  sind  auch  verhältnismäßig  leicht  aus  ihrem  Treiben 
herauszureißen.  Am  häufigsten  wird  dieses  Hineintreiben  in  ein- 
gebildete, glücklichere  Lebenslagen  bei  Menschen  beobachtet,  die 
unter  einem  starken  äußeren  Drucke  stehen,  insbesondere  bei  Ge- 
fangenen. Unangenehme  Ereignisse,  die  Verhaftung,  Zustellung 
der  Anklageschrift,  scharfe  Vernehmungen  geben  hier  öfters  den 
äußeren  Anstoß.  Die  tiefere  Grundlage  bildet  aber  immer  eine 
gewisse  Haltlosigkeit  und  Beeinflußbarkeit,  wie  wir  sie  am  ausge- 
prägtesten in  der  hysterischen  Veranlagung  vor  uns  haben.  Meist 
tritt  die  Störung  anfallsweise  auf;  sie  verknüpft  sich  dann  in  der 
Regel  mit  einer  ganz  leichten  Bewußtseinstrübung. 


1)  Bonhöffer,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1904,  39. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung.  Die  höchsten 
und  verwickeltsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes 
sind  Urteil  und  Schluß.  Da  sie  sich  aufbauen  auf  der  Vorarbeit 
der  Wahrnehmung,  des  Gedächtnisses,  der  Bildung  und  Verbin- 
dung von  Vorstellungen,  so  ist  es  natürlich,  daß  alle  Beeinträchti- 
gungen irgendeines  dieser  Vorgänge  regelmäßig  in  mehr  oder  we- 
niger nachhaltiger  Weise  das  in  Urteil  und  Schluß  sich  darstellende 
Endergebnis  der  geistigen  Arbeit  in  Mitleidenschaft  ziehen  müssen. 
Abgesehen  davon  kann  jedoch  die  verstandesmäßige  Verarbeitung 
der  Vorstellungen  selbst  gewissen  krankhaften  Störungen  unter- 
liegen, die  für  das  ganze  geistige  Leben  in  der  Regel  äußerst  ver- 
hängnisvoll werden. 

Zwei  Wege  sind  es  vornehmlich,  auf  denen  menschliche  Er- 
kenntnis zustande  kommt,  durch  unmittelbare  Angliederung  der 
Erfahrung  und  durch  freie,  selbständige  Erfindung.  Freilich  laufen 
diese  beiden  Wege  vielfach  nebeneinander  her.  Auch  die  strengste 
Erfahrungswissenschaft  vermag  sich  von  der  Beeinflussung  durch 
bestehende  Anschauungen  und  Erwartungen  nicht  völlig  frei  zu 
halten,  und  andererseits  arbeitet  die  Einbildung  auch  in  ihren 
unabhängigsten  Schöpfungen  immer  mit  Einzelheiten,  die  ur- 
sprünglich der  Erfahrung  entstammen.  Indessen  zeigt  uns  die 
Geschichte  der  Verstandesentwicklung  beim  einzelnen  wie  bei 
der  Menschheit,  daß  mit  zunehmender  Reife  immer  schärfer  die- 
jenigen Erkenntnisse,  die  ein  getreues  Abbild  der  Welt  liefern, 
sich  abscheiden  von  jenen,  die  aus  der  freien  Umgestaltung  der 
Erfahrung  hervorgegangen  sind.  Die  ersteren  bilden  den  Inhalt 
unseres  Wissens,  die  letzteren  denjenigen  unseres  Glaubens, 
soweit  sie  überall  noch  als  Spiegel  der  Wirklichkeit  betrachtet 
werden.  Wie  uns  die  Völkerpsychologie  lehrt,  erscheinen  ursprüng- 
lich die  beiden  verschiedenen  Erkenntnisquellen  wesentlich  gleich- 
wertig. Naturvölker  halten  ihre  frei  erfundenen  und  ausgeschmück- 
ten Überlieferungen  für  ebenso  buchstäblich  wahr  und  glaubhaft 
wie  die  Erfahrungen  ihrer  Sinne.  Auch  bei  Kindern  können  wir 
bisweilen  die  unvollkommene  Trennung  zwischen  Erlebtem  und 
Erdichtetem  noch  deutlich  beobachten.  Späterhin  jedoch  voll- 
zieht sich  mehr  und  mehr  die  oben  angedeutete  Scheidung,  nament- 
lich auf  jenen  Gebieten,  auf  denen  eine  stete  und  zuverlässige 
Berichtigung  der  Erkenntnis  durch  immer  neue  Erfahrung  mög- 

20* 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 

lieh  ist.  Auch  hier  können  allerdings  Abweichungen  zwischen 
Wirklichkeit  und  Anschauung  entstehen,  die  auf  den  natürlichen 
Unvollkommenheiten  unserer  Auffassung  und  unserer  Denkgewohn- 
heiten oder  auf  zufälligen  Fehlervorgängen  beruhen.  Wir  nennen 
sie  Irrtümer.  Sie  werden  bekämpft  mit  den  Waffen  der  Er- 
fahrung und  der  verstandesmäßigen  Überlegung.  Ihre  Herrschaft 
beruht  auf  der  Beweiskraft  der  fehlerhaften  Wahrnehmungen  oder 
Gedankengänge ;  ist  diese  Beweiskraft  erschüttert,  sind  die  zugrunde 
liegenden  Fehlervorgänge  aufgedeckt,  so  fällt  damit  der  Irrtum 
von  selbst. 

Dagegen  bleibt  das  übergroße  Gebiet  unserer  Erkenntnis,  auf 
dem  die  Erfahrung  uns  keine  oder  nur  unsichere  und  strittige 
Ergebnisse  zu  liefern  vermag,  dem  Glauben  vorbehalten,  der  es 
mit  seinen  Schöpfungen  ausfüllt.  Die  ganze  Belebung  und  Ver- 
menschlichung der  äußeren  Natur  ist  nur  sehr  langsam  der  nüch- 
ternen Auflösung  in  Erfahrungswissenschaft  gewichen;  sie  lebt 
bei  Naturvölkern,  beim  Kinde,  ja  auch  in  dem  mancherlei  Aber- 
glauben des  naiven  Volkes  noch  heute  fort.  Allein  während  ein 
Teil  dieses  Glaubens  nur  die  Vorstufe  des  Wissens  bildet  und  freudig 
für  die  Sicherheit  der  Erfahrung  hingegeben  wird,  bewähren  andere 
Glaubensgrundsätze  eine  Macht,  die  durch  kein  Wissen,  keine  von 
außen  herantretende  Beweisführung  erschüttert  werden  kann.  Es 
sind  das  jene  Wahrheiten,  die  uns  ,,ans  Herz  gewachsen"  sind,  die 
wir  ,,mit  der  Muttermilch  eingesogen"  haben.  Hier  handelt  es  sich 
um  Erkenntnisse,  deren  Einfluß  auf  unser  Denken  nicht  in  ihrer 
besonders  einleuchtenden  Begründung  durch  die  Erfahrung,  son- 
dern wesentlich  in  ihren  tiefgreifenden  Gefühlsbeziehungen  zu 
unserer  gesamten  Persönlichkeit  liegt.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade 
ist  das  wohl  mit  jeder  von  uns  oft  verfochtenen  und  darum  lieb- 
gewonnenen Lehrmeinung  der  Fall,  aber  es  sind  doch  bestimmte 
Gebiete,  auf  denen  die  durch  Überlieferung,  Erziehung  und  Gewöh- 
nung festgewurzelten  Anschauungen  einen  besonders  hohen  Gefühls- 
wert und  damit  eine  hervorragende  Widerstandsfähigkeit  gegen 
die  Einflüsse  der  Erfahrung  erlangen.  Leichter  wird  die  Erfahrung 
durch  sie  gefärbt,  als  sie  selbst  durch  jene  umgewandelt  werden; 
sie  gewinnen  dadurch  vielfach  die  Eigenschaft  von  ,, Vorurteilen". 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  im  Gemüte  wurzelnden  Überzeu- 
gungen die  nahe  Beziehung  zu  den  allgemeinen  Lebensinter- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


309 


essen.  Den  Naturmenschen  treibt  das  Gefühl  der  steten  Abhängig- 
keit im  guten  und  bösen  Sinne  von  den  Kräften  und  Mächten 
ringsherum  zur  freien  Ausmalung  seiner  Beziehungen  zu  Sonne, 
Blitz  und  Donner,  zu  Erde  und  Meer,  zu  Tier  und  Pflanze;  den 
Nährboden  des  Aberglaubens  bildet  die  Unsicherheit  und  Unfrei- 
heit gegenüber  dem  Verborgenen,  Unerklärlichen  und  Geheimnis- 
vollen, mag  es  Gefahren  drohen  oder  Glück  verheißen.  Deutlich 
erkennen  wir  hier  überall  in  der  strengen  Scheidung  zwischen 
gut  und  böse,  feindlich  und  freundlich  die  maßgebende  Rolle  der 
Gefühle  bei  der  Erfindung.  Gerade  daraus  erklärt  sich  die  außer- 
ordentliche Zähigkeit  dieser  durch  ungezählte  Geschlechter  sich 
fortpflanzenden  Überlieferungen,  die  trotz  ihrer  Unsinnigkeit  oft 
augenscheinlich  im  Herzen  des  Volkes  noch  immer  ihre  uralte 
Glaubwürdigkeit  bewahren. 

Das  Hilfsmittel,  das  dem  Naturmenschen  wie  dem  Kinde  zu 
einer  Erklärung  der  Außenwelt  verhilft,  ist  der  willkürliche  Ana- 
logieschluß. Die  auf  diese  Weise  gewonnene  Erkenntnis  besitzt, 
wie  Fried mann^)  überzeugend  nachgewiesen  hat,  von  vornherein 
den  gleichen,  ja  einen  weit  höheren  Grad  von  Gewißheit  für  uns, 
als  die  mit  allen  Hilfsmitteln  der  Wissenschaft  geprüfte  Erfahrung. 
Ein  beliebiger  Einfall,  eine  entfernte  oder  ganz  äußerliche  Beziehung 
wird  ohne  weiteres  als  Ausdruck  der  Wirklichkeit  hingenommen 
und  trotz  der  gröbsten  inneren  Widersprüche  festgehalten.  Mit 
dem  Haarbüschel  eines  klugen  Mannes  erlangt  man  auch  seinen 
Verstand;  den  Feind  tötet  man  durch  Vernichtung  seines  Bildes; 
Krankheit  und  Tod  entstehen  und  schwinden  durch  Zauber;  der 
allwissende  und  allmächtige  Fetisch  wird  versteckt,  um  nicht 
Zeuge  einer  verbotenen  Handlung  zu  sein.  Das  ursprüngliche 
Denken  wird  somit  nur  durch  Furcht  und  Hoffnung,  Wunsch  und 
Erwartung  geleitet;  es  kennt  nicht  die  Triebfeder  aller  höheren 
geistigen  Entwicklung,  den  Zweifel.  Wie  wir  heute  den  durch 
Sachkenntnis  nicht  beirrten  Laien  zuversichtlich,  aber  falsch, 
über  die  schwierigsten  Fragen  urteilen  sehen,  so  begleitet  auch  die 
Meinungen  der  Naturvölker  das  unmittelbare  Gefühl  der  Sicherheit. 
An  Stelle  dieser  naiven  Gewißheit  des  Glaubens  tritt  erst  nach 
einem  langen,  dornenvollen  Erkenntniswege  diejenige  des  Wissens, 


1)  Fried  mann,  Über  den  Wahn.  1894;  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  I,  455- 


310 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  freilich  kaum  jemals  ihren  unzertrennlichen  Begleiter,  den 
Zweifel,  gänzlich  überwindet. 

Auch  bei  uns  fließt  die  Quelle  der  unmittelbar  feststehenden, 
nicht  aus  Verstandesarbeit  hervorgegangenen  Anschauungen  noch 
reichlich  genug.  Aus  ihr  entspringt  vor  allem  der  Aberglaube, 
dessen  Verwandtschaft  mit  den  Einbildungen  der  Naturvölker 
keines  Beweises  bedarf.  Weiterhin  aber  gehören  hierher  beim 
entwickelten  und  geschulten  Menschen  die  politischen  und  reli- 
giösen Überzeugungen,  deren  wesentliche  Grundlage  auch  überall 
der  Glaube  ist,  mag  im  einzelnen  auch  die  verstandesmäßig  ver- 
arbeitete Erfahrung  den  Inhalt  vielfach  beeinflußt  haben.  Es  sind 
die  gemütlichen  Bedürfnisse,  welche  die  Stellung  des  Menschen  zu 
höheren  Mächten  und  zur  Gesellschaft  bestimmen.  Daraus  erklärt 
sich  die  geringe  Zugänglichkeit  jener  Überzeugungen  gegenüber 
Einwänden  und  Beweisgründen,  die  Leidenschaftlichkeit,  mit  der 
sie  verfochten  zu  werden  pflegen,  und  ihre  gleichartige  Färbung  in 
bestimmten  Ländern,  Gegenden  und  Ständen,  wie  wir  sie  bei  rein 
verstandesmäßigen  Überzeugungen  schwerlich  wiederfinden.  Zu 
den  durch  ihre  lebhafte  Gefühlsbetonung  getragenen  Vorstellungen 
gehören  auch  die  von  Wernicke  so  genannten  ,, überwertigen 
Ideen",  Es  handelt  sich  dabei  einmal  um  die  durch  Erziehung 
und  Gewöhnung  in  uns  befestigten  und  in  ,, Fleisch  und  Blut" 
übergegangenen  allgemeinen  Lebensanschauungen,  sodann  aber 
um  Vorstellungsgruppen,  die  durch  irgend  ein  gemütlich  erregendes 
Erlebnis  erzeugt  wurden  und  wegen  ihres  Gefühlstones  einen 
dauernden,  bestimmenden  Einfluß  auf  Denken  und  Handeln  ge- 
winnen können.  In  der  Regel  werden  dabei  solche  Erlebnisse  in 
Betracht  kommen,  die  geeignet  sind,  einschneidende  Änderungen 
der  gesamten  Lebensverhältnisse  herbeizuführen.  Dahin  gehört 
z.  B.  der  Unfall  und  die  an  ihn  sich  schließende  Arbeitserschwerung 
bei  der  traumatischen  Neurose,  die  erste  Verurteilung  des  Queru- 
lanten. 

Die  bisherigen  Ausführungen  sind  vielleicht  geeignet,  uns  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  ein  Verständnis  für  jenen  äußerst  merk- 
würdigen und  wichtigen  Krankheitsvorgang  zu  eröffnen,  den  wir 
als  Wahnbildung  bezeichnen.  Wahnideen  sind  krankhaft  ver- 
fälschte Vorstellungen,  die  der  Berichtigung  durch  Beweisgründe 
nicht  zugänglich  sind.    Gerade  diese  Eigentümlichkeit  weist  uns 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


darauf  hin,  daß  Wahnideen  nicht  unmittelbar  aus  der  Erfahrung, 
sondern  aus  dem  Glauben  entspringen.  Allerdings  knüpfen  sie 
sich  nicht  selten  an  wirkliche  Wahrnehmungen  oder  Sinnestäu- 
schungen an.  Im  letzteren  Falle  ist  ihr  Ursprung  aus  den  inneren 
Zuständen  trotz  der  Verlegung  der  Täuschung  nach  außen  augen- 
scheinlich genug.  Aber  auch  dann,  wenn  der  Wahnvorstellung 
ein  natürlicher  Sinneseindruck  zugrunde  liegt,  ist  ihre  eigentliche 
Quelle  immer  die  aus  der  eigenen  Einbildung  hervorgehende  krank- 
hafte Deutung.  Auch  im  gesunden  Leben  tritt  vielfach  die  Ver- 
suchung an  uns  heran,  an  geringfügige  und  vieldeutige  tatsäch- 
liche Anhaltspunkte  zu  weitgehende  Wahrscheinlichkeitsschlüsse  zu 
knüpfen  oder  ohne  zureichenden  Grund  ursächliche  Beziehungen 
zwischen  zufällig  zusammenfallenden  Ereignissen  zu  vermuten. 
Unter  krankhaften  Verhältnissen  aber  kann  sich  mit  unwidersteh- 
licher Gewalt  die  Überzeugung  von  Beziehungen  der  Dinge  her- 
vordrängen, wo  die  Vorstellungen  in  Beziehung  getreten  sind,  die 
Vermutung  eines  sachlichen  Zusammenhanges  der  Erscheinun- 
gen auf  Grund  des  leicht  geschürzten  psychologischen  Bandes. 
Der  harmloseste  äußere  Vorgang  kann  zum  tiefsinnigen  Wahr- 
zeichen verborgener  Ereignisse  werden;  in  die  nüchternsten  Tat- 
sachen wird  ein  versteckter  und  entlegener  Sinn  hineingeheimnist. 
Der  Flug  eines  Vogels  ist  ein  gottgesandter  Wink  für  die  Zukunft; 
eine  zufällig  beobachtete  Gebärde  kündet  drohende  Gefahr;  der 
Fund  einiger  Kastanien  bedeutet  die  Zusicherung  künftiger  Welt- 
herrschaft. 

Der  Ursprung  der  Wahnbildung  aus  Gemütsvorgängen  zeigt 
sich  auch  in  dem  Umstände,  daß  sie  regelmäßig  in  nahem  Zusam- 
menhange mit  dem  eigenen  Ich  des  Kranken  steht.  Die  Vor- 
stellungsgruppe der  eigenen  Persönlichkeit,  das  Selbstbewußtsein, 
bildet  schon  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  den  Mittelpunkt 
unseres. Denkens  und  Fühlens;  darum  knüpfen  sich  die  wahnhaften 
Einbildungen  gerade  an  diesen  Kern  an  und  setzen  das  Netz  geheim- 
nisvoller Zusammenhänge  und  willkürlicher  Beziehungen  in  un- 
mittelbare Verbindung  mit  dem  eigenen  Wohl  und  Wehe.  Die  Ent- 
stehung von  Wahnideen  ist  daher  stets  von  mehr  oder  weniger 
lebhaften  Gefühlen  begleitet,  die  erst  mit  der  Verblödung  der  Kranken 
allmählich  in  den  Hintergrund  treten.  Es  gibt  keine  Wahnvor- 
stellungen,  welche   dem  Kranken   von   vornherein  gleichgültig 


312 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wären,  sondern  sie  sind,  zunächst  wenigstens,  immer  auf  das  engste 
verknüpft  mit  der  Gestaltung  seiner  eigenen  Lebenslage. 

In  den  Wahnbildungen  drücken  sich  somit  vor  allem  die  gemüt- 
lichen Beziehungen  des  Kranken  zu  seiner  Umgebung  aus.  Einer- 
seits sind  es  Befürchtungen,  die  ihm  deren  Bild  umgestalten,  anderer- 
seits Wünsche  und  Hoffnungen.  Wie  der  Gesunde  sich  sein  rosig 
oder  düster  gefärbtes  Weltbild  nach  den  eigenen  Gemütsbedürf- 
nissen zurechtmacht,  so  wird  auch  die  Erfahrung  des  Kranken  in 
maßgebendster  Weise  durch  seine  Stimmung  beeinflußt;  selbst 
die  Vergangenheit  kann  dadurch  in  völlig  verändertem  Lichte  er- 
scheinen. Bleuler  hat  geradezu  davon  gesprochen,  daß  auch  der 
besondere,  vielfach  ganz  unverständliche  Inhalt  der  Wahnbildungen 
nur  die  Bedeutung  von  Sinnbildern  habe,  in  denen  sich  gefühls- 
betonte Komplexe  des  Kranken  offenbaren.  Wenn  es  dabei  auch 
oft  auf  eine  willkürliche  Deutungskunst  hinausläuft,  so  treten  uns 
in  dem  gewöhnlichen  Inhalte  der  Wahnvorstellungen,  der  sich  nicht 
selten  in  verblüffend  gleicher  Form  wiederholt,  doch  sicherlich  die 
allgemeinen  Befürchtungen  und  Wünsche  der  Menschen  entgegen, 
in  der  Idee,  unheibar  krank  zu  sein,  vergiftet,  vor  Gericht  gestellt, 
von  der  Frau  betrogen  zu  werden,  viel  Geld  zu  besitzen,  von  vor- 
nehmen Eltern  abzustammen,  zu  hohen  Ehren  berufen  zu  sein. 
Auch  in  der  Verdrängung  unangenehmer,  der  Erfindung  ver- 
heißungsvoller Erinnerungen  kann  man  leicht  den  Wunsch  als 
Vater  des  Gedankens  erkennen. 

Aus  den  Entstehungsbedingungen  der  Wahnidee  wird  uns  auch 
ihre  wichtigste  Eigenschaft  einigermaßen  erklärlich,  ihre  Wider- 
standsfähigkeit gegen  alle,  auch  die  schlagendsten  Beweis- 
gründe. Da  sie  nicht  in  der  Erfahrung  wurzelt,  kann  sie  durch 
Erfahrungen  erst  dann  erschüttert  werden,  wenn  sie  gar  kein  Wahn 
mehr  ist,  sondern  nur  noch  die  Erinnerung,  die  Nachwirkung 
eines  solchen,  in  der  Genesungszeit.  Auf  der  Höhe  der  Krankheit 
ist  die  Wahnidee  durch  Einflüsse  gestützt,  die  mächtiger  sind 
als  alles  verstandesmäßige  Wissen.  ,,Ich  will's  schon  nicht  mehr 
meinen,"  sagte  mir  eine  Kranke,  die  darüber  jammerte,  daß  ihr 
Mann  und  ihre  Kinder  ins  Wasser  geworfen  worden  seien,  ,,aber  es 
kommt  mir  immer  auf  einmal  wieder  in  den  Kopf." 

Wir  sehen  daher,  daß  der  Wahn  regelmäßig  trotz  der  nächst- 
liegenden und  anscheinend  unausweichlichsten  Einwände  unbeirrt 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


festgehalten  wird,  solange  seine  inneren  Entstehungsursachen  wirk- 
sam sind.  Wird  er  aufgegeben  oder  durch  einen  anderen  ersetzt, 
so  bringt  das  nicht  unsere  Überredung  oder  das  Gewicht  der  Tat- 
sachen zustande,  sondern  ein  Wechsel  des  psychischen  Zustandes. 
Treiben  wir  den  Kranken  in  die  Enge,  so  erreichen  wir  freilich  mit- 
unter vorübergehend  oder  in  nebensächlichen  Punkten  einige  Zu- 
geständnisse, aber  die  Äußerlichkeit  einer  solchen  Bekehrung  zeigt 
sich  regelmäßig  darin,  daß  sich  das  Wahnbedürfnis  sehr  rasch 
wieder  Luft  macht,  bald  in  den  alten,  bald  in  neuen  Formen. 
Selbst  in  jenen  Fällen,  in  denen  die  Kranken  ihre  Wahnideen 
mit  wirklichen  Wahrnehmungen  in  Verbindung  bringen,  bestehen 
die  krankhaften  Schöpfungen  unverändert  fort,  auch  wenn  ihre 
Erfahrungsstützen  nachträglich  zusammenbrechen.  Überzeugt  man 
den  Kranken,  daß  seine  Wahrnehmungen  falsch  waren,  was  bis- 
weilen möglich  ist,  so  hat  er  sofort  andere  Begründungen  bei  der 
Hand,  und  sei  es  auch  nur  die  einfache  Behauptung,  daß  er  eben 
seiner  Sache  gewiß  sei.  ,,Da  drin  spür'  ich's  eben,  daß  es  so  ist," 
sagte  mir,  auf  sein  Herz  deutend,  ein  Kranker,  der  im  Gesang- 
buche sein  ganzes  Schicksal  geweissagt  fand,  und  auf  den  Einwand, 
daß  ich  mir  das  ja  ebensogut  einbilden  könne,  erwiderte  er:  ,,Sie 
spüren 's  aber  nicht!" 

Den  Beginn  allmählich  sich  entwickelnder  Wahnformen  pflegt 
sehr  gewöhnlich  eine  Zeit  des  Beziehungswahnes  zu  bilden, 
die  Neigung,  Vorgänge  in  der  Umgebung  nicht  als  gleichgültige 
oder  zufällige  Ereignisse  aufzufassen,  sondern  zu  der  eigenen 
Person  in  irgend  eine  Beziehung  zu  setzen.  Alle  Vorkommnisse 
erscheinen  in  einem  besonderen,  rätselhaften  Lichte,  das  Ver- 
halten der  Menschen  absichtsvoll,  bedeutsam,  unheimlich.  Der 
Kranke  fühlt  sich  als  Mittelpunkt,  ahnt  überall  einen  versteckten 
Sinn  hinter  dem  Alltäglichen.  Besonders  unterstützt  wird  das 
Auftauchen  solcher  Vermutungen  durch  das  Gefühl  der  Unsicher- 
heit, die  Wurzel  des  Mißtrauens.  Der  Zellensträfling,  der  Schwer- 
hörige werden  schon  durch  ihre  Lage  leicht  zum  Mißtrauen  ge- 
drängt; die  Dienstherrschaft,  die  Vorgesetzten,  die  Nebenbuhler, 
andererseits  die  höchsten  Personen,  deren  Handlungen  ohnedies 
erhöhte  Wichtigkeit  beigelegt  zu  werden  pflegt,  bilden  die  Haupt- 
anknüpfungspunkte der  Wahnbildung.  Nicht  selten  äußert  sich 
das  Gefühl  der  veränderten  inneren  Stellungnahme  zur  Umgebung 


314 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


in  der  Erscheinung  des  von  Wernicke  so  genannten  ,, Transi- 
tivismus" der  Meinung,  daß  andere  Personen  sich  verändert 
hätten,  insbesondere  geisteskrank  geworden  seien.  Diese  ganze, 
überaus  kennzeichnende  Veränderung  der  äußeren  Beziehungen 
weist  darauf  hin,  daß  die  Eindrücke  der  Außenwelt  nunmehr  nicht 
rein  verstandesmäßig  aufgefaßt,  sondern  in  krankhafter  Weise  ge- 
müthch  verarbeitet  werden.  Ist  es  doch  die  Gefühlsbetonung,  in 
der  sich  die  innere  Anteilnahme  an  den  Vorgängen  und  Personen 
um  uns  ausdrückt,  und  durch  die  sie  zu  uns  in  Beziehungen  treten. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Wahnbildung  gewinnen  die  zunächst 
unbestimmten  Ahnungen  greifbarere  Gestalt.  Unter  Umständen 
schießt  im  Anschlüsse  an  eine  ganz  nichtssagende  Beobachtung 
blitzartig  die  eine  oder  andere  wahnhafte  Überzeugung  empor. 
Außerdem  aber  ist  der  Kranke  bemüht,  vielfach  die  neuen  Erfah- 
rungen und  Vorstellungen  miteinander  und  mit  seinen  früheren 
Erlebnissen  einigermaßen  in  Einklang  zu  bringen.  Die  aus  solcher 
geistigen  Verarbeitung  hervorgehenden  Wahnbildungen  hat  man 
wohl  als  ,, Erklärungswahn"  bezeichnet,  und  namentlich  Wer- 
nicke hat  ihnen  eine  erhebliche  Bedeutung  eingeräumt;  er  be- 
trachtet sie  gewissermaßen  als  die  gesunde  Reaktion  gegen  wahn- 
hafte Vorstellungen.  Mir  scheint  diese  Auffassung  höchstens  für 
gewisse  seltene ,  ganz  langsam  sich  entwickelnde  Wahnformen 
eine  gewisse  Berechtigung  zu  haben.  In  der  Regel  steht  auch  die 
weitere  Verarbeitung  der  auftauchenden  Wahnideen  unter  den- 
selben Einflüssen  wie  die  Entstehung  dieser  selbst  und  erfolgt  ganz 
im  Sinne  der  von  vornherein  vorhandenen  Wahnrichtung. 

Durch  alle  diese  Betrachtungen  werden  wir  zu  der  Anschauung 
geführt,  daß  die  Wahnbildung  in  erster  Linie  durch  das  Auftauchen 
von  Gefühlsregungen  begünstigt  wird.  In  der  Tat  wissen  wir,  daß 
schon  im  gesunden  Leben  Gefühle  die  gefährlichsten  Hindernisse 
sachlicher  Erkenntnis  sind.  Unter  dem  Einflüsse  des  Zorns,  der 
Angst,  der  Begeisterung  mischen  sich  der  Betrachtung  der  Dinge 
Verkennungen,  Befürchtungen,  Hoffnungen  hinzu,  die  mit  der 
nüchternen  Erfahrung  nichts  mehr  gemein  haben.  Aber  auch  die 
leiseren  Schwankungen  des  Stimmungshintergrundes,  die  Gefühle 
der  Trauer,  der  Erwartung,  Bangigkeit,  des  Mißtrauens,  der  Sehn- 


1)  Pick,  Prager  med.  Woclienschr.,  XXX,  259. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung.  315 

sucht,  geben  dem  Spiegelbilde  der  Wirklichkeit  ihre  bestimmte 
Färbung.  Wir  werden  uns  daher  nicht  wundern,  wenn  in  Krank- 
heitszuständen  lebhaftere  Gefühlsregungen  ungemein  häufig  von 
Wahnbildungen  begleitet  sind.  Namentlich  die  traurigen  und  ängst- 
lichen Verstimmungen  pflegen,  wie  beim  Gesunden,  den  stärksten 
Einfluß  auf  die  Verfälschung  der  Vorstellungen  und  Gedanken- 
gänge auszuüben. 

Indessen  die  Entstehungsbedingungen  der  Wahnideen  können 
damit  noch  nicht  erschöpft  sein.  Soweit  wir  das  zu  beurteilen  ver- 
mögen, sind  die  Gefühle  bei  der  Wahnbildung  keineswegs  immer 
von  so  leidenschaftlicher  Stärke,  daß  sie  allein  den  Vorgang  erklär- 
lich erscheinen  ließen.  Zunächst  kann  in  deliriösen  Zuständen, 
z.  B.  im  Trinkerdelirium,  eine  abenteuerliche  Fülle  von  Wahn- 
bildungen beobachtet  werden,  ohne  daß  die  Stimmungsschwan- 
kungen über  das  Maß  einer  gewissen  Lustigkeit  oder  geheimer 
Angst  hinausgingen.  Offenbar  vermag  hier  der  Kranke  die  deli- 
riösen Erlebnisse  einfach  nicht  mehr  von  der  Wirklichkeit  zu 
trennen.  Allein  wir  würden  fehl  gehen,  wenn  wir  etwa  die  Leb- 
haftigkeit der  Sinnestäuschungen  für  das  Auftreten  der  Wahn- 
vorstellungen verantwortlich  machen  wollten.  Die  Erfahrung,  daß 
die  Kranken  die  unsinnigsten  Täuschungen  ohne  stärkeres  Er- 
staunen oder  doch  ohne  entschiedenen  Widerspruch  hinnehmen, 
während  sie  am  nächsten  Tage  bereits  nicht  den  geringsten  Zweifel 
mehr  an  der  Unwirklichkeit  des  Erlebten  hegen,  deutet  darauf 
hin,  daß  hier  der  Gesamtzustand  des  Bewußtseins  während  der 
Krankheit  eine  Veränderung  erlitten  haben  muß,  welche  die  Be- 
richtigung der  Wahnbildungen  unmöglich  machte.  Wir  verweisen 
hier  auf  das  Beispiel  des  Traumes.  Im  Traume  sind  es  sicherlich 
nicht  starke  Gefühle  und  nicht  die  Lebhaftigkeit  der  Bilder  allein, 
die  uns  zu  wahnhafter  Auffassung  unserer  Lage  veranlassen, 
sondern  es  ist  die  Unfähigkeit,  jene  Widersprüche  zu  entdecken 
und  zu  berichtigen,  die  uns  beim  Erwachen  sofort  mit  voller  Klar- 
heit vor  Augen  stehen.  Würde  uns  wirklich  ein  so  toller  Spuk 
vorgemacht,  wie  im  Delirium  oder  im  Traume,  so  würden  wir  ihn 
sofort  als  Possenspiel  erkennen.  Auch  im  Traume  regt  sich  bis- 
weilen der  Widerspruch,  aber  wir  empfinden  dabei  deutlich,  daß 
es  uns  unmöglich  ist,  volle  Klarheit  zu  gewinnen.  Ohne  Zweifel 
ist  daher  in  deliriösen  Zuständen  die  Bewußtseinstrübung  eine 


3i6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wesentliche  Vorbedingung  für  die  eigenartige  Wahnbildung,  wenn 
auch  die  gleichzeitige  Lebhaftigkeit  der  Sinnestäuschungen  und 
Einbildungen  reichlichen  Stoff  dazu  liefert. 

Endlich  aber  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  auch  in  der  Paralyse, 
im  Altersblödsinn,  bei  der  Dementia  praecox  Wahnbildungen  vor- 
kommen, bei  denen  weder  Gefühle  noch  stärkere  Bewußtseinstrü- 
bungen eine  wesentliche  Rolle  spielen.  Augenscheinlich  haben  die 
Wahnbildungen  bei  diesen  Krankheiten  viele  gemeinsame  Züge 
aufzuweisen.  Die  Annahme  liegt  daher  nahe,  daß  die  psychische 
Schwäche,  die  sich  hier  überall  entwickelt,  das  Zustandekom- 
men von  Wahnideen  besonders  begünstige.  Wir  kennen  allerdings 
auch  viele  Schwächezustände  ohne  Wahnbildung.  Der  angeborene 
Schwachsinn  zeigt  nur  geringe  Neigung  zur  Entwicklung  von 
Wahnideen,  und  ebenso  verlaufen  zahlreiche  Fälle  von  Paralyse, 
Dementia  praecox  und  Altersblödsinn  ohne  derartige  Erscheinungen. 
Der  eigentliche  Grund  für  das  Auftauchen  von  Wahnvorstellungen 
kann  daher  nicht  in  der  psychischen  Schwäche  an  sich,  sondern 
nur  in  begleitenden  Erregungszuständen  liegen ,  welche  allerlei 
wahnhafte  Einbildungen  im  Innern  des  Kranken  aufschießen  lassen. 
Tatsächlich  läßt  sich  unschwer  feststellen,  daß  die  Entstehung 
des  Wahns  fast  immer  in  Zeiten  heiterer  oder  trauriger  Verstim- 
mungen am  reichsten  vor  sich  geht.  Namentlich  deutlich  wird 
diese  Rolle  der  Gefühlsschwankungen  in  solchen  Fällen,  in  denen 
überhaupt  nur  zeitweise  Wahnideen  hervortreten;  man  wird  sie 
hier  stets  von  mehr  oder  weniger  ausgesprochener  gemütlicher 
Erregung  begleitet  sehen. 

Ängstliche  Vermutungen,  Ahnungen  abergläubischer  Zusammen- 
hänge, Luftschlösser  und  Zukunftsträume  sind  auch  bei  Gesun- 
den häufige  Erscheinungen,  aber  sie  gewinnen  keine  weiterrei- 
chende Macht;  sie  schwinden  bei  ruhiger  Überlegung,  wie  sie  ge- 
kommen sind.  Bei  den  Kranken  aber  tragen  sie  vielfach  von  vorn- 
herein nicht  nur  den  Stempel  der  unerschütterlichen  Gewißheit, 
sondern  sie  nisten  sich  dauernd  ein,  ohne  einer  Berichtigung  zu- 
gänglich zu  sein,  ja  ohne  auch  nur  das  Bedürfnis  einer  näheren 
Prüfung  oder  Begründung  zu  wecken.  Wir  sind  es  gewohnt,  alle 
auftauchenden  Einbildungen  an  dem  Maßstabe  unserer  Wirk- 
lichkeitserfahrung zu  messen  und  als  Erfindung  zu  kennzeichnen, 
was  sich  nicht  widerspruchslos  dem  festgefügten  Bau  unseres 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


Wissens  eingliedern  läßt.  Der  Kranke  dagegen  empfindet  die  Wider- 
sprüche seiner  Einbildungen  mit  der  sonstigen,  eigenen  oder  frem- 
den Erfahrung  gar  nicht,  oder  er  mißachtet  sie,  verschleiert  sie 
wohl  auch  durch  immer  unwahrscheinlichere  und  unmöglichere 
Annahmen.  Offenbar  ist  demnach  für  ihn  die  Nötigung,  ja  auch 
die  Möglichkeit  verloren  gegangen,  den  auftauchenden  Wahn- 
vorstellungen Widerstand  entgegenzusetzen,  sie  zu  berichtigen  und 
zu  unterdrücken.  Dafür  spricht  namentlich  auch  die  in  den  psy- 
chischen Schwächezuständen  regelmäßig  beobachtete  völlige  Un- 
sinnigkeit der  Wahnvorstellungen,  deren  Unhaltbarkeit  anschei- 
nend dem  besonnenen  Kranken  ohne  jedes  Nachdenken  klar  sein 
müßte. 

Die  Ursache  für  diese  Unfähigkeit  hat  man  in  früheren  Zeiten 
in  den  besonderen  Eigenschaften  der  einzelnen  Vorstellungen  ge- 
sucht. Die  Lehre  von  den  ,, Monomanien"  nahm  an,  daß  die  ,,fixe 
Idee"  nur  eine  umgrenzte  Störung  des  Seelenlebens  bei  sonst  völlig 
erhaltener  geistiger  Gesundheit  darstelle.  Gerade  daraus  ergaben 
sich  jene  törichten  Heilbestrebungen,  welche  durch  irgend  einen 
besonders  überzeugenden  Eingriff  die  anscheinend  ganz  ver- 
einzelte Wahnidee  zu  beseitigen  und  damit  die  Krankheit  selbst 
zu  heben  trachteten.  Der  Erfolg  bei  derartigen  Versuchen  ist  im 
günstigsten  Falle  die  Ersetzung  einer  Wahnvorstellung  durch  eine 
oder  mehrere  andere. 

Wir  werden  daher  im  Hinblicke  auf  die  oben  angestellten 
Erörterungen  an  der  Anschauung  festhalten,  daß  der  Ausbildung 
von  Wahnideen  regelmäßig  eine  allgemeine  Störung  des  psy- 
chischen Gesamtzustandes  zugrunde  liegt.  Angeregt  wird 
die  Wahnbildung  wohl  immer  durch  Gefühlsschwankungen,  die 
schlummernde  Hoffnungen  und  Befürchtungen  in  Einbildungs- 
vorstellungen umsetzen.  Daß  aber  diese  Vorstellungen  zum  Wahne 
werden,  eine  Macht  gewinnen,  gegen  die  am  Ende  selbst  der  Augen- 
schein ohnmächtig  ist,  kann  nur  durch  das  Versagen  unserer 
Urteilsfähigkeit  zustande  kommen,  wie  es  im  einen  Falle  durch 
leidenschaftliche  gemütliche  Erregung,  im  anderen  durch  Trübung 
des  Bewußtseins,  im  dritten  durch  die  Verstandesschwäche  be- 
dingt wird. 

Ganz  besonders  erschwert  wird  die  Berichtigung  der  Wahn- 
ideen durch  die  starke  Gefühlsbetonung  derjenigen  Vorstellungen, 


3i8 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  mit  unserem  Ich  in  naher  Verbindung  stehen.  Die  landläufige 
Tatsache,  daß  kein  Gebiet  des  menschlichen  Denkens  gröberen 
Täuschungen  ausgesetzt  ist  als  die  Selbsterkenntnis,  wird  auch 
durch  das  Verhalten  der  Wahnideen  bestätigt,  nur  in  vergrößertem 
Maßstabe.  Nach  dem  Beispiele  des  Splitters  im  fremden  und  des. 
Balkens  im  eigenen  Auge  sehen  wir  daher  oft  unsere  Kranken  die 
Wahnideen  anderer  ohne  weiteres  richtig  erkennen,  während  es 
ihnen  unmöglich  ist,  die  anscheinend  selbstverständliche  Nutz- 
anwendung auf  den  eigenen,  durchaus  gleichartigen  Fall  zu  ziehen. 
Man  wird  indessen  darum  die  geistige  Störung,  welche  diesen 
, .partiellen"  Wahnbildungen  zugrunde  liegt,  mit  demselben  Rechte 
eine  allgemeine  nennen  müssen  wie  z.  B.  die  Kreislaufsstockung 
infolge  eines  Herzfehlers,  auch  wenn  hier  die  Stauungserschei- 
nungen zunächst  nur  an  den  entferntesten  Teilen  zur  Ausbildung 
kommen.  Wenn  demnach  überhaupt  Einbildungsvorstellungen 
durch  gemütliche  Erschütterungen  erzeugt  werden,  so  werden  sie 
sich  naturgemäß  in  erster  Linie  auf  die  Lage  der  eigenen  Persön- 
lichkeit und  deren  nächste  Beziehungen  erstrecken.  Sie  wurzeln 
rascher,  fester  und  mit  größerer  Überzeugungskraft  in  unserem 
Innern,  als  fernliegende,  gleichgültige  Erfahrungen. 

Es  bedarf  kaum  noch  der  Ausführung,  daß  nach  der  hier  ver- 
tretenen Anschauung  über  die  Entstehung  der  Wahnideen  von 
einer  strenger  begrenzten  Ursprungsstätte  dieser  letzteren  im  Ge- 
hirn nicht  nur  heute,  sondern  grundsätzlich  nicht  die  Rede  sein 
kann.  Die  Wahnidee  an  sich  ist  zunächst  eine  Einbildungsvor- 
stellung wie  jede  andere,  wie  etwa  die  Traumvorstellungen  auch, 
bei  denen  wir  ja  ebenfalls  gewisse  häufig  wiederkehrende  Gestal- 
tungen beobachten.  Ihre  besondere  Stellung  im  Seelenleben  des 
Kranken  aber  und  ihre  eigenartige  Ausbildung  erhält  sie  durch 
das  augenblickliche  oder  dauernde  Verhalten  der  gesamten  psy- 
chischen Persönlichkeit.  Sie  ist  also  nicht  sowohl  die  Wirkung 
eines  umschriebenen  Krankheitsvorganges,  als  vielmehr  das  Zei- 
chen einer  allgemeinen  krankhaften  Veränderung  der  gesamten 
Hirnleistung.  Tatsächlich  sehen  wir  Wahnideen  nicht  etwa  bei 
Herderkrankungen,  sondern  vielmehr  bei  solchen  allgemeinen 
Störungen  (alkoholische  Formen,  Dementia  praecox,  Paralyse, 
manisch-depressives  Irresein)  auftreten,  welche  zweifellos  die 
Leistungen  der  ganzen  Hirnrinde  in  Mitleidenschaft  ziehen. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


Der  verschiedenen  Entstehungsweise  der  Wahnideen  entspricht 
ihr  mannigfaltiges  klinisches  Verhalten.  Gemütsbewegungen  sind 
im  allgemeinen  veränderliche  Vorgänge;  daher  sehen  wir  die 
wesentlich  auf  dieser  Grundlage  entstehenden  Wahnbildungen  in 
der  Regel  kommen,  gehen  und  vielfach  wechseln,  je  nach  Stärke 
und  Färbung  der  Verstimmung.  Nur  wo  diese  selbst  durch  längere 
Zeit  hindurch  eintönig  ist,  werden  auch  die  gleichen  Wahnideen 
zäher  festgehalten.  Die  deliriösen  Wahnbildungen  ähneln  im  all- 
gemeinen denjenigen  des  Traumes;  es  sind  bunte,  abenteuerliche, 
wechselnde  Bilder  mit  einzelnen  durchgehenden  Grundzügen,  die 
oft  in  mannigfacher  Gestalt  wiederkehren.  Je  nach  dem  größeren 
oder  geringeren  Zusammenhange  der  Gedankengänge  überhaupt 
können  dabei  auch  die  Wahnideen  ganz  unvermittelt,  abgerissen 
nebeneinander  stehen  oder  eine  gewisse  geistige  Verarbeitung 
zeigen,  Begründungen,  Schlußfolgerungen,  einheitliche  Färbung. 
Schwindet  die  gemütliche  Erregung  oder  die  Bewußtseinstrübung, 
so  werden  gewöhnlich  die  während  derselben  entstandenen  Wahn- 
ideen berichtigt,  auch  wenn  im  übrigen  noch  keine  volle  Genesung 
eingetreten  ist. 

Ganz  anders  verhalten  sich  diejenigen  Wahnbildungen,  bei 
denen  die  geistige  Schwäche  eine  wesentliche  Rolle  spielt.  Die 
wahnbildende  Kraft  wird  wohl  auch  hier  von  Gemütsbewegungen 
geliefert,  aber  die  krankhaften  Vorstellungen  sind  mit  dem  Ver- 
blassen der  Stimmungsschwankung  nicht  ohne  weiteres  verschwun- 
den. Zwar  können  sie  nach  und  nach  in  den  Hintergrund  treten, 
aber  nur  dadurch,  daß  sie  vergessen  werden,  nicht  durch  verstan- 
desmäßige Berichtigung.  Wir  beobachten  das  oft  in  der  Paralyse, 
bei  der  Dementia  praecox  und  bei  den  senilen  Geistesstörungen. 
Nicht  selten  tauchen  hier  später  die  alten,  verschollenen  Wahn- 
ideen ganz  vorübergehend  unter  dem  Einflüsse  einer  Stimmungs- 
schwankung von  neuem  auf.  Oft  genug  werden  sie  aber  auch 
dauernd  festgehalten  und  sogar  weiter  verarbeitet.  Die  paranoiden 
Schwachsinnsformen  und  manche  Fälle  von  Paralyse  lehren  uns, 
wie  auf  dem  Boden  der  erworbenen  Demenz  dauernde  Stimmungs- 
schwankungen unter  Umständen  sehr  ausgiebige  Wahnbildungen 
anzuregen  imstande  sind.  Bei  der  Paralyse  lassen  sich  die  Wahn- 
bildungen, namentlich  die  Größenideen,  durch  Zureden  regelmäßig 
leicht  beeinflussen  und  rasch  ins  Ungemessene  steigern;  bei  der 


320 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Dementia  praecox  ist  eine  solche  Beeinflußbarkeit  nur  ausnahms- 
weise angedeutet. 

Auch  die  länger  haftenden  Wahnbildungen  zeigen  wichtige 
Verschiedenheiten.  Entweder  verblassen  sie  allmählich,  um  schließ- 
lich doch  mehr  und  mehr  zu  versinken.  So  ist  es  hauptsächlich  bei 
der  Dementia  praecox  und  bei  der  Paralyse.  In  anderen  Fällen 
treten  sie  zwar  ganz  in  den  Hintergrund,  werden  aber  nicht  be- 
richtigt, sondern  bleiben  als  ,, Residual wahn"  dauernd  erhalten, 
ohne  weiteren  Einfluß  zu  gewinnen.  Oder  aber  sie  werden  in  ein- 
förmiger Weise  immer  wieder  vorgebracht  und  verknöchern  ge- 
wissermaßen zu  stehender  Formel  ohne  Fortentwicklung,  aber  auch 
ohne  Rückbildung.  Auch  dieser  Verlauf  stellt  offenbar  eine  Form 
der  Verblödung  dar;  doch  ist  die  klinische  Stellung  derartiger 
Fälle  vielfach  noch  zweifelhaft.  Dasselbe  gilt  von  denjenigen 
Beobachtungen,  in  denen  die  Wahnideen  sich  allmählich  verändern, 
unsinniger  und  zusammenhangsloser  werden ,  neue  Bestandteile 
in  sich  aufnehmen,  während  andere  langsam  zurücktreten.  Sie 
bilden  die  große  Masse  jener  Krankheitsbilder,  die  wir  vorläufig  als 
paranoide  Formen  der  Dementia  praecox  bezeichnen. 

Endlich  haben  wir  noch  derjenigen  Fälle  zu  gedenken,  bei 
denen  im  Verlaufe  von  Jahrzehnten  eine  unmerkliche,  mehr  oder 
weniger  einheitliche  Fortentwicklung  ohne  stärkeren  geistigen 
Verfall  stattfindet.  Bei  dieser  Krankheitsform,  der  Paranoia  im 
engsten  Sinne ,  erzeugt  die  freilich  oft  recht  dürftige  geistige 
Verarbeitung  der  Wahnvorstellungen  eine  Art  verfälschter  Welt- 
anschauung. Der  krankhaft  veränderte  Vorstellungsinhalt  wird 
zum  dauernden  Bestandteile  des  Erfahrungsschatzes  und 
übt  auf  die  gesamte  weitere  Verarbeitung  der  äußeren  Eindrücke 
wesentlichen  Einfluß  aus.  Die  Stellung  des  Kranken  zur  Außen- 
welt verschiebt  sich  allmählich  in  bestimmter  Richtung;  die  psy- 
chische Persönlichkeit  mit  ihren  früher  gewonnenen  Anschauun- 
gen erleidet  eine  durchgreifende  Umwandlung.  Gerade  diese  voll- 
ständige Einverleibung  des  Wahnes,  die  Gruppierung  um  den 
Mittelpunkt  des  eigenen  Ich  ist  es,  die  den  inneren  Zusammenhang 
seiner  einzelnen  Bestandteile,  deren  geistige  Verarbeitung  vermittelt. 
Man  pflegt  daher  vorzugsweise  hier  von  einem  ,,Wahnsy ste me" 
zu  sprechen,  wenn  auch  bisweilen  ähnliche,  innerlich  zusammen- 
hängende Wahnbildungen,   jedoch  von  kürzerer  Dauer,   in  der 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung.  32 1 

Paralyse  und  der  Dementia  praecox,  bei  Alkoholisten,  Manisch- 
Depressiven  und  Epileptikern  zur  Beobachtung  kommen.  Fort- 
schritte in  der  Wahnbildung  scheinen  durch  das  stark  gehobene 
Selbstgefühl,  durch  Angstzustände  oder  zornige  Erregungen  ver- 
mittelt zu  werden;  die  so  entstandenen  Einbildungen  werden  dann 
nicht  berichtigt,  sondern  festgehalten  und  weiter  ausgesponnen. 
Auch  hier  ist  nach  meiner  Erfahrung  im  weiteren  Verlaufe  regel- 
mäßig eine  deutliche  Urteilsschwäche  erkennbar. 

Wie  die  klinische  Betrachtung  lehrt,  zeigt  die  Ausbildung  der 
Wahnideen  im  einzelnen  eine  Reihe  verschiedener  Formen,  die 
bei  unseren  Kranken  vielfach  mit  bemerkenswerter  Gleichförmig- 
keit wiederkehren.  Gewöhnlich  pflegt  man  zunächst  Kleinheits- 
und Größenideen,  depressive  und  expansive  Wahnbildungen, 
voneinander  zu  unterscheiden.  Unter  den  mannigfachen  Gestaltun- 
gen des  depressiven  Wahnes  steht  dem  gesunden  Leben  wohl 
am  nächsten  der  Versündigungswahn;  gibt  es  doch  zahlreiche 
Menschen,  die  bei  jedem  Mißerfolge,  ja  bei  jedem  Unglücksfalle 
sogleich  bereit  sind,  in  ihrer  eigenen  Handlungsweise  die  Ursache 
zu  suchen  und  sich  mit  dem  Gedanken  zu  quälen,  daß  sie  dieses 
oder  jenes  hätten  anders  machen  sollen.  In  krankhaften  Depres- 
sionszuständen  kann  sich  diese  Idee  der  Verschuldung  an  jede 
Äußerung  oder  Handlung  des  Kranken  anknüpfen.  Er  glaubt, 
immerfort  andere  zu  schädigen,  zu  täuschen,  ins  Unglück  zu 
bringen,  bittet  um  Verzeihung  für  seine  schrecklichen  Taten.  Auch 
die  eigene  Vergangenheit  wird  durch  den  Wahn  in  das  schlimmste 
Licht  gesetzt.  Alle  möglichen,  selbst  ganz  gleichgültigen  Hand- 
lungen erscheinen  dem  Kranken  als  scheußliche  Untaten;  er  klagt 
sich  der  gräßlichsten  Verbrechen  an,  oft  nur  in  allgemeinen  Aus- 
drücken, bisweilen  aber  auch  in  ganz  bestimmter  Erzählung,  hält 
sich  für  ein  schlechtes,  verworfenes,  gemütloses  Geschöpf,  für  von 
Gott  verstoßen  und  verdammt.  Darum  fürchtet  und  wünscht  er 
zugleich  eine  schreckliche  Strafe,  um  seine  Sünden  zu  büßen,  und 
lebt  in  der  beständigen  Erwartung,  daß  er  nunmehr  von  den  Poli- 
zisten geholt,  hingerichtet,  verbrannt,  zur  Richtstätte  geschleift, 
lebendig  begraben  werden  solle.  Wir  begegnen  solchen  Vorstellun- 
gen namentlich  in  den  zirkulären  Depressionszuständen,  bisweilen 
auch  in  der  Paralyse  und  Dementia  praecox. 

Diesen   Wahnideen   nahe   verwandt  sind   gewisse  Befürch- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.'  8.  Aufl.  21 


322 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Hungen  allgemeiner  Art,  die  sich  häufig  mit  ihnen  vergesellschaften, 
die  Idee,  zu  verarmen,  arbeitsunfähig  zu  werden,  ein  großes  Un- 
glück erdulden  zu  müssen  oder  über  die  Angehörigen  heraufzu- 
beschwören. Ähnliche  Vorstellungen,  daß  irgend  etwas  Schreck- 
liches passiert,  die  Familie  erkrankt  und  gestorben  sei,  oder  daß 
etwas  Furchtbares  bevorstehe,  finden  wir  als  vorübergehende 
,, Ahnungen"  bekanntlich  häufig  genug  im  täglichen  Leben  wieder. 
In  ihren  schwersten  Formen  führen  sie  zu  dem  sogenannten  nihi- 
listischen .Wahn:  Alles  ist  vernichtet,  zugrunde  gegangen;  die 
Welt  steht  nicht  mehr.  Alle  sind  längst  gestorben ;  auch  der  Kranke 
selbst  lebt  nicht  mehr,  hat  keinen  Namen  mehr,  ist  überhaupt 
nichts,  weniger  als  nichts. 

Eine  weitere,  sehr  große  Gruppe  bilden  diejenigen  Wahnvor^^ 
Stellungen,  die  man  unter  dem  Namen  des  Verfolgungswahnes 
zusammenzufassen  pflegt.  Andeutungen  davon  finden  wir  im  ge- 
sunden Leben  bei  jenen  argwöhnischen  und  mißtrauischen  Na- 
turen, die  bei  ihrer  Umgebung  überall  niedrige  und  feindselige 
Beweggründe  voraussetzen  und  im  Zusammenhange  damit  eigenes 
Mißgeschick  regelmäßig  auf  Neid  und  Haß  anderer  zurückzuführen 
bereit  sind.  Gewöhnlich  verbindet  sich  damit  eine  bedeutende 
Überschätzung  der  eigenen  Persönlichkeit  und  mißgünstige  Ver- 
kennung fremden  Verdienstes.  Bei  unseren  Kranken  bildet  den 
Ausgangspunkt  in  der  Regel  eine  Zeit  der  Verstimmung,  inneren 
Unbehagens  und  geheimer  Angst.  Ahnungen  und  Vermutungen 
steigen  auf;  einzelne  Wahrnehmungen  erscheinen  verdächtig;  es 
geht  etwas  Besonderes  vor.  Der  Kranke  beginnt,  die  Vorgänge 
in  seiner  Umgebung  mit  wachsendem  Mißtrauen  anzusehen,  gleich- 
gültige Äußerungen  und  Erlebnisse,  zufällige  Gebärden  wahnhaft 
zu  deuten  und  seine  Wahrnehmungen  unter  neuen,  vorurteils- 
vollen Gesichtspunkten  zu  verarbeiten.  Zeitungsartikel,  Gassen- 
hauer, Predigten  enthalten  versteckte  Verhöhnungen  und  Drohun- 
gen; alle  Versicherungen  der  Liebe  und  Freundschaft  sind  eitel 
Heuchelei,  um  ihn  desto  sicherer  in  die  Falle  zu  locken.  Diese 
Entwicklung  beobachten  wir  häufig  bei  der  Verrücktheit  und  bei 
der  Dementia  praecox,  aber  auch  im  manisch-depressiven  Irresein. 

Sehr  gewöhnlich  ist  der  Verfolgungswahn  von  mehr  oder  we- 
niger zahlreichen  Sinnestäuschungen  begleitet,  namentlich  auf  dem 
Gebiete  des  Gehörs.    Der  Kranke  sieht  sich  demnach  von  einem 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


323 


Netze  geheimer  Feindseligkeiten,  drohender  Gefahren  umgeben, 
dem  er  nicht  zu  entrinnen  vermag.  Alles  ist  gegen  ihn  verbündet, 
weidet  sich  an  seiner  Angst.  Überall  findet  er  sofort  die  untrüg- 
lichen Zeichen  dafür,  daß  man  eingeweiht  ist,  daß  er  durch  Spione 
beobachtet  wird.  Er  ist  Gegenstand  der  allgemeinen  Aufmerk-' 
samkeit;  man  blickt  ihn  sonderbar  an,  ruft  ihm  nach,  zischelt 
einander  Bemerkungen  zu,  weicht  ihm  aus,  spuckt  vor  ihn  hin. 
Speisen  und  Getränke  haben  einen  absonderlichen  Geschmack,  als 
ob  etwas  drin  wäre;  offenbar  ist  ihnen  Gift,  Kot,  Sperma,  Menschen- 
fleisch beigemischt.  Nach  ihrem  Genuß  treten  Magenbeschwer- 
den, Wallungen  zum  Kopfe,  geschlechtliche  Erregungen  auf.  Im 
eigenen  Zimmer  werden  die  Spuren  fremder  Tätigkeit  bemerkt; 
Gegenstände  sind  verschwunden,  beschmutzt,  verdorben,  das  vor- 
her geschlossene  Fenster  plötzlich  offen;  der  Schlüssel  zur  Türe 
schließt  nicht. 

Eine  eigenartige  Gestaltung  des  Beeinträchtigungswahns  bildet 
der  Eif ersuchtswahn^).  Die  Kranken  bemerken  ein  Erkalten 
der  ehelichen  Beziehungen,  fangen  glühende  Blicke,  geheime 
Zeichen  auf;  in  Briefen  finden  sich  versteckte  Aufforderungen 
zum  Stelldichein.  Die  Frau  wird  bei  unvermutetem  Nachhause- 
kommen  verlegen,  sucht  etwas  zu  verbergen,  hustet  bedeutungs- 
voll; es  ist  noch  dunkel  im  Zimmer.  Draußen  poltert  jemand  aus 
der  Tür;  eine  Gestalt  huscht  am  Fenster  vorbei;  das  letzte  Kind 
gleicht  dem  Vater  nicht.  Gerade  derartige  unzureichende  Be- 
gründungen ermöglichen  es  uns,  die  begreiflicherweise  öfters  recht 
schwierige  Unterscheidung  von  gesunder  oder  gar  berechtigter 
Eifersucht  zu  treffen.  Am  häufigsten  ist  der  Eifersuchtswahn 
bei  Alkoholisten  und  Cocainisten  sowie  bei  senilen  Geistesstörungen. 
Geschlechtliche  Unfähigkeit  mit  gesteigerter  Erregbarkeit  scheint 
bei  seiner  Entstehung  eine  Rolle  zu  spielen. 

Bei  fortgeschrittener  geistiger  Schwäche  nehmen  die  Verfol- 
gungsideen oft  ganz  abenteuerliche  Gestaltungen  an.  Die  feind- 
lichen Beeinflussungen  gewinnen  Formen,  die  nicht  nur  über  das 
Wahrscheinliche,  sondern  sehr  bald  auch  über  das  Mögliche  hinaus- 
gehen. Ganz  besonders  in  den  Vordergrund  treten  nunmehr  die 
Einwirkungen  auf  den  eigenen  Körper,  die  in  der  verschiedensten 

1)  Villers,  Bull,  de  la  societe  de  med.  ment.  de  Belgique,  1899;  Schüller, 
Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XX,  292. 


324 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Weise  ausgemalt  werden.  Vielfach  handelt  es  sich  um  Verände- 
rungen, die  im  Schlafe  oder  auf  übersinnliche  Weise  herbeigeführt 
werden  (Telepathie).  Die  Annahme  des  Behextwerdens,  des 
Besessenseins,  die  ja  in  den  Hexenprozessen  des  Mittelalters  eine 
so  große  sittengeschichtliche  Bedeutsamkeit  erlangt  hat,  liegt  hier 
dem  abergläubischen  Kranken  äußerst  nahe;  sie  wird  gestützt 
durch  krankhafte  Gemeingefühle,  fremdartige,  ihm  aufsteigende 
Gedanken  und  Reden,  die  Wahrnehmung  von  Stimmen  im  eigenen 
Körper,  lebhafte  Träume,  Ein  etwas  anderer  Bildungsgang  macht 
den  Kranken  mehr  zur  Annahme  magischer,  magnetischer,  elek- 
trischer, physikalischer,  hypnotischer  Fernewirkungen  geneigt,  die 
durch  allerlei  Maschinen,  Telephone,  galvanische  Batterien,  draht- 
lose Telegraphie,  Röntgenstrahlen,  sympathetische  Beziehungen  von 
unsichtbaren  Feinden  vermittelt  werden.  Die  Ausbildung  derartiger 
Wahnvorstellungen  ist  bisweilen  eine  äußerst  eingehende  und  spitz- 
findige. Besonders  häufig  sind  geschlechtliche  Beeinflussungen, 
Durchströmung  und  Reizung  der  Geschlechtsteile,  Abtötung  der- 
selben, Abziehen  des  Samens,  geheimnisvolle  Begattungen  mit  ihren 
weiteren  Folgen  bis  zur  Geburt  in  nächtlicher  Betäubung.  Als 
Urheber  der  Verfolgungen  und  Beeinflussungen  werden  entweder 
bestimmte  Personen  angesehen,  Vorgesetzte,  Nachbarn,  Freunde, 
Gatten,  Liebhaber  oder  gewisse  Parteien  mit  sehr  absonderlichen 
Zielen  und  Hilfsmitteln,  die  Geistlichen,  Freimaurer,  Sozialdemo-  / 
kraten,  der  Mörderbund  usf.  Die  Idee  der  körperlichen  Umwand- 
lung findet  ihre  weitere  Entwicklung  in  dem  ebenfalls  sittengeschicht- 
lich wichtigen  Wahne  der  Verzauberung  in  Tiergestalt  (Wehr- 
wölfe), des  Abgestorbenseins,  der  Verwandlung  in  andere  Personen, 
namentlich   solche   anderen   Geschlechts,   in   leblose   Dinge  usf. 

Diese  letzten  Formen  der  Wahnbildung  leiten  uns  hinüber  zu 
den  hypochondrischen  Ideen,  bei  denen  die  körperliche  Be- 
einträchtigung nicht  auf  fremde  Einwirkung,  sondern  auf  eine 
schwere,  unheilbare  Krankheit  zurückgeführt  wird.  Wie  der  an- 
gehende Arzt  die  Anzeichen  so  mancher  der  gerade  von  ihm  stu- 
dierten Leiden  an  sich  zu  entdecken  glaubt,  so  werden  hier  ganz 
harmlose,  durchaus  normale  Erscheinungen  am  eigenen  Körper 
für  die  Folgen  der  Syphilis,  der  Hundswut,  mannigfacher  Ver- 
giftungen, schwerer  Blutstockungen,  geschlechtlicher  Ausschwei- 
fungen und  dergleichen  angesehen.   Bei  Ärzten  sind  Tabes,  Para- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


325 


lyse,  Phthise  der  häufigste  Inhalt  hypochondrischer  Wahnideen. 
Psychopathische  Zustände,  ferner  zirkuläre,  paralytische,  hebe- 
phrenische,  senile  Depressionen  geben  den  günstigen  Boden  für 
die  Entwicklung  solcher  Wahnbildungen  ab.  Mit  dem  Eintritte 
der  Verblödung  gewinnen  sie,  namentlich  unter  dem  Einflüsse 
krankhafter  Empfindungen  aller  Art,  nicht  selten  ganz  unsinnige 
Formen.  Ein  lebendiges  Tier  sitzt  im  Körper,  Würmer  unter  der 
Haut;  Mund  und  After  sind  verschlossen,  die  Eingeweide  verdorben 
oder  herausgenommen,  alle  Glieder  gelähmt,  der  Atem  und  das 
Blut  vergiftet,  der  Kopf  ausgehöhlt,  die  Zunge  verfault,  der  Leib 
zu  einem  winzigen  Klümpchen  zusammengeschrumpft;  der  ganze 
Körper  ist  mit  Gestank  erfüllt,  in  einen  Kikerikihahn  verwandelt, 
von  Eisen  und  ähnliches.  ' 

Auch  die  Größenideen  können  unmittelbar  den  eigenen 
Körper  zum  Gegenstande  haben.  Hier  gewährt  uns  die  Hoffnungs- 
freudigkeit der  Schwindsüchtigen  und  die  Selbsttäuschung  Be- 
trunkener ein  alltägliches  Beispiel  für  jene  Störungen  des  Selbst- 
bewußtseins, bei  denen  das  Gefühl  erhöhter  Leistungsfähigkeit  in 
Widerspruch  mit  dem  wirklichen  Verhalten  gerät.  So  rühmen 
gebrechliche  Paralytiker  ihre  Körperkräfte,  ihre  ausgezeichneten 
Lungen,  ihre  Manneskraft,  sprechen  von  ihrer  schönen  Stimme, 
von  ihren  gymnastischen  Fertigkeiten,  während  sie  keinen  musika- 
lischen Ton  hervorbringen  und  nicht  auf  den  Füßen  stehen  können. 
Den  hypochondrischen  Ideen  inhaltlich  verwandt  sind  die  Größen- 
vorstellungen, daß  der  eigene  Kot  Gold,  der  Urin  Rheinwein  sei  und 
ähnliches.  Zuweilen  gewinnen  auch  Wahnvorstellungen  depres- 
siven Inhaltes  durch  die  Art  ihrer  Verwertung  die  Bedeutung  von 
Größenideen.  Bie  Kranken  erzählen,  daß  sie  sofort  sterben  würden, 
um  dann  in  den  Himmel  zu  fahren;  sie  laden  zu  ihrer  Hinrichtung 
ein,  die  mit  großer  Feierlichkeit  stattfinden  werde.  Andere  hören 
wir  mit  Genugtuung  sich  dessen  rühmen,  daß  ihnen  schon  30000  mal 
das  Haupt  abgeschlagen  worden  sei,  daß  sie  den  schrecklichsten 
Kopfkrankheiten  ausgesetzt  gewesen  seien,  jeden  Tag  einen  Zentner 
Strychnin  eingeblasen  bekämen.  Hier  dienen  die  unerhörten  Ge- 
fahren dazu,  die  eigene  Kraft  und  Wichtigkeit  in  ein  um  so 
glänzenderes  Licht  zu  setzen. 

Sehr  häufig  ist  die  Idee  geistiger  Gesundheit  trotz  tiefgreifender 
psychischer   Störung,    der   Mangel   des  Krankheitsbewußt- 


326 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


seins')-  Wir  treffen  in  der  Irrenanstalt  immer  nur  eine  kleine 
Zahl  von  Kranken  an,  die  sich  für  geistig  gestört  halten;  die  meisten 
betrachten  sich  als  völlig  gesund,  nicht  wenige  als  ganz  besonders 
gescheit  und  leistungsfähig.  Bei  manischen  und  namentlich  hypo- 
manischen Kranken  geht  die  erleichterte  Auslösung  von  Bewe-' 
gungsantrieben  mit  der  Vorstellung  großer  geistiger  Frische  einher. 
Ebenso  halten  sich  Paralytiker  in  ihrer  gehobenen  Stimmung  oft 
für  gesunder,  als  je  in  ihrem  Leben.  Paranoiker,  deren  Ein- 
bildungskraft nicht  durch  schwerfällige  Überlegungen  gehindert 
wird,  fühlen  sich  als  besonders  begnadete  Menschen,  berufen,  die 
erhabensten  Großtaten  des  Geistes  zu  vollenden.  Oft  genug  geben 
derartige  Kranke  die  Vermutung  einer  geistigen  Störung  entrüstet 
ihrer  Umgebung  zurück.  Schließlich  führt  das  Gefühl  erhöhter 
geistiger  Leistungsfähigkeit  dahin,  daß  sich  der  Kranke  für  ein 
Universalgenie,  für  einen  großen  Entdecker  und  Weltverbesserer 
hält,  für  den  es  keine  Schwierigkeiten  und  keine  unlösbaren  Fragen 
mehr  gibt;  er  versteht  alle  Sprachen,  kennt  alle  Geheimnisse  der 
Natur  und  ergründet  die  tiefsten  Rätsel  des  Daseins  mit  spielender 
Leichtigkeit.  Wer  wird  dabei  nicht  an  die  erstaunliche  Gewandtheit 
erinnert,  mit  der  wir  bisweilen  im  Traume  die  schwierigsten  Auf- 
gaben überwältigen,  um  nachher  beim  Erwachen  zu  entdecken, 
daß  unsere  Erzeugnisse  barer  Unsinn  gewesen  sind! 

Die  äußeren  Verhältnisse  des  Kranken,  seine  gesellschaft- 
liche Stellung,  sein  Besitz,  werden  durch  Größenwahnideen  in 
ähnlicher  Weise  umgewandelt.  Er  ist  von  hoher  Abkunft,  Fürsten- 
kind, Thronerbe,  oder  er  steht  wenigstens  in  nahen  Beziehungen 
zu  weltlichen  und  geistlichen  vornehmen  Persönlichkeiten,  ja  er 
hat  Verbindungen  mit  überirdischen  Mächten,  Verkehr  mit  der 
Jungfrau  Maria,  mit  Christus  oder  Gott  selbst.  In  weiterer,  sehr 
häufiger  Steigerung  ist  er  Bismarck,  König,  Kaiser,  Papst  (sogar 
beides  in  einer  Person) ;  er  ist  ein  Heiliger,  Christus,  Braut  Christi, 
Gott,  die  verkörperte  Dreieinigkeit  und  Obergott.  Andererseits 
rühmt  der  Kranke  seine  schönen  Kleider,  seine  Pferde  und  Schlösser; 
er  besitzt  große  Ländereien  und  ungeheuer  viel  Geld,  Millionen  mal 
Milliarden;  ihm  gehören  Deutschland,  Europa,  alle  fünf  Erdteile, 
ja  schließlich  die  ganze  Welt.  An  diese  Vorstellungen  der  Macht  und 


1)  Pick,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XIII,  518. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlußbildung. 


des  Reichtums  knüpfen  sich  sehr  gewöhnUch  mannigfache  Pläne, 
welche  mit  Hilfe  der  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  zur  Ausfüh- 
rung gebracht  werden  sollen.  Vom  einfachen  Ankaufe  allerlei  un- 
nützer Dinge  geht  es  zur  Planung  gewaltiger  Bauten,  großartiger 
Feste,  zur  Austrocknung  ganzer  Meere,  Durchbohrung  der  Erde, 
Reisen  nach  dem  Monde  und  durch  das  Weltall.  In  dieser  verschie- 
denartigen inhaltlichen  Ausprägung  des  ,,Gr ößenwahns"  macht 
sich  der  Einfluß  der  persönlichen  Erfahrung  geltend.  Die  allge- 
meine Richtung  ist  offenbar  in  dem  zugrunde  liegenden  Krankheits- 
zustande vorgezeichnet,  aber  die  Ausgestaltung  und  Ausschmückung 
des  Wahns  wird  durch  den  Vorstellungsschatz  des  einzelnen  ge- 
liefert und  gibt  somit  ein  bisweilen  sehr  treffendes  Bild  von  seinen 
Anschauungen,  Interessen  und  Wünschen.  Immerhin  zeigen  die 
Wahnideen  gleichartiger  Kranker  oft  genug  eine  überraschende 
Ähnlichkeit,  ein  Beweis  für  die  allgemeine  Einförmigkeit  mensch- 
lichen Strebens  und  Denkens. 

Größen-  und  Kleinheitsideen  sind  durchaus  nicht  etwa  als  ge- 
gensätzliche und  einander  ausschließende  Richtungen  der  Vorstel- 
lungstätigkeit zu  betrachten,  sondern  sie  verbinden  sich  sogar 
sehr  gewöhnlich.  Oft  stehen  sie  ganz  unvermittelt  nebenein- 
ander; hie  und  da  jedoch  läßt  sich  ein  gewisser  innerer  Zusammen- 
hang beider  Vorstellungskreise  aufdecken.  Der  vermeintlich  Ver- 
folgte sieht  die  Ursache  der  gegen  ihn  gerichteten  Feindseligkeiten 
in  seinen  besonderen  Vorzügen,  in  seinen  natürlichen  Ansprüchen 
auf  ein  großes  Besitztum,  in  seiner  Anwartschaft  auf  einen  Fürsten- 
thron,  und  umgekehrt  glaubt  der  wahnhafte  Sprößling  aus  hohem 
Hause,  der  Besitzer  eingebildeter  Reichtümer  die  Nichtanerkennung 
seiner  Rechte  auf  die  Machenschaften  geheimer  Feinde  und  Neider 
zurückbeziehen  zu  müssen,  betrachtet  seine  Zurückhaltung  in  der 
Irrenanstalt  als  das  Werk  erbschleicherischer  Verwandten  oder  auch 
als  eine  von  Gott  auferlegte  Prüfung,  nach  deren  glücklichem 
Überstehen  das  ganze  Füllhorn  des  Glückes  sich  über  ihn  ergießen 
werde.  In  der  Regel  haben  wir  dabei  übrigens  nicht  an  eine 
logische  Entwicklung  der  einzelnen  Gedankenkreise  auseinander, 
sondern  vielmehr  an  eine  nachträgliche  Verbindung  derselben 
zu  denken,  da  jeder  Wahn  ursprünglich  selbständig  aus  den 
inneren  Zuständen  des  Kranken  hervorgeht.  Bei  der  Dementia 
praecox  bedeutet  das    Auftauchen    von  Größenideen  neben  dem 


328 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Verfolgungswahn  meist  ein  stärkeres  Fortschreiten  des  psychischen 
Schwäche. 

Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes.  Die 

Verknüpfung  von  Vorstellungen  und  Begriffen  miteinander  nimmt, 
wie  sich  durch  Messungen  zeigen  läßt,  eine  bestimmte,  nicht  un- 
beträchtliche Zeit  (etwa  0,5 — i,o"  und  mehr)  in  Anspruch,  deren 
Dauer  bei  der  gleichen  Person  je  nach  der  Leichtigkeit  wechselt, 
mit  welcher  sich  die  Glieder  aneinanderfügen.  Sie  gestattet  umge- 
kehrt Rückschlüsse  auf  die  innigeren  oder  entfernteren  Bezie- 
hungen der  psychischen  Vorgänge  zueinander.  Bei  verschiedenen 
Personen  zeigt  die  Geschwindigkeit  der  Vorstellungsverbindungen 
schon  in  der  Gesundheitsbreite  sehr  erhebliche  Unterschiede,  die 
bis  auf  das  Dreifache  schwanken  können,  ohne  daß  sich  bis  jetzt 
für  diese  dauernden  persönlichen  Eigentümlichkeiten  bestimmte 
Gründe  auffinden  ließen.  Durch  diese  Erfahrung  wird  natürlich 
auch  die  Beurteilung  krankhafter  Abweichungen  insoweit  erschwert, 
wie  nicht  im  einzelnen  Falle  Vergleichswerte  aus  gesunden  Tagen 
zu  Gebote  stehen.  Dazu  kommt  noch  der  Umstand,  daß  die  not- 
wendigen Messungen  mit  allerlei  Schwierigkeiten  umgeben  sind, 
die  nur  durch  völlige  Vertrautheit  mit  dem  Maßverfahren  überwun- 
den werden  können.  Darin  liegen  die  Gründe,  warum  die  Kenntnisse 
von  den  Störungen  des  zeitlichen  Ablaufes  unserer  Gedankengänge 
verhältnismäßig  noch  recht  ungenügende  sind.  Immerhin  verfügen 
wir  auch  jetzt  schon  über  Zehntausende  brauchbarer  Messungen 
an  Kranken^).  Zunächst  steht  so  viel  fest,  daß  eine  Verlang- 
samung des  Vorstellungsverlaufes  durch  eine  ganze  Reihe  von  Ur- 
sachen schon  beim  Gesunden  herbeigeführt  werden  kann.  Vor  allem 
ist  es  die  Ermüdung,  die  regelmäßig  den  Gedankengang  verzögert, 
schließlich  bis  zur  völligen  psychischen  Lähmung.  Körperliche  und 
geistige  Ermüdung  haben  diese  Wirkung  miteinander  gemeinsam. 
Ähnlich  wirken  eine  Anzahl  von  Vergiftungen,  namentlich  die- 
jenigen mit  Alkohol,  Äther,  Chloroform,  Chloralhydrat  u,  a,,  in 
schwächerem  Grade  der  Tabak.  Auch  gewisse  Gemütsbewegungen 
unangenehmer  Art  scheinen  den  Ablauf  der  Vorstellungen  zu  ver- 
langsamen. 

In  Krankheitszuständen  vermag  man  die  Verlangsamung  des 
Gedankenganges  nicht  selten  schon  mit  einer  einfachen  Uhr  oder 
1)  Reis,  Psycholog.  Arbeiten,  II,  587;   Aschaffenburg,  ebenda  IV,  235. 


Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes. 


329 


auch  ohne  jede  Messung  nachzuweisen.  Namentlich  in  den  stu- 
porösen  und  gewissen  Mischzuständen  des  manisch-depressiven  Irre- 
seins pflegt  die  Störung  ungemein  deutlich  zu  sein.  Dabei  ist  jedoch 
zu  berücksichtigen,  daß  bisweilen  nicht  sowohl  die  Verbindung  der 
Vorstellungen,  sondern  wesentlich  nur  die  Auslösung  der  Antwort 
stark  verlangsamt  ist.  Ich  kenne  Fälle  von  zirkulärer  Hemmung, 
bei  denen  der  Vorstellungsverlauf  nur  unbedeutend  oder  gar  nicht, 
die  Entstehung  der  Sprachbewegung  dagegen  ungemein  stark  er- 
schwert war,  wie  sich  durch  Versuche  zweifellos  nachweisen  ließ. 
Franz  fand,  daß  die  Verlängerung  der  psychischen  Zeiten  bei  de- 
primierten Kranken  für  verwickeitere  Leistungen  verhältnismäßig 
geringer  war  als  für  einfache.  Bei  der  Dementia  praecox,  na- 
mentlich in  den  Endzuständen,  ist  regelmäßig  eine  geringe  Erschwe- 
rung der  Vorstellungsverbindungen  vorhanden,  die  allerdings  infolge 
des  Negativismus  weit  größer  erscheinen  kann.  Recht  bedeutend 
pflegt  die  Verlängerung  der  psychischen  Zeiten  in  der  Paralyse  zu 
sein,  bis  im  weiteren  Verlaufe  die  Messung  völlig  versagt.  Beim 
angeborenen  Schwachsinn  wird  ebenfalls  Verlangsamung  des  Vor- 
stellungsverlaufes beobachtet.  Mit  einer  Verlängerung  der  Asso- 
ziationszeiten sieht  man  regelmäßig  auch  die  Schwankungen  der 
gemessenen  Werte  zunehmen,  die  Buccola  mit  Recht  als  das 
Dynamometer  der  Aufmerksamkeit  bezeichnet  hat.  Während  sonst 
die  psychischen  Vorgänge  gerade  bei  langsamerer  Arbeit  gleich- 
mäßiger zu  verlaufen  pflegen,  werden  hier  die  Leistungen  nicht 
nur  geringer,  sondern  auch  unregelmäßiger;  zugleich  läßt  sich 
vielfach  noch  eine  Abnahme  ihres  inneren  Wertes  nachweisen. 

Beschleunigung  des  Vorstellungsverlaufes  kommt  jedenfalls 
ungleich  seltener  zustande  als  Verlangsamung.  Sehen  wir  ab  von 
der  allmählich  eintretenden  Verkürzung  der  psychischen  Zeiten 
durch  Übung,  so  scheinen  im  gesunden  Leben  wesentlich  gewisse 
Formen  der  gemütlichen  Erregung  einen  rascheren  Ablauf  des  Ge- 
dankenganges herbeiführen  zu  können.  Höchstens  wäre  hier  noch 
der  Einfluß  der  Anregung  durch  fortdauernde,  gleichmäßige  Gedan- 
kenarbeit zu  erwähnen,  der  ebenfalls  erleichternd  auf  die  geistige 
Tätigkeit  wirkt.  Von  Arzneistoffen  ist  bisher  nur  für  das  Morphium, 
das  Coffein  und  die  ätherischen  Öle  des  Tees  eine  anregende  Wirkung 
auf  die  Verstandesleistungen  wahrscheinlich.  Bei  Geisteskrankheiten 
sind  unzweifelhafte  Verkürzungen  der  psychischen  Zeiten  über- 


330 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


haupt  noch  nicht  nachgewiesen.  Erwarten  könnte  man  diese  Er- 
scheinung nach  der  allgemeinen  Anschauung  etwa  bei  manischen 
Kranken,  namentlich  in  den  leichteren  Formen,  in  der  sogenannten 
Hypomanie.  Drückt  sich  doch  schon  in  dem  Namen  der  hier  so 
deutlichen  Ideenflucht"  die  Vorstellung  einer  Beschleunigung  der 
Gedankenverbindungen  aus.  In  der  Tat  hat  Maria  Walitzkaja 
bei  manischen  Kranken  Verkürzungen  der  Assoziationszeit  bis  auf  die 
Hälfte,  ja  bis  auf  ein  Drittel  der  gewöhnlichen  Dauer  gefunden. 
Der  Annahme  einer  derart  erheblichen  Beschleunigung  der  Vor- 
stellungsverbindungen widersprechen  indessen  die  namentlich  von 
Aschaffenburg  gesammelten,  sehr  ausgedehnten  Erfahrungen 
durchaus;  auch  Franz  kam  zu  demselben  Ergebnisse.  Meist  läßt 
sich  sogar  bei  Ideenflüchtigen  geradezu  eine  Verlangsamung  des 
Gedankenganges  nachweisen.  Ich  bin  nicht  im  Zweifel  darüber, 
daß  die  entgegenstehenden  Erfahrungen  durch  die  hier  sehr  nahe- 
liegende und  nur  schwierig  zu  vermeidende  Fehlerquelle  der  vor- 
zeitigen Reaktion  getrübt  worden  sind. 

Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit.  Der  zeitliche  Ablauf 
des  einzelnen  psychischen  Vorganges  liefert  uns  nur  ein  sehr  un- 
vollkommenes Bild  der  eigentlichen  geistigen  Leistungsfähigkeit. 
Es  können  tiefgreifende  und  ausgebreitete  Störungen  in  der  gesam- 
ten geistigen  Veranlagung  bestehen,  über  die  wir  durch  die  einzelne 
Messung  nicht  das  geringste  erfahren.  Dagegen  wird  uns  durch  die 
Untersuchung  der  Arbeitsleistung  während  längerer  Zeit^)  und  unter 
verschiedenen  Verhältnissen  ein  Einblick  in  eine  Reihe  von  Ab- 
weichungen eröffnet,  deren  Bedeutung  für  das  genauere  Verständ- 
nis der  Schwachsinnsformen,  namentlich  der  angeborenen,  kaum 
überschätzt  werden  kann.  Wir  lernen  hier  geradezu  gewisse  Grund- 
eigenschaften der  einzelnen  Persönlichkeit  kennen,  von 
deren  krankhaften  Gestaltungen  wir  sonst  nur  höchst  unbestimmte 
und  verschwommene  Vorstellungen  zu  haben  pflegen. 

Zunächst  stellt  sich  heraus,  daß  die  Arbeitsleistung  beim  ge- 
sunden Menschen  gewisse  dauernde  Spuren  hinterläßt,  die  für  später 
eine  Erleichterung  der  gleichen  Arbeit  vermitteln.  Diese  dauernde, 
nur  sehr  allmählich  wieder  verschwindende  Arbeitserleichterung  be- 
zeichnen wir  mit  dem  Namen  der  Übung.  Die  Größe  des  Übungs- 


1)  Kraepelin,  Die  Arbeitskurve,  Philosophische  Studien,  XIX,  459. 


Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit. 


einflusses  ist  bei  verschiedenen  Personen  sehr  verschieden.  Weit 
größer  aber  sind  die  Schwankungen  auf  krankhaftem  Gebiete, 
Wenn  wir  absehen  von  den  erworbenen  Schwachsinnsformen,  ins- 
besondere dem  paralytischen  Blödsinn,  bei  denen  die  Übungs- 
fähigkeit häufig  vollkommen  vernichtet  ist,  so  leuchtet  ohne 
weiteres  ein,  daß  jene  Eigenschaft  bei  Idioten  fast  ausschließlich 
die  ganze  Zukunft  des  Kranken  bestimmt.  Bildungsfähigkeit  ist 
im  wesentlichen  nichts  als  Mangel  der  Übungsfähigkeit.  Natür- 
lich kommt  es  aber  außer  der  Arbeitserleichterung  durch  die 
Übung  selbst  auch  auf  die  Festigkeit  an,  mit  welcher  diese  blei- 
bende Spur  im  Gedächtnisse  haftet.  Wo  die  erworbene  Übung  sich 
rasch  wieder  verliert,  wird  sie  nur  ein  sehr  unzuverlässiges  Hilfs- 
mittel für  die  geistige  Ausbildung  abzugeben  imstande  sein.  Auch 
in  dieser  Beziehung  finden  sich  schon  bei  Gesunden  sehr  bedeutende 
Unterschiede.  In  krankhafter  Ausbildung  begegnen  wir  raschem 
Schwinden  der  vielleicht  ebenso  rasch  erworbenen  Übung  nament- 
lich bei  jenen  Formen  des  angeborenen  Schwachsinns,  bei  denen 
eine  gewisse  oberflächliche  geistige  Regsamkeit  zunächst  über  die 
tief  begründete  Unzulänglichkeit  der  geistigen  Begabung  täuscht. 

Mit  der  Übungsfähigkeit  steht  vielleicht  in  innerer  Beziehung 
die  Anregbarkeit.  Es  hat  sich  herausgestellt,  daß  durch  fort- 
gesetzte geistige  Arbeitsleistung  rasch  eine  Erleichterung  eben 
dieser  Arbeit  zustande  kommt,  die  sich  von  der  Übung  durch  ihr 
schnelles  Verschwinden  nach  dem  Aufhören  der  Arbeit  unterschei- 
det. Die  größere  oder  geringere  Leichtigkeit,  mit  der  sich  diese  Zu- 
nahme der  Leistung  während  der  Arbeit  einstellt,  bezeichnen  wir 
als  Anregbarkeit.  Aus  der  täglichen  Erfahrung  ist  genugsam  be- 
kannt, wie  verschieden  die  Geschwindigkeit  ist,  mit  welcher  sich  der 
einzelne  in  eine  Arbeit  hineinfindet.  Unter  unseren  Kranken  bieten 
die  Gehemmten,  Stuporösen  denjenigen  Grenzfall  dar,  bei  welchem 
die  Anregbarkeit  ihre  niedersten  Werte  erreicht,  während  uns  ma- 
nische Kranke  gerade  das  entgegengesetzte  Verhalten  zeigen.  Na- 
mentlich bei  feineren  Untersuchungen  über  die  Schrift  hat  sich  her- 
ausgestellt, daß  in  der  Manie  während  des  Schreibens  die  Geschwin- 
digkeit der  Bewegungen  und  der  Druck  der  Feder  außerordentlich 
rasch  anwächst.  Weniger  augenfällig,  aber  als  dauernde  persön- 
liche Eigentümlichkeiten,  treten  uns  die  beiden  entgegengesetzten 
Störungen  in  jenen  Formen  des  angeborenen  Schwachsinns  ent- 


332 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gegen,  die  man,  nicht  ohne  Beziehung  auf  das  verschiedene  Ver- 
halten der  Anregbarkeit,  als  stumpfen  und  erregbaren  Schwachsinn 
auseinandergehalten  hat.  Vielleicht  ist  auch  die  Nachhaltigkeit  der 
Anregung,  die  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  die  innere  Bewegung 
wieder  beruhigt,  von  Bedeutung  für  das  Verständnis  dieser  oder 
jener  Krankheitszustände.  Leider  ist  über  diese  Verhältnisse  bisher 
nichts  bekannt. 

Eine  weitere,  grundlegende  Eigenschaft  der  geistigen  Persön- 
lichkeit ist  die  Ermüdbarkeit.  Durch  die  Ermüdung  wird  die 
Höhe  der  Arbeitsleistung  je  länger,  je  mehr  herabgesetzt,  wahrschein- 
lich nicht  nur  in  ihrer  Menge,  sondern  auch  in  ihrem  Werte.  Große 
Ermüdbarkeit  beeinträchtigt  daher  auf  das  empfindlichste  die  Fähig- 
keit zu  längerer  und  anstrengender  Arbeitsleistung.  Bei  Geistes- 
kranken ist  diese  Störung  ungemein  verbreitet.  Wir  finden  sie  zu- 
nächst bei  der  nervösen  Erschöpfung  und  in  der  Genesungszeit  nach 
verschiedenen  Formen  psychischer  Erkrankung.  Sodann  begegnen 
wir  erhöhter  Ermüdbarkeit  vielfach  beim  Alkoholismus,  bei  den 
senilen  Hirnerkrankungen  und  in  der  Paralyse,  namentlich  aber 
bei  der  Arteriosklerose.  Endlich  ist  sie  eine  häufige  Begleiterschei- 
nung der  psychopathischen  Veranlagung.  Sie  kann  hier,  zum  großen 
Schaden  des  Kranken,  unerkannt  bleiben,  wenn  sie  sich  mit  er- 
höhter Anregbarkeit  verbindet.  Es  kommt  dann  leicht  zu  einer 
Anspannung  der  geistigen  Arbeitskraft  über  das  zulässige  Maß  hinaus. 

Ausgeglichen  wird  die  Ermüdung  durch  die  Erholung  und 
namentlich  durch  den  Schlaf.  Wahrscheinlich  unterliegt  auch  die 
Schnelligkeit,  mit  der  sich  die  Erholung  vollzieht,  krankhaften  Stö- 
rungen. Depressive  Kranke,  Nervöse,  Genesende  sehen  wir  ungemein 
langsam  die  Folgen  einer  geistigen,  gemütlichen  oder  auch  körper- 
lichen Anstrengung  wieder  ausgleichen;  wir  haben  daher  bei  ihnen 
vielleicht  eine  Abnahme  der  Erholungsfähigkeit,  der  geistigen 
Spannkraft,  zu  verzeichnen.  Eine  wesentliche  Rolle  spielt  dabei 
ohne  Zweifel  das  Verhalten  des  Schlafes;  wahrscheinlich  haben  wir 
es  beim  Irresein  vielfach  mit  schweren  Störungen  nicht  nur  der 
Schlaf dauer,  sondern  namentlich  auch  der  Schlaftiefe  zu  tun.  Für 
Zustände  einfacher  Überarbeitung  ist  eine  Verflachung  des  Schlafes 
mit  langsamerem  Erreichen  der  größten  Tiefe  bereits  nachgewiesen. 

Kaum  weniger  häufig,  als  der  krankhaften  Ermüdbarkeit,  be- 
gegnen wir  auf  unserem  Gebiete  einer  Steigerung  der  Ablenkbar- 


Störungen  des  Selbstbewußtseins. 


333 


keit.  Sie  kann  durch  dauerndes  Fehlen  der  Leitvorstellungen  bei 
geistigen  Schwächezuständen,  insbesondere  bei  der  Paralyse  und 
beim  Altersblödsinn,  zustande  kommen,  während  wir  es  bei  der 
manischen  Erregung  nur  mit  einer  Flüchtigkeit  derselben  zu  tun 
haben.  In  Form  erhöhter  Empfindlichkeit  gegen  ablenkende  Ein- 
wirkungen ist  sie  eine  sehr  gewöhnliche  Begleiterscheinung  der 
psychopathischen  Veranlagung.  Sie  geht  Hand  in  Hand  mit  einer 
Herabsetzung  der  Gewöhnungsfähigkeit.  Für  den  gesunden 
Menschen  pflegt  jede  Ablenkung  bei  längerer  Einwirkung  allmählich 
ihren  Einfluß  mehr  und  mehr  zu  verlieren ;  er  gewöhnt  sich  an  die 
Störung  und  lernt,  sie  unbeachtet  zu  lassen.  Bei  gesteigerter  nervöser 
Reizbarkeit  kann  die  Gewöhnungsfähigkeit  mehr  oder  weniger  er- 
heblich herabgesetzt  sein,  so  daß  also  die  ablenkende  Wirkung  einer 
Störung  mit  der  Zeit  immer  wächst,  anstatt  sich  abzuschwächen. 
Auf  diese  Weise  können  schließlich  ganz  unbedeutende  Reize  in 
einem  Grade  störend  einwirken,  der  dem  Unbefangenen  unbegreif- 
lich erscheint. 

Störungen  des  Selbstbewußtseins.  Als  Selbstbewußtsein  bezeich- 
nen wir  die  Summe  aller  jener  Vorstellungen,  aus  denen  sich 
für  uns  das  Bild  unserer  körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit 
zusammensetzt.  Diese  Vorstellungsgruppe  bildet  den  dauernden 
Hintergrund  unseres  Seelenlebens  und  übt  daher  auf  den  Ablauf 
unserer  gesamten  geistigen  Vorgänge  einen  maßgebenden  Einfluß 
aus.  Sie  verknüpft  einerseits  die  Eindrücke  jedes  Augenblickes  zu 
einem  einheitlichen  Bilde  unserer  gesamten  Lage,  und  sie  verkettet 
andererseits  die  Reihe  unserer  Lebenserfahrungen  zu  einer  fort- 
laufenden Lebensgeschichte,  deren  Endergebnis  jeweils  das  gegebene 
Ich  darstellt. 

Das  Selbstbewußtsein  ist  kein  feststehendes  psychisches  Gebilde, 
sondern  es  wird  durch  die  Lebenserfahrungen  fortwährend  ver- 
ändert. Krankheitsvorgänge  vermögen  es  in  der  nachhaltigsten 
Weise  zu  verfälschen.  Wahnbildungen  erscheinen  dazu  von  vorn- 
herein besonders  geeignet,  doch  kennen  wir  Krankheiten  mit  aus- 
geprägten Wahnvorstellungen,  die  das  Selbstbewußtsein  nicht 
wesentlich  verändern.  Dahin  gehören  vor  allem  die  meisten  alko- 
holischen Geistesstörungen.  Da  andererseits  die  schwersten  Ver- 
fälschungen des  Selbstbewußtseins  in  der  Paralyse,  in  der  Dementia 
praecox  und  im  manisch-depressiven  Irresein  beobachtet  werden, 


n.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 

könnte  man  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  jenes  Krankheits- 
zeichen in  irgend  einer  Beziehung  zu  den  Störungen  des  Willens 
stände,  die  den  genannten  Formen  eigentümlich  sind;  pflegen  wir 
doch  auch  den  Willensregungen  einen  besonders  großen  Anteil  an 
dem  Aufbau  der  psychischen  Persönlichkeit  zuzuschreiben. 

Einer  eigentümlichen,  sehr  quälenden  Störung  des  Persönlich- 
keitsbewußtseins begegnen  wir  nicht  selten  in  den  zirkulären  De- 
pressionszuständen.  Es  handelt  sich  anscheinend  um  eine  all- 
gemeine Veränderung  der  aus  dem  Körper  und  aus  dem  Ablaufe 
der  Seelenvorgänge  entspringenden  Empfindungen.  Das  Gefühl  der 
Zugehörigkeit  des  eigenen  Körpers  ist  verloren  gegangen;  der 
Kranke  kommt  sich  vor  wie  ein  Automat,  wie  eine  Statue;  der 
Klang  der  Stimme,  das  Gesicht  im  Spiegel  erscheint  ihm  fremd. 
Die  Vorstellungen  sind  schattenhaft ;  die  Wahrnehmungen  erwecken 
nicht  das  Gefühl  der  Wirklichkeit.  Am  stärksten  aber  macht  sich 
der  Verlust  des  inneren  Tätigkeitsgefühls  geltend.  Das  Handeln 
geht  mechanisch,  ohne  das  Bewußtsein  des  Wollens  vonstatten; 
die  Gedanken  kommen  und  gehen  ohne  eigenes  Zutun.  Der  Kranke 
fühlt  sich  als  teilnahmloser  Zuschauer,  außer  innerem  Zusammen- 
hang mit  dem  eigenen  Wahrnehmen  und  Tun,  nicht  als  leidendes 
und  handelndes  Ich.  Wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß  diese  pein- 
lichen Zustände  von  ,, Depersonalisation"^)  uns  wesentlich  ein  Bild 
der  inneren  Hemmungen  geben,  die  den  zirkulären  Depressionen 
eigentümlich  sind. 

Ihre  besondere  Färbung  erhält  die  Verfälschung  des  Ichbewußt- 
seins namentlich  durch  die  krankhafte  Stimmung.  So  wächst  beim 
manischen  Kranken  die  eigene  Persönlichkeit  bis  zum  Auftreten 
von  Größenideen,  die  freilich  in  der  Regel  nur  als  halb  scherzhafter 
Ausdruck  des  gehobenen  Selbstgefühls  vorgebracht  werden.  In  den 
zirkulären  Depressionszuständen  dagegen  kommen  sich  die  Kranken 
nicht  nur  schlecht  und  verworfen  vor,  sondern  sie  fühlen  sich  oft 
genug  auch  körperlich  verändert,  versteinert,  gestorben,  glauben 
sich  in  geschichtliche  Personen  verwandelt,  sind  zum  Teufel,  zum 
Tiere  geworden.  Auch  dem  Paralytiker  kann  im  Zusammenhange 
.mit  den  Größen-  und  Kleinheitsideen  sein  Körper  in  der  mannig- 
fachsten Weise  verändert  erscheinen;  er  kann  sich  als  ein  ganz 

1)  Pick,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXVIII,  22;  Oesterreich,  Journ.  f.  Psy- 
chologie und  Neurologie,  VII,  253, 


Störungen  des  Selbstbewußtseins. 


335 


neues  Wesen  fühlen,  das  je  nach  der  Färbung  der  Stimmung  bis  ins 
Ungemessene  gewachsen  oder  zum  Nichts  zusammengeschrumpft 
ist.  Ganz  ähnhche,  wenn  auch  weniger  stürmische  Wandlungen 
beobachten  wir  in  der  Dementia  praecox,  Sie  sind  jedoch  hier  un- 
gleich seltener,  und  sie  verknüpfen  sich,  im  Gegensatz  zur  Paralyse 
und  zum  manisch-depressiven  Irresein,  meist  mit  der  Vorstellung 
äußerer  Beeinflussung  in  irgend  einer  Form,  ohne  daß  freilich  die 
Veränderung  der  eigenen  Persönlichkeit  gerade  als  Folge  solcher 
Einwirkungen  gedeutet  werden  müßte. 

Bei  schweren  Verblödungen  kommt  es  schließlich  zu  einer  Ver- 
nichtung des  Selbstbewußtseins.  In  den  Endzuständen  der  Dementia 
praecox  und  namentlich  der  Paralyse  kann,  wie  es  scheint,  die 
Vorstellungsgruppe  der  körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit 
völlig  zerfallen.  Beim  Altersblödsinn  und  bei  manchen  organischen 
.Hirnerkrankungen  kommt  es  öfters  zu  einem  Kindischwerden,  zu 
■psychischem  Puerilismus  mit  großer  Gedankenarmut,  grundlosem 
Stimmungswechsel  und  spielerischem  Wesen,  gänzlichem  Verlust 
des  Verständnisses  für  die  Gegenwart,  Auftauchen  längstver- 
gangener Erinnerungen.  Dagegen  pflegt  bei  der  Presbyophrenie, 
bei  der  wegen  der  starken  Merkstörung  die  Lebensereignisse  sofort 
spurlos  aus  der  Erinnerung  schwinden,  das  Selbstbewußtsein  er- 
halten zu  bleiben.  Ebenso  besitzen  bei  der  epileptischen  Verblö- 
dung trotz  hochgradiger  geistiger  Verarmung  und  schwerer 
Gedächtnisstörungen  die  Kranken  in  der  Regel  noch  ein  klares, 
geordnetes  Bewußtsein  ihrer  Persönlichkeit.  Verhältnismäßig  gering 
ist  die  Störung  des  Selbstbewußtseins  bei  denjenigen  Formen  des 
Irreseins,  die  wir  der  Verrücktheit  zurechnen;  sie  beschränkt  sich 
in  der  Regel  auf  eine  wahnhafte  Überschätzung  der  eigenen  Fähig- 
keiten, die  unter  Umständen  durch  Erinnerungsfälschungen  in  die 
Vergangenheit  zurückgeführt  wird  und  die  Anknüpfung  für  eine 
Umdeutung  der  äußeren  Lebensstellung  bilden  kann. 

Bei  manchen  Erkrankungen  findet  ohne  oder  mit  Umwand- 
lung des  Selbstbewußtseins  ein  Verlust  der  inneren  Einheit  statt. 
Wir  kennen  aus  dem  Traume  die  Erscheinung,  daß  wir  Zwie- 
gespräche führen  können,  ja  daß  wir  über  irgend  eine  schlagende 
Wendung  unseres  Gegners  verblüfft  sind.  Hier  ist  anscheinend  die 
Einheitlichkeit  der  Persönlichkeit,  die  uns  im  Wachen  gestattet, 
alle  Gedanken  und  Regungen  unseres  Innern  gleichzeitig  zu  über- 


336 


II,  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sehen,  aufgehoben.  Die  ersten  Ansätze  zu  einer  solchen  „Teilung" 
oder  „Spaltung"  des  Selbstbewußtseins  haben  wir  vielleicht  schon 
in  jenen  Krankheitsfällen  zu  sehen,  in  denen  Sinnestäuschungen 
dem  Kranken  als  fremde  Erscheinungen  äußeren  Ursprungs  ent- 
gegentreten. Wenn  ein  Trinker  hört,  daß  über  ihn  spottende  Zwie- 
gespräche geführt  und  gefahrdrohende  Pläne  verabredet  werden,  so 
bleibt  ihm  dabei  völlig  verborgen,  daß  diese  Täuschungen  nichts 
als  der  halluzinatorische  Ausdruck  seiner  eigenen  Gedanken  und 
Befürchtungen  sind;  er  selbst  spielt,  ohne  es  zu  wissen,  die  Rolle 
zweier  verschiedener  Parteien.  Namentlich  bei  der  Dementia 
praecox  kann  diese  Spaltung  des  Selbstbewußtseins  sehr  deutlich 
werden.  Die  Kranken  sprechen  dann  von  den  fremden  Mächten, 
Feinden,  die  sich  in  ihrem  Körper  eingenistet  haben,  und  unter- 
scheiden sehr  deutlich  ihre  eigenen  Gedanken  und  Handlungen  von 
denen  ihrer  Inwohner.  Wernicke  hat  diesem  ,, Zerfall  der  Indi- 
vidualität", der  ,, Assoziationslösung",  in  der  Erklärung  krankhafter 
Störungen  ein  breites  Feld  eingeräumt.  Er  denkt  dabei  auch  ana- 
tomisch an  eine  ,,Sejunktion",  an  vielfache  Trennungen  des  Zu- 
sammenhanges, welche  die  Grundlage  für  den  Verlust  der  inneren 
Einheit  bilden  sollen.  Die  zugleich  bestehenden  Reizerscheinungen, 
insbesondere  die  Sinnestäuschungen,  werden  dann  auf  örtliche 
Stauungen  des  in  seiner  Ausbreitung  behinderten  Nervenstroms  zu- 
rückgeführt. 

Sehr  nahe  liegt  die  Annahme  einer  Spaltung  des  Selbstbewußt- 
seins für  die  Erklärung  gewisser  hysterischer  Störungen.  Da  sich 
nachweisen  läßt,  daß  auch  solche  Reize  psychisch  verwertet 
werden,  die  auf  empfindungslose  Körpergegenden  einwirken,  und 
daß  gelähmte  Glieder  auf  Umwegen  in  Bewegung  gesetzt  wer- 
den können,  werden  hier  offenbar  einzelne  Körpergebiete  aus  dem 
Zusammenhange  des  Persönlichkeitsbewußtseins  ausgeschlossen. 
Eine  weitere  Ausbildung  dieser  Anschauung  ist  die  Annahme  von 
Freud,  daß  auch  einzelne  Lebenserfahrungen  aus  der  bewußten  Er- 
innerung unter  dem  Einflüsse  lebhafter  Unlustgefühle  ,, verdrängt" 
werden  können,  in  dieser  Form  aber  gleichwohl  eine  ebenso  starke 
und  dauernde  wie  unheilvolle  Wirkung  auf  das  Seelenleben  aus- 
üben. Daß  solche  Verdrängungserscheinungen  vorkommen,  wird 
angesichts  der  hysterischen  Amnesien  nicht  zu  bezweifeln  sein. 
Dagegen  vermag  ich  an  das  jähre-,  ja  jahrzehntelange  selbstherr- 


Störungen  des  Selbstbewußtseins. 


337 


liehe  Nachwirken  verdrängter  Erinnerungen  im  Hinblicke  auf  kli- 
nische wie  allgemein-psychologische  Erfahrungen  durchaus  nicht 
zu  glauben.  Allerdings  sind  die  Anhänger  Freuds  soweit  gegangen, 
gewissen  gefühlsbetonten  Vorstellungen,  den  sogenannten  ,, Kom- 
plexen", die  Rolle  von  übermächtigen  Nebenregierungen  unter  der 
Schwelle  des  Bewußtseins  zuzuschreiben.  Mir  scheint  bisher  der 
Beweis  dafür,  daß  die  Zentralgewalt  unseres  Seelenlebens  durch 
unbotmäßige  Vasallen  heimlich  wesentlich  eingeschränkt  würde, 
noch  nicht  erbracht  zu  sein.  Woher  sollte  auch  deren  Macht  wohl 
stammen  ? 

Der  zeitliche  Zusammenhang  der  Persönlichkeit  mit  ihrer  Ver- 
gangenheit kann  dadurch  gestört  werden,  daß  die  Spuren  kürzerer 
oder  längerer  Lebensabschnitte  verlöschen.  Hat  sich  in  diesen  Ab- 
schnitten eine  Fortentwicklung  nicht  vollzogen,  so  findet  sich  das 
Selbstbewußtsein  nachher  unverändert  auf  dem  früheren  Stand- 
punkte; die  Zwischenzeit  wird  dann  durch  Schlußfolgerungen  oder 
durch  Erinnerungsfälschungen  überbrückt.  Ersteres  ist  der  Fall  bei 
den  Lücken,  die  durch  Bewußtseinstrübungen,  den  Schlaf,  Ohn- 
mächten, Dämmerzustände,  Delirien,  bedingt  werden;  letzteres  ge- 
schieht, wo  der  Verlust  der  Erinnerung  durch  eine  Merkstörung 
verursacht  war,  wie  bei  der  Korssako wschen  Krankheit. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild  bieten  die  Fälle  von  sogenanntem 
,,doppeltem  Bewußtsein"  dar.  Hier  handelt  es  sich  um  den 
mehr  oder  weniger  regelmäßigen  Wechsel  verschiedener  Zustände, 
in  denen  jeweils  nur  die  Erinnerung  an  die  Erlebnisse  des  gleich- 
artigen Zustandes  erhalten  bleibt.  Es  schieben  sich  also  gewisser- 
maßen verschiedene  Persönlichkeiten  durcheinander,  von  denen 
jede  nur  über  einen  Teil  der  Gesamterfahrungen  verfügt.  In  der 
Regel  pflegt  die  eine  derselben  einer  früheren  Entwicklungsstufe 
anzugehören  und  demgemäß  allerlei  Kenntnisse  und  Fertigkeiten 
nicht  zu  besitzen,  welche  die  andere  beherrscht.  Bisweilen  läßt 
sich  nachweisen,  daß  geradezu  eine  Rückversetzung  in  ein  bestimm- 
tes, durch  besondere  Ereignisse  ausgezeichnetes  Lebensalter  statt- 
gefunden hat,  so  daß  auch  hier  ein,  allerdings  ganz  andersartiger 
Puerilismus  entstehen  kann.  Diese  Erscheinung,  die  man  bei  ge- 
eigneten Personen  durch  hypnotisches  Einreden  künstlich  erzeugen 
kann,  gehört  dem  Gebiete  der  Hysterie  an;  sie  ist  von  den  Fran- 
zosen als  ,,Ekmnesie"  bezeichnet  worden.    Sehr  merkwürdige 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  22 


338 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Beispiele  der  Art  sind  neuerdings  von  Prince  und  von  Wilson^) 
beschrieben  worden;  in  dem  einen  wechselten  drei,  in  dem  anderen 
gar  zehn  Personen  von  ganz  verschiedenen  Altersstufen,  Kennt- 
nissen, Fähigkeiten  und  Charaktereigenschaften  miteinander  ab, 
bald  von  selbst,  bald  auf  äußere  Einwirkungen  hin. 

C.  Störungen  des  Gefühlslebens. 

Jeder  Sinneseindruck,  der  die  Schwelle  des  Bewußtseins  über- 
schreitet, erzeugt  in  unserem  Innern  außer  der  Wahrnehmung 
eine  eigentümliche  Veränderung  unseres  Seelenzustandes,  die  wir 
als  Gefühl  bezeichnen.  Die  Gefühle  sind  nicht,  wie  die  Wahr- 
nehmungen, ein  Abbild  der  Außenwelt,  sondern  sie  kennzeichnen 
unmittelbar  die  Stellung,  welche  das  Ich  gegenüber  den  äußeren 
Einwirkungen  einnimmt;  es  sind  diejenigen  Seelenzustände,  aus 
denen  sich  auch  tatsächlich  die  Willensregungen  entwickeln.  Nach 
Wundts^)  Darlegungen  kann  man  drei  gegensätzliche  Gefühls- 
richtungen auseinanderhalten,  die  jedoch  nur  selten  allein,  sondern 
fast  immer  in  mannigfaltigen  Mischungen  die  geistigen  Vorgänge 
begleiten,  die  Lust  und  Unlust,  die  Erregung  und  Beruhigung, 
vielleicht  besser  Hemmung,  endlich  die  Spannung  und  Lösung. 
Diese  Zerlegung  der  Gefühlsmischungen  in  ihre  einfachsten  Bestand- 
teile läßt  sich  nicht  nur  an  passend  gewählten  Beispielen  durch  die 
innere  Erfahrung  unmittelbar  durchführen,  sondern  sie  wird  auch 
gestützt  durch  die  eigenartigen  Wirkungen,  die  den  verschiedenen 
Gefühlsarten  auf  Atmung,  Puls  und  Blutdruck  zuzukommen 
scheinen. 

Da  die  Gefühle  die  empfindlichsten  Zeichen  aller  inneren  Ver- 
änderungen sind,  ist  es  bei  den  Geistesstörungen  regelmäßig  gerade 
die  Gefühlsbetonung,  das  ,, Gemütsleben"  der  Kranken,  welches 
zunächst  die  auffallendsten  Störungen  darbietet.  Die  Beurteilung 
dieser  Krankheitserscheinung  stößt  jedoch  deswegen  auf  gewisse 
eigentümliche  Schwierigkeiten,  weil  uns  hier  weit  weniger,  als  auf 
dem  Gebiete  des  Verstandes,  eine  feststehende  Richtschnur  gege- 

1)  Prince,  The  disassociation  of  a  personality.  1906;  Wilson,  Journal  of 
mental  science,  1904,  699. 

2)  Wundt,  Physiologische  Psychologie,  II,  284,  S-  Aufl.  1902. 


Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit. 


ben  ist,  mit  Hilfe  derer  wir  die  gradweisen  Abweichungen  vom  ge- 
sunden Verhalten  sicher  bestimmen  könnten.  Verfälschungen  der 
Sinneserfahrung,  Verstöße  gegen  die  Grundsätze  des  logischen 
Denkens  werden  auch  vom  Laien  ohne  weiteres  als  krankhafte  Er- 
scheinungen erkannt;  die  Lebhaftigkeit  der  Gefühlsäußerungen 
zeigt  aber  schon  bei  Gesunden  unter  verschiedenen  Verhältnissen 
so  weitgehende  persönliche  Verschiedenheiten,  daß  die  Abgrenzung 
des  Krankhaften  gerade  auf  diesem  Gebiete  häufig  recht  schwierig 
wird.  Der  Laie,  in  forensischen  Fällen  der  Richter,  ist  stets  weit 
eher  geneigt,  Mängel  des  Verstandes,  besonders  Wahnideen,  für 
krankhaft  zu  halten,  als  die  eingreifendsten  Störungen  im  Gemüts- 
leben. 

Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbariceit.  Die 

einfachste  und  wohl  auch  häufigste  Abweichung  im  Bereiche  der 
Gefühle  ist  die  Herabsetzung  ihrer  Stärke.  Während  sich  im 
Gemüte  des  Gesunden  der  innere  Anteil,  den  er  an  seinen  vielfachen 
Beziehungen  zur  Umgebung  nimmt,  in  beständigen,  leiseren  oder 
stärkeren  Schwankungen  des  Stimmungshintergrundes  widerspie- 
gelt, bedeutet  die  Abnahme  dieser  Gefühlsbetonung  Gleichgültig- 
keit und  Teilnahmlosigkeit  gegenüber  den  Eindrücken  der 
Außenwelt.  Diese  Störung  ist  eine  allgemeine  Begleiterscheinung  der 
meisten  Schwachsinnsformen.  Unter  Umständen  werden  dabei  die 
äußeren  Erfahrungen  noch  recht  gut  aufgefaßt  und  selbst  ver- 
standesmäßig verarbeitet,  ohne  doch  irgend  einen  bemerkbaren  ge- 
mütlichen Widerhall  in  dem  Kranken  wachzurufen.  Dieses  auffal- 
lende Mißverhältnis  zwischen  Verstandes-  und  Gefühlsstörung  tritt 
uns  am  ausgeprägtesten  bei  der  Dementia  praecox  entgegen.  Erst 
in  den  schwersten  Krankheitszuständen  pflegt  hier  auch  die  Auf- 
fassung und  die  Vorstellungstätigkeit  eine  tiefgreifende  Einbuße 
zu  erleiden.  Bei  der  Paralyse  dagegen  sehen  wir  die  Verstandes- 
leistungen in  verhältnismäßig  höherem,  die  gemütlichen  Regungen 
dagegen  in  geringerem  Grade  durch  die  Krankheit  zerstört  werden. 

Die  Abnahme  der  Gefühlsbetonung  pflegt  sich  in  der  Regel  nicht 
auf  alle  Gebiete  des  gemütlichen  Lebens  gleichmäßig  zu  erstrecken, 
sondern  es  kommt  vielmehr  zunächst  zu  einer  Einschränkung 
der  inneren  Beziehungen  des  Kranken.  Der  Kreis  der  Vorgänge, 
die  ihn  noch  innerlich  berühren,  wird  enger,  während  nach  ge- 
wissen Richtungen  hin  die  Lebhaftigkeit  der  Gefühle  die  alte  bleibt, 

*  22* 


340 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


ja  sich  unter  Umständen  sogar  noch  steigern  kann.  Am  leichtesten 
gehen  dem  Kranken  natürhch  solche  Gefühle  verloren,  die  nicht 
unmittelbar  an  die  Veränderungen  des  eigenen  Ich  anknüpfen, 
sondern  sich  auf  die  Verhältnisse  der  weiteren  Außenwelt  beziehen, 
und  ferner  diejenigen,  welche  die  Eigenschaft  des  Sinnlichen  ver- 
loren haben  und  als  Begleiter  gewisser  allgemeiner  Vorstellungen 
und  Grundsätze  nur  durch  die  höheren  geistigen  und  sittlichen 
Leistungen  wachgerufen  werden.  Wie  der  Gedankenkreis  sich  auf 
das  Einfachste,  Nächstliegende  und  persönlich  Wichtigste  beschränkt, 
so  behalten  auch  die  Gefühle  ihre  sinnliche  Einfachheit  und  er- 
strecken sich  nur  auf  jene  Eindrücke,  die  in  dem  unmittelbarsten 
und  einleuchtendsten  Zusammenhange  mit  dem  eigenen  Wohl  und 
Wehe  stehen.  Mit  anderen  Worten:  die  Anteilnahme  des  Kranken 
zieht  sich  wesentlich  auf  die  Zustände  der  eigenen  Person  zurück, 
wird  eine  ausschließlich  selbstsüchtige,  und  er  verliert  die  Freude 
an  der  geistigen  Tätigkeit,  an  edleren  künstlerischen  Genüssen, 
das  Gefühl  für  die  höheren  Anforderungen  des  Anstandes,  der  Sitt- 
lichkeit, der  Religion.  Fremdem  Schicksale  steht  sein  Herz  kalt 
und  gleichgültig  gegenüber;  allgemeinere  und  höhere  Bestrebungen 
vermögen  weder  Verständnis  noch  Teilnahme  in  seinem  Innern 
anzuregen.  Es  fallen  also  für  ihn  wesentlich  alle  jene  Beweggründe 
und  Hemmungen  fort,  die  dem  Gesunden  aus  der  Rücksicht  auf 
seine  Umgebung,  aus  seinen  Beziehungen  zur  Familie,  zu  seinem 
Volke,  endlich  zur  gesamten  Menschheit  und  ihren  Aufgaben  ent- 
springen. Die  Folgen  dieser  Umwandlung  sind  ungemein  auffallende. 
Der  Kranke  hat  kein  Gefühl  mehr  für  seine  Angehörigen,  sein 
Geschäft,  seine  Arbeit,  seine  Pflicht;  er  verliert  das  Schamgefühl, 
wird  rücksichtslos  im  persönlichen  Verkehr,  denkt  nur  an  die  Be- 
friedigung seiner  unmittelbaren  Bedürfnisse,  macht  sich  keine  Ge- 
danken über  seine  Lage,  keine  Pläne  oder  Sorgen  für  die  Zukunft. 

In  mildester  Form  sehen  wir  eine  derartige  Veränderung  schon 
im  gesunden  Greisenalter,  stärker  im  krankhaften  Altersschwach- 
sinn sich  vollziehen.  Die  gemütliche  Empfänglichkeit  und  Be- 
geisterungsfähigkeit verblaßt,  während  die  Regungen  der  Eigen- 
liebe sowie  die  Freude  am  Besitz  und  am  sinnlichen  Genüsse  sich 
lebhafter  geltend  machen.  Weiterhin  bilden  die  Zeichen  der  gemüt- 
lichen Verblödung  häufig  die  ersten  auffallenden  Erscheinungen  der 
Paralyse  und  namentlich  der  Dementia  praecox,  in  deren  Verlaufe 


Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit. 


sie  sich  immer  schärfer  ausprägen.  Endlich  aber  spielt  das  Fehlen 
der  gemütlichen  Ansprechbarkeit  auch  eine  wichtige  Rolle  bei 
manchen  epileptischen  und  angeborenen  Schwachsinnsformen,  Mit 
der  Verkümmerung  des  Gemütslebens  verträgt  sich  hier  recht 
wohl  eine  gewisse  Findigkeit  in  der  Verfolgung  des  sinnlichen  Ge- 
nusses, eine  handwerksmäßige  Gewandtheit  in  der  Erreichung 
selbstsüchtiger  Vorteile,  durch  die  sich  die  Umgebung  häufig  über 
die  tiefe  geistige  und  gemütliche  Unfähigkeit  der  Kranken  hin- 
wegtäuschen läßt.  Aus  der  Gesundheitsbreite  gehören  hierher  jene 
gemütsrohen  und  selbstsüchtigen  Naturen,  die  fremden  Gefühlen 
teilnahmlos  gegenüberstehen,  durch  keine  Regung  der  Menschen- 
liebe aus  ihrer  Ruhe  aufgerüttelt  werden  und  planmäßig  berech- 
nend nur  von  den  Antrieben  des  gröbsten  Eigennutzes  sich  leiten 
lassen. 

Ein  höchst  bedeutsamer  Unterschied  zwischen  den  niederen, 
sinnlichen  und  den  höheren,  allgemeinen  (logischen,  sittlichen, 
künstlerischen,  religiösen)  Gefühlen  wird  durch  den  Umstand  be- 
zeichnet, daß  die  ersteren  wohl  eine  weit  größere  augenblickliche 
Stärke,  aber  eine  ungleich  geringere  Erneuerungsfähigkeit  be- 
sitzen, als  die  letzteren.  Ein  sinnlicher  Genuß  oder  Schmerz  kann 
uns  für  kurze  Zeit  in  sehr  lebhafte  Erregung  versetzen,  aber  er 
blaßt  in  der  Erinnerung  rasch  ab,  während  z.  B.  die  leiseren,  aber 
andauernden  sittlichen  Gefühle  unser  Denken  und  Handeln  das 
ganze  Leben  hindurch  fast  unausgesetzt  begleiten  und  bestim- 
men, wo  sie  nicht  durch  leidenschaftliche  Gemütsschwankungen 
übertönt  werden.  Gerade  die  höheren  Gefühle  aber  sind  es,  die 
unserem  Stimmungshintergrunde  jene  gleichförmige  Ruhe,  unserer 
geistigen  Persönlichkeit  jene  Festigkeit  und  innere  Geschlossenheit 
zu  gewähren  vermögen,  wie  man  sie  mit  Recht  als  die  Eigenschaften 
eines  gesunden,  voll  entwickelten  Mannes  betrachtet.  Da  ferner 
die  höheren  Gefühle  eine  Art  Dämpfung  für  die  raschen  Gefühls- 
regungen des  Augenblicks  darstellen,  pflegen  sich  mit  dem  Weg- 
falle dieser  Dämpfung  plötzliche  Leidenschaftsausbrüche  von  auf- 
fallender Heftigkeit,  aber  geringer  Nachhaltigkeit  einzustellen. 

Auch  nach  dieser  Richtung  hin  wird  sich  daher  das  Fehlen 
der  höheren  Gefühle  im  Krankheitsbilde  des  Schwachsinns  geltend 
machen  müssen.  Wo  nicht  hochgradige  Stumpfheit  alle  Gefühls- 
regungen überhaupt  begräbt,  sehen  wir  einerseits  in  der  Ungleich- 


Erscheinungen  des  Irreseins. 

förmigkeit  der  Stimmung,  andererseits  in  ihrer  Abhängigkeit  von 
äußeren  Zufälligkeiten,  in  ihrer  Beeinflußbarkeit,  den  Mangel 
der  dauernden,  höheren  Gefühle  sich  kundgeben.  Beim  Fehlen 
fester  Grundlagen  für  die  Stimmung  genügt  oft  eine  Kleinigkeit, 
ein  Wort,  der  Ton  der  Stimme,  um  den  Kranken  aus  glück- 
seliger Selbstzufriedenheit  in  Zorn  oder  Verzweiflung  zu  versetzen. 
Diese  Erscheinung  pflegt  namentlich  in  der  Paralyse  sehr  deutlich 
zu  sein. 

Unvermittelte  Aufwallungen  des  Gefühls  finden  sich  gelegentlich 
bei  den  verschiedensten  Formen  des  angeborenen  und  erworbenen 
Schwachsinns.  Aus  der  gesunden  Erfahrung  schon  sind  die  Leiden- 
schaftsausbrüche beschränkter  Menschen,  die  Launenhaftigkeit 
und  Reizbarkeit  der  Greise  bekannt.  Außer  gewissen  Formen 
des  angeborenen  Schwachsinns  zeigen  ferner  namentlich  die  End- 
zustände der  Dementia  praecox  regelmäßig  neben  weitgehendster 
gemütlicher  Stumpfheit  rasch  entstehende,  kurzdauernde  Erregun- 
gen von  oft  sehr  großer  Heftigkeit. 

Besondere  Lebhaftigkeit  der  Gefühlsregungen  ist  zu- 
nächst eine  Eigentümlichkeit  des  kindlichen  und  des  weiblichen 
Seelenlebens.  Sie  bedingt  einmal  erhöhte  Beeinflußbarkeit  des 
Stimmungshintergrundes  ,durch  augenblickliche  Ursachen,  anderer- 
seits wieder  große  Vergänglichkeit  und  Unstetigkeit  der  Gefühls- 
wallungen. Bei  gewissen  Formen  der  psychopathischen  Veran- 
lagung tritt  die  Leichtigkeit,  mit  der  lebhafte  Gefühle  entstehen  und 
vergehen,  sehr  auffallend  hervor.  Wir  erinnern  hier  an  die  krank- 
hafte Weichlichkeit  und  Empfindsamkeit,  die  einerseits  durch  un- 
angenehme oder  schmerzliche  Eindrücke  sofort  auf  das  tiefste  er- 
schüttert und  bis  zu  unüberlegten  Selbstmordversuchen  getrieben 
wird,  andererseits  sich  bei  jeder  Anregung  edlerer  Gefühle  in  hell 
lodernde,  freilich  auch  bald  wieder  verlöschende  Begeisterung  ver- 
setzen läßt.  Diese  Veranlagungen  leiten  über  zu  dem  eigenartigen 
Krankheitsbilde  der  Hysterie.  Es  ist  dadurch  gekennzeichnet,  daß 
hier  die  starke  Gefühlsbetonung  den  Vorstellungen  einen  weit- 
reichenden Einfluß  nicht  nur  auf  den  Willen,  sondern  auch  auf 
solche  körperliche  Vorgänge  verleiht,  die  dem  Eingreifen  der  Will- 
kür im  allgemeinen  entzogen  sind.  Starke  Gemütsbewegungen  be- 
einflussen Atmung  und  Kreislauf  des  Blutes,  Blutdruck,  Herztätig- 
keit, Gefäßspannung,  Darm-,  Blasen-  und  Haarmuskeln,  Drüsen- 


Krankhafte  Gemütsarten. 


343 


ausscheidungen,  die  Sicherheit  und  Kraft  der  Bewegungen,  die 
Klarheit  und  Stärke  der  Empfindungen.  Nach  allen  diesen  Rich- 
tungen hin  gewinnen  die  unwillkürlichen  Gefühlswirkungen  bei  der 
Hysterie  eine  ungeahnte  Ausdehnung,  deren  besonderes  Wesen  sich 
jedoch  durch  die  ganz  ähnlichen  Wirkungen  der  hypnotischen  Be- 
einflussung einigermaßen  aufklären  läßt. 

Als  vorübergehendes  Krankheitszeichen  begegnet  uns  eine  all- 
gemeine Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit  in  manchen  Er- 
regungszuständen, namentlich  bei  der  Paralyse  und  der  Manie. 
Mit  der  Stärke  der  Gefühlsschwankungen,  die  sich  in  stürmischen 
Ausdrucksbewegungen  kundgibt,  verbindet  sich  auch  hier  die 
wichtige  Erscheinung  des  Stimmungswechsels,  da  die  lebhafte 
Färbung  der  jeweiligen  Gemütslage  den  dämpfenden  und  ausglei- 
chenden Einfluß  der  höheren  Gefühle  völlig  in  den  Hintergrund 
drängt.  Wir  werden  dadurch  an  die  Erfahrungen  des  Rausches  er- 
innert, bei  dem  ebenfalls  die  Ausgiebigkeit  der  Gefühlswallungen 
so  häufig  mit  jähem  Umschlagen  der  Gemütslage  einhergeht.  Die 
Leichtigkeit  und  Plötzlichkeit,  mit  der  überall  die  verschiedenen 
Gefühlstöne  wechseln  können,  zeigt  uns  deutlich,  daß  ihre  Ent- 
stehungsbedingungen miteinander  nahe  verwandt  sein  müssen.  Die 
Stärke  der  Gefühlsäußerungen  pflegt  sich  durch  äußere  Anregung 
rasch  noch  zu  steigern,  eine  Erscheinung,  die  auch  dem  gesunden 
Leben,  namentlich  bei  der  gemütlichen  Beeinflussung  von  Volks- 
massen, wohlbekannt  ist  und  uns  ähnlich  im  Rausche  begegnet.  In 
der  Regel  vermögen  wir  auch  auf  die  Färbung  der  Stimmung  ein- 
zuwirken, oft  in  ganz  überraschender  Weise;  nur  bei  den  kata- 
tonischen Erregungen  steht  solchen  Versuchen  der  Negativismus  der 
Kranken  entgegen. 

Krankhafte  Gemütsarten.  Die  Bedeutung  der  Gefühle  als  Aus- 
druck der  inneren  Stellungnahme  zu  den  Lebenserfahrungen  wird 
vielleicht  am  klarsten  in  der  Tatsache  der  persönlichen  Gemüts- 
arten. Dasselbe  Ereignis  bringt  ganz  verschiedene  Seelenzustände 
hervor,  je  nach  der  Eigenart  des  Betroffenen,  je  nach  der  tief  in 
der  Veranlagung  wurzelnden  Neigung  zu  bestimmten  Gefühls- 
betonungen. Bei  der  unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit  der  Ge- 
fühlsmischungen erscheint  es  unmöglich,  alle  verschiedenen  Ge- 
staltungen der  Gemütsart  zu  kennzeichnen.  Auf  krankhaftem  Ge- 
biete ist  die  Schwierigkeit  aus  naheliegenden  Gründen  eher  noch 


344 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


größer;  wir  müssen  uns  daher  mit  einer  flüchtigen  Skizzierung 
einzelner  Formen  begnügen. 

Da  die  Unlustgefühle  im  allgemeinen  einen  stärkeren  Einfluß 
auf  unser  Seelenleben  zu  gewinnen  pflegen,  als  die  weniger  stür- 
misch ablaufenden  Lustgefühle,  spielen  sie  auch  bei  den  krank- 
haften Gemütslagen  eine  größere  Rolle.  Die  gesteigerte  Unlust- 
empfindlichkeit führt  zu  der  Neigung,  an  allen  Lebensereig- 
nissen nur  das  Unangenehme  und  Peinigende  herauszufinden,  sich 
den  frohen  Genuß  des  Erfreulichen  durch  die  kleinen  Mängel  und 
Störungen  oder  durch  den  Ausblick  auf  allerlei  trübe  Möglichkeiten 
zu  verkümmern.  Die  Vergangenheit  wird  zu  einer  Kette  von 
traurigen  Erinnerungen,  die  Zukunft  eine  Quelle  von  Sorgen  und 
Unheil,  die  Gegenwart  eine  schwere,  mühsam  ertragene  Bürde. 
Namentlich  das  eigene  Wohl  und  Wehe  wird  gern  zum  Mittelpunkte 
der  düsteren  Betrachtungen;  jede  unbedeutende  Störung  des  kör- 
perlichen Befindens  erscheint  der  mißtrauischen  Selbstbeobachtung 
als  das  Anzeichen  drohender  unheilbarer  Leiden.  Während  im  ge- 
sunden Leben  die  Niedergeschlagenheit,  wie  sie  sich  an  traurige  Er- 
fahrungen anschließt,  alsbald  durch  den  wieder  erwachenden  Lebens- 
mut verscheucht  wird,  vermögen  bei  der  krankhaften  Schwarz- 
seherei auch  freudige  Eindrücke  nicht  den  Druck  der  Unlustver- 
stimmung zu  beseitigen,  ja  sie  können  ihn  unter  Umständen  noch 
steigern.  Ein  Teil  der  Fälle  steht  in  engeren  Beziehungen  zum 
manisch-depressiven  Irresein;  die  trübe  Gemütslage  verbindet  sich 
dabei  in  der  Regel  mit  Entschlußunfähigkeit. 

Wo  die  krankhafte  Unlustbetonung  von  den  Gefühlen  der  inne- 
ren Spannung  begleitet  wird,  gewinnt  die  Gemütslage  den  Stempel 
der  Ängstlichkeit.  Den  Kranken  fehlt  infolgedessen  die  innere 
Sicherheit  und  Freiheit,  das  Vertrauen  auf  die  eigene  Kraft  und 
Leistungsfähigkeit.  An  jede  Handlung  knüpft  sich  ihnen  die  bange 
Erwartung  ihrer  Folgen  oder  der  Zweifel  über  ihre  Berechtigung 
und  Zweckmäßigkeit.  Auch  hier  sind  es  die  Zustände  des  eigenen 
Körpers,  die  einen  besonders  fruchtbaren  Boden  für  die  Entwick- 
lung aller  möglichen  Bedenklichkeiten  abgeben.  Es  kommt  auf  diese 
Weise  zu  peinlichen  Selbstquälereien  und  Grübeleien,  zu  einem 
gesteigerten  Verantwortlichkeitsgefühl,  das  die  schüchternen  Re- 
gungen zuversichtlichen  Lebensmutes  im  Keime  erstickt.  Diese 
Gemütsart  bildet  die  Grundlage,  auf  der  sich  die  Zwangsvorstellun- 


Krankhafte  Gemütsarten. 


345 


gen,  die  Zwangsbefürchtungen  und  die  Erwartungsneurose  mit  Vor- 
liebe entwickeln. 

Verbindung  von  gesteigerter  Unlustempfindlichkeit  mit  Er- 
regung kennzeichnet  die  große  Gruppe  der  reizbaren  Naturen. 
Unangenehme  Eindrücke,  die  uns  zum  Handeln  herausfordern,  er- 
zeugen die  Gemütsbewegungen  des  Ärgers  und  des  Zornes;  sie  ent- 
stehen besonders  leicht,  wenn  wir  uns  im  Zustande  stärkerer  Willens- 
spannung befinden,  in  oder  nach  aufreibender,  unsere  ganzen  Kräfte 
in  Anspruch  nehmender  Tätigkeit  oder  nach  heftigen  Gemüts- 
erschütterungen. Bei  der  krankhaften  Reizbarkeit  überwiegt  nicht 
nur  die  Unlustbetonung  der  Lebenserfahrungen,  sondern  sie  löst 
auch  sofort  eine  gemütliche  Erregung  aus,  die  zur  Entladung 
drängt  und  nur  in  steten  inneren  Kämpfen  unterdrückt  werden  kann. 
Dieses  Fehlen  der  Dämpfung  bedingt  dauernde  Schwankungen  des 
gemütlichen  Gleichgewichtes,  triebartige  Unruhe  und  Unstetigkeit 
mit  gelegentlichen  heftigeren  Gefühlsausbrüchen,  die  bald  mehr  die 
Färbung  der  Verzweiflung,  bald  mehr  diejenige  des  Zornes  annehmen 
können.  Die  erstere  Form  begegnet  uns  am  häufigsten  bei  der  an- 
geborenen Nervosität,  die  krankhafte  Zornmütigkeit  (Iracundia 
morbosa)  vorzugsweise  bei  der  epileptischen  und  hysterischen  Ver- 
anlagung. 

Die  krankhafte  Empfindlichkeit  gegen  die  Außenwelt  führt  in- 
dessen nicht  immer  zu  leidenschaftlichen  Entladungen,  sondern 
bisweilen  auch  zu  einer  Art  von  innerer  Absperrung.  Dadurch 
entsteht  diejenige  Gemütsart,  die  wir  als  Verschlossenheit  be- 
zeichnen. Sie  verknüpft  sich  in  der  Regel  nicht  mit  dem  zornigen 
Kraftgefühl,  das  den  Trotz  des  Gesunden  begleitet,  sondern  bedeutet 
ein  scheues  Zurückweichen  vor  den  Eindrücken  des  Lebens  mit  dem 
mehr  oder  weniger  deutlichen  Bewußtsein  der  eigenen  Unzuläng- 
lichkeit. Der  Verkehr  mit  Fremden,  das  Heraustreten  in  eine 
ungewohnte  Umgebung,  besondere  Anforderungen,  auftauchende 
Schwierigkeiten  erscheinen  den  Kranken  sofort  als  unüberwindliche 
Hindernisse,  denen  sie  nur  durch  völlige  Abschließung  zu  entgehen, 
nicht  aber  durch  tatkräftigen  Entschluß  zu  begegnen  wissen. 
Diese  Störung  bildet  den  Schlüssel  zum  Verhalten  so  mancher 
„Sonderlinge".  Ganz  ähnliche  Züge  werden  uns  häufig  in  der  Vor- 
geschichte der  Dementia  praecox  berichtet,  nicht  selten  verbunden 
mit  übertriebener  Frömmigkeit  und  der  Neigung,  sich  aus  dem 


346 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Leben  ins  Kloster  zurückzuziehen.  Es  scheint  jedoch,  daß  hier 
nicht  oder  doch  nicht  allein  eine  gesteigerte  Unlustempfindlichkeit 
zugrunde  liegt,  sondern  daß  auch  wohl  negativistische  und  ver- 
schrobene Strebungen  dabei  eine  Rolle  spielen. 

Verstärkte  Lustbetonung  der  Lebensreize  finden  wir  zunächst 
bei  den  glücklichen,  ,, sonnigen"  Naturen,  die  stets  in  heiterster 
Laune  sind,  allen  Ereignissen  die  beste  Seite  abzugewinnen  wissen, 
an  jedes  Unternehmen  die  größten  Hoffnungen  knüpfen  und  ihr 
ganzes  Leben  in  der  sicheren  Erwartung  irgend  eines  unerhörten 
Glücksfalles  verbringen.  Verbindet  sich  damit,  wie  nicht  selten, 
ein  lebhafter  Betätigungsdrang,  der  mit  nie  versiegender  Zuver- 
sicht wechselnden  Zielen  nachjagt,  so  werden  die  inneren  Bezie- 
hungen, die  dieser  Gemütsart  zum  manisch-depressiven  Irresein 
zukommen,  besonders  deutlich.  Mir  scheint,  daß  solche  Beziehun- 
gen auch  dann  anzunehmen  sind,  wenn  ausgeprägte  Krankheits- 
anfälle vollständig  fehlen,  daß  also  eine  dauernde  übermäßige  Lust- 
betonung mit  innerer  Unstetigkeit  ebenso  eine  Vorstufe  jenes  Lei- 
dens darstellt  wie  die  grundlose  Gedrücktheit  mit  Entschluß- 
unfähigkeit. 

Einer  anderen  eigenartigen  Abtönung  des  Gefühlslebens  be- 
gegnen wir  bei  den  Schwärmern.  Hier  sind  einzelne  Gefühls- 
richtungen, namentlich  religiöse  oder  geschlechtliche  mit  mehr 
oder  weniger  verhüllter  sinnlicher  Färbung,  zu  besonderer  Über- 
schwänglichkeit  entwickelt  und  beherrschen  Denken  und  Handeln. 
Aus  der  leidenschaftlichen  Hingabe  an  die  schwärmerischen  Nei- 
gungen erwachsen  Lustgefühle  von  außerordentlicher  Stärke,  die 
alles  äußere  Leid  und  Ungemach  aufwiegen  können.  Die  Grund- 
lage dieser  Gemütsart  bildet  in  der  Regel  die  hysterische  Veranla- 
gung. Den  Schwärmern  nahe  stehen  auf  der  einen  Seite  die  Fana- 
tiker, die  mit  rücksichtsloser  Begeisterung  einseitige  Ziele  verfolgen 
und  jeden  Widerstand  mit  grimmigem  Hasse  bekämpfen,  anderer- 
seits gewisse  krankhafte  Schwindler,  bei  denen  die  unausrott- 
bare Lust  am  Abenteuer,  am  Ungewöhnlichen  und  Aufregenden, 
die  übermütige  Freude  an  der  eigenen  Erfindungsgabe  alle  bedäch- 
tigen Überlegungen  in  den  Hintergrund  drängt.  Auch  hier  lassen 
sich  in  der  Regel  hysterische  Züge  nachweisen. 

Von  hier  führen  fließende  Übergänge  hinüber  zum  krankhaften 
Leichtsinn,  der  eine  erhöhte  Empfänglichkeit  für  die  seichten 


Krankhafte  Gemütsbewegungen.  347 

Zerstreuungen  des  Lebens  besitzt,  aber  auch  ernste  Dinge  nicht 
ernst  zu  nehmen  versteht,  sondern  das  Leben  im  wesentlichen  als 
ein  unterhaltendes  Schauspiel  betrachtet.  Es  handelt  sich  hier 
wohl  wesentlich  um  Oberflächlichkeit  der  Gemütsregungen  über- 
haupt. Tief,  nachhaltig  und  gestaltend  vermögen  auf  unser  Seelen- 
leben nur  die  ernsten  oder  mit  Ernst  gemischten  Eindrücke  einzu- 
wirken ;  nur  sie  sind  geeignet,  dem  Stimmungshintergrunde  Einheit- 
lichkeit und  Stetigkeit  zu  geben.  Mangelnde  Tiefe  und  rasches 
Verfliegen  der  Gemütsbewegungen  wird  daher  am  einschneidendsten 
in  der  Verkümmerung  der  richtunggebenden,  ernsten  Gefühle  zum 
Ausdrucke  kommen.  Darum  verknüpft  sich  mit  dem  krankhaf- 
ten Leichtsinn,  der  eine  wesentliche  Begleiterscheinung  gewisser 
Schwachsinnsformen  bildet,  regelmäßig  unvollkommene  Entwick- 
lung der  höheren  Gefühle,  Selbstsucht  und  Haltlosigkeit  des  Willens. 

Eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  zuletzt  gekennzeich- 
neten krankhaften  Gestaltungen  der  Gemütsart  ist  ein  lebhaft  ge- 
steigertes Selbstgefühl.  Die  eigenen  Eigenschaften  und  Leistungen 
erscheinen  den  Kranken  in  besonders  günstigem  Lichte  und  ge- 
winnen für  sie  um  so  höhere  Bedeutung,  als  die  Regungen  des  Mit- 
gefühls mit  fremdem  Leide  in  der  Regel  sehr  unvollkommen  bei 
ihnen  entwickelt  sind.  Wir  sehen  daher  häufig  nicht  nur,  daß  die 
Kranken  ihre  eigene  Person  maßlos  überschätzen,  sondern  daß  sie 
auch  jede  leise  wirkliche  oder  vermeintliche  Beeinträchtigung  als 
schwere  Unbill  empfinden,  während  ihre  Eingriffe  in  fremde  Rechte 
ihnen  als  völlig  harmlose  und  erlaubte  Handlungen  erscheinen. 
Diese  selbstsüchtige  Einseitigkeit  der  Gefühlsbetonung  finden  wir 
bei  vielen  psychopathischen  Persönlichkeiten.  Vielleicht  gibt  sie 
auch  den  günstigen  Boden  ab  für  die  Entwicklung  des  Querulanten- 
wahnes und  der  ihm  verwandten  Formen  der  Verrücktheit. 

Krankhafte  Gemütsbewegungen.  Die  krankhaften  Gemütsbe- 
wegungen unterscheiden  sich  von  denjenigen  der  Gesunden  im 
allgemeinen  hauptsächlich  durch  den  Mangel  einer  verständlichen 
Begründung  sowie  durch  ihre  Stärke  und  Nachhaltigkeit,  während 
ihre  Färbung  in  der  Regel  irgend  einer  der  sonst  bekannten  Gefühls- 
mischungen entspricht.  Auch  im  gesunden  Leben  sehen  wir  freilich 
Stimmungen  kommen  und  gehen,  ohne  daß  wir  uns  immer  über 
ihren  Ursprung  Rechenschaft  zu  geben  vermöchten,  aber  wir  smd 
imstande,  sie  zu  beherrschen  und  zu  verscheuchen,  während  die 


348 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


krankhaften  Stimmungen  meist  allen  Beeinflussungsversuchen 
trotzen.  Andererseits  schließen  sich  krankhafte  Gemütsbewegun- 
gen bisweilen  an  bestimmte  äußere  Anlässe  an,  aber  sie  verblassen 
dann  nicht  wieder,  wie  die  Gefühlswallungen  des  Gesunden,  sondern 
sie  gewinnen  Selbständigkeit  und  weichen  auch  dann  nicht,  wenn 
der  scheinbare  Anlaß  beseitigt  ist. 

Die  bei  weitem  häufigste  Form  der  unangenehmen  krankhaften 
Gemütsbewegungen  ist  die  Angst,  die  wir  vielleicht  als  eine  Ver- 
bindung von  Unlust  mit  innerer  Spannung  betrachten  können. 
Sie  pflegt  wie  keines  der  anderen  Gefühle  den  gesamten  körper- 
lichen und  geistigen  Zustand  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen.  Die 
innere  Spannung  macht  sich  in  der  Körperhaltung,  den  Ausdrucks- 
bewegungen, der  krampfhaften  Muskelinnervation  geltend,  oder  sie 
entladet  sich  in  Jammern  und  Schreien,  heftigen  Abwehr-  und 
Fluchtversuchen,  in  Angriffen  auf  die  Umgebung  oder  das  eigene 
Leben.  Dazu  gesellen  sich  alle  jene  schon  aus  der  gesunden  Er- 
fahrung bekannten  nervösen  Begleiterscheinungen  der  Angst, 
Schwindel,  Mißempfindungen,  Lähmungsgefühl,  ihre  Wirkung  auf 
die  Herztätigkeit  (Herzklopfen),  auf  die  Gefäßnerven  (Blaßwerden, 
Blutdrucksteigerung),  die  Atmung,  die  willkürlichen  Muskeln  (Zit- 
tern, Schlottern),  endlich  auf  Schweißabsonderung,  Blasen-  und 
Darmentleerung,  Die  Beeinflussung  der  Atmung  und  des  Herz- 
schlags wird  von  den  Kranken  sehr  lebhaft  als  Druck  und  Be- 
klemmung in  der  Herzgegend  empfunden  (Präkordialangst) ;  seltener 
überwiegen  unangenehme  Spannungsempfindungen  im  Kopfe.  Im 
Anfange  ist  die  Angst  gewöhnlich  gegenstandslos;  der  Kranke 
fühlt  sie,  ohne  zu  wissen,  warum,  weiß  sogar  oft  ganz  genau,  daß 
er  gar  keinen  Grund  hat,  sich  zu  fürchten.  Hecker  hat  darauf 
hingewiesen,  daß  die  unbestimmte  Angst  ganz  eigentümliche  For- 
men annehmen  kann,  deren  ursprüngliche  Bedeutung  nicht  immer 
leicht  zu  erkennen  ist,  als  Gefühl  des  Heimwehs,  der  veränderten 
Auffassung,  des  ,, Fremdseins",  des  Heißhungers,  der  Betäubung  und 
ähnliches.  In  der  Regel  freilich  verdichten  sich  allmählich  die 
unbestimmten  ängstlichen  Ahnungen  zu  mehr  oder  weniger  klar 
ausgemalten  Befürchtungen.  In  den  höchsten  Graden  der  Angst 
pflegt  jedoch  das  Bewußtsein  mehr  oder  weniger  stark  getrübt  zu 
sein;  sehr  starke  gemütliche  Erregungen  lassen  nur  ganz  unklare 
und  verworrene  Vorstellungen  zustande  kommen. 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


349 


In  der  Regel  überfällt  die  Angst  den  Kranken  in  Anfällen,  oder 
sie  zeigt  doch  wenigstens  deutliche  Nachlässe  und  Verschlimmerun- 
gen, letztere  besonders  in  der  Nacht.  Nur  ausnahmsweise  hält  die 
ängstliche  Spannung  Tage,  Wochen,  ja  selbst  Monate  lang  in  voller 
Stärke  an.  Am  häufigsten  ist  die  Angst  in  den  Depressionszuständen 
des  zirkulären  Irreseins,  doch  gibt  es  immerhin  zahlreiche  Fälle,  in 
denen  sie  gänzlich  fehlt.  Außerdem  begegnen  wir  ihr  in  den  Däm- 
merzuständen der  Epileptiker,  bei  Alkoholdeliranten,  im  Beginne 
katatonischer  Erkrankungen  und  bisweilen  in  den  quälendsten 
Formen  bei  Paralytikern. 

Eine  besondere,  weit  ausgedehnte  klinische  Gruppe  von  Angst- 
zuständen bilden  endlich  jene  Störungen,  die  man  als  Zwangs- 
befürchtungen oder  ,,Phobien"  zu  bezeichnen  pflegt.  Es  handelt 
sich  dabei  um  Befürchtungen,  die  sich  entgegen  besserer  Einsicht 
■mit  zwingender  Gewalt  an  alltägliche  Vorkommnisse  oder  Ver- 
richtungen knüpfen.  In  ihren  leichtesten  Formen  sind  solche  Be- 
fürchtungen auch  dem  gesunden  Leben  nicht  fremd;  den  Stempel 
des  Krankhaften  gewinnen  sie  zunächst  durch  ihre  Hartnäckigkeit 
und  Aufdringlichkeit,  die  jeder  Überlegung  trotzt,  weiterhin  aber 
auch  durch  den  bestimmenden  Einfluß,  den  sie  nicht  nur  auf  die 
peinlich  erregte  Einbildungskraft,  sondern  namentlich  auch  auf 
das  Handeln  gewinnen.  Die  Erwartung  von  unangenehmen  Ein- 
drücken, von  Gefahren  und  Unannehmlichkeiten,  sodann  die  Un- 
sicherheit im  persönlichen  Auftreten,  die  Verantwortung  im  Han- 
deln sind  die  wichtigsten  Quellen,  aus  denen  auch  die  Zwangs- 
befürchtungen fließen. 

Der  Inhalt  der  Zwangsbefürchtungen  ist  ein  überaus  mannig- 
faltiger und  vielfach  ganz  persönlicher.  Er  kann  sich  an  ein  be- 
stimmtes einzelnes  Erlebnis  anknüpfen,  bewegt  sich  aber  weit 
häufiger  in  gewissen  allgemeinen  Richtungen,  wie  sie  den  mensch- 
lichen Lebenserfahrungen  entsprechen.  Man  kann  daher  einige 
große  Gruppen  auseinanderhalten,  je  nachdem  sich  die  Angst  mit 
irgendwelchen  äußeren  Eindrücken  verbindet,  gewisse  von  außen 
oder  aus  dem  eigenen  Gesundheitszustande  drohende  Gefahren  ins 
Auge  faßt  oder  aus  den  eigenen  Handlungen  sich  entwickeln  sieht. 
Daran  schließen  sich  die  Befürchtungen,  die  aus  den  allgemeinen 
Verkehrsbeziehurigen  der  Menschen  entspringen  oder  in  besonderen 
Lebenslagen    hervortreten    (,,Situationsphobien").     Endlich  wäre 


350 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


noch  die  Angst  zu  berücksichtigen,  die  sich  an  die  Ausführung 
ganz  alltäglicher  Verrichtungen  anknüpft  und  deren  Ablauf  stören 
oder  unmöglich  machen  kann  („Funktionsphobien"). 

An  die  weitverbreitete,  lächerliche,  aber  schwer  ausrottbare 
Furcht  vor  Spinnen,  Fröschen,  Mäusen  erinnert  die  Angst,  daß 
Wanzen  oder  Ohrwürmer  im  Bett  seien,  daß  ein  Schwein  vor  der 
Türe  stehen  könne.  Auch  andere,  an  sich  ganz  harmlose  Eindrücke 
können  unter  Umständen  Angst  hervorrufen,  ein  Fingerhut,  ein 
Stück  Watte.  Weitere  Formen  sind  die  Angst  vor  dem  Öffnen  von 
Briefen,  vor  dem  Erblicken  des  eigenen  Antlitzes  im  Spiegel.  Ich 
kannte  eine  Dame,  der  die  Gegenwart  bestimmter  Personen  eine 
ganz  gegenstandslose  Angst  einflößte;  anfangs  war  es  ein  Dienst- 
mädchen, später  die  eigene,  von  ihr  sehr  geliebte  Schwester.  Eine 
andere  Kranke  von  sehr  hohem  Wuchs  wurde  ängstlich  beim  An- 
blicke großer  Menschen. 

Dem  Verständnisse  des  Gesunden  näher  steht  die  Furcht  vor 
allerlei  möglichen,  wenn  auch  ganz  fernliegenden  Gefahren.  So 
begegnen  wir  der  Angst,  vom  Blitz  erschlagen,  von  einem  herab- 
stürzenden Gegenstande  getroffen,  von  Betrunkenen  angefallen, 
von  durchgehenden  Pferden  überrannt,  von  der  Straßenbahn  über- 
fahren zu  werden,  bisweilen  im  Anschlüsse  an  persönliche  Erleb- 
nisse, aber  auch  in  freier  Entstehung.  Eine  wichtige  Rolle  spielt 
auch  die  Befürchtung,  krank  zu  werden,  von  einem  tollen  Hunde 
gebissen,  schwindsüchtig  oder  syphilitisch  angesteckt  zu  sein.  Die 
meisten  derartigen  Kranken  fürchten  geradezu,  in  schwere  Geistes- 
krankheit zu  verfallen.  Da  nach  allen  diesen  Richtungen  hin  die 
Gegengründe  nicht  ohne  weiteres,  sondern  nur  in  ärztlichen  Erfah- 
rungen und  Erwägungen  gegeben  sind,  tritt  hier  die  zwangsmäßige 
Überwältigung  der  verstandesmäßigen  Überlegung  durch  die  Angst 
weniger  deutlich  hervor;  immerhin  kommt  auch  hier  die  Sinnlosig- 
keit der  Angst  dem  Kranken  öfters  klar  zum  Bewußtsein,  z.  B,, 
wenn  er  gar  nicht  von  einem  Hunde  gebissen,  sondern  nur  von  ihm 
gestreift  wurde  und  doch  die  Furcht  nicht  los  werden  kann,  an 
Tollwut  zu  erkranken. 

Am  quälendsten  pflegt  die  Furcht  vor  denjenigen  Gefahren  zu 
sein,  die  der  Kranke  durch  sein  eigenes  Handeln  heraufzubeschwö- 
ren meint.  Aus  der  gesunden  Erfahrung  ist  uns  das  Unbehagen 
bekannt,  das  uns  beim  ungewohnten  Hantieren  mit  geladenen  Ge- 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


wehren,  sehr  scharf  geschliffenen  Messern  ergreift,  in  dem  Gedanken, 
daß  wir  damit  irgend  ein  Unheil  anrichten  könnten ;  es  kann  auch 
dann  auftreten,  wenn  wirkliche  Gefahr  vollkommen  ausgeschlossen 
ist.  Bei  Kranken  nehmen  derartige  Befürchtungen  die  mannig- 
faltigsten Gestaltungen  an.  Besonders  häufig  ist  die  Angst,  irgend- 
wie Nadeln  oder  Glasscherben  ins  Essen  zu  bringen  und  auf  diese 
Weise  andere  zu  töten.  Auch  die  Furcht,  Krankheitskeime  oder 
Giftstoffe  mit  den  Kleidern  oder  Händen  aufzufangen  und  weiter 
zu  verbreiten,  spielt  eine  ähnliche  Rolle;  ihr  verwandt  ist  die  ganz 
abenteuerliche  Idee,  den  Abort  möglicherweise  mit  Samenfäden  zu 
beschmutzen  und  dadurch  die  Schwängerung  eines  Frauenzimmers 
herbeizuführen.  Das  Gefühl  der  Verantwortung  für  Wertpapiere 
erweitert  sich  dahin,  daß  die  Kranken  überall  Testamente  oder 
Geldscheine  zu  vernichten  fürchten,  jeden  Fetzen  Papier,  der  ihnen 
in  die  Hände  fällt,  auf  der  Straße,  auf  dem  Abort  daraufhin  prüfen 
müssen,  ohne  doch  völlige  Ruhe  zu  finden.  Eine  besondere  Gruppe 
bildet  die  Furcht  vor  der  unwillkürlichen  Ausführung  verbreche- 
rischer Handlungen.  Manche  Kranke  werden  gepeinigt  von  der 
Vorstellung,  sie  müßten  ein  bereitliegendes  Messer  ergreifen  und 
damit  jemanden  töten,  eine  begegnende  Frauensperson  vergewal- 
tigen, ein  Kind  unzüchtig  berühren,  einen  Menschen  anfallen, 
beißen,  von  einer  Brücke  herunterstoßen. 

Einen  sehr  ergiebigen  Boden  für  die  Erzeugung  von  Zwangs- 
befürchtungen bilden  die  Regungen  der  Unsicherheit  und  Ver- 
legenheit, die  uns  im  Verkehr  mit  anderen,  namentlich  in  der 
Öffentlichkeit,  befallen.  Sobald  wir  Fremden  gegenübertreten  und 
deren  Aufmerksamkeit  auf  uns  gerichtet  wissen,  werden  auch  wir 
veranlaßt,  an  unsere  äußere  Erscheinung  und  den  Eindruck  zu 
denken,  den  sie  hervorrufen  mag.  Kleine  Mängel,  deren  wir  uns 
dabei  bewußt  werden,  können  ein  peinliches  Gefühl  der  Demütigung 
hervorrufen,  das  unser  Selbstvertrauen  in  empfindlicher  Weise 
lähmt.  Bei  krankhafter  Veranlagung  kann  schon  der  Gedanke, 
fremde  Blicke  auf  sich  gerichtet  zu  sehen,  peinliche  Gefühle  her- 
vorrufen (,, Phobie  du  regard")-  Die  Vorstellung,  sich  auffallend  oder 
ungeschickt  zu  benehmen,  Verstöße  zu  machen,  übelwollend  be- 
urteilt zu  werden,  vermag  das  eigene  Verhalten  höchst  ungünstig 
zu  beeinflussen  und  kann  zu  völliger  Menschenscheu  führen.  So 
wurde  einer  meiner  Kranken  von  der  Befürchtung  geplagt,  daß  er 


352 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Grüße  übersehen,  beim  Zusammentreffen  mit  Bekannten  sich  nicht 
an  frühere  Begegnungen  und  Gespräche  erinnern  könne  und  des- 
wegen für  unhöfHch  gehalten  werde.  Insbesondere  kann  auch  die 
Befürchtung  irgend  einer  UnzulängHchkeit  in  der  Kleidung,  man- 
gelnder Sauberkeit,  der  Gedanke,  etwas  Auffallendes,  einen  unan- 
genehmen Geruch  an  sich  zu  haben,  ohne  irgend  einen  Anhalt 
auftauchen  und  trotz  aller  Bemühungen,  ihn  zu  verdrängen,  solche 
Macht  erlangen,  daß  er  die  Unbefangenheit  und  Sicherheit  des 
Auftretens  vernichtet.  Manche  Kranke  fürchten,  bei  jeder  Anrede, 
bei  unpassendem  Anlasse  erröten  zu  müssen  und  dadurch  aufzu- 
fallen oder  Hintergedanken  anzuregen;  die  Angst  pflegt  hier  das 
Erröten  auch  wirklich  hervorzurufen.  Ähnlich  steht  es  mit  der  Be- 
fürchtung, in  Gesellschaft  von  plötzlichem  Unwohlsein,  von  Brech- 
reiz, Harndrang,  Durchfall,  Nasenbluten  überfallen  zu  werden; 
auch  hier  kann  das  Übel  durch  lebhafte  Vorstellungen  erzeugt  werden, 
die  sich  öfters  an  eine  frühere  unliebsame  Erfahrung  anschließen 
und  den  Kranken  völlig  gesellschaftsunfähig  machen.  Der  Ver- 
such, der  aufsteigenden  Befürchtungen  Herr  zu  werden,  richtet  die 
Aufmerksamkeit  des  Kranken  erst  recht  auf  sie  und  verstärkt  sie; 
je  mehr  er  sich  damit  beschäftigt,  desto  größer  wird  der  Raum,  den 
sie  in  seinem  Seelenleben  beanspruchen. 

Wenn  wir  ein  besonderes  Unternehmen  vor  uns  haben,  so  über- 
fällt uns  leicht  der  Zweifel,  ob  alles  nach  Wunsch  gehen  wird,  und 
damit  eine  gewisse  innere  Beunruhigung.  Wir  sprechen  vom  Eisen- 
bahnfieber, vom  Lampenfieber,  von  der  Prüfungsangst,  und  wissen, 
daß  diese  Gemütsbewegungen  oft  genug  mächtiger  sind,  als  jede 
ruhige  Überlegung.  Bei  Kranken  können  sie  nicht  nur  eine  außer- 
ordentliche Heftigkeit  zeigen  und  damit  die  Leistungsfähigkeit 
schwer  schädigen,  sondern  sie  treten  vielfach  auch  bei  Anlässen 
auf,  die  den  Gesunden  völlig  gleichgültig  lassen.  Das  bekannteste 
Beispiel  dafür  ist  die  Platzangst  oder  Agoraphobie,  das  Ge- 
fühl der  Unfähigkeit,  allein  über  einen  freien  Platz,  durch  eine 
menschenleere  Straße  zu  gehen.  Jeder  Versuch  kann  die  Beängsti- 
gung bis  zu  ohnmachtähnlichen  Anfällen  steigern.  Damit  verwandt 
ist  die  bei  Kindern  so  häufige  Nachtangst,  die  Angst  vor  dem  Allein- 
sein, vor  Gedränge,  dem  Aufenthalte  in  menschenerfüllten  Räumen 
(Theatern).  Manche  Kranke  fühlen  sich  nur  hinter  geschlossenen 
Türen  wohl,  wo  sie  vor  plötzlichen  Überraschungen  sicher  sind; 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


353 


andere  wiederum  werden  ängstlich,  sobald  sie  nicht  für  die  Mög- 
lichkeit plötzlicher  Gefahr  den  Ausgang  völlig  frei  wissen.  Weitere 
Gestaltungen  dieser  an  bestimmte  Lebenslagen  sich  knüpfenden  Be- 
fürchtungen sind  die  auch  dem  Gesunden  wohlbekannte  Höhen- 
angst auf  Türmen,  am  Rande  von  Abgründen,  die  beim  Gehen  über 
Brücken  auftretende  Brückenangst,  die  Reiseangst,  die  sich  beson- 
ders auf  der  Eisenbahn  in  der  Befürchtung  äußert,  beim  Eintreten 
irgend  eines  Unwohlseins  hülfslos  zu  sein  und  nicht  nach  Belieben 
aussteigen  zu  können.  Auch  die  Kleiderangst  dürfte  hierher  ge- 
hören, das  unbehagliche  Gefühl,  das  sich  beim  erstmaligen  Tragen 
neuer  Kleider  einstellt  und  bei  Kranken  so  hohe  Grade  erreichen 
kann,  daß  die  Erneuerung  der  Kleidungsstücke  nahezu  unmöglich 
wird.  Einen  ganz  unbestimmten  Inhalt  hat  die  Angst  vor  dem 
Stillsitzen  (,,Kathisophobie"),  die  den  Kranken  ruhelos  aufspringen 
und  herumgehen  läßt.  Einer  meiner  Kranken  wurde  beini  Gehen 
plötzlich  von  der  ängstlichen  Vorstellung  überfallen,  daß  er  irgend 
etwas  einbüßen  werde,  wenn  er  noch  einen  Schritt  vorwärts  tue. 

Eine  gewisse  Sonderstellung  gegenüber  den  bisher  besproche- 
nen Formen  nehmen  diejenigen  Befürchtungen  ein,  die  sich  an 
alltägliche  Verrichtungen  anknüpfen.  Den  Anlaß  zu  ihrer  Ent- 
stehung gibt  gewöhnlich  irgend  eine  vorübergehende  Störung, 
welche  die  Einbildungskraft  des  Kranken  beschäftigt  und  seinen 
Willen  zum  Eingreifen  in  den  sonst  mehr  oder  weniger  unwillkür- 
lich ablaufenden  Vorgang  zwingt.  Auf  diese  Weise  schließen  sich 
an  die  ängstliche  Erwartung  Behinderungen  an,  die  sich  allmählich 
immer  verstärken  und  den  betreffenden  Vorgang  auf  das  empfind- 
lichste stören,  ja  ganz  unmöglich  machen  können.  Im  Gegensatze 
zu  den  eigentlichen  Zwangsbefürchtungen  wird  hier  die  Grund- 
losigkeit der  Angst  nicht  immer  klar  erkannt;  sie  bleibt  zudem  so 
inhaltlos,  daß  sie  nur  in  ihren  Wirkungen  hervortritt,  vielfach  nur 
als  Unsicherheit,  Ungeschicklichkeit,  Schwäche,  Schmerz  und  Un- 
behagen empfunden  wird.  Die  geläufigsten  Formen  dieser  ,, Er- 
wartungsangst" sind  die  Hemmungen,  die  sich  schon  im  gesunden 
Leben  einstellen,  wenn  wir  die  Aufmerksamkeit  anderer  auf  uns 
gerichtet  wissen.  Wie  unsere  Bewegungen  in  der  Verlegenheit  un- 
beholfen und  linkisch  werden,  wie  wir  beim  Singen  oder  Spielen  das 
Zuhören  Dritter  störend  empfinden,  so  werden  manche  Menschen 
schon  bei  einfachen  Hantierungen,  namentlich  beim  Schreiben,  be- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  23 


354 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


hindert,  sobald  ihnen  jemand  auf  die  Finger  sieht.  Einer  meiner 
Kranken  bot  die  merkwürdigsten  Unsicherheiten  beim  Eintreten 
in  eine  Türe,  beim  Treppensteigen,  beim  Herumgehen  im  Zimmer 
dar,  während  er  sich  im  Freien  sehr  gewandt  und  ohne  die  geringste 
Schwierigkeit  bewegte.  Auch  die  Regungen  des  Schamgefühls 
können  solche  Macht  gewinnen,  daß  die  Befriedigung  der  natür- 
lichen Bedürfnisse  in  Gegenwart  anderer  oder  schon  bei  dem  Ge- 
danken an  fremde  Beobachtung  unmöglich  wird. 

Sehr  verbreitet  ist  die  ängstliche  Spannung  vor  dem  Einschlafen, 
die  dann  gerade  den  sehnlichst  erwarteten  Schlaf  verscheucht; 
ebenso  beruht  ein  großer  Teil  der  Fälle  von  psychischer  Impotenz 
auf  der  ängstlichen  Befürchtung  des  Mißerfolges.  Ein  weiteres 
Beispiel  ist  das  Verlegenheitsstottern,  als  dessen  krankhafte  Aus- 
bildung das  dauernde  Sprachstottern  vielfach  anzusehen  ist.  Auch 
das  Schlucken  kann  durch  die  ängstliche  Einmischung  unzweck- 
mäßiger Nebenbewegungen  in  ähnlicher  Weise  bis  zu  völliger  Un- 
möglichkeit gestört  werden.  Entsprechende  ängstliche  Behinde- 
rungen, in  der  Regel  unter  Auftreten  krampfhafter  Mitbewegungen 
und  Spannungen,  beobachtet  man  beim  Schreiben,  beim  Gehen, 
beim  Harnlassen,  so  daß  man  nicht  ohne  eine  gewisse  Berechti- 
gung von  einem  Schreibstottern,  Gehstottern  und  gar  von  Harn- 
stottern gesprochen  hat.  In  anderen  Fällen  äußert  sich  die  Angst 
nicht  in  krampfartiger  Unsicherheit,  sondern  in  Schwäche  und 
Lähmungsgefühlen.  Bei  der  nicht  seltenen  Leseangst  sind  es  hef- 
tige, sich  rasch  über  die  ganze  Stirngegend  ausbreitende  Augen- 
schmerzen, bei  der  Angst  vor  bestimmten  Speisen  Druckempfindun- 
gen in  der  Magengegend,  Übelkeit,  Erbrechen,  in  denen  sich  die 
gemütliche  Erregung  äußert. 

Die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  aller  dieser  krankhaften 
Angstzustände  ist  ihre  fortschreitende  Entwicklung  und  die  da- 
durch bedingte  Einschränkung  der  geistigen.  Freiheit,  vielfach 
auch  des  Handelns.  Die  Angst  zwingt  den  Kranken  im  einzelnen 
Falle  trotz  seines  Widerstrebens,  sich  mit  bestimmten  Möglich- 
keiten zu  beschäftigen,  sie  sich  auszumalen  und,  wenn  tunlich, 
vor  ihnen  zurückzuweichen.  Dieses  beständige  Unterliegen  im 
Kampfe  vernichtet  das  Selbstvertrauen  und  steigert  dadurch  die 
gemütliche  Erregung,  die  nun  ihrerseits  um  so  sicherer  jeden  Wider- 
stand erstickt.  Sehr  gewöhnlich  ist  es  dabei  allmählich  nicht  mehr 


Krankhafte  Gemütsbewegungen.  255 

so  sehr  der  ursprüngliche  Anlaß  zur  Angst,  den  der  Kranke  fürchtet, 
sondern  die  ängstliche  Spannung  selbst;  es  entwickelt  sich  die 
Angst  vor  der  Angst,  die  ,, Phobophobie",  die  peinliche  Nötigung, 
sich  mit  den  beunruhigenden  Gedanken  zu  beschäftigen.  Je  mehr 
und  je  verzweifelter  die  Kranken  sich  bemühen,  die  Angst  zu  be- 
kämpfen, desto  stärker  wächst  sie  an,  und  auch  der  äußere  Zwang, 
dem  Zurückweichen  des  Willens  vor  der  Angst  zu  widerstehen, 
pflegt  heftige  Erregungszustände  auszulösen. 

Die  Zwangsbefürchtungen  sind  den  Zwangsvorstellungen  nahe 
verwandt;  beide  Erscheinungen  finden  sich  vielfach  bei  denselben 
Kranken.  Ihre  allgemeine  Grundlage  bildet  eine  gewisse  Weichheit 
und  Schwäche  des  Willens,  die  vor  Schwierigkeiten  und  Gefahren 
zurückweicht,  anstatt  durch  sie  zu  erhöhter  Anspannung  angestachelt 
zu  werden.  Wir  begegnen  ihnen  daher  vor  allem  auf  dem  Gebiete 
des  Entartungsirreseins,  in  vereinzelten  Fällen  auch  in  den  depres- 
siven Verstimmungen  manisch-depressiver  Kranker. 

Der  Unlust  mit  Spannung,  wie  wir  die  Angst  bezeichnet  haben, 
dürfen  wir  vielleicht  als  Unlust  mit  Hemmung  die  einfache  Nie- 
dergeschlagenheit gegenüberstellen,  den  Seelenschmerz  mit  dem 
Gefühle  der  Unfähigkeit.  Den  Grundton  dieser  Verstimmung  bildet 
die  aus  dem  eigenen  Innern  herauswachsende  Traurigkeit,  die  den 
gesamten  Lebensereignissen  ihren  Stempel  aufdrückt.  Infolge- 
dessen erscheint  die  Vergangenheit  als  eine  Kette  von  schlimmen 
Erfahrungen  oder  gar  Verfehlungen,  die  Gegenwart  grau  und  trübe, 
die  Zukunft  hoffnungslos.  Allerlei  schwere  Gedanken  und  Ahnun- 
gen steigen  auf,  die  sich  zu  ausgeprägten  Wahnbildungen  im  Sinne 
der  Versündigung  und  Verfolgung  verdichten  können.  Am  schmerz- 
lichsten aber  empfindet  der  Kranke  die  Öde  und  Leere  im  eigenen 
Innern.  Er  fühlt  weder  Freude  noch  Leid ;  die  Eindrücke  der  Außen- 
welt finden  in  seiner  Brust  keinen  Widerhall.  ,,Ich  bin  wie  ein 
Kinematograph",  sagte  mir  eine  Kranke;  ,,ich  sehe  wohl,  daß  es 
schön  ist,  aber  ich  empfinde  es  nicht."  Die  gesunde  Befriedigung 
am  Dasein  hat  einem  Gefühle  schmerzlichen  Lebensüberdrusses 
Platz  gemacht;  die  früheren  Lieblingsneigungen  sind  erloschen, 
und  selbst  die  nächsten  Herzensbeziehungen  scheinen  in  der  gemüt- 
lichen Erstarrung  untergegangen  zu  sein.  Ja,  aus  den  Quellen  des 
früheren  Glückes  fließt  jetzt  am  reichlichsten  die  traurige  Verstim- 
mung, da  die  Unlustbetonung  um  so  lebhafter  ist,  je  stärker  das 

23» 


356 


II.  Die  Erscheinungen  des  •  Irreseins. 


Gemüt  in  Anspruch  genommen  wird.  Frohe  Eindrücke  steigern  nur 
die  Verstimmung,  die  eben  nicht  wie  ein  gesunder  Seelenschmerz 
durch  äußeres  Glück  gemildert  wird,  sondern  umgekehrt  den  freu- 
digen Anlaß  im  Sinne  der  krankaft  veränderten  Gefühlsbetonung 
färbt.  So  sah  ich  einen  Knaben  mit  trauriger  Verstimmung  beim 
Anhören  heiterer  Musik  in  bitterliches  Weinen  ausbrechen. 

Diese  Umwandlung  der  Gefühlsbetonung,  die  für  gewisse  For- 
men der  zirkulären  Depressionszustände  kennzeichnend  ist,  geht 
in  der  Regel  mit  einer  Hemmung  des  Denkens  und  Wollens  einher. 
Die  Kranken  empfinden  ihren  Zustand  äußerst  qualvoll;  sie  fühlen 
sich  innerlich  abgestorben,  herzlos  geworden,  und  knüpfen  daran 
sehr  häufig  die  Vorstellung  der  sittlichen  Verödung  oder  der  körper- 
lichen Veränderung.  In  Wirklichkeit  sind  sie  keineswegs  gefühllos, 
wie  gelegentliche  Leidenschaftsausbrüche  beim  Verkehr  mit  ihren 
Lieben  sowie  die  starke  Selbstmordneigung  deutlich  genug  dartun. 
Die  Hemmung  kann  dabei  unvermittelt  in  Erregung  übergehen, 
so  daß  dann  die  ganze  Lebhaftigkeit  der  Gemütsbewegung  nach 
außen  hervortritt. 

Eine  Unlust  mit  Erregung  beobachten  wir  ebenfalls  nicht 
selten  im  manisch-depressiven  Irresein,  bald  als  selbständigen 
Krankheitsanfall,  bald  als  Übergangszustand  zwischen  Anfällen  von 
verschiedener  Färbung.  Die  Verstimmung  ist  dabei  bald  eine  mehr 
traurige,  bald  ängstlich  oder  zornig;  sie  äußert  sich  je  nachdem 
in  Jammern  und  Klagen,  in  Befürchtungen  oder  in  Ausbrüchen  von 
Gereiztheit.  Gerade  diese  letztere  Form  ist  besonders  häufig. 
Die  Kranken  sind  verdrießlich,  mißmutig,  mit  allem  unzufrieden, 
zerfallen  mit  sich  und  ihrer  Umgebung,  ärgern  sich  über  jede  Klei- 
nigkeit und  nörgeln,  oft  gegen  ihre  bessere  Einsicht,  in  der  uner- 
träglichsten Weise,  um  bei  dem  geringsten  Anlasse  zu  heftigen  Ent- 
ladungen überzugehen.  Ganz  ähnliche  Verstimmungen,  verbunden 
mit  gehobenem  Selbstgefühl  und  Witzelsucht,  sind  mir  wiederholt 
bei  syphilitischen  Hirnerkrankungen  begegnet;  auch  manche  Ge- 
mütsbewegungen der  Hysterischen  zeigen  eine  Mischung  von  Un- 
lust und  Erregung  mit  zorniger  Reizbarkeit. 

Eine  besondere  Gruppe  bilden  vielleicht  die  Verstimmungen  der 
Epileptiker.  Wir  beobachten  bei  ihnen  einmal  einfache  Nieder- 
geschlagenheit mit  Lebensüberdruß.  Hier  und  da  scheint  sie  mit 
dem  Gefühle  der  Hemmung  einherzugehen;  meist  aber  hat  sie  eine 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


357 


„heimwehartige"  Färbung,  ist  also  mit  einer  unbestimmten  Sehn- 
sucht und  inneren  Unruhe  verknüpft,  die  zu  Selbstmordversuchen, 
zum  Trinken  oder  zu  planlosen  Wanderungen  führen  kann.  Noch 
häufiger  ist  Gereiztheit  mit  plötzlichen  gewalttätigen  Entladungen 
von  außerordentlicher  Heftigkeit.  In  den  eigentlichen  Dämmer- 
zuständen überwiegen  ängstliche  Spannungen,  ebenfalls  vielfach 
mit  starker  Reizbarkeit.  Merkwürdigerweise  können  sich  in  alle 
diese  Unluststimmungen  auch  geschlechtliche  und  ekstatische  Lust- 
gefühle hineinmischen. 

Die  Besprechung  der  krankhaften  Lustgefühle  knüpft  viel- 
leicht am  besten  an  gewisse  Erfahrungen  an,  die  über  die  Wirkung 
einiger  Arzneimittel  auf  die  Stimmung  vorliegen.  Vor  allem  ist  es 
der  Alkohol,  der  bekanntlich  ausgeprägte  Lustgefühle  von  bestimm- 
ter Färbung  hervorbringt,  das  Gefühl  erhöhter  Kraft,  Begeisterung, 
Unternehmungslust.  Als  die  Wurzel  dieser  heiteren  Stimmung  kann 
höchstwahrscheinlich  die  Erleichterung  der  Auslösung  von  Be- 
wegungsantrieben angesehen  werden,  wie  sie  sich  im  weiteren 
Verlaufe  der  Alkoholwirkung  immer  deutlicher  durch  das  Auf- 
treten von  Reizbarkeit,  lärmender  Unruhe  und  planlosem  Taten- 
drang kundzugeben  pflegt.  Die  gleiche  Grundlage  der  heiteren  Ver- 
stimmung werden  wir  auch  wohl  dort  vorauszusetzen  haben,  wo 
uns  auf  krankhaftem  Gebiete  die  Verbindung  von  lebhaften  Lust- 
gefühlen mit  großer  Reizbarkeit  und  starkem  Bewegungsdrange  be- 
gegnet, bei  den  manischen  Aufregungszuständen.  Die  Ähnlichkeit 
dieser  letzteren  mit  dem  Rausche  ist  oft  genug  betont  worden,  und 
sie  ist  nach  dem  Ausweise  psychologischer  Versuche,  trotz  tief- 
greifender Unterschiede,  doch  eine  mehr  als  äußerliche.  Auch  bei 
der  Manie  haben  wir  es  mit  einer  erleichterten  Auslösung  von  Be- 
wegungsvorgängen zu  tun,  die  sich  klinisch  in  den  gleichen  Erschei- 
nungen äußert  wie  der  Rausch.  In  beiden  Zuständen  fehlt  nahezu 
oder  vollständig  das  Bewußtsein  der  Störung.  Der  Berauschte  hält 
sich  höchstens  für  ein  wenig  angeheitert,  und  der  leicht  manisch  Er- 
regte kann  sich  überaus  frisch  und  leistungsfähig,  ja  so  gesund  fühlen 
wie  niemals.  Die  Stimmung  trägt  in  beiden  Fällen  den  Stempel  der 
übermütigen   Lustigkeit;    das  Selbstgefühl  ist  sehr  gesteigert. 

Die  gehobene  Stimmung  des  Rausches  wird  bei  fortgesetztem 
Alkoholmißbrauche  ebenso  zu  einer  dauernden  Eigenschaft  des 
Trinkers  wie  die  übrigen  Wirkungen  jenes  Giftes.     Sie  nimmt 


358 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


jedoch,  da  die  Willenserregung  des  Angetrunkenen  immer  rasch 
wieder  verfliegt,  die  Form  eines  gemütlichen,  seichten  Humors 
an,  wie  er  den  Verkehrston  der  Stammtische  kennzeichnet.  Sehr 
deutlich  ist  diese  eigentümliche  Stimmungslage  regelmäßig  im 
Delirium  tremens,  hier  mit  heimlicher  Angst  gemischt;  sie  pflegt 
aber  auch  sonst  beim  ausgebildeten  Trinker  unverkennbar  zu  sein 
und  sich  erst  bei  dauernder  Enthaltsamkeit  allmählich  zu  verlieren, 
Sie  unterscheidet  sich  von  der  Angeregtheit  des  leichten  Rausches 
durch  das  Fehlen  der  Tatkraft.  Diese  unbekümmerte  Mißachtung 
der  Sorgen,  die  leichtherzige  Versenkung  in  den  Genuß  des  Augen- 
blicks, wie  sie  in  den  Trinkliedern  gefeiert  wird,  steht  in  nächster 
Beziehung  zu  der  Willensschwäche  und  sittlichen  Unfähigkeit  des 
Trinkers.  Wie  der  wahre  Humor  einerseits  die  Selbstverlachung, 
andererseits  die  Unverwundbarkeit  durch  das  kleine  Leid  des  Lebens 
in  sich  schließt,  so  dürfte  auch  dem  Humor  des  Trinkers  das  tiefe 
Gefühl  der  eigenen  Ohnmacht  zugrunde  liegen,  das  jeweils  durch  die 
alkoholische  Anheiterung  gemildert  wird.  Freilich  haben  wir  es 
dort  mit  der  sittlichen  Selbstüberwindung  zu  tun,  mit  der  Errei- 
chung der  höchsten  inneren  Freiheit,  hier  aber  mit  dem  willenlosen 
Aufgeben  der  eigenen  Persönlichkeit,  dem  Versinken  in  eine  fidele, 
aber  schmähliche  Knechtschaft. 

Auch  in  gewissen  Formen  der  Paralyse  kann  das  Gesund- 
heits-  und  Glücksgefühl  sehr  stark  hervortreten;  es  nimmt 
hier  bisweilen  ganz  überschwängliche  Gestaltungen  an.  Der  Kranke 
fühlt  sich  so  unaussprechlich  selig,  daß  er  vielleicht  gar  keine 
Worte  zur  Schilderung  seines  namenlosen  Entzückens  finden 
kann.  Dieses  überquellende  Glücksgefühl  erinnert  an  gewisse 
spätere  Abschnitte  des  Rausches,  in  denen  bereits  die  Lähmungs- 
erscheinungen deutlicher  geworden  sind.  Ihm  fehlt  trotz  aller 
Größenideen  die  Ausgelassenheit,  das  frische,  unmittelbare  Kraft- 
gefühl, das  der  flotten  manischen  Stimmung  ihre  besondere  Fär- 
bung gibt.  Im  weiteren  Verlaufe  schrumpft  das  Glücksgefühl 
des  verblödenden  Paralytikers  immer  mehr  zu  einer  lächelnden, 
gedankenlosen  Zufriedenheit  ein,  die  keine  Spur  jener  Reizbar- 
keit, zeigt,  wie  sie  auch  die  letzten  Stufen  der  alkoholischen  Selig- 
keit noch  auszeichnet.  Ihr  ähnelt  die  behagliche  Zufriedenheit 
des  Altersblödsinns,  der  sich  allerdings  öfters  noch  eine  gewisse 
alberne  Vergnügtheit  beimischt. 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


359 


Im  Verlaufe  der  Dementia  praecox  begegnen  wir  ebenfalls 
eigenartigen  krankhaften  Lustgefühlen.  In  den  Erregungszustän- 
den ist  es  eine  läppische,  gegenstandslose  Heiterkeit  und  Aus- 
gelassenheit mit  unbändigen  Lachausbrüchen,  die  sehr  an  die 
krampfhafte  Lustigkeit  übermüdeter  Kinder  erinnert.  Sie  steht 
in  gar  keiner  Beziehung  zu  dem  Vorstellungsinhalte  oder  den 
Vorgängen  in  der  Umgebung,  wie  die  übermütige  Fröhlichkeit  des 
Manischen,  und  ist  anscheinend  auch  nicht  von  wirklichem  Glücks- 
gefühl begleitet,  wie  die  freudige  Erregung  des  Paralytikers.  Bei 
den  mit  Größenideen  einhergehenden  Formen  kann  eine  ungemein 
hochmütige,  selbstbewußte  Stimmung  auftreten,  die  meist  mit- 
erhöhter  Reizbarkeit  einhergeht.  Dagegen  entwickelt  sich  mit 
fortschreitender  Verblödung  vielfach  eine  unbekümmerte  Wunsch- 
losigkeit  ohne  Erwartungen  und  Hoffnungen,  aber  auch  ohne 
Sehnsucht,  Furcht  oder  Reue. 

Außer  dem  Alkohol  und  dem  in  seiner  Wirkung  nach  dieser 
Richtung  verwandten  Cocain  ist  namentlich  noch  das  Morphium 
geeignet,  Wohlbehagen  zu  erzeugen.  Man  pflegt  diese  Wirkung 
des  Morphiums  zumeist  einfach  auf  seine  schmerzstillende  Eigen- 
schaft zurückzuführen,  allein  der  Umstand,  daß  jenes  Mittel  auch 
dann  das  Gefühl  des  Wohlseins  herbeiführt,  wenn  keinerlei  Schmerz 
und  Unbehagen  vorher  bestanden  hat,  spricht  mit  genügender 
Deutlichkeit  dafür,  daß  die  Wirkung  nicht  allein  in  der  Besei- 
tigung von  Unlust,  sondern  vielmehr  in  der  Erzeugung  von  Lust 
bestehen  muß.  Es  wäre  auch  sonst  wohl  undenkbar,  daß  Mor- 
phium und  Opium  in  dem  genugsam  bekannten  Maße  Genuß- 
mittel geworden  wären.  Möglicherweise  knüpft  sich  das  Wohl- 
behagen bei  der  Morphiumwirkung  an  die  hier  eintretende  Er- 
leichterung der  Gedankenverbindungen  an.  Dafür  würde  auch 
die  Erfahrung  sprechen,  daß  Morphinisten  sich  nach  der  Ein- 
spritzung geistig  frischer  und  leistungsfähiger  fühlen,  sowie  daß 
die  Opiumraucher  sich  mit  Wonne  den  bunten  Bildern  hingeben, 
die  ihnen  ihre  lebhaft  angeregte  Einbildungskraft  vorgaukelt. 
Vielleicht  ist  dem  Traumleben  des  Opiumrausches  jener  Zustand 
verwandt,  den  wir  als  Verzückung  oder  Ekstase  zu  bezeichnen 
pflegen.  Auch  hier  fehlt  gänzlich  der  Bewegungsdrang,  die  Er- 
leichterung des  Handelns.  Vielmehr  zieht  sich  das  Seelenleben 
auf   einzelne   traumhafte   Trugwahrnehmungen   und  Gedanken- 


300 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gänge  zurück,  die  von  Gefühlen  des  höchsten  Glückes  begleitet  und 
fast  immer  religiösen  Inhaltes  sind.  Wir  beobachten  solche  Zustände 
namentlich  bei  Epileptikern,  bisweilen  auch  bei  Hysterischen. 

Wieder  ein  wenig  anders  scheint  sich  das  Wohlgefühl  des 
Tabakrauchers  zu  verhalten.  Die  bis  jetzt  darüber  vorliegenden 
Versuche  würden  etwa  für  eine  ganz  leicht  betäubende  Wirkung 
des  Tabaks  sprechen.  Dadurch  könnte  das  Gefühl  behaglicher 
Beschaulichkeit  entstehen,  welches  nicht  durch  lebhafter  sich  auf- 
drängende Vorstellungen  oder  Willensantriebe  gestört  wird.  Dem- 
gegenüber haben  wir  es  beim  Brom,  dessen  beruhigende  Wir- 
kungen genauer  untersucht  worden  sind,  höchstwahrscheinlich 
gar  nicht  mit  der  Erzeugung  wirklicher  Lustgefühle,  sondern 
wohl  ausschließlich  mit  der  Beseitigung  innerer  Spannungs- 
zustände  zu  tun.  Dem  würde  auch  die  Tatsache  entsprechen,  daß 
für  das  Brom  gar  keine  oder  doch  nur  eine  sehr  geringe  Gefahr 
gewohnheitsmäßigen  Mißbrauches  besteht,  da  es  eben  kein  Ge- 
nußmittel darstellt,  sondern  ausschließlich  dann  ein  Wohlgefühl 
herbeiführt,  wenn  vorher  eine  unbehagliche  innere  Erregung  be- 
stand. 

Mit  den  hier  angedeuteten  Formen  der  krankhaften  Lust- 
gefühle ist  deren  Mannigfaltigkeit  nicht  im  entferntesten  erschöpft. 
Wir  stehen  nur  überall  vor  der  großen  Schwierigkeit,  die  ein- 
zelnen Schattierungen  dieser  Zustände  richtig  zu  kennzeichnen 
und  womöglich  auch  auf  ihren  Ursprung  zurückzuverfolgen. 
Vielfach  ist  diese  Entstehungsweise  überhaupt  keine  einheitliche, 
sondern  es  mischen  sich  Gefühle  verschiedenen  Ursprungs  mit- 
einander. Insbesondere  können  auch  Gefühle  verschiedener  Fär- 
bung gleichzeitig  vorhanden  sein  oder  doch  sehr  rasch  aufeinander 
folgen.  So  haben  wir  schon  die  Mischung  von  Angst  und  Hu- 
mor beim  Delirium  tremens  erwähnt;  in  epileptischen  Dämmer- 
zuständen verbinden  sich  häufig  ekstatische  Wonnegefühle  mit 
Angst  und  Zorn;  im  manisch-depressiven  Irresein  wie  in  der  Pa- 
ralyse we'chseln  ganz  gewöhnlich  unvermittelt  Glücksgefühl,  Zorn 
und  Verzweiflung. 

Bisweilen  mögen  auch  krankhafte  Überlegungen  und  Vor- 
stellungen die  Stimmung  beeinflussen,  so  daß  die  Störungen 
dieser  letzteren  nicht  ursprüngliche,  sondern  Folgen  von  Wahn- 
bildungen sind.    Im  ganzen  allerdings  ist  es  mir  bei  weitem  am 


Störungen  der  Gemeingefühle. 


361 


wahrscheinlichsten,  daß  Stimmung  und  Vorstellung  einen  ein- 
heitlichen Vorgang  bedeuten,  dessen  verschiedene  Seiten  sich 
uns  nur  in  verschiedener  Weise  darstellen.  Insbesondere  dürfte 
das  auch  von  dem  erhöhten  Selbstgefühle  des  Paranoikers  gelten, 
das  sich  regelmäßig  mit  der  Vorstellung  einer  bevorzugten  Stellung 
in  der  Welt,  glänzender  persönlicher  Eigenschaften,  einer  erha- 
benen Lebensaufgabe,  meist  auch  mit  erhöhter  Empfindlichkeit 
gegen  die  Widerstände  des  Lebens  verbindet. 

Störungen  der  Gemeingefühle.  Als  Gemeingefühle  bezeichnen 
wir  vor  allem  diejenigen  Gefühlsregungen,  die  in  engen  und  un- 
verbrüchlichen Beziehungen  zur  Selbsterhaltung  stehen.  Sie  haben 
die  gemeinsame  Eigentümlichkeit ,  daß  sie  stets  mit  lebhaften 
Willensregungen  verknüpft  sind;  ihre  bestimmende  Wichtigkeit 
für  das  Triebleben  tritt  dadurch  klar  zutage.  Am  besten  dürfen 
wir  die  Gemeingefühle  als  Mahnungen  und  Warnungen  auf- 
fassen, die  sich  aus  der  Erfahrung  zahlloser  Geschlechter  all- 
mählich zu  unwillkürlich  wirkenden  Beweggründen  des  Handelns 
herausentwickelt  haben.  Im  gewöhnlichen  Leben  unterrichten 
uns  diese  Gefühle  mit  unfehlbarer  Sicherheit  über  die  jeweiligen 
Bedürfnisse  unseres  Körpers,  und  sie  fordern  gebieterisch  die- 
jenigen Handlungen,  die  der  Sachlage  angepaßt  sind.  Die 
Ausführung  jener  Handlungen  kann  durch  den  bewußten  Willen 
zumeist  gehindert  werden,  wenn  auch  oft  nur  unter  starker 
Selbstverleugnung;  die  Gefühle  selbst  dagegen  werden  nur  da- 
durch, aber  dann  auch  mit  Sicherheit,  zum  Schweigen  gebracht, 
daß  dem  angezeigten  Bedürfnisse  auf  irgend  eine  Weise  abge- 
holfen wird.  Allerdings  beobachten  wir  auch  im  gesunden  Leben 
bisweilen,  daß  ein  Gemeingefühl  wieder  schwindet,  wenn  wir 
ihm  trotz  längerer  Mahnung  keine  Folge  geben.  Wir  sind 
imstande,  die  Müdigkeit  zu  überwinden,  wenn  wir  mit  Auf- 
gebot unserer  Kräfte  weiter  arbeiten;  der  Hunger  läßt  nach, 
sobald  wir  längere  Zeit  außerstande  sind,  ihn  zu  befriedigen.  Tritt 
nun  endlich  die  Möglichkeit  ein,  dem  Ruhe-  oder  Nahrungs- 
bedürfnisse nachzugeben,  so  vermissen  wir  zunächst  peinlich  Mü- 
digkeit und  Hunger,  die  uns  die  Wiederherstellung  unserer  Kräfte 
so  leicht  machen.  Erst  dann,  wenn  wir  längere  Zeit  geruht  haben, 
kehrt  die  Müdigkeit  wieder  bei  uns  ein,  und  auch  der  Hunger  be- 
ginnt erst  mit  dem  Essen  allmählich  sich  wieder  zu  melden. 


362 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Unser  ganzes  bewußtes  Leben  ist  begleitet  von  einem  Lust- 
gefühl, das  sich  an  die  Ausführung  geistiger  oder  körperlicher 
Beschäftigung  knüpft.  Die  tiefere  Begründung  desselben  mag 
in  dem  Umstände  liegen,  daß  nur  durch  Tätigkeit  die  Erhaltung 
und  weitere  Ausbildung  der  Persönlichkeit  möglich  ist.  Fehlt 
jenes  Gefühl,  so  entsteht  diejenige  Form  der  Langenweile,  die 
aus  dem  Nichtstun  entspringt  und  uns  zu  irgend  einer  Betätigung 
antreibt.  Wie  quälend  die  Langeweile  für  den  Gesunden  werden 
kann,  wissen  wir  namentlich  aus  den  verzweifelten  Anstrengungen, 
die  bei  erzwungener  Untätigkeit,  z.  B.  von  Gefangenen,  gemacht 
werden,  um  ihr  zu  entgehen.  Beim  Irresein  fehlt  die  wirkliche 
Langeweile  in  der  Regel  gänzlich,  vor  allem  deswegen,  weil  die 
Kranken,  auch  wenn  sie  sich  nicht  beschäftigen,  durch  die  krank- 
haften Vorgänge  in  ihrem  Innern  vollkommen  in  Anspruch  ge- 
nommen sind.  Es  kann  daher  als  ein  günstiges  Zeichen  ange- 
sehen werden,  wenn  die  Langeweile  auftritt,  doch  darf  man  sie 
nicht  mit  dem  Gefühle  der  inneren  Beunruhigung  verwechseln, 
das  von  niedergeschlagenen  Kranken  öfters  als  Langeweile  be- 
zeichnet wird,  ebensowenig  mit  dem  ungestümen  Tätigkeitsdrang 
des  Manischen.  Als  ein  überaus  wichtiges,  wenn  auch  sehr  wenig 
in  die  Augen  fallendes  Krankheitszeichen  haben  wir  aber  ferner 
das  vollständige  Fehlen  der  Langenweile  bei  der  Dementia  praecox 
zu  betrachten.  Hier  handelt  es  sich  um  den  Verlust  der  Willens- 
regungen, aus  denen  das  Tätigkeitsbedürfnis  seinen  Ursprung 
nimmt.  Die  Kranken  können  trotz  völliger  Besonnenheit  und 
Klarheit  Wochen  und  Monate  daliegen,  ohne  das  Aufhören  jeder 
Betätigung  irgendwie  peinlich  zu  empfinden.  Dabei  sind  sie  auf 
äußere  Anregung  hin  imstande,  ohne  weiteres  selbst  schwierigere 
Aufgaben  zu  lösen.  Dieses  Fehlen  der  Langenweile  bei  innerer 
Ruhe  deutet  immer  auf  eine  sehr  tiefgreifende  Störung  im  Seelen- 
leben hin;  wir  finden  es  sonst  nur  bei  vorgeschrittener  Ver- 
blödung. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  die  Langeweile  bei  Un- 
tätigkeit, hat  das  oft  mit  demselben  Namen  belegte  Unlustge- 
fühl,  welches  als  Warnungszeichen  nach  übermäßig  lange  fort- 
gesetzter Arbeit  auftritt.  Hier  haben  wir  es  mit  einer  Form  der 
Müdigkeit  zu  tun,  die  beim  Gesunden  im  allgemeinen  ziemlich 
genau  die  Größe  des  wirklichen  Ruhebedürfnisses,  der  Ermüdung, 


Störungen  der  Gemeingefühle. 


363 


anzeigt.  Bei  unseren  Kranken  kann  sich  auch  dieser  Zusammen- 
hang vollständig  lockern.  So  sehen  wir  in  vielen  Erregungszu- 
ständen, namentlich  bei  manischen  Kranken,  ein  dauerndes  völliges 
Fehlen  der  Müdigkeit  trotz  hochgradigsten  Kräfteverbrauches,  also 
schwerster  Ermüdung.  Mit  dem  Nachlassen  der  Unruhe  sehen 
wir  dann  freilich  auch  die  Müdigkeit  häufig  mit  voller  Gewalt 
den  Genesenden  überfallen.  Umgekehrt  pflegt  in  den  Depressions- 
zuständen  das  Gefühl  der  Müdigkeit  dauernd  vorhanden  zu  sein, 
auch  dann,  wenn  von  einer  wirklichen  Ermüdung  keine  Rede 
sein  kann,  wie  bei  bettlägerigen  Kranken  ohne  jede  Beschäftigung. 
Vielfach  handelt  es  sich  hier  indessen  nur  um  das  Gefühl  einer 
Erschwerung  jeder  geistigen  und  körperlichen  Regung  und  nicht 
um  jenes  besondere  Gefühl  der  Schläfrigkeit,  das  wir  als  die  Ein- 
leitung der  vollkommensten  Erholung  so  hoch  schätzen.  Beide 
Störungen,  Müdigkeit  ohne  Ermüdung  und  Ermüdung  ohne  Mü- 
digkeit, finden  sich  nicht  selten  bei  Neurasthenikern  und  namentlich 
beim  Entartungsirresein  in  seltsamer  Weise  vereint.  Die  Kranken 
fühlen  sich  dauernd  oder  anfallsweise  ohne  irgend  genügenden 
Anlaß  matt,  abgespannt,  arbeitsunfähig,  finden  aber  andererseits 
keine  Ruhe,  weil  sich  ihnen  abends,  beim  Schlafengehen,  die  den 
Schlaf  vorbereitende  Müdigkeit  nicht  einstellen  will. 

Die  gleichen  Erfahrungen  fast  gelten  auf  gesundem  wie  auf 
krankhaftem  Gebiete  von  dem  Begleiter  des  Nahrungsbedürf- 
nisses, dem  Hunger.  Auch  der  Hunger  schweigt  bei  unseren  auf- 
geregten Kranken  trotz  dringendster  Notwendigkeit  des  körper- 
lichen Ersatzes.  Schon  nach  kurzer  Nahrungsverweigerung  scheint 
er  vollständig  zu  schwinden,  um  sich  allerdings  dann  oft  mit  größter 
Gewalt  wieder  Geltung  zu  verschaffen,  wenn  einmal  das  Fasten 
durchbrochen  ist.  Andererseits  sehen  wir  bei  paralytischen  und 
katatonischen  Kranken  häufig  eine  sinnlose  Gefräßigkeit  sich  ein- 
stellen, obgleich  bei  den  wohlgenährten  und  trägen  Kranken  von 
einem  wirklichen  Nahrungsbedürfnisse  anscheinend  keine  Rede 
sein  kann.  Im  Entartungsirresein  und  bei  der  Hysterie  endlich 
begegnet  uns  nebeneinander  ohne  ersichtlichen  Zusammenhang  mit 
dem  Ernährungsstande  des  Körpers  dauernder  Mangel  des  Hunger- 
gefühls und  ebenso  unvermittelter  plötzlicher  Heißhunger. 

In  nahen  Beziehungen  zur  Nahrungsaufnahme  stehen  die  Ekel- 
gefühle, die  uns  vor  dem  Genüsse  unverdaulicher,  übel  schmecken- 


364 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


der  oder  riechender  Dinge  warnen.  Schwerere  Störungen  auf  diesem 
Gebiete  sind  in  der  Regel  das  Zeichen  eines  weitgediehenen  geistigen 
Verfalles.  Wir  beobachten  Kranke,  welche  die  ekelhaftesten  Dinge 
verzehren,  sogar  ihre  eigenen  Ausleerungen;  auch  Nägel,  Steine, 
Glasscherben,  Tiere  werden  nicht  selten  verschluckt,  sowohl  in 
selbstmörderischer  Absicht,  also  mit  bewußter  Überwindung  des 
Ekels,  wie  auch  aus  reiner  Gefräßigkeit.  Bei  sehr  erregten  oder  tief 
verblödeten  Kranken  schwinden  ferner  nicht  selten  jene  Gefühle, 
die  uns  schon  die  bloße  Berührung  mit  Schmutz  und  Unrat 
unangenehm  machen  und  uns  zur  Sauberhaltung  unseres  Körpers 
und  unserer  ganzen  Umgebung  antreiben.  Wir  sehen  daher  solche 
Kranke  sich  rücksichtslos  beschmutzen,  die  gefüllte  Spuckschale 
austrinken,  sich  absichtlich  mit  ihren  Speisen,  mit  dem  eigenen 
Speichel,  mit  Urin  oder  gar  mit  Kot  einsalben  I^) 

Ein  weiteres  Warnungszeichen,  dessen  Fortfall  wir  oft  ge- 
nug bei  Geisteskranken  beobachten,  ist  der  körperliche  Schmerz. 
In  Aufregungszuständen,  namentlich  bei  starker  ängstlicher  Er- 
regung, werden  selbst  schwere  Verletzungen  trotz  voller  Besonnen- 
heit bisweilen  gar  nicht  empfunden.  Die  gleiche  Erfahrung  wird 
bekanntlich  vom  Soldaten  auf  dem  Schlachtfelde  gemacht.  Auf 
diese  Weise  wird  es  erklärlich,  daß  manche  Kranke  sich  die  scheuß- 
lichsten Verletzungen  beibringen  können,  ohne  durch  den  Schmerz 
in  ihrem  Treiben  gestört  zu  werden.  Ausreißen  der  Zunge,  des 
Kehlkopfes,  der  Augen,  Aufschneiden  des  Bauches,  Durchstemmen 
des  Kehlkopfes  und  ähnliche  bereits  vorgekommene  Selbstver- 
stümmelungen wären  ja  offenbar  für  einen  Menschen  mit  ge- 
sunder Schmerzhemmung  schlechterdings  unmöglich.  Auch  bei 
blödsinnigen  Kranken  findet  sich  diese  Unempfindlichkeit  gegen 
körperliche  Schmerzen  häufig.  Die  verblüffendsten  Beispiele  da- 
für liefert  die  Paralyse,  bei  der  freilich  die  Zerstörung  der 
Leitungsbahnen  wesentlich  mit  in  Betracht  kommen  kann.  Kno- 
chenbrüche, ausgedehnte  Verbrennungen,  Druckbrand,  Einschnitte, 
Ätzungen,  alles  pflegt  von  diesen  Kranken  ohne  jede  oder  doch 
ohne  stärkere  Schmerzensäußerung  ertragen  zu  werden.  Eine 
wesentlich  andere  Bedeutung  hat  die  Aufhebung  der  Schmerz- 
empfindlichkeit bei  Hysterischen  und  Epileptikern.    Hier  scheint, 


)  Manheimer,  Le  gatisme  au  cours  des  etats  psychopathiques.  1897. 


Störungen  der  Gemeingefühle. 


ähnlich  wie  es  in  der  Hypnose  erreichbar  ist,  die  Schmerzschwelle 
allein  eine  sehr  bedeutende  Erhöhung  zu  erfahren. 

Wir  haben  hier  endlich  noch  einer  Gruppe  von  Gefühlen  zu 
gedenken,  die  zwar  nicht  mit  der  Selbsterhaltung,  wohl  aber  mit 
der  Arterhaltung  in  Beziehung  stehen.  Dahin  gehört  zunächst 
das  allerdings  erst  durch  das  gesittete  Zusammenleben  künst- 
lich anerzogene  geschlechtliche  Schamgefühl.  Bei  erregten  und 
verwirrten  Kranken  kann  es  völlig  in  den  Hintergrund  treten, 
doch  sieht  man  deutliche  Zeichen  von  Schamgefühl  nicht  selten 
noch  in  sehr  schweren  manischen  Zuständen,  wenn  nicht  die 
gesteigerte  geschlechtliche  Erregung  es  überwindet.  Sehr  auf- 
fallend ist  dagegen  vielfach  das  rasche  Schwinden  des  Scham- 
gefühls in  der  Dementia  praecox,  auch  ohne  geschlechtliche  Er- 
regung. Wir  sehen  solche  Kranken  sich  rücksichtslos  entblößen, 
ohne  Scheu  über  geschlechtliche  Dinge  reden,  vor  aller  Augen 
und  in  der  hartnäckigsten  Weise  masturbieren.  Auch  die  in  der- 
selben Krankheit  vielfach  beobachtete  Neigung  zu  gesucht  un- 
flätiger Ausdrucksweise  (Koprolalie)  und  schamlosen  Gebärden 
wäre  hier  zu  erwähnen. 

Beim  gesunden  Menschen  ist  das  Anwachsen  des  geschlecht- 
lichen Bedürfnisses  und  ebenso  seine  Befriedigung  von  bestimmten 
lebhaften  Gefühlen  begleitet,  die  bei  unseren  Kranken  fehlen,  ge- 
steigert oder  auch  in  falsche  Bahnen  gelenkt  sein  können.  Ge- 
schlechtliche Kälte  beobachten  wir  bei  manchen  Formen  des  Ent- 
artungsirreseins, namentlich  auch  bei  der  Hysterie.  Ebenso  pfle- 
gen bei  Morphinisten  die  Geschlechtsgefühle  allmählich  zu  schwin- 
den. Weit  häufiger  aber  ist  die  Steigerung  der  geschlechtlichen 
Erregbarkeit;  sie  findet  sich  bei  gewissen  Idioten,  ferner  sehr 
ausgeprägt  in  der  Dementia  praecox,  endlich  in  den  manischen 
und  paralytischen  Erregungszuständen  sowie  beim  Altersblödsinn. 
Ganz  besondere  Beachtung  hat  in  neuerer  Zeit  das  Auftreten  ge- 
schlechtlicher Gefühle  außerhalb  des  gesunden  Geschlechtsver- 
kehrs gefunden,  ihre  Anknüpfung  an  Personen  des  eigenen  Ge- 
schlechts, an  gewisse  Gegenstände,  ihre  Verbindung  mit  der  Aus- 
übung oder  Erduldung  von  Mißhandlungen.  Da  alle  diese  Stö- 
rungen in  engster  Beziehung  zu  krankhaften  Richtungen  des 
Geschlechtstriebes  stehen,  werden  wir  ihrer  am  besten  später  im 
Zusammenhange  mit  diesen  letzteren  selbst  gedenken. 


366 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


D.  Störungen  des  Wollens  und  Handelns. 

Ihren  letzten  und  wichtigsten  Ausdruck  finden  alle  Stö- 
rungen, die  das  psychische  Leben  beeinflussen,  im  Wollen  und 
Handeln  des  Kranken,  Den  Ausgangspunkt  einer  Willenshand- 
lung bildet  die  Vorstellung  eines  bestimmten,  näheren  oder  fer- 
neren Zweckes,  der  auf  eine  Veränderung  an  uns  selbst  oder  an 
unserer  Umgebung  hinzielt.  Diese  Vorstellung  wird  von  Gefühlen 
begleitet,  die  sich  in  Antriebe  zur  Erreichung  jenes  Zweckes  um- 
setzen. Die  Richtung  des  Handelns  wird  demnach  durch  den 
Inhalt  jener  Vorstellung,  die  Kraft  und  Nachhaltigkeit  desselben 
durch  die  Stärke  und  Dauer  der  begleitenden  Gefühle  bestimmt. 

Die  krankhaften  Störungen  des  Wollens  und  Handelns  können 
in  der  verschiedensten  Weise  und  an  den  verschiedensten  Punkten 
des  Willensvorganges  angreifen.  Die  Stärke  der  Willensantriebe 
kann  herabgesetzt  und  erhöht,  ihre  Auslösung  durch  Ter- 
schiedenartige  Störungen  erschwert  oder  erleichtert  sein.  Die 
Richtung  des  Wollens  sehen  wir  durch  äußere  und  innere 
Beeinflussungen  krankhaft  abgelenkt  werden,  bald  in  vielfachem 
Wechsel,  bald  in  einseitiger  Starrheit.  Der  Ablauf  der  Willkür- 
handlungen kann  in  mannigfaltigster  Weise  gestört  werden,  ins- 
besondere auch  durch  Einmischung  von  Nebenantrieben.  Krank- 
hafte Antriebe  können  gewaltsam  das  gesunde  Wollen  unter- 
drücken, triebartige  Regungen  zu  unüberlegten  und  zweck- 
losen Handlungen  drängen;  die  natürlichen  Triebe  sehen  wir 
krankhafte  Formen  annehmen.  Endlich  aber  wird  begreiflicher- 
weise das  ganze  Handeln  unserer  Kranken  auch  durch  alle  jene  Stö- 
rungen beeinflußt,  die  sich  auf  anderen  Gebieten  ihres  Seelen- 
lebens abspielen,  selbst  wenn  der  Ablauf  des  Willensvorganges  an 
sich  dabei  keine  Abweichungen  darbietet.  Eine  besondere  Be- 
sprechung werden  die  Ausdrucksbewegungen  erfordern,  da  sie 
es  sind,  die  uns  in  erster  Linie  die  Kenntnis  der  inneren  Erlebnisse 
unserer  Kranken  vermitteln.  $ 

Herabsetzung  der  Willensantriebe.  Dem  gesunden  Verständ- 
nisse am  nächsten  liegt  jene  Lähmung  des  Willens,  die  durch 
die  einfache  Ermüdung  herbeigeführt  wird.  Das  Anwachsen  der 
inneren  Widerstände  bedingt  zunächst  eine  Steigerung  der  Willens- 


Herabsetzung  der  Willensantriebe.  36^ 

Spannung,  eine  erhöhte  , .Anstrengung",  die  dann  weiterhin  zum 
Erlahmen  führt.  Da  auch  die  Gedankenarbeit  Willenstätigkeit 
ist,  schwindet  mit  der  Zunahme  des  Ruhebedürfnisses  die  geistige 
Regsamkeit  ebenso  wie  die  Neigung  zu  raschem  und  ausgiebigem 
Handeln.  Wir  fühlen  uns  nicht  mehr  aufgelegt  zu  geistiger  Tätig- 
keit, und  die  Beweggründe  müssen  immer  zwingendere  werden, 
wenn  sie  uns  zu  kräftiger  Tat  antreiben  sollen.  Ähnliche  Wir- 
kungen werden  durch  manche  Gifte  erzeugt.  In  den  höchsten 
Graden  des  Alkoholrausches,  unter  dem  Einflüsse  des  Chloro- 
forms, des  Chloralhydrates  erlöschen  alle  Willensantriebe,  nach- 
dem allerdings  vielfach  eine  Steigerung  derselben  voraufgegangen 
ist.  Während  aber  diese  Mittel  gleichzeitig  in  noch  höherem 
Grade  Auffassung  und  Denken  lähmen,  kennen  wir  im  Morphium 
und  vielleicht  auch  im  Tabak  Giftstoffe,  die  ganz  vorzugsweise 
die  Entstehung  und  Auslösung  von  Willensantrieben  zu  hindern 
scheinen.  Beim  Alkohol,  Morphium  und  dem  beiden  verwandten 
Cocain  wird  die  Willenslähmung  durch  dauernden  Mißbrauch  sehr 
deutlich;  es  entwickelt  sich  ein  folgenschwerer  Mangel  an  Tat- 
kraft. Die  schwachen  Antriebe  verpuffen  regelmäßig,  ohne 
weiterreichenden,  richtunggebenden  Einfluß  auf  das  Handeln  zu 
gewinnen;  auch  die  sonst  stärksten  Beweggründe,  die  sittlichen 
Forderungen,  die  Rücksicht  auf  die  Familie,  auf  das  eigene  Le- 
bensglück, vermögen  den  kraftlosen  Willen  nicht  zu  nachhaltiger 
Anspannung  anzuspornen. 

Eine  ganz  ähnliche  Verödung  des  Wollens  sehen  wir  viel- 
fach in  den  Endzuständen  ungeheilter  Geistesstörungen  sich  ent- 
wickeln. So  verlieren  beim  Altersschwachsinn  zunächst  die  all- 
gemeineren Vorstellungen  und  Gefühle  ihren  Einfluß  auf  das 
Handeln.  Die  Spannkraft  des  Willens,  die  Schaffensfreude,  die 
schon  im  gesunden  Greisenalter  merklich  abzunehmen  pflegt, 
erlahmt  völlig;  das  Streben  richtet  sich  auf  das  Nächstliegende 
und  verzichtet  leicht  auf  die  Überwindung  von  Hindernissen. 
Statt  dessen  gewinnen  jene  Triebfedern  das  Übergewicht,  die 
aus  den  niederen  Begierden  entspringen.  Habsucht,  Geiz,  Ge- 
fräßigkeit, unter  Umständen  auch  geschlechtliche  Gelüste  sind 
allein  noch  imstande,  kräftigere  Willensantriebe  auszulösen.  Oder 
die  Kranken  dämmern  wunschlos  und  tatenlos  dahin,  von  ihrer 
Umgebung  gelenkt  und  geschoben,  ohne  in  zweckmäßigem  Han- 


368 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dein  oder  Widerstreben  die  Spuren  einer  selbständigen  Willens- 
entschließung erkennen  zu  lassen.  Am  auffallendsten  pflegt 
die  Willenslähmung  bei  der  Dementia  praecox  hervorzutreten, 
weil  daneben  manche  andere  psychische  Leistungen  noch  ver- 
hältnismäßig gut  erhalten  sein  können.  Die  Abstumpfung  der 
Gefühle  führt  hier,  namentlich  in  den  Endzuständen,  gewöhnlich 
auch  zu  einer  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Vernichtung 
der  Willensregungen.  Die  Kranken  verlieren  die  Fähigkeit,  aus 
eigenem  Antriebe  nachzudenken  oder  sich  zu  beschäftigen.  Sich 
selbst  überlassen,  sitzen  sie  träge  herum;  weder  in  ihrem  Innern 
spielen  sich  Vorgänge  ab,  noch  lösen  äußere  Einwirkungen  Hand- 
lungen aus;  nur  die  unmittelbaren  körperlichen  Bedürfnisse,  be- 
sonders das  Essen,  vermögen  sie  noch  in  Bewegung  zu  bringen. 
Dennoch  können  sie  durch  geduldiges  Antreiben  und  durch  das 
Beispiel  oft  noch  zu  ganz  brauchbaren  Leistungen  gebracht  wer- 
den; freilich  versiegt  ihre  Tätigkeit  sofort,  wenn  der  Anstoß  da.- 
zu  aufhört.  Gerade  dadurch  wird  es  deutlich,  daß  die  Kranken 
nicht  die  Fähigkeit  zur  Arbeit  und  zum  Handeln,  sondern  nur  den 
Antrieb  dazu  verloren  haben.  Am  weitesten  schreitet  die  Zer- 
störung des  Willens  in  der  Paralyse  fort.  Mit  dem  Schwinden 
der  geistigen  und  gemütlichen  Ansprechbarkeit  verlieren  sich  auch 
die  Willensregungen;  der  Kranke  empfindet  kein  Leid  und  kein 
Bedürfnis  mehr,  das  ihn  zu  einer  Handlung  antreiben  könnte. 
Schließlich  können  sich  alle  Lebensäußerungen  auf  die  Fort- 
dauer der  unwillkürlichen  und  einiger  reflektorischen  Bewegungen 
beschränken. 

Was  hier  überall  durch  den  Krankheitsvorgang  zerstört  wird, 
kann  auch  von  Jugend  auf  unentwickelt  bleiben.  Schon  in  der 
Breite  der  Gesundheit  ist  die  Stärke  der  Willensantriebe,  die 
Leichtigkeit,  mit  der  sich  Denken  und  Fühlen  in  Handeln  umsetzt, 
außerordentlichen  Schwankungen  unterworfen.  Von  den  trägen 
und  schwerfälligen  Naturen  führen  uns  Übergänge  allmählich  zu 
den  stumpfen  Formen  des  angeborenen  Schwachsinns  und  der 
Idiotie,  bei  denen  nur  mühsam  und  selten  ein  Willensantrieb  zu- 
stande kommt  und  zum  Handeln  führt.  Selbstverständlich  sind 
es  auch  hier  die  sinnlichen  Gefühle,  Hunger  und  Schmerz,  die 
das  Begehren  am  stärksten  erregen  und  daher  in  erster  Linie  die 
Richtung  der  Willensäußerungen  bestimmen. 


Steigerung  der  Willensantriebe. 


369 


Steigerung  der  Willensantriebe.  Das  allgemeine  Zeichen  einer 
Steigerung  der  Willensantriebe  ist  die  motorische  Erregung. 
Im  einzelnen  freilich  haben  wir  uns  deren  Zustandekommen  in 
sehr  verschiedener  Weise  zu  denken.  Zunächst  kann  die  Erregung 
sich  einfach  aus  Vorstellungen  oder  Gefühlen  herausentwickeln. 
Dahin  gehören  die  durch  bestimmte  Anlässe  hervorgerufenen  Leiden- 
schaftsausbrüche gesunder  und  kranker  Menschen,  die  plötzliche 
Entladung  überstürzter  Willenshandlungen  in  einer  bestimmten 
Lebenslage.  In  diesen  Fällen  ist  offenbar  das  Handeln  nur  die 
notwendige  Folge  der  gegebenen  psychologischen  Vorbedingungen; 
eine  Störung  liegt  daher  auch  nicht  auf  dem  Gebiete  des  Wollens 
selbst,  sondern  höchstens  auf  denjenigen,  die  es  vorbereiten.  Es 
sind  eben  mächtige  Beweggründe  vorhanden,  die  naturgemäß  auch 
besonders  lebhafte  Willensantriebe  zur  Auslösung  bringen  müssen. 

Von  einer  wirklichen  Steigerung  der  Antriebe  sind  wir  da- 
gegen zu  sprechen  berechtigt,  wenn  ein  Mißverhältnis  zwischen 
dem  Gewichte  der  Beweggründe  und  der  Heftigkeit  der  Erregung 
besteht.  Vielleicht  ist  das  bis  zu  einem  gewissen  Grade  schon 
bei  vielen  delirierenden  Kranken  der  Fall.  Bei  ihnen,  nament- 
lich bei  Alkoholdeliranten,  entwickelt  sich  meist  eine  deutliche 
Unruhe,  die  sich  nicht  genügend  durch  die  Wahnvorstellungen, 
Sinnestäuschungen  und  Gemütsbewegungen  erklären  läßt,  sondern 
auf  krankhafte  Willenserregung  hinweist.  Die  Kranken  bleiben 
nicht  im  Bette,  drängen  zur  Türe  hinaus  und  zeigen  einen  aus- 
geprägten Tätigkeitsdrang,  allerdings  in  Beziehung  zu  ihren  Täu- 
schungen. Daß  sie  aber  trotz  ihrer  oft  großen  Hinfälligkeit  über- 
haupt die  lebhafte  Neigung  haben,  sich  im  Sinne  ihres  Berufes 
zu  beschäftigen,  macht  die  Annahme  einer  selbständigen  psycho- 
motorischen Erregung  durchaus  wahrscheinlich. 

Eine  weitere  Form  der  hier  besprochenen  Störung  läßt  sich 
am  besten  durch  die  Betrachtung  des  Alkoholrausches  erläutern. 
Wir  sehen  hier  die  Steigerung  der  Willensantriebe  von  der  er- 
wachenden Lebhaftigkeit  in  Reden  und  Ausdrucksbewegungen  all- 
mählich zum  Lärmen,  Schreien  und  schließlich  zu  allen  jenen 
unüberlegten  Handlungen  anwachsen,  die  den  Berauschten  so 
häufig  mit  der  öffentlichen  Ordnung  und  dem  Strafgesetze  in 
Widerstreit  bringen.  Ganz  ähnliche  Störungen  scheint  das  Cocam 
zu  erzeugen;  wenigstens  entsteht  bei  dauerndem  Mißbrauche  des 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^4 


370 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Mittels  ziellose  Unruhe,  Geschwätzigkeit,  Schreibseligkeit,  die 
kaum  anders  gedeutet  werden  können.  Gerade  diese  Erregungs- 
zustände  der  Cocainisten  bilden  den  Übergang  zu  jener  eigen- 
artigen  Steigerung  der  Willensantriebe,  wie  sie  dem  Bilde  des 
manischen  Irreseins  eigentümlich  ist,  sich  aber  auch  bei  den  In- 
fektionspsychosen und  bei  der  Paralyse  vielfach  entwickelt.  Wir 
haben  es  hier  mit  einem  krankhaften  Betätigungsdrange  zu 
tun,  der  sich  bei  den  leichteren,  hypomanischen  Zuständen  zu- 
nächst in  unstetiger  Vielgeschäftigkeit,  großer  Gesprächigkeit,  leb- 
haften Gebärden  kundgibt,  im  Sammeln  und  Zusammenkaufen 
unnützer  Dinge,  in  der  Einmischung  in  fremde  Angelegenheiten, 
der  Verfolgung  aller  möglichen  Pläne,  in  unsinnigen  Ausschwei- 
fungen, in  zwecklosem  Herumtreiben  und  Reisen. 

Bei  stärkerer  Erregung  werden  die  Antriebe  zum  Handeln 
immer  zahlreicher  und  mannigfaltiger.  Da  zugleich  die  Zweck- 
vorstellungen flüchtiger  •  werden,  lockert  sich  der  Zusammenhang 
zwischen  den  einzelnen  Handlungen.  Der  Kranke  ist  nicht  mehr 
imstande,  einen  bestimmten  Plan  durchzuführen,  sondern  fängt 
alles  nur  an ,  indem  seine  ursprüngliche  Absicht  sofort  durch 
neu  aufsteigende  Antriebe  in  den  Hintergrund  gedrängt  wird. 
Schließlich  ist  ein  Zweck  der  einzelnen  Handlung  kaum  mehr 
erkennbar;  wir  bemerken  nur  noch  eine  bunte  Reihe  wechseln- 
der Kraftäußerungen.  Es  kommt  zu  beständigem  Schreien,  Schwa- 
tzen und  Singen,  Laufen,  Tanzen,  zum  Entkleiden,  Zerreißen 
der  Kleidungsstücke  mit  mannigfacher  Verwertung  der  Fetzen, 
Schmieren  und  Malen  mit  Kot,  Waschen  mit  Urin,  Zerstören 
aller  erreichbaren  Gegenstände,  Trommeln  und  Klopfen  mit  Hän- 
den und  Füßen. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild,  als  der  manische  Betätigungs- 
drang, bietet  die  katatonische  Erregung  dar.  Dort  ist  auch 
in  den  unsinnigsten  Handlungen  eine  psychische  Verursachung 
wenigstens  ungefähr  erkennbar;  alle  Antriebe  führen  doch  immer 
zu  Handlungen,  so  zwecklos  und  unsinnig  diese  auch  erschei- 
nen mögen.  Hier  dagegen  haben  wir  es  wesentlich  mit  Bewe- 
gungen zu  tun,  die  meist  durchaus  keinen  bestimmten  Erfolg 
haben.  Auf  diese  Störung  paßt  daher  am  besten  die  Bezeichnung 
,, Bewegungsdrang",  die  sonst  gerade  für  den  manischen  Be- 
tätigungsdrang gebraucht  zu  werden  pflegt.    Obgleich  die  eigent- 


Behinderung  der  Willenshandlungen.  271 

liehe  Erregung  beim  Katatoniker  oft  weit  geringer  ist,  sind  seine 
Bewegungen  völlig  planlos  und  dienen  nicht  der  Verwirklichung 
dieser  oder  jener  Absicht.  Vielmehr  bestehen  sie  einfach  in  Ge- 
sichterschneiden, Verdrehungen  und  Verrenkungen  der  Glieder, 
Auf-  und  Niederspringen,  Purzelbäumen,  Wälzen,  Händeklatschen, 
Herumrennen,  Klettern  und  Tänzeln,  in  dem  Hervorbringen  sinn- 
loser Laute  und  Geräusche.  Von  eigentlichem  Wollen  kann  hier 
kaum  noch  die  Rede  sein,  insofern  wir  es  nicht  mehr  mit  der  Um- 
setzung von  Zweckvorstellungen  in  Handlungen  zu  tun  haben. 
Auch  die  Kranken  selbst  versichern  uns  nicht  selten  auf  das  be- 
stimmteste, daß  sie  nicht  wissen,  wie  sie  dazu  kommen,  solche 
Bewegungen  auszuführen.  Vielleicht  dürfen  wir  hier  an  die  Er- 
fahrungen erinnern,  die  man  nach  starken  körperlichen  Anstren- 
gungen bisweilen  macht.  Dabei  kann  sich  eine  Muskelunruhe 
entwickeln,  die  sich  in  allerlei  zwecklosen  Bewegungen  entladet; 
wir  können  nicht  still  sitzen,  springen  alle  Augenblicke  auf,  spielen 
mit  den  Fingern,  wechseln  die  Stellung.  Auch  hier  handelt  es 
sich  um  Antriebe,  die  nicht  der  Ausdruck  von  Vorstellungen  sind. 

Behinderung  der  Willenshandlungen.  Die  Kraft  und  Schnellig- 
keit, mit  der  sich  ein  Willensantrieb  in  Handeln  umsetzt,  ist  außer 
von  seiner  eigenen  Stärke  auch  von  der  Größe  der  Widerstände 
abhängig,  die  er  zu  überwinden  hat.  So  wissen  wir,  daß  Schreck 
und  Furcht  der  Ausführung  unserer  Absichten  innere  Hinder- 
nisse entgegensetzen  können,  die  wir  nur  mit  der  größten  Willens- 
anstrengung zu  überwinden  imstande  sind.  Eine  derartige  Stei- 
gerung der  Widerstände,  eine  psychomotorische  Hemmung, 
ist  vielleicht  die  wichtigste  Grundstörung  in  gewissen  Depressions- 
zuständen  des  zirkulären  Irreseins.  Die  Kranken  werden  unfähig 
zu  den  einfachsten  Entschlüssen,  müssen  sich  zu  jeder  Handlung 
mühsam  aufraffen,  vermögen  sich  nicht  auszusprechen,  sondern 
geben  nur  kurze,  einsilbige  Antworten.  Natürlich  entsteht  dadurch 
eine  sehr  ausgeprägte  Verlangsamung  und  Abschwächung  des 
Handelns.  Nur  ganz  fest  eingelernte  Tätigkeiten  gehen  bisweilen 
noch  ohne  Hemmung  vonstatten;  ebenso  kann  auch  einmal  eine 
heftige  Gemütserschütterung  die  Widerstände  plötzlich  durch- 
brechen. Ferner  läßt  sich  in  der  Regel  nachweisen,  daß  bei  fort- 
gesetzten Bemühungen  die  Hemmung  allmählich  geringer  wird. 
In  schweren  Fällen  kann  die  Auslösung  selbständiger  Willenshand- 

24* 


372 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


lungen  fast  gänzlich  unmöglich  sein.  Trotz  aller  ersichtlichen 
Anstrengung  bringen  die  Kranken  kein  Wort  mehr  hervor,  sind 
unfähig,  zu  essen,  aufzustehen,  sich  anzukleiden.  Regelmäßig 
empfinden  sie  dabei  deutlich  den  ungeheuren  Druck,  der  auf  ihnen 
liegt,  upd  den  sie  nicht  zu  überwinden  imstande  sind. 

"Zumeist  pflegt  man  diese  Störung  unter  dem  Namen  des 
,, Stupors"  mit  einigen  anderen,  nur  äußerlich  ähnlichen  Zu- 
ständen zusammenzufassen,  von  denen  wir  als  wichtigsten  den 
katatonischen  Stupor  herausheben  wollen.  Bei  ihm  ist  die 
Auslösung  der  Bewegungen  an  sich  keineswegs  erschwert,  wie 
wir  aus  gelegentlichen,  sehr  rasch  und  kräftig  erfolgenden  Hand- 
lungen leicht  erkennen.  Allein  jeder  Antrieb  löst  hier  sofort 
einen  Gegenantrieb  aus,  der  mindestens  ebenso  stark,  öfters  sogar 
weit  kräftiger  ist.  Auf  diese  Weise  wird  jede  Bewegung  im  Ent- 
stehen unterdrückt,  namentlich  wenn  ihr  eine  äußere  Anregung 
zugrunde  liegt.  Nicht  selten  sehen  wir  daher  die  beabsichtigte 
oder  verlangte  Bewegung  wohl  angefangen,  aber  sofort  wieder 
unterbrochen  und  unter  Umständen  durch  die  entgegengesetzte 
abgelöst  werden.  Hier  wird  demnach  nicht  der  Antrieb  durch 
innere  Widerstände  gehemmt,  sondern  er  wird  durch  einen  Gegen- 
befehl einfach  ausgelöscht.  Während  die  Kranken  mit  psychischer 
Hemmung  immer  noch  bemüht  sind,  den  Widerstand  zu  über- 
winden, bis  sie  endlich  erlahmen  oder  durchdringen,  kehrt  sich 
beim  katatonischen  Stupor  der  Antrieb  selbst  von  vornherein  oder 
doch  sehr  bald  in  Widerstreben  um.  Man  kann  daher  im  Ver- 
gleiche zu  der  Hemmung  dort  von  einer  ,,Sperrung"  hier  spre- 
chen. Sobald  die  Sperrung  fortfällt,  der  Gegenbefehl  ausbleibt, 
geht  die  Handlung  ohne  die  geringste  Schwierigkeit  vonstatten. 
Wie  wir  bei  jeder  Muskelbewegung  immer  auch  den  Antagonisten 
in  Tätigkeit  setzen,  so  entsteht  anscheinend  hier  neben  der  Vor- 
stellung der  angeregten  Bewegung  sofort  auch  diejenige  der  ent- 
gegengesetzten in  besonderer  Stärke  und  verhindert  deren  Auslösung. 

Durch  diese  Willenssperrung  werden  zahlreiche  Äußerungen 
im  Entstehen  erstickt,  die  sich  beim  Gesunden  gewohnheitsmäßig, 
ohne  ausdrückliches  Eingreifen  der  Willkür  vollziehen.  Die 
Kranken  blicken  nicht  auf,  wenn  man  sie  anredet,  erwidern  den 
Gruß  nicht,  ergreifen  nicht  die  dargebotene  Hand.  Bedroht  man 
sie  mit  dem  Messer  oder  sticht  sie  in  das  Augenlid,  so  weichen 


Erleichterung  der  Willenshandlungen. 


373 


sie  allenfalls  zurück,  machen  aber  keine  planmäßigen  Abwehr- 
bewegungen; sie  bleiben  in  äußerst  unbequemen  Stellungen 
liegen,  ohne  sich  behaglich  zurechtzulegen,  verjagen  die  Fliege 
nicht,  die  sich  auf  ihr  Gesicht  niederläßt,  setzen  sich  stundenlang 
glühenden  Sonnenstrahlen  aus,  obgleich  wenige  Schritte  sie  in 
den  Schatten  bringen  würden.  Vielleicht  ist  auch  das  Aufhören 
des  Lidschlages,  des  regelmäßigen  Speichelschluckens,  das  Zu- 
rückhalten der  Entleerungen  auf  die  Willenssperrung,  auf  die 
Unterdrückung  der  natürlichen,  unwillkürlichen  Antriebe  zurück- 
zuführen. Das  gesamte  Verhalten  der  Kranken  gewinnt  durch 
diese  Störungen  ein  höchst  absonderliches  Gepräge.  Indem  die 
erwarteten  und  dem  Gesunden  selbstverständlichen  Willensäuße- 
rungen ausbleiben,  erscheint  das  Benehmen  unnatürlich,  unfrei 
und  gezwungen. 

Da  es  sich  bei  der  Willenssperrung  nicht  um  ein  Versagen 
der  Antriebe,  sondern  um  das  Gleichgewicht  entgegengesetzter 
Antriebe  handelt,  so  bemerken  wir  hier  bei  der  Ausführung  von 
Handlungen  nicht  die  müde  Kraftlosigkeit,  die  der  Willenshem- 
mung eigentümlich  ist,  sondern  eine  starre  Spannung,  die  uns  das 
Spiel  widerstrebender  Einflüsse  verrät.  Die  Bewegungen  ge- 
schehen mit  einem  Übermaß  von  Anspannung,  die  sich  auf  alle 
beteiligten  Muskelgruppen  in  nahezu  gleichmäßiger  Weise  er- 
'streckt;  das  Ergebnis  entwickelt  sich  aus  einem  verhältnis- 
mäßig geringen  Übergewichte  einer  Gruppe  über  die  entgegen- 
gesetzte. Daher  erscheinen  Haltung  und  Bewegung  steif  und 
gespannt.  Nicht  selten  beobachten  wir  ein  Schwanken  in  der 
Kraft  der  Antriebe  und  Gegenantriebe;  bald  gewinnen  die  einen, 
bald  die  anderen  die  Oberhand.  Es  kommt  zu  plötzlichem  Still- 
stande und  ebenso  plötzlicher  Fortsetzung  der  eingeleiteten  Be- 
wegung; sie  läuft  stoßweise  ab,  wird  eckig  und  ungeschickt. 
Vielleicht  ist  es  das  Gefühl  aller  dieser  Behinderungen,  das  die 
Kranken  zu  einer  gleichzeitigen  Anspannung  weiter  Muskelgebiete 
veranlaßt.  Auch  bei  der  Ausführung  geringfügiger  Bewegungen 
werden  gern  die  ganzen  Glieder  mit  in  Anspruch  genommen.  Auf 
diese  Weise  werden  die  Bewegungen  plump  und  maßlos. 

Erleichterung  der  Willenshandlungen.  Die  Eindrücke  der  Außen- 
welt wie  unsere  inneren  Erlebnisse  erzeugen  in  uns  dauernd 
einen  mehr  oder  weniger  hohen  Grad  von  Willensspannung,  der 


374 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sich  in  mannigfachen  Äußerungen  zu  entladen  strebt.  Ein  Teil 
dieser  Wirkungen  ist  dem  Einflüsse  der  Willkür  entzogen;  den 
größten  Teil  derselben  vermögen  wir  jedoch  durch  Willensan- 
strengungen zu  hemmen.  Von  der  Ausbildung  dieser  Hemmungen, 
über  die  wir  verfügen,  hängt  demnach  die  größere  oder  geringere 
Leichtigkeit  ab,  mit  der  auftauchende  Antriebe  sich  in  Handlungen 
umsetzen.  Unsere  geistige  Entwicklung  bedeutet  im  allgemeinen 
eine  Zunahme  der  Hemmungen;  das  Kind  handelt  am  raschesten 
und  unmittelbarsten,  während  die  wachsende  Selbstbeherrschung 
den  Mann  befähigt,  zahlreiche  Antriebe  zu  unterdrücken,  bevor 
sie  zur  Tat  werden.  Die  weibliche  Eigenart  mit  ihrer  erhöhten 
gemütlichen  Erregbarkeit  pflegt  in  dieser  Hinsicht  derjenigen  des 
Kindes  näher  verwandt  zu  bleiben. 

Die  eindämmende  Macht  der  Hemmungen  wird  natürlich  um 
so  früher  versagen,  je  stärker  die  Antriebe,  je  heftiger  die  Ge- 
mütsbewegungen sind,  aus  denen  sie  hervorgehen.  Auf  der  anderen 
Seite  kennen  wir  Einflüsse,  welche  geradezu  die  Auslösung  von 
Willensantrieben  erleichtern  und  damit  die  Widerstandsfähigkeit 
gegen  die  Umsetzung  von  Antrieben  in  Handlungen  vermindern. 
In  geringerem  Grade  scheint  das  schon  für  jede  psychomotorische 
Tätigkeit  zu  gelten.  Durch  fortgesetzte  Ausführung  von  Bewe- 
gungen geraten  wir  in  eine  gewisse  Erregung,  die  eine  Ver- 
ringerung der  Hemmungen  bedeutet.  Wir  haben  bereits  früher" 
darauf  hingewiesen,  daß  auch  die  krankhafte  Willenshemmung 
durch  die  Betätigung  selbst  allmählich  abnimmt.  Noch  deutlicher 
vielleicht  ist  das  Anwachsen  der  Erregung  bei  manischen  oder 
katatonischen  Kranken,  sobald  sie  ihrer  Unruhe  freien  Lauf  lassen 
können.  Die  ungehinderte  Entladung  ihrer  Antriebe  macht  sie 
immer  unfähiger,  sich  zu  beherrschen;  darauf  beruht  hier  der 
überraschende  Erfolg  der  Bettbehandlung  gegenüber  dem  ,, Aus- 
toben". Nach  den  Ergebnissen  psychologischer  Versuche  be- 
günstigt die  Entziehung  des  Schlafes  ebenfalls  den  Wegfall  der 
Willenshemmungen.  Dem  würde  die  Erfahrung  entsprechen,  daß 
andauernde  Schlaflosigkeit  die  Erregung  bei  unseren  Kranken 
zu  steigern  scheint,  doch  ist  hier  auch  die  umgekehrte  Deutung 
möglich. 

Eine  sehr  verhängnisvolle  Abnahme  der  Willenshemmungen 
wird  in  größtem  Umfange  durch  die  Wirkung  des  Alkohols  her- 


Erhöhte  Beeinflußbarkeit  des  Willens. 


375 


beigeführt.  Wenn  auf  der  einen  Seite  das  Verhalten  Angetrun- 
kener dafür  spricht,  daß  wir  es  hier  mit  einer  wirklichen  Erregung 
zu  tun  haben,  so  deutet  doch  andererseits  die"  Leichtigkeit,  mit 
der  auch  ohne  Erregung  die  unbesonnensten  und  bedenklichsten 
Handlungen  zustande  kommen,  auf  den  Verlust  jener  Widerstände 
hin,  die  den  Nüchternen  befähigen,  seine  Antriebe  im  Zaume  zu 
halten.  Alle  die  Beweggründe,  die  aus  der  sittlichen  Erziehung 
eines  ganzen  Lebens  entspringen,  verlieren  plötzlich  ihre  Macht; 
alle  Bedenken  und  Überlegungen  schweigen,  sobald  der  Alkohol 
die  Selbstbeherrschung  vernichtet  hat.  In  abgeschwächtem  Grade 
läßt  sich  diese  Wirkung  des  Alkohols  auf  den  Willen  auch  dauernd 
beim  Trinker  nachweisen,  in  der  verringerten  Widerstandsfähigkeit 
gegen  Verführungen  aller  Art.  Ähnliche  Veränderungen  erzeugt 
bei  einmaligem  wie  bei  gewohnheitsmäßigem  Gebrauche  der  Äther 
und  wohl  auch  das  Cocain. 

Als  dauernde  Eigenschaft  tritt  uns  ferner  die  erleichterte  Aus- 
lösung von  Willensantrieben  bei  gewissen  Formen  krankhafter  Ver- 
anlagung, namentlich  bei  der  Hysterie,  entgegen.  Die  Lebhaftigkeit 
der  Gefühlsbetonung  läßt  hier  der  verstandesmäßigen  Vorbereitung 
der  Handlungen  keinen  großen  Spielraum;  daher  kommen  rasch 
und  unvermittelt  nicht  selten  Handlungen  zustande,  die  den  Stempel 
des  Unbegreiflichen  und  Zweckwidrigen  tragen,  Diebstähle,  Schwin- 
deleien, Selbstverletzungen.  Auch  hier  befinden  sich  die  Kranken 
oft  in  einem  eigentümlichen  Zwiespalte  zwischen  den  gesunden 
Regungen  und  den  triebartigen  Einflüssen,  die  ihren  Willen  über- 
wältigen. 

Erhöhte  Beeinflußbarkeit  des  Willens.  Zwei  Quellen  sind  es, 
aus  denen  die  Beweggründe  unseres  Handelns  entspringen,  aus 
äußeren  Anstößen  und  aus  feststehenden  allgemeinen  Willens- 
richtungen, deren  Inhalt  ursprünglich  allerdings  auch  durch  die 
Lebenserfahrung  erworben  wurde.  Beim  gesunden  Menschen  führt 
jeder  Anlaß  nur  so  weit  wirklich  zum  Handeln,  als  ihm  nicht 
wichtige ,  der  eigenen  Persönlichkeit  angehörende  Gegenströ- 
mungen im  Wege  stehen.  Diese  verhältnismäßige  Unabhängig- 
keit des  Wollens  von  äußeren  Anstößen  bildet  die  psychologische 
Grundlage  der  ,,W  illensfreihei  t".  Nur  Kinder  und  in  ge- 
ringerem Grade  auch  wohl  Frauen,  ferner  die  ,, leichtsinnigen" 
Naturen  lassen  sich  mehr  von  den  Einflüssen  des  Augenblicks, 


Erscheinungen  des  Irreseins. 

als  von  festen  „Grundsätzen"  leiten,  weil  sie  solche  noch  nicht 
erworben  haben  oder  überhaupt  nicht  zu  erwerben  imstande  sind. 
Im  Bereiche  des  Krankhaften  wird  der  bestimmende  Einfluß  dauern- 
der Willensrichtungen  auf  das  Handeln  beeinträchtigt  oder  ver- 
nichtet durch  einfache  Abschwächung  des  Willens,  durch  er- 
leichterte Auslösbarkeit  der  Willensantriebe  und  endlich  durch  das 
Auftreten  krankhafter  Antriebe. 

Der  erste  dieser  Fälle  ist  verwirklicht  in  allen  jenen  Formen 
des  angeborenen  oder  erworbenen  Schwachsinns,  die  mit  einer 
Herabsetzung  der  Tatkraft  einhergehen.  Wo  keine  kräftigen  Trieb- 
federn des  Handelns  vorhanden  sind,  wird  es  nicht  durch  die  all- 
gemeinen Eigenschaften  der  Persönlichkeit  bestimmt,  sondern  durch 
zufällige  Einflüsse.  Es  entwickelt  sich  also  eine  hilflose  Abhängig- 
keit des  Wollens  von  allen  möglichen  Einwirkungen,  eine  krank- 
hafte Bestimmbarkeit.  Da  kein  selbständiger  Plan  den  festen 
Grund  des  Handelns  bildet,  geht  seine  innere  Einheit  und  Folge- 
richtigkeit verloren.  Am  reinsten  pflegt  uns  diese  Störung  in  der 
Paralyse  entgegenzutreten.  Ein  Wort  genügt  hier  nicht  selten,  um 
den  leicht  lenksamen  Kranken  ohne  weiteres  zu  den  widersprechend- 
sten Entschlüssen  zu  veranlassen. 

Einen  vorübergehenden  Zustand  von  Willenlosigkeit  mit 
erhöhter  Beeinflußbarkeit  vermögen  wir  durch  die  Hypnose^) 
zu  erzeugen..  Es  gelingt  bekanntlich  bei  einer  sehr  großen  Zahl 
von  Menschen  (80 — 90%),  durch  verschiedenartige  Hilfsmittel, 
namentlich  durch  lebhafte  Erweckung  der  Vorstellung  des  Ein- 
schlafens, eine  Veränderung  des  Bewußtseins  in  dem  Sinne  her- 
beizuführen, daß  die  Seelenvorgänge  in  eine  mehr  oder  weniger 
vollständige  Abhängigkeit  von  dem  Willen  des  Versuchsleiters 
geraten.  Bei  den  allerdings  nicht  sehr  häufig  erreichbaren  höch- 
sten Graden  dieses  Zustandes  kann  durch  Suggestion,  d.  h.  durch 
kräftiges  Anregen  von  Vorstellungen,  Gefühlen  und  Antrieben 
mit  Hilfe  des  Wortes  oder  geeigneter  Handlungen,  der  Inhalt 
der  Wahrnehmungen  ganz  nach  Belieben  frei  erzeugt  oder  ab- 
geändert werden.  Ferner  können  frei  erfundene  Erinnerungen 
mit  allen  Einzelheiten  dem  Beeinflußten  eingepflanzt  werden, 
um  bei  ihm  weitere  selbständige  Verarbeitung  zu  finden,  und 

1)  Forel,  Der  Hypnotismus  und  die  suggestive  Psychotherapie,  5.  Aufl.  1907; 
Moll,  Der  Hypnotismus,  4.  Aufl.  1907. 


Erhöhte  Beeinflußbarkeit  des  Willens.  377 

endlich  stehen  auch  seine  Handlungen,  ja  sogar  viele  seiner  un- 
willkürlichen Verrichtungen,  gänzlich  unter  dem  Einflüsse  der 
gebieterisch  die  eigenen  Willensregungen  knebelnden  Eingebungen. 
Der  Hypnotisierte  vermag  kein  Glied  zu  rühren  ohne  Erlaubnis 
des  Hypnotiseurs;  er  verharrt  in  den  Stellungen,  die  dieser  ihm 
gibt,  und  begeht  auf  sein  Geheiß  unbedenklich  unsinnige,  unter 
besonderen  Umständen  vielleicht  sogar  verbrecherische  Handlungen. 
In  einzelnen  Fällen  dauert  dieser  nur  mangelhaft  durch  den  Aus- 
druck Befehlsautomatie  gekennzeichnete  Zustand  auch  nach 
dem  Erwachen  aus  der  Hypnose  noch  kürzere  oder  längere  Zeit 
hindurch  fort  (Möglichkeit  posthypnotischer  Suggestionen),  bis  der 
eigene  Wille  wieder  die  Herrschaft  über  den  Ablauf  der  Seelen- 
vorgänge gewinnt;  zuweilen  aber  kann  trotz  völliger  Rückkehr 
des  Wachzustandes  im  voraus  für  einen  fernliegenden  Zeitpunkt 
(anscheinend  selbst  bis  zu  einem  Jahre)  das  Eintreten  suggerierter 
Wahrnehmungen  und  Handlungen  erzwungen  werden  (Suggestion  ä 
echeance).  In  allen  diesen  Fällen  erscheint  dem  Beeinflußten 
selbst  die  pünktlich  ausgeführte  Handlung  als  das  Ergebnis 
eigenen  Entschlusses;  meist  macht  sich  zu  der  bestimmten  Zeit 
der  immer  klarer  werdende  Drang  nach  Erfüllung  der  gestellten 
Aufgabe  geltend,  ohne  daß  jedoch  dessen  Entstehung  durch  äußere 
Anregung  irgendwie  zum  Bewußtsein  käme.  Hier  und  da  kann 
die  hypnotische  Willensstörung  sogar  ohne  eigentliche  Hypnose, 
wenigstens  ohne  irgend  tiefere  Bewußtseinstrübung,  in  anschei- 
nend wachem  Zustande  erzielt  werden. 

Wenn  uns  das  Wesen  dieser  vielumstrittenen  Erscheinungen 
zurzeit  noch  in  vielen  Beziehungen  rätselhaft  ist,  so  läßt  sich 
ein  psychologisches  Verständnis  für  sie  immerhin  durch  die  An- 
nahme gewinnen,  daß  es  sich  dabei  um  die  vorübergehende  Be- 
seitigung jenes  leitenden  Einflusses  handelt,  den  der  Wille  durch 
Unterdrückung  dieser  und  Begünstigung  jener  Bewußtseinsvor- 
gänge fortdauernd  auf  unser  Seelenleben  ausübt.  Die  Ähnlichkeit 
der  hypnotischen  mit  den  Traumzuständen  ist  gerade  unter  diesem 
Gesichtspunkte  eine  so  handgreifliche,  daß  wir  kaum  erst  des  so 
häufig  beobachteten  Überganges  zwischen  Hypnose  und  Schlaf 
oder  umgekehrt  bedürften,  um  eine  tiefere  Verwandtschaft  beider 
anzunehmen.  Auch  im  Traume  nehmen  wir  urteilslos  die  wider- 
spruchsvollsten   Wahrnehmungen    und  Vorstellungsverbindungen 


378 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


als  bare  Wirklichkeit  hin;  wir  erfinden  Erinnerungen  und  ver- 
gessen die  alltäglichen  Erfahrungen;  wir  begehen  ohne  Bedenken 
die  zwecklosesten  und  schändlichsten  Handlungen,  um  uns 
andererseits  auf  das  peinlichste  in  der  Ausführung  unserer  ein- 
fachsten Absichten  immer  und  immer  wieder  gehemmt  zu  sehen. 
Nur  ist  es  hier  das  unwillkürliche,  höchstens  zeitweise  durch  äußere 
Reize  angeregte  Spiel  unserer  eigenen  Vorstellungen  und  Gefühle, 
welches  durch  die  Ausschaltung  der  bestimmenden  Einflüsse  freie 
Bahn  gewinnt,  während  bei  der  Hypnose  der  fremde  Wille  ge- 
wissermaßen in  unser  entfesseltes  Seelenleben  hineingreift  und 
nunmehr  als  unumschränkter  Machthaber  in  dem  herrenlosen 
Gebiete  schalten  kann.  Ein  Versuch,  den  Träumenden  von  außen 
her  zu  beeinflussen  und  dadurch  ohne  weiteres  die  Hypnose  her- 
zustellen, gelingt  freilich  nur  unter  besonders  günstigen  Umstän- 
den. Zumeist  pflegt  der  Schläfer  dabei  zu  erwachen,  wenn  er  über- 
haupt der  Einwirkung  zugänglich  ist.  Die  Hypnose  dagegen  dauert 
trotz  der  Wahrnehmungen  von  außen  fort:  sie  ist  nichts  als  ein 
leichter  Schlaf  mit  der  Autosuggestion,  nicht  ohne  fremde  Hilfe 
erwachen  zu  können. 

Einer  ähnlichen  vorübergehenden  Ausschaltung  des  Willens  be- 
gegnen wir  in  manchen  Krankheitszuständen.  Namentlich  häufig 
lassen  sich  die  Glieder  der  Kranken  ohne  den  geringsten  Wider- 
stand in  jede  beliebige  Lage  bringen  und  behalten  sie  so  lange 
bei,  bis  man  ihnen  einen  anderen  Anstoß  gibt,  oder  bis  sie  infolge 
hochgradiger  Muskelermüdung  zitternd  dem  Gesetze  der  Schwere 
folgen.  Wir  bezeichnen  diese  Störung  als  wächserne  Biegsamkeit 
(Flexibilitas  cerea)  oder  Katalepsie.  Seltener  gelingt  es,  die  Kran- 
ken durch  die  Einleitung  einfacher,  regelmäßiger  Bewegungen  zu 
deren  fortgesetzter  Wiederholung  zu  veranlassen  oder  die  Nach- 
ahmung lebhaft  vor  ihren  Augen  ausgeführter  Gebärden  (rasches 
Erheben  der  Arme,  Händeklatschen)  zu  erreichen  (Nachahmungs- 
automatie,  Echopraxie).  Hier  und  da  sieht  man  auch  wohl  einen 
Kranken  peinlich  alles  nachahmen,  was  sein  Nachbar  tut,  die- 
selben Bewegungen  machen,  ihm  in  gleichem  Schritte  folgen. 
Häufiger  beobachtet  man  willenloses  Nachreden  vorgesagter,  Ein- 
flechten  zufällig  aufgefangener  Worte  (Echolalie).  Überall  läßt 
sich  hier  übrigens  zeigen,  daß  die  anscheinend  maschinenmäßig 
handelnden   Kranken  die  Eindrücke  dennoch  verarbeiten.  Der 


Erhöhte  Beeinflußbarkeit  des  Willens. 


379 


Kranke,  der  zugerufene  Zahlen  echolalisch  wiederholt  hat,  löst 
in  derselben  triebartigen  Weise  eine  vorgesagte  Rechenaufgabe, 
oder  er  verzieht  das  Gesicht  zu  kläglichem  Weinen,  während 
er  auf  kräftiges  Geheiß  immer  wieder  die  Zunge  heraussteckt, 
damit  sie  ihm  durchstochen  werden  solle.  Andeutungen  dieser 
Erscheinungen,  besonders  der  wächsernen  Biegsamkeit,  werden 
bei  den  verschiedenartigsten  Krankheitszuständen  gelegentlich 
beobachtet.  Ich  sah  sie  bei  Hysterischen,  Epileptischen,  Manisch- 
Depressiven,  Paralytikern  und  Alkoholisten,  bei  traumatischem 
Hirnabsceß  und  bei  einem  mächtigen  Hydrocephalus  mit  Hemiplegie, 
hier  aus  begreiflichen  Gründen  nur  auf  der  nicht  gelähmten  Seite. 
Bei  weitem  am  ausgesprochensten  aber  findet  sich  die  ganze  Gruppe 
von  Störungen  bei  der  Dementia  praecox,  insbesondere  bei  jenen 
Formen,  die  wir  als  Katatonie  kennen  lernen  werden. 

Auch  die  krankhafte  Erleichterung  der  Willensantriebe  pflegt 
mit  erhöhter  Beeinflußbarkeit  einherzugehen.  Die  Leichtigkeit, 
mit  der  sich  Gedanken  in  Handlungen  umsetzen,  läßt  jeden  neuen 
Eindruck,  jeden  Einfall  sofort  zu  einer  Macht  werden,  die  ihren 
Einfluß  auf  den  Willen  siegreich  geltend  macht,  um  freilich  als- 
bald durch  andere  Antriebe  wieder  verdrängt  zu  werden.  Auf 
diese  Weise  entsteht  das  Krankheitszeichen  einer  erhöhten  Abi en k- 
barkeit  des  Willens.  Gemeinsam  ist  dieser  und  den  bisher  be- 
sprochenen Störungen  die  Ohnmacht  der  dauernden  Willensrich- 
tungen. Während  aber  bei  der  Bestimmbarkeit  und  der  Willen- 
losigkeit  wesentlich  nur  äußere  Einflüsse  für  das  Handeln  maß- 
gebend sind,  hängt  hier  das  Wollen  ebensosehr  von  den  stets 
wechselnden  inneren  Zuständen  und  Einfällen  ab.  Wir  begegnen 
dieser  Störung,  deren  Gegenstück  wir  in  der  Ablenkbarkeit  des 
Vorstellungsverlaufes  kennen  gelernt  haben,  namentlich  in  ge- 
wissen manischen  und  deliriösen  Erregungszuständen.  Als  dauernde 
persönliche  Eigentümlichkeit  begleitet  die  Ablenkbarkeit  des  Wol- 
lens ferner  die  hysterische  und  die  ihr  nahestehenden  Formen 
der  psychopathischen  Veranlagung.  Auch  hier  wird  jeder  An- 
trieb, da  er  sich  rasch  und  leicht  in  Handeln  umsetzt,  sehr  bald 
durch  neue  Entschlüsse  wieder  verdrängt.  Das  Tun  und  Treiben 
der  Kranken  erhält  dadurch  den  Stempel  der  Unstetigkeit  und 
Planlosigkeit.  Plötzliche  Entschlüsse  und  sprunghafte  Anläufe 
kommen  und  gehen;  sie  bleiben  auf  halbem  Wege  stecken  und 


38o 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


werden  leicht  durch  neue  Anregungen  verdrängt.  Das  Beispiel  in 
gutem  und  bösem  Sinne,  die  gesamte  Umgebung  gewinnt  großen, 
aber  ganz  vergänglichen  Einfluß,  Von  hier  führen  stetige  Über- 
gänge zu  jenen  leicht  erregbaren  Persönlichkeiten  hinüber,  die  mit 
Begeisterung,  aber  ohne  Nachhaltigkeit  alles  Neue  ergreifen  und 
nichts  zu  Ende  führen,  weil  ihr  Eifer  lange  vor  Erreichung  des 
Zieles  bereits  verraucht  ist. 

Verminderte  Beeinflußbarkeit  des  Willens.  Bei  der  Besprechung 
der  Willenssperrung  haben  wir  gesehen,  wie  unter  Umständen  jeder 
Bewegungsanstoß  sofort  durch  einen  entgegengesetzten  Antrieb 
wirkungslos  gemacht  werden  kann.  Die  Willenssperrung  ist  in- 
dessen nur  die  Teilerscheinung  einer  viel  allgemeineren  Störung, 
des  triebartigen  Widerstrebens  gegen  jede  äußere  Beeinflussung 
des  Willens,  des  von  Kahl  bäum  so  bezeichneten  Negativis- 
mus. Er  äußert  sich  in  der  Absperrung  gegen  äußere  Eindrücke, 
in  der  Unzugänglichkeit  für  jeden  persönlichen  Verkehr,  in  dem 
Widerstande  gegen  jede  Aufforderung,  der  bis  zur  regelmäßigen 
Ausführung  gerade  entgegengesetzter  Handlungen  gehen  kann  (Be- 
fehlsnegativismus), endlich  in  der  Unterdrückung  natürlicher  Be- 
dürfnisse. 

Auf  diese  Weise  entsteht  ein  Handeln,  welches  in  allen 
Stücken  das  Gegenteil  von  dem  erstrebt,  was  durch  die  gesunden 
Beweggründe  gefordert  wäre.  Die  Kranken  schließen  sich  gegen 
die  Untersuchung  starr  ab;  sie  pressen  die  Zähne  zusammen, 
wenn  sie  die  Zunge  zeigen  sollen,  kneifen  die  Augen  zu,  sobald 
man  die  Pupillen  prüfen  will,  sehen  zur  Seite,  falls  man  anfängt, 
sich  mit  ihnen  zu  beschäftigen.  Sie  erwidern  den  Gruß  nicht, 
weichen  bei  der  Annäherung  zurück,  verstecken  sich,  kriechen 
unter  die  Decke,  hüllen  sich  ein,  reichen  die  Hand  nicht  oder 
ziehen  sie  vor  erfolgter  Berührung  wieder  zurück.  Allen  Fragen 
gegenüber  bleiben  sie  stumm  (Mutacismus),  oder  sie  bringen 
mehr  oder  weniger  beziehungslose  Äußerungen  vor,  die  nur 
hier  und  da  noch  einen  Zusammenhang  mit  der  Fragestellung 
erkennen  lassen.  Bisweilen  kann  es  den  Eindruck  machen,  als 
ob  die  Kranken  absichtlich  falsche  oder  sinnlose  Antworten  geben. 
Man  bezeichnet  diese  Störung,  die  in  äußerlich  ähnlicher  Weise 
auch  bei  Hysterischen  beobachtet  wird,  als  „Vorbeireden"  (Para- 
logie).  Allein  während  es  sich  bei  der  Katatonie  um  negativistische 


Verminderte  Beeinflußbarkeit  des  Willens. 


381 


Entgleisungen  handelt,  haben  wir  es  bei  der  Hysterie  mit  Ver- 
drängungserscheinungen infolge  von  Gemütsbewegungen  zu  tun; 
die  Kranken  sperren  sich  durch  ihr  Vorbeireden  gewissermaßen 
künstlich  ab,  um  ein  peinliches  Eindringen  in  ihre  Gedanken  und 
Gefühle  unmöglich  zu  machen,  ein  Vorgang,  der  den  Verlegen- 
heitsausreden und  dem  Selbstschutze  des  Leugnens  nicht  ganz 
fern  steht.  Äußeren  Eingriffen  setzen  die  Kranken  den  kräftigsten, 
aber  fast  immer  rein  passiven  Widerstand  entgegen,  lassen  sich 
nicht  ankleiden  oder  ausziehen,  nicht  baden,  nicht  pflegen.  Auch 
beim  Essen  sträuben  sie  sich  auf  das  äußerste,  lassen  alles  stunden- 
lang stehen  und  kalt  werden,  um  dann  plötzlich  wieder  aus  freien 
Stücken  mit  Gier  über  die  Nahrung  herzufallen;  sie  verlangen 
kläglich  nach  Wasser,  um  es  auszuschütten,  sobald  es  ihnen  ge- 
bracht wird.  Öfters  wird  Kot  und  Harn  mit  der  größten  Anstren- 
gung zurückgehalten,  besonders,  wenn  man  die  Kranken  auf  den 
Nachtstuhl  bringt;  sobald  sie  dann  aufgestanden  oder  wieder  ins 
Bett  gegangen  sind,  erfolgt  sofort  die  Entleerung.  Auch  manche 
zunächst  nur  absonderliche  Handlungen  dürften  in  dem  trieb- 
artigen Widerstreben  gegen  das  gewohnte  und  selbstverständliche 
Verfahren  eine  negativistische  Wurzel  haben,  so,  wenn  die 
Kranken  das  Hemd  verkehrt  anziehen,  die  Strümpfe  über  die  Schuhe 
zwängen,  die  Mütze  mit  der  Öffnung  nach  oben  auf  den  Kopf  legen. 

Es  unterliegt  nach  meiner  Überzeugung  keinem  Zweifel,  daß 
dieses  negativistische  Verhalten  der  Kranken  durchaus  nicht  auf 
bestimmte,  verstandesmäßig  erfaßte  Beweggründe  zurückgeführt 
werden  kann.  Abgesehen  von  seltenen  Ausnahmen,  in  denen  nach- 
träglich irgendwelche  Vorstellungen  oder  Täuschungen  als  ganz 
unzulängliche  Triebfeder  für  das  unsinnige  Benehmen  vorgebracht 
werden,  hört  man  von  den  Kranken  regelmäßig,  daß  sie  sich  selbst 
keine  Rechenschaft  darüber  zu  geben  vermögen,  sondern  einfach 
so  handeln  mußten.  Anscheinend  haben  wir  es  demnach  hier  mit 
einer  ganz  unmittelbaren  krankhaften  Veränderung  der  Willens- 
antriebe zu  tun.  Dennoch  ist  die  Störung  des  Handelns  nur  eine 
unwillkürliche,  nicht  eine  unbewußte.  Das  geht  aus  der  geistigen 
Verarbeitung  der  äußeren  Beeinflussung  hervor.  Die  Kranken 
legen  sich  in  fremde  Betten,  während  sie  aus  dem  eigenen  hinaus- 
drängen; sie  verschmähen  ihr  eigenes,  vielleicht  besseres  Essen, 
um  sich  mit  List  oder  Gewalt  desjenigen  ihrer  Nachbarn  zu  be- 


382 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


mächtigen.  Am  deutlichsten  wird  die  triebartige,  psychische  Ent- 
stehung der  Störung  durch  die  freilich  nicht  allzu  häufigen  Fälle 
von  Befehlsnegativismus.  Solche  Kranke  bleiben  liegen,  wenn 
man  ihnen  befiehlt,  aufzustehen,  kehren  um,  wenn  sie  fortgehen 
sollen,  schweigen  sofort  still,  sobald  man  sie  singen  heißt  und 
umgekehrt. 

Das  Verständnis  dieser  höchst  auffallenden  Krankheits- 
erscheinungen wird  vielleicht  durch  die  Erfahrung  erleichtert,  daß 
Negativismus  und  Willenlosigkeit  sich  nicht  nur  in  der  Regel  bei 
denselben  Kranken  finden,  sondern  sich  auch  nicht  selten  durch 
kleine  Kunstgriffe  rasch  ineinander  überführen  lassen.  Es  ge- 
lingt, Katalepsie  in  Starre,  negativistisches  Widerstreben  in  Nach- 
ahmungsautomatie  umzuwandeln;  dazwischen  hinein  schieben  sich 
dann  oft  plötzliche,  unvermittelte  Antriebe.  Die  Annahme  liegt 
daher  nahe,  daß  die  zunächst  so  verschiedenen  Erscheinungen 
doch  eine  tiefere  gemeinsame  Wurzel  haben.  Überall  erscheint 
der  regelnde,  richtunggebende  Einfluß  dauernder  Zwecke  und 
Willensneigungen  auf  das  Handeln  herabgesetzt.  Dadurch  ist  ein- 
mal äußeren  Anstößen,  das  andere  Mal  auftauchenden  Einfällen 
der  Weg  zur  Einwirkung  auf  den  Willen  geöffnet.  Auch  das  Ein- 
treten der  Willenssperrung,  die  an  das  Störrischwerden  der  Kinder 
und  mancher  Tiere  erinnert,  wird  jedenfalls  durch  die  Schwächung 
der  gesunden  Willensregungen  begünstigt. 

Vielleicht  haben  wir  in  diesem  triebartigen  Widerstreben,  ebenso 
wie  in  der  Befehlsautomatie,  tiefer  begründete  Züge  unseres  Seelen- 
lebens vor  uns,  die  durch  eine  höhere  Entwicklung  verdeckt  werden, 
aber  in  der  Krankheit  wieder  die  Herrschaft  gewinnen.  Bleuler^) 
hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  negativistische  Regungen 
wahrscheinlich  ihre  allgemeine  Wurzel  in  dem  Spiele  entgegenge- 
setzter Seelenvorgänge  haben,  welches  überhaupt  erst  die  Herrschaft 
unseres  Willens  ermöglicht.  Vorstellungen  und  Gegenvorstellungen, 
entgegengesetzte  Gefühls-  und  Willensregungen  rufen  einander 
wach  und  halten  sich  derart  die  Wage,  daß  nur  ausnahmsweise 
die  eine  unbedingt  die  Alleinherrschaft  gewinnt.  Auf  dem  Ge- 
biete der  Gefühle  begegnen  uns  in  den  Freudentränen  und  in  den 
gelegentlichen  Lachkrämpfen  bei  Unglücksfällen  noch  deutliche 
Zeichen  eines  solchen  Widerspiels.    Wir  dürfen  wohl  annehmen, 

1)  Bleuler,  Psych.  Wochenschr.  1904,  249. 


Verminderte  Beeinflußbarkeit  des  Willens. 


383 


daß  dadurch  in  ähnlicher  Weise  eine  Regelung  und  Zügelung 
unseres  Denkens  und  Handelns  erreicht  wird  wie  die  Sicherheit 
und  das  Ebenmaß  unserer  Bewegungen  durch  die  gleichzeitige  An- 
spannung entgegengesetzter  Muskelgruppen.  Bei  dieser  Betrach- 
tungsweise würden  wir  es  in  dem  gleichzeitigen  Auftreten  entgegen- 
gesetzt gerichteter  Seelenvorgänge  mit  einer  Schutzeinrichtung 
zu  tun  haben,  deren  Wegfall  je  nachdem  willenlose  Hingabe  oder 
starre  Absperrung  gegenüber  äußeren  Einwirkungen  zur  Folge 
haben  müßte. 

Bei  weitem  am  häufigsten  sind  die  hier  geschilderten  Willens- 
störungen bei  der  Katatonie.  In  geringerer  Ausbildung  treffen 
wir  sie  hier  und  da  bei  der  Paralyse,  gelegentlich  auch  wohl  beim 
Altersblödsinn  an,  also  durchweg  bei  solchen  Formen  des  Irre- 
seins, denen  schon  nach  unsern  heutigen  Kenntnissen  schwerere 
Zerstörungen  in  der  Hirnrinde  zugrunde  liegen. 

Der  katatonische  Negativismus  darf  nicht  verwechselt  werden 
mit  dem  Widerstreben  ängstlicher  Kranker.  Auch  bei  diesen 
letzteren  entstehen  Widerstände,  sobald  äußere  Eingriffe  er- 
folgen. Indessen  das  ängstliche  Widerstreben  geht  aus  bestimm- 
ten Gefühlen  und  Vorstellungen  hervor.  Es  führt  daher  immer 
zu  mehr  oder  weniger  zweckmäßigen  Abwehr-  und  Schutzbewe- 
gungen, zum  Entfliehen,  Zurückweichen,  Verkriechen  oder  selbst 
zu  verzweifelten  Angriffen.  Bei  ängstlichen  Kranken  sind  wir 
imstande,  durch  freundliches  Zureden  allmählich  den  Widerstand 
zu  überwinden;  dieser  letztere  beginnt  schon  vor  der  körperlichen 
Einwirkung  und  wird  um  so  stärker,  je  verdächtiger  unsere  An- 
näherung dem  Kranken  erscheint.  Auf  den  negativistischen  Kran- 
ken übt  Zureden  nicht  den  geringsten  Einfluß;  sein  Widerstand 
beginnt  erst  dann,  aber  auch  unfehlbar,  sobald  irgendeine  Be- 
wegung angeregt  wird,  ohne  jede  Beziehung  zu  einer  möglichen 
Gefährdung.  Im  Gegenteil  lassen  sich  die  Kranken  einfache,  auch 
unsanfte  Berührungen  selbst  sehr  empfindlicher  Teile,  z.  B.  der 
Augen,  meist  ohne  Sträuben  gefallen,  weil  eben  nicht  die  Angst, 
überhaupt  keine  bestimmte  Überlegung,  sondern  eine  ganz  ur- 
sprüngliche Willensstörung  die  Grundlage  ihres  Verhaltens  bildet. 
Daher  pflegen  auch  die  selbständigen  Bewegungen  ängstlicher 
Kranker  weit  freier  und  zweckmäßiger  zu  sein,  als  diejenigen 
beim  Negativismus. 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 

Näher  schon  dürfte  dem  Negativismus  der  Eigensinn  stehen, 
dem  wir  ebenfalls  in  Krankheitszuständen ,  besonders  bei  der 
Imbezillität,  bei  der  Epilepsie  und  Hysterie,  bei  der  Paralyse 
und  beim  Altersblödsinn,  nicht  selten  in  stärkster  Entwicklung 
begegnen.  Auch  hier  wird  an  einem  Entschlüsse  zähe  festgehalten, 
obgleich  die  veränderten  Bedingungen  ihn  dem  weiter  blicken- 
den Beobachter  als  sehr  unzweckmäßig,  vielleicht  als  verderb- 
lich erscheinen  lassen.  Ja,  wir  sehen  bisweilen,  daß  selbst  trotz 
besserer  Einsicht  die  Fähigkeit  fehlt,  von  der  einmal  festgelegten 
Willensrichtung  abzugehen.  Immerhin  pflegt  das  eigensinnige 
Handeln  ursprünglich  von  gewissen  Überlegungen  seinen  Aus- 
gangspunkt zu  nehmen,  wenn  diese  auch  späterhin  mehr  in  den 
Hintergrund  treten.  Ferner  ist  der  krankhafte  Eigensinn  meist 
doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem  Zureden,  der  Beeinflussung 
durch  Vorstellungen  und  Gefühlsregungen  zugänglich,  wenigstens 
vorübergehend,  und  endlich  ist  er  regelmäßig  von  einer  ärgerlichen, 
gereizten  Stimmung  getragen,  die  nicht  nur  zum  Widerstande, 
sondern  auch  zu  kräftiger  Abwehr  gegen  gewaltsame  Eingriffe 
führt.  Sehr  deutlich  wird  gerade  dieser  Unterschied  vom  Nega- 
tivismus in  jenen  Fällen,  in  denen  die  Kranken  sich  mit  größter 
Hartnäckigkeit  gegen  jede,  auch  die  vernünftigste  und  wohltätigste 
Maßregel  sträuben.  Bei  dieser  allgemeinen  Unlenksamkeit  sind 
die  Kranken  stets  zum  Schimpfen  und  zum  Kampfe  geneigt  und 
werden  vielfach  von  feindseligen,  wenn  auch  verworrenen  Wahn- 
vorstellungen beherrscht,  im  Gegensatze  zu  dem  Gleichmute  des 
negativistischen  Kranken,  der  nur  widerstrebt,  selten  abwehrt  und 
noch  weit  seltener  angreift. 

Bei  der  Ausbildung  einer  selbständigen  psychischen  Persön- 
lichkeit entwickeln  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  gewisse  dau- 
ernde Willensrichtungen,  die  uns  unabhängig  machen  von  zu- 
fälligen Einflüssen.  Erstarren  diese  Willensrichtungen  zu  sehr, 
so  können  sie  eine  vollkommene  Bindung  des  Willens  und 
damit  eine  Unfreiheit  der  Entschließung  bedingen,  die  unter 
Umständen  bis  in  das  Gebiet  des  Krankhaften  hineinreicht.  Die 
unbeugsame  Hartnäckigkeit  des  Querulanten  ist  dafür  ein  Bei- 
spiel. Sie  läßt  ihn  in  ähnlicher  Weise  seinem  Willen  Hab  und 
Gut,  Ehre  und  Freiheit  zum  Opfer  bringen,  wie  es  bei  den  über- 
zeugungstreuen Vorkämpfern  großer  Ideen  der  Fall  ist,  aber  die 


Störungen  im  Ablaufe  der  Willkürhandlungen. 


38S 


Kleinlichkeit  des  Zweckes  steht  für  die  verständige  Überlegung 
in  keinem  Verhältnisse  zu  dem  Aufwände  an  Kraft.  Eine  mehr 
äußerliche  Einschränkung  der  geistigen  Freiheit  wird  durch  die 
Pedanterie,  die  Erstarrung  der  Lebensgewohnheiten,  herbei- 
geführt. Die  peinliche  Selbstzucht  zwingt  hier  auch  dann  zur 
strengen  Beobachtung  enger  Regeln,  wenn  höhere  Ziele  eine  Ver- 
nachlässigung derselben  fordern  würden.  In  krankhafter  Gestaltung 
gedeiht  diese  Eigenschaft  besonders  auf  dem  Boden  epileptischer 
Veranlagung. 

Störungen  im  Ablaufe  der  Willkürhandiungen.  Die  erste  Vor- 
bedingung für  das  Zustandekommen  einer  Willkürhandlung  ist 
das  Auftauchen  einer  Zielvorstellung,  die  in  mehr  oder  minder 
klarer  Ausprägung  das  angestrebte  Ergebnis  der  Handlung  ent- 
hält. Schon  in  diesem  ersten  Abschnitte  des  Gesamtvorganges, 
demjenigen  der  gedanklichen  Vorbereitung,  können  sich  Stö- 
rungen geltend  machen.  Ist  der  Inhalt  der  Zielvorstellung  unklar 
und  verworren,  so  wird  auch  die  an  sie  sich  schließende  Hand- 
lung ziellos  und  unbestimmt  sein,  ein  Gemisch  zusammenhang- 
loser und  widerspruchsvoller  Antriebe.  Wir  begegnen  dieser  Stö- 
rung bei  tiefer  Bewußtseinstrübung,  namentlich  in  den  schwersten 
Formen  der  manischen  und  paralytischen  Erregung.  Weiterhin 
kann  neben  der  ursprünglichen  Zielvorstellung  noch  eine  anüere 
auftauchen,  die  entweder  die  erste  verdrängt  oder  mit  ihr  ver- 
schmilzt. Im  ersteren  Falle  erfolgt  eine  andere,  als  die  gewollte 
Handlung,  doch  wird  meist  irgendeine  Verwandtschaft  zwischen 
beiden  erkennbar  sein.  Dahin  gehört  es,  wenn  wir  nach  der  Uhr 
sehen  wollen  und  statt  dessen  den  Zwicker  aufsetzen.  Oder  aber 
es  kommt  eine  Handlung  zustande,  die  sich  als  Mischung  ver- 
schiedener Einzelhandlungen  darstellt,  wie  es  z.  B.  das  offene 
Aufwerfen  der  Karten  beim  Geben  sein  würde.  Beim  Gesunden 
kommen  derartige  Störungen  nur  ganz  ausnahmsweise,  unter 
dem  Einfluß  starker  Zerstreutheit  und  bei  ganz  gleichgültigen, 
ohne  Aufmerksamkeit  ausgeführten  Handlungen  vor;  nur  im 
Traume  sind  sie  häufig.  In  krankhaften  Zuständen,  bei  deliriöser 
Bewußtseinstrübung,  dürften  sie  vielfach  stattfinden,  doch  ist  es 
aus  naheliegenden  Gründen  schwer,  sie  zu  erkennen,  weil  uns 
.die  Absichten  der  Kranken  verborgen  bleiben.  Namentlich  die 
erworrenheit  nach  epileptischen  Anfällen  und  die  Fieberdelirien 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^5 


386 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


scheinen  mir  ein  solches  Abgleiten  der  Willensrichtung,  das  wir 
vielleicht  mit  dem  Namen  der  Parabulie  bezeichnen  können,  zu 
begünstigen. 

Dem  Auftauchen  der  Zielvorstellung  folgt  eine  Kette  sich 
aneinander  schließender  Vorstellungen,  in  denen  sich  die  einzelnen 
Teilhandlungen  ausdrücken,  deren  ordnungsmäßiger  Ablauf  das 
erstrebte  Ziel  zu  verwirklichen  vermag.  Jede  dieser  Teilhandlungs- 
vorstellungen enthält  zugleich  einen  Willensantrieb,  der  die  ihr 
entsprechenden  Bewegungsgruppen  zur  Auslösung  bringt.  Liep- 
mann  hat  zur  Kennzeichnung  dieser  Vorstellungsreihe  die  Be- 
zeichnung Bewegungsformel"  eingeführt.  Ich  möchte  vorziehen, 
hier  von  einer  ,, Handlungsformel"  zu  sprechen,  da  wir  es,  wie  die 
Betrachtung  der  Störungen  unzweideutig  ergibt,  zunächst  noch 
nicht  mit  dem  Ablaufe  einfacher  Bewegungen,  sondern  mit  Einzel- 
handlungen zu  tun  haben,  die  jeweils  wieder  aus  einer  Reihe 
mehr  selbsttätig  miteinander  verknüpfter  Bewegungen  zusammen- 
gesetzt sind.  Wir  können  somit  den  ganzen  Vorgang  einer  Will- 
kürhandlung  in  die  drei  großen  Abschnitte  des  Wollens,  des  inneren 
Handelns  und  der  Bewegung  zerlegen,  deren  jeder  gesonderten 
Störungen  unterliegen  kann.  Das  Wollen  geht  dem  Handeln,  das 
innere  Handeln  der  Bewegung  voraus,  doch  findet  insofern  eine 
teilweise  zeitliche  Überdeckung  statt,  als  die  Bewegungen  schon 
beginnen  können,  sobald  das  erste  Glied  der  Handlungsformel 
aufgetaucht  ist,  und  daß  auch  die  Zielvorstellung  erst  während 
des  Ablaufes  der  inneren  Handlung  ihre  schärfere  Ausprägung 
und  Erweiterung  erfahren  kann. 

Die  Störungen  des  inneren  Handelns  in  dem  hier  umgrenzten 
Sinne  sind  von  Li ep mann  unter  der  Bezeichnung  der  ,,ideato- 
rischen  Apraxie"  zusammengefaßt  worden.  Zunächst  kann  hier 
der  Inhalt  der  Teilhandlungen  derart  verändert  werden,  daß  er 
nicht  mehr  die  Verwirklichung  der  Zielvorstellung  in  sich  schließt. 
Einzelne  Zwischenglieder  können  ausfallen,  neue,  nicht  zugehörige 
sich  einschieben,  und  endlich  kann  bei  jeder  Teilhandlung  ein  Ab- 
gleiten auf  ähnliche  Handlungen  oder  die  Einmischung  fremder 
Bestandteile  stattfinden.  Auf  diese  Weise  kommen  die  verstüm- 
melten Handlungen  zustande,  wie  das  Nähen  ohne  Faden,  Trinken 
aus  einem  leeren  Glase,  die  überflüssigen  Nebenhandlungen,  wie^ 
das  Drehen  und  Wenden  des  Blattes  vor  dem  Schreiben,  und  alle 


Störungen  im  Ablaufe  der  Willkürhaiidlungen. 


die  kleinen  Verkehrtheiten  und  Versehen,  die  den  Gang  einer  Hand- 
lung stören  können,  wie  das  Eintauchen  des  Bleistifts  in  die  Tinte 
oder  das  Salzen  einer  süßen  Speise.  Diese  inhaltlichen  Störungen 
im  Ablaufe  der  Handlungen  sind  schon  beim  Gesunden  recht  häufig. 
Auf  krankhaftem  Gebiete  begegnen  uns  die  verstümmelten  Hand- 
lungen namentlich  bei  Paralytikern,  während  wir  die  Nebenhand- 
lungen und  die  Handlungsverschiebungen  in  ausgeprägtester  Form 
bei  der  Katatonie  beobachten.  Noch  andere  Störungen  des  Han- 
delns können  dadurch  zustande  kommen,  daß  zwar  die  einzelnen 
Teilhandlungen  ausgeführt  werden ,  aber  in  unrichtiger  Reihen- 
folge und  demgemäß  auch  häufig  mit  unrichtigen  Hilfsmitteln. 
An  diese,  bei  Hirnkranken,  namentlich  Arteriosklerotikern,  auch 
Paralytikern,  sehr  häufigen  Störungen  hat  sich  vor  allem  die  Er- 
forschung der  ideatorischen  Apraxie  angeknüpft.  Die  Kranken 
lecken  am  Siegellack,  drücken  dann  die  Stange  auf  das  Papier, 
halten  das  Petschaft  ans  Licht,  reiben  damit  herum,  suchen  es 
in  die  Streichholzschachtel  zu  klemmen.  Vielfach  zeigt  sich  die 
Unfähigkeit  zu  richtiger  Ordnung  der  Einzelhandlungen  schon 
darin,  daß  die  Kranken  alle  Gegenstände,  mit  denen  sie  zu  tun 
haben,  zusammen  in  der  Hand  behalten;  da  ihnen  die  Übersicht 
über  die  Gliederung  ihres  Handelns  fehlt,  vermögen  sie  nicht  das 
Erledigte  auszuscheiden. 

Den  letzten  Abschnitt  der  Handlung  bildet  die  dem  Ablaufe 
der  Handlungsformel  folgende  Auslösung  der  Bewegungen.  Auch 
dieser  Vorgang  ist  noch  außerordentlich  verwickelt,  da  für  jede, 
auch  die  einfachste  Bewegung  das  Zusammenwirken  einer  Reihe 
von  Muskeln  in  verschiedenartiger  Verbindung  erforderlich  ist: 
Allein  diese  Einzelheiten  unterliegen  nicht  mehr  dem  Willensein- 
flusse. Wir  sind  bekanntlich  nicht  imstande,  einen  einzelnen 
Muskel  willkürlich  zusammenzuziehen;  vielmehr  besitzen  wir 
Werkzeuge,  in  denen  die  vom  Willen  angeregte  Ausführung  einer 
Gesamtbewegung  und  selbst  einer  umgrenzten  Folge  von  Bewe- 
gungen selbsttätig  vermittelt  wird.  An  dieser  Stelle  können  noch 
jene  Störungen  einsetzen,  die  wir  mit  Liepmann  als  motorische 
Apraxie  und  Parapraxie  bezeichnen.  Es  können  einzelne  Bewe- 
gungen ausfallen,  andere  sich  eindrängen,  wie  z.  B.  beim  Haften, 
oder  sie  können  fehlerhaft  ablaufen.  Die  Ursachen  dieser  Störungen 
sind  nicht  mehr  auf  dem  Gebiete  der  seelischen  Vorgänge,  sondern 

25* 


388 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


in  örtlich  enger  umgrenzten  Hirnveränderungen  zu  suchen. 
Wir  treffen  sie  daher  auch  nur  bei  den  mit  gröberen  Rinden- 
erkrankungen einhergehenden  Formen  des  Irreseins,  vor  allem  bei 
der  Arteriosklerose,  bei  den  syphilitischen  Hirnleiden  und  bei  der 
Paralyse. 

Verschrobenheit  und  Stereotypie.  Da  unsere  Bewegungen  von 
dem  Grundsatze  der  Sparsamkeit  beherrscht  zu  werden  pflegen, 
suchen  wir  das  Ziel  unseres  Handelns  regelmäßig  mit  dem  Mindest- 
aufwand von  Kraft,  Weg  und  Zeit  zu  erreichen.  Das  ist  im  all- 
gemeinen nur  dann  möglich,  wenn  das  Ziel  nicht  nur  klar  vor- 
schwebt, sondern  auch  unverrückt  im  Auge  behalten  wird.  Wird 
die  Ausführung  der  Handlung  durch  Nebenantriebe  derart  beein- 
flußt, daß  ihr  Endzweck  entweder  gar  nicht  oder  auf  Umwegen, 
mit  übermäßiger  Anstrengung,  auffallend  langsam  erreicht  wird, 
so  entsteht  jene  eigentümliche  Störung  des  Handelns,  die  wir  vor- 
läufig mit  dem  Namen  der  Verschrobenheit  bezeichnen  wollen. 
Offenbar  findet  hier  eine  Einmischung  fremdartiger  Nebenantriebe 
in  den  gewohnten  Ablauf  des  Handelns  statt,  die  zur  Gruppe  der. 
parabulischen  Störungen  zu  rechnen  ist.  Auch  bei  der  Willens- 
sperrung waren  wir  zu  einer  ähnlichen  Annahme  gekommen. 
Wenn  man  will,  kann  man  jene  als  denjenigen  besonderen  Fall 
betrachten,  in  dem  die  Nebenantriebe  dem  ursprünglich  angeregten 
Antriebe  gerade  entgegengesetzt  sind,  während  wir  uns  hier  mit 
solchen  Nebenantrieben  zu  beschäftigen  haben,  die  den  ersteren 
in  den  verschiedensten  Richtungen  durchkreuzen.  Die  Willens- 
sperrung wäre  dann  nur  eine  Unterform  einer  allgemeineren  Stö- 
rung, die  wir  als  Willensdurchkreuzung  bezeichnen  könnten.  Beide 
Krankheitserscheinungen  gehören  wesentlich  dem  Gebiete  der  Ka- 
tatonie an. 

Die  Nebenantriebe  können  die  Handlung  in  der  mannigfaltig- 
sten Weise  beeinflussen.  Als  der  einfachste  Fall  ist  vielleicht  die 
vielfache  Wiederholung  der  auftauchenden  Willensregungen  zu 
betrachten.  Im  gesunden  Leben  wird  jeder  Antrieb,  sobald  sein 
Ziel  erreicht  ist,  durch  andere  Willensregungen  verdrängt,  die  der 
Fortsetzung  des  zweckbewußten  Handelns  dienen.  Wo  aber  die 
planmäßige  Verfolgung  bestimmter  Ziele  gestört  ist  und  dennoch 
der  allgemeine  Drang  zu  Willensäußerungen  besteht,  hat  ein  ein- 
mal ausgelöster  Antrieb  große  Aussicht,  immer  wieder  erneuert 


Verschrobenheit  und  Stereotypie. 


389 


zu  werden,  solange  die  noch  lebendigen  Spuren  nicht  durch  neue 
Regungen  verwischt  werden.  Er  wird  gewissermaßen  zum  Neben- 
antrieb, der  die  nicht  durch  feste  Ziele  geleitete  Fortführung  der 
Willensarbeit  unterbricht  und  mit  jeder  Wiederholung  unwider- 
stehlicher wird.  Andeutungen  dieses  Vorganges  geben  uns  aus 
dem  täglichen  Leben  vielleicht  die  gewohnheitsmäßigen  Gebärden, 
Flickwörter,  Wendungen,  die  sich  immer  dann  einstellen,  wenn 
das  Handeln  stockt,  das  Tothetzen  derselben,  mehr  oder  weniger 
albernen  Witze  und  Handlungen  durch  Betrunkene  und  Kinder. 
Eine  bedeutsame  Rolle  spielen  dabei  die  erstarrten  Überreste  frühe- 
rer Willkürhandlungen  und  Ausdrucksbewegungen,  wie  sie  viel- 
fach den  Ausgangspunkt  der  ,,Tics"  bilden. 

Die  ausgeprägten  Formen  haftender  Willenserregungen  be- 
zeichnen wir  nach  Kahlbaums  Vorgange  mit  dem  Namen  der 
Stereotypie^).  Je  nachdem  ihr  die  Willenssperrung  oder  die 
Willensdurchkreuzung  das  Gepräge  gibt,  kommt  es  entweder  zu 
lange  dauernder  Anspannung  bestimmter  Muskelgruppen  oder  zu 
vielfacher  Wiederholung  derselben  Bewegungen.  Im  ersteren  Falle 
halten  die  Kranken  trotz  aller  äußeren  Einwirkungen  eine  und 
dieselbe  Stellung  wochen-,  monate-,  jahrelang  fast  unverändert 
fest;  sie  stehen  in  der  gleichen,  oft  sehr  unbequemen  Haltung 
stets  in  derselben  Ecke,  knien  auf  einer  bestimmten  Stelle  oder 
liegen  mit  gespannten  Gliedern  und  erhobenem  Kopfe  im  Bette, 
so  daß  man  sie  ohne  Schwierigkeit  an  dem  starr  gekrümmten 
Arme  in  die  Höhe  heben  kann.  Andere  halten  dauernd  einen  Bett- 
zipfel mit  den  Zähnen  fest,  pressen  mit  gespreizten  Fingern  ein 
Ohrläppchen  zusammen,  umklammern  krampfhaft  einen  Brotrest 
oder  einen  abgerissenen  Knopf.  Der  Gesichtsausdruck  ist  eben- 
falls starr,  maskenartig,  die  Stirne  verwundert  in  die  Höhe  ge- 
zogen, der  Lidschlag  fast  aufgehoben;  die  Augen  sind  bald  weit 
geöffnet,  bald  fest  zugekniffen,  die  Augäpfel  oft  seitwärts  gedreht, 
die  Lippen  rüsselförmig  vorgeschoben  (,, Schnauzkrampf"). 

Weit  mannigfaltiger  gestalten  sich  naturgemäß  die  Bewegungs- 
stereotypen (Zwangsbewegungen).  Dahin  gehören  Purzelbäume, 
rhythmisches  Klopfen,  Bekreuzigen,  Herumgehen  in  absonderlichen 
Stellungen,  Hüpfen,  Aufspringen,  Niederfallen,  Herumrollen  und 

^)  Fratini,  Rivista  di  freniatria  sperimentale,  XXXIII,  104. 


390 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Kriechen  am  Boden,  regelmäßige,  gezierte  und  gespreizte  Arm- 
bewegungen, Verneigungen,  Wippen,  Wiegen,  Schöpfen,  Strudeln, 
Zupfen  an  den  Kleidern  oder  Haaren,  Knirschen  und  Klappen 
mit  den  Zähnen.  Alle  diese  Bewegungen  können  sich  zahllose 
Male  hintereinander  wiederholen,  bisweilen  wochen-  und  monate- 
lang. Dabei  ist  es  meist  ganz  unmöglich,  die  Kranken  in  ihrem 
Beginnen  zu  hindern;  sie  strengen  sich  rücksichtslos  an  und 
verletzen  sich  sogar  nicht  selten.  Gerade  die  Umbildungen  all- 
täglicher, gewohnheitsmäßiger  Bewegungen  und  Handlungen  durch 
Nebenantriebe  zeigen  wie  im  gesunden  so  im  krankhaften  Leben 
eine  große  Neigung,  stereotyp  zu  werden.  Namentlich  pflegt  auch 
die  Sprache  sie  zu  zeigen.  Die  Kranken  lispeln,  grunzen,  sprechen 
in  geziertem  Hochdeutsch  oder  übertriebener  Mundart,  in  Fistel- 
stimme, in  bestimmtem  Tonfalle,  mit  rhythmischer  Gliederung, 
mit  geschlossenem  Munde,  verdrehen  und  vertauschen  einzelne 
Laute,  gebrauchen  massenhafte  Verkleinerungswörter,  eigentüm- 
liche Beiwörter,  wiederholen  mündlich  und  schriftlich  ungezählte 
Male  dieselben  Wörter  und  Wendungen,  pfeifen  oder  zwitschern 
einzelne  Sätze,  weinen  in  Melodien.  Wir  bezeichnen  diese  Schrullen 
als  Manieren,  Sprechmanieren,  Eßmanieren,  Gehmanieren,  Be- 
grüßungsmanieren usf.  So  unübersehbar  ihre  Mannigfaltigkeit  ist, 
kehren  sie  doch  bei  den  verschiedensten  Kranken  oft  mit  ver- 
blüffender Übereinstimmung  wieder;  andererseits  ist  auch  ihre 
Entstehung  aus  einer  gemeinsamen  Grundstörung  unverkennbar. 
Sie  bilden  bei  der  großen  Masse  der  abgelaufenen  Fälle  die  letzten 
auffallenden  Reste  der  ehemaligen  Krankheitserscheinungen  und 
gestatten  oft  ohne  weiteres  den  Rückschluß  auf  die  Zustände  der 
Vergangenheit. 

In  den  Endzuständen  der  Katatonie  begegnet  uns  hier  und  da 
eine  Form  der  Stereotypie,  die  mit  der  bisher  betrachteten  schwer- 
lich ganz  wesensgleich  ist.  Es  sind  das  die  regelmäßig  rhyth- 
mischen Bewegungen,  namentlich  Wiegen  und  Pendeln  des 
Körpers  im  Sitzen  oder  Stehen,  Nicken  oder  Anschlagen  des  Kopfes, 
Händeklatschen,  Ausstoßen  von  Lauten,  Pfauchen,  Blasen.  Diese 
Erscheinungen  sind  immer  die  Anzeichen  einer  völligen  Verödung 
der  Willensregungen.  Sie  werden  in  gleicher  Weise  bei  tiefstehen- 
den Idioten  beobachtet.  Wir  dürfen  hier  wohl  an  die  ähnlichen 
rhythmischen  Bewegungen  gewisser  Raubtiere  erinnern.  Man  kann 


Verschrobenheit  und  Stereotypie. 


danach  etwa  vermuten,  daß  sie  der  Ausdruck  niederer  Ein- 
richtungen unseres  Nervensystems  sind,  die  durch  die  Vernich- 
tung der  höheren  Leistungen  selbständigen  Einfluß  auf  die  Be- 
wegungen erlangen. 

Bei  der  Stereotypie  schreitet  die  Entwicklung  der  Willens- 
handlungen nicht  vorwärts.  Auch  wenn  die  Kranken  in  lebhafter 
Tätigkeit  sind,  drehen  sie  sich  gewissermaßen  immerfort  im  Kreise, 
ohne  ein  Ziel  zu  erreichen.  Demgegenüber  entstehen  bei  einer 
weiteren  Form  der  Willensdurchkreuzung  Nebenantriebe,  die  nur 
Verzierungen  oder  Verschnörkelungen  der  beabsichtigten  Hand- 
lung bedeuten;  diese  letztere  kommt  schließlich  zustande,  aber  auf 
Umwegen  und  mit  allerlei  Zutaten  und  Abwandlungen.  Die  Kran- 
ken gehen  trippelnd  oder  feierlich,  ruckweise,  hüpfend,  auf  den 
Zehen  oder  ganz  hintenübergebeugt,  schleifen  mit  einem  Fuße; 
sie  reichen  die  Hand  m  weit  ausholendem  Bogen,  mit  plötzlichem 
Schwünge  oder  steifem  Ruck,  berühren  die  dargebotene  Hand  nur 
mit  dem  kleinen  Finger,  mit  der  Rückenfläche,  spreizen  dabei 
die  Finger  oder  verdrehen  die  Arme.  Beim  Essen  erfassen  sie  den 
Löffel  am  äußersten  Ende,  zerlegen  das  Gemüse  in  kleine  Häuf- 
chen, reiben  den  Teller  am  Augenrande  hin  und  her,  stochern  mit 
der  Gabel  zwecklos  herum,  zählen  zwischen  je  zwei  Bissen  bis 
sieben  oder  sagen  einen  Vers  auf;  die  Milch  wird  in  winzigen 
Schlückchen  und  mit  langen  Pausen  getrunken.  Die  Bettstücke 
werden  in  eigentümlicher  Weise  angeordnet,  die  Decke  als  Unter- 
lage, das  Kopfkissen  oder  die  Matratze  zum  Zudecken  benutzt; 
die  Kleider  werden  verkehrt  angezogen,  absonderlich  verknotet,  das 
Hemd  über  der  Weste  getragen,  die  Röcke  über  den  Kopf  geschlagen. 
Vielleicht  ist  auch  das  Gesichterschneiden,  „Grimassieren"  der 
Kranken  hierher  zu  rechnen. 

Von  diesen  Verschnörkelungen  des  Handelns  führen  fließende 
Übergänge  zu  jenen  Störungen  hinüber,  die  man  nach  Schüles 
treffender  Bezeichnung  als  „Entgleisungen  des  Willens"  auf- 
fassen kann.  Die  beabsichtigte  Handlung  kommt  hierbei  über- 
haupt nicht  zustande,  weil  die  Antriebe  vor  der  Vollendung  eine 
ganz  andere  Richtung  einschlagen.  Der  Kranke,  der  den  Löffel 
ergriff,  um  zu  essen,  dreht  ihn  einige  Male  im  Kreise,  um  ihn 
dann  wieder  hinzulegen;  die  zum  Trinken  an  den  Mund  geführte 
Tasse  wird  plötzlich  umgestülpt  und  auf  den  Tisch  gestellt;  die 


392 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zum  Gruße  gebotene  Hand  weicht  auf  halbem  Wege  aus  und  fährt 
in  die  Tasche;  der  jammernde  Kranke,  dem  die  Tränen  über  die 
Wangen  laufen,  verzieht  dabei  das  Gesicht  zu  fröhlichem  Grinsen 
(,,Paramimie"). 

Auch  bei  den  Reden  läßt  sich  öfters  erkennen,  daß  die  Kranken 
im  Anlaufe  stecken  bleiben,  immer  von  neuem  vergeblich  ansetzen 
und  das  Ziel  schließlich  ganz  aus  den  Augen  verlieren.  Sie  be- 
ginnen irgendeinen  Satz,  unterbrechen  sich  plötzlich,  fahren  in 
wechselnder  Satzform  und  mit  ganz  anderen  Gedanken  fort,  kom- 
men halb  auf  den  Ausgang  zurück,  um  wieder  neue  Wege  einzu- 
schlagen usf.  Auf  diese  Weise  entsteht  eben  jene  Störung,  die  wir 
früher  als  Zerfahrenheit  kennen  gelernt  haben.  Vielfach  ist  dabei 
die  Anknüpfung  an  eine  bestimmte  Vorstellung  oder  Frage  noch 
ungefähr  erkennbar.  Die  Kranken  bringen  immer  wieder  Wen- 
dungen, die  dazu  in  einer  gewissen  Beziehung  stehen,  ohne  aller- 
dings zu  einem  klaren  Gedankenausdruck  zu  kommen.  Dieses 
,, Drumherumreden"  möge  durch  das  folgende  Beispiel  erläutert 
werden.    Ein  Kranker  antwortete  auf  die  Frage,  was  mit  ihm  sei: 

,,Ich  habe  lange  Zeit  nicht  bemerkt,  was  es  ist  und  was  es  war;  da 
habe  ich  gesehen,  daß  es  die  Humbertgeschichte  ist,  wissen  Sie,  Herr  Dr., 
und  das  hat  bisher  angehalten.  Wissen  Sie,  ich  weiß  auch  nicht,  wie 
das  ist;  es  ist  eigenartig;  es  ist  eine  große  Portion  Mutwillen  dabei;  es 
wird  etwas  zu  stark  vorgeschoben  in  der  Erleuchtung,  und  da  hat  man 
immer  darunter  zu  leiden.  Und  dann  diese  Aufmerksamkeit  in  dieser 
Affäre,  die  wird  einem  geschenkt  und  fällt  einem  zu:  das  schleicht  sich 
dann  so  ein." 

Die  das  Wollen  durchkreuzenden  Antriebe  können  ganz  fremd- 
artigen Inhalts  sein  und  außer  jedem  Zusammenhange  mit  irgend- 
welchen Zweckvorstellungen  stehen.  Der  Kranke  hebt  plötzlich 
seinen  Nachbarn  von  hinten  in  die  Höhe,  setzt  sich  wie  ein  Vogel 
auf  den  Rand  der  Badewanne,  greift  mit  dem  Finger  in  den  After, 
stellt  sich  auf  den  Kopf,  entleert  seinen  Kot  auf  den  Tisch.  Nicht 
selten  werden  diese  unter  Umständen  sehr  gefährlichen  Einfälle 
mit  triebartiger  Gewalt  ausgeführt.  Durch  dieses  Gemisch  der 
mannigfaltigsten  Antriebe  entsteht  die  eigentümliche  Unbegreif- 
lichkeit des  katatonischen  Handelns,  der  oft  vollkommene  Mangel 
eines  inneren  Zusammenhanges  der  einzelnen  Willensäußerungen 
untereinander  und  mit  der  ganzen  Sachlage,  die  Unsinnigkeit  und 


Zwangshandlungen  und  Zwangshemmungen. 


393 


Zwecklosigkeit  des  gesamten  Treibens  und  Redens  bei  nahezu 
völliger  geistiger  Klarheit. 

Bei  diesen  Entgleisungen  hat  man  vielfach  den  Eindruck,  als 
ob  die  Absicht  der  Kranken  durch  den  Anlauf  zur  Ausführung 
ihres  Entschlusses  selbst  zur  Entgleisung  gebracht  würde.  Wir 
sehen  die  Kranken  mit  größter  Anstrengung  ihren  Willen  einsetzen, 
wo  sie  auf  einem  kleinen  Umwege  mühelos  zum  Ziele  gelangen 
könnten.  Der  Katatoniker,  der  sinnlos  gegen  die  geschlossene 
Türe  drängt,  verläßt  das  Zimmer  nicht  durch  den  weitgeöffneten 
Nebenraum,  ja,  er  benutzt  meist  nicht  einmal  den  Schlüssel,  den 
man  ihm  in  die  Hand  gibt,  sondern  wartet,  bis  die  Türe  von  irgend 
jemandem  geöffnet  wird.  Aus  derartigen  Erfahrungen  möchte  man 
den  Schluß  ziehen,  daß  hier  nicht  der  von  uns  vermutete  Zweck, 
sondern  nur  das  Mittel  selbst  gewollt  wird.  Das  kann  aber  wohl 
schwerlich  von  vornherein  der  Fall  sein.  Weit  näher  liegt  jeden- 
falls die  Annahme,  daß  das  erste  Glied  der  Handlungsformel  die 
Richtung  des  Wollens  sofort  festgelegt  und  die  ursprüngliche  Ziel- 
vorstellung verdrängt  hat.  Der  Kranke  verrennt  sich,  wie  es  scheint, 
in  seine  erste  Absicht,  so  daß  keine  späteren  Überlegungen  ihn 
mehr  von  dem  einmal  eingeschlagenen  Wege  abzubringen  ver- 
mögen. 

Die  hier  vertretene  Auffassung  der  katatonischen  Verschro- 
benheit bringt  sie  in  eine  gewisse  Beziehung  zu  den  Erscheinungen 
der  Parapraxie,  insofern  es  sich  auch  bei  diesen  Störungen  um  eine 
Art  Entgleisung  der  Antriebe  handelt,  die  unsinnige  und  unver- 
ständliche, zweckwidrige  Äußerungen  zur  Folge  hat.  Allein  dort 
ist  es  nur  die  Ausführung  der  Handlung,  die  mißlingt;  die  Kranken 
wollen  das  Zweckmäßige,  finden  aber  nicht  den  richtigen  Weg 
zur  Verwirklichung.  Bei  der  Verschrobenheit  dagegen  liegt  die 
Störung  nicht  auf  dem  Gebiete  des  Handelns,  sondern  auf  dem- 
jenigen des  Willens  selbst.  Das  Werkzeug  gehorcht  den  Antrieben 
ohne  Tadel,  aber  die  Antriebe  selbst  werden  verdrängt  und  durch- 
kreuzt, bevor  das  Ziel  erreicht  ist;  die  Kranken  sind  nicht  para- 
praktisch, sondern  parabulisch. 

Zwangshandlungen  und  Zwangshemmungen.  Als  Zwangshand- 
lungen bezeichnen  wir  solche  Handlungen,  die  nicht  aus  dem 
gesunden  Denken  und  Fühlen  hervorwachsen,  sondern  von  dem 
Kranken  gegen  seinen  Willen  und  trotz  lebhaften  inneren  Wider- 


394 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Strebens  ausgeführt  werden.  Einen  gewissen  Anhalt  für  das 
Verständnis  dieser  Störungen  gibt  uns  allenfalls  die  bekannte  Er- 
fahrung aus  dem  gesunden  Leben,  daß  uns  bei  gewissen  Gelegen- 
heiten, am  Rande  eines  Abgrundes,  auf  einer  Brücke,  der  Gedanke 
auftaucht,  uns  selbst  oder  unsere  Begleiter  hinabzustürzen,  bei 
feierlichen  Anlässen  irgendeine  lächerliche  oder  unpassende  Hand- 
lung zu  begehen,  im  Theater  plötzlich  ,, Feuer"  zu  rufen  und  ähn- 
liches. In  Wirklichkeit  kommt  es  niemals  zur  Ausführung.  Viel- 
mehr bleibt  es  bei  der  mehr  oder  weniger  klaren  Ausmalung  dessen, 
was  geschehen  würde,  wenn  wir  eine  derartige  Handlung  be- 
gingen. 

Bei  krankhafter  Veranlagung  kann  sich  zu  der  Vorstellung 
die  quälende  Befürchtung  gesellen,  daß  die  Handlung  möglicher- 
weise zustande  komme.  Solche  Befürchtungen,  wie  wir  sie  früher 
geschildert  haben,  veranlassen  dann  allerhand  Schutzhand- 
lungen, deren  Durchführung  sich  die  Kranken  auf  keine  Weise 
zu  entziehen  vermögen.  Die  Mannigfaltigkeit  solcher  Maßnahmen 
ist  womöglich  noch  größer  als  diejenige  der  Befürchtungen.  Vor 
allem  kommt  es  zu  endlosen  Wiederholungen  der  durch  ängst- 
liche Behinderungen  beeinträchtigten  Handlungen.  Rechnungen 
werden  immer  von  neuem  geprüft,  Briefe  wieder  durchgelesen, 
aus  ihren  Umschlägen  genommen,  um  jede  zweideutige  Wendung, 
jede  Verwechselung  auszuschließen,  Geldsummen  vor  der  Ab- 
lieferung viele  Male  nachgezählt.  Auf  diese  Weise  entwickelt  sich 
Janets  ,, Manie  de  l'au  delä",  die  Übertreibungssucht,  die  sich  in 
Sicherungen  und  Nachprüfungen  niemals  genug  tun  kann.  Die 
Kranken  weichen  ferner  jeder  noch  so  entfernten  Möglichkeit  aus, 
eine  von  ihnen  gefürchtete  Handlung  zu  begehen,  entfliehen  dem 
daliegenden  Messer,  um  nicht  damit  sich  selbst  oder  ihre  Kinder 
umzubringen,  lassen  sich  festbinden,  sammeln  schriftliche  Zeug- 
nisse, daß  sie  nichts  begangen  haben,  und  lernen  sie  auswendig. 
Eine  Kranke  erzählte  mir,  daß  sie  ihr  schwerkrankes  Kind  bis  zur 
Rückkehr  ihres  Mannes  am  Schlafen  habe  verhindern  müssen,  um 
jemanden  bei  sich  zu  haben,  der  ihr  versichern  könne,  daß  sie  in- 
zwischen kein  Unrecht  begangen  habe.  Aus  der  Berührungsfurcht 
geht  das  zwangsmäßige  Waschen  und  Reinigen  hervor,  das  einen 
ganz  ungeheuren  Umfang  annehmen  kann,  aus  der  Kleiderangst 
das  Auftragen  der  alten  Kleider  bis  zum  äußersten,  aus  der  Papier- 


Zwangshandlungen  und  Zwangshemmungen. 


395 


angst  das  Ansammeln  von  allen  möglichen  Zetteln  und  Fetzen, 
die  peinliche  Beachtung  jedes  Papierstückchens  auf  der  Straße. 

Sehr  häufig  entwickeln  die  Kranken  ein  umfassendes,  wohlaus- 
geklügeltes System  von  Schutzmaßregeln,  die  ihnen  Beruhigung 
gewähren  sollen.  Sie  schieben  in  ihr  Handeln  Schutzbewegungen 
und  Schutzsprüche  ein,  deren  vielfache  Wiederholung  ihnen  dann 
erst  das  Fortschreiten  von  einem  Abschnitte  zum  anderen  ge- 
stattet. Einer  meiner  Kranken,  dem  beim  Anziehen  seiner  Strümpfe, 
Stiefel  und  Beinkleider  immer  der  Gedanke  kam,  daß  ihm  der 
Fuß  abgefahren  werde  und  er  dann  einen  Stelzfuß  tragen  müsse, 
war  gezwungen,  durch  laute  Ausrufe:  ,, Nicht  Stelzfuß!"  so  lange 
immer  wieder  die  Angst  zu  bekämpfen,  bis  es  ihm  gelungen  war, 
hineinzuschlüpfen.  Eine  andere  Kranke ,  die  immer  fürchtete, 
irgend  etwas  versprochen  zu  haben,  mußte  sich  beständig  in  ihren 
Gedanken  oder  flüsternd  dagegen  verwahren.  Klopfen,  Abwehr- 
bewegungen mit  den  Armen  oder  mit  dem  Kopfe,  mehrfaches 
Wiederholen,  symmetrische  oder  geradzahlige  Berührungen,  na- 
mentlich aber  laute  oder  leise  Gegenbeschwörungsformeln  sind  die 
gewöhnlichsten  Hilfsmittel,  die  von  den  Kranken  zur  Bekämpfung 
ihrer  Angst  herangezogen  werden.  Bisweilen  erstarren  diese  Ge- 
wohnheiten derart,  daß  sie  von  den  Kranken  ohne  jede  Überlegung, 
ganz  maschinenmäßig,  fortgesetzt  werden,  auch  wenn  die  Angst 
nahezu  geschwunden  ist. 

Es  ist  leicht  ersichtlich,  daß  wir  es  bei  allen  diesen  Handlungen, 
welche  die  Kranken  gegen  ihre  Überzeugung  und  gegen  ihren 
Willen  ausführen  müssen,  nicht  mit  einem  einfachen  Zwange 
zu  tun  haben.  Der  Antrieb  zum  Handeln  entsteht  nicht  unmittel- 
bar als  solcher,  sondern  er  entwickelt  sich  erst  als  Folge  der  krank- 
haften Befürchtung.  Es  sind  gewissermaßen  Notwehrhandlungen, 
deren  Lächerlichkeit  und  Unsinnigkeit  den  Kranken  meist  deutlich 
zum  Bewußtsein  kommt;  dennoch  werden  sie  immer  wiederholt, 
weil  sie  erfahrungsgemäß  wenigstens  für  den  Augenblick  Beruhi- 
gung bringen. 

Wie  es  scheint,  kommen  aber  hier  und  da  auch  Zwangshand- 
lungen im  engeren  Sinne  zur  Beobachtung,  bei  denen  der  Antrieb 
ohne  Zusammenhang  mit  Befürchtungen  selbständig  zwingend 
auftaucht.  Meist  ist  der  Inhalt  derselben  ein  verhältnismäßig 
harmloser,  der  Drang,  Schimpfworte,  Unflätigkeiten,  Gottesläste- 


396 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


rungen  auszurufen,  einen  Stein  von  der  Mauer  zu  stoßen.  Das 
Unterdrücken  des  Antriebes  führt  dann  zu  lebhafter  Beunruhigung, 
die  erst  bei  der  Ausführung  der  Handlung  schwindet,  um  durch 
die  Beschämung  über  das  Unterliegen  abgelöst  zu  werden.  Bei 
wirklich  bedenklichen  Handlungen  scheint  eine  zwangsmäßige 
Überwältigung  des  widerstrebenden  Willens  nicht  oder  doch  äußerst 
selten  vorzukommen;  in  der  Regel  handelt  es  sich  dabei  gar 
nicht  um  Antriebe,  sondern  um  Befürchtungen.  Alle  diese  Stö- 
rungen gehören  den  Krankheitsbildern  der  psychopathischen  Ver- 
anlagung an. 

Eine  eigenartige  Gruppe  von  Zwangshandlungen  oder  richtiger 
Zwangsbewegungen  bilden  die  Tics^).  Es  handelt  sich  dabei  um 
einförmige,  sich  ohne  äußeren  Anlaß  immer  wieder  vollziehende 
zwecklose  Bewegungen,  Zuckungen,  Armheben,  Nicken  oder  Schüt- 
teln des  Kopfes,  Gesichterschneiden,  Hervorbringen  unartikulierter 
Laute  u.  dgl.;  auch  Atemkrämpfe,  gewohnheitsmäßiges  Erbrechen, 
häufiger  Harndrang,  Nässen  am  Tage  können  als  Tics  auftreten. 
Wie  es  scheint,  gehen  die  Tics  ursprünglich  aus  sinnvollen  Willkür- 
bewegungen, bisweilen  auch  aus  den  oben  geschilderten  Schutz- 
handlungen hervor,  die  jedoch  dann  zu  einfachen  Gewohnheiten 
erstarren  und  schließlich  zu  unwillkürlichen  und  auch  nahezu  un- 
bewußten Zwangsbewegungen  werden;  sie  erhalten  dabei  das  Ge- 
präge des  Übertriebenen  und  Krampfartigen.  Die  Ausbildung  der 
Tics  ist  eine  ungemein  mannigfaltige;  sie  können  sich  auch  bei 
demselben  Kranken  häufen  und  unter  Umständen  durch  das  fort- 
währende Einschieben  der  verschiedenartigsten  Krampfbewegungen 
jede  geordnete  Tätigkeit  unmöglich  machen  (,,Maladie  des  tics" 
von  Gilles  de  la  Tourette).  Am  häufigsten  entwickeln  sich  Tics 
im  Kindesalter,  auch  durch  Nachahmung.  Alle  schwereren  und 
fortschreitenden  Formen  erwachsen  ausschließlich  auf  dem  Boden 
psychopathischer  Veranlagung. 

Gar  nicht  selten  hört  man  katatonische  Kranke  davon  reden, 
daß  sie  sich  zu  ihren  absonderlichen  Handlungen  gezwungen 
gefühlt  hätten.  Sie  haben  dies  und  jenes  nicht  tun  wollen,  aber 
sie_ konnten  nicht  anders;  sie  wurden  dazu  getrieben;  es  wurde 
so  gemacht,  daß  sie  es  tun  mußten.  Indessen  hier  unterliegen  die 

1)  Meige  und  Feindel,  Der  Tic,  sein  Wesen  und  seine  Behandlung,  deutsch 
von  Giese.    1903;   Meige,  Journal  f.  Psychologie  und  Neurologie,  II,  53. 


Zwangshandlungen  und  Zwangshemmungen. 


397 


Kranken  den  Antrieben  in  der  Regel  ohne  Kampf,  ohne  inneres 
Widerstreben,  Dadurch  fällt  eine  wesentliche  Eigentümlichkeit 
der  Zwangshandlungen,  der  innere  Zwiespalt  und  das  Gefühl  der 
Überwältigung,  vollständig  fort.  Auch  wenn  die  Kranken  meinen, 
die  Handlung  sei  ihnen  eingegeben,  nicht  aus  ihrem  eigenen  Willen 
hervorgegangen,  so  empfinden  sie  ihr  Tun  doch  nicht  als  eine 
Niederlage. 

Eine  allgemeine  Folge  der  Zwangsvorstellungen  und  Zwangs- 
befürchtungen ist  der  Verlust  der  geistigen  Freiheit  und  die 
Einschränkung  der  Willenshandlungen.  Nicht  nur  machen  die 
bisweilen  über  viele  Stunden  des  Tages  sich  ausdehnenden 
Schutzhandlungen  jede  geregelte  Arbeitsleistung  fast  unmöglich, 
sondern  die  Kranken  werden  auch  unmittelbar  durch  zwangsmäßige 
Hemmungen  in  ihrem  Tun  und  Treiben  auf  das  nachdrücklichste 
behindert.  Namentlich  die  Zweifelsucht  pflegt  in  dieser  Richtung 
verhängnisvoll  zu  sein.  Sie  führt  in  ihren  höheren  Graden  schließ- 
lich unfehlbar  zum  Verzichte  auf  jede  irgendwie  verantwortliche 
Tätigkeit.  Die  Kranken  öffnen  und  schreiben  keine  Briefe  mehr, 
unterschreiben  nichts,  vermögen  nichts  zu  bezahlen,  weil  sie  sich 
dabei  zu  versehen  fürchten;  sie  treffen  keine  Anordnungen,  machen 
keine  Aussagen,  wenn  ihnen  nicht  die  Richtigkeit  ausdrücklich 
von  ihrer  Umgebung  bestätigt  wird.  Die  ergiebigste  Quelle  solcher 
Zwangshemmungen  ist  natürlich  die  Berufsarbeit,  deren  Aufgaben 
durch  sie  derart  erschwert  werden  können,  daß  sich  eine  wahre 
Berufsangst,  ,, Phobie  du  metier",  entwickelt.  Andere  Kranke 
haben  die  größten  Schwierigkeiten  beim  Berühren  von  Klinken, 
beim  Handgeben,  beim  An-  und  Auskleiden,  beim  Aufsuchen  des 
Aborts;  eine  meiner  Kranken  konnte  sich  nicht  setzen,  weil  sie 
meinte,  sich  beim  Stuhlgang  zu  verunreinigen  und  dann  weiter 
alles  zu  beschmutzen,  was  sie  berühre.  Noch  andere  sind  an  das 
Zimmer  und  schließlich  ans  Bett  gefesselt,  weil  sie  auf  der  Straße 
von  Angst  gepackt  werden  oder  ihre  Kleider  nicht  zu  wechseln 
imstande  sind ;  einer  meiner  Kranken  wagte  sich  nur  in  die  nächste 
Umgebung  seines  Hauses  und  auch  das  nur,  wenn  er  die  geöffnete 
Türe  hinter  sich  wußte.  Besondere  Erschwerungen  pflegt  der  Ver- 
kehr mit  Menschen  zu  erfahren.  Die  Furcht,  zu  erröten,  sich 
ungeschickt  zu  benehmen,  die  Namen  der  Begegnenden  nicht  zu 
wissen,  sich  beobachtet  zu  fühlen,  von  unanständigen  Gedanken 


398 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


befallen  zu  werden,  macht  die  Kranken  unfähig,  gesellschaftliche 
Beziehungen  aufrecht  zu  erhalten;  sie  werden  menschenscheu 
und  ziehen  sich  mehr  und  mehr  auf  sich  selbst  zurück. 

Die  allgemeinsten  Formen,  in  denen  die  Zwangshemmungen 
auftreten  können,  sind  die  Unfähigkeit,  anzufangen  und  aufzu- 
hören. Schon  dem  Gesunden  fällt  aller  Anfang  schwer",  eine  Er- 
fahrung, die  sich  in  der  erhöhten  Willensspannung  zu  Beginn  jeder 
Arbeit,  im  ,, Antriebe",  kundgibt.  Infolgedessen  kostet  uns  das 
Herangehen  an  eine  neue  Aufgabe  jedesmal  einen  besonderen  Ent- 
schluß, ein  Aufraffen,  um  die  Trägheit  unseres  Seelenwerkzeuges 
zu  überwinden.  Bei  willensschwachen  Menschen  kann  diese  Nöti- 
gung zu  stärkerer  Anspannung  des  Willens  das  Gefühl  der  Unfähig- 
keit und  damit  die  Angst  vor  der  Arbeit  hervorrufen,  ein  ungemein 
häufiger  Vorgang,  der  Psychopathen  von  der  Inangriffnahme 
irgend  weiter  aussehender  Aufgaben  abzuhalten  pflegt.  Wir  be- 
gegnen dabei  in  der  Regel  der  Begründung,  daß  sie  überarbeitet, 
schonungsbedürftig  seien,  oder  auch,  daß  die  Arbeit  sich  nicht  lohne, 
doch  keinen  Erfolg  verspreche,  daß  sie  späterhin  in  Angriff  ge- 
nommen werden  solle.  Nicht  selten  knüpft  sich  die  Angst  an  jede 
bevorstehende  Änderung  der  Lebensverhältnisse,  und  es  entwickelt 
sich  aus  ihr  ein  zwangsmäßiger  Widerstand  gegen  Neuerungen 
überhaupt,  auch  wenn  rein  verstandesmäßig  deren  Berechtigung 
und  Notwendigkeit  zugestanden  wird. 

Ganz  ähnliche  Hemmungen  können  sich  geltend  machen, 
sobald  sich  der  Tätigkeit  Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellen.  Wir 
wissen  aus  dem  Versuche,  daß  jede  Erschwerung  der  Arbeit  mit 
einer  Steigerung  der  Willensspannung  beantwortet  wird.  Die  Angst 
kann  diese  Reaktion  verhindern  und  das  Verzichten  auf  die  Fort- 
setzung der  Arbeit  an  Stelle  der  erhöhten  Anstrengung  setzen. 
Dieses  Zurückweichen  des  Willens  vor  jeder  erhöhten  Anforderung, 
die  Entmutigung  bei  jedem  Hindernisse  führt  zu  immer  neuen, 
rasch  erlahmenden  Anläufen,  zu  einer  fortlaufenden  Kette  von  Miß- 
erfolgen. Es  bildet  die  gewöhnliche  Ursache  der  Arbeitsunfähigkeit 
bei  Psychopathen,  die  fälschlicherweise  auf  Erschöpfung  und  Ab- 
spannung zurückgeführt  und  mit  Ausruhen  behandelt  zu  werden 
pflegt. 

Auch  gegen  das  Ende  einer  Arbeit  pflegt  eine  Erhöhung  der 
Willensspannung  einzutreten.   In  diesem  „Schlußantriebe"  dürften 


Triebliandlungen. 


399 


wir  das  gesunde  Urbild  jener  Erscheinung  vor  uns  haben,  die  wir 
als  „Kleben",  die  Unfähigkeit,  aufzuhören,  bezeichnen.  Die  Aus- 
sicht, daß  die  Arbeit  dem  Abschlüsse  nahe  ist,  spornt  unseren  Eifer 
zu  einer  letzten  stärkeren  Anstrengung  an.  Der  lebhaft  auftau- 
chende Wunsch,  noch  möglichst  viel  zu  leisten,  kann  bei  mangeln- 
dem Selbstvertrauen  ebenfalls  die  Form  der  Angst  annehmen, 
nicht  genug  getan  zu  haben.  Daraus  entwickelt  sich  dann  die  Un- 
fähigkeit, etwas  zum  Abschlüsse  zu  bringen,  die  ängstliche  Be- 
fhssenheit,  immer  noch  irgendetwas  zu  verbessern,  nachzuprüfen, 
hinzuzufügen.  Da  trotz  alledem  die  Befriedigung  der  endgültigen 
Erledigvmg  nicht  erreicht  wird,  vielmehr  jeder  Versuch  zum  Ab- 
brechen neue  Bedenklichkeiten  hervorruft,  erreicht  die  Arbeit 
niemals  ein  Ende,  sondern  sie  bleibt  ein  Bruchstück,  trotz  aller  auf 
sie  verwendeten  Mühe. 

Triebhandlungen.  Die  Macht  eines  Willensantriebes  hängt  im 
allgemeinen  von  der  Lebhaftigkeit  der  Gefühle  ab,  die  seine  Trieb- 
federn bilden.  Am  kräftigsten  wirken  sinnliche  Gefühle,  die  uns 
oft  gebieterisch  zu  bestimmten  Handlungen  drängen,  Schmerz, 
Hunger,  Durst,  geschlechtliche  Gefühle.  Je  heftiger  aber  die  ge- 
mütliche Erschütterung,  je  stärker  der  Drang  zum  Handeln,  desto 
geringer  ist  der  Einfluß  der  Überlegung,  desto  schwieriger  die  Hem- 
mung der  sich  vorbereitenden  Tat.  Sehr  leidenschaftliche  Er- 
regungen führen  bekanntlich  schon  beim  gesunden  Menschen  unter 
Umständen  zu  einer  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Trübung 
des  Bewußtseins.  Immerhin  sind  wir  zumeist  imstande,  die  allzu 
große  Heftigkeit  der  Gemütsbewegungen,  wie  sie  noch  dem  Kinde 
eigentümlich  ist,  zu  dämpfen  und  damit  die  Herrschaft  unseres 
Verstandes  über  das  Handeln  aufrecht  zu  erhalten. 

Bei  Geisteskranken  nehmen,  entsprechend  der  Häufigkeit  leb- 
hafter Gefühle  und  eingreifender  Willensstörungen,  die  Trieb- 
handlungen mit  großer  Stärke  der  Antriebe  und  Unklarheit  der 
Zweckvorstellungen  einen  sehr  viel  breiteren  Raum  ein  (,, Im- 
pulsivität") ;  wir  begegnen  ihnen  in  den  verschiedenartigsten 
Erregungszuständen.  Schon  der  Betätigungsdrang  der  mani- 
schen Kranken  ist  vielleicht  unter  diesem  Gesichtspunkte  auf- 
zufassen. Sicher  sind  hierher  gewisse  Handlungen  der  Epilep- 
tiker zu  rechnen,  der  mit  vielen  Namen  belegte,  anfallsweise  ein- 
setzende, von  Verstimmung  und  mehr  oder  weniger  starker  Be- 


400 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wußtseinstrübung  begleitete  ziellose  Wandertrieb')  (Dromomanie, 
Poriomanie,  Fugues,  automatisme  ambulatoire),  ferner  die  ge- 
schlechtlichen Vergehen  (Exhibitionismus,  geschlechtliche  Angriffe), 
das  Trinken  der  Dipsomanen.  Ähnliches  gilt  wohl  von  dem  mannig- 
fachen krankhaften  Treiben  vieler  Hysterischen.  Auch  bei  ihnen 
beobachten  wir  planlose  Reisen,  nicht  selten  verbunden  mit  halb- 
bewußten Schwindeleien  im  Sinne  einer  erdichteten  Lebenslage. 
Der  Trieb  zum  Erdichten  und  Vortäuschen,  sei  es  von  Krankheits- 
erscheinungen, sei  es  von  merkwürdigen  und  spannenden  Erleb- 
nissen oder  von  Kenntnissen,  vornehmer  Abstammung,  großem 
Besitz  ist  überhaupt  eine  häufige  Begleiterscheinung  der  hysterischen 
Veranlagung.  Triebhandlungen  ganz  einförmiger  und  einfacher  Art 
begegnen  wir  ferner  bei  vielen  Idioten  und  Schwachsinnigen,  dem 
Hautzupfen,  Haareausreißen,  Haareschlucken,  Nägelbeißen,  Daumen- 
lutschen; auch  das  Onanieren  würde  hierher  zu  rechnen  sein. 
Zum  Teil  lassen  sich  hier  noch  Beziehungen  zu  den  natürlichen 
Trieben  erkennen;  zum  Teil  ist  die  Entstehungsgeschichte  trotz 
ihrer  weiten  Verbreitung  gänzlich  dunkel.  Von  den  Zwangshand- 
lungen unterscheidet  sich  das  Tun  aller  dieser  Kranken  durch  den 
wesentlichen  Umstand,  daß  die  auftauchenden  Antriebe  im  Augen- 
blick durchaus  nicht  als  aufgezwungene,  sondern  als  die  natürlichen 
Äußerungen  ihres  Seelenzustandes  empfunden  werden. 

Als  Triebhandlungen  sind  wohl  auch  am  richtigsten  die  oben 
erwähnten  Willensentladungen  der  Katatoniker  aufzufassen,  ob- 
gleich ihnen  kein  bestimmtes  Lust-  oder  Unlustgefühl,  sondern 
ein  mächtiger,  ursprünglicher  Bewegungsdrang  zugrunde  liegt. 
Der  Kranke  ist  hier  von  dem  Bewußtsein  beherrscht,  daß  er  nun 
dieses  oder  jenes  tun  müsse,  ohne  klare  Begründung,  ohne  Nach- 
denken, wenn  auch  bisweilen  mit  dem  deutlichen  Gefühle  der 
Unsinnigkeit  des  eigenen  Treibens.  Hier  und  da  taucht  auch  wohl 
die  Vorstellung  auf,  daß  die  GHeder  von  einer  unsichtbaren  Macht, 
von  Gott,  dem  Teufel,  durch  elektrische  Beeinflussungen  in  Be- 
wegung gesetzt  werden.  Von  einem  Widerstande  gegen  den  An- 
trieb, von  einem  Kampfe  ist  jedoch  gar  keine  Rede;  vielmehr  folgt 
der  Kranke  blindlings  seinen  Einfällen.    Auf  diese  Weise  ent- 

1)  Heilbronner,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXIII,  107;  Schultze,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  1903,  795;  Patrick,  American  Journal  of  neurology, 
1907,  353;  Ducoste,  Archives  de  neurologie,  1907,  i  u.  2. 


Krankhafte^  Triebe. 


401 


stehen  zahllose  verkehrte,  absonderliche  und  oft  recht  gefährliche 
Handlungen,  die  bei  aller  Mannigfaltigkeit  doch  gewisse  gemein- 
same Züge  darbieten.  Dahin  gehören  die  eigentümlichen  Kraft- 
leistungen, die  Purzelbäume  und  Luftsprünge,  das  Singen,  Schreien, 
Zerstören,  Entkleiden,  das  triebartige  Küssen,  die  plötzlichen  An- 
griffe, das  Kotessen,  die  sinnlosen  Versuche,  sich  zu  erdrosseln, 
den  Mund  aufzuschlitzen,  die  Augen  auszubohren,  Zunge  und 
Kehlkopf  herauszureißen.  Kennzeichnend  für  diese  Triebhand- 
lungen ist  außer  dem  Mangel  jedes  verständlichen  Beweggrundes 
die  ungemeine  Schnelligkeit  und  Heftigkeit  der  Ausführung,  welche 
auf  das  rücksichtsloseste  jedes  Hindernis  überwindet,  während 
umgekehrt  bei  den  Zwangshandlungen  schon  eine  geringe  Unter- 
stützung des  lebhaft  sich  regenden  gesunden  Widerstandes  genügt, 
um  diesem  letzteren  zum  Siege  zu  verhelfen.  Manche  Triebhand- 
lungen stehen  anscheinend  in  dunkler  Beziehung  zu  den  ange- 
stammten Trieben.  Dahin  gehört  die  Neigung,  alles  in  den  Mund 
zu  stecken,  an  den  dargereichten  Gegenständen  zu  lecken  und  zu 
saugen.  Wagner  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  bei  ver- 
blödeten Paralytikern,  aber  auch  bei  anderen  Verblödungszuständen, 
durch  Annähern  irgend  eines  Gegenstandes  an  den  Mund  Saug- 
bewegungen ausgelöst  werden  können.  Im  Zusammenhange  mit 
den  Verirrungen  der  Triebe  werden  wir  noch  eine  Reihe  hierher 
gehöriger  Beispiele  zu  erwähnen  haben. 

Krankhafte  Triebe.  Der  für  die  Selbsterhaltung  wichtigste 
Trieb,  das  Nahrungsbedürfnis,  weist  bei  Geisteskranken  sehr 
häufig  Störungen  auf.  Die  Nahrungsverweigerung  ist  in  allen 
traurigen  oder  ängstlichen  Verstimmungen,  ferner  im  katatonischen 
Stupor  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung;  freilich  beruht  sie  in 
den  erstgenannten  Zuständen  nicht  immer  auf  einem  Schweigen 
des  natürlichen  Triebes,  sondern  auf  Wahnvorstellungen  oder 
dem  Wunsche,  zu  sterben.  Andererseits  werden  von  Idioten,  Para- 
lytikern, Katatonikern  vielfach  nicht  nur  unglaubliche  Mengen 
von  Nahrungsmitteln,  sondern  bisweilen  die  ungenießbarsten  und 
ekelerregendsten  Dinge,  Sand,  Steine,  Seegras,  Kot,  lebende  Tiere 
verschlungen.  Hier  kann  man  nicht  wohl  von  einer  einfachen 
Steigerung  gesunder  Triebe  sprechen,  sondern  es  handelt  sich 
zweifellos  bereits  um  gleichzeitige  Abweichungen  in  Art  und  Rich- 
tung des  Begehrens.    Dasselbe  gilt  von  den  bekannten,  plötzlich 

26 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


402 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


mit  großer  Heftigkeit  auftauchenden  Eßgelüsten  der  Schwangeren 
und  Hysterischen.  Bernstein  hat  eine  Kranke  beschrieben,  die 
triebartig  Papier  und  später  Sand  verzehrte  und  einer  förmlichen 
Entziehungskur  unterworfen  werden  mußte.  Wir  werden  hier 
erinnert  an  die  verschiedenen  „Suchten",  das  triebartige  Ver- 
langen nach  Arznei-  und  Genußmitteln,  die  Trunksucht,  die  Mor- 
phium- und  Cocainsucht,  die  Sucht,  Tabak  zu  rauchen,  zu  kauen, 
zu  schnupfen  usf.  Bei  den  meisten  Mitteln  ist  es  die  angenehme 
Wirkung  oder  das  Auftreten  von  Entziehungserscheinungen,  die 
das  Begehren  erzeugen;  es  gibt  aber  auch  Suchten,  bei  denen  der- 
artige Umstände  gar  keine  Rolle  spielen.  Zu  ihrer  Erklärung 
dient  die  Erfahrung,  daß  die  Neigung  zum  Mißbrauche  von  Mitteln 
in  der  Regel  eine  allgemeine  ist  und  sich  gleichzeitig  nach  verschie- 
denen Richtungen  erstreckt,  also  eine  persönliche  Anlage  darstellt. 

Eine  merkwürdige  Verleugnung  des  Selbsterhaltungstriebes  bildet 
der  bei  Hysterischen  nicht  selten  beobachtete  Trieb  zur  Selbst- 
verletzung. Die  Kranken  bringen  sich  Ätzwunden  auf  der  Haut 
bei,  erzeugen  künstlich  Genital-  oder  Mastdarmblutungen,  ver- 
schlucken Nadeln,  Nägel,  Glasscherben,  stechen  Drahtstückchen, 
Streichholzenden,  Bleistiftspitzen  unter  die  Haut,  um  dort  Abscesse 
zu  verursachen.  Ich  kannte  Kranke,  die  jahrelang  mit  einem 
gewissen  Stolze  derartige  Selbstschädigungen  verübten.  In  der  Tat 
ist  die  Triebfeder  solcher  Handlungen  in  der  Regel  der  Wunsch, 
damit  Aufsehen  zu  erregen.  Dasselbe  gilt  von  den  operations- 
süchtigen Kranken,  die  immer  wieder  dazu  drängen,  daß  an  ihnen 
größere  chirurgische  Eingriffe  vorgenommen  werden,  am  liebsten 
Bauchschnitte.  Die  natürlichen  Regungen  des  Schmerzes  und  der 
Angst  werden  hier  durch  krankhafte,  triebartige  Beweggründe  gänz- 
lich in  den  Hintergrund  gedrängt. 

Bei  weitem  am  mannigfaltigsten  gestaltet  sich  die  Reihe  der 
krankhaften  Abweichungen  auf  dem  Gebiete  des  Geschlechts- 
triebes, wie  sie  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  her 
auf  das  eingehendste  bearbeitet  worden  sind.  Einfache  Herab- 
setzung der  geschlechtlichen  Begehrlichkeit  findet  sich  in  den 
Depressionszuständen,  bei  Morphinisten,  bei  manchen  Formen  des 
angeborenen  Schwachsinns  und  der  hysterischen  Veranlagung.  Da- 
gegen erwacht  der  Geschlechtstrieb  in  anderen  Fällen  von  Idiotie 
und  angeborener  Entartung  schon  sehr  früh  und  in  großer  Stärke; 


Krankhafte  Triebe. 


403 


er  führt  dann  regelmäßig  zur  Onanie.  Fuchs  sah  einen  schwach- 
sinnigen, hydrocephaHschen  Knaben,  der  seit  dem  8.  Monate  un- 
zähhge  Male  onanierte;  er  berichtet  ferner  von  einem  kleinen 
Mädchen,  das  im  Anschlüsse  an  Verführung  durch  eine  Kindsmagd 
schon  vom  2.  Lebensjahre  an  nicht  nur  öffentlich  schamlos  ona- 
nierte, sondern  auch  andere  Mädchen  zu  manustuprieren  suchte 
und  Knaben  dazu  aufforderte.  Steigerung  des  Geschlechtsbedürf- 
nisses begleitet  auch  in  mehr  oder  minder  ausgesprochenem  Grade 
die  manische  und  katatonische  Erregung;  sie  drückt  sich  seltener 
geradezu  in  geschlechtlichen  Angriffen,  meist  in  zweideutigen 
Reden,  unflätigen  Schimpfereien  und  Beschuldigungen  aus,  in  mehr 
oder  weniger  rücksichtsloser  Masturbation,  bei  Weibern  auch  in 
schamlosen  Entblößungen,  äußerster  Unreinlichkeit  oder  bestän- 
digen Waschungen  mit  Wasser,  Speichel,  Urin,  Kämmen  und  Auf- 
lösen der  Haare,  in  leichteren  Formen  durch  Putzen  und  Schöntun, 
Wechsel  zwischen  herausforderndem  und  verschämtem  oder  empfind- 
samem Wesen,  durch  Händedrücken,  Briefschreiben,  verständnis- 
volle Blicke. 

Zu  diesen  gradweisen  Abstufungen  kommt  nun  aber  eine  fast 
unübersehbare  Menge  von  verschiedenartigen  Entgleisungen  des  Ge- 
schlechtstriebes,  bei  denen  die  Befriedigung  auf  zweckwidrigen 
Wegen  gesucht  wird.  Die  bekannteste  derselben  ist  die  sogenannte 
konträre  Sexualempf  indung^)  ,  eine  Störung,  die  das  geschlecht- 
liche Fühlen  und  Begehren  in  unversöhnbaren  Gegensatz  zu  der 
körperlichen  Veranlagung  des  Menschen  bringt  und  ihn  die  ge- 
schlechtliche Befriedigung  nur  beim  eigenen  Geschlechte  finden 
läßt.  Wir  werden  im  klinischen  Teile  Gelegenheit  haben,  auf  diese 
meist  sehr  früh  sich  zeigende  Erscheinungsform  des  Entartungs- 
irreseins ausführlich  zurückzukommen. 

Dagegen  ist  schon  hier  jene  höchst  eigentümliche  Verirrung  des 
Geschlechtstriebes  zu  besprechen,  die  man  nach  dem  berüchtigten 
französischen  Romanschriftsteller  Marquis  de  Sade^)  als  Sadis- 
mus" bezeichnet  hat.  Es  handelt  sich  dabei  um  das  Auftreten  von 


1)  Havelock  Ellis  u.  Symonds,  Das  konträre  Geschlechtsgefühl,  deutsch 
von  Kurella.  1896;  Raffalovich,  uranisme  et  unisexualite.  1896;  Bloch, 
Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia  sexualis,  I,  1902;  II,  1903. 

2)  Dühren,  Der  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit.  1900;  Neue  Forschungen 
über  den  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit.  1904. 

26» 


404 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


geschlechtlichen  Wollustempfindungen  bei  Handlungen  der  Grausam- 
keit. Havelock  EUis  sieht  darin  eine  Erinnerung  an  die  Liebes- 
kämpfe der  Tiere  und  gewissermaßen  eine  krankhafte  Übertreibung 
der  männlichen  Eigenart,  die  rücksichtslos  die  geschlechtliche 
Unterwerfung  erzwingt.  Die  betreffenden  Personen  suchen  ent- 
weder den  Reiz  der  geschlechtlichen  Vereinigung  durch  mehr  oder 
weniger  ernste  Mißhandlungen  zu  erhöhen,  oder  die  grausame  Hand- 
lung erweckt  schon  an  sich  die  volle  sinnliche  Befriedigung,  auch 
beim  Fehlen  aller  gesunden  Vorbedingungen  für  die  geschlechtliche 
Erregung.  Der  letztere  Fall  stellt  offenbar  nur  eine  weitere  krank- 
hafte Entwicklungsstufe  des  ersteren  dar.  Was  dort  nebensäch- 
liches, vielleicht  sogar  entbehrliches  Hilfsmittel  war,  ist  hier  zur 
Hauptsache  geworden,  neben  welcher  die  eigentliche  Hauptsache, 
die  geschlechtliche  Vereinigung,  vollständig  in  den  Hintergrund 
getreten  ist.  Tatsächlich  finden  sich  zahlreiche  Übergangsformen 
von  den  leichtesten,  noch  in  der  Gesundheitsbreite  liegenden  An- 
wandlungen bis  zu  den  schwersten,  das  Leben  der  Opfer  fordernden 
krankhaften  Verirrungen. 

Unter  den  sadistischen  Handlungen  selbst  kommen  in  erster 
Linie  Geißelungen,  namentlich  solche  auf  den  entblößten  Körper, 
in  Betracht,  die  häufiger  zur  Unterstützung  und  Vorbereitung  der 
geschlechtlichen  Erregung  benutzt  werden.  Als  wirklicher  Ersatz 
des  Beischlafs  dienen  sie  weit  seltener  und  wohl  nur  in  zweifellos 
krankhaften  Fällen.  Ähnlich  mag  es  mit  der  Neigung  zum  Kneifen 
und  Beißen  stehen.  Das  Stechen  und  Schneiden  tritt  bei  den  von 
Zeit  zu  Zeit  beobachteten  ,, Mädchenstechern"  geradezu  als  Form 
der  geschlechtlichen  Befriedigung  auf.  Die  Kranken  suchen  sich 
an  hübsche  junge  Mädchen  heranzudrängen  und  ihnen  mit  Dolch 
oder  Messer,  deren  sie  bisweilen  eine  große  Auswahl  besitzen,  eine 
blutige,  aber  nicht  gefährliche  Wunde  beizubringen,  was  ihnen  leb- 
hafte Wollustgefühle  und  Samenergießungen  verursacht.  Noch 
einen  Schritt  weiter  gehen  jene  Kranken,  welche  sich  die  geschlecht- 
liche Befriedigung  durch  Quälen  und  Töten  von  Tieren  zu  verschaffen 
suchen.  Dann  kommen  die  Lustmörder,  die  ihr  Opfer  vor  oder  nach 
dem  Geschlechtsakte  erdrosseln  und  dann  womöglich  aufschneiden, 
zerreißen,  zerstückeln.  Gerade  in  solchen  Fällen  zeigt  sich  bisweilen 
ein  buchstäblicher  ,, Blutdurst",  der  zum  Aussaugen  des  Opfers  und 
zur  wirklichen  Menschenfresserei  führen  kann.  Garnier  berichtet 


Krankhafte  Triebe. 


405 


von  einem  Kranken,  der  die  Begierde  hatte,  beim  Geschlechtsakte 
einem  Mädchen  ein  Stück  Fleisch  herauszubeißen,  und  es  dann  bei 
sich  selbst  ausführte.  Überall  können  eigentlich  geschlechtliche 
Handlungen  trotz  heftigster  geschlechtlicher  Erregung  vollkommen 
fehlen.  Als  eine  Abart  der  Lustmörder  sind  wohl  die  glücklicher- 
weise recht  seltenen  Leichenschänder  zu  betrachten,  unter  denen 
der  französische  Sergeant  Bertrand  eine  traurige  Berühmtheit  er- 
langt hat,  da  er,  von  unwiderstehlicher  geschlechtlicher  Begierde 
getrieben,  mit  größtem  Geschicke  frisch  bestattete  Leichen  wieder 
ausgrub,  schändete  und  zerstückelte.  Belletrud  und  Mercier 
sahen  einen  Totengräber,  der  die  Genitalien  ausgescharrter  weib- 
licher Leichen  küßte  und  sich  auch  eine  Leiche  in  seinem  Zimmer 
hielt,  um  sie  zu  mißbrauchen,  weil  die  Lebenden  nichts  mit  ihm  zu 
tun  haben  wollten. 

Gewissermaßen  das  Gegenstück  zum  Sadismus  bildet  die  von 
V.  Krafft-Ebing  unter  dem  Namen  des  ,, Masochismus"  be- 
schriebene Sucht,  sich  die  geschlechtliche  Befriedigung  durch  Er- 
duldung  von  Schmerzen  zu  würzen  oder  überhaupt  erst  zu  ver- 
schaffen. Die  Bezeichnung  ist  hergenommen  von  dem  Schriftsteller 
Sacher -Masoch,  der  in  seinen  Romanen  mit  Vorliebe  diese  eigen- 
tümliche Verirrung  schilderte.  Wegen  der  bei  beiden  bestehenden 
Verbindung  von  Schmerz  und  Wollust  hat  v.  Schrenk -Notzing 
für  Masochismus  und  Sadismus  die  gemeinsame  Bezeichnung  ,,Algo- 
lagnie"  (Schmerzgeilheit)  vorgeschlagen;  dieser  ist  tätige,  jener 
duldende  Algolagnie. 

Auch  beim  Masochismus  begegnen  wir  vor  allem  der  geschlecht- 
lichen Erregung  durch  Geißelung,  aber  hier  durch  deren  Erdul- 
den. Die  unliebsamen  Nebenwirkungen  erziehlicher  Züchtigungen, 
namentlich  der  Schläge  auf  das  Gesäß,  die  nicht  selten  in  beiden 
Teilen  wollüstige  Empfindungen  wecken,  sind  lange  bekannt,  eben- 
so die  Auffrischung  der  gesunkenen  geschlechtlichen  Leistungs- 
fähigkeit durch  ähnliche  Maßregeln.  Auch  das  Flagellantentum  hat 
vielleicht  eine  seiner  Wurzeln  in  der  sinnlich  aufreizenden  Wirkung 
der  Geißelhiebe  gehabt.  In  das  Gebiet  des  Krankhaften  gehören 
die  Fälle,  in  denen  die  geschlechtliche  Erregung  durch  wirklich  rohe 
Mißhandlungen,  Gebissen-,  Gestochen-,  Getretenwerden  und  ähn- 
liches ausgelöst  wird.  Meist  werden  hier  andere  Personen  vorher 
zur  Ausführung  der  gewünschten  Handlungen  angelernt. 


4o6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Aus  naheliegenden  Gründen  führt  die  Algolagnie  nur  verhältnis- 
mäßig selten,  bei  ausgebildetem  Schwachsinn  und  großer  sittlicher 
Stumpfheit,  zu  jenen  wirklich  gefährlichen  Handlungen,  die  in 
der  Entwicklungsrichtung  des  krankhaften  Triebes  liegen.  Vielfach 
sind  die  Handlungen,  die  ausgeübt  oder  gewünscht  werden,  mehr 
Andeutungen,  in  der  Weise,  wie  schon  Stechen  mit  Nadeln  oder 
Ritzen  der  Haut  ein  Sinnbild  des  Tötens,  das  Einpressen  der  Zähne 
ein  solches  des  Auffressens  darstellt.  Der  sadistische  Trieb  kann 
sich  in  Handlungen  Luft  machen,  die  ganz  allgemein  nur  die  un- 
beschränkte Herrschaft  über  das  geschlechtliche  Opfer  ausdrücken 
(Beschimpfen,  Beschmutzen,  Fesseln),  während  der  Masochist  sich 
befriedigt  fühlt,  wenn  er  in  möglichst  lebhafter  Weise  die  völlige 
Unterwerfung  unter  einen  fremden  Willen  empfindet  (Erdulden  von 
Beschimpfung,  Bedrohung,  Mißachtung,  ekelhafter  Besudelung, 
Knebelung,  Urintrinken).  Bei  der  regen  Mitarbeit  der  Einbildungs- 
kraft ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Kunstgriffe,  welche  diese  Kranken 
zur  Vorbereitung  oder  zum  Ersätze  des  Beischlafes  anwenden  oder 
von  anderen  fordern,  trotz  mancher  Gleichförmigkeit  eine  außer- 
ordentlich große. 

Wir  sind  im  Vorstehenden  wiederholt  der  Erscheinung  begegnet, 
daß  bei  unseren  Kranken  ein  ursprünglich  das  Zustandekommen 
der  geschlechtlichen  Erregung  nur  unterstützender  Vorgang  schließ- 
lich ganz  allein  schon  und  ohne  Verbindung  mit  eigentlichem 
Geschlechtsverkehre  die  angestrebte  Befriedigung  herbeizuführen 
vermag.  In  der  Regel  sind  es  Handlungen,  die  in  irgendeiner  Weise 
die  Vorstellung  der  Geschlechtsbeziehung  lebhaft  wachrufen.  Einer- 
seits können  wollüstige  Betastungen,  das  Zusehen  beim  Geschlechts- 
verkehr anderer,  ja  das  Beobachten  oder  gar  das  Verzehren  der 
natürlichen  Entleerungen,  ferner  das  Lesen  von  unzüchtigen 
Schriften,  das  Besehen  oder  Zeichnen  derartiger  Bilder,  endlich 
auch  die  Ausmalung  geschlechtlicher  Abenteuer  in  Gedanken  oder 
in  schriftlicher  Darstellung  (,, psychische  Onanie")  diese  Wirkung 
haben.  Für  die  letztere  Form  der  geschlechtlichen  Entladung  geben 
gerade  die  verschiedenen  sadistischen  und  masochistischen  Schriften 
merkwürdige  Beispiele.  Dieses  ganze  Gebiet  gehört  der  Entartung 
an;  es  scheint  aber,  daß  Ausschweifungen  und  der  ,, Reizhunger" 
durch  geschlechtliche  Übersättigung,  die  freilich  auch  auf  dem 
Boden  der  Entartung  am  besten  gedeihen,  hier  eine  gewise  Rolle 


Krankhafte  Triebe. 


407 


spielen.  Eine  etwas  andere  Bedeutung  hat  vielleicht  der  Exhi- 
bitionismus^), die  geschlechtliche  Befriedigung  durch  Vorzeigen 
der  Geschlechtsteile  gegenüber  Kindern  oder  Personen  des  anderen 
Geschlechtes.  Er  findet  sich,  wie  die  meisten  dieser  Verirrungen, 
vorwiegend  bei  Männern.  Öfters  handelt  es  sich  um  Epileptiker  in 
Dämmerzuständen  oder  um  Altersschwachsinnige,  bisweilen  auch 
um  einfache  Psychopathen. 

Zur  Erklärung  dieser  absonderlichen  Erscheinungen  liegt  die 
Annahme  nahe,  daß  bei  einer  krankhaften  Steigerung  der  geschlecht- 
lichen Erregbarkeit  bereits  der  begleitende  Vorgang  genügt,  um  die- 
selbe Wirkung  zu  erzielen,  die  er  im  gesunden  Leben  höchstens  in 
Verbindung  mit  den  wirklichen  Geschlechtsreizen  erreichte,  ähnlich 
wie  dem  Hungrigen  schon  die  Durchsicht  der  Speisekarte,  das 
Klappern  der  Teller  oder  gar  der  Anblick  leckerer  Speisen  das  Wasser 
im  Munde  zusammenlaufen  läßt.  Allein  schließlich  kann  es  so  weit 
kommen,  daß  nur  noch  der  nebensächliche  Reiz,  nicht  aber  mehr 
der  natürliche,  oder  doch  jener  unvergleichlich  viel  stärker  als  dieser, 
die  geschlechtliche  Befriedigung  zu  erzeugen  imstande  ist. 

Ganz  besonders  häufig  macht  sich  eine  solche  Verschiebung  in 
verschiedenartiger  Entwicklung  dahin  geltend,  daß  es  einzelne, 
bestimmte  Körperteile  oder  Kleidungsstücke  sind,  die  zunächst 
geschlechtlich  anregend  wirken,  dann  bei  der  Ausführung  des  Bei- 
schlafes eine  herrschende  Rolle  spielen  und  endlich  für  sich  allein 
in  ganz  absonderlicher  Weise  den  Geschlechtsgenuß  vermitteln. 
Man  bezeichnet  diese  Störung  als  ,,Fetischismus"2).  Von  körper- 
lichen Reizen  dienen  als  Fetische  bald  Hände  oder  Füße,  bald  Augen, 
Mund,  Ohr,  Haare,  besonders  Zöpfe.  Die  einfache  Betrachtung, 
Berührung,  Liebkosung  der  betreffenden  Teile  gewährt  dem  Feti- 
schisten  eine  weit  höhere  geschlechtliche  Befriedigung  als  der 
wirkliche  Beischlaf.  Unter  den  Kleidungsstücken  sind  Schuhe  und 
Stiefel  sehr  bevorzugt,  nach  v.  Kraf f t-E bings  Ansicht  wegen  der 
an  sie  sich  knüpfenden  masochistischen  Wollust  der  Unterwerfung, 
ferner  Taschentücher  und  Unterkleider,  endlich  Sammet-  und  Pelz- 
stoffe.   Wie  die  Erfahrung  lehrt,  werden  solche  Dinge  von  den 

1)  Seiffer,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  405.  1899. 

^)  Garnier,  Les  fetichistes  pervertis  et  invertis  sexuels.  1896;  Havelock 
Ellis,  Die  krankhaften  Geschlechtsempfindungen  auf  dissoziativer  Grundlage, 
deutsch  von.Jentsch.  1907. 


4o8 


II.  I^ie  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Kranken  aus  geschlechtlicher  Begierde  massenhaft  gesammelt, 
am  liebsten  unter  den  schwierigsten  Umständen  erbeutet  (Zopf- 
abschneider!) oder  gestohlen  und  zu  einsamen  masturbatorischen 
Vergnügungen  verwendet.  Auch  sadistische  und  masochistische 
Handlungen  können  sich  an  den  Fetisch  knüpfen.  Die  Kranken 
zerreißen,  zerknittern  oder  beschmutzen  die  Wäschestücke,  drängen 
sich  an  Mädchen  an,  um  ihre  Kleider  mit  Tinte  oder  ätzenden  Säuren 
zu  übergießen,  oder  sie  hüllen  sich  in  uringetränkte  Tücher,  stopfen 
sich  schmutzige  Lappen  in  den  Mund  u.  dgl. 

Mehr  dem  Grenzgebiete  zwischen  geistiger  Gesundheit  und 
Krankheit  gehört  die  geschlechtliche  Befriedigung  durch  unzüch- 
tige Handlungen  an  Kindern  an.  Wir  treffen  sie  einmal  in  epilep- 
tischen" Dämmerzuständen,  dann  aber  bei  Personen,  denen  der 
gesunde  Geschlechtsverkehr  erschwert  ist,  bei  Greisen  und  Schwach- 
sinnigen. Eine  ganz  ähnliche  Bedeutung  hat  auch  die  Sodomie, 
die  Unzucht  mit  Tieren,  die  sich  nicht  selten  mit  sadistischen  Hand- 
lungen, Hineinstoßen  von  Stöcken  in  die  Genitalien  der  Tiere,  ver- 
bindet. In  welchen  Beziehungen  endlich  die  krankhafte  Zuneigung 
zu  Tieren,  die  Zoophilie,  mit  dem  Geschlechtstriebe  steht,  ist  noch 
unklar.  Da  es  sich  meist  um  Frauen  handelt,  die  mit  der  größten 
Zärtlichkeit  und  Aufopferung  sich  ihren  Katzen,  Hunden  oder 
Vögeln  widmen,  möchte  man  hier  an  eine  Verirrung  des  Brut- 
pflegetriebes glauben. 

Als  die  Quelle  des  Sammeltriebes,  der  ebenfalls  bisweilen 
krankhafte  Formen  annehmen  kann,  ist  wohl  zunächst  die  Freude 
am  Besitze,  die  Habsucht,  anzusehen;  doch  werden  gelegentlich 
auch  ganz  wertlose  Gegenstände,  abgeschnittene  Haare,  Nägel  u.  dgl. 
gesammelt.  Nah  verwandt  erscheint  die  krankhafte  Kauflust  (,,Onio- 
manie"),  die  den  Kranken  veranlaßt,  sobald  sich  ihm  dazu  Gelegen- 
heit bietet,  ohne  jedes  wirkliche  Bedürfnis  in  großen  Mengen  ein- 
zukaufen. Hunderte  von  Halsbinden  oder  Handschuhen,  Dutzende 
von  Anzügen,  Hüten,  Überröcken,  Schmucksachen,  Spazierstöcken, 
Uhren.  In  einzelnen  Fällen  verbindet  sich  damit  der  Trieb,  allen 
möglichen  Personen  Geschenke  zu  machen.  Es  gibt  indessen  auch 
noch  andere  Beweggründe  für  triebartiges  Kaufen.  Ich  kannte  eine 
Frau,  die  sich  aus  verschiedenen  Geschäften  massenhaft  Waren 
kommen  ließ,  um  sie  sofort  hinter  dem  Rücken  ihres  Mannes  zu 
Schleuderpreisen  wieder  zu  verkaufen,  ohne  sie  auch  nur  anzu- 


Krankhafte  Triebe. 


409 


sehen.  Obgleich  sie  sich  dadurch  den  schwersten  Unannehmlich- 
keiten aussetzte  und  ihren  Mann  wirtschaftlich  zugrunde  richtete, 
war  sie  doch  gänzlich  außerstande,  von  ihrem  Treiben  zu  lassen. 
Nach  gelegentlichen,  allerdings  später  von  ihr  verleugneten  Äuße- 
rungen mußte  man  schließen,  daß  die  Triebfeder  dieses  unsinnigen 
Handelns  der  Reiz  der  Gefahr  bildete,  die  Unruhe  und  Aufregung, 
die  mit  ihren  heimlichen  Geschäften  verknüpft  war.  Man  wird  hier 
an  das  Verhalten  der  Spieler  erinnert,  die  ja  allerdings  wenigstens 
eine  entfernte  Möglichkeit  des  Gewinnes  erhoffen  dürfen. 

Ähnliche  Beweggründe  mögen  hier  und  da  auch  dem  Stehl- 
triebe,  der  Kleptomanie,  zugrunde  liegen,  die  den  Kranken  dazu 
treibt,  sich  ohne  Not  selbst  ganz  unnütze,  wertlose  Dinge  durch 
Diebstahl  anzueignen.  Er  kommt  hauptsächlich  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte vor,  namentlich  in  der  Schwangerschaft  oder  während  der 
Menses;  psychopathische,  besonders  hysterische  Veranlagung  spielt 
dabei  eine  wesentliche  Rolle.  In  der  Regel  handelt  es  sich  wohl 
nur  um  die  Herabsetzung  der  Widerstandsfähigkeit  gegen  augen- 
blickliche Gelüste  und  lockende  Verführung,  besonders  bei  den  in 
neuerer  Zeit  zahlreichen  Warenhausdiebinnen.  Dupouy  berichtet 
von  einer  66jährigen  Frau,  die  stahl,  nachdem  sie  einen  anderen 
hatte  stehlen  sehen.  In  hysterischen  Dämmerzuständen  kommt  auch 
ein  wirklicher  Trieb  vor,  alle  möglichen  Gegenstände  einzustecken 
und  zu  verbergen.  In  manchen  Fällen  von  Stehltrieb  hat  sich,  wie 
erwähnt,  ein  überraschender  Zusammenhang  mit  geschlechtlichen 
Verirrungen  herausgestellt,  bei  solchen  Personen,  die  Taschentücher, 
Wäsche,  Kleidungsstücke,  Stiefel  in  großen  Mengen  zusammensteh- 
len, um  sie  als  Fetisch  zu  benutzen ;  auch  geschlechtliche  Erregung 
beim  Stehlen  selbst  oder  bei  der  Entdeckung  wurde  beobachtet^). 

Ganz  außer  Beziehung  zu  den  natürlichen  Trieben  scheint  der 
Brandstiftungstrieb^)  („Pyromanie")  zu  stehen,  der  einmal 
in  epileptischen  und  hysterischen  Dämmerzuständen,  dann  aber 
namentlich  in  den  Entwicklungsjahren  bei  leichterem  oder  aus- 
geprägterem Schwachsinn  vorkommen  kann  und  anscheinend  zu 
der  bekannten  Vorliebe  kleiner  Kinder  für  das  Spielen  mit  Feuer  in 
einer  gewissen  Beziehung  steht.  Die  mehrfache  Wiederholung  der- 
selben Tat,  das  Fehlen  jedes  vernünftigen  Beweggrundes,  die  Be- 

1)  Försterling,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXIV,  935- 
-)  Gimbal,  Annales  medico-psychologiques,  1905,  II,  353. 


410 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


friedigung  beim  Ausbrechen  des  Brandes,  die  spätere  Reue,  die 
häufig  beobachtete  auslösende  Wirkung  des  Alkohols  weisen  auf 
krankhafte  Grundlagen  dieser  noch  recht  rätselhaften  Erfahrungen 
hin;  auch  die  Menses  sind  vielfach  von  Bedeutung.  Bisweilen  spielt 
dabei  das  Heimweh,  der  Wunsch,  fortzukommen,  dem  wir  schon 
bei  den  epileptischen  Verstimmungen  begegnet  sind,  eine  Rolle. 
Ein  junger  Mensch  meiner  Beobachtung  begründete  eine  von 
mehreren,  rasch  aufeinanderfolgenden  Brandstiftungen  mit  dem 
plötzlich  bei  ihm  auftauchenden  Gedanken,  den  Vater  dadurch  zum 
Ausziehen  aus  der  aussichtslosen  und  verbauten  Wohnung  zu  ver- 
anlassen. In  anderen  Fällen  ist  es  Rache  wegen  einer  geringfügigen 
Benachteiligung,  der  kindische  Wunsch,  einen  Schabernack  zu 
spielen,  der  die  urteilsschwachen  und  triebartig  handelnden  Ge- 
schöpfe zu  ihrer  bedenklichen  Handlungsweise  veranlaßt. 

Ähnlich  zu  beurteilen  sind  jene  vereinzelten  Beobachtungen  von 
jungen  Mädchen,  die  in  den  Entwicklungsjahren  ihre  Pflegekinder 
ohne  anderen  Grund  ermorden,  als  weil  sie  ihrer  Stelle  überdrüssig 
sind.  In  einem  mir  bekannt  gewordenen  Falle  von  mehrfacher 
Kindestötung  hatte  die  jugendliche  Täterin  Tieren  und  schließlich 
kleinen  Kindern  den  Finger  gewaltsam  in  den  After  gebohrt,  so  daß 
auch  sie  daran  starben;  hier  bestanden  wohl  Beziehungen  zum  Ge- 
schlechtstriebe. Ein  anderes,  jüngst  von  mir  beobachtetes,  schwach- 
sinniges junges  Mädchen  tötete  nacheinander  sechs  ihr  anvertraute 
Kinder  durch  Einstechen  einer  langen  Nadel  ins  Gehirn,  weil  sie  Lärm 
machten  und  unartig  waren.  Endlich  sind  hier  noch  gewisse  Formen 
der  Giftmischerei  zu  erwähnen,  die  fast  ausschließlich  beim  weib- 
lichen Geschlechte  vorkommen.  Es  sind  das  jene  grauenhaften 
Fälle,  in  denen  ohne  erkennbaren  Beweggrund  wahllos  zahlreiche 
Personen  der  nächsten  Umgebung,  oft  auch  Kinder  und  geliebte 
Angehörige,  vergiftet  werden.  Die  Täterinnen  beobachten  dabei 
mit  innerer  Befriedigung  die  Wirkung  ihres  Tuns,  empfinden  aber 
lebhafte  Trauer  beim  Tode  ihrer  Opfer,  ohne  dem  Drange  nach 
weiterer  Betätigung  widerstehen  zu  können.  Die  nahe  psycho- 
logische Verwandtschaft  mit  dem  Brandstiftungstriebe  liegt  auf  der 
Hand;  in  beiden  Fällen  werden  heimlich  mit  unscheinbaren  Mitteln 
gewaltige  Wirkungen  erzielt. 

Alle  dauernden  Abweichungen  auf  dem  Gebiete  der  Triebe 
deuten  auf  eine  angeborene  Entartung  hin;  sie  sind  insgesamt  nur 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


411 


Teilerscheinungen    einer    krankhaften    Veranlagung.     Sie  bilden 
besondere  persönliche  Eigentümlichkeiten,  die  von  ihren  Trägern 
nicht  unmittelbar  als  etwas  Fremdartiges,  Krankhaftes  empfunden 
werden,  auch  dann  nicht,  wenn  diese  durch  Erfahrung  und  Über- 
legung den  Gegensatz  kennen  gelernt  haben,  in  dem  sie  zu  ihren 
gesunden  Mitmenschen  stehen.  Die  Ausnahmestellung,  die  sie  ein- 
nehmen, die  daraus  entspringenden  Demütigungen  und  Gefährdungen 
:  sind  es  viel  mehr,  was  sie  niederdrückt,  als  das  Gefühl,  krank 
I  zu  sein.   Insbesondere  werden  die  zweckwidrigen  Gestaltungen  des 
(  Geschlechtstriebes  von  ihren  Trägern  vielfach  seiner  gesunden  Be- 
t  tätigung  als  gleichwertig  oder  gar  höherwertig  an  die  Seite  gestellt. 

Hier  liegt  die  allerdings  im  einzelnen  fließende  Grenze  zwischen 
,  Zwangshandlungen  und  den  Äußerungen  krankhafter  Triebe.  Der 
,  Zwangsantrieb  erscheint  dem  Kranken  immer  als  etwas  ihm  inner- 
I  lieh  Fremdes,  Aufgedrungenes;  seiner  Ausführung  folgt  nur  im 
,  Augenblicke  das  Gefühl  der  Befreiung  von  dem  inneren  Drucke,  dann 
i  aber  dasjenige  einer  erlittenen  Niederlage.  Dagegen  bedeutet  die 
]  Befriedigung  des  krankhaften  Triebes  für  den  Kranken  selbst  zu- 
:  nächst  nur  die  Deckung  eines  natürlichen  Bedürfnisses,  und  sie  kann 
die  gleichen,  oft  sogar  weit  stärkere  Lustgefühle  hervorrufen,  als  die 
Betätigung  der  gesunden  Triebe.  Erst  durch  die  Einflüsse  der  Er- 
;  Ziehung  und  des  Lebens  wird  dieser  ursprüngliche  Sachverhalt  ver- 
'  wischt. 

Störungen  der  Ausdrucksbewegungen.  Eine  der  wichtigsten 
Quellen  für  die  Erkennung  krankhafter  Seelenzustände  bilden  die 
.  Ausdrucksbewegungen  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  da  wir  aus 
ihnen  vor  allem  unsere  Schlüsse  auf  die  psychischen  Vorgänge  zu 
ziehen  haben,  die  sich  in  unseren  Kranken  abspielen.  Eine  genaue 
Schilderung  aller  dieser  Bilder  würde  indessen  die  äußerlich  erkenn- 
baren Hauptzüge  sämtlicher  klinischer  Krankheitsformen  wieder- 
geben müssen;  wir  beschränken  uns  daher  hier  auf  wenige  Andeu- 
tungen, die  in  der  späteren  Einzelbeschreibung  näher  ausgeführt 
werden  sollen. 

Die  Kranken  mit  Dementia  praecox  pflegen  sich  gar  nicht  um 
ihre  Umgebung  zu  kümmern,  auch  wenn  sie  tatsächlich  recht  gut 
auffassen;  sie  sind  unzugänglich,  beachten  den  Arzt  nicht,  liegen 
teilnahmlos,  oft  in  starrer,  verzwickter  Haltung  da,  geben  keine 
Antwort,  befolgen  keine  Aufforderung,  oder  sie  machen  einförmige. 


412 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zwecklose  Bewegungen,  grinsen  und  lachen  ohne  Anlaß,  werfen 
plötzlich  irgendeinen  Gegenstand  ins  Zimmer,  rasen .  unaufhaltsam 
durch  den  Saal,  drähgen  sinnlos  zur  Türe  hinaus  usf.  Die  verblödeten 
Kranken  werden  oft  ganz  ablehnend,  kauern  oder  stehen  in  einer 
Ecke  herum  und  entziehen  sich  unter  unverständlichem  Gemurmel 
jedem  Versuche,  sich  mit  ihnen  in  Beziehung  zu  setzen. 

Sehr  auffallend  sind  die  Veränderungen,  die  der  Ablauf  der 
Bewegungen  in  der  Dementia  praecox  erfährt.  In  der  Hauptsache 
können  wir  sie  als  Verlust  der  Grazie  kennzeichnen.  Die  Anmut 
der  Bewegungen  ist  das  Ergebnis  einer  ganzen  Reihe  von  Einzel- 
vorgängen, die  vielleicht  am  besten  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Ersparnis  zu  betrachten  sind.  Die  anmutige  Bewegung  erreicht  ihr 
Ziel  mit  möglichst  geringem,  aber  ausreichendem  Aufwände  von 
Kraft  und  Weg.  Demgegenüber  werden  die  katatonischen  Be- 
wegungen entweder  steif  und  hölzern  infolge  von  übermäßiger 
Anspannung  der  Antagonisten  oder  schlaff  und  lässig  wegen  un- 
genügenden Kraftaufwandes.  Während  die  Anmut  nur  diejenigen 
Muskeln  in  Bewegung  setzt,  die  unmittelbar  an  der  Handlung  be- 
teiligt sind,  werden  die  katatonischen  Bewegungen  plump  und 
massig  durch  die  Heranziehung  großer  und  ferner  gelegener  Muskel- 
gruppen. Die  einfache  Natürlichkeit,  die  geradeswegs  dem  Ziele 
zustrebt,  geht  ihnen  verloren  durch  Verschnörkelungen  und  Ent- 
gleisungen, die  ihnen  den  Stempel  der  Geziertheit  und  Verschroben- 
heit aufdrücken.  Auch  die  Abrundung  fehlt  ihnen,  das  langsame 
Anwachsen  und  Abnehmen  der  Geschwindigkeit,  wie  es  einer  haus- 
hälterischen Verwendung  der  Kraft  entspricht;  die  Bewegungen 
gehen  ruckweise  und  eckig  vonstatten,  oft  auch  in  Absätzen,  von 
plötzlicher  Sperrung  unterbrochen.  Endlich  ist  der  Mangel  an 
innerer  Einheitlichkeit  in  den  Ausdrucksbewegungen  bemerkens- 
wert. Arme  und  Gesicht  können  die  lebhaftesten  Gebärden  zeigen, 
während  Rumpf  und  Beine  regungslos  bleiben  und  die  Zunge  ruht, 
oder  der  Kranke  tanzt  mit  starrem  Ausdruck  und  steifen  Armen 
herum;  er  spricht  lebhaft,  antwortet,  verwebt  das  Gehörte  in  seine 
Reden,  ohne  doch  seine  Umgebung  anzublicken. 

Die  Kranken  mit  Wahnbildungen  putzen  sich  mit  allerlei  bunten 
Lappen  heraus;  sie  suchen  sich  durch  geheimnisvolle  Gebärden  und 
Vorrichtungen  vor  feindlichen  Beeinflussungen  zu  schützen,  oder 
sie  ziehen  sich  mürrisch  zurück,  um  gelegentlich  stürmisch  ihren 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


Groll  zu  entladen.  Insbesondere  die  Gehörshalluzinanten  stehen 
vielleicht  mit  lauschendem  Gesichtsausdrucke  in  einer  Ecke  und 
bewegen  nur  hier  und  da  zur  Antwort  die  Lippen  oder  rufen  einige 
abgerissene  Worte.  Die  vorgeschrittenen  Paralytiker  erkennt  man 
an  ihren  schlaffen  Gesichtszügen  und  oft  an  einer  gewissen  täppischen 
Freundlichkeit,  an  dem  strahlenden  Ausdrucke,  mit  dem  sie  ihre 
schwachsinnigen  Größenideen  vorbringen.  Späterhin  sieht  man  sie 
m  tiefster  Verblödung  stumpf  daliegen,  ohne  jede  Spur  des  Ver- 
ständnisses oder  der  Anteilnahme  für  ihre  Umgebung. 

Der  Niedergeschlagene  sitzt,  schlaff  in  sich  zusammengesunken, 
mit  bekümmerten  Zügen  da  und  vermag  oft  nur  mit  der  größten 
Anstrengung  den  Blick  zu  erheben,  die  Hand  zu  geben  oder  eine 
leise,  zögernde  Antwort  hervorzubringen.  Ängstliche  Kranke  kauern 
sich  zusammen,  wie  um  dem  drohenden  Unheil  möglichst  wenig 
Angriffspunkte  zu  gewähren,  pressen  die  Zähne  aufeinander, 
schließen  die  Augen,  machen  sich  steif,  setzen  jedem  Annäherungs- 
versuche verzweifelte  Gegenwehr  entgegen.  Oder  sie  wandern  ruhe- 
los herum,  an  den  Nägeln  kauend,  das  Gesicht  zerzupfend,  die 
Hände  ringend,  drängen  zur  Türe  hinaus,  klammern  sich  laut 
jammernd  an  ihre  Umgebung  an.  Dagegen  läuft  der  Manische  mit 
lebhaften  Ausdrucksbewegungen  schwatzend,  lachend,  singend,  ge- 
schäftig herum,  sammelt  alles  Mögliche  in  seinen  Taschen  an,  redet 
überall  drein,  treibt  Schabernack,  schreibt  zahllose  Briefe  und 
Gedichte,  schmückt  sich  mit  Blumen  und  Bändern  und  sucht  die 
Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken.  Die  Hysterische  bemüht  sich, 
durch  Kleidung  und  Haartracht,  durch  Sprödigkeit,  Ausgelassen- 
heit oder  demütige  Hilfsbedürftigkeit  Eindruck  zu  machen;  sie 
beobachtet  scharf,  beherrscht  sehr  bald  ihre  Umgebung  und  weiß 
allerlei  kleinen  Schmuck  des  Lebens  um  sich  anzuhäufen,  Blumen, 
Bildchen,  Kissen,  Deckchen,  Bändchen,  Wohlgerüche.  Der  Para- 
noiker  endlich  trägt  mit  einer  gewissen  Würde  die  „Gefangenschaft" 
der  Irrenanstalt,  in  der  Tasche  die  selbstverfaßten  Beweisstücke  für 
seine  hohe  Stellung,  die  Abschriften  seiner  Beschwerden  oder  die 
Akten  seiner  Rechtsstreitigkeiten.  Aus  allen  diesen,  in  größter 
Mannigfaltigkeit  wechselnden  und  dennoch  vielfach  wiederkehrenden 
Bildern  vermag  der  erfahrene  Irrenarzt  oft  schon  beim  ersten  An- 
blicke die  ungefähre  Art  der  Störungen  zu  erkennen.  Zahlreich  aber 
sind  die  Fälle,  die  für  die  oberflächliche  Beobachtung  gar  keine  auf- 


414 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


fallenden  Erscheinungen  darbieten,  ein  Verhalten,  welches  die 
bekannte  Erfahrung  erklärt,  daß  laienhafte  Besucher  der  Anstalt 
und  selbst  Wärter  bei  vielen  Kranken  das  Vorhandensein  einer 
Geistesstörung  gar  nicht  aufzufinden  vermögen. 

Von  den  Ausdrucksbewegungen  im  engeren  Sinne  ist  es  zu- 
nächst die  Mimik  1),  die  bei  unseren  Kranken  mancherlei  Ab- 
weichungen bietet.  Die  Depressionszustände  sind  durch  leichtes 
Herabziehen  der  Mundwinkel,  senkrecht  und  quer  verlaufende 
Stirnfalten  (,, Gramfalten"),  gesenkte,  parallele  Stellung  der  Augen- 
achsen (Vorsichhinstarren)  und  Einförmigkeit  des  Ausdrucks  ge- 
kennzeichnet, während  wir  bei  manischen  Kranken  raschen  Wechsel 
des  Mienenspiels ,  lebhaften  Blick ,  Verziehen  der  Mundwinkel 
nach  außen  und  aufwärts  und  das  Erscheinen  von  Fältchen  am 
äußeren  Augenwinkel  beobachten.  Der  plötzliche  Umschlag  des 
depressiven  Ausdrucks  in  den  manischen,  den  man  öfters  durch 
Zureden  erzielen  kann,  hat  etwas  ungemein  Überraschendes.  Bei 
der  Dementia  praecox  begegnet  uns  vielfach  ein  eigentümlich 
leerer  Gesichtsausdruck,  der  wohl  wesentlich  durch  die  Gering- 
fügigkeit des  Mienenspiels  und  den  Fortfall  des  Fixierens  be- 
dingt wird;  die  Pupillen  sind  dabei  oft  auffallend  weit.  Die  Aus- 
druckslosigkeit  kann  sich  zu  maskenartiger  Starrheit  steigern,  bis- 
weilen mit  krampfartiger  Spannung  einzelner  Muskelgruppen, 
Hochziehen  der  Stirn,  Zukneifen  der  Augen,  Vorschieben  der 
Lippen.  In  anderen  Fällen  beobachten  wir  Gesichterschneiden  oder 
feine  rhythmische  Zuckungen  in  einzelnen  Gesichtsmuskeln,  auch 
wohl  leichte,  flatternde  Mitbewegungen  vor  und  bei  dem  Sprechen. 
Der  Gesichtsausdruck  der  Paralytiker  und  Arteriosklerotiker  wird 
durch  die  Lähmungserscheinungen  verändert.  Die  Züge  sind  schlaff, 
die  Nasolabialfalten  verstrichen,  oft  stärker  auf  einer  Seite;  die  Er- 
schwerung der  Sprache  führt  zu  ausgiebigen  Mitbewegungen.  In 
den  epileptischen  Erregungszuständen  pflegen  die  Gesichtszüge  den 
Ausdruck  der  Spannung  zu  zeigen,  der  durch  die  erweiterten  Pupillen 
noch  gesteigert  wird.  Den  Trinker  endlich  kennzeichnen  die  ver- 
waschenen Gesichtszüge,  die  schwimmenden  Augen  und  die  kleinen 
Venenerweiterungen  an  Wangen  und  Nase. 

Weiterhin  kann  das  Lachen  und  Weinen  bei  unseren  Kranken 
gewisse  Abweichungen  darbieten.    Bei  der  Dementia  praecox  ist 

1)  Dromard,  Journal  de  psychologie  normale  et  pathologique,  1906,  Febr. 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


41S 


plötzliches  grundloses  Lachen,  über  dessen  Entstehung  sich  die 
Kranken  selbst  keine  Rechenschaft  geben  können,  ein  ungemein 
verbreitetes  Krankheitszeichen;  auch  lange  fortgesetztes  krampf- 
haftes Lachen  oder  Weinen  kommt  vor.  Bisweilen  beobachtet  man 
Weinen  bei  heiterem  Gesichtsausdruck  oder  Weinen  in  bestimmter 
Melodie.  Ausgeprägte  Lach-  und  Weinkrämpfe  im  Anschlüsse  an 
gemütliche  Erregungen  sind  ein  bekanntes  Zeichen  der  Hysterie; 
auch  traurige  Anlässe  können  hier  Lachausbrüche  erzeugen.  Einer 
anderen  Form  des  Krampfweinens  und  -lachens  begegnen  wir  bei 
Bulbärerkrankungen,  wie  sie  gelegentlich  auch  durch  Hirnlues  oder 
Arteriosklerose  verursacht  werden.  Es  handelt  sich  hier  um  reine 
Ausdrucksbewegungen,  denen  gar  keine  gemütlichen  Regungen 
entsprechen,  die  sich  vielmehr  krampfartig  an  jeden  Versuch,  zu 
sprechen ,  anschließen.  Bei  den  Lach-  und  Weinkrämpfen  der 
Hysterie  haben  wir  es  dagegen  immer  mit  heftigen  Gemüts- 
bewegungen zu  tun,  die  sich  hier  in  ähnlicher  Weise  entladen,  wie 
sie  es  sonst  etwa  in  allgemeinen  Muskelkrämpfen  tun. 

Sehr  ausgiebige  Veränderungen  erleiden  durch  die  Geistesstörung 
Sprache'-)  und  Schrift,  auch  wenn  wir  ganz  von  dem  Inhalt 
absehen,  der  natürlich  vielfach  die  Wahnideen  oder  Stimmungen 
des  Kranken  erkennen  läßt.  Wir  übergehen  hier  die  mannigfachen 
Störungen  der  Sprache,  die  nicht  auf  psychischem  Gebiete  ent- 
stehen, das  Silbenstolpern  und  Schmieren  der  Paralytiker,  das 
Skandieren  und  Häsitieren,  das  Stottern  und  Stammeln.  Die  Klang- 
stärke  der  sprachlichen  Äußerungen  unterliegt  den  weitgehendsten 
Schwankungen,  vom  unbändigsten  Brüllen  und  Schreien  bis  zum 
unhörbaren  Flüstern,  das  sich  schließlich  zu  einfachen  Lippen- 
bewegungen abschwächen  kann.  Das  erstere  Verhalten  treffen  wir 
naturgemäß  in  den  heftigen  Erregungszuständen  an,  bei  Manischen, 
Katatonischen,  Paralytikern,  während  das  Sinken  der  Klangstärke 
vor  allem  bei  gehemmten,  aber  auch  bei  negativistischen  Kranken 
beobachtet  wird.  Das  An-  und  Abschwellen  der  Klangstärke  im 
Verlaufe  eines  Satzes,  das  die  Rede  des  Gesunden  gliedert,  kann  bei 
der  Dementia  praecox  und  bei  der  Paralyse  ausbleiben,  so  daß  die 
Abrundung  der  Rede  verloren  geht. 

1)  Seglas,  les  troubles  du  langage  chez  les  ali6n6s.  1892;  Liebmann  und 
Edel,  Die  Sprache  der  Geisteskranken.  1903;  Heil  bronner,  Centralbl.  f. 
NervenheUk.,  1906,  465;  Knapp,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XXIII,  Erg.-Heft,  97. 


4i6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Auch  innerhalb  der  einzelnen  Satzteile  und  Worte  findet  ein 
An-  und  Abschwellen  der  Klangstärke  statt,  die  Betonung,  die  in 
engster  Beziehung  zu  dem  Gedanken-,  namentlich  aber  zu  dem 
Gefühlsinhalte  des  Gesprochenen  steht.  Mit  der  Verblödung  pflegt 
sich  daher  die  Ausprägung  der  sprachlichen  Betonung  zu  verwischen; 
sie  wird  auch  matter  bei  Abnahme  der  Klangstärke.  Außerdem  aber 
treffen  wir  in  der  Dementia  praecox  vielfach  unsinnige  Betonungen, 
Hervorheben  gleichgültiger,  Fallenlassen  wichtiger  Sprachglieder, 
eine  Erscheinung,  die  in  die  Gruppe  der  Manieren  zu  rechnen  ist. 

Mit  der  krankhaften  Einförmigkeit  der  Klangstärke  verbindet 
sich  regelmäßig  auch  der  Verlust  der  sprachlichen  Melodie^). 
Nicht  nur  im  Verlaufe  eines  Satzes,  sondern  in  jedem  Worte,  ja  in 
jeder  Silbe,  findet,  wie  sich  durch  Untersuchung  der  Schwingungs- 
kurven zeigen  läßt,  ein  Heben  und  Senken  der  Stimme,  eine  Zu- 
nahme und  Abnahme  der  Schwingungszahl  statt,  die  den  eigen- 
tümlichen Tonfall  der  Sprache  bedingt.  Ausbleiben  dieser  Modu- 
lation, wie  sie  etwa  beim  weinerlichen  Sprechen  der  Kinder  statt- 
findet, macht  die  Sprache  eintönig  und  ausdruckslos.  Sehr  häufig 
ist  das  bei  der  Paralyse,  öfters  auch  bei  der  Epilepsie  und  Katatonie 
der  Fall.  Bei  dieser  letzteren  begegnen  wir  andererseits  auch  bis- 
weilen dem  singenden  Sprechen  in  Melodien, 

Der  fortwährende  Wechsel  von  Tonhöhe  und  Klangstärke  in  den 
einzelnen  Satzgliedern  wird  zunächst  wesentlich  durch  die  Rück- 
sicht auf  den  Inhalt  der  Rede  bestimmt,  dessen  wichtige  Bestand- 
teile betont  und  mit  erhöhter  Stimme  vorgebracht  werden.  Sobald 
die  Bedeutung  des  Gedankeninhalts  für  die  sprachlichen  Äußerungen 
in  den  Hintergrund  tritt,  macht  sich,  wie  Fauser  betont  hat,  die 
Neigung  zu  rhythmischer  Gliederung  der  Rede  bemerkbar;  das 
ist  z.  B.  beim  gedankenlosen  ,, Herleiern"  auswendig  gelernten 
Stoffes  der  Fall.  In  sehr  ausgeprägter  Weise  findet  sich  oft  die 
rhythmische  Betonung  bei  den  in  zahllosen  Wiederholungen  vor- 
gebrachten sinnlosen  Reden  der  Katatoniker,  wie  in  folgendem 
Beispiel: 

,,Im  Satzerich,  im  Sätzerich,  im  Kimmichum"  usf.  —  ,,Was  s611  ich 
jetzt  sägen,  Zwidneikopf,  was  soll  ich  jetzt  sagen,  die  Waschschüssel  holen" 
usf.  —  ,,Mütterle,  Spaarmatz,  ich  müde  und  kränk  und  hungrig;  ich  bin 
verfrören  und  wätschel-watschelnäß"  usf. 


1)  Scripture,  Researches  in  experimental  phonetics.  1906. 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


417 


Auch  die  Reden  der  manischen  Kranken  sind  häufig  rhythmisch 
geghedert,  nicht  selten  noch  dazu  gereimt;  bei  ihnen  dürfte  indessen 
außer  dem  Zurücktreten  des  Gedankeninhaltes  auch  die  psycho- 
motorische Erregung  eine  Einstellung  auf  regelmäßige  Wiederkehr 
ähnlicher  Sprachinnervationen  begünstigen. 

Die  Aussprache  der  einzelnen  Buchstaben  erfolgt  in  den 
Erregungszuständen  überstürzt,  vielfach  in  abgekürzter  Form,  bei 
leiser  Sprache  undeutlich  und  verwaschen.  Die  Geziertheit  der 
Katatoniker  kann  einzelne  Buchstaben  umwandeln,  z.  B.  i  in  ü, 
e  in  ö,  d  in  t,  b  in  p  oder  umgekehrt,  unter  Umständen  auch  durch 
ganz  andere  ersetzen,  etwa  nach  Kinderart.  Auch  in  hysterischen 
Dämmerzuständen  kommt  bisweilen  ein  Rückfall  in  die  Kinder- 
sprache vor.  Die  Wörter  können  durch  fremdsprachige  Endungen 
und  Verkleinerungssilben  oder  willkürliche  Verstümmelungen  ab- 
geändert werden,  namentlich  von  katatonischen  und  manischen 
Kranken.  Dieselben  Kranken,  gelegentlich  auch  Paralytiker, 
bringen  bisweilen  ein  unsinniges  Kauderwelsch  vor,  mit  dem  An- 
sprüche, in  fremden  Sprachen  zu  reden. 

j^v  Die  Satzbildung  geht  in  schweren  Erregungszuständen  meist 
verloren;  statt  dessen  kommt  ein  zusammenhangloses  Gemenge 
von  abgerissenen  Bruchstücken,  einzelnen  Ausrufen,  Aufzählungen 
zustande.  Ebenso  pflegen  andere  Formen  der  Verwirrtheit  in  dem 
Mangel  eines  Satzgefüges  zum  Ausdrucke  zu  gelangen.  Kindlichen 
Agrammatismus  beobachten  wir  bei  Idioten,  hier  und  da  auch  bei 
Herderkrankungen  und  bei  der  Paralyse,  ferner  in  ganz  anderer  Ent- 
stehungsweise bei  den  Dämmerzuständen  der  Hysterischen  mit 
Rückversetzung  in  die  Kindheit. 

Das  Zeitmaß  der  sprachlichen  Äußerungen  ist  in  den  Depres- 
sionszuständen  meist  verlangsamt;  vielfach  treten  Pausen  und 
Stockungen,  plötzliches  Abbrechen  oder  Versanden  der  Rede  ein. 
Im  Stupor  sind  die  Kranken  wortkarg  bis  zum  völligen  Verstummen, 
das  durch  Hemmung  oder  durch  Negativismus  bedingt  sein  kann. 
Umgekehrt  ist  die  Folge  der  Sprachbewegungen  beschleunigt  in 
Erregungszuständen.  Wir  sprechen  hier  von  einem  ,, Rededrang", 
der  ein  fließendes  Fortsprechen  ,,ohne  Punkt  und  Komma"  zu  er- 
zeugen pflegt.  Heilbronner  konnte  feststellen,  daß  dabei  kurze 
Wörter  in  ganz  auffallender  Weise  bevorzugt  werden;  die  Färbung 
der  Stimmung  kann  eine  ängstliche  oder  heitere  sein.   Es  ist  jedoch 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  ^7 


4i8 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zu  beachten,  daß  dieses  Krankheitszeichen,  ebenso  wie  das  Ver- 
stummen, sehr  verschiedene  Entstehung  und  Bedeutung  haben  kann. 
In  der  Angst  ist  es  die  Entladung  der  gemütHchen  Erregung.  Bei 
Manischen  haben  wir  es  mit  einem  Mitteilungsdrange  zu  tun,  der 
nur  eine  Teilerscheinung  ihres  Betätigungsdranges  darstellt ;  die 
Kranken  reden,  um  ihrem  Herzen  Luft  zu  machen,  und  behalten 
dabei  meist  die  Beziehung  zu  ihren  Zuhörern.  Sich  selbst  über- 
lassen schweigen  sie,  oder  sie  verfallen  in  Singen  und  Deklamieren, 
das  ja  eine  selbständige  Befriedigung  gewährt,  oder  in  wirkliche 
Selbstgespräche.  Ähnlich  pflegen  sich  die  Paralytiker  zu  verhalten. 
Demgegenüber  bezweckt  der  Rededrang  der  Katatoniker  nicht  die 
Übermittlung  von  Gedanken,  sondern  er  ist,  wie  ihr  Bewegungs- 
drang, eine  völlig  triebartige  Erregung  der  Sprachwerkzeuge. 

Diese  Verschiedenheiten  kommen  naturgemäß  auch  in  dem 
Inhalte  der  Reden  zum  Ausdrucke.  Bei  den  manischen  Kranken 
pflegt  sich  der  Rededrang  mit  Ideenflucht  und  der  Neigung  zu  Wort- 
spielen, sprachlichen  Reminiszenzen  und  Reimen  zu  verbinden. 
Allerdings  ist  dieser  Zusammenhang  kein  unverbrüchlicher;  es  gibt 
Kranke,  die  sehr  viel  und  schnell  sprechen,  ohne  ideenflüchtig  zu 
sein,  wie  andererseits  Ideenflucht  auch  in  ganz  langsamen  Reden 
vorkommen  kann.  In  den  sprachlichen  Äußerungen  der  Katatoniker 
tritt  meist,  ebenso  wie  in  ihrem  sonstigen  Handeln,  die  Neigung 
zur  Stereotypie  hervor.  Sie  kann  so  stark  werden,  daß  dieselben 
Sätze  ununterbrochen  stunden-  und  selbst  tagelang  wiederholt 
werden.  Es  entsteht  damit  das  von  Kahl  bäum  zuerst  beschriebene 
Krankheitszeichen  der  Ver bigeration.  Solche  Sätze  sind  z.  B. 
folgende : 

„Ihr  Kinderlin,  Vögelin,  Tüpfelin,  der  Ahnherr  ist  jetzt  da,  die  Türe 
ist  auf;  führ  mich  jetzt  in  den  Eisgarten.  Die  ganze  Nacht  hab'  ich  im 
Bett  gesessen  und  habe  nichts  gegessen;  die  Weck  ist  gefressen  —  Ihr  Kin- 
derlin, Vögelin,  Tüpfelin"  usf. 

,,Ich  muß  ins  Innum,  ins  Innum,  ins  Innum;  laßt  mich  ins  Innum. 
Ich  muß  im  Innum  mit  der  Matratze  herumfahren;  ich  muß  ins  Innum"  usf. 

Bisweilen  löst  sich  der  Inhalt  solcher  Reden  in  ein  einfaches 
Silbengeklingel  auf,  z.  B.  „Ka,  ka,  metsch,  metsch,  ka,  ka,  metcsh, 
matsch"  usf.  Es  läßt  sich  jedoch  zeigen,  daß  solche  sinnlosen 
Äußerungen  hier  und  da  nur  Umbildungen  ursprünglich  verständ- 
licher Wendungen  darstellen.  So  rief  eine  Kranke  tagelang:  ,,I  me 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


zeh,  i  me  zeh"  usf.  Das  war  eine  allmählich  entstandene  Abkürzung 
von:  „Ich  will  mal  sehen"  (ob  ich  nicht  heim  darf).  Im  Anfange 
war  dieser  Sinn  noch  deuthch,  ging  aber  bei  den  zahllosen  Wieder- 
holungen nach  und  nach  verloren.  In  anderen  Fällen  scheint  es, 
als  ob  es  nicht  die  Worte  sind,  sondern  deren  Sinn,  der  haftet,  wie  in 
einem  von  Pf  ister  erwähnten  Falle,  in  dem  dasselbe  in  zwei  ver- 
schiedenen Sprachen  verbigeriert  wurde.  Allerdings  kann  hier  zu- 
nächst eine  einfache  Übersetzung  stattgefunden  haben,  deren  Wort- 
laut dann  ohne  Rücksicht  auf  den  Sinn  ebenso  haftete  wie  der  ur- 
sprüngliche Satz.  So  sehen  wir  nicht  selten  die  Kranken  im  Laufe 
der  Zeit  nicht  nur  selbst  kleine  Veränderungen  hineinbringen, 
sondern  auch  aufgefangene  beliebige  Eindrücke  in  ihre  Sätze  ein- 
flechten.   Eine  Kranke  wiederholte  drei  Stunden  lang  den  Satz: 

,, Liebe  Emilie,  gib  mir  einen  Kuß;  wir  wollen  gesund  werden,  einen 
Gruß  und  's  wär'  nichts.  Wir  wollen  brav  sein  und  schön  folgen,  folg' 
Mutter,  daß  wir  bald  heimkommen.  Der  Brief  war'  für  mich;  sorg',  daß 
ich  ihn  bekomm'." 

Nach  dem  inzwischen  erfolgten  Abendessen  hatte  sie  hinter 
„heimkommen"  eingeschoben:  ,, Linsen  und  zwei  Würscht". 

Bei  der  Verbigeration  besteht  regelmäßig  ein  gewisser  Rededrang ; 
zugleich  haben  wir  wohl  im  Hinblicke  auf  die  Einförmigkeit  der 
sprachlichen  Äußerungen  große  Vorstellungsarmut  vorauszusetzen. 
Von  Interesse  ist  es,  daß  Stransky^)  bei  Versuchen,  in  denen 
möglichst  schnelle,  gedankenlose  Reden  Gesunder  phonographisch 
aufgenommen  wurden,  Ergebnisse  erhielt,  die  in  vielen  Stücken  an 
die  Verbigeration  erinnern.  Er  beobachtete  eine  außerordentliche 
Neigung  zu  Wiederholung  derselben  Worte  und  Wendungen  in 
mannigfacher  Abwandlung,  unvollkommene  Satzprägung,  Ver- 
stümmelungen und  Verschmelzungen  verschiedener  Worte,  sinnlose 
Sätze,  gedankenlose  Flickwörter.  Zurücktreten  der  sinnvollen 
Gedankengänge  bei  gleichzeitigem  Rededrang,  wie  es  die  Versuchs- 
anordnung vorschrieb,  scheint  demnach  das  Haften  angeregter 
Sprachvorstellungen  zu  begünstigen.  Immerhin  wäre  zu  bedenken, 
daß  wir  es  bei  der  Verbigeration  nicht  selten  mit  langen  Sätzen  zu 
tun  haben,  die  ohne  Überhastung  wortwörtlich  wiederholt,  unter 
Umständen  nach  Pausen  wieder  aufgenommen  werden,  ohne  daß 


1)  Stransky,  Über  Sprachverwirrtheit.  1905. 


27* 


420 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


es  gelänge,  die  Kranken  von  außen  her  zu  unterbrechen.  Die 
Wiederholungen  kommen  hier  somit  schwerlich  einfach  durch 
maschinenmäßiges  Beharren  der  Sprachvorstellungen  zustande, 
sondern  sie  werden  offenbar  gewollt,  vielleicht  infolge  von  nega- 
tivistischer  Absperrung  neu  auftauchender  Vorstellungen.  Dagegen 
ist  die  öfters  beobachtete  Echolalie,  der  sich  die  Übernahme  gehörter 
Wörter  in  die  eigenen  Äußerungen  anschließt,  wohl  wesentlich  auf 
Mangel  oder  Schwäche  der  eigenen  sprachlichen  Antriebe  zurück- 
zuführen; da  die  Kranken  nichts  zu  sagen  haben,  sich  aber  doch 
durch  die  an  sie  gerichteten  oder  gehörten  Worte  zum  Sprechen 
angeregt  fühlen,  wiederholen  sie  maschinenmäßig.  Die  bei  der 
Dementia  praecox  so  häufigen  sinnlosen  Flickwörter,  die  erste 
Reaktion:  ,,Was?"  oder  ,,Wie?"  auf  jede  Frage  dürften  ebenfalls 
der  Ausdruck  der  Gedankenarmut  sein,  wie  sie  durch  die  Gleich- 
gültigkeit der  Kranken  bedingt  wird.  Daß  der  Perseveration,  der 
wir  hauptsächlich  bei  Arteriosklerose  und  Paralyse  begegnen,  ein 
ähnlicher  Vorgang  zugrunde  liegt,  das  Eintreten  der  soeben  ab- 
gelaufenen und  dadurch  erleichterten  Sprachbewegung  für  die 
unmögliche  oder  erschwerte,  die  gefordert  wird,  haben  wir  schon 
früher  erörtert. 

Eine  höchst  rherkwürdige,  meist  mit  einem  leichten  Rededrang 
verbundene  Störung  bildet  die  Sprachverwirrtheit,  die  in  aus- 
geprägtester Form  bei  einer  kleinen,  bisher  zur  Dementia  praecox 
gerechneten  Gruppe  von  Kranken  zur  Beobachtung  kommt.  Die 
Kranken  sind  vollkommen  besonnen  und  orientiert  und  bieten  auch 
in  ihrem  Benehmen  und  Handeln  vielfach  gar  keine  auffallenderen 
Abweichungen  dar ;  sie  sprechen  leicht  und  fließend,  aber  der  Inhalt 
ihrer  oft  die  Form  eines  Vortrags  annehmenden  Reden  bildet,  viel- 
leicht nach  einigen  einleitenden  verständlichen  Wendungen,  ein 
verblüffendes  Gewirr  von  zum  Teil  sinnlos  zusammengewürfelten 
Wörtern,  deren  allgemeiner  Inhalt  sich  höchstens  ungefähr  aus 
einzelnen  Redensarten  erraten  läßt.  Forel  hat  diese  Reden  sehr 
treffend  als  ,, Wortsalat"  gekennzeichnet.  Ein  Beispiel  dafür  gibt 
die  folgende  Nachschrift: 

Ich  frage  in  welches  gegenüber  der  Persönlichkeiten.  Was  wollen  Sie 
eigentlich  gegenüber  der  Versammlung  in  dem  Bild  geschlossen,  meine 
ich,  so  herzlos,  daß  meiner  der  Persönlichkeiten,"  die  Impflege  in  meiner 
des  Körpers.    Was  wollen  Sie  eigentlich  mir  gegenüber  Vertretung.  Ich 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


421 


frage  jetzt  nur  ganz  einfach.  Hergebracht  hat  man  mich  wegen  Jugend, 
und  da  hat  man  Versammlung  geschlossen  im  Bund.  Von  der  Person 
gegenüber  meiner  Anhaltverpflegung,  großmütig  der  Erhaltungen  der  Füh- 
rungen der  Kräfte  der  Lebensmittel  mir  gemacht  worden  sind.  Irrititionen 
der  Dunkelheiten,  wozu  sind  denn  eigentlich  die  Gesetze  geschlossen  worden 
nach  Stadt  und  Land  von  Ulfiterinen  und  die  früheren  Jahreszeiten  und 
die  Hypotheken.  Die  Erzählungen  der  Bürgerschaften  gegenüber  sagen 
die  Mitglieder  Mut  und  Jugend  anhold  sein  der  Kräfte  der  Personen  stehen- 
der Körper  Freundlichkeiten  und  alle,  der  gesund  es  macht  nach  den  Hip- 
pliationen  die  Führung  aller  der  Kräften  der  Verfolgnissen  gelegt  zu  werden. 
Warum  schließt  man  hier  eigentlich  den  Kittoll,  was  soll  nun  dem  Kittoll 
verfallen  an  meinem  Körper,  sein  Abbild  meine  ich  der  Verfolgnissen"  usw. 

Hier  ist  auch  der  Satzzusammenhang  völHg  zerstört,  was  keines- 
wegs immer  der  Fall  zu  sein  braucht.  Sehr  deutlich  tritt  das  Haften 
hervor.  Man  beachte  die  Ausdrücke:  ,,Ich  frage",  ,, gegenüber", 
„Persönlichkeiten",  „was  wollen  Sie  eigentlich",  „Körper",  ,, Pflege, 
Verpflegung",  „Jugend",  ,, Führung",  „Kräfte",  ,, geschlossen", 
„Verfolgnissen",  ,,KittoH", ,, Versammlung",  ,,Bild,  Abbild", ,, eigent- 
lich". Andeutungen  der  hier  stark  ausgeprägten  Störung  begegnen 
uns  nicht  selten  in  den  unbegreiflich  sinnlosen  einzelnen  Sätzen,  die 
bisweilen  schon  im  Beginne  der  Dementia  praecox  mit  voller  Seelen- 
ruhe vorgebracht  werden. 

Die  Sprachverwirrtheit  besitzt  eine  sehr  auffallende  und  weit- 
gehende Ähnlichkeit  mit  den  Sprachstörungen  des  Traumes^).  Wir 
finden  bei  beiden  zunächst  Gedankenentgleisungen,  das  Abgleiten 
des  vorschwebenden  Gedankens  auf  einen  anderen,  ähnlichen. 
Beispiele  dafür  geben  die  Äußerungen  eines  Kranken,  der  bei  der 
■Aufforderung,  zu  schreiben,  erwiderte:  ,,Ich  werde  so  frei  sein,  ein 
kleines  Konzert  zu  machen",  dagegen  die  Bitte,  an  einem  der 
nächsten  Tage  wieder  zur  Verfügung  zu  stehen,  mit  der  Bemerkung 
beantwortete:  ,,Am  Samstag  muß  ich  die  Erdäpfel  auswaschen"  für 
,,muß  ich  baden".  Sodann  sind  beiden  Zuständen  gemeinsam 
Störungen  der  sprachlichen  Gliederung  und  der  Gedankenprägung, 
die  in  der  obigen  Nachschrift  sehr  zahlreich  vertreten  sind.  Weiter- 
hin aber  treffen  wir  dort  wie  hier  in  ausgeprägtem  Maße  die  Neigung 
zu  Wortneubildungen 2),  vielfach  in  der  Form  von  Fremdwörtern, 
die  ja  der  freien  Erfindung  weit  weniger  widerstreben  als  die  Aus- 


1)  Kraepelin,  Über  Sprachstörungen  im  Traume.  1906. 
")  Tanzi,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  1889,  4. 


422 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


drücke  der  Muttersprache.  Immerhin  kommen  auch  einfache 
Abwandlungen  gebräuchlicher  Wörter  vor.  Leichtere  Formen  von 
Wortneubildung  finden  wir  in  den  obigen  Ausdrücken  Impflege, 
Anhaltverpflegung,  Irrititionen,  Tüpfelin,  schwerere  in  Ulfiterinen, 
Hippliationen,  Kittoll,  Innum,  Sätzerich,  Zwidneikopf,  Kimmichum. 
Man  hat  dabei  den  Eindruck,  als  ob  die  Kranken  mit  den  Neubil- 
dungen gewisse,  allerdings  nicht  immer  feststehende  Vorstellungen 
verbinden. 

Sehr  zahlreiche  Wortneubildungen  enthält  die  folgende,  von 
einem  Apotheker  stammende  Nachschrift: 

,,Der  möchte  gern  als  Student  dicker  gewidmet  sein  dem  Volke,  als 
dem  Liefronten,  dem  Lieferanten  der  Deutschen  Unschuld,  der  sie  glück- 
lich erreicht  hat  in  den  kleinen  Kinderfüßchenanstalten  der  hiesigen  Ober. 
Werden  Sie  mir  die  Zuckerliebhaber  dicker  ereignen,  so  erkundigen  Sie 
sich  in  dem  Dasein  des  Glücks  und  Sie  frieren  weiter  keinen  exceptablen 
Borophon  oder  Kleinekinderanstalten  des  Unglücks.  Sie  werden  lieber 
gesetzmäßiger  Körper  in  den  natingalen  Gefühlen  der  Unschlittpartei  und 
werden  fragen  nach  dem  Gesetze  der  Unschuld.  Dr.  Dominus,  Arsenal- 
hengst, Dr.  Schnidiceps,  das  brauchen  Sie  gar  nicht  zu  notieren,  sondern 
Sie  werden  etwas  höher  schreiben.  Doktrinäre  Eminenz  als  Weik  der 
Deutschen  Omnibuspartie,  das  ist  ein  Glazimmer,  d.h.  ein  Gedanke,  das 
Glied  der  Deutschen  Lappländigkeit,  das  sind  rotseidene  Sonnenschirm- 
rouleaux  geworden  in  der  Unschuld  des  Herzens"  usf. 

Einzelne  Wörter  sind  richtig  gebildet,  aber  unsinnig,  wie  Un- 
schlittpartei, Arsenalhengst,  Lappländigkeit,  Kinderfüßchenanstal- 
ten; andere  zeigen  nur  geringfügige  Abweichungen  von  bekannten 
Wörtern,  so  Liefronten,  exceptabel;  den  Liefronten  folgen  überdies 
unmittelbar  die  „Lieferanten".  EndHch  aber  finden  sich  auch  hier 
eine  Anzahl  völlig  erfundener  Wörter,  Borophon,  natingal,  Schnidi- 
ceps, Weik,  Glazimmer.  Die  Wiederkehr  bestimmter  Wendungen, 
,, dicker  gewidmet,  dicker  ereignen",  ,, Deutsch",  ,, kleine  Kinder", 
„Unschuld",  „Glück,  glücklich,  Unglück",  „Gesetz",  „das  ist,  das 
sind",  ist  auch  hier  sehr  deutlich.  Die  Zwischenbemerkung  über 
das  Schreiben  bezieht  sich  auf  den  Nachschreiber,  ein  Zeichen,  daß 
der  Kranke  den  Vorgang  gut  auffaßte;  er  war  übrigens  auch  in 
seinem  Handeln  vollkommen  geordnet. 

Bisweilen  kann  man  bei  den  Wortneubildungen  sehr  deutlich 
den  Einfluß  bestimmter  Vorstellungskreise  erkennen.  Ein  anderer 
kranker  Apotheker  bezeichnete  seinen  Napf  voll  Kartoffelmus  als 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


423 


den  ,,siliciumsauren  Porzellannapf  mit  solaneensaurem  Futter- 
wickelmus", als  ,,futterwickelmussaure  Haubitz",  ,, kerlsaures  Kopf- 
mus", sprach  von  seiner  ,, kammersauren"  oder  stangensauren" 
Wurst,  vom  ,, apfelsauren  Seidenkranz".  In  manchen  Fällen  werden 
mit  den  absonderlichen  Namen  Feinde  oder  deren  feindselige  Ein- 
wirkungen bezeichnet,  die  ,,Desanimierung",  die  ,,Nachtsabhörerei", 
der  ,, Seichzauber".  Man  hat  daher  gemeint,  daß  die  Kranken  ge- 
nötigt seien,  für  die  unerhörten  Erfahrungen  auch  neue  Bezeichnungen 
zu  erfinden.  Ich  halte  es  für  weit  wahrscheinlicher,  daß  hier  die- 
selben Vorgänge  mitspielen,  die  auch  sonst  bei  Wortneubildungen 
in  Betracht  kommen. 

Die  weitgehende  Übereinstimmung  der  Sprachverwirrtheit  mit 
den  Sprachstörungen  des  Traumes  macht  es  wahrscheinlich,  daß 
wir  es  bei  beiden  mit  ähnlichen  Ausfallserscheinungen  zu  tun  haben, 
die  sich  dort  dauernd,  hier  vorübergehend  einstellen.  Die  Betrach- 
tung der  Traumsprache  hat  mich  zu  der  Ansicht  geführt,  daß  dabei 
einmal  die  Wortklangbilder  ihren  regelnden  Einfluß  auf  die  innere 
Sprache  verloren  haben,  daß  aber  weiterhin,  ähnlich  wie  bei  der 
sensorischen  Aphasie,  die  gesamten  Allgemeinvorstellungen  mehr 
und  mehr  ihre  Bedeutung  für  den  sprachlichen  Ausdruck  der 
Gedanken  einbüßen.  Auch  die  Wortneubildungen  bei  der  Dementia 
praecox  weisen  uns  auf  eine  Störung  im  Verhalten  der  Wortklang- 
bilder hin.  Offenbar  fehlt  den  Kranken,  wie  im  Traume  und  bei  der 
sensorischen  Aphasie,  vollständig  das  Gefühl  der  Fremdartigkeit 
ihrer  verblüffenden  Neubildungen;  es  ist  auch  sehr  wohl  möglich, 
daß  sie  mit  ihnen  einen  ganz  alltäglichen  Sinn  verbinden.  Auf  der 
anderen  Seite  aber  deuten  die  Störungen  im  Satzbau,  in  der  sprach- 
lichen Gedankenprägung  und  auch  im  Gedankengange  selbst  auf 
eingreifende  Veränderungen  der  höchsten  geistigen  Leistungen  hin, 
von  deren  Einzelheiten  wir  uns  allerdings  zurzeit  noch  kein  klares 
Bild  machen  können. 

In  der  Schrift^)  der  Geisteskranken  finden  sich  inhaltlich  und 
äußerlich  ganz  entsprechende  Störungen  wie  in  der  Sprache.  Zu- 
nächst können  sich  auch  hier  die  Anzeichen  gröberer  Herderkran- 
kungen einstellen.  Zittern,  Ataxie,  Auslassungen,  Versetzen  und 
Wiederholen  von  Buchstaben  und  Wörtern,  Agraphie  und  Para- 

1)  Köster,  Die  Schrift  bei  Geisteskrankheiten.  1903;  de  Fursac,  les  ecrits 
et  les  dessins  dans  les  maladies  nerveuses  et  mentales.  1905. 


424 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


graphie.  Durch  die  psychischen  Störungen  wird  außer  dem  Inhalte 
die  äußere  Form  der  Schriftstücke  nach  verschiedenen  Richtungen 
hin  beeinflußt.  Schon  die  allgemeine  Anordnung,  die  sorgsame  oder 
nachlässige  Richtung  der  Zeilen,  Gleichheit  oder  verschiedene 
Größe  der  einzelnen  Buchstaben,  mehr  oder  weniger  reichliche 
Verbesserungen  oder  Durchstreichungen,  Einhalten  der  Ränder, 
Sauberkeit  der  Ausführung  geben  uns  Aufschlüsse  über  den  Seelen- 
zustand  des  Schreibers.  Der  manische  Kranke  schreibt  flüchtig, 
ohne  besondere  Rücksicht  auf  den  zur  Verfügung  stehenden  Raum, 
zum  Schlüsse  auch  auf  die  Ränder  oder  querüber;  auch  Art  und 
Zuschnitt  des  Papieres  ist  ihm  unwesentlich.  Die  Schriftzüge  sind 
schwunghaft  und  anspruchsvoll;  die  Buchstabengröße  wächst 
häufig  an;  zugleich  wird  die  Ausführung  nachlässiger  und  unsau- 
berer, schließlich  oft  ganz  unleserlich.  Zahl  und  Umfang  der  Schrift- 
stücke pflegen  beträchtlich  zu  sein;  sie  werden  mit  großer  Ge- 
schwindigkeit hingeworfen.  Demgegenüber  bringen  deprimierte 
oder  gar  stuporöse  Kranke  nur  mit  größter  Mühe  und  nach  vielem 
Stocken  einige  Zeilen  auf  das  Papier.  Die  Schriftzüge  sind  meist 
klein,  gedrängt,  aber  regelmäßig,  zaghaft  ausgeführt.  Insbesondere 
die  katatonischen  Kranken  sind  oft  schwer  zum  Schreiben  zu  be- 
wegen und  legen  nach  einigen  Ansätzen  die  Feder  wieder  bei- 
seite. Sie  liefern  vielleicht  ein  unentzifferbares  Gekritzel,  oder  sie 
bedecken  den  Bogen  planlos  mit  unzusammenhängenden  Bruch- 
stücken von  Worten  oder  Sätzen,  auch  wohl  mit  merkwürdigen 
Schnörkeln  und  Zeichen,  die  wirr  über  die  Fläche  zerstreut  sind. 
Paranoide  Kranke  zeigen  nicht  selten  auffallende  Veränderungen 
ihrer  Schriftzüge,  Steifheit,  Geziertheit,  Umbildung  einzelner  Buch- 
staben. 

Bei  hebephrenischen  Kranken  fällt  die  kindliche  Unbehilflichkeit 
und  Ungleichmäßigkeit  der  Ausführung,  die  verschiedene  Größe  der 
Buchstaben,  die  Unsauberkeit,  die  Häufigkeit  von  Durchstreichungen, 
Einschiebungen  und  Verbesserungen  auf.  Paralytische  Schriftstücke 
sind  in  erster  Linie  durch  ataktische  Unsicherheit  der  Züge,  ferner 
durch  die  Auslassungen,  Verdoppelungen  und  Versetzungen  der 
Schriftteile  gekennzeichnet.  Dazu  kommen  Unordentlichkeit  und 
Unsauberkeit,  Kleckse,  Fettflecke.  Die  Kranken  schreiben  auf 
beliebigen  Papierfetzen,  an  verschiedene  Personen  auf  demselben 
Blatte,  falten  den  noch  nassen  Bogen  zusammen,  beschreiben  auch 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


den  Briefumschlag.  Demgegenüber  sind  die  schriftlichen  Erzeug- 
nisse der  Epileptiker  oft  von  peinlichster  Sorgfalt  und  Sauberkeit  in 
Anordnung  und  Ausführung.  Die  in  der  Regel  äußerst  umfang- 
reichen Schriftstücke  der  Verrückten,  insbesondere  der  Querulanten, 
pflegen  sich  durch  reichlichen  Gebrauch  von  schriftlichen  Aus- 
drucksmitteln auszuzeichnen.  Unterstreichungen,  ein-  und  mehr- 
fache, Ausrufungs-  und  Fragezeichen,  Anmerkungen  und  Rand- 
bemerkungen, Hervorhebung  einzelner  Wörter  durch  große  Buch- 
staben oder  veränderte  Schrift,  Anwendung  verschiedenfarbiger 
Tinten  geben  diesen  Eingaben,  Denkschriften,  Aufrufen,  Lebens- 
läufen ein  höchst  auffallendes  Gepräge.  Vielfach  kommt  dabei  eine 
selbsterdachte,  verzwickte  Rechtschreibung  zur  Anwendung,  die 
meist  auf  das  Vermeiden  der  großen  Buchstaben  und  das  Schreiben 
nach  dem  Wortklang  hinausläuft.  Ebenso  wandeln  die  Kranken 
bei  der  Anwendung  von  Satzzeichen  gern  eigene  Wege.  Überreich- 
liche Anwendung  der  schriftlichen  Betonungsmittel  lieben  auch  die 
Hysterischen. 

Im  Inhalte  der  Schriftstücke  kommen  natürlich  vor  allem  die 
Störungen  der  Gedankenprägung  zum  Ausdrucke.  Bei  verwirrten 
Kranken  ist  er  zusammenhangslos;  dabei  kann  das  Satzgefüge 
erhalten  oder  zerstört  sein.  Manische  liefern  abspringende,  ideen- 
flüchtige Erzeugnisse,  bei  denen  jedoch  aus  naheliegenden  Gründen 
die  Klangassoziationen  in  den  Hintergrund  treten;  dafür  sind  Auf- 
zählungen häufig.  Hier  und  da  tritt  die  Ideenflucht  auch  in  den 
Schriftstücken  depressiver  Kranker  hervor,  obgleich  deren  münd- 
liche Äußerungen  keine  Spur  davon  erkennen  lassen.  Bei  Kata- 
tonikern  begegnet  uns  mitunter  schriftliche  Verbigeration,  die  viel- 
fache Wiederholung  derselben  Wörter  mit  geringfügigen  Abwand- 
lungen. Auch  die  Wortneubildungen  spielen  hier  eine  große  Rolle. 
Einer  meiner  Kranken  suchte  aus  der  Zeitung  alle  möglichen  fremd- 
sprachigen Wörter  heraus,  die  er  in  seine  Schriftstücke  verflocht 
und  nach  seiner  Weise  erklärte,  z.  B.  ,,et  de  linge" :  ,,und  ist  kein 
Lügner".  Ein  anderer  schrieb  auf  die  Rückseite  aller  seiner  Brief- 
umschläge: ,,Des  Ob-  und  Subjudicums  erwähnt". 

Leider  ist  die  Schrift  Geisteskranker  mit  feineren  Hilfsmitteln 
noch  wenig  untersucht  worden.  Nur  mit  der  von  mir  angegebenen 
„Schriftwage",  die  neben  der  Form  der  Schriftzüge  auch  in  jedem 
Augenblicke  Druck  und  Geschwindigkeit  des  Schreibens  zu  messen 


426 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gestattet,  sind  einige  Ergebnisse  gewonnen  worden^).  Dabei  hat 
sich  gezeigt,  daß  bei  manischen  Kranken  der  Schreibdruck  erheblich 
gesteigert,  die  Schrift  vergrößert  ist,  während  die  Schnelligkeit  der 
Bewegungen  erst  im  Laufe  des  Schreibens  eine  nennenswerte 
Beschleunigung  erfährt.  In  den  zirkulären  Depressionszuständen 
findet  sich  meist  Verlangsamung  und  Verkleinerung  der  Schrift  mit 
Abnahme  des  Schreibdruckes,  doch  gibt  es  auch  zahlreiche  Fälle 
dieser  Art  mit  sehr  ausgeprägter  Verstimmung,  bei  denen  jene 
Schriftstörungen  fehlen,  ein  Zeichen  dafür,  daß  die  Zusammen- 
setzung des  psychischen  Krankheitsbildes  trotz  äußerer  Ähnlichkeit 
doch  eine  recht  verschiedene  sein  kann.  Im  manischen  Stupor  ließ 
sich  Verlangsamung  der  Schrift  neben  gesteigertem  Drucke  nach- 
weisen. Bei  katatonischen  Kranken  sahen  wir  Schreiben  ohne 
Störung  regellos  mit  Schwächung  der  Antriebe  ohne  Verlangsamung 
wechseln;  ferner  wurde  allmähliches  Versiegen  des  Druckes  und 
schrullenhaftes  Überspringen  einzelner  Aufgaben  beobachtet.  Jeden- 
falls ist  es  mit  Hilfe  dieser  Untersuchungen  möglich,  noch  eine  Reihe 
feinerer  Schriftstörungen  aufzudecken. 

Eine  im  ganzen  noch  wenig  beachtete  Quelle  psychiatrischer 
Erkenntnis  bilden  die  Zeichnungen 2)  unserer  Kranken.  Vor 
allem  pflegt  die  Dementia  praecox  fruchtbar  zu  sein.  Wir  begegnen 
hier  verzwickten,  abenteuerlich-unverständlichen,  figurenreichen 
Entwürfen  mit  den  sonderbarsten  Zusammenstellungen,  der  Dar- 
stellung merkwürdiger  Fabelwesen,  geschlechtlicher  Roheiten,  ge- 
heimnisvoller Maschinen,  mit  denen  die  Kranken  gequält  werden, 
kühner  Erfindungen,  religiöser  Sinnbilder.  Andere  Kranke  be- 
decken ganze  Bogen  mit  Köpfen  oder  sinnlosen  Schnörkeleien; 
einer  meiner  Kranken  benutzte  die  Abklatschfiguren  großer  Tinten- 
kleckse als  Ausgangsstoff  für  seine  Zeichnungen.  Die  Neigung  zu 
vielfacher  Wiederholung  derselben  Figuren,  zu  einer  Art  zeich- 
nerischer Verbigeration,  ist  häufig  sehr  ausgeprägt.  Die  flüchtigen, 
oft  bunt  zusammengewürfelten  Zeichnungen  der  Manischen  erinnern 
in  ihrer  ideenflüchtigen  Launenhaftigkeit  nicht  selten  an  die  Er- 
zeugnisse, in  denen  sich  die  Langeweile  der  Teilnehmer  an  lang- 
wierigen Sitzungen  auf  dem  vor  ihnen  liegenden  Papiere  Luft  macht, 
während  die  Kunstwerke  der  Paralytiker  deren  schwachsinnige 

1)  Gross,  Psychologische  Arbeiten,  II,  450. 

2)  Mohr,  Journ.  f.  Psychologie  und  Neurologie,  VIII,  99. 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


427 


Unbeholfenheit  in  der  plumpen  Unsicherheit  und  Unklarheit  der 
Linien  wie  in  der  grellen  und  unsauberen  Farbengebung  auszu- 
drücken pflegen.  Bei  Epileptikern  begegnet  uns  öfters  die  Fähigkeit, 
Zeichnungen  und  selbst  bunte  Bilder  mit  einer  geradezu  unglaub- 
lichen Treue  wiederzugeben,  auch  wenn  sie  gänzlich  außerstande 
sind,  den  einfachsten  Entwurf  selbständig  herzustellen. 

Daß  auch  die  musikalischen  Leistungen  der  Geisteskranken, 
handle  es  sich  um  Wiedergabe  oder  um  schöpferische  Tätigkeit, 
durch  ihr  Leiden  tiefgreifende  Veränderungen  erleiden  können, 
bedarf  keiner  weiteren  Ausführung.  Leider  ist  über  diese  Frage, 
wenn  wir  von  den  Störungen  durch  gröbere  Hirnerkrankungen 
(,,Amusie")  absehen,  fast  gar  nichts  bekannt.  Bei  der  Dementia 
praecox  scheint  namentlich  das  musikalische  Feingefühl  zu  leiden; 
die  Kranken  spielen  und  singen  hölzern  und  ohne  Ausdruck,  während 
die  Paralyse  außerdem  auch  das  musikalische  Gedächtnis  und  die 
technische  Beherrschung  der  Ausdrucksmittel  zerstört.  Manische 
Kranke  pflegen  flüchtig  und  liederlich,  aber  mit  großem  Schwünge 
und  erheblichem  Kraftaufwande  zu  musizieren. 

Es  hat  nicht  fehlen  können,  daß  die  Geisteskranken  auch  an  der 
Literatur  und  Kunst  einen  gewissen  Anteil  genommen  haben. 
Unter  den  Schriftstellern'^)  treten  am  meisten  hervor  Verrückte, 
insbesondere  Querulanten,  Manische  und  Katatoniker,  endlich  eine 
lange  Reihe  von  Psychopathen.  Die  Leistungen  der  ersteren  sind 
meist  Verteidigungs-  oder  Anklageschriften  in  eigener  Sache,  Flug- 
blätter, die  sich  an  die  Öffentlichkeit  wenden,  um  für  vermeintlich 
erlittene  Unbill  Genugtuung  zu  erlangen,  Notschreie  im  Kampfe 
gegen  wahnhafte  Gefahren;  dazu  kommen  scheinbar  wissenschaft- 
liche Werke,  in  denen  mit  naiver  Unkenntnis  und  Selbstsicherheit 
die  abenteuerlichsten  Entdeckungen  vorgetragen  werden.  Ein 
hübsches  Beispiel  dafür  bietet  die  umstehende  Darstellung  der  ,, Seele 
des  Menschen  in  V4  der  beobachteten  Größe"  (Fig.  XIX)  mit  ihrem 
„Kama",  dem  „Kraftzentrum",  den  „Lichtwölkchen  des  höheren 
Manas"  usf.  Auch  die  manischen  Erzeugnisse  richten  sich  häufig, 
aber  mehr  mit  Spott  und  Witz,  als  in  Verzweiflung  und  Entrüstung, 
gegen  bestimmte  Personen,  namentlich  Irrenärzte,  schildern  in 
humoristischem  Tone  Anstaltserlebnisse,  gewandt  und  ideenflüchtig, 

1)  Bahr,  Volkmanns  klinische  Vorträge,  Neue  Folge,  Nr.  134;  Sikorski, 
Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXVIII,  259. 


428 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


mit  Wortspielen  und  Versen  gewürzt.  Andere  manische  Kranke 
liefern  Gedichtsammlungen  in  blühendstem  Stil;   ich  besitze  ein 


derartiges  gedrucktes  Büchelchen  voll  ideenflüchtigen  Reim- 
geklingels von  einem  einfachen  Bauern,  der  sich  später  in  der 
Depression  erhängte.    Die  katatonischen  Werke,  die  immer  auf 


Kraepelin,  Psychiatrie  I. 


€inc    po  litif 


)Pa«  Itortttab-;  obw  I| 
—  ^ttt  fünm  ilrfinrn 
an«  bew  iiw  |ln«biujf, 

,,ÄJ{t  SrganiJillS  —  ber  Staaten  —  tjl  aui^  ci  i 
Seinen  btcnt  aI8  tctm  M  ,9iei^t';  M  —  butt^  bic  (>  ii 
©oiuin  entftttmrate  jcbe*  ©^ftera  unb  ®efc|  feinem  -  ö 
entttidclnnfl  ,fortf(()tcltet"  —  ift  e8  natüilit^,  bafe  ein 
golflltii)  i|l  eine  .anormale"  gtfi^eittung  im  ©taatSorgani?!, 

2)08  «Rormale  öbcr  bog  Slnfltmale  bei  mlrt^((^aftlt(|, 
beruht  auf  bei  „©runblage  ber  Delonomie"  bc8  ©taateJö 
jur  n&ttitoidelttm"  feiner  Cef^tumie  bienen  fcj 
berfelfien:  pi!)  „üoHaie^cn  lann". 


Da«  flljiirtokratifdje  3nbu|trie-Si)|teni: 


m  in  bec  etoalSioiffettrc^afi  Her  »egtiff,      .35^  - 
nadi  tvelciiein  -  Stöd^tlin,  9»ot:aI,  gleil,  "^in 
^paviamtelt  nnb,  -  DU  lidcitfte  etnfe  »ec  t« 
99o>encnttnc  ntUt  bie  «Bie^jitc^t:  Mc  chtjige 
QaeUe  »ei  9iomtaoilUmheä  i%  Unit  tnif 
nac^  eä  brci  redtUid^e  Stenern  gieM:  Sie 
®tMtn)i<,  •eselDcciie',  un»  'SapUtaiewSHenet. 


m  311!  |ii 
'8fl£«l' 

-fr.'- 


•Der  lljaiige  StomIs  »»t  fuft  3«:  TtrM,  wfp.  «c  Jlmfccmerl 
"aufirorffamfeit  unö  Sorgfolt,  o6cr  SlKbfamttftI 
8.  StlhftatiUtigmng  unb  <&riln6n<f|Mtl 
4.  ro<ii|rl|«it  mi  OmifSgliltl 


=  jteofi!  ober:  ^il 


ginict  baä  rtDilolra«f(4t  SnkniWt^ijilmt  (Stejang;  bann  18  erfoitcrti«,  taj 
(il)flftll(^en  gaffUBB  wtmtttel^  ttntr  Jabittt,  an  Mtbanr  SttBt,  tun  S44Icni  unb  €  * 
efnrt  leben  Scmeflcrt  »om  SJorftanbe  bet  Si^ulc  —  itUnäjM  »erbt,   ^lierbur*  iriib  > 
ble  boS  ©ijHeni  Insolttrt  -  ouf  bft,  birn^  ^nßtnilgenbt'  Kijieiunj  M  manfltlliiift  enl  P 
35fe  ,3^attroft  unb  fffliJHsWf  -  ber  fi(^  ento(*elnbtii  »lrtM4«fUi*tii>,  ttiftii''  ' 
Stwer,  Bjiit  bo«  ©ijftcm  ber  ©toalJ-Detonontie  auf  .ale*  ®efea[iMtf4ii*te« 
Seben  Im  ©toJttjraanUmnJ  —  tertrtt  »ttben  tarn.' 


Üft  tiJfübtsriflr! 


35ic  AvM\mam<!l>(',  ^flcifHflc.  'flcfcnfc^afttii^e«,  uitl) 
.|»i»o«U,e  ÖtrjitljUlig  kr  3u9cnb  unb  beren  aSD^IcrgcSai 
beruht  auf  ber:  -  wn  bcn  (SItcm!  ©laicjent,  ßc^rcm,  unb 
bcn  9or9»r«^»tt  -  .crrdc^tm'  Stufe  ber  -  ju  ,cnt» 
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zu  Seite  428. 


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im  IwS  im  etiftent  unb  ®cfc^  fctncn tltfurunö  f^at 
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I  3elt9ri)t.  —  Sa  bet  ,ni(j^t  lajienbc  Öclfl'  in  feiner 
lim  SBcItorganigmug  —  Der  .Umgcftoltung  untetmorfen': 
^uf  bog  Dor^onbene  ©Aftern  ober  @efc|— .juriidjnfü^ren'. 

rer  gefenfi^oftlii^en  entoiilclunfl  —  bcr  Scööltcrung  — 
Ö,  ba§  „M  @t)|iem"  M  bcm  Staat  aI8  ©runblagc 
infleim^ft  mcrbe":  bamit  eine  „normale"  gntinldelung 


Die  Seele 

itt  OerDaonic  im  aillgemeinen. 

„(ßott"  fdiuf  jmn  fyü  bts  2IIen(cfi«n  — 

txt  mmfdifidi  —  ein  „unenMId;"  giel. 

2>«  „fijgmnjiirt"  gj(|«rt  Ism  3«itginof(«n 

damit,  durdf  btiben  — 

öie  äufimfl  —  „K>r(i«rnt«t  mnix". 

auf  „kctMculu"  Jldihmg,  Dcttrouen,  mi,  .««be  — 

fwrul)!  6«  ^auslialts  „IDütb«"  und  ,^a4t". 

11»  »WW«'  "k  1*  »l(*l«<  «»fl  bM  9Riiif4<ii  »bini  -  Im  .immlni-  3ii{li>iil> 
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O^mnli.  e«ibnii,  ri  l|l  |M%llli  bu  Al»lili(itagl|||ltin  bM  HalrAam  «nb  brt  «diu«».  - 
»n  ,Ho"«T".  tt(».  btr  Hflnmt  in  faU  pr  ^fl-  -  blnu,  b<»  M  mtaKMnb««' 
M  j|e(o(ab(  aU  3lril  nb  bm  ortmUMru-  oll  Vmibloatl; 

U  bfr  »lim^üfffiitn.,  .gdiain.,  nb  .gf|<af4ifflli^  (tnlsUiIaiig  —  ttnlln 
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Bebro*  ft  bmV  aab  gm^t  «Irb.  6«  «RtnHIri;  Bhb  Wi  artrantnil  fdi»«  ASffÄ^lBiiiig*. 
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Störungen  der  Ausdrucksbewegungen.  429 

Kosten  ihrer  Verfasser  gedruckt  werden,  enthalten  meist  in  ver- 
zwicktem Druck  und  eigenartiger  Rechtschreibung  unverständHche 
Sätze  über  die  höchsten  Fragen.  Das  hier  abgedruckte  Blatt  aus 
einem  Buche:  „Das  Weltproblem,  eine  politisch-ökonomische  Studie, 
gewidmet  der  entwickelten  Vernunft",  mag  eine  Vorstellung  von 
der  Sammlung  zusammenhangsloser,  klingender  Redensarten  geben, 
denen  man  in  derartigen  Werken  begegnen  kann.  Auch  die  äußere 
Anordnung  des  Druckes,  die  reichliche  Anwendung  der  Anführungs- 
zeichen und  Gedankenstriche,  des  fetten  Druckes,  die  sonderbare 
Tabellenform  ist  beachtenswert.  Neben  den  Spuren  guten  Gedächt- 
nisses und  großer  Belesenheit  kann  man  hier  die  schönsten  Beispiele 
von  Sprachverwirrtheit  durch  ganze  Bände  hindurch  finden.  Si- 
korski  hat  aus  der  neueren  russischen  Literatur  unter  dem  Namen 
der  jjidiophrenia  paranoides"  eine  Anzahl  von  Erzeugnissen  ge- 
sammelt, von  denen  ein  Teil  hierher  gehören  dürfte. 

Auf  der  anderen  Seite  lehrt  uns  die  Geschichte  des  menschlichen 
Geisteslebens,  daß  eine  Reihe  der  hervorragendsten  Persönlichkeiten 
entweder  einzelne  krankhafte  Züge  dargeboten  haben  oder  in  aus- 
gesprochene Seelenstörungen  verfallen  sind.  Namentlich  die  erstere 
Gruppe,  die  sich  freilich  je  nach  der  Abgrenzung  des  Krankhaften 
beliebig  weit  fassen  läßt,  hat  der  Auffassung  zur  Stütze  dienen 
müssen,  daß  die  geniale  Begabung  vielfach  eine  Erscheinungsform 
abnormer  Veranlagung  darstelle.  Unter  den  klinisch  bestimmbaren 
Geisteskrankheiten  großer  Geisteshelden  scheint  das  manisch- 
depressive Irresein  am  häufigsten  zu  sein.  Robert  Mayer  gehört 
hierhin,  und  auch  für  Goethe  hat  Mö bius  den  zwingenden  Beweis 
erbracht,  daß  er  an  leichten  zyklothymischen  Stimmungsschwan- 
kungen litt,  aus  denen  sich  einmal  seine  Verzweiflungsausbrüche 
und  seine  Selbstmordgedanken,  sein  Zaudern  bei  wichtigen  Ent- 
schlüssen, andererseits  seine  tolle  Ausgelassenheit,  die  Plötzlichkeit 
mancher  Handlungen,  die  immer  sich  erneuernde  Lebhaftigkeit 
seiner  erotischen  Gefühle,  endlich  aber  auch  die  merkwürdige  Perio- 
dizität seines  Seelenlebens  erklärt.  Da  sich  leichte  manisch-depres- 
sive Erkrankungen  recht  häufig  mit  hoher  geistiger  und  namentlich 
künstlerischer  Begabung  verbinden,  liegt  der  Gedanke  nahe,  in  der 
Lebhaftigkeit  der  Gefühle  und  der  Beweglichkeit  der  Gedankengänge 
bei  ihnen  Eigenschaften  zu  sehen,  die  vielleicht  gerade  die  schöpfe- 
rische Geistestätigkeit  begünstigen. 


Erscheinungen  des  Irreseins. 

Die  Anregung  zu  planmäßiger  Erforschung  der  geistigen  Eigen- 
schaften großer  Männer  vom  Standpunkte  psychiatrisch-psycho- 
logischer Betrachtungsweise,  zur  Gewinnung  von  ,,Pathographien", 
hat  vor  allem  Möbius^)  gegeben,  indem  er  zunächst  bei  Rousseau 
die  Entwicklung  einer  paranoiden  Erkrankung  eingehend  schilderte. 
Es  folgte  die  psychiatrische  Würdigung  Goethes  und  Schopen- 
hauers, bei  dem  er  einzelne  psychopathische  Züge  aufdeckte.  In 
Nietzsches  Krankengeschichte  zeigte  er  die  Entwicklung  einer 
Paralyse  auf  dem  Boden  einer  psychopathischen  Veranlagung;  bei 
Schumann  und  Scheffel  glaubte  er  das  Auftreten  einer  Dementia 
praecox  nachweisen  zu  können.  Wenn  in  diesen  beiden  letzten 
Fällen  seine  Auffassung  sehr  anfechtbar  erscheint,  so  erklärt  sich 
das  zum  guten  Teile  aus  den  außerordentlichen  Schwierigkeiten  und 
Unsicherheiten,  die  solchen  Untersuchungen,  zumal  über  längst 
Verstorbene,  notwendig  anhaften. 

Möbius  hat  vielfache  Nachfolge  gefunden 2).  Klinke  hat  sich 
mit  der  psychopathischen  Natur  E.  Th.  A.  Hof  manns  beschäftigt, 
Ebstein  mit  Schopenhauer  und  Grabbe,  bei  dem  er  neben  den 
Erscheinungen  der  Entartung  Tabes  und  Alkoholismus  fand.  Van 
Vleuten  hat  bei  Hölderlin  eine  Dementia  praecox,  bei  Gutzkow 
eine  chronische  Verrücktheit  beschrieben;  eine  Arbeit  über  Fritz 
Reuters  Dipsomanie  verdanken  wir  Albrecht.  Probst  hat  im 
Falle  Weininger  die  manisch-depressive  Erkrankung  nachgewiesen. 
Dostojewsky  soll  nach  Segaloffs  Darstellung  Epileptiker  ge- 
wesen sein;  Maupassant  wurde  paralytisch.  Zu  erwähnen  wären 
hier  wohl  auch  noch  die  Arbeiten  von  Toulouse  und  Bianchi  über 
Zola,  von  denen  die  erstere  sich  auf  eine  genaue  Untersuchung  des 
Lebenden  stützen  konnte. 

In  der  bildenden  Kunst  spielen  Geisteskranke  im  allgemeinen 
eine  geringere  Rolle,  schon  deshalb,  weil  es  für  sie  kaum  möglich 

1)  Möbius,  Ausgewählte  Werke,  Bd.  i — 4;  Über  Robert  Schumanns 
Krankheit.  1906;  Über  Scheffels  Krankheit.  1907. 

2)  Klinke,  E.  Th.  A.  Hof  manns  Leben  und  Werke  vom  Standpunkt  eines 
Irrenarztes.  1903;  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XV,  240;  XVII,  Ergänzungsband,  144; 
Ebstein,  Arthur  Schopenhauer.  1907;  Chr.  D.  Grabbes  Krankheit.  1906; 
Albrecht,  Fritz  Reuters  Krankheit.  1907;  Probst,  Der  Fall  Otto  Weininger. 
1904;  Edgar  Allen  Poe.  1908;  Segaloff,  Die  Krankheit  Dostojewskys.  1907; 
Petit,  etude  medico-psychologique  sur  Edgar  Poe.  1905;  Courbon,  etude 
psychiatrique  sur  Benvenuto  Cellini.  1906;  Lacassagne,  la  folie  de  Maupas- 
sant.   Diss.  1907. 


Handeln  aus  krankhaften 


ist,  ihre  Werke  an  die 
Öffentlichkeit  zu  bringen. 
Nichtsdestoweniger  sind 
sie  auch  hier  tätig,  wie 
die  Erfahrung  dartut,  daß 
bei  jedem  größeren  künst- 
lerischen Wettbewerbe 
immer  auch  eine  Reihe 
von  Entwürfen  einzulau- 
fen   pflegen,    die  sofort 

krankhaften  Ursprung 
verraten.  Ein  sehr  eigen- 
artiges Beispiel  krankhaf- 
ter Kunstübung  sind  die 
schon  von  Goethe  be- 
schriebenen Bildwerke  in 
der  Villa  Palagonia  bei 
Palermo ,  abenteuerliche 
Zwittergeschöpfe  der  ver- 
schrobensten Art ,  die 
durchaus  an  gewisse 
Zeichnungen  unserer  Ka- 
tatoniker  erinnern ;  ich 
gebe  eine  Probe  davon  in 
Fig.  XX.  Einzelne  krank- 
hafte Züge  finden  sich  wohl 
bei  den  leicht  erregbaren 
Künstlern  noch  häufiger 
als  bei  Gelehrten  und 
Schriftstellern.  Als  Bei- 
spiel möge  der  belgische 
Maler  Wiertz  genannt 
werden. 

Handeln  aus  krankhaften 
Beweggründen.  Die  Um- 
wälzungen, die  das  Irresein 
in  dem  gesamten  Seelen- 
leben herbeiführt,  müssen 


432 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


das  Handeln  unserer  Kranken  notwendigerweise  auch  dann  nach 
vielen  Richtungen  hin  in  Mitleidenschaft  ziehen,  wenn  die  eigent- 
lichen Störungen  zunächst  auf  ganz  anderen  Gebieten  gelegen  sind. 
Ist  doch  das  Handeln  nichts  anderes  als  das  Endergebnis  des  je- 
weiligen seelischen  Gesamtzustandes!  Wir  sehen  daher  in  der  Tat, 
wie  sich  in  der  Beeinflussung  des  Handelns  durch  die  verschieden- 
artigsten und  fernliegendsten  Störungen  die  innere  Einheitlichkeit 
und  Untrennbarkeit  unseres  Seelenlebens  auf  das  deutlichste  offen- 
bart. Bei  keiner  einzigen  Handlung  eines  Geisteskranken,  wenn  wir 
die  alltäglichsten,  rein  gewohnheitsmäßigen  Verrichtungen  etwa 
ausnehmen,  läßt  sich  mit  einiger  Sicherheit  die  Bedeutung  ab- 
schätzen, die  das  Irresein  für  ihr  Zustandekommen  und  ihre  be- 
sondere Gestaltung  gewonnen  hat. 

Die  Art  und  Richtung  der  krankhaften  Handlungen  wird  in  der 
Regel  durch  Wahnvorstellungen  bestimmt.  Versündigungsideen 
und  traurige  oder  ängstliche  Verstimmungen  sind  es,  die  den  Kranken 
zu  Taten  der  Verzweiflung,  zum  Kampfe  gegen  die  eigene  Person, 
zu  Selbstanklagen,  Selbstverstümmelung,  Abhacken  der  Geschlechts- 
teile, zu  Nahrungsverweigerung  oder  zu  Bußübungen  treiben.  Vor 
allem  aber  haben  wir  hier  die  Selbstmordneigung  zu  fürchten,  die 
überaus  häufig  das  Leben  der  Kranken  bedroht.  Der  Verfolgungs- 
wahn führt  zu  Wutausbrüchen,  zu  Angriffen  aller  Art,  zum  Ver- 
fassen von  Zeitungsanzeigen,  Flugschriften,  Beschwerden,  zu  Mord 
und  Totschlag  oder  zur  Ersinnung  der  mannigfachsten  Schutzmaß- 
regeln gegen  die  vermeintlichen  Verfolger,  zu  Beschwörungen, 
geheimnisvollen  Maßnahmen  und  Einrichtungen,  zu  menschen- 
feindlicher Absperrung  oder  zu  unstetem  Herumwandern  in  der  Welt. 
Bei  hypochondrischen  Wahnvorstellungen  wiederum  sind  peinliche 
Eingriffe  am  eigenen  Körper  nicht  selten.  Salben  mit  Urin  und  Kot, 
Verschmieren  wunder  Stellen  mit  Brotbrei  und  ähnlichen  Verband- 
mitteln, Herumstochern  in  Nase  und  Ohren,  Durchbohren  der  Ohr- 
läppchen zur  Ableitung  der  schlechten  Säfte  vom  Kopfe  gehören 
noch  zu  den  harmloseren  Maßnahmen.  Dagegen  habe  ich  auch 
Versuche  erlebt,  sich  den  Leib  aufzuschneiden,  um  ein  vermeint- 
lich lebendes  Tier  herauszuholen,  ferner  das  Essen  von  Nägeln, 
um  durch  die  ,, Schärfe"  das  Blut  zu  reinigen.  Ähnliche  Handlungen 
Hysterischer,  das  Verschlucken  von  Nadeln,  Verletzungen  und  Ein- 
führen von  Fremdkörpern  in  die  Geschlechtsteile,  theatralische 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


433 


Selbstmordversuche,  fortgesetztes  Hungern,  gehen  in  der  Regel  aus 
ganz  anderen  Beweggründen  hervor,  zumeist  wohl  aus  der  krank- 
haften Sucht,  aufzufallen  und  das  allgemeine  Mitgefühl  zu  erwecken. 

Die  psychische  Erregung  führt  zunächst  sehr  bald  zu  Streitig- 
keiten und  Kämpfen  mit  der  Umgebung,  zu  Verfehlungen  gegen 
die  öffentliche  Ordnung,  nicht  selten  auch  zum  Widerstande  gegen 
die  Staatsgewalt.  Die  Kranken  benehmen  sich  auffallend,  rück- 
sichtslos, werden  unlenksam,  reizbar,  störend,  schließlich  gewalt- 

I  tätig,  sobald  man  ihnen  entgegentritt.  Das  alles  entwickelt  sich 
um  so  leichter,  als  die  Erregung  sehr  häufig  den  vermehrten  Genuß 
geistiger  Getränke  zur  Folge  hat,  durch  den  die  Kranken  rasch 

I  noch  unruhiger  und  gefährlicher  werden.  Dazu  kommt  meist  auch 
die  Neigung  zu  geschlechtlichen  Ausschweifungen,  die  sich  ohne 
Rücksicht  auf  Anstand  und  Sitte  Luft  zu  machen  pflegt.  Tolle 

I  Streiche  aller  Art,  Zerstörungen,  abenteuerliche  Fahrten,  Prügeleien, 
öffentliches  Ärgernis  sind  die  regelmäßigen  Begleitereignisse  der- 
artiger Erregungszustände.  Gesellen  sich  Größenideen  hinzu,  so 
kommt  es  zu  sinnlosen  Einkäufen  und  Bestellungen,  zur  Einleitung 
fabelhafter  Unternehmungen,  zur  Verschleuderung  großer  Geld- 
summen in  unglaublich  kurzer  Zeit.  Die  zuversichtliche  Vorstellung, 
über  unerschöpfliche  Mittel  zu  verfügen,  kann  den  Kranken  ver- 
anlassen, ganz  harmlos  von  allem  Besitz  zu  ergreifen,  was  ihm 
gefällt,  Unterschlagungen,  Zechprellereien,  Betrügereien  zu  begehen. 

Andere  Kranke  mit  Größenideen  bereiten  planmäßig  und  von 
langer  Hand  alles  vor,  um  vermeintliche  Ansprüche  zu  verwirklichen. 
Sie  richten  Briefe  an  hochgestellte  Persönlichkeiten,  suchen  sich 
ihnen  zu  nähern,  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken, 
veröffentlichen  Flugschriften,  erscheinen  plötzlich  mit  Orden  oder 
in  Uniform.  Selbst  die  Erregung  öffentlichen  Ärgernisses,  Miß- 
achtung der  Polizeivorschriften,  plötzliche  Ansprachen  an  Parla- 
mente oder  gar  Angriffe  auf  Beamte  oder  Fürsten  dienen  ihnen 
mitunter,  um  ihre  Lage  und  ihre  Ansprüche  allgemein  bekannt  zu 
machen.  Sehr  häufig  sind  Annäherungsversuche  an  hochgestellte 
Personen  des  anderen  Geschlechtes,  an  die  vermeintlichen  heim- 
lichen Verlobten.  Fensterpromenaden,  Blumensendungen,  Liebes- 
briefe, Heiratsanträge,  Nachreisen,  persönliche  Ansprache  werden 
zur  Erreichung  des  Zieles  ins  Werk  gesetzt,  wenn  sich  der  Kranke 
nicht,  was  häufig  der  Fall  ist,  mit  geheimnisvollen,  übersinnlichen 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


434 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Beziehungen  zu  dem  geliebten  Gegenstande  begnügt.  Religiöse 
Größenideen  führen  öfters  zu  dem  Bedürfnisse,  eine  Gemeinde  zu 
gründen,  die  Lehren  der  herrschenden  Kirche  zu  bekämpfen,  die 
Märtyrerkrone  zu  erwerben.  Auffallende,  an  Christus  erinnernde 
Tracht  mit  ungeschorenem  Haupthaar,  gesuchte  Einfachheit  der 
Lebensgewohnheiten,  öffentliche  Predigten  und  Vorträge,  Heran- 
ziehung gleichgesinnter  Schüler,  Auflehnung  gegen  die  kirchlichen 
Gebräuche  bis  zu  deren  Beschimpfung,  Störungen  des  Gottesdienstes 
und  selbst  Angriffe  auf  Geistliche  pflegen  die  Schritte  zu  sein,  die 
von  solchen  Kranken  nach  und  nach  unternommen  werden. 

Es  würde  natürlich  zu  weit  führen,  wollten  wir  hier  auch  nur 
annähernd  alle  die  verkehrten  Handlungen  aufzählen,  die  im  Einzel- 
falle aus  Wahnvorstellungen  hervorgehen  können;  so  verschieden 
die  Beweggründe,  so  verschieden  die  Persönlichkeiten  sind,  so 
mannigfaltig  gestaltet  sich  die  Handlungsweise,  wie  sie  sich  als 
Ergebnis  aus  dem  Zusammenwirken  dieser  beiden  Bedingungen 
schließlich  herausentwickelt.  Nur  darauf  sei  zum  Schlüsse  noch 
hingewiesen,  daß  die  geistige,  oft  auch  die  körperliche  Leistungs- 
fähigkeit bei  Fortdauer  des  Irreseins  unter  allen  Umständen  eine 
schwere  Einbuße  erleidet.  Es  ist  wahr,  daß  es  geisteskranke  Künstler  | 
und  Schriftsteller  gibt,  die  auch  bei  Fortdauer  ihrer  Erkrankung  noch 
imstande  sind,  ihre  Tätigkeit  fortzusetzen.  Allein  wir  sehen  dabei 
ausnahmslos,  daß  der  Wert  des  Geleisteten  bedeutend  gesunken  ist. 
Fast  immer  leidet  auch  die  Stetigkeit  und  Nachhaltigkeit  der  Arbeits- 
kraft. Sehr  häufig  aber  erlischt  die  Fähigkeit,  Neues  zu  schaffen, 
mehr  oder  weniger  vollständig.  Nur  das  handwerksmäßig  Einge- 
lernte erhält  sich;  im  übrigen  bleibt  es  bei  Wiederholungen  oder 
Verzerrungen  früherer  Schöpfungen.  Mannigfache  ausgesprochen 
krankhafte  Züge  mischen  sich  hinein,  unbegreiflich  absonderliche 
oder  geradezu  wahnhafte  Zutaten  neben  einzelnen  Resten  aus 
gesunder  Zeit.  Auf  dem  Gebiete  der  körperlichen  Arbeit  pflegt  die 
Veränderung  bei  weitem  weniger  eingreifend  zu  sein.  Wir  sehen  ■ 
zahlreiche  Geisteskranke  in  den  Anstalten  nach  dem  Ablaufe  der  i 
stürmischeren  Krankheitserscheinungen  äußerst  brauchbare  und  | 
selbst  erfinderische  Arbeiter  werden.  Dennoch  sind  auch  hier  die 
Fälle  recht  selten,  in  denen  ein  nicht  genesener  Geisteskranker 
dauernd  die  volle  Arbeitskraft  des  Gesunden  zu  entwickeln  im- 
stande ist. 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


435 


Aus  den  angeführten  Gründen  werden  Geisteskranke  regelmäßig 
sehr  bald  unfähig  zu  verantwortungsvoller  Tätigkeit.  Wenn  sie 
nicht  durch  Angehörige,  Freunde  oder  Behörden  geschützt  werden, 
sinken  sie  daher  im  Erwerbsleben  unfehlbar  herab.  Eine  große  Zahl 
von  Imbezillen  und  Hebephrenen  sammelt  sich  unter  den  Land- 
streichern und  Prostituierten  an;  auch  Epileptiker,  die  durch  ihre 
Anfälle  und  Verstimmungen  zu  unstetem  Wechsel  der  Arbeits- 
gelegenheit gezwungen  werden,  stranden  dort  nicht  selten.  Die 
Trinker  finden  in  ihrem  ursprünglichen  Berufe  späterhin  nirgends 
mehr  Arbeit  und  werden,  wenn  nicht  zu  Bettlern,  so  doch  zu  Gelegen- 
heitsarbeitern. Von  den  leichteren  und  daher  schwieriger  zu  er- 
kennenden Schwachsinnsformen,  namentlich  aber  auch  von  den 
Epileptikern,  geraten  so  manche  in  die  Gefängnisse  und  Zuchthäuser 
als  unverbesserlich  Rückfällige  oder  schwere  Leidenschaftsver- 
brecher. Eine  ganze  Reihe  krankhaft  oder  minderwertig  veranlagter 
Personen  wird  durch  die  Mißerfolge  daheim  und  durch  Abenteuerlust 
in  die  Ferne  getrieben,  geht  in  Amerika  zugrunde  oder  sucht  Unter- 
kunft in  der  Fremdenlegion').  Andere  ziehen  sich  von  der  Welt 
zurück,  suchen  Zuflucht  in  einem  Kloster.  Besserbemittelte  grün- 
den sich  ein  Heim  abseits  von  dem  Getriebe  der  Menschen,  wo  sie 
den  Reibungen  mit  den  harten  Notwendigkeiten  des  Lebens  nach 
Möglichkeit  ausweichen  und  ein  träumerisches,  tatenloses,  aber 
plänereiches  Dasein  führen  können;  manche  tun  sich  zu  Gruppen 
zusammen.  Grohmann^)  hat  mehrere  solche  Kolonien  von 
Psychopathen  aller  Art  geschildert. 

Die  Geisteskranken  bedeuten  eine  erhebliche  Gefahr  für  die 
öffentliche  Sicherheit,  Zahlreiche  Körperverletzungen,  Totschläge, 
Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit,  Brandstiftungen,  Diebstähle  und 
Schwindeleien  werden  alljährlich  von  Geisteskranken,  Psychopathen 
und  namentlich  auch  von  Trinkern  verübt.  Nur  nach  den  Zeitungs- 
nachrichten, die  natürlich  sehr  unvollständig  sind,  wurden  in  Frank- 
reich 1904 — 1906  von  Geisteskranken  schwer  verletzt  122,  getötet 
92  Personen.  Besonders  groß  ist  natürlich  die  Gefahr  schwerer 
Schädigungen  des  öffentlichen  Wohles  bei  Personen  mit  großer 

1)  Inde,  les  ddgenerds  dans  les  bataillons  d'Afrique.  1907. 

2)  Grohmann,  Die  Vegetarier  -  Ansiedlung  in  Ascona  und  die  sog.  Natur- 
menschen im  Tessin.  1904;  Psychiatr.  Wochenschr.  1903,  445;  1904»  205; 
1906,  213. 

28» 


436 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Machtfülle  und  namentlich  bei  Herrschern,  zumal  bei  ihnen  die 
Krankheit  spät  erkannt  und  noch  weit  später  zweckmäßig  behandelt 
zu  werden  pflegt.  Krankhafte  Seelenzustände  von  Machthabern 
sind  daher  oft  genug  für  die  Schicksale  von  Völkern  und  Staaten 
von  einschneidender  Bedeutung  gewesen,  von  den  Cäsaren  der 
Julisch-Claudischen  Familie'^)  bis  zu  Johanna  von  Kastilien, 
Karl  VI.  von  Frankreich  und  zu  jenem  unglücklichen  Bayernkönige, 
dem  sein  Arzt  als  Opfer  seines  Berufes  mit  in  den  Tod  folgte. 

Der  praktischen  Rechtspflege,  die  es  ja  gerade  mit  dem 
Handeln  der  Menschen  zu  tun  hat,  haben  dessen  Störungen  bei 
geistigen  Erkrankungen  nicht  entgehen  können.  Das  Bedürfnis 
jener  Wissenschaft  hat  daher  zur  Aufstellung  gewisser  allgemeiner 
Eigenschaften  der  Persönlichkeit  geführt,  die  als  Grundlage  für  die 
rechtliche  Tragweite  menschlicher  Willensäußerungen  angesehen 
werden.  Diese  Eigenschaften,  die  dem  Gesunden  ohne  weiteres 
zugeschrieben  werden,  sind  die  Geschäftsfähigkeit  und  die 
Zurechnungsfähigkeit.  Die  psychologischen  Voraussetzungen 
für  die  Geschäftsfähigkeit  sowohl  wie  für  die  Zurechnungsfähigkeit 
liegen  zum  Teil  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes,  zum  Teil  aber  im 
Bereiche  des  Wollens.  Beide  Zustände  erfordern  einmal  eine 
klare  Auffassung  der  tatsächlichen  Verhältnisse,  einen 
Einblick  in  die  rechtliche  oder  sittliche  Bedeutung  der 
einzelnen  Willenshandlung,  andererseits  die  Möglichkeit 
einer  freien  Entschließung  in  der  Richtung  jener  Beweg- 
gründe, die  der  eigenen  selbstbewußten  Persönlichkeit 
angehören.  Wie  man  leicht  sieht,  werden  bei  Geisteskranken 
in  der  Regel  die  beiden  aufgestellten  Bedingungen  unerfüllt  sein. 
Wo  Wahnideen  die  Stellung  des  Ich  zur  Außenwelt  in  krankhafter 
Weise  verändern,  ist  für  die  richtige  Beurteilung  des  eigenen  Handelns 
durch  den  Kranken  keine  Gewähr  mehr  gegeben,  während  der 
Verlust  der  dauernden,  grundlegenden  Willensrichtungen  oder  deren 
Überwältigung  durch  krankhafte  Gefühle  und  Triebe  dem  Menschen 
zweifellos  die  Freiheit  eigener  Entschließung  im  gebräuchlichen 
Sinne  des  Wortes  rauben.  Sowohl  die  Fähigkeit,  Rechtshandlungen 
zu  vollziehen,  wie  die  Zurechnungsfähigkeit  und  damit  die  recht- 
liche Verantwortlichkeit  für  gemeingefährliche  Taten  sind  demnach 

1)  Wiedemeister,  Der  Cäsarenwahnsinn  der  Julisch-Claudischen  Impera- 
torenfamilie. 1875. 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


437 


bei  Geisteskranken  grundsätzlich  als  aufgehoben  zu  betrachten. 
Eine  allgemeine  „Einsicht  in  die  Strafbarkeit  der  begangenen  Hand- 
lung", ja  auch  bisweilen  die  Möglichkeit,  verbrecherische  Antriebe 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  bekämpfen,  kann  trotzdem  recht 
wohl  vorhanden  sein.  Die  eingehendere  Würdigung  dieser  rechtlichen 
Beziehungen  der  Irren  bildet  den  Gegenstand  einer  besonderen 
Wissenschaft,  der  gerichtlichen  Psychopathologie^). 

1)  V.  Krafft  -  Ebing,  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Psychopathologie,  3.  Aufl. 
1892;  Maschka,  Handbuch  der  gerichtlichen  Medizin,  Bd.  IV.  1882;  Cramer, 
Gerichtliche  Psychiatrie,  3.  Aufl.  1903;  Delbrück,  Gerichtliche  Psychopathologie! 
1897;  Hoche,  Handbuch  der  gerichtlichen  Psychiatrie.  1901;  Sommer,  Krimi- 
nalpsychologie und  strafrechtliche  Psychopathologie  auf  naturwissenschaftlicher 
Grundlage.  1904;  Siemerling,  Streitige  geistige  Krankheit  in  Schmidtmanns 
Handbuch  der  gerichtlichen  Medizin,  Bd.  HI.  1906;  Dittrich,  Handbuch  der 
Sachverständigentätigkeit,  Bd.  VHI:  Forensische  Psychiatrie.  1908. 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 

Wie  die  Erscheinungen,  so  werden  auch  Verlauf,  Ausgänge  und 
Dauer  des  Irreseins  im  allgemeinen  durch  jene  zwei  großen  Gruppen 
von  Ursachen  bedingt,  die  wir  in  der  Entstehungsgeschichte  der 
Geistesstörungen  kennen  gelernt  haben,  einerseits  durch  die  Art 
und  Wirkungsweise  der  krankmachenden  Einflüsse,  ande- 
rerseits durch  die  körperliche  und  geistige  Eigenart  der 
erkrankenden  Person.  Diese  beiden  Bedingungen  sind  es,  die 
das  Wesen  und  die  klinischen  Eigentümlichkeiten  des  einzelnen 
Krankheitsvorganges  bestimmen;  je  genauer  daher  ihr  Anteil  an 
der  Entstehungsgeschichte  des  gegebenen  Falles  bekannt  ist,  mit 
desto  größerer  Sicherheit  wird  es  möglich  sein,  seine  zukünftige 
Gestaltung  vorauszusagen.  Da  uns  indessen  meist  ein  tieferer  Ein- 
blick in  den  inneren  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung 
noch  nicht  möglich  ist,  sind  wir  vorderhand  darauf  angewiesen, 
unser  Urteil  über  den  voraussichtlichen  Verlauf  einer  Erkrankung 
aus  Anzeichen  abzuleiten,  die  sich  rein  erfahrungsmäßig  zur  Lösung 
dieser  Aufgabe  bewährt  haben. 

A.  Verlauf  des  Irreseins. 

Nach  ihrem  Verlaufe  scheiden  sich  die  Geistesstörungen  vor 
allem  in  krankhafte  Vorgänge  und  in  krankhafte  Zustände. 
Im  ersteren  Falle  handelt  es  sich  um  den  Ablauf  bestimmter  Ver- 
änderungen in  einer  umgrenzten  Zeit,  im  letzteren  dagegen  um  ein 
dauerndes,  sich  gleichbleibendes  Verhalten  der  psychischen  Per- 
sönlichkeit, das  entweder  angeboren  (z.B.  Idiotie,  hysterische 
Veranlagung)  oder  als  Wirkung  einer  voraufgegangenen  Geistes- 
krankheit erworben  sein  kann  (,, Endzustände").  Bei  diesen 
krankhaften  Zuständen  kann  entweder  nur  die  Höhe  oder  auch  die 
Art  der  seelischen  Leistungen  verändert  sein.    Zu  beachten  ist 


Beginn  der  Erkrankung. 

Übrigens,  daß  sie  vielfach  den  Boden  für  die  Entwicklung  vorüber- 
gehender, abgegrenzter  Krankheitserscheinungen  abgeben. 

Den  Vorgang  der  psychischen  Störung  faßte  Griesinger  im 
Anschlüsse  an  seinen  Lehrer  Zeller  als  einen  einheitlichen  auf, 
dessen  einzelnen  Abschnitten  die  verschiedenen  klinischen  Formen 
des  Irreseins  (Melancholie,  Manie,  Verrücktheit,  Verwirrtheit, 
Blödsinn)  entsprechen  sollten.  Die  Grundlage  dieser  Anschauung 
hat  anscheinend  namentlich  die  Dementia  praecox,  in  gewissem 
Sinne  wohl  auch  das  manisch-depressive  Irresein  und  die  Paralyse 
geliefert.  Allein  die  Erfahrung  hat  die  Annahme  eines  regelmäßigen 
Ablaufes  ,,der  Geisteskrankheit"  in  bestimmten  Abschnitten  nicht 
bestätigt  und  zunächst  durch  den  Hinweis  auf  die  Tatsache  einer 
„primären"  Verrücktheit  das  künstlich  erdachte  Gesetz  durch- 
brochen. In  der  Tat  läßt  die  Beobachtung  der  Formen  psychischer 
Störung  durchaus  nicht  den  nach  der  angeführten  Auffassung 
erwarteten  einheitlichen,  sondern  einen  überaus  verschiedenartigen 
Verlauf  derselben  erkennen. 

Beginn  der  Erkrankung.  Der  Beginn  einer  Geisteskrankheit  ist 
in  der  Regel  ein  allmählicher;  weit  seltener  bricht  die  Störung 
plötzlich,  ohne  alle  Vorboten,  über  den  Menschen  herein.  Der  Grund 
für  dieses  Verhalten  liegt  in  der  allgemeinen  Entstehungsweise  des 
Irreseins.  Es  gibt  hier  nur  verhältnismäßig  wenige  Ursachen,  die 
ganz  rasch  eine  durchgreifende  Schädigung  der  körperlichen  Grund- 
lagen unseres  Seelenlebens  hervorzubringen  vermögen  (Gifte, 
Gemütserschütterung,  Schädelverletzung,  Infektionskrankheit,  Ge- 
bärakt) ;  meist  haben  wir  es  mit  stetig,  aber  langsam  wirkenden 
Einflüssen  zu  tun,  die  erst  nach  und  nach  stärkere  Veränderungen 
erzeugen.  Namentlich  dort,  wo  die  Bedingungen  der  Krankheit 
wesentlich  in  der  eigentümlichen  Anlage  der  Person  liegen,  kann 
die  Entwicklung  des  Leidens  Jahre  und  selbst  Jahrzehnte  dauern, 
wenn  kein  heftiger  Anstoß  im  Kampfe  ums  Dasein  den  Ausbruch 
beschleunigt.  Der  Beginn  der  Erkrankung  knüpft  sich  dann  gern 
an  bestimmte  Lebensalter,  die  wir  anscheinend  als  Zeiten  geringerer 
Widerstandsfähigkeit  betrachten  dürfen.  Dahin  gehören  in  erster 
Linie  die  Entwicklungsjahre,  ferner  der  Beginn  des  Greisenalters 
und  bei  Frauen  das  Klimakterium. 

Bemerkenswert  ist  es,  daß  regelmäßig  kleine  Veränderungen  im 
Gefühlsleben  die  ersten  und  bisweilen  wochen-,  monate-,  selbst 


440 


III,  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


jahrelang  einzigen  Anzeichen  einer  herannahenden  Geisteskrank- 
heit zu  bilden  pflegen.  Überall,  wo  überhaupt  eine  Zeit  der  ein- 
leitenden Krankheitserscheinungen  sich  abgrenzt,  spielen  unter 
ihnen  erhöhte  gemütliche  Reizbarkeit  und  Launenhaftigkeit,  Unruhe, 
unbegründet  heitere,  ganz  besonders  häufig  aber  niedergeschlagene 
Stimmung  die  Hauptrolle,  selbst  wenn  späterhin  die  Störungen  der 
Gefühle  ganz  in  den  Hintergrund  treten.  Außerdem  sind  Zerstreutheit, 
Interesselosigkeit  oder  auffallende  Geschäftigkeit  häufige  Vorläufer 
der  Krankheit.  Zugleich  läßt  sich  regelmäßig  eine  mehr  oder 
weniger  tiefgreifende  Beeinträchtigung  des  Schlafes,  häufig  auch 
eine  Störung  der  Eßlust  und  fortschreitendes  Sinken  der  allgemeinen 
Ernährung  beobachten.  Bei  den  sehr  langsam  zur  Entwicklung  ge- 
langenden Geistesstörungen  ist  der  eigentliche  Anfang  häufig  schwer 
festzustellen;  der  Zeitpunkt,  an  welchem  von  der  Umgebung  die 
erste  Veränderung  an  dem  Kranken  wahrgenommen  wurde,  bietet 
oft  nur  einen  sehr  unzuverlässigen  Anhalt  für  die  Beurteilung  dar. 

An  die  Zeit  der  ersten  Andeutungen  schließt  sich  bisweilen  eine 
solche  des  eigentlichen  Krankheitsbeginnes  an,  in  welcher  zwar  das 
Irresein  bereits  unverkennbar  hervortritt,  aber  doch  erst  nach  und 
nach  zu  jener  vollständigen  Ausbildung  sich  steigert,  die  man  als  i 
die  Höhe  der  Krankheit  bezeichnen  kann.  In  anderen  Fällen 
erfolgt  der  eigentliche  Ausbruch  der  Geistesstörung  nach  den  voran- 
gegangenen unbestimmten  Erscheinungen  mehr  oder  weniger 
plötzlich,  besonders  im  Anschlüsse  an  irgendeine  äußere  Veran- 
lassung, welche  die  schon  angebahnte  Störung  rasch  zu  ihrer  vollen 
Höhe  anwachsen  läßt. 

Höhe  der  Erkrankung.  Der  weitere  Verlauf  läßt  je  nach  der 
Krankheitsform  erhebliche  Verschiedenheiten  erkennen.  Die  Krank- 
heit kann  sich  lange  Zeit  auf  derselben  Höhe  erhalten:  gleich- 
mäßiger Verlauf;  oder  sie  kann  vielfache  Schwankungen  in  der 
Stärke  ihrer  Erscheinungen  darbieten:  schwankender  Verlauf. 
Dies  letztere  Verhalten  ist  bei  weitem  das  häufigste.  Die  Nachlässe 
der  Störung  schließen  sich  öfters  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit 
an  den  Ablauf  der  Tageszeiten  an.  Die  Unruhe  und  Unklarheit  der 
Greise  beschränkt  sich  nicht  selten  ganz  auf  die  Nacht,  während  die 
Kranken  am  Tage  vielleicht  geordnet  sind ;  ebenso  sehen  wir  Alkohol- 
deliranten  in  der  Nacht  regelmäßig  erregter  und  verwirrter  werden. 
Daß  epileptische  Anfälle  bei  vielen  Kranken  nur  oder  doch  vor- 


Höhe  der  Erkrankung. 


441 


zugsweise  nachts  auftreten,  ist  längst  bekannt.  In  zirkulären  De- 
pressionszuständen  ist  der  Wechsel  der  Stimmung  vom  Morgen 
zum  Abend  oft  sehr  auffallend ;  meist  sind  die  Kranken  abends  sehr 
viel  freier  als  morgens,  seltener  umgekehrt.  Hier  und  da  beobachtet 
man  auch  einen  regelmäßigen  Wechsel  von  Tag  zu  Tag,  selbst 
Monate  und  Jahre  hindurch ;  solche  Fälle  scheinen  oft  der  Dementia 
praecox  anzugehören.  Zur  Zeit  der  Menses  stellt  sich  meist  eine 
vorübergehende  Verschlechterung  des  Zustandes  ein,  bisweilen  auch 
dann,  wenn  die  Blutung  ausbleibt.  Andererseits  pflegt  das  Wieder- 
erscheinen der  versiegten  Menses  mit  einer  günstigen  Wendung  des 
Krankheitszustandes  einherzugehen. 

Eine  sehr  große  Zahl  von  Geistesstörungen  verläuft  in  einzelnen, 
durch  längere  freie  Zwischenzeiten  unterbrochenen  Anfällen. 
Sehr  begreiflich  ist  ein  solcher  anfallsweiser  Verlauf,  wo  dieselbe 
Gelegenheitsursache  immer  von  neuem  wirkt.  Dahin  gehören  die 
Aufregungszustände  der  Trinker.  Bei  den  epileptischen  Bewußtseins- 
störungen beruht  das  anfallsweise  Auftreten  in  dem  eigentümlichen 
Kreislaufe  der  zugrunde  liegenden,  noch  nicht  näher  bekannten 
Umwälzungen;  ähnlich  steht  es  mit  den  seltenen,  den  Fieberverlauf 
nachahmenden  und  an  seiner  Stelle  einsetzenden  Geistesstörungen 
infolge  von  Malariavergiftung.  Der  Erkrankte  ist  jedoch  hier  über- 
all auch  während  der  freien  Zwischenzeiten  nicht  als  gesund  zu  be- 
trachten; die  Krankheitserscheinungen  sind  zwar  zurückgetreten, 
aber  der  krankhafte  Grundzustand  besteht  weiter. 

Ganz  ähnlich  sind  diejenigen  Geistesstörungen  zu  beurteilen, 
denen  man  wegen  ihres  ausgesprochen  anfallsweisen  Verlaufes  den 
Namen  des  ,, periodischen"  Irreseins  beigelegt  hat.  Es  handelt  sich 
dabei  um  einen  mehr  oder  weniger  regelmäßigen  Wechsel  krank- 
hafter mit  nahezu  gesunden  Zuständen;  die  einzelnen  Abschnitte 
können  Wochen,  Monate,  ja  selbst  eine  Reihe  von  Jahren  dauern. 
Ebenso  kann  die  Dauer  der  Zwischenzeiten  (,,Intermissionen")  von 
einigen  Wochen  bis  zu  vielen  Jahren  schwanken.  Die  wesentliche 
Ursache  der  Krankheit  liegt  hier  offenbar  in  der  Person  des  Er- 
krankten selber,  da  sich  häufig  gar  kein  oder  doch  nur  ein  sehr 
geringfügiger  Anlaß  für  den  Ausbruch  des  Anfalles  auffinden  läßt; 
gelegentlich  spielen  die  Menses  eine  solche  auslösende  Rolle.  Es 
gibt  indessen  auch  Formen,  in  denen  die  einzelnen  Erkrankungen 
wesentlich   oder  ausschließlich   im  Gefolge  ungünstiger  äußerer 


442 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Lebensereignisse  (Gemütserschütterungen,  Wochenbett,  körperliche 
Leiden)  auftreten,  die  allerdings  bei  rüstigem  Gehirn  schwerlich 
eine  solche  Schwankung  des  psychischen  Gleichgewichts  herbei- 
geführt haben  würden;  hier  sind  die  Anfälle  seltener  und  unregel- 
mäßiger. Endlich  aber  begegnen  uns  manche  Fälle,  in  denen  die 
Krankheit  sogar  nur  zwei-  bis  dreimal  im  Leben  auftritt.  Von  einer 
eigentlichen  Periodizität  kann  man  hier  nicht  mehr  sprechen,  doch 
wird  der  innere  Zusammenhang  der  einzelnen  Anfälle  durch  die  Zuge- 
hörigkeit zu  demselben  klinischen  Formenkreise  dargetan.  Aus  dieser 
Übereinstimmung  der  Krankheitsbilder  leiten  wir  auch  die  Berechti- 
gung ab,  jene  ganz  vereinzelten  Fälle  dieser  Gruppe  zuzurechnen, 
in  denen  nur  ein  einziger  ausgeprägter  Anfall  zustande  kommt. 

Allerdings  ist  der  klinische  Aufbau  der  Anfälle  beim  perio- 
dischen Irresein  nicht  immer  ein  so  gleichmäßiger,  daß  jeder 
folgende  genau  das  Bild  der  früheren  wiederholt;  häufiger  sehen 
wir  verschiedenartige  Gestaltungen  miteinander  abwechseln.  Nicht 
nur  kann  die  Dauer  und  Stärke  der  Krankheitserscheinungen  eine 
sehr  verschiedene  sein,  sondern  auch  die  klinische  Zusammen- 
setzung der  einzelnen  Krankheitsabschnitte  kann  bei  demselben 
Falle  große  Verschiedenheiten  zeigen.  Am  auffallendsten  ist  der  I 
mehr  oder  weniger  regelmäßige  Wechsel  zwischen  manischen 
und  Depressionszuständen,  dem  man  den  besonderen  Namen  des 
zirkulären  Irreseins  gegeben  hat.  Aber  auch  die  Abschnitte  von 
gleicher  Färbung  bieten  in  dem  stärkeren  oder  schwächeren  Hervor- 
treten von  Erregung  und  Hemmung  oder  der  Mischung  beider,  in 
dem  Auftauchen  oder  Fehlen  von  Wahnideen  und  Sinnestäu- 
schungen noch  mancherlei  Verschiedenheiten.  Dennoch  ist  es 
immer  ein  bestimmter  Formenkreis,  innerhalb  dessen  sich  alle 
diese  Bilder  bewegen,  so  daß  ihre  innere  Einheit  unschwer  erkannt 
und  damit  von  dem  gegebenen  Anfalle  auf  die  Wiederkehr  anderer 
Anfälle  aus  derselben  klinischen  Gruppe  geschlossen  werden  kann. 
Diese  Gemeinsamkeit  der  klinischen  Krankheitsbilder  und  daneben 
die  gleichartige  Prognose  sind  für  die  geschilderten  Gruppen  un- 
gleich kennzeichnender  als  ihre  sehr  unregelmäßige  Periodizität, 
so  daß  sie  zweckmäßiger  unter  jenem  ersteren  Gesichtspunkte  be- 
nannt werden  (, »Manisch-depressives  Irresein"). 

Die  Zahl  und  Dauer  der  Anfälle  pflegt  im  Verlaufe  der  ganzen 
Krankheit  ganz  allmählich  zuzunehmen.  Die  gesamte  geistige  Per- 


Genesungszeit. 


443 


sönlichkeit  erleidet  dabei  eine  gewisse,  wenn  auch  zunächst  viel- 
leicht nicht  sehr  stark  bemerkbare  Einbuße.  Namentlich  bei 
Häufung  schwerer  Anfälle  mit  kurzen  Zwischenzeiten  können  sich 
tiefergreifende  Schwächezustände  herausbilden.  Auch  in  leichteren 
Fällen  sind  übrigens  die  periodisch  Kranken  während  der  anfalls- 
freien  Zeiten  oft  nicht  völlig  gesund;  gewisse  Eigentümlichkeiten, 
scheues  oder  sehr  aufgeregtes  Wesen,  auffallende  gemütliche  Reiz- 
barkeit oder  Ängstlichkeit,  Schwäche  oder  Einseitigkeit  in  den 
geistigen  Leistungen,  namentlich  aber  der  Mangel  einer  ganz  klaren 
Einsicht  in  die  eigenen  Krankheitszustände  lassen  sich  vielfach 
auch  dann  nachweisen,  wenn  der  anscheinend  Genesene  wieder  voll 
in  seinen  früheren  Wirkungskreis  eingetreten  ist. 

Eine  wesentlich  andere  Bedeutung,  als  den  Zwischenzeiten 
beim  periodischen  Irresein,  müssen  wir  wohl  endlich  jenen  Nach- 
lässen („Remissionen")  der  Krankheitserscheinungen  zuerkennen, 
die  wir  so  häufig  bei  der  Paralyse  und  ganz  ähnlich  bei  der  De- 
mentia praecox  sich  einstellen  sehen.  Hier  haben  wir  es  mit  Krank- 
heiten zu  tun,  die  meist  entschieden  fortschreiten.  Trotzdem  kann 
das  Leiden  zeitweise  zum  Stillstande  kommen,  indem  die  aus- 
geprägteren Krankheitszeichen  ganz  oder  doch  nahezu  vollständig 
zurücktreten.  Offenbar  müssen  also  die  zugrunde  liegenden  Schäd- 
lichkeiten sich  vorübergehend  wieder  ausgleichen  können.  In- 
dessen es  handelt  sich  hier  in  der  ganz  überwiegenden  Zahl  der 
Fälle  doch  um  einen  Rest  von  bleibenden  Störungen,  die  eine  Ver- 
änderung der  gesamten  geistigen  Persönlichkeit  bedeuten.  Nament- 
lich aber  stellt  sich  bei  der  Paralyse  fast  unfehlbar,  bei  der  De- 
mentia praecox  wenigstens  sehr  häufig,  früher  oder  später  ein  neuer 
Nachschub  der  Krankheit  ein,  der  nunmehr  eine  erhebliche  Ver- 
schlechterung des  Gesamtzustandes,  oft  genug  tiefe  Verblödung 
herbeiführt.  In  welchem  Umfange  daneben  bei  beiden  Krankheiten 
auch  dauernde  Stillstände  oder  selbst  völlige  Genesungen  vor- 
kommen, bedarf  noch  weiterer  Untersuchung. 

Genesungszeit.  Am  häufigsten  finden  sich  Schwankungen  des 
Krankheitszustandes  beim  Schwinden  der  einzelnen  Anfälle ;  sie  sind 
daher  im  allgemeinen  als  ein  günstiges  Zeichen  anzusehen.  Aller- 
dings kommt  auch,  besonders  bei  den  sehr  rasch  entstandenen 
und  sehr  kurz  dauernden  Geistesstörungen  (alkoholisches  Irresein, 
epileptische  Erregungszustände,  Infektionsdelirien),  ein  fast  plötz- 


444 


III,  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


liches  Verschwinden  der  ganzen  Krankheitserscheinungen  vor,  z.  B. 
nach  einem  tiefen  Schlafe.  In  der  übergroßen  Mehrzahl  der  Fälle 
jedoch  geschieht  die  Abnahme  einer  psychischen  Störung  ganz  all- 
mählich, im  Laufe  von  Wochen  und  Monaten.  Zuerst  verlieren 
sich,  wie  es  scheint,  Erschwerungen  der  Auffassung  und  des  Denkens; 
die  Kranken  beginnen  sich  in  ihrer  Umgebung  zurechtzufinden, 
Arzt  und  Mitkranke  richtig  zu  bezeichnen,  verstehen  besser,  sprechen 
zusammenhängender.  Weit  später  schwinden  die  Zeichen  gemüt- 
licher Erregung,  die  heitere  oder  traurige  Stimmung;  die  Kranken 
werden  ruhiger,  freier,  gleichmäßiger  in  ihrem  Benehmen.  Anfangs 
besteht  diese  Besserung  vielleicht  nur  für  kurze  Zeit,  Tage  oder 
Stunden,  um  einem  abermaligen  Hervortreten  der  Krankheits- 
erscheinungen bald  wieder  zu  weichen.  Nach  und  nach  werden 
dann  die  Besserungen  ausgiebiger  und  gewinnen  längere  Dauer; 
die  Rückfälle  verlieren  an  Stärke,  bis  schließlich  nur  noch  leichte 
Verschlimmerungen  bei  besonderen  Anlässen  den  fortschreitenden 
Gang  der  Genesung  unterbrechen. 

Am  längsten  pflegt  sich  von  den  Krankheitserscheinungen  die 
Empfindlichkeit  des  gemütlichen  Gleichgewichts  oder  die 
Abstumpfung  der  Gefühlsregungen  zu  erhalten,  auch  wenn  die 
Störungen  der  Verstandestätigkeit  und  die  dauernden  Verstim- 
mungen sich  schon  längere  Zeit  ausgeglichen  hatten.  So  läßt  sich 
der  Verlauf  der  Krankheit  in  seinen  einzelnen  Abschnitten  vielleicht 
am  genauesten  nach  dem  Verhalten  der  Gemütsregungen  beurteilen. 
Sind  es  doch  aber  auch  gerade  die  Gefühle,  in  denen  sich  unmittel- 
bar die  augenblickliche  Stellungnahme  der  Person  zu  den  Ein- 
drücken und  Vorstellungen  ihres  Bewußtseinsinhaltes  kundgibt,  die 
uns  somit  über  deren  Zustand  jeweils  am  besten  aufzuklären  ver- 
mögen, während  die  Verstandesarbeit  weit  mehr  von  dem  Erwerbe 
vergangener  Tage,  dem  Schatze  früher  gebildeter  Vorstellungen, 
Begriffe  und  Urteile  beherrscht  wird.  Eine  Störung  der  Ver- 
standesleistungen kommt  daher  erst  verhältnismäßig  spät  zu- 
stande, und  sie  gleicht  sich  unter  dem  Einflüsse  der  gesammelten 
Erfahrung  früher  wieder  aus  als  die  Veränderungen  im  Bereiche 
des  Gefühls. 

Sehr  klare  und  darum  praktisch  überaus  wichtige  Beziehungen 
zu  dem  Gesamtverlaufe  des  Irreseins  pflegt  das  Körpergewicht 
unserer  Kranken  darzubieten.  Während  die  dauernden  krankhaften 


Genesungszeit. 

Zustände  nur  insoweit  erheblichere  Schwankungen  des  Körper- 
gewichtes erkennen  lassen,  wie  greifbare  Ernährungsstörungen  oder 
etwa  vorübergehende  Erregungen  es  beeinflussen,  beginnt  jeder 
eigentliche  psychische  Krankheitsvorgang  mit  einem  entschiedenen 
Sinken  des  Körpergewichtes,  das  unter  Umständen  15,  20  Kilo  und 
noch  mehr  in  wenigen  Monaten  und  selbst  Wochen  betragen  kann. 
Während  des  Krankheitsverlaufes  schreitet  die  Abnahme  langsam 
fort;  im  übrigen  pflegen  ohne  besonderen  Anlaß  nur  geringfügige 
Schwankungen  vorzukommen. 

Der  weitere  Gang  des  Körpergewichtes  gestaltet  sich  je  nach 
der  Art  der  Erkrankung  verschieden.  Neben  den  langsamen  und 
stetigen  Änderungen  beobachtet  man  gelegentlich  starke  Schwan- 
kungen, namentlich  bei  der  Dementia  praecox;  sie  scheinen  nach 
Rosenfelds  Untersuchungen  wesentlich  mit  Wechsel  des  Wasser- 
gehaltes im  Körper  zusammenzuhängen.  Jede  wirkliche  Genesung 
geht  mit  einer  fortschreitenden  Hebung  der  allgemeinen  Ernährung 
einher.  Vielfach  kündigt  sich  diese  Wendung  des  Krankheits- 
verlaufes im  Verhalten  des  Körpergewichtes  schon  zu  einer  Zeit 
an,  in  der  die  sonstigen  Krankheitserscheinungen  noch  keinerlei 
Besserung  erkennen  lassen.  Umgekehrt  sehen  wir  bisweilen  den 
Krankheitszustand  sich  günstig  gestalten,  ohne  daß  die  Ernährung 
sich  in  entsprechendem  Maße  bessert.  Derartige  Wendungen 
sollten  stets  so  lange  mit  äußerstem  Mißtrauen  betrachtet  werden, 
bis  die  unbedingt  notwendige,  aber  zuweilen  verzögerte  Körper- 
gewichtszunahme endlich  eingetreten  ist.  Am  schönsten  zeigt  sich 
dieses  gesetzmäßige  Verhalten  bei  den  Infektionspsychosen  sowie 
bei  den  einzelnen  Anfällen  des  manisch-depressiven  Irreseins. 

Bei  ungünstigem  Ausgange  des  Leidens  stellt  sich  mit  der  Be- 
ruhigung der  Kranken,  wie  sie  die  Verblödung  mit  sich  bringt, 
oft  ebenfalls  eine  Zunahme  des  bis  dahin  stark  gesunkenen  Körper- 
gewichtes ein.  Unter  diesen  Umständen  kann  die  Entscheidung, 
ob  die  Wendung  eine  günstige  oder  ungünstige  Bedeutung  hat, 
im  einzelnen  Falle  zunächst  recht  schwierig  werden.  Meist  werden 
allerdings  die  allmählich  deutlicher  hervortretenden  Zeichen  der 
Genesung  oder  des  Schwachsinns  bald  das  Urteil  ermöglichen. 
Bei  Altersblödsinnigen,  vielleicht  auch  bei  einigen  anderen  Formen 
des  Irreseins,  kann  die  Ernährungszunahme  während  der  Ver- 
blödung ausbleiben. 


446 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Ganz  besondere  Beachtung  verdient  vielleicht  die  Erfahrung, 
daß  wir  fast  die  stärksten  überhaupt  vorkommenden  Schwankungen 
des  Körpergewichtes  bei  der  Paralyse  und  der  Dementia  praecox 
beobachten.  Hier  stellt  sich  häufig  mit  dem  Eintritte  einer  ge- 
wissen Beruhigung  eine  ungeheure  Gefräßigkeit  ein,  die  mit  außer- 
ordentlichem Ansteigen  des  Körpergewichtes  einhergeht.  Die 
Kranken  werden  unförmlich  dick;  ihre  Gesichtszüge  verändern  sich 
vollständig.  An  den  plumpen,  glänzenden  Backen  wie  an  den  um- 
fangreichen Oberarmen  finden  sich  im  Unterhautzellgewebe  wulstige 
Einlagerungen,  die  auffallend  an  Myxödem  erinnern  können.  Später- 
hin sieht  man  diese  Körperfülle  meist  schneller  oder  langsamer 
wieder  schwinden.  Ich  kann  mich  mit  dem  Gedanken  nicht  be- 
freunden, daß  es  sich  hier  um  eine  einfache  Folge  der  gesteigerten 
Nahrungsaufnahme  handelt,  zumal  wir  andere  derartige  Kranke 
trotz  größter  Eßlust  durchaus  nicht  dicker  werden,  gelegentlich 
sogar  unter  fortschreitender  Abmagerung  zugrunde  gehen  sehen. 
Vielmehr  bin  ich  geneigt,  die  Schwankungen  des  Körpergewichtes 
hier  für  Teilerscheinungen  der  allgemeinen  Stoffwechselerkrankung 
zu  halten,  die  mir  jenen  Erkrankungen  zugrunde  zu  liegen  scheint. 
Der  Heißhunger  könnte  dabei,  wie  beim  Diabetes,  etwa  nur  eines 
der  Zeichen  der  krankhaften  Umwälzung  in  den  Ernährungs- 
vorgängen darstellen. 


B.  Ausgänge  des  Irreseins. 

Von  denjenigen  Formen  des  Irreseins,  die  der  Ausdruck  be- 
stimmter Krankheitsvorgänge  sind,  dürfen  wir  erwarten,  daß  sie 
nicht  nur  einen  im  allgemeinen  gesetzmäßigen  Verlauf,  sondern 
auch  einen  bestimmten  Ausgang  nehmen.  Allerdings  wird  das  End- 
ergebnis einer  Erkrankung  ohne  Zweifel  sehr  wesentlich  durch  die 
persönliche  Widerstandsfähigkeit  wie  durch  den  Grad  des  Leidens 
beeinflußt;  auch  zufällige  Umstände  können  natürlich  mit  hinein- 
spielen. Aus  diesen  Gründen  wird  unserer  Vorhersage  über  den 
mutmaßlichen  Ausgang  einer  Geistesstörung  auch  im  besten  Falle 
ein  erheblicher  Grad  von  Unsicherheit  anhaften.  Insbesondere 
werden  wir  darauf  gefaßt  sein  müssen,  daß  Krankheiten,  die  im 
allgemeinen  heilbar  sind,  unter  Umständen  doch  einmal  in  geistiges 
Siechtum  ausgehen  oder  mit  dem  Tode  abschließen  können. 


Heilung. 

Dennoch  ist  die  Stellung  einer  bestimmten  Prognose^),  eine 
der  wichtigsten  ärztlichen  Aufgaben,  auch  auf  unserem  Gebiete 
innerhalb  gewisser  Grenzen  erreichbar.  Wir  kennen  einerseits 
Krankheiten,  deren  Erscheinungen  sich  regelmäßig  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  wieder  verlieren,  andererseits  solche,  die  ihrem 
Wesen  nach  immer  oder  doch  fast  immer  zum  Tode  führen.  Zwischen 
ihnen  stehen  diejenigen  Leiden,  die  mit  der  Gefahr  des  Ausgangs 
in  geistiges  Siechtum  verknüpft  sind.  Hier  liegen  die  größten  prak- 
tischen Schwierigkeiten  für  die  ärztliche  Vorhersage.  Zum  Teil  sind 
sie  bedingt  durch  unsere  noch  sehr  unvollkommene  Kenntnis  des  end- 
gültigen Ausganges  der  bisweilen  über  Jahrzehnte  sich  erstrecken- 
den Erkrankungen,  zum  Teil  durch  den  Mangel  an  Erfahrung  über 
diejenigen  Zeichen,  aus  denen  sich  prognostische  Schlüsse  ableiten 
lassen.  Wir  sind  aber,  wie  ich  glaube,  zu  der  Annahme  berechtigt, 
daß  auch  auf  diesem  Gebiete  sich  mit  der  Zeit  zuverlässige  Regeln 
werden  auffinden  lassen.  Insbesondere  dürfen  wir  annehmen,  daß 
der  Endzustand,  den  ein  ungeheilter  Krankheitsvorgang  hinterläßt, 
Züge  darbieten  wird,  die  für  ihn  in  irgend  einer  Weise  kennzeich- 
nend sind.  Wenn  das  Wesen  der  einzelnen  Formen  des  Irreseins 
ein  verschiedenes  ist,  wenn  wir  sie  nach  ihren  Äußerungen  von- 
einander zu  trennen  vermögen,  so  werden  voraussichtlich  auch  die 
krankhaften  Veränderungen,  die  sie  nach  ihrem  Ablaufe  zurück- 
lassen, nicht  die  gleichen  sein.  Es  muß  daher  möglich  sein,  aus 
den  Endzuständen  Schlüsse  auf  den  voraufgegangenen  Krankheits- 
vorgang zu  ziehen,  andererseits  aber  im  Beginne  des  Leidens  die- 
jenigen Möglichkeiten  bestimmt  zu  umgrenzen,  mit  denen  man  für 
den  Ausgang  zu  rechnen  hat.  Die  immer  vollkommenere  Lösung 
dieser  Aufgabe  ist  nur  eine  Frage  der  fortschreitenden  Erfahrung. 

Heilung.  Der  Vorgang  der  Genesung  geht  ohne  scharfe  Grenze 
in  den  Zustand  der  vollendeten  Heilung  über.  Die  wenigen  Reste 
der  überstandenen  Krankheit,  vereinzelte  Wahnideen  oder  Sinnes- 
täuschungen, grundlose  Verstimmungen,  erhöhte  Reizbarkeit,  ver- 
lieren sich  allmählich;  die  gesunden  Anschauungen  und  Neigungen 
treten  neu  hervor;  die  gewohnten  Beschäftigungen  werden  wieder 
aufgenommen:  die  psychische  Persönlichkeit  mit  ihrer  ganzen 
Eigenart  knüpft  über  den  krankhaften  Zeitraum  hinüber  an  die 

^)  Ilberg,  Die  Prognose  der  Geisteskrankheiten.  1901;  Thomsen,  Medi- 
zinische Klinik,  1907,  45. 


448 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


vor  ihm  liegende  gesunde  Vergangenheit  an,  ganz  ähnUch  wie  wir 
nach  wirrem  Traume  beim  Erwachen  mit  den  Erlebnissen  vor  dem 
Einschlafen  wieder  Fühlung  zu  gewinnen  suchen.  Ist  die  Wieder- 
einsetzung der  psychischen  Persönlichkeit  in  die  Herrschaft  über 
ihren  Erfahrungsschatz  an  allen  Punkten  vollzogen,  wird  der 
Ablauf  der  psychischen  Vorgänge  nirgends  mehr  durch  krank- 
hafte Gefühle  oder  Vorstellungen  beeinträchtigt,  dann  haben  wir 
das  Recht,  von  einer  völligen  Genesung  zu  sprechen.  Dieses  Er- 
eignis ist  nach  der  gewöhnlichen  Annahme  bei  etwa  einem  Drittel 
jener  Erkrankungsfälle  zu  verzeichnen,  die  in  Anstaltsbehandlung 
kommen.  Zur  Würdigung  dieser  Zahlen  ist  zu  beachten,  daß  einer- 
seits viele  chronisch  verlaufende,  unheilbare  Fälle  niemals  in  die 
Irrenanstalten  gelangen,  und  daß  andererseits  zahlreiche  leichte 
Erkrankungen  ebenfalls  in  Familienpflege  ihren  günstigen  Ablauf 
finden. 

Unter  Berücksichtigung  dieser  Verhältnisse  würde  es  sich  er- 
geben, daß  die  Prognose  der  Geistesstörungen  sich  nicht  erheblich 
ungünstiger  stellt  als  diejenige  schwerer  körperlicher  Erkrankungen. 
Erwägt  man  die  beträchtlichen  Zahlen  der  Schwindsüchtigen,  Herz- 
fehler, Krebskranken,  der  unheilbaren  Hirn-,  Nerven-  und  Nieren- 
kranken auf  großen  medizinischen  Abteilungen,  so  scheint  der 
Unterschied  der  wirklichen  Heilerfolge  zwischen  den  letzteren  und 
den  Irrenanstalten  wesentlich  auf  dem  Umstände  zu  beruhen,  daß 
man  sich  eben  zum  Eintritte  in  ein  Krankenhaus  auch  schon  bei 
geringfügigeren  Anlässen  zu  entschließen  pflegt. 

Allein  eine  genauere  Kenntnis  der  Geistesstörungen  lehrt  uns, 
daß  diese  leider  nicht  nur  immer  schwere,  sondern  auch  ihrer  über- 
wiegenden Mehrzahl  nach  unheilbare  Krankheiten  darstellen.  Wirk- 
lich ganz  vollständige  Heilungen  im  strengsten  Sinne  des  Wortes 
sind  verhältnismäßig  sehr  selten.  Eigentlich  können  wir  von 
solchen  nur  bei  den  Fieberdelirien,  bei  Vergiftungen,  infektiösen 
und  thyreogenen  Geistesstörungen,  allenfalls  auch  bei  gewissen 
psychogenen  Erkrankungen  sprechen,  während  wir  es  bei  allen 
anderen  Formen  des  Irreseins  mit  unheilbaren  Leiden  zu  tun  haben. 
Allerdings  sehen  wir  überaus  häufig  sämtliche  auffallendere  Krank- 
heitserscheinungen für  lange  Zeit,  selbst  für  viele  Jahre,  vollständig 
verschwinden,  so  daß  derartige  Fälle  unbedenklich  zu  den  Heilungen 
gerechnet  zu  werden  pflegen.  Wir  denken  hier  namentlich  an  das 


Heilung. 

epileptische  und  das  manisch-depressive  Irresein  sowie  an  die 
Katatonie,  auch  an  einzelne  Beobachtungen  von  Hirnlues  oder 
selbst  Paralyse.  In  der  Regel  setzt  hier  überall  die  Krankheit  früher 
oder  später  wieder  ein,  sei  es  in  einfacher  Wiederholung  des  früheren 
Anfalles,  sei  es  unter  Fortschreiten  des  schleichenden  Grundleidens. 
Praktisch  kommen  die  Zwischenzeiten  oft  einer  Heilung  ganz  oder 
nahezu  gleich;  von  wissenschaftlichem  Standpunkte  aber  müssen 
wir  leider  bekennen,  daß  bei  genauer  Sichtung  der  Beobachtungen 
nur  ein  kleiner  Bruchteil  von  Fällen  übrig  bleibt,  in  welchen  wir 
nach  dem  heutigen  Stande  unseres  Wissens  wirklich  endgültig 
und  vollständig  Heilung  annehmen  dürfen.  Dabei  soll  jedoch  aus- 
drücklich bemerkt  werden,  daß  die  Aussicht  keineswegs  ausge- 
schlossen erscheint,  vielleicht  einmal  für  manche  Formen  des  Irre- 
seins Heilung  zu  finden,  die  heute  noch  jeder  wirksamen  Behand- 
lung unzugänglich  sind. 

Das  wichtigste  Kennzeichen  der  eingetretenen  Genesung  ist 
außer  dem  Schwinden  der  wahrnehmbaren  Krankheitserscheinungen 
die  Einsicht  in  die  krankhafte  Natur  des  überstandenen  Leidens 
und  damit  zumeist  das  Auftreten  einer  gewissen  Dankbarkeit  für 
die  genossene  Behandlung  und  Pflege.  Jene  Einsicht  ist  es  ja 
gerade,  welche  uns  die  Gewähr  dafür  bietet,  daß  der  Genesende 
die  krankhaften  Veränderungen  seines  psychischen  Lebens  als 
etwas  Fremdartiges  empfindet,  daß  er  mit  andern  Worten  auf 
den  Boden  der  Beurteilung  zurückgekehrt  ist,  auf  dem  er  vor  der 
Erkrankung,  in  gesunden  Tagen  stand.  Mangel  der  Krankheits- 
einsicht deutet  stets  auf  die  Unmöglichkeit  einer  richtigen  Beur- 
teilung der  während  der  Geistesstörung  gesammelten  Erfahrungen 
hin.  Sie  hat  ihren  Grund  entweder  in  der  Fortdauer  von  Sinnes- 
täuschungen und  Wahnbildungen,  krankhaften  Stimmungen,  oder 
aber  in  der  Unfähigkeit  zu  durchgreifendem  Gebrauche  der  ge- 
sunden Urteilskraft,  deren  Betätigung  einerseits  Ruhe  und  Gleich- 
gewichtslage des  Gemütes,  andererseits  aber  eine  gewisse  An- 
strengung und  geistige  Regsamkeit  erfordert.  Kein  Kranker  ist  als 
wirklich  genesen  zu  betrachten,  der  nicht  klare  und  volle  Einsicht 
in  seine  Krankheit  besitzt,  während  umgekehrt  ganz  wohl  ein 
Verständnis  für  die  krankhafte  Natur  der  psychischen  Störung  be- 
stehen kann,  ohne  daß  darum  immer  Heilung  zu  erwarten  wäre. 
Ja,  gerade  in  manchen  Fällen  unheilbaren,  tief  in  der  ganzen 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  29 


450 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Anlage  des  Menschen  wurzelnden  Irreseins  ist  eine  derartige  Selbst- 
erkenntnis nicht  so  selten  vorhanden.  Bei  den  anfallsweise  ver- 
laufenden Störungen  aber  bleibt  die  Krankheitseinsicht  immer  ein 
sehr  günstiges  Zeichen,  namentlich  wenn  gleichzeitig  die  stürmi- 
scheren Erscheinungen  zurücktreten.  In  manchen  Fällen  kommt 
die  Krankheitseinsicht  erst  sehr  spät  und  zögernd  zustande,  nach- 
dem sich  bereits  alle  übrigen  Zeichen  der  Geistesstörung  völlig 
verloren  haben ;  bei  manchen  zirkulären  Kranken  bleibt  sie  dauernd 
unvollständig.  Wir  werden  darin  immer  den  Ausdruck  einer  an- 
geborenen oder  erworbenen  Unfähigkeit  zu  raschem  und  restlosem 
Ausgleiche  krankhafter  Störungen  erblicken  müssen. 

Ganz  regelmäßig,  wenigstens  bei  allen  länger  dauernden  Geistes- 
störungen, geht  mit  der  fortschreitenden  Genesung  auch  eine 
körperliche  Erholung  einher,  außer  Zunahme  des  Gewichtes  Besse- 
rung der  Eßlust,  des  Schlafes  und  das  Gefühl  des  Wohlseins,  An- 
zeichen, die  bei  gleichzeitigem  Hervortreten  günstiger  psychischer 
Veränderungen  einen  bedeutenden  prognostischen  Wert  besitzen 
und  hauptsächlich  mit  einer  Abnahme  der  gemütlichen  Erregung 
in  innerem  Zusammenhange  zu  stehen  scheinen. 

In  einer  kleinen  Anzahl  von  Fällen  hat  man  das  Eintreten 
psychischer  Genesung  während  oder  nach  einer  fieberhaften  Er- 
krankung (namentlich  Typhus,  Erysipel,  Intermittens),  seltener 
nach  stärkeren  Blutungen,  schweren  Eiterungen  oder  Kopfver- 
letzungen beobachtet^).  Am  häufigsten  handelt  es  sich  dabei 
natürlich  um  verhältnismäßig  frische  Erkrankungen,  Melancholie, 
Manie,  Amentia  der  Autoren,  aber  bisweilen  tritt  die  günstige 
Wendung  auch  nach  längerer  Dauer  und  in  anscheinend  aussichts- 
losen Fällen  ein;  so  werden  weitgehende  Besserungen  nach  Eite- 
rungen bei  der  Paralyse  berichtet.  Freilich  wird  man  in  der  Deu- 
tung solcher  Beobachtungen  stets  mit  äußerster  Vorsicht  verfahren 
müssen,  da  überraschende  Genesungen  oder  doch  Besserungen 
auch  sonst  nicht  gerade  selten  sind,  eine  einfache  Folge  unserer 
mangelhaften  klinischen  Kenntnis  der  Geisteskrankheiten.  Anderer- 
seits aber  kann  man  ohne  Zweifel  selbst  bei  längst  verblödeten 
und  verwirrt  gewordenen  Kranken  hier  und  da  während  einer  ge- 

1)  Fiedler,  Deutsches  Arch.  f.  klin.  Medizin,  XXVI,  3,  1880;  Lehmann, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIII,  200,  1887;  Wagner,  Jahrb.  f.  Psychiatrie, 
VII,  94.  1887;   Friedländer,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  VIII,  60.  1900. 


Unvollständige  Heilung.  ^^i 

legentlichen  fieberhaften  Erkrankung  die  Wahnideen  zurücktreten 
und  einer  unerwarteten  geistigen  Regsamkeit  Platz  machen  sehen, 
hier  allerdings  immer  nur  für  kurze  Zeit.  Die  Erklärung  derartiger 
Erfahrungen  ist  dunkel;  wir  müssen  uns  mit  der  Erwägung  be- 
gnügen, daß  sich  hier,  wie  ja  auch  die  Entstehung  geistiger  Störungen 
aus  den  gleichen  Anlässen  dartut,  offenbar  mächtige  Umwälzungen 
im  Körperhaushalt  und  in  der  Ernährung  der  Hirnrinde  vollziehen; 
auch  das  Gefühl  der  Hilfsbedürftigkeit  macht  die  Kranken  viel- 
leicht zugänglicher  und  lenkt  sie  von  den  eingewurzelten  krank- 
haften Vorstellungskreisen  ab. 

Vollständige  Heilung  einer  Geisteskrankheit  wird  im  all- 
gemeinen am  leichtesten  in  den  rüstigen  Lebensaltern  und  dort 
zustande  kommen,  wo  ein  vorübergehender,  äußerer  Anlaß 
die  Ursache  des  Leidens  bildete.  Je  weniger  die  Bedingungen  der 
Erkrankung  in  dem  erkrankten  Körper  selber  liegen,  desto  rascher 
und  vollständiger  wird  dieser  unter  sonst  gleichen  Umständen  be- 
fähigt sein,  die  Störungen  auszugleichen  und  in  den  gesunden  Zu- 
stand zurückzukehren.  In  der  Tat  sehen  wir  daher  diejenigen 
Gruppen  des  Irreseins  die  günstigsten  Genesungsaussichten  dar- 
bieten, die  durch  stark  wirkende,  aber  gewöhnlich  keine  dauernde 
Veränderung  hervorbringende  Ursachen  erzeugt  werden  (akute  Ver- 
giftungen, fieberhafte  Krankheiten,  gemütliche  Erschütterungen). 
Weit  ungünstiger  liegen  die  Verhältnisse,  wenn  die  Krankheits- 
ursachen entweder  bleibende  körperliche  Veränderungen  hinterlassen 
(Kopfverletzungen,  Syphilis,  Typhus  bisweilen),  oder  aber,  wenn 
sie  durch  längere  Zeit  hindurch  stetig  auf  den  Menschen  einwirken 
und  somit  durch  Häufung  ihres  Einflusses  nach  und  nach  eine 
dauernde  Umwandlung  in  seinem  Gesamtzustande  herbeiführen 
(anhaltende  Gemütsbewegungen,  chronische  Krankheiten  und  Ver- 
giftungen). 

Unvollständige  Heilung.  Von  der  Größe  dieser  dauernden  Störung 
und  den  Einflüssen,  denen  der  Kranke  weiterhin  ausgesetzt  ist, 
hängt  es  hier  ab,  wieweit  eine  Wiederherstellung  des  früheren 
gesunden  Zustandes  jeweils  möglich  ist.  Nimmt  auch  ein  aus- 
brechender Krankheitsvorgang  zunächst  einen  günstigen  Ablauf, 
so  bleibt  doch  häufig  genug  eine  ,, Disposition",  eine  Neigung  zu 
Weiteren  Erkrankungen  zurück,  die  namentlich  dann  ihren  ver- 
derblichen Einfluß  geltend  macht,  wenn  der  Genesene  sich  in  den 

29* 


452 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Bereich  der  alten  Schädlichkeiten  zurückbegibt.  Er  fällt  jetzt  weit 
leichter,  bei  dem  ersten  gegebenen  Anlasse,  in  die  überstandene 
Krankheit  zurück.  Jeder  Rückfall  setzt  wiederum  die  Widerstands- 
fähigkeit für  die  Folgezeit  herab,  so  daß  immer  geringfügigere  An- 
stöße genügen,  um  die  krankhaften  Zustände  aufs  neue  herbei- 
zuführen. 

I  Ganz  ähnliche  Verhältnisse,  wie  sie  sich  auf  diese  Weise  unter 
dem  Einflüsse  dauernder  oder  häufig  wiederkehrender  Ursachen 
herausbilden  können,  finden  sich  bei  ursprünglich  krankhaft  ver- 
anlagten Menschen  als  angeborene  Schwächen  der  Persönlichkeit 
vor.  Da  hier  die  Krankheitsbedingungen  in  der  Person  selber  zu 
suchen  sind,  so  kann  von  einer  Heilung  geistiger  Störungen  in  dem 
Sinne  einer  völligen  Rückkehr  zur  Gesundheit  nicht  wohl  die  Rede 
sein,  da  ja  eben  der  Ausgangszustand  selbst  nicht  als  ein  wirklich 
gesunder  anzusehen  war.  Das  wichtigste  Erfordernis  einer  jeden 
Heilung,  die  Entfernung  der  Krankheitsursache,  bleibt  unerfüllbar, 
wo  diese  letztere  eben  durch  die  ganze  Eigenart  des  Menschen  dar- 
gestellt wird.  Trotzdem  sehen  wir  bei  solchen  Personen  nicht  selten 
ausgeprägte  und  schwere  psychische  Krankheitserscheinungen  mit 
derselben  Geschwindigkeit  sich  wieder  verlieren,  mit  welcher  sie 
aus  unbedeutenden  Anlässen  hervorgegangen  sind. 

Das  eigentlich  Auffallende  ist  dabei  mehr  die  letztere,  als  die 
erstere  Erscheinung.  Die  krankhafte  Ausgiebigkeit  der  Gleich- 
gewichtsschwankung auf  geringfügige  Reize  läßt  die  ganze  Er- 
krankung weit  bedenklicher  erscheinen,  als  sie  wirklich  ist.  Würde 
es  doch  auch  verfehlt  sein,  etwa  aus  dem  Herzklopfen  eines  Herz- 
kranken auf  den  gleichen  Grad  gemütlicher  Erregung  schließen 
zu  wollen,  den  wir  unter  denselben  Verhältnissen  beim  Gesunden 
vorauszusetzen  hätten!  Wir  würden  dann  erstaunt  sein,  dort  so 
rasch  völlige  Beruhigung  zu  beobachten,  wo  wir  glaubten,  es  mit 
einer  tiefen,  dauernden  Gemütsbewegung  zu  tun  zu  haben.  Um- 
gekehrt aber  wird  in  diesem  Beispiele  der  leiseste  Anstoß  genügen, 
das  Anzeichen  der  Krankheit  sogleich  in  voller  Stärke  hervorzu- 
rufen, so  daß  es  schließlich  vielleicht  durch  die  bloße  Lebensarbeit 
dauernd  fortbesteht,  während  sonst  ein  Leiden  bisweilen  lange  Zeit 
vorhanden  sein  kann,  ohne  auffallende  Störungen  zu  verursachen. 
Ganz  ähnlich  haben  wir  es  beim  psychischen  Krüppel  mit  einer 
Verminderung  der  Widerstandsfähigkeit  zu  tun,  die  schließlich  ohne 


Unvollständige  Heilung. 

besonderen  Reizanstoß  zur  Entwicklung  geistiger  Leiden  führen 
kann,  die  aber  auch  dann  eine  krankhafte  Veränderung  der  ganzen 
Persönlichkeit  bedeutet,  wenn  sie  nicht  gerade  lebhaftere  Erschei- 
nungen verursacht.  Die  Heilung  der  vorübergehenden  Störungen 
ist  daher  etwa  mit  der  Beseitigung  eines  Anfalles  von  Herzklopfen 
bei  einem  Herzkranken  auf  gleiche  Stufe  zu  stellen;  das  eigent- 
liche Grundleiden  besteht  dabei  unverändert  fort. 

Die  vorstehenden  Erörterungen  haben  uns  somit  den  Aus- 
gang des  Irreseins  in  unvollständige  Heilung  kennen  gelehrt,  die 
„Besserung"  oder  „Heilung  mit  Defekt".    Die  eigentlichen 

I    Krankheitserscheinungen  treten  auch  hier  im  wesentlichen  zurück ; 

I  die  Stimmung  wird  ruhiger  und  gleichmäßiger;  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  verschwinden  nach  und  nach,  aber  es  machen 
sich  die  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Anzeichen  einer  Herab- 
setzung der  psychischen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit,  der 
Schwäche,  bemerkbar.  Der  Genesende  denkt  zwar  der  Form  nach 
richtig  und  hat  auch  eine  gewisse  Einsicht  in  seine  Krankheit,  aber 
er  ist  nicht  mehr  derjenige,  der  er  früher  war;  er  hat  einen  Teil 
seiner  Persönlichkeit  eingebüßt.  „Gerade  das  Beste  und  Wertvollste 
ist,"  wie  Griesinger  sich  treffend  ausdrückt,  „von  der  geistigen 
Individualität  abgestreift."    Die  geistige  Regsamkeit  und  Frische, 

I  die  gemütliche  Tiefe,  die  selbständige  Tatkraft  sind  unwiederbring- 
lich verloren  gegangen.  Oft  genug  bleibt  indessen  der  volle  Umfang 
der  psychischen  Schwäche  im  Schutze  des  Anstaltslebens  unbemerkt, 
weil  an  den  Kranken  in  dem  ruhigen,  geregelten  Tageslaufe  gar 
keine  besonderen  Anforderungen  herantreten.  Der  Versuch  einer 
Entlassung  aus  der  Anstalt  ist  daher  die  entscheidende  Probe,  die 
häufig  genug  schon  nach  kurzer  Zeit  die  nur  „Gebesserten"  von 
den  völlig  Genesenen  abzutrennen  gestattet,  auch  wenn  vorher  ein 
abschließendes  Urteil  noch  nicht  möglich  war. 

Allerdings  kommt  hier  wieder  sehr  viel  auf  die  äußeren  Um- 
stände an.  Ist  die  Häuslichkeit  eine  glückliche,  die  Vermögens- 
lage und  die  Lebensstellung  günstig,  so  vermag  der  Kranke  viel- 
fach wieder  in  seinen  früheren  Wirkungskreis  zurückzukehren  und 
in  geordneten  Verhältnissen  leidlich  seine  Stellung  auszufüllen. 
Allein  die  zielbewußte  Festigkeit  seines  Willens  hat  er  verloren; 
schwierigen  Lebenslagen  und  drängenden  Kämpfen  ist  er  nicht 
mehr  gewachsen;  leicht  schieben  sich  Schwankungen  des  psy- 


454 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


chischen  Gleichgewichts  ein,  welche  die  Stetigkeit  der  Leistungen 
unterbrechen.  Dieser  Zustand  pflegt  namentlich  den  Besserungen 
der  Paralyse  und  der  Dementia  praecox  eigentümlich  zu  sein. 
Viele  in  unbegreiflicher  Weise  gescheiterte  Lebensgänge,  die  schließ- 
lich in  bescheidenstem  Wirkungskreise  enden,  dürften  auf  so  ent- 
standene Schwächezustände  zurückzuführen  sein.  Als  ganz  natür- 
licher Abschluß  endlich  ist  die  unvollkommene  Wiederherstellung 
dort  zu  betrachten,  wo  der  ganze  Krankheitsvorgang  sich  schon 
auf  dem  Boden  einer  von  vornherein  unzulänglichen  Persönlichkeit 
abspielte.  Hier  pflegt  meist  selbst  die  frühere  Höhe  nicht  wieder 
erreicht  zu  werden,  sondern  der  Gebesserte  geht  noch  mehr  ge- 
schwächt aus  dem  Anfalle  hervor,  so  daß  bei  häufigerer  Wieder- 
holung der  Erkrankungen  auch  die  psychische  Einbuße  jedesmal 
eine  gewisse  Steigerung  erfährt. 

Unheilbarkeit.  Schon  die  unvollständige  Heilung  bedeutet  die 
Entstehung  einer  unheilbaren  Veränderung  in  dem  Gesamtzustande 
der  Person,  aber  diese  Veränderung  besteht  in  einer  einfachen, 
mehr  oder  weniger  hochgradigen  Herabsetzung  der  psychischen 
Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit,  ohne  eine  Umwälzung  in 
dem  wesentlichen  Inhalte  des  Denkens,  Fühlens  und  Handelns  zu 
bedingen.  Man  kann  daher  weiterhin  noch  einen  Ausgang  in  Un- 
heilbarkeit  unterscheiden,  der  entweder  das  unveränderte  An- 
dauern der  einmal  vollzogenen  krankhaften  Wandlung  oder  aber 
deren  Fortschritt  bis  zum  völligen  Zerfall  der  psychischen  Persön- 
lichkeit bedeutet.  Das  erstere  ist  der  Fall  bei  manchen  Kranken 
mit  manisch-depressivem  Irresein  sowie  bei  der  Verrücktheit,  bei 
der  ein  langsam  entwickeltes  Wahnsystem  ohne  wesentliche  Zu- 
nahme der  psychischen  Schwäche  dauernd  festgehalten  wird.  Von 
^  einem  völligen  Stillstande  der  Krankheit  kann  freilich  auch  hier 
nicht  die  Rede  sein.  Vielmehr  wird  einem  aufmerksamen  Beob- 
achter die  Abnahme  der  psychischen  Leistungsfähigkeit  innerhalb 
längerer  Zeiträume  kaum  entgehen;  schon  der  abstumpfende  Ein- 
fluß des  einförmigen  Anstaltsaufenthaltes  muß  sich  vielfach  in 
dieser  Richtung  geltend  machen. 

Auch  nach  der  Dementia  praecox  beobachtet  man  sehr  häufig 
die  Rückkehr  zu  einer  Art  dauernden  Gleichgewichtszustandes  mit 
den  Erscheinungen  der  psychischen  Schwäche  und  einzelnen 
sonstigen  Überbleibseln  aus  der  Krankheitszeit.    Sie  bilden  ge- 


Unheilbarkeit, 

wissermaßen  den  Übergang  zu  den  unvollständigen  Heilungen. 
Diese  Kranken  sind  fähig,  sich  in  einfachen  Verhältnissen  ohne 
erhebliche  Schwierigkeit  zurechtzufinden,  sich  zu  beschäftigen,  und 
besitzen  auch  eine  gewisse  oberflächliche  Krankheitseinsicht,  so 
daß  sie  von  ihrer  Umgebung  gelegentlich  für  nahezu  gesund  ge- 
halten werden  können.  Von  Zeit  zu  Zeit  jedoch  treten  die  alten 
Sinnestäuschungen  wieder  hervor,  und  nun  lassen  sich  die  Kranken 
vorübergehend  gänzlich  von  ihnen  beherrschen,  bis  nach  einigen 
Stunden  oder  Tagen  die  Aufregung  vorüber  und  alles  rasch  wieder 
vergessen  ist,  ohne  irgendwie  wahnhaft  verarbeitet  zu  werden.  In 
anderen  Fällen  bleibt  nur  die  Berichtigung  einzelner  krankhafter 
Erlebnisse  aus.  Die  Kranken  geben  wohl  zu,  krank  gewesen  zu 
sein,  bleiben  aber  bei  der  Meinung,  durch  feindselige  Einwirkungen 
soweit  gebracht  worden  zu  sein,  oder  sie  halten  an  der  Wirklich- 
keit bestimmter  wahnhafter  Erlebnisse  fest,  ohne  diese  jedoch 
irgendwie  weiter  zu  verarbeiten.  Ihr  sonstiges  Verhalten  bietet 
dabei  keine  auffallenden  Störungen  dar;  dennoch  werden  wir  an- 
nehmen müssen,  daß  hier  eine  gewisse  Unzulänglichkeit  des  Urteils 
vorliegt,  die  entweder  durch  die  Krankheit  erzeugt  wurde  oder  schon 
vorher  bestand.  Andeutungen  eines  solchen  ,,Residualwahnes"^), 
wie  ihn  Wernicke  genannt  hat,  finden  sich  namentlich  bei  Epi- 
leptikern, ferner  bisweilen  bei  Alkoholdeliranten,  nach  manchen 
Gefängnispsychosen,  als  meist  vorübergehende  Erscheinung  auch 
nach  Infektionspsychosen  (Typhus)  und  Kopfverletzungen. 

Allen  diesen  gleichbleibenden  oder  nur  sehr  langsam  sich  ändern- 
den Zuständen  kann  man  den  eigentlich  fortschreitenden 
Krankheitsverlauf  gegenüberstellen,  wie  er  bei  gewissen  Formen 
des  manisch-depressiven  und  epileptischen  Irreseins,  bei  der  De- 
mentia praecox,  namentlich  aber  in  der  Paralyse,  regelmäßig  zur  ^ 
Beobachtung  gelangt.  Diese  Entwicklung  wird  meist  dadurch  ein- 
geleitet, daß  zunächst  die  Stärke  der  dauernden  gemütlichen  Er- 
regung abnimmt,  während  sich  die  begleitenden  Störungen  des 
Verstandes  überhaupt  nicht  oder  doch  nicht  vollständig  zurück- 
bilden, sondern  in  Form  tiefgreifender  Urteilslosigkeit  und  geistiger 
Stumpfheit,  widerspruchsvoller  und  zusammenhangsloser  Wahn- 
ideen oder  völliger  Verwirrtheit  bis  zum  tiefsten  Blödsinn  bestehen 


)  Heilbronner,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1907,  369. 


456 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


bleiben.  Natürlich  vollzieht  sich  dieser  Vorgang  einer  fortschreiten- 
den Vernichtung  der  ursprünglichen  Persönlichkeit,  den  man  mit 
dem  Namen  der  Verblödung  zu  bezeichnen  pflegt,  je  nach  der 
Form  der  Geistesstörung,  die  er  abschließt,  in  etwas  verschiedener 
Weise  und  namentlich  in  sehr  verschiedenen  Zeiträumen.  Während 
sich  beim  manisch-depressiven  Irresein  die  Entschlußunfähigkeit 
oder  der  Betätigungsdrang  und  der  Stimmungswechsel  auch  in  den 
unheilbaren  Endzuständen  erhält,  ist  die  Verblödung  nach  De- 
mentia praecox  durch  die  mehr  oder  weniger  hochgradige  Stumpf- 
heit und  Gleichgültigkeit  der  Kranken  neben  einzelnen  besser  er- 
haltenen Fähigkeiten  und  Kenntnissen  ausgezeichnet;  zugleich 
finden  sich  gewöhnlich  Andeutungen  katatonischer  Erscheinungen, 
Manieren,  albernes  Lachen,  Stereotypen,  Negativismus,  Katalepsie. 
Häufig  sind  auch  Sinnestäuschungen,  zusammenhangslose  Wahn- 
bildungen, Sprachverwirrtheit  sowie  zeitweise  wiederkehrende, 
kurzdauernde  Erregungen.  Indessen  schwindet  hier  wie  bei  der 
Paralyse  oft  genug  auch  die  letzte  Spur  solcher  früher  vielleicht 
in  Überfülle  gelieferten  Krankheitsäußerungen,  die  von  dem  un- 
aufhaltsamen geistigen  Verfalle  selbst  mit  vernichtet  werden.  Dem- 
gegenüber sehen  wir  bei  gewissen  paranoiden  Formen  und  der  Ver- 
rücktheit die  einmal  entwickelten  Wahnideen  nicht  selten  Jahre 
und  selbst  Jahrzehnte  unverändert  oder  in  langsamer  Umbildung 
haften. 

Auf  die  Art  und  den  Grad  der  Verblödung  hat,  wie  wir  heute  an- 
nehmen dürfen,  außer  dem  Wesen  des  zugrunde  liegenden  Krank- 
heitsvorganges auch  die  Behandlung  einen  gewissen  Einfluß.  Wir 
können  uns  nicht  verhehlen,  daß  die  Absperrung  unserer  Kranken 
von  allen  Beziehungen  zur  Außenwelt,  die  Reinkultur  verblödender 
Kranker  in  gewissen  Abteilungen,  so  wenig  sie  sich  im  allgemeinen 
vermeiden  läßt,  doch  vielfach  der  Erhaltung  gesunder  Reste  der 
geistigen  Persönlichkeit  nicht  günstig  ist.  Ganz  besonders  ver- 
derblich wirkt  jede  längere  Isolierung,  da  sie  die  Pflege  der  ge- 
sunden Erinnerungen  und  Regungen  ausschließt;  unter  ihrer  Ein- 
wirkung namentlich  entstehen  jene  vertierten  Schreckgestalten,  an 
denen  unsere  alten  Anstalten  so  reich  waren.  Umgekehrt  vermag 
die  Beschäftigung  und,  wo  sie  möglich  ist,  die  Familienpflege  durch 
Übung  der  von  der  Krankheit  geschonten  Fähigkeiten  das  Bild 
des  Verfalles  wesentlich  •  freundlicher  zu  gestalten. 


Tod. 


457 


Tod.  Die  letzte  Form  des  Ausganges,  den  die  Geistesstörung 
nehmen  kann,  ist  der  Tod.  Ohne  Zweifel  wird  die  Sterblichkeit 
durch  die  psychische  Erkrankung  beträchtlich  gesteigert;  sie  ist 
bei  Irren  etwa  fünfmal  so  groß  wie  bei  der  erwachsenen  geistes- 
gesunden Bevölkerung.  Diese  Zahl  wird  verständlich,  wenn  man 
zunächst  bedenkt,  daß  eine  Reihe  der  dem  Irresein  zugrunde 
liegenden  Hirnerkrankungen  sehr  schwere  körperliche  Schädi- 
gungen erzeugen,  die  dann  ihrerseits  unmittelbar  oder  mittelbar 
zum  Tode  führen  können.  Hier  ist  vor  allem  die  Paralyse  zu  nennen, 
die  entweder  durch  äußersten  körperlichen  Verfall  oder  durch  Hirn- 
lähmung im  paralytischen  Anfalle,  häufig  auch  durch  Vermittlung 
von  Druckbrand,  Schluckpneumonien,  Verletzungen,  Blutvergiftung 
dem  Leben  ein  Ende  macht.  Neben  der  Paralyse  kommen  als  un- 
mittelbare Todesursachen  Arteriosklerose,  syphilitische  Verände- 
rungen, Geschwülste  und  ähnliche  Hirnerkrankungen  in  Betracht. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ist  indessen  das 
Leiden,  welches  die  Geistesstörung  erzeugt,  an  sich  kein  tötliches. 
Dagegen  wird  immerhin  nicht  allzu  selten  der  Tod  dadurch  ver- 
anlaßt, daß  sich  einzelne  gefahrdrohende  Krankheitserscheinungen 
entwickeln.  Dahin  gehört  in  erster  Linie  die  Neigung  zum  Selbst- 
morde, wie  sie  sich  so  häufig  an  traurige  Wahnideen  oder  Stim- 
mungen anschließt.  In  ihr  haben  wir  es  mit  einer  äußerst  ver- 
hängnisvollen und  praktisch  überaus  wichtigen  Erscheinung  des 
Irreseins  zu  tun,  die  bei  schlechter  Überwachung  zahlreiche  Opfer 
fordert.  Nächstdem  sind  es  die  Nahrungsverweigerung,  dann 
die  bis  zur  äußersten  Erschöpfung  andauernde  Unruhe  und  Schlaf- 
losigkeit mancher  Kranker,  Unglücksfälle  verschiedenster  Art, 
schwerer  Verlauf  von  Infektionen  und  chirurgischen 
Verletzungen  wegen  der  Unmöglichkeit  einer  geeigneten  Be- 
handlung, die  als  Todesursachen  bei  Geisteskranken  genannt 
werden  müssen. 

Endlich  aber  ist  es  eine  sehr  bemerkenswerte  Tatsache,  daß 
auch  die  Ausbildung  gewisser  körperlicher  Erkrankungen  durch 
das  Irresein  begünstigt  wird.  Namentlich  die  Tuberkulose  forderte 
früher  in  Irrenanstalten  vier-  bis  fünfmal  soviel  Opfer  wie  bei 
Geistesgesunden.  Das  kasernenhafte  Leben,  die  häufig  bestehende 
Überfüllung,  die  ausgiebige  Gelegenheit  zur  Ansteckung,  die  Un- 
sauberkeit,  sodann  auch  die  Stumpfheit  so  vieler  Kranker  und  die 


458 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


damit  verknüpfte  Herabsetzung  der  Atmungs-  und  Kreislaufs- 
tätigkeit sind  wohl  in  erster  Linie  für  diese  Erfahrung  verantwort- 
lich zu  machen.  Durch  Besserung  der  allgemeinen  Lebens- 
bedingungen, besonders  aber  durch  rechtzeitige  Absperrung  der  Er- 
krankten ist  es  in  der  letzten  Zeit  gelungen,  die  Tuberkulosegefahr 
in  den  Anstalten  erheblich  einzuschränken  i). 

C.  Dauer  des  Irreseins. 

Die  Dauer  psychischer  Störungen  bietet  sehr  weitgehende  Ver- 
schiedenheiten dar.  Wo  die  Entstehungsbedingungen  des  Irreseins 
im  Menschen  selbst  gelegen  sind,  da  dauert  es  durch  das  ganze 
Leben  an;  je  mehr  sie  dagegen  von  äußeren  Ursachen  abhängig 
sind,  und  je  rascher  und  vorübergehender  diese  einwirken,  desto 
kürzer  ist  die  Dauer  der  Krankheit.  Infektionsdelirien,  Vergiftungs- 
delirien können  nach  wenigen  Tagen,  Stunden,  ja  Minuten  schon 
wieder  verschwinden.  Aber  auch  bei  krankhafter  Veranlagung,  bei 
Epileptikern,  Hysterischen  werden  ,, Anfälle"  von  psychischer  Stö- 
rung beobachtet,  die  nur  eine  äußerst  kurze  Dauer  aufzuweisen 
haben.  Sie  stellen  jedoch,  wie  früher  ausgeführt,  nur  vorüber- 
gehende Verschlimmerungen  eines  an  sich  schon  krankhaften,  an- 
dauernden Zustandes  dar,  wenn  dieser  auch  für  gewöhnlich  nicht 
in  auffallenden  Krankheitserscheinungen  hervortritt.  Im  allge- 
meinen zeigen  die  Psychosen  trotz  der  genannten  Ausnahmefälle 
eine  beträchtlich  längere  Dauer,  als  durchschnittlich  körperliche 
Krankheiten,  so  daß  hier  die  Abgrenzung  der  akuten  und  chro- 
nischen Formen  nach  einem  anderen  Maßstabe  zu  geschehen 
pflegt.  Selbst  bei  frischen  Erkrankungen  zieht  sich  der  Verlauf 
in  der  Regel  über  eine  Reihe  von  Monaten  hin;  Fälle  bis  zur 
Dauer  eines  Jahres  und  selbst  darüber  werden  daher  häufig  noch 
als  akute  oder  subakute  bezeichnet.  Immerhin  pflegt  die  über- 
wiegende Mehrzahl  der  überhaupt  heilbaren  Psychosen  innerhalb  des 
ersten  Jahres  den  günstigen  Ausgang  zu  nehmen.  Heilungen  nach 
2 — 3  jähriger  Dauer  der  Krankheit  sind  schon  ziemlich  selten,  doch 
kommen  solche  Ausnahmefälle  in  sinkender  Zahl  selbst  nach  fünf, 
acht  und  zehn  Jahren  noch  vor,  ja  es  werden  ganz  vereinzelte 

1)  Oswald,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIX,  437. 


Dauer  des  Irreseins. 


459 


Beobachtungen  berichtet,  in  denen  nach  einem  Anstaltsaufenthalte 
von  zwei  Jahrzehnten  noch  eine  unerwartete  Genesung  sich  ein- 
stellte^).  Der  größte  Teil  dieser  „Spätheilungen"  betrifft  manisch- 
depressive Kranke,  bei  denen  gelegentlich  Anfälle  von  mehr  als 
zehnjähriger  Dauer  vorkommen;  die  Rückbildungs jähre  bringen 
hier  öfters  die  günstige  Wendung.  Der  Rest  der  Fälle  gehört  höchst- 
wahrscheinlich in  das  Gebiet  der  Katatonie,  besonders  den  in  mitt- 
lerem Alter  auftretenden  Formen.  Hier  schließen  sich  bisweilen 
die  überraschenden  Besserungen  nach  langwierigem  Krankheits- 
verlaufe an  eine  fieberhafte  Erkrankung,  an  ein  Trauma,  an  die 
Versetzung  in  eine  andere  Umgebung  an.  Ohne  Zweifel  handelt 
es  sich  aber  dabei  vielfach  nicht  um  völlige  Genesungen,  sondern 
um  ,, Heilungen  mit  Defekt",  wenn  sie  auch  die  Rückkehr  in  die 
Familie  und  unter  Umständen  sogar  in  die  Berufstätigkeit  er- 
möglichen. 

Außer  der  Form  der  Psychose  und  der  Persönlichkeit  des  Er- 
krankten ist  auf  ihre  Dauer  zweifellos  auch  die  Behandlung  von 
Einfluß.  Je  früher  Geisteskranke  in  eine  geeignete  Umgebung,  in 
die  Anstalt  gebracht  werden,  desto  rascher  vollzieht  sich  unter  sonst 
gleichen  Umständen  der  Ablauf  der  psychischen  Störung,  und  desto 
günstiger  sind  gleichzeitig  die  Aussichten  auf  eine  möglichst  voll- 
ständige Genesung. 


1)  Kreuser,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVII,  771,  1900;  Sigel,  ebenda 
LXII,  325,  1905;    Petren,  Über  Spätheilung  von  Psychosen.  1908. 


IV,  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Vorhandensein  einer 
Geistesstörung  im  einzelnen  Falle  setzt  vor  allem  die  Kenntnis  der 
Tatsachen  voraus,  die  uns  von  der  Geschichte  und  dem  Zustande 
der  gesamten  Persönlichkeit  ein  möglichst  klares  und  vollständiges 
Bild  zu  vermitteln  geeignet  sind.  Unsere  erste  Aufgabe  ist  so- 
mit eine  möglichst  eingehende  und  umfassende  Krankenunter- 
suchung. Die  Gesichtspunkte  für  die  Verarbeitung  der  durch  sie 
aufgedeckten  Tatsachen  liefert  uns  dann  die  klinische  Erfahrung. 
Sie  lehrt  uns,  ob  und  inwieweit  sich  die  vorliegenden  Beobachtungen 
mit  den  gesicherten  Errungenschaften  der  Wissenschaft  zur  Deckung 
bringen  lassen.  Auf  diese  Weise  gelangen  wir  zu  einer  Diagnose 
des  einzelnen  Falles.  Der  durch  Häufung  der  Beobachtungen  ge- 
wonnene Überblick  über  das  klinische  Gesamtgebiet  wird  uns  so- 
dann gestatten,  die  Grenzlinien  gegenüber  der  Gesundheitsbreite 
zu  ziehen.  Er  gibt  uns  zugleich  die  sichere  Richtschnur  für  die 
Vermeidung  jener  eigentümlichen  Fehlerquellen  psychiatrischer 
Beurteilung,  die  aus  der  Vortäuschung  und  aus  der  Verleugnung 
von  Krankheitszeichen  entspringen. 

A.  Krankenuntersuchungi). 

Den  nächsten  und  wichtigsten  Anhaltspunkt  für  die  Erkennung 
einer  Geistesstörung  geben  uns  naturgemäß  ihre  Erscheinungen 
und  ihr  Verlauf ;  für  ein  weitergehendes  Verständnis  ist  aber  immer 
auch  die  Kenntnis  der  äußeren  und  inneren  Ursachen  erfor- 
derlich, aus  denen  heraus  sich  die  Erscheinungen  entwickelt  haben. 
Das  Endziel  der  klinischen  Untersuchung  ist  daher  nicht  nur  die 
Feststellung  der  etwa  vorhandenen  Anzeichen  geistiger  Störung, 

1)  Morselli,  Manuale  di  semeiotica  delle  malattie  mentali.  1885  u.  1895; 
Sommer,  Diagnostik  der  Geisteskrankheiten,  2.  Aufl.  1901. 


Vorgeschichte.  46 1 

sondern  auch  die  Auffindung  derjenigen  Anhaltspunkte,  die  in  ur- 
sächhcher  Beziehung  von  Bedeutung  sein  könnten.  Die  Hilfsmittel, 
die  ihr  für  alle  diese  Zwecke  zu  Gebote  stehen,  sind  einmal  die 
rückschauende  Betrachtung  des  Vorlebens  bis  in  frühere  Geschlech- 
ter hinein,  die  Anamnese,  weiterhin  die  eingehende  Prüfung  des 
gesamten  körperlichen  und  psychischen  Verhaltens  in  einem  ge- 
gebenen Augenblicke,  die  Aufnahme  des  Status  praesens,  ferner 
die  fortgesetzte  Beobachtung  und  endlich  in  gewissen  Fällen 
auch  die  Erhebung  eines  Leichenbefundes. 

Vorgeschichte.  Die  erste  Frage  richtet  sich  auf  die  Erblich- 
keitsverhältnisse im  weitesten  Sinne.  Wer  hier  zuverlässige  An- 
gaben erhalten  will,  wird  gut  tun,  mit  seiner  Prüfung  möglichst 
in  das  Einzelne  einzugehen  und  sich  nicht  mit  allgemeinen  Ant- 
worten zu  begnügen.  Außer  nach  wirklichen  Geisteskrankheiten, 
zu  denen  von  den  Laien  regelmäßig  nur  die  allerschwersten  An- 
staltsfälle gerechnet  werden,  vergesse  man  nicht,  über  das  Vor- 
kommen von  Nervenleiden,  auffallenden  Persönlichkeiten,  Trunk- 
sucht, Verbrechen  Erkundigungen  einzuziehen  und  sämtliche  Fa- 
milienmitglieder unter  diesen  Gesichtspunkten  durchzugehen.  Außer- 
dem empfiehlt  es  sich,  verschiedene  Angehörige,  vielleicht  auch 
den  Untersuchten  selbst,  gesondert  auszufragen,  da  oft  genug  un- 
absichtlich, aus  Unkenntnis  oder  Mangel  an  Verständnis,  bisweilen 
sogar  absichtlich,  wichtige  Tatsachen  verschwiegen  werden.  In 
nicht  wenigen  Fällen  gibt  die  persönliche  Bekanntschaft  mit  den 
verschiedenen  Familiengliedern  (absonderliche  Vornamen!)  dem  ge- 
übten Beobachter  schon  an  sich  genügenden  Stoff  zur  Beurteilung 
der  Erblichkeitsverhältnisse  an  die  Hand.  Völlige,  dauernde  Ein- 
sichtslosigkeit  mit  rührender  Hoffnungsfreudigkeit  bei  den  tief- 
greifendsten Störungen  ihrer  Kranken,  Urteilslosigkeit  gegenüber 
deren  Wahnideen,  übertriebene  oder  zur  Schau  getragene  Ängst- 
lichkeit, unsinniges  Mißtrauen  gegen  die  Anstalt  und  deren  Ein- 
flüsse, Neigung  zu  allen  möglichen  Quacksalbereien  und  kindischen 
Einmischungen  in  die  Behandlung,  auf  der  anderen  Seite  Gleich- 
gültigkeit, ja  Roheit  sind  nicht  selten  kennzeichnende  Züge  bei 
den  ,, Angehörigen"  entarteter  Kranker. 

Bei  der  geschichtlichen  Verfolgung  des  einzelnen  Lebens  wird 
man  naturgemäß  sein  Augenmerk  der  Reihe  nach  auf  alle  jene 
Schädlichkeiten  zu  richten  haben,  die  wir  früher  als  mögliche  Ur- 


462 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Sachen  des  Irreseins  kennen  gelernt  haben.  Namentlich  kommen 
zunächst  Syphilis  oder  sonstige  Allgemeinleiden  der  Eltern  in  Be- 
tracht. Für  die  Zeit  des  intrauterinen  Daseins  haben  wir  auf  schwere 
Gemütsbewegungen,  erschöpfende  Krankheiten  oder  sonstige  Schä- 
digungen des  mütterlichen  Körpers  Rücksicht  zu  nehmen.  Weiter- 
hin sind  von  Wichtigkeit  der  Verlauf  der  Geburt,  Infektionskrank- 
heiten oder  Gehirnleiden  (Krämpfe,  Lähmungen)  im  ersten  Kindes- 
alter, Störungen  der  geistigen  oder  körperlichen  Entwicklung,  die 
Einflüsse  der  Erziehung  und  für  das  spätere  Leben  die  ganze  Reihe 
jener  persönlichen  Schicksale,  die  das  psychische  Gleichgewicht  zu 
erschüttern  oder  dauernd  zu  vernichten  imstande  sind,  vor  allem 
die  mannigfachen  physiologischen  und  krankhaften  Umwälzungen 
auf  körperlichem  Gebiete,  der  Eintritt  der  Geschlechtsreife,  das 
Fortpflanzungsgeschäft,  Erkrankungen  aller  Art,  Kopfverletzungen, 
endlich  die  Ausschweifungen,  die  Entbehrungen,  die  niederdrücken- 
den Gemütsbewegungen.  Oft  genug  freilich  bleibt  das  Forschen 
nach  einer  bestimmteren  Ursache  vollkommen  ergebnislos,  sei  es, 
daß  überhaupt  kein  greifbarer  äußerer  Anstoß  zur  Entwicklung 
des  Irreseins  vorhanden  war,  sei  es,  daß  er  nicht  beachtet  wurde 
oder  doch  für  die  Erklärung  sich  als  durchaus  ungenügend  er-  | 
weist.  So  werden  von  der  Umgebung  nicht  selten  solche  Vorkomm- 
nisse als  Ursache  der  Psychose  angesehen,  die  sich  bei  näherer 
Betrachtung  unzweifelhaft  als  die  Anzeichen  der  bereits  ausge- 
brochenen Störung  darstellen,  z.  B.  die  Ausschweifungen  des  Para- 
lytikers, die  Streitigkeiten  des  Hypomanischen,  die  Selbstbeschul- 
digungen des  Melancholikers,  die  Trägheit  oder  die  Onanie  des 
Hebephrenen. 

Außer  den  Ursachen  sind  selbstverständlich  die  etwaigen  Er- 
scheinungen des  Irreseins  in  der  Vergangenheit  und  weiterhin  deren 
Verlauf  und  Dauer  festzustellen.  Auch  zu  diesem  Zwecke  wird 
man  bis  in  die  erste  Jugendzeit  zurückgreifen.  Die  Schnelligkeit 
der  körperlichen  und  geistigen  Entwicklung  (Gehen,  Sprechen, 
Lesen),  die  geistige  Befähigung  (Schulzeugnisse)  und  sittliche 
Veranlagung,  die  Gemütsart,  der  Wille,  die  persönlichen  Neigungen 
und  deren  Ausbildung,  die  Beziehungen  zur  Umgebung,  nament- 
lich auch  das  Verhalten  im  Entwicklungsalter  (Masturbation)  haben 
unter  diesem  Gesichtspunkte  für  uns  Wichtigkeit.  Von  der  größten 
Bedeutung  aber  ist  natürlich  die  Feststellung  desjenigen  Zeitpunktes, 


Vorgeschichte. 

an  dem  eine  unverkennbar  krankhafte  Veränderung  im  Seelen- 
leben sich  geltend  machte.  Gerade  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Arzt 
den  allergröbsten ,  zumeist  unabsichtlichen  Täuschungen  ausge- 
setzt. Fast  bei  allen  langsam  verlaufenden  Psychosen  wird  die 
Erkrankung  längere  Zeit  hindurch  verkannt  und  ihr  Beginn  daher 
viel  später  angenommen,  als  er  wirklich  stattfand.  Erst  bei  ein- 
gehendem Befragen  erfährt  man  dann,  daß  doch  auch  vor  dem 
bezeichneten  Zeitpunkte,  oft  Monate  und  Jahre  vorher,  schon  diese 
oder  jene,  nicht  weiter  beachteten  Anzeichen  der  Störung  vorhan- 
den waren,  daß  die  ersten  krankhaften  Spuren  vielleicht  schon  bis 
in  die  früheste  Jugend  zurückreichen.  Gebildete  Leute  sind  in 
dieser  Beziehung  vielfach  nicht  bessere  Beobachter  als  Ungebildete. 

Besonders  wichtig  ist  die  Feststellung,  ob  die  vorliegende  Er- 
krankung die  erste  im  Leben  ist,  oder  ob  schon  früher  ähnliche 
oder  andersartige  Anfälle  voraufgingen.  Der  Nachweis  solcher 
Vorläufer  grenzt  die  Zahl  der  Krankheitsformen,  mit  denen  man 
zu  rechnen  hat,  sofort  sehr  erheblich  ein.  Allerdings  ist  es  nicht 
immer  leicht,  über  diese  Frage  Klarheit  zu  erhalten.  Die  Kranken 
selbst  sind  oft  nicht  imstande,  Auskunft  zu  geben,  und  von  der 
Umgebung  sind  leichtere  Erregungen  oder  Verstimmungen  viel- 
fach gar  nicht  als  krankhaft  aufgefaßt,  auf  irgendwelche  zufälligen 
Ereignisse  zurückgeführt  oder  ganz  vergessen  worden.  Die  Nach- 
forschungen sind  namentlich  auf  die  Entwicklungs-  oder  Rück- 
bildungsjahre zu  richten.  Epileptische  Verstimmungen  werden  oft 
durch  die  Frage  aufgedeckt,  ob  schon  einmal  Lebensüberdruß  be- 
stand, und  namentlich,  ob  Zeiten  mit  großer  Reizbarkeit  vorhanden 
waren,  Haben  sich  frühere  Anfälle  ergeben,  so  ist  sorgfältig  nach- 
zuforschen, ob  seither  völlige  Genesung  eintrat,  oder  ob  diese 
oder  jene  Störungen  von  der  ersten  Erkrankung  zurückgeblieben 
sind. 

Die  genauere  Aufklärung  der  Vorgeschichte  des  Irreseins  setzt 
natürlich  eine  vollständige  Kenntnis  der  einzelnen  Krankheits- 
formen voraus.  Schon  aus  den  ersten  allgemeinen  Angaben  über 
die  ursächlichen  Verhältnisse,  über  die  langsame  oder  schnelle  Ent- 
wicklung des  Leidens,  über  das  Bestehen  von  Sinnestäuschungen, 
Wahnideen,  Gedächtnis-  und  Verstandesstörungen,  traurigen  und 
heiteren  Verstimmungen,  Abweichungen  im  Benehmen  und  Han- 
deln, körperlichen  und  besonders  nervösen  Krankheitszeichen,  über 


464 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


den  gleichbleibenden,  fortschreitenden,  anfallsweisen,  zirkulären 
Verlauf  ergibt  sich  zumeist  bald  der  Verdacht  auf  eine  bestimmte 
klinische  Erkrankungsform,  der  dann  durch  Eingehen  auf  das  Ein- 
zelne weiter  begründet  oder  widerlegt  werden  kann.  Für  prak- 
tische Zwecke  und  in  der  Hand  des  Erfahrenen  ist  diese  zunächst 
nach  einem  allgemeinen  Überblicke  suchende  Aufrollung  der  Vor- 
geschichte ungleich  zweckmäßiger  als  die  planmäßige  Erledigung 
eines  umfassenden  Fragebogens,  der  alle  überhaupt  möglichen  Er- 
scheinungen des  Irreseins  berücksichtigt.  Weniger  belangreich  für 
die  Erkennung,  dafür  aber  um  so  wichtiger  für  die  Behand- 
lung der  Krankheit  sind  endlich  die  nie  zu  unterlassenden  Fragen 
nach  der  Neigung  zu  gemeingefährlichen  Handlungen,  zur  Nah- 
rungsverweigerung und  namentlich  zum  Selbstmorde. 

ZustandSunterSUChung.  Wenn  auch  die  Vorgeschichte  viel- 
fach schon  hinreichende  Anhaltspunkte  liefert,  um  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  nicht  nur  eine  Geistesstörung  überhaupt,  son- 
dern deren  besondere  Form  feststellen  zu  können,  so  ist  doch  für 
die  Abgabe  eines  ärztlichen  Urteils  die  persönliche  Untersuchung 
auch  in  den  anscheinend  einfachsten  Fällen  ebenso  unabweis- 
liches  Erfordernis  wie  bei  irgendeiner  körperlichen  Erkrankung.  1 
Der  innige  Zusammenhang  zwischen  seelischen  und  körpedichen 
Störungen  wird  uns  dabei  zu  sorgfältiger  Berücksichtigung  auch 
dieser  letzteren  veranlassen,  da  wir  in  ihnen  nicht  selten  Auf- 
schlüsse über  die  Ursachen  des  Irreseins  oder  aber  klinisch  wich- 
tige Begleiterscheinungen  aufzufinden  erwarten  dürfen. 

Die  körperliche  Untersuchung  wird  zunächst  den  allgemeinen 
Zustand  des  Körpers  ins  Auge  zu  fassen  haben.  Mißverhältnis 
zwischen  Lebensalter  und  Aussehen  (jugendlicher  Habitus,  vor- 
zeitiges Greisentum),  das  Verhalten  des  Körperwachstums  (Zwerg- 
wuchs, Kyphosen,  schmächtiger  Bau,  Akromegalie),  der  Ernäh- 
rung (Anämie,  Fettpolster,  Hautfarbe),  der  Kräfte  (Muskulatur), 
Kropf bildung,  Hautverdickungen,  Spuren  alter  Rachitis  (Zähne, 
Rippen,  Epiphysen),  angeborener  oder  erworbener  Syphilis  (Hut- 
chinsonsche  Zähne,  Alopecie,  Knochenauf  treibungen,  Hautnar- 
ben, Drüsenschwellungen)  können  wertvolle  Fingerzeige  für  die 
ursächliche  Beurteilung  des  Falles  abgeben.  Ferner  pflegt  man  aus 
dem  Vorhandensein  gewisser  Entwicklungsstörungen  (Albinismus, 
Spina  bifida,  Hasenscharte,  Wolfsrachen,  sehr  steiler  oder  sehr 


Zustandsuntersuchung. 

flacher  Gaumen,  Kryptorchismus,  Polymastie,  Polydaktylie,  Syn- 
daktylie,  hochgradige  Myopie,  Mißbildungen  der  Augen,  Ohren, 
Zähne,  Geschlechtsteile),  die  man  als  Entartungszeichen be- 
trachtet, den  Schluß  auf  eine  psychopathische  Veranlagung  zu 
ziehen.  Dabei  ist  jedoch  zu  beachten,  daß  die  Beziehungen  zwischen 
jenen  Bildungsfehlern  und  dem  Hirnzustande  nichts  weniger  als 
eindeutige  und  klare  sind.  Man  wird  daher  bei  der  Verwertung 
solcher  Befunde  mit  größter  Vorsicht  zu  verfahren  haben.  Das- 
selbe gilt  in  noch  höherem  Maße  von  den  Tätowierungen,  denen 
man  ebenfalls  eine  gewisse  kennzeichnende  Bedeutung  für  den 
Zustand  des  Seelenlebens  zugeschrieben  hat.  Hier  sind  in  erster 
Linie  die  Lebensgewohnheiten  der  Stände  und  Berufe  maßgebend, 
aus  denen  die  Kranken  stammen. 

Unzweifelhaft  der  wichtigste  Teil  der  körperlichen  Untersuchung 
ist  die  Prüfung  des  Nervensystems,  insbesondere  des  Gehirns, 
das  freilich  am  Lebenden  unserer  Beurteilung  nur  wenige  An- 
griffspunkte darbietet.  Von  der  Größe  des  Gehirns  kann  uns  die 
Schädelmessung,  namentlich  nach  dem  von  Rieger^)  ausgebildeten 
Verfahren,  ein  ungefähres  Bild  verschaffen,  dem  indessen  alle  jene 
Fehlerquellen  anhaften,  die  in  dem  unvollkommenen  Parallelismus 
der  Schädel-  und  Hirnoberfläche  ihren  Ursprung  haben.  Unmittel- 
bare psychiatrische  Wichtigkeit  besitzen  daher  nur  diejenigen  Ver- 
bildungen  des  Schädels  in  Form  und  Größe,  die  unzweifelhaft  über 
den  Bereich  jener  Fehlerquellen  hinausgehen.  Dabei  ist  zu  berück- 
sichtigen, daß  es  nicht  allein  auf  die  Schädel-  oder  Gehirngröße 
an  sich,  sondern  ganz  gewiß  auf  den  feineren  Bau  des  Hirns  und 
wohl  auch  auf  sein  Verhältnis  zu  der  Größe  und  Masse  des  ganzen 
Körpers  ankommt.  Unter  Berücksichtigung  des  letzteren  Um- 
standes  werden  bisweilen  Mißverhältnisse  aufgedeckt,  die  der 
einfachen  Betrachtung  entgehen  (relative  Mikrocephalie).  Alle 
feineren,  erst  mit  Hilfe  genauer  Messungen  feststellbaren  Abwei- 
chungen können  höchstens  die  allgemeine  Vermutung  begründen, 
daß  mit  ihnen  vielleicht  auch  Störungen  in  der  Hirnentwicklung 
einhergehen,  doch  kommen  auch  völlig  normale  psychische  Lei- 

1)  Knecht,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  876;  Ganter,  ebenda  LV, 
495;  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXVIII,  978;  Giuf  frida  -  Ruggeri,  atti  della  societä 
Romana  di  antropologia,  IV,  2,  3,  1896;  Vaschide  et  Vurpas,  Annales  de  neuro- 
logie,  1903,  1. 

2)  Rieger,  Eine  exakte  Methode  der  Craniographie.  1885. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  30 


466 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


stungen  bei  recht  kleinen  (52  cm  Umfang)  und  bei  stark  verbil- 
deten Schädeln  vor.  Sehr  beachtenswert  sind  dagegen  die  Spuren 
früherer  Verletzungen,  Narben,  Eindrücke,  die  bisweilen  den  ein- 
zigen Schlüssel  für  das  Verständnis  sonst  rätselhafter  Krankheits- 
bilder abgeben. 

Über  die  Kreislaufsverhältnisse  des  Gehirns  vermag  uns  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  Betrachtung  benachbarter  Gefäßbezirke, 
des  Gesichtes  und  vor  allem  des  Auges,  Aufschluß  zu  geben;  in 
vereinzelten  Fällen  gestatten  Schädellücken  auch  eine  unmittel- 
bare Untersuchung^).  Berger  fand  bei  Gemütsbewegungen  deut- 
liche Veränderungen  der  Hirngefäße,  die  sich  vielleicht  auch  in 
Krankheitszuständen  beobachten  lassen  würden,  Verengerung  bei 
Lustgefühlen,  Erweiterung  bei  Unlust.  Für  die  Hirnpathologie  ist 
die  Augenspiegeluntersuchung  bekanntlich  ein  überaus  wichtiges 
Hilfsmittel  geworden.  Bei  Geisteskranken  dagegen  sind  ihre  Er- 
gebnisse leider  noch  allzu  unsichere  geblieben,  als  daß  man  ihr 
heute  einen  wesentlichen  Wert  für  die  Diagnostik  zuerkennen 
könnte 2).  Ob  hier  andere  Verfahren,  die  Thermometrie^)  und  die 
Auskultation  des  Kopfes,  bessere  Ergebnisse  liefern  werden,  muß 
der  Zukunft  überlassen  bleiben. 

Von  durchschlagender  Bedeutung  für  die  Beurteilung  des  Ge- 
hirnzustandes ist  dagegen  die  Prüfung  seiner  Äußerungen.  Sehen 
wir  zunächst  ab  von  den  psychischen  Erscheinungen,  so  werden 
wir  in  erster  Linie  die  Sinnesgebiete  zu  untersuchen  haben.  Nach 
Feststellung  der  Refraktion  und  der  Sehschärfe  wird  die  perime- 
trische Ausmessung  des  Gesichtsfeldes*)  hemianopische  Störungen, 
Ausfälle  und  Einengungen  mit  richtiger  oder  veränderter  Farben- 
folge aufzudecken  haben.  Aufmerksamkeitsstörungen,  wie  sie  bei 
den  verschiedensten  Erkrankungen  vorkommen,  liefern  zackige 
Umgrenzungen  und  Erweiterung  bei  zentrifugaler  Bewegung  der 
Fixierfläche.  Beim  Ohr  wird  außer  der  Besichtigung  mit  dem 
Spiegel  und  der  Stimmgabelprüfung  insbesondere  noch  die  elektrische 

1)  Berger,  Zur  Lehre  von  der  Blutzirkulation  in  der  Schädelhöhle  des  Men- 
schen. 1901;  Über  die  körperlichen  Äußerungen  psychischer  Zustände,  I,  1904; 
II,  1907. 

ü)  Pilcz,  Zeitschr.  f.  Augenheilk.,  XII,  729;  Bondi,  Wiener  med.  Presse, 
1907,  1497- 

3)  Mo  SSO,  Die  Temperatur  des  Gehirns.  1894. 

4)  Klien,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XLII,  359. 


Zustandsuntersuchung. 


467 


Untersuchung  der  Gehörnerven in  Frage  kommen,  die  bisweilen 
bemerkenswerte  Abweichungen  von  der  Brenner  sehen  Normal- 
formel zutage  fördert.  Die  Geruchs-  und  Geschmacksprüfung 
erfolgt  nach  den  üblichen  Verfahren.  Die  Untersuchung  der 
Sinnesleistungen  gibt  auch  zugleich  Aufschlüsse  über  das  Bestehen 
von  zentralen  Ausfallserscheinungen,  Worttaubheit  oder  Seelen- 
blindheit, wie  sie  zum  Nachweise  von  Herderkrankungen  führen 
können. 

Auf  motorischem  Gebiete  beschäftigt  uns  zunächst  Größe  und 
Beweglichkeit  der  Pupille,  deren  feinere  Untersuchung  in  den 
letzten  Jahren  wesentliche  Fortschritte  gemacht  hat.  Bei  der  gro- 
ßen Wichtigkeit,  die  den  Pupillenstörungen  für  die  klinische  Be- 


0,^65 


1V 


,1.0ao  1,305 


310 


Mm. 


Fig.  XXI.    Kinematogramm  einer  Pupillenreaktion  auf  Lichteinfall, 

trachtung  zukommt,  ist  eine  sorgfältige  Feststellung  ihres  Ver- 
haltens im  Dunkelzimmer  und  womöglich  mit  vergrößernden 
Lupen  unerläßlich.  Von  den  verschiedenen  Apparaten,  die  zu 
diesem  Zwecke  gebaut  worden  sind,  dürfte  der  von  Weiler  an- 
gegebene den  höchsten  Anforderungen  entsprechen.  Er  gestattet, 
in  das  durch  die  Lupe  betrachtete  Auge  Lichtmengen  von  belie- 
biger Stärke  plötzlich  einfallen  zu  lassen  und  die  Veränderungen 
der  Weite  mit  Hilfe  eines  in  die  Irisebene  gespiegelten,  verschieb- 
baren Maßstabes  zu  messen,  ferner  unter  Beiziehung  eines  Chro- 
noskopes  genaue  Zeitbestimmungen  vorzunehmen  und  endlich  auch 
kinematographische  Aufnahmen  des  Reaktionsvorganges  zu  machen. 
Ein  solches  Kinematogramm  einer  gewöhnlichen  Lichtreaktion 
gibt^die  Fig.  XXL    Man  sieht  hier  die  aufeinanderfolgenden  Auf- 


^)  Chvostek,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XI,  267. 


30' 


468 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


nahmen  der  Pupille  in  halber  Naturgröße,  die  sich,  namentlich 
mit  Hilfe  einer  Lupe,  leicht  ausmessen  lassen.  Darüber  findet  sich 
ein  Maßstab,  auf  dem  die  Zeitverhältnisse  in  Sekunden  abgelesen 
werden  können,  und  ferner  in  doppelter  Größe  ein  Aufriß  des  Re- 
aktionsvorganges, der  die  Veränderungen  der  Pupillenweite  wäh- 
rend der  dargestellten  Zeit  erkennen  läßt.    Das  erste  Pupillenbild 
ist  noch  undeutlich,  weil  hier  die  Belichtung  erst  während  der 
Expositionszeit  begann.   Man  sieht,  daß  die  Verengerung  der  Pu- 
pille erst  nach  einer  Latenzzeit  von  0,265"  beginnt.    Sie  schreitet 
dann  von  7,6  auf  4,4  mm  fort,  ein  Wert,  der  1,5"  nach  dem  Be- 
ginne der  Pupillenbewegung  erreicht  wird.  Merkwürdigerweise  zeigt 
sich  dazwischen  eine  Erweiterung,  die  1,08"  nach  der  Belichtung 
beginnt  und  etwa  0,22"  andauert.    Sie  ist  eine  regelmäßige  Er- 
scheinung und  dürfte  nach  Weilers  Auffassung  als  psychische 
Reaktion  auf  den  plötzlichen  Lichtreiz  anzusehen  sein,  die  sich 
in  den  Reflexvorgang  einschiebt. 

Was  wir  an  der  Pupille  zu  beachten  haben,  ist  zunächst  ihre 
Weite,  die  auf  beiden  Seiten  verschieden  sein  kann,  namentlich 
bei  organischen  Hirnerkrankungen,  aber  auch  bei  Psychopathen, 
Epileptikern,  Hysterischen,  deren  Durchschnittswerte  aber  auch 
bei  den  einzelnen  Psychosen  gewisse  Abweichungen  darbieten. 
Weiler  fand  bei  der  von  ihm  angewandten  Beleuchtung  die  Weite 
bei  Gesunden  durchschnittlich  5,2,  bei  Epileptikern  6,1,  bei  der 
Dementia  praecox  5,5,  bei  der  Paralyse  4,4  mm.  Hier  und  beim 
Altersblödsinn  findet  sich  häufig  sehr  starke  Verengerung  der  Pu- 
pillen. 

In  zweiter  Linie  ist  die  Form  der  Pupillen  zu  beachten,  da  Ver- 
zerrungen des  Randes,  die  Entrundung,  einen  wichtigen  Anhalts- 
punkt für  die  Annahme  syphilitischer  oder  metasyphilitischer 
Krankheitsvorgänge  bilden.  Die  weitere  Untersuchung  wird  sich 
auf  die  Prüfung  des  unmittelbaren  und  konsensuellen  Reflexes  auf 
Lichteinfall  und  auf  die  Konvergenzreaktion  zu  erstrecken  haben. 
Die  Ausgiebigkeit  der  Pupillenbewegung  unterliegt  weiten  Schwan- 
kungen. Weiler  berechnete  sie  bei  Gesunden  auf  durchschnittlich 
1,7  mm;  bei  Epileptikern  betrug  sie  1,9,  bei  der  Dementia  praecox 
1,4,  bei  der  Paralyse  nur  0,4  mm.  Während  die  vollkommene, 
einseitige  oder  doppelseitige  Starre  bei  einer  Reihe  verschiedener 
Krankheiten,  vorübergehend  oder  sogar  dauernd  gelegentlich  auch 


Zustandsuntersuchung. 


469 


bei  Hysterie  beobachtet  wird,  bildet  die  einfache  Lichtstarre  ein 
fast  untrügliches  Zeichen  für  den  Nachweis  metasyphiHtischer  Er- 
krankungen, das  nur  in  seltenen  Fällen  bei  alter  Lues,  einseitig 
auch  nach  Trauma  vorzukommen  scheint.  Namentlich  bei  den 
gänzlich  oder  auf  Licht  starren  Pupillen  der  Paralytiker  läßt  sich 
dann  bisweilen  sehr  ausgeprägt  die  von  Westphal  beschriebene 
Verengerung  der  Pupille  bei  krampfhaftem  Lidschlusse  nach- 
weisen. Trägheit  der  Reaktion  geht  ihrem  Erlöschen  in  der  Regel 
schon  einige  Zeit  voraus.  Es  ist  jedoch  äußerst  schwierig,  das  ein- 
wandfrei festzustellen,  wenn  man  nicht  Zeitmessungen  ausführt, 
die  einerseits  sehr  feine  Hilfsmittel  erfordern,  andererseits  die 
schwankende  persönliche  Reaktionszeit  des  Beobachters  hinein- 
ziehen müssen.  Ganz  zuverlässige  Ergebnisse  sind  wohl  nur  von 
der  fortlaufenden  photographischen  Aufnahme  zu  erwarten.  Da- 
gegen sind  noch  einige  Erfahrungen  bekannt  geworden,  die  uns 
gestatten,  auf  anderen  Wegen  feinere  Störungen  der  Lichtreaktion 
nachzuweisen.  Weiler  fand,  daß  die  weitere,  konsensuelle  Ver- 
engerung einer  bereits  durch  unmittelbare  Belichtung  verengten 
Pupille  bei  Belichtung  des  anderen  Auges  fast  allen  Paralytikern 
fehlte,  deren  Pupillen  sonst  noch  nicht  lichtstarr  waren;  dagegen 
wurde  diese  von  ihm  so  genannte  ,, sekundäre  Reaktion"  in  keinem 
anderen  Krankheitsfalle  vermißt.  Bumke  stellte  ferner  fest,  daß 
der  Lichtreflex,  der  bei  schv/acher  galvanischer  Durchströmung 
eines  Auges  beiderseits  auftritt,  bei  87%  seiner  Paralytiker  aus- 
blieb. Bei  hemianopischem  Gesichtsfeldausfall  gelingt  es,  das  Fehlen 
der  Lichtreaktion  bei  Belichtung  der  sehuntüchtigen  Bezirke  mit 
sehr  feinen  Lichtbündeln  nachzuweisen. 

Ein  Zeichen,  dessen  Schwinden  ebenfalls  vielfach  als  Vorläufer 
weitergreifender  Pupillenstörungen  auftritt,  ist  die  von  Lacoeur 
beschriebene  Pupillenunruhe,  ein  feines,  fortwährendes  Schwanken 
der  Pupillenränder.  Sie  dürfte  als  Begleiterscheinung  psychischer 
Vorgänge  anzusehen  sein  und  ist  nur  der  Lupenuntersuchung 
zugänglich.  Auch  die  Erweiterung  der  Pupillen  auf  schmerz- 
hafte Reize  geht  bei  der  Paralyse  öfters  schon  früh  verloren. 
Eine  ganz  besondere  Bedeutung  haben  diese  früher  weniger  be- 
achteten Erscheinungen  und  die  ihnen  nahverwandte  Erweite- 
rung der  Pupillen  bei  psychischen  Leistungen,  Anspannung  der 
Aufmerksamkeit,   Lösung  einer  Rechenaufgabe,   durch  den  von 


^V.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 

Bumke^)  geführten  Nachweis  gewonnen,  daß  sie  bei  der  Dementia 
praecox  in  einer  erhebUchen  Zahl  von  Fällen  (60%)  vermißt 
werden.  Hübner  fand  noch  etwas  höhere,  Weiler  niedrigere 
Zahlen,  doch  beobachtete  auch  er  ein  wirklich  normales  Verhalten 
der  psychischen  Schmerz-  und  Schreckreaktion  nur  in  etwa  der 
Hälfte  der  Fälle.  Westphal  sah  bei  drei  Katatonikern  querovale 
Form  der  Pupillen  und  vorübergehende  beträchtliche  Verschlechte- 
rung des  Lichtreflexes. 

Bei  der  weiteren  Untersuchung  werden  wir  das  Spiel  der  Augen- 
muskeln, der  Gesichtsmuskeln  und  der  Zunge  zu  beachten  haben; 
auch  das  Verhalten  der  Mimik  (Starrheit,  Zuckungen,  Grimas- 
sieren)  ist  von  Wichtigkeit.  Mehr  oder  weniger  bindende  Rück- 
schlüsse auf  die  Art  des  Krankheitsvorganges  ermöglichen  uns  ge- 
wisse Formen  des  Krampfes  (Rindenepilepsie,  Athetose,  Chorea, 
Myoklonie),  des  Zitterns  (Senium,  Alkoholismus,  Delirium  tremens, 
multiple  Sklerose)  und  der  Lähmung  (schlaffe  oder  spastische  Läh- 
mung, Kontraktur,  Verteilung  auf  Körperhälften,  Glieder,  einzelne 
Muskelgruppen),  dann  manche  Koordinationsstörungen  verwickelter 
Willkürbewegungen,  des  Gehens,  Stehens,  namentlich  aber  des 
Sprechens  und  Schreibens.  Außer  dem  Stottern  und  Stammeln 
einerseits,  dem  Häsitieren,  Skandieren,  dem  Silbenstolpern  und 
Schmieren  andererseits  kommen  hier  auch  die  aphasischen  und 
paraphasischen  Störungen  in  Betracht^),  außer  der  Ataxie  der 
Schrift  die  Agraphie  und  Paragraphie.  Daran  würde  sich  eine  Unter- 
suchung der  motorischen  und  ideatorischen  Apraxie  und  Para- 
praxie  anzuschließen  haben,  von  denen  die  letztere  freilich  schon 
weit  in  das  psychische  Gebiet  hineinragt.  Endlich  würden  wir 
uns  mit  den  epileptischen  und  hysterischen  Krämpfen  zu  be- 
schäftigen haben,  die  uns  auf  eine  bestimmte,  freilich  zunächst 
symptomatische  Krankheitsauffassung  hinweisen. 

1)  Bumke,  Die  Pupillenstörungen  bei  Geistes-  und  Nervenkrankheiten.  1904; 
Münch,  med.  Wochenschr.,  1907,  47;  Fuchs,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXIV,  326; 
Hübner,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XLI,  1016;  Fröderstrom,  Monatsschr.  f.  Psy- 
chiatrie, XXIII,  405. 

2)  Ballet,  Die  innerliche  Sprache  und  die  verschiedenen  Formen  der  Aphasie, 
deutsch  von  Bongers.  1890;  Freud,  Zur  Auffassung  der  Aphasien.  1891;  Heil- 
bronner,  Über  Asymbolie,  Wernickes  Psychiatr.  Abhandlungen.  1897;  Ba- 
stian, Über  Aphasie  und  andere  Sprachstörungen,  deutsch  von  Urstein.  1902; 
Wolf  f ,  Zeitschr.  f.  Psychologie  u.  Physiologie  der  Sinnesorgane,  XV,  i;  Li ep  mann, 
Pas  Krankheitsbild  der  Apraxie.  1900. 


Zustandsuntersuchung. 


471 


Der  Untersuchung  des  Gehirns  schließt  sich  eng  diejenige  des 
Rückenmarks,  des  Sympathicus  und  endhch  der  peri- 
pheren Nerven  an,  um  so  enger,  als  ja  selbst  heute  noch  nicht 
immer  die  Ursache  einer  krankhaften  Erscheinung  mit  Sicherheit 
in  einen  der  großen  Abschnitte  des  Nervensystems  verlegt  werden 
kann.  Die  Prüfung  des  Haut-  und  Muskelsinnes  im  weitesten 
Umfange,  der  Reizempfindlichkeit  in  ihren  verschiedenen  Gestal- 
tungen, der  Schmerzempfindlichkeit  (Druckpunkte),  der  elek- 
trischen^) und  mechanischen  Erregbarkeit  der  Nerven  (Facialis- 
phänomen)  und  Muskeln,  der  Ausgiebigkeit,  Sicherheit  und  Kraft 
der  Bewegungen,  der  Reflexe,  endlich  der  vasomotorischen  (Der- 
matographie),  trophischen,  sekretorischen  Vorgänge  (Speichelfluß) 
wird  daher  regelmäßig  die  Untersuchung  des  allgemeinen  Hirn- 
zustandes zu  vervollständigen  haben. 

Nur  mittelbar,  auf  dem  Wege  vielgliedriger  Schlußfolgerungen, 
kann  uns  natürlich  die  Untersuchung  des  übrigen  Körpers  zu 
einer  Erkennung  krankhafter  Vorgänge  im  Bereiche  des  Nerven- 
systems verhelfen.  So  werden  wir  uns  erinnern,  daß  schwere  all- 
gemeine Ernährungsstörungen  (fieberhafte  Krankheiten,  Blutent- 
mischungen, chronische  Infektionen  und  Vergiftungen)  häufig  ge- 
nug die  Grundlage  psychischer  Erkrankungen  bilden,  andererseits 
aber,  daß  jede  rasch  einsetzende  Geistesstörung  mit  durchgreifen- 
der Beeinträchtigung  der  Eßlust,  des  Schlafes  und  des  gesamten 
Stoffwechsels  einherzugehen  pflegt. 

Selbstverständlich  kann  aber  die  körperliche  Veränderung  im 
einzelnen  Falle  auch  ganz  zufällig  mit  dem  Irresein  zusammen- 
fallen. Gleichwohl  wird  zur  vollen  Würdigung  der  Sachlage  eine 
möghchst  sorgfältige  Untersuchung  aller  zugänglichen  Organe 
und  ihrer  Verrichtungen  stets  unerläßlich  sein.  Besondere 
Bedeutung  hat  man  bisweilen  der  Form  des  Pulsbildes^)  bei- 
gelegt, aus  der  man  die  weitgehendsten  Aufschlüsse  über  Diagnose 
und  namentlich  Prognose  des  Irreseins  überhaupt  herauslesen 
wollte.  Leider  haben  sich  diese  Hoffnungen  nicht  erfüllt.  Viel- 
mehr hat  sich  gezeigt,  daß  die  Gestaltung  des  Pulsbildes  im  Ver- 

1)  Pilcz,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXI,  313;  XXIII,  241. 

2)  Ziehen,  Sphygmographische  Untersuchungen  an  Geisteskranken.  1887; 
Sokalski,  Untersuchungen  über  Puls  und  Blutdruck  in  akuten  Geisteskrankheiten. 
1897;   Patrizi,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  i. 


472 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


laufe  einer  und  derselben  Erkrankung  durch  verschiedenartige 
Einflüsse  (Gemütsbewegungen,  Gefäßspannung,  Herztätigkeit)  auf 
die  mannigfaltigste  Weise  verändert  werden  kann.  Die  Pulszahl 
bietet  bei  den  einzelnen  Erkrankungen,  aber  auch  bei  verschie- 
denen Zuständen  desselben  Kranken  vielfache  Veränderungen  dar. 
Sie  ist  meist  etwas  erhöht  im  manisch-depressiven  Irresein,  wäh- 
rend sehr  starke  Verlangsamung  des  Pulses  im  katatonischen  Stupor 
beobachtet  wird.  Rasches  Ansteigen  der  Pulszahl  bei  äußeren 
Einwirkungen  ist  ein  wertvolles  Zeichen  erhöhter  gemütlicher  Er- 
regbarkeit; bei  traumatischer  Neurose  und  bei  Arteriosklerose 
kann  man  es  schon  nach  geringer  körperlicher  Anstrengung  be- 
obachten. 

Weiterhin  scheinen  auch  die  Schwankungen  des  Blut- 
drucks^) gewisse  Beziehungen  zu  der  Art  der  Krankheitsvorgänge 
aufzuweisen.  Von  den  verschiedenen  bisher  angewandten  Ver- 
fahren haben  sich  diejenigen  von  Riva-Rocci  und  namentlich 
von  Recklinghausen  am  besten  bewährt;  letzteres  gestattet,  bei 
einiger  Übung  den  systolischen  und  den  diastolischen  Druck  ge- 
sondert zu  bestimmen,  deren  Unterschied  uns  Aufschluß  über  die 
Höhe  des  ,, Pulsdruckes"  gibt.  Die  Ergebnisse  sind  namentlich  für 
die  Feststellung  arteriosklerotischer  Erkrankungen  mit  ihrer  häu- 
figen starken  Erhöhung  der  Druckwerte,  sodann  aber  auch  beim 
manisch-depressiven  Irresein  von  Bedeutung,  dessen  Zustands- 
bilder  im  allgemeinen  mit  einer  Steigerung  des  Blutdruckes  einher- 
zugehen scheinen.  Die  früheren  Untersuchungen  hatten  eine  Er- 
höhung nur  für  die  depressiven  und  ängstlichen  Verstimmungen, 
dagegen  für  die  Manie  eine  Herabsetzung  des  Blutdruckes  ergeben. 
Näheren  Aufschluß  über  diese  gewiß  sehr  wichtigen  Verhältnisse 
verspricht  vor  allem  auch  das  plethysmographische  Verfahren, 
wie  es  namentlich  von  Lehmann-)  ausgebildet  worden  ist.  Da 
es  die  körperlichen  Begleiterscheinungen  der  Gefühle  mit  großer 
Genauigkeit  wiedergibt,  wird  es  einerseits  bei  den  Geistesstörungen 
mit  lebhaften  Gemütsbewegungen,  andererseits  gerade  bei  den- 

1)  Craig,  Lancet,  Juni  1898;  Pilcz,  Wiener  klin.  Wochenschr.,  1900,  12; 
Rosse,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1902,  517;  Recklinghausen,  Arch.  f.  experi- 
mentelle Pathol.  u.  Pharmakol.,  XLVI,  78;  LV,  375;  LVI,  i. 

2)  A.  Lehmann,  Die  körperlichen  Äußerungen  der  seelischen  Zustände.  1899; 
R.  Vogt,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1902,  965;  Gent,  Wundts  Philosophische 
Studien,  XVIII,  715;   Brodmann,  Journ.  f.  Psychol.  u.  Neurol.,  I,  10,  1903. 


Zustandsuntersuchung. 

jenigen  Formen  das  Krankheitsbild  vervollständigen,  bei  denen 
die  Schwankungen  des  Stimmungshintergrundes  in  krankhafter 
Weise  aufgehoben  sind.  Leider  liegen  bisher  erst  sehr  wenige 
Untersuchungen  an  Geisteskranken  mit  diesem  Verfahren  vor. 

Noch  ganz  in  den  ersten  Anfängen  befinden  wir  uns  hinsicht- 
lich der  Untersuchung  und  Deutung  der  Blutveränderungen bei 
Geisteskranken.  Was  bisher  untersucht  wurde,  ist  einmal  die  Zahl 
der  roten  und  weißen  Blutkörperchen,  ihr  gegenseitiges  Verhält- 
nis und  die  Gruppierung  der  letzteren  in  ihre  mannigfaltigen  For- 
men, insbesondere  auch  das  Auftreten  eosinophiler  Zellen.  Ferner 
wurde  der  Hämoglobingehalt  und  die  Widerstandsfähigkeit  der 
roten  Blutkörper  gegen  Kochsalzlösungen,  die  ,,Isotonie",  bei  ver- 
schiedenen Geisteskrankheiten  festgestellt.  Eine  Reihe  von  Ar- 
beiten besitzen  wir  über  die  Schwankungen  der  Alkalescenz  des 
Blutes  bei  Psychosen,  ganz  besonders  aber  über  die  mehr  biolo- 
gischen Eigenschaften  des  Blutserums.  Man  hat  geprüft,  in  welchem 
Umfange  die  Blutflüssigkeit  der  Geisteskranken  Bakterien  zu  töten, 
katalytische  Wirkungen  zu  entfalten  vermag,  in  welchem  Grade 
sie  giftig  auf  andere  Tiere  wirkt,  und  weiterhin,  im  Anschlüsse  an 
Ehr  lieh  s  Forschungen,  welche  Cytolysine  sie  enthält,  ob  und  in- 
wieweit sie  rote  Blutkörper  derselben  oder  einer  fremden  Tierart 
aufzulösen  vermag.  So  unsicher  und  vieldeutig  auch  die  Ergeb- 
nisse aller  dieser  Forschungen  noch  sein  mögen,  so  notwendig 
erscheint  doch  ihre  Fortführung.  Gerade  die  überraschenden  Ent- 
deckungen über  die  feinen  und  verwickelten  Selbstschutzvorgänge 
im  Blute  legen  den  Gedanken  nahe,  daß  Veränderungen  in  der 
Zusammensetzung  und  in  der  Reaktionsfähigkeit  des  Blutes  wohl 
auch  bei  Geisteskranken  eine  bedeutsame  Rolle  spielen  dürften, 
namentlich  dort,  wo  wir  es  mit  allgemeinen  Stoffwechselstörungen 
zu  tun  haben. 

Gröberer  Art  sind  die  Aufschlüsse,  die  wir  von  Harnuntersu- 
chungen'') erwarten  dürfen,  da  sie  uns  immer  nur  ein  sehr  unvoll- 

1)  Vorster,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  L,  740;  Agostini,  Rivista 
sperimentale  di  freniatria,  XVIII,  483;  Ceni,  Revue  de  psychiatrie,  März  1901; 
Pugh,  Journal  of  mental  science,  Jan.  1903,  71 ;  Bruce,  ebenda  1904,  409;  Schultz, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XXII,  21;  Pighini,  Annali  di  nevrologia,  XXIV,  5,  6. 

Belmondo,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXII,  657;  Stefani,  ebenda, 
XXVI,  595;  Pardo,  ebenda,  XXXIII,  844;  Soury,  Annales  medico-psychologi- 
ques,  1898,  II,  427. 


474 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


kommenes  Bild  von  den  Störungen  in  der  chemischen  Zusammen- 
setzung der  Körpergewebe  zu  geben  vermögen.  Dennoch  wird 
uns  die  Einfachheit  des  Verfahrens  und  die  Möglichkeit  einer 
häufigen  Untersuchung  zu  einer  eingehenden  Berücksichtigung 
jenes  Hilfsmittels  veranlassen.  Bisher  wissen  wir  freilich  wenig 
mehr,  als  daß  neben  Eiweiß  und  Zucker  gelegentlich  noch  eine 
Reihe  anderer  ungewöhnlicher  Stoffe  im  Harn  vorkommen 
können,  von  denen  das  Indican,  das  Aceton,  die  Acetessigsäure, 
die  Oxybuttersäure  die  wichtigsten  sind.  Wir  wissen  auch  unge- 
fähr, unter  welchen  Bedingungen  solche  Stoffe  auftreten,  ohne 
daß  indessen  ein  tieferer  Einblick  in  ihre  Beziehungen  zu 
bestimmten  psychischen  Erkrankungen  gewonnen  wäre.  Ähn- 
liches gilt  von  den  Schwankungen  in  der  Menge  der  einzelnen 
Harnbestandteile,  des  Harnstoffs,  der  Harnsäure,  der  Phosphor- 
säure, des  Chlors,  über  die  ebenfalls  schon  zahlreiche  Unter- 
suchungen vorliegen. 

Aussichtsreicher,  aber  freilich  auch  ungemein  viel  schwieriger 
sind  die  erst  in  geringerem  Umfange  durchgeführten  vollständigen 
Stoffumsatzuntersuchungen,  bei  denen  Menge  und  Zusammensetzung 
nicht  nur  der  gesamten  Nahrung,  sondern  auch  aller  festen  und 
flüssigen,  womöglich  auch  der  gasförmigen  Ausscheidungen  genau 
festgestellt  werden.  Namentlich  bei  der  Epilepsie  mit  ihren  raschen 
Zustandsschwankungen,  aber  auch  beim  manisch-depressiven  Irresein 
und  bei  der  Paralyse  dürften  sich  derartige  Forschungen  empfehlen. 
Eine  mehr  untergeordnete  Bedeutung  besitzt  bei  unseren  Kranken 
die  Untersuchung  der  Magenverdauung,  insbesondere  der  chemischen 
Zusammensetzung  des  Magensaftes,  an  die  man  einmal  größere  Er- 
wartungen knüpfte;  immerhin  kann  man  ihren  Ergebnissen  viel- 
leicht gewisse  Gesichtspunkte  für  die  Behandlung  entnehmen. 

Sehr  wertvolle  diagnostische  Aufschlüsse  hat  uns  die  zuerst 
von  Widal  und  Ravaut  geübte  Untersuchung  der  Cerebrospinal- 
flüssigkeit^)  geliefert.  Man  kann  den  Druck  feststellen,  unter  dem 
die  Flüssigkeit  beim  Einstiche  ausfließt,  das  chemische  Verhalten 


1)  Devaux,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1903,  364;  Nissl,  ebenda  1904,  225; 
Merzbacher,  ebenda  1905,  489;  1906,  304;  Rehm,  ebenda  1905,  798;  Henkel, 
Arch.  f.  Psychiatrie,  XLII,  327;  Meyer,  ebenda  XLII,  971;  Nonne  u.  Apelt, 
ebenda  XLIII,  434;  Fischer,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XXVII,  313;  Pomeroy,  Ameri- 
can Journal  of  neurology,  1907,  225. 


Zustandsuntersuchung. 

und,  was  bisher  am  wichtigsten  scheint,  Zahl  und  Art  der  zelligen 
Elemente.  Die  Messung  des  Druckes  ist  bei  der  Enge  der  ver- 
wendeten Nadeln  und  wegen  sonstiger  zufälliger  Fehlerquellen 
eine  ziemlich  unsichere ;  er  scheint  unter  anderem  bei  der  Para- 
lyse häufig  erhöht  zu  sein.  Die  chemische  Prüfung  richtet  sich 
in  erster  Linie  auf  Eiweißkörper,  zu  deren  Mengenbestimmung 
Nissl  die  Fällung  mit  Esbachs  Reagens  und  die  Messung  des 
Niederschlags  nach  Zentrifugieren  in  feinen,  mit  Teilung  versehenen 
Glasröhrchen  empfohlen  hat.  Bei  der  Paralyse  findet  sich  regel- 
mäßig, bei  einer  Reihe  von  anderen  Krankheiten  nur  ganz  aus- 
nahmsweise eine  Eiweißvermehrung,  die  der  Zunahme  der  zelligen 
Bestandteile  keineswegs  zu  entsprechen  braucht.  Da  vielfach  nur 
dem  Vorkommen  von  Serumalbumin  krankhafte  Bedeutung  zu- 
gemessen wird,  kann  man  das  Globulin  vorher  ausfällen.  Ob  der 
Untersuchung  auf  Cholin  und  Glukose,  der  Feststellung  des  spe- 
zifischen Gewichts,  des  Gefrierpunktes,  der  spezifischen  Leitungs- 
fähigkeit, der  inneren  Reibung  und  der  Giftigkeit  der  Cerebro- 
spinalflüssigkeit  klinische  Bedeutung  beizulegen  ist,  steht  noch  dahin. 

Dagegen  gibt  uns  die  Zählung  der  Zellen  sehr  wichtige  An- 
haltspunkte für  die  Beurteilung  des  Krankheitszustandes;  sie  ge- 
schieht entweder  nach  Ausbreitung  des  durch  Zentrifugieren  er- 
haltenen Bodensatzes  auf  Deckgläsern  oder,  besser,  mit  Hilfe  der 
Zeißschen  Zählkammer;  die  normalen  Werte  gehen  etwa  bis  zu 
vier  oder  fünf  Zellen  im  Kubikmillimeter.  Die  zahlreichen,  be- 
reits vorliegenden  Untersuchungen  stimmen  vor  allem  darin  über- 
ein, daß  sich  eine  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Vermehrung, 
bis  zu  200  Zellen  und  mehr  im  Kubikmillimeter,  fast  ausnahms- 
los bei  der  Paralyse  findet,  ferner  bei  luetischer  Meningoencepha- 
litis,  in  geringerem  Maße  auch  meist  bei  einfacher  Lues.  Weiter- 
hin liefern  Meningitiden,  multiple  Sklerose,  Tabes  und  Herpes 
zoster  positive  Befunde.  Die  genauere  Bestimmung  der  Zellen, 
die  nach  einem  von  Alzheimer  angegebenen  Verfahren  durch 
unmittelbares  Auffangen  der  ausfließenden  Tropfen  in  Alkohol 
mit  nachfolgender  Fixierung  und  Einbettung  des  Niederschlags 
unter  Vermeidung  des  Zentrifugierens  möglich  ist,  hat  ergeben, 
daß  es  sich  zumeist  um  kleine  und  große  Lymphocyten,  ferner 
um  einkernige,  seltener  um  große  gelapptkernige  oder  vielkernige 
Leukocyten,  vereinzelt  um  eosinophile  Zellen  handelt;  auch  Pias- 


476 


IV.  Die  Erkennung  •  des  Irreseins. 


mazellen  kommen  vor.  Endlich  finden  sich  hier  und  da  Gitter- 
zellen, Makrophagen,  in  Rückbildung  und  Zerfall  begriffene  Zellen 
verschiedener  Art.  Starke  Vermehrung  der  Leukocyten  scheint 
auf  entzündliche  Vorgänge  hinzuweisen  (Meningitis).  Da  die  Ent- 
nahme der  Cerebrospinalflüssigkeit  nicht  selten  unangenehme, 
wenn  auch  nicht  gefährliche  Folgeerscheinungen  hat,  die  aller- 
dings bei  der  Paralyse  zu  fehlen  pflegen,  Schwindel,  Übelkeit,  Er- 
brechen, Kopfschmerz,  sollte  sie  niemals  ohne  Einverständnis  der 
Kranken  oder  ihrer  Vertreter  ausgeführt  werden. 

Noch  bedeutungsvoller,  als  die  cytologische  Untersuchung  der 
Cerebrospinalflüssigkeit,  hat  sich  in  jüngster  Zeit  die  serologische 
Prüfung  von  Körperflüssigkeiten  bei  unseren  Kranken  erwiesen. 
Im  Anschlüsse  an  die  Untersuchungen  von  Wassermann, 
Neisser  und  Bruck  über  die  Serodiagnostik  der  Lues  sind  Plaut 
und  Wassermann  1)  daran  gegangen,  im  Blutserum  wie  in  der 
Cerebrospinalflüssigkeit  von  Paralytikern  nach  dem  Vorhandensein 
von  luetischen  Antikörpern  zu  forschen.  Das  von  ihnen  benutzte 
Verfahren  stützt  sich  auf  die  Tatsache,  daß  beim  Zusammen- 
treffen von  luetischem  Antigen  mit  luetischen  Antikörpern  Kom- 
plement gebunden  wird.  Diese  Komplementbindung  zeigt  sich 
darin,  daß  die  Lösung  von  roten  Hammelblutkörpern  durch  das 
inaktivierte  Serum  mit  Hammelblut  vorbehandelter  Kaninchen,  die 
in  Gegenwart  von  freiem  Komplement  erfolgen  würde,  bei  Zusatz 
jener  Mischung  unterbleibt.  Um  daher  in  einer  Flüssigkeit  luetische 
Antikörper  nachzuweisen,  wird  sie  nach  ^/g stündigem  Erhitzen  auf 
56  Grad  zunächst  mit  dem  antigenhaltigen  Auszug  aus  luetischen 
Fötalorganen  (Milz,  Leber)  und  sodann  mit  dem  Komplement, 
frischem  Meerschweinchenserum,  versetzt.  Nach  einstündigem  Ver- 
weilen im  Brutschranke  erfolgt  der  Zusatz  von  Hammelblutkörper- 
chenaufschwemmung nebst  dem  für  deren  Lösung  vorbereiteten 
und  ebenfalls  durch  Erhitzen  von  Komplement  befreiten  Kaninchen- 
serum. Prüft  man  dieses  Gemisch,  nachdem  es  nochmals  zwei 
Stunden  im  Brutschranke  verweilt  hatte,  so  zeigt  sich  bei  geeigneter 
Wahl  der  Verdünnungen,  daß  es  bei  Anwesenheit  von  Antikörpern 
in  der  zu  untersuchenden  Flüssigkeit  wasserhell  geblieben  ist, 
während  die  Hammelblutkörperchen  ungelöst  am  Boden  liegen. 

1)  Piavit,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XXII,  95;  Münch,  med.  Wochenschr., 
1907,  30;  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1908,  289. 


Zustandsuntersuchung. 


477 


Sind  sie  vollkommen  gelöst,  so  enthielt  die  Probe  keine  luetischen 
Antikörper. 

Es  ist  durch  die  Erfahrung,  daß  einerseits  während  des  Schar- 
lach eine  ähnliche  Complementablenkung  auftritt,  ferner,  daß  sie 
nicht  nur  durch  die  Gegenwart  von  luetischem  Antigen,  sondern 
auch  durch  gewisse  normale  Körperbestandteile  (Lecithin)  herbei- 
geführt werden  kann,  zweifelhaft  geworden,  wie  weit  die  Voraus- 
setzungen zutreffen,  auf  denen  das  geschilderte  Verfahren  aufge- 
baut ist.  Dennoch  steht  es  fest,  daß  die  Complementablenkung, 
wenn  man  vom  Scharlach  absieht,  mit  großer  Bestimmtheit  auf 
luetische  Krankheitsvorgänge  hinweist,  auch  wenn  kein  luetisches 
Antigen  verwendet  wurde.  Insbesondere  haben  die  jetzt  schon  in 
großem  Maßstabe  durchgeführten  Untersuchungen  ergeben,  daß  sich 
mit  dem  Blutserum  der  Paralytiker  fast  immer,  mit  der  Cerebrospinal- 
flüssigkeit  sehr  regelmäßig  Complementablenkung  erzielen  läßt, 
während  sie  bei  anderen  luetischen  Erkrankungen,  auch  solchen  des 
zentralen  Nervensystems,  meist  fehlt,  besonders  in  der  Cerebrospinal- 
flüssigkeit;  Neisser  fand  sie  nur  in  ii%  der  Fälle  von  latenter 
tertiärer  Lues.  Ihr  Nachweis  bei  beiden  Körperflüssigkeiten  vermag  so- 
mit nicht  nur  das  Bestehen  einer  Lues  darzutun,  sondern  fällt  auch  für 
die  Annahme  einer  paralytischen  Erkrankung  erheblich  ins  Gewicht. 

Hat  uns  die  körperliche  Untersuchung  gewisse  Anhaltspunkte 
für  die  ursächliche  Auffassung  eines  Falles  oder  Beweise  für  das 
Bestehen  von  Störungen  in  diesen  oder  jenen  Abschnitten  des 
Nervengewebes  zu  liefern,  so  muß  das  eigentliche  Krankheitsbild 
durch  die  Prüfung  der  psychischen  Tätigkeit^)  festgestellt 
werden.  Leider  gehen  die  Hilfsmittel,  die  uns  für  die  Klärung 
dieses  wichtigsten  Teiles  des  Krankheitszustandes  zu  Gebote  stehen, 
bisher  nur  wenig  über  diejenigen  hinaus,  die  uns  die  gewöhnliche 
Lebenserfahrung  an  die  Hand  gibt.  Die  Untersuchung  des  psy- 
chischen Zustandes  liefert  uns  zumeist  keinerlei  Zahl-  und  Maß- 
bestimmungen. Sie  begnügt  sich  vielmehr  mit  der  ursprünglichsten 
Art  der  Beobachtung  und  mit  dem  einfachsten  psychologischen 
Versuche,  der  Stellung  von  Fragen;  sie  hält  sich  in  ihrem  Gange 
nicht  an  einen  vorherbestimmten  Plan,  sondern  sie  schreitet  nach 
Belieben  vom  unmittelbar  Vorliegenden  und  Auffallenden  zum 

1)  Sommer,  Lehrbuch  der  psychopathologischen  Untersuchungsmethoden. 
1899. 


478 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Verborgenen  und  schwerer  Auffindbaren  fort.  Gerade  gewisse 
motorische  Äußerungen  sind  es  daher,  die  zumeist  den  Ausgangs- 
punkt für  die  Untersuchung  zu  bilden  pflegen. 

Aus  der  Körperhaltung,  den  Ausdrucksbewegungen,  den  Ge- 
sichtszügen können  in  der  Regel  schon  von  vornherein  einige 
Aufschlüsse  über  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  (Teil- 
nahmlosigkeit,  Interesse,  Neugier)  und  die  Stimmung  des  Kran- 
ken gewonnen  werden  (Ausgelassenheit,  Zufriedenheit,  Angst, 
Verzweiflung,  Ruhe  oder  Stumpfheit).  Durch  einige  einfache 
Fragen  über  Namen,  Alter,  Vorleben  wird  weiterhin  festgestellt, 
ob  das  Bewußtsein  getrübt  oder  klar,  ob  die  Besonnenheit,  die 
Fähigkeit  der  Auffassung  und  unmittelbaren  Verwertung  von 
Sinneseindrücken,  erhalten  ist.  Zugleich  wird  sich  dabei  auch 
ein  annäherndes  Urteil  über  die  Schnelligkeit  des  Vorstellungs- 
verlaufes sowie  über  das  Gedächtnis  für  die  frühere  Vergangen- 
heit, insbesondere  auch  über  die  Fähigkeit  ergeben,  Zeitangaben 
in  widerspruchslose  Beziehung  zueinander  zu  bringen.  Im  Fort- 
gange unserer  Unterhaltung  werden  wir  festzustellen  suchen,  ob 
die  Erinnerung  an  die  jüngste  Zeit,  die  Orientierung  über  Zeit 
und  augenblickliche  Umgebung  (Aufenthaltsort  wie  Personen) 
und  ob  Krankheitsbewußtsein  oder  gar  Einsicht  vorhan- 
den ist;  wir  gewinnen  dabei  die  Aufklärung,  ob  wir  es  mit  einem 
geordneten  oder  mit  einem  ideenflüchtigen,  zerfahrenen,  deliriösen, 
verwirrten,  umständlichen,  einförmigen  Gedankengange  zu  tun 
haben.  Inzwischen  werden  sich  zumeist  schon  allerlei  weitere 
Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  der  übrigen  psychischen  Lei- 
stungen ergeben  haben,  die  uns  als  Wegweiser  für  die  Auffindung 
weniger  unmittelbar  zutage  tretender  Störungen  dienen  können. 

Nicht  ganz  leicht  ist  es  bisweilen,  über  das  Bestehen  von  Sin- 
nestäuschungen ins  klare  zu  kommen.  Die  einfache  Frage 
über  diesen  Punkt  wird  uns  vielfach  nicht  zum  Ziele  führen,  sei 
es,  daß  sich  dem  Kranken  die  Trugwahrnehmungen  unterschieds- 
los der  sonstigen  Sinneserfahrung  einordnen,  sei  es,  daß  er  aus 
irgendwelchen  Gründen  darüber  eine  mißtrauische  Zurückhaltung 
bewahrt.  Gleichwohl  pflegen  die  Bezeichnungen  ,, Stimmen"  und 
„Bilder"  vom  Halluzinanten  in  der  Regel  sofort  auf  seine  Täu- 
schungen bezogen  zu  werden.  Bisweilen  sind  die  Trugwahrneh- 
mungen trotz  allen  Ableugnens  des  Kranken  mit  ziemlicher  Sicher- 


Zustandsuntersuchung. 

heit  aus  seinem  Benehmen  zu  erschließen,  aus  der  horchenden 
Stellung,  in  der  er  längere  Zeit  verharrt,  grundlosem  Auffahren 
oder  Lachen,  lauten  Selbstgesprächen,  plötzlicher  Gereiztheit  u.  dgl. 
Umgekehrt  ist  aber  die  Gefahr  recht  groß,  zu  der  Annahme  von 
Sinnestäuschungen  zu  kommen,  wo  es  sich  nur  um  eigentümlich 
aufgefaßte  und  wiedergegebene  wirkliche  Wahrnehmungen  han- 
delt. Die  Erfahrung  hat  mir  gezeigt,  daß  Vorsicht  in  dieser  Be- 
ziehung sehr  am  Platze  ist. 

Auch  die  Erkennung  von  Wahnideen  ist  nicht  immer  ganz 
leicht.  Bisweilen  treten  sie  bei  der  Versetzung  in  eine  neue  Um- 
I  gebung  zeitweise  in  den  Hintergrund.  Eine  ganze  Zahl  von  Kran- 
ken pflegt  ferner  ihre  Wahnideen,  namentlich  im  Beginne  der 
Erkrankung  und  vor  Fremden,  sehr  sorgfältig  geheim  zu  halten 
und  jedem  Versuche  tieferen  Eindringens  auszuweichen,  bis  irgend- 
ein Punkt  getroffen  wird,  der  sie  in  Erregung  versetzt,  oder  bis 
es  gelingt,  durch  allerlei  verfängliche  Fragen  eine  Anknüpfung 
zu  finden,  mit  Hilfe  deren  sich  anscheinend  absichtslos  das  Netz 
krankhafter  Vorstellungen  entwickeln  läßt.  Nicht  zu  selten  leitet 
auch  hier  schon  das  äußere  Benehmen  des  Kranken  auf  die  Spur. 
Scheues,  mißtrauisches  Wesen  wird  uns  geheime  Feinde  und  Ver- 
folgungen, schroffes  Zurückweisen  der  Nahrung  Vergiftungsideen 
vermuten  lassen;  eine  gewisse  gespreizte  Selbstgefälligkeit,  die 
sich  bisweilen  schon  in  der  Tracht  ausspricht,  deutet  auf  Größen- 
ideen, während  häufiges  Knien,  Händefalten,  weinerlich  verzagter 
Gesichtsausdruck  das  Bestehen  von  Versündigungswahn  mit  reli- 
giöser Färbung  wahrscheinlich  macht  usf.  Trotz  aller  Mannig- 
faltigkeit im  einzelnen  pflegen  dabei  die  Grundzüge  solcher  Wahn- 
bildungen doch  vielfach  eine  so  weitgehende  Übereinstimmung 
miteinander  aufzuweisen,  daß  ein  erfahrener  Beobachter  auf 
Grund  seiner  aus  Äußerlichkeiten  gezogenen  Schlüsse  dem  ver- 
blüfften Kranken  öfters  mit  überraschender  Schnelligkeit  das  Zu- 
geständnis seiner  krankhaften  Ideen  zu  entwinden  vermag. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  aber  können  dann  erwachsen, 
wenn  der  Inhalt  der  Wahnideen  nicht  ohne  weiteres,  sondern  nur 
auf  Grund  einer  genaueren  Kenntnis  aller  Verhältnisse  als  krank- 
haft erkennbar  ist,  z.  B.  beim  Wahne  rechtlicher  Benachteiligung, 
ehelicher  Untreue.  Hier  kann  vielfach  das  Urteil  erst  nach  län- 
gerer Beobachtung  und  auch  dann  bisweilen  nur  mit  größter  Zu- 


48o 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


rückhaltung  abgegeben  werden.  Zudem  pflegen  gerade  diese 
Kranken  sehr  geschickt  ihre  Wahnideen  zu  verbergen  oder  schein- 
bar vollkommen  zutreffend  zu  begründen.  Andererseits  kann  die 
Erkennung  bestimmter  Wahnideen  auch  dadurch  erschwert  wer- 
den, daß  der  Kranke  benommen,  verwirrt,  ängstlich  und  dadurch 
außerstande  ist,  seine  Gedanken  zusammenhängend  zu  äußern. 
Monate  können  vergehen,  bevor  sich  einigermaßen  klar  erkennen 
läßt,  welche  Vorgänge  sich  in  seinem  Bewußtsein  abspielen.  Wir 
sind  bei  dieser  Beurteilung  ganz  auf  die  nicht  immer  zuverlässige 
Deutung  jener  unwillkürlichen  Äußerungen  angewiesen,  in  denen 
sich  die  Seelenzustände  nach  außen  kundgeben. 

Die  Untersuchung  auf  das  Bestehen  von  Wahnideen  bietet 
gleichzeitig  Gelegenheit,  in  den  Zustand  der  Verstandestätig- 
keit und  des  Gedächtnisses  überhaupt  einige  Einblicke  zu 
gewinnen.  Das  urteilslose  Festhalten  an  widerspruchsvollen  Vor- 
stellungen ohne  gleichzeitige  Bewußtseinstrübung  oder  gemütliche 
Erregung  wird  in  ersterer,  die  Vermischung  von  Erinnerungen 
mit  erfundenen  Einzelheiten  in  letzterer  Hinsicht  zu  verwerten 
sein.  Im  übrigen  müssen  uns  hier  die  Regeln  der  alltäglichen 
Menschenkenntnis  darüber  belehren,  wie  die  allgemeine  geistige 
Veranlagung  und  Leistungsfähigkeit  des  Kranken  beschaffen  ist. 
Unter  Berücksichtigung  seiner  Vergangenheit,  seiner  Erziehung 
und  Bildungsmittel  werden  wir  im  Gespräche  ungefähr  den  Um- 
fang seiner  Kenntnisse,  seines  Gesichtskreises,  seiner  Neigungen 
und  seiner  gegenwärtigen  Urteilsfähigkeit  zu  ermessen  haben.  Na- 
türlich kann  der  so  erreichte  allgemeine  Überblick  die  Gewinnung 
brauchbarer  Gruppen  und  Abstufungen  immer  nur  in  den  aller- 
gröbsten  Umrissen  gestatten.  Die  Lösung  bestimmter  Aufgaben, 
der  Versuch  der  Beschreibung  eines  bis  dahin  unbekannten  Ge- 
genstandes, die  Wiedergabe  einer  gelesenen  oder  gehörten  Ge- 
schichte, die  mündliche  oder  schriftliche  Schilderung  und  Be- 
urteilung der  neuen  Eindrücke  in  der  Anstalt,  der  Inhalt  von  Briefen 
und  sonstigen  Schriftstücken,  die  Ausdauer  bei  einer  bestimmten 
geistigen  Beschäftigung  wird  zur  Krankenuntersuchung  mit  heran- 
zuziehen sein. 

Leider  stößt  eine  tieferdringende  Prüfung  der  Verstandes- 
leistungen unserer  Kranken  zurzeit  noch  auf  Schwierigkeiten,  die 
im  Hinblick  auf  die  Vielseitigkeit  der  Frage  sowie  auf  den  weit- 


Zustandsuntersuchung.  ^gl 

reichenden  Einfluß  der  Erziehung  und  Bildung  kaum  überwind- 
lich  erscheinen.  Vor  allem  macht  sich  der  Umstand  störend  be- 
merkbar, daß  wir  über  das  Verhalten  Gesunder  aus  den  Kreisen 
unserer  Kranken  vielfach  noch  ungemein  wenig  wissen.  In  ganz 
verblüffender  Weise  zeigen  das  die  mehrfach  angestellten  Unter- 
suchungen über  die  Kenntnisse  der  Soldaten i),  die  mit  Hil.fe  be- 
stimmter Fragebogen  durchgeführt  wurden.  Rodenwaldt,  der 
die  Rekruten  eines  schlesischen  Kürassierregiments  ausfragte, 
macht  mit  Recht  auf  den  ganz  unglaublichen  Tiefstand  des  all- 
gemeinen, geschichtlichen,  geographischen,  politischen  Wissens 
aufmerksam,  der  dabei  aufgedeckt  wurde.  Auch  Hermann,  der 
auf  meine  Veranlassung  Münchener  Mannschaften  untersuchte, 
kam  zu  einem  ähnlichen,  wenn  auch  nicht  derart  ungünstigen 
Ergebnisse.  Da  wir  zur  Beurteilung  krankhafter  geistiger  Schwäche- 
zustände in  der  Regel  die  Kenntnisse  wesentlich  mit  heranziehen, 
werden  wir  uns  jeweils  durch  genaue  Berücksichtigung  der  um- 
gebenden gesunden  Bevölkerung  erst  einen  richtigen  Maßstab  zu 
verschaffen  haben,  wenn  wir  nicht  groben  Selbsttäuschungen  unter- 
liegen wollen. 

Man  hat  auch  schon  vielfach  die  Mangelhaftigkeit  unserer 
Prüfung  der  Verstandesleistungen  empfunden  und  auf  verschiedenen 
Wegen  Verbesserungen  angestrebt.  Sommer  hat  dabei  besonderen 
Wert  auf  die  ,, Gleichheit  der  Reize"  gelegt,  indem  er  eine  beschränkte 
Zahl  von  Aufgaben  den  verschiedensten  Kranken  vorführte  und 
andererseits  dies  Verfahren  bei  denselben  Kranken  zu  verschie- 
denen Zeiten  wiederholte.  Diesem  Zwecke  dienten  vorgedruckte 
Fragebogen  mit  verschiedenartigem  Inhalte,  wie  sie  jetzt  in  ähn- 
licher Fassung  vielfach  üblich  sind.  Die  ersten  Fragen  werden 
sich  auf  die  persönlichen  Verhältnisse,  Namen,  Alter,  Stand,  Ge- 
burtsort, Namen  der  Eltern  und  Geschwister  richten.  Sodann 
wird  die  Schulzeit,  Zahl  der  durchgemachten  Klassen,  etwaige 
Wiederholungen,  besonders  schwer  oder  leicht  fallende  Unter- 
richtsfächer, Namen  der  Lehrer,  zu  berücksichtigen  sein,  ferner 
die  Beschäftigung  nach  der  Schule,  die  verschiedenen  Stellungen, 
Eheschließung,  Alter  und  Namen  der  Kinder. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Fragen  soll  über  die  Zeitbegriffe  Aus- 

1)  Rodenwaldt,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVII,  Ergänzungsband,  17;  XIX, 
67;   Schultze  u.  Rühs,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1906,  31. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  3^ 


482 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


kunft  geben.  Hier  wird  nach  Datum,  Wochentag,  Jahreszahl,  nach 
den  Namen  der  Monate  und  Wochentage,  der  Zahl  der  Tage  und 
Wochen  im  Jahr  (Schaltjahr),  der  Stunden  im  Tag,  der  Minuten  in 
der  Stunde,  der  Sekunden  in  der  Minute,  der  Tage  im  Monat  gefragt, 
nach  der  Lage  der  großen  Feste,  der  Ursache  des  Wechsels  von  Tag 
und  Nacht,  dem  Beginn  der  Jahreszeiten,  dem  Verhalten  der  Tages- 
länge in  ihnen.  Daran  schließen  sich  Fragen  darüber,  wie  lange 
der  Kranke  schon  da  ist,  wo  er  sich  vor  acht  Tagen,  vor  einem 
Monate,  vor  einem  Jahre  befunden  habe.  In  ähnlicher  Weise 
werden  die  Raumbegriffe  behandelt.  Der  Kranke  hat  anzugeben, 
in  welcher  Stadt,  in  welchem  Hause  er  sich  befindet,  wo  er  zu- 
letzt wohnte,  welches  die  Himmelsrichtungen  sind  und  wie  man 
sie  findet,  was  ein  Kilometer,  ein  Quadratmeter  ist,  wie  hoch  das 
Zimmer,  wie  lang  ein  Finger  ist;  auch  die  Beschreibung  einiger 
bekannter  Wege  kann  hier  angefügt  werden.  Eine  weitere  Gruppe 
von  Fragen  bezieht  sich  auf  die  Namen  der  Ärzte,  des  Pflegeper- 
sonals, der  Mitkranken,  der  Personen,  die  den  Kranken  begleiteten. 
Dann  folgen  Rechenaufgaben  aus  den  vier  einfachen  Rechnungs- 
arten in  wachsender  Schwierigkeit,  schriftlich  oder  im  Kopfe  zu 
lösen,  ferner  Rechnungen  mit  benannten  Zahlen,  Wochenverdienst 
bei  bestimmtem  Tagesverdienst,  Zinsrechnung,  Umrechnung  in 
fremde  Münzsorten,  Ausrechnung  eines  Kubikinhaltes. 

Der  nächste  Abschnitt  bezieht  sich  auf  die  naturwissenschaft- 
lichen, religiösen,  politischen,  geographischen,  geschichtlichen,  so- 
zialen Kenntnisse,  etwa  nach  folgendem  Muster: 


Was  für  Bäume  gibt's  im  Wald? 

Wie  unterscheiden  sich  Eichen  und 
Tannen  ? 

Woher  kommt  Wolle  und  Baum- 
wolle ? 

Wie  unterscheiden  sich  Pferd  und 

Kuh?  Gans,  Schwan  und  Ente? 
Welche  Säugetiere,  Raubtiere,  Fische 

kennen  Sie? 
Was  ist  ein  Thermometer  und  wie  ist 

es  eingerichtet? 
Warum  schwimmt  Holz  und  sinkt 

Eisen  unter? 
Warum  schwimmt  ein  Schiff  aus 

Eisenblech  ? 


Welche  Gewichte  gibt  es? 

Ist  ein  Pfund  Blei  oder  ein  Pfund  Fe- 
dern schwerer? 

Warum  fließt  das  Wasser  in  einem 
Fluß  und  nicht  in  einem  See? 

Was  für  Religionen  gibt  es  und  wie 
unterscheiden  sie  sich? 

Wie  heißt  der  Papst  ?  Wo  wohnt  er  ? 

Wer  war  Luther? 

Wer  war  Christus? 

Was  bedeutet  Weihnachten,  Ostern, 
Pfingsten,  die  Taufe? 

Wie  heißen  die  Erdteile? 

Welche  Staaten  gibt  es  in  Deutsch- 
land? 


Zustandsuntersuchung. 


483 


Welches  Land  ist  größer,  Preußen 
oder  Bayern,  Sachsen  oder  Würt- 
temberg ? 

Wie  heißt  die  Hauptstadtvon  Deutsch- 
land, Bayern,  Württemberg,  Hes- 
sen, Baden,  Sachsen,  Frankreich, 
England  ? 

Wie  heißen  die  Provinzen  (Kreise) 
unseres  Landes? 

In  welcher  Provinz  (Kreis)  liegt  un- 
sere Stadt? 

An  welchem  Flusse  liegt  unsere  Stadt, 
woher  kommt  und  wohin  fließt  er  ? 

Welches  sind  die  größten  Flüsse  in 
Deutschland  ? 

Nennen  Sie  Städte  in  unserem  Hei- 
matlande und  im  übrigen  Deutsch- 
land? 

Was  ist  ein  Berg,  was  ein  Gebirge? 
Welche  Gebirge  kennen  Sie? 
Können  Sie  eine  Reise  beschreiben, 

die  Sie  gemacht  haben? 
Wie    heißt    der    Landesfürst,  der 

deutsche  Kaiser? 
Wer  regierte  vor  ihnen? 
Seit  wann  besteht  das  Deutsche  Reich? 
Was  war  1870? 

Warm  war  die  Schlacht  bei  Sedan? 
Wer  war  Bismarck? 
Wie  heißt  der  Reichskanzler? 
Von  welchen  Kriegen  wissen  Sie  et- 
was? 

Wann  muß  man  Soldat  werden  und 

wie  lange? 
Welche  Waffengattungen  gibt  es? 


Welchen  Zweck  haben  die  Soldaten? 

Muß  jedermann  Soldat  werden? 

Welchen  Zweck  haben  die  Wahlen? 

Wie  unterscheidet  sich  Reichstags- 
und Landtagswahl? 

Wann  ist  man  wahlberechtigt? 

Welche  Parteien  gibt  es? 

Was  will  das  Zentrum?  die  Sozial- 
demokratie ? 

Wer  gibt  die  Gesetze? 

Was  versteht  man  unter  Obrigkeit? 

Weshalb  wird  man  bestraft? 

Wofür  sind  die  Schutzleute,  die  Ge- 
richte da? 

Welcher  Unterschied  ist  zwischen 
einem  Rechtsanwalt  und  einem 
Staatsanwalt  ? 

Wer  zahlt  Steuern  und  wozu  dienen 
sie? 

Was  sind  Zinsen? 

Welchen  Zweck  haben  die  Invalidi- 
tätskarten ? 

Was  für  Geldsorten  gibt  es? 

Was  ist  ein  Wertpapier  ? 

Welches  ist  das  notwendigste  Metall  ? 

Wieviel  braucht  ein  einzelner  Mensch, 
eine  Familie  von  drei  Köpfen  täg- 
lich zum  Lebensunterhalt? 

Wieviel  brauchen  Sie  jährlich  für 
Ihre  Kleidung? 

Warum  baut  man  in  der  Stadt  grö- 
ßere Häuser  als  auf  dem  Lande? 

Was  ist  ein  Dichter? 

Wer  war  Schiller,  Goethe? 

Was  kennen  Sie  von  ihnen? 


Eine  letzte  kleine  Gruppe  von  Fragen  würde  sich  noch  auf 
den  Bestand  an  sittlichen  Allgemeinvorstellungen  und  Urteilen 
zu  richten  haben: 


Warum  lernt  man? 

Welche  Pflichten  hat  man  gegen 
seine  Eltern,  seine  Mitmenschen? 

Was  ist  der  Zweck  der  Ehe? 

Warum  wird  die  Unzucht  mit  Kin- 
dern bestraft? 


Was  würden  Sie  tun,  wenn  Sie  500 
Mark  fänden?  das  große  Los  ge- 
wönnen ? 

Warum  muß  man  den  Gesetzen  ge- 
horchen ? 
Was  ist  ein  Meineid? 

31* 


484 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Unter  welchen  Umständen  ist  man 
glücklich  ?  unglücklich  ? 

Wie  denken  Sie  sich  Ihre  Zukunft? 

Was  ist  Treue?  Frömmigkeit?  Be- 
scheidenheit ? 


Was  ist  der  Unterschied  zwischen 
Haß  und  Neid  ?  zwischen  Geiz  und 
Sparsamkeit  ? 

Was  ist  das  Gegenteil  von  Tapfer- 
keit? 


Selbstverständlich  kann  man  diese  Fragen  in  der  mannigfachsten 
Weise  abändern  und  ergänzen.  Ihre  Beantwortung  liefert  uns  ein- 
mal einen  Einblick  in  die  Kenntnisse  des  Kranken,  an  vielen  Punkten 
aber  auch  in  seine  Urteilsfähigkeit.  Von  besonderem  Werte  kann 
es  sein,  dieselben  Fragen  zu  verschiedenen  Zeiten  beantworten  zu 
lassen;  in  den  Ergebnissen  läßt  sich  dann  unter  Umständen  sehr 
deutlich  der  Verlauf  der  Krankheit  mit  seinen  Verschlimmerungen, 
Besserungen  oder  periodischen  Schwankungen  verfolgen. 

Einen  etwas  anderen  Weg  hat  Möller^)  eingeschlagen.  Ihm 
kam  es  hauptsächlich  auf  die  Untersuchung  Schwachsinniger  an, 
bei  denen  er  einmal  den  Umfang  des  gedächtnismäßig  festgehaltenen 
Vorstellungsschatzes,  sodann  aber  die  Fähigkeit  zu  geistiger  Ver- 
arbeitung prüfen  wollte.  Für  den  ersten  Zweck  entwarf  er  ebenfalls 
Fragebogen,  die  indessen  jedem  einzelnen  Falle  angepaßt  und  dem- 
gemäß sehr  umfangreich  waren.  In  ihnen  wurden  die  besonderen 
Lebensverhältnisse  des  einzelnen,  der  Lernstoff  der  von  ihm  be- 
suchten Schulklassen,  die  Erwerbs-  und  Berufstätigkeit  eingehend 
berücksichtigt.  Dadurch  ist  der  Einblick  in  den  Gedächtnisstoff 
ungleich  vollständiger  geworden,  die  Vergleichung  verschiedener 
Personen  aber  sehr  erschwert.  Als  Maßstab  für  die  Verstandes- 
fähigkeit benutzte  Möller  die  ,, Fabelmethode",  das  heißt,  er  er- 
zählte seinen  Kranken  einfache  Fabeln  von  abgestufter  Schwierig- 
keit und  forderte  die  Ableitung  der  Nutzanwendung  aus  ihnen,  die 
Auffindung  einer  passenden  Überschrift  und  womöglich  die  Angabe 
eines  Sprichwortes  mit  ähnlicher  Lehre.  Ohne  Zweifel  ist  dieses 
Verfahren  geeignet,  eine  gute  Vorstellung  von  dem  Urteile  und 
Schlußvermögen  zu  liefern,  doch  stößt  auch  hier  der  Vergleich  auf 
erhebliche  Schwierigkeiten.  Finkh^)  benutzte  zu  ähnHchem Zwecke 


1)  Möller,  Über  Intelligenzprüfungen,  ein  Beitrag  zur  Diagnostik  des  Schwach- 
sinns. Diss.  1897;   Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXIV,  284. 

2)  Finkh,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1906,  945;  Weck,  Die  Intelligenz- 
prüfung nach  der  Ebbinghausschen  Methode.  Diss.  1905;  Ganter,  Arch.  f. 
Psychiatrie,  LXIV,  957. 


Zustandsuntersuchung.  ^g^ 

Sprichwörter,  die  erläutert  und  begründet  werden  mußten.  Er  ließ 
Beispiele  aufsuchen,  womöglich  aus  der  eigenen  Erfahrung,  Nutz- 
anwendungen auf  Verhältnisse  des  täglichen  Lebens,  andere  Sprich- 
wörter mit  entsprechendem  oder  widersprechendem  Inhalt,  deren 
Gültigkeit  beurteilt  und  abgewogen  werden  sollte.  Auch  dieses  Ver- 
fahren eröffnet  Einblicke  in  die  wirkliche  geistige  Leistungsfähigkeit, 
im  Gegensatze  zu  den  angelernten  Kenntnissen. 

Noch  andere  Hilfsmittel  hat  Henneberg  herangezogen.  Zu- 
nächst verwendete  er  das  von  Ebbinghaus  angegebene  und  auch 
von  We  c  k  benutzte  Verfahren,  in  Lesestücken  einzelne  ausgelassene 
Silben  oder  Wörter  nach  dem  Zusammenhange  ergänzen  zu  lassen. 
Um  sich  der  Ausdrucksweise  und  dem  Gesichtskreise  der  Unter- 
suchten nach  Möglichkeit  anzupassen,  legte  er  Briefe  von  Kranken 
zugrunde,  in  denen  anfangs  leichte,  dann  schrittweise  schwerere 
Ergänzungen  auszuführen  waren.  Damit  verwandt  ist  die  Aufgabe, 
aus  einigen  gegebenen  Wörtern  einen  sinnvollen  Satz  zu  bilden. 
Sodann  prüfte  er  die  Fähigkeit,  verwickelte  Bilder  (Ansichtskarten, 
Bilderbogen)  aufzufassen,  namentlich  aber  den  Zusammenhang 
fortlaufender  Situationsbilder  (Geschichten  von  Wilhelm  Busch) 
zu  verstehen;  ähnlich  verfuhr  Bernstein.  Auch  die  Prüfung  des 
Verständnisses  für  witzige  Beziehungen,  komische  Lebenslagen 
dürfte  sich  zur  Gewinnung  eines  Urteils  über  die  geistigen  Fähig- 
keiten heranziehen  lassen,  wie  es  von  Ganter  versucht  worden  ist. 

Das  Bedürfnis,  die  Erscheinungen  der  Aphasie  und  Apraxie 
genauer  zu  zergliedern,  hat  vielfach  zur  Aufstellung  bestimmter 
Untersuchungspläne  geführt.  Vorbildlich  ist  hier  die  Aufnahme  des 
geistigen  Besitzstandes  durch  Riege.r'^)  gewesen,  der  bei  einem 
Kranken  mit  schwerer  Hirnverletzung  auf  das  sorgfältigste  den 
Umfang  des  Vorstellungsschatzes  und  der  Verstandesleistungen 
bestimmte.  Ist  die  von  ihm  durchgeführte  Prüfung  auch  zunächst 
für  die  Aufdeckung  der  durch  gröbere  Hirnerkrankungen  bedingten 
Lücken  geeignet,  so  wird  sie  sich  doch  ohne  Zweifel  auch  auf  eine 
Reihe  von  anderen  Formen  geistiger  Störung,  namentlich  von 
Schwächezuständen,  übertragen  lassen.  Dabei  wird  sich  voraus- 
sichtlich allmählich  das  besonders  Wichtige  von  dem  weniger 

^)  Rieger,  Beschreibung  der  Intelligenzstörungen  infolge  einer  Hirnverletzung, 
nebst  einem  Entwurf  zu  einer  allgemein  anwendbaren  Methode  der  Intelligenz- 
prüfung. 1889. 


486 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Bedeutsamen  abscheiden  und  damit  das  jetzt  noch  ungemein 
mühsame  und  zeitraubende  Verfahren  praktisch  verwendbarer 
werden. 

Als  äußerst  unvollkommen  muß  unsere  ärztliche  Prüfung  der 
Gefühle,  Gemütsbewegungen  und  Strebungen  bezeichnet 
werden.  Was  wir  bei  der  einmaligen  Untersuchung  auf  diesen 
Gebieten  überhaupt  zu  erkennen  vermögen,  zeigt  sich  meist  bereits 
bei  der  äußeren  Betrachtung,  in  den  Ausdrucksbewegungen.  In 
ihnen  offenbaren  sich  die  gehobene  Stimmung,  der  Betätigungsdrang 
und  die  Redelust  der  manischen,  die  Unruhe  und  Angst  der  deliriösen 
oder  depressiven,  der  Bewegungsdrang,  die  Manieren  und  Stereo- 
typien der  katatonischen,  die  Empfindlichkeit  und  Unstetigkeit  der 
hysterischen  Kranken.  Auch  über  die  Herabsetzung  oder  Steigerung 
der  psychomotorischen  Erregbarkeit,  die  Hemmung,  die  Sperrung 
und  die  Entgleisungen  des  Willens  werden  sich  bei  der  Beobachtung 
der  Kranken  allmählich  mehr  oder  weniger  klare  Aufschlüsse 
gewinnen  lassen.  Bei  dem  Versuche  körperlicher  oder  psychischer 
Einwirkung  zeigt  sich  die  wächserne  Biegsamkeit,  der  Negativismus, 
das  ängstliche  Widerstreben,  die  Unlenksamkeit,  der  Eigensinn,  die 
Bestimmbarkeit.  Über  diese  Erfahrungen  hinaus  sind  wir  wesentlich 
auf  die  nicht  mmer  ganz  zuverlässigen  Selbstschilderungen  ange- 
wiesen, die  uns  von  dem  Zustande  des  eigenen  Innern  entworfen 
werden.  Natürlich  vermag  uns  aber  der  Verlauf  der  Untersuchung 
über  die  größere  oder  geringere  gemütliche  Reizbarkeit,  über  Gleich- 
mäßigkeit öder  häufigen  Wechsel  der  Stimmung,  endlich  über  auf- 
fallende Gefühlsäußerungen  nach  bestimmten  Richtungen  hin, 
grundlosen  Haß,  religiöse  Schwärmerei,  überschwängliches  Glücks- 
gefühl, Gleichgültigkeit,  Stumpfheit  mannigfache  gewichtige  Auf- 
schlüsse zu  liefern.  Auf  etwa  vorhandene  krankhafte  Neigungen, 
Selbstmorddrang,  gesteigerte  geschlechtliche  Begierde,  Sucht  zu 
kaufen,  zu  trinken,  werden  wir  ebenfalls  bei  unserer  Prüfung 
Rücksicht  nehmen  müssen.  Was  sich  aber  hier  nicht  schon  unwill- 
kürlich im  gesamten  Benehmen  verrät,  werden  wir  häufig  genug 
durch  Ausfragen  der  Kranken  auch  nicht  erfahren;  wir  müssen 
daher  zur  Vervollständigung  unseres  Bildes  nach  dieser  Richtung 
hin  die  Berichte  der  Umgebung  mit  zu  Hilfe  nehmen. 

Es  wird  kaum  in  Abrede  gestellt  werden  können,  daß  für  die 
wissenschaftliche  Betrachtung  und  auch  im  Vergleiche  mit  anderen 


Zustandsuntersuchung. 


487 


medizinischen  Gebieten  das  Verfahren,  nach  dem  wir  den  Seelen- 
zustand  unserer  Kranken  feststellen,  ein  recht  rohes  genannt  werden 
muß ;  es  hat  fast  mehr  Ähnlichkeit  mit  dem  Vorgehen  des  Unter- 
suchungsrichters, als  mit  einer  naturwissenschaftlichen  Erforschung. 
Leider  ist  es  weniger  schwer,  diesen  Mangel  zu  erkennen,  als  ihm 
abzuhelfen.  Nicht  nur  setzt  das  Gebiet  der  psychischen  Vorgänge 
an  sich  der  Einführung  wirklich  zuverlässiger  Beobachtungshilfs- 
mittel den  größten  Widerstand  entgegen,  der  nur  allmählich  über- 
wunden werden  kann,  sondern  es  ist  auch  nur  allzu  häufig  gar  nicht 
möglich,  einen  Geisteskranken  der  Reihe  nach  planmäßig  allen  den 
Prüfungen  zu  unterwerfen,  die  man  etwa  für  wünschenswert  er- 
achtet. Oft  genug  ist  unsere  Versuchsperson  eine  widerwillige, 
unzugängliche  oder  fast  unverständliche,  so  daß  selbst  ein  ungefähres 
Eindringen  in  ihre  Eigenart  nur  durch  sehr  große  Geduld,  feinfühliges 
Geschick  und  genaue  Vertrautheit  mit  allen  den  mannigfachen  Er- 
scheinungsformen erreicht  werden  kann,  in  denen  sich  krankhafte 
Vorgänge  zu  offenbaren  pflegen. 

Die  mit  den  gewöhnlichen  Hilfsmitteln  erreichbaren  Ergebnisse 
leiden  alle  an  dem  wesentlichen  Nachteile,  daß  die  erhobenen  Be- 
funde vieldeutig  sind,  und  daß  sie  keine  zuverlässigen  Maßbestim- 
mungen gestatten.  Die  gleichen,  dem  Beobachter  vorliegenden 
klinischen  Äußerungen  können  eine  ganz  verschiedene  psycho- 
logische Entstehungsgeschichte  und  Bedeutung  haben;  die  unter- 
suchten Leistungen  sind  so  verwickelte  und  mannigfaltige,  daß  eine 
einfache  zahlenmäßige  Behandlung  unmöglich  wird.  Es  drängt  sich 
unter  diesen  Umständen  ganz  von  selbst  die  Forderung  auf,  diejenigen 
Verfahren  für  die  psychiatrische  Untersuchung  nutzbar  zu  machen, 
die  von  der  Psychologie  zur  feineren  Zergliederung  der  Seelenvor- 
gänge und  zur  Gewinnung  genauer,  vergleichbarer  Zahlenwerte 
ausgebildet  worden  sind.  Allerdings  wird  sich  aus  naheliegenden 
Gründen  die  Durchführung  zuverlässiger  psychologischer  Versuchs- 
reihen bei  Geisteskranken  nur  in  beschränkterem  Umfange  er- 
möglichen lassen.  Trotzdem  oder  vielmehr  gerade  deswegen  will 
ich  es  nicht  unterlassen,  hier,  wenn  auch  nur  in  kurzen  Andeutungen, 
auf  einige  der  Wege  hinzuweisen,  die  uns  in  absehbarer  Zeit  voraus- 
sichtlich gestatten  werden,  wenigstens  bei  manchen  chronischer 
verlaufenden  Formen  des  Irreseins  Messung  und  Zählung  psychischer 
Größen  zur  Gewinnung  eines  tieferen  Einblickes  in  die  Art  der 


488 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Störungen  zu  verwerten.  Alle  diese  Wege  sind  bereits  betreten  und 
praktisch  erprobt  worden 

Als  Gang  für  eine  feinere  psychische  Untersuchung  würde  sich 
im  allgemeinen  die  Verfolgung  jener  Bahn  empfehlen,  die  unsere 
gesamte  Erfahrung  gegangen  ist.  Zuerst  wären  somit  der  Wahr- 
nehmungsvorgang, das  Gedächtnis,  dann  die  Verbindungen  der 
Vorstellungen,  Urteile  und  Schlüsse,  das  Selbstbewußtsein,  kurz 
die  Verstandestätigkeit,  endlich  die  niederen  und  höheren  Gefühle, 
die  Stimmung,  die  Gemütsbewegungen  und  deren  Umsetzung  in 
unwillkürliches  und  willkürliches  Handeln  zu  berücksichtigen.  Von 
allen  diesen  Abschnitten  sind  es  nur  einige  wenige,  die  für  jetzt  einer 
genaueren  Prüfung  bei  Geisteskranken  zugänglich  erscheinen;  sie 
liegen  fast  sämtlich  auf  dem  Gebiete  der  Verstandesleistungen. 

Für  die  Lösung  der  hier  gestellten  Aufgaben  wird  es  notwendig 
sein,  vor  allem  die  Untersuchung  so  zu  gestalten,  daß  sie  mit  mög- 
lichst einfachen  Hilfsmitteln  durchgeführt  werden  kann,  und  daß 
sie  recht  geringe  Anforderungen  an  die  Mitwirkung  der  Versuchs- 
person stellt.  Die  Vereinigung  dieser  Bedingungen  mit  dem  Streben 
nach  genauen,  zahlenmäßigen  Ergebnissen  erscheint  fast  unmöglich, 
doch  läßt  sich  ein  großer  Teil  der  entgegenstehenden  Schwierig- 
keiten sicherlich  überwinden.  Für  manche  Zwecke  freilich  ver- 
mögen wir  heute  die  Anwendung  feinerer  und  schwieriger  zu  hand- 
habender Werkzeuge  noch  nicht  zu  entbehren;  ebensowenig  wird 
man  erwarten  können,  daß  sich  alle  oder  doch  viele  Geisteskranke 
zu  eindringenderen  Untersuchungen  ihres  Seelenlebens  werden 
heranziehen  lassen.  Immerhin  kann  man  auch  so  eine  Fülle  von 
neuen  Tatsachen  gewinnen,  deren  Kenntnis  weiterhin  auch  dort 
das  Verständnis  erleichtern  wird,  wo  die  unmittelbare  Unter- 
suchung nicht  durchführbar  erscheint. 

Man  hat  vielfach  den  Versuch  gemacht,  von  Gesunden  und  auch 
von  Kranken  gewissermaßen  ein  ,, geistiges  Inventar"  aufzunehmen, 
indem  man  sie  nach  bestimmtem  Plane  den  verschiedensten 
Prüfungen  unterwarf,  deren  Ausfall  ein  möglichst  umfassendes  und 


1)  Kraepelin,  Der  psychologische  Versuch  in  der  Psychiatrie,  Psycho- 
logische Arbeiten,  I,  i,  1895.  Eine  Reihe  von  weiteren  Arbeiten  über  diese  Fragen 
enthalten  die  folgenden  Hefte;  Weygandt,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  XXVI,  i,  29, 
1903;  Toulouse,  Vaschide  et  Pieron,  Technique  de  psychologie  experimentale. 
1904. 


Zustandsuntersuchung. 


489 


allseitiges  Bild  von  dem  Verhalten  der  geistigen  Persönlichkeit  ver- 
mitteln sollte.  Grundsätzlich  läßt  sich  ein  solches  Verfahren  natürlich 
denken.  Wer  jedoch  einmal  den  Versuch  gemacht  hat,  Art  und  Um- 
fang der  Leistungen  auf  irgendeinem  beschränkten  Gebiete  des  Seelen- 
lebens für  eine  Person  genau  festzustellen,  der  erkennt  bald,  daß  schon 
die  Lösung  dieser  umgrenzten  Aufgabe  einen  außerordentlichen  Auf- 
wand von  Zeit  und  Mühe  erfordert.  Die  einzelnen  Messungswerte 
werden  in  so  hohem  Grade  durch  zufällige  Fehler,  Verschiedenheiten 
der  Tagesdisposition,  Aufmerksamkeitsschwankungen,  Übung,  Ge- 
wöhnung und  Ermüdung  beherrscht,  daß  nur  durch  bedeutende 
Häufung  der  Beobachtungen  unter  sorgfältigster  Berücksichtigung 
aller  Fehlerquellen  zuverlässige  Ergebnisse  zu  erzielen  sind.  Ein- 
zelne, durch  ,, Stichproben"  gewonnene  Zahlen  sind  daher  völlig 
wertlos.  Zudem  sind  die  meisten  unserer  Untersuchungsverfahren 
noch  so  wenig  durchgearbeitet  und  erprobt,  daß  wir  nur  einen  sehr 
ungenügenden  Einblick  in  die  Bedeutung  ihrer  Ergebnisse  besitzen. 
Aus  allen  diesen  Gründen  erscheint  es  heute  ebenso  zwecklos  wie 
undurchführbar,  eine  allseitige  Untersuchung  der  Seeleneigenschaften 
eines  Kranken  mit  Hilfe  von  Maßbestimmungen  zu  unternehmen. 
Die  durch  Stichproben  gewonnenen  Einzelwerte,  die  ,, Mental  tests", 
auf  deren  Ausklügelung  man  schon  viel  Scharfsinn  verwendet  hat, 
vermögen  uns  durchaus  kein  Bild  von  den  wirklichen  Verhältnissen 
zu  geben.  Die  feinere  psychologische  Untersuchung  wird  sich  daher 
vorderhand,  und  voraussichtlich  noch  auf  lange  Zeit  hinaus,  darauf 
beschränken  müssen,  an  ausgewählten  Gruppen  von  Kranken  ge- 
wissen Einzelfragen  mit  Hilfe  möglichst  sorgsamer  und  zahlreicher 
Beobachtungen  nachzugehen;  auch  so  wird  es  ihr  an  Arbeitsstoff 
nicht  fehlen. 

Die  nächstliegende  geistige  Leistung,  mit  der  wir  uns  zu  be- 
schäftigen hätten,  ist  die  Auffassung  äußerer  Eindrücke. 
Zur  Prüfung  dieses  Vorganges  haben  wir  uns  mit  gutem  Erfolge 
großer,  mit  Wörtern  oder  sinnlosen  Silben  beklebter  Trommeln 
bedient,  die  sich  mit  gleichmäßiger  Geschwindigkeit  vor  einem  engen 
Spalte  um  ihre  Achse  drehten.  Bei  einer  bestimmten  Drehungs- 
geschwindigkeit ist  man  gerade  noch  imstande,  durch  den  Spalt  eine 
Anzahl  der  vorüberziehenden  Eindrücke  zu  erkennen,  während  bei 
längerer  Dauer  der  Leseübung  die  einzelnen  Wörter  allmählich  ver- 
schwimmen oder  falsch  aufgefaßt  werden.  Man  kann  demnach  auf 


490 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


diese  Weise  nicht  nur  ein  Maß  für  die  Auffassungsgeschwindigkeit 
finden,  sondern  namentlich  auch  einen  Einblick  in  die  Art  der 
begangenen  Fehler  gewinnen.  Die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß  gerade 
diese  letzteren  uns  vielfache  Aufschlüsse  geben,  über  die  Größe  des 
inneren  Blickfeldes,  über  die  Zuverlässigkeit  der  Auffassung,  die 
Neigung  zu  willkürlicher  Ergänzung  und  zu  kritischer  Sichtung  der 
Wahrnehmungen,  über  die  Rolle  der  Gesichtsbilder  und  der  Be- 
wegungsempfindungen in  den  Sprachvorstellungen.  Auch  die  Ver- 
hältnisse der  Übung  und  Ermüdung  auf  dem  Gebiete  der  Wahr- 
nehmung können  nach  dem  angegebenen  Verfahren  festgestellt 
werden. 

Einen  ähnlichen  Weg  hat  Ranschburg^)  eingeschlagen,  der 
strahlenförmig  mit  Reizen  verschiedener  Art  bedruckte  Scheiben  in 
bestimmbarem  Zeitmaße  hinter  einer  mit  Ausschnitt  versehenen 
Platte  sich  drehen  ließ;  die  ruckende  Bewegung  konnte  durch  die 
Schläge  eines  Metronoms  geregelt  und  abgeändert  werden;  ein 
elektrischer  Strom  gestattete,  das  Werk  nach  Belieben  in  Gang  zu 
setzen  und  anzuhalten.  Die  ganze  Einrichtung  eignet  sich  vortreff- 
lich zur  Ausführung  von  Auffassungs-  und  Einprägungsversuchen, 
bei  denen  Umfang  und  Zuverlässigkeit  dieser  Leistungen  festgestellt 
werden  kann.  Auch  Zeitmessungen  lassen  sich  leicht  mit  diesen 
Prüfungen  verbinden.  Für  die  gleichen  Zwecke  können  natürlich 
auch  beliebige  andere  tachistoskopische  Einrichtungen  verwendet 
werden,  das  Falltachistoskop ,  das  Spiegeltachistoskop  oder  das 
Pendeltachistoskop,  das  den  Vorteil  bietet,  die  Reize  nach  Belieben 
von  rechts  oder  von  links  her,  in  der  Richtung  des  Lesens  oder 
umgekehrt,  erscheinen  zu  lassen. 

Für  die  Untersuchung  am  Krankenbette  haben  wir  in  den  letzten 
Jahren  eine  Platte  mit  veränderlichem  Spalte  benutzt,  die  mit  Hilfe 
einer  Feder  vor  den  Gesichtsreizen  (Zahlen,  Buchstabengruppen, 
Silben,  Wörter,  Bilder)  vorbeigeschnellt  wurde.  Die  Anzahl  der 
erkannten  Reize  gibt  ein  Maß  für  die  Auf f assungsfähigkeit ;  die 
Fehler  sind  in  ähnlicher  Weise  zu  verwerten  wie  bei  den  früher 
angeführten  Verfahren.  Will  man  längere  Expositionszeiten  ver- 
wenden, was  für  das  Arbeiten  mit  Kranken  und  insbesondere  für 
Merkversuche  zweckmäßig  erscheint,  so  kann  man  sich  eines  der 


)  Ranschburg,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  X,  321,  1901. 


Zustandsuntersuchung. 


491 


photographischen  Verschlüsse  mit  abstufbaren  Zeiten  bedienen ;  wir 
besitzen  auch  eine  nach  dem  Muster  der  Kartenautomaten  gebaute 
Einrichtung,  bei  der  die  sichtbar  gewordenen  Täfelchen  nach  abmeß- 
barer Zeit  durch  ein  vorschießendes  Plättchen  wieder  verdeckt  werden. 

Noch  einfacher  sind  die  von  Bonhöf  f  er  bei  Deliranten  benutzten 
Hilfsmittel,  die  sich  an  die  gewöhnliche  neurologische  Untersuchung 
anlehnen,  Prüfung  der  Berührungs-  und  Schmerzempfindlichkeit  mit 
Hilfe  von  Nadeln,  des  Gehörs  durch  Flüsterstimme,  des  Gesichts 
durch  Schriftproben  und  Perimeter,  der  Farbenwahrnehmung  durch 
Wollproben  und  gefärbte  Quadrate,  des  Ortssinnes  der  Haut  mit  dem 
Zirkel.  Das  Vorlegen  von  einfachen  und  verwickeiteren  Bildern 
gewährt  Einblick  in  die  weitere  geistige  Verarbeitung  der  Wahr- 
nehmungen und  deckt  unter  Umständen  auch  das  Vorkommen  von 
illusionären  Vorgängen  auf.  Bei  schweren  Auffassungsstörungen 
kann  das  Erkennen  der  Zahl  rasch  vorgehaltener  Finger,  die  Zählung 
schnell  aufeinander  folgender  Klopfgeräusche  als  Aufgabe  für  den 
Kranken  gewählt  werden. 

Um  die  Abhängigkeit  einer  verwickeiteren  Auffassungsleistung 
von  der  Zahl  der  dargebotenen  Einzelheiten  zu  untersuchen,  hat 
Heilbronner^)  Reihen  von  Täf eichen  gezeichnet,  auf  denen 
einzelne  Gegenstände,  eine  Kanone,  eine  Kirche,  ein  Fisch  oder 
Schubkarren,  zunächst  mit  wenigen  Strichen  angedeutet  und  dann 
schrittweise  durch  immer  mehr  Einzelheiten  deutlicher  gemacht 
werden.  Es  wird  untersucht,  bei  welcher  Vervollkommnung  des 
Bildes  dessen  Bedeutung  erkannt  wird.  Wenn  auch  bei  der  Un- 
gleichwertigkeit  der  einzelnen  Zutaten  eine  eigentliche  Messung 
mit  diesem  Verfahren  nicht  möglich  ist,  so  gibt  es  doch  wertvolle 
Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  der  ,, Kombinationsfähigkeit". 
Man  wird  auseinanderhalten  können,  wie  weit  die  Kranken  imstande 
sind,  aus  den  dargebotenen  Einzelheiten  das  Fehlende  zu  ergänzen; 
auch  die  allgemeine  Neigung  zur  Gewinnung  eines  Gesamteindruckes 
und  zur  Deutung  des  Unsicheren  oder  zum  Kleben  an  möglichst 
genau  aufgefaßten  Einzelheiten  wird  bei  den  Versuchen  hervor- 
treten. 

Auch  bei  den  sogenannten  psychischen  Zeitmessungen 
spielt  der  Wahrnehmungsvorgang  eine  wesentliche  Rolle.  Das  Ver- 
fahren bei  solchen  Messungen,  für  die  das  Hippsche  Chronoskop  ein 

1)  Heilbronner,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XVII,  165. 


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IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


unvergleichlich  bequemes  und  zuverlässiges  Hilfsmittel  darstellt,  ist 
nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  auf  das  sorgfältigste 
durchgearbeitet,  so  daß  sie  in  der  Hand  des  Erfahrenen  eine  sehr 
wertvolle  Bereicherung  unseres  wissenschaftlichen  Rüstzeuges 
bilden.  Leider  sind  allerdings  viele  der  bisher  veröffentlichten  Ver- 
suche an  Geisteskranken  wegen  mangelhafter  Anordnung  voll- 
kommen wertlos.  Dagegen  haben  mir  zahllose  bei  uns  ausgeführte 
Messungen  gezeigt,  daß  sich  auch  bei  Geisteskranken  ohne  nennens- 
werte Schwierigkeit  auf  diesem  Wege  wichtige  Ergebnisse  erzielen 
lassen.  Man  kann  so  z.  B.  die  Auffassungszeit  für  zugerufene  oder 
gelesene  Worte  und  Buchstaben,  für  Farben  und  einfache  Formen 
bestimmen. 

Bei  allen  Auffassungsversuchen  wird  das  Ergebnis  sehr  wesent- 
lich durch  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  beeinflußt.  Die 
Schwankungen  der  gewonnenen  Werte  geben  daher  auch  ein 
gewisses  Maß  für  die  größere  oder  geringere  Gleichmäßigkeit  der 
Aufmerksamkeitsspannung.  Genauer  lassen  sich  diese  bei  fort- 
laufender geistiger  Arbeit  (Addieren)  mit  Hilfe  einer  kleinen  Schreib- 
feder verfolgen,  die  beim  Unterstreichen  jeder  addierten  Zahl  einen 
elektrischen  Strom  schließt  und  auf  diese  Weise  die  Dauer  jeder 
einzelnen  Rechnung  aufzuzeichnen  gestattet.  Wir  erhalten  so  ein 
genaues  Bild  von  den  Schwankungen  in  der  Rechengeschwindigkeit, 
namentlich  auch,  wie  sich  herausgestellt  hat,  von  dem  Einflüsse, 
den  das  Eingreifen  des  Willens  auf  die  Lösung  der  Aufgabe  ausübt. 
Für  gröbere  Prüfungen  hat  sich  ebenfalls  das  fortlaufende  Addieren 
oder  Subtrahieren  derselben  Zahl  zweckmäßig  erwiesen.  Läßt  man 
z.  B.  von  100  fortlaufend  7  abziehen,  so  gewähren  die  Schwankungen 
in  der  Geschwindigkeit  und  besonders  die  Entgleisungen  ein  gutes 
Bild  von  der  Stetigkeit  der  Aufmerksamkeitsspannung.  Durch  will- 
kürlich hineingetragene  Störungen  kann  man  zugleich  ein  Urteil 
über  die  äußere  Ablenkbarkeit  gewinnen. 

Die  Untersuchung  des  Gedächtnisses  hat  sich  einmal  auf  die 
Festigkeit  zu  erstrecken,  mit  welcher  früher  erworbene  Vorstellungen 
in  unserem  Innern  haften,  dann  aber  auf  die  Fähigkeit,  jetzt 
noch  neue  Vorstellungen  aufzunehmen  und  aufzubewahren.  Auf 
Störungen  in  der  ersteren  Richtung  pflegen  wir  gewöhnlich  zu 
fahnden  durch  die  Frage  nach  gewissen,  als  selbstverständlich 
vorausgesetzten  Kenntnissen,  seien  es  persönliche  Erlebnisse,  seien 


Zustandsuntersuchung. 

es  anderweitig  erlernte  Vorstellungsreihen,  namentlich  die  Rech- 
nungsarten. Man  kann  hier  durch  reihenartig  fortlaufende,  plan- 
mäßige Rechenversuche  ein  Maß  für  die  Leichtigkeit  gewinnen,  mit 
welcher  der  Kranke  noch  über  die  in  der  Kindheit  erlernten  einfachen 
Zahlenverbindungen  verfügt.  Ich  bediene  mich  seit  vielen  Jahren 
zu  diesem  Zwecke  des  fortlaufenden  Addierens  einstelliger  Zahlen 
in  besonders  dazu  gedruckten  Heften.  In  regelmäßigen  kürzeren 
Pausen  wird  auf  ein  Glockenzeichen  durch  einen  Strich  das  bis 
dahin  Gearbeitete  abgegrenzt,  so  daß  die  Größe  der  Leistung  in  den 
einzelnen  Zeitabschnitten  unmittelbar  aus  der  Menge  der  addierten 
Zahlen  erkannt  werden  kann.  Am  Krankenbette  wird  man  kürzere 
derartige  Reihen,  z.  B.  das  fortlaufende  Addieren  oder  Subtrahieren 
von  3,  7,  12,  ausführen  lassen  und  die  Zeiten  mit  einer  Sportuhr 
messen  können. 

Auf  ganz  ähnliche  Weise  läßt  sich  die  augenblickliche  Auf- 
nahmefähigkeit des  Gedächtnisses,  die  ,,Merkf ähigkeit" ,  durch 
Auswendiglernen  langer  Zahlen-  oder  sinnloser  Silbenreihen  ohne 
erhebliche  Schwierigkeit  prüfen.  Dabei  ergibt  sich,  daß  verschiedene 
Personen  die  zu  lernenden  Reihen  mit  persönlich  bestimmter,  aber 
sehr  verschiedener  Geschwindigkeit  aufsagen.  Wahrscheinlich 
handelt  es  sich  hier  um  Abweichungen  in  der  Art  des  Lernens. 
Berücksichtigt  man,  daß  sich  beim  Lernen  einer  Zahlenreihe  die 
Auffassung  des  Sinneseindruckes  mit  dem  Aussprechen  der  Bezeich- 
nungen verbindet,  so  liegt  die  noch  durch  allerlei  andere  Beob- 
achtungen gestützte  Annahme  nahe,  daß  sich  bei  langsamem  Her- 
sagen die  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  auf  das  Gesichtsbild  und 
vielleicht  auch  das  assoziativ  auftauchende  Klangbild,  bei  schnellem 
Hersagen  dagegen  besonders  auf  die  Sprachbewegungsvorstellungen 
richtet.  Erstere  werden  bei  langsamer  Einprägung,  letztere  bei 
häufiger  Wiederholung  besser  in  unserem  Gedächtnisse  befestigt. 
Die  Geschwindigkeit  des  Hersagens  gestattet  demnach  einen  Schluß 
auf  die  gewohnheitsmäßige  Bevorzugung  dieser  oder  jener  Seite 
unserer  Vorstellungen,  zunächst  bei  der  vorliegenden  Arbeits- 
leistung. Es  ist  indessen  nicht  unwahrscheinlich,  daß  diesen  Ver- 
schiedenheiten eine  weit  über  das  einzelne  Gebiet  hinausreichende 
Bedeutung  zukommt. 

Versuche  über  die  Merkfähigkeit  lassen  sich  überall  in  bequemer 
Weise  mit  solchen  über  die  Auffassungsfähigkeit  verknüpfen,  indem 


494  IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 

man  zwischen  Darbietung  des  Reizes  und  seiner  Wiedergabe  be- 
liebig lange  Zwischenzeiten  einschiebt.  Wählt  man  diese  Zeiten 
recht  kurz  und  wechselt  man  mit  ihnen  in  vielen  Abstufungen,  so 
ist  es  möglich,  die  Entwicklung  des  Wahrnehmungsvorganges  bis 
zu  voller  Ausdehnung,  dann  aber  auch  das  Verblassen  der  Bilder 
und  das  Auftreten  von  Fehlervorgängen  in  allen  Einzelheiten  zu 
verfolgen.  Man  kann  sich  für  solche  Zwecke  jeder  beliebigen 
tachistoskopischen  Einrichtung  bedienen. 

Einfachere  und  daher  für  die  Untersuchung  Geisteskranker 
brauchbarere  Verfahren  zur  Prüfung  der  Merkfähigkeit  sind  von 
anderen  Forschern,  so  von  Galton,  Bonhöffer,  Smith,  Guic- 
ciardi,  Vieregge,  in  Anwendung  gezogen  worden.  Den  Kranken 
wurde  die  Aufgabe  gestellt,  mehrstellige  vorgesagte  Zahlen,  Silben- 
zusammenstellungen, gesehene  oder  gehörte  Wörter  nach  einer 
gewissen  Zeit  mündlich  oder  schriftlich  zu  wiederholen,  aus  einer 
Anzahl  vorgelegter  Bilder  oder  Objekte  ein  bestimmtes  wieder- 
zuerkennen, Bernstein  verwendete  einfache  geometrische  Zeich- 
nungen, für  die  sich  keine  sprachliche  Benennung  finden  ließ.  Von 
ihnen  wurden  neun  in  einem  Rahmen  zusammengestellt  und 
30"  lang  gezeigt;  danach  hatte  die  Versuchsperson  das  Gesehene 
nach  verschieden  langer  Zwischenzeit  aus  einer  größeren  Anzahl 
derartiger  Bilder  herauszusuchen. 

Ranschburg^)  hat  einen  umfangreichen  Versuchsplan  zu- 
sammengestellt und  an  Gesunden,  Neurasthenischen  und  Paralytikern 
durchgeführt.  Bei  diesem  muß  von  Wortpaaren,  die  durch  den  Sinn 
oder  durch  den  Klang  in  Verbindung  stehen  oder  ganz  ohne  Bezie- 
hungen aneinandergeknüpft  sind,  auf  Nennung  des  Stichwortes  das 
zweite  wiedergegeben  werden.  Ferner  hat  die  Versuchsperson  aus  einer 
Sammlung  von  Brustbildern  diejenigen  herauszusuchen,  die  ihr 
vorher  gezeigt  wurden;  sie  hat  sich  dann  auch  Namen  zu  merken, 
die  damit  verknüpft  werden.  Unter  verschiedenen  Farbentönen  sind 
früher  eingeprägte  auszulesen;  aus  einer  großen  Zahl  willkürlich 
angeordneter  Quadrate  sind  einzelne  zu  merken  und  später  wieder 
aufzufinden;  endlich  werden  Zahlenangaben  aus  dem  Bereiche  des 
täglichen  Lebens  vorgesprochen  und  abgefragt.  Auch  B  0 1  d  t  hat  nach 

1)  Ranschburg,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  IX,  241,  1901;  Sommers  Klinik 
für  psychische  und  nervöse  Krankheiten,  II,  365;  III,  97;  Boldt,  Monatsschr.  f. 
Psychiatrie,  XVII,  97;   Vieregge,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXV,  207. 


Zustandsuntersuchung. 

ähnlichem  Plane  eine  größere  Anzahl  von  Gesunden  und  Kranken 
untersucht.  Leider  haftet  derartigen  Versuchsplänen,  die  sich  in  der 
mannigfaltigsten  Weise  anordnen  lassen,  immer  der  große  Übel- 
stand an,  daß  die  Zahl  der  gleichartigen  Versuche  sehr  klein  und 
daher  zufälligen  Störungen  in  erheblichem  Grade  ausgesetzt  ist, 
daß  aber  eine  Zusammenrechnung  der  verschiedenen  Versuchs- 
formen, wie  sie  Ranschburg  vorgenommen  hat,  kaum  zulässig 
erscheint.  Dennoch,  tritt  übrigens  in  seinen  Zahlen  die  Abnahme 
der  Merkfähigkeit,  namentlich  für  Wortverbindungen,  bei  Neur- 
asthenischen  deutlich  hervor,  ebenso  die  schwere  Beeinträchtigung 
des  Umfanges  wie  der  Sicherheit  der  Einprägung  bei  seinen  Para- 
I  lytikern,  besonders  auf  dem  Gebiete  des  Wort-  und  Namengedächt- 
nisses wie  der  räumlichen  Orientierung. 

In  den  letzten  Jahren  hat  Ranschburg  seine  Gedächtnis- 
prüfungen auf  die  Verwendung  von  Wortpaaren  beschränkt,  die 
eine  viel  einwandfreiere  Berechnung  der  Ergebnisse  gestatten.  Er 
führt  gewöhnlich  sieben  Reihen  von  je  neun  Wortpaaren  vor  mit 
einer  Expositionszeit  von  2,  höchstens  3".  Unmittelbar  nachher  wird 
durch  Vorsagen  des  Stichwortes  festgestellt,  wieviel  von  den  Wort- 
verbindungen haftet,  während  die  eigentliche  Gedächtnisprüfung 
nach  längerer  Zwischenzeit,  mit  oder  ohne  weitere  Einprägungen,  vor- 
genommen wird.  Sehr  interessant  war  dabei  die  Beobachtung,  daß 
die  Verwendung  assoziativ  einander  verwandter  Wörter  in  den  gleichen 
oder  benachbarten  Reihen  die  Einprägungsarbeit  empfindlich  störte. 

Die  Prüfung  der  Vorstellungsver  bindungen^)  läßt  sich  nach 
sehr  verschiedenen  Richtungen  hin  ausdehnen.  Zunächst  wird  es 
möglich  sein,  die  Geschwindigkeit  zu  messen,  mit  der  sich  die  ein- 
zelnen Glieder  aneinanderknüpfen.  Ein  sehr  annäherndes  Urteil 
über  diesen  Punkt  ließe  sich  allenfalls  schon  aus  den  obenerwähnten 
Rechenversuchen  gewinnen.  Genauere  Aufschlüsse  aber,  auch  über 
die  großen  Verschiedenheiten  je  nach  der  Art  der  Verbindung,  liefert 

1)  Aschaffenburg,  Psychologische  Arbeiten,  I,  209;  II,  i;  IV,  235;  Van 
ErpTaalman  Kip,  Psychiatr.  en  neurolog.  Bladen,  1899,  634;  1903,  i;  Bleuler, 
Jung,  Ricklin,  Journ.  f.  Psychol.  III,  IV,  VI,  VII,  VIII,  IX;  Jung,  Arch.  f. 
Kriminalanthropol.,  XXII,  145;  Isserlin,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1907,  27; 
Schnitzler,  Onderzoekingen  over  de  Diagnostiek  van  Voorstellings-Complexen 
niet  behulp  van  het  Associatie-Experiment.  Diss.  1907;  Van  der  Hoeven,  De 
invloed  der  affectieve  meerwaarde  van  Voorstellingen  in  het  Woordreaktie-experiment. 
Diss.  1908;  Bouman,  Sommers  Klinik  f.  psych,  u.  nervöse  Krankh.,  II,  505. 


496 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


uns  die  Messung  mit  Hilfe  des  Chronoskopes  oder  der  Sportuhr. 
Eigenartige  Ergebnisse  erhält  man  ferner,  wie  mir  umfangreiche 
Versuchsreihen  gezeigt  haben,  bei  der  Untersuchung  der  Asso- 
ziationszeiten unter  planmäßiger  Wiederholung  derselben  Versuche 
mit  denselben  Reizworten.  Namentlich  der  Einfluß  der  Übung  auf 
die  Schnelligkeit  und  Festigkeit  der  Vorstellungsverbindungen  läßt 
sich  dabei  sehr  gut  verfolgen.  Allein  auch  ohne  Zeitmessungen  sind 
Assoziationsversuche  nicht  nur  von  mannigfachem  Interesse,  sondern 
auch  ungemein  leicht  ausführbar.  Indem  man  einfach  irgendein  Wort 
ausspricht  und  die  erste  daraufhin  im  Kranken  auftauchende  Vor- 
stellung niederschreibt,  kann  man  in  kurzer  Zeit  die  Unterlagen  für 
eine  Statistik  der  Assoziationen  sammeln,  die  Aufschlüsse  liefert 
über  das  gewohnheitsmäßige  Verhältnis  der  inneren  zu  den  äußeren 
Vorstellungsverbindungen,  die  Häufigkeit  der  eingelernten,  der 
Klangassoziationen  und  der  ,, Fehlassoziationen",  die  in  gar  keiner 
Beziehung  zu  der  Art  des  Reizwortes  mehr  stehen.  Auch  auf  diese 
Weise  lassen  sich  Werte  für  die  Festigkeit  der  einzelnen  Assoziations- 
gruppen gewinnen.  Als  Maß  für  diese  habe  ich  das  Verhältnis  der 
bei  einer  Wiederholung  neu  auftretenden  Assoziationen  zur  Gesamt- 
zahl der  Versuche  benutzt. 

Weiterhin  kann  man  der  Versuchsperson  die  Aufgabe  stellen,  eine 
bestimmte  Zeitlang  die  in  ihr  auftauchenden  Vorstellungen  mit  oder 
ohne  Anknüpfung  an  ein  gegebenes  Ausgangswort  niederzuschreiben. 
Hier  erhält  man  einen  Durchschnittswert  für  die  Geschwindigkeit 
der  Vorstellungsbildung,  die  regelmäßig  geringer  ist  als  diejenige 
des  Schreibens.  Dann  aber  läßt  sich  auf  diese  Weise  ein  Urteil  über 
die  Neigung  zu  einzelnen  Arten  der  Vorstellungsverbindungen  ge- 
winnen, namentlich  zu  den  psychiatrisch  so  wichtigen  sinnlosen  und 
Klangassoziationen.  Endlich  aber  ergibt  sich  bei  diesem  Verfahren 
ein  Urteil  über  die  Einheitlichkeit  oder  Zerfahrenheit  des  Gedanken- 
ganges, über  die  Reichhaltigkeit  des  Vorstellungsschatzes,  die  Nei- 
gung zu  sprunghaftem  Abbrechen,  zu  zähem  Festhalten  oder  zu 
beständigem  Wiederholen. 

Beschränkt  man  der  Versuchsperson  die  Auswahl  der  nieder- 
zuschreibenden Worte  auf  bestimmte  Gruppen,  etwa  solche  Gegen- 
stände, die  durch  das  Auge,  durch  das  Ohr  wahrnehmbar  sind,  die 
Lust  oder  Unlust  erregen,  allgemeine  Begriffe  usf.,  so  ist  man  im- 
stande, aus  den  Leistungen  einer  gegebenen  Zeit  Schlüsse  auf  die 


Zustandsuntersuchung. 

größere  oder  geringere  Bereitschaft  aller  der  genannten  Vorstellungs- 
gruppen und  damit  auf  die  Gestaltung  des  Vorstellungsschatzes 
überhaupt  zu  ziehen.  Wie  mir  Versuche  gezeigt  haben,  lassen  sich 
diese  Ergebnisse  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  verwerten. 
Schwierigere  assoziative  Leistungen,  die  Bildung  von  Urteilen  und 
Schlüssen,  kann  man  in  ganz  ähnlicher  Weise  untersuchen,  hin- 
sichtlich ihrer  Richtigkeit,   ihrer  Schnelligkeit,   ihrer  Festigkeit. 

Eine  besondere  Wichtigkeit  haben  die  Assoziationsversuche  durch 
die  umfassenden  Arbeiten  von  Bleuler,  Jung  und  Ricklin  er- 
halten. Abgesehen  von  der  Aufstellung  verschiedener  allgemeiner 
Assoziationsgewohnheiten,  die  Gebildete  und  Ungebildete  einerseits, 
verschiedene  Persönlichkeiten  andererseits  kennzeichnen,  hat  es 
sich  gezeigt,  daß  unter  Umständen  das  Auftauchen  lebhaft  gefühls- 
betonter Vorstellungen  einen  wesentlichen  Einfluß  auf  den  Asso- 
ziationsversuch ausüben  kann.  Jung  hat  eine  Reihe  von  Zeichen 
genannt,  an  denen  man  die  Wirkung  solcher  „Komplexe"  soll  er- 
kennen können.  Dahin  gehört  zunächst  eine  Verlängerung  der 
gemessenen  Zeit,  sodann  das  Ausbleiben  der  Assoziation,  das  Auf- 
treten einer  unsinnigen  Assoziation,  einer  einfachen  Interjektion, 
die  Wiederholung  des  Reizwortes  oder  einer  kurz  vorhergehenden 
Assoziation,  die  Verflachung  der  Assoziation,  insbesondere  das  Auf- 
treten von  Klangassoziationen.  Diese  Veränderungen  zeigen  sich 
bei  demjenigen  Versuche,  der  den  Komplex  berührt  hat,  bisweilen 
auch  noch  in  einigen  folgenden  Versuchen,  hier  und  da  nur  in 
diesen  letzteren. 

Daß  sich  ein  solcher  Vorgang  abspielen  kann,  ist  gewiß  nicht 
zu  bezweifeln.  Allein  die  von  Jung  angegebenen  Zeichen  be- 
weisen an  sich  nichts,  als  eine  Aufmerksamkeitsstörung,  die 
natürlich  auch  ganz  andere  Ursachen  haben  kann,  Ermüdung, 
zufällige  äußere  und  innere  Störungen,  Auftauchen  ganz  anderer, 
sich  lebhaft  aufdrängender  Vorstellungen  ohne  jede  Beziehung  zum 
Versuche.  Jung  hat  zwar  einige  sehr  einleuchtend  klingende  Bei- 
spiele neben  manchen  etwas  gequälten  angeführt.  Ich  muß  aber 
auf  Grund  meiner  Erfahrungen  behaupten,  daß  die  Verursachung 
der  erwähnten  Störungen  durch  assoziativ  angeregte  Komplexe 
keinesfalls  mehr  als  eine  nicht  eben  häufige  Ausnahme  bildet.  Will 
man  alle  oder  auch  nur  einen  sehr  erheblichen  Teil  der  verlang- 
samten oder  mißglückten  Assoziationen  durch  das  ,, Anschneiden 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  3^ 


^pg  IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 

von  Komplexen"  erklären,  so  führt  das  notwendig  zu  Künsteleien. 
Schon  die  Erfahrung,  daß  wir  ähnliche  Störungen,  allerdings  dann 
meist  für  ganze  Reihen  von  Versuchen,  durch  Veränderung  des 
Gesamtzustandes  im  Sinne  einer  Erschlaffung  der  Aufmerksamkeit 
erzeugen  können  (Ermüdung,  Alkohol),  weist  darauf  hin,  daß  jene 
Zeichen  eben  nur  im  allgemeinen  Unaufmerksamkeit  bedeuten, 
ohne  uns  über  deren  besondere  Ursache  irgendetwas  auszusagen. 

Weit  zweifelhafter  scheint  mir  das  neuerdings  von  Jung  be- 
tonte Kennzeichen  der  Komplexassoziation  zu  sein,  daß  sie  bei 
Wiederholung  des  Versuches  schlechter  erinnert  werde  als  die 
gleichgültigen  Assoziationen.  Andere  Untersucher,  so  Isser lin. 
Schnitzler,  van  der  Hoeven,  haben  diese  Beobachtung  nicht 
bestätigen  können,  und  auch  ich  finde  in  meinen  Erfahrungen  dafür 
nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt.  Höchstens  das  eine  könnte  ich 
zugeben,  daß  Assoziationen,  die  im  Augenblicke  durch  die  Erinne- 
rung an  irgendein  persönliches  Erlebnis  angeregt  werden,  nicht  so 
fest  zu  haften  pflegen  wie  maschinenmäßig  eingelernte,  des  persön- 
lichen Gepräges  entkleidete  Verbindungen.  Eine  Deutung  dieser 
Erfahrung  im  Sinne  einer  bewußten  oder  unbewußten  Verdrängung 
oder  des  Auftretens  von  schwach  haftenden  ,, Deckerinnerungen" 
scheint  mir  völlig  unmöglich. 

Im  Zusammenhange  mit  diesen  letzteren  Erörterungen  haben 
wir  noch  kurz  des  von  Freud  und  seinen  Anhängern  geübten  Ver- 
fahrens der  „Psychoanalyse"  zu  gedenken,  das  ebenfalls  bezweckt, 
verborgene,  verdrängte  Vorstellungen,  insbesondere  Erinnerungen, 
ans  Tageslicht  zu  ziehen.  Das  Verfahren  wird  dahin  geschildert, 
daß  die  ruhig  daliegenden  Kranken  dem  ihnen  nicht  sichtbaren 
Arzte  I — 2  Stunden  lang  alles  zu  erzählen  haben,  was  ihnen  gerade 
einfällt,  namentlich  auch  ihre  Träume.  Diese  durch  Zwischenfragen 
und  Bemerkungen  des  Arztes  einigermaßen  beeinflußten  Bekennt- 
nisse werden  so  lange,  unter  Umständen  durch  Jahre,  fortgesetzt, 
bis  der  vermutete  Komplex  gefunden  wurde.  Auch  Assoziationsver- 
suche mit  nachfolgender  genauerer  Besprechung  der  komplex- 
verdächtigen Anknüpfungen  können  mit  herangezogen  werden.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  dieses  äußerst  eindringliche  Verfahren  auf 
der  einen  Seite  sicherlich  geeignet  ist,  dem  Arzte  einen  sehr  tiefen 
Einblick  in  das  Seelenleben  des  Kranken  zu  verschaffen.  Dagegen 
zeigen  die  wenigen,  bisher  veröffentlichten,  ausführlichen  Berichte 


Zustandsuntersuchung. 


499 


über  die  Art  des  Vorgehens,  daß  dabei  eine  ungemein  starke  und 
einseitige  Beeinflussung  des  Kranken  im  Sinne  der  dem  Arzte  vor- 
schwebenden Vorstellungen  stattfindet,  endlich,  daß  die  Erreichung 
des  gesuchten  Ergebnisses  trotz  alledem  Deutungskünste  erfordert, 
die  offenbar  nur  wenige  auszuüben  verstehen.  Allgemeingut  kann 
daher  das  Verfahren,  wenigstens  mit  seinen  bisherigen  Zielen, 
niemals  werden. 

Zur  Untersuchung  der  Auslösung  von  Willensantrieben 
steht  uns  zunächst  die  Messung  der  Wahlzeiten  zu  Gebote.  Wenn 
man  die  Aufgabe  stellt,  daß  auf  einen  Reiz  durch  eine  Bewegung 
mit  der  rechten  Hand  geantwortet  werden  soll,  auf  einen  anderen 
dagegen  mit  der  linken,  so  enthält  dieser  Vorgang  außer  der  Unter- 
scheidung zwischen  den  beiden  Reizen  noch  denjenigen  der  Wahl 
zwischen  zwei  Bewegungen.  Beschleunigter  Ablauf  dieser  ,, Wahl- 
reaktionen" findet  sich  bei  solchen  Erregungszuständen  im  Gehirn, 
die  mit  einer  Erleichterung  der  Auslösung  von  Willensbewegungen 
einhergehen.  Besteht  dabei  noch,  wie  gewöhnlich,  erhöhte  Ablenk- 
barkeit  der  Aufmerksamkeit,  so  kommt  es  leicht  zu  ,, Fehlreaktionen" 
mit  der  falschen  Hand.  Weitere  Aufschlüsse  über  das  Verhalten 
der  Willensantriebe  erhalten  wir  durch  Prüfung  der  Lese-,  Schreib- 
oder Sprechgeschwindigkeit,  die  man  nach  einem  ähnlichen  Ver- 
fahren feststellen  kann  wie  die  Schnelligkeit  des  Rechnens,  durch 
Lösung  fortlaufender,  sich  reihenweise  aneinander  schließender, 
gleichartiger  Aufgaben. 

Für  die  Untersuchung  der  Schrift  habe  ich  seit  längerer  Zeit 
auch  die  genauere  Messung  des  Schreibweges  und  der  Geschwindig- 
keit einzelner  Schriftzüge  sowie  des  in  jedem  Augenblicke  auf  die 
Unterlage  ausgeübten  Druckes  mit  Hilfe  einer  dafür  gebauten 
„Schriftwage"  herangezogen.  Dabei  ergeben  sich  sehr  deutlich  d.ie 
Zeichen  der  psychomotorischen  Erregung  und  Hemmung  sowie  der 
Willenssperrung.  Die  außerordentliche  Feinheit  und  Vielseitigkeit 
dieser  Prüfung  rechtfertigt  die  Erwartung,  daß  sie  uns  allmählich 
einen  klaren  Einblick  in  die  Beeinflussung  der  Schrift  durch  Gemüts- 
bewegungen und  Willensantriebe  ermöglichen  wird.  Leider  macht 
aber  die  Empfindlichkeit  des  Verfahrens  die  Messung  der  einzelnen 
Größen  sehr  mühsam  und  zeitraubend. 

Das  gleiche  gilt  von  den  sonst  zweifellos  sehr  aussichtsreichen 
Untersuchungen  über  die  feineren  Vorgänge  der  Sprache,  wie  sie 

32* 


500 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


namentlich  von  Hermann,  Scripture  und  Krüger  durchgeführt 
worden  sind.  Man  bedient  sich  dabei  am  zweckmäßigsten  entweder 
des  Krüger  sehen  Kehltonschreibers,  einer  gummiüberspannten 
Trommel,  die  auf  den  Kehlkopf  aufgesetzt  wird  und  dessen 
Schwingungen  auf  eine  feine  Schreibkapsel  überträgt,  oder  eines 
mit  einer  Rousselo tschen  Kapsel  verbundenen  Schalltrichters,  in 
den  man  hineinspricht.  Auf  diese  Weise  erhält  man  sehr  feine 
Schwingungskurven  für  die  Vokale,  bei  dem  letzteren  Verfahren 
auch  eine  Aufzeichnung  der  gröberen,  durch  die  Konsonanten 
bedingten  Druckschwankungen.  Eine  wesentliche  Verbesserung 
der  Darstellung  bietet  die  neuerdings  von  Marbe  angegebene 
Aufschreibung  durch  die  rußende  Flamme,  die  sehr  deutliche 
Bilder  liefert,  während  bisher  die  Ausmessung  nur  mit  Hilfe  des 
Mikroskopes  oder  besonderer  Projektionseinrichtungen  möglich  war. 

Aus  der  Bestimmung  der  einzelnen  Schwingungszahlen  kann 
man  die  Melodiekurve"  jedes  Vokals  gewinnen,  das  Steigen 
und  Sinken  seiner  Tonhöhe.  Zugleich  vermag  man  die  zeitlichen 
Beziehungen  bei  der  Vorbereitung  und  Ausführung  der  einzelnen 
Buchstaben,  Vokale  und  Konsonanten,  zu  verfolgen,  die  anscheinend 
wichtige  Aufschlüsse  über  den  Ablauf  der  Sprachstörungen  ver- 
sprechen. Die  Stärke  des  Stimmaufwandes,  dessen  Messung  für  viele 
psychiatrische  Fragen  sehr  wichtig  wäre,  läßt  sich  leider  zurzeit  nur 
mit  Hilfe  sehr  kostspieliger  und  verwickelter  Einrichtungen  be- 
stimmen, wie  sie  von  Scripture  ersonnen  wurden  (Grammophon- 
aufnahme und  nachträgliche  sehr  starke  Hebelvergrößerung  der 
Kurven).  Demselben  Forscher  ist  auch  die  schwierige  Aufgabe 
gelungen,  die  so  erhaltenen  zusammengesetzten  Vokalkurven  in 
ihre  einfachen  Bestandteile  zu  zerlegen,  also  die  Entstehungs- 
bedingungen der  Klangfarbe  aufzudecken. 

Eine  vielseitige  Verwendung  zur  Untersuchung  von  Willens- 
störungen gestattet  ohne  Zweifel  der  von  Mosso  angegebene 
Ergograph^),  der  allerdings  gewisser  Verbesserungen  bedarf,  um 
für  unsere  Zwecke  verwertbar  zu  sein.  Zunächst  gibt  er  Aufschluß 
über  die  Kraft,  mit  der  eine  Bewegung  ausgeführt  wird,  sodann  über 
das  raschere  oder  langsamere  Versagen  des  Kraftaufwandes,  das 

1)  Gregor  u,  Hansel,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XXIII,  i;  Breukink, 
Journ.  f.  Psychologie  und  Neurologie,  IV,  8$;  Ermes,  Über  die  Natur  der  bei  Kata- 
tonie zu  beobachtenden  Muskelzustände.   Diss.  1903. 


Zustandsuntersuchung.  ^oi 

durch  Ermüdung,  Hemmung  oder  Willenssperrung  herbeigeführt 
werden  kann.  Versuche  in  langsamem  Zeitmaße  oder  die  Wieder- 
holung der  Ermüdungskurven  nach  verschieden  langen  Pausen 
geben  uns  ein  Bild  von  der  Erholungsfähigkeit  des  Willenswerk- 
zeuges. Dabei  scheint  die  Höhe  der  einzelnen  Ziehungen  wesentlich 
von  der  Leistungsfähigkeit  des  Muskels  selbst,  die  Zahl  der  Hebungen 
in  der  Ermüdungskurve  dagegen  mehr  von  dem  Zustande  des 
Nervengewebes  abhängig  zu  sein.  Dafür  spricht  wenigstens  unter 
anderem  die  Steigerung  der  Hubhöhen  unter  dem  Einflüsse  des 
Coffeins,  die  Vermehrung  der  Ziehungen  durch  Alkohol  und  körper- 
Hche  Arbeit.  Gregor  und  Hänsel  haben  bei  ihren  Untersuchungen 
an  deprimierten  und  katatonischen  Kranken  bereits  sehr  bemerkens- 
werte Unterschiede  im  Ablaufe  der  Ermüdungskurven  aufgedeckt; 
auch  Breukink  hat  zahlreiche  ähnliche  Untersuchungen  aus- 
geführt. 

Weitere  Aufschlüsse  versprechen  die  besonders  von  Sommer 
und  seinen  Schülern  untersuchten  ,, Haltungskurven",  wie  sie  bei 
möglichst  langem  Halten  eines  schweren  Gewichtes  durch  Auf- 
zeichnen des  allmählichen  Erlahmens  gewonnen  werden.  Endlich 
läßt  sich  durch  die  Zergliederung  des  Anstiegs  und  Abfalles  der  ein- 
zelnen Ziehung  noch  die  Geschwindigkeit  messen,  mit  der  die  Ver- 
kürzung und  Erschlaffung  des  Muskels  unter  dem  Einflüsse  des 
Willensantriebes  erfolgt.  Sie  findet  ihre  Ergänzung  in  der  Auf- 
zeichnung einfacher  Willkürbewegungen  ohne  Belastung,  deren 
Untersuchung  uns  vielleicht  einmal  Aufschlüsse  über  die  Eigen- 
tümlichkeiten der  katatonischen  und  der  gehemmten  Bewegungen 
liefern  wird.  Zur  bequemen  Herstellung  von  Ermüdungskurven 
am  Krankenbette  hat  Weiler  sich  neuerdings  eines  von  ihm  her- 
gestellten Dynamometers  bedient,  welches  selbsttätig  und  fort- 
laufend die  einzelnen  Druckwerte  aufzeichnet.  Schwerere  Störungen 
in  der  Auslösung  von  Willensantrieben  lassen  sich  schon  in  der 
Verlangsamung  einfacher  Bewegungen,  des  Handgebens,  Arm- 
hebens, mit  der  Uhr  messen;  auch  das  Aussprechen  geläufiger 
Reihen,  der  Zahlen  oder  des  Alphabets,  ist  für  diesen  Zweck  geeignet. 

Der  Zerlegung  von  Bewegungen  in  die  drei  Richtungen  des 
Raumes  hat  Sommer  besonders  seine  Aufmerksamkeit  gewidmet. 
Er  hat  Hilfsmittel  hergestellt,  die  es  gestatten,  die  Bewegungen  des 
Armes  wie  des  Beines  in  ihre  Richtungsbestandteile  aufzulösen. 


502 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Besonders  wertvoll  hat  sich  dieses  Verfahren  bisher  erwiesen  für  die 
Darstellung  schneller  unwillkürlicher  Bewegungen,  namentlich  des 
Zitterns  und  Zuckens.  Die  verschiedenen  Formen  des  Zitterns 
können  nach  Richtung  und  Geschwindigkeit  genau  verfolgt  werden; 
die  leichten  Änderungen  in  der  Muskelspannung,  die  den  Ablauf  von 
Seelenvorgängen  und  insbesondere  das  Auftreten  von  Gemüts- 
bewegungen begleiten,  lassen  sich  ohne  Schwierigkeit  darstellen. 
Auch  für  die  Unterscheidung  gewisser  funktioneller  Bewegungs- 
störungen von  solchen,  die  auf  gröberen  Erkrankungen  des  Nerven- 
gewebes beruhen,  verspricht  das  Sommer  sehe  Verfahren  brauch- 
bare Anhaltspunkte  zu  liefern. 

Ferner  hat  sich  Sommer  vielfach  mit  der  Wiedergabe  und  Zer- 
legung von  Ausdrucksbewegungen  beschäftigt.  Zur  genaueren 
Erforschung  des  Gesichtsausdruckes  hat  er  das  stereoskopische  Bild, 
neuerdings  auch  die  Aufzeichnung  der  mimischen  Muskelbewegungen 
herangezogen.  Für  die  Darstellung  und  Zergliederung  der  Haltung 
und  der  gesamten  Körperbewegungen  mag  sich  neben  der  Stereo- 
skopie wohl  auch  die  Kinematographie  verwenden  lassen,  die  jedoch 
für  wissenschaftliche  Zwecke  noch  wesentlicher  Vervollkomm- 
nungen bedarf.  Dasselbe  gilt  wohl  vom  Phonographen,  der  von 
Sommer  nicht  nur  zur  Festhaltung  kennzeichnender  Äußerungen, 
sondern  auch  zur  genaueren  Erforschung  sprachlicher  Eigentümlich- 
keiten und  Störungen  benutzt  worden  ist. 

Aussichtsreich  sind  endlich  noch  die  Untersuchungen,  die 
Sommer  im  Anschlüsse  an  Rieger  über  den  Ablauf  des  Knie- 
sehnenreflexes  angestellt  hat.  Die  Aufzeichnung  der  Bewegungen, 
die  der  ins  Gleichgewicht  gebrachte  Unterschenkel  ausführt,  ergibt 
eine  überraschende  Mannigfaltigkeit  von  Verlaufsarten,  von  denen 
manche  offenbar  einen  tieferen  Zusammenhang  mit  bestimmten 
Krankheitszuständen  darbieten.  Dahin  scheint  besonders  die  Steige- 
rung und  das  Nachlassen  der  dauernden  Spannung,  ferner  die  Ver- 
mehrung der  Ausschläge  bis  zum  fortgesetzten  Pendeln  zu  gehören, 
die  Hornung  beim  einfachen  Herabfallen  des  Unterschenkels  auch 
durch  Alkoholwirkung  künstlich  erzeugen  konnte.  Weiler  ist  es 
ebenfalls  gelungen,  mit  einer  wesentlich  vereinfachten  Einrichtung 
die  Unterschiede  im  Verhalten  der  Kniesehnenreflexe  aufzuzeichnen. 

Wir  haben  in  dieser  Aufzählung  die  Gemütsbewegungen 
ganz  beiseite  gelassen.  In  der  Tat  vermögen  wir  bisher  kaum,  diese 


Zustandsuntersuchung. 


Seite  unseres  Seelenlebens  irgendwie  der  Messung  zugänglich  zu 
machen.   Allerdings  sind  wir  imstande,  künstlich  Stimmungen  zu 
erzeugen.  Wir  können  Unlustregungen  durch  körperliche  Schmerzen 
und  widrige  Eindrücke  aller  Art,  ebenso  Lustgefühle,  Heiterkeit, 
Schreck,  Spannung,  Zorn  auf  verschiedene  Weise  herbeiführen. 
Besonders  leicht  gelingt  das  in  der  Hypnose  durch  Eingebungen. 
Diese  Wege  sind  vielfach,  namentlich  von  Lehmann,  ferner  von 
Mentz,  Zoneff  und  Neumann,  Martius  und  Minnemann, 
betreten  worden,  um  die  Beeinflussung  der  Atmung,  der  Pulswelle  • 
und  der  Blutfüllung  durch  Gemütsschwankungen  zu  erforschen. 
Derartige  Versuche  haben  bereits  zu  einer  Reihe  von  wichtigen  Fest- 
stellungen geführt,  die  nunmehr  eine  Übertragung  des  Verfahrens 
auf  krankhafte  Gemütszustände  nicht  mehr  aussichtslos  erscheinen 
lassen.  Auch  die  übrigen  Hilfsmittel,  die  uns  ein  feineres  Verständnis 
der  Willensäußerungen  ermöglichen,  der  Ergograph,  der  Sommer- 
sche  Zitterapparat,  sein  „Reflexmultiplikator",  die  Schriftwage,  die 
Aufzeichnung   der  Sprachbewegungen,    wären  verwendbar,  um 
wenigstens  die  äußeren  Zeichen  gemütlicher  Erregungen  aufzu- 
zeichnen und  zu  messen.   Innerhalb  gewisser  Grenzen  würden  wir 
dadurch  auch  wohl  Aufschluß  über  die  Stärke  und  Art  der  inneren 
Erschütterungen  erhalten. 

Ein  neues,  aussichtsreiches  Hilfsmittel  für  den  Fortschritt  auf 
diesem  Gebiete  bildet  vielleicht  das  im  Anschlüsse  an  Unter- 
suchungen von  Tarchanoff  durch  Veraguth,  Sommer  und 
Jung  ausgebildete  Verfahren  zur  Darstellung  des  „galvanischen 
psychophysischen  Reflexes"  i).  Es  handelt  sich  dabei  um  die 
Ablenkungserscheinungen,  die  hochempfindliche  Spiegelgalvano- 
meter darbieten,  wenn  eine  in  den  Stromkreis  eingeschaltete 
Person  gemütlich  erregt  wird.  Der  Weg,  auf  dem  diese  Ablen- 
kungen zustande  kommen,  ist  noch  völlig  dunkel.  Dennoch 
kann  nach  den  vorliegenden  Untersuchungen  schwerlich  bezweifelt 
werden,  daß  sie  wesentlich  durch  solche  Seelenvorgänge  erzeugt 
werden,  die  mit  Gemütsbewegungen  verknüpft  sind  und  innerhalb 
gewisser  Grenzen  als  Gradmesser  dieser  letzteren  dienen  können. 
Dafür  spricht  ihr  lebhaftes  Hervortreten  im  Zustande  der  Erwartung, 

1)  Sommer  u.  Fürstenau,  Klinik  f.  psych,  u.  nervöse  Krankh.,  I,  i97; 
Veraguth,  Das  psychogalvanische  Reflexphänomen.  1909;  Bis  wanger,  Journ. 
f.  Psychologie  und  Neurologie,  X,  149;  XI,  65,  133. 


•504 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


bei  spannender  Lektüre,  bei  gefühlsbetonten  Vorstellungsverbin- 
dungen und  ganz  besonders  auch  die  von  Petersen  und  Jung  mit- 
geteilte Tatsache  ihres  fast  völligen  Verschwindens  bei  katatonischen 
Kranken. 

Weiterhin  aber  kann  darauf  hingewiesen  werden,  daß  gewisse 
Gifte  ausgeprägte  Stimmungen  erzeugen,  die  vielleicht  mit  deren 
meßbaren  Wirkungen  auf  das  Seelenleben  in  irgendeiner  Beziehung 
stehen.  So  haben  wir  früher  gesehen,  daß  bei  der  Alkoholwirkung 
etwa  die  Erleichterung  der  Bewegungsauslösung,  beim  Morphium 
die  Anregung  der  Einbildungskraft  die  Grundlage  der  Stimmungs- 
änderung bilden  könnte,  während  die  vom  Tee  erzeugte  Behaglich- 
keit mit  der  Erleichterung  der  Verstandestätigkeit  bei  gleichzeitiger 
motorischer  Beruhigung,  die  stille  Befriedigung  des  Rauchers  mit  der 
leicht  lähmenden  und  beruhigenden  Wirkung  des  Tabaks  zusammen- 
hängen dürfte.  Auch  hier  wäre  überall  eine  Ausdehnung  der  Unter- 
suchungen auf  diejenigen  Gebiete  wünschenswert,  auf  denen  er- 
fahrungsgemäß die  Gemütsbewegungen  ihren  Ausdruck  finden. 
Kennten  wir  die  Wirkungen  der  Gifte  nach  allen  diesen  Richtungen 
hin  genauer,  so  wäre  möglicherweise  daran  zu  denken,  aus  den  Ver- 
änderungen, die  ein  Gift  im  einzelnen  Falle  herbeiführt,  Schlüsse  auf 
die  besondere  Art  des  bestehenden  Gemütszustandes  abzuleiten.  Die 
ganz  verschiedene  Wirkung, die  z.  B.  Alkohol  und  Brom  auf  die 
Verstimmung  des  Epileptikers  ausüben,  berechtigt  uns  dazu.  Der 
Unterschied  zwischen  der  Erregung  des  Manischen  und  des  Epilep- 
tikers wird  durch  die  gänzlich  abweichende  Beeinflussung  beider 
durch  Brom  in  helles  Licht  gesetzt.  TatsächHch  ist  das  Hilfsmittel 
der  Giftwirkung  zur  genaueren  Zergliederung  gegebener  Seelen- 
zustände  bereits  mit  gutem  Erfolge  in  Anwendung  gezogen  worden. 

Wir  kommen  nunmehr  noch  zu  einer  letzten,  aber  gewiß  nicht 
der  unwichtigsten  Seite  der  psychischen  Untersuchung,  zur  Fest- 
stellung der  psychischen  Grundeigenschaften.  Mit  Hilfe  der 
fortlaufenden  Lösung  gleichartiger  Aufgaben  sind  wir  nämlich  im- 
stande, die  Änderungen  unserer  geistigen  Leistungsfähigkeit  auf 
verschiedenen  Gebieten  dauernd  zu  verfolgen.  Aus  den  Schwan- 
kungen der  Arbeitsfähigkeit  können  wir  aber  ein  Maß  gewinnen  für 
die  früher  besprochenen  Grundeigenschaften  der  geistigen  Persönlich- 
keit. Genauere  derartige  Messungen  erfordern  allerdings  umfang- 
reiche Versuchsreihen  und  ganz  besondere,  dem  jeweiligen  Zwecke 


Beobachtung. 

angepaßte  Anordnungen^).  Immerhin  wird  sich  die  Übungsfähigkeit 
durch  die  Zunahme  der  Leistungsfähigkeit  unter  dem  Einflüsse  der 
Arbeit  messen  lassen.  Man  wird  etwa  die  Anfangsleistung  zweier,  in 
gewisser  Zwischenzeit  aufeinanderfolgender  Versuche  vergleichen. 
Allerdings  kann  dabei  der  inzwischen  erfolgte  Übungsverlust  nicht 
mit  berücksichtigt  werden,  obgleich  er  wahrscheinlich  für  ver- 
schiedene Personen  nicht  gleich  groß  ist.  Die  Übungsfestigkeit  läßt 
sich  aus  der  Erhöhung  der  Arbeitsleistung  erkennen,  die  nach 
längerer  Zwischenzeit  von  der  früher  festgestellten  Übungswirkung 
noch  übrig  geblieben  ist.  Die  Anregbarkeit  kann  gemessen  werden 
durch  die  Abnahme  der  Leistungsfähigkeit,  die  durch  kürzere 
Arbeitspausen  gegenüber  dem  ununterbrochenen  Fortarbeiten  herbei- 
geführt wird.  Als  annäherndes  Maß  der  Ermüdbarkeit  darf  die  Ab- 
nahme der  Leistungsfähigkeit  nach  bestimmter,  längerer  Arbeitszeit 
gelten.  Über  die  Erholungsfähigkeit  gewinnt  man  ein  Urteil  aus 
dem  Stande  der  Leistungsfähigkeit  nach  einer  Pause  im  Anschlüsse 
an  ermüdende  Arbeit.  Zur  Bestimmung  der  Schlaftiefe  stellen  wir 
für  jeden  Abschnitt  der  Nacht  die  Stärke  der  Reize  fest,  die  gerade 
genügt,  um  den  Schläfer  zu  erwecken.  Die  Ablenkbarkeit  messen 
wir  aus  der  Herabsetzung  der  Leistungsfähigkeit  unter  der  erst- 
maligen Einwirkung  bestimmter  Störungen,  während  die  Gewöh- 
nungsfähigkeit aus  der  Änderung  der  Leistungsfähigkeit  während 
längerer  Einwirkung  jener  Störungen  erkannt  wird. 

Mit  diesen  kurzen  Andeutungen  muß  ich  mich  an  dieser  Stelle 
begnügen.  Eine  ausführlichere  Darlegung  und  Begründung  der 
hier  erwähnten  Messungen  psychischer  Größen  findet  sich  in  den 
angeführten  Arbeiten.  Umfassende  Einzeluntersuchungen  haben 
den  Beweis  erbracht,  daß  die  Mehrzahl  dieser  Bestimmungen  schon 
mit  den  heute  zur  Verfügung  stehenden  Hilfsmitteln,  und  daß  sie 
in  größerem  oder  geringerem  Umfange  auch  an  so  manchen  Geistes- 
kranken ausführbar  sind. 

Beobachtung.  Es  ist  leicht  verständlich,  daß  in  einigermaßen 
schwierigen  Fällen  die  einfache  Untersuchung  eines  Kranken  nie- 
mals ausreicht,  sondern  zur  größeren  Sicherheit  immer  eine  mehr 
oder  weniger  lang  bemessene  Beobachtungszeit  gefordert  werden 
muß.    Die   Befangenheit  bei  der  ungewöhnlichen  Prüfung,  der 


1)  Kraepelin,  Arch.  f.  die  gesamte  Psychol.,  I,  9,  1903;  Specht,  ebenda 
III,  245. 


5o6 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Eindruck  der  Versetzung  in  neue  Verhältnisse  kann  das  Bild  für 
einige  Zeit  völlig  verändern,  ganz  abgesehen  von  jenen  Krank- 
heitsformen, die  ihrer  Natur  nach  mit  freieren  Zwischenzeiten 
verlaufen  oder  nur  anfallsweise  hervortreten.    Als  Ort  für  die  Be- 
obachtung dient  am  besten  die  Irrenanstalt,  weil  nur  in  ihr 
eine  dauernde,  sachverständige  Überwachung  gesichert  erscheint. 
Sehr  häufig  fördern  hier  die  ersten  Tage  der  Einbürgerung,  die  man 
ohne  besonderen  Eingriff  verstreichen  läßt,  gar  keine  auffallenden 
Beobachtungen  zutage;  erst  nach  und  nach  treten  die  krankhaften 
Erscheinungen,  falls  solche  überhaupt  vorhanden,  deutlicher  her- 
vor. Alle  jene  einzelnen  Züge  des  psychischen  Bildes,  die  bei  der 
einmaligen  Untersuchung  nur  angedeutet  waren,  prägen  sich  nun 
bei  längerer  Beobachtung  deutlicher  aus:  das  Wesentliche  sondert 
sich  vom  Unwesentlichen  und  Zufälligen.    Der  außerordentliche 
Unterschied  zwischen  einmaliger  und  wiederholter  Prüfung  eines 
Geisteskranken  wird  ganz  besonders  deutlich,   wenn  man  sich 
daran  gewöhnt,  in  jedem  Falle  schon  bei  der  ersten  Untersuchung 
eine  bestimmte  Diagnose  zu  stellen.   Man  begreift  dann  oft  nach 
wenigen  Tagen  die  Schwierigkeiten  nicht  mehr,  die  man  anfäng- 
lich mit  der  Beurteilung  gehabt  hat.   Dazu  kommt,  daß  sich  der 
Beobachtete  seinesgleichen  gegenüber  und  bei  längerer  Bekannt- 
schaft mit  dem  Arzte  unbefangener  gibt,  sich  mehr  gehen  läßt 
und  achtlos  Eigentümlichkeiten,  Gedanken,  Gefühle  verrät,  mit 
denen  er  bei  der  einmaligen  Untersuchung  zurückhielt.   Von  be- 
sonderer Bedeutung  in  dieser  Beziehung  pflegen  Briefe  und  andere 
Schriftstücke  zu  sein,  die  oft  mit  einem  Schlage  ein  kaum  erwar- 
tetes Licht  über  den  Zustand  ihres  Verfassers  ausbreiten. 

Weiterhin  aber  ist  man  nun  in  den  Stand  gesetzt,  sein  Han- 
deln kennen  zu  lernen,  freilich  nur  in  dem  engen  Rahmen  der 
Anstaltsverhältnisse,  der  aber  für  den  Untersuchten  doch  noch 
Gelegenheit  genug  zu  krankhaften  Willensäußerungen  darbietet. 
Lebhaftigkeit  oder  Gleichgültigkeit,  Zerstreutheit  oder  Versunken- 
heit,  Leistungsfähigkeit  oder  Schwäche,  Selbstüberschätzung  oder 
Kleinmut,  Reizbarkeit  oder  Stumpfheit,  Tatkraft  oder  Unent- 
schlossenheit,  Bestimmbarkeit  oder  Unlenksamkeit,  Arbeitslust 
oder  Trägheit  —  alle  diese  Eigenschaften  und  viele  andere  werden 
sich  in  den  täglich  beobachteten  kleinen  Zügen  nach  und  nach 
auf  das  unverkennbarste  herausstellen  müssen.    Endlich  ist  es 


Leichenbefund. 


507 


nur  auf  dem  Wege  fortgesetzter  Beobachtung  möglich,  den  fort- 
schreitenden oder  gleichbleibenden  Verlauf  des  vermutlichen  Lei- 
dens, das  Vorkommen  von  Besserungen,  Verschlimmerungen,  ,, An- 
fällen" aller  Art,  das  Verhalten  des  Schlafes,  der  Eßlust,  der  Ver- 
dauung und  vor  allem  des  Körpergewichtes  in  gesicherter  Weise 
festzustellen.  Soweit  daher  im  einzelnen  Falle  überhaupt  eine 
Aufklärung  über  das  körperliche  und  psychische  Verhalten  mög- 
lich ist,  wird  sie  durch  die  mannigfachen  Erfahrungsquellen,  welche 
die  klinische  Beobachtung  gewährt,  in  der  Regel  erreicht  werden 
können.  Unter  Umständen  ist  dabei  allerdings  erst  das  Verhalten 
in  der  Freiheit  von  ausschlaggebender  Wichtigkeit.  Wir  kennen 
Kranke  genug,  namentlich  Psychopathen,  Schwachsinnige,  Alko- 
holisten, die  im  Schutze  der  Anstalt  nur  äußerst  geringfügige 
Abweichungen  darbieten,  sich  selbst  überlassen  aber  eine  über- 
raschende Unfähigkeit  zeigen,  den  Anforderungen  des  Lebens  zu 
genügen,  oder  sich  als  äußerst  gefährlich  für  ihre  Umgebung  er- 
weisen. In  allen  solchen  Fällen  wird  die  Anstaltsbeobachtung 
durch  Erfahrungen  über  die  Lebensführung  in  der  Freiheit  zu  er- 
gänzen sein. 

Leichenbefund^).  Wenn  wir  in  der  übrigen  Medizin  gewöhnt 
sind,  als  letzte  Bestätigung  unserer  Krankheitsauffassung  den 
Leichenbefund  anzusehen,  so  können  wir  in  der  Psychiatrie  der 
Untersuchung  nach  dem  Tode  bis  jetzt  nur  einen  beschränkten 
Wert  zugestehen.  Wo  das  Vorhandensein  einer  Geistesstörung 
bei  ausreichender  Beobachtung  nicht  aus  den  Erscheinungen  am 
Lebenden  sichergestellt  werden  konnte,  vermag  die  Hirnunter- 
suchung heute  ganz  gewiß  keine  Entscheidung  herbeizuführen. 
Der  Grund  dafür  liegt  indessen  nicht  darin,  daß  man  etwa  nicht 
imstande  wäre,  krankhafte  Veränderungen  an  der  Leiche  aufzu- 
finden.   Vielmehr  sind  sie  überaus  häufig,  und  namentlich  seit 


1)  Juliusburger  u.  Meyer,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  III,  316;  Alzheimer, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie  II,  82;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVII,  597; 
Nissl,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XXXII,  656;  Histologische  und  histopathologische 
Arbeiten  über  die  Großhirnrinde,  Bd.  I  u.  II;  Heilbronner,  Ergebnisse  der  all- 
gemeinen Pathologie  und  pathol.  Anatomie,  VI,  Suppl.  555;  Weber,  ebenda  IX,  i, 
1903;  Robertson,  a  text-book  of  pathology  in  relation  to  mental  diseases.  1900; 
Meyer,  Die  pathologische  Anatomie  der  Psychosen,  Orth  -  Festschrift.  1902. 
Schröder,  Einführung  in  die  Histologie  und  Histopathologie  des  Nervensystems. 
1908. 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


den  großen  Fortschritten  des  mikroskopischen  Untersuchungs- 
verfahrens, wie  sie  uns  die  letzten  Jahrzehnte  gebracht  haben, 
lassen  die  Hirnbefunde  eine  solche  Fülle  von  gröberen  und  feineren 
Abweichungen  erkennen,  daß  es  sogar  schwierig  ist,  ein  im  streng- 
sten Sinne  völlig  normales  Menschenhirn  aufzufinden.  Anschei- 
nend hinterlassen  schon  die  Bewußtseinstrübungen  des  Todes- 
kampfes in  der  Regel  greifbare  Veränderungen;  Hoch  hat  sie  in 
der  Rinde  von  sonst  geistig  ganz  gesunden  Menschen  aufgefunden. 
Hier  liegt  eine  der  Schwierigkeiten,  die  unserer  Beurteilung  des 
Leichenbefundes  entgegenstehen.  Die  beobachteten  Abweichungen 
können,  auch  wenn  wir  von  den  Veränderungen  durch  Leichen- 
zersetzung ganz  absehen,  erst  durch  die  tötliche  Erkrankung 
selbst  bedingt  worden  sein,  so  daß  sie  trotz  ihrer  Schwere  und 
Ausdehnung  mit  dem  sonstigen  Geisteszustände  des  Verstorbenen 
nicht  das  mindeste  zu  tun  haben. 

Sodann  jedoch  sind  wir  auch  bei  denjenigen  Befunden,  deren 
Entstehungsgeschichte  sicher  weiter  zurückreicht,  vielfach  im 
unklaren,  ob  sie  irgendeinen  Einfluß  auf  das  Seelenleben  aus- 
üben konnten.  Wir  sehen  so  häufig  tiefgreifende  Hirnverände- 
rungen, z.  B.  Geschwülste,  Abscesse,  ganz  oder  nahezu  ohne 
Beeinträchtigung  der  seelischen  Leistungen  verlaufen,  daß  wir 
in  der  Abschätzung  der  klinischen  Bedeutung  unserer  Befunde 
äußerst  vorsichtig  sein  müssen.  Endlich  aber  wird  man  auch 
dann,  wenn  eine  nähere  Beziehung  der  Hirnveränderungen  zum 
Krankheitsbilde  wahrscheinlich  ist,  darauf  verzichten  müssen, 
etwa  aus  dem  Befunde  den  Schluß  auf  bestimmte  psychische  Stö- 
rungen zu  ziehen.  Nur  auf  dem  Umwege,  daß  wir  aus  dem  ana- 
tomischen Bilde  das  Bestehen  eines  bekannten  Krankheitsvor- 
ganges erkennen,  was  in  einer  beschränkten  Gruppe  von  Fällen 
möglich  ist,  werden  wir  die  Annahme  stützen  können,  daß  im 
Leben  die  jenem  Vorgange  eigentümlichen  klinischen  Erschei- 
nungen vorhanden  waren. 

Eine  verhältnismäßig  geringe  Bedeutung  für  die  psychiatrische 
Betrachtung  haben  die  grob-anatomischen  Befunde.  Verbildungen 
des  Schädels,  insbesondere  Mikrocephalie  und  Hydrocephalie,  weisen 
auf  Krankheitsvorgänge  vor  der  Geburt  oder  in  früher  Jugend 
hin;  Verdickungen  des  Schädels  können  sich  anscheinend  bei 
krankhafter  Verkleinerung  der  Hirnmasse,  Verdünnungen  infolge 


Leichenbefund.  ^09 

von  Altersschwund  einstellen.  Verwachsung  der  harten  Hirn- 
haut mit  dem  Schädeldache  wird  bei  chronisch-entzündlichen  Er- 
krankungen beobachtet;  Blutergüsse  in  jener  letzteren  sieht  man, 
abgesehen  von  Schädelverletzungen,  namentlich  bei  alten  Trin- 
kern. An  den  weichen  Hirnhäuten  sind  die  verschiedenen  me- 
ningitischen Veränderungen  zu  beachten,  von  denen  für  den  Irren- 
arzt besonders  die  paralytischen  und  syphilitischen  Formen  in 
Betracht  kommen.  Die  Blutfüllung  der  Hirngefäße,  auf  die  man 
früher  sehr  großes  Gewicht  legte,  spielt  keine  erhebliche  Rolle; 
sie  pflegt  vermehrt  zu  sein  bei  manchen  sehr  akut  verlaufenden 
Erkrankungen,  so  bei  alkoholischen  und  infektiösen  Delirien, 
vermindert  bei  starkem  Hirndruck.  Ebenfalls  von  mehr  unter- 
geordneter Wichtigkeit  für  die  Psychiatrie  sind  die  groben  Herd- 
erkrankungen des  Gehirns,  die  Geschwülste,  Gefäßverstopfungen, 
Erweichungen,  wie  wir  sie  bei  weiterer  Betrachtung  und  Zer- 
gliederung der  Hirnmasse  wahrnehmen.  Die  Erweiterung  der  Hirn- 
höhlen ist  meist  ein  Zeichen  von  Hirnschwund,  weit  seltener  von 
Abflußbehinderungen  (Verlegung  des  Aquaeductus  Sylvii  durch  Ge- 
schwülste) oder  von  hydrocephalischen  Erkrankungen. 

Die  Anordnung  der  Windungen  und  Furchen,  der  man  vielfach 
besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt  hat,  besitzt  psychiatrische 
Bedeutung  nur,  soweit  es  sich  um  gröbere  Abweichungen  handelt. 
Entwicklungshemmungen  und  früh  einsetzende  Krankheitsvorgänge 
können  neben  Windungsarmut,  Makrogyrie  und  umschriebener 
mikrogyrischer  Schrumpfung  einzelner  Hirnbezirke  die  weitgehend- 
sten Änderungen  der  Oberflächengliederung  herbeiführen,  aller- 
dings regelmäßig  unter  entsprechenden  Störungen  des  feineren 
Baues.  Alle  diese  Befunde,  ebenso  die  Heterotopien  und  andere 
schwere  Mißbildungen,  endlich  die  Porencephalien,  kommen  nur 
für  das  Gebiet  der  Idiotie  in  Betracht;  kleinere  Unregelmäßig- 
keiten, abweichender  Verlauf  oder  undeutliche  Ausprägung  ein- 
zelner Furchen,  Brückenbildungen,  stärkere  oder  schwächere 
Ausbildung  gewisser  Windungen,  gestatten  keine  Rückschlüsse 
auf  den  Geisteszustand  des  Lebenden;  sie  fallen  höchstens  dann 
etwas  mehr  ins  Gewicht,  wenn  sie  unverkennbare  Tierähnlich- 
keiten andeuten,  wie  die  Affenspalte. 

Auf  die  Beachtung  der  Maß-  und  Gewichtsverhältnisse  des 
Schädelinhaltes  hat  jüngst  im  Anschlüsse  an  Riegers  Forschungen 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Reichhardt')  mit  Nachdruck  hingewiesen.  Er  betont,  offenbar 
mit  Recht,  daß  schon  der  einfache  Nachweis  einer  Verkleinerung 
oder  Vergrößerung  des  Gehirns  nur  durch  Vergleichung  seiner 
Masse  mit  dem  Fassungsraume  des  Schädels  zu  führen  sei.  Bei 
Gesunden  ist  nach  seinen  Angaben  das  Hirngewicht  in  Grammen 
durchschnittlich  um  lo — 16%  kleiner  als  der  Schädelinhalt  in 
Kubikzentimetern.  Dieser  letztere  wird  durch  Eingießen  von  Wasser 
in  die  beim  Aufsägen  erhaltenen,  nach  Bedarf  abgedichteten 
Schädelabschnitte  gemessen.  Verkleinerung  der  Hirnmasse  kann 
durch  Untergang  ihrer  Bestandteile,  sodann  durch  rasche  Wasser- 
abgabe infolge  von  Erkrankungen  geschehen,  Vergrößerung  durch 
Geschwulstbildung,  krankhafte  Wucherung,  aber  auch  durch  rasch 
einsetzende  Schwellungsvorgänge,  die  Reichhardt  für  das  Auf- 
treten von  Druckerscheinungen  und  selbst  plötzlichen  Todesfällen 
beim  Fehlen  anderer  raumbeschränkender  Ursachen  verantwort- 
lich macht. 

Die  Bestimmung  des  spezifischen  Hirngewichtes  geschieht 
entweder  mit  Hilfe  der  Volumsmessung  durch  Wasserverdrängung, 
durch  Feststellung  des  Gewichtsverlustes  beim  Eintauchen  in 
Wasser  oder  endlich  durch  aerometrische  Prüfung  der  Glycerin- 
wassermischung ,  in  der  Hirnstückchen  gerade  schwimmen ;  sie 
kann  uns  namentlich  über  den  Wassergehalt  des  Gewebes 
Aufschluß  geben.  Nach  Reichhardts  Angaben  schwanken  die 
Werte  zwischen  1032  und  1048.  Die  Wägung  einzelner  Hirn- 
teile, der  beiden  Halbkugeln,  des  Kleinhirns,  der  Brücke  nebst 
Vierhügeln  und  verlängertem  Mark,  wird  uns  über  Mißverhält- 
nisse zwischen  ihnen  und  über  umgrenztere  Gewebsveränderungen 
aufklären,  ebenso  natürlich  die  gesonderte  Bestimmung  des  spe- 
zifischen Gewichts.  Ferner  können  die  Beziehungen  des  Hirn- 
gewichts zu  Gewicht  und  Länge  des  Körpers  in  Betracht  gezogen 
werden.  Freilich  werden  sich  aus  diesen  Bestimmungen  nur  An- 
haltspunkte sehr  allgemeiner  Art  über  Sitz,  Umfang  und  Art  der 
krankhaften  Hirnveränderungen  gewinnen  lassen. 

Die  mikroskopische  Durchforschung  des  Gehirns  hat  uns  in 
verhältnismäßig  kurzer  Zeit  eine  große  Fülle  von  Befunden  ge- 
liefert. Während  man  früher  die  Hauptmasse  der  Geistesstörungen 

1)  Reichhardt,  Über  die  Untersuchung  des  gesunden  und  kranken  Gehirnes 
mittels  der  Wage.  1906. 


Leichenbefund.  ^  1 1 

als  „funktionelle"  ansah,  bei  denen  sich  keine  sichtbaren  Ver- 
änderungen auffinden  ließen,  ist  das  Gebiet  der  Psychosen  ohne 
anatomische  Grundlage  rasch  sehr  erheblich  eingeschrumpft.  Ins- 
besondere hat  sich  ergeben,  daß  die  Nervenzellen  der  Hirnrinde 
überaus  häufig  die  Anzeichen  krankhafter  Schädigungen  erkennen 
lassen.  Leider  haben  sich  die  Hoffnungen,  die  man  zunächst  an 
diese  Erfahrung  knüpfen  konnte,  nicht  erfüllt.  Es  stellte  sich  sehr 
bald  heraus,  daß  uns  diese  Zellbefunde  auch  dort,  wo  sie  nicht 
erst  durch  die  Todesursache  oder  zufällige  Begleiterkrankungen 
erzeugt  waren,  durchaus  kein  Urteil  über  die  psychiatrischen 
Krankheitsvorgänge  gestatten. 

Schon  bei  der  Erforschung  der  Giftwirkungen  auf  die  Nerven- 
zellen kam  Nissl  zu  dem  Ergebnisse,  daß  zwar  die  subakute  maxi- 
male Vergiftung  bei  einer  Reihe  von  Giften  an  gewissen  Rinden- 
zellen ganz  bestimmte  Veränderungen  hervorbringe,  daß  sich  aber 
die  Besonderheit  dieser  Wirkungen  bei  den  für  die  Psychiatrie 
namentlich  in  Betracht  kommenden  chronischen  Vergiftungen 
vollkommen  verwische.  Wenn  das  für  die  scharf  gekennzeichneten 
und  noch  dazu  dem  Versuche  zugänglichen  Hirnstörungen  durch 
Gifte  zutrifft,  so  wird  man  von  vornherein  die  Aussicht  für  sehr 
gering  halten  müssen,  bei  der  großen  Masse  der  Geisteskrank- 
heiten mit  ganz  unbekannter  Entstehungsweise  eigenartige  Zell- 
veränderungen aufzufinden.  Nissl  hat  es  daher  auch  unumwunden 
ausgesprochen,  daß  alle  die  von  ihm  beschriebenen  Formen  der 
Zellerkrankung  nichts  weniger  als  kennzeichnend  für  bestimmte 
klinische  Krankheitsbilder  sind,  ja  nicht  einmal  das  Bestehen 
einer  geistigen  Störung  überhaupt  anzeigen.  Ebensowenig  lassen 
sich  feste  Beziehungen  zwischen  Ausdehnung  und  Schwere  der 
Zellerkrankungen  und  Ausprägung  der  klinischen  Krankheits- 
erscheinungen nachweisen. 

Allerdings  leidet  unsere  Kenntnis  dieser  Verhältnisse  noch  an 
dem  Übelstande,  daß  einerseits  vielfach  nur  ganz  bestimmte  Zell- 
formen, meist  die  größeren,  genauer  untersucht  zu  werden  pflegen, 
während  über  die  Erkrankungen  der  übrigen,  vielleicht  für  das 
Seelenleben  weit  wichtigeren  Formen  sehr  viel  weniger  bekannt 
ist.  Sodann  aber  ist  es  bei  dem  heutigen  Stande  unseres  Wissens 
gar  nicht  möglich,  ein  irgend  zuverlässiges  Urteil  über  die  Aus- 
dehnung und  örtliche  Umgrenzung  der  Krankheitsvorgänge  in  der 


512 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Rinde  zu  gewinnen.  Bei  der  außerordentlichen  Mannigfaltigkeit 
der  Organe,  aus  denen  sich  die  Hirnrinde  ohne  Zweifel  zusammen- 
setzt, können  einige  Stichproben  unmöglich  genügen,  um  uns 
über  die  Verbreitung  der  Zellveränderungen  Klarheit  zu  verschaf- 
fen. Es  wäre  daher  an  sich  sehr  wohl  möglich,  daß  uns  eine  Be- 
rücksichtigung aller  Zellgattungen  und  eine  sorgfältige  Durch- 
musterung der  gesamten  Rinde  zwar  nicht  in  der  Art  der  Zell- 
erkrankungen, aber  doch  in  ihrer  Ausbreitung  auf  die  einzelnen 
Zellarten  und  Rindenbezirke  gewisse  Besonderheiten  der  verschie- 
denen Krankheitsvorgänge  aufdecken  würde.  Allerdings  werden 
wir  immer  annehmen  dürfen,  daß  es  sich  bei  Geistesstörungen 
um  weitverbreitete  Veränderungen  handeln  wird;  wissen  wir  doch 
zur  genüge,  daß  umgrenzte  Rindenzerstörungen  auch  bei  erheb- 
lichem Umfange  ohne  erkennbare  Beeinträchtigungen  des  Seelen- 
lebens verlaufen  können.  Dem  entspricht  auch  die  Erfahrung, 
daß  wir  bei  denjenigen  Formen  des  Irreseins,  die  bisher  Zellver- 
änderungen dargeboten  haben,  diese  letzteren  in  sehr  großer  Aus- 
dehnung antreffen. 

Ebensowenig  wie  das  Verhalten  der  Nervenzellen  gibt  uns  die 
Betrachtung  der  übrigen  Rindenbestandteile  die  Möglichkeit,  bün- 
dige Kennzeichen  für  die  Eigenart  des  vorliegenden  Krankheits- 
vorganges aufzufinden.  Weder  die  Nervenfasern  noch  das  Stütz- 
gewebe oder  die  Gefäße  bieten  bei  den  einzelnen  Erkrankungen 
bisher  Veränderungen  dar,  die  sich  bei  keiner  anderen  in  ähnlicher 
oder  gleicher  Weise  wiederfinden  ließen.  Anscheinend  liegen  die 
Verhältnisse  hier  ganz  ähnlich  wie  bei  der  klinischen  Unterschei- 
dung der  Geisteskrankheiten,  bei  der  wir  auch  nicht  in  der  Lage 
sind,  aus  einem  einzelnen  Zeichen  zuverlässige  Schlüsse  ziehen  zu 
können.  Wie  aber  hier  der  Gesamtzustand  eines  Kranken  zumeist 
doch  ein  Urteil  über  die  vorliegende  klinische  Form  erlaubt,  so 
dürfen  wir  auch  hoffen,  aus  dem  Gesamtbilde  der  Hirnrinde 
bestimmte  Schlüsse  über  die  Zugehörigkeit  des  Einzelfalles  zu  dieser 
oder  jener  Krankheitsgruppe  ziehen  zu  lernen.  Um  dahin  zu  ge- 
langen, ist  es  vor  allem  nötig,  bei  der  Verarbeitung  die  Untersuchung 
nach  möglichst  vielen  Richtungen  und  auf  die  verschiedenartigsten 
Darstellungsweisen  auszudehnen.  Bei  der  Betrachtung  der  Ner- 
venzellen werden  wir  außer  dem  Nissischen  Bilde  auch  das  Ver- 
halten der  Fibrillen  zu  berücksichtigen  haben,  bei  derjenigen  der 


Leichenbefund. 


Fasern  die  Ausdehnung  des  Schwundes  und  die  Zerfallsvorgänge. 
An  der  Glia  beobachten  wir  die  Kerne  und  Kernteilungen,  die 
mannigfachen  Veränderungen  des  Zelleibes,  die  Protoplasmafort- 
sätze, die  Faserbildung,  die  Beziehungen  zu  den  Nervenzellen, 
die  Wucherungen  und  Schwellungen,  die  Schrumpfungs-  und 
Rückbildungsvorgänge.  Die  Musterung  der  Gefäße  zeigt  uns  Ver- 
mehrung und  Sprossung,  Wucherung  von  Endothel-  und  Adven- 
titialzellen,  Verengerung  und  Neubildung  von  Lichtungen,  Er- 
füllung der  Adventitialscheiden  mit  Lymphocyten  und  Plasma- 
zellen; ferner  sind  die  Beziehungen  zur  Glia,  bei  den  größeren 
Gefäßen  auch  das  Verhalten  der  Muskelschicht  und  der  elastischen 
Haut,  deren  Aufsplitterung  und  die  Wandverdickung  durch  Ge- 
websneubildung  zu  beachten. 

Eine  besondere  Bedeutung  scheint  nach  Alzheimers  Unter- 
suchungen die  genauere  Feststellung  der  Abbaustoffe  zu  gewinnen, 
da  sie  uns  vielleicht  gewisse  Einblicke  in  die  Verschiedenheit  der 
chemischen  Vorgänge  gestattet,  die  den  einzelnen  Formen  krank- 
hafter Zerstörung  zugrunde  liegen.  Außer  der  Bildung  von  Pig- 
menten, den  kolloiden  und  hyalinen  Entartungen  der  Gefäße,  den 
Kalkeinlagerungen  in  abgestorbene  Zellen,  kommen  hier  nament- 
lich die  Fettkörper,  die  myelinoiden,  protagonoiden,  fibrinoiden 
Stoffe  in  Betracht,  die  sich  teils  in  den  erkrankten  Nervenzellen 
selbst,  teils  in  den  ihre  Auflösung  und  Fortschaffung  besorgenden 
Gliazellen  oder  bereits  in  den  Adventitialräumen  der  Gefäße  nach- 
weisen lassen. 

Aus  den  genannten  und  vielen  anderen  Einzelheiten  setzen 
sich  die  verschiedenen  anatomischen  Bilder  zusammen,  die  uns 
das  Irresein  liefert.  Bevor  wir  sie  aber  zu  den  klinischen  Erfah- 
rungen in  Beziehung  setzen  können,  ist  es  erforderlich,  aus  der 
Fülle  von  Befunden  Einblick  in  den  Ablauf  der  Krankheitsvor- 
gänge zu  gewinnen,  denen  sie  angehören.  Wenn  wir  bei  der  kli- 
nischen Beobachtung  in  der  Lage  sind,  die  Veränderungen,  die 
das  Krankheitsbild  erfährt,  fortlaufend  zu  verfolgen  und  damit 
die  Zusammengehörigkeit  aller  der  verschiedenartigen  Augen- 
blickszustände,  die  einander  ablösen,  zu  erkennen,  gibt  uns  der 
anatomische  Befund  von  dem  gesamten  Krankheitsvorgange  nur 
einen  einzigen  Durchschnitt,  dessen  zeitliche  Lage  ganz  vom  Zu- 
fall abhängt.    Obgleich  wir  daher  das  vorliegende,  unveränder- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  33 


514 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


liehe  Bild  mit  weit  größerer  Muße  und  Gründlichkeit  bis  in  die 
feinsten  Einzelheiten  hinein  untersuchen  können,  als  der  Kliniker 
das  flüchtige,  wechselnde  Verhalten  seines  Kranken,  so  ist  uns  ein 
Verständnis  für  die  Entstehungsgeschichte  und  die  voraussichtliche 
weitere  Entwicklung  der  wahrgenommenen  Veränderungen  doch 
nur  insoweit  möglich,  wie  unser  Fall  vielleicht  nebeneinander  ver- 
schiedene Stufen  des  sich  abspielenden  Krankheitsvorganges  dar- 
bietet. Natürlich  ist  diese  Schwierigkeit  nicht  unüberwindlich. 
Wenigstens  bei  den  häufigeren  Formen  des  Irreseins  gelingt  es 
im  Laufe  der  Zeit,  so  viel  Beobachtungsstoff  aus  allen  Abschnit- 
ten des  Krankheitsablaufes  zu  sammeln,  daß  aus  der  Reihe  der 
sich  aneinanderschließenden  Bilder  auch  ein  Verständnis  für  die 
Art  der  sich  abspielenden  Krankheitsvorgänge  gewonnen  werden 
kann. 

Die  Fortschritte  in  der  anatomischen  Durchforschung  krank- 
hafter Hirnveränderungen  sind  schon  jetzt  außerordentlich  wert- 
volle. Der  sorgsame  Aufbau  der  Gesamtbefunde  aus  allen  Einzel- 
heiten und  die  Zusammenfügung  der  Einzelbilder  zu  Krankheits- 
vorgängen haben  uns  in  den  Stand  gesetzt,  schon  heute  bestimmte 
anatomische  und  klinische  Erscheinungen  miteinander  in  Be- 
ziehung zu  bringen  und  aus  dem  Leichenbefunde  Schlüsse  auf 
das  allgemeine  Krankheitsbild  im  Leben  abzuleiten.  Das  gilt  vor 
allem  von  der  Paralyse,  einigen  Formen  des  Altersblödsinns,  den 
Erkrankungen  mit  Arteriosklerose,  mit  luetischen  Gefäßverände- 
rungen oder  Meningoencephalitiden,  in  geringerem  Umfange  aber 
auch  von  gewissen  Gruppen  der  Idiotie,  von  der  Epilepsie,  von  der 
Dementia  praecox  und  einer  Reihe  weiterer  Erkrankungen.  Nicht 
ganz  selten  hat  uns  dabei  die  anatomische  Untersuchung  gezeigt, 
daß  anscheinend  leicht  verständliche  Krankheitsbilder  bestimmt 
nicht  der  klinischen  Gruppe  angehörten,  der  sie  zugeteilt  worden 
waren.  Auf  der  anderen  Seite  allerdings  hat  sich,  namentlich  bei 
den  akut  verlaufenden  Geistesstörungen,  oft  genug  die  befriedigende 
Einordnung  des  Leichenbefundes  in  klar  gekennzeichnete  Krank- 
heitsvorgänge einstweilen  als  unmöglich  erwiesen. 

Ein  wesentliches  Hindernis  für  die  Fortentwicklung  unserer 
anatomischen  Diagnostik  ist  zurzeit  ohne  Zweifel  noch  die  Un- 
sicherheit, die  in  der  Gruppierung  der  klinischen  Krankheitsbilder 
herrscht.   Sie  läßt  den  Anatomen  zunächst  darüber  im  unklaren, 


Zustandsbilder.  ^  j  ^ 

ob  die  auseinanderweichenden  Befunde,  die  ihm  vor  Augen  kommen, 
ganz  verschiedenen  Krankheitsvorgängen  angehören  oder  ob  sie 
als  die  einzelnen  Abschnitte  einer  und  derselben  Erkrankung  auf- 
gefaßt werden  müssen.  Nur  sehr  ausgedehnte  und  vollständige 
Beobachtungsreihen,  wie  sie  erst  in  langen  Zeiträumen  gesammelt 
werden  können,  geben  ihm  die  Möglichkeit,  hier  eine  selbständige 
Entscheidung  zu  treffen.  Mag  daher  auch  der  Leichenbefund 
später  einmal  das  sicherste  Mittel  werden,  die  Diagnose  des  Kli- 
nikers zu  bestätigen  oder  zu  berichtigen  —  vorderhand  bedarf 
der  Anatom  noch  dringend  seiner  Hilfe,  um  an  der  Hand  eindeu- 
tiger klinischer  Beobachtungen  das  Wesentliche  von  dem  Zu- 
fälligen und  Nebensächlichen  in  seinen  Befunden  abtrennen  und 
aus  den  anatomischen  Bildern  die  ihnen  zugrunde  liegenden  Krank- 
heitsvorgänge ableiten  zu  lernen. 

B.  Die  Diagnose. 

Zustandsbilder.  Was  uns  bei  der  Betrachtung  unserer  Kran- 
ken zunächst  in  die  Augen  fällt,  sind  die  Veränderungen  ihres 
Wesens,  die  gegenüber  ihrem  früheren,  gesunden  Zustande  oder 
im  Vergleiche  mit  dem  Verhalten  geistig  normaler  Menschen  her- 
vortreten. Diese  Veränderungen,  deren  Einzelheiten  sich  durch 
sorgfältige,  allseitige  Untersuchung  feststellen  lassen,  haben  der 
älteren  Psychiatrie  den  ersten  Stoff  zur  Aufstellung  von  Krank- 
heiten geliefert.  Man  unterschied  eine  Reihe  von  verschieden- 
artigen Zuständen,  in  denen  das  Irresein  sich  äußert,  und  gab 
ihnen  Benennungen  nach  ihren  hervorstechendsten  Zeichen.  So 
entstanden  neben  vielen  anderen  die  Krankheitsbilder  der  Me- 
lancholie, der  Tobsucht,  der  Demenz,  des  Stupors,  des  Deliriums, 
der  Verwirrtheit,  die  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  vielfach  den  In- 
halt der  psychiatrischen  Diagnosen  bildeten.  Im  großen  und  ganzen 
gestaltete  sich  dabei  die  Aufgabe  ziemlich  einfach.  Die  für  die 
Erkennung  des  Leidens  maßgebenden  Störungen  waren  meist  so 
auffallende,  daß  auch  der  Laie  sie  unschwer  aufzufassen  vermochte. 
Im  Grunde  .genommen  beschränkte  sich  demnach  die  Diagnosen- 
stellung auf  die  Hervorhebung  einer  einzelnen,  besonders  her- 
vortretenden und  deswegen  für  kennzeichnend  gehaltenen  Krank- 
heitserscheinung. 

33* 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 

Kahlbaums  Verdienst  ist  es,  mit  großem  Nachdrucke  auf  die 
Unzulänglichkeit  dieser  Diagnostik  hingewiesen  zu  haben.  Er  be- 
tonte, daß  wir  es  dabei  nur  mit  Zustandsbildern,  mit  ,,Habitual- 
formen"  zu  tun  haben,  die  bei  ganz  verschiedenen  Krankheiten 
in  ähnlicher  Weise  wiederkehren  und  im  Verlaufe  derselben  Krank- 
heit vielfach  wechseln  können.  Ungemein  lehrreich  ist  in  dieser 
Hinsicht  das  schon  seit  längerer  Zeit  richtig  aufgefaßte  Beispiel 
der  Paralyse.  Man  sieht  sie  in  stark  voneinander  abweichenden 
Formen  auftreten  und  in  ihrem  Verlaufe  die  mannigfaltigsten 
Bilder  darbieten.  Immerhin  waren  die  ihr  eigentümlichen  Läh- 
mungserscheinungen wie  ihr  ungünstiger  Ausgang  noch  von  Grie- 
singer für  einfache  Komplikationen  gehalten  worden,  die  zu  ver- 
schiedenen ursprünglichen  Krankheitsbildern  hinzutreten  könnten. 
Nur  sehr  langsam  vermochte  Kahlbaums  klinische  Auffassung 
der  Krankheiten  die  symptomatische  zu  verdrängen;  ja  an  man- 
chen Punkten  haben  wir  diese  auch  heute  noch  nicht  überwunden. 
Immer  von  neuem  hat  der  mächtige  Eindruck  des  Zustandsbildes 
die  Beobachter  dazu  veranlaßt,  in  ihm  das  Kennzeichen  einer  wirk- 
lichen Krankheit  zu  sehen.  Besonders  begünstigt  wurde  diese  Nei- 
gung durch  den  meist  überaus  langwierigen  Verlauf  der  Geistes- 
krankheiten, der  dem  einzelnen  Beobachter  den  Überblick  über 
den  ganzen  Krankheitsfall  vielfach  unmöglich  machte. 

Unter  den  Zustandsbildern  des  Irreseins  stehen  die  Melan- 
cholie und  die  Tobsucht  als  altbekannte  Formen  an  erster  Stelle. 
Als  Melancholie  bezeichnet  man  die  traurige  oder  ängstliche 
Verstimmung,  zu  der  sich  in  der  Regel  auch  Wahnbildungen  im 
Sinne  der  Versündigung  oder  der  Verfolgung  hinzugesellen.  Je 
nach  diesen  Beimischungen  sprach  man  wohl  von  einer  einfachen 
Melancholie,  einer  Angstmelancholie  oder  einer  Melancholie  mit 
Wahnideen.  Die  überwiegende  Mehrzahl  der  so  gekennzeichneten 
Fälle  wird,  wie  wir  heute  wissen,  vom  manisch-depressiven  Irre- 
sein umfaßt;  ein  weiterer  Teil  gehört  zur  Dementia  praecox,  noch 
andere  Fälle  zur  Paralyse,  vereinzelte  zur  Epilepsie,  zur  Arterio- 
sklerose, zum  Entartungsirresein.  Nachdem  auch  gewisse  Depres- 
sionszustände  der  Rückbildungsjahre,  denen  ich  noch  Selbständig- 
keit zugestehen  zu  müssen  glaubte,  wahrscheinlich  den  uns  sonst 
bekannten  Erkrankungen  einzuordnen  sind,  soweit  heute  über- 
haupt ein  klinisches  Verständnis  möglich  ist,  hat  die  Melancholie 


Zustandsbilder.  ^  I  y 

ihre  Berechtigung  als  Krankheitsform  verloren  und  wird  nur  noch 
als  Zustandsbild  zu  gelten  haben. 

Ein  ganz  ähnliches  Schicksal  hat  die  Tobsucht  gehabt,  der 
noch  Jakobi  ein  großes  Werk  widmete.  Sie  umfaßt  Krankheits- 
bilder mit  ausgeprägter,  meist  heiterer  oder  zorniger  Erregung 
(Zorntobsucht).  Die  großen  französischen  Irrenärzte  Fair  et  und 
Baillarger  erkannten  schon  früh,  daß  tobsüchtige  Erregungs- 
zustände nicht  nur  die  Neigung  hatten,  sich  im  Leben  mehrfach 
zu  wiederholen,  sondern  daß  sie  auch  mit  melancholischen  Zu- 
ständen mehr  oder  weniger  regelmäßig  abwechseln  konnten.  Da- 
mit war  schon  eine  klinische  Auffassung  des  Zustandsbildes  an- 
gebahnt. So  entstanden  die  Krankheitsformen  der  einfachen  und 
der  periodischen  Manie  und  des  in  verschiedenen  Verlaufsformen 
auftretenden  zirkulären  Irreseins.  Die  genauere  Erforschung  dieser 
Bilder  hat,  wie  ich  glaube,  unwiderleglich  gezeigt,  daß  sie  alle  nur 
Erscheinungsweisen  einer  und  derselben  Erkrankung,  des  manisch- 
depressiven Irreseins,  darstellen,  das  auch  die  Hauptmasse  der  Me- 
lancholie in  sich  aufgenommen  hat.  Kahl  bäum  hat  uns  dann 
gelehrt,  von  der  jener  Erkrankung  angehörigen  manischen  Er- 
regung eine  andere  Form  der  Tobsucht,  die  katatonische,  ganz 
abzutrennen  und  einer  völlig  wesensverschiedenen  Erkrankung 
zuzuweisen.  Selbstverständlich  haben  sich  aus  dem  ursprünglichen 
Bereiche  der  Tobsucht  auch  die  Erregungszustände  der  Paraly- 
tiker und  Epileptiker  (,,Mania  transitoria"),  die  pathologischen 
Rauschzustände  und  manche  andere  weniger  wichtige  Formen 
abgespalten. 

Teils  als  Unterform  der  Melancholie,  teils  als  selbständige 
Krankheit  pflegte  der  Stupor  betrachtet  zu  werden.  Man  faßt 
unter  dieser  Bezeichnung  alle  Zustände  zusammen,  bei  denen  die 
motorischen  Äußerungen  der  Kranken  aufgehoben  oder  sehr  stark 
behindert  sind.  Das  Bewußtsein  erscheint  dabei  in  der  Regel  ge- 
trübt, öfters  in  sehr  hohem  Grade.  Insbesondere  wurde  eine  ,,Me- 
lancholia  attonita"  oder  ,,cum  stupore",  andererseits  ein  ,, Er- 
schöpf ungsstupor"  (akute  Demenz)  und  ein  halluzinatorischer 
(,,delusional")  Stupor  unterschieden.  Auch  hier  hat  wieder  Kahl- 
baum  gezeigt,  daß  die  Melancholia  attonita  nur  ein  Zustandsbild 
der  von  ihm  umgrenzten  Katatonie  bildet.  Ein  weiterer  erheb- 
licher Teil  der  stuporösen  Krankheitsbilder  gehört  zum  manisch- 


5i8 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


depressiven  Irresein.  Die  halluzinatorischen  Stuporformen  werden 
ebenfalls  zum  Teil  diesem  letzteren,  zum  Teil  der  Dementia  praecox 
zuzurechnen  sein.  Ganz  dasselbe  gilt  für  den  Erschöpfungsstupor, 
aus  dem  jedoch  noch  ein  eigenartiger  Rest  auszuscheiden  ist,  der 
den  infektiösen  Schwächezuständen  angehört.  Andere  Formen  des 
Stupors  werden  bei  der  Paralyse  und  bei  der  Hysterie  beobachtet; 
eine  besonders  wichtige  Gruppe  von  Fällen  begegnet  uns  im  Ver- 
laufe der  Epilepsie. 

Die  mehr  symptomatische  Bedeutung  der  Delirien  ist  wegen 
ihrer  klaren  ursächlichen  Beziehungen  zu  körperlichen  Erkran- 
kungen früh  erkannt  worden,  so  daß  man  z.  B.  die  Fieberdelirien 
streng  von  den  eigentlichen  Geistesstörungen  abtrennen  zu  müssen 
glaubte.  Die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  deliriösen  Zu- 
stände bildet  Bewußtseinstrübung  und  Verworrenheit  mit  leb- 
haften Sinnestäuschungen;  dazu  kommt  ein  rascher  Verlauf.  Vor- 
übergehend kann  das  Zustandsbild  des  Deliriums  in  sehr  ver- 
schiedenen Erkrankungen  entstehen,  so  beim  manisch-depressiven 
Irresein,  bei  der  Paralyse,  beim  Altersblödsinn,  bei  Hysterie  und 
Epilepsie.  Außerdem  bildet  es  die  kennzeichnende  Störung  bei 
vielen  Vergiftungen,  wie  das  Atropin-,  Haschisch-,  Cocaindelirium; 
ähnlich  sind  wohl  auch  das  Delirium  tremens  und  die  infektiösen 
Delirien  zu  beurteilen.  Als  selbständige  Form  galt  oder  gilt  noch 
jetzt  vielfach  das  Delirium  acutum,  das  sich  durch  den  schweren, 
meist  tötlichen  Verlauf  auszeichnet.  Auch  hier  indessen  haben 
wir  es  nicht  mit  einer  wirklichen  Krankheit,  sondern  mit  einem 
Zustandsbilde  zu  tun,  das  bisweilen  der  Paralyse,  auch  wohl  ein- 
mal der  Katatonie  oder  dem  manisch-depressiven  Irresein  an- 
gehört, in  der  Regel  aber  der  Ausdruck  noch  unbekannter  In- 
fektionen oder  Selbstvergiftungen  sein  dürfte. 

Wohl  das  meistumstrittene  Zustandsbild  ist  dasjenige  der  Pa- 
ranoia oder  Verrücktheit.  Während  noch  Griesinger  in  ihr 
lange  Zeit  lediglich  eine  Ausgangsform  ungeheilter  Geistesstörungen 
sehen  wollte  und  demgemäß  nur  eine  ,, sekundäre"  Verrücktheit 
kannte,  wies  Snell  zuerst  auf  die  ,, primäre"  Entstehung  von 
Wahnbildungen  hin.  Als  Kennzeichen  der  Krankheit  galt  die 
Entwicklung  mehr  oder  weniger  zusammenhängender  Wahn- 
vorstellungen, zu  denen  sich  gewöhnlich  auch  Sinnestäuschungen 
hinzugesellten.    Dieser   ziemlich   unbestimmte  Krankheitsbegriff 


Zustandsbilder.  ^  j  p 

erweiterte  sich  rasch  derart,  daß  vor  etwa  zwei  Jahrzehnten  die 
übergroße  Mehrzahl  aller  chronischen  Geisteskranken  in  ihm  zu- 
sammengefaßt wurde.  Ganz  allmählich  hat  sich  jedoch  die  Er- 
kenntnis Bahn  gebrochen,  daß  auch  die  Verrücktheit  nur  ein  Zu- 
standsbild  ist,  das  in  ähnlicher  Weise  bei  verschiedenen  Krank- 
heiten zur  Entwicklung  kommt.  Verhältnismäßig  leicht  ist  das 
nachzuweisen  für  die  akut  verlaufenden  Formen.  Der  früher  als 
,, Alkoholparanoia"  bezeichnete  Alkoholwahnsinn  wird  jetzt  schon 
überall  als  gesonderte  Erkrankung  aufgefaßt.  Ebenso  pflegt  man 
die  rasch  auftauchenden  Wahnbildungen  bei  der  Dementia  prae- 
cox wohl  meist  als  Zustandsbilder  dieser  Krankheit  anzuerkennen; 
nur  hinsichtlich  der  sogenannten  „originären"  Paranoia,  die  eben- 
falls dorthin  gehört,  gehen  die  Ansichten  noch  auseinander.  Auch 
von  einer  periodischen  Paranoia  hört  man  noch  sprechen,  ob- 
gleich die  sich  gleichartig  wiederholenden  Wahnbildungen,  soweit 
sie  nicht  alkoholischen  Ursprungs  oder  gelegentliche  Erscheinungs- 
formen der  Dementia  praecox  sind,  unzweifelhaft  dem  manisch- 
depressiven Irresein  angehören. 

Weit  schwieriger  liegt  die  Frage  bei  den  allmählich  sich  aus- 
bildenden und  lange  Zeit  gleichmäßig  festgehaltenen  Wahnvorstel- 
lungen, Hier  haben  wir  zunächst  eine  nicht  große  Gruppe  von 
Fällen  auszuscheiden,  die  sicher  mehr  als  ein  Zustandsbild  dar- 
stellt und  daher  zweckmäßig  die  alte  Bezeichnung  beibehält.  Es 
sind  das  jene  Formen,  bei  denen  sich  ganz  langsam  und  ohne  selb- 
ständige Störungen  des  Gemütslebens  oder  des  Willens  systemati- 
sierte Wahnvorstellungen  herausbilden  und  in  der  Hauptsache 
unverändert  festgehalten  werden.  Der  Rest  von  Fällen  enthält 
vereinzelte  Beobachtungen  alkoholischer  bzw.  syphilitischer  und 
tabischer  Entstehung,  ferner  eine  große  Zahl  von  Kranken  mit 
schwachsinnigen,  zerfahrenen  Wahnbildungen,  bei  denen  die  Vor- 
geschichte, das  gelegentliche  Hervortreten  katatonischer  Zeichen 
und  der  Ausgang  in  ausgeprägte  Schwächezustände  für  die  Zu- 
gehörigkeit zur  Dementia  praecox  sprechen.  Endlich  verbleiben 
noch  einige  Formen,  namentlich  chronisch-halluzinatorische  Zu- 
stände ohne  wesentliche  Verblödung,  deren  Einordnung  in  eine 
der  genannten  Gruppen  zunächst  nicht  tunlich  erscheint,  so  daß 
hier  die  Möglichkeit  der  Abgrenzung  neuer  Krankheiten  nicht  ge- 
leugnet werden  kann. 


520 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Ein  Krankheitsbild,  dessen  Umgrenzung  ebenfalls  starke  Wand- 
lungen durchgemacht  hat,  ist  die  Amentia.  Meynert  verstand 
darunter  Zustände  von  Verwirrtheit  und  meist  auch  Erregung  mit 
Sinnestäuschungen.  Das  lediglich  symptomatische  Gepräge  der 
Amentia  ging  schon  aus  dem  Umstände  hervor,  daß  er  auch  das 
Delirium  tremens  und  die  epileptischen  Dämmerzustände  dazu 
rechnete,  klinische  Bilder,  deren  Zugehörigkeit  zu  bestimmten, 
eigenartigen  Erkrankungsvorgängen  schon  damals  keinem  Zweifel 
unterliegen  konnte.  Auch  in  der  Folge  sind  als  Amentia  alle  mög- 
lichen Zustände  mit  den  gleichen  obengenannten  Krankheits- 
erscheinungen bezeichnet  worden,  freilich  meist  mit  dem  An- 
sprüche, daß  es  sich  um  wirkliche.  Krankheiten  handle.  Nach- 
dem die  Amentia  eine  Zeitlang  einen  großen  Teil  aller  akuten 
Psychosen  umfaßt  hatte,  ist  ihr  Bereich  nach  und  nach  immer 
enger  geworden.  Zunächst  hat  sich  von  ihr  eine  umfangreiche 
Gruppe  abgetrennt,  in  deren  weiterem  Verlaufe  katatonische  Zei- 
chen und  das  Eintreten  der  bekannten  Verblödung  die  Zugehörig- 
keit zur  Dementia  praecox  dargetan  hatten.  Weiterhin  hat  sich 
gezeigt,  daß  eine  erhebliche  Anzahl  von  Fällen,  die  in  der  Form 
einer  Amentia  verlaufen,  Zustandsbilder  des  manisch-depressiven 
Irreseins  sind.  Endlich  aber  bleibt  noch  ein  Rest  zurück,  bei  dem 
Infektionskrankheiten  eine  ursächliche  Rolle  spielen,  infektiöse 
Delirien  und  Schwächezustände.  Wenn  man  will,  kann  man  für 
diese  den  Namen  der  Amentia  beibehalten.  Es  ist  vielleicht  möglich, 
daß  noch  einzelne  Fälle  dunkler  Entstehungsgeschichte  vorkom- 
men, die  sich  nicht  in  eine  der  angeführten  Gruppen  einordnen 
lassen;  vorderhand  habe  ich  jedoch  keinen  genügenden  Anhalt, 
um  diese  Annahme  zu  stützen.  • 

Das  neueste  Zustandsbild,  das  zugleich  eine  Krankheitsbezeich- 
nung bildet,  ist  die  von  Korssakow  beschriebene  Verbindung 
von  schwerer  Merkstörung  mit  Erinnerungsfälschungen.  Die  ur- 
sprünglich noch  dazu  gehörenden  polyneuritischen  Erscheinungen 
haben  sich  späterhin  als  nebensächlich  erwiesen.  Ohne  Zweifel 
kennzeichnet  die  erwähnte  Verbindung  einmal  eine  ganz  bestimmte 
Krankheit,  eine  Form  der  alkoholischen  Verblödung.  Sie  findet 
sich  aber  weiterhin  auch  noch  bei  einer  Reihe  von  andersartigen 
Erkrankungen,  nach  Infektionen,  nach  Kopfverletzungen,  bei 
Hirngeschwülsten  und  annähernd  ähnlich  auch  bei  der  Presbyo- 


Zustandsbilder.  ^21 

phrenie.  Natürlich  haben  wir  es  hier  überall  ebenso  mit  ein- 
fachen Zustandsbildern  zu  tun  wie  in  den  seltenen  Fällen,  in  denen 
die  gleiche  Verbindung  von  Krankheitszeichen  einmal  im  Ver- 
laufe einer  Paralyse  zur  Beobachtung  gelangt. 

Durch  den  Übergang  von  der  symptomatischen  zur  klinischen 
Betrachtungsweise  mußte  notwendig  auch  der  Begriff  des  erwor- 
benen Schwachsinns,  der  Demenz,  umgestaltet  werden.  Man 
faßte  unter  dieser  Bezeichnung  alle  Zustände  zusammen,  bei  denen 
sich  Gedächtnis-  und  Urteilsschwäche,  Gedankenarmut,  gemüt- 
liche Verödung  und  Verlust  der  Selbständigkeit  im  Denken  und 
Handeln  eingestellt  hatte.  Dieses  Siechtum  wurde  als  der  gemein- 
same Ausgang  aller  Psychosen  angesehen,  die  nicht  in  Genesung 
übergingen.  Da  man  in  der  Verblödung  nicht  das  natürliche  Er- 
gebnis des  Krankheitsvorganges,  sondern  mehr  ein  Ereignis  sah, 
das  durch  Hinzutreten  unglücklicher  Umstände  bedingt  wurde, 
sprach  man  von  einer  ,, sekundären"  Demenz,  die  als  besondere 
Krankheitsform  beschrieben  zu  werden  pflegte,  um  damit  ge- 
wissermaßen deren  Unabhängigkeit  gegenüber  dem  ursprünglichen 
Krankheitsbilde  anzudeuten.  Die  Erfahrung  hat  indessen  gelehrt, 
daß  die  Demenz  nur  ein  notwendiges  Glied  in  der  Kette  der  Krank- 
heitserscheinungen darstellt  und  von  den  ihr  voraufgehenden  Zu- 
standsbildern schlechterdings  nicht  abgetrennt  werden  kann.  Es 
gibt  daher  auch  nicht  eine  Demenz,  sondern  so  viele  Formen, 
wie  es  Krankheiten  gibt,  die  diesen  unglücklichen  Ausgang  neh- 
men können. 

Die  Zahl  der  Zustandsbilder,  die  als  Krankheiten  aufgefaßt 
worden  sind,  ist  mit  den  aufgezählten  lange  nicht  erschöpft.  Ja, 
man  kann  sagen,  daß  gerade  die  Betrachtungsweise  Wernickes, 
die  bewußt  nur  Symptomenbilder  schaffen  wollte,  der  Neigung  zur 
Vermengung  von  Zuständen  und  Krankheiten,  die  unserer  kli- 
nischen Entwicklung  so  hinderlich  gewesen  ist,  neuen  Vorschub 
geleistet  hat.  Die  Allo-,  Auto-,  Somato-  und  Motilitätspsychosen, 
die  von  Wer  nicke  zunächst  ledigHch  als  der  Ausdruck  eines 
bestimmten  Sitzes  der  Krankheitsvorgänge  gedacht  waren,  be- 
ginnen vielfach  schon  den  Anschein  wirklicher  Diagnosen  anzu- 
nehmen. So  entschieden  eine  solche  Übertragung  rein  sympto- 
matischer Abgrenzungen  auf  das  klinische  Gebiet  bekämpft  werden 
muß,  läßt  sich  doch  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  ihr  ein  berech- 


522 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


tigter  Gedanke  zugrunde  liegt.  Wenn  anscheinend  dieselben  Zu- 
standsbilder  in  verschiedenen  Krankheiten  auftreten,  so  werden 
wir  doch  daran  festhalten  müssen,  daß  hier  nicht  eine  wirkliche 
Gleichheit,  sondern  nur  eine  Ähnlichkeit  vorliegen  kann.  Die  tie- 
feren Unterschiede  in  den  Krankheitsvorgängen,  die  aus  ihrer 
Entstehungsgeschichte  hervorgehen  und  in  ihrer  ganzen  weiteren 
Entwicklung  zum  Ausdrucke  kommen,  müssen  auch  jedem  ein- 
zelnen Krankheitsabschnitte  ihre  eigenartige  Färbung  geben,  wenn 
wir  sie  auch  oft  nicht  zu  fassen  vermögen.  Tatsächlich  hat  es 
sich  fast  überall  gezeigt,  daß  die  bis  dahin  als  Einheit  betrachteten 
Zustandsbilder,  sobald  wir  ihre  Zugehörigkeit  zu  verschiedenen 
Krankheiten  erkannt  haben,  eine  Reihe  von  feineren,  so  lange 
unbeachteten  Schattierungen  darboten,  in  denen  sich  die  klinische 
Eigenart  aussprach.  Besäßen  wir  von  vornherein  eine  ganz  ein- 
dringende Kenntnis  aller  Krankheitszeichen,  so  würden  wir  im- 
stande sein,  die  innere  Verschiedenheit  der  zu  den  einzelnen  Krank- 
heiten gehörigen,  einander  ähnlichen  Zustandsbilder  ohne  wei- 
teres aufzufassen.  In  diesem  Sinne  würde  auch  eine  rein  sympto- 
matische Betrachtungsweise  schließlich  zu  einer  Aufteilung  der 
Zustandsbilder  in  die  verschiedenen  klinischen  Formenkreise  ge- 
langen können.  Allerdings  besteht  dabei  die  Gefahr,  daß  der  Ver- 
such einer  derartigen  Gruppierung  nicht  bei  denjenigen  Unter- 
schieden haltmachen  würde,  die  für  die  einzelnen  Krankheits- 
vorgänge kennzeichnend  sind,  sondern  zu  einer  Zersplitterung 
der  Erscheinungsformen  nach  zum  Teil  ganz  nebensächlichen  Ge- 
sichtspunkten führen  müßte.  Um  dieser  Gefahr  zu  entgehen  und 
die  Zergliederung  der  Krankheitszeichen  mit  den  Bedürfnissen 
und  Erfahrungen  der  klinischen  Forschung  stets  im  Einklänge 
zu  halten,  muß  die  Kenntnis  der  Krankheitsvorgänge  selbst  uns 
lehren,  in  welchen  Einzelzügen  der  Zustandsbilder  die  Unter- 
schiede '  der  zugrunde  liegenden  Erkrankungen  zum  Ausdrucke 
kommen. 

Krankheitsvorgänge.  Die  klinische  Erfahrung  zeigt  uns  eine 
Reihe  von  psychischen  Erkrankungen,  bei  denen  eine  genau  be- 
kannte Schädlichkeit  die  einzige  Ursache  der  auftretenden  Stö- 
rungen bildet.  Dahin  gehören  namentlich  die  Vergiftungen,  also 
z.  B.  der  Rausch.  Wir  sehen  in  diesen  Fällen,  daß  die  Erschei- 
nungen des  Irreseins  und  ebenso  sein  Verlauf  durch  die  Krank- 


Krankheitsvorgänge.  ^23 

heitsursache  vollkommen  bestimmt  werden;  wir  sind  imstande, 
aus  dem  Zustandsbilde  ohne  weiteres  auf  die  Art  der  Ursache, 
den  Zeitpunkt  ihrer  Einwirkung,  ferner  auf  die  weitere  Entwick- 
lung der  Störungen  und  ihr  Ende  annähernd  zuverlässige  Schlüsse 
zu  ziehen.  So  durchsichtig  wie  hier  liegen  die  Dinge  freilich  ver- 
hältnismäßig selten.  Schon  bei  der  Gestaltung  des  Rausches  können 
die  persönlichen  Eigenschaften  des  Berauschten  das  klinische  Bild 
in  gewissem  Sinne  verändern,  obgleich  auch  dann,  beim  patho- 
logischen Rausche,  die  alkoholische  Entstehung  wie  der  voraus- 
sichtliche günstige  und  rasche  Ablauf  der  Störung  dem  Beobachter 
nicht  zweifelhaft  bleibt.  Weit  auseinander  gehen  aber  die  Krank- 
heitsbilder, die  wir  im  Anschlüsse  an  dauernden  Alkoholmißbrauch 
auftreten  sehen,  der  einfache  alkoholische  Schwachsinn,  der  Eifer- 
suchtswahn, das  Delirium  tremens,  der  Alkoholwahnsinn,  die 
Korssakowsche  Psychose  usf.  Gerade  diese  Erfahrung  ist  viel- 
fach als  Beweis  gegen  die  Möglichkeit  einer  Gruppierung  der 
Geistesstörungen  nach  ihren  Ursachen  angeführt  worden.  In 
Wirklichkeit  geht  aus  ihr  nur  hervor,  daß  der  Alkohol  nicht  die 
einzige  und  unmittelbare  Ursache  der  verschiedenen  Erkrankungen 
sein  kann,  daß  wir  also  noch  keinen  genügenden  Einblick  in  deren 
Entstehungsgeschichte  besitzen.  Dennoch  sind  wir  trotz  der  Ver- 
schiedenheit der  klinischen  Bilder  in  der  Lage,  ihre  alkoholische 
Grundlage  mit  Sicherheit  zu  erkennen,  und  wir  vermögen  auch  die 
weitere  Entwicklung  und  den  Ausgang  mit  ziemlicher  Wahrschein- 
lichkeit vorauszusagen.  Ganz  ebenso  gestattet  uns  das  Krankheits- 
bild der  Paralyse  mit  großer  Sicherheit  auf  das  Vorausgehen  einer 
syphilitischen  Ansteckung  und  auf  den  ungünstigen  weiteren  Ver- 
lauf, ja  auf  einen  ganz  bestimmten  Leichenbefund  Schlüsse  zu 
ziehen,  obgleich  wir  über  die  Art  der  tieferen  Beziehungen  zwischen 
der  ursächlichen  Lues  und  den  später  auftretenden  Störungen  noch 
völlig  im  unklaren  sind. 

Aus  diesen  und  ähnlichen  Betrachtungen  leiten  wir  den  eigent- 
lich selbstverständlichen  Satz  ab,  daß  die  Krankheitsursachen  nicht 
nur  dem  Krankheitsbilde  sein  besonderes  Gepräge  geben,  sondern 
auch  Verlauf  und  Ausgang  des  Leidens  bestimmen.  Allerdings 
sind  dabei  nicht  nur  die  äußeren,  sondern  auch  die  inneren  Ur- 
sachen und  die  im  Verlaufe  der  Krankheit  einwirkenden  Schä- 
digungen mit  zu  berücksichtigen.    Jeder  Ursache,  die  überhaupt 


524 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


eine  Psychose  zu  erzeugen  vermag,  entspricht  ein  bestimmter 
Krankheitsvorgang,  als  dessen  Ausdruck  wir  eben  ihre  Erschei- 
nungen und  ihren  gesamten  Entwicklungsgang  ansehen  dürfen. 
Haben  wir  aus  einem  gegebenen  Zustandsbilde  das  Wesen  des 
zugrunde  liegenden  Krankheitsvorganges  erkannt,  so  müßten  wir 
grundsätzlich  imstande  sein,  wenigstens  in  großen  Zügen  Ver- 
gangenheit und  Zukunft  aus  ihm  zu  erschließen.  Allerdings  wer- 
den wir  dabei  vielfach  nicht  bis  auf  die  Ursachen  der  Erkrankung 
zurückgehen  können,  da  sie  uns  noch  gänzlich  unbekannt  sind. 
Wir  vermögen  jedoch  die  Gesetzmäßigkeiten  im  Ablaufe  der  Krank- 
heitsvorgänge wenigstens  rein  erfahrungsmäßig  zu  erfassen  und 
zur  Richtschnur  unseres  Urteils  zu  machen.  Je  weiter  unser  kli- 
nisches Wissen  fortschreitet,  desto  deutlicher  stellt  es  sich  heraus, 
daß  trotz  aller  Schwierigkeiten  und  Unklarheiten  im  einzelnen 
doch  ganz  bestimmte  Zusammenhänge  zwischen  der  Gestaltung 
der  Zustandsbilder  und  dem  Gesamtverlaufe  der  Erkrankungen 
bestehen,  daß  wir  also  imstande  sind,  aus  dem  Zustandsbilde  den 
Krankheitsvorgang  zu  erkennen,  der  es  erzeugt  hat.  Mit  anderen 
Worten,  wir  lernen  es,  wirkliche  Diagnosen  zu  stellen,  die  uns  mehr 
sagen  als  eine  einfache  Umschreibung  des  unmittelbar  Wahr- 
genommenen. 

Der  erste  Gewinn  der  Diagnose  ist  die  Zusammenfassung  sehr 
verschiedenartiger  Zustandsbilder  zu  einer  Einheit,  ein  zweiter 
die  feinere  Unterscheidung  anscheinend  gleichartiger  Zustände. 
Wir  erkennen,  daß  ein  Krankheitsvorgang  im  Laufe  seiner  Ent- 
wicklung völlig  abweichende,  ja  scheinbar  durchaus  gegensätzliche 
Bilder  hervorbringen  kann,  und  daß  er  einem  bestimmten,  für 
ihn  kennzeichnenden  Ende  zusteuert.  Nicht,  als  ob  er  unter  allen 
Umständen  in  Tod,  Unheilbarkeit  oder  Heilung  ausgehen  müßte. 
Diese  Abstufung  der  Ausgänge  wird  vielmehr  oft  genug  von  ganz 
anderen  Bedingungen,  der  persönlichen  Widerstandsfähigkeit,  der 
Schwere  der  krankhaften  Schädigung,  ungünstigen  Nebeneinflüssen 
und  Zufällen  abhängen.  Dagegen  werden  wir  annehmen  dürfen, 
daß  beim  Ausgang  in  Schwächezustände,  in  Demenz,  die  Eigenart 
des  Krankheitsvorganges  auch  in  den  ,, Endzuständen"  noch  er- 
kennbar hervortreten  wird,  da  verschiedene  Krankheitsvorgänge 
schwerlich  genau  dieselben  endgültigen  Störungen  erzeugen  können. 
Soviel  sich  heute  beurteilen  läßt,  spricht  die  Erfahrung  für  diese 


Krankheitsvorgänge.  ^25 

Auffassung;  der  paralytische  und  der  epileptische,  der  alkoholische 
und  der  senile  Schwachsinn,  die  Endzustände  der  Dementia  prae- 
cox und  ungünstig  ausgehender  Fälle  des  manisch-depressiven 
Irreseins  sind  untereinander  wesentlich  verschieden. 

Wir  dürfen  demnach  hoffen,  daß  uns  ein  genaueres  Verständnis 
für  die  Ursachen  des  Irreseins,  eine  feinere  Zergliederung  seiner 
Erscheinungen  und  weiterhin  die  sorgfältige  Beachtung  seiner  Ver- 
laufsformen und  Ausgänge,  endlich  die  Durchforschung  der  krank- 
haften Hirnveränderungen  mehr  und  mehr  die  Möglichkeit  an 
die  Hand  geben  werden,  die  unseren  Zustandsbildern  entsprechen- 
den Krankheitsvorgänge  selbst  zu  erkennen  und  damit  Diagnosen 
zu  stellen.  Heute  allerdings  haben  wir  uns  diesem  Endziele  erst 
an  einigen  wenigen  Punkten  genähert.  Zumeist  bedienen  wir  uns 
noch  großer  „Krankheitstöpfe",  in  denen  wir  vorläufig  Gruppen 
von  Krankheitsbildern  ohne  Gewähr  für  deren  innere  Einheitlich- 
keit zusammenfassen.  Solche  Töpfe  waren  früher  die  Paranoia, 
die  Amentia,  die  sekundäre  Demenz,  aber  wir  können  sie  auch 
jetzt  noch  nicht  entbehren.  So  stellt  ohne  Zweifel  die  Idiotie  einen 
Sammelbegriff  dar,  der  eine  große  Zahl  gänzlich  verschiedener 
Krankheitsvorgänge  in  sich  schließt;  in  beschränkterem  Maße 
gilt  das  auch  für  die  Imbezillität  und  für  die  psychopathischen 
Zustände.  Ebenso  ist  die  Epilepsie  nur  eine  symptomatische,  aber 
durchaus  keine  klinische  Einheit;  vielleicht  wird  auch  die  Lösung 
der  Hysteriefrage  in  der  gleichen  Richtung  zu  suchen  sein.  Ferner 
werden  sich  möglicherweise  aus  der  großen  Gruppe  der  Dementia 
praecox  einzelne  besondere  Formen  herauslösen  lassen,  die  eigen- 
artigen Krankheitsvorgängen  angehören,  und  selbst  bei  den  In- 
fektionspsychosen darf  man  wohl  daran  denken,  daß  die  Eigen- 
schaften des  krankmachenden  Giftes  in  den  zur  Entwicklung  ge- 
langenden Krankheitsvorgängen  nicht  ganz  ohne  Ausprägung 
bleiben. 

Für  den  Vorgang,  der  sich  bei  der  Auflösung  des  Inhalts  der 
Krankheitstöpfe  in  ihre  klinisch  gleichartigen  Bestandteile  zu  voll- 
ziehen pflegt,  bietet  die  Entwicklung  des  Paralysebegriffes  ein  unge- 
mein lehrreiches  Beispiel.  Nachdem,  wie  schon  oben  angedeutet,  die 
paralytischen  Erscheinungen  ursprünglich  nur  als  eine  ungünstige 
Komplikation  betrachtet  wurden ,  die  sich  zu  verschiedenartigen 
Erkrankungen  in  gleicher  Weise  hinzugesellen  könne,  ganz  ähn- 


526 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


lieh  der  sekundären  Demenz,  schuf  man  dann  eine  Gruppe  der 
Paralysen"  und  „modifizierten  Paralysen",  in  der  alle  Krank- 
heiten zusammengefaßt  wurden,  die  neben  der  Verblödung  auch 
körperliche  Lähmungserscheinungen  aufzuweisen  hatten.  Indem 
man  annahm,  daß  die  Paralyse  durch  verschiedenartige  Ursachen, 
Überarbeitung  und  Erschöpfung,  Kopfverletzungen,  Alkoholmiß- 
brauch, neben  der  Lues  hervorgebracht  werden  könne,  sprach 
man  von  traumatischen  und  alkoholischen  Paralysen,  bald  mit 
dem  Hintergedanken,  daß  es  sich  dabei  um  besondere  Krank- 
heiten handle,  bald  ohne  diesen.  Mendel  machte  sogar  Hunde 
durch  Drehen  auf  einer  Zentrifuge  ,, paralytisch".  Als  aber  die 
ursächliche  Rolle  der  Lues  immer  deutlicher  hervortrat,  hielten 
wir  zunächst  an  der  Ansicht  fest,  daß  derselbe  Krankheitsvorgang 
außerdem  noch  auf  ganz  andere  Weise  zustande  kommen  könne. 
Jetzt  endlich  wird  auch  mit  dieser  letzten  Unklarheit  aufgeräumt. 
Die  Ergebnisse  der  von  v.  Krafft- Ebing  mitgeteilten  Impf- 
versuche, ferner  diejenigen  der  cytologischen  und  noch  mehr  der 
serologischen  Forschung  mit  ihrem  Nachweise  von  syphilitischen 
Krankheitszeichen  in  Blut  und  Cerebrospinalflüssigkeit  lassen  keinen 
Zweifel  mehr  darüber,  daß  die  Paralyse  nur  auf  der  Grundlage 
einer  früheren  Syphilis  entstehen  kann,  daß  also  alle  wirklich 
nicht  syphilitischen  Formen  anderen  Krankheitsvorgängen  an- 
gehören müssen.  Eine  kräftige  Stütze  hat  dieser  Auffassung  die 
pathologische  Anatomie  geliefert,  indem  sie  den  Nachweis  eines 
einheitlichen  Leichenbefundes  in  allen  auf  Syphilis  zurückgehen- 
den Paralysefällen  erbrachte. 

Diese  Forschungsergebnisse  haben  uns  nach  zwei  Richtungen 
hin  aufgeklärt.  Sie  haben  einmal  den  Kreis  der  paralytischen 
Krankheitsbilder  eingeschränkt.  Die  traumatischen  und  alkoho- 
lischen Formen,  aber  auch  die  syphilitischen  und  arteriosklero- 
tischen Hirnerkrankungen  wurden  aus  ihrem  Bereiche  ausgeschie- 
den. Sodann  aber  erkannte  man,  daß  noch  so  manche  Krank- 
heitsbilder zur  Paralyse  gehören,  die  bis  dahin  ganz  anders  auf- 
gefaßt wurden,  Kleinhirn-  und  Sehhügelerkrankungen,  Fälle  von 
Delirium  acutum,  namentlich  aber  scheinbare  Idiotieformen  und 
senile  Demenzen.  Was  sich  nach  diesen  Wandlungen  als  Paralyse 
darstellt,  ist  ein  Krankheitsvorgang  von  einheitlicher  Entstehungs- 
geschichte, bestimmter  Verlaufsart  und  eindeutigem  anatomischem 


Krankheitsvorgänge.  ^27 

Befunde.    Dagegen  zeigen  die  Zustandsbilder  eine  so  verwirrende 
Mannigfaltigkeit,  daß  es  der  rein  symptomatologischen  Betrachtung 
wohl  niemals  möglich  gewesen  wäre,  ihre  Zusammengehörigkeit  zu 
erkennen.  Bemerkenswert  ist  es  dabei,  daß  die  große  Masse  der  auch 
früher  schon  als  Einheit  aufgefaßten  Fälle  in  der  Tat  den  Ausdruck  eines 
bestimmten  Krank- 
heitsvorganges dar- 
stellt; die  klinische 
Entwicklung  hatte 
nur   einige  fremd- 
artige Beimischun- 
gen auszuscheiden 
und  anderweitig  ver- 
sprengte Formen  da- 
für aufzunehmen. 
Es  steht  zu  erwar- 
ten,  daß   sich  die 
Klärung  unserer  an- 
deren vorläufigen 
klinischen  Sammel- 
begriffe    in  ähn- 
lichem Sinne  voll- 
ziehen wird. 

Ein  sehr  lehr- 
reiches Bild  von  den 
Entwicklungskämp- 
fen, welche  die  psy- 
chiatrische Diagnos- 
tik unter  dem  Wan- 
del der  klinischen 
Anschauungen  zu 
überstehen  hat,  gewährt  die  Fig.  XXII,  in  der  nach  Prozentverhältnis 
für  einige  der  wichtigeren  Krankheitsformen  die  Zahl  der  zwischen 
1892  und  1907  alljährlich  in  der  Heidelberger  Klinik  gestellten 
Diagnosen  wiedergegeben  ist.  Man  erkennt  hier  ohne  weiteres,  daß 
einige  der  dargestellten  Krankheiten,  deren  Häufigkeit  der  Über- 
sichtlichkeit halber  in  Kurven  statt  in  Stäben  ausgedrückt  wurde, 
trotz  mancher  Schwankungen  im  einzelnen  doch  annähernd  auf 


Fig.  XXII.  Prozentische  Zusammenstellung  der  Kranken 
in  der  Heidelberger  Klinik  1892 — 1907  nach  Diagnosen. 


^28  Erkennung  des  Irreseins. 

gleicher  Höhe  gebUeben  sind.  Das  trifft  zu  für  Alkoholismus  und 
Epilepsie,  deren  Umgrenzung  und  klinische  Kennzeichnung  während 
der  angeführten  Zeit  keine  wesentlichen  Änderungen  erfahren  hat. 
Zwei  andere  Formen,  die  in  den  ersten  Jahren  noch  leidlich  ver- 
treten waren,  sind  im  Laufe  der  Beobachtungszeit  zu  kümmerlichen 
Resten  zusammengeschrumpft,  die  Erschöpfungspsychosen  und  die 
Paranoia.  Die  letztere  ist  fast  ganz  in  der  Dementia  praecox  auf- 
gegangen, während  die  ersteren  bis  auf  die  infektiösen  Formen 
späterhin  den  manisch-depressiven  Erkrankungen  oder  ebenfalls 
der  Dementia  praecox  angegliedert  wurden.  Einen  ähnlichen  Ent- 
wicklungsgang würden  die  hier  nicht  wiedergegebene  einfache  Manie 
und  die  Melancholie  aufweisen. 

Demgegenüber  sehen  wir  die  Häufigkeit  der  Dementia  praecox 
in  der  Zeit,  wo  deren  klinische  Abgrenzung  sich  vollzog,  überaus 
rasch  ansteigen,  bis  über  die  Hälfte  aller  Fälle,  um  dann  kaum 
weniger  schnell  wieder  unter  20%  zu  sinken.  Dieser  Vorgang 
erklärt  sich  aus  dem  Umstände,  daß  bei  dem  tieferen  Eindringen 
in  die  Krankheitsbilder  der  Dementia  praecox  zunächst  die 
kennzeichnende  Bedeutung  einzelner  Störungen  erheblich  über- 
schätzt wurde.  Insbesondere  wurden  viele  Fälle  von  manisch-  j 
depressivem  Irresein  mit  katatonieartigen  Erscheinungen  fälsch- 
lich der  Dementia  praecox  zugerechnet.  Das  zeigt  sich  deutlich 
in  dem  Sinken  der  Kurve  für  das  manisch-depressive  Irresein  mit 
der  starken  Zunahme  der  Dementia  praecox.  Es  konnte  nicht 
fehlen,  daß  diese  Irrtümer  allmählich  erkannt  und  mehr  und  mehr 
ausgemerzt  wurden.  Dem  entspricht  das  Sinken  der  Kurve  für 
die  Dementia  praecox  unter  gleichzeitigem  Steigen  derjenigen  für 
das  manisch-depressive  Irresein.  Die  starke  Bewegung  beider 
Kurven  bis  in  die  letzte  Zeit  hinein  läßt  vermuten,  daß  auch  jetzt 
die  Schwierigkeit,  deren  Ausdruck  sie  ist,  noch  nicht  als  gelöst 
betrachtet  werden  darf,  daß  eine  genügende  Sicherheit  in  der  Un- 
terscheidung und  damit  die  Gewähr  für  einen  gleichmäßigen  wei- 
teren Verlauf  der  Linien  noch  nicht  erreicht  ist. 

Eher  dürfte  das  der  Fall  sein  bei  der  Paralyse,  deren  Häufigkeit 
in  den  ersten  Jahren  der  Beobachtungszeit  ebenfalls  sehr  starke 
Schwankungen  gezeigt  hat.  Es  bestand  damals  die  Neigung,  die  Para- 
lyse wesentlich  aus  dem  psychischen  Bilde  möglichst  frühzeitig  zu 
erkennen,  unter  zu  hoher  Bewertung  einzelner  trügerischer  körper- 


Lokalisation. 

licher  Zeichen,  der  Ungleichheit  oder  trägen  Reaktion  der  Pupillen, 
der  Steigerung  oder  Abschwächung  der  Reflexe,  leichter  Unsicher- 
heiten in  Sprache  und  Schrift,  des  Zitterns  der  Zunge,  schlaffer  Ge- 
sichtszüge usf.  Die  Folge  war  eine  sehr  große  Menge  von  Fehl- 
diagnosen, die  durch  regelmäßige  Nachuntersuchungen  späterhin  auf- 
gedeckt wurden.  Die  daraus  erwachsende  Vorsicht  führte  zu  einer 
raschen  Abnahme  der  Paralysediagnosen,  die  schließlich  wohl  noch 
unter  das  richtige  Maß  hinunterging,  bis  die  neueren  Untersuchungs- 
hilfsmittel dann  die  ersehnte  Sicherheit  und  damit  einen  gleich- 
mäßigen Verlauf  der  Häufigkeitskurve  brachten.  So  können  uns 
innerhalb  gewisser  Grenzen  Änderungen  der  von  uns  vorgenommenen 
diagnostischen  Gruppierung  unserer  Kranken  darüber  aufklären,  ob 
wir  bereits  eine  genauere  Fühlung  mit  der  Wirklichkeit  gewonnen 
haben  oder  nicht. 

Lokalisation.    Wenn  wir  annehmen  dürfen,  daß  Verlauf  und 
Ausgang   eines   Krankheitsvorganges   wesentlich   durch   die  Art 
der  von  ihm  erzeugten  Störungen  bestimmt  werden,  so  muß  für 
die  Gestaltung  des  klinischen  Krankheitsbildes  selbst  doch  auch 
sein  Sitz  und  seine  Ausdehnung  von  maßgebender  Bedeutung 
sein.   Nachdem  uns  die  Fortschritte  in  der  Erkenntnis  des  feineren 
Hirnbaues  wie  die  Mannigfaltigkeit  der  Reiz-  und  Ausfallserschei- 
nungen in  Krankheiten  immer  mehr  zur  Annahme  einer  sehr 
weitgehenden  Arbeitsteilung  im  Hirngewebe  drängen,  werden  wir 
nicht   bezweifeln   können,    daß   derselbe    Krankheitsvorgang  in 
verschiedenen   Hirngebieten   ganz   verschiedene   Störungen  wird 
hervorrufen  können.   Wer  nicke  ist  in  planmäßiger  Einseitigkeit 
soweit  gegangen,  für  den  Ausbau  seiner  klinischen  Anschauungen 
ganz  allein  die  Frage  nach  dem  Sitze  und  nicht  nach  der  Art 
der  krankhaften  Schädigung  in  Betracht  zu  ziehen.    Dazu  ist 
zu  bemerken,   daß  innerhalb   gewisser  Grenzen  Sitz  und  Aus- 
breitung der  Hirnveränderungen  eben  durch  die  Eigenart  der  ur- 
sächlichen Schädlichkeit  bedingt  werden.    So   wissen  wir,  daß 
die  Paralyse  das  gesamte  zentrale  Nervengewebe,  Großhirn,  Klein- 
hirn,  Stammganglien,   Nervenkerne,   Rückenmark,   zu  befallen 
pflegt,  wenn  auch  in  verschiedener  Verteilung,  dagegen  die  peri- 
pheren Nerven  meist  schont.   Demgegenüber  schädigt  der  Alkohol 
gerade  diese  letzteren,  das  Großhirn  und  besonders  das  zentrale 
Höhlengrau,  während  das  Rückenmark  kaum  gefährdet  ist.  Der 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  34 


530 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


paralytische  Krankheitsvorgang  pflegt  ferner  die  betroffenen  Rin- 
dengebiete ziemlich  gleichmäßig  zu  verändern;  dagegen  handelt 
es  sich  bei  den  syphilitischen  und  arteriosklerotischen  Hirnerkran- 
kungen mehr  um  einzelne  zerstreute  Krankheitsherde,  zwischen 
denen  annähernd  gesunde  Gebiete  liegen.  Die  Veränderungen  bei 
der  Dementia  praecox  scheinen  sich  vorzugsweise  auf  die  tieferen 
Rindenschichten  zu  erstrecken. 

Auf  einen  bestimmten  Sitz  der  krankhaften  Veränderungen 
könnte  das  Auftreten  gewisser  Krankheitszeichen  hindeuten.  Viel- 
leicht dürfen  wir  annehmen,  daß  bei  der  Entstehung  von  Gehör- 
stäuschungen das  Schläfenlappengebiet,  namentlich  der  linken  Seite, 
mit  beteiligt  ist;  es  wären  dann  bei  zahlreichen  Fällen  von  Dementia 
praecox,  beim  Alkoholwahnsinn,  bei  manchen  syphilitischen  Hirn- 
erkrankungen dort  Veränderungen  vorauszusetzen.  Ebenso  kann 
man  für  die  Gesichtstäuschungen  des  Delirium  tremens  wie  des 
Cocainwahnsinns  und  vielleicht  auch  für  manche  andere,  ein- 
zelnen Krankheiten  eigentümliche  Erscheinungen  an  einen  be- 
stimmten Sitz  der  Krankheitsvorgänge  denken ,  sei  es  die  Be- 
schränkung auf  umgrenzte  Rindengebiete,  sei  es  die  Beteiligung 
bestimmter  Schichten  oder  auch  nur  gesonderter  Zellengruppen. 
Auch  das  Auftreten  gewisser  ganz  ähnlicher  Erscheinungen  bei 
sonst  völlig  verschiedenen  Erkrankungen  ließe  sich  etwa  dahin 
deuten,  daß  sich  die  einzelnen  Krankheitsvorgänge  dabei  an  den- 
selben Stellen  der  Hirnrinde  abspielen. 

Die  Ausbildung  der  gleichen  Krankheitszeichen  bei  denselben 
Krankheitsvorgängen  könnte  unter  diesem  Gesichtspunkte  dahin 
aufgefaßt  werden,  daß  eine  gegebene  Krankheitsursache  gewöhn- 
lich ganz  bestimmte  Bestandteile  der  Hirnrinde  anzugreifen  pflegt. 
Von  einer  wirklichen  Kenntnis  dieser  Verhältnisse  sind  wir  frei- 
lich noch  recht  weit  entfernt.  Nur  so  viel  wissen  wir,  daß  bei  un- 
gewöhnlichem Sitze  der  krankhaften  Veränderungen  durch  den 
gleichen  Krankheitsvorgang  wesentlich  abweichende  Krankheits- 
bilder hervorgebracht  werden  können.  Das  zeigen  uns  die  atypischen 
Paralysen.  Eine  mehr  herdartige  Ausbreitung  des  Krankheits- 
vorganges läßt  auch  in  dem  klinischen  Bilde  die  sonst  so  kenn- 
zeichnende allgemeine  Verblödung  hinter  den  Herderscheinungen 
zurücktreten,  während  starke  Beteiligung  des  Kleinhirns  bei  gering- 
fügigeren Veränderungen  in  der  Großhirnrinde  das  Bild  einer  um- 


Kombinierte  Psychosen.  ^31 

schriebenen  Kleinhirnerkrankung  vortäuschen  kann;  Einbeziehung 
der  Schläfenlappen  in  den  Krankheitsvorgang  scheint  die  sonst 
so  seltenen  Gehörstäuschungen  auslösen  zu  können.  Vielleicht 
kommen  auch  bei  den  anderen,  uns  ja  zum  größten  Teil  noch 
sehr  wenig  bekannten  Krankheitsvorgängen  neben  den  gewöhn- 
lichen Formen  atypische  Ausbreitungen  im  Hirn  vor;  sie  könnten 
uns  eine  Erklärung  für  das  gelegentliche  Fehlen  gewohnter  und 
das  Auftreten  abweichender  Erscheinungen  in  sonst  bekannten 
Krankheitsbildern  liefern. 

Kombinierte  Psychosen^).  Ein  wichtiger  Grundsatz  jeder  Dia- 
gnostik ist  das  Streben  nach  möglichst  einheitlicher  Auffassung 
eines  gegebenen  Krankheitsbildes.  Wir  werden  uns  daher  nur  aus 
ganz  triftigen  Gründen  dazu  entschließen  dürfen,  bei  demselben 
Kranken  zwei  verschiedene  Krankheiten  nebeneinander  anzuneh- 
men. Für  die  ältere  Psychiatrie,  die  lediglich  Zustandsbilder  ins 
Auge  faßte,  bestand  dieses  Bedenken  in  weit  geringerem  Grade. 
Wenn  sich  an  eine  Melancholie  ganz  plötzlich  eine  Manie  oder 
eine  Paranoia  anschließen  konnte,  hatte  auch  das  gleichzeitige  Be- 
stehen dieser  Krankheiten  nichts  besonders  Auffallendes.  Da- 
gegen hat  die  Annahme,  daß  mehrere  ganz  verschiedene  Krank- 
heitsvorgänge sich  neben-  oder  nacheinander  abspielen  sollen, 
ihre  erheblichen  Schwierigkeiten.  Gleichwohl  haben  auch  wir  mit 
derartigen  Erfahrungen  zu  rechnen. 

Zunächst  ist  es  selbstverständlich,  daß  sich  Krankheiten  auf 
einem  Boden  entwickeln  können,  der  an  sich  schon  als  krankhaft 
verändert  bezeichnet  werden  muß.  Überall,  wo  psychopathisch 
veranlagte  oder  schwachsinnige  Personen  späterhin  in  irgendeiner 
Weise  psychisch  erkranken,  kann  man,  wenn  man  will,  von  einer 
Verbindung  verschiedener  Erkrankungen  reden,  so  bei  dem  nicht 
seltenen  Vorkommen  von  Imbezillität  neben  Hysterie  oder  Alko- 
holismus. Dabei  ist  allerdings  unter  Umständen  die  zweite  Er- 
krankung nur  eine  Fortsetzung  oder  Steigerung  der  ersten.  So 
spricht  bei  den  hebephrenischen  Erkrankungen  Imbeziller  manches 
dafür,  daß  vielleicht  die  Imbezillität  schon  die  Folge  eines  ersten, 
ganz  früh  abgelaufenen  Krankheitsanfalles  war.  Manisch-depres- 
sive Kranke  können  lange  vor  dem  eigentlichen  Ausbruche  des 

1)  Stransky,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXIII,  73;  Gaupp,  Centralbl. 
f.  Nervenheilk.,  1907,  766. 

34* 


532 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Leidens  gewisse  allgemeine  Veränderungen  darbieten,  die  aus  dem 
gleichen  Boden  hervorwachsen  wie  die  spätere  Krankheit. 

Einleuchtender  ist  die  Annahme  einer  Verbindung  zweier  Krank- 
heiten, wenn  sich  zu  einer  bestehenden  Psychose  ein  ganz  anders- 
artiges Leiden  hinzugesellt,  das  entweder  durch  äußere  Schädlich- 
keiten erzeugt  werden  oder,  weit  seltener,  aus  inneren  Ursachen 
hervorwachsen  kann.  Fälle  der  ersteren  Art  sind  keineswegs  selten. 
Hierher  gehören  vor  allem  die  vielfachen  Verbindungen  einer 
andersartigen  Erkrankung  mit  Alkoholismus,  Morphinismus  oder 
Paralyse.  Jene  erstere  kann  dabei  wiederum  endogener  oder  exo- 
gener Entstehung  sein.  Häufige  derartige  Verbindungen  sind  Epi- 
lepsie-Alkoholismus, Hysterie-Alkoholismus  oder  -Morphinismus, 
Hypomanie-Alkoholismus,  seltener  Dementia  praecox-Alkoholismus, 
ferner  Paralyse-Alkoholismüs,  traumatische  Neurose-Alkoholismus, 
Hirnlues-Alkoholismus,  Morphinismus  mit  Alkoholismus  oder  Co- 
cainismus.  Eine  weitere  Gruppe  bilden  die  Verbindungen  von  Ar- 
teriosklerose oder  Altersblödsinn  mit  anderen  Erkrankungen.  Hier 
kommen  namentlich  das  manisch-depressive  Irresein  und  die  trau- 
matische Neurose,  hier  und  da  auch  die  Vereinigung  von  Alkoholis- 
mus mit  Arteriosklerose  und  senilen  Erkrankungen  in  Betracht. 

Weitaus  am  seltensten  ist  die  Verbindung  zweier  endogener  Er- 
krankungen. Hier  und  da  beobachtet  man  epileptische  Anfälle  bei 
manisch-depressiven  Kranken;  dagegen  halte  ich  die  von  Stransky 
angeführten  Verbindungen  von  Paranoia  mit  Amentia  oder  mit 
manisch-depressivem  Irresein  für  diagnostische  Irrtümer;  auch  die 
Katatonie  bei  Paranoia  will  mir  nicht  recht  einleuchten.  Eine  be- 
sondere Gruppe  bildet  endlich  noch  die  Verbindung  verschieden- 
artiger Störungen,  die  durch  die  gleiche  Krankheitsursache  erzeugt 
wurden.  So  sehen  wir  in  dem  besonnenen  Delirium  der  Alkoholisten 
anscheinend  eine  Mischform  von  Delirium  tremens  und  Alkohol- 
wahnsinn ;  ebenso  kann  Alkoholepilepsie  neben  anderen  Zeichen  des 
Alkoholismus  bestehen,  so  häufig  bei  Delirium  tremens,  aber  auch 
beim  Eifersuchtswahn  der  Trinker.  Etwas  anders  liegt  der  Fall  bei 
der  Verbindung  der  Dipsomanie  mit  Delirium  tremens,  da  die  Dipso- 
manie auf  epileptischer  Grundlage  entsteht.  Mit  der  Paralyse  können 
sich  klinisch  und  anatomisch  Erscheinungen  von  Hirnsyphilis 
verbinden. 

Natürlich  können   dieselben   Krankheiten,   deren  Verbindung 


Grenzen  des  Irreseins. 

wir  hier  geschildert  haben,  auch  nacheinander  auftreten.  Ins- 
besondere gesellt  sich  Alkoholismus  und  auch  Paralyse  unter  Um- 
ständen nachträglich  zu  anderen  Erkrankungen  hinzu.  So  ist  bei 
Paranoia,  bei  traumatischer  Neurose,  bei  Epilepsie  späterhin  das 
Auftreten  von  Paralyse  beobachtet  worden;  ich  selbst  sah  eine 
Paralyse  nach  langjährigem  Bestehen  einer  Dementia  praecox  zum 
Ausbruche  kommen.  Bei  zirkulären  Kranken  scheint  die  Ent- 
wicklung der  Paralyse  auffallend  selterf»  zu  sein,  obgleich  bei  ihnen 
häufig  genug  die  Zeichen  von  Lues,  namentlich  auch  kennzeich- 
nende Pupillenstörungen,  nachweisbar  sind. 


C.  Grenzen  des  Irreseins. 

Das  Bedürfnis  nach  einer  strengen  Begriffsbestimmung  der 
Geisteskrankheit,  nach  einer  Abgrenzung  dieser  letzteren  von  der 
Breite  des  Gesunden i),  ist  in  der  Geschichte  der  Psychiatrie  der 
Ausgangspunkt  zahlloser,  angestrengter  Bemühungen,  scharfsin- 
niger Auseinandersetzungen  und  spitzfindiger  Beweisführungen  ge- 
wesen, bis  endlich  die  unvermeidliche  Erkenntnis  sich  immer 
mehr  Bahn  zu  brechen  begann,  daß  die  Fragestellung  von  vorn- 
herein eine  falsche  war,  daß  es  hier  wirklich  scharfe  Grenzen 
und  unfehlbare  Kennzeichen  der  Natur  der  Sache  gemäß  ebenso- 
wenig geben  kann  wie  bei  der  Unterscheidung  von  körperlicher 
Gesundheit  und  Krankheit.  Die  Anzeichen  des  Irreseins  sind  eben 
durchaus  nicht  gänzlich  fremdartige  und  durch  das  Irresein  neu 
erzeugte  Erscheinungen,  sondern  sie  haben  ihre  Wurzeln  in  ge- 
sunden Vorgängen  und  verdanken  ihre  Eigenartigkeit  nur  der  ein- 
seitigen, maßlosen  Ausbildung  oder  dem  Untergange  dieser  oder 
jener  Verrichtungen  sowie  der  besonderen  Verbindung  der  ver- 
schiedenartigen Einzelstörungen. 

Verhältnismäßig  leicht  wird  indessen  die  Erkennung  einer 
Geistesstörung  dann,  wenn  es  gelingt,  den  Nachweis  zu  führen, 
daß  die  verdächtigen  Erscheinungen  nicht  von  jeher  bestanden 
haben,  sondern  etwas  Gewordenes  sind.  Zwar  kommen  auch  wohl 
im  gesunden  Leben  Wandlungen  vor,  die  bis  in  das  innerste  Wesen 
der  Persönlichkeit  eingreifen,  aber  im  allgemeinen  legt  dennoch 

^)  Hoche,  Grenzen  der  geistigen  Gesundheit.  1903;  Pelman,  Psychische 
Grenzzustände.  1909. 


534 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


die  Beobachtung  einer  auffallenden  Veränderung  im  Denken, 
Fühlen  und  Handeln  eines  Menschen  den  Gedanken  an  deren 
krankhafte  Natur  sehr  nahe.  Zur  Gewißheit  wird  diese  Ver- 
mutung, wenn  die  hervortretenden  Erscheinungen  sich  wider- 
spruchslos in  eines  der  bekannten  klinischen  Krank- 
heitsbilder einordnen,  und  wenn  vielleicht  auch  Ursachen 
sich  auffinden  lassen,  die  erfahrungsgemäß  jene  Gruppe  von  Stö- 
rungen häufiger  zu  erzeugifen  pflegen. 

Es  darf  mit  allem  Nachdrucke  betont  werden,  daß  in  solchen 
Fällen  die  genaue  Erhebung  der  Vorgeschichte,  sorgfältige  Aus- 
nutzung aller  Untersuchungshilfsmittel  und  eine  gewisse  Zeit  fort- 
laufender Beobachtung  bei  wirklichem  Sachverständnis  regel- 
mäßig zum  Ziele  führen  wird.  Die  Psychiatrie  ist  in  der  Erken- 
nung von  Krankheitsvorgängen,  auch  solchen  sehr  langsamen 
Verlaufes,  in  keiner  Weise  hilfloser,  als  etwa  die  innere  Medizin 
oder  die  Nervenheilkunde,  die  ja  ebenfalls  oft  genug  erst  nach 
längerer  Beobachtung  ein  sicheres  Verständnis  schwieriger  Krank- 
heitsfälle erreichen.  Nur  die  kühnste  Unwissenheit  kann  sich 
daher  zu  der  häufig  wiederholten  Behauptung  versteigen,  daß  der 
Irrenarzt  wegen  der  Unvollkommenheit  der  Psychiatrie  vielfach 
Geistesgesunde  als  krank  betrachte  und  sie  daher  widerrechtlich 
ihrer  Freiheit  beraube.  Allerdings  sieht  der  Sachverständige  auch 
hier  überall  tiefer,  als  der  meist  von  ganz  abenteuerlichen  Vor- 
stellungen über  das  Irresein  erfüllte  Laie. 

Die  unerbittliche  Forderung,  uns  niemals  mit  dem  Nachweise 
einer  Geistesstörung  im  allgemeinen  zu  begnügen,  sondern  unter 
allen  Umständen  nach  einer  bestimmten  klinischen  Dia- 
gnose zu  streben  und  alle  Möglichkeiten  gegeneinander  ab- 
zuwägen, wird  uns  namentlich  vor  dem  verhängnisvollen  Fehler 
bewahren,  eine  einzelne  Erscheinung  als  entscheidend  zu  betrachten 
und  darüber  das  Gesamtbild  des  vorliegenden  Falles  außer  acht 
zu  lassen.  Früher  hat  man  z.  B.  viel  darüber  gestritten,  ob  Sinnes- 
täuschungen auch  bei  geistiger  Gesundheit  vorkommen  könnten, 
und  ob  der  Selbstmord  unter  allen  Umständen  als  Krankheits- 
erscheinung aufgefaßt  werden  müsse;  jetzt  wissen  wir,  daß  beides 
Ereignisse  sind,  die  im  einzelnen  Falle  nur  durch  den  Zusammen- 
halt mit  anderweitigen  Beobachtungstatsachen  richtig  gewürdigt 
werden  können.    Wenn  z.  B.  Esquirol  den  Selbstmord  einfach 


Grenzen  des  Irreseins. 

als  eine  besondere  Form  des  Irreseins  beschrieb,  so  habe  ich  in 
Übereinstimmung  mit  den  Erfahrungen  anderer  durch  die  Be- 
obachtung geretteter  Selbstmörder  feststellen  können,  daß  nur 
etwa  30%  derselben  wirklich  klinisch  ausgeprägte  geistige  Stö- 
rungen darboten;  Gaupp  fand  unter  124  in  unsere  Klinik  ein- 
gelieferten Selbstmördern  38  ausgesprochen  Geisteskranke,  aber 
allerdings  nur  eine  einzige  geistig  völlig  Gesunde;  der  Rest  waren 
Trinker,  Epileptiker,  Psychopathen,  Hysterische,  leicht  Schwach- 
sinnige. 

Recht  schwierig  kann  sich  die  Entscheidung  über  psychische 
Gesundheit  oder  Krankheit  gestalten,  wenn  nicht  über  das  Be- 
stehen eines  krankhaften  Vorganges,  sondern  über  das  Vorhanden- 
sein eines  krankhaften  Zustandes  entschieden  werden  soll.  Im 
ersten  Falle  war  uns  die  Richtschnur  der  Beurteilung  in  dem  Ver- 
halten des  Kranken  selber  vor  der  eingetretenen  Veränderung  ge- 
geben; hier  dagegen  sind  wir  gänzlich  auf  die  Abgrenzung  nach 
den  allgemeinen  Begriffen  angewiesen,  die  sich  in  der  Wissenschaft 
als  Gradmesser  des  Krankhaften  niedergeschlagen  haben.  Dazu 
kommt,  daß  wir  ein  ausgedehntes  Übergangsgebiet  zu  verzeichnen 
haben,  auf  dem  es  sich  lediglich  um  die  Abschätzung  gradweiser 
Unterschiede  handelt,  so  daß  es  vielfach  dem  Belieben  und  dem 
Standpunkte  des  Beobachters  überlassen  bleibt,  wie  weit  oder  wie 
eng  er  die  Grenze  der  Geisteskrankheit  stecken  will.  Dies  ist  der 
Grund,  warum  so  häufig  die  Gutachten  selbst  wissenschaftlich 
hochstehender  Sachverständiger  bei  der  Beurteilung  solcher  Fälle 
vollständig  auseinandergehen;  die  allgemeinen  Grundsätze  ver- 
sagen hier  bisweilen  durchaus  und  lassen  einzig  dem  persönlichen 
Ermessen  die  Entscheidung  zufallen. 

Der  Irrenarzt  ist  demnach  hier  etwa  in  derselben  Lage  wie 
der  Kassenarzt  bei  der  Beurteilung  der  Erwerbsfähigkeit,  nur  mit 
dem  Unterschiede,  daß  die  Tragweite  seines  Ausspruches  häufig 
eine  viel  größere  ist.  Es  erscheint  daher  ganz  unvermeidlich, 
daß  gelegentlich  sein  Urteil  als  Härte  empfunden  und  von  Kranken 
oder  Angehörigen  angefochten  wird,  zumal  den  ersteren  fast  immer, 
den  letzteren  oft  das  Verständnis  für  die  in  Betracht  kommen- 
den Zustände  völlig  abgeht.  An  diesem  Punkte  liegt  wohl  die 
Hauptquelle  für  die  immer  wieder  aufflackernde,  mit  ebensoviel 
Unkenntnis    wie    Gehässigkeit    betriebene    Bewegung   gegen  die 


536 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Tätigkeit  der  Irrenärzte^).  Natürlich  würde  niemand  froher  sein, 
als  diese  selbst,  wenn  man  sie  von  der  leidigen  Verantwortlich- 
keit für  die  Beurteilung  der  Übergangsformen  zwischen  geistiger 
Gesundheit  und  Krankheit  befreien  wollte.  Leider  ist  dazu  wenig 
Aussicht,  da  sich  schwerlich  jemand  finden  dürfte,  der  ihnen  diese 
undankbare  Aufgabe  dauernd  abnimmt. 

Das  große,  sicher  noch  viel  zu  wenig  gekannte  Gebiet  klinischer 
Formen,  mit  dem  wir  es  hier  zu  tun  haben,  ist  hauptsächlich  das- 
jenige des  angeborenen  Schwachsinns  und  der  psychopathischen 
Veranlagung.  Die  krankhaften  Erscheinungen  treten  uns  dabei 
in  allen  Richtungen  des  psychischen  Lebens  entgegen,  und  wir 
müssen  daher  wenigstens  einen  kurzen  Blick  auf  die  Grenzgebiete 
werfen,  nicht  sowohl,  um  die  vorhandenen  Schwierigkeiten  zu 
lösen,  sondern  um  auf  die  Unmöglichkeit  ihrer  grundsätzlichen 
Lösung  hinzuweisen. 

Im  Bereiche  des  Verstandes  lassen  sich  der  Hauptsache  nach 
zwei  Formen  der  psychischen  Schwäche  auseinanderhalten,  un- 
genügende geistige  Regsamkeit  einerseits,  dann  aber  Urteilslosig- 
keit infolge  von  Überwuchern  der  Einbildungskraft.  Der  ersteren 
Form,  die  sich  durch  das  Fehlen  allgemeinerer  Begriffe,  Enge 
des  Gesichtskreises,  Gedankenarmut,  Stumpfheit  kennzeichnet, 
entspricht  in  der  Gesundheitsbreite  jene  Form  der  Dummheit,  die 
man  als  Beschränktheit  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  höchsten 
Grade  der  Beschränktheit  fallen  aber  mit  den  leichteren  Fällen 
des  Schwachsinns  unterschiedslos  zusammen:  es  gibt  kein  einziges 
Merkmal,  das  eine  andere  als  gradweise  Abtrennung  gestattete. 

Auch  die  zweite  Form  der  psychischen  Schwäche  findet  ihr 
Gegenstück  in  der  Gesundheitsbreite.  Es  sind  das  die  erregbaren, 
leichtgläubigen  Geister,  die  überall  Luftschlösser  bauen,  Bezie- 
hungen und  Zusammenhänge  ahnen,  abenteuerlichen  Gedanken 
und  Plänen  nachjagen.  In  gewissem  Sinne  können  wir  auch  den 
Aberglauben  als  eine  gesunde  Form  der  Wahnbildung  bezeichnen, 
insofern  er  aus  derselben  Wurzel  des  Gemütsbedürfnisses  heraus- 
wächst. Es  kann  daher  unter  Umständen  ungemein  schwierig 
werden,  bei  unseren  Kranken  Aberglauben  und  Wahnbildung  von- 

.  1)  Man  vergleiche  nur  die  durch  ihre  naive  Unwissenheit  und  Unverfrorenheit 
geradezu  erfrischenden  Bücher  des  Herrn  E.  A.  Schröder:  Das  Recht  im  Irren- 
wesen. 1890;   Zur  Reform  des  Irrenrechtes.  1891. 


Grenzen  des  Irreseins.  • 

einander  zu  trennen;  nur  die  Berücksichtigung  des  allgemeinen 
Bildungsstandes  der  Umgebung  liefert  uns  einen  einigermaßen 
brauchbaren  Maßstab.  Den  Übergang  zum  Krankhaften  bildet 
die  Gruppe  der  Schwärmer  und  Schwindler,  bei  denen  sich  vielfach 
geradezu  die  Züge  der  Entartung,  namentlich  der  epileptischen 
und  hysterischen  Veranlagung,  nachweisen  lassen.  Den  verein- 
zelten Beispielen  einseitiger  Begabung  bei  Schwachsinnigen  und 
Idioten  lassen  sich  manche  der  sogenannten  verkannten  Genies, 
Erfinder  und  Entdecker,  Religionsstifter  an  die  Seite  stellen,  bei 
denen  die  mangelnde  Einheitlichkeit  der  Gesamtanlage  auch  den 
hervorragenden  Eigenschaften  ihrer  Persönlichkeit  die  freie  und 
segensreiche  Entfaltung  verkümmert. 

Man  ist  vielfach  so  weit  gegangen,  auch  das  wirkliche  Genie 
als  eine  krankhafte  Erscheinung,  als  eine  Form  der  Entartung, 
zu  betrachten  1).  Diese  Anschauung  schießt  ohne  Zweifel  weit 
über  das  Ziel  hinaus.  Es  ist  richtig,  daß  sich  in  den  gleichen  Fa- 
milien nicht  selten  krankhafte  Veranlagung  und  höchste  Begabung 
nebeneinander  finden.  Ferner  ist  es  erklärlich,  daß  die  einseitige 
Züchtung  gewisser  geistiger  Eigenschaften,  wie  sie  das  Genie  her- 
vorbringt, fast  mit  Notwendigkeit  eine  Verkümmerung  nach  an- 
deren Richtungen  bedingen  wird.  Wir  sehen  daher  auch  bei  ge- 
nialen Menschen  häufig  genug  neben  glänzenden  Leistungen  un- 
begreifliche Schwächen.  Wenn  man  aber  bei  allen  möglichen 
Helden  der  Menschheit  diese  oder  jene  Züge  herausgefunden  hat, 
die  ihnen  den  Stempel  des  Krankhaften  aufdrücken  sollen,  so 
übersieht  man  dabei  die  Tatsache,  daß  es  wenige  Gesunde  geben 
dürfte,  die  bei  zielbewußter  Zergliederung  nicht  ebenfalls  irgend- 
welche Anklänge  an  krankhafte  Störungen  aufzuweisen  hätten.  Wir 
werden  also  durch  eine  derartige  Beweisführung  noch  nicht  dazu 
genötigt  werden,  die  höchsten  Offenbarungen  des  Menschengeistes 
als  den  Ausfluß  krankhafter  Entartung  anzusehen.  Nur  daran  ist 
zu  denken,  daß  jede  sehr  weit  getriebene  Veredelung  nach  einer  be- 
stimmten Richtung  hin  leicht  die  allgemeine  Lebenstüchtigkeit 
und  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  krankmachende  Einflüsse 
herabzusetzen  pflegt.  Ein  Volk  von  Genies  würde  daher  wahr- 
scheinlich dem  Untergange  geweiht  sein.   Beim  einzelnen  ist  maß- 

1)  Lombroso,  Genio  e  degenerazione.  1897;  Regnard,  Annales  m6dico- 
psychologiques,  1898,  I,  10;  Löwenfeld,  Über  die  geniale  Geistestätigkeit.  1903. 


538 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


gebend,  ob  die  hohe  geistige  Entwicklung  das  körperliche  Ge- 
deihen beeinträchtigt  hat,  ferner,  wie  weit  die  hervorragenden 
Fähigkeiten  anderen,  für  das  Dasein  wichtigen  Seeleneigenschaften 
Raum  zur  Entfaltung  gelassen  haben.  Bezeichnen  wir  als  echte 
Genies  nur  solche  Personen,  bei  denen  die  schöpferische  Kraft 
der  Einbildung  durch  einen  scharfen,  klaren  Verstand  gezügelt 
wird,  bei  denen  ferner  ein  fester  Wille  die  Herrschaft  über  ein 
reiches  Gemütsleben  führt,  so  werden  wir  in  ihnen  den  höchsten 
Ausdruck  der  geistigen  Persönlichkeit  zu  erblicken  haben.  Es  ist 
aber  unschwer  zu  erkennen,  daß  wir  uns  bei  Beeinträchtigung 
dieses  inneren  Gleichgewichtes  trotz  einseitiger  hoher  Leistungen 
allmählich  mehr  und  mehr  der  Grenze  der  minderwertigen  und 
krankhaften  Veranlagungen  nähern. 

Von  großer  Tragweite  und  darum  von  jeher  am  eifrigsten 
versucht  worden  ist  die  Abgrenzung  des  Krankhaften  von  der 
Gesundheitsbreite  auf  dem  Gebiete  des  Gefühlslebens  und  des 
Handelns,  die  wir  gemeinsam  ins  Auge  fassen  wollen.  Hier  gilt 
es  ganz  besonders,  jene  Handlungen,  die  aus  krankhaften  Vor- 
aussetzungen hervorgegangen  sind,  abzutrennen  von  denjenigen, 
die  ihre  Quelle  in  unsittlichen  Beweggründen  haben.  Man 
wird  hier  nicht  lange  im  Zweifel  sein,  wenn  es  gelingt,  eine  Wahn- 
idee, eine  Sinnestäuschung  oder  auch  ein  unklares  Angstgefühl, 
einen  triebartigen  Drang  als  die  Ursache  der  Tat  aufzufinden. 
Die  allergrößten  Schwierigkeiten  indessen  beginnen,  sobald  nicht 
Veränderungen  in  der  Art  der  Gefühle,  sondern  nur  gradweise 
Abstufungen  der  ärztlichen  Beurteilung  unterliegen.  Jede  un- 
sittliche Handlung  beruht  entweder  auf  einer  starken  Ausbildung 
der  gesellschaftsfeindlichen  Antriebe  oder  aber  auf  einem  Mangel 
der  sittlichen  Hemmungen,  und  sowohl  jene  übermäßige  wie  diese 
ungenügende  Entwicklung  kann  aus  krankhaften  Ursachen  ent- 
sprungen sein.  Nun  geht  aber  die  krankhafte  Zornmütigkeit  ganz 
allmählich  in  die  Erregbarkeit  des  Leidenschaftsverbrechers  über, 
und  die  wechselnden  Verstimmungen  des  geborenen  Psychopathen 
sind  nur  Steigerungen  der  oft  ebensowenig  sachlich  begründeten 
weltschmerzlichen  Anwandlungen  des  Schwarzsehers,  die  ihn  an 
dem  Werte  des  Daseins  verzweifeln  lassen.  Der  Selbstmord  in 
den  letzteren,  der  Mord  in  den  ersteren  Fällen  sollte  je  nach  der 
Krankhaftigkeit  oder  der  gesunden  Beschaffenheit  des  Gemüts- 


Grenzen  des  Irreseins.  ^39 

zustandes  eine  gänzlich  verschiedene  sittUche  Beurteilung  er- 
fahren, aber  auch  die  genaueste  Zergliederung  vermag  hier  oft 
die  Grenze  nicht  zu  finden,  aus  dem  triftigen  Grunde,  weil  sie 
überhaupt  nicht  vorhanden  ist. 

Noch  überzeugender  tritt  uns  diese  Schwierigkeit  entgegen, 
wo  der  krankhafte  Mangel  der  sittUchen  Gefühle  von  der  ,, sitt- 
lichen Schlechtigkeit"  abgegrenzt  werden  soll.  So  wenig  das  Fehlen 
einer  Niere  in  einem  Falle  krankhaft  sein  kann,  im  anderen  nicht, 
so  wenig  geht  es  an,  eine  gesunde  sittliche  Verwilderung  neben 
einer  krankhaften  aufzustellen.  Bei  der  Beurteilung  der  Unzu- 
länglichkeit einer  Leistung  kann  es  nicht  in  erster  Linie  maß- 
gebend sein,  ob  sie  angeboren,  erworben  oder  wie  immer  sie  ent- 
standen ist;  nur  nach  ihrer  Ausdehnung  kann  man  gesunde 
und  krankhafte  Grade  unterscheiden,  wie  ja  auch  die  Kleinheit 
der  Niere  erst  unter  einer  gewissen,  ziemlich  willkürlichen  Grenze 
anfängt,  krankhaft  zu  werden.  Wenn  der  Verlust  der  höheren 
sittlichen  Gefühle  als  Teilerscheinung  gewisser  Krankheitsvor- 
gänge vorkommt  (z.  B.  der  Trunksucht,  der  Paralyse),  so  schließt 
dieser  Umstand  nicht  aus,  daß  auch  der  durch  sittliche  Verwahr- 
losung erzeugte  Ausfall,  sobald  er  ein  gewisses  Maß  erreicht 
hat  und  nicht  beseitigungsfähig  ist,  als  krankhaft  zu  betrachten 
sei.  Jedes  Werkzeug  unseres  Körpers  bedarf  der  Übung  und  Aus- 
bildung, um  die  von  ihm  geforderte  Arbeit  leisten  zu  können: 
der  unerzogene  Taubstumme  bleibt  anerkanntermaßen  auf  der 
geistigen  Entwicklungsstufe  des  Schwachsinns  stehen  —  sollte 
allein  der  sittlich  Unerzogene  eine  Ausnahme  machen,  sollte 
nicht  bei  ihm  ebenfalls  eine  Unvollkommenheit  der  gemütlichen 
Ausbildung  vorhanden  sein,  die  unter  Umständen  eine  krankhafte 
Ausdehnung  erlangen  kann?  Eine  naturwissenschaftliche  Be- 
trachtung der  Unsittlichkeit  führt  uns  unabwendbar  zu  dem  Schlüsse, 
daß  auch  der  Mangel  sittlicher  Gefühle  nicht  nur  zweifellos  der  Be- 
gleiter bestimmter  klinischer  Krankheitsformen  ist,  sondern  in  seinen 
höheren  Graden  überhaupt  ohne  scharfe  Abgrenzung  in  das  Gebiet 
des  Krankhaften  hinüberspielt  und  als  eine  Entwicklungshemmung 
im  Gemütsleben  betrachtet  werden  muß,  der  nach  anderer  Richtung 
die  Unzulänglichkeit  der  Verstandeskräfte  genau  entspricht. 

Es  bleibt  daher  in  derartigen  Fällen  bei  der  gerichtlichen  Fest- 
stellung der  Geistesstörung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  häufig 


540 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Sache  der  persönlichen  Ansicht,  ob  die  gestellte  Frage  bejaht  oder 
verneint  werden  soll.  So  zuverlässig  es  fast  stets  gelingen  wird, 
wenigstens  bei  längerer  Beobachtung  das  Bestehen  einer  Manie, 
Melancholie,  Verrücktheit,  einer  Dementia  praecox  oder  Para- 
lyse mit  Sicherheit  zu  erweisen  oder  auszuschließen,  so  ratlos 
steht  selbst  der  ausgezeichnetste  Scharfsinn  den  gradweisen  Ab- 
stufungen des  angeborenen  Schwachsinns  gegenüber.  Die  Schuld 
dafür  trifft  gewiß  nicht  die  Psychiatrie,  sondern  lediglich  die  richter- 
liche Fragestellung,  die  nur  scharfe  Grenzen  zwischen  Zurechnungs- 
fähigkeit und  Unzurechnungsfähigkeit  kennt,  alle  die  zahllosen 
Übergangsformen  aber  wesentlich  vernachlässigt.  Vielleicht  wird 
auch  uns  noch  eine  eingehendere  Erforschung  des  Schwachsinns 
zu  einer  schärferen  Umgrenzung  der  krankhaften  Erscheinungen 
verhelfen;  die  Überwindung  der  grundsätzlichen  Schwierig- 
keiten aber  und  die  Gewinnung  brauchbarer  Gesichtspunkte  für 
die  Beurteilung  kann  sicherlich  nur  durch  eine  andere  Fassung 
der  richterlichen  Fragen  an  den  ärztlichen  Sachverständigen  er- 
reicht werden. 

C.  Verstellung  und  Verleugnung. 

Erheblich  einfacher  liegt  die  Aufgabe  dort,  wo  nicht  allgemein 
die  Entscheidung  über  das  Bestehen  geistiger  Gesundheit  oder 
Krankheit  gefällt  werden  soll,  sondern  wo  es  sich  um  die  Auf- 
deckung einer  Verstellung^)  handelt.  Hier  ist  eine  sichere  Richt- 
schnur der  Beurteilung  durch  die  Erwägung  gegeben,  daß  die  vor- 
liegende Gruppe  von  Erscheinungen  sich  mit  unseren  sonstigen 
irrenärztlichen  Erfahrungen  decken  muß.  Allerdings  sehen  wir 
auch  bei  den  unzweifelhaft  Geisteskranken  vielfach  Zustands- 
bilder,  die  nicht  -  in  einen  der  gewohnten  Rahmen  hineinpassen ; 
darauf  beruht  ja  jeder  Fortschritt  unserer  klinischen  Formen- 
lehre. Indessen  derartige,  zunächst  unklare  Beobachtungen  ent- 
halten doch  niemals  innere  Widersprüche,  Wir  wissen  ganz  ge- 
nau, daß  gewisse  Krankheitszeichen  einander  ausschließen,  daß 
z.  B.  ein  ruhiger  Kranker  ohne  Bewußtseinstrübung  und  Merk- 

1)  F ürstn er,  Ar ch. f. Psychiatrie, XIX,  6oi;  Schott,  ebenda,  XLI,  254;  Fr itsch, 
Jahrb.  f.  Psychiatrie,  VIII,  115;  Raimann,  ebenda,  XXII,  443,  1902;  Bresler, 
Die  Simulation  von  Geistesstörung  und  Epilepsie.  1904. 


Verstellung  und  Verleugnung. 

Störung  nicht  dauernd  desorientiert  sein  kann,  daß  Fehlen  ein- 
fachster Schulkenntnisse  nur  mit  Blödsinn  und  tiefer  Gedächtnis- 
störung vereint  sein  oder  durch  Negativismus  vorgetäuscht  werden 
kann.  Wir  vermögen  uns  somit  auch  dann,  wenn  ein  Krank- 
heitsbild sich  nicht  ohne  weiteres  deuten  läßt,  doch  meist  recht 
bald  ein  Urteil  über  seine  innere  Einheitlichkeit  und  Wahrschein- 
lichkeit zu  bilden. 

Ein  solches  widerspruchsloses  Krankheitsbild  selbst  zusam- 
menzusetzen, erfordert  weitgehende  fachmännische  Kenntnisse. 
Außerdem  ist  aber  noch  eine  ganz  ungewöhnliche  Geschicklich- 
keit und  Ausdauer  nötig,  um  die  angenommene  Rolle  wirklich 
durchzuführen  und  festzuhalten.  Die  Anschauungen  über  Geistes- 
krankheiten unter  Laien  weichen  fast  durchgehends  so  sehr  von 
dem  wahren  Verhalten  ab,  daß  es  in  der  Regel  für  den  Irrenarzt 
leicht  ist,  die  Verstellung  zu  erkennen  und  zu  entlarven.  Am 
häufigsten  werden  tiefer  Blödsinn  oder  Aufregungszustände  (,, Tob- 
sucht") nachgeahmt;  dabei  ist  es  überall  die  Sucht  der  Simulanten, 
zu  übertreiben  und  ihre  Geisteskrankheit  möglichst  glaubhaft  zu 
machen,  die  sie  widersprechende  Erscheinungen  durcheinander- 
mischen läßt  und  auf  diese  Weise  die  Unterscheidung  von  wirklich 
Kranken  ermöglicht.  Häufig  gelingt  es  auch,  durch  allerlei  Vexier- 
versuche, durch  hingeworfene  Bemerkungen  gewisse  Krankheits- 
erscheinungen zu  suggerieren,  namentlich  völlige  Unempfindlich- 
keit  gegen  Nadelstiche,  Lähmungen,  Ohnmächten  u.  dgl.  Überaus 
selten  sind  die  Fälle,  in  denen  selbst  bei  längerer  Beobachtung  die 
Verstellung  nicht  zweifellos  festgestellt  werden  kann ;  dagegen  kann 
es  unmöglich  werden,  sich  ein  zuverlässiges  Urteil  über  die  Be- 
hauptung zu  bilden,  daß  zu  einem  früheren  Zeitpunkte,  etwa  bei 
Begehung  einer  strafbaren  Handlung,  ein  krankhafter  Zustand 
bestanden  habe,  als  dessen  Spuren  Erinnerungslücken  angegeben 
werden.  Hier  sind  wir  ganz  auf  allgemeine  klinische  Erwägungen 
angewiesen,  die  für  den  einzelnen  Fall  trügerisch  sein  können. 

Indessen,  so  leicht  und  sicher  die  absichtliche  Täuschung  als 
solche  erkannt  zu  werden  pflegt,  so  schwierig  ist  es  oft  genug,  das 
Bestehen  einer  Geistesstörung  außer  der  Verstellung  auszu- 
schließen. Neu  mann  fordert  mit  Recht,  daß  überhaupt  kein  Arzt 
jemals  das  Zeugnis  geistiger  Gesundheit  ausstellen  solle;  bei  Simu- 
lanten ist  in  dieser  Hinsicht  doppelte  Vorsicht  geboten.  Selbst  das 


542 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


ausdrückliche  Geständnis,  sich  verstellt  zu  haben,  ist  nicht  immer 
maßgebend;  man  denke  nur  daran,  daß  deprimierte  Kranke  gar 
nicht  selten  behaupten,  sie  hätten  von  Anfang  an  simuliert,  ihre 
Krankheit  übertrieben.  Auch  der  katatonische  Negativismus  kann 
in  seiner  triebartigen  Sinnlosigkeit  den  Eindruck  absichtlicher  Vor- 
täuschung machen,  wenn  ein  Beweggrund  dafür  vorzuliegen  scheint. 

Die  erfahrensten  Irrenärzte  teilen  mit,  daß  wirklich  geistig  ge- 
sunde Menschen  unter  den  Simulanten  nur  in  verschwindend  geringer 
Zahl  vorkommen,  wenn  auch  die  eigentliche  Störung  eine  ganz  anders- 
artige ist  als  die  nachgeahmte.  Namentlich  Katatoniker,  Queru- 
lanten, Schwachsinnige,  Psychopathen,  Hysterische  sind  hierher  zu 
rechnen.  Gerade  bei  diesen  letzteren,  deren  Krankheitsbild  sich 
ohnedies  aus  psychogenen  Zügen  zusammensetzt,  kann  es  ganz  un- 
möglich werden,  willkürliche  Zutaten  auszuscheiden,  ja  es  ist  nicht 
zu  bezweifeln,  daß  hier  absichtliche  Verstellung  und  krankhafte 
Entstehung  der  Störungen  ohne  scharfe  Grenze  ineinander  über- 
gehen. Das  gilt  besonders  für  die  von  Ganser  beschriebenen 
Dämmerzustände  mit  Vorbeireden,  die  so  häufig  bei  Untersuchungs- 
gefangenen zur  Beobachtung  kommen.  Der  Wunsch,  sich  der  pein- 
lichen Lage  und  namentlich  auch  dem  Ausfragen  zu  entziehen, 
kann  auf  dem  Wege  der  gemütlichen  Erregung  zu  ,, Verdrängungs- 
erscheinungen" führen,  die  schon  die  Grenze  des  Krankhaften  über- 
schreiten. Jung  spricht  hier  von  einer  aus  dem  Bewußten  ins 
Unterbewußte  geratenen  Simulation.  Ähnlich  kann  bei  der  trauma- 
tischen Neurose  die  Furcht,  die  Rente  durch  Arbeiten  zu  verlieren, 
die  anfängliche  Arbeitsscheu  allmählich  zu  wirklich  krankhafter 
Unfähigkeit  werden  lassen. 

Im  Hinblicke  auf  diese  Erfahrungen  bin  ich  mit  der  Annahme 
reiner  Verstellung  ohne  anderweitige  Geistesstörung  im  Laufe  der 
Zeit  immer  zurückhaltender  geworden,  zumal  ich  eine  ganze  An- 
zahl meiner  ehemaligen  Simulanten  nachträglich  habe  verblöden 
sehen.  Darum  kann  ich  nur  dringend  raten,  nach  Jahren  immer 
wieder  einmal  die  Reihen  derer  zu  prüfen,  die  einst  als  Simulanten 
,, entlarvt"  wurden.  Man  wird  übrigens  auch  bei  ruhiger  Überlegung 
finden,  daß  für  den  Gesunden  triftige  Beweggründe  zur  Vortäuschung 
von  Irresein  naturgemäß  recht  selten  sein  müssen.  Ich  will  in- 
dessen einräumen,  daß  in  Großstädten  mit  ihrer  eigenartigen  Ver- 
brecherbevölkerung und  ebenso  in  Untersuchungsgefängnissen  die 


Verstellung  und  Verleugnung. 

Verhältnisse  besonders  schwierig  liegen.  Die  Mittel  und  Verfahren, 
welche  die  Aufdeckung  von  Verstellung  im  einzelnen  Falle  ermög- 
lichen, die  Schlüsse,  die  man  aus  dem  Benehmen  eines  Menschen 
vor,  während  und  nach  einer  verbrecherischen  Tat  auf  seinen  Geistes- 
zustand ziehen  kann,  und  eine  Reihe  ähnlicher  Punkte  müssen 
wir  hier  übergehen,  da  sie  den  Aufgaben  der  gerichtlichen  Psycho- 
pathologie angehören. 

Wir  haben  endlich  noch  der  Verleugnung  von  Krankheits- 
erscheinungen zu  gedenken,  die  namentlich  von  Trinkern,  Zirku- 
lären und  Verrückten  bisweilen  mit  großer  Gewandtheit  geübt  wird, 
um  die  Entlassung  aus  der  Irrenanstalt  oder  die  Aufhebung  der 
Entmündigung  zu  erreichen.  Die  Kranken  zeigen  sich  dem  Arzte 
gegenüber  ungemein  harmlos  und  ungefährlich,  stellen  alle  Berichte 
der  Angehörigen,  alle  Wahnideen  völlig  in  Abrede  und  wissen  ihre 
auffallenden  Handlungen  so  ungezwungen  und  schlau  zu  begründen, 
daß  es  recht  schwierig  werden  kann,  die  krankhaften  Züge  klar  zu 
erfassen.  Unerfahrene  lassen  sich  daher  oft.  vollständig  von  ihnen 
täuschen.  Auf  diese  Weise  pflegen  die  Gesundheitszeugnisse  zu- 
stande zu  kommen,  die  sich  gewisse  Geisteskranke  von  Halb-  und 
Nichtsachverständigen  zu  verschaffen  wissen.  Kein  erfahrener 
Irrenarzt  wird  in  strittigen  Fällen  nur  auf  Grund  einiger  Unter- 
redungen, ohne  genaueste  Kenntnis  aller  Verhältnisse  und  ohne 
Anstaltsbeobachtung,  das  Urteil  abgeben,  daß  eine  geistige  Störung 
nicht  vorhanden  ist,  schon  deswegen,  weil  er  weiß,  daß  so  gut  wie 
ausnahmslos  nur  solche  Personen  das  Bedürfnis  haben,  sich  ihre 
geistige  Gesundheit  bescheinigen  zu  lassen,  die  wirklich  krank  sind. 

Man  wird  daher  gut  tun,  jene  die  öffentliche  Meinung  immer 
wieder  beunruhigenden  Flugschriften  mit  größter  Vorsicht  aufzu- 
nehmen, in  denen  das  Justizunrecht  der  willkürlichen  Freiheits- 
beraubung, die  Gefahren  der  geistigen  Ermordung  in  den  grellsten 
Farben  ausgemalt  zu  werden  pflegen.  Allerdings  ist  die  Aufklärung 
derartiger  Fälle  häufig  nicht  leicht,  sondern  erfordert  höchste 
Sachkenntnis  und  vollkommenen  Überblick  über  alle  einschlägigen 
Tatsachen  und  Persönlichkeiten.  Die  hauptsächlichsten  Schwierig- 
keiten liegen  dabei  gewöhnlich  gar  nicht  in  der  eigentlich  psychia- 
trischen Beurteilung,  sondern  in  der  Entscheidung  der  rein  prak- 
tischen Fragen  der  Anstaltsbedürftigkeit  oder  der  Geschäftsfähigkeit. 
Hier  kommen  Gesichtspunkte  in  Betracht,  die  mit  der  psychiatrischen 


544 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins, 


Wissenschaft  gar  nichts  zu  tun  haben,  sondern  ein  Abwägen  der 
sozialen  Folgen  geistiger  Störungen  für  die  Beziehungen  des  Zu- 
sammenlebens erfordern.  Daß  in  solchen  Fragen,  in  denen  nicht 
wissenschaftliche  Erfahrung,  sondern  wesentlich  persönliches  Er- 
messen maßgebend  ist,  auch  die  Meinungen  wirklich  Sachverstän- 
diger recht  weit  auseinandergehen  können,  selbst  wenn  über  die 
psychiatrische  Auffassung  des  Falles  volle  Einigkeit  besteht,  ist 
nicht  auffallender,  als  die  oft  höchst  verschiedene  Festsetzung  des 
Strafmaßes  durch  die  einzelnen  richterlichen  Instanzen.  Wir  dürfen 
es  aber  nicht  verschweigen,  daß  hier  und  da  von  Ärzten,  die  mit 
Unrecht  als  Sachverständige  gelten,  auch  Personen  als  geisteskrank 
bezeichnet  worden  sind,  die  es  im  strengsten  Sinne  nicht  waren; 
namentlich  hat  man  mehrfach  streitsüchtige  Menschen  fälschlich 
für  Querulanten  gehalten.  Ein  ganz  alltägliches  Vorkommnis  aber 
ist  es,  daß  zweifellos  geisteskranke  Personen,  unter  Umständen  zu 
ihrem  größten  Schaden,  für  gesund  erklärt  werden.  Nur  die  immer 
gründlichere  Ausbildung  der  Ärzte,  namentlich  der  beamteten,  in 
der  Psychiatrie  kann  solche  Mißgriffe  allmählich  unmöglich  machen. 

Schließlich  sei  noch  auf  die  Krankheitsverleugnung  besonnener 
selbstmordsüchtiger  Kranker  hingewiesen,  die  bisweilen  mit  großem 
Geschick  ihre  krankhaften  Vorstellungen  und  Gefühle  zu  verbergen, 
Besserung  und  heitere  Stimmung  vorzutäuschen  wissen,  um  den 
stillen  Vorsatz  des  Selbstmordes  bei  weniger  sorgfältiger  Über- 
wachung zur  Ausführung  bringen  zu  können.  Selbst  die  genaueste 
Vertrautheit  mit  dieser  höchst  beachtenswerten  Gefahr  und  unaus- 
gesetzte Wachsamkeit  vermag  nicht  immer  vor  bitteren  Erfahrungen 
zu  schützen. 


V.  Behandlung  des  Irreseins/) 


Leitende  Gesichtspunkte  für  eine  zweckmäßige  Behandlung  sind 
die  Bekämpfung  der  Ursachen  und  die  Beseitigung  oder  wenigstens 
Milderung  der  Erscheinungen.  Die  erstere  Aufgabe  beginnt  schon 
mit  der  Vorbeugung. 

A.  Vorbeugung.  2) 

Die  Verhütung  der  Geisteskrankheiten  steht  bei  der  großen  Be- 
deutung der  Erblichkeit  für  die  Verbreitung  des  Irreseins  zunächst 
vor  der  Frage,  ob  ein  Geisteskranker  heiraten  darf  oder 
nicht^*).  Namentlich  in  manchen  Formen  der  hysterischen  Psy- 
chosen hat  man  wegen  ihrer  vermeintlichen  Entstehung  aus  un- 
befriedigtem Geschlechtsbedürfnisse  bisweilen  die  Ehe  geradezu  für 
ein  Heilmittel  gehalten.  Die  Erfahrung  hat  indessen  gezeigt,  daß 
zwar  gesunde  Eheleute  anscheinend  eine  etwas  geringere  Neigung 
zu  Geistesstörungen  besitzen  als  Ledige,  daß  aber  bei  schon  be- 
stehender Krankheit  die  Ehe  zum  mindesten  auf  das  weibliche  Ge- 
schlecht vielfach  geradezu  schädlich  wirkt.  Dazu  kommt  die  Ge- 
fahr einer  Vererbung  der  krankhaften  Anlage  auf  die  Nachkommen- 
schaft.   So  erscheint  denn  der  ziemlich  allgemein  angenommene 

1)  Penzoldt  und  Stintzing,  Handbuch  der  speziellen  Therapie,  Bd.  V,  Abt.  IX: 
Behandlung  der  Geisteskrankheiten,  von  Emminghaus-Pfister  (Allgemeiner 
Teil)  und  Ziehen  (Spezieller  Teil).  1896;  Bleuler,  Die  allgemeine  Behandlung  der 
Geisteskrankheiten.  1898;  Garnier  et  Cololian,  Traite  de  therapeutique  des 
maladies  mentales  et  nerveuses.  Hygiene  et  prophylaxie.  1901;  Pelman,  Über  die 
Behandlung  der  Geisteskranken,  Deutsche  Klinik.  1902;  Klein,  Monatsschr.  f. 
Psychiatrie,  XVI,  388. 

2)  Fuchs,  Die  Prophylaxe  in  der  Psychiatrie  in  Nobiling- Jankau,  Hand- 
buch der  Prophylaxe,  V.  1900;  Morel,  Psychiatrische  Wochenschr.,  I,  380,  1899; 
Forel,  Hygiene  der  Nerven  und  des  Geistes  in  gesundem  und  krankem  Zustande. 
1904;  Oppenheim,  Nervenkrankheit  und  Lektüre  u.  a.  Drei  Vorträge,  2.  Auflage. 
1907. 

3)  Schüle,  Über  die  Frage  des  Heiratens  früher  Geisteskranker.  1905. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  35 


546 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Grundsatz  gerechtfertigt,  vom  ärztlichen  Standpunkte  aus  bei  be- 
stehender oder  überstandener  Geistesstörung,  besonders  bei  jenen 
Formen,  die  auf  eine  psychische  Entartung  hinweisen,  die  Ehe 
unter  allen  Umständen  zu  widerraten.  Dagegen  wird  der 
einfache  Ursprung  aus  einer  belasteten  Familie,  wenn  nicht  bereits 
Krankheitserscheinungen  zutage  treten,  trotz  der  immerhin  drohen- 
den Gefahren  doch  kein  unbedingtes  Verbot  der  Ehe  begründen 
können.  Strohmeyer  fand,  daß  wenigstens  30%  erblich  Belasteter 
gesund  bleiben.  Die  Gefahr  einer  Erkrankung  würde  sich  im  ein- 
zelnen Falle  noch  erheblich  vermindern,  wenn  das  Heiratsalter  so 
weit  hinaufgesetzt  würde,  daß  die  Entwicklungsjahre  schon  über- 
wunden wären,  in  denen  die  ersten  Äußerungen  der  ererbten  Psy- 
chosen so  häufig  erkennbar  werden.  Nur  wenn  Blutsverwandt- 
schaft vorhanden  ist  oder  in  beiden  Familien  Geistesstörungen, 
namentlich  solche  von  gleicher  Form,  aufgetreten  sind,  wird  man 
sehr  ernste  Bedenken  geltend  zu  machen  haben. 

Allerdings  lehrt  die  Erfahrung,  daß  Ratschläge  über  bevor- 
stehende Ehen  zwar  gesucht  und  angehört,  aber  äußerst  selten  be- 
folgt werden.  Die  Bedürfnisse  der  Rassenkräftigung,  der  geschlecht- 
lichen Zuchtwahl  unter  dem  Gesichtspunkte  der  körperlichen  und 
geistigen  Gesundheit,  treten  regelmäßig  weit  zurück  hinter  anderen, 
kurzsichtigeren  Beweggründen.  Immerhin  wird  man  die  Forderung 
Schüles  unterstützen  müssen,  daß  den  Verlobten  das  Recht  ein- 
geräumt werde,  zuverlässige  Auskunft  über  die  Gesundheitsverhält- 
nisse des  anderen  Teils  zu  erhalten,  insbesondere  über  frühere 
Geistesstörungen,  überstandene  Lues,  Neigung  zu  Alkoholismus, 
Morphinismus,  geschlechtliche  Verirrungen.  Auch  an  die  Einrich- 
tung von  ,, Gesundheitsräten"  könnte  man  denken,  die  bei  Befragen 
ihr  Urteil  ,, mahnend",  ,, warnend"  oder  ,, abratend"  abzugeben 
hätten;  Schüle  will  an  die  Nichtbefolgung  solcher  Ratschläge  auch 
gewisse  rechtliche  Folgen  knüpfen,  wie  Verlust  des  Rechtes  auf 
Ehescheidung  oder  Wiederverheiratung.  Es  steht  jedoch  zu  be- 
fürchten, daß  dann  von  der  Einrichtung,  wenn  sie  nicht  gesetzlich 
in  jedem  Falle  mitzuwirken  hat,  nur  wenig  Gebrauch  gemacht 
werden  wird. 

Indessen  auch  von  einem  zwingenden  Eingreifen  des  Staates 
durch  fürsorgliche  Entmündigung  oder  Eheverbote  bei  bedenklichen 
Gesundheitsverhältnissen  kann  man  sich  nicht  allzuviel  Erfolg  ver- 


Vorbeugung. 

sprechen,  da  es  zwar  die  Ehen,  nicht  aber  die  Kindererzeugung 
einschränken  könnte.  Näcke  hat  sich  daher  für  den  im  Staate 
Michigan  durchberatenen  Vorschlag  erwärmt,  gewisse  Gruppen 
gemeingefährhcher  und  entarteter  Männer  durch  teilweise  Aus- 
schneidung der  Samenleiter  zeugimgsunfähig  zu  machen ;  bei  Frauen 
soll  in  schweren  Fällen  zur  Entfernung  der  Gebärmutter  von  der 
Scheide  aus  geschritten  werden.  Auch  die  Schweizer  Irrenärzte 
haben  die  gesetzliche  Einführung  und  Regelung  der  „sozialen 
Sterilisierung"  Geisteskranker  und  Entarteter  für  wünschenswert 
erklärt.  Ohne  Zweifel  wäre  die  Maßregel  wirksam,  doch  erscheint 
die  Bestimmung  darüber  schwierig,  bei  wem  sie  haltzumachen  hätte. 

So  dringend  die  Frage  einer  Verhütung  der  erblichen  Ent- 
artung und  einer  zweckmäßigeren  Regelung  der  geschlechtlichen 
Zuchtwahl  auch  erscheint,  so  ist  doch  in  absehbarer  Zeit  eine  Ein- 
mischung der  Gesetzgebung  in  diese  höchst  persönlichen  Verhält- 
nisse, die  freilich  zugleich  auch  allergrößte  öffentliche  Bedeutung 
haben,  schwerlich  zu  erwarten.  Vorderhand  werden  wir  uns  daher 
mit  der  Aufklärungsarbeit  zu  begnügen  haben,  die  sich  vor  allem 
auf  eine  weit  gründlichere  Kenntnis  der  Vererbungsverhältnisse  zu 
stützen  hätte,  als  wir  sie  heute  besitzen.  Eine  sehr  erhebliche  vor- 
beugende Wirkung  kommt  übrigens  weiterhin  auch  der  Entwick- 
lung unseres  Anstaltswesens  zu,  das  einer  wachsenden  Zahl  von 
Geisteskranken  die  Möglichkeit  der  Fortpflanzung  benimmt.  An- 
zustreben wäre  aber  mit  größtem  Nachdrucke  die  ja  auch  aus 
sonstigen  Gründen  dringend  notwendige  dauernde  Kasernierung 
anderer  entarteter  Persönlichkeiten,  deren  ungünstiger  Einfluß  auf 
die  Nachkommenschaft  gewiß  nicht  geringer  ist,  als  derjenige  der 
Geisteskranken  im  engeren  Sinne.  Insbesondere  wären  hier  die  Ge- 
wohnheitsverbrecher, die  Landstreicher  und  die  verkommenen 
Trinker  ins  Auge  zu  fassen,  deren  dauernder,  zwangsmäßiger  Aus- 
scheidung aus  dem  Gemeinschaftsleben  wohl  nicht  mehr  allzu  große 
Hindernisse  entgegenstehen  dürften. 

Im  werdenden  Keim  können  eine  Reihe  von  Allgemeinleiden  der 
Eltern  schwere  Schädigungen  hervorrufen,  vielfach  auch  geradezu 
die  Anlage  zum  Irresein  erzeugen.  Wir  nennen  hier  vor  allem 
Alkohol,  Morphium,  Cocain,  Syphilis  und  Tuberkulose.  Ein  schwacher 
Trost  ist  es,  daß  bei  Trinkern  und  Morphinisten  die  geschlechtliche 
Leistungsfähigkeit  allmählich  abzunehmen  pflegt;  dafür  steigert 

35* 


548 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


der  Rausch,  dem  man  eine  unmittelbar  verderbliche  Wirkung  auf 
den  Samen  nachsagt,  wiederum  die  Begierde.  Wie  lange  der  ver- 
hängnisvolle Einfluß  der  Lues  auf  die  Nachkommenschaft  trotz 
gründlicher  Behandlungsversuche  fortdauern  kann,  ist  zweifelhaft. 
Will  man  daher  einer  Entartung  des  kommenden  Geschlechtes  vor- 
beugen, so  wird  man  vor  allem  die  Verbreitung  der  genannten 
Schädlichkeiten  zu  verhüten  haben,  eine  Aufgabe,  die  trotz  ihrer 
Dringlichkeit  von  der  Gesetzgebung  noch  immer  mit  merkwürdiger 
Zaghaftigkeit  angefaßt  zu  werden  pflegt.  Heilige  Pflicht  der  Ärzte 
muß  es  sein,  den  Druck  der  öffentlichen  Meinung  allmählich  derart 
zu  steigern,  daß  man  sich  dazu  entschließt,  den  Kampf  gegen 
Alkohol  und  Syphilis  mit  dem  gleichen  Nachdrucke  und  dem  gleichen 
Aufwände  an  Hilfsmitteln  aufzunehmen,  wie  denjenigen  gegen  die 
Tuberkulose, 

Wie  weit  es  möglich  sein  wird,  die  Schädigungen  des  kindlichen 
Gehirns  durch  Asphyxie,  Druck  oder  Verletzungen  bei  der  Geburt 
einzuschränken,  steht  dahin ;  vielleicht  wird  bessere  Ausbildung  der 
Hebammen,  regelmäßige  Zuziehung  von  Ärzten  in  schwierigen 
Fällen,  Vermehrung  der  Entbindungsanstalten  hier  und  da  die  Ent- 
stehung einer  Idiotie  durch  die  Geburt  zu  verhindern  imstande  sein. 
Auch  die  Förderung  des  Stillens  der  Frauen  dürfte  für  die  Gesund- 
erhaltung des  jugendlichen  Gehirns  nicht  ohne  Bedeutung  sein.  Wir 
sind  längst  davon  zurückgekommen,  die  Krämpfe  der  Säuglinge, 
die  ,, Gichter"  oder  ,, Fraisen",  als  eine  harmlose  Erscheinung  zu 
betrachten.  Vielfach  sind  sie  jedenfalls  die  Anzeichen  von  leichteren 
oder  schwereren  Hirnerkrankungen,  die  dauernde  Spuren  für  das 
spätere  Leben  zurücklassen  können,  allgemeine  Nervosität,  Epilepsie, 
Schwachsinn  bis  zur  ausgesprochenen  Verblödung.  Da  aber  die  Ein- 
gangspforte für  Krankheitserreger  hier  wahrscheinlich  vor  allem  im 
Darme  liegt,  wird  die  Ernährung  mit  Muttermilch  diese  Gefahren 
sehr  wesentlich  vermindern  können,  zumal  sie  auch  sonst  die  all- 
gemeine Widerstandsfähigkeit  des  Kindes  gegen  krankmachende 
Einflüsse  steigert.  Der  im  Säuglingsalter  drohenden  Gefahr  des 
Kretinismus  kann  durch  Entfernung  aus  der  verseuchten  Gegend 
oder  durch  Darreichung  von  Thyreoidin  begegnet  werden. 

Die  Verschiedenartigkeit  unter  gleichen  Bedingungen  auf- 
gewachsener Geschwister  zeigt  uns  vielfach,  wie  zwingend  die  Ent- 
wicklung der  psychischen  Persönlichkeit  durch  die  ursprüngliche 


Vorbeugung. 

Veranlagung  und  Mischung  bestimmt  wird.  Dennoch  werden  wir 
auch  den  Einflüssen  der  Erziehung  in  der  Vorbeugung  des  Irre- 
seins eine  gewisse  Bedeutung  nicht  absprechen  können.  Gerade 
etwas  absonderlich  angelegte  Eltern  vermögen  häufig  nicht  die 
rechte  Mitte  zwischen  grillenhafter  Strenge  und  weichlicher  Ver- 
zärtelung zu  halten,  Einflüsse,  die  nur  ein  sehr  kräftig  geartetes 
Kind  ohne  dauernden  Schaden  für  die  Entwicklung  seiner  Persön- 
lichkeit zu  ertragen  imstande  ist.  Der  ärztliche  Berater  findet  hier 
nicht  so  selten  Gelegenheit  zu  warnendem  Eingreifen.  Im  all- 
gemeinen wird  jedes  Kind  am  wirksamsten  durch  den  Verkehr  mit 
seinesgleichen  erzogen.  Darum  ist  sorgfältige  Auswahl  der  Ge- 
fährten, Ausschließung  von  verdorbenen  oder  entarteten  Kameraden 
besonders  für  psychopathisch  veranlagte  Kinder  wichtig.  In  ver- 
einzelten Fällen,  bei  sehr  empfindlichen  und  erregbaren  Kindern, 
wird  zeitweise  eine  abgesonderte  Erziehung  am  Platze  sein. 

Das  wichtigste  Ziel  aller  Erziehung  muß  die  Entwicklung  eines 
gesunden  Willens  bilden.  Auch  unser  geistiges  Leben  bewegt  sich 
zum  guten  Teile  in  Willenshandlungen ;  die  Tätigkeit  der  Aufmerk- 
samkeit mit  ihren  weitreichenden  Folgen  für  die  Gestaltung  unserer 
Allgemeinvorstellungen,  unserer  Lebens-  und  Weltanschauung  ist 
innere  Willenshandlung.  Die  Ausbildung  neuer,  die  Entfaltung  an- 
geborener Fähigkeiten  geschieht  lediglich  durch  die  Übung,  die 
ebenfalls  nur  durch  Willenstätigkeit  erreicht  werden  kann.  Bei  der 
ganz  überwiegenden  Mehrzahl  der  Formen  psychopathischer  Ver- 
anlagung sehen  wir  daher  auch  Willensstörungen  im  Vordergrunde 
stehen,  sei  es  Haltlosigkeit  und  Bestimmbarkeit  des  Wollens,  sei  es 
die  Unfähigkeit,  Hindernissen  und  Bedenken  durch  kräftige  An- 
spannung des  Willens  zu  begegnen,  krankhafte  Antriebe  zu  unter- 
drücken, seien  es  endlich  abnorme  Richtungen  des  Trieblebens. 

Aus  diesen  allgemeinen  Gesichtspunkten  ergibt  sich,  daß  wir  zu- 
nächst im  heranwachsenden  Geschlechte  die  natürlichen  Triebe  nach 
Möglichkeit  zu  erhalten  suchen  müssen,  da  sie  die  sichersten  Weg- 
weiser in  den  verkünstelten  Verhältnissen  des  Kulturlebens  bedeuten. 
Einfachheit  der  gesamten  Lebensführung,  besonders  auch  der  Er- 
nährung, Fernhaltung  von  Übersättigung  und  Üppigkeit,  Leben  in 
und  mit  der  Natur,  selbstverständliche  Beachtung  wichtiger  Gesund- 
heitsregeln, reichliche  körperliche  Betätigung  und  ausreichende  Be- 
friedigung des  Schlafbedürfnisses  sind  hier  die  wichtigsten  Aufgaben. 


550 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Sodann  aber  wäre  das  Hauptaugenmerk  auf  die  Erziehung  zur 
Selbständigkeit  und  zur  Selbsthilfe  zu  richten.  Die  Erweckung 
frischen  Selbstvertrauens,  das  einzige  Vorbeugungsmittel  gegen  die 
so  ungeheuer  verbreitete  psychopathische  Ängstlichkeit,  kann  nur 
durch  eigene  Betätigung  erreicht  werden.  Die  Not  macht  erfinderisch  ; 
sie  stärkt  die  Kräfte  und  damit  die  Zuversicht  des  Gelingens.  An 
diesem  Punkte  liegt  der  entscheidende  Wert  aller  jener  Spiele,  die 
Anforderungen  an  Kraft,  Gewandtheit  und  Entschlossenheit  stellen. 
Ihre  erziehende  Wirkung  auf  den  Willen  wird  fortgesetzt  und  aus- 
gebaut durch  Handfertigkeitsübungen  und  den  Sport  in  jeder  Form. 
So  wenig  hier  die  Erreichung  einseitiger  Höchstleistungen  als  Ziel 
hingestellt  werden  darf,  so  unentbehrlich  sind  die  Leibesübungen 
für  den  Kulturmenschen,  der  durch  die  planmäßige  Züchtung  reiner 
Verstandesleistungen  von  der  körperlichen  Betätigung  immer  mehr 
abgedrängt  wird.  Im  Turnen  und  Wandern,  im  Radfahren,  Schwim- 
men, Rudern,  Eislaufen,  Reiten  oder  in  den  von  England  zu  uns 
herübergekommenen  Bewegungsspielen  findet  er  fast  die  einzige 
Gelegenheit,  jene  Eigenschaften  zu  entwickeln,  die  dem  Natur- 
menschen eine  Überlegenheit  über  seinesgleichen  gewähren.  Ge- 
rade in  ihnen  aber,  in  der  körperlichen  Kraft  und  Gewandtheit,  in 
Mut,  Ausdauer,  Findigkeit  und  Entschlossenheit  liegen  die  Wurzeln 
aller  Tüchtigkeit  und  Widerstandsfähigkeit  für  die  Kämpfe  des 
Lebens.  Sind  doch  alle  jene  Übungen  nur  ein  Abbild  des  Daseins- 
kampfes, in  dem  der  Zwang  der  Notwendigkeit  durch  den  Antrieb 
des  Wettbewerbes  und  den  Ehrgeiz  ersetzt  wird,  das  freiwillig  ge- 
steckte Ziel  zu  erreichen. 

Der  gefährlichste  Feind  der  Willensentwicklung  ist  die  Ver- 
weichlichung, weil  sie  das  Zurückweichen  vor  der  Anstrengung,  das 
Verzichten  auf  die  Willensübung,  die  Abschwächung  der  natürlichen 
Triebe  bedeutet.  Frühzeitige  Gewöhnung  an  Entbehrungen,  Er- 
haltung der  Genußfähigkeit  durch  Sparsamkeit  der  Genüsse,  Be- 
kämpfung des  Einwurzeins  von  ,, Bedürfnissen",  Erziehung  zu  un- 
verdrossener Anpassung  an  mannigfache  Lebensverhältnisse,  zur 
Gleichgültigkeit  gegen  kleine  Schmerzen  und  Unbequemlichkeiten, 
zur  Freude  an  der  persönlichen  Unabhängigkeit,  zur  Verachtung  des 
Luxus  werden  den  starken  verweichlichenden  Einflüssen  unseres  Kul- 
turlebens entgegenzuwirken  haben.  Außerordentlich  günstig  wirkt  ge- 
rade das  Wandern  und  Reisen  unter  möglichst  einfachen  Bedingungen. 


Vorbeugung.  ^51 

Prüfen  wir  nach  dem  hier  gewonnenen  Maßstabe  die  Wirksam- 
keit unserer  gesamten  Erziehungseinrichtungen,  so  werden  wir  uns 
von  ihnen  kaum  befriedigt  erklären  können.  Was  unser  Erziehungs- 
wesen in  viel  zu  hohem  Grade  beherrscht,  ist  die  Sorge  für  das 
gedächtnismäßige  Wissen,  während  die  Ausbildung  der  Persönlich- 
keit weit  mehr  zufälligen  Einflüssen  überlassen  bleibt.  Wie  gering 
aber  im  allgemeinen  der  Wert  des  in  rein  sprachlicher  Fassung  An- 
gelernten gegenüber  dem  durch  eigene  Beobachtung  und  Betätigung 
Erworbenen  ist,  zeigen  in  überraschender  Weise  die  früher  be- 
sprochenen Erfahrungen  über  die  Kenntnisse  der  Rekruten.  Wäh- 
rend zur  Zeit  der  Einstellung  ihre  geistigen  Leistungen  trotz  des 
genossenen  Schulunterrichtes  durchschnittlich  geradezu  klägliche 
waren,  ergab  sich  am  Ende  der  zweijährigen  Dienstzeit  eine  ganz 
auffallende  Besserung  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin. 
Nicht  nur  die  allgemeinen  Kenntnisse  und  besonders  das  Wissen 
aus  eigener  Erfahrung  war  besser  geworden,  sondern  namentlich 
auch  die  Fähigkeit,  sich  überhaupt  über  den  geistigen  Besitz  Rechen- 
schaft zu  geben,  rasch,  klar  und  knapp  zu  antworten.  Auch  bei 
Gebildeten  sehen  wir  häufig  einen  großen  Teil  des  Schulwissens  bis 
auf  zusammenhanglose  Bruchstücke  wieder  verloren  gehen,  während 
die  einmal  erworbenen  Fertigkeiten  in  der  Regel  sehr  zähe  haften. 
Wir  können  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  bei  der  Ausbildung  der 
heranwachsenden  Jugend  immer  und  immer  mehr  das  Gewicht  auf 
das  Erlernen  durch  Anschauung  und  durch  eigenes  Handeln  gelegt 
werden  muß.  Nur  die  Stoffe,  die  eine  derartige  Behandlung  zu- 
lassen, haben  höchsten  Bildungswert,  da  sie  nicht  nur  in  Fleisch  und 
Blut  übergehen,  sondern  zugleich  auch  auf  die  Entwicklung  der 
ganzen  geistigen  Persönlichkeit  hinwirken.  Vielleicht  ist  es  möglich, 
auf  diesem  Wege  den  Gefahren  zu  begegnen,  die  einseitige  Züchtung 
der  Verstandesleistungen  sonst  für  die  weit  wichtigere  Ausbildung 
eines  kraftvollen  Willens  mit  sich  bringt.  Zugleich  dürfen  wir 
hoffen,  dadurch  das  weitverbreitete  bedenkliche  Warnungszeichen 
der  Schulverdrossenheit  zu  beseitigen,  das  auf  ein  Fehlen  der  Über- 
einstimmung zwischen  den  Zielen  und  Hilfsmitteln  der  Schule  und 
dem  Betätigungsstreben  der  Jugend  hindeutet.  Wirklich  fruchtbar 
kann  doch  nur  der  Unterricht  sein,  der  den  Schüler  zu  freudiger 
Mitarbeit  begeistert. 

Da  nur  in  einem  gesunden  Körper  eine  gesunde  Seele  wohnen  kann, 


552 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


ist  der  körperlichen  Ausbildung,  namentlich  bei  psychopathisch  ver- 
anlagten Kindern,  überall  die  größte  Wichtigkeit  beizumessen.  Ein 
Vorwärtstreiben  in  der  Schule  auf  Kosten  der  körperlichen  Ent- 
wicklung ist  ein  äußerst  verhängnisvoller  Fehler.  Was  durch  körper- 
liche Übungen  an  Zeit  versäumt  wird,  bringt  die  gekräftigte  Gesund- 
heit späterhin  reichlich  wieder  ein.  Stark  gefährdete  Kinder  gehören 
unbedingt  aufs  Land,  in  einfache  Verhältnisse,  die  ihnen  reichliche 
Gelegenheit  zum  Genüsse  von  Licht,  Luft  und  Sonne  gewähren. 
Die  überraschenden  Erfolge,  die  Ferienkolonien,  Waldschulen  und 
Landerziehungsheime  aufzuweisen  haben,  lehren  deutlich,  daß  des 
Kindes  Heim  nicht  die  Stadt  ist,  und  daß  wir  daher,  wo  sein  Körper 
gekräftigt,  seine  Widerstandsfähigkeit  gestählt  und  seine  Seele  zum 
Gedeihen  gebracht  werden  soll,  die  segenspendenden  Wirkungen 
des  Landlebens  zu  Hilfe  rufen  müssen. 

Gegenüber  diesen  grundlegenden  Erziehungsfragen  tritt,  wie  ich 
glaube,  die  Bedeutung  der  sogenannten  Überbürdungsfrage^)  wesent- 
lich zurück.  Allerdings  darf  es  als  wahrscheinlich  gelten,  daß  kein 
jugendliches  Gehirn  wirklich  in  strengem  Sinne  das  zu  leisten  im- 
stande ist,  was  zahlreiche  Stundenpläne  fordern.  Wenn  schon  ein 
Erwachsener  einer  sehr  einfachen  geistigen  Arbeitsleistung  nicht 
länger  als  etwa  eine  Stunde  zu  folgen  vermag,  ohne  deutliche,  sich 
rasch  steigernde  Ermüdungserscheinungen  zu  zeigen,  so  tritt  im 
jüngeren  Lebensalter  und  bei  den  schwierigeren  Aufgaben  des  Schul- 
unterrichtes die  Erschlaffung  natürlich  noch  sehr  viel  rascher  ein. 
Allerdings  ist  die  Ermüdung  an  sich  keine  Gefahr,  da  jede  Tätigkeit 
notwendig  einen  Verbrauch  von  Arbeitskraft  mit  sich  bringt,  anderer- 
seits aber  durch  Übung  die  Leistungsfähigkeit  steigert  und  die  Er- 
müdbarkeit herabsetzt.  Wir  wissen  indessen,  daß  ein  Übermaß  von 
Ermüdung  zu  Störungen  führen  kann,  die  sich  erst  langsam  und  in 
längerer  Ruhe  wieder  ausgleichen.  Wann  die  schädigende  Wirkung 
der  Ermüdung  im  einzelnen  Falle  beginnt,  entzieht  sich  heute  noch 
unserer  Kenntnis.  Wir  können  nur  allgemein  sagen,  daß  dieser 
Punkt  erreicht  ist,  sobald  sich  die  Arbeitsermüdung  nicht  mehr 
regelmäßig  von  einem  Tage  zum  anderen  wieder  ausgleicht.  Es 
kann  zugegeben  werden,  daß  die  große  Mehrzahl  der  gesunden  und 
kräftig  veranlagten  Schüler  Spannkraft  genug  besitzt,  um  auch  über 


)  Benda,  Nervenhygiene  und  Schule.  1900. 


Vorbeugung. 

ungewöhnlich  hohe  Anforderungen  ohne  bleibende  Nachteile  hinweg- 
zukommen. Ebenso  sicher  ist  es  aber  auch,  daß  sich  in  jeder  Schule 
eme  Reihe  von  Kindern  befinden,  die  bei  sonst  guter  Begabung  eine 
ganz  besonders  hohe  Ermüdbarkeit  besitzen,  leicht  die  Zeichen  von 
Dauerermüdung  aufweisen  und  daher  der  sorgfältigen  Beobachtung 
durch  den  Arzt  bedürfen.  Überall  haben  wir  nicht  nur  mit  Kindern 
aus  krankhaft  entarteten  Familien,  sondern  auch  mit  solchen  zu 
rechnen,  die  späterhin  selbst  mehr  oder  weniger  schwer  psychisch 
erkranken.  Eines  der  Zeichen  der  Entartung  aber  ist  zweifellos 
große  Ermüdbarkeit,  die  sich,  wie  es  scheint,  vielfach  mit  großer 
Übungsfähigkeit  verbindet  und  durch  sie  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  verdeckt  werden  kann. 

In  der  Schule  werden  die  Gefahren  der  Übermüdung  durch  das 
Einschieben  von  Erholungspausen  zwischen  die  einzelnen  Unter- 
richtsabschnitte einigermaßen  wieder  ausgeglichen.   Freilich  ist  die 
Dauer  dieser  Pausen  wahrscheinlich  zu  kurz  bemessen,  als  daß  sie 
eine  ausreichende  Erholung  bieten  könnten,  namentlich  gegen  Ende 
des  Tagesunterrichtes.    Glücklicherweise  gibt  es  ein  Sicherheits- 
ventil, welches  verhindert,  daß  infolge  der  geistigen  Überanstrengung 
schwere  Gefahren  für  das  heranwachsende  Geschlecht  heraufgeführt 
werden  —  das  ist  die  Unaufmerksamkeit,  die  gerade  dann 
hilfreich  eintritt,  wenn  die  Anspannung  notwendig  zu  einer  Er- 
holung drängt.  Leider  versagt  dieses  Ventil,  sobald  von  dem  Schüler 
nicht  bloß  Stillsitzen,  sondern  wirkliche  Arbeitsleistung  gefordert 
wird.   Das  ist  der  Fall  einmal  bei  der  Hausarbeit,  die  eben  über- 
wältigt werden  muß,  gleichgültig,  ob  sie  dem  Schüler  viel  oder 
wenig  Zeit  kostet,  ob  er  müde  und  erschöpft  oder  frisch  ist.  Sodann 
aber  ist  es  bekanntlich  möglich,  durch  kräftigen  Antrieb  das  Gefühl 
der  Müdigkeit  zu  unterdrücken  und  den  Schüler  zu  einer  Anspannung 
seiner  Kräfte  zu  veranlassen,  die  sonst  durch  das  Schutzgefühl  der 
Müdigkeit  unbedingt  verhindert  würde.  Gerade  die  guten,  tüchtigen 
Lehrer  können  daher  unter  Umständen  für  ihre  Schüler  schädlich 
werden,  weil  sie  deren  Aufmerksarnkeit  auch  dann  noch  zu  fesseln 
verstehen,  wenn  im  Laufe  der  ausgedehnten  Unterrichtsstunden  die 
Ermüdung  schon  lange  das  zulässige  Maß  überschritten  hat. 

Bei  zu  starker  und  andauernder  Anspannung  der  Kräfte  entwickelt 
sich  ein  Zustand  innerer  Erregung,  der  auf  das  Gesamtbefinden 
durchaus  ungünstig  einwirkt.  Nicht  nur  der  Schlaf  wird  oberflächlich 


554 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


und  unruhig,  sondern  auch  die  Nahrungsaufnahme  leidet,  wie  das 
bekannte  Schwinden  der  Eßlust  bei  Kindern  vor  den  Schulstunden 
zeigt.  Mädchen  mit  ihren  lebhafteren  Gefühlen  scheinen  in  dieser 
Beziehung  empfindlicher  zu  sein  als  Knaben,  weil  sie  durchgängig 
ehrgeiziger  sind  und  mit  größerer  Spannung  arbeiten.  Namentlich 
bei  psychopathisch  veranlagten  Kindern  kann  der  Zwang  der  Schule 
auch  eine  dauernde  Ängstlichkeit  züchten,  die  zu  immer  größerer 
freiwilliger  Selbstbelastung  mit  Arbeit  führt,  wenn  ihr  nicht  recht- 
zeitig begegnet  wird. 

Die  Tatsache,  daß  in  jeder  Klasse  Schüler  von  ganz  verschiedener 
Veranlagung  zusammensitzen,  legt  den  Gedanken  nach  einer  weiter- 
gehenden Sonderung  der  einzelnen  Gruppen  nahe.  Dadurch  würde 
einerseits  den  Begabteren  und  Leistungsfähigeren  ein  rascheres  Fort- 
schreiten ermöglicht,  andererseits  den  leicht  Ermüdbaren  und 
schwächer  Veranlagten  die  übermäßige  Anspannung  der  Kräfte  er- 
spart. Wenn  auch  die  Wichtigkeit  einer  gewissen  Gleichmäßigkeit 
der  Anforderungen  für  das  Mitreißen  der  weniger  Tüchtigen  nicht 
unterschätzt  werden  soll,  dürften  doch  die  Vorteile  einer  eingehen- 
deren Berücksichtigung  der  einzelnen  Persönlichkeiten  für  die 
Schüler  wie  für  den  Unterrichtsbetrieb  erheblich  überwiegen. 
Namentlich  würden  dabei  auch  jene  Begabungen  mehr  zu  ihrem 
Rechte  kommen  können,  deren  Eigenart  im  Schulwissen  sich  durch- 
aus nicht  zu  betätigen  vermag.  Durch  die  Einrichtung  von  beson- 
deren Klassen  für  Unbefähigte  ist  übrigens  in  einer  Reihe  von 
Städten  schon  ein  erster  Schritt  in  der  Aussonderung  der  durch  den 
Unterrichtsbetrieb  gefährdeten  und  zugleich  diesen  selbst  hemmenden 
Schüler  getan. 

Eine  besondere  Quälerei  für  das  jugendliche  Gehirn  wird  durch 
die  hochnotpeinlichen  Prüfungen  bewirkt.  Hier  gilt  es  nicht  nur, 
einen  umfangreichen  Gedächtnisstoff  aus  den  verschiedensten 
Wissensgebieten  zu  einer  bestimmten  Stunde  verwendungsbereit  zu 
halten,  sondern  dazu  kommt  noch  die  gemütliche  Erregung  im  Hin- 
blicke auf  einen  möglichen  Mißerfolg.  Kein  Wunder,  daß  noch  nach 
langen,  langen  Jahren  das  Schreckgespenst  der  Abschlußprüfung  im 
Traume  wieder  aufzutauchen  pflegt.  Diese  Kraftprobe  kann  in  den 
Entwicklungsjahren  für  einzelne  gewiß  eine  Gefahr  bedeuten  und 
zum  Anknüpfungspunkte  für  schwer  sich  ausgleichende  Zustände 
von  Nervosität  werden. 


Vorbeugung. 

Die  Lösung  der  hier  kurz  angedeuteten  Fragen  kann  nur  durch 
das  planmäßige  Zusammenwirken  von  Lehrer  und  Arzt  erreicht 
werden.  Die  Anstellung  von  Schulärzten^),  mit  der  jetzt  vielfach 
begonnen  worden  ist,  erscheint  daher  auch  für  die  Vorbeugung  des 
Irreseins  von  Bedeutung.  Vor  allem  wird  der  Schularzt  imstande 
sein,  alle  diejenigen  Kinder,  die  nach  ihrem  körperlichen  und  geistigen 
Zustande  den  Anforderungen  der  Schule  nicht  gewachsen  sind,  von 
vornherein  auszuscheiden  oder  doch  der  besonderen  Berücksichtigung 
zu  empfehlen ;  sie  entgehen  dadurch  den  Gefahren,  welche  die  Durch- 
führung der  Schularbeit  und  der  Schulzucht  sonst  für  sie  mit  sich 
bringen  würde.  Zugleich  wird  der  Schularzt  rechtzeitig  die  Behand- 
lung solcher  körperlicher  Leiden  veranlassen  können,  die  leicht  zu 
geistiger  Verkümmerung,  Erschöpfung  oder  Erregbarkeitssteigerung 
führen,  Ohrenerkrankungen,  Wucherungen  im  Nasenrachenraum, 
Blutarmut,  Bleichsucht,  Menstruationsstörungen. 

Es  darf  indessen  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  daß  ein  er- 
heblicher Teil  der  Schuld  an  der  Entwicklung  nervöser  Störungen 
das  Haus  trifft.  Wir  wollen  hier  absehen  von  dem  Drucke  der 
Not,  der  schon  die  Kinder  vielfach  in  das  Erwerbsleben  hinein- 
zwingt, der  sie  unter  entsetzlichen  Wohnungsverhältnissen,  ohne 
Licht,  Luft  und  Freiheit,  ohne  Berührung  mit  der  Natur,  unter 
dem  Einflüsse  widriger  Eindrücke,  oft  auch  roher  Mißhandlungen, 
in  Schmutz  und  Kälte,  bei  elender  Ernährung  aufwachsen  läßt. 
Die  Beseitigung  derartiger,  die  geistige  und  körperliche  Gesund- 
heit untergrabender  Lebensbedingungen,  die  in  der  Großstadt 
vor  allem  ihre  verheerenden  Wirkungen  entfalten,  reicht  weit  über 
die  engere  Aufgabe  einer  Vorbeugung  des  Irreseins  hinaus.  Was 
aber  das  Haus  unbedingt  müßte  erreichen  können,  das  ist  die  Fern- 
haltung des  Kindes  vom  Alkohol  2),  der  noch  in  erschreckendem 
Umfange,  sei  es  als  Genußmittel,  sei  es  als  ärztlich  verordnetes 
,, Stärkungsmittel"  der  Schuljugend  zugänglich  gemacht  wird.  Die 
mangelhaften  Leistungen  der  Schüler  am  Montage,  das  Zurück- 
bleiben der  Kinder,  denen  die  Gedankenlosigkeit  der  Eltern  täglich 
geistige  Getränke  reicht,  sind  die  Folgen.  Ferner  ist  auf  die  un- 
genügende Berücksichtigung  des  sehr  großen  kindlichen  Schlaf- 
bedürfnisses hinzuweisen,  auf  die  Unsitte,  Kinder  zu  abendlichen 

1)  Weygandt,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1900,  5. 

2)  Kraepelin,  Alkohol  und  Jugend.  1902. 


556 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Vergnügungen,  oft  sehr  unpassender  Art,  mitzuschleppen,  sie  durch 
unverhältnismäßige  Anforderungen  um  jede  Erholungszeit,  jede 
Möglichkeit  freier  Betätigung  zu  bringen,  ihnen  über  ihre  Kräfte 
Nebenaufgaben  aufzubürden,  Nachhilfestunden,  Musikunterricht  mit 
angestrengtem  Üben,  Eintrichtern  fremder  Sprachen.  Auch  aus- 
gedehnte und  anspruchsvolle  ,, Geselligkeit"  der  Kinder  kann  mit 
dazu  beitragen,  sie  nervös  und  überreizt  werden  zu  lassen.  Das 
Kind  bedarf  in  noch  weit  höherem  Maße  als  der  Erwachsene  ein- 
facher, natürlicher  Lebensbedingungen  und  freier  Entfaltung  seiner 
persönlichen  Kräfte  und  Fähigkeiten  im  ungezwungenen  Spiele, 
wenn  es  nicht  zur  kränkelnden,  verbildeten  Treibhauspflanze 
werden  soll. 

Eine  sehr  wichtige  Aufgabe  bildet  die  Fürsorge  für  die  schul- 
entlassene Jugend,  soweit  sie  selbständig  in  den  Daseinskampf  ge- 
stellt wird.  Nicht  nur  geistige  und  berufliche  Fortbildung,  sondern 
vor  allem  auch  Schutz  vor  Verführung  muß,  namentlich  im  Getriebe 
der  Großstädte,  in  viel  umfassenderem  Maße  'gewährleistet  werden. 
Fernhaltung  von  Alkohol  und  Syphilis  erscheint  durchaus  als  die 
Hauptsache.  Daneben  wären  alle  Bestrebungen  zu  unterstützen,  die 
körperliche  oder  geistige  Fortbildung  und  Erholung  zum  Ziele  haben. 
Wander-,  Sport-,  Gesangvereine,  Volksheime,  Unterhaltungs-  und 
Vortragsabende.  Staat,  Gesellschaft  und  Kirche  sollten  sich  in  dieser 
Arbeit  begegnen.  Besonders  schutzbedürftig  sind  natürlich  die  Minder- 
wertigen und  Schwachsinnigen,  die  Verwahrlosten  und  Waisen,  die 
Taubstummen  und  Blinden,  die  Stotterer  und  Krüppel.  Ein  großer 
Teil  von  ihnen  fällt  dem  geistigen  Siechtume,  dem  Verbrechen  oder 
der  Landstreicherei  anheim,  der  bei  rechtzeitiger  Fürsorge  vielleicht 
gerettet  werden  könnte.  Auch  die  Jugendgerichtshöfe  können  "hier 
segensreich  wirken,  indem  sie  die  gefährdete  Jugend  vor  der  ver- 
derblichen Berührung  mit  Laster  und  Verkommenheit  bewahren. 
Durch  rechtzeitige  Benachrichtigung  der  Aushebungsbehörden  wird 
auch  die  Einstellung  ungeeigneter  Rekruten  in  den  Militärdienst 
verhindert  werden  können. 

Erhöhte  Aufmerksamkeit  ist  vor  und  in  den  Entwicklungsjahren 
auf  die  Überwachung  der  geschlechtlichen  Regungen  zu  richten. 
Wenn  auch  für  gesunde  Kinder  die  Klippen  dieser  Zeit  nicht  allzu 
gefährlich  sind,  gewinnt  bei  krankhafter  Veranlagung  das  Geschlechts- 
leben sehr  oft  einen  unverhältnismäßig  großen  Spielraum.  Die  Be- 


Vorbeugung. 

gierden  erwachen  früh  und  bei  geringfügigen  Anlässen;  sie  beschäf- 
tigen die  Einbildung  auf  das  lebhafteste  und  führen  leicht  zu  leiden- 
schaftlicher und  hartnäckiger  Masturbation,  namentlich  unter  dem 
Einflüsse  der  Verführung.  Erziehungsanstalten,  in  denen  sich  gern 
derartige  Gewohnheiten  ausbilden,  sind  daher  für  geschlechtlich  er- 
regbare Kinder  eine  entschiedene  Gefahr.  Sehr  häufig  wird  auch 
durch  besondere  geschlechtliche  Erlebnisse  in  der  Jugend  bei  psycho- 
pathischen Kindern  der  Keim  zu  jenen  mannigfaltigen  Verirrungen 
des  Geschlechtstriebes  gelegt,  die  wir  früher  geschildert  haben.  Ver- 
nünftige, rechtzeitige  Aufklärung,  unbefangener  Verkehr  der  Ge- 
schlechter, Fernhaltung  von  schlechtem  Umgang  und  schlüpfriger 
Lektüre,  planmäßige  Erziehung  zu  reichlicher  körperlicher  Betäti- 
gung sind  die  Mittel,  die  uns  zur  Bekämpfung  aller  dieser  Gefahren 
zu  Gebote  stehen. 

Im  späteren  Leben  fällt  der  Vorbeugung  des  Irreseins  die  doppelte 
Aufgabe  zu,  einmal  den  einzelnen  vor  den  nach  seiner  besonderen 
Anlage  drohenden  Gefahren  zu  schützen,  andererseits  jene  all- 
gemeineren Ursachen  zu  bekämpfen,  die  erfahrungsgemäß  bei  der 
Entstehung  geistiger  Erkrankungen  eine  hervorragende  Rolle  spielen. 
Da  die  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  der  Menschen  überaus 
ungleich  verteilt  ist,  so  wird  es  Sache  des  Arztes  sein,  unter  sorg- 
fältiger Abschätzung  dieser  beiden  Eigenschaften  die  Wahl  des 
Berufes  und  die  gesamte  Lebensführung  nach  Möglichkeit  zu 
überwachen.  Namentlich  dort,  wo  eine  krankhafte  Veranlagung  be- 
steht, sind  alle  Berufsarten,  welche  die  Gefahren  geistiger  oder  ge- 
mütlicher Überanstrengung,  großer  Verantwortlichkeit  in  sich 
schließen,  auf  das  entschiedenste  zu  widerraten.  Hier  passen  nur 
Beschäftigungen,  die  ein  ruhiges,  gleichmäßiges  Leben  ohne  Auf- 
regungen und  Kämpfe,  am  besten  mit  reichlichem  Aufenthalte  im 
Freien  gestatten.  In  erhöhtem  Maße  gilt  das  für  das  weibliche 
Geschlecht.  Seiner  ganzen  Anlage  nach  auf  die  stille  Betätigung 
seiner  gemütlichen  Gaben  angewiesen,  verträgt  es  erfahrungsgemäß 
das  rücksichtslose  Ringen  im  Wettbewerbe  des  Daseins  schlecht, 
und  auch  die  Züchtung  reiner  Verstandesleistungen  läßt  seine  edel- 
sten Fähigkeiten  verkümmern.  Aus  diesen  Gründen  stehen  dem 
Herandrängen  der  Frauen  zu  männlichen  Berufen  sehr  ernste  Be- 
denken entgegen,  wenn  ihnen  auch  die  Teilnahme  an  höherer  Bil- 
dung und  eine  bessere  Ausrüstung  für  das  Erwerbsleben  zugestanden 


558 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


werden  muß.  Nur  ausnahmsweise  und  nur  bei  vollkommen  rüstiger 
geistiger  und  körperlicher  Gesundheit  wird  man  vom  ärztlichen 
Standpunkte  das  leichter  verletzliche  Geschlecht  den  Anstrengungen 
und  Gefahren  der  männlichen  Berufsarten  sich  aussetzen  lassen. 
Weiterhin  muß  bei  gefährdeten  Personen  von  vornherein  auf  die 
Fernhaltung  von  Ausschweifungen  und  Verführungen,  auf  die  Sorge 
für  ausreichende  Erholung  und  Ernährung  sowie  für  guten  Schlaf 
in  besonderer  Weise  Bedacht  genommen  werden.  Bei  der  Aus- 
hebung zum  Militärdienst  sind  sie  in  weitgehender  Weise  zu  be- 
rücksichtigen. Schwachsinnige,  Epileptiker,  Hysteriker  vertragen 
in  der  Regel  den  Druck  des  militärischen  Dienstes  ungemein  schlecht 
und  treiben  leicht  in  die  schwersten  Gefahren  hinein.  Andererseits 
kann  bei  leichteren  Abweichungen,  bei  etwas  willensschwachen, 
ängstlichen,  bestimmbaren  Naturen  die  militärische  Erziehung 
geradezu  wohltätig  wirken. 

Die  allgemeine  Vorbeugung  der  Geisteskrankheiten  bietet 
zwar  ebenfalls  vielfache  Angriffspunkte,  aber  zumeist  sehr  weit- 
aussehende und  über  den  Bereich  der  ärztlichen  Tätigkeit  hinaus- 
gehende Aufgaben.  Alle  Maßregeln,  welche  die  aufreibende  Gewalt 
des  Daseinskampfes  zu  mildern,  welche  Not,  Elend  und  Krankheit 
zu  lindern  vermögen,  dienen  auch  zugleich  der  Verhütung  des  Irre- 
seins. Eine  besondere  ärztliche  Wichtigkeit  hat  vor  allem  der  Kampf 
gegen  Trunksucht  und  Syphilis,  der  gerade  vom  ärztlichen 
Stande  mit  allen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  geführt  werden  müßte. 
Die  Gleichgültigkeit,  mit  der  die  große  Masse  der  Ärzte,  der  be- 
rufenen Hüter  der  Volksgesundheit,  den  hier  erwachsenden  Auf- 
gaben gegenübersteht,  trägt  einen  wesentlichen  Teil  der  Schuld  an 
dem  namenlosen  Unglück,  das  alljährlich  durch  Alkoholsiechtum, 
Hirnsyphilis  und  Paralyse  über  unser  Volk  gebracht  wird.  Könnten 
wir  Trunksucht  und  Syphilis  aus  der  Welt  schaffen,  so  würden  wir  die 
Zahl  der  Geisteskranken  mindestens  um  ein  Viertel,  in  den  Groß- 
städten um  ein  Drittel  und  noch  mehr  verringern.  Leider  aber  tragen 
wir  Ärzte,  abgesehen  von  Unterlassungssünden,  auch  noch  unmittel- 
bar zur  Vermehrung  des  Irreseins  bei.  Die  erschreckende  Ausbreitung 
des  Morphinismus,  des  Cocainismus  und  anderer  ähnlicher  Ver- 
giftungen, welche  uns  die  letzten  Jahrzehnte  gebracht  haben,  ist 
ausschließlich  auf  Rechnung  des  ärztlichen  Standes  zu  setzen.  Wir 
haben  jene  Geißeln  der  Menschheit  geflochten  und  geben  sie  ihr 


Vorbeugung. 

noch  heute  Tag  für  Tag  in  die  Hand  —  wir  haben  daher  auch  die 
bindende  VerpfHchtung,  alles  zu  tun,  was  in  unseren  Kräften  steht, 
um  das  von  uns  verschuldete  Unheil  wieder  aus  der  Welt  zu  schaffen! 

Eine  weitere  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  wir  Ärzte  in  erster  Linie 
beizutragen  berufen  sind,  ist  die  Einrichtung  und  Fortbildung  einer 
schnell  und  umsichtig  arbeitenden  Irrenfürsorge,  die  nicht  nur 
die  Übertragung  der  psychischen  Entartung  auf  die  Nachkommen- 
schaft bis  zu  einem"  gewissen  Grade  beschränken  kann,  sondern 
sicherlich  auch  vielfach  imstande  ist,  die  Entwicklung  schwerer  Krank- 
heitsformen durch  rechtzeitiges  Eingreifen  zu  verhüten.  Ungeheures 
geradezu  hat  das  letzte  Jahrhundert  nach  dieser  Richtung  hin  ge- 
leistet, aber  es  gibt  doch  noch  immer  genug  und  übergenug  zu  tun, 
um  dem  unheimlich  anwachsenden  Bedürfnisse  wenigstens  einiger- 
maßen gerecht  zu  werden.  Verbreitung  richtiger  Vorstellungen  über 
Geisteskranke  und  Irrenanstalten^),  verständige  Hilfe  bei  der  ersten 
Fürsorge  in  Krankheitsfällen,  rechtzeitige  Erkennung  der  Gefahr, 
Mitwirkung  bei  der  Heranziehung  geeigneter  Kräfte  zur  Pflege 
unserer  Kranken  —  das  alles  sind  Richtungen,  in  denen  auch  der- 
jenige Arzt  für  die  Verhütung  und  Bekämpfung  des  Irreseins  eine 
segensreiche  Tätigkeit  entfalten  kann,  der  nicht  die  Behandlung 
Geisteskranker  zu  seinem  Lebensberufe  gemacht  hat  2). 

Ganz  besondere  Aufgaben  stellen  der  vorbeugenden  Fürsorge 
diejenigen,  die  in  Gefahr  sind,  geistig  zu  erkranken,  und  diejenigen, 
die  es  schon  einmal  waren.  Für  die  ersteren  gilt  es,  außerhalb  des 
Rahmens  der  eigentlichen  Irrenanstalten  Heilstätten  zu  schaffen, 
in  denen  sie  sachverständigen  Rat  und  angemessene  Behandlung 
finden.  Diesem  Ziele  dient  die  in  lebhaftem  Flusse  befindliche  Be- 
wegung zur  Errichtung  von  Nervenheilanstalten.  Da  ihnen 
jede  Freiheitsbeschränkung  fehlt,  werden  sie  nicht  mit  den  Vor- 
urteilen zu  kämpfen  haben,  die  dem  Eintritte  in  eine  Irrenanstalt 
noch  immer  entgegenstehen.  Es  ist  daher  zu  erwarten,  daß  die 
neue  Einrichtung  wesentlich  dazu  dienen  wird,  den  leichteren  Formen 
psychischer  Erkrankung  rechtzeitig  Hilfe  zu  bringen  und  damit 
der  Entwicklung  schwerer  Störungen  vorzubeugen.    Dem  Schutze 

1)  Fürstner,  Wie  ist  die  Fürsorge  für  Gemütskranke  von  Ärzten  und  Laien 
zu  fördern?  1899;    Ilberg,  Geisteskrankheiten.  1907. 

2)  Fuchs,  Der  Hausarzt  als  Psychiater,  Volkmanns  Vorträge,  Innere 
Medizin,  74. 


56o 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


der  Entlassenen  vor  Rückfällen  dienen  dagegen  die  Hilfsvereine 
für  Geisteskranke,  die  mit  ihnen  Fühlung  behalten,  ihnen  mit  Rat 
und  Tat  zur  Seite  stehen  und  auf  diese  Weise  nach  Möglichkeit  die 
Rückkehr  in  geordnete  Lebensverhältnisse  erleichtern.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  daß  durch  dieses  Eingreifen  die  Gefahr  von  Rückfällen 
für  die  noch  wenig  widerstandsfähigen  und  hilfsbedürftigen  Kranken 
wesentlich  vermindert  werden  kann. 

Bei  der  großen  Tragweite,  die  jede  Geistesstörung  nicht  nur  für 
den  Erkrankten  selber,  sondern  für  seine  ganze  Umgebung,  seine 
Gemeinde,  seine  Nachkommen  besitzt,  ist  die  Verhütung  des  Irre- 
seins eine  öffentliche  Angelegenheit.  Der  Staat^)  hat  dringend- 
sten Anlaß,  den  Kampf  gegen  die  Geisteskrankheiten  mit  allen  ihm 
zu  Gebote  stehenden  Machtmitteln  aufzunehmen.  Er  allein  ist  auch 
in  der  Lage,  die  großen  Aufgaben  erfolgreich  in  Angriff  zu  nehmen, 
die  dieser  Kampf  ihm  stellt.  Neben  dem  Bau  und  dem  Betriebe  von 
Anstalten  ist  es  ganz  besonders  die  Ausbildung  eines  leistungsfähigen 
und  arbeitsfreudigen  irrenärztlichen  Standes,  die  ihm  obliegt, 
sodann  die  Förderung  der  psychiatrischen  Wissenschaft, 
ohne  die  das  Werk  niemals  gedeihen  kann,  endlich  die  Ausbreitung 
von  Kenntnissen  in  der  Seelenheilkunde  bei  den  von  ihm  ausgebildeten 
beamteten  und  praktischen  Ärzten  durch  klinischen  Unterricht 
und  Fortbildungskurse.  Großes  ist  nach  allen  diesen  Richtungen 
hin  schon  erreicht  worden;  vieles  aber  bleibt  noch  von  der  Zukunft 
zu  fordern  und  zu  erhoffen. 


B.  Körperliche  Behandlung. 

Arzneimittel.  Unter  den  Arzneimitteln  sind  es  besonders  die 
Narkotica,  die  wegen  ihrer  beruhigenden  Wirkung  eine  hervor- 
ragende Stelle  in  dem  Heilapparate  der  Geistesstörungen  einnehmen. 
Seit  alter  Zeit  ist  das  Opium  im  Gebrauch.  Es  wirkt  auf  gewisse 
Verrichtungen  unseres  Großhirns  lähmend,  besonders,  wie  es  scheint, 
bei  ungenügender  Blutzufuhr  zu  demselben.  Eine  genaue  Kenntnis 
seines  Einflusses  auf  die  verschiedenen  psychischen  Leistungen  fehlt 
bisher  noch.  Wie  die  Erfahrung  lehrt,  sind  Aufregungen,  vor  allem 
Angstzustände  oder  solche,  die  durch  schmerzhafte  Reizungen  er- 


1)  Kraepelin,  Die  psychiatrischen  Aufgaben  des  Staates.  1900. 


Arzneimittel. 

zeugt  oder  unterhalten  werden  (Neuralgien,  krankhafte  Empfin- 
düngen,  Präkordialangst),  seiner  Einwirkung  am  meisten  zugäng- 
lich; hier  wird  (durch  nicht  zu  kleine  Gaben)  Beruhigung  und  mittel- 
bar Schlaf  erzielt.  Nicht  am  Platze  ist  das  Opium  bei  starken  Stau- 
ungen im  Gehirn  (andauerndes  hohes  Fieber),  großer  körperlicher 
Hinfälligkeit  und  namentlich  Herzschwäche.    Als  unangenehme 
Nebenwirkungen  sind  die  Verdauungsstörungen  (Appetitlosigkeit, 
hartnäckige  Verstopfung)  zu  beachten.  Meist  wird  das  Opium  von 
Geisteskranken  gut  vertragen.    Es  gibt  jedoch  Fälle,  in  denen 
bei  sehr  hohen  Opiumgaben  die  ängstlichen  Aufregungszustände 
schlimmer  werden;  Vorsicht  ist  also  unter  allen  Umständen  geraten. 
Das  gebräuchliche  Präparat  ist  Tinctura  Opii  simplex  innerlich 
(oder  eine  Lösung  von  Extr.  Opii  aquos.  i :  20  subcutan,  zur  Ver- 
meidung von  Abscessen  oft  frisch  zu  bereiten),  bei  planmäßiger  An- 
wendung in  steigender  Gabe  von  10—20  Tropfen  (0,05—0,1  Ex- 
trakt) 2 — 3  mal  täglich,  bis  zum  Doppelten  oder  selbst  Dreifachen, 
wenn  nicht  schon  früher  die  erstrebte  Beruhigung  eintritt;  später 
allmähliches  Heruntergehen.   Man  griff  früher  bisweilen  zu  noch 
wesentlich  höheren  Gaben,  ist  aber  wohl  allgemein  davon  zurück- 
gekommen. 

Wegen  der  größeren  Gleichmäßigkeit  der  Wirkung,  der  sichereren 
Abmessung  und  der  bequemeren  (subcutanen)  Handhabung  ist  an 
Stelle  des  Opiums  vielfach  das  Morphium  getreten,  das  im  übrigen 
wesentlich  dieselben  Vorzüge  und  Nachteile  besitzt.  Das  Morphium 
erzeugt  in  mäßigen  Gaben  wesentlich  eine  Herabsetzung  der  zen- 
tralen Schmerzempfindlichkeit  sowie  eine  Lähmung  des  Willens  bei 
gleichzeitiger  Erleichterung  des  Vorstellungsverlaufes.  Es  bewirkt 
an  sich  nicht  Schlaf,  sondern  nur  Beruhigung;  bei  dauerndem  Miß- 
brauche stellt  es  vorübergehend  die  verloren  gegangene  geistige 
Frische  und  Leistungsfähigkeit  wieder  her. 

Die  Morphiumbehandlung  ist  ebenfalls  zu  einer  planmäßigen 
Kur  ausgebildet  worden,  die  besonders  bei  Angstzuständen  mit  Miß- 
empfindungen oder  Schmerzen  bisweilen  gute  Dienste  zu  leisten 
scheint.  Unser  Bestreben  muß  indessen  durchaus  dahin  gehen,  den 
Gebrauch  des  Morphiums  soweit  wie  nur  irgend  möglich  einzu- 
schränken. Abgesehen  davon,  daß  bei  einzelnen  Kranken,  nament- 
lich bei  Frauen,  schon  auf  sehr  kleine  Gaben  Morphium  (0,01  und 
weniger)  recht  unangenehme  Störungen  (Erbrechen,  Aufregung, 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  36 


562 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Ohnmächten,  Harnverhaltung)  auftreten,  und  daß  bei  Anwendung 
größerer  Mengen  auch  nach  Stunden  noch  unvermutet  schwere, 
selbst  tötlich  ausgehende  Vergiftungserscheinungen  sich  einstellen 
können,  ist  vor  allem  an  die  kaum  hoch  genug  anzuschlagende, 
schwere  Gefahr  des  chronischen  Morphinismus  zu  erinnern,  die 
namentlich  bei  chronischen  Krankheitszuständen  droht  und  uns 
später  noch  eingehend  beschäftigen  wird. 

Von  den  näheren  Verwandten  des  Morphiums  sind  noch  das 
Dionin,  Codein  und  Peronin^)  für  psychiatrische  Zwecke  emp- 
fohlen worden.  Sie  sollen  ähnlich,  aber  schwächer  wirken  als  das 
Morphium,  und  selbst  bei  längerem  Gebrauche  nicht  die  schwere 
Allgemeinerkrankung  erzeugen  wie  jenes.  Im  wesentlichen  handelt 
es  sich  um  minderwertige  Ersatzmittel  des  Morphiums,  für  deren 
Anwendung  bei  uns  kaum  Anlaß  vorliegen  dürfte. 

Dagegen  können  wir  als  ein  für  die  irrenärztliche  Behandlung 
recht  wertvolles  Mittel  das  von  Gnauck^)  zuerst  bei  Geisteskranken 
angewandte  Hyoscin  (Ladenburg)  bezeichnen.  Dieses  Alkaloid 
(Chlor-,  Brom-  oder  Jodverbindung)  erzeugt  in  subcutaner  Gabe 
von  0,0005 — 0,001  g  mit  nicht  übertroffener  Sicherheit  einen  nach 
IG — 15  Minuten  eintretenden  tiefen  Schlaf.  Bei  innerlicher  An- 
wendung, die  wegen  der  völligen  Geschmacklosigkeit  des  Mittels 
keine  Schwierigkeiten  hat,  kann  die  Gabe  auf  das  Doppelte  steigen. 
Die  Nebenerscheinungen  sollen  dabei  schwächer  ausfallen,  als  bei 
der  Einspritzung  unter  die  Haut. 

Die  Vergiftung  wird  eingeleitet  durch  Eingenommenheit  des 
Kopfes,  Trockenheit  im  Halse,  Schwere  der  Zunge,  Unsicherheit 
beim  Gehen  und  eine  mehrere  Tage,  selbst  Wochen  lang  an- 
dauernde hochgradige  Pupillenerweiterung.  Bei  größeren  Gaben 
scheinen  Übelkeit,  widrige  Geschmacks-  und  Geruchsempfindungen, 
Unregelmäßigkeit  des  Pulses,  Atmungsbehinderung,  Gesichtstäu- 
schungen, selbst  Delirien  und  CoUapszustände  auftreten  zu  können, 

1)  Fischer,  Korrespondenzbl.  f.  Schweizer  Ärzte.  1888,  19;  Winternitz, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  VII,  38,  1900;  Meitzer,  Therap.  Monatsschr.,  1898, 
Juni;   Ransohoff,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1899,  20. 

2)  Gnauck,  Charite-Annalen,  VII;  Sohrt,  Pharmakotherapeutische  Studien 
über  das  Hyoscin.  Diss.  1886;  Konrad,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1888,  18;  Klinke 
ebenda,  1889,  7;  Dornblüth,  Therap.  Monatsh.,  1889,  8,  361;  Serger,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVII,  308;  Bumke,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XIII, 
62,  1903. 


Arzneimittel. 

doch  haben  hier  vielleicht  gelegentlich  Verunreinigungen  eine  ge- 
wisse Rolle  gespielt.  Ich  selbst  konnte  wenigstens  niemals  bedroh- 
lichere Erscheinungen  beobachten,  obgleich  ich  wegen  ungünstiger 
äußerer  Verhältnisse  das  Mittel  durch  eine  Reihe  von  Jahren  überaus 
häufig  habe  in  Anwendung  ziehen  müssen.  Nur  besteht  nach  dem 
Erwachen  gewöhnlich  das  Gefühl  von  Abgeschlagenheit  und  ein 
leichter  Druck  im  Kopfe,  der  sich  meist  bald  verliert.  Das  Hyoscin 
ist  demnach  ein  unangenehm,  aber  äußerst  kräftig  wirkendes  Mittel, 
welches  überall  dort,  wo  die  dringende  Notwendigkeit  besteht,  rasch 
Beruhigung  und  Schlaf  zu  verschaffen,  zuverlässig  und  meist  ohne 
erhebliche  Nachteile  seine  Wirkung  tut.  Schwere  tobsüchtige  oder 
deliriöse  Erregungszustände  bei  manisch-depressivem  Irresein,  Para- 
lyse, Epilepsie,  Katatonie  kommen  hauptsächlich  in  Betracht. 
Gegen  die  Angst  leistet  das  Hyoscin  nichts.  Dagegen  scheint  hier 
bisweilen  eine  Verbindung  kleiner  Gaben  von  Hyoscin  mit  Morphium 
gute  Dienste  zu  tun.  Bei  längerem  Gebrauche  tritt  allmählich  eine 
gewisse  Gewöhnung  ein,  die  zu  langsamer  Erhöhung  der  Gabe  führt. 
Länger  dauernde  Schädigungen  scheinen  sich  in  der  Regel  nicht 
herauszustellen;  ebensowenig  führt  das  Aussetzen  des  Mittels  zu 
Entziehungserscheinungen.  Da  aber  auf  der  anderen  Seite  auch 
keine  dauernde  Beruhigung  erzielt  wird,  sondern  nach  dem  Ver- 
schwinden der  Ermattung  die  Aufregung  in  alter  Weise  wiederzu- 
kehren pflegt,  so  dürfte  sich  das  Hyoscin  wegen  seiner  gewaltigen 
Wirkung  nur  für  die  gelegentliche,  wurfweise  Anwendung  eignen. 
Ferner  wird  man  gut  tun,  bei  sehr  heruntergekommenen  Kranken 
und  beim  Bestehen  von  Kreislaufsstörungen  das  Mittel  zu  vermeiden 
oder  doch  mit  größter  Vorsicht  zu  handhaben. 

Zum  Ersatz  des  Hyoscins  ist  mehrfach  das  Duboisinum 
sulfuricum^)  empfohlen  worden,  da  es  weniger  gefährlich  sei. 
Es  wird  in  Gaben  von  0,5 — 2  mg  unter  die  Haut  gespritzt,  scheint 
ziemlich  sicher  zu  wirken,  aber  nach  den  vorliegenden  Berichten 
doch  nicht  so  ganz  harmlos  zu  sein.  Ein  wesentlicher  Vorteil  vor 
dem  gut  erprobten  Hyoscin  läßt  sich  bisher  nicht  erkennen.  Das 
Scopolamin  scheint  mit  dem  Hyoscin  ganz  oder  nahezu  identisch 
zu  sein. 


1)  Ostermeyer,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVII,  278;  Preininger, 
ebenda,  XLVIII,  134;  Belmondo,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XVIII,  154, 
1892;  Skeen,  Journal  of  mental  science,  1897,  July. 

36» 


2 04  ^-  Behandlung  des  Irreseins. 

Über  das  Haschisch  sind  nur  wenige  verwertbare  Beobach- 
tungen bekannt  geworden,  ein  Umstand,  der  seinen  Grund  haupt- 
sächlich in  der  Unsicherheit  und  Verschiedenheit  der  zugängUchen 
Präparate  haben  dürfte.  Von  seinen  Bestandteilen  hat  das  Canna- 
binon^)  noch  am  meisten  Verwendung  gefunden,  wird  aber  wegen 
Unsicherheit  und  unangenehmen  Nebenerscheinungen  wenig  mehr 
gebraucht.  Auch  dem  Pellotin  (0,02 — 0,04  g),  einem  Alkaloid 
aus  gewissen  Kaktusarten,  das  Schlaf,  aber  auch  Schwindelerschei- 
nungen erzeugt,  scheinen  keine  nennenswerten  Vorzüge  eigen 
zu  sein. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Arzneimitteln,  die  in  der  Behandlung 
des  Irreseins  hervorragende  Wichtigkeit  erlangt  haben,  ist  diejenige 
der  eigentlichen  Schlafmitte F).  Schon  1869  wurde  von  Lieb- 
reich das  Chloralhydrat^)  empfohlen,  das  mit  großer  Sicherheit 
in  Gaben  von  2 — 3  g,  meist  ohne  andere  Nachwehen  als  eine  ge- 
wisse Benommenheit  des  Kopfes,  einen  länger  dauernden,  ruhigen 
Schlaf  herbeiführt.  Da  es  ebensowenig  wie  die  übrigen  Schlafmittel 
Schmerzen  stillt,  so  hat  man  es  bisweilen  mit  Morphium  verbunden. 
Wegen  seiner  ätzenden  Eigenschaften  und  seines  unangenehmen 
Geschmackes  gibt  man  das  Chloralhydrat  in  stark  verdünnter, 
schleimiger  Lösung  als  Klysma,  oder  innerlich  unter  Zusatz  von 
Aqua  Menthae  piperitae,  Syrupus  Liquiritiae  oder  Corticum  Aurantii. 
Seine  Anwendung  findet  es  bei  schwerer  Schlaflosigkeit  in  den  ver- 
schiedensten Formen  des  Irreseins.  Leider  pflegt  sich  bei  längerem 
Gebrauche  nach  und  nach  eine  wachsende  Unempfindlichkeit  gegen 
das  Mittel  einzustellen,  die  zur  Darreichung  höherer  Gaben  verführt. 
Nach  dieser  Richtung  hin  ist  indessen  große  Vorsicht  geboten,  da 
die  fortgesetzte  Anwendung  des  Chloralhydrats  Kräfteverfall,  Ver- 
dauungsstörungen und  Gefäßlähmungen  nach  sich  zieht.  Das 
häufigste  Zeichen  der  chronischen  Chloralvergiftung  ist  der  sog. 
,,Rash",  eine  namentlich  beim  Genüsse  von  Alkohol  oder  heißen 
Flüssigkeiten  auftretende  fliegende  Röte  und  Hitze  mit  starker 

1)  Richter,  Neurol.  Centralbl.,  III,  21;  IV,  i. 

2)  V.  Krafft  -  Ebing,  Wiener  klin.  Wochenschr.,  1890,  2  u.  3;  Ehrcke, 
Psychiatrisch-neurolog.  Wochenschr.,  1906,  46;  Wür Schmidt,  Zeitschr.  f.  ärztl. 
Fortbildung,  1908,  240;  Ziehen,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1908, 14;  Bachem, 
Unsere  Schlafmittel.  1909. 

3)  Liebreich,  Das  Chloralhydrat,  3.  Auflage.  1871;  Schüle,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  XXVIII,  i;  Arch.  f.  Psychiatrie,  V,  271;  Arndt,  ebenda,  III,  673. 


Arznetmittel. 


565 


Pulsation,  besonders  am  Kopfe  und  Halse;  ferner  hat  man  Haut- 
ausschläge, Neigung  zu  Ödemen  und  Druckbrand,  endlich  Zustände 
von  dauernder  stumpfer  Benommenheit  infolge  des  Chloralmiß- 
brauches  beobachtet,  die  erst  nach  dem  Aussetzen  des  Mittels  lang- 
sam wieder  schwinden.  Gefährlich  und  darum  gänzlich  zu 
vermeiden  ist  die  Anwendung  des  Chloralhydrats  bei  Herz-  und 
Gefäßerkrankungen  (Fettherz,  Myokarditis,  Klappenfehler,  Arterio- 
sklerose) ;  schon  nach  5  g  wurden  plötzliche  Todesfälle  gesehen. 
Einen  weniger  gefährlichen  Ersatz  für  das  Chloralhydrat  bietet 
das  Chloralf ormamid  (i — 4  g),  dessen  Wirkung  jedoch  auch 
schwächer  ist. 

Dem  Chloralhydrat  verwandt  durch  ihren  Halogengehalt  sind 
eine  Reihe  von  neuen  Schlafmitteln,  von  denen  das  Isopral,  das 
Neuronal  und  das  Bromural  weitere  Verwendung  gefunden 
haben.  Das  Isopral^)  (0,5 — 1,0  g  in  Mixtur,  auch  als  Klysma  oder 
in  Form  eines  Öl-Alkoholgemisches  zu  i — 5  gr  in  die  Haut  einge- 
rieben) ist  flüchtig,  wirkt  ziemlich  rasch,  aber  weniger  stark  als 
das  Chloralhydrat.  Es  hat  die  gewöhnlichen  Nebenwirkungen  fast 
aller  Schlafmittel,  daß  es  neben  Belästigungen  des  Magens  gelegent- 
lich Eingenommenheit  des  Kopfes  und  Schwere  in  den  Gliedern  er- 
zeugt, scheint  aber  außerdem  bei  Herzkranken  nicht  unbedenklich 
zu  sein.  Das  Neuronal^)  (Bromdiäthylacetamid)  wird  zu  0,5 — 2,0  g 
in  Pulver  oder  warmer  Lösung  gegeben,  hat  einen  unangenehm 
brennenden  Geschmack  und  anscheinend  ganz  ähnliche  Wirkungen 
wie  das  Isopral.  Weniger  zuverlässig  ist  das  Bromural  (0,3 — 0,9  g 
in  warmer  Lösung). 

Eine  zweite  Gruppe  von  Schlafmitteln  ist  durch  ihren  Alkylgehalt 
gekennzeichnet.  Hierher  gehört  zunächst  das  von  v.  Mering  zuerst 
empfohlene  Amylenhydrat^)  (2—5  g).  Es  wird  von  besonnenen 
Kranken  wegen  seines  unangenehmen  Geschmackes  nicht  gern  ge- 


1)  Impens,  Therap.  Monatsh.,  1903,  9  u.  10;  Ransohof,  Psychiatrisch- 
neurolog.  Wochenschr.,  1903,  520;  Urstein,  Therapie  der  Gegenwart,  1904,  2; 
Muthmann,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1904,  32. 

2)  Fuchs  und  Schultze,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1904,  25;  Siebert, 
Psychiatrisch-neurolog.  Wochenschr.,  1904,  109;  Wickel,  ebenda,  1906,  190; 
Bresler,  ebenda,  1905,  172;   Weifenbach,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1905,  89, 

3)  V.  Mering,  Therap.  Monatshefte,  1887,7;  Friedländer,  ebenda,  1893,  7; 
Lehmann,  Neurolog.  Centralbl.  1887,  474;  Schlöss,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  VIII, 
211;  Avellis,  Deutsche  Med.  Wochenschr.  1888,  i. 


566 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


nommen,  zeigt  auch  keine  sehr  rasche  und  zuverlässige  Wirkung, 
hat  sich  aber  bei  der  Behandlung  schwerer  Krampfzustände,  wo  es 
in  schleimigem  Klysma  gegeben  wird,  gut  bewährt. 

Eine  Verbindung  von  Amylenhydrat  und  Chloralhydrat  hat 
Fuchs  unter  dem  Namen  „Dormiol''^)  in  den  Handel  gebracht. 
Das  Mittel,  das  ähnlich  schmeckt  wie  Amylenhydrat,  wird  zu  0,5 — 2 
oder  3  g  gegeben,  in  50  prozentiger  Lösung  oder  besser  in  Kapseln, 
auch  im  Klysma.  Die  Wirkung  tritt  meist  nach  V2  bis  i  Stunde 
ein  und  scheint  im  ganzen  befriedigend  zu  sein.  Besondere  Nach- 
teile des  Mittels  sind  bisher  nicht  bekannt  geworden. 

Größere  Verbreitung  hat  das  von  Kast  eingeführte  Sulfonal-) 
gefunden.  Das  Mittel  ist  geruchlos,  fast  geschmacklos  und  beein- 
trächtigt die  Verdauung  erst  bei  längerem  Gebrauche.  Dagegen 
wird  es  wegen  seiner  Schwerlöslichkeit  verhältnismäßig  langsam 
aufgesogen  und  wirkt  darum  nach",  so  daß  große  Müdigkeit  und 
Schwäche  in  den  Beinen  am  folgenden  Tage  nicht  seltene  Erschei- 
nungen sind.  Diese  Nachwirkung,  die  bisweilen  noch  in  der  nächsten 
Nacht  Schlaf  bringt,  kann  unter  Umständen,  bei  dauernd  erregten 
Kranken,  die  man  an  die  Bettruhe  gewöhnen  will,  geradezu  er- 
wünscht sein.  Bei  fortgesetzten  hohen  Gaben  tritt  nach  anfänglich 
sehr  geringer  Wirkung  bisweilen  plötzlich  tagelange  Schlafsucht  auf, 
wahrscheinlich  durch  raschere  Lösung  angesammelter  Mengen  des 
Mittels;  es  sind  auch  schon  eine  Reihe  von  Todesfällen  nach  ein- 
maliger wie  nach  fortgesetzter  Darreichung  bekannt.  Es  kommt 
dabei  zu  Magen-  und  Darmblutungen,  Verfettung  von  Herz,  Leber 
und  Nieren,  namentlich  aber  zu  einer  schweren  chronischen  Blut- 
zersetzung. Große  Schläfrigkeit,  Ohrensausen,  Unsicherheit  der 
Bewegungen,  Blässe,  Übelkeit,  Erbrechen,  Durchfälle  und  besonders 
Rotfärbung  des  Harns  durch  Hämatoporphyrin^)  sind  wichtige 
Warnungszeichen.   Es  erscheint  daher  dringend  geraten,  das  Sul- 


1)  Wederhake,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVIII,  778;  Schultze, 
Neurol.  Centralbl.,  1900,  249;    Meitzer,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1902,  50. 

2)  Kast,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1888,  16;  Therap.  Monatsh.,  1888,  Juli; 
Gramer,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1888,  24;  Therap.  Monatsh.,  1888,  8;  ebenda, 
1888,  24;  Otto,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLV,  399;  Vorster,  ebenda,  XL VII, 
29;  Schedtler,  ebenda,  L,  465. 

■■')  Schulz,  Neurol.  Centralbl.,  1896,  866;  Stokvis,  Zeitschr.  f.  klinische 
Medizin,  XXVIII,  i;  Hoppe -Seyler  u.  Ritter,  Münch,  med.  Wochenschr., 
XLIV,  14;   Frankel,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIX,  953. 


Arzneimittel.  gßy 

fonal,  namentlich  bei  Verstopfung,  niemals  längere  Zeit  hinterein- 
ander und  nicht  in  Gaben  über  2  g  in  Anwendung  zu  bringen.  Am 
besten  gibt  man  das  Mittel  i — 2  Stunden  vor  dem  Schlafengehen  in 
größeren  Mengen  heißer  Flüssigkeit  (Tee,  Suppe)  gelöst. 

Vor  dem  Sulfonal  hat  das  Trional^)  den  Vorzug  etwas  leich- 
terer Löslichkeit.  Es  wirkt  daher  schneller  und  nicht  so  lange  nach, 
doch  läßt  sich  sein  Einfluß  durch  feinere  Messungen  am  Abende 
des  nächsten  Tages  noch  deutlich  nachweisen.  Die  psychischen 
Wirkungen  des  Trionals  bestehen  wesentlich  in  einer  bedeutenden 
Erschwerung  der  Auffassung  und  in  einer  Störung  der  Bewegungs- 
antriebe, während  die  Vorstellungsverbindungen  und  die  Muskel- 
kraft nicht  beeinflußt  werden.  Vielleicht  haben  wir  in  der  ange- 
führten Verbindung  von  Wirkungen  eine  gemeinsame  Eigentümlich- 
keit der  Schlafmittel  überhaupt  vor  uns;  manche  Erfahrungen  bei 
den  schon  genauer  untersuchten  Mitteln  würden  dafür  sprechen, 
ebenso  die  Tatsache,  daß  auch  das  beste  Schlafmittel,  die  Ermüdung 
selbst,  die  Auffassung  wie  die  Auslösung  von  Bewegungsantrieben 
erschwert.  Der  Blutdruck  wird  durch  das  Trional  herabgesetzt. 
Die  Wirkung  des  Mittels  ist  in  Gaben  von  i — 2  g  (in  heißer  Milch 
oder  warmem  Rotwein)  eine  recht  sichere.  Die  unangenehmen 
Folgeerscheinungen  sind  verhältnismäßig  geringe,  doch  scheinen 
nicht  nur  Belästigungen  des  Magens  und  Darms,  sondern  in  ver- 
einzelten Fällen  auch  ernstere  Vergiftungen^)  vorzukommen,  über 
deren  Zeichen  (Ataxie,  Zittern,  Unbesinnlichkeit,  Depression,  Reiz- 
barkeit, Blutzersetzung)  allerdings  noch  wenig  bekannt  ist.  Diese 
Gefahr  ist  jedenfalls  bei  der  von  Wolff  vorgeschlagenen  plan- 
mäßigen Herbeiführung  eines  Trionaldauerschlafes  (anfangs  2 — 3, 
dann  0,5 — 1,0  g  täglich)  zur  Behandlung  von  Aufregungszuständen 
ernstlich  ins  Auge  zu  fassen. 

Weit  weniger  Beifall,  als  die  letztgenannten  Mittel,  haben  das 
Tetronal  und  das  schwach  wirkende  Urethan,  ferner  das  leidlich 
brauchbare,  aber  schlecht  schmeckende  HedonaP)  (1—4  g  in 

1)  Schäfer,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1892,29;  Schultze,  Therap.  Monatsh., 
1891,  Oktober;  Hänel,  Psychologische  Arbeiten,  II,  326;  v.  Mering,  Therap. 
Monatsh.,  1896,  August;    Kornfeld,  Wiener  med.  Blätter,  1898,  i. 

2)  Gierlich,  Neurol.  Centralbl.,  1896,  770;  Vogel,  Berl.  klin.  Wochenschr., 
1899,  40;  Fischer,  Trionalgebrauch  und  rationelle  Verwendung  der  Schlafmittel. 
1901;   Probst,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  XIV,  113. 

3)  Müller,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1901,  10. 


568 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Oblaten  oder  heißer  Milch)  gefunden.  Dagegen  hat  sich  die  Diäthyl- 
barbitursäure  unter  dem  Namen  Veronali)  (auch  „Malonal")  rasch 
Eingang  verschafft.  Das  Mittel  wurde  von  Fischer  und  v.  M er ing 
eingeführt  und  bewirkt  in  Gaben  von  o,  3—1,0  g  in  heißer  Lösung 
nach  I — 1V2  Stunden  ziemlich  sicher  einen  ruhigen  Schlaf,  dem  nur 
ausnahmsweise  unangenehme  Nachwehen,  Kopfdruck,  Schwindel- 
gefühl, Unsicherheit  der  Bewegungen,  folgen.   Bei  höheren  Gaben 
(6,  8,  IG  g)  wurden  Todesfälle  beobachtet,  die  unter  den  Erschei- 
nungen schwerer  Benommenheit  mit  vorübergehender  Erregung, 
Doppeltsehen,  Ataxie,  Erbrechen  und  Harnverhaltung  eintraten. 
Aber  auch  bei  längerem  Gebrauche  des  Mittels  kann  es  zu  ernsten 
Vergiftungserscheinungen  kommen.  Es  scheint  eine  Dauerwirkung 
stattzufinden  (Veronalismus)  mit  Schlafsucht,  Unsicherheit,  Be- 
nommenheit, Hautausschlägen,  Verminderung  der  Harnmenge  und 
Auftreten  von  Blutfarbstoff  im  Harn.  Das  Mittel  darf  daher  nicht 
lange  Zeit  hindurch  ohne  Unterbrechung  weiter  gegeben  werden. 
Ein  leicht  lösliches  Präparat,  das  auch  eingespritzt  werden  kann,  bil- 
det das  Veronal-Natrium.  Dem  Veronal  schließt  sich  das  ebenfalls 
von  V.  M  er  ing  empfohlene  Proponal^),   die  Dipropylbarbitur 
säure,  an,  die  in  Gaben  von  0,15  —  nicht  über  0,5  g  schnell, 
aber  weniger  sicher,  doch  anscheinend  ohne  schwerere  Neben- 
wirkungen, Schlaf  erzeugt. 

Trotz  der  großen  Zahl  von  neuen  Schlafmitteln,  die  uns  die 
letzten  beiden  Jahrzehnte  gebracht  haben,  muß  als  eines  der  aller- 
wertvollsten  noch  immer  das  von  Cervello  und  Morselli  empfoh- 
lene Paraldehyd^)  bezeichnet  werden.  Das  Mittel  bewirkt  in 
mittleren  Gaben  von  5  g,  die  man  ohne  Bedenken  auf  das  Doppelte 
und  selbst  Dreifache  steigern  kann,  schon  nach  10 — 12  Minuten 

1)  Fischer  u.  v.  Mering,  Therapie  der  Gegenwart,  1903,  3;  Kress,  Therap. 
Monatsh.,  1905,  September;  Luther,  Psychiatrisch-neurolog.  Wochenschr.,  1903, 
293;  Richter  u.  Steiner,  ebenda,  1903,  545;  van  Husen,  ebenda,  1904,  57; 
Mendel  u.  Krön,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1903,  34;  Michel  u.  Rai  mann. 
Die  Heilkunde,  1904,  Januar;  Spiel meyer,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.,  1903,  513. 

2)  Fischer  u.  v.  Mering,  Medizin.  Klinik,  1905,  1327;  Mörchen,  Münch, 
med.  Wochenschr.,  1906,  17;  Bresler,  Psychiatrisch-neurolog.  Wochenschr., 
1906,  45. 

3)  Morselli,  Gazetta  degli  ospedali,  1883,  4,  5,  6;  Referat  im  Neurol.  Centralbl., 
n,  9;  Gugl,  Zeitschr.  f.  Therapie,  1883;  v.  Kraf  f t  -  E bing,  ebenda,  1887,  7; 
Rai  mann,  Wiener  klin.  Rundschau,  1899,  19—21;  Bumke,  Monatsschr.  f. 
Psychiatrie,  XII,  489,  1902. 


Arzneimittel. 

sehr  regelmäßig  einen  tiefen,  ruhigen,  dem  natürhchen  durchaus 
gleichenden,  mehrstündigen  Schlaf.  Die  Müdigkeit  tritt  mit  fast 
unwiderstehlicher  Gewalt  ein,  geht  aber,  wenn  äußere  Störungen, 
Schmerzen  u.  dgl.  vorhanden  sind,  rasch  wieder  vorüber,  so  daß 
wesenthch  das  Einschlafen,  weniger  der  spätere  Schlaf  unter  dem 
Einflüsse  des  Mittels  steht.  Unangenehme  Nachwirkungen,  Ein- 
genommenheit des  Kopfes  sind  hier  äußerst  selten,  wirkliche  Ge- 
fahren anscheinend  ausgeschlossen,  da  50,  ja  selbst  105  g  des 
Mittels  bereits  ohne  schädliche  Folgen  genommen  wurden.  Muß 
demnach  das  Paraldehyd  als  ein  überaus  wertvolles  Schlafmittel 
bezeichnet  werden,  so  hat  es  den  recht  störenden  Nachteil  eines 
sehr  widerHchen,  kaum  zu  verdeckenden  Geschmackes  und  Ge- 
ruches, der  wegen  der  Ausscheidung  durch  die  Lungen  noch  12—24 
Stunden  nach  dem  Einnehmen  zurückbleibt.  Die  verhältnismäßig 
angenehmste  Form  der  Darreichung  ist  die  Vermischung  mit  Wein 
oder  mit  einer  aromatischen  Tinktur,  Sirup  und  Wasser  (Um- 
schütteln!). In  sehr  vereinzelten  Fällen  wird  es  übrigens  vom 
Magen  in  jeder  Form  zurückgewiesen;  man  wird  dann  allenfalls 
die  Verabfolgung  im  Klysma  (in  Ölemulsion)  oder  als  Stuhlzäpfchen 
(mit  20%  Paraffin  im  Wasserbade  vereinigt)  versuchen  können. 
Bei  längerem  Gebrauche  kann  der  Appetit  leiden;  auch  ist  mit  der 
Gefahr  des  früher  erwähnten  Paraldehyddeliriums  zu  rechnen. 

Als  eines  sehr  milden,  in  gesunden  wie  krankhaften  Zuständen 
häufig  genug  in  Anwendung  gezogenen  Schlafmittels  haben  wir 
endlich  noch  des  Alkohols  zu  gedenken.  In  nicht  zu  kleinen, 
beim  einzelnen  natürlich  sehr  verschiedenen  Gaben  (etwa  40 — 60  g) 
erzielt  er  dort,  wo  die  Schlaflosigkeit  durch  erhöhte  Reizbarkeit  und 
Übermüdung  des  Gehirns  bedingt  wird,  nicht  selten  recht  befriedi- 
gende Erfolge.  Auch  bei  Zuständen  innerer  Spannung  und  Nieder- 
geschlagenheit werden  die  erleichternden  und  beruhigenden  Wir- 
kungen des  Alkohols  den  Eintritt  des  Schlafes  zu  unterstützen  ge- 
eignet sein.  Bei  hysterischer,  neurasthenischer,  bisweilen  auch  bei 
der  Schlaflosigkeit  des  Greisenalters  wäre  daher  ein  Versuch  mit 
diesem  Mittel  am  Platze,  wenn  nicht  die  große  Gefahr  einer  dauern- 
den Gewöhnung  bestände.  Man  wird  am  besten  nicht  die  Form 
eines  gebräuchlichen  Getränkes,  sondern  eine  Mixtur  wählen. 
Gute  Dienste  leistet  der  Alkohol  bisweilen  in  verwirrten  Erregungs- 
zuständen, die  mit  Nahrungsverweigerung,  schwerer  Unruhe  und 


570 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


schwachem  Pulse  einhergehen.  Hier  passen  stärkere  Lösungen, 
wenn  nötig,  als  Zusatz  zur  künstlichen  Fütterung. 

Sehr  heftige,  allen  anderen  Mitteln  widerstehende  Aufregungs- 
zustände,  die  aus  irgendeinem  Grunde  (Verletzungen,  Notwendig- 
keit eines  Eingriffes  u.  dgl.)  rasche  Beruhigung  verlangen,  können 
gelegentlich  auch  zur  Anwendung  des  Chloroforms  führen. 
Schwächere,  nervöse  Personen,  Hysterische,  Trinker  sind  jedoch 
davon  ausgeschlossen,  weil  bei  ihnen  der  Zweck  einer  Beruhigung 
nicht  erreicht  zu  werden  pflegt  und  die  Betäubung  nicht  selten  ge- 
fährlich ist.  Weniger  bedenklich,  aber  auch  weniger  wirksam  ist 
der  Äther.  Eine  planmäßige  Anwendung  dieses  Mittels  bei  erregten 
Kranken  ist  zwecklos,  da  die  erzielte  Beruhigung  die  eigentliche 
Betäubung  kaum  zu  überdauern  pflegt. 

Eine  letzte  Gruppe  das  Gehirn  unmittelbar  beeinflussender  Arznei- 
mittel wird  durch  die  Bromsalze  (Bromkalium,  -natrium,  -ammo- 
nium,  -rubidium,  -Strontium)  gebildet.  Die  eigentliche  Wirkungs- 
weise derselben  ist  noch  recht  dunkel.  Umfassende,  bei  uns  aus- 
geführte Versuche^)  haben  gelehrt,  daß  der  Einfluß  des  Broms  auf 
psychische  Vorgänge  jedenfalls  ein  ungemein  scharf  abgegrenzter 
ist.  Entgegen  der  von  mir  gehegten  Erwartung  scheint  der  Vor- 
stellungsverlauf wenig,  die  Auslösung  von  Willenshandlungen  gar 
nicht  beeinflußt  zu  werden,  ebensowenig  der  Ablauf  von  Muskel- 
arbeit. Dagegen  wird  die  Leistungsfähigkeit  des  Gedächtnisses  ent- 
schieden herabgesetzt.  Vor  allem  aber  wurden  innere  Spannungs- 
zustände  gemildert  oder  beseitigt,  die  im  Versuche  absichtlich  er- 
zeugt worden  waren.  An  diesem  Punkte  scheint  die  noch  näher 
aufzuklärende  psychische  Hauptwirkung  des  Broms  zu  liegen.  Mit 
diesem  Ergebnisse  steht  auch  in  allgemeiner  Übereinstimmung  die 
Erfahrung,  daß  die  Bromsalze  namentlich  auf  dem  Gebiete  der 
Epilepsie  und  Neurasthenie  sehr  wertvolle  Dienste  leisten.  Bei 
der  Epilepsie  wirken  sie  allerdings  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Fälle  nur  während  der  Dauer  ihrer  Anwendung,  indem  sie  die 
Zahl  und  Stärke  der  Anfälle  verringern;  mit  dem  Aussetzen  des 
Mittels  pflegt  die  Krankheit  in  der  früheren  Heftigkeit,  bisweilen 
sogar  in  verstärktem  Maße,  wieder  hervorzutreten.  Der  Erfolg  wird 
öfters  mit  der  Sicherheit  des  wissenschaftlichen  Versuches  erreicht; 


1)  Löwald,  Psychologische  Arbeiten  I,  489. 


Arzneimittel. 

verhältnismäßig  selten  bleibt  das  Leiden  gänzlich  unbeeinflußt. 
Außerdem  gibt  es  indessen,  wie  ich  wiederholt  erfahren,  auch  ver- 
einzelte Fälle,  in  denen  eine  sehr  entschiedene  und  sogar  gefahr- 
drohende Verschlimmerung  und  Häufung  der  Anfälle  sich  einstellt; 
schon  aus  diesem  Grunde  sollte  die  Anwendung  der  Mittel  nicht 
ohne  dauernde  ärztliche  Überwachung  durchgeführt  werden. 

Sehr  ausgedehnte  Anwendung  finden  die  Bromsalze  ferner  bei 
jenen  mannigfachen  Zuständen,  die  unter  dem  Namen  der  Neur- 
asthenie zusammengefaßt  zu  werden  pflegen,  und  bei  der  sie  oft 
begleitenden  „nervösen"  Schlaflosigkeit;  die  Beseitigung  der 
inneren  Spannung  genügt  hier  oft,  um  eine  dauernde  Beruhigung 
und  Erholung  zustande  kommen  zu  lassen.  In  Verbindung  mit 
Opium  leistet  das  Brom  auch  bei  leichteren  Depressionszuständen 
mit  innerer  Unruhe  gute  Dienste.  Man  gibt  die  einzelnen  Salze  oder 
die  drei  erstgenannten  in  gleichem  Verhältnisse  gemischt  (Erlen- 
meyersches  Gemisch)  entweder  als  Schlafmittel  in  einmaliger  voller 
Gabe  (3 — 6  g)  oder  aber  planmäßig  steigend  und  wieder  fallend  zu 
2 — 6  g  täglich  (Pulver  in  Oblaten  oder  Lösung).  Eine  sehr  be- 
queme, den  stark  salzigen  Geschmack  verdeckende  Form  der  An- 
wendung haben  wir  in  dem  kohlensauren  Bromwasser  ge- 
wonnen, welches  gewöhnlich  in  einer  Flasche  10  g  Bromsalz  ent- 
hält. Wo  die  Anfälle  zu  bestimmten  Zeiten  (Menses)  hervorzu- 
treten pflegen,  wird  man  zweckmäßig  die  höchsten  Gaben  gerade 
in  diesen  Abschnitt  fallen  lassen,  um  während  der  Zwischenpausen 
herunterzugehen  und  womöglich  ganz  auszusetzen  (intermittierende 
Anwendung).  Größere  Gaben  der  Bromsalze  können  nämlich  bei 
längerer,  ununterbrochener  Anwendung  schwere  Gehirnerschei- 
nungen hervorrufen  (Abnahme  des  Gedächtnisses,  Schlafsucht,  Un- 
sicherheit der  Bewegungen,  Stumpfheit).  Das  Auftreten  von  Akne- 
knötchen und  Furunkeln,  Schwinden  der  Schleimhautreflexe  sowie 
starker  foetor  ex  ore  gibt  das  Zeichen  zur  Unterbrechung;  sonst 
folgen  Verdauungsstörungen,  fortschreitende  Abmagerung,  Bronchi- 
tis und  allmählich  die  übrigen  Erscheinungen  des  Bromismus. 
Allerdings  hat  Fere  von  Kranken  berichtet,  die  seit  Jahren  täglich 
nicht  weniger  als  16 — 21  g  Brom  zu  sich  nehmen;  auf  diese  Weise 
sollen  sogar  besondere  Heilerfolge  erzielt  worden  sein.  Ich  würde 
ein  derartiges  Vorgehen  keinesfalls  verantworten  mögen;  vielmehr 
bin  ich  der  Ansicht,  daß  auch  der  Gebrauch  mittlerer  und  kleinerer 


572 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Gaben  nicht  länger  als  einige  Monate  lang  ohne  Unterbrechung  fort- 
gesetzt werden  sollte. 

Neuerdings  ist  statt  der  gebräuchlichen  Bromsalze  das  Brom- 
äthylformin  („Bromalin")  und  das  Bromsesamöl  („Bromipin") 
empfohlen  worden,  welche  weder  Furunkel  erzeugen  noch  die  Ver- 
dauungsorgane schädigen  sollen.  Die  Gabe  ist  dort  die  doppelte, 
hier  (in  Kapseln  oder  Tabletten)  die  dreifache  der  übrigen  Brom- 
salze. Das  Bromipin,  das  auch  im  Klysma,  unter  Umständen  so- 
gar subcutan  verwendbar  ist,  scheint  sich  besser  zu  bewähren  als 
das  Bromalin.  Ähnliche  Vorzüge  werden  dem  Bromglidine,  einem 
Bromeiweißpräparat  (Tabletten  von  0,05  g  Bromgehalt),  wie  dem 
dibrombehensauren  Calcium  (,,Sabromin")^)  nachgerühmt,  das  in 
Form  von  geschmacklosen  Tabletten  oder  Pulvern  gegeben  wird,  die 
in  Wasser  unlöslich  sind  und  29,5%  Brom  enthalten.  Die  Gabe  be- 
trägt I — 2  g  I — 3 mal  täglich;  die  Wirkung  tritt  langsam  ein  und 
dauert  lange  nach. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Krampfanfälle  vermögen  die  Brom- 
salze auch  bisweilen  periodisch  auftretende  Aufregungszustände  zu 
unterdrücken,  namentlich  dann,  wenn  sie  mit  den  Menses  in  Be- 
ziehung stehen  und  von  kurzer  (i — 2  wöchentlicher)  Dauer  sind. 
Der  Erfolg  tritt  nicht  überall,  in  einzelnen  Fällen  aber  mit  großer 
Sicherheit  ein.  Von  Wichtigkeit  ist  hier  namentlich  die  rechtzeitige 
Darreichung  bei  den  ersten  Anzeichen  des  beginnenden  Anfalles, 
dann  aber  die  Anwendung  sehr  großer  Gaben.  Man  gibt  12 — 15  g 
pro  die  eine  Reihe  von  Tagen  hintereinander  und  geht  dann  langsam 
herunter,  natürlich  unter  beständiger  Überwachung  des  Zustandes, 
im  Hinblicke  auf  die  Gefahr  plötzlicher  Collapse  oder  bronchitischer 
Erkrankungen. 

Den  Bromsalzen  schließen  sich  als  leichte  Beruhigungsmittel  bei 
gesteigerter  nervöser  Erregbarkeit  an  die  Blausäure  in  Form  des 
Aqua  Laurocerasi  (mehrmals  täglich  15 — 30  Tropfen)  und  die 
Valerianapräparate,  die  man  öfters  mit  jenem  verbindet,  der  Baldrian- 
tee, die  einfache  oder  ätherische  Baldriantinktur,  das  Bornyval, 
Valyl,  das  valeriansaure  Zink  usf.,  alle  von  sehr  bescheidener  Wir- 
kung. 

Die  Bedeutung  der  Blutversorgung  für  die  Entstehung  von 
Geistesstörungen  hat  auch  einigen  Mitteln  in  die  Behandlung  des 
1)  Kalischer,  Deutsche  med.  Wochenschr.,  1908,  40. 


Arzneimittel. 

Irreseins  Eingang  verschafft,  die  vorwiegend  auf  das  Herz  und  die 
Gefäße  wirken.  So  hat  man  das  Amylnitrit  wegen  seines  auf- 
fallenden Einflusses  auf  das  Gefäßgebiet  des  Kopfes  in  solchen  Zu- 
ständen angewendet,  in  denen  man  einen  Gefäßkrampf  vermutete. 
Leider  hat  das  Mittel  die  gehegten  Erwartungen  nicht  gerecht- 
fertigt, da  die  Wirkungen  selbst  im  günstigsten  Falle  sehr  rasch 
vorübergehen.  Ferner  kommt  der  Digitalis,  namenthch  in  Ver- 
bindung mit  Opium  oder  Morphium,  nicht  selten  dort  eine  beruhi- 
gende Wirkung  zu,  wo  Aufregungszustände  mit  unregelmäßigem, 
frequentem  Pulse  und  Herzschwäche  einhergehen  (Herzfehler,  alte 
Perikarditis  usf.). 

Wichtiger  freilich  noch  wären  Mittel,  welche  die  Beschaffen- 
heit des  Blutes  zu  verbessern  vermöchten.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkte wäre  etwa  die  künstliche  Sauerstoffzufuhr  aufzufassen,  die 
wir  nicht  ohne  Erfolg  bei  schweren  Collapszuständen  und  Vergiftun- 
gen, so  im  Status  epilepticus,  in  paralytischen  Anfällen,  bei  Urämie, 
ferner  bei  gefahrdrohenden  Kreislaufsstörungen  und  Lungenerkran- 
kungen in  Anwendung  ziehen.  Von  spezifisch  wirkenden  Mitteln 
wäre  heute  nur  das  Thyreoidin  zu  nennen,  das  sich  durch  seine 
geradezu  zauberhafte  Wirkung  auf  das  Myxödem  und  den  Kretinis- 
mus rasch  so  großen  Ruf  verschafft  hat.  Bei  anderen  psychischen 
Störungen  sind  die  Erfolge  des  nicht  ungefährlichen  Mittels  bis  jetzt 
zweifelhaft  geblieben.  Ich  wenigstens  habe  trotz  sehr  ausgedehnter 
Versuche  keine  ermutigenden  Ergbenisse  zu  verzeichnen^) ;  höchstens 
beobachtet  man  einige  verkleinernde  Wirkung  auf  manche  Kröpfe. 
Die  psychischen  Zustände  werden  nicht  entscheidend  beeinflußt, 
vielleicht  bisweilen  etwas  verschlechtert  (Aufregungen),  doch  lassen 
sich  hier  Zufälligkeiten  zu  schwer  ausscheiden. 

Brauchbare  Erfahrungen  über  die  Behandlung  mit  anderen 
Organbestandteilen  liegen  auf  dem  Gebiete  der  Geistesstörungen  bis 
jetzt  nicht  vor;  versucht  worden  ist  die  Darreichung  von  Kuh- 
eierstöcken bei  Frauen  und  von  Nebennierenextrakt  (Adrenalin), 
der  wegen  seiner  ursächlichen  Beziehungen  zu  arteriosklerotischen 
Veränderungen  jedenfalls  nicht  unbedenklich  ist.  An  dieser  Stelle 
verdienen  eine  kurze  Erwähnung  die  Bestrebungen  Wagners 2), 
durch  künstlich  erzeugtes  Fieber  Besserung  oder  Heilung  von 

1)  Amaldi,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  311- 

2)  Boeck,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XIV,  199. 


574 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Geistesstörungen  zu  erreichen.  Die  Versuche  knüpfen  an  die  Er- 
fahrung an,  daß  bisweilen  Psychosen  durch  zufälHge  fieberhafte 
Erkrankungen,  namentHch  das  Erysipel,  auffallend  günstig  beein- 
flußt werden.  Um  diese  gelegentlichen  Erfahrungen  planmäßig  nach- 
zuahmen, wurden  an  einer  größeren  Reihe  von  Kranken  Ein- 
spritzungen mit  fiebererregenden  Toxinen,  vor  allem  mit  Tuberkulin, 
vorgenommen.  Meistens  soll  es  sich  um  Amentia  gehandelt  haben. 
Die  Erfolge  schienen  einigermaßen  ermutigend.  Allerdings  werden 
alle  derartigen  Versuche  wenig  Beweiskraft  haben,  solange  wir  über 
die  Auffassung  der  behandelten  Psychosen  und  besonders  über  ihren 
mutmaßlichen  Verlauf  noch  so  im  unklaren  sind  wie  heute.  Das- 
selbe dürfte  von  den  Bemühungen  Binswangers  und  seines 
Schülers  Friedländer  gelten,  ,, Erschöpfungspsychosen"  durch 
Bakteriengifte  (abgetötete  Bouillonkulturen  von  Bakterium  coli  und 
Typhusbacillen)  zu  heilen,  ebenso  von  Albertottis  Vorschlag, 
durch  Einspritzungen  von  Terpentinöl  Abscesse  und  Fieber  zur 
günstigen  Beeinflussung  geistiger  Störungen  zu  erzeugen.  Er  er- 
innert an  die  einst  so  beliebten  ableitenden  Mittel  (Blasen- 
pflaster, Unguentum  tartari  stibiati,  Drastica),  die  jetzt  fast  völlig 
veraltet  sind.  Wenn  es  richtig  ist,  daß  bei  der  Paralyse  langdauernde, 
starke  Eiterungen  überraschende  Besserungen  bringen  können, 
feiern  sie  vielleicht  noch  einmal  ihre  Wiederauferstehung. 

Operative  Eingriffe.  Der  Spielraum  für  operative  Eingriffe i), 
soweit  es  sich  nicht  um  zufällige  Begleitstörungen  handelt,  ist  bei 
Geisteskranken  aus  naheliegenden  Gründen  kein  sehr  großer. 
Immerhin  werden  sie  dort  in  Betracht  kommen,  wo  etwa  die  Ursache 
des  Irreseins  der  Hand  des  Chirurgen  zugänglich  ist.  Das  ist  vor 
allem  der  Fall  bei  den  Geistesstörungen  nach  Schädelverletzungen, 
bei  Geschwülsten  und  Abscessen  im  Gehirn,  soweit  sie  erreichbar 
sind.  Hier  kann  die  Probepunktion  des  Gehirns  angezeigt  sein. 
Der  Lumbalpunktion  dürfte,  wenn  wir  von  gewissen  gröberen  Er- 
krankungen des  Hirns  und  seiner  Häute  absehen,  mehr  Wert  für 
die  Erkennung,  als  für  die  Beseitigung  von  Krankheitszuständen 
zukommen.  Als  völlig  verfehlt  hat  sich  die  Kraniektomie  bei 
Idioten  erwiesen;  ähnlich  steht  es  mit  der  Durchschneidung  des 
Sympathicus  bei  Epilepsie.    Eher  kann  man  noch  gewisse  Hdff- 

1)  Picque  et  Dagonet,  Chirurgie  des  aliönes,  I,  1901;  Da  Costa,  Journal 
of  nervous  and  mental  diseases,  1904,  386. 


Operative  Eingriffe. 

nungen  an  die  Beseitigung  von  Einknickungen  des  Schädels  oder 
Knochennarben  bei  Epileptikern  knüpfen;  leider  ist  der  Erfolg 
häufig  genug  nur  ein  vorübergehender.  Gleiches  scheint  für  die 
Punktion  oder  Drainage  der  Hirnventrikel  bei  Hydrocephalus  zu 
gelten. 

Ein  großes  Gewicht  hat  man  oft  auf  die  operative  Beseitigung 
von  Erkrankungen  der  weiblichen  Geschlechtsorgane  gelegt.  So 
sind  von  Hobbs  Eierstocks-  und  Gebärmutterleiden,  Lageverände- 
rungen, Geschwülste,  alte  Dammrisse  bei  weiblichen  Geisteskranken 
in  großer  Zahl  behandelt  worden.  Seine  Erfolge  waren  erstaunliche, 
eine  Zunahme  der  Heilungen  bei  den  Frauen  um  15%,  Leider 
scheinen  die  Bedingungen  anderswo  nicht  so  günstig  zu  liegen. 
Wir  sehen  nach  gynäkologischen  Operationen  zwar  auch  hier  und 
da  eine  Besserung,  meist  jedoch  gar  keine  wesentliche  Änderung, 
bisweilen  aber  auch  Verschlimmerung  des  psychischen  Zustandes. 
Ich  kann  daher  nur  raten,  solche  Eingriffe  auf  diejenigen  Fälle  zu 
beschränken,  in  denen  sie  der  körperliche  Zustand  wirklich  erforder- 
lich macht,  die  Hoffnungen  auf  eine  günstige  Beeinflussung  des 
Irreseins  aber  nicht  zu  hoch  zu  spannen;  im  Gegenteil  ist  eine  viel- 
geschäftige gynäkologische  Behandlung  bei  frischen  Geistesstö- 
rungen wegen  ihrer  erregenden  Wirkungen  meist  vom  Übel.  In 
dieser  Beziehung  sind  namentlich  die  Erfahrungen  über  die  Heilung 
der  Hysterie  durch  Ausschneidung  der  Eierstöcke,  Brennen  der 
Clitoris  und  ähnliche  Maßnahmen  lehrreich.  So  viele  Ovarien  auch 
der  lockenden  Aussicht,  mit  einem  Schlage  gesund  zu  werden,  zum 
Opfer  gefallen  sind,  so  unbefriedigend  war  das  Ende,  weil  die  Be- 
handlung das  Wesen  des  Leidens  völlig  verkannt  hatte.  Auf  der 
anderen  Seite  ist  auch,  wie  schon  früher  erwähnt,  mehrfach  der 
Vorschlag  gemacht  worden,  die  Fortpflanzungsfähigkeit  solcher 
Kranken  operativ  zu  zerstören,  die  voraussichtlich  kranke  Nach- 
kommenschaft in  die  Welt  setzen  oder  (Frauen)  durch  das  Fort- 
pflanzungsgeschäft in  Gefahr  geraten,  geistig  zu  erkranken.  Be- 
vor unsere  Kenntnis  der  Vererbungsgesetze  und  der  krankmachen- 
den Bedeutung  des  Fortpflanzungsgeschäftes  nicht  eine  wesentlich 
vollkommenere  ist,  wird  für  derartig  einschneidende  Maßregeln  nicht 
einmal  eine  zuverlässige  wissenschaftliche  Grundlage  zu  schaffen 
sein,  ganz  abgesehen  von  den  sehr  großen  praktischen  Bedenken, 
die  ihrer  Verwirklichung  entgegenstehen. 


576 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Das  Auftreten  von  Geistesstörungen  in  der  Schwangerschaft 
mußte  ferner  den  Gedanken  nahe  legen,  eine  Genesung  durch  Ab- 
kürzung oder  Unterbrechung  derselben  herbeizuführen.  Indessen 
die  Erfahrung  lehrt,  daß  die  Geburt  selbst  in  der  Regel  keinen 
günstigen  Einfluß  auf  den  Verlauf  des  Irreseins  ausübt.  Dem- 
entsprechend habe  ich  auch  nach  der  Einleitung  des  Abortes  oder 
der  künstlichen  Frühgeburt,  die  mir  einige  Male  vorgekommen  ist, 
niemals  einen  Heilerfolg  feststellen  können.  Im  Gegenteil  dauerte 
die  Störung  ganz  unverändert  oder  sogar  in  verstärkter  Form  weiter. 
Berücksichtigen  wir  außerdem,  daß  häufig  genug  geistige  Er- 
krankungen gerade  im  Wochenbette  oder  nach  einem  Aborte  ein- 
setzen, so  werden  wir  uns  schwerlich  dazu  entschließen  können, 
beim  Irresein  in  der  Schwangerschaft  einen  Eingriff  zu  empfehlen, 
zumal  öfters  auch  die  anfänglich  auftretenden  Störungen  sich  nach 
einigen  Monaten  ganz  von  selbst  wieder  verlieren.  Zu  ähnlichen 
Ergebnissen  gelangte  Alzheimer,  der  65  Fälle  von  Schwanger- 
schaftspsychosen zusammenstellte;  er  macht  noch  besonders  auf 
die  Gefahr  der  Sepsis  bei  unruhigen  Kranken  nach  künstlicher  Ab- 
kürzung der  Schwangerschaft  aufmerksam. 

Ich  kann  mich  daher  der  auch  von  Fried  mann  verteidigten  An- 
sicht Jollys^)  keinesfalls  anschließen,  daß  Melancholie  die  Anzeige 
zur  Einleitung  des  Abortes  bilden  könne.  Die  ,, Melancholien"  der 
Schwangerschaft  sind  fast  ausnahmslos  zirkuläre  oder  katatonische 
Depressionszustände,  die  ihren  gesetzmäßigen  Verlauf  und  Ausgang 
nehmen.  Die  Rücksicht  darauf,  daß  man  einer  Kranken  vielleicht 
die  Verbringung  in  die  Anstalt  ersparen,  oder  daß  sie  durch  Selbst- 
mord zugrunde  gehen  könne,  weil  die  Angehörigen  die  Anstalts- 
behandlung ablehnen,  würde  übrigens  auch  dann  nicht  in  dieser 
Frage  maßgebend  sein,  wenn  man  von  dem  Eingriffe  Erfolg  er- 
warten dürfte.  Noch  weniger  darf  natürlich  die  Erwägung  ins 
Gewicht  fallen,  daß  die  Frucht  möglicherweise  geisteskrank  werden 
könne.  Allerdings  sind  Fälle  beschrieben  worden,  in  denen  Frauen 
stürmisch  auf  die  Beseitigung  der  Frucht  drängten  und  durch  die 
Schwangerschaft  in  wachsende  ängstliche  Erregung  gerieten,  die 

1)  Jolly,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1901,  684;  v.  Wagner,  Wiener  klin. 
Wochenschr.,  1905,  244;  Alzheimer,  Münch,  med.  Wochenschr.,  1907,  1617; 
Bokel  mann,  Zur  Frage  der  künstlichen  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  bei 
inneren  und  Geisteskrankheiten.  1907. 


Operative  Eingriffe.  ^yy 

nach  Herbeiführung  des  Abortes  rasch  schwand.  Es  scheint  sich 
hier  nicht  um  zirkuläre  Depressionen,  sondern  um  krankhafte 
Angstzustände  gehandelt  zu  haben,  die  gewiß  auch  anderer  Behand- 
lung zugänglich  gewesen  und  überdies  mit  der  normalen  Geburt 
verschwunden  wären.  Andererseits  kommt  es  bei  manisch-depres- 
siven Kranken  vor,  daß  die  anfangs  aus  krankhaften  Beweggründen 
erstrebte  Beseitigung  der  Frucht  späterhin  die  Anknüpfung  für 
schwere  Versündigungsideen  bildet.  Immerhin  gibt  es  gelegentlich 
Zustände,  die  wegen  ernster  Gefährdung  des  mütterlichen  Lebens  eine' 
Unterbrechung  der  Schwangerschaft  nötig  machen.  Abgesehen  von 
der  meist  erst  gegen  Ende  der  Schwangerschaft  auftretenden  Eklampsie 
wären  besonders  schwere  Fälle  von  Chorea  gravidarum,  vielleicht 
auch  einmal  die  Entwicklung  eines  Status  epilepticus  zu  nennen. 

Hier  und  da  werden  Fälle  berichtet,  in  denen  durch  Ohren- 
operationen, Entfernung  cariöser  Zähne,  Anbohrung  der  Oberkiefer- 
höhle, Ausbrennen  der  Nase  Besserung  psychischer  Störungen  be- 
wirkt wurde.  Bei  Kindern  stellt  sich  nach  Entfernung  von  Wuche- 
rungen aus  dem  Nasenrachenräume  öfters  eine  ganz  überraschende 
Besserung  ihres  Geisteszustandes  ein,  schnelles  Schwinden  ihres 
halb  stumpfen,  halb  reizbaren  Wesens,  ihrer  Unaufmerksamkeit 
und  Vergeßlichkeit.  Teilweise  Ausschneidung  der  Schilddrüse  kann 
für  das  Irresein  bei  Basedowscher  Krankheit  in  Frage  kommen; 
dagegen  wird  man  sich  für  Lugaros  Vorschlag,  die  zu  triebartigem, 
rücksichtslosem  Handeln  geneigten  ,, moralisch  Irrsinnigen"  durch 
operative  Verkleinerung  der  Schilddrüse  sanfter  und  gefügiger  zu 
machen,  schwerlich  erwärmen.  Noch  weniger  werden  wir  mit 
Burckhardt  bei  Halluzinanten  die  mutmaßlich  erkrankten  Teile 
der  Schläfenlappenrinde  herauszuschneiden  versuchen.  Endlich 
haben  wir  noch  kurz  der  Blutentziehungen  zu  gedenken,  die  früher 
das  Hauptmittel  bei  Erregungszuständen  bildeten,  während  sie  jetzt 
durch  unsere  veränderten  Anschauungen  über  die  Entstehungs- 
ursachen des  Irreseins  ganz  verdrängt  worden  sind. 

Dagegen  spielen  die  Infusionen  unter  die  Haut  eine  nicht  un- 
wichtige Rolle.  Das  Verfahren  ist  das  gewöhnliche:  5 — 700  g 
0,75  prozentiger,  auf  37 — 39°  C  erwärmter,  sterilisierter  Kochsalz- 
lösung oder  isotonischer  Flüssigkeit^)  läßt  man  unter  geringem 

1)  Donath,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LX,  583,  1903;  Wickel,  Psychia- 
trische Wochenschr.,  1903,  181. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  37 


578 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Drucke  mittels  Hohlnadel  oder  Troikart  in  die  subcutanen  Lymph- 
räume einfließen.  Meist  sind  zwei  Einstiche  (Brust,  Rücken,  Ober- 
schenkel) erforderlich,  die  jedoch  auch  mehrmals  wiederholt  werden 
können;  die  Geschwulst  wird  durch  vorsichtiges  Kneten  verteilt. 
Wir  greifen  zu  Kochsalzinfusionen  vor  allem  bei  sehr  entkräfteten 
Kranken  mit  Versagen  der  Herztätigkeit,  öfters  mit  vortrefflichem 
Erfolge.  Neuerdings  sind  auch  Ölinfusionen  zur  Ernährung  bei 
Kranken  mit  Nahrungsverweigerung  in  Anwendung  gezogen  wor- 
den. Französische  Forscher  haben  Kochsalzinfusionen  mit  Brom- 
beimischung bei  Epileptikern,  mit  Jodzusatz  bei  Paralytikern  ins 
Auge  gefaßt;  auch  Einspritzungen  von  Meerwasser  werden  von 
ihnen  gerühmt,  unter  Betonung  des  Umstandes,  daß  aus  ihm  ja 
alles  Leben  seinen  Ursprung  genommen  habe.  Alter  hat  Versuche 
mit  Einspritzungen  von  Hirnemulsionen  gemacht  (Kalb,  Schwein), 
in  der  unbestimmten  Hoffnung,  dadurch  irgendwie  auf  die  Krank- 
heitsvorgänge einzuwirken. 

Physikalische  Heilmethoden.  Unter  den  physikalischen  Heil- 
verfahren, die  in  die  irrenärztliche  Tätigkeit  Eingang  gefunden 
haben,  steht  obenan  die  Wasserbehandlung,  insonderheit  die 
Anwendung  der  Bäder.  Zwar  sind  die  barbarischen  Duschen  und 
die  kalten  Sturzbäder,  wie  sie  früher  als  ,,revulsive"  Mittel  beliebt 
waren,  lange  außer  Gebrauch  gekommen.  Dagegen  haben  im  Laufe 
des  letzten  Jahrzehnts  die  warmen  Bäder^)  in  der  Behandlung  der 
Geisteskranken  eine  außerordentliche  Verbreitung  gewonnen  und  ge- 
radezu eine  Umwälzung  im  Betriebe  der  unruhigen  Abteilungen  her- 
beigeführt. Die  beruhigende  Wirkung  warmer  Bäder  von  34 — 35  °  C 
ist  seit  alter  Zeit  bekannt.  Sie  wurden  zur  Erzielung  des  Schlafes 
bei  Nervosität,  Hysterie,  leichten  Verstimmungs -  und  Angst- 
zuständen abends  1—2  Stunden  lang  angewendet  und  mit  einer  kühlen 
Überrieselung  und  Abreibung  abgeschlossen.  Auch  bei  erregten 
Kranken  sind  diese  verlängerten  Bäder  von  jeher  mit  gutem  Er- 
folge in  Gebrauch  gewesen;  hier  pflegte  man  sie  wohl  mit  kalten 
Umschlägen  oder  der  Anwendung  des  Eisbeutels  auf  den  Kopf  zu 
verbinden.   Dagegen  bestand  eine  weit  verbreitete  Scheu  vor  einer 


1)  Thomsen,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LV,  721;  Beyer,  Centralbl.  f. 
Psychiatrie,  1899,  i;  Kraepelin,  ebenda,  1901,  705;  Alter,  ebenda,  1903,  157; 
Sadger,  ebenda,  1905,  835;  Würth,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIX,  676; 
Tomaschny,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1904,  461. 


Physikalische  Heilmethoden.  ^jg 

längeren  Ausdehnung  der  Wasserbehandlung,  von  der  man  vor 
allem  ungünstige  Wirkungen  auf  das  Herz  fürchtete. 

In  einzelnen  Fällen  haben  jedoch  schon  die  alten  französischen 
Irrenärzte,  insbesondere  Brierre  de  Boismont,  erregte  Kranke 
mehrere  Tage  und  selbst  wochenlang  im  warmen  Bade  behandelt. 
Trotz  der  günstigen  Erfolge  hat  sich  dieses  Verfahren  nur  sehr  all- 
mählich eingebürgert,  offenbar  hauptsächlich  deswegen,  weil  der 
ganze  Anstaltsbetrieb  dafür  noch  nicht  reif  war.  Erst  mit  der  Be- 
seitigung aller  Zwangsmittel,  der  Einrichtung  von  Wachabteilungen 
und  dem  Bestreben,  der  Irrenanstalt  immer  mehr  den  Stempel  des 
Krankenhauses  aufzudrücken,  wurde  die  Badebehandlung  allmählich 
in  immer  größerem  Umfange  angewendet,  da  sich  herausstellte,  daß 
sie  außerordentlich  wohltätig  wirkte,  ohne  von  nennenswerten  Nach- 
teilen begleitet  zu  sein.  In  Deutschland  wurde  sie  namentlich  von 
Scholz  warm  empfohlen  und  viel  geübt.  Allerdings  verschloß  er 
die  Wannen  mit  Segeltuchdeckeln,  aus  denen  nur  der  Kopf  der 
Kranken  heraussah;  anderwärts  waren  Holzdeckel  in  Gebrauch, 
In  diesen  Bädern  blieben  die  Kranken  viele  Stunden,  auch  ganze  Tage. 

Meine  eigenen  Erfahrungen  über  „Dauerbäder"  reichen  etwa  zwei 
Jahrzehnte  zurück.  Die  Beobachtung,  daß  verwirrte,  sehr  herunter- 
gekommene Kranke  im  Bade  bald  anfingen,  sich  zu  beruhigen, 
Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  und  einzuschlafen,  veranlaßte  mich, 
hier  und  da  die  Bäder  über  mehrere  Tage  auszudehnen;  nachts 
kamen  die  Kranken  wieder  ins  Bett.  Da  die  anfangs  gefürchteten 
bedrohlichen  Zufälle  gänzlich  ausblieben,  habe  ich  das  Verfahren 
immer  weiter  ausgebildet  und  bin  endlich  dazu  geschritten,  die 
Bäder  auch  des  Nachts  fortzusetzen,  da  der  grelle  Unterschied  in 
dem  Abteilungsbetriebe  am  Tage  und  in  der  Nacht  von  selbst  dazu 
drängte.  So  kam  es,  daß  einzelne  Kranke  viele  Monate  lang  ohne 
jede  Unterbrechung  im  warmen  Wasser  zubrachten. 

Freilich  mußten  zur  Durchführung  dieser  Maßregel  erst  besondere 
Einrichtungen  geschaffen  werden.  Die  Badebehandlung  in  ihrer 
heutigen  Ausgestaltung  erfordert  große,  helle,  freundliche  Räume  in 
möglichster  Nähe  der  Wachabteilungen,  zweckmäßig  mit  doppeltem 
Zugange.  Für  Lüftung  muß  in  ausgiebiger  Weise  gesorgt  sein,  weil 
eine  stark  erwärmte  und  mit  Wasserdünsten  erfüllte  Luft  die  be- 
ruhigende Wirkung  des  Bades  völlig  in  Frage  stellt.  In  jedem  Räume 
sollten  nur  einige  wenige  Wannen  aufgestellt  sein,  die  man  nach  Be- 

37* 


58o 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


darf  durch  niedrige,  die  Übersicht  nicht  beeinträchtigende  Scheide- 
wände voneinander  trennen  kann ;  jedenfalls  aber  sollte  man  die  Mög- 
lichkeit haben,  einzelne,  besonders  störende  Kranke  wenigstens  zeit- 
weise allein  im  Bade  unterzubringen.  Am  meisten  zu  empfehlen  sind 
Feuertonwannen,  die  jetzt  auch  in  Deutschland  zu  annehmbarem 
Preise  hergestellt  werden.  Deren  Form  und  Größe  wählt  man  zweck- 
mäßig recht  verschieden,  um  jedem  Kranken  eine  bequeme  Lagerung 
zu  ermöglichen;  schräge  Neigung  der  Kopfwand  ist  unter  diesem 
Gesichtspunkte  wünschenswert.  Die  Zu-  und  Abflußhähne  werden, 
um.  sie  der  Einwirkung  der  Kranken  zu  entziehen,  am  besten  in 
Kästen  an  der  Wand  eingeschlossen.  Zur  Lagerung  schwacher  und 
gebrechlicher  Kranker  dienen  durchgespannte  Tücher,  die  man  mit 
Bändern  an  kleinen,  im  Boden  eingelassenen  Ringen  befestigen 
kann.  Da  sich  die  Wasserschicht  über  dem  Tuche  unverhältnis- 
mäßig rasch  abkühlt,  ist  es  gut,  dessen  Mittelstück  aus  ganz  grob- 
maschigem Stoff  herzustellen,  der  einen  regelmäßigen  Wärme- 
ausgleich zwischen  den  getrennten  Wasserschichten  ermöglicht. 
Weitere  Behelfe  zur  bequemen  Lagerung  sind  Luftkissen,  die  unter 
den  Kopf  geschoben  werden,  nach  Umständen  auch  in  Tücher  ein- 
genähte Ballen  von  nicht  entfetteter  Watte  oder  Moosgummi. 

Außer  den  Wannen  soll  der  Baderaum  möglichst  wenig  enthalten, 
um  jede  Gelegenheit  zur  Zerstörung  oder  zu  Unglücksfällen  zu  ver- 
meiden. Unbedingt  nötig  ist  außer  einem  Wäschewärmer  mit  reich- 
lichem Vorrat  an  Badetüchern  ein  Spülklosett  und  eine  Zapfstelle 
für  Trinkwasser,  am  besten  als  Schwenkhahn  in  einem  Wandkäst- 
chen, ferner  eine  feste  Ruhebank  zum  Sitzen  oder  Liegen ;  auch  eine 
unauffällige  Alarmglocke  sollte  man  nicht  vergessen.  Bei  den  Mahl- 
zeiten oder  Beschäftigungen  der  Kranken  bedient  man  sich  leichter 
Brettchen,  die  quer  über  die  Wanne  gelegt  werden.  Der  Neigung 
zum  Spritzen  kann  durch  loses  Überhängen  von  Laken  über  die 
Wanne  begegnet  werden.  Den  besten  Fußbodenbelag  bilden  fein- 
geriefte Tonplättchen,  unter  denen  man  durch  zweckmäßige  Ver- 
teilung der  Warmwasserröhren  eine  Heizung  anbringen  kann; 
darüber  mag  man  Holzmatten  legen  (in  Öl  getränkte  Eichenholzklötz- 
chen auf  Kupferdrahtgeflecht).  Die  Fensterscheiben  werden,  um  Ver- 
letzungen vorzubeugen,  aus  dickem  Glase  herzustellen  sein.  Die 
Verwendung  von  Holz  ist  wegen  des  raschen  Faulens  tunlichst 
zu  vermeiden  (eiserne  Fensterrahmen,  steinerne  Türpfosten  und 


Physikalische  Heilmethoden. 


581 


Schwellen);  der  Anstrich  muß,  soweit  nicht  Plättchenbekleidung 
durchgeführt  ist,  häufig  und  gründlich  erneuert  werden. 

Die  Hauptfrage  endlich  bei  der  Einrichtung  von  Dauerbädern 
ist  die  reichliche  und  stetige  Versorgung  mit  warmem  Wasser.  Da 
der  Verbrauch  naturgemäß  ein  sehr  unregelmäßiger  ist,  muß  die 
jederzeit  verfügbare  Menge  weit  über  dem  Durchschnitte  stehen, 
damit  den  plötzlich  wechselnden  Anforderungen  genügt  werden  kann. 
Daß  nicht  nur  am  Tage,  sondern  mehr  noch  in  der  Nacht  ausreichen- 
des warmes  Wasser  zu  Gebote  stehen  muß,  bedarf  kaum  der  Er- 
wähnvmg.  Von  größter  Wichtigkeit 
ist  ferner  die  zuverlässige  Rege- 
lung der  Wasserwärme.  Da  die 
Abkühlung,  namentlich  in  den 
Feuertonwannen,  sehr  langsam  vor 
sich  geht,  ist  es  im  allgemeinen 
genügend,  den  Pfleger,  der  selbst- 
verständlich die  Bäder  unausgesetzt 
zu  überwachen  hat,  mit  der  Sorge 
für  Zufluß  warmen  Wassers  zu 
betrauen,  sobald  das  Badewasser 
zu  kühl  geworden  ist.  Weit  schwie- 
riger ist  die  Verhütung  von  Ver- 
brühungen,die  bei  unempfindlichen 
Kranken  entweder  durch  grobe 
Nachlässigkeit  des  Pflegers  bei  der 
Regelung  des  Zuflusses,  unter  Um- 
ständen aber  auch  ganz  unmerklich 

durch  Undichtigkeiten  und  Betriebsfehler  zustande  kommen  können. 
Die  gebräuchlichen  Mischbatterien  gewähren  gegen  diese  ernste 
Gefahr  nur  unvollkommenen  Schutz.  Gut  bewährt  hat  sich  da- 
gegen bei  uns  eine  elektrische  Wärmeregelungsvorrichtung.  Sie 
sorgt  einmal  selbsttätig  dafür,  daß  die  Wasserwärme  in  den  großen 
Vorratskesseln  niemals  über  60  °  C  steigen  kann,  und  sie  gibt  anderer- 
seits ein  rotes  Lichtzeichen,  sobald  und  solange  das  in  die  Wannen 
fließende  Wasser  über  40  °  Wärme  hat ;  zugleich  ist  dessen  Wärme 
in  jedem  Augenblicke  an  einem  Thermometer  ablesbar. 

Ein  Bild  von  einem  alten  und  einem  heutigen  Baderaum  geben 
uns  die  Fig.  XXIII  und  XXIV.   Die  erstere  zeigt  uns  die  Kranken  in 


Fig.  XXIII. 
Deckelbäder  aus  alter  Zeit. 


582 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Deckelwannen  eingeschlossen,  wo  sie  hilflos  den  Einwirkungen  der 
kalten  Strahldusche  ausgesetzt  sind.  Das  andere  Bild  stellt  ein  Dauer- 
bad der  Münchener  Klinik  dar.  In  dem  geöffneten  Kasten  neben 
dem  Fenster  befinden  sich  die  Hähne  für  Zufluß  und  Ablauf  des 
Wassers;  durch  die  darüber  befindlichen  dicken  Scheiben  kann  das 
in  das  Zuflußrohr  eingeschaltete  Thermometer  beobachtet  werden; 
zugleich  erglüht  hier  die  rote  Lampe  bei  Erwärmung  des  zufließenden 
Wassers  über  40°.  Das  Wandkästchen  neben  der  Türe  enthält  die 


Fig.  XXIV.    Dauerbad  der  Münchener  Klinik. 


Lichtschalter  und  den  mit  dem  Dienstschlüssel  zu  bedienenden 
Kontakt  für  die  elektrische  Wachkontrolle.  Links  ist  ein  Wäsche- 
wärmer in  die  Wand  eingelassen,  an  einer  anderen,  hier  nicht  sicht- 
baren Stelle  die  Zapfstelle  für  das  Trinkwasser.  Auch  das  Spül- 
klosett ist  nicht  sichtbar.  Der  Pfleger  sitzt  auf  einer  aus  Kacheln 
hergestellten  Bank.  Von  den  beiden  Kranken  liegt  der  eine  auf 
dem  durchgespannten,  an  den  Bodenringen  befestigten  Tuche;  sein 
Kopf  ruht  auf  einem  Luftkissen. 

Die  Wirkungen  aller  dieser  Einrichtungen  sind  äußerst  be- 


Physikalische  Heilmethoden.  ^83 

friedigende  gewesen.  Es  hat  sich  unzweifelhaft  ergeben,  daß  die 
Behandlung  erregter  Kranker  im  warmen  Dauerbade  jedem  an- 
deren bisher  bekannten  Verfahren  unvergleichlich  überlegen 
ist.  Namentlich  manische  und  paralytische,  aber  auch  katatonische 
Erregungszustände,  ebenso  das  Delirium  tremens,  eignen  sich  vor- 
züglich dafür;  weniger  trifft  das  für  die  ängstlichen  Erregungen  der 
Epileptiker  und  Melancholischen  zu,  doch  hat  uns  auch  hier  das 
Bad  sehr  oft  gute  Dienste  geleistet.  Alle  diese  Kranken  werden  im 
Bade  ruhiger,  essen  und  schlafen  besser,  sind  weniger  in  Gefahr, 
sich  zu  verletzen.  Da  keinerlei  Gewalt  gegen  sie  angewendet  wird 
und  das  warme  Wasser  für  sie  ein  behaglicher,  ihre  Freiheit  nicht 
beengender  Aufenthalt  ist,  den  sie  schon  wegen  des  rasch  auftretenden 
Frostgefühls  nur  ungern  verlassen,  geraten  die  Kranken  mit  ihrer 
Umgebung  nicht  so  leicht  in  Zwiespalt  und  werden  weit  weniger 
gereizt  und  gewalttätig.  Zerreißen  und  Zerstören  fällt  ganz  fort; 
höchstens  können  die  Frauen  die  Badehemden  zerschlitzen,  die  man 
ihnen  gibt,  falls  sie  dieselben  nicht  verschmähen.  Ebenso  ist  der 
Unreinlichkeit  auf  die  einfachste  Weise  ein  Ziel  gesetzt,  da  es  ein 
leichtes  ist,  das  schmutzige  Badewasser  zu  erneuern. 

Auf  diese  Weise  sind  eine  Reihe  der  widerwärtigsten  Übelstände 
aus  dem  früheren  Anstaltsbetriebe  mit  einem  Schlage  beseitigt  oder 
doch  bis  auf  ein  sehr  bescheidenes  Maß  gemildert.  Es  gibt  kein 
Schmieren  und  planmäßiges  Zerstören  mehr,  keine  unzerreißbaren 
Kleider,  keine  Schraubenschuhe  oder  festen  Strohsäcke ;  auch  das  häß- 
liche Blechgeschirr,  die  Schüsseln  und  Nachtgeschirre  aus  Pappe  und 
Gummi  können  getrost  abgeschafft  werden.  Die  Isolierungen,  die 
eine  ganze  Reihe  der  häßlichsten  Begleiterscheinungen  des  Irre- 
seins hervorrufen,  werden  vollkommen  entbehrlich.  Endlich  aber 
hat  der  gesamte  Geist  der  Behandlung  entschieden  gewonnen. 
Kranke  wie  Pfleger  erblicken  in  der  Anwendung  des  Bades  nicht, 
wie  so  leicht  in  der  Isolierung,  eine  Strafe,  sondern  eine  wohl- 
tätige ärztliche  Maßregel.  Es  fällt  demnach  ein  sehr  großer  Teil  der 
Kämpfe  fort,  die  sonst  dem  erregten  Kranken  oft  nicht  erspart  werden 
konnten,  um  ihn  und  seine  Umgebung  zu  schützen.  Insbesondere 
aber  sieht  der  Pfleger  deutlich  die  beruhigende  Wirkung  des  Bades 
und  wird  dadurch  unmerklich  weit  rascher  zu  einer  richtigen  Auf- 
fassung der  Erregungszustände  gebracht,  als  es  durch  die  Belehrung 
allein  jemals  gelingen  kann. 


584 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Wie  die  beruhigende  Wirkung  der  Dauerbäder  zustande  kommt, 
bedarf  noch  weiterer  Untersuchung,  Was  wir  bisher  wissen,  be- 
trifft vor  allem  die  rasch  eintretende  Herabsetzung  des  Blutdruckes, 
die  wohl  wesentlich  durch  die  Erweiterung  der  Hautgefäße  bedingt 
wird.  Damit  würde  sich  vielleicht  ein  Teil  der  besonders  günstigen 
Wirkungen  in  den  Zuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins  er- 
klären, die  regelmäßig  von  einer  Blutdrucksteigerung  begleitet  zu 
sein  pflegen.  Puls,  Atmung  und  Körperwärme  scheinen  nur  un- 
bedeutende und  schwankende  Beeinflussung  zu  erleiden.  Die  Eß- 
lust  bessert  sich  meist  rasch;  darum  ist  für  reichliche  Nahrungs- 
zufuhr bei  den  Kranken  im  Bade  zu  sorgen,  auch  während  der 
Nacht.  Sehr  auffallend  ist  beim  Gesunden  bekanntlich  das  Auftreten 
eines  ausgeprägten  Müdigkeitsgefühls,  dem  wohl  die  beruhigende 
und  schlafmachende  Wirkung  bei  erregten  Kranken  an  die  Seite 
zu  stellen  ist.  Es  liegt  nahe,  hier  an  Ermüdungserscheinungen  zu 
denken.  Die  Untersuchungen  von  Busch  und  Plaut  über  die  Wir- 
kung zweistündiger  Bäder  bei  Gesunden  haben  jedoch  ergeben,  daß 
trotz  des  Müdigkeitsgefühls  von  einer  wirklichen  Herabsetzung  der 
psychischen  Leistungen,  wie  sie  einer  Ermüdung  entsprechen  würde, 
keine  Rede  sein  kann.  Sowohl  die  Auffassungsfähigkeit  wie  die 
Rechengeschwindigkeit  erwies  sich  nach  dem  Bade  eher  besser  als 
vorher,  während  die  Assoziationen,  die  Wahlreaktionen  und  die 
Ergographenkurven  überhaupt  keine  nennenswerte  Beeinflussung 
erkennen  ließen.  Die  warmen  Bäder  würden  demnach,  im  Gegen- 
satze zu  den  arzneilichen  Schlafmitteln,  die  regelmäßig  eine  Auf- 
fassungs-  und  Willenslähmung  erzeugen,  nur  ein  Ruhebedürfnis 
ohne  Schädigung  des  Seelenlebens  herbeiführen,  soweit  unsere 
heutige  Kenntnis  reicht.  Zu  diesen  psychischen  Wirkungen  kommt 
dann  noch  die  behagliche  Wärme  des  umgebenden  Wassers,  die 
Abwesenheit  aller  beengenden  Kleidungsstücke,  die  völlige  Freiheit 
der  Bewegung,  das  Fortfallen  der  Reibungen  mit  der  Umgebung,  die 
unausgesetzte  Überwachung. 

Die  Übelstände  der  Dauerbäder  treten  gegenüber  ihren  Vorzügen 
sehr  in  den  Hintergrund.  Zunächst  sind  sie  ziemlich  kostspielig, 
da  sie  nicht  nur  gute  Anlagen,  sondern  auch  viel  warmes  Wasser 
und  ausreichendes  Personal  erfordern.  Wieweit  der  Mehraufwand 
durch  die  Verminderung  der  Kosten  für  Reinigung  und  Ersatz  des 
Zerstörten  ausgeglichen  wird,  hängt  wohl  von  örtlichen  Bedingungen 


Physikalische  Heilmethoden.  ^g^ 

ab.  Sodann  entwickeln  sich  in  der  quellenden  Oberhaut  leicht  über- 
tragbare Hautkrankheiten,  die  durch  Pilzwucherungen  (Tricho- 
phytonarten)  erzeugt  werden.  Vorbeugend  wirkt  Einreiben  der 
Haut  mit  Lanolin.  Rechtzeitiges  Pinseln  der  befallenen  Stellen  mit 
Jodtinktur  oder  Resorcinlösung,  unter  Umständen  Behandlung  mit 
Schwefelzinkpasta,  beseitigt  diese  übrigens  harmlosen  Ansiedelungen 
rasch;  auch  bei  mehrtägigem  Aussetzen  der  Bäder  pflegen  sie  zu 
verschwinden.  Wo  sie  sich  zeigen,  ist  gründliches  Desinfizieren  der 
Badetücher  notwendig.  Dasselbe  gilt  beim  Auftreten  von  Furunku- 
lose, die  zwar  im  Bade  meist  gut  abheilt,  aber  doch  recht  leicht 
weiter  verbreitet  wird  und  daher  sorgsamer  Behandlung  bedarf. 
Am  bedenklichsten  ist  es,  daß  alte  Ohreneiterungen  sich  im  Bade 
anscheinend  leicht  verschlimmern;  in  solchen  Fällen  ist  daher 
große  Vorsicht  geboten.  Während  der  Menses  können  die  Bäder  un- 
bedenklich fortgesetzt  werden. 

Die  Kranken  durch  irgendwelche  Anwendung  von  Gewalt  im 
Bade  festzuhalten,  ist,  wie  ich  glaube,  verfehlt,  weil  dadurch  der 
wesentliche  Zweck  des  Bades,  die  Beruhigung,  vereitelt  wird.  Man 
läßt  daher  die  zahlreichen  Kranken,  die  nicht  im  Bade  bleiben 
wollen,  zunächst  ruhig  gewähren,  erneuert  aber  den  Versuch,  sie 
ins  Bad  zu  bringen,  in  kurzen  Pausen  immer  wieder.  Man  wird 
dann  in  der  Regel  sehen,  daß  der  Kranke  sich  an  die  neue  Maßregel 
gewöhnt.  Erleichtert  wird  das  durch  die  anfängliche  Anwendung 
von  Sulfonal  oder  Hyoscin,  im  schlimmsten  Falle  durch  vorher- 
gehende feuchte  Einpackungen,  die  bei  einiger  Geduld  immer  zum 
Ziele  führen.  Ist  aber  ein  Kranker  einmal  einige  Stunden  im  Bade 
geblieben,  so  ist  damit  in  der  Regel  sein  Widerstreben  dauernd  ge- 
schwunden; man  erreicht  nun  fast  immer  ganz  leicht,  was  anfangs 
schier  unmöglich  schien. 

Die  Dauer  der  Bäder  richtet  sich  ganz  nach  dem  Zustande  der 
Kranken.  In  der  Regel  wird  man  mit  einigen  Stunden,  gegebenen- 
falls mehrmals  täglich,  auskommen ;  es  gibt  aber  auch  Fälle  genug, 
in  denen  das  Baden  Tag  und  Nacht  hindurch  fortgesetzt  werden 
muß,  weil  die  Kranken  sonst  sofort  unerträglich  störend  und  selbst 
gefährlich  werden;  ja  hier  und  da  kann  es  nötig  sein,  die  Behand- 
lung über  Wochen  und  Monate  zu  erstrecken,  wenn  jeder  Versuch 
einer  anderweitigen  Pflege  mißlingt.  Das  Ziel  der  Badebehandlung 
muß  immer  die  Ermöglichung  der  Bettruhe  bilden.    Sobald  die 


586 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Kranken  ruhig  oder  gar  müde  werden,  legt  man  sie  daher  ins  Bett. 
Es  kommt  indessen  vor,  daß  dann  die  Erregung  sogleich  wieder  be- 
ginnt. Solche  Kranke  wird  man  auch  im  Bade  schlafen  lassen 
müssen,  nachdem  man  ihnen  eine  möglichst  bequeme  Lagerung 
hergerichtet  hat. 

Dasselbe  gilt  von  sehr  schwachen  oder  gelähmten  Kranken,  die 
man  nicht  wegen  ihrer  Unruhe,  sondern  zur  Verhütung  des  Druck- 
brandes in  das  Dauerbad  gebracht  hat  und  daher  nicht  für  längere 
Zeit  herausnehmen  kann.  Die  Verringerung  des  Körperdruckes  und 
die  Möglichkeit  peinlichster  Sauberhaltung  pflegt  auch  in  den 
schwierigsten  Fällen  der  Gefahr  vorzubeugen  und  erleichtert  dadurch 
die  gesamte  Pflege  außerordentlich. 

Am  häufigsten  stößt  die  Durchführung  der  Badebehandlung  auf 
Schwierigkeiten  in  katatonischen  Erregungszuständen.  Glücklicher- 
weise steht  uns  hier  ein  Mittel  zu  Gebote,  welches  eine  vorzügliche 
Ergänzung  der  Dauerbäder  bildet,  die  feuchtwarmen  Einwick- 
lungen^).  Ein  in  Wasser  getauchtes,  leicht  ausgerungenes  Lein- 
tuch wird  um  den  ganzen  Körper  bis  zum  Halse  gelegt  und  dann 
eine  große  Wolldecke  mäßig  fest  herumgewickelt.  Will  man  eine 
kräftige  ,, Reaktion"  erzielen,  die  jedoch  für  unseren  Zweck  nicht 
die  Hauptsache  ist,  so  wird  man  das  Wasser  kalt  nehmen,  doch 
wird  man  bei  widerstrebenden  Kranken  mit  warmem  Wasser  leichter 
zum  Ziele  kommen.  Die  Füße  werden  mit  in  die  Decke  geschlagen, 
unter  Umständen  noch  durch  Wärmflaschen  erwärmt,  während 
man  auf  die  Stirn  einen  Eisbeutel  oder  kalte  Tücher  legen  kann. 
In  dieser  Packung  bleiben  die  Kranken  bis  zum  Schweißausbruche, 
höchstens  aber  zwei  Stunden.  Zu  einer  längeren  Ausdehnung  des 
Verfahrens,  wie  sie  von  manchen  Seiten  empfohlen  wird,  kann  ich 
mich  nicht  entschließen,  da  einerseits  die  Gefahr  der  Wärmestauung 
besteht,  andererseits  grundsätzlich  jeder  Anschein  einer  beabsich- 
tigten körperlichen  Beschränkung  vermieden  werden  sollte.  Aus 
beiden  Gründen  lasse  ich  Kranke,  die  dauernd  widerstreben,  nach 
kurzer  Zeit  wieder  aus  der  Wicklung  befreien,  allerdings,  um  später 
den  Versuch  zu  wiederholen;  auch  die  früher  übliche  Befestigung 
der  Wolldecke  mit  Sicherheitsnadeln  oder  durch  Zunähen  habe  ich 
aufgegeben.   In  der  Regel  sträuben  sich  jedoch  gerade  die  erregten 


1)  Knecht,  Psychiatrisch-neurolog.  Wochenschr.,  1903,  233. 


Physikalische  Heilmethoden.  ^gy 

Katatoniker  höchstens  bei  der  Ausführung  der  Einpackung,  um 
nachher  ganz  überraschend  still  zu  liegen.  Anscheinend  spielt  dabei 
die  in  jedem  derartigen  Kranken  schlummernde  Befehlsautomatie 
eine  gewisse  Rolle.  Meist  hält  die  Beruhigung  so  lange  an,  daß  es 
nachher  gelingt,  die  Kranken  für  einige  Zeit  im  Bade  zu  halten. 
Versagt  diese  Maßregel,  so  wird  von  neuem  zur  Wicklung  gegriffen. 
Auch  bei  manischen  Kranken  lassen  sich  gelegentlich  Packungen 
als  Vorbereitüng  oder  als  Ersatz  für  das  Bad  mit  Vorteil  verwenden. 
Vorsicht  ist  bei  Herzkranken  und  Arteriosklerotikern  geboten. 

Von  den  sonstigen  Formen  der  Wasserbehandlung  empfehlen 
sich  sanfte  Regenduschen,  kalte  Abreibungen  für  nervöse  und  hyste- 
rische Kranke,  besonders  auch  für  Onanisten,  bei  denen  noch  kalte 
Sitzbäder  hinzugefügt  werden.  Bei  Neigung  zu  Blutwallungen  nach 
dem  Kopfe  vermögen  Packungen  der  Füße  oder  Senffußbäder  bis- 
weilen einen  schlafmachenden  Einfluß  auszuüben.  Für  die  kühlen 
Voll-  und  Halbbäder,  die  Strahl-  und  Fächerduschen,  die  wechsel- 
warmen Duschen,  die  rasch  wiederholten  Packungen  usf.  haben  wir 
auf  psychiatrischem  Gebiete  kaum  viel  Verwendung.  Dagegen  ist 
die  örtliche  Anwendung  der  Kälte  am  Kopfe  in  der  Form  des  Eis- 
beutels noch  vielfach  im  Gebrauch.  Die  Einfachheit  und  Volks- 
tümlichkeit dieser  Maßregel  spricht  entschieden  zu  ihren  Gunsten, 
wenn  man  auch  gerade  in  der  Psychiatrie  vielleicht  häufiger  von 
ihrem  psychischen  (Zwang  der  Bettlage),  als  von  dem  physikalischen 
Einflüsse  Erfolg  hoffen  darf. 

Verhältnismäßig  beschränkte  Anwendung  hat  die  Elektro- 
therapie^) in  der  Behandlung  der  Geisteskrankheiten  gefunden. 
Die  vorliegenden  Erfahrungen  sind  daher  sehr  lückenhaft  und 
kaum  zur  Aufstellung  allgemeiner  Grundsätze  geeignet.  Der  fara- 
dische Strom  scheint  vorzugsweise  als  Erregungsmittel  zu 
wirken.  Demgegenüber  erwartet  man  von  der  Galvanisation 
des  Rückenmarkes,  des  Sympathicus,  des  Gehirns  (schwache  Ströme, 
kurze  Sitzungen,  große  Elektroden,  Leitung  längs  oder  schräg  durch 
den  Kopf)  namentlich  eine  „kataly tische"  Einwirkung  auf  die 
feineren  Vorgänge  im  Nervengewebe  und  einen  Einfluß  auf  das 
Gefäßsystem.  Man  hat  daher  vorgeschlagen,  bei  Zuständen  mit  er- 

1)  Arndt,  Arch.  f.  Psychiatrie,  II,  259;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXVIII, 
425;  XXXIV,  483;  Erb,  Elektrotherapie,  II,  2.  Aufl.  1886;  Tigges,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XL,  543. 


588 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


höhter  nervöser  Reizbarkeit,  Gefäßkrampf  u.  dgl.  die  Anode  (ab- 
steigende Ströme),  bei  bestehenden  Lähmungserscheinungen,  Stau- 
ungen, Ödemen  dagegen  die  Kathode  (aufsteigende  Ströme)  auf 
Hirn  und  Rückenmark  einwirken  zu  lassen. 

Im  allgemeinen  werden  es  natürlich  vorzugsweise  die  mit  ner- 
vösen Beschwerden  einhergehenden  Fälle  sein,  in  denen  man  von 
der  elektrischen  Behandlung  Erfolg  hoffen  darf.  Hier  mag  es  bis- 
weilen gelingen,  durch  Beseitigung  peripherer  Reizursachen,  durch 
Herabsetzung  der  Erregbarkeit  zu  nützen.  Hysterische  Dämmer- 
zustände werden  unter  Umständen  durch  planmäßige  Faradisation 
günstig  beeinflußt;  es  empfiehlt  sich  die  Anwendung  stärkerer 
Ströme  an  verschiedenen  Stellen  der  Körperoberfläche  oder  die  all- 
gemeine Faradisation.  Galvanisation  und  Faradisation  des  Kopfes 
(elektrische  Hand)  können  wegen  ihrer  hypnotischen  Wirkung  auch 
zur  Bekämpfung  der  Schlaflosigkeit  gelegentlich  in  Anwendung  ge- 
zogen werden.  Die  besten  Dienste  leistet  die  elektrische  Behandlung 
(Galvanisation  des  Kopfes,  allgemeine  Faradisation  mit  der  Rolle, 
elektrische  Bäder)  unzweifelhaft  bei  hysterischen  und  neurasthe- 
nischen  Kranken.  Gerade  hier  aber  wird  die  Ausscheidung  des 
sicherlich  nicht  geringen  Anteils,  welcher  dem  psychischen  Einflüsse 
des  Verfahrens  zugeschrieben  werden  muß,  vollkommen  undurch- 
führbar. 

Auch  die  Massage  hat  sich  nur  ein  kleines  Gebiet  der  irren- 
ärztlichen Tätigkeit  zu  erobern  vermocht,  das  sie  zudem  noch  mit 
der  Elektrizität  bis  zu  einem  gewissen  Grade  teilen  muß.  Bei  der 
großen  Mehrzahl  der  Geistesstörungen  paßt  die  Massage  nur  dort, 
wo  eine  selbständige  körperliche  Anzeige  für  sie  vorliegt.  Bei  ge- 
wissen hysterischen  und  neurasthenischen  Kranken  indessen  sowie 
in  Erschöpfungszuständen  vermag  die  Massage,  am  besten  in  Ver- 
bindung mit  der  allgemeinen  Faradisation,  durch  Kräftigung  der 
Muskulatur  und  Anregung  des  Stoffwechsels  schätzbare  Dienste  zu 
leisten.  Vorsicht  ist  dagegen  bei  den  oft  mit  jenen  Erkrankungen 
verwechselten  leichten  zirkulären  Depressionszuständen  am  Platze, 
in  denen  die  Massage  nicht  selten  die  innere  Unruhe  steigert.  Über 
das  in  gewissem  Sinne  der  Massage  verwandte  Bier  sehe  Stauungs- 
verfahren, das  auf  unserem  Gebiete  wesentlich  als  Kopfstauung  in 
Frage  kommen  könnte,  liegen  einstweilen  noch  keine  zu  weiteren 
Schlüssen  berechtigenden  Erfahrungen  vor. 


Physikalische  Heilmethoden.  ^89 

Dagegen  werden  wir  der  körperlichen  Bewegung  in  den  ver- 
schiedensten Formen  einen  bedeutsamen  Platz  unter  unseren  Be- 
handlungsmitteln einzuräumen  haben.  Es  ist  richtig,  daß  bei  allen 
frischen  und  schwereren  Geistesstörungen  das  erkrankte  Hirn  vor 
allem  der  Ruhe  bedarf.  In  der  Genesungszeit  jedoch,  ferner  nach 
Abschluß  ungeheilter  Erkrankungen  und  endlich  bei  den  viel- 
gestaltigen krankhaften  Zuständen  des  Entartungsirreseins  wird  die 
ärztlich  überwachte  körperliche  Betätigung  nicht  nur  für  den 
Wiedererwerb  verlorener  Kräfte,  sondern  namentlich  auch  zur  Er- 
ziehung des  Willens  von  allergrößter  Wichtigkeit  sein.  Turnen, 
namentlich  gymnastische  Übungen,  dann  aber  der  Körpersport,  wie 
er  in  englischen  und  amerikanischen  Anstalten  in  einer  uns  ganz 
fremden  Ausdehnung  betrieben  wird,  sind  bei  ängstlichen,  zer- 
fahrenen oder  willensschwachen  Menschen  das  weitaus  wirksamste 
Mittel,  das  verlorene  Selbstvertrauen  und  die  Selbstbeherrschung 
wiederzugewinnen. 

Unscheinbar  und  doch  von  großer  Bedeutung  sind  die  Einflüsse, 
die  durch  Luft  und  Sonne  auf  unsere  Kranken  ausgeübt  werden. 
Zwar  von  einer  ,,Klimatotherapie"  der  Geisteskrankheiten  kann 
kaum  gesprochen  werden;  sie  könnte  ja  auch  nur  für  die  leichtesten 
Formen,  für  die  Hysterischen,  Nervösen,  Psychopathen,  für  die 
krankhaften  Angstzustände  und  die  Genesungszeit  nach  schwereren 
Störungen  in  Betracht  kommen.  Die  psychischen  Einflüsse  der  Um- 
gebung, in  die  wir  solche  Kranke  versetzen,  pflegen  hier  wichtiger 
zu  sein  als  die  klimatischen  Wirkungen.  Immerhin  scheint  es,  daß 
z.  B.  die  Unterschiede  zwischen  Meeres-  und  Gebirgsklima  öfters 
nicht  gleichgültig  sind,  auch  wenn  wir  von  der  ungünstigen  Wir- 
kung größerer  Höhenlagen  auf  Herzkranke  und  Arteriosklerotiker 
ganz  absehen.  Manche  Kranke  verlieren  am  Meere  den  Schlaf; 
andere  wieder  fühlen  sich  im  Gebirge  unbehaglich.  Wie  weit  dabei 
Autosuggestionen  mit  eine  Rolle  spielen,  läßt  sich  freilich  schwer 
feststellen.  Bei  Kranken,  die  keine  Neigung  zur  Seekrankheit  haben, 
erweisen  sich  öfters  längere  Seereisen,  auch  auf  Segelschiffen,  als 
vorteilhaft.  Zu  der  Ruhe  und  Einförmigkeit  des  Schiffslebens 
kommt  dabei  der  mächtige  stärkende  Einfluß  des  Seeklimas.  Be- 
sondere Vorteile  bietet  dieses  Verfahren  für  Trinker  und  Morphi- 
nisten, wenn  jede  Möglichkeit  einer  Beschaffung  der  schädigenden 
Genußmittel  mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  kann. 


590 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Unzweifelhaften  Nutzen  gewährt  unseren  Kranken  ferner  der 
reichlich  bemessene  Aufenthalt  in  Sonne  und  frischer  Luft,  sei  es 
in  Form  von  Spaziergängen  und  Beschäftigung  im  Freien,  sei  es, 
für  die  schwächeren  und  schonungsbedürftigen  Kranken,  durch 
Liegekuren  im  Freien,  die  bei  sorgsamer  Einhüllung  auch  in  der 
rauheren  Jahreszeit  fortgesetzt  werden  können.  Für  die  ,, trockene 
Wicklung"  der  Kranken  dabei  mit  Hilfe  von  Sicherheitsnadeln  oder 
Einnähen  vermag  ich  mich  jedoch  nicht  zu  begeistern.   Dem  aus- 
giebigen Genüsse  von  Luft  und  Licht  verdankt  in  erster  Linie  das 
„Tenttreatment",  die  Behandlung  der  Kranken  in  leichtgebauten 
Bg,racken,  wie  sie  in  Amerika  vielfach  geübt  wird,  seine  Erfolge; 
auch  die  bekannten  Übelstände  der  Kasernierung,  namentlich  die 
Ausbreitung  der  Tuberkulose,  werden  dadurch  wesentlich  gemildert. 
Ein  sehr  glücklicher  Gedanke  scheint  mir  die  zuerst  von  Lehmann 
und  Cramer  erprobte  Einrichtung  von  warmen  Bädern  im  Freien 
zu  sein,  welche  die  Vorzüge  der  Bäderwirkung  mit  denjenigen  der 
Liegekur  verbindet,  die  Stimmung  günstig  beeinflußt  und  die  Kranken 
der  schwülen  Luft  des  Baderaumes  entrückt.  Allerdings  geschieht 
die  Abkühlung  des  Badewassers  wesentlich  rascher;  vor  unmittel- 
barer Sonnenbestrahlung  müssen  die  Kranken  durch  Schattendächer 
geschützt  werden. 

Diätetische  Maßregeln.  Unsere  letzten  Betrachtungen  leiten  uns 
von  den  besonderen  Heilverfahren  hinüber  zu  jenen  allgemeinen 
diätetischen  Maßregeln,  die  keinem  eigenartigen  Behandlungszwecke 
dienen,  sondern  die  Befriedigung  der  täglichen  Lebensbedürfnisse 
zum  Ziele  haben.  Obenan  steht  die  Sorge  für  eine  passende  Er- 
nährungi).    Jeder  Geisteskranke,  auch  der  anscheinend  „Voll- 
blütige", bedarf  einer  regelmäßigen,  gut  bemessenen  Zufuhr  kräftiger 
Nahrungsmittel,  die  nicht  selten  den  wichtigsten  Punkt  des  Behand- 
lungsplanes bildet.  Durchaus  in  den  Vordergrund  tritt  diese  Rück- 
sicht, wo  schwächende  Ursachen,  Wochenbett,  Blutverluste,  fieber- 
hafte Krankheiten  der  geistigen  Störung  vorausgegangen  sind,  und 
wo  Wage  und  körperliche  Untersuchung  gesunkene  Ernährung, 
Blutleere,  Schwäche,  Abmagerung  erkennen  lassen.  Namentlich  ist 
es  von  Wichtigkeit,  schon  im  Anfange  des  Leidens,  wo  der  Kranke, 
von  lebhaften  Gemütsbewegungen  beherrscht  und  ohne  Eßlust,  die 

1)  Hitzig,  Die  Kostordnung  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  Halle.  1897; 
Albrand,  Die  Kostordnung  an  Heil-  und  Pflegeanstalten.  1903. 


Diätetische  Maßregeln.  ^pj 

Nahrungsaufnahme  vernachlässigt,  auf  ein  regelmäßiges  Einhalten 
der  Mahlzeiten  zu  achten  und  jeder  beginnenden  Verdauungsstörung 
sogleich  entgegenzuarbeiten. 

Diese  Sorge  erstreckt  sich  oft  in  gleicher  Weise  über  den  ganzen 
Verlauf  der  Krankheit  fort,  wo  Verstimmung,  Unruhe  oder  Nega- 
tivismus den  Kranken  hindern,  das  Nahrungsbedürfnis  selbst  zu 
befriedigen.  Geduldiges,  häufig  wiederholtes  Anbieten  des  Essens, 
wenn  auch  immer  nur  kleine  Mengen  genommen  werden,  führt  hier 
meist  zum  Ziele.  Stets  muß  die  Kost  leicht  verdaulich  und,  nament- 
lich in  schwierigeren  Fällen,  möglichst  nahrhaft  sein,  um  durch 
ihren  Nutzwert  die  Unmöglichkeit  einer  reichlicheren  Zufuhr  aus- 
zugleichen (Fleischbreisuppen) ;  es  empfiehlt  sich,  ihre  Zusammen- 
setzung im  Hinblicke  auf  die  Erfordernisse  einer  ausreichenden  Er- 
nährung öfters  zu  prüfen.  Im  allgemeinen  eignet  sich  für  Geistes- 
kranke eine  reizlose,  mehr  aus  Mehl-  und  Milchspeisen,  Gemüsen, 
rohem  und  gekochtem  Obst  zusammengesetzte  Kost  mit  mäßigem 
Fleischzusatz,  doch  kann  unter  Umständen  die  Verwendung  von 
Pepton,  Nutrose,  Somatose,  Hygiama,  Tropon  oder  ähnlichen 
Stoffen  angezeigt  sein.  Bei  sehr  schwachen  Kranken  mit  schweren 
verwirrten  Erregungszuständen  ist  zeitweise  eine  Überernährung 
durch  reichliche  Zufuhr  leicht  verdaulicher  Nahrungsmittel  in 
kürzeren  Pausen  am  Platze;  man  wird  hier  freilich  in  der  Regel  zur 
Sonde  greifen  müssen.  Die  so  überaus  häufige  Verstopfung  be- 
kämpft man  nur  durch  ganz  milde  Mittel,  namentlich  durch  Klystiere 
(Glycerin,  Öl),  Eingießungen,  nach  Umständen  durch  Massage  und 
Faradisation  des  Bauches.  Unterstützt  werden  diese  Maßnahmen 
durch  sorgfältige  Regelung  der  gesamten  Lebensweise,  Sorge 
für  rechtzeitigen  und  ausreichenden  Schlaf,  mäßige  Bewegung  oder 
Lagerung  in  frischer  Luft,  zweckmäßige  Beschäftigung. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  für  das  Getriebe  der  Irrenanstalt 
erscheint  mir  die  grundsätzliche  Verbannung  des  Alkohols  als 
Genuß  mittel^).  Es  ist  ja  von  vornherein  einleuchtend,  daß  ein 
so  stark  wirkendes  Nervengift  auf  die  geschädigte  Hirnrinde  unserer 
Kranken  nur  einen  ungünstigen  Einfluß  haben  kann.  Die  Er- 
fahrung lehrt  uns  aber  auch  unzweideutig,  daß  in  jeder  Irren- 
anstalt eine  Menge  von  Kranken  leben,  die  des  Schutzes  vor  dem 

1)  Hoppe,  Neuroi.  Centralbl.,  XVII,  1074;  Dietz,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychia- 
trie, LXII,  372;   Delbrück,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1905,  449- 


592 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Alkohol  mehr  oder  weniger  dringend  bedürfen,  namentlich  Trinker 
und  Epileptiker,  aber  auch  Paralytiker,  Hypomanische,  Hebephrene ; 
deren  Anzahl  dürfte  je  nach  den  Verhältnissen  zwischen  40  und 
70%  schwanken.  Ich  habe  reichlich  Gelegenheit  gehabt,  die  Er- 
regungen zu  beobachten,  die  durch  das  Bier,  im  gewöhnlichen  Tages- 
laufe wie  bei  Festen,  erzeugt  wurden,  manchmal  auch  durch  die 
Entziehung  desselben  aus  ärztlichen  Gründen.  Gegen  dieses  Übel 
gibt  es  nur  ein  Heilmittel,  die  völlige  Ausschließung  des  Alkohol- 
genusses für  Kranke  und  Personal  aus  der  Anstalt,  die  um  so  selbst- 
verständlicher ist,  als  ihr  kein  einziger  vernünftiger  Gegengrund 
im  Wege  steht.  Nach  meinen  etwa  15  jährigen  Erfahrungen  kann 
ich  jene  Maßregel  nur  auf  das  wärmste  empfehlen;  sie  ist  leicht 
durchführbar,  wirtschaftlich  vorteilhaft  und  wirkt  günstig  auf  den 
ganzen  Geist  der  Anstalt.  Ersatz  für  den  Alkohol  bieten  Milch, 
Fruchtsäfte,  Obst  und  namentlich  die  ungemein  billig  herstellbaren 
Limonaden.  Wer  einmal  den  Alkohol  losgeworden  ist,  wird  es  ver- 
wunderlich genug  finden,  daß  nach  einer  von  Delbrück  1906  ver- 
anstalteten Rundfrage  unter  136  Anstalten  des  deutschen  Sprach- 
gebietes erst  30  alkoholfrei  waren,  während  14  sogar  den  ihnen 
zur  Heilung  überwiesenen  Trinkern  noch  geistige  Getränke  ver- 
abreichten ! 

Eine  eigenartige  Ausbildung  hat  die  Sorge  für  die  Körper- 
ernährung in  der  von  Weir  Mitchell  und  Playfair^)  eingeführten 
,,Mastkur"  (feeding-cure)  erhalten.  Den  leitenden  Gesichtspunkt 
dieses  Verfahrens  bildet  die  möglichste  Beschleunigung  des  Stoff- 
umsatzes durch  überreichliche  Ernährung  bei  gleichzeitiger  leb- 
hafter Muskelarbeit  ohne  eigene  Anstrengung.  Den  in  Bettruhe  ge- 
haltenen Kranken  werden  in  sehr  kurzen  Zwischenräumen  große 
Mengen  nahrhafter,  leicht  verdaulicher  Eßwaren  (Milch,  Fleisch, 
kräftige  Suppen)  zugeführt,  während  durch  regelmäßige,  ausgiebige 
Massage  und  faradische  Reizung  die  gesamte  Körpermuskulatur  be- 
arbeitet wird.  Dazu  kommt  als  wichtigster  Punkt  des  Heilplanes 
die  völlige  Entfernung  des  Kranken  aus  den  gewohnten  Verhält- 
nissen und  die  bedingungslose  Unterordnung  unter  den  ärztlichen 
Willen.  Zweifellos  spielt  dieser  psychische  Eingriff  bei  der  ganzen 

1)  Weir  Mitchell,  fat  and  blood,  3.  Aufl.  1884;  Playfair,  Die  systematische 
Behandlung  der  Nervosität  und  Hysterie,  deutsch  v.  Tischler.  1883;  Burkart, 
Volkmanns  Klinische  Vorträge,  245. 


Diätetische  Maßregeln. 

Kur  eine  äußerst  bedeutsame  Rolle.  Die  Erfolge  sind  in  geeigneten 
Fällen  staunenswerte;  man  darf  solche  aber  nur  auf  dem  Gebiete 
der  eigentlichen  Hysterie  und  zwar  dort  erwarten,  wo  keine  tief- 
greifende psychische  Störung,  sondern  wo  wesentlich  dauernde 
große  Willensschwäche  (Lähmungen)  besteht  und  die  Ernährung 
tief  gesunken  ist. 

Ganz  besondere  Berücksichtigung  erfordert  die  diätetische  Be- 
handlung der  frisch  Erkrankten.  Hier  handelt  es  sich  vor  allem 
um  Beruhigung.  Das  beste  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
ist  die  Bettlagerung,  die  bisweilen  schwierig,  unter  einigermaßen 
günstigen  Verhältnissen  (ausreichendes,  gut  geschultes  Personal) 
aber  doch  meistens  durchführbar  ist,  in  manchen  Fällen  erst  nach 
einer  vorbereitenden  Badebehandlung.  Bei  einiger  Geduld  kann  man 
durch  diese  harmlose  Maßregel,  welche  die  Unterschiede  in  der  Be- 
handlung psychisch  und  körperlich  Kranker  mehr  und  mehr  ver- 
wischt, ganz  außerordentliche  Erfolge  erzielen.  Dennoch  hat  sie 
sich  merkwürdigerweise  nur  sehr  langsam  Bahn  gebrochen.  In 
Deutschland  hat  sich  namentlich  Neisser^)  in  dieser  Richtung  ver- 
dient gemacht.  Bei  uns  ist  es  jetzt  wohl  überall  anerkannt,  daß 
alle  frisch  Erkrankten  zunächst  und  unter  Umständen  für  längere 
Zeit  ins  Bett  gehören.  Ferner  wird  man  jene  blutleeren  und  schwäch- 
lichen Kranken,  die  durch  ängstliches  Herumlaufen  ihre  Kräfte  zu 
erschöpfen  drohen,  die  Nahrungsverweigerer,  endlich  die  Unruhigen 
so  lange  wie  irgend  möglich  im  Bett  zu  erhalten  suchen,  natürlich 
sämtlich  unter  dauernder  Überwachung.  Jede  Anwendung  von  Ge- 
walt ist  dabei  vom  Übel,  weil  sie  die  Erregung  nur  steigert.  Gedul- 
diges Zureden  und  vorübergehendes  Gewährenlassen  führen  weit 
besser  zum  Ziel.  Niemand  wird  sich  der  augenfälligen  Erfahrung 
entziehen  können,  daß  die  Aufregungszustände  aller  Art  weit  milder 
im  Bette  verlaufen,  als  außerhalb  desselben.  In  schwierigeren 
Fällen  sinnloser  Unruhe,  namentlich  bei  deliranten  Kranken,  in 
epileptischen,  katatonischen  und  paralytischen  Dämmerzuständen, 
erweisen  sich  Betten  mit  hohen  gepolsterten  Seitenwänden  als 
zweckmäßig.    Ruhige  Kranke,  die  der  Bettruhe  bedürfen  (Melan- 

1)  Neisser,  Berl.  klin.  Wochenschr.,  1890,  38;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie, 
L,  447,  1893;  Zeitschr.  f.  praktische  Ärzte,  1900,  18  u.  19;  Serieux  et  Farnarier, 
Annales  medico-psychol.,  1900,  I,  61;  Wizel,  ebenda,  1901,  I,  56;  Bernardini, 
Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXVI,  233. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  38 


594 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


cholische,  Gehemmte,  Negativistische),  wird  man  nach  einiger  Zeit 
für  Stunden  täglich  aufstehen,  in  den  Garten  gehen,  im  Freien  ruhen 
lassen,  um  ihnen  den  Genuß  frischer  Luft  zu  gewähren  und  den  er- 
schlaffenden Wirkungen  langen  Bettliegens  entgegenzuarbeiten. 
Ganser  läßt  solche  Kranke  regelmäßig  massieren. 

Als  letztes  Auskunftsmittel  bei  der  Behandlung  unruhiger 
Kranker  gilt  die  Separierung  in  offenem  oder  die  Isolierung 
in  geschlossenem  Einzelzimmer.  Die  erstere,  die  ja  nur  mit  Ein- 
willigung des  Kranken  möglich  ist,  hat  sehr  häufig  eine  günstige 
Wirkung,  da  sie  äußere  Reize  bis  zu  einem  gewissen  Grade  abschließt. 
Sie  ist  von  Dejerine  zu  einer  planmäßigen  Behandlung  der  Hysterie 
ausgebildet  worden.  Die  Kranken  kommen  in  Betten,  deren  dichte 
Vorhänge  sie  zunächst  gänzlich  von  allen  Beziehungen  zur  Außen- 
welt abschließen,  um  dann  nach  einer  kürzeren  oder  längeren  Zeit 
der  Selbstbesinnung  ganz  allmählich  wieder  in  den  Verkehr  mit  der 
Umgebung  eingeführt  zu  werden.  Bei  sich  selbst  gefährlichen 
Kranken  ist  eine  Abtrennung  nur  unter  besonderer  Aufsicht  durch- 
führbar und  scheitert  oft  genug  daran,  daß  der  erregte  Kranke  eben 
nicht  in  dem  ihm  angewiesenen  Räume  bleibt  oder  sich  dort  un- 
möglich macht.  Schließt  man  nunmehr  die  Türe,  so  verzichtet  man 
damit  auf  die  weitere  Überwachung,  wenn  man  nicht  die  häßliche 
Einrichtung  der  Gucklöcher  oder  Beobachtungsfensterchen  aus  dem 
Gefängnisse  herübernehmen  und  eine  ständige  Wache  vor  die  Türe 
stellen  will. 

Tatsächlich  pflegen  sich  in  den  Isolierzimmern  oder  „Tobzellen" 
alsbald  eine  Reihe  der  schwersten  Übelstände  zu  entwickeln.  Die 
Kranken  zerreißen  rücksichtslos  ihr  Bettzeug  und  ihre  Kleidung, 
bis  man  am  Ende  genötigt  ist,  sie  nackt  mit  einem  Haufen  Stroh 
oder  Seegras  auszustatten ;  sie  zertrümmern  ihr  Eßgeschirr  und  zer- 
kratzen mit  den  Bruchstücken  die  Wände,  so  daß  man  zu  Schüsseln 
aus  Leder,  Pappe  oder  Brotteig,  zu  Nachtgeschirren  und  Bechern 
aus  Gummi  oder  Leder  greift,  ohne  doch  damit  wirkliche  Abhilfe  zu 
schaffen.  Alle  möglichen  Trümmer,  zusammengedrehte  Leinwand- 
tücher mit  Steineinlagen,  verknotete  Wolldecken,  abgebrochene 
Löffelstiele,  wuchtig  geschwungene  Nachtgeschirre,  ohne  oder  mit 
Inhalt,  werden  zu  Waffen,  die  den  eintretenden  Arzt  oder  Pfleger 
sehr  unangenehm  überraschen  können;  ein  eingeschmuggeltes 
Streichhölzchen  gibt  die  Möglichkeit  gefährlicher  Brandstiftungen, 


Diätetische  Maßregeln. 


595 


denen  schon  mehr  als  ein  Kranker  erlegen  ist.  Absichtliche  oder 
unabsichtHche  Selbstverletzungen,  Verschlucken  von  Scherben,  Er- 
drosselung mit  Bettuchstreifen,  Schnittwunden  durch  Glassplitter, 
Aufreißen  des  Skrotums,  Anrennen  des  Kopfes  gegen  die  Wand  und 
ähnliche  Dinge  vollziehen  sich  in  der  Abgeschiedenheit  des  Isolier- 
zimmers, ohne  daß  es  bemerkt  wird,  namentlich,  wenn  noch  Doppel- 
türen angebracht  sind,  damit  ja  kein  Laut  nach  außen  dringt.  End- 
lich beginnen  die  Kranken  meist  sehr  bald  zu  onanieren  und  zu 
schmieren.  Nicht  nur  ihr  Essen,  sondern  auch  ihre  Ausleerungen, 
die  sie  längere  Zeit,  nicht  zur  Verbesserung  ihrer  Zimmerluft,  bei 
sich  beherbergen  müssen,  dienen  ihnen  dazu,  sich  selbst,  die  Wände 
und  Decke  ihres  Zimmer  derart  einzusalben  und  zu  bemalen,  daß 
der  Eintretende  aus  dieser  Genesungsstätte  zurückprallt. 

Rechnet  man  dazu,  daß  längerer  Aufenthalt  im  IsoHerzimmer 
auch  den  Eintritt  der  Verblödung  begünstigt,  daß  auf  diese  Weise 
jene  Anstaltsartefakte"  zustande  kommen,  die  durch  ihre  Ver- 
wilderung den  Schrecken  ihrer  Umgebung  bilden,  so  kann  darüber 
kein  Zweifel  sein,  daß  die  Isolierung  ein  Übel  ist,  welches  man  so- 
bald wie  möglich  beseitigen  sollte.  Diese  Erkenntnis  ist  nicht  neu. 
Parchappe  hat  schon  1875  mit  Nachdruck  die  Abschaffung  der 
Tobzellen  gefordert.  Leider  aber  stellen  sich  der  Durchführung  dieser 
Forderung  vielfach  ernste  Hindernisse  entgegen.  Will  man  die  Ab- 
sperrung einzelner  Kranker  aus  dem  Anstaltsgetriebe  gänzlich  ver- 
meiden und  den  einzig  richtigen  Grundsatz  unausgesetzter  Beauf- 
sichtigung und  Pflege  jedes  einzelnen  restlos  durchführen,  so  be- 
darf es  dazu  einer  ganzen  Reihe  von  Einrichtungen,  die  zum  Teil 
erhebliche  Mittel  erfordern,  genügender  Kräfte  an  Ärzten  und  Wart- 
personal, zweckmäßiger  Wachabteilungen  und  reichlicher  Gelegen- 
heit zu  Dauerbädern  bei  Tag  und  bei  Nacht.  Wattenberg,  Hoppe 
und  andere  haben  allerdings  gezeigt,  daß  auch  unter  den  schwie- 
rigsten Bedingungen  die  ,, zellenlose"  Behandlung verwirklicht 
werden  kann.  Allein  es  muß  doch  immer  die  Frage  aufgeworfen 
werden,  ob  man  unter  allen  Umständen  berechtigt  ist,  von  der 
Isolierung  eines  erregten  Kranken  abzusehen,  auch  dann,  wenn  da- 

1)  Wattenberg,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LH,  928;  Heilbronner, 
ebenda,  LIII,  717;  Hoppe,  ebenda,  LIV,  910;  Psychiatrische  Wochenschr.,  III, 
30;  IV,  13;  Kalmus,  ebenda,  II,  49;  Wattenberg,  ebenda,  1903,  9;  Mercklin, 
ebenda,  1903,  81. 

38* 


596 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


durch  ernste  Gefahren  und  Schädigungen  für  die  ebenfalls  unserer 
Obhut  übergebenen  Mitkranken  verbunden  sind.  Daß  unter  gün- 
stigen.  Verhältnissen  die  Isolierung  grundsätzlich  aufgegeben 
werden  kann,  und  daß  damit  ein  unvergleichlicher  Fortschritt  in 
unserer  Krankenbehandlung  herbeigeführt  wird,  steht  für  mich 
fest;  ich  habe  seit  mehr  als  7  Jahren  keinen  Kranken  mehr  isoliert. 
Dennoch  würde  ich  in  einem  besonderen  Ausnahmefalle,  namentlich 
bei  gefährlichen  Verbrechern,  nicht  zögern,  zur  Isolierung  zu  greifen. 


Fig.  XXV,  XXVI,  XXVII  nach  alten  Abbildungen.  Auf  dem  ersten 
Bilde  sehen  wir  einen  in  der  Zwangsjacke  steckenden  Kranken  an 
Schultern,  Oberarmen  und  Knöcheln  auf  einem  nachtstuhlartigen 
,, Zwangsstuhle"  festgeschnallt,  ein  ehedem  sehr  häufiger  Anblick,  dem 
man  jetzt  nur  noch  in  mangelhaften  Siechenanstalten  hier  und  da 
begegnet.  Der  zweite  Kranke  steckt  ebenfalls  in  einer  Zwangsjacke, 
die  wieder  an  einem  großen,  von  der  Wand  herabhängenden  Polster 
festgeschnallt  ist;  außerdem  ist  ihm  das  Stoßen  mit  den  Füßen 
durch  einen  die  Beine  umgebenden  Zylinder  unmöglich  gemacht. 
Auf  dem  dritten  Bilde  endlich  sehen  wir  die  Arme  des  Kranken  in 


sobald  es  keinen  anderen  Weg 
mehr  gäbe,  der  Umgebung  die- 
jenige Sicherheit  zu  verschaffen, 
auf  die  sie  gegründeten  An- 
spruch hat. 


Fig.  XXV. 

Zwangsstuhl  und  Zwangsjacke. 


In  dem  Heilapparate  der  älte- 
ren Anstalten  spielte  zur  Un- 
schädlichmachung der  Kranken 
und  zur  Bekämpfung  der  Auf- 
regung eine  große  Rolle  die  me- 
chanische Beschränkung  durch 

Zwangsjacke ,  Zwangsstühle , 
Zwangsbetten,  Gürtel  mit  Hand- 
schuhen usf.,  alles  Vorrichtungen, 
die  dazu  dienten,  den  Kranken 
an  dem  freien  Gebrauche  seiner 
Glieder  zu  hindern  und  ihn  in 
einer  bestimmten  Lage  festzu- 
halten. Einige  Beispiele  solcher 
Behandlungsmittel     geben  die 


Diätetische  Maßregeln. 


597 


geschlossenen  Ärmeln  stecken, 
die  an  einem  Leibgurte  befestigt 
sind.  Der  Kopf  ist  von  einer  Art 
Drahtkorb  umgeben,  der  wohl  das 
Spucken  undBeißen  verhindern  soll. 

Das  Verdienst,  mit  allem  Nach- 
druck auf  die  Unzweckmäßigkeit, 
ja  Gefährlichkeit  dieser  Zwangs- 
maßregeln hingewiesen  zu  haben, 
gebührt  vor  allem  dem  Engländer 
Conolly^);  er  schaffte  sie  am 
21.  September  1839  in  Hanwell 
mit  einem  Schlage  ab.  Sie  steigern 
die  Unruhe  und  Aufregung  des 
Kranken,  der  sich  abmüht,  sich 

frei  zu  machen;  sie  erbittern  ihn 

V    .        ,  Fig.  XXVI. 

gegen  seme  Arzte  unü  t-tleger,  die  wandpolster,  Zwangsjacke  und  Beinkorb, 
meist  erst  nach  hartem  Kampfe 
die  verhaßte  Beschränkung  durch- 
zuführen vermögen,  und  sie  ver- 
derben das  Pflegepersonal,  welches 
im  Vertrauen  auf  die  rohe  Gewalt 
kein  Bedürfnis  empfindet,  selbst 
engere  Fühlung  mit  den  Kranken 
zu  gewinnen  und  diese  nicht  so- 
wohl durch  die  Furcht,  als  viel- 
mehr durch  die  kleinen  Kunstgriffe 
des  hilfsbereiten  Wohlwollens  be- 
herrschen zu  lernen.  Aus  diesem 
Grunde  spielt  das  ,,Restraint",  die 
mechanische  Beschränkung,  zwar 
in  schlecht  eingerichteten  Kran- 
kenhäusern und  in  den  häuslichen  ''^ --^^^h^m-^-y^ 
Verhältnissen,  zumal  bei  der  weit  -£^v^r^.  '  " 
verbreiteten  übertriebenen  Angst  Fig.  XXVII.  Kranker  mit  Drahtmaske. 


1)  Conolly,  Die  Behandlung  der  Irren  ohne  mechanischen  Zwang,  deutsch 
von  Brosius.  1860;  Klinke,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIX,  669;  Bei- 
mond o,  Rivista  di  freniatria  sperimentale,  XXXI,  254. 


598 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


vor  Geisteskranken,  leider  noch  eine  gewisse  Rolle  ■ —  das  muster- 
gültige Anstaltsleben  kennt  sie  nicht  mehr.  Wir  dürfen  heute  ohne 
weiteres  sagen,  daß  die  häufigere  Anwendung  von  Zwangsmitteln 
irgendwelcher  Art  in  einer  Anstalt  mit  Bestimmtheit  entweder  auf 
schlechte  Einrichtungen  oder  aber  auf  schlechte  Ärzte  zurückweist. 
Nur  dort,  wo  die  peinliche  Durchführung  des  No-restraint-Verfahrens 
ein  größeres  Übel  bedeuten  würde  als  die  Beschränkung  selbst,  wo 
z,  B.  das  Leben  des  Kranken  in  Gefahr  schwebt,  wie  bei  schweren 
chirurgischen  Erkrankungen,  unter  Umständen  auch  bei  schwie- 
rigen Reisen  mit  sehr  gefährlichen  und  aufgeregten  Kranken,  kann 


Fig.  XXVIII.  Gitterbett. 


die  menschliche  und  ärztliche  Berechtigung  der  Zwangsmittel  nicht 
zweifelhaft  sein. 

In  der  Regel  wird  man  mit  dem  einfachen  Festbinden  durch 
Bettücher,  Handtücher  u.  dgl,  auskommen.  Bei  wirklich  großer 
Gefahr  wird  man  endlich  nicht  zögern,  zur  Anwendung  der  Zwangs- 
jacke zu  greifen,  doch  kann  ich  z.  B.  mitteilen,  daß  ich  in  den 
letzten  22  Jahren  keinen  Fall  mehr  erlebt  habe,  in  dem  diese  Maß- 
regel notwendig  geworden  wäre.  Nur  ein  einziges  Mal  während 
dieser  Zeit  war  ich  genötigt,  einen  sehr  unruhigen  Kranken  im 
epileptischen  Dämmerzustande  wegen  lebensgefährlicher  Blutungen 
nach  einer  Operation  mit  Tüchern  im  Bett  festbinden  zu  lassen.  Die 
Zwangsjacke  ist,  wie  die  Abbildungen  zeigen,  eine  vorn  geschlossene, 
hinten  verschnürbare  Jacke  von  starkem  Segeltuche  oder  Leder  mit 
langen  Ärmeln  ohne  Öffnungen,  mit  Hilfe  deren  die  Arme  über  der 


Psychische  Behandlung. 


599 


Brust  gekreuzt  festgehalten  werden  können.  Bei  sehr  fester  Anlegung 
und  langem  Liegen  derselben  entstehen  leicht  Hautabschürfungen 
und  Druckbrand  an  den  gefährdeten  Stellen;  sie  muß  daher  öfters 
gelockert  und  womöglich  täglich  einige  Stunden  abgelegt  werden. 
Kein  mechanisch  beschränkter  Kranker  darf  ohne  be- 
ständige Aufsicht  gelassen  werden;  es  kommt  vor,  daß  er 
sich  selbst  befreit  oder  gar  erdrosselt. 

Eine  Art  Überbleibsel  aus  der  Zeit  der  mechanischen  Beschrän- 
kung bildet  das  noch  jetzt  hier  und  da  verwendete  und  sogar 
empfohlene,  käfigartige  Gitterbett,  von  dem  Fig.  XXVIII,  einer  alten 
Abbildung  entstammend,  eine  Vorstellung  geben  mag.  Es  steht  wohl 
zu  hoffen,  daß  diese  häßliche  Einrichtung  durch  eine  zeitgemäße 
Ausgestaltung  der  Irrenpflege  baldigst  verdrängt  werden  wird. 

C.  Psychische  Behandlung. 

Besonders  der  Kampf  um  die  Anwendbarkeit  der  mechanischen 
Beschränkung  ist  es  gewesen,  der  die  Ausbildung  einer  planvollen 
psychischen  Behandlung der  Geisteskranken  angebahnt  hat. 
Je  weniger  Arzt  und  Pflegepersonal  gegenüber  den  Aufregungs- 
zuständen  ihre  Zuflucht  zur  nackten  Gewalt  nehmen  konnten,  desto 
mehr  mußten  sie  darauf  bedacht  sein,  sich  durch  das  Mittel  der 
psychischen  Einwirkung  Macht  über  ihre  Pflegebefohlenen  zu  ver- 
schaffen. Die  Aufgaben  dieser  Behandlungsweise  sind  es,  einerseits 
die  Krankheitserscheinungen  zurückzudrängen,  andererseits  die  ge- 
sunden Vorstellungen  und  Gefühle  zu  kräftigen  und  ihnen  schließlich 
zum  Siege  über  die  krankhaften  Störungen  zu  verhelfen.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  sich  für  die  Lösung  dieser  Aufgaben  bei  der 
Mannigfaltigkeit  der  Persönlichkeiten,  die  den  Angriffspunkt  des 
irrenärztlichen  Handelns  bilden,  ins  einzelne  gehende  Vorschriften 
nicht  geben  lassen,  sondern  daß  jenes  Ziel  in  jedem  Falle  wieder 

1)  Reil,  Rhapsodien  über  die  Anwendung  der  psychischen  Kurmethode  auf 
Geisteszerrüttungen.  1803;  Leuret.  le  traitement  moral  de  la  folie.  1840;  Löwen- 
feld, Lehrbuch  der  gesamten  Psychotherapie.  1897;  Ziehen,  Psychotherapie.  1898; 
V.  Schrenk  -  Notzing,  Psychotherapie  in  Eulenburgs  Realencyklopädie  der  ge- 
samten Heilkunde;  Camus  et  Pagniez,  isolement  et  psychotherapie.  1904;  Vogt, 
Zeitschr.  f.  Hypnotismus,  IX,  353;  X,  22;  Journ.  f.  Psychol.  u.  Neurol.,  I,  146; 
D  u  b o  i  s ,  Die  Psychoneurosen  und  ihre  psychische  Behandlung,  deutsch  von  R 1  n g i  e r , 
1905. 


6oo 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


auf  anderem  Wege  erreicht  werden  muß,  dessen  Auffindung  und 
geschickte  Verfolgung  jeweils  der  Einsicht  und  Erfahrung  des  Arztes 
überlassen  bleibt. 

Mit  Recht  werden  daher  wegen  dieser  großen  persönlichen  Ver- 
antwortlichkeit vom  Irrenarzte  ganz  bestimmte  geistige  Eigen- 
schaften gefordert:  „wohlwollender  Sinn,  große  Geduld,  Selbst- 
beherrschung, eine  besondere  Freiheit  von  allen  Vorurteilen,  ein  aus 
einer  reichen  Weltkenntnis  geschöpftes  Verständnis  der  Menschen, 
Gewandtheit  der  Konversation  und  eine  besondere  Neigung  zu 
seinem  Beruf,  die  ihn  allein  über  dessen  vielfache  Mühen  und  An- 
strengungen hinwegsetzt"!).  So  ausgerüstet,  wird  er  imstande  sein, 
dem  Kranken  nicht  nur  ein  Arzt,  sondern  zugleich  ein  Erzieher  und 
Freund  zu  werden,  nicht  nur  den  körperlichen  Grundlagen  der 
Geistesstörung  seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  sondern  durch 
die  Macht  seiner  Persönlichkeit  verständnisvoll  auch  die  krank- 
haften psychischen  Erscheinungen  selbst  zu  bekämpfen. 
Wirkt  schon  bei  körperlicher  Erkrankung  der  Arzt  häufig  genug 
ebensosehr  durch  seine  persönlichen  Eigenschaften  wie  durch  die 
Arznei,  so  erweitert  sich  hier  das  Feld  der  psychischen  Behandlung 
selbstverständlich  in  ganz  außerordentlichem  Maße. 

Gerade  aus  diesem  Grunde  hat  Ludwig 2)  wiederholt  mit  be- 
sonderer Wärme  die  Verwendung  wei  blich  er  Ärzte  für  die  weib- 
lichen Geisteskranken  empfohlen.   Er  ist  der  Meinung,  daß  einer- 
seits die  Frau  ein  viel  tiefer  dringendes  Verständnis  für  das  Seelen- 
leben ihrer  Geschlechtsgenossinnen  besitzen  wird,  und  daß  anderer- 
seits diese  weit  leichter  ihre  innersten  Regungen  einem  Weibe  ver- 
trauen würden,  also  mehr  Trost  und  Erleichterung  bei  ihr  finden 
könnten.  Dazu  kommt,  daß  ja  vielfach  das  Erscheinen  des  Mannes 
auf  der  Frauenabteilung  stark  erregend  wirkt,  und  daß  sich  in  der 
Krankheit  Auftritte  abspielen  können,  deren  Erinnerung  für  die 
Genesene  doppelt  peinlich  ist,  wenn  der  Arzt  Zeuge  derselben  war. 
Endlich  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  die  nötigen  körperlichen 
Untersuchungen,  namentlich  bei  geschlechtlich  erregten  weiblichen 
Kranken,  sehr  viel  zweckmäßiger  durch  weibliche  Ärzte  vorzu- 
nehmen wären.   Da  man  anderwärts  mit  dieser  Einrichtung  gute 
Erfahrungen  gemacht  hat,  wird  sie  sich  voraussichtlich  auch  bei 

1)  Griesinger,  Pathol.  u.  Therapie  der  psych.  Krankheiten,  4.  Aufl.,  533. 

2)  Ludwig,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1899,  129. 


Psychische  Behandlung. 


6oi 


uns  einbürgern,  sobald  einmal  brauchbare  Kräfte  zur  Verfügung 
stehen. 

Der  oberste  Grundsatz  in  der  psychischen  Behandlung  der 
Geisteskranken  ist  Offenheit  und  unbedingte  Wahrheits- 
liebe. Gerade  hier  wird  von  Laien  und  Ärzten  immer  wieder 
schwer  gefehlt.  Man  scheut  sich  in  ganz  unsinniger  und  ungerecht- 
fertigter Weise,  einem  Geisteskranken  zu  sagen,  daß  man  ihn  für 
krank  hält,  während  diese  Erkenntnis  doch  die  erste  Grundlage  für 
die  ganze  Behandlung  und  nicht  selten  für  den  Leidenden  selbst 
geradezu  eine  Erlösung  bedeutet.  Freilich  gibt  es  viele  Kranke,  die 
sich  für  völlig  gesund  halten,  aber  auch  hier  hat  das  unselige  Ver- 
steckspiel, das  so  häufig  mit  ihnen  getrieben  wird,  schlechterdings 
keinen  Nutzen,  da  die  Kranken  ja  doch  durch  die  Art,  wie  man  sie 
behandelt,  zu  der  Erkenntnis  kommen  müssen,  daß  man  bei  ihnen 
eine  geistige  Störung  vermutet.  Es  muß  unter  allen  Umständen  für 
verwerflich  erklärt  werden,  einen  Geisteskranken,  in  welcher  Ab- 
sicht immer,  zu  täuschen,  um  ihn  zu  irgendwelchen  notwendigen 
Maßregeln  zu  bewegen  (Einnehmen  von  Arzneien,  Verbringung  in 
die  Anstalt),  zu  denen  man  seine  Zustimmung  nicht  erreichen  zu 
können  glaubt.  Weit  besser  ist  es,  ihm  ruhig  und  freundlich,  aber 
fest  zu  erklären,  was  man  von  ihm  will  und  zu  welchem  Zwecke. 
Man  wird  dabei  fast  immer  sein  Ziel  schließlich  erreichen.  Im 
äußersten  Notfalle  greife  man  lieber  zur  Gewalt,  der  sich  besonnene 
Kranke  regelmäßig  fügen,  wenn  sie  keinen  anderen  Ausweg  sehen. 
Sie  werden  ein  derartiges  Vorgehen  stets  leichter  verzeihen  als  die 
List,  deren  unvermeidliche  Aufdeckung  sehr  gewöhnlich  ein  un- 
ausrottbares Mißtrauen  im  Gefolge  hat.  Ebenso  notwendig  ist  es, 
dem  Kranken  niemals  eine  Versprechung  zu  machen,  die  man  nicht 
zu  halten  gesonnen  oder  imstande  ist.  Andernfalls  verscherzt  man 
dauernd  sein  Vertrauen  und  verliert  damit  die  Grundlage  jeder 
weiteren  Behandlung. 

Den  Wahnideen  der  Kranken  gegenüber  wird  sich  der  Arzt  stets 
einfach  ablehnend  verhalten.  Er  wird  ihnen  weder  durch  schein- 
bares Zustimmen  neue  Nahrung  geben  noch  sie  in  langen  Aus- 
einandersetzungen ausführlich  bekämpfen,  noch  viel  weniger  aber 
etwa  sie  ins  Lächerliche  ziehen  und  dadurch  die  Kranken  erbittern. 
Damit  soll  ein  freundlich-scherzhaftes  Behandeln  oder  Ablehnen 
von  Wahnbildungen,  wie  es  bei  manchen  manischen  Kranken  an- 


602 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


gebracht  sein  kann,  nicht  ausgeschlossen  werden.  Der  Beantwortung 
in  gereiztem  Tone  gestellter,  herausfordernder  Fragen  weiche  man 
in  ruhiger  Weise  aus,  ohne  aber  dabei  den  ärztlichen  Standpunkt 
irgendwie  zu  verleugnen.  Ich  brauche  kaum  hinzuzufügen,  daß  der 
Grundsatz  unbedingter  Offenheit  durchaus  nicht  dahin  führen  darf, 
ohne  zwingenden  Anlaß  hartnäckig  jeder  krankhaften  Äußerung  zu 
widersprechen,  die  der  Kranke  etwa  fallen  läßt.  Vielfach,  namentlich 
bei  schwachsinnigen  (paralytischen)  oder  sehr  gereizten  Kranken, 
wird  man  sich  auf  die  gelegentliche  Feststellung  der  Krankhaftigkeit 
des  Zustandes  beschränken,  die  geäußerten  Wahnideen  übergehen, 
unbeachtet  lassen  und  nur  die  krankhaften  Handlungen  verhindern, 
soweit  sie  eine  Schädigung  des  eigenen  oder  des  Wohles  der  übrigen 
Kranken  in  sich  schließen. 

Auch  in  bezug  auf  diesen  letzteren  Punkt  wird  es  sich  in  der 
Hauptsache  darum  handeln,  nach  Möglichkeit  die  schlimmen  Wir- 
kungen derjenigen  Krankheitsäußerungen  abzuschwächen,  die  man 
durch  die  Behandlung  nicht  verhüten  kann.  Zu  diesem  Zwecke  ver- 
setzt man  den  Kranken  in  eine  Umgebung,  in  welcher  die  Gefahr 
des  Selbstmordes,  der  Selbstbeschädigung,  der  Gewalttätigkeit,  der 
Zerstörung,  Unreinlichkeit  usf.  durch  Überwachung  und  besondere 
Einrichtungen,  soweit  irgend  angängig,  eingeschränkt  ist.  In  der 
Abgeschlossenheit  einer  Wachabteilung  ist  der  Kranke  in  Wirklich- 
keit viel  freier  als  zu  Hause,  wo  jeder  seiner  Handlungen  wegen 
der  möglichen  schweren  Folgen  sogleich  Widerstand  entgegen- 
gesetzt werden  muß.  Abgesehen  von  der  Durchführung  unumgäng- 
licher ärztlicher  Maßnahmen  lasse  man  den  Kranken  recht  frei  ge- 
währen und  erbittere  ihn  nicht  durch  kleinliche  Bevormundung  oder 
häufige  Ermahnungen.  Nur  die  Rücksicht  auf  ernstere  Mißstände 
oder  Gefahren  wird  den  Arzt  veranlassen,  dem  Treiben  des  Kranken 
freundlich,  aber  mit  Entschiedenheit  entgegenzutreten.  Er  wird  dann, 
wenn  es  durchaus  sein  muß  und  alles  gütliche  Zureden  umsonst  ge- 
blieben ist,  auch  vor  der  Anwendung  der  Gewalt  nicht  zurück- 
schrecken, um  eine  als  notwendig  erkannte  Maßregel  durchzuführen. 
Natürlich  soll  auch  jetzt  so  schonend  wie  irgend  möglich  vor- 
gegangen und  jede  Anknüpfung  zu  gütlicher  Erreichung  des  Zieles 
benutzt  werden. 

Unter  keinen  Umständen  soll  irgendeine  vom  Arzte  angeordnete 
oder  durchgeführte  Maßregel  den  Anschein  der  Disziplinierung 


Psychische  Behandlung. 


603 


tragen.  Die  Versetzung  auf  eine  andere  Abteilung,  die  Entziehung 
des  Ausganges,  die  Absonderung  soll  durchaus  immer  nur  aus  rein 
ärztlichen  Gründen  geschehen,  um  drohendem  Unheil  zu  begegnen. 
Sobald  diese  Gründe  hinfällig  geworden  sind,  werden  auch  die  durch 
sie  bedingten  Anordnungen  fallen  müssen.  Gerade  darum  ist  es 
verwerflich,  die  Gewährung  kleiner  harmloser  Vergünstigungen,  die 
Verabreichung  von  Tabak  oder  besonderen  Verordnungen  aufge- 
regten Kranken  zu  entziehen  oder  gar  diese  mit  Einspritzungen, 
kalten  Bädern  und  Duschen  zu  behandeln,  um  sie  zu  geordneterem 
Benehmen  zu  veranlassen.  Solche  Erziehungsversuche  nützen  gar 
nichts,  erbittern  aber  die  Kranken  und  nähren  im  Personal  die  ohne- 
dies noch  allzu  fest  wurzelnde  Vorstellung,  daß  die  Kranken  schon 
artig  sein  könnten,  wenn  sie  nur  wollten. 

Bei  allen  mehr  oder  weniger  rasch  sich  abspielenden  Formen 
der  Geistesstörung  ist  die  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung 
wesentlich  eine  abwartende.  Überall  handelt  es  sich  hier  um  krank- 
hafte Erregungszustände  des  Gehirns,  die  vor  allen  Dingen  Ruhe 
und  immer  wieder  Ruhe  fordern.  Der  Arzt  hat  daher  in  erster 
Linie  für  die  möglichste  Fernhaltung  aller  äußeren  und  inneren 
Reize  zu  sorgen.  Dahin  gehören  namentlich  der  Verkehr  mit  den 
nächsten  Angehörigen,  die  lebhaften  Gefühlsbeziehungen,  die  aus 
der  täglichen  Umgebung,  dem  Berufe  der  Kranken,  aus  langen 
Unterredungen,  Vorhaltungen,  ja  oft  auch  aus  wohlgemeinten  Trost- 
worten entspringen.  Darum  werden  in  der  ersten  Zeit  der  Krankheit, 
solange  lebhafte  gemütliche  Erregbarkeit  besteht,  die  Besuche  mehr 
oder  weniger  streng  einzuschränken  sein,  während  sie  späterhin 
sehr  wertvoll  sein  können,  um  das  Band  zu  den  früheren  Lebens- 
beziehungen wieder  anzuknüpfen.  Auf  jede  eigentliche  Tätigkeit 
muß  verzichtet  werden,  da  das  erkrankte  Gehirn  zu  seiner  Genesung 
durchaus  der  sorgfältigsten  Schonung  bedarf.  Vielfach  erfüllt  sich 
diese  Vorschrift  ganz  von  selbst,  weil  der  Kranke  zu  jeder  geord- 
neten oder  andauernden  Beschäftigung  unfähig  ist.  Bei  manischen 
und  erregten  paralytischen  Kranken,  bei  denen  man  die  Äußerungen 
des  Betätigungsdranges  nicht  abschneiden  kann,  hat  man  wenigstens 
dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  alle  jene  Reibungen  und  Kämpfe  weg- 
fallen, die  mit  der  Berufstätigkeit  unzertrennlich  verbunden  sind. 

Ferner  versteht  es  sich  ganz  von  selbst,  daß  alle  aufregenden 
Auseinandersetzungen  und  Mitteilungen  in  dieser  Zeit  vollständig 


6o4 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


vermieden  werden  müssen.  Auch  ohne  daß  man  den  Kranken  ge- 
radezu täuscht,  wird  es  fast  immer  mögUch  sein,  ihn  vor  allen  Nach- 
richten zu  bewahren,  die  voraussichtlich  eine  stärkere  Erschütte- 
rung seines  gemütlichen  Gleichgewichtes  herbeiführen  könnten. 
Man  wartet  mit  solchen  unliebsamen  Eröffnungen  bis  zum  Eintritte 
der  Beruhigung,  um  auch  dann  den  Boden  vorher  sorgfältig  und 
schonend  vorzubereiten.  Nur  dann,  wenn  dringende  Gefahr  besteht, 
daß  dem  Kranken  eine  schmerzliche  Nachricht  auf  keine  Weise  vor- 
enthalten werden  kann,  ist  es  natürlich  angezeigt,  sie  ihm  recht- 
zeitig in  der  richtigen  Form  zu  überbringen,  um  einer  unvorher- 
gesehenen Entdeckung  durch  einen  unglücklichen  Zufall  vorzu- 
beugen. Nicht  selten  wird  man  dabei  die  überraschende  Beobachtung 
machen,  daß  der  Kranke,  solange  er  noch  durch  seine  eigenen  Zu- 
stände stark  in  Anspruch  genommen  ist,  selbst  sehr  aufregende 
Nachrichten  verhältnismäßig  gleichmütig  hinnimmt;  erst  in  der 
Genesung  tritt  dann  die  Gemütsbewegung  stärker  hervor. 

Völlig  unmöglich  ist  es,  woran  man  zunächst  denken  könnte, 
den  krankhaften  Gefühlen  und  Vorstellungen  auf  demselben  Wege 
beizukommen,  auf  dem  man  die  Verstimmungen  und  Irrtümer  der 
Gesunden  bekämpft.  Die  ältere  Psychiatrie,  die  das  Irresein  wesent- 
lich als  psychische  Verirrung  auffaßte,  hat  diesen  Weg  vielfach 
eingeschlagen.  Traurige  Verstimmungen  suchte  man  durch  an- 
genehme Eindrücke,  sanfte  Musik  (König  Saul),  Vorführung  an- 
mutiger Tänze,  Versetzung  in  schöne  Gärten  zu  heben.  Die  Zorn- 
mütigkeit sollte  durch  rücksichtslose  Überwältigung,  Stockschläge, 
scharfe  Zucht,  Erweckung  von  Furcht  und  Grauen  bekämpft  werden. 
Der  verwirrte  oder  benommene  Kranke  sollte  durch  starke  Sinnes- 
eindrücke, durch  „erschütternde  Stöße  auf  seine  Phantasie  gleich- 
sam aus  seinem  Taumel  geweckt  werden".  „Man  ziehe  ihn  mit 
einem  Flaschenzug  an  ein  hohes  Gewölbe  auf,"  sagt  Reil,  „daß 
er  wie  Absalom  zwischen  Himmel  und  Erde  schwebt,  löse  Kanonen 
neben  ihm,  nahe  sich  ihm,  unter  erschreckenden  Anstalten,  mit 
glühenden  Eisen,  stürze  ihn  in  reißende  Ströme,  gebe  ihn  scheinbar 
wilden  Tieren,  den  Neckereien  der  Popanze  und  Unholde  preis, 
oder  lasse  ihn  auf  feuerspeienden  Drachen  durch  die  Lüfte  segeln. 
Bald  kann  eine  unterirdische  Gruft,  die  alles  Schreckende  enthält, 
was  je  das  Reich  des  Höllengottes  sah,  bald  ein  magischer  Tempel 
angezeigt  sein,  in  welchem  unter  einer  feierlichen  Musik  die  Zauber- 


Psychische  Behandlung. 


605 


kraft  einer  reizenden  Hulda  eine  prachtvolle  Erscheinung  nach 
der  andern  aus  dem  Nichts  hervorruft."  Durch  Versetzung  in  alle 
möglichen  Gefahren,  die  seine  Aufmerksamkeit  anstacheln  und  ihn 
zur  Aufbietung  aller  seiner  Kräfte  zwingen,  sollte  der  Kranke  dazu 
erzogen  werden,  seine  Gedanken  wieder  der  Außenwelt  zuzuwenden 
und  seinen  Willen  zu  kräftigen. 

Wir  wissen  heute,  daß  alle  diese  Bestrebungen,  durch  die  er- 
staunliche Heilungen  erzielt  wurden,  aus  einer  kindlichen  Ver- 
kennung des  Wesens  der  Geistesstörungen  hervorgingen.  Der 
Traurige,  den  man  auf  Bällen  und  Konzerten,  auf  Reisen  oder  in 
lustiger  Gesellschaft  aufzuheitern  versucht,  wird  nur  desto  schmerz- 
licher und  peinvoller  von  allen  äußeren  Eindrücken  berührt;  die 
Mißhandlung  der  Erregten  steigert  ihre  Reizbarkeit  und  macht 
sie  schließlich  zu  vertierten  Schreckgestalten.  Das  Gehirn  des 
verwirrten  Kranken  bedarf  vor  allem  der  Ruhe,  um  wieder  zur 
Klarheit  zu  gelangen,  und  die  Kräfte  des  Willenlosen  können  nur 
durch  planmäßige  Beschäftigung  geübt  werden.  Die  Bemühungen 
endlich,  aufsteigende  Wahnideen  durch  Vernunftgründe  zu  wider- 
legen, bleiben  ohnmächtig  gegenüber  der  Gewalt  der  inneren  Vor- 
gänge, aus  denen  jene  letzteren  sich  immer  von  neuem  erzeugen. 
Versetzung  des  Kranken  in  eine  fremde,  ihm  gleichgültige  und 
darum  reizlose,  ruhige  Umgebung,  in  der  man  ihm  Verständnis 
ohne  Neugier,  Wohlwollen  ohne  Aufdringlichkeit  entgegenbringt, 
ist  daher  das  erste  Erfordernis  für  die  Besserung  seines  Zustandes. 

Auch  im  weiteren  Verlaufe  ist  ein  entscheidender  Einfluß  der 
psychischen  Behandlung  auf  den  Verlauf  der  Krankheit  meist  nicht 
erkennbar.  Dennoch  steht  es  fest,  daß  freundlicher,  verständiger 
Zuspruch  das  Herz  des  Ängstlichen  und  Niedergeschlagenen  er- 
leichtern, geduldiges,  gleichmäßiges  Entgegenkommen  den  Ge- 
reizten und  Erregten  beruhigen  kann,  wenn  auch  immer  nur  vorüber- 
gehend, ohne  Nachhaltigkeit.  Auch  die  planmäßige  Nichtbeachtung 
gewisser  aufdringlicher  Krankheitserscheinungen,  das  Vermeiden 
erregender  Aussprachen,  die  Ablenkung  des  Gedankenganges  auf 
gleichgültige  Gebiete  können  Behandlungsverfahren  sein.  Vielleicht 
sind  alle  diese  kleinen  täglichen  Bemühungen,  die  psychischen 
Spannungen  auszugleichen,  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ge- 
eignet, den  natürlichen  Heilungsvorgang  zu  unterstützen.  Wir 
dürfen  das  wenigstens  schließen  aus  der  Erfahrung,  daß  verkehrte 


6o6 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


psychische  Behandlung,  wie  sie  bisweilen  durch  Angehörige,  schlech- 
tes Personal  oder  andere  Kranke  geübt  wird,  ohne  jeden  Zweifel 
die  Krankheitszustände  nachhaltig  verschlimmern  kann,  Geduld, 
liebevolles  Eingehen  auf  die  einzelne  Persönlichkeit,  Nachgiebigkeit 
ohne  Schwäche  auf  der  einen,  gleichmäßige  Festigkeit  ohne  Starr- 
heit auf  der  anderen  Seite  müssen  die  leitenden  Gesichtspunkte  für 
die  ärztliche  Tätigkeit  abgeben. 

Erst  mit  dem  Beginne  einer  deutlichen  Beruhigung  des  Kranken 
erfährt  die  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung  eine  gewisse  Ände- 
rung. Solange  seine  Aufmerksamkeit  zwangsweise  durch  die  Stö- 
rung selbst  in  Anspruch  genommen  wird  und  nur  für  krankhafte 
Gefühle  und  Vorstellungen  im  Bewußtsein  Raum  gegeben  ist,  pflegt 
er  für  die  Vorgänge  der  Außenwelt  meist  wenig  Sinn  zu  haben. 
Obgleich  er,  der  früher  vielleicht  keine  Stunde  müßig  sein  konnte, 
nun  Wochen-  und  monatelang  die  Hände  in  den  Schoß  legt  oder 
sich  in  zwecklosem  Bewegungsdrange  erschöpft,  empfindet  er  doch 
keine  Langeweile,  da  ihm  mit  der  Fähigkeit  auch  der  Antrieb  zu 
nützlicher  Tätigkeit  verloren  gegangen  ist.  Jeder  Versuch,  ihn  durch 
äußere  Einwirkungen  aus  diesem  Zustande  herauszureißen,  bleibt 
in  der  Regel  ergebnislos  und  kann  sogar  durch  die  Erregung,  in 
die  er  den  Kranken  versetzt,  geradezu  schädlich  wirken.  All- 
mählich indessen  tauchen  auch  die  früheren,  gesunden  Gefühle 
und  Gedankenkreise  wieder  hervor,  und  es  gilt  daher,  ihnen  die 
Aufmerksamkeit  des  Kranken  mehr  und  mehr  zuzuwenden.  Je 
nach  seiner  Persönlichkeit  gestalten  sich  dabei  die  Hilfsmittel 
und  die  Richtung  der  Heilbestrebungen  natürlich  äußerst  ver- 
verschieden. 

Vor  allem  handelt  es  sich  um  die  Auswahl  einer  passenden, 
wohl  anregenden,  aber  nicht  anstrengenden  Beschäftigung^),  da 
sie  am  meisten  geeignet  ist,  die  Gedanken  des  Kranken  von  den 
Zuständen  des  eigenen  Innern  abzuziehen  und  in  ihm  die  Teilnahme 
an  der  Außenwelt,  an  der  gewohnten  Tätigkeit  wieder  zu  erwecken. 
Unterhaltender  Lesestoff,  die  Lösung  leichter  geistiger  Aufgaben, 
Spiele  aller  Art,  Musikübungen,  andererseits  körperliche  Arbeit,  die 
sich  den  früheren  Beschäftigungen  möglichst  anpaßt.  Handwerkerei, 
Garten-  und  Feldarbeit,  Leibesübungen,  bei  Weibern  Nähen,  Waschen. 


^)  Starlinger,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1907,  53. 


Psychische  Behandlung. 


607 


Kochen  u.  dgl.  in  mannigfachster  Abwechslung,  dienen  in  gleicher 
Weise  der  Erfüllung  des  Behandlungszweckes.  Damit  können  sich 
weiterhin  Zerstreuungen ,  Besuche ,  Spaziergänge ,  gelegentliche 
kleine  Festlichkeiten  in  vorteilhafter  Weise  verbinden,  während 
geräuschvolle  Vergnügungen,  Bälle,  große  Theateraufführungen  nach 
meiner  Erfahrung  weit  mehr  Schaden  als  Nutzen  stiften  und  zu  dem 
Wesen  eines  Krankenhauses  herzlich  schlecht  passen. 

Eine  besonders  hervorragende  Rolle  spielt  die  Anleitung  zu  einer 
passenden  Beschäftigung  bei  den  Endzuständen  ungeheilter  Geistes- 
störungen. Wenn  der  eigentliche  Krankheitsvorgang  einigermaßen 
zum  Stillstande  gekommen  und  eine  gewisse  Beruhigung  eingetreten 
ist,  finden  wir  in  der  geregelten  Tätigkeit  das  Mittel,  die  gesunden 
Vorstellungskreise  und  Strebungen  wieder  anzuregen.  Namentlich  in 
abgelaufenen  Fällen  von  Dementia  praecox,  wie  sie  unsere  Anstalten 
füllen,  liegt  bei  dem  Verluste  der  Willensregsamkeit  die  Gefahr  des 
geistigen  Versinkens  ungemein  nahe.  Ihr  wirkt  die  Heranziehung 
zu  den  früher  gewohnten  Beschäftigungen  erfolgreich  entgegen;  sie 
erweckt  in  den  anscheinend  völlig  stumpfen  und  unfähigen  Kranken 
oft  noch  eine  überraschende  Menge  von  Fertigkeiten,  deren  Übung 
und  Pflege  wenigstens  einen  bescheidenen  Rest  von  Selbständigkeit 
und  geistigem  Leben  zu  retten  ermöglicht. 

Gilt  es  hier,  die  fehlende  Tatkraft  durch  äußere  Anregung  zu 
ersetzen,  so  haben  wir  andererseits  bei  vielen  Psychopathen  1)  das 
mangelnde  Selbstvertrauen,  das  krankhafte  Gefühl  der  Unfähigkeit 
und  Schonungsbedürftigkeit  durch  die  Anleitung  zur  Arbeit  zu  be- 
kämpfen. Während  das  Nichtstun  und  Erholen  diese  Zustände  ent- 
schieden verschlechtert,  räumt  die  planmäßige  Erziehung  zur  Arbeit 
und  die  Übung  nach  und  nach  die  Hindernisse  aus  dem  Wege, 
weckt  die  natürliche  Freude  am  Schaffen  und  hebt  das  Gefühl  der 
eigenen  Leistungsfähigkeit.  Von  größtem  Werte  für  alle  diese 
willensschwachen  und  ängstlichen  Persönlichkeiten  ist  das  gemein- 
same Betreiben  von  sportlichen  Übungen.  Der  Anreiz,  der  im  Wett- 
bewerbe liegt,  spornt  zur  Erreichung  von  Höchstleistungen  an  und 
bewirkt  dadurch  eine  Erziehung  und  Kräftigung  des  Willens,  wäh- 
rend die  erzielten  Fortschritte  und  Erfolge  das  Selbstvertrauen  kräf- 
tigen und  die  ängstlichen  Hemmungen  verscheuchen.  Ähnliches 

1)  Gr  oh  mann.  Technisches  und  Psychologisches  in  der  Beschäftigung  von 
Nervenkranken.  1899. 


6o8 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


trifft  für  die  traumatische  Neurose  zu,  deren  vernichtender  Einfluß 
auf  die  Arbeitsfreudigkeit  und  Arbeitsfähigkeit  ledigHch  durch  die 
Arbeit  selbst  bekämpft  werden  kann. 

Günstige  Erfolge  sieht  man  nach  Ablauf  der  schwereren  Krank- 
heitserscheinungen nicht  selten  von  einem  völligen  Wechsel  der 
Umgebung.  So  entstehen  die  neuerdings  von  Ricklin  besonders 
untersuchten  „Versetzungsbesserungen".  Namentlich  Kranke  mit 
Dementia  praecox  sind  solchen  Einflüssen  zugänglich.  Wenn  wir 
sie  schon  bei  Besuchen  öfters  ein  völlig  verändertes  Benehmen 
zeigen  sehen,  so  kann  die  Versetzung  in  eine  andere  Abteilung, 
das  Hinausbringen  in  den  Garten,  die  Heranziehung  zur  Arbeit 
ähnliche  Wirkungen  haben.  Auch  die  Übersiedelung  aus  einer  An- 
stalt in  eine  andere  bildet  öfters  einen  Wendepunkt,  um  so  mehr, 
wenn  die  neuen  Verhältnisse  günstigere  sind.  Wiederholt  habe  ich 
es  ferner  erlebt,  daß  Kranke,  deren  häusliche  Verpflegung  mir  gänz- 
lich unmöglich  schien,  in  ihrer  Familie  sich  sofort  der  gewohnten 
Tätigkeit  zuwandten  und  keine  Spur  der  bis  dahin  bestehenden 
schweren  Krankheitserscheinungen,  Stummheit,  Nahrungsverweige- 
rung, Unreinlichkeit,  mehr  darboten.  Freilich  waren  sie  darum 
nicht  gesund. 

Seit  alter  Zeit  hat  man  immer  wieder  den  Versuch  gemacht, 
das  Zurücktreten  der  psychischen  Störungen  durch  besondere,  gegen 
sie  gerichtete  Maßregeln  zu  erzwingen.  So  werden  uns  aus  der 
Jugend  der  Psychiatrie  zahlreiche  Versuche  berichtet,  durch  scharf- 
sinnige Überredungskünste  und  Überrumpelungen  der  Kranken  ihre 
Wahnvorstellungen  zu  beseitigen.  Dem  Kranken,  der  gläserne  Beine 
zu  haben  glaubte,  warf  man  ein  Stück  Holz  an  die  Füße;  dem- 
jenigen, der  Schlangen  und  Kröten  im  Leibe  hatte,  gab  man  ein 
Brechmittel,  um  in  das  Erbrochene  jene  Tiere  hineinzubringen ;  dem, 
der  ein  Kaninchen  im  Kopfe  fühlte,  machte  man  einen  Kreuz- 
schnitt und  zeigte  ihm  dann  das  herausgenommene  blutige  Tier. 
„Einem  Verrückten  ohne  Kopf  setzte  man  einen  Hut  von  Blei 
auf;  einem  anderen,  der  immer  zu  frieren  glaubte,  wurde  ein  Schaf- 
pelz angezogen,  der  in  Branntwein  eingetaucht  und  angezündet 
wurde."  Kranken  mit  Verfolgungsideen  spielte  man  eine  Zeitung  mit 
der  Todesanzeige  ihrer  Verfolger  in  die  Hände  oder  eine  hohe  obrig- 
keitliche Verfügung,  die  jenen  ihr  Treiben  untersagte.  Vom  Teufel 
Besessene  wurden  mit  Weihwasser  besprengt.  Kranke  mit  Ver- 


Psychische  Behandlung. 


609 


sündigungsideen  feierlich  losgesprochen.  Frauen,  die  schwanger  zu 
sein  meinten,  half  man  durch  eine  Scheinentbindung  mit  untergescho- 
benem Kinde,  ja,  man  glaubte  auch  den  Größenwahn  dadurch  heilen 
zu  können,  daß  man  dem  Kranken,  soweit  es  möglich  war,  wirk- 
lich das  verschaffte,  was  er  zu  haben  glaubte,  also  z,  B.  einem 
Geistlichen  den  Kardinalstitel.  Es  ist  indessen  klar,  daß  alle  diese 
Künste  nichts  helfen  können,  da  sie  die  Störung  nicht  beseitigen, 
aus  der  die  Wahnbildung  hervorgeht.  Selbst  die  Berufung  auf  den 
Augenschein  ist  machtlos,  wo  die  Fähigkeit  zu  gesunder  Beurteilung 
der  Dinge  verloren  gegangen  ist.  Die  Wahnvorstellung  bleibt  un- 
erschüttert, oder  sie  wird  durch  eine  andere  ersetzt.  Ganz  Ähnliches 
gilt  von  dem  Leuretschen  „Intimidations-System",  welches  einst- 
mals jede  krankhafte  Äußerung  durch  die  Dusche  und  kalte  Über- 
gießungen zu  unterdrücken  und  so  das  Irresein  zu  heilen  suchte. 
So  pflegte  Gudden  von  einem  Kranken  Jacobis  zu  erzählen,  der 
sich  für  Gott  hielt  und  durch  planmäßige  Einschüchterung  zur  Ab- 
leugnung dieses  Wahnes  gebracht  worden  war.  Als  er  ,, geheilt" 
die  ersten  Schritte  aus  der  Anstalt  getan  hatte,  drehte  er  sich  um 
und  bedrohte  alle  seine  Peiniger  mit  den  furchtbarsten  Strafen, 
die  auf  seinen,  Gottes,  Wink  unfehlbar  hereinbrechen  würden. 

Ein  überaus  verführerischer  Ausblick  schien  sich  in  neuerer 
Zeit  der  psychischen  Behandlung  des  Irreseins  durch  die  staunen- 
erregenden Tatsachen  der  suggestiven  Beeinflussung  in  der  Hyp- 
nose^) eröffnen  zu  wollen.  Wenn  es  auf  dem  angedeuteten  Wege 
gelingt,  über  die  Wahrnehmungen,  die  Gedanken,  den  Willen  eines 
Menschen  nicht  nur  für  den  Augenblick,  sondern  auch  für  längere 
Zeit  und  sogar  ohne  sein  Wissen  eine  fast  unumschränkte  Herr- 
schaft zu  erlangen,  so  muß  ein  solches  Verfahren  gerade  für  den 
Irrenarzt,  dem  die  Beseitigung  krankhafter  Erscheinungen  auf  allen 
jenen  Gebieten  anheimfällt,  von  kaum  hoch  genug  zu  schätzen- 
dem Werte  sein.  Leider  hat  die  Erfahrung  diese  Erwartung  bisher 
nur  in  geringem  Maße  gerechtfertigt.  So  leicht  es  gewöhnlich  ge- 

1)  Wetterstrand,  Der  Hypnotismus  und  seine  Anwendung  in  der  praktischen 
Med  izin.  189IJ  Bernheim,  Neue  Studien  über  Hypnotismus,  Suggestion  und 
Psychotherapie,  deutsch  von  Freud.  1893;  Hecker,  Hypnose  und  Suggestion  im 
Dienste  der  Heilkunde.  1893;  Lloyd  Tuckey,  Psychotherapie  oder  Behandlung 
mittels  Hypnotismus  und  Suggestion,  5.  Aufl.  1907;  deutsch  von  Tatzel.  189S; 
Löwenfeld,  Der  Hypnotismus.  1901;  v.  Voss,  Der  Hypnotismus,  sein  Wesen, 
seine  Handhabung  und  Bedeutung  für  den  praktischen  Arzt.  1907. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  39 


6io 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


lingt,  geistig  gesunde  Menschen  dem  Einflüsse  der  Hypnose  zu 
unterwerfen  und  sie  dabei  von  allem  möglichem  Schmerz  und  Un- 
behagen zu  befreien,  so  wenig  zugänglich  erweisen  sich  zumeist 
Geisteskranke  für  jenes  Heilmittel.  Die  Macht  der  Suggestion  ist 
hier,  wahrscheinlich  wegen  der  häufigen  Aufmerksamkeitsstörungen 
und  lebhaften  Eigensuggestionen,  eine  weit  geringere  als  unter 
gewöhnlichen  Verhältnissen.  Aus  diesem  Grunde  fällt  es  nicht  nur 
im  allgemeinen  schwerer,  Geisteskranke  zu  hypnotisieren,  sondern 
der  Einfluß  des  Arztes  wird  auch  fast  niemals  ein  so  wirksamer 
und  namentHch  nachhaltiger.  So  ist  es  z.  B.  nicht  möglich,  in 
der  Hypnose  etwa  eingewurzelte  Wahnideen  auszureden,  die  wir  ja 
gewissermaßen  als  dauernde  Eigensuggestionen  auffassen  können. 
Dagegen  scheinen  Sinnestäuschungen,  Appetit-  und  Schlafstörungen, 
Schmerzen,  vor  allem  aber  Angstzustände  der  hypnotischen  Be- 
handlung bis  zu  einem  gewissen  Grade  zugänglich  zu  sein.  Ebenso 
vermag  sie  bei  der  Befreiung  von  Alkohol  und  Morphium  öfters 
gute  Dienste  zu  leisten. 

Am  nächsten  liegt  es  natürHch,  die  Suggestionen  bei  jenen 
Formen  des  Irreseins  in  Anwendung  zu  bringen,  bei  welchen  er- 
fahrungsgemäß psychische  Wirkungen  ohnedies  eine  herrschende 
Rolle  im  Krankheitsbilde  spielen,  bei  der  Hysterie  und  der  Nervo- 
sität. Ohne  Zweifel  ist  es  hier  möglich,  gelegentlich  überraschende 
Erfolge  zu  erzielen,  wie  schon  die  Paradefälle  der  ,,Heilmagneti- 
seure"  lehren,  doch  sind  hindernde  Eigensuggestionen  sehr  häufig, 
und  es  besteht  immerhin  die  Gefahr  der  Entwicklung  autohypno- 
tischer Zustände,  wenn  sie  auch  durch  großes  Geschick  des  Arztes 
und  geeignete  Handhabung  des  Verfahrens  meiner  Überzeugung  nach 
völlig  vermieden  werden  kann.  Auch  bei  der  traumatischen  Neurose 
sind  die  Erfolge  der  hypnotischen  Behandlung  weniger  glänzend, 
als  man  vielleicht  hätte  hoffen  dürfen.  Dagegen  ist  die  sogenannte 
monosymptomatische  Hysterie,  der  ich  auch  aus  diesem  Grunde 
eine  Sonderstellung  einräumen  möchte,  dem  heilenden  Einflüsse 
der  Suggestivbehandlung  in  sehr  erfreulicher  Weise  zugänglich.  Das 
gleiche  gilt  von  der  ihr  offenbar  klinisch  sehr  nahe  stehenden  Er- 
wartungsneurose, bei  der  sich  die  mannigfachsten  körperlichen 
Störungen,  in  denen  die  ängstliche  Spannung  der  Kranken  zutage 
tritt,  unter  dem  Einflüsse  der  hypnotischen  Beruhigung  oft  mit 
verblüffender  Schnelligkeit  bessern.   Bei  den  übrigen  Formen  des 


Psychische  Behandlung. 


6ll 


Entartungsirreseins,  namentlich  bei  den  Zwangsbefürchtungen,  sind 
wohl  oft  vorübergehende,  aber  nur  hie  und  da  und  nur  bei  größter 
Geduld  und  Sachkenntnis  dauernde  Erfolge  zu  erzielen.  Endlich 
ist  auch  die  früher  für  unheilbar  geltende  konträre  Sexualempfin- 
dung nicht  ohne  Nutzen  auf  diese  Weise  behandelt  worden. 

Wenn  nach  diesen  Erwägungen  der  Wirkungsbereich  der  hyp- 
notischen Beeinflussung  bei  Geisteskranken  heute  auch  ein  weit 
beschränkterer  genannt  werden  muß,  als  zunächst  erwartet  werden 
konnte,  so  liegt  in  dem  bisher  Erreichten  doch  die  dringende  Mah- 
nung für  den  Irrenarzt,  sich  mit  der  Anwendung  dieses  Heilver- 
fahrens auf  das  eingehendste  vertraut  zu  machen,  sei  es  auch  nur, 
um  nicht  durch  unsachgemäßes  Vorgehen  Schaden  anzurichten. 
Die  zweckmäßigste  und  anscheinend  ungefährlichste  der  bisher 
bekannten  Anwendungsformen  des  Hypnotismus  ist  ohne  Zweifel 
diejenige  der  mündlichen  Suggestion,  wie  sie  von  Bernheim 
und  seinen  Schülern  geübt  wird.  Von  einer  eingehenderen  Be- 
schreibung derselben  muß  hier  unter  Hinweis  auf  die  angeführten 
Werke  abgesehen  werden,  vor  allem  auch  deswegen,  weil  das  ganze 
Verfahren  nicht  unbedeutende  Anforderungen  an  die  persönliche 
Gewandtheit  und  Geistesgegenwart  des  Arztes  stellt  und  im  ein- 
zelnen nur  durch  die  Anschauung  erlernt  werden  kann. 

Ein  weiteres  eigenartiges  Verfahren  der  psychischen  Behandlung 
ist  in  neuester  Zeit  von  Breuer  und  Freud^)  ausgearbeitet  worden. 
Es  geht  von  der  Anschauung  aus,  daß  gewisse  psychogene  Er- 
krankungen, namentlich  die  Hysterie,  durch  die  Verdrängung  un- 
angenehmer geschlechtlicher  Erlebnisse  der  frühesten  Kindheit  aus 
dem  Erinnerungsschatze  entstehen.  Die  Aufgabe  des  Arztes  wäre  es 
demnach,  solche  Vorgänge  aufzudecken  und  sie  zum  klaren  Be- 
wußtsein zu  bringen.  Dadurch  sollen  sie  ihre  unheilvolle  Wirkung 
auf  das  Seelenleben  verlieren,  die  sich  sonst  in  mannigfachen  Krank- 
heitserscheinungen, insbesondere  auch  in  Zwangsvorstellungen, 
äußert.  Die  Lösung  dieser  Aufgabe  erfolgte  ursprünglich  im  hyp- 
notischen Zustande,  der  es  gestattete,  allerlei  Erinnerungen  zu 
wecken,  die  dem  wachen  Bewußtsein  nicht  zugänglich  waren. 
War  dann  die  vermeintliche  Ursache  der  vorliegenden  Störungen 
in  einem  geschlechtlichen  Kindheitserlebnisse  gefunden  und  ans  Licht 

1)  Freud,  Sammlung  kleiner  Schriften  zur  Neurosenlehre.  1906;  Bezzola, 
Journ.  f.  Psychol.  u.  Neurol.,  VIII,  204. 

39* 


6l2 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


gebracht,  so  war  damit  die  reinigende,  „kathartische"  Wirkung  der 
Behandlung  erreicht  und  die  wühlende  Kraft  der  unbewußten  Er- 
innerung gebrochen. 

Freud  verzichtete  späterhin  auf  die  Hypnose  und  wandelte  das 
Verfahren  in  dasjenige  der  „Psychoanalyse"  um.  Soweit  sich  aus 
den  bisher  vorliegenden  Schilderungen  entnehmen  läßt,  handelt 
es  sich  dabei  um  den  Versuch,  einen  Einblick  in  die  Wirkung 
unbewußter  oder  unterbewußter  Vorgänge  auf  das  Seelenleben 
aus  den  unwillkürlich  auftauchenden  Vorstellungen  zu  gewinnen. 
Die  Kranken  werden  in  Ruhelage  und  unter  Fernhaltung  aller 
äußeren  Störungen  angewiesen,  alles  mitzuteilen,  was  ihnen  in 
den  Sinn  kommt,  während  der  Arzt  auf  immer  neue  Enthül- 
lungen dränge^  Zugleich  werden  auch  die  Träume  des  Kranken, 
seine  unbeabsichtigten,  scheinbar  planlosen  Handlungen,  Ver- 
sprechen oder  Vergreifen,  genau  beachtet,  weil  sich  hier  überall 
die  Wirkungen  des  „verdrängten"  Vorganges  zeigen  können.  Er- 
fahrungsgemäß leistet  der  Kranke,  der  übrigens  einen  gewissen 
Bildungsgrad  und  einen  einigermaßen  verlässigen  Charakter  besitzen 
muß,  auch  nicht  zu  alt  (nicht  über  50  Jahre)  sein  darf,  der  Auf- 
deckung gerade  der  verdrängten  Erinnerung  einen  bisweilen  sehr 
zähen  Widerstand,  so  daß  die  Behandlung  meist  recht  langwierig 
wird  und  sich  über  Jahr  und  Tag  erstrecken  kann.  Wird  endlich 
der  Widerstand  unter  lebhaften  Unlustgefühlen  überwunden,  so 
wird  der  „eingeklemmte  Affekt"  frei  und  verliert  damit  seine 
krankmachende  Wirkung.  Um  aber  bis  zu  diesem  Punkte,  oft  auf 
sehr  verschlungenen  Pfaden,  zu  gelangen,  bedarf  es  einer  beson- 
deren „Deutungskunst",  die  es  versteht,  die  wahre,  hinter  Sinn- 
bildern versteckte  Bedeutung  der  von  dem  Kranken  gelieferten 
Gedankengänge  und  Handlungen  herauszufinden.  Was  bisher  von 
dieser  „Deutungskunst"  bekannt  geworden  ist,  läßt  es  völlig  be- 
greiflich erscheinen,  daß  die  „Psychoanalyse"  niemals  Gemeingut 
werden  kann;  sie  ist  offenbar  mehr  Kunst,  als  Wissenschaft.  Ihren 
Stoff  bilden  unbeweisbare  Gedankenspielereien,  die  sich  um  einen 
ganz  kleinen  Kern  wirklich  unzweideutiger  Beobachtungen  grup- 
pieren. Wenn  sie  Erfolge  hat,  was  bei  der  Eindringlichkeit  des  Ver- 
fahrens und  der  Art  der  behandelten  Zustände  nicht  zu  bezweifeln 
ist,  so  dürften  sie  sicherlich  nicht  auf  dem  ,, Abreagieren"  einge- 
klemmter Affekte,  sondern  auf  der  Wirkung  der  ärztlichen  Per- 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


613 


sönlichkeit  und  der  von  ihr  ausgehenden  Suggestionen  beruhen. 
Ob  jedoch  das  planmäßig  fortgesetzte,  unablässige  Drängen  nach 
peinlichen  geschlechtlichen  Enthüllungen  wirklich  immer  so  un- 
schädlich ist,  wie  Freud  es  darstellt,  darf  bis  auf  weiteres  billig 
bezweifelt  werden. 

D.  Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 

Ein  Rückblick  auf  die  ganze  Reihe  der  Behandlungsmittel  so 
verschiedener  Art,  die  dem  Irrenarzte  zu  Gebote  stehen,  läßt  leicht 
erkennen,  daß  seine  Tätigkeit  sich  im  wesentlichen  gegen  die 
Krankheitszeichen  richtet,  wie  das  ja  bei  der  ungenügenden  Aus- 
bildung unserer  Ursachenlehre  und  den  Schwierigkeiten,  die  Ur- 
sachen, selbst  wo  wir  sie  kennen,  zu  beseitigen,  kaum  anders  er- 
wartet werden  darf.  Nur  in  den  wenigen  Fällen,  in  denen  als  Ent- 
stehungsbedingungen des  Irreseins  fieberhafte  Krankheiten,  Ver- 
giftungen, Neuralgien,  Magen-  und  Darmleiden,  Erkrankungen  der 
Nieren  oder  Geschlechtswerkzeuge,  der  Schilddrüse,  Syphilis  usw. 
gegeben  sind,  kann  unter  Umständen  von  einer  wirklich  ursäch- 
lichen Behandlung  die  Rede  sein,  auf  deren  Einzelheiten  wir  hier 
natürlich  nicht  einzugehen  haben.  Dagegen  ist  es  von  Wichtigkeit, 
noch  die  -Behandlung  gewisser  besonderer,  bei  verschiedenen  Formen 
des  Irreseins  wiederkehrender  Krankheitserscheinungen  einer 
kurzen  Besprechung  zu  unterziehen. 

Zunächst  haben  wir  der  psychischen  Erregung^)  zu  ge- 
denken, deren  nachdrückliche  Behandlung  namentlich  dann  not- 
wendig wird,  wenn  sie  eine  Erschöpfung  des  Kranken  herbeizu- 
führen droht.  Von  größter  Wichtigkeit  ist  es,  erregte  Kranke  so 
rasch  wie  möglich  von  anderen  abzutrennen,  da  die  Unruhe  an- 
steckend wirkt.  Man  bringt  daher  den  Kranken  am  besten  in  ein 
Nebenzimmer  und  versucht  hier,  die  dauernde  Bettruhe  unter  fort- 
gesetzter Überwachung  durchzuführen.  Erweist  sich  das  als  un- 
möglich, so  wird  man  bei  den  meisten  Kranken  durch  die  An- 
wendung warmer  Dauerbäder  ohne  weiteres  zum  Ziele  kommen, 
namentlich,  wenn  man  im  Anfange  die  Durchführung  dieser  Maß- 
regel durch  Arzneimittel  (Trional,  Veronal,  Hyoscin)  unterstützt. 

1)  Gross,  AUgem,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVI,  953,  1899;  Pf  ist  er,  Die  An- 
wendung von  Beruhigungsmitteln  bei  Geisteskranken.  1903. 


6i4 


V,  Behandlung  des  Irreseins. 


Stößt  die  Badebehandlung  auf  Schwierigkeiten,  was  namentlich 
bei  katatonischen  Erregungszuständen  vorkommt,  so  schreitet  man, 
unter  Umständen  ebenfalls  unter  Mitwirkung  einer  Arzneigabe,  zu 
feuchtwarmen  Wicklungen,  an  die  sich  der  Kranke  regelmäßig 
sehr  rasch  gewöhnt,  auch  wenn  er  sich  im  Anfange  lebhaft  sträubt. 
Dauert  die  Unruhe  in  der  Wicklung  fort,  so  wird  der  Kranke  nach 
kurzer  Zeit  wieder  befreit  und  versuchsweise  ins  Bad  gebracht, 
um  wieder  in  die  Wicklung  zurückzukehren,  sobald  die  Behand- 
lung auch  dort  nicht  möglich  ist.  Eine  regelmäßige,  geduldige 
Wiederholung  dieses  Wechsels  hat  mich,  seitdem  ich  in  der  Lage 
war,  ihn  auch  die  Nacht  hindurch  fortsetzen  zu  können,  fast  immer 
binnen  wenigen  Tage  zum  Ziele,  d.  h.  dahin  geführt,  daß  die  Kranken 
ohne  Schwierigkeit  im  Bade  blieben.  Die  Anwendung  von  Be- 
täubungsmitteln kann  von  diesem  Augenblicke  an  fortfallen.  Meist 
bleiben  die  Kranken  nach  einigen  mißlungenen  Versuchen  ganz 
ruhig  in  der  Wicklung.  Sie  werden  dann  nach  spätestens  zwei 
Stunden  ausgepackt  und  ins  Bad  gebracht;  die  nächste  Wicklung 
folgt,  sobald  sie  wieder  aus  dem  Bade  herausdrängen.  Mit  dem 
Eintritte  einer  gewissen  Beruhigung  wird  immer  von  neuem  der 
Versuch  gemacht,  die  Kranken  im  Bett  zu  halten,  aus  dem  sie 
dann  nur  noch  zeitweise,  bei  vorübergehender  Verschlimmerung 
des  Zustandes,  ins  Bad  zurückkehren.  Dieses  ganze,  planmäßig 
ausgebildete  Verfahren,  die  Verbindung  von  Bettruhe,  Bad  und 
Packung,  hat  sich  mir  im  Laufe  der  Jahre  so  vorzüglich  bewährt, 
daß  die  Erregungszustände  unserer  Kranken  an  Schrecken  für 
uns  wesentlich  verloren  haben.  Sollten  indessen  einmal,  etwa  bei 
einer  schweren  epileptischen  Erregung,  alle  jene  Hilfsmittel  und 
ebenso  die  schon  angeführten  Arzneimittel  versagen,  so  würde 
nichts  übrig  bleiben,  als  den  Kranken  in  einem  mit  Matratzen 
ausgelegten  Zimmer  unter  beständiger  Aufsicht  abzusondern,  bis 
der  Zustand  die  Rückkehr  zu  dem  geschilderten  Verfahren  er- 
möglicht. 

Bei  der  Behandlung  ängstlicher  Erregungen  ist  Opium,  allenfalls 
auch  Morphium  am  Platze,  besonders  wo  unangenehme  Empfin- 
dungen oder  Schmerzen  bestehen.  Die  Bromsalze  eignen  sich  mehr 
für  die  Zustände  innerer  Beunruhigung  und  erhöhter  gemütlicher 
Reizbarkeit  (epileptische  Verstimmungen,  Nervosität) ;  bei  der  reiz- 
baren Depression  der  Zirkulären  leistet  öfters  die  Verbindung  von 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


615 


Brom  mit  Opium  gute  Dienste.  Wo  der  allgemeine  Kräftezustand 
sehr  gesunken  ist,  wirkt  bisweilen  als  bestes  Beruhigungsmittel 
möglichst  reichliche  Ernährung,  wenn  es  sein  muß,  durch  die 
Schlundsonde.  Ist  die  Erregung  hauptsächlich  die  Folge  von 
äußeren  Einwirkungen,  so  hilft  oft  schon  die  Versetzung  in  eine 
andere  Umgebung,  das  Zurückziehen  in  ein  Einzelzimmer;  in 
leichteren  Fällen  kommt  man  vielleicht  mit  der  einfachen  Ab- 
lenkung der  Aufmerksamkeit,  ja  unter  Umständen  mit  einem 
scherzhaften  Worte,  der  Gewährung  einer  kleinen  Vergünstigung 
über  drohende  Ausbrüche  hinweg.  Sehr  wichtig  ist  es  für  Arzt  und 
Pflegepersonal,  derartige  Kranke  genau  zu  kennen  und  sie  nach 
ihrer  Eigenart  zu  behandeln.  Bei  den  meist  rasch  verlaufenden 
Erregungen  verblödeter  Kranker  genügt  in  der  Regel  die  sofortige 
Bettlagerung  oder  die  Verbringung  ins  Bad;  nur  ausnahmsweise 
wird  einmal  eine  Hyoscineinspritzung  nötig. 

Für  die  Behandlung  der  Schlaflosigkeit  wird  man  regel- 
mäßig zunächst  mit  diätetischen  Maßregeln  auszukommen  suchen. 
Bei  chronischen  Erkrankungen  und  kräftigem  Körper  ist  aus- 
giebige Bewegung  im  Freien  (Holz-  und  Gartenarbeit),  Turnen, 
Massage  am  Platze,  während  be'  frischen  und  leicht  erregbaren 
Kranken  stärkere  körperliche  Anstrengungen  meist  gerade  un- 
günstig auf  den  Schlaf  wirken.  Hier  wird  man  verlängerte  warme 
Bäder  mit  gleichzeitiger  Abkühlung  des  Kopfes,  feuchte  Ein- 
packungen,  Galvanisation  des  Kopfes,  in  geeigneten  Fällen 
vielleicht  hypnotische  Beeinflussung  ins  Feld  führen  können. 
Mitunter  ist  auch  schon  durch  Einführung  einer  Nachmittags- 
ruhe, Sorge  für  leicht  verdauliches,  frühzeitiges  Abendessen,  Ver- 
meidung des  Lesens  am  Abend,  Beseitigung  von  Tee  und  Kaffee, 
abendliche  Darmentleerung,  rechtzeitiges  Schlafengehen,  ausgiebiges 
Lüften  des  Schlafzimmers  u.  dgl.  viel  zu  erreichen.  Muß  man  zu 
Arzneien  greifen,  so  versuche  man  zuerst  die  Bromsalze  in  mitt- 
leren Gaben,  allenfalls  in  geeigneten  Fällen  auch  den  Alkohol. 
Nur  im  äußersten  Notfalle  und  nur  bei  akuten  Erkrankungen  darf 
vorübergehend  zu  anderen  Schlafmitteln,  Paraldehyd,  Veronal, 
Trional,  bzw.  bei  großer  Angst  oder  lebhaften  Schmerzen  zum 
Morphium  oder  Opium  übergegangen  werden,  da  es  sehr  schwierig 
werden  kann,  die  viel  mit  Betäubungsmitteln  behandelten  Kranken 
wieder  an  den  natürlichen  Schlaf  zu  gewöhnen  und  ihnen  die  Arz- 


6i6 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


neien  zu  entziehen.  Häufiges  Aussetzen  und  Wechseln  der  Schlaf- 
mittel ist  durchaus  nötig. 

Sehr  sorgfältige  Beachtung  seitens  der  gesamten  Umgebung 
erheischt  die  Neigung  zum  Selbstmorde,  die  so  häufig  bei 
Angstzuständen,  besonders  bei  gleichzeitiger  Bewußtseinstrübung, 
aber  auch  bei  ganz  einfachen  Verstimmungen  ohne  auffallendere 
Störung  der  Besonnenheit,  in  den  Vordergrund  tritt.  Namentlich 
die  letzteren  Fälle  sind  es,  welche  die  höchsten  Anforderungen 
an  die  Wachsamkeit  und  Umsicht  des  Anstaltspersonals  stellen. 
Gucci  fand,  daß  unter  405  Kranken  nicht  weniger  als  132  Selbst- 
mordgedanken geäußert  oder  Versuche  gemacht  hatten;  14  waren 
in  hohem  Maße  sich  selbst  gefährlich.  Die  Gelegenheiten,  die  dem 
bisweilen  mit  voller  Berechnung  handelnden  Kranken  zur  Aus- 
führung seines  selbstmörderischen  Planes  dienen  können,  sind  so 
überaus  zahlreich  und  mannigfaltig,  daß  nur  eine  gereifte  und  mit 
allen  Möglichkeiten  vertraute  Erfahrung  die  Aussicht  hat,  mit  Er- 
folg dem  krankhaften  Streben  entgegenzuarbeiten.    Jeder  Nagel, 
jede  Glasscherbe,  jedes  Stück  Blech  kann  zum  tötlichen  Werk- 
zeuge in  der  Hand  des  verzweifelten  Kranken  werden;  jeder  un- 
bewachte Augenblick  kann   Erhängen,   Zusammenschnüren  des 
Halses,  Herunterspringen,  Verschlucken  gefährlicher  Gegenstände, 
kann  die  schwersten  Verstümmelungen,  Herausreißen  der  Augen, 
der  Zunge,  der  Hoden  zustande  kommen  lassen,  ja  ich  habe  das 
Abbeißen  der  Zunge  und  ferner  Bruch  der  Halswirbelsäule  infolge 
eines  mächtigen  Stoßes  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand  in  Gegen- 
wart des  Pflegepersonals  erlebt.    Glücklicherweise  sind  derartige 
Vorkommnisse  nicht  häufig,  ja  es  scheint,  daß  durch  die  Anstalt 
90%  und  sogar  noch  mehr  der  sonst  wahrscheinlichen  Selbst- 
morde verhütet  werden,  aber  es  ist  wünschenswert,  sich  der  Un- 
glücksfälle zu  erinnern,  damit  sie  auch  nicht  häufiger  werden. 
Am  gefährlichsten  sind  zirkuläre  Kranke  in  der  Depression  ohne 
stärkere  Hemmung,  da  sie  ihr  Ziel  oft  mit  größter  Hartnäckigkeit 
und  vieler  Überlegung  zu  erreichen  suchen,  ferner  Epileptiker  in 
Verstimmungen  oder  Dämmerzuständen;   aber  auch  Altersblöd- 
sinnige, Paralytiker  und  namentlich  Katatoniker  können,  unter 
Umständen  ganz  unvermutet,  schwere  Selbstmordversuche  machen. 
Bei  den  letzteren  pflegen  diese  Versuche  mit  außerordentlicher 
Tatkraft  und  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Umgebung,  bisweilen 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


617 


wochenlang  fast  ununterbrochen,  ausgeführt  zu  werden,  während 
die  Paralytiker  gewöhnlich  ohne  Nachdruck  und  sehr  unüberlegt 
ans  Werk  gehen.  Die  Selbstmordversuche  der  Hysterischen  führen 
ebenfalls  nur  ausnahmsweise  zum  Ziel,  da  sie  in  der  Regel  schwäch- 
lich und  theatralisch  angelegt  sind. 

Die  Neigung  zum  Zerstören  entspringt  bei  unseren  Kranken 
meist  aus  innerer  Erregung,  bisweilen  aber  auch  aus  der  Langen- 
weile und  dem  Mangel  an  zweckvoller  Tätigkeit.  Im  letzteren 
Falle  soll  durch  Anleitung  und  Gelegenheit  zu  nützlicher  Arbeit 
Abhilfe  geschaffen  werden.  Da  das  am  besten  in  großen  Anstalten 
mit  genügender  Mannigfaltigkeit  der  Bedürfnisse  und  Betriebe 
durchführbar  ist,  müssen  arbeitsfähige  Kranke  sobald  wie  möglich 
in  derartige  Anstalten  überführt  werden.  Bei  erregten  Kranken 
wird  die  Zerstörungssucht  glatt  und  leicht  durch  die  Behandlung 
im  Bett  und  ferner  im  Dauerbade  bekämpft.  Hier  fehlt  den  Kranken 
einerseits  jeder  Angriffspunkt;  andererseits  bietet  das  Wasser  ein 
unerschöpfliches  Mittel  zur  Befriedigung  des  Betätigungsdranges 
im  Spritzen,  Wirbeln,  Klatschen,  Tauchen.  Bei  einer  Kranken, 
die  uns  durch  ihre  Zerstörungen  in  einem  früheren  manischen 
Anfalle  ein  kleines  Vermögen  kostete,  habe  ich  den  wirtschaft- 
lichen Nutzen  greifbar  feststellen  können,  den  die  Dauerbäder 
durch  das  Fortfallen  jenes  Krankheitszeichens  gebracht  haben. 
Die  wahren  Zerstörungskünstler,  denen  durchaus  nichts  widersteht, 
denen  jeder  Stein,  jedes  Drahtstückchen,  jeder  abgebrochene  Löffel- 
stiel zum  vielseitigsten,  vernichtendsten  Werkzeuge  wird,  bildet 
nur  die  Isolierung  aus.  Ihnen  gegenüber  sind  alle  ,, unzerreiß- 
baren" Kleider,  alle  „unzerstörbaren"  Geschirre  und  Einrichtungen 
gänzlich  nutzlos.  Mit  der  Durchführung  der  zellenlosen  Behand- 
lung werden  sie  aus  unserem  Anstaltsleben  verschwinden. 

Ganz  Ähnliches  gilt  von  einem  weiteren  Schrecken  der  irren- 
ärztlichen Tätigkeit,  der  Unreinlichkeit.  Soweit  wir  es  mit 
gelegentlichen  Vorkommnissen  zu  tun  haben,  die  bei  gelähmten, 
gebrechlichen  oder  unruhigen  und  verwirrten  Kranken  eintreten, 
bietet  die  Behandlung  nichts  Besonderes.  Erziehung  des  Wart- 
personals zur  Aufmerksamkeit,  geduldiges  Anhalten  der  Kranken 
zur  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse,  unter  Umständen  regelmäßige 
Eingießungen  zu  vollständiger  Entleerung  des  Darmes,  endlich  rasche 
Beseitigung  jeder  geschehenen  Verunreinigung  werden  im  allge- 


6i8 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


meinen  zum  Ziele  führen.  Weit  schlimmer  für  den  Kranken  wie 
für  seine  Umgebung  ist  die  scheußliche  Gewohnheit  des  Schmierens. 
Da  sie  mit  der  Isolierung  in  innigstem  Zusammenhange  steht, 
wird  sie  durch  das  Dauerbad,  in  dem  die  Sauberhaltung  nicht  die 
geringsten  Schwierigkeiten  bietet,  ohne  weiteres  beseitigt.  Auch 
bei  der  sonst  recht  mühsamen  Behandlung  sehr  unbehilflicher  un- 
reiner Kranker  leistet  das  Dauerbad  die  vorzüglichsten  Dienste. 
In  Ermanglung  dessen  wendet  man  auch  wohl  die  Lagerung  auf 
Holzwolle  oder  Mooswatte  an,  die  von  den  Kranken  leider  gern 
verzehrt  wird. 

Besondere  Mühe  hat  man  sich  vielfach  gegeben,  die  Mastur- 
bation zu  bekämpfen.  Oft  verschwindet  sie  mit  der  Abnahme 
der  psychischen  Erregung  von  selbst;  in  anderen,  chronischen 
Fällen  bleibt  meist  jede  Behandlung  erfolglos.  Nicht  ohne  Wert 
ist  vielleicht  die  Anwendung  der  Bromsalze;  wichtiger  bleibt  in- 
dessen die  diätetische  Behandlung,  Sorge  für  ruhigen  Schlaf, 
Vermeidung  müßiger  Bettruhe,  Regelung  der  Darmentleerung, 
ablenkende  Beschäftigung,  ausgiebige  Bewegung  im  Freien  bis 
zur  Ermüdung,  ferner  kalte  Waschungen,  besonders  Sitzbäder, 
endlich  eine  aufmerksame,  geduldige  Überwachung  und  Erziehung. 

Zum  Schlüsse  haben  wir  noch  einer  äußerst  wichtigen  Krank- 
heitserscheinung zu  gedenken,  deren  Behandlung  nicht  selten  recht 
große  Schwierigkeiten  verursacht,  der  Nahrungsverweigerung!). 
In  erster  Linie  wird  man  hier  nach  körperlichen  Ursachen  zu 
suchen  haben,  namentlich  Magen-  oder  Mundkatarrhen  oder 
Darmträgheit,  die  man  durch  geeignete  Maßregeln,  Auswahl  der 
Speisen,  Ausspülen  des  Magens,  Mundes  oder  Darmes,  unter  Um- 
ständen auch  durch  Arzneimittel  zu  bekämpfen  hat.  Nicht  viel 
Erfolg  habe  ich  von  dem  anscheinend  auch  nicht  ganz  ungefähr- 
lichen Orexin  gesehen,  welches  zur  Anregung  der  Eßlust  empfohlen 
worden  ist. 

Wenn  wir  absehen  von  der  durch  schwere  Benommenheit  be- 
dingten Unfähigkeit,  zu  schlucken,  hat  die  Nahrungsverweigerung 
am  häufigsten  ihren  Grund  in  mannigfachen  Wahnideen,  Ver- 
giftungsfurcht, Glauben,  nicht  bezahlen  zu  können,  das  Essen 
nicht  wert  zu  sein,  Wunsch  zu  verhungern.    Der  beste  Bundes- 


!)  Pfister,  Die  Abstinenz  der  Geisteskranken  und  ihre  Behandlung.  1899. 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


619 


genösse  ist  immer  der  Hunger,  der  bisweilen  nach  einigen  Tagen 
der  Nahrungsverweigerung  sein  Recht  so  stark  geltend  macht, 
daß  der  Kranke  dann  mit  wahrer  Gier  über  die  vorgesetzten  Speisen 
herfällt.  Er  wirkt  am  verführerischsten,  wenn  man  sich  um  den 
Kranken  scheinbar  gar  nicht  kümmert,  ihn  mit  dem  Essen  allein 
läßt  und  seine  Nahrungsverweigerung  möglichst  wenig  beachtet. 
Vieles  Zureden  oder  gar  Versuche ,  die  Nahrung  einzugeben, 
pflegen  den  Widerstand  rasch  sehr  erheblich  zu  verstärken.  In 
anderen  Fällen  ist  es  mehr  eine  gewisse  Willenlosigkeit,  die  den 
Kranken  hindert,  die  wahnhaften  Gegenvorstellungen  zu  über- 
winden; er  ißt,  sobald  man  ihm  den  Löffel  an  den  Mund  führt. 
Anwendung  von  Gewalt  dabei  ist  hier  wie  dort  regelmäßig  vom 
Übel.  Noch  andere  Formen  der  Nahrungsverweigerung  kommen 
durch  den  Negativismus  der  Katatoniker  sowie  durch  die  Unruhe 
erregter  Kranker  zustande,  welche  die  Arbeit  des  Essens  fort- 
während mit  andersartigen  Bewegungsantrieben  durchkreuzt.  Bis- 
weilen wechseln  diese  Zustände  sehr  rasch,  und  derselbe  Kranke, 
der  jetzt  auf  keine  Weise  zum  Essen  zu  bringen  war,  nimmt  viel- 
leicht nach  einer  Viertelstunde  freiwillig  seine  Nahrung  zu  sich, 
um  kurze  Zeit  darauf  wieder  allen  Versuchungen  eigensinnig  zu 
widerstehen.  Unermüdliche  Geduld  und  genaue  Ausnutzung  aller 
kleinen  Vorteile  (z.  B.  Anregung  der  Nachahmung  und  des  Appetits 
durch  Mitessen)  sowie  möglichst  sorgfältige  Auswahl,  Zubereitung 
und  Abwechselung  der  Speisen  helfen  meist  über  die  aufgezählten 
Schwierigkeiten  hinweg. 

Allein  es  gibt  Fälle,  in  denen  alle  Bemühungen  des  Arztes 
nach  dieser  Richtung  hin  fehlschlagen,  und  in  denen  schließlich, 
um  der  drohenden  Gefahr  der  Erschöpfung  und  des  Hungertodes 
zu  begegnen,  zur  künstlichen,  zwangsmäßigen  Einbringung 
der  Nahrung  geschritten  werden  muß.  Der  Zeitpunkt,  an  wel- 
chem man  zu  diesem  Auskunftsmittel  greift,  wird  am  besten  durch 
die  Körperwage  bestimmt,  weil  sie  den  zuverlässigsten  Anhalts- 
punkt für  die  Beurteilung  des  Ernährungszustandes  liefert.  Alle 
Kranken,  die  ungenügende  Nahrung  zu  sich  nehmen,  müssen 
daher  häufig,  am  besten  jeden  Tag,  gewogen  werden,  damit  man 
die  Schnelligkeit  der  Gewichtsabnahme  überwachen  kann.  Am 
schlimmsten  sind  diejenigen  Fälle,  in  denen  die  Kranken  von 
langer  Hand  anfangen,  immer  weniger  und  weniger  zu  essen,  um 


620 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


allmählich  ganz  aufzuhören;  hier  ist  rasches  Einschreiten  dringend 
geboten,  weil  sonst  leicht  ein  unaufhaltsamer  Zusammenbruch 
erfolgt.  Je  nach  dem  Zustande  des  Kranken  wird  man  spätestens 
2—3  Tage  nach  Beginn  der  völligen  Nahrungsverweigerung,  bis- 
weilen auch  schon  noch  früher,  mit  der  künstlichen  Ernährung 
vorzugehen  haben.  Ist  der  Kranke  kräftig,  gut  genährt,  und  hört 
er  plötzlich  auf,  zu  essen,  so  kann  man  ruhig  6—8  Tage  zuwarten. 
Der  grimmige  Hunger,  der  allerdings  bei  langem  Fasten  schließ- 
lich ausbleibt,  wird  diesem  dann  häufig  ohnedies  ein  Ende  machen. 
Ist  die  Nahrungsverweigerung  keine  vollständige,  genießt  der  Kranke 
wenigstens  noch  Wasser,  so  hat  man  unter  steter  Berücksichtigung 
seines  Ernährungszustandes  selbst  10—12  Tage  ohne  Gefahr  Zeit, 
bevor  Zwangsmaßregeln  notwendig  sind. 

Ist  man  über  die  Notwendigkeit  eines  Eingriffes  im  klaren, 
so  schreite  man  ohne  weiteres  zur  Sondenernährung,  die  in  den 
Händen  des  geübten  Arztes  eine  sehr  einfache  und  völlig  harm- 
lose Maßregel  darstellt,  nicht  gefährlicher  als  eine  Einspritzung 
unter  die  Haut.    Das  gewaltsame  Einschütten  von  Nahrung  in 
die  Backentaschen,  das  Eindringen  in  die  Zahnreihe  mit  Löffeln 
und  Schnabeltassen,  das  immer  noch  gelegentlich  wieder  emp- 
fohlen wird,  ist  bei  widerstrebenden  oder  gar  besinnungslosen 
Kranken  durchaus  zu  verwerfen  und  unter  Umständen  sehr  be- 
denklich.   Das  einzig  richtige  Verfahren  ist  die  Eingießung  lau- 
warmer, passend  zusammengesetzter  Flüssigkeiten  mittels  Trichter 
und  Sonde  in  den  Magen.   Die  Sonde  wird  durch  den  Mund  oder 
besser  durch  die  Nase  eingeführt,  die  vorher  möglichst  von  Krusten 
und  Schleim  gereinigt  werden.   Das  erstere  Verfahren  zwingt  bei 
starkem  Widerstande  des  Kranken  zu  gewaltsamer  Eröffnung  und 
Offenhaltung  der  Zahnreihe  durch  keilartige  Werkzeuge  (Heister- 
sche  Mundsperre),  die  sogar  zu  Verletzungen  führen  kann;  letz- 
teres Vorgehen  macht  den  Arzt  vom  Widerstande  des  Kranken 
wesentlich  unabhängig,  mißlingt  aber  leichter.  Bei  jeder  Fütterung 
muß  der  Kranke  durch  sichere  Hände  zuverlässig  festgehalten 
werden,  um  unvermutete  störende  Bewegungen  zu  verhindern; 
das  Vorschieben  der  aus  weichem,  biegsamem  Stoffe  bestehenden 
Sonde  (Jacques  Patent  oder  dickwandiger  Gummischlauch  mit 
Endöffnung)  geschieht  langsam  und  ohne  die  mindeste  Gewalt. 
In  der  Regel  gleitet  sie  mit  Hilfe  einer  reflektorisch  ausgelösten 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


621 


Schluckbewegung  glatt  in  die  Speiseröhre  hinein;  bei  se'hr  wider- 
strebenden Kranken  kann  es  indessen  vorkommen,  daß  sie  von 
ihrer  Bahn  nach  vorn  zu  abgelenkt  wird  und  sich  im  Munde  zu- 
sammenknäuelt.  Hier  muß  man  geduldig  wiederholt  von  neuem 
versuchen,  zum  Ziele  zu  kommen;  im  Notfalle  bleibt  dann  immer 
noch  der  Weg  durch  den  Mund  unter  der  sicheren  Führung  des 
durch  eine  Metallhülse  vor  Bissen  geschützten  Fingers. 

Von  großer  Wichtigkeit  ist  es,  sich  davon  zu  überzeugen,  daß 
die  Sonde  den  richtigen  Weg  genommen  hat  und  nicht  in  den 
Kehlkopf  gelangt  ist.  Bei  gelähmten  und  sehr  unempfindlichen 
Kranken  können  nämlich  die  sonst  das  Eindringen  eines  Fremd- 
körpers in  die  Luftwege  begleitenden  Erscheinungen  der  höchsten 
Atemnot  und  der  stürmischen  Reflexbewegungen  gänzlich  fehlen; 
die  Sonde  gleitet  ohne  Störung  bis  an  die  Gabelung  der  Luftröhre, 
wo  sie  auf  Widerstand  stößt.  Man  hört  nun  die  Atemluft  durch 
die  Sonde  streichen,  doch  können  bei  Luftansammlung  im  Magen 
auch  Ausatmungsgeräusche  entstehen,  wenn  das  Rohr  .glücklich 
in  diesen  letzteren  gelangt  ist.  Das  unfehlbare  Mittel,  sich  über 
die  Lage  der  Sonde  zu  vergewissern,  ist  die  Auskultation  des 
Magens  beim  Einblasen  von  Luft. 

Bevor  man  nun  die  Nahrung  eingießt,  ist  es  vielfach  zweck- 
mäßig, den  Magen  auszuspülen,  um  die  in  ihm  angesammelten 
Mengen  von  zersetztem  Schleim  und  Speichel  zu  entfernen;  es 
wird  in  diesem  Falle  nützlich  sein,  der  Nährflüssigkeit  etwas  Salz- 
säure zuzusetzen.  Man  läßt  nun  die  Nährflüssigkeit  allmählich 
und  mit  möglichst  geringem  Drucke  zufließen.  Das  Zurückziehen 
der  Sonde  geschieht  anfangs  langsam,  in  der  Gegend  des  Kehl- 
kopfeinganges schnell ;  zugleich  wird  die  obere  Öffnung  des  Rohres 
verschlossen  gehalten,  damit  nicht  unten  anhängende  Tropfen  bei 
dieser  Gelegenheit  in  die  Luftröhre  gelangen.  Nach  der  Fütterung 
muß  der  Kranke  einige  Zeitlang,  im  Notfalle  mit  Gewalt,  in  Ruhe- 
lage gehalten  werden. 

Als  Nahrungsflüssigkeit  wählt  man  zweckmäßig  Milch  oder 
Fleischbrühe  mit  gequirlten  rohen  Eiern,  Zucker  und  Butter,  nach 
Umständen  Zusätze  von  Kakao,  Fleischpepton,  Fleischsaft,  Soma- 
tose,  Fruchtsäften,  Citronensäure ;  auch  Arzneien,  Alkohol,  Kaffee 
können  natürlich  auf  diese  Weise  mit  eingeführt  werden.  Im 
allgemeinen  wird  man  bestrebt  sein,  der  Nahrung  ungefähr  die- 


622 


V.  Behandlung  des'  Irreseins. 


jenige  Zusammensetzung  von  Kohlehydraten,  Eiweiß  und  Fett  zu 
geben,  die  nach  den  Grundsätzen  der  Ernährungslehre  erforder- 
lich ist.  Es  zeigt  sich  indessen,  daß  bei  längerer  Dauer  der  künst- 
lichen Ernährung  eine  sehr  einförmige  Zusammensetzung  der  zu- 
geführten Flüssigkeit  schlecht  ertragen  wird,  unter  Umständen  so- 
gar das  Auftreten  von  Skorbut  zur  Folge  haben  kann.  Aus  diesem 
Grunde  empfiehlt  es  sich,  in  solchen  Fällen  mit  einer  Reihe  ver- 
schiedenartiger Gemische  zu  wechseln,  namentlich  aber  auch  Zu- 
sätze von  frischem  Fleisch  und  Gemüsen  zu  machen.  Bei  der  Weite 
der  Sonden  gelingt  es  auch  ohne  Schwierigkeit,  derartige  Bei- 
mengungen in  fein  zerriebener  Form  mit  in  den  Magen  zu  bringen. 
Namentlich  Leber  eignet  sich  wegen  ihrer  Zusammensetzung  wie 
wegen  der  Leichtigkeit  der  Verarbeitung  dazu  recht  gut.  Wir 
pflegen  mit  sechs  verschiedenen  Mischungen  regelmäßig  abzu- 
wechseln, in  denen  bald  Leber  und  Fleischbrühe,  Milch  und  Zucker, 
Milch  und  Erbsenmehl,  Milch,  Mondamin  und  Öl,  Milch,  Zucker 
und  Kakao,  mit  oder  ohne  Hinzufügung  von  Eiern,  die  Haupt- 
bestandteile bilden. 

Die  künstliche  Ernährung  wird  täglich  wenigstens  zweimal 
vorgenommen,  am  besten  mittags  und  abends;  jedesmal  führt 
man  anfänglich  etwas  weniger,  später  aber  ungefähr  einen  Liter 
Flüssigkeit  ein.  Meist  vollzieht  sich  dieser  Vorgang  bei  einiger 
Gewöhnung  sehr  leicht  und  einfach.  Es  gelingt  auf  diese  Weise, 
nahrungsverweigernde  Kranke  monate-  und  jahrelang  am  Leben 
zu  erhalten  und  allmählich  auch  wieder  eine  Zunahme  ihres 
Körpergewichtes  zu  erreichen.  Dennoch  ist  damit  natürlich  nur  ein 
unvollkommener  Notbehelf  für  die  freiwillige  Nahrungsaufnahme 
gewonnen.  Man  wird  daher  nebenbei  immer  fortfahren,  auf  alle 
Weise  die  Beseitigung  der  Nahrungsverweigerung  anzustreben. 

Eine  sehr  unangenehme  Begleiterscheinung  der  Fütterung  ist 
das  bisweilen  auftretende  Erbrechen.  Schleunige  Entfernung  der 
Sonde  ist  hier  wegen  der  Gefahr  des  Erstickens  durch  die  neben 
dem  Rohr  heraufgewürgte  Nährflüssigkeit  durchaus  notwendig. 
Durch  Verringerung  der  eingeführten  Flüssigkeitsmenge,  Verlang- 
samung des  Zuflusses,  häufigere  Wiederholung  des  Verfahrens, 
im  Notfalle  durch  Abstumpfung  der  Rachenempfindlichkeit  mit 
Hilfe  von  Narkoticis  (Bromkalium,  Bepinseln  mit  Cocain-  oder 
Morphiumlösung),    Voranschicken    von    Eiswasser,  Chloroform- 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


623 


tropfen  oder  Kognak  kann  man  diese  Schwierigkeit  meist  über- 
winden. Man  begegnet  indessen,  allerdings  glücklicherweise  selten, 
nahrungsverweigernden  Kranken,  die  willkürlich  erbrechen  können 
und  so  schließlich  jede  Fütterung  unmöglich  machen. 

In  solchen  Fällen  und  dort,  wo  aus  irgend  einem  Grunde  (Ver- 
engerungen, Verätzungen,  Geschwüre,  Geschwülste)  die  Ernährung 
durch  den  Magen  nicht  möglich  ist,  kann  man  noch  einen  Versuch 
mit  Nährklystieren  machen,  die  indessen  auf  die  Dauer  ein  sehr 
unvollkommenes  Auskunftsmittel  darstellen.  In  den  gründlich  ge- 
reinigten und  durch  ein  Opiumzäpfchen  beruhigten  Darm  werden 
möglichst  hoch  kleine  Mengen  Flüssigkeit  von  großem  Nährwert, 
nach  bekannten  Vorschriften,  gebracht,  wie  sie  der  Darm  aufnehmen 
kann,  Milch  mit  Eiern,  Mehl  mit  Eiern,  Traubenzuckerlösung  mit 
Eiern  und  Fleischpepton  usf.  Widerstrebende  Kranke  werden  frei- 
lich nur  schwer  am  Herauspressen  verhindert  werden  können. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  Reihe  unserer  Kampfmittel  gegen  die 
Nahrungsverweigerung  noch  durch  die  Einführung  der  subcutanen 
Kochsalzinfusion  bereichert  worden i).  Sie  ist  angebracht,  wo 
die  Zufuhr  anregender  Nahrungs-  und  Arzneimittel  aus  körper- 
lichen Gründen  (schwere  Mund-  oder  Magenleiden)  unmöglich 
oder  wo  eine  sehr  rasche  und  ergiebige  Füllung  des  Gefäßsystems 
notwendig  erscheint.  Bei  Versuchen  hat  sich  herausgestellt,  daß 
im  Gefolge  der  Kochsalzinfusion  mit  der  regelmäßigen  Besserung 
des  Allgemeinbefindens  öfters  auch  ein  erhöhtes  Hunger-  und 
Durstgefühl  auftritt,  das  die  Kranken  unter  Umständen  zu  frei- 
williger Nahrungsaufnahme  veranlaßt,  namentlich  dann,  wenn  die 
Verweigerung  nicht  durch  klar  verarbeitete  Wahnideen,  sondern 
nur  durch  Verwirrtheit  und  Unruhe  bedingt  war.  Auf  Grund  sol- 
cher Erfahrungen  haben  wir  in  Fällen,  in  denen  keine  große  Ge- 
fahr im  Verzuge  war,  statt  der  Infusionen  auch  schon  Kochsalz- 
klystiere  in  Anwendung  gezogen.  Der  Erfolg  ist  kein  so  plötzlicher 
und  durchgreifender,  dafür  aber  das  Verfahren  wesentlich  ein- 
facher. Kleine  Mengen  gut  erwärmter  physiologischer  Kochsalz- 
lösung, etwa  ein  viertel  Liter  zurzeit,  läßt  man  unter  geringem 
Drucke  langsam  möglichst  hoch  in  den  Darm  hineinlaufen;  die 
Aufsaugung  geschieht  dann  seitens  des  wasserarmen  Körpers  regel- 

1)  Ilberg,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVIII,  620;  Jacquin,  Annales 
medico-psychol.  1900,  11,  261;  Marie  und  Pactet,  ebenda,  1901,  II,  278. 


624 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


mäßig  rasch  und  vollständig.  Auch  bei  diesem  Verfahren  pflegt 
sich  ein  lebhaftes  Durst-  und  Hungergefühl  einzustellen,  welches 
die  Besiegung  des  Widerstandes  gegen  die  Nahrungsaufnahme  bis- 
weilen sehr  erleichtert. 

Die  Einfuhr  wirklicher  Nahrungsstoffe  unter  die  Haut  ist  bisher 
nur  in  beschränktem  Umfange  versucht  worden.  Am  besten  ge- 
eignet haben  sich  die  Öleinspritzungen  erwiesen,  die  von  II- 
bergi)  warm  empfohlen  werden.  Unter  den  nötigen  aseptischen 
Vorsichtsmaßregeln  werden  Ölmengen  von  200 — 300  g  mit  Hilfe 
einer  dicken,  gefensterten- Hohlnadel  unter  die  nach  Schlei chs 
Verfahren  unempfindlich  gemachte  Haut  gebracht  und  dort  an- 
scheinend ohne  Störung  aufgesogen.  Wir  besitzen  demnach  in 
verzweifelten  Fällen,  in  denen  die  übrigen  Hilfsmittel  versagen, 
hier  noch  einen  Weg,  das  Leben  für  einige  Zeit  zu  verlängern, 
unter  Umständen  bis  zu  einer  günstigen  Wendung. 


E.  Die  Irrenanstalt. 

Die  Gesamtheit  aller  körperlichen  und  psychischen  Heilmittel 
findet  sich  zu  einheitlichem  Zusammenwirken  vereinigt  in  den 
mannigfaltigen  Einrichtungen  der  Irrenanstalt^).  Die  Irren- 
anstalt in  ihrer  heutigen  Gestaltung  ist  eine  Errungenschaft  unseres 
Zeitalters 3).  In  früheren  Jahrhunderten  ließ  man  harmlose  Kranke 
einfach  herumlaufen  und  begnügte  sich  damit,  die  störenden  Irren 
über  die  nächste  Grenze  zu  treiben  oder  in  Gewahrsam  zu  nehmen ; 
sie  wurden  dann  in  Klöstern  (Tasso  in  San  Onofrio  in  Rom),  häu- 
figer in  Gefängnissen  und  Zuchthäusern,  zusammen  mit  allem  mög- 
lichem Gesindel  untergebracht,  in  Käfigen  („Dorenkisten")  oder 
aber  auch  in  eigenen,  menagerieartigen  „Narrentürmen"  einge- 
sperrt, die  meist  in  der  Stadtmauer  lagen  und  an  gewissen  Tagen 

1)  Ilberg,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LX,  278.  ' 

2)  Tucker,  Lunacy  in  manylands.  1887;  Serieux,  l'assist?nce  des  ali6nes  en 
France,  en  Allemagne,  en  Italic  et  en  Suisse.  1903;  Ilberg,  Irrenanstalten,  Idioten- 
und  Epileptikeranstalten  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Tätigkeit  des  Arztes 
in  denselben.  1904;  Pandy,  Die  Irrenfürsorge  in  Europa,  deutsch  1908. 

3)  Kirchhoff,  Grundriß  einer  Geschichte  der  deutschen  Irrenpflege.  1900; 
Snell,  Hexenprozesse  und  Geistesstörung.  1891;  Zur  Geschichte  der  Irrenpflege. 
1896;  Rieger,  Über  die  Psychiatrie  in  Würzburg  seit  300  Jahren.  1899;  M ön ke- 
rn öll  er.  Zur  Geschichte  der  Psychiatrie  in  Hannover.  1903. 


Die  Irrenanstalt. 


625 


von  der  Menge  zur  Belustigung  besucht  wurden.  So  mancher 
Kranke  endHch  fiel  wohl  auch  den  Hexenprozessen  zum  Opfer 
und  wurde  auf  die  grausamste  Weise  zu  Tode  gemartert  oder  ver- 
brannt. 

Leider  besserte  die  Überwindung  dieses  finsteren  Aberglaubens 
mehr  als  ein  Jahrhundert  lang  in  dem  Lose  der  unglücklichen 
Geisteskranken  nur  wenig.  Da  man  das  Irresein  im  allgemeinen 
für  unheilbar  hielt,  so  waren  die  Irren-  nichts  als  eine  Last,  deren 
man  sich  auf  möglichst  einfache  Weise  zu  entledigen  suchte.  Aller- 
dings wurden  in  manchen  Spitälern  schon  <Jeisteskranke  ganz  sach- 
gemäß verpflegt ;  meist  aber  dienten  die  an  Kranken-,  Siechenhäuser 
u.  dgl.  angebauten  ,, Tollhäuser",  ,,Narrenhäuslein",  ,, Gefängnisse 
der  Angefochtenen"  nur  zur  Aufbewahrung.    ,,Wir  sperren  diese 


Fig.  XXIX.    Alter  Zellenkorridor. 


unglücklichen  Geschöpfe  gleich  Verbrechern  in  Tollkoben,"  sagt 
Reil,  ,, ausgestorbene  Gefängnisse,  neben  den  Schlupflöchern  der 
Eulen  in  öde  Klüfte  über  den  Stadttoren,  oder  in  die  feuchten  Keller- 
geschosse der  Zuchthäuser  ein,  wohin  nie  ein  mitleidiger  Blick  des 
Menschenfreundes  dringt,  und  lassen  sie  daselbst,  angeschmiedet  an 
Ketten,  in  ihrem  eigenen  Unrat  verfaulen,  Ihre  Fesseln  haben  ihr 
Fleisch  bis  auf  die  Knochen  abgerieben,  und  ihre  hohlen  und  bleichen 
Gesichter  harren  des  nahen  Grabes,  das  ihren  Jammer  und  unsere 
Schande  zudeckt.  Man  gibt  sie  der  Neugierde  des  Pöbels  preis,  und 
der  gewinnsüchtige  Wärter  zerrt  sie,  wie  seltene  Bestien,  um  den 
müßigen  Zuschauer  zu  belustigen,"  „Das  nächtliche  Gebrüll  der 
Rasenden  und  das  Geklirre  der  Ketten  hallt  Tag  und  Nacht  in  den 
langen  Gassen  wieder,  in  welchen  Käfig  an  Käfig  stößt,  und  bringt 
jeden  neuen  Ankömmling  bald  um  das  bißchen  Verstand,  das  ihm 
etwa  noch  übrig  ist."   Einen  Einblick  in  diese  Verhältnisse  geben 

Kraepelin,  Psych'atrie  I.    8.  Aufl.  4° 


626 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


die  nach  alten  Abbildungen  gefertigten  Fig.  XXIX  und  XXX,  von 
denen  die  erstere  einen  Vorraum  darstellt,  mit  den  zu  den  Verliessen 
der  Kranken  führenden,  sicher  verwahrten  Türen,  während  die 
zweite  uns  den  mit  hohem  vergittertem  Fenster  versehenen  Käfig 
selbst  zeigt,  in  dem  die  Kranke  auf  einem  Strohlager  an  Händen 
und  Füßen  derart  angekettet  ist,  daß  sie  wohl  aufstehen,  aber 
sich  nicht  von  ihrer  Liegestatt  entfernen  kann. 

Auch  nachdem  gegen  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
in  England  die  erste  eigentliche  Irrenanstalt  (St.  Luke  bei  London) 

zur  Behandlung  von  Geisteskran- 
ken eingerichtet  worden  war,  fand 
dieses  Beispiel  nur  langsame  Nach- 
ahmung. Noch  um  die  Wende  des 
Jahrhunderts,  als  Chiarugi  in 
Italien,  Tuke  in  England  und 
Pinel  1798  in  Paris  das  Schicksal 
der  verwahrlosten  Geisteskranken 
zu  lindern  bemüht  waren,  herrsch- 
ten fast  überall,  auf  dem  Festlande 
wie  in  England,  in  den  Narren- 
häusern die  entsetzlichsten  Zu- 
stände. Derselbe  Reil,  dessen 
Schilderung  wir  oben  wiederge- 
geben haben,  meint  1803 :  ,, Durch- 
gehends sind  die  Zwangsweste,  das 
Einsperren,  Hunger,  oder  einige 
Streiche  mit  dem  Ochsenziemer,  die 


Fig.  XXX. 


Angekettete  Kranke  in  einer  Irrenzelle.        ,       .  ,  

nach  emem  formhchen  Urteils- 
spruch von  einer  fremden  Person  mitgeteilt  werden,  zureichend, 
die  Kranken  bald  zahm  zu  machen,"  Ja,  noch  1817  sah  sich 
Hayner,  der  ehrwürdige  Vorkämpfer  für  die  menschliche  Be- 
handlung der  Irren  in  Deutschland,  veranlaßt,  auf  das  feierlichste 
gegen  die  Ketten,  die  Zwangsstühle,  die  körperlichen  Züchtigungen 
öffentlich  Verwahrung  einzulegen i).  ,, Verflucht  sei  also  von  nun 
an  jeder  Schlag,  der  einen  Elenden  trifft  aus  dieser  bejammerns- 

1)  Hayner,  Aufforderungen  an  Regierungen,  Obrigkeiten  und  Vorsteher  der 
Irrenhäuser  zur  Abstellung  einiger  schweren  Gebrechen  in  der  Behandlung  der 
Irren.  1817. 


Die  Irrenanstalt. 


627 


würdigsten  Klasse  von  Leidenden!"  so  ruft  er  aus.  „Ich  rufe 
Wehe!  über  jeden  Menschen,  stehe  er  hoch  oder  niedrig,  der  es 
genehmigt,  daß  verstandlose  Menschen  geschlagen  werden!"  ,,Er 
gedenke  der  Gebrechlichkeit  des  menschlichen  Lebens  und  Wohl- 
seins ;  er  denke,  daß  er  morgen  der  edlen  Gabe  des  Verstandes  beraubt 
sein  kann,  die  er  heute  noch  genießt!  Er  zittre  vor  der  rächenden 
Macht  des  finstern  künftigen  Schicksals,  das  niemand  kennt,  und 
versetze  sich  lebhaft  in  die  Lage  des  Unglücklichen,  den  nach  dem 
Verluste  seines  edelsten  Kleinods  seine  unmenschlichen  Brüder  in 
Ketten  legen,  in  Zwangsstühle  riemen,  mit  Henkersfaust  stäupen 
und  schlagen!    Er  zittre,  wenn  ihn  alles  das  nicht  rührt,  vor  Gott, 


Fig.  XXXI.    Kaulbachs  Narrenhaus. 


der  uns  den  Verstand  gab,  damit  wir  die  Verstandlosen  nicht  ohne 
Verstand  behandeln!!!"  Eine  gute  Vorstellung  davon,  wie  es  bis 
in  die  zwanziger  Jahre  in  alten  Irrenanstalten  aussah,  gewährt  das 
hier  (Fig.  XXXI)  wiedergegebene  Kaulbachsche  Bild  des  Narren- 
hauses, das  stark  vergitterte,  gefängnisartige  Gebäude,  der  um- 
mauerte Hof,  das  bunte  Gemisch  verwahrloster  Kranker  und  die 
aus  der  Tasche  des  dicken  Wärters  hervorlugende  Peitsche. 

Nach  und  nach  kam  die  Erkenntnis  von  der  Notwendigkeit 
einer  völligen  Neugestaltung  der  Irrenfürsorge  auf  ärztlicher  Grund- 
lage mit  immer  wachsender  Gewalt  zum  Durchbruch,  und  es  trat 
daher  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  vergangenen  Jahrhunderts  in 
den  meisten  vorgeschrittenen  Ländern  an  Stelle  der  einfachen  Auf- 

40* 


628 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


bewahrung  die  Errichtung  wirklicher  Heilanstalten,  die  endUch  auch 
den  unglückHchen  Irren  die  Wohltaten  einer  ärztlichen,  auf  die 
Beseitigung  ihres  Leidens  gerichteten  Behandlung  zu  ver- 
mitteln bestimmt  waren.  In  Deutschland  wurde  die  erste  Heil- 
anstalt, der  Sonnenstein  bei  Pirna,  iBii  durch  Pienitz  in  einem 
alten  Schlosse  eingerichtet;  auch  die  nächsten  Anstalten  wurden 
in  Schlössern  oder  Klöstern  untergebracht.  Der  erste  Neubau 
einer  Irrenanstalt  fand  auf  dem  Sachsenberg  bei  Schwerin  durch 
Flemming  1830  statt. 

Diese  Wandlung  stand  in  der  innigsten  Beziehung  zu  dem 
Fortschritte  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  von  dem  Wesen 
der  Geistesstörungen.  Vielleicht  sind  wenige  Gebiete  menschlichen 
Strebens  so  geeignet  wie  die  Irrenheilkunde,  den  ungeheuren  Einfluß 
klarzulegen,  den  die  rein  wissenschaftliche  Forschung  auf  das  Wohl 
und  Wehe  der  Menschen  ausübt.  So  vermochte  die  praktische  Irrenfür- 
sorge zunächst  den  richtigen  Weg  nicht  zu  finden,  weil  ihr  die  Leitung 
durch  das  wissenschaftliche  Verständnis  des  Irreseins  mangelte. 

Zwar  hatte  vielfach  die  tägliche  Erfahrung  schon  zu  einer  Be- 
handlung der  Geisteskranken  geführt,  die  unseren  heutigen  An- 
schauungen gar  nicht  so  sehr  fern  steht.  Dennoch  konnte  es  nicht 
fehlen,  daß  der  Einfluß  gewisser  spekulativ-psychologischer  Auf- 
fassungen des  Irreseins  sich  in  allerlei  Absonderlichkeiten  geltend 
machte.  Man  forderte  in  den  Irrenanstalten  Einrichtungen,  die 
in  besonderer  Weise  auf  die  Einbildungskraft  der  Kranken  wirken 
sollten.  Der  Ankömmling  sollte  mit  Kanonendonner  und  Trommel- 
schlag von  Mohren  empfangen  werden,  über  rasselnde  Zugbrücken 
fahren,  das  Anstaltspersonal  sich  einer  fremden,  sonoren  Sprache 
bedienen.  In  einsamen,  finsteren,  hallenden  Gewölben  sollte  ein 
Chaos  von  gellenden  Tönen  erschallen,  Eselsstimmen,  ein  Katzen- 
klavier, Glocken,  Musik;  auf  einem  Theater  sollten  ergreifende 
Schauspiele  aufgeführt  werden,  Gerichtsszenen  mit  Scharfrichtern 
und  Engeln.  Den  Kranken  sollten  Spukgestalten  umgeben,  Eis- 
säulen, Pelzmänner,  eine  Totenhand  ihm  den  Bart  streichen,  wäh- 
rend Wassergüsse  unvermutet  auf  ihn  stürzten  und  reißende  Tiere 
ihn  erschreckten.  Auf  zerfallenden  Kähnen  wollte  man  ihn  über 
wütende  Gewässer  fahren  lassen,  über  Feuerbrände  in  die  Höhe 
ziehen,  ihn  mit  Brennesseln  peitschen,  Gewürm  und  Mäuse  auf 
seinem  Leibe  herumkriechen  lassen. 


Die  Irrenanstalt. 


629 


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/ 


Während  diese  Verfahren,  die  darauf  berechnet  waren,  durch 
gemütliche  Erschütterungen  die  krankhaften  Störungen  des  Seelen- 
lebens zu  beseitigen,  in  der  Hauptsache  Vorschläge  blieben,  fanden 
andere  Behandlungsmittel  ausgedehnte  Verbreitung.  Die  Kranken 
wurden  in  der  verschiedensten  Weise  gemißhandelt  und  gequält, 
aber  nicht  mehr  aus  Roheit,  sondern  in  der  wohlgemeinten  Ab- 
sicht ärztlicher  Beeinflussung^).  Zum  Teil  handelte  es  sich  dabei 
mehr  um  Sicherungsmittel,  wie  bei  dem  Hineinstecken  des  Kranken 
in  einen  Sack  oder  in  sargartige  Gehäuse,  beim  Festschnallen  auf 
Zwangsstühlen  und  Zwangsbetten,  bei  der  Anwendung  von  Masken 
und  Zwangsjacken;  zugleich  aber  wollte  man  durch  solche  Ver- 
gewaltigungen unmittel- 
bar die  krankhaften  Re- 
gungen unterdrücken, 
ebenso  durch  kalte  Über- 
gießungen und  Duschen. 
Diesem  Zwecke  dienten  ii! 
auch  die  Ekelkuren,  die 
von  C  ox  angegebene 
Drehmaschine,  von  der 
eine  Form  in  Fig.  XXXII 
wiedergegeben  ist,  das 
hohle  Rad,  eine  gepol- 
sterte Trommel,  in  der  die 
Kranken  herumgewir- 
belt wurden,  das  Tretrad,  in  dem  sie  zu  andauernder  Bewegung 
gezwungen  wurden,  um  so  eine  Wiederbelebung  des  Willens  zu 
erzielen. 

Glücklicherweise  sind  diese  Verirrungen  verhältnismäßig  rasch 
überwunden  worden,  und  die  Behandlungswerkzeuge  wanderten 
bald  in  die  Rumpelkammern;  dagegen  erschien  die  Anwendung 
einfacher  mechanischer  Beschränkung  zum  Schutze  gegen  erregte 
Kranke  oder  auch  zu  ihrer  psychischen  Beeinflussung  noch  Jahr- 
zehnte hindurch  als  selbstverständliche  Maßregel.  Lange  und 
schwere  Kämpfe  hat  es  gekostet,  bis  allmählich  Conollys  kühne 
Neuerung  mit  ihren  weitreichenden  Folgen  für  die  gesamte  Ge- 

1)  Schneider,  Entwurf  zu  einer  Heilmittellehre  gegen  psychische  Krank- 
heiten. 1824. 


Fig.  XXXII.  Drehschaukel. 


630 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Staltung  der  Irrenanstalten  überall  als  selbstverständliche  Forde- 
rung betrachtet  wurde. 

Wir  dürfen  es  aber  mit  Stolz  aussprechen,  daß  die  Widerstände 
gegen  den  Fortschritt  weit  weniger  bei  den  Irrenärzten  gelegen 
haben,  als  in  den  äußeren  Verhältnissen,  in  der  Verständnislosig- 
keit  und  Gleichgültigkeit  der  Massen,  in  dem  Mangel  an  ver- 
fügbaren Hilfsmitteln.    Jahrhundertelang  haben  Regierungen  und 
Volk  dem  Elende  der  Geisteskranken  teilnahmlos  zugesehen,  und 
erst,  seitdem  es  Irrenärzte  gibt,  ist  endlich  die  Bewegung  in  Fluß 
gekommen,  die  uns  auf  die  jetzige  Höhe  geführt  hat.   Was  wir 
heute  noch  hie  und  da  etwa  an  Mißbräuchen  und  Übelständen 
sehen,  ist  zumeist  nicht  das  Ergebnis  von  sträflicher  Pflichtver- 
gessenheit und  Vernachlässigung,  sondern  es  sind  die  letzten  Über- 
reste eines  kaum  überwundenen  Zeitalters,  in  welchem  nur  die 
höchsten  und  erleuchtetsten  Geister  für  die  Menschenrechte  der 
Geisteskranken  eintraten.   Dieselben  Irrenärzte,  die  man  bisweilen 
in  merkwürdiger  Verkennung  der  geschichtlichen  Entwicklung  ge- 
wissermaßen als  die  geborenen  Feinde  der  Kranken  und  Gesunden 
zu  brandmarken  beliebt,  sind  es  gewesen,  die  in  mühseliger,  auf- 
opferungsreicher Berufsarbeit  ihren  Pflegebefohlenen  die  Ketten 
gelöst  haben,  in  welche  sie  Roheit  und  Unkenntnis  so  lange  ge- 
schmiedet hatte. 

Die  heutige  Irrenanstalt  ist  ein  Krankenhaus  wie  jedes  andere, 
mit  dem  einzigen,  durch  den  Zustand  ihrer  Bewohner  geforderten 
Unterschiede,  daß  Eintritt,  Behandlungsart  und  Austritt  nicht  vom 
Beheben  des  Kranken,  sondern  unter  gewissen  Einschränkungen 
vom  Urteile  des  sachverständigen  Arztes  abhängen.  Jede  Ein- 
richtung der  Anstalt  dient  daher  in  erster  Linie  dem  Heilzwecke, 
dessen  Erreichung  mit  allen  durch  Wissenschaft  und  Erfahrung 
gelieferten  Hilfsmitteln  erstrebt  wird.  Diese  Aufgabe  sucht  die 
Anstalt  zu  lösen,  indem  sie  zunächst  den  Kranken  mit  einem 
Schlage  der  Einwirkung  jener  täglichen  Reize  entzieht, 
wie  sie  nur  allzuoft  in  seinem  Berufsleben,  in  der  Sorge  für  das 
tägliche  Brot,  in  der  verfehlten  und  verständnislosen  Behandlung 
seitens  der  Angehörigen  und  Freunde,  ja  in  dem  Spotte  und  den 
Neckereien  einer  rohen  Umgebung  auf  ihn  einstürmen.  Er  findet 
sich  wieder  in  einem  geordneten,  vom  Geiste  der  Menschenliebe 
ynd  des  Wohlwollens  durchdrungenen  Hauswesen,  in  dem  ihn 


Die  Irrenanstalt. 


631 


teilnehmendes  Verständnis  für  seinen  Zustand,  liebevolle  Fürsorge 
für  seine  Bedürfnisse  und  vor  allen  Dingen  Ruhe  erwartet.  Sehr 
häufig  ist  daher  auch  eine  sofortige  Beruhigung  der  rasche  Erfolg 
seiner  Versetzung  in  die  Anstalt. 

Leider  verhindern  auch  heute  die  immer  noch  in  der  Menge 
und  selbst  bei  Ärzten  bestehenden  Vorurteile  gegen  die  Anstalt 
vielfach  die  rechtzeitige  Durchführung  dieser  segensreichen  Maß- 
regel.   Die  Trägheit  der  öffentlichen  Meinung  ist,  wie  das  auch 
wohl  auf  anderen  Gebieten  geschieht,  den  raschen  Fortschritten 
der  Irrenfürsorge  nicht  gefolgt,  sondern  betrachtet  die  Anstalten 
noch  immer  mit  jenem  Gemisch  von  Neugier  und  mißtrauischem 
Grauen,  wie  es  vor  einem  Jahrhundert  sicherlich  gerechtfertigt 
war.   Es  erscheint  kaum  glaublich,  wenn  trotz  der  jetzigen  Ent- 
wicklung unseres  Irrenwesens  in  weiten  Kreisen  die  ebenso  un- 
sinnige wie  verhängnisvolle  Vorstellung  fortlebt,  daß  ein  Kranker 
erst  ,,reif"  für  die  Irrenanstalt  werden  müsse,  daß  sein  Zustand 
sich  bei  vorzeitiger  Aufnahme  verschlechtern,  daß  ihn  die  Er- 
kenntnis, in  der  Anstalt  zu  sein,  das  Zusammensein  mit  anderen 
Kranken  rasend  machen  werde.  Damit  verbindet  sich  dann  weiter 
die  aller  Erfahrung  Hohn  sprechende  Meinung,  daß  ein  Gesunder, 
der  etwa  versehentlich  in  eine  Anstalt  eingesperrt  werde,  nun  in- 
folge der  schrecklichen  Eindrücke  sehr  bald  in  Geisteskrankheit 
verfallen  müsse  usf.  Von  einsichtslosen  Kranken  hören  wir  diese 
Überlegungen  alle  Tage  vorbringen;  sie  sind  nur  der  Widerhall 
jener  verderblichen  Bestrebungen,  die  das  glücklicherweise  schwin- 
dende Mißtrauen  gegen  die  Irrenanstalten  durch  urteilslose  Schauer- 
geschichten von  neuem  aufzuregen  suchen.  Indem  sie  dahin  drängen, 
die  Aufnahme  in  die  Anstalten  durch  weitläufige  Förmlichkeiten,  ja 
durch  Anstrengung  eines  eigenen  „Irrenprozesses"  mit  Instanzenzug 
nach  Möglichkeit  zu  erschweren,  betrügen  sie  Tausende  hilfsbedürf- 
tiger Kranker  um  die  Wohltat  rechtzeitiger  Behandlung,  ja  um  die 
Möglichkeit  der  Genesung.   Denn  das  hat  die  Erfahrung  auf  das 
unzweifelhafteste  erwiesen,  daß  die  Aussicht  auf  Heilung  oder  doch 
Besserung  bei  Geistesstörungen  sich  um  so  günstiger  gestaltet,  je 
früher  die  Verbringung  in  eine  geeignete  Anstalt  stattfindet. 

Nur  bei  ganz  leichten  Formen  psychischer  Verstimmung,  bei 
vielen  Formen  des  Entartungsirreseins,  schleichend  verlaufenden 
oder  abgeschlossenen  Verblödungen  u.  dgl.,  und  wenn  die  häus- 


632  V.  Behandlung  des  Irreseins. 

liehen  Verhältnisse  eine  sehr  gute  Überwachung  und  Pflege  ge- 
statten, ist  es  geraten,  von  der  Anstaltsbehandlung  abzusehen. 
In  allen  schwereren,  namentlich  akuten  Erkrankungen  jedoch^ 
und  ganz  unbedingt  dann,  wenn  in  der  Umgebung  des  Kranken 
selbst  Schädlichkeiten  gelegen  sind,  oder  wenn  sich  Selbstmord- 
ideen, Nahrungsverweigerung,  stärkere  Aufregung,  Unreinlichkeit, 
Neigung  zu  Gewalttätigkeiten  einstellen,  ist  die  schleunigste  Ver- 
setzung aus  der  Familie  in  die  Irrenanstalt  geboten.  Das,  was 
die  Irrenanstalt  derartigen  Kranken  bietet,  völlige  Sicherheit, 'sorg- 
samste  Überwachung  und  Pflege  sowie  sachverständige  ärztliche 
Behandlung,  kann  in  der  Häuslichkeit  nur  dann  wenigstens  an- 
nähernd erreicht  werden,  wenn  diese  letztere  selbst  zu  einer  Irren- 
anstalt im  kleinen  umgestaltet  wird,  wie  das  vielleicht  bei  sehr 
großen  Mitteln  ausnahmsweise  einmal  möglich  ist. 

Sehr  dringend  muß  vor  den  vielfachen  unverständigen  Ver- 
suchen gewarnt  werden,  die  herannahende  Geistesstörung  durch 
„Zerstreuungen",  anstrengende  Reisen,  Entziehungs-  und  Kalt- 
wasserkuren abschneiden  zu  wollen,  bevor  man  sich  zu  dem  einzig 
richtigen,  lange  verworfenen  Schritte  der  Verbringung  in  die  An- 
stalt entschließt.  Die  beste  Zeit  zum  erfolgreichen  ärztlichen  Han- 
deln ist  dadurch  verloren  gegangen,  das  Fortschreiten  des  Krank- 
heitsvorganges zu  immer  schwereren  Störungen  begünstigt  worden, 
so  daß  der  Kranke  nach  allen  den  mißglückten  Versuchen  schließ- 
lich öfters  in  fast  hoffnungslosem  Zustande  dem  Irrenarzte  zuge- 
führt  wird.    Obgleich  der  Schwerpunkt  der  Behandlung  Geistes- 
kranker in  der  Irrenanstalt  gelegen  ist,  bleibt  es  daher  eine  über- 
aus wichtige  Aufgabe  des  Hausarztes,  rechtzeitig  die  Entwicklung 
der  Störung  zu  erkennen  und  ohne  viel  Zeitverlust  mit  nutzlosem 
und  häufig  schädlichem  Herumprobieren  die  Versetzung  des  Kranken 
in  die  für  ihn  geeignete  Umgebung  zu  veranlassen  i).    Von  be- 
sonderem Werte  wird  es  dabei  sein,  wenn  er  durch  eine  sachver- 
ständige Krankengeschichte  dem  Anstaltsarzte  Aufschlüsse  über 
den  Beginn  und  bisherigen  Verlauf  des  Leidens  zu  geben  vermag, 
da  ja  die  Aussagen  des  Kranken  und  selbst  der  Angehörigen  über 
diesen  Punkt  nicht  selten  recht  wenig  zuverlässig  sind. 

1)  Hoche,  Die  Aufgaben  des  Arztes  bei  der  Einweisung  in  die  Irrenanstalt. 
1900;  Gast par,  Die  Behandlung  Geisteskranker  vor  ihrer  Aufnahme  in  die  Irren- 
anstalt. 1902. 


Die  Irrenanstalt.  633 

Über  die  Förmlichkeiten,  unter  denen  die  Verbringung  des 
Kranken  in  die  Anstalt  zu  geschehen  hat,  bestehen  in  den  ein- 
zelnen Ländern  verschiedenartige  Bestimmungen^).  Abgesehen  von 
den  freiwilligen  Aufnahmen,  die  glücklicherweise  vielfach  schon 
möglich  sind,  wird  dabei  regelmäßig  die  Einwilligung  der  nächsten 
Angehörigen  oder  die  Einweisung  durch  eine  Behörde  verlangt, 
außerdem  ein  oder  mehrere  ärztliche  oder  amtsärztliche  Zeug- 
nisse über  das  Vorhandensein  einer  Geistesstörung  und  die  Not- 
wendigkeit der  Anstaltsbehandlung.  Vielfach  besteht  dabei  der 
Grundsatz,  daß  in  Notfällen  die  Aufnahme  des  Kranken  durch 
das  Fehlen  eines  oder  des  anderen  schriftlichen  Nachweises  nicht 
verzögert  werden  soll,  sondern  der  Anstaltsarzt  nach  Befinden 
das  Recht  hat,  den  Kranken  fürsorglich,  gegen  Nachlieferung  der 
Papiere,  aufzunehmen.  Das  ist  namentlich  deswegen  notwendig, 
weil  sonst  die  erregten  Kranken  zunächst  unfehlbar  ganz  formlos 
in  irgend  einem  ungeeigneten  Gelaß,  bestenfalls  in  der  Tobzelle 
eines  Krankenhauses,  eingesperrt,  im  Bette  geknebelt,  festgebun- 
den und  gebändigt  werden,  wenn  sie  nicht  davonlaufen,  sich  um- 
bringen oder  allerlei  Unheil  anrichten.  Im  großen  und  ganzen 
geht  das  Bestreben  aller  Einsichtigen  dahin,  die  Aufnahme  in 
allen  unzweifelhaften  Fällen  geistiger  Störung  nach  Möglichkeit 
zu  erleichtern,  da  die  ,, papierenen  Ereignisse"  die  Wirkung,  die 
man  ihnen  zuschreibt,  nämlich  widerrechtliche  Freiheitsberau- 
bungen zu  verhindern,  in  keiner  Weise  ausüben,  sondern  nur  die 
Hilfeleistung  verzögern.  Die  Sicherung  vor  Mißbräuchen  beruht, 
abgesehen  vom  Strafgesetze,  genau  wie  bei  der  Rechtspflege,  auf 
der  persönlichen  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit  der  Irrenärzte. 
Es  ist  in  dieser  Hinsicht  bezeichnend,  daß  trotz  aller  Schauer- 
geschichten, die  sogar  in  den  Volksvertretungen  vorgebracht  worden 
sind,  in  Deutschland  noch  niemals  ein  Irrenarzt  wegen  widerrecht- 
licher Freiheitsberaubung  verurteilt  wurde.  Tatsächlich  habe  ich 
selbst  Gelegenheit  gehabt,  10  Jahre  hindurch  alle  meine  Kranken 
ohne  irgendwelche  Papiere  aufzunehmen,  und  ich  habe  keine 
nennenswerten  Unzuträglichkeiten  daraus  erwachsen  sehen.  Frei- 
lich ist  die  Verantwortlichkeit  für  den  Irrenarzt  selbst  unter  diesen 
Umständen  eine  viel  größere,  als  wenn  er  sich  überall  auf  gesetz- 

1)  Burger ,  Die  Aufnahme  von  Geisteskranken  in  Irrenanstalten  in  den  größeren 
deutschen  Staaten.  1905. 


634 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


liehe  Vorschriften  berufen  kann,  aber  er  ist  als  Sachverständiger 
auch  am  meisten  dazu  befähigt,  sie  zu  tragen,  und  die  Kranken 
befinden  sich  dabei  ohne  Zweifel  am  wohlsten. 

Trotzdem  ist  natürlich  in  allen  schwierigeren  Fällen  die  vor- 
herige Erledigung  aller  Förmlichkeiten  gerade  dem  Anstaltsarzte 
dringend  erwünscht,  damit  wenigstens  ein  Teil  der  Last  auf  frem- 
den Schultern  ruht,  die  ihm  aus  dem  unerquicklichen  und  undank- 
baren Festhalten  widerstrebender,  besonnener  Kranker  in  der  An- 
stalt regelmäßig  zu  erwachsen  pflegt.  Wir  Irrenärzte  würden  daher 
vom  Standpunkte  unserer  Bequemlichkeit  gegen  eine  Erschwerung 
der  Aufnahmen  in  die  Anstalten  nicht  das  geringste  einzuwenden 
haben.  Man  versuche  aber  die  Durchführung  einer  solchen  „Re- 
form" auch  nur  ein  einziges  Jahr  lang  wirklich  in  irgend  einem 
Landesteile,  so  würden  die  papierenen  Verbesserungsvorschläge 
schneidiger  Juristen  und  ihrer  sachverständigen  Halbirrenärzte 
von  einem  Sturme  der  Entrüstung  über  die  mangelhafte  Irren- 
fürsorge hinweggefegt  werden.  Es  bedarf  nur  eines  Blickes  in  un- 
sere Tageszeitungen,  um  einen  klaren  Begriff  von  der  Größe  des 
Unheils  zu  gewinnen,  welches  noch  jetzt  tagtäglich  Geisteskranke 
in  der  Freiheit  über  sich  und  ihre  Umgebung  heraufbeschwören. 
Rechtzeitige  Fürsorge  für  diese  Unglücklichen  könnte  ohne  Zweifel 
einen  großen  Teil  der  sich  immer  wiederholenden  Selbstmorde, 
Familientötungen,  Angriffe,  Brandstiftungen,  der  Geldverschleude- 
rungen und  geschlechtlichen  Ungeheuerlichkeiten  verhüten,  die  wir 
als  etwas  ganz  Selbstverständliches  hinzunehmen  pflegen.  Wer 
den  traurigen  Mut  findet,  diese  unerschöpfliche  Summe  mensch- 
lichen Elends  noch  vergrößern  zu  wollen,  der  beweist  dadurch  nur, 
daß  er  keine  Ahnung  von  dem  zerstörenden  Einflüsse  besitzt,  den 
schon  ein  einzelner  Geisteskranker  auf  die  Familie  ausübt,  die  für 
ihn  zu  sorgen  gezwungen  ist.  Gewiß  sind  nicht  alle  Geisteskranken 
gefährlich,  aber  es  gibt  wenige,  die  es  nicht  einmal  werden  können. 
Ich  habe  daher  auch  überall  die  Schwierigkeiten  größer  gefunden, 
unheilbare,  halbwegs  entlassungsfähige  Pfleglinge  wieder  loszu- 
werden, als  gemeingefährliche  Kranke  gegen  ihren  Willen  in  der 
Anstalt  festzuhalten. 

Die  Versetzung  eines  Kranken  in  die  Anstalt  ist  für  ihn  mit 
gewissen  Beschränkungen  verknüpft,  deren  Berechtigung  eben 
durch  die  Aufnahmeförmlichkeiten  gegeben  werden  soll.   Er  kann 


Die  Irrenanstalt. 


635 


die  Anstalt  nicht  ohne  Zustimmung  seiner  Angehörigen  oder  der 
ihn  einUefernden  Behörde  verlassen,  und  er  muß  sich  den  ärzt- 
lichen Anordnungen  fügen,  deren  Durchführung  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  erzwungen  werden  kann.  Auch  sein  Verkehr  mit 
der  Außenwelt,  das  Empfangen  von  Besuchen,  das  Absenden  und 
Erhalten  von  Briefen,  erfährt  die  von  ärztlicher  Seite  für  nötig 
gehaltene  Überwachung.  Die  älteren  Irrenärzte  waren  nach  allen 
diesen  Richtungen  zu  sehr  geneigt,  ihre  Kranken  abzuschließen, 
was  das  Mißtrauen  gegen  die  Anstalten  vielfach  genährt  hat.  Die 
Schädlichkeit  von  Besuchen  wurde  überschätzt.  Wenn  es  auch  genug 
Fälle  gibt,  in  denen  die  Besuche  aus  ärztlichen  Gründen  besser  ein- 
geschränkt werden,  und  wenn  sich  der  Arzt  bei  ungeeignetem  Be- 
nehmen der  Besucher  auch  sein  Hausrecht  wahren  muß,  so  habe 
ich  es  doch  schon  seit  langen  Jahren  zweckmäßig  gefunden,  Be- 
sucher, die  dem  Kranken  wirklich  nahe  standen,  nur  ganz  aus- 
nahmsweise einmal  abzuweisen.  Es  scheint  mir  ein  wichtiges 
Hilfsmittel  zur  Beseitigung  eingewurzelter  Vorurteile  zu  sein,  Be- 
suchern ohne  weiteres  in  jeden  Raum  der  Anstalt,  nach  Umständen 
selbst  in  die  Dauerbäder,  Zutritt  zu  gewähren.  Das  schlimmste, 
was  sie  irgendwo  sehen  mögen,  ist  immer  noch  nicht  entfernt  so 
schlimm  wie  die  Vorstellungen,  mit  denen  der  Laie  die  Anstalt  zu 
betreten  pflegt. 

Die  Überwachung  des  Briefwechsels  der  Kranken  ist  eine  ebenso 
lästige  wie  undankbare  Aufgabe.  Nur  in  vereinzelten  Fällen  er- 
scheint mir  ein  Durchlesen  der  eingehenden  Briefe  nötig.  Die 
abgehenden  Briefe  werden  am  besten  einer  Vertrauensperson  des 
Kranken  zugesandt,  die  über  ihre  Beförderung  bestimmen  mag. 
Beschwerdebriefe  von  nicht  entmündigten  Kranken  an  Behörden 
müssen  natürlich  unbedingt  befördert  werden.  Wenn  man  Briefe, 
die  man  für  ungeeignet  hält,  ohne  Vorwissen  des  Kranken  zurück- 
hält, zerstört  man  dessen  Vertrauen  und  damit  die  Grundlage 
weiterer  Behandlung. 

Die  weitgehenden  Eingriffe  in  die  persönliche  Freiheit,  die  mit 
der  Verbringung  in  die  Anstalt  verknüpft  sind,  machen  eine  sehr 
sorgsame  Überwachung  des  Anstaltswesens  durch  die  staatliche 
Gewalt  unerläßlich,  wie  sie  auch  überall  durchgeführt  worden  ist. 
Die  weit  überwiegende  Zahl  von  Geisteskranken  befindet  sich  in 
Staatsanstalten.    Daneben  bestehen  freilich  auch  Privatanstalten, 


636 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


die  jedoch  vom  Staate  beaufsichtigt  werden.  Sie  dienen  zumeist 
der  Unterbringung  solcher  wohlhabender  Kranker,  die  besonders 
hohe  Ansprüche  an  Ausstattung  und  Verpflegung  stellen.  Als  ein 
Übelstand  muß  es  bezeichnet  werden,  daß  an  die  ärztliche  Vor- 
bildung und  Erfahrung  ihrer  Leiter  vom  Staate  nicht  im  entfern- 
testen diejenigen  Anforderungen  gestellt  werden,  die  von  den  Leitern 
öffentlicher  Anstalten  erfüllt  werden  müssen. 

Zu  den  Hilfsmitteln,  die  der  Irrenanstalt  für  die  Behandlung 
geistiger  Störungen  zur  Verfügung  stehen,  gehören  in  erster  Linie 
die  in  ihrem  Fache  besonders  ausgebildeten  Ärzte,  über  deren 
sonstige  notwendige  Eigenschaften  wir  schon  oben  gesprochen 
haben.    Wir  dürfen  nicht  verhehlen,  daß  wir  in  diesem  Punkte 
das  Erstrebenswerte  noch  nicht  erreicht  haben i).    Der  Beruf  des 
Irrenarztes,  insbesondere  des  Anstaltsleiters,  ist  ein  recht  schwerer 
und  entsagungsvoller.    Die  Vereinsamung  in  den  meist  fern  vom 
Verkehr  gelegenen  Anstalten,  die  große  Verantwortlichkeit,  der  auf- 
reibende, unausgesetzte  Verkehr  mit  Geisteskranken,  die  Hoff- 
nungslosigkeit des  ärztlichen  Tuns  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  die 
unbefriedigende  wirtschaftliche  Lage,  endlich  die  Überhäufung  mit 
reinen  Verwaltungsaufgaben  stellen  sehr  bedeutende  Anforderungen 
an  die  Berufsfreudigkeit  und  die  geistige  Spannkraft.  Neigung  und 
Fähigkeit  zu  wissenschaftlicher  Fortbildung,  zur  Anregung  und 
Erziehung  der  jüngeren  Ärzte  werden  dadurch  in  empfindlicher 
Weise  beeinträchtigt.   Dazu  kommt,  daß  fast  überall  die  Zahl  der 
an  den  Anstalten  vorgesehenen  Ärzte  viel  zu  gering  ist,  daß  ein 
einziger  Arzt  nicht  selten  für  150—200,  ja  noch  mehr  Kranke  zu 
sorgen  hat,  endlich  daß  ein  Übertritt  in  andere  ärztliche  Lauf- 
bahnen äußerst  schwierig  ist.  So  wird  es  denn  erklärlich,  daß  auch 
die  vorhandenen  Stellen  vielfach  nur  ungenügend  oder  gar  nicht 
besetzt  sind.    Überlastung  des  einzelnen,   Ertötung  der  Berufs- 
freudigkeit und  rascher  Verbrauch  sind  die  unausbleiblichen  Folgen. 

Da  die  Weiterentwicklung  unserer  Irrenfürsorge  durchaus  ab- 
hängig ist  von  dem  Verständnisse  und  der  Leistungsfähigkeit  des 
irrenärztlichen  Standes,  erwachsen  hier  dem  Staate  wichtige  Auf- 
gaben.  Der  Hauptnachdruck  ist  darauf  zu  legen,  daß  vor  allem 

1)  Hoppe,  Die  Stellung  der  Ärzte  an  den  öffentlichen  Irrenanstalten.  1902; 
Vocke,  Über  die  Lage  des  irrenärztlichen  Standes,  1906;  Siemens,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  1907,  464. 


Die  Irrenanstalt. 


637 


die  Zahl  der  selbständigen  und  behaglichen  Lebensstellungen,  die 
dem  Irrenarzte  erreichbar  sind,  erheblich  vergrößert  wird.  Die 
Neigung,  immer  größere  Anstalten  zu  bauen,  andererseits  die  an 
sich  glückliche  und  notwendige  Einrichtung  einer  rein  ärztlichen 
Oberleitung  bringt  es  mit  sich,  daß  nur  ein  unverhältnismäßig 
kleiner  Teil  der  Anstaltsärzte  die  Aussicht  hat,  einmal  in  leitende 
und  damit  wirklich  selbständige  Stellungen  zu  gelangen.  Dadurch 
wird  das  Verantwortlichkeitsgefühl  und  mit  ihm  die  Berufsfreudigkeit 
der  Ärzte  in  empfindlichster  Weise  abgeschwächt,  um  so  stärker, 
je  mehr  der  Anstaltsleiter  von  der  ihm  zustehenden  Befugnis  Ge- 
brauch macht,  in  alle  Kleinigkeiten  des  Dienstes  dauernd  oder 
unvermittelt  hineinzureden.  Mit  Recht  ist  vielfach  darauf  hinge- 
wiesen worden,  daß  keine  andere  ärztlighe  Laufbahn  in  gleichem 
Maße  die  Schattenseite  langdauernder  Unselbständigkeit  mit  sich 
bringt.  Wenn  die  Arbeitsfreudigkeit  des  Standes  erhalten  und  ein 
leistungsfähiger  Nachwuchs  gewonnen  werden  soll,  so  wäre  hier 
vor  allem  der  Hebel  einzusetzen,  sei  es  durch  eine  Verkleinerung 
der  Anstalten,  sei  es  durch  eine  kollegiale  Umgestaltung  des  ärzt- 
lichen Dienstes,  die  den  älteren  Mitarbeitern  auf  ärztlichem  Ge- 
biete volle  Selbständigkeit  und  Verantwortlichkeit  einräumt. 

Wenn  wir  absehen  von  der  weiteren  selbstverständlichen  und 
an  manchen  Orten  auch  bereits  befriedigten  Forderung  voll  aus- 
reichender Entschädigung  für  die  entsagungsvolle  Berufsarbeit,  so 
wäre  namentlich  noch  darauf  Gewicht  zu  legen,  daß  mit  allen 
Hilfsmitteln  auch  den  Anstaltsärzten  die  stetige,  lebendige  Fühlung 
mit  den  wissenschaftlichen  Bestrebungen  erhalten  wird,  durch  Ent- 
lastung von  Verwaltungsgeschäften,  Beschaffung  wissenschaftlicher 
Hilfsmittel,  Büchereien,  Fortbildungskurse,  Ermöglichung  von 
wissenschaftlichen  Reisen  und  fachärztlicher  Ausbildung  auf  dem 
einen  oder  anderen  medizinischen  Gebiete.  Es  ist  eine  äußerst 
kurzsichtige  Anschauung,  wenn  man  bisweilen  geglaubt  hat,  daß 
durch  die  wissenschaftliche  Beschäftigung  dem  Krankendienste  Zeit 
und  Arbeitskraft  entzogen  werde ;  gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall. 
Nur  die  wissenschaftliche  Betrachtung  seines  Gegenstandes  ist  im- 
stande, den  Irrenarzt  einigermaßen  für  die  Schattenseiten  seines 
Berufes  zu  entschädigen,  ihm  die  Frische  zu  erhalten  und  ihn 
vor  einer  handwerksmäßigen  Erledigung  der  Tagesgeschäfte  zu 
bewahren.    Rechnet  man  hinzu,  daß  allein  die  Möglichkeit  zu 


638 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


wissenschaftlicher  Vertiefung  der  Berufstätigkeit  auf  die  Dauer 
tüchtige  Kräfte  heranziehen  wird,  so  kann  darüber  kein  Zweifel 
sein,  daß  die  Förderung  wissenschaftlicher  Bestrebungen  die  reich- 
sten Früchte  auch  für  die  praktische  Krankenfürsorge  trägt.  Sache 
der  Kliniken  wird  es  sein,  für  diese  Tätigkeit  die  Anregungen  zu 
geben,  wie  umgekehrt  viele  klinische  Aufgaben  von  allergrößter 
Wichtigkeit  nur  durch  die  Anstaltsärzte  in  Angriff  genommen  und 
gelöst  werden  können.  Als  ein  besonders  wertvolles  Mittel  zur 
Pflege  dieser  für  beide  Teile  so  wertvollen  Beziehungen  wäre  ein 
häufiger  Austausch  der  Ärzte  an  Anstalten  und  Kliniken  für  kürzere 
oder  längere  Zeit  zu  erwähnen. 

Fast  noch  brennender,  als  die  Frage  einer  genügenden  ärzt- 
lichen Fürsorge  für  unsere  Kranken,  ist  diejenige  der  Beschaffung 
eines  geeigneten  Pflegepersonals i).  Alle  Irrenärzte  sind  darin 
einig,  daß  die  Lösung  dieser  Aufgabe  zurzeit  ebenso  dringend  wie 
schwierig  ist.  Dem  Pflegepersonal  müssen  wir  unsere  Kranken 
dauernd  anvertrauen,  ohne  es  doch  mehr  als  immer  nur  vor- 
übergehend überwachen  zu  können.  Westphal  hat  es  als  das 
größte  Übel  im  Berufe  des  Irrenarztes  bezeichnet,  daß  er  niemals 
sicher  weiß,  was  mit  seinen  Kranken  geschieht,  sobald  er  den 
Rücken  wendet.  Der  Beruf  des  Irrenpflegepersonals  erfordert 
nicht  nur  ein  hohes  Maß  geistiger  und  körperlicher  Gesundheit, 
sondern  auch  außerordentlich  viel  Geduld,  Opferwilligkeit,  Selbst- 
beherrschung und  Verstand.  Es  ist  sicher,  daß  nur  ein  sehr  kleiner 
Teil  des  vorhandenen  Personals  diesen  Anforderungen  wenigstens 
annähernd  entspricht,  zumal  die  äußere  Entschädigung,  die  man 
zu  bieten  pflegt,  in  gar  keinem  Verhältnisse  zu  der  Schwierigkeit 
der  auferlegten  Pflichten  steht.  Alle  Versuche,  in  irgend  größerem 
Umfange  gebildete  Persönlichkeiten  für  die  Irrenpflege  heranzu- 
ziehen, sind  bei  uns  bisher  gescheitert. 

Als  ein  besonders  bedenklicher  Umstand  ist  die  Erfahrung  zu 
betrachten,  daß  auch  die  wirklich  tüchtigen  und  dienstwilligen 
Kräfte  häufig  genug  nach  kürzerer  oder  längerer  Dienstzeit  er- 
lahmen und  sich  in  der  überaus  aufreibenden  Tätigkeit  verbrauchen. 
Zum  Teil  hängt  das  mit  der  Anziehungskraft  zusammen,  die  der 
Beruf  der  Irrenpflege,  wie  derjenige  des  Irrenarztes,  auf  psycho- 

1)  Hoppe,  Centralbl.  f.  Psychiatrie,  1892,  529;   1895,  63,  165;  Ludwig, 
AUgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  io8;  Hoppe,  ebenda,  1905,  477. 


Die  Irrenanstalt. 


639 


pathisch  veranlagte  Personen  ausübt,  zum  Teil  aber  wohl  auch 
mit  den  aufreibenden  Einflüssen  der  Tätigkeit  selbst.  Einzelne  er- 
fahrene Irrenärzte  halten  es  daher  für  unzweckmäßig,  die  Irren- 
pflege überhaupt  zu  einem  Lebensberufe  zu  gestalten,  sondern 
verlangen  die  Heranziehung  immer  neuer  Kräfte  an  Stelle  der  nach 
einer  Anzahl  von  Jahren  abgenutzten  Personen.  Ich  selbst  war 
lange  geneigt,  diese  Lösung  der  Pflegerfrage  für  die  richtigste  zu 
halten,  bin  aber  durch  neuere  Erfahrungen  wie  durch  das  Bei- 
spiel jener  Länder,  die  uns  in  diesem  Punkte  voraus  sind,  zu 
der  Meinung  gekommen,  daß  die  Schädigung  des  Pflegepersonals 
durch  den  Dienst  nicht  unvermeidlich  ist.  Wir  bedürfen  nur 
nach  verschiedenen  Richtungen  hin  einer  Änderung  unserer  Ein- 
richtungen. 

Ohne  Zweifel  hat  schon  jetzt  in  guten,  nicht  überfüllten  Anstalten 
der  Dienst  einen  großen  Teil  der  aufreibenden  Schädlichkeiten  ver- 
loren, die  er  früher  besaß.  Mit  der  Bett-,  Bade-  und  Arbeitsbehand- 
lung der  Kranken  und  namentlich  auch  dem  Fortfall  der  Isolierung 
hat  die  Unruhe  der  Kranken  wie  ihre  Neigung  zu  Unsauberkeit 
und  Gewalttätigkeit  in  geradezu  erstaunlicher  Weise  abgenommen, 
wie  ich  es  in  meiner  Klinik  an  den  mir  von  früher  her  in  schlimmster 
Erinnerung  stehenden  oberbayrischen  Kranken  erlebt  habe;  die 
Reibungsflächen  zwischen  Kranken  und  Pflegepersonal  sind  weit 
geringere  geworden.  Rechnet  man  dazu  noch  das  Fortfallen  der 
nächtlichen  Störungen  und  Aufregungen  für  die  bei  Tage  Dienst 
tuenden  Pfleger  durch  die  Ausdehnung  und  Umgestaltung  der 
Nachtwachen,  so  können  die  Beschwerden  des  Dienstes  heute  mit 
denen,  die  unser  Personal  noch  vor  15—20  Jahren  zu  ertragen 
hatte,  gar  nicht  verglichen  werden. 

Deswegen  dürfen  wir  aber  nicht  übersehen,  daß  noch  vieles 
getan  werden  kann  und  muß,  was  die  Lage  unserer  Pfleger  ver- 
bessert, ihre  Widerstandsfähigkeit  erhält  und  damit  uns  auch  im- 
mer höher  stehende  Kräfte  zu  gewinnen  gestattet.  Dahin  gehört 
ausreichende  Sicherung  ihrer  wirtschaftlichen  Stellung  und  Alters- 
versorgung, Ermöglichung  befriedigenden  Familienlebens,  sodann 
Abkürzung  der  Dienstzeit,  Gewährung  genügender  Urlaubs-  und 
Erholungszeiten,  Einrichtung  behaglicher  Wohnungen  und  eigener 
Erholungsräume.  Weiterhin  aber  wird  es  Aufgabe  der  Ärzte  sein, 
einerseits  durch  berufliche  Einübung  und  regelmäßige  Unterweisungs- 


640 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


stunden!)  mit  oder  ohne  nachfolgende  Prüfung,  andererseits  durch 
allgemeine  erziehliche  Einwirkungen  bei  unserem  Pflegepersonale 
immer  mehr  dasjenige  Maß  von  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit 
zu  erreichen,  welches  die  Pflege  unserer  Kranken  durchaus  er- 
fordert. 

Besondere  Bedeutung  hat  in  jüngster  Zeit  die  Frage  nach  der 
Verwendung  weiblichen  Pflegepersonals  auf  den  männlichen  Ab- 
teilungen 2)  gewonnen.  Obgleich  die  weibliche  Pflege  derjenigen  durch 
Männer  unbestritten  überlegen  ist,  hat  man  sich  doch  aus  naheliegen- 
den Gründen  immer  gescheut,  männliche  Geisteskranke  durch  Frauen 
pflegen  zu  lassen.  Erst  das  zielbewußte  Vorgehen  vanDeventers 
hat  gezeigt,  daß  die  früher  gehegten  Bedenken  nur  zum  Teile  be- 
rechtigt sind.   In  den  Dauerbädern  freilich,  bei  sehr  gewalttätigen 
und  geschlechtlich  erregten  Kranken  werden  nur  männliche  Pfleger 
am  Platze  sein.    Dagegen  übt  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Kranken  die  weibliche  Pflege  auch  nach  meinen  Erfahrungen  einen 
ungemein  wohltätigen  Einfluß  aus.   Es  läßt  sich  nicht  verkennen, 
daß  Ordnung,  Sauberkeit  und  Behaglichkeit  gefördert  werden,  daß 
Ruhe  und  Zufriedenheit  in  höherem  Grade  herrschen,  als  unter 
den  rauheren  Sitten  des  männlichen  Personals.    Am  leichtesten 
läßt  sich  diese  Einrichtung,  die  gewiß  einen  erheblichen  Fortschritt 
bedeutet,  mit  Ordensschwestern  durchführen,  doch  lehren  die  in 
Holland  und  Schottland  gemachten  Erfahrungen,  daß  bei  sorg- 
fältiger Auswahl  auch  mit  weltlichem  Personal  die  Einführung 
weiblicher  Pflege  auf  den  Männerabteilungen  möglich  ist. 

Jede  Irrenanstalt  gliedert  sich  naturgemäß  in  eine  größere  oder 
kleinere  Zahl  verschieden  ausgestatteter  Abteilungen^)  für  die 
einzelnen  Gruppen  der  Kranken  (Unruhige,  Halbruhige,  Ruhige, 
Gebrechliche,  körperlich  Kranke,  Überwachungsbedürftige  usf.)  ; 
sie  enthält  außerdem  die  allgemeinen  Einrichtungen  sonstiger 
Krankenhäuser.   Im  übrigen  aber  drängt  die  Verschiedenartigkeit 

1)  Mercklin,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  u.  Psychiatrie,  1896,  457;  Snell, 
Grundzüge  der  Irrenpflege.  1897;  Leitfäden  von  Schröter  (1897),  Tippel  (1897), 
Schloß  (3.  Aufl.  1903),  Scholz  (6.  Aufl.  1908),  Falkenberg  (2.  Aufl.  1909). 

2)  Robertson,  Journal  of  mental  science,  1902,  261;  1906,  116;  Turnbull, 
ebenda,  1903,  629;  Engelken,  Psychiatrische  Wochenschr.,  1905,  381. 

3)  Parchappe,  Des  principes  ä  suivre  dans  la  fondation  et  la  construction 
des  asiles  d'alienes.  1853;  Kolb,  Sammelatlas  für  den  Bau  von  Irrenanstalten. 
1907;  Würth,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LXII,  79. 


Die  Irrenanstalt. 


641 


der  Aufgaben,  welche  die  Irrenanstalt  je  nach  der  Eigenart  ihrer 
Bewohner  zu  erfüllen  hat,  mit  Notwendigkeit  auf  eine  Arbeits- 
teilung hin,  auf  eine  verschiedene  Ausbildung  der  Anstalten  nach 
ihren  besonderen  Zwecken.  Freilich  ist  die  früher  meist  aufrecht 
erhaltene  Trennung  in  Heil-  und  Pflegeanstalten  als  unzweck- 
mäßig und  undurchführbar  fast  überall  verlassen  worden.  Anstatt 
dessen  beginnt  sich  immer  mehr  die  Scheidung  zwischen  kleineren, 
leicht  erreichbaren,  für  rasch  verlaufende  Fälle,  vorläufige  Unter- 
bringung und  nach  Umständen  auch  für  den  Unterricht  geeig- 
neten Stadtasylen^)  und  den  größeren,  auf  längere  Pflege  oder 
dauernde  Versorgung  eingerichteten,  mehr  abseits  gelegenen  Irren- 
anstalten herauszubilden.  Den  Stadtasylen  fällt  dabei  die  Auf- 
gabe zu,  aus  dem  ganzen  fortwährend  zufließenden  Kranken- 
materiale  die  für  die  Anstalten  passenden  Fälle  auszuwählen  und 
sie  ihnen  zu  überweisen.  Zugleich  würden  die  Ärzte  des  Stadt- 
asyls die  natürlichen  Berater  in  den  zahlreichen  psychiatrischen 
Fragen  des  täglichen  Lebens  sein  können,  wie  sie  die  Rechtspflege, 
die  Schulhygiene,  der  Schutz  der  Volksgesundheit  und  Wehrkraft 
mit  sich  bringt;  sie  wären  auch  geeignet,  psychiatrische  Kurse 
für  Ärzte,  Krankenpfleger,  Lehrer,  Schutzleute  abzuhalten.  Leider 
besteht  bei  uns  zurzeit  noch  wenig  Geneigtheit  zur  Errichtung 
von  Stadtasylen,  weil  die  Irrenfürsorge  in  erster  Linie  als  An- 
gelegenheit des  Staates  angesehen  wird. 

Die  Einrichtung  des  Stadtasyls  ist  wegen  der  Eigenart  der  ihm 
zufließenden  Kranken  beherrscht  von  der  Rücksicht  auf  eine  mög- 
lichst vollständige  und  unausgesetzte  Überwachung.  Dieser  Grund- 
satz ist  zuerst  von  Parchappe  in  den  sogenannten  Wach- 
abteilungen  verwirklicht  worden,  in  denen  das  Wartpersonal  die 
Kranken  Tag  und  Nacht  unter  Augen  hatte,  um  jederzeit  Hilfe 
zu  leisten  oder  Unglück  zu  verhüten.  Einer  derartigen  Über- 
wachung bedürfen  nach  unseren  heutigen  Anschauungen  sehr 
viele  Kranke,  die  sich  selbst  Gefährlichen,  die  Nahrungsverwei- 
gerer, die  Unreinlichen,  die  körperlich  Kranken  und  Gebrechlichen, 
endlich  die  Unruhigen  und  Gewalttätigen.  In  einem  Stadtasyl 
bilden  diese  Klassen  von  Kranken  mindestens  Vs — %  «i^s  Be- 

1)  Griesinger,  Archiv  f.  Psychiatrie,  I,  8;  Sioli,  Allgem.  Zeitschr.,  LV,  826; 
LVII,  600;  Dannemann,  Bau,  Einrichtung  und  Organisation  psychiatrischer 
Stadtasyle.  1901. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl.  4^ 


642 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Standes.  Es  liegt  indessen  auf  der  Hand,  daß  diese  so  verschieden- 
artigen Kranken  sich  nicht  ohne  die  größten  gegenseitigen  Stö- 
rungen in  einer  Abteilung  unterbringen  lassen.  Vielmehr  werden 
für  jedes  Geschlecht  mindestens  zwei  Wachabteilungen  notwendig 
sein,  eine  für  ruhige,  eine  andere  für  unruhige  Kranke.  Kann 
man  noch  weiter  gehen  und  namentlich  die  Gebrechlichen  und 
Unreinlichen  abtrennen  —  um  so  besser. 

Jede  Wachabteilung  wird  zweckmäßig  aus  mehreren,  anein- 
anderstoßenden, aber  leicht  übersehbaren  Räumen  bestehen,  damit 
man  eine  gewisse  Sonderung  der  sich  störenden  Kranken  vor- 
nehmen kann.  Die  einzelnen  Säle  sollen  aus  Gründen  der  Behag- 
lichkeit und  der  Individualisierung  nicht  zu  groß  sein,  möglichst 
nicht  mehr  als  8 — 12  Betten  enthalten;  daneben  sind  noch  einige 
an  die  Haupträume  anstoßende  und  von  da  zu  überwachende 
Einzelzimmer  für  i — 2  Kranke  vorzusehen,  die  aus  irgendwelchen 
Gründen  abgetrennt  werden  sollen  oder  wollen.    Steht  keine  be- 
sondere Abteilung  für  körperlich  Kranke  zur  Verfügung,  so  werden 
in  solchen  Einzelzimmern  namentlich  auch  tuberkulöse  Kranke 
zu  behandeln  sein,  deren  Absperrung  in  Irrenanstalten  besonders 
wichtig  ist.    Die  Selbstmordverdächtigen  sind  unter  allen  Um- 
ständen so  unterzubringen,  daß  sie  keinen  Augenblick  außer  acht 
gelassen  werden;  nach  Bedarf  muß  für  einzelne  Kranke  eine  be- 
sondere Wache  eingestellt  werden.    Die  Unterbringung  solcher 
Kranker  in  einzelnen  Zimmern  mit  eigener  Aufsicht,  wie  sie  von 
den  Angehörigen  besserer  Stände  oft  gewünscht  wird,  bietet  weit 
geringere  Sicherheit  und  ist  daher  in  bedenklichen  Fällen  durch- 
aus zu  widerraten.  Ich  habe  es  übrigens  oft  erlebt,  daß  besonnene 
Kranke  selbst  die  Verlegung  von  der  Wachabteilung  ablehnten, 
weil  sie  sich  dort  geborgener  fühlten.  Die  für  Selbstmordverdäch- 
tige bestimmten  Räume  sollten  unbedingt  zu  ebener  Erde  liegen. 
Ist  das  nicht  durchführbar,  so  halte  ich  die  Vergitterung  der  Fenster, 
am  besten  mit  weit  ausladenden,  blumenbesetzten  Korbgittern, 
obgleich  man  sich  zumeist  dagegen  zu  sträuben  pflegt,  für  un- 
erläßlich, da  mir  die  Erfahrung  leider  mehrfach  gezeigt  hat,  daß 
ohne  diese  Sicherung  gefährliche  Selbstmordversuche  nicht  zu- 
verlässig verhütet  werden  können.   Man  kann  dann  auf  besondere 
Fensterverschlüsse  verzichten  und  den  Kranken  die  Wohltat  gewäh- 
ren, nach  Belieben  die  Fenster  öffnen  und  hinausschauen  zu  dürfen. 


Die  Irrenanstalt. 


643 


Die  allgemeine  Einrichtung  der  Säle  und  Zimmer  ist  voll- 
kommen diejenige  eines  gewöhnlichen  Krankenhauses,  mit  dem 
einzigen  Unterschiede,  daß  die  Türen  verschlossen  gehalten  werden, 
und  daß  nach  Möglichkeit  alles  vermieden  ist,  was  zu  Selbstver- 
letzungen Gelegenheit  geben  könnte;  außerdem  wird  man  mit 
Rücksicht  auf  den  Seelenzustand  der  Kranken  bestrebt  sein,  den 
Räumen  durch  freundliche  Ausstattung  eine  gewisse  Behaglichkeit 
zu  verleihen. 

Die  Hauptforderung  der  Übersichtlichkeit  läßt  das  früher  be- 
liebte Korridorsystem  für  Wachabteilungen  unzweckmäßig  er- 
scheinen. Die  für  Kranke  bestimmten  Räume  müssen  ohne  weiteres 
von  jedem  Punkte  aus  der  Überwachung  zugänglich  sein;  Neben- 
räume sind  entweder  ganz  zu  vermeiden  oder  so  zu  legen,  daß  sie 
für  die  Kranken  unzugänglich  sind.  Eine  besondere  Schwierigkeit 
bilden  die  Abortanlagen.  Da  sie  eine  häufig  benutzte  Gelegenheit 
zu  Selbstmordversuchen  bieten,  sollen  sie  von  den  Kranken  der 
Wachabteilungen  niemals  ohne  besondere  Aufsicht  benutzt  werden. 
Befindet  sich  der  Abort  in  einem  Nebenraum,  so  ist  diese  Vorschrift 
namentlich  in  der  Nacht  nur  dann  zu  erfüllen,  wenn  entweder 
zwei  Wachen  gleichzeitig  vorhanden  sind  oder  die  Säle  vorüber- 
gehend unbeaufsichtigt  bleiben.  Man  pflegt  sich  hier  wie  in  den 
Schlafsälen  ohne  Wache  durch  Aufstellen  von  Nachtstühlen  zu 
helfen,  die  indessen  große  Unzuträglichkeiten  mit  sich  bringen. 
Die  weitaus  zweckmäßigste  Lösung,  wie  ich  sie  seit  Jahren  er- 
probt habe,  ist  die  Einrichtung  von  Spülklosetts  in  einer  Ecke 
oder  Nische  des  Sales,  verdeckt  durch  einen  niedrigen  Wand- 
schirm. Ich  würde  niemals  zu  einer  anderen  Einrichtung  zurück- 
kehren. 

Im  Wachsaale  selbst  sollte  die  Möglichkeit  zur  Erwärmung  von 
Flüssigkeiten  (Suppen,  Milch,  Kaffee,  Tee)  gegeben  sein.  Sehr 
zweckmäßig  und  zugleich  unbedenklich  sind  elektrische  Koch- 
apparate, die  nach  dem  Gebrauche  in  eine  Wandnische  zurück- 
geklappt werden.  Wünschenswert  ist  ferner  eine  Einrichtung,  um 
jederzeit  auch  innerhalb  der  Wachsäle  ein  Bad  geben  zu  können. 
Diesem  Zwecke  dienen  fahrbare  Badewannen,  die  von  einem  Hahne 
in  der  Wand  aus  gefüllt  und  über  einem  Auslaufe  im  Boden  ent- 
leert werden  können. 

Ein  Bild  von  dem  Aussehen  einer  heutigen  Wachabteilung  ge- 

41» 


644 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


währt  die  Fig.  XXXIII,  die  einen  Saal  der  Münchner  Aufnahme- 
abteilung darstellt.  Man  sieht  hier  den  mittleren  von  drei  an- 
einanderstoßenden Sälen,  der  von  links  her  durch  drei  Südfenster 
sein  Licht  erhält.  Die  Beleuchtung  geschieht  außer  von  der  Decke 
auch  durch  laternenartige  Ecklampen,  von  denen  rechts  eine  sicht- 
bar ist.  Links  in  der  Ecke  befindet  sich  hinter  dem  Wandschirm 
das  Spülklosett,  rechts  an  der  Wand  neben  der  Krankenschwester 


Fig.  XXXIII.  Wachsaal. 

eine  fahrbare  Badewanne,  die  von  einem  Wandkästchen  aus  zu 
füllen  ist. 

Mit  den  wichtigsten  Bestandteil  der  Wachabteilung  bildet  der 
Baderaum,  dessen  besondere  Einrichtung  früher  schon  besprochen 
wurde.  Das  Dauerbad  ist  von  den  Reinigungsbädern  möglichst  zu 
trennen.  Auf  den  Wachabteilungen  sollte  mindestens  für  zehn  Kranke 
eine  Wanne  im  Dauerbade  zur  Verfügung  stehen.  Auf  Isolierzellen 
im  alten  Sinne  kann  man  dann  verzichten,  wenn  man  nicht  für  ganz 
besondere  Ausnahmefälle  (gefährliche  Verbrecher!)  ein  besonders 
festes  Zimmer  vorsehen  will.  Eigene  Tageräume  sind  höchstens  für 
größere  Wachabteilungen  zweckmäßig,  da  sie  nur  vorübergehend 


Die  Irrenanstalt. 


64s 


benutzt  zu  werden  pflegen  und  eine  gewisse  Zersplitterung  des 
Dienstes  bedingen. 

Die  Nachtwachen  werden  bei  weitem  am  besten  nach  dem 
sogenannten  schottischen  Verfahren  geregelt.  Bei  demselben  wacht 
derselbe  Wärter,  den  man  unter  den  älteren  und  erfahreneren 
auswählt,  einige  Zeit  hindurch,  etwa  2 — 4  Wochen,  nach  Um- 
ständen auch  2 — 3  Monate  lang,  die  ganze  Nacht  und  ist  tagsüber 
dienstfrei.  Die  Vorzüge  dieser  Einrichtung  gegenüber  dem  be- 
ständigen Wechsel  der  Wache  mit  Zweiteilung  der  Nacht  sind  sehr 
erhebliche;  sie  liegen  namentlich  auch  darin,  daß  mit  geringer 
Vermehrung  des  Personals  eine  viel  ausgedehntere  Überwachung 
erzielt  werden  kann.  Selbstverständlich  erfordert  jeder  nächtlich 
benutzte  Baderaum  eine  besondere  Wache.  Alle  Wachen  bedürfen, 
wenn  sie  überhaupt  einen  Zweck  haben  sollen,  der  sorgfältigsten 
Kontrolle  durch  Wachuhren  und  häufige  ärztliche  Besuche  oder 
durch  besonders  dazu  angestelltes  Oberwartpersonal. 

Neben  den  Wachabteilungen  spielen  in  einem  Stadtasyle  die 
Räume  für  ruhige  Kranke  und  Genesende  eine  verhältnismäßig 
geringe  Rolle.  Sie  brauchen  auch  in  ihren  Einrichtungen  gar 
nichts  Besonderes  zu  bieten.  Zweckmäßig  ist  es,  über  einige  Arbeits- 
räume zu  verfügen,  in  denen  sich  je  nach  Umständen  einmal  ein 
Schuhmacher,  Schneider,  Anstreicher  oder  dergleichen  einrichten 
kann.  Außerdem  sollten  nicht  nur  Gärten  zur  Erholung,  sondern 
auch  etwas  Land  zur  Beschäftigung  in  frischer  Luft  vorhanden  sein. 

Um  eine  Vorstellung  von  der  Anordnung  eines  Stadtasyls  zu  geben, 
fügen  wir  in  Fig.  XXXIV  den  Grundriß  des  ersten  Obergeschosses 
der  Münchner  Klinik  ein.  Man  übersieht  hier  außer  der  durch  zwei 
Stockwerke  reichenden  Vorhalle,  den  Verwaltungsräumen  und  dem 
Aufnahmezimmer  mit  anstoßendem  ärztlichem  Sprechzimmer  den 
dem  Unterricht  dienenden  Hörsaal,  ferner  die  beiden  Aufnahme- 
abteilungen für  die  frisch  eintretenden  Kranken  und  je  eine  Wach- 
abteilung für  unruhige  Kranke,  rechts  für  Männer,  links  für  Frauen. 
Die  Aufnahmeabteilungen  bestehen  je  aus  drei  aneinanderstoßen- 
den Sälen  nebst  einem  kleineren  Zimmer  für  1—2  Kranke  und 
einem  ärztlichen  Untersuchungszimmer  mit  kleinem  Dunkelraum 
für  Spiegeluntersuchungen,  endlich  einem  für  die  Kranken  unzu- 
gänglichen Abstellraum.  Die  ganze  Abteilung  ist  für  etwa  24  Kranke 
berechnet.  Jenseits  des  hier  durch  die  Rücksicht  auf  den  Straßen- 


Die  Irrenanstalt. 


647 


verkehr  gebotenen  Korridors  liegen  Bad,  Spülküche  und  Abort  für 
das  Personal,  während  die  Spülklosetts  für  die  Kranken  in  zwei  Sälen 
angebracht  sind.  Die  anderen  Wachabteilungen  sind  etwas  ver- 
schieden, da  wir  auf  der  Männerseite  über  zwei  kleinere,  auf  der 
Frauenseite  nur  über  eine  größere  Abteilung  für  unruhige  Kranke 
verfügen.  Die  letztere  besteht  wiederum  aus  zwei  aneinander- 
stoßenden Sälen  für  je  7 — 8  Kranke,  denen  sich  ein  kleineres  und 
ein  größeres  Einzelzimmer  für  im  ganzen  3 — 4  Kranke  angliedern; 
daneben  liegt  das  ärztliche  Dienstzimmer  und  die  Teeküche.  Auf 
der  anderen  Seite  des  breiten,  auch  hier  von  der  Baupolizei  ver- 
langten Korridors  liegen  zwei  getrennte  Dauerbäder,  eines  mit 
vier,  das  andere  mit  zwei  Wannen,  daneben  Abstellkammer  und 
Abort  für  das  Personal.  Auf  der  Männerseite  ist  die  Anordnung 
der  Räume  infolge  baulicher  Umwälzungen  eine  etwas  andere  ge- 
worden. Die  beiden  Flügel  umschließen  Gärten  und  sind  mit  dem 
trennenden  Wirtschaftsgebäude  durch  Wandelhallen  verbunden. 
Eine  zweite  Wachabteilung  für  Männer  sowie  die  ^Abteilungen  für 
Ruhige,  Kinder  und  Privatkranke,  endlich  die  Poliklinik  und  die  wissen- 
schaftlichen Zwecken  dienenden  Räume  liegen  in  anderen  Geschossen. 

In  den  großen  Irrenanstalten  bilden  die  Wachabteilungen  eben- 
falls den  Kern  des  Ganzen,  aber  sie  umfassen  nur  einen  verhältnis- 
mäßig kleinen  Bruchteil  der  Kranken.  Man  wird  hier  in  der  Tren- 
nung der  Wachabteilungen  für  die  verschiedenen  Gruppen  von 
Kranken  sehr  viel  weiter  gehen  können  und  demnach'die  einzelnen 
Einrichtungen  ihren  besonderen  Zwecken  noch  mehr  anpassen. 
Im  übrigen  aber  tritt  in  der  großen  Anstalt  die  Sorge  für  die  Be- 
schäftigung und  Unterhaltung  der  zumeist  ruhigen  und  arbeits- 
fähigen Kranken  in  den  Vordergrund.    Die  Abteilungen  nehmen 
daher  das  Gepräge  großer  gemeinschaftlicher  Wohnhäuser  an;  wir 
finden  Spiel-  und  Gesellschaftsräume,  Bibliothek,  Werkstätten  aller 
Art,  große  Gärten,  Viehwirtschaft,  Ländereien.  Während  die  älteren 
Anstalten  regelmäßig  mächtige,  zusammenhängende,  kasernenartige 
Gebäude  darstellten,  hat  die  wachsende  Mannigfaltigkeit  der  Be- 
dürfnisse wie  die  Vergrößerung  der  Anstalten  in  neuerer  Zeit  all- 
gemein zu  einer  Auflösung  der  Grundrisse  in  eine  größere  Zahl 
von  einzelnen  Bauten  geführt,  die  zunächst  in  strenger  Regel- 
mäßigkeit, dann  aber  mehr  dorfartig  angeordnet  zu  werden  pflegten. 
Diese  zerstreute  Bauweise  („Pavillonstil")  ermöglicht  in  weit  höherem 


648  V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Grade  als  früher  die  Abtrennung  der  einzelnen  Krankenarten  nach 
ihren  Eigentümlichkeiten,  und  sie  gibt  der  ganzen  Anlage  einen  viel 


freundlicheren  Anstrich,  zumal  auch  die  früher  üblichen  hohen  Um- 
fassungsmauern durch  Hecken  ersetzt  werden  und  eingestreute 
Gartenanlagen  die  Anstalt  gewissermaßen  in  einen  Park  verlegen. 


I 


Die  Irrenanstalt. 


649 


Einen  Begriff  von  dieser  Wandlung  möge  der  Vergleich  des 
Grundrisses  der  alten,  im  Jahre  1859  erbauten  Kreisirrenanstalt 


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München  mit  einer  Ballonaufnahme  der  neuen  Anstalt  in  Eglfing 
(Fig.  XXXV  und  XXXVI)  geben.   Dort  sehen  wir  einen  einzigen, 


650 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


schlangenförmig  angeordneten,  mehrere  Höfe  umschließenden  Bau, 
dessen  beide  Hälften,  für  Männer  und  Frauen  bestimmt,  sich  genau 
wiederholen  und  durch  die  in  der  „Geschlechtsachse"  gelegenen 
Wirtschaftsbauten  getrennt  sind.  Dazu  kommen  parkartige  Gärten 
und  etwas  Gemüseland;  das  Ganze  ist  von  einer  hohen  Mauer 
umschlossen.  Hier  dagegen  erblicken  wir  eine  große  Zahl  von  Einzel- 
bauten, die  scheinbar  regellos  über  eine  weite  Fläche  zerstreut 
sind  und  sich  in  eine  Waldlichtung  hineinschieben.  Dazwischen 
finden  sich  Wohnhäuser  der  Ärzte,  zwei  Kirchen,  ein  Festhaus, 
Küchengebäude,  Maschinenhaus,  Kegelbahn,  ein  Pflegerdorf,  ein 
Gutshof;  weite  Ländereien  umgeben  die  Anlage.  Den  äußeren  Ein- 


Fig.  XXXVII.    Ansicht  von  Gabersee. 


druck  einer  derartigen  Anstalt  gibt  die  Fig.  XXXVH  wieder,  eine  An- 
sicht von  Gabersee,  das  aus  der  Ferne  ganz  einem  freundlichen 
Dorfe  gleicht.  Hält  man  den  finsteren  Gefängnisbau  von  Kaul- 
bachs  Narrenhaus  dagegen,  so  springt  die  Wandlung  unserer 
Irrenpflege  deutlich  genug  in  die  Augen. 

Als  ein  schwerwiegender  Nachteil  der  sonst  so  bestechenden 
Auflösung  der  geschlossenen  Irrenanstalt  in  eine  dorfartig  angeord- 
nete Gruppe  einzelner  Gebäude  muß  die  Erschwerung  des  ärzt- 
lichen Dienstes  bezeichnet  werden.  Bei  der  großen  Ausdehnung 
der  Anstalt  ist  nachts  und  bei  ungünstiger  Witterung  die  ärztliche 
Überwachung  der  einzelnen  Abteilungen  nur  äußerst  mangelhaft 
durchführbar,  so  daß  dem  Pflegepersonal  ein  unerwünscht  großes 
Maß  von  Selbständigkeit  zufällt.  Dieser  Übelstand  läßt  sich  wesent- 
lich mildern,  wenn  wenigstens  die  Wachabteilungen,  namentlich 
auch  die  für  unruhige  Kranke,  in  größeren  Häusern  vereinigt  oder 
doch  durch  gedeckte  Gänge  miteinander  verbunden  sind.  Außer- 


Die  Irrenanstalt. 


651 


dem  müßten  in  ihnen  überall  Ärztewohnungen  vorgesehen  werden. 
Für  die  ruhigen,  insbesondere  die  arbeitenden  Kranken  überwiegen 
die  Vorteile  der  zerstreuten  Bauweise  weitaus. 

Die  hier  geschilderte  Entwicklung  unserer  Irrenanstalten  hängt 
zum  guten  Teile  mit  dem  wachsenden  Bedürfnisse  nach  Unter- 
bringung immer  zahlreicherer  Kranken  zusammen.    Die  Über- 
legung, daß  die  Allgemeinkosten  für  Bau  und  Betrieb  mit  der  Ver- 
größerung der  Anstalt  langsamer  wachsen  als  diejenigen  für  den 
einzelnen  Krankenplatz,  hat  dazu  gedrängt,  die  Größe  der  An- 
stalten immer  mehr  zu  steigern,  bis  die  ,, Mammutanstalten"  ent- 
standen, die  1000 — 2000  und  selbst  noch  mehr  Kranke  beherbergen. 
Es  ist  indessen  zu  betonen,  daß  die  wirtschaftlichen,  übrigens 
keineswegs  unzweifelhaften  Vorteile  solcher  Riesenanstalten  durch 
ihre  Nachteile  weit  überwogen  werden.  Zunächst  bedingt  schon  die 
Ausdehnung  des  erforderlichen  Geländes  die  Verlegung  der  An- 
stalten in  eine  Gegend  mit  billigen  Bodenpreisen,  also  zumeist  in 
eine  Lage,  die  von  Verkehr  und  geistiger  Anregung  mehr  oder 
weniger  abgeschnitten  ist.    Dadurch  wird  einerseits  die  Erreich- 
barkeit der  Anstalt  für  Kranke  und  Angehörige,  andererseits  die 
Lebenshaltung  für  Ärzte  und  Bedienstete  namhaft  erschwert  und 
verteuert.    Dazu  kommt,  daß  eine  große  Anstalt  immer  ein  ver- 
hältnismäßig weites  Gebiet  zu  versorgen  hat.   Ein  erheblicher  Teil 
der  Kranken  hat  daher  verhältnismäßig  weite  Wege  zurückzulegen, 
die  für  die  Aufnahme  wie  für  die  Entlassung  erschwerend  wirken. 
Besuche  der  Angehörigen  werden  entsprechend  kostspielig  und  ge- 
schehen seltener,  so  daß  sich  das  Band  zwischen  ihnen  und  dem 
Kranken,  zu  großem  Schaden  dieses  letzteren,  leichter  lockert  und 
die  so  sehr  zweckmäßigen  probeweisen  Beurlaubungen  weit  seltener 
erfolgen  können.  Der  Betrieb  der  großen  Anstalt  selbst  wird  unüber- 
sichtlicher, fällt  leichter  auseinander  und  bietet  in  seiner  Schwer- 
fälligkeit eine  Menge  von  Reibungsflächen,  durch  deren  Beseitigung 
der  ärztliche  Leiter  über  die  Gebühr  in  Anspruch  genommen  wird. 
Während  er  selbst  durch  den  Wust  kleinlicher  Geschäfte  dem  ärzt- 
lichen Dienste  immer  mehr  entfremdet  wird  und  eine  stärkere 
Einwirkung  auf  seine  ärztlichen  Mitarbeiter  kaum  mehr  auszu- 
üben vermag,  gewinnen  im  Anstaltsbetriebe  die  rein  technischen 
und  Verwaltungsrücksichten  eine  sehr  unerwünschte  Bedeutung 
gegenüber  den   ärztlichen  Maßnahmen.    Der  ganze  Großbetrieb 


652 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


macht  den  Kranken  immer  mehr  zur  Nummer,  während  das  Ein- 
gehen auf  die  einzelne  Persönlichkeit  notgedrungen  zurücktritt. 
Endlich  verringert  die  Vergrößerung  der  Anstalten,  wie  schon 
früher  angedeutet,  in  verhängnisvoller  Weise  die  Aussicht  auf 
Unabhängigkeit  und  Selbständigkeit  für  die  angestellten  Ärzte,  ein 
Umstand,  der  auf  den  bei  ihnen  herrschenden  Geist  nicht  anders 
als  ungünstig  einwirken  kann. 

Ein  weiterer  Mißstand  in  der  Entwicklung  unseres  Anstalts- 
wesens ist  die  übergroße  Kostspieligkeit  unserer  Anstalten.  Die 
Baukosten  für  einen  Anstaltsplatz  sind  allmählich  von  3—4000  Mark 
auf  das  Doppelte  und  selbst  Dreifache  angestiegen.  Das  wird  durch 
die  vielen  wesentlichen  Verbesserungen  in  Anlage  und  Ausstattung 
der  Anstalten  bedingt.    Es  ist  jedoch  zu  bedenken,  daß  für  die 
überwiegende  Mehrzahl  unserer  Kranken  sehr  einfache  Einrich- 
tungen nicht  nur  völlig  ausreichend,  sondern  sogar  wesentlich 
wohnlicher  sind  als  die  hier  und  da  hervortretende  Üppigkeit. 
Für  chronische,  insbesondere  arbeitende  Kranke  haben  sich  ein- 
fache Bauernhäuser  mit  geringen,  durch  die  Gesundheitspflege  ge- 
forderten Abänderungen  als  die  begehrtesten  Unterkunftsräume 
erwiesen.   Eine  verschwenderische  Ausgestaltung  der  Abteilungen 
für  anspruchslose  oder  gar  stumpfe  und  blöde  Kranke  vermindert 
sehr  die  Neigung  der  öffentlichen  Gewalten,  dem  rasch  anwachsen- 
den Bedürfnisse  nach  Unterbringung  neuer  Kranker  rechtzeitig  zu 
genügen.   Man  sollte  sich  daher  darauf  beschränken,  die  Wach- 
abteilungen für  heilbare  und  schwer  Kranke  mit  allen  nur  erdenk- 
lichen Hilfsmitteln  auszustatten,  die  dem  Wohle  der  Kranken 
dienen  können,  die  übrigen  Abteilungen  dagegen  den  einfachen 
Lebensgewohnheiten  der  unbemittelten  Volksschichten  einigermaßen 
anzupassen. 

Je  größer  in  einer  Anstalt  die  Zahl  der  chronisch  Kranken 
ist,  desto  mehr  Freiheit  der  Bewegung  wird  man  ihren  Insassen 
zu  gewähren  imstande  sein.  Mit  der  Dauer  des  Irreseins  treten 
meist  die  heftigeren  Erregungen  mehr  und  mehr  zurück;  die 
Kranken  werden  ruhiger,  gleichmäßiger  in  ihrem  Verhalten,  frei- 
lich auch  schwachsinniger.  Gegen  die  nunmehr  drohende  Ge- 
fahr weiteren  geistigen  Verfalles  gibt  es  kein  besseres  Mittel  als 
die  Freiheit,  da  der  eintönige  Anstaltsaufenthalt  mit  seinen  ab- 
stumpfenden Einflüssen  den  Fortschritt  der  Verblödung  entschieden 


Die  Irrenanstalt. 


653 


begünstigt.  Leider  ist  es  nicht  immer  möglich,  die  ungeheilten 
Kranken  in  ihre  früheren  Verhältnisse  zurückkehren  zu  lassen. 
Man  wird  ihnen  daher  wenigstens  im  Rahmen  der  Anstalt,  so  weit 
wie  irgend  angängig,  freie  Bewegung  und  Beschäftigung  zu  ver- 
schaffen suchen.  Dieser  Wunsch  hat  allmählich  dahin  geführt, 
daß  die  Mehrzahl  wenigstens  der  neueren  Irrenanstalten  grund- 
sätzlich auf  die  früher  durchgeführte  strenge  Absperrung  der  Kranken 
verzichtet  hat.  Vielfach  hat  man  große  Abteilungen  der  Kranken, 
bis  zur  Hälfte  oder  gar  zwei  Dritteilen,  ganz  frei,  bei  offenen  Türen 
wohnen  und  nach  ihrem  Belieben  auf  dem  Anstaltsgebiete  sich  be- 
wegen lassen  (Offen-Tür-System).  Die  günstige  Wirkung  solcher 
Einrichtungen  auf  das  Wohlbefinden,  die  Arbeitsfähigkeit  und  das 
gesamte  Benehmen  der  Kranken  ist  eine  ganz  außerordentliche. 

Gerade  der  weitere  Ausbau  solcher  offenen  Abteilungen  wird 
in  erster  Linie  dazu  beitragen,  die  Irrenanstalten  volkstümlicher 
zu  machen  und  die  aus  vergangenen  Zeiten  fortgeerbten  Vorurteile 
gegen  diese  Krankenhäuser  allmählich  zu  mildern.  Namentlich 
werden  sie  auch  der  Unterbringung  so  mancher  Kranker  dienen 
können,  die  des  irrenärztlichen  Rates  bedürfen  und  ihn  auch  gern 
einholen  würden,  aber  vor  der  Einschließung  und  vor  den  Auf- 
nahmeförmlichkeiten zurückscheuen.  Die  Zulassung  freiwilliger 
Aufnahmen  wird  eine  derartige  Entwicklung  begünstigen.  Wertvoll 
in  dieser  Richtung  sind  auch  die  nicht  nur  in  Stadtasylen,  sondern 
auch  in  manchen  ländlichen  Anstalten  bereits  mit  bestem  Erfolge 
eingerichteten  Sprechstunden  für  auswärtige  Kranke. 

Einen  überaus  bedeutsamen  Fortschritt  hat  die  Ausbildung 
der  großen  Anstalten  in  der  neueren  Zeit  erfahren  durch  die  Ent- 
wicklung der  sog.  Kolonien^),  in  denen  man,  so  weit  wie  irgend 
möglich,  die  Kranken  zu  einer  freien  Beschäftigung  mit  länd- 
lichen Arbeiten  heranzuziehen  sucht.  In  dieser  besten  und  ver- 
hältnismäßig billigsten  Verpflegungsart  dürfte  die  ganze  Frage  der 
Irrenfürsorge  auf  lange  Zeit  hinaus  ihre  endgültige  Lösung  gefunden 
haben.  Die  Geschichte  dieser  Bestrebungen  geht  merkwürdig  weit 
zurück.  Schon  Pinel  berichtet  1801  von  einer  1425  in  Saragossa 
errichteten  Anstalt,  in  der  Geisteskranke  mit  Feldbau  beschäftigt 
wurden,  und  er  strebte  danach,  dieses  Verfahren  auch  im  Bicetre 

1)  Pätz,  Die  Kolonisierung  der  Geisteskranken  in  Verbindung  mit  dem  Offen- 
Tür-System.  1893. 


654 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


einzuführen,  was  allerdings  erst  seinem  Nachfolger  Ferrus  gelang. 
Auch  Reil  dachte  sich  die  Irrenanstalt  in  der  Art  einer  Meierei* 
In  sehr  vielen  Anstalten  machte  sich  späterhin  das  Bedürfnis  nach 
Beschäftigung  der  Kranken  in  Feld  und  Garten  geltend,  das  durch 
Ankauf  von  Ländereien  befriedigt  wurde.  Den  größten  Fortschritt 
aber  brachte  der  1876  von  Köppe  durchgeführte,  überraschend 
gunstig  ausgefallene  und  dann  vielfach  nachgeahmte  Versuch,  das 
Rittergut  Alt-Scherbitz  in  der  Provinz  Sachsen  gänzlich  durch 
geisteskranke  Arbeiter  bewirtschaften  zu  lassen.  Selbstverständlich 
ist  hier  zur  Behandlung  der  frischen  Fälle  und  der  vorübergehenden 
Aufregungszustände  noch  eine  kleinere  Zentralanstalt  mit  den  für 
diese  Zwecke  geeigneten  Einrichtungen  notwendig. 

Wertvoll  vor  allem  ist  die  koloniale  Verpflegungsart  für  die 
Unterbringung  jener  zahlreichen  geistigen  Krüppel,  denen  die  Krank- 
heit die  Möglichkeit  einer  selbständigen  Lebensführung  genommen 
hat.    Sie  können  durch  die  stete  Anregung,  welche  die  Arbeit,  be- 
sonders die  ländliche  Beschäftigung,  gewährt,  lange  Jahre  hindurch 
m  einem  Zustande  leidlichen  Wohlseins  erhalten  werden,  während 
sie  ohne  diese  vielleicht  rettungslos  einer  raschen  Verblödung  an- 
heimgefallen wären.   Ich  selbst  habe  Gelegenheit  gehabt.  Kranke, 
die  jahrelang  in  der  geschlossenen  Anstalt  gelebt  hatten,  unter  dem 
Einflüsse  der  freieren  Bewegung  und  selbständigeren  Beschäftigung 
in  der  Kolonie  Gabersee  auf  geradezu  überraschende  Weise  geistig 
aufleben  zu  sehen.  Die  Fig.  XXXVIIP)  stellt  arbeitende  Kranke  in 
Altscherbitz  dar.  Wer  hier  die  Kranken  in  eifriger  Tätigkeit  die 
Ernte  einbringen  und  mit  der  Sense  hantieren  sieht,  wird  die  Größe 
der  in  knapp  einem  Jahrhundert  vollzogenen  Wandlung  ermessen 
können. 

Auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  haben  die  Besse- 
rungsbestrebungen der  letzten  Jahrzehnte  die  praktische  Lösung 
der  Irrenfrage  wesentlich  gefördert.  Indem  man  ausging  von  dem 
Muster  der  belgischen  Ortschaft  Gheel,  deren  Bewohner  sich  seit 
langen  Jahrhunderten  aus  ursprünglich  religiösem  Anlasse  (Kultus 
der  heiligen  Dymphna,  die  als  Schutzpatronin  der  Geisteskranken 
galt)  mit  der  häuslichen  Pflege  Geisteskranker  beschäftigen,  hat 
man,  wie  in  einer  Reihe  anderer  Länder,  namentlich  in  Schott- 

1)  Aufnahme  von  Dr.  Engelken,  die  ich  der  freundlichen  Vermittlung  des 
Herrn  Kollegen  Pätz  verdanke. 


Die  Irrenanstalt. 


655 


land,  auch  in  Deutschland  (Ilten,  Bremen,  Berlin,  Zwiefalten  und 
anderwärts)  den  glücklichen  Versuch  gemacht,  eine  familiäre 
Ver pflegungi)  irren  unter  ärztlicher  Aufsicht  in  ausgedehn- 
terem Maße  einzurichten.  Die  Kranken  werden  dabei  gegen  eine 
bestimmte  Entschädigung  als  Hausgenossen  in  geeigneten  Familien 
untergebracht  und  genießen  dadurch  alle  die  mannigfachen  An- 
regungen und  Freuden,  welche  die  selbständige  Lebensführung  in 
der  Freiheit  und  die  Zugehörigkeit  zu  einer  kleinen  Gemeinschaft 


Fig.  XXXVIII.    Arbeitende  Kranke  in  Altscherbitz. 

mit  sich  bringt.  Diese  Familienpflege  dient  entweder  als  Übergang 
in  die  volle  Freiheit,  um  die  Kranken  zunächst  wieder  an  eine 
geregelte  Tagesarbeit  zu  gewöhnen  und  ihnen  Gelegenheit  zur 
Aufsuchung  von  Verdienst  zu  geben.    Oder  aber  sie  bildet  eine 

1)  Bothe,  Die  familiäre  Verpflegung  Geisteskranker.  1893;  Falkenberg, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  553;  Nawratzki,  ebenda,  LIX,  4";  Alt, 
Die  familiäre  Verpflegung  der  Kranksinnigen  in  Deutschland.  1903;  Weiterent- 
wicklung der  familiären  Verpflegung  der  Kranksinnigen  in  Deutschland  seit  1902. 
1907;  Van  Deventer,  Van  Dale,  Vos,  Psychiatrische  en  neurologische  Bladen, 
1902,  240. 


656 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


eigenartige  Form  der  dauernden  Irrenversorgung.  Bei  uns  in 
Deutschland  gliedert  sie  sich  regelmäßig  an  größere  Anstalten  an 
und  wird  von  ihnen  überwacht.  In  Uchtspringe  hat  die  Familien- 
pflege ihren  Ausgang  genommen  von  Wärterfamilien,  denen  Kranke 
übergeben  wurden;  sie  hat  sich  aber  dann  ausgedehnt  in  die  Städte 
Gardelegen  und  Jerichow,  in  denen  sich  unter  ärztlicher  Leitung 
kleine  Krankenabteilungen  befinden,  die  als  Durchgangspunkte  zur 
Familienpflege,  ferner  zur  Behandlung  vorübergehender  Verschlim- 
merungen und  körperlicher  Erkrankungen  sowie  zur  Pflege  von 
Siechen  dienen.  Die  Zahl  der  dort  in  Familienpflege  untergebrachten 
Kranken  stieg  in  den  zehn  Jahren  von  1896— 1906  von  o  auf  475. 
Alt  schätzt  die  Zahl  der  zurzeit  in  Deutschland  familiär  verpflegten 
Geisteskranken  auf  2400. 

Die  Familienpflege  arbeitet  nicht  unwesentlich  billiger  als  die 
Anstaltsfürsorge;  sie  ist  auch  öfters  aus  den  Bedürfnissen  der 
Armenpflege  hervorgegangen,  die  aus  Mangel  an  geeigneten  An- 
stalten oder  zu  deren  Entlastung  die  Kranken  in  irgend  einer  Weise 
billig  unterzubringen  suchte.    Das  klingt  zunächst  erstaunlich,  da 
man  annehmen  darf,  daß  keine  Familie  einen  ihr  fremden  Geistes- 
kranken ohne  die  Aussicht  auf  Gewinn  zu  sich  nehmen  wird.  Es 
erklärt  sich  jedoch  wesentlich  durch  die  wachsende  Kostspieligkeit 
der  Anstalten  und  ihres  Betriebes,  die  vielfach  über  das  wahre  Be- 
dürfnis hinausgeht.   Dennoch  pflegen  sich  die  Kranken  zumeist  in 
der  Familienpflege  erheblich  wohler  zu  fühlen,  weil  sie  ein  mehr, 
selbständiges  und  persönliches  Leben  führen  können  als  in  dem 
einförmigen,  breiten  Strome  des  Anstaltsdaseins.  Selbstverständlich 
aber  ist  zur  Vermeidung  schwerer  Übelstände,  unter  denen  Gewalt- 
taten, Selbstmorde,  Schwängerungen  in  erster  Linie  stehen,  eine 
sehr  sorgfältige  Auswahl  sowohl  der  Pfleger  wie  der  Kranken 
nötig.  Nicht  jede  Gegend  paßt  in  gleicher  Weise  für  die  Familien- 
pflege. Am  besten  eignet  sich  eine  in  mäßigem  Wohlstande  lebende 
bäuerliche  oder  kleinbürgerliche  Bevölkerung  von  einfachen  Sitten 
und  ruhiger  Gemütsart;   es  ist  daher  wohl  kein  Zufall,  daß  bei 
Niederdeutschen,  Vlamen  und  Schotten  die  Erfolge  bisher  am 
besten  gewesen  sind.  Sehr  günstig  wirkt  eine  gewisse  Überlieferung, 
die  natürlich  erst  allmählich  geschaffen  werden  kann. 

Von  den  Kranken  werden  hauptsächlich  unheilbare  Fälle  in 
Betracht  kommen,  einmal  Imbezille  und  Idioten,  dann  körperlich 


Die  Irrenanstalt.  657 

rüstige,  arbeitsfähige,  leichter  Verblödete  ohne  Neigung  zu  Auf- 
regungen oder  Selbstmord,  die  keine  eigene  Familie  haben,  welche 
imstande  oder  geeignet  wäre,  sich  ihrer  anzunehmen.  Alt  schätzte 
früher  die  Zahl  der  für  die  Familienpflege  passenden  Anstaltskranken 
auf  15%,  doch  wird  diese  Zahl  wesentlich  durch  die  größere  oder 
geringere  Leichtigkeit  beeinflußt,  mit  der  auch  harmlosere  Kranke 
den  Zugang  zur  Anstalt  finden.  In  den  belgischen  Orten  Gheel 
und  Lierneux  befindet  sich  die  weit  überwiegende  Menge  aller 
Kranken  in  der  Familienpflege,  deren  Mittelpunkt  eine  verhältnis- 
mäßig sehr  kleine  geschlossene  Abteilung  für  unruhige  und  über- 
wachungsbedürftige Kranke  bildet.  Eine  derartige  Einrichtung 
dürfte  sich  nur  dort  empfehlen,  wo  schon  von  vornherein  eine  ge- 
wisse Auslese  der  Kranken  für  die  Zwecke  der  Familienpflege  statt- 
gefunden hat. 

Innerhalb  gewisser  Grenzen,  als  Vorbereitung  zur  vollen  Frei- 
heit, namentlich  aber  von  vornherein  als  Ersatz  für  die  eigene 
Familie,  wird  die  bestechendste  Form  der  Irrenfürsorge  auch  für 
unsere  Verhältnisse  ein  unersetzliches  Glied  in  der  Kette  jener 
Einrichtungen  bilden,  die  berufen  sind,  das  schwere  Schicksal 
unserer  Kranken  zu  erleichtern.  Es  darf  freilich  nicht  übersehen 
werden,  daß  sie  auch  gewisse  Mängel  hat,  die  namentlich  in  der 
Schwierigkeit  der  ärztlichen  Überwachung  liegen.  Gelingt  es  durch 
geeignete  Einrichtungen,  zu  denen  außer  sorgsamer  Auswahl  der 
Kranken  und  Pfleger  ein  wirksamer  ärztlicher  Dienst  gehört,  das 
Gewicht  jenes  Übelstandes  zu  mindern,  so  kann  die  weitere  Ent- 
wicklung der  Familienpflege  nur  mit  Freuden  begrüßt  werden. 

Die  Häufigkeit  des  Irreseins  bei  Gefangenen  hat  schon  seit 
längerer  Zeit  zu  besonderen  Einrichtungen  für  geisteskranke 
Verbrecherl)  im  Anschlüsse  an  Strafanstalten  geführt.  Die  erste 
derartige  Abteilung  in  Deutschland  wurde  in  Bruchsal  geschaffen; 
später  ist  Sachsen  mit  Waldheim  und  neuerdings  Preußen  mit 
fünf  größeren  Abteilungen  in  verschiedenen  Landesteilen  diesem 
Beispiele  gefolgt.  Die  erkrankenden  Gefangenen  kommen  hier  sehr 
rasch  in  fachärztliche  Behandlung.  Sobald  ihre  Strafzeit  abgelaufen 
oder,  in  Preußen,  ihre  Unheilbarkeit  festgestellt  ist,  werden  sie 

1)  Sander  und  Richter,  Die  Beziehungen  zwischen  Geistesstörung  und  Ver- 
brechen. 1886;  Werner,  Die  Versorgung  der  geisteskranken  Verbrecher  in  Dall- 
dorf.   1906;  Flügge,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  1904,  260. 
Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


658 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


in  die  gewöhnlichen  Irrenanstalten  überführt.  Da  sie  öfters  recht 
unangenehme  und  gefährliche  Eigenschaften  haben,  die  sich  mit 
der  Freiheit  des  sonstigen  Anstaltsbetriebes  schlecht  vertragen,  ist 
man  mehrfach  dazu  geschritten,  einzelnen  Anstalten  mit  besonderen 
Sicherungen  versehene  Bauten  für  „verbrecherische  Irre"  anzu- 
gliedern, in  denen  auch  sonstige  sehr  gefährliche  Kranke  unter- 
gebracht werden.  Im  ganzen  sind  jedoch  bisher  die  Erfahrungen 
mit  der  Anhäufung  solcher  Insassen  in  einer  Abteilung  nicht  sehr 
befriedigende  gewesen;  ihre  Verteilung  und  die  „Verdünnung"  durch 
andersgeartete  Kranke  scheint  zweckmäßiger  zu  sein.  Übrigens 
ist  die  Zahl  der  wirklich  sehr  gefährlichen  Kranken  überall  nur 
eine  recht  geringe. 

Die  Aufgabe  des  Irrenarztes  schließt  zunächst  ab  mit  der  Ent- 
lassung des  Kranken  aus  der  Anstalt.    In  der  Regel  soll 
sie  nur  nach  erfolgter  Genesung  geschehen,   aber  es  gibt  nicht 
so  gar  selten  Fälle,  in  denen  der  langsame  Gang  der  Genesung 
und  ein  sehr  lebhaftes,  allerdings  noch  krankhaftes  Heimweh  oder 
das  Drängen  der  Angehörigen  zu  einer  etwas  vorzeitigen  Entlassung 
zwingen,  wenn  man  nicht  die  Gefahr  einer  Verschlechterung  oder 
gar  eines  unvermuteten  Selbstmordes  auf  sich  nehmen  will.  Bei 
vorsichtiger  Auswahl  der  Kranken  und  unter  günstigen  häuslichen 
Verhältnissen  pflegt  sich  dann  die  weitere  Heilung  meist  ungestört 
zu  vollziehen.  Bleuler  macht  darauf  aufmerksam,  daß  bei  langer 
Verzögerung  der  Entlassung  auch  das  Interesse  der  Angehörigen 
an  ihren  Kranken  schwindet.    Namentlich  katatonische  Kranke 
erfahren  bisweilen   durch   einen   Entlassungsversuch   eine  über- 
raschende Besserung.  Oft  genug  jedoch  kommen  baldige  Rückfälle 
vor,  besonders  wenn  des  Genesenden  zu  Hause  wieder  Not  und 
Sorge,  lieblose,  rohe  Behandlung  oder  die  Gelegenheit  zu  Aus- 
schweifungen wartet.   Gerade  für  ihn  ist  aber  Schonung,  Ver- 
meidung jeder  Überanstrengung  und  eine  nur  ganz  all- 
mähliche Einführung  in  die  alltägliche  Berufslast  dringend  notwen- 
dig.  Wohlhabendere  schieben  daher  zweckmäßig  zwischen  die  Ge- 
nesungszeit und  den  vollen  Eintritt  in  ihre  früheren  Pflichten  einen 
kurzen  Badeaufenthalt,  Besuch  in  befreundeter  Familie  u.  dgl.  qin. 

Eine  gewisse  Anzahl  unserer  Kranken  entzieht  sich  der  Behand- 
lung vorzeitig  durch  Entweichung.  Zum  Teil  handelt  es  sich 
dabei  um  ein  ganz  planloses  Davonlaufen,  bisweilen  im  Dämmer- 


Die  Irrenanstalt. 


659 


zustande,  öfters  auf  Grund  plötzlicher  dunkler  Antriebe  oder  gemüt- 
licher Erregungen.    Andere  Kranke  verfahren  mehr  planmäßig, 
bereiten  den  Fluchtversuch  vor,  verschaffen  sich  Werkzeuge,  be- 
stechen das  Pflegepersonal.    In  der  Regel  ist  hier  der  Freiheits- 
drang Beweggrund;    bisweilen   sind   es  Wahnvorstellungen  oder 
Selbstmordgedanken.    Geisteskranke  Verbrecher  haben  natürlich 
zu  dieser  Art  der  Verabschiedung  besonders  starke  Neigung.  Mit 
der  freieren  Behandlung  der  Kranken  sind  die  Entweichungen, 
obgleich  weit  leichter  zu  bewerkstelligen,  nicht  häufiger  geworden; 
nur  Kranke,  die  aus  geschlossenen  Anstalten  in  freiere  Verhält- 
nisse versetzt  werden,  haben  zunächst  eine  stärkere  Neigung  zum 
Entweichen.    Bisweilen  endet  eine  gelungene  Entweichung  mit 
einem  Unglück,  namentlich  mit  Selbstmord.   Es  wäre  jedoch  ein 
folgenschwerer  Fehler,  wenn  derartige,   immerhin  seltene  Vor- 
kommnisse uns  veranlassen  würden,   die  Verhütung  von  Ent- 
weichungen um  jeden  Preis  anzustreben.   Unbedingt  erreicht  wird 
dieses  Ziel  bekanntlich  selbst  in  den  Zuchthäusern  nicht;  auf  dem 
Wege  zu  ihm  aber  würden  wir  das  beste  Mittel  verlieren,  unsere 
Kranken  an  die  Anstalt  zu  fesseln,  ihr  Vertrauen  und  ihre  Zu- 
friedenheit. 

Jede  Entlassung  aus  der  Irrenanstalt  ist  zunächst  eine  ver- 
suchsweise und  wird  erst  nach  einigen  Monaten  eine  endgültige, 
um  die  Rückversetzung  im  Falle  einer  Verschlimmerung  zu  er- 
leichtern.  Auch  ungeheilte  und  sogar  unheilbare  Kranke  werden 
aus  der  Anstaltsbehandlung  entlassen,  wenn  sie  keine  Angriffs- 
punkte für  die  Behandlung  mehr  darbieten  und  sich  für  häus- 
liche Pflege  eignen  oder  sich  psychische  Selbständigkeit  genug 
bewahrt  haben,  um  in  günstigen  äußeren  Verhältnissen  kürzere 
oder  längere  Zeit  ohne  besondere  ärztliche  Aufsicht  leben  zu  können. 
Es  gibt  sogar  gewisse  Gruppen  von  Kranken,  denen  an  sich  der 
Anstaltsaufenthalt  geradezu  schadet,  wenn  auch  andererseits  mit 
Rücksicht  auf  die  Umgebung  ihre  Einschließung  unumgänglich  er- 
scheint.   Namentlich  in  solchen  Fällen  wird  jede  Wendung  zum 
Bessern,  soweit  das  ohne  Gefahr  geschehen  kann,  dazu  ausgenutzt 
werden,  dem  Kranken  die  Wohltaten  des  Lebens  in  der  Freiheit 
für  längere  oder  kürzere  Zeit  wieder  zugänglich  zu  machen. 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  dem  genesenen  und  noch  mehr 
dem  nur  gebesserten  Geisteskranken  bei  der  Rückkehr  in  seine 

42* 


66o 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


früheren  Verhältnisse   entgegenstellen,    haben   schon   vor  vielen 
Jahrzehnten  zur  Gründung  der  Hilf svereine^)   für  entlassene 
Kranke  geführt.  Deren  Aufgabe  ist  es,  einmal  dem  Kranken  durch 
reichlich  bemessene  Geldunterstützungen  über  die  ersten  Sorgen 
hinwegzuhelfen,  sodann  aber  ihm  bei  der  Wiedergewinnung  einer 
selbständigen  und  sorgenfreien  Lebensstellung  mit  Rat  und  Tat 
an  die  Hand  zu  gehen.    Manche  dieser  Hilfsvereine,  von  denen 
derjenige  in  Hessen  unter  Ludwigs  Leitung  vorbildhch  geworden 
ist,  haben  ihre  Aufgabe  noch  viel  weiter  gesteckt.    Sie  suchen 
durch  ein  Netz  von  Vertrauensmännern  im  ganzen  Lande  nicht 
nur  stete  Fühlung  mit  den  entlassenen   Kranken  zu  behalten, 
sondern  auch  weite  Kreise  der  Bevölkerung  zur  werktätigen  Mit- 
arbeit an  der  Fürsorge  für  die  Geisteskranken  zu  erziehen  und 
damit  einerseits  das  Irrenwesen  volkstümlicher  zu  machen,  an- 
dererseits eine  wohlunterrichtete  öffentliche  Meinung  zu  schaffen, 
die  durch  ihren  Druck  stetig  weiteren  Verbesserungen  den  Weg 
bahnt.    Mit  ihnen  ließe  sich  ein  Arbeitsnachweis  für  entlassene 
Kranke  verbinden,  wie  ihn  Mann  vorgeschlagen  hat. 

Noch  nach  anderen  Richtungen  reicht  das  Gebiet  der  Irren- 
fürsorge über  den  Bereich  der  eigentlichen  Anstalten  hinaus 2). 
Es  gibt  ganze  Gruppen  von  Kranken,  die  der  irrenärztlichen  Be- 
handlung bedürfen,  sich  aber  nicht  recht  für  die  Unterbringung 
in  den  Irrenanstalten  eignen.    Für  sie  gilt  es,  besondere,  ihren 
Bedürfnissen  angepaßte  Einrichtungen  zu  schaffen.  Am  dringend- 
sten ist  die  Notwendigkeit,  für  Trinkerheilstätten 3)  zu  sorgen. 
Während  die  unheilbaren  Trinker  recht  wohl  in  die  Irrenanstalten 
gehören,  würde  das  ebenso  wichtige  wie  aussichtsreiche  Werk 
der  Trinkerrettung  im  Anfange  scheitern,  wenn  man  nicht  für 
die  heilbaren  Fälle  eigene  Anstalten  schaffen  und  dadurch  den 
möglichst  frühzeitigen  und  freiwilligen  Eintritt  in  die  planmäßige 
Behandlung  erleichtern  wollte.   Gerade  durch  die  Errichtung  ärzt- 
lich geleiteter  oder  doch  überwachter  Trinkerheilanstalten  wird 
allmählich  dem  Volke  immer  klarer  zum  Bewußtsein  gebracht 
werden,  daß  die  chronische  Alkoholvergiftung  eine  Krankheitist, 
die  man  mit  ärztlicher  Hilfe  zu  bekämpfen  hat.   Im  Jahre  1906 


1)  Scholz,  Irrenfürsorge  und  Irrenhilfsvereine.  1902. 

2)  Fischer,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LV,  39. 

3)  Martins,  Deutsche  Trinkerheilstätten.  1908. 


Die  Irrenanstalt. 


66i 


bestanden  in  Deutschland  38  Trinkerheilstätten  mit  etwa  850  Plätzen, 
eine  Zahl,  die  dem  Bedürfnisse  nicht  im  entferntesten  genügt. 
Eine  ganze  Reihe  von  Trinkern  würde  sich  auch  gut  für  die 
Familienpflege  eignen. 

In  zweiter  Linie  stehen  wir  vor  der  dringenden  Aufgabe,  Heil- 
stätten für  jene  unbemittelten  Nervenkranken  zu  schaffen,  die 
nicht  in  den  Rahmen  der  Irrenanstalten  passen,  unter  Umständen 
durch  einen  Aufenthalt  dort  geradezu  geschädigt  werden.  Hierhin  ge- 
hören alle  jene  besonnenen  und  geordneten  Kranken,  die  eine  Zeit- 
lang der  Ruhe  und  Befreiung  von  dem  Druck  der  Tagesgeschäfte, 
oder  die  der  planmäßigen  Anleitung  zu  regelmäßiger  Beschäftigung 
bedürfen,  insbesondere  auch  willensschwache  Psychopathen  und 
Kranke  mit  Angstzuständen.  Epileptiker  und  Geisteskranke,  auch 
deren  leichteste  Formen,  sind  grundsätzlich  auszuschließen.  Das 
Ziel  der  Behandlung  soll  erreicht  werden  durch  ein  „verklärtes 
Landleben"  bei  einfacher,  möglichst  gesundheitsgemäßer  Lebens- 
haltung und  in  den  Formen  eines  weltlichen  Klosters.  Die  Be- 
wegung zur  Gründung  solcher  Nervenheilstätten  ist  besonders 
durch  Möbius^)  angeregt  worden;  ihr  erstes  Ergebnis  ist  das 
Haus  Schönow  in  Zehlendorf  bei  Berlin;  weitere  ähnliche  Schöp- 
fungen sind  ihm  gefolgt.  Als  Ergänzung  dieser  Heilstätten  sollen 
die  von  Lähr  vorgeschlagenen  „Arbeitsstätten"  dienen,  die  nicht 
als  Krankenhäuser  gedacht  sind,  sondern  die  Genesenen  gegen  Ent- 
schädigung beschäftigen,  um  ihnen  den  Eintritt  in  die  Berufsarbeit 
zu  erleichtern. 

Ein  sehr  erheblicher  Teil  der  Geisteskranken  ist  endlich  überall 
in  Spitälern,  Pfründen,  Pflege-  und  Siechenanstalten  aller 
Art  untergebracht,  meist  ohne  fachärztliche  Fürsorge.  In  der  Tat 
bieten  namentlich  die  angeborenen  geistigen  Schwächezustände 
einer  derartigen  Verpflegung  meist  gar  keine  Schwierigkeiten. 
Etwas  anders  liegt  die  Frage  bei  den  erworbenen  Verblödungen. 
Hier  ist  immer  die  Gefahr  der  Verwahrlosung,  gelegentlicher  Ver- 
schlimmerungen des  Zustandes  und  unter  Umständen  sehr  bedenk- 


1)  Benda,  öffentliche  Nervenheilanstalten?  1891;  Möbius,  Über  die  Be- 
handlung von  Nervenkranken  und  die  Errichtung  von  Nervenheilstätten.  1896; 
Fuchs,  Deutsche  Praxis.  1902,  8;  Neumann,  Ärztliche  Mitteilungen  für  Baden. 
1901;  Lähr,  Arch.  f.  Psychiatrie,  XL,  212;  Peretti,  Psychiatrische  Wochenschr., 

1903.  277. 


662 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


licher  Handlungen  gegeben.  Es  erscheint  daher  durchaus  unrichtig, 
derartige  Kranke  dem  Bereiche  der  geordneten  Irrenfürsorge  zu 
entziehen;  die  Entwicklung  gröblicher  Mißstände  ist  dabei  kaum 
zu  vermeiden!).  Auch  die  besonderen  Anstalten  für  Epileptiker^) 
und  namentlich  für  Idioten  stehen  jetzt  noch  vielfach  außerhalb 
der  eigentlichen  Irrenfürsorge.  Weygandt  gibt  an,  daß  von  io8 
Anstalten  für  jugendliche  Schwachsinnige  nur  etwa  ein  Dutzend 
ärztlich  geleitet  werden.  Abgesehen  von  der  selbstverständlichen 
Forderung,  daß  Kranke  in  die  Hände  des  Arztes  gehören,  bedürfen 
sie  auch  deswegen  unbedingt  der  fachmännischen  Leitung  und 
Überwachung,  weil  nur  auf  diese  Weise  die  in  ihnen  gesammelten 
Erfahrungen  wissenschaftliche  Verwertung  finden  und  damit  zu 
Fortschritten  im  Verständnisse  und  in  der  Behandlung  der  Kranken 
führen  können. 


1)  Ludwig,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVIII,  i. 

2)  Stakemann,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  1903,  684. 


Register. 


A. 

Abbaustoffe  im  Gehirn  513. 
Aberglaube  310.  536. 
Ablenkbarkeit  251.  332. 

—  äußere  252. 

—  des  Gedankenganges  286. 

—  des  Willens  379. 

—  innere  252. 

—  Messung  derselben  492.  505. 
Abortus,  Irresein  nach  dems.  117.  j 

—  künstlicher,  als  Heilmittel  576.  j 
Abreibungen,  kalte  587. 

Absinth  als  Ursache  des  Irreseins  90. 
Acetonurie  79. 

Adenoide  Wucherungen  als  Krankheits- 
ursache 104. 

Adrenalin  573. 

Ängstlichkeit  344. 

Äther  als  Beruhigungsmittel  570. 

Äthermißbrauch  als  Ursache  des  Irre- 
seins 97. 

Ätiologie,  allgemeine  15. 

Affekte  s.  Gemütsbewegungen. 

Agnosie  40.  247. 

—  ideatorische  41. 

—  sinnliche  41. 
Agoraphobie  s.  Platzangst. 
Agrammatismus  417. 
Agraphie  43. 

Akusticusreaktion ,  elektrische  217. 
467. 

Akusticus,  Hyperästhesie  dess.  217. 
Akute  Erkrankungen  458. 
Alexie  40. 
Algolagnie  405. 

Alkohol  als  Ursache  des  Irresems  86. 

—  als  Schlafmittel  569. 

—  in  Irrenanstalten  591. 

—  Kampf  gegen  denselben  558. 
Alkoholintoleranz  b.  Hirnerkrankungen 

25- 

Alkoholparanoia  519. 
Alkoholwahnsinn  97. 
Allopsychosen  521. 
Altersblödsinn  149. 


Altscherbitz  654. 
Amentia  66.  519. 
Amnesie  256. 

—  retrograde  257. 
Amok  der  Malayen  158. 
Amusie  427. 
Amylenhydrat  565. 
Amylnitrit  573. 
Anamnese  461. 

Anatomie,    pathologische,    als  Hilfs- 
wissenschaft 5.  507. 
Angehörige  Geisteskranker  461. 
Angst  348. 

—  Behandlung  ders.  614. 
Angstdelirien  127. 
Anilindelirien  102. 
Anregbarkeit  331. 

—  Untersuchung  ders.  505. 
Anstaltsartefakte  595. 
Ansteckung,  psychische  136. 
Anthropophagie  404. 
Aphasie,  motorische  39. 

Apoplexie,  Schwachsinn  nach  ders.  27. 
Apperzeption  243. 
Apperzeptionshalluzination  223. 
Apperzeptionsillusion  225. 
Apraxie  42. 

—  ideatorische  42.  386. 

—  motorische  43. 
Aprosexia  nasalis  104. 
Aqua  Laurocerasi  572. 
Arbeitsfähigkeit  der  Geisteskranken  434. 

—  geistige  330. 

Armee,  Irresein  bei  ders.  173. 
Arsenneuritis,  Irresein  dabei  51. 
Arteriosklerose  21.  27.  106.  128. 
Arzneimittel  560. 
Arzt,  weiblicher  600. 
Assoziation  s.  Vorstellungsverbindung. 
Assoziationszentren  36. 
Assoziationsfestigkeit  496. 
Assoziationslösung  336- 
Assoziationstypus,  prädikativer  278. 
Atavismus  177.  189. 
Atropindelirium  100. 


664 


Register. 


Audition  coloree  226. 

Auffassungsfähigkeit,  Untersuchung  ders. 
489. 

Auffassungsstörungen  243. 
Auffassungsverfälschung  225. 
Aufmerksamkeit  247. 

—  Ablenkbarkeit  ders.  251. 

—  Abstumpfung  ders.  249. 

—  aktive  248. 

—  Bestimmbarkeit  ders.  241. 

—  Dynamometer  ders.  329. 

—  Fesselung  ders.  253. 

—  gesteigerte  Lebhaftigkeit  ders.  250. 

—  Hemmung  ders.  250. 

—  passive  248. 

• —  Sperrung  ders.  250. 

Aufmerksamkeitsschwankungen,  Unter- 
suchung ders.  492. 
Aufnahmeverfahren  633. 
Aufzählungen  289. 

Augenerkrankungen    als    Ursache  des 

Irreseins  104. 
Augenspiegeluntersuchung  466. 
Auskultation  des  Kopfes  466. 
Ausdrucksbewegungen,  Störungen  ders. 

411. 

—  Untersuchung  ders.  502. 
Ausdruckszwang  301. 
Ausgänge  des  Irreseins  466. 
Ausschweifungen,    geschlechtliche,  als 

Ursache  des  Irreseins  iio. 
Außereheliche  Geburt  und  Irresein  181. 
Autohypnose,  Gefahr  ders.  140. 
Automatie  als  Symptom  377. 
Automatisme  ambulatoire  400. 
Autopsie  507. 
Autopsychose  521. 

B. 

Bäder  als  Heilmittel  578. 

—  elektrische  588. 

—  verlängerte  579. 

Bakterium  coli  als  Heilmittel  574. 
Baldrian  s.  Valeriana. 
Balkengeschwülste  als  Ursache  des  Irre- 
seins 44.  45. 

Basedowsche  Krankheit  als  Ursache 

des  Irreseins  82. 
Beeinflußbarkeit,  gemütliche  342. 

—  des  Willens,  erhöhte  375. 

 verminderte  380. 

Befehlsautomatie  377. 
Befehlsnegativismus  380. 
Beginn  des  Irreseins  439. 
Begriffsbildung  271. 

—  Störungen  ders.  270. 
Begrüßungsmanieren  390, 


Behandlung  des  Irreseins  545. 

—  körperliche  560, 

—  psychische  599. 

—  symptomatische  613. 

—  zellenlose  595. 

Belastung,  erbliche,  s.  Erblichkeit. 
Benzin  als  Ursache  des  Irreseins  97. 
Beobachtung  der  Geisteskranken  505! 
Berauschtheit  während  der  Zeugung  als 

Ursache  des  Irreseins  186. 
Beri-beri  als  Ursache  des  Irreseins  51. 
I  Beruf  und  Irresein  170. 
Berufsangst  397. 

Berufslosigkeit  als  Zeichen  des  Irre- 
seins 170. 

Berufswahl  als  Vorbeugung  des  Irre- 
seins 557. 

Beschäftigung  als  Heilmittel  606.  647. 

Beschäftigungsdelirium  235. 

Beschäftigungsdrang  s.  Betätigungs- 
drang. 

Beschleunigung  der  psychischen  Vor- 
gänge 329. 

Beschränktheit,  Abgrenzung  ders.  von 
geistiger  Störung  536. 

Beschränkung,  mechanische  596. 

Besessenheit  2. 

Besessenheitswahn  324. 

Besonnenheit  478. 

Besserung  der  Geisteskrankheit  durch 

körperliche  Krankheit  450. 
Bestimmbarkeit  des  Willens  376. 
Besuche  635. 
Betätigungsdrang  370. 
Bettbehandlung  593. 
Bevölkerungsdichtigkeit  und  Häufigkeit 

des  Irreseins  164. 
Bewegungen,  rhythmische  390. 
Bewegungsdrang  370. 
Bewegungsformel  42.  386. 
Bewegungsstereotypen  389. 
Bewußtlosigkeit  238. 
Bewußtsein  237. 

—  doppeltes  337. 

—  Enge  dess.  247. 

—  Helligkeitsgrade  dess.  238. 

—  Schwelle  dess.  238. 
Bewußtseinstrübung  237. 
Beziehungswahn  313. 
Biegsamkeit,  wächserne  378. 
Binitrotoluol  als  Ursache  des  Irreseins 

102. 

Blasenpflaster  574. 
Blattern  s.  Variola. 
Blausäure  572. 

Bleivergiftung   als  .Ursache   des  Irre- 
seins lOI. 


Register. 


665 


Blickfeld,  inneres  248. 
Blickpunkt,  innerer  248. 
Blutandrang  als  Ursache  d.  Irreseins  20. 
Blutdruckuntersuchung  472. 
Blutentziehungen  577. 
Bluterkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 74. 

Blutleere  als  Ursache  des  Irreseins  20. 
Blutstauungen  20. 

Blutsverwandtschaft  der  Eltern  188. 
Blutveränderungen  bei  Geisteskranken 

74-  473-  ,      ^  ^ 

Blutvergiftung   als   Ursache   des  Irre- 
seins 61. 

Blutverluste  20.  77. 

Bornyval  572. 

Brandstiftungstrieb  409. 

Brechweinsteinsalbe  als  Heilmittel  574. 

Briefe,  Überwachung  ders.  635. 

Bromalin  572. 

Bromglidine  572. 

Bromipin  572. 

Bromismus  571. 

Bromsalze  570. 

Bromural  565. 

Bromvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins IOC. 
Bromwasser,  kohlensaures  571. 
Bromwirkung,  psychische  360.  570. 
Brückenangst  353. 

c. 

Cäsarenwahn  436. 
Cannabinon  564. 

Cerebrospinalflüssigkeit,  Untersuchung 
ders.  474. 

Cerebrospinalmeningitis  als  Ursache  des 
Irreseins  25. 

Chininvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins IOC. 

Chloralf ormamid  565. 

Chloralhydrat  564. 

Chloralrash  564. 

Chloroform  als  Beruhigungsmittel  570. 
Chloroformmißbrauch  als  Ursache  des 

Irreseins  98. 
Chlorose  als  Ursache  des  Irreseins  77. 
Cholämie  als  Ursache  des  Irreseins  78. 
Cholera  als  Ursache  des  Irreseins  61. 
Chorea  als  Ursache  des  Irreseins  51. 

—  gravidarum  577. 

—  hereditäre  27. 

—  Huntingtons  27.  52. 
Chronische  Erkrankungen  458. 
Chronoskop  491. 

Cocain  als  Ursache  des  Irreseins  99. 
Codein  562. 


Coitus,  erster,  als  Ursache  des  Irre- 
seins HO. 

—  interruptus  als  Ursache  des  Irre- 
seins 112. 

Complementablenkung  476. 
Cytoarchitektonik  35. 
Cytologische  Untersuchung   der  Cere- 
brospinalflüssigkeit 475. 
Cytolysine  des  Blutes  75.  473- 

I>. 

Dämmerzustand  238. 

Darmleiden  als  Ursache  des  Irreseins 

78.  107. 
Dauerbad  579. 
Dauer  des  Irreseins  458. 
Deckelbad  579. 
Degeneration  s.  Entartung. 
Delirium  518. 

—  acutum  518. 

—  im  Dunkelzimmer  55. 

—  eklamptisches  117. 

—  nervosum  54. 

—  traumaticum  27.  54. 

—  tremens  97. 

—  urämisches  77. 
Demenz  521. 

—  akute  66.  517. 

—  sekundäre  521. 
Denkhemmung  303. 
Depersonalisation  334. 
Depression  s.  Verstimmung. 
Desorientierung  266. 

—  amnestische  268. 

—  apathische  267. 

—  deliriöse  268. 

—  halluzinatorische  268. 

—  stuporöse  286. 

—  wahnhafte  270. 

Diabetes  als  Ursache  des  Irreseins  79. 
Diätetik  des  Irreseins  590. 
Diagnose  515. 

—  anatomische  507. 
Diagnostik,  allgemeine  460. 
Digitalis  573. 

,  Dionin  562. 
I  Dioninismus  99. 
j  Dispositionsfähigkeit  436. 

Dissimulation  543. 
j  Disziplinierung  602. 

Domestikation  198. 

Doppeldenken  223. 

Dormiol  566. 

Duschen  als  Heilmittel  578.  587. 
!  Drastica  als  Heilmittel  574- 

Drehschaukel  629. 
:  Dromomanie  400. 


666 


Register. 


Drucksteigerung  in  der  Schädelkapsel 

als  Ursache  des  Irreseins  21. 
Druckvisionen  216. 
Duboisinum  sulfuricum  563. 
Dunkelzimmer,  Delirium  in  demselben  55. 
Dynamometer  501. 
Dysphrenia  neuralgica  53. 

E. 

Echolalie  378. 
Echopraxie  378. 

Ehe,  Beziehungen  ders.  zum  Irresein  174. 
Eifersuchtswahn  323. 

—  der  Trinker  97. 

Eigenart,  persönliche,  und  Irresein  206. 
Eigenbeziehung,  krankhafte  313. 
Eigensinn  384. 
Einbildungskraft  302. 

—  Störungen  ders.  302. 
Einbildungstäuschungen  223. 
Einfall,  pathologischer  306. 
Einförmigkeit  des  Denkens  283. 
Einwicklungen,  feuchtwarme  586. 
Einzelhaft  als  Ursache  des  Irreseins  130. 
Eisbeutel  als  Heilmittel  587. 
Eiterungen,  bessernder  Einfluß  ders.  auf 

das  Irresein  450. 
Ekelgefühle,  Verlust  ders.  363. 
Ekelkur  629. 

Eklamptisches  Irresein  117.  577. 
Ekmnesie  337. 
Ekstase  359. 

Elektrotherapie  beim  Irresein  587. 
Emotionspsychosen  126. 
Empfindlichkeit,  gesteigerte,  gegen  Alko- 
hol 25. 

Encephalitis    als    Ursache    des  Irre- 
seins 23.  25. 
Encephalopathia  saturnina  loi. 
Endzustände  438.  524. 
Entartung  187. 

—  erbliche  187. 
Entartungszeichen  190.  465. 

—  körperliche  190. 

—  psychische  189. 
Entgleisung  des  Willens  391. 
Enthaltsamkeit,  geschlechtliche,  als  Ur- 
sache des  Irreseins  11 1. 

Entlassung  aus  der  Anstalt  658. 
Entweichungen  658. 
Entwicklungsjahre,  Einfluß  ders.  auf  das 

Irresein  144. 
Entwicklungsstörungen  als  Ursache  des 

Irreseins  186. 
Epidemien,  geistige  137. 
Epilepsie  als  Ursache  des  Irreseins  52. 
Epileptikerfürsorge  662. 


Erblichkeit  als   Ursache   des  Irreseins 
175- 

—  atavistische  177. 

—  gehäufte  180. 

—  gleichartige  183. 

—  indirekte  180. 

—  kollaterale  177. 

—  polymorphe  185. 

—  umwandelnde  185. 

—  unmittelbare  177. 
Erfinder,  krankhafte  537. 
Ergänzungsmethode  von  Ebbinghaus 

485- 

Ergographenversuche  500. 
Ergotismus  als  Ursache  des  Irreseins  86. 
Erhängte,  Geistesstörung  bei  dens.  20. 
23.  27. 

Erholungsfähigkeit  332.  505. 
Erinnerungsfälschung  260. 

—  assoziierende  263. 

—  identifizierende  264. 
Erinnerungshalluzination  262. 
Erinnerungslosigkeit  256. 
Erinnerungslücke  256. 

j  Erinnerungszwang  301. 

I  Erkennung  des  Irreseins  460. 

,  Erklärungswahn  314. 

Erlen meyersches  Gemisch  571. 

Ermüdbarkeit  382 

—  Messung  ders.  505. 
Ernährung  der  Geisteskranken  590. 

—  künstliche  619. 

Erregbarkeit,  gemütliche,  Herabsetzung 
ders.  339.  . 

—  gemütliche,  Steigerung  ders.  342. 

—  psychomotorische,  Herabsetzung  ders. 
366. 

—  psychomotorische,   Steigerung  ders. 
369- 

Erregung,  Behandlung  ders.  613. 

—  katatonische  370. 

—  manische  370. 

—  motorische  369. 
Errötungsangst  352. 
Erscheinungen  des  Irreseins  210. 
Erschöpfung  als  Ursache  des  Irreseins  55. 

—  chronische  nervöse  59. 
Erschöpfungsstupor  58.  517. 
Erwachen,  Störungen  dess.  241. 
Erwartungsangst  353. 
Erwartungsneurose  127. 

Erysipel  als  Ursache  des  Irreseins  60. 

—  bessernder  Einfluß  dess.  auf  Geistes- 
störungen 450. 

Erziehung  als  Ursache  des  Irreseins  203. 

—  als  Vorbeugung  des  Irreseins  549. 
Eßmanieren  390. 


Register. 


667 


Euphorie  357. 

—  der  Morphinisten  359. 

Exhibitionismus  400.  407. 

F. 

Fabelmethode  484. 
Familiäre  Erkrankungen  27. 
Familienpflege  655. 
Fanatiker  346. 

Faradisation,  allgemeine  588. 
Fehlassoziationen  496. 
Fehlreaktionen  499. 
Fesselung  der  Aufmerksamkeit  253. 
Fetischismus  407. 

Feuerarbeiter,  Irresein  bei  dens.  22. 
Fieberdelirien  60.  61. 
Flagellanten  405. 

Flexibilitas  cerea  s.  Biegsamkeit,  wäch- 
serne. 

Fliegenschwammvergiftung  als  Ursache 

des  Irreseins  100. 
Folie  ä  deux  138. 

—  communiquee  139. 

—  imposee  138. 
Forensische  Psychiatrie  437. 
Fortpflanzungsgeschäft  und  Irresein  109. 

IIS- 
Fragebogen  482. 

Fragesucht  300. 

Fremdenlegion  435. 

Fremdsein,  Gefühl  dess.  260.  348. 

Frigidität,  geschlechtliche  365. 

Frühgeburt,  künstliche,   als  Heilmittel 

576. 

Fütterung,  künstliche  619. 
Fugues  der  Epileptiker  400. 
Funktionsphobien  350. 

G. 

Galls  Schädellehre  28. 
Galvanisation  des  Gehirns  587. 
Ganserscher  Dämmerzustand  542. 
Geburtsschädigungen  und  Irresein  187. 
Gedächtnis  254. 

—  Festigkeit  dess.  258. 

—  Schwäche  dess.  258. 

—  Störungen  dess.  254. 

—  Untersuchung  dess.  492. 
Gedankengang,  Ablenkbarkeit  dess.  286. 

—  Beschleunigung  dess.  329. 

—  Einförmigkeit  dess.  283. 

—  Hemmung  dess.  303. 

—  Störungen  dess.  279. 

—  Umständlichkeit  dess.  284. 

—  Verlangsamung  dess.  328. 
  Weitschweifigkeit  dess.  289. 

—  Zerfahrenheit  dess.  292. 


Gedankenlautwerden  213. 
Gedankensichtbarwerden  224. 
Gefährliche  Geisteskranke  435. 
Gefäßerkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 19.  21.  27.  105. 

—  luetische  67.  106. 
Gefangenschaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 130. 

Gefräßigkeit  363. 
Gefühle  338. 

—  geschlechtliche  365. 

—  krankhafte  Lebhaftigkeit  ders.  342. 

—  Störungen  ders.  338. 

—  Stumpfheit  ders.  339. 

—  Untersuchung  ders.  486. 
Gehmanieren  390. 
Gehörstäuschung  231. 

—  einseitige  218. 
Gehstottern  354. 
Geistesstörung  s.  Irresein. 
Gelenkrheumatismus   als   Ursache  des 

Irreseins  60.  62.  65. 
Gelüste  der  Schwangeren  402. 
Gemeingefühle,  Störungen  ders.  361. 
Gemütsart  343. 

—  krankhafte  344. 

Gemütsbewegungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 121. 

—  krankhafte  347. 

—  Untersuchung  ders.  486.  502. 
Genesungszeit  443. 

Genie,  Abgrenzung  dess.  vom  Irre- 
sein 537. 

Genitalorgane,  Erkrankungen  ders.  als 
Ursache  des  Irreseins  108. 

Gereiztheit,  krankhafte  356. 

Gerichtliche  Psychopathologie  437.' 

Geschäftsfähigkeit  436. 

Geschlecht,  Beziehungen  dess.  zum  Irre- 
sein 150. 

Geschlechtsleben  und  Irresein  109. 

Geschlechtsorgane  und  Irresein  108. 

Geschlechtstrieb,  Abschwächung  dess. 
402. 

—  Perversitäten  dess.  403. 

—  Steigerung  dess.  402. 
Geschwülste  des  Hirns  21. 
Gesichterschneiden  391. 
Gesichtsfeld  bei  Geisteskranken  466. 
Gesichtstäuschung  230. 

—  mikroskopische  235. 
Gewöhnungsfähigkeit  333-  SoS- 
Gewohnheitsverbrecher  170. 

Gheel  654. 

Gicht  als  Ursache  des  Irreseins  80. 
Gichter  der  Säuglinge  548. 
Giftmischer,  krankhafte  410. 


668 


Register. 


Giftwirkungen  auf  Rindenzellen  48. 
—  psychische  83. 
Gitterbett  599. 

Gleichgültigkeit  als  Symptom  des  Irre- 
seins 339. 
Glücksgefühl,  krankhaftes  358. 
Glykosurie  beim  Irresein  79. 
Gravidität  s.  Schwangerschaft. 
Grazie,  Verlust  ders.  412. 
Greisenalter  als  Ursache  des  Irreseins  148. 
Grenzen  des  Irreseins  533. 
Grimassieren  391. 
Größenwahn  321.  325. 
Großstädte  und  Irresein  164.  198. 
Grübelsucht  300. 

Grundeigenschaften,  psychische  330. 

 Untersuchung  ders.  504. 

Gymnastik  589. 

Gynäkologische  Eingriffe  als  Heilmittel 
575- 

H. 

Habitualformen  des  Irreseins  516. 
Hämatoporphyrin  bei  Sulfonalvergiftung 
566. 

Häufigkeit  des  Irreseins  13.  161. 
Haften  der  Vorstellungen  280. 
Halluzination  219. 

—  der  Erinnerung  262. 

—  einseitige  212. 

—  extracampine  225. 

• —  hypnagogische  213. 

—  psychische  223. 

—  stabile  214. 
Haltungskurven  501. 
Handeln,  Störungen  dess.  366. 

—  Untersuchung  dess.  506. 
Handlungen,  verstümmelte  386. 
Handlungsformel  386. 
Harnstottern  354. 

Harnuntersuchungen  bei  Geisteskranken 
473- 

Harnveränderungen  bei  Geisteskranken  ! 

79-  I 
Haschisch  als  Heilmittel  564.  1 

—  als  Ursache  des  Irreseins  99. 
Hebephrenie  144.  { 
Hedonal  567. 

Heilanstalten  641. 
Heilung  des  Irreseins  447. 

—  mit  Defekt  453. 

—  unvollständige  451. 
Heiraten  Geisteskranker  545. 
Heiterkeit,  gegenstandslose  359. 
Hemmung,  psychomotorische  371. 
Herderkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 25. 


Heredität  s.  Erblichkeit. 

Heroinismus  99. 

Herrscher,  geisteskranke  436. 

Herzleiden  bei  Geisteskranken  104 

Heterotopie  509. 

Hexenprozesse  625. 

Hilfsklassen  554. 

Hilfsvereine  für  Geisteskranke  560.  660. 
Hirnanämie  als  Ursache  des  Irreseins  20. 
Hirnblutung  als  Ursache  des  Irreseins 
22.  23. 

Hirndruck  als  Ursache  des  Irreseins  21. 
Hirnemulsionen,  Einspritzung  ders.  578. 
Hirnerkrankungen,  Irresein  bei  dens.  18. 
Hirnerschütterungen  20.  23.  26. 
Hirngeschwülste  als  Ursache  des  Irre- 
seins 21.  23.  26. 
Hirngewicht  510. 
—  spezifisches  510. 

Hirnhyperämie  als  Ursache  des  Irre- 
seins 20. 

Hirnschwellung  22.  510. 

Hirnsklerose  27. 

Hitzschlag  22.  26. 

Höhe  der  Erkrankung  440. 

Höhenangst  353. 

Humor  der  Trinker  358. 

Hunger,  Einfluß  dess.  auf  psychische 
Vorgänge  57. 

Huntingtons  Chorea  27.  52. 

Hydrocephalie  508. 

Hydrotherapie  578. 

Hyoscin  562. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  100. 
Hypermnesie  261. 

Hypnose  376. 

—  als  Behandlungsart  609. 
Hypnotica  s.  Schlafmittel. 
Hypnotische  Versuche  als  Ursache  des 

Irreseins  140. 
Hypophysis  82. 

I.  J. 

Jahreszeiten  in  Beziehung  zum  Irre- 
sein 160. 

Icterus   gravis   als   Ursache   des  Irre- 
seins 78. 
Idee,  fixe  317. 

—  überwertige  310. 
Ideenflucht  286.  330. 

—  deliriöse  289. 

—  innere  290. 

—  sprachliche  290. 
Idiophrenia  paranoides  429, 
Idiotenbewegungen  390. 
Idiotenfürsorge  662. 
Illusion  219. 


Register. 


669 


Impotenz,  psychische  354. 
Impulsivität  399. 
Indican  79. 

Induziertes  Irresein  138. 
Infektionskrankheiten  als  Ursachen  des 

Irreseins  60. 
Influenza  als  Ursache  des  Irreseins  60. 
Infusion,  subcutane  577. 
Initialdelirien  65. 
Intelligenzprüfung  480. 
Interesselosigkeit  304. 
Intermission  441. 

Intermittens  als  Ursache  des  Irreseins  61. 

—  bessernder  Einfluß  dess.  auf  das  Irre- 
sein 450. 

Intimidation  609. 
Intoleranz  s.  Empfindlichkeit. 
Intoxikationen  s.  Vergiftungen. 
Inventar,  geistiges  488. 
Inzucht  188. 

Jodoformvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 100. 
Iracundia  morbosa  345. 
Irrenanstalt  624. 
Irrenarzt  600.  636. 

—  weiblicher  600. 
Irrenfürsorge  als  Vorbeugung  559. 
Irrenkolonien  653. 

Irresein,  zirkuläres  442.  517. 

—  endogenes  17. 

—  exogenes  17. 

—  induziertes  138. 

—  manisch-depressives  442.  517. 

—  menstruelles  114. 

—  periodisches  441. 
Irrtum  308. 
Isolierung  594. 
Isopral  565. 

Isotonie  des  Blutes  75.  473- 

Juden,  Veranlagung  ders.  zum  Irresein 

154-  157- 
Jugendgerichtshöfe  556. 

Jugendirresein  144. 

K. 

Kachexia  strumipriva  81. 
Kälte  als  Behandlungsmittel  587. 
Karcinom  s.  Krebskachexie. 
Kastration  als  Heilmittel  575. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  55. 
Katalepsie  378. 

Kataraktoperationen  als  Ursache  des 
Irreseins  55. 

Katastrophen  als  Ursachen  des  Irre- 
seins 135. 

Kathartisches  Verfahren  612. 

Kathisophobie  353. 


Kauflust,  krankhafte  480. 
Kehltonschreiber  500. 
Keimschädigungen  176.  186. 
Kenntnisse,  Untersuchung  ders.  481. 
Keuchhusten  als  Ursache  des  Irreseins  60. 
Kinder,  Irresein  ders.  141. 
Kindsmord  410. 
Kinematographie  502. 
Klangassoziationen  276. 
Klangspielerei  295. 
Kleiderangst  353. 
Kleinheitswahn  321. 
Kleptomanie  409. 

Klima,  Beziehungen  dess.  zum  Irresein 
160. 

Klimakterium  als  Ursache  des  Irreseins 

IIS.  148- 

—  künstliches,  als  Ursache  des  Irre- 
seins 55. 

Klimatotherapie  589. 
Klinische  Formenlehre  515. 
Kniesehnenreflex,    Untersuchung  dess. 
502. 

Kochsalzinfusion  578.  623. 
Kochsalzklystiere  623. 
Körpergewicht  bei  Geisteskranken  444. 
Kohlenoxydgasvergiftung    als  Ursache 

des  Irreseins  loi. 
Kohlensäurevergiftung  als  Ursache  des 

Irreseins  77. 
Kollapsdelirium  59.  66. 
Kolonien  653. 

—  von  Psychopathen  435. 
Kombinationsfähigkeit,  Untersuchung 

ders.  491. 

Kombinierte  Psychosen  531. 

Komplex,  gefühlsstarker  258.  337. 

Komplexwirkungen  bei  Assoziationsver- 
suchen 497. 

Konfabulieren  263. 

Kontagion  s.  Ansteckung. 

Kopfrose  s.  Erysipel. 

Kopfverletzungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 23.  26. 

 bessernder  Einfluß  ders.  auf  das  Irre- 

I      sein  450. 
j  Koprolalie  365. 

Koprophagie  364. 

Koro  158. 

Korridorsystem  643. 
Korssakowsche  Psychose  97.  520. 
Kotstauungen  als  Ursache  des  Irresems 
78. 

Kraniektomie  574. 
Krankenuntersuchung  460. 
Krankheiten,  körperliche  als  Ursache  des 
Irreseins  60. 


öyo 


Register. 


Krankheiten,  körperliche,  bessernder 
Einfluß  auf  das  Irresein  450. 

Krankheitsbewußtsein  478. 

—  Mangel  dess.  325. 

Krankheitseinsicht  als  prognostisches 
Zeichen  449. 

Krankheitsvorgänge  522. 

Krebskachexie  alsUrsache  des  IrreseinsyS. 

Kretinismus  81. 

Krieg  als  Ursache  des  Irreseins  135. 
Kultur  und  Irresein  161. 
Künstler,  Irresein  bei  dens.  427. 
Kunst,  krankhafte  430. 

L. 

Lactation  als  Ursache  des  Irreseins  119. 

Lähmung  des  Willens  366. 

Landbevölkerung  und  Häufigkeit  des 
Irreseins  164. 

Landstreicher,  Irresein  ders.  171. 

Langeweile  362. 

Latah  der  Malayen  158. 

Lebensalter,  Beziehungen  dess.  zum 
Irresein  141. 

Lebensverhältnisse,  allgem.  Beziehungen 
ders.  zum  Irresein  161. 

Lebererkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 108. 

Leichenbefund  507. 

Leichenschändung  405. 

Leichtsinn,  krankhafter  346. 

Leistungsfähigkeit    s.  Arbeitsfähigkeit. 

—  der  Geisteskranken  434. 
Leitvorstellung  279. 

Lepra  als  Ursache  des  Irreseins  73. 
Leseangst  354. 

Leuchtgasvergiftung  alsUrsache  des  Irre- 
seins 100. 

Leukämie  als  Ursache  des  Irreseins  77. 
Lichtstarre  der  Pupillen  468. 
Liegekur  590. 
Literatur,  krankhafte  427. 
Lokalisation  derKrankheit^rgänge  529. 

—  der  psychischen  Störungen  27. 

—  der  Wahnideen  318. 

—  zeitliche  265. 

Lüge,  krankhafte  262.  305. 
Lues  s.  Syphilis. 

Lumbalpunktion  als  Heilmittel  574. 

—  diagnostische  474. 
Lungenentzündung  s.  Pneumonie. 
Lungenkrankheiten  als  Ursache  des  Irre- 
seins 104. 

Lustgefühle,  krankhafte  357. 
Lustigkeit  357. 
Lustmord  404. 

Lyssa  als  Ursache  des  Irreseins  63. 


M. 

Mädchenstecher  404. 
Magenerkrankungen    als    Ursache  des 

Irreseins  107. 
Magensaft,  Verhalten  dess.  474. 
Makrogyrie  509. 
Maladie  des  tics  396. 
Malaria  s.  Intermittens. 
Malonal  568. 
Mammutanstalten  651. 
Manie  de  l'au  delä  394. 

—  einfache  517. 

—  periodische  517. 

—  transitorische  517. 
Manieren  390. 

Mann,  Veranlagung  dess.  zu  Geistes- 
störungen 150. 
Marine,  Irresein  bei  ders.  173. 
Markscheidenentwicklung  36. 
Masern  als  Ursache  des  Irreseins  60. 
Masochismus  405. 
Massage  588. 
Mastkur  592. 
Masturbation  403. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  iio. 

—  Behandlung  ders.  618. 

—  psychische  406. 
Mathematik,  Anlage  zu  ders.  30. 
Medikamente  s.  Arzneimittel. 
Meerwassereinspritzungen  578. 
Melancholia  attonita  517. 

—  cum  stupore  517. 
Melancholie  516. 
Melodiekurve  500. 
Melodie,  sprachliche  416. 
Meningitis  als  Ursache  des  Irreseins  23. 

25-  Sog- 
Menschenfresserei,  krankhafte  404. 
Menses,  Verhalten  ders.  beim  Irresein 

441. 

Menstrualpsychosen  114. 
Menstruationsstörungen  als  Ursache  des 
Irreseins  114. 

—  Einfluß  ders.  auf  den  Verlauf  des 
Irreseins  114. 

Mental  tests  489. 
Merkfähigkeit  255. 

—  Untersuchung  ders.  493. 
Merkstörungen  255. 
Metasyphilis  71. 

Migräne  als  Ursache  des  Irreseins  52. 
Mikrocephalie  508. 

—  relative  465. 
Mikrogyrie  509. 
Militär  s.  Armee. 

Militärdienst  und  Vorbeugung  deä  Irre- 
seins 556.  558. 


Register. 


671 


Mimik  der  Geisteskranken  414. 

Monomanie  317. 

Moosbetten  618. 

Morbus  Basedowii  82. 

Mordtrieb  410.  | 

Morphium  als  Heilmittel  561. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  98. 
Morphiumeuphorie  359. 
Motilitätspsychosen  521. 
Müdigkeit  363. 

—  Fehlen  ders.  363. 

Musikalische   Leistungen   der  Geistes- 
kranken 427. 
Muskelbewegungen,  Untersuchung  ders. 

500. 

Mutacismus  380. 

Mutterkorn  s.  Ergotismus. 

Myeloarchitektonik  35. 

Myxödem  als  Ursache  des  Irreseins  81. 

N. 

Nachahmungsautomatie  378. 
Nachforschungszwang  301. 
Nachtwachen  646. 

—  Einfluß  ders.  auf  das  Seelenleben  59. 
Nachtwandeln  242. 

Nährklystiere  623. 

Nahrungsverweigerung  als  Krankheits- 
zeichen 401. 

—  Behandlung  ders.  618. 
Namenzwang  300. 
Narkotica  als  Heilmittel  560. 
Narrentürme  624. 

Nationalität,  Beziehungen  ders.  zum  Irre- 
sein 152. 

Nebenantriebe  368. 

Nebenhandlungen  386. 

Nebennierenerkrankung  als  Ursache  des 
Irreseins  82. 

Nebennierenextrakt  als  Heilmittel  573. 

Negativismus  380. 

Neologismen  421. 

Nervenheilanstalten  559.  661. 

Nervenkrankheiten  als  Ursache  des  Irre- 
seins 50. 

Nervenzellen,  Untersuchung  ders.  511. 
Neurasthenie  130. 
—  syphilitische  68. 

Neuritis,  multiple,  als  Ursache  des  Irre- 
seins 50- 
Neuronal  565. 

Neurose,  traumatische   124.   127.  168. 
Niedergeschlagenheit  355. 
Nierenerkrankungen   als    Ursache  des 

Irreseins  77.  108. 
No-restraint  597. 
Nuptiales  Irresein  iio. 


o. 

Obervorstellung  279. 

Offen-Tür-System  653. 

Ohrenleiden  als  Ursache  des  Irreseins 

103.  217. 
Olivenölinfusionen  578.  624. 
Onanie  s.  Masturbation. 
Oniomanie-  408. 

Operationen  als  Ursache  des  Irreseins  54. 

—  als  Heilmittel  574. 

—  gynäkologische  575. 

Opium  als  Ursache  des  Irreseins  99. 

—  als  Heilmittel  560. 
Opiumrausch  359. 

Ophthalmoskopie  als  Untersuchungs- 
methode 466. 

Organerkrankungen  als  Ursache  des 
Irreseins  102. 

Organsaftbehandlung  573. 

Orientierung  265. 

—  örtliche  266. 

—  Störungen  ders.  265. 

—  Untersuchung  ders.  478. 

—  zeitliche  265. 
Osteomalacie  80. 
Ovariotomie  als  Heilmittel  575. 

P. 

Papierangst  351.  394. 
Parabulie  386. 

Paraldehyd  als  Schlafmittel  568. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  98. 
1  Paralogie  380. 

Paralyse,  alkoholische  526. 

—  atypische  530. 

—  modifizierte  526. 

—  traumatische  526. 

—  Ursache  ders.  69. 
Paramimie  392. 
Paramnesie  262. 
Paranoia  518. 
Parapraxie  387. 

Parasiten  im  Darm  als  Ursache  des  Irre- 
seins 107. 
Patellarreflex  s.  Kniesehnenreflex. 
Pathographien  430. 
Pavillonstil  647. 
Pedanterie  385. 

Pellagra  als  Ursache  des  Irresems  85. 
Pellotin  564. 
Perimetrie  466. 
Peronin  562. 
Perseveration  281.  420. 
Personenverwechslung  231. 
Perzeptionsphantasmen  213. 
Petroleum  als  Ursache  des  Irresems  97. 
Pflegeanstalt  641. 


672 


Register. 


Pflegepersonal  638. 
Phantasie  s.  Einbildungskraft. 
Phobie  349. 
Phobie  du  metier  397. 

—  du  regard  351. 
Phobophobie  355. 
Phonographie  502. 

Phosphorvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 78.  lOI. 
Phrenologie  28. 

Phthise  als  Begleiterin  des  Irreseins  457. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  73. 
Physikalische  Heilmethoden  578. 
Platzangst  352. 
Plethysmographie  472. 

Pneumonie  als  Ursache  des  Irreseins  60. 
Pocken  s.  Variola. 
Polsterbett  593. 
Polyneuritisches  Irresein  50. 
Porencephalie  509. 
Poriomanie  400. 
Präkordialangst  348. 
Prädisposition  zum  Irresein  140. 

—  allgemeine  141. 

—  persönliche  175. 
Privatanstalten  635. 
Probepunktion  des  Gehirns  574. 
Prodromalsymptome  439. 
Prognose  des  Irreseins  447. 
Prophylaxe  des  Irreseins  545. 
Proponal  568. 

Prostituierte,  Irresein  ders.  171. 
Pseudohalluzination  223. 
Pseudoparalyse  85. 

—  diabetische  80. 
Psychoanalyse  498.  612. 
Psychogene  Störungen  bei  Hirnerkran- 
kungen 23. 

Psychogenie  120. 

Psychologie  als  Hilfswissenschaft  8. 
Psychose  s.  Irresein. 
Pubertätsalter,    Geistesstörungen  dess. 
144. 

Puerilismus  335.  337. 
Puerperalmanie  119. 
Puerperium  s.  Wochenbett. 
Pulsbild  beim  Irresein  471. 
Pulsdruck  472. 

Pupillenreaktion,  galvanische  469. 

—  hemianopische  469. 

—  psychische  469. 

—  sekundäre  469. 
Pupillenstarre,  absolute  468. 

—  reflektorische  468. 
Pupillenunruhe  469. 
Pupillenuntersuchung  467. 
Pyromanie  409. 


Quecksilbervergiftung  als  Ursache  des 

Irreseins  100. 
Querulantenwahn  125. 

I  R. 

Rasse,  Beziehung  ders.  zum  Irresein  152. 

Ratlosigkeit  267.  304. 

Rechtspflege,  Beziehungen  des  Irreseins 
zu  ders.  436. 

Rededrang  290.  417. 

—  innerlicher  290. 

Reflexhalluzination  226. 
I  Reflexmultiplikator  503. 
J  Reflex,  psychophysischer,  galvanischer 
503- 

Reflexpsychosen  53. 

Reinlichkeit,  Störungen  ders.  364. 

Reiseangst  353. 

Reizbarkeit,  gemütliche,  Erhöhung  ders. 
345- 

Rekonvaleszenz  443. 
Remission  443. 
Reperzeption  222. 
Residualwahn  320.  455. 
Restraint  597. 

Rhytmische  Gliederung  der  Sprache  416. 

Rindenlokalisation  27. 

Rindenzellen,    örtliche  Verschiedenheit 

ders.  31. 
Rindenzentren  32.  37. 

S. 

Sabromin  572. 
Sadismus  403. 
Säugegeschäft  s.  Lactation. 
Salycilsäurevergiftung  als  Ursache  des 

Irreseins  100. 
Salzsäuregehalt    im    Magensafte  von 

Geisteskranken  107. 
Sammeltrieb,  krankhafter  408. 
Sauerstoffbehandlung  573. 
Schädellehre  Galls  28. 
Schädelmessung  bei  Geisteskranken  465. 
Schamgefühl,  Verlust  dess.  365. 
Scharlachdelirien  60. 
Scheinoperationen    bei  Hypochondern 

608. 

Schilddrüsenerkrankung  als  Ursache  des 

Irreseins  81. 
Schilddrüsenausschneidung als  Heilmittel 

577- 

Schlafkrankheit  der  Neger  71. 
Schlaflosigkeit,  Behandlung  ders.  615. 
—  Einfluß  ders.   auf  psychische  Vor- 
gänge 57. 
Schlafmittel  564. 


Register. 


673 


Schlafstörungen  239. 
Schlaftiefe,  Gang  ders.  239. 

—  Messung  ders.  505. 

—  Störung  ders.  332. 
Schlaftrunkenheit  241. 
Schluckangst  354. 
Schmerz,  Fehlen  dess.  364. 
Schmerzdelirien  53. 
Schmerzgeilheit  405. 
Schnauzkrampf  389. 

Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes 
328. 

Schreck  als  Ursache  des  Irreseins  121. 

Schreibstottern  354. 

Schriftblindheit  40. 

Schriftsteller,  krankhafte  427. 

Schriftstörungen  423. 

Schrift,  Untersuchung  ders.  499. 

Schriftwage  425.  499. 

Schrullen  390. 

Schulärzte  555. 

Schutzhandlungen  394. 

Schwachsinn  s.  Demenz. 

—  erworbener  521. 

—  halluzinatorischer  der  Trinker  97. 
Schwärmer,  krankhafte  346.  537. 
Schwangerschaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 115. 

—  künstliche  Unterbrechung  ders.  576. 
Schwefelkohlenstoffvergiftung    als  Ur- 
sache des  Irreseins  102.        f  Ijj 

Schwefelwasserstoffvergiftung    als  Ur- 
sache des  Irreseins  100. 
Schweiß,  Giftigkeit  dess.  beim  Irresein 

74- 

Schwellenwert  238. 

Schwerfälligkeit  303. 

Schwerhörige,  Irresein  ders.  103. 

Schwindler,  krankhafte  305.  346.  537. 

Scopolamin  563. 

Seelenblindheit  40. 

Seelentaubheit  40. 

Seereisen  589. 

Sejunktion  336. 

Sektionsergebnisse   bei  Geisteskranken 
507- 

Sekundärempfindungen  226. 
Selbstbewußtsein  333. 

—  Spaltung  dess.  336. 

—  Störungen  dess.  333. 

—  Verdoppelung  dess.  337. 
Selbstgefühl,  gesteigertes  347. 
Selbstmord,  Häufigkeit  dess.  157. 

—  als  Symptom  534. 
Selbstmordneigung  432. 

—  Behandlung  ders.  616. 
Selbstvergiftung  74. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.    8.  Aufl. 


Separierung  594. 

Septicämie  als  Ursache  des  Irreseins  61. 
117. 

Serodiagnostik  476. 
Sexualempfindung,  konträre  403. 
Siechenanstalten  661. 
Simulation  540. 
Sinnestäuschungen  211. 

—  elementare  212. 

—  Nachweis  ders.  478. 
• —  negative  219. 
Sinneszentren  36. 

Sitophobie  s.  Nahrungsverweigerung. 

Situationsphobien  349. 

Sklerose,  multiple  27. 

Sodomie  408. 

Somatiker  2. 

Somatopsychosen  521. 

Somnambulismus  s.  Nachtwandeln. 

Sondenernährung  620. 

Sonderlinge  345. 

Sonnennatur  346. 

Sonnenstich  20.  25. 

Spaltplatte  490.' 

Spätheilung  459. 

Spannung,  ängstliche  348. 

Sphygmographie  bei  Geisteskranken  471. 

Spiritismus  und  Irresein  140. 

Sprache,  Untersuchung  ders.  500. 

Sprachstörungen  415. 

—  des  Traumes  421. 
Sprachverwirrtheit  420. 
Sprechen,  inneres  241. 
Sprechmanieren  390. 
Sprichwörtermethode  485. 
Staatliche  Aufgaben  der  Psychiatrie  560. 
Stadtasyl  641. 

Städte,  große,  Irresein  in  dens.  164. 
Status  präsens,  körperlicher  464. 

—  —  psychischer  477. 
Stauung,  Bier  sehe  588. 
Stehltrieb  409. 

Sterblichkeit    der    Geisteskranken  457 
Stereoskopie  502. 
Stereotypie  des  Willens  389. 

—  der  Vorstellungen  281. 
Sterilisierung,  soziale  547. 
Stickstoffoxydul  als  Ursache  des  Irre 

seins  100. 
Stigmata  hereditatis  190. 
Stimmen  220.  231. 
Stimmung,  Untersuchung  ders.  478. 
Stimmungswechsel  343- 
Stirnhirngeschwülste,    psychische  Sto 

rungen  bei  dens.  45. 
Stoffwechselkrankheiten  als  Ursache  de 

Irreseins  74. 

43 


674 


Register. 


Stoffwechseluntersuchungen  474. 
Stottern  354. 
Stupor  372.  517. 

—  halluzinatorischer  517. 

—  katatonischer  372. 
Suchten  402. 

Suggestion,  hypnotische  376, 

—  a  echeance  377. 

—  posthypnotische  377. 
Sulfonal  566. 

—  als  Ursache  des  Irreseins  100. 
Sympathicusdurchschneidung  574. 
Symptomatologie  des  Irreseins  210. 
Syphilis  als  Ursache  des  Irreseins  67. 

—  a  virus  nerveux  70. 

—  bei  Paralyse  69. 

—  Kampf  gegen  dies.  558. 

T. 

Tabes  als  Ursache  des  Irreseins  50. 

Tachistoskop  490. 

Tätowierung  465. 

Tartarus  stibiatus  574. 

Taubstummheit  103.  211. 

Teilnahmlosigkeit  als  Symptom  339. 

Telepathie  324. 

Tentreatment  590. 

Terpentinöleinspritzungen  574. 

Tetanie  als  Ursache  des  Irreseins  52.  81. 

Tetronal  567. 

Therapie  s.  Behandlung. 

Thermometrie  des  Kopfes  466. 

Thyreoidin  573, 

Tics  389.  396. 

Tierpsychosen  157. 

Tierverwandlung,  Wahn  ders.  324. 

Tobsucht  517. 

Tobzellen  594. 

Tod  als  Ausgang  des  Irreseins  457. 

Todesursachen  bei  Geisteskranken  457. 

Toluidinrausch  102. 

Träumer,  krankhafte  305. 

Transitivismus  314. 

Traum,  Sprachstörungen  dess.  421. 

—  bei  Geisteskranken  242. 

Trauma  s.  Kopfverletzungen. 

Tretrad  als  Behandlungsmittel  629. 

Triebe,  krankhafte  401. 

Triebhandlungen  399. 

Trinker  92. 

Trinkerheilstätten  660. 

Trional  567. 

Tropenklima,  Einfluß  dess.  auf  das 
Irresein  160. 

Trugwahrnehmungen  s.  Sinnestäuschun- 
gen. 

Trunksucht  s.  Alkohol. 


Trypanosoma  als  Ursache  bei  Irreseins 
72. 

Tuberkulin  574. 

Tuberkulose  als  Ursache  des  Irreseins  73. 

—  bei  Geisteskranken  457. 
Tumoren  s.  Geschwülste. 
Turnen  589. 

Typhus  als  Ursache  des  Irreseins  60.  65. 

—  bessernder  Einfluß  dess.  auf  Geistes- 
störungen 450. 

Typhus  pellagrosus  86. 
Typhustoxine  als  Heilmittel  574. 

u. 

Überanstrengung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 129. 

Überbürdung  der  Schuljugend  552. 

Überernährung  als  Behandlungsmethode 
592. 

Übung  330. 
{  Übungsfähigkeit,  Messung  ders.  505. 
I  —  Störungen  ders.  331. 

Übungsfestigkeit  331.  505. 

Umständlichkeit  284. 

—  der  Epileptiker  285. 
Unbesinnlichkeit  249. 
Unempfindlichkeit,  krankhafte  364. 
Unfallgesetzgebung  und  Irrseein  168. 
Unfallneurose  s.  Neurose,  traumatische. 
Unheilbarkeit  454. 
Unlenksamkeit  384. 
Unlustempfindlichkeit,  gesteigerte  344. 

j  Unlustgefühle,  krankhafte  348. 

!  Unreinlichkeit,   Behandlung  ders.  617. 

—  als  Krankheitszeichen  364. 
Unruhe  369. 

Unsittlichkeit,   Abgrenzung  ders.  vom 

Irresein  538. 
Unstetigkeit  379. 
Unterricht,  psychiatrischer  560. 
Untersuchung,  körperliche  464. 

—  psychische  477. 

Untersuchungshaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 127.  131.  542. 
Untersuchungsmethoden,  klinische  464. 
Urämie  als  Ursache  des  Irreseins  77.  108. 
Urethan  567. 

Ursachen  des  Irreseins  15. 
 äußere  18. 

—  —  —  innere  140. 
 körperliche  18. 

—  — ■  —  psychische  119. 
  —  rohe  16. 

—  —  —  wahre  16. 
Urteile,  analytische  277. 

—  synthetische  277. 
Urteilsstörungen  307. 


Register. 


675 


V. 

Vagabunden,    Beziehungen   ders.  zum 

Irresein  171. 
Valerianapräparate  572. 
Valyl  572. 

Variola  als  Ursache  des  Irreseins  60.  65. 
Verantwortlichkeit  436. 
Verbigeration  418. 

—  schriftliche  425. 

—  zeichnerische  426. 
Verblödung  456. 
Verbrecher,  geborene  172. 

—  geisteskranke  657. 
Verdauungsstörungen  als  Ursache  des 

Irreseins  io7- 
Verdrängung  von  Vorstellungen  258. 
Vererbung  s.  Erblichkeit. 
Verfolgungswahn  322. 

—  physikalischer  324. 

Vergiftung  als  Ursache  des  Irreseins  83. 
Verlangsamung  der  psychischen  Leistun- 
gen 328. 
Verlauf  des  Irreseins  438. 

—  anfallsweiser  441. 

—  fortschreitender  455. 

—  gleichmäßiger  440. 

—  periodischer  441. 

—  schwankender  440. 

—  zirkulärer  442. 
Verlegenheitskonfabulationen  263. 
Verleugnung  543. 

Veronal  568. 
Verrücktheit  518. 

—  originäre  519. 

—  periodische  519. 

—  primäre  439.  518. 

—  sekundäre  518. 
Verschlossenheit  345. 
Verschrobenheit  388. 
Versetzungsbesserungen  608. 
Verstandestätgkeit,  Störungen  ders.  253. 
Verstande^tätigkeit,  Prüfung  ders.  480. 
Verstellung  540. 

Verstimmung,  epileptische  356. 

—  heitere  357. 

—  traurige  355. 

Versuche,  psychologische,  bei  Geistes- 
kranken 488. 

Versündigungswahn  321. 

Verwandlungswahn  324. 

Verwandtschaft  der  Eltern  als  Ursache 
des  Irreseins  188. 

Verweichlichung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 199. 

Verwirrtheit  296. 

— •  halluzinatorische  296. 

—  ideenflüchtige  296. 


Verwirrtheit,  kombinatorische  296. 

—  stuporöse  297. 

—  traumhafte  296. 

—  zerfahrene  296. 
Verzückung  359. 
Vision  230. 

Volksart,  Beziehungen  ders.  zum  Irre- 
sein 153. 
Vorbeireden  380. 
Vorbeugung  545. 
Vorboten  439. 
Vorgänge,  krankhafte  438. 
Vorgeschichte  461. 
Vorstellungen,  Haften  ders.  280. 

—  Störungen  in  der  Bildung  ders.  270. 

—  unabgeschlossene  300. 
Vorstellungsschatz,  Untersuchung  dess. 

496. 

Vorstellungsverbindungen,  äußere  275. 

—  Festigkeit  ders.  496. 

—  innere  275. 

—  prädikative  277. 

—  Statistik  ders.  496. 

—  Störungen  ders.  275. 

—  Untersuchung  ders.  495. 

—  zeitlicher  Ablauf  ders.  328. 
Vorstellungsverlauf  s.  Gedankengang. 

W. 

Wachabteilung  641. 
Warenhausdiebinnen  409. 
Wärmebestrahlung  des  Kopfes  als  Ur- 
sache des  Irreseins  20. 
Wahnbildung  310. 

—  partielle  318. 
Wahnidee  310. 

—  deliriöse  319. 

—  depressive  321. 

—  exaltierte  325. 

—  fixe  317. 

—  hypochondrische  324. 

—  Lokalisation  ders.  318. 

—  Nachweis  ders.  479. 

—  nihilistische  322. 

—  systematisierte  320. 

—  wechselnde  320. 
Wahnsystem  320. 
Wahlreaktionen  499. 
Wahlzeit  499- 

Wahrnehmung,  Störungen  ders.  211. 

  Untersuchung  ders.  489. 

Wahrnehmungstäuschungen  213. 

Wandertrieb  400. 
Wasserbehandlung  578. 
I  Wechselfieber  s.  Intermittens. 
Weib,  Disposition  dess.  zum  Irresem  150. 
Weitschweifigkeit  289. 

43* 


676 


Register. 


Wicklungen,  feuchte  586. 

Widerstreben  383. 

Wille,  Abgleiten  dess.  386. 

—  Ablenkbarkeit  dess.  379. 

—  Beeinflußbarkeit  dess.,  erhöhte  375. 
 dess.,  verminderte  380. 

—  Bestimmbarkeit  dess.  376. 

—  Bindung  dess.  384. 

—  Durchkreuzung  dess.  388. 

—  Entgleisung  dess.  391. 

—  Lähmung  dess.  366. 

—  Stereotypie  dess.  389. 

—  Störungen  dess.  366. 

—  Unstetigkeit  dess.  378. 

—  Verödung  dess.  367. 
Willenlosigkeit  376. 

Willensantriebe,  Herabsetzung  ders.  366. 

—  Steigerung  ders.  369. 

—  Untersuchung  ders.  499. 
Willensdurchkreuzung  388. 
Willensfreiheit  375. 

Willenshandlungen,  Behinderung  ders. 
371- 

—  Erleichterung  ders.  373. 
Willenshemmung  371. 
Willenssperrung  372. 
Willkürhandlungen,  Störungen  im  Ab- 
laufe ders.  385. 

—  Verschiebungen  ders.  387. 

—  Verschnörkelung  ders.  391. 

—  verstümmelte  386. 
Windungsanomalien  509. 
Witzelsucht  45.  295. 
Witzmethode  485. 

Wochenbett  als  Ursache  des  Irreseins 
117. 

Wortneubildungen  421. 


Wortsalat  420. 
Wortspielerei  294. 
Worttaubheit  39. 

Wucherungen,    adenoide,  Entfernung 
ders.  577. 

Z. 

Zahl  der  Geisteskranken  13.  162. 
Zahlenzwang  301. 
Zeichnungen,  krankhafte  426. 
Zeitmessungen,  psychische  328.  491. 
Zellenlose  Behandlung  595. 
Zerfahrenheit  292. 

Zerstörungssucht,  Behandlung  ders.  617. 
Zerstreutheit  252.  253. 
Zitterapparat  502. 
Zivilstand  und  Irresein  174. 
Zoophilie  408. 
Zopfabschneider  408. 
Zornmütigkeit,  krankhafte  345. 
Zorntobsucht  517. 
Zuchthausknall  133. 
Zunahme  des  Irreseins  162. 
Zurechnungsfähigkeit  436. 
Zustände,  krankhafte  438. 
Zustandsbilder  515. 
Zustandsuntersuchung  464. 
Zwangsbefürchtungen  349. 
Zwangsbett  596. 
Zwangsbewegungen  389. 
Zwangshandlungen  393. 
Zwangshemmungen  397. 
Zwangsjacke  596. 
Zwangsstuhl  596. 
Zwangsvorstellungen  297. 
Zweifelsucht  300. 
Zwillingsirresein  183. 


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