Institute of Psychiatry Library
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200931105
INST. PSYCH.
UBRARY
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PSYCHIATRIE
EIN LEHRBUCH
FÜR STUDIERENDE UND ÄRZTE
VON
Dr. EMIL KRAEPELIN
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN
ACHTE, VOLLSTÄNDIG UMGEARBEITETE AUFLAGE
'v
I. BAND
ALLGEMEINE PSYCHIATRIE
MIT 38 ABBILDUNGEN UND EINER EINSCHALTTAFEL
LIBRARY
LEIPZIG
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH
1909
LIBRARY
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Dem Andenken
Bernhard von Guddens
gewidmet
Vorwort zur 8, Auflage.
Die wachsende Ausdehnung unserer Wissenschaft wie die Über-
lastung mit Berufsgeschäften nötigt mich, die vorliegende Neu-
bearbeitung der allgemeinen Psychiatrie zunächst für sich heraus-
zugeben. Sie ist beträchtlich erweitert worden, da viele Lücken
auszufüllen waren; das vordringliche Interesse der klinischen
Forschung hat, im Gegensatze zu früheren Zeiten, heute die Be-
schäftigung mit den allgemeineren Fragen der Psychiatrie viel-
leicht etwas zu sehr in den Hintergrund gedrängt. Tiefgreifende
Umwandlungen mußte besonders der erste Abschnitt erfahren, in
dem neben den Erörterungen über Rindenlokalisation die Darstel-
lung der allgemeinen und persönlichen Prädisposition fast völlig neu
geschrieben wurde. In den vierten Abschnitt wurde ein Kapitel
über allgemeine Diagnostik eingefügt, im fünften die Darstellung
des Anstaltswesens nach verschiedenen Richtungen hin vervoll-
ständigt. Vielfach wird man ferner, wie ich denke, dem Streben
begegnen, die Beziehungen der Psychiatrie zu anderen Wissens-
gebieten, zur Psychologie, Biologie und Gesundheitslehre, zur Sitten-
geschichte, Gesellschaftskunde und Rechtswissenschaft, stärker zu
betonen. Zur besseren Veranschaulichung habe ich dem Buche
eine größere Zahl von Diagrammen und Abbildungen beigegeben.
München, den 28. Februar 1909.
E. Kraepelin.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
I
Einleitung ^
I Die Ursachen des Irreseins / \,' ' "
Außere und innere, rohe und wahre Ursachen - Exogene und endogene
Erkrankungen.
lo
A. Äußere Ursachen
I. Körperliche Ursachen
^^^"SSaSrungen (Blutandrang/ Blutleere, f rSur;;en'"
mische Wirkungen, Zerstörungen, psychische Wirkungen -
Krankheitsbilder •.• • ' • :. ,■. '
Meningitis - Sonnenstich - Hitzschlag - Hirngeschwulste -
Kopfverletzungen - Apoplektischer Schwachsinn - Hunting-
tons Chorea • \, ' a^o
Lokalisation der psychischen Störungen - Vergleichende Ana-
tomie - Phrenologie (Gall, Möbius) - Verschiedenheit der
Nervenzellen — Anordnung in der Rinde — Giftwirkungen —
Landkartenartige Abgrenzung — Cytoarchitektonik — Myelo-
architektonik — Markreifung (Flechsig) — Tierversuche —
Klinische Ausfallserscheinungen — Agnosie und Apraxie -—
Geschwülste — Topographisch-pathologische Rindenanatomie
— Restitution und Kompensation — Giftversuche — Isolierte
Krankheitszeichen
Nervenkrankheiten ■t-\ ■
Tabes — Polyneuritis (Beri-Beri) — Chorea — Epilepsie — Tetanie
— Migränepsychosen — Schmerzdelirien, Reflexpsychosen
(Dysphrenia neuralgica) 5°
Operative Eingriffe c ■ /
Delirium traumaticum (Alkohol, Urämie, Jodoform, Sepsis) —
Künstliches Klimakterium — Delirien im Dunkelzimmer . 54
Erschöpfung yC. ' ' •• j ' '
Vermehrter Verbrauch; ungenügender Ersatz — Übermüdung,
Schlaflosigkeit, Hungern — Klinische Formen (Amentia, Er-
schöpfungsstupor, Neurasthenie, Kollapsdelirium) — Chronische
Erschöpfung 55
Infektionskrankheiten „ ■ • .'
Akute Infektionskrankheiten (Giftwirkungen, Fieber, Kompli-
kationen, persönliche Widerstandsfähigkeit) — Delirien —
Lyssa — Nachkrankheiten (Erschöpfung, Gifte) — Residual-
wahn, Kollapsdelirien, Depressionszustände, akute Demenz —
Auslösung anderer Psychosen 60
Chronische Infektionskrankheiten — Syphilis (Neurasthenie, fort-
schreitende Krankheitsbilder, Schwächezustände, Entwicklungs-
hemmungen) — Metasyphilis (Paralyse) — Schlafkrankheit —
Tuberkulose — Lepra ^7
Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
Stoffwechselkrankheiten '. • ■ '
Blutveränderungen (Gifte, Alkalescenz, Cytolysine, Isotonie, Zahl
der roten und weißen Blutkörper) — Kohlensäurevergiftung —
Urämie — Cholämie — Krebssiechtum — Darmgifte — Dia-
betes, Glykosurie — Osteomalacie — Gicht — Schilddrüsen-
erkrankungen (Myxödem, Basedowsche Krankheit) — Hypo-
physis — und Nebennierenerkrankungen 74
Vergiftungen ^3
Akute und chronische Vergiftungen — Mittelbare Giftwirkungen . 83
Pellagra — Ergotismus — Alkohol (Häufigkeit der Erkrankungen,
Verbreitung des Alkoholverbrauchs, verschiedene Getränke,
Dauerwirkungen, entartende Wirkungen, wirtschaftliche Be-
gleiterscheinungen, klinische Formen) — Äther — Paraldehyd
(Petroleum, Benzin, Chloroform) — Morphium (Opium, Dionin,
Heroin) — Cocain — Haschisch — Fliegenschwamm — Arznei-
mittel (Bromsalze, Sulfonal, Jodoform usw.) — Quecksilber, Blei
— Phosphor — Kohlenoxydgas — Schwefelkohlenstoff — Anilin 85
Organerkrankungen ^ °2
Ohrenerkrankungen (Psychose der Schwerhörigen, Taubstumm-
heit) — Aprosexia nasalis — Lungenleiden — Herzleiden —
Gefäßerkrankungen (Lues, Arteriosklerose) — Erkrankungen
der Verdauungswerkzeuge (Darm, Magen, Leber) — Nieren-
erkrankungen — Genitalerkrankungen („Hysterie") 103
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft . 109
Ausschweifungen — Onanie — Nuptiales Irresein — Geschlechtliche
Enthaltsamkeit — Sexueller Ursprung der Neurosen und Psy-
choneurosen (Freud) — Menstruationsstörungen — Klimak-
terium — Fortpflanzungsgeschäft (Schwangerschaft, Wochen-
bett, Säugegeschäft)
2. Psychische Ursachen ^^9
Gemütsbewegungen 121
Akute und dauernde Gemütsbewegungen — Körperliche Begleit-
erscheinungen — Krankhaftes Haften — Bewußtseinstrübung
— Verdrängung — Emotionspsychosen, Angstdelirien — Hyste-
rie, Unfallsneurose, Erwartungsneurose, Zwangsirresein
Querulantenwahn — Auslösende Wirkungen 121
Überanstrengung 129
Gefangenschaft ^3°
Untersuchungshaft (Ganser scher Dämmerzustand) — Straf haft
— Verschie'dene klinische Formen — Komplexe 131
Kriege und Katastrophen ^35
Psychische Ansteckung • 136
Psychische Epidemien — Induziertes Irresein — Irresein nach
hypnotischen und spiritistischen Versuchen I37
B. Innere Ursachen (Prädisposition) 140
I. Allgemeine Prädisposition 141
Lebensalter ^4^
Kinderpsychosen (Entwicklungshemmungen) — Entwicklungs-
jahre (Hebephrenie, Hysterie, manisch-depressives Irresein)
— Lebenshöhe (Alkohol und Syphilis) — Rückbildungsjahre
(Arteriosklerose, Klimakterium) — Greisenalter 141
Geschlecht ^So
Volksart
Kultur- und Naturvölker — Juden und Neger — Klinische Formen
— Tierpsychosen — Selbstmordstatistik — Besondere Formen
(Latah, Amok, Koro) — Klinische Spielarten i53
rr-rr-t Inhaltsverzeichnis.
Seite
Klima
AllEcmeine Lebensverhältnisse
Anwachsen der Geisteskranken — Stadt und Land — Kultur-
einflüsse (Unfallversicherung, Steigerung der Anforderungen,
Verweichlichung, Abschwächung des Auslesevorganges) —
Änderung klinischer Formen i6i
Beruf ■ : ^■ ' n '
Berufslosigkeit (Verbrecher, Landstreicher, Prostituierte) — Ge-
fahren bestimmter Berufe — Armee und Marine 170
Zivilstand ^74
2. Persönliche Prädisposition ^75
Erblichkeit ^75
Keimschädigung und Vererbung — Unmittelbare, atavistische,
kollaterale, verschiedenartige Vererbung — Erbliche Belastung
bei Gesunden und Geisteskranken — Gehäufte Vererbung —
Unehelich Geborene — Einzelne klinische Formen — Zwillings-
irresein — Gleichartige und umwandelnde Vererbung ... 175
Entwicklungsstörungen
Entartung ^87
Erbliche Entartung — Blutsverwandtschaft, Blutsverschieden-
heit — Psychische und körperliche Entartungszeichen — Ver-
erbung erworbener Eigenschaften — Verschärfung des Daseins-
kampfes (Verlust der Freiheit, Verantwortlichkeit, Angstzu-
stände) — Verkümmerung — Einseitige Züchtung seelischer
Eigenschaften — Domestikation, Verweichlichung — Ab-
schwächung der natürlichen Triebe — Einschränkung und
Verkehrung der natürlichen Auslese . 187
Erziehung 203
Persönliche Eigenart 206
Bedeutung der einzelnen Ursachengruppen 208
IL Die Erscheinungen des Irreseins 210
A. Störungen des Wahrnehmungsvorganges 211
Sinnestäuschungen 211
Spezifische Reaktion — Elementare Trugwahrnehmungen — Wahr-
nehmungstäuschungen — Bedingungen derselben (Fortfall äuße-
rer Reize, Aufmerksamkeit, Anregung durch äußere Reize) —
Einseitige Täuschungen — Negative Sinnestäuschungen —
Halluzination und Illusion — Reperzeption — Einbildungs-
täuschungen (Doppeldenken, Gedankensichtbarwerden) — Extra-
campine Halluzinationen — Auffassungsverfälschungen —
Reflexhalluzinationen — Klinische Bedeutung der Sinnestäu-
schungen — Verschiedenheiten ihrer Entstehung — Gesichts-,
Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks-, Gefühlstäuschungen —
Klinische Unterschiede 211
Trübungen des Bewußtseins 237
Bewußtsein — Dämmerzustände — Schlaf, Schlafstörungen (Fehlen
des Schlafbedürfnisses, krankhafte Müdigkeit, Änderungen der
Schlaftiefe, Störungen des Erwachens) — Krankhafte Träume 237
Störungen der Auffassung 243
Verlangsamung der Auffassung — Verständnislosigkeit — Un-
besinnlichkeit — Agnosie 243
Störungen der Aufmerksamkeit 247
Enge des Bewußtseins — Inneres Blickfeld, innerer Blickpunkt
— Aktive und passive Aufmerksamkeit — Abstumpfung der
Aufmerksamkeit — Sperrung — Hemmung — gesteigerte
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite
Lebhaftigkeit — Bestimmbarkeit — Erhöhte Ablenkbarkeit der
Aufmerksamkeit — Fesselung der Aufmerksamkeit 247
B. Störungen der Verstandestätigkeit 253
Störungen des Gedächtnisses 254
Merkstörungen — Erinnerungslosigkeit (retrograde Amnesie) —
Verdrängung — Gedächtnisschwäche — Umschriebene Amne-
sien — Verlust der Bekanntheitseigenschaft — Erinnerungs-
fälschungen — Hypermnesien — Paramnesien — Konfabula-
tion — Assoziierende, identifizierende Erinnerungstäuschungen 255
Störungen der Orientierung 265
Zeitliche, örtliche, sachliche Orientierung — Desorientiertheit
(apathische, stuporöse, deliriöse, halluzinatorische, amnestische,
wahnhafte) 265
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe .... 270
Allgemeinvorstellungen (Sprachsymbole) — Unvollkommene Ent-
wicklung der Begriffe — Verschwommenheit 270
Störungen der Vorstellungsverbindungen 275
Äußere und innere Vorstellungsverbindungen (Koexistenz, sprach-
liche Übung, Klangassoziationen, logische Beziehungen) —
Analytische und synthetische Urteile, Subsumtionen und prädi-
kative Beziehungen — Persönliche Unterschiede 275
Störungen des Gedankenganges 279
Leitvorstellungen — Haften, Perseveration — Stereotypie — Ein-
förmigkeit — Umständlichkeit — Ablenkbarkeit (Ideenflucht,
Weitschweifigkeit, Aufzählungen) — Zerfahrenheit (Wort- und
Klangspielereien) — Verwirrtheit 279
Zwangsvorstellungen 297
Motorische Einstellung — Kontrastvorstellungen — Verantwort-
lichkeit, Zweifelsucht — Grübel- und Fragesucht 297
Störungen der Einbildungskraft 302
Lähmung (Schwerfälligkeit) — Denkhemmung — Interesselosig-
keit — Steigerung der Einbildungskraft (krankhafte Lügner und
Schwindler) — Pathologischer Einfall 302
Störungen des Urteils und der Schlußbildung 307
Wissen und Glaube — Irrtum, Aberglaube und Wahnidee —
Überwertige Ideen — Wahnbildung, egozentrische Anknüpfung,
psychologische Macht — Beziehungswahn (Transitivismus) —
Erklärungswahn — Entstehungsbedingungen des Wahns (Ge-
fühlsregungen, Bewußtseinstrübung, Urteilsschwäche) — Mono-
manien — Lokalisation der Wahnideen — Klinische Formen
(deliriöse , schwachsinnige , wechselnde , fixierte Wahnideen,
Residualwahn, Wahnsysteme) — Kleinheits- und Größenideen
— Versündigungs-, Verfolgungs-, Eifersuchtswahn, Telepathie,
Verwandlungswahn, hypochondrischer Wahn, Größenwahn,
Mangel des Krankheitsbewußtseins 307
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes 328
Verlangsamung — Schwankungen — Beschleunigung .... 328
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit y 330
Psychische Grundeigenschaften — Übungsfähigkeit ' — Übungs-
festigkeit — Anregbarkeit — Ermüdbarkeit — Erholungsfähig-
keit (Schlaftiefe) — Ablenkbarkeit — Gewöhnungsfähigkeit . 330
Störungen des Selbstbewußtseins 333
Verfälschungen — Depersonalisation — Beeinflussung durch
die Stimmung — Vernichtung — Spaltung, Zerfall der Indi-
vidualität (Sejunktion) — ■ Lücken — Doppeltes Bewußtsein
(Ekmnesie) 333
Inhaltsverzeichnis.
Seite
C. Störungen des Gefühlslebens 338
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit .... 339
Teilnahmlosigkeit — Einschränkung der Gefühlsbeziehungen —
Niedere und höhere Gefühle — Beeinflußbarkeit — Krankhafte
Lebhaftigkeit der Stimmungen — Stimmungswechsel .... 339
Krankhafte Gemütsarten 343
Gesteigerte Unlustempfindlichkeit — Ängstlichkeit — Reizbar-
keit — Verschlossenheit — Sonnennaturen — Schwärmer und
Schwindler — Leichtsinn 344
Krankhafte Gemütsbewegungen 347
Angst — Phobien (Situations-, Funktionsphobien) — Erwartungs-
angst — Niedergeschlagenheit — Gereiztheit — Übermut —
Humor — Glücksgefühl — Heiterkeit — Verzückung, Ekstase 348
Störungen der Gemeingefühle 361
Müdigkeit — Hunger — Langeweile — Ekelgefühle — Schmerz
— Schamgefühl — Geschlechtliche Gefühle 361
D. Störungen des Wollens und Handelns 366
Herabsetzung der Willensantriebe 366
Lähmung und Verödung des Wollens 366
Steigerung der Willensantriebe 369
Unruhe — Betätigungsdrang (Manie) — Bewegungsdrang (Kata-
tonie) 369
Behinderung der Willenshandlungen 371
Psychomotorische Hemmung — Stupor — Willenssperrung . . 371
Erleichterung der Willenshandlungen 373
Erhöhte Beeinflußbarkeit des Willens 375
Willensfreiheit — Bestimmbarkeit — Willenlosigkeit (Hypnose) —
Befehlsautomatie (Katalepsie) — Nachahmungsautomatie (Echo-
lalie, Echopraxie) — Ablenkbarkeit des Willens (Unstetigkeit) 375
Verminderte Beeinflußbarkeit des Willens 380
Negativismus (Mutacismus, Vorbeireden, Befehlsnegativismus) —
Widerstreben — Eigensinn, Unlenksamkeit — Bindung des
Willens (Pedanterie) 380
Störungen im Ablaufe der Willkürhandlungen 385
Zielvorstellung — Handlungsformel — Ideatorische und moto-
rische Apraxie 385
Verschrobenheit und Stereotypie 388
Willensdurchkreuzung (Nebenantriebe) — Stereotypie (Haltungs-
und Bewegungsstereotypen) — Verschnörkelungen (Manieren)
und Entgleisungen des Handelns (Paramimie, Drumherumreden) 388
Zwangshandlungen und Zwangshemmungen 393
Schutzhandlungen — Manie de l'au delä — Tics (Maladie des tics)
— Einschränkung des Willens (Phobie du metier) — Unfähig-
keit, anzufangen und aufzuhören (Kleben) 393
Triebhandlungen 299
Krankhafte Triebe ^01
Nahrungsverweigerung, Gefräßigkeit — Suchten — Selbstver-
letzungen — Krankhafter Geschlechtstrieb — Onanie —
Konträre Sexualempfindung — Sadismus (Mädchenstecher,
Lustmörder) — Masochismus (Flagellanten) — Fetischismus
(psychische Onanie, Zopfabschneider, Diebstähle) — Sodomie,
Zoophilie — Sammeltrieb — Kauftrieb (Oniomanie) Stehl-
trieb — Brandstiftungstrieb — Mordtrieb (Giftmischer) . . .401
Störungen der Ausdrucksbewegungen
Bewegungen (Verlust der Grazie) — Allgemeines Verhalten, Ge-
bärden — Mimik — Lachen und Weinen — Sprache (Klang-
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
stärke, sprachliche Melodie, rhythmische Gliederung, Aus-
sprache, Satzbildung, Zeitmaß) - Verbigeration (Stranskys
Versuche) — Sprachverwirrtheit — Wortneubildungen (Traum-
sprache) — Schrift (Gröbere Störungen, Inhalt, Druck und
Geschwindigkeit) - Zeichnungen - Musikalische Leistungen
— Geisteskranke Schriftsteller — Dichter und Gelehrte (Patho-
graphien) — Kunstwerke 4"
Handeln aus krankhaften Beweggründen ' \-\ ' ' ^
Handeln aus Wahnideen - Leistungsfähigkeit - Schicksale der
Kranken (Fremdenlegion, Psychopathenkolonien) — Gefahr-
liche Handlungen — Geisteskranke Herrscher — Geschäftsfähig-
keit — Zurechnungsfähigkeit (gerichtliche Psychopathologie) 431
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins 438
438
A. Verlauf des Irreseins
Krankhafte Vorgänge und Zustände - Angeborene und erworbene
Störungen (Endzustände)
Beginn der Erkrankung
Höhe der Erkrankung ; ' : ; ' r>' •' ^';,iVaf
Gleichmäßiger oder schwankender Verlauf - Anfalle, Periodizität
— Intermissionen und Remissionen 44°
■ 443
Genesungszeit
Verhalten des Körpergewichtes
446
B. Ausgänge des Irreseins
447
Prognose
"^'^ Alfgemeine Prognose des Irreseins — Krankheitseinsicht — Ein-
fluß fieberhafter Krankheiten 447
Unvollständige Heilung 45
Heilung mit Defekt
Unheilbarkeit / ' „ .^a
Residualwahn — Fortschreitender Verlauf — Verblödung ... 454
457
Todesursachen — Selbstmord — Tuberkulose 457
. . 458 ■
C. Dauer des Irreseins
4, CO
Spätheilungen •
IV. Die Erkennung des Irreseins 460
A. Krankenuntersuchung
^"'^^ErbUchkeit,' Angehörig^— Schädigungen, Krankheiten - Frühere
Anfälle ' ■ ■ löd
Zustandsuntersuchung ' c ' / ' .
Körperliche Untersuchung — AUgemeinzustand — Entartungs-
zeichen — Schädel — Hirnleistungen — Gesicht und Gehör
— Pupillenuntersuchung (Licht-, Akkommodations-, Schmerz-
reaktion, psychische, galvanische, sekundäre Reaktion) — Mo-
torische Leistungen (Sprache und Schrift) - Agraphie und
Apraxie — Rückenmark, Sympathicus, periphere Nerven —
Sphygmographie und Plethysmographie, Blutdruck — Blut-
veränderungen — Harn- und Stoffwechseluntersuchungen —
Cyto- und Serodiagnostik ' ' . ' ' '
Psychische Untersuchung — Intelligenzprüfungen (Fragebogen,
Fabelmethode, Sprichwörtermethode, Ergänzungsmethode, Witz-
methode) -- Riegers geistiges Inventar - Feinere Methoden -
XII Inhaltsverzeichnis.
Seite
Mental tests — Auffassungsprüfung — Psychische Zeitmes-
sungen — Aufmerksamkeitsprüfung — Untersuchung des Ge-
dächtnisses und der Merkfähigkeit — Assoziationsversuche
(Vorstellungsinventar, Komplexe, Psychoanalyse) — Wahl-
reaktionen — Schriftwage — Stimmkurven — Ergographie,
Dynamometrie — Zitterbewegungen, Ausdrucksbewegungen —
Reflexuntersuchungen — Gemütsbewegungen (galvanischer
psychophysischer Reflex) — Psychische Grundeigenschaften . 477
Beobachtung 505
Leichenbefund 507
Anatomische Diagnose — Schädel — Blutfüllung — Windungen —
Gewicht des Gehirns und der Teile, absolutes und spezifisches —
Zellveränderungen — Örtliche Ausbreitung — Pathologisches
Gesamtbild der Rinde — Abbaustoffe — Erkennung von Krank-
heitsvorgängen 207
B. Die Diagnose ' 515
Zustandsbilder 51^
Habitualformen — Melancholie — Tobsucht — Stupor — Delirien
— Paranoia — Amentia — Korssakowsches Zustandsbild —
Demenz — Allo-, Auto-, Somato-, Motilitätspsychosen . . . 515
Krankheitsvorgänge ^22
Krankheitstöpfe — Wandlungen der Diagnostik 522
Lokalisation ^29
Kombinierte Psychosen ^^i
C. Grenzen des Irreseins 533
Klinische Formen — Krankhafte Vorgänge und Zustände — Grenz-
gebiete (Beschränktheit, verkannte und wahre Genies, sittliche
Unfähigkeit) 533
D. Verstellung und Verleugnung 540
V. Behandlung des Irreseins
A. Vorbeugung 545
Heiraten Geisteskranker (Eheverbote, Kastration) — Kampf gegen
Keimschädigungen — Geburtsschädigungen — Diätetik der Säug-
linge — Erziehung (Willensentwicklung, körperliche Kräftigung) —
Überbürdungsfrage (Prüfungen) — Schulärzte — Häusliche Er-
ziehung — Jugendfürsorge — Berufswahl — Kampf gegen Trunk-
sucht, Syphilis, Morphinismus — Irrenfürsorge — Nervenheilstätten
— Hilfsvereine — Aufgaben des Staates (Wissenschaft und Unter-
■^'«^ht)
B. Körperliclie Beliandlung ^60
Arzneimittel
Narkotica (Opium, Morphium, Dionin, Peronin, Kodein, Hyoscin
Duboisin, Haschisch, Pellotin) '560
Schlafmittel (Chloralhydrat, Isopral, Neuronal, Bromural, Amylenl
hydrat, Dormiol, Sulfonal, Trional Tetronal Urethan, Hedonal
Veronal, Proponal, Paraldehyd, Alkohol) ' eg,
Chloroform, Äther • • • 0 ^
Brompräparate (Bromsalze, Bromalin, Bromipin, Sabromin, Broml
glidine)
Blausäure — Valeriana (Bornyval, Valyl) '
Amylnitrit, Digitalis
Thyreoidin, Adrenalin, Tuberkulin, Bacterium coli ZI
Terpentinöl, Blasenpflaster, Brechweinstein, Drastica • ■ 574
Inhaltsverzeichnis; Verzeichnis der Abbildungen. XIII
Seite
Operative Eingriffe 'r^ ' \ \ ' ^'^^
Hirnpunktion, Lumbalpunktion — Kraniektomie — Gynäkolo-
gische Eingriffe (Kastration) ~- Künstlicher Abortus und Früh-
geburt — Beseitigung adenoider Wucherungen — Thyreoidek-
tomie — Infusionen (Kochsalz, Öl, Meerwasser, Hirnemulsionen) 574
Physikalische Heilmethoden 578
Wasserbehandlung — Bäder (Dauerbäder) — Feuchte Einwick-
lungen — Duschen, Abreibungen — Eisbeutel 578
Elektrotherapie (Galvanisation, Faradisation) 587
Massage — Körperliche Bewegung (Gymnastik, Sport) .... 588
Klimatotherapie (Seereisen) — Tenttreatment — Freiluftbäder . 589
Diätetische Maßregeln 59«
Ernährung — Alkohol als Genußmittel — Mastkur 590
Bettbehandlung 593
Separierung — Isolierung (Zellenlose Behandlung) 594
Zwangsmittel (Restraint) 596
C. Psychische Behandlung 599
Weibliche Ärzte — Offenheit und Wahrheitsliebe — Verhalten gegen-
über den Wahnideen und Erregungszuständen — Disziplinierung —
Besuche — Tätigkeit — Aufregende Nachrichten — Gemütliche Be-
einflussung — Zuspruch — Beschäftigung (Übung) — Versetzung
— Überredung, Scheinoperationen — Intimidation — Hypnose —
Kathartisches Verfahren (Psychoanalyse) 599
D. Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen 613
Psychische Erregung — Angst — Schlaflosigkeit — Selbstmordneigung
— Zerstörungssucht — Unreinlichkeit — Masturbation — Nah-
rungsverweigerung (Sondenernährung, Nährkly stiere , Kochsalz-
infusion, Öleinspritzung) 613
E. Die Irrenanstalt
Geschichtliches (Mißhandlungen, Zwangsmittel, Drehmaschinen) —
Verbringung in die Anstalt — Förmlichkeiten — Besuche, Brief-
wechsel — Staatsanstalten, Privatanstalten — Irrenärzte — Pflege-
personal (weibliche Pflege bei Männern) — Stadtasyle — Wach-
abteilungen (Nachtwachen) — Irrenanstalten — Pavillonstil —
Mammutanstalten — Offentürsystem — Kolonien — Familiäre Ver-
pflegung— Abteilungen für gefährliche Geisteskranke — Entlassung
aus der Anstalt — Hilfsvereine — Trinkerheilstätten — Nervenheil-
stätten — Pflege- und Siechenanstalten — Fürsorge für Epileptiker
und Idioten ^24
Register •
Verzeichnis der Abbildungen.
Seite
I. Prozentsatz der Trinker bei verschiedenen Geistesstörungen (Mün-
chen 1906 und 1907) • ^^
II. Verteilung der Geisteskranken und der Gesamtbevölkerung auf die
einzelnen Altersstufen (Heidelberg) • ^47
III. Beteiligung der beiden Geschlechter am Irresein auf den verschie-
denen Altersstufen (Heidelberg)
Verzeichnis der Abbildungen.
Seite
IV. Beteiligung der beiden Geschlechter an einigen Hauptformen des
Irreseins (Heidelberg) 152
V. Geistesstörungen auf Java und in Ufa 156
VI. Zahl der auf 10 000 Einwohner in Anstalten verpflegten Geistes-
kranken (Niederlande und Preußen) 162
VII. Vergleich der Krankheitsformen in den Kliniken Heidelberg und
München 165
VIII. Verhältnis der Paralytiker, Epileptiker und Alkoholdeliranten zu den
übrigen Geisteskranken in verschiedenen preußischen Provinzen 166
IX. Flache Ohrmuschel mit Darwinschem Knötchen 190
X. Umgerolltes Ohr mit angewachsenem Ohrläppchen 190
XI. Henkelohren 191
XII. Verkrüppelung des zweiten und dritten Fingers mit Schwimmhaut-
bildung 191
XIII. Entwicklungshemmung der beiden letzten Finger 192
XIV. Mißbildung beider Füße 192
XV. Verkümmertes Gebiß 193
XVI. Bärtige Frau 193
XVII. Gruppierung von 4079 Fällen nach den Krankheitsursachen (Mün-
chen) 208
XVIII. Normale Schlaftiefenkurve 239
XIX. Die Seele des Menschen im Maßstabe i : 4 der beobachteten Größe 428
XX. Skulpturen von der Villa Palagonia 431
XXI. Kinematogramm einer Pupillenreaktion auf Lichteinfall .... 467
XXII. Prozentische Zusammenstellung der Kranken in der Heidelberger
Klinik 1892 — 1907 nach Diagnosen 527
XXIII. Deckelbäder aus alter Zeit 581
XXIV. Dauerbad der Münchner Klinik 582
XXV. Zwangsstuhl und Zwangsjacke 596
XXVI. Wandpolster, Zwangsjacke und Beinkorb 597
XXVII. Kranker mit Drahtmaske 597
XXVIII. Gitterbett 598
XXIX. Alter Zellenkorridor 625
XXX. Angekettete Kranke in einer Irrenzelle 626
XXXI. Kaulbachs Narrenhaus 627
XXXII. Drehschaukel 629
XXXIII. Wachsaal 644
XXXIV. Grundriß der Münchner psychiatrischen Klinik 646
XXXV. Grundriß der ehemaligen Kreisirrenanstalt München 648
XXXVI. Heil- und Pflegeanstalt Eglfing (Ballonaufnahme) 649
XXXVII. Ansicht von Gabersee 650
XXXVIII. Arbeitende Kranke in Altscherbitz 655
Einschaltblatt: „Das Weltproblem" 428
Erster Band
Allgemeine Psychiatrie
Einleitung.
Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krank-
heiten und deren Behandlung. Ihren Ausgangspunkt bildet die
wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens der Geistesstörungen.
Bei den Naturvölkern pflegt das Irresein auf den Einfluß feind-
licher Dämonen zurückgeführt zu werden, und im Orient gelten
Geisteskranke noch heute als Personen, die von der Gottheit ge-
zeichnet sind. Demgegenüber waren die Ärzte des klassischen
Altertums!) bereits so weit vorgeschritten, daß sie den Sitz des Irre-
seins in das Gehirn verlegten und es mit gewissen körperlichen
Störungen in Verbindung brachten, namentlich mit dem Fieber
und mit Veränderungen der Körpersäfte; einzelne unserer heutigen
Bezeichnungen („Melancholie", „Hypochondrie") stammen daher.
Leider gingen diese schon zu Lehrgebäuden entwickelten An-
schauungen mit dem Zusammenbruche der alten Kultur fast völlig
wieder verloren. Dafür drangen im Mittelalter einerseits scho-
lastisch-philosophische, andererseits religiös-abergläubische Vor-
stellungen in die Auffassung des Irreseins ein und verdrängten
rasch die vorhandenen Ansätze eines naturwissenschaftlichen Ver-
ständnisses. Die Geistesstörung war nicht mehr Krankheit, son-
dern Werk des Teufels, Strafe des Himmels, bisweilen auch gött-
liche Verzückung. Nicht der Arzt beschäftigte sich mehr mit der
Erforschung und Behandlung des Seelengestörten, sondern der
Priester suchte ihm die bösen Geister zu vertreiben; das Volk
betete ihn als Heiligen an, und die Hexenrichter ließen ihn in der
Folterkammer wie auf dem Scheiterhaufen für seine vermeint-
lichen, wahnhaften Sünden büßen.
Mit der Wiedererneuerung der Wissenschaften und insbe-
sondere mit dem Aufschwünge der Medizin begann allmählich
1) Falk, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie XXIII, 429.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^
2
Einleitung.
auch das Interesse der Ärzte sich wieder den Geisteskranken
zuzuwenden. Allein es dauerte Jahrhunderte, bevor die klare Er-
kenntnis sich überall Geltung zu erringen vermochte, daß die
Seelenstörungen nur vom ärztlichen Standpunkte aus richtig er-
forscht und erkannt werden können. Noch Kant vertrat die
Anschauung, daß zur Beurteilung krankhafter Geisteszustände
mehr der Philosoph als der Arzt berufen sei. Erst die Errichtung
besonderer Anstalten für Geisteskranke unter ärztlicher Aufsicht
begann allmählich die Entwicklung einer wissenschaftlichen Be-
trachtungsweise des Irreseins anzubahnen. Wenn wir von ver-
einzelten Vorläufern absehen, so gibt es erst seit dem Ende des
achtzehnten Jahrhunderts wirkliche Irrenärzte. Seit jener Zeit
hat sich die Psychiatrie trotz gewaltiger innerer und äußerer
Schwierigkeiten überraschend schnell zu einem kräftigen Zweige
der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt.
Allerdings waren, namentlich bei uns in Deutschland, zunächst
noch schwere Kämpfe zu überstehen i). Zwar hatte der auf die
Autorität der Bibel sich stützende Besessenheitsglaube 2) bereits
seine Macht verloren, wenn er auch heute noch hier und da im
Verborgenen zu blühen scheint. Dagegen erstand der jungen
psychiatrischen Wissenschaft, wie sie damals gerade von Es-
quirol an der Hand einer reichen klinischen Erfahrung begrün-
det wurde, ein gefährlicher Feind in gewissen moraltheologischen
Auffassungen des Irreseins, die in den ersten Jahrzehnten des letzten
Jahrhunderts von Heinroth, Beneke u. a. in die Lehre vom
Irresein hineingetragen wurden. Nach diesen Anschauungen sollte
die Geistesstörung wesentlich eine Folge der Sünde sein, welche
durch eigene Verschuldung Gewalt über den Menschen gewinne
und am Ende Leib und Seele verderbe. Gegen diese und ähnliche,
mit großem Scharfsinn ausgeklügelten Anschauungen kämpften
mit den Waffen der naturwissenschaftlichen Forschung die „So-
matiker", an ihrer Spitze Nasse und Jacobi"), welche das Irre-
sein für den Ausdruck körperlicher Störungen erklärten.
1) Friedreich, Historisch-kritische Darstellung der Theorien über das Wesen
und den Sitz der psychischen Krankheiten. 1836.
2) Behr, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1906, i.
3) Jacobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irresein
verbundenen Krankheiten. 1830.
Einleitung.
3
Ihnen ist es gelungen, Sieger zu bleiben. Was noch vor
siebzig Jahren mühsam erstritten werden mußte, ist heute, wenn
auch in vielfach veränderter Ausgestaltung, die selbstverständ-
liche Grundlage unserer Wissenschaft geworden. Niemand wagt
es mehr, zu bezweifeln, daß Geistesstörungen Krankheiten sind,
die der Arzt zu behandeln hat. Wir wissen jetzt, daß wir in ihnen
die psychischen Erscheinungsformen mehr oder weniger feiner
Veränderungen im Gehirne, insbesondere in der Rinde des Groß-
hirns, vor uns haben. Mit dieser Erkenntnis hat die Psychiatrie
bestimmte, klare Ziele gewonnen, denen sie mit den Hilfsmitteln
und nach den Grundsätzen naturwissenschaftlicher Forschung ent-
gegenstrebt.
Vor allem wird uns die Beobachtung am Krankenbette
eine möglichst umfassende und eingehende Kenntnis der klini-
schen Krankheitsformen zu liefern haben. Wir müssen zu-
nächst durch sorgfältige Sammlung immer neuer Tatsachen einen
vollständigen Überblick über den gesamten Erfahrungsstoff zu ge-
winnen suchen, den uns die Natur liefert. Sodann aber gilt es,
aus der fast unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Einzelheiten nach
und nach das Regelmäßige und Wesentliche herauszuschälen und
auf diese Weise zu einer Abgrenzung und Gliederung der zusammen-
gehörigen Beobachtungsreihen zu gelangen. Gerade diese Aufgabe
hat sich auf unserem Gebiete bisher als ganz besonders schwierig
erwiesen. Krankheitsbilder, die ihrem Wesen nach voneinander
völlig verschieden sind, können zeitweilig die größte äußerliche
Übereinstimmung darbieten, und umgekehrt fassen wir heute mit
gutem Recht Zustände als Äußerungen eines und desselben Krank-
heitsvorganges auf, die zunächst durchaus unvereinbar, ja als
schärfste Gegensätze erscheinen. Um also zur Aufstellung wirk-
licher Krankheiten zu gelangen, werden wir dort die vielleicht
ganz unscheinbaren Unterschiede ausfindig zu machen haben, die
trotz aller Ähnlichkeit doch immer zwischen verschiedenen klini-
schen Bildern bestehen müssen. Hier dagegen ist es unsere Auf-
gabe, in den wechselnden Erscheinungen diejenigen gemeinsamen
Grundzüge klarzulegen, welche die Einheitlichkeit des Krankheits-
vorganges durch den Wechsel der Erscheinungen hindurch kenn-
zeichnen. Im einen wie im andern Falle wird unter Umständen
eine sehr lange Fortsetzung der Beobachtung nötig sein, bevor
^ Einleitung.
sich die wesentlichen und darum dauernden klinischen Störungen
von den nebensächlichen abgrenzen lassen, die oft ungleich stärker
und auffallender hervortreten.
Was man mit Recht vom Arzte verlangt, ist die Vorher-
sage des Kommenden. Sobald wir imstande sind, aus dem
gegenwärtigen Zustande eines Kranken die weitere Entwicklung
seines Leidens mit Wahrscheinlichkeit vorauszubestimmen, ist der
erste wichtige Schritt zu einer wissenschaftlichen und praktischen
Beherrschung des Krankheitsbildes geschehen. Wir werden daher
gut tun, dieser Aufgabe zunächst unsere volle Aufmerksamkeit
zu widmen. Die meisten übrigen Zweige der Heilkunde haben
mit derselben im wesentlichen bereits abgeschlossen. Wir wissen,
wie ein Typhus oder ein Beinbruch verlaufen wird, und kennen alle
die Zwischenfälle, die den Heilvorgang durchkreuzen können. In
der Psychiatrie besitzen wir höchstens die ersten Ansätze zu einer
derartigen Kenntnis. Wohl erwirbt sich der einzelne Irrenarzt im
Laufe seiner persönlichen Erfahrung die Fähigkeit, aus gewissen
Zeichen Schlüsse auf die Heilbarkeit oder Unheilbarkeit seiner
Kranken zu ziehen. Allein er stößt auf erhebliche Schwierigkeiten,
sobald er seine Vermutungen näher begründen, und namentlich,
sobald er über die voraussichtliche klinische Weiterentwicklung
eines gegebenen Falles irgendwelche genauere Angaben machen soll.
Einer der Hauptgründe für diese Unvollkommenheit unserer
Wissenschaft liegt in der ungemein langen Dauer der Geistes-
krankheiten. Einerseits gibt es viele unheilbare Formen, die in
allmählichem Wechsel der Zustände das ganze Leben ausfüllen;
andererseits aber sehen wir bei einigen Hauptgruppen des Irre-
seins das Leiden in abgegrenzten, weit auseinander liegenden An-
fällen verlaufen oder doch jahrelang Stillstand machen, so daß
die innere Zusammengehörigkeit der einzelnen Anfälle oder Nach-
schübe nur bei genauer Kenntnis der ganzen Vergangenheit über-
blickt werden kann. Jeder Irrenarzt erlebt zahlreiche Überraschun-
gen, sobald er in die Lage kommt, die späteren Lebensschicksale
seiner einstigen Kranken verfolgen zu können. Namentlich wird er
stets erkennen, daß die rasch und günstig verlaufenden Geistesstörun-
gen in überwiegender Mehrzahl nichts anderes sind, als die Äuße-
rungen eines dauernden krankhaften Zustandes, der freilich lange
Zeit gar nicht hervorzutreten braucht. Gerade diese trügerischen
Einleitung.
5
Augenblicksbilder sind es, welche uns die Klärung der klinischen
Erfahrung so sehr erschweren. Es ist daher vor allem wichtig,
den gesamten Lebenslauf unserer Kranken durch Jahrzehnte hin-
durch im Auge zu behalten; öfters wird es erst dann möglich sein,
den richtigen Standpunkt für die klinische Beurteilung zu gewinnen.
Ganz besondere Vorsicht ist ferner bei der Feststellung der
Krankheitsursachen geboten. Der Laie ist geneigt, ohne weiteres
irgend ein zufälliges Ereignis, eine gemütliche Erregung, einen
Mißerfolg, ein körperliches Leiden, eine Überanstrengung für den
Ausbruch des Irreseins verantwortlich zu machen. Die weiter-
blickende klinische Erfahrung lehrt indessen, daß die ursächliche
Bedeutung derartiger äußerer Einflüsse eine verhältnismäßig recht
geringe ist. Sehr häufig werden sogar die ersten Erscheinungen
des beginnenden Irreseins fälschlicherweise für dessen Ursachen
gehalten. Wenn wir sehen, daß die gleichen Krankheitsfälle, die
heute durch einen bestimmten Anstoß erzeugt zu werden scheinen,
bei demselben Kranken ein anderes Mal ganz ohne jeden Anlaß
sich einstellen, so werden wir gegen die erste, anscheinend so be-
weisende Beobachtung mißtrauisch werden. Auch auf diesem Ge-
biete ist noch außerordentlich viel zu tun. Die gleichen Ursachen
müssen, wie überall, so bei dem Vorgange der psychischen Er-
krankung die gleichen Wirkungen haben. Begegnen uns, wie so
häufig, vermeintliche Abweichungen von jenem Gesetze, so sind
zweifellos entweder die Ursachen oder die Wirkungen nicht wirk-
lich gleich gewesen. Nach beiden Richtungen hin wird eine ge-
duldige Häufung zuverlässiger und namentlich vollständiger Be-
obachtungen allmählich Klarheit bringen.
Ist es uns gelungen, die klinischen Erfahrungen so weit zu
verarbeiten, daß wir Krankheitsgruppen mit bestimmten Ursachen,
bestimmten Erscheinungen und bestimmtem Verlaufe aufstellen
können, so wird es unsere Aufgabe sein, indasWesendesein-
zelnen Krankheitsvorganges einzudringen. Ein wich-
tiger und auch bereits vielfach betretener Weg zu diesem Ziele ist
derjenige der pathologischen Anatomie. Leider hat diese
Wissenschaft, der die übrige Medizin so viel verdankt, auf unserem
Gebiete mit ganz außerordentlichen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Sie liegen einmal in unserer unvollkommenen Kenntnis vom Bau
der gesunden menschlichen Hirnrinde, sodann in der Unmüglich-
6
Einleitung.
keit, den Tierversuch in größerem Umfange zur Klärung krank-
hafter Vorgänge heranzuziehen, da die Kluft zwischen Tier und
Mensch hier größer ist, als bei irgend einem anderen Organe. Aller-
dings hat namentlich die Erforschung der Hirnrindenvergiftungen
sehr wichtige Aufschlüsse gebracht, da es hier möglich ist, ein-
deutige Beziehungen zwischen krankmachenden Ursachen und
Rindenveränderungen herzustellen und zugleich die einzelnen Ent-
wicklungsstufen des Krankheitsvorganges zu verfolgen. Bei der
überwiegenden Mehrzahl der Geistesstörungen jedoch müssen wir
auf jenes Forschungshilfsmittel schon deswegen verzichten, weil
wir die Ursachen entweder überhaupt nicht kennen oder sie doch
nicht künstlich herzustellen vermögen.
Aber auch die einfache Untersuchung der erkrankten Hirn-
rinden hat uns, dank der rasch fortschreitenden Vervollkommnung
unserer Hilfsmittel, bereits eine außerordentliche Fülle von Be-
funden geliefert. Freilich sind wir noch weit davon entfernt, etwa
für jeden klinischen Krankheitsvorgang eine bestimmte anato-
mische Grundlage aufweisen zu können. Abgesehen davon, daß
es bei einer großen Zahl von seelischen Erkrankungen nur durch
besondere Zufälligkeiten einmal möglich wird, eine verwertbare
Leichenuntersuchung vorzunehmen, stehen wir bei der Deutung
der Befunde vor ganz ähnlichen Schwierigkeiten wie bei der kli-
nischen Betrachtung. Einzelheiten des anatomischen Bildes können
sich bei den verschiedenartigsten Krankheitsvorgängen wieder-
holen, und dieselbe Krankheit kann in ihren einzelnen Abschnitten
durchaus verschiedene Befunde darbieten. Für den Kliniker löst
sich diese Schwierigkeit dadurch, daß im weiteren Verlaufe der
Krankheit die wesentlichen Züge durch ihre Beständigkeit immer
deutlicher hervortreten, und die Entwicklung der wechselnden Zu-
standsbilder auseinander unmittelbar verfolgt werden kann. Der
Anatom dagegen, dem gewissermaßen immer nur ein einzelner
Durchschnitt durch den körperlichen Erkrankungsvorgang vor-
liegt, hat einen weit dornenvolleren Weg zurückzulegen, bevor er
zu erkennen vermag, welche der von ihm aufgedeckten Verän-
derungen des Rindenbildes für den Krankheitsfall kennzeichnend
sind. Er muß nicht nur eine große Zahl von Vergleichsfällen zur
Verfügung haben, die ihm gestatten, das überall gleichmäßig
Wiederkehrende herauszuschälen, sondern er bedarf auch einer
Einleitung.
möglichst vollständigen Beobachtungsreihe aus den verschieden-
sten Abschnitten der Krankheit, um so den Entwicklungsgang
der anatomischen Veränderungen schrittweise verfolgen zu können.
Das Gehirn ist ein Teil des Gesamtkörpers. Seine Erkrankun-
gen sind vielfach nur der Ausdruck von Schädigungen, die zu-
nächst in irgend einem anderen Körpergebiete entstanden smd.
Um zu einem Verständnisse der Krankheitsvorgänge zu gelangen,
die dem Irresein zugrunde liegen, haben wir daher dem Zustande
des ganzenOrganismus die genaueste Beachtung zu schenken und
alle Hilfsmittel in Anwendung zu bringen, die uns dort irgendwo
Störungen aufdecken. Außer den von außen eindringenden Giften
und Krankheitskeimen sind es namentlich Stoffwechselstörungen,
die das Gehirn in Mitleidenschaft ziehen und Geistesstörungen ver-
ursachen können. Es steht daher zu erwarten, daß die wichtigen
Entdeckungen, die wir schon heute der Untersuchung der Aus-
scheidungen und der Körperflüssigkeiten, namentlich des Blutes,
auf mikroskopischem, chemischem und biologischem Wege ver-
danken, in absehbarer Zeit eine rasche Erweiterung erfahren und
insbesondere die Beziehungen zu den übrigen Zweigen der klini-
schen Medizin immer enger knüpfen werden.
Ihnen gegenüber hat die Psychiatrie lange Zeit hindurch eine
gewisse Sonderstellung eingenommen. Die seelischen Vorgänge,
mit denen sie es zu tun hatte, lagen außerhalb der Vorstellungs-
kreise, welche die wissenschaftliche Medizin beschäftigen, und die
dürren Gedankenspielereien der spekulativen Psychologie, die den
Irrenärzten zunächst die einzige Anknüpfung für eine Bearbeitung
ihres Gebietes lieferten, mußten die Entwicklung der Seelenheil-
kunde zu einer klinischen Wissenschaft nachhaltig hindern. All-
mählich jedoch machte sich eine immer kräftigere Gegenströmung
geltend, die das Schwergewicht der psychiatrischen Forschung auf
die körperlichen und insbesondere auf die anatomisch nachweis-
baren Veränderungen legte. Es ist indessen unbestritten, daß uns
auch die vollkommenste Kenntnis der Hirnrindenstörungen beim
Irresein, der Nachweis aller sich dort vollziehenden Abweichungen
in Form und Verrichtung, durchaus im unklaren darüber lassen
würde, ob und welche Beziehungen zwischen jenen Störungen
und den psychischen Krankheitserscheinungen bestehen. Ja, wir
könnten das eindringendste Verständnis für alle in der Hirnrinde
8
Einleitung.
sich abspielenden körperlichen Vorgänge besitzen, ohne an sich
auch nur einen Augenbhck zu der Vermutung gezwungen zu werden,
daß wir in jenem Gewebe den Träger des Seelenlebens vor uns
haben. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Notwendigkeit,
außer den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die see-
lischen Erscheinungsformen jener letzteren gesondert zu
erforschen. Wir erhalten auf diese Weise zwei Reihen innig mit-
einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer
Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus
den gesetzmäßigen Beziehungen beider zueinander geht das kli-
nische Krankheitsbild hervor.
Wir müssen es daher als unsere Aufgabe betrachten, auch jene
Gesetze kennen zu lernen, welche den Ablauf der Seelenvorgänge be-
herrschen. Glücklicherweise hat sich aus dem Schöße der Physiologie
heraus, namentlich in den letzten Jahrzehnten, auch die Psycho-
logie zu einer Erfahrungswissenschaft entwickelt, die auf dem
Wege der Naturforschung ihren Gegenstand erfolgreich zu bear-
beiten begonnen hat. Es ist, wie schon die bisherige Arbeit gezeigt
hat, nicht unmöglich, mit Hilfe jener jungen Wissenschaft zu einer
Physiologie der Seele zu gelangen, die auch der Psychiatrie
eine brauchbare Grundlage zu liefern vermag. Sie wird uns einer-
seits dazu dienen können, verwickelte Erscheinungen in ihre ein-
facheren Bestandteile zu zerlegen. Wir werden aus der Zergliede-
rung des gesunden Seelenlebens die Anhaltspunkte für die Beur-
teilung und Erklärung krankhafter Störungen gewinnen, und wir
werden auch in der Lage sein, in geeigneten Fällen das Hilfsmittel
des psychologischen Versuches unmittelbar zur genaueren Erfor-
schung von Krankheitszuständen heranzuziehen.
Andererseits aber dürfen wir von einer wissenschaftlichen
Psychologie wertvolle Ergänzungen unserer Vorstellungen über die
Entstehung des Irreseins erwarten. Vor allem sind es wieder die
Gifte, deren Einwirkung auf den Ablauf unserer psychischen Vor-
gänge wir grundsätzlich schon heute mit ziemlicher Genauigkeit
m ihre Einzelzüge zu zerlegen imstande sind. Die hier noch im
Bereiche des Gesunden gewonnenen Erfahrungen können uns dann
das Verständnis auch für die klinischen Krankheitserscheinungen
eroffnen, wie sich das bereits für einzelne Gifte gezeigt hat. Auch
eine Reihe anderer Einflüsse, denen wir gewöhnt sind, Wirkungen
Einleitung.
9
auf unser Seelenleben zuzuschreiben, lassen sich in ganz ähnlicher
Weise untersuchen. Wir können die Veränderungen, die durch
Hunger, mangelhaften Schlaf, geistige und körperliche Überan-
strengung im Verhalten unserer psychischen Vorgänge hervor-
gerufen werden, von ihren leisesten Anfängen an genau verfolgen
und aus den geringeren Gleichgewichtsschwankungen beim sonst
gesunden Menschen Schlüsse auf die Deutung der ausgeprägteren
Störungen im Krankheitszustande ableiten. Endlich aber wird
die psychologische Zergliederung der einzelnen Persönlichkeit mit
Hilfe des Versuches geeignet sein, uns einen Überblick über die
unermeßliche Mannigfaltigkeit der seelischen Veranlagungen zu
verschaffen, über deren Bedeutung für die Häufigkeit wie für die
besondere Ausgestaltung der verschiedenen Formen geistiger Störung
wir noch so wenig wissen. Namentlich werden wir nur aus einer
verfeinerten „Individualpsychologie" die Grundlagen für das Ver-
ständnis jener weit ausgedehnten und vielgestaltigen Gruppe von
Krankheitszuständen zu gewinnen vermögen, die man unter dem ge-
meinsamen Namen des Entartungsirreseins zusammenzufassen pflegt.
Wie wir vielleicht hoffen dürfen, wird uns das Zusammen-
arbeiten von klinischer, anatomischer und psychologischer For-
schung, unterstützt durch andere Hilfswissenschaften, allmählich
auch dem letzten, höchsten Ziele unserer Wissenschaft näher-
bringen, der Aufdeckung der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen
den körperlichen und seelischen Veränderungen. Wenn auch bei
der grundsätzlichen Verschiedenheit beider Reihen von Vorgängen
eine eigentliche ,, Erklärung" der einen durch die andere nicht
möglich ist, so erscheint doch das Ziel erreichbar, aus den vorlie-
genden seelischen Störungen auf ganz bestimmte körperliche Ver-
änderungen zu schließen und umgekehrt, ferner die psychischen
Erscheinungen vorauszusagen, die im Anschlüsse an eine bestimmte
Art der Rindenschädigung eintreten werden. An einigen wenigen
Punkten, so namentlich bei den Vergiftungen, sind wir der Lösung
dieser Aufgabe schon näher gekommen. Im allgemeinen steht uns
jedoch hier überall die Schwierigkeit entgegen, daß die Gestaltung
der seelischen Störungen nicht nur von der Art, sondern in weit
höherem Grade von dem Angriffspunkte der Hirnrindenschädigung
abhängig ist. Hier liegen die Berührungsflächen zwischen Psy-
chiatrie und Lokalisationslehre. Die Erfahrungen bei gröberen
10
Einleitung.
Hirnerkrankungen haben gezeigt, daß unter Umständen je nach
deren Sitz verschiedene Ausfallserscheinungen auftreten, zu deren
Nachweis und genauerer Kennzeichnung eigenartig entwickelte
psychologische Versuchsverfahren geführt haben.
Allerdings haben wir uns ohne Zweifel die körperlichen Grund-
lagen des Irreseins nicht als umschriebene, sondern als ausge-
breitete, wenn auch jeweils in ganz bestimmter Weise angeordnete
Veränderungen der Hirnrinde zu denken. Darum sind jene Hirn-
erkrankungen, welche die Erfahrungen für die Ausbildung der
Lokalisationslehre geliefert haben, weder ihrer Art noch ihrer Aus-
breitung nach den feinen und weitschichtigen Abweichungen irgend-
wie vergleichbar, die uns das Mikroskop bei unseren Geisteskranken
zeigt. Auch der Tierversuch, dem jene Lehre so unendlich viel
verdankt, vermag uns, abgesehen von der Verschiedenheit des
Hirnbaues, keine Aufschlüsse zu geben, solange er sich auf gröbere
Eingriffe beschränkt. So gewiß daher auch der weitere Ausbau
der Lokalisationslehre eine unerläßliche Vorbedingung für die Er-
reichung unserer höchsten wissenschaftlichen Ziele bildet, so be-
denklich erscheint es doch, die aus der Untersuchung grob um-
grenzter Hirnschädigungen gewonnenen Vorstellungen ohne wei-
teres auf das unendlich verwickeitere Gebiet der geistigen Er-
krankungen zu übertragen. Nur das allgemeine Bestreben, Be-
ziehungen zwischen den Erscheinungen des Irreseins und der beson-
deren Ausbreitung der Rindenveränderungen aufzusuchen, wird
auch auf die Psychiatrie übertragbar sein; verwertbare Ergebnisse
aber werden wir erst erwarten dürfen, wenn wir daran gehen, in
dieser Richtung unser eigenstes Gebiet zu bearbeiten.
Wenn der Seelenheilkunde aus der Beschäftigung mit den
höchsten und verwickeltsten Lebensäußerungen und deren körper-
lichen Grundlagen auf Schritt und Tritt schier unüberwindliche
Schwierigkeiten erwachsen, so verleiht andererseits die Eigenart
des Gegenstandes ihren Ergebnissen eine Bedeutung, die weit
über das Gebiet der Fachwissenschaft hinausreicht. Nicht nur
wird der psychiatrisch geschulte Arzt aus ihr ein tieferes Ver-
ständnis für zahlreiche Beobachtungen am Krankenbette gewinnen,
die ihm sonst unklar geblieben wären, sondern die Lehre von den
geistigen Störungen liefert auch für alle diejenigen Wissenschaf-
ten wichtige Bausteine, die sich überhaupt mit dem Seelenleben
Einleitung. ^ ^
des Menschen beschäftigen. So kommen die innigsten wissen-
schaftlichen Wechselbeziehungen zur Psychologie und ihren ver-
schiedensten Zweigen zustande, zur Völkerpsychologie, Kriminal-
psychologie, Persönlichkeitskunde, Psychologie der Altersstufen, der
Geschlechter, ferner zur Pädagogik, Ethik, Erkenntnistheorie usf.
Unmittelbar wichtiger, als diese weitausgedehnten wissen-
schaftlichen Anknüpfungen, sind die praktischen Aufgaben,
welche die Psychiatrie zu lösen hat. Zunächst wird es sich dabei
um die Verhütung des Irreseins handeln. Die Gesichtspunkte
für diesen Zweig der Gesundheitspflege können naturgemäß nur
aus der Lehre von den Ursachen geistiger Erkrankungen gewon-
nen werden. Bedeutsame Fortschritte jener letzteren werden daher
vielfach auch Ausblicke auf vorbeugende Maßregeln zu eroffnen
imstande sein. Von allergrößter Bedeutung ist dabei die Beant-
wortung der Frage, ob und wieweit unsere gesamten Lebens-
verhältnisse Gefahren für die geistige Volksgesundheit in sich
bergen, und mit welchen Hilfsmitteln wir Schädigungen unserer
Widerstandskraft gegen krankmachende Einflüsse zu bekämpfen
vermögen. Insbesondere wird unsere Kenntnis von der Rolle, die
Erblichkeit, Alkohol, Syphilis bei der Entstehung des Irreseins
spielen, dem Arzte eine gewisse Richtschnur für sein Handeln
geben, mag der tatsächliche Erfolg seiner Bemühungen auch heute
noch ein bedauernswert geringer sein.
Leider ist auch der Nutzen, den die Behandlung der
Geistesstörungen aus der Erkenntnis ihrer Ursachen zieht, bisher
noch nicht sehr groß. Wo uns die Ursachen bekannt sind, ver-
mögen wir sie meistens nicht zu beseitigen, wie zum Beispiel bei
der erblichen Entartung. Darum muß hier die Erfahrung am
Krankenbette selbst unsere Lehrmeisterin werden. Sie hat uns
in verhältnismäßig kurzer Zeit einen weiten, weiten Weg gefuhrt.
Von dem Zeitpunkte an, in welchem Ärzte die Fürsorge für die
Geisteskranken übernahmen, seitdem sie in der Lage waren, kli-
nische Beobachtungen zu sammeln, hat sich das Los unserer
Kranken stetig gebessert. Die Entwicklung unseres ganzen An-
staltswesens, einer der großartigsten Schöpfungen menschlichen
Mitleids, ist auf das engste verknüpft gewesen mit den Fort-
schritten in unserem Verständnisse des Irreseins. Je klarer sich
die Überzeugung Bahn brach, daß die Irren Kranke sind, daß
12
Einleitung.
ihren Störungen bestimmte körperliche Veränderungen zugrunde
hegen, um so mehr haben sich die Irrenanstalten in ihren ganzen
Einrichtungen denjenigen anderer Krankenhäuser genähert, so
daß heute ein Asyl für frisch Erkrankte fast vollständig einer Ab-
teilung für körperlich Kranke gleichen darf.
Ein Punkt ist es jedoch, welcher den Geisteskrankheiten eine
besondere Stellung gegenüber allen übrigen Leiden anweist: das
ist ihre außerordentliche soziale Bedeutung. Das Irresein ge-
hört unter allen Umständen zu den schwersten Erkrankungen,
die es überhaupt gibt. Dazu kommt aber, daß der Geisteskranke
in der Regel nicht imstande ist, selbständig für sich zu sorgen.
Man kann ihn in seinem Handeln nicht nach seinem Belieben ge-
währen lassen, sondern er bedarf fremder Aufsicht und Fürsorge.
Aus dieser Tatsache erklärt es sich, daß dem Irrenarzte noch
eine Reihe von Aufgaben zufallen, welche anderen Gebieten der
Heilkunde fremd sind. Die Verbringung des Geisteskranken in
die Anstalt geschieht meist nicht auf seinen eigenen Wunsch, son-
dern auf Veranlassung seiner Angehörigen oder der Behörden. Er
wird behandelt und festgehalten ohne und nach Umständen selbst
gegen seinen Willen. Die gesetzliche Regelung der hier erwach-
senden, sehr schwierigen Fragen hat von jeher die Aufmerksam-
keit der Irrenärzte auf das ernsthafteste beschäftigt. Wie die Er-
fahrung lehrt, sind die Fälle, in denen Geisteskranke schwerstes
Unheil über sich oder ihre Angehörigen bringen, überaus häufig.
Darum ist rasches Einschreiten beim Ausbruche geistiger Erkran-
kung mit Rücksicht auf den Kranken selbst wie auf seine Um-
gebung dringend geboten, um so mehr, als die Heilungsaussichten
unter solchen Umständen am günstigsten sind. Andererseits gibt
es nicht wenige Kranke, die nur mit größtem Widerstreben in der
Anstalt bleiben, ja zweifellos unter der Freiheitsentziehung leiden.
Es leuchtet ein, daß es schwer genug ist, zwischen den widerstre-
benden Wünschen des Kranken und den Forderungen der öffent-
lichen Sicherheit jederzeit entscheiden zu müssen.
Für die richtige Würdigung der Rolle, die das Irresein im
Gemeinwesen spielt, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß
sich im Jahre 1906I) in den öffentlichen und privaten Anstalten
• PI'^l'l^''^ Anstalten für Psychisch-Kranke in Deutschland, Deutsch-Öster-
reich, der Schweiz und den Baltischen Ländern, 6. Auflage. 1907.
Einleitung.
13
des Deutschen Reiches für Geisteskranke, Idioten und Epileptiker
nicht weniger als etwa 114 400 Kranke befanden. Es kam i An-
staltskranker auf 524 Einwohner. Nach allgemeiner Erfahrung
beträgt die Anzahl der überhaupt vorhandenen Geisteskranken
mindestens das Doppelte, so daß wir mit einer Zahl von etwa
230000 derartiger Kranker im Deutschen Reiche zu rechnen
haben. Ob damit die Wahrheit bereits erreicht ist, müssen wir
freilich sehr dahingestellt sein lassen. In manchen Gegenden
Deutschlands bieten heute die Anstalten Raum für einen Kranken
auf 3—400 Gesunde, ja man hat in der Schweiz schon auf je
200 Einwohner einen Platz in der Irrenanstalt gefordert, nach-
dem Zählungen unter ärztlicher Mitwirkung im Kanton Bern
1902 nicht weniger als 8,5, im Kanton Zürich sogar 9.7 Geistes-
kranke auf 1000 Einwohner ergeben hatten! Jedenfalls bedeutet
die gewaltige Zahl der Geisteskranken, welche außerstande sind,
ihr Leben selbständig zu führen, vielfach sogar einer sehr sorg-
fältigen und kostspieligen Pflege bedürfen, eine schwere Be-
lastung unseres Volkes, namentlich der Gemeinden und Armen-
verbände, die meistens für die unbemittelten Kranken einzutreten
haben. Die zweckmäßige Gestaltung dieser umfassenden Für-
sorge ist eine ebenso wichtige wie umfangreiche praktische Auf-
gabe unserer Wissenschaft.
Noch verwickelter fast und schwieriger sind die Beziehungen
unserer Kranken zu den verschiedenen Zweigen der Rechts-
pflege. Das Strafgesetz aller gesitteten Völker betrachtet höhere
Grade geistiger Erkrankung als Strafausschließungsgrund; das
Bürgerliche Gesetzbuch spricht den Handlungen des Irren die recht-
liche Verbindlichkeit ab. Nach beiden Richtungen hin hat das
Gutachten des Irrenarztes sehr gewichtige Folgen für das Lebens-
glück der Betroffenen. Wenn irgendwo, so gilt hier der Satz, daß
die Entscheidung solcher Fragen nur auf der Grundlage einer
tiefgehenden Sachkenntnis geschehen kann. Auf Schritt und Tritt
tauchen Schwierigkeiten auf, die ausschließlich durch vollkom-
menste Beherrschung aller Einzelheiten der klinischen Erfahrung
überwunden werden können. Ja, nicht selten entdeckt erst der
Wissende dort Schwierigkeiten, wo sie dem Unerfahrenen ver-
borgen bleiben. Unter allen Umständen wird derjenige der beste
Gutachter sein, welcher der beste Kliniker ist.
Einleitung.
Von der endgültigen Lösung der im vorstehenden gekenn-
zeichneten Aufgaben ist die Psychiatrie leider nur allzu weit noch
entfernt. Sie ist eine junge, im Werden begriffene Wissenschaft,
und sie muß sich in hartem Ringen erst langsam die Stellung er-
obern, die ihr nach Maßgabe ihrer wissenschaftlichen und prak-
tischen Bedeutung gebührt. Kein Zweifel, daß sie dies erreichen
wird — stehen ihr doch dieselben Waffen zu Gebote, die sich
auf den übrigen Gebieten der Medizin so glänzend bewährt haben:
die klinische Beobachtung, das Mikroskop und das Experiment.
H. Emminghaus, Allgemeine Psychopathologie zur Einführung in das Studium
der Geistesstörungen. 1878.
Maudsley, The pathology of mind. 1895.
Stör ring, Vorlesungen über Psychopathologie. 1900.
Ausführliche Darstellungen der allgemeinen Psychiatrie enthalten auch die
meisten der im zweiten Teile dieses Buches aufgeführten Lehrbücher.
L Die Ursachen des Irreseins/)
Die Entstehungsgeschichte einer geistigen Erkrankung ist fast
immer eine sehr verwickelte. Nur recht selten finden wir hier
einfache und durchsichtige Beziehungen zwischen greifbaren Ur-
sachen und entsprechenden Wirkungen vor; fast immer sind wir
in der Lage, mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Möglich-
keiten rechnen zu müssen, deren besondere Bedeutung im ein-
zelnen Falle wir oft kaum annähernd abzuschätzen vermögen.
Die Lehre von der Entwicklung des Irreseins kennt daher
nur ausnahmsweise einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwi-
schen bestimmter Krankheitsursache und Krankheitsform; viel-
mehr pflegen wir allgemein den gleichen äußeren Einwirkungen
die Erzeugung mannigfaltiger Formen des Irreseins zuzuschreiben
und andererseits die gleichen psychischen Erkrankungen aus
einer Anzahl der verschiedenartigsten Ursachen herzuleiten. Dieser
Widerspruch mit dem naturwissenschaftlichen Grundgesetze, der
sich übrigens bei allen unentwickelten Erfahrungswissenschaften
wiederfindet, beruht zunächst darauf, daß wir auf unserem Ge-
biete vielleicht noch mehr, als irgendwo sonst, die beiden großen
Gruppen der äußeren und inneren Ursachen auseinanderzu-
halten haben.
Unser Gehirn ist ein überaus reich und vielseitig entwickeltes
Werkzeug und zeigt daher eine außerordentlich mannigfaltige
Ausbildung bei verschiedenen Personen. Aus diesem Grunde
werden wir bei der Entstehung des Irreseins' der Eigenart des ein-
zelnen Menschen eine besonders hohe Bedeutung einräumen
müssen. Die gleiche Schädlichkeit wird bei der Einwirkung auf
verschiedenartige Wesen notwendigerweise auch verschiedenartige
1) Toulouse, les causes de la folie, prophylaxie et assistance. 1896; Meyer,
Die Ursachen der Geisteskrankheiten. 1907.
i6
I. Die Ursachen des Irreseins.
Krankheitserscheinungen nach sich ziehen müssen. Während sie
in einem Falle an der inneren Widerstandsfähigkeit des Betrof-
fenen ohne weiteres abprallt, kann sie ein anderes Mal vielleicht
eine heftige, aber kurze Erschütterung des seelischen Gleich-
gewichtes erzeugen, bei einem Dritten etwa eine schlummernde
Krankheitsanlage wecken, die nun ihrerseits zu langdauerndem
geistigem Siechtum führt. Überall wird dabei der Satz Geltung
haben, daß äußere und innere Ursachen in einem gewissen Er-
gänzungsverhältnisse zueinander stehen. Je weniger ein Mensch
zum Irresein veranlagt ist, um so stärker muß die äußere Schä-
digung sein, die ihn krank macht, und umgekehrt gibt es Personen,
die schon unter dem Einflüsse der kleinen Reize des täglichen
Lebens geisteskrank werden, weil ihre Widerstandsfähigkeit zu
gering ist, um selbst diese ohne tiefere Störung ertragen zu können.
Dazu kommt, daß wir heute überall wesentlich nur die rohen,
nicht aber die wahren Ursachen und Wirkungen zu berücksich-
tigen vermögen. Wäre z, B, eine bestimmte chemische Verän-
derung in der Zusammensetzung des Blutes die wahre Ursache
einer eigenartigen Geistesstörung, so könnten sehr verschiedene
rohe Ursachen, etwa das Krebssiechtum, häufige Blutungen, chro-
nische Malariavergiftung, Erkrankungen der blutbildenden Organe
usf. neben anderen Wirkungen gerade den gemeinsamen Erfolg
haben, daß die Ernährungsflüssigkeit nach der hier in Betracht
kommenden Richtung hin untauglich wird. Erst seitdem wir die
Bedeutung der Schilddrüse für den Körperhaushalt kennen, wird
es uns verständlich, warum die verschiedensten Erkrankungen,
Tuberkulose, Lues, Geschwulstbildungen, das endemische Gift
des Kretinismus, operative Eingriffe, das gleiche klinische Bild
erzeugen können, wenn sie nämlich gerade die Leistungsfähig-
keit jener Drüse zerstören. Andererseits ist es denkbar, daß eine
und dieselbe Schädlichkeit einmal durch unmittelbare Einwirkung
auf das Gehirn eine geistige Erkrankung erzeugt, dann aber auch
noch anderweitige Störungen im ganzen Körper hervorzurufen
vermag, die nun ihrerseits völlig abweichende psychische Krank-
heitsbilder hervorrufen können. Die Deutung der verschieden-
artigen Formen des Irreseins beim chronischen Alkoholismus sowie
bei den syphilitischen und metasyphilitischen Geisteskrankheiten
legt derartige Erwägungen nahe.
Exogene und endogene Erkrankungen.
17
Jeder Versuch einer Ursachenlehre wird endlich die Tatsache
zu berücksichtigen haben, daß psychische Störungen, die der äußer-
lichen Betrachtung völlig verschieden erscheinen, in Wahrheit
doch nahe verwandt, etwa nur verschiedene Entwicklungsstufen
oder Stärkegrade eines und desselben Krankheitsvorganges sein
können. So wird man vielleicht den Größen- und den Kleinheits-
wahn des Paralytikers zunächst als Anzeichen völlig entgegen-
gesetzter Störungen anzusehen geneigt sein, bis man entdeckt,
daß beide als Erscheinungsformen desselben Grundleidens ohne
weiteres ineinander übergehen, sich sogar miteinander mischen
können. Namentlich die vielgestaltigen Zustandsbilder des ma-
nisch-depressiven Irreseins verführen leicht zu falschen Schlüssen
über ursächliche Zusammenhänge, je nachdem sie als Amentia,
Erschöpfungsstupor, als Neurasthenie, Hysterie, periodische Para-
noia, Altersmelancholie, Zwangsirresein aufgefaßt werden. Aus
diesen Überlegungen ergibt sich, daß eine brauchbare Ursachen-
lehre ohne die genaueste Kenntnis der klinischen Krankheits-
formen nicht möglich ist. Solange wir nicht am Krankenbette
Wesensgleiches zusammenfassen und Verschiedenes zu trennen
vermögen, werden auch unsere ätiologischen Anschauungen not-
wendig unklar und widerspruchsvoll bleiben.
Dennoch beginnt sich schon jetzt allmählich die Auffassung
Bahn zu brechen, daß dem Überwiegen der äußeren oder der inne-
ren Ursachen im allgemeinen zwei große Gruppen von Geistes-
störungen entsprechen, die von Möbius als exogene und endo-
gene Erkrankungen auseinandergehalten worden sind. Jene
erstere Gruppe zeigt wesentlich abgerundete Verlaufsarten von
bestimmtem Gepräge mit einer gewissen Gleichförmigkeit der ge-
samten Entwicklung; dieser letzteren dagegen ist vielfacher Wech-
sel der Krankheitserscheinungen nach Stärke und Art, schwan-
kender, unregelmäßiger Verlauf oder Fortbestehen der Störungen
durch das ganze Leben hindurch eigentümlich. Es liegt indessen
auf der Hand, daß sich eine strenge Scheidung auf diesem Gebiete
nicht durchführen läßt. Vielmehr muß es naturgemäß alle mög-
lichen Mischungen in dem Verhältnisse der äußeren zu den inneren
Ursachen geben. Das Gewicht des gleichen äußeren Anstoßes
kann je nach dem uns wesentlich unbekannten inneren Zustande
ein sehr verschiedenes sein. Auf diese Weise entstehen praktisch
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
i8
I. Die Ursachen des Irreseins.
die mannigfaltigsten Beziehungen zwischen rohen äußeren Ur-
sachen und kUnischen Formen des Irreseins, so daß die zugrunde
liegenden Gesetzmäßigkeiten tatsächlich überaus schwer zu ent-
wirren sind. Immerhin sind uns auch heute schon gewisse An-
haltspunkte in den Krankheitsbildern selbst gegeben. Wir wissen
von einer ganzen Reihe klinischer Formen aus vielfältiger Erfah-
rung, daß sie überwiegend äußeren oder inneren Ursachen ihre
Entstehung verdanken, und wir können daher aus der Art der
Krankheitszeichen nicht selten auch dann die exogene oder endo-
gene Natur des einzelnen Falles mit größter Wahrscheinlichkeit
feststellen, wenn uns der grobe Augenschein zunächst zu einer
falschen Auffassung zu verführen drohte.
A. Äußere Ursachen.
Die große Klasse der äußeren Ursachen des Irreseins pflegt
man zur besseren Übersicht weiter in die beiden Gruppen der
körperlichen und psychischen Ursachen auseinander zu
trennen. Die ersteren greifen unmittelbar in den körperlichen
Bestand unseres Seelenorgans ein, die anderen erst durch Ver-
mittlung psychischer Vorgänge, durch Erzeugung von Vorstel-
lungen oder Gemütsbewegungen. Eine grundsätzliche Verschie-
denheit zwischen beiden Gruppen besteht selbstverständlich nicht,
da nach den überall festzuhaltenden Grundanschauungen jeder
Veränderung auf psychischem Gebiete durchaus eine Störung im
Ablaufe der körperlichen Vorgänge entspricht.
I. Körperliche Ursachen^).
Hirnkrankheiten^). Da die letzte Grundlage aller Formen des
Irreseins höchstwahrscheinlich in krankhaften Vorgängen oder
Zuständen der Großhirnrinde gesucht werden muß, äo werden wir
allen wahren Ursachen die gemeinsame Eigenschaft zuschreiben
1) Weber, Die Beziehungen zwischen körperlichen Erkrankungen und Geistes-
störungen. 1902.
2) Nothnagel, Topische Diagnostik der Gehirnkrankheiten. 1879; Wernicke,
Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 1881; Gowers, Vorlesungen über die Diagnostik
der Gehirnkrankheiten, deutsch v. Mommsen. 1886; Renschen, Klinische und
anatomische Beiträge zur Pathologie des Gehirns. 1892; v. Monakow, Gehirn-
pathologie, 2. Aufl. 1905; Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 4. Aufl.
1905.
Hirnkrankheiten.
19
dürfen, daß sie Erkrankungen der Hirnrinde bewirken. Der ana-
tomische Nachweis solcher Erkrankungen ist schon bei einer
großen Reihe von psychischen Störungen gelungen, wenn auch die
Deutung der Befunde und namentlich ihre gesetzmäßige Beziehung
zu den klinischen Erscheinungen meist noch recht unklar ist.
Auf der anderen Seite muß es bei großen Gruppen von geistigen
Erkrankungen, insbesondere bei den Entartungszuständen, als
recht zweifelhaft bezeichnet werden, ob die Veränderungen, die
ihnen zugrunde liegen, überhaupt oder doch mit unseren heutigen
Hilfsmitteln sichtbar gemacht werden können. Daß übrigens die
wahrnehmbaren Veränderungen durchaus nicht immer die Ur-
sache der klinischen Störungen zu sein brauchen, bedarf wohl
kaum der Erwähnung.
Bei den Gehirnerkrankungen im engeren Sinne werden wir
ausgeprägtere psychische Erscheinungen dann erwarten, wenn das
Leiden entweder gerade in der Rinde seinen Sitz hat oder doch
durch Erhöhung des Hirndruckes, Störungen der Blutverteilung,
Giftwirkungen und dergleichen die Rinde in Mitleidenschaft zieht.
Es kommt indessen vor, daß selbst greifbare Rindenerkrankungen,
wenn sie umschrieben sind und sich langsam entwickeln, die psy-
chischen Leistungen, wenigstens anscheinend, völlig unbeeinflußt
lassen. Zur Erklärung derartiger Tatsachen ist vielleicht die Mög-
lichkeit einer teilweisen Stellvertretung erkrankter Rindenpartien
durch gesunde, namentlich aber der Umstand in Erwägung zu ziehen,
daß eine ganz allmählich eintretende leichte Verminderung der
psychischen Leistungsfähigkeit mit unseren heutigen unvollkom-
menen Hilfsmitteln sehr schwer aufzufinden und genau zu bestim-
men ist.
Als das wichtigste Bindeglied zwischen Schädlichkeiten und
Hirnrindenerkrankungen hat man früher vielfach die Störungen
des Hirnkreislaufes betrachtet, durch deren Vermittlung noch
Meynert verschiedene psychische Krankheitsbilder zu erklären
suchte. Obgleich diese Anschauung heute nicht mehr haltbar ist,
so kann doch nicht bezweifelt werden, daß wesentliche Änderungen
in der Blutzufuhr einen entschiedenen Einfluß auf das Seelen-
leben ausüben, namentlich, wenn sie sich rasch ausbilden. Ins-
besondere pflegt man auch den Gefäßerkrankungen, wie wir sie
bei einer Reihe von Geistesstörungen auftreten sehen, die Ent-
20
I. Die Ursachen des Irreseins.
stehung schwerer, die Hirnernährung schädigender Kreislauf-
störungen zuzuschreiben, ohne daß bisher unsere Vorstellungen
über den inneren Zusammenhang der Vorgänge besonders klare
wären. Gewöhnlich denkt man in erster Linie an Steigen oder
Sinken des Blutdrucks und dadurch bedingte Veränderungen der
Strömungsgeschwindigkeit.
Vermehrten Blutandrang zum Gehirn beobachten wir im Fieber,
bei gewissen Gemütsbewegungen, bei Hypertrophie des linken
Ventrikels und bei denjenigen Giften, die eine Förderung der Herz-
arbeit oder eine Erweiterung der Hirngefäße bewirken. Ferner
dürften auch die Erscheinungen bei starker Wärmebestrahlung
des Kopfes, insbesondere beim ,, Sonnenstich", auf eine Blutüber-
füllung an der Hirnoberfläche zu beziehen sein; vielleicht ver-
binden sich damit örtliche Wärmestauungen. Offenbar fehlen uns
hier Ausgleichsvorrichtungen, welche die mit rasiertem Schädel
unter der Mittagssonne arbeitenden Tropenbewohner besitzen
müssen; ein Europäer würde unter gleichen Bedingungen binnen
ganz kurzer Zeit die schwersten Störungen darbieten. Endlich
werden wir örtliche Steigerungen der Blutzufuhr bei allen ent-
zündlichen Vorgängen anzunehmen haben, welche die Hirnrinde
in Mitleidenschaft ziehen.
Das Abschneiden der Blutzufuhr vom Gehirn wird am raschesten
durch Zusammenpressen der beiden Halsschlagadern bewirkt, wie
es wohl auch beim Erhängen vorkommt. Hier dürfte jedoch in
der Regel zugleich oder vornehmlich die Behinderung des Blut-
abflusses durch Verschluß der großen Halsvenen eine wesentliche
Rolle spielen. Weiterhin kommt Blutleere des Gehirns nament-
lich durch starke Blutverluste und durch Herzschwäche zustande;
hier entwickeln sich Sinken des Blutdruckes, Abnahme der Strö-
mungsgeschwindigkeit und weiterhin Stauungen. Rasch vorüber-
gehende Verminderung der Blutzufuhr zum Gehirn wird durch
solche Gemütserschütterungen bewirkt (Schreck), die mit einer
krampfhaften Zusammenziehung der Hirngefäße einhergehen. Ähn-
liche Wirkungen können Gifte entfalten; vielleicht sind auch die
unmittelbaren Folgen der Hirnerschütterung zum Teil auf Ge-
fäßkrämpfe zurückzuführen, doch spielen dabei nach Kochers
Darlegungen die plötzlichen Druckschwankungen, denen das Ge-
hirn durch rasche Lageverschiebungen ausgesetzt ist, wohl die
Hirnkrankheiten. 21
Hauptrolle. Örtliche Beeinträchtigung oder Aufhebung des Blut-
kreislaufs kann durch die teilweise oder völlige Verstopfung von
Hirngefäßen, ferner durch den Druck von Geschwülsten verur-
sacht werden, welche die Gefäße zusammenpressen. Wachsen die
Geschwülste, so kann die zunächst umschriebene Wirkung eme
allgemeine werden, indem sich die Raumbeschränkung in der
Schädelkapsel durch Vermittlung der Cerebrospinalflüssigkeit auf
den gesamten Schädelinhalt überträgt.
Wie wir durch Grasheys Untersuchungen i) wissen, fuhrt
jede Erhöhung des Druckes im Schädel über ein bestimmtes per-
sönliches Maß hinaus sehr rasch zur Zusammendrückung der
Hirnvenen in ihren freien Abschnitten, weiterhin aber zur Ent-
stehung von Gefäßschwingungen mit erheblicher Verlangsamung
der Kreislaufsgeschwindigkeit und deren Folgezuständen (Stau-
ungen, Ödeme). Die größere oder geringere Leichtigkeit, mit
welcher eine derartige Drucksteigerung im einzelnen Falle zu-
stande kommt, hängt wesentlich ab von der Ausbildung, welche
die Abflußbahnen der Cerebrospinalflüssigkeit besitzen. Vermag
diese letztere bei einer Vermehrung des Schädelinhaltes rasch
nach allen Richtungen hin auszuweichen, so bleibt der Druck
im Schädel unverändert, und die Blutversorgung erleidet keine
Störung. Sind aber die Ausgleichsvorrichtungen mangelhaft, so
genügt schon eine mäßige Zunahme des Schädelinhaltes, um das
Auftreten schwererer Ernährungsstörungen einzuleiten. Vielleicht
verdient gerade nach dieser Richtung die von Thoma festge-
stellte Tatsache besondere Beachtung, daß von sämtlichen Ge-
fäßen des Körpers das Gebiet der Carotis interna bei weitem am
meisten der Erkrankung an Arteriosklerose infolge von Über-
dehnung der Gefäßwand ausgesetzt ist. Weit günstiger liegen
bei einer Zunahme des Schädelifihaltes die Verhältnisse dann,
wenn sie sich langsam, allmählich einstellt, so daß die Abfluß-
bahnen sich bis zu einem gewissen Grade den wachsenden An-
forderungen anzupassen vermögen. Hier kann die lähmende Wir-
kung auf die Hirnrinde ziemlich lange hintangehalten werden.
Dagegen hat jede rasche Vermehrung des Schädelinhaltes, wie sie
1) Grashey, Experimentelle Beiträge zur Lehre von der Blutzirkulation in der
Schädel-Rückgratshöhle. 1892; Kocher, Hirnerschütterung, Hirndruck und chi-
rurgische Eingriffe bei Hirnkrankheiten. Nothnagels Handbuch IX, 3, 2. 1902.
22
I. Die Ursachen des Irreseins.
namentlich durch Blutungen, nach Reichardts Darlegungen
auch durch Schwellung der Hirnmasse zustande kommen kann,
unausbleiblich die Erstickung der Hirnrinde zur Folge.
In geringerem Maßstabe, als bei der Entwicklung von Ge-
schwülsten oder gar beim Eintritt von größeren Blutungen, bilden
sich Blutstauungen in der Schädelkapsel regelmäßig aus, wenn
ein Mißverhältnis zwischen dem Drucke in den Blutgefäßen und in
der Schädelhöhle entsteht. Dauernde Blutwallungen dürften ebenso
zu Stauungen in der Schädelhöhle führen wie eine Abnahme der
Triebkraft des Herzens.
Die letzten Folgen aller Kreislaufstörungen im Gehirn können
immer nur Beeinträchtigungen des Stoffwechsels im Nerven-
gewebe, also chemische Wirkungen sein. Nach unseren heutigen
Vorstellungen wird dabei einmal die Anhäufung von Zerfallsstoffen,
sodann aber ein mangelhafter Ersatz des Verbrauchten in Frage
kommen. Aus diesem Grunde wird es für den Ablauf der Hirn-
vorgänge nicht nur auf die Menge, sondern vor allem auch auf die
Beschaffenheit des durchströmenden Blutes ankommen. Diese
letztere aber ändert sich bei allen Kreislaufsbehinderungen sehr
rasch, da sich das Blut mit Zerfallsstoffen beladet, die sonst in
anderen Stätten des Körpers möglichst bald unschädlich gemacht
werden. Wir haben uns im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr
und mehr daran gewöhnt, diesen und anderen giftigen Bei-
mischungen der Ernährungsflüssigkeit eine Hauptrolle bei der
Entstehung von Krankheitserscheinungen zuzuschreiben. Nicht
unwahrscheinlich ist eine solche Erklärung für die sogenannte
Wärmestauung, den Hitzschlag i), bei dem es sich anscheinend um
eine allgemeine Erhöhung der Körperwärme durch Versagen der
natürlichen Ausgleichsvorrichtungen handelt. Schwer bepackte
Soldaten auf anstrengenden Märschen bei schwülem, feuchtem
Wetter und bedecktem Himmel, ferner die Heizer auf unseren
großen Dampfern, namentlich in tropischen Meeren, sind am
meisten gefährdet, aber auch bei sehr lange fortgesetzten feuchten
Einpackungen widerstrebender Kranker sind Hitzschläge beob-
achtet worden. Begünstigend wirken Schädigungen der Wärme-
regelung durch Alkoholgenuß oder Gefäßerkrankungen. Wir kön-
1) Steinhausen, Die klinischen und ätiologischen Beziehungen des Hitz-
schlags zu den Psychosen und Neurosen, Leu thold -Festschrift, II.
Hirnkrankheiten. ^3.
nen uns vielleicht vorstellen, daß unter dem Einflüsse der er-
höhten Eigenwärme eine Beschleunigung des Stoffumsatzes emtritt,
ohne daß die Zerfallsstoffe genügend schnell fortgeschafft werden
können Auch beim Fieber, bei Entzündungsvorgängen, wie sie ent-
weder unmittelbar in der Hirnrinde ihren Sitz haben (Encephalitis)
oder von den benachbarten Hirnhäuten dahin übergreifen können
(Meningitis), ferner bei der örtlichen Reizwirkung von Herder-
krankungen denken wir in erster Linie an den reizenden und zer-
setzenden Einfluß im Blute kreisender oder an Ort und Stelle ge-
bildeter Gifte.
Außer den Wirkungen auf Kreislauf und Stoffwechsel kommen
vielfach noch sehr wesentlich einfach mechanische Zerstörungen
in Betracht. Das gilt außer den unmittelbaren Zertrümmerungen
bei Kopfverletzungen namentlich von der Hirnkontusion, bei der
nicht nur an den unmittelbar betroffenen Stellen, sondern auch
an den Gegenpolen durch den Anprall Zerreißungen des Nerven-
gewebes wie der Gefäße stattfinden können, ferner von den Blu-
tungen und wohl auch von dem Drucke sehr schnell wachsender
und die mannigfachsten Verheerungen bedingender Geschwulste.
Endlich aber haben wir darauf hinzuweisen, daß bei den ver-
schiedensten Hirnkrankheiten neben den unmittelbaren Wirkungen
auf das Hirngewebe noch mittelbare Beeinflussungen der Seelen-
vorgänge eintreten können. Wir haben uns wohl vorzustellen,
daß die durch das Hirnleiden erzeugten Störungen allerlei Gemüts-
bewegungen auslösen können, die nun ihrerseits wieder psychogene
Begleiterscheinungen erzeugen. Daß diese mittelbaren Krank-
heitszeichen vielfach durch diejenigen des Hirnleidens beemflußt
werden und daher unter Umständen als eine Übertreibung und
Vergröberung derselben erscheinen, wird man kaum verwunderlich
finden. Bei sorgfältiger Prüfung ergibt sich, daß die Verknüp-
fung psychogener, sog. „hysterischer" Krankheitsäußerungen
mit schweren Schädigungen der Hirnrinde ein überaus häufiges
Vorkommnis ist. Möbius hat sogar gewisse Krampf erscheinungen
und Dämmerzustände bei wiederbelebten Erhängten^) als hyste-
rische aufgefaßt; doch spricht ihre Übereinstimmung mit den nach
1) Wagner, Jahrb. f. Psychiatrie, VIII, 313; Möbius, Neurologische Bei-
träge I, 5S; Wollenberg, Arch. f. Psychiatrie, XXXI, 241; Sommer, Monatsschr.
f. Psychiatrie XIV, 221.
24
I. Die Ursachen des Irreseins.
schweren Kopfverletzungen beobachteten Störungen mehr für die
Verursachung durch die Hirnschädigungen, wie sie der Erstickungs-
vorgang bedingt.
Wenn wir von jenen mittelbaren Störungen absehen, pflegen
sich die psychischen Krankheitsbilder bei gröberen Hirnleiden in
verschiedenartiger Weise aus den allgemeinen Zeichen der Erregung
und der Lähmung auf den einzelnen Gebieten des Seelenlebens
zusammenzusetzen. Von den ersteren, die im allgemeinen gerin-
geren Graden des Leidens entsprechen, sind Schlaflosigkeit, Ideen-
flucht, Delirien, ängstliche oder heitere Verstimmung, Unruhe
und mehr oder weniger heftige motorische Erregung zu nennen.
Der psychische Ausdruck einer plötzlichen allgemeinen Läh-
mung der Hirnrinde ist dagegen eine rasch einsetzende, tiefe Be-
wußtlosigkeit. Bei leichteren Graden der Störung kommt es zu-
nächst zu einer Erschwerung der Auffassung und Verarbeitung
äußerer Eindrücke, zu Unbesinnlichkeit, Gedächtnisschwäche,
Gedankenarmut und Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes,
Urteilslosigkeit, großer Ermüdbarkeit; bei höherer Ausbildung
entwickelt sich geradezu Schlafsucht, traumartige Benommen-
heit, Blödsinn. Ferner besteht gemütliche Stumpfheit, verdrieß-
lich weinerliche oder kindisch heitere Stimmung, Bestimmbarkeit
oder Eigensinn, endlich völliges Erlöschen der Willensregungen.
Da der Lähmung des Hirngewebes zumeist ein Zustand der
Reizung vorauszugehen pflegt, werden wir in den klinischen
Äußerungen der Hirnrindenerkrankungen den mannigfachsten Ver-
knüpfungen von psychischen Lähmungs- und Erregungserschei-
nungen begegnen. Noch verwickelter können die entstehen-
den Krankheitsbilder dadurch werden, daß die Beeinträchtigung
oder der Ausfall höherer psychischer Leistungen noch Störungen
ganz anderer Art nach sich ziehen kann. Wenn wir berechtigt
smd, als den seelischen Kern der Persönlichkeit eine gewisse, '
durch Anlage und Lebenserfahrung bestimmte Summe von Vor-
stellungen, Denkgewohnheiten, Gefühlsrichtungen und Strebungen
anzusehen, so ist es einleuchtend, daß durch diesen Kern die
Emheithchkeit und Stetigkeit der psychischen Persönlichkeit be-
dmgt wird. Wird aber die Festigkeit seines Gefüges durch krank-
hafte Vorgänge geschwächt, so ist die Folge eine stärkere Beein-
flußbarkeit des Seelenlebens durch äußere und zufällige Ein-
Hirnkrankheiten.
25
Wirkungen. Wir finden daher unter den Zeichen der Hirnerkran-
kungen, namentlich in den Anfängen ihrer Entwicklung, häufig
eine verminderte psychische Widerstandsfähigkeit, die sich in
rascher Erschöpfbarkeit, erhöhter Ablenkbarkeit und Zerstreutheit,
gemütlicher Reizbarkeit und Haltlosigkeit des Willens äußert.
Dazu gesellt sich gewöhnlich auch eine größere Empfindlichkeit
gegen Alkohol. Natürlich können sich die genannten Störungen
wieder in der verschiedenartigsten Weise mit Zeichen der psychi-
schen Lähmung und Erregung verbinden. Weiterhin beobachten
wir bei allen diesen Krankheitsbildern natürlich unter Umständen
jene umschriebenen Reizungs- und Ausfallserscheinungen auf see-
lischem Gebiete, die durch den besonderen Sitz des Leidens bedingt
werden. Dahin gehören einerseits Sinnestäuschungen, andererseits
Ausfall gewisser Gruppen von sinnlichen Erinnerungsbildern und
dadurch bedingte Asymbolie, insbesondere die Worttaubheit, die
Schriftblindheit, sodann die mannigfachen Störungen der Aus-
drucksbewegungen und des Handelns, wie wir sie in der motorischen
Aphasie, der Agraphie und neuerdings in der Apraxie kennen
gelernt haben. Daß endlich auch auf körperlichem Gebiete eine
Menge von Krankheitszeichen zur Entwicklung gelangen können,
die uns Rückschlüsse auf Art und Sitz des Hirnleidens gestatten,
bedarf hier nur kurzer Erwähnung.
Für die klinische Psychiatrie haben die gröberen Hirn-
erkrankungen im allgemeinen keine allzu große Bedeutung. Die
meningitischen und encephalitischen Erkrankungen begegnen uns
vor allem in den Zuständen von Idiotie und ImbecilHtät, die sie
bei Kindern so oft erzeugen. Späterhin kann die traumatische,
die tuberkulöse und besonders auch die epidemische Cerebrospinal-
meningitis ausgeprägte psychische Krankheitsbilder Hefern, die im
wesentlichen durch delirante Benommenheit, traumhafte Sinnes-
täuschungen und Wechsel zwischen Erregungszuständen ängst-
licher oder heiterer Färbung mit stumpfer Willenserschlaffung
gekennzeichnet sind. Auf Sonnenstich werden hier und da
psychische Erkrankungen zurückgeführt, doch ist große Vor-
sicht in der Beurteilung am Platze. In der Regel scheint der
Sonnenstich nach der rasch einsetzenden Bewußtseinstrübung mit
Krämpfen, die unter Umständen zum Tode führt, keine dauern-
den psychischen Schädigungen zu hinterlassen; höchstens bleiben
I. Die Ursachen des Irreseins.
gelegentlich psychogene Störungen zurück. Meist kann man sich
auch bei genauerer Prüfung überzeugen, daß ein angeblicher
Sonnenstich der erste paralytische, katatonische oder epileptische
Anfall war, dessen Auftreten durch die Schädlichkeit vielleicht
begünstigt, aber nicht verursacht wurde. Ähnliches dürfte für den
bei uns freilich ungleich häufigeren Hitzschlag gelten. Die nächsten
Erscheinungen bestehen meist in tiefer Bewußtlosigkeit, hier und
da auch in deliranten Zuständen mit Krämpfen oder vorübergehen-
den Sprachstörungen. Im weiteren Verlaufe aber kommt es öfters
zur Entwicklung von psychogenen Krankheitsbildern, die durch-
aus denjenigen nach Unfällen zu ähneln scheinen^).
Kranke mit Hirngeschwülsten geraten, nur gelegentlich unter
falscher Diagnose in die Irrenanstalt, meist als Paralytiker oder Epi-
leptiker. Dagegen hat sich der Irrenarzt nicht selten mit den krank-
haften Seelenzuständen nach Kopfverletzungen 2) zu beschäftigen.
Allerdings werden hier vielfach ursächliche Zusammenhänge an-
genommen, die sich bei genauerer Betrachtung als irrig erweisen.
Insbesondere können Kopfverletzungen, die in einem epileptischen
oder paralytischen Anfalle stattgefunden haben, als die Ursache
des späterhin deutlicher hervortretenden Leidens angesehen werden.
Es gibt indessen einige Krankheitsbilder, aus deren Eigenart sich
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der Rückschluß auf eine er-
littene Schädelverletzung ziehen läßt, ein Beweis dafür, daß hier
wirklich ursächliche Beziehungen vorliegen. Während sich un-
mittelbar an die Schädigung traumartige Bewußtseinstrübungen
mit Auffassungs- und Merkstörung, retrograder Amnesie, Er-
innerungsfälschungen und deliranten Zügen anzuschließen pflegen,
entwickeln sich späterhin vorwiegend Zustandsbilder mit den
Zeichen verminderter psychischer Widerstandsfähigkeit, oft auch
vasomotorischen Störungen. Dazu gesellen sich dann sehr häufig
allerlei psychogene Erscheinungen, so daß es nicht selten recht
schwierig wird, ihren Anteil am Gesamtzustande von demjenigen
zu trennen, der unmittelbar durch die Verletzung des Hirns be-
dingt ist. Ist es zu tiefergreifenden Zerstörungen mit Narbenbil-
dung gekommen, so entsteht der traumatische Schwachsinn, der
1) Finkh, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXIII, 804.
2) Werner, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin, XXIII, Suppl. 1902; Meyer,
American Journal of insanity, 1904, Januar.
Hirnkrankheiten.
27
durch mehr oder weniger umfassende körperliche und seeHsche
Ausfallserscheinungen gekennzeichnet und oft von epileptischen
Störungen begleitet ist. Den traumatischen Delirien ähneln die
psychischen Erkrankungen nach Erhängungsversuchen, wenn sie
auch in der Regel rascher und günstiger zu verlaufen pflegen,
wohl entsprechend der geringeren Schwere der Hirnschädigung.
Eine weitere klinische Gruppe bildet der Schwachsinn nach
Apoplexie, der in der Regel den Stempel einer einfachen psychischen
Lähmung, nach Umständen mit aphasischen und apraktischen
Störungen, trägt und nur beim Auftreten von Erregungszuständen
in die Hand des Irrenarztes zu gelangen pflegt. Ähnliches gilt
von der multiplen Sklerose; auch die seltenere Form der umschrie-
benen Hirnsklerose verläuft gewöhnlich mehr unter dem Bilde
eines Hirnleidens, als einer Geistesstörung. Stärker in den Vorder-
grund treten dagegen die psychischen Störungen bei gewissen
Verblödungsformen, die ihre Grundlage in ausgebreiteten Erkran-
kungen der Hirnrinde haben, namentlich bei den arteriosklero-
tischen und syphilitischen Gefäßerkrankungen und einigen diffusen,
vielfach familiären Erkrankungen des gesamten Nervensystems,
deren bekannteste 'die H u n t i n g t o n sehe Chorea ist. D lese letzteren
bilden pathologisch - anatomisch wie klinisch den Übergang zu
denjenigen Hirnerkrankungen, die wir ohne weiteres dem Gebiete
der psychischen Störungen zuzuweisen pflegen, zur Paralyse und
zum Altersblödsinn, zur Epilepsie und zur Dementia praecox. —
Das leuchtende Vorbild der Hirnpathologie und besonders
der Aphasielehre muß auch dem Irrenarzte den Gedanken nahe
legen, daß die Seelenvorgänge an bestimmte Orte des Hirnes,
insbesondere der Rinde, gebunden sind. Die allgemeine Möglich-
keit einer derartigen örtlichen Umgrenzung kann bei dem heutigen
Stande der Lokalisationsfrage^) nicht wohl mehr in Zweifel ge-
zogen werden, ja, es gibt Tatsachenreihen der verschiedensten
Art, die uns immer mehr zu der Annahme drängen, daß unsere
Hirnrinde sich aus einer großen Zahl von Einzelorganen mit be-
1) Luciani u. Seppilli, Die Funktionslokalisation auf der Großhirnrinde,
deutsch V. Frankel. 1886; v. Monakow, Über den gegenwärtigen Stand der Frage
nach der Lokalisation im Großhirn, Ergebnisse der Physiologie, I, 533- 1902; VI,
334, 1907; Hitzig, Alte und neue Untersuchungen über das Gehirn, Arch. f.
Psychiatrie, XXXIV, XXXV, XXXVI, XXXVII, auch in den gesammelten Abhand-
lungen. 1904; Tschermak, Nagels Handb. d. Physiologie, IV, i, S. 14^^-
28
I. Die Ursachen des Irreseins.
sonderen Aufgaben zusammensetzt. Soviel sich heute übersehen
läßt, kommt von ihnen für die einfache Auffassung von Sinnes-
reizen wie für die Auslösung von Bewegungen nur ein verhältnis-
mäßig kleiner Teil in Betracht, so daß wir für die übrigen ausge-
dehnten Gebiete nähere und in der mannigfaltigsten Weise ge-
gliederte Beziehungen zu den höheren Seelenvorgängen vermuten
dürfen.
Einen beachtenswerten Hinweis auf derartige Zusammenhänge
gibt uns schon die Entwicklung der Hirnrinde in der Tierreihe,
die im großen und ganzen vollkommen der immer reicheren Ent-
faltung des geistigen Lebens entspricht. Schon die Vergrößerung
k der Hirnoberfläche durch das Auftreten von Furchen und Wülsten,
die bei den höheren Affen und namentlich beim Menschen so
sehr in die Augen fällt, deutet auf allgemeine Beziehungen dieses
höchstentwickelten Hirnteiles zu den seelischen Leistungen hin.
Es läßt sich aber ferner erkennen, daß manche Gebiete der Hirn-
rinde sich besonders stark vergrößern. Vor allem gilt dies vom
Stirnhirn, das beim Menschen eine mächtige Ausdehnung gewinnt;
aber auch die Scheitelgegend scheint bei den höchststehenden
Tieren ihre Umgebung einigermaßen zu überflügeln. Andererseits
erfahren Rindenteile, denen für unser Seelenleben offenbar keine
wesentliche Bedeutung mehr zukommt, eine sehr starke Rück-
bildung, so die Riechrinde und das Ammonshorn,
Gerade diese letzten Beispiele lehren uns die Abhängigkeits-
verhältnisse zwischen Hirnbau und Bedeutung einzelner Sinnes-
gebiete im Seelenleben kennen; ganz ähnliche Beziehungen be-
stehen unzweifelhaft auch zu den Bewegungsleistungen. Die Hirn-
rinde eines Gesichtstieres ist wesentlich verschieden von derjenigen
eines Geruchstieres, und ein Wesen, das eine solche Fülle fein ab-
gestufter Willensbewegungen auszuführen vermag wie ein Menschen-
affe, verfügt über Organe, die ein einfaches Lauftier, wie Rind oder
Schaf, nicht besitzt.
Ganz grobe derartige oder ähnliche Verschiedenheiten können
sich schon in der äußeren Form des Hirnmantels, ja unter Um-
ständen sogar im Bau des Schädels ausprägen. Solche Beobach-
tungen haben seinerzeit Gall zu dem Versuche geführt, auch
beim Menschen aus der Betrachtung des Hirns und Schädels,
weiterhin aus der äußeren Kopfform, Schlüsse auf geistige Eigen-
Rindenlokalisation.
29
Schäften herzuleiten. Als Anhaltspunkte für die Verknüpfung
der Formabweichungen mit bestimmten seelischen Eigenschaften
dienten ihm einerseits der Vergleich mit den Gehirnen solcher
Tiere die irgendeine Fähigkeit in besonders hohem Grade zu
besitzen schienen, sodann aber die Untersuchung möglichst zahl-
reicher Personen, deren Seelenleben nach irgendeiner Richtung
hin auffallende Züge darbot; die hier beobachteten Eigentüm-
lichkeiten der Schädelform, Einsenkungen , Vorwölbungen, galten
ihm dann als Hinweis auf den Sitz bestimmter Seeleneigen-
sclis-f tcn.
Der allgemeine Satz, der die Voraussetzung der Gallschen Schä-
dellehre darstellt, daß die Ausbildung bestimmter geistiger Leistungen
mit der Vervollkommnung umschriebener Hirnteile Hand m Hand
gehen muß, ist durch die Fortschritte unseres Wissens eher be-
stätigt als erschüttert worden. Dennoch vermögen wir die harte
Verurteilung, die seine Anschauungen neben überschwänglicher
Lobpreisung schließlich gefunden haben, wohl zu begreifen. Sehen
wir ganz ab von dem sehr unvollkommenen Parallelismus zwischen
äußerer und innerer Schädeloberfläche, auch von der Verborgen-
heit der inneren und der Grundflächen des Gehirns, so ist ein-
mal zu betonen, daß sich die Vergrößerung eines umschriebenen
Hirnteiles zunächst nicht in einer örtlichen Vorwölbung, sondern
in einer seitlichen Verdrängung der benachbarten Teile kund-
gibt, daß also höchstens die allgemeine Form des Hirns eine
naturgemäß sehr schwer erkennbare Veränderung zu erleiden
braucht. Sodann aber ist es gewiß äußerst unwahrscheinlich,
daß irgend höhere geistige Leistungen an eng umgrenzte Stellen
des Hirnmantels gebunden sein sollten; vielmehr spricht die
schon bei einfachen Wahrnehmungen und Willenshandlungen
eintretende Verknüpfung von Seelenvorgängen verschiedener Art
für ein stetes Zusammenwirken mannigfaltiger Rindenorgane.
Die von G all über die Hirnoberfläche verteilten, der herrschenden
Lehre von den Seelenvermögen entsprechenden Eigenschaften
sind zumeist so verwickelte, daß von einem Sitz derselben an den
ihnen angewiesenen, eng umschriebenen Orten schlechterdings
nicht die Rede sein kann. Zudem ist übrigens Gall in seinen
phrenologischen Beobachtungen und Schlußfolgerungen vielfach
mit äußerster Willkür verfahren.
I. Die Ursachen des Irreseins.
In zielbewußtem Anschlüsse an Gall hat neuerdings
Möbius^) versucht, eine besondere geistige Fähigkeit, die , .An-
lage zur Mathematik", an eine umschriebene Hirngegend, die
vorderen Teile der ersten und zweiten Stirnwindung der linken
Seite, zu knüpfen. Er ist dabei ähnlich verfahren wie Gall
und hat sich, wie es ja auch kaum anders möglich war, wesentlich
auf die Feststellung gestützt, daß die entsprechende Schädel-
gegend bei vielen hervorragenden Mathematikern eine Vorwöl-
bung zeigte. Auch bei den bildenden Künstlern, den Musikern
und Mechanikern hat er, ebenfalls den Angaben Galls folgend,
kennzeichnende Vorwölbungen in der Stirn- und Schläfengegend auf-
gefunden. Es hat nicht fehlen können, daß alle Einwände, die gegen
Gall gemacht worden sind, auch diesem Versuche einer Erneuerung
der alten Schädellehre entgegengehalten wurden. Mir scheint, daß
unsere Unsicherheit in den Lokalisationsfragen selbst dort, wo uns
unvergleichlich vielseitigere und zuverlässigere Hilfsmittel für ihre
Lösung zu Gebote stehen, einstweilen nicht gerade zur Wieder-
aufnahme des trügerischen Gall sehen Verfahrens ermutigen kann.
Weit eher, als von einer Betrachtung der äußeren Form, dürfen
wir von der Erforschung des feineren Baues der Hirnrinde Aufschluß
über ihre Gliederung in einzelne Organe erwarten. Der eigentlich
kennzeichnende Bestandteil der Hirnrinde sind die Nervenzellen mit
ihrem ungeheuren Netzwerk verflochtener Fortsätze. Allerdings
treten die Zellkörper im Rindenbilde des Erwachsenen verhältnis-
mäßig weniger stark hervor als beim Neugeborenen und beim Tiere ;
sie sind durch sehr viel stärker entwickeltes nervöses Zwischen-
gewebe voneinander getrennt. Wir sind jedoch berechtigt, anzu-
nehmen, daß die Vermehrung des Zwischengewebes wesentlich oder
ausschließlich durch eine weitere Verästelung der Zellenfortsätze be-
dingt wird, also einer reicheren Entwicklung der Nervenzellen selber
entspricht. Wenn somit das Auseinanderweichen der Rindenzellen
uns wahrscheinlich besonders eindringlich auf die hohe Bedeutung
jener Gewebsbestandteile für das Seelenleben hinweist, so werden
wir in ihrem Verhalten vor allem nach Anhaltspunkten für die An-
nahme örtlicher Verschiedenheiten in den Leistungen der Hirnrinde
zu suchen haben.
1) Möbius, über die Anlage zur Mathematik. 1900; Über Kunst und Künstler.
1901.
Rindenlokalisation. 3^
In der Tat ergeben sich uns hier ohne weiteres zwei Haupt-
tatsachen, die von höchster Bedeutung für unsere Frage sein
dürften Die erste Beobachtung, die sich uns aufdrangt, ist die
außerordentliche Verschiedenheit der Nervenzellen in
der Hirnrinde. Durch Nissls Untersuchungen wissen wir nicht
nur daß der Bauplan jener Zellen kein einheitlicher ist, sondern
auch daß dort, wo wir ihre Verrichtungen kennen, ähnliche Formen
wiederkehren. Mit anderen Worten, der Verschiedenheit des
Baues entspricht eine Verschiedenheit der Leistung, em Satz
der für alle anderen Körperzellen ganz selbstverständlich erscheint
und nur auf dem Gebiete des Nervengewebes sich auffallend schwer
Geltung verschafft. Wenn man jedoch die zahlreichen gesetz-
mäßigen Verschiedenheiten in Größe, Umriß und innerem Aufbau
der Nervenzellen betrachtet, so wird es völlig unmöglich, dann
etwas anderes zu sehen, als den Ausdruck einer verschiedenen
Bestimmung. . o- n •
Dafür spricht auch die Anordnung der Zellen in der
Rinde. Fast überall finden wir kleinere oder größere Mengen
gleichartiger Rindenbestandteile zu einheitlichen Gruppen und
Schichten verbunden; seltener mischen sich Zellen verschiedener
Bauart untereinander. In der Tierreihe bietet der Bau der Rinden-
zellen wie ihre Anordnung die größten Verschiedenheiten dar.
Während gewisse Formen der Nervenzellen, wie die großen Ge-
bilde der motorischen Centren, schon bei niederen Wirbeltieren,
wenn auch nicht in der Rinde, auftreten, erscheinen die kleinen
Zellen der zweiten Schicht erst beim Affen und vor allem beim
Menschen. Hier bilden sie eine riesige Lage, von der beim Ka-
ninchen auch nicht eine Spur vorhanden ist. Aber auch die großen
Pyramidenzellen zeigen beim Menschen einen durchaus eigen-
artigen Bau; sie sind zudem durchschnittlich kleiner, als z. B. die
entsprechenden Zellen des Kaninchens. Wir werden kaum zweifeln
können, daß diese freilich noch wenig bekannten Unterschiede in
irgendeiner Beziehung zu der verschiedenen Ausbildung des
Seelenlebens stehen müssen.
Endlich hat Nissli) gezeigt, daß verschiedene Zellarten
durch Gifte in verschiedener Weise beeinflußt werden
1) Nissl, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, i.
22 !• Die Ursachen des Irreseins.
«
können. Während z. B. der Alkohol die meisten Bestandteile der
Hirnrinde auf das schwerste schädigt, läßt er die großen Zellen
des Ammonshorns fast gänzlich unberührt; das Blei vernichtet
ebenfalls den größten Teil der Rindenzellen, verändert aber nur in
sehr geringem Maße die Spinalganglien. Auch beim Menschen
läßt sich dartun, daß allgemeine Krankheitsursachen (Infektionen
Fieber) die verschiedenen Bestandteile der Rinde in sehr ver-
schiedenem Grade schädigen. Alle diese Erfahrungen deuten in
gleicher Weise darauf hin, daß den Verschiedenheiten im Bau der
Nervenzellen eine tiefere Bedeutung zukommt, und diese Be-
deutung kann nur in ihrer verschiedenen Verrichtung liegen.
Eine besondere Beleuchtung erfährt dieser Satz durch die Tat-
sache, daß die Gruppierung der Zellenschichten in der Hirnrinde
gewisse durchgreifende Regelmäßigkeiten erkennen läßt. Nach
Brodmanns Untersuchungen läßt sich durch die ganze Säuge-
tierreihe hindurch die Gliederung der Hirnrinde in sechs Schichten
verfolgen, von denen einzelne, wenn auch in wechselnder Stärke,
überall wiederkehren, während andere verschwinden oder sich
durch eingeschobene Zwischenschichten teilen können. Der Nach-
weis eines solchen allgemeinen Grundplanes in der Anordnung der
Rindenschichten könnte darauf hindeuten, daß die Leistungen der
Nervenzellen verschiedenen Baues in einem bestimmten engeren
Zusammenhange untereinander stehen, etwa zu einer Einheit ver-
schmelzen. So wäre an die regelmäßige Verknüpfung von Emp-
findungen mit Gefühlen und Willensregungen zu denken, wie sie
am innigsten in dem ursprünglichsten unserer Seelenvorgänge, im
Triebe, gegeben ist; auch der Bildung allgemeinerer Vorstellungen,
Gefühle oder Strebungen aus der Verschmelzung einzelner sinn-
licher Erlebnisse könnte eine Zusammenordnung verschieden-
artiger Rindenschichten allenfalls dienen.
Die Anschauung, daß der ganze Rindenquerschnitt ein einheit-
hches Werkzeug darstelle, ist bisher der Ausgangspunkt fast aller
Versuche gewesen, Gebiete verschiedener Bedeutung voneinander
abzugrenzen. Nachdem Gall die erste „landkartenartige" Eintei-
lung der Hirnoberfläche vorgenommen hatte, haben die Hitzig-
schen Entdeckungen und ebenso die fast unübersehbare Reihe der
an sie anknüpfenden Forschungen wesentlich immer wieder zur
Aufstellung flächenhaft ausgebreiteter „Centren" geführt, ohne
Rindenlokalisation.
33
daß der gänzlich verschiedene Bau der einzelnen Rindenschichten
dabei genügende Berücksichtigung gefunden hätte. Eine gewisse
Berechtigung scheint dieser Auffassung die schon von Meynert
angedeutete und in neuerer Zeit von verschiedenen Forschern
mit größter Sorgfalt festgestellte Tatsache zu geben, daß sich
in der Hirnrinde des Menschen eine bedeutende Zahl von Teil-
gebieten unterscheiden lassen i), die durch die Verschiedenheit ihres
Schichtenbaues gekennzeichnet sind und sich an manchen Stellen
linienscharf voneinander abgrenzen. Sehr bemerkenswert ist dabei,
daß diese Gebiete nur in ziemlich lockeren räumlichen Beziehungen
zu den Furchen und Wülsten der Hirnoberfläche stehen. Ihre
Lage kann daher bei verschiedenen Tierarten wesentliche Ver-
schiebungen erfahren, ein schlagender Beweis für die Unsicherheit
der Schlüsse, die etwa aus der Ausbildung gewisser Hirnwindungen
auf die Befähigung zu bestimmten seelischen Verrichtungen ge-
zogen werden. Dagegen lassen einzelne der durch ihren feineren
Bau gekennzeichneten Rindengegenden schon heute unzweifel-
hafte Beziehungen zu besonderen Leistungen erkennen. Dahin
gehören namentlich die beiden scharf unterscheidbaren Centrai-
windungen, von denen die vordere mit ihren großen Betzschen
Riesenpyramiden die Auslösungsstätten von Willkürbewegungen
enthält, während die viel schmälere hintere mit breiter innerer
Körnerschicht höchst wahrscheinlich Muskel- und Gelenkemp-
findungen übermittelt, ferner das Calcarinagebiet, das sich ebenso
wie die genannten durch die ganze Säugetierreihe hindurch ver-
folgen läßt und die Rindenausstrahlung des Sehnerven einschließt.
Wenn demnach der Schluß berechtigt erscheint, daß sich an
die örtlichen Verschiedenheiten des Rindenbaues auch dort ver-
schiedene Leistungen knüpfen, wo wir über diese noch nichts
wissen, so bleibt dabei zunächst die Frage völlig offen, ob als Träger
solcher Verschiedenheiten überall der gesamte Rindenquerschnitt
oder nicht vielmehr jene bestimmten Schichten anzusehen sind,
durch deren Auftreten, Schwinden oder Teilung im einzelnen
Falle die Abweichung von den Nachbargebieten bedingt wird. Hin-
1) Brodmann, Journ. f. Psycho!, u. Neuro!., II, 79. 132; IV, 177; VI, 108;
27s; X, 231; Vogt, ebenda II, 160; Ramon y Cajal, Studien über die Hirnrinde
des Menschen, deutscti von Bresler. 1900— 1906; Campbell Clark, Histological
studies on the localisation of cerebral functions. 1905.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 3
I. Die Ursachen des Irreseins.
34
deuten würde auf solche schichtweise Umgrenzung z. B. die
unverkennbare Verwandtschaft der in den unteren Lagen des
Bewegungsgebietes zerstreuten Riesenpyramiden mit den großen
motorischen Zellen des Vorderhorns im Rückenmark, sodann die
starke Entwicklung der inneren Körnerschicht in denjenigen
Rindengegenden, die wir als Endstätten von Sinnesnerven ansehen.
Ferner ist zu betonen, daß die Abgrenzung der verschiedenen
Rindengebiete bisweilen nur einzelne Schichten betrifft, während
andere gar keine oder ganz allmähliche Umwandlungen erfahren.
Endlich aber unterscheiden sich die Schichten des Rindenquer-
schnittes fast durchgängig viel deutlicher voneinander als benach-
barte Rindengebiete. Schreiben wir also diesen letzteren ver-
schiedene Verrichtungen zu, so ist die Annahme kaum zu um-
gehen, daß auch die so stark voneinander abweichenden Zell-
reihen der übereinander gelagerten Schichten gesonderte Aufgaben
haben müssen. Möglich ist es ja, daß sie wie die Stimmen eines
Musikwerkes immer zusammenarbeiten; gerade die immer deut-
licher hervortretende Mannigfaltigkeit in der örtlichen Zusammen-
setzung der Rinde, das wechselnde Auftauchen und Schwinden
einzelner Zellformen und Schichten, scheint mir indessen mehr
für eine gewisse Selbständigkeit dieser letzteren zu sprechen. Wir
hätten uns unter diesem Gesichtspunkte die Rinde als Aufbau aus
einer Menge von über- und nebeneinander gelagerten, schalen-
artigen Organen zu denken, die sehr verschiedene Ausdehnung,
Gestalt und Zellformen besitzen. Es gibt sogar Erfahrungen an
Hemmungsbildungen, die dafür sprechen, daß auch innerhalb
ein und derselben Schicht noch Zellen von verschiedener Bedeu-
tung zwischeneinander liegen können.
Die einzige Lokalisationslehre, welche dem geschichteten Bau
der Hirnrinde gerecht zu werden versucht, ist diejenige von
Wernicke, der das Bewußtsein der KörperHchkeit in die der
Markleiste zunächst stehende Zellenschicht verlegt und das von
ihm vermutete Fortschreiten des paralytischen Krankheitsvor-
ganges von der äußersten Rindenschicht nach innen in Beziehung
setzt zu der aufeinanderfolgenden Störung des Bewußtseins der
Persönlichkeit, der Außenwelt und der Körperlichkeit. Er be-
spricht die Annahme, daß ,,eine Art schichtenweiser Ablagerung
der Vorstellungen, ähnlich den Sedimentbildungen der jüngsten
Rindenlokalisation.
35
Erdschichten" stattfinde, das Bewußtsein der Persönlichkeit dem-
nach als „die jüngste Bildung" in die äußerste Rindenschicht
zu verlegen sei, und lehnt sie nur deswegen ab, weil spät erwor-
bene Erinnerungsbilder durch Herderkrankungen gruppenweise zer-
stört werden können, was die Zerstörung einer einzelnen Schicht
ohne Verletzung der benachbarten bedeuten würde. Jede der Ein-
heiten, welche die hier vorgenommene Dreiteilung des Bewußtseins-
inhaltes schafft, ist sicherlich aus einer solchen Mannigfaltigkeit
seelischer Bestandteile zusammengesetzt, daß ihnen unmöglich die
Gliederung der Hirnrinde in einige Schichten entsprechen kann;
auch die weitgehenden örtlichen Verschiedenheiten des Rinden-
baues sprechen sehr entschieden gegen eine so einfache Auffassung.
In weit geringerem Maße, als die „Cytoarchitektonik" der
Rinde, die Anordnung der Nervenzellen, ist zumeist diejenige der
Fasern, die „Myeloarchitektonik", verwertet worden, um uns
einen tieferen Einblick in die örtlichen Verschiedenheiten des
Rindenbaues zu liefern, obgleich die wechselnde Beteiligung von
dünneren und dickeren Fasern, ihre Gruppierung und die Rich-
tung ihres Zuges bestimmte Beziehungen zu den Schichtungs-
gebieten aufzuweisen scheint. Genauere Aufschlüsse, als die rein
anatomische Betrachtung, haben bisher die Beobachtungen über
die sekundäre Entartung von Fasern und Zellen nach Ausschnei-
dungen und Durchtrennungen geliefert. Diesem von Guddens
Hand zuerst in weitestem Umfange zur Erforschung des Hirn-
baues angewandten Verfahren verdanken wir die ersten unzweifel-
haften Aufschlüsse über die Abhängigkeit einer bestimmten Bahn,
der Pyramiden, von umgrenzten Stellen der Hirnrinde. Seiner
weiteren Verwertung zur Aufklärung des feineren Rindenbaues
steht einigermaßen der Umstand im Wege, daß es hier nicht mög-
lich ist, einzelne Organe völlig und zugleich gesondert zu zerstören,
ferner, daß eine sekundäre Entartung zugehöriger Gebiete nur dann
einzutreten scheint, wenn ganz einseitige Abhängigkeitsbezie-
hungen bestehen, ein Fall, der in der Rinde höchstens hinsichtlich
der unmittelbaren Stabkranzverbindungen zutreffen dürfte. Immer-
hin konnte Nissl bei jungen Kaninchen nachweisen, daß durch
Lostrennung der Rinde aus allen ihren nervösen Verbindungen
ganz vorzugsweise die beiden unteren Schichten in ihrer Ausbil-
dung geschädigt wurden.
I. Die Ursachen des Irreseins.
Auch die Entwicklungsgeschichte hat ungemein wichtige Bei-
träge zur Kenntnis der örtlichen Verschiedenheiten des Rinden-
baues geliefert. Brodmann konnte für manche Gegenden die
Schichtenbildung aus der ursprüngHch überall gleichförmigen An-
ordnung dicht gedrängter senkrechter Zellreihen verfolgen. Er
fand, daß der späteren Mannigfaltigkeit regelmäßig ein sechs-
schichtiger Durchgangszustand vorausging, dem das Ausein-
anderrücken und Schwinden einzelner Schichten, ihre Teilung
durch Einschieben von Zwischenschichten oder durch verschieden-
artige Entwicklung ihrer Bestandteile folgte. Die Unterschiede
der einzelnen Rindengebiete treten bei unfertigen Gehirnen mit
überraschender Deutlichkeit hervor.
Zur Aufstellung einer reich gegliederten Hirnrindenkarte ist
sodann Flechsig^) durch die entwicklungsgeschichtliche Ver-
folgung der Markscheidenentwicklung im Gehirn gelangt. Sein
Verfahren stützt sich vor allem auf die Beobachtung, daß die Um-
hüllung der Achsencylinder mit Markscheiden in verschiedenen
Gegenden des Stabkranzes und der Rinde zu sehr verschiedener
Zeit erfolgt. Flechsig nimmt an, daß diese Unterschiede in
innigstem Zusammenhange mit der Funktion der Faserzüge stehen,
daß Bündel mit gleicher Bestimmung zu gleicher Zeit markreif
werden und umgekehrt. Da er ferner zu der Überzeugung kam,
daß nur bestimmte Gegenden der Hirnrinde Stabkranzbündel auf-
weisen, während in anderen wesentlich nur Verbindungszüge zu
anderen Rindengebieten auftreten, so schloß er, daß die Rinde in
Stabkranzfelder und in Binnenfelder zu zerlegen sei. Zu den
ersteren gehören namentlich die ,, Sinnescentren", welche die Ver-
bindung mit der Außenwelt herstellen, dann auch das zugleich
motorische Gebiet der Centraiwindungen. Die in den Binnen-
feldern liegenden ,, Assoziationscentren" umfassen den Stirnpol
des Gehirns nebst den angrenzenden Teilen namentlich der zweiten
und dritten Stirnwindung, sodann die Scheitelgegend, übergreifend
auf die Medianfläche, den größten Teil des Schläfenlappens, die
Unterfläche und kleinere Gebiete der Oberfläche des Hinterhaupts-
lappens. Es handelt sich hier nach Flechsigs Ansicht um die-
1) Flechsig, Gehirn und Seele, 2. Aufl. 1896; Neurol. Centralbl., XVII,
977; XIX, 828; Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 1904,
50; 177-
Rindenlokalisation.
37
jenigen Organe, in denen sich die höheren Seelentätigkeiten, ins-
besondere die assoziativen Leistungen abspielen.
Gegen diese Aufstellungen, die weite Verbreitung gefunden haben,
sind eine Reihe der hervorragendsten Hirnforscher aufgetreten,
Hitzig, Sachs, v.Monakow, Dejerine, Nissl, Vogt, Siemer-
ling u. a. Sie haben zunächst geltend gemacht, daß der allgemeine
Zusammenhang zwischen Markreife und Funktion keineswegs er-
wiesen sei. So tritt die Markreifung auch bei Mißbildungen ein, die
jede Möglichkeit einer Funktion ausschließen; ferner fand Brod-
mann große Unregelmäßigkeiten in der zeitlichen Folge von Zell-
reifung und Markumhüllung der zugehörigen Fasern. Weiterhin ist
bestritten worden, daß die Markreifung wirklich regelmäßig in ab-
grenzbaren Faserzügen erfolge; vielmehr schreite der Reifungs-
vorgang in weiten Gebieten ganz allmählich und gleichmäßig fort,
greife auch wohl von einem Punkte auf die benachbarte Gegend
über. Endlich aber wurde vielfach betont, daß die Ausbreitung
des Stabkranzes in der Rinde durchaus nicht die von Flechsig
behaupteten Unterschiede erkennen lasse. Damit würde aber die
Einteilung der Rinde, die nach Flechsig anfangs neun, später
vierzig und dann sechsunddreißig verschiedene Felder enthalten
sollte, hinfälHg. Daß darum die Ergebnisse der Markreifungs-
forschung, die sich in manchen Punkten mit denen andersartiger
Beobachtungen decken, innerhalb der Fehlergrenzen des Verfah-
rens ihren Wert behalten, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Um die Bedeutung der örtlichen Verschiedenheiten im Rinden-
bau für die Leistungen aufzudecken, stehen uns im allgemeinen
zwei Wege offen: wir können uns an die Erscheinungen halten,
welche die Reizung oder die Zerstörung der einzelnen Gebiete
begleiten, und zwar entweder bei willkürlichen Eingriffen, im
Tierversuche, oder bei Krankheitsvorgängen. Die Entdeckung von
Fritsch und Hitzig, denen es im Jahre 1870 zuerst gelang, durch
elektrische Reizung der Rinde des Hundes Bewegungen auszu-
lösen, hat der Erforschung der Beziehungen zwischen Rindenbau
und Leistung den stärksten Anstoß gegeben, und noch heute bildet
die Kenntnis von der Lage der ,, Centren" für eine große Zahl
einfacher Bewegungen unseren sichersten Besitz auf diesem schwie-
rigen Gebiete. Besonders wichtig war es, daß die klinische Beob-
achtung reichliche Fälle lieferte, in denen Reizerscheinungen,
o I. Die Ursachen des Irreseins.
38
insbesondere Krämpfe, durch örtliche Erkrankungen und Schädi-
gungen in der Nähe jener Centren hervorgebracht wurden, und
daß endlich bei notwendigen Eingriffen vielfach Gelegenheit ge-
geben war, auch am Menschen die motorischen Reizpunkte auf-
zusuchen. Hinsichtlich der übrigen Rindenorgane wissen wir
allerdings über Reizerscheinungen sehr wenig, doch werden Fälle
berichtet, in denen Gehörstäuschungen anscheinend mit Erkran-
kungen des Schläfenlappens in Zusammenhang standen.
Weit ergiebigere Ausbeute für die Verlegung seelischer Leistungen
in bestimmte Hirnbezirke haben jedenfalls die Ausfallserscheinungen
geliefert, wenn sie auch lange keine so genaue Ortsbestimmung
gestatten. Zunächst haben Tierversuche Bewegungsstörungen,
wesentlich Ungeschicklichkeit und Verlust des Lagegefühls, bei
Verletzung der motorischen Centren ergeben; ferner wurde Aus-
fall der gegenseitigen Gesichtsfeldhälften bei einseitiger Zerstö-
rung des Hinterhauptspols und der Umgebung der Fissura cal-
carina festgestellt, während Vernichtung der ersten Schläfenwin-
dung völlige oder fast völlige Taubheit des entgegengesetzten
Ohres nach sich zu ziehen pflegt. Bei der großen Schwierigkeit
solcher Feststellungen gehen die Angaben der Forscher in den
Einzelheiten vielfach noch auseinander; außerdem zeigen ver-
schiedene Tierarten erhebliche Unterschiede, so daß eine Über-
tragung auf den Menschen nur mit äußerster Vorsicht angängig
ist. Über den Sitz höherer seelischer Vorgänge haben die Tierver-
suche bisher fast gar keine verwertbaren Tatsachen ergeben. Nur
hat Goltz die Beobachtung gemacht, daß Verlust der vorderen
Rindengebiete bei Hunden neben anderen Veränderungen große
Reizbarkeit und planlose Unruhe erzeugt, während Entfernung
der Hinterhauptslappen im Gegenteil Trägheit und Stumpfheit
selbst bei vorher bösartigen Tieren zur Folge hat.
An diesem Punkte dürfen wir nur von der Beobachtung am
Menschen Fortschritte erwarten, nicht nur, weil sein reicher ent-
wickeltes Seelenleben die Durchführung viel feinerer Untersu-
chungen ermöglicht, sondern namentlich deswegen, weil wir hier
über das unvergleichlich wertvolle Hilfsmittel der inneren Wahr-
nehmung verfügen. Den Erkrankungen der menschlichen Hirn-
rinde verdanken wir daher auch die bei weitem wichtigsten Er-
fahrungen über die örtliche Umgrenzung von Seelenorganen; sie
Rindenlokalisation.
39
wurden gewonnen vor allem durch die Erforschung der Sprach-
störungen. Die beiden Grundtatsachen, an die sich die heutige,
ungemein verwickelte Lehre von den Sprachstörungen ange-
knüpft hat, sind einmal die hauptsächlich von Broca gemachte
Entdeckung, daß Zerstörung des Fußes der linken dritten Stirn-
windung Unfähigkeit zur Hervorbringung von Sprachlauten ohne
Lähmung der dazu nötigen Muskeln, d. h. motorische Aphasie,
bewirkt, andererseits die Feststellung Wernickes, daß Ausfall
des hinteren Teiles der ersten linken Schläfenwindung Verlust des
Wortverständnisses ohne Taubheit bedingt. Daraus ergibt sich
zunächst, daß die rein sinnliche Wahrnehmung der Sprachlaute
an andere Rindengebiete geknüpft sein muß, als ihr „Verständ-
nis", bzw. daß für dieses letztere die Mitwirkung anderer Gegenden
erforderlich ist.
In der Tat ergibt die psychologische Betrachtung, daß sich all-
gemein der Entstehung eines Sinneseindruckes ein weiterer Vorgang,
seine Zuordnung zu früher erworbenen Erinnerungsbildern oder
Allgemeinvorstellungen, hinzugesellen muß, wenn er von uns ver-
standen werden soll. Erst dieser Vorgang gestattet uns eine weitere
geistige Verarbeitung des neuen Eindruckes. Insbesondere bei der
Worttaubheit" bleibt das Gehörte ein leerer Schall, wie der Klang
einer fremden Sprache; weder das Schriftbild des Wortes noch die
zugeordnete innere Sprachbewegung und ebensowenig die ent-
sprechende Sachvorstellung mit allen ihren Bestandteilen und An-
knüpfungen wird wachgerufen. Wir können aus diesen Erfahrungen
schließen, daß sich der Sinnesreiz von den Endstätten der Sinnesbahn
in der Rinde auf andere, benachbarte oder entferntere Gebiete aus-
breiten muß, um dort durch eine Art von Mitklingen diejenigen
Vorgänge anzuregen, die eine Anknüpfung an früher erworbenen
geistigen Besitz bedingen. Nach der herrschenden Annahme kann
diese Ausbreitung dadurch verhindert werden, daß die in Betracht
kommenden Rindengegenden zerstört oder von den Endstätten
der Sinnesbahnen abgeschnitten sind. Endlich scheint es, daß
zwar ein beschränktes, rein lautliches Verständnis der Eindrücke
stattfinden kann, während doch die Auffassung ihres Sinnes, die
Verknüpfung mit Vorstellungen anderer Sinnesgebiete oder mit
Willenshandlungen unmöglich ist.
Bei der Worttaubheit handelt es sich vor allem um das Ver-
I. Die Ursachen des Irreseins.
sagen der früher erworbenen Wortklangbilder nebst den an sie
sich knüpfenden sprachlichen und sachlichen Vorstellungsreihen.
Offenbar haben wir jedoch hier nur einen Einzelfall vor uns, dessen
Bedeutung für die Psychiatrie wesentlich darin liegt, daß er all-
gemeinere Schlüsse auf den Ablauf des Wahrnehmungsvorganges
gestattet. Wir dürfen annehmen, daß nicht nur die Sprachlaute,
sondern auch alle sonstigen Gehörseindrücke, ja wohl alle Sinnes-
reize überhaupt, über die unmittelbaren Endstätten der Sinnes-
bahnen hinausdringen müssen, um in ihrer Eigenart erkannt zu
werden. Der Worttaubheit würde die allgemeinere Störung der
Seelentaubheit zur Seite stehen, die auf doppelseitigen Erkran-
kungen im Schläfenlappen beruhende Verständnislosigkeit für
Gehörseindrücke. Ferner kennen wir eine Seelenblindheit bei
doppelseitiger Zerstörung der Hinterhauptsrinde, die durch die
Unfähigkeit gekennzeichnet wird, gesehene Dinge auch wirklich
zu erkennen. Eine Unterform der Seelenblindheit bildet die an
linksseitige Hinterhauptserkrankungen gebundene Alexie, die Un-
fähigkeit zu lesen. Ob und wieweit auch auf den niederen Sinnes-
gebieten entsprechende Störungen vorkommen, ist bei deren ge-
ringerer Bedeutung für die Bildung von Vorstellungen schwer
festzustellen.
Die gemeinsame Eigentümlichkeit der angeführten Störungen,
die wir mit Liepmann unter dem Namen der ,,Agnosie"i) zu-
sammenfassen können, liegt in dem Ausbleiben der mehr oder
weniger weit ausgebreiteten seelischen Resonanz für Sinnesein-
drücke. Dabei sind aber die einzelnen Fälle untereinander doch
wieder verschieden. Bei der Worttaubheit und Schriftblindheit
ist die nächste Aufgabe des Erkennungsvorganges die Einordnung
des Eindruckes in eine bestimmte Gruppe fest eingelernter Gehörs-
oder Gesichtsvorstellungen, die in engster Beziehung zu den Aus-
drucksbewegungen des Sprechens und Schreibens stehen. Gerade
dieser letztere Umstand bringt die Rindengebiete, in denen sich
jene Vorstellungen bilden, in Abhängigkeit von unserer Rechts-
händigkeit. Die auf Willkürbewegungen von Jugend auf in weit
höherem Grade eingeübte linke Hirnhälfte, die zudem das Schreiben
ganz ausschließlich vollführt, wird auch die alleinige oder doch
1) Liepmann, Centralbl. f. Nervenheilk. 1908, 609.
Rindenlokalisation.
41
sehr bevorzugte Bildungsstätte aller jener Vorstellungen, die den
sprachlichen Ausdrucksformen angehören. Anscheinend bilden
sich hier Einrichtungen heraus, die ohne Mitwirkung höherer see-
lischer Tätigkeit im Anschlüsse an den äußeren Eindruck, den
Sprachlaut oder das Schriftbild, ohne weiteres das Auftauchen des
entsprechenden eingelernten Erinnerungsbildes und fernerhin die
Auslösung von Sprach- oder Schreibbewegungen vermitteln. Fällt
dieser Vorgang aus, so erscheint die Sprache als unbestimmtes
Geräusch, das Schriftzeichen als sinnloses Gestrichel. Aber auch
im anderen Falle, wenn wir Laute und Wortbilder als solche richtig
erkennen, kann uns noch das Verständnis für ihre inhaltliche
Bedeutung fehlen; wir können „mechanisch" nachsprechen und
lesen, ohne daß der Sinn des Gesprochenen oder Gelesenen zum
Bewußtsein kommt. Soll dieses letztere geschehen, so müssen
wir nicht nur unsere Aufmerksamkeit auf die dargebotenen Sinnes-
eindrücke richten, sondern es müssen sich auch an sie diejenigen
Sachvorstellungen knüpfen, deren Sinnbilder die sprachlichen
Ausdrucksformen sind.
Wir haben somit neben einer sinnlichen Agnosie, der Unfähig-
keit, die Eindrücke in ihrer sinnlichen Eigenart zu erfassen, noch
eine weitere Form zu unterscheiden, die wir nach Liepmanns
Vorschlag als „ideatorische" Agnosie bezeichnen können. Dieser
Form gehört die Seelenblindheit und die Seelentaubheit im weiteren
Sinne an. Die Scheidung zwischen sinnlicher und ideatorischer
Agnosie bedeutet heute für uns auch die Grenze für die Anknüp-
fung der Störungen an bestimmte Rindenbezirke. Wir dürfen
vielleicht annehmen, daß es eine Reihe sehr einfacher und fest
eingeübter Erkennungsvorgänge gibt, die nahezu oder ganz unab-
hängig von unserer Aufmerksamkeit ablaufen; namentlich dürfte
es sich um solche Wahrnehmungen handeln, die in irgendeiner
Weise mit der Auslösung von Bewegungen verknüpft sind, wie die
Sprach- und Musiklaute und deren Sinnbilder, andererseits sehr
gefühlsstarke Eindrücke. In allen diesen Fällen scheint das Er-
kennen an Rindengebiete geknüpft zu sein, die den Endstätten
der Sinnesbahnen benachbart sind; vielleicht gilt das für das sinn-
liche Erkennen überhaupt. Nahe Verknüpfung mit Ausdrucks-
bewegungen begünstigt zudem noch die Beschränkung des Rinden-
gebietes auf eine Hirnhalbkugel. Dagegen haben wir uns wohl
I. Die Ursachen des Irreseins.
42
den Vorgang des ideatorischen Erkennens schwerlich als so eng
räumlich begrenzt zu denken. An ihm sind so verschiedene see-
lische Gebiete beteiligt, daß wir als seine Grundlage weit über
die Hirnrinde verbreitete Vorgänge anzunehmen veranlaßt sind.
Tatsächlich beobachten wir auch die ideatorischen Formen der
Agnosie nicht bei umschriebenen, sondern nur bei weit ausgebrei-
teten Erkrankungen.
Ganz ähnliche Erwägungen lassen sich an die Tatsachen der
motorischen Aphasie anknüpfen. Die Unfähigkeit, Sprachlaute zu
äußern oder Schriftzeichen niederzuschreiben, ist nur eine be-
sondere Form jener allgemeineren Störung der Apraxie, deren
Wesen durch Liepmanns Untersuchungen besonders geklärt
worden ist. Nach seinen Darlegungen haben wir vor allem zwi-
schen ideatorischer und motorischer Apraxie zu unterscheiden.
Die Voraussetzung jeder Willenshandlung ist die Vorstellung
einmal von deren Endziel, dann aber von allen Einzelvorgängen,
die zur Verwirklichung des Zieles ablaufen müssen. Jeder dieser
Einzelvorgänge, die sich in eine beliebige Zahl zeitlich einander
folgender Abschnitte zerlegen lassen, setzt außerdem das stetige
Zusammenwirken von Wahrnehmung und Bewegung voraus, in-
sofern sich die Bewegung in jedem Augenblicke der erreichten
Sachlage anzupassen, Störungen auszugleichen, Hindernisse zu
beseitigen, neue Wege einzuschlagen, innezuhalten hat. Die Ge-
samtheit der Teilzielvorstellungen, in denen die geplante Willens-
handlung zusammengefaßt wird, bildet nach Liepmanns Aus-
druck die „Bewegungsformel". Die Bewegungsformel kann von
vornherein falsch oder unvollkommen sein, oder es können bei
ihrer Verwirklichung Auslassungen, Zusätze, Verschiebungen ein-
treten, so daß die beabsichtigte Handlung gar nicht oder in
verstümmelter, unreiner oder verschobener Form zur Ausführung
gelangt. In allen diesen Fällen haben wir es mit ideatorischer
Apraxie zu tun, der etwa die paraphasischen und paragraphischen
Störungen entsprechen würden. Wie bei der ideatorischen Agnosie
ist eine Verknüpfung dieser Apraxieformen mit der Zerstörung
umschriebener Rindengebiete zurzeit nicht möglich. Da aber bei
den Verfälschungen der Bewegungsformel vielfach auch leichtere
oder schwerere agnostische Störungen eine Rolle spielen können
und die Hauptsinnesgebiete mehr in den hinteren Hirnabschnitten
Rindenlokalisation.
43
zu suchen sind, so scheint die ideatorische Apraxie mehr auf Er-
krankungen dieser Gegenden hinzudeuten. Sie ist regelmäßig
eine ganz allgemeine Störung, als deren Grundlage wir daher
auch weit ausgebreitete Rindenerkrankungen voraussetzen dürfen.
Ist nicht die Aufstellung der Bewegungsformel, sondern deren
Umsetzung in wirkliches Handeln gestört, so entsteht die mo-
torische Apraxie. Wie es scheint, kann diese Störung dadurch
zustande kommen, daß die Teilantriebe, welche die aus dem Zu-
sammenwirken weiter Hirngebiete entstandene Bewegungsformel
wachruft, nicht die eigentlichen Auslösungsstätten der Bewe-
gungen zu erreichen vermögen. Herde, welche diese letzteren m
größerem oder kleinerem Umfange von ihren Verbindungen ab-
schneiden, würden also motorisch apraktische Störungen bedmgen.
Dabei können gewisse Bewegungsreihen, die durch vielfache
Übung selbständig geworden sind, vollkommen richtig ablaufen,
allerdings ohne Zusammenhang mit zielbewußten Absichten. Wir
wissen, daß schon die elektrische Reizung der Bewegungszentren
unserer Hirnrinde nicht einzelne Muskelzuckungen, sondern das
Zusammenspiel bestimmter Muskelgruppen zu einfachen Be-
wegungen auslöst. Weiterhin aber dürfen wir annehmen, daß
sich in der Rinde unter dem Einflüsse der Übung Zusammen-
ordnungen ausbilden, die ein selbsttätiges Ablaufen ganzer Be-
wegungsreihen unter steter Regelung durch Muskel- und Gelenk-
empfindungen, vielleicht auch durch andere einfache Sinnesein-
drücke ermöglichen. Solche maschinenmäßig wirkenden Ein-
richtungen bestehen für Sprache, Schrift und verwandte Fertig-
keiten- sie sind in ihrer Einförmigkeit fester an bestimmte Rin-
dengegenden gebunden, als die sonstigen, freier ablaufenden
Willenshandlungen und können daher durch umschriebene Herde
leichter gestört werden.
Die Unmöglichkeit, eine Bewegungsformel in wirkliches Han-
deln umzusetzen, kann natürlich auf einzelne Glieder oder auf
eine Körperseite beschränkt bleiben, da die Auslösungsstätten für
die verschiedenen Bewegungsgruppen selbst einen streng, um-
grenzten Sitz haben. Motorische Aphasie und Agraphie werden
in der Regel durch linkssitzende Herde erzeugt, da die Bewegungs-
gliederung für Sprechen und Schreiben gewöhnlich in der linken
Hirnhälfte erfolgt, anscheinend in denjenigen Teilen der Stirn-
44
I. Die Ursachen des Irreseins.
Windungen, die den Centren für die jeweils beanspruchten Muskel-
gruppen benachbart sind. Liepmann hat gezeigt, daß die Be-
vorzugung der rechten Hand der linken Hirnhälfte überhaupt
ein gewisses Übergewicht für die Auslösung und Regelung von
gewohnheitsmäßigen Willkürhandlungen gewährt. Die Entwick-
lung solcher Einrichtungen, welche alltägliche Bewegungsreihen
in ähnlicher Weise selbsttätig ablaufen lassen, wie das Sprechen
und Schreiben, erfolgt ebenfalls vorzugsweise links. Wird die
Verbindung dieser maschinenmäßig eingeübten Rindengebiete mit
der rechten Hirnhälfte durch Zerstörung der entsprechenden Balken-
faserung unterbrochen, so fällt damit der gesamte, in den beson-
deren Einrichtungen der linken Seite niedergeschlagene Übungs-
erwerb fort, und die Bewegungen der linken Glieder werden bis zu
einem gewissen Grade apraktisch.
Die aus der Aphasielehre im weitesten Sinne gewonnenen
allgemeinen Erkenntnisse werden sich voraussichtlich auch für
die Erforschung von Ausfallserscheinungen bei Geisteskranken
als fruchtbar erweisen. Agnostische Störungen begegnen uns in
ausgeprägtester Form bei einer ganzen Reihe von psychischen
Krankheiten, auch wenn wir von den ausgebreiteten Zerstörungs-
vorgängen in der Rinde bei Paralyse, Hirnlues, Arteriosklerose
ganz absehen. Besonders auffallend pflegt die Agnosie, auch in
der Form des Verlesens und Mißverstehens, beim Delirium tremens,
ferner in den infektiösen und traumatischen Delirien und in
Dämmerzuständen, namentlich der Epileptiker, zu sein; bisweilen
zeigen uns die deliranten Verwirrtheitszustände der Manischen und
der Altersblödsinnigen ähnliche Störungen. Andererseits begegnen
uns ganz eigenartige Formen der Apraxie und Parapraxie in Aus-
drucksbewegungen und Handeln bei der Katatonie. Man wird
wohl annehmen dürfen, daß es sich zumeist um ideatorische Stö-
rungen handeln wird, über deren Sitz wir einstweilen noch nichts
zu sagen wissen; nur bei den obengenannten gröberen Rinden-
erkrankungen stoßen wir gelegentlich auf agnostische oder aprak-
tische Erscheinungen umschriebeneren Ursprungs.
Sehr geringe Ausbeute für die Anknüpfung seelischer Vor-
gänge an bestimmte Hirngegenden liefern uns leider die Er-
fahrungen über die Störungen höherer geistiger Leistungen bei
umgrenzten Hirnerkrankungen. Nur so viel scheint festzustehen,
Rindenlokalisation.
45
daß Geschwülste des Balkens in der Regel mit tiefgreifender Zer-
rüttung der Verstandestätigkeit einhergehen. Das kann mit der
Zerstörung zahlreicher Verbindungen zwischen den beiden Hirn-
halbkugeln oder mit der gleichzeitigen Beeinträchtigung größerer
Rindenabschnitte auf beiden Seiten zusammenhängen. Viel um-
stritten ist die Rolle, die dem Stirnhirn für das höhere Seelen-
leben zugeschrieben wird. Für eine solche Beziehung spricht der
Umstand, daß es beim Menschen besonders stark entwickelt ist,
und daß ihm sonst anscheinend keine Verrichtung zukommt, die
eine derartige Ausbildung erklären würde. Weniger sichergestellt
scheint die Behauptung zu sein, daß Zerstörungen des Stirn-
hirns in besonders hohem Grade Verstandesstörungen bewirken^).
Es ist natürlich ungemein schwierig, einen derartigen Satz zu
beweisen, da nur scharf umschriebene Verletzungen ohne Fern-
wirkungen bei vorher völlig gesunden Menschen verwertbar sind.
Zudem kommt, wie Bruns betont, in Betracht, daß Stirnhirn-
geschwülste, ohne das Leben zu gefährden, sehr groß werden
können und schon deswegen unter Umständen stärkere psy-
chische Ausfallserscheinungen bedingen. Allerdings ist nament-
lich von Oppenheim auf ein besonderes Zeichen, die Witzel-
sucht", hingewiesen worden, das sich bei Stirnhirngeschwülsten
auffallend stark und häufig zeigen soll und in einem Falle durch
die Operation mit beseitigt wurde. Es muß indessen einstweilen
wohl dahingestellt bleiben, ob das Auftreten der Witzelsucht
wirklich den Schluß auf eine Stirnhirnerkrankung gestattet. Jeden-
falls beobachten wir Störungen, die wir klinisch davon nicht ab-
zutrennen vermögen, bei einer Reihe von Erkrankungen, die
sich sicher über weite Rindenabschnitte erstrecken, so nament-
lich beim Altersblödsinn, bei syphilitischer Gefäßerkrankung und
bei der Katatonie. Natürlich ist das nicht etwa ein Gegenbeweis.
Bei den bedeutenden Fortschritten, die unsere Kenntnis vom
Bau und den Leistungen der Hirnrinde in den letzten Jahrzehnten
gemacht hat, wird trotz der heute über den „Sitz der Seele" noch
herrschenden Unklarheit die Möglichkeit nicht abzuleugnen sein,
daß wir einmal auch über die örtliche Ausbreitung jener Rinden-
1) Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems. 1897; Oppenheim, Die Ge-
schwülste des Gehirns, 2. Aufl. 1902; Schuster, Psychische Störungen bei Hirn-
tumoren. 1902.
46
I. Die Ursachen des Irreseins.
erkrankungen klarere Vorstellungen gewinnen, die vorzugsweise
oder ausschließlich Seelenstörungen erzeugen. Zunächst aller-
dings erscheinen die Schwierigkeiten unüberwindlich. Jeder Ver-
such, über die einfachsten Sinnesempfindungen und Bewegungs-
auslösungen hinaus seelische Vorgänge in bestimmte Rinden-
gebiete zu verlegen, scheitert vor allem an der UnvoUkommen-
heit unserer psychologischen Kenntnisse. Auch die gewöhnlichsten
Bewußtseinserscheinungen erweisen sich bei genauerer Betrach-
tung als so ungemein verwickelt, daß wir gut begreifen, warum
das Werkzeug unseres Seelenlebens einen so hoffnungslos un-
entwirrbaren Aufbau besitzt. Insbesondere fehlt uns die Klarheit
darüber, welche Vorgänge wir als grundlegende und einheitliche
ansehen und demgemäß versuchen dürfen, mit einer Einheit des
Rindenbaues in Beziehung zu setzen. Unsere landläufigen psy-
chologischen Begriffe sind äußerst verschwommene Ableitungen
aus inneren Erfahrungen und daher kaum geeigneter, die Grund-
lage für eine Funktionslehre abzugeben, als die G all sehen Seelen-
vermögen. Bevor es uns gelingen kann, die feineren Zusammen-
hänge zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen aufzu-
decken, bedürfen wir daher unbedingt einer Zerlegung der psy-
chischen Erscheinungen in ihre einfachsten Bestandteile, einer
wirklichen Physiologie der Seele, wie sie uns nur der psychologische
Versuch am gesunden und kranken Menschen liefern kann,
i- Es steht zu hoffen, daß uns gerade die Ausfallserscheinungen
bei den Geisteskranken einmal wichtige Aufschlüsse über die be-
sondere Bedeutung gewähren werden, welche die Zerstörung be-
stimmter Gegenden oder Bestandteile der Hirnrinde für das Seelen-
leben besitzt. Allerdings wird bis dahin eine Aufgabe gelöst werden
müssen, die heute noch kaum in Angriff genommen werden konnte,
die Feststellung der örtlichen Verteilung krankhafter Ver-
änderungen in der Rinde. Schon bei der Umgrenzung gröberer
Krankheitsherde ergeben sich vielfach Schwierigkeiten durch die
Ausbreitung feinerer Zerstörungen über die weitere Umgebung oder
selbst entlegene Hirngegenden. Bei den verhältnismäßig unschein-
baren, nur den feinsten Untersuchungen zugänglichen und dabei
Uber weiteste Rindengebiete sich erstreckenden Veränderungen,
wie sie den Geisteskrankheiten zugrunde liegen, stellt natürlich
die Erforschung ihrer genauen Umgrenzung, die sich namentlich
Rindenlokalisation. 47
auch auf die BeteiUgung der einzelnen Schichten zu erstrecken
hätte ganz ungeheure Anforderungen an Sachkenntnis, Geduld
und Arbeitskraft. Es ist daher begreiflich, daß wir bisher nur
über die Ausbreitung des immerhin leichter erkennbaren para-
lytischen Krankheitsvorganges einige, für die Frage des Sitzes
von Seelenvorgängen noch kaum verwertbare Angaben besitzen.
Eine weitere erhebliche Schwierigkeit für die Feststellung des
Zusammenhanges zwischen Ort der Zerstörung und Krankheits-
zeichen liegt in der Flüchtigkeit vieler Ausfallserscheinungen
Es ist längst bekannt, daß nach Eingriffen in die Hirnrinde auch
sehr auffallende Störungen sich überraschend schnell völlig oder
bis auf ganz geringfügige Spuren wieder verlieren können. Diese
Erfahrung, die eine Hauptstütze für die Lehre von der „funk-
tionellen Indifferenz" der Hirnrinde gebildet hat, suchte man
sich dadurch zu erklären, daß entweder eine Wiederherstellung
der zerstörten Teile oder, wahrscheinlicher, eine Übernahme
ihrer Verrichtungen durch benachbarte, symmetrische oder unter-
geordnete Hirngebiete erfolge. Es mag dahingestellt bleiben,
wieweit eine oder die andere dieser Möglichkeiten wirkhch zu-
trifft Dagegen muß betont werden, daß unter Umständen noch
ein ganz anderer Weg beschritten wird, den man im Gegensatze
zu der „Restitution" als denjenigen der „Kompensation" einer
Leistung bezeichnet hat. Ewald hat durch eine sehr lehrreiche
Versuchsreihe dargetan, daß sich der Ausgleich der Bewegungs-
störungen nach Ausschneidung der motorischen Rindengebiete
keineswegs durch eine wirkliche Wiederherstellung der verlorenen
Leistung vollzieht. Vielmehr zeigte es sich, daß die Herrschaft
über die Bewegungen drei voneinander völlig unabhängige Hilfs-
mittel besitzt, den Labyrinthsinn, die Gelenkempfindungen und
das Auge. Die Lösung derselben Aufgabe kann also auf drei ganz
verschiedenen Wegen und mit ganz verschiedenen Werkzeugen
geschehen. Jedes derselben vermag für die anderen nur insofern
einzutreten, als der gleiche Zweck erreicht wird; dagegen ist die
einmal vernichtete Leistung selbst unwiederbringlich verloren
Solange indessen noch einer der verfügbaren Wege offen steht,
kann die Störung für den Beobachter wieder verdeckt werden;
erst dann, wenn auch der letzte versperrt wurde, tritt sie plötz-
lich in voller Stärke hervor, um nunmehr unverändert fortzu-
48
I. Die Ursachen des Irreseins.
bestehen. Die hier gewonnenen Erfahrungen, die mit großer Ent-
schiedenheit für eine feine örtliche Umgrenzung der Hirnleistungen
sprechen, lassen sich ohne Zweifel auch auf das höhere Seelenleben
übertragen. Ja, wir dürfen wohl erwarten, daß zur Lösung ver-
wickelterer Aufgaben noch weit mannigfaltigere Hilfsmittel und
Wege zur Verfügung stehen. Vielleicht liegt darin der Haupt-
grund für die Tatsache, daß umgrenzte Rindenzerstörungen ohne
Druck- und Fernwirkungen, selbst wenn sie recht ausgedehnt
sind, keine erkennbare Schädigung der geistigen Leistungen nach
sich zu ziehen pflegen. Nur die häufig beobachtete Steigerung
der Ermüdbarkeit könnte etwa auf eine Einschränkung der ar-
beitsfähigen Gebiete bezogen werden.
Klarheit über diese Fragen kann uns bei der eigentümlichen,
schichtweisen Anordnung und flächenhaften Ausbreitung der Rin-
denorgane weder krankhafte noch künstliche Zerstörung geben.
Es erscheint so gut wie ausgeschlossen, daß einmal ein Krank-
heitsvorgang oder ein Eingriff nur ein einziges Organ und zu-
gleich dieses wirklich vollständig zerstören könnte. Damit fehlen
uns aber gerade diejenigen Hilfsmittel, die uns bei der Orts-
bestimmung für einfachere Hirnleistungen so sicher geführt haben.
Soviel ich sehe, bleibt uns zurzeit, außer den Schlußfolgerungen
der vergleichenden Anatomie und Physiologie, nur eine einzige
Möglichkeit, die Frage nach dem Sitze höherer Seelenvorgänge
mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen, die Vergiftung.
Durch psychologische Versuche haben wir gelernt, daß gewisse
Gifte nur einzelne, ganz bestimmte Seiten unseres Seelenlebens
beeinflussen, andere unberührt lassen; andererseits scheint die
Untersuchung der Nervenzellen vergifteter Tiere darzutun, daß
auch die verschiedenen Arten der Rindenbestandteile nicht in
gleichem Maße dem Gifte zugänglich sind. Vielmehr dürfte eine
Auswahl stattfinden, entsprechend etwa der verschiedenen che-
mischen Zusammensetzung und damit vielleicht auch der eigen-
artigen Leistung der Zellen. Hier wäre also eine ferne Aussicht,
nebeneinander die Veränderung im Ablaufe der psychischen Vor-
gange und im Verhalten ihrer körperlichen Grundlage festzustellen.
Eine erste Anknüpfung klinischer Erfahrungen an die Er-
gebnisse der Giftversuche könnten die durch Gifte erzeugten
Geistesstörungen liefern. Es wäre z. B. denkbar, daß den Er-
Rindenlokalisation.
49
scheinungen des Rausches Veränderungen in verschiedenen Rin-
dengebieten zugrunde liegen, die sich mit den uns bereits be-
kannten psychischen Wirkungen des Alkohols in Verbindung
bringen ließen. Weiterhin aber ist darauf hinzuweisen, daß
wir eine ganze Reihe von psychischen Krankheitsbildern kennen,
bei denen einzelne Störungen ganz besonders ausgeprägt sind.
Dem Rausche am nächsten steht die manische Erregung. Beiden
Zuständen gemeinsam ist die erleichterte Auslösung von Hand-
lungen; dagegen fehlen in der Manie die Zeichen der Lähmung,
wie sie sich beim Rausche in der Abnahme der Kraft, in der Ver-
langsamung der Bewegungen, in dem Auftreten ataktischer Stö-
rungen kundgeben; zudem bestehen wohl auch auf anderen psy-
chischen Gebieten wesentliche Unterschiede. Soweit diesen Ab-
weichungen verschiedene Angriffspunkte der krankmachenden
Schädlichkeit entsprechen, müßte es grundsätzlich, wenn auch
vielleicht noch lange nicht tatsächlich, möglich sein, ihre Ursache
aufzudecken und damit aus dem Vergleiche der klinischen und
anatomischen Übereinstimmungen und Unterschiede Aufschlüsse
über den Sitz dieser oder jener Störung zu erhalten. Freilich
wird dieser Weg erst dann gangbar sein, wenn außer der sorg-
fältigen psychologischen Zergliederung der einzelnen Krankheits-
bilder auch die feineren Veränderungen der Hirnrinde und deren
Ausbreitung unserem Verständnisse weit mehr erschlossen sind,
als heute.
Gibt es überhaupt irgendwie umgrenzte Rindengebiete für
höhere psychische Leistungen, so werden sich für die Klärung
dieser Frage besonders diejenigen Krankheitsbilder fruchtbar er-
weisen, bei denen einzelne, sehr ausgeprägte Störungen hervor-
treten. Dahin gehören z. B. die Presbyophrenie und die Korssa-
kowsche Krankheit mit ihrer hochgradigen Merkstörung, die
eigentümliche Gruppe der Kranken mit Sprachverwirrtheit, die
Formen mit einfacher halluzinatorischer Verblödung, die Kata-
tonien mit starkentwickelten Willensstörungen usf. Ihnen stehen
andere Erkrankungen, wie etwa die Fieberdelirien, die Paralyse, die
syphilitischen und arteriosklerotischen Hirnerkrankungen, gegen-
über, bei denen sich die Krankheitszeichen mehr auf mannigfaltige
Gebiete des Seelenlebens verteilen. Aus der verschiedenen Um-
grenzung der anatomischen Veränderungen bei den einzelnen
Kraepelin, Psychiatrie I. 8, Aufl. 4
50
I. Die Ursachen des Irreseins.
Krankheitsformen ließen sich daher vielleicht einmal Aufschlüsse
über den besonderen Sitz der eigenartigen klinischen Störungen
gewinnen.
Nervenkrankheiten. Zwischen Nervenkrankheiten und Geistes-
störungen bestehen mannigfache Beziehungen. In der Regel handelt
es sich jedoch nicht um ein ursächliches Verhältnis, sondern
beide sind die Äußerungen desselben Krankheitszustandes, der
die verschiedenen Gebiete des Nervensystems in Mitleidenschaft
zieht. So haben wir es bei den tabischen Geistesstörungen
zumeist mit dem Fortschreiten einer im Rückenmarke beginnen-
den paralytischen Erkrankung auf die Hirnrinde zu tun, zu-
weilen wohl auch mit einer Verbindung von tabischer Hinter-
strangsverödung mit dem aus gleicher syphilitischer Ursache her-
vorgehenden paralytischen Hirnleiden. Weiterhin aber scheinen
bei der Tabes noch andersartige, nichtparalytische Krankheits-
bilder vorzukommen, sowohl einfache geistige Schwächezustände
wie akute und chronische halluzinatorische Formen. Nament-
lich die letztgenannten klinischen Bilder erinnern sehr an ge-
wisse syphilitische Psychosen, so daß der Gedanke an eine Ver-
bindung von Tabes mit syphilitischer Hirnerkrankung recht nahe
liegt. Leider läßt sich diese Vermutung bisher noch nicht durch
anatomische Befunde stützen, doch konnte Alzheimer Verände-
rungen in der Hirnrinde Tabischer nachweisen, die sicher nicht
paralytischer Art waren. Daß hier und da die Tabes auch rein
zufällige Begleiterin von ihr ganz unabhängiger Geistesstörungen
sein kann, bedarf kaum der besonderen Erwähnung.
Auch das polyneuritische Irresein dürfte wesentHch dahin
aufzufassen sein, daß die gleiche Schädlichkeit, die eine Erkrankung
der Nervenstämme bewirkt hat, auf die Hirnrinde übergreift. Wir
werden uns daher auch nicht wundern, wenn gelegentlich die
psychische Störung allein, ohne Beteiligung der Nerven, beobachtet
wird; die I^rankheitsursache kann eben, wie es scheint, die ver-
schiedenen Abschnitte des Nervensystems getrennt oder gemein-
sam schädigen. Diese Ursache selbst besteht ohne Zweifel in
einer Giftwirkung. Bei weitem am häufigsten handelt es sich um
den Alkohol, wenn es auch zweifelhaft ist, ob er unmittelbar oder
erst durch Vermittlung von Stoffwechselstörungen die Neuritis
wie das begleitende Irresein erzeugt; für die letztere Annahme
Nervenkrankheiten.
würde der gewöhnliche Anschluß letzterer Erkrankung an ein
Delirium tremens sprechen. Ähnliche, wenn auch leichtere psy-
chische Störungen sind bei der Arsenneuritis beobachtet worden.
Tuberkulose scheint die Entwicklung des polyneuritischen Irre-
seins zu begünstigen. Ferner aber kommen hier und da nach
den verschiedensten Infektionskrankheiten Geistesstörungen mit
Polyneuritis vor, so namentlich nach Typhus und Malaria; auch
nach der eigenartigen Polyneuritis der Tropen, nach Beri - beri^),
das in der Regel ohne Beteiligung der Hirnrinde verläuft, sind
einzelne Fälle von Irresein beschrieben worden, deren klinisches
Bild eine gewisse Verwandtschaft mit den genannten Formen auf-
zuweisen scheint. Als kennzeichnende Züge der Geistesstörungen
bei Polyneuritis pflegt man eine ungemein starke Merkstörung
mit ausgedehnten Erinnerungslücken, Erinnerungsfälschungen so-
wie Unklarheit über Zeit, Ort und Umgebung zu betrachten.
Da jedoch ganz ähnliche Krankheitsbilder nicht nur durch die-
selben Ursachen ohne begleitende Neuritis erzeugt werden, sondern
auch auf ganz anderer Grundlage, bei Hirngeschwülsten, Hirnlues,
nach Kopfverletzungen und Erhängungsversuchen, im Greisenalter
vorkommen, ist jene Gruppe von Erscheinungen offenbar nicht der
Ausdruck einer klinischen Einheit. Bei der endgültigen Feststellung
der verschiedenen Krankheitsvorgänge, die den einander so ähn-
lichen Zustandsbildern zugrunde liegen, werden voraussichtlich die
neuritischen Erscheinungen nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Eine einheitlichere Bedeutung dürfen wir wohl dem chorea-
tischen^) Irresein zuschreiben, soweit es die Sydenhamsche
Chorea begleitet. Auch hier haben wir es mit einer infektiösen Krank-
heitsursache zu tun, deren Einwirkung bald mehr, bald weniger
deutlich auf die Hirnrinde übergreift. In der Regel, wenn nicht aus-
schließlich, ist es der Krankheitserreger des akuten Gelenkrheuma-
tismus, der hier in Betracht kommt. Wartmann und Westphal
konnten ihn aus dem Hirn einer Choreatischen züchten. Das Krank-
heitsbild ist gekennzeichnet durch erhöhte gemütliche Reizbarkeit,
kindisches, launenhaftes Wesen, raschen Stimmungswechsel, Schlaf-
losigkeit ; in schweren Fällen kommt es zur Entwicklung verwirrter,
1) Nina- Rodrigues, Annales medico-psychologiques, 1906, I, 177.
2) Koppen, Arch. f. Psychiatrie, XX, 3; Zinn, ebenda, XXVIII, 4"; Bern-
stein, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIII, 538.
4*
52
I. Die Ursachen des Irreseins.
deliriöser Aufregungszustände. Völlig davon zu trennen sind natür-
lich einmal die auf psychischem Wege entstehende hysterische
Chorea und dann die als Familienkrankheit auftretende Hunting-
tonsche Chorea, die auf ausgebreiteter, chronischer Erkrankung
des Centrainervensystems beruht und regelmäßig zu mehr oder
weniger ausgeprägtem Schwachsinn führt.
Wie hier die Krampferscheinungen nur ein einzelnes, besonders
auffallendes Zeichen einer allgemeinen Hirnerkrankung darstellen,
so ist auch der klinische Begriff der Epilepsie nur die Zusammen-
fassung bestimmter äußerer Erscheinungen, von denen die Krampf-
anfälle als die kennzeichnendsten betrachtet werden. In Wirklich-
keit haben wir es hier mit einer ganzen Reihe von verschiedenen
Krankheitsvorgängen zu tun, die alle mit mehr oder weniger aus-
gedehnten Hirnrindenveränderungen einhergehen und neben den
Krämpfen in der Regel noch dem gesamten Seelenleben allerlei
gröbere oder feinere Krankheitsspuren aufprägen. Außer der
großen Hauptgruppe, die wir als ,, genuine" Epilepsie zu bezeich-
nen pflegen, sollen hier nur kurz die alkoholischen und arterio-
sklerotischen, die syphilitischen und traumatischen Formen ge-
nannt werden. Ob den vielfach nachgewiesenen Stoffwechsel-
störungen die Rolle von Ursachen oder nur von Begleiterschei-
nungen zukommt, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Die
psychischen Zeichen sind außer einer allgemeinen Veränderung
des Charakters namentlich periodisch auftretende Verstimmungen
und ziemlich rasch ablaufende Bewußtseinstrübungen von vor-
wiegend ängstlicher oder gereizter Färbung.
Bei der Tetanie sind von v. Frankl -Hochwart und Fr.
Schultze deliriöse Zustände mit Sinnestäuschungen beschrieben
worden; auch ich habe wiederholt derartige Zustände gesehen.
Es ist möglich, daß sie, ähnlich den choreatischen Störungen, auf
einer Vergiftung durch das mutmaßliche Tetaniegift beruhen, dessen
Enstehung mit dem Wegfall der Nebenschilddrüsen in Beziehung
steht. Einigermaßen unsicher ist zurzeit noch die Deutung der
sog. „Migränepsychose n"i). Abgesehen von den gewöhnlichen
1) Möbius, Die Migräne, 76. 1894; v. Krafft- Ebing, Arbeiten, I, iio, 135;
Jahrb. f. Psychiatrie, XXI, 38; Koppen, Centralbl. f. Nervenheilk. 1898, 269;
Mingazzini e Pacetti, Rivista sperimentale di freniatria, XXV, 401: Forli.
ebenda XXXIII, 220.
Nervenkrankheiten.
53
Erscheinungen der HinfäUigkeit und Willenlosigkeit, der Reizbar-
keit und Niedergeschlagenheit mit Überempfindlichkeit der Sinne
und einzelnen, meist einfachen Trugwahrnehmungen (Rauschen,
Glockenläuten, Pfeifen, Funken, Farben, Nebel, Gerüche usf.) wer-
den rasch verlaufende Dämmerzustände mit deliriösen Sinnes-
täuschungen und Wahnbildungen geschildert. Offenbar gleichen
diese letzteren Bilder klinisch völlig gewissen epileptischen Störungen.
Da wenigstens die schwereren, mit Augenerscheinungen einher-
gehenden Formen der Migräne vielfach mit der Epilepsie in Be-
ziehung stehen, halte ich es für wahrscheinlich, daß auch die
geschilderten Zustände als epileptische aufzufassen sind, zumal
leichtere Zeichen der Epilepsie, namentlich die periodischen Ver-
stimmungen, sehr häufig übersehen werden.
Ähnliche Zustände rasch verlaufender deliriöser Verworrenheit
mit nachheriger Erinnerungslücke sind mehrfach nach dem Auf-
treten heftiger Nervenschmerzen, namentlich in Verbindung mit
krankhaften Zähnen, auch bei menstruellen Beschwerden, be-
obachtet worden. Man hat diese „Schmerzdelirien" i) durch die
Einwirkung des Nervenreizes auf das Gehirn, vielleicht mit Er-
zeugung eines Gefäßkrampfes, zu erklären gesucht; auch die
Auslösung starker gemütlicher Erschütterungen dürfte dabei eine
Rolle spielen. Diese Erfahrungen erinnern an die Fälle von sog.
Reflexepilepsie, bei denen ebenfalls peripheren Nervenreizungen
eine ursächliche Rolle zugeschrieben wird. Man hat ferner eine
Gruppe von „Reflexpsychosen" aufgestellt, die durch dauernde
Zerrung narbig eingeheilter Nervenäste bedingt sein sollen, und
namentlich Schüle hat die ursächliche Wirkung körperlicher Reize
in seiner „Dysphrenia neuralgica" sehr weit ausgedehnt. Es ist
gewiß nicht von der Hand zu weisen, daß lebhafte Schmerzen
einen starken Einfluß auf das Seelenleben ausüben und unter Um-
ständen auch jemanden „rasend" machen können, doch handelt
es sich dabei gewiß nur selten um ausgeprägte psychische Er-
krankungen. Am leichtesten wird man derartige Störungen bei
solchen Personen auftreten sehen, die ohnedies eine erhöhte gemüt-
liche Beeinflußbarkeit darbieten, bei Psychopathen und Hyste-
rischen.
1) Laquer, Arch. f. Psychiatrie, XXVI, 8i8; v. Kraf ft - Ebing, Arbeiten,
I, 8i; Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVIII, 463.
I. Die Ursachen des Irreseins.
Operative Eingriffe. Als Delirium nervosum oder traumati-
cum sind seit Dupuytren gewisse deliriöse Geistesstörungen zu-
sammengefaßt worden, die sich bisweilen an schwere chirurgische
Eingriffe^) anschließen. Die genauere Zergliederung derartiger Er-
fahrungen zeigt, daß es sich dabei um eine ganze Reihe sehr ver-
schiedenartiger klinischer Bilder handelt. In einer großen Zahl
von Fällen ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Eingriff
und psychischer Störung nur ein ganz lockerer. Das trifft zu für
die manischen, katatonischen, epileptischen, paralytischen Zu-
standsbilder, dann auch für die senilen Delirien, die auf dem schon
krankhaft vorbereiteten Boden durch die Schädigung ausgelöst
werden. Ähnliches gilt natürlich von den ungemein häufigen
alkoholischen und von den urämischen Delirien. Entscheidender
schon ist die Rolle des chirurgischen Eingriffes bei den hysterischen
Zufällen, obgleich ja auch hier die wesentlichste Ursache immer
in der erkrankenden Persönlichkeit selbst gesucht werden muß.
Der psychische Eindruck, die Angst und Aufregung, die schon
vor dem Eingriffe besteht, ist das wirksame Bindeglied. Die Ope-
ration selbst kann durch starken Blutverlust schädigen und da-
durch CoUapszustände erzeugen; auch Giftwirkungen, etwa Jodo-
formdelirien, können hineinspielen. Im weiteren Verlaufe dürfte
die Erschöpfung durch schwere Eingriffe mit mangelhafter Er-
nährung schädigend wirken; andererseits können sich Eiterungen
und Blutvergiftungen entwickeln und die eigenartigen Krankheits-
bilder der septischen Delirien hervorbringen. Endlich aber ist noch
von verschiedenen Seiten der starke gemütliche Eindruck betont
worden, den gewisse verstümmelnde Operationen ausüben, Ampu-
tationen, Kastration, Anlegung eines Anus praeternaturalis u. dgl.
Ob die nach solchen Eingriffen beobachteten, länger dauernden,
unter Umständen zur Unheilbarkeit führenden Depressionszustände
wirklich eine kUnische Sonderstellung beanspruchen dürfen, ist mir
einstweilen noch zweifelhaft.
Ebenso erscheint es unsicher, ob der besonderen Art der Ein-
griffe, abgesehen von ihren allgemeinen Wirkungen, eine be-
stimmte ursächliche Bedeutung zukommt. Allerdings werden bei
1) Picque, Annales medico-psychol., 1898, II, 91, 113, 453; Picque et Briand,
ebenda, 249; Simpson, Journal of mental science, 1897, Januar; Pilcz, Wiener
klin. Wochenschr., 1902, 36.
Operative Eingriffe; Erschöpfung.
55
weitem am häufigsten Geistesstörungen nach Operationen an den
weibUchen Genitalorganen beobachtet. BekanntUch hat man der
Entfernung der Eierstöcke vielfach einen hervorragenden Einfluß
auf das Seelenleben der Frau zugeschrieben und dabei namentlich
auch auf die starken geistigen und gemütlichen Umwälzungen
im Klimakterium hingewiesen. Wenn es auch bezweifelt werden
muß, daß gerade die Rückbildung der Eierstöcke, etwa das Aus-
bleiben einer inneren Sekretion, die wichtigste oder gar die einzige
Ursache der klimakterischen Störungen bildet, so ist doch wohl
anzunehmen, daß der Verlust der Geschlechtsdrüsen auch für das
seelische Gleichgewicht kein ganz bedeutungsloser Eingriff ist.
Immerhin scheinen ausgeprägte psychische Störungen sich keines-
wegs besonders häufig daran anzuschließen. Wir dürfen jeden-
falls nicht außer acht lassen, daß längere Zeit hindurch die Kastra-
tion vielfach bei psychisch bereits nicht mehr ganz gesunden Per-
sonen ausgeführt wurde, in der freilich meist getäuschten Hoff-
nung, sie dadurch von ihren Leiden zu befreien.
Bei den Operationen in der Bauchhöhle und am Darm soll
nach der Ansicht von Pilcz Kotstauungen mit Aufsaugung von
Krankheitsgiften durch den Darm eine wichtige Rolle zukommen.
Nach Kataraktoperationen und überhaupt nach längerem Auf-
enthalte im Dunkelzimmeri) hat man nicht selten deliriöse Zu-
stände mit lebhaften Sinnestäuschungen, namentlich des Gesichts,
aber auch des Gehörs, seltener reine Gesichtstäuschungen bei
klarem Bewußtsein auftreten sehen, die eine gewisse Ähnlich-
keit mit den in der Einzelhaft beobachteten Störungen darbieten.
Hier wie dort scheint der Abschluß gewisser Sinnesreize das Auf-
treten von Trugwahrnehmungen auf dem betreffenden Gebiete zu
begünstigen. Im übrigen sind jedoch vor allem das Greisenalter,
unter Umständen auch schlechte Ernährung, gemütliche Erregung
oder alkoholische Gewohnheiten als Entstehungsursachen zu berück-
sichtigen.
Erschöpfung. Als Erschöpfung bezeichnen wir die Zerstörung
der körperlichen Träger unseres Seelenlebens infolge zu starken
Verbrauches oder ungenügenden Ersatzes. Während wir uns die
Ermüdung lediglich durch die Anhäufung lähmend wirkender Zer-
1) V. Frankl- Hochwart, Jahrb. f. Psychiatrie, IX, i u. 2, 1889; Löwy,
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LH, 166; Lapinsky, ebenda, LXIII, 665.
56
I. Die Ursachen des Irreseins.
fallsstoffe im Blute zu erklären pflegen, würde die Erschöpfung
dann beginnen, wenn der Verbrauch im Nervengewebe den Ersatz
bis zur dauernden Gefährdung des Bestandes überschreitet. Die
Ermüdung wäre eine Narkose, die wir zu Zwecken der Behand-
lung auch wohl durch andere ähnliche Narkosen ersetzen können;
die Erschöpfung dagegen ist der erste Schritt zu einer Selbstver-
nichtung des Nervensystems durch die eigene Tätigkeit. Die Er-
müdung führt unter normalen Bedingungen zum Schlafe; sie ist
eine Art Selbstschutz gegen den Eintritt der Erschöpfung.
Im Schlafe werden die Ermüdungsstoffe aus den Geweben
herausgeschafft und unschädlich gemacht; außerdem wird der
Verbrauch herabgesetzt. Weiterhin aber führt das Blut den Ge-
weben diejenigen Bestandteile zu, die zum Ersatz des Verbrauchten
nötig sind. Für eine gewisse Zeit können dazu die Vorräte des
Körpers ausreichen; auf die Dauer aber bedürfen wir unbedingt
der Nahrungsaufnahme. So wenig wir durch Sparsamkeit allein
ohne Einnahmen ein Vermögen in seinem Bestände erhalten
können, so wenig vermag der Schlaf uns die verbrauchten Kräfte
zu ersetzen. Als die eigentliche Ursache der Erschöpfung haben
wir daher die mangelhafte Ernährung zu betrachten. Freilich
tritt das Mißverhältnis zwischen Verbrauch und Ersatz natürlich
um so rascher hervor, je flotter verbraucht, je weniger gespart
wird. So kommt es, daß die drohende Erschöpfung durch äußerste
Ruhe lange Zeit hindurch verhütet werden kann, und daß die
Gefahr ihres Eintretens bei gleichzeitiger Nahrungsverweigerung,
Unruhe und Schlaflosigkeit ganz außerordentlich groß wird. Im
einzelnen Falle kann die Erschöpfung auf sehr verschiedene Weise
zustande kommen. Rascher Verbrauch durch angestrengte Arbeit,
Fieber, Blutverluste, ungenügendes Sparen infolge von Schlaf-
störungen, endlich Fehlen des Ersatzes durch die Nahrung sind
die drei Hauptursachen, welche auf die Entstehung der Erschöp-
fung hinarbeiten. Beim Hungern und namentlich bei Entziehung
des Schlafes sind an den Nervenzellen auch von verschiedenen
Forschern Veränderungen beschrieben worden, die jedoch nichts
Eigenartiges zu haben scheinen^) ; Daddi fand sie bei künstlich
erzeugter Schlaflosigkeit besonders im Stirnlappen.
1) Agostini, Rivista sperimentale di freniatria, XXIV, i. 1898: Daddi,
Rmsta dl patologia nerv, e mentale, III, 1898.
Erschöpfung.
57
Es muß vorderhand noch dahingestellt bleiben, ob die psy-
chischen Wirkungen aller dieser Ursachen die gleichen sind.
Den Einfluß 24 — 48 stündigen Hungerns mit und ohne gleich-
zeitiges Dursten hat Weygandt^) näher untersucht. Er kam zu
dem Ergebnisse, daß die Entziehung der Nahrung, namentUch
ohne Flüssigkeitsaufnahme, die geistige Arbeit des Rechnens und
Lernens deutlich erschwert, die Ablenkbarkeit steigert und den
Gedankengang durch die Begünstigung von äußeren und Klang-
assoziationen verflacht, ohne anscheinend die Wahrnehmung er-
heblicher zu beeinflussen. Entziehung des Schlafes erwies sich
schon nach weit kürzerer Zeit wirksam. Eine Verzögerung des
Abendschlafes um 3 Stunden hatte eine Herabsetzung der Ge-
dächtnisleistung um 50% zur Folge; nach 6 stündiger Schlaf ent-
ziehung war die Auffassungsfähigkeit derart geschädigt, daß nicht
mehr 40% richtig gesehen wurden. Nach i — 1V2 Stunden Schlaf
waren für einfachere Leistungen die Ermüdungserscheinungen
bereits wieder ausgeglichen, für schwierigere noch nicht. Anderer-
seits stellte Aschaffenburg an mehreren Personen fest, welche
Veränderungen die Art und Dauer gewisser psychischer Leistungen
im Verlaufe einer ohne Nahrungsaufnahme durcharbeiteten Nacht
erfuhren. Dabei ergab sich eine allgemeine Abnahme der geistigen
Leistungsfähigkeit, Erschwerung der Wahrnehmung mit gleich-
zeitigem Auftreten selbständiger Sinneserregungen, Verlangsamung
des Gedankenganges, Entstehen ideenflüchtiger Vorstellungsver-
bindungen 2), endlich erleichterte Auslösung von Bewegungs-
antrieben. Patrick und Gilbert 3), die drei Personen neunzig
Stunden lang wachen ließen, fanden Abnahme der Muskelkraft,
Verlängerung der psychischen Zeiten, eine sehr starke Störung
der Aufmerksamkeit und der Merkfähigkeit, dagegen Zunahme
der Sehschärfe und Auftreten massenhafter einfacher Gesichts-
täuschungen. Ganz ähnliche Beobachtungen wurden bei unsinnigem,
sechs Tage und Nächte hindurch fortgesetztem Radrennen in New-
York gemacht.
Sehr beachtenswert ist es, daß sich nach Ausweis von Ver-
suchen die durch Hungern und Schlaflosigkeit erzeugten psychi-
1) Weygandt, Psychologische Arbeiten, IV, 45.
2) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, II, i.
3) Patrick and Gilbert, Psychological Review, Sept. 1896.
58
I. Die Ursachen des Irreseins.
sehen Störungen erst allmählich wieder ausgleichen. So ließ sich
die Wirkung einer durcharbeiteten Nacht noch bis zum vierten
folgenden Tage in einer abnehmenden Herabsetzung der Arbeits-
fähigkeit erkennen. Die krankmachenden Wirkungen der Er-
schöpfung sind jedenfalls keine einheitlichen; sie wechseln je nach
der Art der einwirkenden Schädlichkeit. Im allgemeinen werden
wir annehmen können, daß ein Teil der beobachteten Störungen
als Reizwirkung durch die in größerer Menge gebildeten und un-
genügend beseitigten Zerfallsstoffe gedeutet werden muß. Diese
werden voraussichtlich besonders hervortreten, wenn die Er-
schöpfung durch sehr anstrengende oder sehr lange fortgesetzte
Arbeit, oder aber durch Schlafentziehung entstanden ist. Ferner
werden wir Ausfallserscheinungen erwarten dürfen, sobald der
Ersatz der verbrauchten Gewebsteile ungenügend wird; hier könnte
neben den genannten Umständen besonders auch die mangelhafte
Nahrungszufuhr von Bedeutung werden. Außer dem Sinken der
Leistungsfähigkeit und raschem Eintreten von Ermüdungszeichen
ist wohl auch die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit gegen
gemütliche Einflüsse, der Verlust der inneren Festigkeit, als Aus-
fallserscheinung zu deuten.
Über die Bedeutung der Erschöpfung als Ursache von Geistes-
störungen herrschen weitgehende Meinungsverschiedenheiten. Meist
pflegt man ihr eine ziemlich große Rolle zuzuschreiben. So sollte
die von Meynert zuerst abgegrenzte Amentia, ferner der „Er-
schöpf ungsstupor", die akute Demenz, ihr klinischer Ausdruck
sein, und auch in der Entstehungsgeschichte der Paralyse ist der
Überarbeitung und Überreizung des Gehirns durch erhöhte In-
anspruchnahme ein wichtiger Platz eingeräumt worden. Endlich
hat man die Modekrankheit unserer Zeit, die Neurasthenie, ge-
radezu als die unmittelbare Folge der erschöpfenden Einflüsse in
unserer hastenden und unruhigen Lebensführung angesehen. Wie
ich glaube, haben sich diese Anschauungen zum größten Teile
als irrig erwiesen. Die Paralyse befällt in weitem Umfange Men-
schen, bei denen von einer Erschöpfung gar nicht die Rede sein
kann; der Erschöpfungsstupor und die akute Demenz sind zu
einem erheblichen Teile Zustandsbilder der Dementia praecox und
des manisch-depressiven Irreseins, bei denen wir mit ganz anderen
Ursachen zu rechnen haben; ein Rest kommt durch infektiöse
Erschöpfung.
59
Krankheitsgifte zustande. Ähnliches gilt von der Amentia, deren
Gebiet bei sorgfältiger Prüfung und Verfolgung der Fälle bis auf
eine kleine Gruppe im Gefolge von ansteckenden Krankheiten
zusammenschrumpft; auch hier wird die Verursachung durch Gifte
immer wahrscheinlicher. Die Neurasthenie endlich in ihrer ge-
wöhnlichen Ausdehnung umfaßt ganz überwiegend Zustände, die als
Ausdruck krankhaft minderwertiger Veranlagung anzusehen sind.
Jedenfalls bedarf demnach die Annahme, daß eine Reihe ver-
schiedener Krankheitsbilder durch Erschöpfung erzeugt werden
kann, sehr erheblicher Einschränkungen. Ich bin sogar sehr
zweifelhaft geworden, ob jene beim Fieberabfall nach akuten
Krankheiten ganz plötzlich einsetzenden, rasch verlaufenden deli-
riösen Erregungszustände, die man als „Collapsdelirien" zu be-
zeichnen pflegt, nicht richtiger auf Vergiftung durch Krankheits-
erzeugnisse zurückzuführen sind. Immerhin werden bei Ver-
hungernden und namentlich Verdurstenden, bei Schiffbrüchigen
und Verschütteten, bei denen allerdings noch heftige Gemüts-
bewegungen mitspielen, schnell zum Tode führende verworrene
Aufregungen beobachtet, die kaum eine andere Erklärung zu-
lassen als die Erschöpfung. Leider kommen sie fast niemals in
die Hände des Irrenarztes. Zweifelhafter schon ist die Deutung
bei langsam sich entwickelnder Erschöpfung. Hysterische können
durch planmäßiges Hungern ihr Körpergewicht jahrelang auf ein
Mindestmaß herunterbringen, ohne dadurch bedingte psychische
Störungen darzubieten. Anscheinend vermag sich unser Körper
durch allerlei Auskunftsmittel sehr lange gegen eine verhängnis-
volle Schädigung des Hirns durch Hungern zu schützen. Wenn
wir daher bei schweren Blutentmischungen geistige Störungen
eintreten sehen, werden wir jedenfalls immer an die Möglichkeit
zu denken haben, daß giftige Zerfallsstoffe dabei mitgespielt haben.
Weit verhängnisvoller, als ungenügende Ernährung, wirkt jeden-
falls die Beeinträchtigung des Schlafes, wie sie besonders durch
andauernde Gemütsbewegungen, Kummer, Sorge, aufreibende, ver-
antwortungsvolle Tätigkeit, Überlastung mit Pflichten herbei-
geführt wird. Ihre Folgeerscheinung ist neben den Störungen des
Schlafes und der Ernährung das Bild der nervösen Erschöpfung,
das sich aus Niedergeschlagenheit, Steigerung der gemütlichen
Reizbarkeit, Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit und Sinken
I. Die Ursachen des Irreseins.
der Tatkraft zusammensetzt. Erstrecken sich leichtere oder
schwerere derartige Störungen über größere Lebensabschnitte, so
bewirken sie zweifellos eine dauernde Herabsetzung der Wider-
standsfähigkeit gegen krankmachende Schädlichkeiten. Weiter-
hin dürfen wir wohl auch annehmen, daß sie ein rasches ,, Ver-
brauchtwerden" bedingen und damit vorzeitiges Eintreten von
Rückbildungserscheinungen und Greisenveränderungen begünstigen.
Infektionskrankheiten.^) Eine kleine, aber ungemein wichtige
Gruppe bilden die Geistesstörungen, die durch Infektionskrank-
heiten erzeugt werden. In den Irrenanstalten pflegen sie kauiji
mehr als i — 2% der Aufnahmen zu bilden, da sich ein großer
Teil dieser meist ziemlich rasch verlaufenden Formen in den
Krankenhäusern oder in häuslicher Pflege abspielt. Dies gilt
namentlich von den auch hierher gehörigen einfachen Fieber-
delirien, über deren klinische Stellung gegenüber den ausge-
sprocheneren und länger dauernden Geisteskrankheiten merk-
würdigerweise bis in die jüngste Zeit große Meinungsverschieden-
heiten herrschen. Was dem Irresein durch Infektionskrankheiten
seine besondere Bedeutung gibt, das ist die Klarheit der ursäch-
lichen Verhältnisse. Wir haben bestimmte, mächtig und vielfach
ganz plötzlich eingreifende Schädigungen vor uns, die sehr auf-
fallende Krankheitsbilder und greifbare Rindenveränderungen her-
vorbringen. Dabei bilden die sogenannten Fieberdelirien offenbar
nur die leichtesten Formen von Störungen, die in anderen Fällen
eine eigenartige Weiterentwicklung erfahren können. Im ganzen
scheinen die durch akute Infektionen bedingten psychischen Er-
krankungen, dank der Verbesserung unserer Vorbeugungs- und
Behandlungsverfahren, seltener zu werden. Die Krankheiten, die
hier wesentlich bei uns in Betracht kommen, sind vor allem
Typhus^), Gelenkrheumatismus, Pneumonie, Kopfrose^),
Influenza^), sodann Pocken, Scharlach, Masern, Keuch-
1) Kraepelin, Arch. f. Psychiatrie, Bd. XI u. XII; Adler, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, LIII, 740; Siemerling, Deutsche Klinik, VI, 363.
2) Friedländer, Über den Einfluß des Typhus auf das Nervensystem. 1901;
Rouge, Annales medico-psychologiques, 1905, I, i; 1907, I, i; Farrar, American
journal of insanity, LIX, i.
3) Frenkel, Monatsschr. f. Psychiatrie, XVIII, 383.
4) Jutrosinski, Influenzapsychosen, Diss.1890; Kirn, Volkmanns klin. Vor-
träge, Neue Folge, XIII, 1890; Fahr, Influenza som aarsag til sindssygdom. 1898;
Klemm, Psychosen im ätiologischen Zusammenhang mit Influenza. Diss. 1901.
Infektionskrankheiten. 6l
husten^), Wechselfieber und Cholera. Dazu kämen noch
die verschiedenen Formen der infektiösen Encephalitis und Menin-
gitis, die schon früher kurze Erwähnung gefunden haben, und
endlich die unter dem Namen der Blutvergiftung zusammen-
gefaßten Infektionen verschiedener Herkunft.
Die eigentlich schädigende Ursache muß nach unseren heutigen
Anschauungen hier überall zunächst in den Giftwirkungen der
Krankheitserreger gesucht werden. Ganz sichere Anhaltspunkte
für diese Annahme geben uns jene Beobachtungen, in denen sich
ausgeprägte psychische Störungen während des fieberlosen oder
doch sehr gering fieberhaften Verlaufes der Krankheit entwickeln.
Das kommt einmal vor bei schwerer Sepsis, bisweilen bei Malaria,
dann aber im Beginn des Typhus und der Pocken, vielleicht auch
der Influenza und des Scharlach. Da solche Fälle durchweg sehr
schwere zu sein pflegen, haben wir es hier anscheinend von vorn-
herein mit einer besonders starken Schädigung des Nervengewebes
durch Krankheitsgifte zu tun.
Diejenige Erscheinung, der man von jeher den Hauptanteil an
der Erzeugung von Irresein durch akute Krankheiten zugeschrieben
hat, ist das Fieber mit den begleitenden Störungen der Herztätig-
keit, des Kreislaufs, der Nahrungsaufnahme, des Stoffwechsels.
Für' diese Auffassung, die in der landläufigen Bezeichnung der
Fieberdelirien ihren Ausdruck gefunden hat, spricht der Umstand,
daß in der Tat die „Delirien" vielfach genau dem Gange der Eigen-
wärme parallel gehen, ein Verhalten, das sich namentlich deutlich
bei dem regelmäßigen Verlaufe der Typhuskurve herauszustellen
pflegt. Eine Schädigung der Nervenzellen durch Erwärmung, die
freilich schwerlich als eigenartig angesehen werden darf, ist denn
auch von Goldscheider und Flatau wie von Lugaro festgestellt
worden. Wir sind jedoch wohl heute geneigt, das Fieber nicht
als eine selbständige Krankheitserscheinung, sondern als eine Ver-
teidigungsmaßregel des Körpers gegen die Krankheitserreger anzu-
sehen; das Ansteigen der Körperwärme würde uns demnach nur
einen verstärkten Angriff jenes letzteren anzeigen. Weniger dem
Fieber selbst, als den Giftwirkungen, die es auslösen, werden wir
daher das Auftreten der psychischen Störungen zuzuschreiben
1) Neurath, Obersteiners Arbeiten, XI, 258.
62
I. Die Ursachen des Irreseins.
haben. Dafür spricht namentlich auch die Erfahrung, daß bei
manchen Leiden, z. B. bei der Tuberkulose, lange dauernde, be-
trächtliche Temperatursteigerungen verhältnismäßig sehr selten mit
auffallenderen seelischen Veränderungen einhergehen. Etwas anders
sind vielleicht die namentlich beim Gelenkrheumatismus und bei
Blutvergiftungen beobachteten Fälle von ganz außerordentlicher
Erhöhung der Körperwärme, bis zu 43 ° und selbst 44 °, anzusehen ;
hier werden wir die Möglichkeit zugeben müssen, daß die Er-
wärmung selber eine schwere Schädigung des Hirngewebes be-
deutet, die sich zu. derjenigen durch das Krankheitsgift hinzu-
gesellt.
Eine gewisse Bedeutung für die Entstehung der Delirien bei
Infektionskrankheiten hat weiterhin zweifellos der Zustand der
Kreislaufsorgane, vielleicht auch der Lungen, da wir jene Stö-
rungen nicht nur verhältnismäßig häufig bei begleitenden Herz-
erkrankungen (Gelenkrheumatismus), sondern bei den verschie-
densten Formen der Herzschwäche und ebenso bei ausgedehnter
Verdichtung der Lungen auftreten sehen. Wir dürfen vielleicht
annehmen, daß Kreislaufsstörungen und Behinderung der Sauer-
stoffzufuhr dem Körper die Vernichtung kreisender Krankheits-
gifte wesentlich erschweren. Ebenfalls mittelbare Wirkungen
werden wir beim Scharlach der Nierenerkrankung, bei der Malaria
den Blutveränderungen, bei der Cholera der starken Wasserent-
ziehung zuzuschreiben haben usf. Endlich ist zu berücksich-
tigen, daß auch durch meningitische Begleiterkrankungen Hirn-
erscheinungen ausgelöst werden können, so besonders beim Ge-
lenkrheumatismus, seltener bei Influenza, Kopfrose, Keuchhusten.
Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß die persön-
liche Empfindlichkeit für die Entstehung von Seelenstörungen bei
akuten Infektionskrankheiten nicht ohne Bedeutung ist. Bei
Kindern und Frauen, ferner bei nervösen, erregbaren Menschen
treten nicht nur erhebliche Fiebergrade, sondern auch delirante
Erscheinungen auffallend leicht hervor; sie sind daher als ver-
hältnismäßig harmlos zu betrachten. Eine besondere Gruppe
bilden die Trinker, bei denen jede ernstere Gleichgewichtsstörung
im Körperhaushalte gern die durch ihr Leiden schon lange vor-
bereiteten alkoholischen Störungen auslöst. Säufer delirieren daher
erfahrungsgemäß bei fieberhaften Erkrankungen ungemein häufig.
Infektionskrankheiten.
63
und ihrem Zustande pflegen dann in mehr oder weniger deutlicher
Ausprägung die Erscheinungen beigemischt zu sein, welche dem
chronischen Alkoholismus eigentümlich sind. Uns begegnen daher
bei ihnen alle möglichen Übergangsformen vom gewöhnlichen
Fieberdelirium zum vollentwickelten Delirium tremens.
Die kennzeichnende klinische Form, in der das akute infektiöse
Irresein auftritt, ist das Delirium, ein Zustand von traumhafter
Benommenheit und Unklarheit mit wechselnden, szenenhaften
Sinnestäuschungen und verworrenen, zusammenhangslosen Wahn-
bildungen. Dazu gesellt sich zunächst meist eine gewisse Erregung,
die sich zu den höchsten Graden steigern kann; mit zunehmender
Schwere der Erkrankung treten dann die Zeichen der Lähmung,
Unbesinnlichkeit, Schlafsucht, Betäubung, mehr und mehr in den
Vordergrund.
Der Wirkungsweise einiger der genannten Infektionskrank-
heiten in mancher Beziehung verwandt ist diejenige der Lyssa,
insofern es sich auch hier wohl um eine unmittelbare Vergiftung
der Hirnrinde handelt. Emminghaus^) führt als einleitende
Symptome traurige Verstimmung und Ängstlichkeit an; auf der
Höhe der Erkrankung wechseln die Erscheinungen höchster psy-
chischer Erregung, heftige Delirien, Sinnestäuschungen, Gewalt-
taten mit vorübergehender völliger Klarheit des Bewußtseins ab,
bis endlich mit dem Eintritte psychischer Lähmung das Leiden
abschließt.
Weit größere Schwierigkeiten, als die bisher betrachteten Formen,
setzen diejenigen Geistesstörungen unseren Erklärungsversuchen
entgegen, die nicht im Beginne oder auf der Höhe der akuten
Infektionskrankheit, sondern erst nach ihrem Ablaufe, in der
Genesungszeit, zur Entwicklung gelangen. Bei einem Teile dieser
Krankheitsbilder lassen sich allerdings die ersten Zeichen bis in
die fieberhafte Zeit zurückverfolgen, oder sie erscheinen, wenn
auch in veränderter Form, geradezu als unmittelbare Fortsetzung
ausgeprägter Fieberdelirien. Hier wird man sich vorstellen dürfen,
daß durch das infektiöse Gift tiefergreifende Krankheitsvorgänge
in der Hirnrinde angeregt worden sind, die sich erst allmählich,
unter Umständen auch gar nicht mehr ausgleichen. Wenn wir
1) Emminghaus, Arch. d. Heilkunde, XV, 239; Allgem. Zeitschr. f. Psy-
chiatrie, XXXI, 5.
64
I. Die Ursachen des Irreseins.
in den tötlich verlaufenden Fällen die schweren und ausgebreiteten
Veränderungen der Nervenzellen, die frischen Gliawucherungen,
die entzündlichen Vorgänge sehen, werden wir uns nicht wundern,
daß die durch sie bedingten psychischen Störungen den fieber-
haften Abschnitt der Krankheit längere Zeit überdauern können.
Hier und da, namentlich nach Typhus, Pocken und Malaria, be-
obachten wir denn auch die Anzeichen gröberer Schädigungen des
Hirns und Rückenmarks, ja der gesamten Nerven (Polyneuritis) ;
auch kann es zur Entwicklung unheilbarer geistiger Schwäche-
zustände kommen.
Wo indessen die psychischen Störungen erst nach dem Schwin-
den aller sonstigen Krankheitserscheinungen zum ersten Male
hervortreten, ist eine Erklärung durch unmittelbare Giftwirkungen
des ursprünglichen Krankheitserregers offenbar unbefriedigend.
Man begreift nicht recht, warum das schon so lange den Körper
schädigende Gift erst so spät die Hirnrinde ergriffen haben soll.
Hier pflegt meist der Begriff der Erschöpfung einzutreten. Die
Schädigung der gesamten Körperernährung durch den schweren
Krankheitsvorgang soll nach dem Aufhören des Kampfes ge-
wissermaßen einen Zusammenbruch herbeiführen, der bald unter
plötzlichem Abfall der Körperwärme und der Pulsbeschleunigung
ganz rasch und stürmisch erfolgt, bald sich riiehr allmählich in
einem allgemeinen Darniederliegen aller, auch der seelischen Ver-
richtungen äußert.
Wie mir scheint, erheben sich auch gegen diese Auffassung
allerlei Bedenken. Wenn wir auch absehen wollen von der Er-
fahrung, daß sehr tiefgreifende erschöpfende Einflüsse anderer Art
gar keine oder doch ganz abweichende Veränderungen im Seelen-
leben herbeizuführen pflegen, so ist doch die Tatsache auffallend,
daß den einzelnen Infektionskrankheiten in ganz verschiedenem
Grade die Fähigkeit zukommt, psychische Nachkrankheiten zu er-
zeugen; neben dem Typhus ist namentlich der Gelenkrheumatis-
mus beteiligt. Wollte man auch annehmen, daß beide wegen
ihrer langen Dauer besonders stark erschöpfend wirken, so steht
dem einmal die Influenza, die ebenfalls verhältnismäßig oft gei-
stige und nervöse Nachkrankheiten erzeugt, andererseits das Bei-
spiel der Tuberkulose gegenüber, bei der trotz äußerster Er-
schöpfung psychische Erkrankungen recht selten sind. Ferner
Infektionskrankheiten.
65
beobachten wir nach Lungenentzündung und Kopfrose ziemlich
häufig fieberlose Delirien, nach der doch mindestens ebenso ein-
greifenden Diphtherie dagegen fast niemals. Diese und ähnliche
Erfahrungen deuten darauf hin, daß doch wohl besondere Unter-
schiede zwischen den einzelnen Erkrankungen eine Rolle spielen,
nicht ihr allgemeiner erschöpfender Einfluß.
Natürlich ist es schwer, sich darüber genauere Vorstellungen
zu machen, aber es gibt doch einzelne Tatsachen, die dafür spre-
chen, daß der Vorgang der Infektion viel verwickelter ist, als es
von vornherein den Anschein hat. Vor allem seien hier gewisse
Schwankungen im Verlaufe der Infektionsdelirien erwähnt, die auf
verschiedene Abschnitte der Giftwirkung hinzuweisen scheinen. Die
Initialdelirien des Typhus, die schon vor dem Erscheinen des Fiebers
beginnen können, schwinden nicht selten mit dem Ansteigen der
Körperwärme, um dann nach einer klaren Zwischenzeit durch
gewöhnliche Fieberdelirien abgelöst zu werden. Bei den Pocken
werden nach den einleitenden Delirien der Eruptionszeit mit dem
Sinken der Körperwärme öfters ganz andersartige Zustände be-
obachtet, denen während des Eiterungsfiebers von neuem Fieber-
delirien folgen können. Ferner ist beim Gelenkrheumatismus so
oft ein mehrfacher Wechsel zwischen Gelenkschwellung und psy-
chischer Störung beschrieben worden, daß man kaum an Be-
obachtungsfehler oder zufälliges Zusammentreffen denken kann.
Endlich sei hier an die besonders bei der Diphtherie verhängnis-
vollen „nervösen Nachkrankheiten" erinnert. Es hat demnach den
Anschein, als ob in demselben Krankheitsverlaufe nacheinander,
vielleicht auch nebeneinander, Gifte mit verschiedenartigen Wir-
kungen auftreten können. Ob wir es dabei mit Umwandlungen
der Krankheitserreger selbst, mit krankhaft veränderten oder an-
gehäuften Zerfallsstoffen, mit den Folgeerscheinungen von Organ-
erkrankungen oder mit noch ganz anderen Vorgängen zu tun haben,
muß einstweilen dahingestellt bleiben.
Die klinischen Formen der psychischen Nachkrankheiten bieten
eine weit größere Mannigfaltigkeit, als die Infektionsdelirien; sie
zeigen auch vielfach eine weit längere Dauer und eine selbstän-
digere Entwicklung. Zunächst können sich, besonders nach Typhus,
einzelne im Fieber entstandene Wahnbildungen noch einige Zeit
fortspinnen; Sinnestäuschungen können noch andauern, ebenso
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^
66
I. Die Ursachen des Irreseins.
Merkstörungen, mit der Neigung, die Erinnerungslücken durch
abenteuerliche Erfindungen auszufüllen. Eine zweite Gruppe bil-
den die besonders nach Lungenentzündung und Kopfrose auf-
tretenden, stürmisch verlaufenden halluzinatorischen Verwirrtheits-
zustände, die nach Webers Vorgang als ,, Kollapsdelirien" be-
zeichnet zu werden pflegen. Ihnen stehen klinisch nahe die weit
langsamer verlaufenden sogenannten Amentiaformen, welche die
Hauptmasse der Beobachtungen umfassen. Auch hier handelt es
sich um Unklarheit der Auffassung und Orientierung mit mehr
oder weniger reich entwickelten Sinnestäuschungen, Erschwerung
des Denkens mit verworrenen, seltener zusammenhängenden Wahn-
bildungen, Stimmungswechsel und Unruhe, die sich zeitweise zu
heftiger Erregung steigern kann. Weiterhin begegnen uns, vor-
zugsweise nach Influenza, aber auch nach Gelenkrheumatismus,
einfache Depressionszustände mit hypochondrischen oder Beein-
trächtigungsideen und nörgelnder, mißtrauischer Stimmung, die
ohne scharfe Grenze in die gewöhnliche reizbare Schwäche der
von schwerer Krankheit Genesenden übergehen. Endlich aber
haben wir noch als schwerster Form jener Zustände mit gänz-
lichem Darniederliegen aller geistigen Leistungen zu gedenken,
die das Bild der ,, akuten Demenz" darbieten; auch bei ihnen ist
übrigens in der Regel noch völlige Wiederherstellung möglich;
unheilbare Veränderungen scheinen namentlich nach Typhus und
Pocken, seltener nach Gelenkrheumatismus vorzukommen.
In einer großen Anzahl von Fällen handelt es sich bei den
Geistesstörungen nach körperlichen Krankheiten um solche For-
men des Irreseins, die in Wirklichkeit aus ganz anderen Ursachen
entstehen. Die Schädigung gibt hier nur den letzten Anstoß zur
Entwicklung des schon mehr oder weniger weit vorbereiteten
Leidens. Das ist der Fall bei den verschiedenen Formen des
manisch-depressiven Irreseins und der Katatonie, bei den senilen
Delirien, bisweilen auch bei den paralytischen Erkrankungen. Ge-
wöhnlich ist hier auch der zeitliche Zusammenhang zwischen
körperlicher Krankheit und Irresein ein ziemlich lockerer; Ge-
legenheitsursachen, z. B. Gemütsbewegungen, spielen eine ziem-
liche Rolle. In einzelnen Fällen beginnt die Störung bei dem wenig
widerstandsfähigen Rekonvaleszenten erst Wochen oder gar Monate
nach dem Ablaufe der hier eigentlich nur noch vorbereitenden
Infektionskrankheiten.
67
Erkrankung, ja es scheint, daß namentlich nach Typhus unter
Umständen selbst jahrelang eine reizbare Schwäche zurückbleiben
kann, welche der Entwicklung späterer Geistesstörungen Vorschub
leistet.
Von den chronischen Infektionskrankheiten kommt für uns als
Ursache von Geistesstörungen wesentlich nur die Syphilis^) in
Betracht, freilich in ganz hervorragendem Maße. Nach Breslers
Angaben ist das Nervengewebe an den durch ererbte Syphilis er-
zeugten Erkrankungen mit 13% beteiligt; namentlich Epilepsie,
Idiotie und juvenile Paralyse entstehen auf diesem Wege. Sodann
sollen bald nach dem Ausbruche der Krankheit psychische Stö-
rungen hervortreten, als deren körperliche Grundlage Kowa-
lewsky Blutveränderungen betrachtet, die in einer Abnahme der
roten Blutkörperchen und ihres Farbstoffgehaltes sowie in einer
Zunahme der weißen Blutkörperchen bestehen und zur Zeit des
Ausschlags ihre größte Entwicklung erreicht haben. Wie wir
durch die serologischen Untersuchungen wissen, findet sich auch
nicht selten Complementablenkung. Späterhin kommt es dann zu
den von Heubner vor allem beschriebenen Gefäßerkrankungen,
zu den verschiedenen Formen der syphilitischen Encephalitis und
Meningitis oder zu umschriebenen gummösen Veränderungen. Bei
allen diesen Erkrankungen, die schon nach i — 3 Jahren zur Ent-
wicklung kommen können, handelt es sich wohl zweifellos um
örtliche Wirkungen des Krankheitserregers, wenn auch der Nach-
weis größerer Mengen von Spirochaete pallida bisher nur in den
Erzeugnissen der Erbsyphilis gelungen ist. Wenn außerdem in
manchen Fällen Blutveränderungen durch übertriebene Queck-
silberbehandlung oder Furcht vor den möglichen Folgen der An-
steckung als krankmachende Umstände angeführt werden, so ist
damit natürlich der Zusammenhang mit der Syphilis selbst ver-
lassen.
Den klinischen Ausdruck der luetischen Krankheitsvorgänge
bilden Zustände, die man zunächst unter der Bezeichnung der
1) Heubner, v. Ziemssens Handbuch, Bd. XI, i; Rumpf, Die syphili-
tischen Erkrankungen des Nervensystems. 1887; Kowalewsky, Arch. f. Psy-
chiatrie, XXVI, 552; Jolly, Berl. klin. Wochenschr. 1901, i; Bresler, Erbsyphilis
und Nervensystem. 1905; Fournier et Raymond, Paralysie generale et Syphilis.
1905; Nonne, Syphilis und Nervensystem, 2. Aufl. 1909.
5*
68
I. Die Ursachen des Irreseins.
syphilitischen Neurasthenie, Hypochondrie oder Hysterie zusammen-
zufassen pflegt. Schon zur Zeit des ersten Ausschlags sollen der-
artige Krankheitsbilder hervortreten können, um sich nach dem
Schwinden desselben oder unter dem Einflüsse der Quecksilber-
behandlung rasch wieder zu verlieren. Im weiteren Verlaufe deuten
manche Begleiterscheinungen, starke Kopfschmerzen, Schwindel-
anfälle, leichte, flüchtige Sprachstörungen oder Lähmungen, Doppelt-
sehen, halbseitige Empfindungsstörungen, vielleicht auch^ einmal
eine Ohnmacht oder ein epileptiformer Anfall neben den Zeichen
von Zerstreutheit, Versagen des Gedächtnisses, Reizbarkeit, Er-
müdbarkeit, Arbeitsunlust, Niedergeschlagenheit und_ Willens-
schwäche vielfach schon auf ein ernsteres Leiden hin, dem viel-
leicht die allmähliche Entwicklung der Gefäßerkrankungen oder
fortdauernde leichte Giftwirkungen zugrunde liegen. Wo aus-
geprägte psychogene Erscheinungen hervortreten, haben wir uns
wohl vorzustellen, daß, ähnlich wie bei anderen Hirnerkrankungen,
die unmittelbaren körperlichen Veränderungen durch Vermittlung
gefühlsstarker Vorstellungen Störungen herbeiführen, die mehr
oder weniger weit über den Rahmen jener ersteren hinausgreifen.
Die Fortentwicklung dieser Krankheitsbilder führt, wenn sie nicht
durch die Behandlung unterbrochen wird, zu geistigen Schwäche-
zuständen. Gedächtnis und Merkfähigkeit nehmen ab; das Urteil
wird schwach; die Fähigkeit zu planmäßiger, geordneter Tätig-
keit geht verloren. Zugleich können sich nun eine Reihe von
ausgeprägten psychischen Krankheitszeichen einstellen, reizbares,
nörgelndes Wesen, Wahnbildungen meist flüchtiger, aber oft
ganz abenteuerlicher Art, Sinnestäuschungen, heitere oder miß-
trauisch-gereizte Stimmung, Erregung, Prahlsucht, Verschwen-
dungssucht. Schließlich können die Kranken vollkommen ver-
blöden. In der Regel ist aber diese Entwicklung von den deut-
lichen Zeichen eines schweren Hirnleidens begleitet, namentlich
von halbseitigen Lähmungen, apoplektiformen oder epileptiformen
Anfällen, Opticusatrophie , Augenmuskellähmungen, aphasischen
Störungen.
Bisher noch kaum übersehbare Beziehungen der Lues zu den
psychischen Entwicklungshemmungen scheinen uns die serologi-
schen Untersuchungen des Blutes aufzudecken. Plaut konnte
bei einer Reihe von Idioten, Schwachsinnigen, Minderwertigen,
Infektionskrankheiten.
69
die von syphilitischen Eltern abstammten, den Nachweis syphi-
litischer Veränderungen führen. Wir werden somit darauf hin-
gewiesen, daß die Lues auch dort, wo sie sonst keine erkenn-
baren Erscheinungen mehr darbietet, in deutlichen Zeichen
fortzuwirken vermag und es liegt sehr nahe, die beobachteten
seelischen Entwicklungshemmungen auf Keimschädigungen durch
das syphilitische Gift zurückzuführen, ähnlich wie wir es beim
Alkohol zu tun berechtigt sind. Dort wie hier hätten wir neben
jenen schweren Störungen, die den vorzeitigen Untergang der
reifenden Frucht oder ihre Lebensschwäche herbeiführen, mit leich-
teren Wirkungen zu rechnen, die zur Entstehung eines minder-
wertigen, mangelhaft entwickelten und krankhaft veranlagten Ge-
schlechtes führen.
Von ungleich größerer Bedeutung noch, als die im engeren
Sinne syphilitischen Geistesstörungen, ist die progressive Paralyse,
von der wir heute wissen, daß sie sich ausschließlich auf dem
Boden einer vorausgegangenen Lues entwickelt. Die Beweise für
diesen Zusammenhang, der früher nur für einen mehr oder weniger
großen Teil der Fälle angenommen wurde, haben sich in den letzten
Jahren derart gehäuft, daß wir heute an der Einheitlichkeit der
syphilitischen Krankheitsursache bei der Paralyse nicht wohl mehr
zweifeln können. Insbesondere scheint mir der Nachweis von
syphilitischen Veränderungen im Blute von Paralytikern, der
heute so gut wie ausnahmslos gelingt, auch die letzten Bedenken
zu beseitigen, die etwa die rein statistische Begründung der ursäch-
lichen Beziehungen zwischen Paralyse und Lues noch übrig ge-
lassen hat. Allerdings wird sich die ätiologisch einheitliche Form
der Paralyse nicht immer mit der klinischen Gruppe decken. Viel-
fach sind Fälle für Paralysen gehalten worden, die in Wahrheit
andersartigen Krankheitsvorgängen angehörten, der Arteriosklerose,
den alkoholischen oder syphilitischen Hirnerkrankungen. Um-
gekehrt haben sich einzelne Beobachtungen als zur Paralyse gehörig
erwiesen, die bis dahin etwa der Idiotie oder dem Altersblödsinn
zugezählt wurden. Die Führung auf diesem Gebiete klinischer
Forschung hat die pathologische Anatomie übernommen. Seit-
dem es ihr, vor allem den Bemühungen Nissls und Alzheimers,
gelungen ist, aus dem Leichenbefunde den eigenartigen paraly-
tischen Krankheitsvorgang mit Sicherheit zu erkennen, hat auch
I. Die Ursachen des Irreseins.
die klinische Umgrenzung der Krankheitsbilder, die diesen einheit-
lichen Befund liefern, bedeutende Fortschritte gemacht. Endlich
aber hat uns das serologische Untersuchungsverfahren in den
Stand gesetzt, dem anatomisch und klinisch geläuterten Begriffe
der Paralyse nun auch eine unzweideutige ätiologische Grundlage
zu geben.
Leider vermögen wir uns über die Art des Zusammenhanges
zwischen Syphilis und Paralyse noch keine genauere Vorstellung
zu machen. Man nimmt im allgemeinen an, daß etwa i — 2% der
Syphilitischen späterhin paralytisch werden. Um die Besonderheit
dieser Fälle zu erkläreri, hat man von einer ,, Syphilis ä virus ner-
veux" gesprochen, von einem Gift, das gerade das Nervengewebe
zu schädigen geeignet sei. Eine gewisse Stütze geben dieser An-
schauung die Beobachtungen gleichartiger oder nahe verwandter
Hirn-Rückenmarkserkrankungen bei Ehegatten oder solchen Per-
sonen, die sich aus derselben Quelle ihre Ansteckung holten.
Weiterhin ist besonders von Fournier betont worden, daß nament-
lich die gar nicht oder ungenügend behandelten Fälle von Lues
die Gefahr einer paralytischen Erkrankung mit sich brächten.
Gerade die von vornherein leicht verlaufenden Ansteckungen seien
daher am bedenklichsten, weil sie ihren Träger sorglos machten.
Dadurch könnte sich die immerhin noch erhebliche Zahl von Be-
obachtungen erklären, in denen die Vorgeschichte nicht den ge-
ringsten Anhalt für eine überstandene Lues liefert. Fournier
teilt mit, daß von 79 Paralytikern, deren syphilitische Krankheits-
geschichte er genau verfolgen konnte, nur 4 eine wirklich ernst-
hafte, weitere 12 eine wenigstens annähernd genügende, über
2 Jahre sich erstreckende Behandlung durchgemacht hätten,
während 37 weniger als ein halbes Jahr behandelt wurden und
I gar nicht. Auf der anderen Seite scheint aber auch die Empfäng-
lichkeit des Körpers für das Gift von maßgebender Bedeutung zu
sein. So erhöht der Alkoholmißbrauch unzweifelhaft die Gefahr,
paralytisch zu erkranken; die großen Unterschiede in der Be-
teiligung der Frauen an der Paralyse in verschiedenen Ländern
dürften damit in einem gewissen Zusammenhange stehen. Vor
allem aber kennen wir zahlreiche Völker, durchgängig solche mit
einfacher, natürlicher Lebensführung, bei denen trotz weiter Ver-
breitung der Syphilis die Paralyse sehr selten oder unbekannt ist.
Infektionskrankheiten.
71
Da die mit ihnen zusammenlebenden Europäer durch dasselbe
Gift paralytisch werden, müssen hier Unterschiede in der Wider-
standsfähigkeit der Rassen vorliegen. Auch die an sich schon
weit geringere Empfänglichkeit der Affen für das syphilitische
Gift wechselt bei den einzelnen Arten sehr und nimmt bei den
niedriger stehenden bedeutend ab. Wir werden uns daher über
die Rassenunterschiede in den Äußerungen der Lues beim Menschen
nicht allzusehr wundern; sie weisen darauf hin, daß die Kultur-
rassen Schutzeinrichtungen verloren haben, die bei Naturvölkern
die Entwicklung der Paralyse aus der Lues erschweren. Daß alle
diese Ausführungen in ähnlicher Weise auch auf die Tabes zu-
treffen, soll hier nur angedeutet werden.
Zur weiteren Kennzeichnung der paralytischen Erkrankung ist
zu betonen, daß sie der syphilitischen Ansteckung gewöhnlich erst
nach einer längeren Reihe von Jahren folgt, daß sie durch anti-
luetische Kuren nicht günstig beeinflußt, geschweige denn geheilt
wird, und daß sie somit nicht geradezu als syphilitische Hirn-
erkrankung im engeren Sinne aufgefaßt werden darf. Möbius
hat daher hier und bei der offenbar sehr nahe verwandten Tabes
von einer „Metasyphilis" gesprochen. Manche Erfahrungen scheinen
mir darauf hinzudeuten, daß es sich bei der Paralyse nicht um
eine örtliche Erkrankung handelt, wie bei der eigentlichen Hirn-
syphilis, sondern daß wir es mit sehr tiefgreifenden und allgemeinen
Störungen im gesamten Körper zu tun haben. Die häufigen Nieren-
und Herzerkrankungen wie die Aortitis der Paralytiker zeugen
für eine ausgebreitete Beteiligung der Blutgefäße, Ob diese letztere
allein dann weiter die Brüchigkeit der Knochen und die große
Neigung zum Druckbrand bewirkt, muß zweifelhaft bleiben. Ich
möchte vielmehr an Veränderungen im Stoffwechsel und in der
Blutzusammensetzung glauben. Dafür würden auch die ganz
außerordentlichen Schwankungen in dem Ernährungszustande der
Kranken wie die nicht selten beobachteten andauernden Tempe-
ratursenkungen sprechen, die wohl zuverlässiger auf schwere
Schädigung des Allgemeinzustandes, als auf Störungen der Wärme-
regelung zurückgeführt werden.
Die namentlich im Gebiete der großen Seen Afrikas verbreitete
und dort außerordentlich verheerend auftretende Schlafkrank-
heit, die ursprünglich nur Neger, neuerdings aber auch Europäer
„ I. Die Ursachen des Irreseins.
7z
befallen hat, ist für uns zunächst nur deswegen von Bedeutung,
weil sie in Entstehungsgeschichte, klinischer Entwicklung und
anatomischem Befunde gewisse Berührungspunkte mit der Para-
lyse aufweist. Die Krankheit wird verursacht durch das Trypano-
soma gambiense, das in einer Stechfliege, der Glossina palpalis,
schmarotzt und durch deren Stich übertragen wird. Nach anfäng-
lichen Fiebererscheinungen verläuft das Leiden ohne auffallende
Störungen, obgleich sich lebende Trypanosomen in den Lymph-
drüsen, namentlich des Nackens, aber auch im Blute und in der
Cerebrospinalflüssigkeit, nachweisen lassen, bis nach i, 2, auch
5 Jahren der letzte, in etwa 4 — 6 Monaten zum Tode führende
Abschnitt der Krankheit einsetzt. Auf psychischem Gebiete zeigt
sich Reizbarkeit und rasche Ermüdbarkeit, die sich bald zu völliger
Schlafsucht steigert; daneben wird läppische Euphorie oder das
Auftreten unsinniger hypochondrischer Vorstellungen beobachtet.
Dazu gesellen sich die Zeichen einer gröberen Hirnerkrankung,
Paresen, Spannungen, Störungen der Reflexe, Zittern, artikula-
torische Sprachstörung, epileptiforme Krämpfe, Lymphocytose der
Cerebrospinalflüssigkeit. Die Leichenöffnung ergibt nach den Be-
funden von Mott und S piel meyer^) ausgebreitete Nervenzellen-
erkrankungen, Gliawucherung, diffuse Infiltration der Hirnhäute
und der Gefäßscheiden mit Lymphocyten und Plasmazellen, Wuche-
rungen an der Intima und Adventitia der Hirngefäße, Gefäßneu-
bildung, zahlreiche Stäbchenzellen.
Die Ähnlichkeiten dieses Krankheitsbildes mit der Paralyse hat
Spielmeyer insofern noch besonders betont, als er auf die nahe
Verwandtschaft der Trypanosomen mit den Spirochäten hinge-
wiesen und die von ihm bei Hunden mit einem anderen Trypano-
soma erzielten Erkrankungen der hinteren Wurzeleintrittsgegend
im Rückenmark mit der Tabes in Parallele gestellt hat. Ob wir
aber wirklich schon berechtigt sind, die Schlafkrankheit als ein
Gegenstück zur „Metasyphilis" aufzufassen, bedarf wohl noch
weiterer Bekräftigung. Die dauernde Anwesenheit der Krankheits-
erreger in den Geweben und Körpersäften, die ja gerade bei der
Metasyphilis fehlt, stellt die Schlafkrankheit zunächst wenigstens
wohl mehr in eine Reihe mit der tertiären Lues oder der Malaria.
) Spielmeyer, Münch, med. Wochenschr. 1907, 1065.
Infektionskrankheiten.
73
Eine ganz auffallend geringe Bedeutung für die Entstehung
von Geistesstörungen kommt der Tuberkulose^) zu, obgleich wir
hier neben der Giftwirkung des Krankheitserregers diejenige der
Mischinfektionen, ferner lange andauernde Fieberbewegungen,
äußerste Entkräftung und endlich auch jene gemütlichen Schädi-
gungen in Anschlag zu bringen haben, die ein schweres Siechtum
mit sich bringt. Allerdings scheinen leichtere Veränderungen der
Stimmung und der Willensleistungen den Verlauf des Leidens
häufig zu begleiten. Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit, Empfind-
samkeit, dann wieder unbegreifliche Zuversichtlichkeit und Unter-
nehmungslust, ausgeprägte Selbstsucht, geschlechtliche Erregung,
Eifersucht sind die Züge, welche die seelische Veränderung kenn-
zeichnen. Außerdem aber kommen hier und da delirante Er-
regungszustände mit Verwirrtheit, lebhaften Sinnestäuschungen
und Verfolgungs- oder Größenideen zur Beobachtung, die wir wohl
als Infektionsdelirien auffassen dürfen. Einmal sah ich bei einer
später durch Operation geheilten Bauchfelltuberkulose einen viele
Monate andauernden, aber in Genesung ausgehenden geistigen
Schwächezustand. Dupre hat besonders den wohl durch Gift-
wirkung bedingten Zerfall von Nervenzellen und Fasern m der
Stirnrinde für die psychischen Störungen der Tuberkulösen ver-
antwortlich gemacht.
In manchen Fällen trägt das Irresein der Schwindsüchtigen die
Züge alkoholischer Erkrankungen; insbesondere scheint das Auf-
treten polyneuritischer Formen durch die Verbindung der Tuber-
kulose mit Alkoholismus begünstigt zu werden. Noch andere
Krankheitsbilder können durch meningitische Veränderungen oder
umschriebene Tuberkel erzeugt werden. Endlich pflegt man der
Tuberkulose einen erheblichen verschlechternden Einfluß auf die
Veranlagung der Nachkommenschaft zuzuschreiben, auch hinsicht-
lich ihrer seelischen Eigenschaften.
Im Verlaufe der Lepra^), die ja unzweifelhaft das Nerven-
system häufig in Mitleidenschaft zieht, sollen Depressionszustände
1) Heinzelmann, Münch, med. Wochenschr. 1894, 5; Chartier, de la
phthisie et en particulier de la phthisie latente dans ses rapports avec les psy-
choses. These, Paris 1899; Morselli, la tuberculosi nella etiologia e patogenesi
delle malattie nervöse e mentali. 1903.
2) Moreira, Archivos Brasileiros de psychiatria, II, 41-
74
I. Die Ursachen des Irreseins.
mit Schlaflosigkeit und starker Selbstmordneigung vorkommen.
Erfahrene Forscher, wie Hansen und Moreira, erklären in-
dessen, daß die etwa einmal bei Lepra beobachteten Geistes-
störungen durchaus nichts Kennzeichnendes haben, sondern auf
zufälliges Zusammentreffen zurückzuführen sind.
Stoffwechselkrankheiten. Vielleicht eines der wichtigsten, sicher
aber das dunkelste Gebiet der ganzen psychiatrischen Ursachen-
lehre ist dasjenige der Stoffwechselerkrankungen. Wir dürfen ja
wohl erwarten, daß jede krankhafte Änderung im Stoffwechsel
auch die Ernährung des Nervensystems mehr oder weniger stark
in Mitleidenschaft ziehen und unter Umständen geradezu giftige
•Stoffe in die Blutbahn gelangen lassen muß. Dagegen wissen wir
über die chemischen Einzelheiten dieser Vorgänge leider noch
ungemein wenig. Es liegen allerdings eine Reihe von Unter-
suchungen über die Veränderungen der Ausscheidungen und des
Blutes bei Geisteskranken vor, über die Giftigkeit des Schweißes
und Harns^), über die Alkalescenz, die bakterientötenden und
giftigen Eigenschaften, die Cytolysine des Blutes, über die ,,Isotonie"
der roten Blutkörperchen, ihre Zahl, ihren Hämoglobingehalt,
ihr Verhältnis zu den Leukocyten, — aber die Ergebnisse aller
dieser mühevollen Erhebungen ermöglichen uns einstweilen durch-
aus keine zuverlässigen Schlüsse über das Wesen der Krankheits-
vorgänge. Insbesondere bleibt es meist unklar, ob wir es mit Ur-
sachen, zufälligen Begleiterscheinungen oder Folgen des Irreseins
zu tun haben. Wesentlich erhöht werden die Schwierigkeiten der
Verwertung solcher Befunde durch die Vieldeutigkeit der klinischen
Bezeichnungen, die nur für einige wenige Krankheitsformen die
Vergleichung der Ergebnisse verschiedener Beobachter gestattet.
Abweichungen von dem Verhalten Gesunder sind allerdings
vielfach festgestellt worden. Namentlich das Blut, der Haupt-
träger des Stoffwechsels, zeigt sich nach den verschiedensten Rich-
tungen hin krankhaft verändert. So ist Berger 2) auf Grund aus-
gedehnter Versuchsreihen zu dem Schlüsse gekommen, daß im
Blute der Kranken mit Dementia praecox zeitweise ein Stoff kreise,
der bei Einspritzung unter die Haut die großen Rindenpyramiden
1) Cabitto, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 36; Pellegrini, ebenda,
144; Massaut, Bull, de la societe de medic. ment. de Belgique, Decembre 1895.
2) Berger, Monatsschr. f. Psychiatrie, XVI, i.
Stoffwechselkrankheiten.
75
des Hundes zu schädigen vermag und auch beim Menschen be-
drohhche Erscheinungen verursacht. Dragotti fand die Giftigkeit
des Blutes erhöht bei Amentia, Dementia praecox und polyneu-
ritischer Psychose, besonders im Beginne. Rebizzi^), der die
Veränderungen der Nervenzellen von Blutegeln untersuchte, die
er sich bei verschiedenartigen Kranken hatte vollsaugen lassen,
fand Atrophie der Fibrillen durch das Blut von Epileptikern, Para-
lytikern und Altersblödsinnigen, Schwellung und körnigen Zerfall
durch dasjenige von Amentiakranken und pellagrös Verwirrten,
während das Blut der Alkoholisten, Idioten und Hebephrenen
wirkungslos blieb. Die Alkalescenz des Blutes fand Pugh^) herab-
gesetzt bei manischer Erregung und Paralyse, ferner bei der Epi-
lepsie, besonders kurz vor und nach den Anfällen; zu ähnlichen
Ergebnissen kam Lambranzi, der auch bei der Katatonie und der
Amentia eine Abnahme feststellte. Demgegenüber betont Schultz^)
auf Grund seiner mit allen Hilfsmitteln der physikalischen Chemie
durchgeführten Untersuchungen, daß eine Alkalescenz des Blutes
im wissenschaftlichen Sinne überhaupt nicht bestehe, und daß
sich auch keine Änderung dieses Verhaltens bei Geisteskranken
nachweisen lasse.
Über die Cytolysine des Blutes, insbesondere die nicht wärme-
beständigen Komplemente, erfahren wir durch Ibba*), daß sie bei
Epileptikern, namentlich kurz vor den Anfällen und während der-
selben, auf die roten Blutkörperchen des Menschen und des Hundes
stark auflösend wirken, während das gesunde Serum nur die letz-
teren zerstört, und zwar in sehr geringem Grade. Auch die Blut-
flüssigkeit der Manischen, vielleicht ebenso der Melancholiker und
Paralytiker, wirkt stark auf die roten Blutkörperchen des Hundes,
schwach auf die des Menschen; noch schwächere Grade der Wir-
kung finden sich bei Alkoholismus und Dementia praecox. Die
Widerstandsfähigkeit roter Blutkörperchen gegen Kochsalzlösungen
fanden Obici und Bonon^) besonders stark herabgesetzt in der
1) Rebizzi, Rivista di patologia nervosa e mentale 1906, XI.
2) Pugh, Journal of mental science 1903, 71.
3) Schultz, Monatsschr. f. Psychiatrie, XXII, 21.
+) Ibba, Rivista sperimentale di freniatria, XXXII, 642.
•1) Abundo, Rivista sperimentale di freniatria, XVIII, 292; Obici e Bönen,
Annali di nevrologia, XVIII, 5, 1900; Tirelli, Annali di freniatria e science
affini, 1902, i.
4
I. Die Ursachen des Irreseins.
Paralyse, beim pellagrösen Irresein und in den ersten Stadien der
Dementia praecox; Tirelli sah sie, der Erregung entsprechend,
abnehmen bei der Manie und bei der Epilepsie zur Zeit der An-
fälle, gleichbleiben oder zunehmen bei der Melancholie, Die Zahl
der roten Blutkörperchen fand Schultz etwas vermindert bei
Katatonie, besonders in den Endzuständen, ferner bei Epilepsie;
hier trat im Anfalle eine Zunahme der weißen Blutzellen hervor,
besonders der kleinen Lymphocyten. Paralytiker zeigten unregel-
mäßige Schwankungen, in den letzten Abschnitten der Krankheit
zahlreichere rote Blutkörper, wohl als Folge von Austrocknung
des Körpers und örtlichen Stauungen. Bei einigen Idioten schien
ihm ein Mißverhältnis zwischen der geringen Zahl der roten Blut-
zellen und dem erhöhten Hämoglobingehalte zu bestehen; hohe,
sogar sehr bedeutende Hämoglobinwerte fanden sich weiterhin
auch vielfach bei Hysterie und Nervosität. Di de endlich berichtet
über Verminderung der roten Blutkörper bei Vergiftungen und
Infektionen, zugleich mit Vermehrung der vielkernigen Leuko-
cyten, die bei längerer Dauer der Zustände durch einkernige er-
setzt werden sollen. Vermehrung der roten Blutzellen beobachtete
er bei Aufregungszuständen, Wechsel im Verhalten der roten und
weißen Blutkörper bei der Epilepsie.
Offenbar handelt es sich bei allen diesen und ähnlichen Fest-
stellungen, die übrigens zum Teil noch sehr der Nachprüfung
bedürfen, vorderhand nur um einzelne Bausteine, von deren Zu-
gehörigkeit wir uns noch gar kein rechtes Bild zu machen ver-
mögen; irgendein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den
gefundenen Veränderungen und den Krankheitsbildern ist in der
Regel gar nicht nachzuweisen. Allerdings liegt eine sehr große
Zahl von Beobachtungen vor, in denen die Geistesstörung mit
dieser oder jener Form der Selbstvergiftung in Beziehung gebracht
wird. Verhältnismäßig selten aber enthalten solche Vermutungen
mehr als bloße Möglichkeiten. Der Grund liegt hauptsächlich in
dem Umstände, daß die Krankheitsbilder selbst uns heute durch-
aus noch keinen Schluß auf eine ursächliche Selbstvergiftung er-
lauben; höchstens läßt sich aus dem Auftreten schwerer deliranter
Verwirrtheit die Annahme einer ursächlichen Vergiftung oder Infek-
tion mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit begründen, nament-
lich dann, wenn ein ungünstiger Ausgang den Nachweis aus-
Stoffwechselkrankheiten.
77
I
gebreiteten Zerfalles des Nervengewebes nebst frischen Wuche-
rungsvorgängen in der Glia ermöglicht. Andererseits lehrt aber
das Beispiel einzelner Formen psychischer Störung, die wir auf
Stoffwechselstörungen zurückzuführen berechtigt sind, nament-
lich dasjenige des Delirium tremens, ganz abgesehen von den ge-
wöhnlichen Vergiftungen, daß dort, wo wirklich eindeutige Ur-
sachen vorhanden sind, auch die klinischen Bilder ihre ganz aus-
geprägte Färbung erhalten. Es ist daher zu hoffen, daß es allmäh-
lich gelingen wird, für diejenigen Gruppen des Irreseins, welchen
bestimmte Stoffwechselstörungen zugrunde liegen, auch eigenartige
klinische Formen aufzufinden, die ohne weiteres den Rückschluß
auf die Krankheitsursache gestatten.
Im allgemeinen wird man annehmen dürfen, daß diejenigen
Ernährungsstörungen, die wesentlich eine allgemeine Verschlech-
terung der Blutbeschaffenheit herbeiführen, wie etwa die Chlorose,
die Leukämie, dauernde Unterernährung, wiederholte Blutverluste,
eine mehr oder weniger ausgesprochene Abnahme der gesamten
psychischen Leistungen erzeugen, Herabsetzung der geistigen
Arbeitsfähigkeit, gesteigerte Ermüdbarkeit, Zerstreutheit, Ver-
geßlichkeit, gemütliche Reizbarkeit mit vorwiegend depressiver
Färbung, Einbuße an Willensfestigkeit und Tatkraft. Diese Stö-
rungen sind bei schweren körperlichen Allgemeinleiden so häufig,
daß sie gar nicht als krankhaft aufzufallen pflegen. Sie entsprechen
ungefähr den Zeichen einer dauernden Ermüdung, die wir ja ge-
wöhnt sind, auf die ungenügende Beseitigung und Vernichtung
giftiger Zerfallstoffe in den arbeitenden Geweben zurückzufuhren.
Dazu treten aber weitere Krankheitserscheinungen, sobald
irgend eine bestimmte Einrichtung im Getriebe unseres Stoff-
wechsels ihren Dienst versagt. Bei chronischen Störungen werden
wir allerdings deren besondere Wirkungen in dem Krankheits-
bilde meist kaum nachweisen können; stellt sich aber die Verän-
derung im Körperhaushalte plötzlich ein, so sind die Kankheits-
erscheinungen oft sehr stürmische. Unzulänglichkeit des Gas-
austausches, wie sie durch Erkrankungen der Lungen und der
Kreislauforgane herbeigeführt werden kann, erzeugt die Erschei-
nungen rauschartiger Benommenheit und heftige Angstgefühle, in
höheren Graden Bewußtlosigkeit. Mangelhafte Ausscheidung durch
die Nieren führt zur Urämie mit epileptiformen Krämpfen, deli-
78
I. Die Ursachen des Irreseins.
riösen und komatösen Zuständen, namentlich bei vorgeschrittener
Schwangerschaft; infolge der Ansammlung von Gallenbestand-
teilen im Blute (Cholämie) kommen Benommenheit und psy-
chische Depression, bei der akuten gelben Leberatrophie (Phosphor-
vergiftung) furibunde Delirien mit starker ängstlicher Erregung
und Sinnestäuschungen, im weiteren Verlaufe Sopor und Koma
zur Beobachtung.
Recht unklar sind bisher noch die Beziehungen zwischen dem
Krebssiechtum und den hie und da bei demselben beobachteten
Geistesstörungen. Wenn auch die Annahme immer mehr an
Boden gewinnt, daß die Krebsgeschwülste irgendwie durch Lebe-
wesen erzeugt werden, so fehlt doch jeder Anhalt für eine Ent-
scheidung der Frage, ob diese Krankheitserreger unmittelbar
oder durch giftige Ausscheidungsstoffe die Hirnrinde schädigen,
oder ob die psychische Erkrankung erst durch die allgemeinen
Stoffwechselstörungen bedingt wird, die dem Krebssiechtum eigen-
tümlich sind. Da die überwiegende Mehrzahl der Krebskranken
keine ausgeprägten psychischen Störungen erkennen läßt, erscheint
es zweifelhaft, ob wir es wirklich mit ursächlichen Beziehungen
und kennzeichnenden Psychosen zu tun haben. Die Krankheits-
bilder bieten in der Regel die Form ängstlich deliranter Zustände
mit Sinnestäuschungen, Verworrenheit und lebhafter Unruhe dar;
im weiteren Verlaufe treten immer mehr die Benommenheit und
Schwäche in den Vordergrund. Elsholz^) legt Wert auf den
Wechsel zwischen deliranter Verwirrtheit und zeitweise fast völliger
Klarheit.
Endlich scheinen auch krankhafte Zersetzungen des Darm-
inhaltes die Quelle von Allgemeininfektionen mit geistigen Stö-
rungen bilden zu können. So hat v. Wagner 2) Fälle von Irresein
beschrieben, in denen er bei Darmstörungen Aceton, Acetessig-
säure, Oxybuttersäure im Harn, auch vermehrte Indicanausschei-
dung auffand. Auch von Sölder^i) sind als Ursache einiger von
ihm beobachteten psychischen Erkrankungen Kotstauungen mit
Zersetzung des Darminhaltes und Aufsaugung von Giften ins
Blut angenommen worden. Die klinischen Bilder waren überall
1) Eisholz, Jahrb. f. Psychiatrie, XVII, 144.
2) V. Wagner, Jahrb. f. Psychiatrie, XXII, 177.
3) Sölder, Jahrb. f. Psychiatrie, XVII, 147.
Stoffwechselkrankheiten.
79
verwirrte Erregungszustände, die als Amentia oder Delirium acu-
tum bezeichnet werden. Dragotti betrachtet Darminfektionen
auch als Ursache der Dementia praecox. Hoppe^) fand unter
325 Epileptikern bei 8,5% Aceton im Harn, meist im Status epi-
lepticus oder bei Verwirrtheit mit mangelhafter Nahrungsauf-
nahme, ferner in Hungerzuständen und bei einem Drittel seiner
akuten Geisteskranken, bei Paralytikern fast nur zur Zeit der An-
fälle, aber schon vor deren Beginn. Wahrscheinlich darf die Ace-
tonurie als ein Zeichen abnormer Spaltung von Körpereiweiß oder
Fett angesehen werden, ohne an sich krankmachende Bedeutung
zu haben. Das Indican, das in geringen Mengen auch im Harn
Gesunder vorkommt, stammt wohl vorwiegend aus der Eiweißfäul-
nis im Darme, aus deren Abbaustoff Indol es sich durch die Zwi-
schenstufe des Indoxyls bildet. Es wird daher vermehrt durch
reichliche Eiweißnahrung, ferner durch Anhäufung von Kotmassen
im Darm, auch wohl durch abnorme Zersetzungsvorgänge. Nach
den Angaben von Coriat, Townsend, Bruce, Pardo^) ist
die Indicanausscheidung im Harn bei Depressionszuständen, auch
im epileptischen, paralytischen, katatonischen Stupor gesteigert.
Da das Indican selbst die psychischen Störungen sicherlich nicht
erzeugt, kann seine Vermehrung im Harn nur die Bedeutung
haben, daß es auf die Möglichkeit des Eindringens von Darmgiften
hinweist. Wir werden nicht bestreiten können, daß durch solche
Vorgänge Rindenerkrankungen zustande kommen können, handle
es sich nun um Bakteriengifte oder um Zerfallsstoffe. Leider fehlen
uns jedoch einstweilen noch die Anhaltspunkte, um im einzelnen
Falle einen derartigen Zusammenhang nachweisen zu können.
Sehr eingehend sind die Beziehungen des Diabetes und der
Glykosurie») zu den Geistesstörungen untersucht worden. Aus-
geprägter Diabetes ist im ganzen bei Geisteskranken nicht sehr
häufig; man hat ihn namentlich bei Paralyse, dann auch beim
Alkoholismus und bei Melancholie beobachtet. Dagegen scheinen
sich leichtere Veränderungen des Seelenlebens doch vielfach bei
1) Hoppe, Arch. f. Psychiatrie, XXXIX, 1174. w •
2) Easterbrook, Journal of mental science, 1906, 766; Pardo, Kivista
sperimentale di freniatria, XXXIII, 275. -„^or
s) Bond, Journal of mental science, 1896, Januar, April; Laudenheimer,
Arch. f. Psychiatrie, XXIX, 2; Berl. klin. Wochenschr. 1898, 21; Raimann,
Zeitschr. f. Heilkunde, XXIII, 2, 1902.
8o
I. Die Ursachen des Irreseins.
Diabetes zu entwickeln, Abnahme des Gedächtnisses und der
geistigen Leistungsfähigkeit oder Schlafsucht und Stumpfheit. Da-
bei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Diabetes sich gern im
höheren Lebensalter entwickelt und dann oft mit Gefäßerkran-
kungen verknüpft ist, deren Anteil an dem klinischen Bilde sich
kaum abgrenzen läßt. Laudenheimer hat indessen auch eine
diabetische ,, Pseudoparalyse" beschrieben, ein Krankheitsbild, das
durch die Verbindung einer ausgeprägten geistigen Schwäche mit
einzelnen nervösen Störungen, Stocken der Sprache, Hemiparesen,
epileptoiden Anfällen, Steigerung der Sehnenreflexe gekennzeich-
net ist. Alle diese Störungen sollen der Besserung durch antidia-
betische Kuren zugänglich sein. Im Hinblicke auf das diabetische
Koma ist die Möglichkeit schwerer Hirnstörungen bei Diabetes
nicht wohl zu bezweifeln, doch wird es noch weiterer Erfahrungen,
namentlich auch anatomischer Befunde bedürfen, um die klinische
Deutung derartiger Fälle sicherzustellen.
Glykosurie ist bei Geisteskranken sicher häufiger als bei Ge-
sunden, namentlich unmittelbar nach dem Delirium tremens und
bei lebhaften Angstzuständen; ich sah sie wiederholt in Fällen,
die ich als syphilitische Gefäßerkrankungen auffassen möchte.
Dementsprechend fand Rai mann die Fähigkeit, eingeführten
Zucker zu verbrennen, herabgesetzt in der Melancholie, beim
Altersschwachsinn, bei der Paralyse, beim Schwinden des Delirium
tremens und bei der ätiologisch unklaren Gruppe der Amentia.
Es hat demnach den Anschein, daß die alimentäre Glykosurie bei
denjenigen Formen des Irreseins besonders leicht zustande kommt,
bei denen wir Anlaß haben, an Stoffwechselstörungen zu denken.
In vereinzelten Fällen scheint sich die Osteomalacie mit
Dementia praecox zu verbinden; es muß dahingestellt bleiben,
ob es sich dabei um ein mehr als zufälliges Zusammentreffen
handelt.
Eine erhebliche Rolle ist, namentlich von französischen und
englischen Forschern, vielfach der Gicht^) zugeschrieben worden.
Anhäufung von Harnsäure im Blute soll einerseits Neurasthenie
erzeugen können, auf der anderen Seite wieder eine wesentliche
Ursache von Angstzuständen sein. Lange hat auch periodische
1) Kowalewsky, Centralbl. f. Nervenheilk. 1901, 593.
Stoffwechselkrankheiten.
8i
Depressionszustände mit Schwankungen der Harnsäureausschei-
dung in ursächUche Verbindung gebracht. Nach der Schilderung
hat es sich um Anfälle gehandelt, die dem manisch-depressiven
Irresein angehören dürften. Ob wir es hier überall mit ursächlichen
Beziehungen oder mit einfachen Begleiterscheinungen zu tun
haben, muß weiterer Prüfung überlassen bleiben; für die manisch-
depressiven Formen ist mir die erstere Annahme aus vielen Grün-
den äußerst unwahrscheinlich. Auch bei der Epilepsie zeigt die
Harnsäureausscheidung sehr auffallende Schwankungen, die mit
dem Auftreten der Anfälle in nahen Beziehungen zu stehen scheinen ;
welcher Art sie sind, ist vorderhand unklar.
Auf einem etwas sichereren Boden bewegen wir uns bei der
Erörterung des Zusammenhanges zwischen Geistesstörungen und
Schilddrüsenerkrankungen, da uns hier zur Klärung der Tier-
versuch wertvolle Aufschlüsse geliefert hat. Wir wissen sicher,
daß Ausfall der Schilddrüsentätigkeit die schwersten Folgen für
das Seelenleben nach sich zieht. Bei jugendlichen Personen be-
wirkt die Vernichtung oder krankhafte Umwandlung jener Drüse
kretinistische Entartung des gesamten Körpers, wie wir sie auch
künstlich bei Tieren erzeugen können. Dagegen stellt sich beim
Erwachsenen nach Entfernung der ganzen Schilddrüse das Bild
der Kachexia strumipriva ein, dessen wesentliche Züge in einem
allmählich fortschreitenden Schwachsinn mit myxödematösen Ver-
änderungen der Haut und gewissen nervösen Reizerscheinungen
(Krampfanfälle, Tetanie) bestehen. Nahe Verwandtschaft zu die-
sem Krankheitsbilde zeigt dasjenige des spontanen Myxödems, wie
es durch Schrumpfung oder krankhafte Zerstörung der ganzen
Schilddrüse zustande kommt. Hier gesellen sich zu dem leichteren
oder schwereren Schwachsinn öfters die Erscheinungen einer psy-
chischen Depression, selbst lebhafte Angstzustände hinzu. Als die
gemeinsame Grundlage aller dieser Störungen ist wohl die Anhäu-
fung von Stoffen im Blute anzusehen, die sonst durch die Schild-
drüsentätigkeit zerstört werden. Blum konnte bei Hunden, die er
nach Entfernung der Schilddrüse durch Vermeidung der rasch
zum Tode führenden Fleischfütterung am Leben erhalten hatte,
psychische Störungen, Unruhe, Sinnestäuschungen, Verblödung
beobachten; er bezieht sie auf Gifte, die durch Eiweißfäulnis im
Darme entstehen. Wie weit an diesen Störungen neben dem Aus-
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^
82
I. Die Ursachen des Irreseins.
falle des Schilddrüsengewebes derjenige der Epithelkörper be-
teiligt ist, wird die Zukunft lehren müssen.
I Umgekehrt dürfen wir vielleicht annehmen, daß die beim
Morbus Basedowii^) beobachteten Störungen durch krank-
hafte Vermehrung und wohl auch Veränderung der Schilddrüsen-
ausscheidungen hervorgerufen werden; zum Teil wenigstens decken
sie sich mit denjenigen, die wir nach Einführung von Schilddrüsen-
bestandteilen in den Körper des gesunden und kranken Menschen
auftreten sehen. Die psychischen Erscheinungen sind diejenigen
einer Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit, erhöhte
gemütliche Reizbarkeit, heitere oder ängstliche Verstimmung,
Stimmungswechsel, flüchtige Wahnbildungen, Eifersuchtsideen,
Selbstanklagen, Unruhe, große Ermüdbarkeit, Schlaflosigkeit.
Diese Tatsachen, die uns die Wichtigkeit eines unscheinbaren
Organs für den Stoffwechsel auf das deutlichste dartun, machen es
wahrscheinlich, daß wohl auch noch von anderen Seiten unter Um-
ständen ähnliche Selbstvergiftungen ausgehen können. So hat bereits
Vassale gezeigt, daß Zerstörung der Hypophysis bei Tieren den
Tod zur Folge hat, während beim Menschen Hypophysisgeschwülste
bekanntlich häufig mit Akromegalie einhergehen. Auch psychische
Störungen können sich hinzugesellen, Gedächtnisschwäche, Arbeits-
unfähigkeit, gemütliche Stumpfheit bis zur völligen Versunken-
heit, zeitweise auch delirante Erregung. Es muß jedoch dahin-
gestellt bleiben, wieweit hier Wirkungen der Geschwulst als solcher
oder die Zerstörung des Hirnanhanges in Frage kommen. Vi-
gouroux und Delmas haben einen nörgelnden Verstimmungs-
zustand mit gemütlicher Stumpfheit, Vergiftungs- und Verfolgungs-
ideen bei tuberkulöser Zerstörung der Nebennieren beschrieben.
Es ist • zurzeit nicht abzusehen, welche Aufschlüsse uns die
Verfolgung der hier sich darbietenden Fragen liefern wird. Ge-
waltige Umwälzungen im Körperhaushalte finden sich bei den
verschiedensten Geistesstörungen, ohne daß wir imstande wären,
zu entscheiden, ob sie Ursachen oder Begleiterscheinungen sind.
1) Buschan, Die Basedowsche Krankheit. 1894; Möbius, Die Base-
dowsche Krankheit. 1896, 32ff.; Maude, Journal of mental science, 1896, Januar;
Krauß, Die Krankheiten der Schilddrüse im Handbuche v. Ebstein - Schwalbe.
1898; Homburger, Über die Beziehungen des Morbus Basedowii zu Psychosen
und Psych oneurosen. Diss., Straßburg 1899.
Vergiftungen. 83
Abgesehen von der Epilepsie ist es namentlich die große Gruppe
der Dementia praecox und die Paralyse, bei denen wir Stoffwechsel-
störungen vermuten dürfen, vielleicht auch das manisch-depressive
Irresein; dazu kommt endlich noch das ganze Heer von Infektionen
und Vergiftungen.
Vergiftungen. Von den Giften, die überhaupt unsere Hirnrinde
beeinflussen, besitzt zum mindesten ein großer Teil die Eigen-
schaft, ganz bestimmte seelische Leistungen in eigenartiger Weise
zu schädigen. Bei rasch tötlich wirkenden Vergiftungen freilich
verwischen sich diese Unterschiede; die ausgebreitete Vernichtung
des Hirnrindengewebes hebt sofort das Bewußtsein völlig auf.
Tritt aber die Wirkung langsamer und weniger überwältigend auf,
so entwickeln sich schnell einsetzende und ablaufende psychische
Störungen, deren Gestaltung vielfach sofort einen Rückschluß
auf ihre giftige Ursache gestattet, namentlich wenn wir die
körperlichen Begleiterscheinungen mit beachten. Da die mei-
sten akuten Vergiftungen der Hirnrinde mit einer gewissen Be-
wußtseinstrübung verbunden sind, tragen die entsprechenden
Geistesstörungen die Züge eines Rausches, oder, wenn sie auch
mit Sinnestäuschungen verknüpft sind, eines Deliriums. Aller-
dings ist bei der Seltenheit der meisten derartigen Vergiftungen
unsere Kenntnis von den besonderen psychischen Wirkungen der
einzelnen Gifte noch eine ungemein dürftige. Alles aber, was wir
bisher durch den Versuch über diese Frage wissen, spricht mit
großer Entschiedenheit für deren Eigenart. Genauere Unter-
suchungen liegen bisher vor über Alkohol, Coffein, Trional und
Brom, vorläufige über Morphium, Paraldehyd, Chloralhydrat, Äther,
Amylnitrit, Chloroform, Cocain und Tabak, aber schon diese Er-
fahrungen haben gezeigt, daß die psychische Wirkung keines
dieser Gifte derjenigen irgend eines anderen völlig gleicht, so sehr
sich auch die chemische Verwandtschaft auf diesem Gebiete gel-
tend macht. Diese Tatsache entspricht durchaus dem Befunde
Nissls, daß die Zellveränderungen bei nicht allzu rascher Ver-
giftung je nach der Art des eingeführten Giftes ein ganz bestimmtes
Gepräge zeigen. Erschwert wird die Erkenntnis der psychischen
Giftwirkungen durch den Umstand, daß sich gelegentlich Vergif-
tungen mit anderen, von ihnen unabhängigen Geistesstörungen
verbinden, so z. B. Alkoholrausch mit epileptischem Dämmer-
6»
I, Die Ursachen des Irreseins.
zustande oder Bleivergiftung mit paralytischer Erregung. Vor
einer falschen Deutung der ursächlichen Beziehungen zwischen
Vergiftung und Krankheitsbild muß hier die Forderung schützen,
daß jedes in Betracht kommende Gift eine ganz bestimmte Wir-
kung auf unser Seelenleben entfaltet, deren Züge eben erkennbar
sein müssen. So vermögen wir in der Tat nicht selten in einem
klinischen Krankheitsbilde etwa eine begleitende alkoholische
,, Färbung" neben den andersartigen Krankheitszeichen nach-
zuweisen.
Allerdings gibt es Tatsachen, die dafür zu sprechen scheinen,
daß ein und dasselbe Gift ganz verschiedene Krankheitsbilder er-
zeugen kann; so beobachten wir außer dem Rausche im Ver-
laufe des chronischen Alkoholismus noch die wesentlich ab-
weichenden Geistesstörungen des Delirium tremens und des Alko-
holwahnsinns. Allein die akute Alkoholvergiftung bietet doch
immer das gleiche Bild, das nur in Einzelheiten durch die Bei-
mischung fremder Krankheitszüge verändert werden kann. Wenn
wir demnach beim chronischen Alkoholismus andersartige klini-
sche Formen auftreten sehen, so werden wir zu dem Schlüsse
kommen müssen, daß wir in ihnen eben nicht mehr unmittelbare
Alkoholwirkungen vor uns haben, daß vielmehr bei ihrer Ent-
stehung in irgend einer Weise die Umwälzungen mitspielen, die
durch den dauernden Alkoholmißbrauch im Körper erzeugt wurden.
Kennten wir diese Bindeglieder genauer, so würde sich auch hier
ohne Zweifel ein durchaus bündiger Zusammenhang zwischen
Ursache und Wirkung feststellen lassen, die Erzeugung ganz be-
stimmter psychischer Krankheitszeichen durch ganz bestimmte
körperliche Veränderungen. Mittelbare Geistesstörungen, die mit
der ursprünglichen Gifteinwirkung gar keine Beziehung mehr
haben und daher ganz andersartige klinische Bilder aufweisen,
können z, B. dort vorkommen, wo ein Gift Stoffwechselwerkstät-
ten des Körpers außerhalb der Hirnrinde schädigt; dahin würden
die ikterischen Delirien bei Phosphorvergiftung oder die urämischen
Störungen bei solchen Vergiftungen gehören, welche die Nieren
angreifen.
Durch länger fortgesetzte Vergiftung, wie sie bei den giftigen
Genußmitteln und manchen Gewerbegiften vorkommt, entwickeln
sich dauernde psychische Schwächezustände, oft mit bestimmten
Vergiftungen. 85
#
nervösen Begleiterscheinungen, die ihnen dann die Bezeichnung
,, Pseudoparalyse" einzutragen pflegen. Auch diese Zustände dürf-
ten je nach der Art des Giftes verschieden sein, wenn wir auch
über ihre kennzeichnenden Züge noch außerordentlich wenig
wissen. Im ganzen sind diese Krankheitsbilder, wenn sich nicht
die Zeichen immer wiederkehrender akuter Vergiftungen hinzu-
gesellen, wenig ausgeprägt, da die Ausfallserscheinungen in ihnen
überwiegen. Es ist auch bisher nicht gelungen, bei chronischen
Vergiftungen den einzelnen Giften eigentümliche Zellverände-
rungen aufzufinden.
Eine erste kleine Gruppe von Vergiftungen, die wir hier zu
betrachten haben, steht in enger Beziehung zur Volksernährung.
Dahin gehört zunächst die hauptsächlich in Oberitalien, Südfrank-
reich, Nordspanien und Rumänien vorkommende Pellagra^).
Offenbar handelt es sich bei dem Leiden, das mit sehr starken Ver-
dauungsstörungen, Schwund der Darmschleimhaut, Abmagerung
und Hautausschlägen einhergeht, um eine chronische Vergiftung,
die zumeist auf den Genuß von verdorbenem Mais zurückgeführt
wird; Hilfsursachen sollen Armut und Elend aller Art bilden.
Ceni hat in neuerer Zeit mit besonderem Nachdruck die Giftwir-
kungen von Schimmelpilzen, Penicillium glaucum und Asper-
gillus fumigatus, für die Entstehung der Pellagra verantwortlich
gemacht. Wahrscheinlich haben wir es wohl mit einem organi-
sierten Gifterzeuger zu tun, da Übertragung von Person zu Person,
übrigens auch Einfluß der Erblichkeit, beobachtet wurde, und da
häufig mildere Rückfälle des Leidens eintreten, wenn alle genannten
Schädlichkeiten längst weggefallen sind. Von einigen Forschern
wird angegeben, daß die Krankheit durchaus nicht an den Mais-
genuß gebunden sei und sich langsam ausbreite. Die psychischen
Störungen zeigen das Bild erhöhter gemütlicher Reizbarkeit, ferner
sehr einförmig verlaufende Depressionszustände mit Stumpfheit,
dürftigen Wahnbildungen, starker Selbstmordneigung und Aus-
gang in Verblödung, endlich Verwirrtheit mit Erregung, die sich
1) Lombroso, La pellagra. 1892, deutsch v. Kurella. 1898; Belmondo,
Rivista sperim. di freniatria, XV, XVI; Tuczek, Klinische und anatomische Stu-
dien über die Pellagra. 1893; Finzi, Bollettino del manicomio provinciale di Fer-
rara, XXIX, 1901; v. Zlatarovic, Jahrb. f. Psychiatrie, XIX, 283; Gregor,
ebenda XXVIII, 215; Vedrani, Sui sintomi psichici della pellagra. 19öS-
86
I. Die Ursachen des Irreseins.
im sog. Typhus pellagrosus zu lebensgefährlichen Graden steigern
kann. Ob alle diese Formen eine klinische Einheit bilden und allein
auf die Giftwirkungen zurückzuführen sind, ist zurzeit noch
zweifelhaft; jedenfalls handelt es sich bei einer ganzen Reihe der
als pellagrös beschriebenen Geistesstörungen um die einfache
Verbindung auch sonst bekannter Krankheitsbilder mit Pellagra.
Im Rückenmark,, besonders im Lendenteile, findet man Hinter-
seitenstrangsklerose, auch zerstreute Herde; der klinische Aus-
druck dieser Veränderungen sind Parästhesien, Herabsetzung der
Hautempfindlichkeit, Zittern, Muskelzuckungen, Steifigkeit, ge-
steigerte Kniereflexe, Lähmung und Schwäche der Beine, spasti-
scher oder spastisch-paretischer Gang.
Durch eine Vermengung des Brotgetreides mit Mutterkorn
entsteht, bei uns glücklicherweise recht selten, der Ergotismus,
der öfters von psychischen Störungen i) begleitet ist. Bisweilen hat
man es dabei anscheinend mit Vergiftungsdelirien zu tun; in der
Mehrzahl der Fälle dagegen entwickeln sich länger dauernde
Krankheitszustände, die aber bei geeigneter Behandlung wieder
verschwinden können, selbst nach längerer Zeit. Die psychischen
Anzeichen sind im allgemeinen Herabsetzung der Verstandes-
leistungen, mehr oder weniger ausgesprochene Bewußtseinstrü-
bung bis zur Betäubung, Verlangsamung des Denkens, Gedächt-
nisschwäche, Verwirrtheit, daneben häufige Angstzustände und
tiefes Krankheitsgefühl. Bisweilen treten articulatorische Sprach-
störungen ein; die Patellarreflexe schwinden, um bei günstigem
Verlaufe wiederzukehren. Ferner kommt es regelmäßig zu epi-
leptischen Krämpfen, unter Umständen zu einer fortschreitenden
epileptischen Erkrankung. Durch die Leichenöffnung ist in mehre-
ren Fällen eine Hinterstrangsklerose des Rückenmarks festgestellt
worden.
Die bei weitem größte Rolle bei der Erzeugung von Vergiftungs-
psychosen spielen die Genußmittel, von denen für uns der Alkohol-)
^WTT? ^'■^h- f- Psychiatrie, XI, i u. 2; Tuczek, ebenda XIII, i;
XVIII, 2; Jahrmärker, ebenda XXXV, 109.
Baer, Der Alkoholismus. 1878; Die Trunksucht und ihre Abwehr, 2. Aufl.
1907; Smith, Die Alkoholfrage. 1895; Grotjahn, Der Alkoholismus. 1898;
Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol, 3. Aufl. 1904; Matti Helenius, Die
Alkoholfrage. 1903; Zeitschriften: Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung
der Trinksitten; Der Alkoholismus; Die Alkoholfrage.
Vergiftungen.
87
eine ganz ungeheure Bedeutung besitzt. Die Angaben über die
Häufigkeit, mit welcher der Mißbrauch dieses Genußmittels zur
Aufnahme in die Irrenanstalt führt, schwanken, je nach dem
Volksstamm und den besonderen Verhältnissen, zwischen lO — 30,
ja bis 40 Prozent aller psychisch Erkrankten. In der Münchener
Klinik waren unter den 1906 und 1907 aufgenommenen Kranken
22,4% mit rein alkoholischen Geistesstörungen. Außerdem aber
befanden sich unter den übrigen Kranken noch 22,1%, bei denen
sich Alkoholmißbrauch nachweisen ließ. Einen Überblick über
deren Verteilung auf die einzelnen Krankheitsformen gibt die
Fig. I. Wir ersehen, daß der
Prozentsatz der Trinker be-
sonders hoch ist bei den Epi-
leptikern und den Unfallsner-
venkranken, daß er aber auch
bei der Arteriosklerose und bei
der Paralyse noch eine erheb-
liche Rolle spielt. Hier haben
wir es wohl überall mit gewis-
sen ursächlichen Beziehungen
zum Alkoholmißbrauche zu
tun. Weiterhin jedoch begeg-
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net uns eine Gruppe von Er- ".^
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krankungen, bei der durch die Fig. I.
, . , Aii^- Prozentsatz der Trinker bei verschiedenen
Verbmdung mit dem Alko- G,i3tesstörungen (München 1906 und 1907).
holismus wesentlich nur die
Erscheinungen des Leidens verschlimmert werden, was natürlich
für die erstere Gruppe außerdem auch zutrifft. Hierhin gehören
Idiotie und Imbecillität, ferner die psychopathischen Zustände und
bis zu einem gewissen Grade auch die Dementia praecox. Bei den
übrigen Formen des Irreseins, wenn wir etwa noch vom Morphi-
nismus absehen, tritt die Bedeutung des Alkoholmißbrauches mehr
zurück. Die Beteiligung des männlichen Geschlechts am Alkoho-
lismus ist aus naheliegenden Gründen überall eine unvergleich-
lich viel stärkere. Auf eine alkoholische Geistesstörung bei Frauen
kamen während des angeführten Zeitraumes in München 7,9
bei Männern, und auch bei den übrigen Trinkern stellte sich das
Verhältnis der Geschlechter wie i : 6,8. Der Anteil der Trinker
88
I. Die Ursachen des Irreseins.
an den einzelnen Formen des Irreseins erhöht sich daher für die
Männer allein ganz erheblich, so bei der Epilepsie auf 48,3%, bei
den Unfallsnervenkranken auf 46,2%, bei den Arteriosklerotikern
auf 47,1%, bei den Paralytikern auf 42,7%, bei Imbecillen und
Idioten auf 48,7%, bei den Psychopathen auf 52,6%; auch unter
den hysterischen Männern fanden sich 41,8%, die als Trinker zu
bezeichnen waren. In den niederen Gesellschaftsschichten allein
ist das Verhältnis für die Frauen ungünstiger, in den höheren er-
heblich günstiger.
Der Alkoholgenuß ist auf der Erde ungemein verbreitet. Die
meisten Völker haben es gelernt, sich auf irgend eine Weise das
berauschende Gift zu bereiten, die alten Ägypter aus Getreide, die
alten Deutschen und die Abessinier aus Honig, die Ostasiaten aus
Reis, die Tropenbewohner aus Palmen, die Mexikaner aus Agaven usf.
Man hat daraus vielfach den Schluß gezogen, daß der Alkohol für
den Menschen ein natürliches Bedürfnis sei. Demgegenüber ist
darauf hinzuweisen, daß bei den meisten Naturvölkern der Alkohol
nicht regelmäßig, sondern nur bei besonderen Anlässen erzeugt und
getrunken wird, vor allem aber, daß auch heute noch Hunderte von
Millionen Menschen vollständig ohne Alkohol leben. Das ist freilich
allein das Verdienst der Religionsstifter. Buddha wie Mohammed
und in neuerer Zeit der Gründer der Mormonensekte, Joseph
Smith, haben ihren Anhängern den Alkoholgenuß untersagt, und
dieses Verbot wird überall strenge eingehalten, wo seine Wirksam-
keit nicht durch das schlechte Beispiel und den Handelsgeist der
Europäer untergraben wird.
Die germanische Rasse scheint, worauf schon die Schilderungen
des Tacitus hinweisen, in ganz besonderem Maße zum Miß-
brauche des Alkohols geneigt zu sein. Zu einer rasch anwachsen-
den Gefahr, ja zu einer Lebensfrage ist der Alkoholmißbrauch
geworden, seitdem die fortschreitende Technik immer größere
Mengen billigen und konzentrierten Alkohols erzeugt, andererseits
das Braugewerbe wie die Weinfabrikation mit allen Hilfsmitteln
der Wissenschaft eine ungeahnte Höhe erreicht hat. Unter diesen
Umständen hat der Alkoholverbrauch im Laufe der letzten Jahr-
zehnte fast überall zugenommen. Nur die skandinavischen Länder,
welche vor etwa sechzig Jahren infolge der ungeheuren Aus-
breitung des Alkoholismus am Rande des Abgrundes standen,
Vergiftungen.
89
haben es vermocht, durch geeignete Maßregeln den furchtbaren
Feind wirksam zu bekämpfen, so daß sie heute in der Trunk-
suchtsstatistik mit die günstigste Stelle einnehmen. Auch in Finn-
land, Island, Kanada und einigen Staaten der Nordamerikanischen
Union hat die Gesetzgebung außerordentliche Erfolge in der Ein-
dämmung des Alkoholmißbrauches und zusammenhängend damit
in der gesundheitlichen und sittlichen Hebung des Volkes zu ver-
zeichnen. In den meisten übrigen Ländern und namentlich in
Deutschland läßt sich leider ein Anwachsen des Alkoholismus
nicht verkennen. Eine besonders verderbliche Rolle scheinen in
dieser Richtung die großen Städte mit ihrer zahlreichen Fabrik-
bevölkerung und ihrem Reichtum an Kneipen aller Art zu spielen,
der das ohnedies rasch steigende ,, Bedürfnis" womöglich noch zu
überflügeln sucht. So kommt es denn, daß in Deutschland für
geistige Getränke jetzt jährlich 2826 Millionen Mark ausgegeben
werden, während der gesamte Aufwand für Reichsheer und Marine
85872» derjenige für die Arbeiterversicherung 488 und der für
die öffentlichen Volksschulen 419 Millionen beträgt i). Der Bier-
verbrauch ist im Deutschen Reiche zwischen 1872 und 1900 von
81,4 auf 125,0 Liter für den Kopf der Bevölkerung angewachsen.
Die jährlichen Ausgaben der Berliner Lohnarbeiter 2) für geistige
Getränke betragen durchschnittlich 5,2 bis 7,7% des Jahresein-
kommens, steigend mit dem Wohlstande, während für Kleidung
5,3 — 9,6%, für Bildungszwecke gar nur 1,2—1,6% ausgegeben
werden. Bei Industriearbeitern in Baden wurde eine durchschnitt-
liche Ausgabe von 12,3% des Jahreseinkommens für geistige Ge-
tränke ermittelt; für die Wohnung wurden nur 10,8% verwendet.
Es gibt aber nicht wenige Arbeiter in unserem Vaterlande, welche
17 — 20% ihres täglichen Arbeitsverdienstes für Alkohol verbrauchen.
Ich kannte einen Sackträger, der jährlich etwa vierhundert Mark für
Alkohol ausgab. Als ein ganz besonders schlimmes Zeichen muß es
angesehen werden, daß in letzter Zeit auch die Beteiligung des weib-
lichen Geschlechtes an der Trunksucht erheblich zuzunehmen scheint.
1) Wein, Bier und Schnaps, Beiträge zur Alkoholfrage aus dem Reichsarbeits-
blatt, 8, 2. Aufl., 1906.
2) Lohnermittelungen und Haushaltsberechnungen der minder bemittelten Be-
völkerung im Jahre 1903, Berliner Statistik, 3. Heft. 1904; Die Verhältnisse der
Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karlsruhe, Bericht der Großh. Badischen
Fabrikinspektion. 1904.
gQ I. Die Ursachen des Irreseins.
Die bei weitem verderblichste Form alkoholischen Getränkes
ist der Schnaps, besonders der Kartoffelbranntwein, der häufig
außer dem Äthylalkohol auch die noch giftigeren höheren Alko-
hole, namentlich den Amylalkohol, enthält, und der in Südfrank-
reich und Oberitalien verbreitete Absinth (ätherisches Öl der Ar-
temisia Absynthium). Im biertrinkenden Süddeutschland und
selbst in den Weinländern spielen daher die schweren Formen
des Alkoholismus auch nicht im entferntesten die Rolle, wie etwa
im Nordosten, wo der Kartoffelfusel das wichtigste alkoholische
Genußmittel des Arbeiters bildet. Freilich wird der geringere Gift-
gehalt der schwächeren Getränke zumeist durch die größeren
Verbrauchsmengen reichlich wieder ausgeglichen. Außerdem macht
sich bei dem in ungeheuren Mengen genossenen Bier noch eine
andere Schädlichkeit geltend, die Wirkung der übermäßigen Zufuhr
kalter Flüssigkeit auf Magen, Nieren, Kreislaufsorgane und Stoff-
wechsel. So kommt es, daß die Häufigkeit der einzelnen alko-
holischen Geistesstörungen in den Gegenden mit vorwiegendem
Bier- oder Schnapsgenuß ein wesentlich verschiedenes Bild dar-
bietet. Während der Schnaps neben den schweren Formen des
chronischen Alkoholismus Alkoholepilepsie, Delirium tremens und
Korssakowsches Irresein erzeugt, haben wir es in Bierländern
mehr mit einer schleichenden Abnahme der körperlichen und
geistigen Leistungsfähigkeit, mit einer allgemeinen Vertrottelung
zu tun, der sich die Begleiterscheinungen der Aufgeschwemmtheit
und Unbeholfenheit sowie die Neigung zum Versagen des Herzens
und zu Hirnblutungen hinzugesellen. Da der Biergenuß wegen
seiner vermeintlichen Harmlosigkeit sich über viel weitere Be-
völkerungsschichten erstreckt, pflegen die durch ihn erzeugten
Veränderungen mehr das Gesamtbild der Bevölkerung zu beein-
flussen, als der doch immer nur in den niederen Schichten wirk-
lich regelmäßig getrunkene Schnaps. Übrigens greift auch der
Biertrinker zum Schnapse, wenn ihm infolge seines wirtschaft-
lichen Niederganges das Bier zu teuer wird. Von den in der Bier-
stadt München 1905 bei uns eingelieferten Trinkern nahmen 40%
neben dem Biere auch Schnaps zu sich.
Die ursächliche Bedeutung des Alkohols für die Erzeugung
von Geistesstörungen beruht vor allem auf der durch ihn herbei-
geführten Vergiftung der Hirnrinde. Tierversuche haben gezeigt.
Vergiftungen.
91
daß wiederholte Alkoholgaben, die einzeln noch nicht als tötliche
anzusehen sind, ausgebreitete und tiefgreifende Zerstörungen an
den Nervenzellen der Hirnrinde herbeizuführen vermögen. Dieser
Befund steht in Übereinstimmung mit psychologischen Versuchen,
die von Fürer^) und Rüdin^) angestellt worden sind. Bei den-
selben ergab sich nämlich, daß sich die Nachwirkung eines mäßigen
Rausches in dem psychischen Verhalten der Versuchsperson 12
bis 24, unter Umständen sogar 48 Stunden lang deutlich nach-
weisen ließ. Sie bestand, ganz wie die akute Alkoholwirkung, in
einer Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit, einer ge-
steigerten motorischen Erregbarkeit und der Neigung zu gewohn-
heitsmäßigen und Klangassoziationen.
Bei dauerndem Gebrauche des Alkohols müssen sich die Wir-
kungen der einzelnen Gaben naturgemäß allmählich häufen. In
der Tat kann es keinem Zweifel unterliegen, daß sich im Gehirne
des Trinkers schließlich Veränderungen herausbilden, welche den
einzelnen Rausch weit überdauern. Bei einem Trinker konnte
ich eine starke Herabsetzung der Auf fassungsfähigkeit , wahr-
scheinlich verbunden mit erhöhter psychomotorischer Erregbarkeit,
vierzehn Tage nach dem Beginne vollständiger Enthaltsamkeit
nachweisen. Wie schnell solche Veränderungen zustande kommen,
läßt sich von vornherein schwer sagen; sicherlich wird hier die
persönliche Widerstandsfähigkeit eine erhebliche Rolle spielen.
Immerhin hat Smith=^) den Nachweis geführt, daß eine tägliche
Alkoholmenge, die etwa zwei Litern Bier entsprach, bereits vom
zweiten Tage an eine dauernde Herabsetzung der geistigen Leistungs-
fähigkeit bewirkte. Sobald nach zwölf Tagen der Alkoholgenuß
ausgesetzt wurde, verlor sich diese Schädigung freilich sofort;
allein, als sieben Tage später von neuem Alkohol genommen wurde,
trat nunmehr die Wirkung des Giftes bereits am ersten Tage
mit voller Deutlichkeit wieder hervor. Ganz ähnliche Versuchs-
ergebnisse erhielt Kürz"). Diese nunmehr bei vier Personen
übereinstimmend gewonnenen Erfahrungen sprechen dafür, daß
1) Für er, Bericht über den V. internat. Kongreß zur Bekämpfung des Miß-
brauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 355.
2) Rüdin, Psychologische Arbeiten, IV, i u. 495.
•'') Smith, Bericht über den V. internat. Kongreß zur Bekämpfung des Miß-
brauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 341.
4) Kürz und Kraepelin, Psychologische Arbeiten, III, 417.
92
I. Die Ursachen des Irreseins.
eine dauernde Nachwirkung des regelmäßigen Alkoholgenusses
schon nach verhältnismäßig sehr kurzer Zeit sich einstellen kann.
Freilich mag sie lange äußerst geringfügig bleiben — dennoch
dürften die mitgeteilten Versuche geeignet sein, uns einen Einblick
in die ersten leisen Anfänge des chronischen Alkoholismus zu ge-
währen.
Sie geben uns zugleich, wie ich denke, einen Anhaltspunkt für
die Beantwortung der wichtigen Frage: Wer ist als Trinker zu
betrachten? Da die dauernden Wirkungen des Alkohols sich bei
regelmäßigem Gebrauche sehr rasch einstellen, wenn die Zwischen-
zeit zwischen zwei mittleren Gaben weniger als ein bis zwei Tage
beträgt, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß sich wahrschein-
lich bei der Mehrzahl derjenigen Personen, welche täglich 80
bis 100 g Alkohol zu sich nehmen, Andeutungen psychischer Ver-
änderungen werden nachweisen lassen. Dafür spricht auch die
Erfahrung, daß vielfach das Aufgeben eines mäßigen täglichen
Alkoholgenusses bereits eine deutlich merkbare Besserung der
gesamten Leistungsfähigkeit und des Allgemeinbefindens zur Folge
hat. Über die Rolle, welche der Gewöhnung bei regelmäßigem
Alkoholgenuß zukommt, ist noch wenig Sicheres bekannt. Es
scheint nicht, als ob die Dauer der Enthaltsamkeit bei vorher
mäßigen Personen einen wesentlichen Einfluß auf die Empfindlich-
keit gegen den Alkohol hat. Dagegen steht die Abnahme der akuten
Alkoholwirkungen bei regelmäßigem Trinken wohl außer Zweifel;
andererseits nimmt bei alten Säufern die Empfindlichkeit gegen
das Gift wieder zu. Im Hinblicke auf die bei anderen Giften noch
viel ausgeprägteren Gewöhnungserscheinungen werden wir wohl
annehmen dürfen, daß es sich dabei um dauernde Nachwirkungen
des Alkohols in unserem Nervengewebe handelt, die nicht, wie
die Folgen der Übung, eine Kräftigung bedeuten, sondern, wie die
Unempfindlichkeit gegen Morphium, als krankhafte Verände-
rungen aufgefaßt werden müssen.
Bei schwererem und lange dauerndem Alkoholmißbrauche
stellen sich regelmäßig außer den Wirkungen auf Gehirn und
Seelenleben auch mehr oder weniger ausgebreitete Veränderungen
in den verschiedensten Organen des Körpers ein; namentlich die
Blutgefäße werden verhältnismäßig früh in Mitleidenschaft ge-
zogen. Es kommt auf diese Weise schließlich zu einem schweren
Vergiftungen.
93
Siechtum, das nur sehr langsam und nur bis zu einem gewissen
Grade der Rückbildung noch fähig ist. Aber auch die leichteren
Grade des Alkoholismus, wie sie von der öffentlichen Meinung
und namentlich auch vom Trinker selbst gar nicht weiter beachtet
werden, sind schon imstande, eine dauernde Beeinträchtigung
der Gesundheit zu erzeugen. Dafür sprechen mit Sicherheit
die über Jahrzehnte sich erstreckenden Erfahrungen der eng-
lischen Lebensversicherungsgesellschaften, nach denen die Lebens-
erwartung der Enthaltsamen um 20 — 30% größer ist, als die-
jenige der übrigen Versicherten. Daß auch die Widerstandsfähig-
keit gegen ansteckende Krankheiten durch dauernde Alkohol-
einwirkung herabgesetzt wird, lehren die klinische Erfahrung wie
die Versuche Laitinens, dessen alkoholisierte Tiere schwerer zu
immunisieren waren, weniger reichliche Hämolysinbildung zeigten
und daher bei künstlicher Infektion rascher oder auf kleinere
Gaben erlagen.
Ganz besonders folgenschwer wird das Alkoholsiechtum durch
den Umstand, daß es anscheinend einen äußerst verderblichen Einfluß
auf die Nachkommenschaft auszuüben imstande ist. Demme^)
hat zur näheren Beleuchtung dieser Frage im Laufe von zwölf
Jahren die Kinder in zwei Gruppen von je zehn Familien unter-
sucht. In der ersten dieser Gruppen waren die Eltern Trinker, in
der anderen nüchterne Leute. Auf die Trinkergruppe entfielen ins-
gesamt 57 Kinder; von denselben waren nur 10, also i7»5%> völlig
normal. Die übrigen litten an verschiedenartigen, auf eine Ent-
artung hinweisenden Leiden, Mißbildungen, Zwergwuchs, Veitstanz,
Epilepsie, Idiotie; 25 Kinder starben in den ersten Lebensmonaten.
Aus den nüchternen Familien gingen 61 Kinder hervor. Von diesen
starben nur 5; 4 Kinder litten später an Krankheiten des Nerven-
systems, 2 an Bildungsfehlern. Der Rest von 50 Kindern dagegen,
mithin 81,9%, war und blieb völlig gesund.
Diese Erfahrungen haben seither sehr vielfache Bestätigung
erfahren. So fand Plaut, daß von 183 Trinkerkindern 32,7 im
ersten Lebensjahre starben und 59% der Überlebenden psychisch
nicht gesund waren. Auch unter den übrigen wiesen fast die Hälfte
körperliche Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen auf. Ar-
1) De mme, Über den Einfluß des Alkohols auf den Organismus der Kinder. 1891.
94
I. Die Ursachen des Irreseins.
rive^) stellte durch den Vergleich von 433 Kindern aus Trinker-
familien mit 847 aus mäßigen Familien die größere Häufigkeit
der Fehl- und Totgeburten wie die größere Sterblichkeit der ersteren
fest. Das sechste Lebensjahr erlebten aus den Trinkerfamilien 50,4,
aus den mäßigen 69,7% der Früchte. Die größere Empfindlich-
keit der Trinkerkinder gegen Tuberkulose wurde durch Bunge^)
dargetan. Bourneville berichtet, daß unter 2554 von ihm unter-
suchten, psychisch kranken Kindern 235 sicher und 86 wahr-
scheinlich im Rausche erzeugt waren. Bezzola hat die Zeit der
Empfängnis für 8196 schwachsinnige Kinder in der Schweiz aus-
gerechnet und sie mit der entsprechenden Jahreskurve für die
Empfängnis aller Kinder verglichen. Die dabei gefundenen Ab-
weichungen ergeben, daß in der Zeit um Neujahr, zu Fastnacht
und während der Weinlese unverhältnismäßig mehr schwachsin-
nige Kinder gezeugt werden, ein Verhalten, dessen Beziehung zum
Alkoholmißbrauch kaum bezweifelt werden kann. Durch solche
Erfahrungen gewinnt die alte Behauptung, daß im Rausch er-
zeugte Kinder entarten, neue Stützen, ja, es ist schon darauf hin-
gewiesen worden, daß die bekannte körperliche und geistige Minder-
wertigkeit der unehelich Geborenen zum Teil vielleicht auf der
häufigen Mitwirkung des Alkohols bei ihrer Erzeugung beruhen
könne. Allerdings wird bei den angeführten und ähnlichen Er-
hebungen zu berücksichtigen sein, daß außer der unmittelbaren
Keimschädigung durch den Alkohol noch eine Menge mittelbarer,
für die Nachkommenschaft ungünstiger Einflüsse mit hinein-
spielen, so vielfach eine angeborene Minderwertigkeit des Trinkers,
sein wirtschaftliches Elend, der Mangel an Fürsorge für die Familie,
häufige Aufregungen, unregelmäßige Lebensführung usf. Anderer-
seits würde sich die volle Größe des Unheils, das der Alkoho-
lismus der Erzeuger für die Kinder bedeutet, erst ermessen lassen,
wenn man die gesamten Schicksale dieser letzteren bis zu ihrem
Tode verfolgen könnte. Aber auch so schon werden wir überall
mit erschreckender Deutlichkeit auf die Tatsache hingewiesen, daß
die chronische Alkoholvergiftung nicht nur den Einzelnen ver-
nichtet, sondern auch dem kommenden Geschlechte schon im
Keime den Stempel der Entartung aufdrückt.
1) Arrive, Influenae de l'alcoolisme sur la depopulation. 1899.
2) Bunge, Virchows Archiv CLXXV, 196.
Vergiftungen.
95
Eine weitere Erläuterung dieses Satzes gibt uns die Tatsache,
daß 30 — 40% der Trinker von trunksüchtigen Eltern abstammen.
Bourneville fand, daß unter den von ihm untersuchten idio-
tischen, epileptischen, hysterischen oder imbecillen Kindern 36,5%
einen trunksüchtigen Vater, 3,1% eine trunksüchtige Mutter
hatten, während bei 1,5% beide Eltern Trinker waren. Auch
sonst läßt sich nachweisen, daß 20 — 30% der Epileptiker und
Idioten und ein noch größerer Anteil der Verbrecher, Zwangs-
zöglinge und Straßendirnen trunksüchtige Erzeuger hatten. Bon-
höf f er konnte bei seinen großstädtischen Bettlern und Land-
streichern in 35%, bei den Prostituierten in 44,7% der Fälle elter-
lichen Alkoholismus feststellen; Mönkemöller erhob bei 300
Zwangszöglingen nach Ausschluß von 50 unehelich Geborenen
145 mal Alkoholismus des Vaters, 12 mal der Mutter und 4 mal
beider Eltern ; zahlreiche Schädelnarben bei diesen Kindern mußten
auf Mißhandlungen durch den betrunkenen Vater zurückgeführt
werden. Auch die Fähigkeit zum Stillen soll nach Bunges^)
Untersuchungen in Trinkerfamilien erlöschen.
In seiner verhängnisvollen Einwirkung auf den Einzelnen und
sein ganzes Geschlecht wird der Alkohol, wie schon angedeutet, zu-
meist noch unterstützt durch eine Anzahl ähnlicher Schädlichkeiten,
die mit dem Mißbrauche jenes Genußmittels Hand in Hand zu gehen
pflegen. Der Schnaps ist vorzugsweise das Getränk des armen
Mannes, der von ihm Anregung und Erwärmung erwartet, ja dem
er zum Teil die Nahrung ersetzen soll; die tägliche Not des wirt-
schaftlichen Elendes , ungenügende Ernährung , schlechte Woh-
nungs- und Arbeitsverhältnisse ebnen seinem Einflüsse hier den
Weg. So kommt es, daß der anfangs nur aus bestimmtem An-
lasse, nach starker Anstrengung, am Lohntage oder in verführe-
rischer Gesellschaft genossene Schnaps allmählich zum Lebens-
bedürfnisse wird, und der Gewohnheitstrinker nun regelmäßig,
Tag für Tag, bei und nach der Arbeit wie an den Sonntagen, zu
Hause wie in der Kneipe zum Alkohol greift. Umgekehrt aber ist
es gerade der Alkohol, der durch seine vernichtenden Wirkungen
auf das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen des Trinkers
mit Notwendigkeit den wirtschaftlichen Zusammenbruch herbei-
) Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, zu stillen, 6. Aufl. 1909.
I. Die Ursachen des Irreseins.
führt und auf diese Weise einen Kreislauf herstellt, aus dem es
kein Entrinnen mehr gibt. Die Gefahr, auf diese schiefe Ebene
zu geraten, ist wegen der anheiternden Wirkungen des Alkohols
und wegen der überall bereiten, zur Volksunsitte gewordenen
Verführung weit größer, als gemeinhin angenommen wird. Leider
können wir unserer Gesetzgebung den schweren Vorwurf nicht
ersparen, nahezu untätig- dem Anwachsen der Trunksucht gegen-
überzustehen, ja sie durch liebevolle Begünstigung der verschie-
denen Alkoholgewerbe geradezu zu fördern. Sie folgt damit aller-
dings nur dem Beispiele der ,, öffentlichen Meinung", welche in
Deutschland das Recht auf den Trunk unter allen Umständen ge-
sichert wissen will. Selbst in den Kreisen der Ärzte, die aus viel-
fältiger trauriger Erfahrung die zerstörende Wirkung des Alkohols
genugsam kennen sollten, wird dieser schlimmste Feind unseres
Volkes in unbegreiflicher Gedankenlosigkeit noch vielfach als Stär-
kungsmittel für Schwache und gar für Kinder angepriesen.
Es mag immerhin zugegeben werden, daß die nachteiligen
Folgen eines mäßigen Alkoholgenusses und selbst eines gelegent-
lichen Übermaßes von kräftigen Naturen ohne schwere Schädi-
gung ertragen werden. Allein die Zahl derjenigen, die infolge
ihrer schwächeren Veranlagung oder ungünstiger Verhältnisse
tagtäglich durch den Alkohol um Gesundheit und Lebensglück
gebracht werden, ist wahrlich übergroß! Die Mitschuld fällt auf
uns alle. Niemand wird leugnen wollen, daß in den gebildeten
Kreisen kaum weniger als in den breiten Massen unseres Volkes
der Alkoholmißbrauch mit einer Nachsicht geduldet, ja mit einem
Wohlwollen gezüchtet wird, welches eine der wichtigsten Ur-
sachen für die gewaltige, verderbenbringende Macht jener Volks-
seuche bildet. Alljährlich zahlen wir nicht nur an Landstreichern
und Tagedieben oder ähnlich wertlosem Menschenausschuß, sondern
auch an tüchtigen, ja hochbegabten Naturen dem Gifte einen
reichen Tribut. Freilich sind es vorzugsweise haltlose und schwache
Persönlichkeiten, die dem Einflüsse des Alkohols unterliegen, aber
wir dürfen dabei nicht vergessen, daß dieses Gift gerade selbst
den Willen und die Widerstandskraft des Menschen vernichtet und
sich auf diese Weise die günstigen Bedingungen schafft, die ihm
den endlichen Sieg ermöglichen.
Die psychischen Störungen, die der Alkoholmißbrauch er-
Vergiftungen.
97
zeugt, sind außer dem Rausche und dem einfachen alkoholischen
Schwachsinn vor allem das Delirium tremens, ferner der Alkohol-
wahnsinn, der Eifersuchtswahn und der halluzinatorische Schwach-
sinn der Trinker, endlich die Hauptmasse der Korssako wschen
Geistesstörung. Die Häufigkeit, mit der sich die einzelnen Formen
entwickeln, wird sehr wesentlich von der Art der genossenen Ge-
tränke bestimmt. So erzeugt der übermäßige Biergenuß in München
außer den Rauschzuständen ganz vorwiegend den einfachen alko-
holischen Schwachsinn, während die Deliranten nur etwa 9,2%
der Alkoholisten ausmachen. Demgegenüber werden in Breslau,
wo vorwiegend Schnaps getrunken wird, jährlich 8 — 9 mal soviel
Deliranten beobachtet; auch die Korssakowsche Psychose und
der Alkoholwahnsinn sind bei Schnapstrinkern sehr viel häufiger,
als bei Bieralkoholisten. Weiterhin pflegt der Alkohol bei frischen
Aufregungszuständen verschiedenster Art, besonders bei manischen
und paralytischen Kranken, eine rasche und sehr erhebliche Ver-
schlimmerung aller Erscheinungen herbeizuführen. Zu beachten ist
indessen, daß häufig die Neigung zum Alkoholmißbrauche nicht so-
wohl die Ursache, sondern vielmehr ein Zeichen des ausgebrochenen
Irreseins darstellt. Bei epileptischer Veranlagung können unter
Umständen schon mäßige Alkoholmengen die schwersten psychi-
schen Störungen auslösen ; auch bei Psychopathen und Hysterischen
sehen wir häufig genug unverhältnismäßig heftige Erregungen
unter Alkoholeinfluß auftreten.
Dem Alkohol stehen chemisch sehr nahe der Äther^) und
das Paraldehyd^). Der erstere ist schon seit längerer Zeit in
Irland und neuerdings auch in Ostpreußen in größerem Maßstabe
als billiges Ersatzmittel für den Alkohol in Gebrauch, meist mit
Branntwein gemischt; hie und da wird er auch eingeatmet. Wie
Sommer mitteilt, wurden im Kreise Memel schon im Jahre 1897
nicht weniger als 8580 1 Äther zu Trinkzwecken verkauft. Der
Äther berauscht stärker als der Alkohol; er scheint gerade wie
jener ein dauerndes Siechtum mit Erkrankung der Nieren, der
Leber und Verfettung des Herzens herbeizuführen. Auch das
Petroleum und das Benzin sind bisweilen als Genußmittel zur
Erzeugung von Rauschzuständen benutzt worden, seltener das
^) Sommer, Neurol. Centralbl. XVIII, 194. 1899.
2) Rein hold, Therap. Monatsh., 1897, Juni.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 7
I- Die Ursachen des Irreseins.
Chloroform; letzteres kann auch im Anschlüsse an die Narkose
Delirien mit heiterer Erregung und rückschreitendem Erinnerungs-
verluste auslösen.
Die Wirkung des Paraldehy ds auf das Seelenleben ist derjenigen
des Alkohols sehr ähnlich. Nur erreicht die lähmende Wirkung
auf Auffassung und Denken viel rascher sehr hohe Grade, während
die psychomotorische Erregung, die beim Alkohol so stark aus-
geprägt ist, verhältnismäßig geringfügig bleibt. Aus diesen Gründen
findet das Paraldehyd im allgemeinen nur als Schlafmittel, nicht
als Genußmittel Anwendung. Es sind jedoch Fälle bekannt ge-
worden, in denen eine allmählich eintretende Gewöhnung zur
dauernden Anwendung sehr hoher Gaben, bis zu 30 und 40 g im
Tage, und damit zu einem dem chronischen Alkoholismus ent-
sprechenden Siechtume geführt hat. Die Erscheinungen waren
Schwinden der Eßlust, Sinken der Ernährung, Abnahme des Ge-
dächtnisses und der geistigen Leistungsfähigkeit, Zittern. Einige
Male wurden Zustände beobachtet, die genau dem Delirium der
Trinker glichen. Probst sah nach Verbrauch von 150 g in 36
Stunden ein Paraldehyddelirium, das binnen sieben Tagen in Ge-
nesung ausging.
Eine chronische Vergiftung, die zwar weniger verbreitet ist
als der Alkoholismus, aber dafür noch immer erschreckend zu-
nimmt, haben uns die letzten Jahrzehnte in der Morphiumsucht
kennen gelehrt, wie sie sich bei lange fortgesetztem Gebrauche
von Morphiumeinspritzungen entwickelt. Auch beim Morphium
begegnen wir im allgemeinen einer Verbindung von lähmenden und
erregenden Wirkungen des Giftes auf die Hirnrinde; wie es in-
dessen scheint, betreffen die ersteren mehr dijs Willensantriebe,
die letzteren mehr die Auffassung und die Verstandesleistungen.
Da das anfängliche Wohlbehagen schon nach einigen Stunden einer
sehr quälenden Erschlaffung und Niedergeschlagenheit weicht, die
nur durch das Mittel selbst wieder beseitigt werden kann, so bildet
sich überall dort, wo dem Kranken das Morphium zugänglich ist,
ein beständiger Wechsel zwischen scheinbarem Wohlbefinden unter
dem Einflüsse des Giftes und jenem unangenehmen Nachstadium
des morphinistischen Katzenjammers heraus. Dazu kommt, daß
mit der Zeit eine wachsende Gewöhnung an das Mittel eintritt,
die gebieterisch eine oft ins Unglaubliche gehende Erhöhung der
Vergiftungen.
99
Gabe fordert. Auf diese Weise entsteht das Bild des chronischen
Morphinismus mit seinen schweren Folgen für die körperliche,
geistige und sittliche Leistungsfähigkeit, mit dessen Betrachtung
im einzelnen wir uns späterhin noch sehr eingehend zu beschäf-
tigen haben werden. Ihm entspricht offenbar in allen wesentlichen
Zügen dasjenige der Opiophagie, wie sie in Ostasien so weit ver-
breitet ist, doch scheint das Opium mehr als das Morphium die
Entstehung heiterer, farbenreicher Traumzustände zu begünstigen.
Die neuesten Abarten des Morphinismus sind der Dioninismus
und der Heroinismus der besonders bedenklich zu sein scheint.
Das Heroin ist Diacetylmorphin und wird gegen Schmerzen, Schlaf-
losigkeit, Nervosität, Husten angewendet; die Gaben können sich
dabei rasch auf mehrere (angeblich selbst bis zu 20) Gramm täglich
steigern. Die Wirkung ist ein rascher psychischer Verfall. Bei
der Entziehung treten sehr schwere Störungen auf, Hinfälligkeit,
starke Schweiße, Atemnot bis zum Atmungsstillstande, die nur
durch Morphium mit Äther, nicht aber durch das Heroin beseitigt
werden können.
Zur Milderung der Entziehungserscheinungen bei der Morphium-
entwöhnung ist vielfach das Cocain in Anwendung gezogen
worden. Nur zu bald hat sich indessen herausgestellt, daß dieses
Mittel noch schlimmere Gefahren mit sich führt als das Morphium.
Der psychische Verfall des Cocainisten schreitet weit rascher fort,
als derjenige des Morphinisten, ja auch des Trinkers, und führt
sehr bald zu hochgradigster Abschwächung der gesamten psychi-
schen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit mit den Erscheinungen
psychomotorischer Erregung. Außerdem aber entwickelt sich unter
dem Einflüsse jenes Giftes ein eigenartiges Krankheitsbild, der
Cocainwahnsinn. In ihrem Heimatlande Peru ist die Coca ein
beliebtes Genußmittel ; auch dort sind die schweren Folgen des regel-
mäßigen Cocagebrauches für die leibliche und geistige Gesundheit
hinlänglich bekannt.
In größter Ausdehnung wird ferner in Vorderasien und Nord-
afrika das Haschisch geraucht. Warnock^) berichtet, daß in
die Anstalt bei Kairo von 253 aufgenommenen Kranken 80, da-
1) Duhem, Progres medical, 23. Febr. 1907.
2) Warnock, Journal of mental science, Januar 1903, 96; Scholtens,
Psychiatrische en neurologische Bladen, 1905, 244.
7*
2QQ ^' Ursachen des Irreseins.
runter nur fünf Frauen, durch Haschisch vergiftet waren. Er
unterscheidet einmal die akuten, traumhaften HaschischdeUrien,
dann länger dauernde ängstliche Erregungszustände und endlich
Verblödungszustände mit großer Willensschwäche und erhöhter ge-
mütlicher Reizbarkeit. Ähnliche Erkrankungen scheint das in Nord-
sibirien gewohnheitsgemäß genossene Gift des Fliegenschwam-
mes zu erzeugen.
Von den Arzneimitteln geben vielleicht die Bromsalze am
häufigsten Anlaß zu psychischen Störungen. Ihre zu lange fort-
gesetzte Anwendung bewirkt eine Abschwächung der psychischen
Leistungen bis zur völligen Stumpfheit mit gleichzeitigen nervösen
Lähmungserscheinungen. Dazu gesellen sich Verdauungsstörungen,
bronchitische Erkrankungen und die bekannte Acne. Der hier
und da beobachtete Mißbrauch des Sulfonals führt zu bedeuten-
der Verlangsamung der Auffassung und des Denkens, Unbesinnlich-
keit, Verworrenheit, Schläfrigkeit; zugleich stellen sich Schwindel,
Ataxie, Schwäche in den Beinen, epileptiforme Anfälle, Paräs-
thesien, ferner Übelkeit, Erbrechen und Verdauungsstörungen ein.
Nach Jodoformgebrauch^) ist ängstliche, weinerliche Unruhe
beobachtet worden, die sich bis zu deliranter Verwirrtheit mit
Sinnestäuschungen steigern kann; ob bei den übrigen auf Jodo-
formwirkung zurückgeführten Krankheitsbildern ein ursächlicher
Zusammenhang besteht, erscheint mir zweifelhaft. Vereinzelte Fälle
von Vergiftungsdelirien liegen ferner vor bei Atropin, Hyoscin,
Chinin, Salicylsäure, Leuchtgas, Schwefelwasserstoff,
Stickstoff oxydul usf.
Größere praktische Bedeutung haben gewisse Vergiftungen, die
als Gewerbekrankheiten auftreten. Dem Quecksilber, wie es
in Bergwerken, Spiegelfabriken, unter Umständen auch bei anti-
luetischen Kuren, massenhaft aufgenommen wird, schreibt man
Geistesstörungen zu mit sehr erhöhter Reizbarkeit, Schreckhaftig-
keit, Verlegenheit, Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, ängstlichen
Träumen und Schlaflosigkeit. Auf dieser Grundlage sollen dann
weiterhin Aufregungszustände verschiedener Art oder aber eine
allmähliche Abnahme aller psychischen Leistungen zur Entwick-
lung gelangen, Schwäche des Gedächtnisses und Urteils, Gemüts-
1) Schlesinger, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 979.
Vergiftungen.
lOI
Stumpfheit und Willenlosigkeit. Die besonders bei Malern, Gießern
und Schriftsetzern beobachtete ,,Ence phalo pathia saturnina"^)
erzeugt einmal akut verlaufende Bleidelirien mit tiefer Bewußt-
seinstrübung und Sinnestäuschungen, sodann aber ausgeprägte psy-
chische Schwächezustände mit Abnahme des Gedächtnisses, gemüt-
licher Stumpfheit, Angstgefühlen, Verfolgungsideen, Selbstmord-
neigung und Ausbrüchen von Gewalttätigkeit. Dazu gesellen sich
Alkoholintoleranz, Kopfschmerzen, epileptische Krämpfe, Muskel-
zuckungen, Zittern, Sprachstörung, Radialislähmung und die sonsti-
gen bekannten Zeichen der chronischen Bleivergiftung. Die Nerven-
zellenveränderungen bei rascher Einfuhr von Blei hat Nissl näher
verfolgt.
Die Vergiftung mit Phosphor scheint nach meinen Be-
obachtungen in den letzten Lebenstagen deliriöse Zustände mit
Verworrenheit, Stimmungswechsel und ausgeprägt paraphasischen
Reden unter Übergang in tiefstes Koma erzeugen zu können.
Die Rindenzellen zeigen sich in der Weise verändert, daß sich
die nicht färbbare Substanz sehr stark färbt, der feinere Aufbau
sich verwischt, der Umriß des Kernes undeutlich wird; schließlich
verschwinden die Zellen ganz, oder sie bleiben als schattenartige
Gebilde ohne deutliche Gliederung in ihren früheren Umrissen
noch annähernd erkennbar. Das Kohlenoxydgas^), das den
Sauerstoff aus dem Hämoglobin verdrängt und Stauungen, Blu-
tungen und Erweichungsherde im Hirn herbeiführt, erzeugt ein-
mal schwere Verworrenheit mit Delirien und Erinnerungsverlust,
der vielfach auf die Zeit vor der Vergiftung zurückgreift. So-
dann aber kann sich einige Tage nach der Erholung aus diesem
Zustande ein geistiger Schwächezustand entwickeln, der nament-
lich durch hochgradige Gedächtnisschwäche neben Unklarheit und
Stumpfheit gekennzeichnet ist und unter Umständen unheilbar
wird oder selbst zum Tode führt. Lähmungen, Schwindelanfälle,
Erschwerung der Sprache, Unsicherheit der Bewegungen, Steige-
rung der Reflexe weisen dabei auf greifbare Hirnschädigungen hin.
1) Jolly, Charitöannalen, XIX; Probst, Monatsschr. f. Psychiatrie, IX, 444;
Quensel, Arch. f. Psychiatrie, XXXV, 612; Hübner, Geisteskrankheiten nach
Bleivergiftung. Diss. 1904.
2) Greidenberg, Annales m6dico- psych., VIII, 12, 58, 1900; Sibelius,
Monatsschr. f. Psychiatrie, XVIII, Ergänzungsband, 39.
102
I. Die Ursachen des Irreseins.
Da das Kohlenoxydgas selbst sich nur wenige Tage lang im Körper
nachweisen läßt, muß es sich bei den fortschreitenden Krank-
heitsfällen um zerstörende Nachwirkungen des Giftes auf irgend-
welche Körperorgane handeln; Sibelius denkt besonders an Gefäß-
erkrankungen. Bei höherem Alter und bei starker Giftigkeit des
zugeführten Gasgemisches scheint die Gefahr des Wiedereinsetzens
schwerer Krankheitserscheinungen nach Ausgleich der anfänglichen
Störungen am größten zu sein.
Eine ganz besondere Bedeutung für die Entstehung von Geistes-
krankheiten ist auch dem Schwefelkohlenstoff zugeschrieben
worden, der neben Verdauungsstörungen Kopfschmerzen, Schwindel-
gefühl, Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche, Muskelschwäche und
Empfindungsstörungen hervorzurufen vermag. Eine ganze Reihe
verschiedenartiger, zum Teil selbst unheilbarer oder tötlich ver-
laufender Psychosen soll durch die Einatmung der Dämpfe jenes
Stoffes in Gummifabriken erzeugt werden. Abgesehen indessen von
gewissen rasch verlaufenden deliranten Zuständen mit heiterer,
seltener trauriger Verstimmung, Schwindelanfällen, Schwere in den
Gliedern, Appetitlosigkeit und hartnäckiger Verstopfung, entsprechen
die bisher bei Schwefelkohlenstoffarbeitern beobachteten psychi-
schen Störungen im allgemeinen völlig solchen Krankheitsbildern,
die wir auch ohne die Einwirkung jenes Giftes auftreten sehen,
namentlich der Hysterie und der Dementia praecox; einzelne er-
innern an zirkuläre Erkrankungen oder an Infektionsdelirien. Der
Nachweis, daß die Schwefelkohlenstoffvergiftung hier die wirkliche
Krankheitsursache gewesen sei , scheint mir noch nicht erbracht
zu sein. Endlich liegen noch einige Beobachtungen von plötzlichen
rauschartigen Erregungszuständen nach Vergiftungen durch Anilin,
Binitrotoluol und Toluidin^) vor,
Organerkrankungen. Einer der schwierigsten und umstritten-
sten Abschnitte in der Ätiologie der Psychosen ist die Lehre von
dem Einflüsse der Organerkrankungen. Hier ist der Zusammen-
hang naturgemäß stets ein sehr verwickelter, selbst durch große
1) H a m p e , Über die Geisteskrankheiten infolge Schwefelkohlenstoff Vergiftung.
I89S; Reynolds, Journal of mental science, XLII, 25; Laudenheimer , Die
Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter. 1899; Köster, Arch. f. Psy-
chiatrie, XXXir, 569, 903; Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., XXVI; Quensel,
Monatsschr. f. Psychiatrie, XVI, 48, 246.
2) Friedländer, Neurol. Centralbl., XIX, 155, 294, 1900.
Organerkrankungen.
103
Zahlen nicht immer sicher nachweisbarer, so daß die Deutung
der einzelnen Erfahrung bis zu einem gewissen Grade zumeist
dem persönlichen Ermessen des Beobachters überlassen bleibt.
Unter den Erkrankungen der Sinnesorgane sind es nament-
lich Ohrenleiden welchen ein Einfluß auf die Entstehung von
Psychosen zuzukommen scheint. Einerseits findet man bei lange
dauernden Gehörstäuschungen häufiger alte Mittelohrerkrankungen
mit Veränderungen der elektrischen Akusticusreaktion, so daß man
sich der Annahme eines gewissen Zusammenhanges nicht wohl
erwehren kann; insbesondere liegt sie bei einseitigen Gehörs-
täuschungen nahe. Bisweilen knüpfen sich die Trugwahrneh-
mungen geradezu an Ohrgeräusche, Sausen und Klingen, an,
bessern und verschlechtern sich mit ihnen, können auch durch
die Behandlung von Ohrenleiden, unter denen namentlich alte
Mittelohreiterungen, aber auch Sklerosen in Betracht kommen,
günstig beeinflußt werden; es werden Fälle berichtet, in denen
schon die Beseitigung eines Ohrenschmalzpfropfes die Täuschungen
zum Verschwinden brachte. Hier und da hat man auch ängstliche
Aufregungszustände bei akuteren oder bei Verschlimmerung chro-
nischer Ohrenleiden gesehen. Bei erworbener Schwerhörigkeit be-
obachtet man gelegentlich einförmige Beeinträchtigungsideen mit
Gehörstäuschungen und Beziehungswahn, die anscheinend viele
Jahre hindurch fortbestehen können, ohne sich weiter zu ent-
wickeln. Wenn es auch bei der Schwierigkeit der Verständigung
fast unmöglich ist, sich ein klares Bild von dem Seelenzustande
solcher Kranken zu verschaffen, so ist man doch versucht, diese
„Psychose der Schwerhörigen" mit dem Ohrenleiden in ursäch-
Hche Verbindung zu bringen. Sie erscheint gewissermaßen als eine
Weiterbildung des bekannten Mißtrauens, das sich bei Schwer-
hörigen so leicht einstellt, verknüpft mit den Täuschungen, die
auf dem Gebiete des Gehörssinnes teils durch Krankheitsvor-
gänge, teils durch die Anspannung der Aufmerksamkeit bei Weg-
fall äußerer Eindrücke entstehen. Der wichtigen Beziehungen der
Taubstummheit zu geistigen Schwächezuständen kann hier nur
kurz gedacht werden. Wo jenes Leiden durch Hirnveränderungen
1) Jacques, Des accidents psychiques lies aux maladies de l'oreille, These.
1905; Bryant, Journal of nervous and mental diseases, 1906, 553; ßechterew,
Monatsschr, f. Psychiatrie, XIV, 205.
I. Die Ursachen des Irreseins.
bedingt wird, pflegen diese in der Regel auch die gesamte geistige
Entwicklung in Mitleidenschaft zu ziehen. Aber auch dann, wenn
der Taubstummheit nur Ohrenerkrankungen zugrunde liegen, kann
das Fehlen des mächtigen Denkhilfsmittels der Sprache und die
Erschwerung der Verständigung mit der Umgebung nicht ohne die
verhängnisvollsten Folgen für das ganze geistige Leben bleiben,
denen nur ein frühzeitiger und erfolgreicher Sprachunterricht wirk-
sam vorzubeugen vermag.
Ebenfalls von Bedeutung für die geistige Ausbildung können
die adenoiden Wucherungen des Nasenrachenraumes werden, die
unter Umständen eine sehr erhebliche Größe erreichen und durch
Behinderung der Atmung wie des Schlafes, vielleicht auch durch
Störungen der Blut- und Lymphbewegung oder durch Erzeugung
giftiger Ausscheidungs- oder Zersetzungsstoffe Beeinträchtigung des
Gehörs und jene Unfähigkeit zu scharfer Anspannung der Auf-
merksamkeit bei Kindern herbeiführen, die Guye als ,,Aprosexia
nasalis" beschrieben hat. Beweisend für diesen Zusammenhang
ist die nicht seltene Erfahrung, daß teilnahmlose, unaufmerk-
same, vergeßliche Kinder nach Ausräumung des erkrankten Nasen-
rachenraumes lebhaft und aufgeweckt werden können. Augen-
erkrankungen pflegen, soweit sie nicht Teilerscheinungen eines
Gehirnleidens sind, in keiner näheren Beziehung zum Irresein zu
stehen; daß nach Augenoperationen halluzinatorische Delirien vor-
kommen, wurde bereits früher erwähnt.
Von den Lungenleiden haben wir die Tuberkulose und die
akuten fieberhaften Erkrankungen schon besprochen; es läßt sich
über sie weiter nicht viel sagen, als daß die Verkleinerung der
Atmungsfläche mit ihren Folgen für den Gasaustausch, dann aber
die Beklemmungsgefühle bei emphysematischen und namentlich
asthmatischen Beschwerden wohl auch auf den Ablauf der psy-
chischen Vorgänge einigen Einfluß gewinnen können.
Herzleiden!) scheinen bei Geisteskranken etwas häufiger vor-
zukommen als sonst; sie dürften einmal (bei Hypertrophie des
linken Ventrikels) durch gelegentliche Blutwallungen, namentlich
in
1) Witkowski, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXII, 347; Karrer
Hagen, Statistische Untersuchungen über Geisteskrankheiten. 1876; Reinhold,
Münch, taed. Wochenschr., 1894, 16; Stransky, Monatsschr. f. Psychiatrie,
■XlV, 128,
Organerkrankungen.
105
aber (bei unausgeglichenen Klappenfehlern, bei Perikarditis und
Entartung des Herzmuskels) durch venöse Stauungen und allgemeine
Abschwächung des Blutkreislaufes von Bedeutung werden. Als An-
deutung derartiger Einwirkungen darf wohl schon die in der Ge-
sundheitsbreite gelegene, bekannte gemütliche Reizbarkeit Herz-
kranker gelten. Daß außerdem die Beklemmungsgefühle und das
Herzklopfen nicht ohne Einfluß sind, ist sehr wahrscheinlich. Bis-
weilen sieht man bei schweren Kreislaufstörungen vorübergehend
delirante Zustände auftreten, wobei allerdings die Mitwirkung
anderer Krankheitsursachen (Alkoholismus, Nierenleiden, Alters-
veränderungen) nicht immer ausgeschlossen werden kann. Smith
hat bei Angstzuständen und Verstimmungen verschiedener Art, auch
unter dem Einflüsse des Alkohols, sehr erhebliche Erweiterungen
des Herzens beschrieben, doch sind seine Angaben auf lebhaften
Widerspruch gestoßen. Jedenfalls ist nicht außer acht zu lassen,
daß viele Störungen der Herztätigkeit nicht Ursache, sondern Be-
gleiterscheinung oder Folge der Geisteskrankheit sein dürften. So
fand Reinhold namentlich bei Melancholischen ungemein häufig
leichtere Abweichungen, Fehlen oder Abschwächung des Spitzen-
stoßes, Verbreiterung der Herzdämpfung, Beschleunigung der Herz-
tätigkeit, Veränderungen an den Herztönen, die er als die Wirkungen
des körperlichen Allgemeinleidens auffaßt, welches der psychischen
Verstimmung zugrunde liegt. Er denkt dabei geradezu an Ver-
giftungserscheinungen durch Stoffwechselprodukte. Im manisch-
depressiven Irresein scheint vielfach dauernde Pulsbeschleunigung
zu bestehen, die mit zunehmender Besserung allmählich schwindet.
Auch bei der Dementia praecox ist Beschleunigung oder starke
Verlangsamung der Herztätigkeit sehr gewöhnlich, während bei
den psychogenen Erkrankungen besonders die Erregbarkeit des
Herzens erhöht zu sein pflegt. Daß greifbare Schädigungen des
Herzmuskels beim Alkoholismus, bei der Paralyse, bei den Geistes-
störungen der höheren Lebensalter sehr häufig sind, lehrt der
Leichenbefund.
Recht ungenügend bekannt ist bisher die Bedeutung der Ge-
fäßerkrankungen bei Psychosen. Früher war man geneigt,
möglichst viele Formen des Irreseins auf Lähmung oder Krampf
von Hirngefäßen und dadurch bewirkte Störungen der Ernährung
in einzelnen Rindengebieten zurückzuführen. Neuerdings wird
io6
I. Die Ursachen des Irreseins.
mehr den eigentlichen Erkrankungen der Gefäße eine wichtige
Rolle zugeschrieben, namentlich den luetischen und den arterio-
sklerotischen Veränderungen. Ausgebreitete Gefäßerkrankungen
finden sich außerdem beim chronischen Alkoholismus, bei der
Paralyse, beim Altersblödsinn. Die Verdickung und Erstarrung
des Gefäßrohres, der Verlust der Elastizität, unter Umständen
auch die Verengerung seines Innenraumes, die Verstopfung, er-
schweren die Blutversorgung oder heben sie auf, während die
Bildung von kleinen Ausbuchtungen, die Blutaustritte das Hirn-
gewebe unmittelbar zerstören können. Recht klar sind unsere
Vorstellungen von den Folgen der Gefäßerkrankungen für die Hirn-
ernährung indessen leider noch nicht. Soweit die Intima der Ge-
fäße in Mitleidenschaft gezogen wird, ist wohl auch daran zu den-
ken, daß der Stoffwechsel des Blutes selbst gestört wird, zumal die
Erkrankung sich in der Regel über weite Gefäßgebiete auch in
anderen Teilen des Körpers zu erstrecken pflegt. Eine nicht un-
wichtige Rolle dürften ferner Veränderungen des Blutdruckes und
namentlich des Pulsdruckes spielen, der Druckschwankung im
einzelnen Pulse. Erhöhung beider Größen findet sich häufig bei
Arteriosklerose, in geringerem Grade anscheinend auch im Ver-
laufe manisch-depressiver Anfälle.
Die Zeichen erhöhter vasomotorischer Erregbarkeit, leichtes
Erröten, Dermatographie bis zur Quaddelbildung, begegnen uns
bei verschiedenen Formen des Irreseins, namentlich bei der Para-
lyse, der Dementia praecox und bei den psychogenen Geistes-
störungen. Bei katatonischen Kranken entwickeln sich 'im Stupor
ungemein häufig die allerstärksten Grade der Cyanose. Da diese
Störung durchaus keine klaren Beziehungen zu dem Grade der
Bewegungslosigkeit zeigt und bei anderen Stuporformen weit
weniger hervortritt, haben wir es hier schwerlich allein mit mecha-
nisch bedingten Stauungen, sondern wohl mit Gefäßlähmung
inneren Ursprunges, vielleicht auch mit Veränderungen im Blute
selbst zu tun. Lange fortdauernde Schwankungen des gemütlichen
Gleichgewichtes scheinen die Entwicklung von Gefäßerkrankungen
zu begünstigen, möghcherweise nach Thomas Annahme in der
Weise, daß die Muskelschicht der Gefäßwand durch die häufigen
Änderungen der Gefäßweite geschädigt wird. Vielleicht spielt
dieser Umstand beim manisch-depressiven Irresein und bei der
Organerkrankungen.
107
traumatischen Neurose eine Rolle, in deren Verlauf gern arterio-
sklerotische Veränderungen auftreten.
Eine sehr weitgehende ursächliche Bedeutung hat man von jeher
den Erkrankungen der Verdauungswerkzeuge zugeschrieben;
namentlich in der älteren Psychiatrie spielten die Hämorrhoiden,
die Stauungen im Pfortadersystem, die ,, Verstimmungen" der
Unterleibsgeflechte eine sehr große Rolle. In der Tat ist schon
der Einfluß leichter Verdauungsstörungen auf das allgemeine psy-
chische Wohlbefinden, namentlich bei nervös veranlagten Personen,
ganz unverkennbar^). Es scheint sich bei diesem Zusammenhange
einerseits um die psychische Wirkung unangenehmer, dauernder
Organgefühle, dann aber um Selbstvergiftungen oder vielleicht
auch um Störungen der allgemeinen Blutverteilung durch Stau-
ungen im Unterleibe zu handeln. Für letztere Erklärung spricht
die bekannte Erfahrung von Nikolai (des „Proktophantasmisten"
aus Goethes Walpurgisnacht), dessen Halluzinationen durch eine
Blutentziehung am After verschwanden. Bei chronischen Magen-
und Darmleiden kommt als wichtiger Umstand noch die empfind-
liche Beeinträchtigung der allgemeinen Ernährung hinzu. Ver-
dauungsstörungen, namentlich Verstopfung, sind bei frischen Geistes-
krankheiten ungemein häufig, besonders in Depressionszuständen
aller Art, aber sie sind sicherlich vielfach als Folge der psychisch
bedingten Unregelmäßigkeiten in der Nahrungsaufnahme und nicht
als Ursache derselben anzusehen. Wagner hat, wie früher er-
wähnt, bei gewissen akuten Geistesstörungen eine Selbstvergiftung
durch Zersetzungsstoffe vom Darm aus angenommen. Bei schwerem
Darniederliegen aller psychischen Leistungen scheint häufiger Herab-
setzung der Salzsäureabscheidung im Magen vorzukommen; auch
starke Schwankungen des Salzsäuregehaltes im Magensafte sind
bei verschiedenartigen Geistesstörungen nicht selten"). Mangelhafte
Verarbeitung der Nahrung müssen wir wohl in jenen hier und da
beobachteten Fällen annehmen, in denen trotz massenhafter Speisen-
zufuhr bei wahrem Heißhunger das Körpergewicht sich durchaus
nicht heben will. Meist handelt es sich um Paralytiker und nament-
lich Katatoniker. Parasiten im Darm können anscheinend bei
1) Herzog, Arch. f. Psychiatrie, XXXI, 170.
-) Leubuscher und Ziehen, Klinische Untersuchungen über die Salzsäure-
abscheidung des Magens bei Geisteskranken. 1892.
I. Die Ursachen des Irreseins.
Kindern deliriöse Erregungszustände, auch Pruritus in den Geni-
talien und allerlei Stimmungsanomalien herbeiführen. Psychische
Störungen als Ausdruck von Lebererkrankungen sind hauptsäch-
lich von Klippel und Mongeri beschrieben worden, ohne daß
ihre Kennzeichnung schon völlig befriedigen könnte; auch dem
Delirium tremens soll eine Selbstvergiftung zugrunde liegen, di
durch Versagen der Lebertätigkeit bedingt wird. Im ganzen wissen
wir über alle diese Verhältnisse sehr wenig Sicheres.
Unter den Nierenerkrankungen ^) dürften hauptsächlich
diejenigen in Anschlag zu bringen sein, die zur Entstehung von
akuten oder chronischen urämischen Vergiftungen Anlaß geben.
Eiweiß im Harn sieht man vorübergehend oder dauernd nament-
lich bei Trinkern und Paralytikern auftreten. Von dem Bestehen
eines klar gekennzeichneten ,, urämischen Irreseins", außer den
früher erwähnten deliriösen Zuständen, die anscheinend den alko-
holischen sehr ähneln können, habe ich mich noch nicht über-
zeugen können.
Weitaus die größte Bedeutung für die Entstehung des Irre-
seins ist von Seiten der Irrenärzte den krankhaften Vorgängen in
den Geschlechtsorganen zugeschrieben worden. Insbesondere
hat der bessernde Einfluß gynäkologischer Eingriffe auf manche
nervösen und psychischen Störungen zu der Ansicht geführt, daß
Lageveränderungen des Uterus, Erosionen am Muttermund, Er-
krankungen der Ovarien und Tuben, Pruritus vulvae, Vaginisraus
unter Umständen psychische Störungen zu erzeugen imstande
seien^). Als der klinische Ausdruck dieser Wirkungen wurde, ja
wird vielfach heute noch das formenreiche Krankheitsbild der
Hysterie betrachtet. Gerade hier sehen wir eben häufig genug
überraschende Besserungen, wahre Wunderkuren, durch Beseiti-
gung der verschiedenartigsten leichteren oder schwereren Störungen
eintreten. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß es sich bei den
1) Hagen, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXVIII, i; Auerbach, ebenda
LH, 337; Vassale, Rivista sperimentale di freniatria, XVI, 1890; Vigouroux,
Annales medico-psychologiques, 1903, I, 274.
2) L. Mayer, Die Beziehungen der krankhaften Zustände und Vorgänge in
den Sexualorganen des Weibes zu Geistesstörungen. 1869; Hegar, Der Zusammen-
hang der Geschlechtskrankheiten mit nervösen Leiden und die Kastration bei
Neurosen. 1885; Windscheid, Neuropathologie und Gynäkologie. 1897; Rai-
mann, Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. 1903 (Chr ob ak- Festschrift).
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
109
wohltätigen Folgen körperlicher Eingriffe öfters um die Beseiti-
gung bestimmter schädlicher Reizwirkungen auf ein krankhaft
empfindliches Nervensystem handelt. Wir wissen jedoch anderer-
seits sicher, daß bisweilen der gleiche Erfolg durch ganz andere,
selbst unsinnige Mittel erreicht werden kann. Daraus geht hervor,
daß wir es in derartigen Fällen wesentlich mit psychischen
Wirkungen zu tun haben. Auch die Entstehung der Krankheits-
erscheinungen wird damit natürlich auf das psychische Gebiet
verlegt.
In der Tat können wir heute auf Grund unserer klinischen Er-
fahrung mit Sicherheit sagen, daß Erkrankungen der weiblichen
Geschlechtsorgane im allgemeinen nur dann zum Irresein führen,
wenn bereits eine krankhafte Veranlagung den Boden genügend
vorbereitet hat. Aus diesem Grunde tragen die so entstehenden
Geistesstörungen auch durchaus kein einheitliches klinisches Ge-
präge; dieses letztere ist vielmehr ganz abhängig von der Eigenart
des Erkrankenden. Meist wird es sich daher um eine der vielen
Formen des Entartungsirreseins handeln. Immerhin soll nicht
geleugnet werden, daß häufige und starke Blutverluste, wie sie
z. B. bei Myomen vorkommen, schmerzhafte chronische Entzün-
dungen der Beckenorgane, ferner dauernde Behinderung des Ge-
schlechtsverkehrs, Kinderlosigkeit für die Vorbereitung von psy-
chischen Störungen von Bedeutung werden können. Beachtens-
wert ist jedoch für die ganze Frage der Umstand, daß gerade die
schwersten Erkrankungen der Geschlechtsorgane, die bösartigen
Geschwülste, verhältnismäßig selten Anlaß zu Geistesstörungen zu
geben scheinen. Allenfalls beobachten wir bei ihnen solche Formen
des Irreseins, die auch sonst bei schweren Allgemeinerkrankungen
zur Entwicklung gelangen. Den Geschlechtsleiden bei Männern
scheint eine irgend erhebliche ursächliche Bedeutung für das Irre-
sein nicht zuzukommen.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft. Die nahen Be-
ziehungen, in welchen das Geschlechtsleben^) zu den psychischen
Zuständen des Menschen steht, wird deutlich genug durch die
eigentümlichen Wandlungen der Entwicklungsjahre und der Rück-
bildungszeit wie durch die Schwankungen des gemütlichen Gleich-
1) Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, 3- Aufl. 1903; Aschaffen-
burg, Münch, med. Wochenschr. 1906, 37.
110
I. Die Ursachen des Irreseins.
gewichtes bezeugt, die schon beim Gesunden den Ablauf der Ge-
schlechtsvorgänge begleiten. Es erscheint daher begreiflich, wenn
die verschiedenen Umwälzungen und Störungen auf diesem Ge-
biete, wie sie den gesamten Körper, insbesondere das Nervensystem,
in Mitleidenschaft ziehen, auch im Bereiche des Seelenlebens
krankhafte Vorgänge auszulösen vermögen.
In erster Linie werden als Ursachen des Irreseins geschlecht-
liche Ausschweifungen und Onanie^) beschuldigt. Aus den
zum Beweise herangezogenen Erfahrungen sind natürlich zunächst
alle diejenigen Fälle auszuscheiden, in welchen ängstliche, zur
Selbstbeobachtung oder zur Selbstanklage geneigte Kranke Jahre
oder gar Jahrzehnte zurückliegende ,, Jugendsünden" als die Ur-
sache ihrer Leiden angeben; die Lektüre einer gewissen Gattung
von Schriften, welche die Folgen der Onanie in den grellsten Farben
schildern, liefert dazu nicht selten die Anregung.
Dennoch läßt sich die Möglichkeit einer gelegentlichen wirk-
lichen Schädigung des Nervensystems durch die hier besprochenen
Ursachen nicht ganz in Abrede stellen, zumal ja auch auf diesem
Gebiete ohne Zweifel das Maß der persönlichen Leistungs- und
Widerstandsfähigkeit ein äußerst verschiedenes ist. Es wäre denk-
bar, daß einmal (wohl nur bei Männern und im jugendlichen Alter)
der Säfteverlust eine gewisse Bedeutung für die Gesamternährung
gewinnen kann; es wäre ferner möglich, daß die häufige starke
Erregung des Nervensystems die allgemeine Reizbarkeit desselben
steigert und seine Widerstandsfähigkeit herabsetzt. Dann ist aber
namentlich auch auf den entsittlichenden Einfluß hinzuweisen,
den das stete Unterliegen im fruchtlosen Kampfe mit übermächtig
angewachsenen Antrieben auf die Willensfestigkeit des Menschen
ausübt. Nach allen diesen Richtungen hin dürfte die Masturbation
deswegen verderblicher wirken, als der natürliche Geschlechts-
verkehr, weil sie ihr Ziel viel häufiger und leichter zu erreichen
vermag als der letztere. Beachtenswert sind übrigens auch jene
vereinzelten Beobachtungen, in denen (namentlich bei jungen
Frauen) der erste Coitus akute Aufregungs- oder Depressions-
zustände herbeiführt („Nuptiales Irresein") 2). Wahrscheinlich han-
1) V. Krafft- Ebing, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXI, 4.
2) Dost, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIX, 876; Obersteiner, Jahrb. f.
Psychiatrie, XXII, 313. '
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
III
delt es sich hier nur um die Auslösung schon vorbereiteter Er-
krankungen, meist wohl aus der Gruppe des manisch-depressiven
Irreseins. So waren in einem derartigen Falle meiner Beobach-
tung die Anzeichen der beginnenden Erregung bereits vor der
Hochzeit vorhanden, ja man hoffte törichterweise, die Erkrankung
durch die Heirat heilen zu können.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die hartnäckige,
unausrottbare Neigung zur Masturbation ohne Zweifel ein Zeichen,
nicht die Ursache der Geistesstörung; wir haben es einfach mit
einer krankhaft gesteigerten geschlechtlichen Erregbarkeit zu tun.
Das gilt gewiß für jene Fälle von Idiotie und Schwachsinn, in denen
die Masturbation bereits in der frühesten Kindheit, sogar schon
im ersten Lebensjahre, beginnt und allen Erziehungsmaßregeln
trotzt; es gilt aber ferner auch für diejenige Form des Irreseins,
die man vielfach als besondere Eigentümlichkeit der Onanisten
betrachtet hat. Die Zeichen desselben sind fortschreitende Ab-
nahme der psychischen Leistungsfähigkeit, Unvermögen zur Auf-
fassung und geistigen Verarbeitung äußerer Eindrücke, Gedächt-
nisschwäche, Interesselosigkeit, Gemütsstumpfheit; in anderen
Fällen treten mehr die Erscheinungen erhöhter Reizbarkeit in den
Vordergrund, barocke Ideenverbindungen, Neigung zu Mystizis-
mus und exaltierter Schwärmerei oder hypochondrische und de-
pressive Verstimmung. Dazu gesellen sich dann mannigfaltige
nervöse Störungen, besonders Gemeinempfindungen, aus denen
sich nicht selten unsinnige Wahnideen von dämonischer oder ge-
heimnisvoller physikalischer (magnetischer, elektrischer, sym-
pathischer) Beeinflussung herausentwickeln. Wir erkennen darin
unschwer das Bild der Dementia praecox, wie sie vorzugsweise
den Entwicklungsjahren angehört. So manche Gründe sprechen
dafür, daß dem Geschlechtsleben bei dieser Krankheit eine gewisse
Rolle zukommt, aber sie wird keinesfalls durch Onanie verursacht.
Es gibt zahlreiche begeisterte Onanisten, die nicht hebephrenisch
werden, und umgekehrt fehlt die Onanie bei Hebephrenischen,
namentlich bei weiblichen, nicht selten gänzlich, trotz starker
geschlechtlicher Erregung.
Für jene umschriebene Gruppe der Dementia praecox, die man
mit dem Namen der Katatonie bezeichnet, hat Tschisch als Ur-
sache eine Selbstvergiftung durch geschlechtliche Enthaltsam-
112
I. Die Ursachen des Irreseins.
keit angenommen. Er stützt sich darauf, daß seine Kranken
sämtlich jugendUche Landbewohner und von blühendem Körper-
bau gewesen seien, zudem keine Äußerungen über früheren Ge-
schlechtsverkehr gemacht hätten und ohne greifbare äußere Ur-
sache erkrankten. Ohne darauf hinzuweisen, daß jene Kennzeich-
nung der Kranken schwerlich eine klinische Gruppierung gestattet,
daß viele Katatoniker regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt
haben oder ausgiebig masturbieren, gibt es meines Wissens durch-
aus keine Erfahrung, die dazu berechtigte, der geschlechtlichen
Enthaltsamkeit einen derartig verderblichen Einfluß auf das Seelen-
leben zuzuschreiben^). Die Mädchen der gebildeteren Stände
müßten sonst in erschreckendem Umfange katatonisch werden.
Im allgemeinen nimmt bei gesunden Menschen nach länger
dauernder Enthaltsamkeit allmählich die geschlechtliche Erreg-
barkeit ab. Etwas anders liegen die Dinge vielleicht bei krank-
haft veranlagten Personen; hier scheint der Kampf gegen die
aufsteigenden Begierden Angstzustände auslösen zu können. Die
gemütliche Beunruhigung durch Gewissensbedenken oder die Furcht
vor Ansteckung und Schwängerung dürften dabei jedoch stärker
in Betracht kommen, als körperliche Zustände. Erzwungene Ent-
haltsamkeit, namentlich nach vorheriger Gewöhnung an geschlecht-
liche Befriedigung, verführt leicht zur Onanie und kann auf diese
Weise schädigend wirken; andererseits sehen wir freilich häufig
genug die Masturbation neben geregeltem geschlechtlichem Ver-
kehr fortbestehen. Freiwillige Enthaltsamkeit muß wohl rich-
tiger als Folge und nicht als Ursache einer krankhaften Anlage
aufgefaßt werden, die ja öfters mit unvollständiger Entwicklung
des Geschlechtstriebes, unter Umständen auch der Fortpflanzungs-
organe einhergeht. Eine gewisse Rolle bei der Entstehung von
Verstimmungen und Angstzuständen scheinen endlich auch häu-
fige geschlechtliche Reizungen ohne gehörige Befriedigung („Coi-
tus interruptus") zu spielen, wie sie mit der Durchführung des
„Zweikindersystems" verbunden zu sein pflegen.
Mit großem Nachdrucke ist in neuerer Zeit die ursächliche Be-
deutung von Störungen des Geschlechtslebens für die „Neurosen"
(Neurasthenie und Angstneurose) wie für die „Psychoneurosen"
1) Lewitt, Geschlechtliche Enthaltsamkeit und Gesundheitsstörungen. 1905;
Jacobsohn, Petersb. med. Wochenschr. 1907, 11.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
113
(Hysterie und Zwangsneurose) von Freud betont worden. Ursprüng-
lich vertrat er die Anschauung, daß die Neurasthenie durch Mastur-
bation, die Angstneurose durch ungenügende geschlechtliche Be-
friedigung entstehe, während die Psychoneurosen durch die Nach-
wirkung infantiler geschlechtlicher Erlebnisse zustande kommen
sollten, deren Erinnerung von den Kranken ,, verdrängt" werde. In
dieser, den Widerspruch stark herausfordernden Form hat Freud
seine Lehre nicht aufrecht erhalten, doch ist er auch jetzt noch
geneigt, den Ereignissen des Geschlechtslebens ein ganz außerordent-
liches Gewicht bei der Entstehung der genannten Krankheitsformen
zuzuschreiben. Insbesondere meint er, daß die Hysterie für den,
der ihre Sprache zu deuten verstehe, nur von der verdrängten
Sexualität der Kranken handle. Er stellt sich weiterhin die in Be-
tracht kommenden Störungen des Geschlechtslebens als Stoff-
wechselanomalien vor und denkt geradezu an eine gewisse Ähnlich-
lichkeit mit den Erscheinungen der Basedowschen und A d di-
so nschen Krankheit. Einzelne seiner Anhänger haben die Spuren
geschlechtlicher Kindheitserlebnisse auch bei anderen Geistes-
störungen, so in den Wahnbildungen der Dementia praecox, wieder-
gefunden. Wenn wir auch sicherlich die Rolle nicht unterschätzen
dürfen, welche die geschlechtlichen Vorgänge im Seelenleben des
Menschen spielen, so werden wir für die Begründung der von
Freud vorgetragenen Anschauungen doch weit zwingendere Be-
weise verlangen müssen, als sie seine an Quellen der Selbsttäu-
schung wie an Deutungskünsten überreiche ,, psychoanalytische
Methode" bisher zutage gefördert hat. Die Tatsache, daß ge-
schlechtliche Erlebnisse der von Freud geschilderten Art unend-
lich häufig sind, während doch nur ein Bruchteil der Menschen
an einem der aufgeführten Leiden erkrankt, weist eben mit aller
Bestimmtheit auf die jetzt auch von Freud etwas näher gerückte
Erklärung hin, daß die besondere Art der Verarbeitung geschlecht-
licher Erfahrungen bei seinen Kranken mehr Erscheinung, als
Ursache ihres Leidens ist. Überdies ist durchaus zu bestreiten, daß
ein geschlechtlicher Hintergrund jenen Erkrankungen auch nur
entfernt so häufig zukomme, wie Freud annimmt. Daß man
solche Zusammenhänge bei sehr gutem Willen von selten des Arztes
und der Kranken nach langem Bemühen schließlich aufzufinden
vermag, ist nicht besonders verwunderlich.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^
^ ^ . I. Die Ursachen des Irreseins.
114
Beim weiblichen Geschlechte pflegt der Vorgang der Men-
struation^) regelmäßig von einer leichten Steigerung der nervösen
und psychischen Reizbarkeit begleitet zu sein, die bei einzelnen
Personen sogar fast krankhafte Grade (äußerste Verstimmung,
lebhafte Erregung, triebartiges Handeln) erreichen kann. Diese
Veränderungen scheinen sich in der Zeit vor den Menses ganz
allmählich vorzubereiten, um sich dann mit deren Eintritt wieder
auszugleichen, so daß man geradezu von einer ,,menstrualen Wel-
lenbewegung" (Goodmann) im Organismus des Weibes ge-
sprochen hat, die einerseits leichte Schwankungen der Körper-
wärme, der Pulszahl und Atmung bedingt, andererseits sich auch
im seelischen Verhalten wieder erkennen läßt. Beim erstmaligen
Eintritte der Menses kann sich die hysterische oder epileptische
Veranlagung in ohnmachtsartigen Anfällen, Aufregungs- oder
Dämmerzuständen äußern, eine Verbindung, die bisweilen auch
weiterhin fortbesteht. Ebenso gibt jene Umwälzung nicht selten
Anlaß zum Auftreten der ersten leisen Andeutungen des manisch-
depressiven Irreseins in Form grundloser Verstimmung oder leich-
ter Erregung. Diese Anfälle können sich noch eine Zeitlang regel-
mäßig an die Menses anknüpfen, bisweilen schon einige Tage
vorher einsetzend („Menstruelles Irresein"). Fried mann hat
ferner auf jene nicht allzu häufigen Fälle hingewiesen, in denen
schon vor dem Eintritte der ersten Menses in regelmäßigen
Zwischenzeiten kurzdauernde verwirrte Aufregungszustände be-
obachtet werden, die mit der Regelung der Menstruation ver-
schwinden und daher wohl unzweifelhaft mit den Vorboten der
Geschlechtsentwicklung in ursächliche Beziehung gesetzt werden
müssen. Auch diese Fälle halte ich für den Beginn manisch-
depressiver Formen, die später, wenn auch erst nach Jahren, von
neuem einsetzen, um sich nun in der gewöhnlichen Weise fort-
zuentwickeln.
Im Verlaufe psychischer Störungen kommt dem Eintritte der
Menstruation und noch mehr vielleicht ihren Unregelmäßigkeiten
ohne Zweifel eine erhebliche Bedeutung zu 2). Namentlich Erre-
1) Schüle, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII, i; Hegar, ebenda LVIII,
357; V. Kr äfft - Ebing, Psychosis menstrualis. 1903.
2) V. Krafft- Ebing, Arch. f. Psychiatrie, VIII, i; Powers, Beitrag zur
Kenntnis der menstrualen Psychosen, Diss. 1883; Schäfer, Allgem. Zeitschr. f.
Psychiatrie, L, 384.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
"5
gungszustände aller Art pflegen sich zu diesen Zeiten (einzustellen
oder zu steigern. Aussetzen der Menses beobachten wir öfters
in zirkulären Depressionszuständen , noch häufiger während der
Entwicklung der Dementia praecox. Sie pflegen dann mit der
Besserung des Zustandes oder aber mit dem Eintritte endgültiger
Verblödung wiederzukehren. Ob das Ausbleiben der Menses eine
ursächliche Bedeutung hat oder nur Begleiterscheinung des Krank-
heitsvorganges ist, entzieht sich zurzeit noch unserer Kenntnis.
Die letztere Annahme dürfte indessen die größere Wahrscheinlich-
keit für sich haben.
Einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung von Geistes-
störungen müssen wir endlich dem Klimakterium zuschreiben.
Es steht fest, daß in dieser Zeit die Neigung der Frauen, psychisch
zu erkranken, erheblich anwächst. Allerdings wird man für diese
Tatsache in erster Linie wohl die allgemeinen Veränderungen
verantwortlich machen müssen, welche das beginnende Greisen-
alter, die Rückbildungszeit, einleiten. Dafür spricht der Umstand,
daß wir beim männlichen Geschlechte, wenn auch nicht so häufig,
dieselben klinischen Formen des Irreseins im gleichen Lebensalter
beobachten. Dahin gehört vor allem das manisch-depressive Irre-
sein, das nicht selten in dieser Zeit erst einsetzt; auch gewisse para-
noide Erkrankungsformen, deren klinische Stellung noch zweifel-
haft ist, ferner vielleicht die ,,Spätkatatonien" scheinen Beziehungen
zu den geschlechtlichen Rückbildungsvorgängen zu haben.
Besonders deutlich zeigt sich die hervorragende Rolle, welche
das Geschlechtsleben auch für die psychische Persönlichkeit des
Weibes spielt, in jener Gruppe von Geistesstörungen, deren Ent-
wicklung sich im Zusammenhang mit den verschiedenen Vorgängen
des Fortpflanzungsgeschäftes, der Schwangerschaft, dem Wochen-
bett und der Säugezeit vollzieht i). Die Angaben über die Häufig-
keit dieser Ursachen beim Zustandekommen psychischer Erkran-
kungen gehen ziemlich weit auseinander; im Mittel sind etwa
14% aller in Irrenanstalten beobachteten Geistesstörungen bei
Frauen auf dieselben zurückzuführen. Davon kommen 3% auf
die Schwangerschaftspsychosen. Der ursächliche Zusammen-
^) Fürstner, Arch. f. Psychiatrie, V, 505; Ripping, Die Geistesstörungen
der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden. 1877; Siemerling, Deutsche
Klinik, VI, 399.
8*
I. Die Ursachen des Irreseins.
hang scheiAt während dieser Zeit hauptsächlich durch die Ver-
änderungen in Mischung (Abnahme der Blutkörperchen und der
Salze, Vermehrung des Fibrins) und Verteilung des Blutes (Aus-
bildung des Placentarkreislaufs) vermittelt zu werden; vielleicht
ist auch, namentlich bei erstmalig und bei unehelich Schwange-
ren, den psychischen Ursachen (Angst vor den Gefahren der Ge-
burt, Sorgen, Selbstvorwürfe) ein gewisser Einfluß zuzuschreiben.
Unter klinischem Gesichtspunkte haben wir es hier jedoch
sicherlich nicht mit einer einheitlichen Gruppe des Irreseins zu
tun, sondern die einzelnen Fälle können eine sehr verschiedene
Bedeutung haben. Zunächst kommt es nicht selten vor, daß ein-
zelne Anfälle des manisch-depressiven Irreseins, namentlich De-
pressionszustände, durch die Umwälzungen der Schwangerschaft
ausgelöst werden. Hier werden wir regelmäßig weitere Anfälle
auch ohne diesen und sogar ohne jeden äußeren Anlaß auftreten
sehen; andererseits kann sich die psychische Erkrankung in meh-
reren Schwangerschaften wiederholen. Entschieden häufiger, als
die genannten Krankheitsbilder, ist die Dementia praecox, in Form
von Depression, Stupor oder Erregung. Auch diese Störungen
können in wiederholten Schwangerschaften hervortreten,, nachdem
sie in der Zwischenzeit mehr oder weniger vollständig geschwun-
den waren; meist bringt dann jede folgende Schwangerschaft
eine deutliche Verschlechterung des psychischen Gesamtzustandes
mit sich. Ebenso können alte Katatonien oder Hebephrenien
unter dem Einflüsse einer Schwangerschaft frische Nachschübe
zeigen. Zu den selteneren Erkrankungsformen gehören hyste-
rische Aufregungszustände, die ebenfalls in jeder Schwangerschaft
wiederkehren können, und die äußerst gefährliche Chorea der
Schwangeren; hier und da sieht man auch, natürlich ohne ursäch-
liche Beziehung, Paralysen sich in der Schwangerschaft entwickeln.
Durch die Geburt wird außer der Hysterie und der Chorea keine der
besprochenen Formen des Irreseins nennenswert beeinflußt ; vielmehr
geht jene meist ohne besondere Begleiterscheinungen vonstatten;
zuweilen sieht man eine Verschlimmerung des Zustandes, beim
manisch-depressiven Irresein Umschlag der Depression in Erregung.
Eine von mir beobachtete stuporöse Frau gebar ihr totes Kind in
den Nachtstuhl, ohne einen Laut von sich zu geben, so daß man
erst später durch die Blutung auf das Ereignis aufmerksam wurde.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
117
Mehr als doppelt so häufig (bei 6,8% aller in die Irrenanstalten
aufgenommenen Frauen; unter etwa 400 Wöchnerinnen bei je
einer) wird das Wochenbett^) Ursache des Irreseins, hier und
da auch ein Abortus mit starkem Blutverluste. Erstgebärende
sind stärker gefährdet. Wir haben auch hier wieder zu unter-
scheiden zwischen solchen Erkrankungen, die wirklich durch das
Wochenbett erzeugt, und solchen, die nur dadurch ausgelöst wer-
den. Zu den ersteren sind zunächst plötzliche, äußerst heftige,
deliriöse Erregungszustände zu rechnen, die sich während der
Geburt einstellen können und wegen der starken Neigung zu Ge-
walttaten eine große forensische Bedeutung besitzen; ihre Dauer
beträgt meist nur wenige Stunden. Bei ihrer Entstehung spielen
einerseits wahrscheinlich die Schmerzen, der Blutverlust, die raschen
Kreislaufsänderungen sowie die psychischen Einwirkungen der
Geburt selbst und etwaiger Störungen bei derselben eine ge-
wisse Rolle. Eine Wöchnerin meiner Beobachtung stürzte sich in
einem derartigen Zustande aus dem Fenster durch das darunter
befindliche Glasdach eines Treibhauses. Andere erdrosseln ihre
Kinder oder lassen sie doch unbeachtet ohne Nahrung und Pflege
zugrunde gehen. Wahrscheinlich handelt es sich hier, wofür die
klinische Form sprechen würde, öfters um epileptische, auch wohl
hysterische Dämmerzustände, welche durch die besonderen Er-
schütterungen des Gebärvorganges auch bei solchen Personen aus-
gelöst werden können, die sonst nur geringfügige und leicht über-
sehene Krankheitszeichen darbieten.
Eine zweite Gruppe der Puerperalpsychosen kommt durch
Gifte zustande. Hierher gehören wahrscheinlich die eklampti-
schen Delirien, die sich schon während der Geburt oder in den
ersten Tagen nachher einzustellen pflegen. Weit häufiger sind
die etwa am 5. bis 10. Tage des Wochenbettes einsetzenden Geistes-
t Störungen, denen fieberhafte Erkrankungen zugrunde liegen, Ma-
stitis, Endokaritis ulcerosa, Perimetritis, Sepsis, Pyämie. Die
Geburtshelfer sind geneigt, einen großen Teil der Wochenbett-
1) Hansen, Zeitschr. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie, XV, i; Olshausen,
ebenda XXI, 2; Hoppe, Arch. f. Psychiatrie, XXV, 137; Aschaffenburg, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, LVHI, 337; Siegenthaler, Jahrb. f. Psychiatrie, XVII,
87; Dupouy, les psychoses puerperales et les processus d'autointoxikation, These.
1904.
I. Die Ursachen des Irreseins.
I lo
psychosen auf derartige Infektionen zurückzuführen. Es hat sich
jedoch gezeigt, daß solche Erkrankungen in noch nicht ^/g der
Fälle nachweisbar sind und gewiß noch viel seltener die wirk-
lichen Ursachen der geistigen Störung bilden. Wo aber letzteres
der Fall ist, begegnen uns im wesentlichen die klinischen Bilder
der Fieber- und Infektionsdelirien, Benommenheit, Sinnestäu-
schungen, traumartige Verworrenheit, ängstliche oder heitere Er-
regung, Neigung zum Übergang in Schlummersucht und Koma.
An sie können sich unter Umständen längerdauernde infektiöse
Schwächezustände anschließen.
Daß ferner die mächtigen Umwälzungen des Körperhaushaltes
im Wochenbett (Blutverlust, Ausscheidungen, Gewichtsabnahme)
nicht ohne Bedeutung für das Seelenleben bleiben, wird durch
die erhöhte gemütliche Erregbarkeit und Erschöpfbarkeit der
Wöchnerinnen dargetan, die wir kaum noch als krankhaft zu
betrachten pflegen. Ausgeprägtere Geistesstörungen scheinen sich
auf diesem Boden jedoch nur dann zu entwickeln, wenn sich noch
andere Ursachen, namentlich krankhafte Veranlagung, hinzu-
gesellen. Wir können daher dem Wochenbette unter solchen Um-
ständen wesentlich nur eine krankheitsauslösende Rolle zuschreiben.
\ Unter den klinischen Formen sind hier in allererster Linie
Katatonien zu nennen. Die Häufigkeit, mit der sich im Wochen-
bette katatonische Krankheitsbilder, Erregungen wie Depressionen
und namentlich Stuporzustände, entwickeln, ist sehr auffallend,
zumal auch schon bestehende katatonische Schwächezustände ge-
wöhnlich ungünstig beeinflußt werden. Ich sah einen Fall, in
dem eine in Schüben verlaufende Katatonie nach jedem Wochen-
bette stärker hervortrat, bis endlich der vierte Anfall zu tiefer,
endgültiger Verblödung führte. Solche Erfahrungen können den
Verdacht erwecken, ob nicht etwa eine besonders innige Beziehung
zwischen dem Wochenbette und der Katatonie bestehe, zumal
auch die Vorliebe der Katatonie für die Entwicklungsjahre und
das Rückbildungsalter an dunkle Einflüsse des Geschlechtslebens
auf jene Krankheit denken läßt. Auf der anderen Seite scheinen
sich jedoch die Katatonien des Wochenbetts durchaus gar nicht
von anderen Formen zu unterscheiden, so daß wir wenigstens
einstweilen nicht berechtigt sind, sie als klinische Gruppe mit
besonderer Verursachung abzugrenzen.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
119
Zur Vorsicht in dieser Frage werden wir namentlich durch
das Beispiel des manisch-depressiven Irreseins gemahnt, dem wir
fast ebenso häufig im Wochenbette begegnen wie der Katatonie.
Depressive Formen überwiegen, aber auch manische fehlen durch-
aus nicht. Gar nicht selten sehen wir die Anfälle bei mehreren
Wochenbetten in gleicher Weise wiederkehren, aber sie treten
fast immer auch außerhalb derselben aus anderem Anlasse oder
ganz von selbst hervor, ein Zeichen für die Selbständigkeit der
Störung gegenüber der auslösenden Schädlichkeit. Auch hier gleichen
die im Wochenbett beobachteten klinischen Formen völlig den sonst
bekannten. Die manischen und katatonischen Erregungszustände
nebst den weit selteneren Infektionsdelirien bilden die große Masse
der sogenannten ,,Puerperalmanien" ; diese stellen somit keineswegs
ein einheitliches Krankheitsbild dar, sondern umfassen eine Reihe
von Erkrankungen, die nach Entwicklung und Ausgang sehr ver-
schieden sind. Hier und da sieht man im Wochenbette auch noch
ganz andersartige Formen des Irreseins beginnen, so z. B. die Paralyse.
Der Zusammenhang ist hier natürlich ebenfalls ein sehr lockerer.
In der Mitte zwischen den Geistesstörungen der Schwanger-
schaft und des Wochenbettes stehen nach ihrer Häufigkeit (4,9%
aller weiblichen Aufnahmen in Irrenanstalten) die psychischen
Erkrankungen der Säugezeit, zu denen man meist die später als
sechs Wochen nach der Geburt auftretenden Fälle rechnet. Als
Schädlichkeit wird man die Erschöpfung durch Wochenbett und
SäugegeschäfJ, vielleicht auch die durch beide hervorgerufenen
Umwälzungen im Körperhaushalte zu betrachten haben. Wir haben
es indessen hier wesentlich nur mit der Auslösung schon ander-
weitig vorbereiteter psychischer Störungen zu tun; die krankhafte
Veranlagung spielt eine besonders wichtige Rolle. Darauf weisen
auch die klinischen Formen hin, die hier zur Beobachtung kommen.
Ganz im Vordergrunde stehen die verschiedenen Krankheitsbilder
des manisch-depressiven Irreseins, vorzugsweise Depressionszustände.
Fast ebenso häufig sind sodann Katatonien. Die Zeit des Ausbruchs
der Störung ist meist der 3. bis 5. Monat nach der Entbindung.
2. Psychische Ursachen.
Über die Größe des Anteils, den wir seelischen Ursachen an
der Entstehung des Irreseins zuzuschreiben haben, sind die An-
120
I. Die Ursachen des Irreseins.
schauungen der Irrenärzte vielfach auseinandergegangen. Wäh-
rend die Volksmeinung die Entwicklung von Geistesstörungen
aus falschen Vorstellungen oder Gemütsbewegungen geradezu als
die Regel betrachtet und auch Griesinger geneigt war, den psy-
chischen Ursachen ein ziemlich bedeutendes Übergewicht über die
körperlichen zuzugestehen, ist neuerdings, namentlich unter dem
Einflüsse anatomischer und chemischer Entdeckungen, das Be-
streben stark hervorgetreten, den Wirkungsbereich der psychischen
Ursachen immer mehr einzuschränken. Man erkannte, daß nicht
selten die anscheinend ursächlichen Gemütserschütterungen schon
die Folge krankhafter Störungen waren; man fand schwere und
ausgebreitete Rindenveränderungen bei Krankheitsformen, die man
bis dahin als rein auf psychischem Gebiete ablaufende angesehen
hatte, und man gewöhnte sich daran, den Begriff der Stoff-
wechselstörungen im weitesten Sinne aus dem Gebiete der inneren
Medizin und namentlich auch aus demjenigen der Blut- und Serum-
forschung auf die psychiatrische Ursachenlehre zu übertragen, frei-
lich meist nur in der Form unbestimmter Vermutungen.
Auf der anderen Seite jedoch sind die Tatsachen der ,,Psycho-
genie", der psychischen Entstehung und Beeinflussung von Krank-
heitserscheinungen, zu augenfällig, als daß sie gänzlich übersehen
werden könnten. Es scheint zwar, daß wir im allgemeinen die
Fähigkeit besitzen, auch heftige Erschütterungen des psychischen
Gleichgewichtes allmählich ohne dauernden Schaden wieder aus-
zugleichen, eine Einrichtung, deren Bedeutung ohne weiteres ein-
leuchtet, da wir ja ohne Gemütsbewegungen, die unserem Han-
deln die Triebkraft liefern, nicht leben und nicht streben könnten.
Allein offenbar ist die Wijrkungsweise wie die Dämpfung ge-
mütlicher Erregungen außerordentlich großen persönlichen Ver-
schiedenheiten unterworfen. Die Stärke und Art der Gefühle, die
durch ein Ereignis ausgelöst werden, ist ein unmittelbarer Grad-
messer für die Innigkeit der Beziehungen, die er zum Kerne
der geistigen Persönlichkeit gewinnt. Daher sind es gerade die
Verschiedenheiten in der gemütlichen Verarbeitung der wechseln-
den Eindrücke des Lebens, in denen sich uns die fast unabsehbare
Mannigfaltigkeit der „Individualitäten", „Naturen", „Charaktere",
„Temperamente" ausdrückt! Die persönliche Eigenart ist für die
Wirkungen gemütserschütternder Erlebnisse durchaus maßgebend.
Gemütsbewegungen.
121
Während wir im allgemeinen der wirklich ursächlichen Bedeutung
von seelischen Einflüssen nur einen recht beschränkten Spielraum
zugestehen dürfen, gibt es mancherlei Formen psychopathischer
Veranlagung, auf deren Boden die psychischen Ursachen eine
höchst unheilvolle krankmachende Wirkung zu entfalten vermögen.
Gemütsbewegungen. Soviel sich erkennen läßt, werden wirk-
liche Krankheitserscheinungen überall nur durch solche Seelen-
vorgänge hervorgerufen, die mit lebhaften Gemütsbewegungen ein-
hergehen. Lebenserfahrungen, die lediglich verstandesmäßig auf-
gefaßt werden, ohne das Gemüt in Mitleidenschaft zu ziehen,
können zur Entstehung von Irrtümern, niemals aber zu Wahn-
bildungen Anlaß geben. Dagegen sind die Gemütsbewegungen im-
stande, nicht nur unsere Willenshandlungen, sondern auch unsere
Auffassung und unser Denken in der entscheidendsten Weise zu
beeinflussen, und dieser Einfluß kann unter Umständen krank-
hafte Größe und Richtung annehmen. Natürlich sind es fast aus-
schließlich die traurigen Gemütsbewegungen, die dabei in Be-
tracht kommen; entfesseln sie doch die mächtigsten und dauernd-
sten Stürme im Menschen, während selbst die höchsten Grade
der Freude rasch in das ruhige Gefühl des gesicherten Glücks
überzugehen pflegen. Angst vor einem bevorstehenden Unglück,
Schreck über ein unerwartetes Ereignis, Zorn über ein wider-
fahrenes Unrecht, Verzweiflung über einen erlittenen Verlust
werden uns daher am häufigsten als Ursachen psychischer Stö-
rungen begegnen.
Außer den plötzlichen Erschütterungen dürfte jedoch auch
ein dauernder gemütlicher Druck imstande sein, krankhafte
Störungen des Seelenlebens herbeizuführen. Im allgemeinen ver-
mögen wir sogar den Einfluß schnell eintretender, aber kurz
dauernder Schädigungen leichter zu verwinden, als jene lang-
samen, nachhaltigen Einwirkungen, welche eine beständige Trü-
bung des Stimmungshintergrundes herbeiführen, mit immer stär-
kerem Drucke allmählich jede freiere, freudige Regung zurück-
drängen und das Gefühl des Unglücks bis zur Unerträglichkeit
anwachsen lassen. Hierher gehört namentlich die Sorge in ihren
mannigfaltigen quälenden Formen, der Kummer über erlittene
Enttäuschungen, unglückliche Liebe, Trennung von geliebten Per-
sonen und Versetzung in ungewohnte, peinigende Verhältnisse
122
I. Die Ursachen des Irreseins.
(Heimweh), endlich die Reue über begangene Fehltritte. Aller-
dings bleibt bei solchen schleichend sich entwickelnden Schädi-
gungen der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung mehr
oder weniger unklar; immerhin kennen wir Krankheitsformen,
die wir Anlaß haben, als die Folge eines dauernden gemütlichen
Druckes anzusehen. Im übrigen haben wir aber wohl auch hier
vor allem die ursprüngliche Fähigkeit des Kranken, gemütliche
Veränderungen wieder auszugleichen, als wesentliches Glied bei der
Abschätzung ihrer ursächlichen Bedeutung in Rechnung zu stellen.
Wie sich der Vorgang der Erkrankung durch gemütliche Schä-
digungen im einzelnen vollzieht, ist uns zurzeit noch völlig un-
bekannt. Wir wissen nur ganz im allgemeinen, daß Gemüts-
bewegungen anscheinend die Entladung von Spannungszuständen
bedeuten, die zum Teil schon in der Anlage vorgebildet, zum Teil
durch die Lebensarbeit erworben worden sind. Der Eindruck, der
eine gemütliche Erschütterung auslöst, wirkt ja in der Regel nur
durch die Vorstellungen, die sich an ihn knüpfen und ihrerseits
wieder lawinenartig Gefühle und Willensantriebe, die grundlegen-
den Triebkräfte des Seelenlebens, entfesseln. Hand in Hand mit
diesen Stürmen im Bereiche der Seelenäußerungen gehen regel-
mäßig mehr oder weniger ausgeprägte körperliche Veränderungen,
die unter Umständen das Allgemeinbefinden nachdrücklichst be-
einflussen können. Dahin gehören namentlich Schwankungen
der Herztätigkeit, des Blutkreislaufes (Pulszahl, Blutdruck)
und der Atmung, die eine genauere Untersuchung schon bei den
leichtesten Gemütsbewegungen nachweist; auch Verdauungs-
störungen scheinen durch psychische Ursachen sehr häufig her-
vorgerufen zu werden, wie die alltägliche Erfahrung des Appetit-
mangels nach heftigem Ärger oder bei großem Kummer dartut.
Von weitaus größter Bedeutung ist aber wohl die Beeinträch-
tigung des Schlafes, um so mehr, als sie regelmäßig auch eine
Störung der Nahrungsaufnahme nach sich zieht. Wo die lebhafte
Erregung des Gehirns die Möglichkeit des Ruhens und weiterhin
eines gehörigen Ersatzes der verbrauchten Körperbestandteile aus-
schließt, können schwere Folgen für die Gesamternährung nicht
ausbleiben.
Zu der Wirkung gemütlicher Schädigungen pflegt sich endlich
fast immer noch diejenige mannigfacher körperlicher Schwächungen
Gemütsbewegungen.
123
durch Elend, Entbehrungen, schlechte Ernährung, unregelmäßige
Lebensweise, Ausschweifungen aller Art hinzuzugesellen, so daß es
im Einzelfalle vielfach unmöglich ist, den Anteil der verschiedenen
Ursachen an dem Zustandekommen des krankhaften Gesamtergeb-
nisses auch nur annähernd festzustellen.
Die gewöhnliche, unmittelbare Wirkung einer stark gefühls-
betonten Vorstellung ist ihr Übergewicht im Bewußtseinsinhalt;
sie verdrängt andere Seelenvorgänge und haftet ungewöhnlich
lange, taucht auch immer von neuem wieder hervor. Auf diese
Weise kann sie auf die Stimmung und weiterhin auch auf das
Handeln einen sehr nachhaltigen Einfluß ausüben. Das ist zu-
nächst leicht verständlich, wenn es sich um Erlebnisse handelt,
deren Folgen für die gesamte Gestaltung unserer Lebensverhält-
nisse maßgebend sind und sich daher dauernd unsere Beachtung
erzwingen. Aber auch einmalige widrige Eindrücke, die unser
Wohl und Wehe im übrigen nicht tiefer berühren, können wir
oft „nicht los werden", ja, es knüpfen sich bisweilen auch die
körperlichen Begleiterscheinungen des Ekels oder der Angst, Brech-
neigung, Herzklopfen, Blaßwerden, mit großer Lebhaftigkeit an
die peinlich hartnäckige Erinnerung an. Eine Steigerung dieser
noch im Bereiche des Gesunden sich abspielenden Vorgänge führt
auf krankhaftem Gebiete zum immer wiederholten Hervortreten
quälender Vorstellungen, die in schweren Fällen das ganze Leben
vergiften können. Manchmal sind es bestimmte, sehr eindrucks-
volle Ereignisse', ein miterlebter Unglücksfall, eine große Gefahr,
eine demütigende Lebenslage, die den Anknüpfungspunkt für die
unablässige Beunruhigung bilden ; häufig genügen aber auch schon
ganz allgemeine Erwägungen, der Gedanke an die Möglichkeit,
sich eine ansteckende Krankheit zu holen, sich bei wichtigen
Geschäften zu irren, unvermutet hilfsbedürftig zu werden, um
dauernde und unüberwindliche Angstzustände auszulösen. Ge-
rade dieser Umstand zeigt deutlich, daß hier von einer eigentlich
ursächlichen Bedeutung der Gemütsbewegungen kaum mehr ge-
sprochen werden kann. Maßgebend ist vielmehr die persönliche
Veranlagung, die Art, wie die Lebensreize gemütlich verarbeitet
werden. Wer in der angedeuteten Weise erkrankt, leidet in Wirk-
lichkeit an dem Mangel jener Seeleneigenschaften, die dem völlig
Gesunden den Ausgleich gemütlicher Schädigungen durch Humor
I. Die Ursachen des Irreseins.
oder Ablenkung, durch Selbstbescheidung oder Selbstbehauptung
ermöglichen.
Auf krankhaft langes Nachwirken einer gemütlichen Er-
schütterung pflegt man auch jene schleichend verlaufenden Seelen-
störungen zurückzuführen, die man unter dem Namen der trau-
matischen Neurose zusammenfaßt. Wie es scheint, trifft indessen
diese Entstehungsweise nur für einen kleineren Teil der Fälle
zu, in dem dann zugleich als Überbleibsel der Schreckwirkung
Dämmerzustände oder umschriebene Ausfallserscheinungen fort-
bestehen. Zumeist jedoch dürfte nicht sowohl die einmalige ge-
mütliche Erschütterung, als vielmehr die Willenslähmung maß-
gebend sein , die durch unsere Unfallgesetzgebung künstlich ge-
züchtet wird. Da dem zum Zwecke der Heilung sorgsam geschonten
Kranken jeder Arbeitsversuch sofort das Gespenst der Renten-
entziehung heraufbeschwört, verliert er mehr und mehr den Mut
und die Fähigkeit, die inneren Reibungen zu überwinden, und
findet unter dem Drucke seines Hilfsbedürftigkeitsgefühles das
einzige Heil in der Anklammerung an die Rente. Dieses Ein-
wurzeln der Arbeitsunfähigkeit geschieht selbstverständlich um
so leichter, je geringer das Maß von Widerstandsfähigkeit und
Willenskraft war, über das der Kranke von Hause aus verfügte.
In der Regel kommt es bei den geschilderten Vorgängen nicht
zu einer auffallenderen Verfälschung der Verstandesleistungen.
Immerhin aber bedeuten Gemütsbewegungen eine gewisse Gefahr
für die Sachlichkeit des Urteils, und wir wissen, daß Irrtümer
um so schwerer ausgerottet werden können, je mehr sie uns ,,ans
Herz gewachsen", von Gefühlen begleitet sind. Die volkstümliche
Anschauung stellt sich etwa in dieser Form allgemein die Ent-
stehung von Wahnideen vor, indem sie annimmt, daß sich der
Kranke ,, etwas in den Kopf gesetzt" habe. Auch in wissenschaft-
lichen Kreisen ist die Meinung verbreitet, daß Vorstellungen ,, über-
wertig" werden und dadurch Gewalt über das Seelenleben gewinnen
können.
Da uns Unlustgefühle stärker zu erschüttern pflegen als die
Freude, werden wir erwarten dürfen, in der angedeuteten Weise
am häufigsten Beeinträchtigungsvorstellungen entstehen zu sehen.
Unangenehme Lebenserfahrungen, Mißerfolge, deren Ursachen
nicht in der eigenen Brust, sondern in äußeren Einflüssen gesucht
Gemütsbewegungen.
125
werden, können zu Verbitterung und damit zu einer feindselig
vorurteilsvollen Beurteilung von Erlebnissen und Personen führen,
die schließlich jeder Belehrung unzugänglich wird. Daß die Ge-
dankenkreise der Rechthaber und der Pseudoquerulanten ihren
krankhaften Anstrich durch derartige Vorgänge erhalten, wie sie
auch der alltäglichen Bildung von Vorurteilen und einseitigen
Kampfesmeinungen zugrunde liegen, wird man nicht bezweifeln
können. Weniger sicher ist es, ob auch ausgeprägte, fortschrei-
tende Wahnbildungen auf dem gleichen, rein psychologischen
Wege entstehen können; immerhin scheint die Entwicklung des
Querulantenwahns im Anschlüsse an vermeintliche rechtliche Be-
nachteiligung diese Auffassung nahe zu legen. Noch strittiger ist
die Frage, ob man berechtigt ist, auch das Auftreten von Sinnes-
täuschungen, wie es bei Strafgefangenen so oft beobachtet wird,
unmittelbar als die Wirkung des Mißtrauens und der Verzweiflung
auf das durch die Abgeschlossenheit empfänglicher gemachte Sinnes-
gebiet zu betrachten. Jedenfalls ist unsere Kenntnis von derartigen
Zusammenhängen noch sehr erweiterungsbedürftig.
Dagegen dürfen wir bestimmt annehmen, daß lebhafte Ge-
mütsbewegungen unter Umständen Trübung, ja völlige Aufhebung
des Bewußtseins bewirken können. Das „Vergehen der Sinne",
das „Stillstehen des Verstandes" sind die ersten leisen Andeu-
tungen jener Ohnmächten und Dämmerzustände, die uns gar nicht
selten im Anschlüsse an starke gemütliche Erregungen begegnen.
Traumhafte Verfälschungen der Auffassung und Verarbeitung
der Außenwelt, bald unter Fortspinnen der aufregenden Erleb-
nisse, bald unter Umwandlung oder völliger Ausmerzung der-
selben aus dem Bewußtsein, kennzeichnen derartige, aus Gemüts-
bewegungen hervorgehende Krankheitsbilder.
Anstatt zum dauernden Mittelpunkte des Seelenlebens zu wer-
den, sieht man bisweilen das krankmachende Ereignis anschei-
nend gänzlich aus dem Bewußtseinsinhalte verschwinden, wäh-
rend doch seine Wirkungen fortbestehen. Man kann sich etwa
vorstellen, daß die Unmöglichkeit, sich mit dem Vorgefallenen
in befriedigender Weise abzufinden, unwillkürlich zu dem Aus-
wege führt, es einfach aus dem Bewußtsein zu verdrängen, wie
wir uns irgendeinen unerfüllbaren Wunsch „aus dem Sinn schla-
gen", ein peinliches Erlebnis baldmöglichst zu vergessen trachten.
126
I. Die Ursachen des Irreseins.
Allein wie es uns dabei im geheimen dennoch immer noch „wurmt",
an uns nagt, wie ein dumpfes Unbehagen zurückbleibt, auch wenn
wir seines Anlasses nicht mehr gedenken, so kann auf krankhaftem
Gebiete der Inhalt des Geschehenen der Erinnerung entrückt sein,
während die durch ihn erzeugte Gemütserschütterung mit ihren
Folgen, namentlich in Form einer Bewußtseinstrübung, andauert.
Breuer und Freud haben sich viel mit diesem sehr merkwür-
digen Vorgange beschäftigt und auch versucht, durch Wieder-
erweckung der verlorenen Erinnerung deren psychische Wirkungen
zu beseitigen. Insbesondere wurden frühzeitige geschlechtliche
Erlebnisse als allgemeine Ursache der Hysterie bezeichnet; die
verdrängten Erinnerungen sollten jene eigentümliche Spaltung
des Bewußtseins, die Ausscheidung einzelner Seelengebiete aus
dem Zusammenhange der übrigen, bedingen, welche die Krank-
heit kennzeichnet.
Wenn diese Auffassung auch sehr weit über das Ziel hinaus-
schießt, so ist doch nicht zu bezweifeln, daß die Verdrängung
von Erinnerungsbildern durch Gemütsbewegungen tatsächlich statt-
finden kann. So sehen wir in den Dämmerzuständen der Hysteri-
schen oder in der Hypnose nicht selten Erinnerungen mit großer
Lebhaftigkeit hervortreten, die dem wachen Bewußtsein anschei-
nend völlig unzugänglich waren; regelmäßig handelt es sich dabei
um aufregende Ereignisse. Bald entsprechen diesen Bildern wirk-
liche Vorkommnisse, freilich in wirkungsvoller Ausschmückung,
bald waren es nur Träume oder Einbildungen. Vielleicht dürfen
wir sogar die gesamten hysterischen Ausfallserscheinungen unter
diesem Gesichtspunkte auffassen. Eine Lähmung oder Empfin-
dungslosigkeit, die sich an die erschreckende Berührung oder
Verletzung eines Gliedes anschließt, könnte dadurch zustande
kommen, daß die begleitende Gemütserschütterung die gesamte
seelische Vertretung jenes Gliedes aus dem Bewußtseinsinhalte
des Kranken verdrängt. Er vergißt es so vollständig, daß kein
Reiz von daher über die Schwelle des Bewußtseins gelangen kann,
daß er keinen Willensantrieb dorthin zu senden vermag.
Von den klinischen Krankheitsformen, die man in ursächliche
Beziehung zu Gemütsbewegungen gesetzt hat, wären zunächst
jene Fälle zu nennen, die unmittelbar nach plötzlichen Gemüts-
erschütterungen entstehen und als „Emotionspsychosen" bezeichnet
Gemütsbewegungen.
127
worden sind. Leider bin ich aus eigener Erfahrung nicht im-
stande sie genauer zu kennzeichnen, da sie wegen ihres raschen
Ablaufes äußerst selten in die Hände des Irrenarztes kommen.
Wir hören indessen öfters, daß bei großen Unglücksfällen diese
oder jene Person plötzlich anfängt, irre zu reden, sinnlos davon
zu laufen, die Umgebung anzugreifen; meist steht dann der Tod
nahe bevor. Derartige Fälle erinnern an das Grauen, das in un-
heimlichen Lebenslagen die Klarheit des Blickes trübt und das
Handeln lähmt, an die Erscheinungen der Panik, die ganze Men-
schenmassen rasch zu einer Herde kopflos ins eigene Verderben
rennender Tiere machen kann. Es ist indessen zu berücksichtigen,
daß wenigstens in den rasch tötlich verlaufenden Fällen regel-
mäßig außer den gemütlichen Erschütterungen schwere ander-
weitige Schädigungen eingewirkt haben, namentlich längere Schlaf-
losigkeit, äußerste geistige und körperliche Überanstrengung,
Hunger, Kälte, Entbehrungen aller Art. Wir werden daher als
Grundlage dieser „Angstdelirien" tiefgreifende und ausgebreitete
Zerstörungen der Hirnrinde anzusehen haben.
Wo dagegen wirklich nur starke Gemütsbewegungen einge-
wirkt haben, trägt die psychische Störung das Gepräge der hy-
sterischen Irreseinsformen; sie geht dann in der Regel mit Be-
wußtseinstrübung, vielfach auch mit kennzeichnenden Lähmungs-
und Krampferscheinungen einher. So sah ich ein junges Mäd-
chen in einen mehrtägigen hysterischen Aufregungszustand mit
allgemeiner Chorea verfallen, als sie bei einem geschlechtlichen
Abenteuer ertappt worden war; ein anderer Kranker, der einen
Eisenbahnunfall erlitten hatte, geriet jedesmal bei Erwähnung des
Wortes Eisenbahn, beim Vorzeigen einer Kinderlokomptive oder
eines entsprechenden Bildes in einen lebhaften, ängstlich-deliranten
Erregungszustand. Hierher gehört auch die Mehrzahl der in der
Untersuchungshaft auftretenden Seelenstörungen. Eine besondere
Gestaltung dieser psychogenen Erkrankungen ist die schon oben er-
wähnte Unfallsneurose. Ferner gehört hierher die Erwartungsneurose,
Angstzustände mit mannigfachen körperlichen Begleiterscheinungen,
die sich als mehr oder weniger klar bewußte Erinnerung an pein-
liche Erfahrungen bei bestimmten Anlässen regelmäßig einstellen.
Ähnliche psychogene Anknüpfungen finden sich auch nicht selten
bei den verschiedenartigen Gestaltungen des Zwangsirreseins.
128
I. Die Ursachen des Irreseins.
Weit lockerer ist die ursächliche Verknüpfung zwischen Ge-
mütsbewegungen und Geistesstörung bei den übrigen Formen
des Irreseins. Allerdings sehen wir den Querulantenwahn sich
regelmäßig an einen Rechtsstreit anknüpfen, und auch bei der
Entwicklung anderer paranoischer Erkrankungen scheinen äußere
Vorgänge öfters bestimmend mitzuwirken. Es muß indessen daran
festgehalten werden, daß die besondere Art der gemütlichen Ver-
arbeitung von Lebenserfahrungen hier überall schon das Krank-
hafte ist. Die Erlebnisse geben den Wahnbildungen wohl Stoff
und Inhalt, aber sie verursachen sie nicht. Näher liegt die An-
nahme eines wirklich ursächlichen Zusammenhanges vielleicht für
gewisse Erkrankungen, die wir in der Strafhaft entstehen sehen.
Beim manisch-depressiven Irresein schließen sich die einzelnen
Anfälle, wie an andere Anlässe, nicht ganz selten an gemütliche
Aufregungen an. Dabei ist die klinische Färbung des Anfalls von
derjenigen des auslösenden Affektes ganz unabhängig. Heitere
Verstimmung kann sehr wohl einem traurigen Anlasse folgen und
umgekehrt. Einer meiner Kranken wurde bei der Beerdigung
seiner Tochter manisch; andererseits sah ich eine Dame mit ver-
wirrten Angstzuständen und peinigenden Sinnestäuschungen er-
kranken, anscheinend in der Freude über die glückliche Verlobung
ihrer Tochter. Hier war jedoch schon vor langer Zeit eine ähnliche
Erkrankung vorausgegangen. Verschlechterungen des Zustandes
oder selbst schwere Rückfälle werden bei depressiven Kranken
öfters durch unzeitige Besuche ihrer liebsten Angehörigen veranlaßt.
Die Folgezustände der Gemütsbewegungen, insbesondere die
Schlafstörung in Verbindung mit der allgemeinen Beeinträchtigung
der Ernährung, können das Krankheitsbild der nervösen Erschöp-
fung herbeiführen. Von den Blutdruckschwankungen nimmt man
an, daß sie für die Entwicklung von arteriosklerotischen Er-
krankungen von Bedeutung werden können. Leute mit sehr
aufreibender Lebensarbeit, die häufigen Gemütserregungen aus-
gesetzt sind, sollen früher verbraucht werden, insbesondere der
Arteriosklerose anheimfallen. Auch die Häufigkeit der Arterio-
sklerose beim manisch-depressiven Irresein und bei der Unfalls-
neurose könnte auf die andauernden gemütlichen Schwankungen
bei diesen Erkrankungen bezogen werden. Es ist indessen nicht
außer acht zu lassen, daß hier überall auch noch andere Schäd-
Überanstrengung.
129
lichkeiten in Frage kommen, namentlich Alkohol und Syphilis,
deren ursächliche Beziehungen zur Arteriosklerose zweifelloser
sind, als diejenigen der Gemütsbewegungen.
Überanstrengung^). Geistige Tätigkeit und Gemütsbewegung
beruhen auf den Lebensvorgängen in unserer Hirnrinde; das aus
ihnen entspringende Lebensgefühl ist eine der wichtigsten Grund-
lagen unseres Wohlbefindens. Dennoch kann ein Übermaß jener
Vorgänge unter Umständen Schädigung unserer geistigen Gesund-
heit herbeiführen. Freilich haben wir hier von vornherein auf
einen grundlegenden Unterschied zwischen Verstandes- und Ge-
mütsleistung hinzuweisen. Die einfache geistige Arbeit führt
nach einer gewissen Zeit zur Ermüdung. Die subjektive Beglei-
terin derselben, die Müdigkeit, erzwingt in wachsender Stärke
schließlich Einstellung der Tätigkeit, erzeugt Schlaf und schafft
damit von selber die günstigen Bedingungen für den Ersatz des
verbrauchten Nervengewebes. Demgegenüber verscheucht die ge-
mütliche Erregung das Warnungszeichen der Müdigkeit trotz tat-
sächlich vorhandener Ermüdung. Die Arbeitsleistung kann da-
her unter ihrem Einflüsse bis zur Erschöpfung, bis zur unmittel-
baren Schädigung der körperlichen Grundlagen unseres Seelen-
lebens, fortgesetzt werden. Bis zu einem gewissen Grade geschieht
das schon bei jeder geistigen Arbeit, die wir mit sehr lebhaftem
„Interesse" verrichten.^ Hier kann die Ermüdungsabnahme der
Leistungsfähigkeit eine Zeitlang durch wiederholte starke Willens-
anstrengung, durch den „Antrieb", ausgeglichen werden, ja wir
sehen unter solchen Umständen in den ersten Stadien der Er-
schöpfung neben dem entschiedenen Sinken der Arbeitsleistung
die Zeichen der psychischen Erregbarkeitssteigerung durch gemüt-
liche Einflüsse deutlich genug hervortreten.
Es ist demnach in erster Linie die mit gemütlicher Er-
regung einhergehende Arbeit, welche die Gesundheit zu gefähr-
den vermag. Je lebhafter von vornherein die Gefühlsbetonung einer
Arbeitsleistung, und je ausgeprägter überhaupt die gemütliche Er-
regbarkeit des Arbeiters ist, desto größer wird im einzelnen Falle
die Gefahr sein, daß die Zeichen des Ruhebedürfnisses verwischt
werden und damit eine wirkliche Überanstrengung zustande kommt.
1) Manaceine, Le surmenage mental dans la civUisation moderne. 1890.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Au{l. ^
130
I. Die Ursachen des Irreseins.
Vollzieht sich dieser Vorgang häufiger oder gar gewohnheitsmäßig,
so werden die Folgen der Überanstrengung durch die alltäglichen
Ruhepausen nicht mehr vollständig ausgeglichen: es kommt zu
einer dauernden Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit, Ausbleiben
der Müdigkeit und erheblicher Herabsetzung der geistigen Leistungs-
fähigkeit infolge von chronischer Erschöpfung. Das klinische Bild,
welches sich bei krankhafter Ausdehnung dieser Störungen ent-
wickelt, ist dasjenige der Neurasthenie. Die leichtesten Formen
derselben kann wohl ein jeder gelegentlich einmal an sich be-
obachten, wenn irgendeine Lebenslage erhöhte Anforderungen an
seine psychischen Leistungen stellt (Prüfungen).
Im praktischen Leben können wir trotz der oben angedeuteten
Übergänge die wesentlich geistige von der gemütlichen Über-
anstrengung einigermaßen abscheiden. Der ersteren Form be-
gegnen wir namentlich bei Schülern, Studenten, Gelehrten, der
zweiten dagegen, der Überbürdung mit gemütlichen Erregungen
und Pflichten verschiedener Art, bei Krankenpflegerinnen, Ärzten,
Politikern, Heerführern im Kriege. Übermäßige Verstandes-
arbeit birgt ernstere Gefahren wohl nur für jugendliche oder krank-
haft veranlagte Personen; in der Regel pflegen sich die etwa
auftretenden neurasthenischen Erscheinungen bei angemessener
Ruhe leicht wieder zu verlieren. Wo dagegen die geistige Über-
anstrengung von beständiger gemütlicher Anspannung, vom Gefühle
schwerer Verantwortlichkeit und vielleicht noch von körperlichen
Strapazen und Ausschweifungen begleitet wird, entwickeln sich zu-
meist schwerere und länger dauernde psychische Veränderungen.
Solche Tätigkeit ist es, die den Menschen rasch verbraucht, seine
Leistungs- und Widerstandsfähigkeit dauernd herabsetzt, ihn
stumpf und reizbar zugleich macht. Am besten sehen wir das
vielleicht bei dem Wartpersonal in älteren Irrenanstalten, das
nach langjährigem Anstaltsdienste fast regelmäßig die Zeichen einer
dauernden Schädigung der gesamten Persönlichkeit darbietet. Ohne
Zweifel bilden derartige Veränderungen den günstigen Boden für
das Auftreten weiterer psychischer Erkrankungen, einerseits der
hysterischen Formen, andererseits der Alterserkrankungen, ins-
'f)esondere der Arteriosklerose.
Gefangenschaft. Eine ganze Reihe von psychischen Ursachen
findet sich vereinigt in der Gefangenschaft, die erfahrungsgemäß
Gefangenschaft.
131
nicht selten Geistesstörungen erzeugt^), anscheinend etwa zehn-
mal so viel wie das Leben in der Freiheit. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle besteht jedoch schon eine mehr oder weniger
schwere krankhafte Veranlagung, teils auf Grund angeborener
Entartung, teils durch mannigfache Lebensschicksale (uneheliche
Geburt, schlechte Erziehung, Krankheiten, Traumata, Alkoho-
lismus) erworben. Dazu kommen die ungünstigen hygienischen
Verhältnisse des Gefängnislebens (einförmige, knappe Kost, un-
genügende Bewegung, Mangel frischer Luft), sodann lebhafte ge-
mütliche Erregungen, der quälende Verlust der Freiheit, die starre
Knebelung aller selbständigen Willensregungen und endlich die
Einsamkeit und Abgeschiedenheit, welche dem Eingesperrten zur
grübelnden Beschäftigung mit den eigenen Gedanken gründliche
Muße gibt und ihn die Angst vor der Zukunft, die Reue über das
Begangene um so lebendiger empfinden läßt, je weniger ihn sein
Bildungsgrad und sein Charakter zur sittlichen Selbsterziehung
befähigt'-).
In der Untersuchungshaft wird während der ersten Tage öfters
das Delirium tremens beobachtet, namentlich bei Landstreichern
und Bettlern. Man könnte hier versucht sein, eine schädliche Wir-
kung der plötzUchen Alkoholentziehung anzunehmen, wenn nicht
die Erfahrungen der Trinkerheilanstalten dagegen sprechen würden.
Es müssen daher wohl die übrigen, oben angeführten ungünstigen
Einflüsse der Gefangenschaft die Hauptrolle spielen. Das eigentlich
kennzeichnende Irresein der Untersuchungsgefangenen aber sind
psychogene Dämmerzustände mit Vorbeireden und Erinnerungs-
lücken, wie sie Ganser beschrieben hat. Sie entwickeln sich un-
mittelbar aus der gemütlichen Erregung über die drohende Gefahr
heraus, beginnen öfters mit einem Selbstmordversuche, einem hy-
sterischen Anfalle oder plötzlicher Tobsucht und erwecken sehr
vielfach den Anschein absichtlicher Verstellung. Es liegt nahe, hier
an Verdrängungserscheinungen im Sinne Freuds zu denken. Der
plötzliche gewaltige Eingriff in die gesamten Lebensverhältnisse,
1) Gutsch, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XIX, i; Kirn, ebenda XLV, i;
Rüdin, ebenda, LVIII, 447; LX, 852; Skliar, Monats^chr. f. Psychiatrie, XVI, 441;
Siefert, Die Geistesstörungen der Straf haft. 1907; Wilmanns, Über Gefängnis-
psychosen. 1908.
2) Leu SS, Aus dem Zuchthause. 1903; Auer, Zur Psychologie der Gefangen-
Schaft. 1905.
g*
I. Die Ursachen des Irreseins.
132
den die Verhaftung bedeutet, mit allen sich daran knüpfenden
Demütigungen und Befürchtungen führt bei dazu veranlagten Per-
sönlichkeiten zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Trübung
des Bewußtseins mit dem unwillkürlichen Bestreben, sich von den
peinigenden Erinnerungen, Ereignissen und Einwirkungen ab-
zuschließen. Weiterhin kommen Fälle von Dementia praecox, oft
in der katatonischen Form, zur Beobachtung, bisweilen auch als
plötzliche halluzinatorische Erregungszustände nach lange bestehen-
der leichterer, schleichender Verblödung.
Die Strafhaft erzeugt bei weitem am häufigsten in der Stille
der Isolierzelle halluzinatorische Krankheitsbilder, namentlich akut
auftretende, rasch verlaufende Formen, meist Verfolgungswahn,
seltener Größenideen, vorwiegend mit Gehörstäuschungen, heftigen
Angstzuständen und Selbstmorddrang. Starke innere Spannung,
das Gefühl eines lastenden Druckes, Erschwerung des Denkens
unter aufdringlicher Wiederkehr derselben einförmigen, trüben Vor-
stellungen , Lebensüberdruß , dazu Kopfdruck , Schwindelgefühl,
Schlaflosigkeit, Verdauungsbeschwerden, Appetitmangel leiten die
krankhafte Veränderung ein. Der Ausbruch der Psychose erfolgt
bisweilen schon sehr bald, häufiger nach einigen Monaten, unter
Umständen erst nach Jahr und Tag oder selbst nach zahlreichen,
ohne geistige Erkrankung überstandenen Freiheitsstrafen. Am wirk-
samsten scheint die Einzelhaft zu sein, deren Aufhebung vielfach,
aber durchaus nicht immer, rasches Schwinden der Krankheits-
zeichen herbeiführt. Langjährige Zuchthausstrafen wirken in hohem
Grade zerstörend auf die geistige Gesundheit. Die Wahnbildungen
der Kranken knüpfen sich an die hilflose Abhängigkeit des Ge-
fangenen von seiner Umgebung, insbesondere den Aufsehern, an,
die zu vorurteilsvoller Deutung kleinlicher Erlebnisse, gespanntem
Mißtrauen, eifersüchtiger Wahrung der spärlichen Rechte führt.
In der Stille der Isolierzelle schärfen sich die Sinne, und die Ein-
förmigkeit des Tageslaufes gibt jedem Ereignisse eine besondere Be-
deutung ; vielfach spielen auch traumhafte Wahrnehmungen, wie sie
die erregte Einbildungskraft im Halbwachen der langen, einsamen
Nächte erzeugt, eine wahnbildende Rolle.
Die eingehende klinische Betrachtung einer großen Zahl von
Gefängnispsychosen hat mir gezeigt, daß wir es hier nicht mit einer
klinischen Einheit zu tun haben. Auf der einen Seite haben wir eine
Gefangenschaft.
Gruppe abzutrennen, die in das Gebiet der psychogenen Geistes-
störungen gehört, Bilder, die meist von einer leichten Bewußtseins-
trübung begleitet sind; sie pflegen sich nach der Versetzung in Ge-
meinschaftshaft oder in eine Krankenabteilung mehr oder weniger
rasch zu bessern. Sodann aber finden sich zahlreiche Fälle, die voll-
ständig die Züge der Katatonie darbieten, wie sie außerhalb der
Gefangenschaft beobachtet wird; auch der Ausgang in eigenartige
Verblödung ist der gleiche. Recht häufig scheint hier der akuten
Erkrankung schon lange Zeit eine schleichend oder mit leichten
Angstzuständen einsetzende Verblödung vorauszugehen, oder es han-
delt sich um frühzeitig ausgeprägte Gewohnheitsverbrecher, bei denen
dann irgendeine längere Freiheitsstrafe das halluzinatorisch-kata-
tonische Krankheitsbild zur Entwicklung bringt. Weitere Gruppen
bilden nach Rüdins Darlegungen die Alkoholisten, vereinzelte Para-
noiker, Imbecille und namentlich Epileptiker. Bei diesen letzteren
handelt es sich in der Regel um gelegentliche heftige Aufregungs-
zustände mit Angst und deliriösen Sinnestäuschungen oder um ein-
fache reizbare Verstimmungen (,, Zuchthausknall"), in einer kleineren
Zahl von Fällen aber auch um lange festgehaltene und geistig
verarbeitete Verfolgungsideen mit lebhaften Gehörstäuschungen.
Hier und da begegnet uns auch einmal eine konstitutionelle Er-
regung.
Alle diese Krankheitsbilder sind nicht als eigenartige Erzeug-
nisse der Gefangenschaft anzusehen; sie lassen sich auch ohne
besondere Schwierigkeit den außerhalb des Gefängnisses gemachten
Erfahrungen einordnen. Immerhin sind sie durch die große Leb-
haftigkeit der Gehörstäuschungen sowie durch die Wiederkehr
gewisser naheliegender Wahnvorstellungen ausgezeichnet, der Vor-
stellung, verspottet, hingerichtet, vergiftet zu werden, oder um-
gekehrt, unschuldig verurteilt, begnadigt worden zu sein und nun
widerrechtlich festgehalten zu werden. Daran schließt sich dann
weiterhin die Neigung zur Unbotmäßigkeit , zu Verhetzungen,
feindseligen Handlungen gegen bestimmte Personen, endlich zum
Querulieren, Abfassen von Beschwerdeschriften und Anträgen auf
Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Wir dürfen somit anneh-
men, daß die besonderen seelischen Eindrücke der Gefangen-
schaft den sonst bekannten klinischen Krankheitsbildern eine be-
stimmte Färbung zu geben imstande sind. Wilmanns weist
I. Die Ursachen des Irreseins.
darauf hin, wie nahe sich die mißtrauischen Verfolgungsideen an
die Vorstellungen anlehnen, die auch bei den gesunden, freilich
geistig tiefstehenden und dauernd von dem Drucke der strafenden
Gerechtigkeit gepeinigten Verbrechern verbreitet sind. Außerdem
aber ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß, namentlich bei lange
dauernden Freiheitsstrafen, noch eigenartige, paranoide Krank-
heitsbilder entstehen können. Zu denken gibt in dieser Richtung
der Umstand, daß nicht nur manche Verbrecher ihre klar bewiesene
Straftat niemals eingestehen, sondern daß auch alte Zuchthaus-
gefangene öfters nach langen Jahren ihr früheres Geständnis wider-
rufen und eine frei erfundene Darstellung der in Betracht kom-
menden Ereignisse geben, an der sie mit der größten Hartnäckigkeit
festhalten, um eine neue Verhandlung zu erzwingen. Anscheinend
handelt es sich hier um eine Verdrängung unangenehmer Erinnerungen
mit anschließenden Erinnerungsfälschungen ; Beeinträchtigungsideen
pflegen sich hinzuzugesellen. Auch chronisch-halluzinatorische Er-
krankungen scheinen vorzukommen, die vielleicht Erzeugnisse der
Gefangenschaft darstellen. So sah ich bei einem manisch-depressiven
Zuchthausgefangenen, der viele Jahre hindurch nur ein erhöhtes
Selbstgefühl und gesteigerte Reizbarkeit dargeboten hatte, im An-
schlüsse an zahllose schwere Disziplinarstrafen mit Dunkelarrest,
Fesselung, Entziehung von Kost und Lagerstatt ziemlich plötzlich Ge-
hörstäuschungen und Verfolgungsideen auftreten, die seit mehreren
Jahren unverändert fortbestehen. In anderen Fällen können hallu-
zinatorische Erregungszustände mit Beeinflussungsideen nach kurzer
Zeit wieder verschwinden, ohne wahnhaft weiter verarbeitet, aber
auch ohne berichtigt zu werden. Ich habe mich davon überzeugt,
daß dabei weder früher noch später Zeichen einer Verblödung auf-
findbar sind. Leichtere derartige Fälle mögen vielfach in den Ge-
fängnissen selbst ablaufen. Der weiteren Forschung muß die Ent-
scheidung darüber überlassen bleiben, ob wir es hier mit eigen-
artigen Krankheitsbildern psychischer Entstehung zu tun haben
oder nicht.
Endlich soll noch kurz auf die allgemeine seelische Verän-
derung hingewiesen werden, die jeder langjährige Verlust der
Freiheit erzeugt, auch wenn es nicht zu auffallenderen Krank-
heitserscheinungen kommt. Der Wegfall der Berührung mit dem
Leben erzeugt eine Verarmung der Interessen und eine Einschrän-
4
Kriege und Katastrophen.
kung des Gedankenkreises, eine Weltfremdheit, die auch durch
Unterricht und Lektüre nicht verhindert werden kann. Vor allem
aber bedingt die Erstickung der selbständigen Willensregungen,
die Wehrlosigkeit gegenüber der Staatsgewalt eine Abstumpfung
der gemütlichen Regungen und den langsamen, aber sicheren Ver-
lust der Tatkraft. Mag auch das eigenartige Wesen der alten
Einwohner unserer Zuchthäuser und Arbeitshäuser zum guten
Teile auf ihrer minderwertigen Veranlagung beruhen, so scheint mir
doch der ungeheure Druck der Freiheitsentziehung ihnen allen mehr
oder weniger stark den gemeinsamen Zug der geistig verarmten,
abgestumpften und gebrochenen Persönlichkeit aufzuprägen, ähn-
lich wie es bei den Insassen unserer Irrenanstalten der Fall» war,
bevor die immer reichlicher gewährte Freiheit und selbständige
Tätigkeit dieser künstlichen Verkümmerung entgegenarbeitete. /
Kriege und Katastrophen. Ganz besonders reich an psychischen
Ursachen des Irreseins ist der Kriegt). Kriegsjahre pflegen darum
regelmäßig mit einer mächtigen Steigerung der psychischen Er-
krankungen in der Armee einherzugehen. Der Grund dieser Er-
fahrung liegt zum Teil in der größeren Häufung von Gelegenheits-
ursachen, insbesondere von Kopfverletzungen und akuten Krank-
heiten (Typhus!), hauptsächlich aber in der dauernden Schädigung
durch körperliche Überanstrengungen, Schlaflosigkeit, tiefgreifende,
anhaltende gemütliche Erregungen und vielfach auch Alkoholmiß-
brauch. Auf dem Schlachtfelde selbst entstehen hauptsächlich hyste-
rische Erregungszustände ; ferner haben wir schwere neurasthenische
Erkrankungen und Unfallspsychosen, andererseits Gehirnerschütte-
rungspsychosen, alkoholische und infektiöse Geistesstörungen, Epi-
lepsie und ganz besonders Paralyse zu verzeichnen, deren Entstehung
wir auf Rechnung der im Feldzuge so vielfach erworbenen Syphilis
zu setzen liaben. Häufig genug entwickelt sich das Irresein in-
folge der genannten Schädigungen erst nach längerer Zeit, um
dann meist einen schleichenden und ungünstigen Verlauf zu nehmen.
Andererseits treten manche schon vorbereitete Geistesstörungen erst
unter den erhöhten Anforderungen des Krieges deutlich hervor, so
bei den Offizieren Paralyse und Arteriosklerose, deren Ausbruch
beschleunigt werden soll, bei den Mannschaften Dementia praecox
1) Sanitätsbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich
1870/71, Bd. VII; Awtokratow, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXIV, 286.
I. Die Ursachen des Irreseins.
136
und Imbecillität. Von den durch die gleichen SchädUchkeiten auch
sonst erzeugten Formen des Irreseins unterscheiden sich die im
Kriege entstehenden Geistesstörungen nicht, doch Uefern natürlich
die mächtigen Eindrücke des Krieges den krankhaften Vorstellungen
und Gemütsbewegungen Inhalt und Färbung.
Ähnliches gilt für die seelischen Erkrankungen bei anderen
großen, Gemüt und Einbildungskraft weiter Kreise lebhaft er-
greifenden Ereignissen. Auch hier ist es erklärlich, daß die krank-
haft Veranlagten und Minderwertigen dem Einflüsse der Schädigungen
am raschesten und zahlreichsten unterliegen. Bei politischen Un-
ruhen, Volksbewegungen, Erdbeben, Katastrophen sehen wir da-
her einmal unter dem Einflüsse plötzlicher Gemütserschütterungen
bei leicht erregbaren Personen hysterische Störungen oder Angst-
zustände auftreten, ferner Anfälle des manisch-depressiven Irre-
seins, neurasthenische Erkrankungen, im Anschlüsse an Verletzungen
auch Unfallspsychosen; zugleich aber wird sich überall in den
Krankheitsbildern gern dasjenige Ereignis widerspiegeln, das zur-
zeit gerade die Gedankenwelt der Massen beherrschte.
Psychische Ansteckung. Zum Schlüsse haben wir noch des
Vorganges der uneigentlich sogenannten ,, psychischen Kontagion"
zu gedenken, der Ausbreitung psychischer Störungen durch „An-
steckung". Daß gewisse einfache unwillkürliche Bewegungen,
das Gähnen, Lachen, Räuspern, Husten, Erbrechen, durch Nach-
ahmung, d. h. durch die Erzeugung der Vorstellung dieser Be-
wegungen, hervorgerufen werden, ja daß sogar Ohnmächten
(Soldaten beim Impfen), Zittern und Krämpfe (Mädchenschulen)
auf gleiche Weise ausgelöst werden können, ist eine sehr bekannte
Tatsache. Das Bindeglied bildet überall die gemütliche Erregung
und der durch sie geweckte Nachahmungstrieb. Ereignisse und
Einwirkungen, die das Denken und Fühlen in lebhaften Aufruhr
bringen, drängen bei willensschwachen Menschen auch zum Han-
deln; so ist es bekannt, daß nicht nur der Tollkühne, sondern
auch der Selbstmörder, namentlich bei der Wahl sehr auffallender
Mittel, bald Nachahmer zu finden pflegt. Auf religiösem und
politischem Gebiete mit ihren stark gefühlsbetonten Vorstellungen
vermag das von Begeisterung getragene Schlagwort Leidenschaften
von außerordentlicher Tragkraft zu entfesseln. Schließlich ist ja
die gegenseitige Beeinflussung durch Gefühlserregungen die Grund-
Psychische Ansteckung.
läge aller Erziehung und Gesittung. Mode und Sitte verdanken
der ausgleichenden Wirkung des Nachahmungstriebes ihre Gewalt
über die Menschen; auch an der ungeheuren Verbreitung der
Genußgifte, des Alkohols, des Opiums und Morphiums, hat die
psychische Ansteckung hervorragenden Anteil.
Den erregenden Einfluß des Beispiels zeigen in sehr schlagender
Weise die Erfahrungen über das Verhalten großer Volksmassen, die
durch aufreizende Reden und Taten zu Handlungen getrieben werden
können, welche jeder einzelne für sich niemals begehen würde.
Von der unwiderstehlichen Flut der allgemeinen Aufregung wird
das Verantwortlichkeitsgefühl, das den einzelnen zurückhalten
würde, rücksichtslos fortgeschwemmt. Endlich berichtet uns die
Geschichte der Medizin von großen geistigen Epidemien^), vorzugs-
weise religiösen Gepräges, die weite Kreise ergriffen und zu wider-
sinnigem Denken und Treiben geführt haben. Ganz ähnliche
Vorgänge werden unter verschiedenen Bezeichnungen noch heute
bei gewissen leicht erregbaren Völkerstämmen und religiösen
Sekten beobachtet. Die letzten derartigen Epidemien in der Ge-
gend von Kiew hat Sikorski^) eingehend beschrieben. In einem
Falle handelte es sich um einen Mann mit religiösem Größen-
wahn, dem sich zunächst einige unzweifelhaft kranke Personen,
weiter aber eine große Schar einfach unwissender und leichtgläu-
biger Bauern hinzugesellten. Sie alle glaubten an die göttliche
Sendung des Sektenstifters, an die von ihm getanen Wunder, den
von ihm ausgehenden himmlischen Geruch. In einer zweiten Epi-
demie, bei der eine Bäuerin die Hauptrolle spielte, kam es da-
zu, daß sich in vier Gruppen 25 Personen lebendig begraben
ließen, weil sie den Weltuntergang für bevorstehend hielten. Auch
der abenteuerliche Zug der Duchoborzen in Kanada^) gehört
zu diesen Erscheinungen. Bei den großen geistigen Volksseuchen
handelt es sich natürlich nur in beschränktem Umfange um wirk-
liches Irresein; die Mehrzahl der Teilnehmer befindet sich in Zu-
ständen stärkster gemütlicher Erregung, von denen wir wissen,
^) Hecker. Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters herausgegeben
von Hirsch. 1865; Sergi, psicosi epidemica. 1898; Weygandt, Beitrag zur
Lehre von den psychischen Epidemien. 1905; Vigouroux et Jaquelier, la con-
tagion mentale. 1905.
2) Sikorski, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 778; ebenda LV. 326.
3) Spitzka, Arch. f. Kriminalanthropol. u. Kriminalistik, XIV, i.
I. Die Ursachen des Irreseins.
daß sie die Besonnenheit trüben und die Selbstbeherrschung auf-
heben.
Es gibt aber andererseits auch gar nicht selten Fälle, in denen
mehrere miteinander in Berührung lebende Personen gleichzeitig
oder kurz nacheinander unter ihrem gegenseitigen Einflüsse psy-
chisch erkranken [induziertes Irresein^), folie ä deux] ; so hatte ich
Gelegenheit, im Zeitraum von acht Tagen drei mit religiöser Auf-
regung und Sinnestäuschungen erkrankte Geschwister in die Anstalt
aufzunehmen. Die Geistesstörung kann dabei entweder einfach
durch die gemütliche Erregung, die sie bei der Umgebung er-
zeugt, als Gelegenheitsursache krankmachend wirken; es handelt
sich dann meist um Anfälle des hysterischen oder manisch-depres-
siven Irreseins. Die klinischen Erscheinungen können hier einander
gleichen oder nicht. Weiterhin aber können einzelne Störungen,
unter Umständen auch ganze Krankheitsbilder, durch eine Art von
Suggestion dauernd oder vorübergehend von einer Person auf die
andere übertragen werden (,, folie imposee"). Nur in diesem letzteren
Falle hat man das Recht, von einer psychischen Ansteckung zu
reden. In erster Linie kommt dabei die Übertragung hysterischer
Störungen in Betracht. Sodann aber macht man, namentlich bei
religiös Verrückten und bei Querulanten, aber auch bei anderen
paranoiden Kranken, ferner bei konstitutionell Erregten und patho-
logischen Schwindlern, nicht selten die Beobachtung, daß sie die eine
oder andere Person ihrer nächsten Umgebung gänzlich in ihre Wahn-
ideen hineinziehen und von der Berechtigung ihrer Ansprüche und
ihres Auftretens vollständig überzeugen. Offenbar haben wir es
hier nicht eigentlich mit einer geistigen Erkrankung zu tun, die
derjenigen des Ersterkrankten an die Seite zu setzen wäre; dem
entspricht die Erfahrung, daß meist auch keine selbständige weitere
Verarbeitung der Wahnideen stattzufinden pflegt. Die Beeinflußten
sind vielmehr regelmäßig krankhaft veranlagte, beschränkte Per-
sonen mit sehr geringer psychischer Widerstandsfähigkeit, vor-
zugsweise Frauen. Sie nehmen einfach urteilslos auf, was eine
stärkere Persönlichkeit ihnen aufdrängt, und sie kommen wieder
1) Lehmann, Arch. f. Psychiatrie, XIV, i; Jakowenko, Wjestnik Psy-
chiatrii. 1887; Werner, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIV, 399; Ast,
ebenda LXIII, 41 ; Wollenberg, Arch. f. Psychiatrie, XX, i; Schönfeldt, ebenda
XXVI, 202.
Psychische Ansteckung.
139
in ihr altes Geleise, sobald sie deren übermächtigem Einflüsse
entzogen werden. Es kommt auf diese Weise noch heute nicht
selten zur Bildung kleiner Sekten und Gemeinden, die an die höhere
Sendung eines von Wahnvorstellungen erfüllten Oberhauptes glau-
ben und für ihn Opfer bringen. Grohmann hat eine solche Ge-
meinde beschrieben, und ich selbst hatte Gelegenheit, einen Schuh-
macher zu sehen, der sich für den ,, himmlischen Hochzeitsmahl-
geber" aus dem biblischen Gleichnisse hielt, durch Sendboten
zweimal seine Einladungen in einer Anzahl von bayrischen Städten
ergehen ließ und eine Reihe von Anhängern besaß. Einer der-
selben, ein noch heute im Dienste stehender Briefträger, versicherte
mir, daß der in der Tat sehr schreib- und redegewandte Kranke
viel gescheiter sei, als alle Theologen; ihm war für das künftige
Leben der Adelsstand des Reiches Gottes nebst Standarte und
Petschaft, der Ritterschlag mit dem Schwerte des Lichtes, der
Orden beider himmlischen Bräute, ein Ordensgehalt von 43000
Gulden Reichsgotteswährung, ein Fideikommiß und der Name
Anakletus, Ritter zur Burg Morgenthau, versprochen worden. Auch
in der Irrenanstalt werden oft genug unselbständigere Kranke
durch die Äußerungen ihrer Genossen beeinflußt.
Ganz selten endlich sieht man wohl einmal eine wahre Geistes-
störung mit den gleichen,, von außen aufgenommenen Wahn-
bildungen, aber in durchaus selbständiger Entwicklung zustande
kommen (folie communiquee). Diese Fälle sind es, wie Schön -
fei dt zutreffend ausgeführt hat, welche im engsten Sinne als Irre-
sein durch psychische Ansteckung zu bezeichnen wären. Allerdings
wird man, wo es sich um Blutsverwandte handelt, immer mit der
Möglichkeit einer gleichartigen Erkrankung aus inneren Gründen
zu rechnen haben. Der Ausbruch manisch - depressiver , hebe-
phrenischer, katatonischer oder paranoider Störungen bei mehreren
Mitgliedern einer Familie, auch ohne persönliche Berührung, ist
so häufig, daß wir aus der Gleichzeitigkeit noch nicht berechtigt
sind, auf ursächliche Beziehungen zu schließen. Wenn wir auf
der einen Seite auch die erschütternde Wirkung nicht verkennen
wollen, die das Auftreten einer geistigen Störung auf das gemüt-
liche Gleichgewicht der nächsten Umgebung ausübt, so werden
wir doch annehmen dürfen, daß nur solche Personen selbständig
erkranken, die den Keim des Leidens schon in sich trugen.
I. Die Ursachen des Irreseins.
140
Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Vorgange der psychi-
schen Ansteckung zeigen die in der neueren Zeit mehr beachteten
Erfahrungen von geistigen Störungen im Anschlüsse an hypno-
tische und spiritistische^) Sitzungen. Die Aufregungen, die
damit verbunden sind, die abergläubischen Deutungen, die sich
an die geheimnisvollen Vorgänge knüpfen, bilden für empfäng-
liche und haltlose Naturen eine entschiedene Gefahr. Natürlich
ist von ursächlichen Beziehungen nicht die Rede in den zahlreichen
Fällen, in denen bei Geisteskranken einfach die Wahnvorstellung
hypnotischer oder spiritistischer Beeinflussung auftaucht; der In-
halt des Wahnes spiegelt hier nur die landläufigen Erklärungs-
versuche von Fernwirkungen wider. Dagegen kann namentlich die
Entwicklung von autohypnotischen Zuständen sehr ernste Folgen
nach sich ziehen, wie ich in einem zum Selbstmorde führenden
Falle erlebt habe. Im allgemeinen handelt es sich um hysterische
Aufregungs- und Dämmerzustände, um das Ausspinnen abergläubi-
scher Vorstellungskreise, weiterhin aber auch um die Züchtung
gemütlicher Erregbarkeit und willenloser Abhängigkeit vom Hyp-
notiseur oder Medium. Ohne Zweifel spielt auch hier die Veran-
lagung eine wesentliche Rolle, zumal von vornherein nur solche
Menschen sich mit großem Eifer spiritistischen oder hypnotischen
Sitzungen hinzugeben pflegen, die dafür besonders empfänglich
sind. Bei wirklich sachverständiger Handhabung der Hypnose durch
den Arzt läßt sich übrigens nach meiner Erfahrung jede Gefahr
mit vollster Sicherheit ausschließen.
B. Innere Ursachen (Prädisposition).
Mit der Betrachtung der krankhaften Veranlagung betreten wir
jenes zweite große Gebiet der ätiologischen Forschung, welches
sich mit den in der Persönlichkeit des Erkrankten selbst
gelegenen Ursachen beschäftigt. Die Forderung, ein vollständiges
Verständnis für die Entstehung der Erkrankung zu gewinnen, weist
uns zurück auf die gesamte Entwicklungsgeschichte der gegebenen
psychischen Persönlichkeit und führt uns zur Untersuchung aller
1) Henneberg, Arch. f. Psychiatrie, XXXIV, 3; XXXVII, 673.
Lebensalter.
141
jener inneren und äußeren Einwirkungen, die an ihrer eigenartigen
Ausprägung mitgearbeitet haben. Der Übersichtlichkeit wegen pflegt
man diese Einflüsse in zwei Hauptklassen abzutrennen, in all-
gemeine und persönliche, je nachdem sie sich auf größere
Gruppen von Menschen insgesamt erstrecken oder nur einzelne Mit-
glieder derselben betreffen und somit diesen letzteren eine Sonder-
stellung gegenüber ihrer Umgebung verleihen.
I. Allgemeine Prädisposition.
Zwei verschiedenartige Bedingungen sind es, die man zumeist
unter der Bezeichnung der allgemein prädisponierenden Ursachen
zusammenfaßt, nämlich einmal die Herabsetzung der psy-
chischen und körperlichen Widerstandsfähigkeit, wie sie
durch die besondere Veranlagung oder die besonderen Lebens-
verhältnisse einer Gruppe von Personen begründet wird, dann aber
auch die von den gleichen Umständen abhängige größere oder
geringere Häufigkeit der äußeren Ursachen psychischer
Erkrankung. Streng genommen kann natürlich nur im ersteren
Falle von einer wirklichen Prädisposition die Rede sein, doch
empfiehlt es sich aus praktischen Gründen, auch die Betrachtung
der letztgenannten Verhältnisse hier anzuschließen.
Lebensalter^). Von den anthropologischen Eigenschaften, welche
die Ausbildung der psychischen Persönlichkeit entscheidend beein-
flussen, sind die wichtigsten das Lebensalter und das Geschlecht.
Das Gehirn des Neugeborenen ist in gewisser Beziehung ein
unbeschriebenes Blatt. Wohl ist die allgemeine Anlage vorhanden,
die es zu seinen späteren hohen Leistungen befähigt, und es be-
stehen gewiß auch schon persönliche Eigentümlichkeiten, welche
die weitere Entwicklung in eine bestimmte Bahn zwingen, aber der
Inhalt des Bewußtseins ist noch äußerst dürftig, die Verknüpfung
der einzelnen psychischen Vorgänge unvollkommen und die Er-
innerungsfähigkeit infolgedessen überaus beschränkt; es ist noch
keine feststehende, den Bewußtseinsinhalt und die Triebbewegungen
^) Angiolella-Obici, XII. congresso della societä freniatrica italiana, Ri-
vista di freniatria sperimentale, XXXI, 105.
I. Die Ursachen des Irreseins.
142
"beherrschende, von der Außenwelt abgegrenzte psychische Per-
sönlichkeit vorhanden.
Allerdings wird dieser Mangel sehr rasch ausgeglichen durch
die große Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der das kindliche
Gehirn die ungeheure Aufgabe löst, die Eindrücke der Außenwelt
zu einem festen Kern von Lebenserfahrungen zu verarbeiten. Diese
erstaunliche Entwicklung vom Triebwesen zur selbstbewußten
Persönlichkeit ist nur möglich dank der außerordentlichen Emp-
fänglichkeit und Bildungsfähigkeit des jugendlichen Nerven-
gewebes. Damit stehen wieder die allgemeinen Eigenschaften der.J
Kindesseele in engstem Zusammenhange. Wir finden hier eine |
größere Erregbarkeit der Aufmerksamkeit, die naturgemäß mit
leichterer Ablenkbarkeit einhergeht, starke Übungsfähigkeit neben
großer Ermüdbarkeit, sehr leistungsfähiges, aber unzuverlässiges
Gedächtnis, lebhafte Einbildungskraft, die den Hang zu spiele-
rischem Dahinträumen und „märchenhafter Belebung" der Außen-
welt in sich schließt. Dazu gesellt sich Heftigkeit und Unbestän-
digkeit der Gemütsbewegungen sowie Bestimmbarkeit und Trieb-
artigkeit des Handelns. Physiologisch drücken sich diese Eigen-
tümlichkeiten des Kindesalters, wie wir durch Soltmanns Unter-
suchungen wissen, in der geringeren Ausbildung der hemmenden
Einflüsse im Nervensystem aus.
Man sollte erwarten, daß die geringere Widerstandsfähigkeit
des jugendlichen Gehirns, wie sie auch im Seelenleben des Kindes
hervortritt, eine entschiedene Neigung zu geistiger Erkrankung
mit sich bringe. Für diese Ansicht würde die tägliche Beobach-
tung sprechen, indem sie uns zeigt, daß gewisse Schädlichkeiten,
die den Erwachsenen nicht tiefer berühren, namentlich leichte
fieberhafte Erkrankungen, im Kindesalter ausgeprägte psychische
Veränderungen herbeizuführen vermögen. Allein die unerschöpf-
liche Spannkraft der kindlichen Gewebe ermöglicht auch wieder
einen raschen und vollständigen Ausgleich der Störungen. Dazu
kommt, daß eine ganze Reihe jener Schädigungen, die im Laufe
des späteren Lebens die wichtigsten Ursachen des Irreseins bil-
den (Alkohol, Geschlechtsvorgänge, dauernde Gemütsspannung),
im Kindesalter so gut wie ausgeschlossen sind. Trotz der
an sich geringeren Widerstandsfähigkeit sind daher psychische
Störungen nach der Angabe aller Beobachter in den ersten Lebens-
Lebensalter.
jähren verhältnismäßig selten i); alle genauen Zahlenangaben ver-
bieten sich wegen der unsicheren statistischen Grundlagen von
selbst.
Für die richtige Würdigung dieser Verhältnisse ist indessen
der Umstand in Betracht zu ziehen, daß schon vor der Geburt
und in den ersten Lebensjahren eine ganze Reihe von Krankheits-
vorgängen einsetzen, die zwar nicht klinisch reicher entwickelte*
Geistesstörungen, wohl aber psychische Schwächezustände von
den leichtesten bis zu den schwersten Formen in ungemein großer
Zahl erzeugen. Nur in einem Bruchteil der Fälle handelt es sich
dabei um Entwicklungsstörungen ; zumeist haben wir es mit Rinden-
erkrankungen sehr verschiedener Art zu tun, die unter mehr oder
weniger ausgedehnten Zerstörungen heilen, aber natürlich die weitere
psychische Ausbildung hindern. Außer den gröberen encephalitischen,
porencephalischen, hydrocephalischen, syphilitischen und tuber-
kulösen Veränderungen finden sich mannigfache feinere Zer-
störungsvorgänge in der Hirnrinde, deren Ursachen zumeist noch
ganz unklar sind. Vielleicht dürfen wir vermuten, daß öfters
Infektionen oder Selbstvergiftungen eine Rolle spielen. Hierher
würde namentlich der Kretinismus gehören, die Entwicklungsstörung
durch Ausfall der Schilddrüsentätigkeit. Man hat ferner an Gift-
wirkungen vom Darm her gedacht, da Verdauungsstörungen bei
kleinen Kindern so leicht Hirnreizerscheinungen auslösen. Ein
Teil der in der Jugend zur Verblödung führenden Erkrankungen
dürfte mit der Hebephrenie wesensgleich sein, da gewisse klinische
Bilder der kindlichen Schwächezustände eine weitgehende Über-
einstimmung mit denen der Entwicklungsjahre aufweisen und über-
dies diese letzteren oft genug nur die Fortbildung von Krankheits-
zuständen darstellen, die in früher Jugend eingesetzt haben.
Außer der Idiotie und ImbeciUität beobachten wir im Kindes-
alter vornehmlich Delirien bei fieberhaften Krankheiten, chorea-
tische, epileptische und hysterische Störungen. Hier und da be-
gegnen wir ferner in Form von leichten, dauernden oder wechseln-
^) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. 1887; Mo-
reau, La folie chez les enfants, deutsch von Galatti. 1889; Ireland, The mental
affections of children, idiocy, imbecillity and insanity. 2. Aufl. 1900; Manheimer,
Les troubles mentaux de l'enfance. 1899; Infeld, Jahrb. f. Psychiatrie, XXII,
326; Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. 1902 — 1904.
I. Die Ursachen des Irreseins.
144
den Verstimmungen und Erregungen den ersten Vorläufern des
manisch-depressiven Irreseins. Außerdem zeigen sich allmählich
die mannigfachen Formen krankhafter Veranlagung, die zur Aus-
bildung psychopathischer Persönlichkeiten führen, namentlich er-
höhte Erregbarkeit oder Ängstlichkeit, Haltlosigkeit und Un-
stetigkeit des Willens, krankhafte Gemütlosigkeit, Neigung zum
tügen und Schwindeln; auch Zwangsvorstellungen und Zwangs-
befürchtungen begegnen uns nicht selten. Bisweilen gleichen sich
diese Störungen mit dem Fortschreiten der Entwicklung zum Teil
oder völlig wieder aus; wir haben dann wohl anzunehmen, daß es
sich um eine Ungleichmäßigkeit in der Reifung des Seelenlebens
handelt, durch die vorübergehend das innere Gleichgewicht beein-
trächtigt wird. Endlich beginnen schon jetzt gewisse familiäre
Erkrankungen des Nervensystems und die vereinzelten Fälle von
jugendlicher Paralyse.
Mit der fortschreitenden Ausbildung der psychischen Persön-
lichkeit und mit dem gleichzeitigen Hervortreten mannigfacher
neuer Krankheitsursachen nimmt die Reichhaltigkeit der Geistes-
störungen allmählich zu. Die Entstehung des Irreseins aus äußeren
Ursachen wird dabei wesentlich durch deren Häufigkeit 'in den
einzelnen Lebensabschnitten bestimmt, während der Ausbruch endo-
gener Geistesstörungen sich ganz vorwiegend an gewisse Alters-
stufen knüpft. Zunächst kommen hier die mächtigen körperlichen
und seelischen Umwälzungen während der Entwicklungszeit in
Betracht.
Die eigentlich kennzeichnende Geisteskrankheit dieses Alters
scheinen gewisse Formen der Dementia praecox zu sein, nament-
lich diejenigen, denen von Hecker geradezu die Bezeichnung des
„Jugendirreseins", der Hebephrenie, beigelegt wurde. Gewisse Züge
in diesen Krankheitsbildern, das läppische, sprunghafte, unaus-
geglichene Wesen, der unvermittelte Wechsel der Stimmungen,
das Auftauchen von allerlei Plänen und Einbildungen, die ge-
schlechtlichen Erregungen, die gesteigerte Reizbarkeit können wie
krankhafte Verzerrungen mancher Veränderungen erscheinen, wie
sie die ,, Flegeljahre" des Gesunden begleiten. Indessen diesen Ähn-
lichkeiten stehen doch auch sehr tiefgreifende Verschiedenheiten
1) W. Wille, Die Psychosen des Pubertätsalters. 1898.
Lebensalter.
und vor allem der Umstand gegenüber, daß dem „Jugendirresein"
schwere Zerstörungen in der Hirnrinde zugrunde liegen, die sehr
häufig zu tiefer Verblödung führen. Dazu kommt, daß die ur-
sächlichen Beziehungen der Dementia praecox zu den Entwick-
lungsjahren, auch wenn man mit einer späteren Ausscheidung
einzelner Krankheitsgruppen aus diesem Sammelbegriffe rechnet,
doch keine unverbrüchlichen sein dürften. Immerhin aber läßt
sich bei der großen Häufung solcher Erkrankungen in der Zeit
zwischen dem 18. und 25. Jahre der Gedanke nicht von der Hand
weisen, daß dieses Alter aus irgendeinem Grunde ganz besonders
günstige Entstehungsbedingungen für sie bieten muß.
Außer der Dementia praecox treffen wir in den Entwicklungs-
jahren häufig die ersten Anfänge des manisch-depressiven Irre-
seins in Form von leichteren oder schwereren Aufregungs- und
Depressionszuständen. Ihre Entstehung ist vielleicht in Verbin-
dung zu bringen mit der bekannten größeren gemütlichen Erreg-
barkeit dieses Lebensalters, wie sie sich auch in der Häufigkeit
von Leidenschaftsverbrechen, von Körperverletzungen und Wider-
stand kundgibt. Ferner treten jetzt epileptische und hysterische
Krankheitserscheinungen deutlicher hervor, ebenso die vielgestaltigen
Formen des Entartungsirreseins, namentlich die krankhaften Angst-
zustände.
Endlich aber beginnen nunmehr auch eine Anzahl von äußeren
Schädlichkeiten ihren Einfluß zu entfalten, da allmählich der
Schutz des elterlichen Hauses mit einer größeren Selbständigkeit
der Lebensführung vertauscht wird. Allerlei Verführungen und
Kämpfe treten an die noch unfertige Persönlichkeit heran; die
Schädigungen, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt, äußern
ihre ersten Wirkungen. Dabei macht sich die Unzulänglichkeit
der persönlichen Anlage allmählich stärker geltend. Jene psy-
chischen Krüppel, die dem Kampfe ums Dasein nicht gewachsen
sind , beginnen durch ihre eigentümliche Entwicklungsrichtung,
durch unzweckmäßige Verarbeitung der Lebensreize und geringere
Widerstandsfähigkeit sich mehr und mehr auszusondern. Für
das männliche Geschlecht wird jetzt ganz besonders der Alkohol
gefährlich, für das weibliche das Fortpflanzungsgeschäft. Auch
akute Krankheiten, heftige Gemütserschütterungen, gelegentlich ein-
mal Kopfverletzungen oder Überanstrengung können zu Störungen
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^°
I. Die Ursachen des Irreseins.
führen. Gleichwohl ist die Häufigkeit geistiger Erkrankungen hier
noch keine allzu große.
Die größte statistische Häufigkeit der Geistesstörungen fällt in
die Zeit der vollen Kraftentfaltung vom 20. bis zum 40. Lebens-
jahre. Sicherlich ist der Grund nicht die besondere Verletzlichkeit
der entwickelten körperlichen und geistigen Persönlichkeit, sondern
lediglich die Zahl der von außen auf sie einstürmenden Krankheits-
ursachen. Die Widerstandsfähigkeit ist in diesem Alter zweifellos
am größten, aber die Schädlichkeiten sind in rascherem Fortschritte
angewachsen als jene. Die Schwierigkeiten der Lebensführung ver-
größern sich mit der zunehmenden Selbständigkeit und der Sorge
um Weib und Kind; aus der weiter reichenden Verantwortlichkeit
entspringen ernstere Kämpfe und Sorgen; die höher strebenden
Hoffnungen bringen Enttäuschungen mit sich, und die dauernde
Anspannung aller körperlichen und geistigen Kräfte im Daseins-
kampfe geht mit der Gefahr der Abnutzung und Abstumpfung ein-
her. Dazu gesellen sich die vielfachen Erkrankungen, denen die
rücksichtslose Arbeit den Menschen aussetzt, die verhängnisvollen
Vorgänge des Geschlechtslebens beim Weibe, ganz besonders auch
die verderbliche Wirkung der Ausschweifungen in Trunk und Liebe
nebst deren tückischer Begleiterin, der Syphilis. Eine Reihe ver-
schiedenartiger Formen des Irreseins gewinnen daher in diesem Alter
ihre weiteste Verbreitung. Entschieden im Vordergrunde jedoch
stehen die Paralyse und der Alkoholismus, namentlich beim männ-
lichen Geschlechte; bei den Frauen treten demgegenüber die ein-
zelnen, nunmehr sich häufenden Anfälle des manisch-depressiven
Irreseins stärker hervor. Seltener sind die Verblödungsformen ge-
worden, doch gehören gerade die paranoiden Erkrankungen vielfach
diesem Alter an; auch die echte Paranoia pflegt hier zu beginnen.
Dagegen treten die mit leichterer Beweglichkeit des Seelenlebens
in Zusammenhang stehenden hysterischen Störungen etwas zurück ;
auch manche Erscheinungsformen des Entartungsirreseins, soweit
sie mit erhöhter Beeinflußbarkeit des Seelenlebens einhergehen,
erfahren eine gewisse Abschwächung.
In welchem Lebensalter die größte Häufigkeit des Irreseins
erreicht wird, hängt für jedes Gebiet wesentlich von dem Vorkom-
men des manisch-depressiven Irreseins und der Dementia praecox
einerseits, der Paralyse und des Alkoholismus andererseits ab.
Lebensalter.
Erstere beide Erkrankungen beginnen am häufigsten in der Zeit
zwischen dem 18. und 25. Jahre, während sich der Alkoholismus
meist zwischen dem 25. und 40., die Paralyse zwischen dem 30.
und 45. Lebensjahre zu entwickeln pflegt. Die Fig. II, die einen
Überblick über die Verteilung des Irreseins auf die einzelnen Lebens-
alter geben mag, stammt aus der Heidelberger Klinik, in der jene
früher einsetzenden Erkrankungen verhältnismäßig zahlreich ver-
treten waren. Infolgedessen finden wir hier ein rasches Ansteigen
der Säulen zwischen dem 15. und 25. Jahre, ein Zeichen für den
mächtigen Einfluß, welcher der Entwicklungszeit für den Ausbruch
des Irreseins zukommt.
156 ]ß,e lifi aip JO,T 9fl 7;t S;i 2jB 1^ Xs 0,e CH OH
»,l tZ,5 M,S 8,a 7,3 S,S e,6 6.0 *^ 3.3 1,3 0,5 0,1
Fig. II. Verteilung der Geisteskranken
und der Gesamtbevölkerung auf die einzelnen Altersstufen.
Jenseits des 25. und noch entschiedener nach dem 35. Jahre
nimmt die Häufigkeit des Irreseins wieder ab. Im allgemeinen ist
jetzt das Ziel einer gesicherten Lebensstellung erreicht und damit
eine Anzahl von Sorgen und Aufregungen in Wegfall gekommen;
sodann ist das reifere Alter der Verführung zu Ausschweifungen
weniger zugänglich, und beim Weibe treten die Gefahren des Fort-
pflanzungsgeschäftes zurück. Dazu kommt aber vor allem, daß
die späteren Lebensalter gewissermaßen bereits ,, durchseucht"
sind; die große Mehrzahl der Gefährdeten ist schon früher aus-
geschieden. Sehr deutlich zeigt diese Verhältnisse die Figur II.
Hier wurde die Verteilung der Heidelberger Geisteskranken auf die
einzelnen Lebensalter bei Beginn ihres Leidens verglichen mit der
Häufigkeit der entsprechenden Altersklassen in der gesamten badi-
I. Die Ursachen des Irreseins.
sehen Bevölkerung. Da im allgemeinen nur Erwachsene in die Klinik
kommen, mußte der Vergleich auf die Zeit nach dem 15. Jahre
beschränkt bleiben. Dabei tritt einerseits die starke Gefährdung
zwischen dem 20, und 25. Lebensjahre, andererseits die Abnahme
der erstmalig Erkrankenden nach dem 50. Jahre hervor. Bis zum
50. Jahre ist die Erkrankungshäufigkeit größer, nachher geringer,
als dem Bevölkerungsstande entsprechen würde.
Allerdings vermögen die Schädigungen des Lebens gewisser-
maßen eine erworbene Prädisposition zu schaffen, indem sie die
Widerstandsfähigkeit des verbrauchten Gehirns untergraben. So
haben wir in dem Überragen der Säulen für die Kranken zwischen
dem 30. bis 45. oder 50. Jahre vorzugsweise den Ausdruck der
syphilitischen, metasyphilitischen und alkoholischen Erkrankungen
zu sehen. Weiterhin aber wird das Alter selbst zur Krankheit, der
bis zu einem gewissen Grade schließlich ein jeder erliegen muß^).
Die Aufnahmefähigkeit des Greises, seine geistige Beweglichkeit
nimmt ab; er beginnt allmählich, fremd in seiner Umgebung und
in seiner Zeit 'zu werden. Sein Gedächtnis wird unzuverlässig,
namentUch für die jüngste Vergangenheit; der Gesichtskreis ver-
engt sich wegen der Unzugänglichkeit für neue Anregungen; der
Vorstellungsschatz verarmt, da der fortschreitende Verlust an Vor-
stellungen nicht mehr durch neuen Erwerb ausgeglichen wird.
Auch auf gemütlichem Gebiete kommt es zu einer gewissen Ver-
ödung, zu einer Einschränkung der Gefühlsregungen auf die aller-
nächsten und unmittelbarsten Interessen. Ohne Zweifel liegen
dieser psychischen Umwandlung bestimmte körperliche Verände-
rungen zugrunde. Wir erinnern nur an das Klimakterium der
Frauen und die entsprechenden, freilich weit weniger einschnei-
denden Vorgänge beim Manne, ferner an die augenfälligen Rück-
bildungen in den gesamten Organen des alternden Körpers. Unter
diesen hat man den Gefäßveränderungen, der Arteriosklerose, eine
besondere Bedeutung zugeschrieben; sie sind nicht nur Begleit-
erscheinungen des eigentlichen Greisenalters, sondern sie können
auch schon früher sehr hohe Grade erreichen, namentlich unter
dem Einflüsse des Alkoholmißbrauches und der Syphilis. Anderer-
seits beobachten wir zu dieser Zeit im Rindengewebe selbst eine
1) Friedmann, Die Altersveränderungen und ihre Behandlung. 1902.
Lebensalter.
149
Reihe verschiedener Krankheitsvorgänge, die nicht als einfache
Folgen der Gefäßveränderungen aufgefaßt werden können. Die
Höhe der Säulen auf unserem Diagramm nimmt zwischen dem
40. und 55. Jahre langsam, dann ziemlich plötzlich ab, ein Aus-
druck für die stärkere Gefährdung der Rückbildungsjahre. Die
höheren Altersklassen sind nur noch vereinzelt vertreten. Vom
50. und namentlich vom 55. Jahre ab bleibt ihre Zahl weit hinter
den entsprechenden Altersklassen der gesunden Bevölkerung zurück.
Wer bis dahin gesund geblieben ist, hat große Aussicht, auch ferner-
hin gesund zu bleiben, ein Hinweis darauf, daß der Einfluß, den
die Schädigungen des Lebens auf die geistige Gesundheit der höheren
Altersstufen ausüben, von Alkohol und Syphilis abgesehen, jeden-
falls ein recht geringer ist.
Als klinischen Ausdruck des Rückbildungsalters dürfen wir
zunächst den Umstand betrachten, daß jetzt wieder mit Vorliebe
gewisse Geistesstörungen beginnen, die wir auf eine ursprüngliche
krankhafte Veranlagung zurückzuführen pflegen. Dahin gehört
namentlich das manisch-depressive Irresein; bisweilen ist schon
ein vereinzelter erster Anfall im Entwicklungsalter vorhergegangen.
Vielleicht verrät sich in der besonderen Häufigkeit schleppend ver-
laufender Depressionszustände noch eine nähere Beziehung zu dem
Sinken der Spannkraft und Lebensfreudigkeit in diesen Jahren.
Sodann beginnen in diesem Lebensalter eine Reihe eigenartiger, zur
Verblödung führender Irreseinsformen, die wir allerdings jetzt noch
mit unter dem Begriffe der Dementia praecox zusamenfassen.
Einerseits sind es paranoide Bilder mit abenteuerlichen Wahn-
bildungen und Sinnestäuschungen, andererseits die noch wenig be-
kannten „Spätkatatonien". Endlich haben wir des senilen und
präsenilen Beeinträchtigungswahnes hier zu gedenken, dem sich
noch einige andere, einstweilen nicht näher abgrenzbare, ungünstig
verlaufende Krankheitsformen anreihen dürften.
Mit dem Eintritte des eigentlichen Greisenalters gewinnen die
Geistesstörungen immer mehr den gemeinsamen Grundzug der
psychischen Schwäche. Abnahme des Gedächtnisses und der
Merkfähigkeit, Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung neuer
Eindrücke, Verwirrtheit und Zerfahrenheit, Oberflächlichkeit der
Gemütsbewegungen, hypochondrische Befürchtungen, nächtliche
Unruhe, dabei Neigung zu rascher Verblödung sind die hervor-
150
I. Die Ursachen des Irreseins.
stechendsten Züge der hierher gehörigen Krankheitsbilder, unter
denen neben dem einfachen, mehr oder weniger hochgradigen Alters-
blödsinn die senilen Depressionszustände, die deliriösen Erregungen,
die Presbyophrenie und die arteriosklerotische Verblödung im Vorder-
grunde stehen. Vereinzelt begegnen wir noch den letzten Ausläufern
des manisch-depressiven Irreseins. Bemerkenswert ist überall die
Häufigkeit von Gehirnerscheinungen, Schwindel, aphasischen und
apraktischen Störungen, Schlaganfällen, Krämpfen und Lähmungen.
Geschlecht. Die Frage nach der Veranlagung der beiden Ge-
schlechter zu psychischer Erkrankung ist auf Grund statistischer
Erhebungen vielfach verschieden beantwortet worden. Ohne wei-
teres Eingehen auf die Würdigung der Fehlerquellen derartiger
Angaben sei hier nur bemerkt, daß die Statistik im allgemeinen
keine erheblichen und sicheren Unterschiede in der Häufigkeit
des Irreseins zwischen beiden Geschlechtern erkennen läßt; unter
den Kranken der Heidelberger Klinik betrugen die Männer durch-
schnittlich etwa 53%. Diese Tatsache ist insofern auffallend, als
das weibliche Geschlecht sowohl am Selbstmorde wie am Verbrechen
sehr erheblich schwächer beteiligt ist. Wir können daher kaum
daran zweifeln, daß das Weib mit seiner zarteren Veranlagung, mit
der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren Her-
vortreten des Gefühlslebens weniger Widerstandsfähigkeit gegen die
körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins besitzt als der
Mann. Allein die Bedeutung dieses Umstandes wird ausgeglichen
durch die verhältnismäßig geschützte Stellung, die das Weib dem
unvergleichlich stärker gefährdeten Manne gegenüber einnimmt.
Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt,
treffen in erster Linie und vorwiegend den Mann, dem die Sorge
für die Familie obliegt, wenn auch die Mühsalen des Lebensunter-
haltes für das unverheiratete Weib vielfach weit größer sein mögen.
Ungleich wichtiger jedoch ist die Wirkung der Ausschweifungen
nach den verschiedensten Richtungen, deren Gefahren ganz vorzugs-
weise der Mann wegen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Unabhängigkeit seiner Stellung ausgesetzt ist. Alkohol und Syphilis
schädigen ihn viel mehr als das Weib, das, durch Erziehung und
Sitte gebunden, ein eintönigeres, regelmäßigeres und ruhigeres Leben
zu führen gezwungen ist. Wo dieser Zwang einmal durchbrochen
und der Leidenschaftlichkeit der weiblichen Natur freier Spielraum
Geschlecht.
gegeben ist, bei Prostituierten, sehen wir die geringere Widerstands-
fähigkeit des weibHchen Geschlechtes in erschreckenden Prozent-
sätzen des Irreseins, der RückfälHgkeit und der Selbstmorde zum
Ausdruck gelangen^). Allerdings dürfte gerade hier das Gewicht
krankhafter Veranlagung wesentlich mit in Rechnung zu ziehen sein.
Die Häufigkeit des Irreseins beim Weibe steht in naher Bezie-
hung zu den Vorgängen des Geschlechtslebens. Die Bedeu-
tung der Sexualerkrankungen und des Fortpflanzungsgeschäftes
ist schon früher berührt worden. Besonders kennzeichnend aber
tritt diese Eigentüm-
lichkeit des Weibes
in der Fig. III hervor,
die uns ein Bild von
dem Verhältnisse der
beiden Geschlechter
unter den Geistes-
kranken verschiede-
ner Altersstufen lie-
fert. Wir erkennen
hier, daß die Zeit
der Geschlechtsent-
wicklung, zwischen
dem 15. und 25. Jah-
re, das Weib in weit
höherem Grade ge-
fährdet als den Mann.
Später, zwischen dem
30. und 45. Jahre, bedingen Alkohol und Syphilis (Paralyse) wie
die sonstigen Schädigungen des Daseinskampfes für den Mann
eine größere Häufigkeit des Irreseins. Dann aber, zwischen dem
45. und 60. Jahre, in der Zeit der Rückbildung, erkrankt wieder
das Weib verhältnismäßig oft; es erliegt den bekannten Gefahren
des Klimakteriums, vielfach auch der Vereinsamung und Hilfs-
losigkeit. In den 60 er Jahren scheint diese Gefährdung wieder
etwas abzunehmen. Ob die stärkere Vertretung der Frauen unter
den Geisteskranken noch höheren Alters mehr bedeutet, als die
1) V. Dettingen, Moralstatistik. 3. Aufl. 1882, 767.
-10 -15 -ZO -2S -30 -SS -W -4S -SO -SS -SO -BS Ü2xr65
e9,7 S2^ *?»■ SS,0 SS,y ».S SStS Sf,S Sf,7 SO,e Sit *0,«
Fig. III.
Beteiligung der beiden Geschlechter am Irresein auf
den verschiedenen Altersstufen.
152
I. Die Ursachen des Irreseins.
größere Langlebigkeit des weiblichen Geschlechtes überhaupt, ist
mir zweifelhaft.
Den Verschiedenheiten in den ursächlichen Verhältnissen bei
beiden Geschlechtern entspricht auch das Vorwalten der einzelnen
Krankheitsformen bei ihnen. Wie die Fig. IV lehrt, auf der die
Beteiligung der beiden Geschlechter an einigen Hauptformen des
Irreseins nach den Erfahrungen der Heidelberger Klinik wieder-
gegeben ist, erkranken die Männer vor allem am Alkoholismus, an
der vielfach mit ihm in Beziehung stehenden Epilepsie und an der
Paralyse, während die Dementia praecox
beide Geschlechter ziemlich gleichmäßig
befällt. Das Überwiegen der Frauen
bei den senilen Geistesstörungen dürfte,
wie schon angedeutet, wesentlich auf
ihrer Langlebigkeit beruhen. Dagegen
steht die große Häufigkeit des manisch-
depressiven Irreseins bei ihnen offenbar
in Abhängigkeit von der sekundären
Geschlechtseigenschaft erhöhter gemüt-
licher Erregbarkeit. Die einzelnen Ab-
schnitte des Leidens pflegen sich oft
genug an die periodischen Umwälzungen
im Geschlechtsleben, andererseits an die
Zeiten der Entwicklung und der Rück-
bildung anzuschließen. Mit der beson-
deren Lebhaftigkeit der gemütlichen
Regungen steht auch wohl die Häufig-
keit hysterischer Erscheinungen beim Weib ein Zusammenhang, die
ebenfalls besonders gern in den Entwicklungsjahren hervorzutreten
pflegen. Andererseits begegnet uns beim Manne unter dem Ein-
flüsse des Berufslebens häufiger der Morphinismus und die trau-
matische Neurose, dann, durch Alkohol und Syphilis gefördert, die
Arteriosklerose.
Volksart. Sehr wenig Sicheres läßt sich bei dem jetzigen Stande
der Statistik und der großen Schwierigkeit der Frage über die Nei-
gung der einzelnen Volksstämme ^) zu geistiger Erkrankung aus-
1) Selvatico Estense, Ricerche e studi di psichiatria, neurologia, antropolo-
gia a filosofia, Morselli -Festschrift. 1906; Macpherson, Journal of mental
Mki^hsnu EptUpsJbrtä^Deiupmrr. Senile Ma/ifdepressiFKS
I^dtosm Irresei/h
miaier 93.5 8^S 80^ S^ß HS 33.6
Fig. IV.
Beteiligung der beiden Geschlech-
ter an einigen Hauptformen des
Irreseins (3185 Fälle, Heidelberg).
Volksart.
sagen. Zunächst sind die Zählungen der Geisteskranken in den
meisten Ländern so unsicher, daß sie durchaus keine vergleichbaren
Bilder geben. Sodann aber ist es unmöglich, die Wirkung der
verschiedenen Einflüsse, welche die Häufigkeit des Irreseins be-
dingen, voneinander zu trennen, der Volksart, der Lebensgewohn-
heiten, des Klimas, der Ernährung, der allgemeinen Gesundheits-
verhältnisse usf. So kommt es, daß wir bei der Beurteilung der
Häufigkeit geistiger Störungen in verschiedenen Ländern zumeist
auf ganz allgemeine Eindrücke angewiesen sind, und daß diese
Eindrücke zudem noch das Zusammenwirken einer Reihe von sehr
verschiedenartigen Ursachen wiedergeben, unter denen die Eigenart
des Volkscharakters vielleicht durch den Einfluß der äußeren
Lebensbedingungen stark überwogen wird; allerdings wird ja auch
sie selbst durch diese letzteren wesentlich mit gestaltet. Trotz
alledem können wir jedoch, wie ich glaube, schon heute nicht
mehr bezweifeln, daß die besondere Veranlagung eines Volkes auch
in seinen Geisteskrankheiten zu bestimmtem Ausdrucke gelangt,
ja, daß Häufigkeit und Formen des Irreseins dereinst eine reiche
Fundgrube für das tiefere Verständnis seiner Eigenart bilden
werden.
Dort, wo die Geisteskrankheiten am besten bekannt sind, bei
den weißen Rassen, scheinen sie auch bei weitem am häufigsten
zu sein; nur in Japan liegen die Verhältnisse ähnlich. Dagegen
wird von fast allen sogenannten Naturvölkern, aus den verschie-
densten Gegenden Afrikas und Australiens, von den Indianern und
Negern Amerikas berichtet, daß Seelenstörungen überaus selten
seien; auch bei Persern und Abessiniern, bei Arabern, Indiern und
Chinesen sollen sie in weit geringerer Zahl vorkommen als bei uns.
So bestimmt diese Angaben vielfach auftreten, werden wir sie doch
aus den oben angeführten Gründen mit größter Vorsicht aufzu-
nehmen haben ; es handelt sich um Schätzungen bei Völkern, deren
gesamte Lebensverhältnisse den unsrigen nicht entfernt vergleich-
bar sind. Zuverlässigere Ergebnisse würden sich nur dort gewinnen
lassen, wo verschiedene Rassen möglichst unvermischt, aber doch
unter annähernd gleichen Bedingungen zusammenleben. Das ist
science. 1905,451; Kraepelin, Centralbl. f. Nervenheilk. 1904,433; Buschan,
Gehirn und Kultur. 1906; Sioli, Festschr. der 39. Versammlung der Deutschen
anthropolog. Gesellschaft. 1908.
I. Die Ursachen des Irreseins.
z. B. bei den Juden^) einerseits, bei den Negern in Nordamerika
andererseits der Fall. Von den ersteren wissen wir, daß sie wenig-
stens in Deutschland und ebenso in England stärker zu geistiger
und nervöser Erkrankung veranlagt sind als die Germanen. Von den
Negern wird berichtet, daß sie früher weit seltener geistig erkrankt
seien als die mit ihnen zusammenlebende weiße Bevölkerung; erst
seit ihrer Befreiung aus der Sklaverei soll die Häufigkeit des
Irreseins bei ihnen rasch und stetig zugenommen haben, besonders
in den Nordstaaten. Während 1870 nur 367 Geisteskranke auf eine
Million Neger gezählt wurden, waren es 1880 schon 912 und
1890 980. White^) gibt an, daß in den Südstaaten das Verhältnis
der Geisteskranken zur gesunden Bevölkerung für die Neger i : 1,277,
für die Weißen i : 456 betrage, in den höher entwickelten Nord-
staaten I : 542 bzw. I : 520.
Weit wichtiger indessen für das Verständnis der Beziehungen
zwischen Volksart und Geistesstörung ist die Betrachtung der
Formen, welche diese letztere bei den einzelnen Völkern annimmt.
Wenn wir prüfen, aus welchen Krankheitsbildern sich eine größere
Menge von Kranken zusammensetzt, so müssen uns die Unter-
schiede einigermaßen einen Einblick in die Besonderheiten der
einzelnen untersuchten Gruppen gewähren. Allerdings können
auch hier wichtige Fehlerquellen das Bild trüben. Einmal muß
die Auswahl der verglichenen Kranken unter annähernd gleichen
Voraussetzungen erfolgt sein; es kann also z. B. nur die Bevölke-
rung von Anstalten einander gegenübergestellt werden, die ihre
Kranken nach denselben Grundsätzen aufnehmen. Sodann muß
die Diagnosenstellung eine einheitliche sein, am besten demnach
von demselben Beobachter besorgt werden. Da ein solcher Ver-
gleich sich zudem auf größere Zahlen stützen muß, ist er fast nur
bei Völkern möglich, die schon eine geregelte Irrenfürsorge be-
sitzen.
Aus der großen Zahl von Beobachtungen, die wir über die Häu-
figkeit der einzelnen Krankheitsformen bei verschiedenen Völkern
besitzen, genügen bisher leider nur wenige annähernd strengeren
Anforderungen. Dennoch ist es sicher, daß ausgeprägte Unter-
1) Pilcz, Wiener klin. Rundschau. 1901, 47 u. 48; Jahrb. f. Psychiatrie,
XXVI, 294; Sichel, Neurolog. Centralbl. 1908, 351.
3) White, Journal of nervous and mental diseases. 1903, 257.
Volksart.
schiede bestehen. Sie sind ohne weiteres verständlich, soweit
es sich um Krankheiten handelt, die durch äußere Ursachen her-
vorgebracht werden, durch den Mißbrauch von Alkohol, Opium,
Haschisch oder Coca, durch die Krankheitserreger der Malaria,
des Kretinismus oder der Schlafkrankheit. Die besondere Ver-
anlagung der Völker kommt dabei nur in einer größeren oder
geringeren Widerstandsfähigkeit gegen jene Schädlichkeiten in Be-
tracht, die von seiner psychischen Eigenart ganz unabhängig sein
kann. Höchstens kann man schon die Hinneigung zu diesem
oder jenem Genußmittel, wie diejenige der Germanen zum Alkohol,
der Orientalen zum Haschisch, der Chinesen zum Opium, als Aus-
fluß ihres Volkscharakters ansehen. Auch das Vorkommen der
Paralyse wird, wie es scheint, wesentlich durch Bedingungen be-
herrscht, die nichts mit den seelischen Eigenschaften der Völker
zu tun haben. Sie ist bei zahlreichen Völkern, so bei den Türken,
Persern, Abessiniern, bei Malayen, Austrainegern und bei den afrika-
nischen Negervölkern trotz reichlichster Verbreitung der Syphilis
ungemein selten. Eine gewisse Bedeutung scheint dabei dem Fehlen
des Alkoholmißbrauches zuzukommen, doch werden dadurch allein
die höchst merkwürdigen Unterschiede gewiß nicht erklärt.
Zwei Beispiele für die Verteilung der Krankheitsformen bei
verschiedenen Rassen geben *die nachstehenden Diagramme. In
dem ersten derselben sind Ergebnisse einer Untersuchung wieder-
gegeben, die ich in der Irrenanstalt Buitenzorg auf Java über die
Geistesstörungen der dort verpflegten Europäer und Eingeborenen
anzustellen Gelegenheit hatte. Man sieht hier, daß unter den unter-
suchten Eingeborenen, übrigens auch bei dem Rest der damals in
der Anstalt befindlichen Kranken, weder Alkoholismus noch Para-
lyse oder Hirnlues vertreten war, im Gegensatze zu den damit
verglichenen Europäern. Ähnlich fand Sokalski, nach dessen
Angaben das zweite Diagramm entworfen wurde, bei den Basch-
kiren in Ufa Alkoholismus und Paralyse erheblich seltener, als bei
den in der gleichen Anstalt untergebrachten Russen.
Diese Darstellungen ermöglichen uns ferner, der Frage näher
zu treten, wie sich diejenigen Erkrankungen verhalten, für die wir
im allgemeinen keine äußeren Ursachen kennen. In erster Linie
ist hier die Dementia praecox zu nennen, der weitaus die Haupt-
masse der eingeborenen Kranken auf Java, 77%, angehört. Auch
156
I. Die Ursachen des Irreseins.
unter den Europäern spielt sie mit 72% die Hauptrolle, doch ist
dabei zu beachten, daß die Kolonialbevölkerung ganz ungewöhnlich
viele jugendliche Personen, namentlich Soldaten, umfaßt und
daher mit derjenigen des Heimatlandes nicht zu vergleichen ist.
Das starke Überwiegen der Dementia praecox fand auch Wolff
in Syrien (45%) und Urstein in Transkaspien (65%); ebenso
gilt es für die Baschkiren. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß
sie an sich dort häufiger wäre, sondern nur, daß ihr Anteil an den
gesamten psychischen Erkrankungen größer wird, zum Teil auf
Demmtia. -praecooo
Itcralfse,
Mrnbies
Mkolwüsrmis
ImbecHIbtäb
JümiscTv-deprJiTeseni
Yersckiedenes
%
Geistesstörung erv cacFIava,.
EuTopäerl'IOOJ Fingebarene/ 1100)
20
60
ZO
W
60
80
'J)cmmiicL-pTXLexX)CD
J'ardfyse,
JlköhöUsmiLS
Epilepsie.
ISnbeaUäät
ibrdsährdeprJdreseiih
%
Kosten des Alkoholismus und der Paralyse. Soviel sich nach den
bisher vorliegenden Erfahrungen beurteilen läßt, ist die Dementia
praecox über die ganze Erde verbreitet, in Japan und Indien wie in
Amerika; ich selbst sah sie, abgesehen von den europäischen Völ-
kern, bei Chinesen und Armeniern. Ähnliches gilt wohl vom ma-
nisch-depressiven Irresein und sicher von der Epilepsie und Hy-
sterie. Alle diese Erkrankungen scheinen daher in der Entwick-
lungsgeschichte der Menschheit sehr weit zurückzureichen. Epi-
lepsie und Hysterie sind sogar bei Tieren wiederholt beschrieben
worden. Es muß jedoch als sehr fraglich betrachtet werden, ob die
geschilderten Zufälle den genannten Erkrankungen beim Menschen
Geistesstönmgerv iw Vfh, (SoTccdskv)
Süssem (569J SascKktreJV (120J
Fig. V.
Volksart.
irgendwie entsprechen. Nach Dexlers^) Ausführungen scheinen
bei Tieren neben der Lyssa und den infektiösen Hirnerkrankungen
nach der Staupe keine eigenthchen Psychosen vorzukommen, und
auch den epileptischen Störungen dürften Hirnerkrankungen anderer
Art zugrunde Hegen, als beim Menschen.
Schwächer ausgeprägte Unterschiede in der Zusammensetzung
des Krankenmaterials finden sich auch zwischen einander näher
stehenden Völkern, ja sogar zwischen den verschiedenen Stämmen
desselben Volkes. Pilcz hat sich bemüht, dafür Belege beizu-
bringen, doch ist es aus naheliegenden Gründen schwer, solche
Erfahrungen genügend zu sichern. Bei den Juden treten nach
seinen Darlegungen, vielleicht wegen ihrer Vorliebe für Verwandt-
schaftsheiraten, jene Störungen in den Vordergrund, die wir auf
erbliche Entartung zurückzuführen pflegen, das manisch-depres-
sive Irresein, die Nervosität, die Phobien; auch Paralyse, Dementia
praecox und schwere Formen der Idiotie sind nicht selten; dagegen
treten die alkoholischen Formen sehr in den Hintergrund. Am
überzeugendsten wird die Verschiedenheit der psychopathischen
Erscheinungen durch die Selbstmordstatistik'^) dargetan, die uns
lehrt, daß eine Erscheinung, deren Häufigkeit dem zahlenmäßigen
Vergleiche verhältnismäßig leicht zugänglich ist, von Stamm zu
Stamm und noch mehr von Volk zu Volk den auffälligsten Schwan-
kungen unterworfen ist. Bekanntlich stuft sich die ungemein
starke Selbstmordneigung der Sachsen, der diejenige der Dänen
zur Seite steht, nach allen Seiten hin allmählich ab, um bei den
Romanen und Slaven ganz in den Hintergrund zu treten.
Wenn wir demnach auch in der Verteilung der Geistesstörungen
bei den einzelnen Völkern weitgehende Verschiedenheiten anneh-
men dürfen, scheint es doch bisher, daß gänzlich neue Formen
anderswo nicht zu finden sind. Wir sehen dabei natürlich von
solchen Erkrankungen ab, die durch äußere Krankheitsursachen
von umgrenzter Verbreitung erzeugt werden, wie die Vergiftungen
durch Genußmittel, die Schlafkrankheit, die Psychosen bei Malaria,
Beri-beri usf. Das ,,Latah" der Malayen äußert sich in Anfällen
1) Dexler, Monatsschr. f. Psychiatrie, XVI, Ergänzungsheft, 99; Neurol.
Centralbl. 1907, 98; Mainzer, ebenda 1906, 438.
2) Morselli, Der Selbstmord, deutsch von Kurella. 1881; Dürkheim,
Le suicide, etude de sociologie. 1897.
^- ^'■^ Ursachen des Irreseins.
von Befehlsautomatie oder Koprolalie, die durch Schreck ausgelöst
werden, und. steht in nächster Verwandtschaft zur Hysterie. Das
gleiche gilt von einer Anzahl ähnlicher Zustände, die unter ver-
schiedenen Bezeichnungen bei anderen Völkern beschrieben wurden.
Auch das ebenfalls bei den Malayen häufige ,,Amok" ist schwerlich
eine eigene Krankheit. Es besteht in plötzlich oder nach kurzer Ver-
stimmung einsetzenden Dämmerzuständen, in denen die Kranken,
denen es dunkel vor den Augen (,,mata glap") geworden ist, mit
ihrem Kris rücksichtslos alles niederstechen, was ihnen in den Weg
kommt ; nachher ist keine oder nur sehr unklare Erinnerung vor-
handen. Unter den Amokläufern, die ich in Java untersuchen
konnte, befanden sich mehrere zweifellose Epileptiker. Bei den
übrigen ließ sich eine epileptische Grundlage nicht nachweisen,
muß aber nach dem klinischen Bilde wohl als sehr wahrscheinlich
angenommen werden; höchstens könnten vielleicht einmal Malaria-
anfälle einen ähnlichen Zustand erzeugen. Auf dem Diagramm
habe ich diese Fälle schraffiert der Epilepsie hinzugefügt, die übri-
gens auch ohnedies bei den Malayen nicht selten ist. Die von
van Brero bei Malayen beschriebene ,, Zwangsvorstellung" Koro,
daß sich der Penis in den Leib zurückziehe, beobachtete ich vor
kurzem bei einem europäischen Kranken mit zirkulärer Depression.
Einen wesentlichen Einfluß scheint die Volksart auf die be-
sondere Ausgestaltung der einzelnen klinischen Krankheitsbilder
auszuüben; allerdings wissen wir darüber so gut wie nichts. So
wenig ich in Java nach dem Gesamtbilde der eingeborenen Kranken
im Zweifel sein konnte, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle um
die Krankheitsgruppe handle, die wir Dementia praecox nennen,
so ausgeprägt waren doch die Unterschiede gegenüber den euro-
päischen Kranken. Die bei uns so häufige einleitende Depression
war fast niemals nachzuweisen; die Krankheit begann in der Regel
mit verwirrter Erregung, um dann sehr bald zu einer faseligen
Verblödung zu führen. Gehörstäuschungen fanden sich nur in
einer kleinen Zahl von Fällen; auch Wahnbildungen waren selten
und äußerst dürftig. Ausgeprägte katatonische Erscheinungen,
insbesondere negativistischer Stupor, kamen nur ganz ausnahms-
weise zur Beobachtung. Ähnliche Abweichungen ließ das manisch-
depressive Irresein erkennen. Depressionen fehlten ganz oder
waren doch nur schwach angedeutet gegenüber den manischen
4
Volksart.
Anfällen. Daneben fand sich eine kleine Gruppe von periodischen
verwirrten Erregungszuständen, deren Zugehörigkeit zuna ma-
nisch-depressiven Irresein mir nicht ganz gesichert erschien; sie
ist auf dem Diagramm schraffiert hinzugefügt.
Es wird gewiß eine dankbare Aufgabe sein, derartigen Unter-
schieden bei möglichst vielen Völkern planmäßig nachzugehen.
Andeutungen derselben finden sich aber auch schon bei uns. So
ist es eine häufig gemachte Beobachtung, daß die zirculären Er-
krankungen der Juden, namentlich im Osten, sich durch Bei-
mischung von katatonischen Zügen, von Stereotypien und Ver-
schrobenheiten, ferner durch die Häufigkeit schleppend verlaufender
Mischzustände auszeichnen ; die Diagnose kann dadurch wesentlich
erschwert werden. Weiterhin scheinen mir in München im Vergleich
zu Heidelberg die Depressionszustände über die Manien stärker
zu überwiegen; Gaupp hat das für Tübingen in noch verstärktem
Maße beobachtet. Auch die Selbstmordneigung unserer Kranken
wird durch die Volksart wesentlich beeinflußt; sie ist am stärksten
in Sachsen. In Buitenzorg wurde mit einer Selbstmordgefahr bei
den Eingeborenen kaum gerechnet, da sie noch nicht ein Drittel
so stark war wie bei den europäischen Kranken, und auch in Athen
kann man ängstliche Kranke mit einer Sorglosigkeit behandeln,
die sich bei uns bitter rächen würde. Ähnliche Unterschiede be-
stehen hinsichtlich der Gewalttätigkeit und der Unruhe der Kranken.
Die bajuvarischen Kranken gehen weit leichter zum Angriffe über,
als etwa die sächsischen. Die Kranken in der Pfalz zeichnen sich
durch ihre große Unruhe aus; demgegenüber sah ich in der Irren-
anstalt zu Granada unter etwa 200 Kranken keinen einzigen, der
in nennenswertem Grade erregt gewesen wäre. Leider ist es aus
vielen Gründen zurzeit nicht möglich, über diese und andere Unter-
schiede mehr als allgemeine Eindrücke zu gewinnen.
Klima. Die mannigfachen Einflüsse, die wir unter der Bezeich-
nung Klima^) zusammenfassen, scheinen im ganzen keine sehr
große Bedeutung für Häufigkeit und Gestaltung des Irreseins zu
besitzen; zudem verknüpfen sich mit ihnen regelmäßig noch ein-
schneidende Änderungen in der gesamten Lebensweise, deren Wir-
1) Rasch, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 745; Moreira et Peixoto,
Archivos Brasileiros de psychlatria, II, 222; Van Brero, Handbuch der Tropen-
krankheiten I. 1905.
i6o
I. Die Ursachen des Irreseins.
kungen sich nicht abtrennen lassen. Es ist indessen wohl anzu-
nehmen, daß die uralte Abhängigkeit alles Lebenden von Sonne,
Luft und Feuchtigkeit auch beim Menschen noch fortbesteht, wenn
auch in abgeschwächter Form. Mit Bestimmtheit sprechen dafür
vor allem die ganz unzweideutigen Erfahrungen, die man über die
Abhängigkeit der Selbstmorde und Verbrechen von Jahreszeiten
und Klima gemacht hat. Ferner habe ich den Eindruck, als ob die
Aufregungszustände unserer Kranken im Sommer meist heftiger
verlaufen als im Winter; bei zirculären Fällen sieht man nicht selten
die Depression gerade in den Winter fallen. In Italien scheinen plötz-
liche triebartige Erregungszustände häufiger vorzukommen als bei
uns; andererseits sind mir bei den Esten keine wesentlichen Ab-
weichungen gegenüber unseren Kranken aufgefallen. Moreira
konnte in Brasilien keine Beziehung zwischen den Temperatur-
schwankungen und der Häufigkeit psychischer Störungen auf-
finden. Neuerdings haben Rasch und Plehn über den Einfluß
des Tropenklimas auf eingewanderte Europäer berichtet. Sie kom-
men zu dem Ergebnisse, daß sich im Laufe der Jahre allmählich
Schlaffheit, Gleichgültigkeit, Abnahme des Gedächtnisses, Verlust
der gemütlichen Widerstandsfähigkeit, Reizbarkeit und Empfind-
lichkeit (,, Tropenkoller"), Selbstüberschätzung, Beeinträchtigungs-
gefühl, endlich Schwinden der Tatkraft einstelle. Einen wesent-
lichen Anteil an dieser Entwicklung hat wohl die Lebensweise,
die vielfach nicht den veränderten klimatischen Verhältnissen an-
gepaßt wird. Beibehaltung der gewohnten reichlichen Fleisch-
nahrung, das Unterlassen ausreichender körperlicher Bewegung
unter dem erschlaffenden Einflüsse der Hitze, geschlechtliche Aus-
schweifungen, vor allem aber der Alkoholgenuß, der in den Tropen
doppelt gefährlich ist, können die Anpassung des Europäers an
das heiße Klima in empfindlichster Weise stören. Dazu kommen
dann noch die besonderen Gefährdungen durch Tropenkrankheiten,
Hitzschlag und Sonnenstich, Dysenterie, Malaria, Schwarzwasser-
fieber. Plehn beschreibt insbesondere als Folgen schwerer Malaria
Dauerzustände von außerordentlicher gemütlicher Reizbarkeit mit
Neigung zu triebartigen Gewalttätigkeiten. Einen derartigen Fall
nach sehr schwerer Malariaerkrankung, bei dem nach Alkohol-
genuß epilepsieartige Aufregungszustände ohne sonstige Zeichen von
Epilepsie auftraten, hatte ich vor kurzem zu beobachten Gelegenheit.
Allgemeine Lebensverhältnisse.
i6i
Allgemeine Lebensverhältnisse. Es kann nicht zweifelhaft sein,
daß die gesamten Lebensbedingungen, unter denen ein Volk sich
befindet, einen nachhaltigen Einfluß auch auf die Häufigkeit des
Irreseins gewinnen müssen; hängt doch von ihnen nicht nur die
allgemeine Widerstandsfähigkeit, sondern auch die Verbreitung der
besonderen Krankheitsursachen ab. Tatsächlich scheinen daher
auch zwischen den Völkern, die unter verschiedenen Verhältnissen
leben, sehr weitgehende Unterschiede hinsichtlich ihrer Neigung zu
geistigen Erkrankungen zu bestehen. Eine Reihe hierher gehöriger
Erfahrungen haben wir schon berührt, vor allem die Seltenheit des
Irreseins bei Naturvölkern, die Verschlechterung des geistigen Ge-
sundheitszustandes der nordamerikanischen Neger seit ihrer Befrei-
ung, dann die Häufigkeit der Paralyse bei den höchstentwickelten
Nationen, die verschiedenartige Gefährdung der einzelnen Völker
durch die von ihnen bevorzugten Genußmittel, die reichere Entwick-
lung der Krankheitsbilder bei den Europäern. Diese Erfahrungen
würden darauf hindeuten, daß die Gefährdung durch psychische Er-
krankungen mit steigender Gesittung zunimmt, daß neue Erkran-
kungsformen auftreten und die Mannigfaltigkeit der alten größer
wird. Andererseits scheinen auch einzelne Formen mehr zurückzu-
treten, so namentlich die bei unentwickelteren Völkern noch häu-
figen psychischen Epidemien, deren Spielraum sich bei uns seit den
Zeiten des Mittelalters doch wesentlich eingeengt hat.
Wir stehen hier vor einer Frage, deren Beantwortung für das
Dasein der gesamten Kulturvölker die allergrößte Tragweite be-
sitzt, vor der Frage nämlich, ob der Fortschritt unserer Gesittung
tatsächlich mit einer Einbuße an geistiger Gesundheit einhergeht,
und welche Umstände wir gegebenenfalls dafür verantwortlich zu
machen haben. Über die erste dieser Fragen herrschen heute unter
den Fachgenossen noch sehr erhebliche Meinungsverschieden-
heiten. Was unbestreitbar feststeht, ist das unheimlich rasche
Anwachsen der in den Anstalten versorgten Geistes-
kranken bei allen Kulturvölkern^). In der italienischen
Kolonie Erythräa hat sich überhaupt noch kein Bedürfnis nach
1) Vocke, Psychiatr. -neurol. Wochenschr. 1906, 427; Hackl, Das An-
wachsen der Geisteskranken in Deutschland. 1904; Grünau, Über die Frequenz,
Heilerfolge und Sterblichkeit in den öffentlichen Irrenanstalten von 1875 — 1900.
1905; Gaupp, Münch, med. Wochenschr. 1906, 26, 27.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
102
I. Die Ursachen des Irreseins.
'15
10
einer Unterkunft für Geisteskranke herausgestellt; in Indien be-
finden sich von 304 Millionen Einwohnern nur 4300 in Anstalten,
also einer auf 70000, in Java einer von etwa 50000 Eingeborenen.
Demgegenübersind wir bei uns genötigt, schon für höchstens 500
Einwohner einen Platz in einer Irrenanstalt bereitzuhalten. Nach
den vorliegenden Zählungen kommen in Sachsen 25,0, in Preußen
26,0 in England 40,8, im Kanton Bern 56,1, in Zürich 97,0 Geistes-
kranke überhaupt auf 10 000 Einwohner. Mögen auch die Fehler-
quellen dieser Zählungen sehr
^ ^ -, -, große sein, so deuten sie doch
auf Unterschiede zwischen de
genannten Ländern hin, und'
sie liefern außerdem eine über-
raschend große Zahl von
Kranken für die kleinen und
daher wohl sorgfältiger durch-
forschten Bezirke. Die Zu-
nahme der in Anstalten ver-
pflegten Geisteskranken im
Verhältnisse zur Bevölkerung
zeigen die nebenstehenden
Diagramme. In den Nieder-
landen wuchs demnach die
Zahl der Anstaltspfleglinge auf
10000 Einwohner in der Zeit
zwischen 1850 und 1899 von
5,16 auf 14,12, in Preußen
zwischen 1875 und 1900 von
5,7 auf 16,9. Für England
Jj
■JO
i
1850-59 J860-69 1870-79 1880-89 1890-90
1875 1880 1885 1890 1895 1900
Znlü, äercajf 10000 Mmmlmer TwJnstiütm-
Terpflefftm- Geisteskranken.
Fig. VI.
erhalten wir von 1869 — 1903 ein Anwachsen von 24,0 auf 34,1,
für Bayern von 4,0 auf 17,1. Ähnliche Ergebnisse liefern alle
Länder, in denen eine geordnete Irrenfürsorge besteht.
Allerdings beweisen alle diese Zahlen zunächst nur eine Zu-
nahme der versorgungsbedürftigen Geisteskranken; ein unver-
hältnismäßiges Anwachsen der Erkrankungsfälle selbst ist dadurch
noch nicht dargetan. Mannigfaltige Umstände wirken zusammen, i
um die Anstaltsbedürftigkeit der Kranken zu steigern, auch wenn
ihr Verhältnis zur Bevölkerung das gleiche bliebe. Dahin gehört
Allgemeine Lebensverhältnisse.
163
vor allem die bessere Kenntnis des Irreseins, die nicht nur bei den
Zählungen höhere Werte liefert, sondern auch viele Kranke der
Irrenanstalt zuführt, die sonst durch Selbstmord und Unglücks-
fälle geendigt hätten oder in andere Krankenanstalten, in Ge-
fängnisse und Arbeitshäuser geraten wären. Weiterhin kommt
wesentlich in Betracht die mit der Entwicklung der psychiatrischen
Wissenschaft immer fortschreitende Vervollkommnung der An-
stalten, die nach und nach das tief eingewurzelte Vorurteil gegen
das Irrenhaus vermindert und darum den Eintritt der Kranken m
die Anstalten befördert, namentlich dort, wo die Aufnahmeförm-
lichkeiten einfache sind. Endlich aber wird die Anstaltsbedürftig-
keit der Kranken auch durch die Erleichterung des Verkehrs, durch
die Zunahme der Bevölkerung, die Entwicklung der Industrie und
namentlich durch das Anwachsen der großen Städte gesteigert. Je
mehr Irrenanstalten es gibt, je rascher sie erreichbar sind, desto
näher wird den Angehörigen eines Kranken der Gedanke seiner
Unterbringung daselbst gerückt. Ferner wächst die Schwierigkeit
seiner Überwachung und damit die Größe der Last und Gefahr,
die er bedeutet, mit der Erleichterung seines Entweichens durch
die vielen Verkehrsmittel, mit der Dichtigkeit der Bevölkerung, die
den Kranken allen möglichen Unzuträglichkeiten und Zusammen-
stößen aussetzt. Die scharfe Ausnutzung jeder einzelnen Arbeits-
kraft läßt den Kranken als ein äußerst störendes Familienglied
erscheinen, zu dessen Pflege und Beaufsichtigung niemand ver-
fügbar bleibt, und das enge Beisammenwohnen in den Städten
macht dem minder Bemittelten die häusliche Verpflegung eines
Geisteskranken wegen der damit verbundenen Störungen und Ge-
fahren so gut wie unmöglich. Aus allen diesen Gründen muß die
Entwicklung unseres Zusammenlebens fortschreitend die Neigung
der Bevölkerung verstärken, ihre Geisteskranken der Anstaltsfürsorge
zu übergeben.
Diese Verhältnisse erhalten eine besondere Beleuchtung durch
die Erfahrungen, die wir über die verschiedene Beteiligung von
Stadt und Land an der Bevölkerung der Irrenanstalten machen.
White hat darauf hingewiesen, daß in Nordamerika die Häufig-
keit des Irreseins annähernd mit der Bevölkerungsdichtigkeit
wächst; der Nordosten und dann wieder die Westküste liefern
unverhältnismäßig mehr Geisteskranke als die dünn bevölkerten
I. Die Ursachen des Irreseins.
104
Staaten des Innern. Auch bei uns ist der Zufluß von Kranken in
die Anstalten aus den Städten überall erheblich größer als vom
Lande her. So gelangen aus München nach Vockes Darlegungen
auf 1000 Einwohner 3,4 mal so viel Kranke alljährlich in die An-
stalten wie aus dem übrigen Oberbayern. Allerdings sind, wie
Gaupp gezeigt hat, von den in München Erkrankten nur V4 — V5
auch dort geboren; von 70 Hysterischen, die 1905 in unsere Klinik
aufgenommen wurden, stammten nur 10 aus München.
Gerade die außerordentliche Fruchtbarkeit der Großstädte in
der Erzeugung geistiger Erkrankungen ermöglicht es uns, einen
etwas tieferen Einblick in deren Ursachen zu tun. Vocke hat
festgestellt, daß sich im Laufe der letzten 20 Jahre das Verhältnis
von Männern und Frauen in der Münchener Anstalt stetig ver-
schoben hat, seitdem sie nur mehr die Kranken aus der Stadt selbst
aufnimmt. Nachdem es vorher 5 : 4 betragen hatte, änderte es
sich von 1883 — 1892 auf 4 : 3 und im folgenden Jahrzehnt auf 3 : 2.
Während die Frauen 53% der Münchener Bevölkerung ausmachen,
stellen sie doch nur 40% der Aufnahmen in die Anstalt. In den
gleichen Zeitabschnitten betrug das Verhältnis in der nur für
die ländliche Bevölkerung bestimmten Schwesteranstalt Gabersee
5 : 4, dann 5 : 5. Daraus geht hervor, daß die ungünstige Wir-
kung der Großstadt vorzugsweise das männliche Geschlecht be-
trifft; es waren in erster Linie Trinker, Epileptiker, Paralytiker
und gesellschaftsfeindliche Psychopathen, die den Zuwachs be-
dingten.
Sehr deutlich treten diese Verhältnisse in dem Vergleiche des
Krankenmaterials der Heidelberger und Münchener Klinik her-
vor, wie er in Fig. VII versucht wurde. Allerdings ist ein sehr
wesentlicher Teil der Verschiedenheiten auf die freieren Aufnahme-
bedingungen in München zurückzuführen ; dennoch dürfte die Eigen-
art der Großstadtkranken gegenüber denjenigen einer mehr ländlichen
Bevölkerung in guter Übereinstimmung mit Vockes Darlegungen
erkennbar sein. Trinker, Psychopathen und Epileptiker bilden die
Hauptmasse und drängen durch ihre große Zahl sogar das Ver-
hältnis der Paralytiker etwas zurück; überall spielt hier der in
der Großstadt gezüchtete Alkoholmißbrauch eine wichtige ursäch-
liche Rolle. Er ist fernerneben der Syphilis mitbeteiligt an der
größeren Häufigkeit der Arteriosklerose und der angeborenen oder
Allgemeine Lebensverhältnisse.
165
früh erworbenen Schwachsinnsformen, vielleicht auch des Alters-
blödsinns. Durch das Berufsleben der Großstadt endlich wird die
größere Häufigkeit der traumatischen Neurose bedingt, ebenfalls
nicht ohne wesentliche Mitwirkung des Alkohols.
Einen weiteren Beitrag zur Kenntnis der Unterschiede zwischen
Stadt und Land gewährt die folgende Übersicht.
z'i.zßi msBfi taxm exw» •/.sn.s 3j m 1.72/1 ia z,t o./np
Dpmerüiir 3fanrdipr. Paraljse Alkohol. Epilepsie Systirie Sfmle, Idiotie Ajieriosläcrose Tnzumat.
praecac Irresein Psyütose Tsyrhttpaütie Hcmem ImbeeiUittU ycurose
Fig. VII.
Vergleich der Krankheitsformen
in den Kliniken Heidelberg und München.
Geisteskranke in Anstalten 1875 — 1900.
Paralyse Epilepsie
Überhaupt
verpflegt
Delirium B^.^ölkerung
m 1000
tremens
1897
I Fall
auf Ein-
wohner
Berlin . . .
138 417
21 976
22
708
13
139
1677
348
Hessen-Nassau
67 021
4631
4
725
613
1757
688
Rheinprovinz
137975
9 444
7
545
I
471
5106
973
Schlesien . .
105 726
8830
9
819
3
559
4415
1123
Westfalen . .
51 699
2 023
2
391
189
2701
1364
Man erkennt hier sofort den unheimlichen Einfluß der Groß-
stadt Berlin auf die Zahl der verpflegten Kranken; diese ist gerade
doppelt so groß wie in Hessen-Nassau mit annähernd gleicher Be-
I. Die Ursachen des Irreseins.
lOO
Völkerungsziffer, trotz der dort mitzählenden Großstädte Frank-
furt und Wiesbaden. In dem mehr Landbevölkerung aufweisen-
den Westfalen und Schlesien beträgt die Anstaltsbedürftigkeit
nur i/g — 1/4 derjenigen von Berlin, obgleich man von der reich
entwickelten Industrie eher einen ungünstigen Einfluß erwarten
sollte. Das Verhältnis ist demnach ein ganz ähnliches wie das-
jenige zwischen München und dem übrigen Oberbayern. Gehen
wir auf die Einzelheiten ein, so finden wir, daß Berlin mehr als
doppelt soviel Paralytiker liefert wie die 3 mal größere Rheinprovinz,
mehr als 10 mal soviel wie das um die Hälfte größere Westfalen.
Ähnlich groß sind die Unterschiede bei der Epilepsie, weit größer
aber noch beim Delirium tremens, über dessen Häufigkeit allere
dings die Anstaltsberichte keine verwertbaren Aufschlüsse geben.
Berten,
Eessen-Tassa
Wieniprovtiiz
SMesi£Tv
TVestnaerv m. I
0 10 ZO 30
M dm, 2.^ Jahren, rmv 1815-1900 l-xonen- mif10000:Fimw}nmr
Fig. VIII. Verhältnis der Paralytiker, Epileptiker und Alkoholdeliranten ■
zu den übrigen Geisteskranken. I
Noch deutlicher vielleicht werden die Verhältnisse, wenn wir, wie
in Fig. VIII geschehen, die in den 25 Jahren durchschnittlich auf je
10000 Einwohner entfallenden Geisteskranken berechnen. Hier tritt
klar hervor, daß Berlin nicht nur verhältnismäßig 2— 4 mal soviel
Geisteskranke zu versorgen hat, wie die doch auch große Städte ent-
haltenden Provinzen, sondern daß auch die Zusammensetzung des
Krankenmaterials, die bis jetzt freilich nur sehr unvollkommen
bekannt ist, wesentlich abweicht. Paralyse, Epilepsie und Deli-
rium tremens bilden in Berlin 41, in Hessen-Nassau 14, in der
Rheinprovinz 13,4, in Schlesien 21 und in Westfalen 8,8% der
anstaltsbedürftigen Geisteskranken, Paralyse allein bzw. i5)9l
6,9; 6,8; 8,4 und 3,8%. Wäre auch der Alkoholismus in der
Statistik gesondert behandelt, so würden die Unterschiede wohl
noch ausgeprägtere sein. Jedenfalls ist der Schluß berechtigt.
Allgemeine Lebensverhältnisse.
167
daß in der Großstadt vor allem Paralyse, Epilepsie und Alkoholis-
mus gedeihen, also Erkrankungen, die wesentlich den Wirkungen
der Syphilis und des Alkohols entsprechen. Berücksichtigen wir,
das die beiden genannten Schädlichkeiten wichtige Ursachen der
Arteriosklerose sind, daß sie ferner einen äußerst verhängnisvollen
Einfluß auf den Nachwuchs ausüben und hier wiederum Schwach-
sinn, Epilepsie, Prostitution und Psychopathie erzeugen, so werden
wir kaum noch bezweifeln können, daß die Großstädte nicht nur
die Anstaltsbedürftigkeit unserer Kranken steigern, sondern daß
sie unmittelbar als verderbliche Brutstätten geistiger Krankheiten
betrachtet werden müssen. Dafür spricht auch die das Land weit
überragende Selbstmordhäufigkeit in diesen Kulturmittelpunkten.
Sind wirklich nur Alkohol und Syphilis, deren Verbreitung
durch das Großstadtleben außerordentlich gefördert wird, die
Quellen, aus denen die Vermehrung der Geistesstörungen fließt,
so werden wir nicht unsere Kultur, sondern nur unseren Mangel
an wahrer Gesittung anzuklagen haben. Es erheben sich indessen
immer wieder Stimmen, die noch andere Begleiterscheinungen
unseres modernen Lebens, vor allem die Heftigkeit des Daseins-
kampfes und die dauernde Anspannung aller Kräfte, die Unrast
unseres mit der Minute geizenden Arbeitsbetriebes, die Fülle von
aufregenden Vergnügungen, die ungenügende Dauer und Tiefe
des Schlafes und ähnliche Umstände für die Zunahme der all-
gemeinen Nervosität verantwortlich machen. Es ist gewiß zu-
zugeben, daß die genannten Schädigungen, besonders bei ge-
ringer Widerstandsfähigkeit, nervöse Erschöpfungs- und Erregungs-
zustände erzeugen und damit auch den Boden für ernstere Störungen
vorbereiten können. Namentlich solche Menschen, die aus ein-
facheren Verhältnissen in das Getriebe der Großstadt hineingeworfen
werden, sind deren Gefahren und Verführungen anscheinend
stärker ausgesetzt, bis eine gewisse Gewöhnung erfolgt ist. Da-
für spricht die große Zahl der Zugezogenen unter den Erkran-
kenden.
Auf der anderen Seite läßt sich geltend machen, daß der
Kampf die Kräfte stählt, und daß unsere soziale Entwicklung
durch die fortschreitende Besserung der Gesundheitsverhältnisse,
die Fürsorge für Arme und Kranke, die Erleichterung des Reisens
und der Erholung, die wirtschaftliche Hebung der Arbeiter wohl
I. Die Ursachen des Irreseins.
mehr Übel beseitigt, als erzeugt hat. Allein gerade die Folge-
erscheinungen einer großen sozialen Wohltat, der Unfallgesetz-
gebung, zeigen uns an einem sehr lehrreichen Beispiele, daß in der
Tat unsere Lebenseinrichtungen imstande sind, Geistesstörungen
hervorzurufen. Die Entschädigung für die Arbeitsunfähigkeit
nach Unfall durch eine Rente, die mit der Wiederherstellung er-
lischt, hat die ungeahnte Folge gehabt, daß eine große Zahl von Un-
fallverletzten in unheilbares Siechtum verfällt. Durch die fort-
laufende Entschädigung fällt nicht nur der Antrieb fort, die Un-
fallsfolgen aus eigener Kraft zu überwinden, sondern jeder Ver-
such dazu wird geradezu mit dem Verlust der Rente bedroht und
dadurch von vornherein unterdrückt. Vielleicht ist das Beispiel
der Unfallsneurose, die wir unter unseren Augen sich haben aus-
breiten sehen, vorbildlich auch für andere Störungen, die mit
unseren allgemeinen Lebensverhältnissen in ursächlicher Beziehung
stehen. Namentlich das große Gebiet des Zwangsirreseins ist
es, bei dem mir solche Beziehungen nahe zu liegen scheinen.
Das Gefühl der steten Verantwortlichkeit, das durch Erziehung
und Leben in uns mit beherrschender Stärke gezüchtet wird, bildet
den Ausgangspunkt für eine Menge von Zweifeln und Befürch-
tungen, die unsere Kranken quälen, und es erzeugt vielfach jenen
Mangel an Selbstvertrauen, der vor jeder entscheidenden Hand-
lung zurückschreckt und bei den einfachsten Leistungen durch
Angstgefühle behindert wird. Diese Erkrankungen sind bei Völ-
kern, die unter einfacheren Bedingungen leben, anscheinend gänz-
lich unbekannt; so habe ich bei den javanischen Eingeborenen
Versündigungsideen oder Selbstvorwürfe überhaupt nicht beob-
achtet. In den krankhaften Gedankenreihen und Gefühlen, die sich
an das Bewußtsein der Verantwortlichkeit anknüpfen, haben wir so-
mit vielleicht wirkliche, unmittelbare Erzeugnisse unserer Gesittung
zu erblicken.
Es ist aber sehr wohl möglich, daß auch noch nach einer anderen
Richtung hin die Züchtungseinflüsse, denen wir unterworfen sind,
eine ungünstige Wirkung auf unsere Widerstandsfähigkeit aus-
geübt haben. Die Tatsache, daß zahlreiche Völker trotz reich-
lichster Durchseuchung mit Syphilis von metasyphilitischen Er-
krankungen ganz oder nahezu verschont werden, während die
mit ihnen zusammenwohnenden Europäer daran zugrunde gehen.
Allgemeine Lebensverhältnisse.
169
deutet darauf hin, daß wir aus irgendeinem Grunde verletzlicher
geworden sind; auch das verhältnismäßig späte Bekanntwerden
der Paralyse läßt an ein allmähliches Auftauchen derselben im
Laufe der letzten Jahrhunderte und damit an eine Herabsetzung
unserer Widerstandsfähigkeit gegen das krankmachende Gift
denken. Allerdings wissen wir nicht, welches die Ursache für unsere
Empfindlichkeit gegen die metasyphilitischen Schädigungen sein
mag. Bedenken wir jedoch, daß unsere Haustiere ebenfalls viel-
fach für Krankheiten empfänglicher werden, gegen die ihre wilden
Verwandten gefeit sind, so werden wir auf die Möglichkeit geführt,
daß wir hier vielleicht eine Teilerscheinung jener körperlichen
Verweichlichung vor uns haben, der wir durch unsere gesamte
Kulturentwicklung ausgesetzt sind. Wir werden späterhin Gelegen-
heit haben, auf diese Frage noch näher einzugehen.
Endlich haben wir noch eines weiteren Umstandes zu geden-
ken, durch den unsere Gesittung die Zunahme der Geistesstörungen
befördert. Während ein großer Teil unserer Kranken ohne die
sorgfältigste Fürsorge zugrunde gehen würde, hat die opferwillige
Hilfsbereitschaft der Kulturvölker ein großartiges Netz von Ein-
richtungen geschaffen , durch welche die Unfähigen , Verkom-
menen, Minderwertigen und geistigen Krüppel erhalten, die Kranken
gepflegt und geschützt werden. Dieses Werk des Mitleids hat
natürlich zur Folge, daß eine große Zahl von Krankheitsanlagen,
statt mit ihren Trägern zu verschwinden, die Möglichkeit finden,
sich auf kommende Geschlechter zu vererben. Die Wirksamkeit
der natürlichen Auslese wird dadurch erheblich beeinträchtigt.
Einen gewissen Ersatz dafür gewährt der Umstand, daß ein erheb-
licher Teil der für das Gemeinschaftsleben untauglichen Menschen
in Irren-, Siechen- und Idiotenanstalten, in Arbeitshäusern und
Gefängnissen abgeschlossen gehalten wird; freilich trifft dieses
Schicksal dauernd fast nur diejenigen, die ohnedies wenig Aus-
sicht gehabt haben würden, ihre entartete Anlage fortzupflanzen.
Mehrfach ist die Ansicht ausgesprochen worden, daß die kli-
nischen Krankheitsformen schon im Laufe der letzten Jahrzehnte
gewisse Wandlungen durchgemacht hätten. So soll die demente
Paralyse häufiger, die klassische Form seltener geworden sein,
während die Neigung zu Remissionen zugenommen habe. Anderer-
seits soll das circuläre Irresein öfters beobachtet werden als früher.
I. Die Ursachen des Irreseins.
Da wir selbst und unsere Diagnosen, auch auf dem anscheinend
so sicheren Boden der Paralyse, fortwährendem Wandel unter-
liegen, ist es sehr schwer, über solche Fragen ein zuverlässiges
Urteil zu gewinnen. Es ist gewiß möglich, daß Verschiebungen
vor sich gegangen sind. So begegnen wir der Paralyse bei Frauen
und Kindern anscheinend häufiger, während die paralytischen
Anfälle selfener geworden sein dürften. Aber auch bei denjenigen
Tatsachen, die einigermaßen sichergestellt sind, bleibt für die
Deutung noch ein weiter Spielraum.
Beruf. Die Gefährdung einzelner Berufsarten durch Geistes-
störungen ist natürlich zumeist nur in der größeren Häufigkeit
und Wirksamkeit der mit ihnen verknüpften Schädlichkeiten be-
gründet; höchstens könnte man aus der Wahl mancher künst-
lerischer Berufsarten, z. B. des dichterischen und schauspiele-
rischen, einen bisweilen zutreffenden Rückschluß auf eine stärkere
gemütliche Empfänglichkeit und Erregbarkeit machen. Ferner
dürfte die Berufslosigkeit (Landstreicher, Gewohnheitsver
brecher usf.) zumeist durch unvollkommene oder krankhaft
Entwicklung der Persönlichkeit bedingt werden. Erfahrungs
gemäß findet sich unter den Insassen der Gefängnisse, Zucht
häuser und Arbeitshäuser eine bedeutende Zahl von mehr oder
weniger ausgeprägt Geisteskranken; die Angaben schwanken um
2 — 4% herum, gehen bei den Männern jedoch erheblich höher.
Am häufigsten scheinen Trinker zu sein, die freilich nur mit Vor-
behalt als krank angesehen zu werden pflegen; in Preußen sollen
sie über 40% der Strafanstaltsbevölkerung ausmachen. In der
Regel hat sich hier wohl die Trunksucht schon auf dem Boden einer
minderwertigen Veranlagung entwickelt, die allerdings dann ihrer-
seits wieder in ungünstigster Weise beeinflußt wird. Schwach-
sinnige, psychopathische Schwindler und Hysterische enden eben-
falls häufig in den Strafanstalten; auch Epileptiker sind nicht
selten, besonders unter den Roheits- und Sittlichkeitsverbrechern
wie unter den Brandstiftern. Bei allen diesen Gruppen spielt der
Rausch und die Trunksucht meist nebenbei noch eine bedeutende
Rolle. Weiterhin findet sich namentlich unter den unverbesser-
lichen Dieben eine Anzahl von hebephrenisch oder katatonisch
Schwachsinnigen, bei denen in früherem Lebensalter, öfters im
Gefängnisse, eine akute Geistesstörung mit ängstlicher Verwirrt-
Beruf.
171
heit und Sinnestäuschungen zu tiefgreifender Schädigung des Ge-
fühlslebens und des Willens geführt hat. Umgekehrt sehen wir
gar nicht selten verwegene Verbrecher bei Gelegenheit einer län-
geren Freiheitsstrafe an Dementia praecox erkranken und dann
entweder in die Irrenanstalt wandern oder zu harmlosen Land-
streichern herabsinken.
Gerade die Landstreicher^) aber bilden eine höchst eigen-
artige Menschengruppe. Sie sind fast ausnahmslos geistig, oft
auch körperlich minderwertig und enthalten einen erheblichen
Bruchteil von ausgeprägt Geisteskranken. Außer angeborenem
Schwachsinn und psychopathischer Veranlagung spielt nament-
lich der Alkoholmißbrauch eine hervorragende Rolle; Bon-
höffer fand seine Spuren in 63% seiner Fälle. In 12% be-
stand Epilepsie. Von den zweifellos geisteskranken Landstreichern
und den ihnen so sehr nahestehenden Prostituierten gehört die
Mehrzahl dem Bilde der Dementia praecox an, die sich aller-
dings ziemlich häufig auf dem Boden einer schon von Jugend
auf bestehenden Verblödung entwickelt. Bisweilen erfolgt das
Versinken in das Landstreichertum im unmittelbaren Anschlüsse
an eine akute Geistesstörung; in anderen Fällen vollzieht sich die
Verblödung ganz schleichend, so daß sie schon einen sehr hohen
Grad erreicht hat, wenn sie endlich als krankhaft erkannt wird.
Wilmanns konnte feststellen, daß die von ihm untersuchten
52 Landstreicher mit Dementia praecox, von denen 32 erst infolge
ihrer Krankheit auf die abschüssige Bahn gerieten, nicht weniger
als 1682 Strafen erlitten, bevor sie in der Irrenanstalt landeten.
Von anderen Geistesstörungen führen hier und da die Paralyse
oder leichte manische Erregungen zum Landstreichertum. Unter
den 190 von ihm untersuchten Prostituierten fand Bonhöffer
21% angeboren Schwachsinnige und 23% Epileptische, Hysterische
und Psychopathen; diejenigen, die erst nach dem 25. Jahre zu
ihrem Gewerbe übergingen, standen meist unter dem Einflüsse
des Alkoholismus. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam Müller.
Bei einem nicht unerheblichen Bruchteile der unverbesserlichen
Verbrecher, Landstreicher und Dirnen haben wir es zwar nicht mit
ausgeprägtem Irresein, wohl aber mit krankhaften Mängeln und
1) Bonhöffer, Zeitschr. f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, XXI, 1902;
XXIII, 106; Wilmanns, Zur Psychopathologie des Landstreichers. 1906.
^- Ursachen des Irreseins.
Eigentümlichkeiten der psychischen Veranlagung zu tun, die von
vornherein ihre Lebensschicksale in die bestimmte Bahn drängen.
Meist handelt es sich um eine Verbindung von Genußsucht mit
Arbeitsscheu, Leichtsinn und Haltlosigkeit, seltener um ausge-
prägte Gemütlosigkeit mit rücksichtsloser Selbstsucht ; hier , kann
man, wenn man will, von ,, geborenen Verbrechern" reden. Ganz
vereinzelt endlich, namentlich bei gewissen Sittlichkeitsverbrechern,
Brandstiftern und Giftmischern, begegnen wir geradezu mächtigen
verbrecherischen Trieben. Von den entschieden krankhaften Per-
sönlichkeiten dieser Art führen fließende Übergänge ganz allmäh-
lich zu den einfachen Gewohnheitsverbrechern hinüber.
Im übrigen sind es entweder psychische oder körperliche Ur-
sachen, welche, an eine bestimmte Art der Lebensführung sich
knüpfend, eine größere Häufigkeit des Irreseins zur Folge haben.
Da die überwiegende Zahl der psychischen Störungen nicht durch
greifbare äußere Schädlichkeiten erzeugt wird, haben wir es zu-
meist nur mit Einwirkungen zu tun, die eine allgemeine Beein-
trächtigung des seelischen Gleichgewichtes nach sich ziehen; die
persönliche Widerstandsfähigkeit und besonders die Veranlagung
zu bestimmten Erkrankungen ist vielfach wichtiger als die Ge-
fahren des Berufes. Mangel an Schlaf soll die Bäcker und die
Setzer großer Tageszeitungen besonders schädigen. Geistige Über-
anstrengung kann bei Gelehrten oder im jugendlichen Alter bei
Schülern gefährdend wirken, vielleicht auch auf anderweitig vor-
bereitetem Boden dem Ausbruche des Irreseins Vorschub leisten.
Auffallend häufig sieht man junge Leute hebephrenisch erkranken,
die sich auf der Schule besonders ausgezeichnet haben, ohne daß
sich jedoch ein ursächlicher Zusammenhang sicherstellen ließe.
Gemütliche Erregungen spielen bei Soldaten im Kriege, bei Börsen-
männern, bei Künstlern, bei Erzieherinnen ihre verderbliche Rolle.
Starke gemütliche Spannung und ständige Verantwortlichkeit, ver-
knüpft mit Nachtwachen und körperlichen Anstrengungen, bilden
die Gefahren der Krankenpflege; sie bedrohen erfahrungsgemäß
in hohem Maße das Personal der Irrenanstalten, sei es wegen des
besonders aufreibenden und angreifenden Verkehrs mit den Geistes-
kranken, sei es, weil dieser Tätigkeit vielfach schon psychopathisch
veranlagte Personen zuströmen. Dagegen drückt der Fluch der
Not, der Entbehrung, der Nahrungssorgen, gesundheitlicher Miß-
Beruf.
stände hauptsächlich die handarbeitenden Massen der Bevölkerung.
Körperliche Überanstrengung, Nachtwachen, große Verantwort-
Hchkeit schädigen im Verein mit den vielleicht nicht ganz gleich-
gültigen beständigen Erschütterungen des Fahrens den Eisenbahn-
bediensteten. Matrosen, Kellnerinnen, Prostituierte sind dem Ein-
flüsse der Ausschweifungen, dem Trünke und der Syphilis aus-
gesetzt; auch Studenten und Kaufleute, besonders Reisende, haben
darunter zu leiden. Den in den Alkoholgewerben tätigen Personen,
Brauern, Weinhändlern, Schnapsbrennern, Likörfabrikanten, Wirten
und Kellnern, drohen die Gefahren des Alkoholismus, die nicht nur
ihr Leben verkürzen, sondern auch die ganze Reihe der alkoho-
lischen Geistesstörungen mit sich bringen. Eine Berufskrankheit
der Ärzte, Apotheker, Krankenpflegerinnen und ihrer Angehö-
rigen ist der Morphinismus und Morphiococainismus. Wärme-
bestrahlung, Kopfverletzungen, Vergiftungen verschiedener Art
(Blei, Quecksilber) sind weitere Gelegenheitsursachen, denen wie-
der andere Berufsarten vorzugsweise ausgesetzt zu sein pflegen.
Der klinische Ausdruck dieser Gefährdung wird natürlich wesent-
lich durch die besondere Art der vorherrschenden Ursachen be-
stimmt; wir können daher in dieser Beziehung auf die frühere
Besprechung der betreffenden ursächlichen Verhältnisse zurück-
verweisen.
Eine kurze Erwähnung verdienen noch die Verhältnisse der
Armee und Marine^). Alljährlich scheidet aus deren Mannschaften
ein langsam wachsender Prozentsatz (0,6 auf 1000 Mann der Ist-
stärke, bei der Marine etwas mehr) wegen Geistesstörung aus.
Dazu kommt, daß die Selbstmordneigung beim Militär etwa i ^/g mal
so groß ist wie diejenige der entsprechenden männlichen Bevölke-
rung; bei der Marine ist das Verhältnis günstiger. Die Selbstmorde
geschehen namentlich in der ersten Zeit nach der Einstellung,
dann wieder in erhöhter Zahl bei den Unteroffizieren. Die Ursache
dieser Erscheinungen ist jedoch im allgemeinen nicht darin zu
suchen, daß der Dienst eine unmittelbar krankmachende Wirkung
ausübt. Vielmehr zeigt sich, daß es sich bei den Selbstmördern
wie bei den Erkrankten wesentlich um Personen mit unzuläng-
licher Veranlagung oder schon beginnenden Leiden handelt. In
1) Sommer, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIII, 13; Stier, ebenda LIX, i;
Ilberg, Über Geistesstörungen in der Armee zur Friedenszeit. 1903.
I. Die Ursachen des Irreseins.
174
erster Linie sind es Schwachsinnige und Minderwertige, die den
besonderen Anforderungen des militärischen Dienstes nicht ge-
wachsen sind und nun in den fremdartigen Verhältnissen, unter
dem Drucke der Machtmittel militärischer Erziehung, in verzweifelte
Gemütsstimmungen oder in krankhafte Erregungen hineingetrieben
werden. Eine weitere Gruppe bilden die Epileptiker, die ihrer
Reizbarkeit wegen Schiffbruch leiden, in krankhaften Rausch-
zuständen sich schwere Dienstvergehen zu schulden kommen
lassen oder in Dämmerzuständen fahnenflüchtig werden. Auch
die Dementia praecox, namentlich in ihren schleichend sich ent-
wickelnden und daher schwer erkennbaren Formen, spielt eine
nicht unbedeutende Rolle. Endlich ist noch der Alkoholismus zu
erwähnen, dessen mannigfaltigen Folgen ein nicht geringer Teil
der Unteroffiziersselbstmorde seine Entstehung verdanken dürfte.
Für die Offiziere, die vielfach durch Ehrgeiz, gesellschaftliche Ver-
pflichtungen, Ausschweifungen, die strengen Anforderungen des
Dienstes zu rücksichtsloser Vernachlässigung ihrer körperlichen
Gesundheit veranlaßt werden, liegt die Hauptgefahr in dem durch
die Trinksitten, namentlich der kleinen Garnisonen, begünstigten
Alkoholismus und in der Syphilis, deren Nachkrankheit Paralyse
gerade unter ihnen unverhältnismäßig viele Opfer fordert. f
Zivilstand. Ein nicht unerheblicher Einfluß auf die Häufig-
keit des Irreseins muß, wie es im Hinblick auf statistische Zu-
sammenstellungen den Anschein hat, dem Zivilstande zugeschrie-
ben werden. Allerdings hat Hagen mit Recht darauf hingewiesen,
daß die zunächst sich ergebenden Unterschiede vor allem auf die
verschiedene Gefährdung des durchschnittlichen Lebensalters zu-
rückzuführen sind, in welchem sich die Ledigen und die Ver-
heirateten befinden. Haben wir doch oben gesehen, daß psychische
Erkrankungen in den jüngeren Lebensjahren überhaupt häufiger
zu sein pflegen als in späterem Alter. Auf der anderen Seite ist
es unzweifelhaft, daß in einer großen Zahl von Fällen die Ehe-
losigkeit schon als Folge einer unvollkommenen psychischen Ent-
wicklung, einer bestehenden oder (namentlich beim weiblichen Ge-
schlechte) überstandenen Geistesstörung anzusehen ist. Endlich
aber kann auch der Ehe selbst trotz der aus dem Fortpflanzungs-
geschäfte erwachsenden Gefahren, trotz der Sorgen, die sie mit sich
bringt, dennoch wegen der größeren Befriedigung und Sicherheit
Erblichkeit.
175
des gemeinschaftlichen Lebens, namenUich auch wohl wegen der
geringeren Verführung zu Ausschweifungen, eine gewisse schützende
Bedeutung nicht abgesprochen werden. Am meisten gefährdet
scheinen die Verwitweten und Geschiedenen zu sein; haben sie doch
häufig fast alle Sorgen und Gefahren der Ehe zu tragen, ohne
deren schützende und sichernde Wirkungen zu genießen.
2. Persönliche Prädisposition.
Wenn uns die bisherige Betrachtung gezeigt hat, wie den ver-
schiedenen Gruppen von Menschen entweder nach ihrer allge-
meinen Anlage eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen schä-
digende Einflüsse zukommt, oder wie sie nach ihrer eigentüm-
lichen Veranlagung und den besonderen Lebensverhältnissen einer
größeren oder geringeren Zähl von Gefahren ausgesetzt sind, so
werden uns ähnliche Gesichtspunkte einen Einblick in das zwei-
fache Wesen jener vielgestaltigen Krankheitsursachen verschaffen,
die man unter dem Namen der persönlichen Prädisposition zu-
sammenzufassen pflegt.
Erblichkeit^). Die Zergliederung einer gegebenen Persönlich-
keit weist uns auf ihre Entstehung und damit über das Einzel-
leben hinaus auf dasjenige der Erzeuger zurück, welches uns über
die erste und ungemein wichtige Frage Aufschluß zu geben hat,
über den Einfluß der Erblichkeit. Bei der oft überraschenden
Treue, mit der sich nicht nur körperliche, sondern namentlich
auch geistige Eigenschaften von Eltern und Voreltern auf die
Nachkommen übertragen, werden wir uns nicht wundern dürfen,
daß auch die Anlage zu psychischer Erkrankung in großem Um-
fange der Vererbung unterliegt. Scheint doch gerade das Nerven-
gewebe in besonderem Maße der Beeinflussung durch die Ver-
erbung zugänglich zu sein. Von der Vererbung im strengen Sinne
ist grundsätzlich zu trennen einmal der unmittelbare Übergang
1) Sanson, l'her^dite normale et pathologique. 1893; Ribot, Die Vererbung,
deutsch von Kur eil a. 1895; Orschansky, Die Vererbung im gesunden und im
krankhaften Zustande. 1903; Graßmann, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LH, 960;
Turner, Journal of mental science, Juli 1896; Farguharson, ebenda, Juli 1898;
Warda, Monatsschr. f. Psychiatrie, IV, 388, 189; Hähnle, Neurol. Centralbl.
1904, 843; Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre. i907-
I. Die Ursachen des Irreseins.
von Krankheitskeimen auf das werdende Kind durch Ansteckung,
sodann aber die Keimschädigung durch Krankheit oder Siechtum
der Eltern. Dieser letztere Fall ist anscheinend sehr häufig. Eine
ganze Reihe von Leiden vermögen unmittelbar oder durch Ver-
mittlung von allgemeinen Gesundheitsschädigungen einen ver-
hängnisvollen Einfluß auf die Entwicklung des kommenden Ge-
schlechtes auszuüben. So wissen wir, daß Syphilis der Eltern nicht
nur als solche auf den Keim übergehen kann, sondern daß auch dort
Verkümmerungen und Entwicklungsstörungen auftreten können,
wo keine erkennbare syphilitische Erkrankung bei den Früchten
vorliegt. Auch die Tuberkulose, ferner Malaria, Gicht, Diabetes,
bösartige Geschwülste, kurz alle Krankheiten, die allgemeine Er-
nährungsstörungen erzeugen, vermögen anscheinend in ähnlicher
Weise zu wirken. Ganz besonders aber gilt das von den gewohn-
heitsmäßig in den Körper eingeführten Giften, unter denen der
Alkohol die bei weitem schlimmste Bedeutung hat.
In der Regel pflegt man bei der Feststellung der erblichen Ver-
anlagung die genannten Vorgänge zusammenzufassen. Für das
wissenschaftliche Verständnis der Vererbungsfragen wird es je-
doch unerläßlich sein, die Übertragung endogener Eigenschaften
von der Keimschädigung und gar der Ansteckung, die freilich auf
unserem Gebiete nicht allzuhäufig in Betracht kommt, scharf zu
unterscheiden. Leider ist die begriffliche Trennung leichter, als
die Anwendung auf den einzelnen Fall. Die uns bisher vorliegenden,
überaus zahlreichen, aber auch sehr weit auseinandergehenden An-
gaben über die Rolle der Erblichkeit in der Entstehung von Geistes-
krankheiten (zwischen 4 und 90%) gestatten uns daher keinen
Einblick in die Bedeutung, die der Keimschädigung und der Ver-
erbung gesondert zukommt. Natürlich haben aber in solchen Be-
rechnungen zumeist nur solche keimschädigende Ursachen mit Be-
rücksichtigung gefunden, die schon bei den Vorfahren Geistes-
störungen bewirkt hatten. Wenn wir von den vereinzelten Fällen
psychischer Erkrankung bei Tuberkulose, Bleivergiftung u. dgl. ab-
sehen, kommen unter jenem Gesichtspunkte ernstlich nur Alkohol
und Syphilis in Frage. Nur dort also, wo die Erkrankung der Vor-
fahren durch diese Gifte bedingt wurde, und selbstverständlich nur
bei unmittelbarer Geschlechtsfolge, kann die Frage, ob Vererbung
oder Keimschädigung vorliegt, zweifelhaft sein. In allen übrigen
Erblichkeit.
177
Fällen werden wir, soweit überhaupt ein Zusammenhang zwischen
den beiden Erkrankungsfällen besteht, berechtigt sein, eine erb-
liche Übertragung anzunehmen.
Am einleuchtendsten ist ein solcher Zusammenhang, wenn
eine Geistesstörung bei Eltern und Kindern auftritt. Da aber die
Erfahrung lehrt, daß Eigenschaften durch Zwischenglieder vererbt
werden können, bei denen sie gar nicht zum Ausdruck kommen,
so haben wir nicht nur die Eltern, sondern auch entferntere Vor-
fahren mit in Betracht zu ziehen. Genau genommen, ist ja der
einzelne das Erzeugnis seiner ganzen, unabsehbaren Ahnenreihe,
deren Einfluß sich mit dem wachsenden Abstände der Glieder wohl
abschwächt, aber doch gelegentlich wieder in stärkerer oder schwä-
cherer Ausprägung zum Durchbruch gelangen kann. Solche ,, ata-
vistische" Rückschläge auf weiter zurückliegende Ahnen scheinen
besonders dann vorzukommen, wenn Ehen zwischen Abkömm-
lingen derselben Voreltern geschlossen werden.
Die Tatsache schlummernder Vererbungsneigungen, deren ge-
setzmäßiges Auftreten durch Mendels Untersuchungen an Pflan-
zen nachgewiesen wurde, nötigt uns, bei der Frage nach der Erb-
lichkeit auch die Seitenglieder der Geschlechtsfolge zu beachten.
In ihrem Verhalten können sich krankhafte Anlagen einer Familie
kundgeben, die bei den direkten Vorfahren des Erkrankten schlum-
merten, in ihm selbst aber zur Entwicklung gekommen sind. Eine
solche ,, kollaterale", in Seitenlinien sich zeigende krankhafte Ver-
anlagung kommt am schärfsten zum Ausdruck, wenn die Geschwister
des Kranken selbst ebenfalls erkrankt sind, ohne daß bei den direkten
Vorfahren, insbesondere bei den Eltern, geistige Störungen sich
gezeigt hätten. In schwächerem Grade werden uns aber auch
Erkrankungen der Geschwister der Eltern, vielleicht auch der Groß-
eltern, allenfalls selbst von deren Nachkommen, Fingerzeige für
den Nachweis erblicher Einflüsse liefern können. Wie weit sich
das Gewicht eines solchen Zusammentreffens mit der Entfernung
der Beziehungen vom Erkrankten und von seiner unmittelbaren
Ahnenreihe abschwächt, bedarf natürlich besonderer Untersuchung,
Noch nach einer anderen Richtung hin muß die Erblichkeits-
forschung eine Ausdehnung erfahren, wenn sie den Tatsachen ge-
recht werden will. Auf der einen Seite ist es klar, daß bei den Geistes-
störungen, die durch grobe äußere Schädigungen, Infektionen,
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 12
„ I. Die Ursachen des Irreseins.
178
Vergiftungen, Kopfverletzungen, erzeugt werden, die Erblichkeit
höchstens insoweit eine Rolle spielen kann, als sie der Einwirkung
jener Ursachen auf irgendeine Weise den Weg ebnet. Auf der
anderen Seite aber wird sich die psychopathische Veranlagung einer
Familie nicht nur in dem Auftreten von Geistesstörungen, sondern
auch in anderen Erscheinungsformen kundgeben können. Dahin
gehören vor allem jene mannigfachen leichteren Abweichungen
von der geistigen Gesundheit, die das Grenzgebiet gegenüber dem
ausgeprägten Irresein bilden, die Nervosität, die Angst- und Zwangs-
zustände, die konstitutionellen Verstimmungen, leichte hysterische
Störungen und Schwachsinnsformen, Tiks, ferner auffallende Cha-
raktere, Absonderlichkeiten in der Lebensführung, verbrecherische
Neigungen, Haltlosigkeit, Trunksucht, Abenteuerlust, Lügenhaftig-
keit, Selbstmord aus inneren Gründen. Endlich hat man auch den
Hirn- und Nervenkrankheiten im engeren Sinne, den Geschwülsten,
Apoplexien, Rückenmarksleiden, eine gewisse Bedeutung als Zei-
chen krankhafter Veranlagung des Nervengewebes zugeschrieben.
Untersucht man unter diesen Gesichtspunkten eine größere
Anzahl von Geisteskranken, über deren Familiengeschichte einiger-
maßen zuverlässige Angaben vorliegen, so stellt sich bei sorgfältiger
Nachforschung ziemlich allgemein heraus, daß in etwa 70—80%
der Fälle bei der näheren Verwandtschaft eine oder mehrere der
genannten Störungen zur Beobachtung gekommen sind. Natürlich
können die Zahlen nicht nur wegen der verschiedenen Genauigkeit
der Erhebungen, sondern auch wegen der weiteren oder engeren
Fassung der berücksichtigten Störungen, endlich auch nach der
Zusammensetzung des verarbeiteten Krankenmaterials erheblich
voneinander abweichen. Für die Würdigung der zunächst rein
statistischen Ergebnisse ist aber weiter zu bemerken, daß ein Zu-
sammentreffen psychopathischer Züge bei Gliedern derselben Fa-
milie noch nicht notwendig einen ererbten Zusammenhang zwischen
diesen Störungen erweist. Ein solcher wird vielmehr erst dann
einigermaßen wahrscheinlich, wenn sich herausstellt, daß sich in der
Verwandtschaft geistig gesunder Personen die genannten Erschei-
nungen gar nicht oder doch in wesentlich geringerem Grade nach-
weisen lassen. Ausreichende Untersuchungen in dieser Richtung^)
1) Koller, Arch. f. Psychiatrie, XXVII, 268; Wagner, Wiener klin. Wochen-
schr. 1902, 113s; Diem, Arch. f. Rassen- und Gesellschaf tsbiol., 1905, 215.
Erblichkeit.
179
sind erst in jüngster Zeit, namentlich von Diem, angestellt wor-
den; auch von Kalmus liegen Untersuchungen über die psycho-
pathische Erblichkeit von Geistesgesunden und -kranken vor. Nach-
dem schon vorher Jenny Koller aus dem Vergleiche von 370 Ge-
sunden und Geisteskranken zu dem Schlüsse gekommen war, daß
sich bei jenen in 59, bei diesen in 76,8% der Fälle psychopathische
Abweichungen bei den nächsten Anverwandten finden, dehnte
Diem die Nachforschungen auf 11 93 Gesunde aus und verglich
sie mit den nach gleichen Gesichtspunkten an einer großen Zahl
von Geisteskranken gewonnenen Ergebnissen, Der folgenden Über-
sicht sind die Erfahrungen zugrunde gelegt, die sich bei 1850 Auf-
nahmen von Geisteskranken in Burghölzli herausgestellt haben;
dabei wurde überall nur die ,, nächstliegende" Störung berück-
sichtigt, nicht alle etwa gleichzeitig in der Familie beobachteten
Abweichungen,
Psychopathische Störungen bei den Angehörigen Gesunder
(1193) und Geisteskranker (1850):
Bei allen Verwandten
Bei den Eltern
Indirekt
Kollateral
Gesunde Kranke
Gesunde Kranke
Gesunde
Kranke
Gesunde
Kranke
Geisteskrankh. 7,1 38,3 (5,4)
2,2 18,1 (8,2)
4,0
10,9
1,0
9,3
Nervenkrankh. 8,2 2,0 (0,2)
5,7 1,0 (0,2)
1,3
0,2
1,2
0,8
Trunksucht
17,7 16,0 (0,9)
11,5 13,3(1,2)
4,9
1,8
1,3
0,9
Apoplexie
16,1 4,1 (0,3)
5,9 3,2 (0,5)
9,7
0,7
0,5
0,2
Abn. Char.
10,4 14,9 (1,4)
5,9 12,8 (2,2)
3,7
0,7
1,0
1,5
Selbstmord
1,1 1,0(1,2)
0,4 0,5 (1,5)
0,6
0,3
0,1
0,2
Insgesamt
66,9 78,2 (1,2)
33,0 50,3 (1,5)
29,0
15,2
5,0
12,7
Aus dieser Übersicht, die überall Prozentverhältnisse zu der
Gesamtzahl der Untersuchten wiedergibt, geht zunächst hervor,
daß in der Tat auch in der Verwandtschaft geistig Gesunder eine
sehr erhebliche Zahl von psychopathischen Abweichungen vor-
kommt. Ja, der Unterschied gegenüber den Geisteskranken, 70
gegen 78%, erscheint so gering, daß damit die Bedeutung der
Erblichkeit geradezu in Frage gestellt erscheint. Das Verhältnis
zwischen Gesunden und Kranken, wie es in Klammern beigefügt
ist, würde sich hinsichtlich der krankhaften Veranlagung wie
I : 1,2 berechnen. Allein die genauere Musterung der Ergebnisse
lehrt, daß sich dieses Verhältnis schon auf i : i,5 erhöht, sobald
nur die unmittelbaren Erblichkeitsbeziehungen zu den Eltern be-
I. Die Ursachen des Irreseins.
rücksichtigt werden. Wir können also schließen, daß hier wirklich
ursächliche Zusammenhänge vorhanden sind. Gleiches gilt auch
für die kollaterale Erblichkeit, während der indirekten Erblichkeit,
wie sie sich von den Großeltern und den Geschwistern der Eltern
herleitet, nach den von Diem gesammelten Zahlen keinerlei krank-
machende Bedeutung zugeschrieben werden darf. Auch die Kol-
ler sehen Erfahrungen hatten gelehrt, daß Erblichkeit von Seite
der Eltern sich in 28% bei den Gesunden, in 57,3% bei den Kran-
ken nachweisen ließ ; das Verhältnis der Gesunden zu den Kranken
betrug hier 1:2, während es sich bei Berücksichtigung der ge-
samten Verwandten nur auf i : i,3 stellte.
Weitere Einblicke in die Erblichkeitsbeziehungen gewinnen wir
durch die Betrachtung der einzelnen, bei den Angehörigen auf-
gefundenen Abweichungen. Wir erkennen ohne weiteres, daß
vor allem die Geisteskrankheiten selbst als belastende Umstände
gelten müssen, ganz besonders dann, wenn sie bei den Eltern
vorhanden waren. Bei den Kranken ist das achtmal häufiger
der Fall als bei den Gesunden. Auch das Erkranken von Geschwi-
stern ist bei den Kranken neunmal so oft beobachtet worden wie
bei den Gesunden, während die Geistesstörung anderer Familien-
glieder offenbar ein wesentlich geringeres Gewicht hat. Den Ner-
venkrankheiten und der Apoplexie scheint gar keine belastende
Bedeutung zuzukommen, wohl aber dem Selbstmorde und den
abnormen Charakteren, namentlich bei den Eltern selbst, letzteren
auch bei den Geschwistern. Die Trunksucht endlich würde nur
bei den Eltern in Betracht zu ziehen sein. Die beherrschende
Stellung der Eltern geht auch aus den Zahlen hervor, die Diem
über die Verteilung aller überhaupt nachweisbaren belastenden
Umstände gibt. Von diesen entfallen bei den Gesunden 22,8, bei
den Kranken 44,0 auf die Eltern, außerdem dort 18,8, hier 30,4
auf die Geschwister.
Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, daß die
Vererbung bei weitem am stärksten wirkt, wenn beide Eltern (ge-
häufte Vererbung), und wenn sie schon bei der Zeugung des Kindes
geisteskrank waren; doch kann auch auf ein vor dem Ausbruche
des Irreseins erzeugtes Kind die schon früher bestehende krank-
hafte Veranlagung übertragen werden. Der Einfluß des Vaters
scheint bei der Vererbung im allgemeinen mächtiger zu wirken,
Erblichkeit.
i8i
als derjenige der Mutter, Er überträgt sich mehr auf die Söhne,
während die Mutter mehr die Töchter beeinflußt. Dabei ist aber
das weibliche Geschlecht überall etwas empfänglicher für die erb-
liche Übertragung von Krankheitsanlagen als das männliche. Die
ersten Kinder einer Ehe sollen nach Orschanskys Angaben
durch Krankheitszustände der Eltern mehr gefährdet sein, als die
späteren, weil sich in dem Alter der Jugendblüte der besondere Ein-
fluß der noch lebensfrischen Persönlichkeit stärker auf die Keime
geltend macht als später. Es soll indessen nicht verschwiegen
werden, daß in bezug auf alle angeführten Regeln die Anschau-
ungen der Forscher noch vielfach auseinandergehen.
Eine gewisse Sonderstellung hinsichtlich der Erblichkeitsver-
hältnisse nehmen die außerehelich Geborenen ein. Es ist bekannt,
daß ihre Sterblichkeit im ersten Lebensjahre fast doppelt so groß
ist wie diejenige der ehelichen Kinder, und daß sie späterhin in den
Strafanstalten und Arbeitshäusern sowie unter den Prostituierten
und unehelich Gebärenden trotz jener Verluste unverhältnismäßig
stark vertreten sind. Bolte fand auch eine größere Häufigkeit bei
den endogenen Psychosen und Neurosen. Die Ursachen dieses Ver-
haltens sind jedoch offenbar zusammengesetzte. Wir dürfen ein-
mal annehmen, daß die Eltern unehelicher Kinder, namentlich die
Mütter, vielleicht abgesehen von manchen ländlichen Gegenden,
teilweise schon zu den Minderwertigen gehören; besonders trifft
das dort zu, wo die Kinder nicht durch eine spätere Eheschließung
eheliche werden. Sodann spielt bei der Erzeugung unehelicher
Kinder vielfach der Alkohol eine Rolle, dessen ungünstiger Ein-
fluß auf die Nachkommenschaft früher bereits erwähnt wurde.
Endlich aber entbehren die außerehelich Geborenen von frühester
Jugend auf in der Regel den Schutz der Familie und sind daher so
vielen Gefahren und Verführungen ausgesetzt, daß schon dadurch
sich ihre ungünstige Stellung im Leben einigermaßen erklären
würde.
Die einzelnen Formen psychischer Erkrankung werden durch
die erbliche Veranlagung in sehr verschiedenem Grade beeinflußt.
Am stärksten macht sich deren Wirkung naturgemäß geltend bei
denjenigen Störungen, die aus inneren Ursachen entstehen. Dahin
gehören das manisch-depressive Irresein, die epileptischen und hy-
sterischen Geistesstörungen, ferner die Nervosität, das Zwangs-
I. Die Ursachen' des Irreseins,
irresein, das impulsive Irresein, die geschlechtlichen Verirrungen,
die verschiedenartigen Formen krankhafter Persönlichkeiten, end-
lich wohl auch die Verrücktheit, Verhältnismäßig wenig durch
die Erblichkeitswirkungen beeinflußt zeigen sich die wesentlich
durch äußere Schädigungen verursachten Infektionspsychosen, die
progressive Paralyse und die ihr verwandten Rindenerkrankungen,
der senile und arteriosklerotische Schwachsinn, während die De-
mentia praecox, die Idiotie und die chronischen Vergiftungen eine
Art Mittelstellung einnehmen. Es ergibt sich somit, daß erblich
belastete Personen im allgemeinen die Neigung haben, konstitutionell,
dauernd oder doch in häufiger wiederkehrenden Anfällen zu er-
kranken. Nicht selten erscheint dabei die Störung, rein nach ihren
Erscheinungen beurteilt, als eine verhältnismäßig geringe, da wir
es mehr mit einem eigenartig entwickelten, aus der Art geschla-
genen Menschen, als mit einem Krankheitsvorgange von um-
grenztem Ablaufe zu tun haben. Bei den einzelnen psychischen
Erkrankungen bedingt die erbliche Entartung Sprunghaftigkeit
und Flüchtigkeit der Erscheinungen, starkes Hervortreten von
psychogenen Zügen, Mißverhältnisse in der Entwicklung der ver-
schiedenen Krankheitszeichen. Auch das Auftreten gewisser auf-
fallender Krankheitserscheinungen, rascher Verlust der Scham-
und Ekelgefühle bei erhaltener Besonnenheit, Triebartigkeit und
Verschrobenheit im Benehmen und Handeln, Neigung zu Heimtücke
und Roheit pflegen mit mehr oder weniger Recht als Zeichen der,
erblichen Entartung betrachtet zu werden.
Nur bei den schwersten Formen der psychopathischen Ver-
erbung treten krankhafte Zustände schon in der frühesten Jugend
hervor; in der Regel findet nur die Übertragung einer Krankheits-
anlage, einer geringeren Widerstandsfähigkeit des Seelenlebens
statt, welche erst dann zu wirklichem Irresein führt, wenn un-
günstige Einflüsse auf dem Boden der ererbten Anlage ihre ver-
derbliche Wirksamkeit entfalten. So erklärt es sich, daß der Be-
ginn der Geistesstörung bei erblich Belasteten besonders gern in
jene Lebensabschnitte zu fallen pflegt, in denen aus inneren oder
äußeren Gründen das psychische Gleichgewicht stärkeren Schwan-
kungen ausgesetzt ist, namentlich in das Entwicklungsalter und
in die Zeit der Rückbildungsvorgänge. Wenn wir diesen Erfah-
rungen gegenüber bei ,, rüstigen", nicht erblich belasteten Menschen
Erblichkeit.
183
im allgemeinen Geistesstörungen nur durch sehr eingreifende
Schädlichkeiten entstehen und dann entweder in Genesung oder
aber in mehr oder weniger schweres geistiges Siechtum ausgehen
sehen, so bedarf es kaum besonderer Betonung, daß es natürlich
zwischen diesen beiden Grenzfällen alle möglichen Übergänge
geben muß. Das erklärt sich eben aus dem sehr verschiedenen
Gewichte, mit welchem die erbliche Veranlagung die Entstehung
der einzelnen klinischen Formen des Irreseins beeinflußt. Ebenso
ist es selbstverständlich, daß die Beziehungen zwischen Erblich-
keit und bestimmten psychischen Krankheitsbildern zunächst nur
statistische sind, daß also im gegebenen Falle die erbliche Ver-
anlagung wohl auch durch eine Häufung andersartiger ungünstiger
Einflüsse ersetzt werden, und daß umgekehrt auch ein hochgradig
erblich belasteter Mensch an einer exogenen, nicht periodischen,
heilbaren Geistesstörung erkranken kann.
Die klinische Form wie der Verlauf der psychischen Störung
wiederholen in einzelnen Fällen mit größter Treue das Krank-
heitsbild des Vorfahren, von dem sich die Vererbung herleitet
(gleichartige Vererbung). Mehrere Geschlechtsfolgen können
auf diese Weise nacheinander mit Selbstmord endigen, oder es
kann bei gleichen Anlässen, im gleichen Lebensalter dieselbe Er-
krankung bei Vorfahren und Nachkommen zur Entwicklung ge-
langen. Sehr häufig sieht man auch Geschwister, namentlich
Zwillinge^), in ganz gleicher oder doch ähnlicher Weise erkranken,
bisweilen mit verblüffender Übereinstimmung in den Einzelheiten,
bald unabhängig voneinander, bald unter gegenseitiger Beeinflus-
sung. Meist handelt es sich dabei um das manisch-depressive
Irresein oder die Dementia praecox. Ferner scheinen nach Siolis
sorgfältigen Untersuchungen die affektiven Formen des Irreseins
einerseits und die Verrücktheit andererseits bei der Vererbung bis
zu einem gewissen Grade einander auszuschließen^). Ebenso fand
Vorster, daß die Dementia praecox und das manisch-depressive
Irresein in hohem Grade die Neigung zeigen, sich in der gleichen
1) Herfeldt, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVII, 25; Soukhanoff, An-
nales m^dico-psychol., 1900, II, 214.
2) Sioli, Arch. f. Psychiatrie, XVI, 113, 599; Vorster, Monatsschr. f. Psy.
chiatrie, IX, 161; Tr6nel, Annales m6dico-psych., 1900, i, 96; Pücz, Ober
st ein er -Festschrift. 1907.
I. Die Ursachen des Irreseins.
Grundform, wenn auch in verschiedenen kUnischen Spielarten,
erblich zu übertragen; er betrachtet das Band der Erblichkeits-
beziehungen, das die eine wie die andere Gruppe von oft so mannig-
faltigen Zustandsbildern verknüpft, geradezu als einen Beweis für
ihre innere klinische Zusammengehörigkeit.
Die Untersuchung von 2000 Fällen mit erblicher Veranlagung
gab Pilcz die Möglichkeit, diesen Beziehungen noch näher nach-
zugehen. Er fand, daß die erbliche Belastung durch Alkoholismus
sich am häufigsten bei Alkoholismus, Epilepsie und Imbecillität
nachweisen ließ, diejenige durch Selbstmord oder ,, affektive Geistes-
störungen" bei den Formen, die wir als manisch-depressive zu-
sammenfassen. Epilepsie wurde bei den Vorfahren der Epileptiker
besonders oft beobachtet, ebenso Migräne, die sich auch bei an-
deren periodischen Formen auffinden ließ. Apoplektiker wies die
Familiengeschichte vielfach auf bei Paralyse, Arteriosklerose, se-
niler Demenz, auch bei der ,, Melancholie", Charakteranomalien
bei Dementia praecox und moralischem Schwachsinn, Psycho-
pathie bei Dementia praecox und Paranoia. Senile Demenz pflegte
der Paralyse o'der Arteriosklerose voraufzugehen, einfacher Schwach-
sinn der Dementia praecox. Sehr merkwürdig ist es, daß Tabes
und Paralyse häufiger in der Ascendenz nicht nur der Paralytiker,
sondern auch bei der Dementia praecox vorkamen. Endlich ist zu
erwähnen, daß die einzelnen Formen der alkoholischen Psychosen
die Neigung zeigten, sich in gleicher Weise bei den Nachkommen
zu wiederholen.
Auch aus diesen Erfahrungen läßt sich schließen, daß im großen
und ganzen durchaus die gleichartige Vererbung vorherrscht. Ganz
besonders gilt das für das manisch-depressive Irresein, für die
Epilepsie und den Alkoholismus, in geringerem Maße wohl auch
für die Arteriosklerose. Weniger klar liegen die Verhältnisse bei
der Paralyse, die anscheinend nicht nur durch die gleiche Er-
krankung, sondern auch durch Arteriosklerose oder Altersblöd-
sinn der Vorfahren vorbereitet werden kann. Nachdem ihre Ver-
ursachung durch die Syphilis zweifellos feststeht, könnte es sich
dabei wohl nur um die Vererbung mehr nebensächlicher Unvoll-
kommenheiten (etwa im Gefäßsysteme?) handeln. Noch rätsel-
hafter sind die Angaben über die Dementia praecox. Soweit die
Erblichkeitsbeziehungen zu Charakteranomalien, zu Psychopathie
Erblichkeit.
185
und einfachem Schwachsinn in Betracht kommen, bleibt die
Möglichkeit, daß es sich zum Teil vielleicht um weniger aus-
gebildete Erkrankungen gleicher Art gehandelt haben könnte.
Weiterhin aber wäre es denkbar, daß sich jenes Leiden gern auf
einem nur im allgemeinen psychopathisch vorbereiteten Boden
entwickelt, ohne Beziehung zu der besonderen Art der krankhaften
Veränderung. Wenn aber endlich auch Tabes und Paralyse der
Dementia praecox voraufgehen, so dürften wir es hier gewiß nicht
mit einer Erblichkeitsbeziehung, sondern höchstens mit einer Keim-
schädigung durch die Lues der Vorfahren zu tun haben, ähnlich
wie wir auch Imbecillität und Epilepsie bei den Nachkommen
syphilitischer Eltern auftreten sehen. Die gleiche Erklärung gilt
auch wohl für die Rolle des Alkohols bei der Erzeugung der Epi-
lepsie und des angeborenen Schwachsinns; außerdem aber haben
wir bei der Trunksucht der Alkoholistenkinder neben der Ver-
erbung besonderer persönlicher Eigenschaften wesentlich auch
noch die ungünstigen Einflüsse der häuslichen Erziehung mit
in Rechnung zu stellen.
Das allgemeine Bild, das wir uns auf Grund der bisher vor-
liegenden, freilich noch ganz unzureichenden Erfahrungen von dem
Wirken der Vererbung auf dem Gebiete der Geistesstörungen
machen können, ist demnach etwa folgendes. Wir haben es einer-
seits in einer sehr erheblichen Zahl von Fällen mit einer wahren
Vererbung krankhafter Eigenschaften zu tun, die sich dann ent-
weder als angeborene Abweichung oder aber als schlummernde
Anlage überträgt, um bei äußerem Anstoße oder in den Übergangs-
zeiten des Lebens hervorzutreten. Überall trägt das ererbte Lei-
den hier wesentlich die gleichen Züge wie dasjenige des Vorfahren,
wenn auch kleinere Abweichungen, namentlich in der Heftigkeit
der Erscheinungen, ebenso vorkommen, wie wir sie bei der Ver-
erbung anderer Eigenschaften beobachten. Demgegenüber gibt
es auch eine Übertragung von krankhaften Anlagen und Zustän-
den, bei der es sich nicht um die Wiederholung der elterlichen
Leiden, sondern um ganz andersartige Schädigungen handelt, die
sehr mannigfache Formen annehmen können. In diesen Fällen
der sogenannten ,, umwandelnden" oder ,, polymorphen" Ver-
erbung haben wir es wahrscheinlich mit wesensverschiedenen
Vorgängen zu tun, die wohl zum großen Teile als allgemeine
i86
I. Die Ursachen des Irreseins.
Keimschädigungen durch Vergiftungen, Erkrankungen usf. oder
durch ungünstige Züchtungseinflüsse aufgefaßt werden dürfen.
Außerdem aber kann dabei unter Umständen irgendeine körperliche
oder seelische, wirklich vererbte Eigenschaft nur die Grundlage
abgeben, auf der sich je nach den Lebensschicksalen dieses oder
jenes Leiden späterhin entwickelt.
Entwicklungsstörungen. Unter den Ursachen, die einen ein-
schneidenden ungünstigen Einfluß auf die Entwicklung des kommen-
den Geschlechtes ausüben können, sind in erster Linie die Keim-
schädigungen zu nennen. Von ganz besonderer Bedeutung sind
für die Nachkommenschaft alle diejenigen Krankheiten der Eltern,
die tiefgreifende Umwälzungen im Gesamtzustande des Körpers
herbeiführen und dadurch mittelbar, bisweilen auch wohl un-
mittelbar die Wachstumsvorgänge in den ■ Keimzellen beeinträch-
tigen. Abgesehen von wirklichen Mißbildungen und Entwicklungs-
hemmungen, wie wir sie im Tierversuche hervorbringen können,
wäre besonders auch an solche Veränderungen der Keimstoffe zu
denken, die zur Entwicklung von lebensschwachen, minderwertigen
und entarteten Früchten führen. In erster Reihe sind hier der
Alkoholismus und die Syphilis zu nennen, deren verheerender Ein-
fluß auf Lebensfähigkeit und Gesundheit der Kinder bekannt genug
ist; Berauschtheit während des Zeugungsvorganges soll sogar Epi-
lepsie der Nachkommen zur Folge haben. Ähnliche, wenn auch
schwächere Wirkungen werden der Tuberkulose, dem Diabetes,
dem Morphinismus und vielen anderen Formen des Siechtums zu-
geschrieben. Auch ungenügende Ernährung, zu hohes, sehr jugend-
liches oder sehr verschiedenes Alter der Eltern, gehäufte Geburten,
eingreifende Gemütsbewegungen in der Zeit der Zeugung sind viel-
leicht nicht ohne Bedeutung für die psychische Anlage des Kindes.
Auf den weiteren Verlauf der Entwicklung können Krankheiten,
gemütliche Erschütterungen der Mutter, Stöße auf deren Leib mög-
licherweise ungünstig einwirken. Außerdem aber kann, wie es
scheint, die Frucht auch unabhängig von der Mutter erkranken.
Die Untersuchungen über die Grundlagen der Idiotie haben ergeben,
daß es sich hier nur in einem kleinen Bruchteile der Fälle um Ent-
wicklungsfehler, zumeist aber um mehr oder weniger ausgebreitete
Erkrankungen der fötalen Hirnrinde handelt. Soweit über diese
Frage ein Urteil möglich ist, liegt es nahe, an Vergiftungen durch
Entwicklungsstörungen; Entartung.
187
Stoffwechselerzeugnisse oder an Infektionen zu denken. Manche
dieser Erkrankungen hinterlassen gar keine gröberen Verände-
rungen; bei anderen stoßen wir auf Hydrocephalie, Porencephalie,
Mikrogyrie, Mikrocephalie und ähnliche Zerstörungen, die ohne
weiteres die schwere Schädigung des Hirns erkennen lassen.
Den Abschluß der ersten Entwicklung bildet die Geburt, die eben-
falls mit Gefahren für die geistige Gesundheit des Kindes verbunden
ist. Die bei schwierigen, verzögerten Geburten sich herausbildende
Asphyxie kann bei längerer Dauer schwere Schädigungen des Hirn-
gewebes erzeugen, die zur Idiotie führen. Ferner können durch
starke Verschiebung der Kopfknochen bei Mißverhältnis zwischen
Beckendurchmesser und Schädelumfang, auch beim Anlegen der
Zange, Zerreißungen und Blutungen im kindlichen Hirn erfolgen,
die natürlich ebenfalls mehr oder weniger schwere geistige Ver-
kümmerungen nach sich ziehen müssen.
Entartung. Mit dem Namen der Entartung bezeichnen wir das
Auftreten vererbbarer Eigenschaften, welche die Erreichung der
allgemeinen Lebensziele erschweren oder unmöglich machen. Von
einfacher Krankheit oder Siechtum unterscheidet sie sich eben da-
durch wesentlich, daß ihre Wirkung sich nicht auf das Einzelwesen
beschränkt, sondern durch ungünstige Beeinflussung der folgenden
Geschlechter eine Verschlechterung der Art selbst herbeiführen
kann. Am leichtesten verständlich ist das bei denjenigen Formen
der Entartung, die selbst schon durch die Blutmischung entstehen
und somit von den Eltern her übertragen werden; wir fassen sie
als erbliche Entartung zusammen. Die erbliche Entartung kann
zunächst durch die Fortpflanzung von krankhaften Anlagen der
Vorfahren zustande kommen, die durch zufällige Einflüsse, nament-
lich aber durch Zusammentreffen ähnlicher Eigenschaften bei
beiden Eltern, sich in den Nachkommen wesentlich verstärken und
somit zu einem Niedergange des Geschlechts führen. Solche Er-
fahrungen sind es gewesen, die MoreP) veranlaßt haben, für die
fortschreitende erbliche Entartung folgende allgemeine Reihe auf-
zustellen: I. Generation: nervöses Temperament, sittliche Unfähig-
keit, Ausschweifungen. 2. Generation: Neigung zu Schlaganfällen
und schweren Neurosen, Alkoholismus. 3. Generation: psychische
1) Morel, Traite des d6gen6rescences physiques, morales et intellectuelles de
l'espece humaine. 1857; Fere, la famille neuropathique. 1894.
i88
I. Die Ursachen des Irreseins.
Störungen, Selbstmord, geistige Unfähigkeit. 4. Generation: an-
geborene Blödsinnsformen, Mißbildungen, Entwicklungshemmungen.
Es würde also diese Art der Züchtung von selbst mit Notwendigkeit
den Untergang des entarteten Geschlechtes herbeiführen.
Von einer so einfachen Regelmäßigkeit ist jedoch bei diesen un-
gemein verwickelten und nur in den gröbsten Umrissen bekannten
Verhältnissen keine Rede. Vor allem ist dabei zu berücksichtigen,
daß neben den verschlechternden Einflüssen überall auch entgegen-
gesetzte Strömungen wirksam sind, welche auf den Ausgleich der
Störungen und auf eine gesunde Fortentwicklung hinarbeiten. Wäre
das nicht der Fall, so wäre längst das ganze Menschengeschlecht
zugrunde gegangen. Tatsächlich kommt es daher nur unter sehr
ungünstigen Umständen zu einer derartigen absteigenden Stufen-
leiter; in zahllosen entarteten Familien sehen wir durch die Mischung
mit gesundem Blute die Spuren der krankhaften Veranlagung sich
bei den Nachkommen wieder verwischen. Immerhin dürfte gerade
das häufigere Auftreten angeborener Schwächezustände, bisweilen
neben hervorragender Begabung bei anderen Familiengliedern, die
schwersten Grade erblicher Belastung ankündigen. Ein unter dem
Einflüsse der Mor eischen Lehren stehendes Beispiel familiärer Ent-
artung gibt die Romanreihe Zolas über die Rougon-Macquarts.
Als eine strittige Frage muß es zurzeit noch gelten, ob auch, wie
man vielfach gemeint hat, nahe Verwandtschaft der Eltern^)
an sich, ohne das Hineinspielen von Krankheitsanlagen, schon eine
Entartung der Kinder zur Folge hat. Bei Tieren ist eine fortgesetzte
Inzucht nicht nur möglich, sondern zur Erzielung bestimmter, aus-
geprägter Eigenschaften geradezu notwendig. Allerdings pflegt dabei
allmählich eine Abnahme der Fruchtbarkeit und der allgemeinen
Lebenskräftigkeit einzutreten. Nach beiden Richtungen hin wirkt
die Vermischung mit fremdem Blute verbessernd, während sie die
Ausbildung der hervorragenden, kennzeichnenden Eigenschaften be-
einträchtigt. Die Erfahrungen beim Menschen beschränken sich
im wesentlichen auf die Vererbung von Krankheitsanlagen. Mayet,
der eine große Zahl von Heiraten Blutsverwandter untersuchte,
fand allerdings, daß aus ihnen leicht idiotische und imbecille Kinder
hervorgingen, auch wenn keine Krankheitsanlagen nachzuweisen
1) Peipers, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVIII, 793, 1901; Feer, Jahrb.
d. Kinderheilk., LXVI.
Entartung.
189
waren. Ist letzteres der Fall, so kommt es zu einer Häufung der
Krankheitsfälle, da die gleichartigen Anlagen sich bedeutend ver-
stärken. Bei der angeborenen Taubstummheit wie bei der Retinitis
pigmentosa ist dieser unheilvolle Einfluß der Verwandtenheiraten
ungemein deutlich. Wir werden daher annehmen dürfen, daß auch
in psychopathischen Familien eine ähnliche Häufung der Krank-
heitsanlagen stattfindet, wenn Inzucht getrieben wird. Dafür spricht
das Beispiel namentlich vieler jüdischer Familien sowie mancher
Adelsgeschlechter und Fürstenhäuser i). Wo dagegen beide Eltern
völlig gesund sind, wird die Entwicklung der Nachkommenschaft
durch die Blutsverwandtschaft schwerlich in krankmachender Weise
beeinflußt; vielmehr werden wir annehmen dürfen, daß dadurch
unter Umständen bei Verstärkung wertvoller Eigenschaften gerade
besonders hochbegabte Menschen entstehen; freilich darf die In-
zucht aus den oben angeführten Gründen nicht lange fortgesetzt
werden.
Von entschieden ungünstigem Einflüsse auf die Nachkommen-
schaft scheint allzu große Verschiedenheit der Eltern zu sein, wie
sie namentlich bei der Mischung einander fernerstehender Rassen
vorkommt. In solchen Fällen entstehen, wie Darwin gezeigt hat,
sehr leicht atavistische Bildungen; die uralten, in langer Ahnenreihe
gefestigten Vererbungsneigungen gewinnen die Oberhand über die
persönlichen, einander nicht genügend verstärkenden Eigenschaften
der Eltern. Daraus erklärt sich auch wohl die meist ungünstige
Veranlagung der Mischlinge. Es wäre denkbar, daß in abge-
schwächtem Maße große Unähnlichkeit der Eltern auch bei gleicher
Rasse dem erblichen Einflüsse früherer Geschlechter einen weiteren
Spielraum ließe.
Den allgemeinen Ausdruck erblicher Entartung bildet neben
dem Auftreten ausgeprägter geistiger Erkrankungen namentlich die
Ungleichmäßigkeit der psychischen Veranlagung, hohe einseitige
Begabung neben auffallender Unfähigkeit auf anderen Gebieten.
Glänzende Verstandesleistungen verbinden sich mit Roheit und
Gemütlosigkeit oder mit weichlicher Empfindsamkeit sowie mit
Schwäche und Haltlosigkeit des Willens, hervorragende künstlerische
Fähigkeiten mit geistiger Beschränktheit und Unfähigkeit zu ge-
1) Brächet, Pathologie mentale des rois de France, Louis XI et ses ascen-
dants. 1903.
190
I. Die Ursachen des Irreseins.
Fig. IX.
Flache Ohrmuschel mit
Darwinschen Knötchen.
ordnete!- Lebensführung, Überwuchern der Einbildungskraft mit
peinlicher Gebundenheit im Handeln usw. Auf diese Weise ent-
stehen die zwiespältigen, unausgeglichenen,
rätselhaften Persönlichkeiten, deren Ent-
wicklung und Leistungen trotz vielverheißen-
der Ansätze immer wieder durch ihre un-
begreiflichen Mängel verkümmert werden.
Von ihnen führen allmähliche Übergänge
zu den genialen Naturen, bei denen ein
glückliches Zusammentreffen der elterlichen
Anlagen zwar auch gewisse Fähigkeiten zu
besonderer Höhe gesteigert hat, ohne aber
daneben allzu empfindliche Lücken zu lassen.
Dort, wo wir es mehr mit Rückschlags-
erscheinungen zu tun haben, wird das Bild
im allgemeinen ein anderes sein. Wie bei
den Mischlingen, treten diejenigen Eigen-
schaften stärker hervor, die bei längst ver-
gangenen Geschlechtern besonders ver-
treten waren, Schlauheit, rücksichts-
lose Selbstsucht und Triebartigkeit des
Handels.
Als körperliche Begleiterscheinungen
der erblichen Entartung (stigmata here-^^
ditatis) pflegt man manche Abweichungen
zu betrachten , die sich mit einiger
Häufigkeit bei erblich belasteten Personen
vorfinden. Dahin gehören Verbildungen
des Skeletts, des Schädels, der Zähne,
der Kiefer, des Gaumens, der Ohren^),
der Augen, der Genitalien, Asymmetrien,
Albinismus, Irisflecke, Muttermale, ge-
wisse Veränderungen an der Haut, Feh-
len, Überreichlichkeit oder eigenartige
Verteilung des Haarwuchses, ferner eine
Reihe von nervösen Störungen, Zittern, Muskelzuckungen, Stottern,
Schielen, Stammeln, Bettnässen, Nystagmus, Wiederkäuen u. dgl.
1) Binder, Arch. f. Psychiatrie, XX, 514.
Fig. X.
Umgerolltes Ohr mit an-
gewachsenem Ohrläppchen.
Entartung.
191
Fig. XI. Henkelohren.
Die Mannigfaltigkeit der Entartungszeichen oder derjenigen Ab-
weichungen, die als solche gedeutet werden, ist eine außerordentlich
große. Um von ihnen
wenigstens eine allgemeine
Vorstellung zu geben,
haben wir in Fig. IX — XVI
einige Beispiele zusam-
mengestellt, die meist von
Idioten stammen; Fig. X
wurde von einem Psycho-
patheri, Fig. XVI von einer
Depression gewonnen, Fig.
XII von einem hypomani-
schen Kranken. Von den
zahllosenOhrverbildungen
haben wir in Fig. IX ein
solches mit sehr breiter,
flacher Muschel, ein sog.
Makakenohr, wiedergegeben; es zeigt
außerdem am Rande eine sehr deut-
liche Darwinsche Spitze und ein auf-
fallend dickes, fleischiges Läppchen.
Im Gegensatze dazu gibt Fig. X ein
Ohr mit sehr stark eingerolltem Rande
wieder, dessen Läppchen zudem an-
gewachsen ist. Fig. XI stellt einen
kleinen Idioten mit weit abstehenden
Henkelohren dar. An der in Fig. XII
abgebildeten Hand sehen wir eine Ver-
krüppelung des zweiten und dritten
Fingers mit Schwimmhautbildung zwi-
schen ihnen, während in Fig. XIII die
beiden letzten Finger, namentlich der
vierte, in ihrem Wachstum sehr be-
trächtlich hinter den übrigen zurück-
geblieben sind. Eine ausgeprägte Miß
Fig. XII. Verkrüppelung des
zweiten und dritten Fingers
mit Schwimmhautbildung.
bildung beider Füße, Verwachsung der ersten beiden und Ver-
kümmerung der übrigen Zehen, zeigt uns Fig. XIV. Ein Beispiel
192
I. Die Ursachen des Irreseins.
von den ungemein häufigen und verschiedenartigen Verbildungen
des Gebisses geben wir in Fig. XV. In beiden Kiefern finden sich
hier nur je zwei Schneidezähne, von denen
die unteren noch dazu verkümmert sind;
die oberen haben ausgezackte Schneiden.
Auch die übrigen Zähne sind sehr mangel-
haft entwickelt. Die Fig. XVI endlich zeigt
uns das Bild einer Frau, bei der sich im
Laufe ihrer Geistesstörung ein starker Bart-
wuchs einstellte.
Die Entstehungsgeschichte der Entartungs-
zeichen ist noch wenig aufgeklärt. Ein Teil
derselben wird als Rückschlag und Tierähn-
lichkeit, ein anderer als Entwicklungshem-
mung aufgefaßt. Soweit diese Deutung richtig
ist, wäre die Beziehung der Abweichungen
zur psychischen Entartung immerhin noch
verständlich. Wir können uns wenigstens
vorstellen, daß dort, wo sichtbare Zeichen
einer fehlerhaften Ausbildung des Kör-
pers zutage treten, vielleicht auch die-
jenigen Gewebe gelitten haben, die wir
als die Träger der psychischen Persön-
lichkeit ansehen. Weit unsicherer ist
dieser Schluß dann, wenn die Störungen
durch bestimmte krankhafte Vorgänge
bedingt sind. Wir werden ihnen in
diesem Falle eine gewisse Bedeutung
nur beilegen dürfen, wenn sie wenig-
stens irgend einen Abschnitt des Nerven-
systems betreffen. Es ist jedoch zu be-
tonen, daß sich schwere seelische Ent-
artung bei tadelloser Körperbildung,
ja neben hervorragenden körperlichen
Eigenschaften finden kann.
Eine zweite, reichlich fließende Quelle
der Entartung bildet die Keimschädigung durch Krankheiten und
Gifte. Unter den ersteren spielen Syphilis und Tuberkulose, unter
Fig. XIII.
Entwicklungshemmung
der beiden letzten Finger.
Fig. XIV.
Mißbildung beider Füße.
Entartung.
Fig. XV.
Verkümmertes Gebiß.
den letzteren bei uns der Alkohol die Hauptrolle. Ihre Wirkungen
äußern sich einmal im Auftreten von Mißbildungen und Lebens-
schwäche, sodann aber in Minder-
wertigkeit der körperlichen und
geistigen Veranlagung, deren Be-
sonderheiten anscheinend durch die
Art der Ursachen einigermaßen be-
stimmt werden. Auf psychiatrischem
Gebiete haben wir es in erster Linie
mit den Keimschädigungen durch
Lues und Alkohol zu tun, als deren
Ausdruck uns namentlich angebo-
rener Schwachsinn leichteren oder
schwereren Grades begegnet. Weiterhin kommt aber auch die
Epilepsie, ferner die angeborene Willensschwäche und damit zu-
sammenhängend die Neigung zum Gewohnheitsverbrechen, zur
Landstreicherei und zur Prostitution in
Betracht, besonders bei den Nachkom-
men der Trinker. Die Wirkung dieser
Keimschädigungen erlischt nicht mit dem
zunächst betroffenen Geschlecht; sicher-
lich wird auch die fernere Nachkommen-
schaft davon in Mitleidenschaft gezogen.
Zum Teil mag es sich dabei um die ein-
fache Vererbung ungünstiger und durch
das Zusammenfließen mit ähnlich minder-
wertigem Blute noch verstärkter Eigen-
schaften handeln, die schon vor der
Keimverderbnis bestanden und ihrer Ent-
stehung Vorschub geleistet haben. Da-
zu kommen dann vielleicht persönlich
schädigende Lebensschicksale. Endlich
aber werden wir erwarten dürfen, daß
die aus krankhaft veränderten Keimen
hervorgegangenen Sprößlinge auch ihrerseits minderwertige Keime
hervorbringen und somit eine Verschlechterung der Art herbei-
führen werden, die erst durch entgegengesetzt wirkende Einflüsse
wieder beseitigt werden kann.
Fig. XVI.
Bärtige Frau.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
13
194
I. Die Ursachen des Irreseins.
Wir stehen hier vor der überaus wichtigen Frage nach der Ver-
erbung erworbener Eigenschaften. Es kann zweifelhaft erscheinen,
ob die Fortwirkung von Keimschädigungen über mehrere Ge-
schlechter dem Vorgange der Vererbung an die Seite gestellt werden
darf, wenn auch das eigenartige Gepräge, das z. B. der Alkohol
der Nachkommenschaft aufdrückt, diesen Gedanken nahe rückt.
Anders liegt aber die Sache, sobald wir es mit den Entartungs-
erscheinungen zu tun haben, die durch allgemeine Lebensbedingungen
erzeugt werden. Die besonderen Formen, die der Kampf ums
Dasein im Wechsel der Zeiten annimmt, üben auf unsere geistige
und körperliche Beschaffenheit einen umwandelnden Einfluß aus;
wir unterliegen ihren züchtenden Wirkungen in ähnlicher Weise
wie eine Herde, deren Lebensbedingungen der Züchter nach seinem
Willen ändert. Die Gesichtspunkte, unter denen sich diese Züch-
tung der Völker vollzieht, werden einmal durch den Drang der
äußeren Umstände geliefert, die den einzelnen zwingen, sich den
umgebenden Verhältnissen anzupassen, andererseits durch die all-
gemeinen Willensrichtungen der Massen, die auf bestimmte, nur
langsam wechselnde Ziele lossteuern. Gezüchtet werden also fort-
dauernd diejenigen Eigenschaften, die es uns ermöglichen, uns im
Wettkampfe des Lebens zu behaupten, und die in der Richtung
unseres Entwicklungsstrebens liegen.
Die Tatsache, daß eine solche Züchtung von jeher stattgefunden
hat und sich auch heute noch vollzieht, steht über allem Zweifel
fest. Sie wäre unerklärlich, wenn nicht die vom einzelnen er-
worbenen Fähigkeiten in Form von Anlagen auf seine Nachkommen
übertragen und so allmählich befestigt und verstärkt werden
könnten. Allerdings wird das, wie auch Sommer hervorgehoben
hat, wenigstens beim Menschen in erster Linie und vielleicht aus-
schließlich für solche Eigenschaften gelten, die durch den Willen
erworben und körperlich fixiert worden sind. Wir erleben es tag-
täglich, daß die Willenstätigkeit durch Vermittlung der Übung
Muskeln verändert, und man wird sich vorstellen dürfen, daß der
Erleichterung eingeübter Seelenvorgänge ebenfalls die Herstellung
bestimmter körperlicher ,, Bahnungen" entspricht. In unserem Ge-
hirn besitzen wir eine große Zahl vorgebildeter Einrichtungen von
ähnlicher Art, wie wir sie durch Übung selbständig erwerben können,
so die Zusammenordnung bestimmter Bewegungen oder die Ver-
Entartung.
195
knüpfung von Sinnesempfindungen mit Bewegungsvorstellungen.
Manche dieser Einrichtungen, namentlich die beherrschende Stel-
lung der linken Hirnhälfte, tragen noch deutlich die Zeichen ihrer
Entstehung aus Willensleistungen an sich.
Wir kommen somit zu dem Schlüsse, daß höchst wahrschein-
lich nicht nur ganz allgemeine Eigenschaften, wie größere oder
geringere Widerstandsfähigkeit und Lebensfrische des gesamten
Organismus, sondern auch durch Übung erworbene besondere Fähig-
keiten bis zu einem gewissen Grade die Ausbildung der Keime be-
einflussen können. Allerdings ist es schwierig, sich von der Mög-
lichkeit solcher Einwirkungen irgend eine Vorstellung zu machen.
Man könnte dieser Schwierigkeit mit dem Hinweise auf die Rätsel-
haftigkeit der Vererbungstatsachen überhaupt ausweichen, oder man
könnte darauf hinweisen, daß z. B. bei der Neubildung verlorener
Glieder, wie Wolff nachgewiesen hat, ein gestaltender Einfluß des
Nervensystems unerläßlich ist. Ferner wäre geltend zu machen, daß
gewiß immer nur Spuren dessen, was im Leben erworben wurde,
vererbt werden können. Endlich aber werden doch den Keimzellen,
wenn sie auch schon bei der Anlage vorgebildet sind, während des
Lebens immerfort die Stoffe für ihre Weiterentwicklung aus dem
Körper zugeführt, so daß sie an den in ihm sich abspielenden Vor-
gängen auf das innigste beteiligt sind.
Wenn wir demnach den Geschicken des einzelnen und nament-
lich auch den körperlichen Niederschlägen seines Wollens und Stre-
bens einen Einfluß auf die Keime der künftigen Geschlechter bei-
messen, so werden wir die Einwirkung unserer Lebensverhältnisse
auf die geistige Gesundheit unserer Rasse nach drei Hauptrichtungen
ins Auge fassen dürfen. Zunächst wäre diejenige Seite zu berühren,
der man gewöhnlich die größte Bedeutung beizulegen pflegt, die
Verschärfung des Daseinskampfes. Man wird nicht in Ab-
rede stellen können, daß unser Leben vielfach andere Formen an-
genommen hat, als in früheren Zeiten. Der allmählich sich voll-
ziehende Übergang vom Ackerbau zur Industrie, die damit verknüpfte
Vernichtung des Handwerks, die Umgestaltung des Arbeitsbetriebes
durch Dampf und Elektrizität, die fortschreitende Arbeitsteilung, die
ungeahnte Entwicklung des Verkehrs, die den einzelnen in tausend-
fache Verbindungen einspinnt, die rasche Zunahme der Bevölkerung,
das Anwachsen der großen Städte und der in ihnen herrschende
13*
I. Die Ursachen des Irreseins.
Wettbewerb bedingen für einen großen Teil des Volkes eine Er-
höhung der zu bewältigenden Anforderungen, zugleich eine größere
Zersplitterung der Tätigkeit, Unrast und Unregelmäßigkeit der
Lebensführung. Insbesondere im drängenden Getriebe der Städte
oder der Industriegegenden wird der einzelne gezwungen, dauernd
mit erhöhter Willensspannung und unter dem Drucke eines ver-
stärkten Verantwortlichkeitsgefühls zu arbeiten, der ihn zu immer
höherer Steigerung seiner Leistungen anfeuert.
In diesen Bedingungen liegt einmal der Antrieb zur Fortent-
wicklung unserer Fähigkeiten. Andererseits führen sie vielfach zu
Überarbeitung, vielleicht auch zu frühzeitigem Verbrauche der
Kräfte, wenn die Erholungsmöglichkeit den Anforderungen und der
Leistungsfähigkeit nicht entspricht. Ganz besonders verhängnisvoll
aber scheint mir der Verlust der inneren Freiheit zu sein, wie er
durch das immer mehr sich verdichtende Netz von Verpflichtungen
und Beziehungen bedingt wird. Er macht sich für den einzelnen
um so empfindlicher geltend, je umfassender der Wirkungskreis ist,
in den ihn seine Leistungen und Fähigkeiten stellen. Die unbe-
kümmerte Sorglosigkeit des Naturmenschen, der nach Befriedigung
der unmittelbarsten Daseinsbedürfnisse in den Tag hinein lebt, ist
uns für immer verloren gegangen; unser ganzes Denken, Fühlen
und Handeln wird dauernd beherrscht durch Erwägungen, Rück-
sichten, Hemmungen, Forderungen, welche die freie Betätigung
unserer Persönlichkeit zugunsten des Gemeinschaftslebens be-
schneiden. Daß diese Bindung der Seelenregungen durch Her-
kommen und Sitte, durch Erziehungsgrundsätze, Pflichten und
Gesetze der Entwicklung willenskräftiger, selbständiger Persönlich-
keiten nicht günstig sein kann, liegt auf der Hand; je enger der
Spielraum wird, in dem die freie Betätigung eigenen Willens mög-
lich ist, desto unfreier und zaghafter werden die Entschließungen,
desto verhängnisvoller der Druck, den die Aufgaben des Lebens auf
das Handeln ausüben.
Gerade mit diesen Verhältnissen dürfte das häufige Auftreten
von Angstzuständen in einer gewissen Beziehung stehen, die das
Vertrauen auf das eigene Können und damit die Handlungsfähig-
keit selbst auf das empfindlichste beeinträchtigen, um so mehr,,
als auch unsere gesamte Erziehung leider mehr auf eine Art DressurJ
als auf die selbständige Entwicklung des Willens gerichtet ist. Ein
Entartung.
197
schlagendes Beispiel für das Versagen des Willens ist, wie schon
früher erwähnt, die erst in den letzten Jahrzehnten bei uns ge-
züchtete traumatische Neurose, bei der wir unmittelbar die Ent-
stehung geistigen Siechtums aus dem künstlich befestigten Ge-
fühle hervorgehen sehen, der Arbeit nicht mehr gewachsen zu
sein. Überall, wo ein Mißverhältnis zwischen der Spannkraft des
Willens und den herantretenden Anforderungen besteht, werden sich
ähnliche Vorgänge abspielen können. Das Gefühl des Unvermögens
spornt dann den schwachen Willen nicht zu neuen Kraftanstren-
gungen an, um die Leistungsfähigkeit durch Übung zu steigern,
sondern es führt zum Erlahmen des Willens, der vor der Aufgabe
zurückschreckt und durch den Mißerfolg zu immer weiter gehen-
den Einschränkungen seiner Betätigung geführt wird. Nicht selten
kleidet sich dabei dieses Erlahmen aus Angst in die Form der Müdig-
keit. In anderen Fällen wird zwar die Arbeit geleistet, aber der
Mangel an Vertrauen zu der eigenen Fähigkeit im Verein mit dem
gesteigerten Verantwortlichkeitsgefühl läßt die Befriedigung des Ab-
schlusses nicht aufkommen, und der Wille erschöpft sich in nutz-
losen Anstrengungen, durch Wiederholungen Ruhe zu finden. Viel-
fach bewirkt dann auch die ängstlich gesteigerte Spannung das Ein-
greifen des Willens in sonst selbsttätig ablaufende Verrichtungen,
die dadurch gehemmt oder doch empfindlich gestört werden.
Es liegt nahe, diese Vorgänge, denen wir im einzelnen bei der
Zweifel- und Grübelsucht, bei den Phobien, bei der Erwartungs-
neurose und bei der Arbeitsunfähigkeit der Nervösen begegnen, mit
den oben erwähnten Änderungen unserer allgemeinen Lebensverhält-
nisse in eine gewisse Beziehung zu bringen. Soviel ich sehen kann,
fehlen Naturvölkern diese bei uns so unendlich verbreiteten Angst-
zustände durchaus, ebenso wie ihnen die dem Verantwortlichkeits-
gefühl entspringenden Selbstvorwürfe und Versündigungsideen fast
völlig fremd sind. Natürlich wird es bei uns immer ängstliche
Menschen gegeben haben, deren Mangel an Selbstvertrauen den
Willen lähmte oder sie zu fruchtlosen Anstrengungen antrieb, aber es
ist vielleicht doch kein Zufall, daß die genauere Kenntnis dieser Zu-
stände, deren Gestaltung ja vielfach mit dem Berufsleben in engster
Beziehung steht, nur wenige Jahrzehnte zurückreicht. Wären sie
früher schon so häufig gewesen wie heute, so wäre es kaum zu
begreifen, wie sie den alten Irrenärzten hätten entgehen können.
jpg I. Die Ursachen des Irreseins.
Auch jetzt noch stammt ihre genaueste Kenntnis aus Frankreich,
aus demjenigen Lande, in dem die Anzeichen einer kulturellen
Entartung am deutlichsten ausgesprochen sind.
Eine unheilvolle Begleiterscheinung der kapitalistischen Pro-
duktionsweise wie der Großstadtentwicklung ist die Entstehung
eines Proletariates. Der Druck, den die Armut dem Fabrikarbeiter
und dem Großstadtbewohner auferlegt, ist aus vielfachen Gründen
unvergleichlich härter als beim Landbewohner, dem wesentliche
Daseinsbedingungen, Luft, Licht und Schlaf, niemals in gleicher
Weise verkümmert werden können, und der zudem den Wirkungen
des Alkohols und der Syphilis sehr viel weniger ausgesetzt ist. Ganz
besonders ungünstig wirkt nach allen diesen Richtungen das ent-
setzliche Wohnungselend der Großstädte. Das Dahinleben in aus-
sichtslosem Elend vernichtet aber schließlich mit der Hoffnung auch
den Wunsch und die Kraft zum Aufschwung. Auch hier liegen da-
her Ursachen, die auf eine Verschlechterung der Volksart hinwirken.
Eine zweite beachtenswerte Seite unserer Entwicklung bildet die
einseitige Züchtung seelischer Eigenschaften. Allerdings
hat die körperliche Kraft und Rüstigkeit noch in einer großen Reihe
von Berufen, namentlich den handarbeitenden, ihren hohen Wert,
und auch für das weibliche Geschlecht spielt die körperliche Be-
schaffenheit eine wesentliche Rolle. Dennoch läuft fast unsere
ganze Erziehung darauf hinaus, vor allem Wissen und sittliches
Gefühl auszubilden. Diese hohe Einschätzung seelischer Fähig-
keiten, die ja die Grundlage jeder Gesittung bildet, hat zur Kehr-
seite die Vernachlässigung des Körpers und seiner Leistungen. Es
kommt zu einer Arbeitsteilung, bei der die Einseitigkeit der Züch-
tung immer weiter getrieben wird, schließlich zur Bildung von
Kasten mit engherzigen Zielen und beschränkter Weltanschauung,
denen ihr Tun und Treiben zum Selbstzwecke wird, da ihnen der
Zusammenhang mit der Volksgemeinschaft und damit der richtige
Maßstab für die Bewertung ihrer Leistungen verloren gegangen
ist. Diesem Vorgange verdanken wir neben der Vergeistigung und
Veredelung unseres Seelenlebens auch die Zerrbilder des ver-
trockneten Stubengelehrten und Bücherwurms, des verstiegenen
Ästheten und des weltfremden Schwärmers.
Weit wichtiger indessen, als die bisher betrachteten Kultur-
wirkungen, ist die durch sie herbeigeführte ,, Domestikation", die
Entartung.
199
Abkehr von der Natur. Die Lebensbedingungen, die wir uns
geschaffen haben, sind mehr und mehr unnatürliche geworden.
Wir haben uns unabhängig gemacht von dem Wechsel der Jahres-
zeiten und von Tag und Nacht; wir verzichten, wenigstens in den
großen Städten, notgedrungen auf den ausgiebigen Genuß von
Sonne und frischer Luft; wir meiden körperliche Anstrengungen und
benutzen unsere Glieder kaum noch zur Fortbewegung; wir ge-
nießen die Speisen in verkünstelter und stark gewürzter Form; wir
verscheuchen den Schlaf, um ihn dann wieder künstlich herbei-
zurufen. Unsere Bedürfnisse werden immer mannigfaltigere und
vielseitigere ; wir sind weit davon entfernt, sie auch nur zum kleinsten
Teile selbst befriedigen zu können, befinden uns vielmehr in hilf-
loser Abhängigkeit von der Gesellschaft, die uns umgibt. Die
staatliche Gemeinschaft gewährt uns weitgehenden Schutz gegen
alle möglichen Gefahren, die unserem Leben, unserer Gesundheit,
unseren Rechtsgütern drohen. Sind wir in der Lage, erwerben oder
die Früchte der Arbeit unserer Vorfahren genießen zu können, so
stehen uns mühelos alle Genüsse offen, die unsere Sinne begehren,
und die Steigerung unserer Ansprüche an Üppigkeit und Wohl-
leben findet ihre Grenze nur in den uns zu Gebote stehenden Geld-
mitteln.
Die große Gefahr dieser Entwicklung liegt in der Verweich-
lichung. Wie die Haustiere des Menschen durch die Domestika-
tion den Zusammenhang mit ihren natürlichen Lebensbedingungen
verlieren und dadurch an allgemeiner körperlicher Widerstands-
fähigkeit und Tüchtigkeit einbüßen, so geht auch dem unter künst-
lichen Bedingungen aufwachsenden und sorgsam gehegten Kultur-
menschen, namentlich dem Großstädter, ein mehr oder weniger
erheblicher Teil seiner Spannkraft und Lebensfrische verloren, ganz
besonders dann, wenn ihm der Kampf ums Dasein leicht gemacht
wird. Von höchster Bedeutung sind für uns in dieser Richtung
die Untersuchungen Fahlbecks^) über die Schicksale des schwe-
dischen Adels, bei dem das Stadtleben in gesellschaftlich hervor-
ragender Stellung schon nach wenigen Geschlechtern eine Abnahme
der Fruchtbarkeit, frühes Absterben der Kinder und Neigung zur
Ehelosigkeit bewirkt hat. Nur im Kampfe wächst der Wille; daher
1) Fahlbeck, Der Adel Schwedens. 1903.
200
I. Die Ursachen des Irreseins.
der Aufschwung der Völker nach großen Kriegen, selbst wenn sie
unglücklich verlaufen. Mühelose Erfüllung der Wünsche, rascher
Erfolg jedes Strebens macht die Stählung des Willens unmöglich.
Zeiten wirtschaftlichen Gedeihens sind daher für die Entwicklung
des Volkscharakters nicht ungefährlich, und die Nachkommen der
Männer, die durch ihre Willensarbeit Wohlstand geschaffen haben,
gehen nicht selten an dem Fehlen eines Willensstachels zugrunde.
Die Gruppe von Entarteten, die hier entsteht, sind die willens-
schwachen Müßiggänger, die oberflächlichen Genußmenschen und
die gewissenlosen Wüstlinge. Ihr gehäuftes Auftreten ist das Kenn-
zeichen alternder Völker, die durch Überfeinerung der Bedürfnisse
und Wohlleben Neigung und Fähigkeit zu zielbewußter Entwick-
lung aller Kräfte im Daseinskampfe eingebüßt haben.
Eine allgemeine Begleiterscheinung der Kulturentartung ist die
Abschwächung der natürlichen, lebens- und arterhalten-
den Triebe. Die Erfahrung lehrt uns, daß Teile und Verrichtungen
unseres Körpers sich zurückbilden, sobald sie nicht geübt werden.
Geruchsorgan und Riechrinde sind bei uns verkümmert, weil sie
für unsere Lebensbedürfnisse keine Bedeutung mehr besitzen;
unsere Zähne gehen zugrunde, weil wir unsere Nahrung weich
kochen, und die Brustdrüsen schwinden, wo das Stillen der Kinder
aufgegeben wird. Auch der Selbsterhaltungstrieb bedarf einer
steten Anstachelung, wenn er seine sieghafte Ursprünglichkeit be^
wahren und das Handeln unter allen Umständen zuverlässig leiten
soll. Für ihn bedeutet das Gemeinschaftsleben eine dauernde, fort-
schreitende Abschwächung. Die Sicherheit für Leib und Leben,
die es uns bietet, entfernt aus unserem Dasein fast ganz die Ge-
fahren, die wir durch eigene Kraft zu überwinden haben. Uns fehlt
nahezu völlig jene Nötigung zur Anspannung aller Kräfte im un-
mittelbaren Kampfe um unser Leben, die uns seinen Wert immer
wieder mit größter Lebendigkeit empfinden lassen würde. Dazu
kommt, daß für uns das persönliche Dasein seine Bedeutung als
der Güter höchstes verloren hat. Höheren, weit über das Leben
des einzelnen hinausreichenden Zielen streben wir nach, bei deren
Verfolgung die naive Freude am Dasein planmäßig in den Hinter-
grund gedrängt wird.
Insbesondere sind es die Anforderungen des Gemeinschafts
lebens, die von dem einzelnen in weitem Umfange Unterordnung
Entartung.
201
seiner Neigungen und Wünsche unter die allgemeinen Interessen,
ja unter Umständen die Aufopferung seines Lebens zur Vertei-
digung anderer fordern. Auch jene religiösen Weltanschauungen,
die von ihren Anhängern Selbstentäußerung und Entsagung ver-
langen, das irdische Leben nur als armselige Vorstufe weit herr-
licherer Daseinsformen betrachten und vielfach zur Weltflucht und
Selbstpeinigung geführt haben, tragen wirksam dazu bei, den
Schätzungswert des persönlichen Lebens zu verringern. Die gemein-
same Folge aller dieser Einflüsse ist jene Abschwächung des Selbst-
erhaltungstriebes, die unverkennbar unsere Kulturentwicklung be-
gleitet. Während der Selbstmord beim Tiere unbekannt ist und bei
den Naturvölkern zu den seltensten Ausnahmen gehört, wächst
seine Häufigkeit mit Zunahme der Gesittung in erschreckendem
Maßstabe, besonders in den Großstädten. Der Wille zum Leben hat
seine ursprüngliche, alles überwindende Macht in uns verloren;
in zahllosen Fällen genügen, wie die Erfahrung lehrt, die nich-
tigsten Anlässe, um die tiefste Grundlage unseres Daseins zu er-
schüttern und die freiwillige Selbstvernichtung herbeizuführen. Eine
schwerere und verhängnisvollere Form der Entartung ist nicht
denkbar.
Beim Tiere ist der beherrschende Trieb der Hunger. Im ge-
regelten Tageslaufe des Kulturmenschen findet sich für ihn kaum
mehr eine Stelle; das Bedürfnis wird zumeist befriedigt, bevor es
überhaupt gefühlt wurde. Er ist uns'längst kein natürlicher Mahner
mehr. Wo die Hast der erzwungenen Tätigkeit es erfordert, wird er
zurückgedrängt, namentlich bei Schulkindern am Morgen; dem
Genußmenschen tritt an seine Stelle die Sucht nach immer größerer
Kostspieligkeit, Üppigkeit und Verkünstelung der Speisen. Die plan-
mäßige Verkümmerung des natürlichen Triebes bewirkt dann Ab-
hängigkeit von bestimmter Auswahl, Beschaffenheit und Zuberei-
tungsart der Speisen, die zu völliger Sklaverei werden kann, wenn
sie nicht ein gesunder Hunger durchbricht. Der gleichen anspruchs-
vollen Launenhaftigkeit des Nahrungstriebes, wie er durch die Ver-
zärtelung gezüchtet wird, begegnen wir vor allem bei der Hysterie,
bei deren Kulturformen das Zurücktreten der natürlichen Triebe
eine überaus wichtige Erscheinung bildet; aber auch bei der Nervo-
sität und bei der Erwartungsneurose ist sie unter dem Einflüsse
ängstlicher Bedenken nicht selten.
202
I. Die Ursachen des Irreseins.
Sehr tiefgreifende Umwandlungen erfährt durch das Kultur-
leben unser Schlafbedürfnis. Durch den häufigen Zwang, das
Müdigkeitsgefühl zu unterdrücken, sei es unter dem Antriebe zur
Arbeit, sei es bei den späten Vergnügungen des gesundheitswidrigen
„Nachtlebens", verliert es seine Bedeutung als zuverlässiger Warner
und Vorbote des Schlafes. Die geistige Anspannung des Tages und
Abends setzt sich in die Nacht fort und macht den Schlaf ober-
flächlich ; auch der Mangel an körperlicher Tätigkeit, die Helligkeit
und der Lärm der Städte, späte Mahlzeiten, aufregende Zerstreu-
ungen beeinträchtigen den Nachtschlaf. So kommt es, daß Schlaf-
störungen zu den häufigsten und wichtigsten Begleiterscheinungen
der verschiedenartigsten psychopathischen Zustände gehören. Die
natürliche Selbstverständlichkeit des Einschlafens nach Eintritt der
Ermüdung ist infolge der Verkünstelung unserer Lebensbedingungen
in erschreckendem Umfange verloren gegangen. Zahllose Menschen
finden ihren Schlaf nur unter ganz besonders ausgeklügelten Be-
dingungen oder unter Beihilfe mehr oder weniger bedenklicher
Arzneien und Genußmittel.
Auch der Arterhaltungstrieb endHch hat längst seine un-
bestechliche Zuverlässigkeit eingebüßt. Abgesehen davon, daß weite
Kreise des Volkes durch Vorschriften oder Umstände zum ehelosen
Leben gezwungen werden, ist unter dem Drucke des Daseins-
kampfes die Spätehe zur Regel geworden. Das gilt namentlich für
die körperlich Tüchtigeren, bei denen der Militärdienst die Er-
langung einer gesicherten Lebensstellung hinausschiebt. Dem
Manne bietet allerdings die Prostitution auch vorher mühelose Be-
friedigung seines Geschlechtstriebes, der aber gerade dadurch gewiß
keine Stärkung erfährt. Für die Eheschließung selbst sind nur allzu
häufig nicht Gründe der geschlechtlichen Zuchtwahl, sondern ganz
äußerliche Rücksichten maßgebend, bestenfalls auch seelische Eigen-
schaften. Alle diese Verhältnisse sind geeignet, den Arterhaltungs-
trieb abzuschwächen und damit eine gefahrdrohende Verschlechte-
rung unserer Art herbeizuführen. Sie begünstigen einerseits die
Entwicklung der Onanie und der sinnlosen geschlechtlichen Ver-
irrungen; andererseits ertöten sie auch im weiblichen Geschlechte
den Muttertrieb, so daß empfängnisverhindernde Mittel und Ver-
fahren nicht mehr dem natürlichen Abscheu begegnen.
Noch einer letzten, schon früher erwähnten schweren Kultur-
Erziehung.
203
Schädigung haben wir hierzu gedenken, der Einschränkung und
Verkehrung der natürlichen Auslese. Eine der schönsten
Blüten unserer Gesittung, die Menschenliebe, hat die häßliche
Schattenseite, daß ihre Hilfe die Untauglichen und Bresthaften, ins-
besondere auch die geistig Minderwertigen und Kranken, am Leben
hält und unter Umständen zur Fortpflanzung gelangen läßt. Ja, sie
legt die daraus erwachsende Last auf die Schultern der Tüchtigen
und erschwert ihnen damit den Daseinskampf. Weiterhin aber fallen
auf diese Letzteren auch alle Gefahren, die im Kampfe für den
Fortschritt wie für die äußere Sicherheit zu überwinden sind. Un-
glücksfälle, Gewerbekrankheiten und Kriege raffen vorzugsweise die
Leistungsfähigen dahin, während die Schwächlinge überleben.
Überblickt man alle hier angeführten Gesichtspunkte, so wird
man dem Eindrucke kaum entgehen können, daß unsere Kultur-
entwicklung ganz anderen Zielen zustrebt, als einer Verbesserung
der Volksart im psychiatrischen Sinne. Vielmehr bedeuten die
Steigerung der Lebensanforderungen ohne gleichzeitige planmäßige
Entwicklung des Willens, die einseitige Züchtung seelischer
Leistungen bei Vernachlässigung des Körpers, endlich die vielfach
einsetzende Verzärtelung durch Wohlleben und Verkünstelung der
Lebensbedingungen ernsthafte Gefahren für unsere Rasse, wenn die
Wirkungen dieser Umstände, woran nicht zu zweifeln ist, sich
in vererbbaren Eigenschaften weiter Volkskreise niederschlagen.
Nimmt man hinzu, daß wir unter Keimschädigungen mehr zu leiden
haben als die meisten Naturvölker, daß unser Mitleid die Wirkung
der natürlichen Auslese abschwächt, und daß die einmal ent-
standene Entartung die Neigung hat, sich erblich fortzupflanzen,
so werden wir es verstehen lernen, warum wir mit einer Zunahme
der psychischen Störungen bei uns zu rechnen haben. Es ist in
der Tat kaum mehr ein Zweifel möglich, daß sie, wenn auch viel-
leicht nicht durchaus notwendige, so doch tatsächliche Begleit-
erscheinungen unserer Kulturentwicklung bilden.
Erziehung. Unserem unmittelbaren Verständnisse leichter zu-
gänglich erscheint die Bedeutung der Erziehung für die Entwick-
lung der psychischen Persönlichkeit. Allerdings wissen wir heute
noch nicht, wie weit die Erziehung überhaupt in das Wesen des
Menschen einzugreifen und dasselbe umzugestalten vermag. Die
Anschauungen über diesen Punkt schwanken zwischen Fatalismus,
I. Die Ursachen des Irreseins.
204
Zweifel und Hoffnungsfreudigkeit vielfach hin und her. Die ein-
fache Erfahrung scheint mir zu lehren, daß hier die verschieden-
artigsten Verhältnisse in der Natur wirklich vorkommen. Auf der
einen Seite gibt es angeborene allgemeine Eigenschaften, die von
vornherein die Eigenart des einzelnen kennzeichnen. Dafür spricht
neben vielen anderen Gründen die überraschende Deutlichkeit, mit
der sich öfters schon bei ganz kleinen Geschwistern Verschieden-
heiten in der Veranlagung herausstellen, die späterhin durch die
mannigfachsten Lebensschicksale in keiner Weise verwischt werden.
So kennen wir Menschen, die unrettbar auf die psychische Er-
krankung zutreiben, während andere schon von den ersten Kinder-
jahren an in Denken und Handeln eine vertrauenerweckende Sach-
lichkeit an den Tag legen, die sie durch das ganze Leben begleitet.
Offenbar handelt es sich hier um sehr tief begründete Unterschiede,
die bereits in der Anlage festgelegt sind, sei es durch erbliche Ein-
flüsse, sei es durch sonstige Vorbedingungen.
Andererseits aber wird man kaum in Abrede stellen können,
daß dennoch die Art der Jugenderziehung für die weitere Aus-
bildung der einmal gegebenen Anlagen und damit auch für die
gesamte Gestaltung der Lebensschicksale von eingreifender Be-
deutung werden kann. Wir erkennen das nicht nur aus der starken
Beteiligung der unehelich Geborenen und Verwahrlosten am Ver-
brechen, am Selbstmord und Irresein, sondern auch an der Aus-
bildung von Menschentypen, je nach den Eindrücken der Kindheit.
Die Gegensätze zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Eigen-
tümlichkeiten der Strand-, Gebirgs- und Grenzbewohner verwischen
sich auch dann nicht völlig, wenn die Menschen später in ganz
andere Verhältnisse hineingeworfen werden. Allerdings ist hier
überall, wie bei den Verbrecher-, Gelehrten- und Künstlerfamilien,
der Einfluß der Erblichkeit von demjenigen der Erziehung schwer
abzutrennen.
Die allgemeinen Aufgaben der- Erziehung sind neben der körper-
lichen Entwicklung einmal die verstandesmäßige Ausbildung
des Kindes, die es befähigt, Erfahrungen zu sammeln und zu ver-
arbeiten, dann aber die Begründung eines festen, das Handeln nach
einheitlichen, sittlichen Grundsätzen leitenden Charakters. Nach
beiden Richtungen hin kann die Erziehung hinter den Anforde-
rungen zurückbleiben, die der Kampf des Lebens an die Leistungs-
Erziehung.
205
und Widerstandsfähigkeit stellt. Vernachlässigung der Verstandes-
bildung gibt den Menschen allen Gefahren der Urteilslosigkeit und
des Aberglaubens preis und erschwert ihm die Überwindung jener
Schwierigkeiten, welche die Erringung einer selbständigen Lebens-
stellung bietet. Andererseits kann aber auch die Überanstrengung
des jugendlichen Gehirns durch Beeinträchtigung des Schlafes, der
Ernährung und der körperlichen Ausbildung ernste Schädigungen
mit sich führen. Dies gilt namentlich für solche Kinder, die schon
von Hause aus große Erregbarkeit oder rasche Ermüdbarkeit mit-
bringen. Behinderung der freien persönlichen Entwicklung durch
übermäßige Strenge und Peinlichkeit macht den Menschen eng-
herzig und verschlossen und erstickt im Keime jene gemütlichen
Regungen des Wohlwollens und der Menschenliebe, von deren
Stärke vor allem die sittliche Ausbildung des Willens abhängig
ist. Verzärtelung endlich durch weichliche Nachgiebigkeit läßt die
augenblicklichen Launen und Begierden zur unbezwinglichen
Herrschaft über das Handeln gelangen und verhindert dadurch die
Entwicklung einer abgeschlossenen und einheitlichen, fest in sich
selbst gegründeten Persönlichkeit.
Den Einflüssen der Erziehung schließen sich diejenigen der
späteren Lebenserfahrungen an, bald bessernd und veredelnd, bald
zerrüttend und untergrabend, was jene schuf. Alle die schon früher
aufgezählten körperlichen und psychischen Ursachen, Verletzungen,
Krankheiten und Vergiftungen aller Art, erschöpfende Einflüsse,
Überanstrengungen, Gemütsbewegungen, Ausschweifungen usf.
können hier, soweit sie nicht geradezu eine psychische Erkrankung
herbeiführen, umwandelnd und vorbereitend auf den einzelnen ein-
wirken. Auch hier zeigt uns die typische Gestaltung, welche die
verschiedenen Stände, Berufsarten und sonstigen gesellschaftlichen
Gruppen ihren Mitgliedern in der gesamten Weltauffassung, in
ihren sittlichen Anschauungen, in der Lebensführung und selbst
in allen möglichen Äußerlichkeiten aufprägen, daß nicht nur die
Anlage des einzelnen seine Lebensschicksale bestimmt, sondern daß
umgekehrt auch eine Rückwirkung dieser letzteren auf die besondere
Entfaltung seiner persönlichen Eigenart stattfindet. Freilich fehlt
uns heute noch jeder Anhaltspunkt für die genauere Beurteilung
des Einflusses, den etwa die Erziehung durch das Leben auf die
Häufigkeit und die Gestaltung des Irreseins im einzelnen Falle ausübt.
206
I. Die Ursachen des Irreseins.
Persönliche Eigenart. Daß die persönliche Eigenart^), die Summe
der durch Anlage und Lebensschicksale bedingten Eigenschaften
des Menschen, für die Entstehung des Irreseins eine ungemein
wichtige Rolle spielt, ja den größten Teil, namentlich der leich-
teren Formen, geradezu bedingt, kann nicht bezweifelt werden.
Weniger durchsichtig ist der Einfluß, den sie auf die besondere
Gestaltung des Krankheitsbildes ausübt. Bei den grob zerstörenden
Krankheitsvorgängen wird ihr schwerlich viel Spielraum bleiben,
wenn auch Sommer meint, daß die neurasthenisch - depressive
Paralyse ihre besondere Färbung durch die Gemütsart der Be-
troffenen erhalte. Im übrigen jedoch sehen wir bei der Paralyse
in verblüffender Weise dieselben psychischen Störungen wieder-
kehren, so daß ein Kranker dem anderen überaus ähnlich ist,
ein Zeichen dafür, daß hier die Persönlichkeit ganz hinter dem
Krankheitsvorgange zurücktritt. Höchstens in den Einzelheiten der
Wahnbildung macht sich noch ein gewisser Einfluß der Lebens-
erfahrungen geltend. Ähnliches gilt in abgeschwächtem Grade von
der Arteriosklerose und vom Altersblödsinn, dann auch von den
Fieberdelirien und den infektiösen Schwächezuständen. Deutlicher
tritt die persönliche Eigenart bei den Vergiftungen hervor. Wir
wissen, daß schon das Bild des einfachen Rausches, die Mischung
von Erregungs- und Lähmungserscheinungen, bei verschiedenen
Menschen wesentlich abweicht. Noch deutlicher wird das bei den
pathologischen Rauschzuständen, denen regelmäßig eine besondere
Veranlagung zugrunde liegt. Auch in dem Bilde des chronischen
Alkoholismus dürften bis zu einem gewissen Grade die Verschieden-
heiten des Charakters zum Ausdrucke kommen, in dem Vorherrschen
der Gewalttätigkeit hier, der Willensschwäche dort. Ob auch die
Gestaltung der übrigen alkoholischen Geistesstörungen durch die
psychische Eigenart wesentlich beeinflußt wird, wie Bonhöffer
angenommen hat, ist mir zweifelhaft. Zwar scheint es von inneren
Ursachen abzuhängen, ob jemand überhaupt an Delirium tremens
oder Alkoholwahnsinn erkrankt, doch spielen hier vielleicht körper-
liche Vorgänge und Eigenschaften mit hinein, die mit der psychischen
Persönlichkeit nichts zu tun haben.
Ganz unklar bleibt es zurzeit noch, wieweit die Erscheinungen
1) Tiling, Centralbl. f. Nervenheilk., XXVI, 561; XXIX, 92; Neißer, Indi-
vidualität und Psychose. 1906.
Persönliche Eigenart.
207
der Dementia praecox durch die persönliche Eigenart bestimmt
werden. Die große Mannigfaltigkeit der hier beobachteten Krank-
heitsbilder legt ja die Möglichkeit nahe, daß vorgebildete Unter-
schiede dabei mitwirken, allein auf der anderen Seite begegnen uns
doch wieder so viele durchaus gleichartige Gestaltungen, daß die
Persönlichkeit in dem Ausdrucke des Krankheitsvorganges ganz
imtergegangen zu sein scheint. Die Art dieses letzteren und nament-
lich vielleicht seine Ausbreitung möchte ich daher zunächst für
maßgebender halten. Allerdings hat sich die Züricher Schule be-
müht, durch Assoziationsversuche engere Beziehungen der Krank-
heitserscheinungen zu persönlichen Anschauungen und Erlebnissen
aufzudecken, einstweilen ohne überzeugenden Erfolg. Auf der
anderen Seite beobachtet man öfters schon von Jugend auf bei den
Kranken einzelne Züge, die sich später im klinischen Bilde einfach
verstärken ; es läßt sich aber dabei an die Möglichkeit denken , daß
jene Züge schon die ersten, bis in die Jugend zurückreichenden
leisen Anzeichen des Leidens darstellen. Sehr ausgeprägt tritt uns
ein ähnliches Verhalten oft beim manisch-depressiven Irresein ent-
gegen: der Ausbruch der Krankheit erscheint hier nicht selten als
eine einfache Steigerung von Eigentümlichkeiten, die sich schon
lange vorher zeigten und in abgeschwächter Form durch das ganze
Leben fortbestehen, dauernde leichte Verstimmung oder Erregung.
Andererseits kann der Krankheitsanfall auch gerade einen merk-
würdigen Gegensatz zu dem sonstigen Verhalten bilden, aber wir
dürfen nicht vergessen, daß die Eigenart der Manisch-Depressiven
nicht in einer bestimmten Färbung der Stimmung, sondern in der
Leichtigkeit besteht, mit der Stimmungsschwankungen verschiedener
Färbung zustande kommen. In den schwereren Erregungs- und
Depressionszuständen ist von einer persönlichen Gestaltung meist
nicht viel zu bemerken, doch macht sich immerhin, wie früher an-
gedeutet, ein höherer Grad der Entartung in besonderer Gewalt-
tätigkeit, ekelerregenden Handlungen, plötzlichen Antrieben, Stereo-
typien, namentlich auch in der Entwicklung schleppend verlaufender
Mischzustände geltend.
Dasjenige Gebiet, auf dem die persönliche Eigenart unmittelbar
auch die Ausprägung des Krankheitsbildes bestimmt, sind die
psychogenen Neurosen, die originären Krankheitszustände und end-
lich selbstverständlich die krankhaften Persönlichkeiten. Hier fällt
208
I. Die Ursachen des Irreseins.
30,0
mit geringfügigen Einschränkungen Veranlagung und Erkrankung
zusammen. Auch dort, wo die Krankheitserscheinungen selbst
ziemlich plötzlich oder stürmisch hervortreten, läßt sich regelmäßig
ihr Zusammenhang mit vorher bestehenden Eigentümlichkeiten er-
kennen. In der Hauptsache gehört hierhin auch wohl die Paranoia;
es spricht wenigstens vieles dafür, daß es sich bei ihr, wenn nicht
ausschließlich, so doch vorwiegend um die Fortentwicklung einer
von vornherein bestehenden Anlage handelt, —
Machen wir zum Schlüsse noch den Versuch, uns über die
Größe des Anteils Rechenschaft zu geben, den wir nach unserer
heutigen Kenntnis den einzelnen Ursachengruppen an der Er-
zeugung des Irreseins zuschreiben dür-
fen, so kann zur Veranschaulichung
vielleicht die Fig. XVII dienen, welche
die Erfahrungen der Münchener Klinik
wiedergibt. In der ersten Säule ist die
Zahl derjenigen Fälle dargestellt, in
denen das Irresein durch körperliche
Erkrankungen, insbesondere Infektions-
krankheiten, oder durch grobe, um-
schriebene Gehirnleiden erzeugt wurde.
Weit größer ist der Anteil der zweiten
Gruppe, in der die durch Syphilis und
Metasyphilis verursachten Psychosen-
zusammengefaßt wurden. Die Haupt-
masse bildet hier die Paralyse, der die syphilitischen Hirnerkran-
kungen schraffiert hinzugefügt wurden. Noch umfangreicher ist
die dritte Gruppe, welche die Vergiftungen umfaßt, vor allem die
alkoholischen Erkrankungen, zu denen der schraffiert wieder-
gegebene Morphinismus, Cocainismus, Heroinismus nur einen klei-
nen Zusatz bildet. Selbstverständlich würde in einer mehr länd-
lichen Bevölkerung diese ganze Gruppe erheblich zurücktreten. Die
vierte Säule umfaßt die aus psychischen Ursachen entstehenden
Geistesstörungen, hier wesentlich die traumatische Neurose, auch
einzelne Fälle von Gefangenschaftspsychosen. Gewiß ist mit dieser
kleinen Zahl die Bedeutung der psychischen Ursachen nicht er-
schöpft. Insbesondere hätte man viele Aufregungszustände bei
Hysterischen und Psychopathen hier mitzählen können, doch habe
0,0
r,3% 1H3% Zlß% ZJ% S6% 27,1% 303%
(s,u (22,1^ iz,t> /fr,s)
Fig. XVII.
• Gruppierung von 4079 Fällen
nach den Krankheitsursachen
(München) .
Persönliche Eigenart.
209
ich geglaubt, bei ihnen die krankhafte Veranlagung als die Haupt-
sache betrachten zu sollen.
Weit weniger klar werden die ursächlichen Beziehungen in den
letzten drei Gruppen. Die fünfte umfaßt jene Erkrankungen, bei
deren Entstehung die allgemeinen Lebensschicksale eine wichtige
Rolle zu spielen scheinen, die senilen und präsenileri Psychosen und
die Arteriosklerose; erstere sind von der letzteren durch Schraffierung
abgehoben. Wieweit hier Arbeit, Entbehrungen, verkehrte Lebens-
weise, Gemütsbewegungen, wieweit Alkohol und Syphilis und end-
lich die Veranlagung zusammenwirken, läßt sich heute nicht ent-
scheiden. In der sechsten Gruppe sind Krankheitsformen von im
wesentlichen unbekannter Entstehung vereinigt. Dahin gehören die
schraffiert angedeutete Dementia praecox, dann hauptsächlich Epi-
lepsie, Idiotie und Imbecillität. Bei einem nicht unerheblichen Teile
dieser letzteren Erkrankungen haben wir es vermutlich mit Keim-
schädigungen durch kachektische Zustände der Eltern, in einer
weiteren Reihe von Fällen mit Infektionen vor oder bald nach der
Geburt zu tun. Die letzte Gruppe gibt solche Formen wieder, die
nach unserer heutigen Auffassung wesentlich durch erbliche Über-
tragung zustande kommen. Das sind in der Hauptsache die Psycho-
pathen und Hysterischen einerseits, die manisch-depressiven, hier
schraffiert angedeuteten Kranken andererseits. Allerdings scheinen
wenigstens für jene ersteren unter Umständen auch Keimschädi-
gungen eine gewisse ursächliche Bedeutung zu haben.
Was uns dieser kurze Rückblick lehrt, ist, daß die bei weitem
wichtigsten Ursachen des Irreseins bei uns einmal durch Alkohol
und Syphilis in ihrer Wirkung auf den einzelnen und seine Nach-
kommenschaft, dann aber durch die erbliche Entartung gebildet
werden. Gegen alle diese Gefährdungen unserer geistigen Volks-
gesundheit sind wir nicht ohnmächtig. Haben wir deren Bedeutung
erst einmal klar erkannt, so werden wir auch Mittel und Wege
finden, ihren verderblichen Einfluß zu bekämpfen.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
14
IL Die Erscheinungen des Irreseins
Die Gesamtheit der klinischen Erscheinungen, welche durch
den Krankheitsvorgang des Irreseins hervorgebracht werden, be-
zeichnen wir als die Symptome desselben. Von diesen Krankheits-
zeichen bedürfen nur diejenigen hier einer eingehenderen all-
gemeinen Betrachtung, welche uns als psychische Verände-
rungen entgegentreten. Die verschiedenen körperlichen Krank-
heitserscheinungen, nervöse Reizungs- und Lähmungssymptome
aller Art, vasomotorische, trophische Störungen usf., gehören
ihrer Natur nach dem Gebiete der Nervenheilkunde an. Ebenso
werden wir auf die Schilderung der eigentlichen psychischen Herd-
symptome verzichten können, da sie in den Lehrbüchern der Hirn-
krankheiten abgehandelt zu werden pflegen. Alle diese Störungen
besitzen zwar für die Erkennung des besonderen vorliegenden
Krankheitsvorganges eine vielfach ganz hervorragende Bedeutung,
aber sie gehören nicht zu den Erscheinungen des Irreseins als
solchen und werden daher erst später, bei der Darstellung der
klinischen Krankheitsformen, nähere Berücksichtigung finden.
Drei Hauptrichtungen sind es im großen und ganzen, in denen
sich die psychischen Lebenserscheinungen bewegen, die Auf-
nahme, Einprägung und geistige Verarbeitung des Er-
fahrungsstoffes, die Schwankungen des gemütlichen
Gleichgewichts, endlich die Auslösung von Willens-
antrieben und Handlungen. Auf diesen drei Gebieten werden
wir daher die Grundstörungen der psychischen Leistungen auf-
zusuchen haben, aus deren verschiedenartiger Verbindung wir die
einzelnen klinischen Krankheitsbilder hervorgehen sehen. Bei
weitem die größte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bietet dabei
unserer Zergliederung diejenige Gruppe von psychischen Vorgängen
dar, welche die Sammlung und Aufbewahrung sinnlicher Eindrücke,
Sinnestäuschungen.
211
die Verarbeitung derselben zu Vorstellungen und Begriffen, endlich
die Ausbildung der höheren Verstandesleistungen in sich schließt.
A. Störungen des Wahrnehmungsvorganges.
Die Wahrnehmung eines äußeren Sinnesreizes ist im all-
gemeinen von zwei verschiedenen Bedingungen abhängig, nämlich
einmal von Bau und Leistung des gesamten peripheren
und zentralen Sinnesgebietes, dann aber von dem Zustande
des Bewußtseins, welches den zugeführten Eindruck in sich
aufnehmen soll. Alle Störungen, welche das eine oder das andere
dieser beiden Gebiete in krankhafter Weise verändern, sind auch
imstande, die Wahrnehmung der Außenwelt in mehr oder weniger
hohem Grade zu beeinträchtigen. Wo die äußeren reizaufnehmen-
den Organe leistungsunfähig geworden sind (Blindheit, Taubheit),
oder wo sich Hindernisse entwickelt haben, welche die Fortleitung
der Reize unmöglich machen, fallen bestimmte Arten von Sinnes-
vorstellungen in dem Erfahrungsschatze einfach aus. Hier hängt
es von der allgemeinen psychologischen Wichtigkeit derselben sowie
von der Möglichkeit einer Stellvertretung durch andere Sinne ab,
wie weit dadurch die Gesamtausbildung der psychischen Persön-
lichkeit zurückgehalten wird. Die bei weitem größte Bedeutung
für die geistige Entwicklung scheint dem Gehörssinn zuzukommen,
offenbar wegen seiner innigen Beziehungen zur Lautsprache, der
wir ja in erster Linie die Übermittlung des geistigen Erwerbes ver-
gangener Geschlechter verdanken. Wenn auch vereinzelte Fälle
(Laura Bridgeman, Helen Keller) bekannt . sind , in denen durch
eine überaus mühevolle Erziehung sogar der Verlust des Gesichtes
und Gehörs mit Hilfe des Tastsinnes einigermaßen wieder aus-
geglichen werden konnte , so bleiben doch nicht unterrichtete
Taubstumme lebenslänglich auf der Stufe des Schwachsinns stehen,
auch dann, wenn nicht, wie so häufig, die Taubheit nur Begleiterin
einer allgemeineren Hirnerkrankung ist. Blinde dagegen pflegen
in ihrer geistigen Entwicklung durch den Ausfall der Gesichts-
wahrnehmungen durchaus nicht in höherem Grade gehindert zu
werden.
Sinnestäuschungen. Ein weit größeres klinisch -psychiatrisches
Interesse nehmen indessen diejenigen Störungen des Wahrnehmungs-
14»
212
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Vorganges in Anspruch, die nicht durch vollständiges Fehlen,
sondern durch krankhafte Vorgänge im Gebiete der Sinnesbahn be-
dingt sind, durch die somit nicht ein Ausfall von Sinneserfahrung,
sondern eine inhaltliche Veränderung, eine Verfälschung der-
selben, erzeugt wird. Jedes Sinneswerkzeug wird durch irgend-
welche Reize in einer ihm eigentümlichen, ,, spezifischen" Weise
erregt. Es muß daher überall, wo der Reiz, der einen Eindruck
erzeugt, nicht der gewohnte, dem getroffenen Sinne angemessene
ist, eine Täuschung über die Natur der Reizquelle entstehen. So
ist, streng genommen, der Lichtblitz, die Klangempfindung bei elek-
trischer Durchströmung des Auges und Ohres, der Geschmacks-
eindruck bei mechanischer Reizung der Chorda tympani als eine
Trugwahrnehmung anzusehen, wenn wir sie auch auf Grund unserer
physiologischen Erfahrungen und mit Hilfe der Überlegung sogleich
als solche erkennen, so daß eine weitere Verfälschung unseres
Bewußtseinsinhaltes daraus nicht hervorgeht. Dennoch können
unter Umständen bei Geisteskranken, namentlich bei stärkerer Be-
wußtseinstrübung, die subjektiven Lichterscheinungen infolge von
Blutüberfüllung des Auges, das Brausen und Klingen in den Ohren
die Vorstellung drohender Feuers- und Wassersgefahren u. dgl.
wachrufen und auf diese Weise das Zustandekommen einer wirk-
lichen, nicht ausgeglichenen Täuschung vermitteln. Derartige
peripher bedingte Sinnestäuschungen hat man elementare
genannt, weil sie eben wegen ihres Entstehungsortes in den reiz-
aufnehmenden Flächen die Kennzeichen einfacher, nicht zusam-
mengesetzter Sinnesempfindungen tragen. Wir könnten sie auch
als Sinnestäuschungen im engeren Sinne den weiterhin zu be-
sprechenden Wahrnehmungs- und Einbildungstäuschungen gegen-
überstellen.
Verfolgen wir die Bahn der Sinnesnerven weiter gegen die
Hirnrinde zu, so gelangen wir zu denjenigen Stätten, in denen
sich die einzelnen Wahrnehmungsbestandteile, wie sie vom Sinnes-
werkzeuge geliefert werden, zu einem Gesamteindrucke verbinden,
der sodann als Sinnesvorstellung ins Bewußtsein gelangt. Über
die anatomische Lage dieser Zentren können wir freilich bisher
nichts Sicheres aussagen; am wahrscheinlichsten ist es jedoch,
namentlich im Hinblick auf die klinischen und experimentellen
Erfahrungen über die , .Seelenblindheit", daß, wenigstens beim
Sinnestäuschungen.
213
Menschen und bei höheren Tieren , die sog. zentralen Sinnes-
flächen, d. h. die nächsten Endstätten der Sinnesbahnen in| der
Rinde, als solche zu betrachten sind. Es ist ohne weiteres'^klar,
daß auch hier nicht sinnliche Reize, also z. B. Veränderungen
in der Blutversorgung, Gifte u. dgl. Erregungszustände hervor-
zurufen vermögen, welche den gewohnten Reizungen durch Sinnes-
eindrücke sehr ähnlich sind, um so leichter, wenn die Erregbar-
keit der betreffenden Hirnstelle im gegebenen Augenblicke durch
irgendwelche Einflüsse ohnedies gesteigert ist. Unter solchen Um-
ständen kann daher irgendeine mehr oder weniger zusammen-
gesetzte Sinnesvorstellung in das Bewußtsein eintreten, die nicht
durch einen sinnlichen Reiz, sondern durch physiologische oder
krankhafte Erregungszustände in den höheren Abschnitten des
betreffenden Sinnesgebietes hervorgerufen wurde. Da sie gleich-
wohl auf einen äußeren Gegenstand bezogen wird, so haben wir
es demnach hier mit einer Fälschung des Wahrnehmungsvorganges
zu tun, die auf einer Täuschung über den wahren Ursprung der
Sinnesreizung beruht^).
Diese Gruppe der Sinnestäuschungen, die man wegen ihrer
vermutlichen Entstehung in den ,,Perzeptionszentren" vielleicht
' als Perzeptionsphantasmen (Wahrnehmungstäuschungen) be-
zeichnen kann, ist es, welche der gewöhnlichen Wahrnehmung
am nächsten steht. Allerdings pflegen diese Täuschungen beim
gesunden Menschen, bei dem sie sich häufig vor dem Einschlafen
einstellen (hypnagogische Halluzinationen), nur ganz ausnahms-
weise eine größere Lebhaftigkeit zu gewinnen. Unter krankhaften
Verhältnissen dagegen kann die sinnliche Deutlichkeit der Trug-
wahrnehmungen so groß werden, daß eine Berichtigung der Fäl-
schung nur mit Hilfe der anderen Sinne möglich ist. Wie die
Bilder, die bei geschlossenen Augen im Gesichtsfelde auftauchen,
sind sie vom Willen und vom sonstigen Gedankengange im all-
1) Johannes Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. 1816;
V. Krafft - Ebing, Die Sinnesdelirien. 1864; Kahlbaum, Allgem. Zeitschr. f.
Psychiatrie, XXIII, i; Hagen, ebenda XXV, i; Kandinsky, Kritische und klinische
Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen. 1885; Parish, Über die Trug-
wahrnehmung. 1894; Berze, Jahrb. f. Psychiatrie, XVI, 285; Uhthoff, Monatsschr.
f. Psychiatrie, V, 241, 1899; Norman, Journal of mental science, 1903, 454; Tanzi,
Rivista di patologia nervosa e mentale, VI, 12; Goldstein, Arch. f. Psychiatrie,
XLIV, 584.
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gemeinen unabhängig und treten auch deswegen dem Bewußtsein
als etwas Fremdes, Selbständiges, von außen Kommendes gegen-
über, dessen subjektive Entstehung ihm völlig verborgen bleibt.
Aus demselben Grunde haben sie auch meist einen ziemlich gleich-
förmigen, wenig wechselnden Inhalt (stabile Halluzinationen Kahl-
baums): Wiederholung derselben, bisweilen sinnlosen Worte,
häufiges Wahrnehmen desselben Geruches, Sehen bestimmter Muster,
Blumen, Tiere u. dgl. Da sie auf zentralen Erregungszuständen
beruhen, so sind sie nicht an die Tätigkeit der äußeren Sinnes-
werkzeuge gebunden und kommen auch bei gänzlicher Vernichtung
der Sinnesnerven und ihrer ersten Endigungen, der Nervenkerne,
zur Beobachtung. Besonders klar weisen auf ihre Ursprungs-
stätten diejenigen Fälle mit halbseitigem Gesichtsfeldausfall hin,
in denen die Lücken durch Trugwahrnehmungen ausgefüllt werden.
Hier erzeugt offenbar der Krankheitsvorgang in der Hirnrinde,
der die Wahrnehmung wirklicher Gesichtseindrücke aufhebt, zu-
gleich die täuschenden Bilder. In den seltenen Fällen, bei denen
Täuschungen in der erhaltenen Gesichtsfeldhälfte auftraten, fanden
sich beide Hinterhauptsrinden verändert. Auch das plötzliche Auf-
tauchen lebhafter Lichtempfindungen ist bei rascher Entstehung
doppelseitiger Rindenblindheit beobachtet worden.
Eine wesentliche Vorbedingung für die Entstehung von Wahr-
nehmungstäuschungen ist offenbar die Steigerung der Erregbar-
keit in den Sinneszentren. Eine solche Steigerung scheint sich,
entsprechend etwa dem Adaptationsvorgange in der Netzhaut,
bei Abschwächung oder Ausschluß der äußeren Sinnesreize ein-
zustellen. Schon beim Gesunden bieten Dunkelheit und Stille am
häufigsten Gelegenheit, das Auftreten von lebhaften Gesichts-
bildern oder von akustischen Trugwahrnehmungen zu beobachten.
Ebenso sehen wir bei Alkoholisten sehr gewöhnlich die Täuschungen
auf dem Gebiete des Gesichts und Gehörs sich mit dem Anbruche
der Nacht erheblich verstärken; mitunter genügt schon das Ver-
hängen der Augen mit einem Tuche, um Gesichtsbilder hervor-
zurufen. Auch bei anderen Kranken pflegen sich die Gesichts-
täuschungen ganz vorzugsweise in der Nacht einzustellen. In
der lautlosen Einsamkeit des Zellengefängnisses sind Gehörstäu-
schungen überaus häufig. Bei starker Schwerhörigkeit oder Taub-
heit begegnen uns nicht selten ausgeprägte und hartnäckige Ge-
Sinnestäuschungen.
215
hörstäuschungen; Ranschburg beobachtete eine Kranke, die
vorzugsweise auf ihrem rechten, tauben Ohre halluzinierte. Blinde
mit Erkrankungen des Sehnerven oder des Auges, Linsen- oder
Hornhauttrübungen haben bisweilen sehr lebhafte Gesichtstäu-
schungen; sie stellen sich öfters nach Augenoperationen im Dunkel-
zimmer ein.
Begünstigt wird das Hervortreten solcher Täuschungen über-
all dadurch, daß sich die Aufmerksamkeit auf das betreffende
Sinnesgebiet richtet, namentlich, wenn deren Spannung durch Ge-
mütsbewegungen dauernd erhöht wird. Wir sehen daher die Täu-
schungen vielfach schwinden, sobald der Kranke sich beruhigt
oder durch ein Gespräch, geistige oder körperliche Beschäftigung,
die Versetzung in eine neue Umgebung u. dgl. abgelenkt wird.
Manche Kranke sperren sich von wirklichen Eindrücken nach
Möglichkeit ab, um ungestörter ihre Sinnestäuschungen ver-
folgen zu können; andere suchen im Gegenteil lebhafte Wahr-
nehmungen zu erzeugen, um jenen zu entgehen. So kannte ich
einen Ingenieur, der sich mit den einfachsten Hilfsmitteln ein
kleines Läutewerk herstellte, um die ihn quälenden Stimmen zu
übertäuben.
Auf der anderen Seite ist nun aber nicht zu verkennen, daß
auch äußere Reize bei der Entstehung von Sinnestäuschungen
außerordentlich häufig eine unterstützende Rolle spielen. Darin
liegt nur scheinbar ein Widerspruch. Während deutliche und
klare Sinneswahrnehmungen die Aufmerksamkeit fesseln und die
Eigenerregungen des Sinnesgebietes zurückdrängen, handelt es
sich hier um solche Reize, die nicht imstande sind, scharfe
Eindrücke zu vermitteln, sondern nur der Aufmerksamkeit die
Richtung auf ein bestimmtes Sinnesgebiet geben und so dessen
Eigenerregungen verstärken. Die in dieser Frage vorliegenden
Erfahrungen sind ungemein mannigfaltige. Täuschungen können
unter Umständen aufhören, sobald die entsprechende Sinnesquelle
ausgeschaltet wird; wir müssen also annehmen, daß die leisen,
vom Sinnesorgane ausgehenden Eigenerregungen den Anstoß zu
ihrer Entstehung gegeben haben. So sieht man Gehörshalluzi-
nanten sich bisweilen die Ohren verstopfen, um die Stimmen nicht
mehr zu hören. Dabei muß es allerdings zweifelhaft bleiben, ob
sie nicht nur durch die Erwartung geleitet werden, sich gegen
2l6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sie wie gegen äußere Wahrnehmungen absperren zu können.
Häufig scheinen Täuschungen durch Reizzustände in den Sinnes-
organen veranlaßt zu werden. Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung
der Bericht von Nägeli, der nach einer Verbrennung seiner Horn-
haut mit heißem Spiritus vor seinen verbundenen Augen längere
Zeit ausgeprägte Gesichtstäuschungen von vollkommener sinnlicher
Deutlichkeit beobachten konnte. Hudovernig berichtet, daß
einer Kranken ein Wattepfropf im linken Ohr zunächst Geräusch
und Summen verursachte, aus dem sich weiterhin dann Stimmen
entwickelten, während Pick das Übergehen bis dahin einseitiger
Gehörstäuschungen auf das so lange taube und nicht halluzinierende
Ohr beobachtete, nachdem aus ihm ein Cerumenpfropf entfernt
worden war. Im einen Falle dürfte der krankhafte Reiz, im. an-
deren die Wiederkehr äußerer Erregungen in der empfänglichen
zentralen Sinnesfläche Eigenerregungen ausgelöst haben.
Bei Alkoholdeliranten gelingt es, wie Liepmann gezeigt hat,
durch leichten Druck auf die geschlossenen Augen selbst nach
Ablauf der stürmischeren Krankheitserscheinungen deutliche Ge-
sichtstäuschungen zu erzeugen, die in ihrer bunten Gestaltung
durchaus den sonst bei jener Krankheit vorkommenden Trug-
wahrnehmungen gleichen; nur scheinen sie weniger in Verbindung
mit der Gedankenwelt der Kranken zu stehen und nicht zu schwan-
ken, vielleicht weil der Einfluß der unruhigen Augen- und Kopf-
bewegungen fortfällt. Bonhöffer, der ähnliches auch im Ge-
biete des Hautsinnes beobachtete, legt nach seinen Erfahrungen
das Hauptgewicht hier auf das Einreden. Dafür spricht die Er-
fahrung, daß die Alkoholkranken auf Aufforderung auch Worte
und Zahlen von einem weißen Blatte ablesen; sie sehen die Tiere,
die man ihnen am Boden zeigt, hören das Summen einer Fliege
in der an das Ohr gehaltenen Hand, Anrufe aus dem dargebotenen
Telephon und beschreiben die Gegenstände, die man ihnen schein-
bar in die geschlossene Hand gesteckt hat. Die durch Zuspruch
bewirkte Richtung der Aufmerksamkeit auf das Sinnesgebiet
läßt hier die erwartete Wahrnehmung entstehen; es ist jedoch
unverkennbar, daß dabei zumeist unbestimmte Eindrücke, die
Schatten auf dem ungleich beleuchteten Papier, die Flecken am
Boden, Ohrensausen usf., den äußeren Anhalt für die angeregten
Täuschungen liefern. Ähnlich scheinen die eigentümlich rhyth-
Sinnestäuschungen.
217
mischen Stimmen beim Alkoholwahnsinn sich an den Takt des
Carotispulses anzuknüpfen. Auch bei anderen Kranken werden
namentlich Gehörstäuschungen sehr häufig durch leise Geräusche,
das Tröpfeln des Wassers, das Sausen des Windes angeregt; Bech-
terew beobachtete, daß in der Hypnose erzeugte Trugwahrneh-
mungen regelmäßig an die Stelle eines schnurrenden Induktions-
apparates verlegt wurden. Ferner finden sich bei alten Gehörs-
halluzinanten nicht selten chronische Erkrankungen des Mittel-
ohrs und Abweichungen in der elektrischen Reaktion des Acu-
sticus^). Außer der einfachen Hyperästhesie stellt sich hier und
da paradoxe Reaktion des nicht armierten Ohres heraus und na-
mentlich auch die schwerste Form der Störung, die Umkehrung
der Formel für die einfache Hyperästhesie. Jolly hat gezeigt, daß
es hier öfters gelingt, durch elektrische Reizung des Acusticus die
Täuschungen hervorzurufen.
Wie es scheint, spielt der Zustand der Sinnesorgane vielfach bei
der Entstehung einseitiger Wahrnehmungstäuschungen eine Rolle.
Halbseitige Gesichtstäuschungen zeigen niemals hemiopische Be-
grenzung, wie man bei ihrer Entstehung in den Sinneszentren er-
warten sollte. Seglas berichtet von dem Schwinden linksseitiger
Gesichtstäuschungen durch Bedecken des linken Auges, trotz der
doppelseitigen Vertretung jeder Sehfläche in jedem Auge. Man hat
ferner Wandern der Trugwahrnehmungen mit den Augenbewegungen
und Verdoppelung durch Prismen oder bei seitlichem Druck auf
den Augapfel gesehen, Erscheinungen, die auf die Beeinflussung der
Trugwahrnehmung durch wirkliche, wenn auch vielleicht ganz un-
klare Gesichtsbilder hinweisen könnten. Es wäre aber möglich,
daß die feste Gewohnheit, die räumliche Lage des Gesehenen aus
den Augenmuskelbewegungen zu erschließen, auch die Verlegung
der Täuschungen nach außen beeinflußte, und daß die prismatische
Verdoppelung nebenher wirklich gesehener Gegenstände auch auf
die unabhängig von der Netzhaut entstandene Trugwahrnehmung
übergriffe, wie es bei hypnotischen Täuschungen beobachtet
worden ist. Solche und ähnliche psychische Einflüsse können auch,
wie Seppilli beobachtete, bewirken, daß die Gesichtstäuschungen
1) Jolly, Arch. f. Psychiatrie, IV, 495; Buccola, Rivista di freniatria speri-
mentale, XI, i, 1885; Redlich u. Kaufmann, Wiener klin. Wochenschr.,
^896, 33.
2l8
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sich beim Sehen durch ein Opernglas vergrößern und verkleinern,
ja, daß sie auch im Spiegel erscheinen. Farbige Gläser scheinen
die Gesichtstäuschungen nicht mitzufärben.
Einseitige Gehörstäuschungen^) werden, wie schon erwähnt,
nicht selten bei krankhaften Zuständen des betreffenden Gehör-
organs beobachtet. Immerhin dürfen wir diesen keine allzu große
Bedeutung beimessen, weil sehr häufig im weiteren Verlaufe die
Täuschungen auch auf das andere Ohr übergehen. Maßgebend
ist also auch hier ohne Zweifel immer das Verhalten der zentralen
Sinnesfläche. Öfters ist der Inhalt der von beiden Ohren gelieferten
Trugwahrnehmungen ein ganz verschiedener; feindselige Stimmen
scheinen häufiger von der linken Seite zu kommen. Es ist sehr
verführerisch, das Auftreten von Gehörstäuschungen verschiedener
Art in verschiedene Rindengebiete, etwa in die beiden Hirnhälften
zu verlegen. Seglas hat jedoch in überzeugender Weise die Un-
haltbarkeit dieser Vorstellung dargetan. Er weist einmal darauf
hin, daß die Sprache nur linksseitig vertreten sei, somit also auch
Gehörstäuschungen sprachlichen Inhaltes nicht in der rechten
Hirnhälfte entstehen dürften. Sodann aber führt er jene nicht
seltenen Fälle ins Feld, in denen nicht nur zwei, sondern weit mehr
verschiedenartige Stimmen nebeneinander bestehen, und in denen
ihr Sitz nicht nur in die Ohren, sondern auch in den Bauch, die
Brust oder alle möglichen anderen Körperteile verlegt wird. Man
wird daher zu dem Schlüsse kommen, daß auch hier, wie bei den
Gesichtstäuschungen, die räumliche Lokalisation der Trugwahr-
nehmungen wesentlich nicht durch die Beimischung wirklicher
Sinnesempfindungen, sondern durch verwickelte psychische Vor-
gänge bedingt wird. Wo periphere Reize mitspielen , dienen sie
doch nur als Anknüpfungen für die weitere allgemeine Verarbei-
tung. Bechterew konnte die Gehörstäuschungen eines Kranken
durch einfaches Bestreichen in verschiedene Körperteile verlegen.
Außer der Entstehung von Wahrnehmungen ohne äußeren
Reiz beobachtet man zuweilen auch das Ausbleiben der Wahr-
nehmung wirklicher Reize. Wir sprechen hier nicht von der Nicht-
beachtung äußerer Eindrücke wegen mangelnder oder abgelenkter
1) Robertson, Journal of mental science, 1901, April, 277; Seglas, Annales
medico - psychologiques , 1902, I, 353; Lugaro, Rivista di patologia nervosa e
mentale. 1904, 228.
Sinnestäuschungen.
219
Aufmerksamkeit oder bei Trübung des Bewußtseins, noch weniger
von den Ausfällen, die durch Störungen in den Sinnesorganen oder
der Fortleitung zum Gehirn bedingt werden. Vielmehr erschei-
nen unter Umständen gewisse Eindrücke oder auch ganze Wahr-
nehmungsgebiete trotz im übrigen ungestörter Auffassungsfähig-
keit gleichsam ausgelöscht. Wenn man will, kann man hier von
,, negativen Sinnestäuschungen" sprechen. Sie sind immer psycho-
gener Entstehung und werden nur in der Hypnose oder bei der
Hysterie beobachtet. Das bekannteste Beispiel dafür ist die hy-
sterische Anästhesie, der sich die hysterische Blindheit und Taub-
heit anschließt. Die halbseitigen Gesichtstäuschungen dürften
ebenfalls hierhergehören; es gelang Seglas, die Verdoppelung
einer einseitigen Gesichtstäuschung durch ein Prisma zu erzielen
und damit nachzuweisen, daß die Trugwahrnehmung auch mit
dem anderen Auge gesehen, aber nicht aufgefaßt wurde.
In der Regel pflegen sich die Fälschungen der äußeren Er-
fahrung nur auf ein einzelnes Sinnesgebiet zu erstrecken. Mit-
unter bestehen aber doch gewisse Beziehungen zwischen ver-
schiedenartigen Störungen. Eine Kranke von Seglas mit links-
seitigen Gesichtstäuschungen war zugleich auf dieser Seite emp-
findungslos; der schon oben erwähnte Kranke Ranschburgs
hörte links nur selten Stimmen, dann aber immer mit linkssei-
tigen Empfindungen an der Schulter. Bei weitem am häufigsten
sind Täuschungen im Gebiete des Gehörs und Gesichts, seltener
in demjenigen der drei übrigen Sinne und in dem dunklen Bereiche
jener Wahrnehmungen, die wir unter dem Sammelnamen der Ge-
meinempfindungen zusammenfassen.
Für die klinische Betrachtung hat Esquirol und nach ihm
aus praktischen Gründen die Mehrzahl der Forscher zwei Arten
von Sinnestäuschungen unterschieden, solche nämlich, bei denen
eine äußere Reizquelle gar nicht vorhanden ist: Halluzina-
tionen, und solche, die nur als die Verfälschung einer wirk-
lichen Wahrnehmung durch eigene Zutaten zu betrachten sind:
Illusionen^). Im Einzelfalle ist diese Trennung nicht selten
äußerst schwierig oder gänzlich unmöglich. So sind wir nament-
lich bei den Berührungssinnen (Geruch, Geschmack, Hautsinn)
1) Sully, Die Illusionen. Internat, wissenschaftliche Bibliothek. 1883.
220
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
fast niemals imstande, mit Sicherheit das Vorhandensein irgend
einer äußeren Reizursache (Zersetzungsvorgänge in Mund- oder
Nasenhöhle, Veränderungen der Blutfüllung, Schwankungen der
Eigenwärme u. dgl.) auszuschließen , noch weniger natürlich bei
den Störungen der Gemeinempfindungen. Auch beim Gesicht
geben, wie schon angedeutet, unter Umständen nicht nachweis-
bare Reize, z. B. das Eigenlicht der Netzhaut, beim Gehör ent-
otische Geräusche usf., gewissermaßen den Rohstoff für die Aus-
bildung der Trugwahrnehmungen ab. In anderen Fällen jedoch
ist die verschiedenartige Entstehungsweise ohne weiteres klar.
Der Furchtsame, der ragende Baumstämme, wallende Nebel für
Gespenster hält (,, Erlkönig"), der Kranke, der aus dem Läuten
der Glocken, dem Kritzeln der Feder, dem Pfeifen der Eisenbahn,
dem Bellen der Hunde, dem Knarren der Wagen Schimpfworte
und Vorwürfe heraushört — sie haben zweifellos ,, Illusionen",
während wir die allbekannten Gesichtstäuschungen des Alkoho-
listen, die ,, Stimmen", welche den Sträfling im stillen Zellen-
gefängnisse quälen oder beglücken, höchst wahrscheinlich als
Halluzinationen zu bezeichnen haben. Zwischen beiden Formen
gibt es alle möglichen Übergänge; ist doch die Illusion im Grunde
nichts anderes, als eine vielfach wechselnde Mischform von ge-
sunder Sinneswahrnehmung mit täuschenden Zutaten. Wir er-
innern uns hierbei der Tatsache, daß auch unsere gesunden Wahr-
nehmungen regelmäßig nicht eine untrügliche Wiedergabe des
Sinneseindruckes darstellen, sondern von vornherein eine erheb-
liche Beimischung uns selbst unbewußter Wahrnehmungsfehler
enthalten.
Die gemeinsame Eigentümlichkeit dieser ganzen Gruppe von
Sinnestäuschungen liegt in ihrer vollkommen sinnlichen Deut-
lichkeit. Der Erregungszustand im Gehirn entspricht durch-
aus demjenigen beim gewöhnlichen Wahrnehmungsvorgange, und
die entstehende Trugwahrnehmung ordnet sich daher unterschieds-
los in die Reihe der übrigen Sinneseindrücke ein. Die Kranken
glauben nicht nur, zu sehen, zu hören, zu fühlen, sondern sie
sehen, hören, fühlen wirklich.
Ein in vieler Beziehung abweichendes Verhalten bieten da-
gegen diejenigen nur uneigentlich so genannten Sinnestäuschungen
dar, die nichts anderes sind als Vorstellungen von beson-
Sinnestäuschungen.
221
derer sinnlicher Kraft. Das Wiederauftauchen eines früheren
Eindruckes pflegt in der Regel niemals die unmittelbare Deut-
lichkeit der Sinneswahrnehmung selbst zu erreichen, sondern sich
jederzeit ganz unzweideutig durch die geringere Lebhaftigkeit
und Schärfe von jener zu unterscheiden. Indessen bestehen in
dieser Beziehung bedeutende persönliche Verschiedenheiten. Wäh-
rend von manchen Beobachtern den Erinnerungsbildern jede
genauere Ausprägung nach Farbe und Form abgesprochen wird,
versichern andere, besonders bildende Künstler, daß dieselben
bisweilen an sinnlicher Kraft der unmittelbaren Wahrnehmung
nur sehr wenig nachgeben; es sind das die bekannten Unterschiede
in der Lebhaftigkeit des Gedächtnisses für Farben, Formen, Töne,
Auch die persönliche Sinnesveranlagung spielt hier eine große
Rolle. Wo die Gesichtsvorstellungen das geistige Leben beherrschen,
werden sie naturgemäß einen weit größeren Reichtum an scharfen
Einzelheiten aufweisen, als dort, wo Gehörs- oder Bewegungs-
vorstellungen das wesentliche Werkzeug des Denkens bilden.
Unter krankhaften Verhältnissen können offenbar auftau-
chende Vorstellungen und Erinnerungsbilder bisweilen einen so
hohen Grad von sinnlicher Deutlichkeit erreichen, daß sie von
den Kranken als wirkliche Wahrnehmungen besonderer Art auf-
gefaßt werden. Eine ganze Reihe von Forschern ist sogar der
Ansicht, daß alle Trugwahrnehmungen unmittelbar als Einbil-
dungsvorstellungen von außergewöhnlicher sinnlicher Lebhaftig-
keit aufzufassen seien. Allein der Umstand, daß bei Halluzi-
nanten durchaus nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen von
Vorstellungen in den Sinnestäuschungen eine Rolle zu spielen
scheinen, und daß neben diesen letzteren stets auch Vorstellungen
von der gewöhnlichen, abgeblaßten und gestaltlosen Art zu ver-
laufen pflegen, deutet darauf hin, daß noch eine besondere
Ursache hinzukommen muß, wenn eine Vorstellung die greifbare
Deutlichkeit der Wahrnehmung erhalten soll.
Die nächstliegende und zumeist anerkannte Erklärung dieses
Verhaltens ist die Annahme einer gleichzeitigen rückläufigen
Erregung der Sinnesstätten im Gehirn. Wir haben früher
gesehen, daß die Erregungszustände dieser letzteren die Form
sinnlicher Wahrnehmung annehmen müssen, weil ja alle Sinnes-
eindrücke eben nur durch Vermittlung jener Erregungen in unser
222
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Bewußtsein eintreten können. Wenn es demnach diese Hirn-
abschnitte sind, durch deren Erregung die Wahrnehmung ihre
sinnliche Eigenart erhält, so liegt es nahe, eine größere oder
geringere Beteiligung derselben an dem Vorgange der lebhaften
Wiedererneuerung früherer Eindrücke zu vermuten. Eine der-
artige Anschauung würde namentlich gut die Tatsache erklären,
daß zwischen der Sinnestäuschung von vollkommenster sinnlicher
Deutlichkeit und der abgeblaßtesten Erinnerung eine ununter-
brochene Reihe von Übergangsstufen liegt, ein Verhalten, das
sich durch die Annahme einer stärkeren oder schwächeren Mit-
erregung der Sinnesstätten am ungezwungensten erklären lassen
würde. Möglich, daß sogar beim gewöhnlichen Denken die rück-
läufige Reizung, die ,,Reperzeption", wie Kahlbaum sie ge-
nannt hat, in sehr geringer Stärke immer stattfindet, und daß
erst dann, wenn dieser Vorgang eine krankhafte Ausdehnung ge-
winnt, oder wenn die Sinnesstätten sich in einem Zustande er-
höhter Erregbarkeit befinden, die Lebhaftigkeit des Erinnerungs-.
bildes derjenigen der sinnlichen Wahrnehmung sich annähert. Es
würde somit gewissermaßen ein bestimmtes Verhältnis zwischen
der Stärke der Reperzeption und der Reizbarkeit der Sinnesstätten
bestehen: Je größer die Reizbarkeit dieser letzteren, desto leichter
würden die Erinnerungsbilder das Gepräge der sinnlichen Deut-
lichkeit erhalten, desto schwächer brauchte die rückläufige Er-
regungswelle zu sein, um sie auszulösen, und desto unabhängiger
würden sie vom Vorstellungsverlaufe sein. Der Grenzfall wäre in
den früher besprochenen, auf örtlichen Reizungsvorgängen be-
ruhenden Wahrnehmungstäuschungen gegeben, die dem Kranken
ganz fremdartig, wie etwas von außen sich Aufdrängendes gegen-
überstehen.
Die Grenze nach der entgegengesetzten Seite bilden jene
Fälle, in denen es sich deutlich erkennbar gar nicht um eigent-
liche Sinnestäuschungen, sondern lediglich um Vorstellungen von
großer Lebhaftigkeit handelt. Bei genauerem Eingehen gelingt
es, die zunächst auf Trugwahrnehmungen deutenden Äußerungen
der Kranken dahin zu begrenzen, daß die Eindrücke nicht eigent-
lich sinnliche, sondern ,, innerliche" gewesen sind, die aber den-
noch wegen ihrer aufdringlichen Deutlichkeit von den gewöhn-
lichen Vorstellungen unterschieden werden. Hier würde man
Sinnestäuschungen.
223
sich etwa die Reperzeption sehr stark entwickelt, aber die Reiz-
barkeit der Sinnesstätten nicht erhöht vorzustellen haben. Für
diese Auffassung spricht der Umstand, daß diese letztgenannte
Gruppe der Einbildungstäuschungen, die man auch als psy-
chische Halluzinationen (Baillarger) , Pseudohalluzi-
nationen^) (Hagen) oder Apperzeptionshalluzinationen
(Kahlbaum) bezeichnet hat, zumeist mehrere oder alle Sinnes-
gebiete in zusammenhängender Weise umfassen, und daß sie stets
in nahen Beziehungen zu dem sonstigen Bewußtseinsinhalte stehen,
während die an der entgegengesetzten Seite unserer Stufenreihe
befindlichen Wahrnehmungstäuschungen begreiflicherweise in der
Regel nur einem einzelnen Sinnesgebiete anzugehören pflegen und
dem Vorstellungsverlaufe gegenüber sich durchaus selbständig ver-
halten.
Eine bedeutsame Erläuterung erhält die Auffassung der
Sinnestäuschungen durch jene eigentümliche Störung, die man
als „Doppeldenken" bezeichnet hat. Sie besteht wesentlich im
,, Lautwerden"-) der Gedanken des Kranken. Unmittelbar an die
auftauchende Vorstellung schließt sich eine deutliche Gehörs-
wahrnehmung des gedachten Wortes. Am häufigsten tritt dieses
Mithalluzinieren beim Lesen, etwas seltener beim Schreiben auf,
also dann, wenn eine sprachliche Vorstellung sich mit einer ge-
wissen Stärke ins Bewußtsein drängt; bisweilen ist sie auch beim
einfachen Denken vorhanden, oder sie knüpft sich an irgendeine
gleichgültige Wahrnehmung, ein Geräusch. Dem auslösenden
Vorgange kann sie vorausgehen oder folgen: Die Stimme liest
vor oder spricht nach, bisweilen auch beides. Leises oder lautes
Aussprechen der Worte, gelegentlich auch das Schreiben, pflegt
die halluzinatorischen Mitklänge zum Verschwinden zu bringen.
Stets bestehen außerdem noch anderweitige Gehörstäuschungen.
Ich kannte einen Kranken, der seinen weit zerstreuten Bekannten
mit Hilfe des Doppeldenkens zu deren Vergnügen vorzulesen glaubte
und deren Randbemerkungen dazu hörte.
Wie es scheint, handelt es sich beim Doppeldenken nicht immer
um ein wirkliches Hören, sondern oft um eine Art inneren Sprechens;
^) Lugaro, Rivista di patologia nervosa e mentale, 1903, i u. 2.
2) Klinke, Arch. f. Psychiatrie, XXVI, 147; Döllken, ebenda XLIV, 425;
Probst, Monatsschr. f. Psychiatrie, XIII, 401.
224
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
es sind dann nicht Wortklangbilder, sondern Sprachbewegungs-
vorstellungen, in die sich die Gedanken kleiden. Cramer schil-.
dert einen taubstummen Kranken, der unanständige Dinge in
der Fingersprache, außerdem aber Lobsprüche in der Lippen-
sprache ,, hörte". Auch das Sprechenhören in anderen Körper-
teilen kann in der Wahrnehmung von Sprachbewegungsvorstellungen
bestehen. Manche Kranke geben geradezu an, daß sie dabei Emp-
findungen in den Sprachwerkzeugen haben. Halbey^) berichtet von
einem Kranken mit Gesichtstäuschungen, der die gehörte Predigt
in stenographischen Zeichen vor seinem Auge auftauchen sah.
Zur Erklärung dieser Erscheinungen ist zunächst wegen der
Halluzinationen eine erhöhte Reizbarkeit der zentralen Sinnes-
flächen anzunehmen. Als solche kommt bei der Entstehung von
sprachlichen Halluzinationen wohl nur das Rindengebiet für Wort-
klangbilder in der zweiten linken Schläfenwindung in Betracht.
Dafür spricht wenigstens sehr eine Beobachtung Picks, der einen
Luetiker mit sensorischer Aphasie verstümmelte sinnlose Silben
halluzinieren sah. Sodann haben wir uns etwa zu denken, daß
unter dem Einflüsse der Reperzeption entweder unmittelbar eine
dem Gedankengange folgende, fortlaufende Kette von abnorm
lebhaften Wortvorstellungen entsteht, oder daß die Erregung auf
das Gebiet der Sprachbewegungsvorstellungen übergreift. Maß-
gebend wird hier wohl sein , welches dieser sprachlichen Hilfs-
mittel gewohnheitsmäßig bevorzugt wird und daher leichter an-
sprechbar ist. Dementsprechend findet das Gedankenlautwerden
auch immer nur in der Sprache statt, in der die Kranken denken.
Es erscheint auf diese Weise erklärlich, daß die Störung beim
wirklichen Aussprechen der Gedanken, also bei Ablenkung der
Erregung auf motorische Bahnen, verschwinden kann; wo es sich
ohnedies schon um ein inneres Sprechen handelte, fällt dieses nun
mit der willkürlichen Ausdrucksbewegung zusammen. Auch an-
dere Formen der Willensspannung können die Erscheinung stören.
Köppen berichtet von einem Kranken, bei dem sie verschwand,
solange er angestrengt und mit Interesse arbeitete, während sie beim
Nichtstun wiederkehrte. Beim Gedankensichtbarwerden" werden
durch die Wortklangbilder auf dem überempfindlichen optischen
Sinnesgebiete die Schriftbilder wachgerufen,
1) Halbey, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXV, 307.
Sinnestäuschungen.
225
Zu der Gruppe der Einbildungstäuschungen ist auch eine Form
von Gesichtstäuschungen zu rechnen, auf die Bleuler^) unter
der Bezeichnung ,,extracampine" Halluzinationen aufmerksam
gemacht hat. Es handelt sich dabei um angebliche Gesichtswahr-
nehmungen außerhalb des Gesichtsfeldes. Der Kranke sieht etwa
einen Vogel hinter sich herumfliegen, ein braunes. Messer hinter
seinem Rücken. Ich erinnere mich eines Kranken, der von hinten
in seinen Körper hineinzusehen vermochte. Offenbar sind das
nur Einbildungen mit lebhaften Gesichtsvorstellungen, die jedoch
durchaus nicht das Gepräge von sinnlichen Wahrnehmungen tragen.
Die Schwierigkeit, Einbildungsvorstellungen von fast sinn-
licher Lebhaftigkeit scharf von der wirklichen Wahrnehmung
zu trennen, ist die Ursache, warum bei Geisteskranken gerade
die Vermischung von Sinneseindrücken mit Bestandteilen , die
dem eigenen Vorstellungsschatze entstammen, eine so verhängnis-
volle Quelle der Verfälschung ihrer Erfahrung wird. Dieser Vor-
gang, den wir als Apperzeptionsillusion (Auffassungsverfäl-
schung) den früher berührten Formen der Illusion gegenüber-
stellen können, ist in geringerem Umfange schon unter gewöhn-
lichen Verhältnissen überaus häufig. Das Übersehen der Druck-
fehler ist dafür ein vielgenanntes Beispiel. Die Schnelligkeit,
mit der wir bekannte Formen und Laute aufzufassen vermögen,
beruht eben wesentlich darauf, daß wir die rasch empfangenen all-
gemeinen Eindrücke ohne weiteres durch Erinnerungsbilder ver-
stärken und ergänzen, in der Hauptsache vielleicht richtig, oft
genug aber auch falsch. Niemandem kann es entgehen, wie sehr
auch die Wahrnehmung des Gesunden unter dem Einflüsse der
vorgefaßten Meinung steht, namentlich dann, wenn lebhafte Ge-
mütsbewegungen die klare und sachliche Auffassung unserer Um-
gebung trüben. Selbst der ruhigste, naturwissenschaftlichste Be-
obachter ist nicht immer ganz sicher, daß seine Wahrnehmungen
sich nicht unmerklich den Anschauungen anpassen, mit denen
er an seinen Gegenstand herantritt, und die Gemütsbewegungen
sind bekanntlich imstande, unserer Gesamtauffassung der Ereig-
nisse eine so verschiedene Beleuchtung zu geben, daß uns nach-
träglich die Abweichungen von der Wirklichkeit oft ganz un-
1) Bleuler, Psychiatrische Wochenschr. 1903, 261.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
226
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
begreiflich erscheinen. Bei Geisteskranken sind aber die Be-
dingungen für die Entstehung von Auffassungsverfälschungen
häufig außerordentlich günstige: starke gemütliche Erregungen,
große Lebhaftigkeit der Vorstellungen und endlich — ein später
noch näher zu berücksichtigender Umstand — Unfähigkeit zu
einer verständigen Sichtung und Berichtigung der Erfahrungen.
So kommt es, daß hier vielfach die sinnlichen Eindrücke in der
Auffassung des Kranken ganz abenteuerliche Formen annehmen
und auf diese Weise auch dort, wo keine eigentlichen Sinnes-
täuschungen vorhanden sind, die Bausteine zu einer verfälschten
Anschauung von der Außenwelt zn liefern imstande sind. Dahin
gehört es, wenn eine Kranke die Geräusche draußen für das
Schreien ihrer zu Tode gemarterten Kinder oder für das ,, Knistern
der Hölle" hält.
Am leichtesten kommt natürlich eine derartige Verfälschung
der Erfahrung dann zustande, wenn die von den Sinnen ge-
lieferten Eindrücke nicht klar und scharf ausgeprägt, sondern
unbestimmt und verschwommen sind. Wie wir im gewöhn-
lichen Leben undeutliche Wahrnehmungen am häufigsten miß-
verstehen , d. h. unwillkürlich durch eigene Beimischungen er-
gänzen und auslegen, so spielen auch bei Geisteskranken die
Auffassungstäuschungen besonders dann eine große Rolle, wenn
die Deutlichkeit der Sinneseindrücke durch irgendwelche Ursachen,
namentlich durch Störungen des psychischen Gesamtzustandes,
beeinträchtigt wird.
Die Verfälschung der Auffassung kann unter Umständen auch
durch Eindrücke von anderen Sinnesgebieten her ausgelöst werden.
Kahl bäum hat diesen Vorgang mit dem Namen der Reflex-
halluzination belegt. Die Wahrnehmungen der einzelnen Sinne
stehen miteinander in so vielfältiger Verknüpfung, daß ein leb-
hafter Eindruck leicht andere Sinnesgebiete mit erregen kann.
Im Grunde gehört hierher schon das Auftauchen des Gesichts-
bildes einer Katze, wenn wir ihr Miauen hören. Viel unmit-
telbarer treten diese Beziehungen der einzelnen Sinne bei den
sogenannten ,, Sekundärempfindungen" hervor, dem Sehen von
Farben bei bestimmten Klängen (,,audition color^e"), Gerüchen usf.
Sinnliche Deutlichkeit erhalten die unangenehmen Empfindungen
des Zuschauers bei schmerzhaften Eingriffen, die Belästigung
1
Sinnestäuschungen.
227
im Kehlkopf beim Anhören eines heiseren Sängers, der Kitzel
bei drohender Berührung empfindlicher Stellen, die Wahrnehmung
eines blinden, gegen uns gerichteten Stoßes. Mourly Vold hat
ferner nachgewiesen, daß sich auch in unseren Träumen vielfach
eine derartige Umsetzung von Reizen in Vorstellungen eines an-
deren Sinnesgebietes vollzieht.
In Krankheitszuständen spielen ähnliche Vorgänge oft eine
bedeutende Rolle. Moravsik konnte Gesichtstäuschungen durch
Stimmgabeltöne oder die Laute einer Drehorgel auslösen. Nament-
lich Bewegungsempfindungen, wie sie sich schon unter gewöhn-
lichen Verhältnissen so häufig an Sinneseindrücke anschließen,
scheinen vielfach auf diesem Wege zu entstehen^). So gibt es
Kranke, welche die in ihrer Umgebung gesprochenen Worte
in ihrer Zunge fühlen, denen ein Blick, eine Berührung eigen-
tümliche Spannungs- oder Erschlaffungsempfindungen im Körper
erregt. Umgekehrt berichtet Juliusburger von einem tauben
und Winden Knaben, der jedesmal Glöckchen eine Melodie spielen
hörte, sobald er die gelähmten Augen im Rhythmus nach rechts
zu bewegen suchte. Bisweilen nehmen solche Zusammenhänge
sehr absonderliche Formen an; die Kranken fühlen sich mit der
Suppe „ausgefüllt", von ihrer Nachbarin ,, eingenäht", ,, einge-
strickt" u. ähnl. In der Regel dürfte es sich bei allen diesen Er-
scheinungen übrigens nicht um einfache Übertragungen der Sinnes-
reize in eine andere Bahn, sondern um die Mitwirkung von Ein-
bildungen handeln, die lange vorbereitet sind und auf dem Wege
mehr oder weniger klar bewußter Überlegung die Anknüpfung
der Mitempfindungen an den ursprünglichen Eindruck vermitteln.
Eine sehr bemerkenswerte Eigenschaft der Sinnestäuschungen,
welche einmal auf ihre Entstehungsweise hindeutet, andererseits
ihre Wichtigkeit als Krankheitserscheinung kennzeichnet, ist die
gewaltige, unwiderstehliche Macht, die sie alsbald über den
gesamten Bewußtseinsinhalt des Kranken zu erhalten pflegen.
Es ist wahr, daß auch bei geistig völlig gesunden Menschen
ausnahms^Veise einmal eine ausgesprochene Trugwahrnehmung
auftreten kann, und daß andererseits im Beginne oder am Ende
einer Geistesstörung die Täuschungen nicht selten als solche er-
^) Gramer, Die Halluzinationen im Muskelsinn bei Geisteskranken und ihre
klinische Bedeutung. 1889.
15*
228
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
kannt werden. Allein man sieht fast immer, wie andauernde Sinnes-
täuschungen das gesunde Urteil überwältigen, und wie schon nach
kurzer Zeit selbst die unsinnigsten und abenteuerlichsten An-
nahmen von dem Kranken erfunden werden, um an der Wahrheit
der Trugwahrnehmungen allen besonnenen Gegengründen zum
Trotz festzuhalten Ja, wenn etwa in der Genesungszeit die Über-
zeugung von der krankhaften Natur der Täuschungen sich schon
zu befestigen beginnt, wird der Kranke im Augenblicke ihres Auf-
tauchens selbst doch fast regelmäßig wieder von ihnen mit fort-
gerissen.
Diese eigenartige Erscheinung, die in der Ohnmacht der wirk-
lichen Wahrnehmungen, des offenbaren Augenscheins, gegenüber
der krankhaften Täuschung eine weitere Erläuterung findet, kann
eben deswegen natürlich nicht etwa in der sinnlichen Deutlichkeit
der Trugwahrnehmung ihren einfachen Grund haben; im Gegen-
teile scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, daß die Macht der
Täuschungen mit dem Zurücktreten ihrer alltäglich sinnlichen Be-
schaffenheit eher wächst als abnimmt. Die Erklärung ist daher
vielmehr in dem tiefgehenden, dem Kranken vielleicht selber un-
bewußten Zusammenhange mit den ihm geläufigen Gedanken-
kreisen, in der inneren Übereinstimmung der Täuschungen mit
seinen krankhaften Befürchtungen und Wünschen zu suchen. Ganz
besonders sind es Gemütsbewegungen und Stimmungen, die den
Täuschungen Inhalt und Färbung geben, gerade so, wie sie das
Auftauchen bestimmter Vorstellüngsreihen unterstützen und die
wirkliche Wahrnehmung beeinflussen. Sehr häufig beobachten
wir, namentlich in den Endzuständen der Dementia praecox, daß
Täuschungen sich nur in Verbindung mit den hier so häufigen
periodischen Stimmungsschwankungen einstellen, in den Zwischen-
zeiten dagegen völlig zurücktreten. Die überwältigende Beein-
flussung des Denkens und Handelns durch die Täuschungen nimmt
erst ab, wenn entweder Genesung eintritt oder mit der Ausbildung
fortschreitender Verblödung die gemütliche Regsamkeit schwin-
det. In beiden Fällen können die Täuschungen zunächst noch
fortdauern, aber der Kranke ,, achtet nicht mehr so darauf"; sie
hören auf, eine Rolle zu spielen. So gibt es ungezählte Blödsinnige,
die andauernd Stimmen hören, ohne den Inhalt derselben irgend
weiter zu verarbeiten, ein Beweis dafür, daß die Macht der Tau-
Sinnestäuschungen.
22g
schungen ganz von dem Widerhall abhängig ist, den sie im
Seelenleben des Kranken finden.
Diese Erwägungen sind es, die mit großer Entschiedenheit
gegen die verbreitete Auffassung sprechen, daß die Sinnestäu-
schungen regelmäßig oder doch häufig die eigentliche Ursache
für die wahnhaften Gedanken, die Gemütsbewegungen, das Han-
deln unserer Kranken bilden sollen. Freilich weisen die Kranken
in ihren Erzählungen nicht selten geradezu auf die Täuschungen
als die Quelle und die Begründung ihrer Krankheitserscheinungen
hin, allein es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß die Täu-
schungen in demselben Hirn entstanden sind wie die übrigen Er-
scheinungen der psychischen Erkrankung. Tatsächlich verhalten
sich die Kranken ja zu den Täuschungen auch ganz anders wie
zu wirklichen Wahrnehmungen. Kein Gesunder würde die Worte
eines Vorübergehenden: ,,das ist der Kaiser" sofort auf sich be-
ziehen oder sich gar deswegen wirklich für den Kaiser halten —
auf den Geisteskranken, bei dem sie den Abschluß einer Kette ge-
heimer Hoffnungen und dunkler Ahnungen bildet, kann eine der-
artige halluzinatorische Wahrnehmung den allertiefsten, über-
wältigendsten Eindruck machen und unmittelbar die feste Über-
zeugung hervorbringen, nicht nur, daß jene Worte wirklich ge-
sprochen seien, sondern daß sie auch die tatsächliche Wahrheit
enthalten. Ebenso würden wir niemanden für entschuldigt halten,
wenn er die an ihn wirklich gerichtete Aufforderung ,,Töte dein
Weib!" etwa einfach ausführen würde, während wir beim Kranken
der Sinnestäuschung ohne weiteres eine zwingende Kraft zuzu-
schreiben gewöhnt sind.
Es läßt sich allerdings nicht von der Hand weisen, daß mög-
licherweise die Entstehung einer Sinnestäuschung auf sehr ver-
schiedenem Wege erfolgen kann. Gerade unsere früheren Aus-
einandersetzungen deuteten schon darauf hin, daß gewisse Formen
der Täuschungen vielleicht mehr in den Anfangsgebieten der
Sinnesbahn, andere dagegen mehr in denjenigen Hirnteilen ihren
Ursprung nehmen, die den höheren psychischen Leistungen dienen.
Man hat daher auch wohl von einer primären und sekundären
Entstehung der Sinnestäuschungen gesprochen, je nachdem sie
als unabhängige Einflüsse in das Seelenleben eingreifen oder um-
gekehrt aus ihm hervorwachsen. Wie die Erfahrung lehrt, be-
230
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sitzen jedoch gerade die sogenannten sekundären Sinnestäuschungen
die bei weitem größte Macht über Denken, Fühlen und Handeln.
Nicht die Tatsache der Sinnestäuschung oder ihr Inhalt an sich
ist es demnach, was so zwingend auf den Kranken wirkt, sondern
einzig und allein der Umstand, daß eben die Täuschung nichts
anderes ist als sein eigenstes Erzeugnis. Wir können daher, ab-
gesehen von den oben bereits besprochenen klinischen Unter-
schieden, keinen besonderen Wert darauf legen, zu entscheiden,
ob im einzelnen Falle die Wahnidee, die Stimmung oder die zu-
gehörige Sinnestäuschung sich zuerst geltend gemacht habe. In
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, und namentlich dann,
wenn die Täuschungen mit dauernden Wahnbildungen einher-
gehen, sind alle jene Krankheitserscheinungen gewiß nur die Wir-
kungen einer und derselben gemeinsamen Ursache, die verschie-
denartigen Zeichen des gleichen krankhaften Gesamtzustandes.
Der Inhalt und die Form der Trugwahrnehmungen zeigen
auf den einzelnen Sinnesgebieten eine große Mannigfaltigkeit.
Unter den Gesichtstäuschungen sind am häufigsten nächt-
liche ,, Visionen", leuchtende Gestalten, Gott, Christus, Engel,
Verstorbene, Blumen, oder schreckhafte Fratzen, Teufel, Schatten-
spiele, wilde Tiere u. dgl. Diese Erscheinungen werden bald als
übersinnliche Offenbarungen, bald als täuschende Vorspiegelungen
aufgefaßt, oder aber sie ähneln in ihren fremdartigen und aben-
teuerlichen Formen, in ihrem raschen Wechsel und ihrer Viel-
gestaltigkeit den Trugwahrnehmungen des lebhaften, unruhigen
Traumes, wie im Fieberdelirium. Mehr den wirklichen Wahr-
nehmungen nähern sich die weit selteneren Gesichtstäuschungen,
die bei hellem Tageslichte auftreten. Dahin gehören namentlich
die Täuschungen der Alkoholdeliranten, huschende Ratten und
Kobolde, zahlloses kriechendes Ungeziefer, Schmetterlinge, Vögel
und Flocken in der Luft, Münzen am Boden, Drähte und ge-
spannte Fäden, lebhaft bewegte, bunte Menschenmengen. Bei
andern Kranken sind es einzelne Gestalten, ein schwarzer Hund,
Löwenköpfe, die zum Fenster hineinsehen, Gesichter auf der Bett-
decke, dunkle Schatten, Gehenkte an einem Baume, Blut, ein
Leichenantlitz. Bisweilen verdecken die Bilder die wirklichen
Gegenstände, oder sie lassen sie gerade noch durchschimmern.
Im Essen befinden sich Schimmel, kleine abgeschnittene Köpfe
Sinnestäuschungen.
231
mit beweglichen Augen, wimmelndes Gewürm; die Gegenstände
der Umgebung haben ein ganz anderes Aussehen angenommen,
zeigen Verzerrungen, Totenköpfe, bewegen, verändern sich, na-
mentlich im seitlichen Sehfelde. Hierhin gehören auch gewisse
Fälle von Personenverwechslung, bei denen die Kranken
in fremden Personen ihre Angehörigen zu erblicken glauben oder
umgekehrt ihre Angehörigen nicht als solche anerkennen, be-
haupten, daß dieselben Personen immer andere Gesichter und Ge-
stalten annehmen, Fratzen schneiden u. ähnl. Im allgemeinen
sind Gesichtstäuschungen einer Aufklärung durch andere Sinne,
namentlich den Tastsinn, verhältnismäßig leicht zugänglich und
werden daher von Gesunden unter einigermaßen günstigen Ver-
hältnissen auch regelmäßig als solche erkannt. Nur wo Verworren-
heit, heftige Gemütsbewegungen, namentlich Angst, oder weit
fortgeschrittene psychische Schwäche eine unbefangene Prüfung
der Täuschung verhindern, werden selbst gröbere und fremdartigere
Verfälschungen der Gesichtswahrnehmung als wirkliche Sinnes-
erfahrungen hingenommen und verarbeitet.
Weit verderblicher pflegen in dieser Beziehung jene Ge-
hörstäuschungen zu sein, die als ,, Stimmen" auftreten, ein
Ausdruck, den der wahre Gehörshalluzinant fast immer sogleich
richtig versteht. Der Grund dafür liegt offenbar in der tiefgreifen-
den Bedeutung, welche die Ausbildung der Sprache für unser
Denken besitzt. Da wir zumeist in Worten denken, pflegen die
,, Stimmen" in sehr innigem Zusammenhange mit dem Gesamt-
inhalte des Bewußtseins zu stehen, ja sie sind häufig nichts als
der sprachliche Ausdruck dessen, was die Seele des Kranken be-
wegt, und haben daher für ihn eine weit größere überzeugende
Gewalt, als alle sonstigen sinnlichen Täuschungen und insbe-
sondere als die wirklichen Reden der Umgebung selbst. Der
Kranke hört, zuerst gewöhnlich hinter seinem Rücken, allerlei
Bemerkungen, die sich auf ihn beziehen, jede seiner Handlungen
begleiten, die geheimsten Vorgänge seiner Vergangenheit offen
besprechen, ihn beleidigen, bedrohen oder beglücken. Namentlich
nicht ganz deutliche Reden, halblaute Worte, unbestimmte Ge-
räusche gewinnen Inhalt; die Wagen ,, knarren und ertönen auf
ganz ungewöhnliche Weise und liefern Erzählungen, die Schweine
grunzen Namen und Erzählungen sowie Verwunderungsbezeu-
232
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gungen, die Hunde schimpfen und bellen Vorwürfe, Hähne krähen
solche, selbst Gänse und Enten schnattern Namen, einzelne Re-
densarten und Bruchstücke von Referaten." Aus dem Schwirren
der Stahlfedern, dem Läuten der Glocken, dem Knarren der Diele
tönen dem Kranken Rufe entgegen, oder aus der Wand, aus dem
Bette, in dem er liegt, ja aus den eigenen Ohren heraus, im Kopfe,
im Unterleibe vernimmt er die Stimmen. Nicht selten haben sie
verschiedene Höhe und Klangfarbe und werden daher verschie-
denen Personen zugeschrieben; bisweilen ist es eine ganze Schar,
deren einzelne Mitglieder genau unterschieden werden, auch wohl
Wechselreden führen; bisweilen sind es nur einige wenige oder
eine einzige. Die Stimmen der eigenen Angehörigen, untreuer
Liebhaber, boshafter Nachbarn, endlich diejenige Gottes oder
des Teufels pflegen am häufigsten vorzukommen. Vielfach sind
die Stimmen leise, flüsternd oder zischelnd, wie aus der Ferne,
von oben herunter, oder dumpf, aus dem Boden heraufkommend;
weniger häufig sind sie laut und schreiend, alles andere übertönend.
Sie können so vollständig den wirklichen Wahrnehmungen gleichen,
daß die Kranken ihren Glauben an sie geradezu damit begründen.
,,Wenn Ihre Worte wirklich gesprochen werden," so sagen sie
dem Arzte, „so muß das auch bei den anderen der Fall sein,
die ich ganz ebenso höre." Verhältnismäßig selten sprechen die
Stimmen längere, zusammenhängende Sätze; meist handelt es sich
um kurze, abgerissene Bemerkungen. Außer den Stimmen werden
hier und da laute schießende und knatternde Geräusche, Glocken-
läuten, wirres Geschrei, seltener angenehme Musik, Gesang u. dgl.
gehört. Meist vermögen die Kranken, auch wenn sie es zunächst
ablehnen, den Inhalt des Gehörten wortgetreu anzugeben; wo
das nicht der Fall ist, haben wir es in der Regel nicht mit Wahr-
nehmungen sinnlichen Gepräges zu tun , sondern mit eindring-
lichen Gedanken, die allerdings oft auch fremder Eingebung zu-
geschrieben werden.
Gerade in diesen Fällen wird den Stimmen häufig ein über-
natürlicher Ursprung zugeschrieben; sie sind dann nicht selten
von Gesichtstäuschungen begleitet. Gott oder Christus geben
dem Kranken einen Auftrag, eine Verheißung oder klären ihn
über ein Geheimnis seiner Persönlichkeit auf. Der ganze Vor-
gang hat hier gewöhnhch etwas Traumhaftes, Übersinnliches.
Sinnestäuschungen.
233
Im Fieberdelirium und bei sehr verwirrten Kranken zeigen auch
die Gehörstäuschungen den raschen Wechsel und die unklare
Verworrenheit der unter gleichen Verhältnissen vorkommenden
Gesichtstäuschungen.
Von den gewöhnlichen, den sinnlichen Wahrnehmungen ähneln-
den Gehörstäuschungen sind, wie schon angedeutet, die sogenannten
,, inneren Stimmen", ,, Einflüsterungen", die ,, Weltsprache", das
,, Gedenk", das ,,Telephonieren", ,, Telegraphieren" u. dgl. ab-
zutrennen, die von dem Kranken selbst nicht als wirkliches Hören,
sondern als Eingebungen oder künstliche Beeinflussungen auf-
gefaßt werden. ,,Es ist zwischen Hören und Ahnen," meinte ein
Kranker. Hier ist der Ursprung aus dem eigenen Gedankengange
in der Regel sehr deutlich. Offenbar handelt es sich aber um ähn-
liche, nur krankhaft ausgestaltete Vorgänge wie bei der ,, inneren
Stimme" oder der ,, Stimme des Gewissens", die auch zum Ge-
sunden ,, spricht". Bisweilen schließt sich dieses innere Sprechen
in der Art der Wechselrede im Bewußtsein des Kranken an-
einander, so daß die Wahnidee einer förmlichen stillen Unter-
haltung mit fernen Personen entsteht. Oder aber die ,, Gewissens-
stimmen" begleiten jede Handlung des Kranken mit entsprechenden
Bemerkungen, feuern ihn an, erteilen ihm Befehle oder Verbote.
In allen diesen Fällen entwickelt sich, ebenso wie bei dem früher
beschriebenen ,, Doppeldenken", leicht die Vorstellung, daß die
eigenen Gedanken der Umgebung bekannt seien, oder gar, daß
sie durch fremde Einwirkung gemacht und beeinflußt würden.
,,Ich bin durchsichtig," sagte mir ein derartiger Kranker.
Der Inhalt der Gehörstäuschungen ist, wie schon ange-
deutet, nur selten ein ganz gleichgültiger und dann in der Regel
unsinnig und eintönig. Zumeist stehen die Stimmen in sehr nahen
Beziehungen zu dem Wohl und Wehe des Hörers, den sie auf-
reizen und quälen, seltener beglücken und erheben. Sie können
dann einen mächtigen Einfluß auf das Handeln gewinnen. Die
fortwährenden Schmähungen, Beschimpfungen und höhnischen
Bemerkungen, der Jammer gemißhandelter Angehöriger machen
den Kranken mißtrauisch ünd aufgeregt und bringen ihn zu ent-
rüsteter Abwehr gegen seine vermeintlichen Peiniger; furchtbare
Drohungen setzen ihn in Angst und Verwirrung und zwingen ihn
zu rastloser Flucht, um den Verfolgern zu entgehen; gebieterische
234
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Befehle lassen ihn die unsinnigsten und bisweilen unnatürlichsten
Taten begehen, weil er übernatürlichen Mächten gehorchen zu
müssen glaubt.
Von weit geringerer unmittelbarer Bedeutung, als die Trug-
wahrnehmungen des Gesichts und Gehörs, deren Gebiet ja vor allem
der sinnliche Rohstoff unserer Vorstellungen entnommen wird,
sind die Täuschungen im Bereiche der übrigen Sinne für
das psychische Leben des Kranken. Der geängstigte Kranke
empfindet den Geruch giftiger Dünste, die ihn töten sollen, oder
den Schwefelgestank des Teufels, der ihn bedroht; er schmeckt
allerlei unappetitliche und schädliche Dinge, Menschenfleisch,
Kot, Arsenik, Canthariden in seinem Essen, die ihm von seinen
Feinden beigebracht werden. Diese Trugwahrnehmungen haben
ihren Ursprung zumeist in den Gedankenkreisen des Kranken,
weit seltener in umschriebenen Störungen der Sinnesgebiete, wie
z. B. Geruchstäuschungen bei Druck von Geschwülsten oder Kno-
chenauswüchsen auf den Olfactorius oder bei Rindenerkrankungen
in der Gegend des Gyrus hippocampi auftreten können. In der
Regel haben wir es somit hier mit dem Ausdrucke allgemeiner
psychischer Umwälzungen zu tun. Ähnliches gilt von den ent-
sprechenden Täuschungen im Bereiche des Haut- und Muskelsinnes
sowie der Gemeinempfindungen, Sie finden sich auf der Grund-
lage der Denk- und Willenshemmung öfters in äußerst quälenden
Formen bei zirkulären Depressionszuständen : Schmerzen und
Mißempfindungen aller Art in den verschiedensten Körperteilen,
Gefühl der Erstarrung, der Veränderung an Haut, Weich teilen
und selbst Knochen. Wo uns die Wahnideen des Elektrisiert-
werdens, des Besessenseins, der Verwandlung, der inneren Ver-
steinerung und Eintrocknung, des Verschwindens von Kopf, Mund,
Magen, After usf. begegnen, handelt es sich nicht mehr um ein-
fache Verfälschungen der Wahrnehmung, sondern um die krank-
hafte Verarbeitung von Empfindungen, die an sich meist zu un-
bestimmt sein würden, um etwa in ähnlicher Weise wie die Ge-
hörs- und Gesichtstäuschungen den Bewußtseinsinhalt beeinflussen
zu können.
Die große Mannigfaltigkeit der Sinnestäuschungen hatte uns
zu der Anschauung geführt, daß ihre Entstehungsweise eine sehr
verschiedene sein müsse. Eine wichtige Bestätigung erfährt diese
Sinnestäuschungen.
235
Meinung durch die Erfahrung, daß die Art der Täuschungen in
sehr entschiedener Weise durch die klinischen Krank-
heitsformen bestimmt wird. Bei den Fieber- und Infektions-
delirien haben wir es mit bunten, wechselnden, traumartigen
Trugwahrnehmungen zu tun, bei denen verschiedene Sinnesgebiete
zur Vortäuschung verworrener, abenteuerlicher Erlebnisse zu-
sammenwirken. Ähnlich verhalten sich die Täuschungen des
Trinkerdeliriums, doch ist hier der Zusammenhang der Einzel-
erlebnisse meist klarer. Die Täuschungen, die neben Gehör,
Hautsinn und Muskelsinn ganz vorzugsweise den Gesichtssinn be-
treffen, haben ferner eine außerordentliche sinnliche Deutlich-
keit; sie verknüpfen sich zudem so innig miteinander, daß sie
den Stoff für ein ,, Beschäftigungsdelirium" abgeben können. Be-
merkenswert ist endlich die Massenhaftigkeit der gleichartigen
Trugwahrnehmungen und ihre vielfach lebhafte Bewegung, die
wohl mit der zitternden Unruhe der Kranken in Zusammenhang
steht, das Auftauchen, Schwinden, Zerfließen. Wie bei den Fieber-
delirien knüpfen sich auch hier die Täuschungen gern an un-
deutlich aufgefaßte Eindrücke an; sie können durch Einreden
hervorgerufen und beeinflußt werden. Ihnen nahe verwandt sind
die durch Cocain erzeugten Täuschungen, die sich auf Gesicht,
Gehör und Gemeinempfindungen zugleich erstrecken können. Be-
sonders kennzeichnend sind für dieses Gift die eigentümlichen
,, mikroskopischen" Gesichtstäuschungen, die Wahrnehmung zahl-
loser gleichartiger, winziger Einzelheiten, Tierchen, Löcher in
der Wand, Pünktchen. Demgegenüber begegnen uns bei den
epileptischen Delirien, bei denen ebenfalls ein Zusammenwirken
verschiedener Sinnesgebiete häufig ist, vorzugsweise Täuschungen
mit lebhafter Gefühlsbetonung, das Sehen von Blut, Feuer,
Schreckgestalten, himmlischen Erscheinungen oder das Hören
von Drohungen, Schüssen, Kriegslärm, Verheißungen und Engels-
musik.
Wir dürfen wohl annehmen, daß es sich in allen diesen Fällen,
da sich die Täuschungen verschiedener Sinne miteinander ver-
binden, um ausgebreitete Krankheitsvorgänge in der Hirnrinde
handelt. Dafür spricht auch der Umstand, daß hier regelmäßig
mehr oder weniger starke Trübungen des Bewußtseins bestehen.
Allerdings deuten andererseits die unverkennbaren klinischen Ver-
236
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
schiedenheiten in der Gestaltung der Täuschungen darauf hin, daß
die Eigenart der einzelnen Krankheitsvorgänge sich dennoch deut-
lich geltend macht, sei es in der Verschiedenheit der Störungen
selbst, sei es in deren verschiedener Ausbreitung und Verteilung.
Mehr vorübergehende delirante Zustände mit ganz ähnlichen zu-
sammengesetzten Täuschungen mehrerer Sinne kommen noch in
manchen anderen Krankheiten vor, so im manisch-depressiven Irre-
sein, beim Altersblödsinn, bei der Dementia praecox, bei der Hysterie.
Wieweit den genannten Krankheitsvorgängen sonst Besonderheiten
in der Gestaltung der deliriösen Sinnestäuschungen entsprechen,
ist noch sehr ungenügend bekannt. Im allgemeinen darf man
vielleicht annehmen, daß bei den Erregungszuständen der Dementia
praecox die Gehörstäuschungen im Vordergrunde stehen, während
bei denjenigen des manisch-depressiven Irreseins daneben solche
des Gesichts und namentlich der Gemeinempfindungen eine große
Rolle spielen dürften. Auch bei der Hysterie überwiegen Gesichts-
täuschungen, meist von eigentümlich spannendem Gepräge, tief ver-
schleierte Gestalten, verstorbene Anverwandte, Männer mit langen
Messern.
Eine weit enger umgrenzte Gruppe bilden diejenigen kli-
nischen Formen, bei denen sich die Täuschungen auf ein einzelnes
Sinnesgebiet beschränken oder doch kein Zusammenwirken der ver-
schiedenen Sinne erkennen lassen. Ein sehr lehrreiches Beispiel da-
für liefert der Alkoholwahnsinn und gewisse alkoholische Schwäche-
zustände, bei denen ganz ausschließlich Gehörstäuschungen auf-
zutreten pflegen, meist drohenden, seltener verheißenden Inhalts.
Ähnlich verhalten sich manche Gehirnerkrankungen syphilitischer
Entstehung, namentlich gewisse Tabespsychosen, bei denen sich
dann noch die Empfindungen des Elektrisiertwerdens hinzugesellen
können. Auch bei epileptischen Geistesstörungen kommen hier
und da nur Gehörstäuschungen zur Beobachtung. In den zirku-
lären Depressionszuständen hören die Kranken einzelne kurze Be-
merkungen beängstigenden Inhaltes, während bei den anderen ge-
nannten Erkrankungen oft längere zusammenhängende Reden ge-
hört werden, in die sich mehrere Personen einmischen, und die sich
fast niemals unmittelbar an den Kranken wenden.
Bei weitem am häufigsten sind Gehörstäuschungen in jener
großen Gruppe von Krankheiten, die wir einstweilen unter dem
Trübungen des Bewußtseins.
237
Namen der Dementia praecox zusammenfassen. Dauernd fehlen
sie nur selten. In der Regel bilden sie eines der ersten Krank-
heitszeichen und bleiben oft genug die einzigen Täuschungen, die
überhaupt auftreten. Es gibt jedoch eine größere Zahl von Fällen, in
denen sich neben den Gehörstäuschungen dauernd solche des Haut-
sinns und namentlich der Gemeinempfindungen, auch wohl des Ge-
ruchs und Geschmackes entwickeln. Hier am häufigsten begegnet
uns die merkwürdige Störung des Doppeldenkens und Gedanken-
lautwerdens. Der Inhalt der Täuschungen ist oft nur im Anfange
aufregend oder erfreuend, späterhin vielleicht ganz gleichgültig
oder unsinnig, im Gegensatze zu den oben angeführten Formen.
Diese Erfahrungen weisen darauf hin, daß der Krankheitsvor-
gang, der diesen Geistesstörungen zugrunde liegt, das Zustande-
kommen von Gehörstäuschungen in ganz besonderem Grade be-
günstigt, und daß dabei gemütliche Einflüsse keine maßgebende
Bedeutung haben. Wir dürfen hier vielleicht daran erinnern, daß
die Gehörstäuschungen in sprachlicher Form auftreten, und daß
wir es gerade bei den Krankheiten, um die es sich hier handelt,
ungemein häufig auch mit Störungen des sprachlichen Ausdruckes
zu tun haben. Es wäre denkbar, daß diese beiden Krankheits-
zeichen in tieferer Beziehung zueinander stünden.
Trübungen des Bewußtseins. Außer den Vorgängen in den
verschiedenen Abschnitten der Sinnesgebiete ist für die Erwer-
bung von Erfahrungen noch ein weiterer Umstand von hervor-
ragender Wichtigkeit, nämlich das Verhalten unseres Bewußt-
seins. Äußere Reize erzeugen in unserem Innern gewisse eigen-
tümliche, nicht näher erklärbare Zustandsveränderungen, die wir
unmittelbar auffassen und als Vorstellungen, Gefühle, Antriebe usf.
auseinanderhalten. Diese allgemeinste Tatsache der inneren Er-
fahrung bezeichnen wir im Anschlüsse an Fechners Anschau-
ungen als das Bewußtsein. Überall, wo äußere Eindrücke in
psychische Vorgänge umgesetzt werden, ist Bewußtsein vorhan-
den, denn es ist eben nichts anderes, als ein Ausdruck für das
Stattfinden dieser Umwandlung. Der Bestand des Bewußtseins
ist nicht nur im allgemeinen von den Verrichtungen der Hirn-
rinde abhängig, sondern auch die einzelnen Erscheinungen des
Bewußtseins sind höchstwahrscheinlich an bestimmte, bisher noch
unbekannte Vorgänge in unserem Nervengewebe gebunden.
238
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Wie von der Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge die Um-
setzung der äußeren Reize in Sinneserregung abhängig ist, so
sind weiterhin die Zustände der Hirnrinde für die Umwandlung
der physiologischen Erregungen in Bewußtseinsvorgänge von
entscheidender Bedeutung. In welchem Maße eine solche Um-
wandlung jeweils stattfindet, das ist bisher im Einzelfalle oft
äußerst schwierig zu erkennen, da uns die innere Erfahrung
eines anderen nicht durch unmittelbaren Einblick, sondern nur
durch einen Rückschluß aus seinem äußeren Verhalten zugäng-
lich ist. Aus diesem letzteren allein entnehmen wir mit größerer
oder geringerer Wahrscheinlichkeit, ob es als Ausdruck psychischer
Vorgänge zu betrachten ist oder nicht.
Denjenigen Zustand, in welchem die Umsetzung körperlicher
in seelische Vorgänge gänzlich aufgehoben ist, bezeichnen wir
als Bewußtlosigkeit. Jeder Reiz, der die Schwelle des Be-
wußtseins überschreiten und damit einen psychischen Eindruck
hervorrufen soll, muß eine gewisse Stärke besitzen, die nicht
unter einen bestimmten Wert, den sogenannten Schwellen-
wert, heruntersinken darf. Allein die Größe des Schwellen-
wertes wechselt je nach den Zuständen unserer Hirnrinde außer-
ordentlich. Während sie bei gespannter Aufmerksamkeit ihre
niedrigsten Werte erreicht, kann sie in tiefster Ohnmacht un-
endlich werden, d. h. es genügen hier bisweilen selbst die aller-
stärksten Reize nicht mehr, um Bewußtseinsvorgänge auszu-
lösen. Man kann demnach, je nach der Größe des Schwellen-
wertes, verschiedene Helligkeitsgrade des Bewußtseins unter-
scheiden. Sinkt die Helligkeit des Bewußtseins unter ein gewisses
Maß, so entsteht ein mehr oder weniger tiefer ,, Dämmerzustand",
in dem äußere wie innere Reize nur noch schwache und unklare
psychische Gebilde erzeugen. In Form vorübergehender, sich oft
ungemein scharf gegen das gesunde Leben absetzender Störungen
beobachten wir derartige Bewußtseinstrübungen bei der Epilepsie
und Hysterie. Als lange dauernde Dämmerzustände können wir
dagegen gewisse Stuporformen des manisch-depressiven Irre-
seins betrachten, bei denen sich der psychophysische Schwellen-
wert wesentlich erhöht.
Unter Umständen kann anscheinend der Schwellenwert für
äußere und für innere Reize in ungleichmäßger Weise verändert
Trübungen des Bewußtseins.
239
werden; während die Einwirkung äußerer Eindrücke erheblich
erschwert ist, können dennoch durch innere Erregungen lebhafte
Bewußtseinsvorgänge ausgelöst werden. Das ist der Fall bei den-
jenigen Zuständen, die wir als Delirien zu bezeichnen pflegen.
Umgekehrt sehen wir bei den Verblödungen nicht selten äußere
Reize noch verhältnismäßig leicht Empfindungen erzeugen, wäh-
rend sich innere Vorgänge fast gar nicht mehr im Bewußtsein
geltend machen. Hier handelt es sich aber in der Regel gar nicht
um eine Steigerung des Schwellenwertes, sondern um ein dauern-
des Sinken der psychophysischen Erregung. Gerade dadurch unter-
scheidet sich die Verblödung vom Dämmerzustande.
Der häufigste, auch dem Ge-
sunden wohlbekannte Dämmerzu-
stand ist der Schlaf. Bei ihm ist
es gelungen, durch Feststellung der
Reize, die in den einzelnen Ab-
schnitten der Nacht genügen, um
das Aufwachen herbeizuführen, die
Schwankungen der Schlaftiefe, also
die Helligkeitsgrade des Bewußt-
seins im Schlafe, durch den Ver-
such genauer zu verfolgen. Ein
Beispiel einer gesunden ,, Schlaf- ^ ^.^^x
tiefenkurve" gibt die Fig. XVIII, in Normale Schlaftiefenkurve,
der die Abszissen die Nachtstunden
von 12 — 7 Uhr, die Ordinaten Schallstärken in Grammzentimetern
angeben, wie sie durch fallende Stahlkugeln auf einer elfenbeinernen
Unterlage erzeugt wurden. Wie ersichtlich, nehmen die ,, Weckwerte"
im allgemeinen nach dem Einschlafen zunächst rasch zu und sinken
dann ebenso schnell wieder, um mit Schwankungen gegen Morgen
ihre niedrigsten Werte zu erreichen. Bei Morgenarbeitern liegt die
größte Schlaftiefe am Ende der ersten Schlafstunde und ist nach
wenigen Stunden bereits ungemein gering. Dagegen scheinen
Abendarbeiter ihre größte Schlaftiefe, die zudem erheblich geringer
bleibt, als diejenige der ersteren Gruppe, viel später zu erreichen.
Sie sinkt dann auch langsamer und hält sich bis zum Erwachen
auf einer beträchtlicheren Höhe.
Störungen des Schlafes sind bei unseren Kranken unge-
240 Erscheinungen des Irreseins. ^
mein häufig, so wenig Genaueres wir auch noch davon wissen.
Sie können das Einschlafen, die Schlaftiefe und das Erwachen
betreffen. Das Einschlafen wird in der Regel durch das Gefühl
des Schlafbedürfnisses, die Müdigkeit, eingeleitet. Dieses Schlaf-
bedürfnis kann völlig fehlen in Erregungszuständen, namentlich
bei manischen Kranken, die sich bei äußerst ungenügendem Schlafe
und schwerster Erschöpfung der Kräfte doch andauernd frisch
und munter zu fühlen pflegen. Wir werden hier an die Erfahrung
erinnert, daß bei angestrengter, weit über das Maß hinaus fort-
gesetzter Arbeit auch dem Gesunden das anfangs eindringlich
mahnende Gefühl der Müdigkeit abhanden kommen kann, die
Einleitung der Schlaflosigkeit. Beim Alkoholdelirium und beim
Altersblödsinn, beides Krankheitsformen, bei denen die Unruhe
nachts auftritt oder sich steigert, scheint ebenfalls das Schlaf-
bedürfnis zu fehlen, um sich dann allerdings bei letzterer Krankheit
am Tage oft in verstärkter Form einzustellen. Ein gesteigertes
Schlafbedürfnis ohne eigentliche Ermüdung begegnet uns öfters
bei Nervösen; bei ihnen handelt es sich in Wirklichkeit um eine
die Leistungsfähigkeit lähmende Angst, die ihnen als Zeichen
des Schlafbedürfnisses erscheint. Auch in manchen Abschnitten
der Dementia praecox wird ein sehr gesteigertes Schlafbedürfnis
beobachtet.
Auf der anderen Seite kann große Müdigkeit vorhanden sein,
ohne daß der Schlaf sich einstellt. Das trifft namentlich für jene
Formen der nervösen Schlaflosigkeit zu, bei denen der lebhafte
Wunsch, zu schlafen, und die Angst vor dem Mißlingen den Ein-
tritt des Schlafes verhindert. Ganz ähnlich verhalten sich die
Depressionszustände. Hier kann zwar die herrschende gemütliche
Spannung die Müdigkeit verscheuchen; oft genug aber fühlen sich
die Kranken auf das äußerste müde und schlafbedürftig, ohne
doch Schlaf finden zu können. Vielfach ist das Einschlafen ver-
zögert, erfolgt erst nach langem, vergeblichem Zuwarten oder
immer wiederholtem ruckartigem Aufschrecken.
Über das Verhalten der Schlaftiefe bei unseren Kranken lassen
sich nur sehr unsichere Angaben machen. Wir dürfen vermuten,
daß verzögertes Einschlafen im allgemeinen mit geringer und
noch dazu spät erreichter Schlaftiefe einhergehen wird; bei ma-
nischen Kranken pflegt dagegen der Schlaf kurz, aber sehr tief zu
Trübungen des Bewußtseins.
241
sein. Bei manchen, namentlich jugendUchen, Psychopathen finden
wir den Schlaf lang und zugleich ungemein tief, während andere,
wohl mehr Ängstliche und Depressive, regelmäßig beim leisesten
Geräusch emporschrecken. Häufig ist auch eine sehr rasche Ver-
flachung des Schlafes nach ganz kurzer Dauer; die Kranken
schlafen bald und tief ein, erwachen aber schnell wieder und liegen
nun stundenlang, ohne von neuem einschlafen zu können. Das
Gegenstück bilden jene Kranken, deren Schlaf morgens noch so
tief ist, daß sie lange Zeit hindurch mit ganz allmählich sich ver-
lierender, bleierner Müdigkeit zu kämpfen haben. Ähnlich ,, er-
müdend" scheint sich der Nachmittagsschlaf für die Morgen-
arbeiter mit sehr steiler Schlaftiefenkurve zu gestalten. Während
der Abendarbeiter nach kurzem Schlafe von geringer Tiefe frisch
erwacht, bedingt sehr rasche Vertiefung des Schlafes eine längere
Schlafzeit mit Erwachen aus großer Tiefe, welches anscheinend
das Gefühl der Erquickung nicht aufkommen läßt.
Erhebliche praktische Wichtigkeit haben die Störungen des
Erwachens. Dasselbe erfolgt beim Gesunden zumeist fast plötzlich ;
nur kann zunächst noch eine gewisse Schwere der Glieder und
des Kopfes vorhanden sein, namentlich beim Erwachen aus grö-
ßerer Schlaftiefe. Wie Gudden^) ausgeführt hat, kann sich der
Vorgang in der Weise verschieben, daß nicht Besonnenheit und
Handlungsfähigkeit gleichzeitig wiederkehren, sondern jene früher,
diese später oder umgekehrt. Im ersteren Falle ist der Erwachende
zunächst noch wie gelähmt und gewinnt erst allmählich die Herr-
schaft über seine Glieder; im letzteren bleibt er einige Zeit un-
besinnlich und verwirrt und kann dabei unter Umständen äußerst
gefährliche Handlungen begehen. Dieser Zustand der „Schlaf-
trunkenheit" entwickelt sich am leichtesten bei plötzlichem Er-
wecken aus sehr großer Schlaftiefe, also in den ersten Stunden
.des Schlafes und bei jugendlichen Personen, deren Schlaftiefe
allgemein größer zu sein pflegt, namentlich nach starken An-
strengungen. Gesteigerte gemütliche Spannung, wie z. B. bei
Soldaten im Kriege, ferner lebhafte ängstliche Träume, endlich
Alkoholvergiftung begünstigen das Zustandekommen der Schlaf-
trunkenheit, ebenso unbequeme Lage, Hitze im Schlafzimmer
1) Gudden, Arch. f. Psychiatrie, XL, 989.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^
242
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
und fremdartige Umgebung, die ein rasches Verständnis der Lage
erschwert. Die schwereren Grade der Schlaftrunkenheit werden
nur bei psychopathisch veranlagten Personen beobachtet, beson-
ders bei Epileptikern und Hysterischen.
Auch im Schlafe dürfte sich das Verhältnis des äußeren
Schwellenwertes zum inneren zu Ungunsten des ersteren verschie-
ben. Dafür spricht die Erscheinung des Traumes, die allerdings
im Tiefschlafe fehlen oder doch spurlos werden kann. Die Träume
haben vielfach große Ähnlichkeit mit den Dämmerzuständen.
De Sanctis^) weist insbesondere darauf hin, daß die Träume
der Epileptiker und Hysterischen denselben Inhalt haben können
wie die Delirien der Kranken, dort schreckhafte Wahrnehmungen
von Blut, Flammen, andrängenden Ungeheuern, himmlische Er-
scheinungen oder wollüstige Erlebnisse, hier theatralische Ereig-
nisse, Auftreten Verstorbener, einzelner drohender, mahnender
oder rührender Gestalten. Er meint sogar nicht mit Unrecht, daß
Träume dieser Art geradezu Äquivalente der im Wachen auf-
tretenden ähnlichen Störungen bilden könnten. Sie wiederholen
sich bisweilen periodisch in genau gleicher Form. Die gleiche
Bedeutung haben die Zustände von Nachtwandeln (Somnam-
bulismus), in denen die Kranken aus dem Bett gehen, mit ge-
schlossenen oder starr geöffneten Augen allerlei einfache Ver-
richtungen vornehmen, um sich dann wieder zu legen. Leichtere
Störungen, Sprechen und ängstliches Auffahren im Schlafe, werden
auch bei Gesunden beobachtet, namentlich bei Kindern und bei
Behinderung der Nasenatmung.
In Depressionszuständen pflegen die ängstlichen und er-
schreckenden Träume der Verstimmung im Wachen zu entsprechen.
Auch Wahnbildungen können sich in den Träumen fortspinnen.
Namentlich begegnen wir häufig der Angabe nächtlicher feind-
seliger Beeinflussung. Die Kranken erzählen von nächtlichen Be-
gattungen, beklagen sich darüber, daß man ihnen die ,, Natur
abgezogen", Veränderungen an ihrem Körper vorgenommen habe.
Es ist allerdings zweifelhaft, wie weit derartige Angaben wirklich
auf Traumerlebnisse zurückgehen; Pilcz fand geradezu, daß
paranoische Kranke nicht von ihren Wahnvorstellungen träumen.
1) De Sanctis, I sogni. 1899, deutsch von O. Schmidt. 1901
Störungen der Auffassung.
243
Gar nicht selten aber vermengen die Kranken Traum und Wirk-
lichkeit; ich erinnere mich eines Kranken, der fast täglich dem
Arzte über das Vorwürfe machte, was er ihm wieder im Traume
angetan habe. Bei fortschreitender Verblödung schwindet mit
dem Verluste der geistigen Regsamkeit auch die Häufigkeit und
Lebhaftigkeit der Träume.
Störungen der Auffassung. Das Anwachsen der Wirkung eines
äußeren Reizes erfordert eine gewisse Zeit. Wie der Versuch
lehrt, wird die größte Klarheit einer Sinneswahrnehmung erst
nach Verlauf einiger Sekunden erreicht. Dieser Vorgang kann
unter Umständen eine erhebliche Verlangsamung erfahren. Die
Kranken vermögen dann Reize, die sich ihnen nur kurze Zeit
darbieten, gar nicht oder doch nur höchst unvollkommen auf-
zufassen, während sich unter gewöhnlichen Verhältnissen keinerlei
Erschwerung der Auffassung geltend zu machen braucht. Ist aber
die Verlangsamung im Anwachsen der Sinnesempfindungen eine
sehr bedeutende, so kann deren Verblassen, das nach kurzer Zeit
beginnt, die volle Entwicklung der Auffassung gänzlich verhin-
dern; die Wahrnehmungen versinken schon wieder, bevor sie
noch volle Deutlichkeit und Stärke erlangt haben. Natürlich wer-
den einzelne, von vornherein sehr kräftige Eindrücke doch auf-
gefaßt werden können, aber sie bleiben mehr oder weniger zu-
sammenhanglos, weil die Zwischenglieder und die begleitenden
Ereignisse nur in unklarer und verschwommener Form dem Be-
wußtsein übermittelt werden. In ausgeprägtester Gestaltung be-
gegnen wir dieser Auffassungsstörung bei der Presbyophrenie
und beim Korssakowschen Irresein, doch dürften sich leichtere
Andeutungen derselben wohl auch bei manchen anderen Erkran-
kungen, namentlich deliriöser Art, auffinden lassen.
Die Auffassung eines äußeren Eindruckes erfordert indessen
außer dem Anwachsen der Wahrnehmung zu einer gewissen Stärke
noch deren Eingliederung in unseren Erfahrungsschatz. Die
große Mehrzahl der Eindrücke, die w r tagtäglich in uns auf-
nehmen, ist an sich ziemlich undeutlich und verschwommen; sie
werden erst dadurch zu klaren und verwertbaren Erfahrungen,
daß sie in den bereitliegeriden Erinnerungsbildern gewissermaßen
einen Widerhall finden, welcher den sinnlichen Reiz verstärkt.
Durch diesen Vorgang, den Wundt als „Apperzeption" bezeich-
i6»
244
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
net, bildet sich auch sofort die Verknüpfung der einzelnen Wahr-
nehmung mit unserer Gesamterfahrung, ein Zusammenhang mit
zahlreichen anderen Vorstellungen und damit das „Verständnis"
des vorliegenden Eindruckes. Dabei finden ungenau erfaßte Ein-
drücke ihre Ergänzung durch auftauchende Erinnerungsbilder, ein
Vorgang, der die Empfindlichkeit unserer Auffassung bekannten
Eindrücken gegenüber außerordentlich steigert, zugleich aber auch
die Gefahr der Wahrnehmungsverfälschung in sich schließt. Gerade
die Beobachtungen über die alltäglichen Illusionen zeigen uns am
besten, in wie hohem Maße die sinnliche Erfahrung immerfort durch
die Mitwirkung unseres Erinnerungsschatzes beeinflußt wird.
Die Anklänge, die ein Eindruck in unserem Innern wachruft,
bestehen zunächst in den Erinnerungsbildern früherer gleich-
artiger Erfahrungen. Da sich aber jede Wahrnehmung aus einer
großen Zahl von Einzeleindrücken zusammensetzt, so wird ein-
mal jeder dieser Bestandteile für sich einfache Erinnerungen an-
regen können, wie z. B. ein bestimmter Ton oder eine Farbe, und
ferner werden sich wiederum Vorstellungen verwickelterer Art
an die zusammengesetzteren Glieder des Gesamteindruckes an-
schließen. So erkennen wir in gewissen Umrissen eines Bildes
Bäume oder Tiere, in einer Tonfolge eine bekannte Melodie. Die
wachgerufenen Vorstellungen können dabei bestimmte Einzel-
erinnerungen oder allgemeine Begriffe sein; ein Bild rückt uns
ein persönliches Erlebnis vor Augen, oder es erscheint uns etwa
als ,, Landschaft in Abendstimmung". Endlich aber erstreckt
sich die Anregung früherer Erfahrungen auch auf andere Sinnes-
gebiete. Das Gesichtsbild eines Hundes ruft die Vorstellung seines
Bellens, seines Geruches, der Weichheit seines Felles, der Kälte
seiner Schnauze mit wach, und auch hier mischen sich überall
persönliche Einzelerinnerungen mit Allgemeinvorstellungen. Da
dann auch noch die verschiedenartigen Sprachsymbole nebst den
an sie sich knüpfenden Gedankenbeziehungen sich anschließen
können, gewinnt das Netz von mehr oder weniger klar auftau-
chenden Vorstellungen je nach der geistigen Regsamkeit und dem
Erfahrungsreichtum des Wahrnehmenden unter Umständen eine
außerordentlich weite Ausdehnung.
Das rein sinnliche Verständnis eines Eindrucks bildet die Grund-
lage für seine weitere geistige Verarbeitung, die nach den ver-
Störungen der Auffassung.
245
schiedensten Richtungen hin erfolgen kann. An die Deckung
mit ähnUchen früheren Wahrnehmungen schUeßt sich das Auf-
tauchen weiterer Vorstellungen und Gedankengänge, die ein immer
tieferes Eindringen in die Bedeutung und den Wert des Aufge-
faßten, seine engeren und weiteren Beziehungen zu anderen Er-
fahrungen und zu unserem eigenen Ich vermitteln. Wir erkennen
nicht nur, daß ein Bild eine Landschaft vorstellt, nicht nur die
Gegend, die es wiedergibt, sondern auch seine malerischen Eigen-
schaften, die Urheberschaft eines bestimmten Malers, die Technik,
das Alter, den Handelswert; wir fassen nicht nur die Einzelheiten
der Sprachlaute auf, sondern wissen auch, welcher Sprache sie
angehören, was sie bedeuten, die Besonderheiten der Aussprache
und Ausdrucksweise, einen verborgenen Sinn. Dürfen wir die
unmittelbare Auffassung des sinnlichen Eindrucks und vielleicht
auch die Verknüpfung mit den zu^'ehörigen Erfahrungen anderer
Sinne wesentlich in die zentralen Sinnesflächen verlegen, so werden
die Voraussetzungen für ein sachliches Verständnis durch so ver-
wickelte geistige Vorgänge gebildet, daß an seinem Zustande-
kommen weite Gebiete unseres Seelenorganes beteiligt sein müssen.
Sobald die Mitwirkung unseres früheren geistigen Erwerbes
beim Wahrnehmungsvorgange fortfällt, wird dieser unklar und
inhaltlos. Es können sich wohl einzelne stärkere Eindrücke in
unser Bewußtsein eindrängen, aber sie haften nicht und werden
nicht verstanden, da ihnen die Einordnung in den Zusammen-
hang unserer Vorstellungen und Begriffe mit allen ihren Folgen
für die weitere geistige Verarbeitung fehlt. In dieser Lage be-
finden wir uns z. B. gegenüber dem uns völlig Unbekannten oder
Unverständlichen, sofern nicht etwa besondere Nebenumstände,
Erwartung u. dgl. die Anregung bestimmter Vorstellungen durch
die Wahrnehmung vermitteln. Die Einzelheiten eines auf dem
Kopf stehenden Landschaftsbildes, einer fremden Sprache können
uns vollkommen entgehen, obgleich die sinnlichen Eindrücke an
sich ebenso lebhaft auf uns wirken wie das aufrechtstehende
Bild oder die Muttersprache. Einsilbige und selbst zweisilbige
Wörter lesen wir sehr viel schneller, als sinnlose Silben von weit
geringerer Buchstabenzahl.
Die häufigste Form der Auffassungsstörung ist die Erhöhung
des Schwellenwertes für äußere Reize, die verminderte Ansprech-
246
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
barkeit unseres Bewußtseins. Je stärker die Reize sein müssen,
um überhaupt Empfindungen zu erzeugen, desto verschwommener
und lückenhafter wird das Bild, das die Außenwelt in unserem
Innern entwirft. Die Kranken fassen nur einen mehr oder weniger
beschränkten Teil der Eindrücke auf, die auf sie einwirken; sie
bemerken und verstehen nicht mehr, was um sie herum vor-
geht. Wir bezeichnen diesen Zustand, in dem die Besonnenheit
schwindet, als Unbesinnlichkeit. Kann hier zunächst noch
vorübergehend oder durch besonders kräftige Reize eine Wahr-
nehmung erzwungen werden, so löst sich bei den stärkeren Graden
der Benommenheit die Verbindung mit den äußeren Gescheh-
nissen mehr und mehr. Sehr häufig vermögen die Kranken hier
einzelne Eindrücke noch ganz gut aufzufassen, ohne sie doch
zu einer Gesamtanschauung verarbeiten zu können. Sie gewinnen
daher kein Bild von ihrer Umgebung und von ihrer Lage ; alle Vor-
kommnisse erscheinen ihnen unverständlich, geheimnisvoll, rätsel-
haft. Die allmähliche Entwicklung dieser Auffassungsstörungen
begegnet uns bei der einfachen Ermüdung und ihren Übergängen
zum Schlafe, ebenso aber auch bei den krankhaften Zuständen
schwerer geistiger Erschöpfung. Mit größter Gewalt und Schnellig-
keit geschieht die Absperrung unseres Bewußtseins von der Außen-
welt durch die Betäubungsmittel Äther und Chloroform. Ganz
ähnlich sind, soweit die Prüfung durch den psychologischen Ver-
such reicht, die Beeinträchtigungen der Wahrnehmung zu be-
urteilen, die durch eine Anzahl von Schlafmitteln erzeugt werden;
genauer nachgewiesen wurde eine schwerere Auffassungsstörung
bis jetzt bei Alkohol, Paraldehyd und Trional. Nach unseren kli-
nischen Erfahrungen ist sie ferner bei den Fieber- und Vergif-
tungsdelirien, beim Delirium tremens sowie bei den epileptischen
und hysterischen Dämmerzuständen vorhanden, vielfach auch in
den verschiedenen Zuständen des manisch-depressiven Irreseins, be-
sonders im depressiven und manischen Stupor wie in den stärkeren
Graden der manischen Erregung.
Auf der Stufe der einfachen Wahrnehmung bleibt die gesamte
Sinneserfahrung in der ersten Zeit der geistigen Entwicklung
stehen. Solange die Einwirkungen der Außenwelt noch keine
bleibenden Erinnerungsspuren zurückgelassen haben, ist auch
jenes Netz von psychologischen Beziehungen noch nicht geknüpft.
Störungen der Aufmerksamkeit.
247
welches alle kommenden Lebenserfahrungen sofort mit dem gei-
stigen Erwerbe der Vergangenheit in Verbindung setzt. In den
schwereren Formen der psychischen Entwicklungshemmungen
dauert dieser Zustand unverändert fort; die Möglichkeit einer
fortschreitenden Aufhellung dieses geistigen Dämmerlebens ist
für immer abgeschnitten. Das Bewußtsein bleibt von einem un-
klaren Gemisch einzelner verschwommener Vorstellungen und
dunkler Gefühle erfüllt, in welchem keine deutliche Auffassung,
keine übersichtliche Ordnung und Gruppierung möglich ist. Von
dem Grade der geistigen Entwicklung, der erreicht wird, hängt
die Ausbildung eines tieferen sachlichen Verständnisses der Er-
fahrungen ab. UnvoUkommenheit und Dürftigkeit desselben kenn-
zeichnen jene Zustände, die wir unter dem Namen des Schwach-
sinns zusammenfassen.
Bei mehr umschriebenen Störungen, der Unfähigkeit, die sich
darbietenden Sinnesreize mit früheren ähnlichen Erfahrungen des-
selben Sinnesgebietes oder mit den zugeordneten Erinnerungen
anderer Sinnesgebiete zu verknüpfen, entstehen die als Agnosie
bezeichneten Erscheinungen. Hier kann die Erkennung der Außen-
welt trotz ungestörter Wahrnehmung in einem Sinnesbereiche
schwer beeinträchtigt sein, während sie in anderen ohne Schwie-
rigkeit vonstatten geht.
Störungen der Aufmerksamkeit. Die Tatsache, daß nur eine
beschränkte Zahl von psychischen Gebilden jeweils in unserem
inneren Blickfelde vorhanden ist, bezeichnen wir als die ,,Enge
des Bewußtseins". Indem die ganze Kette unserer psychischen
Ereignisse diese Enge durchwandert, stellt sich unser inneres
Leben als ein fortwährendes Kommen und Gehen, als ein Auf-
tauchen und Versinken von Seelenvorgängen dar. Zunächst noch
undeutlich und schwach, tritt ein inneres Erlebnis nach dem an-
deren aus dem Dunkel des Unbewußten empor, um nach kurzer
Zeit die höchste Klarheit und Stärke zu erreichen, dann aber
wieder zu versinken und dem nächsten Platz zu machen. Auf
dem Höhepunkte seiner Entwicklung wird dieser Vorgang be-
stimmend für die Richtung jener inneren Willenstätigkeit, die
wir Aufmerksamkeit nennen; unsere Sinneswerkzeuge wenden
sich dem lebhaft sich aufdrängenden Eindrucke zu, und es tau-
chen solche Vorstellungen auf, die den Vorgang verstärken, der
248 Erscheinungen des Irreseins.
unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Diese „An-
spannung" der Aufmerksamkeit, die sehr verschiedene Grade
und Richtungen aufweisen kann, ist von gewissen körperlichen
Erscheinungen begleitet, die deutlich genug ihre Eigenschaft als
Willenshandlung erkennen lassen, Innervationsempfindungen in
Auge und Ohr, ja ausgesprochene Bewegungen, Veränderungen
der Atmung und des Pulses wie des Blutdruckes.
Die Tätigkeit der Aufmerksamkeit dient aber nicht nur dazu,
den auftauchenden Seelenvorgang zu verstärken, sondern sie übt
auch einen sehr entschiedenen Einfluß auf die weitere Gestaltung
der Bewußtseinsvorgänge aus. Das Anwachsen und Schwinden
einer Vorstellung nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Nach
den Erfahrungen, die über die Einwirkung einer Sinneswahrneh-
mung auf die Stärke einer ihr folgenden vorliegen, dürfen wir
annehmen, daß die größte Deutlichkeit für die einzelnen Glieder
einer Vorstellungsreihe erreicht wird, wenn sie in einem zeitlichen
Abstände von etwa zwei Sekunden sich aneinander anschließen.
Diese Zeit scheint somit für die volle Entwicklung einer Vorstellung
bzw. der Aufmerksamkeitsspannung erforderlich zu sein. In Wirk-
lichkeit folgen jedoch die einzelnen Wahrnehmungen und Vor-
stellungen weit rascher aufeinander. Das ist deswegen möglich,
weil die Enge des Bewußtseins nicht für ein einziges psychisches
Gebilde, sondern für eine ganze Anzahl derselben Raum läßt, von
denen allerdings immer nur eines jeweils am hellsten beleuchtet
ist, während die übrigen entweder erst in der Entwicklung be-
griffen sind oder schon wieder verblassen. Wir haben es, wie man
es auszudrücken pflegt, nicht mit einem inneren Blickpunkte,
sondern mit einem Blickfelde zu tun, in welchem neben einer
Stelle von höchster Deutlichkeit der inneren Wahrnehmung die
verschiedensten Abstufungen bis zum Unbewußten zu finden sind.
Die Verstärkung eines auftauchenden Eindruckes durch die
Aufmerksamkeit hat ohne Zweifel die Wirkung, sein Abblassen
zu verzögern. Er gewinnt dadurch einen Einfluß auf die nach
ihm entstehenden psychischen Gebilde, deren Entwicklung er je
nach seinen inneren Beziehungen zu ihnen hemmen oder fördern
kann. Auf diese Weise wird die ursprünglich passive, ziellose
Aufmerksamkeit zur aktiven, auswählenden. Nicht die Stärke
der äußeren Eindrücke, sondern weit mehr ihre Begünstigung
Störungen der Aufmerksamkeit.
249
oder Unterdrückung durch die Aufmerksamkeit werden für die
innere Erfahrung maßgebend.
Der Bewußtseinsinhalt des Kindes steht in hilfloser Ab-
hängigkeit von der zufälligen Umgebung; es nimmt nur die jeweils
stärksten Reize wahr, ohne Rücksicht auf den inneren Zusam-
menhang der Dinge, weil ihm jene allgemeinen Vorstellungen
fehlen, welche auch die weniger aufdringlichen Wahrnehmungen
als wesentliche Glieder in der Kette der Erfahrungen hervortreten
lassen. Beim Erwachsenen dagegen wird der Wahrnehmungs-
vorgang mehr und mehr durch die besonderen Neigungen be-
herrscht, die sich allmählich aus der persönlichen Lebenserfahrung
heraus entwickeln. Wir üben uns darin, einzelne Eindrücke vor-
zugsweise zu beachten, indem sich die Ansprechbarkeit unserer
Vorstellungen für sie fortschreitend verstärkt, so daß schon leise
Anklänge genügen, um in unserem Innern lebhaften Widerhall
zu finden. Andererseits gewöhnen wir uns daran, alltägliche
Reize unbeachtet zu lassen und ihnen keinen Einfluß auf den
Ablauf unserer psychischen Vorgänge mehr einzuräumen. Diese
Ausbildung bestimmter „Gesichtspunkte", gewisser Richtungen
unseres „Interesses", führt zu einer außerordentUchen Veränder-
lichkeit des Schwellenwertes, so daß wir im gleichen Augenblicke
sehr starke Reize völlig unbeachtet lassen können, wo wir die
feinsten Veränderungen irgendeines Gegenstandes mit der größten
Schärfe auffassen.
lln krankhaften Zuständen kann das Verhalten der Aufmerk-
samkeit die mannigfachsten Störungen darbieten. Überall, wo die
psychische Ansprechbarkeit überhaupt herabgesetzt ist, in allen
vorgeschrittenen Verblödungszuständen, finden wir auch eine Ab-
stumpfung der Aufmerksamkeit. An die Wahrnehmungen
knüpfen sich nicht rasch und lebhaft verstärkende Erinnerungs-
bilder an; sie gewinnen keine Beziehungen zu den Erfahrungen
des Kranken und veranlassen ihn daher auch nicht, aus eigenem
Antriebe den Ereignissen weiter zu folgen. In der Umgebung eines
verblödeten Paralytikers können sich die aufregendsten Vorgänge
abspielen, ohne daß sie ihn berühren, auch wenn er vielleicht
Aufforderungen und Fragen noch aufzufassen vermag. Etwas
anders ist die sehr ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit
zu beurteilen, die wir in der Dementia praecox so ungemem
250
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
häufig beobachten, in der Regel schon vom ersten Abschnitte
der Krankheit an. Auch hier erweisen sich die Kranken, nament-
lich in den Stuporzuständen, vielfach gegen alle Versuche, ihre
Aufmerksamkeit zu erregen, völlig unzugänglich, so daß selbst
Nadelstiche und Berührungen der Hornhaut keinerlei Willens-
bewegung auslösen. Allein man kann sich leicht davon überzeugen,
daß keine Abstumpfung der Aufmerksamkeit, sondern eine krank-
hafte Unterdrückung derselben vorliegt. Die Kranken nehmen
oft recht gut wahr, was um sie herum vorgeht, aber sie sträuben
sich unwillkürlich gegen jede Beeinflussung ihres Denkens und
Handelns durch diese Wahrnehmungen. Auch die äußeren Zei-
chen der Aufmerksamkeitsspannung, das Hinwenden des Kopfes
und Blickes, das Einstellen der Blickrichtung, anscheinend auch
die Veränderungen der Atmung, des Pulses, der Pupillen können
vollständig fortfallen. Wir wollen diese Störung, die durchaus den
negativistischen Vorgängen auf anderen Willensgebieten entspricht,
als Sperrung der Aufmerksamkeit bezeichnen.
Äußerlich ähnlich, aber dem Wesen nach verschieden ist die
Hemmung der Aufmerksamkeit, der wir in gewissen Stu-
porzuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen. Auch
hier ist es schwer, sich mit dem Kranken in geistige Verbindung
zu setzen, aber nur deswegen, weil bei ihm der innere Widerhall
fehlt, der die Verknüpfung der äußeren Eindrücke mit dem eigenen
Erfahrungsschatze herstellt und dadurch die auswählende Tätig-
keit der Aufmerksamkeit anregt. Das Auftauchen von Vorstellungen
ist erschwert, aber nicht durch Verödung des geistigen Lebens,
sondern durch Hemmungsvorgänge, so daß die Wahrnehmungen
keinen weiterreichenden Einfluß auf das innere Leben gewinnen
können. Dagegen pflegen die äußeren Zeichen der Aufmerksam-
keitsspannung, im Gegensatze zu den Erfahrungen bei der De-
mentia praecox, erhalten zu sein; die Kranken blicken fragend,
wenn auch verständnislos, um sich, betrachten die dargebotenen
Gegenstände, wenden den Kopf bei Geräuschen usf. Im Gegen-
satze zu dieser Störung kann man eine gesteigerte Lebhaftig-
keit der Aufmerksamkeit vielfach in den manischen Ab-
schnitten des manisch-depressiven Irreseins beobachten. Die
Empfänglichkeit für äußere Eindrücke ist hier erhöht; jeder Reiz
wird rasch und mit großer Entschiedenheit aufgefaßt, jede Klei-
Störungen der Aufmerksamkeit.
nigkeit beachtet. Der Kranke „interessiert sich" für alle mög-
lichen Dinge, die ihm aufstoßen, vermag an nichts gleichgültig
vorbeizugehen.
Eine unmittelbare Folge der Erschwerung psychischer An-
knüpfungen, sei es durch Abstumpfung oder Hemmung der Auf-
merksamkeit, ist der Verlust ihres bestimmenden Einflusses auf
die Wahrnehmung. Dabei kann sehr wohl der einzelne Eindruck
noch die Aufmerksamkeit erwecken und durch sie verstärkt
werden, aber es fehlt die Fortdauer dieser inneren Bewegung über
den Augenblick hinaus mit ihren Folgen für die Auswahl der
kommenden Wahrnehmungen. Die Kranken verweilen vielleicht
längere Zeit bei dem einmal dargebotenen Eindrucke, aber sie
können ohne weiteres durch einen neuen Reiz abgezogen werden,
sofern er nur kräftig genug ist. Diese Bestimmbarkeit der
Aufmerksamkeit beobachten wir namentlich bei der Paralyse
und beim Altersblödsinn, aber auch bei den erwähnten Stupor-
formen des manisch-depressiven Irreseins und bei manchen in-
fektiösen Schwächezuständen. Die Kranken gleichen in gewisser
Beziehung dem Kinde ohne Erfahrung, bei dem eben darum keine
Vorstellungen und Erinnerungen geweckt werden, die auf die Auf-
merksamkeit richtunggebend wirken könnten. In denjenigen geistigen
Schwächezuständen, in denen sich die geistige Entwicklung dauernd
auf der Stufe des Kindes erhält, bleibt auch die Aufmerksamkeit
zeitlebens unselbständig und bestimmbar.
Eine wesentlich andere Entstehungsweise dürfte diejenige
Aufmerksamkeitsstörung haben, die man gewöhnlich als er-
höhte Ablenkbarkeit bezeichnet. Es handelt sich dabei um
einen häufigen Wechsel in der Richtung der Aufmerksamkeit
aus inneren und äußeren Beweggründen. Während die Bestimm-
barkeit der Aufmerksamkeit wesentlich durch das Fehlen solcher
Vorstellungen bedingt wird, die den Auffassungsvorgang zu be-
einflussen vermöchten, haben wir es hier vermutlich mit einer
größeren Flüchtigkeit der psychischen Vorgänge zu tun. Dafür
spricht der Umstand, daß hier die Aufmerksamkeit auch dann
rasch von einem Eindrucke zum anderen abspringt, wenn man
sich bemüht, sie in derselben Richtung zu erhalten. Zudem fm-
den wir diese Störung ganz vorzugsweise in solchen Zuständen,
die mit den Zeichen einer erhöhten Erregbarkeit einhergehen.
252
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Wir dürfen uns daher wohl vorstellen, daß bei der erhöhten Ab-
lenkbarkeit der Aufmerksamkeit die einzelnen Eindrücke rasch
wieder verblassen und daher keinen richtunggebenden Einfluß
auf die kommenden Wahrnehmungen gewinnen. Sie bilden keine
engverschlungene Kette, sondern eine lockere Reihe innerlich
unverbundener Einzelvorgänge. Je nachdem die Ablenkung durch
auftauchende Vorstellungen oder durch äußere Reize erfolgt,
kann man von der inneren die äußere Ablenkbarkeit unterschei-
den, die sich zwar häufig, aber nicht immer zu jener hinzugesellt.
Die leichtesten Grade dieser Störung begegnen uns in jenem
Zustande von Zerstreutheit, der sich neben den Zeichen einer
gewissen Unruhe bei der Ermüdung einzustellen pflegt. Wir be-
merken dabei, daß die aufgenommenen Eindrücke eine sehr ge-
ringe Nachhaltigkeit besitzen, rasch versinken und den inneren
Zusammenhang verlieren. Trotz aller Anstrengung sind wir nicht
mehr imstande, einer Reihe von Ereignissen planmäßig zu fol-
gen, sondern ertappen uns immer wieder darauf, daß wir durch
zufällige Nebendinge abgezogen werden und unsere Aufgabe
nur bruchstückweise erfassen. Bei der chronischen nervösen Er-
schöpfung kann diese Unfähigkeit längere Zeit andauern, ebenso
in der Genesungszeit nach schweren geistigen oder körperlichen
Erkrankungen. Weit stärker ausgeprägt ist die erhöhte Ablenk-
barkeit in den Erregungszuständen der Paralyse und bei den in-
fektiösen Geistesstörungen, besonders aber in der Manie, wo sie
sich mit gesteigerter Lebhaftigkeit der Aufmerksamkeit verbinden
kann. Hier genügt oft schon ein Zwischenruf, ein einzelnes Wort,
das Vorzeigen irgendeines Gegenstandes, um sofort die Richtung
der Aufmerksamkeit zu ändern. Es muß allerdings einstweilen
dahmgestellt bleiben, ob es sich in diesen verschiedenartigen Er-
krankungen überall um dieselbe Aufmerksamkeitsstörung handelt.
Als dauernde Eigentümlichkeit findet sich erhöhte Ablenk-
barkeit der Aufmerksamkeit bei gewissen Formen der psycho-
pathischen Veranlagung. Es liegt auf der Hand, daß diese Stö-
rung auf die gesamte geistige Ausbildung einen weitreichenden
Einfluß ausüben muß. Je ablenkbarer ein Mensch ist, je mehr
seine Auffassung durch zufällig sich darbietende Reize statt durch
planmäßige Auswahl geleitet wird, desto weniger ist er imstande,
sich einen zusammenhängenden und einheitlichen Vorstellungs-
Störungen der Aufmerksamkeit.
schätz zu erwerben. Bruchstückweise und unvermittelt werden
sich die verschiedenartigen Wahrnehmungen aneinander schheßen,
ohne jenes innere Band, welches durch die Herrschaft leitender
Allgemeinvorstellungen gebildet wird. Die Auffassung haftet da-
her immer nur an Einzelheiten, ohne einen Überblick über das
Ganze zu vermitteln; sie wird oberflächlich und flüchtig und
dringt nirgends in den tieferen Zusammenhang der Erscheinungen
ein. So kann es kommen, daß zwar die Auffassung des einzelnen
Eindruckes keine wesentlichen Störungen darbietet, während doch
die Unstetigkeit der Wahrnehmung, die vollkommene Unfähigkeit,
zu beobachten, ein tieferes Verständnis der Außenwelt und da-
mit die höhere geistige Ausbildung überhaupt unmöglich macht.
Das Gegenstück zur erhöhten Ablenkbarkeit bildet jene Fes-
selung der Aufmerksamkeit durch einzelne äußere oder
innere Vorgänge, die uns für andere Wahrnehmungen unzugäng-
lich macht. Dahin gehört die fälschlicherweise sogenannte Zer-
streutheit des Gelehrten, soweit sie auf höchster Einseitigkeit der
Aufmerksamkeitsrichtung beruht. Vielleicht haben wir es auch
in manchen Krankheitszuständen mit derartigen Vorgängen zu
tun. So sind namentlich deprimierte Kranke bisweilen derart mit
ihren traurigen Vorstellungen beschäftigt, daß sie dadurch für
die Eindrücke der Außenwelt gleichgültig werden, auch wenn die
Auffassungsfähigkeit an sich keine erheblichen Störungen dar-
bietet. In manchen deliriösen und stuporösen Zuständen dürfte
die schwere Beeinträchtigung der Auffassung zum Teil vielleicht
auch durch die Lebhaftigkeit der inneren Vorgänge mit bedingt
werden, durch die Sinnestäuschungen und Einbildungsvorstellungen,
welche die Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen. Am wenig-
sten scheint das im katatonischen Stupor der Fall zu sein, bei
dem übrigens auch die Auffassungsfähigkeit gar keine oder doch
verhältnismäßig unbedeutende Störungen darzubieten pflegt.
B. Störungen der Verstandestätigkeit.
Der von den Sinnen gelieferte und durch die Aufmerksamkeit
geklärte Erfahrungsrohstoff bildet die Grundlage aller weiteren
geistigen Arbeit und somit auch des gesamten Vorstellungs-
254
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Schatzes des Menschen. Man begreift daher, daß die aufgeführten
Störungen der Sinneserkenntnis, wie sie durch die Sinnestäu-
schungen, durch Verdunkelung des Bewußtseins, endhch durch
die Unfähigkeit zu planmäßiger Auswahl der Eindrücke erzeugt
werden, nicht ohne die weitreichendsten Folgen für die Gestal-
tung des Bewußtseinsinhaltes und der psychischen Persönlich-
keit bleiben können. Je unvollkommener und verfälschter die
Nachrichten von der Außenwelt zur Wahrnehmung gelangen,
desto lückenhafter und unzuverlässiger wird die Anschauung
bleiben, welche sich im Bewußtsein des Menschen von seiner
Umgebung, vom eigenen Ich und von seiner Stellung zur Um-
gebung entwickelt. Dazu kommt, daß zu jenen Störungen, welche
die Sammlung des Erfahrungsstoffes beeinträchtigen, fast ausnahms-
los sich noch solche gesellen, die eine weitere Verarbeitung des-
selben in krankhafter Weise beeinflussen.
Störungen des Gedächtnisses. Die allgemeinste Grundlage aller
geistigen Tätigkeit ist das Gedächtnis i). Jeder einmal ins Be-
wußtsein getretene Eindruck hinterläßt nach seinem Schwinden eine
allmählich schwächer werdende Spur, die seine Wiedererneuerung
durch eine zufällige Vorstellungsverbindung oder durch eine Willens-
anstrengung, das Besinnen, erleichtert. Diese bleibende Spur, welche
die einmal gemachte Wahrnehmung auf längere Zeit hinaus dem
Erfahrungsschatze des Menschen einreiht und sie seinem Gedächt-
nisse zur Verfügung stellt, erhält sich im allgemeinen um so stärker
und länger, je klarer der ursprüngliche Eindruck aufgefaßt worden
und je allseitiger er zu dem übrigen Bewußtseinsinhalte in Be-
ziehung getreten war, je mehr er, mit anderen Worten, das Inter-
esse des Menschen erregt hatte. Ferner aber wird die Festigkeit, mit
welcher frühere Eindrücke haften, in hohem Maße durch Wieder-
holungen verstärkt. Die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen
und selbst ein großer Teil der Vorstellungsverbindungen, mit denen
wir tagtäglich arbeiten, ist uns so geläufig, daß sie ohne irgend-
welches Besinnen, von selbst, in uns auftauchen, sobald sich irgend-
eine Anregung dazu bietet.
Die Betrachtung der Gedächtnisstörungen hat daher zwei ganz
verschiedene Leistungen auseinanderzuhalten, die unabhängig von-
1) Ribot, Das Gedächtnis und seine Störungen. 1882; Sollier, les troubles
de la memoire. 1892.
Störungen des Gedächtnisses.
einander beeinträchtigt sein können. Die erste derselben ist die
von Wernicke so bezeichnete Mer kf ähigkeit^), die Einprägung
und das Festhalten bestimmten, neu dargebotenen Erfahrungs-
stoffes. Die Merkfähigkeit ist im allgemeinen am größten für Ein-
drücke, die mit möglichster Klarheit aufgefaßt und, noch besser,
mit Hilfe der auswählenden Aufmerksamkeit nach bestimmten Ge-
sichtspunkten verfolgt wurden. Alle Bedingungen, die geeignet sind,
die Stärke und Schärfe der Eindrücke sowie deren Widerhall in
unserem Seelenleben abzuschwächen, werden somit die Merkfähig-
keit herabsetzen. Dahin gehören Erschwerungen der Auffassung
einerseits, Ablenkbarkeit und Gleichgültigkeit andererseits. Wir be-
obachten daher jene Störung bei allen ausgeprägteren Bewußtseins-
trübungen, in geringerem Grade schon bei der einfachen Zerstreut-
heit infolge von Ermüdung, bei Behinderung der Nasenatmung, im
Rausche, ferner bei manischer Erregung, endlich bei vorgeschrittener
Verblödung, bei der Paralyse, beim epileptischen Schwachsinn, bei
der Idiotie und bei denjenigen Endzuständen der Dementia prae-
cox, die mit einer Abstumpfung der Anteilnahme an der Außen-
welt einhergehen. Die höchsten Grade der Merkstörung aber tref-
fen wir in der Korssakowschen Krankheit und beim Alters-
blödsinn, insbesondere bei der Presbyophrenie an, auch wenn hier
die geistige Regsamkeit und die Auffassungsfähigkeit noch leidlich
gut erhalten ist. Nach den bisher bei solchen Kranken vorliegen-
den Versuchen scheint es indessen, daß sich bei ihnen die Wahr-
nehmungen ungemein langsam entwickeln, so daß bei Reizen,
die nur sehr kurze Zeit einwirken, auch eine bedeutende Herab-
setzung der Auffassungsfähigkeit hervortritt. Zugleich vollzieht sich
das Verblassen der Bewußtseinsvorgänge unverhältnismäßig schnell.
Gerade dieser Umstand dürfte für die geringe Erneuerungsfähigkeit
der Erfahrungen bei den genannten Kranken in erster Linie ver-
antwortlich zu machen sein.
Auch bei den manischen Kranken scheint, wie die erhöhte
Ablenkbarkeit dartut, das Verblassen der Vorstellungen sich rasch
zu vollziehen. Wenn trotzdem ihre Merkfähigkeit verhältnis-
mäßig wenig gestört ist, könnte das darauf beruhen, daß die Wahr-
nehmungen sich vorher mit genügender Geschwindigkeit ent-
1) Kraepelin, Monatsschr. f. Psychiatrie, VIII, 245, 1900; Ranschburg,
ebenda IX, 241, 1901.
256 Erscheinungen des Irreseins.
wickeln. Vielleicht ist es nicht unnütz, darauf hinzuweisen, daß
im gesunden Leben auch unsere Traumerinnerungen eine sehr
geringe Festigkeit darbieten. Sie erreichen ja an und für sich
keine große Lebhaftigkeit und versinken in der Regel außerordent-
lich schnell. Namentlich Worte und Reden aus dem Traume sind
wir gewöhnUch auch dann nicht imstande, wirklich zu behalten,
wenn wir sie uns schon im Halbwachen durch mehrfache Wieder-
holung einzuprägen versucht haben.
Da schwere Bewußtseinstrübungen in der Regel zeitlich ziem-
lich scharf umgrenzt zu sein pflegen, so kann auch die Merk-
fähigkeit nur für einen bestimmten Zeitabschnitt herabgesetzt
oder aufgehoben sein. Auf diese Weise entstehen Erinnerungs-
lücken, aus denen meist auf eine Aufhebung des Bewußtseins
während des betreffenden Zeitabschnittes zurückgeschlossen wird.
Ja, streng genommen ist die Erinnerungslosigkeit, die Amnesie,
fast der einzige Anhaltspunkt, welcher uns mit einiger Sicher-
heit die Annahme einer vorangegangenen Bewußtlosigkeit ge-
stattet. Allein die tägliche Erfahrung des Vergessens von Träu-
men, an die wir bisweilen nur durch einen zufälligen Eindruck
wieder erinnert werden, zeigt uns, daß sehr wohl ein psychisches
Leben, also Bewußtsein, bestehen kann, ohne daß doch die
Spuren der Eindrücke und Vorstellungen fest genug im Gedächt-
nisse haften, um ohne Schwierigkeit eine Wiedererneuerung zu
gestatten. Ganz ähnlich sind sicherlich jene Bewußtseinsstörungen
der Epilepsie, vieler Delirien, des schweren Rausches, des Hyp-
notismus zu beurteilen, in denen die klinische Beobachtung häufig
genug unzweideutige Anzeichen psychischer Tätigkeit aufzufinden
vermag, obgleich nachher nicht die mindeste Erinnerung an sie
besteht oder wachgerufen werden kann. Für diese Auffassung sind
besonders wichtig die bisweilen beobachteten Fälle, in denen un-
mittelbar beim Abklingen der Störung noch eine gewisse, späterhin
rasch schwindende Erinnerung an das Vorgefallene möglich ist, oder
in denen sie durch die Hypnose wieder wachgerufen wird, wie das
namentlich bei den Erinnerungslücken der Hysterischen, bisweilen
auch der Epileptiker möglich ist.
Unter Umständen kann durch gewisse krankhafte Vorgänge
nachträglich auch noch dauernd oder vorübergehend die Erinne-
rung an Zeiten ausgelöscht werden, in denen zweifellos keine
Störungen des Gedächtnisses.
Bewußtseinsstörung bestand. Eine solche „retrograde Amnesie"^),
ein rückschreitender Erinnerungsverlust, wird nach epileptischen,
hysterischen, eklamptischen, paralytischen Anfällen, nach Kopf-
verletzungen, Erhängungsversuchen und Vergiftungen beobachtet.
Die Kranken wissen sich nicht nur an den betreffenden Vorfall,
sondern auch an die Ereignisse in den Stunden, Tagen und selbst
Wochen vorher nicht mehr zu erinnern. Bisweilen taucht später-
hin allmählich die Erinnerung mit oder ohne suggestive Nach-
hilfe wenigstens teilweise wieder auf; in anderen Fällen ist sie
für immer verloren gegangen. Sibelius konnte für die aus-
geprägten retrograden Amnesien nach Kohlenoxydvergiftung fest-
stellen, daß sie sich nach kurzer Bewußtlosigkeit regelmäßig mit
Merkstörungen verbanden, nach längerer Dauer aber ohne solche
auftraten. Er nimmt an, daß in längerer Frist sich die zunächst
einsetzende Störung des Einprägungsvorganges wieder ausgleiche
und daher nur die Auslöschung der unmittelbar vorher erwor-
benen Erinnerungsbilder zurückbleibe. Wenn die retrograde Am-
nesie so häufig und nach bestimmten Schädigungen fast regel-
mäßig beobachtet wird, so spricht das dafür, daß die feste Ein-
fügung neuer Eindrücke in unseren Gedächtnisschatz weit län-
gerer Zeit bedarf, als wir zumeist annehmen. Wir erinnern uns
hier daran, daß unmittelbar nach der Aufnahme zahlreicher neuer
Eindrücke, etwa nach einem Konzert, deren Sichtung und Wie-
dergabe weniger leicht zu fallen pflegt, als nach einer Zwischen-
zeit ruhiger Sammlung; auch der später zu erwähnende An-
schluß assoziierender Erinnerungsfälschungen an ein Erlebnis nach
längerer Zwischenzeit deutet darauf hin, daß dieses letztere erst
allmählich beginnt, Wirkungen auszuüben.
Unter diesem Gesichtspunkte wäre es erklärlich, daß eine
plötzliche schwere Hirnschädigung nicht nur die Auffassung und
Einprägung neuer Eindrücke unmöglich macht, sondern auch die
noch nicht genügend befestigten Erfahrungen der allerletzten
Zeit beeinträchtigt oder zerstört. Allerdings wird eine derartige
Erklärung für sehr weit zurückreichende Amnesien versagen.
Wenn Konrad einen Fall berichtet, in dem nach seelischer Er-
regung der Inhalt des ganzen bisherigen Lebens vergessen wurde,
1) Paul, Arch. f. Psychiatrie, XXXII, 251, 1899.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
17
258
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
SO muß hier ein ganz andersartiger Vorgang zugrunde liegen.
Offenbar handelt es sich in allen derartigen Fällen um psycho-
gene Störungen. Wir wissen, daß durch lebhafte gemütliche Er-
schütterungen ganze Gebiete des Seelenlebens aus dem Zusam-
menhange mit den Bewußtseinsvorgängen abgespalten werden
können. Das bekannteste Beispiel dafür sind die hysterischen
Lähmungen und Empfindungsstörungen. Sie verhalten sich ge-
nau so, als ob der Kranke ,, vergessen" hätte, daß er einen Arm,
eine rechte Seite, ein Auge besitzt, obgleich sich nachweisen läßt,
daß Bewegungen ausgeführt und Empfindungen verwertet wer-
den können. Nach den von Freud und seinen Anhängern ver-
tretenen Anschauungen ist das ,, Vergessen" von gefühlsstarken
Erlebnissen durch Verdrängung" auch bei nichthysterischen
Personen eine ungemein häufige Erscheinung. Jung sucht sogar
den Nachweis zu führen, daß der Grund für den Ersatz einer Asso-
ziation bei der Wiederholung des Versuches durch eine andere
regelmäßig oder doch sehr vielfach durch die verdrängende Wir-
kung eines gefühlsstarken ,, Komplexes", die Erinnerung an ein
persönliches Erlebnis, bedingt sei. Ich halte diese Anschauung
für viel zu weitgehend, glaube jedoch, daß man starken Gemüts-
bewegungen, wie sie die Auffassung und Einprägung von Ein-
drücken hindern, unter Umständen auch nicht nur einen um-
wandelnden, sondern auch einen verdrängenden Einfluß auf Er-
innerungen zugestehen kann. Insbesondere die sehr weit aus-
gedehnten retrograden Amnesien scheinen mir eine solche Er-
klärung nahe zu legen.
Wesentlich verschieden von der Merkfähigkeit für gegenJ
wärtige ist die Erinnerungsfestigkeit vergangener Eindrücke. Sie
hängt nicht nur von der Merkfähigkeit in früheren Zeiten,
sondern auch von der Häufigkeit der voraufgegangenen Wieder-
holungen, endlich von der Zähigkeit des Gedächtnisses im all-
gemeinen ab. Wir pflegen die Gedächtnisfestigkeit zumeist nach
der Sicherheit zu beurteilen, mit welcher früher gut eingelernte
Kenntnisse noch zur Verfügung stehen, Lernstoff aus der Schule,
wichtige persönliche Erinnerungen und ähnliches. Wie die Erfah-
rung lehrt, pflegt Herabsetzung der Gedächtnisfestigkeit, Gedächt-
nisschwäche, gewöhnlich mit einer Verminderung der Merk-
fähigkeit einherzugehen, nicht aber umgekehrt. Die Merkfähig-
Störungen des Gedächtnisses. 259
keit ist beeinträchtigt ohne Gedächtnisschwäche bei den vor-
übergehenden Bewußtseinstrübungen. Ferner beobachten wir ein
Mißverhältnis zwischen starker Störung der Merkfähigkeit und
weit geringerer Gedächtnisschwäche namentUch im höheren Alter,
Die Auffassung neuer Eindrücke geschieht hier gewohnheitsmäßig
ohne rechte innere Anteilnahme, und die Erneuerungsfähigkeit
bleibt daher für sie eine beschränkte, während so oft die Erinne-
rungen aus vergangener Zeit, nicht mehr verdrängt durch frischen
Erwerb, mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Treue im Vorstel-
lungsverlaufe wiederkehren. Mit dieser Erfahrung steht die Tat-
sache in bestem Einklänge, daß von allen Vorstellungsverbin-
dungen, mit denen wir zu arbeiten pflegen, etwa 70% aus der
Jugend stammen. In den krankhaften Störungen des Greisen-
alters tritt das geschilderte Verhalten oft recht auffallend her-
vor, wenn auch mit fortschreitender Verblödung mehr und mehr
die früheren Erinnerungen gleichfalls verblassen. Ähnlich kann
in der Paralyse die Merkfähigkeit zunächst sehr viel stärker ge-
stört sein, bis sich später auch eine rasch zunehmende Gedächtnis-
schwäche hinzugesellt. Bei der Korssakowschen Geistesstörung
kann die Erinnerungsschwäche sich bis zu einem bestimmten Lebens-
abschnitte zurückerstrecken, während der Erwerb der früheren
Zeit ungestört haftet.
Nur kurz erwähnt soll hier noch werden, daß außer den zeit-
lich begrenzten Erinnerungslücken bekanntlich auch der Verlust
bestimmter Gruppen von Vorstellungen beobachtet wird,
ein Vorgang, dessen bestgekannte Beispiele die Worttaubheit und
die Seelenblindheit darstellen. . Wolff hat Fälle beschrieben, in
denen anscheinend gewisse Klassen sinnlicher Erinnerungsbilder
verloren gegangen waren, während die Allgemeinvorstellungen
fortbestanden. Äußerst merkwürdige Beispiele ganz umschriebenen
Vorstellungsausfalls hat ferner Rieger bei der Untersuchung eines
Falles von schwerer Hirnverletzung beobachtet. Die Deutung solcher
Erfahrungen ist außerordentlich schwierig. Beachtenswert erscheint
es, daß auch unter gewöhnlichen Verhältnissen das Gedächtnis für
verschiedene Gruppen von Vorstellungen bei einzelnen Personen
sehr verschieden entwickelt ist. Das Orts-, Zahlen- und Namen-,
Farben-, Tonhöhen-, Formengedächtnis sind anscheinend in hohem
Maße voneinander unabhängig. Manche Erfahrungen sprechen
17*
26o
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
ferner dafür, daß die verschiedenartigen Bestandteile der Vor-
stellungen, wie sie von den einzelnen Sinnesgebieten und sprach-
lichen Ausdrucksformen geliefert werden, mit verschiedener Festig-
keit haften können, so daß schließlich auch eine allgemeinere
Störung je nach der besonderen Zusammensetzung der gegebenen
Vorstellung eigentümlich begrenzte Ausfallserscheinungen zur Folge
haben könnte.
Sehr quälend ist zuweilen ein eigentümliches Verblassen der
Erinnerungsbilder, das von den Kranken als Gedächtnisschwäche
aufgefaßt wird, obgleich sich zeigen läßt, daß Festigkeit und
Treue der Erinnerung durchaus keine Einbuße erlitten haben. Die
Kranken klagen darüber, daß sie sich nichts ,, vorstellen", sich
kein Bild von wohlbekannten früheren Erlebnissen, Personen,
Gegenden machen könnten. Die Störung findet sich sehr ausge-
prägt in oder nach zirkulären Depressionen und läßt sich viel-
leicht mit der dort bestehenden Denkhemmung in Verbindung
bringen. Auch von Psychopathen hört man ähnliche Klagen,
denen ebenfalls versteckte ängstliche Denkhemmungen zugrunde
liegen könnten. Damit steht wohl auch das Gefühl des ,, Fremd-
seins" in Beziehung, das Fehlen der ,,Bekanntheitseigenschaft"
bei den äußeren Eindrücken, dem wir öfters bei denselben Kranken
begegnen. Die Wahrnehmungen finden keinen Widerhall in ihrem
Inneren und gewinnen deswegen keine Beziehungen zum eigenen
Seelenleben.
Von großer wissenschaftlicher und praktischer Bedeutung sind
jene mannigfaltigen und erheblichen Störungen, welche die Treue
der Erinnerung, die inhaltliche Übereinstimmung des Gedächtnis-
bildes mit der vergangenen Erfahrung, bei Geisteskranken dar-
bieten kann. Wir wissen aus Versuchen wie aus alltäglichen Er-
fahrungen, daß selbst die allereinfachsten Erinnerungsbilder schon
unter gewöhnlichen Verhältnissen niemals vollständig den Wahr-
nehmungen gleichen, sondern sofort, eben durch die Aufbewahrung
im Gedächtnisse und die Einordnung in den sonstigen Bewußtseins-
inhalt, sehr beträchtliche Wandlungen durchzumachen pflegen.
Man denke nur daran, wie klein dem Erwachsenen nach langer
Abwesenheit die Größenverhältnisse erscheinen, die ihm als Kind
Eindruck machten. Mit der Veränderung des allgemeinen Größen-
maßstabes ist hier auch das Erinnerungsbild unvermerkt gewachsen,
Störungen des Gedächtnisses.
261
SO daß dann der Widerspruch desselben mit der Wirklichkeit völlig
überraschend wirkt. Aber auch schon die einfache Schilderung
eines und desselben Erlebnisses durch verschiedene Personen oder
durch dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten^) lehrt, daß die
Erinnerung nichts weniger ist, als ein treues Abbild der Wirklich-
keit. Sehr wichtig ist dabei der Umstand, daß die innere Sicherheit
der Wiedergabe durchaus nicht von der Übereinstimmung mit dem
Urbilde abhängig ist. Völlig frei erfundene Züge können von dem
Gefühle der zuverlässigen Erinnerungen begleitet sein, während
wirkliche Gedächtnisspuren vielleicht unsicher erscheinen. Ja,
nicht selten läßt sich nachweisen, daß gerade solche Einzelheiten,
die mit besonderer Klarheit in der Erinnerung hervortreten, nicht
der Wirklichkeit entsprechen. Diese Erfahrung mahnt zur Vor-
sicht bei der Annahme einer ,,Hypermnesie", einer krankhaften
Steigerung der Erinnerungsfähigkeit. Wenn sich auch einzelne
Ereignisse mit sehr starker Gefühlsbetonung unter Umständen
sehr fest einprägen und mit quälender Deutlichkeit wieder her-
vortreten können, wird man bei auffallend ins einzelne gehender
Erinnerung in der Regel mit Fälschungen zu rechnen haben.
Nur auf ganz umschriebenen Gebieten kommen wirklich abnorm
hohe Gedächtnisleistungen vor, besonders beim Behalten von
Namen, Zahlen, Zeitangaben, vielfach bei sonst sehr geringen
geistigen Anlagen. So vermögen die großen Rechner^) sich 4 bis
7 mal so viel Ziffern nach einmaligem^^Anhören einzuprägen wie
andere Menschen, bald in Gesichts-, bald in Gehörsvorstellungen.
Durch die krankhaften Veränderungen der psychischen Per-
sönlichkeit werden sehr häufig nachträglich auch die Erinnerungen
aus der Vergangenheit verfälscht. In besonders hohem Maße ge-
schieht das durch gemütliche Einflüsse, namentlich durch die
Regungen der Eigenliebe. Bei Menschen mit lebhafter Einbildungs-
kraft und ausgeprägtem Selbstgefühl erfahren die früheren Er-
lebnisse ganz unvermerkt sehr tiefgreifende Wandlungen in dem
Sinne, daß allmählich die eigene Person immer mehr in den Vor-
dergrund rückt. Die Schatten verwischen sich, und das Licht der
eigenen Vortrefflichkeit strahlt heller und heller. Unter Umständen
1) Stern, Zur Psychologie der Aussage. 1902; Beiträge zur Psychologie
der Aussage, Zeitschrift.
2) Binet, Psychologie des grands calculateurs et joueurs d'6checs. 1894.
202
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
kann es bei diesem unwillkürlichen Bestreben nach Selbstverherr-
lichung geradezu bis zur Erfindung oder doch sehr freien Aus-
schmückung wirkungsvoller Geschichten kommen, die am Ende vom
Erzähler selbst nahezu für wahr gehalten werden, wie bei den
Münchhausiaden und dem Jägerlatein. Sehr hübsch hat Daudet
diesen Vorgang bekanntlich in seinem ,,Tartarin" geschildert.
Kinder, bei denen die Einbildungskraft lebendig und die Selbst-
kritik noch unentwickelt ist, neigen sehr zur Erdichtung oder Um-
dichtung von Erlebnissen ohne Bewußtsein der Fälschung und
werden durch äußere Einwirkungen darin ungemein leicht beein-
flußt; sie sind daher als Zeugen vor Gericht völlig unbrauchbar.
Nicht selten verschwindet die Unzuverlässigkeit ihrer Erzählungen,
die meist als Lügenhaftigkeit aufgefaßt wird, erst mit dem Ein-
tritt der geistigen und sittlichen Reife; bei den ausgeprägt krank-
haften Lügnern bleiben die Aussagen dauernd ein auch für sie
selbst nicht entwirrbares Gemisch von Dichtung und Wahrheit.
Auch bei anderen Kranken begegnen uns vielfach Verfäl-
schungen der Erinnerung. Dem Deprimierten erscheint sein ganzes
Vorleben als eine Kette von trüben Erfahrungen oder schlechten
Handlungen; der Verfolgungs- und der Größenwahn werfen ihren
Schatten zurück auf frühere Zeiten und lassen den Kranken schon
in der Jugend die Andeutungen eines feindseligen Verhaltens seiner
Umgebung, auffallender Beachtung durch hochgestellte Personen
oder hervorragender Leistungsfähigkeit auf den verschiedensten
Gebieten menschlichen Könnens ausfindig machen.
In der Regel handelt es sich dabei nur um ,,Paramnesien",
um teilweise Vermischung wirklicher Erlebnisse mit eigenen
Zutaten, also um einen Vorgang, der in gewissem Sinne etwa
den Illusionen entsprechen würde. Bisweilen jedoch kommt es
auch zu ,, Halluzinationen der Erinnerung" (SuUy), zu
völlig freier Erfindung scheinbarer Reminiszenzen, denen gar
kein Vorbild in der Vergangenheit entspricht i). So können wir
uns im. Traume an Vorkommnisse mit voller Deutlichkeit erinnern,
die niemals stattgefunden haben; ferner sind wir imstande, der-
1) Kraepelin, Arch. f. Psychiatrie, XVII u. XVIII; Behr, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, LVI, 918; Bernard-Leroy, l'illusion de fausse reconnaissance.
1898; Coriat, American Journal of neurology and psychiatry, 1904, 577; Albes,
De l'illusion de fausse reconnaissance. 1906.
Störungen des Gedächtnisses.
263
artige Erinnerungsfälschungen durch Einreden in der Hypnose
zu erzeugen; hier und da geUngt es auch in epileptischen oder
hysterischen Dämmerzuständen. Sehr abenteuerliche Erinnerungs-
fälschungen pflegen die Kranken mit Dementia phantastica vor-
zubringen. Sie erzählen von fabelhaften Reisen, die sie gemacht,
wunderbaren Erlebnissen, gewaltigen Kämpfen, die sie überstanden,
schrecklichen Verwundungen, die sie erlitten haben, und lassen sich
durch Zwischenfragen und Einwürfe zu vielfach einander wider-
sprechenden Einzelangaben verleiten. Meist liegen solche Erlebnisse
Jahre, selbst Jahrhunderte oder Jahrtausende zurück. Auch bei
Paralytikern ist das ,, Konfabulieren", die Schilderung frei erfundener
Erlebnisse, gelegentlich stark ausgebildet, namentlich aber bei der
Korssakowschen Geistesstörung und der ihr in vielen Punkten so
ähnlichen Presbyophrenie. Hier werden die Lücken, welche die
starke Merkstörung bedingt, aus freien Stücken oder auf Anregung
glatt durch Erinnerungsfälschungen ausgefüllt, die sich demgemäß
bis in die jüngste Zeit hinein erstrecken können.
Offenbar handelt es sich hier in der Regel um das Bedürfnis,
sich irgendein Bild von der Vergangenheit zu machen, die keine
wirklichen Spuren hinterlassen hat. Meist werden daher auch
alltägliche Vorgänge angeführt, die sich recht wohl in der ge-
schilderten Weise hätten abspielen können. Bei anderen Kranken
macht sich, im Zusammenhange mit Stimmungen und Wahn-
bildungen, die Neigung geltend, abenteuerliche Erlebnisse vor-
zubringen, die dann mit allen möglichen Einzelheiten ausge-
schmückt werden. Bisweilen sind selbst bei tiefgreifenden Er-
innerungslücken nur durch starkes Einreden dürftige ,,Verlegen-
heitskonfabulationen" zu erzeugen; die Kranken machen allge-
mein gehaltene Angaben, um sich keine Blöße zu geben und sich
halb und halb über ihre Unfähigkeit hinwegzutäuschen.
In manchen Fällen werden die Erinnerungsfälschungen nicht
frei erzeugt, sondern sie schließen sich an irgendwelche zufällige
äußere Eindrücke an (assoziierende Form). Die Kranken glau-
ben, einzelne Personen oder Gegenstände ihrer Umgebung früher
schon einmal gesehen oder von ihnen gehört zu haben, ohne sie
doch auf wirkliche Erinnerungsbilder zu beziehen. Sie verkennen
daher jene Objekte keineswegs, wie das bei den Auffassungsver-
fälschungen, bei der Beeinflussung von Wahrnehmungen durch
264
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die Erinnerung der Fall war, sondern es vollzieht sich hier der
umgekehrte Vorgang: an die vollkommen scharf aufgefaßte Wahr-
nehmung knüpft sich eine durchaus erfundene Erinnerung, deren
vermeintliches Vorbild gewöhnlich einige Monate oder seltener
Jahre zurückdatiert wird. Dabei pflegt das frühere Erlebnis meist
erst nach einigen Stunden oder selbst Tagen aufzutauchen, dann
aber rasch volle Deutlichkeit zu gewinnen. Bisweilen wird das
Urbild in den Traum zurückverlegt, so daß die Wirklichkeit wie
eine Erfüllung des Traumgesichtes erscheint. Behr weist darauf
hin, daß in solchen Täuschungen die Erklärung für manche „Wahr-
träume" liegen könne. Nicht selten tritt die Störung einige Wochen
oder Monate hindurch in gehäuftem Maße hervor; Neißer glaubt
sie daher auf Erregungsvorgänge zurückführen zu dürfen.
Die letzte Form der Erinnerungsfälschung, der wir hier noch
zu gedenken haben, ist am besten von Sander beschrieben
worden. Schon im gesunden Leben begegnet es uns bisweilen,
namentlich in der Jugend und im Zustande einer gewissen Ab-
spannung, daß sich uns in irgendeiner Lage plötzlich die Vor-
stellung aufdrängt, als hätten wir dieselbe schon einmal in ganz
derselben Weise erlebt. Zugleich haben wir eine dunkle Ahnung
dessen, was nun voraussichtlich kommen wird, ohne uns jedoch
ein klares Bild davon machen zu können. In der Tat scheint uns
irgendein alsbald eintretendes Ereignis wirklich unsere Ahnung
zu erfüllen. Auf diese Weise stehen wir eine kurze Zeitlang ge-
wissermaßen als untätige Zuschauer dem eigenen Vorstellungs-
verlaufe gegenüber, der in unbestimmten Andeutungen dem wirk-
lichen Gange der Dinge vorauseilt, bis plötzlich die ganze Er-
scheinung verschwindet. Gefühle einer peinlichen Unsicherheit und
Spannung pflegen sich regelmäßig mit derselben zu verknüpfen.
In sehr ausgeprägter Weise wird diese Störung hier und da
unter krankhaften Verhältnissen, besonders bei Epileptikern im
Zusammenhange mit den Anfällen, beobachtet. Was sie von
den früher genannten Formen der Erinnerungsfälschung unter-
scheidet, ist die völlige Gleichheit der gesamten Situation,
unter Einschluß der eigenen Person, mit einer anscheinenden
Erinnerung (identifizierende Form). Während dort einzelne Ein-
drücke als von früher her mittelbar oder häufiger unmittelbar
bekannt aufgefaßt werden, ist hier die ganze Lage mit allen Ein-
Störungen der Orientierung. 265
zelheiten vermeintlich nur das getreue Abbild eines völlig gleichen
Erlebnisses aus der eigenen Vergangenheit. So kommt es, daß
in den recht seltenen Fällen, in denen sich diese Fälschung Wochen,
Monate, ja durch Jahrzehnte hindurch fortspinnt, mit einer ge-
wissen Notwendigkeit in dem Kranken die Vorstellung erzeugt
wird, daß er ein sich selbst wiederholendes Doppelleben führe.
Pick hat sogar einen Fall beschrieben, bei dem eine Vervielfachung
der Erinnerung eintrat. Die Grundlage dieser Störung ist durch-
aus dunkel. Möglich ist es, daß . bisweilen wirkliche verschwommene
Erinnerungen, namentlich aus Träumen, auf Grund entfernter
Ähnlichkeiten mit der vielfach nur in allgemeinen Umrissen auf-
gefaßten gegenwärtigen Situation fälschlich in Verbindung ge-
bracht werden, doch spricht die Häufigkeit, mit der sonst Erinne-
rungsfälschungen ganz frei entstehen, wenig für diese Erklärung.
Die unangenehmen Erwartungsgefühle lassen sich wohl am wahr-
scheinlichsten auf das vergebliche Ringen nach einer deutlichen
Auffassung des verschwommenen Bewußtseinsinhaltes zurückführen.
Störungen der Orientierung. Die fortlaufende geistige Verarbei-
tung der Lebensereignisse hat die Folge, daß wir uns dauernd über
die jeweilige allgemeine Lage, in der wir uns befinden, und über
ihre Entwicklung aus vergangenen Ereignissen Rechenschaft zu
geben vermögen. Diese Klarheit der Beziehungen zur gegenwärtigen
Umgebung wie zur Vergangenheit bezeichnen wir als Orien-
tierungi). Natürlich haben wir es dabei mit einer recht verwickel-
ten geistigen Leistung zu tun, an deren Zustandekommen die ver-
schiedensten Gebiete unseres Seelenlebens beteiligt sind. Zunächst
entwickelt sich die zeitliche Ordnung unserer Erfahrungen aus
der ununterbrochenen und allseitigen Verknüpfung, welche durch
das Gedächtnis zwischen allen gleichzeitigen und unmittelbar auf-
einanderfolgenden Vorgängen in unserem Bewußtsein stetig her-
gestellt wird. Auf diese Weise ordnet sich die ganze Summe unserer
Erinnerungen in eine fortlaufende Reihe ein, deren Endpunkt der
gegenwärtige Augenblick bildet, während das Anfangsglied mehr
oder weniger weit in die Vergangenheit zurückreicht. Nur die jüng-
sten Bestandteile dieser Reihe sind jeweils in größerer Vollständig-
keit und Klarheit Inhalt unseres Gedächtnisses; je weiter wir nach
^) Finzi, Rivista di patologia nervosa e mentale, IV, 8. 1899.
266
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
rückwärts gehen, desto mehr verwischen sich die Einzelheiten, und
desto rascher schrumpft die Reihe auf wenige, besonders bedeut-
same Erinnerungstatsachen zusammen, an welche sich ein Ge-
misch von Einzelreminiszenzen in mehr oder weniger lockerer
Weise anknüpft. Jene Marksteine sind es, welche sich in bestimmte
Beziehungen zu allgemeineren Ereignissen, insbesondere zur Zeit-
rechnung, setzen und uns damit eine wenigstens annähernde
zeitliche Ordnung unserer Erfahrungen in der Vergangenheit er-
möglichen.
Auch die Klarheit über den Ort, an dem wir uns befinden,
ist zum Teil an die Leistungen des Gedächtnisses geknüpft. Einer-
seits vermögen wir mit Hilfe früher erworbener Erinnerungs-
bilder die Einzelheiten unserer augenblicklichen Umgebung wieder-
zuerkennen; andererseits können uns die vorangegangenen Er-
eignisse auch über eine uns sonst ganz unbekannte Umgebung
Klarheit verschafft haben, wenn eben durch jene die Ortsverände-
rung in eindeutiger Weise vorbereitet und von uns vorausgesehen
wurde. Allerdings werden wir weiterhin für die örtliche Orien-
tierung vielfach auch der Auffassung eine wesentliche Rolle bei-
zumessen haben. In allen Lebenslagen, in denen wir nicht vorher
wissen, wohin wir kommen, oder durch irgendwelche Umstände
in unserer Erwartung getäuscht worden sind, klärt uns die Wahr-
nehmung regelmäßig bald über die wirkliche Lage auf, indem
sie in irgendeiner Weise die Anknüpfung der neuen Eindrücke
an frühere Erfahrungen herstellt. Freilich wird es sich dabei
öfters nicht um eine einfache Deckung der gegenwärtigen Um-
gebung mit Erinnerungsbildern handeln, sondern das Verständnis
der Umgebung wird vielleicht erst durch mehr oder weniger um-
ständliche Überlegungen und Schlüsse gewonnen. Ganz dasselbe
gilt für die Orientierung über die Personen, bei der ebenfalls Ge-
dächtnis, Auffassung und Urteil zusammenwirken müssen.
Aus diesen Darlegungen geht hervor, daß die Orientierung
unserer Kranken durch sehr verschiedene Störungen beeinträch-
tigt werden kann. Es empfiehlt sich daher vielleicht, ganz all-
gemein drei Hauptformen der Desorientiertheit auseinanderzu-
halten, je nachdem die Ursache wesentlich in krankhaften Ver
änderungen der Auffassung, des Gedächtnisses oder des Urteils
liegt. Im einzelnen Falle kann sich dabei recht wohl die Wirkung
Störungen der Orientierung. 267
mehrerer dieser Störungen miteinander verbinden. Ferner kann
sich der Umfang der Störung entweder auf alle Gebiete der
Orientierung erstrecken oder sich auf einzelne Beziehungen be-
schränken, so daß wir gänzliche und teilweise Desorientierung
auseinanderhalten können.
Das Bild der Störung ist demnach ein sehr verschiedenes,
um so mehr, als die Beeinträchtigung der psychischen Leistungen,
aus der die Unklarheit der Kranken hervorgeht, sehr mannig-
facher Art sein kann. So kann die Auffassung der Umgebung
dadurch behindert sein, daß die Kranken nicht die genügende
geistige Regsamkeit besitzen, um die äußeren Eindrücke zu ver-
arbeiten, durch eine Denkhemmung, durch Trübung des Bewußt-
seins mit oder ohne Verfälschung der Wahrnehmung. Der erste
Fall ist sehr häufig in der Dementia praecox. Bei dieser apa-
thischen Desorientierung fehlt den Kranken, obgleich sie ohne
Schwierigkeit wahrnehmen, jede Neigung, sich über die Bedeu-
tung dessen, was sie sehen und hören, Rechenschaft zu geben,
so daß sie sich nach Wochen oft noch nicht darum gekümmert
haben, wo sie sich befinden, wer die Personen ihrer Umgebung
sind, wie lange Zeit verflossen ist. Nur scheinbar ähnlich ist die
Wirkung der Denkhemmung, wie sie uns im manisch-depressiven
Irresein begegnet. Hier wird die zusammenhängende Auffassung
der Umgebung durch die Erschwerung der Denkarbeit verhindert,
so daß der Zustand der Ratlosigkeit entsteht. Die Kranken
nehmen wohl Einzelheiten wahr, vermögen sich aber aus ihnen
kein Bild ihrer Lage zusammenzusetzen. Ähnlich ist vielleicht die
Desorientierung bei heftiger manischer Erregung zu beurteilen,
die ebenfalls regelmäßig mit starker Erschwerung der Auffassung
und der Verarbeitung äußerer Eindrücke einhergeht. Auch die
verschiedenen Formen der Bewußtseinstrübung, wie sie bei Herd-
erkrankungen, bei der Epilepsie, im Rausche beobachtet werden,
bedingen mehr oder weniger ausgeprägte Beeinträchtigungen der
Orientierung. In den deliriösen Zuständen, die uns als selbständige
Krankheitsbilder hauptsächlich bei Infektionen und Vergiftungen
sowie bei der Epilepsie und Hysterie begegnen, tragen außer der
Unklarheit der Auffassung noch wirkliche Trugwahrnehmungen
dazu bei, das Bild der Umgebung zu trüben und zu verfälschen.
Wenn man will, kann man alle diese Formen der Desorientiert-
268
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
heit als stuporöse, deliriöse, halluzinatorische auseinander-
halten, doch wird man immer zu bedenken haben, daß im ein-
zelnen Krankheitsfalle die Entstehung der Störung gewiß nie-
mals ganz einheitlich, sondern stets durch das Zusammenwirken
verschiedener Ursachen bedingt ist.
Ein gutes Beispiel dafür gibt die Desorientiertheit im Delirium
tremens. Hier bestehen Sinnestäuschungen und eine Auffassungs-
störung. Dennoch ist das Mißverhältnis zwischen der Besonnen-
heit der Kranken und ihrer völligen Unklarheit über ihre" ganze
Lage höchst auffallend. Zum Teil mag hier wohl der Umstand
eine Rolle spielen, daß die Auffassung der Lautsprache weit we-
niger gestört ist, als diejenige von Gesichtseindrücken, die eher
bei der Orientierung von besonderer Wichtigkeit sind. Allein dk
Kranken kommen auch dann nicht zur Klarheit, wenn man si«
über ihre Lage eingehend unterrichtet, obgleich sie diese Aus-
einandersetzung ganz gut verstehen. Die inneren deliriösen Er-
lebnisse verdrängen rasch wieder die Wirkung der aufklärender
Worte. Dazu kommt, daß der Inhalt dieser letzteren, wie dei
wirklichen Wahrnehmung überhaupt, nicht haftet, sondern sehi
bald einfach vergessen wird. Durch diesen letzteren Umstanc
wird besonders die kennzeichnende Unklarheit über die Erleb-
nisse und die zeitlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheil
erzeugt.
In denjenigen Fällen, in denen sich an das Delirium tremens
die Korssakowsche Krankheit anschließt, tritt die amnestische
Desorientiertheit, wie wir sie etwa bezeichnen können, immei
mehr in den Vordergrund, da die Störung der Auffassung, die
Sinnestäuschungen, die Delirien sich ganz oder bis auf geringe
Reste verlieren können. Demgemäß werden die Kranken meisl
über ihre Umgebung und ihre Lage klar, vermögen sich abei
durchaus nicht in der Zeit zurechtzufinden. Sie wissen nicht
wann sie in die Anstalt gekommen sind, wann sie zuletzt Besuch
gehabt, ja wann sie zu Mittag gegessen haben, da die Eindrücke
bei ihnen zu locker haften, um sich zu jener festgegliederten Reihe
aneinanderschließen zu können, welche dem rückschauender
Blicke die Abschätzung der zeitlichen Entfernung von der Gegen-
wart gestattet. Ähnlich wie wir uns nach einförmigen, reizlosen
Wochen des letzten bedeutsamen Ereignisses entsinnen, als sei es
Störungen der Orientierung.
269
„erst gestern" gewesen, so erscheinen diesen Kranken die Mo-
nate, die keine bleibende Spur in ihrer Erinnerung zurückgelassen
haben, wie wenige Tage. Oder aber die Bilder der letzten Ver-
gangenheit verblassen so schnell, daß sie ihnen weit zurückzuliegen
scheinen und die Kranken sich schon Monate in der Umgebung
glauben, in die sie gerade erst eingetreten sind. Das gewohnte Maß
des Wechsels der Tageszeiten, das uns vor dem unwillkürlichen
Schätzungsfehler bewahrt, hinterläßt hier keine Spuren, welche eine
zeitliche Entfernungsschätzung ermöglichen könnten. Auf der
anderen Seite wird sie durch das Auftauchen von Erinnerungs-
fälschungen ganz besonders erschwert.
Noch stärker ausgeprägt kann die amnestische Desorien-
tierung in denjenigen Formen des Altersblödsinns sein, die wir
mit Wer nicke als Presbyophrenie bezeichnen. Die überaus
starke Merkstörung macht hier, wohl in Verbindung mit einer
Erschwerung der Auffassung, gewöhnlich auch die geistige Ver-_
arbeitung der augenblicklichen Eindrücke unmöglich, so daß die
Kranken von ihrer Umgebung kein klares Bild zu gewinnen ver-
mögen, obgleich sie Einzelheiten ohne erhebliche Schwierigkeit
verstehen. Auch die bekannte zeitliche Desorientierung der Pa-
ralytiker ist wesentlich amnestischen Ursprungs. Bei ihnen haben
wir einmal die Unfähigkeit, überhaupt Zeitangaben zu machen
und Widersprüche darin zu erkennen, sodann aber die Unklarheit
über die zeitliche Ordnung der jüngsten Erlebnisse auseinander-
zuhalten. Außer der Gedächtnisschwäche und der meist gar nicht
sehr hochgradigen Merkstörung spielt hier auch der Verlust der
geistigen Regsamkeit eine Rolle.
Als eine besondere Form der amnestischen Desorientierung
können wir endlich noch jene Unklarheit über Zeit und Umgebung
betrachten, die durch eine Erinnerungslücke erzeugt wird. Beim
Erwachen aus dem Schlafe oder aus einer Ohnmacht empfinden
wir sofort das lebhafte Bedürfnis, uns über unsere gesamte Lage
klar zu werden und damit die Anknüpfung an die früheren Er-
lebnisse wieder zu gewinnen. Haben sich inzwischen eingreifende
Veränderungen abgespielt, so kann die Lösung dieser für gewöhn-
lich so einfachen Aufgabe recht schwierig werden, zumal wenn
zunächst vielleicht noch gewisse Behinderungen der Auffassung
oder des Denkens fortbestehen. Aus diesen Gründen sehen wir
270
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
nach länger dauernden Zuständen schwerer Bewußtseinstrübung
und dadurch bedingten Erinnerungslücken sehr gewöhnlich eine
Zeitlang mangelhafte Orientierung andauern. Unter Umständen
kann dabei auch die Nachwirkung von Täuschungen und Delirien
aus der abgelaufenen Störung mitspielen.
Eine ganz andere Bedeutung, als die bisher besprochenen
Formen, hat endlich die wahnhafte Desorientierung. Hier ist
es nur die geistige Verarbeitung der an sich richtig aufgefaßten
und eingeprägten Eindrücke, die nicht zu einer Unklarheit, son-
dern zu einer falschen Ansicht über Zeit und Umgebung führt.
Eine bewußte Überlegung braucht dabei nicht stattzufinden; es
handelt sich nur darum, daß sich die Kranken in ausdrücklichen
Gegensatz zum Augenschein und zu den Aussagen ihrer Um-
gebung stellen. Unter Umständen können jedoch wohl illusionäre
oder halluzinatorische Wahrnehmungen den besonderen Anstoß
zu der wahnhaften Deutung geben. Hierher gehören namentlich
viele Personenverkennungen , die Angaben deprimierter Kranker,
sie seien im Gefängnis, in der Hölle, in einem schlechten Hause,
die hartnäckigen Verschiebungen von Tag oder Jahreszahl bei
paranoiden Kranken usf.
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe. Die
einfachsten Vorstellungen enthalten nur Bestandteile aus einem
einzigen Sinnesbereiche. Mit dem Fortschritte der geistigen Aus-
bildung jedoch entstehen immer verwickeitere Gebilde , deren
einzelne Glieder den verschiedensten Gebieten der Sinneserfah-
rung entstammen. Meistens ist dabei wohl der Anteil, den die
einzelnen Sinne liefern, ein sehr verschiedener. Nicht nur kommt
gewissen Gruppen von Wahrnehmungen für die Vorstellungs-
bildung überhaupt eine weit größere Bedeutung zu als anderen,
sondern es werden auch je nach der persönlichen Anlage bald
mehr diese, bald mehr jene Gebiete der Sinneserfahrung bei diesem
Vorgange bevorzugt. Während im Vorstellungsleben des einen
diejenigen Bestandteile überwiegen, die durch das Auge aufge-
nommen wurden, treten bei anderen die vom Gehör oder durch
die Bewegungsempfindungen gelieferten Eindrücke besonders in
den Vordergrund. Bei völligem Ausfall ganzer Sinnesgebiete werden
auch die Vorstellungen eine eigentümliche Einseitigkeit darbieten
müssen, ja, es kann der Fall eintreten, daß sich die gesamten Vor-
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe. 27 1
Stellungen ausschließlich aus den Wahrnehmungen des Tast- und
Bewegungssinnes zusammensetzen müssen. Auch in diesem Grenz-
falle ist übrigens noch eine hohe Entwicklung des Vorstellungs-
lebens möglich.
Es ist erklärlich, daß unvollkommene Ausbildung und ge-
ringe Nachhaltigkeit der sinnlichen Eindrücke die Entwicklung
zusammengesetzter Gestaltungen unserer Vorstellungstätigkeit in
hohem Grade beeinträchtigen müssen. Die einzelnen Wahrneh-
mungsbestandteile treten in keine näheren Beziehungen zueinander
und zu den früheren Erfahrungen; vereinzelt und ohne An-
knüpfung nach irgendeiner Richtung hin, gehen sie in dem unter-
schiedslosen Gemenge rasch und vollständig wieder verloren. Der-
artige Zustände haben wir wohl bei den schwersten Formen des
angeborenen und erworbenen Blödsinns tatsächlich anzunehmen.
Hier findet vielfach eine engere Verknüpfung der einzelnen Wahr-
nehmungen überhaupt nicht statt. Die Glieder der Erfahrungs-
kette schließen sich nicht aneinander, sondern jeder Eindruck
fällt rasch, wie er entstanden war, ungenutzt wieder dem Ver-
gessen anheim.
Mit der reicheren und vielseitigeren Ausbildung der Vorstel-
lungen wird der Bau derselben notwendigerweise immer ver-
wickelter. Die Zahl und die Verschiedenartigkeit der miteinander
verknüpften Bestandteile nimmt zu, so daß schließlich der ganze
Umfang eines derartigen psychischen Gebildes sich nicht mehr
ohne weiteres, sondern nur bei der Betrachtung von den verschie-
densten Seiten her vollständig ermessen läßt. Gleichzeitig verlieren
auch die Bestandteile selbst mehr und mehr ihre sinnliche Be-
stimmtheit, da sie nicht einem einzelnen Sinneseindrucke, sondern
vielfach wiederholten Wahrnehmungen entsprungen sind. Das
Zufällige und Nebensächliche der Einzelerfahrungen verwischt
sich, während das Wesentliche, immer Wiederkehrende sich stärker
ausprägt und befestigt. Auf diese Weise werden eben die ursprüng-
lichen Erinnerungsbilder zu wirklichen Vorstellungen; sie sind nicht
mehr der einfache Nachklang einer bestimmten Sinneserfahrung,
sondern der allgemeine Ausdruck sämtlicher Erfahrungen einer
gewissen Art, die überhaupt auf das Bewußtsein eingewirkt haben.
Dieser Punkt der Entwicklung ist es, an welchem die sprach-
lichen Bezeichnungen ihren Einfluß auf das geistige Leben
Erscheinungen des Irreseins.
ZU entfalten beginnen. Der Umfang und die Vielseitigkeit der
Sachvorstellungen macht es unmöglich, im Gedankengange überall
den gesamten Niederschlag einer Erfahrungsreihe nach allen
Richtungen hin ins Bewußtsein zu rufen. Vielmehr tauchen beim
Denken zunächst immer nur die am kräftigsten entwickelten Be-
standteile eines derartigen psychischen Gebildes auf, wenn nicht
durch besonderen Anlaß andere Seiten der Vorstellung mehr in den
Vordergrund gedrängt werden. Bei häufiger Wiederholung dieses
Vorganges werden am Ende jene stärker ausgebildeten Teile im
abgekürzten Denkverfahren dauernd zu wirklichen Vertretern der
Gesamtvorstellung.
Diese Vertretung kann an sich natürlich jedem beliebigen Be-
standteile derselben zufallen. Auch hier bestehen ohne Zweifel
sehr weitgehende persönliche Verschiedenheiten. Zunächst werden
wohl überall einzelne sachliche Erinnerungsbilder, bald aus diesem,
bald aus jenem Sinnesgebiete, diese Rolle übernehmen, ein Ver-
halten, das um so länger und ausgeprägter fortbestehen bleibt,
je besser die sinnliche Einbildungskraft entwickelt ist. Im all-
gemeinen aber treten an die Stelle der sachlichen Erinnerungen
immer mehr deren sprachliche Zeichen. Je umfassender die ein-
zelne Vorstellung wird, je allgemeiner ihr Inhalt, desto mehr ver-
blaßt ihre sinnliche Färbung, desto größer wird das Gewicht, welches
in ihr die immer in gleicher Form wiederholte sprachliche Be-
zeichnung gewinnt. Die höchsten Entwicklungsformen der Ver-
standestätigkeit pflegen sich daher zum guten Teile ganz außer-
halb der schwerfälligen Sachvorstellungen zu vollziehen und nur
hier und da einmal das Gebiet der sinnlichen Erinnerungen flüch-
tig zu streifen. Wie es scheint, wird gerade dadurch das willkür-
liche Denken, das beliebige Heranziehen von Vorstellungen aus
unserem Erfahrungsschatze, wesentlich erleichtert, vielleicht sogar
erst ermöglicht. Das Auftauchen rein sinnlicher Erinnerungs-
bilder ist, wie das Beispiel der hypnagogischen Halluzinationen
zeigt, von unserem Willen im allgemeinen unabhängig, ähn-
lich den wirklichen äußeren Eindrücken. Dagegen vermögen
wir die an sie geknüpften Sprachbewegungsvorstellungen jederzeit
willkürlich wachzurufen. Es wäre denkbar, daß der ungeheure
Fortschritt, den die Sprache für die geistige Entwicklung be-
deutet, zu einem wesentlichen Teile auch in der Anknüpfung
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe. 273
der Erinnerungsbilder an innere Willenshandlungen zu suchen
wäre.
Unter krankhaften Verhältnissen kann der hier geschilderte
Entwicklungsgang an irgendeinem Punkte zum Stillstande kom-
men. Bei unvollkommener geistiger Veranlagung bleibt die Aus-
bildung der Vorstellungen auf der Stufe der sinnlichen Erinne-
rungsbilder stehen. Die Kranken haften an der Einzelerfahrung,
ohne das Gemeinsame aus verschiedenen gleichartigen Eindrücken
herausschälen zu können. Sie gewinnen keinen kurzen, geschlos-
senen Ausdruck für größere Erfahrungsreihen; das Unwesent-
liche scheidet sich ihnen nicht vom Wesentlichen, das Allgemeine
nicht vom Besonderen. Das gesamte Denken vermag sich daher
nicht über das Gebiet des unmittelbar sinnlich Gegebenen hinaus
zur Erfassung höherer und weitblickender Gesichtspunkte zu er-
heben. Daraus ergibt sich notwendig die Beschränkung der ge-
samten Lebenserfahrung auf den nächsten und engsten Kreis, die
Unfähigkeit zur Ausbildung allgemeiner Begriffe, welche als Grund-
lage einer abstrakteren Gedankenarbeit zu dienen vermöchten.
Bei der großen Bedeutung, die das vorhandene Wissen für
die Sammlung neuer Erfahrungen besitzt, muß die mangelhafte
Ausbildung von Allgemeinvorstellungen das Anwachsen des Vor-
stellungsschatzes in sehr ungünstiger Weise beeinflussen. Frühere
Erfahrungen schärfen unseren Blick für andere ähnliche Ein-
drücke; Neues wird weit leichter aufgenommen und festgehalten,
sobald es sich an Bekanntes anknüpfen, in bestehende Gedanken-
kreise einordnen kann. Je reicher der Vorstellungsschatz ist,
desto aufnahmefähiger wird er für jede neue Bereicherung, weil
die Beziehungen deg Seelenlebens zur Außenwelt immer zahl-
reichere und vielseitigere werden. So kommt es, daß die unvoll-
kommene Entwicklung der Vorstellungen selbst zugleich die Emp-
fänglichkeit für neue Eindrücke herabsetzt. Sie finden keine
Anknüpfung im Erfahrungsschatze, werden nicht fest eingeglie-
dert und gehen daher rasch und leicht wieder verloren. Zu der
sinnlichen Beschränktheit des Gedankenganges gesellt sich regel-
mäßig Enge des Gesichtskreises, Vorstellungsarmut und Gedächtnis-
stumpfheit.
Natürlich treten alle diese Störungen in ausgeprägter Form
nur dort hervor, wo die krankhafte Grundlage von Jugend auf
KraepeUn, Psychiatrie I, 8. Aufl. 18
274
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
besteht. Beim erworbenen Schwachsinn wird der Vorrat früherer
Erfahrungen die Unfähigkeit zur Aufnahme neuer Eindrücke, zur
Bildung neuer Vorstellungen lange Zeit hindurch mehr oder we-
niger vollständig verdecken können. Im weiteren Verlaufe freilich
wird man jene Störungen allmählich immer deutlicher sich geltend
machen sehen. Bei der Paralyse, bei der Dementia praecox, beim
Altersschwachsinn beobachten wir in gleicher Weise , wie der
Vorstellungskreis sich einengt , wie die allgemeineren , begriff-
lichen Gedankengänge zurücktreten gegenüber dem Greifbaren,
Alltäglichen und Naheliegenden. Neue Eindrücke werden nicht
mehr aufgenommen und verarbeitet, und die jüngsten Erfah-
rungen werden schnell vergessen, auch wenn die Erinnerungen
aus vergangenen Tagen noch mit überraschender Festigkeit und
Treue haften.
Kaum weniger verderblich, als die mangelnde Ausbildung der
Vorstellungsverbindungen, pflegt für das Seelenleben die krank-
hafte Beweglichkeit der psychischen Gebilde zu werden, welche
mit verwegener Leichtigkeit die verbindende Brücke zwischen
den verschiedenartigsten Erfahrungen zu schlagen weiß. Hier
genügen schon entfernte Ähnlichkeiten und teilweise Überein-
stimmungen, um zwei Vorstellungen in nahe Beziehungen zu
setzen; der Mangel an Zwischengliedern wird rasch durch immer
bereite Vermutungen ergänzt, und die Widersprüche werden in
mehr oder weniger freier Umgestaltung verwischt. So entwickelte
mir ein kranker Ingenieur einmal an der Hand umfangreicher und
sehr eingehender Zeichnungen die Idee, durch die verschieden-
artige Anordnung gewisser schmückender Bauglieder ganze Musik-
stücke in übertragener Form wiederzugeben und auf diese Weise
Auge und Ohr gleichzeitig künstlerisch anzuregen. Eine solche
Willkürlichkeit der Ideenverbindung macht natürlich bei der Be-
griffsbildung eine Auswahl des Zusammengehörigen und die Aus-
scheidung des Unwesentlichen, Entlegenen, fast gänzlich unmög-
lich. Die Begriffe müssen auf diese Weise durchaus jener Schärfe
und Klarheit entbehren, welche sie zur Grundlage höherer Geistes-
arbeit tauglich macht; sie werden verschwommene und un-
klare psychische Gebilde, mit deren Hilfe nur einseitige und ver-
schrobene Urteile von zweifelhaftem Werte sowie unbestimmte
und unsichere Analogieschlüsse zustande kommen können, sobald
Störungen der Vorstellungsverbindungen.
sich der Gedankengang aus dem Bereiche der unmittelbaren Sinnes-
erfahrung entfernt. Als klinischen Ausdruck der hier geschil-
derten Störung können wir den Hang zum Schwärmen und Träu-
men, den Mangel des Sinnes für Tatsachen und Einzelheiten, die
Verzettelung der geistigen Arbeitskraft in unausführbaren Plänen
und Hirngespinnsten betrachten. Diese Eigentümlichkeiten bilden
das Kennzeichen gewisser psychopathischer Persönlichkeiten; wir
begegnen ihnen ferner auch bei Verrückten und in den paranoiden
Zuständen.
Störungen der Vorstellungsverbindungen. Die Verbindung der
fertigen Vorstellungen untereinander vollzieht sich nach bestimmten
Gesetzen, die uns wenigstens in ihren allgemeinen Zügen bekannt
sind. Wir können zunächst zwei große Gruppen von Vorstellungs-
verbindungen auseinanderhalten, die äußeren und die inneren.
Bei jenen ersteren wird die Verknüpfung der beiden Vorstellungen
nur durch eine rein äußerliche, zufällige Beziehung vermittelt,
während wir es bei den inneren Assoziationen mit sachlichen,
aus dem Inhalte der Vorstellungen selbst hervorwachsenden Zu-
sammenhängen zu tun haben.
Im einzelnen gliedern sich beide Hauptgruppen noch weiter in
Unterformen, je nach der Art des verknüpfenden Bandes^). Eine
äußerliche Verbindung kann zunächst hergestellt werden durch
häufige Vergesellschaftung derselben Eindrücke. Dies geschieht z. B.
dann, wenn zwei W^ahrnehmungen oft oder regelmäßig in nahe
räumliche oder zeitliche Beziehung zueinander treten. Haus und
Fenster, Blitz und Donner entsprechen dieser Bedingung. Ein ganz
ähnlicher, aber noch äußerlicherer Zusammenhang kann sich durch
die sprachliche Einübung herausbilden. Bestimmte Wort- und Satz-
verbindungen befestigen sich bei uns durch häufige Wiederholung
derart, daß jeder Bestandteil derselben die übrigen regelmäßig auch
ins Bewußtsein ruft. Dahin gehören die Wortzusammensetzungen,
die stehenden Redensarten, die Zitate. Vielfach hat sich in diesen
Verbindungen die Denkarbeit früherer Geschlechter niedergeschla-
1) Aschaffenburg, Experimentelle Studien über Assoziationen, Psycho-
logische Arbeiten, I, 2; II, i; IV, 2; v. d. Plaats, Vrije Woordassociatie. Diss.
1898; Claparede, Tassociation des idees. 1903; Van Erp Taalman Kip, Psy-
chiatrische en neurologische Bladen, 1903, i; 1906, 81; 1908, 93, 293; Bouman,
Onderzoekingen over vrije Woordassociatie, Verhandl. der Akademie der Wissensch,
in Amsterdam, XII, i. 1905.
18*
276
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gen; dem sprachlichen entspricht zugleich ein sachlicher Zu-
sammenhang. Für uns aber ist diese innere Verbindung längst
in den Hintergrund getreten gegenüber der einfachen, gedanken-
losen sprachlichen Gewöhnung. In noch höherem Grade ist das
der Fall, wenn der einzelne Bruchteil, wie nicht selten, völlig sinn-
los ist und nur durch die mechanische Anfügung des Fehlenden
zu einem sinnvollen Ganzen wird.
Diese letztere Form der äußeren Vorstellungsverbindungen
bildet bereits den Übergang zu den für die Psychiatrie besonders
wichtigen Klangassoziationen. Bei diesen handelt es sich um
die Verknüpfung zweier Vorstellungen lediglich auf Grund des
sprachlichen Gleichklanges. Übereinstimmung einzelner Buch-
staben, nicht selten in der Form des Reims, genügt hier, die ver-
bindende Brücke zu schlagen, ganz ohne jede Rücksicht auf den
Inhalt. Auch hier wird die Eigenart des Vorganges am klarsten
in jenen Beispielen, in denen der assoziierte Gleichklang überhaupt
keinen sprachlichen Inhalt mehr besitzt, sondern völlig sinnlos ist.
Welcher Bestandteil der sprachlichen Ausdrucksformen, das Wort-
klangbild oder die Sprachbewegungsvorstellung, bei den Klang-
assoziationen die Verknüpfung übernimmt, läßt sich von vornherein
nicht sagen. Es ist jedoch bemerkenswert, daß die Klangasso-
ziationen sich in der Regel dort finden, wo ein gewisser Rededrang
auftritt, so bei der manischen Erregung, dann unter Alkoholein-
fluß und nach schnellem Spazierengehen. Diese Erfahrung dürfte
mehr für eine Beteiligung der Sprachbewegungsvorstellungen
sprechen. In gleichem Sinne wäre die Tatsache zu deuten, daß
unter Alkoholwirkung die Reimzeiten bei Assoziationsversuchen
trotz erschwerter Auffassung verkürzt erscheinen.
Bei der zweiten großen Gruppe von Vorstellungsverbindungen
begegnet uns zunächst die Verknüpfung nach Über-, Neben- und
Unterordnung. Der Entwicklungsgang der Vorstellungen voll-
zieht sich ja in der Weise, daß wir von sinnlichen Einzelerfah-
rungen durch Eingliederung ähnlicher Eindrücke allmählich zu
einer Stufenleiter von immer allgemeineren Vorstellungen ge-
langen. Alle einzelnen Glieder dieser Entwicklung stehen natur-
gemäß miteinander in näherer oder fernerer Verbindung, so daß
unser Gedankengang jederzeit den Schritt vom Besonderen zum
Allgemeinen wiederholen kann, mit dem er einstmals seine Aus-
Störungen der Vorstellungsverbindungen.
277
bildung begonnen hat. Der gleiche Weg ist aber auch in umge-
kehrter Richtung gangbar, und endlich vermögen wir dauernd
den Vorgang zu erneuern, der uns von Anfang an die Verknüp-
fung innerlich übereinstimmender Erfahrungen untereinander er-
möglichte. Alle diese Verbindungen bilden zusammen die psycho-
logische Grundlage derjenigen (,, analytischen") Urteile, welche das
gegenseitige Verhältnis unserer Vorstellungen zueinander von den
sinnlich einfachsten zu den verwickeltsten und allgemeinsten
Formen zum Ausdrucke bringen.
Demgegenüber können wir eine andere Form der inneren
Assoziationen wohl als die Vorstufe jener (,, synthetischen") Ur-
teile auffassen, bei denen es sich um die Bereicherung unserer
Vorstellungen durch neue Bestandteile handelt. Wir bezeichnen
diese Vorstellungsverbindungen vielleicht am besten als prädi-
kative. Sie fügen zu einer gegebenen Vorstellung irgend ein Merk-
mal hinzu, welches nicht notwendig zur Begriffsbestimmung ge-
hört, sondern eine mehr oder weniger eng begrenzte Gruppe von
Einzelerfahrungen aus der Gesamtzahl der Vorstellungsbestandteile
heraushebt. Diese beschränkte Aussage kann dabei sowohl gegen-
wärtigen Eindrücken wie der Erinnerung entnommen werden. Die
prädikativen Assoziationen enthalten demnach meist Eigenschaften,
Zustände, Tätigkeiten, durch welche die voraufgehende Vorstellung
nach irgendeiner Richtung hin näher bestimmt wird. Es werden
gewisse Bestandteile derselben, seien sie längst oder gerade erst
erworben, heller beleuchtet, die an sich beim Auftauchen jener
Vorstellung nicht mit ins Bewußtsein getreten wären. So wird
etwa die Vorstellung Hund in uns neben der sprachlichen Be-
zeichnung durch die allgemeinen Umrisse des Tieres vertreten;
vielleicht werden wir uns dabei noch dunkel dessen bewußt,
daß der Hund ein Tier, daß er schwarz gefärbt ist, daß er läuft.
Alle diese unklaren Bestandteile der Hauptvorstellung können
durch den weiteren Verlauf des Gedankenganges zur deutlichen
Ausprägung gebracht werden. Nur der erstgenannte aber ist
ein notwendiges Glied der Vorstellung Hund; die beiden letzteren
und zahllose andere ähnliche enthalten eine nähere Bestim-
mung, die nicht auf alle Hunde ohne Ausnahme zutrifft. Folgt
daher auf die Vorstellung Hund die Vorstellung Tier, so haben
wir es mit einer Assoziation nach Überordnung zu tun, während
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die beiden anderen Anknüpfungen prädikative Bestimmungen ent-
halten.
Die Gruppierung der Vorstellungsverbindungen bei einzelnen
Personen, wie sie durch den Assoziationsversuch, die Anknüpfung
der ersten auftauchenden Vorstellung an zugerufene Worte, auf-
gedeckt wird, kann sich ' sehr mannigfaltig gestalten. Bouman
unterscheidet verschiedene Typen, je nachdem unter den Asso-
ziationen die Koordinationen, die prädikativen, die Wortergän-
zungen, die Klangassoziationen oder die sprachlichen Erinnerungen
überwiegen; auch Jung und Ricklin kennzeichnen einen prädi-
kativen Typus, der sich zugleich durch geringere Ablenkbarkeit
auszeichnen soll. Eine gewohnheitsmäßige erhebliche Vermeh-
rung der Klangassoziationen entsteht beim Assoziieren in einer
fremden Sprache; sonst deutet sie fast immer auf mehrsprachige
Jugenderziehung hin. Außer diesen mehr oder minder gut ab-
grenzbaren persönlichen Assoziationsgewohnheiten kann aber der
einzelne Versuch durch allerlei Zufälligkeiten, namentlich durch
Einstellungserscheinungen, wesentlich beeinflußt werden. Irgend
eine Assoziationsform, die gerade auftaucht, z. B. ein Reim, eine
Eigenschaft oder Tätigkeit, eine Übersetzung, kann gelegentlich
eine größere Zahl ähnlicher Verbindungen nach sich ziehen. End-
lich ist auch der allgemeine Zustand der Versuchsperson von Be-
deutung. Ermüdung nach durchwachter Nacht, körperliche Erre-
gung, Alkoholgenuß steigern, wie schon angedeutet, die Neigung
zu sprachlichen und Klangassoziationen. Nach Jungs Angaben
sollen gefühlsstarke Vorstellungskomplexe, die durch das Reizwort
angeregt werden, eine Verlängerung der Assoziationszeiten, die
sich auch auf die folgenden Versuche erstrecken kann, das Auf-
treten unsinniger Assoziationen, Wiederholung des Reizwortes, Miß-
verstehen desselben, Versprechen, Übersetzen in fremde Sprachen
und noch andere Abweichungen bewirken. Ich halte diese An-
gaben, bei deren Begründung der willkürlichen Auslegung weiter
Spielraum gegeben ist, für viel zu weitgehend, und auch die neuer-
liche Nachprüfung Schnitzlers hat sie nicht bestätigen können.
Die Assoziationsreihen unserer Kranken weichen, soweit es
sich nicht um Bildungsunterschiede handelt, im allgemeinen auf-
fallend wenig von denen der Gesunden ab. Das erklärt sich nament-
lich aus der überwiegenden Rolle, die der Sprache für den Ausfall
Störungen des Gedankenganges.
279
des Versuches zukommt. Was sich in ihm ausdrückt, ist in der
Hauptsache der Niederschlag der Sprachgewohnheiten, die ja zu-
meist durch die Krankheit verhältnismäßig wenig beeinflußt werden.
Immerhin läßt sich natürlich zeigen, daß bei verblödenden Kranken
eine größere Gedankenarmut und Einförmigkeit in den Versuchs-
ergebnissen hervortritt, daß öfters unsinnige Antworten, Wieder-
holung des Reizwortes, Mißverständnisse, Versager vorkommen;
auch Haften der gleichen Antwort begegnet uns. Anscheinend ist
die einzige Erkrankung, bei der die Assoziationen eine kennzeich-
nende Veränderung aufweisen, die manische Erregung. Hier tritt
meist sehr deutlich die Neigung zu Klangassoziationen, insbeson-
dere Reimen, Zitaten und Wortergänzungen hervor, die schließ-
lich alle anderen Formen verdrängen können. Offenbar bestehen
gewisse Beziehungen zum Rededrange, der eben die sprachlichen
Bestandteile der Vorstellungen in den Vordergrund schiebt.
Störungen des Gedankenganges. Die Verbindung unserer Vor-
stellungen pflegt sich nur dann nach den geschilderten Assoziations-
regeln zu vollziehen, wenn wir unsere Gedanken planlos schweifen
lassen. Beim geordneten Denken jedoch verfolgen wir einen be-
stimmten Gedankengang, d. h. der Ablauf unserer Verstandesarbeit
wird von irgend einer allgemeinen Vorstellung beherrscht, die
jeweils die Richtung der weiteren Anknüpfungen bestimmt. Diese
Leitvorstellung oder ,, Obervorstellung" kann, wie Liepmann aus-
geführt hat, das Gesamtbild einer wirklichen Lebenslage, eines
Vorganges, oder eine abgezogene, zusammenfassende Vorstellung
sein. Unter ihrem fortdauernden Einflüsse werden von den auf-
tauchenden Vorstellungen immer diejenigen Bestandteile beson-
ders kräftig angeregt, die mit ihr in näherer Beziehung stehen.
Aus der großen Zahl möglicher Anknüpfungen kommen auf diese
Weise nur diejenigen wirklich, zustande, die in einer bestimmten,
durch die allgemeinen Ziele des Gedankenganges bedingten Rich-
tung liegen. Neben der umfassendsten Vorstellung, die dauernd
maßgebend bleibt, sind vielfach noch untergeordnete Leitvorstel-
lungen vorhanden, die in den einzelnen Abschnitten des ablaufen-
den Gedankenganges einander ablösen, aber in jener ersteren zu-
sammenfließen. So entsteht die innere Einheit und Geschlossen-
heit unseres Denkens, die geistige Freiheit, die uns in den Stand
setzt, unseren Vorstellungsverlauf nach Gesichtspunkten zu lenken,
28o
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die aus der Entwicklungsgeschichte unserer gesamten psychischen
Persönhchkeit hervorgegangen sind. Allerdings erreichen wir die
volle Einheitlichkeit eines Gedankenganges nur durch besonders
darauf gerichtete Willensanstrengung, die es uns ermöglicht, un-
verrückt die Leitvorstellung festzuhalten, also etwa bei planmäßiger
geistiger Arbeit. Für gewöhnlich pflegen auch in kürzeren Zeit-
räumen die Leitvorstellungen vielfach zu wechseln.
In Krankheitszuständen kann der einheitliche Fortschritt des
Gedankenganges, wie er durch kräftige Ausbildung der Leitvor-
stellungen gewährleistet wird, auf verschiedene Weise gestört
sein. Wir betrachten zunächst diejenigen Vorgänge, die eine Be-
hinderung seiner Entwicklung bedingen. Allerdings sind wir bei
der Beurteilung des Vorstellungsablaufes lediglich auf die sprach-
lichen Äußerungen der Kranken angewiesen, die uns zweifellos
nur ein sehr unvollkommenes und häufig verzerrtes Bild des wirk-
lichen Verhaltens liefern. Die einfachste jener Störungen ist das
Haften der Vorstellungen^). In erster Linie handelt es sich
dabei um die ungewollte Wiederkehr der gleichen sprachlichen Be-
zeichnungen und Wendungen. Im Zustande der Ermüdung begeg-
net es uns nicht selten, daß uns zu unserem Verdrusse immer die-
selben Worte auf die Zunge oder in die Feder kommen; gewöhnlich
verbindet sich damit häufiges Versprechen im Sinne der voran-
gegangenen Wendungen. In krankhafter Ausbildung treffen wir
diese Störung bei Hirnerkrankungen an, namentlich bei der Arterio-
sklerose. Die Kranken bringen die einmal gebrauchten Bezeich-
nungen wiederholt vor; sie belegen Gegenstände fälschlich mit
emem Namen, den sie gerade gehört oder ausgesprochen haben,
oder mischen richtige und haftende Wortbruchstücke durchein-
ander. Namentlich unter dem Einflüsse der Ermüdung kann die
Störung rasch so stark werden, daß man keine richtige Antwort
mehr erhält, sondern nur wechselnde oder einförmige Wieder-
holungen der früheren Angaben.
Auch nichtsprachliche Vorstellungen, allerdings vorzugsweise
oder ausschließlich motorische, können haften. Die Kranken
gebrauchen vorgezeigte Gegenstände fälschlich so, wie sie es kurz
vorher richtig mit anderen gemacht haben. Neißer hat diese
1) Sölder, Jahrb. f. Psychiatrie, XVIII, 479, 1899; Heil bronner, Monatsschr.
f. Psychiatrie, XVIII, Ergänzungsheft, 293.
Störungen des Gedankenganges.
Störung treffend mit dem Namen der Perseveration gekenn-
zeichnet. In einigen Fällen von Altersblödsinn mit ausgeprägtem
Haften konnte Schneider nachweisen, daß die Entwicklung der
angeregten Vorstellungen ungemein verlangsamt war. Die Bezeich-
nung eines Bildes wurde vielfach erst dann, aber nun richtig, vor-
gebracht, wenn inzwischen schon ein oder zwei andere Bilder ge-
zeigt worden waren, so daß also eine regelmäßige, erhebliche Ver-
spätung anzunehmen war. In der Tat hat man bei der Perseveration
vielfach den Eindruck, als ob die Kranken zunächst der neuen
Wahrnehmung völlig verständnislos gegenüberstehen und auf das
Drängen daher einfach das Vorangegangene wiederholen. Heil-
bronner fand in postepileptischen Dämmerzuständen das Haften
stärker bei der Lösung schwierigerer Aufgaben; er ist daher der
Meinung, daß die Unfähigkeit, einer gestellten Anforderung zu ent-
sprechen, den Willensantrieb wieder in die vorher beschrittenen
Bahnen drängt. Auch Vogt weist darauf hin, daß an sich jede
Willenshandlung die Neigung zeige, sich zu wiederholen, wie es
durch die arbeiterleichternde Wirkung der Anregung dargetan
wird. Die Perseveration würde demnach nicht durch eine besondere
Hartnäckigkeit der haftenden Vorstellung bedingt werden, sondern
dadurch, daß der Ausfall neu hervortretender Vorstellungen eine
Lücke entstehen läßt, die nun unwillkürlich durch Wiederholung
des eben abgelaufenen Vorganges ausgefüllt wird. Bei der Para-
phasie, die sich sehr gewöhnlich mit Haften verbindet, ergibt sich
die Lücke durch die Schwierigkeit der Wortfindung.
Sorgfältig von der Perseveration zu unterscheiden ist die Nei-
gung, dieselben Vorstellungen ,,zu Tode zu hetzen", wie sie uns
in ausgeprägtester Form bei der Dementia praecox begegnet. Sie
ist hier nur ein Ausfluß der allgemeinen Stereotypie der Wil-
lensvorgänge. Andeutungen dieser Erscheinung kommen auch
bei Kindern gelegentlich vor. Sie besteht in der triebartigen, oft
ins Ungemessene fortgesetzten Wiederholung derselben sprach-
lichen Äußerungen, bald für sich allein, bald unter Einflechtung
in andere, mehr oder weniger zusammenhanglose Gedankenreihen.
Der Inhalt dieser stereotypen Vorstellungen ist dabei ein ganz
zufälliger und wird nicht, wie beim Haften, durch das Vorauf-
gegangene bestimmt. Vielmehr kann eine Vorstellung über kurz
oder lang von einer anderen abgelöst werden, die dann ebenso
282
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zähe haftet, oder es schieben sich durcheinander in einen längeren
Gedankengang eine Reihe verschiedener, immer wiederkehrender
Vorstellungen ein. Offenbar spielt demnach bei dem Vorgange
nicht die besondere Eigenschaft der einzelnen Vorstellung, sondern
der Gesamtzustand des Seelenlebens die entscheidende Rolle. Da
wir wohl annehmen dürfen, daß die Stereotypie nur beim Fehlen
einer zielbewußten Willensrichtung zustande kommt, werden wir
uns nicht wundern, daß sich die triebartige Wiederholung der-
selben Vorstellungen regelmäßig mit einer Zerfahrenheit des Ge-
dankenganges verbindet , die auf ungenügende Ausbildung von
Leitvorstellungen hinweisen dürfte. Sehr deutlich tritt das in den.
folgenden Beispiele hervor:
,,Herr Vetterlieb, es war nicht so, Herr Vetterlieb, es war nicht so, es
war nicht so, A Lauer für S Lauer, A Lauer für S Lauer, nur das einzige,
A Lauer für S Lauer, Herr Vetterlieb, weil ich für Ihr einziges Kind ge-
betet habe, wie ich in Tauberbischofsheim. Herr Vetterlieb, lieber Herr
Vetterlieb, mein einzig Vetterlieb, ich will sagen, wie es gelebt hat, ein
gutes, ein böses, Herr Vetterlieb, M, R, I, S. Herr Vetterlieb, Schnaps gegen
Branntwein, Vergiftung gegen Vergiftung. Ich hänge meine Zunge bald
so, bald so, hinten hinaus, bald vorn hinaus. Herr Vetterlieb (fünfmal
wiederholt), das war Wucht, Herr Vetterlieb, eine Kupferschlange, durch-
löchert, Herr Vetterlieb, wegen des wahren, wegen des wahren, wegen des
wahren Willens" usf.
Wiederum eine andere Bedeutung, als die häufige Wieder-
kehr- derselben Vorstellungen in einem bestimmten Gedanken-
gange, hat die gewohnheitsmäßige Erneuerung gleichartiger
Vorstellungsreihen bei den verschiedensten Gelegenheiten. Wäh-
rend dort der Inhalt der stereotypen Vorstellungen von Fall zu Fall
wechseln kann, haben wir es hier mit dem erstarrten und darum
fast unveränderlichen Niederschlage früherer Erfahrungen zu tun.
Unsere ganze geistige Ausbildung beruht auf dem Umstände,
daß sich unsere Vorstellungsverbindungen durch häufige Wieder-
holung allmählich mehr und mehr befestigen. Das Ergebnis früher,
geleisteter Gedankenarbeit steht uns auf diese Weise schließlich
fast mühelos jederzeit zu Gebote, so daß wir auf der einmal er-
arbeiteten Grundlage ohne weiteres fortbauen können. Ja, auch
der gesamte Erfahrungs- und Gedankenschatz vergangener Ge-
schlechter wird uns in den festen Formen der Muttersprache als
fertiges Werkzeug für jederlei Denkarbeit überliefert. Die Bedeu-
Störungen des Gedankenganges.
283
tung dieser gegebenen Formeln im Vorstellungsverlaufe ist natür-
lich je nach der persönlichen Befähigung zu eigenem Schaffen
eine sehr verschiedene; sie kann jedoch kaum überschätzt werden.
Wir alle wissen, daß wir beständig mit einer großen Zahl von ste-
henden Wendungen und festen Ideenverbindungen arbeiten, die
mit erstaunlicher Unvermeidlichkeit bei gegebenem Stichworte
auftauchen und ablaufen, ohne unser Zutun, ja selbst gegen unseren
Willen. Ich konnte nachweisen, daß von einer größeren Gruppe
eingeübter Assoziationen nach fast zwei Jahren noch etwa 70%
in völlig gleicher Form wiederkehrten.
In Krankheitszuständen wird dieses Verhältnis ohne Zweifel
vielfach noch sehr bedeutend überschritten. Namentlich dann,
wenn die Fähigkeit zur Sammlung und Verarbeitung neuer Ein-
drücke durch das Irresein vernichtet wird, pflegen die Vorstellungs-
überreste aus gesunden Tagen allmählich in steter Wiederholung
zu erstarren. So sehen wir beim Greise, in der Paralyse und bei
verschiedenen anderen Verblödungsformen den Vorstellungsver-
lauf mehr und mehr auf einzelne, immer wiederkehrende Gedanken-
reihen einschrumpfen, die keinerlei neue geistige Arbeitsleistung
mehr enthalten. Es entwickelt sich auf diese Weise eine mehr
oder weniger hochgradige Einförmigkeit der Bewußtseinsvor-
gänge. Selbstverständlich verbindet sich damit stets eine beträcht-
liche Verarmung des Vorstellungsschatzes. Was nicht in fest-
geschlossener, unveränderlicher Verbindung erhalten bleibt, geht
rettungslos verloren. Schließlich können sich die gesamten sprach-
lichen Äußerungen einer früher reich entwickelten Persönlich-
keit auf die Abwandlung einiger weniger dürftiger Gedanken zu-
rückziehen.
Die folgende Nachschrift von einer altersblödsinnigen Kran-
ken mag das erläutern:
„Wir haben den ganzen Tag nichts gegessen — Kaffee und Brot —
Kaffee — die Frau würde gern kochen, wenn sie etwas kriegte, aber den
ganzen Tag hat sie nichts, als Kaffee und Brot — aber das geht nicht; die
Frau muß etwas zu essen haben — das geht nicht; der Mann muß auf-
hören, zu essen, die Kinder müssen essen — ei, ei, ei, das ist doch stark;
die Kinder nichts mehr zu essen, nichts wie Kartoffeln — der Vater hat
die Kartoffeln gegessen; die Mutter hat nichts, die Kinder haben nichts
— so ist es fortgegangen von einem Tag zum andern, haben die Kinder
nichts gegessen wie Kartoffel und Kaffee — ach Gott, da sind wir fertig,
284
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
da haben wir nichts gegessen, gar nichts, gar nichts; das darf nicht sein
— wo wir hin sind, haben wir den Kaffee fort und die Kartoffeln — das
ist gar nichts — nichts wie Kaffee, Kaffee, Kaffee" usf.
In nahen inneren Beziehungen zu der Einförmigkeit des Ge-
dankenganges steht eine andere, ihr äußerlich ziemlich unähn-
liche Störung, die Umständlichkeit. Wir verstehen darunter
jene Gestaltung des Vorstellungsverlaufes, bei der nicht nur die
wesentlichen und notwendigen Glieder eines Gedankenganges,
sondern auch eine größere Anzahl nebensächlicher und zufälliger
Begleitvorstellungen mit voller Deutlichkeit erzeugt werden. Da-
durch wird einerseits der Abschluß der Vorstellungskette, die Er-
reichung des vorgesteckten Zieles, immer wieder hinausgeschoben
und verzögert; andererseits wird der ganze Gedankengang un-
übersichtlich, da die Nebendinge sich ebenso in den Vordergrund
drängen wie die Hauptsachen. Diese Störung beruht demnach
auf einer unvollkommenen Sichtung der Vorstellungen nach ihrer
Bedeutung für den jeweiligen Gedankengang. Darum beschränkt
sich der Fortschritt des Denkens nicht auf die gerade Richtungs-
linie, sondern er berührt auch alle möglichen gleichgültigen Neben-
umstände. Dennoch pflegt er sein Ziel schließlich zu erreichen,
weil die Leitvorstellung über den Einzelheiten nicht ganz verloren
geht.
Den einfachsten Formen der Umständlichkeit begegnen wir
in der Gesundheitsbreite bei ungebildeten Menschen, bei denen
die Ordnung der Vorstellungen nach ihrer Wichtigkeit nur un-
vollkommen durchgeführt wird. v. d. Steinen beobachtete sie
in ausgeprägtester Weise bei den Naturvölkern Zentralbrasiliens.
Je weniger das begriffliche Denken entwickelt ist, je stärker auch
in den allgemeineren Vorstellungen noch die sinnlichen Bestand-
teile hervortreten, desto größer wird die Neigung sein, im Gedanken-
gange am Einzelnen und Nebensächlichen festzukleben. Daher
die große Schwierigkeit, von ungebildeten Leuten knappe, sachliche
Antworten zu erhalten, ihre Unfähigkeit, das Unwesentliche aus
ihren Erzählungen auszuscheiden, über einen Vorgang anders
als vom ersten Beginn an zu berichten. Gesehenes und nur Gedach-
tes oder Vermutetes scharf zu trennen. Nicht minder bekannt
ist ferner die Umständlichkeit des Greisenalters. Infolge der all-
mählichen Erstarrung der Gedankengänge laufen hier längere
Störungen des Gedankenganges.
285
Reihen von Vorstellungen ganz gewohnheitsmäßig ab, sobald sie
durch irgendeinen Anlaß angeregt werden. Diese Ketten von Er-
innerungsbildern, Lieblingsgedanken, allgemeinen Lebenserfah-
rungen schießen überall an die einzelnen Glieder des jeweiligen
Gedankenganges an und verhindern den raschen, zielbewußten
Fortgang, da sie nicht unterdrückt werden können, sondern erst
erledigt werden müssen.
Große Ähnlichkeit mit dieser Störung, die natürlich beim krank-
haften Altersblödsinn am stärksten entwickelt zu sein pflegt, zeigt
die Umständlichkeit der Epileptiker. Die Einengung des Gesichts-
kreises macht es solchen Kranken unmöglich, ein fernes Ziel
als Richtpunkt dauernd klar im Auge zu behalten ; nur an der Hand
des Einzelnen und Nächstliegenden finden sie gleichsam tastend
ihren Weg. Darum müssen sie auch immer die gleichen Um-
wege an den gleichen Merkzeichen vorüber machen, wenn sie über-
haupt ihr Ziel erreichen sollen. Ein Beispiel dafür gibt folgende
Stelle aus einer sehr umfangreichen Lebensbeschreibung:
,,Ehe man etwas glauben tut, was einem andere Leute erzählt haben,
oder was man in den Kalendern gelesen hat, man muß sich da erst fest
überzeugen und selbst nachsehen, ehe man sagen kann und glauben, die
Sache ist schön, oder die Sache ist nicht schön, erst untersuchen und selbst
mitmachen und nachsehen, und dann, wenn der Mensch alles untersucht
hat und selbst mitgemacht hat und alles nachgesehen, dann kann der
Mensch erst sagen, die Sache ist schön, oder sie ist nicht schön, oder nicht
gut; deshalb sage ich auch selbst, wenn man über eine Sache eine Aus-
kunft geben oder etwas ganz genau feststellen will, oder der Wahrheit
gemäß sprechen will, die Sache ist richtig oder die Sache ist nicht richtig,
so muß ein jeder Mensch die Sache so untersuchen, wie er es vor dem
dreieinigen Gott und vor seiner Majestät, dem Könige von Preußen, Wil-
helm der Zweite, und Kaiser von Deutschland, zu verantworten gedenkt.
Ich will nun wieder an der Erzählung, welche mir die Soldaten mitgeteilt
haben, weiter schreiben."
Eine letzte große, eigenartige Gruppe von Störungen des Ge-
dankenganges ist durch den Mangel an innerem Zusammenhange
gekennzeichnet. Die einzelnen Glieder ordnen sich nicht bestimm-
ten Gesichtspunkten unter, deren Wirksamkeit in ihrer Auswahl
und Verknüpfung hervortritt, sondern sie stehen mehr oder we-
niger unvermittelt nebeneinander; die Reden zeigen keinen ein-
heitlichen Fortschritt, sondern eine ziellose Aneinanderreihung
286
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zusammengewürfelter Vorstellungen. Es ist unmöglich, aus ihnen
einen bestimmten Inhalt herauszuschälen; vielmehr lassen sich
die verschiedenartigsten Gedankenkreise nachweisen, aber alle
nur in Andeutungen und Bruchstücken, ohne Durchbildung und
Abschluß. Vielfach macht sich der Einfluß von Zufälligkeiten,
namentlich äußeren Eindrücken, auf die auftauchenden Vorstel-
lungen bemerkbar.
Unter den klinischen Gestaltungen der hier besprochenen
Störung sind wir vielleicht imstande, zwei Hauptformen von
wesentlich verschiedener Bedeutung auseinanderzuhalten. Bei der
ersten besteht noch ein gewisser, wenn auch lockerer und viel-
fach ganz äußerlicher Zusammenhang der einzelnen Glieder, der
allerdings in den Äußerungen der Kranken nicht immer mehr
erkennbar ist, da sie ja nur Bruchteile des Gedankenganges wieder-
geben. Die Grundlage bildet wesentlich Flüchtigkeit, rascher
Wechsel und gelegentlich völliges Versagen der Leitvorstellungen.
Infolgedessen zeigt der Gedankengang vielfache Richtungsände-
rungen und Entgleisungen. Die fortwährend auftauchenden Neben-
vorstellungen, die zufälligen Sinneseindrücke, die beim planmäßigen
Denken durch die richtungggebende Macht der Leitvorstellungen
unterdrückt werden, ziehen sofort die steuerlose Aufmerksamkeit
auf sich und verhindern damit die Fortführung des Gedanken-
ganges auf der eingeschlagenen Bahn. Die kennzeichnende Stö-
rung ist somit die erhöhte Ablenkbar keit. Meist gelingt es
nur, auf einfachere Fragen kurze Antwort zu erhalten, auch wenn
die Auffassung an sich nicht so sehr gestört ist. Verlangt man die
Leistung schwierigerer Denkarbeit, so ist es in der Regel unmög-
lich, den Kranken genügend lange bei der Aufgabe zu „fixieren",
da die angeregten Vorstellungen sofort wieder von anderen in den
Hintergrund gedrängt werden. Wir belegen diese Form der krank-
haften Zusammenhangslosigkeit des Gedankenganges, dieses plan-
lose Umherschweifen des Vorstellungsverlaufes ,,vom hundertsten
ins tausendste" mit dem Namen der Ideenf lucht^).
Li ep mann hat die Ideenflucht als eine Aufmerksamkeits-
störung gekennzeichnet, gewiß mit Recht. Die Aufmerksamkeit
hat nicht nur die Aufgabe, die auftauchenden Vorstellungen in den
1) Aschaffenburg, Psychol. Arbeiten, IV, 235; Liepmann, Über Ideen-
flucht. 1904.
Störungen des Gedankenganges.
287
Blickpunkt des Bewußtseins zu ziehen und dadurch in hellere Be-
leuchtung zu bringen, sondern auch jene Leitvorstellungen festzu-
halten, unter deren Einfluß die Auswahl der sich darbietenden Vor-
stellungen erfolgt; vielleicht fallen beide Vorgänge zusammen.
Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit sind daher stets miteinander
verknüpft. Allein die Aufmerksamkeit ist in letzter Linie eine.
Willensleistung; sie ist auch regelmäßig von Andeutungen äußerer
Willenshandlungen begleitet. Die Ideenflucht findet sich daher
überall dort, wo die Fähigkeit zum Einhalten dauernder, gleich-
mäßiger Willensspannung beeinträchtigt ist, sei es, daß der Wille
einfach erschlafft, sei es, daß sich seine Regungen in einzelnen,
wechselnden Antrieben entladen. Andeutungen eines Versagens
der Leitvorstellungen können wir schon im gesunden Leben auf-
finden, wenn wir im süßen Nichtstun unseren Gedanken freien
Lauf lassen, die Fessel lösen, welche sie beim ,, Nachdenken" in
bestimmte Bahnen zwingt. Noch deutlicher wird die Erscheinung
im wirklichen Traume, wo die Allgemeinvorstellungen gegenüber
den sinnlichen Erinnerungsbildern in den Hintergrund treten.
Hier empfinden wir ja gerade die Unmöglichkeit äußerst peinlich,
einen Gedanken weiter zu verfolgen, eine auftauchende Vorstel-
lungsreihe festzuhalten. Daher die vielen überraschenden Wen-
dungen in den Traumbildern, die sprunghaften, unvermittelten
Änderungen des ganzen Bewußtseinsinhaltes. Vielleicht trägt auch
diese Eigentümlichkeit unseres Traumbewußtseins mit dazu bei,
den wechselnden Bildern das Gepräge wirklicher Erlebnisse zu
geben; sie sind unabhängiger von unserem Gedankengange, als es
sonst die Schöpfungen unserer Einbildungskraft sein könnten.
Es kann zweifelhaft erscheinen, ob diese Erfahrungen der
Ideenflucht zugehören. Dagegen dürften wir in der Ermüdung
nicht selten leichte Grade jener Störung vor uns haben. Auch hier
verlieren wir bis zu einem gewissen Grade die Herrschaft über
unseren Gedankengang. Wir vermögen das Ziel nicht mehr fest
im Auge zu behalten und ertappen uns immer häufiger auf Ab-
schweifungen nach den verschiedensten Richtungen hin, von denen
wir uns erst zwingen müssen, zu unserem Ausgangspunkte zurück-
zukehren. Schließlich sind wir ganz außerstande, länger bei dem
gleichen Gegenstande zu bleiben; gleichzeitig geht das zusammen-
hängende Verständnis für unsere Aufgabe mehr und mehr verloren.
288
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Ein ganz ähnlicher Vorgang vollzieht sich unter dem Einflüsse des
Alkohols. Die ziellosen Faseleien Betrunkener sind ja zur Genüge
bekannt. Der Berauschte vermag nicht, einer Auseinandersetzung
zu folgen, und er bleibt auch in seinem Denken und Reden keinen
Augenblick bei der Stange, sondern verliert immer von neuem den
Faden, selbst wenn man ihn durch wiederholte Hinlenkung auf
den Ausgangspunkt im Zusammenhange zu erhalten sucht.
Mit der Bezeichnung Ideenflucht verknüpft sich gewöhnlich
die Vorstellung einer beschleunigten Aufeinanderfolge der einzel-
nen Gedanken. Man hat geradezu von einer Überstürzung der
Vorstellungsbildung, von einer so massenhaften Erzeugung neuer
Vorstellungen gesprochen, daß die Zusammenhangslosigkeit ledig-
lich durch das Ausfallen zahlreicher Zwischenglieder bedingt
sein soll, die nicht schnell genug ausgesprochen werden können.
Diese Auffassung erweist sich bei genauerer Prüfung als unhaltbar.
Zunächst ist der Vorstellungsreichtum des Ideenflüchtigen nichts
weniger als groß, sondern wir begegnen jener Störung sogar häufig
genug bei auffallender Gedankenarmut. Sodann aber ist die Ge-
schwindigkeit der Vorstellungsverbindungen im Versuche niemals
beschleunigt, meist im Gegenteil deutlich verlangsamt; Ideen-
flüchtige sprechen auch bisweilen ganz langsam. Dagegen ist es
richtig, daß die einzelnen Vorstellungen ungemein flüchtig sind,
rasch auftauchen und wieder verschwinden, und daß sie wegen
ihres beständigen Abspringens in kurzer Zeit die verschiedensten
Gebiete berühren können. Durch diese Flüchtigkeit des Ablaufes
und den schillernden Wechsel der mannigfachsten Vorstellungen
entsteht vielleicht der Anschein, daß Manische schneller denken,
als Gesunde.
Die Richtung des Gedankenganges bei der Ideenflucht wird
im einzelnen durch äußere Eindrücke, ferner durch auftauchende
Vorstellungen, endlich aber, wo derartige Durchbrechungen fehlen,
durch die assoziativen Beziehungen der aufeinanderfolgenden
Glieder bestimmt. Da keine dauernden Leitvorstellungen die
Verknüpfung nach innerem Plane regeln, so können die verschie-
densten Bestandteile der Vorstellungen ihren Einfluß auf die An-
regung neuer Bewußtseinsvorgänge geltend machen. So kennen
wir Zustände, in denen die Ideenverbindung ganz vorzugsweise
durch einzelne sinnliche Erinnerungsbilder vermittelt zu werden
Störungen des Gedankenganges.
289
scheint, im Traume, in gewissen Vergiftungsdelirien, namentlich
im Opiumrausche. Lebhafte Einbildungsvorstellungen schließen
sich hier in bunter Folge aneinander, entwickeln sich ausein-
ander, losgelöst von dem festgefügten Gerüste der abstrakten
Vorstellungen. Infolgedessen entsteht eine lockere Reihe reiner
Hirngespinste ohne inneren Zusammenhang und ohne Klärung
durch die allgemeineren Lebenserfahrungen, deren schärferes
Hervortreten in unserem Bewußtsein sofort die zahlreichen Wider-
sprüche und die innere Unwahrheit der abenteuerlichen Erlebnisse
deutlich erkennen lassen würde.
Dieser deliriösen Form der Ideenflucht steht die hypomanische
Weitschweifigkeit nahe, bei der die Kranken sich überall
durch Nebenvorstellungen, Erinnerungen, Einfälle ablenken lassen,
jeder Versuchung zu Zwischenbemerkungen, Einschiebungen und
Ausschmückungen unterliegen, immerfort auf Abwege geraten
und nur durch unausgesetzte Einwirkungen zu ihrem Gegenstande
zurückgeführt werden können. Ein Beispiel dafür gibt folgendes
Bruchstück einer Antwort auf die Frage: „Sind Sie krank.?"
>, in M. hat meine Mutter noch einen Bruder, ein reicher, an-
gesehener Mann; er hat jetzt seine zweite Frau, ja, ich bin nicht so wie
Sie meinen; meine Geschwister haben mich um meine Sache immer ge-
bracht, ich bin verkürzt; den Mann, den ich habe, haben sie nicht gemocht;
ich bin die älteste, aber auch die kleinste. Von zwölf Jahren an habe ich
viel schaffen müäsen bis 48; ich habe es am härtesten gehabt. Mein Mann
läßt mich nach Mariä Einsiedeln wallen, ein rechter Dummer! Wenn ich
gewußt hätt', ich käm' da herein, nicht für 2000 Mark wär' ich da herein;
nach Mariä Einsiedeln hab' ich gewollt; darum ist hier so ein Altar er-
schienen; ich hab' Äpfel und Birnen haben wollen vom Paradies; der Dr.
K. hat von dem Kuchen gegessen und süßen Wein getrunken. Ich habe
schwarze Trauben, die sind aufgeplatzt und heruntergefallen; jetzt hab'
ich sie ausgedrückt in einem sauberen Tuch und in einen irdenen Krug
hinein; jetzt hat es süßen Most gegeben. Es ist Samstag gewesen; auf den
Sonntag muß man doch Kuchen haben; früh hab' ich Teig gemacht, das
hat unser Bäcker S. in K. gebacken und hat nichts zu backen gekostet,
denn ich hol' als meine Weck' beim Bäcker. Da hat der Dr. K. gesagt,
seine Frau könnt' nicht so backen; er hätte so ein Luder" usf.
Bisweilen macht sich in den Abschweifungen deutlich der Ein-
fluß gewisser Gedankenrichtungen geltend, die zufällig angeregt
werden, aber nicht auf ein Ziel lossteuern. Es kommt dann zur
Aufzählung verwandter Vorstellungsreihen, die erst durch irgend-
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 19
290
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
eine Nebenassoziation wieder unterbrochen wird, Aschaffen-
burg hat dafür sehr merkwürdige Beispiele eines manischen Kran-
ken angeführt, der einmal bei der Aufzählung seiner Bekannten
589 Namen hintereinander niederschrieb. Ein anderes Mal lieferte
er 49 Ortsnamen, unter denen sich die folgende Gruppe befand:
Coburg-Gotha-Eisenach-Gastein-Ems-Mainz-Mayence-Mayonnaise-Hum-
mer-Stockfisch-Enterich-Pfau-Truthahn-Erfurt-Apolda-
Man erkennt hier deutlich die planlose Aneinanderreihung der
Städtenamen, die Unterbrechung der Reihe durch eine Klangver-
wandtschaft, das Entstehen einer neuen Aufzählung ganz anderen
Inhaltes und die unvermittelte Rückkehr zu der ersten Reihe.
Das verknüpfende Band ist hier in der Hauptsache noch der Inhalt
der Vorstellungen, anscheinend deswegen, weil bei den schrift-
lichen Aufzeichnungen der Klang gar keine Rolle spielen konnte.
Immerhin ist ein gewisser Einfluß der sprachlichen Übung —
,, Coburg-Gotha" — und des Gleichklanges — ,,Mayence-Mayon-
naise" — angedeutet. Je stärker aber der Einfluß der Sprach-
vorstellungen für den Gedankengang anwächst, desto mehr kommt
es an Stelle des inhaltlichen Zusammenhanges zu einer Häufung
sprachlich eingeübter Assoziationen, gewohnheitsmäßiger Wort-
verbindungen, stehender Redensarten, endlich zur Verknüpfung
der Vorstellungen nach reiner Klangähnlichkeit. . Diese Störung
ist es, die man auch wohl im engeren Sinne als Ideenflucht bezeich-
net; vielleicht könnte man sie der durch inhaltliche Bestandteile
der Vorstellungen vermittelten ,, inneren" Ideenflucht als ,, sprach-
liche" gegenüberstellen.
Es liegt auf der Hand, daß eine sprachliche Ideenflucht im all-
gemeinen dann zustande kommen wird, wenn überhaupt die Nei-
gung besteht, den Gedankeninhalt in sprachliche Formen zu fassen.
Das trifft vor allem beim Rededrang zu, der sich allerdings auch
vorwiegend oder ausschließlich in schriftlichen Erzeugnissen äußern
kann. Ideenflucht findet sich nicht selten auch bei äußerlich ge-
hemmten Kranken; sie klagen darüber, daß sie immerfort an die
verschiedensten Dinge denken, sich die ganze Welt durchs Hirn
schlagen müßten. In der Regel wird es sich dabei nicht um sprach-
liche Formen handeln. Ohne Zweifel kommt aber auch ein inner-
licher Rededrang vor, bei dem sich das Denken trotz äußerer Hern-
Störungen des Gedankenganges. 29 1
mung in sprachlichen Wendungen abspielt. Schon aus der gesun-
den Erfahrung ist es bekannt, daß man, namentlich in Zuständen
gemütlicher Erregung mit Ermüdung, am Einschlafen gehindert
werden kann durch den Drang, innerlich Reden zu halten oder
Briefe zu schreiben. Wo ein solcher innerer Rededrang mit äußerer
Willenshemmung sich in krankhaften Zuständen, beim manisch-
depressiven Irresein, findet, dürfte auch sprachliche Ideenflucht
ohne wirkliche sprachliche Äußerungen zustande kommen.
Die besondere Art der assoziativen Anknüpfungen in der sprach-
lichen Ideenflucht macht ein Überwiegen der Sprachbewegungsvor-
stellungen dabei wahrscheinlich. Bei der Neigung zu Gleichklängen
könnten wohl auch die Wortklangbilder die Hauptrolle spielen.
Dagegen deutet die Häufigkeit von Wortergänzungen, von stehen-
den Redensarten und von Übersetzungen, die wir sicherlich vor-
zugsweise durch das Sprechen und nicht durch das Ohr erwerben,
weit mehr auf das Überwiegen sprachlich eingeübter Verbindungen
hin. Auch für die Reime, die uns ja unwillkürlich zum Mitsprechen
auffordern, dürfte dasselbe gelten. Außerdem aber findet sich das
gleiche Zeichen des Hervortretens rein sprachlicher Assoziationen
in einer Reihe von Zuständen, die alle mit motorischer Erregung
einhergehen, im Rausche, nach körperlichen Anstrengungen und
nach Nachtwachen. Bedenken wir, daß ausgeprägte sprachliche
Ideenflucht nur bei Erkrankungen mit Rededrang beobachtet
wird, mag er sich in Schreiben, innerlichem oder äußerem Reden
kundgeben, so wird die besondere Bedeutung der Sprachbewegungs-
vorstellungen für die Gestaltung dieser Form der Ideenflucht, wie
sie namentlich Aschaffenburg betont hat, sehr wahrschein-
lich. Bei schwerer manischer Erregung kann der Redeschwall
den Gedankengang gewissermaßen vollständig mit sich fortreißen.
„Der Nagel an der Wand", begann eine solche Kranke, auf einen
Nagel zeigend, fuhr aber sodann fort: „hört seine eigene Schand."
Schließlich geht auch die Form der Rede verloren, und es kommt
zu einer Folge einzelner, abgerissener Bruchstücke. Ein Beispiel
für die völlige Auflösung des inhaltlichen Zusammenhanges bietet
die folgende, bei einem manischen Kranken gewonnene Nach-
schrift:
„Flut -Maul -Mammut- schwarzweiß -slip- abgebaut den Kopf -schnipp,
schnapp-schnipp , schnapp, schnurr-Orsowa und Gradisca-Pump-Devrient-
19*
292
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Kersowa-Kousso-Odessa-Carmen-Großmann-Ernestin-zick , zack , zuck-De-
cluse-Levit -Trier -Treviran -Tribites-Trevianda -Demimonde-Mandeck-Hirsch-
dreck-Jod-Wasser-ApoUinaris-Edinburg-Gries-Aumüller-Abel-Babel-Babylon-
Schlauch-Mauer-Respirator-Bärenfeind-Schuwaloff-Rechberg-Cicero-Manuta-
Mantua -Kalakaua -Sendelbachergasse-Nauplia-nobel -Adria-Licht - nach Belt-
Grindach -Tegernbach - hintennaus - Sedelmayer - Meer - Au -Ringseis - linksum-
horch, der Lump hat seine Mutter umgebracht- schwarz werden -ja, sehr
schön-Kakao-Mumps-Kaiser und Reich-Zoroaster-Hansa-38 Köpf-Nicaea-
Constanz -Verbrennung - Huß-Schwager-Dreck -Theriak - pereat mundus - ans-
Hansa" usw.
An einigen Stellen (Wasser-Apollinaris, Nicaea-Constanz-Ver-
brennung-Huß) erkennt man noch eine innere Beziehung der auf-
tauchenden Vorstellungen. Meist aber spielen Anklänge die Ver-
mittlerrolle, soweit überhaupt noch eine Verbindung ersichtlich
ist. Da die Reihe in ziemlich langsamem Zeitmaße vorgebracht
wurde, kann natürlich auch manches Bindeglied unausgesprochen
geblieben sein.
Der Ideenflucht möchten wir hier als zweite Form einer Locke-
rung des Gedankenganges die Zerfahrenheit gegenüberstellen,
wie sie der Dementia praecox im weitesten Sinne eigentümlich ist.
Da wir von den tieferen Grundlagen dieser Störung noch nichts
wissen, so ist es recht schwierig, ihr Wesen genauer zu kenn-
zeichnen. Wir haben es hier bei leidlich erhaltener äußerer Form
der Rede mit einem mehr oder weniger vollständigen Verluste des
inneren und äußeren Zusammenhanges der Vorstellungsreihen
zu tun. Der Gedankengang zeigt nirgends mehr Beziehungen der
einzelnen Glieder zueinander, wie bei der Ideenflucht, sondern
die verschiedensten Vorstellungen reihen sich völlig unvermittelt
aneinander an. Dort waren wir imstande, noch einigermaßen den
Gedankensprüngen zu folgen, durch die wir zu immer neuen Vor-
stellungen gelangen; hier dagegen sind fast nirgends Bindeglieder
zwischen den aufeinanderfolgenden Vorstellungen erkennbar. Wäh-
rend ferner der Vorstellungsverlauf bei der Ideenflucht immerfort
wechselnden und daher nie erreichten Zielen zustrebt und stets
neue Kreise zieht, findet hier ein Fortschreiten des Gedanken-
ganges nach irgend einer Richtung überhaupt nicht statt, sondern
nur ein planloses Herumfahren in denselben allgemeinen Bahnen
mit zahlreichen, verblüffenden Abirrungen. Vielfach wiederholen
sich ähnliche Wendungen, freilich meist in ganz unklaren und
Störungen des Gedankenganges.
293
widerspruchsvollen Formen. Die Ablenkbarkeit durch innere und
äußere Einflüsse kann hier ebenfalls sehr groß sein, aber die neu
erweckten Vorstellungen bedingen keine Richtungsänderung, son-
dern schieben sich einfach zusammenhangslos in die zerfahrenen
Gedankengänge ein. Es gelingt oft ohne Schwierigkeit, durch
Fragen mitten in dem Wirrwarr von Vorstellungen eine Reihe
vollständig geordneter Antworten zu erzielen. Die folgende Nach-
schrift von einer katatonischen Kranken mag dazu dienen, diese
Eigentümlichkeiten näher zu erläutern; in Klammern sind die
Fragen des Arztes eingefügt.
(Warum sind Sie hier?) ,,Weil ich Kaiserin bin. Die lieben Eltern
waren schon da, und alles war schon da und hat mir die Erlaubnis gegeben;
ich habe auch stenographieren gelernt. Na, David, wie geht's denn? Ja,
so, als Ersatzreservist. Größenwahn. Kaiserin. (Gefällt es Ihnen gut?)
0, danke, ganz gut, weil die Herrschaft die Erlaubnis dazu gegeben hat,
ja, wir wollen wieder die besten Freunde sein. Ach Gott, mein Bruder Karl
David der erste und Olga von Mühlhausen. Ach, laßt mich doch auch ein-
mal schreiben. (Warum sind Sie hier?) Irrsinnig, Größenwahn. (Was?)
Altes Faß, von Heidelberg, Studiosus als Kaufmann, für unsern Willy,
Kaufmann dürfe auch dazu. Ja so, weiter. Ich will ja nicht schuld sein;
ich habe ja niemand dazu aufgefordert; ach Gott, von damals abends, wie
wir beisammen waren, ja. (Was war da?) Nichts, gar nichts. Heilbronn
(lacht) gar nichts. Um Gottes willen, so genau wird das alles genommen.
Ja, so. (Wie alt sind Sie?) 22. VII. 1872. (Wollen Sie wieder fort?) Ich
weiß nicht; wenn er kommt, bin ich da; ich werd' ihm doch nicht nach-
laufen. (Lacht.) Ich muß immer knappen (klappt mit den Zähnen). Ihr
dürft mich auch noch einmal über die Backen streichen; ich hab' nichts
dagegen. (Greift nach der Uhrkette.) Die Kette ist aber nichts. Jetzt will
ich doch einmal nach der Uhr sehen. Ich will mir die Freiheit erlauben;
unter Verwandten ist alles erlaubt. Adam und Eva; o, die ist aber nicht
von Gold. Was ich gesagt habe, es wäre alles wahr, alles, was zur Verwandt-
schaft gehört; ich habe ja gesagt von a bis tz; ich kann doch nicht alles
mit einmal essen; die war auch nicht schuld; ich will an allem schuld ge-
wesen sein" usw.
Die Ablenkung durch Anreden, Klänge, Gesichtseindrücke läßt
sich hier leicht verfolgen. Eine Wiederkehr einzelner Wendungen
ist angedeutet; stärker tritt sie in dem folgenden Beispiel hervor,
das einer langen Nachschrift bei einem katatonischen Kranken
entnommen ist.
,, Gehen Sie weg, so kommt die Kaufmanns fr au und sagt, sie ist reich
und ich bin arm; da meint sie, ich wäre der Weinstock; da geht sie hin
294
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
und betet an den Weinstock. Unter Beten verstehen die Katho-
liken ,,oren". Die Frau handelt aber nicht im Bewußtsein der tat-
sächlich bewußten Handlung. Die haben das Walzertempo in sich; sie
hören und hören nicht, weil alles durcheinander ist; der eine spricht
französisch, der andere lateinisch. Ich werde in ganz Heidelberg als der
größte Sünder angesehen, bin aber nicht der, für den mich die katholische
Kirche hält. Sie verehrt mich als zu ideell. Die Dame, die nach Amerika
geflohen ist auf dem untergegangenen Schiff, hat das Eisen und den Farb-
stoff genommen durch den Händedruck, aber nicht durch den blutigen
Händedruck, durch das pulsierende Blut, sondern durch den eisernen
Händedruck. Meine Kraft ist vom Eisen abhängig" usf.
In der ganzen, etwa achtmal so langen Unterredung kehrten
in ähnlicher Weise ungezählte Male die Ausdrücke Eisen, Gold,
Stahl, Messing, Phosphor, Silber, Geld, Elektrizität, Kraft, Ther-
mometer, Handgelenk, Meeresgrün, Topfpflanze, Wurzel, Religion
und einige andere wieder, aber nicht unmittelbar hintereinander,
sondern an ganz verschiedenen Stellen. Die langsam vorgebrachten
Äußerungen schienen zunächst einen gewissen Sinn zu haben;
erst bei genauerer Prüfung stellte sich die gänzliche Zerfahrenheit
deutlich genug heraus. Manche Kranke gefallen sich in eigen-
tümlich verblüffenden Vorstellungsverbindungen. Eine ganz klare
und besonnene Kranke äußerte im Tone ruhiger Rede: ,,Da oben
haben Sie einen echten Hemdenknopf, der pflegt erst durch mich
in Bereitschaft zu kommen. Der Feldwebelgeist liegt in dem Ge-
schmeiß. Ist es nicht rund, auch in den Kastengeist zu drehen.
Ich habe der sechsjährigen Ehepflicht genügt. Sie nehmen ja
schon aus dem Mund die Kinder heraus."
Die Anknüpfung der Vorstellungen nach dem Klange macht
sich hier weniger geltend als bei der Ideenflucht. Nicht selten
aber zeigt sich ein Einfluß des Sprachklanges auf den Gedanken-
gang in der Form der ,, Wortspielerei". Es handelt sich dabei um
Verdrehungen und Verzerrungen einzelner Wörter oder Redens-
arten; sie sind als ein Ausfluß jener Störung zu betrachten, die
wir späterhin als Manieriertheit kennen lernen werden. So sang
eine Kranke stundenlang: ,, Undank ist der Welt Lob". Ein an-
derer sprach von ,,Fromage de Brüh", als er Suppe und Käse er-
halten hatte, verlangte Heringssalat gegen seine ,,Katertonie",
meinte, er leide nicht an Katatonie, sondern an ,,Miezetonie", er-
widerte, als von einem Douceur gesprochen wurde, es sei noch
Störungen des Gedankenganges.
295
nicht zwölf Uhr (douze heures). Derselbe Kranke witzelte aber
auch ohne Beziehung zum Wortklange: „Sie sind wohl Moltke;
Sie sagen ja gar nichts"; ,,ich bin bald zweimal neun Monate hier;
jetzt schicken Sie mich doch mal in die Frauenklinik, daß ich
endlich niederkomme." Diese Reden erinnern an die bei Hirn-
geschwülsten beobachtete ,, Witzelsucht".
Bei wachsender Erregung können Klang und Rhythmus die
Äußerungen der Kranken vollständig beherrschen. Allerdings trägt
das Ergebnis ein ganz anderes Gepräge als bei der Ideenflucht.
Insbesondere fehlt das überraschende Abspringen von einer Vor-
stellung, einer Klangassoziation auf die andere. Dafür tritt die
gleichförmige Wiederkehr derselben Anklänge und Worte und dem-
gemäß die Eintönigkeit und Inhaltlosigkeit der Wendungen deut-
lich hervor. Ein Beispiel gibt die folgende Reimerei:
,, Li eher, lieber Retter mein — • rette doch nur Dich allein — Liebste
Lieb', wie kann ich sein allein — • was ich schein' — Lieber Hand — ist
doch nur Land — Lieber Gott, ich wache bald wieder — wenn Du nur
gibst die Mutter wieder — Lieber Gott, was will ich haben — als nur die
alte Gaben — In Dir nur allein — ist Mutter gänzlich ein — lieber Gott,
ich kann ja warten — ich will ja nichts als Mutterle halten — Liebe, Liebe,
Liebe mein — kann nimmer ein Gedanke sein — Gedanken raten tu ich
nicht — Die Hand allein ist Pf lichtespf licht" usf.
Schließlich können sich die sprachlichen Äußerungen der Kran-
ken in eine Reihe von Silben, Buchstaben oder Lauten auflösen.
Während aber bei den schwersten Formen der Ideenflucht die Kette
der Gleichklänge einen fortschreitenden Wechsel erkennen läßt,
während dort immer noch die Mehrzahl der vorgebrachten Sprach-
gebilde wirkliche Wörter darstellen, kommt es hier zu einer völlig
sinnlosen Wiederholung derselben Bestandteile mit ganz gering-
fügigen Abänderungen, zu ,, Klangspielereien" nach Art des folgen-
den Beispiels:
„ellio, ellio, ellio altomellio, altomellio — selo, elvo, delvo, helvo — f,
f, f, lieber 7ater ■ — f, f, f — lieber Vater — e, e, f — alte und neue — f,
i — f, f — katholische Kirche — w, e, f — katholische Kirche — , w, e, f"
und so zahllose Male in eintöniger Wiederholung.
Der Gedankengang schreitet hier durch den Sprachklang nicht
zu neuen Vorstellungen fort, sondern klebt an ihm fest, ohne jede
296
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
begleitende Sachvorstellung, Kennzeichnend sind namentlich die
sinnlosen Reime,
Die gemeinsame Folge aller Störungen, die den inneren Zu-
sammenhang der Vorstellungen lockern oder zerstören, ist das
Auftreten eines sehr häufigen Krankheitszeichens, der Verwirrt-
heit, Die Entstehungsweise dieser Erscheinung ist, wie wir ge-
zeigt haben, eine vielfach verschiedene. Wo die Lockerung des
Gedankenzusammenhanges wesentlich durch Flüchtigkeit der Leit-
vorstellungen bedingt wird, da entsteht die ideenflüchtige Ver-
wirrtheit mit erhöhter Ablenkbarkeit und Neigung zu äußeren,
vielfach sprachlichen Assoziationen. Unvermitteltes Auftauchen
ganz verschiedenartiger Vorstellungen ohne jedes Bindeglied er-
zeugt die zerfahrene Verwirrtheit, die vielfach mit Andeutungen
von Stereotypie und Wortspielereien einhergeht. Vielleicht können
wir ferner eine traumhafte Verwirrtheit unterscheiden, wie sie
den deliriösen Zuständen eigentümlich ist. Bei ihr dürfte neben
der Auffassungsstörung und dem raschen Verblassen der Wahr-
nehmungen das starke Hervortreten rein sinnlicher Vorstellungs-
bestandteile eine gewisse Rolle spielen, insofern sie uns bunte,
abenteuerliche Erlebnisse vorspiegelt, ohne daß wir imstande
wären, die inneren Widersprüche aufzufassen.
Überraschendes Auftauchen massenhafter, locker sich anein-
ander schließender, neuer Gedankenreihen kann, wie es scheint,
zu einer ,, kombinatorischen" Verwirrtheit führen; uns schwin-
delt der Kopf, weil wir nicht imstande sind, die plötzlich aufschießen-
den Vorstellungen zu ordnen und zu überblicken. Diese Form der
Verwirrtheit findet sich in jenen Krankheitsformen, in deren
weiterem Verlaufe die rasch entstandenen Einbildungen zu einem
dauernden Wahngebäude verarbeitet werden, ähnlich, wie auch
wir eine uns anfangs verwirrende neue Idee allmählich in unsere
Gedankenkreise hineinarbeiten und dadurch die innere Einheit
und den Zusammenhang derselben wiederherstellen. Ein solcher
Kranker bezeichnete mir dieses verwirrende Anstürmen von Ah-
nungen und Vermutungen als eine wahre ,, Hunnenschlacht des
Geistes", Hier findet sich vielfach auch das Auftauchen von Er-
innerungsfälschungen unter dem Einflüsse der lebhaft arbeitenden
Einbildungskraft. Vielfach wird ferner das Bestehen massen-
hafter Sinnestäuschungen als Ursache einer halluzinatorischen
Zwangsvorstellungen.
297
Verwirrtheit betrachtet, ähnlich wie beim Gesunden die Orien-
tierung verloren geht, wenn er sich plötzlich in ein unentwirr-
bares Gemisch neuer, rätselhafter Sinneseindrücke versetzt sieht.
Bei alten Halluzinanten sehen wir indessen, daß vollkommene
Ordnung der Gedanken trotz zahlreicher Sinnestäuschungen be-
stehen kann.
Auch die psychische Hemmung, die das Verständnis und die
geistige Verarbeitung äußerer Eindrücke erschwert, scheint eine
eigenartige Form der Verwirrtheit erzeugen zu können, die wir
wohl am besten als ,,stu poröse" Verwirrtheit bezeichnen. Öfters
handelt es sich dabei allerdings ohne Zweifel um die Verbindung
von Stupor mit Ideenflucht. Endlich spielen eine sehr wichtige
Rolle bei der Entstehung der verschiedenen Formen der Verwirrt-
heit die Gemütsbewegungen. Ihren gewaltigen Einfluß auf den
klaren Zusammenhang der Gedanken lehrt uns schon die gesunde
Erfahrung, von den leisesten Regungen der Verlegenheit und Be-
fangenheit an bis zu den mächtigen Gefühlsschwankungen der
Angst, des Zornes und der Verzweiflung. In Krankheitszuständen
mit ihren heftigen Erschütterungen des gemütlichen Gleichgewichtes
ist dieser Einfluß natürlich noch unvergleichlich viel mächtiger.
Wir haben es daher wahrscheinlich sehr häufig mit Hemmungen
und Störungen des Gedankenganges durch Gemütsbewegungen zu
tun, die sich in den verschiedenen Krankheitszuständen mit wech-
selnder Stärke geltend machen können.
Zwangsvorstellungen. Als Zwangsvorstellungen bezeichnete
1867 ,v. Krafft -Ebing solche Vorstellungen, die sich dem Be-
wußtsein zwangsmäßig aufdrängen. Griesinger gebrauchte kurz
darauf diese Bezeichnung in einem engeren Sinne für Vorstel-
lungen, deren Hervortreten im Bewußtsein als Zwang empfunden
wird.
Im gewöhnlichen Flusse der Gedanken vermag sich keine ein-
zelne Vorstellung längere Zeit hindurch auf voller Höhe zu er-
halten, wenn sie nicht durch besondere Ursachen immer von neuem
angeregt wird. Unablässig drängen sich neue Eindrücke und Vor-
1) Westphal, Berl. klin. Wochenschr. 1877, 46; Wille, Arch. f. Psychiatrie,
XII, i; Löwenfeld, ebenda XXX, 679; Warda, ebenda XXXIX, 239; Meynert,
Wiener klin. Wochenschr. 1888. 5.-7; Tuczek, Berl. klin. Wochenschr. 1899, 6;
Fried mann, Psych. Wochenschr. 1901, 40; Psych. Monatsschr., XXI, 214.
298
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Stellungen ins Bewußtsein, um das Übergewicht zu gewinnen,
sobald die Lebhaftigkeit vorangegangener Bilder zu verblassen
beginnt. In diesem Kampfe können sich einzelne Vorstellungen
im allgemeinen nur behaupten, wenn sie von uns willkürlich fest-
gehalten werden. Es gibt indessen gewisse Gruppen von Vorstel-
lungen, fast immer solche von rhythmischer Gliederung, Verse,
Zitate, Melodien, die sich uns wegen ihrer eindringlichen Form
eine Zeitlang immer wieder aufdrängen. Wir können sie nicht
loswerden und müssen, vielleicht zu unserem größten Verdrusse,
in steter Wiederholung auf sie zurückkommen, bis ihre Macht
sich abgeschwächt hat.
Was hier durch die zwingende Kraft einer Art psychomoto-
rischer Einstellung bewirkt wird, entspringt in weit mannigfaltigeren
Formen aus der Unlustbetonung von Vorstellungen. Der einfachste
Fall ist die peinliche Erinnerung an irgendein schreckliches Er-
eignis, einen widerwärtigen Eindruck, die eine aufdringliche Macht
über unseren Gedankengang gewinnen kann und sich trotz eifrig-
ster Bemühungen nicht verscheuchen läßt. Das Bild dessen, was
wir erlebt haben, schiebt sich mit quälender Deutlichkeit immer
wieder vor unser geistiges Auge; wir niüssen die Vorgänge von
neuem überdenken, uns jede Einzelheit vergegenwärtigen, nach
den verschiedensten Richtungen darüber nachgrübeln. Bisweilen
tauchen solche Bilder nur bei bestimmtem Anlasse auf, überwältigen
dann aber unseren Willen. Die Erinnerung an ein blutendes Tier
kann sich beim Genüsse von Fleisch regelmäßig einstellen und
Widerwillen dagegen erregen; ein geöffnetes Fenster weckt etwa
die Vorstellung eines mit erlebten Sturzes, die uns zwingt, es wieder
zu schließen.
Eine weitere Gruppe von Zwangsvorstellungen bilden die Kon-
trastvorstellungen. Solche Gedankenkreise, deren Inhalt stark
unlusterregend wirkt, und die deshalb ängstlich vermieden werden,
können gerade dadurch eine besondere Macht gewinnen. Wie die
Gespenster- und Schauergeschichten für den Furchtsamen einen
geheimnisvollen Reiz besitzen, können sich dem religiös Veran-
lagten gotteslästerliche Gedanken aufdrängen, namenthch dann,
wenn er sich am meisten vor ihnen fürchtet, beim Gottesdienst;
ja, diese Furcht selbst ist es, die sie herbeiruft und ihnen zwin-
gende Kraft verleiht. In anderen Fällen sind es unanständige.
Zwangsvorstellungen.
299
geschlechtliche Vorstellungen und Bilder, die sich aufdrängen,
öfters in Verbindung mit religiösen Gedanken. Der Kranke muß
immer an die Geschlechtsteile der ihm Begegnenden denken, sie
sich nackt vorstellen, geschlechtliche Gedanken an die Person
Christi oder der Jungfrau Maria knüpfen. Der auch dem Gesunden
bekannte Reiz des Verbotenen bewirkt hier, daß gerade diejenigen
Vorstellungen mit zwingender Macht auftreten, die dem Kranken
die peinlichsten Gemütsbewegungen verursachen. Ganz besonders
ist es die Vorstellung, irgendein Verbrechen begangen zu haben,
die mit allen möglichen Einzelheiten ausgemalt werden kann. Die
Kranken müssen immer wieder denken, daß sie bei dieser oder
jener Gelegenheit ein wichtiges Papier achtlos vernichtet, ein
Stückchen der Hostie beim Abendmahl verstreut, daß sie sich
beim Herausgeben von Geld zum Nachteil eines anderen geirrt
haben könnten, daß sie bei der Fällung eines Urteils nicht mit der
nötigen Gewissenhaftigkeit verfahren, durch unvorsichtiges Um-
gehen mit Feuerzeug zu Brandstiftern geworden seien. Daran
knüpfen sich dann endlose Grübeleien über die Einzelheiten der
Vorgänge, Selbstverteidigungen und Selbstbeschuldigungen. Bis-
weilen nehmen diese Vorstellungen ganz abenteuerliche Formen
an. Vielleicht haben die Kranken ihnen begegnende Frauen oder
Kinder vergewaltigt, Päderastie oder Sodomie getrieben. Weichen
verstellt, Eisenbahnzüge zum Entgleisen gebracht. Während sonst
bei den Zwangsvorstellungen das klare Bewußtsein ihrer Grund-
losigkeit und Krankhaftigkeit erhalten bleibt, kann bei diesen
Formen zeitweise die bündige Berichtigung der quälenden Vor-
stellungen versagen. Die Kranken sind nicht sicher, ob sie nicht
doch eine der sie beunruhigenden Handlungen ausgeführt haben,
ja sie können sogar überzeugt sein, daß es wirklich geschehen sei,
und sich den Vorgang mit allerlei Einzelheiten ausmalen, aller-
dings niemals mit der unantastbaren Gewißheit, die wir bei den
eigentlichen Wahnbildungen beobachten. Eine meiner Kranken
konnte niemals allein sein, sondern mußte immer jemanden um
sich haben, um sich von ihm bestätigen zu lassen, daß sie nichts
von dem begangen habe, was ihr sich aufdrängte.
Eine reiche Quelle von Zwangsvorstellungen liefert das all-
gemeine Gefühl der Unsicherheit und Verantwortlichkeit, wie es
durch alle möglichen Einrichtungen unseres Kulturlebens gezüch-
300
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
tet wird, indem es in ängstlichen Menschen eine dauernde innere
Spannung erzeugt, die von stetem Mißtrauen gegen die eigenen
Leistungen begleitet ist. Aus der Befürchtung, irgendetwas zu
versehen, aus dem quälenden Zweifel, ob jede Möglichkeit eines
Fehlers oder Irrtums ausgeschlossen sei, entwickelt sich bei den
Kranken eine übertriebene Peinlichkeit in Denken und Handeln,
Sie werden daher mit keiner Aufgabe fertig, wiederholen sie un-
gezählte Male, müssen sich immer von neuem vergewissern, ob
eine Handlung richtig ausgeführt, ob nicht etwas unterlassen,
jemand geschädigt wurde. Einer meiner Kranken war nicht im-
stande, eine Zahlung zu machen, ohne daß ihm die Richtigkeit
von anderen ausdrücklich versichert wurde; andere müssen sich
über alle Vorkommnisse Aufzeichnungen machen, sie sich immer
wieder mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen. Alle
diese Maßregeln sind jedoch höchstens vorübergehend imstande,
die Kranken zu beruhigen und die Unsicherheit zu verscheuchen;
die Möglichkeit, zu einem endgültigen, bündigen Abschlüsse zu
gelangen, wird durch die aus dem Mangel an Selbstvertrauen immer
wieder emporschießenden Zweifel ausgeschlossen. Friedmann
hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Zweifel seinem
Wesen nach zu den ,, unabgeschlossenen" Vorstellungen gehört,
deren den Willen anspornende Wirkung zwar tatsächlich, nicht
aber grundsätzlich ein Ende erreichen kann. Die gleiche gewaltige
Macht, die uns zu einer immer weiter getriebenen Vervollkommnung
unserer Leistungen zwingt und somit die Grundlage allen Fort-
schrittes bildet, verleiht auch der ,, Zweifelsucht" ihre Herrschaft
über das Seelenleben; dieselbe Eigenschaft, deren planmäßiger
Züchtung wir unsere Gesittung verdanken, die Gewissenhaftigkeit,
wird zum Hemmnis jeder Tätigkeit, sobald sie nicht ein kräftiger
Wille in den richtigen Schranken hält.
Knüpft sich die ,, Zweifelsucht" an das Verantwortlichkeits-
gefühl an, wie es die Beziehungen der Menschen zueinander er-
zeugen, so erwächst die Grübel- und Fragesucht aus den allgemeinen
Denkgewohnheiten heraus, allerdings ebenfalls aus einer krank-
haften Steigerung des Bedürfnisses, gewisse geistige Leistungen
auf die äußerste Spitze zu treiben. Jeder Gesunde legt Wert darauf,
die Namen der ihn umgebenden Personen zu kennen. Bei dem
krankhaften ,, Namenzwange" kann das Bedürfnis, sich die Namen
Zwangsvorstellungen.
301
anderer Menschen ins Gedächtnis zu rufen, so stark und so quälend
werden, daß die Kranken zur Befriedigung desselben große Ver-
zeichnisse anlegen und am Ende den Namen jedes beliebigen Men-
schen zu erfahren suchen, der ihnen begegnet. Der „Zahlen-
zwang" knüpft an die Rechenkünste an, die wir zur Beherrschung
der Zahlenreihe in der Jugend üben müssen. Er veranlaßt den
Kranken, alle möglichen unsinnigen Zählungen der sich ihm
darbietenden Dinge auszuführen oder mit den Zahlen, die ihm
aufstoßen, zwangsmäßig Rechnungen vorzunehmen. Als ,, Aus-
druckszwang" kann man die krankhafte Neigung bezeichnen,
denselben Gedanken unter kleinlichster Abwandlung aller Einzel-
heiten immer in eine neue Form zu kleiden, ohne daß doch jemals
die befriedigende Lösung gefunden würde. Dadurch entsteht eine
merkwürdige Häufung von Wiederholungen, die jeden Fortschritt
des Gedankens aufhalten. Andere Formen sind der ,, Erinnerungs-
zwang", der zu genauer, unter Umständen schriftlicher Vergegen-
wärtigung früherer Erlebnisse drängt, der „Nachforschungszwang",
sich mit der Feststellung irgendwelcher ganz gleichgültiger Vor-
gänge und Tatsachen zu befassen. Bei der „Fragesucht", die
an die Neigung des Kindes zu ausschweifenden und läppischen
Fragen erinnert, drängen sich dem Kranken in nie endender
Folge unfruchtbare und zwecklose Fragen auf, die ihn beunruhigen
und in Atem halten, ohne daß er sich ihrer zu erwehren ver-
möchte.
Auch bei diesen letztgeschilderten Formen der Zwangsvor-
stellungen, bei denen der Inhalt an sich ein gleichgültiger ist, haben
wir es mit „unabgeschlossenen" Vorstellungen zu tun, die eben
deshalb erregend wirken. Überall handelt es sich um das Gefühl
der Ungewißheit, das die Kranken zu ihren Anstrengungen an-
spornt und doch niemals ganz beseitigt werden kann, weil jede
vor ihnen auftauchende Aufgabe sofort eine Reihe anderer nach
sich zieht. Der Namen, der Zählungen, der Ausdrucksformen, der
Erinnerungen und Fragen ist kein Ende, und die abschließende
Beruhigung ist, sobald überhaupt dem bohrenden Drange nach-
gegeben wurde, nicht zu erreichen. Die tiefste Wurzel dieser
Zwangsvorstellungen liegt also in denselben Unlustgefühlen, die uns
dazu treiben, Klarheit und Wahrheit zu suchen, aber sie sind nicht
mehr die Diener, sondern die Herren der geistigen Persönlichkeit,
302
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
weil dieser letzteren die Kraft fehlt, sie zu unterdrücken, wo sie
den Fluß des Denkens hindern.
Die ausgeprägteren Formen der Zwangsvorstellungen gedeihen
nur unter dem Einflüsse einer mehr oder weniger deutlich ängst-
lich gefärbten Gemütslage. Ich habe mich, wenn man von den
noch im Bereiche des Gesunden liegenden Fällen rhythmischer
Zwangsvorstellungen absieht, niemals davon überzeugen können,
daß wir es hier mit reinen ,, Denkstörungen" zu tun haben, wie
nach West phals Vorgang noch vielfach angenommen wird. Auch
dort, wo ihr Inhalt anscheinend ein gleichgültiger ist, liegen ihnen
lebhaft betonte Gemütsbedürfnisse zugrunde, die sich gegen die ver-
standesmäßige Überlegung behaupten. Innerhalb gewisser Grenzen
wird die innere Unruhe, die alles Zwangsdenken begleitet, durch
die Unterwerfung unter den Zwang gemildert; der offene Wider-
stand pflegt sie erheblich zu steigern. Im weiteren Verlaufe aller-
dings und bei den Zwangsvorstellungen mit peinigendem Inhalte
macht sich auch eine Angst vor diesen selbst geltend. Die Kranken
fühlen sich gequält und unterjocht; sie suchen sich des Zwanges
zu erwehren, in der Regel mit dem Erfolge, daß die peinliche Er-
fahrung der Ohnmacht die Beunruhigung steigert und dadurch der
Wiederkehr immer von neuem den Weg ebnet.
Die Zwangsvorstellungen begegnen uns meist auf dem Boden
erblicher Veranlagung, bei Psychopathen, die von Jugend auf ein
geringes Selbstvertrauen gehabt haben, grüblerisch, unfrei, ängst-
lich und peinlich in allen Leistungen gewesen sind. Hier können
sie mit Schwankungen das ganze Leben hindurch fortbestehen.
Sodann aber treten sie gar nicht selten im Verlaufe der zirkulären
Depressionszustände hervor, um nach der Genesung spurlos wieder
zu verschwinden. Gelegentlich beobachtet man auch hierher ge-
hörige Störungen im Beginne einer Dementia praecox.
Störungen der Einbildungskraft. Der Schatz unserer früher er-
worbenen Erfahrungen gewinnt erst dadurch seinen vollen Wert
für uns, daß wir imstande sind, aus ihm willkürlich Vorstellungen
und Erinnerungen in den Blickpunkt des Bewußtseins zu heben
und sie in die mannigfachste Verknüpfung zu bringen. Wir dürfen
diese Fähigkeit, die eine Reihe von Leistungen in sich schließt,
hier wohl vorläufig als Einbildungskraft kennzeichnen. Sie
setzt natürlich auf der einen Seite erneuerungsfähige Spuren frü-
Störungen der Einbildungskraft.
303
herer Seelenvorgänge voraus; auf der anderen Seite aber ist sie es,
die es uns ermöglicht, aus den einfachen Erinnerungsresten neue
psychische Gebilde zusammenzusetzen, uns über die Sinneserfahrung
zu erheben und schöpferische Geistesarbeit zu leisten. So bildet
die sinnliche Einbildungskraft die Grundlage des malerischen
oder musikalischen Schaffens, und auch die Entdeckerarbeit des
Erfinders oder Forschers wie die Gedankengänge des Weltweisen
nehmen ihren Ausgang von der willkürlichen Verbindung getrennt
erworbener Erfahrungsbestandteile.
Die freie Verfügung über die schlummernden Vorstellungen
wie ihre Verknüpfung kann in Krankheitszuständen sehr beträcht-
lich erschwert sein. Vor allem ist das der Fall bei der geistigen
Lähmung, wie sie sich in leichteren Graden schon bei der ein-
fachen Ermüdung, sodann bei Vergiftung mit betäubenden und
schlafmachenden Mitteln, namentlich aber bei den schweren Ver-
blödungen der Paralyse, des Altersirreseins und anderer Hirn-
erkrankungen entwickelt. Bei diesen letzteren Störungen verbindet
sich das Versiegen der Einbildungskraft regelmäßig mit einer Ab-
nahme der Gedächtnisleistungen; die Vorstellungen stehen nicht
nur nicht mehr zu Gebote, sondern sie gehen in weitem Umfange
völlig verloren. Wo dieser Verlust weniger ausgedehnt ist, wie zu-
meist beim epileptischen Schwachsinn und beim Kretinismus, ent-
wickelt sich eine einfache „Schwerfälligkeit". Die Kranken
sind wohl noch imstande, über ihren Vorstellungsschatz zu ver-
fügen, aber sie bedürfen dazu einer unverhältnismäßig langen Zeit
und lebhafter Anregung.
Der Schwerfälligkeit äußerlich ähnlich ist die Denkhem-
mung, der wir namentlich in den depressiven und gewissen Misch-
zuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen; vielleicht
ist auch die Denkstörung in manchen hysterischen und epilep-
tischen Dämmerzuständen hierher zu rechnen. Während es sich
bei der Schwerfälligkeit um eine dauernde Verlangsamung und
Unbeholfenheit der geistigen Leistungen handelt, haben wir es
bei der Denkhemmung mit einer vorübergehenden Erschwerung
durch starke Widerstände zu tun. Sie ist regelmäßig begleitet
von Änderungen des Stimmungshintergrundes, deren Bedeutung
für die Tätigkeit der Einbildungskraft uns ja aus dem gesunden
Leben geläufig ist. Die Verarbeitung äußerer Eindrücke ist er-
304
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Schwert, unter Umständen bis zur völligen Ratlosigkeit, weil der
Widerhall rasch auftauchender Erinnerungsbilder fehlt; die Kranken
können sich auf nichts besinnen, finden nicht die Anknüpfung an
frühere Erlebnisse, wissen bisweilen nicht mehr die Namen ihrer
nächsten Angehörigen anzugeben, Ihnen fällt auch durchaus
nichts ein; die Gedanken scheinen geradezu still zu stehen. Solche
Kranke können den Eindruck ausgeprägtesten Blödsinns machen.
Als Hemmung wird aber die Störung dadurch gekennzeichnet,
daß unter gewissen Bedingungen alle diese schweren Störungen
ziemlich plötzlich verschwinden können. Außerdem wird von den
Kranken selbst der Widerstand, mit dem sie zu kämpfen haben,
deutlich empfunden. Es fehlt ihnen nicht an der geistigen Reg-
samkeit; sie sind nicht stumpf und gleichgültig wie die verblödeten
Kranken, aber sie vermögen trotz der größten Anstrengungen nicht,
die Gebundenheit und Unfreiheit ihres Denkens zu überwinden.
Ganz anders liegt die Sache bei der krankhaften ,, Interesse-
losigkeit", wie sie jenen Krankheitsformen eigentümlich ist,
die wir als Dementia praecox zusammenfassen. Hier ist die geistige
Beweglichkeit an sich nicht wesentlich behindert; dagegen fehlt
mehr oder weniger vollständig die Triebfeder der Gedankenarbeit.
Auf bestimmte Anregungen hin vermögen die Kranken ohne
Schwierigkeit beliebige Vorstellungen wachzurufen, aber sie werden
nicht aus eigenem Antriebe zu geistiger Tätigkeit gedrängt, geben
sich keine Rechenschaft über das, was mit ihnen geschieht, denken
nicht nach, machen sich kein Bild von der Zukunft. Da auf diese
Weise das geistige Leben mehr und mehr stockt und die Erneue-
rung alter Vorstellungen ausbleibt, vollzieht sich allmählich auch
eine Einschrumpfung des Erfahrungsschatzes, eine Art Verkümme-
rung durch Nichtgebrauch. Man kann sich jedoch bei diesen Kran-
ken, im Gegensatz etwa zu den Paralytikern, nicht selten davon
überzeugen, daß gelegentlich noch überraschend viel mehr Vor-
stellungen bei ihnen auftauchen, als man bei ihrer völligen Gedan-
kenleere erwartet hätte. Daraus geht hervor, daß es sich hier in
erster Linie um den Verlust der geistigen Regsamkeit gehandelt
haben muß.
Krankhafte Erregungen der Einbildungskraft geben sich in
besonderer Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen kund, die
unter Umständen fast sinnliche Stärke gewinnen können. Wir
Störungen der Einbildungskraft.
305
sehen das vor allem in den verschiedenartigen deliranten Zu-
ständen; damit verbindet sich dann regelmäßig eine ausgeprägte
Auffassungsstörung. Wenn man will, kann man auch gewisse
Angstzustände bei Zirkulären und Psychopathen hierher rechnen,
in denen die Kranken sich ihre Befürchtungen mit peinlicher
Deutlichkeit und Ausführlichkeit ausmalen. Es handelt sich hier
offenbar um eine ganz ähnliche Erregung der Einbildungskraft,
wie wir sie bei den entsprechenden Gemütsbewegungen der Ge-
sunden beobachten.
Zweifelhaft muß es bleiben, ob wir es auch in den manischen,
paralytischen oder katatonischen Erregungszuständen mit einer
Steigerung der Einbildungskraft zu tun haben. Am ehesten würde
man vielleicht noch für die Manie eine solche Annahme machen
können, doch ist der wirkliche Gedankenreichtum selbst hier
schwerlich vermehrt, oft genug sogar geradezu herabgesetzt. Aller-
dings behaupten einzelne Kranke, daß ihnen so viele Gedanken
zuströmten, und auch in den zirkulären Depressionszuständen
hört man hier und da derartige Angaben. Es sprechen jedoch
manche Gründe dafür, daß es sich dabei mehr um eine erhöhte
Sprunghaftigkeit und Flüchtigkeit der inneren Vorgänge, als um
eine gesteigerte Erzeugung von Vorstellungen handelt.
Dauerndes Überwuchern der Einbildungstätigkeit über die
nüchterne Verarbeitung der Erfahrung findet sich bei einer großen
Gruppe von psychopathischen Persönlichkeiten. Dahin gehören
zunächst die krankhaften Erfinder und Abenteurer, die bei der
Verfolgung ausschweifender Pläne vollständig den sicheren Boden
der Wirklichkeit verlieren und nur den Erfolg, aber nie die
Schwierigkeiten und die Unzulänglichkeit ihrer Mittel vor Augen
haben. Ihnen verwandt sind die Träumer, die sich gewohnheits-
mäßig in willkürlich erdachte Lebenslagen versenken und sie
liebevoll mit feinsten Einzelheiten ausmalen. Endlich haben wir
hier der krankhaften Lügner und Schwindler zu gedenken, die
in den wechselnden Gebilden ihrer geschäftigen Einbildungskraft
höchste Befriedigung finden und dadurch zu immer neuen, kühnen
Erfindungen und Ausschmückungen getrieben werden, so daß ein
unentwirrbares Gemisch von Wahrheit und Dichtung entsteht^).
^) Delbrück, Die pathologische Lüge und die psychisch-abnormen Schwindler.
1891.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. , 20
3o6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Große Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen geht in der
Regel mit erhöhter Beeinflußbarkeit der Gedankenwelt durch
äußere und innere Ursachen einher, da sie der Ausdruck einer
gesteigerten Beweglichkeit der psychischen Gebilde überhaupt
zu sein pflegt. In der Gesundheitsbreite zeigt sich das beim kind-
lichen und beim weiblichen Seelenleben. Krankhafte Suggestibi-
lität und Autosuggestibilität ist die Begleiterscheinung vieler psy-
chopathischer Zustände, namentlich der hysterischen Veranlagung.
Sie äußert sich hier nicht nur in der Zugänglichkeit des Denkens
und Empfindens für lebhafte Eindrücke und Einreden, in der
Herrschaft unvermittelt auftauchender Einbildungen, sondern
namentlich auch in dem Auftreten von allerlei körperlichen Folge-
erscheinungen, die durch Vermittlung von Gemütsbewegungen
ausgelöst werden. Nicht selten begegnet man hier auch jener
Störung, die Bonhöffer als ,, pathologischen Einfall"^) beschrie-
ben hat. Es handelt sich dabei um das plötzliche, bisweilen durch
äußere Anlässe angeregte oder doch begünstigte Auftauchen von
Größenideen, die auch das Handeln bestimmen können. Die Kran-
ken träumen sich in eine ihren Wünschen entsprechende Lage
hinein, treten als reiche Leute auf, legen sich hochtrabende Titel
bei, knüpfen Verhandlungen über Käufe oder Übernahme von
Geschäften an, erscheinen in Uniform, wechseln Briefe mit vor-
nehmen Verlobten, die sie sich selbst beantworten. In der Regel
ist dabei noch ein gewisses dumpfes Gefühl für die Widersprüche
mit der Wirklichkeit vorhanden; die Kranken fallen gelegentlich
aus Her Rolle, sind auch verhältnismäßig leicht aus ihrem Treiben
herauszureißen. Am häufigsten wird dieses Hineintreiben in ein-
gebildete, glücklichere Lebenslagen bei Menschen beobachtet, die
unter einem starken äußeren Drucke stehen, insbesondere bei Ge-
fangenen. Unangenehme Ereignisse, die Verhaftung, Zustellung
der Anklageschrift, scharfe Vernehmungen geben hier öfters den
äußeren Anstoß. Die tiefere Grundlage bildet aber immer eine
gewisse Haltlosigkeit und Beeinflußbarkeit, wie wir sie am ausge-
prägtesten in der hysterischen Veranlagung vor uns haben. Meist
tritt die Störung anfallsweise auf; sie verknüpft sich dann in der
Regel mit einer ganz leichten Bewußtseinstrübung.
1) Bonhöffer, Deutsche med. Wochenschr., 1904, 39.
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
Störungen des Urteils und der Schlußbildung. Die höchsten
und verwickeltsten Leistungen auf dem Gebiete des Verstandes
sind Urteil und Schluß. Da sie sich aufbauen auf der Vorarbeit
der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Bildung und Verbin-
dung von Vorstellungen, so ist es natürlich, daß alle Beeinträchti-
gungen irgendeines dieser Vorgänge regelmäßig in mehr oder we-
niger nachhaltiger Weise das in Urteil und Schluß sich darstellende
Endergebnis der geistigen Arbeit in Mitleidenschaft ziehen müssen.
Abgesehen davon kann jedoch die verstandesmäßige Verarbeitung
der Vorstellungen selbst gewissen krankhaften Störungen unter-
liegen, die für das ganze geistige Leben in der Regel äußerst ver-
hängnisvoll werden.
Zwei Wege sind es vornehmlich, auf denen menschliche Er-
kenntnis zustande kommt, durch unmittelbare Angliederung der
Erfahrung und durch freie, selbständige Erfindung. Freilich laufen
diese beiden Wege vielfach nebeneinander her. Auch die strengste
Erfahrungswissenschaft vermag sich von der Beeinflussung durch
bestehende Anschauungen und Erwartungen nicht völlig frei zu
halten, und andererseits arbeitet die Einbildung auch in ihren
unabhängigsten Schöpfungen immer mit Einzelheiten, die ur-
sprünglich der Erfahrung entstammen. Indessen zeigt uns die
Geschichte der Verstandesentwicklung beim einzelnen wie bei
der Menschheit, daß mit zunehmender Reife immer schärfer die-
jenigen Erkenntnisse, die ein getreues Abbild der Welt liefern,
sich abscheiden von jenen, die aus der freien Umgestaltung der
Erfahrung hervorgegangen sind. Die ersteren bilden den Inhalt
unseres Wissens, die letzteren denjenigen unseres Glaubens,
soweit sie überall noch als Spiegel der Wirklichkeit betrachtet
werden. Wie uns die Völkerpsychologie lehrt, erscheinen ursprüng-
lich die beiden verschiedenen Erkenntnisquellen wesentlich gleich-
wertig. Naturvölker halten ihre frei erfundenen und ausgeschmück-
ten Überlieferungen für ebenso buchstäblich wahr und glaubhaft
wie die Erfahrungen ihrer Sinne. Auch bei Kindern können wir
bisweilen die unvollkommene Trennung zwischen Erlebtem und
Erdichtetem noch deutlich beobachten. Späterhin jedoch voll-
zieht sich mehr und mehr die oben angedeutete Scheidung, nament-
lich auf jenen Gebieten, auf denen eine stete und zuverlässige
Berichtigung der Erkenntnis durch immer neue Erfahrung mög-
20*
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
lieh ist. Auch hier können allerdings Abweichungen zwischen
Wirklichkeit und Anschauung entstehen, die auf den natürlichen
Unvollkommenheiten unserer Auffassung und unserer Denkgewohn-
heiten oder auf zufälligen Fehlervorgängen beruhen. Wir nennen
sie Irrtümer. Sie werden bekämpft mit den Waffen der Er-
fahrung und der verstandesmäßigen Überlegung. Ihre Herrschaft
beruht auf der Beweiskraft der fehlerhaften Wahrnehmungen oder
Gedankengänge ; ist diese Beweiskraft erschüttert, sind die zugrunde
liegenden Fehlervorgänge aufgedeckt, so fällt damit der Irrtum
von selbst.
Dagegen bleibt das übergroße Gebiet unserer Erkenntnis, auf
dem die Erfahrung uns keine oder nur unsichere und strittige
Ergebnisse zu liefern vermag, dem Glauben vorbehalten, der es
mit seinen Schöpfungen ausfüllt. Die ganze Belebung und Ver-
menschlichung der äußeren Natur ist nur sehr langsam der nüch-
ternen Auflösung in Erfahrungswissenschaft gewichen; sie lebt
bei Naturvölkern, beim Kinde, ja auch in dem mancherlei Aber-
glauben des naiven Volkes noch heute fort. Allein während ein
Teil dieses Glaubens nur die Vorstufe des Wissens bildet und freudig
für die Sicherheit der Erfahrung hingegeben wird, bewähren andere
Glaubensgrundsätze eine Macht, die durch kein Wissen, keine von
außen herantretende Beweisführung erschüttert werden kann. Es
sind das jene Wahrheiten, die uns ,,ans Herz gewachsen" sind, die
wir ,,mit der Muttermilch eingesogen" haben. Hier handelt es sich
um Erkenntnisse, deren Einfluß auf unser Denken nicht in ihrer
besonders einleuchtenden Begründung durch die Erfahrung, son-
dern wesentlich in ihren tiefgreifenden Gefühlsbeziehungen zu
unserer gesamten Persönlichkeit liegt. Bis zu einem gewissen Grade
ist das wohl mit jeder von uns oft verfochtenen und darum lieb-
gewonnenen Lehrmeinung der Fall, aber es sind doch bestimmte
Gebiete, auf denen die durch Überlieferung, Erziehung und Gewöh-
nung festgewurzelten Anschauungen einen besonders hohen Gefühls-
wert und damit eine hervorragende Widerstandsfähigkeit gegen
die Einflüsse der Erfahrung erlangen. Leichter wird die Erfahrung
durch sie gefärbt, als sie selbst durch jene umgewandelt werden;
sie gewinnen dadurch vielfach die Eigenschaft von ,, Vorurteilen".
Gemeinsam ist allen diesen im Gemüte wurzelnden Überzeu-
gungen die nahe Beziehung zu den allgemeinen Lebensinter-
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
309
essen. Den Naturmenschen treibt das Gefühl der steten Abhängig-
keit im guten und bösen Sinne von den Kräften und Mächten
ringsherum zur freien Ausmalung seiner Beziehungen zu Sonne,
Blitz und Donner, zu Erde und Meer, zu Tier und Pflanze; den
Nährboden des Aberglaubens bildet die Unsicherheit und Unfrei-
heit gegenüber dem Verborgenen, Unerklärlichen und Geheimnis-
vollen, mag es Gefahren drohen oder Glück verheißen. Deutlich
erkennen wir hier überall in der strengen Scheidung zwischen
gut und böse, feindlich und freundlich die maßgebende Rolle der
Gefühle bei der Erfindung. Gerade daraus erklärt sich die außer-
ordentliche Zähigkeit dieser durch ungezählte Geschlechter sich
fortpflanzenden Überlieferungen, die trotz ihrer Unsinnigkeit oft
augenscheinlich im Herzen des Volkes noch immer ihre uralte
Glaubwürdigkeit bewahren.
Das Hilfsmittel, das dem Naturmenschen wie dem Kinde zu
einer Erklärung der Außenwelt verhilft, ist der willkürliche Ana-
logieschluß. Die auf diese Weise gewonnene Erkenntnis besitzt,
wie Fried mann^) überzeugend nachgewiesen hat, von vornherein
den gleichen, ja einen weit höheren Grad von Gewißheit für uns,
als die mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft geprüfte Erfahrung.
Ein beliebiger Einfall, eine entfernte oder ganz äußerliche Beziehung
wird ohne weiteres als Ausdruck der Wirklichkeit hingenommen
und trotz der gröbsten inneren Widersprüche festgehalten. Mit
dem Haarbüschel eines klugen Mannes erlangt man auch seinen
Verstand; den Feind tötet man durch Vernichtung seines Bildes;
Krankheit und Tod entstehen und schwinden durch Zauber; der
allwissende und allmächtige Fetisch wird versteckt, um nicht
Zeuge einer verbotenen Handlung zu sein. Das ursprüngliche
Denken wird somit nur durch Furcht und Hoffnung, Wunsch und
Erwartung geleitet; es kennt nicht die Triebfeder aller höheren
geistigen Entwicklung, den Zweifel. Wie wir heute den durch
Sachkenntnis nicht beirrten Laien zuversichtlich, aber falsch,
über die schwierigsten Fragen urteilen sehen, so begleitet auch die
Meinungen der Naturvölker das unmittelbare Gefühl der Sicherheit.
An Stelle dieser naiven Gewißheit des Glaubens tritt erst nach
einem langen, dornenvollen Erkenntniswege diejenige des Wissens,
1) Fried mann, Über den Wahn. 1894; Monatsschr. f. Psychiatrie, I, 455-
310
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die freilich kaum jemals ihren unzertrennlichen Begleiter, den
Zweifel, gänzlich überwindet.
Auch bei uns fließt die Quelle der unmittelbar feststehenden,
nicht aus Verstandesarbeit hervorgegangenen Anschauungen noch
reichlich genug. Aus ihr entspringt vor allem der Aberglaube,
dessen Verwandtschaft mit den Einbildungen der Naturvölker
keines Beweises bedarf. Weiterhin aber gehören hierher beim
entwickelten und geschulten Menschen die politischen und reli-
giösen Überzeugungen, deren wesentliche Grundlage auch überall
der Glaube ist, mag im einzelnen auch die verstandesmäßig ver-
arbeitete Erfahrung den Inhalt vielfach beeinflußt haben. Es sind
die gemütlichen Bedürfnisse, welche die Stellung des Menschen zu
höheren Mächten und zur Gesellschaft bestimmen. Daraus erklärt
sich die geringe Zugänglichkeit jener Überzeugungen gegenüber
Einwänden und Beweisgründen, die Leidenschaftlichkeit, mit der
sie verfochten zu werden pflegen, und ihre gleichartige Färbung in
bestimmten Ländern, Gegenden und Ständen, wie wir sie bei rein
verstandesmäßigen Überzeugungen schwerlich wiederfinden. Zu
den durch ihre lebhafte Gefühlsbetonung getragenen Vorstellungen
gehören auch die von Wernicke so genannten ,, überwertigen
Ideen", Es handelt sich dabei einmal um die durch Erziehung
und Gewöhnung in uns befestigten und in ,, Fleisch und Blut"
übergegangenen allgemeinen Lebensanschauungen, sodann aber
um Vorstellungsgruppen, die durch irgend ein gemütlich erregendes
Erlebnis erzeugt wurden und wegen ihres Gefühlstones einen
dauernden, bestimmenden Einfluß auf Denken und Handeln ge-
winnen können. In der Regel werden dabei solche Erlebnisse in
Betracht kommen, die geeignet sind, einschneidende Änderungen
der gesamten Lebensverhältnisse herbeizuführen. Dahin gehört
z. B. der Unfall und die an ihn sich schließende Arbeitserschwerung
bei der traumatischen Neurose, die erste Verurteilung des Queru-
lanten.
Die bisherigen Ausführungen sind vielleicht geeignet, uns bis
zu einem gewissen Grade ein Verständnis für jenen äußerst merk-
würdigen und wichtigen Krankheitsvorgang zu eröffnen, den wir
als Wahnbildung bezeichnen. Wahnideen sind krankhaft ver-
fälschte Vorstellungen, die der Berichtigung durch Beweisgründe
nicht zugänglich sind. Gerade diese Eigentümlichkeit weist uns
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
darauf hin, daß Wahnideen nicht unmittelbar aus der Erfahrung,
sondern aus dem Glauben entspringen. Allerdings knüpfen sie
sich nicht selten an wirkliche Wahrnehmungen oder Sinnestäu-
schungen an. Im letzteren Falle ist ihr Ursprung aus den inneren
Zuständen trotz der Verlegung der Täuschung nach außen augen-
scheinlich genug. Aber auch dann, wenn der Wahnvorstellung
ein natürlicher Sinneseindruck zugrunde liegt, ist ihre eigentliche
Quelle immer die aus der eigenen Einbildung hervorgehende krank-
hafte Deutung. Auch im gesunden Leben tritt vielfach die Ver-
suchung an uns heran, an geringfügige und vieldeutige tatsäch-
liche Anhaltspunkte zu weitgehende Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu
knüpfen oder ohne zureichenden Grund ursächliche Beziehungen
zwischen zufällig zusammenfallenden Ereignissen zu vermuten.
Unter krankhaften Verhältnissen aber kann sich mit unwidersteh-
licher Gewalt die Überzeugung von Beziehungen der Dinge her-
vordrängen, wo die Vorstellungen in Beziehung getreten sind, die
Vermutung eines sachlichen Zusammenhanges der Erscheinun-
gen auf Grund des leicht geschürzten psychologischen Bandes.
Der harmloseste äußere Vorgang kann zum tiefsinnigen Wahr-
zeichen verborgener Ereignisse werden; in die nüchternsten Tat-
sachen wird ein versteckter und entlegener Sinn hineingeheimnist.
Der Flug eines Vogels ist ein gottgesandter Wink für die Zukunft;
eine zufällig beobachtete Gebärde kündet drohende Gefahr; der
Fund einiger Kastanien bedeutet die Zusicherung künftiger Welt-
herrschaft.
Der Ursprung der Wahnbildung aus Gemütsvorgängen zeigt
sich auch in dem Umstände, daß sie regelmäßig in nahem Zusam-
menhange mit dem eigenen Ich des Kranken steht. Die Vor-
stellungsgruppe der eigenen Persönlichkeit, das Selbstbewußtsein,
bildet schon unter gewöhnlichen Verhältnissen den Mittelpunkt
unseres. Denkens und Fühlens; darum knüpfen sich die wahnhaften
Einbildungen gerade an diesen Kern an und setzen das Netz geheim-
nisvoller Zusammenhänge und willkürlicher Beziehungen in un-
mittelbare Verbindung mit dem eigenen Wohl und Wehe. Die Ent-
stehung von Wahnideen ist daher stets von mehr oder weniger
lebhaften Gefühlen begleitet, die erst mit der Verblödung der Kranken
allmählich in den Hintergrund treten. Es gibt keine Wahnvor-
stellungen, welche dem Kranken von vornherein gleichgültig
312
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wären, sondern sie sind, zunächst wenigstens, immer auf das engste
verknüpft mit der Gestaltung seiner eigenen Lebenslage.
In den Wahnbildungen drücken sich somit vor allem die gemüt-
lichen Beziehungen des Kranken zu seiner Umgebung aus. Einer-
seits sind es Befürchtungen, die ihm deren Bild umgestalten, anderer-
seits Wünsche und Hoffnungen. Wie der Gesunde sich sein rosig
oder düster gefärbtes Weltbild nach den eigenen Gemütsbedürf-
nissen zurechtmacht, so wird auch die Erfahrung des Kranken in
maßgebendster Weise durch seine Stimmung beeinflußt; selbst
die Vergangenheit kann dadurch in völlig verändertem Lichte er-
scheinen. Bleuler hat geradezu davon gesprochen, daß auch der
besondere, vielfach ganz unverständliche Inhalt der Wahnbildungen
nur die Bedeutung von Sinnbildern habe, in denen sich gefühls-
betonte Komplexe des Kranken offenbaren. Wenn es dabei auch
oft auf eine willkürliche Deutungskunst hinausläuft, so treten uns
in dem gewöhnlichen Inhalte der Wahnvorstellungen, der sich nicht
selten in verblüffend gleicher Form wiederholt, doch sicherlich die
allgemeinen Befürchtungen und Wünsche der Menschen entgegen,
in der Idee, unheibar krank zu sein, vergiftet, vor Gericht gestellt,
von der Frau betrogen zu werden, viel Geld zu besitzen, von vor-
nehmen Eltern abzustammen, zu hohen Ehren berufen zu sein.
Auch in der Verdrängung unangenehmer, der Erfindung ver-
heißungsvoller Erinnerungen kann man leicht den Wunsch als
Vater des Gedankens erkennen.
Aus den Entstehungsbedingungen der Wahnidee wird uns auch
ihre wichtigste Eigenschaft einigermaßen erklärlich, ihre Wider-
standsfähigkeit gegen alle, auch die schlagendsten Beweis-
gründe. Da sie nicht in der Erfahrung wurzelt, kann sie durch
Erfahrungen erst dann erschüttert werden, wenn sie gar kein Wahn
mehr ist, sondern nur noch die Erinnerung, die Nachwirkung
eines solchen, in der Genesungszeit. Auf der Höhe der Krankheit
ist die Wahnidee durch Einflüsse gestützt, die mächtiger sind
als alles verstandesmäßige Wissen. ,,Ich will's schon nicht mehr
meinen," sagte mir eine Kranke, die darüber jammerte, daß ihr
Mann und ihre Kinder ins Wasser geworfen worden seien, ,,aber es
kommt mir immer auf einmal wieder in den Kopf."
Wir sehen daher, daß der Wahn regelmäßig trotz der nächst-
liegenden und anscheinend unausweichlichsten Einwände unbeirrt
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
festgehalten wird, solange seine inneren Entstehungsursachen wirk-
sam sind. Wird er aufgegeben oder durch einen anderen ersetzt,
so bringt das nicht unsere Überredung oder das Gewicht der Tat-
sachen zustande, sondern ein Wechsel des psychischen Zustandes.
Treiben wir den Kranken in die Enge, so erreichen wir freilich mit-
unter vorübergehend oder in nebensächlichen Punkten einige Zu-
geständnisse, aber die Äußerlichkeit einer solchen Bekehrung zeigt
sich regelmäßig darin, daß sich das Wahnbedürfnis sehr rasch
wieder Luft macht, bald in den alten, bald in neuen Formen.
Selbst in jenen Fällen, in denen die Kranken ihre Wahnideen
mit wirklichen Wahrnehmungen in Verbindung bringen, bestehen
die krankhaften Schöpfungen unverändert fort, auch wenn ihre
Erfahrungsstützen nachträglich zusammenbrechen. Überzeugt man
den Kranken, daß seine Wahrnehmungen falsch waren, was bis-
weilen möglich ist, so hat er sofort andere Begründungen bei der
Hand, und sei es auch nur die einfache Behauptung, daß er eben
seiner Sache gewiß sei. ,,Da drin spür' ich's eben, daß es so ist,"
sagte mir, auf sein Herz deutend, ein Kranker, der im Gesang-
buche sein ganzes Schicksal geweissagt fand, und auf den Einwand,
daß ich mir das ja ebensogut einbilden könne, erwiderte er: ,,Sie
spüren 's aber nicht!"
Den Beginn allmählich sich entwickelnder Wahnformen pflegt
sehr gewöhnlich eine Zeit des Beziehungswahnes zu bilden,
die Neigung, Vorgänge in der Umgebung nicht als gleichgültige
oder zufällige Ereignisse aufzufassen, sondern zu der eigenen
Person in irgend eine Beziehung zu setzen. Alle Vorkommnisse
erscheinen in einem besonderen, rätselhaften Lichte, das Ver-
halten der Menschen absichtsvoll, bedeutsam, unheimlich. Der
Kranke fühlt sich als Mittelpunkt, ahnt überall einen versteckten
Sinn hinter dem Alltäglichen. Besonders unterstützt wird das
Auftauchen solcher Vermutungen durch das Gefühl der Unsicher-
heit, die Wurzel des Mißtrauens. Der Zellensträfling, der Schwer-
hörige werden schon durch ihre Lage leicht zum Mißtrauen ge-
drängt; die Dienstherrschaft, die Vorgesetzten, die Nebenbuhler,
andererseits die höchsten Personen, deren Handlungen ohnedies
erhöhte Wichtigkeit beigelegt zu werden pflegt, bilden die Haupt-
anknüpfungspunkte der Wahnbildung. Nicht selten äußert sich
das Gefühl der veränderten inneren Stellungnahme zur Umgebung
314
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
in der Erscheinung des von Wernicke so genannten ,, Transi-
tivismus" der Meinung, daß andere Personen sich verändert
hätten, insbesondere geisteskrank geworden seien. Diese ganze,
überaus kennzeichnende Veränderung der äußeren Beziehungen
weist darauf hin, daß die Eindrücke der Außenwelt nunmehr nicht
rein verstandesmäßig aufgefaßt, sondern in krankhafter Weise ge-
müthch verarbeitet werden. Ist es doch die Gefühlsbetonung, in
der sich die innere Anteilnahme an den Vorgängen und Personen
um uns ausdrückt, und durch die sie zu uns in Beziehungen treten.
Im weiteren Verlaufe der Wahnbildung gewinnen die zunächst
unbestimmten Ahnungen greifbarere Gestalt. Unter Umständen
schießt im Anschlüsse an eine ganz nichtssagende Beobachtung
blitzartig die eine oder andere wahnhafte Überzeugung empor.
Außerdem aber ist der Kranke bemüht, vielfach die neuen Erfah-
rungen und Vorstellungen miteinander und mit seinen früheren
Erlebnissen einigermaßen in Einklang zu bringen. Die aus solcher
geistigen Verarbeitung hervorgehenden Wahnbildungen hat man
wohl als ,, Erklärungswahn" bezeichnet, und namentlich Wer-
nicke hat ihnen eine erhebliche Bedeutung eingeräumt; er be-
trachtet sie gewissermaßen als die gesunde Reaktion gegen wahn-
hafte Vorstellungen. Mir scheint diese Auffassung höchstens für
gewisse seltene , ganz langsam sich entwickelnde Wahnformen
eine gewisse Berechtigung zu haben. In der Regel steht auch die
weitere Verarbeitung der auftauchenden Wahnideen unter den-
selben Einflüssen wie die Entstehung dieser selbst und erfolgt ganz
im Sinne der von vornherein vorhandenen Wahnrichtung.
Durch alle diese Betrachtungen werden wir zu der Anschauung
geführt, daß die Wahnbildung in erster Linie durch das Auftauchen
von Gefühlsregungen begünstigt wird. In der Tat wissen wir, daß
schon im gesunden Leben Gefühle die gefährlichsten Hindernisse
sachlicher Erkenntnis sind. Unter dem Einflüsse des Zorns, der
Angst, der Begeisterung mischen sich der Betrachtung der Dinge
Verkennungen, Befürchtungen, Hoffnungen hinzu, die mit der
nüchternen Erfahrung nichts mehr gemein haben. Aber auch die
leiseren Schwankungen des Stimmungshintergrundes, die Gefühle
der Trauer, der Erwartung, Bangigkeit, des Mißtrauens, der Sehn-
1) Pick, Prager med. Woclienschr., XXX, 259.
Störungen des Urteils und der Schlußbildung. 315
sucht, geben dem Spiegelbilde der Wirklichkeit ihre bestimmte
Färbung. Wir werden uns daher nicht wundern, wenn in Krank-
heitszuständen lebhaftere Gefühlsregungen ungemein häufig von
Wahnbildungen begleitet sind. Namentlich die traurigen und ängst-
lichen Verstimmungen pflegen, wie beim Gesunden, den stärksten
Einfluß auf die Verfälschung der Vorstellungen und Gedanken-
gänge auszuüben.
Indessen die Entstehungsbedingungen der Wahnideen können
damit noch nicht erschöpft sein. Soweit wir das zu beurteilen ver-
mögen, sind die Gefühle bei der Wahnbildung keineswegs immer
von so leidenschaftlicher Stärke, daß sie allein den Vorgang erklär-
lich erscheinen ließen. Zunächst kann in deliriösen Zuständen,
z. B. im Trinkerdelirium, eine abenteuerliche Fülle von Wahn-
bildungen beobachtet werden, ohne daß die Stimmungsschwan-
kungen über das Maß einer gewissen Lustigkeit oder geheimer
Angst hinausgingen. Offenbar vermag hier der Kranke die deli-
riösen Erlebnisse einfach nicht mehr von der Wirklichkeit zu
trennen. Allein wir würden fehl gehen, wenn wir etwa die Leb-
haftigkeit der Sinnestäuschungen für das Auftreten der Wahn-
vorstellungen verantwortlich machen wollten. Die Erfahrung, daß
die Kranken die unsinnigsten Täuschungen ohne stärkeres Er-
staunen oder doch ohne entschiedenen Widerspruch hinnehmen,
während sie am nächsten Tage bereits nicht den geringsten Zweifel
mehr an der Unwirklichkeit des Erlebten hegen, deutet darauf
hin, daß hier der Gesamtzustand des Bewußtseins während der
Krankheit eine Veränderung erlitten haben muß, welche die Be-
richtigung der Wahnbildungen unmöglich machte. Wir verweisen
hier auf das Beispiel des Traumes. Im Traume sind es sicherlich
nicht starke Gefühle und nicht die Lebhaftigkeit der Bilder allein,
die uns zu wahnhafter Auffassung unserer Lage veranlassen,
sondern es ist die Unfähigkeit, jene Widersprüche zu entdecken
und zu berichtigen, die uns beim Erwachen sofort mit voller Klar-
heit vor Augen stehen. Würde uns wirklich ein so toller Spuk
vorgemacht, wie im Delirium oder im Traume, so würden wir ihn
sofort als Possenspiel erkennen. Auch im Traume regt sich bis-
weilen der Widerspruch, aber wir empfinden dabei deutlich, daß
es uns unmöglich ist, volle Klarheit zu gewinnen. Ohne Zweifel
ist daher in deliriösen Zuständen die Bewußtseinstrübung eine
3i6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wesentliche Vorbedingung für die eigenartige Wahnbildung, wenn
auch die gleichzeitige Lebhaftigkeit der Sinnestäuschungen und
Einbildungen reichlichen Stoff dazu liefert.
Endlich aber ist darauf hinzuweisen, daß auch in der Paralyse,
im Altersblödsinn, bei der Dementia praecox Wahnbildungen vor-
kommen, bei denen weder Gefühle noch stärkere Bewußtseinstrü-
bungen eine wesentliche Rolle spielen. Augenscheinlich haben die
Wahnbildungen bei diesen Krankheiten viele gemeinsame Züge
aufzuweisen. Die Annahme liegt daher nahe, daß die psychische
Schwäche, die sich hier überall entwickelt, das Zustandekom-
men von Wahnideen besonders begünstige. Wir kennen allerdings
auch viele Schwächezustände ohne Wahnbildung. Der angeborene
Schwachsinn zeigt nur geringe Neigung zur Entwicklung von
Wahnideen, und ebenso verlaufen zahlreiche Fälle von Paralyse,
Dementia praecox und Altersblödsinn ohne derartige Erscheinungen.
Der eigentliche Grund für das Auftauchen von Wahnvorstellungen
kann daher nicht in der psychischen Schwäche an sich, sondern
nur in begleitenden Erregungszuständen liegen , welche allerlei
wahnhafte Einbildungen im Innern des Kranken aufschießen lassen.
Tatsächlich läßt sich unschwer feststellen, daß die Entstehung
des Wahns fast immer in Zeiten heiterer oder trauriger Verstim-
mungen am reichsten vor sich geht. Namentlich deutlich wird
diese Rolle der Gefühlsschwankungen in solchen Fällen, in denen
überhaupt nur zeitweise Wahnideen hervortreten; man wird sie
hier stets von mehr oder weniger ausgesprochener gemütlicher
Erregung begleitet sehen.
Ängstliche Vermutungen, Ahnungen abergläubischer Zusammen-
hänge, Luftschlösser und Zukunftsträume sind auch bei Gesun-
den häufige Erscheinungen, aber sie gewinnen keine weiterrei-
chende Macht; sie schwinden bei ruhiger Überlegung, wie sie ge-
kommen sind. Bei den Kranken aber tragen sie vielfach von vorn-
herein nicht nur den Stempel der unerschütterlichen Gewißheit,
sondern sie nisten sich dauernd ein, ohne einer Berichtigung zu-
gänglich zu sein, ja ohne auch nur das Bedürfnis einer näheren
Prüfung oder Begründung zu wecken. Wir sind es gewohnt, alle
auftauchenden Einbildungen an dem Maßstabe unserer Wirk-
lichkeitserfahrung zu messen und als Erfindung zu kennzeichnen,
was sich nicht widerspruchslos dem festgefügten Bau unseres
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
Wissens eingliedern läßt. Der Kranke dagegen empfindet die Wider-
sprüche seiner Einbildungen mit der sonstigen, eigenen oder frem-
den Erfahrung gar nicht, oder er mißachtet sie, verschleiert sie
wohl auch durch immer unwahrscheinlichere und unmöglichere
Annahmen. Offenbar ist demnach für ihn die Nötigung, ja auch
die Möglichkeit verloren gegangen, den auftauchenden Wahn-
vorstellungen Widerstand entgegenzusetzen, sie zu berichtigen und
zu unterdrücken. Dafür spricht namentlich auch die in den psy-
chischen Schwächezuständen regelmäßig beobachtete völlige Un-
sinnigkeit der Wahnvorstellungen, deren Unhaltbarkeit anschei-
nend dem besonnenen Kranken ohne jedes Nachdenken klar sein
müßte.
Die Ursache für diese Unfähigkeit hat man in früheren Zeiten
in den besonderen Eigenschaften der einzelnen Vorstellungen ge-
sucht. Die Lehre von den ,, Monomanien" nahm an, daß die ,,fixe
Idee" nur eine umgrenzte Störung des Seelenlebens bei sonst völlig
erhaltener geistiger Gesundheit darstelle. Gerade daraus ergaben
sich jene törichten Heilbestrebungen, welche durch irgend einen
besonders überzeugenden Eingriff die anscheinend ganz ver-
einzelte Wahnidee zu beseitigen und damit die Krankheit selbst
zu heben trachteten. Der Erfolg bei derartigen Versuchen ist im
günstigsten Falle die Ersetzung einer Wahnvorstellung durch eine
oder mehrere andere.
Wir werden daher im Hinblicke auf die oben angestellten
Erörterungen an der Anschauung festhalten, daß der Ausbildung
von Wahnideen regelmäßig eine allgemeine Störung des psy-
chischen Gesamtzustandes zugrunde liegt. Angeregt wird
die Wahnbildung wohl immer durch Gefühlsschwankungen, die
schlummernde Hoffnungen und Befürchtungen in Einbildungs-
vorstellungen umsetzen. Daß aber diese Vorstellungen zum Wahne
werden, eine Macht gewinnen, gegen die am Ende selbst der Augen-
schein ohnmächtig ist, kann nur durch das Versagen unserer
Urteilsfähigkeit zustande kommen, wie es im einen Falle durch
leidenschaftliche gemütliche Erregung, im anderen durch Trübung
des Bewußtseins, im dritten durch die Verstandesschwäche be-
dingt wird.
Ganz besonders erschwert wird die Berichtigung der Wahn-
ideen durch die starke Gefühlsbetonung derjenigen Vorstellungen,
3i8
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die mit unserem Ich in naher Verbindung stehen. Die landläufige
Tatsache, daß kein Gebiet des menschlichen Denkens gröberen
Täuschungen ausgesetzt ist als die Selbsterkenntnis, wird auch
durch das Verhalten der Wahnideen bestätigt, nur in vergrößertem
Maßstabe. Nach dem Beispiele des Splitters im fremden und des.
Balkens im eigenen Auge sehen wir daher oft unsere Kranken die
Wahnideen anderer ohne weiteres richtig erkennen, während es
ihnen unmöglich ist, die anscheinend selbstverständliche Nutz-
anwendung auf den eigenen, durchaus gleichartigen Fall zu ziehen.
Man wird indessen darum die geistige Störung, welche diesen
, .partiellen" Wahnbildungen zugrunde liegt, mit demselben Rechte
eine allgemeine nennen müssen wie z. B. die Kreislaufsstockung
infolge eines Herzfehlers, auch wenn hier die Stauungserschei-
nungen zunächst nur an den entferntesten Teilen zur Ausbildung
kommen. Wenn demnach überhaupt Einbildungsvorstellungen
durch gemütliche Erschütterungen erzeugt werden, so werden sie
sich naturgemäß in erster Linie auf die Lage der eigenen Persön-
lichkeit und deren nächste Beziehungen erstrecken. Sie wurzeln
rascher, fester und mit größerer Überzeugungskraft in unserem
Innern, als fernliegende, gleichgültige Erfahrungen.
Es bedarf kaum noch der Ausführung, daß nach der hier ver-
tretenen Anschauung über die Entstehung der Wahnideen von
einer strenger begrenzten Ursprungsstätte dieser letzteren im Ge-
hirn nicht nur heute, sondern grundsätzlich nicht die Rede sein
kann. Die Wahnidee an sich ist zunächst eine Einbildungsvor-
stellung wie jede andere, wie etwa die Traumvorstellungen auch,
bei denen wir ja ebenfalls gewisse häufig wiederkehrende Gestal-
tungen beobachten. Ihre besondere Stellung im Seelenleben des
Kranken aber und ihre eigenartige Ausbildung erhält sie durch
das augenblickliche oder dauernde Verhalten der gesamten psy-
chischen Persönlichkeit. Sie ist also nicht sowohl die Wirkung
eines umschriebenen Krankheitsvorganges, als vielmehr das Zei-
chen einer allgemeinen krankhaften Veränderung der gesamten
Hirnleistung. Tatsächlich sehen wir Wahnideen nicht etwa bei
Herderkrankungen, sondern vielmehr bei solchen allgemeinen
Störungen (alkoholische Formen, Dementia praecox, Paralyse,
manisch-depressives Irresein) auftreten, welche zweifellos die
Leistungen der ganzen Hirnrinde in Mitleidenschaft ziehen.
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
Der verschiedenen Entstehungsweise der Wahnideen entspricht
ihr mannigfaltiges klinisches Verhalten. Gemütsbewegungen sind
im allgemeinen veränderliche Vorgänge; daher sehen wir die
wesentlich auf dieser Grundlage entstehenden Wahnbildungen in
der Regel kommen, gehen und vielfach wechseln, je nach Stärke
und Färbung der Verstimmung. Nur wo diese selbst durch längere
Zeit hindurch eintönig ist, werden auch die gleichen Wahnideen
zäher festgehalten. Die deliriösen Wahnbildungen ähneln im all-
gemeinen denjenigen des Traumes; es sind bunte, abenteuerliche,
wechselnde Bilder mit einzelnen durchgehenden Grundzügen, die
oft in mannigfacher Gestalt wiederkehren. Je nach dem größeren
oder geringeren Zusammenhange der Gedankengänge überhaupt
können dabei auch die Wahnideen ganz unvermittelt, abgerissen
nebeneinander stehen oder eine gewisse geistige Verarbeitung
zeigen, Begründungen, Schlußfolgerungen, einheitliche Färbung.
Schwindet die gemütliche Erregung oder die Bewußtseinstrübung,
so werden gewöhnlich die während derselben entstandenen Wahn-
ideen berichtigt, auch wenn im übrigen noch keine volle Genesung
eingetreten ist.
Ganz anders verhalten sich diejenigen Wahnbildungen, bei
denen die geistige Schwäche eine wesentliche Rolle spielt. Die
wahnbildende Kraft wird wohl auch hier von Gemütsbewegungen
geliefert, aber die krankhaften Vorstellungen sind mit dem Ver-
blassen der Stimmungsschwankung nicht ohne weiteres verschwun-
den. Zwar können sie nach und nach in den Hintergrund treten,
aber nur dadurch, daß sie vergessen werden, nicht durch verstan-
desmäßige Berichtigung. Wir beobachten das oft in der Paralyse,
bei der Dementia praecox und bei den senilen Geistesstörungen.
Nicht selten tauchen hier später die alten, verschollenen Wahn-
ideen ganz vorübergehend unter dem Einflüsse einer Stimmungs-
schwankung von neuem auf. Oft genug werden sie aber auch
dauernd festgehalten und sogar weiter verarbeitet. Die paranoiden
Schwachsinnsformen und manche Fälle von Paralyse lehren uns,
wie auf dem Boden der erworbenen Demenz dauernde Stimmungs-
schwankungen unter Umständen sehr ausgiebige Wahnbildungen
anzuregen imstande sind. Bei der Paralyse lassen sich die Wahn-
bildungen, namentlich die Größenideen, durch Zureden regelmäßig
leicht beeinflussen und rasch ins Ungemessene steigern; bei der
320
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Dementia praecox ist eine solche Beeinflußbarkeit nur ausnahms-
weise angedeutet.
Auch die länger haftenden Wahnbildungen zeigen wichtige
Verschiedenheiten. Entweder verblassen sie allmählich, um schließ-
lich doch mehr und mehr zu versinken. So ist es hauptsächlich bei
der Dementia praecox und bei der Paralyse. In anderen Fällen
treten sie zwar ganz in den Hintergrund, werden aber nicht be-
richtigt, sondern bleiben als ,, Residual wahn" dauernd erhalten,
ohne weiteren Einfluß zu gewinnen. Oder aber sie werden in ein-
förmiger Weise immer wieder vorgebracht und verknöchern ge-
wissermaßen zu stehender Formel ohne Fortentwicklung, aber auch
ohne Rückbildung. Auch dieser Verlauf stellt offenbar eine Form
der Verblödung dar; doch ist die klinische Stellung derartiger
Fälle vielfach noch zweifelhaft. Dasselbe gilt von denjenigen
Beobachtungen, in denen die Wahnideen sich allmählich verändern,
unsinniger und zusammenhangsloser werden , neue Bestandteile
in sich aufnehmen, während andere langsam zurücktreten. Sie
bilden die große Masse jener Krankheitsbilder, die wir vorläufig als
paranoide Formen der Dementia praecox bezeichnen.
Endlich haben wir noch derjenigen Fälle zu gedenken, bei
denen im Verlaufe von Jahrzehnten eine unmerkliche, mehr oder
weniger einheitliche Fortentwicklung ohne stärkeren geistigen
Verfall stattfindet. Bei dieser Krankheitsform, der Paranoia im
engsten Sinne , erzeugt die freilich oft recht dürftige geistige
Verarbeitung der Wahnvorstellungen eine Art verfälschter Welt-
anschauung. Der krankhaft veränderte Vorstellungsinhalt wird
zum dauernden Bestandteile des Erfahrungsschatzes und
übt auf die gesamte weitere Verarbeitung der äußeren Eindrücke
wesentlichen Einfluß aus. Die Stellung des Kranken zur Außen-
welt verschiebt sich allmählich in bestimmter Richtung; die psy-
chische Persönlichkeit mit ihren früher gewonnenen Anschauun-
gen erleidet eine durchgreifende Umwandlung. Gerade diese voll-
ständige Einverleibung des Wahnes, die Gruppierung um den
Mittelpunkt des eigenen Ich ist es, die den inneren Zusammenhang
seiner einzelnen Bestandteile, deren geistige Verarbeitung vermittelt.
Man pflegt daher vorzugsweise hier von einem ,,Wahnsy ste me"
zu sprechen, wenn auch bisweilen ähnliche, innerlich zusammen-
hängende Wahnbildungen, jedoch von kürzerer Dauer, in der
Störungen des Urteils und der Schlußbildung. 32 1
Paralyse und der Dementia praecox, bei Alkoholisten, Manisch-
Depressiven und Epileptikern zur Beobachtung kommen. Fort-
schritte in der Wahnbildung scheinen durch das stark gehobene
Selbstgefühl, durch Angstzustände oder zornige Erregungen ver-
mittelt zu werden; die so entstandenen Einbildungen werden dann
nicht berichtigt, sondern festgehalten und weiter ausgesponnen.
Auch hier ist nach meiner Erfahrung im weiteren Verlaufe regel-
mäßig eine deutliche Urteilsschwäche erkennbar.
Wie die klinische Betrachtung lehrt, zeigt die Ausbildung der
Wahnideen im einzelnen eine Reihe verschiedener Formen, die
bei unseren Kranken vielfach mit bemerkenswerter Gleichförmig-
keit wiederkehren. Gewöhnlich pflegt man zunächst Kleinheits-
und Größenideen, depressive und expansive Wahnbildungen,
voneinander zu unterscheiden. Unter den mannigfachen Gestaltun-
gen des depressiven Wahnes steht dem gesunden Leben wohl
am nächsten der Versündigungswahn; gibt es doch zahlreiche
Menschen, die bei jedem Mißerfolge, ja bei jedem Unglücksfalle
sogleich bereit sind, in ihrer eigenen Handlungsweise die Ursache
zu suchen und sich mit dem Gedanken zu quälen, daß sie dieses
oder jenes hätten anders machen sollen. In krankhaften Depres-
sionszuständen kann sich diese Idee der Verschuldung an jede
Äußerung oder Handlung des Kranken anknüpfen. Er glaubt,
immerfort andere zu schädigen, zu täuschen, ins Unglück zu
bringen, bittet um Verzeihung für seine schrecklichen Taten. Auch
die eigene Vergangenheit wird durch den Wahn in das schlimmste
Licht gesetzt. Alle möglichen, selbst ganz gleichgültigen Hand-
lungen erscheinen dem Kranken als scheußliche Untaten; er klagt
sich der gräßlichsten Verbrechen an, oft nur in allgemeinen Aus-
drücken, bisweilen aber auch in ganz bestimmter Erzählung, hält
sich für ein schlechtes, verworfenes, gemütloses Geschöpf, für von
Gott verstoßen und verdammt. Darum fürchtet und wünscht er
zugleich eine schreckliche Strafe, um seine Sünden zu büßen, und
lebt in der beständigen Erwartung, daß er nunmehr von den Poli-
zisten geholt, hingerichtet, verbrannt, zur Richtstätte geschleift,
lebendig begraben werden solle. Wir begegnen solchen Vorstellun-
gen namentlich in den zirkulären Depressionszuständen, bisweilen
auch in der Paralyse und Dementia praecox.
Diesen Wahnideen nahe verwandt sind gewisse Befürch-
Kraepelin, Psychiatrie I.' 8. Aufl. 21
322
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Hungen allgemeiner Art, die sich häufig mit ihnen vergesellschaften,
die Idee, zu verarmen, arbeitsunfähig zu werden, ein großes Un-
glück erdulden zu müssen oder über die Angehörigen heraufzu-
beschwören. Ähnliche Vorstellungen, daß irgend etwas Schreck-
liches passiert, die Familie erkrankt und gestorben sei, oder daß
etwas Furchtbares bevorstehe, finden wir als vorübergehende
,, Ahnungen" bekanntlich häufig genug im täglichen Leben wieder.
In ihren schwersten Formen führen sie zu dem sogenannten nihi-
listischen .Wahn: Alles ist vernichtet, zugrunde gegangen; die
Welt steht nicht mehr. Alle sind längst gestorben ; auch der Kranke
selbst lebt nicht mehr, hat keinen Namen mehr, ist überhaupt
nichts, weniger als nichts.
Eine weitere, sehr große Gruppe bilden diejenigen Wahnvor^^
Stellungen, die man unter dem Namen des Verfolgungswahnes
zusammenzufassen pflegt. Andeutungen davon finden wir im ge-
sunden Leben bei jenen argwöhnischen und mißtrauischen Na-
turen, die bei ihrer Umgebung überall niedrige und feindselige
Beweggründe voraussetzen und im Zusammenhange damit eigenes
Mißgeschick regelmäßig auf Neid und Haß anderer zurückzuführen
bereit sind. Gewöhnlich verbindet sich damit eine bedeutende
Überschätzung der eigenen Persönlichkeit und mißgünstige Ver-
kennung fremden Verdienstes. Bei unseren Kranken bildet den
Ausgangspunkt in der Regel eine Zeit der Verstimmung, inneren
Unbehagens und geheimer Angst. Ahnungen und Vermutungen
steigen auf; einzelne Wahrnehmungen erscheinen verdächtig; es
geht etwas Besonderes vor. Der Kranke beginnt, die Vorgänge
in seiner Umgebung mit wachsendem Mißtrauen anzusehen, gleich-
gültige Äußerungen und Erlebnisse, zufällige Gebärden wahnhaft
zu deuten und seine Wahrnehmungen unter neuen, vorurteils-
vollen Gesichtspunkten zu verarbeiten. Zeitungsartikel, Gassen-
hauer, Predigten enthalten versteckte Verhöhnungen und Drohun-
gen; alle Versicherungen der Liebe und Freundschaft sind eitel
Heuchelei, um ihn desto sicherer in die Falle zu locken. Diese
Entwicklung beobachten wir häufig bei der Verrücktheit und bei
der Dementia praecox, aber auch im manisch-depressiven Irresein.
Sehr gewöhnlich ist der Verfolgungswahn von mehr oder we-
niger zahlreichen Sinnestäuschungen begleitet, namentlich auf dem
Gebiete des Gehörs. Der Kranke sieht sich demnach von einem
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
323
Netze geheimer Feindseligkeiten, drohender Gefahren umgeben,
dem er nicht zu entrinnen vermag. Alles ist gegen ihn verbündet,
weidet sich an seiner Angst. Überall findet er sofort die untrüg-
lichen Zeichen dafür, daß man eingeweiht ist, daß er durch Spione
beobachtet wird. Er ist Gegenstand der allgemeinen Aufmerk-'
samkeit; man blickt ihn sonderbar an, ruft ihm nach, zischelt
einander Bemerkungen zu, weicht ihm aus, spuckt vor ihn hin.
Speisen und Getränke haben einen absonderlichen Geschmack, als
ob etwas drin wäre; offenbar ist ihnen Gift, Kot, Sperma, Menschen-
fleisch beigemischt. Nach ihrem Genuß treten Magenbeschwer-
den, Wallungen zum Kopfe, geschlechtliche Erregungen auf. Im
eigenen Zimmer werden die Spuren fremder Tätigkeit bemerkt;
Gegenstände sind verschwunden, beschmutzt, verdorben, das vor-
her geschlossene Fenster plötzlich offen; der Schlüssel zur Türe
schließt nicht.
Eine eigenartige Gestaltung des Beeinträchtigungswahns bildet
der Eif ersuchtswahn^). Die Kranken bemerken ein Erkalten
der ehelichen Beziehungen, fangen glühende Blicke, geheime
Zeichen auf; in Briefen finden sich versteckte Aufforderungen
zum Stelldichein. Die Frau wird bei unvermutetem Nachhause-
kommen verlegen, sucht etwas zu verbergen, hustet bedeutungs-
voll; es ist noch dunkel im Zimmer. Draußen poltert jemand aus
der Tür; eine Gestalt huscht am Fenster vorbei; das letzte Kind
gleicht dem Vater nicht. Gerade derartige unzureichende Be-
gründungen ermöglichen es uns, die begreiflicherweise öfters recht
schwierige Unterscheidung von gesunder oder gar berechtigter
Eifersucht zu treffen. Am häufigsten ist der Eifersuchtswahn
bei Alkoholisten und Cocainisten sowie bei senilen Geistesstörungen.
Geschlechtliche Unfähigkeit mit gesteigerter Erregbarkeit scheint
bei seiner Entstehung eine Rolle zu spielen.
Bei fortgeschrittener geistiger Schwäche nehmen die Verfol-
gungsideen oft ganz abenteuerliche Gestaltungen an. Die feind-
lichen Beeinflussungen gewinnen Formen, die nicht nur über das
Wahrscheinliche, sondern sehr bald auch über das Mögliche hinaus-
gehen. Ganz besonders in den Vordergrund treten nunmehr die
Einwirkungen auf den eigenen Körper, die in der verschiedensten
1) Villers, Bull, de la societe de med. ment. de Belgique, 1899; Schüller,
Jahrb. f. Psychiatrie, XX, 292.
324
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Weise ausgemalt werden. Vielfach handelt es sich um Verände-
rungen, die im Schlafe oder auf übersinnliche Weise herbeigeführt
werden (Telepathie). Die Annahme des Behextwerdens, des
Besessenseins, die ja in den Hexenprozessen des Mittelalters eine
so große sittengeschichtliche Bedeutsamkeit erlangt hat, liegt hier
dem abergläubischen Kranken äußerst nahe; sie wird gestützt
durch krankhafte Gemeingefühle, fremdartige, ihm aufsteigende
Gedanken und Reden, die Wahrnehmung von Stimmen im eigenen
Körper, lebhafte Träume, Ein etwas anderer Bildungsgang macht
den Kranken mehr zur Annahme magischer, magnetischer, elek-
trischer, physikalischer, hypnotischer Fernewirkungen geneigt, die
durch allerlei Maschinen, Telephone, galvanische Batterien, draht-
lose Telegraphie, Röntgenstrahlen, sympathetische Beziehungen von
unsichtbaren Feinden vermittelt werden. Die Ausbildung derartiger
Wahnvorstellungen ist bisweilen eine äußerst eingehende und spitz-
findige. Besonders häufig sind geschlechtliche Beeinflussungen,
Durchströmung und Reizung der Geschlechtsteile, Abtötung der-
selben, Abziehen des Samens, geheimnisvolle Begattungen mit ihren
weiteren Folgen bis zur Geburt in nächtlicher Betäubung. Als
Urheber der Verfolgungen und Beeinflussungen werden entweder
bestimmte Personen angesehen, Vorgesetzte, Nachbarn, Freunde,
Gatten, Liebhaber oder gewisse Parteien mit sehr absonderlichen
Zielen und Hilfsmitteln, die Geistlichen, Freimaurer, Sozialdemo- /
kraten, der Mörderbund usf. Die Idee der körperlichen Umwand-
lung findet ihre weitere Entwicklung in dem ebenfalls sittengeschicht-
lich wichtigen Wahne der Verzauberung in Tiergestalt (Wehr-
wölfe), des Abgestorbenseins, der Verwandlung in andere Personen,
namentlich solche anderen Geschlechts, in leblose Dinge usf.
Diese letzten Formen der Wahnbildung leiten uns hinüber zu
den hypochondrischen Ideen, bei denen die körperliche Be-
einträchtigung nicht auf fremde Einwirkung, sondern auf eine
schwere, unheilbare Krankheit zurückgeführt wird. Wie der an-
gehende Arzt die Anzeichen so mancher der gerade von ihm stu-
dierten Leiden an sich zu entdecken glaubt, so werden hier ganz
harmlose, durchaus normale Erscheinungen am eigenen Körper
für die Folgen der Syphilis, der Hundswut, mannigfacher Ver-
giftungen, schwerer Blutstockungen, geschlechtlicher Ausschwei-
fungen und dergleichen angesehen. Bei Ärzten sind Tabes, Para-
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
325
lyse, Phthise der häufigste Inhalt hypochondrischer Wahnideen.
Psychopathische Zustände, ferner zirkuläre, paralytische, hebe-
phrenische, senile Depressionen geben den günstigen Boden für
die Entwicklung solcher Wahnbildungen ab. Mit dem Eintritte
der Verblödung gewinnen sie, namentlich unter dem Einflüsse
krankhafter Empfindungen aller Art, nicht selten ganz unsinnige
Formen. Ein lebendiges Tier sitzt im Körper, Würmer unter der
Haut; Mund und After sind verschlossen, die Eingeweide verdorben
oder herausgenommen, alle Glieder gelähmt, der Atem und das
Blut vergiftet, der Kopf ausgehöhlt, die Zunge verfault, der Leib
zu einem winzigen Klümpchen zusammengeschrumpft; der ganze
Körper ist mit Gestank erfüllt, in einen Kikerikihahn verwandelt,
von Eisen und ähnliches. '
Auch die Größenideen können unmittelbar den eigenen
Körper zum Gegenstande haben. Hier gewährt uns die Hoffnungs-
freudigkeit der Schwindsüchtigen und die Selbsttäuschung Be-
trunkener ein alltägliches Beispiel für jene Störungen des Selbst-
bewußtseins, bei denen das Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit in
Widerspruch mit dem wirklichen Verhalten gerät. So rühmen
gebrechliche Paralytiker ihre Körperkräfte, ihre ausgezeichneten
Lungen, ihre Manneskraft, sprechen von ihrer schönen Stimme,
von ihren gymnastischen Fertigkeiten, während sie keinen musika-
lischen Ton hervorbringen und nicht auf den Füßen stehen können.
Den hypochondrischen Ideen inhaltlich verwandt sind die Größen-
vorstellungen, daß der eigene Kot Gold, der Urin Rheinwein sei und
ähnliches. Zuweilen gewinnen auch Wahnvorstellungen depres-
siven Inhaltes durch die Art ihrer Verwertung die Bedeutung von
Größenideen. Bie Kranken erzählen, daß sie sofort sterben würden,
um dann in den Himmel zu fahren; sie laden zu ihrer Hinrichtung
ein, die mit großer Feierlichkeit stattfinden werde. Andere hören
wir mit Genugtuung sich dessen rühmen, daß ihnen schon 30000 mal
das Haupt abgeschlagen worden sei, daß sie den schrecklichsten
Kopfkrankheiten ausgesetzt gewesen seien, jeden Tag einen Zentner
Strychnin eingeblasen bekämen. Hier dienen die unerhörten Ge-
fahren dazu, die eigene Kraft und Wichtigkeit in ein um so
glänzenderes Licht zu setzen.
Sehr häufig ist die Idee geistiger Gesundheit trotz tiefgreifender
psychischer Störung, der Mangel des Krankheitsbewußt-
326
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
seins')- Wir treffen in der Irrenanstalt immer nur eine kleine
Zahl von Kranken an, die sich für geistig gestört halten; die meisten
betrachten sich als völlig gesund, nicht wenige als ganz besonders
gescheit und leistungsfähig. Bei manischen und namentlich hypo-
manischen Kranken geht die erleichterte Auslösung von Bewe-'
gungsantrieben mit der Vorstellung großer geistiger Frische einher.
Ebenso halten sich Paralytiker in ihrer gehobenen Stimmung oft
für gesunder, als je in ihrem Leben. Paranoiker, deren Ein-
bildungskraft nicht durch schwerfällige Überlegungen gehindert
wird, fühlen sich als besonders begnadete Menschen, berufen, die
erhabensten Großtaten des Geistes zu vollenden. Oft genug geben
derartige Kranke die Vermutung einer geistigen Störung entrüstet
ihrer Umgebung zurück. Schließlich führt das Gefühl erhöhter
geistiger Leistungsfähigkeit dahin, daß sich der Kranke für ein
Universalgenie, für einen großen Entdecker und Weltverbesserer
hält, für den es keine Schwierigkeiten und keine unlösbaren Fragen
mehr gibt; er versteht alle Sprachen, kennt alle Geheimnisse der
Natur und ergründet die tiefsten Rätsel des Daseins mit spielender
Leichtigkeit. Wer wird dabei nicht an die erstaunliche Gewandtheit
erinnert, mit der wir bisweilen im Traume die schwierigsten Auf-
gaben überwältigen, um nachher beim Erwachen zu entdecken,
daß unsere Erzeugnisse barer Unsinn gewesen sind!
Die äußeren Verhältnisse des Kranken, seine gesellschaft-
liche Stellung, sein Besitz, werden durch Größenwahnideen in
ähnlicher Weise umgewandelt. Er ist von hoher Abkunft, Fürsten-
kind, Thronerbe, oder er steht wenigstens in nahen Beziehungen
zu weltlichen und geistlichen vornehmen Persönlichkeiten, ja er
hat Verbindungen mit überirdischen Mächten, Verkehr mit der
Jungfrau Maria, mit Christus oder Gott selbst. In weiterer, sehr
häufiger Steigerung ist er Bismarck, König, Kaiser, Papst (sogar
beides in einer Person) ; er ist ein Heiliger, Christus, Braut Christi,
Gott, die verkörperte Dreieinigkeit und Obergott. Andererseits
rühmt der Kranke seine schönen Kleider, seine Pferde und Schlösser;
er besitzt große Ländereien und ungeheuer viel Geld, Millionen mal
Milliarden; ihm gehören Deutschland, Europa, alle fünf Erdteile,
ja schließlich die ganze Welt. An diese Vorstellungen der Macht und
1) Pick, Arch. f. Psychiatrie, XIII, 518.
Störungen des Urteils und der Schlußbildung.
des Reichtums knüpfen sich sehr gewöhnUch mannigfache Pläne,
welche mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Mittel zur Ausfüh-
rung gebracht werden sollen. Vom einfachen Ankaufe allerlei un-
nützer Dinge geht es zur Planung gewaltiger Bauten, großartiger
Feste, zur Austrocknung ganzer Meere, Durchbohrung der Erde,
Reisen nach dem Monde und durch das Weltall. In dieser verschie-
denartigen inhaltlichen Ausprägung des ,,Gr ößenwahns" macht
sich der Einfluß der persönlichen Erfahrung geltend. Die allge-
meine Richtung ist offenbar in dem zugrunde liegenden Krankheits-
zustande vorgezeichnet, aber die Ausgestaltung und Ausschmückung
des Wahns wird durch den Vorstellungsschatz des einzelnen ge-
liefert und gibt somit ein bisweilen sehr treffendes Bild von seinen
Anschauungen, Interessen und Wünschen. Immerhin zeigen die
Wahnideen gleichartiger Kranker oft genug eine überraschende
Ähnlichkeit, ein Beweis für die allgemeine Einförmigkeit mensch-
lichen Strebens und Denkens.
Größen- und Kleinheitsideen sind durchaus nicht etwa als ge-
gensätzliche und einander ausschließende Richtungen der Vorstel-
lungstätigkeit zu betrachten, sondern sie verbinden sich sogar
sehr gewöhnlich. Oft stehen sie ganz unvermittelt nebenein-
ander; hie und da jedoch läßt sich ein gewisser innerer Zusammen-
hang beider Vorstellungskreise aufdecken. Der vermeintlich Ver-
folgte sieht die Ursache der gegen ihn gerichteten Feindseligkeiten
in seinen besonderen Vorzügen, in seinen natürlichen Ansprüchen
auf ein großes Besitztum, in seiner Anwartschaft auf einen Fürsten-
thron, und umgekehrt glaubt der wahnhafte Sprößling aus hohem
Hause, der Besitzer eingebildeter Reichtümer die Nichtanerkennung
seiner Rechte auf die Machenschaften geheimer Feinde und Neider
zurückbeziehen zu müssen, betrachtet seine Zurückhaltung in der
Irrenanstalt als das Werk erbschleicherischer Verwandten oder auch
als eine von Gott auferlegte Prüfung, nach deren glücklichem
Überstehen das ganze Füllhorn des Glückes sich über ihn ergießen
werde. In der Regel haben wir dabei übrigens nicht an eine
logische Entwicklung der einzelnen Gedankenkreise auseinander,
sondern vielmehr an eine nachträgliche Verbindung derselben
zu denken, da jeder Wahn ursprünglich selbständig aus den
inneren Zuständen des Kranken hervorgeht. Bei der Dementia
praecox bedeutet das Auftauchen von Größenideen neben dem
328
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Verfolgungswahn meist ein stärkeres Fortschreiten des psychischen
Schwäche.
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes. Die
Verknüpfung von Vorstellungen und Begriffen miteinander nimmt,
wie sich durch Messungen zeigen läßt, eine bestimmte, nicht un-
beträchtliche Zeit (etwa 0,5 — i,o" und mehr) in Anspruch, deren
Dauer bei der gleichen Person je nach der Leichtigkeit wechselt,
mit welcher sich die Glieder aneinanderfügen. Sie gestattet umge-
kehrt Rückschlüsse auf die innigeren oder entfernteren Bezie-
hungen der psychischen Vorgänge zueinander. Bei verschiedenen
Personen zeigt die Geschwindigkeit der Vorstellungsverbindungen
schon in der Gesundheitsbreite sehr erhebliche Unterschiede, die
bis auf das Dreifache schwanken können, ohne daß sich bis jetzt
für diese dauernden persönlichen Eigentümlichkeiten bestimmte
Gründe auffinden ließen. Durch diese Erfahrung wird natürlich
auch die Beurteilung krankhafter Abweichungen insoweit erschwert,
wie nicht im einzelnen Falle Vergleichswerte aus gesunden Tagen
zu Gebote stehen. Dazu kommt noch der Umstand, daß die not-
wendigen Messungen mit allerlei Schwierigkeiten umgeben sind,
die nur durch völlige Vertrautheit mit dem Maßverfahren überwun-
den werden können. Darin liegen die Gründe, warum die Kenntnisse
von den Störungen des zeitlichen Ablaufes unserer Gedankengänge
verhältnismäßig noch recht ungenügende sind. Immerhin verfügen
wir auch jetzt schon über Zehntausende brauchbarer Messungen
an Kranken^). Zunächst steht so viel fest, daß eine Verlang-
samung des Vorstellungsverlaufes durch eine ganze Reihe von Ur-
sachen schon beim Gesunden herbeigeführt werden kann. Vor allem
ist es die Ermüdung, die regelmäßig den Gedankengang verzögert,
schließlich bis zur völligen psychischen Lähmung. Körperliche und
geistige Ermüdung haben diese Wirkung miteinander gemeinsam.
Ähnlich wirken eine Anzahl von Vergiftungen, namentlich die-
jenigen mit Alkohol, Äther, Chloroform, Chloralhydrat u, a,, in
schwächerem Grade der Tabak. Auch gewisse Gemütsbewegungen
unangenehmer Art scheinen den Ablauf der Vorstellungen zu ver-
langsamen.
In Krankheitszuständen vermag man die Verlangsamung des
Gedankenganges nicht selten schon mit einer einfachen Uhr oder
1) Reis, Psycholog. Arbeiten, II, 587; Aschaffenburg, ebenda IV, 235.
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes.
329
auch ohne jede Messung nachzuweisen. Namentlich in den stu-
porösen und gewissen Mischzuständen des manisch-depressiven Irre-
seins pflegt die Störung ungemein deutlich zu sein. Dabei ist jedoch
zu berücksichtigen, daß bisweilen nicht sowohl die Verbindung der
Vorstellungen, sondern wesentlich nur die Auslösung der Antwort
stark verlangsamt ist. Ich kenne Fälle von zirkulärer Hemmung,
bei denen der Vorstellungsverlauf nur unbedeutend oder gar nicht,
die Entstehung der Sprachbewegung dagegen ungemein stark er-
schwert war, wie sich durch Versuche zweifellos nachweisen ließ.
Franz fand, daß die Verlängerung der psychischen Zeiten bei de-
primierten Kranken für verwickeitere Leistungen verhältnismäßig
geringer war als für einfache. Bei der Dementia praecox, na-
mentlich in den Endzuständen, ist regelmäßig eine geringe Erschwe-
rung der Vorstellungsverbindungen vorhanden, die allerdings infolge
des Negativismus weit größer erscheinen kann. Recht bedeutend
pflegt die Verlängerung der psychischen Zeiten in der Paralyse zu
sein, bis im weiteren Verlaufe die Messung völlig versagt. Beim
angeborenen Schwachsinn wird ebenfalls Verlangsamung des Vor-
stellungsverlaufes beobachtet. Mit einer Verlängerung der Asso-
ziationszeiten sieht man regelmäßig auch die Schwankungen der
gemessenen Werte zunehmen, die Buccola mit Recht als das
Dynamometer der Aufmerksamkeit bezeichnet hat. Während sonst
die psychischen Vorgänge gerade bei langsamerer Arbeit gleich-
mäßiger zu verlaufen pflegen, werden hier die Leistungen nicht
nur geringer, sondern auch unregelmäßiger; zugleich läßt sich
vielfach noch eine Abnahme ihres inneren Wertes nachweisen.
Beschleunigung des Vorstellungsverlaufes kommt jedenfalls
ungleich seltener zustande als Verlangsamung. Sehen wir ab von
der allmählich eintretenden Verkürzung der psychischen Zeiten
durch Übung, so scheinen im gesunden Leben wesentlich gewisse
Formen der gemütlichen Erregung einen rascheren Ablauf des Ge-
dankenganges herbeiführen zu können. Höchstens wäre hier noch
der Einfluß der Anregung durch fortdauernde, gleichmäßige Gedan-
kenarbeit zu erwähnen, der ebenfalls erleichternd auf die geistige
Tätigkeit wirkt. Von Arzneistoffen ist bisher nur für das Morphium,
das Coffein und die ätherischen Öle des Tees eine anregende Wirkung
auf die Verstandesleistungen wahrscheinlich. Bei Geisteskrankheiten
sind unzweifelhafte Verkürzungen der psychischen Zeiten über-
330
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
haupt noch nicht nachgewiesen. Erwarten könnte man diese Er-
scheinung nach der allgemeinen Anschauung etwa bei manischen
Kranken, namentlich in den leichteren Formen, in der sogenannten
Hypomanie. Drückt sich doch schon in dem Namen der hier so
deutlichen Ideenflucht" die Vorstellung einer Beschleunigung der
Gedankenverbindungen aus. In der Tat hat Maria Walitzkaja
bei manischen Kranken Verkürzungen der Assoziationszeit bis auf die
Hälfte, ja bis auf ein Drittel der gewöhnlichen Dauer gefunden.
Der Annahme einer derart erheblichen Beschleunigung der Vor-
stellungsverbindungen widersprechen indessen die namentlich von
Aschaffenburg gesammelten, sehr ausgedehnten Erfahrungen
durchaus; auch Franz kam zu demselben Ergebnisse. Meist läßt
sich sogar bei Ideenflüchtigen geradezu eine Verlangsamung des
Gedankenganges nachweisen. Ich bin nicht im Zweifel darüber,
daß die entgegenstehenden Erfahrungen durch die hier sehr nahe-
liegende und nur schwierig zu vermeidende Fehlerquelle der vor-
zeitigen Reaktion getrübt worden sind.
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit. Der zeitliche Ablauf
des einzelnen psychischen Vorganges liefert uns nur ein sehr un-
vollkommenes Bild der eigentlichen geistigen Leistungsfähigkeit.
Es können tiefgreifende und ausgebreitete Störungen in der gesam-
ten geistigen Veranlagung bestehen, über die wir durch die einzelne
Messung nicht das geringste erfahren. Dagegen wird uns durch die
Untersuchung der Arbeitsleistung während längerer Zeit^) und unter
verschiedenen Verhältnissen ein Einblick in eine Reihe von Ab-
weichungen eröffnet, deren Bedeutung für das genauere Verständ-
nis der Schwachsinnsformen, namentlich der angeborenen, kaum
überschätzt werden kann. Wir lernen hier geradezu gewisse Grund-
eigenschaften der einzelnen Persönlichkeit kennen, von
deren krankhaften Gestaltungen wir sonst nur höchst unbestimmte
und verschwommene Vorstellungen zu haben pflegen.
Zunächst stellt sich heraus, daß die Arbeitsleistung beim ge-
sunden Menschen gewisse dauernde Spuren hinterläßt, die für später
eine Erleichterung der gleichen Arbeit vermitteln. Diese dauernde,
nur sehr allmählich wieder verschwindende Arbeitserleichterung be-
zeichnen wir mit dem Namen der Übung. Die Größe des Übungs-
1) Kraepelin, Die Arbeitskurve, Philosophische Studien, XIX, 459.
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit.
einflusses ist bei verschiedenen Personen sehr verschieden. Weit
größer aber sind die Schwankungen auf krankhaftem Gebiete,
Wenn wir absehen von den erworbenen Schwachsinnsformen, ins-
besondere dem paralytischen Blödsinn, bei denen die Übungs-
fähigkeit häufig vollkommen vernichtet ist, so leuchtet ohne
weiteres ein, daß jene Eigenschaft bei Idioten fast ausschließlich
die ganze Zukunft des Kranken bestimmt. Bildungsfähigkeit ist
im wesentlichen nichts als Mangel der Übungsfähigkeit. Natür-
lich kommt es aber außer der Arbeitserleichterung durch die
Übung selbst auch auf die Festigkeit an, mit welcher diese blei-
bende Spur im Gedächtnisse haftet. Wo die erworbene Übung sich
rasch wieder verliert, wird sie nur ein sehr unzuverlässiges Hilfs-
mittel für die geistige Ausbildung abzugeben imstande sein. Auch
in dieser Beziehung finden sich schon bei Gesunden sehr bedeutende
Unterschiede. In krankhafter Ausbildung begegnen wir raschem
Schwinden der vielleicht ebenso rasch erworbenen Übung nament-
lich bei jenen Formen des angeborenen Schwachsinns, bei denen
eine gewisse oberflächliche geistige Regsamkeit zunächst über die
tief begründete Unzulänglichkeit der geistigen Begabung täuscht.
Mit der Übungsfähigkeit steht vielleicht in innerer Beziehung
die Anregbarkeit. Es hat sich herausgestellt, daß durch fort-
gesetzte geistige Arbeitsleistung rasch eine Erleichterung eben
dieser Arbeit zustande kommt, die sich von der Übung durch ihr
schnelles Verschwinden nach dem Aufhören der Arbeit unterschei-
det. Die größere oder geringere Leichtigkeit, mit der sich diese Zu-
nahme der Leistung während der Arbeit einstellt, bezeichnen wir
als Anregbarkeit. Aus der täglichen Erfahrung ist genugsam be-
kannt, wie verschieden die Geschwindigkeit ist, mit welcher sich der
einzelne in eine Arbeit hineinfindet. Unter unseren Kranken bieten
die Gehemmten, Stuporösen denjenigen Grenzfall dar, bei welchem
die Anregbarkeit ihre niedersten Werte erreicht, während uns ma-
nische Kranke gerade das entgegengesetzte Verhalten zeigen. Na-
mentlich bei feineren Untersuchungen über die Schrift hat sich her-
ausgestellt, daß in der Manie während des Schreibens die Geschwin-
digkeit der Bewegungen und der Druck der Feder außerordentlich
rasch anwächst. Weniger augenfällig, aber als dauernde persön-
liche Eigentümlichkeiten, treten uns die beiden entgegengesetzten
Störungen in jenen Formen des angeborenen Schwachsinns ent-
332
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gegen, die man, nicht ohne Beziehung auf das verschiedene Ver-
halten der Anregbarkeit, als stumpfen und erregbaren Schwachsinn
auseinandergehalten hat. Vielleicht ist auch die Nachhaltigkeit der
Anregung, die Geschwindigkeit, mit der sich die innere Bewegung
wieder beruhigt, von Bedeutung für das Verständnis dieser oder
jener Krankheitszustände. Leider ist über diese Verhältnisse bisher
nichts bekannt.
Eine weitere, grundlegende Eigenschaft der geistigen Persön-
lichkeit ist die Ermüdbarkeit. Durch die Ermüdung wird die
Höhe der Arbeitsleistung je länger, je mehr herabgesetzt, wahrschein-
lich nicht nur in ihrer Menge, sondern auch in ihrem Werte. Große
Ermüdbarkeit beeinträchtigt daher auf das empfindlichste die Fähig-
keit zu längerer und anstrengender Arbeitsleistung. Bei Geistes-
kranken ist diese Störung ungemein verbreitet. Wir finden sie zu-
nächst bei der nervösen Erschöpfung und in der Genesungszeit nach
verschiedenen Formen psychischer Erkrankung. Sodann begegnen
wir erhöhter Ermüdbarkeit vielfach beim Alkoholismus, bei den
senilen Hirnerkrankungen und in der Paralyse, namentlich aber
bei der Arteriosklerose. Endlich ist sie eine häufige Begleiterschei-
nung der psychopathischen Veranlagung. Sie kann hier, zum großen
Schaden des Kranken, unerkannt bleiben, wenn sie sich mit er-
höhter Anregbarkeit verbindet. Es kommt dann leicht zu einer
Anspannung der geistigen Arbeitskraft über das zulässige Maß hinaus.
Ausgeglichen wird die Ermüdung durch die Erholung und
namentlich durch den Schlaf. Wahrscheinlich unterliegt auch die
Schnelligkeit, mit der sich die Erholung vollzieht, krankhaften Stö-
rungen. Depressive Kranke, Nervöse, Genesende sehen wir ungemein
langsam die Folgen einer geistigen, gemütlichen oder auch körper-
lichen Anstrengung wieder ausgleichen; wir haben daher bei ihnen
vielleicht eine Abnahme der Erholungsfähigkeit, der geistigen
Spannkraft, zu verzeichnen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei
ohne Zweifel das Verhalten des Schlafes; wahrscheinlich haben wir
es beim Irresein vielfach mit schweren Störungen nicht nur der
Schlaf dauer, sondern namentlich auch der Schlaftiefe zu tun. Für
Zustände einfacher Überarbeitung ist eine Verflachung des Schlafes
mit langsamerem Erreichen der größten Tiefe bereits nachgewiesen.
Kaum weniger häufig, als der krankhaften Ermüdbarkeit, be-
gegnen wir auf unserem Gebiete einer Steigerung der Ablenkbar-
Störungen des Selbstbewußtseins.
333
keit. Sie kann durch dauerndes Fehlen der Leitvorstellungen bei
geistigen Schwächezuständen, insbesondere bei der Paralyse und
beim Altersblödsinn, zustande kommen, während wir es bei der
manischen Erregung nur mit einer Flüchtigkeit derselben zu tun
haben. In Form erhöhter Empfindlichkeit gegen ablenkende Ein-
wirkungen ist sie eine sehr gewöhnliche Begleiterscheinung der
psychopathischen Veranlagung. Sie geht Hand in Hand mit einer
Herabsetzung der Gewöhnungsfähigkeit. Für den gesunden
Menschen pflegt jede Ablenkung bei längerer Einwirkung allmählich
ihren Einfluß mehr und mehr zu verlieren ; er gewöhnt sich an die
Störung und lernt, sie unbeachtet zu lassen. Bei gesteigerter nervöser
Reizbarkeit kann die Gewöhnungsfähigkeit mehr oder weniger er-
heblich herabgesetzt sein, so daß also die ablenkende Wirkung einer
Störung mit der Zeit immer wächst, anstatt sich abzuschwächen.
Auf diese Weise können schließlich ganz unbedeutende Reize in
einem Grade störend einwirken, der dem Unbefangenen unbegreif-
lich erscheint.
Störungen des Selbstbewußtseins. Als Selbstbewußtsein bezeich-
nen wir die Summe aller jener Vorstellungen, aus denen sich
für uns das Bild unserer körperlichen und geistigen Persönlichkeit
zusammensetzt. Diese Vorstellungsgruppe bildet den dauernden
Hintergrund unseres Seelenlebens und übt daher auf den Ablauf
unserer gesamten geistigen Vorgänge einen maßgebenden Einfluß
aus. Sie verknüpft einerseits die Eindrücke jedes Augenblickes zu
einem einheitlichen Bilde unserer gesamten Lage, und sie verkettet
andererseits die Reihe unserer Lebenserfahrungen zu einer fort-
laufenden Lebensgeschichte, deren Endergebnis jeweils das gegebene
Ich darstellt.
Das Selbstbewußtsein ist kein feststehendes psychisches Gebilde,
sondern es wird durch die Lebenserfahrungen fortwährend ver-
ändert. Krankheitsvorgänge vermögen es in der nachhaltigsten
Weise zu verfälschen. Wahnbildungen erscheinen dazu von vorn-
herein besonders geeignet, doch kennen wir Krankheiten mit aus-
geprägten Wahnvorstellungen, die das Selbstbewußtsein nicht
wesentlich verändern. Dahin gehören vor allem die meisten alko-
holischen Geistesstörungen. Da andererseits die schwersten Ver-
fälschungen des Selbstbewußtseins in der Paralyse, in der Dementia
praecox und im manisch-depressiven Irresein beobachtet werden,
n. Die Erscheinungen des Irreseins.
könnte man auf den Gedanken kommen, daß jenes Krankheits-
zeichen in irgend einer Beziehung zu den Störungen des Willens
stände, die den genannten Formen eigentümlich sind; pflegen wir
doch auch den Willensregungen einen besonders großen Anteil an
dem Aufbau der psychischen Persönlichkeit zuzuschreiben.
Einer eigentümlichen, sehr quälenden Störung des Persönlich-
keitsbewußtseins begegnen wir nicht selten in den zirkulären De-
pressionszuständen. Es handelt sich anscheinend um eine all-
gemeine Veränderung der aus dem Körper und aus dem Ablaufe
der Seelenvorgänge entspringenden Empfindungen. Das Gefühl der
Zugehörigkeit des eigenen Körpers ist verloren gegangen; der
Kranke kommt sich vor wie ein Automat, wie eine Statue; der
Klang der Stimme, das Gesicht im Spiegel erscheint ihm fremd.
Die Vorstellungen sind schattenhaft ; die Wahrnehmungen erwecken
nicht das Gefühl der Wirklichkeit. Am stärksten aber macht sich
der Verlust des inneren Tätigkeitsgefühls geltend. Das Handeln
geht mechanisch, ohne das Bewußtsein des Wollens vonstatten;
die Gedanken kommen und gehen ohne eigenes Zutun. Der Kranke
fühlt sich als teilnahmloser Zuschauer, außer innerem Zusammen-
hang mit dem eigenen Wahrnehmen und Tun, nicht als leidendes
und handelndes Ich. Wir dürfen wohl annehmen, daß diese pein-
lichen Zustände von ,, Depersonalisation"^) uns wesentlich ein Bild
der inneren Hemmungen geben, die den zirkulären Depressionen
eigentümlich sind.
Ihre besondere Färbung erhält die Verfälschung des Ichbewußt-
seins namentlich durch die krankhafte Stimmung. So wächst beim
manischen Kranken die eigene Persönlichkeit bis zum Auftreten
von Größenideen, die freilich in der Regel nur als halb scherzhafter
Ausdruck des gehobenen Selbstgefühls vorgebracht werden. In den
zirkulären Depressionszuständen dagegen kommen sich die Kranken
nicht nur schlecht und verworfen vor, sondern sie fühlen sich oft
genug auch körperlich verändert, versteinert, gestorben, glauben
sich in geschichtliche Personen verwandelt, sind zum Teufel, zum
Tiere geworden. Auch dem Paralytiker kann im Zusammenhange
.mit den Größen- und Kleinheitsideen sein Körper in der mannig-
fachsten Weise verändert erscheinen; er kann sich als ein ganz
1) Pick, Arch. f. Psychiatrie, XXXVIII, 22; Oesterreich, Journ. f. Psy-
chologie und Neurologie, VII, 253,
Störungen des Selbstbewußtseins.
335
neues Wesen fühlen, das je nach der Färbung der Stimmung bis ins
Ungemessene gewachsen oder zum Nichts zusammengeschrumpft
ist. Ganz ähnhche, wenn auch weniger stürmische Wandlungen
beobachten wir in der Dementia praecox, Sie sind jedoch hier un-
gleich seltener, und sie verknüpfen sich, im Gegensatz zur Paralyse
und zum manisch-depressiven Irresein, meist mit der Vorstellung
äußerer Beeinflussung in irgend einer Form, ohne daß freilich die
Veränderung der eigenen Persönlichkeit gerade als Folge solcher
Einwirkungen gedeutet werden müßte.
Bei schweren Verblödungen kommt es schließlich zu einer Ver-
nichtung des Selbstbewußtseins. In den Endzuständen der Dementia
praecox und namentlich der Paralyse kann, wie es scheint, die
Vorstellungsgruppe der körperlichen und geistigen Persönlichkeit
völlig zerfallen. Beim Altersblödsinn und bei manchen organischen
.Hirnerkrankungen kommt es öfters zu einem Kindischwerden, zu
■psychischem Puerilismus mit großer Gedankenarmut, grundlosem
Stimmungswechsel und spielerischem Wesen, gänzlichem Verlust
des Verständnisses für die Gegenwart, Auftauchen längstver-
gangener Erinnerungen. Dagegen pflegt bei der Presbyophrenie,
bei der wegen der starken Merkstörung die Lebensereignisse sofort
spurlos aus der Erinnerung schwinden, das Selbstbewußtsein er-
halten zu bleiben. Ebenso besitzen bei der epileptischen Verblö-
dung trotz hochgradiger geistiger Verarmung und schwerer
Gedächtnisstörungen die Kranken in der Regel noch ein klares,
geordnetes Bewußtsein ihrer Persönlichkeit. Verhältnismäßig gering
ist die Störung des Selbstbewußtseins bei denjenigen Formen des
Irreseins, die wir der Verrücktheit zurechnen; sie beschränkt sich
in der Regel auf eine wahnhafte Überschätzung der eigenen Fähig-
keiten, die unter Umständen durch Erinnerungsfälschungen in die
Vergangenheit zurückgeführt wird und die Anknüpfung für eine
Umdeutung der äußeren Lebensstellung bilden kann.
Bei manchen Erkrankungen findet ohne oder mit Umwand-
lung des Selbstbewußtseins ein Verlust der inneren Einheit statt.
Wir kennen aus dem Traume die Erscheinung, daß wir Zwie-
gespräche führen können, ja daß wir über irgend eine schlagende
Wendung unseres Gegners verblüfft sind. Hier ist anscheinend die
Einheitlichkeit der Persönlichkeit, die uns im Wachen gestattet,
alle Gedanken und Regungen unseres Innern gleichzeitig zu über-
336
II, Die Erscheinungen des Irreseins.
sehen, aufgehoben. Die ersten Ansätze zu einer solchen „Teilung"
oder „Spaltung" des Selbstbewußtseins haben wir vielleicht schon
in jenen Krankheitsfällen zu sehen, in denen Sinnestäuschungen
dem Kranken als fremde Erscheinungen äußeren Ursprungs ent-
gegentreten. Wenn ein Trinker hört, daß über ihn spottende Zwie-
gespräche geführt und gefahrdrohende Pläne verabredet werden, so
bleibt ihm dabei völlig verborgen, daß diese Täuschungen nichts
als der halluzinatorische Ausdruck seiner eigenen Gedanken und
Befürchtungen sind; er selbst spielt, ohne es zu wissen, die Rolle
zweier verschiedener Parteien. Namentlich bei der Dementia
praecox kann diese Spaltung des Selbstbewußtseins sehr deutlich
werden. Die Kranken sprechen dann von den fremden Mächten,
Feinden, die sich in ihrem Körper eingenistet haben, und unter-
scheiden sehr deutlich ihre eigenen Gedanken und Handlungen von
denen ihrer Inwohner. Wernicke hat diesem ,, Zerfall der Indi-
vidualität", der ,, Assoziationslösung", in der Erklärung krankhafter
Störungen ein breites Feld eingeräumt. Er denkt dabei auch ana-
tomisch an eine ,,Sejunktion", an vielfache Trennungen des Zu-
sammenhanges, welche die Grundlage für den Verlust der inneren
Einheit bilden sollen. Die zugleich bestehenden Reizerscheinungen,
insbesondere die Sinnestäuschungen, werden dann auf örtliche
Stauungen des in seiner Ausbreitung behinderten Nervenstroms zu-
rückgeführt.
Sehr nahe liegt die Annahme einer Spaltung des Selbstbewußt-
seins für die Erklärung gewisser hysterischer Störungen. Da sich
nachweisen läßt, daß auch solche Reize psychisch verwertet
werden, die auf empfindungslose Körpergegenden einwirken, und
daß gelähmte Glieder auf Umwegen in Bewegung gesetzt wer-
den können, werden hier offenbar einzelne Körpergebiete aus dem
Zusammenhange des Persönlichkeitsbewußtseins ausgeschlossen.
Eine weitere Ausbildung dieser Anschauung ist die Annahme von
Freud, daß auch einzelne Lebenserfahrungen aus der bewußten Er-
innerung unter dem Einflüsse lebhafter Unlustgefühle ,, verdrängt"
werden können, in dieser Form aber gleichwohl eine ebenso starke
und dauernde wie unheilvolle Wirkung auf das Seelenleben aus-
üben. Daß solche Verdrängungserscheinungen vorkommen, wird
angesichts der hysterischen Amnesien nicht zu bezweifeln sein.
Dagegen vermag ich an das jähre-, ja jahrzehntelange selbstherr-
Störungen des Selbstbewußtseins.
337
liehe Nachwirken verdrängter Erinnerungen im Hinblicke auf kli-
nische wie allgemein-psychologische Erfahrungen durchaus nicht
zu glauben. Allerdings sind die Anhänger Freuds soweit gegangen,
gewissen gefühlsbetonten Vorstellungen, den sogenannten ,, Kom-
plexen", die Rolle von übermächtigen Nebenregierungen unter der
Schwelle des Bewußtseins zuzuschreiben. Mir scheint bisher der
Beweis dafür, daß die Zentralgewalt unseres Seelenlebens durch
unbotmäßige Vasallen heimlich wesentlich eingeschränkt würde,
noch nicht erbracht zu sein. Woher sollte auch deren Macht wohl
stammen ?
Der zeitliche Zusammenhang der Persönlichkeit mit ihrer Ver-
gangenheit kann dadurch gestört werden, daß die Spuren kürzerer
oder längerer Lebensabschnitte verlöschen. Hat sich in diesen Ab-
schnitten eine Fortentwicklung nicht vollzogen, so findet sich das
Selbstbewußtsein nachher unverändert auf dem früheren Stand-
punkte; die Zwischenzeit wird dann durch Schlußfolgerungen oder
durch Erinnerungsfälschungen überbrückt. Ersteres ist der Fall bei
den Lücken, die durch Bewußtseinstrübungen, den Schlaf, Ohn-
mächten, Dämmerzustände, Delirien, bedingt werden; letzteres ge-
schieht, wo der Verlust der Erinnerung durch eine Merkstörung
verursacht war, wie bei der Korssako wschen Krankheit.
Ein wesentlich anderes Bild bieten die Fälle von sogenanntem
,,doppeltem Bewußtsein" dar. Hier handelt es sich um den
mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel verschiedener Zustände,
in denen jeweils nur die Erinnerung an die Erlebnisse des gleich-
artigen Zustandes erhalten bleibt. Es schieben sich also gewisser-
maßen verschiedene Persönlichkeiten durcheinander, von denen
jede nur über einen Teil der Gesamterfahrungen verfügt. In der
Regel pflegt die eine derselben einer früheren Entwicklungsstufe
anzugehören und demgemäß allerlei Kenntnisse und Fertigkeiten
nicht zu besitzen, welche die andere beherrscht. Bisweilen läßt
sich nachweisen, daß geradezu eine Rückversetzung in ein bestimm-
tes, durch besondere Ereignisse ausgezeichnetes Lebensalter statt-
gefunden hat, so daß auch hier ein, allerdings ganz andersartiger
Puerilismus entstehen kann. Diese Erscheinung, die man bei ge-
eigneten Personen durch hypnotisches Einreden künstlich erzeugen
kann, gehört dem Gebiete der Hysterie an; sie ist von den Fran-
zosen als ,,Ekmnesie" bezeichnet worden. Sehr merkwürdige
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 22
338
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Beispiele der Art sind neuerdings von Prince und von Wilson^)
beschrieben worden; in dem einen wechselten drei, in dem anderen
gar zehn Personen von ganz verschiedenen Altersstufen, Kennt-
nissen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften miteinander ab,
bald von selbst, bald auf äußere Einwirkungen hin.
C. Störungen des Gefühlslebens.
Jeder Sinneseindruck, der die Schwelle des Bewußtseins über-
schreitet, erzeugt in unserem Innern außer der Wahrnehmung
eine eigentümliche Veränderung unseres Seelenzustandes, die wir
als Gefühl bezeichnen. Die Gefühle sind nicht, wie die Wahr-
nehmungen, ein Abbild der Außenwelt, sondern sie kennzeichnen
unmittelbar die Stellung, welche das Ich gegenüber den äußeren
Einwirkungen einnimmt; es sind diejenigen Seelenzustände, aus
denen sich auch tatsächlich die Willensregungen entwickeln. Nach
Wundts^) Darlegungen kann man drei gegensätzliche Gefühls-
richtungen auseinanderhalten, die jedoch nur selten allein, sondern
fast immer in mannigfaltigen Mischungen die geistigen Vorgänge
begleiten, die Lust und Unlust, die Erregung und Beruhigung,
vielleicht besser Hemmung, endlich die Spannung und Lösung.
Diese Zerlegung der Gefühlsmischungen in ihre einfachsten Bestand-
teile läßt sich nicht nur an passend gewählten Beispielen durch die
innere Erfahrung unmittelbar durchführen, sondern sie wird auch
gestützt durch die eigenartigen Wirkungen, die den verschiedenen
Gefühlsarten auf Atmung, Puls und Blutdruck zuzukommen
scheinen.
Da die Gefühle die empfindlichsten Zeichen aller inneren Ver-
änderungen sind, ist es bei den Geistesstörungen regelmäßig gerade
die Gefühlsbetonung, das ,, Gemütsleben" der Kranken, welches
zunächst die auffallendsten Störungen darbietet. Die Beurteilung
dieser Krankheitserscheinung stößt jedoch deswegen auf gewisse
eigentümliche Schwierigkeiten, weil uns hier weit weniger, als auf
dem Gebiete des Verstandes, eine feststehende Richtschnur gege-
1) Prince, The disassociation of a personality. 1906; Wilson, Journal of
mental science, 1904, 699.
2) Wundt, Physiologische Psychologie, II, 284, S- Aufl. 1902.
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.
ben ist, mit Hilfe derer wir die gradweisen Abweichungen vom ge-
sunden Verhalten sicher bestimmen könnten. Verfälschungen der
Sinneserfahrung, Verstöße gegen die Grundsätze des logischen
Denkens werden auch vom Laien ohne weiteres als krankhafte Er-
scheinungen erkannt; die Lebhaftigkeit der Gefühlsäußerungen
zeigt aber schon bei Gesunden unter verschiedenen Verhältnissen
so weitgehende persönliche Verschiedenheiten, daß die Abgrenzung
des Krankhaften gerade auf diesem Gebiete häufig recht schwierig
wird. Der Laie, in forensischen Fällen der Richter, ist stets weit
eher geneigt, Mängel des Verstandes, besonders Wahnideen, für
krankhaft zu halten, als die eingreifendsten Störungen im Gemüts-
leben.
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbariceit. Die
einfachste und wohl auch häufigste Abweichung im Bereiche der
Gefühle ist die Herabsetzung ihrer Stärke. Während sich im
Gemüte des Gesunden der innere Anteil, den er an seinen vielfachen
Beziehungen zur Umgebung nimmt, in beständigen, leiseren oder
stärkeren Schwankungen des Stimmungshintergrundes widerspie-
gelt, bedeutet die Abnahme dieser Gefühlsbetonung Gleichgültig-
keit und Teilnahmlosigkeit gegenüber den Eindrücken der
Außenwelt. Diese Störung ist eine allgemeine Begleiterscheinung der
meisten Schwachsinnsformen. Unter Umständen werden dabei die
äußeren Erfahrungen noch recht gut aufgefaßt und selbst ver-
standesmäßig verarbeitet, ohne doch irgend einen bemerkbaren ge-
mütlichen Widerhall in dem Kranken wachzurufen. Dieses auffal-
lende Mißverhältnis zwischen Verstandes- und Gefühlsstörung tritt
uns am ausgeprägtesten bei der Dementia praecox entgegen. Erst
in den schwersten Krankheitszuständen pflegt hier auch die Auf-
fassung und die Vorstellungstätigkeit eine tiefgreifende Einbuße
zu erleiden. Bei der Paralyse dagegen sehen wir die Verstandes-
leistungen in verhältnismäßig höherem, die gemütlichen Regungen
dagegen in geringerem Grade durch die Krankheit zerstört werden.
Die Abnahme der Gefühlsbetonung pflegt sich in der Regel nicht
auf alle Gebiete des gemütlichen Lebens gleichmäßig zu erstrecken,
sondern es kommt vielmehr zunächst zu einer Einschränkung
der inneren Beziehungen des Kranken. Der Kreis der Vorgänge,
die ihn noch innerlich berühren, wird enger, während nach ge-
wissen Richtungen hin die Lebhaftigkeit der Gefühle die alte bleibt,
* 22*
340
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
ja sich unter Umständen sogar noch steigern kann. Am leichtesten
gehen dem Kranken natürhch solche Gefühle verloren, die nicht
unmittelbar an die Veränderungen des eigenen Ich anknüpfen,
sondern sich auf die Verhältnisse der weiteren Außenwelt beziehen,
und ferner diejenigen, welche die Eigenschaft des Sinnlichen ver-
loren haben und als Begleiter gewisser allgemeiner Vorstellungen
und Grundsätze nur durch die höheren geistigen und sittlichen
Leistungen wachgerufen werden. Wie der Gedankenkreis sich auf
das Einfachste, Nächstliegende und persönlich Wichtigste beschränkt,
so behalten auch die Gefühle ihre sinnliche Einfachheit und er-
strecken sich nur auf jene Eindrücke, die in dem unmittelbarsten
und einleuchtendsten Zusammenhange mit dem eigenen Wohl und
Wehe stehen. Mit anderen Worten: die Anteilnahme des Kranken
zieht sich wesentlich auf die Zustände der eigenen Person zurück,
wird eine ausschließlich selbstsüchtige, und er verliert die Freude
an der geistigen Tätigkeit, an edleren künstlerischen Genüssen,
das Gefühl für die höheren Anforderungen des Anstandes, der Sitt-
lichkeit, der Religion. Fremdem Schicksale steht sein Herz kalt
und gleichgültig gegenüber; allgemeinere und höhere Bestrebungen
vermögen weder Verständnis noch Teilnahme in seinem Innern
anzuregen. Es fallen also für ihn wesentlich alle jene Beweggründe
und Hemmungen fort, die dem Gesunden aus der Rücksicht auf
seine Umgebung, aus seinen Beziehungen zur Familie, zu seinem
Volke, endlich zur gesamten Menschheit und ihren Aufgaben ent-
springen. Die Folgen dieser Umwandlung sind ungemein auffallende.
Der Kranke hat kein Gefühl mehr für seine Angehörigen, sein
Geschäft, seine Arbeit, seine Pflicht; er verliert das Schamgefühl,
wird rücksichtslos im persönlichen Verkehr, denkt nur an die Be-
friedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse, macht sich keine Ge-
danken über seine Lage, keine Pläne oder Sorgen für die Zukunft.
In mildester Form sehen wir eine derartige Veränderung schon
im gesunden Greisenalter, stärker im krankhaften Altersschwach-
sinn sich vollziehen. Die gemütliche Empfänglichkeit und Be-
geisterungsfähigkeit verblaßt, während die Regungen der Eigen-
liebe sowie die Freude am Besitz und am sinnlichen Genüsse sich
lebhafter geltend machen. Weiterhin bilden die Zeichen der gemüt-
lichen Verblödung häufig die ersten auffallenden Erscheinungen der
Paralyse und namentlich der Dementia praecox, in deren Verlaufe
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.
sie sich immer schärfer ausprägen. Endlich aber spielt das Fehlen
der gemütlichen Ansprechbarkeit auch eine wichtige Rolle bei
manchen epileptischen und angeborenen Schwachsinnsformen, Mit
der Verkümmerung des Gemütslebens verträgt sich hier recht
wohl eine gewisse Findigkeit in der Verfolgung des sinnlichen Ge-
nusses, eine handwerksmäßige Gewandtheit in der Erreichung
selbstsüchtiger Vorteile, durch die sich die Umgebung häufig über
die tiefe geistige und gemütliche Unfähigkeit der Kranken hin-
wegtäuschen läßt. Aus der Gesundheitsbreite gehören hierher jene
gemütsrohen und selbstsüchtigen Naturen, die fremden Gefühlen
teilnahmlos gegenüberstehen, durch keine Regung der Menschen-
liebe aus ihrer Ruhe aufgerüttelt werden und planmäßig berech-
nend nur von den Antrieben des gröbsten Eigennutzes sich leiten
lassen.
Ein höchst bedeutsamer Unterschied zwischen den niederen,
sinnlichen und den höheren, allgemeinen (logischen, sittlichen,
künstlerischen, religiösen) Gefühlen wird durch den Umstand be-
zeichnet, daß die ersteren wohl eine weit größere augenblickliche
Stärke, aber eine ungleich geringere Erneuerungsfähigkeit be-
sitzen, als die letzteren. Ein sinnlicher Genuß oder Schmerz kann
uns für kurze Zeit in sehr lebhafte Erregung versetzen, aber er
blaßt in der Erinnerung rasch ab, während z. B. die leiseren, aber
andauernden sittlichen Gefühle unser Denken und Handeln das
ganze Leben hindurch fast unausgesetzt begleiten und bestim-
men, wo sie nicht durch leidenschaftliche Gemütsschwankungen
übertönt werden. Gerade die höheren Gefühle aber sind es, die
unserem Stimmungshintergrunde jene gleichförmige Ruhe, unserer
geistigen Persönlichkeit jene Festigkeit und innere Geschlossenheit
zu gewähren vermögen, wie man sie mit Recht als die Eigenschaften
eines gesunden, voll entwickelten Mannes betrachtet. Da ferner
die höheren Gefühle eine Art Dämpfung für die raschen Gefühls-
regungen des Augenblicks darstellen, pflegen sich mit dem Weg-
falle dieser Dämpfung plötzliche Leidenschaftsausbrüche von auf-
fallender Heftigkeit, aber geringer Nachhaltigkeit einzustellen.
Auch nach dieser Richtung hin wird sich daher das Fehlen
der höheren Gefühle im Krankheitsbilde des Schwachsinns geltend
machen müssen. Wo nicht hochgradige Stumpfheit alle Gefühls-
regungen überhaupt begräbt, sehen wir einerseits in der Ungleich-
Erscheinungen des Irreseins.
förmigkeit der Stimmung, andererseits in ihrer Abhängigkeit von
äußeren Zufälligkeiten, in ihrer Beeinflußbarkeit, den Mangel
der dauernden, höheren Gefühle sich kundgeben. Beim Fehlen
fester Grundlagen für die Stimmung genügt oft eine Kleinigkeit,
ein Wort, der Ton der Stimme, um den Kranken aus glück-
seliger Selbstzufriedenheit in Zorn oder Verzweiflung zu versetzen.
Diese Erscheinung pflegt namentlich in der Paralyse sehr deutlich
zu sein.
Unvermittelte Aufwallungen des Gefühls finden sich gelegentlich
bei den verschiedensten Formen des angeborenen und erworbenen
Schwachsinns. Aus der gesunden Erfahrung schon sind die Leiden-
schaftsausbrüche beschränkter Menschen, die Launenhaftigkeit
und Reizbarkeit der Greise bekannt. Außer gewissen Formen
des angeborenen Schwachsinns zeigen ferner namentlich die End-
zustände der Dementia praecox regelmäßig neben weitgehendster
gemütlicher Stumpfheit rasch entstehende, kurzdauernde Erregun-
gen von oft sehr großer Heftigkeit.
Besondere Lebhaftigkeit der Gefühlsregungen ist zu-
nächst eine Eigentümlichkeit des kindlichen und des weiblichen
Seelenlebens. Sie bedingt einmal erhöhte Beeinflußbarkeit des
Stimmungshintergrundes ,durch augenblickliche Ursachen, anderer-
seits wieder große Vergänglichkeit und Unstetigkeit der Gefühls-
wallungen. Bei gewissen Formen der psychopathischen Veran-
lagung tritt die Leichtigkeit, mit der lebhafte Gefühle entstehen und
vergehen, sehr auffallend hervor. Wir erinnern hier an die krank-
hafte Weichlichkeit und Empfindsamkeit, die einerseits durch un-
angenehme oder schmerzliche Eindrücke sofort auf das tiefste er-
schüttert und bis zu unüberlegten Selbstmordversuchen getrieben
wird, andererseits sich bei jeder Anregung edlerer Gefühle in hell
lodernde, freilich auch bald wieder verlöschende Begeisterung ver-
setzen läßt. Diese Veranlagungen leiten über zu dem eigenartigen
Krankheitsbilde der Hysterie. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß
hier die starke Gefühlsbetonung den Vorstellungen einen weit-
reichenden Einfluß nicht nur auf den Willen, sondern auch auf
solche körperliche Vorgänge verleiht, die dem Eingreifen der Will-
kür im allgemeinen entzogen sind. Starke Gemütsbewegungen be-
einflussen Atmung und Kreislauf des Blutes, Blutdruck, Herztätig-
keit, Gefäßspannung, Darm-, Blasen- und Haarmuskeln, Drüsen-
Krankhafte Gemütsarten.
343
ausscheidungen, die Sicherheit und Kraft der Bewegungen, die
Klarheit und Stärke der Empfindungen. Nach allen diesen Rich-
tungen hin gewinnen die unwillkürlichen Gefühlswirkungen bei der
Hysterie eine ungeahnte Ausdehnung, deren besonderes Wesen sich
jedoch durch die ganz ähnlichen Wirkungen der hypnotischen Be-
einflussung einigermaßen aufklären läßt.
Als vorübergehendes Krankheitszeichen begegnet uns eine all-
gemeine Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit in manchen Er-
regungszuständen, namentlich bei der Paralyse und der Manie.
Mit der Stärke der Gefühlsschwankungen, die sich in stürmischen
Ausdrucksbewegungen kundgibt, verbindet sich auch hier die
wichtige Erscheinung des Stimmungswechsels, da die lebhafte
Färbung der jeweiligen Gemütslage den dämpfenden und ausglei-
chenden Einfluß der höheren Gefühle völlig in den Hintergrund
drängt. Wir werden dadurch an die Erfahrungen des Rausches er-
innert, bei dem ebenfalls die Ausgiebigkeit der Gefühlswallungen
so häufig mit jähem Umschlagen der Gemütslage einhergeht. Die
Leichtigkeit und Plötzlichkeit, mit der überall die verschiedenen
Gefühlstöne wechseln können, zeigt uns deutlich, daß ihre Ent-
stehungsbedingungen miteinander nahe verwandt sein müssen. Die
Stärke der Gefühlsäußerungen pflegt sich durch äußere Anregung
rasch noch zu steigern, eine Erscheinung, die auch dem gesunden
Leben, namentlich bei der gemütlichen Beeinflussung von Volks-
massen, wohlbekannt ist und uns ähnlich im Rausche begegnet. In
der Regel vermögen wir auch auf die Färbung der Stimmung ein-
zuwirken, oft in ganz überraschender Weise; nur bei den kata-
tonischen Erregungen steht solchen Versuchen der Negativismus der
Kranken entgegen.
Krankhafte Gemütsarten. Die Bedeutung der Gefühle als Aus-
druck der inneren Stellungnahme zu den Lebenserfahrungen wird
vielleicht am klarsten in der Tatsache der persönlichen Gemüts-
arten. Dasselbe Ereignis bringt ganz verschiedene Seelenzustände
hervor, je nach der Eigenart des Betroffenen, je nach der tief in
der Veranlagung wurzelnden Neigung zu bestimmten Gefühls-
betonungen. Bei der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Ge-
fühlsmischungen erscheint es unmöglich, alle verschiedenen Ge-
staltungen der Gemütsart zu kennzeichnen. Auf krankhaftem Ge-
biete ist die Schwierigkeit aus naheliegenden Gründen eher noch
344
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
größer; wir müssen uns daher mit einer flüchtigen Skizzierung
einzelner Formen begnügen.
Da die Unlustgefühle im allgemeinen einen stärkeren Einfluß
auf unser Seelenleben zu gewinnen pflegen, als die weniger stür-
misch ablaufenden Lustgefühle, spielen sie auch bei den krank-
haften Gemütslagen eine größere Rolle. Die gesteigerte Unlust-
empfindlichkeit führt zu der Neigung, an allen Lebensereig-
nissen nur das Unangenehme und Peinigende herauszufinden, sich
den frohen Genuß des Erfreulichen durch die kleinen Mängel und
Störungen oder durch den Ausblick auf allerlei trübe Möglichkeiten
zu verkümmern. Die Vergangenheit wird zu einer Kette von
traurigen Erinnerungen, die Zukunft eine Quelle von Sorgen und
Unheil, die Gegenwart eine schwere, mühsam ertragene Bürde.
Namentlich das eigene Wohl und Wehe wird gern zum Mittelpunkte
der düsteren Betrachtungen; jede unbedeutende Störung des kör-
perlichen Befindens erscheint der mißtrauischen Selbstbeobachtung
als das Anzeichen drohender unheilbarer Leiden. Während im ge-
sunden Leben die Niedergeschlagenheit, wie sie sich an traurige Er-
fahrungen anschließt, alsbald durch den wieder erwachenden Lebens-
mut verscheucht wird, vermögen bei der krankhaften Schwarz-
seherei auch freudige Eindrücke nicht den Druck der Unlustver-
stimmung zu beseitigen, ja sie können ihn unter Umständen noch
steigern. Ein Teil der Fälle steht in engeren Beziehungen zum
manisch-depressiven Irresein; die trübe Gemütslage verbindet sich
dabei in der Regel mit Entschlußunfähigkeit.
Wo die krankhafte Unlustbetonung von den Gefühlen der inne-
ren Spannung begleitet wird, gewinnt die Gemütslage den Stempel
der Ängstlichkeit. Den Kranken fehlt infolgedessen die innere
Sicherheit und Freiheit, das Vertrauen auf die eigene Kraft und
Leistungsfähigkeit. An jede Handlung knüpft sich ihnen die bange
Erwartung ihrer Folgen oder der Zweifel über ihre Berechtigung
und Zweckmäßigkeit. Auch hier sind es die Zustände des eigenen
Körpers, die einen besonders fruchtbaren Boden für die Entwick-
lung aller möglichen Bedenklichkeiten abgeben. Es kommt auf diese
Weise zu peinlichen Selbstquälereien und Grübeleien, zu einem
gesteigerten Verantwortlichkeitsgefühl, das die schüchternen Re-
gungen zuversichtlichen Lebensmutes im Keime erstickt. Diese
Gemütsart bildet die Grundlage, auf der sich die Zwangsvorstellun-
Krankhafte Gemütsarten.
345
gen, die Zwangsbefürchtungen und die Erwartungsneurose mit Vor-
liebe entwickeln.
Verbindung von gesteigerter Unlustempfindlichkeit mit Er-
regung kennzeichnet die große Gruppe der reizbaren Naturen.
Unangenehme Eindrücke, die uns zum Handeln herausfordern, er-
zeugen die Gemütsbewegungen des Ärgers und des Zornes; sie ent-
stehen besonders leicht, wenn wir uns im Zustande stärkerer Willens-
spannung befinden, in oder nach aufreibender, unsere ganzen Kräfte
in Anspruch nehmender Tätigkeit oder nach heftigen Gemüts-
erschütterungen. Bei der krankhaften Reizbarkeit überwiegt nicht
nur die Unlustbetonung der Lebenserfahrungen, sondern sie löst
auch sofort eine gemütliche Erregung aus, die zur Entladung
drängt und nur in steten inneren Kämpfen unterdrückt werden kann.
Dieses Fehlen der Dämpfung bedingt dauernde Schwankungen des
gemütlichen Gleichgewichtes, triebartige Unruhe und Unstetigkeit
mit gelegentlichen heftigeren Gefühlsausbrüchen, die bald mehr die
Färbung der Verzweiflung, bald mehr diejenige des Zornes annehmen
können. Die erstere Form begegnet uns am häufigsten bei der an-
geborenen Nervosität, die krankhafte Zornmütigkeit (Iracundia
morbosa) vorzugsweise bei der epileptischen und hysterischen Ver-
anlagung.
Die krankhafte Empfindlichkeit gegen die Außenwelt führt in-
dessen nicht immer zu leidenschaftlichen Entladungen, sondern
bisweilen auch zu einer Art von innerer Absperrung. Dadurch
entsteht diejenige Gemütsart, die wir als Verschlossenheit be-
zeichnen. Sie verknüpft sich in der Regel nicht mit dem zornigen
Kraftgefühl, das den Trotz des Gesunden begleitet, sondern bedeutet
ein scheues Zurückweichen vor den Eindrücken des Lebens mit dem
mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein der eigenen Unzuläng-
lichkeit. Der Verkehr mit Fremden, das Heraustreten in eine
ungewohnte Umgebung, besondere Anforderungen, auftauchende
Schwierigkeiten erscheinen den Kranken sofort als unüberwindliche
Hindernisse, denen sie nur durch völlige Abschließung zu entgehen,
nicht aber durch tatkräftigen Entschluß zu begegnen wissen.
Diese Störung bildet den Schlüssel zum Verhalten so mancher
„Sonderlinge". Ganz ähnliche Züge werden uns häufig in der Vor-
geschichte der Dementia praecox berichtet, nicht selten verbunden
mit übertriebener Frömmigkeit und der Neigung, sich aus dem
346
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Leben ins Kloster zurückzuziehen. Es scheint jedoch, daß hier
nicht oder doch nicht allein eine gesteigerte Unlustempfindlichkeit
zugrunde liegt, sondern daß auch wohl negativistische und ver-
schrobene Strebungen dabei eine Rolle spielen.
Verstärkte Lustbetonung der Lebensreize finden wir zunächst
bei den glücklichen, ,, sonnigen" Naturen, die stets in heiterster
Laune sind, allen Ereignissen die beste Seite abzugewinnen wissen,
an jedes Unternehmen die größten Hoffnungen knüpfen und ihr
ganzes Leben in der sicheren Erwartung irgend eines unerhörten
Glücksfalles verbringen. Verbindet sich damit, wie nicht selten,
ein lebhafter Betätigungsdrang, der mit nie versiegender Zuver-
sicht wechselnden Zielen nachjagt, so werden die inneren Bezie-
hungen, die dieser Gemütsart zum manisch-depressiven Irresein
zukommen, besonders deutlich. Mir scheint, daß solche Beziehun-
gen auch dann anzunehmen sind, wenn ausgeprägte Krankheits-
anfälle vollständig fehlen, daß also eine dauernde übermäßige Lust-
betonung mit innerer Unstetigkeit ebenso eine Vorstufe jenes Lei-
dens darstellt wie die grundlose Gedrücktheit mit Entschluß-
unfähigkeit.
Einer anderen eigenartigen Abtönung des Gefühlslebens be-
gegnen wir bei den Schwärmern. Hier sind einzelne Gefühls-
richtungen, namentlich religiöse oder geschlechtliche mit mehr
oder weniger verhüllter sinnlicher Färbung, zu besonderer Über-
schwänglichkeit entwickelt und beherrschen Denken und Handeln.
Aus der leidenschaftlichen Hingabe an die schwärmerischen Nei-
gungen erwachsen Lustgefühle von außerordentlicher Stärke, die
alles äußere Leid und Ungemach aufwiegen können. Die Grund-
lage dieser Gemütsart bildet in der Regel die hysterische Veranla-
gung. Den Schwärmern nahe stehen auf der einen Seite die Fana-
tiker, die mit rücksichtsloser Begeisterung einseitige Ziele verfolgen
und jeden Widerstand mit grimmigem Hasse bekämpfen, anderer-
seits gewisse krankhafte Schwindler, bei denen die unausrott-
bare Lust am Abenteuer, am Ungewöhnlichen und Aufregenden,
die übermütige Freude an der eigenen Erfindungsgabe alle bedäch-
tigen Überlegungen in den Hintergrund drängt. Auch hier lassen
sich in der Regel hysterische Züge nachweisen.
Von hier führen fließende Übergänge hinüber zum krankhaften
Leichtsinn, der eine erhöhte Empfänglichkeit für die seichten
Krankhafte Gemütsbewegungen. 347
Zerstreuungen des Lebens besitzt, aber auch ernste Dinge nicht
ernst zu nehmen versteht, sondern das Leben im wesentlichen als
ein unterhaltendes Schauspiel betrachtet. Es handelt sich hier
wohl wesentlich um Oberflächlichkeit der Gemütsregungen über-
haupt. Tief, nachhaltig und gestaltend vermögen auf unser Seelen-
leben nur die ernsten oder mit Ernst gemischten Eindrücke einzu-
wirken ; nur sie sind geeignet, dem Stimmungshintergrunde Einheit-
lichkeit und Stetigkeit zu geben. Mangelnde Tiefe und rasches
Verfliegen der Gemütsbewegungen wird daher am einschneidendsten
in der Verkümmerung der richtunggebenden, ernsten Gefühle zum
Ausdrucke kommen. Darum verknüpft sich mit dem krankhaf-
ten Leichtsinn, der eine wesentliche Begleiterscheinung gewisser
Schwachsinnsformen bildet, regelmäßig unvollkommene Entwick-
lung der höheren Gefühle, Selbstsucht und Haltlosigkeit des Willens.
Eine gemeinsame Eigentümlichkeit der zuletzt gekennzeich-
neten krankhaften Gestaltungen der Gemütsart ist ein lebhaft ge-
steigertes Selbstgefühl. Die eigenen Eigenschaften und Leistungen
erscheinen den Kranken in besonders günstigem Lichte und ge-
winnen für sie um so höhere Bedeutung, als die Regungen des Mit-
gefühls mit fremdem Leide in der Regel sehr unvollkommen bei
ihnen entwickelt sind. Wir sehen daher häufig nicht nur, daß die
Kranken ihre eigene Person maßlos überschätzen, sondern daß sie
auch jede leise wirkliche oder vermeintliche Beeinträchtigung als
schwere Unbill empfinden, während ihre Eingriffe in fremde Rechte
ihnen als völlig harmlose und erlaubte Handlungen erscheinen.
Diese selbstsüchtige Einseitigkeit der Gefühlsbetonung finden wir
bei vielen psychopathischen Persönlichkeiten. Vielleicht gibt sie
auch den günstigen Boden ab für die Entwicklung des Querulanten-
wahnes und der ihm verwandten Formen der Verrücktheit.
Krankhafte Gemütsbewegungen. Die krankhaften Gemütsbe-
wegungen unterscheiden sich von denjenigen der Gesunden im
allgemeinen hauptsächlich durch den Mangel einer verständlichen
Begründung sowie durch ihre Stärke und Nachhaltigkeit, während
ihre Färbung in der Regel irgend einer der sonst bekannten Gefühls-
mischungen entspricht. Auch im gesunden Leben sehen wir freilich
Stimmungen kommen und gehen, ohne daß wir uns immer über
ihren Ursprung Rechenschaft zu geben vermöchten, aber wir smd
imstande, sie zu beherrschen und zu verscheuchen, während die
348
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
krankhaften Stimmungen meist allen Beeinflussungsversuchen
trotzen. Andererseits schließen sich krankhafte Gemütsbewegun-
gen bisweilen an bestimmte äußere Anlässe an, aber sie verblassen
dann nicht wieder, wie die Gefühlswallungen des Gesunden, sondern
sie gewinnen Selbständigkeit und weichen auch dann nicht, wenn
der scheinbare Anlaß beseitigt ist.
Die bei weitem häufigste Form der unangenehmen krankhaften
Gemütsbewegungen ist die Angst, die wir vielleicht als eine Ver-
bindung von Unlust mit innerer Spannung betrachten können.
Sie pflegt wie keines der anderen Gefühle den gesamten körper-
lichen und geistigen Zustand in Mitleidenschaft zu ziehen. Die
innere Spannung macht sich in der Körperhaltung, den Ausdrucks-
bewegungen, der krampfhaften Muskelinnervation geltend, oder sie
entladet sich in Jammern und Schreien, heftigen Abwehr- und
Fluchtversuchen, in Angriffen auf die Umgebung oder das eigene
Leben. Dazu gesellen sich alle jene schon aus der gesunden Er-
fahrung bekannten nervösen Begleiterscheinungen der Angst,
Schwindel, Mißempfindungen, Lähmungsgefühl, ihre Wirkung auf
die Herztätigkeit (Herzklopfen), auf die Gefäßnerven (Blaßwerden,
Blutdrucksteigerung), die Atmung, die willkürlichen Muskeln (Zit-
tern, Schlottern), endlich auf Schweißabsonderung, Blasen- und
Darmentleerung, Die Beeinflussung der Atmung und des Herz-
schlags wird von den Kranken sehr lebhaft als Druck und Be-
klemmung in der Herzgegend empfunden (Präkordialangst) ; seltener
überwiegen unangenehme Spannungsempfindungen im Kopfe. Im
Anfange ist die Angst gewöhnlich gegenstandslos; der Kranke
fühlt sie, ohne zu wissen, warum, weiß sogar oft ganz genau, daß
er gar keinen Grund hat, sich zu fürchten. Hecker hat darauf
hingewiesen, daß die unbestimmte Angst ganz eigentümliche For-
men annehmen kann, deren ursprüngliche Bedeutung nicht immer
leicht zu erkennen ist, als Gefühl des Heimwehs, der veränderten
Auffassung, des ,, Fremdseins", des Heißhungers, der Betäubung und
ähnliches. In der Regel freilich verdichten sich allmählich die
unbestimmten ängstlichen Ahnungen zu mehr oder weniger klar
ausgemalten Befürchtungen. In den höchsten Graden der Angst
pflegt jedoch das Bewußtsein mehr oder weniger stark getrübt zu
sein; sehr starke gemütliche Erregungen lassen nur ganz unklare
und verworrene Vorstellungen zustande kommen.
Krankhafte Gemütsbewegungen.
349
In der Regel überfällt die Angst den Kranken in Anfällen, oder
sie zeigt doch wenigstens deutliche Nachlässe und Verschlimmerun-
gen, letztere besonders in der Nacht. Nur ausnahmsweise hält die
ängstliche Spannung Tage, Wochen, ja selbst Monate lang in voller
Stärke an. Am häufigsten ist die Angst in den Depressionszuständen
des zirkulären Irreseins, doch gibt es immerhin zahlreiche Fälle, in
denen sie gänzlich fehlt. Außerdem begegnen wir ihr in den Däm-
merzuständen der Epileptiker, bei Alkoholdeliranten, im Beginne
katatonischer Erkrankungen und bisweilen in den quälendsten
Formen bei Paralytikern.
Eine besondere, weit ausgedehnte klinische Gruppe von Angst-
zuständen bilden endlich jene Störungen, die man als Zwangs-
befürchtungen oder ,,Phobien" zu bezeichnen pflegt. Es handelt
sich dabei um Befürchtungen, die sich entgegen besserer Einsicht
■mit zwingender Gewalt an alltägliche Vorkommnisse oder Ver-
richtungen knüpfen. In ihren leichtesten Formen sind solche Be-
fürchtungen auch dem gesunden Leben nicht fremd; den Stempel
des Krankhaften gewinnen sie zunächst durch ihre Hartnäckigkeit
und Aufdringlichkeit, die jeder Überlegung trotzt, weiterhin aber
auch durch den bestimmenden Einfluß, den sie nicht nur auf die
peinlich erregte Einbildungskraft, sondern namentlich auch auf
das Handeln gewinnen. Die Erwartung von unangenehmen Ein-
drücken, von Gefahren und Unannehmlichkeiten, sodann die Un-
sicherheit im persönlichen Auftreten, die Verantwortung im Han-
deln sind die wichtigsten Quellen, aus denen auch die Zwangs-
befürchtungen fließen.
Der Inhalt der Zwangsbefürchtungen ist ein überaus mannig-
faltiger und vielfach ganz persönlicher. Er kann sich an ein be-
stimmtes einzelnes Erlebnis anknüpfen, bewegt sich aber weit
häufiger in gewissen allgemeinen Richtungen, wie sie den mensch-
lichen Lebenserfahrungen entsprechen. Man kann daher einige
große Gruppen auseinanderhalten, je nachdem sich die Angst mit
irgendwelchen äußeren Eindrücken verbindet, gewisse von außen
oder aus dem eigenen Gesundheitszustande drohende Gefahren ins
Auge faßt oder aus den eigenen Handlungen sich entwickeln sieht.
Daran schließen sich die Befürchtungen, die aus den allgemeinen
Verkehrsbeziehurigen der Menschen entspringen oder in besonderen
Lebenslagen hervortreten (,,Situationsphobien"). Endlich wäre
350
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
noch die Angst zu berücksichtigen, die sich an die Ausführung
ganz alltäglicher Verrichtungen anknüpft und deren Ablauf stören
oder unmöglich machen kann („Funktionsphobien").
An die weitverbreitete, lächerliche, aber schwer ausrottbare
Furcht vor Spinnen, Fröschen, Mäusen erinnert die Angst, daß
Wanzen oder Ohrwürmer im Bett seien, daß ein Schwein vor der
Türe stehen könne. Auch andere, an sich ganz harmlose Eindrücke
können unter Umständen Angst hervorrufen, ein Fingerhut, ein
Stück Watte. Weitere Formen sind die Angst vor dem Öffnen von
Briefen, vor dem Erblicken des eigenen Antlitzes im Spiegel. Ich
kannte eine Dame, der die Gegenwart bestimmter Personen eine
ganz gegenstandslose Angst einflößte; anfangs war es ein Dienst-
mädchen, später die eigene, von ihr sehr geliebte Schwester. Eine
andere Kranke von sehr hohem Wuchs wurde ängstlich beim An-
blicke großer Menschen.
Dem Verständnisse des Gesunden näher steht die Furcht vor
allerlei möglichen, wenn auch ganz fernliegenden Gefahren. So
begegnen wir der Angst, vom Blitz erschlagen, von einem herab-
stürzenden Gegenstande getroffen, von Betrunkenen angefallen,
von durchgehenden Pferden überrannt, von der Straßenbahn über-
fahren zu werden, bisweilen im Anschlüsse an persönliche Erleb-
nisse, aber auch in freier Entstehung. Eine wichtige Rolle spielt
auch die Befürchtung, krank zu werden, von einem tollen Hunde
gebissen, schwindsüchtig oder syphilitisch angesteckt zu sein. Die
meisten derartigen Kranken fürchten geradezu, in schwere Geistes-
krankheit zu verfallen. Da nach allen diesen Richtungen hin die
Gegengründe nicht ohne weiteres, sondern nur in ärztlichen Erfah-
rungen und Erwägungen gegeben sind, tritt hier die zwangsmäßige
Überwältigung der verstandesmäßigen Überlegung durch die Angst
weniger deutlich hervor; immerhin kommt auch hier die Sinnlosig-
keit der Angst dem Kranken öfters klar zum Bewußtsein, z. B,,
wenn er gar nicht von einem Hunde gebissen, sondern nur von ihm
gestreift wurde und doch die Furcht nicht los werden kann, an
Tollwut zu erkranken.
Am quälendsten pflegt die Furcht vor denjenigen Gefahren zu
sein, die der Kranke durch sein eigenes Handeln heraufzubeschwö-
ren meint. Aus der gesunden Erfahrung ist uns das Unbehagen
bekannt, das uns beim ungewohnten Hantieren mit geladenen Ge-
Krankhafte Gemütsbewegungen.
wehren, sehr scharf geschliffenen Messern ergreift, in dem Gedanken,
daß wir damit irgend ein Unheil anrichten könnten ; es kann auch
dann auftreten, wenn wirkliche Gefahr vollkommen ausgeschlossen
ist. Bei Kranken nehmen derartige Befürchtungen die mannig-
faltigsten Gestaltungen an. Besonders häufig ist die Angst, irgend-
wie Nadeln oder Glasscherben ins Essen zu bringen und auf diese
Weise andere zu töten. Auch die Furcht, Krankheitskeime oder
Giftstoffe mit den Kleidern oder Händen aufzufangen und weiter
zu verbreiten, spielt eine ähnliche Rolle; ihr verwandt ist die ganz
abenteuerliche Idee, den Abort möglicherweise mit Samenfäden zu
beschmutzen und dadurch die Schwängerung eines Frauenzimmers
herbeizuführen. Das Gefühl der Verantwortung für Wertpapiere
erweitert sich dahin, daß die Kranken überall Testamente oder
Geldscheine zu vernichten fürchten, jeden Fetzen Papier, der ihnen
in die Hände fällt, auf der Straße, auf dem Abort daraufhin prüfen
müssen, ohne doch völlige Ruhe zu finden. Eine besondere Gruppe
bildet die Furcht vor der unwillkürlichen Ausführung verbreche-
rischer Handlungen. Manche Kranke werden gepeinigt von der
Vorstellung, sie müßten ein bereitliegendes Messer ergreifen und
damit jemanden töten, eine begegnende Frauensperson vergewal-
tigen, ein Kind unzüchtig berühren, einen Menschen anfallen,
beißen, von einer Brücke herunterstoßen.
Einen sehr ergiebigen Boden für die Erzeugung von Zwangs-
befürchtungen bilden die Regungen der Unsicherheit und Ver-
legenheit, die uns im Verkehr mit anderen, namentlich in der
Öffentlichkeit, befallen. Sobald wir Fremden gegenübertreten und
deren Aufmerksamkeit auf uns gerichtet wissen, werden auch wir
veranlaßt, an unsere äußere Erscheinung und den Eindruck zu
denken, den sie hervorrufen mag. Kleine Mängel, deren wir uns
dabei bewußt werden, können ein peinliches Gefühl der Demütigung
hervorrufen, das unser Selbstvertrauen in empfindlicher Weise
lähmt. Bei krankhafter Veranlagung kann schon der Gedanke,
fremde Blicke auf sich gerichtet zu sehen, peinliche Gefühle her-
vorrufen (,, Phobie du regard")- Die Vorstellung, sich auffallend oder
ungeschickt zu benehmen, Verstöße zu machen, übelwollend be-
urteilt zu werden, vermag das eigene Verhalten höchst ungünstig
zu beeinflussen und kann zu völliger Menschenscheu führen. So
wurde einer meiner Kranken von der Befürchtung geplagt, daß er
352
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Grüße übersehen, beim Zusammentreffen mit Bekannten sich nicht
an frühere Begegnungen und Gespräche erinnern könne und des-
wegen für unhöfHch gehalten werde. Insbesondere kann auch die
Befürchtung irgend einer UnzulängHchkeit in der Kleidung, man-
gelnder Sauberkeit, der Gedanke, etwas Auffallendes, einen unan-
genehmen Geruch an sich zu haben, ohne irgend einen Anhalt
auftauchen und trotz aller Bemühungen, ihn zu verdrängen, solche
Macht erlangen, daß er die Unbefangenheit und Sicherheit des
Auftretens vernichtet. Manche Kranke fürchten, bei jeder Anrede,
bei unpassendem Anlasse erröten zu müssen und dadurch aufzu-
fallen oder Hintergedanken anzuregen; die Angst pflegt hier das
Erröten auch wirklich hervorzurufen. Ähnlich steht es mit der Be-
fürchtung, in Gesellschaft von plötzlichem Unwohlsein, von Brech-
reiz, Harndrang, Durchfall, Nasenbluten überfallen zu werden;
auch hier kann das Übel durch lebhafte Vorstellungen erzeugt werden,
die sich öfters an eine frühere unliebsame Erfahrung anschließen
und den Kranken völlig gesellschaftsunfähig machen. Der Ver-
such, der aufsteigenden Befürchtungen Herr zu werden, richtet die
Aufmerksamkeit des Kranken erst recht auf sie und verstärkt sie;
je mehr er sich damit beschäftigt, desto größer wird der Raum, den
sie in seinem Seelenleben beanspruchen.
Wenn wir ein besonderes Unternehmen vor uns haben, so über-
fällt uns leicht der Zweifel, ob alles nach Wunsch gehen wird, und
damit eine gewisse innere Beunruhigung. Wir sprechen vom Eisen-
bahnfieber, vom Lampenfieber, von der Prüfungsangst, und wissen,
daß diese Gemütsbewegungen oft genug mächtiger sind, als jede
ruhige Überlegung. Bei Kranken können sie nicht nur eine außer-
ordentliche Heftigkeit zeigen und damit die Leistungsfähigkeit
schwer schädigen, sondern sie treten vielfach auch bei Anlässen
auf, die den Gesunden völlig gleichgültig lassen. Das bekannteste
Beispiel dafür ist die Platzangst oder Agoraphobie, das Ge-
fühl der Unfähigkeit, allein über einen freien Platz, durch eine
menschenleere Straße zu gehen. Jeder Versuch kann die Beängsti-
gung bis zu ohnmachtähnlichen Anfällen steigern. Damit verwandt
ist die bei Kindern so häufige Nachtangst, die Angst vor dem Allein-
sein, vor Gedränge, dem Aufenthalte in menschenerfüllten Räumen
(Theatern). Manche Kranke fühlen sich nur hinter geschlossenen
Türen wohl, wo sie vor plötzlichen Überraschungen sicher sind;
Krankhafte Gemütsbewegungen.
353
andere wiederum werden ängstlich, sobald sie nicht für die Mög-
lichkeit plötzlicher Gefahr den Ausgang völlig frei wissen. Weitere
Gestaltungen dieser an bestimmte Lebenslagen sich knüpfenden Be-
fürchtungen sind die auch dem Gesunden wohlbekannte Höhen-
angst auf Türmen, am Rande von Abgründen, die beim Gehen über
Brücken auftretende Brückenangst, die Reiseangst, die sich beson-
ders auf der Eisenbahn in der Befürchtung äußert, beim Eintreten
irgend eines Unwohlseins hülfslos zu sein und nicht nach Belieben
aussteigen zu können. Auch die Kleiderangst dürfte hierher ge-
hören, das unbehagliche Gefühl, das sich beim erstmaligen Tragen
neuer Kleider einstellt und bei Kranken so hohe Grade erreichen
kann, daß die Erneuerung der Kleidungsstücke nahezu unmöglich
wird. Einen ganz unbestimmten Inhalt hat die Angst vor dem
Stillsitzen (,,Kathisophobie"), die den Kranken ruhelos aufspringen
und herumgehen läßt. Einer meiner Kranken wurde beini Gehen
plötzlich von der ängstlichen Vorstellung überfallen, daß er irgend
etwas einbüßen werde, wenn er noch einen Schritt vorwärts tue.
Eine gewisse Sonderstellung gegenüber den bisher besproche-
nen Formen nehmen diejenigen Befürchtungen ein, die sich an
alltägliche Verrichtungen anknüpfen. Den Anlaß zu ihrer Ent-
stehung gibt gewöhnlich irgend eine vorübergehende Störung,
welche die Einbildungskraft des Kranken beschäftigt und seinen
Willen zum Eingreifen in den sonst mehr oder weniger unwillkür-
lich ablaufenden Vorgang zwingt. Auf diese Weise schließen sich
an die ängstliche Erwartung Behinderungen an, die sich allmählich
immer verstärken und den betreffenden Vorgang auf das empfind-
lichste stören, ja ganz unmöglich machen können. Im Gegensatze
zu den eigentlichen Zwangsbefürchtungen wird hier die Grund-
losigkeit der Angst nicht immer klar erkannt; sie bleibt zudem so
inhaltlos, daß sie nur in ihren Wirkungen hervortritt, vielfach nur
als Unsicherheit, Ungeschicklichkeit, Schwäche, Schmerz und Un-
behagen empfunden wird. Die geläufigsten Formen dieser ,, Er-
wartungsangst" sind die Hemmungen, die sich schon im gesunden
Leben einstellen, wenn wir die Aufmerksamkeit anderer auf uns
gerichtet wissen. Wie unsere Bewegungen in der Verlegenheit un-
beholfen und linkisch werden, wie wir beim Singen oder Spielen das
Zuhören Dritter störend empfinden, so werden manche Menschen
schon bei einfachen Hantierungen, namentlich beim Schreiben, be-
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 23
354
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
hindert, sobald ihnen jemand auf die Finger sieht. Einer meiner
Kranken bot die merkwürdigsten Unsicherheiten beim Eintreten
in eine Türe, beim Treppensteigen, beim Herumgehen im Zimmer
dar, während er sich im Freien sehr gewandt und ohne die geringste
Schwierigkeit bewegte. Auch die Regungen des Schamgefühls
können solche Macht gewinnen, daß die Befriedigung der natür-
lichen Bedürfnisse in Gegenwart anderer oder schon bei dem Ge-
danken an fremde Beobachtung unmöglich wird.
Sehr verbreitet ist die ängstliche Spannung vor dem Einschlafen,
die dann gerade den sehnlichst erwarteten Schlaf verscheucht;
ebenso beruht ein großer Teil der Fälle von psychischer Impotenz
auf der ängstlichen Befürchtung des Mißerfolges. Ein weiteres
Beispiel ist das Verlegenheitsstottern, als dessen krankhafte Aus-
bildung das dauernde Sprachstottern vielfach anzusehen ist. Auch
das Schlucken kann durch die ängstliche Einmischung unzweck-
mäßiger Nebenbewegungen in ähnlicher Weise bis zu völliger Un-
möglichkeit gestört werden. Entsprechende ängstliche Behinde-
rungen, in der Regel unter Auftreten krampfhafter Mitbewegungen
und Spannungen, beobachtet man beim Schreiben, beim Gehen,
beim Harnlassen, so daß man nicht ohne eine gewisse Berechti-
gung von einem Schreibstottern, Gehstottern und gar von Harn-
stottern gesprochen hat. In anderen Fällen äußert sich die Angst
nicht in krampfartiger Unsicherheit, sondern in Schwäche und
Lähmungsgefühlen. Bei der nicht seltenen Leseangst sind es hef-
tige, sich rasch über die ganze Stirngegend ausbreitende Augen-
schmerzen, bei der Angst vor bestimmten Speisen Druckempfindun-
gen in der Magengegend, Übelkeit, Erbrechen, in denen sich die
gemütliche Erregung äußert.
Die gemeinsame Eigentümlichkeit aller dieser krankhaften
Angstzustände ist ihre fortschreitende Entwicklung und die da-
durch bedingte Einschränkung der geistigen. Freiheit, vielfach
auch des Handelns. Die Angst zwingt den Kranken im einzelnen
Falle trotz seines Widerstrebens, sich mit bestimmten Möglich-
keiten zu beschäftigen, sie sich auszumalen und, wenn tunlich,
vor ihnen zurückzuweichen. Dieses beständige Unterliegen im
Kampfe vernichtet das Selbstvertrauen und steigert dadurch die
gemütliche Erregung, die nun ihrerseits um so sicherer jeden Wider-
stand erstickt. Sehr gewöhnlich ist es dabei allmählich nicht mehr
Krankhafte Gemütsbewegungen. 255
so sehr der ursprüngliche Anlaß zur Angst, den der Kranke fürchtet,
sondern die ängstliche Spannung selbst; es entwickelt sich die
Angst vor der Angst, die ,, Phobophobie", die peinliche Nötigung,
sich mit den beunruhigenden Gedanken zu beschäftigen. Je mehr
und je verzweifelter die Kranken sich bemühen, die Angst zu be-
kämpfen, desto stärker wächst sie an, und auch der äußere Zwang,
dem Zurückweichen des Willens vor der Angst zu widerstehen,
pflegt heftige Erregungszustände auszulösen.
Die Zwangsbefürchtungen sind den Zwangsvorstellungen nahe
verwandt; beide Erscheinungen finden sich vielfach bei denselben
Kranken. Ihre allgemeine Grundlage bildet eine gewisse Weichheit
und Schwäche des Willens, die vor Schwierigkeiten und Gefahren
zurückweicht, anstatt durch sie zu erhöhter Anspannung angestachelt
zu werden. Wir begegnen ihnen daher vor allem auf dem Gebiete
des Entartungsirreseins, in vereinzelten Fällen auch in den depres-
siven Verstimmungen manisch-depressiver Kranker.
Der Unlust mit Spannung, wie wir die Angst bezeichnet haben,
dürfen wir vielleicht als Unlust mit Hemmung die einfache Nie-
dergeschlagenheit gegenüberstellen, den Seelenschmerz mit dem
Gefühle der Unfähigkeit. Den Grundton dieser Verstimmung bildet
die aus dem eigenen Innern herauswachsende Traurigkeit, die den
gesamten Lebensereignissen ihren Stempel aufdrückt. Infolge-
dessen erscheint die Vergangenheit als eine Kette von schlimmen
Erfahrungen oder gar Verfehlungen, die Gegenwart grau und trübe,
die Zukunft hoffnungslos. Allerlei schwere Gedanken und Ahnun-
gen steigen auf, die sich zu ausgeprägten Wahnbildungen im Sinne
der Versündigung und Verfolgung verdichten können. Am schmerz-
lichsten aber empfindet der Kranke die Öde und Leere im eigenen
Innern. Er fühlt weder Freude noch Leid ; die Eindrücke der Außen-
welt finden in seiner Brust keinen Widerhall. ,,Ich bin wie ein
Kinematograph", sagte mir eine Kranke; ,,ich sehe wohl, daß es
schön ist, aber ich empfinde es nicht." Die gesunde Befriedigung
am Dasein hat einem Gefühle schmerzlichen Lebensüberdrusses
Platz gemacht; die früheren Lieblingsneigungen sind erloschen,
und selbst die nächsten Herzensbeziehungen scheinen in der gemüt-
lichen Erstarrung untergegangen zu sein. Ja, aus den Quellen des
früheren Glückes fließt jetzt am reichlichsten die traurige Verstim-
mung, da die Unlustbetonung um so lebhafter ist, je stärker das
23»
356
II. Die Erscheinungen des • Irreseins.
Gemüt in Anspruch genommen wird. Frohe Eindrücke steigern nur
die Verstimmung, die eben nicht wie ein gesunder Seelenschmerz
durch äußeres Glück gemildert wird, sondern umgekehrt den freu-
digen Anlaß im Sinne der krankaft veränderten Gefühlsbetonung
färbt. So sah ich einen Knaben mit trauriger Verstimmung beim
Anhören heiterer Musik in bitterliches Weinen ausbrechen.
Diese Umwandlung der Gefühlsbetonung, die für gewisse For-
men der zirkulären Depressionszustände kennzeichnend ist, geht
in der Regel mit einer Hemmung des Denkens und Wollens einher.
Die Kranken empfinden ihren Zustand äußerst qualvoll; sie fühlen
sich innerlich abgestorben, herzlos geworden, und knüpfen daran
sehr häufig die Vorstellung der sittlichen Verödung oder der körper-
lichen Veränderung. In Wirklichkeit sind sie keineswegs gefühllos,
wie gelegentliche Leidenschaftsausbrüche beim Verkehr mit ihren
Lieben sowie die starke Selbstmordneigung deutlich genug dartun.
Die Hemmung kann dabei unvermittelt in Erregung übergehen,
so daß dann die ganze Lebhaftigkeit der Gemütsbewegung nach
außen hervortritt.
Eine Unlust mit Erregung beobachten wir ebenfalls nicht
selten im manisch-depressiven Irresein, bald als selbständigen
Krankheitsanfall, bald als Übergangszustand zwischen Anfällen von
verschiedener Färbung. Die Verstimmung ist dabei bald eine mehr
traurige, bald ängstlich oder zornig; sie äußert sich je nachdem
in Jammern und Klagen, in Befürchtungen oder in Ausbrüchen von
Gereiztheit. Gerade diese letztere Form ist besonders häufig.
Die Kranken sind verdrießlich, mißmutig, mit allem unzufrieden,
zerfallen mit sich und ihrer Umgebung, ärgern sich über jede Klei-
nigkeit und nörgeln, oft gegen ihre bessere Einsicht, in der uner-
träglichsten Weise, um bei dem geringsten Anlasse zu heftigen Ent-
ladungen überzugehen. Ganz ähnliche Verstimmungen, verbunden
mit gehobenem Selbstgefühl und Witzelsucht, sind mir wiederholt
bei syphilitischen Hirnerkrankungen begegnet; auch manche Ge-
mütsbewegungen der Hysterischen zeigen eine Mischung von Un-
lust und Erregung mit zorniger Reizbarkeit.
Eine besondere Gruppe bilden vielleicht die Verstimmungen der
Epileptiker. Wir beobachten bei ihnen einmal einfache Nieder-
geschlagenheit mit Lebensüberdruß. Hier und da scheint sie mit
dem Gefühle der Hemmung einherzugehen; meist aber hat sie eine
Krankhafte Gemütsbewegungen.
357
„heimwehartige" Färbung, ist also mit einer unbestimmten Sehn-
sucht und inneren Unruhe verknüpft, die zu Selbstmordversuchen,
zum Trinken oder zu planlosen Wanderungen führen kann. Noch
häufiger ist Gereiztheit mit plötzlichen gewalttätigen Entladungen
von außerordentlicher Heftigkeit. In den eigentlichen Dämmer-
zuständen überwiegen ängstliche Spannungen, ebenfalls vielfach
mit starker Reizbarkeit. Merkwürdigerweise können sich in alle
diese Unluststimmungen auch geschlechtliche und ekstatische Lust-
gefühle hineinmischen.
Die Besprechung der krankhaften Lustgefühle knüpft viel-
leicht am besten an gewisse Erfahrungen an, die über die Wirkung
einiger Arzneimittel auf die Stimmung vorliegen. Vor allem ist es
der Alkohol, der bekanntlich ausgeprägte Lustgefühle von bestimm-
ter Färbung hervorbringt, das Gefühl erhöhter Kraft, Begeisterung,
Unternehmungslust. Als die Wurzel dieser heiteren Stimmung kann
höchstwahrscheinlich die Erleichterung der Auslösung von Be-
wegungsantrieben angesehen werden, wie sie sich im weiteren
Verlaufe der Alkoholwirkung immer deutlicher durch das Auf-
treten von Reizbarkeit, lärmender Unruhe und planlosem Taten-
drang kundzugeben pflegt. Die gleiche Grundlage der heiteren Ver-
stimmung werden wir auch wohl dort vorauszusetzen haben, wo
uns auf krankhaftem Gebiete die Verbindung von lebhaften Lust-
gefühlen mit großer Reizbarkeit und starkem Bewegungsdrange be-
gegnet, bei den manischen Aufregungszuständen. Die Ähnlichkeit
dieser letzteren mit dem Rausche ist oft genug betont worden, und
sie ist nach dem Ausweise psychologischer Versuche, trotz tief-
greifender Unterschiede, doch eine mehr als äußerliche. Auch bei
der Manie haben wir es mit einer erleichterten Auslösung von Be-
wegungsvorgängen zu tun, die sich klinisch in den gleichen Erschei-
nungen äußert wie der Rausch. In beiden Zuständen fehlt nahezu
oder vollständig das Bewußtsein der Störung. Der Berauschte hält
sich höchstens für ein wenig angeheitert, und der leicht manisch Er-
regte kann sich überaus frisch und leistungsfähig, ja so gesund fühlen
wie niemals. Die Stimmung trägt in beiden Fällen den Stempel der
übermütigen Lustigkeit; das Selbstgefühl ist sehr gesteigert.
Die gehobene Stimmung des Rausches wird bei fortgesetztem
Alkoholmißbrauche ebenso zu einer dauernden Eigenschaft des
Trinkers wie die übrigen Wirkungen jenes Giftes. Sie nimmt
358
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
jedoch, da die Willenserregung des Angetrunkenen immer rasch
wieder verfliegt, die Form eines gemütlichen, seichten Humors
an, wie er den Verkehrston der Stammtische kennzeichnet. Sehr
deutlich ist diese eigentümliche Stimmungslage regelmäßig im
Delirium tremens, hier mit heimlicher Angst gemischt; sie pflegt
aber auch sonst beim ausgebildeten Trinker unverkennbar zu sein
und sich erst bei dauernder Enthaltsamkeit allmählich zu verlieren,
Sie unterscheidet sich von der Angeregtheit des leichten Rausches
durch das Fehlen der Tatkraft. Diese unbekümmerte Mißachtung
der Sorgen, die leichtherzige Versenkung in den Genuß des Augen-
blicks, wie sie in den Trinkliedern gefeiert wird, steht in nächster
Beziehung zu der Willensschwäche und sittlichen Unfähigkeit des
Trinkers. Wie der wahre Humor einerseits die Selbstverlachung,
andererseits die Unverwundbarkeit durch das kleine Leid des Lebens
in sich schließt, so dürfte auch dem Humor des Trinkers das tiefe
Gefühl der eigenen Ohnmacht zugrunde liegen, das jeweils durch die
alkoholische Anheiterung gemildert wird. Freilich haben wir es
dort mit der sittlichen Selbstüberwindung zu tun, mit der Errei-
chung der höchsten inneren Freiheit, hier aber mit dem willenlosen
Aufgeben der eigenen Persönlichkeit, dem Versinken in eine fidele,
aber schmähliche Knechtschaft.
Auch in gewissen Formen der Paralyse kann das Gesund-
heits- und Glücksgefühl sehr stark hervortreten; es nimmt
hier bisweilen ganz überschwängliche Gestaltungen an. Der Kranke
fühlt sich so unaussprechlich selig, daß er vielleicht gar keine
Worte zur Schilderung seines namenlosen Entzückens finden
kann. Dieses überquellende Glücksgefühl erinnert an gewisse
spätere Abschnitte des Rausches, in denen bereits die Lähmungs-
erscheinungen deutlicher geworden sind. Ihm fehlt trotz aller
Größenideen die Ausgelassenheit, das frische, unmittelbare Kraft-
gefühl, das der flotten manischen Stimmung ihre besondere Fär-
bung gibt. Im weiteren Verlaufe schrumpft das Glücksgefühl
des verblödenden Paralytikers immer mehr zu einer lächelnden,
gedankenlosen Zufriedenheit ein, die keine Spur jener Reizbar-
keit, zeigt, wie sie auch die letzten Stufen der alkoholischen Selig-
keit noch auszeichnet. Ihr ähnelt die behagliche Zufriedenheit
des Altersblödsinns, der sich allerdings öfters noch eine gewisse
alberne Vergnügtheit beimischt.
Krankhafte Gemütsbewegungen.
359
Im Verlaufe der Dementia praecox begegnen wir ebenfalls
eigenartigen krankhaften Lustgefühlen. In den Erregungszustän-
den ist es eine läppische, gegenstandslose Heiterkeit und Aus-
gelassenheit mit unbändigen Lachausbrüchen, die sehr an die
krampfhafte Lustigkeit übermüdeter Kinder erinnert. Sie steht
in gar keiner Beziehung zu dem Vorstellungsinhalte oder den
Vorgängen in der Umgebung, wie die übermütige Fröhlichkeit des
Manischen, und ist anscheinend auch nicht von wirklichem Glücks-
gefühl begleitet, wie die freudige Erregung des Paralytikers. Bei
den mit Größenideen einhergehenden Formen kann eine ungemein
hochmütige, selbstbewußte Stimmung auftreten, die meist mit-
erhöhter Reizbarkeit einhergeht. Dagegen entwickelt sich mit
fortschreitender Verblödung vielfach eine unbekümmerte Wunsch-
losigkeit ohne Erwartungen und Hoffnungen, aber auch ohne
Sehnsucht, Furcht oder Reue.
Außer dem Alkohol und dem in seiner Wirkung nach dieser
Richtung verwandten Cocain ist namentlich noch das Morphium
geeignet, Wohlbehagen zu erzeugen. Man pflegt diese Wirkung
des Morphiums zumeist einfach auf seine schmerzstillende Eigen-
schaft zurückzuführen, allein der Umstand, daß jenes Mittel auch
dann das Gefühl des Wohlseins herbeiführt, wenn keinerlei Schmerz
und Unbehagen vorher bestanden hat, spricht mit genügender
Deutlichkeit dafür, daß die Wirkung nicht allein in der Besei-
tigung von Unlust, sondern vielmehr in der Erzeugung von Lust
bestehen muß. Es wäre auch sonst wohl undenkbar, daß Mor-
phium und Opium in dem genugsam bekannten Maße Genuß-
mittel geworden wären. Möglicherweise knüpft sich das Wohl-
behagen bei der Morphiumwirkung an die hier eintretende Er-
leichterung der Gedankenverbindungen an. Dafür würde auch
die Erfahrung sprechen, daß Morphinisten sich nach der Ein-
spritzung geistig frischer und leistungsfähiger fühlen, sowie daß
die Opiumraucher sich mit Wonne den bunten Bildern hingeben,
die ihnen ihre lebhaft angeregte Einbildungskraft vorgaukelt.
Vielleicht ist dem Traumleben des Opiumrausches jener Zustand
verwandt, den wir als Verzückung oder Ekstase zu bezeichnen
pflegen. Auch hier fehlt gänzlich der Bewegungsdrang, die Er-
leichterung des Handelns. Vielmehr zieht sich das Seelenleben
auf einzelne traumhafte Trugwahrnehmungen und Gedanken-
300
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gänge zurück, die von Gefühlen des höchsten Glückes begleitet und
fast immer religiösen Inhaltes sind. Wir beobachten solche Zustände
namentlich bei Epileptikern, bisweilen auch bei Hysterischen.
Wieder ein wenig anders scheint sich das Wohlgefühl des
Tabakrauchers zu verhalten. Die bis jetzt darüber vorliegenden
Versuche würden etwa für eine ganz leicht betäubende Wirkung
des Tabaks sprechen. Dadurch könnte das Gefühl behaglicher
Beschaulichkeit entstehen, welches nicht durch lebhafter sich auf-
drängende Vorstellungen oder Willensantriebe gestört wird. Dem-
gegenüber haben wir es beim Brom, dessen beruhigende Wir-
kungen genauer untersucht worden sind, höchstwahrscheinlich
gar nicht mit der Erzeugung wirklicher Lustgefühle, sondern
wohl ausschließlich mit der Beseitigung innerer Spannungs-
zustände zu tun. Dem würde auch die Tatsache entsprechen, daß
für das Brom gar keine oder doch nur eine sehr geringe Gefahr
gewohnheitsmäßigen Mißbrauches besteht, da es eben kein Ge-
nußmittel darstellt, sondern ausschließlich dann ein Wohlgefühl
herbeiführt, wenn vorher eine unbehagliche innere Erregung be-
stand.
Mit den hier angedeuteten Formen der krankhaften Lust-
gefühle ist deren Mannigfaltigkeit nicht im entferntesten erschöpft.
Wir stehen nur überall vor der großen Schwierigkeit, die ein-
zelnen Schattierungen dieser Zustände richtig zu kennzeichnen
und womöglich auch auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen.
Vielfach ist diese Entstehungsweise überhaupt keine einheitliche,
sondern es mischen sich Gefühle verschiedenen Ursprungs mit-
einander. Insbesondere können auch Gefühle verschiedener Fär-
bung gleichzeitig vorhanden sein oder doch sehr rasch aufeinander
folgen. So haben wir schon die Mischung von Angst und Hu-
mor beim Delirium tremens erwähnt; in epileptischen Dämmer-
zuständen verbinden sich häufig ekstatische Wonnegefühle mit
Angst und Zorn; im manisch-depressiven Irresein wie in der Pa-
ralyse we'chseln ganz gewöhnlich unvermittelt Glücksgefühl, Zorn
und Verzweiflung.
Bisweilen mögen auch krankhafte Überlegungen und Vor-
stellungen die Stimmung beeinflussen, so daß die Störungen
dieser letzteren nicht ursprüngliche, sondern Folgen von Wahn-
bildungen sind. Im ganzen allerdings ist es mir bei weitem am
Störungen der Gemeingefühle.
361
wahrscheinlichsten, daß Stimmung und Vorstellung einen ein-
heitlichen Vorgang bedeuten, dessen verschiedene Seiten sich
uns nur in verschiedener Weise darstellen. Insbesondere dürfte
das auch von dem erhöhten Selbstgefühle des Paranoikers gelten,
das sich regelmäßig mit der Vorstellung einer bevorzugten Stellung
in der Welt, glänzender persönlicher Eigenschaften, einer erha-
benen Lebensaufgabe, meist auch mit erhöhter Empfindlichkeit
gegen die Widerstände des Lebens verbindet.
Störungen der Gemeingefühle. Als Gemeingefühle bezeichnen
wir vor allem diejenigen Gefühlsregungen, die in engen und un-
verbrüchlichen Beziehungen zur Selbsterhaltung stehen. Sie haben
die gemeinsame Eigentümlichkeit , daß sie stets mit lebhaften
Willensregungen verknüpft sind; ihre bestimmende Wichtigkeit
für das Triebleben tritt dadurch klar zutage. Am besten dürfen
wir die Gemeingefühle als Mahnungen und Warnungen auf-
fassen, die sich aus der Erfahrung zahlloser Geschlechter all-
mählich zu unwillkürlich wirkenden Beweggründen des Handelns
herausentwickelt haben. Im gewöhnlichen Leben unterrichten
uns diese Gefühle mit unfehlbarer Sicherheit über die jeweiligen
Bedürfnisse unseres Körpers, und sie fordern gebieterisch die-
jenigen Handlungen, die der Sachlage angepaßt sind. Die
Ausführung jener Handlungen kann durch den bewußten Willen
zumeist gehindert werden, wenn auch oft nur unter starker
Selbstverleugnung; die Gefühle selbst dagegen werden nur da-
durch, aber dann auch mit Sicherheit, zum Schweigen gebracht,
daß dem angezeigten Bedürfnisse auf irgend eine Weise abge-
holfen wird. Allerdings beobachten wir auch im gesunden Leben
bisweilen, daß ein Gemeingefühl wieder schwindet, wenn wir
ihm trotz längerer Mahnung keine Folge geben. Wir sind
imstande, die Müdigkeit zu überwinden, wenn wir mit Auf-
gebot unserer Kräfte weiter arbeiten; der Hunger läßt nach,
sobald wir längere Zeit außerstande sind, ihn zu befriedigen. Tritt
nun endlich die Möglichkeit ein, dem Ruhe- oder Nahrungs-
bedürfnisse nachzugeben, so vermissen wir zunächst peinlich Mü-
digkeit und Hunger, die uns die Wiederherstellung unserer Kräfte
so leicht machen. Erst dann, wenn wir längere Zeit geruht haben,
kehrt die Müdigkeit wieder bei uns ein, und auch der Hunger be-
ginnt erst mit dem Essen allmählich sich wieder zu melden.
362
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Unser ganzes bewußtes Leben ist begleitet von einem Lust-
gefühl, das sich an die Ausführung geistiger oder körperlicher
Beschäftigung knüpft. Die tiefere Begründung desselben mag
in dem Umstände liegen, daß nur durch Tätigkeit die Erhaltung
und weitere Ausbildung der Persönlichkeit möglich ist. Fehlt
jenes Gefühl, so entsteht diejenige Form der Langenweile, die
aus dem Nichtstun entspringt und uns zu irgend einer Betätigung
antreibt. Wie quälend die Langeweile für den Gesunden werden
kann, wissen wir namentlich aus den verzweifelten Anstrengungen,
die bei erzwungener Untätigkeit, z. B. von Gefangenen, gemacht
werden, um ihr zu entgehen. Beim Irresein fehlt die wirkliche
Langeweile in der Regel gänzlich, vor allem deswegen, weil die
Kranken, auch wenn sie sich nicht beschäftigen, durch die krank-
haften Vorgänge in ihrem Innern vollkommen in Anspruch ge-
nommen sind. Es kann daher als ein günstiges Zeichen ange-
sehen werden, wenn die Langeweile auftritt, doch darf man sie
nicht mit dem Gefühle der inneren Beunruhigung verwechseln,
das von niedergeschlagenen Kranken öfters als Langeweile be-
zeichnet wird, ebensowenig mit dem ungestümen Tätigkeitsdrang
des Manischen. Als ein überaus wichtiges, wenn auch sehr wenig
in die Augen fallendes Krankheitszeichen haben wir aber ferner
das vollständige Fehlen der Langenweile bei der Dementia praecox
zu betrachten. Hier handelt es sich um den Verlust der Willens-
regungen, aus denen das Tätigkeitsbedürfnis seinen Ursprung
nimmt. Die Kranken können trotz völliger Besonnenheit und
Klarheit Wochen und Monate daliegen, ohne das Aufhören jeder
Betätigung irgendwie peinlich zu empfinden. Dabei sind sie auf
äußere Anregung hin imstande, ohne weiteres selbst schwierigere
Aufgaben zu lösen. Dieses Fehlen der Langenweile bei innerer
Ruhe deutet immer auf eine sehr tiefgreifende Störung im Seelen-
leben hin; wir finden es sonst nur bei vorgeschrittener Ver-
blödung.
Eine ganz andere Bedeutung, als die Langeweile bei Un-
tätigkeit, hat das oft mit demselben Namen belegte Unlustge-
fühl, welches als Warnungszeichen nach übermäßig lange fort-
gesetzter Arbeit auftritt. Hier haben wir es mit einer Form der
Müdigkeit zu tun, die beim Gesunden im allgemeinen ziemlich
genau die Größe des wirklichen Ruhebedürfnisses, der Ermüdung,
Störungen der Gemeingefühle.
363
anzeigt. Bei unseren Kranken kann sich auch dieser Zusammen-
hang vollständig lockern. So sehen wir in vielen Erregungszu-
ständen, namentlich bei manischen Kranken, ein dauerndes völliges
Fehlen der Müdigkeit trotz hochgradigsten Kräfteverbrauches, also
schwerster Ermüdung. Mit dem Nachlassen der Unruhe sehen
wir dann freilich auch die Müdigkeit häufig mit voller Gewalt
den Genesenden überfallen. Umgekehrt pflegt in den Depressions-
zuständen das Gefühl der Müdigkeit dauernd vorhanden zu sein,
auch dann, wenn von einer wirklichen Ermüdung keine Rede
sein kann, wie bei bettlägerigen Kranken ohne jede Beschäftigung.
Vielfach handelt es sich hier indessen nur um das Gefühl einer
Erschwerung jeder geistigen und körperlichen Regung und nicht
um jenes besondere Gefühl der Schläfrigkeit, das wir als die Ein-
leitung der vollkommensten Erholung so hoch schätzen. Beide
Störungen, Müdigkeit ohne Ermüdung und Ermüdung ohne Mü-
digkeit, finden sich nicht selten bei Neurasthenikern und namentlich
beim Entartungsirresein in seltsamer Weise vereint. Die Kranken
fühlen sich dauernd oder anfallsweise ohne irgend genügenden
Anlaß matt, abgespannt, arbeitsunfähig, finden aber andererseits
keine Ruhe, weil sich ihnen abends, beim Schlafengehen, die den
Schlaf vorbereitende Müdigkeit nicht einstellen will.
Die gleichen Erfahrungen fast gelten auf gesundem wie auf
krankhaftem Gebiete von dem Begleiter des Nahrungsbedürf-
nisses, dem Hunger. Auch der Hunger schweigt bei unseren auf-
geregten Kranken trotz dringendster Notwendigkeit des körper-
lichen Ersatzes. Schon nach kurzer Nahrungsverweigerung scheint
er vollständig zu schwinden, um sich allerdings dann oft mit größter
Gewalt wieder Geltung zu verschaffen, wenn einmal das Fasten
durchbrochen ist. Andererseits sehen wir bei paralytischen und
katatonischen Kranken häufig eine sinnlose Gefräßigkeit sich ein-
stellen, obgleich bei den wohlgenährten und trägen Kranken von
einem wirklichen Nahrungsbedürfnisse anscheinend keine Rede
sein kann. Im Entartungsirresein und bei der Hysterie endlich
begegnet uns nebeneinander ohne ersichtlichen Zusammenhang mit
dem Ernährungsstande des Körpers dauernder Mangel des Hunger-
gefühls und ebenso unvermittelter plötzlicher Heißhunger.
In nahen Beziehungen zur Nahrungsaufnahme stehen die Ekel-
gefühle, die uns vor dem Genüsse unverdaulicher, übel schmecken-
364
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
der oder riechender Dinge warnen. Schwerere Störungen auf diesem
Gebiete sind in der Regel das Zeichen eines weitgediehenen geistigen
Verfalles. Wir beobachten Kranke, welche die ekelhaftesten Dinge
verzehren, sogar ihre eigenen Ausleerungen; auch Nägel, Steine,
Glasscherben, Tiere werden nicht selten verschluckt, sowohl in
selbstmörderischer Absicht, also mit bewußter Überwindung des
Ekels, wie auch aus reiner Gefräßigkeit. Bei sehr erregten oder tief
verblödeten Kranken schwinden ferner nicht selten jene Gefühle,
die uns schon die bloße Berührung mit Schmutz und Unrat
unangenehm machen und uns zur Sauberhaltung unseres Körpers
und unserer ganzen Umgebung antreiben. Wir sehen daher solche
Kranke sich rücksichtslos beschmutzen, die gefüllte Spuckschale
austrinken, sich absichtlich mit ihren Speisen, mit dem eigenen
Speichel, mit Urin oder gar mit Kot einsalben I^)
Ein weiteres Warnungszeichen, dessen Fortfall wir oft ge-
nug bei Geisteskranken beobachten, ist der körperliche Schmerz.
In Aufregungszuständen, namentlich bei starker ängstlicher Er-
regung, werden selbst schwere Verletzungen trotz voller Besonnen-
heit bisweilen gar nicht empfunden. Die gleiche Erfahrung wird
bekanntlich vom Soldaten auf dem Schlachtfelde gemacht. Auf
diese Weise wird es erklärlich, daß manche Kranke sich die scheuß-
lichsten Verletzungen beibringen können, ohne durch den Schmerz
in ihrem Treiben gestört zu werden. Ausreißen der Zunge, des
Kehlkopfes, der Augen, Aufschneiden des Bauches, Durchstemmen
des Kehlkopfes und ähnliche bereits vorgekommene Selbstver-
stümmelungen wären ja offenbar für einen Menschen mit ge-
sunder Schmerzhemmung schlechterdings unmöglich. Auch bei
blödsinnigen Kranken findet sich diese Unempfindlichkeit gegen
körperliche Schmerzen häufig. Die verblüffendsten Beispiele da-
für liefert die Paralyse, bei der freilich die Zerstörung der
Leitungsbahnen wesentlich mit in Betracht kommen kann. Kno-
chenbrüche, ausgedehnte Verbrennungen, Druckbrand, Einschnitte,
Ätzungen, alles pflegt von diesen Kranken ohne jede oder doch
ohne stärkere Schmerzensäußerung ertragen zu werden. Eine
wesentlich andere Bedeutung hat die Aufhebung der Schmerz-
empfindlichkeit bei Hysterischen und Epileptikern. Hier scheint,
) Manheimer, Le gatisme au cours des etats psychopathiques. 1897.
Störungen der Gemeingefühle.
ähnlich wie es in der Hypnose erreichbar ist, die Schmerzschwelle
allein eine sehr bedeutende Erhöhung zu erfahren.
Wir haben hier endlich noch einer Gruppe von Gefühlen zu
gedenken, die zwar nicht mit der Selbsterhaltung, wohl aber mit
der Arterhaltung in Beziehung stehen. Dahin gehört zunächst
das allerdings erst durch das gesittete Zusammenleben künst-
lich anerzogene geschlechtliche Schamgefühl. Bei erregten und
verwirrten Kranken kann es völlig in den Hintergrund treten,
doch sieht man deutliche Zeichen von Schamgefühl nicht selten
noch in sehr schweren manischen Zuständen, wenn nicht die
gesteigerte geschlechtliche Erregung es überwindet. Sehr auf-
fallend ist dagegen vielfach das rasche Schwinden des Scham-
gefühls in der Dementia praecox, auch ohne geschlechtliche Er-
regung. Wir sehen solche Kranken sich rücksichtslos entblößen,
ohne Scheu über geschlechtliche Dinge reden, vor aller Augen
und in der hartnäckigsten Weise masturbieren. Auch die in der-
selben Krankheit vielfach beobachtete Neigung zu gesucht un-
flätiger Ausdrucksweise (Koprolalie) und schamlosen Gebärden
wäre hier zu erwähnen.
Beim gesunden Menschen ist das Anwachsen des geschlecht-
lichen Bedürfnisses und ebenso seine Befriedigung von bestimmten
lebhaften Gefühlen begleitet, die bei unseren Kranken fehlen, ge-
steigert oder auch in falsche Bahnen gelenkt sein können. Ge-
schlechtliche Kälte beobachten wir bei manchen Formen des Ent-
artungsirreseins, namentlich auch bei der Hysterie. Ebenso pfle-
gen bei Morphinisten die Geschlechtsgefühle allmählich zu schwin-
den. Weit häufiger aber ist die Steigerung der geschlechtlichen
Erregbarkeit; sie findet sich bei gewissen Idioten, ferner sehr
ausgeprägt in der Dementia praecox, endlich in den manischen
und paralytischen Erregungszuständen sowie beim Altersblödsinn.
Ganz besondere Beachtung hat in neuerer Zeit das Auftreten ge-
schlechtlicher Gefühle außerhalb des gesunden Geschlechtsver-
kehrs gefunden, ihre Anknüpfung an Personen des eigenen Ge-
schlechts, an gewisse Gegenstände, ihre Verbindung mit der Aus-
übung oder Erduldung von Mißhandlungen. Da alle diese Stö-
rungen in engster Beziehung zu krankhaften Richtungen des
Geschlechtstriebes stehen, werden wir ihrer am besten später im
Zusammenhange mit diesen letzteren selbst gedenken.
366
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
D. Störungen des Wollens und Handelns.
Ihren letzten und wichtigsten Ausdruck finden alle Stö-
rungen, die das psychische Leben beeinflussen, im Wollen und
Handeln des Kranken, Den Ausgangspunkt einer Willenshand-
lung bildet die Vorstellung eines bestimmten, näheren oder fer-
neren Zweckes, der auf eine Veränderung an uns selbst oder an
unserer Umgebung hinzielt. Diese Vorstellung wird von Gefühlen
begleitet, die sich in Antriebe zur Erreichung jenes Zweckes um-
setzen. Die Richtung des Handelns wird demnach durch den
Inhalt jener Vorstellung, die Kraft und Nachhaltigkeit desselben
durch die Stärke und Dauer der begleitenden Gefühle bestimmt.
Die krankhaften Störungen des Wollens und Handelns können
in der verschiedensten Weise und an den verschiedensten Punkten
des Willensvorganges angreifen. Die Stärke der Willensantriebe
kann herabgesetzt und erhöht, ihre Auslösung durch Ter-
schiedenartige Störungen erschwert oder erleichtert sein. Die
Richtung des Wollens sehen wir durch äußere und innere
Beeinflussungen krankhaft abgelenkt werden, bald in vielfachem
Wechsel, bald in einseitiger Starrheit. Der Ablauf der Willkür-
handlungen kann in mannigfaltigster Weise gestört werden, ins-
besondere auch durch Einmischung von Nebenantrieben. Krank-
hafte Antriebe können gewaltsam das gesunde Wollen unter-
drücken, triebartige Regungen zu unüberlegten und zweck-
losen Handlungen drängen; die natürlichen Triebe sehen wir
krankhafte Formen annehmen. Endlich aber wird begreiflicher-
weise das ganze Handeln unserer Kranken auch durch alle jene Stö-
rungen beeinflußt, die sich auf anderen Gebieten ihres Seelen-
lebens abspielen, selbst wenn der Ablauf des Willensvorganges an
sich dabei keine Abweichungen darbietet. Eine besondere Be-
sprechung werden die Ausdrucksbewegungen erfordern, da sie
es sind, die uns in erster Linie die Kenntnis der inneren Erlebnisse
unserer Kranken vermitteln. $
Herabsetzung der Willensantriebe. Dem gesunden Verständ-
nisse am nächsten liegt jene Lähmung des Willens, die durch
die einfache Ermüdung herbeigeführt wird. Das Anwachsen der
inneren Widerstände bedingt zunächst eine Steigerung der Willens-
Herabsetzung der Willensantriebe. 36^
Spannung, eine erhöhte , .Anstrengung", die dann weiterhin zum
Erlahmen führt. Da auch die Gedankenarbeit Willenstätigkeit
ist, schwindet mit der Zunahme des Ruhebedürfnisses die geistige
Regsamkeit ebenso wie die Neigung zu raschem und ausgiebigem
Handeln. Wir fühlen uns nicht mehr aufgelegt zu geistiger Tätig-
keit, und die Beweggründe müssen immer zwingendere werden,
wenn sie uns zu kräftiger Tat antreiben sollen. Ähnliche Wir-
kungen werden durch manche Gifte erzeugt. In den höchsten
Graden des Alkoholrausches, unter dem Einflüsse des Chloro-
forms, des Chloralhydrates erlöschen alle Willensantriebe, nach-
dem allerdings vielfach eine Steigerung derselben voraufgegangen
ist. Während aber diese Mittel gleichzeitig in noch höherem
Grade Auffassung und Denken lähmen, kennen wir im Morphium
und vielleicht auch im Tabak Giftstoffe, die ganz vorzugsweise
die Entstehung und Auslösung von Willensantrieben zu hindern
scheinen. Beim Alkohol, Morphium und dem beiden verwandten
Cocain wird die Willenslähmung durch dauernden Mißbrauch sehr
deutlich; es entwickelt sich ein folgenschwerer Mangel an Tat-
kraft. Die schwachen Antriebe verpuffen regelmäßig, ohne
weiterreichenden, richtunggebenden Einfluß auf das Handeln zu
gewinnen; auch die sonst stärksten Beweggründe, die sittlichen
Forderungen, die Rücksicht auf die Familie, auf das eigene Le-
bensglück, vermögen den kraftlosen Willen nicht zu nachhaltiger
Anspannung anzuspornen.
Eine ganz ähnliche Verödung des Wollens sehen wir viel-
fach in den Endzuständen ungeheilter Geistesstörungen sich ent-
wickeln. So verlieren beim Altersschwachsinn zunächst die all-
gemeineren Vorstellungen und Gefühle ihren Einfluß auf das
Handeln. Die Spannkraft des Willens, die Schaffensfreude, die
schon im gesunden Greisenalter merklich abzunehmen pflegt,
erlahmt völlig; das Streben richtet sich auf das Nächstliegende
und verzichtet leicht auf die Überwindung von Hindernissen.
Statt dessen gewinnen jene Triebfedern das Übergewicht, die
aus den niederen Begierden entspringen. Habsucht, Geiz, Ge-
fräßigkeit, unter Umständen auch geschlechtliche Gelüste sind
allein noch imstande, kräftigere Willensantriebe auszulösen. Oder
die Kranken dämmern wunschlos und tatenlos dahin, von ihrer
Umgebung gelenkt und geschoben, ohne in zweckmäßigem Han-
368
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dein oder Widerstreben die Spuren einer selbständigen Willens-
entschließung erkennen zu lassen. Am auffallendsten pflegt
die Willenslähmung bei der Dementia praecox hervorzutreten,
weil daneben manche andere psychische Leistungen noch ver-
hältnismäßig gut erhalten sein können. Die Abstumpfung der
Gefühle führt hier, namentlich in den Endzuständen, gewöhnlich
auch zu einer mehr oder weniger ausgesprochenen Vernichtung
der Willensregungen. Die Kranken verlieren die Fähigkeit, aus
eigenem Antriebe nachzudenken oder sich zu beschäftigen. Sich
selbst überlassen, sitzen sie träge herum; weder in ihrem Innern
spielen sich Vorgänge ab, noch lösen äußere Einwirkungen Hand-
lungen aus; nur die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse, be-
sonders das Essen, vermögen sie noch in Bewegung zu bringen.
Dennoch können sie durch geduldiges Antreiben und durch das
Beispiel oft noch zu ganz brauchbaren Leistungen gebracht wer-
den; freilich versiegt ihre Tätigkeit sofort, wenn der Anstoß da.-
zu aufhört. Gerade dadurch wird es deutlich, daß die Kranken
nicht die Fähigkeit zur Arbeit und zum Handeln, sondern nur den
Antrieb dazu verloren haben. Am weitesten schreitet die Zer-
störung des Willens in der Paralyse fort. Mit dem Schwinden
der geistigen und gemütlichen Ansprechbarkeit verlieren sich auch
die Willensregungen; der Kranke empfindet kein Leid und kein
Bedürfnis mehr, das ihn zu einer Handlung antreiben könnte.
Schließlich können sich alle Lebensäußerungen auf die Fort-
dauer der unwillkürlichen und einiger reflektorischen Bewegungen
beschränken.
Was hier überall durch den Krankheitsvorgang zerstört wird,
kann auch von Jugend auf unentwickelt bleiben. Schon in der
Breite der Gesundheit ist die Stärke der Willensantriebe, die
Leichtigkeit, mit der sich Denken und Fühlen in Handeln umsetzt,
außerordentlichen Schwankungen unterworfen. Von den trägen
und schwerfälligen Naturen führen uns Übergänge allmählich zu
den stumpfen Formen des angeborenen Schwachsinns und der
Idiotie, bei denen nur mühsam und selten ein Willensantrieb zu-
stande kommt und zum Handeln führt. Selbstverständlich sind
es auch hier die sinnlichen Gefühle, Hunger und Schmerz, die
das Begehren am stärksten erregen und daher in erster Linie die
Richtung der Willensäußerungen bestimmen.
Steigerung der Willensantriebe.
369
Steigerung der Willensantriebe. Das allgemeine Zeichen einer
Steigerung der Willensantriebe ist die motorische Erregung.
Im einzelnen freilich haben wir uns deren Zustandekommen in
sehr verschiedener Weise zu denken. Zunächst kann die Erregung
sich einfach aus Vorstellungen oder Gefühlen herausentwickeln.
Dahin gehören die durch bestimmte Anlässe hervorgerufenen Leiden-
schaftsausbrüche gesunder und kranker Menschen, die plötzliche
Entladung überstürzter Willenshandlungen in einer bestimmten
Lebenslage. In diesen Fällen ist offenbar das Handeln nur die
notwendige Folge der gegebenen psychologischen Vorbedingungen;
eine Störung liegt daher auch nicht auf dem Gebiete des Wollens
selbst, sondern höchstens auf denjenigen, die es vorbereiten. Es
sind eben mächtige Beweggründe vorhanden, die naturgemäß auch
besonders lebhafte Willensantriebe zur Auslösung bringen müssen.
Von einer wirklichen Steigerung der Antriebe sind wir da-
gegen zu sprechen berechtigt, wenn ein Mißverhältnis zwischen
dem Gewichte der Beweggründe und der Heftigkeit der Erregung
besteht. Vielleicht ist das bis zu einem gewissen Grade schon
bei vielen delirierenden Kranken der Fall. Bei ihnen, nament-
lich bei Alkoholdeliranten, entwickelt sich meist eine deutliche
Unruhe, die sich nicht genügend durch die Wahnvorstellungen,
Sinnestäuschungen und Gemütsbewegungen erklären läßt, sondern
auf krankhafte Willenserregung hinweist. Die Kranken bleiben
nicht im Bette, drängen zur Türe hinaus und zeigen einen aus-
geprägten Tätigkeitsdrang, allerdings in Beziehung zu ihren Täu-
schungen. Daß sie aber trotz ihrer oft großen Hinfälligkeit über-
haupt die lebhafte Neigung haben, sich im Sinne ihres Berufes
zu beschäftigen, macht die Annahme einer selbständigen psycho-
motorischen Erregung durchaus wahrscheinlich.
Eine weitere Form der hier besprochenen Störung läßt sich
am besten durch die Betrachtung des Alkoholrausches erläutern.
Wir sehen hier die Steigerung der Willensantriebe von der er-
wachenden Lebhaftigkeit in Reden und Ausdrucksbewegungen all-
mählich zum Lärmen, Schreien und schließlich zu allen jenen
unüberlegten Handlungen anwachsen, die den Berauschten so
häufig mit der öffentlichen Ordnung und dem Strafgesetze in
Widerstreit bringen. Ganz ähnliche Störungen scheint das Cocam
zu erzeugen; wenigstens entsteht bei dauerndem Mißbrauche des
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^4
370
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Mittels ziellose Unruhe, Geschwätzigkeit, Schreibseligkeit, die
kaum anders gedeutet werden können. Gerade diese Erregungs-
zustände der Cocainisten bilden den Übergang zu jener eigen-
artigen Steigerung der Willensantriebe, wie sie dem Bilde des
manischen Irreseins eigentümlich ist, sich aber auch bei den In-
fektionspsychosen und bei der Paralyse vielfach entwickelt. Wir
haben es hier mit einem krankhaften Betätigungsdrange zu
tun, der sich bei den leichteren, hypomanischen Zuständen zu-
nächst in unstetiger Vielgeschäftigkeit, großer Gesprächigkeit, leb-
haften Gebärden kundgibt, im Sammeln und Zusammenkaufen
unnützer Dinge, in der Einmischung in fremde Angelegenheiten,
der Verfolgung aller möglichen Pläne, in unsinnigen Ausschwei-
fungen, in zwecklosem Herumtreiben und Reisen.
Bei stärkerer Erregung werden die Antriebe zum Handeln
immer zahlreicher und mannigfaltiger. Da zugleich die Zweck-
vorstellungen flüchtiger • werden, lockert sich der Zusammenhang
zwischen den einzelnen Handlungen. Der Kranke ist nicht mehr
imstande, einen bestimmten Plan durchzuführen, sondern fängt
alles nur an , indem seine ursprüngliche Absicht sofort durch
neu aufsteigende Antriebe in den Hintergrund gedrängt wird.
Schließlich ist ein Zweck der einzelnen Handlung kaum mehr
erkennbar; wir bemerken nur noch eine bunte Reihe wechseln-
der Kraftäußerungen. Es kommt zu beständigem Schreien, Schwa-
tzen und Singen, Laufen, Tanzen, zum Entkleiden, Zerreißen
der Kleidungsstücke mit mannigfacher Verwertung der Fetzen,
Schmieren und Malen mit Kot, Waschen mit Urin, Zerstören
aller erreichbaren Gegenstände, Trommeln und Klopfen mit Hän-
den und Füßen.
Ein wesentlich anderes Bild, als der manische Betätigungs-
drang, bietet die katatonische Erregung dar. Dort ist auch
in den unsinnigsten Handlungen eine psychische Verursachung
wenigstens ungefähr erkennbar; alle Antriebe führen doch immer
zu Handlungen, so zwecklos und unsinnig diese auch erschei-
nen mögen. Hier dagegen haben wir es wesentlich mit Bewe-
gungen zu tun, die meist durchaus keinen bestimmten Erfolg
haben. Auf diese Störung paßt daher am besten die Bezeichnung
,, Bewegungsdrang", die sonst gerade für den manischen Be-
tätigungsdrang gebraucht zu werden pflegt. Obgleich die eigent-
Behinderung der Willenshandlungen. 271
liehe Erregung beim Katatoniker oft weit geringer ist, sind seine
Bewegungen völlig planlos und dienen nicht der Verwirklichung
dieser oder jener Absicht. Vielmehr bestehen sie einfach in Ge-
sichterschneiden, Verdrehungen und Verrenkungen der Glieder,
Auf- und Niederspringen, Purzelbäumen, Wälzen, Händeklatschen,
Herumrennen, Klettern und Tänzeln, in dem Hervorbringen sinn-
loser Laute und Geräusche. Von eigentlichem Wollen kann hier
kaum noch die Rede sein, insofern wir es nicht mehr mit der Um-
setzung von Zweckvorstellungen in Handlungen zu tun haben.
Auch die Kranken selbst versichern uns nicht selten auf das be-
stimmteste, daß sie nicht wissen, wie sie dazu kommen, solche
Bewegungen auszuführen. Vielleicht dürfen wir hier an die Er-
fahrungen erinnern, die man nach starken körperlichen Anstren-
gungen bisweilen macht. Dabei kann sich eine Muskelunruhe
entwickeln, die sich in allerlei zwecklosen Bewegungen entladet;
wir können nicht still sitzen, springen alle Augenblicke auf, spielen
mit den Fingern, wechseln die Stellung. Auch hier handelt es
sich um Antriebe, die nicht der Ausdruck von Vorstellungen sind.
Behinderung der Willenshandlungen. Die Kraft und Schnellig-
keit, mit der sich ein Willensantrieb in Handeln umsetzt, ist außer
von seiner eigenen Stärke auch von der Größe der Widerstände
abhängig, die er zu überwinden hat. So wissen wir, daß Schreck
und Furcht der Ausführung unserer Absichten innere Hinder-
nisse entgegensetzen können, die wir nur mit der größten Willens-
anstrengung zu überwinden imstande sind. Eine derartige Stei-
gerung der Widerstände, eine psychomotorische Hemmung,
ist vielleicht die wichtigste Grundstörung in gewissen Depressions-
zuständen des zirkulären Irreseins. Die Kranken werden unfähig
zu den einfachsten Entschlüssen, müssen sich zu jeder Handlung
mühsam aufraffen, vermögen sich nicht auszusprechen, sondern
geben nur kurze, einsilbige Antworten. Natürlich entsteht dadurch
eine sehr ausgeprägte Verlangsamung und Abschwächung des
Handelns. Nur ganz fest eingelernte Tätigkeiten gehen bisweilen
noch ohne Hemmung vonstatten; ebenso kann auch einmal eine
heftige Gemütserschütterung die Widerstände plötzlich durch-
brechen. Ferner läßt sich in der Regel nachweisen, daß bei fort-
gesetzten Bemühungen die Hemmung allmählich geringer wird.
In schweren Fällen kann die Auslösung selbständiger Willenshand-
24*
372
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
lungen fast gänzlich unmöglich sein. Trotz aller ersichtlichen
Anstrengung bringen die Kranken kein Wort mehr hervor, sind
unfähig, zu essen, aufzustehen, sich anzukleiden. Regelmäßig
empfinden sie dabei deutlich den ungeheuren Druck, der auf ihnen
liegt, upd den sie nicht zu überwinden imstande sind.
"Zumeist pflegt man diese Störung unter dem Namen des
,, Stupors" mit einigen anderen, nur äußerlich ähnlichen Zu-
ständen zusammenzufassen, von denen wir als wichtigsten den
katatonischen Stupor herausheben wollen. Bei ihm ist die
Auslösung der Bewegungen an sich keineswegs erschwert, wie
wir aus gelegentlichen, sehr rasch und kräftig erfolgenden Hand-
lungen leicht erkennen. Allein jeder Antrieb löst hier sofort
einen Gegenantrieb aus, der mindestens ebenso stark, öfters sogar
weit kräftiger ist. Auf diese Weise wird jede Bewegung im Ent-
stehen unterdrückt, namentlich wenn ihr eine äußere Anregung
zugrunde liegt. Nicht selten sehen wir daher die beabsichtigte
oder verlangte Bewegung wohl angefangen, aber sofort wieder
unterbrochen und unter Umständen durch die entgegengesetzte
abgelöst werden. Hier wird demnach nicht der Antrieb durch
innere Widerstände gehemmt, sondern er wird durch einen Gegen-
befehl einfach ausgelöscht. Während die Kranken mit psychischer
Hemmung immer noch bemüht sind, den Widerstand zu über-
winden, bis sie endlich erlahmen oder durchdringen, kehrt sich
beim katatonischen Stupor der Antrieb selbst von vornherein oder
doch sehr bald in Widerstreben um. Man kann daher im Ver-
gleiche zu der Hemmung dort von einer ,,Sperrung" hier spre-
chen. Sobald die Sperrung fortfällt, der Gegenbefehl ausbleibt,
geht die Handlung ohne die geringste Schwierigkeit vonstatten.
Wie wir bei jeder Muskelbewegung immer auch den Antagonisten
in Tätigkeit setzen, so entsteht anscheinend hier neben der Vor-
stellung der angeregten Bewegung sofort auch diejenige der ent-
gegengesetzten in besonderer Stärke und verhindert deren Auslösung.
Durch diese Willenssperrung werden zahlreiche Äußerungen
im Entstehen erstickt, die sich beim Gesunden gewohnheitsmäßig,
ohne ausdrückliches Eingreifen der Willkür vollziehen. Die
Kranken blicken nicht auf, wenn man sie anredet, erwidern den
Gruß nicht, ergreifen nicht die dargebotene Hand. Bedroht man
sie mit dem Messer oder sticht sie in das Augenlid, so weichen
Erleichterung der Willenshandlungen.
373
sie allenfalls zurück, machen aber keine planmäßigen Abwehr-
bewegungen; sie bleiben in äußerst unbequemen Stellungen
liegen, ohne sich behaglich zurechtzulegen, verjagen die Fliege
nicht, die sich auf ihr Gesicht niederläßt, setzen sich stundenlang
glühenden Sonnenstrahlen aus, obgleich wenige Schritte sie in
den Schatten bringen würden. Vielleicht ist auch das Aufhören
des Lidschlages, des regelmäßigen Speichelschluckens, das Zu-
rückhalten der Entleerungen auf die Willenssperrung, auf die
Unterdrückung der natürlichen, unwillkürlichen Antriebe zurück-
zuführen. Das gesamte Verhalten der Kranken gewinnt durch
diese Störungen ein höchst absonderliches Gepräge. Indem die
erwarteten und dem Gesunden selbstverständlichen Willensäuße-
rungen ausbleiben, erscheint das Benehmen unnatürlich, unfrei
und gezwungen.
Da es sich bei der Willenssperrung nicht um ein Versagen
der Antriebe, sondern um das Gleichgewicht entgegengesetzter
Antriebe handelt, so bemerken wir hier bei der Ausführung von
Handlungen nicht die müde Kraftlosigkeit, die der Willenshem-
mung eigentümlich ist, sondern eine starre Spannung, die uns das
Spiel widerstrebender Einflüsse verrät. Die Bewegungen ge-
schehen mit einem Übermaß von Anspannung, die sich auf alle
beteiligten Muskelgruppen in nahezu gleichmäßiger Weise er-
'streckt; das Ergebnis entwickelt sich aus einem verhältnis-
mäßig geringen Übergewichte einer Gruppe über die entgegen-
gesetzte. Daher erscheinen Haltung und Bewegung steif und
gespannt. Nicht selten beobachten wir ein Schwanken in der
Kraft der Antriebe und Gegenantriebe; bald gewinnen die einen,
bald die anderen die Oberhand. Es kommt zu plötzlichem Still-
stande und ebenso plötzlicher Fortsetzung der eingeleiteten Be-
wegung; sie läuft stoßweise ab, wird eckig und ungeschickt.
Vielleicht ist es das Gefühl aller dieser Behinderungen, das die
Kranken zu einer gleichzeitigen Anspannung weiter Muskelgebiete
veranlaßt. Auch bei der Ausführung geringfügiger Bewegungen
werden gern die ganzen Glieder mit in Anspruch genommen. Auf
diese Weise werden die Bewegungen plump und maßlos.
Erleichterung der Willenshandlungen. Die Eindrücke der Außen-
welt wie unsere inneren Erlebnisse erzeugen in uns dauernd
einen mehr oder weniger hohen Grad von Willensspannung, der
374
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sich in mannigfachen Äußerungen zu entladen strebt. Ein Teil
dieser Wirkungen ist dem Einflüsse der Willkür entzogen; den
größten Teil derselben vermögen wir jedoch durch Willensan-
strengungen zu hemmen. Von der Ausbildung dieser Hemmungen,
über die wir verfügen, hängt demnach die größere oder geringere
Leichtigkeit ab, mit der auftauchende Antriebe sich in Handlungen
umsetzen. Unsere geistige Entwicklung bedeutet im allgemeinen
eine Zunahme der Hemmungen; das Kind handelt am raschesten
und unmittelbarsten, während die wachsende Selbstbeherrschung
den Mann befähigt, zahlreiche Antriebe zu unterdrücken, bevor
sie zur Tat werden. Die weibliche Eigenart mit ihrer erhöhten
gemütlichen Erregbarkeit pflegt in dieser Hinsicht derjenigen des
Kindes näher verwandt zu bleiben.
Die eindämmende Macht der Hemmungen wird natürlich um
so früher versagen, je stärker die Antriebe, je heftiger die Ge-
mütsbewegungen sind, aus denen sie hervorgehen. Auf der anderen
Seite kennen wir Einflüsse, welche geradezu die Auslösung von
Willensantrieben erleichtern und damit die Widerstandsfähigkeit
gegen die Umsetzung von Antrieben in Handlungen vermindern.
In geringerem Grade scheint das schon für jede psychomotorische
Tätigkeit zu gelten. Durch fortgesetzte Ausführung von Bewe-
gungen geraten wir in eine gewisse Erregung, die eine Ver-
ringerung der Hemmungen bedeutet. Wir haben bereits früher"
darauf hingewiesen, daß auch die krankhafte Willenshemmung
durch die Betätigung selbst allmählich abnimmt. Noch deutlicher
vielleicht ist das Anwachsen der Erregung bei manischen oder
katatonischen Kranken, sobald sie ihrer Unruhe freien Lauf lassen
können. Die ungehinderte Entladung ihrer Antriebe macht sie
immer unfähiger, sich zu beherrschen; darauf beruht hier der
überraschende Erfolg der Bettbehandlung gegenüber dem ,, Aus-
toben". Nach den Ergebnissen psychologischer Versuche be-
günstigt die Entziehung des Schlafes ebenfalls den Wegfall der
Willenshemmungen. Dem würde die Erfahrung entsprechen, daß
andauernde Schlaflosigkeit die Erregung bei unseren Kranken
zu steigern scheint, doch ist hier auch die umgekehrte Deutung
möglich.
Eine sehr verhängnisvolle Abnahme der Willenshemmungen
wird in größtem Umfange durch die Wirkung des Alkohols her-
Erhöhte Beeinflußbarkeit des Willens.
375
beigeführt. Wenn auf der einen Seite das Verhalten Angetrun-
kener dafür spricht, daß wir es hier mit einer wirklichen Erregung
zu tun haben, so deutet doch andererseits die" Leichtigkeit, mit
der auch ohne Erregung die unbesonnensten und bedenklichsten
Handlungen zustande kommen, auf den Verlust jener Widerstände
hin, die den Nüchternen befähigen, seine Antriebe im Zaume zu
halten. Alle die Beweggründe, die aus der sittlichen Erziehung
eines ganzen Lebens entspringen, verlieren plötzlich ihre Macht;
alle Bedenken und Überlegungen schweigen, sobald der Alkohol
die Selbstbeherrschung vernichtet hat. In abgeschwächtem Grade
läßt sich diese Wirkung des Alkohols auf den Willen auch dauernd
beim Trinker nachweisen, in der verringerten Widerstandsfähigkeit
gegen Verführungen aller Art. Ähnliche Veränderungen erzeugt
bei einmaligem wie bei gewohnheitsmäßigem Gebrauche der Äther
und wohl auch das Cocain.
Als dauernde Eigenschaft tritt uns ferner die erleichterte Aus-
lösung von Willensantrieben bei gewissen Formen krankhafter Ver-
anlagung, namentlich bei der Hysterie, entgegen. Die Lebhaftigkeit
der Gefühlsbetonung läßt hier der verstandesmäßigen Vorbereitung
der Handlungen keinen großen Spielraum; daher kommen rasch
und unvermittelt nicht selten Handlungen zustande, die den Stempel
des Unbegreiflichen und Zweckwidrigen tragen, Diebstähle, Schwin-
deleien, Selbstverletzungen. Auch hier befinden sich die Kranken
oft in einem eigentümlichen Zwiespalte zwischen den gesunden
Regungen und den triebartigen Einflüssen, die ihren Willen über-
wältigen.
Erhöhte Beeinflußbarkeit des Willens. Zwei Quellen sind es,
aus denen die Beweggründe unseres Handelns entspringen, aus
äußeren Anstößen und aus feststehenden allgemeinen Willens-
richtungen, deren Inhalt ursprünglich allerdings auch durch die
Lebenserfahrung erworben wurde. Beim gesunden Menschen führt
jeder Anlaß nur so weit wirklich zum Handeln, als ihm nicht
wichtige , der eigenen Persönlichkeit angehörende Gegenströ-
mungen im Wege stehen. Diese verhältnismäßige Unabhängig-
keit des Wollens von äußeren Anstößen bildet die psychologische
Grundlage der ,,W illensfreihei t". Nur Kinder und in ge-
ringerem Grade auch wohl Frauen, ferner die ,, leichtsinnigen"
Naturen lassen sich mehr von den Einflüssen des Augenblicks,
Erscheinungen des Irreseins.
als von festen „Grundsätzen" leiten, weil sie solche noch nicht
erworben haben oder überhaupt nicht zu erwerben imstande sind.
Im Bereiche des Krankhaften wird der bestimmende Einfluß dauern-
der Willensrichtungen auf das Handeln beeinträchtigt oder ver-
nichtet durch einfache Abschwächung des Willens, durch er-
leichterte Auslösbarkeit der Willensantriebe und endlich durch das
Auftreten krankhafter Antriebe.
Der erste dieser Fälle ist verwirklicht in allen jenen Formen
des angeborenen oder erworbenen Schwachsinns, die mit einer
Herabsetzung der Tatkraft einhergehen. Wo keine kräftigen Trieb-
federn des Handelns vorhanden sind, wird es nicht durch die all-
gemeinen Eigenschaften der Persönlichkeit bestimmt, sondern durch
zufällige Einflüsse. Es entwickelt sich also eine hilflose Abhängig-
keit des Wollens von allen möglichen Einwirkungen, eine krank-
hafte Bestimmbarkeit. Da kein selbständiger Plan den festen
Grund des Handelns bildet, geht seine innere Einheit und Folge-
richtigkeit verloren. Am reinsten pflegt uns diese Störung in der
Paralyse entgegenzutreten. Ein Wort genügt hier nicht selten, um
den leicht lenksamen Kranken ohne weiteres zu den widersprechend-
sten Entschlüssen zu veranlassen.
Einen vorübergehenden Zustand von Willenlosigkeit mit
erhöhter Beeinflußbarkeit vermögen wir durch die Hypnose^)
zu erzeugen.. Es gelingt bekanntlich bei einer sehr großen Zahl
von Menschen (80 — 90%), durch verschiedenartige Hilfsmittel,
namentlich durch lebhafte Erweckung der Vorstellung des Ein-
schlafens, eine Veränderung des Bewußtseins in dem Sinne her-
beizuführen, daß die Seelenvorgänge in eine mehr oder weniger
vollständige Abhängigkeit von dem Willen des Versuchsleiters
geraten. Bei den allerdings nicht sehr häufig erreichbaren höch-
sten Graden dieses Zustandes kann durch Suggestion, d. h. durch
kräftiges Anregen von Vorstellungen, Gefühlen und Antrieben
mit Hilfe des Wortes oder geeigneter Handlungen, der Inhalt
der Wahrnehmungen ganz nach Belieben frei erzeugt oder ab-
geändert werden. Ferner können frei erfundene Erinnerungen
mit allen Einzelheiten dem Beeinflußten eingepflanzt werden,
um bei ihm weitere selbständige Verarbeitung zu finden, und
1) Forel, Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie, 5. Aufl. 1907;
Moll, Der Hypnotismus, 4. Aufl. 1907.
Erhöhte Beeinflußbarkeit des Willens. 377
endlich stehen auch seine Handlungen, ja sogar viele seiner un-
willkürlichen Verrichtungen, gänzlich unter dem Einflüsse der
gebieterisch die eigenen Willensregungen knebelnden Eingebungen.
Der Hypnotisierte vermag kein Glied zu rühren ohne Erlaubnis
des Hypnotiseurs; er verharrt in den Stellungen, die dieser ihm
gibt, und begeht auf sein Geheiß unbedenklich unsinnige, unter
besonderen Umständen vielleicht sogar verbrecherische Handlungen.
In einzelnen Fällen dauert dieser nur mangelhaft durch den Aus-
druck Befehlsautomatie gekennzeichnete Zustand auch nach
dem Erwachen aus der Hypnose noch kürzere oder längere Zeit
hindurch fort (Möglichkeit posthypnotischer Suggestionen), bis der
eigene Wille wieder die Herrschaft über den Ablauf der Seelen-
vorgänge gewinnt; zuweilen aber kann trotz völliger Rückkehr
des Wachzustandes im voraus für einen fernliegenden Zeitpunkt
(anscheinend selbst bis zu einem Jahre) das Eintreten suggerierter
Wahrnehmungen und Handlungen erzwungen werden (Suggestion ä
echeance). In allen diesen Fällen erscheint dem Beeinflußten
selbst die pünktlich ausgeführte Handlung als das Ergebnis
eigenen Entschlusses; meist macht sich zu der bestimmten Zeit
der immer klarer werdende Drang nach Erfüllung der gestellten
Aufgabe geltend, ohne daß jedoch dessen Entstehung durch äußere
Anregung irgendwie zum Bewußtsein käme. Hier und da kann
die hypnotische Willensstörung sogar ohne eigentliche Hypnose,
wenigstens ohne irgend tiefere Bewußtseinstrübung, in anschei-
nend wachem Zustande erzielt werden.
Wenn uns das Wesen dieser vielumstrittenen Erscheinungen
zurzeit noch in vielen Beziehungen rätselhaft ist, so läßt sich
ein psychologisches Verständnis für sie immerhin durch die An-
nahme gewinnen, daß es sich dabei um die vorübergehende Be-
seitigung jenes leitenden Einflusses handelt, den der Wille durch
Unterdrückung dieser und Begünstigung jener Bewußtseinsvor-
gänge fortdauernd auf unser Seelenleben ausübt. Die Ähnlichkeit
der hypnotischen mit den Traumzuständen ist gerade unter diesem
Gesichtspunkte eine so handgreifliche, daß wir kaum erst des so
häufig beobachteten Überganges zwischen Hypnose und Schlaf
oder umgekehrt bedürften, um eine tiefere Verwandtschaft beider
anzunehmen. Auch im Traume nehmen wir urteilslos die wider-
spruchsvollsten Wahrnehmungen und Vorstellungsverbindungen
378
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
als bare Wirklichkeit hin; wir erfinden Erinnerungen und ver-
gessen die alltäglichen Erfahrungen; wir begehen ohne Bedenken
die zwecklosesten und schändlichsten Handlungen, um uns
andererseits auf das peinlichste in der Ausführung unserer ein-
fachsten Absichten immer und immer wieder gehemmt zu sehen.
Nur ist es hier das unwillkürliche, höchstens zeitweise durch äußere
Reize angeregte Spiel unserer eigenen Vorstellungen und Gefühle,
welches durch die Ausschaltung der bestimmenden Einflüsse freie
Bahn gewinnt, während bei der Hypnose der fremde Wille ge-
wissermaßen in unser entfesseltes Seelenleben hineingreift und
nunmehr als unumschränkter Machthaber in dem herrenlosen
Gebiete schalten kann. Ein Versuch, den Träumenden von außen
her zu beeinflussen und dadurch ohne weiteres die Hypnose her-
zustellen, gelingt freilich nur unter besonders günstigen Umstän-
den. Zumeist pflegt der Schläfer dabei zu erwachen, wenn er über-
haupt der Einwirkung zugänglich ist. Die Hypnose dagegen dauert
trotz der Wahrnehmungen von außen fort: sie ist nichts als ein
leichter Schlaf mit der Autosuggestion, nicht ohne fremde Hilfe
erwachen zu können.
Einer ähnlichen vorübergehenden Ausschaltung des Willens be-
gegnen wir in manchen Krankheitszuständen. Namentlich häufig
lassen sich die Glieder der Kranken ohne den geringsten Wider-
stand in jede beliebige Lage bringen und behalten sie so lange
bei, bis man ihnen einen anderen Anstoß gibt, oder bis sie infolge
hochgradiger Muskelermüdung zitternd dem Gesetze der Schwere
folgen. Wir bezeichnen diese Störung als wächserne Biegsamkeit
(Flexibilitas cerea) oder Katalepsie. Seltener gelingt es, die Kran-
ken durch die Einleitung einfacher, regelmäßiger Bewegungen zu
deren fortgesetzter Wiederholung zu veranlassen oder die Nach-
ahmung lebhaft vor ihren Augen ausgeführter Gebärden (rasches
Erheben der Arme, Händeklatschen) zu erreichen (Nachahmungs-
automatie, Echopraxie). Hier und da sieht man auch wohl einen
Kranken peinlich alles nachahmen, was sein Nachbar tut, die-
selben Bewegungen machen, ihm in gleichem Schritte folgen.
Häufiger beobachtet man willenloses Nachreden vorgesagter, Ein-
flechten zufällig aufgefangener Worte (Echolalie). Überall läßt
sich hier übrigens zeigen, daß die anscheinend maschinenmäßig
handelnden Kranken die Eindrücke dennoch verarbeiten. Der
Erhöhte Beeinflußbarkeit des Willens.
379
Kranke, der zugerufene Zahlen echolalisch wiederholt hat, löst
in derselben triebartigen Weise eine vorgesagte Rechenaufgabe,
oder er verzieht das Gesicht zu kläglichem Weinen, während
er auf kräftiges Geheiß immer wieder die Zunge heraussteckt,
damit sie ihm durchstochen werden solle. Andeutungen dieser
Erscheinungen, besonders der wächsernen Biegsamkeit, werden
bei den verschiedenartigsten Krankheitszuständen gelegentlich
beobachtet. Ich sah sie bei Hysterischen, Epileptischen, Manisch-
Depressiven, Paralytikern und Alkoholisten, bei traumatischem
Hirnabsceß und bei einem mächtigen Hydrocephalus mit Hemiplegie,
hier aus begreiflichen Gründen nur auf der nicht gelähmten Seite.
Bei weitem am ausgesprochensten aber findet sich die ganze Gruppe
von Störungen bei der Dementia praecox, insbesondere bei jenen
Formen, die wir als Katatonie kennen lernen werden.
Auch die krankhafte Erleichterung der Willensantriebe pflegt
mit erhöhter Beeinflußbarkeit einherzugehen. Die Leichtigkeit,
mit der sich Gedanken in Handlungen umsetzen, läßt jeden neuen
Eindruck, jeden Einfall sofort zu einer Macht werden, die ihren
Einfluß auf den Willen siegreich geltend macht, um freilich als-
bald durch andere Antriebe wieder verdrängt zu werden. Auf
diese Weise entsteht das Krankheitszeichen einer erhöhten Abi en k-
barkeit des Willens. Gemeinsam ist dieser und den bisher be-
sprochenen Störungen die Ohnmacht der dauernden Willensrich-
tungen. Während aber bei der Bestimmbarkeit und der Willen-
losigkeit wesentlich nur äußere Einflüsse für das Handeln maß-
gebend sind, hängt hier das Wollen ebensosehr von den stets
wechselnden inneren Zuständen und Einfällen ab. Wir begegnen
dieser Störung, deren Gegenstück wir in der Ablenkbarkeit des
Vorstellungsverlaufes kennen gelernt haben, namentlich in ge-
wissen manischen und deliriösen Erregungszuständen. Als dauernde
persönliche Eigentümlichkeit begleitet die Ablenkbarkeit des Wol-
lens ferner die hysterische und die ihr nahestehenden Formen
der psychopathischen Veranlagung. Auch hier wird jeder An-
trieb, da er sich rasch und leicht in Handeln umsetzt, sehr bald
durch neue Entschlüsse wieder verdrängt. Das Tun und Treiben
der Kranken erhält dadurch den Stempel der Unstetigkeit und
Planlosigkeit. Plötzliche Entschlüsse und sprunghafte Anläufe
kommen und gehen; sie bleiben auf halbem Wege stecken und
38o
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
werden leicht durch neue Anregungen verdrängt. Das Beispiel in
gutem und bösem Sinne, die gesamte Umgebung gewinnt großen,
aber ganz vergänglichen Einfluß, Von hier führen stetige Über-
gänge zu jenen leicht erregbaren Persönlichkeiten hinüber, die mit
Begeisterung, aber ohne Nachhaltigkeit alles Neue ergreifen und
nichts zu Ende führen, weil ihr Eifer lange vor Erreichung des
Zieles bereits verraucht ist.
Verminderte Beeinflußbarkeit des Willens. Bei der Besprechung
der Willenssperrung haben wir gesehen, wie unter Umständen jeder
Bewegungsanstoß sofort durch einen entgegengesetzten Antrieb
wirkungslos gemacht werden kann. Die Willenssperrung ist in-
dessen nur die Teilerscheinung einer viel allgemeineren Störung,
des triebartigen Widerstrebens gegen jede äußere Beeinflussung
des Willens, des von Kahl bäum so bezeichneten Negativis-
mus. Er äußert sich in der Absperrung gegen äußere Eindrücke,
in der Unzugänglichkeit für jeden persönlichen Verkehr, in dem
Widerstande gegen jede Aufforderung, der bis zur regelmäßigen
Ausführung gerade entgegengesetzter Handlungen gehen kann (Be-
fehlsnegativismus), endlich in der Unterdrückung natürlicher Be-
dürfnisse.
Auf diese Weise entsteht ein Handeln, welches in allen
Stücken das Gegenteil von dem erstrebt, was durch die gesunden
Beweggründe gefordert wäre. Die Kranken schließen sich gegen
die Untersuchung starr ab; sie pressen die Zähne zusammen,
wenn sie die Zunge zeigen sollen, kneifen die Augen zu, sobald
man die Pupillen prüfen will, sehen zur Seite, falls man anfängt,
sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie erwidern den Gruß nicht,
weichen bei der Annäherung zurück, verstecken sich, kriechen
unter die Decke, hüllen sich ein, reichen die Hand nicht oder
ziehen sie vor erfolgter Berührung wieder zurück. Allen Fragen
gegenüber bleiben sie stumm (Mutacismus), oder sie bringen
mehr oder weniger beziehungslose Äußerungen vor, die nur
hier und da noch einen Zusammenhang mit der Fragestellung
erkennen lassen. Bisweilen kann es den Eindruck machen, als
ob die Kranken absichtlich falsche oder sinnlose Antworten geben.
Man bezeichnet diese Störung, die in äußerlich ähnlicher Weise
auch bei Hysterischen beobachtet wird, als „Vorbeireden" (Para-
logie). Allein während es sich bei der Katatonie um negativistische
Verminderte Beeinflußbarkeit des Willens.
381
Entgleisungen handelt, haben wir es bei der Hysterie mit Ver-
drängungserscheinungen infolge von Gemütsbewegungen zu tun;
die Kranken sperren sich durch ihr Vorbeireden gewissermaßen
künstlich ab, um ein peinliches Eindringen in ihre Gedanken und
Gefühle unmöglich zu machen, ein Vorgang, der den Verlegen-
heitsausreden und dem Selbstschutze des Leugnens nicht ganz
fern steht. Äußeren Eingriffen setzen die Kranken den kräftigsten,
aber fast immer rein passiven Widerstand entgegen, lassen sich
nicht ankleiden oder ausziehen, nicht baden, nicht pflegen. Auch
beim Essen sträuben sie sich auf das äußerste, lassen alles stunden-
lang stehen und kalt werden, um dann plötzlich wieder aus freien
Stücken mit Gier über die Nahrung herzufallen; sie verlangen
kläglich nach Wasser, um es auszuschütten, sobald es ihnen ge-
bracht wird. Öfters wird Kot und Harn mit der größten Anstren-
gung zurückgehalten, besonders, wenn man die Kranken auf den
Nachtstuhl bringt; sobald sie dann aufgestanden oder wieder ins
Bett gegangen sind, erfolgt sofort die Entleerung. Auch manche
zunächst nur absonderliche Handlungen dürften in dem trieb-
artigen Widerstreben gegen das gewohnte und selbstverständliche
Verfahren eine negativistische Wurzel haben, so, wenn die
Kranken das Hemd verkehrt anziehen, die Strümpfe über die Schuhe
zwängen, die Mütze mit der Öffnung nach oben auf den Kopf legen.
Es unterliegt nach meiner Überzeugung keinem Zweifel, daß
dieses negativistische Verhalten der Kranken durchaus nicht auf
bestimmte, verstandesmäßig erfaßte Beweggründe zurückgeführt
werden kann. Abgesehen von seltenen Ausnahmen, in denen nach-
träglich irgendwelche Vorstellungen oder Täuschungen als ganz
unzulängliche Triebfeder für das unsinnige Benehmen vorgebracht
werden, hört man von den Kranken regelmäßig, daß sie sich selbst
keine Rechenschaft darüber zu geben vermögen, sondern einfach
so handeln mußten. Anscheinend haben wir es demnach hier mit
einer ganz unmittelbaren krankhaften Veränderung der Willens-
antriebe zu tun. Dennoch ist die Störung des Handelns nur eine
unwillkürliche, nicht eine unbewußte. Das geht aus der geistigen
Verarbeitung der äußeren Beeinflussung hervor. Die Kranken
legen sich in fremde Betten, während sie aus dem eigenen hinaus-
drängen; sie verschmähen ihr eigenes, vielleicht besseres Essen,
um sich mit List oder Gewalt desjenigen ihrer Nachbarn zu be-
382
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
mächtigen. Am deutlichsten wird die triebartige, psychische Ent-
stehung der Störung durch die freilich nicht allzu häufigen Fälle
von Befehlsnegativismus. Solche Kranke bleiben liegen, wenn
man ihnen befiehlt, aufzustehen, kehren um, wenn sie fortgehen
sollen, schweigen sofort still, sobald man sie singen heißt und
umgekehrt.
Das Verständnis dieser höchst auffallenden Krankheits-
erscheinungen wird vielleicht durch die Erfahrung erleichtert, daß
Negativismus und Willenlosigkeit sich nicht nur in der Regel bei
denselben Kranken finden, sondern sich auch nicht selten durch
kleine Kunstgriffe rasch ineinander überführen lassen. Es ge-
lingt, Katalepsie in Starre, negativistisches Widerstreben in Nach-
ahmungsautomatie umzuwandeln; dazwischen hinein schieben sich
dann oft plötzliche, unvermittelte Antriebe. Die Annahme liegt
daher nahe, daß die zunächst so verschiedenen Erscheinungen
doch eine tiefere gemeinsame Wurzel haben. Überall erscheint
der regelnde, richtunggebende Einfluß dauernder Zwecke und
Willensneigungen auf das Handeln herabgesetzt. Dadurch ist ein-
mal äußeren Anstößen, das andere Mal auftauchenden Einfällen
der Weg zur Einwirkung auf den Willen geöffnet. Auch das Ein-
treten der Willenssperrung, die an das Störrischwerden der Kinder
und mancher Tiere erinnert, wird jedenfalls durch die Schwächung
der gesunden Willensregungen begünstigt.
Vielleicht haben wir in diesem triebartigen Widerstreben, ebenso
wie in der Befehlsautomatie, tiefer begründete Züge unseres Seelen-
lebens vor uns, die durch eine höhere Entwicklung verdeckt werden,
aber in der Krankheit wieder die Herrschaft gewinnen. Bleuler^)
hat mit Recht darauf hingewiesen, daß negativistische Regungen
wahrscheinlich ihre allgemeine Wurzel in dem Spiele entgegenge-
setzter Seelenvorgänge haben, welches überhaupt erst die Herrschaft
unseres Willens ermöglicht. Vorstellungen und Gegenvorstellungen,
entgegengesetzte Gefühls- und Willensregungen rufen einander
wach und halten sich derart die Wage, daß nur ausnahmsweise
die eine unbedingt die Alleinherrschaft gewinnt. Auf dem Ge-
biete der Gefühle begegnen uns in den Freudentränen und in den
gelegentlichen Lachkrämpfen bei Unglücksfällen noch deutliche
Zeichen eines solchen Widerspiels. Wir dürfen wohl annehmen,
1) Bleuler, Psych. Wochenschr. 1904, 249.
Verminderte Beeinflußbarkeit des Willens.
383
daß dadurch in ähnlicher Weise eine Regelung und Zügelung
unseres Denkens und Handelns erreicht wird wie die Sicherheit
und das Ebenmaß unserer Bewegungen durch die gleichzeitige An-
spannung entgegengesetzter Muskelgruppen. Bei dieser Betrach-
tungsweise würden wir es in dem gleichzeitigen Auftreten entgegen-
gesetzt gerichteter Seelenvorgänge mit einer Schutzeinrichtung
zu tun haben, deren Wegfall je nachdem willenlose Hingabe oder
starre Absperrung gegenüber äußeren Einwirkungen zur Folge
haben müßte.
Bei weitem am häufigsten sind die hier geschilderten Willens-
störungen bei der Katatonie. In geringerer Ausbildung treffen
wir sie hier und da bei der Paralyse, gelegentlich auch wohl beim
Altersblödsinn an, also durchweg bei solchen Formen des Irre-
seins, denen schon nach unsern heutigen Kenntnissen schwerere
Zerstörungen in der Hirnrinde zugrunde liegen.
Der katatonische Negativismus darf nicht verwechselt werden
mit dem Widerstreben ängstlicher Kranker. Auch bei diesen
letzteren entstehen Widerstände, sobald äußere Eingriffe er-
folgen. Indessen das ängstliche Widerstreben geht aus bestimm-
ten Gefühlen und Vorstellungen hervor. Es führt daher immer
zu mehr oder weniger zweckmäßigen Abwehr- und Schutzbewe-
gungen, zum Entfliehen, Zurückweichen, Verkriechen oder selbst
zu verzweifelten Angriffen. Bei ängstlichen Kranken sind wir
imstande, durch freundliches Zureden allmählich den Widerstand
zu überwinden; dieser letztere beginnt schon vor der körperlichen
Einwirkung und wird um so stärker, je verdächtiger unsere An-
näherung dem Kranken erscheint. Auf den negativistischen Kran-
ken übt Zureden nicht den geringsten Einfluß; sein Widerstand
beginnt erst dann, aber auch unfehlbar, sobald irgendeine Be-
wegung angeregt wird, ohne jede Beziehung zu einer möglichen
Gefährdung. Im Gegenteil lassen sich die Kranken einfache, auch
unsanfte Berührungen selbst sehr empfindlicher Teile, z. B. der
Augen, meist ohne Sträuben gefallen, weil eben nicht die Angst,
überhaupt keine bestimmte Überlegung, sondern eine ganz ur-
sprüngliche Willensstörung die Grundlage ihres Verhaltens bildet.
Daher pflegen auch die selbständigen Bewegungen ängstlicher
Kranker weit freier und zweckmäßiger zu sein, als diejenigen
beim Negativismus.
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Näher schon dürfte dem Negativismus der Eigensinn stehen,
dem wir ebenfalls in Krankheitszuständen , besonders bei der
Imbezillität, bei der Epilepsie und Hysterie, bei der Paralyse
und beim Altersblödsinn, nicht selten in stärkster Entwicklung
begegnen. Auch hier wird an einem Entschlüsse zähe festgehalten,
obgleich die veränderten Bedingungen ihn dem weiter blicken-
den Beobachter als sehr unzweckmäßig, vielleicht als verderb-
lich erscheinen lassen. Ja, wir sehen bisweilen, daß selbst trotz
besserer Einsicht die Fähigkeit fehlt, von der einmal festgelegten
Willensrichtung abzugehen. Immerhin pflegt das eigensinnige
Handeln ursprünglich von gewissen Überlegungen seinen Aus-
gangspunkt zu nehmen, wenn diese auch späterhin mehr in den
Hintergrund treten. Ferner ist der krankhafte Eigensinn meist
doch bis zu einem gewissen Grade dem Zureden, der Beeinflussung
durch Vorstellungen und Gefühlsregungen zugänglich, wenigstens
vorübergehend, und endlich ist er regelmäßig von einer ärgerlichen,
gereizten Stimmung getragen, die nicht nur zum Widerstande,
sondern auch zu kräftiger Abwehr gegen gewaltsame Eingriffe
führt. Sehr deutlich wird gerade dieser Unterschied vom Nega-
tivismus in jenen Fällen, in denen die Kranken sich mit größter
Hartnäckigkeit gegen jede, auch die vernünftigste und wohltätigste
Maßregel sträuben. Bei dieser allgemeinen Unlenksamkeit sind
die Kranken stets zum Schimpfen und zum Kampfe geneigt und
werden vielfach von feindseligen, wenn auch verworrenen Wahn-
vorstellungen beherrscht, im Gegensatze zu dem Gleichmute des
negativistischen Kranken, der nur widerstrebt, selten abwehrt und
noch weit seltener angreift.
Bei der Ausbildung einer selbständigen psychischen Persön-
lichkeit entwickeln sich, wie wir gesehen haben, gewisse dau-
ernde Willensrichtungen, die uns unabhängig machen von zu-
fälligen Einflüssen. Erstarren diese Willensrichtungen zu sehr,
so können sie eine vollkommene Bindung des Willens und
damit eine Unfreiheit der Entschließung bedingen, die unter
Umständen bis in das Gebiet des Krankhaften hineinreicht. Die
unbeugsame Hartnäckigkeit des Querulanten ist dafür ein Bei-
spiel. Sie läßt ihn in ähnlicher Weise seinem Willen Hab und
Gut, Ehre und Freiheit zum Opfer bringen, wie es bei den über-
zeugungstreuen Vorkämpfern großer Ideen der Fall ist, aber die
Störungen im Ablaufe der Willkürhandlungen.
38S
Kleinlichkeit des Zweckes steht für die verständige Überlegung
in keinem Verhältnisse zu dem Aufwände an Kraft. Eine mehr
äußerliche Einschränkung der geistigen Freiheit wird durch die
Pedanterie, die Erstarrung der Lebensgewohnheiten, herbei-
geführt. Die peinliche Selbstzucht zwingt hier auch dann zur
strengen Beobachtung enger Regeln, wenn höhere Ziele eine Ver-
nachlässigung derselben fordern würden. In krankhafter Gestaltung
gedeiht diese Eigenschaft besonders auf dem Boden epileptischer
Veranlagung.
Störungen im Ablaufe der Willkürhandiungen. Die erste Vor-
bedingung für das Zustandekommen einer Willkürhandlung ist
das Auftauchen einer Zielvorstellung, die in mehr oder minder
klarer Ausprägung das angestrebte Ergebnis der Handlung ent-
hält. Schon in diesem ersten Abschnitte des Gesamtvorganges,
demjenigen der gedanklichen Vorbereitung, können sich Stö-
rungen geltend machen. Ist der Inhalt der Zielvorstellung unklar
und verworren, so wird auch die an sie sich schließende Hand-
lung ziellos und unbestimmt sein, ein Gemisch zusammenhang-
loser und widerspruchsvoller Antriebe. Wir begegnen dieser Stö-
rung bei tiefer Bewußtseinstrübung, namentlich in den schwersten
Formen der manischen und paralytischen Erregung. Weiterhin
kann neben der ursprünglichen Zielvorstellung noch eine anüere
auftauchen, die entweder die erste verdrängt oder mit ihr ver-
schmilzt. Im ersteren Falle erfolgt eine andere, als die gewollte
Handlung, doch wird meist irgendeine Verwandtschaft zwischen
beiden erkennbar sein. Dahin gehört es, wenn wir nach der Uhr
sehen wollen und statt dessen den Zwicker aufsetzen. Oder aber
es kommt eine Handlung zustande, die sich als Mischung ver-
schiedener Einzelhandlungen darstellt, wie es z. B. das offene
Aufwerfen der Karten beim Geben sein würde. Beim Gesunden
kommen derartige Störungen nur ganz ausnahmsweise, unter
dem Einfluß starker Zerstreutheit und bei ganz gleichgültigen,
ohne Aufmerksamkeit ausgeführten Handlungen vor; nur im
Traume sind sie häufig. In krankhaften Zuständen, bei deliriöser
Bewußtseinstrübung, dürften sie vielfach stattfinden, doch ist es
aus naheliegenden Gründen schwer, sie zu erkennen, weil uns
.die Absichten der Kranken verborgen bleiben. Namentlich die
erworrenheit nach epileptischen Anfällen und die Fieberdelirien
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^5
386
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
scheinen mir ein solches Abgleiten der Willensrichtung, das wir
vielleicht mit dem Namen der Parabulie bezeichnen können, zu
begünstigen.
Dem Auftauchen der Zielvorstellung folgt eine Kette sich
aneinander schließender Vorstellungen, in denen sich die einzelnen
Teilhandlungen ausdrücken, deren ordnungsmäßiger Ablauf das
erstrebte Ziel zu verwirklichen vermag. Jede dieser Teilhandlungs-
vorstellungen enthält zugleich einen Willensantrieb, der die ihr
entsprechenden Bewegungsgruppen zur Auslösung bringt. Liep-
mann hat zur Kennzeichnung dieser Vorstellungsreihe die Be-
zeichnung Bewegungsformel" eingeführt. Ich möchte vorziehen,
hier von einer ,, Handlungsformel" zu sprechen, da wir es, wie die
Betrachtung der Störungen unzweideutig ergibt, zunächst noch
nicht mit dem Ablaufe einfacher Bewegungen, sondern mit Einzel-
handlungen zu tun haben, die jeweils wieder aus einer Reihe
mehr selbsttätig miteinander verknüpfter Bewegungen zusammen-
gesetzt sind. Wir können somit den ganzen Vorgang einer Will-
kürhandlung in die drei großen Abschnitte des Wollens, des inneren
Handelns und der Bewegung zerlegen, deren jeder gesonderten
Störungen unterliegen kann. Das Wollen geht dem Handeln, das
innere Handeln der Bewegung voraus, doch findet insofern eine
teilweise zeitliche Überdeckung statt, als die Bewegungen schon
beginnen können, sobald das erste Glied der Handlungsformel
aufgetaucht ist, und daß auch die Zielvorstellung erst während
des Ablaufes der inneren Handlung ihre schärfere Ausprägung
und Erweiterung erfahren kann.
Die Störungen des inneren Handelns in dem hier umgrenzten
Sinne sind von Li ep mann unter der Bezeichnung der ,,ideato-
rischen Apraxie" zusammengefaßt worden. Zunächst kann hier
der Inhalt der Teilhandlungen derart verändert werden, daß er
nicht mehr die Verwirklichung der Zielvorstellung in sich schließt.
Einzelne Zwischenglieder können ausfallen, neue, nicht zugehörige
sich einschieben, und endlich kann bei jeder Teilhandlung ein Ab-
gleiten auf ähnliche Handlungen oder die Einmischung fremder
Bestandteile stattfinden. Auf diese Weise kommen die verstüm-
melten Handlungen zustande, wie das Nähen ohne Faden, Trinken
aus einem leeren Glase, die überflüssigen Nebenhandlungen, wie^
das Drehen und Wenden des Blattes vor dem Schreiben, und alle
Störungen im Ablaufe der Willkürhaiidlungen.
die kleinen Verkehrtheiten und Versehen, die den Gang einer Hand-
lung stören können, wie das Eintauchen des Bleistifts in die Tinte
oder das Salzen einer süßen Speise. Diese inhaltlichen Störungen
im Ablaufe der Handlungen sind schon beim Gesunden recht häufig.
Auf krankhaftem Gebiete begegnen uns die verstümmelten Hand-
lungen namentlich bei Paralytikern, während wir die Nebenhand-
lungen und die Handlungsverschiebungen in ausgeprägtester Form
bei der Katatonie beobachten. Noch andere Störungen des Han-
delns können dadurch zustande kommen, daß zwar die einzelnen
Teilhandlungen ausgeführt werden , aber in unrichtiger Reihen-
folge und demgemäß auch häufig mit unrichtigen Hilfsmitteln.
An diese, bei Hirnkranken, namentlich Arteriosklerotikern, auch
Paralytikern, sehr häufigen Störungen hat sich vor allem die Er-
forschung der ideatorischen Apraxie angeknüpft. Die Kranken
lecken am Siegellack, drücken dann die Stange auf das Papier,
halten das Petschaft ans Licht, reiben damit herum, suchen es
in die Streichholzschachtel zu klemmen. Vielfach zeigt sich die
Unfähigkeit zu richtiger Ordnung der Einzelhandlungen schon
darin, daß die Kranken alle Gegenstände, mit denen sie zu tun
haben, zusammen in der Hand behalten; da ihnen die Übersicht
über die Gliederung ihres Handelns fehlt, vermögen sie nicht das
Erledigte auszuscheiden.
Den letzten Abschnitt der Handlung bildet die dem Ablaufe
der Handlungsformel folgende Auslösung der Bewegungen. Auch
dieser Vorgang ist noch außerordentlich verwickelt, da für jede,
auch die einfachste Bewegung das Zusammenwirken einer Reihe
von Muskeln in verschiedenartiger Verbindung erforderlich ist:
Allein diese Einzelheiten unterliegen nicht mehr dem Willensein-
flusse. Wir sind bekanntlich nicht imstande, einen einzelnen
Muskel willkürlich zusammenzuziehen; vielmehr besitzen wir
Werkzeuge, in denen die vom Willen angeregte Ausführung einer
Gesamtbewegung und selbst einer umgrenzten Folge von Bewe-
gungen selbsttätig vermittelt wird. An dieser Stelle können noch
jene Störungen einsetzen, die wir mit Liepmann als motorische
Apraxie und Parapraxie bezeichnen. Es können einzelne Bewe-
gungen ausfallen, andere sich eindrängen, wie z. B. beim Haften,
oder sie können fehlerhaft ablaufen. Die Ursachen dieser Störungen
sind nicht mehr auf dem Gebiete der seelischen Vorgänge, sondern
25*
388
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
in örtlich enger umgrenzten Hirnveränderungen zu suchen.
Wir treffen sie daher auch nur bei den mit gröberen Rinden-
erkrankungen einhergehenden Formen des Irreseins, vor allem bei
der Arteriosklerose, bei den syphilitischen Hirnleiden und bei der
Paralyse.
Verschrobenheit und Stereotypie. Da unsere Bewegungen von
dem Grundsatze der Sparsamkeit beherrscht zu werden pflegen,
suchen wir das Ziel unseres Handelns regelmäßig mit dem Mindest-
aufwand von Kraft, Weg und Zeit zu erreichen. Das ist im all-
gemeinen nur dann möglich, wenn das Ziel nicht nur klar vor-
schwebt, sondern auch unverrückt im Auge behalten wird. Wird
die Ausführung der Handlung durch Nebenantriebe derart beein-
flußt, daß ihr Endzweck entweder gar nicht oder auf Umwegen,
mit übermäßiger Anstrengung, auffallend langsam erreicht wird,
so entsteht jene eigentümliche Störung des Handelns, die wir vor-
läufig mit dem Namen der Verschrobenheit bezeichnen wollen.
Offenbar findet hier eine Einmischung fremdartiger Nebenantriebe
in den gewohnten Ablauf des Handelns statt, die zur Gruppe der.
parabulischen Störungen zu rechnen ist. Auch bei der Willens-
sperrung waren wir zu einer ähnlichen Annahme gekommen.
Wenn man will, kann man jene als denjenigen besonderen Fall
betrachten, in dem die Nebenantriebe dem ursprünglich angeregten
Antriebe gerade entgegengesetzt sind, während wir uns hier mit
solchen Nebenantrieben zu beschäftigen haben, die den ersteren
in den verschiedensten Richtungen durchkreuzen. Die Willens-
sperrung wäre dann nur eine Unterform einer allgemeineren Stö-
rung, die wir als Willensdurchkreuzung bezeichnen könnten. Beide
Krankheitserscheinungen gehören wesentlich dem Gebiete der Ka-
tatonie an.
Die Nebenantriebe können die Handlung in der mannigfaltig-
sten Weise beeinflussen. Als der einfachste Fall ist vielleicht die
vielfache Wiederholung der auftauchenden Willensregungen zu
betrachten. Im gesunden Leben wird jeder Antrieb, sobald sein
Ziel erreicht ist, durch andere Willensregungen verdrängt, die der
Fortsetzung des zweckbewußten Handelns dienen. Wo aber die
planmäßige Verfolgung bestimmter Ziele gestört ist und dennoch
der allgemeine Drang zu Willensäußerungen besteht, hat ein ein-
mal ausgelöster Antrieb große Aussicht, immer wieder erneuert
Verschrobenheit und Stereotypie.
389
zu werden, solange die noch lebendigen Spuren nicht durch neue
Regungen verwischt werden. Er wird gewissermaßen zum Neben-
antrieb, der die nicht durch feste Ziele geleitete Fortführung der
Willensarbeit unterbricht und mit jeder Wiederholung unwider-
stehlicher wird. Andeutungen dieses Vorganges geben uns aus
dem täglichen Leben vielleicht die gewohnheitsmäßigen Gebärden,
Flickwörter, Wendungen, die sich immer dann einstellen, wenn
das Handeln stockt, das Tothetzen derselben, mehr oder weniger
albernen Witze und Handlungen durch Betrunkene und Kinder.
Eine bedeutsame Rolle spielen dabei die erstarrten Überreste frühe-
rer Willkürhandlungen und Ausdrucksbewegungen, wie sie viel-
fach den Ausgangspunkt der ,,Tics" bilden.
Die ausgeprägten Formen haftender Willenserregungen be-
zeichnen wir nach Kahlbaums Vorgange mit dem Namen der
Stereotypie^). Je nachdem ihr die Willenssperrung oder die
Willensdurchkreuzung das Gepräge gibt, kommt es entweder zu
lange dauernder Anspannung bestimmter Muskelgruppen oder zu
vielfacher Wiederholung derselben Bewegungen. Im ersteren Falle
halten die Kranken trotz aller äußeren Einwirkungen eine und
dieselbe Stellung wochen-, monate-, jahrelang fast unverändert
fest; sie stehen in der gleichen, oft sehr unbequemen Haltung
stets in derselben Ecke, knien auf einer bestimmten Stelle oder
liegen mit gespannten Gliedern und erhobenem Kopfe im Bette,
so daß man sie ohne Schwierigkeit an dem starr gekrümmten
Arme in die Höhe heben kann. Andere halten dauernd einen Bett-
zipfel mit den Zähnen fest, pressen mit gespreizten Fingern ein
Ohrläppchen zusammen, umklammern krampfhaft einen Brotrest
oder einen abgerissenen Knopf. Der Gesichtsausdruck ist eben-
falls starr, maskenartig, die Stirne verwundert in die Höhe ge-
zogen, der Lidschlag fast aufgehoben; die Augen sind bald weit
geöffnet, bald fest zugekniffen, die Augäpfel oft seitwärts gedreht,
die Lippen rüsselförmig vorgeschoben (,, Schnauzkrampf").
Weit mannigfaltiger gestalten sich naturgemäß die Bewegungs-
stereotypen (Zwangsbewegungen). Dahin gehören Purzelbäume,
rhythmisches Klopfen, Bekreuzigen, Herumgehen in absonderlichen
Stellungen, Hüpfen, Aufspringen, Niederfallen, Herumrollen und
^) Fratini, Rivista di freniatria sperimentale, XXXIII, 104.
390
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Kriechen am Boden, regelmäßige, gezierte und gespreizte Arm-
bewegungen, Verneigungen, Wippen, Wiegen, Schöpfen, Strudeln,
Zupfen an den Kleidern oder Haaren, Knirschen und Klappen
mit den Zähnen. Alle diese Bewegungen können sich zahllose
Male hintereinander wiederholen, bisweilen wochen- und monate-
lang. Dabei ist es meist ganz unmöglich, die Kranken in ihrem
Beginnen zu hindern; sie strengen sich rücksichtslos an und
verletzen sich sogar nicht selten. Gerade die Umbildungen all-
täglicher, gewohnheitsmäßiger Bewegungen und Handlungen durch
Nebenantriebe zeigen wie im gesunden so im krankhaften Leben
eine große Neigung, stereotyp zu werden. Namentlich pflegt auch
die Sprache sie zu zeigen. Die Kranken lispeln, grunzen, sprechen
in geziertem Hochdeutsch oder übertriebener Mundart, in Fistel-
stimme, in bestimmtem Tonfalle, mit rhythmischer Gliederung,
mit geschlossenem Munde, verdrehen und vertauschen einzelne
Laute, gebrauchen massenhafte Verkleinerungswörter, eigentüm-
liche Beiwörter, wiederholen mündlich und schriftlich ungezählte
Male dieselben Wörter und Wendungen, pfeifen oder zwitschern
einzelne Sätze, weinen in Melodien. Wir bezeichnen diese Schrullen
als Manieren, Sprechmanieren, Eßmanieren, Gehmanieren, Be-
grüßungsmanieren usf. So unübersehbar ihre Mannigfaltigkeit ist,
kehren sie doch bei den verschiedensten Kranken oft mit ver-
blüffender Übereinstimmung wieder; andererseits ist auch ihre
Entstehung aus einer gemeinsamen Grundstörung unverkennbar.
Sie bilden bei der großen Masse der abgelaufenen Fälle die letzten
auffallenden Reste der ehemaligen Krankheitserscheinungen und
gestatten oft ohne weiteres den Rückschluß auf die Zustände der
Vergangenheit.
In den Endzuständen der Katatonie begegnet uns hier und da
eine Form der Stereotypie, die mit der bisher betrachteten schwer-
lich ganz wesensgleich ist. Es sind das die regelmäßig rhyth-
mischen Bewegungen, namentlich Wiegen und Pendeln des
Körpers im Sitzen oder Stehen, Nicken oder Anschlagen des Kopfes,
Händeklatschen, Ausstoßen von Lauten, Pfauchen, Blasen. Diese
Erscheinungen sind immer die Anzeichen einer völligen Verödung
der Willensregungen. Sie werden in gleicher Weise bei tiefstehen-
den Idioten beobachtet. Wir dürfen hier wohl an die ähnlichen
rhythmischen Bewegungen gewisser Raubtiere erinnern. Man kann
Verschrobenheit und Stereotypie.
danach etwa vermuten, daß sie der Ausdruck niederer Ein-
richtungen unseres Nervensystems sind, die durch die Vernich-
tung der höheren Leistungen selbständigen Einfluß auf die Be-
wegungen erlangen.
Bei der Stereotypie schreitet die Entwicklung der Willens-
handlungen nicht vorwärts. Auch wenn die Kranken in lebhafter
Tätigkeit sind, drehen sie sich gewissermaßen immerfort im Kreise,
ohne ein Ziel zu erreichen. Demgegenüber entstehen bei einer
weiteren Form der Willensdurchkreuzung Nebenantriebe, die nur
Verzierungen oder Verschnörkelungen der beabsichtigten Hand-
lung bedeuten; diese letztere kommt schließlich zustande, aber auf
Umwegen und mit allerlei Zutaten und Abwandlungen. Die Kran-
ken gehen trippelnd oder feierlich, ruckweise, hüpfend, auf den
Zehen oder ganz hintenübergebeugt, schleifen mit einem Fuße;
sie reichen die Hand m weit ausholendem Bogen, mit plötzlichem
Schwünge oder steifem Ruck, berühren die dargebotene Hand nur
mit dem kleinen Finger, mit der Rückenfläche, spreizen dabei
die Finger oder verdrehen die Arme. Beim Essen erfassen sie den
Löffel am äußersten Ende, zerlegen das Gemüse in kleine Häuf-
chen, reiben den Teller am Augenrande hin und her, stochern mit
der Gabel zwecklos herum, zählen zwischen je zwei Bissen bis
sieben oder sagen einen Vers auf; die Milch wird in winzigen
Schlückchen und mit langen Pausen getrunken. Die Bettstücke
werden in eigentümlicher Weise angeordnet, die Decke als Unter-
lage, das Kopfkissen oder die Matratze zum Zudecken benutzt;
die Kleider werden verkehrt angezogen, absonderlich verknotet, das
Hemd über der Weste getragen, die Röcke über den Kopf geschlagen.
Vielleicht ist auch das Gesichterschneiden, „Grimassieren" der
Kranken hierher zu rechnen.
Von diesen Verschnörkelungen des Handelns führen fließende
Übergänge zu jenen Störungen hinüber, die man nach Schüles
treffender Bezeichnung als „Entgleisungen des Willens" auf-
fassen kann. Die beabsichtigte Handlung kommt hierbei über-
haupt nicht zustande, weil die Antriebe vor der Vollendung eine
ganz andere Richtung einschlagen. Der Kranke, der den Löffel
ergriff, um zu essen, dreht ihn einige Male im Kreise, um ihn
dann wieder hinzulegen; die zum Trinken an den Mund geführte
Tasse wird plötzlich umgestülpt und auf den Tisch gestellt; die
392
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zum Gruße gebotene Hand weicht auf halbem Wege aus und fährt
in die Tasche; der jammernde Kranke, dem die Tränen über die
Wangen laufen, verzieht dabei das Gesicht zu fröhlichem Grinsen
(,,Paramimie").
Auch bei den Reden läßt sich öfters erkennen, daß die Kranken
im Anlaufe stecken bleiben, immer von neuem vergeblich ansetzen
und das Ziel schließlich ganz aus den Augen verlieren. Sie be-
ginnen irgendeinen Satz, unterbrechen sich plötzlich, fahren in
wechselnder Satzform und mit ganz anderen Gedanken fort, kom-
men halb auf den Ausgang zurück, um wieder neue Wege einzu-
schlagen usf. Auf diese Weise entsteht eben jene Störung, die wir
früher als Zerfahrenheit kennen gelernt haben. Vielfach ist dabei
die Anknüpfung an eine bestimmte Vorstellung oder Frage noch
ungefähr erkennbar. Die Kranken bringen immer wieder Wen-
dungen, die dazu in einer gewissen Beziehung stehen, ohne aller-
dings zu einem klaren Gedankenausdruck zu kommen. Dieses
,, Drumherumreden" möge durch das folgende Beispiel erläutert
werden. Ein Kranker antwortete auf die Frage, was mit ihm sei:
,,Ich habe lange Zeit nicht bemerkt, was es ist und was es war; da
habe ich gesehen, daß es die Humbertgeschichte ist, wissen Sie, Herr Dr.,
und das hat bisher angehalten. Wissen Sie, ich weiß auch nicht, wie
das ist; es ist eigenartig; es ist eine große Portion Mutwillen dabei; es
wird etwas zu stark vorgeschoben in der Erleuchtung, und da hat man
immer darunter zu leiden. Und dann diese Aufmerksamkeit in dieser
Affäre, die wird einem geschenkt und fällt einem zu: das schleicht sich
dann so ein."
Die das Wollen durchkreuzenden Antriebe können ganz fremd-
artigen Inhalts sein und außer jedem Zusammenhange mit irgend-
welchen Zweckvorstellungen stehen. Der Kranke hebt plötzlich
seinen Nachbarn von hinten in die Höhe, setzt sich wie ein Vogel
auf den Rand der Badewanne, greift mit dem Finger in den After,
stellt sich auf den Kopf, entleert seinen Kot auf den Tisch. Nicht
selten werden diese unter Umständen sehr gefährlichen Einfälle
mit triebartiger Gewalt ausgeführt. Durch dieses Gemisch der
mannigfaltigsten Antriebe entsteht die eigentümliche Unbegreif-
lichkeit des katatonischen Handelns, der oft vollkommene Mangel
eines inneren Zusammenhanges der einzelnen Willensäußerungen
untereinander und mit der ganzen Sachlage, die Unsinnigkeit und
Zwangshandlungen und Zwangshemmungen.
393
Zwecklosigkeit des gesamten Treibens und Redens bei nahezu
völliger geistiger Klarheit.
Bei diesen Entgleisungen hat man vielfach den Eindruck, als
ob die Absicht der Kranken durch den Anlauf zur Ausführung
ihres Entschlusses selbst zur Entgleisung gebracht würde. Wir
sehen die Kranken mit größter Anstrengung ihren Willen einsetzen,
wo sie auf einem kleinen Umwege mühelos zum Ziele gelangen
könnten. Der Katatoniker, der sinnlos gegen die geschlossene
Türe drängt, verläßt das Zimmer nicht durch den weitgeöffneten
Nebenraum, ja, er benutzt meist nicht einmal den Schlüssel, den
man ihm in die Hand gibt, sondern wartet, bis die Türe von irgend
jemandem geöffnet wird. Aus derartigen Erfahrungen möchte man
den Schluß ziehen, daß hier nicht der von uns vermutete Zweck,
sondern nur das Mittel selbst gewollt wird. Das kann aber wohl
schwerlich von vornherein der Fall sein. Weit näher liegt jeden-
falls die Annahme, daß das erste Glied der Handlungsformel die
Richtung des Wollens sofort festgelegt und die ursprüngliche Ziel-
vorstellung verdrängt hat. Der Kranke verrennt sich, wie es scheint,
in seine erste Absicht, so daß keine späteren Überlegungen ihn
mehr von dem einmal eingeschlagenen Wege abzubringen ver-
mögen.
Die hier vertretene Auffassung der katatonischen Verschro-
benheit bringt sie in eine gewisse Beziehung zu den Erscheinungen
der Parapraxie, insofern es sich auch bei diesen Störungen um eine
Art Entgleisung der Antriebe handelt, die unsinnige und unver-
ständliche, zweckwidrige Äußerungen zur Folge hat. Allein dort
ist es nur die Ausführung der Handlung, die mißlingt; die Kranken
wollen das Zweckmäßige, finden aber nicht den richtigen Weg
zur Verwirklichung. Bei der Verschrobenheit dagegen liegt die
Störung nicht auf dem Gebiete des Handelns, sondern auf dem-
jenigen des Willens selbst. Das Werkzeug gehorcht den Antrieben
ohne Tadel, aber die Antriebe selbst werden verdrängt und durch-
kreuzt, bevor das Ziel erreicht ist; die Kranken sind nicht para-
praktisch, sondern parabulisch.
Zwangshandlungen und Zwangshemmungen. Als Zwangshand-
lungen bezeichnen wir solche Handlungen, die nicht aus dem
gesunden Denken und Fühlen hervorwachsen, sondern von dem
Kranken gegen seinen Willen und trotz lebhaften inneren Wider-
394
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Strebens ausgeführt werden. Einen gewissen Anhalt für das
Verständnis dieser Störungen gibt uns allenfalls die bekannte Er-
fahrung aus dem gesunden Leben, daß uns bei gewissen Gelegen-
heiten, am Rande eines Abgrundes, auf einer Brücke, der Gedanke
auftaucht, uns selbst oder unsere Begleiter hinabzustürzen, bei
feierlichen Anlässen irgendeine lächerliche oder unpassende Hand-
lung zu begehen, im Theater plötzlich ,, Feuer" zu rufen und ähn-
liches. In Wirklichkeit kommt es niemals zur Ausführung. Viel-
mehr bleibt es bei der mehr oder weniger klaren Ausmalung dessen,
was geschehen würde, wenn wir eine derartige Handlung be-
gingen.
Bei krankhafter Veranlagung kann sich zu der Vorstellung
die quälende Befürchtung gesellen, daß die Handlung möglicher-
weise zustande komme. Solche Befürchtungen, wie wir sie früher
geschildert haben, veranlassen dann allerhand Schutzhand-
lungen, deren Durchführung sich die Kranken auf keine Weise
zu entziehen vermögen. Die Mannigfaltigkeit solcher Maßnahmen
ist womöglich noch größer als diejenige der Befürchtungen. Vor
allem kommt es zu endlosen Wiederholungen der durch ängst-
liche Behinderungen beeinträchtigten Handlungen. Rechnungen
werden immer von neuem geprüft, Briefe wieder durchgelesen,
aus ihren Umschlägen genommen, um jede zweideutige Wendung,
jede Verwechselung auszuschließen, Geldsummen vor der Ab-
lieferung viele Male nachgezählt. Auf diese Weise entwickelt sich
Janets ,, Manie de l'au delä", die Übertreibungssucht, die sich in
Sicherungen und Nachprüfungen niemals genug tun kann. Die
Kranken weichen ferner jeder noch so entfernten Möglichkeit aus,
eine von ihnen gefürchtete Handlung zu begehen, entfliehen dem
daliegenden Messer, um nicht damit sich selbst oder ihre Kinder
umzubringen, lassen sich festbinden, sammeln schriftliche Zeug-
nisse, daß sie nichts begangen haben, und lernen sie auswendig.
Eine Kranke erzählte mir, daß sie ihr schwerkrankes Kind bis zur
Rückkehr ihres Mannes am Schlafen habe verhindern müssen, um
jemanden bei sich zu haben, der ihr versichern könne, daß sie in-
zwischen kein Unrecht begangen habe. Aus der Berührungsfurcht
geht das zwangsmäßige Waschen und Reinigen hervor, das einen
ganz ungeheuren Umfang annehmen kann, aus der Kleiderangst
das Auftragen der alten Kleider bis zum äußersten, aus der Papier-
Zwangshandlungen und Zwangshemmungen.
395
angst das Ansammeln von allen möglichen Zetteln und Fetzen,
die peinliche Beachtung jedes Papierstückchens auf der Straße.
Sehr häufig entwickeln die Kranken ein umfassendes, wohlaus-
geklügeltes System von Schutzmaßregeln, die ihnen Beruhigung
gewähren sollen. Sie schieben in ihr Handeln Schutzbewegungen
und Schutzsprüche ein, deren vielfache Wiederholung ihnen dann
erst das Fortschreiten von einem Abschnitte zum anderen ge-
stattet. Einer meiner Kranken, dem beim Anziehen seiner Strümpfe,
Stiefel und Beinkleider immer der Gedanke kam, daß ihm der
Fuß abgefahren werde und er dann einen Stelzfuß tragen müsse,
war gezwungen, durch laute Ausrufe: ,, Nicht Stelzfuß!" so lange
immer wieder die Angst zu bekämpfen, bis es ihm gelungen war,
hineinzuschlüpfen. Eine andere Kranke , die immer fürchtete,
irgend etwas versprochen zu haben, mußte sich beständig in ihren
Gedanken oder flüsternd dagegen verwahren. Klopfen, Abwehr-
bewegungen mit den Armen oder mit dem Kopfe, mehrfaches
Wiederholen, symmetrische oder geradzahlige Berührungen, na-
mentlich aber laute oder leise Gegenbeschwörungsformeln sind die
gewöhnlichsten Hilfsmittel, die von den Kranken zur Bekämpfung
ihrer Angst herangezogen werden. Bisweilen erstarren diese Ge-
wohnheiten derart, daß sie von den Kranken ohne jede Überlegung,
ganz maschinenmäßig, fortgesetzt werden, auch wenn die Angst
nahezu geschwunden ist.
Es ist leicht ersichtlich, daß wir es bei allen diesen Handlungen,
welche die Kranken gegen ihre Überzeugung und gegen ihren
Willen ausführen müssen, nicht mit einem einfachen Zwange
zu tun haben. Der Antrieb zum Handeln entsteht nicht unmittel-
bar als solcher, sondern er entwickelt sich erst als Folge der krank-
haften Befürchtung. Es sind gewissermaßen Notwehrhandlungen,
deren Lächerlichkeit und Unsinnigkeit den Kranken meist deutlich
zum Bewußtsein kommt; dennoch werden sie immer wiederholt,
weil sie erfahrungsgemäß wenigstens für den Augenblick Beruhi-
gung bringen.
Wie es scheint, kommen aber hier und da auch Zwangshand-
lungen im engeren Sinne zur Beobachtung, bei denen der Antrieb
ohne Zusammenhang mit Befürchtungen selbständig zwingend
auftaucht. Meist ist der Inhalt derselben ein verhältnismäßig
harmloser, der Drang, Schimpfworte, Unflätigkeiten, Gottesläste-
396
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
rungen auszurufen, einen Stein von der Mauer zu stoßen. Das
Unterdrücken des Antriebes führt dann zu lebhafter Beunruhigung,
die erst bei der Ausführung der Handlung schwindet, um durch
die Beschämung über das Unterliegen abgelöst zu werden. Bei
wirklich bedenklichen Handlungen scheint eine zwangsmäßige
Überwältigung des widerstrebenden Willens nicht oder doch äußerst
selten vorzukommen; in der Regel handelt es sich dabei gar
nicht um Antriebe, sondern um Befürchtungen. Alle diese Stö-
rungen gehören den Krankheitsbildern der psychopathischen Ver-
anlagung an.
Eine eigenartige Gruppe von Zwangshandlungen oder richtiger
Zwangsbewegungen bilden die Tics^). Es handelt sich dabei um
einförmige, sich ohne äußeren Anlaß immer wieder vollziehende
zwecklose Bewegungen, Zuckungen, Armheben, Nicken oder Schüt-
teln des Kopfes, Gesichterschneiden, Hervorbringen unartikulierter
Laute u. dgl.; auch Atemkrämpfe, gewohnheitsmäßiges Erbrechen,
häufiger Harndrang, Nässen am Tage können als Tics auftreten.
Wie es scheint, gehen die Tics ursprünglich aus sinnvollen Willkür-
bewegungen, bisweilen auch aus den oben geschilderten Schutz-
handlungen hervor, die jedoch dann zu einfachen Gewohnheiten
erstarren und schließlich zu unwillkürlichen und auch nahezu un-
bewußten Zwangsbewegungen werden; sie erhalten dabei das Ge-
präge des Übertriebenen und Krampfartigen. Die Ausbildung der
Tics ist eine ungemein mannigfaltige; sie können sich auch bei
demselben Kranken häufen und unter Umständen durch das fort-
währende Einschieben der verschiedenartigsten Krampfbewegungen
jede geordnete Tätigkeit unmöglich machen (,,Maladie des tics"
von Gilles de la Tourette). Am häufigsten entwickeln sich Tics
im Kindesalter, auch durch Nachahmung. Alle schwereren und
fortschreitenden Formen erwachsen ausschließlich auf dem Boden
psychopathischer Veranlagung.
Gar nicht selten hört man katatonische Kranke davon reden,
daß sie sich zu ihren absonderlichen Handlungen gezwungen
gefühlt hätten. Sie haben dies und jenes nicht tun wollen, aber
sie_ konnten nicht anders; sie wurden dazu getrieben; es wurde
so gemacht, daß sie es tun mußten. Indessen hier unterliegen die
1) Meige und Feindel, Der Tic, sein Wesen und seine Behandlung, deutsch
von Giese. 1903; Meige, Journal f. Psychologie und Neurologie, II, 53.
Zwangshandlungen und Zwangshemmungen.
397
Kranken den Antrieben in der Regel ohne Kampf, ohne inneres
Widerstreben, Dadurch fällt eine wesentliche Eigentümlichkeit
der Zwangshandlungen, der innere Zwiespalt und das Gefühl der
Überwältigung, vollständig fort. Auch wenn die Kranken meinen,
die Handlung sei ihnen eingegeben, nicht aus ihrem eigenen Willen
hervorgegangen, so empfinden sie ihr Tun doch nicht als eine
Niederlage.
Eine allgemeine Folge der Zwangsvorstellungen und Zwangs-
befürchtungen ist der Verlust der geistigen Freiheit und die
Einschränkung der Willenshandlungen. Nicht nur machen die
bisweilen über viele Stunden des Tages sich ausdehnenden
Schutzhandlungen jede geregelte Arbeitsleistung fast unmöglich,
sondern die Kranken werden auch unmittelbar durch zwangsmäßige
Hemmungen in ihrem Tun und Treiben auf das nachdrücklichste
behindert. Namentlich die Zweifelsucht pflegt in dieser Richtung
verhängnisvoll zu sein. Sie führt in ihren höheren Graden schließ-
lich unfehlbar zum Verzichte auf jede irgendwie verantwortliche
Tätigkeit. Die Kranken öffnen und schreiben keine Briefe mehr,
unterschreiben nichts, vermögen nichts zu bezahlen, weil sie sich
dabei zu versehen fürchten; sie treffen keine Anordnungen, machen
keine Aussagen, wenn ihnen nicht die Richtigkeit ausdrücklich
von ihrer Umgebung bestätigt wird. Die ergiebigste Quelle solcher
Zwangshemmungen ist natürlich die Berufsarbeit, deren Aufgaben
durch sie derart erschwert werden können, daß sich eine wahre
Berufsangst, ,, Phobie du metier", entwickelt. Andere Kranke
haben die größten Schwierigkeiten beim Berühren von Klinken,
beim Handgeben, beim An- und Auskleiden, beim Aufsuchen des
Aborts; eine meiner Kranken konnte sich nicht setzen, weil sie
meinte, sich beim Stuhlgang zu verunreinigen und dann weiter
alles zu beschmutzen, was sie berühre. Noch andere sind an das
Zimmer und schließlich ans Bett gefesselt, weil sie auf der Straße
von Angst gepackt werden oder ihre Kleider nicht zu wechseln
imstande sind ; einer meiner Kranken wagte sich nur in die nächste
Umgebung seines Hauses und auch das nur, wenn er die geöffnete
Türe hinter sich wußte. Besondere Erschwerungen pflegt der Ver-
kehr mit Menschen zu erfahren. Die Furcht, zu erröten, sich
ungeschickt zu benehmen, die Namen der Begegnenden nicht zu
wissen, sich beobachtet zu fühlen, von unanständigen Gedanken
398
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
befallen zu werden, macht die Kranken unfähig, gesellschaftliche
Beziehungen aufrecht zu erhalten; sie werden menschenscheu
und ziehen sich mehr und mehr auf sich selbst zurück.
Die allgemeinsten Formen, in denen die Zwangshemmungen
auftreten können, sind die Unfähigkeit, anzufangen und aufzu-
hören. Schon dem Gesunden fällt aller Anfang schwer", eine Er-
fahrung, die sich in der erhöhten Willensspannung zu Beginn jeder
Arbeit, im ,, Antriebe", kundgibt. Infolgedessen kostet uns das
Herangehen an eine neue Aufgabe jedesmal einen besonderen Ent-
schluß, ein Aufraffen, um die Trägheit unseres Seelenwerkzeuges
zu überwinden. Bei willensschwachen Menschen kann diese Nöti-
gung zu stärkerer Anspannung des Willens das Gefühl der Unfähig-
keit und damit die Angst vor der Arbeit hervorrufen, ein ungemein
häufiger Vorgang, der Psychopathen von der Inangriffnahme
irgend weiter aussehender Aufgaben abzuhalten pflegt. Wir be-
gegnen dabei in der Regel der Begründung, daß sie überarbeitet,
schonungsbedürftig seien, oder auch, daß die Arbeit sich nicht lohne,
doch keinen Erfolg verspreche, daß sie späterhin in Angriff ge-
nommen werden solle. Nicht selten knüpft sich die Angst an jede
bevorstehende Änderung der Lebensverhältnisse, und es entwickelt
sich aus ihr ein zwangsmäßiger Widerstand gegen Neuerungen
überhaupt, auch wenn rein verstandesmäßig deren Berechtigung
und Notwendigkeit zugestanden wird.
Ganz ähnliche Hemmungen können sich geltend machen,
sobald sich der Tätigkeit Schwierigkeiten in den Weg stellen. Wir
wissen aus dem Versuche, daß jede Erschwerung der Arbeit mit
einer Steigerung der Willensspannung beantwortet wird. Die Angst
kann diese Reaktion verhindern und das Verzichten auf die Fort-
setzung der Arbeit an Stelle der erhöhten Anstrengung setzen.
Dieses Zurückweichen des Willens vor jeder erhöhten Anforderung,
die Entmutigung bei jedem Hindernisse führt zu immer neuen,
rasch erlahmenden Anläufen, zu einer fortlaufenden Kette von Miß-
erfolgen. Es bildet die gewöhnliche Ursache der Arbeitsunfähigkeit
bei Psychopathen, die fälschlicherweise auf Erschöpfung und Ab-
spannung zurückgeführt und mit Ausruhen behandelt zu werden
pflegt.
Auch gegen das Ende einer Arbeit pflegt eine Erhöhung der
Willensspannung einzutreten. In diesem „Schlußantriebe" dürften
Triebliandlungen.
399
wir das gesunde Urbild jener Erscheinung vor uns haben, die wir
als „Kleben", die Unfähigkeit, aufzuhören, bezeichnen. Die Aus-
sicht, daß die Arbeit dem Abschlüsse nahe ist, spornt unseren Eifer
zu einer letzten stärkeren Anstrengung an. Der lebhaft auftau-
chende Wunsch, noch möglichst viel zu leisten, kann bei mangeln-
dem Selbstvertrauen ebenfalls die Form der Angst annehmen,
nicht genug getan zu haben. Daraus entwickelt sich dann die Un-
fähigkeit, etwas zum Abschlüsse zu bringen, die ängstliche Be-
fhssenheit, immer noch irgendetwas zu verbessern, nachzuprüfen,
hinzuzufügen. Da trotz alledem die Befriedigung der endgültigen
Erledigvmg nicht erreicht wird, vielmehr jeder Versuch zum Ab-
brechen neue Bedenklichkeiten hervorruft, erreicht die Arbeit
niemals ein Ende, sondern sie bleibt ein Bruchstück, trotz aller auf
sie verwendeten Mühe.
Triebhandlungen. Die Macht eines Willensantriebes hängt im
allgemeinen von der Lebhaftigkeit der Gefühle ab, die seine Trieb-
federn bilden. Am kräftigsten wirken sinnliche Gefühle, die uns
oft gebieterisch zu bestimmten Handlungen drängen, Schmerz,
Hunger, Durst, geschlechtliche Gefühle. Je heftiger aber die ge-
mütliche Erschütterung, je stärker der Drang zum Handeln, desto
geringer ist der Einfluß der Überlegung, desto schwieriger die Hem-
mung der sich vorbereitenden Tat. Sehr leidenschaftliche Er-
regungen führen bekanntlich schon beim gesunden Menschen unter
Umständen zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Trübung
des Bewußtseins. Immerhin sind wir zumeist imstande, die allzu
große Heftigkeit der Gemütsbewegungen, wie sie noch dem Kinde
eigentümlich ist, zu dämpfen und damit die Herrschaft unseres
Verstandes über das Handeln aufrecht zu erhalten.
Bei Geisteskranken nehmen, entsprechend der Häufigkeit leb-
hafter Gefühle und eingreifender Willensstörungen, die Trieb-
handlungen mit großer Stärke der Antriebe und Unklarheit der
Zweckvorstellungen einen sehr viel breiteren Raum ein (,, Im-
pulsivität") ; wir begegnen ihnen in den verschiedenartigsten
Erregungszuständen. Schon der Betätigungsdrang der mani-
schen Kranken ist vielleicht unter diesem Gesichtspunkte auf-
zufassen. Sicher sind hierher gewisse Handlungen der Epilep-
tiker zu rechnen, der mit vielen Namen belegte, anfallsweise ein-
setzende, von Verstimmung und mehr oder weniger starker Be-
400
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wußtseinstrübung begleitete ziellose Wandertrieb') (Dromomanie,
Poriomanie, Fugues, automatisme ambulatoire), ferner die ge-
schlechtlichen Vergehen (Exhibitionismus, geschlechtliche Angriffe),
das Trinken der Dipsomanen. Ähnliches gilt wohl von dem mannig-
fachen krankhaften Treiben vieler Hysterischen. Auch bei ihnen
beobachten wir planlose Reisen, nicht selten verbunden mit halb-
bewußten Schwindeleien im Sinne einer erdichteten Lebenslage.
Der Trieb zum Erdichten und Vortäuschen, sei es von Krankheits-
erscheinungen, sei es von merkwürdigen und spannenden Erleb-
nissen oder von Kenntnissen, vornehmer Abstammung, großem
Besitz ist überhaupt eine häufige Begleiterscheinung der hysterischen
Veranlagung. Triebhandlungen ganz einförmiger und einfacher Art
begegnen wir ferner bei vielen Idioten und Schwachsinnigen, dem
Hautzupfen, Haareausreißen, Haareschlucken, Nägelbeißen, Daumen-
lutschen; auch das Onanieren würde hierher zu rechnen sein.
Zum Teil lassen sich hier noch Beziehungen zu den natürlichen
Trieben erkennen; zum Teil ist die Entstehungsgeschichte trotz
ihrer weiten Verbreitung gänzlich dunkel. Von den Zwangshand-
lungen unterscheidet sich das Tun aller dieser Kranken durch den
wesentlichen Umstand, daß die auftauchenden Antriebe im Augen-
blick durchaus nicht als aufgezwungene, sondern als die natürlichen
Äußerungen ihres Seelenzustandes empfunden werden.
Als Triebhandlungen sind wohl auch am richtigsten die oben
erwähnten Willensentladungen der Katatoniker aufzufassen, ob-
gleich ihnen kein bestimmtes Lust- oder Unlustgefühl, sondern
ein mächtiger, ursprünglicher Bewegungsdrang zugrunde liegt.
Der Kranke ist hier von dem Bewußtsein beherrscht, daß er nun
dieses oder jenes tun müsse, ohne klare Begründung, ohne Nach-
denken, wenn auch bisweilen mit dem deutlichen Gefühle der
Unsinnigkeit des eigenen Treibens. Hier und da taucht auch wohl
die Vorstellung auf, daß die GHeder von einer unsichtbaren Macht,
von Gott, dem Teufel, durch elektrische Beeinflussungen in Be-
wegung gesetzt werden. Von einem Widerstande gegen den An-
trieb, von einem Kampfe ist jedoch gar keine Rede; vielmehr folgt
der Kranke blindlings seinen Einfällen. Auf diese Weise ent-
1) Heilbronner, Jahrb. f. Psychiatrie, XXIII, 107; Schultze, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, 1903, 795; Patrick, American Journal of neurology,
1907, 353; Ducoste, Archives de neurologie, 1907, i u. 2.
Krankhafte^ Triebe.
401
stehen zahllose verkehrte, absonderliche und oft recht gefährliche
Handlungen, die bei aller Mannigfaltigkeit doch gewisse gemein-
same Züge darbieten. Dahin gehören die eigentümlichen Kraft-
leistungen, die Purzelbäume und Luftsprünge, das Singen, Schreien,
Zerstören, Entkleiden, das triebartige Küssen, die plötzlichen An-
griffe, das Kotessen, die sinnlosen Versuche, sich zu erdrosseln,
den Mund aufzuschlitzen, die Augen auszubohren, Zunge und
Kehlkopf herauszureißen. Kennzeichnend für diese Triebhand-
lungen ist außer dem Mangel jedes verständlichen Beweggrundes
die ungemeine Schnelligkeit und Heftigkeit der Ausführung, welche
auf das rücksichtsloseste jedes Hindernis überwindet, während
umgekehrt bei den Zwangshandlungen schon eine geringe Unter-
stützung des lebhaft sich regenden gesunden Widerstandes genügt,
um diesem letzteren zum Siege zu verhelfen. Manche Triebhand-
lungen stehen anscheinend in dunkler Beziehung zu den ange-
stammten Trieben. Dahin gehört die Neigung, alles in den Mund
zu stecken, an den dargereichten Gegenständen zu lecken und zu
saugen. Wagner hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei ver-
blödeten Paralytikern, aber auch bei anderen Verblödungszuständen,
durch Annähern irgend eines Gegenstandes an den Mund Saug-
bewegungen ausgelöst werden können. Im Zusammenhange mit
den Verirrungen der Triebe werden wir noch eine Reihe hierher
gehöriger Beispiele zu erwähnen haben.
Krankhafte Triebe. Der für die Selbsterhaltung wichtigste
Trieb, das Nahrungsbedürfnis, weist bei Geisteskranken sehr
häufig Störungen auf. Die Nahrungsverweigerung ist in allen
traurigen oder ängstlichen Verstimmungen, ferner im katatonischen
Stupor eine ganz gewöhnliche Erscheinung; freilich beruht sie in
den erstgenannten Zuständen nicht immer auf einem Schweigen
des natürlichen Triebes, sondern auf Wahnvorstellungen oder
dem Wunsche, zu sterben. Andererseits werden von Idioten, Para-
lytikern, Katatonikern vielfach nicht nur unglaubliche Mengen
von Nahrungsmitteln, sondern bisweilen die ungenießbarsten und
ekelerregendsten Dinge, Sand, Steine, Seegras, Kot, lebende Tiere
verschlungen. Hier kann man nicht wohl von einer einfachen
Steigerung gesunder Triebe sprechen, sondern es handelt sich
zweifellos bereits um gleichzeitige Abweichungen in Art und Rich-
tung des Begehrens. Dasselbe gilt von den bekannten, plötzlich
26
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
402
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
mit großer Heftigkeit auftauchenden Eßgelüsten der Schwangeren
und Hysterischen. Bernstein hat eine Kranke beschrieben, die
triebartig Papier und später Sand verzehrte und einer förmlichen
Entziehungskur unterworfen werden mußte. Wir werden hier
erinnert an die verschiedenen „Suchten", das triebartige Ver-
langen nach Arznei- und Genußmitteln, die Trunksucht, die Mor-
phium- und Cocainsucht, die Sucht, Tabak zu rauchen, zu kauen,
zu schnupfen usf. Bei den meisten Mitteln ist es die angenehme
Wirkung oder das Auftreten von Entziehungserscheinungen, die
das Begehren erzeugen; es gibt aber auch Suchten, bei denen der-
artige Umstände gar keine Rolle spielen. Zu ihrer Erklärung
dient die Erfahrung, daß die Neigung zum Mißbrauche von Mitteln
in der Regel eine allgemeine ist und sich gleichzeitig nach verschie-
denen Richtungen erstreckt, also eine persönliche Anlage darstellt.
Eine merkwürdige Verleugnung des Selbsterhaltungstriebes bildet
der bei Hysterischen nicht selten beobachtete Trieb zur Selbst-
verletzung. Die Kranken bringen sich Ätzwunden auf der Haut
bei, erzeugen künstlich Genital- oder Mastdarmblutungen, ver-
schlucken Nadeln, Nägel, Glasscherben, stechen Drahtstückchen,
Streichholzenden, Bleistiftspitzen unter die Haut, um dort Abscesse
zu verursachen. Ich kannte Kranke, die jahrelang mit einem
gewissen Stolze derartige Selbstschädigungen verübten. In der Tat
ist die Triebfeder solcher Handlungen in der Regel der Wunsch,
damit Aufsehen zu erregen. Dasselbe gilt von den operations-
süchtigen Kranken, die immer wieder dazu drängen, daß an ihnen
größere chirurgische Eingriffe vorgenommen werden, am liebsten
Bauchschnitte. Die natürlichen Regungen des Schmerzes und der
Angst werden hier durch krankhafte, triebartige Beweggründe gänz-
lich in den Hintergrund gedrängt.
Bei weitem am mannigfaltigsten gestaltet sich die Reihe der
krankhaften Abweichungen auf dem Gebiete des Geschlechts-
triebes, wie sie in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten her
auf das eingehendste bearbeitet worden sind. Einfache Herab-
setzung der geschlechtlichen Begehrlichkeit findet sich in den
Depressionszuständen, bei Morphinisten, bei manchen Formen des
angeborenen Schwachsinns und der hysterischen Veranlagung. Da-
gegen erwacht der Geschlechtstrieb in anderen Fällen von Idiotie
und angeborener Entartung schon sehr früh und in großer Stärke;
Krankhafte Triebe.
403
er führt dann regelmäßig zur Onanie. Fuchs sah einen schwach-
sinnigen, hydrocephaHschen Knaben, der seit dem 8. Monate un-
zähhge Male onanierte; er berichtet ferner von einem kleinen
Mädchen, das im Anschlüsse an Verführung durch eine Kindsmagd
schon vom 2. Lebensjahre an nicht nur öffentlich schamlos ona-
nierte, sondern auch andere Mädchen zu manustuprieren suchte
und Knaben dazu aufforderte. Steigerung des Geschlechtsbedürf-
nisses begleitet auch in mehr oder minder ausgesprochenem Grade
die manische und katatonische Erregung; sie drückt sich seltener
geradezu in geschlechtlichen Angriffen, meist in zweideutigen
Reden, unflätigen Schimpfereien und Beschuldigungen aus, in mehr
oder weniger rücksichtsloser Masturbation, bei Weibern auch in
schamlosen Entblößungen, äußerster Unreinlichkeit oder bestän-
digen Waschungen mit Wasser, Speichel, Urin, Kämmen und Auf-
lösen der Haare, in leichteren Formen durch Putzen und Schöntun,
Wechsel zwischen herausforderndem und verschämtem oder empfind-
samem Wesen, durch Händedrücken, Briefschreiben, verständnis-
volle Blicke.
Zu diesen gradweisen Abstufungen kommt nun aber eine fast
unübersehbare Menge von verschiedenartigen Entgleisungen des Ge-
schlechtstriebes, bei denen die Befriedigung auf zweckwidrigen
Wegen gesucht wird. Die bekannteste derselben ist die sogenannte
konträre Sexualempf indung^) , eine Störung, die das geschlecht-
liche Fühlen und Begehren in unversöhnbaren Gegensatz zu der
körperlichen Veranlagung des Menschen bringt und ihn die ge-
schlechtliche Befriedigung nur beim eigenen Geschlechte finden
läßt. Wir werden im klinischen Teile Gelegenheit haben, auf diese
meist sehr früh sich zeigende Erscheinungsform des Entartungs-
irreseins ausführlich zurückzukommen.
Dagegen ist schon hier jene höchst eigentümliche Verirrung des
Geschlechtstriebes zu besprechen, die man nach dem berüchtigten
französischen Romanschriftsteller Marquis de Sade^) als Sadis-
mus" bezeichnet hat. Es handelt sich dabei um das Auftreten von
1) Havelock Ellis u. Symonds, Das konträre Geschlechtsgefühl, deutsch
von Kurella. 1896; Raffalovich, uranisme et unisexualite. 1896; Bloch,
Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis, I, 1902; II, 1903.
2) Dühren, Der Marquis de Sade und seine Zeit. 1900; Neue Forschungen
über den Marquis de Sade und seine Zeit. 1904.
26»
404
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
geschlechtlichen Wollustempfindungen bei Handlungen der Grausam-
keit. Havelock EUis sieht darin eine Erinnerung an die Liebes-
kämpfe der Tiere und gewissermaßen eine krankhafte Übertreibung
der männlichen Eigenart, die rücksichtslos die geschlechtliche
Unterwerfung erzwingt. Die betreffenden Personen suchen ent-
weder den Reiz der geschlechtlichen Vereinigung durch mehr oder
weniger ernste Mißhandlungen zu erhöhen, oder die grausame Hand-
lung erweckt schon an sich die volle sinnliche Befriedigung, auch
beim Fehlen aller gesunden Vorbedingungen für die geschlechtliche
Erregung. Der letztere Fall stellt offenbar nur eine weitere krank-
hafte Entwicklungsstufe des ersteren dar. Was dort nebensäch-
liches, vielleicht sogar entbehrliches Hilfsmittel war, ist hier zur
Hauptsache geworden, neben welcher die eigentliche Hauptsache,
die geschlechtliche Vereinigung, vollständig in den Hintergrund
getreten ist. Tatsächlich finden sich zahlreiche Übergangsformen
von den leichtesten, noch in der Gesundheitsbreite liegenden An-
wandlungen bis zu den schwersten, das Leben der Opfer fordernden
krankhaften Verirrungen.
Unter den sadistischen Handlungen selbst kommen in erster
Linie Geißelungen, namentlich solche auf den entblößten Körper,
in Betracht, die häufiger zur Unterstützung und Vorbereitung der
geschlechtlichen Erregung benutzt werden. Als wirklicher Ersatz
des Beischlafs dienen sie weit seltener und wohl nur in zweifellos
krankhaften Fällen. Ähnlich mag es mit der Neigung zum Kneifen
und Beißen stehen. Das Stechen und Schneiden tritt bei den von
Zeit zu Zeit beobachteten ,, Mädchenstechern" geradezu als Form
der geschlechtlichen Befriedigung auf. Die Kranken suchen sich
an hübsche junge Mädchen heranzudrängen und ihnen mit Dolch
oder Messer, deren sie bisweilen eine große Auswahl besitzen, eine
blutige, aber nicht gefährliche Wunde beizubringen, was ihnen leb-
hafte Wollustgefühle und Samenergießungen verursacht. Noch
einen Schritt weiter gehen jene Kranken, welche sich die geschlecht-
liche Befriedigung durch Quälen und Töten von Tieren zu verschaffen
suchen. Dann kommen die Lustmörder, die ihr Opfer vor oder nach
dem Geschlechtsakte erdrosseln und dann womöglich aufschneiden,
zerreißen, zerstückeln. Gerade in solchen Fällen zeigt sich bisweilen
ein buchstäblicher ,, Blutdurst", der zum Aussaugen des Opfers und
zur wirklichen Menschenfresserei führen kann. Garnier berichtet
Krankhafte Triebe.
405
von einem Kranken, der die Begierde hatte, beim Geschlechtsakte
einem Mädchen ein Stück Fleisch herauszubeißen, und es dann bei
sich selbst ausführte. Überall können eigentlich geschlechtliche
Handlungen trotz heftigster geschlechtlicher Erregung vollkommen
fehlen. Als eine Abart der Lustmörder sind wohl die glücklicher-
weise recht seltenen Leichenschänder zu betrachten, unter denen
der französische Sergeant Bertrand eine traurige Berühmtheit er-
langt hat, da er, von unwiderstehlicher geschlechtlicher Begierde
getrieben, mit größtem Geschicke frisch bestattete Leichen wieder
ausgrub, schändete und zerstückelte. Belletrud und Mercier
sahen einen Totengräber, der die Genitalien ausgescharrter weib-
licher Leichen küßte und sich auch eine Leiche in seinem Zimmer
hielt, um sie zu mißbrauchen, weil die Lebenden nichts mit ihm zu
tun haben wollten.
Gewissermaßen das Gegenstück zum Sadismus bildet die von
V. Krafft-Ebing unter dem Namen des ,, Masochismus" be-
schriebene Sucht, sich die geschlechtliche Befriedigung durch Er-
duldung von Schmerzen zu würzen oder überhaupt erst zu ver-
schaffen. Die Bezeichnung ist hergenommen von dem Schriftsteller
Sacher -Masoch, der in seinen Romanen mit Vorliebe diese eigen-
tümliche Verirrung schilderte. Wegen der bei beiden bestehenden
Verbindung von Schmerz und Wollust hat v. Schrenk -Notzing
für Masochismus und Sadismus die gemeinsame Bezeichnung ,,Algo-
lagnie" (Schmerzgeilheit) vorgeschlagen; dieser ist tätige, jener
duldende Algolagnie.
Auch beim Masochismus begegnen wir vor allem der geschlecht-
lichen Erregung durch Geißelung, aber hier durch deren Erdul-
den. Die unliebsamen Nebenwirkungen erziehlicher Züchtigungen,
namentlich der Schläge auf das Gesäß, die nicht selten in beiden
Teilen wollüstige Empfindungen wecken, sind lange bekannt, eben-
so die Auffrischung der gesunkenen geschlechtlichen Leistungs-
fähigkeit durch ähnliche Maßregeln. Auch das Flagellantentum hat
vielleicht eine seiner Wurzeln in der sinnlich aufreizenden Wirkung
der Geißelhiebe gehabt. In das Gebiet des Krankhaften gehören
die Fälle, in denen die geschlechtliche Erregung durch wirklich rohe
Mißhandlungen, Gebissen-, Gestochen-, Getretenwerden und ähn-
liches ausgelöst wird. Meist werden hier andere Personen vorher
zur Ausführung der gewünschten Handlungen angelernt.
4o6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Aus naheliegenden Gründen führt die Algolagnie nur verhältnis-
mäßig selten, bei ausgebildetem Schwachsinn und großer sittlicher
Stumpfheit, zu jenen wirklich gefährlichen Handlungen, die in
der Entwicklungsrichtung des krankhaften Triebes liegen. Vielfach
sind die Handlungen, die ausgeübt oder gewünscht werden, mehr
Andeutungen, in der Weise, wie schon Stechen mit Nadeln oder
Ritzen der Haut ein Sinnbild des Tötens, das Einpressen der Zähne
ein solches des Auffressens darstellt. Der sadistische Trieb kann
sich in Handlungen Luft machen, die ganz allgemein nur die un-
beschränkte Herrschaft über das geschlechtliche Opfer ausdrücken
(Beschimpfen, Beschmutzen, Fesseln), während der Masochist sich
befriedigt fühlt, wenn er in möglichst lebhafter Weise die völlige
Unterwerfung unter einen fremden Willen empfindet (Erdulden von
Beschimpfung, Bedrohung, Mißachtung, ekelhafter Besudelung,
Knebelung, Urintrinken). Bei der regen Mitarbeit der Einbildungs-
kraft ist die Mannigfaltigkeit der Kunstgriffe, welche diese Kranken
zur Vorbereitung oder zum Ersätze des Beischlafes anwenden oder
von anderen fordern, trotz mancher Gleichförmigkeit eine außer-
ordentlich große.
Wir sind im Vorstehenden wiederholt der Erscheinung begegnet,
daß bei unseren Kranken ein ursprünglich das Zustandekommen
der geschlechtlichen Erregung nur unterstützender Vorgang schließ-
lich ganz allein schon und ohne Verbindung mit eigentlichem
Geschlechtsverkehre die angestrebte Befriedigung herbeizuführen
vermag. In der Regel sind es Handlungen, die in irgendeiner Weise
die Vorstellung der Geschlechtsbeziehung lebhaft wachrufen. Einer-
seits können wollüstige Betastungen, das Zusehen beim Geschlechts-
verkehr anderer, ja das Beobachten oder gar das Verzehren der
natürlichen Entleerungen, ferner das Lesen von unzüchtigen
Schriften, das Besehen oder Zeichnen derartiger Bilder, endlich
auch die Ausmalung geschlechtlicher Abenteuer in Gedanken oder
in schriftlicher Darstellung (,, psychische Onanie") diese Wirkung
haben. Für die letztere Form der geschlechtlichen Entladung geben
gerade die verschiedenen sadistischen und masochistischen Schriften
merkwürdige Beispiele. Dieses ganze Gebiet gehört der Entartung
an; es scheint aber, daß Ausschweifungen und der ,, Reizhunger"
durch geschlechtliche Übersättigung, die freilich auch auf dem
Boden der Entartung am besten gedeihen, hier eine gewise Rolle
Krankhafte Triebe.
407
spielen. Eine etwas andere Bedeutung hat vielleicht der Exhi-
bitionismus^), die geschlechtliche Befriedigung durch Vorzeigen
der Geschlechtsteile gegenüber Kindern oder Personen des anderen
Geschlechtes. Er findet sich, wie die meisten dieser Verirrungen,
vorwiegend bei Männern. Öfters handelt es sich um Epileptiker in
Dämmerzuständen oder um Altersschwachsinnige, bisweilen auch
um einfache Psychopathen.
Zur Erklärung dieser absonderlichen Erscheinungen liegt die
Annahme nahe, daß bei einer krankhaften Steigerung der geschlecht-
lichen Erregbarkeit bereits der begleitende Vorgang genügt, um die-
selbe Wirkung zu erzielen, die er im gesunden Leben höchstens in
Verbindung mit den wirklichen Geschlechtsreizen erreichte, ähnlich
wie dem Hungrigen schon die Durchsicht der Speisekarte, das
Klappern der Teller oder gar der Anblick leckerer Speisen das Wasser
im Munde zusammenlaufen läßt. Allein schließlich kann es so weit
kommen, daß nur noch der nebensächliche Reiz, nicht aber mehr
der natürliche, oder doch jener unvergleichlich viel stärker als dieser,
die geschlechtliche Befriedigung zu erzeugen imstande ist.
Ganz besonders häufig macht sich eine solche Verschiebung in
verschiedenartiger Entwicklung dahin geltend, daß es einzelne,
bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke sind, die zunächst
geschlechtlich anregend wirken, dann bei der Ausführung des Bei-
schlafes eine herrschende Rolle spielen und endlich für sich allein
in ganz absonderlicher Weise den Geschlechtsgenuß vermitteln.
Man bezeichnet diese Störung als ,,Fetischismus"2). Von körper-
lichen Reizen dienen als Fetische bald Hände oder Füße, bald Augen,
Mund, Ohr, Haare, besonders Zöpfe. Die einfache Betrachtung,
Berührung, Liebkosung der betreffenden Teile gewährt dem Feti-
schisten eine weit höhere geschlechtliche Befriedigung als der
wirkliche Beischlaf. Unter den Kleidungsstücken sind Schuhe und
Stiefel sehr bevorzugt, nach v. Kraf f t-E bings Ansicht wegen der
an sie sich knüpfenden masochistischen Wollust der Unterwerfung,
ferner Taschentücher und Unterkleider, endlich Sammet- und Pelz-
stoffe. Wie die Erfahrung lehrt, werden solche Dinge von den
1) Seiffer, Arch. f. Psychiatrie, XXXI, 405. 1899.
^) Garnier, Les fetichistes pervertis et invertis sexuels. 1896; Havelock
Ellis, Die krankhaften Geschlechtsempfindungen auf dissoziativer Grundlage,
deutsch von.Jentsch. 1907.
4o8
II. I^ie Erscheinungen des Irreseins.
Kranken aus geschlechtlicher Begierde massenhaft gesammelt,
am liebsten unter den schwierigsten Umständen erbeutet (Zopf-
abschneider!) oder gestohlen und zu einsamen masturbatorischen
Vergnügungen verwendet. Auch sadistische und masochistische
Handlungen können sich an den Fetisch knüpfen. Die Kranken
zerreißen, zerknittern oder beschmutzen die Wäschestücke, drängen
sich an Mädchen an, um ihre Kleider mit Tinte oder ätzenden Säuren
zu übergießen, oder sie hüllen sich in uringetränkte Tücher, stopfen
sich schmutzige Lappen in den Mund u. dgl.
Mehr dem Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit und
Krankheit gehört die geschlechtliche Befriedigung durch unzüch-
tige Handlungen an Kindern an. Wir treffen sie einmal in epilep-
tischen" Dämmerzuständen, dann aber bei Personen, denen der
gesunde Geschlechtsverkehr erschwert ist, bei Greisen und Schwach-
sinnigen. Eine ganz ähnliche Bedeutung hat auch die Sodomie,
die Unzucht mit Tieren, die sich nicht selten mit sadistischen Hand-
lungen, Hineinstoßen von Stöcken in die Genitalien der Tiere, ver-
bindet. In welchen Beziehungen endlich die krankhafte Zuneigung
zu Tieren, die Zoophilie, mit dem Geschlechtstriebe steht, ist noch
unklar. Da es sich meist um Frauen handelt, die mit der größten
Zärtlichkeit und Aufopferung sich ihren Katzen, Hunden oder
Vögeln widmen, möchte man hier an eine Verirrung des Brut-
pflegetriebes glauben.
Als die Quelle des Sammeltriebes, der ebenfalls bisweilen
krankhafte Formen annehmen kann, ist wohl zunächst die Freude
am Besitze, die Habsucht, anzusehen; doch werden gelegentlich
auch ganz wertlose Gegenstände, abgeschnittene Haare, Nägel u. dgl.
gesammelt. Nah verwandt erscheint die krankhafte Kauflust (,,Onio-
manie"), die den Kranken veranlaßt, sobald sich ihm dazu Gelegen-
heit bietet, ohne jedes wirkliche Bedürfnis in großen Mengen ein-
zukaufen. Hunderte von Halsbinden oder Handschuhen, Dutzende
von Anzügen, Hüten, Überröcken, Schmucksachen, Spazierstöcken,
Uhren. In einzelnen Fällen verbindet sich damit der Trieb, allen
möglichen Personen Geschenke zu machen. Es gibt indessen auch
noch andere Beweggründe für triebartiges Kaufen. Ich kannte eine
Frau, die sich aus verschiedenen Geschäften massenhaft Waren
kommen ließ, um sie sofort hinter dem Rücken ihres Mannes zu
Schleuderpreisen wieder zu verkaufen, ohne sie auch nur anzu-
Krankhafte Triebe.
409
sehen. Obgleich sie sich dadurch den schwersten Unannehmlich-
keiten aussetzte und ihren Mann wirtschaftlich zugrunde richtete,
war sie doch gänzlich außerstande, von ihrem Treiben zu lassen.
Nach gelegentlichen, allerdings später von ihr verleugneten Äuße-
rungen mußte man schließen, daß die Triebfeder dieses unsinnigen
Handelns der Reiz der Gefahr bildete, die Unruhe und Aufregung,
die mit ihren heimlichen Geschäften verknüpft war. Man wird hier
an das Verhalten der Spieler erinnert, die ja allerdings wenigstens
eine entfernte Möglichkeit des Gewinnes erhoffen dürfen.
Ähnliche Beweggründe mögen hier und da auch dem Stehl-
triebe, der Kleptomanie, zugrunde liegen, die den Kranken dazu
treibt, sich ohne Not selbst ganz unnütze, wertlose Dinge durch
Diebstahl anzueignen. Er kommt hauptsächlich beim weiblichen Ge-
schlechte vor, namentlich in der Schwangerschaft oder während der
Menses; psychopathische, besonders hysterische Veranlagung spielt
dabei eine wesentliche Rolle. In der Regel handelt es sich wohl
nur um die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit gegen augen-
blickliche Gelüste und lockende Verführung, besonders bei den in
neuerer Zeit zahlreichen Warenhausdiebinnen. Dupouy berichtet
von einer 66jährigen Frau, die stahl, nachdem sie einen anderen
hatte stehlen sehen. In hysterischen Dämmerzuständen kommt auch
ein wirklicher Trieb vor, alle möglichen Gegenstände einzustecken
und zu verbergen. In manchen Fällen von Stehltrieb hat sich, wie
erwähnt, ein überraschender Zusammenhang mit geschlechtlichen
Verirrungen herausgestellt, bei solchen Personen, die Taschentücher,
Wäsche, Kleidungsstücke, Stiefel in großen Mengen zusammensteh-
len, um sie als Fetisch zu benutzen ; auch geschlechtliche Erregung
beim Stehlen selbst oder bei der Entdeckung wurde beobachtet^).
Ganz außer Beziehung zu den natürlichen Trieben scheint der
Brandstiftungstrieb^) („Pyromanie") zu stehen, der einmal
in epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen, dann aber
namentlich in den Entwicklungsjahren bei leichterem oder aus-
geprägterem Schwachsinn vorkommen kann und anscheinend zu
der bekannten Vorliebe kleiner Kinder für das Spielen mit Feuer in
einer gewissen Beziehung steht. Die mehrfache Wiederholung der-
selben Tat, das Fehlen jedes vernünftigen Beweggrundes, die Be-
1) Försterling, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXIV, 935-
-) Gimbal, Annales medico-psychologiques, 1905, II, 353.
410
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
friedigung beim Ausbrechen des Brandes, die spätere Reue, die
häufig beobachtete auslösende Wirkung des Alkohols weisen auf
krankhafte Grundlagen dieser noch recht rätselhaften Erfahrungen
hin; auch die Menses sind vielfach von Bedeutung. Bisweilen spielt
dabei das Heimweh, der Wunsch, fortzukommen, dem wir schon
bei den epileptischen Verstimmungen begegnet sind, eine Rolle.
Ein junger Mensch meiner Beobachtung begründete eine von
mehreren, rasch aufeinanderfolgenden Brandstiftungen mit dem
plötzlich bei ihm auftauchenden Gedanken, den Vater dadurch zum
Ausziehen aus der aussichtslosen und verbauten Wohnung zu ver-
anlassen. In anderen Fällen ist es Rache wegen einer geringfügigen
Benachteiligung, der kindische Wunsch, einen Schabernack zu
spielen, der die urteilsschwachen und triebartig handelnden Ge-
schöpfe zu ihrer bedenklichen Handlungsweise veranlaßt.
Ähnlich zu beurteilen sind jene vereinzelten Beobachtungen von
jungen Mädchen, die in den Entwicklungsjahren ihre Pflegekinder
ohne anderen Grund ermorden, als weil sie ihrer Stelle überdrüssig
sind. In einem mir bekannt gewordenen Falle von mehrfacher
Kindestötung hatte die jugendliche Täterin Tieren und schließlich
kleinen Kindern den Finger gewaltsam in den After gebohrt, so daß
auch sie daran starben; hier bestanden wohl Beziehungen zum Ge-
schlechtstriebe. Ein anderes, jüngst von mir beobachtetes, schwach-
sinniges junges Mädchen tötete nacheinander sechs ihr anvertraute
Kinder durch Einstechen einer langen Nadel ins Gehirn, weil sie Lärm
machten und unartig waren. Endlich sind hier noch gewisse Formen
der Giftmischerei zu erwähnen, die fast ausschließlich beim weib-
lichen Geschlechte vorkommen. Es sind das jene grauenhaften
Fälle, in denen ohne erkennbaren Beweggrund wahllos zahlreiche
Personen der nächsten Umgebung, oft auch Kinder und geliebte
Angehörige, vergiftet werden. Die Täterinnen beobachten dabei
mit innerer Befriedigung die Wirkung ihres Tuns, empfinden aber
lebhafte Trauer beim Tode ihrer Opfer, ohne dem Drange nach
weiterer Betätigung widerstehen zu können. Die nahe psycho-
logische Verwandtschaft mit dem Brandstiftungstriebe liegt auf der
Hand; in beiden Fällen werden heimlich mit unscheinbaren Mitteln
gewaltige Wirkungen erzielt.
Alle dauernden Abweichungen auf dem Gebiete der Triebe
deuten auf eine angeborene Entartung hin; sie sind insgesamt nur
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
411
Teilerscheinungen einer krankhaften Veranlagung. Sie bilden
besondere persönliche Eigentümlichkeiten, die von ihren Trägern
nicht unmittelbar als etwas Fremdartiges, Krankhaftes empfunden
werden, auch dann nicht, wenn diese durch Erfahrung und Über-
legung den Gegensatz kennen gelernt haben, in dem sie zu ihren
gesunden Mitmenschen stehen. Die Ausnahmestellung, die sie ein-
nehmen, die daraus entspringenden Demütigungen und Gefährdungen
: sind es viel mehr, was sie niederdrückt, als das Gefühl, krank
I zu sein. Insbesondere werden die zweckwidrigen Gestaltungen des
( Geschlechtstriebes von ihren Trägern vielfach seiner gesunden Be-
t tätigung als gleichwertig oder gar höherwertig an die Seite gestellt.
Hier liegt die allerdings im einzelnen fließende Grenze zwischen
, Zwangshandlungen und den Äußerungen krankhafter Triebe. Der
, Zwangsantrieb erscheint dem Kranken immer als etwas ihm inner-
I lieh Fremdes, Aufgedrungenes; seiner Ausführung folgt nur im
, Augenblicke das Gefühl der Befreiung von dem inneren Drucke, dann
i aber dasjenige einer erlittenen Niederlage. Dagegen bedeutet die
] Befriedigung des krankhaften Triebes für den Kranken selbst zu-
: nächst nur die Deckung eines natürlichen Bedürfnisses, und sie kann
die gleichen, oft sogar weit stärkere Lustgefühle hervorrufen, als die
Betätigung der gesunden Triebe. Erst durch die Einflüsse der Er-
; Ziehung und des Lebens wird dieser ursprüngliche Sachverhalt ver-
' wischt.
Störungen der Ausdrucksbewegungen. Eine der wichtigsten
Quellen für die Erkennung krankhafter Seelenzustände bilden die
. Ausdrucksbewegungen im weitesten Sinne des Wortes, da wir aus
ihnen vor allem unsere Schlüsse auf die psychischen Vorgänge zu
ziehen haben, die sich in unseren Kranken abspielen. Eine genaue
Schilderung aller dieser Bilder würde indessen die äußerlich erkenn-
baren Hauptzüge sämtlicher klinischer Krankheitsformen wieder-
geben müssen; wir beschränken uns daher hier auf wenige Andeu-
tungen, die in der späteren Einzelbeschreibung näher ausgeführt
werden sollen.
Die Kranken mit Dementia praecox pflegen sich gar nicht um
ihre Umgebung zu kümmern, auch wenn sie tatsächlich recht gut
auffassen; sie sind unzugänglich, beachten den Arzt nicht, liegen
teilnahmlos, oft in starrer, verzwickter Haltung da, geben keine
Antwort, befolgen keine Aufforderung, oder sie machen einförmige.
412
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zwecklose Bewegungen, grinsen und lachen ohne Anlaß, werfen
plötzlich irgendeinen Gegenstand ins Zimmer, rasen . unaufhaltsam
durch den Saal, drähgen sinnlos zur Türe hinaus usf. Die verblödeten
Kranken werden oft ganz ablehnend, kauern oder stehen in einer
Ecke herum und entziehen sich unter unverständlichem Gemurmel
jedem Versuche, sich mit ihnen in Beziehung zu setzen.
Sehr auffallend sind die Veränderungen, die der Ablauf der
Bewegungen in der Dementia praecox erfährt. In der Hauptsache
können wir sie als Verlust der Grazie kennzeichnen. Die Anmut
der Bewegungen ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von Einzel-
vorgängen, die vielleicht am besten unter dem Gesichtspunkte der
Ersparnis zu betrachten sind. Die anmutige Bewegung erreicht ihr
Ziel mit möglichst geringem, aber ausreichendem Aufwände von
Kraft und Weg. Demgegenüber werden die katatonischen Be-
wegungen entweder steif und hölzern infolge von übermäßiger
Anspannung der Antagonisten oder schlaff und lässig wegen un-
genügenden Kraftaufwandes. Während die Anmut nur diejenigen
Muskeln in Bewegung setzt, die unmittelbar an der Handlung be-
teiligt sind, werden die katatonischen Bewegungen plump und
massig durch die Heranziehung großer und ferner gelegener Muskel-
gruppen. Die einfache Natürlichkeit, die geradeswegs dem Ziele
zustrebt, geht ihnen verloren durch Verschnörkelungen und Ent-
gleisungen, die ihnen den Stempel der Geziertheit und Verschroben-
heit aufdrücken. Auch die Abrundung fehlt ihnen, das langsame
Anwachsen und Abnehmen der Geschwindigkeit, wie es einer haus-
hälterischen Verwendung der Kraft entspricht; die Bewegungen
gehen ruckweise und eckig vonstatten, oft auch in Absätzen, von
plötzlicher Sperrung unterbrochen. Endlich ist der Mangel an
innerer Einheitlichkeit in den Ausdrucksbewegungen bemerkens-
wert. Arme und Gesicht können die lebhaftesten Gebärden zeigen,
während Rumpf und Beine regungslos bleiben und die Zunge ruht,
oder der Kranke tanzt mit starrem Ausdruck und steifen Armen
herum; er spricht lebhaft, antwortet, verwebt das Gehörte in seine
Reden, ohne doch seine Umgebung anzublicken.
Die Kranken mit Wahnbildungen putzen sich mit allerlei bunten
Lappen heraus; sie suchen sich durch geheimnisvolle Gebärden und
Vorrichtungen vor feindlichen Beeinflussungen zu schützen, oder
sie ziehen sich mürrisch zurück, um gelegentlich stürmisch ihren
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
Groll zu entladen. Insbesondere die Gehörshalluzinanten stehen
vielleicht mit lauschendem Gesichtsausdrucke in einer Ecke und
bewegen nur hier und da zur Antwort die Lippen oder rufen einige
abgerissene Worte. Die vorgeschrittenen Paralytiker erkennt man
an ihren schlaffen Gesichtszügen und oft an einer gewissen täppischen
Freundlichkeit, an dem strahlenden Ausdrucke, mit dem sie ihre
schwachsinnigen Größenideen vorbringen. Späterhin sieht man sie
m tiefster Verblödung stumpf daliegen, ohne jede Spur des Ver-
ständnisses oder der Anteilnahme für ihre Umgebung.
Der Niedergeschlagene sitzt, schlaff in sich zusammengesunken,
mit bekümmerten Zügen da und vermag oft nur mit der größten
Anstrengung den Blick zu erheben, die Hand zu geben oder eine
leise, zögernde Antwort hervorzubringen. Ängstliche Kranke kauern
sich zusammen, wie um dem drohenden Unheil möglichst wenig
Angriffspunkte zu gewähren, pressen die Zähne aufeinander,
schließen die Augen, machen sich steif, setzen jedem Annäherungs-
versuche verzweifelte Gegenwehr entgegen. Oder sie wandern ruhe-
los herum, an den Nägeln kauend, das Gesicht zerzupfend, die
Hände ringend, drängen zur Türe hinaus, klammern sich laut
jammernd an ihre Umgebung an. Dagegen läuft der Manische mit
lebhaften Ausdrucksbewegungen schwatzend, lachend, singend, ge-
schäftig herum, sammelt alles Mögliche in seinen Taschen an, redet
überall drein, treibt Schabernack, schreibt zahllose Briefe und
Gedichte, schmückt sich mit Blumen und Bändern und sucht die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Hysterische bemüht sich,
durch Kleidung und Haartracht, durch Sprödigkeit, Ausgelassen-
heit oder demütige Hilfsbedürftigkeit Eindruck zu machen; sie
beobachtet scharf, beherrscht sehr bald ihre Umgebung und weiß
allerlei kleinen Schmuck des Lebens um sich anzuhäufen, Blumen,
Bildchen, Kissen, Deckchen, Bändchen, Wohlgerüche. Der Para-
noiker endlich trägt mit einer gewissen Würde die „Gefangenschaft"
der Irrenanstalt, in der Tasche die selbstverfaßten Beweisstücke für
seine hohe Stellung, die Abschriften seiner Beschwerden oder die
Akten seiner Rechtsstreitigkeiten. Aus allen diesen, in größter
Mannigfaltigkeit wechselnden und dennoch vielfach wiederkehrenden
Bildern vermag der erfahrene Irrenarzt oft schon beim ersten An-
blicke die ungefähre Art der Störungen zu erkennen. Zahlreich aber
sind die Fälle, die für die oberflächliche Beobachtung gar keine auf-
414
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
fallenden Erscheinungen darbieten, ein Verhalten, welches die
bekannte Erfahrung erklärt, daß laienhafte Besucher der Anstalt
und selbst Wärter bei vielen Kranken das Vorhandensein einer
Geistesstörung gar nicht aufzufinden vermögen.
Von den Ausdrucksbewegungen im engeren Sinne ist es zu-
nächst die Mimik 1), die bei unseren Kranken mancherlei Ab-
weichungen bietet. Die Depressionszustände sind durch leichtes
Herabziehen der Mundwinkel, senkrecht und quer verlaufende
Stirnfalten (,, Gramfalten"), gesenkte, parallele Stellung der Augen-
achsen (Vorsichhinstarren) und Einförmigkeit des Ausdrucks ge-
kennzeichnet, während wir bei manischen Kranken raschen Wechsel
des Mienenspiels , lebhaften Blick , Verziehen der Mundwinkel
nach außen und aufwärts und das Erscheinen von Fältchen am
äußeren Augenwinkel beobachten. Der plötzliche Umschlag des
depressiven Ausdrucks in den manischen, den man öfters durch
Zureden erzielen kann, hat etwas ungemein Überraschendes. Bei
der Dementia praecox begegnet uns vielfach ein eigentümlich
leerer Gesichtsausdruck, der wohl wesentlich durch die Gering-
fügigkeit des Mienenspiels und den Fortfall des Fixierens be-
dingt wird; die Pupillen sind dabei oft auffallend weit. Die Aus-
druckslosigkeit kann sich zu maskenartiger Starrheit steigern, bis-
weilen mit krampfartiger Spannung einzelner Muskelgruppen,
Hochziehen der Stirn, Zukneifen der Augen, Vorschieben der
Lippen. In anderen Fällen beobachten wir Gesichterschneiden oder
feine rhythmische Zuckungen in einzelnen Gesichtsmuskeln, auch
wohl leichte, flatternde Mitbewegungen vor und bei dem Sprechen.
Der Gesichtsausdruck der Paralytiker und Arteriosklerotiker wird
durch die Lähmungserscheinungen verändert. Die Züge sind schlaff,
die Nasolabialfalten verstrichen, oft stärker auf einer Seite; die Er-
schwerung der Sprache führt zu ausgiebigen Mitbewegungen. In
den epileptischen Erregungszuständen pflegen die Gesichtszüge den
Ausdruck der Spannung zu zeigen, der durch die erweiterten Pupillen
noch gesteigert wird. Den Trinker endlich kennzeichnen die ver-
waschenen Gesichtszüge, die schwimmenden Augen und die kleinen
Venenerweiterungen an Wangen und Nase.
Weiterhin kann das Lachen und Weinen bei unseren Kranken
gewisse Abweichungen darbieten. Bei der Dementia praecox ist
1) Dromard, Journal de psychologie normale et pathologique, 1906, Febr.
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
41S
plötzliches grundloses Lachen, über dessen Entstehung sich die
Kranken selbst keine Rechenschaft geben können, ein ungemein
verbreitetes Krankheitszeichen; auch lange fortgesetztes krampf-
haftes Lachen oder Weinen kommt vor. Bisweilen beobachtet man
Weinen bei heiterem Gesichtsausdruck oder Weinen in bestimmter
Melodie. Ausgeprägte Lach- und Weinkrämpfe im Anschlüsse an
gemütliche Erregungen sind ein bekanntes Zeichen der Hysterie;
auch traurige Anlässe können hier Lachausbrüche erzeugen. Einer
anderen Form des Krampfweinens und -lachens begegnen wir bei
Bulbärerkrankungen, wie sie gelegentlich auch durch Hirnlues oder
Arteriosklerose verursacht werden. Es handelt sich hier um reine
Ausdrucksbewegungen, denen gar keine gemütlichen Regungen
entsprechen, die sich vielmehr krampfartig an jeden Versuch, zu
sprechen , anschließen. Bei den Lach- und Weinkrämpfen der
Hysterie haben wir es dagegen immer mit heftigen Gemüts-
bewegungen zu tun, die sich hier in ähnlicher Weise entladen, wie
sie es sonst etwa in allgemeinen Muskelkrämpfen tun.
Sehr ausgiebige Veränderungen erleiden durch die Geistesstörung
Sprache'-) und Schrift, auch wenn wir ganz von dem Inhalt
absehen, der natürlich vielfach die Wahnideen oder Stimmungen
des Kranken erkennen läßt. Wir übergehen hier die mannigfachen
Störungen der Sprache, die nicht auf psychischem Gebiete ent-
stehen, das Silbenstolpern und Schmieren der Paralytiker, das
Skandieren und Häsitieren, das Stottern und Stammeln. Die Klang-
stärke der sprachlichen Äußerungen unterliegt den weitgehendsten
Schwankungen, vom unbändigsten Brüllen und Schreien bis zum
unhörbaren Flüstern, das sich schließlich zu einfachen Lippen-
bewegungen abschwächen kann. Das erstere Verhalten treffen wir
naturgemäß in den heftigen Erregungszuständen an, bei Manischen,
Katatonischen, Paralytikern, während das Sinken der Klangstärke
vor allem bei gehemmten, aber auch bei negativistischen Kranken
beobachtet wird. Das An- und Abschwellen der Klangstärke im
Verlaufe eines Satzes, das die Rede des Gesunden gliedert, kann bei
der Dementia praecox und bei der Paralyse ausbleiben, so daß die
Abrundung der Rede verloren geht.
1) Seglas, les troubles du langage chez les ali6n6s. 1892; Liebmann und
Edel, Die Sprache der Geisteskranken. 1903; Heil bronner, Centralbl. f.
NervenheUk., 1906, 465; Knapp, Monatsschr. f. Psychiatrie, XXIII, Erg.-Heft, 97.
4i6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Auch innerhalb der einzelnen Satzteile und Worte findet ein
An- und Abschwellen der Klangstärke statt, die Betonung, die in
engster Beziehung zu dem Gedanken-, namentlich aber zu dem
Gefühlsinhalte des Gesprochenen steht. Mit der Verblödung pflegt
sich daher die Ausprägung der sprachlichen Betonung zu verwischen;
sie wird auch matter bei Abnahme der Klangstärke. Außerdem aber
treffen wir in der Dementia praecox vielfach unsinnige Betonungen,
Hervorheben gleichgültiger, Fallenlassen wichtiger Sprachglieder,
eine Erscheinung, die in die Gruppe der Manieren zu rechnen ist.
Mit der krankhaften Einförmigkeit der Klangstärke verbindet
sich regelmäßig auch der Verlust der sprachlichen Melodie^).
Nicht nur im Verlaufe eines Satzes, sondern in jedem Worte, ja in
jeder Silbe, findet, wie sich durch Untersuchung der Schwingungs-
kurven zeigen läßt, ein Heben und Senken der Stimme, eine Zu-
nahme und Abnahme der Schwingungszahl statt, die den eigen-
tümlichen Tonfall der Sprache bedingt. Ausbleiben dieser Modu-
lation, wie sie etwa beim weinerlichen Sprechen der Kinder statt-
findet, macht die Sprache eintönig und ausdruckslos. Sehr häufig
ist das bei der Paralyse, öfters auch bei der Epilepsie und Katatonie
der Fall. Bei dieser letzteren begegnen wir andererseits auch bis-
weilen dem singenden Sprechen in Melodien,
Der fortwährende Wechsel von Tonhöhe und Klangstärke in den
einzelnen Satzgliedern wird zunächst wesentlich durch die Rück-
sicht auf den Inhalt der Rede bestimmt, dessen wichtige Bestand-
teile betont und mit erhöhter Stimme vorgebracht werden. Sobald
die Bedeutung des Gedankeninhalts für die sprachlichen Äußerungen
in den Hintergrund tritt, macht sich, wie Fauser betont hat, die
Neigung zu rhythmischer Gliederung der Rede bemerkbar; das
ist z. B. beim gedankenlosen ,, Herleiern" auswendig gelernten
Stoffes der Fall. In sehr ausgeprägter Weise findet sich oft die
rhythmische Betonung bei den in zahllosen Wiederholungen vor-
gebrachten sinnlosen Reden der Katatoniker, wie in folgendem
Beispiel:
,,Im Satzerich, im Sätzerich, im Kimmichum" usf. — ,,Was s611 ich
jetzt sägen, Zwidneikopf, was soll ich jetzt sagen, die Waschschüssel holen"
usf. — ,,Mütterle, Spaarmatz, ich müde und kränk und hungrig; ich bin
verfrören und wätschel-watschelnäß" usf.
1) Scripture, Researches in experimental phonetics. 1906.
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
417
Auch die Reden der manischen Kranken sind häufig rhythmisch
geghedert, nicht selten noch dazu gereimt; bei ihnen dürfte indessen
außer dem Zurücktreten des Gedankeninhaltes auch die psycho-
motorische Erregung eine Einstellung auf regelmäßige Wiederkehr
ähnlicher Sprachinnervationen begünstigen.
Die Aussprache der einzelnen Buchstaben erfolgt in den
Erregungszuständen überstürzt, vielfach in abgekürzter Form, bei
leiser Sprache undeutlich und verwaschen. Die Geziertheit der
Katatoniker kann einzelne Buchstaben umwandeln, z. B. i in ü,
e in ö, d in t, b in p oder umgekehrt, unter Umständen auch durch
ganz andere ersetzen, etwa nach Kinderart. Auch in hysterischen
Dämmerzuständen kommt bisweilen ein Rückfall in die Kinder-
sprache vor. Die Wörter können durch fremdsprachige Endungen
und Verkleinerungssilben oder willkürliche Verstümmelungen ab-
geändert werden, namentlich von katatonischen und manischen
Kranken. Dieselben Kranken, gelegentlich auch Paralytiker,
bringen bisweilen ein unsinniges Kauderwelsch vor, mit dem An-
sprüche, in fremden Sprachen zu reden.
j^v Die Satzbildung geht in schweren Erregungszuständen meist
verloren; statt dessen kommt ein zusammenhangloses Gemenge
von abgerissenen Bruchstücken, einzelnen Ausrufen, Aufzählungen
zustande. Ebenso pflegen andere Formen der Verwirrtheit in dem
Mangel eines Satzgefüges zum Ausdrucke zu gelangen. Kindlichen
Agrammatismus beobachten wir bei Idioten, hier und da auch bei
Herderkrankungen und bei der Paralyse, ferner in ganz anderer Ent-
stehungsweise bei den Dämmerzuständen der Hysterischen mit
Rückversetzung in die Kindheit.
Das Zeitmaß der sprachlichen Äußerungen ist in den Depres-
sionszuständen meist verlangsamt; vielfach treten Pausen und
Stockungen, plötzliches Abbrechen oder Versanden der Rede ein.
Im Stupor sind die Kranken wortkarg bis zum völligen Verstummen,
das durch Hemmung oder durch Negativismus bedingt sein kann.
Umgekehrt ist die Folge der Sprachbewegungen beschleunigt in
Erregungszuständen. Wir sprechen hier von einem ,, Rededrang",
der ein fließendes Fortsprechen ,,ohne Punkt und Komma" zu er-
zeugen pflegt. Heilbronner konnte feststellen, daß dabei kurze
Wörter in ganz auffallender Weise bevorzugt werden; die Färbung
der Stimmung kann eine ängstliche oder heitere sein. Es ist jedoch
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. ^7
4i8
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zu beachten, daß dieses Krankheitszeichen, ebenso wie das Ver-
stummen, sehr verschiedene Entstehung und Bedeutung haben kann.
In der Angst ist es die Entladung der gemütHchen Erregung. Bei
Manischen haben wir es mit einem Mitteilungsdrange zu tun, der
nur eine Teilerscheinung ihres Betätigungsdranges darstellt ; die
Kranken reden, um ihrem Herzen Luft zu machen, und behalten
dabei meist die Beziehung zu ihren Zuhörern. Sich selbst über-
lassen schweigen sie, oder sie verfallen in Singen und Deklamieren,
das ja eine selbständige Befriedigung gewährt, oder in wirkliche
Selbstgespräche. Ähnlich pflegen sich die Paralytiker zu verhalten.
Demgegenüber bezweckt der Rededrang der Katatoniker nicht die
Übermittlung von Gedanken, sondern er ist, wie ihr Bewegungs-
drang, eine völlig triebartige Erregung der Sprachwerkzeuge.
Diese Verschiedenheiten kommen naturgemäß auch in dem
Inhalte der Reden zum Ausdrucke. Bei den manischen Kranken
pflegt sich der Rededrang mit Ideenflucht und der Neigung zu Wort-
spielen, sprachlichen Reminiszenzen und Reimen zu verbinden.
Allerdings ist dieser Zusammenhang kein unverbrüchlicher; es gibt
Kranke, die sehr viel und schnell sprechen, ohne ideenflüchtig zu
sein, wie andererseits Ideenflucht auch in ganz langsamen Reden
vorkommen kann. In den sprachlichen Äußerungen der Katatoniker
tritt meist, ebenso wie in ihrem sonstigen Handeln, die Neigung
zur Stereotypie hervor. Sie kann so stark werden, daß dieselben
Sätze ununterbrochen stunden- und selbst tagelang wiederholt
werden. Es entsteht damit das von Kahl bäum zuerst beschriebene
Krankheitszeichen der Ver bigeration. Solche Sätze sind z. B.
folgende :
„Ihr Kinderlin, Vögelin, Tüpfelin, der Ahnherr ist jetzt da, die Türe
ist auf; führ mich jetzt in den Eisgarten. Die ganze Nacht hab' ich im
Bett gesessen und habe nichts gegessen; die Weck ist gefressen — Ihr Kin-
derlin, Vögelin, Tüpfelin" usf.
,,Ich muß ins Innum, ins Innum, ins Innum; laßt mich ins Innum.
Ich muß im Innum mit der Matratze herumfahren; ich muß ins Innum" usf.
Bisweilen löst sich der Inhalt solcher Reden in ein einfaches
Silbengeklingel auf, z. B. „Ka, ka, metsch, metsch, ka, ka, metcsh,
matsch" usf. Es läßt sich jedoch zeigen, daß solche sinnlosen
Äußerungen hier und da nur Umbildungen ursprünglich verständ-
licher Wendungen darstellen. So rief eine Kranke tagelang: ,,I me
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
zeh, i me zeh" usf. Das war eine allmählich entstandene Abkürzung
von: „Ich will mal sehen" (ob ich nicht heim darf). Im Anfange
war dieser Sinn noch deuthch, ging aber bei den zahllosen Wieder-
holungen nach und nach verloren. In anderen Fällen scheint es,
als ob es nicht die Worte sind, sondern deren Sinn, der haftet, wie in
einem von Pf ister erwähnten Falle, in dem dasselbe in zwei ver-
schiedenen Sprachen verbigeriert wurde. Allerdings kann hier zu-
nächst eine einfache Übersetzung stattgefunden haben, deren Wort-
laut dann ohne Rücksicht auf den Sinn ebenso haftete wie der ur-
sprüngliche Satz. So sehen wir nicht selten die Kranken im Laufe
der Zeit nicht nur selbst kleine Veränderungen hineinbringen,
sondern auch aufgefangene beliebige Eindrücke in ihre Sätze ein-
flechten. Eine Kranke wiederholte drei Stunden lang den Satz:
,, Liebe Emilie, gib mir einen Kuß; wir wollen gesund werden, einen
Gruß und 's wär' nichts. Wir wollen brav sein und schön folgen, folg'
Mutter, daß wir bald heimkommen. Der Brief war' für mich; sorg', daß
ich ihn bekomm'."
Nach dem inzwischen erfolgten Abendessen hatte sie hinter
„heimkommen" eingeschoben: ,, Linsen und zwei Würscht".
Bei der Verbigeration besteht regelmäßig ein gewisser Rededrang ;
zugleich haben wir wohl im Hinblicke auf die Einförmigkeit der
sprachlichen Äußerungen große Vorstellungsarmut vorauszusetzen.
Von Interesse ist es, daß Stransky^) bei Versuchen, in denen
möglichst schnelle, gedankenlose Reden Gesunder phonographisch
aufgenommen wurden, Ergebnisse erhielt, die in vielen Stücken an
die Verbigeration erinnern. Er beobachtete eine außerordentliche
Neigung zu Wiederholung derselben Worte und Wendungen in
mannigfacher Abwandlung, unvollkommene Satzprägung, Ver-
stümmelungen und Verschmelzungen verschiedener Worte, sinnlose
Sätze, gedankenlose Flickwörter. Zurücktreten der sinnvollen
Gedankengänge bei gleichzeitigem Rededrang, wie es die Versuchs-
anordnung vorschrieb, scheint demnach das Haften angeregter
Sprachvorstellungen zu begünstigen. Immerhin wäre zu bedenken,
daß wir es bei der Verbigeration nicht selten mit langen Sätzen zu
tun haben, die ohne Überhastung wortwörtlich wiederholt, unter
Umständen nach Pausen wieder aufgenommen werden, ohne daß
1) Stransky, Über Sprachverwirrtheit. 1905.
27*
420
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
es gelänge, die Kranken von außen her zu unterbrechen. Die
Wiederholungen kommen hier somit schwerlich einfach durch
maschinenmäßiges Beharren der Sprachvorstellungen zustande,
sondern sie werden offenbar gewollt, vielleicht infolge von nega-
tivistischer Absperrung neu auftauchender Vorstellungen. Dagegen
ist die öfters beobachtete Echolalie, der sich die Übernahme gehörter
Wörter in die eigenen Äußerungen anschließt, wohl wesentlich auf
Mangel oder Schwäche der eigenen sprachlichen Antriebe zurück-
zuführen; da die Kranken nichts zu sagen haben, sich aber doch
durch die an sie gerichteten oder gehörten Worte zum Sprechen
angeregt fühlen, wiederholen sie maschinenmäßig. Die bei der
Dementia praecox so häufigen sinnlosen Flickwörter, die erste
Reaktion: ,,Was?" oder ,,Wie?" auf jede Frage dürften ebenfalls
der Ausdruck der Gedankenarmut sein, wie sie durch die Gleich-
gültigkeit der Kranken bedingt wird. Daß der Perseveration, der
wir hauptsächlich bei Arteriosklerose und Paralyse begegnen, ein
ähnlicher Vorgang zugrunde liegt, das Eintreten der soeben ab-
gelaufenen und dadurch erleichterten Sprachbewegung für die
unmögliche oder erschwerte, die gefordert wird, haben wir schon
früher erörtert.
Eine höchst rherkwürdige, meist mit einem leichten Rededrang
verbundene Störung bildet die Sprachverwirrtheit, die in aus-
geprägtester Form bei einer kleinen, bisher zur Dementia praecox
gerechneten Gruppe von Kranken zur Beobachtung kommt. Die
Kranken sind vollkommen besonnen und orientiert und bieten auch
in ihrem Benehmen und Handeln vielfach gar keine auffallenderen
Abweichungen dar ; sie sprechen leicht und fließend, aber der Inhalt
ihrer oft die Form eines Vortrags annehmenden Reden bildet, viel-
leicht nach einigen einleitenden verständlichen Wendungen, ein
verblüffendes Gewirr von zum Teil sinnlos zusammengewürfelten
Wörtern, deren allgemeiner Inhalt sich höchstens ungefähr aus
einzelnen Redensarten erraten läßt. Forel hat diese Reden sehr
treffend als ,, Wortsalat" gekennzeichnet. Ein Beispiel dafür gibt
die folgende Nachschrift:
Ich frage in welches gegenüber der Persönlichkeiten. Was wollen Sie
eigentlich gegenüber der Versammlung in dem Bild geschlossen, meine
ich, so herzlos, daß meiner der Persönlichkeiten," die Impflege in meiner
des Körpers. Was wollen Sie eigentlich mir gegenüber Vertretung. Ich
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
421
frage jetzt nur ganz einfach. Hergebracht hat man mich wegen Jugend,
und da hat man Versammlung geschlossen im Bund. Von der Person
gegenüber meiner Anhaltverpflegung, großmütig der Erhaltungen der Füh-
rungen der Kräfte der Lebensmittel mir gemacht worden sind. Irrititionen
der Dunkelheiten, wozu sind denn eigentlich die Gesetze geschlossen worden
nach Stadt und Land von Ulfiterinen und die früheren Jahreszeiten und
die Hypotheken. Die Erzählungen der Bürgerschaften gegenüber sagen
die Mitglieder Mut und Jugend anhold sein der Kräfte der Personen stehen-
der Körper Freundlichkeiten und alle, der gesund es macht nach den Hip-
pliationen die Führung aller der Kräften der Verfolgnissen gelegt zu werden.
Warum schließt man hier eigentlich den Kittoll, was soll nun dem Kittoll
verfallen an meinem Körper, sein Abbild meine ich der Verfolgnissen" usw.
Hier ist auch der Satzzusammenhang völHg zerstört, was keines-
wegs immer der Fall zu sein braucht. Sehr deutlich tritt das Haften
hervor. Man beachte die Ausdrücke: ,,Ich frage", ,, gegenüber",
„Persönlichkeiten", „was wollen Sie eigentlich", „Körper", ,, Pflege,
Verpflegung", „Jugend", ,, Führung", „Kräfte", ,, geschlossen",
„Verfolgnissen", ,,KittoH", ,, Versammlung", ,,Bild, Abbild", ,, eigent-
lich". Andeutungen der hier stark ausgeprägten Störung begegnen
uns nicht selten in den unbegreiflich sinnlosen einzelnen Sätzen, die
bisweilen schon im Beginne der Dementia praecox mit voller Seelen-
ruhe vorgebracht werden.
Die Sprachverwirrtheit besitzt eine sehr auffallende und weit-
gehende Ähnlichkeit mit den Sprachstörungen des Traumes^). Wir
finden bei beiden zunächst Gedankenentgleisungen, das Abgleiten
des vorschwebenden Gedankens auf einen anderen, ähnlichen.
Beispiele dafür geben die Äußerungen eines Kranken, der bei der
■Aufforderung, zu schreiben, erwiderte: ,,Ich werde so frei sein, ein
kleines Konzert zu machen", dagegen die Bitte, an einem der
nächsten Tage wieder zur Verfügung zu stehen, mit der Bemerkung
beantwortete: ,,Am Samstag muß ich die Erdäpfel auswaschen" für
,,muß ich baden". Sodann sind beiden Zuständen gemeinsam
Störungen der sprachlichen Gliederung und der Gedankenprägung,
die in der obigen Nachschrift sehr zahlreich vertreten sind. Weiter-
hin aber treffen wir dort wie hier in ausgeprägtem Maße die Neigung
zu Wortneubildungen 2), vielfach in der Form von Fremdwörtern,
die ja der freien Erfindung weit weniger widerstreben als die Aus-
1) Kraepelin, Über Sprachstörungen im Traume. 1906.
") Tanzi, Rivista sperimentale di freniatria, 1889, 4.
422
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
drücke der Muttersprache. Immerhin kommen auch einfache
Abwandlungen gebräuchlicher Wörter vor. Leichtere Formen von
Wortneubildung finden wir in den obigen Ausdrücken Impflege,
Anhaltverpflegung, Irrititionen, Tüpfelin, schwerere in Ulfiterinen,
Hippliationen, Kittoll, Innum, Sätzerich, Zwidneikopf, Kimmichum.
Man hat dabei den Eindruck, als ob die Kranken mit den Neubil-
dungen gewisse, allerdings nicht immer feststehende Vorstellungen
verbinden.
Sehr zahlreiche Wortneubildungen enthält die folgende, von
einem Apotheker stammende Nachschrift:
,,Der möchte gern als Student dicker gewidmet sein dem Volke, als
dem Liefronten, dem Lieferanten der Deutschen Unschuld, der sie glück-
lich erreicht hat in den kleinen Kinderfüßchenanstalten der hiesigen Ober.
Werden Sie mir die Zuckerliebhaber dicker ereignen, so erkundigen Sie
sich in dem Dasein des Glücks und Sie frieren weiter keinen exceptablen
Borophon oder Kleinekinderanstalten des Unglücks. Sie werden lieber
gesetzmäßiger Körper in den natingalen Gefühlen der Unschlittpartei und
werden fragen nach dem Gesetze der Unschuld. Dr. Dominus, Arsenal-
hengst, Dr. Schnidiceps, das brauchen Sie gar nicht zu notieren, sondern
Sie werden etwas höher schreiben. Doktrinäre Eminenz als Weik der
Deutschen Omnibuspartie, das ist ein Glazimmer, d.h. ein Gedanke, das
Glied der Deutschen Lappländigkeit, das sind rotseidene Sonnenschirm-
rouleaux geworden in der Unschuld des Herzens" usf.
Einzelne Wörter sind richtig gebildet, aber unsinnig, wie Un-
schlittpartei, Arsenalhengst, Lappländigkeit, Kinderfüßchenanstal-
ten; andere zeigen nur geringfügige Abweichungen von bekannten
Wörtern, so Liefronten, exceptabel; den Liefronten folgen überdies
unmittelbar die „Lieferanten". EndHch aber finden sich auch hier
eine Anzahl völlig erfundener Wörter, Borophon, natingal, Schnidi-
ceps, Weik, Glazimmer. Die Wiederkehr bestimmter Wendungen,
,, dicker gewidmet, dicker ereignen", ,, Deutsch", ,, kleine Kinder",
„Unschuld", „Glück, glücklich, Unglück", „Gesetz", „das ist, das
sind", ist auch hier sehr deutlich. Die Zwischenbemerkung über
das Schreiben bezieht sich auf den Nachschreiber, ein Zeichen, daß
der Kranke den Vorgang gut auffaßte; er war übrigens auch in
seinem Handeln vollkommen geordnet.
Bisweilen kann man bei den Wortneubildungen sehr deutlich
den Einfluß bestimmter Vorstellungskreise erkennen. Ein anderer
kranker Apotheker bezeichnete seinen Napf voll Kartoffelmus als
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
423
den ,,siliciumsauren Porzellannapf mit solaneensaurem Futter-
wickelmus", als ,,futterwickelmussaure Haubitz", ,, kerlsaures Kopf-
mus", sprach von seiner ,, kammersauren" oder stangensauren"
Wurst, vom ,, apfelsauren Seidenkranz". In manchen Fällen werden
mit den absonderlichen Namen Feinde oder deren feindselige Ein-
wirkungen bezeichnet, die ,,Desanimierung", die ,,Nachtsabhörerei",
der ,, Seichzauber". Man hat daher gemeint, daß die Kranken ge-
nötigt seien, für die unerhörten Erfahrungen auch neue Bezeichnungen
zu erfinden. Ich halte es für weit wahrscheinlicher, daß hier die-
selben Vorgänge mitspielen, die auch sonst bei Wortneubildungen
in Betracht kommen.
Die weitgehende Übereinstimmung der Sprachverwirrtheit mit
den Sprachstörungen des Traumes macht es wahrscheinlich, daß
wir es bei beiden mit ähnlichen Ausfallserscheinungen zu tun haben,
die sich dort dauernd, hier vorübergehend einstellen. Die Betrach-
tung der Traumsprache hat mich zu der Ansicht geführt, daß dabei
einmal die Wortklangbilder ihren regelnden Einfluß auf die innere
Sprache verloren haben, daß aber weiterhin, ähnlich wie bei der
sensorischen Aphasie, die gesamten Allgemeinvorstellungen mehr
und mehr ihre Bedeutung für den sprachlichen Ausdruck der
Gedanken einbüßen. Auch die Wortneubildungen bei der Dementia
praecox weisen uns auf eine Störung im Verhalten der Wortklang-
bilder hin. Offenbar fehlt den Kranken, wie im Traume und bei der
sensorischen Aphasie, vollständig das Gefühl der Fremdartigkeit
ihrer verblüffenden Neubildungen; es ist auch sehr wohl möglich,
daß sie mit ihnen einen ganz alltäglichen Sinn verbinden. Auf der
anderen Seite aber deuten die Störungen im Satzbau, in der sprach-
lichen Gedankenprägung und auch im Gedankengange selbst auf
eingreifende Veränderungen der höchsten geistigen Leistungen hin,
von deren Einzelheiten wir uns allerdings zurzeit noch kein klares
Bild machen können.
In der Schrift^) der Geisteskranken finden sich inhaltlich und
äußerlich ganz entsprechende Störungen wie in der Sprache. Zu-
nächst können sich auch hier die Anzeichen gröberer Herderkran-
kungen einstellen. Zittern, Ataxie, Auslassungen, Versetzen und
Wiederholen von Buchstaben und Wörtern, Agraphie und Para-
1) Köster, Die Schrift bei Geisteskrankheiten. 1903; de Fursac, les ecrits
et les dessins dans les maladies nerveuses et mentales. 1905.
424
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
graphie. Durch die psychischen Störungen wird außer dem Inhalte
die äußere Form der Schriftstücke nach verschiedenen Richtungen
hin beeinflußt. Schon die allgemeine Anordnung, die sorgsame oder
nachlässige Richtung der Zeilen, Gleichheit oder verschiedene
Größe der einzelnen Buchstaben, mehr oder weniger reichliche
Verbesserungen oder Durchstreichungen, Einhalten der Ränder,
Sauberkeit der Ausführung geben uns Aufschlüsse über den Seelen-
zustand des Schreibers. Der manische Kranke schreibt flüchtig,
ohne besondere Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum,
zum Schlüsse auch auf die Ränder oder querüber; auch Art und
Zuschnitt des Papieres ist ihm unwesentlich. Die Schriftzüge sind
schwunghaft und anspruchsvoll; die Buchstabengröße wächst
häufig an; zugleich wird die Ausführung nachlässiger und unsau-
berer, schließlich oft ganz unleserlich. Zahl und Umfang der Schrift-
stücke pflegen beträchtlich zu sein; sie werden mit großer Ge-
schwindigkeit hingeworfen. Demgegenüber bringen deprimierte
oder gar stuporöse Kranke nur mit größter Mühe und nach vielem
Stocken einige Zeilen auf das Papier. Die Schriftzüge sind meist
klein, gedrängt, aber regelmäßig, zaghaft ausgeführt. Insbesondere
die katatonischen Kranken sind oft schwer zum Schreiben zu be-
wegen und legen nach einigen Ansätzen die Feder wieder bei-
seite. Sie liefern vielleicht ein unentzifferbares Gekritzel, oder sie
bedecken den Bogen planlos mit unzusammenhängenden Bruch-
stücken von Worten oder Sätzen, auch wohl mit merkwürdigen
Schnörkeln und Zeichen, die wirr über die Fläche zerstreut sind.
Paranoide Kranke zeigen nicht selten auffallende Veränderungen
ihrer Schriftzüge, Steifheit, Geziertheit, Umbildung einzelner Buch-
staben.
Bei hebephrenischen Kranken fällt die kindliche Unbehilflichkeit
und Ungleichmäßigkeit der Ausführung, die verschiedene Größe der
Buchstaben, die Unsauberkeit, die Häufigkeit von Durchstreichungen,
Einschiebungen und Verbesserungen auf. Paralytische Schriftstücke
sind in erster Linie durch ataktische Unsicherheit der Züge, ferner
durch die Auslassungen, Verdoppelungen und Versetzungen der
Schriftteile gekennzeichnet. Dazu kommen Unordentlichkeit und
Unsauberkeit, Kleckse, Fettflecke. Die Kranken schreiben auf
beliebigen Papierfetzen, an verschiedene Personen auf demselben
Blatte, falten den noch nassen Bogen zusammen, beschreiben auch
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
den Briefumschlag. Demgegenüber sind die schriftlichen Erzeug-
nisse der Epileptiker oft von peinlichster Sorgfalt und Sauberkeit in
Anordnung und Ausführung. Die in der Regel äußerst umfang-
reichen Schriftstücke der Verrückten, insbesondere der Querulanten,
pflegen sich durch reichlichen Gebrauch von schriftlichen Aus-
drucksmitteln auszuzeichnen. Unterstreichungen, ein- und mehr-
fache, Ausrufungs- und Fragezeichen, Anmerkungen und Rand-
bemerkungen, Hervorhebung einzelner Wörter durch große Buch-
staben oder veränderte Schrift, Anwendung verschiedenfarbiger
Tinten geben diesen Eingaben, Denkschriften, Aufrufen, Lebens-
läufen ein höchst auffallendes Gepräge. Vielfach kommt dabei eine
selbsterdachte, verzwickte Rechtschreibung zur Anwendung, die
meist auf das Vermeiden der großen Buchstaben und das Schreiben
nach dem Wortklang hinausläuft. Ebenso wandeln die Kranken
bei der Anwendung von Satzzeichen gern eigene Wege. Überreich-
liche Anwendung der schriftlichen Betonungsmittel lieben auch die
Hysterischen.
Im Inhalte der Schriftstücke kommen natürlich vor allem die
Störungen der Gedankenprägung zum Ausdrucke. Bei verwirrten
Kranken ist er zusammenhangslos; dabei kann das Satzgefüge
erhalten oder zerstört sein. Manische liefern abspringende, ideen-
flüchtige Erzeugnisse, bei denen jedoch aus naheliegenden Gründen
die Klangassoziationen in den Hintergrund treten; dafür sind Auf-
zählungen häufig. Hier und da tritt die Ideenflucht auch in den
Schriftstücken depressiver Kranker hervor, obgleich deren münd-
liche Äußerungen keine Spur davon erkennen lassen. Bei Kata-
tonikern begegnet uns mitunter schriftliche Verbigeration, die viel-
fache Wiederholung derselben Wörter mit geringfügigen Abwand-
lungen. Auch die Wortneubildungen spielen hier eine große Rolle.
Einer meiner Kranken suchte aus der Zeitung alle möglichen fremd-
sprachigen Wörter heraus, die er in seine Schriftstücke verflocht
und nach seiner Weise erklärte, z. B. ,,et de linge" : ,,und ist kein
Lügner". Ein anderer schrieb auf die Rückseite aller seiner Brief-
umschläge: ,,Des Ob- und Subjudicums erwähnt".
Leider ist die Schrift Geisteskranker mit feineren Hilfsmitteln
noch wenig untersucht worden. Nur mit der von mir angegebenen
„Schriftwage", die neben der Form der Schriftzüge auch in jedem
Augenblicke Druck und Geschwindigkeit des Schreibens zu messen
426
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gestattet, sind einige Ergebnisse gewonnen worden^). Dabei hat
sich gezeigt, daß bei manischen Kranken der Schreibdruck erheblich
gesteigert, die Schrift vergrößert ist, während die Schnelligkeit der
Bewegungen erst im Laufe des Schreibens eine nennenswerte
Beschleunigung erfährt. In den zirkulären Depressionszuständen
findet sich meist Verlangsamung und Verkleinerung der Schrift mit
Abnahme des Schreibdruckes, doch gibt es auch zahlreiche Fälle
dieser Art mit sehr ausgeprägter Verstimmung, bei denen jene
Schriftstörungen fehlen, ein Zeichen dafür, daß die Zusammen-
setzung des psychischen Krankheitsbildes trotz äußerer Ähnlichkeit
doch eine recht verschiedene sein kann. Im manischen Stupor ließ
sich Verlangsamung der Schrift neben gesteigertem Drucke nach-
weisen. Bei katatonischen Kranken sahen wir Schreiben ohne
Störung regellos mit Schwächung der Antriebe ohne Verlangsamung
wechseln; ferner wurde allmähliches Versiegen des Druckes und
schrullenhaftes Überspringen einzelner Aufgaben beobachtet. Jeden-
falls ist es mit Hilfe dieser Untersuchungen möglich, noch eine Reihe
feinerer Schriftstörungen aufzudecken.
Eine im ganzen noch wenig beachtete Quelle psychiatrischer
Erkenntnis bilden die Zeichnungen 2) unserer Kranken. Vor
allem pflegt die Dementia praecox fruchtbar zu sein. Wir begegnen
hier verzwickten, abenteuerlich-unverständlichen, figurenreichen
Entwürfen mit den sonderbarsten Zusammenstellungen, der Dar-
stellung merkwürdiger Fabelwesen, geschlechtlicher Roheiten, ge-
heimnisvoller Maschinen, mit denen die Kranken gequält werden,
kühner Erfindungen, religiöser Sinnbilder. Andere Kranke be-
decken ganze Bogen mit Köpfen oder sinnlosen Schnörkeleien;
einer meiner Kranken benutzte die Abklatschfiguren großer Tinten-
kleckse als Ausgangsstoff für seine Zeichnungen. Die Neigung zu
vielfacher Wiederholung derselben Figuren, zu einer Art zeich-
nerischer Verbigeration, ist häufig sehr ausgeprägt. Die flüchtigen,
oft bunt zusammengewürfelten Zeichnungen der Manischen erinnern
in ihrer ideenflüchtigen Launenhaftigkeit nicht selten an die Er-
zeugnisse, in denen sich die Langeweile der Teilnehmer an lang-
wierigen Sitzungen auf dem vor ihnen liegenden Papiere Luft macht,
während die Kunstwerke der Paralytiker deren schwachsinnige
1) Gross, Psychologische Arbeiten, II, 450.
2) Mohr, Journ. f. Psychologie und Neurologie, VIII, 99.
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
427
Unbeholfenheit in der plumpen Unsicherheit und Unklarheit der
Linien wie in der grellen und unsauberen Farbengebung auszu-
drücken pflegen. Bei Epileptikern begegnet uns öfters die Fähigkeit,
Zeichnungen und selbst bunte Bilder mit einer geradezu unglaub-
lichen Treue wiederzugeben, auch wenn sie gänzlich außerstande
sind, den einfachsten Entwurf selbständig herzustellen.
Daß auch die musikalischen Leistungen der Geisteskranken,
handle es sich um Wiedergabe oder um schöpferische Tätigkeit,
durch ihr Leiden tiefgreifende Veränderungen erleiden können,
bedarf keiner weiteren Ausführung. Leider ist über diese Frage,
wenn wir von den Störungen durch gröbere Hirnerkrankungen
(,,Amusie") absehen, fast gar nichts bekannt. Bei der Dementia
praecox scheint namentlich das musikalische Feingefühl zu leiden;
die Kranken spielen und singen hölzern und ohne Ausdruck, während
die Paralyse außerdem auch das musikalische Gedächtnis und die
technische Beherrschung der Ausdrucksmittel zerstört. Manische
Kranke pflegen flüchtig und liederlich, aber mit großem Schwünge
und erheblichem Kraftaufwande zu musizieren.
Es hat nicht fehlen können, daß die Geisteskranken auch an der
Literatur und Kunst einen gewissen Anteil genommen haben.
Unter den Schriftstellern'^) treten am meisten hervor Verrückte,
insbesondere Querulanten, Manische und Katatoniker, endlich eine
lange Reihe von Psychopathen. Die Leistungen der ersteren sind
meist Verteidigungs- oder Anklageschriften in eigener Sache, Flug-
blätter, die sich an die Öffentlichkeit wenden, um für vermeintlich
erlittene Unbill Genugtuung zu erlangen, Notschreie im Kampfe
gegen wahnhafte Gefahren; dazu kommen scheinbar wissenschaft-
liche Werke, in denen mit naiver Unkenntnis und Selbstsicherheit
die abenteuerlichsten Entdeckungen vorgetragen werden. Ein
hübsches Beispiel dafür bietet die umstehende Darstellung der ,, Seele
des Menschen in V4 der beobachteten Größe" (Fig. XIX) mit ihrem
„Kama", dem „Kraftzentrum", den „Lichtwölkchen des höheren
Manas" usf. Auch die manischen Erzeugnisse richten sich häufig,
aber mehr mit Spott und Witz, als in Verzweiflung und Entrüstung,
gegen bestimmte Personen, namentlich Irrenärzte, schildern in
humoristischem Tone Anstaltserlebnisse, gewandt und ideenflüchtig,
1) Bahr, Volkmanns klinische Vorträge, Neue Folge, Nr. 134; Sikorski,
Arch. f. Psychiatrie, XXXVIII, 259.
428
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
mit Wortspielen und Versen gewürzt. Andere manische Kranke
liefern Gedichtsammlungen in blühendstem Stil; ich besitze ein
derartiges gedrucktes Büchelchen voll ideenflüchtigen Reim-
geklingels von einem einfachen Bauern, der sich später in der
Depression erhängte. Die katatonischen Werke, die immer auf
Kraepelin, Psychiatrie I.
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entttidclnnfl ,fortf(()tcltet" — ift e8 natüilit^, bafe ein
golflltii) i|l eine .anormale" gtfi^eittung im ©taatSorgani?!,
2)08 «Rormale öbcr bog Slnfltmale bei mlrt^((^aftlt(|,
beruht auf bei „©runblage ber Delonomie" bc8 ©taateJö
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•"•4II|I<II, Rilt IIb Ri4t
Störungen der Ausdrucksbewegungen. 429
Kosten ihrer Verfasser gedruckt werden, enthalten meist in ver-
zwicktem Druck und eigenartiger Rechtschreibung unverständHche
Sätze über die höchsten Fragen. Das hier abgedruckte Blatt aus
einem Buche: „Das Weltproblem, eine politisch-ökonomische Studie,
gewidmet der entwickelten Vernunft", mag eine Vorstellung von
der Sammlung zusammenhangsloser, klingender Redensarten geben,
denen man in derartigen Werken begegnen kann. Auch die äußere
Anordnung des Druckes, die reichliche Anwendung der Anführungs-
zeichen und Gedankenstriche, des fetten Druckes, die sonderbare
Tabellenform ist beachtenswert. Neben den Spuren guten Gedächt-
nisses und großer Belesenheit kann man hier die schönsten Beispiele
von Sprachverwirrtheit durch ganze Bände hindurch finden. Si-
korski hat aus der neueren russischen Literatur unter dem Namen
der jjidiophrenia paranoides" eine Anzahl von Erzeugnissen ge-
sammelt, von denen ein Teil hierher gehören dürfte.
Auf der anderen Seite lehrt uns die Geschichte des menschlichen
Geisteslebens, daß eine Reihe der hervorragendsten Persönlichkeiten
entweder einzelne krankhafte Züge dargeboten haben oder in aus-
gesprochene Seelenstörungen verfallen sind. Namentlich die erstere
Gruppe, die sich freilich je nach der Abgrenzung des Krankhaften
beliebig weit fassen läßt, hat der Auffassung zur Stütze dienen
müssen, daß die geniale Begabung vielfach eine Erscheinungsform
abnormer Veranlagung darstelle. Unter den klinisch bestimmbaren
Geisteskrankheiten großer Geisteshelden scheint das manisch-
depressive Irresein am häufigsten zu sein. Robert Mayer gehört
hierhin, und auch für Goethe hat Mö bius den zwingenden Beweis
erbracht, daß er an leichten zyklothymischen Stimmungsschwan-
kungen litt, aus denen sich einmal seine Verzweiflungsausbrüche
und seine Selbstmordgedanken, sein Zaudern bei wichtigen Ent-
schlüssen, andererseits seine tolle Ausgelassenheit, die Plötzlichkeit
mancher Handlungen, die immer sich erneuernde Lebhaftigkeit
seiner erotischen Gefühle, endlich aber auch die merkwürdige Perio-
dizität seines Seelenlebens erklärt. Da sich leichte manisch-depres-
sive Erkrankungen recht häufig mit hoher geistiger und namentlich
künstlerischer Begabung verbinden, liegt der Gedanke nahe, in der
Lebhaftigkeit der Gefühle und der Beweglichkeit der Gedankengänge
bei ihnen Eigenschaften zu sehen, die vielleicht gerade die schöpfe-
rische Geistestätigkeit begünstigen.
Erscheinungen des Irreseins.
Die Anregung zu planmäßiger Erforschung der geistigen Eigen-
schaften großer Männer vom Standpunkte psychiatrisch-psycho-
logischer Betrachtungsweise, zur Gewinnung von ,,Pathographien",
hat vor allem Möbius^) gegeben, indem er zunächst bei Rousseau
die Entwicklung einer paranoiden Erkrankung eingehend schilderte.
Es folgte die psychiatrische Würdigung Goethes und Schopen-
hauers, bei dem er einzelne psychopathische Züge aufdeckte. In
Nietzsches Krankengeschichte zeigte er die Entwicklung einer
Paralyse auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung; bei
Schumann und Scheffel glaubte er das Auftreten einer Dementia
praecox nachweisen zu können. Wenn in diesen beiden letzten
Fällen seine Auffassung sehr anfechtbar erscheint, so erklärt sich
das zum guten Teile aus den außerordentlichen Schwierigkeiten und
Unsicherheiten, die solchen Untersuchungen, zumal über längst
Verstorbene, notwendig anhaften.
Möbius hat vielfache Nachfolge gefunden 2). Klinke hat sich
mit der psychopathischen Natur E. Th. A. Hof manns beschäftigt,
Ebstein mit Schopenhauer und Grabbe, bei dem er neben den
Erscheinungen der Entartung Tabes und Alkoholismus fand. Van
Vleuten hat bei Hölderlin eine Dementia praecox, bei Gutzkow
eine chronische Verrücktheit beschrieben; eine Arbeit über Fritz
Reuters Dipsomanie verdanken wir Albrecht. Probst hat im
Falle Weininger die manisch-depressive Erkrankung nachgewiesen.
Dostojewsky soll nach Segaloffs Darstellung Epileptiker ge-
wesen sein; Maupassant wurde paralytisch. Zu erwähnen wären
hier wohl auch noch die Arbeiten von Toulouse und Bianchi über
Zola, von denen die erstere sich auf eine genaue Untersuchung des
Lebenden stützen konnte.
In der bildenden Kunst spielen Geisteskranke im allgemeinen
eine geringere Rolle, schon deshalb, weil es für sie kaum möglich
1) Möbius, Ausgewählte Werke, Bd. i — 4; Über Robert Schumanns
Krankheit. 1906; Über Scheffels Krankheit. 1907.
2) Klinke, E. Th. A. Hof manns Leben und Werke vom Standpunkt eines
Irrenarztes. 1903; Monatsschr. f. Psychiatrie, XV, 240; XVII, Ergänzungsband, 144;
Ebstein, Arthur Schopenhauer. 1907; Chr. D. Grabbes Krankheit. 1906;
Albrecht, Fritz Reuters Krankheit. 1907; Probst, Der Fall Otto Weininger.
1904; Edgar Allen Poe. 1908; Segaloff, Die Krankheit Dostojewskys. 1907;
Petit, etude medico-psychologique sur Edgar Poe. 1905; Courbon, etude
psychiatrique sur Benvenuto Cellini. 1906; Lacassagne, la folie de Maupas-
sant. Diss. 1907.
Handeln aus krankhaften
ist, ihre Werke an die
Öffentlichkeit zu bringen.
Nichtsdestoweniger sind
sie auch hier tätig, wie
die Erfahrung dartut, daß
bei jedem größeren künst-
lerischen Wettbewerbe
immer auch eine Reihe
von Entwürfen einzulau-
fen pflegen, die sofort
krankhaften Ursprung
verraten. Ein sehr eigen-
artiges Beispiel krankhaf-
ter Kunstübung sind die
schon von Goethe be-
schriebenen Bildwerke in
der Villa Palagonia bei
Palermo , abenteuerliche
Zwittergeschöpfe der ver-
schrobensten Art , die
durchaus an gewisse
Zeichnungen unserer Ka-
tatoniker erinnern ; ich
gebe eine Probe davon in
Fig. XX. Einzelne krank-
hafte Züge finden sich wohl
bei den leicht erregbaren
Künstlern noch häufiger
als bei Gelehrten und
Schriftstellern. Als Bei-
spiel möge der belgische
Maler Wiertz genannt
werden.
Handeln aus krankhaften
Beweggründen. Die Um-
wälzungen, die das Irresein
in dem gesamten Seelen-
leben herbeiführt, müssen
432
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
das Handeln unserer Kranken notwendigerweise auch dann nach
vielen Richtungen hin in Mitleidenschaft ziehen, wenn die eigent-
lichen Störungen zunächst auf ganz anderen Gebieten gelegen sind.
Ist doch das Handeln nichts anderes als das Endergebnis des je-
weiligen seelischen Gesamtzustandes! Wir sehen daher in der Tat,
wie sich in der Beeinflussung des Handelns durch die verschieden-
artigsten und fernliegendsten Störungen die innere Einheitlichkeit
und Untrennbarkeit unseres Seelenlebens auf das deutlichste offen-
bart. Bei keiner einzigen Handlung eines Geisteskranken, wenn wir
die alltäglichsten, rein gewohnheitsmäßigen Verrichtungen etwa
ausnehmen, läßt sich mit einiger Sicherheit die Bedeutung ab-
schätzen, die das Irresein für ihr Zustandekommen und ihre be-
sondere Gestaltung gewonnen hat.
Die Art und Richtung der krankhaften Handlungen wird in der
Regel durch Wahnvorstellungen bestimmt. Versündigungsideen
und traurige oder ängstliche Verstimmungen sind es, die den Kranken
zu Taten der Verzweiflung, zum Kampfe gegen die eigene Person,
zu Selbstanklagen, Selbstverstümmelung, Abhacken der Geschlechts-
teile, zu Nahrungsverweigerung oder zu Bußübungen treiben. Vor
allem aber haben wir hier die Selbstmordneigung zu fürchten, die
überaus häufig das Leben der Kranken bedroht. Der Verfolgungs-
wahn führt zu Wutausbrüchen, zu Angriffen aller Art, zum Ver-
fassen von Zeitungsanzeigen, Flugschriften, Beschwerden, zu Mord
und Totschlag oder zur Ersinnung der mannigfachsten Schutzmaß-
regeln gegen die vermeintlichen Verfolger, zu Beschwörungen,
geheimnisvollen Maßnahmen und Einrichtungen, zu menschen-
feindlicher Absperrung oder zu unstetem Herumwandern in der Welt.
Bei hypochondrischen Wahnvorstellungen wiederum sind peinliche
Eingriffe am eigenen Körper nicht selten. Salben mit Urin und Kot,
Verschmieren wunder Stellen mit Brotbrei und ähnlichen Verband-
mitteln, Herumstochern in Nase und Ohren, Durchbohren der Ohr-
läppchen zur Ableitung der schlechten Säfte vom Kopfe gehören
noch zu den harmloseren Maßnahmen. Dagegen habe ich auch
Versuche erlebt, sich den Leib aufzuschneiden, um ein vermeint-
lich lebendes Tier herauszuholen, ferner das Essen von Nägeln,
um durch die ,, Schärfe" das Blut zu reinigen. Ähnliche Handlungen
Hysterischer, das Verschlucken von Nadeln, Verletzungen und Ein-
führen von Fremdkörpern in die Geschlechtsteile, theatralische
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
433
Selbstmordversuche, fortgesetztes Hungern, gehen in der Regel aus
ganz anderen Beweggründen hervor, zumeist wohl aus der krank-
haften Sucht, aufzufallen und das allgemeine Mitgefühl zu erwecken.
Die psychische Erregung führt zunächst sehr bald zu Streitig-
keiten und Kämpfen mit der Umgebung, zu Verfehlungen gegen
die öffentliche Ordnung, nicht selten auch zum Widerstande gegen
die Staatsgewalt. Die Kranken benehmen sich auffallend, rück-
sichtslos, werden unlenksam, reizbar, störend, schließlich gewalt-
I tätig, sobald man ihnen entgegentritt. Das alles entwickelt sich
um so leichter, als die Erregung sehr häufig den vermehrten Genuß
geistiger Getränke zur Folge hat, durch den die Kranken rasch
I noch unruhiger und gefährlicher werden. Dazu kommt meist auch
die Neigung zu geschlechtlichen Ausschweifungen, die sich ohne
Rücksicht auf Anstand und Sitte Luft zu machen pflegt. Tolle
I Streiche aller Art, Zerstörungen, abenteuerliche Fahrten, Prügeleien,
öffentliches Ärgernis sind die regelmäßigen Begleitereignisse der-
artiger Erregungszustände. Gesellen sich Größenideen hinzu, so
kommt es zu sinnlosen Einkäufen und Bestellungen, zur Einleitung
fabelhafter Unternehmungen, zur Verschleuderung großer Geld-
summen in unglaublich kurzer Zeit. Die zuversichtliche Vorstellung,
über unerschöpfliche Mittel zu verfügen, kann den Kranken ver-
anlassen, ganz harmlos von allem Besitz zu ergreifen, was ihm
gefällt, Unterschlagungen, Zechprellereien, Betrügereien zu begehen.
Andere Kranke mit Größenideen bereiten planmäßig und von
langer Hand alles vor, um vermeintliche Ansprüche zu verwirklichen.
Sie richten Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten, suchen sich
ihnen zu nähern, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken,
veröffentlichen Flugschriften, erscheinen plötzlich mit Orden oder
in Uniform. Selbst die Erregung öffentlichen Ärgernisses, Miß-
achtung der Polizeivorschriften, plötzliche Ansprachen an Parla-
mente oder gar Angriffe auf Beamte oder Fürsten dienen ihnen
mitunter, um ihre Lage und ihre Ansprüche allgemein bekannt zu
machen. Sehr häufig sind Annäherungsversuche an hochgestellte
Personen des anderen Geschlechtes, an die vermeintlichen heim-
lichen Verlobten. Fensterpromenaden, Blumensendungen, Liebes-
briefe, Heiratsanträge, Nachreisen, persönliche Ansprache werden
zur Erreichung des Zieles ins Werk gesetzt, wenn sich der Kranke
nicht, was häufig der Fall ist, mit geheimnisvollen, übersinnlichen
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
434
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Beziehungen zu dem geliebten Gegenstande begnügt. Religiöse
Größenideen führen öfters zu dem Bedürfnisse, eine Gemeinde zu
gründen, die Lehren der herrschenden Kirche zu bekämpfen, die
Märtyrerkrone zu erwerben. Auffallende, an Christus erinnernde
Tracht mit ungeschorenem Haupthaar, gesuchte Einfachheit der
Lebensgewohnheiten, öffentliche Predigten und Vorträge, Heran-
ziehung gleichgesinnter Schüler, Auflehnung gegen die kirchlichen
Gebräuche bis zu deren Beschimpfung, Störungen des Gottesdienstes
und selbst Angriffe auf Geistliche pflegen die Schritte zu sein, die
von solchen Kranken nach und nach unternommen werden.
Es würde natürlich zu weit führen, wollten wir hier auch nur
annähernd alle die verkehrten Handlungen aufzählen, die im Einzel-
falle aus Wahnvorstellungen hervorgehen können; so verschieden
die Beweggründe, so verschieden die Persönlichkeiten sind, so
mannigfaltig gestaltet sich die Handlungsweise, wie sie sich als
Ergebnis aus dem Zusammenwirken dieser beiden Bedingungen
schließlich herausentwickelt. Nur darauf sei zum Schlüsse noch
hingewiesen, daß die geistige, oft auch die körperliche Leistungs-
fähigkeit bei Fortdauer des Irreseins unter allen Umständen eine
schwere Einbuße erleidet. Es ist wahr, daß es geisteskranke Künstler |
und Schriftsteller gibt, die auch bei Fortdauer ihrer Erkrankung noch
imstande sind, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Allein wir sehen dabei
ausnahmslos, daß der Wert des Geleisteten bedeutend gesunken ist.
Fast immer leidet auch die Stetigkeit und Nachhaltigkeit der Arbeits-
kraft. Sehr häufig aber erlischt die Fähigkeit, Neues zu schaffen,
mehr oder weniger vollständig. Nur das handwerksmäßig Einge-
lernte erhält sich; im übrigen bleibt es bei Wiederholungen oder
Verzerrungen früherer Schöpfungen. Mannigfache ausgesprochen
krankhafte Züge mischen sich hinein, unbegreiflich absonderliche
oder geradezu wahnhafte Zutaten neben einzelnen Resten aus
gesunder Zeit. Auf dem Gebiete der körperlichen Arbeit pflegt die
Veränderung bei weitem weniger eingreifend zu sein. Wir sehen ■
zahlreiche Geisteskranke in den Anstalten nach dem Ablaufe der i
stürmischeren Krankheitserscheinungen äußerst brauchbare und |
selbst erfinderische Arbeiter werden. Dennoch sind auch hier die
Fälle recht selten, in denen ein nicht genesener Geisteskranker
dauernd die volle Arbeitskraft des Gesunden zu entwickeln im-
stande ist.
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
435
Aus den angeführten Gründen werden Geisteskranke regelmäßig
sehr bald unfähig zu verantwortungsvoller Tätigkeit. Wenn sie
nicht durch Angehörige, Freunde oder Behörden geschützt werden,
sinken sie daher im Erwerbsleben unfehlbar herab. Eine große Zahl
von Imbezillen und Hebephrenen sammelt sich unter den Land-
streichern und Prostituierten an; auch Epileptiker, die durch ihre
Anfälle und Verstimmungen zu unstetem Wechsel der Arbeits-
gelegenheit gezwungen werden, stranden dort nicht selten. Die
Trinker finden in ihrem ursprünglichen Berufe späterhin nirgends
mehr Arbeit und werden, wenn nicht zu Bettlern, so doch zu Gelegen-
heitsarbeitern. Von den leichteren und daher schwieriger zu er-
kennenden Schwachsinnsformen, namentlich aber auch von den
Epileptikern, geraten so manche in die Gefängnisse und Zuchthäuser
als unverbesserlich Rückfällige oder schwere Leidenschaftsver-
brecher. Eine ganze Reihe krankhaft oder minderwertig veranlagter
Personen wird durch die Mißerfolge daheim und durch Abenteuerlust
in die Ferne getrieben, geht in Amerika zugrunde oder sucht Unter-
kunft in der Fremdenlegion'). Andere ziehen sich von der Welt
zurück, suchen Zuflucht in einem Kloster. Besserbemittelte grün-
den sich ein Heim abseits von dem Getriebe der Menschen, wo sie
den Reibungen mit den harten Notwendigkeiten des Lebens nach
Möglichkeit ausweichen und ein träumerisches, tatenloses, aber
plänereiches Dasein führen können; manche tun sich zu Gruppen
zusammen. Grohmann^) hat mehrere solche Kolonien von
Psychopathen aller Art geschildert.
Die Geisteskranken bedeuten eine erhebliche Gefahr für die
öffentliche Sicherheit, Zahlreiche Körperverletzungen, Totschläge,
Verbrechen gegen die Sittlichkeit, Brandstiftungen, Diebstähle und
Schwindeleien werden alljährlich von Geisteskranken, Psychopathen
und namentlich auch von Trinkern verübt. Nur nach den Zeitungs-
nachrichten, die natürlich sehr unvollständig sind, wurden in Frank-
reich 1904 — 1906 von Geisteskranken schwer verletzt 122, getötet
92 Personen. Besonders groß ist natürlich die Gefahr schwerer
Schädigungen des öffentlichen Wohles bei Personen mit großer
1) Inde, les ddgenerds dans les bataillons d'Afrique. 1907.
2) Grohmann, Die Vegetarier - Ansiedlung in Ascona und die sog. Natur-
menschen im Tessin. 1904; Psychiatr. Wochenschr. 1903, 445; 1904» 205;
1906, 213.
28»
436
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Machtfülle und namentlich bei Herrschern, zumal bei ihnen die
Krankheit spät erkannt und noch weit später zweckmäßig behandelt
zu werden pflegt. Krankhafte Seelenzustände von Machthabern
sind daher oft genug für die Schicksale von Völkern und Staaten
von einschneidender Bedeutung gewesen, von den Cäsaren der
Julisch-Claudischen Familie'^) bis zu Johanna von Kastilien,
Karl VI. von Frankreich und zu jenem unglücklichen Bayernkönige,
dem sein Arzt als Opfer seines Berufes mit in den Tod folgte.
Der praktischen Rechtspflege, die es ja gerade mit dem
Handeln der Menschen zu tun hat, haben dessen Störungen bei
geistigen Erkrankungen nicht entgehen können. Das Bedürfnis
jener Wissenschaft hat daher zur Aufstellung gewisser allgemeiner
Eigenschaften der Persönlichkeit geführt, die als Grundlage für die
rechtliche Tragweite menschlicher Willensäußerungen angesehen
werden. Diese Eigenschaften, die dem Gesunden ohne weiteres
zugeschrieben werden, sind die Geschäftsfähigkeit und die
Zurechnungsfähigkeit. Die psychologischen Voraussetzungen
für die Geschäftsfähigkeit sowohl wie für die Zurechnungsfähigkeit
liegen zum Teil auf dem Gebiete des Verstandes, zum Teil aber im
Bereiche des Wollens. Beide Zustände erfordern einmal eine
klare Auffassung der tatsächlichen Verhältnisse, einen
Einblick in die rechtliche oder sittliche Bedeutung der
einzelnen Willenshandlung, andererseits die Möglichkeit
einer freien Entschließung in der Richtung jener Beweg-
gründe, die der eigenen selbstbewußten Persönlichkeit
angehören. Wie man leicht sieht, werden bei Geisteskranken
in der Regel die beiden aufgestellten Bedingungen unerfüllt sein.
Wo Wahnideen die Stellung des Ich zur Außenwelt in krankhafter
Weise verändern, ist für die richtige Beurteilung des eigenen Handelns
durch den Kranken keine Gewähr mehr gegeben, während der
Verlust der dauernden, grundlegenden Willensrichtungen oder deren
Überwältigung durch krankhafte Gefühle und Triebe dem Menschen
zweifellos die Freiheit eigener Entschließung im gebräuchlichen
Sinne des Wortes rauben. Sowohl die Fähigkeit, Rechtshandlungen
zu vollziehen, wie die Zurechnungsfähigkeit und damit die recht-
liche Verantwortlichkeit für gemeingefährliche Taten sind demnach
1) Wiedemeister, Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Impera-
torenfamilie. 1875.
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
437
bei Geisteskranken grundsätzlich als aufgehoben zu betrachten.
Eine allgemeine „Einsicht in die Strafbarkeit der begangenen Hand-
lung", ja auch bisweilen die Möglichkeit, verbrecherische Antriebe
bis zu einem gewissen Grade zu bekämpfen, kann trotzdem recht
wohl vorhanden sein. Die eingehendere Würdigung dieser rechtlichen
Beziehungen der Irren bildet den Gegenstand einer besonderen
Wissenschaft, der gerichtlichen Psychopathologie^).
1) V. Krafft - Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 3. Aufl.
1892; Maschka, Handbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. IV. 1882; Cramer,
Gerichtliche Psychiatrie, 3. Aufl. 1903; Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie!
1897; Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901; Sommer, Krimi-
nalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie auf naturwissenschaftlicher
Grundlage. 1904; Siemerling, Streitige geistige Krankheit in Schmidtmanns
Handbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. HI. 1906; Dittrich, Handbuch der
Sachverständigentätigkeit, Bd. VHI: Forensische Psychiatrie. 1908.
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Wie die Erscheinungen, so werden auch Verlauf, Ausgänge und
Dauer des Irreseins im allgemeinen durch jene zwei großen Gruppen
von Ursachen bedingt, die wir in der Entstehungsgeschichte der
Geistesstörungen kennen gelernt haben, einerseits durch die Art
und Wirkungsweise der krankmachenden Einflüsse, ande-
rerseits durch die körperliche und geistige Eigenart der
erkrankenden Person. Diese beiden Bedingungen sind es, die
das Wesen und die klinischen Eigentümlichkeiten des einzelnen
Krankheitsvorganges bestimmen; je genauer daher ihr Anteil an
der Entstehungsgeschichte des gegebenen Falles bekannt ist, mit
desto größerer Sicherheit wird es möglich sein, seine zukünftige
Gestaltung vorauszusagen. Da uns indessen meist ein tieferer Ein-
blick in den inneren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung
noch nicht möglich ist, sind wir vorderhand darauf angewiesen,
unser Urteil über den voraussichtlichen Verlauf einer Erkrankung
aus Anzeichen abzuleiten, die sich rein erfahrungsmäßig zur Lösung
dieser Aufgabe bewährt haben.
A. Verlauf des Irreseins.
Nach ihrem Verlaufe scheiden sich die Geistesstörungen vor
allem in krankhafte Vorgänge und in krankhafte Zustände.
Im ersteren Falle handelt es sich um den Ablauf bestimmter Ver-
änderungen in einer umgrenzten Zeit, im letzteren dagegen um ein
dauerndes, sich gleichbleibendes Verhalten der psychischen Per-
sönlichkeit, das entweder angeboren (z.B. Idiotie, hysterische
Veranlagung) oder als Wirkung einer voraufgegangenen Geistes-
krankheit erworben sein kann (,, Endzustände"). Bei diesen
krankhaften Zuständen kann entweder nur die Höhe oder auch die
Art der seelischen Leistungen verändert sein. Zu beachten ist
Beginn der Erkrankung.
Übrigens, daß sie vielfach den Boden für die Entwicklung vorüber-
gehender, abgegrenzter Krankheitserscheinungen abgeben.
Den Vorgang der psychischen Störung faßte Griesinger im
Anschlüsse an seinen Lehrer Zeller als einen einheitlichen auf,
dessen einzelnen Abschnitten die verschiedenen klinischen Formen
des Irreseins (Melancholie, Manie, Verrücktheit, Verwirrtheit,
Blödsinn) entsprechen sollten. Die Grundlage dieser Anschauung
hat anscheinend namentlich die Dementia praecox, in gewissem
Sinne wohl auch das manisch-depressive Irresein und die Paralyse
geliefert. Allein die Erfahrung hat die Annahme eines regelmäßigen
Ablaufes ,,der Geisteskrankheit" in bestimmten Abschnitten nicht
bestätigt und zunächst durch den Hinweis auf die Tatsache einer
„primären" Verrücktheit das künstlich erdachte Gesetz durch-
brochen. In der Tat läßt die Beobachtung der Formen psychischer
Störung durchaus nicht den nach der angeführten Auffassung
erwarteten einheitlichen, sondern einen überaus verschiedenartigen
Verlauf derselben erkennen.
Beginn der Erkrankung. Der Beginn einer Geisteskrankheit ist
in der Regel ein allmählicher; weit seltener bricht die Störung
plötzlich, ohne alle Vorboten, über den Menschen herein. Der Grund
für dieses Verhalten liegt in der allgemeinen Entstehungsweise des
Irreseins. Es gibt hier nur verhältnismäßig wenige Ursachen, die
ganz rasch eine durchgreifende Schädigung der körperlichen Grund-
lagen unseres Seelenlebens hervorzubringen vermögen (Gifte,
Gemütserschütterung, Schädelverletzung, Infektionskrankheit, Ge-
bärakt) ; meist haben wir es mit stetig, aber langsam wirkenden
Einflüssen zu tun, die erst nach und nach stärkere Veränderungen
erzeugen. Namentlich dort, wo die Bedingungen der Krankheit
wesentlich in der eigentümlichen Anlage der Person liegen, kann
die Entwicklung des Leidens Jahre und selbst Jahrzehnte dauern,
wenn kein heftiger Anstoß im Kampfe ums Dasein den Ausbruch
beschleunigt. Der Beginn der Erkrankung knüpft sich dann gern
an bestimmte Lebensalter, die wir anscheinend als Zeiten geringerer
Widerstandsfähigkeit betrachten dürfen. Dahin gehören in erster
Linie die Entwicklungsjahre, ferner der Beginn des Greisenalters
und bei Frauen das Klimakterium.
Bemerkenswert ist es, daß regelmäßig kleine Veränderungen im
Gefühlsleben die ersten und bisweilen wochen-, monate-, selbst
440
III, Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
jahrelang einzigen Anzeichen einer herannahenden Geisteskrank-
heit zu bilden pflegen. Überall, wo überhaupt eine Zeit der ein-
leitenden Krankheitserscheinungen sich abgrenzt, spielen unter
ihnen erhöhte gemütliche Reizbarkeit und Launenhaftigkeit, Unruhe,
unbegründet heitere, ganz besonders häufig aber niedergeschlagene
Stimmung die Hauptrolle, selbst wenn späterhin die Störungen der
Gefühle ganz in den Hintergrund treten. Außerdem sind Zerstreutheit,
Interesselosigkeit oder auffallende Geschäftigkeit häufige Vorläufer
der Krankheit. Zugleich läßt sich regelmäßig eine mehr oder
weniger tiefgreifende Beeinträchtigung des Schlafes, häufig auch
eine Störung der Eßlust und fortschreitendes Sinken der allgemeinen
Ernährung beobachten. Bei den sehr langsam zur Entwicklung ge-
langenden Geistesstörungen ist der eigentliche Anfang häufig schwer
festzustellen; der Zeitpunkt, an welchem von der Umgebung die
erste Veränderung an dem Kranken wahrgenommen wurde, bietet
oft nur einen sehr unzuverlässigen Anhalt für die Beurteilung dar.
An die Zeit der ersten Andeutungen schließt sich bisweilen eine
solche des eigentlichen Krankheitsbeginnes an, in welcher zwar das
Irresein bereits unverkennbar hervortritt, aber doch erst nach und
nach zu jener vollständigen Ausbildung sich steigert, die man als i
die Höhe der Krankheit bezeichnen kann. In anderen Fällen
erfolgt der eigentliche Ausbruch der Geistesstörung nach den voran-
gegangenen unbestimmten Erscheinungen mehr oder weniger
plötzlich, besonders im Anschlüsse an irgendeine äußere Veran-
lassung, welche die schon angebahnte Störung rasch zu ihrer vollen
Höhe anwachsen läßt.
Höhe der Erkrankung. Der weitere Verlauf läßt je nach der
Krankheitsform erhebliche Verschiedenheiten erkennen. Die Krank-
heit kann sich lange Zeit auf derselben Höhe erhalten: gleich-
mäßiger Verlauf; oder sie kann vielfache Schwankungen in der
Stärke ihrer Erscheinungen darbieten: schwankender Verlauf.
Dies letztere Verhalten ist bei weitem das häufigste. Die Nachlässe
der Störung schließen sich öfters mit einer gewissen Regelmäßigkeit
an den Ablauf der Tageszeiten an. Die Unruhe und Unklarheit der
Greise beschränkt sich nicht selten ganz auf die Nacht, während die
Kranken am Tage vielleicht geordnet sind ; ebenso sehen wir Alkohol-
deliranten in der Nacht regelmäßig erregter und verwirrter werden.
Daß epileptische Anfälle bei vielen Kranken nur oder doch vor-
Höhe der Erkrankung.
441
zugsweise nachts auftreten, ist längst bekannt. In zirkulären De-
pressionszuständen ist der Wechsel der Stimmung vom Morgen
zum Abend oft sehr auffallend ; meist sind die Kranken abends sehr
viel freier als morgens, seltener umgekehrt. Hier und da beobachtet
man auch einen regelmäßigen Wechsel von Tag zu Tag, selbst
Monate und Jahre hindurch ; solche Fälle scheinen oft der Dementia
praecox anzugehören. Zur Zeit der Menses stellt sich meist eine
vorübergehende Verschlechterung des Zustandes ein, bisweilen auch
dann, wenn die Blutung ausbleibt. Andererseits pflegt das Wieder-
erscheinen der versiegten Menses mit einer günstigen Wendung des
Krankheitszustandes einherzugehen.
Eine sehr große Zahl von Geistesstörungen verläuft in einzelnen,
durch längere freie Zwischenzeiten unterbrochenen Anfällen.
Sehr begreiflich ist ein solcher anfallsweiser Verlauf, wo dieselbe
Gelegenheitsursache immer von neuem wirkt. Dahin gehören die
Aufregungszustände der Trinker. Bei den epileptischen Bewußtseins-
störungen beruht das anfallsweise Auftreten in dem eigentümlichen
Kreislaufe der zugrunde liegenden, noch nicht näher bekannten
Umwälzungen; ähnlich steht es mit den seltenen, den Fieberverlauf
nachahmenden und an seiner Stelle einsetzenden Geistesstörungen
infolge von Malariavergiftung. Der Erkrankte ist jedoch hier über-
all auch während der freien Zwischenzeiten nicht als gesund zu be-
trachten; die Krankheitserscheinungen sind zwar zurückgetreten,
aber der krankhafte Grundzustand besteht weiter.
Ganz ähnlich sind diejenigen Geistesstörungen zu beurteilen,
denen man wegen ihres ausgesprochen anfallsweisen Verlaufes den
Namen des ,, periodischen" Irreseins beigelegt hat. Es handelt sich
dabei um einen mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel krank-
hafter mit nahezu gesunden Zuständen; die einzelnen Abschnitte
können Wochen, Monate, ja selbst eine Reihe von Jahren dauern.
Ebenso kann die Dauer der Zwischenzeiten (,,Intermissionen") von
einigen Wochen bis zu vielen Jahren schwanken. Die wesentliche
Ursache der Krankheit liegt hier offenbar in der Person des Er-
krankten selber, da sich häufig gar kein oder doch nur ein sehr
geringfügiger Anlaß für den Ausbruch des Anfalles auffinden läßt;
gelegentlich spielen die Menses eine solche auslösende Rolle. Es
gibt indessen auch Formen, in denen die einzelnen Erkrankungen
wesentlich oder ausschließlich im Gefolge ungünstiger äußerer
442
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Lebensereignisse (Gemütserschütterungen, Wochenbett, körperliche
Leiden) auftreten, die allerdings bei rüstigem Gehirn schwerlich
eine solche Schwankung des psychischen Gleichgewichts herbei-
geführt haben würden; hier sind die Anfälle seltener und unregel-
mäßiger. Endlich aber begegnen uns manche Fälle, in denen die
Krankheit sogar nur zwei- bis dreimal im Leben auftritt. Von einer
eigentlichen Periodizität kann man hier nicht mehr sprechen, doch
wird der innere Zusammenhang der einzelnen Anfälle durch die Zuge-
hörigkeit zu demselben klinischen Formenkreise dargetan. Aus dieser
Übereinstimmung der Krankheitsbilder leiten wir auch die Berechti-
gung ab, jene ganz vereinzelten Fälle dieser Gruppe zuzurechnen,
in denen nur ein einziger ausgeprägter Anfall zustande kommt.
Allerdings ist der klinische Aufbau der Anfälle beim perio-
dischen Irresein nicht immer ein so gleichmäßiger, daß jeder
folgende genau das Bild der früheren wiederholt; häufiger sehen
wir verschiedenartige Gestaltungen miteinander abwechseln. Nicht
nur kann die Dauer und Stärke der Krankheitserscheinungen eine
sehr verschiedene sein, sondern auch die klinische Zusammen-
setzung der einzelnen Krankheitsabschnitte kann bei demselben
Falle große Verschiedenheiten zeigen. Am auffallendsten ist der I
mehr oder weniger regelmäßige Wechsel zwischen manischen
und Depressionszuständen, dem man den besonderen Namen des
zirkulären Irreseins gegeben hat. Aber auch die Abschnitte von
gleicher Färbung bieten in dem stärkeren oder schwächeren Hervor-
treten von Erregung und Hemmung oder der Mischung beider, in
dem Auftauchen oder Fehlen von Wahnideen und Sinnestäu-
schungen noch mancherlei Verschiedenheiten. Dennoch ist es
immer ein bestimmter Formenkreis, innerhalb dessen sich alle
diese Bilder bewegen, so daß ihre innere Einheit unschwer erkannt
und damit von dem gegebenen Anfalle auf die Wiederkehr anderer
Anfälle aus derselben klinischen Gruppe geschlossen werden kann.
Diese Gemeinsamkeit der klinischen Krankheitsbilder und daneben
die gleichartige Prognose sind für die geschilderten Gruppen un-
gleich kennzeichnender als ihre sehr unregelmäßige Periodizität,
so daß sie zweckmäßiger unter jenem ersteren Gesichtspunkte be-
nannt werden (, »Manisch-depressives Irresein").
Die Zahl und Dauer der Anfälle pflegt im Verlaufe der ganzen
Krankheit ganz allmählich zuzunehmen. Die gesamte geistige Per-
Genesungszeit.
443
sönlichkeit erleidet dabei eine gewisse, wenn auch zunächst viel-
leicht nicht sehr stark bemerkbare Einbuße. Namentlich bei
Häufung schwerer Anfälle mit kurzen Zwischenzeiten können sich
tiefergreifende Schwächezustände herausbilden. Auch in leichteren
Fällen sind übrigens die periodisch Kranken während der anfalls-
freien Zeiten oft nicht völlig gesund; gewisse Eigentümlichkeiten,
scheues oder sehr aufgeregtes Wesen, auffallende gemütliche Reiz-
barkeit oder Ängstlichkeit, Schwäche oder Einseitigkeit in den
geistigen Leistungen, namentlich aber der Mangel einer ganz klaren
Einsicht in die eigenen Krankheitszustände lassen sich vielfach
auch dann nachweisen, wenn der anscheinend Genesene wieder voll
in seinen früheren Wirkungskreis eingetreten ist.
Eine wesentlich andere Bedeutung, als den Zwischenzeiten
beim periodischen Irresein, müssen wir wohl endlich jenen Nach-
lässen („Remissionen") der Krankheitserscheinungen zuerkennen,
die wir so häufig bei der Paralyse und ganz ähnlich bei der De-
mentia praecox sich einstellen sehen. Hier haben wir es mit Krank-
heiten zu tun, die meist entschieden fortschreiten. Trotzdem kann
das Leiden zeitweise zum Stillstande kommen, indem die aus-
geprägteren Krankheitszeichen ganz oder doch nahezu vollständig
zurücktreten. Offenbar müssen also die zugrunde liegenden Schäd-
lichkeiten sich vorübergehend wieder ausgleichen können. In-
dessen es handelt sich hier in der ganz überwiegenden Zahl der
Fälle doch um einen Rest von bleibenden Störungen, die eine Ver-
änderung der gesamten geistigen Persönlichkeit bedeuten. Nament-
lich aber stellt sich bei der Paralyse fast unfehlbar, bei der De-
mentia praecox wenigstens sehr häufig, früher oder später ein neuer
Nachschub der Krankheit ein, der nunmehr eine erhebliche Ver-
schlechterung des Gesamtzustandes, oft genug tiefe Verblödung
herbeiführt. In welchem Umfange daneben bei beiden Krankheiten
auch dauernde Stillstände oder selbst völlige Genesungen vor-
kommen, bedarf noch weiterer Untersuchung.
Genesungszeit. Am häufigsten finden sich Schwankungen des
Krankheitszustandes beim Schwinden der einzelnen Anfälle ; sie sind
daher im allgemeinen als ein günstiges Zeichen anzusehen. Aller-
dings kommt auch, besonders bei den sehr rasch entstandenen
und sehr kurz dauernden Geistesstörungen (alkoholisches Irresein,
epileptische Erregungszustände, Infektionsdelirien), ein fast plötz-
444
III, Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
liches Verschwinden der ganzen Krankheitserscheinungen vor, z. B.
nach einem tiefen Schlafe. In der übergroßen Mehrzahl der Fälle
jedoch geschieht die Abnahme einer psychischen Störung ganz all-
mählich, im Laufe von Wochen und Monaten. Zuerst verlieren
sich, wie es scheint, Erschwerungen der Auffassung und des Denkens;
die Kranken beginnen sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden,
Arzt und Mitkranke richtig zu bezeichnen, verstehen besser, sprechen
zusammenhängender. Weit später schwinden die Zeichen gemüt-
licher Erregung, die heitere oder traurige Stimmung; die Kranken
werden ruhiger, freier, gleichmäßiger in ihrem Benehmen. Anfangs
besteht diese Besserung vielleicht nur für kurze Zeit, Tage oder
Stunden, um einem abermaligen Hervortreten der Krankheits-
erscheinungen bald wieder zu weichen. Nach und nach werden
dann die Besserungen ausgiebiger und gewinnen längere Dauer;
die Rückfälle verlieren an Stärke, bis schließlich nur noch leichte
Verschlimmerungen bei besonderen Anlässen den fortschreitenden
Gang der Genesung unterbrechen.
Am längsten pflegt sich von den Krankheitserscheinungen die
Empfindlichkeit des gemütlichen Gleichgewichts oder die
Abstumpfung der Gefühlsregungen zu erhalten, auch wenn die
Störungen der Verstandestätigkeit und die dauernden Verstim-
mungen sich schon längere Zeit ausgeglichen hatten. So läßt sich
der Verlauf der Krankheit in seinen einzelnen Abschnitten vielleicht
am genauesten nach dem Verhalten der Gemütsregungen beurteilen.
Sind es doch aber auch gerade die Gefühle, in denen sich unmittel-
bar die augenblickliche Stellungnahme der Person zu den Ein-
drücken und Vorstellungen ihres Bewußtseinsinhaltes kundgibt, die
uns somit über deren Zustand jeweils am besten aufzuklären ver-
mögen, während die Verstandesarbeit weit mehr von dem Erwerbe
vergangener Tage, dem Schatze früher gebildeter Vorstellungen,
Begriffe und Urteile beherrscht wird. Eine Störung der Ver-
standesleistungen kommt daher erst verhältnismäßig spät zu-
stande, und sie gleicht sich unter dem Einflüsse der gesammelten
Erfahrung früher wieder aus als die Veränderungen im Bereiche
des Gefühls.
Sehr klare und darum praktisch überaus wichtige Beziehungen
zu dem Gesamtverlaufe des Irreseins pflegt das Körpergewicht
unserer Kranken darzubieten. Während die dauernden krankhaften
Genesungszeit.
Zustände nur insoweit erheblichere Schwankungen des Körper-
gewichtes erkennen lassen, wie greifbare Ernährungsstörungen oder
etwa vorübergehende Erregungen es beeinflussen, beginnt jeder
eigentliche psychische Krankheitsvorgang mit einem entschiedenen
Sinken des Körpergewichtes, das unter Umständen 15, 20 Kilo und
noch mehr in wenigen Monaten und selbst Wochen betragen kann.
Während des Krankheitsverlaufes schreitet die Abnahme langsam
fort; im übrigen pflegen ohne besonderen Anlaß nur geringfügige
Schwankungen vorzukommen.
Der weitere Gang des Körpergewichtes gestaltet sich je nach
der Art der Erkrankung verschieden. Neben den langsamen und
stetigen Änderungen beobachtet man gelegentlich starke Schwan-
kungen, namentlich bei der Dementia praecox; sie scheinen nach
Rosenfelds Untersuchungen wesentlich mit Wechsel des Wasser-
gehaltes im Körper zusammenzuhängen. Jede wirkliche Genesung
geht mit einer fortschreitenden Hebung der allgemeinen Ernährung
einher. Vielfach kündigt sich diese Wendung des Krankheits-
verlaufes im Verhalten des Körpergewichtes schon zu einer Zeit
an, in der die sonstigen Krankheitserscheinungen noch keinerlei
Besserung erkennen lassen. Umgekehrt sehen wir bisweilen den
Krankheitszustand sich günstig gestalten, ohne daß die Ernährung
sich in entsprechendem Maße bessert. Derartige Wendungen
sollten stets so lange mit äußerstem Mißtrauen betrachtet werden,
bis die unbedingt notwendige, aber zuweilen verzögerte Körper-
gewichtszunahme endlich eingetreten ist. Am schönsten zeigt sich
dieses gesetzmäßige Verhalten bei den Infektionspsychosen sowie
bei den einzelnen Anfällen des manisch-depressiven Irreseins.
Bei ungünstigem Ausgange des Leidens stellt sich mit der Be-
ruhigung der Kranken, wie sie die Verblödung mit sich bringt,
oft ebenfalls eine Zunahme des bis dahin stark gesunkenen Körper-
gewichtes ein. Unter diesen Umständen kann die Entscheidung,
ob die Wendung eine günstige oder ungünstige Bedeutung hat,
im einzelnen Falle zunächst recht schwierig werden. Meist werden
allerdings die allmählich deutlicher hervortretenden Zeichen der
Genesung oder des Schwachsinns bald das Urteil ermöglichen.
Bei Altersblödsinnigen, vielleicht auch bei einigen anderen Formen
des Irreseins, kann die Ernährungszunahme während der Ver-
blödung ausbleiben.
446
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Ganz besondere Beachtung verdient vielleicht die Erfahrung,
daß wir fast die stärksten überhaupt vorkommenden Schwankungen
des Körpergewichtes bei der Paralyse und der Dementia praecox
beobachten. Hier stellt sich häufig mit dem Eintritte einer ge-
wissen Beruhigung eine ungeheure Gefräßigkeit ein, die mit außer-
ordentlichem Ansteigen des Körpergewichtes einhergeht. Die
Kranken werden unförmlich dick; ihre Gesichtszüge verändern sich
vollständig. An den plumpen, glänzenden Backen wie an den um-
fangreichen Oberarmen finden sich im Unterhautzellgewebe wulstige
Einlagerungen, die auffallend an Myxödem erinnern können. Später-
hin sieht man diese Körperfülle meist schneller oder langsamer
wieder schwinden. Ich kann mich mit dem Gedanken nicht be-
freunden, daß es sich hier um eine einfache Folge der gesteigerten
Nahrungsaufnahme handelt, zumal wir andere derartige Kranke
trotz größter Eßlust durchaus nicht dicker werden, gelegentlich
sogar unter fortschreitender Abmagerung zugrunde gehen sehen.
Vielmehr bin ich geneigt, die Schwankungen des Körpergewichtes
hier für Teilerscheinungen der allgemeinen Stoffwechselerkrankung
zu halten, die mir jenen Erkrankungen zugrunde zu liegen scheint.
Der Heißhunger könnte dabei, wie beim Diabetes, etwa nur eines
der Zeichen der krankhaften Umwälzung in den Ernährungs-
vorgängen darstellen.
B. Ausgänge des Irreseins.
Von denjenigen Formen des Irreseins, die der Ausdruck be-
stimmter Krankheitsvorgänge sind, dürfen wir erwarten, daß sie
nicht nur einen im allgemeinen gesetzmäßigen Verlauf, sondern
auch einen bestimmten Ausgang nehmen. Allerdings wird das End-
ergebnis einer Erkrankung ohne Zweifel sehr wesentlich durch die
persönliche Widerstandsfähigkeit wie durch den Grad des Leidens
beeinflußt; auch zufällige Umstände können natürlich mit hinein-
spielen. Aus diesen Gründen wird unserer Vorhersage über den
mutmaßlichen Ausgang einer Geistesstörung auch im besten Falle
ein erheblicher Grad von Unsicherheit anhaften. Insbesondere
werden wir darauf gefaßt sein müssen, daß Krankheiten, die im
allgemeinen heilbar sind, unter Umständen doch einmal in geistiges
Siechtum ausgehen oder mit dem Tode abschließen können.
Heilung.
Dennoch ist die Stellung einer bestimmten Prognose^), eine
der wichtigsten ärztlichen Aufgaben, auch auf unserem Gebiete
innerhalb gewisser Grenzen erreichbar. Wir kennen einerseits
Krankheiten, deren Erscheinungen sich regelmäßig nach kürzerer
oder längerer Zeit wieder verlieren, andererseits solche, die ihrem
Wesen nach immer oder doch fast immer zum Tode führen. Zwischen
ihnen stehen diejenigen Leiden, die mit der Gefahr des Ausgangs
in geistiges Siechtum verknüpft sind. Hier liegen die größten prak-
tischen Schwierigkeiten für die ärztliche Vorhersage. Zum Teil sind
sie bedingt durch unsere noch sehr unvollkommene Kenntnis des end-
gültigen Ausganges der bisweilen über Jahrzehnte sich erstrecken-
den Erkrankungen, zum Teil durch den Mangel an Erfahrung über
diejenigen Zeichen, aus denen sich prognostische Schlüsse ableiten
lassen. Wir sind aber, wie ich glaube, zu der Annahme berechtigt,
daß auch auf diesem Gebiete sich mit der Zeit zuverlässige Regeln
werden auffinden lassen. Insbesondere dürfen wir annehmen, daß
der Endzustand, den ein ungeheilter Krankheitsvorgang hinterläßt,
Züge darbieten wird, die für ihn in irgend einer Weise kennzeich-
nend sind. Wenn das Wesen der einzelnen Formen des Irreseins
ein verschiedenes ist, wenn wir sie nach ihren Äußerungen von-
einander zu trennen vermögen, so werden voraussichtlich auch die
krankhaften Veränderungen, die sie nach ihrem Ablaufe zurück-
lassen, nicht die gleichen sein. Es muß daher möglich sein, aus
den Endzuständen Schlüsse auf den voraufgegangenen Krankheits-
vorgang zu ziehen, andererseits aber im Beginne des Leidens die-
jenigen Möglichkeiten bestimmt zu umgrenzen, mit denen man für
den Ausgang zu rechnen hat. Die immer vollkommenere Lösung
dieser Aufgabe ist nur eine Frage der fortschreitenden Erfahrung.
Heilung. Der Vorgang der Genesung geht ohne scharfe Grenze
in den Zustand der vollendeten Heilung über. Die wenigen Reste
der überstandenen Krankheit, vereinzelte Wahnideen oder Sinnes-
täuschungen, grundlose Verstimmungen, erhöhte Reizbarkeit, ver-
lieren sich allmählich; die gesunden Anschauungen und Neigungen
treten neu hervor; die gewohnten Beschäftigungen werden wieder
aufgenommen: die psychische Persönlichkeit mit ihrer ganzen
Eigenart knüpft über den krankhaften Zeitraum hinüber an die
^) Ilberg, Die Prognose der Geisteskrankheiten. 1901; Thomsen, Medi-
zinische Klinik, 1907, 45.
448
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
vor ihm liegende gesunde Vergangenheit an, ganz ähnUch wie wir
nach wirrem Traume beim Erwachen mit den Erlebnissen vor dem
Einschlafen wieder Fühlung zu gewinnen suchen. Ist die Wieder-
einsetzung der psychischen Persönlichkeit in die Herrschaft über
ihren Erfahrungsschatz an allen Punkten vollzogen, wird der
Ablauf der psychischen Vorgänge nirgends mehr durch krank-
hafte Gefühle oder Vorstellungen beeinträchtigt, dann haben wir
das Recht, von einer völligen Genesung zu sprechen. Dieses Er-
eignis ist nach der gewöhnlichen Annahme bei etwa einem Drittel
jener Erkrankungsfälle zu verzeichnen, die in Anstaltsbehandlung
kommen. Zur Würdigung dieser Zahlen ist zu beachten, daß einer-
seits viele chronisch verlaufende, unheilbare Fälle niemals in die
Irrenanstalten gelangen, und daß andererseits zahlreiche leichte
Erkrankungen ebenfalls in Familienpflege ihren günstigen Ablauf
finden.
Unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse würde es sich er-
geben, daß die Prognose der Geistesstörungen sich nicht erheblich
ungünstiger stellt als diejenige schwerer körperlicher Erkrankungen.
Erwägt man die beträchtlichen Zahlen der Schwindsüchtigen, Herz-
fehler, Krebskranken, der unheilbaren Hirn-, Nerven- und Nieren-
kranken auf großen medizinischen Abteilungen, so scheint der
Unterschied der wirklichen Heilerfolge zwischen den letzteren und
den Irrenanstalten wesentlich auf dem Umstände zu beruhen, daß
man sich eben zum Eintritte in ein Krankenhaus auch schon bei
geringfügigeren Anlässen zu entschließen pflegt.
Allein eine genauere Kenntnis der Geistesstörungen lehrt uns,
daß diese leider nicht nur immer schwere, sondern auch ihrer über-
wiegenden Mehrzahl nach unheilbare Krankheiten darstellen. Wirk-
lich ganz vollständige Heilungen im strengsten Sinne des Wortes
sind verhältnismäßig sehr selten. Eigentlich können wir von
solchen nur bei den Fieberdelirien, bei Vergiftungen, infektiösen
und thyreogenen Geistesstörungen, allenfalls auch bei gewissen
psychogenen Erkrankungen sprechen, während wir es bei allen
anderen Formen des Irreseins mit unheilbaren Leiden zu tun haben.
Allerdings sehen wir überaus häufig sämtliche auffallendere Krank-
heitserscheinungen für lange Zeit, selbst für viele Jahre, vollständig
verschwinden, so daß derartige Fälle unbedenklich zu den Heilungen
gerechnet zu werden pflegen. Wir denken hier namentlich an das
Heilung.
epileptische und das manisch-depressive Irresein sowie an die
Katatonie, auch an einzelne Beobachtungen von Hirnlues oder
selbst Paralyse. In der Regel setzt hier überall die Krankheit früher
oder später wieder ein, sei es in einfacher Wiederholung des früheren
Anfalles, sei es unter Fortschreiten des schleichenden Grundleidens.
Praktisch kommen die Zwischenzeiten oft einer Heilung ganz oder
nahezu gleich; von wissenschaftlichem Standpunkte aber müssen
wir leider bekennen, daß bei genauer Sichtung der Beobachtungen
nur ein kleiner Bruchteil von Fällen übrig bleibt, in welchen wir
nach dem heutigen Stande unseres Wissens wirklich endgültig
und vollständig Heilung annehmen dürfen. Dabei soll jedoch aus-
drücklich bemerkt werden, daß die Aussicht keineswegs ausge-
schlossen erscheint, vielleicht einmal für manche Formen des Irre-
seins Heilung zu finden, die heute noch jeder wirksamen Behand-
lung unzugänglich sind.
Das wichtigste Kennzeichen der eingetretenen Genesung ist
außer dem Schwinden der wahrnehmbaren Krankheitserscheinungen
die Einsicht in die krankhafte Natur des überstandenen Leidens
und damit zumeist das Auftreten einer gewissen Dankbarkeit für
die genossene Behandlung und Pflege. Jene Einsicht ist es ja
gerade, welche uns die Gewähr dafür bietet, daß der Genesende
die krankhaften Veränderungen seines psychischen Lebens als
etwas Fremdartiges empfindet, daß er mit andern Worten auf
den Boden der Beurteilung zurückgekehrt ist, auf dem er vor der
Erkrankung, in gesunden Tagen stand. Mangel der Krankheits-
einsicht deutet stets auf die Unmöglichkeit einer richtigen Beur-
teilung der während der Geistesstörung gesammelten Erfahrungen
hin. Sie hat ihren Grund entweder in der Fortdauer von Sinnes-
täuschungen und Wahnbildungen, krankhaften Stimmungen, oder
aber in der Unfähigkeit zu durchgreifendem Gebrauche der ge-
sunden Urteilskraft, deren Betätigung einerseits Ruhe und Gleich-
gewichtslage des Gemütes, andererseits aber eine gewisse An-
strengung und geistige Regsamkeit erfordert. Kein Kranker ist als
wirklich genesen zu betrachten, der nicht klare und volle Einsicht
in seine Krankheit besitzt, während umgekehrt ganz wohl ein
Verständnis für die krankhafte Natur der psychischen Störung be-
stehen kann, ohne daß darum immer Heilung zu erwarten wäre.
Ja, gerade in manchen Fällen unheilbaren, tief in der ganzen
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 29
450
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Anlage des Menschen wurzelnden Irreseins ist eine derartige Selbst-
erkenntnis nicht so selten vorhanden. Bei den anfallsweise ver-
laufenden Störungen aber bleibt die Krankheitseinsicht immer ein
sehr günstiges Zeichen, namentlich wenn gleichzeitig die stürmi-
scheren Erscheinungen zurücktreten. In manchen Fällen kommt
die Krankheitseinsicht erst sehr spät und zögernd zustande, nach-
dem sich bereits alle übrigen Zeichen der Geistesstörung völlig
verloren haben ; bei manchen zirkulären Kranken bleibt sie dauernd
unvollständig. Wir werden darin immer den Ausdruck einer an-
geborenen oder erworbenen Unfähigkeit zu raschem und restlosem
Ausgleiche krankhafter Störungen erblicken müssen.
Ganz regelmäßig, wenigstens bei allen länger dauernden Geistes-
störungen, geht mit der fortschreitenden Genesung auch eine
körperliche Erholung einher, außer Zunahme des Gewichtes Besse-
rung der Eßlust, des Schlafes und das Gefühl des Wohlseins, An-
zeichen, die bei gleichzeitigem Hervortreten günstiger psychischer
Veränderungen einen bedeutenden prognostischen Wert besitzen
und hauptsächlich mit einer Abnahme der gemütlichen Erregung
in innerem Zusammenhange zu stehen scheinen.
In einer kleinen Anzahl von Fällen hat man das Eintreten
psychischer Genesung während oder nach einer fieberhaften Er-
krankung (namentlich Typhus, Erysipel, Intermittens), seltener
nach stärkeren Blutungen, schweren Eiterungen oder Kopfver-
letzungen beobachtet^). Am häufigsten handelt es sich dabei
natürlich um verhältnismäßig frische Erkrankungen, Melancholie,
Manie, Amentia der Autoren, aber bisweilen tritt die günstige
Wendung auch nach längerer Dauer und in anscheinend aussichts-
losen Fällen ein; so werden weitgehende Besserungen nach Eite-
rungen bei der Paralyse berichtet. Freilich wird man in der Deu-
tung solcher Beobachtungen stets mit äußerster Vorsicht verfahren
müssen, da überraschende Genesungen oder doch Besserungen
auch sonst nicht gerade selten sind, eine einfache Folge unserer
mangelhaften klinischen Kenntnis der Geisteskrankheiten. Anderer-
seits aber kann man ohne Zweifel selbst bei längst verblödeten
und verwirrt gewordenen Kranken hier und da während einer ge-
1) Fiedler, Deutsches Arch. f. klin. Medizin, XXVI, 3, 1880; Lehmann,
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIII, 200, 1887; Wagner, Jahrb. f. Psychiatrie,
VII, 94. 1887; Friedländer, Monatsschr. f. Psychiatrie, VIII, 60. 1900.
Unvollständige Heilung. ^^i
legentlichen fieberhaften Erkrankung die Wahnideen zurücktreten
und einer unerwarteten geistigen Regsamkeit Platz machen sehen,
hier allerdings immer nur für kurze Zeit. Die Erklärung derartiger
Erfahrungen ist dunkel; wir müssen uns mit der Erwägung be-
gnügen, daß sich hier, wie ja auch die Entstehung geistiger Störungen
aus den gleichen Anlässen dartut, offenbar mächtige Umwälzungen
im Körperhaushalt und in der Ernährung der Hirnrinde vollziehen;
auch das Gefühl der Hilfsbedürftigkeit macht die Kranken viel-
leicht zugänglicher und lenkt sie von den eingewurzelten krank-
haften Vorstellungskreisen ab.
Vollständige Heilung einer Geisteskrankheit wird im all-
gemeinen am leichtesten in den rüstigen Lebensaltern und dort
zustande kommen, wo ein vorübergehender, äußerer Anlaß
die Ursache des Leidens bildete. Je weniger die Bedingungen der
Erkrankung in dem erkrankten Körper selber liegen, desto rascher
und vollständiger wird dieser unter sonst gleichen Umständen be-
fähigt sein, die Störungen auszugleichen und in den gesunden Zu-
stand zurückzukehren. In der Tat sehen wir daher diejenigen
Gruppen des Irreseins die günstigsten Genesungsaussichten dar-
bieten, die durch stark wirkende, aber gewöhnlich keine dauernde
Veränderung hervorbringende Ursachen erzeugt werden (akute Ver-
giftungen, fieberhafte Krankheiten, gemütliche Erschütterungen).
Weit ungünstiger liegen die Verhältnisse, wenn die Krankheits-
ursachen entweder bleibende körperliche Veränderungen hinterlassen
(Kopfverletzungen, Syphilis, Typhus bisweilen), oder aber, wenn
sie durch längere Zeit hindurch stetig auf den Menschen einwirken
und somit durch Häufung ihres Einflusses nach und nach eine
dauernde Umwandlung in seinem Gesamtzustande herbeiführen
(anhaltende Gemütsbewegungen, chronische Krankheiten und Ver-
giftungen).
Unvollständige Heilung. Von der Größe dieser dauernden Störung
und den Einflüssen, denen der Kranke weiterhin ausgesetzt ist,
hängt es hier ab, wieweit eine Wiederherstellung des früheren
gesunden Zustandes jeweils möglich ist. Nimmt auch ein aus-
brechender Krankheitsvorgang zunächst einen günstigen Ablauf,
so bleibt doch häufig genug eine ,, Disposition", eine Neigung zu
Weiteren Erkrankungen zurück, die namentlich dann ihren ver-
derblichen Einfluß geltend macht, wenn der Genesene sich in den
29*
452
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Bereich der alten Schädlichkeiten zurückbegibt. Er fällt jetzt weit
leichter, bei dem ersten gegebenen Anlasse, in die überstandene
Krankheit zurück. Jeder Rückfall setzt wiederum die Widerstands-
fähigkeit für die Folgezeit herab, so daß immer geringfügigere An-
stöße genügen, um die krankhaften Zustände aufs neue herbei-
zuführen.
I Ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie sich auf diese Weise unter
dem Einflüsse dauernder oder häufig wiederkehrender Ursachen
herausbilden können, finden sich bei ursprünglich krankhaft ver-
anlagten Menschen als angeborene Schwächen der Persönlichkeit
vor. Da hier die Krankheitsbedingungen in der Person selber zu
suchen sind, so kann von einer Heilung geistiger Störungen in dem
Sinne einer völligen Rückkehr zur Gesundheit nicht wohl die Rede
sein, da ja eben der Ausgangszustand selbst nicht als ein wirklich
gesunder anzusehen war. Das wichtigste Erfordernis einer jeden
Heilung, die Entfernung der Krankheitsursache, bleibt unerfüllbar,
wo diese letztere eben durch die ganze Eigenart des Menschen dar-
gestellt wird. Trotzdem sehen wir bei solchen Personen nicht selten
ausgeprägte und schwere psychische Krankheitserscheinungen mit
derselben Geschwindigkeit sich wieder verlieren, mit welcher sie
aus unbedeutenden Anlässen hervorgegangen sind.
Das eigentlich Auffallende ist dabei mehr die letztere, als die
erstere Erscheinung. Die krankhafte Ausgiebigkeit der Gleich-
gewichtsschwankung auf geringfügige Reize läßt die ganze Er-
krankung weit bedenklicher erscheinen, als sie wirklich ist. Würde
es doch auch verfehlt sein, etwa aus dem Herzklopfen eines Herz-
kranken auf den gleichen Grad gemütlicher Erregung schließen
zu wollen, den wir unter denselben Verhältnissen beim Gesunden
vorauszusetzen hätten! Wir würden dann erstaunt sein, dort so
rasch völlige Beruhigung zu beobachten, wo wir glaubten, es mit
einer tiefen, dauernden Gemütsbewegung zu tun zu haben. Um-
gekehrt aber wird in diesem Beispiele der leiseste Anstoß genügen,
das Anzeichen der Krankheit sogleich in voller Stärke hervorzu-
rufen, so daß es schließlich vielleicht durch die bloße Lebensarbeit
dauernd fortbesteht, während sonst ein Leiden bisweilen lange Zeit
vorhanden sein kann, ohne auffallende Störungen zu verursachen.
Ganz ähnlich haben wir es beim psychischen Krüppel mit einer
Verminderung der Widerstandsfähigkeit zu tun, die schließlich ohne
Unvollständige Heilung.
besonderen Reizanstoß zur Entwicklung geistiger Leiden führen
kann, die aber auch dann eine krankhafte Veränderung der ganzen
Persönlichkeit bedeutet, wenn sie nicht gerade lebhaftere Erschei-
nungen verursacht. Die Heilung der vorübergehenden Störungen
ist daher etwa mit der Beseitigung eines Anfalles von Herzklopfen
bei einem Herzkranken auf gleiche Stufe zu stellen; das eigent-
liche Grundleiden besteht dabei unverändert fort.
Die vorstehenden Erörterungen haben uns somit den Aus-
gang des Irreseins in unvollständige Heilung kennen gelehrt, die
„Besserung" oder „Heilung mit Defekt". Die eigentlichen
I Krankheitserscheinungen treten auch hier im wesentlichen zurück ;
I die Stimmung wird ruhiger und gleichmäßiger; Wahnideen und
Sinnestäuschungen verschwinden nach und nach, aber es machen
sich die mehr oder weniger ausgeprägten Anzeichen einer Herab-
setzung der psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, der
Schwäche, bemerkbar. Der Genesende denkt zwar der Form nach
richtig und hat auch eine gewisse Einsicht in seine Krankheit, aber
er ist nicht mehr derjenige, der er früher war; er hat einen Teil
seiner Persönlichkeit eingebüßt. „Gerade das Beste und Wertvollste
ist," wie Griesinger sich treffend ausdrückt, „von der geistigen
Individualität abgestreift." Die geistige Regsamkeit und Frische,
I die gemütliche Tiefe, die selbständige Tatkraft sind unwiederbring-
lich verloren gegangen. Oft genug bleibt indessen der volle Umfang
der psychischen Schwäche im Schutze des Anstaltslebens unbemerkt,
weil an den Kranken in dem ruhigen, geregelten Tageslaufe gar
keine besonderen Anforderungen herantreten. Der Versuch einer
Entlassung aus der Anstalt ist daher die entscheidende Probe, die
häufig genug schon nach kurzer Zeit die nur „Gebesserten" von
den völlig Genesenen abzutrennen gestattet, auch wenn vorher ein
abschließendes Urteil noch nicht möglich war.
Allerdings kommt hier wieder sehr viel auf die äußeren Um-
stände an. Ist die Häuslichkeit eine glückliche, die Vermögens-
lage und die Lebensstellung günstig, so vermag der Kranke viel-
fach wieder in seinen früheren Wirkungskreis zurückzukehren und
in geordneten Verhältnissen leidlich seine Stellung auszufüllen.
Allein die zielbewußte Festigkeit seines Willens hat er verloren;
schwierigen Lebenslagen und drängenden Kämpfen ist er nicht
mehr gewachsen; leicht schieben sich Schwankungen des psy-
454
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
chischen Gleichgewichts ein, welche die Stetigkeit der Leistungen
unterbrechen. Dieser Zustand pflegt namentlich den Besserungen
der Paralyse und der Dementia praecox eigentümlich zu sein.
Viele in unbegreiflicher Weise gescheiterte Lebensgänge, die schließ-
lich in bescheidenstem Wirkungskreise enden, dürften auf so ent-
standene Schwächezustände zurückzuführen sein. Als ganz natür-
licher Abschluß endlich ist die unvollkommene Wiederherstellung
dort zu betrachten, wo der ganze Krankheitsvorgang sich schon
auf dem Boden einer von vornherein unzulänglichen Persönlichkeit
abspielte. Hier pflegt meist selbst die frühere Höhe nicht wieder
erreicht zu werden, sondern der Gebesserte geht noch mehr ge-
schwächt aus dem Anfalle hervor, so daß bei häufigerer Wieder-
holung der Erkrankungen auch die psychische Einbuße jedesmal
eine gewisse Steigerung erfährt.
Unheilbarkeit. Schon die unvollständige Heilung bedeutet die
Entstehung einer unheilbaren Veränderung in dem Gesamtzustande
der Person, aber diese Veränderung besteht in einer einfachen,
mehr oder weniger hochgradigen Herabsetzung der psychischen
Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, ohne eine Umwälzung in
dem wesentlichen Inhalte des Denkens, Fühlens und Handelns zu
bedingen. Man kann daher weiterhin noch einen Ausgang in Un-
heilbarkeit unterscheiden, der entweder das unveränderte An-
dauern der einmal vollzogenen krankhaften Wandlung oder aber
deren Fortschritt bis zum völligen Zerfall der psychischen Persön-
lichkeit bedeutet. Das erstere ist der Fall bei manchen Kranken
mit manisch-depressivem Irresein sowie bei der Verrücktheit, bei
der ein langsam entwickeltes Wahnsystem ohne wesentliche Zu-
nahme der psychischen Schwäche dauernd festgehalten wird. Von
^ einem völligen Stillstande der Krankheit kann freilich auch hier
nicht die Rede sein. Vielmehr wird einem aufmerksamen Beob-
achter die Abnahme der psychischen Leistungsfähigkeit innerhalb
längerer Zeiträume kaum entgehen; schon der abstumpfende Ein-
fluß des einförmigen Anstaltsaufenthaltes muß sich vielfach in
dieser Richtung geltend machen.
Auch nach der Dementia praecox beobachtet man sehr häufig
die Rückkehr zu einer Art dauernden Gleichgewichtszustandes mit
den Erscheinungen der psychischen Schwäche und einzelnen
sonstigen Überbleibseln aus der Krankheitszeit. Sie bilden ge-
Unheilbarkeit,
wissermaßen den Übergang zu den unvollständigen Heilungen.
Diese Kranken sind fähig, sich in einfachen Verhältnissen ohne
erhebliche Schwierigkeit zurechtzufinden, sich zu beschäftigen, und
besitzen auch eine gewisse oberflächliche Krankheitseinsicht, so
daß sie von ihrer Umgebung gelegentlich für nahezu gesund ge-
halten werden können. Von Zeit zu Zeit jedoch treten die alten
Sinnestäuschungen wieder hervor, und nun lassen sich die Kranken
vorübergehend gänzlich von ihnen beherrschen, bis nach einigen
Stunden oder Tagen die Aufregung vorüber und alles rasch wieder
vergessen ist, ohne irgendwie wahnhaft verarbeitet zu werden. In
anderen Fällen bleibt nur die Berichtigung einzelner krankhafter
Erlebnisse aus. Die Kranken geben wohl zu, krank gewesen zu
sein, bleiben aber bei der Meinung, durch feindselige Einwirkungen
soweit gebracht worden zu sein, oder sie halten an der Wirklich-
keit bestimmter wahnhafter Erlebnisse fest, ohne diese jedoch
irgendwie weiter zu verarbeiten. Ihr sonstiges Verhalten bietet
dabei keine auffallenden Störungen dar; dennoch werden wir an-
nehmen müssen, daß hier eine gewisse Unzulänglichkeit des Urteils
vorliegt, die entweder durch die Krankheit erzeugt wurde oder schon
vorher bestand. Andeutungen eines solchen ,,Residualwahnes"^),
wie ihn Wernicke genannt hat, finden sich namentlich bei Epi-
leptikern, ferner bisweilen bei Alkoholdeliranten, nach manchen
Gefängnispsychosen, als meist vorübergehende Erscheinung auch
nach Infektionspsychosen (Typhus) und Kopfverletzungen.
Allen diesen gleichbleibenden oder nur sehr langsam sich ändern-
den Zuständen kann man den eigentlich fortschreitenden
Krankheitsverlauf gegenüberstellen, wie er bei gewissen Formen
des manisch-depressiven und epileptischen Irreseins, bei der De-
mentia praecox, namentlich aber in der Paralyse, regelmäßig zur ^
Beobachtung gelangt. Diese Entwicklung wird meist dadurch ein-
geleitet, daß zunächst die Stärke der dauernden gemütlichen Er-
regung abnimmt, während sich die begleitenden Störungen des
Verstandes überhaupt nicht oder doch nicht vollständig zurück-
bilden, sondern in Form tiefgreifender Urteilslosigkeit und geistiger
Stumpfheit, widerspruchsvoller und zusammenhangsloser Wahn-
ideen oder völliger Verwirrtheit bis zum tiefsten Blödsinn bestehen
) Heilbronner, Centralbl. f. Nervenheilk., 1907, 369.
456
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
bleiben. Natürlich vollzieht sich dieser Vorgang einer fortschreiten-
den Vernichtung der ursprünglichen Persönlichkeit, den man mit
dem Namen der Verblödung zu bezeichnen pflegt, je nach der
Form der Geistesstörung, die er abschließt, in etwas verschiedener
Weise und namentlich in sehr verschiedenen Zeiträumen. Während
sich beim manisch-depressiven Irresein die Entschlußunfähigkeit
oder der Betätigungsdrang und der Stimmungswechsel auch in den
unheilbaren Endzuständen erhält, ist die Verblödung nach De-
mentia praecox durch die mehr oder weniger hochgradige Stumpf-
heit und Gleichgültigkeit der Kranken neben einzelnen besser er-
haltenen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgezeichnet; zugleich
finden sich gewöhnlich Andeutungen katatonischer Erscheinungen,
Manieren, albernes Lachen, Stereotypen, Negativismus, Katalepsie.
Häufig sind auch Sinnestäuschungen, zusammenhangslose Wahn-
bildungen, Sprachverwirrtheit sowie zeitweise wiederkehrende,
kurzdauernde Erregungen. Indessen schwindet hier wie bei der
Paralyse oft genug auch die letzte Spur solcher früher vielleicht
in Überfülle gelieferten Krankheitsäußerungen, die von dem un-
aufhaltsamen geistigen Verfalle selbst mit vernichtet werden. Dem-
gegenüber sehen wir bei gewissen paranoiden Formen und der Ver-
rücktheit die einmal entwickelten Wahnideen nicht selten Jahre
und selbst Jahrzehnte unverändert oder in langsamer Umbildung
haften.
Auf die Art und den Grad der Verblödung hat, wie wir heute an-
nehmen dürfen, außer dem Wesen des zugrunde liegenden Krank-
heitsvorganges auch die Behandlung einen gewissen Einfluß. Wir
können uns nicht verhehlen, daß die Absperrung unserer Kranken
von allen Beziehungen zur Außenwelt, die Reinkultur verblödender
Kranker in gewissen Abteilungen, so wenig sie sich im allgemeinen
vermeiden läßt, doch vielfach der Erhaltung gesunder Reste der
geistigen Persönlichkeit nicht günstig ist. Ganz besonders ver-
derblich wirkt jede längere Isolierung, da sie die Pflege der ge-
sunden Erinnerungen und Regungen ausschließt; unter ihrer Ein-
wirkung namentlich entstehen jene vertierten Schreckgestalten, an
denen unsere alten Anstalten so reich waren. Umgekehrt vermag
die Beschäftigung und, wo sie möglich ist, die Familienpflege durch
Übung der von der Krankheit geschonten Fähigkeiten das Bild
des Verfalles wesentlich • freundlicher zu gestalten.
Tod.
457
Tod. Die letzte Form des Ausganges, den die Geistesstörung
nehmen kann, ist der Tod. Ohne Zweifel wird die Sterblichkeit
durch die psychische Erkrankung beträchtlich gesteigert; sie ist
bei Irren etwa fünfmal so groß wie bei der erwachsenen geistes-
gesunden Bevölkerung. Diese Zahl wird verständlich, wenn man
zunächst bedenkt, daß eine Reihe der dem Irresein zugrunde
liegenden Hirnerkrankungen sehr schwere körperliche Schädi-
gungen erzeugen, die dann ihrerseits unmittelbar oder mittelbar
zum Tode führen können. Hier ist vor allem die Paralyse zu nennen,
die entweder durch äußersten körperlichen Verfall oder durch Hirn-
lähmung im paralytischen Anfalle, häufig auch durch Vermittlung
von Druckbrand, Schluckpneumonien, Verletzungen, Blutvergiftung
dem Leben ein Ende macht. Neben der Paralyse kommen als un-
mittelbare Todesursachen Arteriosklerose, syphilitische Verände-
rungen, Geschwülste und ähnliche Hirnerkrankungen in Betracht.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist indessen das
Leiden, welches die Geistesstörung erzeugt, an sich kein tötliches.
Dagegen wird immerhin nicht allzu selten der Tod dadurch ver-
anlaßt, daß sich einzelne gefahrdrohende Krankheitserscheinungen
entwickeln. Dahin gehört in erster Linie die Neigung zum Selbst-
morde, wie sie sich so häufig an traurige Wahnideen oder Stim-
mungen anschließt. In ihr haben wir es mit einer äußerst ver-
hängnisvollen und praktisch überaus wichtigen Erscheinung des
Irreseins zu tun, die bei schlechter Überwachung zahlreiche Opfer
fordert. Nächstdem sind es die Nahrungsverweigerung, dann
die bis zur äußersten Erschöpfung andauernde Unruhe und Schlaf-
losigkeit mancher Kranker, Unglücksfälle verschiedenster Art,
schwerer Verlauf von Infektionen und chirurgischen
Verletzungen wegen der Unmöglichkeit einer geeigneten Be-
handlung, die als Todesursachen bei Geisteskranken genannt
werden müssen.
Endlich aber ist es eine sehr bemerkenswerte Tatsache, daß
auch die Ausbildung gewisser körperlicher Erkrankungen durch
das Irresein begünstigt wird. Namentlich die Tuberkulose forderte
früher in Irrenanstalten vier- bis fünfmal soviel Opfer wie bei
Geistesgesunden. Das kasernenhafte Leben, die häufig bestehende
Überfüllung, die ausgiebige Gelegenheit zur Ansteckung, die Un-
sauberkeit, sodann auch die Stumpfheit so vieler Kranker und die
458
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
damit verknüpfte Herabsetzung der Atmungs- und Kreislaufs-
tätigkeit sind wohl in erster Linie für diese Erfahrung verantwort-
lich zu machen. Durch Besserung der allgemeinen Lebens-
bedingungen, besonders aber durch rechtzeitige Absperrung der Er-
krankten ist es in der letzten Zeit gelungen, die Tuberkulosegefahr
in den Anstalten erheblich einzuschränken i).
C. Dauer des Irreseins.
Die Dauer psychischer Störungen bietet sehr weitgehende Ver-
schiedenheiten dar. Wo die Entstehungsbedingungen des Irreseins
im Menschen selbst gelegen sind, da dauert es durch das ganze
Leben an; je mehr sie dagegen von äußeren Ursachen abhängig
sind, und je rascher und vorübergehender diese einwirken, desto
kürzer ist die Dauer der Krankheit. Infektionsdelirien, Vergiftungs-
delirien können nach wenigen Tagen, Stunden, ja Minuten schon
wieder verschwinden. Aber auch bei krankhafter Veranlagung, bei
Epileptikern, Hysterischen werden ,, Anfälle" von psychischer Stö-
rung beobachtet, die nur eine äußerst kurze Dauer aufzuweisen
haben. Sie stellen jedoch, wie früher ausgeführt, nur vorüber-
gehende Verschlimmerungen eines an sich schon krankhaften, an-
dauernden Zustandes dar, wenn dieser auch für gewöhnlich nicht
in auffallenden Krankheitserscheinungen hervortritt. Im allge-
meinen zeigen die Psychosen trotz der genannten Ausnahmefälle
eine beträchtlich längere Dauer, als durchschnittlich körperliche
Krankheiten, so daß hier die Abgrenzung der akuten und chro-
nischen Formen nach einem anderen Maßstabe zu geschehen
pflegt. Selbst bei frischen Erkrankungen zieht sich der Verlauf
in der Regel über eine Reihe von Monaten hin; Fälle bis zur
Dauer eines Jahres und selbst darüber werden daher häufig noch
als akute oder subakute bezeichnet. Immerhin pflegt die über-
wiegende Mehrzahl der überhaupt heilbaren Psychosen innerhalb des
ersten Jahres den günstigen Ausgang zu nehmen. Heilungen nach
2 — 3 jähriger Dauer der Krankheit sind schon ziemlich selten, doch
kommen solche Ausnahmefälle in sinkender Zahl selbst nach fünf,
acht und zehn Jahren noch vor, ja es werden ganz vereinzelte
1) Oswald, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIX, 437.
Dauer des Irreseins.
459
Beobachtungen berichtet, in denen nach einem Anstaltsaufenthalte
von zwei Jahrzehnten noch eine unerwartete Genesung sich ein-
stellte^). Der größte Teil dieser „Spätheilungen" betrifft manisch-
depressive Kranke, bei denen gelegentlich Anfälle von mehr als
zehnjähriger Dauer vorkommen; die Rückbildungs jähre bringen
hier öfters die günstige Wendung. Der Rest der Fälle gehört höchst-
wahrscheinlich in das Gebiet der Katatonie, besonders den in mitt-
lerem Alter auftretenden Formen. Hier schließen sich bisweilen
die überraschenden Besserungen nach langwierigem Krankheits-
verlaufe an eine fieberhafte Erkrankung, an ein Trauma, an die
Versetzung in eine andere Umgebung an. Ohne Zweifel handelt
es sich aber dabei vielfach nicht um völlige Genesungen, sondern
um ,, Heilungen mit Defekt", wenn sie auch die Rückkehr in die
Familie und unter Umständen sogar in die Berufstätigkeit er-
möglichen.
Außer der Form der Psychose und der Persönlichkeit des Er-
krankten ist auf ihre Dauer zweifellos auch die Behandlung von
Einfluß. Je früher Geisteskranke in eine geeignete Umgebung, in
die Anstalt gebracht werden, desto rascher vollzieht sich unter sonst
gleichen Umständen der Ablauf der psychischen Störung, und desto
günstiger sind gleichzeitig die Aussichten auf eine möglichst voll-
ständige Genesung.
1) Kreuser, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVII, 771, 1900; Sigel, ebenda
LXII, 325, 1905; Petren, Über Spätheilung von Psychosen. 1908.
IV, Die Erkennung des Irreseins.
Die Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer
Geistesstörung im einzelnen Falle setzt vor allem die Kenntnis der
Tatsachen voraus, die uns von der Geschichte und dem Zustande
der gesamten Persönlichkeit ein möglichst klares und vollständiges
Bild zu vermitteln geeignet sind. Unsere erste Aufgabe ist so-
mit eine möglichst eingehende und umfassende Krankenunter-
suchung. Die Gesichtspunkte für die Verarbeitung der durch sie
aufgedeckten Tatsachen liefert uns dann die klinische Erfahrung.
Sie lehrt uns, ob und inwieweit sich die vorliegenden Beobachtungen
mit den gesicherten Errungenschaften der Wissenschaft zur Deckung
bringen lassen. Auf diese Weise gelangen wir zu einer Diagnose
des einzelnen Falles. Der durch Häufung der Beobachtungen ge-
wonnene Überblick über das klinische Gesamtgebiet wird uns so-
dann gestatten, die Grenzlinien gegenüber der Gesundheitsbreite
zu ziehen. Er gibt uns zugleich die sichere Richtschnur für die
Vermeidung jener eigentümlichen Fehlerquellen psychiatrischer
Beurteilung, die aus der Vortäuschung und aus der Verleugnung
von Krankheitszeichen entspringen.
A. Krankenuntersuchungi).
Den nächsten und wichtigsten Anhaltspunkt für die Erkennung
einer Geistesstörung geben uns naturgemäß ihre Erscheinungen
und ihr Verlauf ; für ein weitergehendes Verständnis ist aber immer
auch die Kenntnis der äußeren und inneren Ursachen erfor-
derlich, aus denen heraus sich die Erscheinungen entwickelt haben.
Das Endziel der klinischen Untersuchung ist daher nicht nur die
Feststellung der etwa vorhandenen Anzeichen geistiger Störung,
1) Morselli, Manuale di semeiotica delle malattie mentali. 1885 u. 1895;
Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten, 2. Aufl. 1901.
Vorgeschichte. 46 1
sondern auch die Auffindung derjenigen Anhaltspunkte, die in ur-
sächhcher Beziehung von Bedeutung sein könnten. Die Hilfsmittel,
die ihr für alle diese Zwecke zu Gebote stehen, sind einmal die
rückschauende Betrachtung des Vorlebens bis in frühere Geschlech-
ter hinein, die Anamnese, weiterhin die eingehende Prüfung des
gesamten körperlichen und psychischen Verhaltens in einem ge-
gebenen Augenblicke, die Aufnahme des Status praesens, ferner
die fortgesetzte Beobachtung und endlich in gewissen Fällen
auch die Erhebung eines Leichenbefundes.
Vorgeschichte. Die erste Frage richtet sich auf die Erblich-
keitsverhältnisse im weitesten Sinne. Wer hier zuverlässige An-
gaben erhalten will, wird gut tun, mit seiner Prüfung möglichst
in das Einzelne einzugehen und sich nicht mit allgemeinen Ant-
worten zu begnügen. Außer nach wirklichen Geisteskrankheiten,
zu denen von den Laien regelmäßig nur die allerschwersten An-
staltsfälle gerechnet werden, vergesse man nicht, über das Vor-
kommen von Nervenleiden, auffallenden Persönlichkeiten, Trunk-
sucht, Verbrechen Erkundigungen einzuziehen und sämtliche Fa-
milienmitglieder unter diesen Gesichtspunkten durchzugehen. Außer-
dem empfiehlt es sich, verschiedene Angehörige, vielleicht auch
den Untersuchten selbst, gesondert auszufragen, da oft genug un-
absichtlich, aus Unkenntnis oder Mangel an Verständnis, bisweilen
sogar absichtlich, wichtige Tatsachen verschwiegen werden. In
nicht wenigen Fällen gibt die persönliche Bekanntschaft mit den
verschiedenen Familiengliedern (absonderliche Vornamen!) dem ge-
übten Beobachter schon an sich genügenden Stoff zur Beurteilung
der Erblichkeitsverhältnisse an die Hand. Völlige, dauernde Ein-
sichtslosigkeit mit rührender Hoffnungsfreudigkeit bei den tief-
greifendsten Störungen ihrer Kranken, Urteilslosigkeit gegenüber
deren Wahnideen, übertriebene oder zur Schau getragene Ängst-
lichkeit, unsinniges Mißtrauen gegen die Anstalt und deren Ein-
flüsse, Neigung zu allen möglichen Quacksalbereien und kindischen
Einmischungen in die Behandlung, auf der anderen Seite Gleich-
gültigkeit, ja Roheit sind nicht selten kennzeichnende Züge bei
den ,, Angehörigen" entarteter Kranker.
Bei der geschichtlichen Verfolgung des einzelnen Lebens wird
man naturgemäß sein Augenmerk der Reihe nach auf alle jene
Schädlichkeiten zu richten haben, die wir früher als mögliche Ur-
462
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Sachen des Irreseins kennen gelernt haben. Namentlich kommen
zunächst Syphilis oder sonstige Allgemeinleiden der Eltern in Be-
tracht. Für die Zeit des intrauterinen Daseins haben wir auf schwere
Gemütsbewegungen, erschöpfende Krankheiten oder sonstige Schä-
digungen des mütterlichen Körpers Rücksicht zu nehmen. Weiter-
hin sind von Wichtigkeit der Verlauf der Geburt, Infektionskrank-
heiten oder Gehirnleiden (Krämpfe, Lähmungen) im ersten Kindes-
alter, Störungen der geistigen oder körperlichen Entwicklung, die
Einflüsse der Erziehung und für das spätere Leben die ganze Reihe
jener persönlichen Schicksale, die das psychische Gleichgewicht zu
erschüttern oder dauernd zu vernichten imstande sind, vor allem
die mannigfachen physiologischen und krankhaften Umwälzungen
auf körperlichem Gebiete, der Eintritt der Geschlechtsreife, das
Fortpflanzungsgeschäft, Erkrankungen aller Art, Kopfverletzungen,
endlich die Ausschweifungen, die Entbehrungen, die niederdrücken-
den Gemütsbewegungen. Oft genug freilich bleibt das Forschen
nach einer bestimmteren Ursache vollkommen ergebnislos, sei es,
daß überhaupt kein greifbarer äußerer Anstoß zur Entwicklung
des Irreseins vorhanden war, sei es, daß er nicht beachtet wurde
oder doch für die Erklärung sich als durchaus ungenügend er- |
weist. So werden von der Umgebung nicht selten solche Vorkomm-
nisse als Ursache der Psychose angesehen, die sich bei näherer
Betrachtung unzweifelhaft als die Anzeichen der bereits ausge-
brochenen Störung darstellen, z. B. die Ausschweifungen des Para-
lytikers, die Streitigkeiten des Hypomanischen, die Selbstbeschul-
digungen des Melancholikers, die Trägheit oder die Onanie des
Hebephrenen.
Außer den Ursachen sind selbstverständlich die etwaigen Er-
scheinungen des Irreseins in der Vergangenheit und weiterhin deren
Verlauf und Dauer festzustellen. Auch zu diesem Zwecke wird
man bis in die erste Jugendzeit zurückgreifen. Die Schnelligkeit
der körperlichen und geistigen Entwicklung (Gehen, Sprechen,
Lesen), die geistige Befähigung (Schulzeugnisse) und sittliche
Veranlagung, die Gemütsart, der Wille, die persönlichen Neigungen
und deren Ausbildung, die Beziehungen zur Umgebung, nament-
lich auch das Verhalten im Entwicklungsalter (Masturbation) haben
unter diesem Gesichtspunkte für uns Wichtigkeit. Von der größten
Bedeutung aber ist natürlich die Feststellung desjenigen Zeitpunktes,
Vorgeschichte.
an dem eine unverkennbar krankhafte Veränderung im Seelen-
leben sich geltend machte. Gerade in dieser Hinsicht ist der Arzt
den allergröbsten , zumeist unabsichtlichen Täuschungen ausge-
setzt. Fast bei allen langsam verlaufenden Psychosen wird die
Erkrankung längere Zeit hindurch verkannt und ihr Beginn daher
viel später angenommen, als er wirklich stattfand. Erst bei ein-
gehendem Befragen erfährt man dann, daß doch auch vor dem
bezeichneten Zeitpunkte, oft Monate und Jahre vorher, schon diese
oder jene, nicht weiter beachteten Anzeichen der Störung vorhan-
den waren, daß die ersten krankhaften Spuren vielleicht schon bis
in die früheste Jugend zurückreichen. Gebildete Leute sind in
dieser Beziehung vielfach nicht bessere Beobachter als Ungebildete.
Besonders wichtig ist die Feststellung, ob die vorliegende Er-
krankung die erste im Leben ist, oder ob schon früher ähnliche
oder andersartige Anfälle voraufgingen. Der Nachweis solcher
Vorläufer grenzt die Zahl der Krankheitsformen, mit denen man
zu rechnen hat, sofort sehr erheblich ein. Allerdings ist es nicht
immer leicht, über diese Frage Klarheit zu erhalten. Die Kranken
selbst sind oft nicht imstande, Auskunft zu geben, und von der
Umgebung sind leichtere Erregungen oder Verstimmungen viel-
fach gar nicht als krankhaft aufgefaßt, auf irgendwelche zufälligen
Ereignisse zurückgeführt oder ganz vergessen worden. Die Nach-
forschungen sind namentlich auf die Entwicklungs- oder Rück-
bildungsjahre zu richten. Epileptische Verstimmungen werden oft
durch die Frage aufgedeckt, ob schon einmal Lebensüberdruß be-
stand, und namentlich, ob Zeiten mit großer Reizbarkeit vorhanden
waren, Haben sich frühere Anfälle ergeben, so ist sorgfältig nach-
zuforschen, ob seither völlige Genesung eintrat, oder ob diese
oder jene Störungen von der ersten Erkrankung zurückgeblieben
sind.
Die genauere Aufklärung der Vorgeschichte des Irreseins setzt
natürlich eine vollständige Kenntnis der einzelnen Krankheits-
formen voraus. Schon aus den ersten allgemeinen Angaben über
die ursächlichen Verhältnisse, über die langsame oder schnelle Ent-
wicklung des Leidens, über das Bestehen von Sinnestäuschungen,
Wahnideen, Gedächtnis- und Verstandesstörungen, traurigen und
heiteren Verstimmungen, Abweichungen im Benehmen und Han-
deln, körperlichen und besonders nervösen Krankheitszeichen, über
464
IV. Die Erkennung des Irreseins.
den gleichbleibenden, fortschreitenden, anfallsweisen, zirkulären
Verlauf ergibt sich zumeist bald der Verdacht auf eine bestimmte
klinische Erkrankungsform, der dann durch Eingehen auf das Ein-
zelne weiter begründet oder widerlegt werden kann. Für prak-
tische Zwecke und in der Hand des Erfahrenen ist diese zunächst
nach einem allgemeinen Überblicke suchende Aufrollung der Vor-
geschichte ungleich zweckmäßiger als die planmäßige Erledigung
eines umfassenden Fragebogens, der alle überhaupt möglichen Er-
scheinungen des Irreseins berücksichtigt. Weniger belangreich für
die Erkennung, dafür aber um so wichtiger für die Behand-
lung der Krankheit sind endlich die nie zu unterlassenden Fragen
nach der Neigung zu gemeingefährlichen Handlungen, zur Nah-
rungsverweigerung und namentlich zum Selbstmorde.
ZustandSunterSUChung. Wenn auch die Vorgeschichte viel-
fach schon hinreichende Anhaltspunkte liefert, um mit großer
Wahrscheinlichkeit nicht nur eine Geistesstörung überhaupt, son-
dern deren besondere Form feststellen zu können, so ist doch für
die Abgabe eines ärztlichen Urteils die persönliche Untersuchung
auch in den anscheinend einfachsten Fällen ebenso unabweis-
liches Erfordernis wie bei irgendeiner körperlichen Erkrankung. 1
Der innige Zusammenhang zwischen seelischen und körpedichen
Störungen wird uns dabei zu sorgfältiger Berücksichtigung auch
dieser letzteren veranlassen, da wir in ihnen nicht selten Auf-
schlüsse über die Ursachen des Irreseins oder aber klinisch wich-
tige Begleiterscheinungen aufzufinden erwarten dürfen.
Die körperliche Untersuchung wird zunächst den allgemeinen
Zustand des Körpers ins Auge zu fassen haben. Mißverhältnis
zwischen Lebensalter und Aussehen (jugendlicher Habitus, vor-
zeitiges Greisentum), das Verhalten des Körperwachstums (Zwerg-
wuchs, Kyphosen, schmächtiger Bau, Akromegalie), der Ernäh-
rung (Anämie, Fettpolster, Hautfarbe), der Kräfte (Muskulatur),
Kropf bildung, Hautverdickungen, Spuren alter Rachitis (Zähne,
Rippen, Epiphysen), angeborener oder erworbener Syphilis (Hut-
chinsonsche Zähne, Alopecie, Knochenauf treibungen, Hautnar-
ben, Drüsenschwellungen) können wertvolle Fingerzeige für die
ursächliche Beurteilung des Falles abgeben. Ferner pflegt man aus
dem Vorhandensein gewisser Entwicklungsstörungen (Albinismus,
Spina bifida, Hasenscharte, Wolfsrachen, sehr steiler oder sehr
Zustandsuntersuchung.
flacher Gaumen, Kryptorchismus, Polymastie, Polydaktylie, Syn-
daktylie, hochgradige Myopie, Mißbildungen der Augen, Ohren,
Zähne, Geschlechtsteile), die man als Entartungszeichen be-
trachtet, den Schluß auf eine psychopathische Veranlagung zu
ziehen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Beziehungen zwischen
jenen Bildungsfehlern und dem Hirnzustande nichts weniger als
eindeutige und klare sind. Man wird daher bei der Verwertung
solcher Befunde mit größter Vorsicht zu verfahren haben. Das-
selbe gilt in noch höherem Maße von den Tätowierungen, denen
man ebenfalls eine gewisse kennzeichnende Bedeutung für den
Zustand des Seelenlebens zugeschrieben hat. Hier sind in erster
Linie die Lebensgewohnheiten der Stände und Berufe maßgebend,
aus denen die Kranken stammen.
Unzweifelhaft der wichtigste Teil der körperlichen Untersuchung
ist die Prüfung des Nervensystems, insbesondere des Gehirns,
das freilich am Lebenden unserer Beurteilung nur wenige An-
griffspunkte darbietet. Von der Größe des Gehirns kann uns die
Schädelmessung, namentlich nach dem von Rieger^) ausgebildeten
Verfahren, ein ungefähres Bild verschaffen, dem indessen alle jene
Fehlerquellen anhaften, die in dem unvollkommenen Parallelismus
der Schädel- und Hirnoberfläche ihren Ursprung haben. Unmittel-
bare psychiatrische Wichtigkeit besitzen daher nur diejenigen Ver-
bildungen des Schädels in Form und Größe, die unzweifelhaft über
den Bereich jener Fehlerquellen hinausgehen. Dabei ist zu berück-
sichtigen, daß es nicht allein auf die Schädel- oder Gehirngröße
an sich, sondern ganz gewiß auf den feineren Bau des Hirns und
wohl auch auf sein Verhältnis zu der Größe und Masse des ganzen
Körpers ankommt. Unter Berücksichtigung des letzteren Um-
standes werden bisweilen Mißverhältnisse aufgedeckt, die der
einfachen Betrachtung entgehen (relative Mikrocephalie). Alle
feineren, erst mit Hilfe genauer Messungen feststellbaren Abwei-
chungen können höchstens die allgemeine Vermutung begründen,
daß mit ihnen vielleicht auch Störungen in der Hirnentwicklung
einhergehen, doch kommen auch völlig normale psychische Lei-
1) Knecht, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 876; Ganter, ebenda LV,
495; Arch. f. Psychiatrie, XXXVIII, 978; Giuf frida - Ruggeri, atti della societä
Romana di antropologia, IV, 2, 3, 1896; Vaschide et Vurpas, Annales de neuro-
logie, 1903, 1.
2) Rieger, Eine exakte Methode der Craniographie. 1885.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 30
466
IV. Die Erkennung des Irreseins.
stungen bei recht kleinen (52 cm Umfang) und bei stark verbil-
deten Schädeln vor. Sehr beachtenswert sind dagegen die Spuren
früherer Verletzungen, Narben, Eindrücke, die bisweilen den ein-
zigen Schlüssel für das Verständnis sonst rätselhafter Krankheits-
bilder abgeben.
Über die Kreislaufsverhältnisse des Gehirns vermag uns bis zu
einem gewissen Grade die Betrachtung benachbarter Gefäßbezirke,
des Gesichtes und vor allem des Auges, Aufschluß zu geben; in
vereinzelten Fällen gestatten Schädellücken auch eine unmittel-
bare Untersuchung^). Berger fand bei Gemütsbewegungen deut-
liche Veränderungen der Hirngefäße, die sich vielleicht auch in
Krankheitszuständen beobachten lassen würden, Verengerung bei
Lustgefühlen, Erweiterung bei Unlust. Für die Hirnpathologie ist
die Augenspiegeluntersuchung bekanntlich ein überaus wichtiges
Hilfsmittel geworden. Bei Geisteskranken dagegen sind ihre Er-
gebnisse leider noch allzu unsichere geblieben, als daß man ihr
heute einen wesentlichen Wert für die Diagnostik zuerkennen
könnte 2). Ob hier andere Verfahren, die Thermometrie^) und die
Auskultation des Kopfes, bessere Ergebnisse liefern werden, muß
der Zukunft überlassen bleiben.
Von durchschlagender Bedeutung für die Beurteilung des Ge-
hirnzustandes ist dagegen die Prüfung seiner Äußerungen. Sehen
wir zunächst ab von den psychischen Erscheinungen, so werden
wir in erster Linie die Sinnesgebiete zu untersuchen haben. Nach
Feststellung der Refraktion und der Sehschärfe wird die perime-
trische Ausmessung des Gesichtsfeldes*) hemianopische Störungen,
Ausfälle und Einengungen mit richtiger oder veränderter Farben-
folge aufzudecken haben. Aufmerksamkeitsstörungen, wie sie bei
den verschiedensten Erkrankungen vorkommen, liefern zackige
Umgrenzungen und Erweiterung bei zentrifugaler Bewegung der
Fixierfläche. Beim Ohr wird außer der Besichtigung mit dem
Spiegel und der Stimmgabelprüfung insbesondere noch die elektrische
1) Berger, Zur Lehre von der Blutzirkulation in der Schädelhöhle des Men-
schen. 1901; Über die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, I, 1904;
II, 1907.
ü) Pilcz, Zeitschr. f. Augenheilk., XII, 729; Bondi, Wiener med. Presse,
1907, 1497-
3) Mo SSO, Die Temperatur des Gehirns. 1894.
4) Klien, Arch. f. Psychiatrie, XLII, 359.
Zustandsuntersuchung.
467
Untersuchung der Gehörnerven in Frage kommen, die bisweilen
bemerkenswerte Abweichungen von der Brenner sehen Normal-
formel zutage fördert. Die Geruchs- und Geschmacksprüfung
erfolgt nach den üblichen Verfahren. Die Untersuchung der
Sinnesleistungen gibt auch zugleich Aufschlüsse über das Bestehen
von zentralen Ausfallserscheinungen, Worttaubheit oder Seelen-
blindheit, wie sie zum Nachweise von Herderkrankungen führen
können.
Auf motorischem Gebiete beschäftigt uns zunächst Größe und
Beweglichkeit der Pupille, deren feinere Untersuchung in den
letzten Jahren wesentliche Fortschritte gemacht hat. Bei der gro-
ßen Wichtigkeit, die den Pupillenstörungen für die klinische Be-
0,^65
1V
,1.0ao 1,305
310
Mm.
Fig. XXI. Kinematogramm einer Pupillenreaktion auf Lichteinfall,
trachtung zukommt, ist eine sorgfältige Feststellung ihres Ver-
haltens im Dunkelzimmer und womöglich mit vergrößernden
Lupen unerläßlich. Von den verschiedenen Apparaten, die zu
diesem Zwecke gebaut worden sind, dürfte der von Weiler an-
gegebene den höchsten Anforderungen entsprechen. Er gestattet,
in das durch die Lupe betrachtete Auge Lichtmengen von belie-
biger Stärke plötzlich einfallen zu lassen und die Veränderungen
der Weite mit Hilfe eines in die Irisebene gespiegelten, verschieb-
baren Maßstabes zu messen, ferner unter Beiziehung eines Chro-
noskopes genaue Zeitbestimmungen vorzunehmen und endlich auch
kinematographische Aufnahmen des Reaktionsvorganges zu machen.
Ein solches Kinematogramm einer gewöhnlichen Lichtreaktion
gibt^die Fig. XXL Man sieht hier die aufeinanderfolgenden Auf-
^) Chvostek, Jahrb. f. Psychiatrie, XI, 267.
30'
468
IV. Die Erkennung des Irreseins.
nahmen der Pupille in halber Naturgröße, die sich, namentlich
mit Hilfe einer Lupe, leicht ausmessen lassen. Darüber findet sich
ein Maßstab, auf dem die Zeitverhältnisse in Sekunden abgelesen
werden können, und ferner in doppelter Größe ein Aufriß des Re-
aktionsvorganges, der die Veränderungen der Pupillenweite wäh-
rend der dargestellten Zeit erkennen läßt. Das erste Pupillenbild
ist noch undeutlich, weil hier die Belichtung erst während der
Expositionszeit begann. Man sieht, daß die Verengerung der Pu-
pille erst nach einer Latenzzeit von 0,265" beginnt. Sie schreitet
dann von 7,6 auf 4,4 mm fort, ein Wert, der 1,5" nach dem Be-
ginne der Pupillenbewegung erreicht wird. Merkwürdigerweise zeigt
sich dazwischen eine Erweiterung, die 1,08" nach der Belichtung
beginnt und etwa 0,22" andauert. Sie ist eine regelmäßige Er-
scheinung und dürfte nach Weilers Auffassung als psychische
Reaktion auf den plötzlichen Lichtreiz anzusehen sein, die sich
in den Reflexvorgang einschiebt.
Was wir an der Pupille zu beachten haben, ist zunächst ihre
Weite, die auf beiden Seiten verschieden sein kann, namentlich
bei organischen Hirnerkrankungen, aber auch bei Psychopathen,
Epileptikern, Hysterischen, deren Durchschnittswerte aber auch
bei den einzelnen Psychosen gewisse Abweichungen darbieten.
Weiler fand bei der von ihm angewandten Beleuchtung die Weite
bei Gesunden durchschnittlich 5,2, bei Epileptikern 6,1, bei der
Dementia praecox 5,5, bei der Paralyse 4,4 mm. Hier und beim
Altersblödsinn findet sich häufig sehr starke Verengerung der Pu-
pillen.
In zweiter Linie ist die Form der Pupillen zu beachten, da Ver-
zerrungen des Randes, die Entrundung, einen wichtigen Anhalts-
punkt für die Annahme syphilitischer oder metasyphilitischer
Krankheitsvorgänge bilden. Die weitere Untersuchung wird sich
auf die Prüfung des unmittelbaren und konsensuellen Reflexes auf
Lichteinfall und auf die Konvergenzreaktion zu erstrecken haben.
Die Ausgiebigkeit der Pupillenbewegung unterliegt weiten Schwan-
kungen. Weiler berechnete sie bei Gesunden auf durchschnittlich
1,7 mm; bei Epileptikern betrug sie 1,9, bei der Dementia praecox
1,4, bei der Paralyse nur 0,4 mm. Während die vollkommene,
einseitige oder doppelseitige Starre bei einer Reihe verschiedener
Krankheiten, vorübergehend oder sogar dauernd gelegentlich auch
Zustandsuntersuchung.
469
bei Hysterie beobachtet wird, bildet die einfache Lichtstarre ein
fast untrügliches Zeichen für den Nachweis metasyphiHtischer Er-
krankungen, das nur in seltenen Fällen bei alter Lues, einseitig
auch nach Trauma vorzukommen scheint. Namentlich bei den
gänzlich oder auf Licht starren Pupillen der Paralytiker läßt sich
dann bisweilen sehr ausgeprägt die von Westphal beschriebene
Verengerung der Pupille bei krampfhaftem Lidschlusse nach-
weisen. Trägheit der Reaktion geht ihrem Erlöschen in der Regel
schon einige Zeit voraus. Es ist jedoch äußerst schwierig, das ein-
wandfrei festzustellen, wenn man nicht Zeitmessungen ausführt,
die einerseits sehr feine Hilfsmittel erfordern, andererseits die
schwankende persönliche Reaktionszeit des Beobachters hinein-
ziehen müssen. Ganz zuverlässige Ergebnisse sind wohl nur von
der fortlaufenden photographischen Aufnahme zu erwarten. Da-
gegen sind noch einige Erfahrungen bekannt geworden, die uns
gestatten, auf anderen Wegen feinere Störungen der Lichtreaktion
nachzuweisen. Weiler fand, daß die weitere, konsensuelle Ver-
engerung einer bereits durch unmittelbare Belichtung verengten
Pupille bei Belichtung des anderen Auges fast allen Paralytikern
fehlte, deren Pupillen sonst noch nicht lichtstarr waren; dagegen
wurde diese von ihm so genannte ,, sekundäre Reaktion" in keinem
anderen Krankheitsfalle vermißt. Bumke stellte ferner fest, daß
der Lichtreflex, der bei schv/acher galvanischer Durchströmung
eines Auges beiderseits auftritt, bei 87% seiner Paralytiker aus-
blieb. Bei hemianopischem Gesichtsfeldausfall gelingt es, das Fehlen
der Lichtreaktion bei Belichtung der sehuntüchtigen Bezirke mit
sehr feinen Lichtbündeln nachzuweisen.
Ein Zeichen, dessen Schwinden ebenfalls vielfach als Vorläufer
weitergreifender Pupillenstörungen auftritt, ist die von Lacoeur
beschriebene Pupillenunruhe, ein feines, fortwährendes Schwanken
der Pupillenränder. Sie dürfte als Begleiterscheinung psychischer
Vorgänge anzusehen sein und ist nur der Lupenuntersuchung
zugänglich. Auch die Erweiterung der Pupillen auf schmerz-
hafte Reize geht bei der Paralyse öfters schon früh verloren.
Eine ganz besondere Bedeutung haben diese früher weniger be-
achteten Erscheinungen und die ihnen nahverwandte Erweite-
rung der Pupillen bei psychischen Leistungen, Anspannung der
Aufmerksamkeit, Lösung einer Rechenaufgabe, durch den von
^V. Die Erkennung des Irreseins.
Bumke^) geführten Nachweis gewonnen, daß sie bei der Dementia
praecox in einer erhebUchen Zahl von Fällen (60%) vermißt
werden. Hübner fand noch etwas höhere, Weiler niedrigere
Zahlen, doch beobachtete auch er ein wirklich normales Verhalten
der psychischen Schmerz- und Schreckreaktion nur in etwa der
Hälfte der Fälle. Westphal sah bei drei Katatonikern querovale
Form der Pupillen und vorübergehende beträchtliche Verschlechte-
rung des Lichtreflexes.
Bei der weiteren Untersuchung werden wir das Spiel der Augen-
muskeln, der Gesichtsmuskeln und der Zunge zu beachten haben;
auch das Verhalten der Mimik (Starrheit, Zuckungen, Grimas-
sieren) ist von Wichtigkeit. Mehr oder weniger bindende Rück-
schlüsse auf die Art des Krankheitsvorganges ermöglichen uns ge-
wisse Formen des Krampfes (Rindenepilepsie, Athetose, Chorea,
Myoklonie), des Zitterns (Senium, Alkoholismus, Delirium tremens,
multiple Sklerose) und der Lähmung (schlaffe oder spastische Läh-
mung, Kontraktur, Verteilung auf Körperhälften, Glieder, einzelne
Muskelgruppen), dann manche Koordinationsstörungen verwickelter
Willkürbewegungen, des Gehens, Stehens, namentlich aber des
Sprechens und Schreibens. Außer dem Stottern und Stammeln
einerseits, dem Häsitieren, Skandieren, dem Silbenstolpern und
Schmieren andererseits kommen hier auch die aphasischen und
paraphasischen Störungen in Betracht^), außer der Ataxie der
Schrift die Agraphie und Paragraphie. Daran würde sich eine Unter-
suchung der motorischen und ideatorischen Apraxie und Para-
praxie anzuschließen haben, von denen die letztere freilich schon
weit in das psychische Gebiet hineinragt. Endlich würden wir
uns mit den epileptischen und hysterischen Krämpfen zu be-
schäftigen haben, die uns auf eine bestimmte, freilich zunächst
symptomatische Krankheitsauffassung hinweisen.
1) Bumke, Die Pupillenstörungen bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 1904;
Münch, med. Wochenschr., 1907, 47; Fuchs, Jahrb. f. Psychiatrie, XXIV, 326;
Hübner, Arch. f. Psychiatrie, XLI, 1016; Fröderstrom, Monatsschr. f. Psy-
chiatrie, XXIII, 405.
2) Ballet, Die innerliche Sprache und die verschiedenen Formen der Aphasie,
deutsch von Bongers. 1890; Freud, Zur Auffassung der Aphasien. 1891; Heil-
bronner, Über Asymbolie, Wernickes Psychiatr. Abhandlungen. 1897; Ba-
stian, Über Aphasie und andere Sprachstörungen, deutsch von Urstein. 1902;
Wolf f , Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie der Sinnesorgane, XV, i; Li ep mann,
Pas Krankheitsbild der Apraxie. 1900.
Zustandsuntersuchung.
471
Der Untersuchung des Gehirns schließt sich eng diejenige des
Rückenmarks, des Sympathicus und endhch der peri-
pheren Nerven an, um so enger, als ja selbst heute noch nicht
immer die Ursache einer krankhaften Erscheinung mit Sicherheit
in einen der großen Abschnitte des Nervensystems verlegt werden
kann. Die Prüfung des Haut- und Muskelsinnes im weitesten
Umfange, der Reizempfindlichkeit in ihren verschiedenen Gestal-
tungen, der Schmerzempfindlichkeit (Druckpunkte), der elek-
trischen^) und mechanischen Erregbarkeit der Nerven (Facialis-
phänomen) und Muskeln, der Ausgiebigkeit, Sicherheit und Kraft
der Bewegungen, der Reflexe, endlich der vasomotorischen (Der-
matographie), trophischen, sekretorischen Vorgänge (Speichelfluß)
wird daher regelmäßig die Untersuchung des allgemeinen Hirn-
zustandes zu vervollständigen haben.
Nur mittelbar, auf dem Wege vielgliedriger Schlußfolgerungen,
kann uns natürlich die Untersuchung des übrigen Körpers zu
einer Erkennung krankhafter Vorgänge im Bereiche des Nerven-
systems verhelfen. So werden wir uns erinnern, daß schwere all-
gemeine Ernährungsstörungen (fieberhafte Krankheiten, Blutent-
mischungen, chronische Infektionen und Vergiftungen) häufig ge-
nug die Grundlage psychischer Erkrankungen bilden, andererseits
aber, daß jede rasch einsetzende Geistesstörung mit durchgreifen-
der Beeinträchtigung der Eßlust, des Schlafes und des gesamten
Stoffwechsels einherzugehen pflegt.
Selbstverständlich kann aber die körperliche Veränderung im
einzelnen Falle auch ganz zufällig mit dem Irresein zusammen-
fallen. Gleichwohl wird zur vollen Würdigung der Sachlage eine
möghchst sorgfältige Untersuchung aller zugänglichen Organe
und ihrer Verrichtungen stets unerläßlich sein. Besondere
Bedeutung hat man bisweilen der Form des Pulsbildes^) bei-
gelegt, aus der man die weitgehendsten Aufschlüsse über Diagnose
und namentlich Prognose des Irreseins überhaupt herauslesen
wollte. Leider haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Viel-
mehr hat sich gezeigt, daß die Gestaltung des Pulsbildes im Ver-
1) Pilcz, Jahrb. f. Psychiatrie, XXI, 313; XXIII, 241.
2) Ziehen, Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken. 1887;
Sokalski, Untersuchungen über Puls und Blutdruck in akuten Geisteskrankheiten.
1897; Patrizi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, i.
472
IV. Die Erkennung des Irreseins.
laufe einer und derselben Erkrankung durch verschiedenartige
Einflüsse (Gemütsbewegungen, Gefäßspannung, Herztätigkeit) auf
die mannigfaltigste Weise verändert werden kann. Die Pulszahl
bietet bei den einzelnen Erkrankungen, aber auch bei verschie-
denen Zuständen desselben Kranken vielfache Veränderungen dar.
Sie ist meist etwas erhöht im manisch-depressiven Irresein, wäh-
rend sehr starke Verlangsamung des Pulses im katatonischen Stupor
beobachtet wird. Rasches Ansteigen der Pulszahl bei äußeren
Einwirkungen ist ein wertvolles Zeichen erhöhter gemütlicher Er-
regbarkeit; bei traumatischer Neurose und bei Arteriosklerose
kann man es schon nach geringer körperlicher Anstrengung be-
obachten.
Weiterhin scheinen auch die Schwankungen des Blut-
drucks^) gewisse Beziehungen zu der Art der Krankheitsvorgänge
aufzuweisen. Von den verschiedenen bisher angewandten Ver-
fahren haben sich diejenigen von Riva-Rocci und namentlich
von Recklinghausen am besten bewährt; letzteres gestattet, bei
einiger Übung den systolischen und den diastolischen Druck ge-
sondert zu bestimmen, deren Unterschied uns Aufschluß über die
Höhe des ,, Pulsdruckes" gibt. Die Ergebnisse sind namentlich für
die Feststellung arteriosklerotischer Erkrankungen mit ihrer häu-
figen starken Erhöhung der Druckwerte, sodann aber auch beim
manisch-depressiven Irresein von Bedeutung, dessen Zustands-
bilder im allgemeinen mit einer Steigerung des Blutdruckes einher-
zugehen scheinen. Die früheren Untersuchungen hatten eine Er-
höhung nur für die depressiven und ängstlichen Verstimmungen,
dagegen für die Manie eine Herabsetzung des Blutdruckes ergeben.
Näheren Aufschluß über diese gewiß sehr wichtigen Verhältnisse
verspricht vor allem auch das plethysmographische Verfahren,
wie es namentlich von Lehmann-) ausgebildet worden ist. Da
es die körperlichen Begleiterscheinungen der Gefühle mit großer
Genauigkeit wiedergibt, wird es einerseits bei den Geistesstörungen
mit lebhaften Gemütsbewegungen, andererseits gerade bei den-
1) Craig, Lancet, Juni 1898; Pilcz, Wiener klin. Wochenschr., 1900, 12;
Rosse, Centralbl. f. Psychiatrie, 1902, 517; Recklinghausen, Arch. f. experi-
mentelle Pathol. u. Pharmakol., XLVI, 78; LV, 375; LVI, i.
2) A. Lehmann, Die körperlichen Äußerungen der seelischen Zustände. 1899;
R. Vogt, Centralbl. f. Psychiatrie, 1902, 965; Gent, Wundts Philosophische
Studien, XVIII, 715; Brodmann, Journ. f. Psychol. u. Neurol., I, 10, 1903.
Zustandsuntersuchung.
jenigen Formen das Krankheitsbild vervollständigen, bei denen
die Schwankungen des Stimmungshintergrundes in krankhafter
Weise aufgehoben sind. Leider liegen bisher erst sehr wenige
Untersuchungen an Geisteskranken mit diesem Verfahren vor.
Noch ganz in den ersten Anfängen befinden wir uns hinsicht-
lich der Untersuchung und Deutung der Blutveränderungen bei
Geisteskranken. Was bisher untersucht wurde, ist einmal die Zahl
der roten und weißen Blutkörperchen, ihr gegenseitiges Verhält-
nis und die Gruppierung der letzteren in ihre mannigfaltigen For-
men, insbesondere auch das Auftreten eosinophiler Zellen. Ferner
wurde der Hämoglobingehalt und die Widerstandsfähigkeit der
roten Blutkörper gegen Kochsalzlösungen, die ,,Isotonie", bei ver-
schiedenen Geisteskrankheiten festgestellt. Eine Reihe von Ar-
beiten besitzen wir über die Schwankungen der Alkalescenz des
Blutes bei Psychosen, ganz besonders aber über die mehr biolo-
gischen Eigenschaften des Blutserums. Man hat geprüft, in welchem
Umfange die Blutflüssigkeit der Geisteskranken Bakterien zu töten,
katalytische Wirkungen zu entfalten vermag, in welchem Grade
sie giftig auf andere Tiere wirkt, und weiterhin, im Anschlüsse an
Ehr lieh s Forschungen, welche Cytolysine sie enthält, ob und in-
wieweit sie rote Blutkörper derselben oder einer fremden Tierart
aufzulösen vermag. So unsicher und vieldeutig auch die Ergeb-
nisse aller dieser Forschungen noch sein mögen, so notwendig
erscheint doch ihre Fortführung. Gerade die überraschenden Ent-
deckungen über die feinen und verwickelten Selbstschutzvorgänge
im Blute legen den Gedanken nahe, daß Veränderungen in der
Zusammensetzung und in der Reaktionsfähigkeit des Blutes wohl
auch bei Geisteskranken eine bedeutsame Rolle spielen dürften,
namentlich dort, wo wir es mit allgemeinen Stoffwechselstörungen
zu tun haben.
Gröberer Art sind die Aufschlüsse, die wir von Harnuntersu-
chungen'') erwarten dürfen, da sie uns immer nur ein sehr unvoll-
1) Vorster, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 740; Agostini, Rivista
sperimentale di freniatria, XVIII, 483; Ceni, Revue de psychiatrie, März 1901;
Pugh, Journal of mental science, Jan. 1903, 71 ; Bruce, ebenda 1904, 409; Schultz,
Monatsschr. f. Psychiatrie, XXII, 21; Pighini, Annali di nevrologia, XXIV, 5, 6.
Belmondo, Rivista sperimentale di freniatria, XXII, 657; Stefani, ebenda,
XXVI, 595; Pardo, ebenda, XXXIII, 844; Soury, Annales medico-psychologi-
ques, 1898, II, 427.
474
IV. Die Erkennung des Irreseins.
kommenes Bild von den Störungen in der chemischen Zusammen-
setzung der Körpergewebe zu geben vermögen. Dennoch wird
uns die Einfachheit des Verfahrens und die Möglichkeit einer
häufigen Untersuchung zu einer eingehenden Berücksichtigung
jenes Hilfsmittels veranlassen. Bisher wissen wir freilich wenig
mehr, als daß neben Eiweiß und Zucker gelegentlich noch eine
Reihe anderer ungewöhnlicher Stoffe im Harn vorkommen
können, von denen das Indican, das Aceton, die Acetessigsäure,
die Oxybuttersäure die wichtigsten sind. Wir wissen auch unge-
fähr, unter welchen Bedingungen solche Stoffe auftreten, ohne
daß indessen ein tieferer Einblick in ihre Beziehungen zu
bestimmten psychischen Erkrankungen gewonnen wäre. Ähn-
liches gilt von den Schwankungen in der Menge der einzelnen
Harnbestandteile, des Harnstoffs, der Harnsäure, der Phosphor-
säure, des Chlors, über die ebenfalls schon zahlreiche Unter-
suchungen vorliegen.
Aussichtsreicher, aber freilich auch ungemein viel schwieriger
sind die erst in geringerem Umfange durchgeführten vollständigen
Stoffumsatzuntersuchungen, bei denen Menge und Zusammensetzung
nicht nur der gesamten Nahrung, sondern auch aller festen und
flüssigen, womöglich auch der gasförmigen Ausscheidungen genau
festgestellt werden. Namentlich bei der Epilepsie mit ihren raschen
Zustandsschwankungen, aber auch beim manisch-depressiven Irresein
und bei der Paralyse dürften sich derartige Forschungen empfehlen.
Eine mehr untergeordnete Bedeutung besitzt bei unseren Kranken
die Untersuchung der Magenverdauung, insbesondere der chemischen
Zusammensetzung des Magensaftes, an die man einmal größere Er-
wartungen knüpfte; immerhin kann man ihren Ergebnissen viel-
leicht gewisse Gesichtspunkte für die Behandlung entnehmen.
Sehr wertvolle diagnostische Aufschlüsse hat uns die zuerst
von Widal und Ravaut geübte Untersuchung der Cerebrospinal-
flüssigkeit^) geliefert. Man kann den Druck feststellen, unter dem
die Flüssigkeit beim Einstiche ausfließt, das chemische Verhalten
1) Devaux, Centralbl. f. Nervenheilk., 1903, 364; Nissl, ebenda 1904, 225;
Merzbacher, ebenda 1905, 489; 1906, 304; Rehm, ebenda 1905, 798; Henkel,
Arch. f. Psychiatrie, XLII, 327; Meyer, ebenda XLII, 971; Nonne u. Apelt,
ebenda XLIII, 434; Fischer, Jahrb. f. Psychiatrie, XXVII, 313; Pomeroy, Ameri-
can Journal of neurology, 1907, 225.
Zustandsuntersuchung.
und, was bisher am wichtigsten scheint, Zahl und Art der zelligen
Elemente. Die Messung des Druckes ist bei der Enge der ver-
wendeten Nadeln und wegen sonstiger zufälliger Fehlerquellen
eine ziemlich unsichere ; er scheint unter anderem bei der Para-
lyse häufig erhöht zu sein. Die chemische Prüfung richtet sich
in erster Linie auf Eiweißkörper, zu deren Mengenbestimmung
Nissl die Fällung mit Esbachs Reagens und die Messung des
Niederschlags nach Zentrifugieren in feinen, mit Teilung versehenen
Glasröhrchen empfohlen hat. Bei der Paralyse findet sich regel-
mäßig, bei einer Reihe von anderen Krankheiten nur ganz aus-
nahmsweise eine Eiweißvermehrung, die der Zunahme der zelligen
Bestandteile keineswegs zu entsprechen braucht. Da vielfach nur
dem Vorkommen von Serumalbumin krankhafte Bedeutung zu-
gemessen wird, kann man das Globulin vorher ausfällen. Ob der
Untersuchung auf Cholin und Glukose, der Feststellung des spe-
zifischen Gewichts, des Gefrierpunktes, der spezifischen Leitungs-
fähigkeit, der inneren Reibung und der Giftigkeit der Cerebro-
spinalflüssigkeit klinische Bedeutung beizulegen ist, steht noch dahin.
Dagegen gibt uns die Zählung der Zellen sehr wichtige An-
haltspunkte für die Beurteilung des Krankheitszustandes; sie ge-
schieht entweder nach Ausbreitung des durch Zentrifugieren er-
haltenen Bodensatzes auf Deckgläsern oder, besser, mit Hilfe der
Zeißschen Zählkammer; die normalen Werte gehen etwa bis zu
vier oder fünf Zellen im Kubikmillimeter. Die zahlreichen, be-
reits vorliegenden Untersuchungen stimmen vor allem darin über-
ein, daß sich eine mehr oder weniger ausgeprägte Vermehrung,
bis zu 200 Zellen und mehr im Kubikmillimeter, fast ausnahms-
los bei der Paralyse findet, ferner bei luetischer Meningoencepha-
litis, in geringerem Maße auch meist bei einfacher Lues. Weiter-
hin liefern Meningitiden, multiple Sklerose, Tabes und Herpes
zoster positive Befunde. Die genauere Bestimmung der Zellen,
die nach einem von Alzheimer angegebenen Verfahren durch
unmittelbares Auffangen der ausfließenden Tropfen in Alkohol
mit nachfolgender Fixierung und Einbettung des Niederschlags
unter Vermeidung des Zentrifugierens möglich ist, hat ergeben,
daß es sich zumeist um kleine und große Lymphocyten, ferner
um einkernige, seltener um große gelapptkernige oder vielkernige
Leukocyten, vereinzelt um eosinophile Zellen handelt; auch Pias-
476
IV. Die Erkennung • des Irreseins.
mazellen kommen vor. Endlich finden sich hier und da Gitter-
zellen, Makrophagen, in Rückbildung und Zerfall begriffene Zellen
verschiedener Art. Starke Vermehrung der Leukocyten scheint
auf entzündliche Vorgänge hinzuweisen (Meningitis). Da die Ent-
nahme der Cerebrospinalflüssigkeit nicht selten unangenehme,
wenn auch nicht gefährliche Folgeerscheinungen hat, die aller-
dings bei der Paralyse zu fehlen pflegen, Schwindel, Übelkeit, Er-
brechen, Kopfschmerz, sollte sie niemals ohne Einverständnis der
Kranken oder ihrer Vertreter ausgeführt werden.
Noch bedeutungsvoller, als die cytologische Untersuchung der
Cerebrospinalflüssigkeit, hat sich in jüngster Zeit die serologische
Prüfung von Körperflüssigkeiten bei unseren Kranken erwiesen.
Im Anschlüsse an die Untersuchungen von Wassermann,
Neisser und Bruck über die Serodiagnostik der Lues sind Plaut
und Wassermann 1) daran gegangen, im Blutserum wie in der
Cerebrospinalflüssigkeit von Paralytikern nach dem Vorhandensein
von luetischen Antikörpern zu forschen. Das von ihnen benutzte
Verfahren stützt sich auf die Tatsache, daß beim Zusammen-
treffen von luetischem Antigen mit luetischen Antikörpern Kom-
plement gebunden wird. Diese Komplementbindung zeigt sich
darin, daß die Lösung von roten Hammelblutkörpern durch das
inaktivierte Serum mit Hammelblut vorbehandelter Kaninchen, die
in Gegenwart von freiem Komplement erfolgen würde, bei Zusatz
jener Mischung unterbleibt. Um daher in einer Flüssigkeit luetische
Antikörper nachzuweisen, wird sie nach ^/g stündigem Erhitzen auf
56 Grad zunächst mit dem antigenhaltigen Auszug aus luetischen
Fötalorganen (Milz, Leber) und sodann mit dem Komplement,
frischem Meerschweinchenserum, versetzt. Nach einstündigem Ver-
weilen im Brutschranke erfolgt der Zusatz von Hammelblutkörper-
chenaufschwemmung nebst dem für deren Lösung vorbereiteten
und ebenfalls durch Erhitzen von Komplement befreiten Kaninchen-
serum. Prüft man dieses Gemisch, nachdem es nochmals zwei
Stunden im Brutschranke verweilt hatte, so zeigt sich bei geeigneter
Wahl der Verdünnungen, daß es bei Anwesenheit von Antikörpern
in der zu untersuchenden Flüssigkeit wasserhell geblieben ist,
während die Hammelblutkörperchen ungelöst am Boden liegen.
1) Piavit, Monatsschr. f. Psychiatrie, XXII, 95; Münch, med. Wochenschr.,
1907, 30; Centralbl. f. Nervenheilk., 1908, 289.
Zustandsuntersuchung.
477
Sind sie vollkommen gelöst, so enthielt die Probe keine luetischen
Antikörper.
Es ist durch die Erfahrung, daß einerseits während des Schar-
lach eine ähnliche Complementablenkung auftritt, ferner, daß sie
nicht nur durch die Gegenwart von luetischem Antigen, sondern
auch durch gewisse normale Körperbestandteile (Lecithin) herbei-
geführt werden kann, zweifelhaft geworden, wie weit die Voraus-
setzungen zutreffen, auf denen das geschilderte Verfahren aufge-
baut ist. Dennoch steht es fest, daß die Complementablenkung,
wenn man vom Scharlach absieht, mit großer Bestimmtheit auf
luetische Krankheitsvorgänge hinweist, auch wenn kein luetisches
Antigen verwendet wurde. Insbesondere haben die jetzt schon in
großem Maßstabe durchgeführten Untersuchungen ergeben, daß sich
mit dem Blutserum der Paralytiker fast immer, mit der Cerebrospinal-
flüssigkeit sehr regelmäßig Complementablenkung erzielen läßt,
während sie bei anderen luetischen Erkrankungen, auch solchen des
zentralen Nervensystems, meist fehlt, besonders in der Cerebrospinal-
flüssigkeit; Neisser fand sie nur in ii% der Fälle von latenter
tertiärer Lues. Ihr Nachweis bei beiden Körperflüssigkeiten vermag so-
mit nicht nur das Bestehen einer Lues darzutun, sondern fällt auch für
die Annahme einer paralytischen Erkrankung erheblich ins Gewicht.
Hat uns die körperliche Untersuchung gewisse Anhaltspunkte
für die ursächliche Auffassung eines Falles oder Beweise für das
Bestehen von Störungen in diesen oder jenen Abschnitten des
Nervengewebes zu liefern, so muß das eigentliche Krankheitsbild
durch die Prüfung der psychischen Tätigkeit^) festgestellt
werden. Leider gehen die Hilfsmittel, die uns für die Klärung
dieses wichtigsten Teiles des Krankheitszustandes zu Gebote stehen,
bisher nur wenig über diejenigen hinaus, die uns die gewöhnliche
Lebenserfahrung an die Hand gibt. Die Untersuchung des psy-
chischen Zustandes liefert uns zumeist keinerlei Zahl- und Maß-
bestimmungen. Sie begnügt sich vielmehr mit der ursprünglichsten
Art der Beobachtung und mit dem einfachsten psychologischen
Versuche, der Stellung von Fragen; sie hält sich in ihrem Gange
nicht an einen vorherbestimmten Plan, sondern sie schreitet nach
Belieben vom unmittelbar Vorliegenden und Auffallenden zum
1) Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungsmethoden.
1899.
478
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Verborgenen und schwerer Auffindbaren fort. Gerade gewisse
motorische Äußerungen sind es daher, die zumeist den Ausgangs-
punkt für die Untersuchung zu bilden pflegen.
Aus der Körperhaltung, den Ausdrucksbewegungen, den Ge-
sichtszügen können in der Regel schon von vornherein einige
Aufschlüsse über das Verhalten der Aufmerksamkeit (Teil-
nahmlosigkeit, Interesse, Neugier) und die Stimmung des Kran-
ken gewonnen werden (Ausgelassenheit, Zufriedenheit, Angst,
Verzweiflung, Ruhe oder Stumpfheit). Durch einige einfache
Fragen über Namen, Alter, Vorleben wird weiterhin festgestellt,
ob das Bewußtsein getrübt oder klar, ob die Besonnenheit, die
Fähigkeit der Auffassung und unmittelbaren Verwertung von
Sinneseindrücken, erhalten ist. Zugleich wird sich dabei auch
ein annäherndes Urteil über die Schnelligkeit des Vorstellungs-
verlaufes sowie über das Gedächtnis für die frühere Vergangen-
heit, insbesondere auch über die Fähigkeit ergeben, Zeitangaben
in widerspruchslose Beziehung zueinander zu bringen. Im Fort-
gange unserer Unterhaltung werden wir festzustellen suchen, ob
die Erinnerung an die jüngste Zeit, die Orientierung über Zeit
und augenblickliche Umgebung (Aufenthaltsort wie Personen)
und ob Krankheitsbewußtsein oder gar Einsicht vorhan-
den ist; wir gewinnen dabei die Aufklärung, ob wir es mit einem
geordneten oder mit einem ideenflüchtigen, zerfahrenen, deliriösen,
verwirrten, umständlichen, einförmigen Gedankengange zu tun
haben. Inzwischen werden sich zumeist schon allerlei weitere
Anhaltspunkte für die Beurteilung der übrigen psychischen Lei-
stungen ergeben haben, die uns als Wegweiser für die Auffindung
weniger unmittelbar zutage tretender Störungen dienen können.
Nicht ganz leicht ist es bisweilen, über das Bestehen von Sin-
nestäuschungen ins klare zu kommen. Die einfache Frage
über diesen Punkt wird uns vielfach nicht zum Ziele führen, sei
es, daß sich dem Kranken die Trugwahrnehmungen unterschieds-
los der sonstigen Sinneserfahrung einordnen, sei es, daß er aus
irgendwelchen Gründen darüber eine mißtrauische Zurückhaltung
bewahrt. Gleichwohl pflegen die Bezeichnungen ,, Stimmen" und
„Bilder" vom Halluzinanten in der Regel sofort auf seine Täu-
schungen bezogen zu werden. Bisweilen sind die Trugwahrneh-
mungen trotz allen Ableugnens des Kranken mit ziemlicher Sicher-
Zustandsuntersuchung.
heit aus seinem Benehmen zu erschließen, aus der horchenden
Stellung, in der er längere Zeit verharrt, grundlosem Auffahren
oder Lachen, lauten Selbstgesprächen, plötzlicher Gereiztheit u. dgl.
Umgekehrt ist aber die Gefahr recht groß, zu der Annahme von
Sinnestäuschungen zu kommen, wo es sich nur um eigentümlich
aufgefaßte und wiedergegebene wirkliche Wahrnehmungen han-
delt. Die Erfahrung hat mir gezeigt, daß Vorsicht in dieser Be-
ziehung sehr am Platze ist.
Auch die Erkennung von Wahnideen ist nicht immer ganz
leicht. Bisweilen treten sie bei der Versetzung in eine neue Um-
I gebung zeitweise in den Hintergrund. Eine ganze Zahl von Kran-
ken pflegt ferner ihre Wahnideen, namentlich im Beginne der
Erkrankung und vor Fremden, sehr sorgfältig geheim zu halten
und jedem Versuche tieferen Eindringens auszuweichen, bis irgend-
ein Punkt getroffen wird, der sie in Erregung versetzt, oder bis
es gelingt, durch allerlei verfängliche Fragen eine Anknüpfung
zu finden, mit Hilfe deren sich anscheinend absichtslos das Netz
krankhafter Vorstellungen entwickeln läßt. Nicht zu selten leitet
auch hier schon das äußere Benehmen des Kranken auf die Spur.
Scheues, mißtrauisches Wesen wird uns geheime Feinde und Ver-
folgungen, schroffes Zurückweisen der Nahrung Vergiftungsideen
vermuten lassen; eine gewisse gespreizte Selbstgefälligkeit, die
sich bisweilen schon in der Tracht ausspricht, deutet auf Größen-
ideen, während häufiges Knien, Händefalten, weinerlich verzagter
Gesichtsausdruck das Bestehen von Versündigungswahn mit reli-
giöser Färbung wahrscheinlich macht usf. Trotz aller Mannig-
faltigkeit im einzelnen pflegen dabei die Grundzüge solcher Wahn-
bildungen doch vielfach eine so weitgehende Übereinstimmung
miteinander aufzuweisen, daß ein erfahrener Beobachter auf
Grund seiner aus Äußerlichkeiten gezogenen Schlüsse dem ver-
blüfften Kranken öfters mit überraschender Schnelligkeit das Zu-
geständnis seiner krankhaften Ideen zu entwinden vermag.
Ganz besondere Schwierigkeiten aber können dann erwachsen,
wenn der Inhalt der Wahnideen nicht ohne weiteres, sondern nur
auf Grund einer genaueren Kenntnis aller Verhältnisse als krank-
haft erkennbar ist, z. B. beim Wahne rechtlicher Benachteiligung,
ehelicher Untreue. Hier kann vielfach das Urteil erst nach län-
gerer Beobachtung und auch dann bisweilen nur mit größter Zu-
48o
IV. Die Erkennung des Irreseins.
rückhaltung abgegeben werden. Zudem pflegen gerade diese
Kranken sehr geschickt ihre Wahnideen zu verbergen oder schein-
bar vollkommen zutreffend zu begründen. Andererseits kann die
Erkennung bestimmter Wahnideen auch dadurch erschwert wer-
den, daß der Kranke benommen, verwirrt, ängstlich und dadurch
außerstande ist, seine Gedanken zusammenhängend zu äußern.
Monate können vergehen, bevor sich einigermaßen klar erkennen
läßt, welche Vorgänge sich in seinem Bewußtsein abspielen. Wir
sind bei dieser Beurteilung ganz auf die nicht immer zuverlässige
Deutung jener unwillkürlichen Äußerungen angewiesen, in denen
sich die Seelenzustände nach außen kundgeben.
Die Untersuchung auf das Bestehen von Wahnideen bietet
gleichzeitig Gelegenheit, in den Zustand der Verstandestätig-
keit und des Gedächtnisses überhaupt einige Einblicke zu
gewinnen. Das urteilslose Festhalten an widerspruchsvollen Vor-
stellungen ohne gleichzeitige Bewußtseinstrübung oder gemütliche
Erregung wird in ersterer, die Vermischung von Erinnerungen
mit erfundenen Einzelheiten in letzterer Hinsicht zu verwerten
sein. Im übrigen müssen uns hier die Regeln der alltäglichen
Menschenkenntnis darüber belehren, wie die allgemeine geistige
Veranlagung und Leistungsfähigkeit des Kranken beschaffen ist.
Unter Berücksichtigung seiner Vergangenheit, seiner Erziehung
und Bildungsmittel werden wir im Gespräche ungefähr den Um-
fang seiner Kenntnisse, seines Gesichtskreises, seiner Neigungen
und seiner gegenwärtigen Urteilsfähigkeit zu ermessen haben. Na-
türlich kann der so erreichte allgemeine Überblick die Gewinnung
brauchbarer Gruppen und Abstufungen immer nur in den aller-
gröbsten Umrissen gestatten. Die Lösung bestimmter Aufgaben,
der Versuch der Beschreibung eines bis dahin unbekannten Ge-
genstandes, die Wiedergabe einer gelesenen oder gehörten Ge-
schichte, die mündliche oder schriftliche Schilderung und Be-
urteilung der neuen Eindrücke in der Anstalt, der Inhalt von Briefen
und sonstigen Schriftstücken, die Ausdauer bei einer bestimmten
geistigen Beschäftigung wird zur Krankenuntersuchung mit heran-
zuziehen sein.
Leider stößt eine tieferdringende Prüfung der Verstandes-
leistungen unserer Kranken zurzeit noch auf Schwierigkeiten, die
im Hinblick auf die Vielseitigkeit der Frage sowie auf den weit-
Zustandsuntersuchung. ^gl
reichenden Einfluß der Erziehung und Bildung kaum überwind-
lich erscheinen. Vor allem macht sich der Umstand störend be-
merkbar, daß wir über das Verhalten Gesunder aus den Kreisen
unserer Kranken vielfach noch ungemein wenig wissen. In ganz
verblüffender Weise zeigen das die mehrfach angestellten Unter-
suchungen über die Kenntnisse der Soldaten i), die mit Hil.fe be-
stimmter Fragebogen durchgeführt wurden. Rodenwaldt, der
die Rekruten eines schlesischen Kürassierregiments ausfragte,
macht mit Recht auf den ganz unglaublichen Tiefstand des all-
gemeinen, geschichtlichen, geographischen, politischen Wissens
aufmerksam, der dabei aufgedeckt wurde. Auch Hermann, der
auf meine Veranlassung Münchener Mannschaften untersuchte,
kam zu einem ähnlichen, wenn auch nicht derart ungünstigen
Ergebnisse. Da wir zur Beurteilung krankhafter geistiger Schwäche-
zustände in der Regel die Kenntnisse wesentlich mit heranziehen,
werden wir uns jeweils durch genaue Berücksichtigung der um-
gebenden gesunden Bevölkerung erst einen richtigen Maßstab zu
verschaffen haben, wenn wir nicht groben Selbsttäuschungen unter-
liegen wollen.
Man hat auch schon vielfach die Mangelhaftigkeit unserer
Prüfung der Verstandesleistungen empfunden und auf verschiedenen
Wegen Verbesserungen angestrebt. Sommer hat dabei besonderen
Wert auf die ,, Gleichheit der Reize" gelegt, indem er eine beschränkte
Zahl von Aufgaben den verschiedensten Kranken vorführte und
andererseits dies Verfahren bei denselben Kranken zu verschie-
denen Zeiten wiederholte. Diesem Zwecke dienten vorgedruckte
Fragebogen mit verschiedenartigem Inhalte, wie sie jetzt in ähn-
licher Fassung vielfach üblich sind. Die ersten Fragen werden
sich auf die persönlichen Verhältnisse, Namen, Alter, Stand, Ge-
burtsort, Namen der Eltern und Geschwister richten. Sodann
wird die Schulzeit, Zahl der durchgemachten Klassen, etwaige
Wiederholungen, besonders schwer oder leicht fallende Unter-
richtsfächer, Namen der Lehrer, zu berücksichtigen sein, ferner
die Beschäftigung nach der Schule, die verschiedenen Stellungen,
Eheschließung, Alter und Namen der Kinder.
Eine zweite Gruppe von Fragen soll über die Zeitbegriffe Aus-
1) Rodenwaldt, Monatsschr. f. Psychiatrie, XVII, Ergänzungsband, 17; XIX,
67; Schultze u. Rühs, Deutsche med. Wochenschr., 1906, 31.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 3^
482
IV. Die Erkennung des Irreseins.
kunft geben. Hier wird nach Datum, Wochentag, Jahreszahl, nach
den Namen der Monate und Wochentage, der Zahl der Tage und
Wochen im Jahr (Schaltjahr), der Stunden im Tag, der Minuten in
der Stunde, der Sekunden in der Minute, der Tage im Monat gefragt,
nach der Lage der großen Feste, der Ursache des Wechsels von Tag
und Nacht, dem Beginn der Jahreszeiten, dem Verhalten der Tages-
länge in ihnen. Daran schließen sich Fragen darüber, wie lange
der Kranke schon da ist, wo er sich vor acht Tagen, vor einem
Monate, vor einem Jahre befunden habe. In ähnlicher Weise
werden die Raumbegriffe behandelt. Der Kranke hat anzugeben,
in welcher Stadt, in welchem Hause er sich befindet, wo er zu-
letzt wohnte, welches die Himmelsrichtungen sind und wie man
sie findet, was ein Kilometer, ein Quadratmeter ist, wie hoch das
Zimmer, wie lang ein Finger ist; auch die Beschreibung einiger
bekannter Wege kann hier angefügt werden. Eine weitere Gruppe
von Fragen bezieht sich auf die Namen der Ärzte, des Pflegeper-
sonals, der Mitkranken, der Personen, die den Kranken begleiteten.
Dann folgen Rechenaufgaben aus den vier einfachen Rechnungs-
arten in wachsender Schwierigkeit, schriftlich oder im Kopfe zu
lösen, ferner Rechnungen mit benannten Zahlen, Wochenverdienst
bei bestimmtem Tagesverdienst, Zinsrechnung, Umrechnung in
fremde Münzsorten, Ausrechnung eines Kubikinhaltes.
Der nächste Abschnitt bezieht sich auf die naturwissenschaft-
lichen, religiösen, politischen, geographischen, geschichtlichen, so-
zialen Kenntnisse, etwa nach folgendem Muster:
Was für Bäume gibt's im Wald?
Wie unterscheiden sich Eichen und
Tannen ?
Woher kommt Wolle und Baum-
wolle ?
Wie unterscheiden sich Pferd und
Kuh? Gans, Schwan und Ente?
Welche Säugetiere, Raubtiere, Fische
kennen Sie?
Was ist ein Thermometer und wie ist
es eingerichtet?
Warum schwimmt Holz und sinkt
Eisen unter?
Warum schwimmt ein Schiff aus
Eisenblech ?
Welche Gewichte gibt es?
Ist ein Pfund Blei oder ein Pfund Fe-
dern schwerer?
Warum fließt das Wasser in einem
Fluß und nicht in einem See?
Was für Religionen gibt es und wie
unterscheiden sie sich?
Wie heißt der Papst ? Wo wohnt er ?
Wer war Luther?
Wer war Christus?
Was bedeutet Weihnachten, Ostern,
Pfingsten, die Taufe?
Wie heißen die Erdteile?
Welche Staaten gibt es in Deutsch-
land?
Zustandsuntersuchung.
483
Welches Land ist größer, Preußen
oder Bayern, Sachsen oder Würt-
temberg ?
Wie heißt die Hauptstadtvon Deutsch-
land, Bayern, Württemberg, Hes-
sen, Baden, Sachsen, Frankreich,
England ?
Wie heißen die Provinzen (Kreise)
unseres Landes?
In welcher Provinz (Kreis) liegt un-
sere Stadt?
An welchem Flusse liegt unsere Stadt,
woher kommt und wohin fließt er ?
Welches sind die größten Flüsse in
Deutschland ?
Nennen Sie Städte in unserem Hei-
matlande und im übrigen Deutsch-
land?
Was ist ein Berg, was ein Gebirge?
Welche Gebirge kennen Sie?
Können Sie eine Reise beschreiben,
die Sie gemacht haben?
Wie heißt der Landesfürst, der
deutsche Kaiser?
Wer regierte vor ihnen?
Seit wann besteht das Deutsche Reich?
Was war 1870?
Warm war die Schlacht bei Sedan?
Wer war Bismarck?
Wie heißt der Reichskanzler?
Von welchen Kriegen wissen Sie et-
was?
Wann muß man Soldat werden und
wie lange?
Welche Waffengattungen gibt es?
Welchen Zweck haben die Soldaten?
Muß jedermann Soldat werden?
Welchen Zweck haben die Wahlen?
Wie unterscheidet sich Reichstags-
und Landtagswahl?
Wann ist man wahlberechtigt?
Welche Parteien gibt es?
Was will das Zentrum? die Sozial-
demokratie ?
Wer gibt die Gesetze?
Was versteht man unter Obrigkeit?
Weshalb wird man bestraft?
Wofür sind die Schutzleute, die Ge-
richte da?
Welcher Unterschied ist zwischen
einem Rechtsanwalt und einem
Staatsanwalt ?
Wer zahlt Steuern und wozu dienen
sie?
Was sind Zinsen?
Welchen Zweck haben die Invalidi-
tätskarten ?
Was für Geldsorten gibt es?
Was ist ein Wertpapier ?
Welches ist das notwendigste Metall ?
Wieviel braucht ein einzelner Mensch,
eine Familie von drei Köpfen täg-
lich zum Lebensunterhalt?
Wieviel brauchen Sie jährlich für
Ihre Kleidung?
Warum baut man in der Stadt grö-
ßere Häuser als auf dem Lande?
Was ist ein Dichter?
Wer war Schiller, Goethe?
Was kennen Sie von ihnen?
Eine letzte kleine Gruppe von Fragen würde sich noch auf
den Bestand an sittlichen Allgemeinvorstellungen und Urteilen
zu richten haben:
Warum lernt man?
Welche Pflichten hat man gegen
seine Eltern, seine Mitmenschen?
Was ist der Zweck der Ehe?
Warum wird die Unzucht mit Kin-
dern bestraft?
Was würden Sie tun, wenn Sie 500
Mark fänden? das große Los ge-
wönnen ?
Warum muß man den Gesetzen ge-
horchen ?
Was ist ein Meineid?
31*
484
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Unter welchen Umständen ist man
glücklich ? unglücklich ?
Wie denken Sie sich Ihre Zukunft?
Was ist Treue? Frömmigkeit? Be-
scheidenheit ?
Was ist der Unterschied zwischen
Haß und Neid ? zwischen Geiz und
Sparsamkeit ?
Was ist das Gegenteil von Tapfer-
keit?
Selbstverständlich kann man diese Fragen in der mannigfachsten
Weise abändern und ergänzen. Ihre Beantwortung liefert uns ein-
mal einen Einblick in die Kenntnisse des Kranken, an vielen Punkten
aber auch in seine Urteilsfähigkeit. Von besonderem Werte kann
es sein, dieselben Fragen zu verschiedenen Zeiten beantworten zu
lassen; in den Ergebnissen läßt sich dann unter Umständen sehr
deutlich der Verlauf der Krankheit mit seinen Verschlimmerungen,
Besserungen oder periodischen Schwankungen verfolgen.
Einen etwas anderen Weg hat Möller^) eingeschlagen. Ihm
kam es hauptsächlich auf die Untersuchung Schwachsinniger an,
bei denen er einmal den Umfang des gedächtnismäßig festgehaltenen
Vorstellungsschatzes, sodann aber die Fähigkeit zu geistiger Ver-
arbeitung prüfen wollte. Für den ersten Zweck entwarf er ebenfalls
Fragebogen, die indessen jedem einzelnen Falle angepaßt und dem-
gemäß sehr umfangreich waren. In ihnen wurden die besonderen
Lebensverhältnisse des einzelnen, der Lernstoff der von ihm be-
suchten Schulklassen, die Erwerbs- und Berufstätigkeit eingehend
berücksichtigt. Dadurch ist der Einblick in den Gedächtnisstoff
ungleich vollständiger geworden, die Vergleichung verschiedener
Personen aber sehr erschwert. Als Maßstab für die Verstandes-
fähigkeit benutzte Möller die ,, Fabelmethode", das heißt, er er-
zählte seinen Kranken einfache Fabeln von abgestufter Schwierig-
keit und forderte die Ableitung der Nutzanwendung aus ihnen, die
Auffindung einer passenden Überschrift und womöglich die Angabe
eines Sprichwortes mit ähnlicher Lehre. Ohne Zweifel ist dieses
Verfahren geeignet, eine gute Vorstellung von dem Urteile und
Schlußvermögen zu liefern, doch stößt auch hier der Vergleich auf
erhebliche Schwierigkeiten. Finkh^) benutzte zu ähnHchem Zwecke
1) Möller, Über Intelligenzprüfungen, ein Beitrag zur Diagnostik des Schwach-
sinns. Diss. 1897; Arch. f. Psychiatrie, XXXIV, 284.
2) Finkh, Centralbl. f. Nervenheilk., 1906, 945; Weck, Die Intelligenz-
prüfung nach der Ebbinghausschen Methode. Diss. 1905; Ganter, Arch. f.
Psychiatrie, LXIV, 957.
Zustandsuntersuchung. ^g^
Sprichwörter, die erläutert und begründet werden mußten. Er ließ
Beispiele aufsuchen, womöglich aus der eigenen Erfahrung, Nutz-
anwendungen auf Verhältnisse des täglichen Lebens, andere Sprich-
wörter mit entsprechendem oder widersprechendem Inhalt, deren
Gültigkeit beurteilt und abgewogen werden sollte. Auch dieses Ver-
fahren eröffnet Einblicke in die wirkliche geistige Leistungsfähigkeit,
im Gegensatze zu den angelernten Kenntnissen.
Noch andere Hilfsmittel hat Henneberg herangezogen. Zu-
nächst verwendete er das von Ebbinghaus angegebene und auch
von We c k benutzte Verfahren, in Lesestücken einzelne ausgelassene
Silben oder Wörter nach dem Zusammenhange ergänzen zu lassen.
Um sich der Ausdrucksweise und dem Gesichtskreise der Unter-
suchten nach Möglichkeit anzupassen, legte er Briefe von Kranken
zugrunde, in denen anfangs leichte, dann schrittweise schwerere
Ergänzungen auszuführen waren. Damit verwandt ist die Aufgabe,
aus einigen gegebenen Wörtern einen sinnvollen Satz zu bilden.
Sodann prüfte er die Fähigkeit, verwickelte Bilder (Ansichtskarten,
Bilderbogen) aufzufassen, namentlich aber den Zusammenhang
fortlaufender Situationsbilder (Geschichten von Wilhelm Busch)
zu verstehen; ähnlich verfuhr Bernstein. Auch die Prüfung des
Verständnisses für witzige Beziehungen, komische Lebenslagen
dürfte sich zur Gewinnung eines Urteils über die geistigen Fähig-
keiten heranziehen lassen, wie es von Ganter versucht worden ist.
Das Bedürfnis, die Erscheinungen der Aphasie und Apraxie
genauer zu zergliedern, hat vielfach zur Aufstellung bestimmter
Untersuchungspläne geführt. Vorbildlich ist hier die Aufnahme des
geistigen Besitzstandes durch Riege.r'^) gewesen, der bei einem
Kranken mit schwerer Hirnverletzung auf das sorgfältigste den
Umfang des Vorstellungsschatzes und der Verstandesleistungen
bestimmte. Ist die von ihm durchgeführte Prüfung auch zunächst
für die Aufdeckung der durch gröbere Hirnerkrankungen bedingten
Lücken geeignet, so wird sie sich doch ohne Zweifel auch auf eine
Reihe von anderen Formen geistiger Störung, namentlich von
Schwächezuständen, übertragen lassen. Dabei wird sich voraus-
sichtlich allmählich das besonders Wichtige von dem weniger
^) Rieger, Beschreibung der Intelligenzstörungen infolge einer Hirnverletzung,
nebst einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der Intelligenz-
prüfung. 1889.
486
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Bedeutsamen abscheiden und damit das jetzt noch ungemein
mühsame und zeitraubende Verfahren praktisch verwendbarer
werden.
Als äußerst unvollkommen muß unsere ärztliche Prüfung der
Gefühle, Gemütsbewegungen und Strebungen bezeichnet
werden. Was wir bei der einmaligen Untersuchung auf diesen
Gebieten überhaupt zu erkennen vermögen, zeigt sich meist bereits
bei der äußeren Betrachtung, in den Ausdrucksbewegungen. In
ihnen offenbaren sich die gehobene Stimmung, der Betätigungsdrang
und die Redelust der manischen, die Unruhe und Angst der deliriösen
oder depressiven, der Bewegungsdrang, die Manieren und Stereo-
typien der katatonischen, die Empfindlichkeit und Unstetigkeit der
hysterischen Kranken. Auch über die Herabsetzung oder Steigerung
der psychomotorischen Erregbarkeit, die Hemmung, die Sperrung
und die Entgleisungen des Willens werden sich bei der Beobachtung
der Kranken allmählich mehr oder weniger klare Aufschlüsse
gewinnen lassen. Bei dem Versuche körperlicher oder psychischer
Einwirkung zeigt sich die wächserne Biegsamkeit, der Negativismus,
das ängstliche Widerstreben, die Unlenksamkeit, der Eigensinn, die
Bestimmbarkeit. Über diese Erfahrungen hinaus sind wir wesentlich
auf die nicht mmer ganz zuverlässigen Selbstschilderungen ange-
wiesen, die uns von dem Zustande des eigenen Innern entworfen
werden. Natürlich vermag uns aber der Verlauf der Untersuchung
über die größere oder geringere gemütliche Reizbarkeit, über Gleich-
mäßigkeit öder häufigen Wechsel der Stimmung, endlich über auf-
fallende Gefühlsäußerungen nach bestimmten Richtungen hin,
grundlosen Haß, religiöse Schwärmerei, überschwängliches Glücks-
gefühl, Gleichgültigkeit, Stumpfheit mannigfache gewichtige Auf-
schlüsse zu liefern. Auf etwa vorhandene krankhafte Neigungen,
Selbstmorddrang, gesteigerte geschlechtliche Begierde, Sucht zu
kaufen, zu trinken, werden wir ebenfalls bei unserer Prüfung
Rücksicht nehmen müssen. Was sich aber hier nicht schon unwill-
kürlich im gesamten Benehmen verrät, werden wir häufig genug
durch Ausfragen der Kranken auch nicht erfahren; wir müssen
daher zur Vervollständigung unseres Bildes nach dieser Richtung
hin die Berichte der Umgebung mit zu Hilfe nehmen.
Es wird kaum in Abrede gestellt werden können, daß für die
wissenschaftliche Betrachtung und auch im Vergleiche mit anderen
Zustandsuntersuchung.
487
medizinischen Gebieten das Verfahren, nach dem wir den Seelen-
zustand unserer Kranken feststellen, ein recht rohes genannt werden
muß ; es hat fast mehr Ähnlichkeit mit dem Vorgehen des Unter-
suchungsrichters, als mit einer naturwissenschaftlichen Erforschung.
Leider ist es weniger schwer, diesen Mangel zu erkennen, als ihm
abzuhelfen. Nicht nur setzt das Gebiet der psychischen Vorgänge
an sich der Einführung wirklich zuverlässiger Beobachtungshilfs-
mittel den größten Widerstand entgegen, der nur allmählich über-
wunden werden kann, sondern es ist auch nur allzu häufig gar nicht
möglich, einen Geisteskranken der Reihe nach planmäßig allen den
Prüfungen zu unterwerfen, die man etwa für wünschenswert er-
achtet. Oft genug ist unsere Versuchsperson eine widerwillige,
unzugängliche oder fast unverständliche, so daß selbst ein ungefähres
Eindringen in ihre Eigenart nur durch sehr große Geduld, feinfühliges
Geschick und genaue Vertrautheit mit allen den mannigfachen Er-
scheinungsformen erreicht werden kann, in denen sich krankhafte
Vorgänge zu offenbaren pflegen.
Die mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln erreichbaren Ergebnisse
leiden alle an dem wesentlichen Nachteile, daß die erhobenen Be-
funde vieldeutig sind, und daß sie keine zuverlässigen Maßbestim-
mungen gestatten. Die gleichen, dem Beobachter vorliegenden
klinischen Äußerungen können eine ganz verschiedene psycho-
logische Entstehungsgeschichte und Bedeutung haben; die unter-
suchten Leistungen sind so verwickelte und mannigfaltige, daß eine
einfache zahlenmäßige Behandlung unmöglich wird. Es drängt sich
unter diesen Umständen ganz von selbst die Forderung auf, diejenigen
Verfahren für die psychiatrische Untersuchung nutzbar zu machen,
die von der Psychologie zur feineren Zergliederung der Seelenvor-
gänge und zur Gewinnung genauer, vergleichbarer Zahlenwerte
ausgebildet worden sind. Allerdings wird sich aus naheliegenden
Gründen die Durchführung zuverlässiger psychologischer Versuchs-
reihen bei Geisteskranken nur in beschränkterem Umfange er-
möglichen lassen. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen will
ich es nicht unterlassen, hier, wenn auch nur in kurzen Andeutungen,
auf einige der Wege hinzuweisen, die uns in absehbarer Zeit voraus-
sichtlich gestatten werden, wenigstens bei manchen chronischer
verlaufenden Formen des Irreseins Messung und Zählung psychischer
Größen zur Gewinnung eines tieferen Einblickes in die Art der
488
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Störungen zu verwerten. Alle diese Wege sind bereits betreten und
praktisch erprobt worden
Als Gang für eine feinere psychische Untersuchung würde sich
im allgemeinen die Verfolgung jener Bahn empfehlen, die unsere
gesamte Erfahrung gegangen ist. Zuerst wären somit der Wahr-
nehmungsvorgang, das Gedächtnis, dann die Verbindungen der
Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, das Selbstbewußtsein, kurz
die Verstandestätigkeit, endlich die niederen und höheren Gefühle,
die Stimmung, die Gemütsbewegungen und deren Umsetzung in
unwillkürliches und willkürliches Handeln zu berücksichtigen. Von
allen diesen Abschnitten sind es nur einige wenige, die für jetzt einer
genaueren Prüfung bei Geisteskranken zugänglich erscheinen; sie
liegen fast sämtlich auf dem Gebiete der Verstandesleistungen.
Für die Lösung der hier gestellten Aufgaben wird es notwendig
sein, vor allem die Untersuchung so zu gestalten, daß sie mit mög-
lichst einfachen Hilfsmitteln durchgeführt werden kann, und daß
sie recht geringe Anforderungen an die Mitwirkung der Versuchs-
person stellt. Die Vereinigung dieser Bedingungen mit dem Streben
nach genauen, zahlenmäßigen Ergebnissen erscheint fast unmöglich,
doch läßt sich ein großer Teil der entgegenstehenden Schwierig-
keiten sicherlich überwinden. Für manche Zwecke freilich ver-
mögen wir heute die Anwendung feinerer und schwieriger zu hand-
habender Werkzeuge noch nicht zu entbehren; ebensowenig wird
man erwarten können, daß sich alle oder doch viele Geisteskranke
zu eindringenderen Untersuchungen ihres Seelenlebens werden
heranziehen lassen. Immerhin kann man auch so eine Fülle von
neuen Tatsachen gewinnen, deren Kenntnis weiterhin auch dort
das Verständnis erleichtern wird, wo die unmittelbare Unter-
suchung nicht durchführbar erscheint.
Man hat vielfach den Versuch gemacht, von Gesunden und auch
von Kranken gewissermaßen ein ,, geistiges Inventar" aufzunehmen,
indem man sie nach bestimmtem Plane den verschiedensten
Prüfungen unterwarf, deren Ausfall ein möglichst umfassendes und
1) Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie, Psycho-
logische Arbeiten, I, i, 1895. Eine Reihe von weiteren Arbeiten über diese Fragen
enthalten die folgenden Hefte; Weygandt, Centralbl. f. Psychiatrie, XXVI, i, 29,
1903; Toulouse, Vaschide et Pieron, Technique de psychologie experimentale.
1904.
Zustandsuntersuchung.
489
allseitiges Bild von dem Verhalten der geistigen Persönlichkeit ver-
mitteln sollte. Grundsätzlich läßt sich ein solches Verfahren natürlich
denken. Wer jedoch einmal den Versuch gemacht hat, Art und Um-
fang der Leistungen auf irgendeinem beschränkten Gebiete des Seelen-
lebens für eine Person genau festzustellen, der erkennt bald, daß schon
die Lösung dieser umgrenzten Aufgabe einen außerordentlichen Auf-
wand von Zeit und Mühe erfordert. Die einzelnen Messungswerte
werden in so hohem Grade durch zufällige Fehler, Verschiedenheiten
der Tagesdisposition, Aufmerksamkeitsschwankungen, Übung, Ge-
wöhnung und Ermüdung beherrscht, daß nur durch bedeutende
Häufung der Beobachtungen unter sorgfältigster Berücksichtigung
aller Fehlerquellen zuverlässige Ergebnisse zu erzielen sind. Ein-
zelne, durch ,, Stichproben" gewonnene Zahlen sind daher völlig
wertlos. Zudem sind die meisten unserer Untersuchungsverfahren
noch so wenig durchgearbeitet und erprobt, daß wir nur einen sehr
ungenügenden Einblick in die Bedeutung ihrer Ergebnisse besitzen.
Aus allen diesen Gründen erscheint es heute ebenso zwecklos wie
undurchführbar, eine allseitige Untersuchung der Seeleneigenschaften
eines Kranken mit Hilfe von Maßbestimmungen zu unternehmen.
Die durch Stichproben gewonnenen Einzelwerte, die ,, Mental tests",
auf deren Ausklügelung man schon viel Scharfsinn verwendet hat,
vermögen uns durchaus kein Bild von den wirklichen Verhältnissen
zu geben. Die feinere psychologische Untersuchung wird sich daher
vorderhand, und voraussichtlich noch auf lange Zeit hinaus, darauf
beschränken müssen, an ausgewählten Gruppen von Kranken ge-
wissen Einzelfragen mit Hilfe möglichst sorgsamer und zahlreicher
Beobachtungen nachzugehen; auch so wird es ihr an Arbeitsstoff
nicht fehlen.
Die nächstliegende geistige Leistung, mit der wir uns zu be-
schäftigen hätten, ist die Auffassung äußerer Eindrücke.
Zur Prüfung dieses Vorganges haben wir uns mit gutem Erfolge
großer, mit Wörtern oder sinnlosen Silben beklebter Trommeln
bedient, die sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit vor einem engen
Spalte um ihre Achse drehten. Bei einer bestimmten Drehungs-
geschwindigkeit ist man gerade noch imstande, durch den Spalt eine
Anzahl der vorüberziehenden Eindrücke zu erkennen, während bei
längerer Dauer der Leseübung die einzelnen Wörter allmählich ver-
schwimmen oder falsch aufgefaßt werden. Man kann demnach auf
490
IV. Die Erkennung des Irreseins.
diese Weise nicht nur ein Maß für die Auffassungsgeschwindigkeit
finden, sondern namentlich auch einen Einblick in die Art der
begangenen Fehler gewinnen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß gerade
diese letzteren uns vielfache Aufschlüsse geben, über die Größe des
inneren Blickfeldes, über die Zuverlässigkeit der Auffassung, die
Neigung zu willkürlicher Ergänzung und zu kritischer Sichtung der
Wahrnehmungen, über die Rolle der Gesichtsbilder und der Be-
wegungsempfindungen in den Sprachvorstellungen. Auch die Ver-
hältnisse der Übung und Ermüdung auf dem Gebiete der Wahr-
nehmung können nach dem angegebenen Verfahren festgestellt
werden.
Einen ähnlichen Weg hat Ranschburg^) eingeschlagen, der
strahlenförmig mit Reizen verschiedener Art bedruckte Scheiben in
bestimmbarem Zeitmaße hinter einer mit Ausschnitt versehenen
Platte sich drehen ließ; die ruckende Bewegung konnte durch die
Schläge eines Metronoms geregelt und abgeändert werden; ein
elektrischer Strom gestattete, das Werk nach Belieben in Gang zu
setzen und anzuhalten. Die ganze Einrichtung eignet sich vortreff-
lich zur Ausführung von Auffassungs- und Einprägungsversuchen,
bei denen Umfang und Zuverlässigkeit dieser Leistungen festgestellt
werden kann. Auch Zeitmessungen lassen sich leicht mit diesen
Prüfungen verbinden. Für die gleichen Zwecke können natürlich
auch beliebige andere tachistoskopische Einrichtungen verwendet
werden, das Falltachistoskop , das Spiegeltachistoskop oder das
Pendeltachistoskop, das den Vorteil bietet, die Reize nach Belieben
von rechts oder von links her, in der Richtung des Lesens oder
umgekehrt, erscheinen zu lassen.
Für die Untersuchung am Krankenbette haben wir in den letzten
Jahren eine Platte mit veränderlichem Spalte benutzt, die mit Hilfe
einer Feder vor den Gesichtsreizen (Zahlen, Buchstabengruppen,
Silben, Wörter, Bilder) vorbeigeschnellt wurde. Die Anzahl der
erkannten Reize gibt ein Maß für die Auf f assungsfähigkeit ; die
Fehler sind in ähnlicher Weise zu verwerten wie bei den früher
angeführten Verfahren. Will man längere Expositionszeiten ver-
wenden, was für das Arbeiten mit Kranken und insbesondere für
Merkversuche zweckmäßig erscheint, so kann man sich eines der
) Ranschburg, Monatsschr. f. Psychiatrie, X, 321, 1901.
Zustandsuntersuchung.
491
photographischen Verschlüsse mit abstufbaren Zeiten bedienen ; wir
besitzen auch eine nach dem Muster der Kartenautomaten gebaute
Einrichtung, bei der die sichtbar gewordenen Täfelchen nach abmeß-
barer Zeit durch ein vorschießendes Plättchen wieder verdeckt werden.
Noch einfacher sind die von Bonhöf f er bei Deliranten benutzten
Hilfsmittel, die sich an die gewöhnliche neurologische Untersuchung
anlehnen, Prüfung der Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit mit
Hilfe von Nadeln, des Gehörs durch Flüsterstimme, des Gesichts
durch Schriftproben und Perimeter, der Farbenwahrnehmung durch
Wollproben und gefärbte Quadrate, des Ortssinnes der Haut mit dem
Zirkel. Das Vorlegen von einfachen und verwickeiteren Bildern
gewährt Einblick in die weitere geistige Verarbeitung der Wahr-
nehmungen und deckt unter Umständen auch das Vorkommen von
illusionären Vorgängen auf. Bei schweren Auffassungsstörungen
kann das Erkennen der Zahl rasch vorgehaltener Finger, die Zählung
schnell aufeinander folgender Klopfgeräusche als Aufgabe für den
Kranken gewählt werden.
Um die Abhängigkeit einer verwickeiteren Auffassungsleistung
von der Zahl der dargebotenen Einzelheiten zu untersuchen, hat
Heilbronner^) Reihen von Täf eichen gezeichnet, auf denen
einzelne Gegenstände, eine Kanone, eine Kirche, ein Fisch oder
Schubkarren, zunächst mit wenigen Strichen angedeutet und dann
schrittweise durch immer mehr Einzelheiten deutlicher gemacht
werden. Es wird untersucht, bei welcher Vervollkommnung des
Bildes dessen Bedeutung erkannt wird. Wenn auch bei der Un-
gleichwertigkeit der einzelnen Zutaten eine eigentliche Messung
mit diesem Verfahren nicht möglich ist, so gibt es doch wertvolle
Anhaltspunkte für die Beurteilung der ,, Kombinationsfähigkeit".
Man wird auseinanderhalten können, wie weit die Kranken imstande
sind, aus den dargebotenen Einzelheiten das Fehlende zu ergänzen;
auch die allgemeine Neigung zur Gewinnung eines Gesamteindruckes
und zur Deutung des Unsicheren oder zum Kleben an möglichst
genau aufgefaßten Einzelheiten wird bei den Versuchen hervor-
treten.
Auch bei den sogenannten psychischen Zeitmessungen
spielt der Wahrnehmungsvorgang eine wesentliche Rolle. Das Ver-
fahren bei solchen Messungen, für die das Hippsche Chronoskop ein
1) Heilbronner, Monatsschr. f. Psychiatrie, XVII, 165.
492
IV. Die Erkennung des Irreseins.
unvergleichlich bequemes und zuverlässiges Hilfsmittel darstellt, ist
nach den verschiedensten Richtungen hin auf das sorgfältigste
durchgearbeitet, so daß sie in der Hand des Erfahrenen eine sehr
wertvolle Bereicherung unseres wissenschaftlichen Rüstzeuges
bilden. Leider sind allerdings viele der bisher veröffentlichten Ver-
suche an Geisteskranken wegen mangelhafter Anordnung voll-
kommen wertlos. Dagegen haben mir zahllose bei uns ausgeführte
Messungen gezeigt, daß sich auch bei Geisteskranken ohne nennens-
werte Schwierigkeit auf diesem Wege wichtige Ergebnisse erzielen
lassen. Man kann so z. B. die Auffassungszeit für zugerufene oder
gelesene Worte und Buchstaben, für Farben und einfache Formen
bestimmen.
Bei allen Auffassungsversuchen wird das Ergebnis sehr wesent-
lich durch das Verhalten der Aufmerksamkeit beeinflußt. Die
Schwankungen der gewonnenen Werte geben daher auch ein
gewisses Maß für die größere oder geringere Gleichmäßigkeit der
Aufmerksamkeitsspannung. Genauer lassen sich diese bei fort-
laufender geistiger Arbeit (Addieren) mit Hilfe einer kleinen Schreib-
feder verfolgen, die beim Unterstreichen jeder addierten Zahl einen
elektrischen Strom schließt und auf diese Weise die Dauer jeder
einzelnen Rechnung aufzuzeichnen gestattet. Wir erhalten so ein
genaues Bild von den Schwankungen in der Rechengeschwindigkeit,
namentlich auch, wie sich herausgestellt hat, von dem Einflüsse,
den das Eingreifen des Willens auf die Lösung der Aufgabe ausübt.
Für gröbere Prüfungen hat sich ebenfalls das fortlaufende Addieren
oder Subtrahieren derselben Zahl zweckmäßig erwiesen. Läßt man
z. B. von 100 fortlaufend 7 abziehen, so gewähren die Schwankungen
in der Geschwindigkeit und besonders die Entgleisungen ein gutes
Bild von der Stetigkeit der Aufmerksamkeitsspannung. Durch will-
kürlich hineingetragene Störungen kann man zugleich ein Urteil
über die äußere Ablenkbarkeit gewinnen.
Die Untersuchung des Gedächtnisses hat sich einmal auf die
Festigkeit zu erstrecken, mit welcher früher erworbene Vorstellungen
in unserem Innern haften, dann aber auf die Fähigkeit, jetzt
noch neue Vorstellungen aufzunehmen und aufzubewahren. Auf
Störungen in der ersteren Richtung pflegen wir gewöhnlich zu
fahnden durch die Frage nach gewissen, als selbstverständlich
vorausgesetzten Kenntnissen, seien es persönliche Erlebnisse, seien
Zustandsuntersuchung.
es anderweitig erlernte Vorstellungsreihen, namentlich die Rech-
nungsarten. Man kann hier durch reihenartig fortlaufende, plan-
mäßige Rechenversuche ein Maß für die Leichtigkeit gewinnen, mit
welcher der Kranke noch über die in der Kindheit erlernten einfachen
Zahlenverbindungen verfügt. Ich bediene mich seit vielen Jahren
zu diesem Zwecke des fortlaufenden Addierens einstelliger Zahlen
in besonders dazu gedruckten Heften. In regelmäßigen kürzeren
Pausen wird auf ein Glockenzeichen durch einen Strich das bis
dahin Gearbeitete abgegrenzt, so daß die Größe der Leistung in den
einzelnen Zeitabschnitten unmittelbar aus der Menge der addierten
Zahlen erkannt werden kann. Am Krankenbette wird man kürzere
derartige Reihen, z. B. das fortlaufende Addieren oder Subtrahieren
von 3, 7, 12, ausführen lassen und die Zeiten mit einer Sportuhr
messen können.
Auf ganz ähnliche Weise läßt sich die augenblickliche Auf-
nahmefähigkeit des Gedächtnisses, die ,,Merkf ähigkeit" , durch
Auswendiglernen langer Zahlen- oder sinnloser Silbenreihen ohne
erhebliche Schwierigkeit prüfen. Dabei ergibt sich, daß verschiedene
Personen die zu lernenden Reihen mit persönlich bestimmter, aber
sehr verschiedener Geschwindigkeit aufsagen. Wahrscheinlich
handelt es sich hier um Abweichungen in der Art des Lernens.
Berücksichtigt man, daß sich beim Lernen einer Zahlenreihe die
Auffassung des Sinneseindruckes mit dem Aussprechen der Bezeich-
nungen verbindet, so liegt die noch durch allerlei andere Beob-
achtungen gestützte Annahme nahe, daß sich bei langsamem Her-
sagen die Aufmerksamkeit vorzugsweise auf das Gesichtsbild und
vielleicht auch das assoziativ auftauchende Klangbild, bei schnellem
Hersagen dagegen besonders auf die Sprachbewegungsvorstellungen
richtet. Erstere werden bei langsamer Einprägung, letztere bei
häufiger Wiederholung besser in unserem Gedächtnisse befestigt.
Die Geschwindigkeit des Hersagens gestattet demnach einen Schluß
auf die gewohnheitsmäßige Bevorzugung dieser oder jener Seite
unserer Vorstellungen, zunächst bei der vorliegenden Arbeits-
leistung. Es ist indessen nicht unwahrscheinlich, daß diesen Ver-
schiedenheiten eine weit über das einzelne Gebiet hinausreichende
Bedeutung zukommt.
Versuche über die Merkfähigkeit lassen sich überall in bequemer
Weise mit solchen über die Auffassungsfähigkeit verknüpfen, indem
494 IV. Die Erkennung des Irreseins.
man zwischen Darbietung des Reizes und seiner Wiedergabe be-
liebig lange Zwischenzeiten einschiebt. Wählt man diese Zeiten
recht kurz und wechselt man mit ihnen in vielen Abstufungen, so
ist es möglich, die Entwicklung des Wahrnehmungsvorganges bis
zu voller Ausdehnung, dann aber auch das Verblassen der Bilder
und das Auftreten von Fehlervorgängen in allen Einzelheiten zu
verfolgen. Man kann sich für solche Zwecke jeder beliebigen
tachistoskopischen Einrichtung bedienen.
Einfachere und daher für die Untersuchung Geisteskranker
brauchbarere Verfahren zur Prüfung der Merkfähigkeit sind von
anderen Forschern, so von Galton, Bonhöffer, Smith, Guic-
ciardi, Vieregge, in Anwendung gezogen worden. Den Kranken
wurde die Aufgabe gestellt, mehrstellige vorgesagte Zahlen, Silben-
zusammenstellungen, gesehene oder gehörte Wörter nach einer
gewissen Zeit mündlich oder schriftlich zu wiederholen, aus einer
Anzahl vorgelegter Bilder oder Objekte ein bestimmtes wieder-
zuerkennen, Bernstein verwendete einfache geometrische Zeich-
nungen, für die sich keine sprachliche Benennung finden ließ. Von
ihnen wurden neun in einem Rahmen zusammengestellt und
30" lang gezeigt; danach hatte die Versuchsperson das Gesehene
nach verschieden langer Zwischenzeit aus einer größeren Anzahl
derartiger Bilder herauszusuchen.
Ranschburg^) hat einen umfangreichen Versuchsplan zu-
sammengestellt und an Gesunden, Neurasthenischen und Paralytikern
durchgeführt. Bei diesem muß von Wortpaaren, die durch den Sinn
oder durch den Klang in Verbindung stehen oder ganz ohne Bezie-
hungen aneinandergeknüpft sind, auf Nennung des Stichwortes das
zweite wiedergegeben werden. Ferner hat die Versuchsperson aus einer
Sammlung von Brustbildern diejenigen herauszusuchen, die ihr
vorher gezeigt wurden; sie hat sich dann auch Namen zu merken,
die damit verknüpft werden. Unter verschiedenen Farbentönen sind
früher eingeprägte auszulesen; aus einer großen Zahl willkürlich
angeordneter Quadrate sind einzelne zu merken und später wieder
aufzufinden; endlich werden Zahlenangaben aus dem Bereiche des
täglichen Lebens vorgesprochen und abgefragt. Auch B 0 1 d t hat nach
1) Ranschburg, Monatsschr. f. Psychiatrie, IX, 241, 1901; Sommers Klinik
für psychische und nervöse Krankheiten, II, 365; III, 97; Boldt, Monatsschr. f.
Psychiatrie, XVII, 97; Vieregge, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXV, 207.
Zustandsuntersuchung.
ähnlichem Plane eine größere Anzahl von Gesunden und Kranken
untersucht. Leider haftet derartigen Versuchsplänen, die sich in der
mannigfaltigsten Weise anordnen lassen, immer der große Übel-
stand an, daß die Zahl der gleichartigen Versuche sehr klein und
daher zufälligen Störungen in erheblichem Grade ausgesetzt ist,
daß aber eine Zusammenrechnung der verschiedenen Versuchs-
formen, wie sie Ranschburg vorgenommen hat, kaum zulässig
erscheint. Dennoch, tritt übrigens in seinen Zahlen die Abnahme
der Merkfähigkeit, namentlich für Wortverbindungen, bei Neur-
asthenischen deutlich hervor, ebenso die schwere Beeinträchtigung
des Umfanges wie der Sicherheit der Einprägung bei seinen Para-
I lytikern, besonders auf dem Gebiete des Wort- und Namengedächt-
nisses wie der räumlichen Orientierung.
In den letzten Jahren hat Ranschburg seine Gedächtnis-
prüfungen auf die Verwendung von Wortpaaren beschränkt, die
eine viel einwandfreiere Berechnung der Ergebnisse gestatten. Er
führt gewöhnlich sieben Reihen von je neun Wortpaaren vor mit
einer Expositionszeit von 2, höchstens 3". Unmittelbar nachher wird
durch Vorsagen des Stichwortes festgestellt, wieviel von den Wort-
verbindungen haftet, während die eigentliche Gedächtnisprüfung
nach längerer Zwischenzeit, mit oder ohne weitere Einprägungen, vor-
genommen wird. Sehr interessant war dabei die Beobachtung, daß
die Verwendung assoziativ einander verwandter Wörter in den gleichen
oder benachbarten Reihen die Einprägungsarbeit empfindlich störte.
Die Prüfung der Vorstellungsver bindungen^) läßt sich nach
sehr verschiedenen Richtungen hin ausdehnen. Zunächst wird es
möglich sein, die Geschwindigkeit zu messen, mit der sich die ein-
zelnen Glieder aneinanderknüpfen. Ein sehr annäherndes Urteil
über diesen Punkt ließe sich allenfalls schon aus den obenerwähnten
Rechenversuchen gewinnen. Genauere Aufschlüsse aber, auch über
die großen Verschiedenheiten je nach der Art der Verbindung, liefert
1) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, I, 209; II, i; IV, 235; Van
ErpTaalman Kip, Psychiatr. en neurolog. Bladen, 1899, 634; 1903, i; Bleuler,
Jung, Ricklin, Journ. f. Psychol. III, IV, VI, VII, VIII, IX; Jung, Arch. f.
Kriminalanthropol., XXII, 145; Isserlin, Münch, med. Wochenschr., 1907, 27;
Schnitzler, Onderzoekingen over de Diagnostiek van Voorstellings-Complexen
niet behulp van het Associatie-Experiment. Diss. 1907; Van der Hoeven, De
invloed der affectieve meerwaarde van Voorstellingen in het Woordreaktie-experiment.
Diss. 1908; Bouman, Sommers Klinik f. psych, u. nervöse Krankh., II, 505.
496
IV. Die Erkennung des Irreseins.
uns die Messung mit Hilfe des Chronoskopes oder der Sportuhr.
Eigenartige Ergebnisse erhält man ferner, wie mir umfangreiche
Versuchsreihen gezeigt haben, bei der Untersuchung der Asso-
ziationszeiten unter planmäßiger Wiederholung derselben Versuche
mit denselben Reizworten. Namentlich der Einfluß der Übung auf
die Schnelligkeit und Festigkeit der Vorstellungsverbindungen läßt
sich dabei sehr gut verfolgen. Allein auch ohne Zeitmessungen sind
Assoziationsversuche nicht nur von mannigfachem Interesse, sondern
auch ungemein leicht ausführbar. Indem man einfach irgendein Wort
ausspricht und die erste daraufhin im Kranken auftauchende Vor-
stellung niederschreibt, kann man in kurzer Zeit die Unterlagen für
eine Statistik der Assoziationen sammeln, die Aufschlüsse liefert
über das gewohnheitsmäßige Verhältnis der inneren zu den äußeren
Vorstellungsverbindungen, die Häufigkeit der eingelernten, der
Klangassoziationen und der ,, Fehlassoziationen", die in gar keiner
Beziehung zu der Art des Reizwortes mehr stehen. Auch auf diese
Weise lassen sich Werte für die Festigkeit der einzelnen Assoziations-
gruppen gewinnen. Als Maß für diese habe ich das Verhältnis der
bei einer Wiederholung neu auftretenden Assoziationen zur Gesamt-
zahl der Versuche benutzt.
Weiterhin kann man der Versuchsperson die Aufgabe stellen, eine
bestimmte Zeitlang die in ihr auftauchenden Vorstellungen mit oder
ohne Anknüpfung an ein gegebenes Ausgangswort niederzuschreiben.
Hier erhält man einen Durchschnittswert für die Geschwindigkeit
der Vorstellungsbildung, die regelmäßig geringer ist als diejenige
des Schreibens. Dann aber läßt sich auf diese Weise ein Urteil über
die Neigung zu einzelnen Arten der Vorstellungsverbindungen ge-
winnen, namentlich zu den psychiatrisch so wichtigen sinnlosen und
Klangassoziationen. Endlich aber ergibt sich bei diesem Verfahren
ein Urteil über die Einheitlichkeit oder Zerfahrenheit des Gedanken-
ganges, über die Reichhaltigkeit des Vorstellungsschatzes, die Nei-
gung zu sprunghaftem Abbrechen, zu zähem Festhalten oder zu
beständigem Wiederholen.
Beschränkt man der Versuchsperson die Auswahl der nieder-
zuschreibenden Worte auf bestimmte Gruppen, etwa solche Gegen-
stände, die durch das Auge, durch das Ohr wahrnehmbar sind, die
Lust oder Unlust erregen, allgemeine Begriffe usf., so ist man im-
stande, aus den Leistungen einer gegebenen Zeit Schlüsse auf die
Zustandsuntersuchung.
größere oder geringere Bereitschaft aller der genannten Vorstellungs-
gruppen und damit auf die Gestaltung des Vorstellungsschatzes
überhaupt zu ziehen. Wie mir Versuche gezeigt haben, lassen sich
diese Ergebnisse nach verschiedenen Richtungen hin verwerten.
Schwierigere assoziative Leistungen, die Bildung von Urteilen und
Schlüssen, kann man in ganz ähnlicher Weise untersuchen, hin-
sichtlich ihrer Richtigkeit, ihrer Schnelligkeit, ihrer Festigkeit.
Eine besondere Wichtigkeit haben die Assoziationsversuche durch
die umfassenden Arbeiten von Bleuler, Jung und Ricklin er-
halten. Abgesehen von der Aufstellung verschiedener allgemeiner
Assoziationsgewohnheiten, die Gebildete und Ungebildete einerseits,
verschiedene Persönlichkeiten andererseits kennzeichnen, hat es
sich gezeigt, daß unter Umständen das Auftauchen lebhaft gefühls-
betonter Vorstellungen einen wesentlichen Einfluß auf den Asso-
ziationsversuch ausüben kann. Jung hat eine Reihe von Zeichen
genannt, an denen man die Wirkung solcher „Komplexe" soll er-
kennen können. Dahin gehört zunächst eine Verlängerung der
gemessenen Zeit, sodann das Ausbleiben der Assoziation, das Auf-
treten einer unsinnigen Assoziation, einer einfachen Interjektion,
die Wiederholung des Reizwortes oder einer kurz vorhergehenden
Assoziation, die Verflachung der Assoziation, insbesondere das Auf-
treten von Klangassoziationen. Diese Veränderungen zeigen sich
bei demjenigen Versuche, der den Komplex berührt hat, bisweilen
auch noch in einigen folgenden Versuchen, hier und da nur in
diesen letzteren.
Daß sich ein solcher Vorgang abspielen kann, ist gewiß nicht
zu bezweifeln. Allein die von Jung angegebenen Zeichen be-
weisen an sich nichts, als eine Aufmerksamkeitsstörung, die
natürlich auch ganz andere Ursachen haben kann, Ermüdung,
zufällige äußere und innere Störungen, Auftauchen ganz anderer,
sich lebhaft aufdrängender Vorstellungen ohne jede Beziehung zum
Versuche. Jung hat zwar einige sehr einleuchtend klingende Bei-
spiele neben manchen etwas gequälten angeführt. Ich muß aber
auf Grund meiner Erfahrungen behaupten, daß die Verursachung
der erwähnten Störungen durch assoziativ angeregte Komplexe
keinesfalls mehr als eine nicht eben häufige Ausnahme bildet. Will
man alle oder auch nur einen sehr erheblichen Teil der verlang-
samten oder mißglückten Assoziationen durch das ,, Anschneiden
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 3^
^pg IV. Die Erkennung des Irreseins.
von Komplexen" erklären, so führt das notwendig zu Künsteleien.
Schon die Erfahrung, daß wir ähnliche Störungen, allerdings dann
meist für ganze Reihen von Versuchen, durch Veränderung des
Gesamtzustandes im Sinne einer Erschlaffung der Aufmerksamkeit
erzeugen können (Ermüdung, Alkohol), weist darauf hin, daß jene
Zeichen eben nur im allgemeinen Unaufmerksamkeit bedeuten,
ohne uns über deren besondere Ursache irgendetwas auszusagen.
Weit zweifelhafter scheint mir das neuerdings von Jung be-
tonte Kennzeichen der Komplexassoziation zu sein, daß sie bei
Wiederholung des Versuches schlechter erinnert werde als die
gleichgültigen Assoziationen. Andere Untersucher, so Isser lin.
Schnitzler, van der Hoeven, haben diese Beobachtung nicht
bestätigen können, und auch ich finde in meinen Erfahrungen dafür
nicht den geringsten Anhaltspunkt. Höchstens das eine könnte ich
zugeben, daß Assoziationen, die im Augenblicke durch die Erinne-
rung an irgendein persönliches Erlebnis angeregt werden, nicht so
fest zu haften pflegen wie maschinenmäßig eingelernte, des persön-
lichen Gepräges entkleidete Verbindungen. Eine Deutung dieser
Erfahrung im Sinne einer bewußten oder unbewußten Verdrängung
oder des Auftretens von schwach haftenden ,, Deckerinnerungen"
scheint mir völlig unmöglich.
Im Zusammenhange mit diesen letzteren Erörterungen haben
wir noch kurz des von Freud und seinen Anhängern geübten Ver-
fahrens der „Psychoanalyse" zu gedenken, das ebenfalls bezweckt,
verborgene, verdrängte Vorstellungen, insbesondere Erinnerungen,
ans Tageslicht zu ziehen. Das Verfahren wird dahin geschildert,
daß die ruhig daliegenden Kranken dem ihnen nicht sichtbaren
Arzte I — 2 Stunden lang alles zu erzählen haben, was ihnen gerade
einfällt, namentlich auch ihre Träume. Diese durch Zwischenfragen
und Bemerkungen des Arztes einigermaßen beeinflußten Bekennt-
nisse werden so lange, unter Umständen durch Jahre, fortgesetzt,
bis der vermutete Komplex gefunden wurde. Auch Assoziationsver-
suche mit nachfolgender genauerer Besprechung der komplex-
verdächtigen Anknüpfungen können mit herangezogen werden. Es
liegt auf der Hand, daß dieses äußerst eindringliche Verfahren auf
der einen Seite sicherlich geeignet ist, dem Arzte einen sehr tiefen
Einblick in das Seelenleben des Kranken zu verschaffen. Dagegen
zeigen die wenigen, bisher veröffentlichten, ausführlichen Berichte
Zustandsuntersuchung.
499
über die Art des Vorgehens, daß dabei eine ungemein starke und
einseitige Beeinflussung des Kranken im Sinne der dem Arzte vor-
schwebenden Vorstellungen stattfindet, endlich, daß die Erreichung
des gesuchten Ergebnisses trotz alledem Deutungskünste erfordert,
die offenbar nur wenige auszuüben verstehen. Allgemeingut kann
daher das Verfahren, wenigstens mit seinen bisherigen Zielen,
niemals werden.
Zur Untersuchung der Auslösung von Willensantrieben
steht uns zunächst die Messung der Wahlzeiten zu Gebote. Wenn
man die Aufgabe stellt, daß auf einen Reiz durch eine Bewegung
mit der rechten Hand geantwortet werden soll, auf einen anderen
dagegen mit der linken, so enthält dieser Vorgang außer der Unter-
scheidung zwischen den beiden Reizen noch denjenigen der Wahl
zwischen zwei Bewegungen. Beschleunigter Ablauf dieser ,, Wahl-
reaktionen" findet sich bei solchen Erregungszuständen im Gehirn,
die mit einer Erleichterung der Auslösung von Willensbewegungen
einhergehen. Besteht dabei noch, wie gewöhnlich, erhöhte Ablenk-
barkeit der Aufmerksamkeit, so kommt es leicht zu ,, Fehlreaktionen"
mit der falschen Hand. Weitere Aufschlüsse über das Verhalten
der Willensantriebe erhalten wir durch Prüfung der Lese-, Schreib-
oder Sprechgeschwindigkeit, die man nach einem ähnlichen Ver-
fahren feststellen kann wie die Schnelligkeit des Rechnens, durch
Lösung fortlaufender, sich reihenweise aneinander schließender,
gleichartiger Aufgaben.
Für die Untersuchung der Schrift habe ich seit längerer Zeit
auch die genauere Messung des Schreibweges und der Geschwindig-
keit einzelner Schriftzüge sowie des in jedem Augenblicke auf die
Unterlage ausgeübten Druckes mit Hilfe einer dafür gebauten
„Schriftwage" herangezogen. Dabei ergeben sich sehr deutlich d.ie
Zeichen der psychomotorischen Erregung und Hemmung sowie der
Willenssperrung. Die außerordentliche Feinheit und Vielseitigkeit
dieser Prüfung rechtfertigt die Erwartung, daß sie uns allmählich
einen klaren Einblick in die Beeinflussung der Schrift durch Gemüts-
bewegungen und Willensantriebe ermöglichen wird. Leider macht
aber die Empfindlichkeit des Verfahrens die Messung der einzelnen
Größen sehr mühsam und zeitraubend.
Das gleiche gilt von den sonst zweifellos sehr aussichtsreichen
Untersuchungen über die feineren Vorgänge der Sprache, wie sie
32*
500
IV. Die Erkennung des Irreseins.
namentlich von Hermann, Scripture und Krüger durchgeführt
worden sind. Man bedient sich dabei am zweckmäßigsten entweder
des Krüger sehen Kehltonschreibers, einer gummiüberspannten
Trommel, die auf den Kehlkopf aufgesetzt wird und dessen
Schwingungen auf eine feine Schreibkapsel überträgt, oder eines
mit einer Rousselo tschen Kapsel verbundenen Schalltrichters, in
den man hineinspricht. Auf diese Weise erhält man sehr feine
Schwingungskurven für die Vokale, bei dem letzteren Verfahren
auch eine Aufzeichnung der gröberen, durch die Konsonanten
bedingten Druckschwankungen. Eine wesentliche Verbesserung
der Darstellung bietet die neuerdings von Marbe angegebene
Aufschreibung durch die rußende Flamme, die sehr deutliche
Bilder liefert, während bisher die Ausmessung nur mit Hilfe des
Mikroskopes oder besonderer Projektionseinrichtungen möglich war.
Aus der Bestimmung der einzelnen Schwingungszahlen kann
man die Melodiekurve" jedes Vokals gewinnen, das Steigen
und Sinken seiner Tonhöhe. Zugleich vermag man die zeitlichen
Beziehungen bei der Vorbereitung und Ausführung der einzelnen
Buchstaben, Vokale und Konsonanten, zu verfolgen, die anscheinend
wichtige Aufschlüsse über den Ablauf der Sprachstörungen ver-
sprechen. Die Stärke des Stimmaufwandes, dessen Messung für viele
psychiatrische Fragen sehr wichtig wäre, läßt sich leider zurzeit nur
mit Hilfe sehr kostspieliger und verwickelter Einrichtungen be-
stimmen, wie sie von Scripture ersonnen wurden (Grammophon-
aufnahme und nachträgliche sehr starke Hebelvergrößerung der
Kurven). Demselben Forscher ist auch die schwierige Aufgabe
gelungen, die so erhaltenen zusammengesetzten Vokalkurven in
ihre einfachen Bestandteile zu zerlegen, also die Entstehungs-
bedingungen der Klangfarbe aufzudecken.
Eine vielseitige Verwendung zur Untersuchung von Willens-
störungen gestattet ohne Zweifel der von Mosso angegebene
Ergograph^), der allerdings gewisser Verbesserungen bedarf, um
für unsere Zwecke verwertbar zu sein. Zunächst gibt er Aufschluß
über die Kraft, mit der eine Bewegung ausgeführt wird, sodann über
das raschere oder langsamere Versagen des Kraftaufwandes, das
1) Gregor u, Hansel, Monatsschr. f. Psychiatrie, XXIII, i; Breukink,
Journ. f. Psychologie und Neurologie, IV, 8$; Ermes, Über die Natur der bei Kata-
tonie zu beobachtenden Muskelzustände. Diss. 1903.
Zustandsuntersuchung. ^oi
durch Ermüdung, Hemmung oder Willenssperrung herbeigeführt
werden kann. Versuche in langsamem Zeitmaße oder die Wieder-
holung der Ermüdungskurven nach verschieden langen Pausen
geben uns ein Bild von der Erholungsfähigkeit des Willenswerk-
zeuges. Dabei scheint die Höhe der einzelnen Ziehungen wesentlich
von der Leistungsfähigkeit des Muskels selbst, die Zahl der Hebungen
in der Ermüdungskurve dagegen mehr von dem Zustande des
Nervengewebes abhängig zu sein. Dafür spricht wenigstens unter
anderem die Steigerung der Hubhöhen unter dem Einflüsse des
Coffeins, die Vermehrung der Ziehungen durch Alkohol und körper-
Hche Arbeit. Gregor und Hänsel haben bei ihren Untersuchungen
an deprimierten und katatonischen Kranken bereits sehr bemerkens-
werte Unterschiede im Ablaufe der Ermüdungskurven aufgedeckt;
auch Breukink hat zahlreiche ähnliche Untersuchungen aus-
geführt.
Weitere Aufschlüsse versprechen die besonders von Sommer
und seinen Schülern untersuchten ,, Haltungskurven", wie sie bei
möglichst langem Halten eines schweren Gewichtes durch Auf-
zeichnen des allmählichen Erlahmens gewonnen werden. Endlich
läßt sich durch die Zergliederung des Anstiegs und Abfalles der ein-
zelnen Ziehung noch die Geschwindigkeit messen, mit der die Ver-
kürzung und Erschlaffung des Muskels unter dem Einflüsse des
Willensantriebes erfolgt. Sie findet ihre Ergänzung in der Auf-
zeichnung einfacher Willkürbewegungen ohne Belastung, deren
Untersuchung uns vielleicht einmal Aufschlüsse über die Eigen-
tümlichkeiten der katatonischen und der gehemmten Bewegungen
liefern wird. Zur bequemen Herstellung von Ermüdungskurven
am Krankenbette hat Weiler sich neuerdings eines von ihm her-
gestellten Dynamometers bedient, welches selbsttätig und fort-
laufend die einzelnen Druckwerte aufzeichnet. Schwerere Störungen
in der Auslösung von Willensantrieben lassen sich schon in der
Verlangsamung einfacher Bewegungen, des Handgebens, Arm-
hebens, mit der Uhr messen; auch das Aussprechen geläufiger
Reihen, der Zahlen oder des Alphabets, ist für diesen Zweck geeignet.
Der Zerlegung von Bewegungen in die drei Richtungen des
Raumes hat Sommer besonders seine Aufmerksamkeit gewidmet.
Er hat Hilfsmittel hergestellt, die es gestatten, die Bewegungen des
Armes wie des Beines in ihre Richtungsbestandteile aufzulösen.
502
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Besonders wertvoll hat sich dieses Verfahren bisher erwiesen für die
Darstellung schneller unwillkürlicher Bewegungen, namentlich des
Zitterns und Zuckens. Die verschiedenen Formen des Zitterns
können nach Richtung und Geschwindigkeit genau verfolgt werden;
die leichten Änderungen in der Muskelspannung, die den Ablauf von
Seelenvorgängen und insbesondere das Auftreten von Gemüts-
bewegungen begleiten, lassen sich ohne Schwierigkeit darstellen.
Auch für die Unterscheidung gewisser funktioneller Bewegungs-
störungen von solchen, die auf gröberen Erkrankungen des Nerven-
gewebes beruhen, verspricht das Sommer sehe Verfahren brauch-
bare Anhaltspunkte zu liefern.
Ferner hat sich Sommer vielfach mit der Wiedergabe und Zer-
legung von Ausdrucksbewegungen beschäftigt. Zur genaueren
Erforschung des Gesichtsausdruckes hat er das stereoskopische Bild,
neuerdings auch die Aufzeichnung der mimischen Muskelbewegungen
herangezogen. Für die Darstellung und Zergliederung der Haltung
und der gesamten Körperbewegungen mag sich neben der Stereo-
skopie wohl auch die Kinematographie verwenden lassen, die jedoch
für wissenschaftliche Zwecke noch wesentlicher Vervollkomm-
nungen bedarf. Dasselbe gilt wohl vom Phonographen, der von
Sommer nicht nur zur Festhaltung kennzeichnender Äußerungen,
sondern auch zur genaueren Erforschung sprachlicher Eigentümlich-
keiten und Störungen benutzt worden ist.
Aussichtsreich sind endlich noch die Untersuchungen, die
Sommer im Anschlüsse an Rieger über den Ablauf des Knie-
sehnenreflexes angestellt hat. Die Aufzeichnung der Bewegungen,
die der ins Gleichgewicht gebrachte Unterschenkel ausführt, ergibt
eine überraschende Mannigfaltigkeit von Verlaufsarten, von denen
manche offenbar einen tieferen Zusammenhang mit bestimmten
Krankheitszuständen darbieten. Dahin scheint besonders die Steige-
rung und das Nachlassen der dauernden Spannung, ferner die Ver-
mehrung der Ausschläge bis zum fortgesetzten Pendeln zu gehören,
die Hornung beim einfachen Herabfallen des Unterschenkels auch
durch Alkoholwirkung künstlich erzeugen konnte. Weiler ist es
ebenfalls gelungen, mit einer wesentlich vereinfachten Einrichtung
die Unterschiede im Verhalten der Kniesehnenreflexe aufzuzeichnen.
Wir haben in dieser Aufzählung die Gemütsbewegungen
ganz beiseite gelassen. In der Tat vermögen wir bisher kaum, diese
Zustandsuntersuchung.
Seite unseres Seelenlebens irgendwie der Messung zugänglich zu
machen. Allerdings sind wir imstande, künstlich Stimmungen zu
erzeugen. Wir können Unlustregungen durch körperliche Schmerzen
und widrige Eindrücke aller Art, ebenso Lustgefühle, Heiterkeit,
Schreck, Spannung, Zorn auf verschiedene Weise herbeiführen.
Besonders leicht gelingt das in der Hypnose durch Eingebungen.
Diese Wege sind vielfach, namentlich von Lehmann, ferner von
Mentz, Zoneff und Neumann, Martius und Minnemann,
betreten worden, um die Beeinflussung der Atmung, der Pulswelle •
und der Blutfüllung durch Gemütsschwankungen zu erforschen.
Derartige Versuche haben bereits zu einer Reihe von wichtigen Fest-
stellungen geführt, die nunmehr eine Übertragung des Verfahrens
auf krankhafte Gemütszustände nicht mehr aussichtslos erscheinen
lassen. Auch die übrigen Hilfsmittel, die uns ein feineres Verständnis
der Willensäußerungen ermöglichen, der Ergograph, der Sommer-
sche Zitterapparat, sein „Reflexmultiplikator", die Schriftwage, die
Aufzeichnung der Sprachbewegungen, wären verwendbar, um
wenigstens die äußeren Zeichen gemütlicher Erregungen aufzu-
zeichnen und zu messen. Innerhalb gewisser Grenzen würden wir
dadurch auch wohl Aufschluß über die Stärke und Art der inneren
Erschütterungen erhalten.
Ein neues, aussichtsreiches Hilfsmittel für den Fortschritt auf
diesem Gebiete bildet vielleicht das im Anschlüsse an Unter-
suchungen von Tarchanoff durch Veraguth, Sommer und
Jung ausgebildete Verfahren zur Darstellung des „galvanischen
psychophysischen Reflexes" i). Es handelt sich dabei um die
Ablenkungserscheinungen, die hochempfindliche Spiegelgalvano-
meter darbieten, wenn eine in den Stromkreis eingeschaltete
Person gemütlich erregt wird. Der Weg, auf dem diese Ablen-
kungen zustande kommen, ist noch völlig dunkel. Dennoch
kann nach den vorliegenden Untersuchungen schwerlich bezweifelt
werden, daß sie wesentlich durch solche Seelenvorgänge erzeugt
werden, die mit Gemütsbewegungen verknüpft sind und innerhalb
gewisser Grenzen als Gradmesser dieser letzteren dienen können.
Dafür spricht ihr lebhaftes Hervortreten im Zustande der Erwartung,
1) Sommer u. Fürstenau, Klinik f. psych, u. nervöse Krankh., I, i97;
Veraguth, Das psychogalvanische Reflexphänomen. 1909; Bis wanger, Journ.
f. Psychologie und Neurologie, X, 149; XI, 65, 133.
•504
IV. Die Erkennung des Irreseins.
bei spannender Lektüre, bei gefühlsbetonten Vorstellungsverbin-
dungen und ganz besonders auch die von Petersen und Jung mit-
geteilte Tatsache ihres fast völligen Verschwindens bei katatonischen
Kranken.
Weiterhin aber kann darauf hingewiesen werden, daß gewisse
Gifte ausgeprägte Stimmungen erzeugen, die vielleicht mit deren
meßbaren Wirkungen auf das Seelenleben in irgendeiner Beziehung
stehen. So haben wir früher gesehen, daß bei der Alkoholwirkung
etwa die Erleichterung der Bewegungsauslösung, beim Morphium
die Anregung der Einbildungskraft die Grundlage der Stimmungs-
änderung bilden könnte, während die vom Tee erzeugte Behaglich-
keit mit der Erleichterung der Verstandestätigkeit bei gleichzeitiger
motorischer Beruhigung, die stille Befriedigung des Rauchers mit der
leicht lähmenden und beruhigenden Wirkung des Tabaks zusammen-
hängen dürfte. Auch hier wäre überall eine Ausdehnung der Unter-
suchungen auf diejenigen Gebiete wünschenswert, auf denen er-
fahrungsgemäß die Gemütsbewegungen ihren Ausdruck finden.
Kennten wir die Wirkungen der Gifte nach allen diesen Richtungen
hin genauer, so wäre möglicherweise daran zu denken, aus den Ver-
änderungen, die ein Gift im einzelnen Falle herbeiführt, Schlüsse auf
die besondere Art des bestehenden Gemütszustandes abzuleiten. Die
ganz verschiedene Wirkung, die z. B. Alkohol und Brom auf die
Verstimmung des Epileptikers ausüben, berechtigt uns dazu. Der
Unterschied zwischen der Erregung des Manischen und des Epilep-
tikers wird durch die gänzlich abweichende Beeinflussung beider
durch Brom in helles Licht gesetzt. TatsächHch ist das Hilfsmittel
der Giftwirkung zur genaueren Zergliederung gegebener Seelen-
zustände bereits mit gutem Erfolge in Anwendung gezogen worden.
Wir kommen nunmehr noch zu einer letzten, aber gewiß nicht
der unwichtigsten Seite der psychischen Untersuchung, zur Fest-
stellung der psychischen Grundeigenschaften. Mit Hilfe der
fortlaufenden Lösung gleichartiger Aufgaben sind wir nämlich im-
stande, die Änderungen unserer geistigen Leistungsfähigkeit auf
verschiedenen Gebieten dauernd zu verfolgen. Aus den Schwan-
kungen der Arbeitsfähigkeit können wir aber ein Maß gewinnen für
die früher besprochenen Grundeigenschaften der geistigen Persönlich-
keit. Genauere derartige Messungen erfordern allerdings umfang-
reiche Versuchsreihen und ganz besondere, dem jeweiligen Zwecke
Beobachtung.
angepaßte Anordnungen^). Immerhin wird sich die Übungsfähigkeit
durch die Zunahme der Leistungsfähigkeit unter dem Einflüsse der
Arbeit messen lassen. Man wird etwa die Anfangsleistung zweier, in
gewisser Zwischenzeit aufeinanderfolgender Versuche vergleichen.
Allerdings kann dabei der inzwischen erfolgte Übungsverlust nicht
mit berücksichtigt werden, obgleich er wahrscheinlich für ver-
schiedene Personen nicht gleich groß ist. Die Übungsfestigkeit läßt
sich aus der Erhöhung der Arbeitsleistung erkennen, die nach
längerer Zwischenzeit von der früher festgestellten Übungswirkung
noch übrig geblieben ist. Die Anregbarkeit kann gemessen werden
durch die Abnahme der Leistungsfähigkeit, die durch kürzere
Arbeitspausen gegenüber dem ununterbrochenen Fortarbeiten herbei-
geführt wird. Als annäherndes Maß der Ermüdbarkeit darf die Ab-
nahme der Leistungsfähigkeit nach bestimmter, längerer Arbeitszeit
gelten. Über die Erholungsfähigkeit gewinnt man ein Urteil aus
dem Stande der Leistungsfähigkeit nach einer Pause im Anschlüsse
an ermüdende Arbeit. Zur Bestimmung der Schlaftiefe stellen wir
für jeden Abschnitt der Nacht die Stärke der Reize fest, die gerade
genügt, um den Schläfer zu erwecken. Die Ablenkbarkeit messen
wir aus der Herabsetzung der Leistungsfähigkeit unter der erst-
maligen Einwirkung bestimmter Störungen, während die Gewöh-
nungsfähigkeit aus der Änderung der Leistungsfähigkeit während
längerer Einwirkung jener Störungen erkannt wird.
Mit diesen kurzen Andeutungen muß ich mich an dieser Stelle
begnügen. Eine ausführlichere Darlegung und Begründung der
hier erwähnten Messungen psychischer Größen findet sich in den
angeführten Arbeiten. Umfassende Einzeluntersuchungen haben
den Beweis erbracht, daß die Mehrzahl dieser Bestimmungen schon
mit den heute zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln, und daß sie
in größerem oder geringerem Umfange auch an so manchen Geistes-
kranken ausführbar sind.
Beobachtung. Es ist leicht verständlich, daß in einigermaßen
schwierigen Fällen die einfache Untersuchung eines Kranken nie-
mals ausreicht, sondern zur größeren Sicherheit immer eine mehr
oder weniger lang bemessene Beobachtungszeit gefordert werden
muß. Die Befangenheit bei der ungewöhnlichen Prüfung, der
1) Kraepelin, Arch. f. die gesamte Psychol., I, 9, 1903; Specht, ebenda
III, 245.
5o6
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Eindruck der Versetzung in neue Verhältnisse kann das Bild für
einige Zeit völlig verändern, ganz abgesehen von jenen Krank-
heitsformen, die ihrer Natur nach mit freieren Zwischenzeiten
verlaufen oder nur anfallsweise hervortreten. Als Ort für die Be-
obachtung dient am besten die Irrenanstalt, weil nur in ihr
eine dauernde, sachverständige Überwachung gesichert erscheint.
Sehr häufig fördern hier die ersten Tage der Einbürgerung, die man
ohne besonderen Eingriff verstreichen läßt, gar keine auffallenden
Beobachtungen zutage; erst nach und nach treten die krankhaften
Erscheinungen, falls solche überhaupt vorhanden, deutlicher her-
vor. Alle jene einzelnen Züge des psychischen Bildes, die bei der
einmaligen Untersuchung nur angedeutet waren, prägen sich nun
bei längerer Beobachtung deutlicher aus: das Wesentliche sondert
sich vom Unwesentlichen und Zufälligen. Der außerordentliche
Unterschied zwischen einmaliger und wiederholter Prüfung eines
Geisteskranken wird ganz besonders deutlich, wenn man sich
daran gewöhnt, in jedem Falle schon bei der ersten Untersuchung
eine bestimmte Diagnose zu stellen. Man begreift dann oft nach
wenigen Tagen die Schwierigkeiten nicht mehr, die man anfäng-
lich mit der Beurteilung gehabt hat. Dazu kommt, daß sich der
Beobachtete seinesgleichen gegenüber und bei längerer Bekannt-
schaft mit dem Arzte unbefangener gibt, sich mehr gehen läßt
und achtlos Eigentümlichkeiten, Gedanken, Gefühle verrät, mit
denen er bei der einmaligen Untersuchung zurückhielt. Von be-
sonderer Bedeutung in dieser Beziehung pflegen Briefe und andere
Schriftstücke zu sein, die oft mit einem Schlage ein kaum erwar-
tetes Licht über den Zustand ihres Verfassers ausbreiten.
Weiterhin aber ist man nun in den Stand gesetzt, sein Han-
deln kennen zu lernen, freilich nur in dem engen Rahmen der
Anstaltsverhältnisse, der aber für den Untersuchten doch noch
Gelegenheit genug zu krankhaften Willensäußerungen darbietet.
Lebhaftigkeit oder Gleichgültigkeit, Zerstreutheit oder Versunken-
heit, Leistungsfähigkeit oder Schwäche, Selbstüberschätzung oder
Kleinmut, Reizbarkeit oder Stumpfheit, Tatkraft oder Unent-
schlossenheit, Bestimmbarkeit oder Unlenksamkeit, Arbeitslust
oder Trägheit — alle diese Eigenschaften und viele andere werden
sich in den täglich beobachteten kleinen Zügen nach und nach
auf das unverkennbarste herausstellen müssen. Endlich ist es
Leichenbefund.
507
nur auf dem Wege fortgesetzter Beobachtung möglich, den fort-
schreitenden oder gleichbleibenden Verlauf des vermutlichen Lei-
dens, das Vorkommen von Besserungen, Verschlimmerungen, ,, An-
fällen" aller Art, das Verhalten des Schlafes, der Eßlust, der Ver-
dauung und vor allem des Körpergewichtes in gesicherter Weise
festzustellen. Soweit daher im einzelnen Falle überhaupt eine
Aufklärung über das körperliche und psychische Verhalten mög-
lich ist, wird sie durch die mannigfachen Erfahrungsquellen, welche
die klinische Beobachtung gewährt, in der Regel erreicht werden
können. Unter Umständen ist dabei allerdings erst das Verhalten
in der Freiheit von ausschlaggebender Wichtigkeit. Wir kennen
Kranke genug, namentlich Psychopathen, Schwachsinnige, Alko-
holisten, die im Schutze der Anstalt nur äußerst geringfügige
Abweichungen darbieten, sich selbst überlassen aber eine über-
raschende Unfähigkeit zeigen, den Anforderungen des Lebens zu
genügen, oder sich als äußerst gefährlich für ihre Umgebung er-
weisen. In allen solchen Fällen wird die Anstaltsbeobachtung
durch Erfahrungen über die Lebensführung in der Freiheit zu er-
gänzen sein.
Leichenbefund^). Wenn wir in der übrigen Medizin gewöhnt
sind, als letzte Bestätigung unserer Krankheitsauffassung den
Leichenbefund anzusehen, so können wir in der Psychiatrie der
Untersuchung nach dem Tode bis jetzt nur einen beschränkten
Wert zugestehen. Wo das Vorhandensein einer Geistesstörung
bei ausreichender Beobachtung nicht aus den Erscheinungen am
Lebenden sichergestellt werden konnte, vermag die Hirnunter-
suchung heute ganz gewiß keine Entscheidung herbeizuführen.
Der Grund dafür liegt indessen nicht darin, daß man etwa nicht
imstande wäre, krankhafte Veränderungen an der Leiche aufzu-
finden. Vielmehr sind sie überaus häufig, und namentlich seit
1) Juliusburger u. Meyer, Monatsschr. f. Psychiatrie, III, 316; Alzheimer,
Monatsschr. f. Psychiatrie II, 82; Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVII, 597;
Nissl, Arch. f. Psychiatrie, XXXII, 656; Histologische und histopathologische
Arbeiten über die Großhirnrinde, Bd. I u. II; Heilbronner, Ergebnisse der all-
gemeinen Pathologie und pathol. Anatomie, VI, Suppl. 555; Weber, ebenda IX, i,
1903; Robertson, a text-book of pathology in relation to mental diseases. 1900;
Meyer, Die pathologische Anatomie der Psychosen, Orth - Festschrift. 1902.
Schröder, Einführung in die Histologie und Histopathologie des Nervensystems.
1908.
IV. Die Erkennung des Irreseins.
den großen Fortschritten des mikroskopischen Untersuchungs-
verfahrens, wie sie uns die letzten Jahrzehnte gebracht haben,
lassen die Hirnbefunde eine solche Fülle von gröberen und feineren
Abweichungen erkennen, daß es sogar schwierig ist, ein im streng-
sten Sinne völlig normales Menschenhirn aufzufinden. Anschei-
nend hinterlassen schon die Bewußtseinstrübungen des Todes-
kampfes in der Regel greifbare Veränderungen; Hoch hat sie in
der Rinde von sonst geistig ganz gesunden Menschen aufgefunden.
Hier liegt eine der Schwierigkeiten, die unserer Beurteilung des
Leichenbefundes entgegenstehen. Die beobachteten Abweichungen
können, auch wenn wir von den Veränderungen durch Leichen-
zersetzung ganz absehen, erst durch die tötliche Erkrankung
selbst bedingt worden sein, so daß sie trotz ihrer Schwere und
Ausdehnung mit dem sonstigen Geisteszustände des Verstorbenen
nicht das mindeste zu tun haben.
Sodann jedoch sind wir auch bei denjenigen Befunden, deren
Entstehungsgeschichte sicher weiter zurückreicht, vielfach im
unklaren, ob sie irgendeinen Einfluß auf das Seelenleben aus-
üben konnten. Wir sehen so häufig tiefgreifende Hirnverände-
rungen, z. B. Geschwülste, Abscesse, ganz oder nahezu ohne
Beeinträchtigung der seelischen Leistungen verlaufen, daß wir
in der Abschätzung der klinischen Bedeutung unserer Befunde
äußerst vorsichtig sein müssen. Endlich aber wird man auch
dann, wenn eine nähere Beziehung der Hirnveränderungen zum
Krankheitsbilde wahrscheinlich ist, darauf verzichten müssen,
etwa aus dem Befunde den Schluß auf bestimmte psychische Stö-
rungen zu ziehen. Nur auf dem Umwege, daß wir aus dem ana-
tomischen Bilde das Bestehen eines bekannten Krankheitsvor-
ganges erkennen, was in einer beschränkten Gruppe von Fällen
möglich ist, werden wir die Annahme stützen können, daß im
Leben die jenem Vorgange eigentümlichen klinischen Erschei-
nungen vorhanden waren.
Eine verhältnismäßig geringe Bedeutung für die psychiatrische
Betrachtung haben die grob-anatomischen Befunde. Verbildungen
des Schädels, insbesondere Mikrocephalie und Hydrocephalie, weisen
auf Krankheitsvorgänge vor der Geburt oder in früher Jugend
hin; Verdickungen des Schädels können sich anscheinend bei
krankhafter Verkleinerung der Hirnmasse, Verdünnungen infolge
Leichenbefund. ^09
von Altersschwund einstellen. Verwachsung der harten Hirn-
haut mit dem Schädeldache wird bei chronisch-entzündlichen Er-
krankungen beobachtet; Blutergüsse in jener letzteren sieht man,
abgesehen von Schädelverletzungen, namentlich bei alten Trin-
kern. An den weichen Hirnhäuten sind die verschiedenen me-
ningitischen Veränderungen zu beachten, von denen für den Irren-
arzt besonders die paralytischen und syphilitischen Formen in
Betracht kommen. Die Blutfüllung der Hirngefäße, auf die man
früher sehr großes Gewicht legte, spielt keine erhebliche Rolle;
sie pflegt vermehrt zu sein bei manchen sehr akut verlaufenden
Erkrankungen, so bei alkoholischen und infektiösen Delirien,
vermindert bei starkem Hirndruck. Ebenfalls von mehr unter-
geordneter Wichtigkeit für die Psychiatrie sind die groben Herd-
erkrankungen des Gehirns, die Geschwülste, Gefäßverstopfungen,
Erweichungen, wie wir sie bei weiterer Betrachtung und Zer-
gliederung der Hirnmasse wahrnehmen. Die Erweiterung der Hirn-
höhlen ist meist ein Zeichen von Hirnschwund, weit seltener von
Abflußbehinderungen (Verlegung des Aquaeductus Sylvii durch Ge-
schwülste) oder von hydrocephalischen Erkrankungen.
Die Anordnung der Windungen und Furchen, der man vielfach
besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, besitzt psychiatrische
Bedeutung nur, soweit es sich um gröbere Abweichungen handelt.
Entwicklungshemmungen und früh einsetzende Krankheitsvorgänge
können neben Windungsarmut, Makrogyrie und umschriebener
mikrogyrischer Schrumpfung einzelner Hirnbezirke die weitgehend-
sten Änderungen der Oberflächengliederung herbeiführen, aller-
dings regelmäßig unter entsprechenden Störungen des feineren
Baues. Alle diese Befunde, ebenso die Heterotopien und andere
schwere Mißbildungen, endlich die Porencephalien, kommen nur
für das Gebiet der Idiotie in Betracht; kleinere Unregelmäßig-
keiten, abweichender Verlauf oder undeutliche Ausprägung ein-
zelner Furchen, Brückenbildungen, stärkere oder schwächere
Ausbildung gewisser Windungen, gestatten keine Rückschlüsse
auf den Geisteszustand des Lebenden; sie fallen höchstens dann
etwas mehr ins Gewicht, wenn sie unverkennbare Tierähnlich-
keiten andeuten, wie die Affenspalte.
Auf die Beachtung der Maß- und Gewichtsverhältnisse des
Schädelinhaltes hat jüngst im Anschlüsse an Riegers Forschungen
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Reichhardt') mit Nachdruck hingewiesen. Er betont, offenbar
mit Recht, daß schon der einfache Nachweis einer Verkleinerung
oder Vergrößerung des Gehirns nur durch Vergleichung seiner
Masse mit dem Fassungsraume des Schädels zu führen sei. Bei
Gesunden ist nach seinen Angaben das Hirngewicht in Grammen
durchschnittlich um lo — 16% kleiner als der Schädelinhalt in
Kubikzentimetern. Dieser letztere wird durch Eingießen von Wasser
in die beim Aufsägen erhaltenen, nach Bedarf abgedichteten
Schädelabschnitte gemessen. Verkleinerung der Hirnmasse kann
durch Untergang ihrer Bestandteile, sodann durch rasche Wasser-
abgabe infolge von Erkrankungen geschehen, Vergrößerung durch
Geschwulstbildung, krankhafte Wucherung, aber auch durch rasch
einsetzende Schwellungsvorgänge, die Reichhardt für das Auf-
treten von Druckerscheinungen und selbst plötzlichen Todesfällen
beim Fehlen anderer raumbeschränkender Ursachen verantwort-
lich macht.
Die Bestimmung des spezifischen Hirngewichtes geschieht
entweder mit Hilfe der Volumsmessung durch Wasserverdrängung,
durch Feststellung des Gewichtsverlustes beim Eintauchen in
Wasser oder endlich durch aerometrische Prüfung der Glycerin-
wassermischung , in der Hirnstückchen gerade schwimmen ; sie
kann uns namentlich über den Wassergehalt des Gewebes
Aufschluß geben. Nach Reichhardts Angaben schwanken die
Werte zwischen 1032 und 1048. Die Wägung einzelner Hirn-
teile, der beiden Halbkugeln, des Kleinhirns, der Brücke nebst
Vierhügeln und verlängertem Mark, wird uns über Mißverhält-
nisse zwischen ihnen und über umgrenztere Gewebsveränderungen
aufklären, ebenso natürlich die gesonderte Bestimmung des spe-
zifischen Gewichts. Ferner können die Beziehungen des Hirn-
gewichts zu Gewicht und Länge des Körpers in Betracht gezogen
werden. Freilich werden sich aus diesen Bestimmungen nur An-
haltspunkte sehr allgemeiner Art über Sitz, Umfang und Art der
krankhaften Hirnveränderungen gewinnen lassen.
Die mikroskopische Durchforschung des Gehirns hat uns in
verhältnismäßig kurzer Zeit eine große Fülle von Befunden ge-
liefert. Während man früher die Hauptmasse der Geistesstörungen
1) Reichhardt, Über die Untersuchung des gesunden und kranken Gehirnes
mittels der Wage. 1906.
Leichenbefund. ^ 1 1
als „funktionelle" ansah, bei denen sich keine sichtbaren Ver-
änderungen auffinden ließen, ist das Gebiet der Psychosen ohne
anatomische Grundlage rasch sehr erheblich eingeschrumpft. Ins-
besondere hat sich ergeben, daß die Nervenzellen der Hirnrinde
überaus häufig die Anzeichen krankhafter Schädigungen erkennen
lassen. Leider haben sich die Hoffnungen, die man zunächst an
diese Erfahrung knüpfen konnte, nicht erfüllt. Es stellte sich sehr
bald heraus, daß uns diese Zellbefunde auch dort, wo sie nicht
erst durch die Todesursache oder zufällige Begleiterkrankungen
erzeugt waren, durchaus kein Urteil über die psychiatrischen
Krankheitsvorgänge gestatten.
Schon bei der Erforschung der Giftwirkungen auf die Nerven-
zellen kam Nissl zu dem Ergebnisse, daß zwar die subakute maxi-
male Vergiftung bei einer Reihe von Giften an gewissen Rinden-
zellen ganz bestimmte Veränderungen hervorbringe, daß sich aber
die Besonderheit dieser Wirkungen bei den für die Psychiatrie
namentlich in Betracht kommenden chronischen Vergiftungen
vollkommen verwische. Wenn das für die scharf gekennzeichneten
und noch dazu dem Versuche zugänglichen Hirnstörungen durch
Gifte zutrifft, so wird man von vornherein die Aussicht für sehr
gering halten müssen, bei der großen Masse der Geisteskrank-
heiten mit ganz unbekannter Entstehungsweise eigenartige Zell-
veränderungen aufzufinden. Nissl hat es daher auch unumwunden
ausgesprochen, daß alle die von ihm beschriebenen Formen der
Zellerkrankung nichts weniger als kennzeichnend für bestimmte
klinische Krankheitsbilder sind, ja nicht einmal das Bestehen
einer geistigen Störung überhaupt anzeigen. Ebensowenig lassen
sich feste Beziehungen zwischen Ausdehnung und Schwere der
Zellerkrankungen und Ausprägung der klinischen Krankheits-
erscheinungen nachweisen.
Allerdings leidet unsere Kenntnis dieser Verhältnisse noch an
dem Übelstande, daß einerseits vielfach nur ganz bestimmte Zell-
formen, meist die größeren, genauer untersucht zu werden pflegen,
während über die Erkrankungen der übrigen, vielleicht für das
Seelenleben weit wichtigeren Formen sehr viel weniger bekannt
ist. Sodann aber ist es bei dem heutigen Stande unseres Wissens
gar nicht möglich, ein irgend zuverlässiges Urteil über die Aus-
dehnung und örtliche Umgrenzung der Krankheitsvorgänge in der
512
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Rinde zu gewinnen. Bei der außerordentlichen Mannigfaltigkeit
der Organe, aus denen sich die Hirnrinde ohne Zweifel zusammen-
setzt, können einige Stichproben unmöglich genügen, um uns
über die Verbreitung der Zellveränderungen Klarheit zu verschaf-
fen. Es wäre daher an sich sehr wohl möglich, daß uns eine Be-
rücksichtigung aller Zellgattungen und eine sorgfältige Durch-
musterung der gesamten Rinde zwar nicht in der Art der Zell-
erkrankungen, aber doch in ihrer Ausbreitung auf die einzelnen
Zellarten und Rindenbezirke gewisse Besonderheiten der verschie-
denen Krankheitsvorgänge aufdecken würde. Allerdings werden
wir immer annehmen dürfen, daß es sich bei Geistesstörungen
um weitverbreitete Veränderungen handeln wird; wissen wir doch
zur genüge, daß umgrenzte Rindenzerstörungen auch bei erheb-
lichem Umfange ohne erkennbare Beeinträchtigungen des Seelen-
lebens verlaufen können. Dem entspricht auch die Erfahrung,
daß wir bei denjenigen Formen des Irreseins, die bisher Zellver-
änderungen dargeboten haben, diese letzteren in sehr großer Aus-
dehnung antreffen.
Ebensowenig wie das Verhalten der Nervenzellen gibt uns die
Betrachtung der übrigen Rindenbestandteile die Möglichkeit, bün-
dige Kennzeichen für die Eigenart des vorliegenden Krankheits-
vorganges aufzufinden. Weder die Nervenfasern noch das Stütz-
gewebe oder die Gefäße bieten bei den einzelnen Erkrankungen
bisher Veränderungen dar, die sich bei keiner anderen in ähnlicher
oder gleicher Weise wiederfinden ließen. Anscheinend liegen die
Verhältnisse hier ganz ähnlich wie bei der klinischen Unterschei-
dung der Geisteskrankheiten, bei der wir auch nicht in der Lage
sind, aus einem einzelnen Zeichen zuverlässige Schlüsse ziehen zu
können. Wie aber hier der Gesamtzustand eines Kranken zumeist
doch ein Urteil über die vorliegende klinische Form erlaubt, so
dürfen wir auch hoffen, aus dem Gesamtbilde der Hirnrinde
bestimmte Schlüsse über die Zugehörigkeit des Einzelfalles zu dieser
oder jener Krankheitsgruppe ziehen zu lernen. Um dahin zu ge-
langen, ist es vor allem nötig, bei der Verarbeitung die Untersuchung
nach möglichst vielen Richtungen und auf die verschiedenartigsten
Darstellungsweisen auszudehnen. Bei der Betrachtung der Ner-
venzellen werden wir außer dem Nissischen Bilde auch das Ver-
halten der Fibrillen zu berücksichtigen haben, bei derjenigen der
Leichenbefund.
Fasern die Ausdehnung des Schwundes und die Zerfallsvorgänge.
An der Glia beobachten wir die Kerne und Kernteilungen, die
mannigfachen Veränderungen des Zelleibes, die Protoplasmafort-
sätze, die Faserbildung, die Beziehungen zu den Nervenzellen,
die Wucherungen und Schwellungen, die Schrumpfungs- und
Rückbildungsvorgänge. Die Musterung der Gefäße zeigt uns Ver-
mehrung und Sprossung, Wucherung von Endothel- und Adven-
titialzellen, Verengerung und Neubildung von Lichtungen, Er-
füllung der Adventitialscheiden mit Lymphocyten und Plasma-
zellen; ferner sind die Beziehungen zur Glia, bei den größeren
Gefäßen auch das Verhalten der Muskelschicht und der elastischen
Haut, deren Aufsplitterung und die Wandverdickung durch Ge-
websneubildung zu beachten.
Eine besondere Bedeutung scheint nach Alzheimers Unter-
suchungen die genauere Feststellung der Abbaustoffe zu gewinnen,
da sie uns vielleicht gewisse Einblicke in die Verschiedenheit der
chemischen Vorgänge gestattet, die den einzelnen Formen krank-
hafter Zerstörung zugrunde liegen. Außer der Bildung von Pig-
menten, den kolloiden und hyalinen Entartungen der Gefäße, den
Kalkeinlagerungen in abgestorbene Zellen, kommen hier nament-
lich die Fettkörper, die myelinoiden, protagonoiden, fibrinoiden
Stoffe in Betracht, die sich teils in den erkrankten Nervenzellen
selbst, teils in den ihre Auflösung und Fortschaffung besorgenden
Gliazellen oder bereits in den Adventitialräumen der Gefäße nach-
weisen lassen.
Aus den genannten und vielen anderen Einzelheiten setzen
sich die verschiedenen anatomischen Bilder zusammen, die uns
das Irresein liefert. Bevor wir sie aber zu den klinischen Erfah-
rungen in Beziehung setzen können, ist es erforderlich, aus der
Fülle von Befunden Einblick in den Ablauf der Krankheitsvor-
gänge zu gewinnen, denen sie angehören. Wenn wir bei der kli-
nischen Beobachtung in der Lage sind, die Veränderungen, die
das Krankheitsbild erfährt, fortlaufend zu verfolgen und damit
die Zusammengehörigkeit aller der verschiedenartigen Augen-
blickszustände, die einander ablösen, zu erkennen, gibt uns der
anatomische Befund von dem gesamten Krankheitsvorgange nur
einen einzigen Durchschnitt, dessen zeitliche Lage ganz vom Zu-
fall abhängt. Obgleich wir daher das vorliegende, unveränder-
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 33
514
IV. Die Erkennung des Irreseins.
liehe Bild mit weit größerer Muße und Gründlichkeit bis in die
feinsten Einzelheiten hinein untersuchen können, als der Kliniker
das flüchtige, wechselnde Verhalten seines Kranken, so ist uns ein
Verständnis für die Entstehungsgeschichte und die voraussichtliche
weitere Entwicklung der wahrgenommenen Veränderungen doch
nur insoweit möglich, wie unser Fall vielleicht nebeneinander ver-
schiedene Stufen des sich abspielenden Krankheitsvorganges dar-
bietet. Natürlich ist diese Schwierigkeit nicht unüberwindlich.
Wenigstens bei den häufigeren Formen des Irreseins gelingt es
im Laufe der Zeit, so viel Beobachtungsstoff aus allen Abschnit-
ten des Krankheitsablaufes zu sammeln, daß aus der Reihe der
sich aneinanderschließenden Bilder auch ein Verständnis für die
Art der sich abspielenden Krankheitsvorgänge gewonnen werden
kann.
Die Fortschritte in der anatomischen Durchforschung krank-
hafter Hirnveränderungen sind schon jetzt außerordentlich wert-
volle. Der sorgsame Aufbau der Gesamtbefunde aus allen Einzel-
heiten und die Zusammenfügung der Einzelbilder zu Krankheits-
vorgängen haben uns in den Stand gesetzt, schon heute bestimmte
anatomische und klinische Erscheinungen miteinander in Be-
ziehung zu bringen und aus dem Leichenbefunde Schlüsse auf
das allgemeine Krankheitsbild im Leben abzuleiten. Das gilt vor
allem von der Paralyse, einigen Formen des Altersblödsinns, den
Erkrankungen mit Arteriosklerose, mit luetischen Gefäßverände-
rungen oder Meningoencephalitiden, in geringerem Umfange aber
auch von gewissen Gruppen der Idiotie, von der Epilepsie, von der
Dementia praecox und einer Reihe weiterer Erkrankungen. Nicht
ganz selten hat uns dabei die anatomische Untersuchung gezeigt,
daß anscheinend leicht verständliche Krankheitsbilder bestimmt
nicht der klinischen Gruppe angehörten, der sie zugeteilt worden
waren. Auf der anderen Seite allerdings hat sich, namentlich bei
den akut verlaufenden Geistesstörungen, oft genug die befriedigende
Einordnung des Leichenbefundes in klar gekennzeichnete Krank-
heitsvorgänge einstweilen als unmöglich erwiesen.
Ein wesentliches Hindernis für die Fortentwicklung unserer
anatomischen Diagnostik ist zurzeit ohne Zweifel noch die Un-
sicherheit, die in der Gruppierung der klinischen Krankheitsbilder
herrscht. Sie läßt den Anatomen zunächst darüber im unklaren,
Zustandsbilder. ^ j ^
ob die auseinanderweichenden Befunde, die ihm vor Augen kommen,
ganz verschiedenen Krankheitsvorgängen angehören oder ob sie
als die einzelnen Abschnitte einer und derselben Erkrankung auf-
gefaßt werden müssen. Nur sehr ausgedehnte und vollständige
Beobachtungsreihen, wie sie erst in langen Zeiträumen gesammelt
werden können, geben ihm die Möglichkeit, hier eine selbständige
Entscheidung zu treffen. Mag daher auch der Leichenbefund
später einmal das sicherste Mittel werden, die Diagnose des Kli-
nikers zu bestätigen oder zu berichtigen — vorderhand bedarf
der Anatom noch dringend seiner Hilfe, um an der Hand eindeu-
tiger klinischer Beobachtungen das Wesentliche von dem Zu-
fälligen und Nebensächlichen in seinen Befunden abtrennen und
aus den anatomischen Bildern die ihnen zugrunde liegenden Krank-
heitsvorgänge ableiten zu lernen.
B. Die Diagnose.
Zustandsbilder. Was uns bei der Betrachtung unserer Kran-
ken zunächst in die Augen fällt, sind die Veränderungen ihres
Wesens, die gegenüber ihrem früheren, gesunden Zustande oder
im Vergleiche mit dem Verhalten geistig normaler Menschen her-
vortreten. Diese Veränderungen, deren Einzelheiten sich durch
sorgfältige, allseitige Untersuchung feststellen lassen, haben der
älteren Psychiatrie den ersten Stoff zur Aufstellung von Krank-
heiten geliefert. Man unterschied eine Reihe von verschieden-
artigen Zuständen, in denen das Irresein sich äußert, und gab
ihnen Benennungen nach ihren hervorstechendsten Zeichen. So
entstanden neben vielen anderen die Krankheitsbilder der Me-
lancholie, der Tobsucht, der Demenz, des Stupors, des Deliriums,
der Verwirrtheit, die bis in die neueste Zeit hinein vielfach den In-
halt der psychiatrischen Diagnosen bildeten. Im großen und ganzen
gestaltete sich dabei die Aufgabe ziemlich einfach. Die für die
Erkennung des Leidens maßgebenden Störungen waren meist so
auffallende, daß auch der Laie sie unschwer aufzufassen vermochte.
Im Grunde .genommen beschränkte sich demnach die Diagnosen-
stellung auf die Hervorhebung einer einzelnen, besonders her-
vortretenden und deswegen für kennzeichnend gehaltenen Krank-
heitserscheinung.
33*
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Kahlbaums Verdienst ist es, mit großem Nachdrucke auf die
Unzulänglichkeit dieser Diagnostik hingewiesen zu haben. Er be-
tonte, daß wir es dabei nur mit Zustandsbildern, mit ,,Habitual-
formen" zu tun haben, die bei ganz verschiedenen Krankheiten
in ähnlicher Weise wiederkehren und im Verlaufe derselben Krank-
heit vielfach wechseln können. Ungemein lehrreich ist in dieser
Hinsicht das schon seit längerer Zeit richtig aufgefaßte Beispiel
der Paralyse. Man sieht sie in stark voneinander abweichenden
Formen auftreten und in ihrem Verlaufe die mannigfaltigsten
Bilder darbieten. Immerhin waren die ihr eigentümlichen Läh-
mungserscheinungen wie ihr ungünstiger Ausgang noch von Grie-
singer für einfache Komplikationen gehalten worden, die zu ver-
schiedenen ursprünglichen Krankheitsbildern hinzutreten könnten.
Nur sehr langsam vermochte Kahlbaums klinische Auffassung
der Krankheiten die symptomatische zu verdrängen; ja an man-
chen Punkten haben wir diese auch heute noch nicht überwunden.
Immer von neuem hat der mächtige Eindruck des Zustandsbildes
die Beobachter dazu veranlaßt, in ihm das Kennzeichen einer wirk-
lichen Krankheit zu sehen. Besonders begünstigt wurde diese Nei-
gung durch den meist überaus langwierigen Verlauf der Geistes-
krankheiten, der dem einzelnen Beobachter den Überblick über
den ganzen Krankheitsfall vielfach unmöglich machte.
Unter den Zustandsbildern des Irreseins stehen die Melan-
cholie und die Tobsucht als altbekannte Formen an erster Stelle.
Als Melancholie bezeichnet man die traurige oder ängstliche
Verstimmung, zu der sich in der Regel auch Wahnbildungen im
Sinne der Versündigung oder der Verfolgung hinzugesellen. Je
nach diesen Beimischungen sprach man wohl von einer einfachen
Melancholie, einer Angstmelancholie oder einer Melancholie mit
Wahnideen. Die überwiegende Mehrzahl der so gekennzeichneten
Fälle wird, wie wir heute wissen, vom manisch-depressiven Irre-
sein umfaßt; ein weiterer Teil gehört zur Dementia praecox, noch
andere Fälle zur Paralyse, vereinzelte zur Epilepsie, zur Arterio-
sklerose, zum Entartungsirresein. Nachdem auch gewisse Depres-
sionszustände der Rückbildungsjahre, denen ich noch Selbständig-
keit zugestehen zu müssen glaubte, wahrscheinlich den uns sonst
bekannten Erkrankungen einzuordnen sind, soweit heute über-
haupt ein klinisches Verständnis möglich ist, hat die Melancholie
Zustandsbilder. ^ I y
ihre Berechtigung als Krankheitsform verloren und wird nur noch
als Zustandsbild zu gelten haben.
Ein ganz ähnliches Schicksal hat die Tobsucht gehabt, der
noch Jakobi ein großes Werk widmete. Sie umfaßt Krankheits-
bilder mit ausgeprägter, meist heiterer oder zorniger Erregung
(Zorntobsucht). Die großen französischen Irrenärzte Fair et und
Baillarger erkannten schon früh, daß tobsüchtige Erregungs-
zustände nicht nur die Neigung hatten, sich im Leben mehrfach
zu wiederholen, sondern daß sie auch mit melancholischen Zu-
ständen mehr oder weniger regelmäßig abwechseln konnten. Da-
mit war schon eine klinische Auffassung des Zustandsbildes an-
gebahnt. So entstanden die Krankheitsformen der einfachen und
der periodischen Manie und des in verschiedenen Verlaufsformen
auftretenden zirkulären Irreseins. Die genauere Erforschung dieser
Bilder hat, wie ich glaube, unwiderleglich gezeigt, daß sie alle nur
Erscheinungsweisen einer und derselben Erkrankung, des manisch-
depressiven Irreseins, darstellen, das auch die Hauptmasse der Me-
lancholie in sich aufgenommen hat. Kahl bäum hat uns dann
gelehrt, von der jener Erkrankung angehörigen manischen Er-
regung eine andere Form der Tobsucht, die katatonische, ganz
abzutrennen und einer völlig wesensverschiedenen Erkrankung
zuzuweisen. Selbstverständlich haben sich aus dem ursprünglichen
Bereiche der Tobsucht auch die Erregungszustände der Paraly-
tiker und Epileptiker (,,Mania transitoria"), die pathologischen
Rauschzustände und manche andere weniger wichtige Formen
abgespalten.
Teils als Unterform der Melancholie, teils als selbständige
Krankheit pflegte der Stupor betrachtet zu werden. Man faßt
unter dieser Bezeichnung alle Zustände zusammen, bei denen die
motorischen Äußerungen der Kranken aufgehoben oder sehr stark
behindert sind. Das Bewußtsein erscheint dabei in der Regel ge-
trübt, öfters in sehr hohem Grade. Insbesondere wurde eine ,,Me-
lancholia attonita" oder ,,cum stupore", andererseits ein ,, Er-
schöpf ungsstupor" (akute Demenz) und ein halluzinatorischer
(,,delusional") Stupor unterschieden. Auch hier hat wieder Kahl-
baum gezeigt, daß die Melancholia attonita nur ein Zustandsbild
der von ihm umgrenzten Katatonie bildet. Ein weiterer erheb-
licher Teil der stuporösen Krankheitsbilder gehört zum manisch-
5i8
IV. Die Erkennung des Irreseins.
depressiven Irresein. Die halluzinatorischen Stuporformen werden
ebenfalls zum Teil diesem letzteren, zum Teil der Dementia praecox
zuzurechnen sein. Ganz dasselbe gilt für den Erschöpfungsstupor,
aus dem jedoch noch ein eigenartiger Rest auszuscheiden ist, der
den infektiösen Schwächezuständen angehört. Andere Formen des
Stupors werden bei der Paralyse und bei der Hysterie beobachtet;
eine besonders wichtige Gruppe von Fällen begegnet uns im Ver-
laufe der Epilepsie.
Die mehr symptomatische Bedeutung der Delirien ist wegen
ihrer klaren ursächlichen Beziehungen zu körperlichen Erkran-
kungen früh erkannt worden, so daß man z. B. die Fieberdelirien
streng von den eigentlichen Geistesstörungen abtrennen zu müssen
glaubte. Die gemeinsame Eigentümlichkeit der deliriösen Zu-
stände bildet Bewußtseinstrübung und Verworrenheit mit leb-
haften Sinnestäuschungen; dazu kommt ein rascher Verlauf. Vor-
übergehend kann das Zustandsbild des Deliriums in sehr ver-
schiedenen Erkrankungen entstehen, so beim manisch-depressiven
Irresein, bei der Paralyse, beim Altersblödsinn, bei Hysterie und
Epilepsie. Außerdem bildet es die kennzeichnende Störung bei
vielen Vergiftungen, wie das Atropin-, Haschisch-, Cocaindelirium;
ähnlich sind wohl auch das Delirium tremens und die infektiösen
Delirien zu beurteilen. Als selbständige Form galt oder gilt noch
jetzt vielfach das Delirium acutum, das sich durch den schweren,
meist tötlichen Verlauf auszeichnet. Auch hier indessen haben
wir es nicht mit einer wirklichen Krankheit, sondern mit einem
Zustandsbilde zu tun, das bisweilen der Paralyse, auch wohl ein-
mal der Katatonie oder dem manisch-depressiven Irresein an-
gehört, in der Regel aber der Ausdruck noch unbekannter In-
fektionen oder Selbstvergiftungen sein dürfte.
Wohl das meistumstrittene Zustandsbild ist dasjenige der Pa-
ranoia oder Verrücktheit. Während noch Griesinger in ihr
lange Zeit lediglich eine Ausgangsform ungeheilter Geistesstörungen
sehen wollte und demgemäß nur eine ,, sekundäre" Verrücktheit
kannte, wies Snell zuerst auf die ,, primäre" Entstehung von
Wahnbildungen hin. Als Kennzeichen der Krankheit galt die
Entwicklung mehr oder weniger zusammenhängender Wahn-
vorstellungen, zu denen sich gewöhnlich auch Sinnestäuschungen
hinzugesellten. Dieser ziemlich unbestimmte Krankheitsbegriff
Zustandsbilder. ^ j p
erweiterte sich rasch derart, daß vor etwa zwei Jahrzehnten die
übergroße Mehrzahl aller chronischen Geisteskranken in ihm zu-
sammengefaßt wurde. Ganz allmählich hat sich jedoch die Er-
kenntnis Bahn gebrochen, daß auch die Verrücktheit nur ein Zu-
standsbild ist, das in ähnlicher Weise bei verschiedenen Krank-
heiten zur Entwicklung kommt. Verhältnismäßig leicht ist das
nachzuweisen für die akut verlaufenden Formen. Der früher als
,, Alkoholparanoia" bezeichnete Alkoholwahnsinn wird jetzt schon
überall als gesonderte Erkrankung aufgefaßt. Ebenso pflegt man
die rasch auftauchenden Wahnbildungen bei der Dementia prae-
cox wohl meist als Zustandsbilder dieser Krankheit anzuerkennen;
nur hinsichtlich der sogenannten „originären" Paranoia, die eben-
falls dorthin gehört, gehen die Ansichten noch auseinander. Auch
von einer periodischen Paranoia hört man noch sprechen, ob-
gleich die sich gleichartig wiederholenden Wahnbildungen, soweit
sie nicht alkoholischen Ursprungs oder gelegentliche Erscheinungs-
formen der Dementia praecox sind, unzweifelhaft dem manisch-
depressiven Irresein angehören.
Weit schwieriger liegt die Frage bei den allmählich sich aus-
bildenden und lange Zeit gleichmäßig festgehaltenen Wahnvorstel-
lungen, Hier haben wir zunächst eine nicht große Gruppe von
Fällen auszuscheiden, die sicher mehr als ein Zustandsbild dar-
stellt und daher zweckmäßig die alte Bezeichnung beibehält. Es
sind das jene Formen, bei denen sich ganz langsam und ohne selb-
ständige Störungen des Gemütslebens oder des Willens systemati-
sierte Wahnvorstellungen herausbilden und in der Hauptsache
unverändert festgehalten werden. Der Rest von Fällen enthält
vereinzelte Beobachtungen alkoholischer bzw. syphilitischer und
tabischer Entstehung, ferner eine große Zahl von Kranken mit
schwachsinnigen, zerfahrenen Wahnbildungen, bei denen die Vor-
geschichte, das gelegentliche Hervortreten katatonischer Zeichen
und der Ausgang in ausgeprägte Schwächezustände für die Zu-
gehörigkeit zur Dementia praecox sprechen. Endlich verbleiben
noch einige Formen, namentlich chronisch-halluzinatorische Zu-
stände ohne wesentliche Verblödung, deren Einordnung in eine
der genannten Gruppen zunächst nicht tunlich erscheint, so daß
hier die Möglichkeit der Abgrenzung neuer Krankheiten nicht ge-
leugnet werden kann.
520
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Ein Krankheitsbild, dessen Umgrenzung ebenfalls starke Wand-
lungen durchgemacht hat, ist die Amentia. Meynert verstand
darunter Zustände von Verwirrtheit und meist auch Erregung mit
Sinnestäuschungen. Das lediglich symptomatische Gepräge der
Amentia ging schon aus dem Umstände hervor, daß er auch das
Delirium tremens und die epileptischen Dämmerzustände dazu
rechnete, klinische Bilder, deren Zugehörigkeit zu bestimmten,
eigenartigen Erkrankungsvorgängen schon damals keinem Zweifel
unterliegen konnte. Auch in der Folge sind als Amentia alle mög-
lichen Zustände mit den gleichen obengenannten Krankheits-
erscheinungen bezeichnet worden, freilich meist mit dem An-
sprüche, daß es sich um wirkliche. Krankheiten handle. Nach-
dem die Amentia eine Zeitlang einen großen Teil aller akuten
Psychosen umfaßt hatte, ist ihr Bereich nach und nach immer
enger geworden. Zunächst hat sich von ihr eine umfangreiche
Gruppe abgetrennt, in deren weiterem Verlaufe katatonische Zei-
chen und das Eintreten der bekannten Verblödung die Zugehörig-
keit zur Dementia praecox dargetan hatten. Weiterhin hat sich
gezeigt, daß eine erhebliche Anzahl von Fällen, die in der Form
einer Amentia verlaufen, Zustandsbilder des manisch-depressiven
Irreseins sind. Endlich aber bleibt noch ein Rest zurück, bei dem
Infektionskrankheiten eine ursächliche Rolle spielen, infektiöse
Delirien und Schwächezustände. Wenn man will, kann man für
diese den Namen der Amentia beibehalten. Es ist vielleicht möglich,
daß noch einzelne Fälle dunkler Entstehungsgeschichte vorkom-
men, die sich nicht in eine der angeführten Gruppen einordnen
lassen; vorderhand habe ich jedoch keinen genügenden Anhalt,
um diese Annahme zu stützen. •
Das neueste Zustandsbild, das zugleich eine Krankheitsbezeich-
nung bildet, ist die von Korssakow beschriebene Verbindung
von schwerer Merkstörung mit Erinnerungsfälschungen. Die ur-
sprünglich noch dazu gehörenden polyneuritischen Erscheinungen
haben sich späterhin als nebensächlich erwiesen. Ohne Zweifel
kennzeichnet die erwähnte Verbindung einmal eine ganz bestimmte
Krankheit, eine Form der alkoholischen Verblödung. Sie findet
sich aber weiterhin auch noch bei einer Reihe von andersartigen
Erkrankungen, nach Infektionen, nach Kopfverletzungen, bei
Hirngeschwülsten und annähernd ähnlich auch bei der Presbyo-
Zustandsbilder. ^21
phrenie. Natürlich haben wir es hier überall ebenso mit ein-
fachen Zustandsbildern zu tun wie in den seltenen Fällen, in denen
die gleiche Verbindung von Krankheitszeichen einmal im Ver-
laufe einer Paralyse zur Beobachtung gelangt.
Durch den Übergang von der symptomatischen zur klinischen
Betrachtungsweise mußte notwendig auch der Begriff des erwor-
benen Schwachsinns, der Demenz, umgestaltet werden. Man
faßte unter dieser Bezeichnung alle Zustände zusammen, bei denen
sich Gedächtnis- und Urteilsschwäche, Gedankenarmut, gemüt-
liche Verödung und Verlust der Selbständigkeit im Denken und
Handeln eingestellt hatte. Dieses Siechtum wurde als der gemein-
same Ausgang aller Psychosen angesehen, die nicht in Genesung
übergingen. Da man in der Verblödung nicht das natürliche Er-
gebnis des Krankheitsvorganges, sondern mehr ein Ereignis sah,
das durch Hinzutreten unglücklicher Umstände bedingt wurde,
sprach man von einer ,, sekundären" Demenz, die als besondere
Krankheitsform beschrieben zu werden pflegte, um damit ge-
wissermaßen deren Unabhängigkeit gegenüber dem ursprünglichen
Krankheitsbilde anzudeuten. Die Erfahrung hat indessen gelehrt,
daß die Demenz nur ein notwendiges Glied in der Kette der Krank-
heitserscheinungen darstellt und von den ihr voraufgehenden Zu-
standsbildern schlechterdings nicht abgetrennt werden kann. Es
gibt daher auch nicht eine Demenz, sondern so viele Formen,
wie es Krankheiten gibt, die diesen unglücklichen Ausgang neh-
men können.
Die Zahl der Zustandsbilder, die als Krankheiten aufgefaßt
worden sind, ist mit den aufgezählten lange nicht erschöpft. Ja,
man kann sagen, daß gerade die Betrachtungsweise Wernickes,
die bewußt nur Symptomenbilder schaffen wollte, der Neigung zur
Vermengung von Zuständen und Krankheiten, die unserer kli-
nischen Entwicklung so hinderlich gewesen ist, neuen Vorschub
geleistet hat. Die Allo-, Auto-, Somato- und Motilitätspsychosen,
die von Wer nicke zunächst ledigHch als der Ausdruck eines
bestimmten Sitzes der Krankheitsvorgänge gedacht waren, be-
ginnen vielfach schon den Anschein wirklicher Diagnosen anzu-
nehmen. So entschieden eine solche Übertragung rein sympto-
matischer Abgrenzungen auf das klinische Gebiet bekämpft werden
muß, läßt sich doch nicht in Abrede stellen, daß ihr ein berech-
522
IV. Die Erkennung des Irreseins.
tigter Gedanke zugrunde liegt. Wenn anscheinend dieselben Zu-
standsbilder in verschiedenen Krankheiten auftreten, so werden
wir doch daran festhalten müssen, daß hier nicht eine wirkliche
Gleichheit, sondern nur eine Ähnlichkeit vorliegen kann. Die tie-
feren Unterschiede in den Krankheitsvorgängen, die aus ihrer
Entstehungsgeschichte hervorgehen und in ihrer ganzen weiteren
Entwicklung zum Ausdrucke kommen, müssen auch jedem ein-
zelnen Krankheitsabschnitte ihre eigenartige Färbung geben, wenn
wir sie auch oft nicht zu fassen vermögen. Tatsächlich hat es
sich fast überall gezeigt, daß die bis dahin als Einheit betrachteten
Zustandsbilder, sobald wir ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen
Krankheiten erkannt haben, eine Reihe von feineren, so lange
unbeachteten Schattierungen darboten, in denen sich die klinische
Eigenart aussprach. Besäßen wir von vornherein eine ganz ein-
dringende Kenntnis aller Krankheitszeichen, so würden wir im-
stande sein, die innere Verschiedenheit der zu den einzelnen Krank-
heiten gehörigen, einander ähnlichen Zustandsbilder ohne wei-
teres aufzufassen. In diesem Sinne würde auch eine rein sympto-
matische Betrachtungsweise schließlich zu einer Aufteilung der
Zustandsbilder in die verschiedenen klinischen Formenkreise ge-
langen können. Allerdings besteht dabei die Gefahr, daß der Ver-
such einer derartigen Gruppierung nicht bei denjenigen Unter-
schieden haltmachen würde, die für die einzelnen Krankheits-
vorgänge kennzeichnend sind, sondern zu einer Zersplitterung
der Erscheinungsformen nach zum Teil ganz nebensächlichen Ge-
sichtspunkten führen müßte. Um dieser Gefahr zu entgehen und
die Zergliederung der Krankheitszeichen mit den Bedürfnissen
und Erfahrungen der klinischen Forschung stets im Einklänge
zu halten, muß die Kenntnis der Krankheitsvorgänge selbst uns
lehren, in welchen Einzelzügen der Zustandsbilder die Unter-
schiede ' der zugrunde liegenden Erkrankungen zum Ausdrucke
kommen.
Krankheitsvorgänge. Die klinische Erfahrung zeigt uns eine
Reihe von psychischen Erkrankungen, bei denen eine genau be-
kannte Schädlichkeit die einzige Ursache der auftretenden Stö-
rungen bildet. Dahin gehören namentlich die Vergiftungen, also
z. B. der Rausch. Wir sehen in diesen Fällen, daß die Erschei-
nungen des Irreseins und ebenso sein Verlauf durch die Krank-
Krankheitsvorgänge. ^23
heitsursache vollkommen bestimmt werden; wir sind imstande,
aus dem Zustandsbilde ohne weiteres auf die Art der Ursache,
den Zeitpunkt ihrer Einwirkung, ferner auf die weitere Entwick-
lung der Störungen und ihr Ende annähernd zuverlässige Schlüsse
zu ziehen. So durchsichtig wie hier liegen die Dinge freilich ver-
hältnismäßig selten. Schon bei der Gestaltung des Rausches können
die persönlichen Eigenschaften des Berauschten das klinische Bild
in gewissem Sinne verändern, obgleich auch dann, beim patho-
logischen Rausche, die alkoholische Entstehung wie der voraus-
sichtliche günstige und rasche Ablauf der Störung dem Beobachter
nicht zweifelhaft bleibt. Weit auseinander gehen aber die Krank-
heitsbilder, die wir im Anschlüsse an dauernden Alkoholmißbrauch
auftreten sehen, der einfache alkoholische Schwachsinn, der Eifer-
suchtswahn, das Delirium tremens, der Alkoholwahnsinn, die
Korssakowsche Psychose usf. Gerade diese Erfahrung ist viel-
fach als Beweis gegen die Möglichkeit einer Gruppierung der
Geistesstörungen nach ihren Ursachen angeführt worden. In
Wirklichkeit geht aus ihr nur hervor, daß der Alkohol nicht die
einzige und unmittelbare Ursache der verschiedenen Erkrankungen
sein kann, daß wir also noch keinen genügenden Einblick in deren
Entstehungsgeschichte besitzen. Dennoch sind wir trotz der Ver-
schiedenheit der klinischen Bilder in der Lage, ihre alkoholische
Grundlage mit Sicherheit zu erkennen, und wir vermögen auch die
weitere Entwicklung und den Ausgang mit ziemlicher Wahrschein-
lichkeit vorauszusagen. Ganz ebenso gestattet uns das Krankheits-
bild der Paralyse mit großer Sicherheit auf das Vorausgehen einer
syphilitischen Ansteckung und auf den ungünstigen weiteren Ver-
lauf, ja auf einen ganz bestimmten Leichenbefund Schlüsse zu
ziehen, obgleich wir über die Art der tieferen Beziehungen zwischen
der ursächlichen Lues und den später auftretenden Störungen noch
völlig im unklaren sind.
Aus diesen und ähnlichen Betrachtungen leiten wir den eigent-
lich selbstverständlichen Satz ab, daß die Krankheitsursachen nicht
nur dem Krankheitsbilde sein besonderes Gepräge geben, sondern
auch Verlauf und Ausgang des Leidens bestimmen. Allerdings
sind dabei nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Ur-
sachen und die im Verlaufe der Krankheit einwirkenden Schä-
digungen mit zu berücksichtigen. Jeder Ursache, die überhaupt
524
IV. Die Erkennung des Irreseins.
eine Psychose zu erzeugen vermag, entspricht ein bestimmter
Krankheitsvorgang, als dessen Ausdruck wir eben ihre Erschei-
nungen und ihren gesamten Entwicklungsgang ansehen dürfen.
Haben wir aus einem gegebenen Zustandsbilde das Wesen des
zugrunde liegenden Krankheitsvorganges erkannt, so müßten wir
grundsätzlich imstande sein, wenigstens in großen Zügen Ver-
gangenheit und Zukunft aus ihm zu erschließen. Allerdings wer-
den wir dabei vielfach nicht bis auf die Ursachen der Erkrankung
zurückgehen können, da sie uns noch gänzlich unbekannt sind.
Wir vermögen jedoch die Gesetzmäßigkeiten im Ablaufe der Krank-
heitsvorgänge wenigstens rein erfahrungsmäßig zu erfassen und
zur Richtschnur unseres Urteils zu machen. Je weiter unser kli-
nisches Wissen fortschreitet, desto deutlicher stellt es sich heraus,
daß trotz aller Schwierigkeiten und Unklarheiten im einzelnen
doch ganz bestimmte Zusammenhänge zwischen der Gestaltung
der Zustandsbilder und dem Gesamtverlaufe der Erkrankungen
bestehen, daß wir also imstande sind, aus dem Zustandsbilde den
Krankheitsvorgang zu erkennen, der es erzeugt hat. Mit anderen
Worten, wir lernen es, wirkliche Diagnosen zu stellen, die uns mehr
sagen als eine einfache Umschreibung des unmittelbar Wahr-
genommenen.
Der erste Gewinn der Diagnose ist die Zusammenfassung sehr
verschiedenartiger Zustandsbilder zu einer Einheit, ein zweiter
die feinere Unterscheidung anscheinend gleichartiger Zustände.
Wir erkennen, daß ein Krankheitsvorgang im Laufe seiner Ent-
wicklung völlig abweichende, ja scheinbar durchaus gegensätzliche
Bilder hervorbringen kann, und daß er einem bestimmten, für
ihn kennzeichnenden Ende zusteuert. Nicht, als ob er unter allen
Umständen in Tod, Unheilbarkeit oder Heilung ausgehen müßte.
Diese Abstufung der Ausgänge wird vielmehr oft genug von ganz
anderen Bedingungen, der persönlichen Widerstandsfähigkeit, der
Schwere der krankhaften Schädigung, ungünstigen Nebeneinflüssen
und Zufällen abhängen. Dagegen werden wir annehmen dürfen,
daß beim Ausgang in Schwächezustände, in Demenz, die Eigenart
des Krankheitsvorganges auch in den ,, Endzuständen" noch er-
kennbar hervortreten wird, da verschiedene Krankheitsvorgänge
schwerlich genau dieselben endgültigen Störungen erzeugen können.
Soviel sich heute beurteilen läßt, spricht die Erfahrung für diese
Krankheitsvorgänge. ^25
Auffassung; der paralytische und der epileptische, der alkoholische
und der senile Schwachsinn, die Endzustände der Dementia prae-
cox und ungünstig ausgehender Fälle des manisch-depressiven
Irreseins sind untereinander wesentlich verschieden.
Wir dürfen demnach hoffen, daß uns ein genaueres Verständnis
für die Ursachen des Irreseins, eine feinere Zergliederung seiner
Erscheinungen und weiterhin die sorgfältige Beachtung seiner Ver-
laufsformen und Ausgänge, endlich die Durchforschung der krank-
haften Hirnveränderungen mehr und mehr die Möglichkeit an
die Hand geben werden, die unseren Zustandsbildern entsprechen-
den Krankheitsvorgänge selbst zu erkennen und damit Diagnosen
zu stellen. Heute allerdings haben wir uns diesem Endziele erst
an einigen wenigen Punkten genähert. Zumeist bedienen wir uns
noch großer „Krankheitstöpfe", in denen wir vorläufig Gruppen
von Krankheitsbildern ohne Gewähr für deren innere Einheitlich-
keit zusammenfassen. Solche Töpfe waren früher die Paranoia,
die Amentia, die sekundäre Demenz, aber wir können sie auch
jetzt noch nicht entbehren. So stellt ohne Zweifel die Idiotie einen
Sammelbegriff dar, der eine große Zahl gänzlich verschiedener
Krankheitsvorgänge in sich schließt; in beschränkterem Maße
gilt das auch für die Imbezillität und für die psychopathischen
Zustände. Ebenso ist die Epilepsie nur eine symptomatische, aber
durchaus keine klinische Einheit; vielleicht wird auch die Lösung
der Hysteriefrage in der gleichen Richtung zu suchen sein. Ferner
werden sich möglicherweise aus der großen Gruppe der Dementia
praecox einzelne besondere Formen herauslösen lassen, die eigen-
artigen Krankheitsvorgängen angehören, und selbst bei den In-
fektionspsychosen darf man wohl daran denken, daß die Eigen-
schaften des krankmachenden Giftes in den zur Entwicklung ge-
langenden Krankheitsvorgängen nicht ganz ohne Ausprägung
bleiben.
Für den Vorgang, der sich bei der Auflösung des Inhalts der
Krankheitstöpfe in ihre klinisch gleichartigen Bestandteile zu voll-
ziehen pflegt, bietet die Entwicklung des Paralysebegriffes ein unge-
mein lehrreiches Beispiel. Nachdem, wie schon oben angedeutet, die
paralytischen Erscheinungen ursprünglich nur als eine ungünstige
Komplikation betrachtet wurden , die sich zu verschiedenartigen
Erkrankungen in gleicher Weise hinzugesellen könne, ganz ähn-
526
IV. Die Erkennung des Irreseins.
lieh der sekundären Demenz, schuf man dann eine Gruppe der
Paralysen" und „modifizierten Paralysen", in der alle Krank-
heiten zusammengefaßt wurden, die neben der Verblödung auch
körperliche Lähmungserscheinungen aufzuweisen hatten. Indem
man annahm, daß die Paralyse durch verschiedenartige Ursachen,
Überarbeitung und Erschöpfung, Kopfverletzungen, Alkoholmiß-
brauch, neben der Lues hervorgebracht werden könne, sprach
man von traumatischen und alkoholischen Paralysen, bald mit
dem Hintergedanken, daß es sich dabei um besondere Krank-
heiten handle, bald ohne diesen. Mendel machte sogar Hunde
durch Drehen auf einer Zentrifuge ,, paralytisch". Als aber die
ursächliche Rolle der Lues immer deutlicher hervortrat, hielten
wir zunächst an der Ansicht fest, daß derselbe Krankheitsvorgang
außerdem noch auf ganz andere Weise zustande kommen könne.
Jetzt endlich wird auch mit dieser letzten Unklarheit aufgeräumt.
Die Ergebnisse der von v. Krafft- Ebing mitgeteilten Impf-
versuche, ferner diejenigen der cytologischen und noch mehr der
serologischen Forschung mit ihrem Nachweise von syphilitischen
Krankheitszeichen in Blut und Cerebrospinalflüssigkeit lassen keinen
Zweifel mehr darüber, daß die Paralyse nur auf der Grundlage
einer früheren Syphilis entstehen kann, daß also alle wirklich
nicht syphilitischen Formen anderen Krankheitsvorgängen an-
gehören müssen. Eine kräftige Stütze hat dieser Auffassung die
pathologische Anatomie geliefert, indem sie den Nachweis eines
einheitlichen Leichenbefundes in allen auf Syphilis zurückgehen-
den Paralysefällen erbrachte.
Diese Forschungsergebnisse haben uns nach zwei Richtungen
hin aufgeklärt. Sie haben einmal den Kreis der paralytischen
Krankheitsbilder eingeschränkt. Die traumatischen und alkoho-
lischen Formen, aber auch die syphilitischen und arteriosklero-
tischen Hirnerkrankungen wurden aus ihrem Bereiche ausgeschie-
den. Sodann aber erkannte man, daß noch so manche Krank-
heitsbilder zur Paralyse gehören, die bis dahin ganz anders auf-
gefaßt wurden, Kleinhirn- und Sehhügelerkrankungen, Fälle von
Delirium acutum, namentlich aber scheinbare Idiotieformen und
senile Demenzen. Was sich nach diesen Wandlungen als Paralyse
darstellt, ist ein Krankheitsvorgang von einheitlicher Entstehungs-
geschichte, bestimmter Verlaufsart und eindeutigem anatomischem
Krankheitsvorgänge. ^27
Befunde. Dagegen zeigen die Zustandsbilder eine so verwirrende
Mannigfaltigkeit, daß es der rein symptomatologischen Betrachtung
wohl niemals möglich gewesen wäre, ihre Zusammengehörigkeit zu
erkennen. Bemerkenswert ist es dabei, daß die große Masse der auch
früher schon als Einheit aufgefaßten Fälle in der Tat den Ausdruck eines
bestimmten Krank-
heitsvorganges dar-
stellt; die klinische
Entwicklung hatte
nur einige fremd-
artige Beimischun-
gen auszuscheiden
und anderweitig ver-
sprengte Formen da-
für aufzunehmen.
Es steht zu erwar-
ten, daß sich die
Klärung unserer an-
deren vorläufigen
klinischen Sammel-
begriffe in ähn-
lichem Sinne voll-
ziehen wird.
Ein sehr lehr-
reiches Bild von den
Entwicklungskämp-
fen, welche die psy-
chiatrische Diagnos-
tik unter dem Wan-
del der klinischen
Anschauungen zu
überstehen hat, gewährt die Fig. XXII, in der nach Prozentverhältnis
für einige der wichtigeren Krankheitsformen die Zahl der zwischen
1892 und 1907 alljährlich in der Heidelberger Klinik gestellten
Diagnosen wiedergegeben ist. Man erkennt hier ohne weiteres, daß
einige der dargestellten Krankheiten, deren Häufigkeit der Über-
sichtlichkeit halber in Kurven statt in Stäben ausgedrückt wurde,
trotz mancher Schwankungen im einzelnen doch annähernd auf
Fig. XXII. Prozentische Zusammenstellung der Kranken
in der Heidelberger Klinik 1892 — 1907 nach Diagnosen.
^28 Erkennung des Irreseins.
gleicher Höhe gebUeben sind. Das trifft zu für Alkoholismus und
Epilepsie, deren Umgrenzung und klinische Kennzeichnung während
der angeführten Zeit keine wesentlichen Änderungen erfahren hat.
Zwei andere Formen, die in den ersten Jahren noch leidlich ver-
treten waren, sind im Laufe der Beobachtungszeit zu kümmerlichen
Resten zusammengeschrumpft, die Erschöpfungspsychosen und die
Paranoia. Die letztere ist fast ganz in der Dementia praecox auf-
gegangen, während die ersteren bis auf die infektiösen Formen
späterhin den manisch-depressiven Erkrankungen oder ebenfalls
der Dementia praecox angegliedert wurden. Einen ähnlichen Ent-
wicklungsgang würden die hier nicht wiedergegebene einfache Manie
und die Melancholie aufweisen.
Demgegenüber sehen wir die Häufigkeit der Dementia praecox
in der Zeit, wo deren klinische Abgrenzung sich vollzog, überaus
rasch ansteigen, bis über die Hälfte aller Fälle, um dann kaum
weniger schnell wieder unter 20% zu sinken. Dieser Vorgang
erklärt sich aus dem Umstände, daß bei dem tieferen Eindringen
in die Krankheitsbilder der Dementia praecox zunächst die
kennzeichnende Bedeutung einzelner Störungen erheblich über-
schätzt wurde. Insbesondere wurden viele Fälle von manisch- j
depressivem Irresein mit katatonieartigen Erscheinungen fälsch-
lich der Dementia praecox zugerechnet. Das zeigt sich deutlich
in dem Sinken der Kurve für das manisch-depressive Irresein mit
der starken Zunahme der Dementia praecox. Es konnte nicht
fehlen, daß diese Irrtümer allmählich erkannt und mehr und mehr
ausgemerzt wurden. Dem entspricht das Sinken der Kurve für
die Dementia praecox unter gleichzeitigem Steigen derjenigen für
das manisch-depressive Irresein. Die starke Bewegung beider
Kurven bis in die letzte Zeit hinein läßt vermuten, daß auch jetzt
die Schwierigkeit, deren Ausdruck sie ist, noch nicht als gelöst
betrachtet werden darf, daß eine genügende Sicherheit in der Un-
terscheidung und damit die Gewähr für einen gleichmäßigen wei-
teren Verlauf der Linien noch nicht erreicht ist.
Eher dürfte das der Fall sein bei der Paralyse, deren Häufigkeit
in den ersten Jahren der Beobachtungszeit ebenfalls sehr starke
Schwankungen gezeigt hat. Es bestand damals die Neigung, die Para-
lyse wesentlich aus dem psychischen Bilde möglichst frühzeitig zu
erkennen, unter zu hoher Bewertung einzelner trügerischer körper-
Lokalisation.
licher Zeichen, der Ungleichheit oder trägen Reaktion der Pupillen,
der Steigerung oder Abschwächung der Reflexe, leichter Unsicher-
heiten in Sprache und Schrift, des Zitterns der Zunge, schlaffer Ge-
sichtszüge usf. Die Folge war eine sehr große Menge von Fehl-
diagnosen, die durch regelmäßige Nachuntersuchungen späterhin auf-
gedeckt wurden. Die daraus erwachsende Vorsicht führte zu einer
raschen Abnahme der Paralysediagnosen, die schließlich wohl noch
unter das richtige Maß hinunterging, bis die neueren Untersuchungs-
hilfsmittel dann die ersehnte Sicherheit und damit einen gleich-
mäßigen Verlauf der Häufigkeitskurve brachten. So können uns
innerhalb gewisser Grenzen Änderungen der von uns vorgenommenen
diagnostischen Gruppierung unserer Kranken darüber aufklären, ob
wir bereits eine genauere Fühlung mit der Wirklichkeit gewonnen
haben oder nicht.
Lokalisation. Wenn wir annehmen dürfen, daß Verlauf und
Ausgang eines Krankheitsvorganges wesentlich durch die Art
der von ihm erzeugten Störungen bestimmt werden, so muß für
die Gestaltung des klinischen Krankheitsbildes selbst doch auch
sein Sitz und seine Ausdehnung von maßgebender Bedeutung
sein. Nachdem uns die Fortschritte in der Erkenntnis des feineren
Hirnbaues wie die Mannigfaltigkeit der Reiz- und Ausfallserschei-
nungen in Krankheiten immer mehr zur Annahme einer sehr
weitgehenden Arbeitsteilung im Hirngewebe drängen, werden wir
nicht bezweifeln können, daß derselbe Krankheitsvorgang in
verschiedenen Hirngebieten ganz verschiedene Störungen wird
hervorrufen können. Wer nicke ist in planmäßiger Einseitigkeit
soweit gegangen, für den Ausbau seiner klinischen Anschauungen
ganz allein die Frage nach dem Sitze und nicht nach der Art
der krankhaften Schädigung in Betracht zu ziehen. Dazu ist
zu bemerken, daß innerhalb gewisser Grenzen Sitz und Aus-
breitung der Hirnveränderungen eben durch die Eigenart der ur-
sächlichen Schädlichkeit bedingt werden. So wissen wir, daß
die Paralyse das gesamte zentrale Nervengewebe, Großhirn, Klein-
hirn, Stammganglien, Nervenkerne, Rückenmark, zu befallen
pflegt, wenn auch in verschiedener Verteilung, dagegen die peri-
pheren Nerven meist schont. Demgegenüber schädigt der Alkohol
gerade diese letzteren, das Großhirn und besonders das zentrale
Höhlengrau, während das Rückenmark kaum gefährdet ist. Der
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 34
530
IV. Die Erkennung des Irreseins.
paralytische Krankheitsvorgang pflegt ferner die betroffenen Rin-
dengebiete ziemlich gleichmäßig zu verändern; dagegen handelt
es sich bei den syphilitischen und arteriosklerotischen Hirnerkran-
kungen mehr um einzelne zerstreute Krankheitsherde, zwischen
denen annähernd gesunde Gebiete liegen. Die Veränderungen bei
der Dementia praecox scheinen sich vorzugsweise auf die tieferen
Rindenschichten zu erstrecken.
Auf einen bestimmten Sitz der krankhaften Veränderungen
könnte das Auftreten gewisser Krankheitszeichen hindeuten. Viel-
leicht dürfen wir annehmen, daß bei der Entstehung von Gehör-
stäuschungen das Schläfenlappengebiet, namentlich der linken Seite,
mit beteiligt ist; es wären dann bei zahlreichen Fällen von Dementia
praecox, beim Alkoholwahnsinn, bei manchen syphilitischen Hirn-
erkrankungen dort Veränderungen vorauszusetzen. Ebenso kann
man für die Gesichtstäuschungen des Delirium tremens wie des
Cocainwahnsinns und vielleicht auch für manche andere, ein-
zelnen Krankheiten eigentümliche Erscheinungen an einen be-
stimmten Sitz der Krankheitsvorgänge denken , sei es die Be-
schränkung auf umgrenzte Rindengebiete, sei es die Beteiligung
bestimmter Schichten oder auch nur gesonderter Zellengruppen.
Auch das Auftreten gewisser ganz ähnlicher Erscheinungen bei
sonst völlig verschiedenen Erkrankungen ließe sich etwa dahin
deuten, daß sich die einzelnen Krankheitsvorgänge dabei an den-
selben Stellen der Hirnrinde abspielen.
Die Ausbildung der gleichen Krankheitszeichen bei denselben
Krankheitsvorgängen könnte unter diesem Gesichtspunkte dahin
aufgefaßt werden, daß eine gegebene Krankheitsursache gewöhn-
lich ganz bestimmte Bestandteile der Hirnrinde anzugreifen pflegt.
Von einer wirklichen Kenntnis dieser Verhältnisse sind wir frei-
lich noch recht weit entfernt. Nur so viel wissen wir, daß bei un-
gewöhnlichem Sitze der krankhaften Veränderungen durch den
gleichen Krankheitsvorgang wesentlich abweichende Krankheits-
bilder hervorgebracht werden können. Das zeigen uns die atypischen
Paralysen. Eine mehr herdartige Ausbreitung des Krankheits-
vorganges läßt auch in dem klinischen Bilde die sonst so kenn-
zeichnende allgemeine Verblödung hinter den Herderscheinungen
zurücktreten, während starke Beteiligung des Kleinhirns bei gering-
fügigeren Veränderungen in der Großhirnrinde das Bild einer um-
Kombinierte Psychosen. ^31
schriebenen Kleinhirnerkrankung vortäuschen kann; Einbeziehung
der Schläfenlappen in den Krankheitsvorgang scheint die sonst
so seltenen Gehörstäuschungen auslösen zu können. Vielleicht
kommen auch bei den anderen, uns ja zum größten Teil noch
sehr wenig bekannten Krankheitsvorgängen neben den gewöhn-
lichen Formen atypische Ausbreitungen im Hirn vor; sie könnten
uns eine Erklärung für das gelegentliche Fehlen gewohnter und
das Auftreten abweichender Erscheinungen in sonst bekannten
Krankheitsbildern liefern.
Kombinierte Psychosen^). Ein wichtiger Grundsatz jeder Dia-
gnostik ist das Streben nach möglichst einheitlicher Auffassung
eines gegebenen Krankheitsbildes. Wir werden uns daher nur aus
ganz triftigen Gründen dazu entschließen dürfen, bei demselben
Kranken zwei verschiedene Krankheiten nebeneinander anzuneh-
men. Für die ältere Psychiatrie, die lediglich Zustandsbilder ins
Auge faßte, bestand dieses Bedenken in weit geringerem Grade.
Wenn sich an eine Melancholie ganz plötzlich eine Manie oder
eine Paranoia anschließen konnte, hatte auch das gleichzeitige Be-
stehen dieser Krankheiten nichts besonders Auffallendes. Da-
gegen hat die Annahme, daß mehrere ganz verschiedene Krank-
heitsvorgänge sich neben- oder nacheinander abspielen sollen,
ihre erheblichen Schwierigkeiten. Gleichwohl haben auch wir mit
derartigen Erfahrungen zu rechnen.
Zunächst ist es selbstverständlich, daß sich Krankheiten auf
einem Boden entwickeln können, der an sich schon als krankhaft
verändert bezeichnet werden muß. Überall, wo psychopathisch
veranlagte oder schwachsinnige Personen späterhin in irgendeiner
Weise psychisch erkranken, kann man, wenn man will, von einer
Verbindung verschiedener Erkrankungen reden, so bei dem nicht
seltenen Vorkommen von Imbezillität neben Hysterie oder Alko-
holismus. Dabei ist allerdings unter Umständen die zweite Er-
krankung nur eine Fortsetzung oder Steigerung der ersten. So
spricht bei den hebephrenischen Erkrankungen Imbeziller manches
dafür, daß vielleicht die Imbezillität schon die Folge eines ersten,
ganz früh abgelaufenen Krankheitsanfalles war. Manisch-depres-
sive Kranke können lange vor dem eigentlichen Ausbruche des
1) Stransky, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXIII, 73; Gaupp, Centralbl.
f. Nervenheilk., 1907, 766.
34*
532
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Leidens gewisse allgemeine Veränderungen darbieten, die aus dem
gleichen Boden hervorwachsen wie die spätere Krankheit.
Einleuchtender ist die Annahme einer Verbindung zweier Krank-
heiten, wenn sich zu einer bestehenden Psychose ein ganz anders-
artiges Leiden hinzugesellt, das entweder durch äußere Schädlich-
keiten erzeugt werden oder, weit seltener, aus inneren Ursachen
hervorwachsen kann. Fälle der ersteren Art sind keineswegs selten.
Hierher gehören vor allem die vielfachen Verbindungen einer
andersartigen Erkrankung mit Alkoholismus, Morphinismus oder
Paralyse. Jene erstere kann dabei wiederum endogener oder exo-
gener Entstehung sein. Häufige derartige Verbindungen sind Epi-
lepsie-Alkoholismus, Hysterie-Alkoholismus oder -Morphinismus,
Hypomanie-Alkoholismus, seltener Dementia praecox-Alkoholismus,
ferner Paralyse-Alkoholismüs, traumatische Neurose-Alkoholismus,
Hirnlues-Alkoholismus, Morphinismus mit Alkoholismus oder Co-
cainismus. Eine weitere Gruppe bilden die Verbindungen von Ar-
teriosklerose oder Altersblödsinn mit anderen Erkrankungen. Hier
kommen namentlich das manisch-depressive Irresein und die trau-
matische Neurose, hier und da auch die Vereinigung von Alkoholis-
mus mit Arteriosklerose und senilen Erkrankungen in Betracht.
Weitaus am seltensten ist die Verbindung zweier endogener Er-
krankungen. Hier und da beobachtet man epileptische Anfälle bei
manisch-depressiven Kranken; dagegen halte ich die von Stransky
angeführten Verbindungen von Paranoia mit Amentia oder mit
manisch-depressivem Irresein für diagnostische Irrtümer; auch die
Katatonie bei Paranoia will mir nicht recht einleuchten. Eine be-
sondere Gruppe bildet endlich noch die Verbindung verschieden-
artiger Störungen, die durch die gleiche Krankheitsursache erzeugt
wurden. So sehen wir in dem besonnenen Delirium der Alkoholisten
anscheinend eine Mischform von Delirium tremens und Alkohol-
wahnsinn ; ebenso kann Alkoholepilepsie neben anderen Zeichen des
Alkoholismus bestehen, so häufig bei Delirium tremens, aber auch
beim Eifersuchtswahn der Trinker. Etwas anders liegt der Fall bei
der Verbindung der Dipsomanie mit Delirium tremens, da die Dipso-
manie auf epileptischer Grundlage entsteht. Mit der Paralyse können
sich klinisch und anatomisch Erscheinungen von Hirnsyphilis
verbinden.
Natürlich können dieselben Krankheiten, deren Verbindung
Grenzen des Irreseins.
wir hier geschildert haben, auch nacheinander auftreten. Ins-
besondere gesellt sich Alkoholismus und auch Paralyse unter Um-
ständen nachträglich zu anderen Erkrankungen hinzu. So ist bei
Paranoia, bei traumatischer Neurose, bei Epilepsie späterhin das
Auftreten von Paralyse beobachtet worden; ich selbst sah eine
Paralyse nach langjährigem Bestehen einer Dementia praecox zum
Ausbruche kommen. Bei zirkulären Kranken scheint die Ent-
wicklung der Paralyse auffallend selterf» zu sein, obgleich bei ihnen
häufig genug die Zeichen von Lues, namentlich auch kennzeich-
nende Pupillenstörungen, nachweisbar sind.
C. Grenzen des Irreseins.
Das Bedürfnis nach einer strengen Begriffsbestimmung der
Geisteskrankheit, nach einer Abgrenzung dieser letzteren von der
Breite des Gesunden i), ist in der Geschichte der Psychiatrie der
Ausgangspunkt zahlloser, angestrengter Bemühungen, scharfsin-
niger Auseinandersetzungen und spitzfindiger Beweisführungen ge-
wesen, bis endlich die unvermeidliche Erkenntnis sich immer
mehr Bahn zu brechen begann, daß die Fragestellung von vorn-
herein eine falsche war, daß es hier wirklich scharfe Grenzen
und unfehlbare Kennzeichen der Natur der Sache gemäß ebenso-
wenig geben kann wie bei der Unterscheidung von körperlicher
Gesundheit und Krankheit. Die Anzeichen des Irreseins sind eben
durchaus nicht gänzlich fremdartige und durch das Irresein neu
erzeugte Erscheinungen, sondern sie haben ihre Wurzeln in ge-
sunden Vorgängen und verdanken ihre Eigenartigkeit nur der ein-
seitigen, maßlosen Ausbildung oder dem Untergange dieser oder
jener Verrichtungen sowie der besonderen Verbindung der ver-
schiedenartigen Einzelstörungen.
Verhältnismäßig leicht wird indessen die Erkennung einer
Geistesstörung dann, wenn es gelingt, den Nachweis zu führen,
daß die verdächtigen Erscheinungen nicht von jeher bestanden
haben, sondern etwas Gewordenes sind. Zwar kommen auch wohl
im gesunden Leben Wandlungen vor, die bis in das innerste Wesen
der Persönlichkeit eingreifen, aber im allgemeinen legt dennoch
^) Hoche, Grenzen der geistigen Gesundheit. 1903; Pelman, Psychische
Grenzzustände. 1909.
534
IV. Die Erkennung des Irreseins.
die Beobachtung einer auffallenden Veränderung im Denken,
Fühlen und Handeln eines Menschen den Gedanken an deren
krankhafte Natur sehr nahe. Zur Gewißheit wird diese Ver-
mutung, wenn die hervortretenden Erscheinungen sich wider-
spruchslos in eines der bekannten klinischen Krank-
heitsbilder einordnen, und wenn vielleicht auch Ursachen
sich auffinden lassen, die erfahrungsgemäß jene Gruppe von Stö-
rungen häufiger zu erzeugifen pflegen.
Es darf mit allem Nachdrucke betont werden, daß in solchen
Fällen die genaue Erhebung der Vorgeschichte, sorgfältige Aus-
nutzung aller Untersuchungshilfsmittel und eine gewisse Zeit fort-
laufender Beobachtung bei wirklichem Sachverständnis regel-
mäßig zum Ziele führen wird. Die Psychiatrie ist in der Erken-
nung von Krankheitsvorgängen, auch solchen sehr langsamen
Verlaufes, in keiner Weise hilfloser, als etwa die innere Medizin
oder die Nervenheilkunde, die ja ebenfalls oft genug erst nach
längerer Beobachtung ein sicheres Verständnis schwieriger Krank-
heitsfälle erreichen. Nur die kühnste Unwissenheit kann sich
daher zu der häufig wiederholten Behauptung versteigen, daß der
Irrenarzt wegen der Unvollkommenheit der Psychiatrie vielfach
Geistesgesunde als krank betrachte und sie daher widerrechtlich
ihrer Freiheit beraube. Allerdings sieht der Sachverständige auch
hier überall tiefer, als der meist von ganz abenteuerlichen Vor-
stellungen über das Irresein erfüllte Laie.
Die unerbittliche Forderung, uns niemals mit dem Nachweise
einer Geistesstörung im allgemeinen zu begnügen, sondern unter
allen Umständen nach einer bestimmten klinischen Dia-
gnose zu streben und alle Möglichkeiten gegeneinander ab-
zuwägen, wird uns namentlich vor dem verhängnisvollen Fehler
bewahren, eine einzelne Erscheinung als entscheidend zu betrachten
und darüber das Gesamtbild des vorliegenden Falles außer acht
zu lassen. Früher hat man z. B. viel darüber gestritten, ob Sinnes-
täuschungen auch bei geistiger Gesundheit vorkommen könnten,
und ob der Selbstmord unter allen Umständen als Krankheits-
erscheinung aufgefaßt werden müsse; jetzt wissen wir, daß beides
Ereignisse sind, die im einzelnen Falle nur durch den Zusammen-
halt mit anderweitigen Beobachtungstatsachen richtig gewürdigt
werden können. Wenn z. B. Esquirol den Selbstmord einfach
Grenzen des Irreseins.
als eine besondere Form des Irreseins beschrieb, so habe ich in
Übereinstimmung mit den Erfahrungen anderer durch die Be-
obachtung geretteter Selbstmörder feststellen können, daß nur
etwa 30% derselben wirklich klinisch ausgeprägte geistige Stö-
rungen darboten; Gaupp fand unter 124 in unsere Klinik ein-
gelieferten Selbstmördern 38 ausgesprochen Geisteskranke, aber
allerdings nur eine einzige geistig völlig Gesunde; der Rest waren
Trinker, Epileptiker, Psychopathen, Hysterische, leicht Schwach-
sinnige.
Recht schwierig kann sich die Entscheidung über psychische
Gesundheit oder Krankheit gestalten, wenn nicht über das Be-
stehen eines krankhaften Vorganges, sondern über das Vorhanden-
sein eines krankhaften Zustandes entschieden werden soll. Im
ersten Falle war uns die Richtschnur der Beurteilung in dem Ver-
halten des Kranken selber vor der eingetretenen Veränderung ge-
geben; hier dagegen sind wir gänzlich auf die Abgrenzung nach
den allgemeinen Begriffen angewiesen, die sich in der Wissenschaft
als Gradmesser des Krankhaften niedergeschlagen haben. Dazu
kommt, daß wir ein ausgedehntes Übergangsgebiet zu verzeichnen
haben, auf dem es sich lediglich um die Abschätzung gradweiser
Unterschiede handelt, so daß es vielfach dem Belieben und dem
Standpunkte des Beobachters überlassen bleibt, wie weit oder wie
eng er die Grenze der Geisteskrankheit stecken will. Dies ist der
Grund, warum so häufig die Gutachten selbst wissenschaftlich
hochstehender Sachverständiger bei der Beurteilung solcher Fälle
vollständig auseinandergehen; die allgemeinen Grundsätze ver-
sagen hier bisweilen durchaus und lassen einzig dem persönlichen
Ermessen die Entscheidung zufallen.
Der Irrenarzt ist demnach hier etwa in derselben Lage wie
der Kassenarzt bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit, nur mit
dem Unterschiede, daß die Tragweite seines Ausspruches häufig
eine viel größere ist. Es erscheint daher ganz unvermeidlich,
daß gelegentlich sein Urteil als Härte empfunden und von Kranken
oder Angehörigen angefochten wird, zumal den ersteren fast immer,
den letzteren oft das Verständnis für die in Betracht kommen-
den Zustände völlig abgeht. An diesem Punkte liegt wohl die
Hauptquelle für die immer wieder aufflackernde, mit ebensoviel
Unkenntnis wie Gehässigkeit betriebene Bewegung gegen die
536
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Tätigkeit der Irrenärzte^). Natürlich würde niemand froher sein,
als diese selbst, wenn man sie von der leidigen Verantwortlich-
keit für die Beurteilung der Übergangsformen zwischen geistiger
Gesundheit und Krankheit befreien wollte. Leider ist dazu wenig
Aussicht, da sich schwerlich jemand finden dürfte, der ihnen diese
undankbare Aufgabe dauernd abnimmt.
Das große, sicher noch viel zu wenig gekannte Gebiet klinischer
Formen, mit dem wir es hier zu tun haben, ist hauptsächlich das-
jenige des angeborenen Schwachsinns und der psychopathischen
Veranlagung. Die krankhaften Erscheinungen treten uns dabei
in allen Richtungen des psychischen Lebens entgegen, und wir
müssen daher wenigstens einen kurzen Blick auf die Grenzgebiete
werfen, nicht sowohl, um die vorhandenen Schwierigkeiten zu
lösen, sondern um auf die Unmöglichkeit ihrer grundsätzlichen
Lösung hinzuweisen.
Im Bereiche des Verstandes lassen sich der Hauptsache nach
zwei Formen der psychischen Schwäche auseinanderhalten, un-
genügende geistige Regsamkeit einerseits, dann aber Urteilslosig-
keit infolge von Überwuchern der Einbildungskraft. Der ersteren
Form, die sich durch das Fehlen allgemeinerer Begriffe, Enge
des Gesichtskreises, Gedankenarmut, Stumpfheit kennzeichnet,
entspricht in der Gesundheitsbreite jene Form der Dummheit, die
man als Beschränktheit zu bezeichnen pflegt. Die höchsten
Grade der Beschränktheit fallen aber mit den leichteren Fällen
des Schwachsinns unterschiedslos zusammen: es gibt kein einziges
Merkmal, das eine andere als gradweise Abtrennung gestattete.
Auch die zweite Form der psychischen Schwäche findet ihr
Gegenstück in der Gesundheitsbreite. Es sind das die erregbaren,
leichtgläubigen Geister, die überall Luftschlösser bauen, Bezie-
hungen und Zusammenhänge ahnen, abenteuerlichen Gedanken
und Plänen nachjagen. In gewissem Sinne können wir auch den
Aberglauben als eine gesunde Form der Wahnbildung bezeichnen,
insofern er aus derselben Wurzel des Gemütsbedürfnisses heraus-
wächst. Es kann daher unter Umständen ungemein schwierig
werden, bei unseren Kranken Aberglauben und Wahnbildung von-
. 1) Man vergleiche nur die durch ihre naive Unwissenheit und Unverfrorenheit
geradezu erfrischenden Bücher des Herrn E. A. Schröder: Das Recht im Irren-
wesen. 1890; Zur Reform des Irrenrechtes. 1891.
Grenzen des Irreseins. •
einander zu trennen; nur die Berücksichtigung des allgemeinen
Bildungsstandes der Umgebung liefert uns einen einigermaßen
brauchbaren Maßstab. Den Übergang zum Krankhaften bildet
die Gruppe der Schwärmer und Schwindler, bei denen sich vielfach
geradezu die Züge der Entartung, namentlich der epileptischen
und hysterischen Veranlagung, nachweisen lassen. Den verein-
zelten Beispielen einseitiger Begabung bei Schwachsinnigen und
Idioten lassen sich manche der sogenannten verkannten Genies,
Erfinder und Entdecker, Religionsstifter an die Seite stellen, bei
denen die mangelnde Einheitlichkeit der Gesamtanlage auch den
hervorragenden Eigenschaften ihrer Persönlichkeit die freie und
segensreiche Entfaltung verkümmert.
Man ist vielfach so weit gegangen, auch das wirkliche Genie
als eine krankhafte Erscheinung, als eine Form der Entartung,
zu betrachten 1). Diese Anschauung schießt ohne Zweifel weit
über das Ziel hinaus. Es ist richtig, daß sich in den gleichen Fa-
milien nicht selten krankhafte Veranlagung und höchste Begabung
nebeneinander finden. Ferner ist es erklärlich, daß die einseitige
Züchtung gewisser geistiger Eigenschaften, wie sie das Genie her-
vorbringt, fast mit Notwendigkeit eine Verkümmerung nach an-
deren Richtungen bedingen wird. Wir sehen daher auch bei ge-
nialen Menschen häufig genug neben glänzenden Leistungen un-
begreifliche Schwächen. Wenn man aber bei allen möglichen
Helden der Menschheit diese oder jene Züge herausgefunden hat,
die ihnen den Stempel des Krankhaften aufdrücken sollen, so
übersieht man dabei die Tatsache, daß es wenige Gesunde geben
dürfte, die bei zielbewußter Zergliederung nicht ebenfalls irgend-
welche Anklänge an krankhafte Störungen aufzuweisen hätten. Wir
werden also durch eine derartige Beweisführung noch nicht dazu
genötigt werden, die höchsten Offenbarungen des Menschengeistes
als den Ausfluß krankhafter Entartung anzusehen. Nur daran ist
zu denken, daß jede sehr weit getriebene Veredelung nach einer be-
stimmten Richtung hin leicht die allgemeine Lebenstüchtigkeit
und die Widerstandsfähigkeit gegen krankmachende Einflüsse
herabzusetzen pflegt. Ein Volk von Genies würde daher wahr-
scheinlich dem Untergange geweiht sein. Beim einzelnen ist maß-
1) Lombroso, Genio e degenerazione. 1897; Regnard, Annales m6dico-
psychologiques, 1898, I, 10; Löwenfeld, Über die geniale Geistestätigkeit. 1903.
538
IV. Die Erkennung des Irreseins.
gebend, ob die hohe geistige Entwicklung das körperliche Ge-
deihen beeinträchtigt hat, ferner, wie weit die hervorragenden
Fähigkeiten anderen, für das Dasein wichtigen Seeleneigenschaften
Raum zur Entfaltung gelassen haben. Bezeichnen wir als echte
Genies nur solche Personen, bei denen die schöpferische Kraft
der Einbildung durch einen scharfen, klaren Verstand gezügelt
wird, bei denen ferner ein fester Wille die Herrschaft über ein
reiches Gemütsleben führt, so werden wir in ihnen den höchsten
Ausdruck der geistigen Persönlichkeit zu erblicken haben. Es ist
aber unschwer zu erkennen, daß wir uns bei Beeinträchtigung
dieses inneren Gleichgewichtes trotz einseitiger hoher Leistungen
allmählich mehr und mehr der Grenze der minderwertigen und
krankhaften Veranlagungen nähern.
Von großer Tragweite und darum von jeher am eifrigsten
versucht worden ist die Abgrenzung des Krankhaften von der
Gesundheitsbreite auf dem Gebiete des Gefühlslebens und des
Handelns, die wir gemeinsam ins Auge fassen wollen. Hier gilt
es ganz besonders, jene Handlungen, die aus krankhaften Vor-
aussetzungen hervorgegangen sind, abzutrennen von denjenigen,
die ihre Quelle in unsittlichen Beweggründen haben. Man
wird hier nicht lange im Zweifel sein, wenn es gelingt, eine Wahn-
idee, eine Sinnestäuschung oder auch ein unklares Angstgefühl,
einen triebartigen Drang als die Ursache der Tat aufzufinden.
Die allergrößten Schwierigkeiten indessen beginnen, sobald nicht
Veränderungen in der Art der Gefühle, sondern nur gradweise
Abstufungen der ärztlichen Beurteilung unterliegen. Jede un-
sittliche Handlung beruht entweder auf einer starken Ausbildung
der gesellschaftsfeindlichen Antriebe oder aber auf einem Mangel
der sittlichen Hemmungen, und sowohl jene übermäßige wie diese
ungenügende Entwicklung kann aus krankhaften Ursachen ent-
sprungen sein. Nun geht aber die krankhafte Zornmütigkeit ganz
allmählich in die Erregbarkeit des Leidenschaftsverbrechers über,
und die wechselnden Verstimmungen des geborenen Psychopathen
sind nur Steigerungen der oft ebensowenig sachlich begründeten
weltschmerzlichen Anwandlungen des Schwarzsehers, die ihn an
dem Werte des Daseins verzweifeln lassen. Der Selbstmord in
den letzteren, der Mord in den ersteren Fällen sollte je nach der
Krankhaftigkeit oder der gesunden Beschaffenheit des Gemüts-
Grenzen des Irreseins. ^39
zustandes eine gänzlich verschiedene sittUche Beurteilung er-
fahren, aber auch die genaueste Zergliederung vermag hier oft
die Grenze nicht zu finden, aus dem triftigen Grunde, weil sie
überhaupt nicht vorhanden ist.
Noch überzeugender tritt uns diese Schwierigkeit entgegen,
wo der krankhafte Mangel der sittUchen Gefühle von der ,, sitt-
lichen Schlechtigkeit" abgegrenzt werden soll. So wenig das Fehlen
einer Niere in einem Falle krankhaft sein kann, im anderen nicht,
so wenig geht es an, eine gesunde sittliche Verwilderung neben
einer krankhaften aufzustellen. Bei der Beurteilung der Unzu-
länglichkeit einer Leistung kann es nicht in erster Linie maß-
gebend sein, ob sie angeboren, erworben oder wie immer sie ent-
standen ist; nur nach ihrer Ausdehnung kann man gesunde
und krankhafte Grade unterscheiden, wie ja auch die Kleinheit
der Niere erst unter einer gewissen, ziemlich willkürlichen Grenze
anfängt, krankhaft zu werden. Wenn der Verlust der höheren
sittlichen Gefühle als Teilerscheinung gewisser Krankheitsvor-
gänge vorkommt (z. B. der Trunksucht, der Paralyse), so schließt
dieser Umstand nicht aus, daß auch der durch sittliche Verwahr-
losung erzeugte Ausfall, sobald er ein gewisses Maß erreicht
hat und nicht beseitigungsfähig ist, als krankhaft zu betrachten
sei. Jedes Werkzeug unseres Körpers bedarf der Übung und Aus-
bildung, um die von ihm geforderte Arbeit leisten zu können:
der unerzogene Taubstumme bleibt anerkanntermaßen auf der
geistigen Entwicklungsstufe des Schwachsinns stehen — sollte
allein der sittlich Unerzogene eine Ausnahme machen, sollte
nicht bei ihm ebenfalls eine Unvollkommenheit der gemütlichen
Ausbildung vorhanden sein, die unter Umständen eine krankhafte
Ausdehnung erlangen kann? Eine naturwissenschaftliche Be-
trachtung der Unsittlichkeit führt uns unabwendbar zu dem Schlüsse,
daß auch der Mangel sittlicher Gefühle nicht nur zweifellos der Be-
gleiter bestimmter klinischer Krankheitsformen ist, sondern in seinen
höheren Graden überhaupt ohne scharfe Abgrenzung in das Gebiet
des Krankhaften hinüberspielt und als eine Entwicklungshemmung
im Gemütsleben betrachtet werden muß, der nach anderer Richtung
die Unzulänglichkeit der Verstandeskräfte genau entspricht.
Es bleibt daher in derartigen Fällen bei der gerichtlichen Fest-
stellung der Geistesstörung bis zu einem gewissen Grade häufig
540
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Sache der persönlichen Ansicht, ob die gestellte Frage bejaht oder
verneint werden soll. So zuverlässig es fast stets gelingen wird,
wenigstens bei längerer Beobachtung das Bestehen einer Manie,
Melancholie, Verrücktheit, einer Dementia praecox oder Para-
lyse mit Sicherheit zu erweisen oder auszuschließen, so ratlos
steht selbst der ausgezeichnetste Scharfsinn den gradweisen Ab-
stufungen des angeborenen Schwachsinns gegenüber. Die Schuld
dafür trifft gewiß nicht die Psychiatrie, sondern lediglich die richter-
liche Fragestellung, die nur scharfe Grenzen zwischen Zurechnungs-
fähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit kennt, alle die zahllosen
Übergangsformen aber wesentlich vernachlässigt. Vielleicht wird
auch uns noch eine eingehendere Erforschung des Schwachsinns
zu einer schärferen Umgrenzung der krankhaften Erscheinungen
verhelfen; die Überwindung der grundsätzlichen Schwierig-
keiten aber und die Gewinnung brauchbarer Gesichtspunkte für
die Beurteilung kann sicherlich nur durch eine andere Fassung
der richterlichen Fragen an den ärztlichen Sachverständigen er-
reicht werden.
C. Verstellung und Verleugnung.
Erheblich einfacher liegt die Aufgabe dort, wo nicht allgemein
die Entscheidung über das Bestehen geistiger Gesundheit oder
Krankheit gefällt werden soll, sondern wo es sich um die Auf-
deckung einer Verstellung^) handelt. Hier ist eine sichere Richt-
schnur der Beurteilung durch die Erwägung gegeben, daß die vor-
liegende Gruppe von Erscheinungen sich mit unseren sonstigen
irrenärztlichen Erfahrungen decken muß. Allerdings sehen wir
auch bei den unzweifelhaft Geisteskranken vielfach Zustands-
bilder, die nicht - in einen der gewohnten Rahmen hineinpassen ;
darauf beruht ja jeder Fortschritt unserer klinischen Formen-
lehre. Indessen derartige, zunächst unklare Beobachtungen ent-
halten doch niemals innere Widersprüche, Wir wissen ganz ge-
nau, daß gewisse Krankheitszeichen einander ausschließen, daß
z. B. ein ruhiger Kranker ohne Bewußtseinstrübung und Merk-
1) F ürstn er, Ar ch. f. Psychiatrie, XIX, 6oi; Schott, ebenda, XLI, 254; Fr itsch,
Jahrb. f. Psychiatrie, VIII, 115; Raimann, ebenda, XXII, 443, 1902; Bresler,
Die Simulation von Geistesstörung und Epilepsie. 1904.
Verstellung und Verleugnung.
Störung nicht dauernd desorientiert sein kann, daß Fehlen ein-
fachster Schulkenntnisse nur mit Blödsinn und tiefer Gedächtnis-
störung vereint sein oder durch Negativismus vorgetäuscht werden
kann. Wir vermögen uns somit auch dann, wenn ein Krank-
heitsbild sich nicht ohne weiteres deuten läßt, doch meist recht
bald ein Urteil über seine innere Einheitlichkeit und Wahrschein-
lichkeit zu bilden.
Ein solches widerspruchsloses Krankheitsbild selbst zusam-
menzusetzen, erfordert weitgehende fachmännische Kenntnisse.
Außerdem ist aber noch eine ganz ungewöhnliche Geschicklich-
keit und Ausdauer nötig, um die angenommene Rolle wirklich
durchzuführen und festzuhalten. Die Anschauungen über Geistes-
krankheiten unter Laien weichen fast durchgehends so sehr von
dem wahren Verhalten ab, daß es in der Regel für den Irrenarzt
leicht ist, die Verstellung zu erkennen und zu entlarven. Am
häufigsten werden tiefer Blödsinn oder Aufregungszustände (,, Tob-
sucht") nachgeahmt; dabei ist es überall die Sucht der Simulanten,
zu übertreiben und ihre Geisteskrankheit möglichst glaubhaft zu
machen, die sie widersprechende Erscheinungen durcheinander-
mischen läßt und auf diese Weise die Unterscheidung von wirklich
Kranken ermöglicht. Häufig gelingt es auch, durch allerlei Vexier-
versuche, durch hingeworfene Bemerkungen gewisse Krankheits-
erscheinungen zu suggerieren, namentlich völlige Unempfindlich-
keit gegen Nadelstiche, Lähmungen, Ohnmächten u. dgl. Überaus
selten sind die Fälle, in denen selbst bei längerer Beobachtung die
Verstellung nicht zweifellos festgestellt werden kann ; dagegen kann
es unmöglich werden, sich ein zuverlässiges Urteil über die Be-
hauptung zu bilden, daß zu einem früheren Zeitpunkte, etwa bei
Begehung einer strafbaren Handlung, ein krankhafter Zustand
bestanden habe, als dessen Spuren Erinnerungslücken angegeben
werden. Hier sind wir ganz auf allgemeine klinische Erwägungen
angewiesen, die für den einzelnen Fall trügerisch sein können.
Indessen, so leicht und sicher die absichtliche Täuschung als
solche erkannt zu werden pflegt, so schwierig ist es oft genug, das
Bestehen einer Geistesstörung außer der Verstellung auszu-
schließen. Neu mann fordert mit Recht, daß überhaupt kein Arzt
jemals das Zeugnis geistiger Gesundheit ausstellen solle; bei Simu-
lanten ist in dieser Hinsicht doppelte Vorsicht geboten. Selbst das
542
IV. Die Erkennung des Irreseins.
ausdrückliche Geständnis, sich verstellt zu haben, ist nicht immer
maßgebend; man denke nur daran, daß deprimierte Kranke gar
nicht selten behaupten, sie hätten von Anfang an simuliert, ihre
Krankheit übertrieben. Auch der katatonische Negativismus kann
in seiner triebartigen Sinnlosigkeit den Eindruck absichtlicher Vor-
täuschung machen, wenn ein Beweggrund dafür vorzuliegen scheint.
Die erfahrensten Irrenärzte teilen mit, daß wirklich geistig ge-
sunde Menschen unter den Simulanten nur in verschwindend geringer
Zahl vorkommen, wenn auch die eigentliche Störung eine ganz anders-
artige ist als die nachgeahmte. Namentlich Katatoniker, Queru-
lanten, Schwachsinnige, Psychopathen, Hysterische sind hierher zu
rechnen. Gerade bei diesen letzteren, deren Krankheitsbild sich
ohnedies aus psychogenen Zügen zusammensetzt, kann es ganz un-
möglich werden, willkürliche Zutaten auszuscheiden, ja es ist nicht
zu bezweifeln, daß hier absichtliche Verstellung und krankhafte
Entstehung der Störungen ohne scharfe Grenze ineinander über-
gehen. Das gilt besonders für die von Ganser beschriebenen
Dämmerzustände mit Vorbeireden, die so häufig bei Untersuchungs-
gefangenen zur Beobachtung kommen. Der Wunsch, sich der pein-
lichen Lage und namentlich auch dem Ausfragen zu entziehen,
kann auf dem Wege der gemütlichen Erregung zu ,, Verdrängungs-
erscheinungen" führen, die schon die Grenze des Krankhaften über-
schreiten. Jung spricht hier von einer aus dem Bewußten ins
Unterbewußte geratenen Simulation. Ähnlich kann bei der trauma-
tischen Neurose die Furcht, die Rente durch Arbeiten zu verlieren,
die anfängliche Arbeitsscheu allmählich zu wirklich krankhafter
Unfähigkeit werden lassen.
Im Hinblicke auf diese Erfahrungen bin ich mit der Annahme
reiner Verstellung ohne anderweitige Geistesstörung im Laufe der
Zeit immer zurückhaltender geworden, zumal ich eine ganze An-
zahl meiner ehemaligen Simulanten nachträglich habe verblöden
sehen. Darum kann ich nur dringend raten, nach Jahren immer
wieder einmal die Reihen derer zu prüfen, die einst als Simulanten
,, entlarvt" wurden. Man wird übrigens auch bei ruhiger Überlegung
finden, daß für den Gesunden triftige Beweggründe zur Vortäuschung
von Irresein naturgemäß recht selten sein müssen. Ich will in-
dessen einräumen, daß in Großstädten mit ihrer eigenartigen Ver-
brecherbevölkerung und ebenso in Untersuchungsgefängnissen die
Verstellung und Verleugnung.
Verhältnisse besonders schwierig liegen. Die Mittel und Verfahren,
welche die Aufdeckung von Verstellung im einzelnen Falle ermög-
lichen, die Schlüsse, die man aus dem Benehmen eines Menschen
vor, während und nach einer verbrecherischen Tat auf seinen Geistes-
zustand ziehen kann, und eine Reihe ähnlicher Punkte müssen
wir hier übergehen, da sie den Aufgaben der gerichtlichen Psycho-
pathologie angehören.
Wir haben endlich noch der Verleugnung von Krankheits-
erscheinungen zu gedenken, die namentlich von Trinkern, Zirku-
lären und Verrückten bisweilen mit großer Gewandtheit geübt wird,
um die Entlassung aus der Irrenanstalt oder die Aufhebung der
Entmündigung zu erreichen. Die Kranken zeigen sich dem Arzte
gegenüber ungemein harmlos und ungefährlich, stellen alle Berichte
der Angehörigen, alle Wahnideen völlig in Abrede und wissen ihre
auffallenden Handlungen so ungezwungen und schlau zu begründen,
daß es recht schwierig werden kann, die krankhaften Züge klar zu
erfassen. Unerfahrene lassen sich daher oft. vollständig von ihnen
täuschen. Auf diese Weise pflegen die Gesundheitszeugnisse zu-
stande zu kommen, die sich gewisse Geisteskranke von Halb- und
Nichtsachverständigen zu verschaffen wissen. Kein erfahrener
Irrenarzt wird in strittigen Fällen nur auf Grund einiger Unter-
redungen, ohne genaueste Kenntnis aller Verhältnisse und ohne
Anstaltsbeobachtung, das Urteil abgeben, daß eine geistige Störung
nicht vorhanden ist, schon deswegen, weil er weiß, daß so gut wie
ausnahmslos nur solche Personen das Bedürfnis haben, sich ihre
geistige Gesundheit bescheinigen zu lassen, die wirklich krank sind.
Man wird daher gut tun, jene die öffentliche Meinung immer
wieder beunruhigenden Flugschriften mit größter Vorsicht aufzu-
nehmen, in denen das Justizunrecht der willkürlichen Freiheits-
beraubung, die Gefahren der geistigen Ermordung in den grellsten
Farben ausgemalt zu werden pflegen. Allerdings ist die Aufklärung
derartiger Fälle häufig nicht leicht, sondern erfordert höchste
Sachkenntnis und vollkommenen Überblick über alle einschlägigen
Tatsachen und Persönlichkeiten. Die hauptsächlichsten Schwierig-
keiten liegen dabei gewöhnlich gar nicht in der eigentlich psychia-
trischen Beurteilung, sondern in der Entscheidung der rein prak-
tischen Fragen der Anstaltsbedürftigkeit oder der Geschäftsfähigkeit.
Hier kommen Gesichtspunkte in Betracht, die mit der psychiatrischen
544
IV. Die Erkennung des Irreseins,
Wissenschaft gar nichts zu tun haben, sondern ein Abwägen der
sozialen Folgen geistiger Störungen für die Beziehungen des Zu-
sammenlebens erfordern. Daß in solchen Fragen, in denen nicht
wissenschaftliche Erfahrung, sondern wesentlich persönliches Er-
messen maßgebend ist, auch die Meinungen wirklich Sachverstän-
diger recht weit auseinandergehen können, selbst wenn über die
psychiatrische Auffassung des Falles volle Einigkeit besteht, ist
nicht auffallender, als die oft höchst verschiedene Festsetzung des
Strafmaßes durch die einzelnen richterlichen Instanzen. Wir dürfen
es aber nicht verschweigen, daß hier und da von Ärzten, die mit
Unrecht als Sachverständige gelten, auch Personen als geisteskrank
bezeichnet worden sind, die es im strengsten Sinne nicht waren;
namentlich hat man mehrfach streitsüchtige Menschen fälschlich
für Querulanten gehalten. Ein ganz alltägliches Vorkommnis aber
ist es, daß zweifellos geisteskranke Personen, unter Umständen zu
ihrem größten Schaden, für gesund erklärt werden. Nur die immer
gründlichere Ausbildung der Ärzte, namentlich der beamteten, in
der Psychiatrie kann solche Mißgriffe allmählich unmöglich machen.
Schließlich sei noch auf die Krankheitsverleugnung besonnener
selbstmordsüchtiger Kranker hingewiesen, die bisweilen mit großem
Geschick ihre krankhaften Vorstellungen und Gefühle zu verbergen,
Besserung und heitere Stimmung vorzutäuschen wissen, um den
stillen Vorsatz des Selbstmordes bei weniger sorgfältiger Über-
wachung zur Ausführung bringen zu können. Selbst die genaueste
Vertrautheit mit dieser höchst beachtenswerten Gefahr und unaus-
gesetzte Wachsamkeit vermag nicht immer vor bitteren Erfahrungen
zu schützen.
V. Behandlung des Irreseins/)
Leitende Gesichtspunkte für eine zweckmäßige Behandlung sind
die Bekämpfung der Ursachen und die Beseitigung oder wenigstens
Milderung der Erscheinungen. Die erstere Aufgabe beginnt schon
mit der Vorbeugung.
A. Vorbeugung. 2)
Die Verhütung der Geisteskrankheiten steht bei der großen Be-
deutung der Erblichkeit für die Verbreitung des Irreseins zunächst
vor der Frage, ob ein Geisteskranker heiraten darf oder
nicht^*). Namentlich in manchen Formen der hysterischen Psy-
chosen hat man wegen ihrer vermeintlichen Entstehung aus un-
befriedigtem Geschlechtsbedürfnisse bisweilen die Ehe geradezu für
ein Heilmittel gehalten. Die Erfahrung hat indessen gezeigt, daß
zwar gesunde Eheleute anscheinend eine etwas geringere Neigung
zu Geistesstörungen besitzen als Ledige, daß aber bei schon be-
stehender Krankheit die Ehe zum mindesten auf das weibliche Ge-
schlecht vielfach geradezu schädlich wirkt. Dazu kommt die Ge-
fahr einer Vererbung der krankhaften Anlage auf die Nachkommen-
schaft. So erscheint denn der ziemlich allgemein angenommene
1) Penzoldt und Stintzing, Handbuch der speziellen Therapie, Bd. V, Abt. IX:
Behandlung der Geisteskrankheiten, von Emminghaus-Pfister (Allgemeiner
Teil) und Ziehen (Spezieller Teil). 1896; Bleuler, Die allgemeine Behandlung der
Geisteskrankheiten. 1898; Garnier et Cololian, Traite de therapeutique des
maladies mentales et nerveuses. Hygiene et prophylaxie. 1901; Pelman, Über die
Behandlung der Geisteskranken, Deutsche Klinik. 1902; Klein, Monatsschr. f.
Psychiatrie, XVI, 388.
2) Fuchs, Die Prophylaxe in der Psychiatrie in Nobiling- Jankau, Hand-
buch der Prophylaxe, V. 1900; Morel, Psychiatrische Wochenschr., I, 380, 1899;
Forel, Hygiene der Nerven und des Geistes in gesundem und krankem Zustande.
1904; Oppenheim, Nervenkrankheit und Lektüre u. a. Drei Vorträge, 2. Auflage.
1907.
3) Schüle, Über die Frage des Heiratens früher Geisteskranker. 1905.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 35
546
V. Behandlung des Irreseins.
Grundsatz gerechtfertigt, vom ärztlichen Standpunkte aus bei be-
stehender oder überstandener Geistesstörung, besonders bei jenen
Formen, die auf eine psychische Entartung hinweisen, die Ehe
unter allen Umständen zu widerraten. Dagegen wird der
einfache Ursprung aus einer belasteten Familie, wenn nicht bereits
Krankheitserscheinungen zutage treten, trotz der immerhin drohen-
den Gefahren doch kein unbedingtes Verbot der Ehe begründen
können. Strohmeyer fand, daß wenigstens 30% erblich Belasteter
gesund bleiben. Die Gefahr einer Erkrankung würde sich im ein-
zelnen Falle noch erheblich vermindern, wenn das Heiratsalter so
weit hinaufgesetzt würde, daß die Entwicklungsjahre schon über-
wunden wären, in denen die ersten Äußerungen der ererbten Psy-
chosen so häufig erkennbar werden. Nur wenn Blutsverwandt-
schaft vorhanden ist oder in beiden Familien Geistesstörungen,
namentlich solche von gleicher Form, aufgetreten sind, wird man
sehr ernste Bedenken geltend zu machen haben.
Allerdings lehrt die Erfahrung, daß Ratschläge über bevor-
stehende Ehen zwar gesucht und angehört, aber äußerst selten be-
folgt werden. Die Bedürfnisse der Rassenkräftigung, der geschlecht-
lichen Zuchtwahl unter dem Gesichtspunkte der körperlichen und
geistigen Gesundheit, treten regelmäßig weit zurück hinter anderen,
kurzsichtigeren Beweggründen. Immerhin wird man die Forderung
Schüles unterstützen müssen, daß den Verlobten das Recht ein-
geräumt werde, zuverlässige Auskunft über die Gesundheitsverhält-
nisse des anderen Teils zu erhalten, insbesondere über frühere
Geistesstörungen, überstandene Lues, Neigung zu Alkoholismus,
Morphinismus, geschlechtliche Verirrungen. Auch an die Einrich-
tung von ,, Gesundheitsräten" könnte man denken, die bei Befragen
ihr Urteil ,, mahnend", ,, warnend" oder ,, abratend" abzugeben
hätten; Schüle will an die Nichtbefolgung solcher Ratschläge auch
gewisse rechtliche Folgen knüpfen, wie Verlust des Rechtes auf
Ehescheidung oder Wiederverheiratung. Es steht jedoch zu be-
fürchten, daß dann von der Einrichtung, wenn sie nicht gesetzlich
in jedem Falle mitzuwirken hat, nur wenig Gebrauch gemacht
werden wird.
Indessen auch von einem zwingenden Eingreifen des Staates
durch fürsorgliche Entmündigung oder Eheverbote bei bedenklichen
Gesundheitsverhältnissen kann man sich nicht allzuviel Erfolg ver-
Vorbeugung.
sprechen, da es zwar die Ehen, nicht aber die Kindererzeugung
einschränken könnte. Näcke hat sich daher für den im Staate
Michigan durchberatenen Vorschlag erwärmt, gewisse Gruppen
gemeingefährhcher und entarteter Männer durch teilweise Aus-
schneidung der Samenleiter zeugimgsunfähig zu machen ; bei Frauen
soll in schweren Fällen zur Entfernung der Gebärmutter von der
Scheide aus geschritten werden. Auch die Schweizer Irrenärzte
haben die gesetzliche Einführung und Regelung der „sozialen
Sterilisierung" Geisteskranker und Entarteter für wünschenswert
erklärt. Ohne Zweifel wäre die Maßregel wirksam, doch erscheint
die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie haltzumachen hätte.
So dringend die Frage einer Verhütung der erblichen Ent-
artung und einer zweckmäßigeren Regelung der geschlechtlichen
Zuchtwahl auch erscheint, so ist doch in absehbarer Zeit eine Ein-
mischung der Gesetzgebung in diese höchst persönlichen Verhält-
nisse, die freilich zugleich auch allergrößte öffentliche Bedeutung
haben, schwerlich zu erwarten. Vorderhand werden wir uns daher
mit der Aufklärungsarbeit zu begnügen haben, die sich vor allem
auf eine weit gründlichere Kenntnis der Vererbungsverhältnisse zu
stützen hätte, als wir sie heute besitzen. Eine sehr erhebliche vor-
beugende Wirkung kommt übrigens weiterhin auch der Entwick-
lung unseres Anstaltswesens zu, das einer wachsenden Zahl von
Geisteskranken die Möglichkeit der Fortpflanzung benimmt. An-
zustreben wäre aber mit größtem Nachdrucke die ja auch aus
sonstigen Gründen dringend notwendige dauernde Kasernierung
anderer entarteter Persönlichkeiten, deren ungünstiger Einfluß auf
die Nachkommenschaft gewiß nicht geringer ist, als derjenige der
Geisteskranken im engeren Sinne. Insbesondere wären hier die Ge-
wohnheitsverbrecher, die Landstreicher und die verkommenen
Trinker ins Auge zu fassen, deren dauernder, zwangsmäßiger Aus-
scheidung aus dem Gemeinschaftsleben wohl nicht mehr allzu große
Hindernisse entgegenstehen dürften.
Im werdenden Keim können eine Reihe von Allgemeinleiden der
Eltern schwere Schädigungen hervorrufen, vielfach auch geradezu
die Anlage zum Irresein erzeugen. Wir nennen hier vor allem
Alkohol, Morphium, Cocain, Syphilis und Tuberkulose. Ein schwacher
Trost ist es, daß bei Trinkern und Morphinisten die geschlechtliche
Leistungsfähigkeit allmählich abzunehmen pflegt; dafür steigert
35*
548
V. Behandlung des Irreseins.
der Rausch, dem man eine unmittelbar verderbliche Wirkung auf
den Samen nachsagt, wiederum die Begierde. Wie lange der ver-
hängnisvolle Einfluß der Lues auf die Nachkommenschaft trotz
gründlicher Behandlungsversuche fortdauern kann, ist zweifelhaft.
Will man daher einer Entartung des kommenden Geschlechtes vor-
beugen, so wird man vor allem die Verbreitung der genannten
Schädlichkeiten zu verhüten haben, eine Aufgabe, die trotz ihrer
Dringlichkeit von der Gesetzgebung noch immer mit merkwürdiger
Zaghaftigkeit angefaßt zu werden pflegt. Heilige Pflicht der Ärzte
muß es sein, den Druck der öffentlichen Meinung allmählich derart
zu steigern, daß man sich dazu entschließt, den Kampf gegen
Alkohol und Syphilis mit dem gleichen Nachdrucke und dem gleichen
Aufwände an Hilfsmitteln aufzunehmen, wie denjenigen gegen die
Tuberkulose,
Wie weit es möglich sein wird, die Schädigungen des kindlichen
Gehirns durch Asphyxie, Druck oder Verletzungen bei der Geburt
einzuschränken, steht dahin ; vielleicht wird bessere Ausbildung der
Hebammen, regelmäßige Zuziehung von Ärzten in schwierigen
Fällen, Vermehrung der Entbindungsanstalten hier und da die Ent-
stehung einer Idiotie durch die Geburt zu verhindern imstande sein.
Auch die Förderung des Stillens der Frauen dürfte für die Gesund-
erhaltung des jugendlichen Gehirns nicht ohne Bedeutung sein. Wir
sind längst davon zurückgekommen, die Krämpfe der Säuglinge,
die ,, Gichter" oder ,, Fraisen", als eine harmlose Erscheinung zu
betrachten. Vielfach sind sie jedenfalls die Anzeichen von leichteren
oder schwereren Hirnerkrankungen, die dauernde Spuren für das
spätere Leben zurücklassen können, allgemeine Nervosität, Epilepsie,
Schwachsinn bis zur ausgesprochenen Verblödung. Da aber die Ein-
gangspforte für Krankheitserreger hier wahrscheinlich vor allem im
Darme liegt, wird die Ernährung mit Muttermilch diese Gefahren
sehr wesentlich vermindern können, zumal sie auch sonst die all-
gemeine Widerstandsfähigkeit des Kindes gegen krankmachende
Einflüsse steigert. Der im Säuglingsalter drohenden Gefahr des
Kretinismus kann durch Entfernung aus der verseuchten Gegend
oder durch Darreichung von Thyreoidin begegnet werden.
Die Verschiedenartigkeit unter gleichen Bedingungen auf-
gewachsener Geschwister zeigt uns vielfach, wie zwingend die Ent-
wicklung der psychischen Persönlichkeit durch die ursprüngliche
Vorbeugung.
Veranlagung und Mischung bestimmt wird. Dennoch werden wir
auch den Einflüssen der Erziehung in der Vorbeugung des Irre-
seins eine gewisse Bedeutung nicht absprechen können. Gerade
etwas absonderlich angelegte Eltern vermögen häufig nicht die
rechte Mitte zwischen grillenhafter Strenge und weichlicher Ver-
zärtelung zu halten, Einflüsse, die nur ein sehr kräftig geartetes
Kind ohne dauernden Schaden für die Entwicklung seiner Persön-
lichkeit zu ertragen imstande ist. Der ärztliche Berater findet hier
nicht so selten Gelegenheit zu warnendem Eingreifen. Im all-
gemeinen wird jedes Kind am wirksamsten durch den Verkehr mit
seinesgleichen erzogen. Darum ist sorgfältige Auswahl der Ge-
fährten, Ausschließung von verdorbenen oder entarteten Kameraden
besonders für psychopathisch veranlagte Kinder wichtig. In ver-
einzelten Fällen, bei sehr empfindlichen und erregbaren Kindern,
wird zeitweise eine abgesonderte Erziehung am Platze sein.
Das wichtigste Ziel aller Erziehung muß die Entwicklung eines
gesunden Willens bilden. Auch unser geistiges Leben bewegt sich
zum guten Teile in Willenshandlungen ; die Tätigkeit der Aufmerk-
samkeit mit ihren weitreichenden Folgen für die Gestaltung unserer
Allgemeinvorstellungen, unserer Lebens- und Weltanschauung ist
innere Willenshandlung. Die Ausbildung neuer, die Entfaltung an-
geborener Fähigkeiten geschieht lediglich durch die Übung, die
ebenfalls nur durch Willenstätigkeit erreicht werden kann. Bei der
ganz überwiegenden Mehrzahl der Formen psychopathischer Ver-
anlagung sehen wir daher auch Willensstörungen im Vordergrunde
stehen, sei es Haltlosigkeit und Bestimmbarkeit des Wollens, sei es
die Unfähigkeit, Hindernissen und Bedenken durch kräftige An-
spannung des Willens zu begegnen, krankhafte Antriebe zu unter-
drücken, seien es endlich abnorme Richtungen des Trieblebens.
Aus diesen allgemeinen Gesichtspunkten ergibt sich, daß wir zu-
nächst im heranwachsenden Geschlechte die natürlichen Triebe nach
Möglichkeit zu erhalten suchen müssen, da sie die sichersten Weg-
weiser in den verkünstelten Verhältnissen des Kulturlebens bedeuten.
Einfachheit der gesamten Lebensführung, besonders auch der Er-
nährung, Fernhaltung von Übersättigung und Üppigkeit, Leben in
und mit der Natur, selbstverständliche Beachtung wichtiger Gesund-
heitsregeln, reichliche körperliche Betätigung und ausreichende Be-
friedigung des Schlafbedürfnisses sind hier die wichtigsten Aufgaben.
550
V. Behandlung des Irreseins.
Sodann aber wäre das Hauptaugenmerk auf die Erziehung zur
Selbständigkeit und zur Selbsthilfe zu richten. Die Erweckung
frischen Selbstvertrauens, das einzige Vorbeugungsmittel gegen die
so ungeheuer verbreitete psychopathische Ängstlichkeit, kann nur
durch eigene Betätigung erreicht werden. Die Not macht erfinderisch ;
sie stärkt die Kräfte und damit die Zuversicht des Gelingens. An
diesem Punkte liegt der entscheidende Wert aller jener Spiele, die
Anforderungen an Kraft, Gewandtheit und Entschlossenheit stellen.
Ihre erziehende Wirkung auf den Willen wird fortgesetzt und aus-
gebaut durch Handfertigkeitsübungen und den Sport in jeder Form.
So wenig hier die Erreichung einseitiger Höchstleistungen als Ziel
hingestellt werden darf, so unentbehrlich sind die Leibesübungen
für den Kulturmenschen, der durch die planmäßige Züchtung reiner
Verstandesleistungen von der körperlichen Betätigung immer mehr
abgedrängt wird. Im Turnen und Wandern, im Radfahren, Schwim-
men, Rudern, Eislaufen, Reiten oder in den von England zu uns
herübergekommenen Bewegungsspielen findet er fast die einzige
Gelegenheit, jene Eigenschaften zu entwickeln, die dem Natur-
menschen eine Überlegenheit über seinesgleichen gewähren. Ge-
rade in ihnen aber, in der körperlichen Kraft und Gewandtheit, in
Mut, Ausdauer, Findigkeit und Entschlossenheit liegen die Wurzeln
aller Tüchtigkeit und Widerstandsfähigkeit für die Kämpfe des
Lebens. Sind doch alle jene Übungen nur ein Abbild des Daseins-
kampfes, in dem der Zwang der Notwendigkeit durch den Antrieb
des Wettbewerbes und den Ehrgeiz ersetzt wird, das freiwillig ge-
steckte Ziel zu erreichen.
Der gefährlichste Feind der Willensentwicklung ist die Ver-
weichlichung, weil sie das Zurückweichen vor der Anstrengung, das
Verzichten auf die Willensübung, die Abschwächung der natürlichen
Triebe bedeutet. Frühzeitige Gewöhnung an Entbehrungen, Er-
haltung der Genußfähigkeit durch Sparsamkeit der Genüsse, Be-
kämpfung des Einwurzeins von ,, Bedürfnissen", Erziehung zu un-
verdrossener Anpassung an mannigfache Lebensverhältnisse, zur
Gleichgültigkeit gegen kleine Schmerzen und Unbequemlichkeiten,
zur Freude an der persönlichen Unabhängigkeit, zur Verachtung des
Luxus werden den starken verweichlichenden Einflüssen unseres Kul-
turlebens entgegenzuwirken haben. Außerordentlich günstig wirkt ge-
rade das Wandern und Reisen unter möglichst einfachen Bedingungen.
Vorbeugung. ^51
Prüfen wir nach dem hier gewonnenen Maßstabe die Wirksam-
keit unserer gesamten Erziehungseinrichtungen, so werden wir uns
von ihnen kaum befriedigt erklären können. Was unser Erziehungs-
wesen in viel zu hohem Grade beherrscht, ist die Sorge für das
gedächtnismäßige Wissen, während die Ausbildung der Persönlich-
keit weit mehr zufälligen Einflüssen überlassen bleibt. Wie gering
aber im allgemeinen der Wert des in rein sprachlicher Fassung An-
gelernten gegenüber dem durch eigene Beobachtung und Betätigung
Erworbenen ist, zeigen in überraschender Weise die früher be-
sprochenen Erfahrungen über die Kenntnisse der Rekruten. Wäh-
rend zur Zeit der Einstellung ihre geistigen Leistungen trotz des
genossenen Schulunterrichtes durchschnittlich geradezu klägliche
waren, ergab sich am Ende der zweijährigen Dienstzeit eine ganz
auffallende Besserung nach den verschiedensten Richtungen hin.
Nicht nur die allgemeinen Kenntnisse und besonders das Wissen
aus eigener Erfahrung war besser geworden, sondern namentlich
auch die Fähigkeit, sich überhaupt über den geistigen Besitz Rechen-
schaft zu geben, rasch, klar und knapp zu antworten. Auch bei
Gebildeten sehen wir häufig einen großen Teil des Schulwissens bis
auf zusammenhanglose Bruchstücke wieder verloren gehen, während
die einmal erworbenen Fertigkeiten in der Regel sehr zähe haften.
Wir können daraus den Schluß ziehen, daß bei der Ausbildung der
heranwachsenden Jugend immer und immer mehr das Gewicht auf
das Erlernen durch Anschauung und durch eigenes Handeln gelegt
werden muß. Nur die Stoffe, die eine derartige Behandlung zu-
lassen, haben höchsten Bildungswert, da sie nicht nur in Fleisch und
Blut übergehen, sondern zugleich auch auf die Entwicklung der
ganzen geistigen Persönlichkeit hinwirken. Vielleicht ist es möglich,
auf diesem Wege den Gefahren zu begegnen, die einseitige Züchtung
der Verstandesleistungen sonst für die weit wichtigere Ausbildung
eines kraftvollen Willens mit sich bringt. Zugleich dürfen wir
hoffen, dadurch das weitverbreitete bedenkliche Warnungszeichen
der Schulverdrossenheit zu beseitigen, das auf ein Fehlen der Über-
einstimmung zwischen den Zielen und Hilfsmitteln der Schule und
dem Betätigungsstreben der Jugend hindeutet. Wirklich fruchtbar
kann doch nur der Unterricht sein, der den Schüler zu freudiger
Mitarbeit begeistert.
Da nur in einem gesunden Körper eine gesunde Seele wohnen kann,
552
V. Behandlung des Irreseins.
ist der körperlichen Ausbildung, namentlich bei psychopathisch ver-
anlagten Kindern, überall die größte Wichtigkeit beizumessen. Ein
Vorwärtstreiben in der Schule auf Kosten der körperlichen Ent-
wicklung ist ein äußerst verhängnisvoller Fehler. Was durch körper-
liche Übungen an Zeit versäumt wird, bringt die gekräftigte Gesund-
heit späterhin reichlich wieder ein. Stark gefährdete Kinder gehören
unbedingt aufs Land, in einfache Verhältnisse, die ihnen reichliche
Gelegenheit zum Genüsse von Licht, Luft und Sonne gewähren.
Die überraschenden Erfolge, die Ferienkolonien, Waldschulen und
Landerziehungsheime aufzuweisen haben, lehren deutlich, daß des
Kindes Heim nicht die Stadt ist, und daß wir daher, wo sein Körper
gekräftigt, seine Widerstandsfähigkeit gestählt und seine Seele zum
Gedeihen gebracht werden soll, die segenspendenden Wirkungen
des Landlebens zu Hilfe rufen müssen.
Gegenüber diesen grundlegenden Erziehungsfragen tritt, wie ich
glaube, die Bedeutung der sogenannten Überbürdungsfrage^) wesent-
lich zurück. Allerdings darf es als wahrscheinlich gelten, daß kein
jugendliches Gehirn wirklich in strengem Sinne das zu leisten im-
stande ist, was zahlreiche Stundenpläne fordern. Wenn schon ein
Erwachsener einer sehr einfachen geistigen Arbeitsleistung nicht
länger als etwa eine Stunde zu folgen vermag, ohne deutliche, sich
rasch steigernde Ermüdungserscheinungen zu zeigen, so tritt im
jüngeren Lebensalter und bei den schwierigeren Aufgaben des Schul-
unterrichtes die Erschlaffung natürlich noch sehr viel rascher ein.
Allerdings ist die Ermüdung an sich keine Gefahr, da jede Tätigkeit
notwendig einen Verbrauch von Arbeitskraft mit sich bringt, anderer-
seits aber durch Übung die Leistungsfähigkeit steigert und die Er-
müdbarkeit herabsetzt. Wir wissen indessen, daß ein Übermaß von
Ermüdung zu Störungen führen kann, die sich erst langsam und in
längerer Ruhe wieder ausgleichen. Wann die schädigende Wirkung
der Ermüdung im einzelnen Falle beginnt, entzieht sich heute noch
unserer Kenntnis. Wir können nur allgemein sagen, daß dieser
Punkt erreicht ist, sobald sich die Arbeitsermüdung nicht mehr
regelmäßig von einem Tage zum anderen wieder ausgleicht. Es
kann zugegeben werden, daß die große Mehrzahl der gesunden und
kräftig veranlagten Schüler Spannkraft genug besitzt, um auch über
) Benda, Nervenhygiene und Schule. 1900.
Vorbeugung.
ungewöhnlich hohe Anforderungen ohne bleibende Nachteile hinweg-
zukommen. Ebenso sicher ist es aber auch, daß sich in jeder Schule
eme Reihe von Kindern befinden, die bei sonst guter Begabung eine
ganz besonders hohe Ermüdbarkeit besitzen, leicht die Zeichen von
Dauerermüdung aufweisen und daher der sorgfältigen Beobachtung
durch den Arzt bedürfen. Überall haben wir nicht nur mit Kindern
aus krankhaft entarteten Familien, sondern auch mit solchen zu
rechnen, die späterhin selbst mehr oder weniger schwer psychisch
erkranken. Eines der Zeichen der Entartung aber ist zweifellos
große Ermüdbarkeit, die sich, wie es scheint, vielfach mit großer
Übungsfähigkeit verbindet und durch sie bis zu einem gewissen
Grade verdeckt werden kann.
In der Schule werden die Gefahren der Übermüdung durch das
Einschieben von Erholungspausen zwischen die einzelnen Unter-
richtsabschnitte einigermaßen wieder ausgeglichen. Freilich ist die
Dauer dieser Pausen wahrscheinlich zu kurz bemessen, als daß sie
eine ausreichende Erholung bieten könnten, namentlich gegen Ende
des Tagesunterrichtes. Glücklicherweise gibt es ein Sicherheits-
ventil, welches verhindert, daß infolge der geistigen Überanstrengung
schwere Gefahren für das heranwachsende Geschlecht heraufgeführt
werden — das ist die Unaufmerksamkeit, die gerade dann
hilfreich eintritt, wenn die Anspannung notwendig zu einer Er-
holung drängt. Leider versagt dieses Ventil, sobald von dem Schüler
nicht bloß Stillsitzen, sondern wirkliche Arbeitsleistung gefordert
wird. Das ist der Fall einmal bei der Hausarbeit, die eben über-
wältigt werden muß, gleichgültig, ob sie dem Schüler viel oder
wenig Zeit kostet, ob er müde und erschöpft oder frisch ist. Sodann
aber ist es bekanntlich möglich, durch kräftigen Antrieb das Gefühl
der Müdigkeit zu unterdrücken und den Schüler zu einer Anspannung
seiner Kräfte zu veranlassen, die sonst durch das Schutzgefühl der
Müdigkeit unbedingt verhindert würde. Gerade die guten, tüchtigen
Lehrer können daher unter Umständen für ihre Schüler schädlich
werden, weil sie deren Aufmerksarnkeit auch dann noch zu fesseln
verstehen, wenn im Laufe der ausgedehnten Unterrichtsstunden die
Ermüdung schon lange das zulässige Maß überschritten hat.
Bei zu starker und andauernder Anspannung der Kräfte entwickelt
sich ein Zustand innerer Erregung, der auf das Gesamtbefinden
durchaus ungünstig einwirkt. Nicht nur der Schlaf wird oberflächlich
554
V. Behandlung des Irreseins.
und unruhig, sondern auch die Nahrungsaufnahme leidet, wie das
bekannte Schwinden der Eßlust bei Kindern vor den Schulstunden
zeigt. Mädchen mit ihren lebhafteren Gefühlen scheinen in dieser
Beziehung empfindlicher zu sein als Knaben, weil sie durchgängig
ehrgeiziger sind und mit größerer Spannung arbeiten. Namentlich
bei psychopathisch veranlagten Kindern kann der Zwang der Schule
auch eine dauernde Ängstlichkeit züchten, die zu immer größerer
freiwilliger Selbstbelastung mit Arbeit führt, wenn ihr nicht recht-
zeitig begegnet wird.
Die Tatsache, daß in jeder Klasse Schüler von ganz verschiedener
Veranlagung zusammensitzen, legt den Gedanken nach einer weiter-
gehenden Sonderung der einzelnen Gruppen nahe. Dadurch würde
einerseits den Begabteren und Leistungsfähigeren ein rascheres Fort-
schreiten ermöglicht, andererseits den leicht Ermüdbaren und
schwächer Veranlagten die übermäßige Anspannung der Kräfte er-
spart. Wenn auch die Wichtigkeit einer gewissen Gleichmäßigkeit
der Anforderungen für das Mitreißen der weniger Tüchtigen nicht
unterschätzt werden soll, dürften doch die Vorteile einer eingehen-
deren Berücksichtigung der einzelnen Persönlichkeiten für die
Schüler wie für den Unterrichtsbetrieb erheblich überwiegen.
Namentlich würden dabei auch jene Begabungen mehr zu ihrem
Rechte kommen können, deren Eigenart im Schulwissen sich durch-
aus nicht zu betätigen vermag. Durch die Einrichtung von beson-
deren Klassen für Unbefähigte ist übrigens in einer Reihe von
Städten schon ein erster Schritt in der Aussonderung der durch den
Unterrichtsbetrieb gefährdeten und zugleich diesen selbst hemmenden
Schüler getan.
Eine besondere Quälerei für das jugendliche Gehirn wird durch
die hochnotpeinlichen Prüfungen bewirkt. Hier gilt es nicht nur,
einen umfangreichen Gedächtnisstoff aus den verschiedensten
Wissensgebieten zu einer bestimmten Stunde verwendungsbereit zu
halten, sondern dazu kommt noch die gemütliche Erregung im Hin-
blicke auf einen möglichen Mißerfolg. Kein Wunder, daß noch nach
langen, langen Jahren das Schreckgespenst der Abschlußprüfung im
Traume wieder aufzutauchen pflegt. Diese Kraftprobe kann in den
Entwicklungsjahren für einzelne gewiß eine Gefahr bedeuten und
zum Anknüpfungspunkte für schwer sich ausgleichende Zustände
von Nervosität werden.
Vorbeugung.
Die Lösung der hier kurz angedeuteten Fragen kann nur durch
das planmäßige Zusammenwirken von Lehrer und Arzt erreicht
werden. Die Anstellung von Schulärzten^), mit der jetzt vielfach
begonnen worden ist, erscheint daher auch für die Vorbeugung des
Irreseins von Bedeutung. Vor allem wird der Schularzt imstande
sein, alle diejenigen Kinder, die nach ihrem körperlichen und geistigen
Zustande den Anforderungen der Schule nicht gewachsen sind, von
vornherein auszuscheiden oder doch der besonderen Berücksichtigung
zu empfehlen ; sie entgehen dadurch den Gefahren, welche die Durch-
führung der Schularbeit und der Schulzucht sonst für sie mit sich
bringen würde. Zugleich wird der Schularzt rechtzeitig die Behand-
lung solcher körperlicher Leiden veranlassen können, die leicht zu
geistiger Verkümmerung, Erschöpfung oder Erregbarkeitssteigerung
führen, Ohrenerkrankungen, Wucherungen im Nasenrachenraum,
Blutarmut, Bleichsucht, Menstruationsstörungen.
Es darf indessen nicht außer acht gelassen werden, daß ein er-
heblicher Teil der Schuld an der Entwicklung nervöser Störungen
das Haus trifft. Wir wollen hier absehen von dem Drucke der
Not, der schon die Kinder vielfach in das Erwerbsleben hinein-
zwingt, der sie unter entsetzlichen Wohnungsverhältnissen, ohne
Licht, Luft und Freiheit, ohne Berührung mit der Natur, unter
dem Einflüsse widriger Eindrücke, oft auch roher Mißhandlungen,
in Schmutz und Kälte, bei elender Ernährung aufwachsen läßt.
Die Beseitigung derartiger, die geistige und körperliche Gesund-
heit untergrabender Lebensbedingungen, die in der Großstadt
vor allem ihre verheerenden Wirkungen entfalten, reicht weit über
die engere Aufgabe einer Vorbeugung des Irreseins hinaus. Was
aber das Haus unbedingt müßte erreichen können, das ist die Fern-
haltung des Kindes vom Alkohol 2), der noch in erschreckendem
Umfange, sei es als Genußmittel, sei es als ärztlich verordnetes
,, Stärkungsmittel" der Schuljugend zugänglich gemacht wird. Die
mangelhaften Leistungen der Schüler am Montage, das Zurück-
bleiben der Kinder, denen die Gedankenlosigkeit der Eltern täglich
geistige Getränke reicht, sind die Folgen. Ferner ist auf die un-
genügende Berücksichtigung des sehr großen kindlichen Schlaf-
bedürfnisses hinzuweisen, auf die Unsitte, Kinder zu abendlichen
1) Weygandt, Münch, med. Wochenschr., 1900, 5.
2) Kraepelin, Alkohol und Jugend. 1902.
556
V. Behandlung des Irreseins.
Vergnügungen, oft sehr unpassender Art, mitzuschleppen, sie durch
unverhältnismäßige Anforderungen um jede Erholungszeit, jede
Möglichkeit freier Betätigung zu bringen, ihnen über ihre Kräfte
Nebenaufgaben aufzubürden, Nachhilfestunden, Musikunterricht mit
angestrengtem Üben, Eintrichtern fremder Sprachen. Auch aus-
gedehnte und anspruchsvolle ,, Geselligkeit" der Kinder kann mit
dazu beitragen, sie nervös und überreizt werden zu lassen. Das
Kind bedarf in noch weit höherem Maße als der Erwachsene ein-
facher, natürlicher Lebensbedingungen und freier Entfaltung seiner
persönlichen Kräfte und Fähigkeiten im ungezwungenen Spiele,
wenn es nicht zur kränkelnden, verbildeten Treibhauspflanze
werden soll.
Eine sehr wichtige Aufgabe bildet die Fürsorge für die schul-
entlassene Jugend, soweit sie selbständig in den Daseinskampf ge-
stellt wird. Nicht nur geistige und berufliche Fortbildung, sondern
vor allem auch Schutz vor Verführung muß, namentlich im Getriebe
der Großstädte, in viel umfassenderem Maße 'gewährleistet werden.
Fernhaltung von Alkohol und Syphilis erscheint durchaus als die
Hauptsache. Daneben wären alle Bestrebungen zu unterstützen, die
körperliche oder geistige Fortbildung und Erholung zum Ziele haben.
Wander-, Sport-, Gesangvereine, Volksheime, Unterhaltungs- und
Vortragsabende. Staat, Gesellschaft und Kirche sollten sich in dieser
Arbeit begegnen. Besonders schutzbedürftig sind natürlich die Minder-
wertigen und Schwachsinnigen, die Verwahrlosten und Waisen, die
Taubstummen und Blinden, die Stotterer und Krüppel. Ein großer
Teil von ihnen fällt dem geistigen Siechtume, dem Verbrechen oder
der Landstreicherei anheim, der bei rechtzeitiger Fürsorge vielleicht
gerettet werden könnte. Auch die Jugendgerichtshöfe können "hier
segensreich wirken, indem sie die gefährdete Jugend vor der ver-
derblichen Berührung mit Laster und Verkommenheit bewahren.
Durch rechtzeitige Benachrichtigung der Aushebungsbehörden wird
auch die Einstellung ungeeigneter Rekruten in den Militärdienst
verhindert werden können.
Erhöhte Aufmerksamkeit ist vor und in den Entwicklungsjahren
auf die Überwachung der geschlechtlichen Regungen zu richten.
Wenn auch für gesunde Kinder die Klippen dieser Zeit nicht allzu
gefährlich sind, gewinnt bei krankhafter Veranlagung das Geschlechts-
leben sehr oft einen unverhältnismäßig großen Spielraum. Die Be-
Vorbeugung.
gierden erwachen früh und bei geringfügigen Anlässen; sie beschäf-
tigen die Einbildung auf das lebhafteste und führen leicht zu leiden-
schaftlicher und hartnäckiger Masturbation, namentlich unter dem
Einflüsse der Verführung. Erziehungsanstalten, in denen sich gern
derartige Gewohnheiten ausbilden, sind daher für geschlechtlich er-
regbare Kinder eine entschiedene Gefahr. Sehr häufig wird auch
durch besondere geschlechtliche Erlebnisse in der Jugend bei psycho-
pathischen Kindern der Keim zu jenen mannigfaltigen Verirrungen
des Geschlechtstriebes gelegt, die wir früher geschildert haben. Ver-
nünftige, rechtzeitige Aufklärung, unbefangener Verkehr der Ge-
schlechter, Fernhaltung von schlechtem Umgang und schlüpfriger
Lektüre, planmäßige Erziehung zu reichlicher körperlicher Betäti-
gung sind die Mittel, die uns zur Bekämpfung aller dieser Gefahren
zu Gebote stehen.
Im späteren Leben fällt der Vorbeugung des Irreseins die doppelte
Aufgabe zu, einmal den einzelnen vor den nach seiner besonderen
Anlage drohenden Gefahren zu schützen, andererseits jene all-
gemeineren Ursachen zu bekämpfen, die erfahrungsgemäß bei der
Entstehung geistiger Erkrankungen eine hervorragende Rolle spielen.
Da die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit der Menschen überaus
ungleich verteilt ist, so wird es Sache des Arztes sein, unter sorg-
fältiger Abschätzung dieser beiden Eigenschaften die Wahl des
Berufes und die gesamte Lebensführung nach Möglichkeit zu
überwachen. Namentlich dort, wo eine krankhafte Veranlagung be-
steht, sind alle Berufsarten, welche die Gefahren geistiger oder ge-
mütlicher Überanstrengung, großer Verantwortlichkeit in sich
schließen, auf das entschiedenste zu widerraten. Hier passen nur
Beschäftigungen, die ein ruhiges, gleichmäßiges Leben ohne Auf-
regungen und Kämpfe, am besten mit reichlichem Aufenthalte im
Freien gestatten. In erhöhtem Maße gilt das für das weibliche
Geschlecht. Seiner ganzen Anlage nach auf die stille Betätigung
seiner gemütlichen Gaben angewiesen, verträgt es erfahrungsgemäß
das rücksichtslose Ringen im Wettbewerbe des Daseins schlecht,
und auch die Züchtung reiner Verstandesleistungen läßt seine edel-
sten Fähigkeiten verkümmern. Aus diesen Gründen stehen dem
Herandrängen der Frauen zu männlichen Berufen sehr ernste Be-
denken entgegen, wenn ihnen auch die Teilnahme an höherer Bil-
dung und eine bessere Ausrüstung für das Erwerbsleben zugestanden
558
V. Behandlung des Irreseins.
werden muß. Nur ausnahmsweise und nur bei vollkommen rüstiger
geistiger und körperlicher Gesundheit wird man vom ärztlichen
Standpunkte das leichter verletzliche Geschlecht den Anstrengungen
und Gefahren der männlichen Berufsarten sich aussetzen lassen.
Weiterhin muß bei gefährdeten Personen von vornherein auf die
Fernhaltung von Ausschweifungen und Verführungen, auf die Sorge
für ausreichende Erholung und Ernährung sowie für guten Schlaf
in besonderer Weise Bedacht genommen werden. Bei der Aus-
hebung zum Militärdienst sind sie in weitgehender Weise zu be-
rücksichtigen. Schwachsinnige, Epileptiker, Hysteriker vertragen
in der Regel den Druck des militärischen Dienstes ungemein schlecht
und treiben leicht in die schwersten Gefahren hinein. Andererseits
kann bei leichteren Abweichungen, bei etwas willensschwachen,
ängstlichen, bestimmbaren Naturen die militärische Erziehung
geradezu wohltätig wirken.
Die allgemeine Vorbeugung der Geisteskrankheiten bietet
zwar ebenfalls vielfache Angriffspunkte, aber zumeist sehr weit-
aussehende und über den Bereich der ärztlichen Tätigkeit hinaus-
gehende Aufgaben. Alle Maßregeln, welche die aufreibende Gewalt
des Daseinskampfes zu mildern, welche Not, Elend und Krankheit
zu lindern vermögen, dienen auch zugleich der Verhütung des Irre-
seins. Eine besondere ärztliche Wichtigkeit hat vor allem der Kampf
gegen Trunksucht und Syphilis, der gerade vom ärztlichen
Stande mit allen zu Gebote stehenden Mitteln geführt werden müßte.
Die Gleichgültigkeit, mit der die große Masse der Ärzte, der be-
rufenen Hüter der Volksgesundheit, den hier erwachsenden Auf-
gaben gegenübersteht, trägt einen wesentlichen Teil der Schuld an
dem namenlosen Unglück, das alljährlich durch Alkoholsiechtum,
Hirnsyphilis und Paralyse über unser Volk gebracht wird. Könnten
wir Trunksucht und Syphilis aus der Welt schaffen, so würden wir die
Zahl der Geisteskranken mindestens um ein Viertel, in den Groß-
städten um ein Drittel und noch mehr verringern. Leider aber tragen
wir Ärzte, abgesehen von Unterlassungssünden, auch noch unmittel-
bar zur Vermehrung des Irreseins bei. Die erschreckende Ausbreitung
des Morphinismus, des Cocainismus und anderer ähnlicher Ver-
giftungen, welche uns die letzten Jahrzehnte gebracht haben, ist
ausschließlich auf Rechnung des ärztlichen Standes zu setzen. Wir
haben jene Geißeln der Menschheit geflochten und geben sie ihr
Vorbeugung.
noch heute Tag für Tag in die Hand — wir haben daher auch die
bindende VerpfHchtung, alles zu tun, was in unseren Kräften steht,
um das von uns verschuldete Unheil wieder aus der Welt zu schaffen!
Eine weitere Aufgabe, zu deren Lösung wir Ärzte in erster Linie
beizutragen berufen sind, ist die Einrichtung und Fortbildung einer
schnell und umsichtig arbeitenden Irrenfürsorge, die nicht nur
die Übertragung der psychischen Entartung auf die Nachkommen-
schaft bis zu einem" gewissen Grade beschränken kann, sondern
sicherlich auch vielfach imstande ist, die Entwicklung schwerer Krank-
heitsformen durch rechtzeitiges Eingreifen zu verhüten. Ungeheures
geradezu hat das letzte Jahrhundert nach dieser Richtung hin ge-
leistet, aber es gibt doch noch immer genug und übergenug zu tun,
um dem unheimlich anwachsenden Bedürfnisse wenigstens einiger-
maßen gerecht zu werden. Verbreitung richtiger Vorstellungen über
Geisteskranke und Irrenanstalten^), verständige Hilfe bei der ersten
Fürsorge in Krankheitsfällen, rechtzeitige Erkennung der Gefahr,
Mitwirkung bei der Heranziehung geeigneter Kräfte zur Pflege
unserer Kranken — das alles sind Richtungen, in denen auch der-
jenige Arzt für die Verhütung und Bekämpfung des Irreseins eine
segensreiche Tätigkeit entfalten kann, der nicht die Behandlung
Geisteskranker zu seinem Lebensberufe gemacht hat 2).
Ganz besondere Aufgaben stellen der vorbeugenden Fürsorge
diejenigen, die in Gefahr sind, geistig zu erkranken, und diejenigen,
die es schon einmal waren. Für die ersteren gilt es, außerhalb des
Rahmens der eigentlichen Irrenanstalten Heilstätten zu schaffen,
in denen sie sachverständigen Rat und angemessene Behandlung
finden. Diesem Ziele dient die in lebhaftem Flusse befindliche Be-
wegung zur Errichtung von Nervenheilanstalten. Da ihnen
jede Freiheitsbeschränkung fehlt, werden sie nicht mit den Vor-
urteilen zu kämpfen haben, die dem Eintritte in eine Irrenanstalt
noch immer entgegenstehen. Es ist daher zu erwarten, daß die
neue Einrichtung wesentlich dazu dienen wird, den leichteren Formen
psychischer Erkrankung rechtzeitig Hilfe zu bringen und damit
der Entwicklung schwerer Störungen vorzubeugen. Dem Schutze
1) Fürstner, Wie ist die Fürsorge für Gemütskranke von Ärzten und Laien
zu fördern? 1899; Ilberg, Geisteskrankheiten. 1907.
2) Fuchs, Der Hausarzt als Psychiater, Volkmanns Vorträge, Innere
Medizin, 74.
56o
V. Behandlung des Irreseins.
der Entlassenen vor Rückfällen dienen dagegen die Hilfsvereine
für Geisteskranke, die mit ihnen Fühlung behalten, ihnen mit Rat
und Tat zur Seite stehen und auf diese Weise nach Möglichkeit die
Rückkehr in geordnete Lebensverhältnisse erleichtern. Es liegt auf
der Hand, daß durch dieses Eingreifen die Gefahr von Rückfällen
für die noch wenig widerstandsfähigen und hilfsbedürftigen Kranken
wesentlich vermindert werden kann.
Bei der großen Tragweite, die jede Geistesstörung nicht nur für
den Erkrankten selber, sondern für seine ganze Umgebung, seine
Gemeinde, seine Nachkommen besitzt, ist die Verhütung des Irre-
seins eine öffentliche Angelegenheit. Der Staat^) hat dringend-
sten Anlaß, den Kampf gegen die Geisteskrankheiten mit allen ihm
zu Gebote stehenden Machtmitteln aufzunehmen. Er allein ist auch
in der Lage, die großen Aufgaben erfolgreich in Angriff zu nehmen,
die dieser Kampf ihm stellt. Neben dem Bau und dem Betriebe von
Anstalten ist es ganz besonders die Ausbildung eines leistungsfähigen
und arbeitsfreudigen irrenärztlichen Standes, die ihm obliegt,
sodann die Förderung der psychiatrischen Wissenschaft,
ohne die das Werk niemals gedeihen kann, endlich die Ausbreitung
von Kenntnissen in der Seelenheilkunde bei den von ihm ausgebildeten
beamteten und praktischen Ärzten durch klinischen Unterricht
und Fortbildungskurse. Großes ist nach allen diesen Richtungen
hin schon erreicht worden; vieles aber bleibt noch von der Zukunft
zu fordern und zu erhoffen.
B. Körperliche Behandlung.
Arzneimittel. Unter den Arzneimitteln sind es besonders die
Narkotica, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung eine hervor-
ragende Stelle in dem Heilapparate der Geistesstörungen einnehmen.
Seit alter Zeit ist das Opium im Gebrauch. Es wirkt auf gewisse
Verrichtungen unseres Großhirns lähmend, besonders, wie es scheint,
bei ungenügender Blutzufuhr zu demselben. Eine genaue Kenntnis
seines Einflusses auf die verschiedenen psychischen Leistungen fehlt
bisher noch. Wie die Erfahrung lehrt, sind Aufregungen, vor allem
Angstzustände oder solche, die durch schmerzhafte Reizungen er-
1) Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staates. 1900.
Arzneimittel.
zeugt oder unterhalten werden (Neuralgien, krankhafte Empfin-
düngen, Präkordialangst), seiner Einwirkung am meisten zugäng-
lich; hier wird (durch nicht zu kleine Gaben) Beruhigung und mittel-
bar Schlaf erzielt. Nicht am Platze ist das Opium bei starken Stau-
ungen im Gehirn (andauerndes hohes Fieber), großer körperlicher
Hinfälligkeit und namentlich Herzschwäche. Als unangenehme
Nebenwirkungen sind die Verdauungsstörungen (Appetitlosigkeit,
hartnäckige Verstopfung) zu beachten. Meist wird das Opium von
Geisteskranken gut vertragen. Es gibt jedoch Fälle, in denen
bei sehr hohen Opiumgaben die ängstlichen Aufregungszustände
schlimmer werden; Vorsicht ist also unter allen Umständen geraten.
Das gebräuchliche Präparat ist Tinctura Opii simplex innerlich
(oder eine Lösung von Extr. Opii aquos. i : 20 subcutan, zur Ver-
meidung von Abscessen oft frisch zu bereiten), bei planmäßiger An-
wendung in steigender Gabe von 10—20 Tropfen (0,05—0,1 Ex-
trakt) 2 — 3 mal täglich, bis zum Doppelten oder selbst Dreifachen,
wenn nicht schon früher die erstrebte Beruhigung eintritt; später
allmähliches Heruntergehen. Man griff früher bisweilen zu noch
wesentlich höheren Gaben, ist aber wohl allgemein davon zurück-
gekommen.
Wegen der größeren Gleichmäßigkeit der Wirkung, der sichereren
Abmessung und der bequemeren (subcutanen) Handhabung ist an
Stelle des Opiums vielfach das Morphium getreten, das im übrigen
wesentlich dieselben Vorzüge und Nachteile besitzt. Das Morphium
erzeugt in mäßigen Gaben wesentlich eine Herabsetzung der zen-
tralen Schmerzempfindlichkeit sowie eine Lähmung des Willens bei
gleichzeitiger Erleichterung des Vorstellungsverlaufes. Es bewirkt
an sich nicht Schlaf, sondern nur Beruhigung; bei dauerndem Miß-
brauche stellt es vorübergehend die verloren gegangene geistige
Frische und Leistungsfähigkeit wieder her.
Die Morphiumbehandlung ist ebenfalls zu einer planmäßigen
Kur ausgebildet worden, die besonders bei Angstzuständen mit Miß-
empfindungen oder Schmerzen bisweilen gute Dienste zu leisten
scheint. Unser Bestreben muß indessen durchaus dahin gehen, den
Gebrauch des Morphiums soweit wie nur irgend möglich einzu-
schränken. Abgesehen davon, daß bei einzelnen Kranken, nament-
lich bei Frauen, schon auf sehr kleine Gaben Morphium (0,01 und
weniger) recht unangenehme Störungen (Erbrechen, Aufregung,
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 36
562
V. Behandlung des Irreseins.
Ohnmächten, Harnverhaltung) auftreten, und daß bei Anwendung
größerer Mengen auch nach Stunden noch unvermutet schwere,
selbst tötlich ausgehende Vergiftungserscheinungen sich einstellen
können, ist vor allem an die kaum hoch genug anzuschlagende,
schwere Gefahr des chronischen Morphinismus zu erinnern, die
namentlich bei chronischen Krankheitszuständen droht und uns
später noch eingehend beschäftigen wird.
Von den näheren Verwandten des Morphiums sind noch das
Dionin, Codein und Peronin^) für psychiatrische Zwecke emp-
fohlen worden. Sie sollen ähnlich, aber schwächer wirken als das
Morphium, und selbst bei längerem Gebrauche nicht die schwere
Allgemeinerkrankung erzeugen wie jenes. Im wesentlichen handelt
es sich um minderwertige Ersatzmittel des Morphiums, für deren
Anwendung bei uns kaum Anlaß vorliegen dürfte.
Dagegen können wir als ein für die irrenärztliche Behandlung
recht wertvolles Mittel das von Gnauck^) zuerst bei Geisteskranken
angewandte Hyoscin (Ladenburg) bezeichnen. Dieses Alkaloid
(Chlor-, Brom- oder Jodverbindung) erzeugt in subcutaner Gabe
von 0,0005 — 0,001 g mit nicht übertroffener Sicherheit einen nach
IG — 15 Minuten eintretenden tiefen Schlaf. Bei innerlicher An-
wendung, die wegen der völligen Geschmacklosigkeit des Mittels
keine Schwierigkeiten hat, kann die Gabe auf das Doppelte steigen.
Die Nebenerscheinungen sollen dabei schwächer ausfallen, als bei
der Einspritzung unter die Haut.
Die Vergiftung wird eingeleitet durch Eingenommenheit des
Kopfes, Trockenheit im Halse, Schwere der Zunge, Unsicherheit
beim Gehen und eine mehrere Tage, selbst Wochen lang an-
dauernde hochgradige Pupillenerweiterung. Bei größeren Gaben
scheinen Übelkeit, widrige Geschmacks- und Geruchsempfindungen,
Unregelmäßigkeit des Pulses, Atmungsbehinderung, Gesichtstäu-
schungen, selbst Delirien und CoUapszustände auftreten zu können,
1) Fischer, Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte. 1888, 19; Winternitz,
Monatsschr. f. Psychiatrie, VII, 38, 1900; Meitzer, Therap. Monatsschr., 1898,
Juni; Ransohoff, Psychiatrische Wochenschr., 1899, 20.
2) Gnauck, Charite-Annalen, VII; Sohrt, Pharmakotherapeutische Studien
über das Hyoscin. Diss. 1886; Konrad, Centralbl. f. Psychiatrie, 1888, 18; Klinke
ebenda, 1889, 7; Dornblüth, Therap. Monatsh., 1889, 8, 361; Serger, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII, 308; Bumke, Monatsschr. f. Psychiatrie, XIII,
62, 1903.
Arzneimittel.
doch haben hier vielleicht gelegentlich Verunreinigungen eine ge-
wisse Rolle gespielt. Ich selbst konnte wenigstens niemals bedroh-
lichere Erscheinungen beobachten, obgleich ich wegen ungünstiger
äußerer Verhältnisse das Mittel durch eine Reihe von Jahren überaus
häufig habe in Anwendung ziehen müssen. Nur besteht nach dem
Erwachen gewöhnlich das Gefühl von Abgeschlagenheit und ein
leichter Druck im Kopfe, der sich meist bald verliert. Das Hyoscin
ist demnach ein unangenehm, aber äußerst kräftig wirkendes Mittel,
welches überall dort, wo die dringende Notwendigkeit besteht, rasch
Beruhigung und Schlaf zu verschaffen, zuverlässig und meist ohne
erhebliche Nachteile seine Wirkung tut. Schwere tobsüchtige oder
deliriöse Erregungszustände bei manisch-depressivem Irresein, Para-
lyse, Epilepsie, Katatonie kommen hauptsächlich in Betracht.
Gegen die Angst leistet das Hyoscin nichts. Dagegen scheint hier
bisweilen eine Verbindung kleiner Gaben von Hyoscin mit Morphium
gute Dienste zu tun. Bei längerem Gebrauche tritt allmählich eine
gewisse Gewöhnung ein, die zu langsamer Erhöhung der Gabe führt.
Länger dauernde Schädigungen scheinen sich in der Regel nicht
herauszustellen; ebensowenig führt das Aussetzen des Mittels zu
Entziehungserscheinungen. Da aber auf der anderen Seite auch
keine dauernde Beruhigung erzielt wird, sondern nach dem Ver-
schwinden der Ermattung die Aufregung in alter Weise wiederzu-
kehren pflegt, so dürfte sich das Hyoscin wegen seiner gewaltigen
Wirkung nur für die gelegentliche, wurfweise Anwendung eignen.
Ferner wird man gut tun, bei sehr heruntergekommenen Kranken
und beim Bestehen von Kreislaufsstörungen das Mittel zu vermeiden
oder doch mit größter Vorsicht zu handhaben.
Zum Ersatz des Hyoscins ist mehrfach das Duboisinum
sulfuricum^) empfohlen worden, da es weniger gefährlich sei.
Es wird in Gaben von 0,5 — 2 mg unter die Haut gespritzt, scheint
ziemlich sicher zu wirken, aber nach den vorliegenden Berichten
doch nicht so ganz harmlos zu sein. Ein wesentlicher Vorteil vor
dem gut erprobten Hyoscin läßt sich bisher nicht erkennen. Das
Scopolamin scheint mit dem Hyoscin ganz oder nahezu identisch
zu sein.
1) Ostermeyer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII, 278; Preininger,
ebenda, XLVIII, 134; Belmondo, Rivista sperimentale di freniatria, XVIII, 154,
1892; Skeen, Journal of mental science, 1897, July.
36»
2 04 ^- Behandlung des Irreseins.
Über das Haschisch sind nur wenige verwertbare Beobach-
tungen bekannt geworden, ein Umstand, der seinen Grund haupt-
sächlich in der Unsicherheit und Verschiedenheit der zugängUchen
Präparate haben dürfte. Von seinen Bestandteilen hat das Canna-
binon^) noch am meisten Verwendung gefunden, wird aber wegen
Unsicherheit und unangenehmen Nebenerscheinungen wenig mehr
gebraucht. Auch dem Pellotin (0,02 — 0,04 g), einem Alkaloid
aus gewissen Kaktusarten, das Schlaf, aber auch Schwindelerschei-
nungen erzeugt, scheinen keine nennenswerten Vorzüge eigen
zu sein.
Eine zweite Gruppe von Arzneimitteln, die in der Behandlung
des Irreseins hervorragende Wichtigkeit erlangt haben, ist diejenige
der eigentlichen Schlafmitte F). Schon 1869 wurde von Lieb-
reich das Chloralhydrat^) empfohlen, das mit großer Sicherheit
in Gaben von 2 — 3 g, meist ohne andere Nachwehen als eine ge-
wisse Benommenheit des Kopfes, einen länger dauernden, ruhigen
Schlaf herbeiführt. Da es ebensowenig wie die übrigen Schlafmittel
Schmerzen stillt, so hat man es bisweilen mit Morphium verbunden.
Wegen seiner ätzenden Eigenschaften und seines unangenehmen
Geschmackes gibt man das Chloralhydrat in stark verdünnter,
schleimiger Lösung als Klysma, oder innerlich unter Zusatz von
Aqua Menthae piperitae, Syrupus Liquiritiae oder Corticum Aurantii.
Seine Anwendung findet es bei schwerer Schlaflosigkeit in den ver-
schiedensten Formen des Irreseins. Leider pflegt sich bei längerem
Gebrauche nach und nach eine wachsende Unempfindlichkeit gegen
das Mittel einzustellen, die zur Darreichung höherer Gaben verführt.
Nach dieser Richtung hin ist indessen große Vorsicht geboten, da
die fortgesetzte Anwendung des Chloralhydrats Kräfteverfall, Ver-
dauungsstörungen und Gefäßlähmungen nach sich zieht. Das
häufigste Zeichen der chronischen Chloralvergiftung ist der sog.
,,Rash", eine namentlich beim Genüsse von Alkohol oder heißen
Flüssigkeiten auftretende fliegende Röte und Hitze mit starker
1) Richter, Neurol. Centralbl., III, 21; IV, i.
2) V. Krafft - Ebing, Wiener klin. Wochenschr., 1890, 2 u. 3; Ehrcke,
Psychiatrisch-neurolog. Wochenschr., 1906, 46; Wür Schmidt, Zeitschr. f. ärztl.
Fortbildung, 1908, 240; Ziehen, Deutsche med. Wochenschr., 1908, 14; Bachem,
Unsere Schlafmittel. 1909.
3) Liebreich, Das Chloralhydrat, 3. Auflage. 1871; Schüle, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, XXVIII, i; Arch. f. Psychiatrie, V, 271; Arndt, ebenda, III, 673.
Arznetmittel.
565
Pulsation, besonders am Kopfe und Halse; ferner hat man Haut-
ausschläge, Neigung zu Ödemen und Druckbrand, endlich Zustände
von dauernder stumpfer Benommenheit infolge des Chloralmiß-
brauches beobachtet, die erst nach dem Aussetzen des Mittels lang-
sam wieder schwinden. Gefährlich und darum gänzlich zu
vermeiden ist die Anwendung des Chloralhydrats bei Herz- und
Gefäßerkrankungen (Fettherz, Myokarditis, Klappenfehler, Arterio-
sklerose) ; schon nach 5 g wurden plötzliche Todesfälle gesehen.
Einen weniger gefährlichen Ersatz für das Chloralhydrat bietet
das Chloralf ormamid (i — 4 g), dessen Wirkung jedoch auch
schwächer ist.
Dem Chloralhydrat verwandt durch ihren Halogengehalt sind
eine Reihe von neuen Schlafmitteln, von denen das Isopral, das
Neuronal und das Bromural weitere Verwendung gefunden
haben. Das Isopral^) (0,5 — 1,0 g in Mixtur, auch als Klysma oder
in Form eines Öl-Alkoholgemisches zu i — 5 gr in die Haut einge-
rieben) ist flüchtig, wirkt ziemlich rasch, aber weniger stark als
das Chloralhydrat. Es hat die gewöhnlichen Nebenwirkungen fast
aller Schlafmittel, daß es neben Belästigungen des Magens gelegent-
lich Eingenommenheit des Kopfes und Schwere in den Gliedern er-
zeugt, scheint aber außerdem bei Herzkranken nicht unbedenklich
zu sein. Das Neuronal^) (Bromdiäthylacetamid) wird zu 0,5 — 2,0 g
in Pulver oder warmer Lösung gegeben, hat einen unangenehm
brennenden Geschmack und anscheinend ganz ähnliche Wirkungen
wie das Isopral. Weniger zuverlässig ist das Bromural (0,3 — 0,9 g
in warmer Lösung).
Eine zweite Gruppe von Schlafmitteln ist durch ihren Alkylgehalt
gekennzeichnet. Hierher gehört zunächst das von v. Mering zuerst
empfohlene Amylenhydrat^) (2—5 g). Es wird von besonnenen
Kranken wegen seines unangenehmen Geschmackes nicht gern ge-
1) Impens, Therap. Monatsh., 1903, 9 u. 10; Ransohof, Psychiatrisch-
neurolog. Wochenschr., 1903, 520; Urstein, Therapie der Gegenwart, 1904, 2;
Muthmann, Münch, med. Wochenschr., 1904, 32.
2) Fuchs und Schultze, Münch, med. Wochenschr., 1904, 25; Siebert,
Psychiatrisch-neurolog. Wochenschr., 1904, 109; Wickel, ebenda, 1906, 190;
Bresler, ebenda, 1905, 172; Weifenbach, Centralbl. f. Nervenheilk., 1905, 89,
3) V. Mering, Therap. Monatshefte, 1887,7; Friedländer, ebenda, 1893, 7;
Lehmann, Neurolog. Centralbl. 1887, 474; Schlöss, Jahrb. f. Psychiatrie, VIII,
211; Avellis, Deutsche Med. Wochenschr. 1888, i.
566
V. Behandlung des Irreseins.
nommen, zeigt auch keine sehr rasche und zuverlässige Wirkung,
hat sich aber bei der Behandlung schwerer Krampfzustände, wo es
in schleimigem Klysma gegeben wird, gut bewährt.
Eine Verbindung von Amylenhydrat und Chloralhydrat hat
Fuchs unter dem Namen „Dormiol''^) in den Handel gebracht.
Das Mittel, das ähnlich schmeckt wie Amylenhydrat, wird zu 0,5 — 2
oder 3 g gegeben, in 50 prozentiger Lösung oder besser in Kapseln,
auch im Klysma. Die Wirkung tritt meist nach V2 bis i Stunde
ein und scheint im ganzen befriedigend zu sein. Besondere Nach-
teile des Mittels sind bisher nicht bekannt geworden.
Größere Verbreitung hat das von Kast eingeführte Sulfonal-)
gefunden. Das Mittel ist geruchlos, fast geschmacklos und beein-
trächtigt die Verdauung erst bei längerem Gebrauche. Dagegen
wird es wegen seiner Schwerlöslichkeit verhältnismäßig langsam
aufgesogen und wirkt darum nach", so daß große Müdigkeit und
Schwäche in den Beinen am folgenden Tage nicht seltene Erschei-
nungen sind. Diese Nachwirkung, die bisweilen noch in der nächsten
Nacht Schlaf bringt, kann unter Umständen, bei dauernd erregten
Kranken, die man an die Bettruhe gewöhnen will, geradezu er-
wünscht sein. Bei fortgesetzten hohen Gaben tritt nach anfänglich
sehr geringer Wirkung bisweilen plötzlich tagelange Schlafsucht auf,
wahrscheinlich durch raschere Lösung angesammelter Mengen des
Mittels; es sind auch schon eine Reihe von Todesfällen nach ein-
maliger wie nach fortgesetzter Darreichung bekannt. Es kommt
dabei zu Magen- und Darmblutungen, Verfettung von Herz, Leber
und Nieren, namentlich aber zu einer schweren chronischen Blut-
zersetzung. Große Schläfrigkeit, Ohrensausen, Unsicherheit der
Bewegungen, Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle und besonders
Rotfärbung des Harns durch Hämatoporphyrin^) sind wichtige
Warnungszeichen. Es erscheint daher dringend geraten, das Sul-
1) Wederhake, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVIII, 778; Schultze,
Neurol. Centralbl., 1900, 249; Meitzer, Psychiatrische Wochenschr., 1902, 50.
2) Kast, Berl. klin. Wochenschr., 1888, 16; Therap. Monatsh., 1888, Juli;
Gramer, Münch, med. Wochenschr., 1888, 24; Therap. Monatsh., 1888, 8; ebenda,
1888, 24; Otto, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLV, 399; Vorster, ebenda, XL VII,
29; Schedtler, ebenda, L, 465.
■■') Schulz, Neurol. Centralbl., 1896, 866; Stokvis, Zeitschr. f. klinische
Medizin, XXVIII, i; Hoppe -Seyler u. Ritter, Münch, med. Wochenschr.,
XLIV, 14; Frankel, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIX, 953.
Arzneimittel. gßy
fonal, namentlich bei Verstopfung, niemals längere Zeit hinterein-
ander und nicht in Gaben über 2 g in Anwendung zu bringen. Am
besten gibt man das Mittel i — 2 Stunden vor dem Schlafengehen in
größeren Mengen heißer Flüssigkeit (Tee, Suppe) gelöst.
Vor dem Sulfonal hat das Trional^) den Vorzug etwas leich-
terer Löslichkeit. Es wirkt daher schneller und nicht so lange nach,
doch läßt sich sein Einfluß durch feinere Messungen am Abende
des nächsten Tages noch deutlich nachweisen. Die psychischen
Wirkungen des Trionals bestehen wesentlich in einer bedeutenden
Erschwerung der Auffassung und in einer Störung der Bewegungs-
antriebe, während die Vorstellungsverbindungen und die Muskel-
kraft nicht beeinflußt werden. Vielleicht haben wir in der ange-
führten Verbindung von Wirkungen eine gemeinsame Eigentümlich-
keit der Schlafmittel überhaupt vor uns; manche Erfahrungen bei
den schon genauer untersuchten Mitteln würden dafür sprechen,
ebenso die Tatsache, daß auch das beste Schlafmittel, die Ermüdung
selbst, die Auffassung wie die Auslösung von Bewegungsantrieben
erschwert. Der Blutdruck wird durch das Trional herabgesetzt.
Die Wirkung des Mittels ist in Gaben von i — 2 g (in heißer Milch
oder warmem Rotwein) eine recht sichere. Die unangenehmen
Folgeerscheinungen sind verhältnismäßig geringe, doch scheinen
nicht nur Belästigungen des Magens und Darms, sondern in ver-
einzelten Fällen auch ernstere Vergiftungen^) vorzukommen, über
deren Zeichen (Ataxie, Zittern, Unbesinnlichkeit, Depression, Reiz-
barkeit, Blutzersetzung) allerdings noch wenig bekannt ist. Diese
Gefahr ist jedenfalls bei der von Wolff vorgeschlagenen plan-
mäßigen Herbeiführung eines Trionaldauerschlafes (anfangs 2 — 3,
dann 0,5 — 1,0 g täglich) zur Behandlung von Aufregungszuständen
ernstlich ins Auge zu fassen.
Weit weniger Beifall, als die letztgenannten Mittel, haben das
Tetronal und das schwach wirkende Urethan, ferner das leidlich
brauchbare, aber schlecht schmeckende HedonaP) (1—4 g in
1) Schäfer, Berl. klin. Wochenschr., 1892,29; Schultze, Therap. Monatsh.,
1891, Oktober; Hänel, Psychologische Arbeiten, II, 326; v. Mering, Therap.
Monatsh., 1896, August; Kornfeld, Wiener med. Blätter, 1898, i.
2) Gierlich, Neurol. Centralbl., 1896, 770; Vogel, Berl. klin. Wochenschr.,
1899, 40; Fischer, Trionalgebrauch und rationelle Verwendung der Schlafmittel.
1901; Probst, Monatsschr. f. Psychiatrie, XIV, 113.
3) Müller, Münch, med. Wochenschr., 1901, 10.
568
V. Behandlung des Irreseins.
Oblaten oder heißer Milch) gefunden. Dagegen hat sich die Diäthyl-
barbitursäure unter dem Namen Veronali) (auch „Malonal") rasch
Eingang verschafft. Das Mittel wurde von Fischer und v. M er ing
eingeführt und bewirkt in Gaben von o, 3—1,0 g in heißer Lösung
nach I — 1V2 Stunden ziemlich sicher einen ruhigen Schlaf, dem nur
ausnahmsweise unangenehme Nachwehen, Kopfdruck, Schwindel-
gefühl, Unsicherheit der Bewegungen, folgen. Bei höheren Gaben
(6, 8, IG g) wurden Todesfälle beobachtet, die unter den Erschei-
nungen schwerer Benommenheit mit vorübergehender Erregung,
Doppeltsehen, Ataxie, Erbrechen und Harnverhaltung eintraten.
Aber auch bei längerem Gebrauche des Mittels kann es zu ernsten
Vergiftungserscheinungen kommen. Es scheint eine Dauerwirkung
stattzufinden (Veronalismus) mit Schlafsucht, Unsicherheit, Be-
nommenheit, Hautausschlägen, Verminderung der Harnmenge und
Auftreten von Blutfarbstoff im Harn. Das Mittel darf daher nicht
lange Zeit hindurch ohne Unterbrechung weiter gegeben werden.
Ein leicht lösliches Präparat, das auch eingespritzt werden kann, bil-
det das Veronal-Natrium. Dem Veronal schließt sich das ebenfalls
von V. M er ing empfohlene Proponal^), die Dipropylbarbitur
säure, an, die in Gaben von 0,15 — nicht über 0,5 g schnell,
aber weniger sicher, doch anscheinend ohne schwerere Neben-
wirkungen, Schlaf erzeugt.
Trotz der großen Zahl von neuen Schlafmitteln, die uns die
letzten beiden Jahrzehnte gebracht haben, muß als eines der aller-
wertvollsten noch immer das von Cervello und Morselli empfoh-
lene Paraldehyd^) bezeichnet werden. Das Mittel bewirkt in
mittleren Gaben von 5 g, die man ohne Bedenken auf das Doppelte
und selbst Dreifache steigern kann, schon nach 10 — 12 Minuten
1) Fischer u. v. Mering, Therapie der Gegenwart, 1903, 3; Kress, Therap.
Monatsh., 1905, September; Luther, Psychiatrisch-neurolog. Wochenschr., 1903,
293; Richter u. Steiner, ebenda, 1903, 545; van Husen, ebenda, 1904, 57;
Mendel u. Krön, Deutsche med. Wochenschr., 1903, 34; Michel u. Rai mann.
Die Heilkunde, 1904, Januar; Spiel meyer, Centralbl. f. Nervenheilk., 1903, 513.
2) Fischer u. v. Mering, Medizin. Klinik, 1905, 1327; Mörchen, Münch,
med. Wochenschr., 1906, 17; Bresler, Psychiatrisch-neurolog. Wochenschr.,
1906, 45.
3) Morselli, Gazetta degli ospedali, 1883, 4, 5, 6; Referat im Neurol. Centralbl.,
n, 9; Gugl, Zeitschr. f. Therapie, 1883; v. Kraf f t - E bing, ebenda, 1887, 7;
Rai mann, Wiener klin. Rundschau, 1899, 19—21; Bumke, Monatsschr. f.
Psychiatrie, XII, 489, 1902.
Arzneimittel.
sehr regelmäßig einen tiefen, ruhigen, dem natürhchen durchaus
gleichenden, mehrstündigen Schlaf. Die Müdigkeit tritt mit fast
unwiderstehlicher Gewalt ein, geht aber, wenn äußere Störungen,
Schmerzen u. dgl. vorhanden sind, rasch wieder vorüber, so daß
wesenthch das Einschlafen, weniger der spätere Schlaf unter dem
Einflüsse des Mittels steht. Unangenehme Nachwirkungen, Ein-
genommenheit des Kopfes sind hier äußerst selten, wirkliche Ge-
fahren anscheinend ausgeschlossen, da 50, ja selbst 105 g des
Mittels bereits ohne schädliche Folgen genommen wurden. Muß
demnach das Paraldehyd als ein überaus wertvolles Schlafmittel
bezeichnet werden, so hat es den recht störenden Nachteil eines
sehr widerHchen, kaum zu verdeckenden Geschmackes und Ge-
ruches, der wegen der Ausscheidung durch die Lungen noch 12—24
Stunden nach dem Einnehmen zurückbleibt. Die verhältnismäßig
angenehmste Form der Darreichung ist die Vermischung mit Wein
oder mit einer aromatischen Tinktur, Sirup und Wasser (Um-
schütteln!). In sehr vereinzelten Fällen wird es übrigens vom
Magen in jeder Form zurückgewiesen; man wird dann allenfalls
die Verabfolgung im Klysma (in Ölemulsion) oder als Stuhlzäpfchen
(mit 20% Paraffin im Wasserbade vereinigt) versuchen können.
Bei längerem Gebrauche kann der Appetit leiden; auch ist mit der
Gefahr des früher erwähnten Paraldehyddeliriums zu rechnen.
Als eines sehr milden, in gesunden wie krankhaften Zuständen
häufig genug in Anwendung gezogenen Schlafmittels haben wir
endlich noch des Alkohols zu gedenken. In nicht zu kleinen,
beim einzelnen natürlich sehr verschiedenen Gaben (etwa 40 — 60 g)
erzielt er dort, wo die Schlaflosigkeit durch erhöhte Reizbarkeit und
Übermüdung des Gehirns bedingt wird, nicht selten recht befriedi-
gende Erfolge. Auch bei Zuständen innerer Spannung und Nieder-
geschlagenheit werden die erleichternden und beruhigenden Wir-
kungen des Alkohols den Eintritt des Schlafes zu unterstützen ge-
eignet sein. Bei hysterischer, neurasthenischer, bisweilen auch bei
der Schlaflosigkeit des Greisenalters wäre daher ein Versuch mit
diesem Mittel am Platze, wenn nicht die große Gefahr einer dauern-
den Gewöhnung bestände. Man wird am besten nicht die Form
eines gebräuchlichen Getränkes, sondern eine Mixtur wählen.
Gute Dienste leistet der Alkohol bisweilen in verwirrten Erregungs-
zuständen, die mit Nahrungsverweigerung, schwerer Unruhe und
570
V. Behandlung des Irreseins.
schwachem Pulse einhergehen. Hier passen stärkere Lösungen,
wenn nötig, als Zusatz zur künstlichen Fütterung.
Sehr heftige, allen anderen Mitteln widerstehende Aufregungs-
zustände, die aus irgendeinem Grunde (Verletzungen, Notwendig-
keit eines Eingriffes u. dgl.) rasche Beruhigung verlangen, können
gelegentlich auch zur Anwendung des Chloroforms führen.
Schwächere, nervöse Personen, Hysterische, Trinker sind jedoch
davon ausgeschlossen, weil bei ihnen der Zweck einer Beruhigung
nicht erreicht zu werden pflegt und die Betäubung nicht selten ge-
fährlich ist. Weniger bedenklich, aber auch weniger wirksam ist
der Äther. Eine planmäßige Anwendung dieses Mittels bei erregten
Kranken ist zwecklos, da die erzielte Beruhigung die eigentliche
Betäubung kaum zu überdauern pflegt.
Eine letzte Gruppe das Gehirn unmittelbar beeinflussender Arznei-
mittel wird durch die Bromsalze (Bromkalium, -natrium, -ammo-
nium, -rubidium, -Strontium) gebildet. Die eigentliche Wirkungs-
weise derselben ist noch recht dunkel. Umfassende, bei uns aus-
geführte Versuche^) haben gelehrt, daß der Einfluß des Broms auf
psychische Vorgänge jedenfalls ein ungemein scharf abgegrenzter
ist. Entgegen der von mir gehegten Erwartung scheint der Vor-
stellungsverlauf wenig, die Auslösung von Willenshandlungen gar
nicht beeinflußt zu werden, ebensowenig der Ablauf von Muskel-
arbeit. Dagegen wird die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses ent-
schieden herabgesetzt. Vor allem aber wurden innere Spannungs-
zustände gemildert oder beseitigt, die im Versuche absichtlich er-
zeugt worden waren. An diesem Punkte scheint die noch näher
aufzuklärende psychische Hauptwirkung des Broms zu liegen. Mit
diesem Ergebnisse steht auch in allgemeiner Übereinstimmung die
Erfahrung, daß die Bromsalze namentlich auf dem Gebiete der
Epilepsie und Neurasthenie sehr wertvolle Dienste leisten. Bei
der Epilepsie wirken sie allerdings in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle nur während der Dauer ihrer Anwendung, indem sie die
Zahl und Stärke der Anfälle verringern; mit dem Aussetzen des
Mittels pflegt die Krankheit in der früheren Heftigkeit, bisweilen
sogar in verstärktem Maße, wieder hervorzutreten. Der Erfolg wird
öfters mit der Sicherheit des wissenschaftlichen Versuches erreicht;
1) Löwald, Psychologische Arbeiten I, 489.
Arzneimittel.
verhältnismäßig selten bleibt das Leiden gänzlich unbeeinflußt.
Außerdem gibt es indessen, wie ich wiederholt erfahren, auch ver-
einzelte Fälle, in denen eine sehr entschiedene und sogar gefahr-
drohende Verschlimmerung und Häufung der Anfälle sich einstellt;
schon aus diesem Grunde sollte die Anwendung der Mittel nicht
ohne dauernde ärztliche Überwachung durchgeführt werden.
Sehr ausgedehnte Anwendung finden die Bromsalze ferner bei
jenen mannigfachen Zuständen, die unter dem Namen der Neur-
asthenie zusammengefaßt zu werden pflegen, und bei der sie oft
begleitenden „nervösen" Schlaflosigkeit; die Beseitigung der
inneren Spannung genügt hier oft, um eine dauernde Beruhigung
und Erholung zustande kommen zu lassen. In Verbindung mit
Opium leistet das Brom auch bei leichteren Depressionszuständen
mit innerer Unruhe gute Dienste. Man gibt die einzelnen Salze oder
die drei erstgenannten in gleichem Verhältnisse gemischt (Erlen-
meyersches Gemisch) entweder als Schlafmittel in einmaliger voller
Gabe (3 — 6 g) oder aber planmäßig steigend und wieder fallend zu
2 — 6 g täglich (Pulver in Oblaten oder Lösung). Eine sehr be-
queme, den stark salzigen Geschmack verdeckende Form der An-
wendung haben wir in dem kohlensauren Bromwasser ge-
wonnen, welches gewöhnlich in einer Flasche 10 g Bromsalz ent-
hält. Wo die Anfälle zu bestimmten Zeiten (Menses) hervorzu-
treten pflegen, wird man zweckmäßig die höchsten Gaben gerade
in diesen Abschnitt fallen lassen, um während der Zwischenpausen
herunterzugehen und womöglich ganz auszusetzen (intermittierende
Anwendung). Größere Gaben der Bromsalze können nämlich bei
längerer, ununterbrochener Anwendung schwere Gehirnerschei-
nungen hervorrufen (Abnahme des Gedächtnisses, Schlafsucht, Un-
sicherheit der Bewegungen, Stumpfheit). Das Auftreten von Akne-
knötchen und Furunkeln, Schwinden der Schleimhautreflexe sowie
starker foetor ex ore gibt das Zeichen zur Unterbrechung; sonst
folgen Verdauungsstörungen, fortschreitende Abmagerung, Bronchi-
tis und allmählich die übrigen Erscheinungen des Bromismus.
Allerdings hat Fere von Kranken berichtet, die seit Jahren täglich
nicht weniger als 16 — 21 g Brom zu sich nehmen; auf diese Weise
sollen sogar besondere Heilerfolge erzielt worden sein. Ich würde
ein derartiges Vorgehen keinesfalls verantworten mögen; vielmehr
bin ich der Ansicht, daß auch der Gebrauch mittlerer und kleinerer
572
V. Behandlung des Irreseins.
Gaben nicht länger als einige Monate lang ohne Unterbrechung fort-
gesetzt werden sollte.
Neuerdings ist statt der gebräuchlichen Bromsalze das Brom-
äthylformin („Bromalin") und das Bromsesamöl („Bromipin")
empfohlen worden, welche weder Furunkel erzeugen noch die Ver-
dauungsorgane schädigen sollen. Die Gabe ist dort die doppelte,
hier (in Kapseln oder Tabletten) die dreifache der übrigen Brom-
salze. Das Bromipin, das auch im Klysma, unter Umständen so-
gar subcutan verwendbar ist, scheint sich besser zu bewähren als
das Bromalin. Ähnliche Vorzüge werden dem Bromglidine, einem
Bromeiweißpräparat (Tabletten von 0,05 g Bromgehalt), wie dem
dibrombehensauren Calcium (,,Sabromin")^) nachgerühmt, das in
Form von geschmacklosen Tabletten oder Pulvern gegeben wird, die
in Wasser unlöslich sind und 29,5% Brom enthalten. Die Gabe be-
trägt I — 2 g I — 3 mal täglich; die Wirkung tritt langsam ein und
dauert lange nach.
In ähnlicher Weise wie die Krampfanfälle vermögen die Brom-
salze auch bisweilen periodisch auftretende Aufregungszustände zu
unterdrücken, namentlich dann, wenn sie mit den Menses in Be-
ziehung stehen und von kurzer (i — 2 wöchentlicher) Dauer sind.
Der Erfolg tritt nicht überall, in einzelnen Fällen aber mit großer
Sicherheit ein. Von Wichtigkeit ist hier namentlich die rechtzeitige
Darreichung bei den ersten Anzeichen des beginnenden Anfalles,
dann aber die Anwendung sehr großer Gaben. Man gibt 12 — 15 g
pro die eine Reihe von Tagen hintereinander und geht dann langsam
herunter, natürlich unter beständiger Überwachung des Zustandes,
im Hinblicke auf die Gefahr plötzlicher Collapse oder bronchitischer
Erkrankungen.
Den Bromsalzen schließen sich als leichte Beruhigungsmittel bei
gesteigerter nervöser Erregbarkeit an die Blausäure in Form des
Aqua Laurocerasi (mehrmals täglich 15 — 30 Tropfen) und die
Valerianapräparate, die man öfters mit jenem verbindet, der Baldrian-
tee, die einfache oder ätherische Baldriantinktur, das Bornyval,
Valyl, das valeriansaure Zink usf., alle von sehr bescheidener Wir-
kung.
Die Bedeutung der Blutversorgung für die Entstehung von
Geistesstörungen hat auch einigen Mitteln in die Behandlung des
1) Kalischer, Deutsche med. Wochenschr., 1908, 40.
Arzneimittel.
Irreseins Eingang verschafft, die vorwiegend auf das Herz und die
Gefäße wirken. So hat man das Amylnitrit wegen seines auf-
fallenden Einflusses auf das Gefäßgebiet des Kopfes in solchen Zu-
ständen angewendet, in denen man einen Gefäßkrampf vermutete.
Leider hat das Mittel die gehegten Erwartungen nicht gerecht-
fertigt, da die Wirkungen selbst im günstigsten Falle sehr rasch
vorübergehen. Ferner kommt der Digitalis, namenthch in Ver-
bindung mit Opium oder Morphium, nicht selten dort eine beruhi-
gende Wirkung zu, wo Aufregungszustände mit unregelmäßigem,
frequentem Pulse und Herzschwäche einhergehen (Herzfehler, alte
Perikarditis usf.).
Wichtiger freilich noch wären Mittel, welche die Beschaffen-
heit des Blutes zu verbessern vermöchten. Unter diesem Gesichts-
punkte wäre etwa die künstliche Sauerstoffzufuhr aufzufassen, die
wir nicht ohne Erfolg bei schweren Collapszuständen und Vergiftun-
gen, so im Status epilepticus, in paralytischen Anfällen, bei Urämie,
ferner bei gefahrdrohenden Kreislaufsstörungen und Lungenerkran-
kungen in Anwendung ziehen. Von spezifisch wirkenden Mitteln
wäre heute nur das Thyreoidin zu nennen, das sich durch seine
geradezu zauberhafte Wirkung auf das Myxödem und den Kretinis-
mus rasch so großen Ruf verschafft hat. Bei anderen psychischen
Störungen sind die Erfolge des nicht ungefährlichen Mittels bis jetzt
zweifelhaft geblieben. Ich wenigstens habe trotz sehr ausgedehnter
Versuche keine ermutigenden Ergbenisse zu verzeichnen^) ; höchstens
beobachtet man einige verkleinernde Wirkung auf manche Kröpfe.
Die psychischen Zustände werden nicht entscheidend beeinflußt,
vielleicht bisweilen etwas verschlechtert (Aufregungen), doch lassen
sich hier Zufälligkeiten zu schwer ausscheiden.
Brauchbare Erfahrungen über die Behandlung mit anderen
Organbestandteilen liegen auf dem Gebiete der Geistesstörungen bis
jetzt nicht vor; versucht worden ist die Darreichung von Kuh-
eierstöcken bei Frauen und von Nebennierenextrakt (Adrenalin),
der wegen seiner ursächlichen Beziehungen zu arteriosklerotischen
Veränderungen jedenfalls nicht unbedenklich ist. An dieser Stelle
verdienen eine kurze Erwähnung die Bestrebungen Wagners 2),
durch künstlich erzeugtes Fieber Besserung oder Heilung von
1) Amaldi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 311-
2) Boeck, Jahrb. f. Psychiatrie, XIV, 199.
574
V. Behandlung des Irreseins.
Geistesstörungen zu erreichen. Die Versuche knüpfen an die Er-
fahrung an, daß bisweilen Psychosen durch zufälHge fieberhafte
Erkrankungen, namentHch das Erysipel, auffallend günstig beein-
flußt werden. Um diese gelegentlichen Erfahrungen planmäßig nach-
zuahmen, wurden an einer größeren Reihe von Kranken Ein-
spritzungen mit fiebererregenden Toxinen, vor allem mit Tuberkulin,
vorgenommen. Meistens soll es sich um Amentia gehandelt haben.
Die Erfolge schienen einigermaßen ermutigend. Allerdings werden
alle derartigen Versuche wenig Beweiskraft haben, solange wir über
die Auffassung der behandelten Psychosen und besonders über ihren
mutmaßlichen Verlauf noch so im unklaren sind wie heute. Das-
selbe dürfte von den Bemühungen Binswangers und seines
Schülers Friedländer gelten, ,, Erschöpfungspsychosen" durch
Bakteriengifte (abgetötete Bouillonkulturen von Bakterium coli und
Typhusbacillen) zu heilen, ebenso von Albertottis Vorschlag,
durch Einspritzungen von Terpentinöl Abscesse und Fieber zur
günstigen Beeinflussung geistiger Störungen zu erzeugen. Er er-
innert an die einst so beliebten ableitenden Mittel (Blasen-
pflaster, Unguentum tartari stibiati, Drastica), die jetzt fast völlig
veraltet sind. Wenn es richtig ist, daß bei der Paralyse langdauernde,
starke Eiterungen überraschende Besserungen bringen können,
feiern sie vielleicht noch einmal ihre Wiederauferstehung.
Operative Eingriffe. Der Spielraum für operative Eingriffe i),
soweit es sich nicht um zufällige Begleitstörungen handelt, ist bei
Geisteskranken aus naheliegenden Gründen kein sehr großer.
Immerhin werden sie dort in Betracht kommen, wo etwa die Ursache
des Irreseins der Hand des Chirurgen zugänglich ist. Das ist vor
allem der Fall bei den Geistesstörungen nach Schädelverletzungen,
bei Geschwülsten und Abscessen im Gehirn, soweit sie erreichbar
sind. Hier kann die Probepunktion des Gehirns angezeigt sein.
Der Lumbalpunktion dürfte, wenn wir von gewissen gröberen Er-
krankungen des Hirns und seiner Häute absehen, mehr Wert für
die Erkennung, als für die Beseitigung von Krankheitszuständen
zukommen. Als völlig verfehlt hat sich die Kraniektomie bei
Idioten erwiesen; ähnlich steht es mit der Durchschneidung des
Sympathicus bei Epilepsie. Eher kann man noch gewisse Hdff-
1) Picque et Dagonet, Chirurgie des aliönes, I, 1901; Da Costa, Journal
of nervous and mental diseases, 1904, 386.
Operative Eingriffe.
nungen an die Beseitigung von Einknickungen des Schädels oder
Knochennarben bei Epileptikern knüpfen; leider ist der Erfolg
häufig genug nur ein vorübergehender. Gleiches scheint für die
Punktion oder Drainage der Hirnventrikel bei Hydrocephalus zu
gelten.
Ein großes Gewicht hat man oft auf die operative Beseitigung
von Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane gelegt. So
sind von Hobbs Eierstocks- und Gebärmutterleiden, Lageverände-
rungen, Geschwülste, alte Dammrisse bei weiblichen Geisteskranken
in großer Zahl behandelt worden. Seine Erfolge waren erstaunliche,
eine Zunahme der Heilungen bei den Frauen um 15%, Leider
scheinen die Bedingungen anderswo nicht so günstig zu liegen.
Wir sehen nach gynäkologischen Operationen zwar auch hier und
da eine Besserung, meist jedoch gar keine wesentliche Änderung,
bisweilen aber auch Verschlimmerung des psychischen Zustandes.
Ich kann daher nur raten, solche Eingriffe auf diejenigen Fälle zu
beschränken, in denen sie der körperliche Zustand wirklich erforder-
lich macht, die Hoffnungen auf eine günstige Beeinflussung des
Irreseins aber nicht zu hoch zu spannen; im Gegenteil ist eine viel-
geschäftige gynäkologische Behandlung bei frischen Geistesstö-
rungen wegen ihrer erregenden Wirkungen meist vom Übel. In
dieser Beziehung sind namentlich die Erfahrungen über die Heilung
der Hysterie durch Ausschneidung der Eierstöcke, Brennen der
Clitoris und ähnliche Maßnahmen lehrreich. So viele Ovarien auch
der lockenden Aussicht, mit einem Schlage gesund zu werden, zum
Opfer gefallen sind, so unbefriedigend war das Ende, weil die Be-
handlung das Wesen des Leidens völlig verkannt hatte. Auf der
anderen Seite ist auch, wie schon früher erwähnt, mehrfach der
Vorschlag gemacht worden, die Fortpflanzungsfähigkeit solcher
Kranken operativ zu zerstören, die voraussichtlich kranke Nach-
kommenschaft in die Welt setzen oder (Frauen) durch das Fort-
pflanzungsgeschäft in Gefahr geraten, geistig zu erkranken. Be-
vor unsere Kenntnis der Vererbungsgesetze und der krankmachen-
den Bedeutung des Fortpflanzungsgeschäftes nicht eine wesentlich
vollkommenere ist, wird für derartig einschneidende Maßregeln nicht
einmal eine zuverlässige wissenschaftliche Grundlage zu schaffen
sein, ganz abgesehen von den sehr großen praktischen Bedenken,
die ihrer Verwirklichung entgegenstehen.
576
V. Behandlung des Irreseins.
Das Auftreten von Geistesstörungen in der Schwangerschaft
mußte ferner den Gedanken nahe legen, eine Genesung durch Ab-
kürzung oder Unterbrechung derselben herbeizuführen. Indessen
die Erfahrung lehrt, daß die Geburt selbst in der Regel keinen
günstigen Einfluß auf den Verlauf des Irreseins ausübt. Dem-
entsprechend habe ich auch nach der Einleitung des Abortes oder
der künstlichen Frühgeburt, die mir einige Male vorgekommen ist,
niemals einen Heilerfolg feststellen können. Im Gegenteil dauerte
die Störung ganz unverändert oder sogar in verstärkter Form weiter.
Berücksichtigen wir außerdem, daß häufig genug geistige Er-
krankungen gerade im Wochenbette oder nach einem Aborte ein-
setzen, so werden wir uns schwerlich dazu entschließen können,
beim Irresein in der Schwangerschaft einen Eingriff zu empfehlen,
zumal öfters auch die anfänglich auftretenden Störungen sich nach
einigen Monaten ganz von selbst wieder verlieren. Zu ähnlichen
Ergebnissen gelangte Alzheimer, der 65 Fälle von Schwanger-
schaftspsychosen zusammenstellte; er macht noch besonders auf
die Gefahr der Sepsis bei unruhigen Kranken nach künstlicher Ab-
kürzung der Schwangerschaft aufmerksam.
Ich kann mich daher der auch von Fried mann verteidigten An-
sicht Jollys^) keinesfalls anschließen, daß Melancholie die Anzeige
zur Einleitung des Abortes bilden könne. Die ,, Melancholien" der
Schwangerschaft sind fast ausnahmslos zirkuläre oder katatonische
Depressionszustände, die ihren gesetzmäßigen Verlauf und Ausgang
nehmen. Die Rücksicht darauf, daß man einer Kranken vielleicht
die Verbringung in die Anstalt ersparen, oder daß sie durch Selbst-
mord zugrunde gehen könne, weil die Angehörigen die Anstalts-
behandlung ablehnen, würde übrigens auch dann nicht in dieser
Frage maßgebend sein, wenn man von dem Eingriffe Erfolg er-
warten dürfte. Noch weniger darf natürlich die Erwägung ins
Gewicht fallen, daß die Frucht möglicherweise geisteskrank werden
könne. Allerdings sind Fälle beschrieben worden, in denen Frauen
stürmisch auf die Beseitigung der Frucht drängten und durch die
Schwangerschaft in wachsende ängstliche Erregung gerieten, die
1) Jolly, Centralbl. f. Psychiatrie, 1901, 684; v. Wagner, Wiener klin.
Wochenschr., 1905, 244; Alzheimer, Münch, med. Wochenschr., 1907, 1617;
Bokel mann, Zur Frage der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft bei
inneren und Geisteskrankheiten. 1907.
Operative Eingriffe. ^yy
nach Herbeiführung des Abortes rasch schwand. Es scheint sich
hier nicht um zirkuläre Depressionen, sondern um krankhafte
Angstzustände gehandelt zu haben, die gewiß auch anderer Behand-
lung zugänglich gewesen und überdies mit der normalen Geburt
verschwunden wären. Andererseits kommt es bei manisch-depres-
siven Kranken vor, daß die anfangs aus krankhaften Beweggründen
erstrebte Beseitigung der Frucht späterhin die Anknüpfung für
schwere Versündigungsideen bildet. Immerhin gibt es gelegentlich
Zustände, die wegen ernster Gefährdung des mütterlichen Lebens eine'
Unterbrechung der Schwangerschaft nötig machen. Abgesehen von
der meist erst gegen Ende der Schwangerschaft auftretenden Eklampsie
wären besonders schwere Fälle von Chorea gravidarum, vielleicht
auch einmal die Entwicklung eines Status epilepticus zu nennen.
Hier und da werden Fälle berichtet, in denen durch Ohren-
operationen, Entfernung cariöser Zähne, Anbohrung der Oberkiefer-
höhle, Ausbrennen der Nase Besserung psychischer Störungen be-
wirkt wurde. Bei Kindern stellt sich nach Entfernung von Wuche-
rungen aus dem Nasenrachenräume öfters eine ganz überraschende
Besserung ihres Geisteszustandes ein, schnelles Schwinden ihres
halb stumpfen, halb reizbaren Wesens, ihrer Unaufmerksamkeit
und Vergeßlichkeit. Teilweise Ausschneidung der Schilddrüse kann
für das Irresein bei Basedowscher Krankheit in Frage kommen;
dagegen wird man sich für Lugaros Vorschlag, die zu triebartigem,
rücksichtslosem Handeln geneigten ,, moralisch Irrsinnigen" durch
operative Verkleinerung der Schilddrüse sanfter und gefügiger zu
machen, schwerlich erwärmen. Noch weniger werden wir mit
Burckhardt bei Halluzinanten die mutmaßlich erkrankten Teile
der Schläfenlappenrinde herauszuschneiden versuchen. Endlich
haben wir noch kurz der Blutentziehungen zu gedenken, die früher
das Hauptmittel bei Erregungszuständen bildeten, während sie jetzt
durch unsere veränderten Anschauungen über die Entstehungs-
ursachen des Irreseins ganz verdrängt worden sind.
Dagegen spielen die Infusionen unter die Haut eine nicht un-
wichtige Rolle. Das Verfahren ist das gewöhnliche: 5 — 700 g
0,75 prozentiger, auf 37 — 39° C erwärmter, sterilisierter Kochsalz-
lösung oder isotonischer Flüssigkeit^) läßt man unter geringem
1) Donath, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LX, 583, 1903; Wickel, Psychia-
trische Wochenschr., 1903, 181.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 37
578
V. Behandlung des Irreseins.
Drucke mittels Hohlnadel oder Troikart in die subcutanen Lymph-
räume einfließen. Meist sind zwei Einstiche (Brust, Rücken, Ober-
schenkel) erforderlich, die jedoch auch mehrmals wiederholt werden
können; die Geschwulst wird durch vorsichtiges Kneten verteilt.
Wir greifen zu Kochsalzinfusionen vor allem bei sehr entkräfteten
Kranken mit Versagen der Herztätigkeit, öfters mit vortrefflichem
Erfolge. Neuerdings sind auch Ölinfusionen zur Ernährung bei
Kranken mit Nahrungsverweigerung in Anwendung gezogen wor-
den. Französische Forscher haben Kochsalzinfusionen mit Brom-
beimischung bei Epileptikern, mit Jodzusatz bei Paralytikern ins
Auge gefaßt; auch Einspritzungen von Meerwasser werden von
ihnen gerühmt, unter Betonung des Umstandes, daß aus ihm ja
alles Leben seinen Ursprung genommen habe. Alter hat Versuche
mit Einspritzungen von Hirnemulsionen gemacht (Kalb, Schwein),
in der unbestimmten Hoffnung, dadurch irgendwie auf die Krank-
heitsvorgänge einzuwirken.
Physikalische Heilmethoden. Unter den physikalischen Heil-
verfahren, die in die irrenärztliche Tätigkeit Eingang gefunden
haben, steht obenan die Wasserbehandlung, insonderheit die
Anwendung der Bäder. Zwar sind die barbarischen Duschen und
die kalten Sturzbäder, wie sie früher als ,,revulsive" Mittel beliebt
waren, lange außer Gebrauch gekommen. Dagegen haben im Laufe
des letzten Jahrzehnts die warmen Bäder^) in der Behandlung der
Geisteskranken eine außerordentliche Verbreitung gewonnen und ge-
radezu eine Umwälzung im Betriebe der unruhigen Abteilungen her-
beigeführt. Die beruhigende Wirkung warmer Bäder von 34 — 35 ° C
ist seit alter Zeit bekannt. Sie wurden zur Erzielung des Schlafes
bei Nervosität, Hysterie, leichten Verstimmungs - und Angst-
zuständen abends 1—2 Stunden lang angewendet und mit einer kühlen
Überrieselung und Abreibung abgeschlossen. Auch bei erregten
Kranken sind diese verlängerten Bäder von jeher mit gutem Er-
folge in Gebrauch gewesen; hier pflegte man sie wohl mit kalten
Umschlägen oder der Anwendung des Eisbeutels auf den Kopf zu
verbinden. Dagegen bestand eine weit verbreitete Scheu vor einer
1) Thomsen, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LV, 721; Beyer, Centralbl. f.
Psychiatrie, 1899, i; Kraepelin, ebenda, 1901, 705; Alter, ebenda, 1903, 157;
Sadger, ebenda, 1905, 835; Würth, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIX, 676;
Tomaschny, Psychiatrische Wochenschr., 1904, 461.
Physikalische Heilmethoden. ^jg
längeren Ausdehnung der Wasserbehandlung, von der man vor
allem ungünstige Wirkungen auf das Herz fürchtete.
In einzelnen Fällen haben jedoch schon die alten französischen
Irrenärzte, insbesondere Brierre de Boismont, erregte Kranke
mehrere Tage und selbst wochenlang im warmen Bade behandelt.
Trotz der günstigen Erfolge hat sich dieses Verfahren nur sehr all-
mählich eingebürgert, offenbar hauptsächlich deswegen, weil der
ganze Anstaltsbetrieb dafür noch nicht reif war. Erst mit der Be-
seitigung aller Zwangsmittel, der Einrichtung von Wachabteilungen
und dem Bestreben, der Irrenanstalt immer mehr den Stempel des
Krankenhauses aufzudrücken, wurde die Badebehandlung allmählich
in immer größerem Umfange angewendet, da sich herausstellte, daß
sie außerordentlich wohltätig wirkte, ohne von nennenswerten Nach-
teilen begleitet zu sein. In Deutschland wurde sie namentlich von
Scholz warm empfohlen und viel geübt. Allerdings verschloß er
die Wannen mit Segeltuchdeckeln, aus denen nur der Kopf der
Kranken heraussah; anderwärts waren Holzdeckel in Gebrauch,
In diesen Bädern blieben die Kranken viele Stunden, auch ganze Tage.
Meine eigenen Erfahrungen über „Dauerbäder" reichen etwa zwei
Jahrzehnte zurück. Die Beobachtung, daß verwirrte, sehr herunter-
gekommene Kranke im Bade bald anfingen, sich zu beruhigen,
Nahrung zu sich zu nehmen und einzuschlafen, veranlaßte mich,
hier und da die Bäder über mehrere Tage auszudehnen; nachts
kamen die Kranken wieder ins Bett. Da die anfangs gefürchteten
bedrohlichen Zufälle gänzlich ausblieben, habe ich das Verfahren
immer weiter ausgebildet und bin endlich dazu geschritten, die
Bäder auch des Nachts fortzusetzen, da der grelle Unterschied in
dem Abteilungsbetriebe am Tage und in der Nacht von selbst dazu
drängte. So kam es, daß einzelne Kranke viele Monate lang ohne
jede Unterbrechung im warmen Wasser zubrachten.
Freilich mußten zur Durchführung dieser Maßregel erst besondere
Einrichtungen geschaffen werden. Die Badebehandlung in ihrer
heutigen Ausgestaltung erfordert große, helle, freundliche Räume in
möglichster Nähe der Wachabteilungen, zweckmäßig mit doppeltem
Zugange. Für Lüftung muß in ausgiebiger Weise gesorgt sein, weil
eine stark erwärmte und mit Wasserdünsten erfüllte Luft die be-
ruhigende Wirkung des Bades völlig in Frage stellt. In jedem Räume
sollten nur einige wenige Wannen aufgestellt sein, die man nach Be-
37*
58o
V. Behandlung des Irreseins.
darf durch niedrige, die Übersicht nicht beeinträchtigende Scheide-
wände voneinander trennen kann ; jedenfalls aber sollte man die Mög-
lichkeit haben, einzelne, besonders störende Kranke wenigstens zeit-
weise allein im Bade unterzubringen. Am meisten zu empfehlen sind
Feuertonwannen, die jetzt auch in Deutschland zu annehmbarem
Preise hergestellt werden. Deren Form und Größe wählt man zweck-
mäßig recht verschieden, um jedem Kranken eine bequeme Lagerung
zu ermöglichen; schräge Neigung der Kopfwand ist unter diesem
Gesichtspunkte wünschenswert. Die Zu- und Abflußhähne werden,
um. sie der Einwirkung der Kranken zu entziehen, am besten in
Kästen an der Wand eingeschlossen. Zur Lagerung schwacher und
gebrechlicher Kranker dienen durchgespannte Tücher, die man mit
Bändern an kleinen, im Boden eingelassenen Ringen befestigen
kann. Da sich die Wasserschicht über dem Tuche unverhältnis-
mäßig rasch abkühlt, ist es gut, dessen Mittelstück aus ganz grob-
maschigem Stoff herzustellen, der einen regelmäßigen Wärme-
ausgleich zwischen den getrennten Wasserschichten ermöglicht.
Weitere Behelfe zur bequemen Lagerung sind Luftkissen, die unter
den Kopf geschoben werden, nach Umständen auch in Tücher ein-
genähte Ballen von nicht entfetteter Watte oder Moosgummi.
Außer den Wannen soll der Baderaum möglichst wenig enthalten,
um jede Gelegenheit zur Zerstörung oder zu Unglücksfällen zu ver-
meiden. Unbedingt nötig ist außer einem Wäschewärmer mit reich-
lichem Vorrat an Badetüchern ein Spülklosett und eine Zapfstelle
für Trinkwasser, am besten als Schwenkhahn in einem Wandkäst-
chen, ferner eine feste Ruhebank zum Sitzen oder Liegen ; auch eine
unauffällige Alarmglocke sollte man nicht vergessen. Bei den Mahl-
zeiten oder Beschäftigungen der Kranken bedient man sich leichter
Brettchen, die quer über die Wanne gelegt werden. Der Neigung
zum Spritzen kann durch loses Überhängen von Laken über die
Wanne begegnet werden. Den besten Fußbodenbelag bilden fein-
geriefte Tonplättchen, unter denen man durch zweckmäßige Ver-
teilung der Warmwasserröhren eine Heizung anbringen kann;
darüber mag man Holzmatten legen (in Öl getränkte Eichenholzklötz-
chen auf Kupferdrahtgeflecht). Die Fensterscheiben werden, um Ver-
letzungen vorzubeugen, aus dickem Glase herzustellen sein. Die
Verwendung von Holz ist wegen des raschen Faulens tunlichst
zu vermeiden (eiserne Fensterrahmen, steinerne Türpfosten und
Physikalische Heilmethoden.
581
Schwellen); der Anstrich muß, soweit nicht Plättchenbekleidung
durchgeführt ist, häufig und gründlich erneuert werden.
Die Hauptfrage endlich bei der Einrichtung von Dauerbädern
ist die reichliche und stetige Versorgung mit warmem Wasser. Da
der Verbrauch naturgemäß ein sehr unregelmäßiger ist, muß die
jederzeit verfügbare Menge weit über dem Durchschnitte stehen,
damit den plötzlich wechselnden Anforderungen genügt werden kann.
Daß nicht nur am Tage, sondern mehr noch in der Nacht ausreichen-
des warmes Wasser zu Gebote stehen muß, bedarf kaum der Er-
wähnvmg. Von größter Wichtigkeit
ist ferner die zuverlässige Rege-
lung der Wasserwärme. Da die
Abkühlung, namentlich in den
Feuertonwannen, sehr langsam vor
sich geht, ist es im allgemeinen
genügend, den Pfleger, der selbst-
verständlich die Bäder unausgesetzt
zu überwachen hat, mit der Sorge
für Zufluß warmen Wassers zu
betrauen, sobald das Badewasser
zu kühl geworden ist. Weit schwie-
riger ist die Verhütung von Ver-
brühungen,die bei unempfindlichen
Kranken entweder durch grobe
Nachlässigkeit des Pflegers bei der
Regelung des Zuflusses, unter Um-
ständen aber auch ganz unmerklich
durch Undichtigkeiten und Betriebsfehler zustande kommen können.
Die gebräuchlichen Mischbatterien gewähren gegen diese ernste
Gefahr nur unvollkommenen Schutz. Gut bewährt hat sich da-
gegen bei uns eine elektrische Wärmeregelungsvorrichtung. Sie
sorgt einmal selbsttätig dafür, daß die Wasserwärme in den großen
Vorratskesseln niemals über 60 ° C steigen kann, und sie gibt anderer-
seits ein rotes Lichtzeichen, sobald und solange das in die Wannen
fließende Wasser über 40 ° Wärme hat ; zugleich ist dessen Wärme
in jedem Augenblicke an einem Thermometer ablesbar.
Ein Bild von einem alten und einem heutigen Baderaum geben
uns die Fig. XXIII und XXIV. Die erstere zeigt uns die Kranken in
Fig. XXIII.
Deckelbäder aus alter Zeit.
582
V. Behandlung des Irreseins.
Deckelwannen eingeschlossen, wo sie hilflos den Einwirkungen der
kalten Strahldusche ausgesetzt sind. Das andere Bild stellt ein Dauer-
bad der Münchener Klinik dar. In dem geöffneten Kasten neben
dem Fenster befinden sich die Hähne für Zufluß und Ablauf des
Wassers; durch die darüber befindlichen dicken Scheiben kann das
in das Zuflußrohr eingeschaltete Thermometer beobachtet werden;
zugleich erglüht hier die rote Lampe bei Erwärmung des zufließenden
Wassers über 40°. Das Wandkästchen neben der Türe enthält die
Fig. XXIV. Dauerbad der Münchener Klinik.
Lichtschalter und den mit dem Dienstschlüssel zu bedienenden
Kontakt für die elektrische Wachkontrolle. Links ist ein Wäsche-
wärmer in die Wand eingelassen, an einer anderen, hier nicht sicht-
baren Stelle die Zapfstelle für das Trinkwasser. Auch das Spül-
klosett ist nicht sichtbar. Der Pfleger sitzt auf einer aus Kacheln
hergestellten Bank. Von den beiden Kranken liegt der eine auf
dem durchgespannten, an den Bodenringen befestigten Tuche; sein
Kopf ruht auf einem Luftkissen.
Die Wirkungen aller dieser Einrichtungen sind äußerst be-
Physikalische Heilmethoden. ^83
friedigende gewesen. Es hat sich unzweifelhaft ergeben, daß die
Behandlung erregter Kranker im warmen Dauerbade jedem an-
deren bisher bekannten Verfahren unvergleichlich überlegen
ist. Namentlich manische und paralytische, aber auch katatonische
Erregungszustände, ebenso das Delirium tremens, eignen sich vor-
züglich dafür; weniger trifft das für die ängstlichen Erregungen der
Epileptiker und Melancholischen zu, doch hat uns auch hier das
Bad sehr oft gute Dienste geleistet. Alle diese Kranken werden im
Bade ruhiger, essen und schlafen besser, sind weniger in Gefahr,
sich zu verletzen. Da keinerlei Gewalt gegen sie angewendet wird
und das warme Wasser für sie ein behaglicher, ihre Freiheit nicht
beengender Aufenthalt ist, den sie schon wegen des rasch auftretenden
Frostgefühls nur ungern verlassen, geraten die Kranken mit ihrer
Umgebung nicht so leicht in Zwiespalt und werden weit weniger
gereizt und gewalttätig. Zerreißen und Zerstören fällt ganz fort;
höchstens können die Frauen die Badehemden zerschlitzen, die man
ihnen gibt, falls sie dieselben nicht verschmähen. Ebenso ist der
Unreinlichkeit auf die einfachste Weise ein Ziel gesetzt, da es ein
leichtes ist, das schmutzige Badewasser zu erneuern.
Auf diese Weise sind eine Reihe der widerwärtigsten Übelstände
aus dem früheren Anstaltsbetriebe mit einem Schlage beseitigt oder
doch bis auf ein sehr bescheidenes Maß gemildert. Es gibt kein
Schmieren und planmäßiges Zerstören mehr, keine unzerreißbaren
Kleider, keine Schraubenschuhe oder festen Strohsäcke ; auch das häß-
liche Blechgeschirr, die Schüsseln und Nachtgeschirre aus Pappe und
Gummi können getrost abgeschafft werden. Die Isolierungen, die
eine ganze Reihe der häßlichsten Begleiterscheinungen des Irre-
seins hervorrufen, werden vollkommen entbehrlich. Endlich aber
hat der gesamte Geist der Behandlung entschieden gewonnen.
Kranke wie Pfleger erblicken in der Anwendung des Bades nicht,
wie so leicht in der Isolierung, eine Strafe, sondern eine wohl-
tätige ärztliche Maßregel. Es fällt demnach ein sehr großer Teil der
Kämpfe fort, die sonst dem erregten Kranken oft nicht erspart werden
konnten, um ihn und seine Umgebung zu schützen. Insbesondere
aber sieht der Pfleger deutlich die beruhigende Wirkung des Bades
und wird dadurch unmerklich weit rascher zu einer richtigen Auf-
fassung der Erregungszustände gebracht, als es durch die Belehrung
allein jemals gelingen kann.
584
V. Behandlung des Irreseins.
Wie die beruhigende Wirkung der Dauerbäder zustande kommt,
bedarf noch weiterer Untersuchung, Was wir bisher wissen, be-
trifft vor allem die rasch eintretende Herabsetzung des Blutdruckes,
die wohl wesentlich durch die Erweiterung der Hautgefäße bedingt
wird. Damit würde sich vielleicht ein Teil der besonders günstigen
Wirkungen in den Zuständen des manisch-depressiven Irreseins er-
klären, die regelmäßig von einer Blutdrucksteigerung begleitet zu
sein pflegen. Puls, Atmung und Körperwärme scheinen nur un-
bedeutende und schwankende Beeinflussung zu erleiden. Die Eß-
lust bessert sich meist rasch; darum ist für reichliche Nahrungs-
zufuhr bei den Kranken im Bade zu sorgen, auch während der
Nacht. Sehr auffallend ist beim Gesunden bekanntlich das Auftreten
eines ausgeprägten Müdigkeitsgefühls, dem wohl die beruhigende
und schlafmachende Wirkung bei erregten Kranken an die Seite
zu stellen ist. Es liegt nahe, hier an Ermüdungserscheinungen zu
denken. Die Untersuchungen von Busch und Plaut über die Wir-
kung zweistündiger Bäder bei Gesunden haben jedoch ergeben, daß
trotz des Müdigkeitsgefühls von einer wirklichen Herabsetzung der
psychischen Leistungen, wie sie einer Ermüdung entsprechen würde,
keine Rede sein kann. Sowohl die Auffassungsfähigkeit wie die
Rechengeschwindigkeit erwies sich nach dem Bade eher besser als
vorher, während die Assoziationen, die Wahlreaktionen und die
Ergographenkurven überhaupt keine nennenswerte Beeinflussung
erkennen ließen. Die warmen Bäder würden demnach, im Gegen-
satze zu den arzneilichen Schlafmitteln, die regelmäßig eine Auf-
fassungs- und Willenslähmung erzeugen, nur ein Ruhebedürfnis
ohne Schädigung des Seelenlebens herbeiführen, soweit unsere
heutige Kenntnis reicht. Zu diesen psychischen Wirkungen kommt
dann noch die behagliche Wärme des umgebenden Wassers, die
Abwesenheit aller beengenden Kleidungsstücke, die völlige Freiheit
der Bewegung, das Fortfallen der Reibungen mit der Umgebung, die
unausgesetzte Überwachung.
Die Übelstände der Dauerbäder treten gegenüber ihren Vorzügen
sehr in den Hintergrund. Zunächst sind sie ziemlich kostspielig,
da sie nicht nur gute Anlagen, sondern auch viel warmes Wasser
und ausreichendes Personal erfordern. Wieweit der Mehraufwand
durch die Verminderung der Kosten für Reinigung und Ersatz des
Zerstörten ausgeglichen wird, hängt wohl von örtlichen Bedingungen
Physikalische Heilmethoden. ^g^
ab. Sodann entwickeln sich in der quellenden Oberhaut leicht über-
tragbare Hautkrankheiten, die durch Pilzwucherungen (Tricho-
phytonarten) erzeugt werden. Vorbeugend wirkt Einreiben der
Haut mit Lanolin. Rechtzeitiges Pinseln der befallenen Stellen mit
Jodtinktur oder Resorcinlösung, unter Umständen Behandlung mit
Schwefelzinkpasta, beseitigt diese übrigens harmlosen Ansiedelungen
rasch; auch bei mehrtägigem Aussetzen der Bäder pflegen sie zu
verschwinden. Wo sie sich zeigen, ist gründliches Desinfizieren der
Badetücher notwendig. Dasselbe gilt beim Auftreten von Furunku-
lose, die zwar im Bade meist gut abheilt, aber doch recht leicht
weiter verbreitet wird und daher sorgsamer Behandlung bedarf.
Am bedenklichsten ist es, daß alte Ohreneiterungen sich im Bade
anscheinend leicht verschlimmern; in solchen Fällen ist daher
große Vorsicht geboten. Während der Menses können die Bäder un-
bedenklich fortgesetzt werden.
Die Kranken durch irgendwelche Anwendung von Gewalt im
Bade festzuhalten, ist, wie ich glaube, verfehlt, weil dadurch der
wesentliche Zweck des Bades, die Beruhigung, vereitelt wird. Man
läßt daher die zahlreichen Kranken, die nicht im Bade bleiben
wollen, zunächst ruhig gewähren, erneuert aber den Versuch, sie
ins Bad zu bringen, in kurzen Pausen immer wieder. Man wird
dann in der Regel sehen, daß der Kranke sich an die neue Maßregel
gewöhnt. Erleichtert wird das durch die anfängliche Anwendung
von Sulfonal oder Hyoscin, im schlimmsten Falle durch vorher-
gehende feuchte Einpackungen, die bei einiger Geduld immer zum
Ziele führen. Ist aber ein Kranker einmal einige Stunden im Bade
geblieben, so ist damit in der Regel sein Widerstreben dauernd ge-
schwunden; man erreicht nun fast immer ganz leicht, was anfangs
schier unmöglich schien.
Die Dauer der Bäder richtet sich ganz nach dem Zustande der
Kranken. In der Regel wird man mit einigen Stunden, gegebenen-
falls mehrmals täglich, auskommen ; es gibt aber auch Fälle genug,
in denen das Baden Tag und Nacht hindurch fortgesetzt werden
muß, weil die Kranken sonst sofort unerträglich störend und selbst
gefährlich werden; ja hier und da kann es nötig sein, die Behand-
lung über Wochen und Monate zu erstrecken, wenn jeder Versuch
einer anderweitigen Pflege mißlingt. Das Ziel der Badebehandlung
muß immer die Ermöglichung der Bettruhe bilden. Sobald die
586
V. Behandlung des Irreseins.
Kranken ruhig oder gar müde werden, legt man sie daher ins Bett.
Es kommt indessen vor, daß dann die Erregung sogleich wieder be-
ginnt. Solche Kranke wird man auch im Bade schlafen lassen
müssen, nachdem man ihnen eine möglichst bequeme Lagerung
hergerichtet hat.
Dasselbe gilt von sehr schwachen oder gelähmten Kranken, die
man nicht wegen ihrer Unruhe, sondern zur Verhütung des Druck-
brandes in das Dauerbad gebracht hat und daher nicht für längere
Zeit herausnehmen kann. Die Verringerung des Körperdruckes und
die Möglichkeit peinlichster Sauberhaltung pflegt auch in den
schwierigsten Fällen der Gefahr vorzubeugen und erleichtert dadurch
die gesamte Pflege außerordentlich.
Am häufigsten stößt die Durchführung der Badebehandlung auf
Schwierigkeiten in katatonischen Erregungszuständen. Glücklicher-
weise steht uns hier ein Mittel zu Gebote, welches eine vorzügliche
Ergänzung der Dauerbäder bildet, die feuchtwarmen Einwick-
lungen^). Ein in Wasser getauchtes, leicht ausgerungenes Lein-
tuch wird um den ganzen Körper bis zum Halse gelegt und dann
eine große Wolldecke mäßig fest herumgewickelt. Will man eine
kräftige ,, Reaktion" erzielen, die jedoch für unseren Zweck nicht
die Hauptsache ist, so wird man das Wasser kalt nehmen, doch
wird man bei widerstrebenden Kranken mit warmem Wasser leichter
zum Ziele kommen. Die Füße werden mit in die Decke geschlagen,
unter Umständen noch durch Wärmflaschen erwärmt, während
man auf die Stirn einen Eisbeutel oder kalte Tücher legen kann.
In dieser Packung bleiben die Kranken bis zum Schweißausbruche,
höchstens aber zwei Stunden. Zu einer längeren Ausdehnung des
Verfahrens, wie sie von manchen Seiten empfohlen wird, kann ich
mich nicht entschließen, da einerseits die Gefahr der Wärmestauung
besteht, andererseits grundsätzlich jeder Anschein einer beabsich-
tigten körperlichen Beschränkung vermieden werden sollte. Aus
beiden Gründen lasse ich Kranke, die dauernd widerstreben, nach
kurzer Zeit wieder aus der Wicklung befreien, allerdings, um später
den Versuch zu wiederholen; auch die früher übliche Befestigung
der Wolldecke mit Sicherheitsnadeln oder durch Zunähen habe ich
aufgegeben. In der Regel sträuben sich jedoch gerade die erregten
1) Knecht, Psychiatrisch-neurolog. Wochenschr., 1903, 233.
Physikalische Heilmethoden. ^gy
Katatoniker höchstens bei der Ausführung der Einpackung, um
nachher ganz überraschend still zu liegen. Anscheinend spielt dabei
die in jedem derartigen Kranken schlummernde Befehlsautomatie
eine gewisse Rolle. Meist hält die Beruhigung so lange an, daß es
nachher gelingt, die Kranken für einige Zeit im Bade zu halten.
Versagt diese Maßregel, so wird von neuem zur Wicklung gegriffen.
Auch bei manischen Kranken lassen sich gelegentlich Packungen
als Vorbereitüng oder als Ersatz für das Bad mit Vorteil verwenden.
Vorsicht ist bei Herzkranken und Arteriosklerotikern geboten.
Von den sonstigen Formen der Wasserbehandlung empfehlen
sich sanfte Regenduschen, kalte Abreibungen für nervöse und hyste-
rische Kranke, besonders auch für Onanisten, bei denen noch kalte
Sitzbäder hinzugefügt werden. Bei Neigung zu Blutwallungen nach
dem Kopfe vermögen Packungen der Füße oder Senffußbäder bis-
weilen einen schlafmachenden Einfluß auszuüben. Für die kühlen
Voll- und Halbbäder, die Strahl- und Fächerduschen, die wechsel-
warmen Duschen, die rasch wiederholten Packungen usf. haben wir
auf psychiatrischem Gebiete kaum viel Verwendung. Dagegen ist
die örtliche Anwendung der Kälte am Kopfe in der Form des Eis-
beutels noch vielfach im Gebrauch. Die Einfachheit und Volks-
tümlichkeit dieser Maßregel spricht entschieden zu ihren Gunsten,
wenn man auch gerade in der Psychiatrie vielleicht häufiger von
ihrem psychischen (Zwang der Bettlage), als von dem physikalischen
Einflüsse Erfolg hoffen darf.
Verhältnismäßig beschränkte Anwendung hat die Elektro-
therapie^) in der Behandlung der Geisteskrankheiten gefunden.
Die vorliegenden Erfahrungen sind daher sehr lückenhaft und
kaum zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze geeignet. Der fara-
dische Strom scheint vorzugsweise als Erregungsmittel zu
wirken. Demgegenüber erwartet man von der Galvanisation
des Rückenmarkes, des Sympathicus, des Gehirns (schwache Ströme,
kurze Sitzungen, große Elektroden, Leitung längs oder schräg durch
den Kopf) namentlich eine „kataly tische" Einwirkung auf die
feineren Vorgänge im Nervengewebe und einen Einfluß auf das
Gefäßsystem. Man hat daher vorgeschlagen, bei Zuständen mit er-
1) Arndt, Arch. f. Psychiatrie, II, 259; Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXVIII,
425; XXXIV, 483; Erb, Elektrotherapie, II, 2. Aufl. 1886; Tigges, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, XL, 543.
588
V. Behandlung des Irreseins.
höhter nervöser Reizbarkeit, Gefäßkrampf u. dgl. die Anode (ab-
steigende Ströme), bei bestehenden Lähmungserscheinungen, Stau-
ungen, Ödemen dagegen die Kathode (aufsteigende Ströme) auf
Hirn und Rückenmark einwirken zu lassen.
Im allgemeinen werden es natürlich vorzugsweise die mit ner-
vösen Beschwerden einhergehenden Fälle sein, in denen man von
der elektrischen Behandlung Erfolg hoffen darf. Hier mag es bis-
weilen gelingen, durch Beseitigung peripherer Reizursachen, durch
Herabsetzung der Erregbarkeit zu nützen. Hysterische Dämmer-
zustände werden unter Umständen durch planmäßige Faradisation
günstig beeinflußt; es empfiehlt sich die Anwendung stärkerer
Ströme an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche oder die all-
gemeine Faradisation. Galvanisation und Faradisation des Kopfes
(elektrische Hand) können wegen ihrer hypnotischen Wirkung auch
zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit gelegentlich in Anwendung ge-
zogen werden. Die besten Dienste leistet die elektrische Behandlung
(Galvanisation des Kopfes, allgemeine Faradisation mit der Rolle,
elektrische Bäder) unzweifelhaft bei hysterischen und neurasthe-
nischen Kranken. Gerade hier aber wird die Ausscheidung des
sicherlich nicht geringen Anteils, welcher dem psychischen Einflüsse
des Verfahrens zugeschrieben werden muß, vollkommen undurch-
führbar.
Auch die Massage hat sich nur ein kleines Gebiet der irren-
ärztlichen Tätigkeit zu erobern vermocht, das sie zudem noch mit
der Elektrizität bis zu einem gewissen Grade teilen muß. Bei der
großen Mehrzahl der Geistesstörungen paßt die Massage nur dort,
wo eine selbständige körperliche Anzeige für sie vorliegt. Bei ge-
wissen hysterischen und neurasthenischen Kranken indessen sowie
in Erschöpfungszuständen vermag die Massage, am besten in Ver-
bindung mit der allgemeinen Faradisation, durch Kräftigung der
Muskulatur und Anregung des Stoffwechsels schätzbare Dienste zu
leisten. Vorsicht ist dagegen bei den oft mit jenen Erkrankungen
verwechselten leichten zirkulären Depressionszuständen am Platze,
in denen die Massage nicht selten die innere Unruhe steigert. Über
das in gewissem Sinne der Massage verwandte Bier sehe Stauungs-
verfahren, das auf unserem Gebiete wesentlich als Kopfstauung in
Frage kommen könnte, liegen einstweilen noch keine zu weiteren
Schlüssen berechtigenden Erfahrungen vor.
Physikalische Heilmethoden. ^89
Dagegen werden wir der körperlichen Bewegung in den ver-
schiedensten Formen einen bedeutsamen Platz unter unseren Be-
handlungsmitteln einzuräumen haben. Es ist richtig, daß bei allen
frischen und schwereren Geistesstörungen das erkrankte Hirn vor
allem der Ruhe bedarf. In der Genesungszeit jedoch, ferner nach
Abschluß ungeheilter Erkrankungen und endlich bei den viel-
gestaltigen krankhaften Zuständen des Entartungsirreseins wird die
ärztlich überwachte körperliche Betätigung nicht nur für den
Wiedererwerb verlorener Kräfte, sondern namentlich auch zur Er-
ziehung des Willens von allergrößter Wichtigkeit sein. Turnen,
namentlich gymnastische Übungen, dann aber der Körpersport, wie
er in englischen und amerikanischen Anstalten in einer uns ganz
fremden Ausdehnung betrieben wird, sind bei ängstlichen, zer-
fahrenen oder willensschwachen Menschen das weitaus wirksamste
Mittel, das verlorene Selbstvertrauen und die Selbstbeherrschung
wiederzugewinnen.
Unscheinbar und doch von großer Bedeutung sind die Einflüsse,
die durch Luft und Sonne auf unsere Kranken ausgeübt werden.
Zwar von einer ,,Klimatotherapie" der Geisteskrankheiten kann
kaum gesprochen werden; sie könnte ja auch nur für die leichtesten
Formen, für die Hysterischen, Nervösen, Psychopathen, für die
krankhaften Angstzustände und die Genesungszeit nach schwereren
Störungen in Betracht kommen. Die psychischen Einflüsse der Um-
gebung, in die wir solche Kranke versetzen, pflegen hier wichtiger
zu sein als die klimatischen Wirkungen. Immerhin scheint es, daß
z. B. die Unterschiede zwischen Meeres- und Gebirgsklima öfters
nicht gleichgültig sind, auch wenn wir von der ungünstigen Wir-
kung größerer Höhenlagen auf Herzkranke und Arteriosklerotiker
ganz absehen. Manche Kranke verlieren am Meere den Schlaf;
andere wieder fühlen sich im Gebirge unbehaglich. Wie weit dabei
Autosuggestionen mit eine Rolle spielen, läßt sich freilich schwer
feststellen. Bei Kranken, die keine Neigung zur Seekrankheit haben,
erweisen sich öfters längere Seereisen, auch auf Segelschiffen, als
vorteilhaft. Zu der Ruhe und Einförmigkeit des Schiffslebens
kommt dabei der mächtige stärkende Einfluß des Seeklimas. Be-
sondere Vorteile bietet dieses Verfahren für Trinker und Morphi-
nisten, wenn jede Möglichkeit einer Beschaffung der schädigenden
Genußmittel mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
590
V. Behandlung des Irreseins.
Unzweifelhaften Nutzen gewährt unseren Kranken ferner der
reichlich bemessene Aufenthalt in Sonne und frischer Luft, sei es
in Form von Spaziergängen und Beschäftigung im Freien, sei es,
für die schwächeren und schonungsbedürftigen Kranken, durch
Liegekuren im Freien, die bei sorgsamer Einhüllung auch in der
rauheren Jahreszeit fortgesetzt werden können. Für die ,, trockene
Wicklung" der Kranken dabei mit Hilfe von Sicherheitsnadeln oder
Einnähen vermag ich mich jedoch nicht zu begeistern. Dem aus-
giebigen Genüsse von Luft und Licht verdankt in erster Linie das
„Tenttreatment", die Behandlung der Kranken in leichtgebauten
Bg,racken, wie sie in Amerika vielfach geübt wird, seine Erfolge;
auch die bekannten Übelstände der Kasernierung, namentlich die
Ausbreitung der Tuberkulose, werden dadurch wesentlich gemildert.
Ein sehr glücklicher Gedanke scheint mir die zuerst von Lehmann
und Cramer erprobte Einrichtung von warmen Bädern im Freien
zu sein, welche die Vorzüge der Bäderwirkung mit denjenigen der
Liegekur verbindet, die Stimmung günstig beeinflußt und die Kranken
der schwülen Luft des Baderaumes entrückt. Allerdings geschieht
die Abkühlung des Badewassers wesentlich rascher; vor unmittel-
barer Sonnenbestrahlung müssen die Kranken durch Schattendächer
geschützt werden.
Diätetische Maßregeln. Unsere letzten Betrachtungen leiten uns
von den besonderen Heilverfahren hinüber zu jenen allgemeinen
diätetischen Maßregeln, die keinem eigenartigen Behandlungszwecke
dienen, sondern die Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse
zum Ziele haben. Obenan steht die Sorge für eine passende Er-
nährungi). Jeder Geisteskranke, auch der anscheinend „Voll-
blütige", bedarf einer regelmäßigen, gut bemessenen Zufuhr kräftiger
Nahrungsmittel, die nicht selten den wichtigsten Punkt des Behand-
lungsplanes bildet. Durchaus in den Vordergrund tritt diese Rück-
sicht, wo schwächende Ursachen, Wochenbett, Blutverluste, fieber-
hafte Krankheiten der geistigen Störung vorausgegangen sind, und
wo Wage und körperliche Untersuchung gesunkene Ernährung,
Blutleere, Schwäche, Abmagerung erkennen lassen. Namentlich ist
es von Wichtigkeit, schon im Anfange des Leidens, wo der Kranke,
von lebhaften Gemütsbewegungen beherrscht und ohne Eßlust, die
1) Hitzig, Die Kostordnung der psychiatrischen und Nervenklinik Halle. 1897;
Albrand, Die Kostordnung an Heil- und Pflegeanstalten. 1903.
Diätetische Maßregeln. ^pj
Nahrungsaufnahme vernachlässigt, auf ein regelmäßiges Einhalten
der Mahlzeiten zu achten und jeder beginnenden Verdauungsstörung
sogleich entgegenzuarbeiten.
Diese Sorge erstreckt sich oft in gleicher Weise über den ganzen
Verlauf der Krankheit fort, wo Verstimmung, Unruhe oder Nega-
tivismus den Kranken hindern, das Nahrungsbedürfnis selbst zu
befriedigen. Geduldiges, häufig wiederholtes Anbieten des Essens,
wenn auch immer nur kleine Mengen genommen werden, führt hier
meist zum Ziele. Stets muß die Kost leicht verdaulich und, nament-
lich in schwierigeren Fällen, möglichst nahrhaft sein, um durch
ihren Nutzwert die Unmöglichkeit einer reichlicheren Zufuhr aus-
zugleichen (Fleischbreisuppen) ; es empfiehlt sich, ihre Zusammen-
setzung im Hinblicke auf die Erfordernisse einer ausreichenden Er-
nährung öfters zu prüfen. Im allgemeinen eignet sich für Geistes-
kranke eine reizlose, mehr aus Mehl- und Milchspeisen, Gemüsen,
rohem und gekochtem Obst zusammengesetzte Kost mit mäßigem
Fleischzusatz, doch kann unter Umständen die Verwendung von
Pepton, Nutrose, Somatose, Hygiama, Tropon oder ähnlichen
Stoffen angezeigt sein. Bei sehr schwachen Kranken mit schweren
verwirrten Erregungszuständen ist zeitweise eine Überernährung
durch reichliche Zufuhr leicht verdaulicher Nahrungsmittel in
kürzeren Pausen am Platze; man wird hier freilich in der Regel zur
Sonde greifen müssen. Die so überaus häufige Verstopfung be-
kämpft man nur durch ganz milde Mittel, namentlich durch Klystiere
(Glycerin, Öl), Eingießungen, nach Umständen durch Massage und
Faradisation des Bauches. Unterstützt werden diese Maßnahmen
durch sorgfältige Regelung der gesamten Lebensweise, Sorge
für rechtzeitigen und ausreichenden Schlaf, mäßige Bewegung oder
Lagerung in frischer Luft, zweckmäßige Beschäftigung.
Von wesentlicher Bedeutung für das Getriebe der Irrenanstalt
erscheint mir die grundsätzliche Verbannung des Alkohols als
Genuß mittel^). Es ist ja von vornherein einleuchtend, daß ein
so stark wirkendes Nervengift auf die geschädigte Hirnrinde unserer
Kranken nur einen ungünstigen Einfluß haben kann. Die Er-
fahrung lehrt uns aber auch unzweideutig, daß in jeder Irren-
anstalt eine Menge von Kranken leben, die des Schutzes vor dem
1) Hoppe, Neuroi. Centralbl., XVII, 1074; Dietz, Allgem. Zeitschr. f. Psychia-
trie, LXII, 372; Delbrück, Psychiatrische Wochenschr., 1905, 449-
592
V. Behandlung des Irreseins.
Alkohol mehr oder weniger dringend bedürfen, namentlich Trinker
und Epileptiker, aber auch Paralytiker, Hypomanische, Hebephrene ;
deren Anzahl dürfte je nach den Verhältnissen zwischen 40 und
70% schwanken. Ich habe reichlich Gelegenheit gehabt, die Er-
regungen zu beobachten, die durch das Bier, im gewöhnlichen Tages-
laufe wie bei Festen, erzeugt wurden, manchmal auch durch die
Entziehung desselben aus ärztlichen Gründen. Gegen dieses Übel
gibt es nur ein Heilmittel, die völlige Ausschließung des Alkohol-
genusses für Kranke und Personal aus der Anstalt, die um so selbst-
verständlicher ist, als ihr kein einziger vernünftiger Gegengrund
im Wege steht. Nach meinen etwa 15 jährigen Erfahrungen kann
ich jene Maßregel nur auf das wärmste empfehlen; sie ist leicht
durchführbar, wirtschaftlich vorteilhaft und wirkt günstig auf den
ganzen Geist der Anstalt. Ersatz für den Alkohol bieten Milch,
Fruchtsäfte, Obst und namentlich die ungemein billig herstellbaren
Limonaden. Wer einmal den Alkohol losgeworden ist, wird es ver-
wunderlich genug finden, daß nach einer von Delbrück 1906 ver-
anstalteten Rundfrage unter 136 Anstalten des deutschen Sprach-
gebietes erst 30 alkoholfrei waren, während 14 sogar den ihnen
zur Heilung überwiesenen Trinkern noch geistige Getränke ver-
abreichten !
Eine eigenartige Ausbildung hat die Sorge für die Körper-
ernährung in der von Weir Mitchell und Playfair^) eingeführten
,,Mastkur" (feeding-cure) erhalten. Den leitenden Gesichtspunkt
dieses Verfahrens bildet die möglichste Beschleunigung des Stoff-
umsatzes durch überreichliche Ernährung bei gleichzeitiger leb-
hafter Muskelarbeit ohne eigene Anstrengung. Den in Bettruhe ge-
haltenen Kranken werden in sehr kurzen Zwischenräumen große
Mengen nahrhafter, leicht verdaulicher Eßwaren (Milch, Fleisch,
kräftige Suppen) zugeführt, während durch regelmäßige, ausgiebige
Massage und faradische Reizung die gesamte Körpermuskulatur be-
arbeitet wird. Dazu kommt als wichtigster Punkt des Heilplanes
die völlige Entfernung des Kranken aus den gewohnten Verhält-
nissen und die bedingungslose Unterordnung unter den ärztlichen
Willen. Zweifellos spielt dieser psychische Eingriff bei der ganzen
1) Weir Mitchell, fat and blood, 3. Aufl. 1884; Playfair, Die systematische
Behandlung der Nervosität und Hysterie, deutsch v. Tischler. 1883; Burkart,
Volkmanns Klinische Vorträge, 245.
Diätetische Maßregeln.
Kur eine äußerst bedeutsame Rolle. Die Erfolge sind in geeigneten
Fällen staunenswerte; man darf solche aber nur auf dem Gebiete
der eigentlichen Hysterie und zwar dort erwarten, wo keine tief-
greifende psychische Störung, sondern wo wesentlich dauernde
große Willensschwäche (Lähmungen) besteht und die Ernährung
tief gesunken ist.
Ganz besondere Berücksichtigung erfordert die diätetische Be-
handlung der frisch Erkrankten. Hier handelt es sich vor allem
um Beruhigung. Das beste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes
ist die Bettlagerung, die bisweilen schwierig, unter einigermaßen
günstigen Verhältnissen (ausreichendes, gut geschultes Personal)
aber doch meistens durchführbar ist, in manchen Fällen erst nach
einer vorbereitenden Badebehandlung. Bei einiger Geduld kann man
durch diese harmlose Maßregel, welche die Unterschiede in der Be-
handlung psychisch und körperlich Kranker mehr und mehr ver-
wischt, ganz außerordentliche Erfolge erzielen. Dennoch hat sie
sich merkwürdigerweise nur sehr langsam Bahn gebrochen. In
Deutschland hat sich namentlich Neisser^) in dieser Richtung ver-
dient gemacht. Bei uns ist es jetzt wohl überall anerkannt, daß
alle frisch Erkrankten zunächst und unter Umständen für längere
Zeit ins Bett gehören. Ferner wird man jene blutleeren und schwäch-
lichen Kranken, die durch ängstliches Herumlaufen ihre Kräfte zu
erschöpfen drohen, die Nahrungsverweigerer, endlich die Unruhigen
so lange wie irgend möglich im Bett zu erhalten suchen, natürlich
sämtlich unter dauernder Überwachung. Jede Anwendung von Ge-
walt ist dabei vom Übel, weil sie die Erregung nur steigert. Gedul-
diges Zureden und vorübergehendes Gewährenlassen führen weit
besser zum Ziel. Niemand wird sich der augenfälligen Erfahrung
entziehen können, daß die Aufregungszustände aller Art weit milder
im Bette verlaufen, als außerhalb desselben. In schwierigeren
Fällen sinnloser Unruhe, namentlich bei deliranten Kranken, in
epileptischen, katatonischen und paralytischen Dämmerzuständen,
erweisen sich Betten mit hohen gepolsterten Seitenwänden als
zweckmäßig. Ruhige Kranke, die der Bettruhe bedürfen (Melan-
1) Neisser, Berl. klin. Wochenschr., 1890, 38; Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,
L, 447, 1893; Zeitschr. f. praktische Ärzte, 1900, 18 u. 19; Serieux et Farnarier,
Annales medico-psychol., 1900, I, 61; Wizel, ebenda, 1901, I, 56; Bernardini,
Rivista sperim. di freniatria, XXVI, 233.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 38
594
V. Behandlung des Irreseins.
cholische, Gehemmte, Negativistische), wird man nach einiger Zeit
für Stunden täglich aufstehen, in den Garten gehen, im Freien ruhen
lassen, um ihnen den Genuß frischer Luft zu gewähren und den er-
schlaffenden Wirkungen langen Bettliegens entgegenzuarbeiten.
Ganser läßt solche Kranke regelmäßig massieren.
Als letztes Auskunftsmittel bei der Behandlung unruhiger
Kranker gilt die Separierung in offenem oder die Isolierung
in geschlossenem Einzelzimmer. Die erstere, die ja nur mit Ein-
willigung des Kranken möglich ist, hat sehr häufig eine günstige
Wirkung, da sie äußere Reize bis zu einem gewissen Grade abschließt.
Sie ist von Dejerine zu einer planmäßigen Behandlung der Hysterie
ausgebildet worden. Die Kranken kommen in Betten, deren dichte
Vorhänge sie zunächst gänzlich von allen Beziehungen zur Außen-
welt abschließen, um dann nach einer kürzeren oder längeren Zeit
der Selbstbesinnung ganz allmählich wieder in den Verkehr mit der
Umgebung eingeführt zu werden. Bei sich selbst gefährlichen
Kranken ist eine Abtrennung nur unter besonderer Aufsicht durch-
führbar und scheitert oft genug daran, daß der erregte Kranke eben
nicht in dem ihm angewiesenen Räume bleibt oder sich dort un-
möglich macht. Schließt man nunmehr die Türe, so verzichtet man
damit auf die weitere Überwachung, wenn man nicht die häßliche
Einrichtung der Gucklöcher oder Beobachtungsfensterchen aus dem
Gefängnisse herübernehmen und eine ständige Wache vor die Türe
stellen will.
Tatsächlich pflegen sich in den Isolierzimmern oder „Tobzellen"
alsbald eine Reihe der schwersten Übelstände zu entwickeln. Die
Kranken zerreißen rücksichtslos ihr Bettzeug und ihre Kleidung,
bis man am Ende genötigt ist, sie nackt mit einem Haufen Stroh
oder Seegras auszustatten ; sie zertrümmern ihr Eßgeschirr und zer-
kratzen mit den Bruchstücken die Wände, so daß man zu Schüsseln
aus Leder, Pappe oder Brotteig, zu Nachtgeschirren und Bechern
aus Gummi oder Leder greift, ohne doch damit wirkliche Abhilfe zu
schaffen. Alle möglichen Trümmer, zusammengedrehte Leinwand-
tücher mit Steineinlagen, verknotete Wolldecken, abgebrochene
Löffelstiele, wuchtig geschwungene Nachtgeschirre, ohne oder mit
Inhalt, werden zu Waffen, die den eintretenden Arzt oder Pfleger
sehr unangenehm überraschen können; ein eingeschmuggeltes
Streichhölzchen gibt die Möglichkeit gefährlicher Brandstiftungen,
Diätetische Maßregeln.
595
denen schon mehr als ein Kranker erlegen ist. Absichtliche oder
unabsichtHche Selbstverletzungen, Verschlucken von Scherben, Er-
drosselung mit Bettuchstreifen, Schnittwunden durch Glassplitter,
Aufreißen des Skrotums, Anrennen des Kopfes gegen die Wand und
ähnliche Dinge vollziehen sich in der Abgeschiedenheit des Isolier-
zimmers, ohne daß es bemerkt wird, namentlich, wenn noch Doppel-
türen angebracht sind, damit ja kein Laut nach außen dringt. End-
lich beginnen die Kranken meist sehr bald zu onanieren und zu
schmieren. Nicht nur ihr Essen, sondern auch ihre Ausleerungen,
die sie längere Zeit, nicht zur Verbesserung ihrer Zimmerluft, bei
sich beherbergen müssen, dienen ihnen dazu, sich selbst, die Wände
und Decke ihres Zimmer derart einzusalben und zu bemalen, daß
der Eintretende aus dieser Genesungsstätte zurückprallt.
Rechnet man dazu, daß längerer Aufenthalt im IsoHerzimmer
auch den Eintritt der Verblödung begünstigt, daß auf diese Weise
jene Anstaltsartefakte" zustande kommen, die durch ihre Ver-
wilderung den Schrecken ihrer Umgebung bilden, so kann darüber
kein Zweifel sein, daß die Isolierung ein Übel ist, welches man so-
bald wie möglich beseitigen sollte. Diese Erkenntnis ist nicht neu.
Parchappe hat schon 1875 mit Nachdruck die Abschaffung der
Tobzellen gefordert. Leider aber stellen sich der Durchführung dieser
Forderung vielfach ernste Hindernisse entgegen. Will man die Ab-
sperrung einzelner Kranker aus dem Anstaltsgetriebe gänzlich ver-
meiden und den einzig richtigen Grundsatz unausgesetzter Beauf-
sichtigung und Pflege jedes einzelnen restlos durchführen, so be-
darf es dazu einer ganzen Reihe von Einrichtungen, die zum Teil
erhebliche Mittel erfordern, genügender Kräfte an Ärzten und Wart-
personal, zweckmäßiger Wachabteilungen und reichlicher Gelegen-
heit zu Dauerbädern bei Tag und bei Nacht. Wattenberg, Hoppe
und andere haben allerdings gezeigt, daß auch unter den schwie-
rigsten Bedingungen die ,, zellenlose" Behandlung verwirklicht
werden kann. Allein es muß doch immer die Frage aufgeworfen
werden, ob man unter allen Umständen berechtigt ist, von der
Isolierung eines erregten Kranken abzusehen, auch dann, wenn da-
1) Wattenberg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LH, 928; Heilbronner,
ebenda, LIII, 717; Hoppe, ebenda, LIV, 910; Psychiatrische Wochenschr., III,
30; IV, 13; Kalmus, ebenda, II, 49; Wattenberg, ebenda, 1903, 9; Mercklin,
ebenda, 1903, 81.
38*
596
V. Behandlung des Irreseins.
durch ernste Gefahren und Schädigungen für die ebenfalls unserer
Obhut übergebenen Mitkranken verbunden sind. Daß unter gün-
stigen. Verhältnissen die Isolierung grundsätzlich aufgegeben
werden kann, und daß damit ein unvergleichlicher Fortschritt in
unserer Krankenbehandlung herbeigeführt wird, steht für mich
fest; ich habe seit mehr als 7 Jahren keinen Kranken mehr isoliert.
Dennoch würde ich in einem besonderen Ausnahmefalle, namentlich
bei gefährlichen Verbrechern, nicht zögern, zur Isolierung zu greifen.
Fig. XXV, XXVI, XXVII nach alten Abbildungen. Auf dem ersten
Bilde sehen wir einen in der Zwangsjacke steckenden Kranken an
Schultern, Oberarmen und Knöcheln auf einem nachtstuhlartigen
,, Zwangsstuhle" festgeschnallt, ein ehedem sehr häufiger Anblick, dem
man jetzt nur noch in mangelhaften Siechenanstalten hier und da
begegnet. Der zweite Kranke steckt ebenfalls in einer Zwangsjacke,
die wieder an einem großen, von der Wand herabhängenden Polster
festgeschnallt ist; außerdem ist ihm das Stoßen mit den Füßen
durch einen die Beine umgebenden Zylinder unmöglich gemacht.
Auf dem dritten Bilde endlich sehen wir die Arme des Kranken in
sobald es keinen anderen Weg
mehr gäbe, der Umgebung die-
jenige Sicherheit zu verschaffen,
auf die sie gegründeten An-
spruch hat.
Fig. XXV.
Zwangsstuhl und Zwangsjacke.
In dem Heilapparate der älte-
ren Anstalten spielte zur Un-
schädlichmachung der Kranken
und zur Bekämpfung der Auf-
regung eine große Rolle die me-
chanische Beschränkung durch
Zwangsjacke , Zwangsstühle ,
Zwangsbetten, Gürtel mit Hand-
schuhen usf., alles Vorrichtungen,
die dazu dienten, den Kranken
an dem freien Gebrauche seiner
Glieder zu hindern und ihn in
einer bestimmten Lage festzu-
halten. Einige Beispiele solcher
Behandlungsmittel geben die
Diätetische Maßregeln.
597
geschlossenen Ärmeln stecken,
die an einem Leibgurte befestigt
sind. Der Kopf ist von einer Art
Drahtkorb umgeben, der wohl das
Spucken undBeißen verhindern soll.
Das Verdienst, mit allem Nach-
druck auf die Unzweckmäßigkeit,
ja Gefährlichkeit dieser Zwangs-
maßregeln hingewiesen zu haben,
gebührt vor allem dem Engländer
Conolly^); er schaffte sie am
21. September 1839 in Hanwell
mit einem Schlage ab. Sie steigern
die Unruhe und Aufregung des
Kranken, der sich abmüht, sich
frei zu machen; sie erbittern ihn
V . , Fig. XXVI.
gegen seme Arzte unü t-tleger, die wandpolster, Zwangsjacke und Beinkorb,
meist erst nach hartem Kampfe
die verhaßte Beschränkung durch-
zuführen vermögen, und sie ver-
derben das Pflegepersonal, welches
im Vertrauen auf die rohe Gewalt
kein Bedürfnis empfindet, selbst
engere Fühlung mit den Kranken
zu gewinnen und diese nicht so-
wohl durch die Furcht, als viel-
mehr durch die kleinen Kunstgriffe
des hilfsbereiten Wohlwollens be-
herrschen zu lernen. Aus diesem
Grunde spielt das ,,Restraint", die
mechanische Beschränkung, zwar
in schlecht eingerichteten Kran-
kenhäusern und in den häuslichen ''^ --^^^h^m-^-y^
Verhältnissen, zumal bei der weit -£^v^r^. ' "
verbreiteten übertriebenen Angst Fig. XXVII. Kranker mit Drahtmaske.
1) Conolly, Die Behandlung der Irren ohne mechanischen Zwang, deutsch
von Brosius. 1860; Klinke, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIX, 669; Bei-
mond o, Rivista di freniatria sperimentale, XXXI, 254.
598
V. Behandlung des Irreseins.
vor Geisteskranken, leider noch eine gewisse Rolle ■ — das muster-
gültige Anstaltsleben kennt sie nicht mehr. Wir dürfen heute ohne
weiteres sagen, daß die häufigere Anwendung von Zwangsmitteln
irgendwelcher Art in einer Anstalt mit Bestimmtheit entweder auf
schlechte Einrichtungen oder aber auf schlechte Ärzte zurückweist.
Nur dort, wo die peinliche Durchführung des No-restraint-Verfahrens
ein größeres Übel bedeuten würde als die Beschränkung selbst, wo
z, B. das Leben des Kranken in Gefahr schwebt, wie bei schweren
chirurgischen Erkrankungen, unter Umständen auch bei schwie-
rigen Reisen mit sehr gefährlichen und aufgeregten Kranken, kann
Fig. XXVIII. Gitterbett.
die menschliche und ärztliche Berechtigung der Zwangsmittel nicht
zweifelhaft sein.
In der Regel wird man mit dem einfachen Festbinden durch
Bettücher, Handtücher u. dgl, auskommen. Bei wirklich großer
Gefahr wird man endlich nicht zögern, zur Anwendung der Zwangs-
jacke zu greifen, doch kann ich z. B. mitteilen, daß ich in den
letzten 22 Jahren keinen Fall mehr erlebt habe, in dem diese Maß-
regel notwendig geworden wäre. Nur ein einziges Mal während
dieser Zeit war ich genötigt, einen sehr unruhigen Kranken im
epileptischen Dämmerzustande wegen lebensgefährlicher Blutungen
nach einer Operation mit Tüchern im Bett festbinden zu lassen. Die
Zwangsjacke ist, wie die Abbildungen zeigen, eine vorn geschlossene,
hinten verschnürbare Jacke von starkem Segeltuche oder Leder mit
langen Ärmeln ohne Öffnungen, mit Hilfe deren die Arme über der
Psychische Behandlung.
599
Brust gekreuzt festgehalten werden können. Bei sehr fester Anlegung
und langem Liegen derselben entstehen leicht Hautabschürfungen
und Druckbrand an den gefährdeten Stellen; sie muß daher öfters
gelockert und womöglich täglich einige Stunden abgelegt werden.
Kein mechanisch beschränkter Kranker darf ohne be-
ständige Aufsicht gelassen werden; es kommt vor, daß er
sich selbst befreit oder gar erdrosselt.
Eine Art Überbleibsel aus der Zeit der mechanischen Beschrän-
kung bildet das noch jetzt hier und da verwendete und sogar
empfohlene, käfigartige Gitterbett, von dem Fig. XXVIII, einer alten
Abbildung entstammend, eine Vorstellung geben mag. Es steht wohl
zu hoffen, daß diese häßliche Einrichtung durch eine zeitgemäße
Ausgestaltung der Irrenpflege baldigst verdrängt werden wird.
C. Psychische Behandlung.
Besonders der Kampf um die Anwendbarkeit der mechanischen
Beschränkung ist es gewesen, der die Ausbildung einer planvollen
psychischen Behandlung der Geisteskranken angebahnt hat.
Je weniger Arzt und Pflegepersonal gegenüber den Aufregungs-
zuständen ihre Zuflucht zur nackten Gewalt nehmen konnten, desto
mehr mußten sie darauf bedacht sein, sich durch das Mittel der
psychischen Einwirkung Macht über ihre Pflegebefohlenen zu ver-
schaffen. Die Aufgaben dieser Behandlungsweise sind es, einerseits
die Krankheitserscheinungen zurückzudrängen, andererseits die ge-
sunden Vorstellungen und Gefühle zu kräftigen und ihnen schließlich
zum Siege über die krankhaften Störungen zu verhelfen. Es liegt
auf der Hand, daß sich für die Lösung dieser Aufgaben bei der
Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten, die den Angriffspunkt des
irrenärztlichen Handelns bilden, ins einzelne gehende Vorschriften
nicht geben lassen, sondern daß jenes Ziel in jedem Falle wieder
1) Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf
Geisteszerrüttungen. 1803; Leuret. le traitement moral de la folie. 1840; Löwen-
feld, Lehrbuch der gesamten Psychotherapie. 1897; Ziehen, Psychotherapie. 1898;
V. Schrenk - Notzing, Psychotherapie in Eulenburgs Realencyklopädie der ge-
samten Heilkunde; Camus et Pagniez, isolement et psychotherapie. 1904; Vogt,
Zeitschr. f. Hypnotismus, IX, 353; X, 22; Journ. f. Psychol. u. Neurol., I, 146;
D u b o i s , Die Psychoneurosen und ihre psychische Behandlung, deutsch von R 1 n g i e r ,
1905.
6oo
V. Behandlung des Irreseins.
auf anderem Wege erreicht werden muß, dessen Auffindung und
geschickte Verfolgung jeweils der Einsicht und Erfahrung des Arztes
überlassen bleibt.
Mit Recht werden daher wegen dieser großen persönlichen Ver-
antwortlichkeit vom Irrenarzte ganz bestimmte geistige Eigen-
schaften gefordert: „wohlwollender Sinn, große Geduld, Selbst-
beherrschung, eine besondere Freiheit von allen Vorurteilen, ein aus
einer reichen Weltkenntnis geschöpftes Verständnis der Menschen,
Gewandtheit der Konversation und eine besondere Neigung zu
seinem Beruf, die ihn allein über dessen vielfache Mühen und An-
strengungen hinwegsetzt"!). So ausgerüstet, wird er imstande sein,
dem Kranken nicht nur ein Arzt, sondern zugleich ein Erzieher und
Freund zu werden, nicht nur den körperlichen Grundlagen der
Geistesstörung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, sondern durch
die Macht seiner Persönlichkeit verständnisvoll auch die krank-
haften psychischen Erscheinungen selbst zu bekämpfen.
Wirkt schon bei körperlicher Erkrankung der Arzt häufig genug
ebensosehr durch seine persönlichen Eigenschaften wie durch die
Arznei, so erweitert sich hier das Feld der psychischen Behandlung
selbstverständlich in ganz außerordentlichem Maße.
Gerade aus diesem Grunde hat Ludwig 2) wiederholt mit be-
sonderer Wärme die Verwendung wei blich er Ärzte für die weib-
lichen Geisteskranken empfohlen. Er ist der Meinung, daß einer-
seits die Frau ein viel tiefer dringendes Verständnis für das Seelen-
leben ihrer Geschlechtsgenossinnen besitzen wird, und daß anderer-
seits diese weit leichter ihre innersten Regungen einem Weibe ver-
trauen würden, also mehr Trost und Erleichterung bei ihr finden
könnten. Dazu kommt, daß ja vielfach das Erscheinen des Mannes
auf der Frauenabteilung stark erregend wirkt, und daß sich in der
Krankheit Auftritte abspielen können, deren Erinnerung für die
Genesene doppelt peinlich ist, wenn der Arzt Zeuge derselben war.
Endlich läßt sich nicht verkennen, daß die nötigen körperlichen
Untersuchungen, namentlich bei geschlechtlich erregten weiblichen
Kranken, sehr viel zweckmäßiger durch weibliche Ärzte vorzu-
nehmen wären. Da man anderwärts mit dieser Einrichtung gute
Erfahrungen gemacht hat, wird sie sich voraussichtlich auch bei
1) Griesinger, Pathol. u. Therapie der psych. Krankheiten, 4. Aufl., 533.
2) Ludwig, Centralbl. f. Psychiatrie, 1899, 129.
Psychische Behandlung.
6oi
uns einbürgern, sobald einmal brauchbare Kräfte zur Verfügung
stehen.
Der oberste Grundsatz in der psychischen Behandlung der
Geisteskranken ist Offenheit und unbedingte Wahrheits-
liebe. Gerade hier wird von Laien und Ärzten immer wieder
schwer gefehlt. Man scheut sich in ganz unsinniger und ungerecht-
fertigter Weise, einem Geisteskranken zu sagen, daß man ihn für
krank hält, während diese Erkenntnis doch die erste Grundlage für
die ganze Behandlung und nicht selten für den Leidenden selbst
geradezu eine Erlösung bedeutet. Freilich gibt es viele Kranke, die
sich für völlig gesund halten, aber auch hier hat das unselige Ver-
steckspiel, das so häufig mit ihnen getrieben wird, schlechterdings
keinen Nutzen, da die Kranken ja doch durch die Art, wie man sie
behandelt, zu der Erkenntnis kommen müssen, daß man bei ihnen
eine geistige Störung vermutet. Es muß unter allen Umständen für
verwerflich erklärt werden, einen Geisteskranken, in welcher Ab-
sicht immer, zu täuschen, um ihn zu irgendwelchen notwendigen
Maßregeln zu bewegen (Einnehmen von Arzneien, Verbringung in
die Anstalt), zu denen man seine Zustimmung nicht erreichen zu
können glaubt. Weit besser ist es, ihm ruhig und freundlich, aber
fest zu erklären, was man von ihm will und zu welchem Zwecke.
Man wird dabei fast immer sein Ziel schließlich erreichen. Im
äußersten Notfalle greife man lieber zur Gewalt, der sich besonnene
Kranke regelmäßig fügen, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen.
Sie werden ein derartiges Vorgehen stets leichter verzeihen als die
List, deren unvermeidliche Aufdeckung sehr gewöhnlich ein un-
ausrottbares Mißtrauen im Gefolge hat. Ebenso notwendig ist es,
dem Kranken niemals eine Versprechung zu machen, die man nicht
zu halten gesonnen oder imstande ist. Andernfalls verscherzt man
dauernd sein Vertrauen und verliert damit die Grundlage jeder
weiteren Behandlung.
Den Wahnideen der Kranken gegenüber wird sich der Arzt stets
einfach ablehnend verhalten. Er wird ihnen weder durch schein-
bares Zustimmen neue Nahrung geben noch sie in langen Aus-
einandersetzungen ausführlich bekämpfen, noch viel weniger aber
etwa sie ins Lächerliche ziehen und dadurch die Kranken erbittern.
Damit soll ein freundlich-scherzhaftes Behandeln oder Ablehnen
von Wahnbildungen, wie es bei manchen manischen Kranken an-
602
V. Behandlung des Irreseins.
gebracht sein kann, nicht ausgeschlossen werden. Der Beantwortung
in gereiztem Tone gestellter, herausfordernder Fragen weiche man
in ruhiger Weise aus, ohne aber dabei den ärztlichen Standpunkt
irgendwie zu verleugnen. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß der
Grundsatz unbedingter Offenheit durchaus nicht dahin führen darf,
ohne zwingenden Anlaß hartnäckig jeder krankhaften Äußerung zu
widersprechen, die der Kranke etwa fallen läßt. Vielfach, namentlich
bei schwachsinnigen (paralytischen) oder sehr gereizten Kranken,
wird man sich auf die gelegentliche Feststellung der Krankhaftigkeit
des Zustandes beschränken, die geäußerten Wahnideen übergehen,
unbeachtet lassen und nur die krankhaften Handlungen verhindern,
soweit sie eine Schädigung des eigenen oder des Wohles der übrigen
Kranken in sich schließen.
Auch in bezug auf diesen letzteren Punkt wird es sich in der
Hauptsache darum handeln, nach Möglichkeit die schlimmen Wir-
kungen derjenigen Krankheitsäußerungen abzuschwächen, die man
durch die Behandlung nicht verhüten kann. Zu diesem Zwecke ver-
setzt man den Kranken in eine Umgebung, in welcher die Gefahr
des Selbstmordes, der Selbstbeschädigung, der Gewalttätigkeit, der
Zerstörung, Unreinlichkeit usf. durch Überwachung und besondere
Einrichtungen, soweit irgend angängig, eingeschränkt ist. In der
Abgeschlossenheit einer Wachabteilung ist der Kranke in Wirklich-
keit viel freier als zu Hause, wo jeder seiner Handlungen wegen
der möglichen schweren Folgen sogleich Widerstand entgegen-
gesetzt werden muß. Abgesehen von der Durchführung unumgäng-
licher ärztlicher Maßnahmen lasse man den Kranken recht frei ge-
währen und erbittere ihn nicht durch kleinliche Bevormundung oder
häufige Ermahnungen. Nur die Rücksicht auf ernstere Mißstände
oder Gefahren wird den Arzt veranlassen, dem Treiben des Kranken
freundlich, aber mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Er wird dann,
wenn es durchaus sein muß und alles gütliche Zureden umsonst ge-
blieben ist, auch vor der Anwendung der Gewalt nicht zurück-
schrecken, um eine als notwendig erkannte Maßregel durchzuführen.
Natürlich soll auch jetzt so schonend wie irgend möglich vor-
gegangen und jede Anknüpfung zu gütlicher Erreichung des Zieles
benutzt werden.
Unter keinen Umständen soll irgendeine vom Arzte angeordnete
oder durchgeführte Maßregel den Anschein der Disziplinierung
Psychische Behandlung.
603
tragen. Die Versetzung auf eine andere Abteilung, die Entziehung
des Ausganges, die Absonderung soll durchaus immer nur aus rein
ärztlichen Gründen geschehen, um drohendem Unheil zu begegnen.
Sobald diese Gründe hinfällig geworden sind, werden auch die durch
sie bedingten Anordnungen fallen müssen. Gerade darum ist es
verwerflich, die Gewährung kleiner harmloser Vergünstigungen, die
Verabreichung von Tabak oder besonderen Verordnungen aufge-
regten Kranken zu entziehen oder gar diese mit Einspritzungen,
kalten Bädern und Duschen zu behandeln, um sie zu geordneterem
Benehmen zu veranlassen. Solche Erziehungsversuche nützen gar
nichts, erbittern aber die Kranken und nähren im Personal die ohne-
dies noch allzu fest wurzelnde Vorstellung, daß die Kranken schon
artig sein könnten, wenn sie nur wollten.
Bei allen mehr oder weniger rasch sich abspielenden Formen
der Geistesstörung ist die Aufgabe der psychischen Behandlung
wesentlich eine abwartende. Überall handelt es sich hier um krank-
hafte Erregungszustände des Gehirns, die vor allen Dingen Ruhe
und immer wieder Ruhe fordern. Der Arzt hat daher in erster
Linie für die möglichste Fernhaltung aller äußeren und inneren
Reize zu sorgen. Dahin gehören namentlich der Verkehr mit den
nächsten Angehörigen, die lebhaften Gefühlsbeziehungen, die aus
der täglichen Umgebung, dem Berufe der Kranken, aus langen
Unterredungen, Vorhaltungen, ja oft auch aus wohlgemeinten Trost-
worten entspringen. Darum werden in der ersten Zeit der Krankheit,
solange lebhafte gemütliche Erregbarkeit besteht, die Besuche mehr
oder weniger streng einzuschränken sein, während sie späterhin
sehr wertvoll sein können, um das Band zu den früheren Lebens-
beziehungen wieder anzuknüpfen. Auf jede eigentliche Tätigkeit
muß verzichtet werden, da das erkrankte Gehirn zu seiner Genesung
durchaus der sorgfältigsten Schonung bedarf. Vielfach erfüllt sich
diese Vorschrift ganz von selbst, weil der Kranke zu jeder geord-
neten oder andauernden Beschäftigung unfähig ist. Bei manischen
und erregten paralytischen Kranken, bei denen man die Äußerungen
des Betätigungsdranges nicht abschneiden kann, hat man wenigstens
dafür Sorge zu tragen, daß alle jene Reibungen und Kämpfe weg-
fallen, die mit der Berufstätigkeit unzertrennlich verbunden sind.
Ferner versteht es sich ganz von selbst, daß alle aufregenden
Auseinandersetzungen und Mitteilungen in dieser Zeit vollständig
6o4
V. Behandlung des Irreseins.
vermieden werden müssen. Auch ohne daß man den Kranken ge-
radezu täuscht, wird es fast immer mögUch sein, ihn vor allen Nach-
richten zu bewahren, die voraussichtlich eine stärkere Erschütte-
rung seines gemütlichen Gleichgewichtes herbeiführen könnten.
Man wartet mit solchen unliebsamen Eröffnungen bis zum Eintritte
der Beruhigung, um auch dann den Boden vorher sorgfältig und
schonend vorzubereiten. Nur dann, wenn dringende Gefahr besteht,
daß dem Kranken eine schmerzliche Nachricht auf keine Weise vor-
enthalten werden kann, ist es natürlich angezeigt, sie ihm recht-
zeitig in der richtigen Form zu überbringen, um einer unvorher-
gesehenen Entdeckung durch einen unglücklichen Zufall vorzu-
beugen. Nicht selten wird man dabei die überraschende Beobachtung
machen, daß der Kranke, solange er noch durch seine eigenen Zu-
stände stark in Anspruch genommen ist, selbst sehr aufregende
Nachrichten verhältnismäßig gleichmütig hinnimmt; erst in der
Genesung tritt dann die Gemütsbewegung stärker hervor.
Völlig unmöglich ist es, woran man zunächst denken könnte,
den krankhaften Gefühlen und Vorstellungen auf demselben Wege
beizukommen, auf dem man die Verstimmungen und Irrtümer der
Gesunden bekämpft. Die ältere Psychiatrie, die das Irresein wesent-
lich als psychische Verirrung auffaßte, hat diesen Weg vielfach
eingeschlagen. Traurige Verstimmungen suchte man durch an-
genehme Eindrücke, sanfte Musik (König Saul), Vorführung an-
mutiger Tänze, Versetzung in schöne Gärten zu heben. Die Zorn-
mütigkeit sollte durch rücksichtslose Überwältigung, Stockschläge,
scharfe Zucht, Erweckung von Furcht und Grauen bekämpft werden.
Der verwirrte oder benommene Kranke sollte durch starke Sinnes-
eindrücke, durch „erschütternde Stöße auf seine Phantasie gleich-
sam aus seinem Taumel geweckt werden". „Man ziehe ihn mit
einem Flaschenzug an ein hohes Gewölbe auf," sagt Reil, „daß
er wie Absalom zwischen Himmel und Erde schwebt, löse Kanonen
neben ihm, nahe sich ihm, unter erschreckenden Anstalten, mit
glühenden Eisen, stürze ihn in reißende Ströme, gebe ihn scheinbar
wilden Tieren, den Neckereien der Popanze und Unholde preis,
oder lasse ihn auf feuerspeienden Drachen durch die Lüfte segeln.
Bald kann eine unterirdische Gruft, die alles Schreckende enthält,
was je das Reich des Höllengottes sah, bald ein magischer Tempel
angezeigt sein, in welchem unter einer feierlichen Musik die Zauber-
Psychische Behandlung.
605
kraft einer reizenden Hulda eine prachtvolle Erscheinung nach
der andern aus dem Nichts hervorruft." Durch Versetzung in alle
möglichen Gefahren, die seine Aufmerksamkeit anstacheln und ihn
zur Aufbietung aller seiner Kräfte zwingen, sollte der Kranke dazu
erzogen werden, seine Gedanken wieder der Außenwelt zuzuwenden
und seinen Willen zu kräftigen.
Wir wissen heute, daß alle diese Bestrebungen, durch die er-
staunliche Heilungen erzielt wurden, aus einer kindlichen Ver-
kennung des Wesens der Geistesstörungen hervorgingen. Der
Traurige, den man auf Bällen und Konzerten, auf Reisen oder in
lustiger Gesellschaft aufzuheitern versucht, wird nur desto schmerz-
licher und peinvoller von allen äußeren Eindrücken berührt; die
Mißhandlung der Erregten steigert ihre Reizbarkeit und macht
sie schließlich zu vertierten Schreckgestalten. Das Gehirn des
verwirrten Kranken bedarf vor allem der Ruhe, um wieder zur
Klarheit zu gelangen, und die Kräfte des Willenlosen können nur
durch planmäßige Beschäftigung geübt werden. Die Bemühungen
endlich, aufsteigende Wahnideen durch Vernunftgründe zu wider-
legen, bleiben ohnmächtig gegenüber der Gewalt der inneren Vor-
gänge, aus denen jene letzteren sich immer von neuem erzeugen.
Versetzung des Kranken in eine fremde, ihm gleichgültige und
darum reizlose, ruhige Umgebung, in der man ihm Verständnis
ohne Neugier, Wohlwollen ohne Aufdringlichkeit entgegenbringt,
ist daher das erste Erfordernis für die Besserung seines Zustandes.
Auch im weiteren Verlaufe ist ein entscheidender Einfluß der
psychischen Behandlung auf den Verlauf der Krankheit meist nicht
erkennbar. Dennoch steht es fest, daß freundlicher, verständiger
Zuspruch das Herz des Ängstlichen und Niedergeschlagenen er-
leichtern, geduldiges, gleichmäßiges Entgegenkommen den Ge-
reizten und Erregten beruhigen kann, wenn auch immer nur vorüber-
gehend, ohne Nachhaltigkeit. Auch die planmäßige Nichtbeachtung
gewisser aufdringlicher Krankheitserscheinungen, das Vermeiden
erregender Aussprachen, die Ablenkung des Gedankenganges auf
gleichgültige Gebiete können Behandlungsverfahren sein. Vielleicht
sind alle diese kleinen täglichen Bemühungen, die psychischen
Spannungen auszugleichen, doch bis zu einem gewissen Grade ge-
eignet, den natürlichen Heilungsvorgang zu unterstützen. Wir
dürfen das wenigstens schließen aus der Erfahrung, daß verkehrte
6o6
V. Behandlung des Irreseins.
psychische Behandlung, wie sie bisweilen durch Angehörige, schlech-
tes Personal oder andere Kranke geübt wird, ohne jeden Zweifel
die Krankheitszustände nachhaltig verschlimmern kann, Geduld,
liebevolles Eingehen auf die einzelne Persönlichkeit, Nachgiebigkeit
ohne Schwäche auf der einen, gleichmäßige Festigkeit ohne Starr-
heit auf der anderen Seite müssen die leitenden Gesichtspunkte für
die ärztliche Tätigkeit abgeben.
Erst mit dem Beginne einer deutlichen Beruhigung des Kranken
erfährt die Aufgabe der psychischen Behandlung eine gewisse Ände-
rung. Solange seine Aufmerksamkeit zwangsweise durch die Stö-
rung selbst in Anspruch genommen wird und nur für krankhafte
Gefühle und Vorstellungen im Bewußtsein Raum gegeben ist, pflegt
er für die Vorgänge der Außenwelt meist wenig Sinn zu haben.
Obgleich er, der früher vielleicht keine Stunde müßig sein konnte,
nun Wochen- und monatelang die Hände in den Schoß legt oder
sich in zwecklosem Bewegungsdrange erschöpft, empfindet er doch
keine Langeweile, da ihm mit der Fähigkeit auch der Antrieb zu
nützlicher Tätigkeit verloren gegangen ist. Jeder Versuch, ihn durch
äußere Einwirkungen aus diesem Zustande herauszureißen, bleibt
in der Regel ergebnislos und kann sogar durch die Erregung, in
die er den Kranken versetzt, geradezu schädlich wirken. All-
mählich indessen tauchen auch die früheren, gesunden Gefühle
und Gedankenkreise wieder hervor, und es gilt daher, ihnen die
Aufmerksamkeit des Kranken mehr und mehr zuzuwenden. Je
nach seiner Persönlichkeit gestalten sich dabei die Hilfsmittel
und die Richtung der Heilbestrebungen natürlich äußerst ver-
verschieden.
Vor allem handelt es sich um die Auswahl einer passenden,
wohl anregenden, aber nicht anstrengenden Beschäftigung^), da
sie am meisten geeignet ist, die Gedanken des Kranken von den
Zuständen des eigenen Innern abzuziehen und in ihm die Teilnahme
an der Außenwelt, an der gewohnten Tätigkeit wieder zu erwecken.
Unterhaltender Lesestoff, die Lösung leichter geistiger Aufgaben,
Spiele aller Art, Musikübungen, andererseits körperliche Arbeit, die
sich den früheren Beschäftigungen möglichst anpaßt. Handwerkerei,
Garten- und Feldarbeit, Leibesübungen, bei Weibern Nähen, Waschen.
^) Starlinger, Psychiatrische Wochenschr., 1907, 53.
Psychische Behandlung.
607
Kochen u. dgl. in mannigfachster Abwechslung, dienen in gleicher
Weise der Erfüllung des Behandlungszweckes. Damit können sich
weiterhin Zerstreuungen , Besuche , Spaziergänge , gelegentliche
kleine Festlichkeiten in vorteilhafter Weise verbinden, während
geräuschvolle Vergnügungen, Bälle, große Theateraufführungen nach
meiner Erfahrung weit mehr Schaden als Nutzen stiften und zu dem
Wesen eines Krankenhauses herzlich schlecht passen.
Eine besonders hervorragende Rolle spielt die Anleitung zu einer
passenden Beschäftigung bei den Endzuständen ungeheilter Geistes-
störungen. Wenn der eigentliche Krankheitsvorgang einigermaßen
zum Stillstande gekommen und eine gewisse Beruhigung eingetreten
ist, finden wir in der geregelten Tätigkeit das Mittel, die gesunden
Vorstellungskreise und Strebungen wieder anzuregen. Namentlich in
abgelaufenen Fällen von Dementia praecox, wie sie unsere Anstalten
füllen, liegt bei dem Verluste der Willensregsamkeit die Gefahr des
geistigen Versinkens ungemein nahe. Ihr wirkt die Heranziehung
zu den früher gewohnten Beschäftigungen erfolgreich entgegen; sie
erweckt in den anscheinend völlig stumpfen und unfähigen Kranken
oft noch eine überraschende Menge von Fertigkeiten, deren Übung
und Pflege wenigstens einen bescheidenen Rest von Selbständigkeit
und geistigem Leben zu retten ermöglicht.
Gilt es hier, die fehlende Tatkraft durch äußere Anregung zu
ersetzen, so haben wir andererseits bei vielen Psychopathen 1) das
mangelnde Selbstvertrauen, das krankhafte Gefühl der Unfähigkeit
und Schonungsbedürftigkeit durch die Anleitung zur Arbeit zu be-
kämpfen. Während das Nichtstun und Erholen diese Zustände ent-
schieden verschlechtert, räumt die planmäßige Erziehung zur Arbeit
und die Übung nach und nach die Hindernisse aus dem Wege,
weckt die natürliche Freude am Schaffen und hebt das Gefühl der
eigenen Leistungsfähigkeit. Von größtem Werte für alle diese
willensschwachen und ängstlichen Persönlichkeiten ist das gemein-
same Betreiben von sportlichen Übungen. Der Anreiz, der im Wett-
bewerbe liegt, spornt zur Erreichung von Höchstleistungen an und
bewirkt dadurch eine Erziehung und Kräftigung des Willens, wäh-
rend die erzielten Fortschritte und Erfolge das Selbstvertrauen kräf-
tigen und die ängstlichen Hemmungen verscheuchen. Ähnliches
1) Gr oh mann. Technisches und Psychologisches in der Beschäftigung von
Nervenkranken. 1899.
6o8
V. Behandlung des Irreseins.
trifft für die traumatische Neurose zu, deren vernichtender Einfluß
auf die Arbeitsfreudigkeit und Arbeitsfähigkeit ledigHch durch die
Arbeit selbst bekämpft werden kann.
Günstige Erfolge sieht man nach Ablauf der schwereren Krank-
heitserscheinungen nicht selten von einem völligen Wechsel der
Umgebung. So entstehen die neuerdings von Ricklin besonders
untersuchten „Versetzungsbesserungen". Namentlich Kranke mit
Dementia praecox sind solchen Einflüssen zugänglich. Wenn wir
sie schon bei Besuchen öfters ein völlig verändertes Benehmen
zeigen sehen, so kann die Versetzung in eine andere Abteilung,
das Hinausbringen in den Garten, die Heranziehung zur Arbeit
ähnliche Wirkungen haben. Auch die Übersiedelung aus einer An-
stalt in eine andere bildet öfters einen Wendepunkt, um so mehr,
wenn die neuen Verhältnisse günstigere sind. Wiederholt habe ich
es ferner erlebt, daß Kranke, deren häusliche Verpflegung mir gänz-
lich unmöglich schien, in ihrer Familie sich sofort der gewohnten
Tätigkeit zuwandten und keine Spur der bis dahin bestehenden
schweren Krankheitserscheinungen, Stummheit, Nahrungsverweige-
rung, Unreinlichkeit, mehr darboten. Freilich waren sie darum
nicht gesund.
Seit alter Zeit hat man immer wieder den Versuch gemacht,
das Zurücktreten der psychischen Störungen durch besondere, gegen
sie gerichtete Maßregeln zu erzwingen. So werden uns aus der
Jugend der Psychiatrie zahlreiche Versuche berichtet, durch scharf-
sinnige Überredungskünste und Überrumpelungen der Kranken ihre
Wahnvorstellungen zu beseitigen. Dem Kranken, der gläserne Beine
zu haben glaubte, warf man ein Stück Holz an die Füße; dem-
jenigen, der Schlangen und Kröten im Leibe hatte, gab man ein
Brechmittel, um in das Erbrochene jene Tiere hineinzubringen ; dem,
der ein Kaninchen im Kopfe fühlte, machte man einen Kreuz-
schnitt und zeigte ihm dann das herausgenommene blutige Tier.
„Einem Verrückten ohne Kopf setzte man einen Hut von Blei
auf; einem anderen, der immer zu frieren glaubte, wurde ein Schaf-
pelz angezogen, der in Branntwein eingetaucht und angezündet
wurde." Kranken mit Verfolgungsideen spielte man eine Zeitung mit
der Todesanzeige ihrer Verfolger in die Hände oder eine hohe obrig-
keitliche Verfügung, die jenen ihr Treiben untersagte. Vom Teufel
Besessene wurden mit Weihwasser besprengt. Kranke mit Ver-
Psychische Behandlung.
609
sündigungsideen feierlich losgesprochen. Frauen, die schwanger zu
sein meinten, half man durch eine Scheinentbindung mit untergescho-
benem Kinde, ja, man glaubte auch den Größenwahn dadurch heilen
zu können, daß man dem Kranken, soweit es möglich war, wirk-
lich das verschaffte, was er zu haben glaubte, also z, B. einem
Geistlichen den Kardinalstitel. Es ist indessen klar, daß alle diese
Künste nichts helfen können, da sie die Störung nicht beseitigen,
aus der die Wahnbildung hervorgeht. Selbst die Berufung auf den
Augenschein ist machtlos, wo die Fähigkeit zu gesunder Beurteilung
der Dinge verloren gegangen ist. Die Wahnvorstellung bleibt un-
erschüttert, oder sie wird durch eine andere ersetzt. Ganz Ähnliches
gilt von dem Leuretschen „Intimidations-System", welches einst-
mals jede krankhafte Äußerung durch die Dusche und kalte Über-
gießungen zu unterdrücken und so das Irresein zu heilen suchte.
So pflegte Gudden von einem Kranken Jacobis zu erzählen, der
sich für Gott hielt und durch planmäßige Einschüchterung zur Ab-
leugnung dieses Wahnes gebracht worden war. Als er ,, geheilt"
die ersten Schritte aus der Anstalt getan hatte, drehte er sich um
und bedrohte alle seine Peiniger mit den furchtbarsten Strafen,
die auf seinen, Gottes, Wink unfehlbar hereinbrechen würden.
Ein überaus verführerischer Ausblick schien sich in neuerer
Zeit der psychischen Behandlung des Irreseins durch die staunen-
erregenden Tatsachen der suggestiven Beeinflussung in der Hyp-
nose^) eröffnen zu wollen. Wenn es auf dem angedeuteten Wege
gelingt, über die Wahrnehmungen, die Gedanken, den Willen eines
Menschen nicht nur für den Augenblick, sondern auch für längere
Zeit und sogar ohne sein Wissen eine fast unumschränkte Herr-
schaft zu erlangen, so muß ein solches Verfahren gerade für den
Irrenarzt, dem die Beseitigung krankhafter Erscheinungen auf allen
jenen Gebieten anheimfällt, von kaum hoch genug zu schätzen-
dem Werte sein. Leider hat die Erfahrung diese Erwartung bisher
nur in geringem Maße gerechtfertigt. So leicht es gewöhnlich ge-
1) Wetterstrand, Der Hypnotismus und seine Anwendung in der praktischen
Med izin. 189IJ Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und
Psychotherapie, deutsch von Freud. 1893; Hecker, Hypnose und Suggestion im
Dienste der Heilkunde. 1893; Lloyd Tuckey, Psychotherapie oder Behandlung
mittels Hypnotismus und Suggestion, 5. Aufl. 1907; deutsch von Tatzel. 189S;
Löwenfeld, Der Hypnotismus. 1901; v. Voss, Der Hypnotismus, sein Wesen,
seine Handhabung und Bedeutung für den praktischen Arzt. 1907.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 39
6io
V. Behandlung des Irreseins.
lingt, geistig gesunde Menschen dem Einflüsse der Hypnose zu
unterwerfen und sie dabei von allem möglichem Schmerz und Un-
behagen zu befreien, so wenig zugänglich erweisen sich zumeist
Geisteskranke für jenes Heilmittel. Die Macht der Suggestion ist
hier, wahrscheinlich wegen der häufigen Aufmerksamkeitsstörungen
und lebhaften Eigensuggestionen, eine weit geringere als unter
gewöhnlichen Verhältnissen. Aus diesem Grunde fällt es nicht nur
im allgemeinen schwerer, Geisteskranke zu hypnotisieren, sondern
der Einfluß des Arztes wird auch fast niemals ein so wirksamer
und namentHch nachhaltiger. So ist es z. B. nicht möglich, in
der Hypnose etwa eingewurzelte Wahnideen auszureden, die wir ja
gewissermaßen als dauernde Eigensuggestionen auffassen können.
Dagegen scheinen Sinnestäuschungen, Appetit- und Schlafstörungen,
Schmerzen, vor allem aber Angstzustände der hypnotischen Be-
handlung bis zu einem gewissen Grade zugänglich zu sein. Ebenso
vermag sie bei der Befreiung von Alkohol und Morphium öfters
gute Dienste zu leisten.
Am nächsten liegt es natürHch, die Suggestionen bei jenen
Formen des Irreseins in Anwendung zu bringen, bei welchen er-
fahrungsgemäß psychische Wirkungen ohnedies eine herrschende
Rolle im Krankheitsbilde spielen, bei der Hysterie und der Nervo-
sität. Ohne Zweifel ist es hier möglich, gelegentlich überraschende
Erfolge zu erzielen, wie schon die Paradefälle der ,,Heilmagneti-
seure" lehren, doch sind hindernde Eigensuggestionen sehr häufig,
und es besteht immerhin die Gefahr der Entwicklung autohypno-
tischer Zustände, wenn sie auch durch großes Geschick des Arztes
und geeignete Handhabung des Verfahrens meiner Überzeugung nach
völlig vermieden werden kann. Auch bei der traumatischen Neurose
sind die Erfolge der hypnotischen Behandlung weniger glänzend,
als man vielleicht hätte hoffen dürfen. Dagegen ist die sogenannte
monosymptomatische Hysterie, der ich auch aus diesem Grunde
eine Sonderstellung einräumen möchte, dem heilenden Einflüsse
der Suggestivbehandlung in sehr erfreulicher Weise zugänglich. Das
gleiche gilt von der ihr offenbar klinisch sehr nahe stehenden Er-
wartungsneurose, bei der sich die mannigfachsten körperlichen
Störungen, in denen die ängstliche Spannung der Kranken zutage
tritt, unter dem Einflüsse der hypnotischen Beruhigung oft mit
verblüffender Schnelligkeit bessern. Bei den übrigen Formen des
Psychische Behandlung.
6ll
Entartungsirreseins, namentlich bei den Zwangsbefürchtungen, sind
wohl oft vorübergehende, aber nur hie und da und nur bei größter
Geduld und Sachkenntnis dauernde Erfolge zu erzielen. Endlich
ist auch die früher für unheilbar geltende konträre Sexualempfin-
dung nicht ohne Nutzen auf diese Weise behandelt worden.
Wenn nach diesen Erwägungen der Wirkungsbereich der hyp-
notischen Beeinflussung bei Geisteskranken heute auch ein weit
beschränkterer genannt werden muß, als zunächst erwartet werden
konnte, so liegt in dem bisher Erreichten doch die dringende Mah-
nung für den Irrenarzt, sich mit der Anwendung dieses Heilver-
fahrens auf das eingehendste vertraut zu machen, sei es auch nur,
um nicht durch unsachgemäßes Vorgehen Schaden anzurichten.
Die zweckmäßigste und anscheinend ungefährlichste der bisher
bekannten Anwendungsformen des Hypnotismus ist ohne Zweifel
diejenige der mündlichen Suggestion, wie sie von Bernheim
und seinen Schülern geübt wird. Von einer eingehenderen Be-
schreibung derselben muß hier unter Hinweis auf die angeführten
Werke abgesehen werden, vor allem auch deswegen, weil das ganze
Verfahren nicht unbedeutende Anforderungen an die persönliche
Gewandtheit und Geistesgegenwart des Arztes stellt und im ein-
zelnen nur durch die Anschauung erlernt werden kann.
Ein weiteres eigenartiges Verfahren der psychischen Behandlung
ist in neuester Zeit von Breuer und Freud^) ausgearbeitet worden.
Es geht von der Anschauung aus, daß gewisse psychogene Er-
krankungen, namentlich die Hysterie, durch die Verdrängung un-
angenehmer geschlechtlicher Erlebnisse der frühesten Kindheit aus
dem Erinnerungsschatze entstehen. Die Aufgabe des Arztes wäre es
demnach, solche Vorgänge aufzudecken und sie zum klaren Be-
wußtsein zu bringen. Dadurch sollen sie ihre unheilvolle Wirkung
auf das Seelenleben verlieren, die sich sonst in mannigfachen Krank-
heitserscheinungen, insbesondere auch in Zwangsvorstellungen,
äußert. Die Lösung dieser Aufgabe erfolgte ursprünglich im hyp-
notischen Zustande, der es gestattete, allerlei Erinnerungen zu
wecken, die dem wachen Bewußtsein nicht zugänglich waren.
War dann die vermeintliche Ursache der vorliegenden Störungen
in einem geschlechtlichen Kindheitserlebnisse gefunden und ans Licht
1) Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 1906; Bezzola,
Journ. f. Psychol. u. Neurol., VIII, 204.
39*
6l2
V. Behandlung des Irreseins.
gebracht, so war damit die reinigende, „kathartische" Wirkung der
Behandlung erreicht und die wühlende Kraft der unbewußten Er-
innerung gebrochen.
Freud verzichtete späterhin auf die Hypnose und wandelte das
Verfahren in dasjenige der „Psychoanalyse" um. Soweit sich aus
den bisher vorliegenden Schilderungen entnehmen läßt, handelt
es sich dabei um den Versuch, einen Einblick in die Wirkung
unbewußter oder unterbewußter Vorgänge auf das Seelenleben
aus den unwillkürlich auftauchenden Vorstellungen zu gewinnen.
Die Kranken werden in Ruhelage und unter Fernhaltung aller
äußeren Störungen angewiesen, alles mitzuteilen, was ihnen in
den Sinn kommt, während der Arzt auf immer neue Enthül-
lungen dränge^ Zugleich werden auch die Träume des Kranken,
seine unbeabsichtigten, scheinbar planlosen Handlungen, Ver-
sprechen oder Vergreifen, genau beachtet, weil sich hier überall
die Wirkungen des „verdrängten" Vorganges zeigen können. Er-
fahrungsgemäß leistet der Kranke, der übrigens einen gewissen
Bildungsgrad und einen einigermaßen verlässigen Charakter besitzen
muß, auch nicht zu alt (nicht über 50 Jahre) sein darf, der Auf-
deckung gerade der verdrängten Erinnerung einen bisweilen sehr
zähen Widerstand, so daß die Behandlung meist recht langwierig
wird und sich über Jahr und Tag erstrecken kann. Wird endlich
der Widerstand unter lebhaften Unlustgefühlen überwunden, so
wird der „eingeklemmte Affekt" frei und verliert damit seine
krankmachende Wirkung. Um aber bis zu diesem Punkte, oft auf
sehr verschlungenen Pfaden, zu gelangen, bedarf es einer beson-
deren „Deutungskunst", die es versteht, die wahre, hinter Sinn-
bildern versteckte Bedeutung der von dem Kranken gelieferten
Gedankengänge und Handlungen herauszufinden. Was bisher von
dieser „Deutungskunst" bekannt geworden ist, läßt es völlig be-
greiflich erscheinen, daß die „Psychoanalyse" niemals Gemeingut
werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst, als Wissenschaft. Ihren
Stoff bilden unbeweisbare Gedankenspielereien, die sich um einen
ganz kleinen Kern wirklich unzweideutiger Beobachtungen grup-
pieren. Wenn sie Erfolge hat, was bei der Eindringlichkeit des Ver-
fahrens und der Art der behandelten Zustände nicht zu bezweifeln
ist, so dürften sie sicherlich nicht auf dem ,, Abreagieren" einge-
klemmter Affekte, sondern auf der Wirkung der ärztlichen Per-
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
613
sönlichkeit und der von ihr ausgehenden Suggestionen beruhen.
Ob jedoch das planmäßig fortgesetzte, unablässige Drängen nach
peinlichen geschlechtlichen Enthüllungen wirklich immer so un-
schädlich ist, wie Freud es darstellt, darf bis auf weiteres billig
bezweifelt werden.
D. Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
Ein Rückblick auf die ganze Reihe der Behandlungsmittel so
verschiedener Art, die dem Irrenarzte zu Gebote stehen, läßt leicht
erkennen, daß seine Tätigkeit sich im wesentlichen gegen die
Krankheitszeichen richtet, wie das ja bei der ungenügenden Aus-
bildung unserer Ursachenlehre und den Schwierigkeiten, die Ur-
sachen, selbst wo wir sie kennen, zu beseitigen, kaum anders er-
wartet werden darf. Nur in den wenigen Fällen, in denen als Ent-
stehungsbedingungen des Irreseins fieberhafte Krankheiten, Ver-
giftungen, Neuralgien, Magen- und Darmleiden, Erkrankungen der
Nieren oder Geschlechtswerkzeuge, der Schilddrüse, Syphilis usw.
gegeben sind, kann unter Umständen von einer wirklich ursäch-
lichen Behandlung die Rede sein, auf deren Einzelheiten wir hier
natürlich nicht einzugehen haben. Dagegen ist es von Wichtigkeit,
noch die -Behandlung gewisser besonderer, bei verschiedenen Formen
des Irreseins wiederkehrender Krankheitserscheinungen einer
kurzen Besprechung zu unterziehen.
Zunächst haben wir der psychischen Erregung^) zu ge-
denken, deren nachdrückliche Behandlung namentlich dann not-
wendig wird, wenn sie eine Erschöpfung des Kranken herbeizu-
führen droht. Von größter Wichtigkeit ist es, erregte Kranke so
rasch wie möglich von anderen abzutrennen, da die Unruhe an-
steckend wirkt. Man bringt daher den Kranken am besten in ein
Nebenzimmer und versucht hier, die dauernde Bettruhe unter fort-
gesetzter Überwachung durchzuführen. Erweist sich das als un-
möglich, so wird man bei den meisten Kranken durch die An-
wendung warmer Dauerbäder ohne weiteres zum Ziele kommen,
namentlich, wenn man im Anfange die Durchführung dieser Maß-
regel durch Arzneimittel (Trional, Veronal, Hyoscin) unterstützt.
1) Gross, AUgem, Zeitschr. f. Psychiatrie, LVI, 953, 1899; Pf ist er, Die An-
wendung von Beruhigungsmitteln bei Geisteskranken. 1903.
6i4
V, Behandlung des Irreseins.
Stößt die Badebehandlung auf Schwierigkeiten, was namentlich
bei katatonischen Erregungszuständen vorkommt, so schreitet man,
unter Umständen ebenfalls unter Mitwirkung einer Arzneigabe, zu
feuchtwarmen Wicklungen, an die sich der Kranke regelmäßig
sehr rasch gewöhnt, auch wenn er sich im Anfange lebhaft sträubt.
Dauert die Unruhe in der Wicklung fort, so wird der Kranke nach
kurzer Zeit wieder befreit und versuchsweise ins Bad gebracht,
um wieder in die Wicklung zurückzukehren, sobald die Behand-
lung auch dort nicht möglich ist. Eine regelmäßige, geduldige
Wiederholung dieses Wechsels hat mich, seitdem ich in der Lage
war, ihn auch die Nacht hindurch fortsetzen zu können, fast immer
binnen wenigen Tage zum Ziele, d. h. dahin geführt, daß die Kranken
ohne Schwierigkeit im Bade blieben. Die Anwendung von Be-
täubungsmitteln kann von diesem Augenblicke an fortfallen. Meist
bleiben die Kranken nach einigen mißlungenen Versuchen ganz
ruhig in der Wicklung. Sie werden dann nach spätestens zwei
Stunden ausgepackt und ins Bad gebracht; die nächste Wicklung
folgt, sobald sie wieder aus dem Bade herausdrängen. Mit dem
Eintritte einer gewissen Beruhigung wird immer von neuem der
Versuch gemacht, die Kranken im Bett zu halten, aus dem sie
dann nur noch zeitweise, bei vorübergehender Verschlimmerung
des Zustandes, ins Bad zurückkehren. Dieses ganze, planmäßig
ausgebildete Verfahren, die Verbindung von Bettruhe, Bad und
Packung, hat sich mir im Laufe der Jahre so vorzüglich bewährt,
daß die Erregungszustände unserer Kranken an Schrecken für
uns wesentlich verloren haben. Sollten indessen einmal, etwa bei
einer schweren epileptischen Erregung, alle jene Hilfsmittel und
ebenso die schon angeführten Arzneimittel versagen, so würde
nichts übrig bleiben, als den Kranken in einem mit Matratzen
ausgelegten Zimmer unter beständiger Aufsicht abzusondern, bis
der Zustand die Rückkehr zu dem geschilderten Verfahren er-
möglicht.
Bei der Behandlung ängstlicher Erregungen ist Opium, allenfalls
auch Morphium am Platze, besonders wo unangenehme Empfin-
dungen oder Schmerzen bestehen. Die Bromsalze eignen sich mehr
für die Zustände innerer Beunruhigung und erhöhter gemütlicher
Reizbarkeit (epileptische Verstimmungen, Nervosität) ; bei der reiz-
baren Depression der Zirkulären leistet öfters die Verbindung von
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
615
Brom mit Opium gute Dienste. Wo der allgemeine Kräftezustand
sehr gesunken ist, wirkt bisweilen als bestes Beruhigungsmittel
möglichst reichliche Ernährung, wenn es sein muß, durch die
Schlundsonde. Ist die Erregung hauptsächlich die Folge von
äußeren Einwirkungen, so hilft oft schon die Versetzung in eine
andere Umgebung, das Zurückziehen in ein Einzelzimmer; in
leichteren Fällen kommt man vielleicht mit der einfachen Ab-
lenkung der Aufmerksamkeit, ja unter Umständen mit einem
scherzhaften Worte, der Gewährung einer kleinen Vergünstigung
über drohende Ausbrüche hinweg. Sehr wichtig ist es für Arzt und
Pflegepersonal, derartige Kranke genau zu kennen und sie nach
ihrer Eigenart zu behandeln. Bei den meist rasch verlaufenden
Erregungen verblödeter Kranker genügt in der Regel die sofortige
Bettlagerung oder die Verbringung ins Bad; nur ausnahmsweise
wird einmal eine Hyoscineinspritzung nötig.
Für die Behandlung der Schlaflosigkeit wird man regel-
mäßig zunächst mit diätetischen Maßregeln auszukommen suchen.
Bei chronischen Erkrankungen und kräftigem Körper ist aus-
giebige Bewegung im Freien (Holz- und Gartenarbeit), Turnen,
Massage am Platze, während be' frischen und leicht erregbaren
Kranken stärkere körperliche Anstrengungen meist gerade un-
günstig auf den Schlaf wirken. Hier wird man verlängerte warme
Bäder mit gleichzeitiger Abkühlung des Kopfes, feuchte Ein-
packungen, Galvanisation des Kopfes, in geeigneten Fällen
vielleicht hypnotische Beeinflussung ins Feld führen können.
Mitunter ist auch schon durch Einführung einer Nachmittags-
ruhe, Sorge für leicht verdauliches, frühzeitiges Abendessen, Ver-
meidung des Lesens am Abend, Beseitigung von Tee und Kaffee,
abendliche Darmentleerung, rechtzeitiges Schlafengehen, ausgiebiges
Lüften des Schlafzimmers u. dgl. viel zu erreichen. Muß man zu
Arzneien greifen, so versuche man zuerst die Bromsalze in mitt-
leren Gaben, allenfalls in geeigneten Fällen auch den Alkohol.
Nur im äußersten Notfalle und nur bei akuten Erkrankungen darf
vorübergehend zu anderen Schlafmitteln, Paraldehyd, Veronal,
Trional, bzw. bei großer Angst oder lebhaften Schmerzen zum
Morphium oder Opium übergegangen werden, da es sehr schwierig
werden kann, die viel mit Betäubungsmitteln behandelten Kranken
wieder an den natürlichen Schlaf zu gewöhnen und ihnen die Arz-
6i6
V. Behandlung des Irreseins.
neien zu entziehen. Häufiges Aussetzen und Wechseln der Schlaf-
mittel ist durchaus nötig.
Sehr sorgfältige Beachtung seitens der gesamten Umgebung
erheischt die Neigung zum Selbstmorde, die so häufig bei
Angstzuständen, besonders bei gleichzeitiger Bewußtseinstrübung,
aber auch bei ganz einfachen Verstimmungen ohne auffallendere
Störung der Besonnenheit, in den Vordergrund tritt. Namentlich
die letzteren Fälle sind es, welche die höchsten Anforderungen
an die Wachsamkeit und Umsicht des Anstaltspersonals stellen.
Gucci fand, daß unter 405 Kranken nicht weniger als 132 Selbst-
mordgedanken geäußert oder Versuche gemacht hatten; 14 waren
in hohem Maße sich selbst gefährlich. Die Gelegenheiten, die dem
bisweilen mit voller Berechnung handelnden Kranken zur Aus-
führung seines selbstmörderischen Planes dienen können, sind so
überaus zahlreich und mannigfaltig, daß nur eine gereifte und mit
allen Möglichkeiten vertraute Erfahrung die Aussicht hat, mit Er-
folg dem krankhaften Streben entgegenzuarbeiten. Jeder Nagel,
jede Glasscherbe, jedes Stück Blech kann zum tötlichen Werk-
zeuge in der Hand des verzweifelten Kranken werden; jeder un-
bewachte Augenblick kann Erhängen, Zusammenschnüren des
Halses, Herunterspringen, Verschlucken gefährlicher Gegenstände,
kann die schwersten Verstümmelungen, Herausreißen der Augen,
der Zunge, der Hoden zustande kommen lassen, ja ich habe das
Abbeißen der Zunge und ferner Bruch der Halswirbelsäule infolge
eines mächtigen Stoßes mit dem Kopfe gegen die Wand in Gegen-
wart des Pflegepersonals erlebt. Glücklicherweise sind derartige
Vorkommnisse nicht häufig, ja es scheint, daß durch die Anstalt
90% und sogar noch mehr der sonst wahrscheinlichen Selbst-
morde verhütet werden, aber es ist wünschenswert, sich der Un-
glücksfälle zu erinnern, damit sie auch nicht häufiger werden.
Am gefährlichsten sind zirkuläre Kranke in der Depression ohne
stärkere Hemmung, da sie ihr Ziel oft mit größter Hartnäckigkeit
und vieler Überlegung zu erreichen suchen, ferner Epileptiker in
Verstimmungen oder Dämmerzuständen; aber auch Altersblöd-
sinnige, Paralytiker und namentlich Katatoniker können, unter
Umständen ganz unvermutet, schwere Selbstmordversuche machen.
Bei den letzteren pflegen diese Versuche mit außerordentlicher
Tatkraft und ohne jede Rücksicht auf die Umgebung, bisweilen
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
617
wochenlang fast ununterbrochen, ausgeführt zu werden, während
die Paralytiker gewöhnlich ohne Nachdruck und sehr unüberlegt
ans Werk gehen. Die Selbstmordversuche der Hysterischen führen
ebenfalls nur ausnahmsweise zum Ziel, da sie in der Regel schwäch-
lich und theatralisch angelegt sind.
Die Neigung zum Zerstören entspringt bei unseren Kranken
meist aus innerer Erregung, bisweilen aber auch aus der Langen-
weile und dem Mangel an zweckvoller Tätigkeit. Im letzteren
Falle soll durch Anleitung und Gelegenheit zu nützlicher Arbeit
Abhilfe geschaffen werden. Da das am besten in großen Anstalten
mit genügender Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse und Betriebe
durchführbar ist, müssen arbeitsfähige Kranke sobald wie möglich
in derartige Anstalten überführt werden. Bei erregten Kranken
wird die Zerstörungssucht glatt und leicht durch die Behandlung
im Bett und ferner im Dauerbade bekämpft. Hier fehlt den Kranken
einerseits jeder Angriffspunkt; andererseits bietet das Wasser ein
unerschöpfliches Mittel zur Befriedigung des Betätigungsdranges
im Spritzen, Wirbeln, Klatschen, Tauchen. Bei einer Kranken,
die uns durch ihre Zerstörungen in einem früheren manischen
Anfalle ein kleines Vermögen kostete, habe ich den wirtschaft-
lichen Nutzen greifbar feststellen können, den die Dauerbäder
durch das Fortfallen jenes Krankheitszeichens gebracht haben.
Die wahren Zerstörungskünstler, denen durchaus nichts widersteht,
denen jeder Stein, jedes Drahtstückchen, jeder abgebrochene Löffel-
stiel zum vielseitigsten, vernichtendsten Werkzeuge wird, bildet
nur die Isolierung aus. Ihnen gegenüber sind alle ,, unzerreiß-
baren" Kleider, alle „unzerstörbaren" Geschirre und Einrichtungen
gänzlich nutzlos. Mit der Durchführung der zellenlosen Behand-
lung werden sie aus unserem Anstaltsleben verschwinden.
Ganz Ähnliches gilt von einem weiteren Schrecken der irren-
ärztlichen Tätigkeit, der Unreinlichkeit. Soweit wir es mit
gelegentlichen Vorkommnissen zu tun haben, die bei gelähmten,
gebrechlichen oder unruhigen und verwirrten Kranken eintreten,
bietet die Behandlung nichts Besonderes. Erziehung des Wart-
personals zur Aufmerksamkeit, geduldiges Anhalten der Kranken
zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, unter Umständen regelmäßige
Eingießungen zu vollständiger Entleerung des Darmes, endlich rasche
Beseitigung jeder geschehenen Verunreinigung werden im allge-
6i8
V. Behandlung des Irreseins.
meinen zum Ziele führen. Weit schlimmer für den Kranken wie
für seine Umgebung ist die scheußliche Gewohnheit des Schmierens.
Da sie mit der Isolierung in innigstem Zusammenhange steht,
wird sie durch das Dauerbad, in dem die Sauberhaltung nicht die
geringsten Schwierigkeiten bietet, ohne weiteres beseitigt. Auch
bei der sonst recht mühsamen Behandlung sehr unbehilflicher un-
reiner Kranker leistet das Dauerbad die vorzüglichsten Dienste.
In Ermanglung dessen wendet man auch wohl die Lagerung auf
Holzwolle oder Mooswatte an, die von den Kranken leider gern
verzehrt wird.
Besondere Mühe hat man sich vielfach gegeben, die Mastur-
bation zu bekämpfen. Oft verschwindet sie mit der Abnahme
der psychischen Erregung von selbst; in anderen, chronischen
Fällen bleibt meist jede Behandlung erfolglos. Nicht ohne Wert
ist vielleicht die Anwendung der Bromsalze; wichtiger bleibt in-
dessen die diätetische Behandlung, Sorge für ruhigen Schlaf,
Vermeidung müßiger Bettruhe, Regelung der Darmentleerung,
ablenkende Beschäftigung, ausgiebige Bewegung im Freien bis
zur Ermüdung, ferner kalte Waschungen, besonders Sitzbäder,
endlich eine aufmerksame, geduldige Überwachung und Erziehung.
Zum Schlüsse haben wir noch einer äußerst wichtigen Krank-
heitserscheinung zu gedenken, deren Behandlung nicht selten recht
große Schwierigkeiten verursacht, der Nahrungsverweigerung!).
In erster Linie wird man hier nach körperlichen Ursachen zu
suchen haben, namentlich Magen- oder Mundkatarrhen oder
Darmträgheit, die man durch geeignete Maßregeln, Auswahl der
Speisen, Ausspülen des Magens, Mundes oder Darmes, unter Um-
ständen auch durch Arzneimittel zu bekämpfen hat. Nicht viel
Erfolg habe ich von dem anscheinend auch nicht ganz ungefähr-
lichen Orexin gesehen, welches zur Anregung der Eßlust empfohlen
worden ist.
Wenn wir absehen von der durch schwere Benommenheit be-
dingten Unfähigkeit, zu schlucken, hat die Nahrungsverweigerung
am häufigsten ihren Grund in mannigfachen Wahnideen, Ver-
giftungsfurcht, Glauben, nicht bezahlen zu können, das Essen
nicht wert zu sein, Wunsch zu verhungern. Der beste Bundes-
!) Pfister, Die Abstinenz der Geisteskranken und ihre Behandlung. 1899.
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
619
genösse ist immer der Hunger, der bisweilen nach einigen Tagen
der Nahrungsverweigerung sein Recht so stark geltend macht,
daß der Kranke dann mit wahrer Gier über die vorgesetzten Speisen
herfällt. Er wirkt am verführerischsten, wenn man sich um den
Kranken scheinbar gar nicht kümmert, ihn mit dem Essen allein
läßt und seine Nahrungsverweigerung möglichst wenig beachtet.
Vieles Zureden oder gar Versuche , die Nahrung einzugeben,
pflegen den Widerstand rasch sehr erheblich zu verstärken. In
anderen Fällen ist es mehr eine gewisse Willenlosigkeit, die den
Kranken hindert, die wahnhaften Gegenvorstellungen zu über-
winden; er ißt, sobald man ihm den Löffel an den Mund führt.
Anwendung von Gewalt dabei ist hier wie dort regelmäßig vom
Übel. Noch andere Formen der Nahrungsverweigerung kommen
durch den Negativismus der Katatoniker sowie durch die Unruhe
erregter Kranker zustande, welche die Arbeit des Essens fort-
während mit andersartigen Bewegungsantrieben durchkreuzt. Bis-
weilen wechseln diese Zustände sehr rasch, und derselbe Kranke,
der jetzt auf keine Weise zum Essen zu bringen war, nimmt viel-
leicht nach einer Viertelstunde freiwillig seine Nahrung zu sich,
um kurze Zeit darauf wieder allen Versuchungen eigensinnig zu
widerstehen. Unermüdliche Geduld und genaue Ausnutzung aller
kleinen Vorteile (z. B. Anregung der Nachahmung und des Appetits
durch Mitessen) sowie möglichst sorgfältige Auswahl, Zubereitung
und Abwechselung der Speisen helfen meist über die aufgezählten
Schwierigkeiten hinweg.
Allein es gibt Fälle, in denen alle Bemühungen des Arztes
nach dieser Richtung hin fehlschlagen, und in denen schließlich,
um der drohenden Gefahr der Erschöpfung und des Hungertodes
zu begegnen, zur künstlichen, zwangsmäßigen Einbringung
der Nahrung geschritten werden muß. Der Zeitpunkt, an wel-
chem man zu diesem Auskunftsmittel greift, wird am besten durch
die Körperwage bestimmt, weil sie den zuverlässigsten Anhalts-
punkt für die Beurteilung des Ernährungszustandes liefert. Alle
Kranken, die ungenügende Nahrung zu sich nehmen, müssen
daher häufig, am besten jeden Tag, gewogen werden, damit man
die Schnelligkeit der Gewichtsabnahme überwachen kann. Am
schlimmsten sind diejenigen Fälle, in denen die Kranken von
langer Hand anfangen, immer weniger und weniger zu essen, um
620
V. Behandlung des Irreseins.
allmählich ganz aufzuhören; hier ist rasches Einschreiten dringend
geboten, weil sonst leicht ein unaufhaltsamer Zusammenbruch
erfolgt. Je nach dem Zustande des Kranken wird man spätestens
2—3 Tage nach Beginn der völligen Nahrungsverweigerung, bis-
weilen auch schon noch früher, mit der künstlichen Ernährung
vorzugehen haben. Ist der Kranke kräftig, gut genährt, und hört
er plötzlich auf, zu essen, so kann man ruhig 6—8 Tage zuwarten.
Der grimmige Hunger, der allerdings bei langem Fasten schließ-
lich ausbleibt, wird diesem dann häufig ohnedies ein Ende machen.
Ist die Nahrungsverweigerung keine vollständige, genießt der Kranke
wenigstens noch Wasser, so hat man unter steter Berücksichtigung
seines Ernährungszustandes selbst 10—12 Tage ohne Gefahr Zeit,
bevor Zwangsmaßregeln notwendig sind.
Ist man über die Notwendigkeit eines Eingriffes im klaren,
so schreite man ohne weiteres zur Sondenernährung, die in den
Händen des geübten Arztes eine sehr einfache und völlig harm-
lose Maßregel darstellt, nicht gefährlicher als eine Einspritzung
unter die Haut. Das gewaltsame Einschütten von Nahrung in
die Backentaschen, das Eindringen in die Zahnreihe mit Löffeln
und Schnabeltassen, das immer noch gelegentlich wieder emp-
fohlen wird, ist bei widerstrebenden oder gar besinnungslosen
Kranken durchaus zu verwerfen und unter Umständen sehr be-
denklich. Das einzig richtige Verfahren ist die Eingießung lau-
warmer, passend zusammengesetzter Flüssigkeiten mittels Trichter
und Sonde in den Magen. Die Sonde wird durch den Mund oder
besser durch die Nase eingeführt, die vorher möglichst von Krusten
und Schleim gereinigt werden. Das erstere Verfahren zwingt bei
starkem Widerstande des Kranken zu gewaltsamer Eröffnung und
Offenhaltung der Zahnreihe durch keilartige Werkzeuge (Heister-
sche Mundsperre), die sogar zu Verletzungen führen kann; letz-
teres Vorgehen macht den Arzt vom Widerstande des Kranken
wesentlich unabhängig, mißlingt aber leichter. Bei jeder Fütterung
muß der Kranke durch sichere Hände zuverlässig festgehalten
werden, um unvermutete störende Bewegungen zu verhindern;
das Vorschieben der aus weichem, biegsamem Stoffe bestehenden
Sonde (Jacques Patent oder dickwandiger Gummischlauch mit
Endöffnung) geschieht langsam und ohne die mindeste Gewalt.
In der Regel gleitet sie mit Hilfe einer reflektorisch ausgelösten
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
621
Schluckbewegung glatt in die Speiseröhre hinein; bei se'hr wider-
strebenden Kranken kann es indessen vorkommen, daß sie von
ihrer Bahn nach vorn zu abgelenkt wird und sich im Munde zu-
sammenknäuelt. Hier muß man geduldig wiederholt von neuem
versuchen, zum Ziele zu kommen; im Notfalle bleibt dann immer
noch der Weg durch den Mund unter der sicheren Führung des
durch eine Metallhülse vor Bissen geschützten Fingers.
Von großer Wichtigkeit ist es, sich davon zu überzeugen, daß
die Sonde den richtigen Weg genommen hat und nicht in den
Kehlkopf gelangt ist. Bei gelähmten und sehr unempfindlichen
Kranken können nämlich die sonst das Eindringen eines Fremd-
körpers in die Luftwege begleitenden Erscheinungen der höchsten
Atemnot und der stürmischen Reflexbewegungen gänzlich fehlen;
die Sonde gleitet ohne Störung bis an die Gabelung der Luftröhre,
wo sie auf Widerstand stößt. Man hört nun die Atemluft durch
die Sonde streichen, doch können bei Luftansammlung im Magen
auch Ausatmungsgeräusche entstehen, wenn das Rohr .glücklich
in diesen letzteren gelangt ist. Das unfehlbare Mittel, sich über
die Lage der Sonde zu vergewissern, ist die Auskultation des
Magens beim Einblasen von Luft.
Bevor man nun die Nahrung eingießt, ist es vielfach zweck-
mäßig, den Magen auszuspülen, um die in ihm angesammelten
Mengen von zersetztem Schleim und Speichel zu entfernen; es
wird in diesem Falle nützlich sein, der Nährflüssigkeit etwas Salz-
säure zuzusetzen. Man läßt nun die Nährflüssigkeit allmählich
und mit möglichst geringem Drucke zufließen. Das Zurückziehen
der Sonde geschieht anfangs langsam, in der Gegend des Kehl-
kopfeinganges schnell ; zugleich wird die obere Öffnung des Rohres
verschlossen gehalten, damit nicht unten anhängende Tropfen bei
dieser Gelegenheit in die Luftröhre gelangen. Nach der Fütterung
muß der Kranke einige Zeitlang, im Notfalle mit Gewalt, in Ruhe-
lage gehalten werden.
Als Nahrungsflüssigkeit wählt man zweckmäßig Milch oder
Fleischbrühe mit gequirlten rohen Eiern, Zucker und Butter, nach
Umständen Zusätze von Kakao, Fleischpepton, Fleischsaft, Soma-
tose, Fruchtsäften, Citronensäure ; auch Arzneien, Alkohol, Kaffee
können natürlich auf diese Weise mit eingeführt werden. Im
allgemeinen wird man bestrebt sein, der Nahrung ungefähr die-
622
V. Behandlung des' Irreseins.
jenige Zusammensetzung von Kohlehydraten, Eiweiß und Fett zu
geben, die nach den Grundsätzen der Ernährungslehre erforder-
lich ist. Es zeigt sich indessen, daß bei längerer Dauer der künst-
lichen Ernährung eine sehr einförmige Zusammensetzung der zu-
geführten Flüssigkeit schlecht ertragen wird, unter Umständen so-
gar das Auftreten von Skorbut zur Folge haben kann. Aus diesem
Grunde empfiehlt es sich, in solchen Fällen mit einer Reihe ver-
schiedenartiger Gemische zu wechseln, namentlich aber auch Zu-
sätze von frischem Fleisch und Gemüsen zu machen. Bei der Weite
der Sonden gelingt es auch ohne Schwierigkeit, derartige Bei-
mengungen in fein zerriebener Form mit in den Magen zu bringen.
Namentlich Leber eignet sich wegen ihrer Zusammensetzung wie
wegen der Leichtigkeit der Verarbeitung dazu recht gut. Wir
pflegen mit sechs verschiedenen Mischungen regelmäßig abzu-
wechseln, in denen bald Leber und Fleischbrühe, Milch und Zucker,
Milch und Erbsenmehl, Milch, Mondamin und Öl, Milch, Zucker
und Kakao, mit oder ohne Hinzufügung von Eiern, die Haupt-
bestandteile bilden.
Die künstliche Ernährung wird täglich wenigstens zweimal
vorgenommen, am besten mittags und abends; jedesmal führt
man anfänglich etwas weniger, später aber ungefähr einen Liter
Flüssigkeit ein. Meist vollzieht sich dieser Vorgang bei einiger
Gewöhnung sehr leicht und einfach. Es gelingt auf diese Weise,
nahrungsverweigernde Kranke monate- und jahrelang am Leben
zu erhalten und allmählich auch wieder eine Zunahme ihres
Körpergewichtes zu erreichen. Dennoch ist damit natürlich nur ein
unvollkommener Notbehelf für die freiwillige Nahrungsaufnahme
gewonnen. Man wird daher nebenbei immer fortfahren, auf alle
Weise die Beseitigung der Nahrungsverweigerung anzustreben.
Eine sehr unangenehme Begleiterscheinung der Fütterung ist
das bisweilen auftretende Erbrechen. Schleunige Entfernung der
Sonde ist hier wegen der Gefahr des Erstickens durch die neben
dem Rohr heraufgewürgte Nährflüssigkeit durchaus notwendig.
Durch Verringerung der eingeführten Flüssigkeitsmenge, Verlang-
samung des Zuflusses, häufigere Wiederholung des Verfahrens,
im Notfalle durch Abstumpfung der Rachenempfindlichkeit mit
Hilfe von Narkoticis (Bromkalium, Bepinseln mit Cocain- oder
Morphiumlösung), Voranschicken von Eiswasser, Chloroform-
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
623
tropfen oder Kognak kann man diese Schwierigkeit meist über-
winden. Man begegnet indessen, allerdings glücklicherweise selten,
nahrungsverweigernden Kranken, die willkürlich erbrechen können
und so schließlich jede Fütterung unmöglich machen.
In solchen Fällen und dort, wo aus irgend einem Grunde (Ver-
engerungen, Verätzungen, Geschwüre, Geschwülste) die Ernährung
durch den Magen nicht möglich ist, kann man noch einen Versuch
mit Nährklystieren machen, die indessen auf die Dauer ein sehr
unvollkommenes Auskunftsmittel darstellen. In den gründlich ge-
reinigten und durch ein Opiumzäpfchen beruhigten Darm werden
möglichst hoch kleine Mengen Flüssigkeit von großem Nährwert,
nach bekannten Vorschriften, gebracht, wie sie der Darm aufnehmen
kann, Milch mit Eiern, Mehl mit Eiern, Traubenzuckerlösung mit
Eiern und Fleischpepton usf. Widerstrebende Kranke werden frei-
lich nur schwer am Herauspressen verhindert werden können.
In neuerer Zeit ist die Reihe unserer Kampfmittel gegen die
Nahrungsverweigerung noch durch die Einführung der subcutanen
Kochsalzinfusion bereichert worden i). Sie ist angebracht, wo
die Zufuhr anregender Nahrungs- und Arzneimittel aus körper-
lichen Gründen (schwere Mund- oder Magenleiden) unmöglich
oder wo eine sehr rasche und ergiebige Füllung des Gefäßsystems
notwendig erscheint. Bei Versuchen hat sich herausgestellt, daß
im Gefolge der Kochsalzinfusion mit der regelmäßigen Besserung
des Allgemeinbefindens öfters auch ein erhöhtes Hunger- und
Durstgefühl auftritt, das die Kranken unter Umständen zu frei-
williger Nahrungsaufnahme veranlaßt, namentlich dann, wenn die
Verweigerung nicht durch klar verarbeitete Wahnideen, sondern
nur durch Verwirrtheit und Unruhe bedingt war. Auf Grund sol-
cher Erfahrungen haben wir in Fällen, in denen keine große Ge-
fahr im Verzuge war, statt der Infusionen auch schon Kochsalz-
klystiere in Anwendung gezogen. Der Erfolg ist kein so plötzlicher
und durchgreifender, dafür aber das Verfahren wesentlich ein-
facher. Kleine Mengen gut erwärmter physiologischer Kochsalz-
lösung, etwa ein viertel Liter zurzeit, läßt man unter geringem
Drucke langsam möglichst hoch in den Darm hineinlaufen; die
Aufsaugung geschieht dann seitens des wasserarmen Körpers regel-
1) Ilberg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVIII, 620; Jacquin, Annales
medico-psychol. 1900, 11, 261; Marie und Pactet, ebenda, 1901, II, 278.
624
V. Behandlung des Irreseins.
mäßig rasch und vollständig. Auch bei diesem Verfahren pflegt
sich ein lebhaftes Durst- und Hungergefühl einzustellen, welches
die Besiegung des Widerstandes gegen die Nahrungsaufnahme bis-
weilen sehr erleichtert.
Die Einfuhr wirklicher Nahrungsstoffe unter die Haut ist bisher
nur in beschränktem Umfange versucht worden. Am besten ge-
eignet haben sich die Öleinspritzungen erwiesen, die von II-
bergi) warm empfohlen werden. Unter den nötigen aseptischen
Vorsichtsmaßregeln werden Ölmengen von 200 — 300 g mit Hilfe
einer dicken, gefensterten- Hohlnadel unter die nach Schlei chs
Verfahren unempfindlich gemachte Haut gebracht und dort an-
scheinend ohne Störung aufgesogen. Wir besitzen demnach in
verzweifelten Fällen, in denen die übrigen Hilfsmittel versagen,
hier noch einen Weg, das Leben für einige Zeit zu verlängern,
unter Umständen bis zu einer günstigen Wendung.
E. Die Irrenanstalt.
Die Gesamtheit aller körperlichen und psychischen Heilmittel
findet sich zu einheitlichem Zusammenwirken vereinigt in den
mannigfaltigen Einrichtungen der Irrenanstalt^). Die Irren-
anstalt in ihrer heutigen Gestaltung ist eine Errungenschaft unseres
Zeitalters 3). In früheren Jahrhunderten ließ man harmlose Kranke
einfach herumlaufen und begnügte sich damit, die störenden Irren
über die nächste Grenze zu treiben oder in Gewahrsam zu nehmen ;
sie wurden dann in Klöstern (Tasso in San Onofrio in Rom), häu-
figer in Gefängnissen und Zuchthäusern, zusammen mit allem mög-
lichem Gesindel untergebracht, in Käfigen („Dorenkisten") oder
aber auch in eigenen, menagerieartigen „Narrentürmen" einge-
sperrt, die meist in der Stadtmauer lagen und an gewissen Tagen
1) Ilberg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LX, 278. '
2) Tucker, Lunacy in manylands. 1887; Serieux, l'assist?nce des ali6nes en
France, en Allemagne, en Italic et en Suisse. 1903; Ilberg, Irrenanstalten, Idioten-
und Epileptikeranstalten mit besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit des Arztes
in denselben. 1904; Pandy, Die Irrenfürsorge in Europa, deutsch 1908.
3) Kirchhoff, Grundriß einer Geschichte der deutschen Irrenpflege. 1900;
Snell, Hexenprozesse und Geistesstörung. 1891; Zur Geschichte der Irrenpflege.
1896; Rieger, Über die Psychiatrie in Würzburg seit 300 Jahren. 1899; M ön ke-
rn öll er. Zur Geschichte der Psychiatrie in Hannover. 1903.
Die Irrenanstalt.
625
von der Menge zur Belustigung besucht wurden. So mancher
Kranke endHch fiel wohl auch den Hexenprozessen zum Opfer
und wurde auf die grausamste Weise zu Tode gemartert oder ver-
brannt.
Leider besserte die Überwindung dieses finsteren Aberglaubens
mehr als ein Jahrhundert lang in dem Lose der unglücklichen
Geisteskranken nur wenig. Da man das Irresein im allgemeinen
für unheilbar hielt, so waren die Irren- nichts als eine Last, deren
man sich auf möglichst einfache Weise zu entledigen suchte. Aller-
dings wurden in manchen Spitälern schon <Jeisteskranke ganz sach-
gemäß verpflegt ; meist aber dienten die an Kranken-, Siechenhäuser
u. dgl. angebauten ,, Tollhäuser", ,,Narrenhäuslein", ,, Gefängnisse
der Angefochtenen" nur zur Aufbewahrung. ,,Wir sperren diese
Fig. XXIX. Alter Zellenkorridor.
unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben," sagt
Reil, ,, ausgestorbene Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der
Eulen in öde Klüfte über den Stadttoren, oder in die feuchten Keller-
geschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des
Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an
Ketten, in ihrem eigenen Unrat verfaulen, Ihre Fesseln haben ihr
Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen
Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere
Schande zudeckt. Man gibt sie der Neugierde des Pöbels preis, und
der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den
müßigen Zuschauer zu belustigen," „Das nächtliche Gebrüll der
Rasenden und das Geklirre der Ketten hallt Tag und Nacht in den
langen Gassen wieder, in welchen Käfig an Käfig stößt, und bringt
jeden neuen Ankömmling bald um das bißchen Verstand, das ihm
etwa noch übrig ist." Einen Einblick in diese Verhältnisse geben
Kraepelin, Psych'atrie I. 8. Aufl. 4°
626
V. Behandlung des Irreseins.
die nach alten Abbildungen gefertigten Fig. XXIX und XXX, von
denen die erstere einen Vorraum darstellt, mit den zu den Verliessen
der Kranken führenden, sicher verwahrten Türen, während die
zweite uns den mit hohem vergittertem Fenster versehenen Käfig
selbst zeigt, in dem die Kranke auf einem Strohlager an Händen
und Füßen derart angekettet ist, daß sie wohl aufstehen, aber
sich nicht von ihrer Liegestatt entfernen kann.
Auch nachdem gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
in England die erste eigentliche Irrenanstalt (St. Luke bei London)
zur Behandlung von Geisteskran-
ken eingerichtet worden war, fand
dieses Beispiel nur langsame Nach-
ahmung. Noch um die Wende des
Jahrhunderts, als Chiarugi in
Italien, Tuke in England und
Pinel 1798 in Paris das Schicksal
der verwahrlosten Geisteskranken
zu lindern bemüht waren, herrsch-
ten fast überall, auf dem Festlande
wie in England, in den Narren-
häusern die entsetzlichsten Zu-
stände. Derselbe Reil, dessen
Schilderung wir oben wiederge-
geben haben, meint 1803 : ,, Durch-
gehends sind die Zwangsweste, das
Einsperren, Hunger, oder einige
Streiche mit dem Ochsenziemer, die
Fig. XXX.
Angekettete Kranke in einer Irrenzelle. , . ,
nach emem formhchen Urteils-
spruch von einer fremden Person mitgeteilt werden, zureichend,
die Kranken bald zahm zu machen," Ja, noch 1817 sah sich
Hayner, der ehrwürdige Vorkämpfer für die menschliche Be-
handlung der Irren in Deutschland, veranlaßt, auf das feierlichste
gegen die Ketten, die Zwangsstühle, die körperlichen Züchtigungen
öffentlich Verwahrung einzulegen i). ,, Verflucht sei also von nun
an jeder Schlag, der einen Elenden trifft aus dieser bejammerns-
1) Hayner, Aufforderungen an Regierungen, Obrigkeiten und Vorsteher der
Irrenhäuser zur Abstellung einiger schweren Gebrechen in der Behandlung der
Irren. 1817.
Die Irrenanstalt.
627
würdigsten Klasse von Leidenden!" so ruft er aus. „Ich rufe
Wehe! über jeden Menschen, stehe er hoch oder niedrig, der es
genehmigt, daß verstandlose Menschen geschlagen werden!" ,,Er
gedenke der Gebrechlichkeit des menschlichen Lebens und Wohl-
seins ; er denke, daß er morgen der edlen Gabe des Verstandes beraubt
sein kann, die er heute noch genießt! Er zittre vor der rächenden
Macht des finstern künftigen Schicksals, das niemand kennt, und
versetze sich lebhaft in die Lage des Unglücklichen, den nach dem
Verluste seines edelsten Kleinods seine unmenschlichen Brüder in
Ketten legen, in Zwangsstühle riemen, mit Henkersfaust stäupen
und schlagen! Er zittre, wenn ihn alles das nicht rührt, vor Gott,
Fig. XXXI. Kaulbachs Narrenhaus.
der uns den Verstand gab, damit wir die Verstandlosen nicht ohne
Verstand behandeln!!!" Eine gute Vorstellung davon, wie es bis
in die zwanziger Jahre in alten Irrenanstalten aussah, gewährt das
hier (Fig. XXXI) wiedergegebene Kaulbachsche Bild des Narren-
hauses, das stark vergitterte, gefängnisartige Gebäude, der um-
mauerte Hof, das bunte Gemisch verwahrloster Kranker und die
aus der Tasche des dicken Wärters hervorlugende Peitsche.
Nach und nach kam die Erkenntnis von der Notwendigkeit
einer völligen Neugestaltung der Irrenfürsorge auf ärztlicher Grund-
lage mit immer wachsender Gewalt zum Durchbruch, und es trat
daher in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts in
den meisten vorgeschrittenen Ländern an Stelle der einfachen Auf-
40*
628
V. Behandlung des Irreseins.
bewahrung die Errichtung wirklicher Heilanstalten, die endUch auch
den unglückHchen Irren die Wohltaten einer ärztlichen, auf die
Beseitigung ihres Leidens gerichteten Behandlung zu ver-
mitteln bestimmt waren. In Deutschland wurde die erste Heil-
anstalt, der Sonnenstein bei Pirna, iBii durch Pienitz in einem
alten Schlosse eingerichtet; auch die nächsten Anstalten wurden
in Schlössern oder Klöstern untergebracht. Der erste Neubau
einer Irrenanstalt fand auf dem Sachsenberg bei Schwerin durch
Flemming 1830 statt.
Diese Wandlung stand in der innigsten Beziehung zu dem
Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis von dem Wesen
der Geistesstörungen. Vielleicht sind wenige Gebiete menschlichen
Strebens so geeignet wie die Irrenheilkunde, den ungeheuren Einfluß
klarzulegen, den die rein wissenschaftliche Forschung auf das Wohl
und Wehe der Menschen ausübt. So vermochte die praktische Irrenfür-
sorge zunächst den richtigen Weg nicht zu finden, weil ihr die Leitung
durch das wissenschaftliche Verständnis des Irreseins mangelte.
Zwar hatte vielfach die tägliche Erfahrung schon zu einer Be-
handlung der Geisteskranken geführt, die unseren heutigen An-
schauungen gar nicht so sehr fern steht. Dennoch konnte es nicht
fehlen, daß der Einfluß gewisser spekulativ-psychologischer Auf-
fassungen des Irreseins sich in allerlei Absonderlichkeiten geltend
machte. Man forderte in den Irrenanstalten Einrichtungen, die
in besonderer Weise auf die Einbildungskraft der Kranken wirken
sollten. Der Ankömmling sollte mit Kanonendonner und Trommel-
schlag von Mohren empfangen werden, über rasselnde Zugbrücken
fahren, das Anstaltspersonal sich einer fremden, sonoren Sprache
bedienen. In einsamen, finsteren, hallenden Gewölben sollte ein
Chaos von gellenden Tönen erschallen, Eselsstimmen, ein Katzen-
klavier, Glocken, Musik; auf einem Theater sollten ergreifende
Schauspiele aufgeführt werden, Gerichtsszenen mit Scharfrichtern
und Engeln. Den Kranken sollten Spukgestalten umgeben, Eis-
säulen, Pelzmänner, eine Totenhand ihm den Bart streichen, wäh-
rend Wassergüsse unvermutet auf ihn stürzten und reißende Tiere
ihn erschreckten. Auf zerfallenden Kähnen wollte man ihn über
wütende Gewässer fahren lassen, über Feuerbrände in die Höhe
ziehen, ihn mit Brennesseln peitschen, Gewürm und Mäuse auf
seinem Leibe herumkriechen lassen.
Die Irrenanstalt.
629
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/
Während diese Verfahren, die darauf berechnet waren, durch
gemütliche Erschütterungen die krankhaften Störungen des Seelen-
lebens zu beseitigen, in der Hauptsache Vorschläge blieben, fanden
andere Behandlungsmittel ausgedehnte Verbreitung. Die Kranken
wurden in der verschiedensten Weise gemißhandelt und gequält,
aber nicht mehr aus Roheit, sondern in der wohlgemeinten Ab-
sicht ärztlicher Beeinflussung^). Zum Teil handelte es sich dabei
mehr um Sicherungsmittel, wie bei dem Hineinstecken des Kranken
in einen Sack oder in sargartige Gehäuse, beim Festschnallen auf
Zwangsstühlen und Zwangsbetten, bei der Anwendung von Masken
und Zwangsjacken; zugleich aber wollte man durch solche Ver-
gewaltigungen unmittel-
bar die krankhaften Re-
gungen unterdrücken,
ebenso durch kalte Über-
gießungen und Duschen.
Diesem Zwecke dienten ii!
auch die Ekelkuren, die
von C ox angegebene
Drehmaschine, von der
eine Form in Fig. XXXII
wiedergegeben ist, das
hohle Rad, eine gepol-
sterte Trommel, in der die
Kranken herumgewir-
belt wurden, das Tretrad, in dem sie zu andauernder Bewegung
gezwungen wurden, um so eine Wiederbelebung des Willens zu
erzielen.
Glücklicherweise sind diese Verirrungen verhältnismäßig rasch
überwunden worden, und die Behandlungswerkzeuge wanderten
bald in die Rumpelkammern; dagegen erschien die Anwendung
einfacher mechanischer Beschränkung zum Schutze gegen erregte
Kranke oder auch zu ihrer psychischen Beeinflussung noch Jahr-
zehnte hindurch als selbstverständliche Maßregel. Lange und
schwere Kämpfe hat es gekostet, bis allmählich Conollys kühne
Neuerung mit ihren weitreichenden Folgen für die gesamte Ge-
1) Schneider, Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische Krank-
heiten. 1824.
Fig. XXXII. Drehschaukel.
630
V. Behandlung des Irreseins.
Staltung der Irrenanstalten überall als selbstverständliche Forde-
rung betrachtet wurde.
Wir dürfen es aber mit Stolz aussprechen, daß die Widerstände
gegen den Fortschritt weit weniger bei den Irrenärzten gelegen
haben, als in den äußeren Verhältnissen, in der Verständnislosig-
keit und Gleichgültigkeit der Massen, in dem Mangel an ver-
fügbaren Hilfsmitteln. Jahrhundertelang haben Regierungen und
Volk dem Elende der Geisteskranken teilnahmlos zugesehen, und
erst, seitdem es Irrenärzte gibt, ist endlich die Bewegung in Fluß
gekommen, die uns auf die jetzige Höhe geführt hat. Was wir
heute noch hie und da etwa an Mißbräuchen und Übelständen
sehen, ist zumeist nicht das Ergebnis von sträflicher Pflichtver-
gessenheit und Vernachlässigung, sondern es sind die letzten Über-
reste eines kaum überwundenen Zeitalters, in welchem nur die
höchsten und erleuchtetsten Geister für die Menschenrechte der
Geisteskranken eintraten. Dieselben Irrenärzte, die man bisweilen
in merkwürdiger Verkennung der geschichtlichen Entwicklung ge-
wissermaßen als die geborenen Feinde der Kranken und Gesunden
zu brandmarken beliebt, sind es gewesen, die in mühseliger, auf-
opferungsreicher Berufsarbeit ihren Pflegebefohlenen die Ketten
gelöst haben, in welche sie Roheit und Unkenntnis so lange ge-
schmiedet hatte.
Die heutige Irrenanstalt ist ein Krankenhaus wie jedes andere,
mit dem einzigen, durch den Zustand ihrer Bewohner geforderten
Unterschiede, daß Eintritt, Behandlungsart und Austritt nicht vom
Beheben des Kranken, sondern unter gewissen Einschränkungen
vom Urteile des sachverständigen Arztes abhängen. Jede Ein-
richtung der Anstalt dient daher in erster Linie dem Heilzwecke,
dessen Erreichung mit allen durch Wissenschaft und Erfahrung
gelieferten Hilfsmitteln erstrebt wird. Diese Aufgabe sucht die
Anstalt zu lösen, indem sie zunächst den Kranken mit einem
Schlage der Einwirkung jener täglichen Reize entzieht,
wie sie nur allzuoft in seinem Berufsleben, in der Sorge für das
tägliche Brot, in der verfehlten und verständnislosen Behandlung
seitens der Angehörigen und Freunde, ja in dem Spotte und den
Neckereien einer rohen Umgebung auf ihn einstürmen. Er findet
sich wieder in einem geordneten, vom Geiste der Menschenliebe
ynd des Wohlwollens durchdrungenen Hauswesen, in dem ihn
Die Irrenanstalt.
631
teilnehmendes Verständnis für seinen Zustand, liebevolle Fürsorge
für seine Bedürfnisse und vor allen Dingen Ruhe erwartet. Sehr
häufig ist daher auch eine sofortige Beruhigung der rasche Erfolg
seiner Versetzung in die Anstalt.
Leider verhindern auch heute die immer noch in der Menge
und selbst bei Ärzten bestehenden Vorurteile gegen die Anstalt
vielfach die rechtzeitige Durchführung dieser segensreichen Maß-
regel. Die Trägheit der öffentlichen Meinung ist, wie das auch
wohl auf anderen Gebieten geschieht, den raschen Fortschritten
der Irrenfürsorge nicht gefolgt, sondern betrachtet die Anstalten
noch immer mit jenem Gemisch von Neugier und mißtrauischem
Grauen, wie es vor einem Jahrhundert sicherlich gerechtfertigt
war. Es erscheint kaum glaublich, wenn trotz der jetzigen Ent-
wicklung unseres Irrenwesens in weiten Kreisen die ebenso un-
sinnige wie verhängnisvolle Vorstellung fortlebt, daß ein Kranker
erst ,,reif" für die Irrenanstalt werden müsse, daß sein Zustand
sich bei vorzeitiger Aufnahme verschlechtern, daß ihn die Er-
kenntnis, in der Anstalt zu sein, das Zusammensein mit anderen
Kranken rasend machen werde. Damit verbindet sich dann weiter
die aller Erfahrung Hohn sprechende Meinung, daß ein Gesunder,
der etwa versehentlich in eine Anstalt eingesperrt werde, nun in-
folge der schrecklichen Eindrücke sehr bald in Geisteskrankheit
verfallen müsse usf. Von einsichtslosen Kranken hören wir diese
Überlegungen alle Tage vorbringen; sie sind nur der Widerhall
jener verderblichen Bestrebungen, die das glücklicherweise schwin-
dende Mißtrauen gegen die Irrenanstalten durch urteilslose Schauer-
geschichten von neuem aufzuregen suchen. Indem sie dahin drängen,
die Aufnahme in die Anstalten durch weitläufige Förmlichkeiten, ja
durch Anstrengung eines eigenen „Irrenprozesses" mit Instanzenzug
nach Möglichkeit zu erschweren, betrügen sie Tausende hilfsbedürf-
tiger Kranker um die Wohltat rechtzeitiger Behandlung, ja um die
Möglichkeit der Genesung. Denn das hat die Erfahrung auf das
unzweifelhafteste erwiesen, daß die Aussicht auf Heilung oder doch
Besserung bei Geistesstörungen sich um so günstiger gestaltet, je
früher die Verbringung in eine geeignete Anstalt stattfindet.
Nur bei ganz leichten Formen psychischer Verstimmung, bei
vielen Formen des Entartungsirreseins, schleichend verlaufenden
oder abgeschlossenen Verblödungen u. dgl., und wenn die häus-
632 V. Behandlung des Irreseins.
liehen Verhältnisse eine sehr gute Überwachung und Pflege ge-
statten, ist es geraten, von der Anstaltsbehandlung abzusehen.
In allen schwereren, namentlich akuten Erkrankungen jedoch^
und ganz unbedingt dann, wenn in der Umgebung des Kranken
selbst Schädlichkeiten gelegen sind, oder wenn sich Selbstmord-
ideen, Nahrungsverweigerung, stärkere Aufregung, Unreinlichkeit,
Neigung zu Gewalttätigkeiten einstellen, ist die schleunigste Ver-
setzung aus der Familie in die Irrenanstalt geboten. Das, was
die Irrenanstalt derartigen Kranken bietet, völlige Sicherheit, 'sorg-
samste Überwachung und Pflege sowie sachverständige ärztliche
Behandlung, kann in der Häuslichkeit nur dann wenigstens an-
nähernd erreicht werden, wenn diese letztere selbst zu einer Irren-
anstalt im kleinen umgestaltet wird, wie das vielleicht bei sehr
großen Mitteln ausnahmsweise einmal möglich ist.
Sehr dringend muß vor den vielfachen unverständigen Ver-
suchen gewarnt werden, die herannahende Geistesstörung durch
„Zerstreuungen", anstrengende Reisen, Entziehungs- und Kalt-
wasserkuren abschneiden zu wollen, bevor man sich zu dem einzig
richtigen, lange verworfenen Schritte der Verbringung in die An-
stalt entschließt. Die beste Zeit zum erfolgreichen ärztlichen Han-
deln ist dadurch verloren gegangen, das Fortschreiten des Krank-
heitsvorganges zu immer schwereren Störungen begünstigt worden,
so daß der Kranke nach allen den mißglückten Versuchen schließ-
lich öfters in fast hoffnungslosem Zustande dem Irrenarzte zuge-
führt wird. Obgleich der Schwerpunkt der Behandlung Geistes-
kranker in der Irrenanstalt gelegen ist, bleibt es daher eine über-
aus wichtige Aufgabe des Hausarztes, rechtzeitig die Entwicklung
der Störung zu erkennen und ohne viel Zeitverlust mit nutzlosem
und häufig schädlichem Herumprobieren die Versetzung des Kranken
in die für ihn geeignete Umgebung zu veranlassen i). Von be-
sonderem Werte wird es dabei sein, wenn er durch eine sachver-
ständige Krankengeschichte dem Anstaltsarzte Aufschlüsse über
den Beginn und bisherigen Verlauf des Leidens zu geben vermag,
da ja die Aussagen des Kranken und selbst der Angehörigen über
diesen Punkt nicht selten recht wenig zuverlässig sind.
1) Hoche, Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung in die Irrenanstalt.
1900; Gast par, Die Behandlung Geisteskranker vor ihrer Aufnahme in die Irren-
anstalt. 1902.
Die Irrenanstalt. 633
Über die Förmlichkeiten, unter denen die Verbringung des
Kranken in die Anstalt zu geschehen hat, bestehen in den ein-
zelnen Ländern verschiedenartige Bestimmungen^). Abgesehen von
den freiwilligen Aufnahmen, die glücklicherweise vielfach schon
möglich sind, wird dabei regelmäßig die Einwilligung der nächsten
Angehörigen oder die Einweisung durch eine Behörde verlangt,
außerdem ein oder mehrere ärztliche oder amtsärztliche Zeug-
nisse über das Vorhandensein einer Geistesstörung und die Not-
wendigkeit der Anstaltsbehandlung. Vielfach besteht dabei der
Grundsatz, daß in Notfällen die Aufnahme des Kranken durch
das Fehlen eines oder des anderen schriftlichen Nachweises nicht
verzögert werden soll, sondern der Anstaltsarzt nach Befinden
das Recht hat, den Kranken fürsorglich, gegen Nachlieferung der
Papiere, aufzunehmen. Das ist namentlich deswegen notwendig,
weil sonst die erregten Kranken zunächst unfehlbar ganz formlos
in irgend einem ungeeigneten Gelaß, bestenfalls in der Tobzelle
eines Krankenhauses, eingesperrt, im Bette geknebelt, festgebun-
den und gebändigt werden, wenn sie nicht davonlaufen, sich um-
bringen oder allerlei Unheil anrichten. Im großen und ganzen
geht das Bestreben aller Einsichtigen dahin, die Aufnahme in
allen unzweifelhaften Fällen geistiger Störung nach Möglichkeit
zu erleichtern, da die ,, papierenen Ereignisse" die Wirkung, die
man ihnen zuschreibt, nämlich widerrechtliche Freiheitsberau-
bungen zu verhindern, in keiner Weise ausüben, sondern nur die
Hilfeleistung verzögern. Die Sicherung vor Mißbräuchen beruht,
abgesehen vom Strafgesetze, genau wie bei der Rechtspflege, auf
der persönlichen Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der Irrenärzte.
Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß trotz aller Schauer-
geschichten, die sogar in den Volksvertretungen vorgebracht worden
sind, in Deutschland noch niemals ein Irrenarzt wegen widerrecht-
licher Freiheitsberaubung verurteilt wurde. Tatsächlich habe ich
selbst Gelegenheit gehabt, 10 Jahre hindurch alle meine Kranken
ohne irgendwelche Papiere aufzunehmen, und ich habe keine
nennenswerten Unzuträglichkeiten daraus erwachsen sehen. Frei-
lich ist die Verantwortlichkeit für den Irrenarzt selbst unter diesen
Umständen eine viel größere, als wenn er sich überall auf gesetz-
1) Burger , Die Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten in den größeren
deutschen Staaten. 1905.
634
V. Behandlung des Irreseins.
liehe Vorschriften berufen kann, aber er ist als Sachverständiger
auch am meisten dazu befähigt, sie zu tragen, und die Kranken
befinden sich dabei ohne Zweifel am wohlsten.
Trotzdem ist natürlich in allen schwierigeren Fällen die vor-
herige Erledigung aller Förmlichkeiten gerade dem Anstaltsarzte
dringend erwünscht, damit wenigstens ein Teil der Last auf frem-
den Schultern ruht, die ihm aus dem unerquicklichen und undank-
baren Festhalten widerstrebender, besonnener Kranker in der An-
stalt regelmäßig zu erwachsen pflegt. Wir Irrenärzte würden daher
vom Standpunkte unserer Bequemlichkeit gegen eine Erschwerung
der Aufnahmen in die Anstalten nicht das geringste einzuwenden
haben. Man versuche aber die Durchführung einer solchen „Re-
form" auch nur ein einziges Jahr lang wirklich in irgend einem
Landesteile, so würden die papierenen Verbesserungsvorschläge
schneidiger Juristen und ihrer sachverständigen Halbirrenärzte
von einem Sturme der Entrüstung über die mangelhafte Irren-
fürsorge hinweggefegt werden. Es bedarf nur eines Blickes in un-
sere Tageszeitungen, um einen klaren Begriff von der Größe des
Unheils zu gewinnen, welches noch jetzt tagtäglich Geisteskranke
in der Freiheit über sich und ihre Umgebung heraufbeschwören.
Rechtzeitige Fürsorge für diese Unglücklichen könnte ohne Zweifel
einen großen Teil der sich immer wiederholenden Selbstmorde,
Familientötungen, Angriffe, Brandstiftungen, der Geldverschleude-
rungen und geschlechtlichen Ungeheuerlichkeiten verhüten, die wir
als etwas ganz Selbstverständliches hinzunehmen pflegen. Wer
den traurigen Mut findet, diese unerschöpfliche Summe mensch-
lichen Elends noch vergrößern zu wollen, der beweist dadurch nur,
daß er keine Ahnung von dem zerstörenden Einflüsse besitzt, den
schon ein einzelner Geisteskranker auf die Familie ausübt, die für
ihn zu sorgen gezwungen ist. Gewiß sind nicht alle Geisteskranken
gefährlich, aber es gibt wenige, die es nicht einmal werden können.
Ich habe daher auch überall die Schwierigkeiten größer gefunden,
unheilbare, halbwegs entlassungsfähige Pfleglinge wieder loszu-
werden, als gemeingefährliche Kranke gegen ihren Willen in der
Anstalt festzuhalten.
Die Versetzung eines Kranken in die Anstalt ist für ihn mit
gewissen Beschränkungen verknüpft, deren Berechtigung eben
durch die Aufnahmeförmlichkeiten gegeben werden soll. Er kann
Die Irrenanstalt.
635
die Anstalt nicht ohne Zustimmung seiner Angehörigen oder der
ihn einUefernden Behörde verlassen, und er muß sich den ärzt-
lichen Anordnungen fügen, deren Durchführung innerhalb ge-
wisser Grenzen erzwungen werden kann. Auch sein Verkehr mit
der Außenwelt, das Empfangen von Besuchen, das Absenden und
Erhalten von Briefen, erfährt die von ärztlicher Seite für nötig
gehaltene Überwachung. Die älteren Irrenärzte waren nach allen
diesen Richtungen zu sehr geneigt, ihre Kranken abzuschließen,
was das Mißtrauen gegen die Anstalten vielfach genährt hat. Die
Schädlichkeit von Besuchen wurde überschätzt. Wenn es auch genug
Fälle gibt, in denen die Besuche aus ärztlichen Gründen besser ein-
geschränkt werden, und wenn sich der Arzt bei ungeeignetem Be-
nehmen der Besucher auch sein Hausrecht wahren muß, so habe
ich es doch schon seit langen Jahren zweckmäßig gefunden, Be-
sucher, die dem Kranken wirklich nahe standen, nur ganz aus-
nahmsweise einmal abzuweisen. Es scheint mir ein wichtiges
Hilfsmittel zur Beseitigung eingewurzelter Vorurteile zu sein, Be-
suchern ohne weiteres in jeden Raum der Anstalt, nach Umständen
selbst in die Dauerbäder, Zutritt zu gewähren. Das schlimmste,
was sie irgendwo sehen mögen, ist immer noch nicht entfernt so
schlimm wie die Vorstellungen, mit denen der Laie die Anstalt zu
betreten pflegt.
Die Überwachung des Briefwechsels der Kranken ist eine ebenso
lästige wie undankbare Aufgabe. Nur in vereinzelten Fällen er-
scheint mir ein Durchlesen der eingehenden Briefe nötig. Die
abgehenden Briefe werden am besten einer Vertrauensperson des
Kranken zugesandt, die über ihre Beförderung bestimmen mag.
Beschwerdebriefe von nicht entmündigten Kranken an Behörden
müssen natürlich unbedingt befördert werden. Wenn man Briefe,
die man für ungeeignet hält, ohne Vorwissen des Kranken zurück-
hält, zerstört man dessen Vertrauen und damit die Grundlage
weiterer Behandlung.
Die weitgehenden Eingriffe in die persönliche Freiheit, die mit
der Verbringung in die Anstalt verknüpft sind, machen eine sehr
sorgsame Überwachung des Anstaltswesens durch die staatliche
Gewalt unerläßlich, wie sie auch überall durchgeführt worden ist.
Die weit überwiegende Zahl von Geisteskranken befindet sich in
Staatsanstalten. Daneben bestehen freilich auch Privatanstalten,
636
V. Behandlung des Irreseins.
die jedoch vom Staate beaufsichtigt werden. Sie dienen zumeist
der Unterbringung solcher wohlhabender Kranker, die besonders
hohe Ansprüche an Ausstattung und Verpflegung stellen. Als ein
Übelstand muß es bezeichnet werden, daß an die ärztliche Vor-
bildung und Erfahrung ihrer Leiter vom Staate nicht im entfern-
testen diejenigen Anforderungen gestellt werden, die von den Leitern
öffentlicher Anstalten erfüllt werden müssen.
Zu den Hilfsmitteln, die der Irrenanstalt für die Behandlung
geistiger Störungen zur Verfügung stehen, gehören in erster Linie
die in ihrem Fache besonders ausgebildeten Ärzte, über deren
sonstige notwendige Eigenschaften wir schon oben gesprochen
haben. Wir dürfen nicht verhehlen, daß wir in diesem Punkte
das Erstrebenswerte noch nicht erreicht haben i). Der Beruf des
Irrenarztes, insbesondere des Anstaltsleiters, ist ein recht schwerer
und entsagungsvoller. Die Vereinsamung in den meist fern vom
Verkehr gelegenen Anstalten, die große Verantwortlichkeit, der auf-
reibende, unausgesetzte Verkehr mit Geisteskranken, die Hoff-
nungslosigkeit des ärztlichen Tuns in der Mehrzahl der Fälle, die
unbefriedigende wirtschaftliche Lage, endlich die Überhäufung mit
reinen Verwaltungsaufgaben stellen sehr bedeutende Anforderungen
an die Berufsfreudigkeit und die geistige Spannkraft. Neigung und
Fähigkeit zu wissenschaftlicher Fortbildung, zur Anregung und
Erziehung der jüngeren Ärzte werden dadurch in empfindlicher
Weise beeinträchtigt. Dazu kommt, daß fast überall die Zahl der
an den Anstalten vorgesehenen Ärzte viel zu gering ist, daß ein
einziger Arzt nicht selten für 150—200, ja noch mehr Kranke zu
sorgen hat, endlich daß ein Übertritt in andere ärztliche Lauf-
bahnen äußerst schwierig ist. So wird es denn erklärlich, daß auch
die vorhandenen Stellen vielfach nur ungenügend oder gar nicht
besetzt sind. Überlastung des einzelnen, Ertötung der Berufs-
freudigkeit und rascher Verbrauch sind die unausbleiblichen Folgen.
Da die Weiterentwicklung unserer Irrenfürsorge durchaus ab-
hängig ist von dem Verständnisse und der Leistungsfähigkeit des
irrenärztlichen Standes, erwachsen hier dem Staate wichtige Auf-
gaben. Der Hauptnachdruck ist darauf zu legen, daß vor allem
1) Hoppe, Die Stellung der Ärzte an den öffentlichen Irrenanstalten. 1902;
Vocke, Über die Lage des irrenärztlichen Standes, 1906; Siemens, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, 1907, 464.
Die Irrenanstalt.
637
die Zahl der selbständigen und behaglichen Lebensstellungen, die
dem Irrenarzte erreichbar sind, erheblich vergrößert wird. Die
Neigung, immer größere Anstalten zu bauen, andererseits die an
sich glückliche und notwendige Einrichtung einer rein ärztlichen
Oberleitung bringt es mit sich, daß nur ein unverhältnismäßig
kleiner Teil der Anstaltsärzte die Aussicht hat, einmal in leitende
und damit wirklich selbständige Stellungen zu gelangen. Dadurch
wird das Verantwortlichkeitsgefühl und mit ihm die Berufsfreudigkeit
der Ärzte in empfindlichster Weise abgeschwächt, um so stärker,
je mehr der Anstaltsleiter von der ihm zustehenden Befugnis Ge-
brauch macht, in alle Kleinigkeiten des Dienstes dauernd oder
unvermittelt hineinzureden. Mit Recht ist vielfach darauf hinge-
wiesen worden, daß keine andere ärztlighe Laufbahn in gleichem
Maße die Schattenseite langdauernder Unselbständigkeit mit sich
bringt. Wenn die Arbeitsfreudigkeit des Standes erhalten und ein
leistungsfähiger Nachwuchs gewonnen werden soll, so wäre hier
vor allem der Hebel einzusetzen, sei es durch eine Verkleinerung
der Anstalten, sei es durch eine kollegiale Umgestaltung des ärzt-
lichen Dienstes, die den älteren Mitarbeitern auf ärztlichem Ge-
biete volle Selbständigkeit und Verantwortlichkeit einräumt.
Wenn wir absehen von der weiteren selbstverständlichen und
an manchen Orten auch bereits befriedigten Forderung voll aus-
reichender Entschädigung für die entsagungsvolle Berufsarbeit, so
wäre namentlich noch darauf Gewicht zu legen, daß mit allen
Hilfsmitteln auch den Anstaltsärzten die stetige, lebendige Fühlung
mit den wissenschaftlichen Bestrebungen erhalten wird, durch Ent-
lastung von Verwaltungsgeschäften, Beschaffung wissenschaftlicher
Hilfsmittel, Büchereien, Fortbildungskurse, Ermöglichung von
wissenschaftlichen Reisen und fachärztlicher Ausbildung auf dem
einen oder anderen medizinischen Gebiete. Es ist eine äußerst
kurzsichtige Anschauung, wenn man bisweilen geglaubt hat, daß
durch die wissenschaftliche Beschäftigung dem Krankendienste Zeit
und Arbeitskraft entzogen werde ; gerade das Gegenteil ist der Fall.
Nur die wissenschaftliche Betrachtung seines Gegenstandes ist im-
stande, den Irrenarzt einigermaßen für die Schattenseiten seines
Berufes zu entschädigen, ihm die Frische zu erhalten und ihn
vor einer handwerksmäßigen Erledigung der Tagesgeschäfte zu
bewahren. Rechnet man hinzu, daß allein die Möglichkeit zu
638
V. Behandlung des Irreseins.
wissenschaftlicher Vertiefung der Berufstätigkeit auf die Dauer
tüchtige Kräfte heranziehen wird, so kann darüber kein Zweifel
sein, daß die Förderung wissenschaftlicher Bestrebungen die reich-
sten Früchte auch für die praktische Krankenfürsorge trägt. Sache
der Kliniken wird es sein, für diese Tätigkeit die Anregungen zu
geben, wie umgekehrt viele klinische Aufgaben von allergrößter
Wichtigkeit nur durch die Anstaltsärzte in Angriff genommen und
gelöst werden können. Als ein besonders wertvolles Mittel zur
Pflege dieser für beide Teile so wertvollen Beziehungen wäre ein
häufiger Austausch der Ärzte an Anstalten und Kliniken für kürzere
oder längere Zeit zu erwähnen.
Fast noch brennender, als die Frage einer genügenden ärzt-
lichen Fürsorge für unsere Kranken, ist diejenige der Beschaffung
eines geeigneten Pflegepersonals i). Alle Irrenärzte sind darin
einig, daß die Lösung dieser Aufgabe zurzeit ebenso dringend wie
schwierig ist. Dem Pflegepersonal müssen wir unsere Kranken
dauernd anvertrauen, ohne es doch mehr als immer nur vor-
übergehend überwachen zu können. Westphal hat es als das
größte Übel im Berufe des Irrenarztes bezeichnet, daß er niemals
sicher weiß, was mit seinen Kranken geschieht, sobald er den
Rücken wendet. Der Beruf des Irrenpflegepersonals erfordert
nicht nur ein hohes Maß geistiger und körperlicher Gesundheit,
sondern auch außerordentlich viel Geduld, Opferwilligkeit, Selbst-
beherrschung und Verstand. Es ist sicher, daß nur ein sehr kleiner
Teil des vorhandenen Personals diesen Anforderungen wenigstens
annähernd entspricht, zumal die äußere Entschädigung, die man
zu bieten pflegt, in gar keinem Verhältnisse zu der Schwierigkeit
der auferlegten Pflichten steht. Alle Versuche, in irgend größerem
Umfange gebildete Persönlichkeiten für die Irrenpflege heranzu-
ziehen, sind bei uns bisher gescheitert.
Als ein besonders bedenklicher Umstand ist die Erfahrung zu
betrachten, daß auch die wirklich tüchtigen und dienstwilligen
Kräfte häufig genug nach kürzerer oder längerer Dienstzeit er-
lahmen und sich in der überaus aufreibenden Tätigkeit verbrauchen.
Zum Teil hängt das mit der Anziehungskraft zusammen, die der
Beruf der Irrenpflege, wie derjenige des Irrenarztes, auf psycho-
1) Hoppe, Centralbl. f. Psychiatrie, 1892, 529; 1895, 63, 165; Ludwig,
AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, io8; Hoppe, ebenda, 1905, 477.
Die Irrenanstalt.
639
pathisch veranlagte Personen ausübt, zum Teil aber wohl auch
mit den aufreibenden Einflüssen der Tätigkeit selbst. Einzelne er-
fahrene Irrenärzte halten es daher für unzweckmäßig, die Irren-
pflege überhaupt zu einem Lebensberufe zu gestalten, sondern
verlangen die Heranziehung immer neuer Kräfte an Stelle der nach
einer Anzahl von Jahren abgenutzten Personen. Ich selbst war
lange geneigt, diese Lösung der Pflegerfrage für die richtigste zu
halten, bin aber durch neuere Erfahrungen wie durch das Bei-
spiel jener Länder, die uns in diesem Punkte voraus sind, zu
der Meinung gekommen, daß die Schädigung des Pflegepersonals
durch den Dienst nicht unvermeidlich ist. Wir bedürfen nur
nach verschiedenen Richtungen hin einer Änderung unserer Ein-
richtungen.
Ohne Zweifel hat schon jetzt in guten, nicht überfüllten Anstalten
der Dienst einen großen Teil der aufreibenden Schädlichkeiten ver-
loren, die er früher besaß. Mit der Bett-, Bade- und Arbeitsbehand-
lung der Kranken und namentlich auch dem Fortfall der Isolierung
hat die Unruhe der Kranken wie ihre Neigung zu Unsauberkeit
und Gewalttätigkeit in geradezu erstaunlicher Weise abgenommen,
wie ich es in meiner Klinik an den mir von früher her in schlimmster
Erinnerung stehenden oberbayrischen Kranken erlebt habe; die
Reibungsflächen zwischen Kranken und Pflegepersonal sind weit
geringere geworden. Rechnet man dazu noch das Fortfallen der
nächtlichen Störungen und Aufregungen für die bei Tage Dienst
tuenden Pfleger durch die Ausdehnung und Umgestaltung der
Nachtwachen, so können die Beschwerden des Dienstes heute mit
denen, die unser Personal noch vor 15—20 Jahren zu ertragen
hatte, gar nicht verglichen werden.
Deswegen dürfen wir aber nicht übersehen, daß noch vieles
getan werden kann und muß, was die Lage unserer Pfleger ver-
bessert, ihre Widerstandsfähigkeit erhält und damit uns auch im-
mer höher stehende Kräfte zu gewinnen gestattet. Dahin gehört
ausreichende Sicherung ihrer wirtschaftlichen Stellung und Alters-
versorgung, Ermöglichung befriedigenden Familienlebens, sodann
Abkürzung der Dienstzeit, Gewährung genügender Urlaubs- und
Erholungszeiten, Einrichtung behaglicher Wohnungen und eigener
Erholungsräume. Weiterhin aber wird es Aufgabe der Ärzte sein,
einerseits durch berufliche Einübung und regelmäßige Unterweisungs-
640
V. Behandlung des Irreseins.
stunden!) mit oder ohne nachfolgende Prüfung, andererseits durch
allgemeine erziehliche Einwirkungen bei unserem Pflegepersonale
immer mehr dasjenige Maß von Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit
zu erreichen, welches die Pflege unserer Kranken durchaus er-
fordert.
Besondere Bedeutung hat in jüngster Zeit die Frage nach der
Verwendung weiblichen Pflegepersonals auf den männlichen Ab-
teilungen 2) gewonnen. Obgleich die weibliche Pflege derjenigen durch
Männer unbestritten überlegen ist, hat man sich doch aus naheliegen-
den Gründen immer gescheut, männliche Geisteskranke durch Frauen
pflegen zu lassen. Erst das zielbewußte Vorgehen vanDeventers
hat gezeigt, daß die früher gehegten Bedenken nur zum Teile be-
rechtigt sind. In den Dauerbädern freilich, bei sehr gewalttätigen
und geschlechtlich erregten Kranken werden nur männliche Pfleger
am Platze sein. Dagegen übt bei der überwiegenden Mehrzahl der
Kranken die weibliche Pflege auch nach meinen Erfahrungen einen
ungemein wohltätigen Einfluß aus. Es läßt sich nicht verkennen,
daß Ordnung, Sauberkeit und Behaglichkeit gefördert werden, daß
Ruhe und Zufriedenheit in höherem Grade herrschen, als unter
den rauheren Sitten des männlichen Personals. Am leichtesten
läßt sich diese Einrichtung, die gewiß einen erheblichen Fortschritt
bedeutet, mit Ordensschwestern durchführen, doch lehren die in
Holland und Schottland gemachten Erfahrungen, daß bei sorg-
fältiger Auswahl auch mit weltlichem Personal die Einführung
weiblicher Pflege auf den Männerabteilungen möglich ist.
Jede Irrenanstalt gliedert sich naturgemäß in eine größere oder
kleinere Zahl verschieden ausgestatteter Abteilungen^) für die
einzelnen Gruppen der Kranken (Unruhige, Halbruhige, Ruhige,
Gebrechliche, körperlich Kranke, Überwachungsbedürftige usf.) ;
sie enthält außerdem die allgemeinen Einrichtungen sonstiger
Krankenhäuser. Im übrigen aber drängt die Verschiedenartigkeit
1) Mercklin, Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatrie, 1896, 457; Snell,
Grundzüge der Irrenpflege. 1897; Leitfäden von Schröter (1897), Tippel (1897),
Schloß (3. Aufl. 1903), Scholz (6. Aufl. 1908), Falkenberg (2. Aufl. 1909).
2) Robertson, Journal of mental science, 1902, 261; 1906, 116; Turnbull,
ebenda, 1903, 629; Engelken, Psychiatrische Wochenschr., 1905, 381.
3) Parchappe, Des principes ä suivre dans la fondation et la construction
des asiles d'alienes. 1853; Kolb, Sammelatlas für den Bau von Irrenanstalten.
1907; Würth, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LXII, 79.
Die Irrenanstalt.
641
der Aufgaben, welche die Irrenanstalt je nach der Eigenart ihrer
Bewohner zu erfüllen hat, mit Notwendigkeit auf eine Arbeits-
teilung hin, auf eine verschiedene Ausbildung der Anstalten nach
ihren besonderen Zwecken. Freilich ist die früher meist aufrecht
erhaltene Trennung in Heil- und Pflegeanstalten als unzweck-
mäßig und undurchführbar fast überall verlassen worden. Anstatt
dessen beginnt sich immer mehr die Scheidung zwischen kleineren,
leicht erreichbaren, für rasch verlaufende Fälle, vorläufige Unter-
bringung und nach Umständen auch für den Unterricht geeig-
neten Stadtasylen^) und den größeren, auf längere Pflege oder
dauernde Versorgung eingerichteten, mehr abseits gelegenen Irren-
anstalten herauszubilden. Den Stadtasylen fällt dabei die Auf-
gabe zu, aus dem ganzen fortwährend zufließenden Kranken-
materiale die für die Anstalten passenden Fälle auszuwählen und
sie ihnen zu überweisen. Zugleich würden die Ärzte des Stadt-
asyls die natürlichen Berater in den zahlreichen psychiatrischen
Fragen des täglichen Lebens sein können, wie sie die Rechtspflege,
die Schulhygiene, der Schutz der Volksgesundheit und Wehrkraft
mit sich bringt; sie wären auch geeignet, psychiatrische Kurse
für Ärzte, Krankenpfleger, Lehrer, Schutzleute abzuhalten. Leider
besteht bei uns zurzeit noch wenig Geneigtheit zur Errichtung
von Stadtasylen, weil die Irrenfürsorge in erster Linie als An-
gelegenheit des Staates angesehen wird.
Die Einrichtung des Stadtasyls ist wegen der Eigenart der ihm
zufließenden Kranken beherrscht von der Rücksicht auf eine mög-
lichst vollständige und unausgesetzte Überwachung. Dieser Grund-
satz ist zuerst von Parchappe in den sogenannten Wach-
abteilungen verwirklicht worden, in denen das Wartpersonal die
Kranken Tag und Nacht unter Augen hatte, um jederzeit Hilfe
zu leisten oder Unglück zu verhüten. Einer derartigen Über-
wachung bedürfen nach unseren heutigen Anschauungen sehr
viele Kranke, die sich selbst Gefährlichen, die Nahrungsverwei-
gerer, die Unreinlichen, die körperlich Kranken und Gebrechlichen,
endlich die Unruhigen und Gewalttätigen. In einem Stadtasyl
bilden diese Klassen von Kranken mindestens Vs — % «i^s Be-
1) Griesinger, Archiv f. Psychiatrie, I, 8; Sioli, Allgem. Zeitschr., LV, 826;
LVII, 600; Dannemann, Bau, Einrichtung und Organisation psychiatrischer
Stadtasyle. 1901.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl. 4^
642
V. Behandlung des Irreseins.
Standes. Es liegt indessen auf der Hand, daß diese so verschieden-
artigen Kranken sich nicht ohne die größten gegenseitigen Stö-
rungen in einer Abteilung unterbringen lassen. Vielmehr werden
für jedes Geschlecht mindestens zwei Wachabteilungen notwendig
sein, eine für ruhige, eine andere für unruhige Kranke. Kann
man noch weiter gehen und namentlich die Gebrechlichen und
Unreinlichen abtrennen — um so besser.
Jede Wachabteilung wird zweckmäßig aus mehreren, anein-
anderstoßenden, aber leicht übersehbaren Räumen bestehen, damit
man eine gewisse Sonderung der sich störenden Kranken vor-
nehmen kann. Die einzelnen Säle sollen aus Gründen der Behag-
lichkeit und der Individualisierung nicht zu groß sein, möglichst
nicht mehr als 8 — 12 Betten enthalten; daneben sind noch einige
an die Haupträume anstoßende und von da zu überwachende
Einzelzimmer für i — 2 Kranke vorzusehen, die aus irgendwelchen
Gründen abgetrennt werden sollen oder wollen. Steht keine be-
sondere Abteilung für körperlich Kranke zur Verfügung, so werden
in solchen Einzelzimmern namentlich auch tuberkulöse Kranke
zu behandeln sein, deren Absperrung in Irrenanstalten besonders
wichtig ist. Die Selbstmordverdächtigen sind unter allen Um-
ständen so unterzubringen, daß sie keinen Augenblick außer acht
gelassen werden; nach Bedarf muß für einzelne Kranke eine be-
sondere Wache eingestellt werden. Die Unterbringung solcher
Kranker in einzelnen Zimmern mit eigener Aufsicht, wie sie von
den Angehörigen besserer Stände oft gewünscht wird, bietet weit
geringere Sicherheit und ist daher in bedenklichen Fällen durch-
aus zu widerraten. Ich habe es übrigens oft erlebt, daß besonnene
Kranke selbst die Verlegung von der Wachabteilung ablehnten,
weil sie sich dort geborgener fühlten. Die für Selbstmordverdäch-
tige bestimmten Räume sollten unbedingt zu ebener Erde liegen.
Ist das nicht durchführbar, so halte ich die Vergitterung der Fenster,
am besten mit weit ausladenden, blumenbesetzten Korbgittern,
obgleich man sich zumeist dagegen zu sträuben pflegt, für un-
erläßlich, da mir die Erfahrung leider mehrfach gezeigt hat, daß
ohne diese Sicherung gefährliche Selbstmordversuche nicht zu-
verlässig verhütet werden können. Man kann dann auf besondere
Fensterverschlüsse verzichten und den Kranken die Wohltat gewäh-
ren, nach Belieben die Fenster öffnen und hinausschauen zu dürfen.
Die Irrenanstalt.
643
Die allgemeine Einrichtung der Säle und Zimmer ist voll-
kommen diejenige eines gewöhnlichen Krankenhauses, mit dem
einzigen Unterschiede, daß die Türen verschlossen gehalten werden,
und daß nach Möglichkeit alles vermieden ist, was zu Selbstver-
letzungen Gelegenheit geben könnte; außerdem wird man mit
Rücksicht auf den Seelenzustand der Kranken bestrebt sein, den
Räumen durch freundliche Ausstattung eine gewisse Behaglichkeit
zu verleihen.
Die Hauptforderung der Übersichtlichkeit läßt das früher be-
liebte Korridorsystem für Wachabteilungen unzweckmäßig er-
scheinen. Die für Kranke bestimmten Räume müssen ohne weiteres
von jedem Punkte aus der Überwachung zugänglich sein; Neben-
räume sind entweder ganz zu vermeiden oder so zu legen, daß sie
für die Kranken unzugänglich sind. Eine besondere Schwierigkeit
bilden die Abortanlagen. Da sie eine häufig benutzte Gelegenheit
zu Selbstmordversuchen bieten, sollen sie von den Kranken der
Wachabteilungen niemals ohne besondere Aufsicht benutzt werden.
Befindet sich der Abort in einem Nebenraum, so ist diese Vorschrift
namentlich in der Nacht nur dann zu erfüllen, wenn entweder
zwei Wachen gleichzeitig vorhanden sind oder die Säle vorüber-
gehend unbeaufsichtigt bleiben. Man pflegt sich hier wie in den
Schlafsälen ohne Wache durch Aufstellen von Nachtstühlen zu
helfen, die indessen große Unzuträglichkeiten mit sich bringen.
Die weitaus zweckmäßigste Lösung, wie ich sie seit Jahren er-
probt habe, ist die Einrichtung von Spülklosetts in einer Ecke
oder Nische des Sales, verdeckt durch einen niedrigen Wand-
schirm. Ich würde niemals zu einer anderen Einrichtung zurück-
kehren.
Im Wachsaale selbst sollte die Möglichkeit zur Erwärmung von
Flüssigkeiten (Suppen, Milch, Kaffee, Tee) gegeben sein. Sehr
zweckmäßig und zugleich unbedenklich sind elektrische Koch-
apparate, die nach dem Gebrauche in eine Wandnische zurück-
geklappt werden. Wünschenswert ist ferner eine Einrichtung, um
jederzeit auch innerhalb der Wachsäle ein Bad geben zu können.
Diesem Zwecke dienen fahrbare Badewannen, die von einem Hahne
in der Wand aus gefüllt und über einem Auslaufe im Boden ent-
leert werden können.
Ein Bild von dem Aussehen einer heutigen Wachabteilung ge-
41»
644
V. Behandlung des Irreseins.
währt die Fig. XXXIII, die einen Saal der Münchner Aufnahme-
abteilung darstellt. Man sieht hier den mittleren von drei an-
einanderstoßenden Sälen, der von links her durch drei Südfenster
sein Licht erhält. Die Beleuchtung geschieht außer von der Decke
auch durch laternenartige Ecklampen, von denen rechts eine sicht-
bar ist. Links in der Ecke befindet sich hinter dem Wandschirm
das Spülklosett, rechts an der Wand neben der Krankenschwester
Fig. XXXIII. Wachsaal.
eine fahrbare Badewanne, die von einem Wandkästchen aus zu
füllen ist.
Mit den wichtigsten Bestandteil der Wachabteilung bildet der
Baderaum, dessen besondere Einrichtung früher schon besprochen
wurde. Das Dauerbad ist von den Reinigungsbädern möglichst zu
trennen. Auf den Wachabteilungen sollte mindestens für zehn Kranke
eine Wanne im Dauerbade zur Verfügung stehen. Auf Isolierzellen
im alten Sinne kann man dann verzichten, wenn man nicht für ganz
besondere Ausnahmefälle (gefährliche Verbrecher!) ein besonders
festes Zimmer vorsehen will. Eigene Tageräume sind höchstens für
größere Wachabteilungen zweckmäßig, da sie nur vorübergehend
Die Irrenanstalt.
64s
benutzt zu werden pflegen und eine gewisse Zersplitterung des
Dienstes bedingen.
Die Nachtwachen werden bei weitem am besten nach dem
sogenannten schottischen Verfahren geregelt. Bei demselben wacht
derselbe Wärter, den man unter den älteren und erfahreneren
auswählt, einige Zeit hindurch, etwa 2 — 4 Wochen, nach Um-
ständen auch 2 — 3 Monate lang, die ganze Nacht und ist tagsüber
dienstfrei. Die Vorzüge dieser Einrichtung gegenüber dem be-
ständigen Wechsel der Wache mit Zweiteilung der Nacht sind sehr
erhebliche; sie liegen namentlich auch darin, daß mit geringer
Vermehrung des Personals eine viel ausgedehntere Überwachung
erzielt werden kann. Selbstverständlich erfordert jeder nächtlich
benutzte Baderaum eine besondere Wache. Alle Wachen bedürfen,
wenn sie überhaupt einen Zweck haben sollen, der sorgfältigsten
Kontrolle durch Wachuhren und häufige ärztliche Besuche oder
durch besonders dazu angestelltes Oberwartpersonal.
Neben den Wachabteilungen spielen in einem Stadtasyle die
Räume für ruhige Kranke und Genesende eine verhältnismäßig
geringe Rolle. Sie brauchen auch in ihren Einrichtungen gar
nichts Besonderes zu bieten. Zweckmäßig ist es, über einige Arbeits-
räume zu verfügen, in denen sich je nach Umständen einmal ein
Schuhmacher, Schneider, Anstreicher oder dergleichen einrichten
kann. Außerdem sollten nicht nur Gärten zur Erholung, sondern
auch etwas Land zur Beschäftigung in frischer Luft vorhanden sein.
Um eine Vorstellung von der Anordnung eines Stadtasyls zu geben,
fügen wir in Fig. XXXIV den Grundriß des ersten Obergeschosses
der Münchner Klinik ein. Man übersieht hier außer der durch zwei
Stockwerke reichenden Vorhalle, den Verwaltungsräumen und dem
Aufnahmezimmer mit anstoßendem ärztlichem Sprechzimmer den
dem Unterricht dienenden Hörsaal, ferner die beiden Aufnahme-
abteilungen für die frisch eintretenden Kranken und je eine Wach-
abteilung für unruhige Kranke, rechts für Männer, links für Frauen.
Die Aufnahmeabteilungen bestehen je aus drei aneinanderstoßen-
den Sälen nebst einem kleineren Zimmer für 1—2 Kranke und
einem ärztlichen Untersuchungszimmer mit kleinem Dunkelraum
für Spiegeluntersuchungen, endlich einem für die Kranken unzu-
gänglichen Abstellraum. Die ganze Abteilung ist für etwa 24 Kranke
berechnet. Jenseits des hier durch die Rücksicht auf den Straßen-
Die Irrenanstalt.
647
verkehr gebotenen Korridors liegen Bad, Spülküche und Abort für
das Personal, während die Spülklosetts für die Kranken in zwei Sälen
angebracht sind. Die anderen Wachabteilungen sind etwas ver-
schieden, da wir auf der Männerseite über zwei kleinere, auf der
Frauenseite nur über eine größere Abteilung für unruhige Kranke
verfügen. Die letztere besteht wiederum aus zwei aneinander-
stoßenden Sälen für je 7 — 8 Kranke, denen sich ein kleineres und
ein größeres Einzelzimmer für im ganzen 3 — 4 Kranke angliedern;
daneben liegt das ärztliche Dienstzimmer und die Teeküche. Auf
der anderen Seite des breiten, auch hier von der Baupolizei ver-
langten Korridors liegen zwei getrennte Dauerbäder, eines mit
vier, das andere mit zwei Wannen, daneben Abstellkammer und
Abort für das Personal. Auf der Männerseite ist die Anordnung
der Räume infolge baulicher Umwälzungen eine etwas andere ge-
worden. Die beiden Flügel umschließen Gärten und sind mit dem
trennenden Wirtschaftsgebäude durch Wandelhallen verbunden.
Eine zweite Wachabteilung für Männer sowie die ^Abteilungen für
Ruhige, Kinder und Privatkranke, endlich die Poliklinik und die wissen-
schaftlichen Zwecken dienenden Räume liegen in anderen Geschossen.
In den großen Irrenanstalten bilden die Wachabteilungen eben-
falls den Kern des Ganzen, aber sie umfassen nur einen verhältnis-
mäßig kleinen Bruchteil der Kranken. Man wird hier in der Tren-
nung der Wachabteilungen für die verschiedenen Gruppen von
Kranken sehr viel weiter gehen können und demnach'die einzelnen
Einrichtungen ihren besonderen Zwecken noch mehr anpassen.
Im übrigen aber tritt in der großen Anstalt die Sorge für die Be-
schäftigung und Unterhaltung der zumeist ruhigen und arbeits-
fähigen Kranken in den Vordergrund. Die Abteilungen nehmen
daher das Gepräge großer gemeinschaftlicher Wohnhäuser an; wir
finden Spiel- und Gesellschaftsräume, Bibliothek, Werkstätten aller
Art, große Gärten, Viehwirtschaft, Ländereien. Während die älteren
Anstalten regelmäßig mächtige, zusammenhängende, kasernenartige
Gebäude darstellten, hat die wachsende Mannigfaltigkeit der Be-
dürfnisse wie die Vergrößerung der Anstalten in neuerer Zeit all-
gemein zu einer Auflösung der Grundrisse in eine größere Zahl
von einzelnen Bauten geführt, die zunächst in strenger Regel-
mäßigkeit, dann aber mehr dorfartig angeordnet zu werden pflegten.
Diese zerstreute Bauweise („Pavillonstil") ermöglicht in weit höherem
648 V. Behandlung des Irreseins.
Grade als früher die Abtrennung der einzelnen Krankenarten nach
ihren Eigentümlichkeiten, und sie gibt der ganzen Anlage einen viel
freundlicheren Anstrich, zumal auch die früher üblichen hohen Um-
fassungsmauern durch Hecken ersetzt werden und eingestreute
Gartenanlagen die Anstalt gewissermaßen in einen Park verlegen.
I
Die Irrenanstalt.
649
Einen Begriff von dieser Wandlung möge der Vergleich des
Grundrisses der alten, im Jahre 1859 erbauten Kreisirrenanstalt
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München mit einer Ballonaufnahme der neuen Anstalt in Eglfing
(Fig. XXXV und XXXVI) geben. Dort sehen wir einen einzigen,
650
V. Behandlung des Irreseins.
schlangenförmig angeordneten, mehrere Höfe umschließenden Bau,
dessen beide Hälften, für Männer und Frauen bestimmt, sich genau
wiederholen und durch die in der „Geschlechtsachse" gelegenen
Wirtschaftsbauten getrennt sind. Dazu kommen parkartige Gärten
und etwas Gemüseland; das Ganze ist von einer hohen Mauer
umschlossen. Hier dagegen erblicken wir eine große Zahl von Einzel-
bauten, die scheinbar regellos über eine weite Fläche zerstreut
sind und sich in eine Waldlichtung hineinschieben. Dazwischen
finden sich Wohnhäuser der Ärzte, zwei Kirchen, ein Festhaus,
Küchengebäude, Maschinenhaus, Kegelbahn, ein Pflegerdorf, ein
Gutshof; weite Ländereien umgeben die Anlage. Den äußeren Ein-
Fig. XXXVII. Ansicht von Gabersee.
druck einer derartigen Anstalt gibt die Fig. XXXVH wieder, eine An-
sicht von Gabersee, das aus der Ferne ganz einem freundlichen
Dorfe gleicht. Hält man den finsteren Gefängnisbau von Kaul-
bachs Narrenhaus dagegen, so springt die Wandlung unserer
Irrenpflege deutlich genug in die Augen.
Als ein schwerwiegender Nachteil der sonst so bestechenden
Auflösung der geschlossenen Irrenanstalt in eine dorfartig angeord-
nete Gruppe einzelner Gebäude muß die Erschwerung des ärzt-
lichen Dienstes bezeichnet werden. Bei der großen Ausdehnung
der Anstalt ist nachts und bei ungünstiger Witterung die ärztliche
Überwachung der einzelnen Abteilungen nur äußerst mangelhaft
durchführbar, so daß dem Pflegepersonal ein unerwünscht großes
Maß von Selbständigkeit zufällt. Dieser Übelstand läßt sich wesent-
lich mildern, wenn wenigstens die Wachabteilungen, namentlich
auch die für unruhige Kranke, in größeren Häusern vereinigt oder
doch durch gedeckte Gänge miteinander verbunden sind. Außer-
Die Irrenanstalt.
651
dem müßten in ihnen überall Ärztewohnungen vorgesehen werden.
Für die ruhigen, insbesondere die arbeitenden Kranken überwiegen
die Vorteile der zerstreuten Bauweise weitaus.
Die hier geschilderte Entwicklung unserer Irrenanstalten hängt
zum guten Teile mit dem wachsenden Bedürfnisse nach Unter-
bringung immer zahlreicherer Kranken zusammen. Die Über-
legung, daß die Allgemeinkosten für Bau und Betrieb mit der Ver-
größerung der Anstalt langsamer wachsen als diejenigen für den
einzelnen Krankenplatz, hat dazu gedrängt, die Größe der An-
stalten immer mehr zu steigern, bis die ,, Mammutanstalten" ent-
standen, die 1000 — 2000 und selbst noch mehr Kranke beherbergen.
Es ist indessen zu betonen, daß die wirtschaftlichen, übrigens
keineswegs unzweifelhaften Vorteile solcher Riesenanstalten durch
ihre Nachteile weit überwogen werden. Zunächst bedingt schon die
Ausdehnung des erforderlichen Geländes die Verlegung der An-
stalten in eine Gegend mit billigen Bodenpreisen, also zumeist in
eine Lage, die von Verkehr und geistiger Anregung mehr oder
weniger abgeschnitten ist. Dadurch wird einerseits die Erreich-
barkeit der Anstalt für Kranke und Angehörige, andererseits die
Lebenshaltung für Ärzte und Bedienstete namhaft erschwert und
verteuert. Dazu kommt, daß eine große Anstalt immer ein ver-
hältnismäßig weites Gebiet zu versorgen hat. Ein erheblicher Teil
der Kranken hat daher verhältnismäßig weite Wege zurückzulegen,
die für die Aufnahme wie für die Entlassung erschwerend wirken.
Besuche der Angehörigen werden entsprechend kostspielig und ge-
schehen seltener, so daß sich das Band zwischen ihnen und dem
Kranken, zu großem Schaden dieses letzteren, leichter lockert und
die so sehr zweckmäßigen probeweisen Beurlaubungen weit seltener
erfolgen können. Der Betrieb der großen Anstalt selbst wird unüber-
sichtlicher, fällt leichter auseinander und bietet in seiner Schwer-
fälligkeit eine Menge von Reibungsflächen, durch deren Beseitigung
der ärztliche Leiter über die Gebühr in Anspruch genommen wird.
Während er selbst durch den Wust kleinlicher Geschäfte dem ärzt-
lichen Dienste immer mehr entfremdet wird und eine stärkere
Einwirkung auf seine ärztlichen Mitarbeiter kaum mehr auszu-
üben vermag, gewinnen im Anstaltsbetriebe die rein technischen
und Verwaltungsrücksichten eine sehr unerwünschte Bedeutung
gegenüber den ärztlichen Maßnahmen. Der ganze Großbetrieb
652
V. Behandlung des Irreseins.
macht den Kranken immer mehr zur Nummer, während das Ein-
gehen auf die einzelne Persönlichkeit notgedrungen zurücktritt.
Endlich verringert die Vergrößerung der Anstalten, wie schon
früher angedeutet, in verhängnisvoller Weise die Aussicht auf
Unabhängigkeit und Selbständigkeit für die angestellten Ärzte, ein
Umstand, der auf den bei ihnen herrschenden Geist nicht anders
als ungünstig einwirken kann.
Ein weiterer Mißstand in der Entwicklung unseres Anstalts-
wesens ist die übergroße Kostspieligkeit unserer Anstalten. Die
Baukosten für einen Anstaltsplatz sind allmählich von 3—4000 Mark
auf das Doppelte und selbst Dreifache angestiegen. Das wird durch
die vielen wesentlichen Verbesserungen in Anlage und Ausstattung
der Anstalten bedingt. Es ist jedoch zu bedenken, daß für die
überwiegende Mehrzahl unserer Kranken sehr einfache Einrich-
tungen nicht nur völlig ausreichend, sondern sogar wesentlich
wohnlicher sind als die hier und da hervortretende Üppigkeit.
Für chronische, insbesondere arbeitende Kranke haben sich ein-
fache Bauernhäuser mit geringen, durch die Gesundheitspflege ge-
forderten Abänderungen als die begehrtesten Unterkunftsräume
erwiesen. Eine verschwenderische Ausgestaltung der Abteilungen
für anspruchslose oder gar stumpfe und blöde Kranke vermindert
sehr die Neigung der öffentlichen Gewalten, dem rasch anwachsen-
den Bedürfnisse nach Unterbringung neuer Kranker rechtzeitig zu
genügen. Man sollte sich daher darauf beschränken, die Wach-
abteilungen für heilbare und schwer Kranke mit allen nur erdenk-
lichen Hilfsmitteln auszustatten, die dem Wohle der Kranken
dienen können, die übrigen Abteilungen dagegen den einfachen
Lebensgewohnheiten der unbemittelten Volksschichten einigermaßen
anzupassen.
Je größer in einer Anstalt die Zahl der chronisch Kranken
ist, desto mehr Freiheit der Bewegung wird man ihren Insassen
zu gewähren imstande sein. Mit der Dauer des Irreseins treten
meist die heftigeren Erregungen mehr und mehr zurück; die
Kranken werden ruhiger, gleichmäßiger in ihrem Verhalten, frei-
lich auch schwachsinniger. Gegen die nunmehr drohende Ge-
fahr weiteren geistigen Verfalles gibt es kein besseres Mittel als
die Freiheit, da der eintönige Anstaltsaufenthalt mit seinen ab-
stumpfenden Einflüssen den Fortschritt der Verblödung entschieden
Die Irrenanstalt.
653
begünstigt. Leider ist es nicht immer möglich, die ungeheilten
Kranken in ihre früheren Verhältnisse zurückkehren zu lassen.
Man wird ihnen daher wenigstens im Rahmen der Anstalt, so weit
wie irgend angängig, freie Bewegung und Beschäftigung zu ver-
schaffen suchen. Dieser Wunsch hat allmählich dahin geführt,
daß die Mehrzahl wenigstens der neueren Irrenanstalten grund-
sätzlich auf die früher durchgeführte strenge Absperrung der Kranken
verzichtet hat. Vielfach hat man große Abteilungen der Kranken,
bis zur Hälfte oder gar zwei Dritteilen, ganz frei, bei offenen Türen
wohnen und nach ihrem Belieben auf dem Anstaltsgebiete sich be-
wegen lassen (Offen-Tür-System). Die günstige Wirkung solcher
Einrichtungen auf das Wohlbefinden, die Arbeitsfähigkeit und das
gesamte Benehmen der Kranken ist eine ganz außerordentliche.
Gerade der weitere Ausbau solcher offenen Abteilungen wird
in erster Linie dazu beitragen, die Irrenanstalten volkstümlicher
zu machen und die aus vergangenen Zeiten fortgeerbten Vorurteile
gegen diese Krankenhäuser allmählich zu mildern. Namentlich
werden sie auch der Unterbringung so mancher Kranker dienen
können, die des irrenärztlichen Rates bedürfen und ihn auch gern
einholen würden, aber vor der Einschließung und vor den Auf-
nahmeförmlichkeiten zurückscheuen. Die Zulassung freiwilliger
Aufnahmen wird eine derartige Entwicklung begünstigen. Wertvoll
in dieser Richtung sind auch die nicht nur in Stadtasylen, sondern
auch in manchen ländlichen Anstalten bereits mit bestem Erfolge
eingerichteten Sprechstunden für auswärtige Kranke.
Einen überaus bedeutsamen Fortschritt hat die Ausbildung
der großen Anstalten in der neueren Zeit erfahren durch die Ent-
wicklung der sog. Kolonien^), in denen man, so weit wie irgend
möglich, die Kranken zu einer freien Beschäftigung mit länd-
lichen Arbeiten heranzuziehen sucht. In dieser besten und ver-
hältnismäßig billigsten Verpflegungsart dürfte die ganze Frage der
Irrenfürsorge auf lange Zeit hinaus ihre endgültige Lösung gefunden
haben. Die Geschichte dieser Bestrebungen geht merkwürdig weit
zurück. Schon Pinel berichtet 1801 von einer 1425 in Saragossa
errichteten Anstalt, in der Geisteskranke mit Feldbau beschäftigt
wurden, und er strebte danach, dieses Verfahren auch im Bicetre
1) Pätz, Die Kolonisierung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-
Tür-System. 1893.
654
V. Behandlung des Irreseins.
einzuführen, was allerdings erst seinem Nachfolger Ferrus gelang.
Auch Reil dachte sich die Irrenanstalt in der Art einer Meierei*
In sehr vielen Anstalten machte sich späterhin das Bedürfnis nach
Beschäftigung der Kranken in Feld und Garten geltend, das durch
Ankauf von Ländereien befriedigt wurde. Den größten Fortschritt
aber brachte der 1876 von Köppe durchgeführte, überraschend
gunstig ausgefallene und dann vielfach nachgeahmte Versuch, das
Rittergut Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen gänzlich durch
geisteskranke Arbeiter bewirtschaften zu lassen. Selbstverständlich
ist hier zur Behandlung der frischen Fälle und der vorübergehenden
Aufregungszustände noch eine kleinere Zentralanstalt mit den für
diese Zwecke geeigneten Einrichtungen notwendig.
Wertvoll vor allem ist die koloniale Verpflegungsart für die
Unterbringung jener zahlreichen geistigen Krüppel, denen die Krank-
heit die Möglichkeit einer selbständigen Lebensführung genommen
hat. Sie können durch die stete Anregung, welche die Arbeit, be-
sonders die ländliche Beschäftigung, gewährt, lange Jahre hindurch
m einem Zustande leidlichen Wohlseins erhalten werden, während
sie ohne diese vielleicht rettungslos einer raschen Verblödung an-
heimgefallen wären. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt. Kranke,
die jahrelang in der geschlossenen Anstalt gelebt hatten, unter dem
Einflüsse der freieren Bewegung und selbständigeren Beschäftigung
in der Kolonie Gabersee auf geradezu überraschende Weise geistig
aufleben zu sehen. Die Fig. XXXVIIP) stellt arbeitende Kranke in
Altscherbitz dar. Wer hier die Kranken in eifriger Tätigkeit die
Ernte einbringen und mit der Sense hantieren sieht, wird die Größe
der in knapp einem Jahrhundert vollzogenen Wandlung ermessen
können.
Auch noch nach einer anderen Richtung hin haben die Besse-
rungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte die praktische Lösung
der Irrenfrage wesentlich gefördert. Indem man ausging von dem
Muster der belgischen Ortschaft Gheel, deren Bewohner sich seit
langen Jahrhunderten aus ursprünglich religiösem Anlasse (Kultus
der heiligen Dymphna, die als Schutzpatronin der Geisteskranken
galt) mit der häuslichen Pflege Geisteskranker beschäftigen, hat
man, wie in einer Reihe anderer Länder, namentlich in Schott-
1) Aufnahme von Dr. Engelken, die ich der freundlichen Vermittlung des
Herrn Kollegen Pätz verdanke.
Die Irrenanstalt.
655
land, auch in Deutschland (Ilten, Bremen, Berlin, Zwiefalten und
anderwärts) den glücklichen Versuch gemacht, eine familiäre
Ver pflegungi) irren unter ärztlicher Aufsicht in ausgedehn-
terem Maße einzurichten. Die Kranken werden dabei gegen eine
bestimmte Entschädigung als Hausgenossen in geeigneten Familien
untergebracht und genießen dadurch alle die mannigfachen An-
regungen und Freuden, welche die selbständige Lebensführung in
der Freiheit und die Zugehörigkeit zu einer kleinen Gemeinschaft
Fig. XXXVIII. Arbeitende Kranke in Altscherbitz.
mit sich bringt. Diese Familienpflege dient entweder als Übergang
in die volle Freiheit, um die Kranken zunächst wieder an eine
geregelte Tagesarbeit zu gewöhnen und ihnen Gelegenheit zur
Aufsuchung von Verdienst zu geben. Oder aber sie bildet eine
1) Bothe, Die familiäre Verpflegung Geisteskranker. 1893; Falkenberg,
Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 553; Nawratzki, ebenda, LIX, 4"; Alt,
Die familiäre Verpflegung der Kranksinnigen in Deutschland. 1903; Weiterent-
wicklung der familiären Verpflegung der Kranksinnigen in Deutschland seit 1902.
1907; Van Deventer, Van Dale, Vos, Psychiatrische en neurologische Bladen,
1902, 240.
656
V. Behandlung des Irreseins.
eigenartige Form der dauernden Irrenversorgung. Bei uns in
Deutschland gliedert sie sich regelmäßig an größere Anstalten an
und wird von ihnen überwacht. In Uchtspringe hat die Familien-
pflege ihren Ausgang genommen von Wärterfamilien, denen Kranke
übergeben wurden; sie hat sich aber dann ausgedehnt in die Städte
Gardelegen und Jerichow, in denen sich unter ärztlicher Leitung
kleine Krankenabteilungen befinden, die als Durchgangspunkte zur
Familienpflege, ferner zur Behandlung vorübergehender Verschlim-
merungen und körperlicher Erkrankungen sowie zur Pflege von
Siechen dienen. Die Zahl der dort in Familienpflege untergebrachten
Kranken stieg in den zehn Jahren von 1896— 1906 von o auf 475.
Alt schätzt die Zahl der zurzeit in Deutschland familiär verpflegten
Geisteskranken auf 2400.
Die Familienpflege arbeitet nicht unwesentlich billiger als die
Anstaltsfürsorge; sie ist auch öfters aus den Bedürfnissen der
Armenpflege hervorgegangen, die aus Mangel an geeigneten An-
stalten oder zu deren Entlastung die Kranken in irgend einer Weise
billig unterzubringen suchte. Das klingt zunächst erstaunlich, da
man annehmen darf, daß keine Familie einen ihr fremden Geistes-
kranken ohne die Aussicht auf Gewinn zu sich nehmen wird. Es
erklärt sich jedoch wesentlich durch die wachsende Kostspieligkeit
der Anstalten und ihres Betriebes, die vielfach über das wahre Be-
dürfnis hinausgeht. Dennoch pflegen sich die Kranken zumeist in
der Familienpflege erheblich wohler zu fühlen, weil sie ein mehr,
selbständiges und persönliches Leben führen können als in dem
einförmigen, breiten Strome des Anstaltsdaseins. Selbstverständlich
aber ist zur Vermeidung schwerer Übelstände, unter denen Gewalt-
taten, Selbstmorde, Schwängerungen in erster Linie stehen, eine
sehr sorgfältige Auswahl sowohl der Pfleger wie der Kranken
nötig. Nicht jede Gegend paßt in gleicher Weise für die Familien-
pflege. Am besten eignet sich eine in mäßigem Wohlstande lebende
bäuerliche oder kleinbürgerliche Bevölkerung von einfachen Sitten
und ruhiger Gemütsart; es ist daher wohl kein Zufall, daß bei
Niederdeutschen, Vlamen und Schotten die Erfolge bisher am
besten gewesen sind. Sehr günstig wirkt eine gewisse Überlieferung,
die natürlich erst allmählich geschaffen werden kann.
Von den Kranken werden hauptsächlich unheilbare Fälle in
Betracht kommen, einmal Imbezille und Idioten, dann körperlich
Die Irrenanstalt. 657
rüstige, arbeitsfähige, leichter Verblödete ohne Neigung zu Auf-
regungen oder Selbstmord, die keine eigene Familie haben, welche
imstande oder geeignet wäre, sich ihrer anzunehmen. Alt schätzte
früher die Zahl der für die Familienpflege passenden Anstaltskranken
auf 15%, doch wird diese Zahl wesentlich durch die größere oder
geringere Leichtigkeit beeinflußt, mit der auch harmlosere Kranke
den Zugang zur Anstalt finden. In den belgischen Orten Gheel
und Lierneux befindet sich die weit überwiegende Menge aller
Kranken in der Familienpflege, deren Mittelpunkt eine verhältnis-
mäßig sehr kleine geschlossene Abteilung für unruhige und über-
wachungsbedürftige Kranke bildet. Eine derartige Einrichtung
dürfte sich nur dort empfehlen, wo schon von vornherein eine ge-
wisse Auslese der Kranken für die Zwecke der Familienpflege statt-
gefunden hat.
Innerhalb gewisser Grenzen, als Vorbereitung zur vollen Frei-
heit, namentlich aber von vornherein als Ersatz für die eigene
Familie, wird die bestechendste Form der Irrenfürsorge auch für
unsere Verhältnisse ein unersetzliches Glied in der Kette jener
Einrichtungen bilden, die berufen sind, das schwere Schicksal
unserer Kranken zu erleichtern. Es darf freilich nicht übersehen
werden, daß sie auch gewisse Mängel hat, die namentlich in der
Schwierigkeit der ärztlichen Überwachung liegen. Gelingt es durch
geeignete Einrichtungen, zu denen außer sorgsamer Auswahl der
Kranken und Pfleger ein wirksamer ärztlicher Dienst gehört, das
Gewicht jenes Übelstandes zu mindern, so kann die weitere Ent-
wicklung der Familienpflege nur mit Freuden begrüßt werden.
Die Häufigkeit des Irreseins bei Gefangenen hat schon seit
längerer Zeit zu besonderen Einrichtungen für geisteskranke
Verbrecherl) im Anschlüsse an Strafanstalten geführt. Die erste
derartige Abteilung in Deutschland wurde in Bruchsal geschaffen;
später ist Sachsen mit Waldheim und neuerdings Preußen mit
fünf größeren Abteilungen in verschiedenen Landesteilen diesem
Beispiele gefolgt. Die erkrankenden Gefangenen kommen hier sehr
rasch in fachärztliche Behandlung. Sobald ihre Strafzeit abgelaufen
oder, in Preußen, ihre Unheilbarkeit festgestellt ist, werden sie
1) Sander und Richter, Die Beziehungen zwischen Geistesstörung und Ver-
brechen. 1886; Werner, Die Versorgung der geisteskranken Verbrecher in Dall-
dorf. 1906; Flügge, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1904, 260.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
658
V. Behandlung des Irreseins.
in die gewöhnlichen Irrenanstalten überführt. Da sie öfters recht
unangenehme und gefährliche Eigenschaften haben, die sich mit
der Freiheit des sonstigen Anstaltsbetriebes schlecht vertragen, ist
man mehrfach dazu geschritten, einzelnen Anstalten mit besonderen
Sicherungen versehene Bauten für „verbrecherische Irre" anzu-
gliedern, in denen auch sonstige sehr gefährliche Kranke unter-
gebracht werden. Im ganzen sind jedoch bisher die Erfahrungen
mit der Anhäufung solcher Insassen in einer Abteilung nicht sehr
befriedigende gewesen; ihre Verteilung und die „Verdünnung" durch
andersgeartete Kranke scheint zweckmäßiger zu sein. Übrigens
ist die Zahl der wirklich sehr gefährlichen Kranken überall nur
eine recht geringe.
Die Aufgabe des Irrenarztes schließt zunächst ab mit der Ent-
lassung des Kranken aus der Anstalt. In der Regel soll
sie nur nach erfolgter Genesung geschehen, aber es gibt nicht
so gar selten Fälle, in denen der langsame Gang der Genesung
und ein sehr lebhaftes, allerdings noch krankhaftes Heimweh oder
das Drängen der Angehörigen zu einer etwas vorzeitigen Entlassung
zwingen, wenn man nicht die Gefahr einer Verschlechterung oder
gar eines unvermuteten Selbstmordes auf sich nehmen will. Bei
vorsichtiger Auswahl der Kranken und unter günstigen häuslichen
Verhältnissen pflegt sich dann die weitere Heilung meist ungestört
zu vollziehen. Bleuler macht darauf aufmerksam, daß bei langer
Verzögerung der Entlassung auch das Interesse der Angehörigen
an ihren Kranken schwindet. Namentlich katatonische Kranke
erfahren bisweilen durch einen Entlassungsversuch eine über-
raschende Besserung. Oft genug jedoch kommen baldige Rückfälle
vor, besonders wenn des Genesenden zu Hause wieder Not und
Sorge, lieblose, rohe Behandlung oder die Gelegenheit zu Aus-
schweifungen wartet. Gerade für ihn ist aber Schonung, Ver-
meidung jeder Überanstrengung und eine nur ganz all-
mähliche Einführung in die alltägliche Berufslast dringend notwen-
dig. Wohlhabendere schieben daher zweckmäßig zwischen die Ge-
nesungszeit und den vollen Eintritt in ihre früheren Pflichten einen
kurzen Badeaufenthalt, Besuch in befreundeter Familie u. dgl. qin.
Eine gewisse Anzahl unserer Kranken entzieht sich der Behand-
lung vorzeitig durch Entweichung. Zum Teil handelt es sich
dabei um ein ganz planloses Davonlaufen, bisweilen im Dämmer-
Die Irrenanstalt.
659
zustande, öfters auf Grund plötzlicher dunkler Antriebe oder gemüt-
licher Erregungen. Andere Kranke verfahren mehr planmäßig,
bereiten den Fluchtversuch vor, verschaffen sich Werkzeuge, be-
stechen das Pflegepersonal. In der Regel ist hier der Freiheits-
drang Beweggrund; bisweilen sind es Wahnvorstellungen oder
Selbstmordgedanken. Geisteskranke Verbrecher haben natürlich
zu dieser Art der Verabschiedung besonders starke Neigung. Mit
der freieren Behandlung der Kranken sind die Entweichungen,
obgleich weit leichter zu bewerkstelligen, nicht häufiger geworden;
nur Kranke, die aus geschlossenen Anstalten in freiere Verhält-
nisse versetzt werden, haben zunächst eine stärkere Neigung zum
Entweichen. Bisweilen endet eine gelungene Entweichung mit
einem Unglück, namentlich mit Selbstmord. Es wäre jedoch ein
folgenschwerer Fehler, wenn derartige, immerhin seltene Vor-
kommnisse uns veranlassen würden, die Verhütung von Ent-
weichungen um jeden Preis anzustreben. Unbedingt erreicht wird
dieses Ziel bekanntlich selbst in den Zuchthäusern nicht; auf dem
Wege zu ihm aber würden wir das beste Mittel verlieren, unsere
Kranken an die Anstalt zu fesseln, ihr Vertrauen und ihre Zu-
friedenheit.
Jede Entlassung aus der Irrenanstalt ist zunächst eine ver-
suchsweise und wird erst nach einigen Monaten eine endgültige,
um die Rückversetzung im Falle einer Verschlimmerung zu er-
leichtern. Auch ungeheilte und sogar unheilbare Kranke werden
aus der Anstaltsbehandlung entlassen, wenn sie keine Angriffs-
punkte für die Behandlung mehr darbieten und sich für häus-
liche Pflege eignen oder sich psychische Selbständigkeit genug
bewahrt haben, um in günstigen äußeren Verhältnissen kürzere
oder längere Zeit ohne besondere ärztliche Aufsicht leben zu können.
Es gibt sogar gewisse Gruppen von Kranken, denen an sich der
Anstaltsaufenthalt geradezu schadet, wenn auch andererseits mit
Rücksicht auf die Umgebung ihre Einschließung unumgänglich er-
scheint. Namentlich in solchen Fällen wird jede Wendung zum
Bessern, soweit das ohne Gefahr geschehen kann, dazu ausgenutzt
werden, dem Kranken die Wohltaten des Lebens in der Freiheit
für längere oder kürzere Zeit wieder zugänglich zu machen.
Die Schwierigkeiten, die sich dem genesenen und noch mehr
dem nur gebesserten Geisteskranken bei der Rückkehr in seine
42*
66o
V. Behandlung des Irreseins.
früheren Verhältnisse entgegenstellen, haben schon vor vielen
Jahrzehnten zur Gründung der Hilf svereine^) für entlassene
Kranke geführt. Deren Aufgabe ist es, einmal dem Kranken durch
reichlich bemessene Geldunterstützungen über die ersten Sorgen
hinwegzuhelfen, sodann aber ihm bei der Wiedergewinnung einer
selbständigen und sorgenfreien Lebensstellung mit Rat und Tat
an die Hand zu gehen. Manche dieser Hilfsvereine, von denen
derjenige in Hessen unter Ludwigs Leitung vorbildhch geworden
ist, haben ihre Aufgabe noch viel weiter gesteckt. Sie suchen
durch ein Netz von Vertrauensmännern im ganzen Lande nicht
nur stete Fühlung mit den entlassenen Kranken zu behalten,
sondern auch weite Kreise der Bevölkerung zur werktätigen Mit-
arbeit an der Fürsorge für die Geisteskranken zu erziehen und
damit einerseits das Irrenwesen volkstümlicher zu machen, an-
dererseits eine wohlunterrichtete öffentliche Meinung zu schaffen,
die durch ihren Druck stetig weiteren Verbesserungen den Weg
bahnt. Mit ihnen ließe sich ein Arbeitsnachweis für entlassene
Kranke verbinden, wie ihn Mann vorgeschlagen hat.
Noch nach anderen Richtungen reicht das Gebiet der Irren-
fürsorge über den Bereich der eigentlichen Anstalten hinaus 2).
Es gibt ganze Gruppen von Kranken, die der irrenärztlichen Be-
handlung bedürfen, sich aber nicht recht für die Unterbringung
in den Irrenanstalten eignen. Für sie gilt es, besondere, ihren
Bedürfnissen angepaßte Einrichtungen zu schaffen. Am dringend-
sten ist die Notwendigkeit, für Trinkerheilstätten 3) zu sorgen.
Während die unheilbaren Trinker recht wohl in die Irrenanstalten
gehören, würde das ebenso wichtige wie aussichtsreiche Werk
der Trinkerrettung im Anfange scheitern, wenn man nicht für
die heilbaren Fälle eigene Anstalten schaffen und dadurch den
möglichst frühzeitigen und freiwilligen Eintritt in die planmäßige
Behandlung erleichtern wollte. Gerade durch die Errichtung ärzt-
lich geleiteter oder doch überwachter Trinkerheilanstalten wird
allmählich dem Volke immer klarer zum Bewußtsein gebracht
werden, daß die chronische Alkoholvergiftung eine Krankheitist,
die man mit ärztlicher Hilfe zu bekämpfen hat. Im Jahre 1906
1) Scholz, Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. 1902.
2) Fischer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LV, 39.
3) Martins, Deutsche Trinkerheilstätten. 1908.
Die Irrenanstalt.
66i
bestanden in Deutschland 38 Trinkerheilstätten mit etwa 850 Plätzen,
eine Zahl, die dem Bedürfnisse nicht im entferntesten genügt.
Eine ganze Reihe von Trinkern würde sich auch gut für die
Familienpflege eignen.
In zweiter Linie stehen wir vor der dringenden Aufgabe, Heil-
stätten für jene unbemittelten Nervenkranken zu schaffen, die
nicht in den Rahmen der Irrenanstalten passen, unter Umständen
durch einen Aufenthalt dort geradezu geschädigt werden. Hierhin ge-
hören alle jene besonnenen und geordneten Kranken, die eine Zeit-
lang der Ruhe und Befreiung von dem Druck der Tagesgeschäfte,
oder die der planmäßigen Anleitung zu regelmäßiger Beschäftigung
bedürfen, insbesondere auch willensschwache Psychopathen und
Kranke mit Angstzuständen. Epileptiker und Geisteskranke, auch
deren leichteste Formen, sind grundsätzlich auszuschließen. Das
Ziel der Behandlung soll erreicht werden durch ein „verklärtes
Landleben" bei einfacher, möglichst gesundheitsgemäßer Lebens-
haltung und in den Formen eines weltlichen Klosters. Die Be-
wegung zur Gründung solcher Nervenheilstätten ist besonders
durch Möbius^) angeregt worden; ihr erstes Ergebnis ist das
Haus Schönow in Zehlendorf bei Berlin; weitere ähnliche Schöp-
fungen sind ihm gefolgt. Als Ergänzung dieser Heilstätten sollen
die von Lähr vorgeschlagenen „Arbeitsstätten" dienen, die nicht
als Krankenhäuser gedacht sind, sondern die Genesenen gegen Ent-
schädigung beschäftigen, um ihnen den Eintritt in die Berufsarbeit
zu erleichtern.
Ein sehr erheblicher Teil der Geisteskranken ist endlich überall
in Spitälern, Pfründen, Pflege- und Siechenanstalten aller
Art untergebracht, meist ohne fachärztliche Fürsorge. In der Tat
bieten namentlich die angeborenen geistigen Schwächezustände
einer derartigen Verpflegung meist gar keine Schwierigkeiten.
Etwas anders liegt die Frage bei den erworbenen Verblödungen.
Hier ist immer die Gefahr der Verwahrlosung, gelegentlicher Ver-
schlimmerungen des Zustandes und unter Umständen sehr bedenk-
1) Benda, öffentliche Nervenheilanstalten? 1891; Möbius, Über die Be-
handlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten. 1896;
Fuchs, Deutsche Praxis. 1902, 8; Neumann, Ärztliche Mitteilungen für Baden.
1901; Lähr, Arch. f. Psychiatrie, XL, 212; Peretti, Psychiatrische Wochenschr.,
1903. 277.
662
V. Behandlung des Irreseins.
licher Handlungen gegeben. Es erscheint daher durchaus unrichtig,
derartige Kranke dem Bereiche der geordneten Irrenfürsorge zu
entziehen; die Entwicklung gröblicher Mißstände ist dabei kaum
zu vermeiden!). Auch die besonderen Anstalten für Epileptiker^)
und namentlich für Idioten stehen jetzt noch vielfach außerhalb
der eigentlichen Irrenfürsorge. Weygandt gibt an, daß von io8
Anstalten für jugendliche Schwachsinnige nur etwa ein Dutzend
ärztlich geleitet werden. Abgesehen von der selbstverständlichen
Forderung, daß Kranke in die Hände des Arztes gehören, bedürfen
sie auch deswegen unbedingt der fachmännischen Leitung und
Überwachung, weil nur auf diese Weise die in ihnen gesammelten
Erfahrungen wissenschaftliche Verwertung finden und damit zu
Fortschritten im Verständnisse und in der Behandlung der Kranken
führen können.
1) Ludwig, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVIII, i.
2) Stakemann, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1903, 684.
Register.
A.
Abbaustoffe im Gehirn 513.
Aberglaube 310. 536.
Ablenkbarkeit 251. 332.
— äußere 252.
— des Gedankenganges 286.
— des Willens 379.
— innere 252.
— Messung derselben 492. 505.
Abortus, Irresein nach dems. 117. j
— künstlicher, als Heilmittel 576. j
Abreibungen, kalte 587.
Absinth als Ursache des Irreseins 90.
Acetonurie 79.
Adenoide Wucherungen als Krankheits-
ursache 104.
Adrenalin 573.
Ängstlichkeit 344.
Äther als Beruhigungsmittel 570.
Äthermißbrauch als Ursache des Irre-
seins 97.
Ätiologie, allgemeine 15.
Affekte s. Gemütsbewegungen.
Agnosie 40. 247.
— ideatorische 41.
— sinnliche 41.
Agoraphobie s. Platzangst.
Agrammatismus 417.
Agraphie 43.
Akusticusreaktion , elektrische 217.
467.
Akusticus, Hyperästhesie dess. 217.
Akute Erkrankungen 458.
Alexie 40.
Algolagnie 405.
Alkohol als Ursache des Irresems 86.
— als Schlafmittel 569.
— in Irrenanstalten 591.
— Kampf gegen denselben 558.
Alkoholintoleranz b. Hirnerkrankungen
25-
Alkoholparanoia 519.
Alkoholwahnsinn 97.
Allopsychosen 521.
Altersblödsinn 149.
Altscherbitz 654.
Amentia 66. 519.
Amnesie 256.
— retrograde 257.
Amok der Malayen 158.
Amusie 427.
Amylenhydrat 565.
Amylnitrit 573.
Anamnese 461.
Anatomie, pathologische, als Hilfs-
wissenschaft 5. 507.
Angehörige Geisteskranker 461.
Angst 348.
— Behandlung ders. 614.
Angstdelirien 127.
Anilindelirien 102.
Anregbarkeit 331.
— Untersuchung ders. 505.
Anstaltsartefakte 595.
Ansteckung, psychische 136.
Anthropophagie 404.
Aphasie, motorische 39.
Apoplexie, Schwachsinn nach ders. 27.
Apperzeption 243.
Apperzeptionshalluzination 223.
Apperzeptionsillusion 225.
Apraxie 42.
— ideatorische 42. 386.
— motorische 43.
Aprosexia nasalis 104.
Aqua Laurocerasi 572.
Arbeitsfähigkeit der Geisteskranken 434.
— geistige 330.
Armee, Irresein bei ders. 173.
Arsenneuritis, Irresein dabei 51.
Arteriosklerose 21. 27. 106. 128.
Arzneimittel 560.
Arzt, weiblicher 600.
Assoziation s. Vorstellungsverbindung.
Assoziationszentren 36.
Assoziationsfestigkeit 496.
Assoziationslösung 336-
Assoziationstypus, prädikativer 278.
Atavismus 177. 189.
Atropindelirium 100.
664
Register.
Audition coloree 226.
Auffassungsfähigkeit, Untersuchung ders.
489.
Auffassungsstörungen 243.
Auffassungsverfälschung 225.
Aufmerksamkeit 247.
— Ablenkbarkeit ders. 251.
— Abstumpfung ders. 249.
— aktive 248.
— Bestimmbarkeit ders. 241.
— Dynamometer ders. 329.
— Fesselung ders. 253.
— gesteigerte Lebhaftigkeit ders. 250.
— Hemmung ders. 250.
— passive 248.
• — Sperrung ders. 250.
Aufmerksamkeitsschwankungen, Unter-
suchung ders. 492.
Aufnahmeverfahren 633.
Aufzählungen 289.
Augenerkrankungen als Ursache des
Irreseins 104.
Augenspiegeluntersuchung 466.
Auskultation des Kopfes 466.
Ausdrucksbewegungen, Störungen ders.
411.
— Untersuchung ders. 502.
Ausdruckszwang 301.
Ausgänge des Irreseins 466.
Ausschweifungen, geschlechtliche, als
Ursache des Irreseins iio.
Außereheliche Geburt und Irresein 181.
Autohypnose, Gefahr ders. 140.
Automatie als Symptom 377.
Automatisme ambulatoire 400.
Autopsie 507.
Autopsychose 521.
B.
Bäder als Heilmittel 578.
— elektrische 588.
— verlängerte 579.
Bakterium coli als Heilmittel 574.
Baldrian s. Valeriana.
Balkengeschwülste als Ursache des Irre-
seins 44. 45.
Basedowsche Krankheit als Ursache
des Irreseins 82.
Beeinflußbarkeit, gemütliche 342.
— des Willens, erhöhte 375.
verminderte 380.
Befehlsautomatie 377.
Befehlsnegativismus 380.
Beginn des Irreseins 439.
Begriffsbildung 271.
— Störungen ders. 270.
Begrüßungsmanieren 390,
Behandlung des Irreseins 545.
— körperliche 560,
— psychische 599.
— symptomatische 613.
— zellenlose 595.
Belastung, erbliche, s. Erblichkeit.
Benzin als Ursache des Irreseins 97.
Beobachtung der Geisteskranken 505!
Berauschtheit während der Zeugung als
Ursache des Irreseins 186.
Beri-beri als Ursache des Irreseins 51.
I Beruf und Irresein 170.
Berufsangst 397.
Berufslosigkeit als Zeichen des Irre-
seins 170.
Berufswahl als Vorbeugung des Irre-
seins 557.
Beschäftigung als Heilmittel 606. 647.
Beschäftigungsdelirium 235.
Beschäftigungsdrang s. Betätigungs-
drang.
Beschleunigung der psychischen Vor-
gänge 329.
Beschränktheit, Abgrenzung ders. von
geistiger Störung 536.
Beschränkung, mechanische 596.
Besessenheit 2.
Besessenheitswahn 324.
Besonnenheit 478.
Besserung der Geisteskrankheit durch
körperliche Krankheit 450.
Bestimmbarkeit des Willens 376.
Besuche 635.
Betätigungsdrang 370.
Bettbehandlung 593.
Bevölkerungsdichtigkeit und Häufigkeit
des Irreseins 164.
Bewegungen, rhythmische 390.
Bewegungsdrang 370.
Bewegungsformel 42. 386.
Bewegungsstereotypen 389.
Bewußtlosigkeit 238.
Bewußtsein 237.
— doppeltes 337.
— Enge dess. 247.
— Helligkeitsgrade dess. 238.
— Schwelle dess. 238.
Bewußtseinstrübung 237.
Beziehungswahn 313.
Biegsamkeit, wächserne 378.
Binitrotoluol als Ursache des Irreseins
102.
Blasenpflaster 574.
Blattern s. Variola.
Blausäure 572.
Bleivergiftung als .Ursache des Irre-
seins lOI.
Register.
665
Blickfeld, inneres 248.
Blickpunkt, innerer 248.
Blutandrang als Ursache d. Irreseins 20.
Blutdruckuntersuchung 472.
Blutentziehungen 577.
Bluterkrankungen als Ursache des Irre-
seins 74.
Blutleere als Ursache des Irreseins 20.
Blutstauungen 20.
Blutsverwandtschaft der Eltern 188.
Blutveränderungen bei Geisteskranken
74- 473- , ^ ^
Blutvergiftung als Ursache des Irre-
seins 61.
Blutverluste 20. 77.
Bornyval 572.
Brandstiftungstrieb 409.
Brechweinsteinsalbe als Heilmittel 574.
Briefe, Überwachung ders. 635.
Bromalin 572.
Bromglidine 572.
Bromipin 572.
Bromismus 571.
Bromsalze 570.
Bromural 565.
Bromvergiftung als Ursache des Irre-
seins IOC.
Bromwasser, kohlensaures 571.
Bromwirkung, psychische 360. 570.
Brückenangst 353.
c.
Cäsarenwahn 436.
Cannabinon 564.
Cerebrospinalflüssigkeit, Untersuchung
ders. 474.
Cerebrospinalmeningitis als Ursache des
Irreseins 25.
Chininvergiftung als Ursache des Irre-
seins IOC.
Chloralf ormamid 565.
Chloralhydrat 564.
Chloralrash 564.
Chloroform als Beruhigungsmittel 570.
Chloroformmißbrauch als Ursache des
Irreseins 98.
Chlorose als Ursache des Irreseins 77.
Cholämie als Ursache des Irreseins 78.
Cholera als Ursache des Irreseins 61.
Chorea als Ursache des Irreseins 51.
— gravidarum 577.
— hereditäre 27.
— Huntingtons 27. 52.
Chronische Erkrankungen 458.
Chronoskop 491.
Cocain als Ursache des Irreseins 99.
Codein 562.
Coitus, erster, als Ursache des Irre-
seins HO.
— interruptus als Ursache des Irre-
seins 112.
Complementablenkung 476.
Cytoarchitektonik 35.
Cytologische Untersuchung der Cere-
brospinalflüssigkeit 475.
Cytolysine des Blutes 75. 473-
I>.
Dämmerzustand 238.
Darmleiden als Ursache des Irreseins
78. 107.
Dauerbad 579.
Dauer des Irreseins 458.
Deckelbad 579.
Degeneration s. Entartung.
Delirium 518.
— acutum 518.
— im Dunkelzimmer 55.
— eklamptisches 117.
— nervosum 54.
— traumaticum 27. 54.
— tremens 97.
— urämisches 77.
Demenz 521.
— akute 66. 517.
— sekundäre 521.
Denkhemmung 303.
Depersonalisation 334.
Depression s. Verstimmung.
Desorientierung 266.
— amnestische 268.
— apathische 267.
— deliriöse 268.
— halluzinatorische 268.
— stuporöse 286.
— wahnhafte 270.
Diabetes als Ursache des Irreseins 79.
Diätetik des Irreseins 590.
Diagnose 515.
— anatomische 507.
Diagnostik, allgemeine 460.
Digitalis 573.
, Dionin 562.
I Dioninismus 99.
j Dispositionsfähigkeit 436.
Dissimulation 543.
j Disziplinierung 602.
Domestikation 198.
Doppeldenken 223.
Dormiol 566.
Duschen als Heilmittel 578. 587.
! Drastica als Heilmittel 574-
Drehschaukel 629.
: Dromomanie 400.
666
Register.
Drucksteigerung in der Schädelkapsel
als Ursache des Irreseins 21.
Druckvisionen 216.
Duboisinum sulfuricum 563.
Dunkelzimmer, Delirium in demselben 55.
Dynamometer 501.
Dysphrenia neuralgica 53.
E.
Echolalie 378.
Echopraxie 378.
Ehe, Beziehungen ders. zum Irresein 174.
Eifersuchtswahn 323.
— der Trinker 97.
Eigenart, persönliche, und Irresein 206.
Eigenbeziehung, krankhafte 313.
Eigensinn 384.
Einbildungskraft 302.
— Störungen ders. 302.
Einbildungstäuschungen 223.
Einfall, pathologischer 306.
Einförmigkeit des Denkens 283.
Einwicklungen, feuchtwarme 586.
Einzelhaft als Ursache des Irreseins 130.
Eisbeutel als Heilmittel 587.
Eiterungen, bessernder Einfluß ders. auf
das Irresein 450.
Ekelgefühle, Verlust ders. 363.
Ekelkur 629.
Eklamptisches Irresein 117. 577.
Ekmnesie 337.
Ekstase 359.
Elektrotherapie beim Irresein 587.
Emotionspsychosen 126.
Empfindlichkeit, gesteigerte, gegen Alko-
hol 25.
Encephalitis als Ursache des Irre-
seins 23. 25.
Encephalopathia saturnina loi.
Endzustände 438. 524.
Entartung 187.
— erbliche 187.
Entartungszeichen 190. 465.
— körperliche 190.
— psychische 189.
Entgleisung des Willens 391.
Enthaltsamkeit, geschlechtliche, als Ur-
sache des Irreseins 11 1.
Entlassung aus der Anstalt 658.
Entweichungen 658.
Entwicklungsjahre, Einfluß ders. auf das
Irresein 144.
Entwicklungsstörungen als Ursache des
Irreseins 186.
Epidemien, geistige 137.
Epilepsie als Ursache des Irreseins 52.
Epileptikerfürsorge 662.
Erblichkeit als Ursache des Irreseins
175-
— atavistische 177.
— gehäufte 180.
— gleichartige 183.
— indirekte 180.
— kollaterale 177.
— polymorphe 185.
— umwandelnde 185.
— unmittelbare 177.
Erfinder, krankhafte 537.
Ergänzungsmethode von Ebbinghaus
485-
Ergographenversuche 500.
Ergotismus als Ursache des Irreseins 86.
Erhängte, Geistesstörung bei dens. 20.
23. 27.
Erholungsfähigkeit 332. 505.
Erinnerungsfälschung 260.
— assoziierende 263.
— identifizierende 264.
Erinnerungshalluzination 262.
Erinnerungslosigkeit 256.
Erinnerungslücke 256.
j Erinnerungszwang 301.
I Erkennung des Irreseins 460.
, Erklärungswahn 314.
Erlen meyersches Gemisch 571.
Ermüdbarkeit 382
— Messung ders. 505.
Ernährung der Geisteskranken 590.
— künstliche 619.
Erregbarkeit, gemütliche, Herabsetzung
ders. 339. .
— gemütliche, Steigerung ders. 342.
— psychomotorische, Herabsetzung ders.
366.
— psychomotorische, Steigerung ders.
369-
Erregung, Behandlung ders. 613.
— katatonische 370.
— manische 370.
— motorische 369.
Errötungsangst 352.
Erscheinungen des Irreseins 210.
Erschöpfung als Ursache des Irreseins 55.
— chronische nervöse 59.
Erschöpfungsstupor 58. 517.
Erwachen, Störungen dess. 241.
Erwartungsangst 353.
Erwartungsneurose 127.
Erysipel als Ursache des Irreseins 60.
— bessernder Einfluß dess. auf Geistes-
störungen 450.
Erziehung als Ursache des Irreseins 203.
— als Vorbeugung des Irreseins 549.
Eßmanieren 390.
Register.
667
Euphorie 357.
— der Morphinisten 359.
Exhibitionismus 400. 407.
F.
Fabelmethode 484.
Familiäre Erkrankungen 27.
Familienpflege 655.
Fanatiker 346.
Faradisation, allgemeine 588.
Fehlassoziationen 496.
Fehlreaktionen 499.
Fesselung der Aufmerksamkeit 253.
Fetischismus 407.
Feuerarbeiter, Irresein bei dens. 22.
Fieberdelirien 60. 61.
Flagellanten 405.
Flexibilitas cerea s. Biegsamkeit, wäch-
serne.
Fliegenschwammvergiftung als Ursache
des Irreseins 100.
Folie ä deux 138.
— communiquee 139.
— imposee 138.
Forensische Psychiatrie 437.
Fortpflanzungsgeschäft und Irresein 109.
IIS-
Fragebogen 482.
Fragesucht 300.
Fremdenlegion 435.
Fremdsein, Gefühl dess. 260. 348.
Frigidität, geschlechtliche 365.
Frühgeburt, künstliche, als Heilmittel
576.
Fütterung, künstliche 619.
Fugues der Epileptiker 400.
Funktionsphobien 350.
G.
Galls Schädellehre 28.
Galvanisation des Gehirns 587.
Ganserscher Dämmerzustand 542.
Geburtsschädigungen und Irresein 187.
Gedächtnis 254.
— Festigkeit dess. 258.
— Schwäche dess. 258.
— Störungen dess. 254.
— Untersuchung dess. 492.
Gedankengang, Ablenkbarkeit dess. 286.
— Beschleunigung dess. 329.
— Einförmigkeit dess. 283.
— Hemmung dess. 303.
— Störungen dess. 279.
— Umständlichkeit dess. 284.
— Verlangsamung dess. 328.
Weitschweifigkeit dess. 289.
— Zerfahrenheit dess. 292.
Gedankenlautwerden 213.
Gedankensichtbarwerden 224.
Gefährliche Geisteskranke 435.
Gefäßerkrankungen als Ursache des Irre-
seins 19. 21. 27. 105.
— luetische 67. 106.
Gefangenschaft als Ursache des Irre-
seins 130.
Gefräßigkeit 363.
Gefühle 338.
— geschlechtliche 365.
— krankhafte Lebhaftigkeit ders. 342.
— Störungen ders. 338.
— Stumpfheit ders. 339.
— Untersuchung ders. 486.
Gehmanieren 390.
Gehörstäuschung 231.
— einseitige 218.
Gehstottern 354.
Geistesstörung s. Irresein.
Gelenkrheumatismus als Ursache des
Irreseins 60. 62. 65.
Gelüste der Schwangeren 402.
Gemeingefühle, Störungen ders. 361.
Gemütsart 343.
— krankhafte 344.
Gemütsbewegungen als Ursache des Irre-
seins 121.
— krankhafte 347.
— Untersuchung ders. 486. 502.
Genesungszeit 443.
Genie, Abgrenzung dess. vom Irre-
sein 537.
Genitalorgane, Erkrankungen ders. als
Ursache des Irreseins 108.
Gereiztheit, krankhafte 356.
Gerichtliche Psychopathologie 437.'
Geschäftsfähigkeit 436.
Geschlecht, Beziehungen dess. zum Irre-
sein 150.
Geschlechtsleben und Irresein 109.
Geschlechtsorgane und Irresein 108.
Geschlechtstrieb, Abschwächung dess.
402.
— Perversitäten dess. 403.
— Steigerung dess. 402.
Geschwülste des Hirns 21.
Gesichterschneiden 391.
Gesichtsfeld bei Geisteskranken 466.
Gesichtstäuschung 230.
— mikroskopische 235.
Gewöhnungsfähigkeit 333- SoS-
Gewohnheitsverbrecher 170.
Gheel 654.
Gicht als Ursache des Irreseins 80.
Gichter der Säuglinge 548.
Giftmischer, krankhafte 410.
668
Register.
Giftwirkungen auf Rindenzellen 48.
— psychische 83.
Gitterbett 599.
Gleichgültigkeit als Symptom des Irre-
seins 339.
Glücksgefühl, krankhaftes 358.
Glykosurie beim Irresein 79.
Gravidität s. Schwangerschaft.
Grazie, Verlust ders. 412.
Greisenalter als Ursache des Irreseins 148.
Grenzen des Irreseins 533.
Grimassieren 391.
Größenwahn 321. 325.
Großstädte und Irresein 164. 198.
Grübelsucht 300.
Grundeigenschaften, psychische 330.
Untersuchung ders. 504.
Gymnastik 589.
Gynäkologische Eingriffe als Heilmittel
575-
H.
Habitualformen des Irreseins 516.
Hämatoporphyrin bei Sulfonalvergiftung
566.
Häufigkeit des Irreseins 13. 161.
Haften der Vorstellungen 280.
Halluzination 219.
— der Erinnerung 262.
— einseitige 212.
— extracampine 225.
• — hypnagogische 213.
— psychische 223.
— stabile 214.
Haltungskurven 501.
Handeln, Störungen dess. 366.
— Untersuchung dess. 506.
Handlungen, verstümmelte 386.
Handlungsformel 386.
Harnstottern 354.
Harnuntersuchungen bei Geisteskranken
473-
Harnveränderungen bei Geisteskranken !
79- I
Haschisch als Heilmittel 564. 1
— als Ursache des Irreseins 99.
Hebephrenie 144. {
Hedonal 567.
Heilanstalten 641.
Heilung des Irreseins 447.
— mit Defekt 453.
— unvollständige 451.
Heiraten Geisteskranker 545.
Heiterkeit, gegenstandslose 359.
Hemmung, psychomotorische 371.
Herderkrankungen als Ursache des Irre-
seins 25.
Heredität s. Erblichkeit.
Heroinismus 99.
Herrscher, geisteskranke 436.
Herzleiden bei Geisteskranken 104
Heterotopie 509.
Hexenprozesse 625.
Hilfsklassen 554.
Hilfsvereine für Geisteskranke 560. 660.
Hirnanämie als Ursache des Irreseins 20.
Hirnblutung als Ursache des Irreseins
22. 23.
Hirndruck als Ursache des Irreseins 21.
Hirnemulsionen, Einspritzung ders. 578.
Hirnerkrankungen, Irresein bei dens. 18.
Hirnerschütterungen 20. 23. 26.
Hirngeschwülste als Ursache des Irre-
seins 21. 23. 26.
Hirngewicht 510.
— spezifisches 510.
Hirnhyperämie als Ursache des Irre-
seins 20.
Hirnschwellung 22. 510.
Hirnsklerose 27.
Hitzschlag 22. 26.
Höhe der Erkrankung 440.
Höhenangst 353.
Humor der Trinker 358.
Hunger, Einfluß dess. auf psychische
Vorgänge 57.
Huntingtons Chorea 27. 52.
Hydrocephalie 508.
Hydrotherapie 578.
Hyoscin 562.
— als Ursache des Irreseins 100.
Hypermnesie 261.
Hypnose 376.
— als Behandlungsart 609.
Hypnotica s. Schlafmittel.
Hypnotische Versuche als Ursache des
Irreseins 140.
Hypophysis 82.
I. J.
Jahreszeiten in Beziehung zum Irre-
sein 160.
Icterus gravis als Ursache des Irre-
seins 78.
Idee, fixe 317.
— überwertige 310.
Ideenflucht 286. 330.
— deliriöse 289.
— innere 290.
— sprachliche 290.
Idiophrenia paranoides 429,
Idiotenbewegungen 390.
Idiotenfürsorge 662.
Illusion 219.
Register.
669
Impotenz, psychische 354.
Impulsivität 399.
Indican 79.
Induziertes Irresein 138.
Infektionskrankheiten als Ursachen des
Irreseins 60.
Influenza als Ursache des Irreseins 60.
Infusion, subcutane 577.
Initialdelirien 65.
Intelligenzprüfung 480.
Interesselosigkeit 304.
Intermission 441.
Intermittens als Ursache des Irreseins 61.
— bessernder Einfluß dess. auf das Irre-
sein 450.
Intimidation 609.
Intoleranz s. Empfindlichkeit.
Intoxikationen s. Vergiftungen.
Inventar, geistiges 488.
Inzucht 188.
Jodoformvergiftung als Ursache des Irre-
seins 100.
Iracundia morbosa 345.
Irrenanstalt 624.
Irrenarzt 600. 636.
— weiblicher 600.
Irrenfürsorge als Vorbeugung 559.
Irrenkolonien 653.
Irresein, zirkuläres 442. 517.
— endogenes 17.
— exogenes 17.
— induziertes 138.
— manisch-depressives 442. 517.
— menstruelles 114.
— periodisches 441.
Irrtum 308.
Isolierung 594.
Isopral 565.
Isotonie des Blutes 75. 473-
Juden, Veranlagung ders. zum Irresein
154- 157-
Jugendgerichtshöfe 556.
Jugendirresein 144.
K.
Kachexia strumipriva 81.
Kälte als Behandlungsmittel 587.
Karcinom s. Krebskachexie.
Kastration als Heilmittel 575.
— als Ursache des Irreseins 55.
Katalepsie 378.
Kataraktoperationen als Ursache des
Irreseins 55.
Katastrophen als Ursachen des Irre-
seins 135.
Kathartisches Verfahren 612.
Kathisophobie 353.
Kauflust, krankhafte 480.
Kehltonschreiber 500.
Keimschädigungen 176. 186.
Kenntnisse, Untersuchung ders. 481.
Keuchhusten als Ursache des Irreseins 60.
Kinder, Irresein ders. 141.
Kindsmord 410.
Kinematographie 502.
Klangassoziationen 276.
Klangspielerei 295.
Kleiderangst 353.
Kleinheitswahn 321.
Kleptomanie 409.
Klima, Beziehungen dess. zum Irresein
160.
Klimakterium als Ursache des Irreseins
IIS. 148-
— künstliches, als Ursache des Irre-
seins 55.
Klimatotherapie 589.
Klinische Formenlehre 515.
Kniesehnenreflex, Untersuchung dess.
502.
Kochsalzinfusion 578. 623.
Kochsalzklystiere 623.
Körpergewicht bei Geisteskranken 444.
Kohlenoxydgasvergiftung als Ursache
des Irreseins loi.
Kohlensäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 77.
Kollapsdelirium 59. 66.
Kolonien 653.
— von Psychopathen 435.
Kombinationsfähigkeit, Untersuchung
ders. 491.
Kombinierte Psychosen 531.
Komplex, gefühlsstarker 258. 337.
Komplexwirkungen bei Assoziationsver-
suchen 497.
Konfabulieren 263.
Kontagion s. Ansteckung.
Kopfrose s. Erysipel.
Kopfverletzungen als Ursache des Irre-
seins 23. 26.
bessernder Einfluß ders. auf das Irre-
I sein 450.
j Koprolalie 365.
Koprophagie 364.
Koro 158.
Korridorsystem 643.
Korssakowsche Psychose 97. 520.
Kotstauungen als Ursache des Irresems
78.
Kraniektomie 574.
Krankenuntersuchung 460.
Krankheiten, körperliche als Ursache des
Irreseins 60.
öyo
Register.
Krankheiten, körperliche, bessernder
Einfluß auf das Irresein 450.
Krankheitsbewußtsein 478.
— Mangel dess. 325.
Krankheitseinsicht als prognostisches
Zeichen 449.
Krankheitsvorgänge 522.
Krebskachexie alsUrsache des IrreseinsyS.
Kretinismus 81.
Krieg als Ursache des Irreseins 135.
Kultur und Irresein 161.
Künstler, Irresein bei dens. 427.
Kunst, krankhafte 430.
L.
Lactation als Ursache des Irreseins 119.
Lähmung des Willens 366.
Landbevölkerung und Häufigkeit des
Irreseins 164.
Landstreicher, Irresein ders. 171.
Langeweile 362.
Latah der Malayen 158.
Lebensalter, Beziehungen dess. zum
Irresein 141.
Lebensverhältnisse, allgem. Beziehungen
ders. zum Irresein 161.
Lebererkrankungen als Ursache des Irre-
seins 108.
Leichenbefund 507.
Leichenschändung 405.
Leichtsinn, krankhafter 346.
Leistungsfähigkeit s. Arbeitsfähigkeit.
— der Geisteskranken 434.
Leitvorstellung 279.
Lepra als Ursache des Irreseins 73.
Leseangst 354.
Leuchtgasvergiftung alsUrsache des Irre-
seins 100.
Leukämie als Ursache des Irreseins 77.
Lichtstarre der Pupillen 468.
Liegekur 590.
Literatur, krankhafte 427.
Lokalisation derKrankheit^rgänge 529.
— der psychischen Störungen 27.
— der Wahnideen 318.
— zeitliche 265.
Lüge, krankhafte 262. 305.
Lues s. Syphilis.
Lumbalpunktion als Heilmittel 574.
— diagnostische 474.
Lungenentzündung s. Pneumonie.
Lungenkrankheiten als Ursache des Irre-
seins 104.
Lustgefühle, krankhafte 357.
Lustigkeit 357.
Lustmord 404.
Lyssa als Ursache des Irreseins 63.
M.
Mädchenstecher 404.
Magenerkrankungen als Ursache des
Irreseins 107.
Magensaft, Verhalten dess. 474.
Makrogyrie 509.
Maladie des tics 396.
Malaria s. Intermittens.
Malonal 568.
Mammutanstalten 651.
Manie de l'au delä 394.
— einfache 517.
— periodische 517.
— transitorische 517.
Manieren 390.
Mann, Veranlagung dess. zu Geistes-
störungen 150.
Marine, Irresein bei ders. 173.
Markscheidenentwicklung 36.
Masern als Ursache des Irreseins 60.
Masochismus 405.
Massage 588.
Mastkur 592.
Masturbation 403.
— als Ursache des Irreseins iio.
— Behandlung ders. 618.
— psychische 406.
Mathematik, Anlage zu ders. 30.
Medikamente s. Arzneimittel.
Meerwassereinspritzungen 578.
Melancholia attonita 517.
— cum stupore 517.
Melancholie 516.
Melodiekurve 500.
Melodie, sprachliche 416.
Meningitis als Ursache des Irreseins 23.
25- Sog-
Menschenfresserei, krankhafte 404.
Menses, Verhalten ders. beim Irresein
441.
Menstrualpsychosen 114.
Menstruationsstörungen als Ursache des
Irreseins 114.
— Einfluß ders. auf den Verlauf des
Irreseins 114.
Mental tests 489.
Merkfähigkeit 255.
— Untersuchung ders. 493.
Merkstörungen 255.
Metasyphilis 71.
Migräne als Ursache des Irreseins 52.
Mikrocephalie 508.
— relative 465.
Mikrogyrie 509.
Militär s. Armee.
Militärdienst und Vorbeugung deä Irre-
seins 556. 558.
Register.
671
Mimik der Geisteskranken 414.
Monomanie 317.
Moosbetten 618.
Morbus Basedowii 82.
Mordtrieb 410. |
Morphium als Heilmittel 561.
— als Ursache des Irreseins 98.
Morphiumeuphorie 359.
Motilitätspsychosen 521.
Müdigkeit 363.
— Fehlen ders. 363.
Musikalische Leistungen der Geistes-
kranken 427.
Muskelbewegungen, Untersuchung ders.
500.
Mutacismus 380.
Mutterkorn s. Ergotismus.
Myeloarchitektonik 35.
Myxödem als Ursache des Irreseins 81.
N.
Nachahmungsautomatie 378.
Nachforschungszwang 301.
Nachtwachen 646.
— Einfluß ders. auf das Seelenleben 59.
Nachtwandeln 242.
Nährklystiere 623.
Nahrungsverweigerung als Krankheits-
zeichen 401.
— Behandlung ders. 618.
Namenzwang 300.
Narkotica als Heilmittel 560.
Narrentürme 624.
Nationalität, Beziehungen ders. zum Irre-
sein 152.
Nebenantriebe 368.
Nebenhandlungen 386.
Nebennierenerkrankung als Ursache des
Irreseins 82.
Nebennierenextrakt als Heilmittel 573.
Negativismus 380.
Neologismen 421.
Nervenheilanstalten 559. 661.
Nervenkrankheiten als Ursache des Irre-
seins 50.
Nervenzellen, Untersuchung ders. 511.
Neurasthenie 130.
— syphilitische 68.
Neuritis, multiple, als Ursache des Irre-
seins 50-
Neuronal 565.
Neurose, traumatische 124. 127. 168.
Niedergeschlagenheit 355.
Nierenerkrankungen als Ursache des
Irreseins 77. 108.
No-restraint 597.
Nuptiales Irresein iio.
o.
Obervorstellung 279.
Offen-Tür-System 653.
Ohrenleiden als Ursache des Irreseins
103. 217.
Olivenölinfusionen 578. 624.
Onanie s. Masturbation.
Oniomanie- 408.
Operationen als Ursache des Irreseins 54.
— als Heilmittel 574.
— gynäkologische 575.
Opium als Ursache des Irreseins 99.
— als Heilmittel 560.
Opiumrausch 359.
Ophthalmoskopie als Untersuchungs-
methode 466.
Organerkrankungen als Ursache des
Irreseins 102.
Organsaftbehandlung 573.
Orientierung 265.
— örtliche 266.
— Störungen ders. 265.
— Untersuchung ders. 478.
— zeitliche 265.
Osteomalacie 80.
Ovariotomie als Heilmittel 575.
P.
Papierangst 351. 394.
Parabulie 386.
Paraldehyd als Schlafmittel 568.
— als Ursache des Irreseins 98.
1 Paralogie 380.
Paralyse, alkoholische 526.
— atypische 530.
— modifizierte 526.
— traumatische 526.
— Ursache ders. 69.
Paramimie 392.
Paramnesie 262.
Paranoia 518.
Parapraxie 387.
Parasiten im Darm als Ursache des Irre-
seins 107.
Patellarreflex s. Kniesehnenreflex.
Pathographien 430.
Pavillonstil 647.
Pedanterie 385.
Pellagra als Ursache des Irresems 85.
Pellotin 564.
Perimetrie 466.
Peronin 562.
Perseveration 281. 420.
Personenverwechslung 231.
Perzeptionsphantasmen 213.
Petroleum als Ursache des Irresems 97.
Pflegeanstalt 641.
672
Register.
Pflegepersonal 638.
Phantasie s. Einbildungskraft.
Phobie 349.
Phobie du metier 397.
— du regard 351.
Phobophobie 355.
Phonographie 502.
Phosphorvergiftung als Ursache des Irre-
seins 78. lOI.
Phrenologie 28.
Phthise als Begleiterin des Irreseins 457.
— als Ursache des Irreseins 73.
Physikalische Heilmethoden 578.
Platzangst 352.
Plethysmographie 472.
Pneumonie als Ursache des Irreseins 60.
Pocken s. Variola.
Polsterbett 593.
Polyneuritisches Irresein 50.
Porencephalie 509.
Poriomanie 400.
Präkordialangst 348.
Prädisposition zum Irresein 140.
— allgemeine 141.
— persönliche 175.
Privatanstalten 635.
Probepunktion des Gehirns 574.
Prodromalsymptome 439.
Prognose des Irreseins 447.
Prophylaxe des Irreseins 545.
Proponal 568.
Prostituierte, Irresein ders. 171.
Pseudohalluzination 223.
Pseudoparalyse 85.
— diabetische 80.
Psychoanalyse 498. 612.
Psychogene Störungen bei Hirnerkran-
kungen 23.
Psychogenie 120.
Psychologie als Hilfswissenschaft 8.
Psychose s. Irresein.
Pubertätsalter, Geistesstörungen dess.
144.
Puerilismus 335. 337.
Puerperalmanie 119.
Puerperium s. Wochenbett.
Pulsbild beim Irresein 471.
Pulsdruck 472.
Pupillenreaktion, galvanische 469.
— hemianopische 469.
— psychische 469.
— sekundäre 469.
Pupillenstarre, absolute 468.
— reflektorische 468.
Pupillenunruhe 469.
Pupillenuntersuchung 467.
Pyromanie 409.
Quecksilbervergiftung als Ursache des
Irreseins 100.
Querulantenwahn 125.
I R.
Rasse, Beziehung ders. zum Irresein 152.
Ratlosigkeit 267. 304.
Rechtspflege, Beziehungen des Irreseins
zu ders. 436.
Rededrang 290. 417.
— innerlicher 290.
Reflexhalluzination 226.
I Reflexmultiplikator 503.
J Reflex, psychophysischer, galvanischer
503-
Reflexpsychosen 53.
Reinlichkeit, Störungen ders. 364.
Reiseangst 353.
Reizbarkeit, gemütliche, Erhöhung ders.
345-
Rekonvaleszenz 443.
Remission 443.
Reperzeption 222.
Residualwahn 320. 455.
Restraint 597.
Rhytmische Gliederung der Sprache 416.
Rindenlokalisation 27.
Rindenzellen, örtliche Verschiedenheit
ders. 31.
Rindenzentren 32. 37.
S.
Sabromin 572.
Sadismus 403.
Säugegeschäft s. Lactation.
Salycilsäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 100.
Salzsäuregehalt im Magensafte von
Geisteskranken 107.
Sammeltrieb, krankhafter 408.
Sauerstoffbehandlung 573.
Schädellehre Galls 28.
Schädelmessung bei Geisteskranken 465.
Schamgefühl, Verlust dess. 365.
Scharlachdelirien 60.
Scheinoperationen bei Hypochondern
608.
Schilddrüsenerkrankung als Ursache des
Irreseins 81.
Schilddrüsenausschneidung als Heilmittel
577-
Schlafkrankheit der Neger 71.
Schlaflosigkeit, Behandlung ders. 615.
— Einfluß ders. auf psychische Vor-
gänge 57.
Schlafmittel 564.
Register.
673
Schlafstörungen 239.
Schlaftiefe, Gang ders. 239.
— Messung ders. 505.
— Störung ders. 332.
Schlaftrunkenheit 241.
Schluckangst 354.
Schmerz, Fehlen dess. 364.
Schmerzdelirien 53.
Schmerzgeilheit 405.
Schnauzkrampf 389.
Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes
328.
Schreck als Ursache des Irreseins 121.
Schreibstottern 354.
Schriftblindheit 40.
Schriftsteller, krankhafte 427.
Schriftstörungen 423.
Schrift, Untersuchung ders. 499.
Schriftwage 425. 499.
Schrullen 390.
Schulärzte 555.
Schutzhandlungen 394.
Schwachsinn s. Demenz.
— erworbener 521.
— halluzinatorischer der Trinker 97.
Schwärmer, krankhafte 346. 537.
Schwangerschaft als Ursache des Irre-
seins 115.
— künstliche Unterbrechung ders. 576.
Schwefelkohlenstoffvergiftung als Ur-
sache des Irreseins 102. f Ijj
Schwefelwasserstoffvergiftung als Ur-
sache des Irreseins 100.
Schweiß, Giftigkeit dess. beim Irresein
74-
Schwellenwert 238.
Schwerfälligkeit 303.
Schwerhörige, Irresein ders. 103.
Schwindler, krankhafte 305. 346. 537.
Scopolamin 563.
Seelenblindheit 40.
Seelentaubheit 40.
Seereisen 589.
Sejunktion 336.
Sektionsergebnisse bei Geisteskranken
507-
Sekundärempfindungen 226.
Selbstbewußtsein 333.
— Spaltung dess. 336.
— Störungen dess. 333.
— Verdoppelung dess. 337.
Selbstgefühl, gesteigertes 347.
Selbstmord, Häufigkeit dess. 157.
— als Symptom 534.
Selbstmordneigung 432.
— Behandlung ders. 616.
Selbstvergiftung 74.
Kraepelin, Psychiatrie I. 8. Aufl.
Separierung 594.
Septicämie als Ursache des Irreseins 61.
117.
Serodiagnostik 476.
Sexualempfindung, konträre 403.
Siechenanstalten 661.
Simulation 540.
Sinnestäuschungen 211.
— elementare 212.
— Nachweis ders. 478.
• — negative 219.
Sinneszentren 36.
Sitophobie s. Nahrungsverweigerung.
Situationsphobien 349.
Sklerose, multiple 27.
Sodomie 408.
Somatiker 2.
Somatopsychosen 521.
Somnambulismus s. Nachtwandeln.
Sondenernährung 620.
Sonderlinge 345.
Sonnennatur 346.
Sonnenstich 20. 25.
Spaltplatte 490.'
Spätheilung 459.
Spannung, ängstliche 348.
Sphygmographie bei Geisteskranken 471.
Spiritismus und Irresein 140.
Sprache, Untersuchung ders. 500.
Sprachstörungen 415.
— des Traumes 421.
Sprachverwirrtheit 420.
Sprechen, inneres 241.
Sprechmanieren 390.
Sprichwörtermethode 485.
Staatliche Aufgaben der Psychiatrie 560.
Stadtasyl 641.
Städte, große, Irresein in dens. 164.
Status präsens, körperlicher 464.
— — psychischer 477.
Stauung, Bier sehe 588.
Stehltrieb 409.
Sterblichkeit der Geisteskranken 457
Stereoskopie 502.
Stereotypie des Willens 389.
— der Vorstellungen 281.
Sterilisierung, soziale 547.
Stickstoffoxydul als Ursache des Irre
seins 100.
Stigmata hereditatis 190.
Stimmen 220. 231.
Stimmung, Untersuchung ders. 478.
Stimmungswechsel 343-
Stirnhirngeschwülste, psychische Sto
rungen bei dens. 45.
Stoffwechselkrankheiten als Ursache de
Irreseins 74.
43
674
Register.
Stoffwechseluntersuchungen 474.
Stottern 354.
Stupor 372. 517.
— halluzinatorischer 517.
— katatonischer 372.
Suchten 402.
Suggestion, hypnotische 376,
— a echeance 377.
— posthypnotische 377.
Sulfonal 566.
— als Ursache des Irreseins 100.
Sympathicusdurchschneidung 574.
Symptomatologie des Irreseins 210.
Syphilis als Ursache des Irreseins 67.
— a virus nerveux 70.
— bei Paralyse 69.
— Kampf gegen dies. 558.
T.
Tabes als Ursache des Irreseins 50.
Tachistoskop 490.
Tätowierung 465.
Tartarus stibiatus 574.
Taubstummheit 103. 211.
Teilnahmlosigkeit als Symptom 339.
Telepathie 324.
Tentreatment 590.
Terpentinöleinspritzungen 574.
Tetanie als Ursache des Irreseins 52. 81.
Tetronal 567.
Therapie s. Behandlung.
Thermometrie des Kopfes 466.
Thyreoidin 573,
Tics 389. 396.
Tierpsychosen 157.
Tierverwandlung, Wahn ders. 324.
Tobsucht 517.
Tobzellen 594.
Tod als Ausgang des Irreseins 457.
Todesursachen bei Geisteskranken 457.
Toluidinrausch 102.
Träumer, krankhafte 305.
Transitivismus 314.
Traum, Sprachstörungen dess. 421.
— bei Geisteskranken 242.
Trauma s. Kopfverletzungen.
Tretrad als Behandlungsmittel 629.
Triebe, krankhafte 401.
Triebhandlungen 399.
Trinker 92.
Trinkerheilstätten 660.
Trional 567.
Tropenklima, Einfluß dess. auf das
Irresein 160.
Trugwahrnehmungen s. Sinnestäuschun-
gen.
Trunksucht s. Alkohol.
Trypanosoma als Ursache bei Irreseins
72.
Tuberkulin 574.
Tuberkulose als Ursache des Irreseins 73.
— bei Geisteskranken 457.
Tumoren s. Geschwülste.
Turnen 589.
Typhus als Ursache des Irreseins 60. 65.
— bessernder Einfluß dess. auf Geistes-
störungen 450.
Typhus pellagrosus 86.
Typhustoxine als Heilmittel 574.
u.
Überanstrengung als Ursache des Irre-
seins 129.
Überbürdung der Schuljugend 552.
Überernährung als Behandlungsmethode
592.
Übung 330.
{ Übungsfähigkeit, Messung ders. 505.
I — Störungen ders. 331.
Übungsfestigkeit 331. 505.
Umständlichkeit 284.
— der Epileptiker 285.
Unbesinnlichkeit 249.
Unempfindlichkeit, krankhafte 364.
Unfallgesetzgebung und Irrseein 168.
Unfallneurose s. Neurose, traumatische.
Unheilbarkeit 454.
Unlenksamkeit 384.
Unlustempfindlichkeit, gesteigerte 344.
j Unlustgefühle, krankhafte 348.
! Unreinlichkeit, Behandlung ders. 617.
— als Krankheitszeichen 364.
Unruhe 369.
Unsittlichkeit, Abgrenzung ders. vom
Irresein 538.
Unstetigkeit 379.
Unterricht, psychiatrischer 560.
Untersuchung, körperliche 464.
— psychische 477.
Untersuchungshaft als Ursache des Irre-
seins 127. 131. 542.
Untersuchungsmethoden, klinische 464.
Urämie als Ursache des Irreseins 77. 108.
Urethan 567.
Ursachen des Irreseins 15.
äußere 18.
— — — innere 140.
körperliche 18.
— — ■ — psychische 119.
— rohe 16.
— — — wahre 16.
Urteile, analytische 277.
— synthetische 277.
Urteilsstörungen 307.
Register.
675
V.
Vagabunden, Beziehungen ders. zum
Irresein 171.
Valerianapräparate 572.
Valyl 572.
Variola als Ursache des Irreseins 60. 65.
Verantwortlichkeit 436.
Verbigeration 418.
— schriftliche 425.
— zeichnerische 426.
Verblödung 456.
Verbrecher, geborene 172.
— geisteskranke 657.
Verdauungsstörungen als Ursache des
Irreseins io7-
Verdrängung von Vorstellungen 258.
Vererbung s. Erblichkeit.
Verfolgungswahn 322.
— physikalischer 324.
Vergiftung als Ursache des Irreseins 83.
Verlangsamung der psychischen Leistun-
gen 328.
Verlauf des Irreseins 438.
— anfallsweiser 441.
— fortschreitender 455.
— gleichmäßiger 440.
— periodischer 441.
— schwankender 440.
— zirkulärer 442.
Verlegenheitskonfabulationen 263.
Verleugnung 543.
Veronal 568.
Verrücktheit 518.
— originäre 519.
— periodische 519.
— primäre 439. 518.
— sekundäre 518.
Verschlossenheit 345.
Verschrobenheit 388.
Versetzungsbesserungen 608.
Verstandestätgkeit, Störungen ders. 253.
Verstande^tätigkeit, Prüfung ders. 480.
Verstellung 540.
Verstimmung, epileptische 356.
— heitere 357.
— traurige 355.
Versuche, psychologische, bei Geistes-
kranken 488.
Versündigungswahn 321.
Verwandlungswahn 324.
Verwandtschaft der Eltern als Ursache
des Irreseins 188.
Verweichlichung als Ursache des Irre-
seins 199.
Verwirrtheit 296.
— • halluzinatorische 296.
— ideenflüchtige 296.
Verwirrtheit, kombinatorische 296.
— stuporöse 297.
— traumhafte 296.
— zerfahrene 296.
Verzückung 359.
Vision 230.
Volksart, Beziehungen ders. zum Irre-
sein 153.
Vorbeireden 380.
Vorbeugung 545.
Vorboten 439.
Vorgänge, krankhafte 438.
Vorgeschichte 461.
Vorstellungen, Haften ders. 280.
— Störungen in der Bildung ders. 270.
— unabgeschlossene 300.
Vorstellungsschatz, Untersuchung dess.
496.
Vorstellungsverbindungen, äußere 275.
— Festigkeit ders. 496.
— innere 275.
— prädikative 277.
— Statistik ders. 496.
— Störungen ders. 275.
— Untersuchung ders. 495.
— zeitlicher Ablauf ders. 328.
Vorstellungsverlauf s. Gedankengang.
W.
Wachabteilung 641.
Warenhausdiebinnen 409.
Wärmebestrahlung des Kopfes als Ur-
sache des Irreseins 20.
Wahnbildung 310.
— partielle 318.
Wahnidee 310.
— deliriöse 319.
— depressive 321.
— exaltierte 325.
— fixe 317.
— hypochondrische 324.
— Lokalisation ders. 318.
— Nachweis ders. 479.
— nihilistische 322.
— systematisierte 320.
— wechselnde 320.
Wahnsystem 320.
Wahlreaktionen 499.
Wahlzeit 499-
Wahrnehmung, Störungen ders. 211.
Untersuchung ders. 489.
Wahrnehmungstäuschungen 213.
Wandertrieb 400.
Wasserbehandlung 578.
I Wechselfieber s. Intermittens.
Weib, Disposition dess. zum Irresem 150.
Weitschweifigkeit 289.
43*
676
Register.
Wicklungen, feuchte 586.
Widerstreben 383.
Wille, Abgleiten dess. 386.
— Ablenkbarkeit dess. 379.
— Beeinflußbarkeit dess., erhöhte 375.
dess., verminderte 380.
— Bestimmbarkeit dess. 376.
— Bindung dess. 384.
— Durchkreuzung dess. 388.
— Entgleisung dess. 391.
— Lähmung dess. 366.
— Stereotypie dess. 389.
— Störungen dess. 366.
— Unstetigkeit dess. 378.
— Verödung dess. 367.
Willenlosigkeit 376.
Willensantriebe, Herabsetzung ders. 366.
— Steigerung ders. 369.
— Untersuchung ders. 499.
Willensdurchkreuzung 388.
Willensfreiheit 375.
Willenshandlungen, Behinderung ders.
371-
— Erleichterung ders. 373.
Willenshemmung 371.
Willenssperrung 372.
Willkürhandlungen, Störungen im Ab-
laufe ders. 385.
— Verschiebungen ders. 387.
— Verschnörkelung ders. 391.
— verstümmelte 386.
Windungsanomalien 509.
Witzelsucht 45. 295.
Witzmethode 485.
Wochenbett als Ursache des Irreseins
117.
Wortneubildungen 421.
Wortsalat 420.
Wortspielerei 294.
Worttaubheit 39.
Wucherungen, adenoide, Entfernung
ders. 577.
Z.
Zahl der Geisteskranken 13. 162.
Zahlenzwang 301.
Zeichnungen, krankhafte 426.
Zeitmessungen, psychische 328. 491.
Zellenlose Behandlung 595.
Zerfahrenheit 292.
Zerstörungssucht, Behandlung ders. 617.
Zerstreutheit 252. 253.
Zitterapparat 502.
Zivilstand und Irresein 174.
Zoophilie 408.
Zopfabschneider 408.
Zornmütigkeit, krankhafte 345.
Zorntobsucht 517.
Zuchthausknall 133.
Zunahme des Irreseins 162.
Zurechnungsfähigkeit 436.
Zustände, krankhafte 438.
Zustandsbilder 515.
Zustandsuntersuchung 464.
Zwangsbefürchtungen 349.
Zwangsbett 596.
Zwangsbewegungen 389.
Zwangshandlungen 393.
Zwangshemmungen 397.
Zwangsjacke 596.
Zwangsstuhl 596.
Zwangsvorstellungen 297.
Zweifelsucht 300.
Zwillingsirresein 183.
I
LIBRARY
I
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