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Full text of "Die Jugend-Blindheit [electronic resource] : klinisch-statistiche Studien über die in den ersten 20 Lebensjahren auftretenden Blindheitsformen"

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Die 


JUGEND-BLINDHEIT. 


3>»io«  


Kliniscti- statistische  Studien 


über  die 


in  den  ersten  20 Lebensjahren  auftretenden  ßlindheitsformen. 


Von 

Dr.  Hugo  Magnus, 

a.  ö.  Professor  der  Angenhcilknnde  an  der  Universität  zu  Breslau. 


Mit   12  Farben  -  Tafeln  und  lo  Abbildungen  im  Text. 


/ 


WIESBADEN. 

V  F.  R  r.  A  G  VON   T-  F.  R  F  R  G  M  ANN. 
1886. 


Vorwort. 


Die  vorliegende  Arbeit  verfolgt  den  Zweck,  die  einer 
einzigen  Lebensperiode  und  zwar  den  beiden  ersten 
Lebensdecaden  eigenartigen  Erblindungsformen  zu  durch- 
forschen. Der  Hauptschwerpunkt  der  Darstellung  ruht 
dabei  auf  der  klinischen  Seite  und  zwar  ist  derselbe  durch 
das  Material  selbst  gegeben.  Denn  da  die  zur  Unter- 
suchung benützten  Blinden  fast  ausschliesslich  Zöglinge 
von  Blinden- Anstalten  sind,  so  war  es  nur  unter  gewissen 
Bedingungen  gestattet,  durch  Bezugnahme  auf  den  Alters- 
aufbau der  Bevölkerung  statistische  Schlüsse  von  all- 
gemeiner Bedeutung  zu  ziehen.  Das  quantitativ  wie 
qualitativ  gleich  vortreffliche  Blindenmaterial ,  welches 
ich  meiner  Untersuchung  zu  Grunde  legen  konnte,  ver- 
danke ich  der  grossen  Liebenswürdigkeit,  mit  welcher 
so  viele  Spezialkollegen  des  Li-  und  Auslandes  meinen 
Wünschen  bezüglich  der  Untersuchung  der  verschiedenen 
Blinden -Anstalten  entgegengekommen  sind  und  ist  es  mir 
desshalb  eine  angenehme  Pflicht,  all'  den  Kollegen,  welche 
mir  zur  Durchführung  meiner  Arbeit  behülflich  gewesen 
sind,  hiermit  meinen  ergebensten  Dank  zu  sagen. 

Breslau  im  April  1886. 


Professor  Dr.  Magnus. 


Inhalts-Angabe. 


Erstes  Kapitel.    Das  Material  und  seine  Beschaffung  

§  1.  Einleitende  Bemerkungen  übei*  das  Studium  der 
Blindheit  1.  —  Nothwendigkeit  die  verschiedenen  Altersgruppen  ge- 
sondert auf  ihre  Blindheitsformen  zu  untersuchen  1.  —  Bei  jeder  Blinden- 
untersuchung  müssen  die  Altersverhältnisse  der  untersuchten  Individuen 
angegeben  werden  3.  —  Die  Wichtigkeit  bestimmte  topogi-aphisch  be- 
grenzte Bezirke  auf  ihren  ßlindengehalt  zu  untersuchen  4.  —  §  2.  Die 
Beschaffung  des  Materials  5.  —  Blinden  -  Anstalten  können  unter 
Benützung  der  Sammelforschung  ein  vortreffliches  Material  liefern  6.  — 
Schema  für  eine  derartige  Sammelforschung  6.  —  Für  alle  Blinden-Anstalten 
sollte  eine  nach  dem  gleichen  Plan  auszuübende  Untersuchung  der  Pfleg- 
linge obligatorisch  eingeführt  werden  8.  —  In  Amsterdam  und  London 
wurde  die  obligatorische  Untersuchung  der  Pfleglinge  bereits  eingeführt  8. 

—  Untersuchungsformular  für  London  9.  —  §  3.  Das  Material  10.  — 
General  tabelle  11. 

Zweites  Kapitel.    Die  angeborene  Blindheit   

§  4.  Aetiologie  der  angeborenen  Blindheit  14.  —  Die 
ursächlichen  Momente,  welche  bei  der  Entstehung  der  angeborenen  Blind- 
heit sich  als  thätig  erweisen  15.  —  Vererbung  15.  —  Konsanguinität  16. 

—  Kollaterale  Erblichkeit  16.  —  Intrauterine  Augenerkrankungeu  16.  — 
§  5.  Entstehung  der  an  geborenen  Blindheit  durch  un- 
mittelbare erbliche  Uebertragung  17.  —  Prozentarisches  Ver- 
halten der  verschiedenen  Arten  der  Vererbung  18.  —  Uebt  die  Verschieden- 
heit des  Geschlechtes  einen  Einfluss  auf  die  Häufigkeit  der  Erbamaurose?  19. 

—  Vererbung  der  verschiedenen  Formen  der  angeborenen  Blindheit  21. 

—  Ueber  den  "Wechsel  in  der  Form  der  Erbamaurose  22.  —  Steigening 
der  Vererbung  24.  —  §6.  Entstehung  der  angeborenen  Blind- 
heit durch  B  1  Uta  ve  vwandts  c  h  af  t  der  Eltern  2.5.  —  Die 
einzelnen  Formen  der  angeborenen  Amaurose  in  ihrem  Verhalten  zur 
konsanguinen  Ehe  26.  —  Medicinlsche  Bedenken  gegen  die  spezifische  Schäd- 
lichkeit der  Verwandtcn-Elie  27.  —  Statistische  Schwächen  der  bisherigen 


_    VIII  — 


Soito 

Beweisführung  29.  —  Dieselben  schädlichen  Folgen  finden  sich  auch  in 
den  Ehen  zwischen  Nichtverwandten  30.  —  Der  Schaden  der  konsanguinen 
Ehe  ist  lediglich  durch  die  Vererbung  zu  erklären  31.- Die  konsauguine 
Ehe  ist  unter  schlechten  äusseren  Verhältnissen  an  Gefahren  reicher  als 
wie  bei  guteu  Lebensbedingungen  32.  —  Zusammenfassung  der  für  die 
konsauguine  Ehe  gültigen  Gesetze  34.  -  Der  Opthalmologe  hat  keinen 
Grund,  ein  Verbot  der  konsanguinen  Ehe  vom  Staate  zu  verlangen  34.  - 
§7     Entstehung  der  angeborenen  Blindheit  durch  kon- 
genitale Belastung  ohneHeredität  und  Blutsverwandtschaft 
(Kollaterale  Erblichkeit  nach  Bollinger)  35.  -  Die  kollaterale 
Erblichkeit  beruht  auf  direkter  Heredität  37.  _  §  8.  D  as  V o rk o  m  m  en 
der  kongenitalen  A  m  a  u  r  o  s  e  37.  -  Die  kongenitale  Amaurose 
in  den  verschiedenen  Ländern  Europa's  38.  -  §  9.    Die  Formen  der 
angeborenen  Amaurose  39.  -  Cataracta  congenita  compli- 
cata 40.-Atrophia  nervi  optici  congenita  42.-  Schwierigkeit 
der  Diagnose  der  angeborenen  Sehnervenatrophie  42.  -  Komplikationen 
der  Atropbia  optica  43.  -  Belastung  der  Geschwister  44.  -  Häufigkeit 
der  angeborenen  Sehnervenatrophie  in  einer  Familie  45.  -  Mikroph- 
thalmus 45.  —  Komplikationen  in  den  verkümmerten  Bulbis  4o.  — 
Entstehung  der  den  Mikrophthalmus  begleitenden  Cysten  46.  -  Intrau- 
terine PanOphthalmitis  46.  -  Anderweitige  Belastung  der  mit  Mikroph- 
thalmus behafteten  Personen  47.  -  Belastung  der  Geschwister  47.  - 
Retinitis  pigmentosa  47.  -  Komplikationen  47.  -  Be  astung 
der  Geschwister  48.  -  Eintritt  der  Erblindung  48.  -  Eintreten  der  Er- 
blindung in  Folge  von  Allgcmeinerkrankungen  49.  -  Vertheilung  der 
Retinitis  pigmentosa  über  beide  Geschlechter  49.  -  B  u  p  h  t  h  a  1  m  u  s  51. 
-Glaucom  und  Buphthalmus  51.  -  Komplikationen  des  buphthalmischen 
Auges  51.  -  Geographische  Verbreitung  des  Buphthalmus  52.  -  Cho- 
rioiditis 53.  -  Retinalatrophie  53.  -  I  r  i  ü  o  ch  or  io  idit  i  s  54. 
-Albinismus  54.  -  Keratoconus  55.  -  §  10.  Die  Häufung 
kongenitaler  Belastung  55.  -  Häufung  kongenitaler  Belastung 
bei  den  verschiedenen  Formen  der  angeborenen  Amaurose  56.  -  Belas- 
tung der  Blindgeborenen  mit  anderen  angeborenen  Gebrechen  56.  -  Be- 
lastung der  Geschwister  der  Blindgeborenen  57.  -  §11.  Gewisse  eth- 
nologische  Verhältnisse    in    ihren    Beziehungen  zur 
angeborenen  Amaurose  57.  -  Färbung  der  Augen  58.  -  Angeborene 
Amaurose  bei  den  Juden  59. 

Drittes  KapiteL    Die  durch  idiopathische  Augenerkrankungen 

bedingten  Blindheitsformen   

§12  Ueber  dieStellung,  welche  die  durch  idiopathische 
Augenerkrankungen  hervorgerufenenBlindheitsformen  im 

Gebiete  der  Jugendblindheit  einnehmen  61.  -  §  13.  uie 
einzelnen  Formen  der  durch  idiopathische  Augenerkran- 
kungen erzeugten  Blindheit  62.  -  Blennorrhoea  neonato- 
rum 63.  -  Fnchs  sagt  mit  Unrecht,  für  die  Blennorrhoea  lasse  sidi 
eine  ziffermässige  Bestimmung  ihres  amaurotischen  Werthes  nicht  geben  63. 


—  Der  Werth  der  Blennorrhoe  unter  den  Blindheitsformen  des  ersten 
Lebensjahres  66.  —  Verhalten  der  Blennorrhoeblindheit  in  Breslau  67.  — 
Beobachtungen  über  die  Blennorrhoe  in  Mecklenburg,  gesammelt  von  Prof. 
Schatz  68.  —  Verbreitung  der  Blennorrhoeblindheit  über  Eui-opa  69.  — 
Blennorrhoeblindheit  bei  ehelich  und  unehelich  Geborenen  73.  —  Ein- 
fluss  des  Geschlechtes  auf  die  Blennorrhoequote  76.  —  Verbreitung  der 
Blennorrhoeblindheit  über  Stadt  und  Land  76.  —  Verhütung  der  Blennorrhoe 
78.  —  Ueber  die  praktische  Verwerthbarkeit  der  Crede'schen  Methode  79. 

—  Aeusserungen  von  Schatz  ühev  die  Benützung  der  Crecie'scben  Methode  79. 

—  (7rerfe'sches  Verfahren  und  Hebammen  81.  —  Atrophia  nervi  optici 
ohne  C er eb ra  1  s ym p t o me  und  ohne  anderweitige  Körper- 
erkrankung 83.  —  Vertheilung  der  idiopathischen  Atrophie  über  die 
ersten  zwei  Lebensdecennien  84. — Iritis  und  Irido  ch o  r io  i  dit is  85. 

—  Spontane  Iridochorioiditis  85.  —  Vertheilung  derselben  über  die  ersten 
20  Lebensjahre  86.  —  Iridocyclitis  sympathica  non  traumatica  86.  — 
Die  ätiologischen  Verhältnisse  der  Iridochorioiditis  an  381  Fällen  unter- 
sucht 86.  —  Trachom  87.  —  Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Trachom 
in  den  ersten  15  Lebensjahren  88.  —  Sublatio  retinae  89.  —  Häufung 
der  Sublatio  in  einzelnen  Familien  89.  —  Ueber  den  Eintritt  der  Sub- 
latio 91.  —  Blennorrhoea  gonorrhoica  91. — Diphtheritis  con- 
junctivae 92.  —  Die  einzelnen  Formen  der  Diphtherie  92.  —  Glau- 
com  93.  —  Myopie  93.  —  Gliom  93. 

Viertes  Kapitel.   Die  Vei'letzungsbliiidheit  

§  14.  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  der 
Verletzungsblindheit  für  die  Jugendblindheit  95.  —  Die  ein- 
zelnen Formen  der  Verletzungsblindheit  96.  —  §  15.  Blindheit  ent- 
standen durch  direkte  Verletzung  der  Augen  97.  —  Verhältniss 
zwischen  der  gleichzeitigen  Verletzung  beider  Augen  und  der  Augenver- 
letzung einäugiger  Personen  97.  —  Grössere  Neigung  der  Einäugigen  durch 
Verletzung  zu  erblinden  98.  —  Schutzmassregeln  für  Einäugige  99.  — 
Formen  der  doppelseitigen  Verletzungsblindheit  100.  —  Explosionen  101. 
Verbrennungen  101.  — -Schussverletzungeu  101.  —  Verletzungsblindheit 
der  Einäugigen  102.  —  Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Verletzung 
der  Augen  in  den  ersten  20  Lebensjahren  103.  —  §  16.  Blindheit 
verursacht  durch  Verletzung  des  Kopfes  104.  —  Sturz  auf  den 
Kopf  105. —Schlag  gegen  den  Kopf  105.  -  §  17.  Ophthalmia  sym- 
pathica traumatica  106.  —  Das  jugendliche  Alter  scheint  für  die 
Entwickelung  der  Iridocyclitis  sympathica  eine  grossere  Neigung  zu  be- 
sitzen als  die  späteren  Lebeusphasen  107.  —  Verletzung  des  zuerst  er- 
blindeten Auges  108.  —  Zwischenraum  zwischen  der  Verletzung  des  ersten 
und  der  sympathischen  Erblindung  des  zweiten  Auges  108.  —  Kurve  der 
Erblindungsgefahr  durch  Ophthalmia  sympathica  traumatica  in  den  ersten 
15  Lebensjahren  109.  —  Verhütung  der  Erblindung  durch  Ophthalmia 
sympathica  110.  —  §  18.  Die  durch  missglückte  Augon- 
operationen  hervorgerufene  Blindheit  III. 


—    2  — 


Darstellung  bringen  können.  Untersuchen  wir  z.  B.  eine  Reihe  von 
Blinden,  welche  alle  zwischen  dem  40.  und  70.  Lebensjahr  das  Seh- 
vermögen eingebüsst  haben,  so  werden  wir  ganz  gewiss  alle  die  in 
diesem  Lebensabschnitt  aufti-etenden  Blindheitsformen  klarer  und  besser 
zu  beui'theilen  im  Stande  sein,  als  wenn  unser  Untersuchungsmaterial 
auch  Fälle  enthält,  welche  einer  anderen  Lebensperiode  angehören. 
Dies  ist  so  selbstverständlich,  dass  wir  einen  Beweis  uns  füglich  sparen 
könnten;  doch  wollen  wir,  wenn  auch  vielleicht  zum  Ueberfluss,  das 
Gesagte  noch  an  einem  bestimmten  Beispiel  illustru-en. 

Handelt  es  sich  z.  B.  darum,  die  Glaucomblindheit  nach  den  ver- 
schiedensten Richtungen  hin  zu  betrachten,  so  werden  wir  diesen  Zweck 
am  besten  erreichen  unter  Benützung  eines  Blindenmaterials,  bei  welchem 
die  Zeit  der  Erblindung  zwischen  das  30.  bis  70.  Lebensjahr  fällt. 
Steht  uns  ein  solches  Material  nicht   zu  Gebote,  ist  das  verfügljare 
Material  vielmehr  aus  Blinden  aller  Altersgi-uppen  zusammengesetzt  und 
umfasst  dasselbe  besonders  in  grösserer  Menge  auch  Individuen,  welche 
vor  dem  30.  Lebensjahr  erblindet  sind,  so  wird  sich  für  die  Bedeutung 
der  Glaucomblindheit  ein  erheblich  anderes  Bild  ergeben,  als  dies  bei 
dem  anderen  Material  der  Fall  gewesen  wäre.  Die  Gefahr-  der  Glaucom- 
bliudheit  wird  sich  für  ein  solches  Blindenmaterial  viel  geringer  her- 
ausstellen, als  wie  sie  in  der  That  wirklich  ist.    Aehnlich  liegen  die 
Verhältnisse  für  die  Blennorrhoeblindheit ;  auch  hier  hängt  die  Grösse 
des  numerischen  Werthes  der  Blindheit  in  unmittelbarster  Weise  von 
der  Beschaffenheit  des  Untersuchungsmateriales  ab  und  wenn  wir  die 
Ana-aben  über  die  Blindenquote  der  Blennorrhoe  bei  den  verschiedenen 
Autoren  gar  so  abweichend  finden,  wenn  Einzelne  von  2  oder  3«;o  und 
Andere  von  60  »/o  sprechen,  so  ist  die  QueUe  dieser  abweichenden  Be- 
obachtungen eben  hauptsächlich  in  der  Verschiedenheit  des  benützten 
Blindenmaterials  zu  suchen. 

Es  liegt  nun  klar  auf  der  Hand,  dass  durch  die  besprochenen 
Verhältnisse  in  das  Kapitel   der  Blindheit  eine  Unsicherheit  hmem- 
gebracht  >vird,  welche  unserer  Erkenntniss  derselben  wenig  fordersam 
sein  kann.    Es  empfiehlt  sich  desshalb  dringend,  auf  Abhülfe  der  be- 
sagten üebelstände  zu  sinnen  und  ist  eine  solche  auch  wirklich  gar 
nicht  so  schwer  zu  beschafien.  Hat  man  für  seine  Studien  ein  Matenal 
zur  Verfügung,  welches  die  verschiedensten  Altersklassen  enthalt,  so 
erscheint  es  uns  rathsam,  genau  anzugeben,  wie  viele  von  den  unter- 
suchten Individuen  vor  und  wie  viele  nach  dem  zwanzigsten  Lebens- 
jahr erblindet  sind.   Am  einfachsten  dürfle  es  wohl  sein,  eine  derartige 
Notiz  an  den  Kopf  derjenigen  Tabelle  zu  setzen,  welche  man  über  das 


prozentarische  Verhalten  der  einzelnen  Erblindungsiu-sachen  aus  seinem 
Untersuchungsmaterial  hergestellt  hat;  wenigstens  habe  ich^)  in  meiner 
jüngsten  Publikation  dies  Verfahren  befolgt. 

Natürlich  vermag  man  auf  diese  Weise  den  Leser  nur  über  das 
numerische  Verhältniss  zu  unterrichten,  in  welchem  Jugend-  und  Alters- 
bliude  in  der  betreffenden  Untersuchuugsreihe  zu  einander  stehen,  doch 
ist  mit  dieser  Thatsache  immerhin  schon  etwas  gewonnen.    Der  Leser 
hat  damit  doch  ganz  gewiss  für  die  Bem-theilung  der  verschiedenen 
Blindheitsformen  resp.  für  die  Werthschätzung  ihrer  prozentarische  Höhe 
«men  gewissen  Anhaltspunkt  gewonnen.    Er  vermag  sich  darüber  ein 
Urtheil  zu  bilden,  in  welcher  Weise  durch  das  verschiedene  Verhalten  der 
Jugend-  und  Altersblinden  in  einer  Untersuchungsreihe  die  einzelnen  Er- 
blindungsformen in  ihrem  prozentarischen  Werthe  beeinflusst  werden 
müssen.  Erfährt  er,  dass  ein  Blindenmaterial  in  grösserer  Menge  Alters- 
blinde zählt,  so  wird  er  für  die  jenseits  des  20.  Lebensjahres  auftretenden 
Blindheitsformen  ein  höheres  prozentarisches  Verhältniss  erwarten  dürfen, 
während  dagegen  ein  Ueberwiegen  der  Jugendbliuden  das  Nämliche 
für  die  bis  zum  20.  Lebensjahr  sich  entwickelnden  Erblindungsformen 
voraussetzen  lässt.    Es  geht  also  aus  dem  Gesagten  hervor,  dass  es 
keineswegs  genügt,  aus  einem  grösseren  Blindenmaterial  für  die  ein- 
zelnen Formen  der  Amaurose  die  prozentarischen  Werthe  zu  berechnen, 
dass  vielmehr  die  so  gewonneneu  Zahlen  erst  dann  die  richtige  Be- 
deutung erlangen,  wenn  sie  in  Beziehimg  gebracht  ^verden  zu  den  Alters- 
verhältnissen des  Untersuchungsraaterials. 

Wenn  ich  bei  dem  soeben  erörterten  Punkt  vielleicht  etwas  zu 
lange  verweilt  habe,  so  geschah  dies  nur,  weil  ich  denselben  in  der 
That  für  äusserst  wichtig  halte  und  weil  derselbe  in  den  bisher  publi- 
zirten  Arbeiten  kaum  Beachtung  gefunden  hat.  Ich  möchte  desshalb 
allen  Kollegen,  welche  sich  mit  dem  Studium  der  Blindheit  befassen 
wollen,  es  dringend  an's  Herz  legen,  ihre  Untersuchuugsreiheu  nicht 
zum  Abdruck  zu  bringen  ohne  genügende  Rechenschaft  über  die  Alters- 
verhältnisse der  von  ihnen  benützten  Erblindungsfälle.  Denn  erst  durch 
diese  erhalten  die  gewonnenen  Zahlen  ihre  volle  Bedeutung  Doch 
dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  ein  aus  allen  Altersgruppen  zusammen- 
gesetztes Blindenmaterial  niemals  ein  völlig  befi-iedigendes  und  charak- 
teristisches Bild  der  den  einzelnen  Lebensphasen  angehörenden  Erblind- 
ungsformen zu  geben  vermag.  Wir  können  aus  einem  solchen  Material 

^ei.  Jar^;S:  K^^^-heMonatsblat^  fU.  Augen-' 


—    4  — 


immer  nur  —  vorausgesetzt,  dass  wir  das  in  demselben  herrschende 
numerische  Verhalten  der  Alters-  und  Jugendblindheit  genügend  zu 
überschauen  vermögen  —  eine  ungefähre  Vorstellung  von  der  Bedeutung 
gewinnen,  welche  die  verschiedenen  Blindheitsformen  für  die  einzelnen 
Lebensalter  besitzen.  Zu  einem  klaren  erschöpfenden  Bild  der  Bedeutung 
der  den  einzelnen  Altersphasen  zukommenden  Blindheitsformen  können 
wir  aber  auf  dem  genannten  Wege  nicht  gelangen,  vielmehr  sind  dazu 
durchaus  Spezialuntersuchungen  erforderlich,  welche  sich  nur  auf  be- 
stimmte Altersgruppen  beschränken. 

Da  sich  die  vorliegende  Arbeit  ganz  ausschliesslich  nur  mit  den 
einer  bestimmten  Altersperiode  —  nämlich  der  zwischen  dem  1.  und 
20.  Lebensjahre  liegenden  —  entsprechenden  Blindheitsforraen  zu  be- 
schäftigen gedenkt,  so  sei  es  uns  gestattet,  über  die  Möglichkeiten, 
welche  zur  Beschaffung  dieses  Materiales  gegeben  sind,  einige  Bemerk- 
ungen zu  machen. 

Im  Allgemeinen  stehen  zwei  Wege  offen,  auf  denen  man  sich  über 
die  Charakteristik  der  den  einzelnen  Altersperioden  eigenartigen  Blmd- 
heitsformen  zu  unterrichten  vermag.    Der  eine  Weg  besteht  in  der 
Untersuchung  aller  in  einem  bestimmten  Bezirk  vorhandenen  Blinden 
und  zwar  muss  dieser  Bezirk  schon  ein  ziemlich  umfangreicher  sein, 
also  etwa  eine  Grossstadt,  ein  Regierungsbezirk  oder  eine  ganze  Provmz. 
Das  hierbei  gewonnene  Blindenma^erial  umfasst  nun  Blindheitsformen 
aller  Altersgruppen  und  indem  man  die  verschiedenen  Formen  zusammen- 
ordnet und  mit  dem  Altersaufbau  der  gesammten  Bevölkerung  de& 
untersuchten  Bezirkes  in  Beziehungen  setzt,  erhält  man  über  die  em- 
zelnen  Arten  der  Amaui'ose  die  wichtigsten  Aufschlüsse.   Gerade  dieser 
letzte  Punkt,  die  Parallelisii-uug  des  Blindenmaterials  mit  dem  Alters- 
aufbau der  Einwohnerschaft,  verleiht  den  Blindenuntersuchmigen  eine 
ganz  besondere  Wichtigkeit  und  zwar  ist  dieses  Verfahren  nicht  nur 
geeignet,   unsere  Kenntnisse  über  die  Blindheit  in  der  ausgiebigsten 
Weise  zu  bereichern,  sondern  auch  die  klinischen  Bilder  der  verschieden- 
sten Erkrankungen   des  Sehorgans  erfahren  vielfache  Berichtigungen 
und  Erweiterungen.^)    Wir  müssen  Skrebitzky^)  desshalb  auch  durch- 
aus beistimmen,  wenn  er  über  diese  Art  der  Blindenuntersuchung  sagt: 
„Ein  Weg,  welchen  die  künftigen  Bearbeiter  wohl  werden  einschlagen 

Mau  vergleiche:  Magnus,  Die  Blinden  der  S  t  a  d  t  B  r  e  s  1  a  u  im 
Jahr  1  884.    Archiv  für  Augenheilkunde.  XIV  p.  391—436. 

')  Sh-ebiülcy,  m  welchem  Verhültniss  steht  in  Russ  a  nd  d,e 
Fürs  xg  f  U  d'ieBlinden  .u  derZahl.  Als  Manuskript  gedruckt  und  de„. 
V  intlationalen  Blindenlehrer-Kongress  zu  Amsterdam  vorgelegt.  Lausanne  l88o. 


müssen,  wenn  sie  zu  wirklich  belehrenden  Resultaten  gelangen  wollen." 
Leider  ist  dieser  Weg  nur  sehr  schwer  gangbar  und  steht  eigentlich 
nur  demjenigen  offen,  welcher  in  nicht  unbeträchtlichem  Umfange  Zeit 
und  Geld  zu  opfern  gewillt  ist  und  ausserdem  sich  der  Unterstützung 
der  Behörden  zu  erfreuen  hat.  Und  auch  selbst  dann  übersteigt  eine 
derartige  Untersuchung ,  sobald  sie  in  einem  grösseren  Umfang  vorge- 
nommen werden,  z.  B.  eine  ganze  Provinz  umfassen  soll,  die  Kräfte 
des  Einzelnen  noch  ganz  bedeutend.  Es  wäre  desshalb  dringend  zu 
wünschen,  dass  der  Staat  aus  eigenen  Mitteln  derartige  Untersuchungen 
veranstalten  wollte,  zumal  ja  doch  gerade  für  ihn  die  Blindenfrage  eine 
hochwichtige,  das  leibliche  wie  geistige  Wohl  seiner  Bürger  in  direktester 
AYeise  berührende  ist.  Wir  wollen  es  uns  desshalb  bei  dieser  Gelegen- 
heit auch  nicht  vei-sagen,  die  massgebenden  Behörden  auf  die  metho- 
dischen, durch  Fachleute  auszuführenden  Blindenuntersuchuugen  ganz 
besonders  aufmerksam  zu  machen.  Das  ftir  solche  Zwecke  aufgewendete 
Geld  dürfte  nicht  allein  unsere  wissenschaftliche  Erkenntniss  wesentlich 
fördern,  sondern  es  dürfte  gerade  in  national- ökonomischer  Beziehung 
die  besten  Früchte  tragen,  insofern  eine  Verminderung  der  Blindenquote 
durch  methodische  Erforschung  der  Blindheit  in  der  namhaftesten  Weise 
gefördert  werden  muss. 

Der  andere  Weg,  auf  welchem  man  die  Blindheitsformen  bestimmter 
Altersgruppen  studiren  kann,  besteht  in  der  Sammlung  eines  gi-össereu 
Blindenmaterials,  welches  speziell  nur  die  betreffenden  Altersgruppen 
umfasst.  Wenn  nun  auch  dieses  Verfahren  sehr  bedeutende  Schwierig- 
keiten darbietet,  so  verspricht  es  doch  für  das  Studium  bestimmter 
Blindheitsformen  ein  ausgezeichnetes  Material.  Die  grösste  Aussicht 
auf  Erfolg  verspricht  dieses  Verfahren  vornehmlich  dann,  Avenn  es  sich 
um  das  Studium  der  Jugendblindheit  handelt,  der  Blindheitsformen, 
welche  bis  zum  zwanzigsten  Lebensjahre  eintreten.  Denn  gerade  diese 
Blindheitsarten  finden  sich  in  den  Blinden  -  Erziehuugs  -  Anstalten  in 
reichlichster  Menge  und  vermag  man  sich  diese  zugänglich  zu  machen, 
.so  hat  man  das  reichhaltigste  Material  gewonnen.  Diesen  Weg  habe 
ich  nun  eingeschlagen  und  soll  der  folgende  §  2  über  die  Ausführung 
meiner  Untersuchungen  kurzen  Bericht  abstatten. 

§  2.  Die  Beschaffung  des  Materials. 

Es  kann  wohl  kein  in  der  Praxis  stehender  Ophthalmologe  daran 
denken,  eine  grössere  Anzahl  von  Blinden -Erziehungs- Anstalten  eigen- 
händig untersuchen  zu  wollen.  Die  Opfer  an  Zeit,  welche  ein  derartiges 
Beginnen  erheischen  würde,  wären  so  gewaltige,  dass  nur  selten  Jemand 


in  der  Lage  sein  dürfte,  dieselben  bringen  zu  können.  Wenn  man  also 
von  vornherein  unbedingt  darauf  verzichten  muss,  eine  namhaftere  An- 
zahl von  Blindenanstalten  selbst  zu  untersuchen,  so  kann  man  glück- 
licherweise für  diesen  Mangel  der  eigenen  Untersuchung  vollsten  Ersatz 
finden.  Der  heut  zu  Tage  schon  wiederholt  mit  Glück  betretene  Weg 
der  Sammelforschung  bietet  auch  in  imserem  Fall  die  ausreichendste 
Hülfe  dar.  Gelingt  es,  eine  grössere  Anzahl  von  Kollegen  dazu  zu 
bewegen,  die  in  ihrem  Wohnsitz  etwa  befindlichen  Blinden  -  Anstalten 
zu  untersuchen,  so  kann  man  auf  diese  Weise  ein  quantitativ  wie 
qualitativ  durchaus  befriedigendes  Material  Jugendblinder  gewinnen. 
Die  Frage  ist  nur  die,  ob  die  betreffenden  Kollegen  gewillt  sein  düi-ften, 
ein  solches  Opfer  an  Zeit  und  Arbeit  zu  bringen,  wie  es  die  sorgsame 
Untersuchung  einer  nur  einigermassen  besuchten  Blinden  -  Anstalt  nun 
doch  einmal  erfordert.  Diese  Frage  ist  durch  die  unbedingteste  Be- 
reitwilligkeit, mit  der  fast  alle  Kollegen,  an  die  ich  mich  bittend  ge- 
wendet habe,  meiner  Aufforderung  entgegengekommen  sind,  auf  das 
Glänzendste  beantwortet.  64  eviropäische  Blinden-Unterrichts-Anstalten 
sind  von  Kollegen  für  mich  untersucht  und  mir  damit  ein  Material 
geliefert  worden,  welches  mich  in  den  Stand  setzt,  die  Jugendblindheit 
in  der  eingehendsten  Weise  zu  bearbeiten. 

Da  nun  aber  Sammelforschungeu  nur  dann  ein  befriedigendes 
Kesultat  ergeben  können,  wenn  sie  nach  einem  einheitlichen  Plane 
durchgeführt  werden,  so  habe  ich  auch  für  die  Untersuchungen  der 
Blindenanstalten  ein  bestimmtes  Schema  entworfen,  und  dasselbe  in 
mehreren  tausend  Exemplaren  zum  Abdrucke  bringen  lassen.  Um  den 
Leser  mit  dem  Plan  dieser  Untersuchungen  bekannt  zu  machen,  theile 
ich  mein  Schema  in  Folgendem  mit. 

Ort  der  Blinden- Anstalt:        Monat  und  Jahr  der  Untersuchung: 


Name  des  untersuchenden  Arztes: 


1.  Name  des  Blinden. 

2.  Geschlecht. 

3.  Alter. 

4.  Religion. 

5.  Nationalität. 

6.  Bei  Erwachsenen  Beruf  vor  der 
Erblindung. 
Bei  Kindern  Beruf  der  Eltern. 

7.  Farbe  der  Haare. 

—    7  — 


8.  Farbe  der  Iris  (wenn  noch  zu  erkennen). 

9.  Grad  der  ErWindung: 

U.    /jcdliib  J:  111^X51     III             il*    XjH  HOl  XIUIJq  t 

b.  Hat  quantitative  Lichtempfindung. 

c.  Absolute  Amaurose. 

10.  Ursache  der  Erblindung  des  rechten 
Auges. 

11.  Ursache  der  Erblindung  des  linken 
Auges. 

12.  Befund  des  rechten  Auges. 

13.  Befund  des  linken  Auges. 


'ocken- 
ilinden. 


14.  Alter  bei  der  Erblindung  des  rechten 
Auges. 

15.  Alter  bei  der  Erblindung  des  linken 
Auges. 

16.  Ist  die  Erblindung  auf  Scrofulose 
zurückzuführen  ? 

17.  Ist  die  Erblindung  auf  Syphilis  zu- 
rückzuführen ? 

18.  Ist  die  Erblindung  in  Folge  irgend 
einer  Körperkrankheit  entstanden? 

1 9.  Hat  der  Blinde  körperliche  Gebrechen  ? 

f20.  Ist  der  Blinde  vor  der  Erblindung 
geimpft? 

21.  Ist  die  vor  der  Erblindung  geschehene 
Impfung  erfolgreich  gewesen? 

22.  Ist  die  Erblindung  in  der  Stadt  oder 
auf  dem  Lande  eingetreten? 

23.  Sind  die  Eltern  mit  einander  ver- 
wandt ? 

24.  Sind  die  Eltern  normalsichtig  oder 
mit  Augenfehlern  behaftet? 

25.  Sind  die  Geschwister  des  Blinden  mit 
Körpergebrechen  behaftet? 

26.  Sind  sonstige  Verhältnisse  vorhanden, 
welche  für  die  ßeurtheilung  des 
Falles  von  Wichtigkeit  werden 
können? 

27.  Ist  der  Blinde  ehelich  oder  unehelich 
geboren  ? 


—    8  — 


Es  wäre  uuii  dringend  zu  wünschen,  dass  von  jetzt  an  in  allen 
Blinden-Anstalten  der  Gebrauch  derartiger  Fragebogen  allgemein  ein- 
geführt würde.    Jeder  neu  eintretende  Zögling  müsste  ärztlicherseits 
genau  untersucht  und  auf  Grund  dieser  Untersuchung  der  Fragebogen 
ausgefüllt  werden.    Bei  Fragen,  wie  z.  B.  Frage  16,  17,  18,  23,  24, 
25  könnten,  wenn  die  Untersuchung  und  die  etwaigen  persönlichen  An- 
gaben der  Blinden  nicht  genügenden  Aufschluss  gewähren  sollten ,  die 
über  jeden  Zögling  geführten  Akten  herangezogen  werden;  eventuell 
Hesse  sich  durch  Anfrage  bei  den  heimischen  Behörden  auch  Aufklärung 
gewinnen.    Auf  diese  Weise  könnte  in  wenig  Jahren  in  jeder  Blinden- 
Anstalt   eine  Sammlung  vortrefflicher  Protokolle   geschaffen  werden, 
welche  für  die  Blindenforschung  das  ausgiebigste  Material  darbieten 
müsste.    Ich  möchte  mich  deshalb  auch   an    alle   Kollegen,  denen 
Blinden-Anstalten  imterstellt  sind,   sowie  an  die  Direktoren  und  Vor- 
stände derselben  mit  der  Bitte  wenden,  die  Untersuchung  aller  in  die 
Anstalten  eintretenden  Zöglinge  in  Zukunft  obligatorisch  machen  zu 
wollen.    Wenn  die  Untersuchungen  regelmässig  erfolgen,  kein  Zögling 
aufgenommen  wird  ohne  vorausgegangene  Untersuchung,  so  erfordert 
ein  solches  Verfahren  von  den  Anstaltsärzten  nur  geringe  Mühe  und 
könnte  demnach  der  Einwand  einer  Ueberlastung  der  Anstaltsärzte  mit 
mühevollen  Arbeiten  wohl  kaum  im  Ernst  gemacht  werden.    Ob  bei 
dem  privaten  resp.  kommunalen  Charakter  so  vieler  Blinden-Erziehungs- 
Anstalten  eine  obligatorische  Einführung  der  Untersuchung  der  Zög- 
linge von  Staatswegen  zu  ermöglichen  wäre,  vermag  ich  im  Augenblick 
nicht  zu  entscheiden.  Jedenfalls  läge  es  im  Interesse  einer  einheitlichen, 
nach  gemeinsamem  Schema  auszuführenden  Untersuchung,  wenn  die 
Regelung  derselben  behördlicherseits  in  die  Hand  genommen  würde. 
Ich  will  desshalb  auch  nicht  unterfassen,  die  Aufmerksamkeit  der  mass- 
gebenden Medicinalbehörden  auf  diesen  Punkt  ganz  besonders  zu  lenken. 
Kann  ja  doch  dm-ch  allgemeine  Durchführung  unseres  Vorschlages  ohne 
besondere  Mühe  und  ohne  Kosten  ein  für  das  Studium  der  Blindheit 
hochwichtiges  Material  gesammelt  werden. 

Uebrigens  ist  von  einzelnen  Blinden-Anstalten  auf  meine  Anregung 
bereits  der  Beschluss  gefasst  worden,  jeden  Zögling  bei  seiner  Aufnahme 
einer  genauen  Untersuchung  zu  unterziehen ;  so  liegen  mir  z.  B.  derartige 
Mittheilungen  aus  Amsterdam  und  London  vor.  In  den  Amsterdamer 
Blinden-Anstalten  wird  das  von  mir  entworfene  Schema  benützt ;  dasselbe 
ist  in  das  Holländische  übersetzt  worden  und  werden  für  jeden  Zögling 
fortan  alle  die  von  mir  auf  dem  Fragebogen  aufgestellten  Fragen  be- 
antwortet; diese  Protokolle  werden  gesammelt  und  so  werden  diese 


—    9  — 


Anstalten  fortan  in  der  Lage  sein,  über  die  Jugendblindheit  die  vor- 
trefflichsten Aufschlüsse  zu  liefern.  Das  Royal  normal  College  and 
Academy  of  music  for  the  blind  Upper  Norwood  near  London  hat 
gleichfalls  meinen  Vorschlag  angenommen  und  die  Untersuchung  der 
Zöglinge  in  Zukunft  als  obligatorisch  eingeführt ;  doch  weicht  das  Schema, 
nach  welchem  dort  die  Untersuchung  ausgeführt  wird,  von  dem  meinigen 
nicht  unerheblich  ab,  insofern  es  beträchtlich  Aveniger  Fragen  stellt. 
Das  englische  Schema  zählt  nämlich  nur  folgende  Fragen: 

1.  Name. 

2.  Address. 

3.  Age. 

4.  Sex. 

5.  When  admitted. 

6.  How  long  blind. 

7.  Cause  of  blindness. 

8.  Any  other  member  of  family  blind. 

9.  Consanguinity  (Parents,  first  cousins). 
10.  Remarks. 

"Wenn  ich  nun  auch  gern  zugeben  will,   dass  dieser  englische, 
von  nulke  entworfene  Fragebogen  durch  seine  Kürze  handlicher  und 
schneller  zu  beantworten  ist,  als  wie  der  meinige,   so  kann  ich  mir 
doch  auf  der  andern  Seitfe  auch  wiederum  nicht  verhehlen ,  dass  eben 
in  Folge  seiner  Kürze  der  englische  Fragebogen   auf  verschiedene, 
höchst  wichtige  Punkte  nicht  genügend  Rücksicht  nimmt.    So  werden 
z.  B.  die  Beziehungen,  welche  zwischen  Blindheit  und  AUgemeiuerkrank- 
ungen  bestehen,  durch  das  englische  Schema  lange  nicht  in  der  ein- 
gehenden Weise  untersucht,  wie  das  bei  Gebrauch  meines  Formulares 
der  Fall  sein  dürfte.    Das  Nämliche  gilt  für  den  Grad  der  Blindheit, 
für  die  Beschaffenheit  der  Bulbi,  für  die  ethnologisch  nicht  unwichtigen 
Fragen  nach  Farbe  der  Haare  und  Augen  u.  dgl.  m.  Natürlich  liegt  es 
mir  fern,  auf  die  allgemeine  Annahme  des  von  mir  vorgeschlagenen 
Fragebogens  nun  unbedingt  zu  dringen;  sollten  sich  Verbesserungen 
oder  Umänderungen  desselben  als  wünschenswert!!  erweisen,  so  werden 
mir  dieselben  gewiss  jederzeit  hoch  willkommen  sein.    Nur  darf  man 
nicht  vergessen,  dass  mit  der  Kürzung  des  Untersuchungsformulares 
auch  das  Ergebniss  der  Untersuchung  ein  knapperes  werden  muss.  Auf 
alle  Fälle  aber  muss  ich  auf  das  Entschiedenste  nochmals  darauf  dringen : 
dass  für  alle  Blinden  -  Anstalten,  mögen  dieselben  nun  Erziehuugs-  oder 
Zufluchts- Anstalten  sein,  die  Untersuchung  jedes  Pfleglings  ausgeführt 
und  zwar  nach  einem  möglichst  einheitlichen  Plane  ausgeführt  werde. 


—    10  — 


§  3.  Das  Material. 

Im  Ganzen  haben  64  europäische  Blinden  -  Unterrichts  -  Anstalten 
meine  Bitte  erfüllt  und  ihre  Zöglinge  entweder  einer  eingehenden  fach- 
männischen Untersuchung  unterworfen  oder  mir  doch  wenigstens  über 
einzelne  Fragen  Aufschluss  gegeben.  Rechne  ich  zu  dem  auf  diese 
Weise  gewonnenen  Material  die  von  mir  in  meiner  Privatpraxis  ge- 
sammelten Fälle  von  Jugendblindheit  hinzu,  so  verfüge  ich  insgesammt 
über  3204  Fälle  doppelseitiger,  zwischen  dem  ersten  und  zwanzigsten 
Lebensjahre  eingetretenei-,  unheilbarer  Blindheit.') 

Es  vertheilt  sich  dieses  Material  über  die  verschiedenen  europäischen 
Länder  in  folgender  Weise: 

Deutschland  ist  mit  seinen  27  Blinden -Erziehungs- Anstalten 
vollständig  vertreten,  und  zwar  sind  26  Anstalten  während  der  Jahre 
1884  und  1885  unter  Benützung  des  von  mir  angefertigten  Frage- 
bogens untersucht  worden,  während  1  Anstalt  (Dresden)  eine  im  Jahre 
1873  ausgeführte  Untersuchung  mir  zur  Verfügung  stellte,  eine  neue 
Untersuchung  unter  Zugrundelegung  des  Fragebogens  aber  nicht  in 
Ausführung  brachte. 

Oesterreich-Ungarn  ist  mit  seinen  9  Anstalten  ebenfalls  voll- 
ständig vertreten. 

Italien  ist  mit  5  Anstalten  betheiligt,  nämlich:  Neapel  (3  An- 
stalten), Rom,  Florenz. 

Russland  zählt  3  Anstalten  in  unserem  Material:  St.  Peters- 
burg, Moskau,  Warschau, 


')  Natürlich  habe  ich  hinsichtlich  des  Grades  der  Blindheit  in  allen  Fällen 
genaue  Musterung  gehalten,  doch  musste  die  Grenze  zwischen  Blindheit  und 
Schwachsichtigkeit  etwas  weiter  abgesteckt  werden,  als  wie  dies  bei  erwachsenen 
Blinden  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Es  wurden  nämlich  alle  diejenigen  Individuen, 
deren  Sehschärfe  soweit  herabgesetzt  war,  dass  eine  Theilnahme  am  Schulunterricht 
der  Sehenden  als  unmöglich  sich  erwies,  für  blind  erachtet,  ohne  Rücksicht 
darauf  zu  nehmen,  ob  sie  Finger  nur  bis  in  die  Entfernung  von  '/a  m  oder 
weiter  zu  zählen  im  Stande  waren.  Zu  diesem  Vorgehen  wurde  ich  durch  die 
Erwägung  geführt,  dass  für  den  Begriflf  des  Blindseins  im  jugendlichen  Alter 
vornehmlich  die  Fähigkeit,  am  Unterricht  der  Sehenden  theilnehmen  zu  können, 
den  massgebenden  Ausschlag  zu  geben  hat.  Ist  ein  Kind  in  seinem  Sehvermögen 
so  schwer  geschädigt,  dass  es  einer  Blindenschule  zum  Unterricht  übergeben 
werden  muss,  so  wird  es  hierdurch  in  seinem  ganzen  Denken  und  Fühlen  sowohl, 
als  auch  in  seiner  Verwendbarkeit  im  späteren  praktischen  Leben  unbedingt  auf 
die  Stufe  des  absolut  Blinden  herabgedrückt  und  ist  es  aus  diesem  Grund  ziem- 
lich nebensächlich,  ob  Finger  etwas  weiter  als  wie  '/,  m  gezählt  werden  oder  nicht. 


—  11  — 


Spanien  hat  3  Anstalten  untersuchen  lassen:  Barcelona,  Sara- 
gossa, Sevilla. 

Die  Schweiz  hat  das  Blindenraaterial  aus  den  Anstalten  Bern, 
Lausanne,  Zürich  geliefert. 

Belgien  ist  dui'ch  3  Anstalten  vertreten:  Brüssel,  Lüttich,  Ghlin 

bei  Möns. 

Schweden-Norwegen  ist  betheiligt  mit  den  Anstalten:  Stock- 
holm, Christiania. 

England  hat  aus  2  Anstalten  beigesteuert:  Norwood  bei  London, 
York.  Ausserdem  ist  mir  aus  den  Anstalten  in  Aberdeen  und  Glasgow 
noch  eine  Statistik  der  dort  vorhandenen  pockenblinden  Zöglinge  mit- 
getheilt  worden. 

Holland  ist  durch  3  in  Amsterdam  befindliche  Anstalten  vertreten. 

Frankreich  hat  das  in  dem  Hospital  des  Quinze  -  Vingts  zu 
Paris  vorhandene  Material  beigesteuert. 

Dänemark,  welches  bekanntlich  in  Kopenhagen  eine  ausgezeichnet 
geleitete  Blinden  -  Anstalt  besitzt,  fehlt  leider  in  unserem  Material,  da 
von  Seiten  des  Anstalts  -  Arztes  der  Untersuchung  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  entgegengesetzt  wurden.  Nur  der  Liebenswürdigkeit 
des  pädagogischen  Leiters  dieser  Anstalt,  des  Herrn  Moldenhawer 
verdanke  ich  statistische  Mittheilungen  über  Pocken-  und  Blennorrhoe- 
blindheit  in  Dänemark. 

Um  mm  die  Bedeutung  des  gewonnenen  umfangreichen  Materials 
sowohl  für  die  Jugendblindheit  im  Allgemeinen,  als  auch  für  die  ver- 
schiedenen Länder  im  Speziellen  möglichst  klar  zur  Anschauung  zu  bringen, 
habe  ich  zuvörderst  das  gesammte  Material  in  einer  Generaltabelle  zu- 
sammengestellt. Ausserdem  habe  ich  die  in  dieser  Tabelle  angegebenen 
numerischen  Verhältnisse  auch  noch  graphisch  zur  Darstellung  gebracht 
(vgl.  graphische  Darstellung  III).  Sodann  sind  die  für  die  einzelnen 
Länder  geflmdenen  Thatsachen  in  graphischer  Darstellung  wiedergegeben 
und  zwar  sind  derartige  Darstellungen  vorhanden  für:  Deutschland, 
Oesterreich- Ungarn,  Italien,  Spanien,  Belgien,  Holland,  Russland, 
Schweiz.  Für  England,  Frankreich,  Norwegen,  Schweden  habe  ich  auf 
eine  graphische  Darstellung  verzichtet,  weil  mir  für  diese  Länder  nur 
je  eine  Anstalt ')  zur  Verfügung  stand  und  ich  Bedenken  trug,  lediglich 
nur  aus  den  aus  einer  einzigen  Anstalt  stammenden  Berichten  eine  für 
das  ganze  Land  charakteristische  Darstellung  zu  konstruiren. 

')  Aus  England  habe  ich  allerdings  die  Berichte  zweier  Anstalten  empfangen 
doch  ist  die  eine  derselben  durch  so  lückenhafte  Untersuchungen  vertreten,  dass 
ich  die  statistische  Verwerthung  derselben  nicht  für  angezeigt  erachten  konnte. 


—    12  — 


Generaltabelle 

über 

8204  Fälle  doppelseitiger  Jugendblindheit. 

2009  mäunliche,  1195  weibliche. 


Amaurosis  congenita    .  . 

Auophthalmus  

Mikrophthalmus  

Buphthalmus  

Atroph  ia  nervi  optici  .... 
Retinitis  pigmentosa      .    .    .    .  ' 

Eetiualatrophie  

Chorioiditis  und  Chorioretinitis  . 
Coloboma  chovioideae  .... 

Iridochorioiditis  

Keratoconus  

Kei'atitis  

Albinismus  

Glioma  retinae  

Cataracta  complicata  congenita  . 
Nicht  bestimmte  Formen  .  .  . 
Verwachsung  der  Lider  mit  dem 

Bulbus   

Myopie  

Idiopathische  Erkrankungen 
der  Augen  

Blennorrhoea  neonatorum  .  .  . 
Blennorrhoea  gonorrhoica  .    .  . 

Trachom  

Diphtheritis  conjunctivae  .    .  . 
Conjunctivalerkrankungen  unbe- 
stimmter Art  

Keratitis  

Iritis   

Iridochorioiditis  

Chorioiditis  

Sublatio  retinae  

Myopie  

Glioma  retinae  

Neuro-Retinitis  hämorrhagica 
Atrophia  nervi  optici     .    .    .  . 

Glaucom  

Essentielle  Phtisis  


Gesammtzahl 


551  = 

16  r-. 
81 

38  = 

113  r. 

73  -- 

17  = 
21  = 

3  = 
14  = 

3  = 

1  : 

4  : 
1  : 

118  ■■ 

53  ■■ 

1 

4 


Männlich 


17,197 

0,50  „ 
2,53  „ 
1,19  „ 
3,53  „ 
:  2,28  „ 
■■  0,53  „ 

:     0,66  „ 

=  0,09  „ 

=  0,44  „ 

=  0,09,, 

:  0,03  „ 

=  0,12  „ 

=  0,03  „ 

=  3,68  „ 

=  1,34  „ 


327- 

6  = 
43  = 
26  = 
62  -- 
40  = 
12  -. 
12  : 

3  = 

11  : 

3  ■■ 

1  : 

2  : 
1  ■■ 

78  : 

35: 


16,327„ 

:  0,30  , 
:     2,14  „ 

=   1,29  „ 

:     3,09  „ 

=  1,99  „ 

=  0,59  „ 

=  0,60,. 

=  0,15  „ 

=  0,55  „ 

=  0,15  „ 

--  0,05  „ 

=  0,10  „ 

=  0,05  „ 

=  3,88  „ 

=  1,24  „ 


Weiblich 


0,03  „  0-  0,00  „ 
0,12  „       2=  0,10  „ 


224  = 

10  -- 
38  = 
12  -- 
51  = 
33  = 
5  : 
9  : 

0  : 
3  : 

0  ■■ 

0: 

2 

0: 

40 
18 


18,7o7o 
0,84  „ 
3,18  „ 
:  1,00  „ 
■■  4,27  „ 
■■  2,76  „ 
=  0,42  „ 
:  0,80  „ 
=  0,00  „ 
=  0,25  „ 
=  0,00  „ 
=  0,00  „ 
=  0,17  „ 
=  0,00  „ 
=  3,36  „ 
-.   1,50  „ 


1=  0,08  „ 
2=  0,17  „ 


1060  = 

33,08% 

626-= 

31,167o 

434  = 

36,327o 

753  = 

23,50  „ 

415  = 

20,66  „ 

338  = 

28,28  „ 

15  = 

0,47  „ 

14  = 

0,70  „ 

1  = 

0,08  „ 

42  = 

1,31  „ 

27  = 

1,34  „ 

15  = 

1,26  „ 

14  = 

0,44  „ 

6  = 

0,25  „ 

8  = 

0,67  „ 

26  = 

0,81  „ 

20  = 

1,00  „ 

6  = 

0,50  „ 

15  = 

0,47  „ 

11  = 

0,55  „ 

4  = 

0,33  „ 

6  = 

0,19  „ 

2  = 

0,10  „ 

4  = 

0,33  „ 

61  = 

1,90  „ 

41  = 

2,04  „ 

20  = 

1,67  „ 

14  = 

0,44  „ 

8  = 

0,40  „ 

6  = 

0,50  „ 

27  = 

0,84  „ 

18  = 

0,90  „ 

9  = 

0,75  „ 

4  = 

0,12  „ 

4  = 

0,19  „ 

0  = 

0,00  „ 

0,03  „ 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

0,03  „ 

1  = 

0,05  ^ 

0  = 

0,00  „ 

74  = 

2,31  „ 

54  = 

2,69  „ 

20  = 

1,67  „ 

6  = 

0,19  „ 

4  = 

0,19  „ 

2  = 

0,17  „ 

0,03  „ 

0  = 

0,00  „ 

1      1  = 

0,08  „ 

—    13  — 


Verletzungen  

Verletzungen  der  Augen  .  .  . 
Verletzungen  des  Kopfes    .    .  - 

Operationen  

Ophthalmia  sympathica     .    .  . 

AUgenieinerkrankungen  .  . 

Scrofulose  

Syphilis  

Cerebrum  mit  seinen  Häuten 
Atrophia  nervi  optici  nach  Blutung 

Morbilli  

Scarlatina  

Variola  • 

Exanthem  unbekannter  Natur 

Typhus   

Morbus  maculosus  

Phlegmone  orbitalis  

Tussis  convulsiva  

Cholera  

Intermittens  

Bleivergiftung  

Tabakvergiftung  

Unbekannte  Allgemcinerkrankung 

Unbekannte  Ursachen  .    .  . 


Gesammtzahl 


Männlich 


Weiblich 


261  = 

8,1 57o 

202  = 

10,06''/o 

59  = 

4,947» 

76  = 

2,37  „ 

63  = 

3,13  „ 

13  = 

1,09  „ 

33  = 

1,03  „ 

25  = 

1,24  „ 

8  = 

0,67  „ 

5  = 

0,16  „ 

4  = 

0,19  „ 

1  = 

0,08  „ 

147  = 

4,58  „ 

110  = 

5,47  „ 

37  = 

3,10  „ 

1063  = 

33,1 77o 

686  = 

34,1 57o 

377  = 

31,547. 

243  = 

7,58  „ 

142  = 

7,07  „ 

101  = 

8,45  „ 

32  = 

1,00  „ 

23  = 

1,14  „ 

9  = 

0,75  „ 

262  — 

8,18  „ 

200  = 

9,96  „ 

62  = 

5,19  „ 

2  = 

0,06  „ 

0  = 

0,00  „ 

2 

0,17  „ 

114  == 

3,56  „ 

73  = 

3,63  „ 

1  = 

3,43  „ 

97  = 

3,03  „ 

60  = 

2,98  „ 

37  = 

3,10  „ 

240  = 

7,49» 

141  = 

7,02  „ 

99  = 

8,28  „ 

14  = 

0,44  „ 

9  = 

0,45  „ 

5  = 

0,42  „ 

£>i  = 

1  fln 
1,UU  „ 

OA   

ZU   

12  = 

1  00 

0,03  „ 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

1  = 

0,03  „ 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

4  = 

0,12  „ 

0,05  „ 

3  = 

0,25  „ 

1  = 

0,03  , 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

0,03  „ 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

2  = 

0,06  „ 

0,05  „ 

0.08  „ 

1  = 

0,03  „ 

0,05  „ 

0  = 

0,00  „ 

16  = 

0,50  „ 

11  = 

0,55  „ 

5  = 

0,42  „ 

269  = 

8,407o 

168  = 

8,367, 

101  = 

8,457o 

Zweites  Kapitel. 


Die  angeborene  Blindheit. 


§  4.  Aetiologie  der  angeborenen  Blindheit. 

Wenu  unsere  Einblicke  in  die  Eutstehungsweise  der  angeborenen 
Missbildungen  im  Allgemeinen  und  der  angeborenen  Blindheit  im  Be- 
sonderen auch  noch  recht  mangelhafte  und  beschränkte  sind,  wenn  das, 
was  wir  auf  diesem  Gebiete  zu  wissen  meinen,  auch  vielfach  noch  mehr 
Ahnen  und  Vermuthen,  als  wirkliches  Wissen  sein  mag,  so  verfügen 
wir  doch  immerhin  über  eine  Reihe  gesicherter  Beobachtungen,  welche 
uns  gestatten,  in  die  Aetiologie  der  angeborenen  Missbildungen  des 
Auges  ein  gewisses' System  zu  bringen.  Allerdings  verhilft  uns  dies 
System  auch  nicht  zu  einer  wirklichen  Erkenntniss  der  letzten  anatomisch- 
pdysiologischen  Faktoren,  welche  bei  der  Entstehung  kongenitaler  ISIiss- 
bildungen  wirksam  sind,  vielmehr  bringt  es  uns  in  die  dem  Physiologen 
wie  Pathologen  gleich  fatale  Lage  mit  Worten  operiren  zu  müssen, 
denen  die  sichere  Grundlage  eines  unserem  Verständniss  zugänglichen 
Begriffes  fast  vollständig  mangelt,  aber  trotz  all'  dieser  Schwächen  bietet 
uns  das  fragliche  System  doch  immerhin  gemsse  Anhaltspunkte ,  und 
wenn  es  uns  die  Erscheinungen  auch  nicht  erklärt,  sie  in  ihrer  AVesen- 
heit  nicht  durchleuchtet,  so  rückt  sie  dieselben  doch  unserem  Verständniss 
ganz  entschieden  näher.  Und  damit  ist  auf  einem  so  dunklen  Gebiet, 
wie  es  das  in  Rede  stehende  doch  nun  einmal  ist,  immerhin  schon  etwas 
recht  annehmbares  gewonnen. 

'  Die  ursächlichen  Momente,  welche  bei  der  Entstehung  der  kon- 
genitalen Augenmissbildungen  sich  als  thätig  erweisen,  können  gemäss 
den  an  den  Erzeugern,  sowie  an  den  Erzeugten  gemachten  Beobacht- 
ungen in  folgendem  Schema  vereinigt  werden. 


Die  angeborene  Missbildung  des  Sehorgans  kann  bedingt  werden: 
1.  ünrch  erbliche  UebertragUllg,  und  zwar  sind  hier  folgende 
drei  TJebertraguugsarten  möglich: 

a)  Eine  bei  den  Erzeugern  vorhandene  Augenmiss- 
bildung  wird  unmittelbar  auf  die  Nachkommenschaft 
übertragen.  Es  ist  dabei  durchaus  nicht  nöthig,  dass  die 
Augenmissbildung  der  Eltern  in  der  nämlichen  Form  auf  die 
Blinder  übertragen  werde;  dies  kann  der  Fall  sein,  braucht  aber 
nicht  immer  einzutreten.'  So  kann  eine  mit  Myopia  excessiva  be- 
haftete Mutter  Kinder  mit  Atrophia  nervi  optici  oder  Cataracta 
congenita  u.  s.  w.  gebären.  Unsere  Arbeit  wird  spezielle  Beispiele 
dafür  auf  den  folgenden  Seiten  beibringen. 

b)  Die  Erzeuger  haben  gesun  de  Augen,  übertragen  aber 
eine  in  ihrer  Familie  vorhandene  Augenmissbildung 
auf  ihre  Kinder;  so  kann  eine  gesunde  Mvitter  oder  ein  ge- 
sunder Vater,  deren  Eltern,  Onkel  oder  Tanten  mit  Eetinitis 
pigmentosa  behaftet  sind,  Kinder  mit  Eetinitis  pigmentosa  zeugen. 
Ein  besonders  typisches  Beispiel  bietet  die  Farbenblindheit,  bei 
welcher  ja  bekanntlich  die  Uebertragung  meist  mit  Auslassung 
einer  Generation  stattfindet.  Bollinger bezeichnet  diese  Ver- 
erbungsform als  die  indirekte  oder  latente  Vererbung. 

c)  Eine  bei  den  Erzeugern  vorhandene  Allgemein- 
erkrankung giebt  Veranlassung  zum  Auftreten 
der  angeborenen  Augenmissbildung.  Die  Sehorgane 
der  Eltern  können  hierbei  ganz  gesimd  sein  und  nur  die  all- 
gemeine Körpererkrankung  der  Erzeuger  belastet  die  Augen  der 
Nachkommenschaft.  So  wird  z.  B.  die  Retinitis  pigmentosa  von 
vielen  Autoren  mit  besonderer  Vorliebe  auf  hereditäre  Syphilis 
zurückgefühi"t. 

Uebrigens  ist  es  bei  allen  drei  Vererbungsarten  nicht  erforderlich, 
dass  die  Blindheit  mit  auf  die  Welt  gebracht  wird,  bei  der  Geburt  schon 
nachweisbar  ist.  Es  kann  vielmehr  lediglich  nur  die  Anlage  vererbt  werden, 
so  zwar,  dass  das  Kind  mit  scheinbar  gesunden  Augen  geboren  wird, 
aber  zu  einer  späteren  Zeit  seines  Lebens  erblindet.  Nicht  selten  ist 
dieser  Erblindungszeitpunkt  bei  verschiedenen  Mitgliedern  einer  Familie 
immer  der  nämliche.     So  hat  man  einschlägige  Beobachtungen  bei  der 


')  Bollinger,  Ueber  Vererbung  von  Krankheiten.  Beiträge  zur  Biologie. 
.Jubiläumsschrift  für  Bischoff.    Stuttgart  1882.    p.  7. 


—     16  — 


Eetiuitis  pigmentosa,  bei  gewissen  Formen  der  Sehnervenatrophie,  bei 
Glaucom  u.  s.  w.  gemacht. 

2.  Durch  Blutsverwandtschaft  der  Eltern  oder  Vor- 
eltern. Die  geschlechtliche  Mischung  verwandten  Blutes  soll  ein  die 
Nachkommenschaft  belastendes  pathogenes  Moment  bilden. 

3.  Durch  congenitale  Belastung  ohne  Heredität  und 
Blutsverwandtschaft  der  Eltern.  Hierher  gehören  alle  die- 
jenigen Fälle,  in  denen  in  einer  Familie  mehrere  Kinder  mit  Augen- 
missbildungen  geboren  werden,  ohne  dass  man  Heredität  oder  Bluts- 
verwandtschaft zu  deren  Erklärung  heranziehen  kann.  Bis  jetzt  sind 
derartige  Beobachtungen  zu  wenig  gewürdigt  worden,  obgleich  dieselben 
diu-chaus  nicht  selten  vorkommen.  Bollinger  nennt  diese  Fonn  die 
collaterale  Erblichkeit. 

4.  Durch  spontane  Erkrankung  des  Sehorganes  in 
utero  ohne  Mitwirkung  einer  der  drei  vorgenannten 

Faktoren.  Hierbei  müssen  zwei  Möglichkeiten  unterschieden  werden, 
nämlich: 

a)  Die  Erkrankung  des  Sehorganes  hat  sich  in  jener 
Periode  entwickelt,  in  welcher  der  Aufbau  desAuges 
noch  nicht  vollendet  war;  es  handelt  sich  hier  also  um  die 
sogenannten  Bildungsfehler.  Gewisse  Fälle  von  Mikrophthalmus, 
Coloboma  u.  dgl.  m.  gehören  hierher, 

b)  Die  Missbildung  erfolgt  auf  Grund  einer  intra- 
uterinen Erkrankung  des  entwickelten  Auges.  Man 
könnte  diese  Fälle  als  fötale  Krankheiten  des  Auges  bezeichnen, 
während  man  die  sub  a  charakterisu-ten  embryonale  nennen  kann. 
Zu  den  fötalen  gehören  gewisse  Formen  des  ]\Iikrophthahnus, 
Hornhauttrübungen,  Atrophie  des  Nervus  opticus  u.  s.  w.  Uebrigens 
lässt  sich  eine  sichere  Unterscheidung  zwischen  embryonaler  und 
fötaler  Erkrankung  durchaus  noch  nicht  bei  allen  Missbilduugen 
des  Auges  durchführen,  wenn  für  eine  ganze  Reihe  derselben  eine 
derartige  Trennung  auch  ganz  gewiss  möglich  ist.  AVir  werden 
deshalb  auch  von  einer  weiteren  Besprechung  dieser  Entstehungs- 
ursache der  congenitalen  Blindheit  Abstand  nehmen. 

Es  wird  nunmehr  unsere  Aufgabe  sein,  die  genannten  Entstehungs- 
möglichkeiten der  congenitalen  Blindheit  zu  besprechen  und  ihre  Be- 
deutung an  dem  vorliegenden  Material  zu  prüfen. 


—    17  — 


§  5.  Entstehung  der  angeborenen  Blindheit  durch  unmittelbare 

erbliche  Uebertragung. 

Für  die  moderne  Naturwissenschaft  kann  es  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  die  Entvvickelung  der  organischen  Formen  unter  dem  Drucke 
eines  Vererbungsgesetzes  erfolgt;  mag  der  anatomische  Aufbau  sich 
innerhalb  der  normalen  Grenzen  vollziehen,  oder  mag  er  auf  patho- 
logische Abwege  gerathen,  die  Wirksamkeit  des  Vererbungsgesetzes  lässt 
sich  in  zahllosen  Fällen  auf  das  Schlagendste  darthun.  Und  wen  selbst 
die  zahlreichen  Beobachtungen  der  sorgsamsten  Forscher,  wen  seine 
eigenen  Erfahrungen  noch  nicht  in  befriedigender  Weise  von  der  Thätig- 
keit  des  Vererbungsgesetzes  zu  überzeugen  vermögen,  der  wird  den 
Resultaten  gegenüber,  welche  die  Experimentalpathologie  auch  auf 
diesem  räthselvoUen  Gebiet  erzielt  hat,  seinen  Skepticismus  wohl  kaum 
noch  festzuhalten  gesonnen  sein.  Die  Versuche,  welche  Brown-S6quard, 
Dupuy,  Samelsohn,  Deutschmann  an  Meerschweinchen  und  Kaninchen 
vorgenommen  haben,  sie  haben  die  Existenz  eines  Vererbungsgesetzes 
über  allen  Zweifel  erhoben.  Es  wäre  deshalb  auch  ein  völlig  müssiges 
Unterfangen,  wollten  wir  an  der  Hand  der  umfassenden  Literatur  noch- 
mals den  Nachweis  von  dem  Bestehen  der  erblichen  Uebertragungs- 
möglichkeit  fuhren^).  Es  wird  vielmehr  hier  unsere  Aufgabe  sein,  all' 
den  verschiedenen  Beziehungen,  welche  zwischen  Erblichkeit  und  ange- 
borener Blindheit  bestehen,  nachzuspüren  und  sie  möglichst  klar  zu  legen. 
Und  indem  wir  uns  dieser  Aufgabe  zu  entledigen  trachten,  werden  wir 
all'  die  verschiedenen  Punkte,  welche  hier  in  Betracht  kommen,  nun- 
mehr der  Reihe  nach  beleuchten. 

Bereits  früher 2)  habe  ich  den  Versuch  gemacht,  den  prozenta- 
rischen  Werth,  welchen  die  Vererbung  fiir  die  angeborene  Blindheit 
besitzt,  festzustellen  und  numerisch  zu  fixiren.  Ich  habe  dazumal  vor 
Allem  darnach  getrachtet,  die  Erblindungsgefahr,  die  aus  Ehen,  in 
welche  ein  oder  beide  Gatten  blind  eingetreten  sind,  für  die  Nach- 
kommenschaft erwächst,  zahlengemäss  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Es 

')  Diejenigen,  welche  sich  über  die  Vererbung  eingehender  zu  unterrichten 
wünschen,  verweise  ich  auf: 

Merten,  Die  Vererbung  von  Krankheiten  und  die  etwaigen 
Mittel,  derselben  entgegenzuwirken.  Eine  hygienische  Monographie. 
Stuttgart  1879. 

Both,  Die  Thatsachen  der  Vererbung  in  geschichtlich- 
kritischer Darstellung.    Zweite  Auflage.    Berlin  1885. 

Magnus,    Die  Blindheit,  ihre  Entstehung  und  ihre  Verhüt- 
ung.   Breslau  1883,  p.  133—138. 

Magnus,  Jagendblindheit.  2 


—    18  — 


^var  mir  gelungen,  21  Ehen  zu  ermitteln,  in  welchen  bei  Eingehung 
des  Bündnisses  bei  den  Eltern  Blindheit  oder  doch  hochgradige 
Amblyopie  vorhanden  war.  Und  zwar  war  3  mal  Mann  und  Frau 
bei  der  Eheschliessung  absolut  blind;  von  den  übrig  bleibenden  18 
Fällen  wai-  14 mal  der  Mann  und  4mal  die  Frau  der  belastete  Theil. 
Aus  diesen  Ehen  gingen  49  Kinder  hervor,  von  denen  8  mit  Augen- 
fehlern resp.  blind  geboren  wurden,  d.  h.  also  16,3"/,.  Es  würden 
hiernach  also  in  16,3"/„  die  Kinder,  welche  aus  Ehen  zwischen 
Blinden  resp.  zwischen  Sehenden  und  Blmden  hervorgehen,  erblich  be- 
lastet sein. 

Unser  inzwischen  gesammeltes  Material  vermag  allerdings  für-  das 
soeben  Mitgetheilte  keine  neuen  Stützpunkte  beizubringen,  wohl  aber 
ist  es  im  Stande,  auf  eine  Reihe  anderer  für-  die  prozentarische  Be- 
deutung der  ererbten  Amaurose  wichtiger  Punkte  Licht  zu  werfen. 

Zuvörderst  können  wir  an  der  Hand  unseres  Materials  genau  er- 
mitteln, welche  Stellung  die  Vererbung  im  Gebiet  der  angeborenen 
Blindheit  überhaupt  beanspruchen  darf.  Unter  551  Fällen  von  ange- 
borener Amaurose  liess  sich  in  50  das  ErbHchkeitsgesetz  als  wirksam 
erkennen,  d.h.  also  9,07<7„  der  kongenitalen  Blindheit  smd  durch  \  er- 
erbung bedingt.  Diese  Zitfer  umfasst  die  drei  verschiedenen  Uebertrag- 
ungsarten,  welche  wir  auf  Seite  15  für  die  Vererbung  als  moghch  be- 
zeichnet hatten.  Für  jede  einzelne  dieser  drei  Uebertragungsmoglich- 
keiten  ergibt  unser  Material  folgende  Ziffern: 

Unmittelbare  Uebertragung  eines  Augenfehlers  von  Eltern  auf 
Kinder  erfolgte  34  mal,  d.  h.  also  in  68,00  der  Erbamaurose  uber- 
Lpt ;  Uebertragung  eines  in  der  Famüie  eines  der  Erzeuger  vorhandenen 
ATgenfehlers  bef  gesunden  Augen  der  Eltern  erfolgte  6mal,  d.  1.  also 
in  12  00«/  der  Erbamaurose  überhaupt;  Ueberti-agung  emer  bei  den 
Erzeugern  Uandenen  AUgemeinerki-ankung  auf  die  Augen  der  Kinder 
erfolgte  lOmal,  d.  h.  also  in  20,000/«  der  Erbamaurose  überhaupt 

Die  unmittelbare  Uebertragung  eines  Augenfehlers  von  den  Eltei-n 
auf  die  Kinder  erfolgt  hiernach  also  weitaus  am  Häufigsten;  dann  fdgt 
•1  Vererbung,  bei  welcher  Allgemeinkrankheiten  der  Erzeuger  Bl.nd- 
Ci  de  Kinder  bedingen.  Die  Uebertragungsgefahr  der  B  mdheit  durch 
eis  Eltern,  welch!  aus  "^^t  Blindheit  behafteten  F^^^^^^^^^ 
ist  nach  unseren  Erfahrungen  die  geringste.  Auch  Dumont  )  a 
^Uen  der  mittelbaren  und  der  unmittelbaren  Erbamaiu-ose  ein  ahn- 

^^;:;;;;r'Recherches  statlstlques   sur   las    causes    et  les 
effets  de  la  cöcit^.    Paris  1856,  p.  86. 


—    19  — 


liebes  Verliältniss  gefunden.  Unter  80  Fällen  hereditärer  Blindheit 
waren  68  d.  h.  85  "/o  direkt  von  Eltern  auf  Kinder  übertragen,  während 
12 mal  d.  b.  in  15"/o  die  Eltern  zwar  selbst  gesund,  aber  aus  einer 
mit  Blindheit  behafteten  Familie  hervorgegangen  waren. 

Es  erübrigt  nunmehr  noch,  zu  ermitteln,  welche  Stellung  die  Erb- 
Amaui-ose  in  der  Jugendblindheit  überhaupt  einnimmt.  Unter  unserem 
Material  von  3  204  Jugendbliuden  finden  sich  50  Fälle  von  ererbter 
Blindheit,  d.  h,  also  1,56  °/o  derselben  haben  ihre  Amaurose  auf  dem 
Wege  der  Ererbung  überkommen.  Etwas  höher  beziffern  sich  die  An- 
gaben, Avdlche  Dumont  über  den  nämlichen  Punkt  gemacht  hat,  denn 
er  konnte  unter  1168  Blinden  80 mal  die  Ererbung  nachweisen,  d.  h. 
also  in  6,85  "/o.  Der  Unterschied  zwischen  den  Dumont' sehen  und 
meinen  Angaben  wird  aber  noch  erheblicher,  wenn  man  bedenkt,  dass 
mein  Material  nur  Jugendblinde  umfasst,  bei  denen  naturgemäss  ja 
die  Erbamaurose  in  grösserer  Zahl  vertreten  sein  muss,  während  das 
Dumont' sehe  Material,  wenn  auch  vorwiegend  jugendliche  Blinde,  so 
doch  auch  Blinde  der  verschiedensten  Altersklassen  enthält,  darum  eigentlich 
doch  weniger  Fälle  von  Erbamaurose  zählen  sollte.  Ich  möchte  dess- 
halb  auch  der  Ansicht  zuneigen,  dass  bei  den  Ermittelungen  Dimionl's 
wiederholt  Irrthümer  untergelaufen  sein  mögen.  Uebrigens  kann  wohl 
auch  der  Umstand,  dass  die  Kontrolle  und  Diagnose  der  einzelnen 
Fälle  in  der  vorophthalmoskopischeu  Zeit  eine  weniger  exakte  gewesen 
ist,  die  Höhe  der  Dumon^'schen  Angaben  veranlasst  haben. 

Uebt  die  Verschiedenheit  des  Geschlechtes  einen 
Einfluss  auf  die  Häufigkeit  der  Erbamaurose?^)  Bei  der 
Untersuchung  der  Frage,  welchen  Einfluss  das  Geschlecht  auf  die  Ver- 
erbung der  Blindheit  ausübt,  dürften  vornehmlich  folgende  Punkte  in 
Betracht  zu  ziehen  sein: 

1.  Spielt  der  Vater  oder  die  Mutter  bei  der  Vererbung  eine  hervor- 
,ragendere  Rolle? 

2.  Ist  das  weibliche  oder  männliche  Geschlecht  für  die  Vererbung 
empfänglicher  ? 

3.  Besteht  zwischen  dem  Geschlecht  des  Vererbers  und  der  Erben 
irgend  eine  Beziehung? 


')  Man  vei-gleiche  die  Zusammenstellung  der  über  diesen  Punkt  geäusserten 
Ansichten  verschiedener  Forscher  bei  Both,  Die  Thatsache  der  Vererb- 
ung in  geschichtlich-kritischer  Darstellung.  Zweite  vermehrte  Auf- 
lage.   Berlin  1885.  p.  71  u.  ff. 

9* 


—    20  — 


Was  nun  zunächst  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  giebt  darüber 
unser  Material  folgenden  Aufschluss: 

Unter  50  Fällen  von  Erbamaurose  vererbten 

die  Mutter    20  mal  die  Blindheit,  d.  h,  in  40,00  »/o 
der  Vater    24    „     „  „         48,00  „ 

beide  Eltern  6    „     „        »  »     »  12,00  „ 

Es  scheint  also  hiemach  kein  weitgehender  Unterschied  zwischen 
der  Vererbungsfähigkeit  des  Vaters  und  der  Mutter  obzuwalten. 

Was  alsdann  den  zweiten  Punkt  anlangt:  ob  das  weibliche  oder 
männliche  Geschlecht  eine  grössere  Neigung  für  das  Auftreten  der  Erb- 
Amaurose  besitze?  —  so  habe  ich  Folgendes  gefunden: 
Von  1195  weiblichen  Jugendblinden  hatten  23  Erbamaiuose,  d.  h.  l,920/o 
„  2009  männliche         „  27  „  >»    1>34  „ 

Die  Gefahr  der  Erbamaurose  dürfte  nach  diesen  unseren  Ergebnissen 
also  auf  beide  Geschlechter  annähernd  in  dei-selben  Weise  vertheilt  sem. 

Schliesslich  hätten  wir  noch  zu  untersuchen,  ob  zwischen  dem  Ge- 
schlecht des  Vererbers  und  des  Erbenden  irgendwelche  Beziehungen  ob- 
walten, ob  etwa  der  Vater  hauptsächlich  auf  die  Söhne,  die  Mutter  auf 
die  Töchter  oder  dgl.  m.  die  Erbamaurose  übertragen.  Ueber  diesen 
immerhin  recht  wichtigen  Punkt  kann  ich  nun  folgende  Aufschlüsse 
geben:  Die  Erbamaurose  hatten 
unter  2009  männlichen  Jugendblinden  12  vom  Vater,  d.  h.  0,60  «/o 
,    1195  weiblichen  „  12    „       »         "    ^'^^  » 

2009  männlichen  „  1 1  von  der  Mutter  „  0,o5„ 

„    1195  weiblichen  „  9    „    „     „      »    ^'  ^  » 

Die  gefundenen  Zahlen  machen  mir  nicht  den  Eindruck,  als  ob 
sie  der  Ausdruck  einer  in  Wirklichkeit  vorhandenen  erheblichen  Mehr- 
belastung eines  Geschlechtes  wären.  Allerdings  belastet  ja  der  Vater 
nach  unseren  Ergebnissen  die  Töchter  etwas  höher,  als  wie  die  Sohne, 
doch  weiss  ich  wirklich  nicht,  ob  der  Unterschied  ein  so  bedeutender 
ist  um  aus  ihm  nun  sofort  eine  thatsächliche  Mehrbelastung  der  Tochter 
durch  den  Vater  folgern  zu  dürfen.  Und  in  noch  höherem  Grad  gilt 
dieser  unser  Zweifel  von  den  Verhältnissen,  welche  w  bezüglich  der 
durch  die  Mutter  übertragenen  Erbamaurose  nachgewiesen  haben.  Hier 
ist  der  Unterschied  zwischen  dem  für  die  Söhne  und  dem  für  die 
Töchter  ermittelten  mütterlichen  Erbantheil  ein  so  geringer,  dass  ich 
ihn  fuglich  doch  nicht  für  den  Repräsentanten  der  typischen  Älehr- 
belastung  des  einen  oder  anderen  Geschlechtes  ansehen  möchte. 


—    21  — 


Gedenken  wollen  wir  hier  noch  der  Beobachtung  von  Carreras- 
Ai'agö nach  welcher  gewisse  Formen  der  Erbamaurose  meist  von  der 
Mutter  auf  die  Tochter,  resp,  vom  Vater  auf  den  Sohn  übertragen 
werden.  Die  Amaurose  befallt  also  vornehmlich  Personen  männlichen 
Geschlechts  in  derselben  Familie.  Besonders  will  Ai^agö  dies  für 
Catai-act  massgebend  ansehen;  hat  der  Vater  Cataract  erworben  oder 
augeboren  überkommen,  so  soll  er  ihn  meist  nur  seinen  Söhnen,  nicht 
den  Töchtern  vererben  und  das  Nämliche  soll  fiir  die  Mutter  gelten. 
Ausnahmen  dieser  Kegel  sind  von  anderen  Autoren  und  auch  von  mir 
wiederholt  beobachtet  worden,  doch  hält  Carreras-Aragö  dafür,  dass 
dies  eben  nur  Ausnahme  wären  und  weitaus  am  häufigsten  eine  Ge- 
schlechtsfolge eingehalten  würde. 

Die  Vererbung  der  verschiedenen  Formen  der  an- 
geborenen Blindheit.  Was  zuvörderst  die  Häufigkeit  anlangt,  mit 
welcher  die  einzelnen  Formen  der  angeborenen  Blindheit  bei  den  50 
Fällen  von  Erbamam-ose,  welche  unser  Material  zählt,  betheiligt  sind, 
so  entfallen  auf: 


,    12  Fälle 

24,00''/o 

Cataracta  congenita  complicata 

•    12  „ 

24,00  „ 

Retinitis  pigmentosa    .    -    .  . 

•    11  „ 

22,00  „ 

Mikl'ophthalmus  

.      6  „ 

12,00  „ 

.      4  „ 

8,00  „ 

•      2  „ 

4,00  „ 

Iridochorioiditis   

•      1  „ 

2,00  „ 

Unbestimmte  Formen  

■      2  „ 

4,00  „ 

50  Fälle  =  100,0070 
Natürlich  veranschaulichen  die  vorstehenden  Zahlen  nicht  die  Ver- 
erbungsfahigkeit  der  betreffenden  Blindheitsformen,  sondern  sie  stellen 
lediglich  nur  dar  die  Häufigkeit,  mit  welcher  die  einzelnen  Formen 
unter  den  50  Fällen  der  Erbamaurose  überhaupt  vertreten  sind.  "Werfen 
wir  die  hochwichtige  Frage  auf:  welche  Ererbungsmöglichkeit  den  ein- 
zelnen Formen  der  congenitalen  Blindheit  zukommen,  so  können  wir  darauf 
nur  in  der  Weise  eine  Antwort  finden,  dass  wir  ermitteln,  wie  oft  unter 
den  in  unserm  Material  vorhandenen  Fällen  von  congenitaler  Amaurose 
die  einzelnen  Formen  durch  Vererbung  bedingt  sind.  Die  folgende 
Zusammenstellung  wird  diese  Verhältnisse  veranschaulichen: 

')  Carreras-Aragö,  De  las  Cataratas  h  eieditarias  y  de  sä 
trasmision  p ri n cip al m en t e  h  los  individuos  de  sexo  igual  al  del 
paciente  originario.  La  Revista  de  cieotias  mddicas  de  Barcelona  1884. 
August. 


—    22  — 


Von  nachstehenden  Fällen  von  Amaurosis  congenita  sind  unter 
4  Fällen,  bedingt  durch  Myopie,  ererbt  3  Fälle  =  7  5,00"/ » 

73    ^,  „       „    Retinitis  pigmentosa         „11    „  =15,07,, 

113    „  „       „    Atrophia  nervi  optici       „  12    „  =10,62,, 

118    „  „       „    Cataracta  corapl.  cong.    „  12    „  =10,10,, 

81    „  „       „    Mikrophthalmus  „    6    „    =  7,41  „ 

38    „  ,,       „    Buphthalmus  „    2    „    =  5,26  „ 

35  „    Erkrank.  d.XJvealsystems  „    1    „    =  2,86,, 

4.«  „    unbestimmte  Formen       „    2    „    =  4,65  „ 

Man  sieht,  die  Werthskala,  welche  wir  in  dem  Vorstehenden  für 
die  Vererbungsfähigkeit  einzelner  Formen  der  congenitalen  Amaurose 
versucht  haben  aufzustellen,  wird  durch  die  khnischen  Erfahrungen 
in  der  besten  Weise  gestützt.  Für  die  schweren  Formen  der  Myopie 
fängt  man  in  den  letzten  Jahren  ja  doch  auch  an,  die  Heredität  in 
der  ausgiebigsten  Weise  heranzuziehen  und  in  der  Aetiologie  der  Retmitis 
pigmentosa  spielte  die  Erbblindheit  ja  stets  eine  hervorragende  Rolle.') 
Die  Vererbungsfähigkeit  der  Sehnervenerkrankimgen  ist  durch  eine  Reihe 
sicherer  Beobachtungen  als  keineswegs  selten  erkannt  worden  ^)  und  für 
die  Cataracta  ist  die  Heredität  eine  schon  in  der  ältesten  Literatur 
wiederholt  betonte  und  lange  gekannte  Eigenthümlichkeit.  3) 

Die  vorliegende  Literatur  ist  überreich  an  Mittheilungen,  welche 
die  hervorragende  Vererbungsfähigkeit  der  gerade  in  unserer  Zusammen- 
stellung die  Führung  habenden  Blindheitsformen  beweisen. 

Es  bliebe  nunmehr  noch  zu  untersuchen,  ob  die  Fälle  von  Erb- 
Amaurose,  welche  unser  Material  zählt,  in  der  gleichen  Form  vom 
Erzeuger  auf  die  Nachkommenschaft  übertragen  worden  seien,  resp. 
wie  oft  dies  der  Fall  gewesen  sei  und  wie  oft  nicht.  Leider  bin  ich 
aber  nicht  im  Stande,  diese  wichtigen  Verhältnisse  zahlengemäss  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Mein  Material  reicht  hiezu  eben  mcht  aus, 
denn  nur  in  den  selteneren  Fällen  konnten  auch  die  Eltern  zui-  Unter- 


>)  Wider,  Ueber  die  Aetiologie  der  Retinitis  pigmentosa  M.t- 
theilungen  aus  der  ophthalmiatrischeu  Klinik  in  Tübingen.  Bd.  II,  Heft  2.  lubingen 
1885 -bringt  eine  vortreffliche  Zusammenstellung  der  über  Heredität  der  Retinitis 
niementosa  veröffentlichten  Beobachtungen. 

n  Leher,  Die  Krankheiten  der  Netzhaut  und  des  Sehnerven. 
Gräfe  nnA  Sämisch,  Handbuch  der  gesammten  Augenheilkunde.  Band  V,  iheil  V. 

"^^^1  Ze^^  Bin  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Erblichkeit  des 
grauen  Staares.  Mittheilungen  aus  der  ophthalmiatrischeu  Klimk  in  Tübingen 
Band  II.  Heft  1.  Tübingen  1884.  p.  120. 


—    23  — 


suchimg  herangezogen  werden,  und  Angaben,  welche  nicht  auf  fach- 
männische Untersuchung  der  Eltern  gegründet  sind,  erscheinen  mir  nicht 
flu-  genügend  verlässlich  und  enthalte  ich  mich  der  Wiedergabe  derselben 
deshilb  grundsätzlich.  Im  Allgemeinen  wissen  wir  ja,  dass  ein  Wechsel 
in  der  Form  der  vererbten  Missbildung  beim  Menschen  keineswegs  zu  den 
Seltenheiten  gehört,  im  GegentheU  sogar  recht  oft  vorzukommen  scheint; 
so  kennen  Avir  z.  B.  Fälle,  in  denen  ein  mit  Atrophia  nervi  optici  be- 
hafteter Vater  Kinder  mit  Retinitis  pigmentosa  zeugte  i),  oder  wo  Eltern 
mit  Retinitis  pigmentosa  ihre  Kinder  mit  Hemeralopie  ^)  oder  Daltonis- 
mus3)  belasteten  u.  dgl.  m.    Unser  Material  gedenkt  eines  Falles,  in 
welchem  eine  mit  Myopia  excessiva  und  Cataracta  partialis  behaftete 
Frau  drei  Kinder  mit  doppelseitigem  Mikrophthalmus  zeugte.  Doch 
wollen  wir  derartige  Beobachtungen  nicht  häufen,  die  angeführten  ge- 
nügen, um  die  Thatsache  sicherzustellen,  dass  nicht  sowohl  die  Form 
der  Amaiu-ose,  als  vielmehr  die  Anlage  zu  einer  solchen  erblich  über- 
ü-agen  wird  und  zwar  kann  diese  Anlage,   wie  die  sogleich  zu  er- 
wähnenden experimentellen  Arbeiten  dies  darthun,  sowohl  durch  erbliche 
als  durch  später  acquirirte  Augenmissbildungen  vererbt  werden.  Deutsch- 
mann %  Snmelsohn^),  Brown  Sequard'^)  und  Dupuy'')  haben  nämlich 
von  Kaninchen  und  Meerschweinchen,  denen  sie  künstlich  Augenver- 
letzimgen  beibrachten,  mit  erblichen  Augenmissbüdungen  belastete  Nach- 
kommenschaft erzielt  und  zwar  ist  diese  Belastung  mit  einer  merk- 
wiu-digen  Sicherheit  bei  den  meisten  Untersuchungsthieren  zur  Beob- 
achtung gelangt,  mit  einer  viel  grösseren  Promptheit,  als  wir  solche 
beim   Menschen  glücklicherweise   zu   beobachten   Gelegenheit  haben. 

')  Schmidt  -  Bimpler ,  Zur  Heredität  der  Retinitis  pigmentosa. 
Klinische  Monatsbl »Itter  für  Augenheilkunde.  XII.  Jahrgang.  Stuttgart  1874.  p.  29. 

2)  Mooren,  Fünf  Lustren  ophthalmologischer  Wirksamkeit. 
Wiesbaden  1882.  p.  220. 

')  Magnus,  DieBlindheit,  ihre  Entstehung  und  ihre  Verhütung. 

Breslau  1883.    p.  141. 

♦)  Deutschmann,  Ueber  Vererbung  von  erworbenen  Augenaffek- 
tionen  bei  Kaninchen.  Klinische  Monatsblätter  für  Augenheilkunde.  XVIII. 
Jahrgang.    Stuttgart  1880.  p.  507. 

')  Samelsohn,  Zur  Genese  der  angeborenen  Missbildungen 
specicU  des  Mikrophthalmus  congenituS.  Centraiblatt  für  die  med. 
Wissenschaften.    1880.    No.  17. 

')  Urown-Sequard,  Tvansmission  par  her^dite  de  certains  alte- 
rat ions  des  yeux  chea  les  cobayes.    Gaz.  m^d.  de  Paris  1880.    p.  638. 

')  Dupuy,  Note  on  iuherited  effets  of  lesions  of  the  sym- 
pathetic  nervo  and  corpora  restiformia  on  the  eye.  Report  of 
the  fith  inter-nat.  ophth.  Congress.    p.  252. 


—    24  — 


Halten  wir  die  Pünktlichlceit ,  mit  welcher  Augeuverletzungeo  beim 
Kaninchen  und  Meerschweinchen  zum  hereditären  Eigeuthum  mehrerer 
Generationen  werden  —  Dupuy  und  Brown-Sdquard  konnten  durch 
5  Generationen  die  experimentellen  Augenverletzungen  als  hereditäre 
Belastung  nachweisen  —  mit  der  relativen  Seltenheit  zusammen,  mit 
welcher  Verletzungen  des  Auges  beim  Menschen  sich  durch  Vererbung 
fortpflanzen ,  so  kann  man  auf  die  Vermuthung  kommen ,  dass  der 
Zwang  der  Vererbung  bei  den  niedriger  organisirten  Thiei'en  denn  doch 
ein  energischer  sein  dürfte,  als  bei  dem  höchst  organisirten  Wesen,  dem 
Menschen.  Es  scheint  so,  als  ob  beim  Menschen  die  Ererbung  einer 
in  utero  bereits  vollendeten  Amaiu'ose  erheblich  zurückträte  zu  Gunsten 
der  Ererbung  einer  Anlage,  welche  zu  ihrer  Entwickelung  erst  eines 
geeigneten  Entfaltungsreizes  während  des  extrauterinen  Lebens  bedarf. 
Denn  würde  das  Menschengeschlecht  mit  solcher  Pünktlichkeit  auf  jede 
Erwerbung  einer  schweren  Augenverletzung  mit  Erbamaurose  antworten, 
wie  dies  die  Experimentalpathologie  für  Kaninchen  und  Meerschwein- 
chen lehrt,  so  würde  bei  den  vielen  Augen,  welche  alljährlich  durch 
Verletzungen  zu  Grunde  gehen,  die  Erbamaurose  gar  bald  in  bedeutenden 
Dimensionen  auftreten  müssen  und  die  Zahl  der  ererbten  Blindheits- 
formen müsste  schon  längst  eine  viel  bedeutendere  sein,  als  sie  es  in 
der  That  ist.  Natürlich  will  ich  aber  die  soeben  geäusserte  Ansicht 
keineswegs  in  die  anmassende  Form  eines  feststehenden  Gesetzes  kleiden 
vielmehr  soll  dieselbe  eben  nichts  weiter  sein  als  eine  Vermuthung. 

Es  würde  nun  noch  erübrigen,  einen  flüchtigen  Blick  auf  die 
Steigerung  der  Vererbung  zu  werfen.  Unter  Steigeruug  der 
Vererbung  verstehen  wir  jene  Erscheinung,  bei  welcher  die  hereditäre 
Belastimg  sich  im  Auftreten  verschiedener  Formen  der  angeborenen 
Missbildungen  in  einer  Familie  äussert.  Und  zwar  sind  hier  zwei  Er- 
scheinungsformen möglich,  indem  nämlich  einmal  ein  Familienglied  mit 
verschiedenen  Missbildungen  hereditär  belastet  sein  kann  oder  indem 
mehi-ere  Glieder  der  nämlichen  Familie  angeborene  Missbildungen  von 
den  Eltern  empfangen  haben.  Ueber  diese  Verhältnisse  giebt  unser 
Material  folgende  Aufschlüsse: 

Mit  congenitaler  Amaurose  Avaren  behaftet  unter 
50  Fällen  26  mal  nur  1  Familienmitglied  =  52"/o 

50    „      21    „         2  Familienmitglieder  =  42  „ 

50    „        3    „         1  Familienmitgl.  mit  mehr.  Missbildungen  =  6„ 

Es  ist  also  hiernach  die  Gefahr,  dass  mehrere  Mitglieder  einer 
Familie  mit  congenitalen  Missbildungen  heriditär  bedacht  sein  können, 
eine  recht  brennende,  insofern,  wie  dies  unsere  Zahlen  zeigen,  fast  in 


—    25  — 


der  Hälfte  aller  Fälle  vou  congenitaler  Amaui'ose  eine  Steigerung  der 
Vererbung  nachweisbar  ist. 

Was  nun  zunächst  die  3  Fälle  anlangt,  iu  denen  1  Mitglied  einer 
Familie  verschiedene  congenitale  Missbildungen  aufzuweisen  hat,  so 
handelt  es  sich  in  einem  Fall  um  eine  irrsinnige  Mutter,  die  ein  mit 
Atrophia  nervi  optici  congenita  und  Extremitätenlähraung  behaftetes 
Kind  geboren  hatte.  Im  zweiten  Fall  hatte  eine  halbbliude  Mutter 
eine  mit  Atrophia  optici  congenita  und  Epilepsie  behaftete  Tochter  und 
im  dritten  Fall  endlich  hatte  ein  tauber  Vater  eine  taube  und  zugleich 
in  Folge  von  Ketinitis  pigmentosa  congenita  blinde  Tochter. 

Von  den  21  Fällen,  in  denen  mehrere  Kinder  einer  Familie  here- 
ditär belastet  sind,  wäre  zu  erwähnen,  dass  die  erbliche  Amaurose  nicht 
bei  den  Kindern  der  nämlichen  Familie  immer  dieselbe  Form  zu  zeigen 
braucht,  sondern  dass  die  verschiedensten  Formen  aus  einer  gemeinsamen 
erblichen  Belastimg  entstehen  können ;  so  werden  z.  B.  Myopia  excessiva 
und  Cataracta  congenita  complicata,  oder  Atrophia  nervi  optici  congenita  und 
Cataracta  complicata,  oder  Hemeralopie  und  Retinitis  pigmentosa  u.  dgl.  m. 
als  verschiedene  Ausdrücke  eines  gemeinsamen  erblichen  Momentes  be- 
obachtet. Auch  können  Missbildungen  der  verschiedensten  Körper- 
organe bei  verschiedenen  Gliedern  einer  Familie  in  Folge  erblicher  Be- 
lastung durch  die  Eltern  iu  Erscheinung  treten.  So  berichtet  unser 
Material  z.  B.  von  Fällen,  in  denen  ein  Bruder  mit  Cataracta  congenita, 
eine  Schwester  mit  Taubstummheit  behaftet  waren  und  der  Vater  an  Amau- 
rosis congenita  (Form  nicht  näher  bestimmt)  gelitten  hatte.  Ein  anderes 
Beispiel  meines  Materials  kennzeichnet  das  Variireu  eines  hereditären 
Keimes  bei  verschiedeneu  Familien  gliedern  iu  ganz  besonders  treffender 
Weise.  Ein  geisteskranker  Vater  zeugt  6  Kinder,  von  denen  5  taub- 
stumm und  1  mit  Retinitis  pigmentosa  congenita  behaftet  ist.  Der 
Einfluss  der  Vererbung  zeigt  sich  in  diesem  Fall  noch  besonders  deut- 
lich durcb  den  Umstand,  dass  die  Mutter  dieser  6  hereditär  behafteten 
Kinder  mit  einem  anderen  gesunden  Mann  in  anderer  Ehe  lauter  ge- 
sunde Kinder  gezeugt  hat. 

§  6.  Entstehung  der  angeborenen  Blindheit  durch  Blutsverwandtschaft 

der  Eltern. 

Unter  den  551  Fällen  congenitaler  Amaurose,  welche  unser  Material 
zählt,  finden  sich  43,  in  denen  Blutsverwandtschaft  der  Eltern  nachweis- 
bar ist,  d.  h.  also  in  7,80 "/o  der  gesammten  angeborenen  Blindheit. 
Unter  diesen  43  Fällen  waren  die  Eltern  24  mal  Geschwisterkinder; 
7  mal  waren  die  Eltern  im  zweiten  oder  dritten  Grade  mit  einander 


26  — 


verwandt  und  12  mal  konnte  die  Art  der  Verwandtschaft  nicht  in 
hinreichender  Weise  bestimmt  werden. 

Ueber  die  einzelnen  Formen  der  congenitalen  Amaurose  vertheilen 
sich  diese  42  Fälle  in  folgender  Weise: 

Aus  blutsverwandten  Ehen  stammend  waren  unter 
73  Fällen  von  Retinitis  pigmentosa  12  =  16,44"/o 

14      „       „    Retinalatrophie  2  =  14,29  „ 

113  „    Atrophia  nervi  optici  H  =    9,73  „ 

81      „       „    Mikrophthalmus  ö  =    '^'^^  " 

118     „       „    Cataracta  congenita  complicata     7  =    5,93  „ 
35  „    Coug.  Uveal-Erkrankungen  3  =    8,57  „ 

43  nicht  getrennten  Formen  2  =    4,65  „ 

Die  Erfahrungen  der  Praxis  stimmen  mit  den  vorstehenden  Zahlen 
insofern  recht  gut  überein,  als  eben  die  Retinitis  pigmentosa  diejenige 
Form  der  angeborenen  Blindheit  ist,  bei  welcher  auch  nach  den  prak- 
tischen Beobachtungen  sich  besonders  häufig  Beziehungen  zur  consan- 
guinen  Ehe  nachweisen  lassen.    So  spärlich  im  Allgemeinen  auch  die 
Nachrichten  fliessen  über  das  Abhängigkeitsverhältniss,  in  welchem  die 
übrigen  Formen  der  angeborenen  Blindheit  zu  der  Verwandten  -  Ehe 
stehen,  so  reichhaltig  ist  die  Literatur  über  die  Retinitis  pigmentosa 
und  deren  innigen  Beziehungen  zur  consanguinen  Ehe.  Seit  Liebreich  ) 
im  Juli  1861  seine  Beobachtungen  über  die  Entstehung  der  Retmiüs 
pigmentosa  durch  geschlechtliche  Vereinigung  blutsverwandter  Indmduen 
zuerst  mitgetheilt  hatte,  haben  zahlreiche  Forscher  es  sich  zur  Aufgabe 
gemacht,  die  ätiologischen  Beziehungen  zwischen  Retinitis  Pigmentosa 
und  consanguiner  Ehe  klarzulegen.    In  allerneuester  Zeit  h^t  Wider  ) 
die  Frage  wieder  aufgenommen  und  in  höchst  ausführlicher  A\eise  be- 
handelt. Von  41  in  der  Tübinger  Klinik  zur  Beobachtung  gekommenen 
Fällen  von  Retinitis  pigmentosa  entfielen  14  auf  die  Verwandten-Ehe, 
d  h  also  34,l''/o ;  diesen  Befund  vergleicht  Wider  nun  mit  den  Er- 
gebnissen, welche  er  aus  einer  Zusammenstelkmg  der  in  der  Literatur 
zerstreuten  Angaben  gewonnen  hat.     Wider  hat  aus  den  statistischen 
Angaben,  welche  er  bei  17  Autoren  gefunden,  einen  durchschmttlichen 
Prozentsatz  von  31,8''/o  berechnet;  die  meisten  Forscher  geben  25  bis 
30»/o  an;  geringere  und  höhere  Angaben,  wie  l3,6«/o  {Webster)  und 

^)  Liebreich,  Abkunft   aus  Ehen  unter  Blutsverwandten  als 
Grund  von  Retinitis  pigmentosa.    Deutsche  Klinik  Nv.  6.  1861 

^)  Wider,  Ueber  die  Aetiologie  der  Retinitis  pigmentosa^  Mit 
theilungen  aus  der  ophthalmiatrischen  Klinik  in  Tübingen.    Band  II.  Heft  2. 
Tübingen  1885. 


—    27  — 


60°/o  {Hocquard)  gehören  zu  den  Ausnahmen.  Wh-  dürften  desshalb 
wohl  auch  nicht  fehlgreifen,  wenn  wir  gegen  30 "/o  der  Retinitis  pig- 
mentosa auf  das  Conto  der  Verwandten-Ehe  setzen. 

Liefern  die  mitgetheilten  Zahlen  nun  den  untrüglichen,  statistisch 
nicht  anzweifelbaren  Beweis  für  eine  in  der  Verwandten  -  Ehe  liegende 
spezifische  Schädlichkeit,  beweisen  sie  wirklich,  dass  durch  die  geschlecht- 
liche Vereinigung  verwandten  Blutes  ein  die  Nachkommenschaft  be- 
lastendes pathogenes  Moment  geschaffen  wird?  Es  hat  nicht  an  Autoren 
und  zwar  den  namhaftesten  gefehlt,  welche,  gestützt  auf  Beobachtungen,, 
wie  die  eben  mitgetheilten,  aus  der  Vermischung  verwandten  Blutes  den 
Grund  für  degenerative  Störungen  der  Descendenz  mit  vollster  Sicher- 
heit abgeleitet  haben.  Wenn  nun  auch  so  anerkannte  Forscher,  wie 
Mooren  u.  A.,  für  eme  solche  Behauptung  mit  vollster  Ueberzeugung 
einzutreten  kein  Bedenken  getragen  haben,  so  kann  ich  doch  nicht 
umhin,  über  die  spezifische  Schädlichkeit  der  Verwandten -Ehe  meine 
erheblichsten  Zweifel  zu  äussern.  Die  ausgezeichneten  Beobachtungen, 
wie  sie  Mooren,  Leber,  Sämisch,  in  jüngster  Zeit  Wider  u.  A.  veröffent- 
licht haben,  vermögen,  nach  imserer  Meinung  wenigstens,  nicht  mehr 
zu  beweisen,  als  dass  dm-ch  Verwandten -Ehen  unter  Umständen  für  die 
Nachkommenschaft  recht  bedenkliche  Konsequenzen  geschaffen  werden. 
Diese  Thatsache  erkenne  ich  voll  und  ganz  an;  auch  für  mich  kann 
kein  Zweifel  mehr  darüber  bestehen,  dass  die  eheliche  Vereinigung^ 
Blutsverwandter  unter  Umständen  das  leibliche  Wohl  der  Nachkommen- 
schaft in  recht  erheblicher  Weise  zu  schädigen  im  Stande  sei.  Kon- 
genitale Missbildungen  im  Allgemeinen  und  Amaurose  im  Besonderen 
werden  an  Personen,  welche  aus  Verwandten-Ehen  stammen,  nicht  selten 
beobachtet;  diese  Thatsache  erkenne  ich  gern  und  willig  an  und  ich 
glaube  sogar,  es  hiesse  sich  absichtlich  verblenden,  wollte  man  diese 
Erscheinung  in  Abrede  stellen.  Allein  ich  vermag  nicht  einzusehen, 
warum  man  mit  Anerkennung  dieser  Thatsache  gezwungen  sein  soll, 
für  die  Erklärung  der  fi-aglichen  Erscheinung  ausschliesslich  nur  die 
geschlechtliche  Vereinigung  verwandten  Blutes  herbeizuziehen.  Will 
man  dies  thun,  will  man  die  Vermischung  verwandten  Blutes  ganz, 
allein  nur  als  den  pathogenen  Faktor  ansehen,  so  muss  man  zuvörderst 
mit  vollster  Sicherheit  jede  andere  Erklärungsmöglichkeit  für  die  Schäd- 
lichkeiten der  konsanguinen  Ehe  ausschliessen ;  man  muss  den  über- 
zeugenden Beweis  beibringen,  dass  kein  anderes  Schädlichkeitsmoment 
in  der  Verwandten-Ehe  vorhanden  sein  kann,  als  gerade  die  Vermisch- 
img des  verwandten  Blutes.  Sind  nun  aber  die  Vertheidiger  der  spezi- 
fischen Schädlichkeit  der  Verwandten-Ehe  diesem  Postulat  nachgekommen  ? 


—    28  — 


Haben  sie  wirklich  irgend  einen  Beweis  dafür  beigebracht,  dass  ledig- 
lich nui-  die  geschlechtliche  Vereinigung  verwandten  Blutes  jene  der 
Verwandten -Ehe  eigenthümlichen  Schädlichkeiten  schafft?    Ja  haben 
sie  überhaupt  einen  ernstlichen  Versuch  gemacht,  einen  solchen  Beweis 
anzutreten  ?    Soweit  meine  Kenntniss  der  Literatur  reicht ,  haben  sie 
das  nicht  gethan;  ihre  Beweisführung  beschränkte  sich  durchweg  nur 
darauf,  für  die  Schädlichkeit  der  Verwandten  -  Ehe  einen  numerischen 
Ausdruck  aus  ihrem  Beobachtungsmaterial  zu  gewinnen  imd  hatten  sie 
einen  solchen  gefunden,  nun  alsbald  zu  versichern,  mit  diesem  Ergeb- 
niss  sei  der  Nachweis  erbracht,  dass  aus  der  Vereinigung  verwandten 
Blutes  ein  pathogener  Faktor  für  die  Nachkommenschaft  erstehe.  Mau 
vergleiche  die  Arbeiten  von  Devay ,  Bewis,  Boudin  u.  A.')  und  man 
wird  sich  von  der  Wahrheit  des  soeben  Gesagten  mühelos  überzeugen. 
Einem  Jeden,  der  es  mit  den  Gesetzen  der  Logik  nicht  gar  zu  leicht 
nimmt,  muss  es  einleuchten,  dass  die  alleinige  Ermittelung  des  nume- 
rischen Verhältnisses  der    aus   der  Verwandten  -  Ehe  hervorgehenden 
Schädlichkeiten  noch  durchaus  kein  erklärendes  Licht  werfen  kann  auf 
die  ursächlichen  Momente  dieser  Schädlichkeiten  selbst.  Zu  einer  wu-k- 
lichen  Erklärung  der  durch  die  Verwandten-Ehe  bedingten  Schädlich- 
keiten gehört  denn  doch  noch  mehr  als  das  einfache  Konstatiren  der 
letzteren.  Ganz  unerlässlich  für  jedes  Verständniss  der  in  Rede  stehen- 
den Verhältnisse  ist  in  erster  Linie  ein  genauer  Nachweis  über  die 
Gesundheitszustände  der  die  Ehe  bildenden  Verwandten,  sowie  eine 
Kenntniss  der  gleichen  Verhältnisse  bei  den  Eltern  derselben.  Man 
muss  auf  das  Genaueste  darüber  unterrichtet  sein,  ob  und  welche  krank- 
hafte Anlagen  in  den  betreffenden  Familien  vorhanden  sind,  denn  nur 
im  Besitze  dieser  Kenntnisse  kann  die  Möglichkeit  einer  erblichen  Ent- 
stehung der  für  die  Verwandten  -  Ehe  ermittelten  Schädlichkeiten  aus- 
geschlossen werden.    Aber  gerade  dieses  ei-ste  und  wichtigste  Erforder- 
niss  einer  rationellen  Untersuchung  der  Verwandten -Ehe  vermisse  ich 
bis  jetzt  so  gut  wie  ganz.  So  lange  man  aber  nicht  mit  vollster  Sicher- 
heit beweisen  kann,  dass  die  der  Verwandten-Ehe  entsprossenden  Schäd- 
lichkeiten nicht  auf  dem  Wege  der  Vererbung  entstanden  sind,  so  lange 
hat  man  auch  nicht  das  Recht,  ja  nicht  einmal  einen  Schein  von  Recht 
füi-  die  Behauptung,  dass  die  geschlechtliche  Vermischung  verwandten 
Blutes  an  und  für  sich  das  pathogene  Moment  für  die  Nachkommen- 
schaft darstelle.    Und  diese  Ansicht  theile  ich  mit  einer  grossen  An- 
zahl von  gewiegten,  einsichtsvollen  Forschern. 

>)  Man  vergleiche  den  Artikel  über  B  lutsver  wandtsch  af  t  von  Olärndorff 
in  der  Real-Encyklopädie  der  gesanimten  Heilkunde.    Band  II.    p.  353. 


—    29  - 


Aber  selbst  wenn  wir  unsere  medicinischen  Bedenken  einmal  fahren 
lassen  und  von  der  Möglichkeit  der  Vererbung  ganz  absehen  wollten, 
so  könnten  wir  uns  doch  der  Einsicht  nicht  verschliessen ,  dass  alle 
Untei-suchungen,  welche  man  für  die  specifische  Schädlichkeit  der  Ver- 
wandten-Ehe ausgeführt  hat,  vom  statistischen  Standpunkt  aus  die 
höchsten  Bedenken  en-egen  müssen.  Wide?'  hat  vollkommen  Recht, 
wenn  er  sagt,  als  entschieden  kann  die  specifische  Schädlichkeit  der 
Verwandten-Ehe  erst  dann  gelten :  „wenn  zuverlässige  Angaben  über  das 
Häufigkeitsverhältniss  der  Ehen  Blutsverwandter  zu  denen  nicht  Bluts- 
verwandter zu  Gebote  ständen",  und  wenn  —  das  möchte  ich  diesen 
"Worten  Wider' s  noch  beifügen  —  die  Gesundheit  der  aus  beiden  hervor- 
gegangenen Kinder  auf  breitester  statistischer  Basis  untersucht  worden 
ist.  Die  Schwäche  der  statistischen  Beweisführung  hat  Fuchs  ^)  sehr 
wohl  gefiihlt  und  müssen  wir  es  demselben  hoch  anrechnen,  dass  er 
wenigstens  den  Versuch  gemacht  hat,  den  statistischen  Boden,  auf 
welchem  die  Lehre  von  der  specifischen  Schädlichkeit  der  Verwandten- 
Ehe  ruht,  etwas  mehr  zu  festigen.  Leider  ist  nur  dieser  Versuch  voll- 
ständig misslungen  und  wenn  Fuchs  selbst  die  Unzulänglichkeit  seiner 
Statistik  bedauert,  so  können  wir  ihn  in  diesem  seinem  Beginnen  nur 
vollständig  unterstützen,  denn  die  von  ihm  versuchte  Beweisführung 
entbehrt  wirklich  jeder  Verlässlichkeit  vollkommen. 

Während  das,  was  ich  im  Vorstehenden  gegen  die  specifische  Schäd- 
lichkeit der  Verwandten-Ehe  vom  medicinischen  und  statistischen  Stand- 
punkt aus  geltend  gemacht  habe,  eigentlich  nur  negativen  Fehlern, 
Unterlassungssünden  der  Beweisführung  gegolten  hat,  vermag  ich  nun- 
mehr auch  noch  eine  positive  Thatsache  beizubringen ,  welche  auf  die 
Ansicht,  dass  lediglich  nur  aus  der  geschlechtlichen  Vereinigung  ver- 
wandten Blutes  schon  pathogene  Factoren  erwachsen  könnten,  ein  recht 
eigenthümliches  Licht  zu  werfen  wohl  geeignet  sein  dürfte.  Unser 
Material  lehrt  nämlich,  dass  Ehen  unter  Nicht-Blutsverwandten  die 
Nachkommenschaft  in  einer  ähnliehen  Weise  gefährden,  wie  dies  die 
Verwandten-Ehe  auch  thut.  Unter  den  551  Fällen  congenitaler  Amaurose, 
welche  mein  Material  zählt,  finden  sich  nämlich  94,  d.  h.  17,06*'/o, 
in  denen  mehrere  Kinder  einer  Familie  mit  angeborener  Blindheit  be- 
haftet sind,  ohne  dass  bei  den  Eltern  irgendein  Verwandtschaftsgrad 
oder  ein  klar  zu  Tage  liegendes  erbliches  Moment  nachweisbar  wäre. 
Für  die  Gefahr  der  Verwandten-Ehe  ergab  unser  Material  einen  Procent- 

')  Fuchs,  Uie  Ursachen  und  di  e  V  evh  üt  u  ng  d  er  B 1  i  nd  h  e  i  t.  Wies- 
baden 1885.  p.  15. 


—    30  — 


satz  von  l,SO^Io.    Ich  weiss  nun  sehr  wohl,  dass  man  den  Procentsatz 
von  7,80 ^/o,  den  die  konsanguine  Ehe  und  17,06,  welchen  die  colla- 
terale  Erblichkeit  uns  ergeben  haben,  nicht  ohne  weitres  neben  einander 
stellen,  resp.  mit  einander  vergleichen  darf.    Zu  einem  solchen  Ver- 
gleich dürfte  man  nur  dann  schreiten,  wenn  man  die  Häufigkeit  der 
Verwandten-  und  der  Nichtverwandten-Ehe  genau  wüsste;   denn  die 
Verwandten-Ehe  kommt  ja  doch  um  so  viel  seltener  als  wie  die  Ehe 
unter  Nichtverwandten  vor,  dass  möglicherweise  die  7,63  °/o,  welche  die 
Verwandten-Ehe  in  unserem  Material  an  Schädlichkeitsmomenten  re- 
präsentirt,  vertheilt  man  sie  auf  die  einzelnen  Ehen,  einen  viel  grösseren 
Schaden  darstellen  würden,  als  man  dies  nach  der  Geringfügigkeit  der 
Zahl  vermutheh  sollte.  Ueber  das  quantitative  Verhältniss,  in  welchem 
der  Schaden  der  Verwandten-  zur  Nichtverwandten-Ehe  steht,  vermögen 
wir  uns,  so  lange  sichere  statistische  Mittheilungen  über  die  Zahl  der 
Verwandten-Ehe  in  geringem  Umfang  noch  ausstehen,  zwar  nicht  zu 
unterrichten,  das  gebe  ich  gern  zu;  aber  diese  Thatsache  ändert  daran 
nichts,  dass  die  Nichtverwandten-Ehe  unter  Umständen  genau  dieselben 
Schädlichkeitsmomente  zeitigt  wie  die  konsanguine  Ehe.  Uebrigens  haben 
andere  Autoren  Beobachtungen  gemacht,  welche  den  unserigen  auffallend 
gleichen ;  so  sagt  z.  B.  Leber ,  dass  Häufung  von  Fällen  der  Retinitis 
pigmentosa  fast  ebenso  oft  in  Familien,  vorkommen,  deren  Eltern  nicht  ver- 
wandt seien,  als  wie  in  konsanguinen  Ehen.  Auch  Dumont  scheint  unter 
seinem  Material  ähnliche  Erfahrungen  gemacht  zu  haben.   Und  schliesslich 
äussert  sich  eine  der  bedeutendsten  Autoritäten  auf  dem  Gebiet  der 
Entwickelungsgeschichte  des  Auges,  Manz  ')  über  diesen  Punkt:  „Häufiger 
noch  als  die  Wiederholung  einer  Bildungsanomalie  im  descendirenden 
Verwandtschaftsverhältniss  ist  das  Vorkommen  derselben  bei  mehreren 
Gliedern   derselben  Generation."    Diese  nicht  bestreitbare  Erfahrung 
lässt  die  Ansicht,  dass  die  Gefaht  der  Verwandten-Ehe  lediglich  durch 
die  Vermischung  des  verwandten  Blutes  bedingt  werde,    aber  denn 
doch  recht  fraglich  erscheinen.    Erzeugt  die  Konsanguinität  der  Eltern 
ganz  allein  ein  charakteristisches  Schädlichkeitsmoment,  warum,  so  frage 
ich,  kommt  dann  dieses  selbe  Schädlichkeitsmoment  auch  bei  den  Nach- 
kommen nicht  verwandter  Eltern  zur  Beobachtung?   Erzeugte  die  ge- 
schlechtliche Vermischung  verwandten  Blutes  allein  schon  einen  pathogenen 
Faktor,  wie  wäre  es  dann  möglich,   dass  genau  dieselbe  Erscheinung 
auch  einträte  bei  der  Vermischung  fremden,  nicht  verwandten  Blutes? 

Manz,  Die  Missbildungen  des  menschlichen  Auges.  Gräfe  und 
Sämisch,  Handbuch  der  gesammten  Augenheilkunde.  Band  II.  Theil  2.  Leipzig 
1876.    p.  62.  . 


9 


—    31  — 


Man  sieht  also,  durch  eine  besondere  Stärke  der  logischen  Schluss- 
folgeruug  können  sich  Diejenigen  wohl  kaum  auszeichnen,  welche  gegen- 
über den  soeben  angeführten  Thatsachen  die  Behauptung  verfechten, 
dass  einzig  und  allein  die  Vereiniguug  des  verwandten  Blutes  den 
Schaden  der  Verwandten-Ehe  stifte.  Ich  nehme  deshalb  auch  keinen 
Anstand,  die  specifische  Schädlichkeit  der  Verwandten-Ehe  vollständig 
zu  leugnen.  Doch  ist  damit,  und  darauf  bitte  ich  wohl  zu  achten, 
noch  keineswegs  die  Schädlichkeit  der  Verwandten-Ehe  selbst  in  Ab- 
rede gestellt.  Ich  bin  vielmehr  der  festen  Ueberzeugung  —  und  das  muss 
ich  nach  den  Ergebnissen  meines  Materials  nun  einmal  sein  — ,  dass 
die  Verwandten-Ehe  unter  Umständen  für  die  Nachkommenschaft  ver- 
derblich wirken  ,  Häufung  von  kongenitaler  Amaurose  unter  derselben 
erzeugen  kann,  aber  ich  bestreite,  dass  diese  Erscheinung  irgend  etwas 
mit  der  Vermischung  des  verwandten  Blutes  zu  thun  habe.  Der  Grund 
für  jene  Schädlichkeit  ist  nicht  in  der  Konsanguinität,  sondern  in  einem 
ganz  anderen  Faktor  zu  suchen  und  zwar  in  dem  nämlichen  Faktor, 
welcher  die  Häufung  der  kongenitalen  Amaurose  auch  in  der  nicht 
konsanguinen  Ehe  so  oft  verursacht.  Als  diesen  Grund  sehe  ich  die 
Vererbung  krankhafter  Anlagen  von  den  Eltern,  resp.  von  den  Vor- 
eltern auf  die  Nachkommenschaft  an.^)  AVenn  zwei  mit  einander  ver- 
wandte Individuen  von  ihren  gemeinsamen  Voreltern  irgend  eine  krank- 
hafte Anlage  überkommen  haben ,  so  wird  durch  ihre  eheliche  Ver- 
einigung diese  erbliche  Belastung,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf, 
potenzirt  und  als  unmittelbare  Folge  dieser  Potenzirung  tritt  dann  bei 
den  Nachkommen  die  Häufung  kongenitaler  Missbildungen  in  Erscheinung. 
Genau  das  Nämliche  ist  aber  auch  der  Fall,  wenn  zwei  einander  fremde 
Personen,  die  zufällig  von  ihren  Erzeugern  her  mit  irgend  einem  krank- 
haften Keim  belastet  sind,  einander  heirathen ;  auch  bei  ihnen  tritt  die 
Potenzirung  dieser  beiderseitigen  Belastung  an  den  Nachkommen  in  Er- 
scheinung. Als  Belastungskeime  sowohl  für  die  kongenitale  Amaurose 
im  Besonderen,  wie  für  die  angeborenen  Missbildungen  im  Allgemeinen 
können,  wie  wir  dies  im  vorigen  Paragraphen  bereits  erfahren  haben, 
die  verschiedenartigsten  Erkrankungen  der  Ehegatten,  resp.  der  Eltern 
derselben  funktioniren ;  so  können  Skrofulöse  und  Tuberkulose,  S}^hilis, 
neuropathische  Zustände  u.  dgl.  m.  zum  Auftreten  der  angeborenen  Blind- 
heit resp.  zur  Häufung  derselben  in  einer  Familie  Veranlassung  geben. 

*)  Von  ähnlichen  Anschauungen  scheint  in  neuester  Zeit  auch  ZiegJer  aus- 
zugehen, wenigstens  stellt  er  in  seiner  jüngst  gehaltenen  Eede  (üeber  die  Vererbung 
erworbener  pathologischer  Eigenschaften.  5.  Kougress  für  innere  Medicin,  Wies- 
baden 1886)  die  Gefahren  der  konsanguinen  Ehe  dar  als  bedingt  durch  Vererbung. 


—    32  — 


Wenn  nun  die  Ansichten,  welche  ich  soeben  über  die  Gefahren 
der  Konsanguinität  geäussert  habe,  richtig  sind,  so  werden  gewisse 
theoretische  Schlussfolgerungen,  welche  man  aus  denselben  ziehen  darf, 
in  der  Praxis  nachweisbar  sein  müssen.   Ist  z.  B.  lediglich  die  Steiger- 
ung der  beiden  Gatten  gemeinsamen  Krankheitsanlage  die  Ursache  für 
das  häufige  Auftreten  der  kongenitalen  Missbildungen  an  verschiedenen 
Sprösslingen  ein  und  derselben  konsanguinen  Ehe,  so  werden  wir  unter 
gewissen  Voraussetzungen  diese  unangenehme  Konsequenz  ganz  besonders 
stark  bemerken  müssen.    Sind  nämlich  die  die  Ehe  schliessenden  kon- 
sanguinen Individuen  in  schlechter  äusserer  Lage,   müssen  sie  um  die 
Existenz  schwer  ringen,   so  werden  voraussichtlich  mit  diesen  Verhält- 
nissen ganz  besonders  günstige  Bedingungen  für  die  Entwickelung  der 
den  Eheleuten  anhaftenden  Krankheitsanlagen  gegeben  sein,  die  Ent- 
faltungsreize werden  unter  solchen  Umständen  häufiger  und  wirksamer 
vorhanden  sein,  als  wenn  unter  günstigen  Bedingungen  gelebt  wird. 
Als  unmittelbare  und  natürliche  Folge  solcher  Verhältnisse  müsste  dann 
aber  bei  der  konsanguinen  Ehe  ein  grösserer  Reichthum  an  Missbild- 
ungen nachweisbar  sein,  sobald  dieselbe  von  Angehörigen  der  besitzlosen 
Klassen  geschlossen  wird.    Und  diese  unsere  rein  theoretische  Vor- 
aussetzung scheint  nach  den  Beobachtungen  verschiedener  Autoren  wirk- 
lich zutreffend  zu  sein;  so  sagt  z.  B.  der  jüngere  Dartcin ;  „Mitschell^) 
kam  zu  dem  Schlüsse,   dass  unter  günstigen  Lebensbedingungen  die 
sichtbaren  üblen  Wirkungen  häufig  fast  Null  wären,  während,  wenn 
die  Kinder  schlecht  ernährt,  schlecht  wohnten  und  schlecht  bekleidet 
würden,  das  Uebel  sehr  hervortretend  werden  könne.  Dies  befindet  sich 
in  auffallender  Uebereinstimmung  mit  einigen  nicht  veröffentlichten  Ex- 
perimenten meines  Vaters,  Charles  Darwin,  über  die  In -Zucht  von 
Pflanzen;  denn  er  hat  gefunden,  dass  innerhalb  der  Art  gezüchtete 
Pflanzen,  wenn  ihnen  Raum  genug  und  guter  Boden  gewährt  wird, 
häufig  wenig  oder  keine  Entartung  zeigen,  während  sie,  zum  Kampf 
ums  Dasein  mit  anderen  Pflanzen  gezwungen,  häufig  zu  Grunde  gehen 
oder  doch  im  Wachsthum  sehr  zurückbleiben." 

Aehnliche  Aeusserungen  finden  wir  bei  Reich'^)  u.  A. 
Halten  wir  daran  fest,  dass  nicht  die  Vermischung  des  verwandten 
Blutes  an  sich  ein  Schädlichkeitsmoment  schafft,  sondern  dies  nur  auf 
Grund  der  beiden  Ehegatten  gemeinsamen  und  durch  diese  Gemem- 
samkeit  gesteigerten  wenn  man  so  sagen  darf  gezüchteten  Krankheits- 

'        ')  Darivin,  Die  Ehen  zwischen  Geschwisterkindern  und  ihre 
Folgen.  Mit  einem  Vorworte  von  Dr.  Otto  Zacharias.  Leipzig  187G.  p  40u.4U 
»)  Beich,  Pathologie  der  Bevölkerung.  Berlin  1879. 


—    33  — 


aulage  sich  entwickelt,  so  Avird  uns  auch  die  eigenthilmliche  Erscheinung 
etwas  verständlicher  werden,  dass  nämlich  die  congenitale  Belastung  in 
der  Nachkommenschaft  so  auffallend  schwankt.  Man  beobachtet  Familien, 
in  denen  die  ersten  Kinder  ganz  gesund  geboren  werden  und  dann  plötzlich 
die  Neigung  zu  kongenitaler  Amaurose  bei  allen  später  Geborenen  auftritt; 
umgekehrt  sieht  man  aber  auch  die  ersten  zwei  oder  drei  Kinder  blind 
geboren  werden  und  dann  plötzlich  lauter  gesunde  Nachkommenschaft  er- 
scheinen. In»  noch  anderen  Fällen  tritt  die  angeborene  Amaurose  regellos 
bald  bei  diesem,  bald  bei  jenem  Kind  einer  grösseren  Familie  auf.  Alle 
diese  Fälle  erklären  sich  einfach  dadurch,  dass  die  Entfaltungsreize  für 
die  den  beiden  Eltern  gemeinsame  pathologische  Belastung  unter  gegebenen 
äusseren  Verhältnissen  bald  mehr,  bald  weniger  bedeutend  sind.  Je  nach- 
dem die  belasteten  Eltern  unter  günstigeren  oder  weniger  günstigeren  Ver- 
hältnissen leben,  werden  sich  diese  ihre  Lebensbedingungen  in  ihrer  Nach- 
kommenschaft abspiegeln.  Es  wäre  desshalb  dringend  geboten,  bei  allen 
Familien,  deren  Nachkommenschaft  wiederholt  mit  kongenitalen  Missbild- 
ungen behaftet  ist,  genau  den  äusseren  Lebensverhältnissen  nachzuforschen, 
unter  denen  die  Erzeuger  bei  der  Geburt  der  verschiedenen  Kander  ge- 
standen haben.  Die  Ernährungsverhältnisse,  die  körperlichen  Zustände  der 
Eltern,  ihre  Gemüthsstimmung  und  was  nun  derartige  Umstände  mehr 
sein  mögen,  müssten  möglichst  genau  für  die  Zeitperiode  ermittelt 
werden,  in  welche  die  Zeugung  und  Geburt  der  einzelnen  Kinder  fällt. 
Ich  bin  fest  überzeugt,  dass,  würde  man  derartige  Untersuchungen  mit 
der  nöthigen  Sorgfalt  und  in  gehörigem  Umfang  anstellen,  das  räthsel- 
hafte  Dunkel,  welches  jetzt  noch  über  jenen  Fällen  schwebt,  in  welchen 
einzelne  Familien  durch  Häufung  kongenitaler  Missbildungen  so  auf- 
fallend heimgesucht  werden,  recht  bedeutend  erhellt  werden  dürfte. 

Uebrigens  ist  meine  Ansicht,  nach  welcher  die  Vermischung  ver- 
wandten Blutes  an  sich  keine  Schädlichkeit  einschliesst,  dieselbe  viel- 
mehr nur  dui-ch  Steigerung  der  den  verwandten  Ehegatten  gemeinsamen 
Kj-ankheitsanlagen  bedingt  wird,  durchaus  nicht  mein  ausschliessliches 
Eigenthum;  eine  ganze  Reihe  anderer  Forscher  haben  ähnliche  Vor- 
stellungen bereits  früher  auch  geäussert,  so  z.  B.  Oesterlen,^)  Monte- 
gazzn,'*)  Quatrefages^)  u.  A. 


')  Oesterlen,  Handbuch  der  medicinischen  Statistik.  Zweite  Aus- 
gabe.   Tübingen  1874.    p.  196  u.  ff. 

Montegazza,  Studii  sui  matrimonii  consanguinoi.  Mailand  1868. 
Citirt  von  Eotli  1.  c.  p.  89. 
Magnus,  Jngendblindhoit.  3 


—    34  — 


Dürfen  wir  nun  das,  was  wir  über  die  Folgen  der  konsauguinen 
Ehe  soeben  geäussert  haben,  nochmals  zusammenfassen,  so  würden  wir 
behaupten : 

1.  Die  Blutsverwandten  -  Ehe  an  sich,  d.  h,  die  Vermischung  ver- 
wandten Blutes  an  sich  schafft  kein  die  Nachkommenschaft  be- 
lastendes pathogenes  Moment. 

2.  In  der  Blutsverwandten  -  Ehe  finden  sich  öfters  mehrere  Kinder 
mit  kongenitaler  Amaurose  behaftet;  doch  tritt  dieselbe  Erschein- 
ung auch  in  der  nichtkonsanguinen  Ehe  des  öfteren  auf.  In 
welchem  prozentarischen  Verhältniss  diese  Belastungen  in  der 
konsanguinen  und  nichtkonsanguinen  Ehe  zu  einander  stehen, 
lässt  sich  vor  der  Hand  mit  Bestimmtheit  noch  nicht  sagen. 

3.  Die  Nachtheile  der  Blutsverwandten  -  Ehe  werden  lediglich  nur 
bedingt  durch  Steigerung  einer  beiden  Gatten  gemeüjsamen  Ki'ank- 
heitsanlage. 

4.  Alle  Verhältnisse,  welche  als  Entfaltungsreize  für  Ki-ankheits- 
anlageu  wirksam  sein  können,  werden  die  Nachtheile  der  Bluts- 
verwandten-Ehe ganz  besonders  hervortreten  lassen. 

"    Aus  dem  soeben  Gesagten  erhellt  auch,  welche  Stellung  der  Oph- 
thalmologe zui-  Verhütung  der  aus  der  konsanguinen  Ehe  hervorgehenden 
Schädlichkeiten  einnehmen  soll.    Wäre  die  Verwandten  -  Ehe  an  sich 
selbst  schädlich,  so  wäre  es  ganz  gerechtfertigt,  wenn  wir  Augenärzte, 
wie  dies  in  der  That  auch  einige  hervorragende  Kollegen  thun,  den 
Schutz  der  Gesetze  anriefen  und  ein  generelles  Verbot  der  Verwandten- 
Ehe  anstrebten.  Da  nun  aber  nicht  die  Ehe  an  sieh  selbst  das  Schäd- 
liche ist,  vielmehr  nui'  unter  gewissen  Bedingungen  Schädlichkeiten  setzt, 
so  kann  es  auch  nur  unsere  Aufgabe  sein,  diesen  Bedingungen  vorzu- 
beugen.   Es  ist  desshalb  Pflicht  des  Arztes,  seine  Klienten,  sobald  sie 
mit^einem  Glied  ihrer  Verwandtschaft  ein  Ehebündniss  eingehen  wollen, 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  dieses  Bündniss  ein  verhängniss- 
volles werden  kann,  sobald  eine  den  verwandten  FamUien  gemeinsame 
Krankheitsanlage  vorhanden  sei  und  es  ist  Aufgabe  des  Arztes  wie 
seines  Klienten,  derartigen  Anlagen  auf  das  Aengstlichste  nachzuspm-en. 
Dieselbe  Pflicht  erwächst  aber   auch  dem  Arzt,   wenn  einer  seiner 
Klienten,  von  dem  er  weiss,  dass  er  mit  einer  Krankheitsanlage  behaftet 
ist  eine  ihm  nicht  verwandte  Person  heirathen  will.  Dann  kann  der  Arzt 
gar  nicht  energisch  genug  darauf  dringen,  dass  bei  Eingehung  der  Ehe 
ledicrlich  nur  die  Rücksicht  auf  die  vollständige  Gesundheit  des  zu  wahlen- 
den Individuums  massgebend  sein  soll;  denn  der  bei  dem  einen  Ehegatten 


—    35  — 


Torhaudeue  Krankheitskeim  kann  nur  durch  vollste  Gesundheit  des 
anderen  Theiles  in  seineu  verderblichen  Konsequenzen  unschädlich  ge- 
macht werden.  Leider  dürfte  nur  die  Stimme  des  Arztes  gerade  in  der 
Heirathsfrage  sehr  selten  gehört  werden,  wenigstens  in  unserer  heutigen 
Zeit,  welche  mit  so  ganz  besonderer  Vorliebe  auf  die  Geld-  und  nicht 
auf  die  Gesundheitsverhältnisse  der  zui*  Ehe  Erkorenen  achtet.  Die 
richtige  Hygiene  der  Ehe  ist  der  einzige  Schutz  gegen  die  aus  der  kon- 
sanguinen  Ehe  hervorgehenden  Schädlichkeiten  und  nicht  das  Gesetz. 

§  7.  Entstehung  der  angeborenen  Blindheit  durch  kongenitale  Be- 
lastung ohne  Heredität  und  Blutsverwandtschaft  (Collaterale  Erblichkeit 

nach  Bollinger). 

Eine  Häufung  von  angeborener  Blindheit  ohne  Vorhandensein 
einer  nachweisbaren  hereditären  oder  konsanguinen  Belastung  findet  sich 
in  vmserem  Material  von  551  Fällen  94  mal,  d.  h.  also  in  17,06 7o 
der  gesammten  angeborenen  Amaurose  überhaupt.  Es  übertrifft  also 
wenigstens  in  unserem  Material  die  kollaterale  Erblichkeit  die  beiden 
anderen  Entstehungsformen  der  kongenitalen  Amaurose,  die  directe  Ver- 
erbung und  die  Konsanguinität ,  nicht  unbedeutend  an  Ergiebigkeit 
Doch  soll  damit  diu-chaus  kein  principieller  Unterschied  zwischen  diesen 
drei  Entstelmngsmöglichkeiten  geschaffen  sein,  im  Gegentheil,  ich  fasse 
alle  drei  Entstehungsformen,  wie  dies  sofort  auseinander  gesetzt  werden 
soll,  unter  einem  gemeinsamen  Gesichtspunkt,  nämlich  dem  der  Heredität, 
zusammen  und  halte  ihre  Scheidung  lediglich  bedingt  durch  die  Fehler 
und  Unzulänglichkeiten  der  heutigen  Forschung.  Ueber  die  einzelnen 
Formen  der  kongenitalen  Blindheit  vertheilen  sich  diese  94  Fälle  in 
der  folgenden  Weise: 


Durch  kollaterale  Erblichkeit 


3  Fällen 

von 

Keratoconus 

2 

66,67  7o 

14  „ 

Ketinalatrophie 

6 

42,85  „ 

73  „ 

Retinitis  pigmentosa 

19 

26,03  „ 

35 

)> 

Chorioidealveräuderungen 

10 

28,56  „ 

4  „ 

jj 

Myopia  excessiva  congenita 

1 

25,00  „ 

113  „ 

)i 

Atrophia  nervi  optici 

26 

23,00  „ 

38  „ 

>» 

Buphthalmus 

8 

21,05  „ 

81  „ 

» 

Mikrophthalmus 

7 

8,64  „ 

118  „ 

Cataracta  congenita  complicata  8 

6,78  „ 

43  „ 

>> 

nicht  bestimmten  Formen 

7 

16,28  „ 
3* 

—  se- 


in welcher  "Weise  die  numerische  Belastung  einer  Familie  mit 
collateraler  Amaurose  zu  erfolgen  pflegt,  darüber  geben  die  folgenden 
Ziffern  Aufschluss. 

Unter  den  94  Fällen  kamen  53  mal  2  Fälle  in  einer  Familie  vor  =  56,38  "/o- 
„      „  94    „         „      23  „    3    „     „    „       „       „    =  24,47  „ 
„     „  94    „         „      15  „   4    „     „    „       „       „    =  15,96  „ 
„  94    „         „       2  „   5    „     „    „       „       „    =   2,13  „ 
„      „  94    „         „       1  „   8    „     „    „       „       „    =   1,06  „ 
Zu  den  höchsten  Seltenheiten  scheint  es  zu  gehören,  wenn  bei  Ge- 
burt eines  Zwillingspaares  beide  Kinder  blind  geboren  werden.  Mein 
Material  zählt  einen  derartigen  Fall,  in  dem  bei  beiden  Zmllingen 
Atrophia  nervi  optici  congenita  nachweisbar  war ;  die  betreffende  Familie 
zählte  4  Kinder,  von  denen  die  beiden  älteren  blind  geboren  wurden, 
dann  folgte  das  erwähnte  Zwillingspaar  und  dann  2  sehende  Kinder. 

Uebrigens  braucht  sich  die  coUaterale  Vererbung  keineswegs  immer 
in  der  gleichen  Weise  bei  den  betallenen  Familiengliedern  zu  äussern, 
vielmehr  scheint  ein  Wechsel  in  der  Art  und  Weise  der  Belastung 
nichts  Seltenes  zu  sein.  Dieselbe  Erfahrung  kann  man  übrigens  bei 
den  anderen  Formen  der  kongenitalen  Belastung,  bei  der  durch  un- 
mittelbare Vererbung  und  bei  der  durch  Konsanguinität  bedingten  be- 
kanntlich auch  machen,  wie  wir  dies  bei  Besprechung  der  einzeken 
Formen  der  kongenitalen  Blindheit  noch  des  Näheren  nachweisen  werden. 

Unter  unseren  hierher  gehörigen  94  Fällen  zeigten  10  mal  die 
Geschwister  anderweitige  Erkrankungen,  nämlich  1  mal  Epilepsie,  1  mal 
Phthise,  3  mal  Geisteskrankheit,  4  mal  Taubstummheit,  1  mal  Ver- 
kümmerung der  Finger. 

Auch  die  Formen  der  angeborenen  Blindheit  wechselten  in  der- 
selben Familie;  so  war  in  10  Fällen  bei  einem  Kind  Amaurosis  kon- 
genita  und  bei  anderen  Kindern  hochgradige  angeborene  Myopie  vor- 
handen In  3  Fällen  waren  Iridochorioiditis  resp.  Chorioiditis  und 
Atrophia  nervi  optici  in  einer  Familie  kongenital  vorhanden,  wäln-end 
Cataracta  complicata  und  Atrophia  nervi  optici  congenita  4  mal  bei 
mehreren  Kindern  derselben  Familie  nachweisbar  waren. 

Besonders  gedenken  möchte  ich  noch  eines  Falles,  m  dem  von  1& 
Kindern  8  blind  geboren  waren  und  zwar  in  Folge  von  Mikrophthal- 
mus Alle  16  Kinder  stammten  von  einem  Vater,  aber  zwei  Muttern, 
welche  Schwestern  waren.  Weder  Verwandtschaft  noch  Krankheit  der 
Eltern  waren  nachweisbar;  über  die  Grosseltern,  resp.  über  die  Familien, 
aus  denen  der  Vater  und  die  beiden  Mütter  stammten,  fehlten  dagegen 
sichere  Nachrichten.    Und  dieser  Mangel  eines  genauen  Berichtes  über 


—    37  — 


-den  Gesundheitszustand  der  Voreltern  oder  der  Familien  überhaupt  macht 
sich  in  fast  allen  unseren  hierher  gehörigen  Fällen  bemerkbar ;  doch  kann 
•dieser  Umstand  speciell  unserem  Material  keineswegs  als  besonderer  Fehler 
angerechnet  werden,  da  er  in  den  übrigen  in  der  Literatui-  vorhandenen 
Beobachtungen  auch  fast  immer  wiederkehrt.  Es  gehört  zu  den  grössten 
Seltenheiten  und  ist  ein  ganz  besonderer  Glücksfall  fiir  den  Beobachter, 
•die  Gesundsheitsverhältnisse  einer  Familie  durch  mehrere  Generationen 
mit  Sicherheit  verfolgen  zu  können;  meist  hören  die  nur  einigermassen 
verlässlichen  Mittheilungen  schon  auf,  wenn  man  über  die  erste  Generation 
hinausgeht.  Dieser  Umstand  bringt  mich  denn  auch  auf  die  Vermuthung, 
■dass  all'  den  Fällen  von  kollateraler  Erblichkeit  irgend  eine  Familien- 
belastung zu  Grunde  liegt,  deren  Existenz  uns  nur  bei  der  geringen 
Ausgiebigkeit  der  Erforschung  verborgen  bleibt.  Ich  bekenne  mich 
aus  dem  Grunde  unbedingt  zu  dieser  Ansicht,  weil  sie  meinem  patho- 
logischen Verständniss  doch  gewisse  brauchbare  Handhaben  bietet, 
während  jene  Vorstellung,  nach  der  auch  die  geschlechtliche  Vereinigung 
nicht  verwandter  Individuen  unter  gewissen  bis  jetzt  aber  nicht  näher 
bekannten  Umständen  pathologische  Konsequenzen  schaffen  soll,  mich  un- 
bedingt vor  ein  imlösbares  physiologisches  wie  pathologisches  Eäthsel  stellt. 
Ich  halte  deshalb,  so  lange  ich  nicht  durch  wirkliche  Beweise  eines  Besseren 
belehrt  werde,  unentwegt  an  der  Ansicht  fest,  dass,  wo  Häufimg  kon- 
genitaler Missbildungen  vorkommt,  stets  ein  erbliches  Moment  seine 
Wirksamkeit  bethätigt  hat.  Jedenfalls  hat  diese  meine  Vorstellung  den 
grossen  Vortheil,  dass  sie  die  Schädlichkeiten  der  konsanguinen  Ehe, 
sowie  die  kollaterale  Erblichkeit  unter  denselben  Gesichtspunkt  bringt, 
sowie  überhaupt  für  die  Genese  eines  grossen  Theiles  der  angeborenen  Miss- 
bildungen  eine  gemeinsame,  gleichwerthige  Erklärungsmöglichkeit  bietet. 

§  8.   Das  Vorkommen  der  kongenitalen  Amaurose. 

Unser  Material  von  3204  Fällen  Jugendblinder  zählt  551  mal 
Isongenitale  Amaurose,  d.h.  also  in  17,20''/o,  und  zwar  vertheilen  sich 
diese  551  Fälle  so  über  beide  Geschlechter,  dass  auf  das  männliche 
327  und  auf  das  weibliche  224  entfallen.  Da  mein  Material  nun  im 
Ganzen  2009  männliche  und  1195  weibliche  Blinde  enthält,  so  ergiebt 
.sich,  dass  das  männliche  Geschlecht  mit  16,28  "/o  kongenitaler  Amaurose 
belastet  ist  und  das  weibliche  mit  18,74  °/o;  eine  erhebliche  Differenz 
scheint  also  zwischen  beiden  Geschlechtern  bezüglich  ihrer  Betheiligung 
■an  der  angeborenen  Blindheit  nicht  zu  bestehen. 

In  unserer  früheren  Blindenuntersuchung,  welche  2528  Blinde  aller 
Altersklassen  umschloss,  entfiel  auf  die  kongenitale  Amaurose  nur  ein 


—    38  — 


Prozentsatz  von  3,83  "/o,  während  wir  heute  einen  solchen  von  17,20"/o- 
ermittelt  haben.  Dieser  auffallende  Unterschied  zwischen  meiner  fi-ülierett 
und  meiner  jetzigen  Untersuchung  enthält  nun  aber  kemeswegs  einen 
Widerspruch,  erkläi-t  sich  vielmehr  lediglich  nur  durch  den  Umstand^ 
dass  ich  in  die  frühere  Untersuchungsreihe  Blinde  aller  Altersklassen 
eingestellt  und  diesmal  nur  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre  berück- 
sichtigt habe.  Für  ein  aus  jugendlichen  Blinden  zusammengesetztes 
Material  muss  der  Prozentsatz  der  angeborenen  Blindheit  aber  natürlich 
grösser  sein,  als  in  einem  Material,  welches  auch  die  so  ergiebigen 
Formen  der  Altersblindheit  mit  in  Beü-acht  zieht. 

Mein  grosses  Material  erlaubt  mir  mm  auch,  für  die  verschiedenen 
europäischen  Länder  wenigstens  versuchsweise  die  Verbreitung  der  kon- 
genitalen Amaui-ose  zu  ermitteln.  Ich  sage  aber  ausdrücklich,  nur  ver- 
suchsweise, weil  das  mir  vorliegende  Material  für  die  einzelnen  europäi- 
schen Länder  ein  numerisch  sehr  verschiedenes  ist,  denn  während  mir 
für  gewisse  Länder,  z.  B.  Deutschland  und  Oesterreich-Ungarn  die  Zög- 
linge der  gesammten  Blinden-Erziehungs- Anstalten  zur  Verfügung  stehen,, 
habe  ich  aus  anderen  Ländern  nur  die  Blinden  aus  einigen  wenigen 
Anstalten.  Die  im  Material  selbst  liegende  numerische  Verschiedenheit 
kann  also  auf  die  nun  folgende  Zusammenstellung  sehr  wohl  einen  mehr 
oder  minder  weitgehenden  Einfluss  ausüben  und  desshalb  möchte  ich 
die  folgende  Zahlenreihe  eben  als  einen  Versuch ,  allerdings  als  einen 
berechtigten,  ansehen. 

Mein  Material  ergibt  also  für: 

Schweiz  =  24,63  "/„  kongenitaler  Amaurose 

Schweden-Norwegen    =  24,00  „  „  » 

Holland  =  22,60  „ 

Deutschland  1)  =  20,75  „  „  » 

Oesterreich-Ungarn  2)  =  12,59  „  „  » 

Belgien  =  10,48  „  „  » 

«)  Die  otfizielle  Statistik  rechnet  für  die  preussischen  Bliudenanstalten  etwa 
25«/  auf  die  kongenitale  Amaurose.  {Guttstaät,  Die  Gebrechlichen  in  der 
Bevölkerung  Preussens  am  l.  Dezember  1880.  Zeitschrift  des  kön.gl. 
preussischen  statistischen  Bureau's,  Jahrgang  1882.)  ,.  „  . 

n  Für  Oesterreich -Ungarn  ist  der  Prozentsatz  der  angeborenen  Blmdlieit 
nach  der  offiziellen  Statistik  auf  17,4 "/„  berechnet,  {imiches,  Statistik  des 
Sanitätswesens  der  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und 
Länder  für  1878.  Wien  1882.  p.  XXI.)  Da  nun  die  offiziellen  Gebrechen- 
statistiken, wie  dies  meine  früheren  Untersuchungen  für  Deutschland  ergeben 
haben,  meist  zu  hoch  beziffert  sind,  so  könnte  mein  Prozentsatz  vielleicht  an- 
nähernd richtig  sein. 


—    39  — 


Spanien  =    9,30  "/o  kongenitaler  Amaurose 

Kussland  =    8,45  „  „  » 

Italien  —    6)9"^  »  »  " 

Sehr  zu  wünschen  wäre,  class  fremde  Kollegen  die  für  ihre  Länder 
von  mir  mitgetheilten  Ziffern  durch  möglichst  erschöpfende  Untersuchvmgen 
ihrer  heimathlichen  Blinden-Anstalten  vergleichen  und  berichtigen  möchten. 

Ueber  die  emzelnen  Blindenaustalten  vertheilt  sich  die  Amaurosis 
congenita  iu  der  verschiedensten  Weise;  während  sie  in  gewissen  An- 
stalten einen  airffallend  niedrigen  Prozentsatz  zeigt,  steigt  sie  in  anderen 
Anstalten  auf  eine  ganz  bedeutende  Höhe.  Die  Grenzen  dieser  Schwank- 
ungen') liegen  zwischen  3  und  34*^/0.  Natürlich  ist  solchen  Erschein- 
ungen kein  besonderes  Gewicht  beizulegen;  vor  Allem  darf  nicht  etwa 
der  Schluss  gezogen  werden,  dass  diejenige  Provinz,  welche  hinter  der 
Anstalt  steht,  nun  eine  eben  solche  Verbreitung  der  angeborenen  Blind- 
heit besitzen  müsse,  wie  die  zu  ihr  gehörige  Anstalt.  Das  Material  der 
meisten  Anstalten  ist  denn  doch  ein  numerisch  zu  kleines,  und  darum 
dem  Zufall  zu  sehr  unterworfenes,  um  irgend  einen  sicheren,  für  grössere 
Bevölkerungskreise  allgemein  verbindlichen  Schluss  aus  ihm  allein  ziehen 
zu  dürfen  ;  das  wäre  niu-  bei  einem  über  gi-össere  Zahlenreihen  verfügenden 
Material  gestattet.  Die  Fehlerquellen,  welche  geringeren  statistischen 
Zusammenstellungen  immer  eigen  sein  müssen,  erklären  die  Schwank- 
ungen, welche  unsere  Tafel  I  und  II  für  das  Auftreten  der  Amaui-osis 
congenita  nachweisen,  hinlänglich. 

§  9.  Die  Formen  der  angeborenen  Amaurose. 

Die  551  Fälle  unseres  Materials  gruppiren  sich  den  einzelnen  Er- 
scheinungsformen nach  in  folgender  Weise; 

Unter  551  Fällen  angeborener  Blindheit  finden  sich 


118  mal  Cataracta  complicata 

20,51  7o 

113   „    Atrophia  nervi  optici 

21,42  „ 

81   „  Mikrophthalmus 

14,70  „ 

73   „    Retinitis  pigmentosa 

13,25  „ 

38  „  Buphthalmus 

6,90  ., 

21   „  Chorioiditis 

3,81  „ 

1 7   „  Retinalatrophie 

3,09  „ 

16   „  Anophthalmus 

2,90  „ 

14  „  Iridochorioiditis 

2,54  „ 

')  Man  vergleiche  die  Tafeln  I  und  II  dieses  Werkes,  welche  die  Ver- 
theilung  der  wichtigsten  Blindheitsformen  über  die  Blinden-Anstalteu  in  Deutsch- 
land und  Oesterreich-Ungarn  zur  Darstellung  bringen. 


—    40  — 


4  mal  Myopia  excessiva  =  0,73 

4   „    Albinismus  =    0,73  „ 

3  „    Keratocouus  =    0,54  „ 

3   „    Coloboma  chorioideae  =:    0,54  „ 

1   „    Glioma  retinae  =    0,18  „ 

1  „  Verschmelzung  von  Lid  und  Bulbus  =  0,18  „ 
1   „    Keratitis  =    0,18  „ 

43   „    nicht  bestimmte  Formen  =    7,80  „ 

551  ~~     =  100,00  7o 

Wir  hätten  also  in  der  vorliegenden  tabellarischen  Zusammen  Ord- 
nung eine  Werthskala  für  die  einzelnen  Formen  der  angeborenen  Blind- 
heit gewonnen;  eine  besondere  Besprechung  dürfte  dieselbe  kaum  er- 
fordern und  können  wir  uns  nunmehr  zu  einer  Betrachtung  dessen 
wenden,  was  unser  Material  über  die  einzelnen  Formen  selbst  sagt.-) 

Cataracta  congenita  complicata.  Wie  schon  aus  der Ueber- 
schrift  hervorgeht,  handelt  es  sich  hier  wohl  meistentheils  um  solche 
Fälle,  in  denen  die  Linsentrübung  als  das  sekundäre  Produkt  eines  in 
einem  anderen  Theil  des  Auges  zum  Austrag  gebrachten  pathologischen 
Prozesses  anzusehen  ist.  Welcherlei  Ai't  diese  krankhaften  Vorgänge 
gewesen  sind,  das  lässt  sich  natürlich  mit  Bestimmtheit  nicht  mehr 
nachweisen,  sowie  auch  über  die  Periode  des  intrauterinen  Lebens,  in 
welcher  die  Erkrankung  autgetreten  ist,  nur  ausnahmsweise  sichere  Merk- 
male vorhanden  sind.  In  einzelnen  Fällen  allerdings  können  wir  aus 
verschiedenen  Kennzeichen,  aus  Colobombildung,  Mangel  der  Ws  u.  dgl.  m. 
die  sichere  Ueberzeugung  gewinnen,  dass  die  Erkrankung  des  Auges, 
welche  der  sekundä^-en  Linsentrübung  vorangegangen  ist,  zu  einer  Zeit 
erfolgt  sein  muss,  in  welcher  der  anatomische  Aufbau  des  Sehorganes 
noch  nicht  beendet  war.  Für  andere  Fälle  wieder  müssen  die  letzten 
Phasen  des  intrauterinen  Lebens  die  Zeit  der  Augenerkrankung  gebildet 
haben.  Es  handelt  sich  hier  also  offenbar  um  eine  Reihe  der  heterogen- 
sten Zustände,  deren  Vereinigung  mehr  zwangs-  als  naturgemäss  erfolgt 
ist,  zwangsgeraäss,  weil  bei  der  Untersuchung  das  auffallendste  Symptom, 
die  Linsentrübung,  von  den  untersuchenden  Kollegen  als  pathologisches 


')  Die  in  unserer  früheren  Arbeit  (Die  Blindheit,  ihre  Entstehung  und  ihre 
Verhütung.  Breslau  1883)  p.  119  und  128  mitgetheilten  Angaben  über  das  Vor- 
kommen der  einzelnen  Formen  der  angeborenen  Blindheit  ergaben  ein  ähnliches 
Resultat,  wie  das  oben  stehende;  auch  damals  waren  die  angeborene  Sehnerven- 
Atrophie,  die  Retinitis  pigmentosa,  Mikrophthalmus  und  Buphthalmus  die  am 
häufigsten  vertretenen  Formen. 


f 


—    41  — 


Stichwort  gewählt  worden  ist.  Uebrigens  ist  bei  einer  Reihe  der  hier 
zusammengestellten  Fälle  auch  die  Möglichkeit  keineswegs  ausgeschlossen, 
dass  die  Staarbildung  in  den  ersten  Monaten  des  extrauterinen  Lebens 
erfolgt  sein  kann;  bekanntlich  ist  ja  die  sichere  Entscheidung,  ob  man  es 
im  gegebenen  Falle  bei  einem  kindlichen  Staar  mit  einem  kongenitalen 
oder  später  erworbenen  zu  thun  hat,  häufig  recht  schwierig.  Jedenfalls 
ist  die  Prognose  für  alle  hier  behandelten  Fälle  eine  ganz  schlechte; 
denn  in  44  Fällen  ist  von  einer  Operation  vollständig  Abstand  ge- 
nommen und  in  74  Fällen  ist  eine  solche  ohne  jeden  Erfolg  ausgeführt 
worden. 

"Wenn  also  unser  Material  für  die  pathologische  Beurtheilung  der 
hierher  gehörigen  Fälle,  wie  ich  dies  nochmals  ganz  ausdrücklich  be- 
merken will,  nicht  verlässlich  und  keineswegs  einwandsfrei  ist,  so  giebt 
es  uns  nach  manchen  anderen  Seiten  hin  doch  recht  werthvolle  Auf- 
schlüsse. 

Was  zuvörderst  die  mittelbaren  Entstehungsursachen  anlangt,  so 
waren  7  mal  die  Eltern  verwandt,  12  mal  mit  Krankheiten  behaftet, 
1  mal  waren  die  Eltern  zwar  gesund,  aber  die  Familie  des  Vaters  in 
verschiedenen  ihrer  Mitglieder  mit  Blindheit  behaftet,  51  mal  gesund 
und  nicht  verwandt.  Von  diesen  51  gesunden  Eltern  ging  8  mal  eine 
kollaterale  Erblichkeit  aus.  lieber  37  Eltempaare  fehlen  nähere  An- 
gaben. 

lieber  die  12  Fälle  elterlicher  Krankheit  erfahren  wir,  dass  3  mal 
die  Eltern  staarblind,  1  mal  myopisch  waren ;  8  mal  fehlen  die  näheren 
Angaben. 

Von  Wichtigkeit  sind  die  anderweitigen  Komplikationen,  welche 
die  Augen  der  Blmden  selbst  darbieten.  Während  gerade  über  diese 
Verhältnisse  fiir  die  übrigen  Formen  der  kongenitalen  Blindheit,  wie 
dies  die  folgenden  Seiten  lehren  werden,  ein  recht  reiches  Material  vor- 
liegt, sind  für  die  Cataracta  complicata  congenita  nur  2  mal  Kom- 
plikationen angegeben  ;  nämlich  1  mal  Irideremia  eines  Auges  vuid  1  mal 
Coloboma  iridis  eines  Auges. 

Der  Untersuchung  werth  sind  ferner  noch  die  kongenitalen  Be- 
lastungen, welche  die  Kataraktblinden  noch  an  anderen  Körpertheilen 
aufweisen;  in  7  Fällen  finden  sich  solche  kongenitale  Störungen  ver- 
zeichnet und  zwar:  1  mal  Taubstummheit,  1  mal  angeborene  Sprach- 
störung, 1  mal  Mikrocephalie  mit  Idiotismus  und  4  mal  Rhachitis. 

Von  hervorragendstem  Interesse  dürften  sodann  noch  diejenigen 
Fälle  sein,  in  welchen  die  Geschwister  der  kongenital  Blinden  gleich- 
falls mit  angeborenen  Gebrechen  behaftet  sind.    Derartige  Fälle  liegen 


—    42  — 


22  vor  und  zwar  wurden  folgende  Gebrechen  beobachtet,  wobei  darauf 
geachtet  werden  muss,  dass  wiederholt  an  einem  Individuum  mehrere 
Formen  beobachtet  wui-den: 

19  mal  Cataracta  congenita, 

1  ,.  Myopia, 

5    „    Atrophia  nervi  optici, 

2  „  Blödsinn, 

2    „  Taubstummheit, 

7  „  fehlen  nähere  Angaben  über  die  Blindheit, 
2  Lähmung  verschiedener  Glieder. 
Schliesslich  will  ich  nicht  unterlassen,  über  diejenigen  der  mit 
Cataracta  congenita  behafteten  Blinden  unseres  Materials  noch  emige 
Bemerkungen  anzuschliessen,  welche  in  den  ersten  Lebensjahren  ander- 
weitige Krankheiten  erworben  haben.  Dies  war  9  mal  der  Fall  imd 
zwar  wurden  5  mal  epileptische  Anfälle  erworben;  1  mal  Taubheit, 
1  mal  Lähmung  der  unteren  Extremitäten  und  2  mal  schwere  Knochen- 
scrofulose. 

Atrophia  nervi  optici  congenita  ist  abgesehen  von  der 
Cataracta  congenita  complicata  die  anr  Häufigsten  anftretende  Form 
der  angeborenen  Blindheit,  eine  Thatsache,  «Iche  auch  von  anderen 
ForschL,  so  in  der  neuesten  Zeit  von  Fdser').  bestätigt  wn^.  Doch 
erfordert  die  Diagnose  der  angeborenen  Sehnervenatroph.e  .n,mer  eme 
gewisse  Vorsicht  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.    Zunachs    s  nd 
wir  bezüglich  der  Annahme  des  intrauterinen  Ursprunges  der  AtoiA.e 
in  den  aflermeisten  Fällen  lediglich  nur  auf  die  Angaben  der  H^m 
oder  Erzieher  der  Blinden  angewiesen.    Nun  ist  aber  dre  Sehfunk  .on 
n  den  ersten  Wochen  und  Monaten  nach        G^-Vr/r  in  Z 
niemals  mit  Sicherheit  zu  beurtheilen.     Das  Kmd  bethatigt  m  den 
ersten  Perioden  seines  Daseins  das  Sehvermögen  nnr  m  aller, 
bescheidensten  Umfang,   und  deshalb  werden  M^gel  "^f- 
Funktion  fast  immer  erst  in  den  späteren  Lebensjahren  entdeckt  _  Meist 
wird  erst  im  zweiten  Jahr  oder  manchmal  sogar  noch  spater  d,e  Be- 
Zrknng  gemacht,  dass  das  Kind  schlecht  sieht.  Das  Pnbhknm  ,st  nm 
l  allen  Bolchen  Fällen,  in  denen  im  zweiten  oder  dntten  Leben^ah 
Blindheit  konstatirt  wird,  meist  sehr  schnell  m,t  der  Diagnose  en« 
Ingeborenen  Blindheit  bei  der  Hand,  und  doch  ist  h.erbe,  n.ema  d. 
Möglichkeit  ausznschliessen,  dass  im  extrantennen  Leben  bald  nach  der 

7ws7,7B^i..-.g  .uvKc-ntais,  der  Ursachen  .1er  llliudheU. 
We.t..ik  opltlmlmolögii.  1885.  NoYBrnber-Dezcmher. 


—    43  — 


Geburt  oder  im  Lauf  des  ersten  und  zweiten  Jahres  die  Blindheit  er- 
worben worden  sein  kann.  Von  einer  angeborenen  Aü'ophie  des  Optikus 
kann  man  eigentlich  erst  dann  mit  vollster  Sicherheit  reden,  wenn  man 
das  Kind  bald  nach  der  Geburt  zu  ophthalmoscopiren  Gelegenheit  hatte^ 
wie  ich  dies  2  mal  zu  thun  im  Stande  war.  Hieraus  geht  also  her- 
vor, dass  die  Scheidung  zwischen  einer  kongenitalen  und  einer  in  den, 
allerfrühesten  Lebensphaseu  erworbenen  Atrophia  optica  kaum  zu  er- 
möglichen ist.  Wir  müssen  deshalb  auch  in  den  Fällen  unseres  Materials 
die  Möglichkeit,  dass  die  Atrophia  nicht  mit  auf  die  Welt  gebracht 
worden  ist,  offen  lassen. 

Und  ferner  darf  man  nicht  vergessen,  dass  gewisse  Formen  der 
angeborenen  Blindheit,  nämlich  die  Eetinitis  pigmentosa,  sich  in  den 
ersten  Jahren  nach  der  Gebm't  hauptsächlich  durch  Entfärbung  der 
Papille  kennzeichnen,  die  Pigmentbildung  erst  in  späteren  Lebensepochen 
auftritt.  Derartige  Fälle  können  längere  Zeit  hindurch  als  Atrophien 
imponiren,  während  sie  in  der  That  späterhin  als  Retinitis  pigmentosa, 
sich  entpuppen. 

Das  Gesagte  beweist,  dass  man  die  Diagnose  der  angeborene» 
Sehnerven  atrophie  mit  einem  gewissen  Skepticismus  anzusehen  gut  thut 
vmd  dass  man  bei  der  Beurtheilung  des  Procentsatzes  der  angeborenen 
Ati'ophie  sich  stets  der  erwähnten  Umstände  erinnern  muss.  Was  die 
ätiologischen  Verhältnisse  unserer  113  Fälle  von  angeborener  Sehnerven- 
atrophie anlangt,  so 'waren  55  mal  die  Eltern  gesund  und  nicht  ver- 
wandt; 12  mal  waren  die  Eltern  krank  oder  mit  Sehstörungen  behaftet;. 
1 1  mal  Avai*  Konsanguinität  nachweisbar  und  35  mal  fehlen  alle  näheren 
Angaben.  Von  den  55  gesunden  Elternpaaren  ging  26  mal  kollaterale- 
Erblichkeit  aus. 

Ueber  die  1 2  Fälle  elterlicher  Krankheit  vermag  ich  Folgendes  zu 
berichten:  5 mal  lag  eine  nicht  näher  gekennzeichnete  Augenaffektion 
vor;  3 mal  Cataract;  1  mal  Myopie;  1  mal  Irrsinn;  1  mal  Tuberkulose ; 
1  mal  Syphilis. 

Anderweitige  Komplikationen  wurden  au  den  Augen  unserer  Atrophie- 
blinden 22 mal  beobachtet  und  zwar: 

18  mal  neben  der  Atrophia  optica  noch  Cataracta  partialis. 
2  „       „     „         „  „       „     Keratoconus  pellucidus. 

2  „       „      „         „  „       „     Opacitates  corporis  vitrei. 

Angeborene  Gebrechen  anderer  Körpertheile  wurden  an  16  Blinden 
gefunden  und  zwar: 


—    44  — 


8  mal  SchädelmissbilduDgen  (hydrocephalischer  Schädel,  Thurmschädel 

u.  a.  m.) 
5   „  Blödsinn, 

1    „    Wolfsrachen  und  Hasenscharte. 
1   „    Verkrümmung  einer  unteren  Extremität. 
1   „    Verkrümmung  einer  oberen  Extremität. 
1  „  Taubheit. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  die  an  den  Geschwistern  imserer 
Blinden  auftretenden  kongenitalen  Störungen,  so  wurden  folgende  Formen 
angeborener  Gebrechen,  wiederholt  an  einer  Person  mehrere,  beobachtet: 
20  mal  Atrophia  nervi  optici  (einmal  bei  Zwillingsschwestern). 

1  „    Myopia  excessiva  congenita. 

2  „  Mikrophthalmus. 

2  „    Iridochorioiditis  congenita. 

3  „    Cataracta  congenita. 

35   „    nicht  näher  bestimmte  angeborene  Blindheit. 
3   „    angeborener  Idiotismus. 
1   „    allgemeine  Lähmung. 
1   „    Verwachsung  der  Finger  einer  Hand. 
1  „  Tuberkulose. 

Hervorheben  möchte  ich  besonders  noch  2  an  einem  Brüderpaar 
von  mir  selbst  beobachtete  Sehnervenatrophien,  welche  zwar  erst  gegen 
das  zwanzigste  Lebensjahr  zur  vollständigen  Amaurose  führten,  aber 
trotzdem  auf  kongenitaler  Belastung  beruhten  und  mit  jener  Form  iden- 
tisch waren,  welche  Leber  und  Mooren  ihrer  Zeit  als  „Neuntis  optica  in 
Folge  von  Heredität  und  kongenitaler  Anlage«  beschrieben  haben. 

ImUebrigen  zeigt  unser  Material,  dass  die  Erkrankungen  des  Seh- 
nerven intrauterin  bereits  eine  ähnliche  verderbliche  Wirkung  bethatigen 
wie  später  im  extrauterinen  Leben.    Allerdings  lässt  die  Diagnose  der 
angeborenen  Sehnerven atrophie  immer  gewisse  Bedenken  zu,  wie  wir 
voL  dargethan  haben.   Für  jene  Fälle  dürfte  aber  sothaner  Skep- 
ticismus  wohl  unangebracht  sein,  wo  Häufung  von  anderweitigen  kon 
genitalen  Missbildungen  in  einer  Familie  nachweisbar  ist;  hier  kann 
L  intrauterine  Ursprung  wohl  mit  Sicherheit  -'^^^^^^^^^^ 
werden.  Von  ganz  besonderem  Interesse  auch  in  ätiologischer  Beziehung 
dürfte  aber  wohl  der  bisher  vielleicht  einzig  dastehende  Fall  sem  bei 
dem  ein  Zwillingsschwesterpaar       Atrophie  des  Nervus  opticus  g^^^^^^^^ 
worden  ist.    Die  Eltern  waren  in  diesem  Fall  gesund  und  nicht  ^er 
wandt    hatten  aber  ausser  den  beiden  Zwillingsschwestern  noch  zwei 


—    45  — 


blind  geborene  Kinder.  Im  Ganzen  waren  von  den  gesunden  Eltern 
6  Kinder,  davon  4  blind  und  2  sehend  gezeugt  worden.  Uebrigeus  ist 
das  Auftreten  von  angeborener  Sehnervenatrophie  bei  mehreren  Kindern 
einer  Familie  gar  nicht  so  selten,  wie  obige  Zusammenstellung  lehrt 
und  wir  dies  sogleich  noch  des  Näheren  nachweisen  werden. 

Ueber  die  Entstehungsweise  der  Atrophia  nervi  optici  congenita 
liegen  noch  so  wenig  genaue,  durch  Sektionen  gestützte  Untersuchungen 
vor,  dass  sich  gerade  über  diesen  Punkt  kaum  etwas  anderes  als  Ver- 
muthungen äussern  lassen  dürften.  Intrauterine  Erkrankungen  des  Ge- 
hirns, der  Meningen  u.  s,  w.  werden  ganz  gewiss  in  vielen  Fällen  als 
pathologischer  Boden  der  Atrophie  angesehen  werden  können,  doch 
müssen  wir  verlässliche  Mittheilungen  eben  noch  von  zukünftigen  Unter- 
suchungen erwarten. 

Ueber  das  Auftreten  der  kongenitalen  Sehnervenatrophie  an  mehreren 
Kindern  derselben  Familien  wären  noch  folgende  Bemerkungen  von 
Interesse. 

2  Geschwister  einer  Familie  waren  mit  Atrophia  opt.  cong.  behaftet  9  mal 

4  „  >j      »       ))         )}      ))         i>      ^  » 

5  »  j)       »         »      ))       )j         j)      )>         "      ^  " 
Im  extrauterinen  Leben,  und  zwar  schon  in  frühen  Jahren  hatten 

von  den  113  Blinden  unseres  Materials  7  folgende  Störungen  erworben : 

4  mal  epileptische  Anfälle,  Imal  Lähmung  der  unteren  Extremitäten, 
1  mal  Rhachitis,  1  mal  Tuberkulose. 

Mikrophthalmus.  Ueber  die  ätiologischen  Momente  liegen 
folgende  Mittheilungen  vor:  39 mal  gesunde,  nicht  verwandte  Eltern; 

5  mal  waren  die  Eltern  krank  und  6  mal  verwandt.  In  3 1  Fällen  sind 
verlässliche  Angaben  über  die  Eltern  nicht  gemacht  worden. 

Ueber  die  Krankheiten  der  Eltern  ist  nur  ein  ausführlicher  Bericht  vor- 
handen, und  zwar  betrifft  derselbe  eine  mit  Myopie  und  Cataracta  partialis 
behaftete  Frau,  welche  zwei  mit  Mikrophthalmus  behaftete  Knaben  zeugte. 

Die  Beobachtungen,  welche  an  den  verkümmerten  Augäpfeln  ge- 
macht wurden,  sind  ziemlich  zahlreich,  indem  in  47  Fällen  genauere 
Mittheilungen  über  anderweitige  Befunde  an  den  Bulbis  vorliegen. 

Der  Mikrophthalmus  war  komplizirt 
20  mal  mit  Cataract, 
12    „     „    Coloboma  Iridis, 
4    „      „    Coloboma  Iridis  et  Chorioideae, 
1    „     „  Irideremie, 


—    46  ~ 


4  mal  mit  Sklerosis  corneae, 
2    „      „    Atrophia  nervi  optici, 
1    „      „  Chorioiditis, 

1  Pigraentwucherung  im  Bulbusinneren, 

1    „      „  Glaskörpertrübungen, 
1    „     „    Fehlen  einzelner  äusserer  Augenmuskeln. 
In  drei  Fällen  war  auf  der  einen  Seite  ein  Mikrophthalmus,  auf 
der  andern  Anophthalmus  vorhanden;  eine  bis  jetzt  nur  vereinzelt  ge- 
machte Beobachtung.  In  einem  dieser  von  mir  untersuchten  Fälle  war 
der  Anophthalmus  mit  einer  in  der  unteren  inneren  Orbitalgegend  ge- 
lagerten Cyste  vergesellschaftet;  die  Natur  dieser  Cysten  ist  in  neuerer 
Zeit  bekanntlich  von  Arlt^)  dahin  erklärt  worden,  dass  dieselben  durch 
^ine  Ausbuchtung  der  Bulbuswand  entstehen;  unter  der  Gewalt  des 
intraoculären  Druckes  wird  der  Inhalt  des  Bulbus  durch  die  unvoll- 
ständig oder  gar  nicht  geschlossene  fötale  Augenspalte  aus  dem  Innern 
des  Augapfels  herausgepresst  und  bildet  so  ein  ausserhalb  des  BuIIdus 
liegendes  Gebilde,  eben  die  schon  oft  beobachteten,  in  ihrer.Genese  aber 
immer  noch  so  räthselvollen  Cysten. 

Ueber  den  pathologischen  Vorgang,  welcher  den  angeborenen  Mikroph- 
thalmus erzeugt,  geben  unsere  Fälle  nur  theilweise  Aufschluss.  Für  em 
knappes  Viertel  derselben  ist  der  Einfluss  desColoboma  oculi  erwiesen. 
Wie  oft  es  sich  in  den  anderen  Fällen  um  Entwickelungsstörungen  handelt  • 
•oder  um  entzündliche  Vorgänge  an  dem  bereits  entwickelten  Bulbus  mit 
Ausgano-  in  Phthisis  bulbi  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden.  Durch  die 
Beobachtungen  von  de  Vincentiis')  ist  in  neuester  Zeit  die  Möglichkeit  aufs 
Neue  bewiesen  worden,  dass  unter  Umständen  der  angeborene  Mikroph- 
thalmus lediglich  als  das  Produkt  einer  intrauterinen  Panophthalmitis 
angesehen  werden  müsse.  Von  Interesse  sind  in  den  Beobachtungen  von 
Vincentns  noch  die  Veränderungen  der  Lider,  welche  sich  als  sekundäre 
Folgeerscheinungen  an  die  intrabulbäre  intrauterine  Entzündung  an- 
«chliessen;  nämlich  Entropium,  Verkümmerung  der  Tarsi,  cysüsche  Er- 
weiterungen Meibom'scher  Drüsen  u.  dgl.  m.  Vincentiis  vertx-itt  die  Ansicht, 
dass  diese  Lidveränderungen  beim  Mikrophthalmus  keinerlei  Hemmungs- 
bildungen darstellen,  sondern  lediglich  als  unmittelbare  Folgeerschem- 
ungen  des  ursprünglichen  entzündlichen  Prozesses  anzusehen  sind. 

 ^TÄ'^vickelung  des  Mikrophthalmus  ""d  Anophthal- 

^ns  congenitus.    Anzeiger  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  m     .en  l88o. 

''i  de  VincenUis,  Bilateraler  angeborener  Mikrophthalmus  mit 
.ielfiche.  Entwiikluugsfehleru  des  Herzens,  "ruaz.  d.  med. 
e  di  Chirurg.    Band  IL  1885,  und  Anali  di  Ottalm.    Band  XH  •  1. 


—    47  — 


Die  Bliudeu  waren  in  7  Fällen  mit  folgenden  anderweitigen  kon- 
genitalen Störungen  behaftet: 
3  mal  Idiotismus, 

1    „    Verkrüppelimg  der  Finger  beider  Hände, 

1    „    grosser  Nävus  einer  Gesichtshälfte, 

1    „    schwere  Sprachstörung, 

1    „    allgemeine  Entwickelungshemmung, 

1    „  Epilepsie. 

An  den  Geschwistern  wurden  in  12  Fällen  angeborene  Störungen 
beobachtet,  und  zwar  folgende  Formen,  wobei  auch  hier  Aviederholt  an 
einem  Individuum  mekrere  Gebrechen  auftraten: 
10  mal  Mikrophthalmus, 
2    „    Ati'ophia  nervi  optici, 
2    „  Myopie, 
10    „    nicht  näher  bestimmte  Blindheitsformen, 
1    „  Blödsinn, 
1    „  Epilepsie. 

Von  Krankheiten,  welche  die  Blinden  später  erworben  haben,  be- 
richten 4  Fälle:  1  mal  trat  ein  Taubheit,  Imal  Epilepsie,  1  mal  Rück- 
gratsverkrümmung, 1  mal  Scrofulose. 

Retinitis  pigmentosa.  Ueber  die  ätiologischen  Verhältnisse 
wäre  zu  berichten,  dass  7  mal  Krankheit  der.  Eltern  vorlag,  12  mal 
Konsanguinität,  1 1  mal  kollaterale  Erblichkeit,  4  mal  Ererbung  aus  den 
FamUien  der  gesunden  Eltern. 

Ueber  die  Krankheiten  der  Eltern  sind  folgende  näheren  Angaben 
gemacht  worden:  3  mal  Syphilis  des  Vaters;  1  mal  Geisteskranklieit 
des  Vaters;  1  mal  Taubheit  des  Vaters  (Tochter  Ret.  pig.  und  Taub- 
heit) ;  1  mal  Hemeralopie  der  Mutter ;  1  mal  Augenaffektion  der  Mutter 
ohne  bestimmte  Angaben.  Es  sei  mir  gestattet,  noch  einige  wenige 
Worte  über  den  Fall  zu  sagen,  in  welchem  der  Vater  geisteskrank  war. 
Dieser  Mann  zeugte  6  Kinder  mit  einer  Frau,  m\d  von  diesen  6  Kindern 
wiurden  5  taubstumm  und  1  taubstumm  und  blind  durch  Retinitis 
pigmentosa  geboren.  Die  Mutter  hatte  in  erster  Ehe  mit  einem  gesunden 
Mann  lauter  gesunde  Kinder  erzeugt. 

Ueber  die  Komplikationen,  welche  an  den  Augen  unserer  Blinden 
bemerkt  wurden,  liegen  12  ausführliche  Berichte  vor ;  demnach  trat  auf: 
5  mal  Cataracta  partialis, 
2    „    Mikrophthalmus  leichten  Grades, 

2  „  Keratoconus, 

3  „    Sklerose  der  Cornea,  davon  2  mal  gerade  im  Centrum  der  Hornhaut. 


—    48  — 


In  17  Fällen  wurden  an  den  mit  Retinitis  pigmentosa  behafteten 
Individuen  noch  folgende  andere  angeborene  Gebrechen  beobachtet: 
5  mal  Taubstummheit, 
4    „    hochgradige  Schwerhörigkeit, 
4    „  Blödsinn, 

1    „    Mikrocephalie  leichten  Grades, 
1    „    Ueberzählige  Finger  und  Zehen, 
1    „    hochgradige  Rhachitis, 
1    „  Epilepsie, 

Hiernach  ist  also  in  12,337.  aller  unserer  Fälle  Schwerhörigkeit  oder 
Taubheit  vorhanden;  Leber  schätzt  das  betreffende  Verhältniss  auf  etwa 
207o ;  Hocquard  fand  337o ;  Derigs  6,6Vo ;  Schäfer  5,27o,  Wider^)  19,57«. 

Was  nun  die  Geschwister  der  Blinden  anlangt,  so  sind  sie  in  recht 
ausgedehntem  Maasse  belastet,  und  zwar  sind  folgende  kongenitale  Ge- 
brechen auch  an  ihnen  nachweisbar  gewesen: 
35  mal  Retinitis  pigmentosa, 

5  „    angeborene  Blindheit  unbestimmter  Natur  (wahrscheinlich  EeL 

pigm.), 

4    „    Myopie  bei  mehreren  Geschwistern, 
2    „  Hemeralopie, 

6  „  Taubstummheit, 
2    „  Schwerhörigkeit, 

1    „    hochgradige  Rhachitis. 

Ueber  die  Verbreitung  der  Retinitis  pigmentosa  in  einer  Familie 
sei  noch  bemerkt,  dass   18  mal  2  Geschwister  davon  befallen  waren 
2  mal   3,   1  mal  4  und  1  mal  5.    In  den  übrigen  FäUen  konnte  ich 
über  die  Häufung  der  Retinitis  nichts  Genaues  erfahren. 

Ueber  später  erworbene  Krankheiten  der  Blinden  liegen  mir  4 
Nachrichten  vor,  danach  wurde  1  Mädchen  im  3.  Leben^hr  von 
Epilepsie,  2  von  hochgradiger  Schwerhörigkeit  und  1  Mädchen  von 

Meningitis  befallen.  it.-  *  -4^ 

Es  sei  mir  gestattet,  noch  einige  Bemerkungen  über  den  Emtntt 
der  vollständigen  Blindheit^)  zu  machen.    In  47  Fällen  erinnern  sich 

.)  Man  vergleiche  die  von  mir  citirten  Angaben  bei  Wider  p.  229  und  230. 

3  Bereits  früher  habe  ich  darauf  hingewiesen,  dass  man,  je  nachdem  die 
Blindheit  bei  der  Geburt  schon  vollständig  ausgebildet  oder  nur  in  der  Anlage 
V  banden  ist,  eine  angeborene  Blindheit  und  eine  angeborene  Erblindung  untei^ 
Icheiden  könne.  Ich  habe  aber,  um  in  mein  Zahlenmaterial  kerne  Verwirrung 
.u  bringen,  von  einer  Durchführung  dieser  Eintheilung  in  meiner  vorliegenden 
Arbeit  Abstand  genommen. 


—    49  — 


die  Blinden  nicht,  jemals  gesehen  zu  haben  und  soll  nach  den  Aussagen 
ilu-er  Angehörigen  an  ihnen  niemals  eine  Spur  von  Sehvermögen  be- 
merkt worden  sein.  In  18  Fällen  wird  sicher  die  Existenz  von  Seh- 
vermögen angegeben  und  für  dessen  Verlust  ein  bestimmtes  Lebensjahr 
bezeichnet  und  zwar  soll  die  Blindheit  eingetreten  sein : 

2  mal  im    2.  Lebensjalu'  1  mal  im    8.  Lebensjahr 


2 
1 
2 
4 


3. 
5. 
6. 
7. 


1 
1 
1 

3 


))  )> 


11. 

14. 
19. 
20. 


Die  Anwesenheit  von  Hemeralopie  vor  Eintritt  der  Blindheit  wird 
mit  vollster  Sicherheit  von  allen  den  Patienten,  die  sich  überhaupt  des 
Sehens  noch  erinnern,  angegeben. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  scheinen  mir  noch  vier  Fälle  zu 
sein,  in  denen  die  Verschlechterung  der  Hemeralopie  zur  Blindheit  mit 
vollster  Bestimmtheit  auf  eine  schwere  Körpererkrankung  zurückgeführt 
wird.  In  zweien  dieser  Fälle  wurden  ein  Scharlachfieber,  in  einem  Masern 
und  in  einem  anderen  Keuchhusten  als  diejenigen  Krankheiten  bezeichnet, 
welche  zu  einer  schnellen  Entwickelung  der  Blindheit  Anstoss  gegeben 
haben  sollten.  Die  Möglichkeit,  ja  sogar  die  Wahrscheinlichkeit,  dass 
schwere,  das  Allgemeinbefinden  stark  beeinträchtigende  Krankheiten  eine 
schnellere  Entwickelung  einer  in  der  Anlage  resp.  in  den  ersten  An- 
fängen befindlichen  Retinitis  pigmentosa  bewirken  können,  scheint  mir 
durchaus  vorhanden.  Wissen  wir  ja  doch,  dass  schwere  Allgemein - 
erkrankungen  sehr  wohl  die  Entfaltungsreize  für  die  verschiedensten 
Kraukheitskeime  abgeben  können;  so  treten  ja  bekanntlich  Skrofulöse 
und  Tuberkulose  gern  im  Gefolge  der  acuten  Exantheme  auf 

Nach  Leber  ^)  soll  das  weibliche  Geschlecht  gegen  die  Retinitis 
pigmentosa  eine  relative  Immunität  zeigen,  während  das  männliche  Ge- 
schlecht entschieden  mehr  für  diese  Affektion  disponirt  sein  soll;  das 
Verhältuiss,  nach  welchem  sich  die  Retinitis  pigmentosa  auf  beide  Ge- 
schlechter vertheilt,  ist  nach  diesem  Forscher  76  7o  auf  die  Männer  und 
24 "/..  auf  die  Frauen.  Unser  Material  ergibt  nun  Resultate,  welche  mit 
dem  von  Leber  angegebenen  nicht  übereinstimmen.  Die  73  Fälle  von 
Retinitis  pigmentosa  unserer  Untersuchungsreihe  gruppiren  sich  allerdings 
HO,  dass  40  =  55  7o  auf  die  Männer  und  33  =  45  7o  auf  die  Frauen  ent- 


')  Leber,  Die  Kranklieiteu  der  Netzhaut  u.  s.  w. 
gesammteu  Augcnlieilkunde.    Baud  V,  Tlieil  5,  p.  65G. 
Magnas,  JngeuablinUheit. 


Haiidbucli  der 


—    50  — 


fallen.  Scheinbai-  wäre  hiernach  also  auch  ein,  wenn  auch  nui-  klemes 
Uebergewicht  auf  Seiten  des  männlichen  Geschlechtes  vorhanden;  doch  ist 
dieser  Unterschied  nur  ein  scheinbarer.  Bringe  ich  nämlich  die  absoluten 
Zahlen  40  und  33,  welche  ich  für  die  Retinitis  pigmentosa  zähle,  mit  der 
Gesammtsumme  der  in  meinem  Material  vorhandenen  männlichen  und 
weiblichen  Blinden  in  Beziehung,  so  ergibt  sich  ein  erheblich  anderes  Ver- 
hältniss;  alsdann  entfallen  nämlich  auf  das  männliche  Geschlecht  1,9 
und  auf  das  weibliche  2,8.  Hiernach  also  ist  von  einem  Ueberwiegen  der 
Neigung  zur  Retinitis  pigmentosa  auf  Seiten  des  männlichen  Geschlechtes 
nicht  die  Rede,  wenigstens  was  unser  Material  anlangt.  Würden  wir  uns 
damit  begnügt  haben,  einfach  unter  unseren  73  FäUen  die  Zahl  der 
männlichen  und  weiblichen  Blinden  zu  bestimmen  und  in  der  so  ge- 
fundenen Zahl  nun  den  Ausdruck  der  grösseren  Neigung  von  Seiten 
des  einen  Geschlechtes  zu  sehen,  so  hätte  unser  Resultat  ja  mit  dem 
Leber'schen  annähernd  gestimmt.    Doch  gehört  zu  einer  einigermassen 
sicheren  statistischen  Bestimmung  doch  noch  mehr,  als  die  einfache 
Scheidung  in  die  Zahl  der  männlichen  und  weiblichen ;  vor  Allem  ist 
hier  erforderlich,  die  absolute  Zahl,  welche  auf  die  beiden  Geschlechter 
entfällt,  mit  der  Zahl  der  untersuchten  Männer  und  Frauen  überhaupt 
in  Beziehung  zu  setzen.    Thut  man  dies,  so  erhält  man  eben  sehr 
leicht  völlig  andere  Ergebnisse,  wie  dies  unser  Beispiel  zeigt.  Leber 
konnte  nun  aber  seine  Zahlen  nicht  mit  anderen  in  Beziehung  setzen, 
es  fehlten  ihm  die  Kontrollzahlen  und  deshalb  erhielt  er  em  Resultat, 
das  nur  scheinbar  eine  Bedeutung  hat.  Nach  unseren  heutigen  Befunden 
kann  die  Lehre  von  der  relativen  Immunität  des  weiblichen  Geschlechtes 
gegen  Retinitis  pigmentosa  wohl  als  überwunden  angesehen  werden. 
Zum  Ueberfluss  will  ich  das  prozentarische  Verhältniss,  in  welchem  die 
Zahl  der  Retinitis  pigmentosa  zu  der  Anzahl  der  untersuchten  männlichen 
und  weiblichen  Blinden  in  verschiedenen  Ländern  steht,  noch  anfiihren : 

mäuul.  weibl. 

In  den  belgischen  Anstalten  unseres  Materials  sind  0,00  °  o    2,94  "/o 

„    „    holländischen      „  „  »  "    ^'^^  "    ^^'^^ " 

1.1,  »    3,10,,     3,32  „ 

„    „    deutschen  „  "  "    ^'  ^ 

italienischen       „  .,  »-M  ■>  ^-f" 

1,20,,  1,69,, 

„    „    österr.-ungar.      „  „  »  "  '  ^ 

"    "  .  ,  „    1,28,,  1,56,, 

„    „    i-ussischen  „  „  "  ' 

„    „    schweizerischen  „  „  „  "    2,43,  u,uu 

Auch  die  Mittheilung  Le6erX  wonach  in  FamUien,  wo  die  Retinitis 
pigmentosa  heimisch  ist,  die  weiblichen  Mitglieder  häufig  v--chmit  «de«- 
in  kleinerer  Zahl  ergriffen  werden,  findet  nach  meinen  heutigen  Er- 


—    51  — 


fahrungen  keine  Bestätigung.  Icli  habe  in  meinem  Material  2 1  Familien 
gefunden,  in  denen  Retinitis  pigmentosa  zu  Haus  ist  und  in  15  der- 
selben ist  von  einem  grösseren  Ergriffensein  des  männlichen  Geschlechtes 
keine  Rede.  Wir  werden  hiernach  also  wohl  gut  thun,  vor  der  Hand 
das  Blindenkonto  des  männlichen  Geschlechtes  nicht  mit  einer  grösseren 
Ziffer  von  Retinitis  pigmentosa  zu  belasten,  als  wie  das  weibliche.  Das 
Verhältniss  ZNvischen  beiden  Geschlechtern  scheint  mir  annähernd  das 
gleiche  zu  sein,  wie  dies  für  die  deutschen  Blindenanstalten  bestimmt 
der  Fall  ist.  Uebrigens  trifft  dieses  "V^erhältniss  auch  bei  der  Retinal- 
atrophie  zu;  denn  hier  ergibt  unser  Material  für  das  männliche  Ge- 
schlecht 0,59,  für  das  weibliche  0,42%. 

Buphthalmus.  Was  zuvörderst  die  ätiologischen  Angaben 
anlangt,  so  wird  2 mal  Krankheit  der  Eltern  angegeben;  in  6  Fällen 
fehlen  die  Angaben  über  die  Eltern;  in  30  Fällen  sollen  die  Erzeuger 
gesund  gewesen  sein,  aber  8  mal  zu  kollateraler  Erblichkeit  Veranlass- 
ung gegeben  haben.  In  den  zwei  Fällen  elterlicher  Krankheit  handelte 
es  sich  um  Tuberkulose  beider  Erzeuger. 

Ueber  die  an  den  erblindeten  Augäpfeln  gemachten  Befunde  liegen 
folgende  Mittheilungen  vor: 

In  5  Fällen  zeigte  die  ausführbare  ophthalmoskopische  Untersuch- 
ung das  typische  Bild  einer  glaucomatösen  Papille.  Einen  dieser  Fälle 
habe  ich  selbst  wiederholt  genau  untersucht  und  die  Excavation  in 
höchst  charakteristischer  Weise  ausgeprägt  gefunden.  6  mal  war  eine 
erhöhte  Spannung  des  Bulbus  nachweisbar,  ohne  dass  die  ophthalmos- 
kopische Untersuchung  sich  als  ausführbar  erwies.  Im  Ganzen  waren 
also  unter  38  Fällen  11  mal,  d.  h.  in  28,95  "/o  glaucomatöse  Erschein- 
vmgen  nachweisbar.  Auffallende  Weichheit  der  Bulbi  wurde  1  mal  beob- 
achtet; Trübungen  der  Cornea  12 mal,  Trübungen  der  Linse  16 mal. 
Imal  wurde  im  Glaskörper  ein  gelblich  schillerndes  Exsudat  gesehen, 
4  mal  Verschluss  der  Pupille,  1  mal  Luxatio  lentis,  Imal  war  einColo- 
boma  Iridis  vorhanden ;  1  mal  Sublatio  retinae  und  in  einem  anderen  Fall 
wurde  eine  Chorioiditis  besonders  in  den  peripheren  Theilen  des  Augen- 
grundes mit  totaler  Atrophia  nervi  optici  gefunden.  Auffallend  oft,  in 
9  Fällen  von  allen  38,  ist  ein  Auge  phtisisch,  doch  Hess  es  sich  nicht  in 
allen  Fällen  mit  Bestimmtheit  entscheiden,  ob  eine  traumatische  Ursache 
oder  spontane  Berstung  die  Phtise  eingeleitet  hatte.  Die  Möglichkeit 
beider  Vorgänge  ist  bei  dem  Zustand  der  megalophthalmischen  Seh- 
organe ja  in  ziemlich  gleicher  Weise  gegeben. 

Die  blindgeborenen  Individuen  zeigten  nur  in  drei  Fällen  noch 
ein  anderweitiges  kongenitales  Gebrechen,  nämlich  2  mal  Blödsinn  und 

4* 


62  — 


Imal  grosse  geistige  Schwäche.  Dass  Störungen  in  der  Entwickelung 
der  Gehirns  gerade  bei  Megalophthalmus  nichts  Seltenes  sind,  hatten  wir 
schon  in  unserer  früheren  Blindenuntersuchung  gefimden ;  i)  damals 
wurde  unter  14  Fällen  von  Buphthalmus  3  mal  Hydrocephalus  ermittelt 
Die  Geschwister  unserer  Blinden  waren  9  mal  mit  kongenitalen 
Gebrechen  behaftet,  wobei  wiederholt  in  einer  Familie  mehrere  Geschwister 
befallen  waren  oder  eine  Person  mehrere  Gebrechen  aufzuweisen  hatte; 

es  fanden  sich: 

5  mal  mit  hohen  Graden  von  Myopie. 

7  angeborener  Blindheit  unbekannter  Art 

1   „     „  Epilepsie. 

1    „     „    Lähmung  verschiedener  Glieder. 

1  „  „  Incontinentia  urinae. 
Für  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  es  sich  beim  Megalophthalmus 
congenitus  um  ein  kongenitales  Glaucom handele,  welches,  v,iePjlüger  ^) 
jüngst  gefunden  hat,  durch  eine  sclerosirende  Entzündung  des  Kammer- 
winkels bedingt  wird,  oder  ob  das  Primäre  des  Prozesses  eme  Uveitis 
resp  Cyclitis  serosa  ist  und  alle  übrigen  Erscheinungen  nur  als  Folge- 
zustände anzusehen  sind,  vermag  mein  Material  in  keiner  Weise  emen 
entscheidenden  Beitrag  zu  liefern. 

Desgleichen  vermag  ich  über  die  von  Dürr^)  geäusserte  Vermuth- 
ung,  dass  der  Megalophthalmus  in  gewissen  Gegenden  von  Nord- 
deutschland besonders  häufig  aufzutreten  scheine,  kein  entscheidendes 
Urtheil  zu  fäUen.  AUerdings  kommt  ja  der  Megalophthalmus  m  der 
Blinden -Anstalt  zu  Hannover  in  einem  ziemlich  hohen  Prozentsatz, 
nämlich  9,1  'Vo  vor,  doch  habe  ich  in  andern  deutschen  Blinden-Anst^lten 
Prozentsätze  gefunden,  welche  dem  von  Hannover  sich  nähern  ja  im 
sogar  weit  übertreffen.    Doch  daif  man  niemals  vergessen,  dass  die 

l  Ein"  ziasa— Stellung  der  über  das  Wesen  des  Buphthaljnus  congenitus 
geäusserten  Theorien  findet  man  bei:  GraUaner,  Zur  P^t^^^;^-;;;; 
Inatomie  des  Hy  dr Ophthal mus  congenitus.  Archiv  für  Ophthalmologie 

^^'^''Pflüger,  Universitäts- Augenklinik  in  Bern,  Bericht  für 
das  Jahr  1882.    Bern  1884,  p.  36—63.  ,      •     ,     mi  vficrkeit  in 

••K«v  rlie  Blinden-Anstalt  in  Hannover  und  einer  Zusammen 
1886.  p.  22. 


—    53  — 

Verhältnisse  eiuer  jeden  Blinden-Anstalt  numerisch  zu  geringe  sind,  um 
einen  massgebenden  statistischen  Schluss  aus  ihnen  ziehen  zu  dürfen. 
Allerdings  liegt  ja  bezüglich  Hannover  die  Sache  insofern  anders,  als 
Dürr  neben  den  Beobachtungen  in  der  Blinden-Anstalt  noch  über  zahl- 
reiche Beobachtungen  aus  einer  umfassenden  Praxis  verfügt  und  sich 
so  aus  diesen  beiden  Beobachtungsreihen  schon  eher  ein  einigermassen 
verlässlicher  Rückschluss  auf  das  häufige  Vorkommen  des  Megalophthal- 
mus  in  den  nördlichen  Theilen  von  Hannover,  in  Oldenburg  und  Bremen 
ziehen  lässt. 

Chorioiditis.  Die  Beschreibungen  gedenken  alle  übereinstimmend 
einer  mehr  oder  minder  atrophischen  Papilla  optica,  Pigraentanhäufungen 
in  den  verschiedensten  Theilen  des  Augengrundes,  atrophischen  Stellen 
des  Hintergi-undes.  In  1  Falle  war  1  Coloboma  chorioideae  vorhanden ; 
1  mal  Irisschlottem ;  2  mal  auf  einem  Auge  Sublatio  retinae ;  2  mal 
leichte  Phtisis. 

Kongenitale  anderweitige  Belastungen  der  Blinden  wurden  3  mal 
geftmden ;  1  mal  Mikrocephalus ;  1  mal  Störungen  des  geistigen  Gleich- 
gewichtes und  1  mal  Epilepsie. 

An  den  Geschwistern  wurden  in  7  Fällen  angeborene  Gebrechen 
beobachtet  und  zwar  folgende  Formen,  wobei  auch  wieder  an  einer 
Person  verschiedene  Affektionen  gefunden  wurden: 

5  mal  Chorioiditis  congenita, 

2  „    cerebrale  Amaurose, 

3  „    Amaurose  unbekannter  Art, 
1  „  Taubheit, 

1  „  Idiotismus. 
Von  diesen  7  Fällen  möchte  ich  folgender  noch  besonders  gedenken : 
in  dem  einen  sind  5  Geschwister,  3  Mädchen  und  2  Knaben  vorhanden, 
alle  3  Mädchen  sind  blind  geboren,  die  Knaben  aber  sehend.  In  dem 
anderen  Fall  handelt  es  sich  um  eine  Familie  mit  4  Kindern,  2  Brüder 
und  2  Schwestern,  welche  alle  4  mit  Chorioiditis  geboren  worden  sind. 
Hereditäre  oder  konsanguine  Belastung  können  in  beiden  Fällen  nicht 
zur  Erklärung  herangezogen  werden. 

Retinalatrophie.    An  den  Blinden  selbst  waren  anderweitige 
angeborene  Gebrechen  nicht  nachweisbar,  dagegen  öfters  au  den  Ge- 
schwistern derselben  und  zwar  9  mal,  nämlich : 
12  mal  Retinalatrophie, 
2  „    unbekannte  Formen  der  Amaurose, 
1   „  Blödsinn, 
1   „  Stummheit. 


—    B4  — 


Gauz  besonderH  oft  siud  mehrere  Geschwister  des  Blindau  belastet, 
so  sind  in  einer  Familie  5  blind  geborene  Kinder,  in  zwei  anderen  4. 

Irido Chorioiditis.    Während  an  den  Blinden  selbst  ange- 
borene Missbildungen  nicht  beobachtet  wiu-den,  fanden  sich  solche  an 
den  Geschwistern  in  5  Fällen  und  zwar-: 
1  mal  Iiidochorioiditis, 
1   „    Atrophia  nervi  optici, 
3  „    Blindheit  unbekannter  Form, 
1  „  Blödsinn. 

Myopie.  Die  Beschreibungen,  welche  über  die  4 Fälle  vorliegen, 
gedenken  durchgängig  Veränderungen  an  der  Macula  und  dem  Hinter- 
grund, wie  sie  ähnlich  auch  bei  acquirirter  Myopie  beobachtet  werden. 

Die  Geschwister  der  Blinden  waren  in  3  Fällen  kongenital  belastet: 
2 mal  Myopia  congenita;  1  mal  handelte  es  sich  um  eine  FamUie  mit 
6  Kindern,  die  alle  durch  Myopia  excessiva  entweder  blind  oder^  hoch- 
gradig amblyopisch  waren;  der  Vater  war  amblyopisch,  doch  die  Ur- 
sache seiner  Amblyopie  nicht  bekannt.    1  mal  Amaurosis  congenita 

unbekannter  Art. 

Die  Eltern  waren  in  3  Fällen  mit  hochgradiger  Myopie  behaftet. 

Albini smus.  In  den  4  Fällen  von  Albinismus,  welche  unser 
Material  zählt,  war  zwar  keine  Amaurose,  aber  doch  eine  so  hoch- 
gradige Amblyopie  vorhanden,  dass  eine  Erziehung  in  der  Blinden- 
Anstalt  erforderlich  war.  Ich  selbst  habe  2  Fälle  von  Albinismus  bei 
einem  Brüderpaar  untersucht.  Die  Eltern  dieser  total  albinotischen 
Brüder  waren  vollkommen  gesund  und  hatten  fünf  Khider,  von  denen 
zwei,  die  von  mir  untersuchten  Brüder,  Albinos  waren.  Die  Geburten 
beider  folgten  nicht  aufeinander,  vielmehr  wurden  nach  der  Gebm-t  des 
ältesten  Albino  zwei  normale  Kinder  und  erst  dann  der  zweite  Albmo 
geboren.    Die  Sehschärfe  war  bei  dem  ältern  bei  dem  jüngeren 

2  0  Hochgradiger  Nystagmus  erschwerte  die  ophthalmoskopische  Unter- 
suchung zwar,  doch  konnte  ich  bei  wiederholten  Sitzungen  mich  voll- 
ständig über  den  Zustand  des  Augengrundes  unterrichten.  Der  gelbliche 
Hintergrund  mit  den  scharf  ausgeprägten  Chorioidalgefässen  bot  ein 
prächtiges  Bild.  Die  Papilla  optica  erschien  mir  in  beiden  Fällen  ganz 
auffallend  verändert.  Die  Färbung  derselben  zeigte  ein  eigenthümbches 
Graugelb  bei  dem  einen,  bei  dem  anderen  eine  an  Atrophie  erinnernde 
Blässe.  Diejenige  Papille,  welche  graugelb  erscliien,  zeigte  ausserdem 
noch  wenig  scharf  gezeichnete  Umrisse.  Beide  Brüder  waren  hypei- 
metropisch. 


—    55  — 


Die  Belastung  der  Geschwister  trat  in  3  Fällen  auf  und  zwar 
zeigten  in  allen  3  Fällen  mehrere  Kinder  einer  Familie  dasselbe  Ge- 
brechen. 

K er ato Conus.  Trotzdem  ophthalmoskopisch  keine  besonderen 
Veränderungen  nachweisbar  waren,  bestand  doch  in  allen  3  hierher 
gehörigen  Fällen  Amblyopia  höchsten  Grades.  In  einem  Fall  war  die 
Spitze  des  Keratoconus  auf  beiden  Augen  in  breitem  Umfang  getrübt. 

An  den  Blinden  selbst  wurde  in  einem  Fall  Ehachitis  beobachtet. 

Die  Geschwister  waren  in  2  Fällen  kongenital  belastet  und  zwar 
mit  folgenden  Formen,  wobei  auch  wieder  an  einer  Person,  resp.  in 
einer  Familie  mehrere  Gebrechen  nachweisbar  waren : 

2  mal  angeborene  Blindheit  unbekannter  Natur, 
1   „  Blödsinn, 

1  „    Lähmung  der  unteren  Extremitäten. 

Coloboma  chorioideae.  Es  bestand  in  allen  3  Fällen  eine 
hochgi-adige  Amblyopie.  Besonders  ist  ein  Fall  bemerken  swerth,  in 
welchem  das  Colobom  wenigstens  den  fünften  Theil  des  ganzen  Hinter- 
grundes einnahm,  beiderseits  vorkam  und  mit  excessiver  Hypermetropie 
vergesellschaftet  wai*.    Iriscolobom  war  alle  3  mal  vorhanden. 

Nicht  bestimmte  Formen.  Hier  wäre  nur  der  Häufung 
angeborener  Gebrechen  zu  gedenken.  An  den  Blinden  selbst  wurden 
beobachtet : 

2  mal  Blödsinn, 

1   „  Hydrocephalus, 
1    „    Lähmung  der  unteren  Extremitäten. 
An  den  Geschwistern  wurde  gefunden: 

17  mal  angeborene  Amam'ose  unbekannter  Natur, 
1   „  Epilepsie. 

§  10.  Die  Häufung  kongenitaler  Belastung. 

Wenn  ich  alle  diejenigen  Fälle  nochmals  in  einem  besonderen 
Paragraphen  zusammenfasse,  in  welchen  die  angeborene  Amaurose  von 
einer  Häufung  kongenitaler  Gebrechen,  sei  es  an  der  Person  der  Blinden, 
sei  es  in  den  Familien  derselben,  begleitet  ist,  so  geschieht  dies,  weil 
ich  der  Ansicht  bin,  dass  eine  derartige  systematische  Zusammenstellung 
den  besten  Ueberblick  über  alle  hierher  gehörenden  Erscheinungen  ge- 
stattet. Die  genaue  Kenntniss  der  fraglichen  Erscheinungen  dürfte  aber 
für  die  Beurtheilung  der  ätiologischen  Momente,  welche  die  Häufung 


—    56  — 


kougeuitaler  Gebrechen  veranlasseu,  vielleicht  nicht  ohne  alle  Bedeutung 
sein.  Uebrigens  habe  ich  bei  den  folgenden  Zusammenstellungen  darauf 
nicht  Rücksicht  genommen,  ob  Heredität,  Konsanguinität  oder  kollaterale 
Erblichkeit  nachweisbar  sind,  sondern  ich  habe  alle  diejenigen  Fälle, 
in  denen  entweder  an  der  Person  der  Blinden,  oder  an  anderen  Familieu- 
gliederu  derselben  noch  angeborene  Missbildungen  gefunden  wurden, 
zusammengestellt  gänzlich  unbekümmert  um  die  etwaigen  Entstehungs- 
lu-sacheu.    Es  fanden  sich  also  Häufting  kongenitaler  Gebrechen: 
Unter    73  Fällen  von  Retinitis  pigmentosa  56  mal  =  76,71°/«. 
113      „       „    Atrophia  nervi  optici  66   „    =  58,41  „ 
16      „        „    Retinalatrophie  9   „    =  56,25  „ 

21      „       „    Chorioiditis  9   „    =  42,86  „ 

14      „       „    Iridochorioiditis  5   „    =  35,71  „ 

38      „       „    Buphthalmus  12  „    =  31,58  „ 

118     „       „    Cataracta  complicata  29   „    =  24,58  „ 
81      „  Mikrophthalmus        19  „    =  23,46  „ 

Die  vorstehende  Tabelle  gibt  Aufschluss  darüber,  welche  Formen 
der  angeborenen  Amaurose  am  häufigsten  von  gleichzeitigem  Auftreten 
anderweitiger  kongenitaler  Missbildungen  an  der  Person  des  Blinden 
oder  an  Familienmitgliedern  desselben  begleitet  werden.    Bis  zu  einem 
gcAvissen  Grade  können  wir  aus  der  Zusammenstellung  die  Vermuthung 
ableiten,  welche  der  angeborenen  Erblindungsformen  am  häufigsten  als 
lokale  intrauterine  Augenerkrankungen  sich  entwickeln  und  bei  welchen 
komplizirtere  ätiologische  Faktoren  massgebend  sein  dürften.  Je  weniger 
häufig  die  angeborene  Erblindungsform  mit  anderen  Körpergebrechen 
vergesellschaftet  ist,  desto  mehr  werden  wir  der  Ansicht  zuneigen  können, 
dass  die  Entstehungsursache  einen  beschränkteren,  lokalen  Charakter  ge- 
tragen habe  und  umgekehrt.    Natürlich  kann  es  sich  hierbei  immer 
nur  um  Muthmassungen  allgemeinster  Natur  handeln. 

Was  nun  die  Komplikationen  der  angeborenen  Amaurose  mit  kon- 
genitalen Missbildungen  anderer  Organe  des  Blinden  selbst  anlangt,  so 
gibt  darüber  die  folgende  Tabelle  Aufschluss: 

Die  nervösen  Centraiorgane waren  34  mal  behaftet  =  56,67  7n 
Das  Gehör')  war  11  »       »  =  ^8,33  „ 

Rachitis  wurde  6  „    beobachtet  =  10,00  „ 


»)  Hydrocephalus,  Mikrocephalus,  Thurmschäldel,  Blödsinn,  Epilepsie,  ange- 
borene Lähmung,  geistige  Schwäche  kamen  zur  Beobachtung. 

>)  6  mal  Taubstummheit,  5  mal  bedeutende  Schwerhörigkeit. 


—    57  — 


Verkrüppeliuigen ')  wurden  5  mal  beobachtet  =    8,33  "/o 

Stönmgeu  der  Sprache  wrden  2  „         „        =    3,33  „ 

Nävus  wurde  1  „         „        =    1,67  „ 

Allgemeine  Entmckelungshemmung  wurde  l  „         „        =    1,67  „ 

Diese  Zusammenstellung  lehrt  uns  also,  dass  die  mit  angeborener 
Amaiu-ose  behafteten  Individuen  am  Häufigsten  Störungen  in  der  Eut- 
wickelung  des  Gehirns  und  demnächst  des  Gehörs  mit  auf  die  Welt  bringen. 

Es  bliebe  uns  noch  zu  untersuchen  übrig,  welche  Organe  am 
häufigsten  bei  den  Geschwistern  der  Blinden  kongenital  belastet  sind. 
Auch  hierüber  steht  uns  ein  ziemlich  reichhaltiges  Material  zur  Ver- 
fügung. Im  Ganzen  wurden  an  den  Geschwistern  266  kongenitale 
Gebrechen  nachgewiesen  und  zwar  vertheileu  sich  dieselben  über  die 
verschiedenen  Organe  in  der  folgenden  Weise: 


Das  Auge  war 

232  mal  behaftet 

87,22  7o 

Die  nervösen  Centi'alorgane ''^ 

waren     18  „  „ 

6,77  ,/ 

Das  Gehör  ^)  war 

11   ,,  ,) 

4,14  „ 

Rachitis  wurde 

1   „  beobachtet 

0,38  „ 

Verkrüppelung  wurde 

0,38  „ 

Störung  der  Sprache  wurde 

0,38  „ 

Tuberkulose  wurde 

0,38  „ 

Incontinentia  urinae  wurde 

0,38  „ 

Die  vorstehenden  Zahlen  zeigen  also,  dass  die  Geschwister  von 
blindgeborenen  Individuen,  werden  sie  mit  Missbild uugeu  geboren,  meist 
an  den  Augen  Schaden  aufzuweisen  haben;  und  zwar  ist  dieses  Ver- 
hältniss  ein  so  häufiges,  dass  es  für  mehr  als  drei  Viertel  aller  be- 
obachteten Fälle  massgebend  ist.  Demnächst  werden  bei  den  Ge- 
schwistern der  Blindgeborenen  die  nervösen  Centraiorgane  und  das 
Gehör  am  häufigsten  kongenital  belastet,  ein  Verhältniss,  welches  mit 
unseren  an  der  Person  des  Blindgeborenen  gemachten  Beobachtungen 
vollkommen  übereinstimmt. 

§  II.   Gewisse  ethnologische  Verhältnisse  sind  von  eiuzelueu 

Forschern  bekanntlich  als  die  Entstehung  der  Amaurose  besonders 
fordernd  angesehen  worden.  Vornehmlich  ist  es  die  Farbe  des  Auges 
gewesen,  aus  welcher  man  versucht  hat,  eine  grössere  oder  geringere 
Neigung  zur  Erblindung  herzuleiten.    Diese  Versuche  sind  übrigens 

>)  1  mal  Wolfsrachen  und  Hasenscliarte ,  4  mal  Verkiüppelungen  an  oberen 
oder  unteren  Extremitäten. 

')  Blödsinn  10,  Lähmung  5,  Epilepsie  3. 

')  Taubstummheit  8  mal,  Schwerhörigkeit  3  mal. 


—    68  — 


schon  recht  alt  uud  scheint  mau  früher  der  Ansicht  gehuhiigt  zu 
haben,   dass   in  den   dunkel   gefärbten  Augen  ganz    besondere  Er- 
blinduugsgefahren  schlummerten,  Erbluiduugsgefahreu,  welche  um  Vieles 
grösser  sein  sollten,  als  die  dem  hellen  Auge  drohenden.    So  schätzt 
z.  B.  Beer,^)  dass  auf  l  blaues  oder  graues  amaurotisches  Auge  immer 
25—30  dunkelgefärbte  kämen.    In  neuester  Zeit  war  es  besonders 
Muyr,'^)  welcher  diese  Hypothese  auf  breiter  statistischer  Basis  wieder- 
aufzuführen suchte.    In  meiner  früheren  Blindenuntersuchung  habe 
ich  diesen  Versuch  Mayr's  bereits  einer  kritischen  Beleuchtung  unter- 
zogen, und  darauf  hingewiesen  dass  die  Mayr'sche  Hypothese,  spricht 
sie  von  der  Amaurose  im  Allgemeinen  d.  h.  von   allen  Formen  der- 
selben, für  den  Arzt  absolut  unannehmbar  sei;  dass  man  medicinisch 
überhaupt  erst  dann  über  die  fragliche  Theorie  disputiren  könne,  wenn 
sie  sich  auf  bestimmte  Formen  der  Amaurose  beschränke.    Denn  es 
liegt  ja  auf  der  Hand,  dass  gewisse  Blindheitsformen,  als  da  smd  die 
Blennorrhoeblindheit ,  die  traumatische  Amaurose  u.  dgl.  m.   mit  der 
Farbe  des  Auges  auch  nicht  das  mindeste  zu  theilen  haben,  vielmehr 
von  Jedem ,  ganz  unbeschadet  der  Farbe  des  Auges  erworben  werden 
können.    Bei  anderen  Amaurosisformen  dagegen  scheint  die  Farbe  des 
Auges  eine  gewisse  Rolle  zuspielen,  so  z.  B.  beim  Glaucom,  wenigstens 
wird  dies  von  einer  Reihe  von  Autoren  behauptet.    Auch  füi-  die 
Iridochorioiditis  wird  von  einzelnen  Forschern,  so  z.  B.  in  der  jüngsten 
Zeit  erst  wieder  von  Wecker,  '^)  die  Behauptung  aufgesteUt,  dass  sich 
dieselbe   mit  besonderer  Vorliebe   in  pigmentreichen  Augen  etablire. 
Wir  woUen  nun  die  Bedeutung  der  Mayr'schen  Hypothese  an  der 
angeborenen  Blindheit  zu  erproben  suchen;  denn  die  Möglichkeit,  dass 
gerade  bei  den  hierher  gehörigen  Formen  die  Farbe  des  Auges  eine 
gewisse  Bedeutung  haben  könne,  ist  ja  a  priori  nicht  ohne  Weiteres 
zu  bestreiten. 

Aus  dem  mir  zur  Verfügung  stehenden  Material  habe  ich  die 
deutschen  mit  kongenitaler  Amaurose  behafteten  Personen  herausgegrifien 

>)  Beer,  Lehre  vou  den  Augenkrankheiteu  alsLeitfadeu 
seinen  öffentlichen  Voll  csungeu  entworfen.  Wien  1817,  Bd.  2,p.422. 

^)  Mayr,   Die  Verbreitung  der  Blindheit,  der  Taubstumm- 
heit, des  Blödsinns  und  des  Irrsinns  in  Bayern,  nebst  einer  all- 
gemeiueninternationalenStatistik  dieser  vier  Gebrechen.  XXX\  , 
Heft  der  Beiträge  zur  Statistik  des  Königreiches  Bayern.    München  1877,  p.  77. 
Magnus,  Die  Blindheit,  p.  59. 

>)  von  Wecker,  Die  Erkrankungen  des  Uvealtractus  u-id  des 
Glaskörpers.  Handbuch  der  gesammten  Augenheilkunde.  Bd.  IV,  Thcil  2. 
Leipzig  1876,  p.  531. 


—    69  — 

und  bei  227  derselben  eine  genaue  Beschreibung  der  Augenfarbe  er- 
mittelt; 145  =  63,88  "o  hatten  helle,  82  =  36,12  "/o  dunkle  Augen'). 
Herr  Dr.  GuUsladt  hat  mir  nmi  in  bereitwilligster  Weise  Mittheilungen 
gemacht  über  die  Befunde,  welche  ihrer  Zeit  die  von  Virchuic  angeregte 
Untersuchung  der  Augen-  und  Haarfarbe  der  deutschen  Schulkinder 
ergeben  hatte.  Nach  diesen  Notizen  entfallen  auf  die  hellen  Augen 
72,81 7o,  auf  die  dunklen  27,71 7o.  Halten  wir  nun  die  gewonnenen 
Zahlen  einmal  gegen  einander: 

Von  unseren  deutschen  Blindgeborenen  hatten  63,88  7o  helle,  36,12  7o 
dunkle  Augen,  von  den  untersuchten  deutschen  Schulkindern  hatten 
72,817.,  helle,  27,71 7o  dunkle  Augen. 

Hiernach  sind  also  bei  unseren  deutschen  Blindgeborenen  die  braunen 
Augen  mit  einem  grösseren  Prozentsatz  der  angeborenen  Amaurose  be- 
haftet, als  derselbe  betragen  sollte"  entsprechend  dem  Verhältniss,  in 
welchem  die  Zahl  der  Braimäugigen  zu  den  Helläugigen  unter  den 
deutschen  Schulkindern  steht.  Ich  bin  aber  durchaus  nicht  gewillt,  aus 
dieser  Thatsache  irgendwelche  Schlüsse  von  allgemeinerer  Tragweite  zu 
ziehen,  sondern  ich  beschränke  mich  nur  darauf,  den  grösseren  Reicli- 
thum  an  angeborener  Blindheit  für  das  braune  Auge  im  Rahmen  unseres 
aus  Deutschland  stammenden  Materials  zu  konstatiren. 

Ich  muss  nun  noch  mit  einigen  Worten  jener  Ansicht^)  gedenken, 
nach  welcher  die  Quote,  welche  die  Juden  zu  den  Körpergebrechen, 
speciell  zu  den  angeborenen  Missbildungen  beisteuern,  eine  ganz  be- 
sonders grosse  sein  solle,  grösser  als  die  bei  den  Christen  massgebende. 
An  eine  kritische  Untersuchimg  dieser  Ansicht  kann  bei  der  Beschaffen- 
heit meines  Materials  in  keiner  Weise  gedacht  werden ;  denn  zu  einem 
solchen  Unterfangen  gehört  nicht  nur  eine  umfangreiche  Blindenreihe, 
sondern  vor  allem  ein  Material,  welches  gestattet,  die  aus  ihm  gewonnenen 
Zahlen  in  Parallele  zu  der  Bevölkerung  zu  setzen.  Bei  der  von  mir 
vor  wenigen  Jahren  durchgeführten  Untersuchung  aller  Blinden  der 
Stadt  Breslau  ^)  war  ich  im  Stande ,  die  Blindenquote  der  Juden  mit 

')  Hierbei  habe  ich  die  verschiedenen  Typen,  nämlich  blonden  Typus,  braunen 
Typus,  Mischformen  nicht  auseinandergehalten,  sondern  lediglich  nur  die  Farbe 
der  Augen  als  bestimmendes  Moment  angesehen. 

Man  vergleiche :  Guitstadt,  Die  Gebrechlichen  in  der  Bevölker- 
ung Proussens  am  1.  Dezember  188  0.  Zeitschrift  des  königlich.  ]jreuss. 
stat.  Bureau  1882  und  :  Die  Verbreitung  der  B 1  i  nd  en  und  Taub  stummen 
nach  der  Volkszählung  vom  I.Dezember  1880  und  ihre  Unter- 
richtsanstalten bis  zum  Jahre  1  883  in  Preusseii.  Zeitschrift  des 
königl.  preuss.  stat.  Bureau.  Heft  1  u.  2.  Jahrgang  XXIII.  Berlin  1883.  p.  195. 
Archiv  f.  Augenheilkunde  XIV.  p.  427. 


—    60  — 


der  jüdischen  Einwohnerschaft  Breslau's  überhaupt  in  Verbindung  zu 
bringen  und  dabei  fand  ich  allerdings,  wie  dies  auch  GulMadl  an- 
gegeben hatte,  für  die  Juden  eine  grössere  Blindenquote,  als  für  die 
Christen;  denn  während  auf  10000  Breslauer  Juden  11,0  Blinde  kamen, 
entfielen  auf  10  000  Christen  nur  8,4.  Auch  die  für  die  einzelnen 
Formen  der  Blindheit  gültigen  Verhältuisszahlen  habe  ich  damals  er- 
mittelt und  gefunden,  dass  auf  10  000  Juden  0,57  angeborene  Amaurose 
kamen  und  auf  10  000  Christen  0,31. 

Da  nun  für  mein  heutiges  Material  eine  Parallelish-ung  der  Be- 
völkerung mit  der  BlindenzifFer  absolut  undurchführbar  ist,  so  muss  ich 
mich  nur  auf  einige  nebensächliche  Mittheilungen  beschränken.  Unter 
den  Anstalten  meines  Materials  befindet  sich  eine  specifisch  jüdische, 
nämlich  die  Blinden-Anstalt  Hohe  Warte  bei  Wien.  Die  Blindenformeu, 
welche  ich  in  dieser  Anstalt  beobachtet  habe,  unterstützen  den  Schluss, 
dass  die  Juden  besonders  häufig  kongenitale  Amaurose  zu  verzeichnen 
hätten,  nicht.   Der  Procentsatz  für  die  angeborene  Blindheit  beträgt  in 
jeuer  Anstalt  nämlich  28,57  7o,  ein  Verhältniss,  welches  zwar  ein  recht 
hohes  ist  und  welches  auch  in  keiner  anderen  Blinden-Erziehungs-An- 
stalt  Oesterreich-Ungarns  ')  in  dieser  Höhe  vorkommt,  aber  trotzdem 
nichts  Charakteristisches  hat.  In  verschiedenen  Anstalten  Deutschlands  ^ 
welche  überwiegend  ja  fast  ausschliesslich  nur  Christen  enthalten,  finden 
wir  nämlich  für  die  angeborene  Amaiirose  Procentsätze,  welche  dem  in 
der  Anstalt  Hohe  Warte  ermittelten  nicht  allein  gleichkommen,  sondern 
denselben  sogar  noch  übertreffen.  Auch  ist  das  Verhältniss,  in  welchem 
die  einzelnen  Gruppen  der  Jugendblindheit  in  jener  Anstalt  zu  einander 
stehen,  kein  erheblich  anderes,  als  wie  wir  es  in  den  übrigen  An- 
stalten gefunden  haben.    Die  jüdischen  Jugendblinden  m  der  Anstalt 
Hohe  Warte  gruppiren  sich  wie  folgt:  Amaurosis  congenita  28,57  7»; 
Idiopathische  Krankheiten  der  Augen  25,57  7«;  Verletzungen  8,88  7o; 
Allgemeinerkrankungen  34,28  7».    Hervorzuheben  wäre  nur  der  hohe 
Procentsatz,  welcher  unter  den  jüdischen  Blinden  die  Retinitis  pigmen- 
tosa und  die  Retinalatrophie  beanspruchen;  17,06  7«  entfallen  auf  diese 
Zustände,  ein  Verhältniss,  welches  in  keiner  von  allen  m  unserem  Material 
vertretenen  64  Anstalten  wiederkehrt.   Auffallend  ist  auch  der  geringe 
Procentsatz  der  Blennorrhoe  neonatorum  von  2,887«,  welchen  die  specifisch 
jüdische  Anstalt  zeigt  und  welcher  in  dieser  niedrigen  Ziffer  gleichfalls 
einzig  unter  allen  Anstalten  dasteht. 

')  Man  vergleiche  Tafel  II. 
')  Man  vergleiche  Tafel  I. 


Drittes  Kapitel. 


Die  durch  idiopathische  Augenerkrankungen  bedingten 

Blindheitsformen. 


§  12.  Ueber  die  Stellung,  welche  die  durch  idiopathische  Augen- 
erkrankungen hervorgerufenen  Blindheitsformen  im  Gebiete  der 
Jugendblindheit  einnehmen. 

Diirchmustem  wir  die  graphischen  Darstellungen,  welche  wir  über 
das  Verhalten  der  verschiedenen  Formen  der  Jugendblindheit  in  ein- 
zelnen europäischen  Ländern  entworfen  haben,  so  finden  wir,  dass  die 
durch  idiopathische  Augenerkrankungen  hervorgerufenen  Erblindungen 
meist  in  einem  geringeren  Prozentsatz  vorhanden  sind,  als  die  durch 
Allgemeinerkrankungen  erzeugten.  Unsere  Generaltabelle  auf  Seite  12 
und  die  graphische  Tafel  III  ergeben,  dass  für  das  gesammte  Material 
das  Verhältniss  zwischen  den  durch  idiopathische  Augenkrankheiten  und 
den  durch  Allgemeinerkrankungen  erzeugten  Blindheitsformen  fast  das 
gleiche  ist,  nämlich  für  die  ersteren  33,08  7  o,  für  die  letzteren  33,17  7o. 
Dieser  unser  heutiger  Befund  weicht  nun  von  dem  Ergebniss,  welches 
andere  Forscher,  sowie  wir  bei  unseren  früheren  Blindenuutersuchungen 
gewonnen  haben,  in  sehr  erheblicher  Weise  ab.  So  hat  z.  B.  Büuerlein^) 
bei  seinen  Blinden  die  dm-ch  idiopathische  Augenerkrankungen  hervor- 
gerufene Amaurose  auf  68  7o ,  die  durch  Allgemeinerkrankungen  aber 
nur  auf  19  7o  berechnet.  Bei  meiner  früheren  Untersuchung^)  von 
2528  Blinden  entfielen  auf  die  durch  idiopathische  Augenaftektionen 
erzeugte  Blindheit  76,91  "L  und  auf  die  durch  Allgemeinerkrankungen 


^)Bäuerlein,  Augenklinik  in  Würzburg.    Bericht  über  deren 
1  5jährige  Wirksamkeit  1  869—  1  883.    Wür/,burg  1884.    p.  26. 

')  Magnus,  Die  Blindheit  u.  s.  w.    p.  107. 


—    62  — 


hervorgerufene  Amaurose  nur  18,31  7o.    Wir  haben  hiernach  also  für 
unser  fi-üher  benutztes  Untersuchungsmaterial  eine  viel  grössere  Anzahl 
der  durch  idiopathische  Augenaffektionen  bedingten  Blindheitsformen 
ermittelt,  als  für  unsere  jetzige  Untersuchungsreihe.  Wie  lassen  sich  nun 
diese  so  auffallend  verschiedenen  Ergebnisse  erklären  ?  Die  einzige  mid 
ausschliessliche  Ursache  für  das  so  verschiedene  Verhalten  der  frag- 
lichen Blindheitsgruppe  ist  in  dem  benutzten  Material  zu  suchen.  Während 
wir  für  unsere  frühere  Untersuchung  ein  Material  verwendet  hatten,  in 
welchem  alle  Altersklassen  vertreten  waren,  smd  in  unserer  jetzigen 
Untersuchungsreihe  nur  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre  berücksichtigt, 
alle  späteren  Altersklassen  aber  grundsätzlich  ausgeschlossen.    Für  die 
ersten  beiden  Lebensdecaden  entfalten  nun  aber  die  idiopathischen  Augen- 
erkrankungen lange  nicht  eine  so  verderbliche  Wirksamkeit,  als  für  die 
späteren  Altersperioden.    Die  vielen  Schädlichkeiten,  welchen  das  Seh- 
organ durch  den  Gebrauch  ausgesetzt  ist,  sowie  die  regressive  senile 
Metamorphose,  welche  bei  dem  Auge  ja  verhältnissmässig  schon  sehr 
zeitig  sich  fühlbar  macht,  sie  gestalten  die  Gruppe  der  idiopathischen 
Augenerkrankungen  für  das  zweite  und  dritte  Drittel  der  Lebenszeit 
eben  so  verhängnissvoll ,  dass  deren  Blindheitsquote  die  bedeutendste 
unter  allen  Gruppen  der  Amaurose  überhaupt  wü-d.    Für  die  ersten 
zwanzig  Lebensjahre  sind  aber  die  Erkrankungen,  welche  in  dem  Ge- 
brauch und  den  regressiven  Veränderungen  des  Sehorganes  wurzeln, 
in  selu'  geringer  Zahl  oder  gar  nicht  vorhanden  und  deshalb  verliert 
diese  Gruppe  für  die  Jugendblindheit  an  Blindheit  erzeugender  Kraft, 
trotzdem  sie  eine  so  fi-uchtbare  Erblindungsquelle,  wie  die  Blennorrhoea 
neonatorum,  enthält.    Im  Grossen  und  Ganzen  dürfen  wir  sagen,  dass 
die  idiopathischen  Erkrankungen  des  Auges  jenseits  des  zwanzigsten 
Lebensjahres  etwa  die  Hälfte  mehr  Erblindungen  bewirken,  als  dies- 
seits dieser  Altersstufe. 

§  13.  Die  einzelnen  Formen  der  durch  idiopathische  Augenerkrankungen 

erzeugten  Blindheit. 

Der  Häufigkeit  nach  gvuppiren  sich  die  1060  der  in  diese  Gruppe 
gehörenden  Fälle  in  der  folgenden  Weise: 
Unter  1060  Fällen  findet  sich 
Blennorrhoea  neonatorum  753  mal  =  7 1,03  "/o 

Atrophia  nervi  optici ')  74  „    =r   6,99  „ 

')  In  (lieser  Kubrik  sind  alle  diejeuigou  Fülle  vou  Sehuervenatropliic  anf- 
genoraineu,  welche  ohne  Cerebral  Symptome  oder  oline  begleitende  Kürpererkrankung 


—    63  — 


Iritis  xind  Iridochorioiditis  (6  +  61) 

67 

mal 

fi  ^9  o/n 

Trachom 

42 

)> 

Q  Qß 

Sublatio  retinae 

27 

ii,00  „ 

Konjunctivalerkrankuug  unbestimmter  Natur  26 

BlennoiThoea  gonorrhoica 

1  o 

)) 

1  /I  o 

Keratitis 

15 

,) 

1  d.9 

Chorioiditis 

14 

1  QO 

l,öd  „ 

Diphtheritis  conjunctivae 

14 

1  QO 

Glaucom 

6 

U,t)  <  ,, 

Myopie 

4 

0  38 

Neui'oretiuitis  hämorrhagica 

1 

0,09  „ 

Essentielle  Phtisis 

1 

0,09  „ 

Glioma  Retinae 

1 

0,09  „ 

1060  mal 

100,007o 

Wir  wollen  nunmehr  in  engster  Anlehnung 

an 

die 

vorstehende 

Tabelle  die  Formen  der  dort  verzeichneten  Blindheitsformen  besprechen 
und  die  Einzelnheiten ,  welche  unser  Material  über  dieselben  enthält, 
mittheilen. 

Blennorrhoea  neonatorum.  Wenn  Fuchs')  sagt:  „Die 
ziffermässige  Bestimmung  des  Kontingentes,  welches  die  an  Blennorrhoe 
Erblindeten  zu  der  Gesammtzahl  der  Blinden  stellen,  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  möglich",  und  wenn  er  diese  seine  Behauptung  damit  zu  beweisen 
sucht,  dass  er  zeigt,  wie  je  nach  dem  für  die  Untersuchung  benützten 
Blindenmaterial  die  Prozentzahl  der  Blennorrhoe  wechselt,  wie  bei 
Jugendblinden  ein  hoher,  bei  einem  aus  allen  Altersklassen  gemischtem 
Material  aber  ein  geringerer  Procentsatz  auf  die  Blennorrhoe  entfällt, 
so  sehen  wir  ims  völlig  ausser  Stande,  diesem  Ausspruch  beizutreten. 
Dass  der  Prozentsatz  der  Blennorrhoeblindheit  bei  den  verschiedenen 
Autoren  ein  sehr  wechselnder  ist,  wollen  wir  Fuchs  keineswegs  bestreiten, 
wie  wir  ihm  auch  nicht  widersprechen  wollen,  wenn  er  die  Verschieden- 
heit des  Blinden-Materials  für  dieses  Schwanken  des  prozentarischen 
Verhältnisses  in  Anspruch  nimmt :  Diese  Thatsachen  sind  völlig  richtig 
und  ihnen  kann  sich  Niemand,  welcher  sich  mit  Blindenuntersuchungen 
nur  einigermassen  befasst  hat,  verschliessen.  Aber  Fuchs  irrt  sehr, 
wenn  er  in  diesen  Verhältnissen  etwas  für  die  Blennorrhoeblindheit  be- 


eutstanden  sind.  Ueber  die  Zahl  der  PapilHtisatvophie ,  der  eiufticlieu  Atrophie 
vergl.  deu  Abschnitt  Atrophia  nervi  optici  in  diesem  Paragraphen  und  Kapitel  6. 

')  Fuchs,  DieUrsachen  und  die  Verhütung  der  Blindheit.  Wies- 
baden 1885.  p.  122. 


-    64  — 


sonders  Charakteristisches  zu  finden  meint,  oder  wenn  er  aus  ihnen  die 
Unmöglichkeit,  sichere  Werthe  für  die  Bleunorrhoeblindheit  zu  gewinnen, 
herleitet.  Beide  Schlüsse  sind  unrichtig  und  zwar  aus  Gründen,  deren 
Stichhaltigkeit  ein  Jeder  ohne  Weiteres  aus  dem  Folgenden  wohl  er- 
sehen wird. 

Was  zuvörderst  das  Schwanken  der  prozentarischen  Werthe,  ihr 
Steigen  und  Fallen  je  nach  dem  der  Untersuchung  unterstellten  Blinden- 
material  anlangt,  so  theilt  die  Blennorrhoeblindheit  dieses  Schicksal 
eben  mit  jeder  anderen  Blindheitsform  auch.    Suchen  wir  z.  B.  den 
Prozentsatz  der  Glaucomblindheit  zu  finden,  so  werden  wir  genau  das 
erleben,  was  Fuchs  für  die  Blennorrhoeblindheit  als  besonders  charak- 
teristisch betont,  nämlich  ein  höchst  auffälliges  Schwanken.    Je  nach 
dem  benützten  Blindenmaterial  steigt  und  fällt  der  numeiische  Werth 
der  Glaucomblindheit  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Blennorrhoe.  Haben 
wir  em  Material,  welches  in  besonderer  Menge  Individuen  zählt,  welche 
in  der  ersten  Lebenshälfte  erblindet  sind,  so  fällt  der  Prozentsatz  für 
das  Glaucom  nicht  unbedeutend,  während  er  sofort  steigt,  wenn  das 
Untersuchungsmaterial  Personen   in  reichlicher  Zahl   enthält,  welche 
in  der  zweiten  Lebenshälfte  die  Blindheit  erworben  haben.    So  fand 
ich  z.  B.  bei  der  Untersuchung  der  Breslauer  Blinden  ')  für  die  orts- 
anwesende Bevölkerung  den  Prozentsatz  des  Glaucoms  =  10,00;  schied 
ich  nun  die  Zöglinge  der  Blindenanstalt  von  der  Zahl  der  Breslauer 
Blinden  aus,  berücksichtigte  ich  nur  die  wirkliche  in  Breslau  ansässige 
Einwohnerschaft,  so  stieg  der  Prozentsatz  alsbald  um  fast  die  Hälfte  seiner 
bisherigen  Höhe.  Aehuliches  kann  man  erleben,  wenn  man  die  Prozent- 
sätze vergleicht,  welche  unsere  frühere  und  unsere  heutige  Untersuchungs- 
reihe für  die  angeborene  Blindheit  zu  Tage  gefördert  hat.    Unter  den 
2528  Blinden  meines  fi-üheren  Materials habe  ich  ftir  die  kongenitale 
Amaurose  3,83  "/o  gefunden  und  heute  17,19  7o  ;  das  frühere  Material 
war  eben  ein  aus  allen  Altersklassen  gemischtes ,  während  das  jetzige 
nur  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre  berücksichtigt.    Diese  beiden  Bei- 
spiele genügen,  um  auf  das  Schlagendste  den  Beweis  zu  führen,  dass 
das  Schwanken  des  Prozentsatzes  eine  Erscheinung  ist,  welche  für  die 
BlennoiThoeblindheit  keineswegs  etwas  besondei-s  Charakteristisches  be- 
sitzt, vielmehr  fast  allen  Blindheitsformen  in  der  nämlichen  Weise  eigen 
ist.    Lassen  wir  nun  den  Fwc/is'schen  Ausspruch  gelten,  erklären  wir 
mit  diesem  Autor  die  ziffermässige  Bestimmung  der  Bleunorrhoeblindheit 

•)  Magnus,  Dio  Blinden  der  Stadt  Breslau  im  Jalire  1  884.  Archiv 
für  Augenheilkunde.    XIV.  p.  398,  400,  413. 

')  Magnus,  Die  Blindheit  u.  s.  w.    p.  107. 


vor  der  Haucl  für  nicht  möglich,  so  sind  wir  nach  dem,  was  wir  über 
das  Fkiktuiren  der  anderen  Bliudheitslormen  soeben  gesagt  haben,  un- 
bedingt gezwungen,  diese  Unmöglichkeit  auch  auf  die  meisten  anderen 
Bliudheitsformeu  auszudehnen.  Damit  entfiele  aber  überhaupt  die  Mög- 
lichkeit, die  blindheiterzeugende  Kraft  der  verschiedenen  Augeuerkrank- 
imgen  numerisch  zu  fixiren.  Thäte  man  unter  sothanen  Verhältnissen 
dann  aber  überhaupt  eigentlich  nicht  besser,  das  Studium  der  Blindheit 
vor  der  Hand  ganz  bei  Seite  zu  schieben,  resp.  zu  warten,  bis  man, 
wenn  dies  überhaupt  je  eintreten  würde,  ein  Blindenmaterial  ohne  jede 
Schwankungen,  ein  Material  mit  absolut  sicheren,  unveränderlichen 
AVertheu  gefimden  hätte?  Nun,  so  verzweifelt  liegen  die  Verhältnisse 
glücklicherweise  nicht  und  Fuchs  hat  wohl  doch  etwas  zu  schwarz  ge- 
sehen, wenn  er  die  zififermässige  Fixu-ung  der  Blennorrhoeblindlieit  vor 
der  Hand  für  unmöglich  erklärt.  Wir  können  uns  den  Pessimismus  von 
Fuchs  Sehl-  wohl  erklären ;  denn  da  dieser  Autor  keine  eigenen  Blinden- 
untersuchungen  angestellt,  über  kein  eigenes  Untersuchungsmaterial  zu 
verfügen  hatte,  so  war  er  lediglich  auf  die  Angaben  anderer  Autoren 
angewiesen,  und  da  diese  Angaben  eben  in  Folge  der  so  grossen  Ver- 
schiedenheit der  einzelnen  Untersuchuugsreihen  die  erheblichsten  Schwank- 
ungen zeigten,  so  musste  er  sich  diesen  differenten  Angaben  gegenüber 
wirklich  in  recht  peinlicher  Lage  befinden. 

Es  sei  mir  nunmehr  gestattet,  den  Beweis  dafür  zu  erbringen,  dass 
mit  dem  uns  bis  jetzt  zur  Verfügung  stehenden  Material  die  ziffer- 
mässige  Bestimmung  des  prozentarischen  Werthes  der  Blennorrhoeblind- 
heit  sehr  wohl  durchzuführen  ist. 

Bereits  in  meiner  früheren  Arbeit  über  Blindheit^)  habe  ich  darauf 
hmgewiesen,  dass  man  gut  daran  thut,  die  blindheiterzeugende  Kraft 
der  Blennorrhoe  in  doppelter  Weise  zu  betrachten,  indem  man  emmal 
die  Bedeutung  ermittelt  für  die  Blindheit  überhaupt,  d.  h.  für  ein  aus 
allen  Altereklassen  zusammengestelltes  Menschenmaterial  und  indem 
man  zweitens  die  Erblindungsquote  der  Blennorrhoe  nur  für  das  jugend- 
liche Alter  zu  finden  sucht.  Gerade  auf  den  letzten  Pimkt  hat  man 
bisher  viel  zu  wenig  Werth  gelegt  und  doch  lässt  sich  die  verderbliche 
Kraft  voll  und  ganz  nur  dann  würdigen,  wenn  mau  ihre  Wirkungen 
speziell  nur  für  die  Lebensperiode  feststellt,  welcher  die  Blennorrhoe 
angehört,  also  für  das  erste  Lebensjahr,  mithin  ein  Verfahren  verfolgt, 
welches  für  andere  Zweige  der  medicinischen  Statistik  bereits  als  einzig 
verlässliches  längst  in  Anwendung  gezogen  wird.  Wenn  heute  Jemand 


')  A.  a.  0.  p.  163. 
Magnus,  Jngendblindheit. 


5 


—    66  — 


die   Verheerungen,    ^velche    der    Durchfall    der  Säughnge  anrichtet, 
zifFergemäss  ausdrücken  ^vill,  so  ^vird  es  ihm  gewiss  nicht  euifal  en, 
eine  Mortalitätstabelle  zu  Rathe  zu  ziehen,  welche  die  Todesursachen 
der  verschiedensten  Lebensalter  berücksichtigt,  sondern  er  wird  ledig- 
lich nur  die  im  ersten  Lebensjahr  Gestorbenen  zusammenstellen  und 
aus  ihrer  Zahl  den  prozentarischen  Werth  der  Säuglingsdiai-rhoe  be- 
rechnen.   Genau  in  derselben  Weise  muss  man  verfahren,  w^enn  man 
für  die  blindheiterzeugende  Kraft  der  Blennorrhoe  einen  keinen  Schwank- 
ungen unterworfenen  ziffermässigen  Beleg  zu  gewinnen  wünscht  Man 
Iss  aus  seinem  Untersuchungsmaterial  alle  Fälle  von  Erblinclungen 
des  ersten  Lebensjahres  zusammenstellen  und  aus  ihnen  den  Prozent- 
satz der  Blennon-hoe  berechnen.  Natürlich  kann  man  d-sen     eg  mir 
dann  n.it  Erfolg  betreten,   wenn  man  ein  grösseres  emheitlich  un te  - 
suchtes  Materia!  Jugendblinder  zur  Verfügung  hat,  wie  es  uns  eben 

letzt  zu  Gebote  steht.  .     t  i      -oi,,.  o,- 

Uuser  Material  zählt  im  Ganzen  1046  .ra  ersten  Lebensjah,  ei- 
blindete  IndWiduen;')  davon  entfallen  763  anf  die  BlennotThoe  m.thm 
haben  71,99 '/o  Prozent  aller  im  ersten  Lebensjahr  Erbhnde.er  da, 
Atenlich  durch  die  Blennorrhoe  verloren.  So  er-schreckend  hoeh  cheser 
P  „lentsatz  auch  sein  mag  und  so  sehr  wir  uns  S^S».— 
sträuben  mögen,  so  ist  er  doch  der  gar  nicht  anzuzweifelnde  An=d.uck 
m  Steflun^,  welche  die  Blennorrhoea')  neonatorum  unter  den 
Bllndheitsformen  des  ersten  Lebensalters  einnimmt. 

Ve  neben  wir  es  nun  noch,  den  Werth  der  Blennon-hoeblindhe, 
für  dl  Amaurose  überhaupt  zu  ermitteln ;  i^^"  ^ 
L  bensiahr  reichendes  Material  figurirt  die  Blennorrhoe  mit  23,nO  ,o, 
Lebensjahi  leic  .  jj    H^^^^n  umfassendes  Material  betrug  der 

für  '  yt  2165  Zöglinge  von  Blindenanstalten 

Prozentsatz  nur  l«.»;  J„,,iffer  der  Blennorrhoe. 

M-l^ir^;!  a^^f  a  g^^^^^^^^^^^         ^'^  Anstalten,  welche  Re,„*».rf 
10  Jah»  L%eine  «Pezialerhebnng  benOt.  bat.,  .^^^^ 
in  meinem  jetzigen  Material  auch  vertreten,  und  da  wir  heute  nur  23,o0  k 

eingebüsst  haben.  „i„.<.vp  Kinder  einer  Familie  von  Blennorrhoe 

und  zwar  zweimal.    Das  eineiudi 
9  Kinder  au  Blennorrhoe  erblindet. 

'Man  vergleiche  meine  Arbeit  über  Blindheit  p.  l6o. 


—    67  — 


für  die  Blennorrhoe  ermitteln  konnten,  so  scheint  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Rückgang  dieser  Erblindungsform  im  Laufe  der  letzten  zehn 
Jahre  stattgehabt  zu  haben.  Diesen  Schluss  wird  man  aus  einem 
Vergleich  der  älteren  Beinhard'sehen  und  unserer  Zahl  wohl  ziehen 
■dürfen,  auch  wenn  man  zugeben  will,  dass  der  grössere  numerische 
Werth  unseres  Materials  eine  gewisse  Korrektion  der  hohen  Reinhm^d' sehen 
.Ziffer  wohl  bedingt  haben  könne. 

üebrigens  giebt  es  noch  einen  anderen  Weg,  den  amaurotischen 
Werth  der  Blennorrhoe  zu  ermitteln,  nämlich  die  Untersuchuuo;  sämmt- 
lieber  Blinden  einer  grösseren  Stadt  resp,  einer  lokal  begrenzten  Oertlich- 
keit  überhaupt.  Auch  diesen  Weg  habe  ich  betreten,  indem  ich  die  Blinden 
meiner  Heimathstadt  Breslau  insgesammt  untersucht  habe.  Indem  ich  nun 
die  für  die  einzelnen  Blindheitsformen  gefundenen  Werthe  mit  dem  Be- 
völkerungsaufbau in  Verbindung  gestellt  habe,  ist  es  mir  gelungen,  die 
Wirksamkeit  der  wichtigsten  Erblindungsformen  mit  einander  vergleichen 
zu  können  und  dabei  habe  ich  für  die  Blennorrhoe  folgende  That- 
sachen  ermittelt.    In  dem  ersten  Lebenslustrum  erblinden  von  10  000 
Einwohnern  der  Stadt  Breslau  4,28  an  Blennorrhoe.    Diese  Quote  der 
Blennorrhoe  behauptet  bis  gegen  das  sechzigste  Lebensjahr  hin  den  ersten 
Platz  in  der  Rangordnung  aller  Blindheitsformen.   Selbst  die  cerebralen 
.und  spinalen  Sehnervenleiden  und  das  Glaucom,  dessen  verderbliche 
Wirksamkeit  für  die   zweite   Lebenshälfte   allgemein   anerkannt  ist, 
können   die  prozentarische  Bedeutung   der   Blennorrhoeblindheit  bis 
zum  Abschluss  des  sechzigsten  Jahres  nicht  übertreffen.    Die  mit  Be- 
ginn der  zweiten  Lebenshälfte  so  ergiebig  in  Wh-ksamkeit  tretenden 
verschiedenen  Formen  der  Atrophia  nervi  optici  liefern  für  das  30.  bis 
45.  Jahr  auf  10  000  Breslauer  Einwohner  nur  2,13  "/o  und  fiir  das 
45—60.  Jahr  2,82  »/o;  und  da  sie  jenseits  des  60.  Lebensjahres  an 
Intensität  bereits  wieder  veriieren,  so  kommen  sie  also  in  keiner  Lebens- 
epoche der  Erblindungsproduktivität  der  Blennorrhoe  gleich.  Aehnlich 
liegen  die  Verhältnisse  bis  zu  einem  bestimmten  Lebensabschnitt  wenigstens 
auch  für  das  Glaucom,  das  zwischen  dem  45.— 60.  Lebensjahr  auf 
10000  Breslauer  Einwohner  nur  1,24  Blinde  liefert;  jenseits  des  60. 
Lebensjahres  tritt  allerdings  dann  für  das  Glaucom  eine  ganz  bedeutende 
Steigerung  ein,  indem  von  10000  Einwohnern  bis  gegen  das  70.  Jahr 
9,84  an  Glaucom  erblinden,  eine  Ziffer,  welche  mit  jedem  Jahr  über 
das  siebenzigste  Jahr  hinaus  noch  wächst.    Die  Vergleichung  mit  den 
wichtigsten  Blindheitsm-sachen,  der  Atrophia  nervi  optici  und  dem  Glau- 
com, hat  uns  also  gelehrt,  dass  die  Atrophie  in  keiner  Lebensphase 
eine  Wirksamkeit  entfaltet,  welche  der  der  Blennorrhoea  neonatorum 


—    68  - 


an  Erc^iebigkeit  gleichkommt  und  dass  die  Blindheitsquote  des  Glaucom 
erst  jenseits  des  sechszigsteu  Lebensjahres  die  der  Blennorrhoe  überholt. 
Bis  zum  sechzigsten  Lebensjahre  ist  für  Breslau  also  die  Blennorrhoe 
diejenige  Erkrankungsform,  welche  die  höchste  Blindheitsquote  besitzt. 
Und  da  ich  nicht  glaube,  dass  die  Breslauer  Verhältnisse  erheblich 
anders  liegen  diu-ften,  als  die  in  anderen  Gegenden,  so  möchte  ich 
diesem  unserem  Breslauer  Ergebnisse  eine  allgemeinere  Bedeutung  wohl 
zuerkennen.    Allerdings  dürfte  diese  Verallgemeinerung  lediglich  nur 
für  Deutschland  oder  für  die  Länder  gelten,  welche  eine  ähnbche  Medi- 
cinalgesetzgebung  wie  Deutschland  besitzen;  denn  mit  Aenderung  der 
sanitären  Massregeln  speziell  der  für  die  Pockenimpfung  gültigen  Ge- 
setze nimmt  die  Blennorrhoeblindheit,  wie  wir  dies  bei  der  Beschreibmig 
der  Pockenblindheit  sehen  werden,  insofern  eine  andere  Stellung  ein, 
als  die  Pockenblindheit  hier,  wenigstens  in  einigen  Ländern,  die  Hol>e 
der  Blindenquote  der  Blennorrhoe  eiTcicht. 

Von  grosser  Bedeutung  fiir  die  Kenntniss  der  Blennorrhoe  smd 
ferner  die  Mittheilungen,  welche  Schatz^)  über  die  Verbreitung  und 
die  Ausgänge  der  Blennon-hoe  in  Mecklenburg-Schwerin  jüngst  gemacht 


hat.  Sämmtliche  in  dem  Jahre  1881  und  1882  un  Grossherzogthum 
Mecklenburg-Schwerin  beobachteten  Fälle  von  Blennorrhoe^  hat  Schatz 
gesammelt  und  entnehmen  wir  diesem  hochwichtigen  Materiale  folgende 

Einzelheiten.  ^881  1882 

Es  wm-den  beobachtet: 
Stärkere  nicht  eiterige  Koniunktivitis  i^b, 

Blennorrhoe  

Von  den  Blennorrhoen  wurden  zu  spät  zur  Heilung 

,   11>8  lo>^ 

gebracht   gg  g 

Die  Blennorrhoe  war  beiderseitig   ' 

Cornealgeschwiü-e  auf  beiden  Augen  l«.  ^' 

Sehkraft  dauernd  geschwächt  beide  Augen    .    .    •    •  M 
Die  Sehkraft  war  ganz  oder  fast  ganz  yermchtet  .    .       5,4  11,6 
Doppelseitige  Blindheit  trat  ein  in  Fällen     •    •    •    •      .^''^^  ' 

Von  den  1882  in  Mecklenburg-Schwerm  geborenen  18  000  leben- 
den Kindern  erkrankten:  5  0promille 

An  Blennorrhoe  ^ 

Wurden  zu  spät  zum  Arzte  gebracht  .  0,8  „  „ 
Die  Blennorrhoe  ^ar  doppelseitig  ...  4,6  „  „ 
Doppelseitige  Blindheit  trat  ein.    .    .    •    0,17  „  „ 


—    69  — 


Yon  den  172  bleuuorrhoischen  Augen  zeigten Cornealgeschwüre  35  =  20^/o 

Die  Sehkraft  war  dauernd  geschwächt  bei  16=  9"/o 

Die  Sehkraft  wai*  ganz  oder  fast  ganz  vernichtet  bei  .    .    12=  7°/o 

Der  Schaden,  welcher  die  Blennorrhoea  neonatorum  in  Mecklenburg 
1882  anrichtete,  kann  also  etwa  wie  folgt  ausgedrückt  werden: 

Von  je  200  Neugeborenen  erkrankte  1  an  Blennorrhoe.  Von  den 
90  von  1 8  000  Neugeborenen  blennorrhoisch  Erki-ankten  wurden 
etwa  70  ohne  dauernden  Schaden  geheilt, 
3  vollkommen  blind, 
6  einseitig  blind, 
etwa  10  einseitig  oder  doppelseitig  sehschwach. 

Zu  erörtern  wäre  nunmehr  die  Frage,  ob  sich  für  die  Verbrei- 
tung der  Blennorrhoe  resp.  der  Blennorrhoeblindheit  in 
verschiedenen  Gegenden  erhebliche  Unterschiede  be- 
merkbar m-achen.  Dass  solche  Unterschiede  vorhanden  sind,  darüber 
kann  kein  Zweifel  sein ;  die  klinischen  Beobachtungen  vieler  Forscher 
sprechen  von  recht  verschiedenen  Verbreituugsstärken  der  Blennorrhoe 
und  schliesslich  spricht  auch  die  Thatsache  dafiir,  dass  die  Blennorrhoe, 
wie  wir  dies  sogleich  sehen  werden,  mit  den  socialen  Verhältnissen  auf 
das  Innigste  verknüpft  ist.  Ein  Blick  auf  die  Tafel  I  lehrt  uns,  dass 
in  Deutschland  die  verschiedenen  Blindenanstalten  recht  difFerente  Quoten 
fiir  die  Blennori'hoe  aufzuweisen  haben ;  doch  dürfte  es  wohl  kaum  ge- 
stattet sein,  diese  Thatsache  mit  den  wirklichen  Verbreitungsbezu'ken 
der  Blennorrhoe  identificiren ,  unsere  Karte  also  gleichsam  für  eine 
Darstellung  der  Art  und  Weise,  wie  die  Blennorrhoe  über  Deutschland 
verbreitet  ist,  ansehen  zu  wollen.  Dazu  ist  das  in  den  einzelnen  An- 
stalten vorhandene  Blindenmaterial  denn  doch  zu  klein  und  die  in 
ihnen  vorhandenen  Blindheitsformen  von  allzu  vielen  Zufölligkeiten  ab- 
hängig. Höchstens  könnte  unsere  Karte  für  die  Verbreitung  der  Blen- 
norrhoe in  Deutschland  einen  Werth  gewinnen ,  wenn  die  in  den  be- 
treffenden Städten  resp.  Provinzen  heimischen  Ophthalmologen  ihre 
heimischen,  in  der  Praxis  gesammelten  Erfahnmgeu  mit  den  Prozent- 
sätzen der  Kai*te  parallelisiren  w-ollten.  Genau  das  Nämliche  gilt 
natürlich  auch  für  unsere  über  Oesterreich  -  Ungarn  entworfene  Dar- 
stellung. 

Ueber  die  Vertheilung  der  Blennorrhoeblindheit  in  Europa  kann 
ich  allerdings  auch  kein  abschliessendes  Urtheil  fällen,  doch  vermag 
ich  Avenigstens  über  die  Stellung  derselben  in  den  Blindenanstalten  der 
verschiedensten  europäischen  Staaten  einige  nicht  unwesentliche  Mit- 
theUuugen  zu  machen. 


—  70 


in 

32,14»/o- 

28,57  „ 

)> 

26,02  „ 

,1 

25,83  „ 

)) 

25,36  „ 

23,72  „ 

), 

20,47  „ 

j» 

20,38  „ 

)) 

18,00  „ 

)) 

17,39  ,r 

)) 

17,07  „ 

), 

12,40  „ 

>j 

11,29  „ 

Die  Blennon-hoebliudheit  ist  vorhaudeu  in: 
der  Blindenanstalt  zu  London^) 

dem  Hospital  des  Quiuze-Vingts  zu  Paris 

allen  Blindenanstalten  der  Schweiz 

allen  Blindenanstalten  von  Deutschlaad 

verschiedenen  Blindenanstalten  von  Kussland 

der  Blindenanstalt  zu  Stockholm 

allen  Blindenaustalten  von  Oesterreich-Ungarn 

verschiedenen  Blindenaustalten  von  Italien 

der  Blindenanstalt  zu  Kopenhagen  schätzungsweise^) 

einzelnen  Blindenanstalten  von  Holland 

der  Blindenanstalt  zu  Christiania 

einzelnen  Blindenanstalten  von  Spanien 

einzelnen  Blindenanstalten  von  Belgien 

Es  sei  mir  gestattet,  der  vorstehenden  Tabelle  noch  einige  erklärende 
Worte  anschliessen  zu  dürfen.  Auffallend  smd  die  so  niedrigen  Prozent- 
sätze, welche  unser  Material  für  die  Blindenanstalten  in  Spanien  und 
Belgien  ergiebt.   Es  sieht  hiernach  fast  so  aus,  als  stünden  diese  beiden 
Länder  ^)  bezüglich  der  Bleuuorrhoeblindheit  ganz  besonders  gut.  Doch 
scheint  mix-  diese  Annahme  bei  reiflicher  Ueberlegung  und  genauer 
Durchsicht  der  für  jene  beiden  Länder  entworfenen  graphischen  Dar- 
Stellungen  (vergl.  Tafel  IV  und  XI)  nicht  stichhaltig;  vielmehr  halte 
ich  daL,  dass  die  niedrigen  Prozentsätze  lediglich  nur  durch  die  Be- 
schaffenheit.  der  Untersuchimgsprotokolle  bedingt  werden     Gerade  fiu- 
Spanien  und  Belgien  finden  sich  nämlich  auffallend  viele  Protokolle, 
welche  die  Ursache  der  Erblindung  nicht  mit  Bestimmt  angeben. 
W  nn  ich  nun  auch  nach  Durchsicht  dieser  ProtokoUe  den  Emdnick 
gewonnen  habe,  dass  es  sich  bei  vielen  derselben  -  Blenno^^^h^^ 
heit  handelt,  so  wagte  ich  doch  auf  diesen  memen  subjektw^^^^^ 
hin  nicht,  die  fraglichen  Protokolle  in  eme  bestimmte  Blmdheitsform 
eLireL;.    So  ist  es  denn  gekommen,  dass  flir  Spanien  und  Belgien 

^"^^^Z^mal  College  and  academy  of  mnsic  for  the  blind.  Upper- 

"""""^  Herr  MoUenMwer,  Direktor  der  Kopenhagener  Anstalt,  hat  mir  aus  den-. 

dezUC  geführte;  Akten  die  citirten  Mittheilungen  gütigst  .usammen- 
^es^em     ÄerLhung  der  Kopenhagener  Anstalt  scheiterte  an  dem  unuber- 

rtwr^"B;:r;rrhoe  in  verschiedenen  LUndern  ver- 
,leichi  ,  pfeBindehantinfektion  der  Neugeborenen. 

Stuttgart  1882.  p.  88—160. 


) 


—    71  — 


die  Rubrik  der  unbestimmten  Bliuuheitsformen  gross,  der  prozeutarische 
Werth  der  Blennorrhoe  aber  klein  geworden  ist.  Thatsächlich  scheinen 
die  Verhältnisse  in  Sjjanien  ähnlich  zu  liegen  wie  bei  uns  in  Deutsch- 
land, wenigstens  berichtet  Carreras-Avagö  dass  er  unter  100  Blinden 
seines  klinischen  Materials  iC/o  Blennorrhoeblinde  gefunden  habe,  ein 
Prozentsatz,  welcher  demjenigen  durchaus  gleicht,  welchen  wir  bei  unserer 
früheren  Untersuchung  für  2528  deutsche  Blinde  gefunden  hatten.  Car- 
venis-Arago  zählt  vmter  seinen  100  Blinden  alle  Altersklassen,  wie 
dies  auch  unser  damaliges  Material  gethan  hatte ;  für  ein  solches  Material 
sind  10  "/o  aber  ein  hoher  Prozentsatz.  Für  London,  Paris,  Stockholm, 
Kopenhagen,  Christiania  sind  die  angegebenen  Prozentsätze  nur  von 
lokaler  Bedeutung,  repräsentiren  lediglich  nur  die  in  den  Anstalten 
der  beti-effenden  Städte  vorhandenen  Blennorrhoefälle.  Alle  übrigen 
Positionen  der  Tabelle  können  aber,  da  sie  die  Zöglinge  einer  grösseren 
oder  geringeren  Zahl  von  Anstalten  umfassen,  als  ungefährer  Ausdruck 
der  Stellung  angesehen  werden,  welche  die  Blennorrhoeblindheit  in  der 
Jugendblindheit  der  betreffenden  Länder  einnimmt. 

Für  die  Schweiz,  Deutschland  ^)  und  Russland  entfallen  nach  unserer 
Tabelle  die  höchsten  Prozentsätze  der  Blennorrhoeblindheit,  während 
Oesterreich-Ungarn  und  Italien  nur  20  7  o  und  Holland  gar  nur  17 '7o 
beisteuern.  Doch  bedürfen  auch  diese  Verhältnisse  zu  ihrem  vollen 
Verständniss  noch  einiger  erklärender  Bemerkungen.  Die  Höhe  des 
Prozentsatzes  der  Blennorrhoeblindheit  hängt  in  den  verschiedenen  Län- 
dern zum  Theil  doch  auch  von  der  Höhe  des  Prozentsatzes  der  übrigen 
Blindheitsformen  ab;  finden  sich  in  einigen  Ländern  Blindheitsformen, 
welche  eine  ganz  erstaunliche  Höhe  des  Prozentsatzes  erreichen  und 
fehlen  in  anderen  Ländern  diese  Formen  wieder,  so  ist  es  natürlich, 
dass  die  Höhe  der  Blennorrhoeblindheit  von  diesen  Verhältnissen  be- 
einflusst  werden  rauss.  Je  nachdem  neben  der  Blennorrhoe  noch  andere 
sehr  ergiebige  Blindheitsformen  existiren  oder  nicht,  wird  die  Blennorrhoe- 
quote  fallen  oder  steigen  müssen.  Desshalb  finden  wir  in  allen  den- 
jenigen Ländern,  welche  neben  der  Blennorrhoe  noch  andere  fruchtbare 
Blindheitsquellen  besitzen,  einen  verhältnissmässig  niedrigen  Prozentsatz 

')  Carreras-Äragb.  La  ceguera  eu  Espana  Barcelona  1881  fand 
bei  100  doppelseitig  Erbliudetea  10  7„  Blennovrlioea  neonatorum  als  Ursache,  d.h. 
also  in  10  7o.  Es  handelt  sich  hiebei  um  Blinde,  welche  sich  in  der  Klinik  des 
spanischen  Collegen  vorgestellt  haben  und  alle  Altersklassen  repräsentiren;  für 
ein  solches  Material  sind  10  7„  ein  hoher  Prozentsatz. 

Die  Verbreitung  der  Blennorrhoeblindheit  über  die  einzelnen  Blinden- 
anstalten des  deutschen  Reiches  kann  man  aus  Tafel  I  ersehen. 


—    72  — 


der  Bleunorrhoebliiidheit,  während  er  in  denjenigen  Ländern,  welche  neigen 
der  Blenuorrhoea  neonatorum  keine  aussergewöhnlich  ergiebigen  Blind- 
heitsquellen ihr  eigen  nennen,  höher  stehen  muss.  Italien  und  Oesterreich- 
Ungarn  haben  nun  beide  eine  bedeutende  Quote  für  die  Pockenblindheit/) 
und  dieser  Umstand  erklärt  das  Sinken  der  Blennorrhoeblindheit.  Die 
Schweiz  und  Deutschland  zeigen  beide  nur  sehr  geringe  Prozentsätze  der 
Pockenblindheit  und  müssen  desshalb  eine  gewisse  Steigerung  der  prozeu- 
tarischen  Verhältnisse  der  Bleuuorrhoequote  aufweisen.  Behalten  wh-  diese 
Verhältnisse  im  Auge,  so  glauben  wir  nicht,  dass  thatsächlich  für  die 
Schweiz,')  Deutschland,  Oesterreich-Ungarn  und  Italien  erhebliche  Unter- 
schiede in  der  Verbreitung  der  Blennorrhoeblindheit  existiren,  wenigstens 
nicht  so  erhebliche,  wie  man  sie  nach  dem  ersten  Blick  auf  unsere  Tabelle 
erwarten  sollte.  Etwas  anders  liegen  die  Verhältnisse  bezüglich  Hollauds 
und  Russlands.    Holland  hat  zwar  auch  eine  Quote  der  Pockenblind- 
heit, die  nicht  ganz  unbeträchtlich  ist,  doch  ist  dieselbe  nicht  bedeutend 
genug,  um  den  auffällig  günstigen  Stand  der  Blennorrhoequote  von 
17,39  "i'o  erklären  zu  können.    Ich  möchte  desshalb  der  Ansicht  zu- 
neigen, dass  in  Holland  die  Blennorrhoe  eine  geringere  Verbreitung  oder 
Intensität  besitzt,  wie  in  andern  europäischen  Ländern.  Es  wäre  wünschens- 
werth,  wenn  die  holländischen  Kollegen  unsere  i\Iittheilungen  dui'ch 
ihre  klinischen  Beobachtungen  ergänzen  wollten.    Was  nun  nochEuss- 
land  anlangt,  so  zählt  dasselbe  25,36  ^7o  Blennorrhoeblinde,  vermag  aber 
diese  Höhe  nicht  durch  entsprechenden  Tiefstand  der  Quote  füi-  die 
anderen  Blindheitsformen  einigermassen  abzuschwächen,  ^-ielmehr  hat 
es  einen  ganz  auffällig  hohen  Prozentsatz  der  Pockenblindheit.  Wir 
müssen  deshalb  glauben,  dass  Russland  thatsächlich  eine  sehr  bedeutende 
Menge  BlennoiThoeblinder  besitze,  eine  grössere  Anzahl  als  jedes  andere 
in  unserem  Material  vertretene  europäische  Reich.  Und  dieser  Schluss, 
zu  welchem  wir  uns  durch  unser  Material  durchaus  für  berechtigt  er- 
achten, erfährt  eine  gemsse  praktische  Bestätigung  durch  die  Mittheil- 


■)  Man  vergleiche  die  Tafel  XII,  welche  eine  graphische  Darstellung  der 

Pockenhlindheit  in  Europa  bringt.  „  .     ,        i  . 

^)  Wenn  Horner  (D i  e  Kr ankheite n  des  Auges  nn  Kindesalter. 
Handbuch  der  Kinderkrankheiten  V,  2  p.  263)  jüngst  die  auffallende  Thatsache 
Lnt  hat,  dass  die  Züricher  Blindenanstalt  -it  1865  keinen  Fall  von  Bl^^^^^^^^^^^^ 
blindheit  mehr  enthalten  habe  und  aus  diesen,  Lmstand    ur  ^^^^^ 
doch  für  einzelne  Theile  derselben    ein   besonders  gunst.ges  ^  eihaltn.ss  de 
Bl  nnorrhoe-Vorkommens  folgert,  so  glaube  ich  für  den  Augenbhck  wen.gstens 
dLser  Ansicht  entgegentreten  zu  müssen.  Die  Züricher  Anstalt  zUH  gegen.^^^^^^^ 
8  Zöglinge  und  darunter  2  Blennorrhoeblinde,  d.  h.  also  25»/.;         -cht  besse, 
liegen  die  Verhältnisse  für  Bern  mit  27,77  ^  „  und  für  Lausanne  m.t  24,13  /„. 


—    73  — 


ungeii,  welche  in  jüngster  Zeit  Skrebitzkt/ ^ )  gemacht  hat;  denn  nach 
den  von  diesem  Forscher  angestellten  Untersuchungen,  scheinen  in  der 
That  die  infektiösen  Erblindungsformen  in  Russland  eine  ganz  besonders 
massgebende  Rolle  zu  spielen. 

Es  möge  uns  jetzt  noch  gestattet  sein,  auf  einige  Verhältnisse 
unser  Augenmerk  zu  richten,  welche  der  Entstehung  der  Blennorrhoe- 
blindheit  besonderen  Vorschub  leisten. 

Dass  die  Blennorrhoe  die  niederen  Volksschichten 
stärker  heimsucht,  als  die  höheren  Stände,  ist  eine  Erfahrung, 
welche  uns  die  tägliche  Praxis  lehrt;  wenigstens  glaube  ich  dies  aus 
den  in  meiner  Poliklinik  und  in  meiner  Privatsprechstunde  gemachten 
Beobachtungen  schliessen  zu  dürfen  und  damit  stimmen  auch  die  Mit- 
theilungen anderer  Forscher,  so  z.  B.  die  von  Fuchst)  Ich  kann  nun 
aus  meinem  Material  noch  eine  Thatsache  beibringen,  welche  das  soeben 
Gesagte  zu  unterstützen  wohl  geeignet  sein  dürfte.  Ich  habe  nämlich 
über  die  Verhältnisse,  unter  welchen  die  Geburt  der  deutscheu  Blennorrhoe- 
blinden  unseres  Materials  erfolgt  ist,  genauere  Nachrichten  eingezogen 
und  dabei  in  Erfahrung  gebracht:  dass  von  337  Bleunorrhoeblinden, 
über  welche  ich  verlässliche  Mittheilungen  erhalten  konnte,  260  ehelich 
imd  77  unehelich  geboren  worden  sind.  Es  entfallen  hiernach  also  auf 
die  eheliche  Geburt  77,15  "/„,  auf  die  uneheliche  22,85  7o.  In  der 
Periode  von  1874 — 1883  befanden  sich  nun  aber  im  deutschen  Reich  3) 
unter  100  Neugeborenen  8,87  7o  unehelich  Geborene.  Vergleichen  wir 
diesen  Prozentsatz  von  8,87  7o  mit  dem  Prozentsatz  von  22,85  "/„,  mit 
welchem  die  imeheliche  Geburt  unter  der  Zahl  der  Bleunorrhoeblinden 
rangirt,  so  bemerken  wir  alsbald,  dass  die  uneheliche  Geburt  2V2mal 
mehr  Blennorrhoeblinde  beisteuert,  als  wie  dies  nach  dem  Verhältniss,  in 
welchem  die  uneheliche  zur  ehelichen  Geburt  überhaupt  steht,  der  Fall  sein 
sollte ;  um  nun  zu  erfahren,  ob  diese  Thatsache,  welche  wir  fär  die  deut- 
schen Bleunorrhoeblinden  gefunden  haben,  einen  allgemeineren  Charakter 
besitzt,  als  der  Ausdruck  eines  Gesetzes  von  allgemeiner  Gültigkeit  an- 
gesehen werden  dai-f,  habe  ich  die  analogen  Verhältnisse  auch  für  den 

')  Skrebitzky,  Uebev  VevbveitUDg  und  Intensität  der  Erblin- 
dungen inRussland  und  dieVerth  eilung  der  Blinden  über  diever- 
scliiedenen  Gegenden  des  Reichs.  St.  Petersburger  mediciuische  AVoclien- 
schrift.    1886.    Nr.  4. 

Fuchs,  Die  Ursachen  und  die  Verhütung  der  Blindheit  u.  s.  w. 

p.  118. 

Statistisches  Jahrbuch  für  das  deutsche  Reich.   Berlin  1884. 
Dezemberheft. 


—    74  — 


cisleithauischeu  Theil  der  Oesterreich-Ungarn'scheu  Monarchie  zu  erniittelu 
gesucht.    Die  cisleithauischeu  Bliuclen-Erziehuugs-Anstalteu  zähleu  laut 
den  mir  zugegaugeueu  Protokolleu  78  Bleuuorrhoebliude  uud  vou  65 
derselben  kouute  ich  genaue  Nachrichten  bezüglich  ihrer  Geburt  er- 
halten.  Es  waren  41  ehelich  und  24  unehelich  geboren  uud  demnach 
eutfieleu  also  auf  die  eheliche  Gebm-t  in  Cisleithauien  63,08",..,  auf  die 
uneheliche  36,92  %.   Für  Cisleithauien^)  stellte  sich  nun  für  den  Zeit- 
raum von  1874 —  1883  der  Prozentsatz  der  ehelich  zu  den  unehelich 
Geborenen  wie  86,20  :  18,79  7...    Vergleichen  wir  den  Prozentsatz  von 
18,79  7o,  der  in  Cisleithauien  für  die  uuehelicheu  Kinder  überhaupt 
massgebend  ist,  mit  dem  Prozentsatz  36,92  "/o,  welcher  für  die  unehe- 
lichen Blennorrhoebliudeu  dieses  Landes  entfällt,  so  bemerken  wir,  dass 
die  uneheliche  Geburt  reichlich  2'V3  mehr  Bleuuorrhoeblinde  liefert,  als 
dies  der  Fall  sein  sollte  nach  dem  Verhältuiss,  in  welchem  die  unehe- 
liche zur  ehelichen  Gebiu't  überhaupt  steht.    Die  frühere  Belastung, 
welche  wir  bezüglich  der  Bleuuorrhoeblindheit  für  die  uuehelich  Ge- 
borenen des  deutscheu  Reiches  nachgewiesen  haben,  stimmt  also  in  der 
überrascheudsteu  Weise  mit  der  Ziffer,  welche  wir  für  die  aualogen 
Verhältnisse  in  Cisleithauien  ermittelt  haben.    Wir  nehmen  desshalb 
auch  keinen  Anstand,  die  gefundenen  Thatsachen  für  den  Ausdruck 
eiues  allgemein  gültigen  Gesetzes  anzusehen,  welches  lauten  würde :  die 
unehelich  Geborenen  sind  der  Gefahr,  Bleuuorrhoeblindheit  zu  erwerben, 
in  2— 8 mal  höherem  Grade  ausgesetzt,  als  wie  dies  nach  ihrem  Ver- 
hältuiss zu  den  ehelich  Geborenen  erwartet  werden  sollte. 

Die  Erklärung  dieses  Gesetzes  dürfte  keinen  erheblichen  Schwüerig- 
keiten  begegnen,  und  zuvörderst  in  dem  Umstand  zu  suchen  sein,  dass 
die  mit  Blennorrhoe  behafteten  unehelichen  Neugeborenen  im  Allgemeinen 
nicht  mit  derjenigen  Sorgfalt  gepflegt  werden,  welche  für  eine  so  gefähr- 
liche Erkrankuugsform  unbedingt  erforderlich  ist.  Die  Blennorrhoe  wird 
desshalb  bei  den  Unehelichen  schneller  uud  leichter  verhängnissvoUe 
Konsequenzen  zeitigen,  als  wie  bei  den  ehelich  Geborenen.  Aber  ich 
vermuthe  auch,  dass  die  Gelegenheit,  eine  Blennon-hoe  zu  erwerben,  für 
uneheliche  Neugeboreue  häufiger  gegeben  sein  düi-fte,  als  wie  für  die 
ehelichen  Kinder.  Denn  man  kann  doch  wohl  mit  der  grössteu  Be- 
stimmtheit annehmen,  dass  im  ausserehelichen  Geschlechtsverkehr  die 
mütterlichen  Geburtswege  viel  eher  Kulturstätten  des  Gonococcus  werden, 
als  wie  im  ehelichen  Geschlechtsleben;  gibt  man  diese  Möglichkeit  zu, 

')  Die  betreffeuden  Notizen  verdanke  ich  der  Güte  des  k.  k.  Käthes  Herrn 
Schimmer  in  Wien. 


75  — 


so  ist  natürlich  die  Gefahr,  eine  Blennorrhoe  zu  erwerben,  für  das  un- 
eheliche Kind  eine  viel  brennendere,  als  wie  für  das  eheliche. 

Sind  ynr  von  den  innigen  Beziehungen,  welche  zwischen  Blennorrhoe 
imd  unehelicher  Geburt  bestehen,  überzeugt,  so  werden  wir  uns  der 
Ei-kenntniss  nicht  verschliesseu  können,  dass  der  für  die  Blennorrhoe 
entfallende  Prozentsatz  gewissen  Schwankungen  unterworfen  sein  muss, 
nämlich  den  Schwankungen,  welche  die  Zahl  der  ehelichen  und  unehe- 
lichen Geburten  aufweist.  Mit  dem  Steigen  und  Fallen  der  unehelichen 
Gebiu-teu  muss  auch  die  Blennorrhoequote  steigen  und  fallen.  Man 
wird  gut  thun,  dieser  Thatsache  bei  allen  Blindenuntersuchungen  sich 
zu  erinnern  und  im  Hinblick  auf  sie  nicht  jedes  Fallen  der  Blennorrhoe- 
quote sofort  auf  eine  wirkliche  und  anhaltende  Einschränkung  der 
Blenuon'hoe  zu  beziehen.  Auf  eine  wirkliche  imd  erfolgreiche  Ver- 
minderimg der  Blennorrhoe  wird  man  nur  dann  schliessen  dürfen,  wenn 
man  bei  einer  Blindenuntersuchung  einen  ganz  erheblich  geringeren 
Prozentsatz  für  die  Blennorrhoe  ermittelt,  als  wie  bei  einer  früheren 
Untersuchung.  Wenn  wir  z.  B.  heute  für  unser  Material  ^)  23,50  Vo 
gefunden  haben  und  Reinhard  vor  10  Jahren  vor  40,25  "U  in  einem 
dem  unserigen  gleichwerthigen  Material  nachgewiesen  hat,  so  ist  die 
Diöerenz  zwischen  diesen  beiden  Prozentsätzen  doch  zu  gross,  um  sie 
lediglich  nur  durch  die  Schwankungen  in  der  Zahl  der  ehelichen  und 
imehelichen  Geburten  erklären  zu  können.  Besonders  vorsichtig  wird  man 
sein  müssen,  wenn  es  sich  um  Untersuchungen  einzelner  Blinden- Anstalten 
handelt ;  der  Umstand,  dass  in  einer  Anstalt  die  Zahl  der  Blennorrhoe- 
blinden  abnimmt,  ist  noch  lange  kein  Beweis,  dass  in  der  Provinz,  welche 
hinter  jener  Anstalt  steht,  eine  rückläufige  Bewegung  in  dem  Auftreten  der 
Blennorrhoe  eingetreten  sein  müsse.  Die  Schwankungen  der  Blennorrhoe- 
bewegung  können  sehr  wohl  die  geringere  Menge  Blennorrhoeblinder, 
welche  man  einmal  in  dieser  oder  jeuer  Anstalt  findet,  erklären.  Ich 
verweise  auf  den  von  mir  Seite  72  citirten  Fall,  wo  Horner  das  Fehlen 
der  Blennorrhoeblindheit  in  der  Züricher  Anstalt  auf  eine  Besserung 
der  Blennorrhoeblindheit  überhaupt  beziehen  wollte  und  bei  der  neuesten 
Untersuchung  plötzlich  wieder  25  %  Blennorrhoe  in  der  Anstalt  sich 
zeigten. 

Da  im  Lauf  der  nächsten  Jahre  voraussichtlich  häufiger  Blinden- 
untersuchungen vorgenommen  werden  dürften  und  man  hofl'entlich  wohl 
auch  bald  dazu  schreiten  wird,  wissenschaftliche  Berichte  über  die 
Blinden-Anstalten  zu  veröffentlichen,  so  hielt  ich  es,  um  von  Haus  aus 


')  Man  vergl.  Seite  66  dieser  Arbeit. 


—    76  — 


IiTthümeru  vorzubeugen,  für  gerathen,  die  soebeu  besprocheneu  That- 
sachen  in  ausführlicher  Weise  zur  Darstellung  zu  bringen. 

Der  Einfluss  des  Geschlechtes  auf  die  Häufigkeit  der  Blen- 
norrhoe wird  von  den  verschiedenen  Autoren  in  verschiedener  Weise 
beurtheilt;  während  Einige,  so  z.  B.  Emissmann^),  ein  Ueberwiegen 
der  Blennorrhoe  für  das  männliche  Geschlecht  behaupten,  ist  nach  An- 
deren, so  z.B.  nach  E/süsser,  Piringer'')  u.  a.  das  weibliche  Geschlecht 
von  der  Ophthalmia  neonatorum  häufiger  heimgesucht.    Unser  Material 
ergiebt  nun  durchweg  flu-  alle  Länder,  aus  denen  eine  Reihe  von  An- 
staltsuntersuchungen vorliegt,  ein  entschiedenes  Ueberwiegen  der  Blen- 
norrhoeblindheit  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  und  zwar  ist  dieser 
Unterschied  in  einzelnen  Ländern  so  gross,  dass  er  10  Prozent  und 
darüber  beü-ägt.    Für  das  gesammte  M"aterial  ist  das  Verhältniss  ein 
derartiges,  dass  für  das  männliche  Geschlecht  die  Blennon-hoequote 
20,66  "/o,  fiir  das  weibliche  aber  28,28  "/o  beträgt.    Für  die  einzelnen 
europäischen  Länder  ist  das  Verhältniss  zwischen  männlichen  imd  weib- 
lichen Blennorrhoeblinden  das  folgende: 

Männlich  Weiblich 
Oesterreich-Ungarn    1 9,6  3  °  /o         2  2,03 »/  o 

Belgien  10,00  „         14,70  „ 

Deutschland     .    .    22,48  „         30,56  „ 
Italien    ....    18,95  „         26,53  „ 
Holland  ....    13,84  „         22,00  „ 
Schweiz  ....    21,95  „         31,25  „ 
Spanien  .    .    .    .    11,11  „         25,00  „ 
Russland      .    .    .    17,94  „         34,37  „ 
Jedenfalls  ist  es  auffallend ,  mit  welcher  Regelmässigkeit  in  all' 
den  angefiÜirten  Ländern  die  Blennorrhoeblindheit  für  das  weibliche 
Geschlecht  einen  höheren  Prozentsatz  ergiebt  und  macht  es  diese  That- 
sache  doch  wohl  wahrscheinlich,  dass  im  Allgemeinen  die  Blennorrhoeblind- 
heit das  weibliche  Geschlecht  mehr  heimsucht,  als  wie  das  männliche. 

Es  wäre  sodann  vielleicht  nicht  ohne  Interesse  zu  untersuchen,  ob 
die  städtische  oder  die  ländliche  Bevölkerung  einen 
grösseren  Prozentsatz  Blennorrhoeblinder  liefert.  Bekannt- 
lich hat  Mayr  3)  vor  einigen  Jahren  für  Bayern  den  Nachweis  zu  föhren 


•)  Eaussmann,  Die  Bindehautinfektion  u.  s.  w.  p.  o4  u.  5o. 

Man  vergleiche  die  angezogenen  Stelleu  hei  Eaussmann. 
-  Mayr,  Die  Verbreitung  der  Blindheit,  der  Taubstummheit, 
des  Blödsinns  und  des  Irrsinns  inBayern  nobst  einer  allgemeinen 


gesucht,  dass  die  städtische  Bevölkerung  eluer  um  die  Hälfte  grösseren 
Gefahr  der  Erblindung  unterliege,  als  wie  die  ländliche  Bewohnerschaft. 
Es  kann  hier  nicht  der  Ort  sein,  diese  Mayr'sche  Behauptung  einer 
Kritik  zu  unterziehen,  zumal  wir  uns  schon  früher  über  dieselbe  ge- 
äussert haben'),  doch  wollen  w  nicht  unterlassen,  wenigstens  an 
unserem  jetzigen  Material  die  Mayr'sche  Hypothese  zu  prüfen.  Bezüg- 
lich der  deutschen  Blennorrhoeblinden  habe  ich  zum  Theil  einen  ganz 
verlässlichen  Nachweis  über  den  Ort,  wo  die  Erblindung  erfolgt  ist ; 
187  derselben  sind  auf  dem  Land,  180  in  der  Stadt  erblindet;  es  ent- 
fallen also  auf  die  ländliche  Bevölkerung  50,95  °/o  und  auf  die 
städtische  49,05  °/o.  Natürlich  können  wir  aus  diesen  Zahlen  erst  dann 
einen  Schluss  ziehen,  wenn  wir  dieselben  mit  den  Zahlen  parallelisiren, 
welche  im  deutschen  Reich  für  die  ländliche  und  städtische  Bevölker- 
ung massgebend  sind.  Nach  den  Erhebungen  von  1880^)  haben  nun 
in  Deutschland  in  Orten  mit  über  2000  Emwohnern  18  720  530  Per- 
sonen und  in  Orten  mit  weniger  als  2000  Einwohnern  26  513  531  In- 
dividuen gelebt.  Wenn  wir  nun  die  Bevölkerung,  welche  in  Orten  mit 
mehr  als  2000  Einwohnern  leben,  als  die  städtische  und  den  anderen 
Theil  als  die  ländliche  ansehen  dürfen,  so  würden  also  im  Allgemeinen 
2/5  aller  Einwohner  auf  die  Städte  und  ^/s  auf  das  Land  kommen. 
Entsprechend  dieser  Vertheilung  müssten  von  unseren  deutschen  Blen- 
norrhoeblinden 146  und  ein  Bruchtheil,  d.  h.  39,78  °/o  auf  die  Städte 
und  219  und  ein  Bruchtheil,  d.  h.  59,68  °/o  auf  die  ländliche  Bevölker- 
luig  entfallen.  Nach  unseren  Ermittelungen  kommen  aber  49,05  7o  auf 
die  städtische  und  50,95  "/o  auf  die  ländliche  Einwohnerschaft.  Unser 
Material,  soweit  es  das  deutsche  Reich  angeht,  würde  hiernach  also 
für  die  städtische  Bevölkerung  eine  grössere  BlennoiThoequote  ergeben, 
als  für  die  ländliche  Einwohnerschaft  imd  zwar  würde  sich  für  jene 
etwa  ^li  mehr  herausstellen,  als  nach  dem  Bevölkerangsstand  zu  er- 
warten wäre.  Nun  wollen  wir  allerdings  nicht  verhehlen,  dass  unsere 
Annahme,  nach  der  diejenigen  Personen,  welche  in  Orten  mit  mehr  als 
2000  Einwohnern  leben,  insgesammt  die  städtische  Bevölkerung  repräsen- 
tii'en  sollen,  während  die  ländliche  Einwohnerschaft  durch  die  Bevölker- 
ung der  weniger  als  2000  Personen  zählenden  Ortschaften  verti'eten. 


internationalen  Statistik  dieser  vier  Gebrechen.    XXXV.  Heft  der 
Beiträge  zur  Statistik  des  Königreichs  Bayern.    München  1877.    p.  24. 
')  Magnus,  Die  Blindheit  u.  s.  w.  p.  64. 

')  Statistisches  Jahrbuch  für  das  deutsche  Reich.  Jahr- 
gang 1882. 


—    78  — 


werden  soll,  von  Fehlerquellen  keineswegs  freizusprechen  ist.  That- 
sächlich  dürfte  die  Landbevölkerung  wohl  doch  mehr  als  ^/s  der  ganzen 
Bewohnerzahl  des  deutschen  Reiches  betragen  und  auf  die  Stadtbevölker- 
ung ein  geringerer  Bruchtheil  als  wie       entfallen.  Es  würde  darnach 
für  die  Stadtbevölkerung  sogar  eine  noch  grössere  Blennorrhoequote 
sich  ergeben,  als  wir  sie  gefunden  haben,  die  Differenz  zwischen  der 
städtischen  und  ländlichen  Blennorrhoequote  eine  viel  bedeutendere  seiu, 
als  wie  sie  nach  unseren  Ermittelungen  scheinbar  ist.    Wir  mussten 
vins  aber,  um  überhaupt  eine  Scheidung  zwischen  ländlicher  und  städti- 
scher Bevölkerung  treffen  zu  können,  an  die  Angaben  der  offiziellen 
Statistik  halten  und  diese  unterscheidet  eben  nm-  zwischen  Einwohnern 
von  Orten  über  und  unter  2000  Einwohnern.    Uebrigens  bin  ich  mir 
wohl  bewusst,  dass  meine  Darlegungen  nicht  mehr  sein  können,  als 
wie  ein  Versuch;  aber  ich  bin  der  Ansicht,  dass  in  einer  so  Avichtigen 
Frage,  wie  es  die  Blennori-hoeblindheit  ist,  es  wohl  erlaubt  sein  dürfte, 
auch  mit  einem  beschränkten ,  von  Fehlerquellen  nicht  freizusprechen- 
den Material  einen  solchen  Versuch  zu  wagen,  wie  ich  ihn  gewagt  habe. 

Die  Verhütung  der  Blennorrhoe  ist  im  Lauf  der  letzten 
Jahre  so  oft  der  Gegenstand  höchst  eingehender  Untersuchungen  ge- 
wesen, dass  wir  uns  über  dieses  Thema  heute  nur  mit  gewissen  Ein- 
schränkungen äussern  wollen.  Indem  wir  bezüglich  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  Blennorrhoeprophylaxe  auf  Haussmann  wxA  Fuchs  ver- 
weisen, wollen  wir  heute  nur  unsere  Anschauungen  darüber  äussern, 
in  welcher  Weise  sich  jetzt  am  aussichtsvollsten  eine  Verhütung  der 
Blennorrhoe  resp.  Blennorrhoeblindheit  in's  Werk  setzen  lassen  dürfte. 

Mit  der  Erkenntniss  der  mycotischen  Natur  der  Blennorrhoe  waren 
zwei  Wege  eröffnet  worden,  auf  denen  man  hoffen  konnte,  eine  erfolg- 
reiche Verhütung  dieser  Krankheit  zu  en-eichen;  einmal  konnte  man 
bestrebt  sein,  die  Einwanderung  der  parasitären  Elemente  aus  den 
mütterlichen  Geburtswegen  in  den  Konjunktivalsack  zu  verhindern,  und 
anderseits  konnte  man  darauf  denken,  die  einmal  in  den  Konjunktival- 
sack gelangten  Gonococcen  dauernd  unschädlich  zu  machen.  Die  Praxis 
hat  über  den  Werth  dieser  beiden  Möglichkeiten  bereits  zu  Gericht 
gesessen  und  es  dürfte  wohl  heute  kaum  noch  einen  Arzt  geben,  welcher 
die  Desinfektion  der  mütterlichen  Geschlechtsorgane  zur  Verhütung  der 
Blennorrhoe  für  ausreichend  erachten  wollte.  Der  Schwerpunkt  der 
Blennorrhoeprophylaxe  liegt  voll  und  ganz  jetzt  nur  auf  der  wirksamen 
Desinfektion  des  Konjunktivalsackes,  und  was  mit  dieser  Methode 
geleistet  werden  kann,  das  zeigen  die  glänzenden  Erfolge  des  Crede'- 


—    79  — 


sehen  Verfahrens^).  Ideell  ist  mit  dem  Auftreten  der  C?'ede'schen 
Methode  die  Frage  nach  der  wirksamen  Verhütung  der  Blennon-hoe 
eigentlich  vollständig  gelöst.  Selten  nur  ist  es  der  Medicin  beschieden 
gewesen,  ihre  Erkenntniss  von  dem  "Wesen  einer  Krankheit  mit  so 
überraschendem  Erfolge  praktisch  zu  verwertheu,  als  wie  dies  bei  der 
Ophthalmia  neonatorum  der  Fall  gewesen  ist.  Ueber  die  Methode  der 
Bleuuorrhoeprophylaxe  kann  deshalb  in  Zukunft  wohl  auch  nicht  mehr 
der  leiseste  Zweifel  hen-schen ;  dagegen  lässt  sich  darüber  streiten,  in 
welcher  Weise  nun  das  C/"ef/e'sche  Verfahren  in  der  Praxis  verwerthet, 
wie  dessen  segensreiche  Erfolge  in  weitestem  Umfang  allen  Bevölker- 
ungsschichten zugängig  gemacht  werden  sollen.  Und  gerade  über  diesen 
Punkt  gehen  die  Ansichten  vor  der  Hand  noch  recht  weit  auseinander, 
wie  dies  ein  Blick  auf  die  Tagesliteratur  zeigt.  Als  die  glänzenden 
Erfolge  Crede's  zuerst  bekannt  geworden  waren,  hatten  wohl  die  meisten 
von  ims  unwillkürlich  den  AVunsch,  die  C^'ef/e'sche  Methode  mit  Be- 
nützung der  Staatshülfe  zur  allgemeinen  Einführung  zu  bringen.  War 
die  Idee  nicht  wirklich  verlockend,  an  der  Hand  des  Gesetzes  die  Blen- 
norrhoe so  gut  wie  ganz  aus  der  Welt  zu  schaffen  ?  Wenn  der  Staat 
sich  für  verpflichtet  erachtet ,  durch  ein  Impfgesetz  Leib  und  Leben 
seiner  Angehörigen  gegen  die  Pocken  zu  schützen,  sollte  es  da  nicht 
auch  in  seinem  Interesse  liegen,  die  Augen  seiner  Neugeborenen  gegen 
eine  Erkrankung  zu  schützen,  welche  so  tief  in  das  Wohl  und  Wehe 
so  vieler  Staatsangehöriger  eingreift  ?  Professor  Schatz  ^)  in  Rostock 
hat  diese  Frage  in  einer  vortrefflichen  Weise  behandelt  und  da  sich 
meine  Ansichten  mit  denen  dieses  Autors  vollständig  decken,  so  sei 
es  mir  gestattet,  die  einschlägigen  Bemerkungen  von  Schatz-  wörtlich 
anzuziehen ;  derselbe  sagt :  „Die  Frage,  ob  die  prophylaktische  Behand- 
lung der  Augen  der  Neugeborenen  gegen  BlennoiThoe  nach  der  Crede'- 
schen  Methode  seitens  des  Staates  anzuordnen  sei,  wird  verschieden  zu 
beantworten  sein,  je  nach  den  verschiedenen  Kreisen  sanitätlichen  Per- 
sonals, auf  welche  sich  die  Anordnung  beziehen  soll. 

Den  frei  praktizirenden  Aerzten  die  Prophylaxis  überhaupt  oder 
gar  eine  bestimmte  Methode  für  dieselbe  vorzuschreiben,  ist  der  Staat 
gar  nicht  in  der  Lage.  Die  Wissenschaft  geniesst  mit  Recht  die  volle 
Freiheit,  die  Mittel  und  Wege  der  Behandlung  selbst  zu  bestimmen. 

')  Credc,  Die  Verhütung  der  Augeueutzündung  der  Neuge- 
borenen, der  liäufigsten  und  wichtigsten  Ursache  der  Blindheit. 
Berlin  1884.    Beschreibung  des  Verfahrens  p.  9. 

Schatz,  Die  Blenuorrhoea  neonatorum  u.  s.  w. 


—    80  — 


Ja  der  Staat  wird  sogar  nicht  einmal  Veranlassung  haben ,  die  Aerzte 
auf  die  Prophylaxis  aufmerksam  zu  macheu,  da  das  durch  die  medi- 
cinische  Literatur  der  Jetztzeit  reichlicher  und  schneller  besorgt  wird. 
Uebrigeus  wird  die.  entsprechende  Thätigkeit  der  Aerzte  gar  nicht  ein- 
mal allzuviel  wh-ken.  Die  Entbindungen,  bei  welchen  Aerzte  zui-  Stelle 
sind,  bilden  nur  einen  verschwindend  kleinen  Theil  aller  Entbindungen 
imd  finden  in  Gesellschaftskreisen  statt,  bei  welchen  die  Blenuorrhoea 
neonatorum  auch  ohne  Prophylaxis  äusserst  selten  ist.  Findet  sie  sich 
aber  auch  einmal,  so  ist  dann  wenigstens  die  Hülfe  so  schnell  da,  dass 
dauernde  Schäden  kaum  je  eintreten. 

Anders  liegt  die  Frage  schon  bei  den  staatlichen  Anstalten.  In 
diesen,  welche  zu  einem  grossen  Theil  von  recht  unsauberer  Gesellschaft 
bevölkert  werden,  kommt  die  Blennorrhoe  etwa  10 mal  häufiger  vor, 
als  in  der  gewöhnlichen  Praxis.  In  ihnen  hat  der  Staat  ausserdem 
nicht  nur  ein  allgemeines  Interesse,  die  Blennon-hoe  wegen  ihrer  Folgen 
vermieden  zu  sehen,  sondern  auch  ein  direkt  pekuniäres,  w-eil  die  Ver- 
meidung der  Blennorrhoe  die  zu  gewährenden  Verpflegungstage  nicht 
unbeträchtlich  vermindert.  Trotzdem  halte  ich  es  auch  für  die  öffent- 
lichen Anstalten  mindestens  für  überflüssig,  dass  der  Staat  eine  bestimmte 
Prophylaxis  anordnet.^)  Denn  er  kann  nicht  allein  zu  den  Anstalts- 
vorständen das  Vertrauen  hegen,  dass  diese  aus  Pflichtgefühl  Prophy- 
laxis anwenden  werden,  sondern  die  Vorstände  werden  dies  schon  aus 
eigenem  Interesse  thun,  weil  die  ausgebrochene  Blennorrhoe  eine  der 
imangenehmsten  Plagen  des  Anstaltspersonales  ist.  Ich  halte  sogai-  die 
staatliche  Anordnung  einer  bestimmten  Methode  der  Prophylaxis  nicht 
einmal  für  räthlich.  Es  ist  ja  nicht  unmöglich,  ja  sogar  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  bald  ein  noch  bequemeres  Mittel  zur  Desinfektion  der 
Augen  gefunden  wird  und  solches  Auffinden  würde  dm-ch  die  Anord- 
nung einer  bestimmten  Methode  nur  erschwert  werden.^) 

Ganz  anders  liegt  die  Frage  aber  bezüglich  der  Hebammen.  Diese 
sind  weo-en  ihrer  der  Wichtigkeit  ihres  Berufes  nicht  entsprechenden 


»)  Früher  war  ich  in  einem  Vortrag:  „D  ie  Verhütung  der  Blennorrhoea 
neonatorum  und  der  sich  daraus  entwickelnden  Blindheit".  Vor- 
trag, gehalten  am  15.  Februar  1884  in  der  schlesischen  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Kultur.  Breslauer  ärztl.  Zeitschrift  1884,  Nr.  9  —  für  die  obligatorische 
Einführung  der  CVecZe'schen  Methode  in  den  Gebärhäusern  eingetreten;  doch 
stimme  ich  jetzt  den  Ansichten  von  Schatz  bezüglich  dieses  Punktes  völlig  bei. 

2)  Aehnliche  Ansichten  über  die  Stellung  der  Gebäranstalteu  zu  der  Credc'- 
schen  Methode  hat  auch  Fuchs  in  seinem  preisgekrönten  AVerk  über  Blindheit 
geäussert;  man  vergl.  daselbst  p.  141. 


—    81  — 


AusbilcUuig  bezüglich  ihrer  Funktionen  und  ihrer  jMedikamente  an  ganz 
bestimmte  Vorschriften  des  Staates  gebunden.  Solche  müssen  ihnen 
also  gegeben  werden  und  es  fragt  sich,  ob  die  Prophylaxis  der  Blenuorrhoea 
neonatorum  mit  2prozentiger  Argeutum  nitriciura  -  Lösung  auch  zum 
Gegenstand  einer  Hebammenfunktion  gemacht  werden  soll."  So  weit 
die  Worte  von  Schatz-,  mit  welchen  derselbe  die  Situation  nach  imserer 
^Meinung  in  ausgezeichneter  Weise  gekennzeichnet  hat.  Aus  den  an- 
gezogeneu Bemerkimgen  unseres  Autors  geht  also  hervor,  dass  sich  die 
Frage  der  obligatorischen  Einführung  der  Crede'schen  Prophylaxe 
wesentlich  auf  die  Hebamme  zuspitzt.  Soll  für  die  Hebamme  eine 
bindende  Verordnung  bezüglich  der  Desinfektion  der  Augen  der  Neu- 
geborenen erlassen  werden  oder  nicht?  so  lautet  die  Frage  augenblick- 
lich. Schatz  ist  der  probeweisen  Einfühi-ung  der  Prophylaxis  in  die 
Hebammenpraxis  zwar  nicht  abgeneigt,  doch  möchte  er  auch  diese 
probeweise  Einfühiomg  nicht  schon  jetzt  diu-chgeführt  sehen. Gegen- 
über diesem  vermittelnden  Vorschlag  von  Schatz  tritt  Fuchs  unbedingt 
für  die  Einführimg  in  die  Schranken,  während  TJffelmann,'^)  wenn  auch 
in  reservirter  Form,  sich  gegen  dieselbe  erklärt.  Dürfen  wir  nunmehr 
imseren  eigenen  Standpunkt  in  dieser  Angelegenheit  betonen,  so  müssen 
ym  gestehen,  dass  unsere  Bedenken  gegen  die  allgemeine  Einführung 
in  die  Hebammenpraxis  im  Laufe  der  letzten  Zeit  eher  gestiegen  als 
gemildert  worden  sind.  Wie  Schatz  in  seinen  von  ims  citirten  Dar- 
legungen sehr  treffend  bemerkt,  sind  die  Gefahren  der  Blennorrhoe 
durchaus  nicht  für  alle  Gesellschaftsklassen  die  gleichen;  die  niederen 
Schichten  der  Bevölkerung  stehen  offenbar  sowohl  unter  einer  grösseren 
Gefahr,  die  Blennon-hoe  zu  erwerben,  als  die  Erkrankung  bei  ihnen  auch 
in  ihren  Folgen  verhängnissvoller  sich  zu  gestalten  pflegt.  Für  die 
besitzenden  und  die  gebildeten  Volksklassen  ist  die  Gefahr  derBlennorrhoe- 
blindheit  lange  nicht  so  brennend  als  wie  für  die  unteren  Schichten 
der  Bevölkerung.  Von  einem  staatlichen  Eingreifen  darf  nach  unserer 
Ueberzeugung  aber  erst  dann  die  Rede  sein,  Avenn  die  Gefahr  für  alle 
Klassen  des  Volkes  die  gleiche  ist.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  ist  die 
Gefahr  für  eine  Kategorie  der  Bevölkerung  zwar  eine  hervorragende, 
für  einen  recht  bedeutenden  Theil  des  Volkes  aber  eine  untergeordnete  — 
und  das  ist  nun  einmal  thatsächlich  bei  der  Blennorrhoe  der  Fall  — 
so  mirde  der  Staat  sich  einer  ganz  ausserordentlichen  Ungerechtigkeit 


')  Wenigstens  nicht  für  Mecklenburg. 

')  Uffelmann,   Die  Prophylaxis  der  Blenuorrhoea  neonatorum. 
Deutsche  Medicinal-Zeitung  1885.    Nr.  6. 

Magnus,  Jngendblindheit.  6 


—    82  — 


gegen  ei  neu  grossen  Bruchtheil  seiner  Bevölkerung  schuldig  inacheu, 
wenn  er  eine  allgemein  gültige  Anwendung  der  Crede'schen  Prophylaxe 
anordnen  wollte.    Ein  ansehnlicher  Theil  des  Volkes  wüi-de  dann  ge- 
nöthigt,  an  den  Augen  seiner  Kinder  eine,  genau  besehen,  eigentlich 
uuuöthige  Manipulation  vornehmen  lassen  zu  müssen,  l)loss  damit  andere 
minder  gut  situirte  Bevölkerungsschichten  gegen  die  Blennorrhoegefahr 
geschützt  würden.    Würde  man  nun  aber  die  Einführung  der  Prophy- 
laxis in  die  Hebammeupraxis  in  beschränkter  Weise  gutheissen,  etwa 
in  der  Form,  dass  die  Hebamme  bei  allen  Geburten,  welche  sie  ohne 
Hülfe  eines  Ai-ztes  leitet,  gehalten  wäre,  die  Prophylaxis  in  Anwendung 
zu  ziehen,  so  wäre,  bei  Licht  betrachtet,  eine  solche  Anwendung  schliess- 
lich doch  nichts  anderes  als  ein  Ausnahmegesetz,   ein  Gesetz,  gemünzt 
für  die  unteren  Volksklassen.  Wenn  nun  ein  solches  Gesetz  auch  ganz 
gewiss  in  hervorragendster  Weise  nur  dem  Wohl  jener  Bevölkerungs- 
schichten dienen  würde,  auf  welche  es  berechnet  ist,  so  ist  und  bleibt 
es  doch  immer  ein  Ausnahmegesetz.  Ob  und  wie  weit  aber  heutzutage 
Ausnahmegesetze  berechtigt  sind,  das  ist  sehr  die  Frage.  JedenfaUs 
wäre  es  besser,  wenn  man  ohne  dieselben  zum  Ziel  gelangen  könnte. 
Ich  bin  aber  der  Ansicht,  dass  dies  sehr  wohl  möglich  sein  könnte. 
Man  gebe  zuvörderst  den  Hebammen   bei  ihrer  Ausbüduug  genaue 
Aufklärungen  über  das  Wesen  und  die  Bedeutung  der  Ophthalmia 
neonatorum;  dann  unterrichte  man  sie  in  der  Ausübung  der  Cr ede'schen 
Methode  und  schliesslich  weise  man  sie  an,  bei  den  Untersuchungen 
der  Schwangeren  sorgfältig  auf  etwaigen  Scheideufluss  zu  achten.  Finden 
sie  solchen,   so  sollen  sie,  wie  Fuchs  sehr  richtig  bemerkt,  die  Frau 
auf  die  etwaigen  Gefahren,   welche  dieser  Fluss  auf  die  Augen  des 
erwarteten  Kindes  ausüben  kann,  hinweisen,  und  die  Desinfizirung  nach 
Crede  dringend  in  Vorschlag  bringen.    Ueberhaupt  sollen  sie  in  allen 
ihnen  verdächtig  erscheinenden  Fällen  das  Cred^'sche  Verfahi-en  den 
Eltern  dringend  an's  Herz  legen.    Fügt  man  diesen  Vorschlägen  noch 
die  Bestimmung  zu,  dass  die  Hebamme  jeden  FaU  von  Blennorrhoe 
alsbald  offiziell  zu  melden  hat,')  so  bin  ich  der  festen  Ueberzeugung, 
dass  die  Gefahren  der  Blennorrohe  auf  das  denkbar  genngste  i\Iaass 
beschränkt  sein  dürften.    Besonders  dem  letzten  Punkt  der  Anzeige- 
pflicht   messe  ich  grosse  Bedeutung  bei;  durch  Meldung  jedes  Blennon-hoe- 
falles  an  geeigneter  Stelle  wird  der  Gefahr  der  Erkrankimg  m  wn-k- 
samster  Weise  die  Spitze  abgebrochen.    Die  Neigung  der  Hebamme, 

.)  Audi  Uffdiiiann  tritt  dafür  ein,  dass  die  Hebamme  eventuell  unter  Straf- 
androhung gcnöüugt  werde,  jeden  Fall  von  Blennorrhoe  zu  Urzthcher  Kenntnis 
zu  bringen. 


—    8ö  - 


die  Blennorrhoe  iu  ihre  eigene  Behandlung  zu  nehmen,  wird  durch 
die  Äleldepflicht  in  erfolgreichster  "Weise  bekämpft,  und  zugleich  wird 
dm-ch  die  Meldepflicht  auch  den  Eltern  die  Bedeutung  der  Ei-ki-ankung 
ihi-es  Kindes  in  handgreiflichster  Weise  demonstrirt.  Sieffan hat 
der  Anzeigepflicht  der  Hebammen  bereits  auf  dem  XI.  deutschen  Aerzte- 
tage  am  22,  und  23.  Juni  1883  zu  Berlin  in  energischster  Weise  das 
Wox-t  geredet  und  ich  freue  mich,  dass  diese  Bestrebungen,  welche  ich 
aus  vollster  Ueberzeugung  gleichfalls  stets  vertreten  habe,  für  meine 
heimathliche  Provinz  Erfolg  gehabt  und  die  Anzeigepflicht  für  dieselbe 
erwirkt  haben.') 

Will  man  ausserdem  noch  durch  Verbreitung  von  populär  ge- 
haltenen Brochuren  wirken,  wie  dies  z.  B.  Adler  ^)  u.  a.  warm  empfehlen, 
so  habe  ich  gegen  derlei  Schritte  natürlich  keine  Einwendungen,  wenn 
ich  auch  der  Ansicht  bin,  dass  die  Erfahrungen  der  Praxis  vor  der 
Hand  noch  keinen  grossen  Nutzen  von  allen  belehrenden  medicinischen 
Artikeln  ergeben  haben.  Als  Unterstützungsmittel  der  von  uns  in 
Vorschlag  gebrachten  Massregeln  hat  ganz  gewiss  auch  die  Verbreitung 
.populärer  medicinischer  Flugblätter  ihi'e  Bedeutung;  und  so  möge  man 
■dieselben  immer  in's  Werk  setzen,  wie  dies  Dr.  Roth^)  in  London  mit 
so  unermüdlichen  Opfern  an  Zeit  und  Geld  thut. 

Atrophia  nervi  optici  ohne  Cerebralsymptome  und 
ohne  anderweitige  Körpererkrankung  nimmt  in  unserer  Zu- 
sammenstellung auf  Seite  62  den  zweiten  Platz  unter  den  durch  idio- 
pathische Erkrankungen  des  Auges  verursachten  Erblindungen  ein; 

')  Steffan,  Ueber  die  Nothwendi  gkeit  der  Veränderung  unserer 
heutigen  Gesetzgebung,  betreffend  die  Conjunctivitis  bleu- 
norrhoica  neonatorum.  Centraiblatt  für  allgemeine  Gesundheitspflege. 
III.  Jahrgang.    Bonn  1884. 

')  In  einer  von  Seiner  Excelleuz  dem  Herrn  Oberpräsidenten,  wirklichen 
Geheimen  Rath  von  Seydewitz  am  20.  Oktober  1884  für  Schlesien  erlasseneu  Ver- 
ordnung heisst  der  Paragraph  4 :  „Die  Hebamme  muss  jeden  in  der  Praxis  vor- 
kommenden Fall  von  Kindbettfieber,  sowie  jeden  den  Verdacht  von  Kindbettfieber 
erregenden  Krankheitsfall,  ferner  jeden  Todesfall  einer  Gebärenden  oder  Wöch- 
nerin und  jeden  Fall  von  eitriger  Augenentzündung  der  Neugeborenen  Ohne  Ver- 
zug dem  Kreisphysikus  schriftlich  oder  mündlich  anzeigen." 

^)  Adler,  Ueber  di  c  Nothwend  ig  k  e  i  t  der  E  int  üb  ru  ng  neuer  Mass- 
regeln zur  Bekämpfung  der  Blennorrhoea  neonatorum,  als  eine 
der  häufigsten  Ursachen  der  Erblindung.  Mitthoilungen  des  Wiener 
medicinischen  Üoktoren-Collegiums.    Band  IX.  Nr.  14. 

*)  Man  vergleiche  die  verschiedeuen  Flugschriften,  welche  die  Society  for 
the  prevention  of  blindncss  im  Lauf  der  letzten  Jahre  herausgegeben  hat. 

6* 


—    84  — 


doch  dürfte  nach  einer  geuauen  Aualyse  der  74  vorliegeudeu  Fälle  uur 
in  59  derselben  die  Diagnose  einer  idiopathischen,  nicht  komplizirten 
Sehnervenatrophie  zutreffend  sein.  In  4  weiteren  Fällen  handelt  es 
sich  um  papillitische  Atrophie  und  die  dann  noch  übrigbleibenden  11 
Fälle  lassen  sich  nicht  nach  bestimmten  Krankheitsbildern  gruppireu. 
Jede  Blindenuntersuchung  bringt  es  eben  mit  sich,  dass  gewisse  Fälle 
zwar  bezüglich  der  unmittelbaren  Erblindungsursache  keine  Schwierig- 
keiten bieten,  wie  dies  für  die  fraglichen  1 1  Atrophiefälle  gilt,  man  aber 
doch  über  die  näheren,  die  Erblindung  begleitenden  Umstände  zu  keinem 
sicheren  Schluss  gelangen  kann  und  deshalb  die  klinische  Fonn  der  Blind- 
heit nicht  mit  der  wüuschenswerthen  Sicherheit  zu  bestimmen  vermag. 

Die  einfache  nicht  komplizirte  progressive  Sehnervenatrophie  ist 
also  nur  mit  59  Fällen  in  unserem  Material  vertreten,  d.  h.  mit  l,84"/o. 
Für  die  Jugendblindheit  ist  hiernach  also  die  einfache  Sehnervenatrophie 
von  nur  untergeordneter  Bedeutung,  eine  Erscheinung,  welche  mit  den 
klinischen  Erfahrungen  der  Praxis  auf  das  Beste  übereinstimmt.  Ueber 
die  verschiedenen  Altersklassen  unseres  Materials  vertheilen  sich  die 
Fälle  der  einfachen  Sehnerven  atrophie  in  der  Weise,  dass  etwa  bis  zum  . 
sechszehnten  Lebensjahr  dieselbe  nur  sehr  vereinzelt  aufüitt,  gegen  das 
zwanzigste  Jahr  hin  aber  eine  merkliche  Steigerung  in  der  Zahl  der 
Fälle  nachweisbar  ist.    Wollte  man  die  betreffenden  Verhältnisse  in 
Form  einer  Curve  ausdrücken,  so  würde  dieselbe  für  die  ersten  fünf- 
zehn Lebensjahre  einen  ziemlich  gleichmässigen  Verlauf  und  einen  sehr 
niedrigen  Stand  zeigen  und  erst  nach  dieser  Zeit,  wenn  auch  immer 
noch  in  bescheidenem  Maasse,  zu  steigen  beginnen.    Die  einfache  Seh- 
nervenatrophie zeigt  bekanntlich  im  Allgemeinen  eine  grössere  Vorliebe- 
mx  das  männliche  als  wie  für  das  weibliche  Geschlecht  und  kommt 
diese  Thatsache  auch  in  unserem  Material  zum  Ausdruck.    Von  den 
59  Blinden  sind  nämlich  43  Knaben  und  16  Mädchen;  da  wir  2009 
mäni^liche  Jugendblinde  überhaupt  zählen,  so  beträgt  der  Prozentsatz 
der  Sehnervenatrophie  ftir  das  männliche  Geschlecht  2,140/0;  weibhche 
Jugeudblinde  zählen  wir  1195,  mithin  entfällt  auf  diese  ein  Prozentsatz 

von  l,34"/o.  ,        ,  ^_ 

Die  vier  Fälle  papillitischer  Atrophie  bieten  keine  besonderen  Ver- 
hältnisse dar.  Der  Prozentsatz  dieser  Form  der  Sehnerven  atrophie 
würde  flir  das  jugendliche  Alter  nach  unserem  Material  0,12  /„  be- 

^'''^ie  übrigen  11  Fälle,  welche  ich  klinisch  nicht  zu  bestimmen 
vermag,  bieten  kein  besonderes  Interesse,  weil  sie  eben  nicht  in  der 
erforderlichen  Weise  zu  durchleuchten  sind. 


—    85  — 


Iritis  und  Irido Chorioiditis  nehmen  in  der  amaurotischen 
Rangordnung  der  idiopathischen  Augenerkrankungeu  die  dritte  Stelle 
ein,  indem  unter  1060  Fällen  67  auf  jene  beiden  Erkrankungsformen 
entfallen,  d.  h.  6,32*^/0;  zur  Jugendblindheit  überhaupt  steuern  sie 
2,09  °/o  bei.  lieber  beide  Geschlechter  vertheilen  sich  imsere  Fälle  in 
gleichem  Verhältnisse,  insofern  auf  die  männlichen  Blinden  unseres 
Materials  2,14  und  auf  die  weiblichen  2,00  "/o.  Klinisch  lassen  sich 
bei  den  genannten  67  Fällen  3  verschiedene  Formen  unterscheiden, 
nämlich  die  spontane  Iridochorioiditis  mit  52  Fällen,  Iritis  chronica 
mit  6  Fällen,  Mdocj^clitis  sj^mpathica  non  traumatica  mit  9  Fällen. 
Dürfen  wir  nun  diese  drei  Gruppen  etwas  näher  betrachten,  so  würden 
wir  zuvörderst  zu  untersuchen  haben  die 

Spontane  Iridochorioiditis.  Die  diu'ch  diese  Affektion  erblindeten 
Augen  zeigten  10  mal  mehr  oder  minder  ausgesprochenen  Buphthalmus 
xmd  19  mal  beginnende  oder  schon  stärker  entwickelte  Phtise.  An  12 
Augen  war  erfolglos  eine  Iridectomie  versucht  und  4  Augen  waren 
entfernt  Avorden.  In  einem  Fall  waren  beide  Augäj)fel  eines  Individuums 
enucleirt  worden.  Ueber  die  Gesundheitsverhältnisse  der  Blinden  resp. 
ihrer  Familienangehörigen  liegen  auch  einzelne  Nachrichten  vor.  Acht 
Blinde  zeigten  neben  der  Iridochorioiditis  noch  andere  Erkrankungen, 
und  zwar  war  einmal  bedeutender  chronischer  Rheumatismus  der  Ge- 
lenke nachweisbar;  viermal  litten  die  Blinden  an  allgemeiner  Körper- 
schwäche und  darniederliegender  Ernährung;  zweimal  waren  Sprach- 
störungen, einmal  komplizirt  mit  Schwerhörigkeit  nachweisbar  und  einmal 
schienen  nervöse  Störungen  vorhanden  zu  sein.  Ueber  die  Familien- 
angehörigen liegen  vier  genaue  Berichte  vor;  darnach  war  in  zwei 
Fällen  an  den  Eltern  der  Erblindeten  hochgradige  Myopie  gefunden 
worden;  einmal  war  eine  Schwester  eines  Blinden  schon  frühzeitig  in 
jungen  Jahren  an  Glaucom  erblindet  und  in  einem  andern  Falle  war 
der  Vater  eines  Blinden  schon  in  seinen  Jugendjahren  auf  beiden  Augen 
an  einer  nicht  mehr  genau  zu  ermittelnden  Krankheitsform  erblindet. 

Von  Interesse  dürfte  fernerhin  die  Vertheilung  der  durch  sj)ontane 
Iridochorioiditis  entstandenen  Blindheit  über  die  verschiedenen  Jahr- 
gänge der  uns  hier  beschäftigenden  Altersgruppe  sein.  Nach  den  mir 
vorliegenden  Berichten  bewegt  sich  die  Neigung  zur  Erwerbung  der 
fraglichen  Blindheitsform  in  den  ersten  zwölf  Lebensjahren  in  sehr  eng 
gesteckten  Grenzen;  die  betreffenden  Prozentsätze  schwanken  zwischen 
bis  2'7o;  erst  jenseits  des  zwölften  resp.  dreizehnten  oder  vierzehnten 
Jahres  fängt  die  Iridöchorioiditisblindheit   an   häufiger  vorzukommen 


—    86  — 


und  zwar  erhält  sich  diese  Neigung  in  steigendem  Grade  bis  zu  dem 
zwanzigsten  Lebensjahr,  welches  den  höchsten  Prozentsatz,  nämlich 
9,37  "/o  zeigt.  Eine  diese  Verhältnisse  veranschaulichende  Kurve  würde 
also  bis  gegen  das  zwölfte  oder  vierzehnte  Jahr  hin  ziemlich  gleich- 
massig  bei  sehr  bedeutendem  Tiefstand  verlaufen  ;  dann  würde  sie  sich 
allmählich  ohne  steile  Steigung  erheben  und  nun  in  ziemlich  gleich- 
massigem  Anstieg  bis  gegen  das  zwanzigste  Lebensjahr  aufstreben. 

Indem  wir  die  6  Fälle  von  Iritisblindheit  übergehen,  wollen  wir 
noch  die  9  durch  Iridocyclitis  sympathica  non  traumatica  hervor- 
gerufenen Erblindungen  betrachten.  Was  zuvörderst  die  Ursache  des 
zuerst  erblindeten  Auges  anlangt,  so  hat  es  sich  in  4  Fällen  um  einen 
entzündlichen  Prozess  gehandelt,  über  welchen  genauere  ]\Iittheilungen 
nicht  mehr  zu  erlangen  waren;  zweimal  war  ein  Auge  dui-ch  Hom- 
hautgeschwür  zu  Grunde  gegangen,  einmal  nach  Scharlach,  einmal  nach 
Masern,  einmal  nach  Typhus.  Ueber  den  Zeitraum,  welcher  zwischen 
der  Erbliudimg  des  einen  Auges  und  dem  Ausbruche  der  s}Tiipathischen 
Erkrankungen  auf  dem  anderen  verstrichen  war,  konnte  ich  in  7  Fällert 
verlässliche  Nachrichten  erhalten ;  darnach  lag  zweimal  kaum  ein  halbes 
Jahr  zwischen  der  primären  und  secundären  Erblindung;  einmal  3,  6, 
8,  11  und  12  Jahre.  Zur  Bekämpfung  der  sympathischen  Erkrank- 
ung waren  2  L'idectomien  und  3  Enucleationeu  ohne  Erfolg  ausgeübt 
worden. 

Ich  bin  nun  noch  in  der  Lage,  über  die  ätiologischen  Verhältnisse 
der  verschiedenen  Formen  der  L-idochorioiditis  ausfiihrliche  Mittheilungen 
zu  machen,  da  mein  Material,  fasse  ich  die  über  die  verschiedenen 
Gruppen  der  Jugendblindheit  vertheilten  Fälle  von  Iridochorioiditis  zu- 
sammen, im  Ganzen  381  Fälle  von  Iridochorioiditis  zählt.  Nach  ihrer 
Entstehung  betrachtet,  gruppiren  sich  dieselben  wie  folgt: 

Unter  381  Fällen  von  Iridochorioiditis  ist  dieselbe  entstanden: 
dm-ch  Ophthalmia  sympathica  traumatica  .    .    147  mal  =  38,58°/» 

durch  Trauma  76    „    =  19,95  „ 

spontan  52    „    =  13,65  „ 

durch  cerebrale  Erkrankung   26    „    =  6,82 

angeboren   14    „    =    3,6y  „ 

durch  SkroMose   12    „    =    3,15  „ 

„     Syphilis   10    .    =    2,62  „ 

Ophthalmia  sympathica  non  traumatica       9        =    2,36  „ 

„     Verletzung  des  Kopfes   7        =    1,84  „ 

.,     Scarlatina   7    ..    =    1,84  „ 


—    87  — 


durch  Variola 


Typhus  . 
Operationen 
Morbilli  . 


6  mal  =  1,58 

6  „    =  1,58  „ 

5  ,,    =  1,31  „ 

4  „    =  1,05  „ 


70 


Ueber  die  Entstehung  der  verschiedenen  Formen  der  Iridochorioiditis 
während  der  ersten  zwanzig  Lebensjahre  giebt  die  vorstehende  Tabelle 
ein  so  anschauliches  Bild,  dass  wir  uns  weiterer  zusätzlicher  Bemerk- 
ungen enthalten  können. 

Das  Trachom  hat  bekanntlich  für  das  jugendliche  Alter  nur 
eine  untergeordnete  Bedeutung ;  Kinder  werden,  wie  die  klinischen  Er- 
fahrungen lehren,')  vom  Trachom  zwar  nicht  völlig  verschont,  doch  im 
Allgemeinen  viel  seltener  befallen,  als  wie  die  den  späteren  Lebens- 
periodeu  Angehörigen.  Es  kann  desshalb  auch  nicht  befremden,  wenn 
in  imserem  nur  Jugendblinde  umfassenden  Material  die  Quote  der 
Trachomblindheit  nur  1,31  °/o  beträgt,  während  in  unserer  früheren 
Untersuchungsreihe,  in  welcher  die  späteren  Altersklassen  das  Ueber- 
gew'icht  besassen,  die  Trachomblindheit  die  zweithöchste  Blindenquote 
imter  allen  Erblindungsformen  beanspruchte,  nämlich  9,49  "/o.  Die 
Vertheilung  der  Trachomgefahr  über  die  verschiedenen  Jahre  des  uns 
hier  beschäftigenden  Lebensabschnittes  erfolgt  in  höchst  ungleicher  "Weise ; 
Zehender  ^)  hat  diesem  Punkt  eine  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet 
imd  über  denselben  folgende  Mittheilungen  gemacht:  „Während  das 
Trachom  vor  dem  5.  bis  6.  Jahr  kaum  vorzukommen  scheint,  erreicht 
es  in  steigendem  Verhältnisse  zwischen  dem  20.  bis  30.  Jahi-e  das 
Maximum  seiner  Häufigkeit".  Mit  dieser  Zehender' sehen  Beobachtung 
deckt  sich  die  Vertheilung  der  Erblindung  dm-ch  Trachom,  welche 
unser  Material  zeigt,  in  bester  Weise.  Bis  zum  5.  und  6.  Lebensjahr 
erhebt  sich  die  Erblindungsquote  des  Trachoms  nach  unserem  Material 
niu-  wenig  über  l''/o;  nach  dem  6.  Lebensjahr  beginnt  aber  ein  all- 
mählicher Anstieg,  welcher  gegen  das  15.  Lebensjahr  einen  lebhafteren 
Charakter  annimmt.  Die  folgende  Km-ve  wird  das  soeben  Gesagte  hin- 
reichend illustriren.  Dass  dieselbe  keinen  gleichmässigen  Charakter 
zeigt,  vielmehr  bald  steigt,  bald  fällt,  findet  seine  Erklärung  wohl  hin- 
länglich durch  die  Zufälligkeiten,  welche  bei  beschränktem  Material 


•)  Man  vergleiche:  Scliweigger,  Handbuch  der  Augenheilkunde. 
Berlin  1880.  p.  292.  Meyer,  Handbuch  der  Augenheilkunde.  Berlin 
1883,  p.  68  und  andere  Lehrbücher. 

')  Zehender,  Handbuch  der  gesammten  Augenheilkunde.  3.  Aufl. 
Stuttgart  1884.    Band  I,  p.  117. 


—    88  — 


immer  mitspielen.  Der  Cliarakter  der  Erljliuduugsgefahr  dui'ch  Trachom 
tritt  aber  für  das  erste  uud  zweite  Lel)enslustrum  trotz  der  Scliwauk- 
ungeu  auf  das  klarste  in  Erscheinung,  besonders  wenu  man  die  Spitzen 
'^er  Kiu've  sich  diu'ch  eine  Linie  verbunden  denkt. 


Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Trachom  in  den  ei-sten 

15  Lebensjahren. 

Massstab  8  mm  =  1  '/n- 


11 
10% 


Ö     1      2     3      -t     5      6      T      8      '.)     10    11.     12    13    11-  JSJnJu 


8% 


7% 


6% 


6% 


4:% 


3% 


2% 


1% 


0% 


]12% 


11% 


0% 


1% 


4% 


3% 


2% 


1% 


Ö    i      ?     3     4     3     6     7     8     9    10    Jl    12    13    U  loJdhr 
0.57 -rnrat  127  J49  0,8a  2,33vacat2.io  2ßo  1,49  4m  3.38  2j»i  6.2i  12&% 


Fig.  1. 

Eine  Bevorzugung  des  Geschlechtes  ist  bei  der  Trachombliudheit 
nicht  zu  konstatiren,  denn  für  das  männliche  Geschlecht  entfallen  nach 
unseren  Beobachtimgen  1,34  und  für  das  weibliche  1,26  "/o. 

Die  Veränderungen,  welche  die  erblindeten  Augen  darbieten,  sind 
schon  hinlänglich  bekannt  genug,  um  ihrer  hier  nochmals  besonders 
zu  gedenken. 


—    89  — 


Auf  die  Koutagiosität  des  Trachoms  werfen  aber  einige  Fälle  ein 
so  charakteristisches  Licht,  dass  ich  dieselben  noch  besonders  hervor- 
heben will.  In  vier  der  von  ims  gesammelten  Fälle  leiden  beide  Eltern, 
oder  ein  Theil  derselben  an  Trachom    und  haben  dasselbe  auf  die 
Kinder  übertragen;  dreimal  sind  durch  solche  Uebertragungen  in  emer 
Familie  zwei  Kinder  erblindet,  und  zwai-  im  zarten  Alter  von  1,  2  oder 
3  Jahren.    Besonders  charakteristisch  ist  ein  Fall,  in  welchem  Vater 
und  Mutter  durch  Trachom  blind  sind  und  von  ihi-en  fünf  Kindern 
drei  dasselbe  Schicksal  theilen.    Solchen  Fällen  gegenüber  wird  das 
Verlangen  nach  einer  rationellen  Verhütung  des  Trachoms  besonders 
fühlbar,  doch  ist  gerade  auf  diesem  Gebiete  die  Prophylaxe  recht  ohn- 
mächtig.  Macht  die  Verhütung  des  Trachoms  schon  Schwierigkeiten, 
wenn  es  gilt,  dasselbe  im  öffentlichen  Leben  zu  bekämpfen,  so  ist  dem- 
selben doch  kaum  beizukommen,  wenn  es  sich  in  Familien  eingenistet 
hat,  wie  dies  in  den  von  uns  angezogenen  Beispielen  der  Fall  ist.  Die 
ei-folgreiche  Bekämpfung  des  Ti-achoms  in  der  Familie  ist  so  ziemlich 
gleichbedeutend  mit  Lösung  der  sogenannten  sozialen  Frage  überhaupt. 
Denn  gerade  die  Noth  ist  es,  welche,  wie  viele  andere  Erkrankungen,  so 
auch  das  Trachom  gross  zieht  und  die  Augen  der  Kinder  werden  so  lange 
auch  im  Schoosse  der  Familie  gefährdet  sein,  als  man  nicht  im  Stande 
ist,  die  materielle  Lage  des  Proletariats  endgültig  zu  bessern  i).  Am 
ehesten  darf  man  noch  hoffen  durch  immer  und  immer  sich  Avieder- 
holende  Belehi-imgen  des  Publikums  etwas  zu  erreichen.    Wenn  ich 
im  Allgemeinen  von  populären  Belehrungen  auch  Avenig  erwarte,  so 
sehe  ich  doch  den  gegebenen  Verhältnissen  gegenüber  kaum  einen 
anderen  Weg  und  deshalb  möchte  ich  der  Veröffentlichung  allgemein 
verständlicher  Artikel  über  das  Trachom  und  dessen  Gefahren  das 
Wort  reden. 

Die  Sublatio  retinae  hat  für  die  Jugendbliudheit  eine  nur 
untergeordnete  Bedeutung,  insofern  der  Prozentsatz  nur  0,84  7o  beträgt. 
In  unserem  früheren  Blindenmaterial,  in  welchem  auch  die  späteren 
Altersklassen  imd  zwar  in  überwiegender  Zahl  vertreten  waren,  nahm 
die  Sublatio  retinae  die  achthöchste  Stelle  mit  4,74  "/o  ein.  Diese 
verschiedenen  Befunde,  welche  wir  früher  und  jetzt  für  die  Sublatio- 
blindheit  erhalten  haben,  erklären  sich  dadurch,  dass  in  den  ersten 
zwanzig  Lebensjahren  die  Berufsschädlichkeiten,  auf  Grund  deren  das 

•)  Man  vergleiche  die  Vorschlüge,  welche  Fuchs  in  seiner  von  uns  schon 
so  oft  cif  irten  Preisschrift  über  die  Verhütung  des  Trachoms  gemacht  hat,  sowie 
die  Massregeln,  welche  icli  in  meiner  Arbeit  über  Blindheit  anempfohlen  habe. 


—    90  — 


myopische  Auge  doch  meist  die  Sublatio  erwirbt,  nicht  so  intensiv  und 
auch  nicht  so  häufig  zu  wirken  Gelegenheit  haben,  als  in  den  späteren, 
der  Arbeit  in  einem  viel  umfangreicheren  Maasse  gewidmeten  Lebens- 
abschnitten. Ueber  die  Kefractionsverhältnisse  vor  der  Erblindung 
konnten  in  14  Fällen  sichere  Nachrichten  erhalten  werden  und  in 
allen  diesen  14  Fällen  war  hochgradige  Myopie  der  Erblindung  durch 
Sublatio  vorangegangen;  da  unser  Material  27  Fälle  von  Sublatio- 
blindheit  zählt,  so  ist  in  51,85  "/o  der  Nachweis  der  Myopie  zu  fuhren. 

In  7  der  gesammelten  Fälle,  d.  h.  also  in  25,93  7,.  ist  eme  kon- 
genitale Belastung  nachweisbar,  insofern  in  den  Familien  der  Blinden 
mehrere  Fälle  von  Myopie  resp.  von  Sublatioblindheit  vorhanden  sind. 
Wie  einzelne  Familien  förmliche  Brutstätten  fär  gewisse  Erblmdungs- 
formen  z  B.  Retinitis  pigmentosa,  Atrophia  nervi  optici  u.  s.  w.  bilden, 
so  tritt  diese  Häufung  von  Blindheitsfällen  in  einzelnen  Familien  auch 
bezüglich  der  Sublatio  retinae  in  Erscheinmig.    An  3  Fällen  memes 
Materials  vermochte  ich  diese  Thatsache  in  höchst  charakteristischer 
Weise  zu  ermitteln.  In  dem  einen  Beispiel  zeigt  eine  Famüie  m  mehreren 
Generationen  Erblindungen  durch  Sublatio  retinae.    Die  Grossmutter 
ist  in  dieser  Familie  auf  einem  Auge  erblindet  (Sublatio  reünae  wahi- 
scheinlich,  aber  nicht  mehr  bestimmt  zu  erweisen),  ihre  drei  Kinder, 
eines  männlichen,  zwei  weiblichen  Geschlechtes,  sind  sämmüich  stark 
myopisch  und  die  beiden  Mädchen  im  Alter  von  9  und  18  Jahren 
beiderseitig  an  Sublatio  erblindet;  der  Knabe  behält  sein  Sehvermögen 
bis  in  sein  Mannesalter,  zeugt  aber  eine  kurzsichtige  Tochter,  welche 
im  7.  Lebensjahre  beiderseitig  an  Sublatio  retmae  erbhndet. 

In  einem  anderen  Falle  ist  der  Vater  stark  kurzsichtig,  erblindet 
in  Folge  seiner  Myopie  (Sublatio  wahrscheinlich,  da  aber  ärztliche  Unter- 
suchung nicht  durchführbar  war,  so  will  ich  die  Erblindung  durch  Sub- 
latio nicht  als  erwiesen  betrachten)  und  zeugt  zwei  myopische  Kmder, 
von  denen  das  eine  im  Alter  von  7  Jahren  an  Sublatio  erbhndet,  das 
andere  zur  Zeit  der  Untersuchung  dieses  Blinden  noch  sah. 

In  dem  dritten  Falle  sind  in  einer  Familie  drei  Geschwister  durch 
Sublatio  auf  je  einem  Auge  erblindet,  während  das  andere  Auge  bei 
derselben  durch  ein  Trauma  verloren  ging.    Die  Eltei-n  sollen 
nicht  myopisch  gewesen  sein,  während  bei  den  Kmdern  leichte  Kmz- 
sichtigkeit  vorhanden  gewesen  sein  soll. 

Ueber  den  Eintritt  der  Sublatioblindheit  konnte  ich  m  21  Fallen 
genaue  Nachrichten  erhalten,  welche  ich  in  den  folgenden  Zusammen- 
stellimgen  mittheile: 


-    91  — 


Beide  Aiigeu  erblindeteu  durch  Sublatio  im  Laufe  eines  Jahres 
und  zwar  im  4.  Lebensjahr  Imal 


„  0. 

„  6. 

„  7. 

„  8. 

„  10. 

12. 

„  14. 

„  15. 

„  18. 


)} 


1  „ 

1  „ 

2  „ 
1  „ 
1  „ 
1  „ 
1  „ 
1  » 
1  „ 


lieber  diejenigen  Fälle,  in  denen  die  beiden  Augen  zu  verschiedenen 
Zeiten  erblindet  sind,  berichtet  die  folgende  Zusammenstellung: 


Das  rechte  Auge  erblindete: 
im    7.  Jahr  durch  Sublatio, 


„  8. 
,,  8. 

12. 

12. 
„  12. 


Trauma, 
Sublatio, 


Das  linke  Auge  erblindete: 
im   8.  Jahr  durch  Sublatio, 

"II'      »       ))  » 
„  12.      „       „  Trauma, 
„  12.      „       „  Sublatio, 


Das  linke  Auge  erblindete: 
im   18.  Jahr  durch  Sublatio 
»      9.      „  „ 
)5    12.      ,,  „ 

1  S 

14 

Das  rechte  Auge  erblindete: 

im  12.  Jahr  durch  Sublatio 
17 
1  ^ 
14 


Das  Vorstehende  zeigt  also,  dass  in  3  Fällen  ein  Auge  früher 
dm-ch  Verletzung  und  das  andere  später  durch  Sublatio  verloren  ging; 
in  4  Fällen  befiel  die  Sublatio "  zuerst  das  rechte  und  in  3  Fällen  zu- 
erst das  linke  Auge.  Der  längste  Zwischenraum,  welcher  zwischen  der 
Entstehung  der  Sublatio  auf  beiden  Augen  verfloss,  betrug  sieben  Jahr. 
Am  Häufigsten  gingen  beide  Augen  im  Laufe  eines  Jahres  zu  Grunde, 
wie  dies  die  vorige  Tabelle  gelehrt  hat, 

Blennorrhoea  gonorrhoica  ist  in  der  Jugendblindheit  mit 
einem  nur  geringen  Prozentsatz  von  0,47  7o  vertreten  und  zwar  ent- 
stammen die  meisten  dieser  Fälle  aus  den  neapolitanischen  Anstalten; 
aus  Deutschland  ist  kein  einziger  derartiger  Fall  in  unserem  Material 
enthalten.  Von  den  15  Blennorrhoeblinden  haben  11  eine  Gonorrhoe 
erworben  und  sich  dann  selbst  infizirt;  bei  den  4  übrigen  ist  die  Ueber- 


—    92  — 


traguüg  iu  fi-über  Kindheit  dui-ch  Personeu  erfolgt,  welche  an  Gonorrhoe 
gelitten  und  in  der  Umgebung  der  Blinden  sich  befunden  liatten. 

Die  15  durch  spontane  Keratitis  bedingten  Erblindungsfiille 
bieten  keine  Veranlassung  zu  besonderen  Bemerkungen,  und  das  Näm- 
liche gilt  von  der  Chorioiditisblindheit. 

Diphtheritis  conjunctivae  und  zwar  die  spontane  Augeu- 
diphtherie  ist  in  14  Erblindungsfällen  in  unserem  Material  vertreten, 
d.  h.  also  mit  0,44  "/o.  In  der  Reihe  der  idiopathischen  Augenerkrank- 
ungen nimmt  sie  natürlich  einen  höheren  amaurotischen  Werth  ein  und 
beträgt  unter  diesen  der  Prozentsatz  1,32  "lo.  Von  unseren  14  Diph- 
theritisblindeu  sind  8  Deutsche  und  zwar  vertheilen  sich  dieselben  so 
über  Deutschland,  dass  6  derselben  Norddeutschland  angehören  und 
nur  2  auf  Süddeutschland  (München)  entfallen. 

Ausser  diesen  14  Fällen  von  idiopathischer  Diphtheritis  conjunctivae 
zählt  unser  Material  noch  11  in  Folge  von  Scharlach  und  3  in  Folge 
von  Masern  bedingter  Diphtheritisbliudheit.  Es  würden  uns  also  im 
Ganzen  28  Fälle  von  Blindheit  durch  Diphtheritis  zur  Verfügung  stehen. 
Berechnen  wir  aus  diesen  sämmtlichen  Fällen  den  amam-otischen  Werth 
der  Diphtherie  für  die  Jugendblindheit  im  Allgememen,  so  würde  em 
Prozentsatz  von  0,87  "/o  sieb  ergeben. 

Das  Verhältniss,  in  welchem  die  verschiedenen  Formen  der  Diph- 
theritis zu  einander  stehen,  ist  folgendes: 

Unter  28  Fällen  von  Diphtheritisbliudheit  sind 

14  Fälle  von  spontaner  Diphtheritis  =  50,00  */'o 

11    „       „    Diphtheritis  nach  Scharlach  =  39,29  „ 
3  „  „  »     Masern      =  10,71  „ 

Von  aUen  28  Fällen  der  Diphtherieblindheit  entfallen  nicht  weniger 
als  20  auf  Deutschland  und  da  wir  1595  deutsche  Jugendblinde  zählen, 
so  kommen  in  Deutschland  1,25  "/o  auf  die  Diphtheritisbliudheit  (nicht 
auf  die  spontane  allein,  sondern  auf  alle  Formen  der  Diphtheritis 
Die  Veitheilung  über  Nord-  und  Süddeutschland  ei-folgt  m  der 
Weise,  dass  24  Fälle  =  85,71  %  auf  die  norddeutschen  und  4  Falle 
=  14  29  7o  auf  die  süddeutschen  Blindenanstalten  kommen.  Das  Ge- 
sagte zeigt,  dass  Deutschland  und  vor  Allem  Norddeutschland  von  der 


In  der  graphischen  Darstellung  V  ist  der  Prozentsatz  der  Dipbthent.s- 
Blindh  it  für  Deutschland  nur  mit  0,50  -  angegeben,  doch  handelt  es  s.ch  dahe. 
nur  um  die  spontan  entstandenen  Fälle  und  nicht  um  etne  Zusammenfassung 
aller,  auch  der  im  Gefolge  von  Exanthemen  entstandenen  Fttlle. 


—    93  — 


Augeudiphtheritis ,  sei  es  mm,  dass  dieselbe  spontan  oder  im  Gefolge 
akuter  Exantheme  auftritt,  in  nicht  unbeträchtlichem  Umfang  heim- 
gesucht wird. 

Die  Neigung,  welche  die  verschiedenen  Lebensalter  für  die  Er- 
werbung der  Diphtheritisblindheit  besitzen,  gestaltet  sich  nach  unseren 
Beobachtungen  in  der  Weise,  dass  vom  zweiten  bis  vierten  Jahr  die 
Gefahr  den  grössten  Höhepunkt  erreicht  und  dann  bis  gegen  das  neunte 
Lebensjahr  hin  allmählich  abfällt.  Jenseits  des  neunten  Jahres  ist  in 
unserem  ]Material  eine  Erblindung  durch  Diphtheritis  nicht  mehr  erfolgt. 

Gla  ucom  zählt  in  unserem  Material  nur  6  Fälle,  d.  h.  also  0,19  '^lo 
der  Jugendblindheit  überhaupt.  Der  früheste  Termm  des  Auftretens  des 
Glaucoms  fällt  in  das  fünfte  Lebensjahr,  dann  folgt  das  achte,  eilfte, 
zwölfte,  ueimzehnte,  ZAvanzigste  Jahr.  Die  genauen  Ki-ankengeschichten, 
welche  wir  gerade  über  diese  6  Fälle  besitzen,  lehren,  dass  das  Glaucom 
stets  unter  dem  Bild  des  Glaucoma  simplex  aufgetreten  ist;  Anfälle  von 
akutem  Glaucom  sind  nicht  verzeichnet,  vielmehr  erfolgte  der  Verfall  des 
Sehvermögens  stets  allmählich.  Fünf  unserer  Blinden  sind  iridektomirt 
worden,  aber  ohne  Erfolg;  der  sechste  ist  einer  Operation  nicht  unter- 
worfen worden. 

Bemerkenswerth  sind  besonders  2  Fälle,  weil  bei  ihnen  die  Here- 
dität des  Glaucom  in  höchst  charakteristischer  Weise  in  Erscheinung  tiitt. 
In  dem  einen  Fall  erblindete  ein  zwanzigjähriger  Jüngling  an  Glaucom, 
dessen  Mutter  bei  seiner  Geburt  bereits  glaucomblind  war.  Und  in  dem 
zweiten  Fall  ist  das  Glaucom  an  verschiedenen  Mitgliedern  einer  Familie 
ganz  ungewöhnlich  früh  zum  Ausbruch  gelangt.  Die  Mutter  ist  in 
diesem  Fall  an  Glaucom  erblindet  und  ihre  drei  Kinder  insgesammt 
auch  und  zwar  im  Alter  von  neunzehn,  zweiundzwanzig  und  fünfimd- 
zwanzig  Jahren;  alle  drei  Kinder  waren  ohne  jeden  Erfolg  iridektomirt 
worden. 

Myopie  ist  mit  4  Fällen  unter  den  3204  Fällen  von  Jugend- 
blindheit vertreten.  In  2  Fällen  derselben  ist  die  kongenitale'' Be- 
lastimg  nachweisbar,  insofern  bei  dem  einen  derselben  noch  zwei  Ge- 
schwister des  Blinden  hochgi-adig  myopisch  sind  und  in  dem  anderen 
der  Vater  und  die  Schwester  myopieblind  sind.  In  einem  dritten  Fall 
haben  die  Eltern  und  Geschwister  des  Blinden  normale,  nicht  kurz- 
sichtige Augen  und  in  dem  vierten  Fall  fehlen  nähere  Angaben  über 
den  Augenbefund  der  Angehörigen. 

Unter  den  durch  idiopathische  Augenerkrankungen  entstandenen 
Erblmdungsformen  möchte  ich  nur  noch  der  G 1  i  om  b  1  i  nd  h  ei  t  mit 


—    94  — 


einigen  Worten  gedenken.  Fälle  von  doppelseitigem  Gliom  sind  ja  über- 
haupt gerade  niclit  häufig  und  desshalb  dürfte  sich  die  Erwähnung  eines 
solchen  von  mir  beobachteten  Falles  nicht  als  interesselos  erweisen. 
Ein  zweijähriger  gesunder  Knabe,  dessen  Eltern  gesund  smd  und  der 
fünf  gesunde  Geschwister  hat,  erkrankte  an  Gliom  auf  dem  rechten 
Auge.    Das  Auge  wird  alsbald  entfernt  und  der  Nervus  opticus  voll- 
kommen intakt,  das  Gliom  nur  auf  das  Bulbusinnere  beschränkt  ge- 
funden.   Das  linke  Auge  war  zur  Zeit  der  Enukleation  noch  gesund. 
Bereits  drei  Monate  nach  der  Operation  des  rechten  Auges  wird  Eut- 
wickelung  des  Glioms  auch  auf  dem  linken  Auge,  konstatirt,  welches  in 
Zeit  von  etwa      Jahr  totale  Erblindung  des  linken  Auges  herbeiführt. 


Viertes  Kapitel. 


Die  Verletzungsblindheit. 


§  14.  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  der  Verletzungs- 
biindheit  für  die  Jugendblindiieit. 

Die  Verletzungsblindheit  nimmt  zu  den  übrigen  Gruppen  der  Jugend- 
blindheit eine  Stellung  ein,  welche  hinter  derjenigen  Stellung,  welche 
sie  in  einem  aus  allen,  speziell  den  späteren  Altersklassen  zusammen- 
gestellten Blindenmaterial  inne  hat,  nur  wenig  zurückbleibt.  Denn 
unsere  frühere  Untersuchungsreihe,  welche  vorwiegend  nach  dem  20.  Lebens- 
jahr Erblindete  enthielt,  warf  für  die  Verletzungsblindheit  10,75° aus, 
während  unsere  heutigen  ausschliesslich  jugendliches  Material  8,15 
zählt.  Dieser  Unterschied  von  2,b0^l^  könnte  auf  den  ersten  Anblick 
vielleicht  auffallend  gering  erscheinen,  besonders  wenn  man  bedenkt, 
dass  für  die  Altersklassen  jenseits  des  20.  Lebensjahres  in  dem  Beruf 
so  häufig  eine  Veranlassung  für  Augenverletzungen  liegt,  ein  Faktor, 
welcher  für  die  beiden  ersten  Lebensdezennien  doch  wenig  oder  gar 
nicht  in  Beü-acht  kommen  dürfte.  Wenn  nun  ganz  gewiss  auch  der 
Beruf  für  die  ersten  20  Lebensjahre  eine  nur  nebensächliche  Erblind- 
ungsgefahr bedingt,  so  wird  diese  Thatsache  doch  durch  andere  Ver- 
hältnisse wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wieder  ausgeglichen. 
Es  ist  in  dem  kindlichen  resp.  jugendlichen  Alter  nämlich  die  Gelegen- 
heit, eine  sogenannte  zufällige  Verletzung  der  Augen  zu  erleiden,  offen- 
bar eine  grössere,  als  in  den  späteren  Lebensepochen.  In  dem  ersten 
Lebenslustrum  ereignen  sich  durch  Unaufmerksamkeit  der  Eltern  resp. 
Pfleger  bedauerlich  oft  Verletzungen  der  Augen  und  in  dem  zweiten 
und  dritten  Lustrum  bieten  dann  wieder  die  Spiele  mit  stechenden, 
schneidenden,  durch  Schlag  oder  Explosion  wirkenden  Gegenständen 


—    96  — 


eine  reiche  Quelle  der  Augenunfalle.  Auf  diese  Weise  geschieht  es, 
dass  die  Verletzuugsblindheit  im  Allgemeinen  auch  in  der  Jugendblind- 
heit eine  recht  beachteuswerthe  Kolle  spielen. 

Was  sodann  die  einzelnen  Formen  der  Verletzungsblindheit  anlangt, 
so  wii-d  die  folgende  Zusammenstellung  über  das  Verhältniss  Auflilärung 
geben,  in  welchem  die  analogen  Formen  eines  nur  jugendliche  Individuen 
und  eines  alle  Altersklassen  umfassenden  Blindenmaterials  zu  einander 
stehen. 

Das  Blindenmaterial  zählt 

ausschliessl.  alle 
Jugendbliude :     Altersklasseu : 

Verletzungen  der  Augen  2,37  "/'o  4,03 

Verletzungen  des  Kopfes  1.03  „  0,27  „ 

Ophthalmia  sympathica  traumatica  ....    4,58  „  4,50  „ 

Verunglückte  Operationen  *•    0,16  „  1,93  „ 

Ein  Blick  auf  die  vorstehenden  Zahlen  zeigt,  dass  die  direkten 
Verletzungen  der  Augen  und  die  missglückten  Operationen  in  einem  alle 
Altersklassen  umfassenden  Blindenmaterial  grössere  Quoten  besitzen,  als 
wie  in  emem  ausschliesslich  nur  Jugendblinde  zählenden  Material.  Die 
sympathische  Entzündung  ergibt  flir  die  Jugendblindheit  den  gleichen 
prozentarischen  Werth  wie  filr  ein  Blindenmaterial,  das  vornehmlich  die 
jenseits  des  20.  Lebensjahres  liegenden  Lebensperioden  berücksichtigt. 
Die  Verletzungen  des  Kopfes  ergeben  aber  för  die  JugendbHndheit  sogar 
eine  etwas  grössere  Quote,  als  wie  wir  dieselbe  bei  unseren  früheren  Unter- 
suchungen, welche  alle  Lebensklassen  umfassten,  gefunden  hatten.  Aller- 
dings ist  der  betreffende  Unterschied  kemeswegs  ein  erheblicher,  vor  allen 
Dingen  nicht  ein  so  erhebUcher;  dass  man  in  demselben  nun  sofort  den 
Ausdruckeines  für  die  Jugendblindheit  allgemeingültigen  Gesetzes  sehen 
könnte    Es  wird  erst  noch  einer  Reihe  anderer  Untersuchungen  bedüi-fen, 
ehe  man  mit  Sicherheit  wird  entscheiden  können,  ob  för  das  jugendliche 
Alter  Verletzungen  des  Kopfes  thatsächlich  eine  erheblichere  Erblindungs- 
gefahr in  sich  schliessen,  als  wie  dies  för  die  späteren  Lebensphasen  der  Fall 
ist    Die  Möglichkeit  ist  ja  doch  wohl  nicht  so  ohne  Weiteres  von  der 
Hand  zu  weisen,  dass  in  der  Beschaffenheit  des  jugendlichen  Kopf- 
skelettes und  Gehirns  gewisse  Momente  liegen  könnten,  welche  wahrend 

^T^Td^etraclitung  der  Iridocyclitis  sympathica  (vgl.  Paragraph  17) 
werden  wir  den  Nachweis  führen,  dass  die  Gleichheit  des  prozcntarischeu  A\  erthes. 
we  cheTli  yn^pathische  Ophthal.nie  in  unserem  Material  diesse.ts  nnd  jense.ts 
Ts  20  Lebensjahres  zeigt,  in  Wahrheit  einer  höheren  Belastung  des  jngendhchen 
Alters  mit  Sympathieamaurose  gleichkommt. 


—    97  — 


der  ersten  Lebeuslusti-en  der  Entstehung  von  bedenklichen  Konsequenzen 
aus  verhältnissmässig  leichteren  Kopfverletzungen  gewissen  Vorschub  zu 
leisten  im  Staude  wären, 

§  15.  Blindheit  entstanden  durch  direkte  Verletzung  der  Augen. 

Die  direkten  Verletzungen  der  Augen  spielen,  wie  wir  dies  bereits 
im  vorigen  Paragraphen  angedeutet  haben,  in  der  Jugendblindheit  aller- 
dings nicht  eine  so  hervorragende  Rolle,  wie  in  der  Erblindung  der 
späteren  Lebensjahre,  doch  ist  ihr  amaurotischer  Werth  immerhin  noch 
gross  genug,  indem  der  Prozentsatz  2,37  7o  beträgt.  Und  zwar  sind 
die  Augen  der  Knaben  in  höherem  Grade  gefährdet,  als  wie  die  der 
Mädchen,  denn  jene  steuern  3,13  7o  imd  diese  nur  1,09  %  zu  den  Er- 
blindungen bei,  welche  durch  direkte  Augenverletzungen  hervorgerufen 
worden  sind. 

Bei  der  durch  unmittelbare  Verletzung  der  Augen  hervorgerufenen 
Blindheit  ist  es  von  Wichtigkeit,  zu  wissen,  ob  die  Verletzung  beide 
Augen  zu  gleicher  Zeit  zerstört  hat,  oder  ob  ein  Auge  bereits  blind 
war,  als  die  Verletzung  das  andere  noch  sehende  Auge  vernichtete. 
Für  imser  heutiges  Material  lassen  sich  diese  Verhältnisse  sehr  genau 
ermitteln:  von  den  einschlägigen  76  Fällen  gingen  23 mal  beide  Augen 
nicht  durch  die  gleiche  Verletzimg  verloren  und  in  53  Fällen  zerstörte 
eine  Verletzung  zu  gleicher  Zeit  beide  Augen ;  prozentarisch  ausgedrückt 
würden  wir  für  den  ersten  Fall  30,26,  für  den  zweiten  69,74  7,,  er- 
halten. Füi-  unser  früheres  Untersuchungsmaterial,  welches  Blinde  aller 
Altersklassen  enthielt,  war  das  Verhältniss  gerade  das  umgekehrte; 
dazumal  waren  Einäugige  in  67,82  7o  durch  Verletzung  erblindet  und 
in  32,10  "/o  hatte  das  Trauma  beide  Augen  zugleich  zerstört.  Ist  nun 
dieser  Unterschied  zwischen  unserer  früheren  und  jetzigen  Untersuchuugs- 
reihe  ein  zufälliger  oder  ist  er  in  der  verschiedenen  Beschaffenheit  des 
:\Iaterials  begründet?  Ich  für  meinen  Theil  möchte  eher  geneigt  sein, 
•las  Letztere  anzunehmen  und  zwar  auf  Grund  folgender  Ueberlegung. 
Es  scheint  mh-  ziemlich  sicher,  dass  in  dem  Lebensabschnitt,  welcher 
die  ersten  zwanzig  Jahre  umfasst,  weniger  Einäugige  vorhanden  sind, 
als  in  den  späteren  Lebensphasen,  wo  die  Gefahren  des  Berufes  doch 
immerhin  eme  recht  beträchtliche  Menge  Einäugiger  schaffen.  Sind 
nun  die  Einäugigen  über  die  verschiedenen  Altersklassen  in  verschiedener 
:\Ienge  vertheilt,  so  wird  natürlich  diejenige  Lebensepoche,  welche  weniger 
Einäugige  zählt,  auch  weniger  Fälle  liefern  müssen,  in  welchen  Einäugige 
dm-ch  Verletzung  des  noch  funktionirendeu  Auges  erblindet  sind.  Und 
da  nun,  nach  unserer  Annahme,  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre  weniger 

Magnus,  Jngendblindheit.  7 


—    98  — 


Einäugige  besitzen,  als  die  späteren  Lebensabschnitte,  so  wird  mau  bei 
einer  Untersuchung,  welche  nur  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre,  berück- 
sichtigt, auch  weniger  oft  Fällen  begegnen,  in  welchen  Einäugige  durch 
Verletzung  blind  geworden  sind. 

Der  Umstand,  dass  Einäugige  in  unserem  Material  mit  30,26  "/o 
und  in  unserer   früheren  Untersuchungsreihe  gar  mit  67,82  bei 
der  Erblindung  dui'ch  Augenverletzung  betheiligt  sind,  ist  in  gewisser 
Beziehung  von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit.    Bedenken  wir 
nämlich,  dass  die  Zahl  der  Einäugigen  im  Allgemeinen  doch  eine 
beschränkte  ist,  dass  die  Anzahl  der  Einäugigen  gegenüber  der  Menge  der 
Doppeläugigeu  ganz  gewiss  eine  verschwindend  kleine  ist,  so  wird  uns  der 
grosse  Prozentsatz,  mit  welchem  die  Einäugigen  sich  bei  der  Verletzungs- 
blindheit betheiligen,  mit  Eecht  befremdend  erscheinen  müssen.  Wemi 
die  Einäugigen  entsprechend  dem  numerischen  Verhältniss,  in  welchem 
sie  zu  den  Doppeläugigeu  stehen,  zur  Verletzungsblindheit  beisteuerten, 
so  müsste  die  auf  sie  entfallende  Quote  eine  um  Vieles  geringere  sein, 
als  Avie  sie  in  der  That  ist;  die  Einäugigen  würden  dann  nicht  30  oder  gar 
67  o/„  zur  Verletzungsblindheit  beisteuern,  sondern  höchstens  2  oder  3  °/o. 

Wie  ist  nun  aber  die  hohe  Belastung  der  Einäugigen  mit  Ver- 
letzungsblindheit zu  erklären?    An  einen  Zufall,  der  vielleicht  durch 
irgendwelche  Umstände  des  Untersuchungsmaterials  bedingt  sem  könnte, 
darf  unter  keinen  Verhältnissen  gedacht  werden.  Zwei  ganz  verschiedene 
Untersuchungsreihen  haben  uns  beide  das  nämliche  Resultat  ergeben, 
beide  haben  für  die  Einäugigen  eine  ganz  unverhältnissmässig  hohe 
Quote  der  Verletzungsblindheit  ausgeworfen.    Wenn  also  der  Zufall 
mit  vollster  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  kann,  so  müssen  w  uns 
nach  einer  befriedigenden  Erklärung  der  fraglichen  Thatsache  umschauen. 
Zuvörderst  wird  man  nicht  ausser  Acht  lassen  dürfen,  dass  Unfälle, 
welche  um-  ein  Auge  zerstören,  ungleich  häufiger  sich  ereignen,  als  wie 
solche,  welche  beide  Augen  zu  gleicher  Zeit  vernichten.    Da  nun  aber 
der  Verlust  eines  Auges  den  Einäugigen  schon  blind  macht,  den  Doppel- 
äugigeu aber  nicht,  so  muss  im  Allgemeinen  der  Einäugige  eme  etwas 
höhere  Quote  der  Verletzungsblindheit  besitzen,    als  dies  nach  dem 
numerischen  Verhältniss,  in  welchem  er  zur  Anzahl  der  Doppeläugigeu 
steht,  erwartet  werden  sollte.  Diese  Thatsache  allein  genügt  aber  nicht, 
um  den  hohen  Prozentsatz,  welchen  der  Einäugige  zur  Erblindmig  dm-ch 
Augenverletzung  beiträgt,  zu  erklären.    Wir  müssen  noch  nach  emem 
anderen  Erklärungsmoment  suchen  und,  ich  glaube,  wu-  finden  em 
solches,  wenn  w  annehmen,  dass  der  optische  Zustand  des  Einäugigen 
die  Entstehung  einer  Augenverletzung  erleichtert,  ja  ihr  sogar  einen 


—    99  — 


gewissen  Vorschub  leistet.  Darüber  kauii  doch  wohl  kein  Zweifel  be- 
stehen, dass  der  Einäugige  dem  Doppeliiugigen  gegenüber  sich  in  dem 
Zustand  einer  recht  beträchtlichen  optischen  Inferiorität  befindet.  Wenn 
nun  auch  gewisse  Nachtheile  seiner  oj)tischen  Leistungsfähigkeit  all- 
mählich durch  Uebung  beseitigt  werden  können ,  so  sind  doch  andere 
unter  keinen  Verhältnissen  auszugleichen.  Zu  den  letzteren  gehört  die 
Beschränkung  des  Gesichtsfeldes,  welche  der  Einäugige  besitzt.  Sie 
setzt  den  Einäugigen  immer  in  die  Lage,  dass  er  eine  von  dieser  oder 
jener  Seite  seinem  Auge  drohende  Gefahr  nicht  zur  richtigen  Zeit  be- 
merkt imd  ilu-  desshalb  nicht  auszuweichen  vermag.  Für  die  arbeitende 
Klasse  wird  diese  Thatsache  sehr  oft  zu  der  traurigen  Konsequenz  des 
Verlustes  des  noch  sehenden  Auges  führen  und  das  Gleiche  beobachten  wir 
im  Kindes-  wie  Knabenalter.  Das  einäugige  Kind  ist  bei  seinen  lebhaften 
Spielen  der  Gefahr,  sich  das  gesunde  Auge  durch  Anlaufen  gegen  einen 
Gegenstand  seiner  Umgebung  zu  verletzen,  in  höherem  Grade  ausgesetzt, 
als  das  zweiäugige  Kind.  Und  ebenso  ist  die  Gefahr,  in  das  sehende 
Auge  einen  Schlag  oder  Stoss  zu  erhalten,  welchem  das  doppeläugige 
Kind  zur  rechten  Zeit  ausweicht,  vorhanden.  Und  schliesslich  darf 
man  auch  nicht  vergessen,  dass  der  Einäugige  genöthigt  ist,  das  sehende 
Auge  der  Arbeit  zuzuwenden;  auch  Zehender^)  bemerkt,  dass  der  Ein- 
äugige un^^^llkül•lich  das  sehende  Auge  dem  betrachteten  Gegenstand 
zuwende  und  aus  diesem  Umstand,  wenigstens  oft  wenn  auch  nicht 
immer  eine  gewisse  Gefahr  für  das  noch  funktionirende  Auge  hei-ge- 
leitet  werden  könne. 

Indem  sich  nun  diese  beiden  Faktoren,  die  Beschränkung  des  Ge- 
sichtsfeldes und  die  Neigung  des  Einäugigen  das  noch  sehende  Auge 
dem  ihn  beschäftigenden  Gegenstande  etwas  mehr  zuzuwenden,  summiren, 
«rgeben  sie  für  den  Einäugigen  eme  besonders  grosse  Gefahr,''')  durch 
Augenverletzung  zu  erblinden,  und  mit  dieser  Gefahr  müssen  wir  rechnen, 
wenn  wir  eine  möglichst  ergiebige  Verhütung  der  Verletzungsbliudheit 
anstreben.  Im  Hinblick  auf  die  soeben  dargelegten  Verhältnisse  wird 
der  einäugige  Knabe  bei  der  "Wahl  seines  Berufes  mit  einer  gewissen 
Vorsicht  zu  Werke  gehen  müssen;  besonders  Avird  sich  diese  Noth- 
wendigkeit  für  die  körperlich  arbeitenden  Volksklassen  ergeben. 

Alle  Berufsarten,  welche  viel  mit  schneidenden  und  stechenden 

'j  Zehender,  Die  Blinden  in  den  Grossherzogth ümern  Mecklen- 
t>urg.    Eine  statistische  Skizze.    Rostock  1871.    p.  58. 

Man  vergleiclie  über  die  grössere  Gefahr  der  Einäugigen  durch  Ver- 
letzung zu  erblinden  noch  das,  was  ich  in  meiner  Arbeit  über  Blindheit.  Bresla^ 
1883,  p.  184  n.  ff.  gesagt  habe. 

7* 


—    100  — 


Instrameuten ,  mit  Feuer,  Anibos  und  Hammer  zu  schaffen  liabeu, 
werden  dem  Einäugigen  leicht  Gefahren  für  sein  einziges  Auge  bereiten, 
und  desshalb  sollte  er  dieselben  ängstlich  meiden.  Ob  sich  die  Zulas- 
sung der  Lehrlinge  zu  derartigen  Gewerben  durch  gesetzliche  Vorschriften 
regeln  lassen  könnte,  vermag  ich  nicht  zu  übersehen;  innerhalb  der 
Innung  Hessen  sich  wohl  Vorkehrungen  ü-effen,  um  nur  zweiäugige  In- 
dividuen zu  den  fraglichen  Berufsarten  zuzulassen.  Auch  die  Fabriken, 
deren  Betrieb  Veranlassung  zum  Abspringen  von  Metall-  und  Holz- 
partikelchen gibt,  oder  deren  Handhabung  offenes  Feuer,  schneidende 
und  stechende  Instrumente  verlangt,  oder  die  dui-ch  Entwicklung  vou 
schai'fen  ätzenden  Dämpfen  u.  dgl.  m.  sich  auszeichnen,  sollten  gehalten 
sein,  nur  doppeläugige  Personen  zm-  Arbeit  zuzulassen.  Der  Schwer- 
punkt bei  allen  derartigen  Vorschriften  müsste  aber  unbedmgt  auf  die 
wirkliche  Blmdheit  des  einen  Auges  gelegt  werden.  Denn  Leute, ^  die 
auf  einem  Auge  schlechter  sehen,  als  wie  auf  dem  anderen,  sind  keines- 
wegs einer  solchen  optischen  Inferiorität  unterworfen,  wie  der  einseitig 
Blinde.  Schwachsichtigkeit  eines  Auges  beeinträchtigt  die  Grösse  des 
Gesichtsfeldes  meist  nur  wenig  und  gerade  die  Beschi-änkung  des  Ge- 
sichtsfeldes war  es  ja,  aus  welcher  wir  die  grössere  Erblindungsgefahr 
durch  Verietzung  für  den  Einäugigen  hergeleitet  haben. 

Von  Wichtigkeit  dürfte  es  mmmehr  noch  sein,  die  Arten  der 
Augenverletzungen  genauer  kennen  zu  lernen.  Es  wird  sich  empfehlen, 
die°verschiedenen  Verietzungsformen  in  der  Weise  zu  betrachten,  dass 
wir  diejenigen  Fälle,  in  denen  beide  Augen  zu  gleicher  Zeit  durch  die 
Verietzung  zerstört  wurden  und  diejenigen,  in  denen  Einäugige  ihi- 
einziges  Auge  verioren  haben,  getrennt  von  einander  untersuchen.  Be- 
ginnen wir  mit  der  Betrachtung  der  doppelseitigen  Augenverietzungen. 

Doppelseitige  Verletzungsblindheit  zählt  unser  Material 
53  Fälle  doch  ist  in  7  derselben  die  Form  der  Verietzung  nicht  näher 
mitgethei'lt;  die  übrigen  46  Fälle  dagegen  geben  vollsten  Aufschluss 
über  die  Art  der  Verietzung,  sowie  über  den  Zeitpunkt  ihres  Emtnttes. 
Die  folgende  Zusammenstellung  berichtet  über  die  einzelnen  Formea 
der  Verietzungen  und  deren  numerisches  Verhältniss  zu  einander: 


Schuss  

Schlag   

Stich   

Quetschung  bei  Zangengeburt 


15 

32,60  0;( 

13 

28,26  „ 

11 

23,91  „ 

4 

8,69  „ 

2 

4,34  „ 

1 

2,17  „ 

—    101  — 


Explosionen  nehmen  laut  der  vorstehenden  Tabelle  unter  den 
Fällen  doppelseitiger  Verletzungsblindheit  den  ersten  Rang  ein.  Nur 
in  2  der  beobachteten  Fälle  geschah  die  Verletzung  im  Beruf;  beide- 
inale  waren  es  jugendliche  Arbeiter,  welche  beim  Steinsprengen  beide 
Augen  zugleich  verloren.  In  den  übrigen  13  Fällen  handelte  es  sich 
iusgesammt  um  Exj)]osioneD ,  welche  durch  Spielereien  mit  Pulver, 
Kupferhiltchen ,  Kinderkanonen  u.  dgl.  m.  verursacht  worden  waren. 
Angesichts  der  so  häufig  im  Kindesalter  durch  Explosionen  verursachten 
Verletzungsblindheit  scheint  der  von  Ai'U ')  seiner  Zeit  gemachte  Vor- 
schlag, den  Verkauf  von  Zündhütchen  (natürlich  inbegriffen  alle  ex- 
plodirenden  Gegenstände)  an  Kinder  gesetzlich  zu  verbieten,  dui'chaus 
gerechtfertigt.  Den  besten  Schutz  gegen  die  in  Rede  stehende  Erblind- 
uugsgefahr  sollte  die  Kinderwelt  aber  immer  bei  den  Eltern  und  Er- 
ziehern finden;  doch  ist  leider  der  Kampf  gegen  Leichtsinn  und  Un- 
vernunft, wie  auf  anderen  Gebieten  des  Lebens,  so  auch  auf  dem  hier 
uns  beschäftigenden  meist  ein  vergeblicher.  Ueber  die  verschiedenen 
Lebensjahre  der  beiden  ersten  Decennien  vertheilen  sich  die  Explosions- 
erblindungen in  der  Weise,  dass  eigentlich  erst  mit  dem  fünften  Lebens- 
jahr dieselben  in  grösserer  Zahl  auftreten,  um  dann  aber  in  den  folgen- 
den Jahren  stetig  zuzunehmen.  Vor  dem  fünften  Lebensjahr  kommen 
dieselben  nur  vereinzelt  vor.  ^ 

Verbrennungen  sind  mit  28,26  °/o  nächst  den  Explosionen  die 
häufigsten  Formen  der  doppelseitigen  Verletzungsblindheit  der  Jugend- 
zeit. Sie  beginnen  ihre  verderblichen  Wirkungen  schon  in  der  frühesten 
Kinderzeit;  mit  den  ersten  Schritten,  welche  das  Kind  macht,  ist  es 
von  dieser  Gefahr  bedroht.  Meist  ist  es  ein  Sturz  ins  Feuer,  in  heisse 
Asche,  das  Uebergiessen  mit  siedenden  Flüssigkeiten  u.  dgl.  m.,  welche 
die  Zerstörung  der  Augen  herbeiführen.  Während  für  die  ersten  zwei 
oder  drei  Lebensjahre  die  genannten  Unfälle  am  häufigsten  die  Augen 
bedrohen,  tritt  in  der  zweiten  Hälfte  der  Kinderzeit  und  in  dem  darauf 
folgenden  Knaben-  und  Jünglingsalter  die  Verletzung  mit  Kalk  in  den 
Vordergrund.  Jenseits  des  fünfzehnten  Lebensjahres  werden  die  dojDpel- 
seitigen  Verbrennungen  der  Augen  dann  seltener. 

Schussverletzungen  zählt  vmser  Material  11.  Auch  diese 
Verletzungsformen  treten  häufiger  erst  in  der  zweiten  Hälfte  der  Kind- 
heit auf  und  stets  sind  es  dann  die  unseligen  Spielereien  mit  Schiess- 
waffen, welche  den  Unfall  verursachen.    Gegen  den  Ausgang^  des  uns 

')  Arlt,  Die  Pflege  der  Augen  im  gesuudeu  und  kranken  Zu- 
stande nebst  einem  Anhange  über  Augenglilscr.    Prag  18G5.  p.  75. 


—    102  — 


hier  beschäftigenden  Lebensabschnittes  nehmen  die  Zerstörungen  der 
Augen  dui-ch  Schüsse  an  Zahl  ganz  bedeutend  zu. 

Die  doppelseitigen  Verletzungen  durch  Schlag  oder  Stich  sind 
in  den  ersten  zwanzig  Lebensjahren  verhältnissmässig  selten;  erst  die 
Berufsthätigkeit  pflegt  derartige  Unfälle  in  grösserer  Zahl  herbeizuführen. 

Die  Verletzungsblindheit  der  Einäugigen   bietet  in 
unserem  Material  Stoff  zu  nicht  unwichtigen  Bemerkungen.    Was  zu- 
vörderst den  Verlust  des  ersten  Auges  anlangt,  so  sind  laut  unseren 
Beobachtungen  10  mal  Verletzungen  und  8  mal  Erkrankungen  die  Ur- 
sache gewesen;  5 mal  war  eme  einseitige  angeborene  Blindheit  vor- 
handen.   Ueber  die  Verletzung,  welche  die  definitive  Erblindung  be- 
dingte, liegen  nur  9  genauere  Nachrichten  vor;  darnach  war  5  mal  ein 
Schlag  oder  Stoss,  2  mal  Stich,  Imal  Explosion  und  Imal  Schuss  die 
Veranlassung  zu  dem  Verlust  des  einzigen  noch  sehenden  Auges.  Ver- 
gleicht man  diese  allerdüigs  sehr  dürftigen  Zahlen  mit  denjenigen,  welche 
Avir  vorhin  für  die  gleichzeitige  Verletzung  beider  Augen  angegeben 
haben,  so  werden  wir  alsbald  recht  erhebliche  Unterschiede  bemerken. 
Während  bei  der  gleichzeitigen  Zerstörung  beider  Augen  Explosion, 
Verbrennung  und  Schuss  die  Hauptrolle  spielten,  Schläge,  Stösse  und 
Stiche  aber  nur  nebensächlich  in  Betracht  kamen,  ist  bei  der  Ver- 
letzungsblindheit der  Einäugigen  gerade  das  mngekehrte  Verhalten  das 
massgebende;  hier  sind  Schläge  und  Stösse  die  am  häufigsten  vor- 
kommenden Erblindungsursachen,  während  Explosion  und  Schuss  ge- 
ringere Bedeutung  haben.    Der  Zeitraum,  welcher  zwischen  der  Er- 
blindung des  ersten  und  der  Verletzung  des  zweiten  Auges  liegt,  ist. 
bei  imseren  Blinden  ein  selir  wechselnder;  er  schwankt  zwischen  1  und 
20  Jahren  und  lässt  sich  irgend  eine  gesetzmässige  Erscheinung  in  der 
chronologischen  Aufeinanderfolge  der  Erblindung  des  ersten  und  der 
Verletzung  des  zweiten  Auges  nicht  auffinden. 

Zu  beachten  wäre  vielleicht  noch  die  Thatsache,  dass  von  den 
23  Einäugigen,  welche  dm-ch  Verletzung  erblindet  sind,  17  zuerst  das 
rechte  und  3  zuerst  das  linke  Auge  verloren  haben  ')•  Diese  Erscheinung 
fällt  uns  aus  dem  Grunde  auf,  weil  wir  so  häufig  bei  getrennter  Er- 
blmdung  beider  Augen  das  rechte  zuerst  verloren  gehen  sahen.  Wie 
wir  im  Paragi-aph  17  bei  Besprechimg  der  dui-ch  Trauma  hervorge- 
rufenen sympathischen  Ophthalmie  sehen  werden,  ist  unter  147  Fällen 
dieser  Ei-blindungsform  87  mal  das  rechte  und  60  mal  das  linke  Auge 

>)  Bei  3  Blinden  fehlen  die  näheren  chronologischen  Mittheilungen  tther 
den  Eintritt  der  Blindheit  auf  dem  rechten  und  linken  xVuge. 


-    103  — 

zuerst  erbliudet.  Unter  den  30  Fällen  von  Ophtahnia  sympathica 
traumatica ,  welche  Avir  in  unserer  früheren  Untersuchuugsreihe  ^)  mit- 

Kurve  der  Erblindungsgel'ahr  durch  Verletzung  der  Augen 
in  den  ersten  20  Lebensjahren. 

Massstab :  5  mm  =  1  7o- 


Fig.  2. 

getheilt  hatten,  war  das  rechte  Auge  22  mal  und  das  linke  8  mal  zu- 
eilst erblindet.  Aehnliche  Beobachtungen  haben  Avir  in  unserem  früheren 

')  Magnus,  Die  Blindheit  u.  s.  w.    p.  204. 


—    104  — 


Material  auch  bei  Gelegeuheit  der  Erblindung  durch  Netzhautablösuug 
gemacht;  unter  28  derartigen  Erblindungsfällen  war  19  mal  das  rechte 
und  nur  9  mal  das  linke  Auge  das  zuerst  erblindete.  Auch  unser 
heutiges  Material,  das  allerdings  niu'  über  7  Fälle  von  Sublatiol)lindheit 
genügende  Aufklärung  gibt,  zeigt  uns  das  rechte  Auge  4  mal  und  das 
linke  3  mal  als  das  zuerst  erblindete.  Wenn  ich  nun  die  mitgetheilteu 
Zahlen  auch  noch  für  viel  zu  klein  erachte,  um  aus  ihnen  schon  eine 
grössere  Erblindungsneigung  für  das  rechte  Auge  abzuleiten,  so  sind  die- 
selben doch  gewiss  auffallend  und  verdient  die  Frage:  ob  das  rechte  Auge 
im  Allgemeinen  einer  ausgesprocheneren  Erblindungsgefahr  ausgesetzt  sei 
als  das  linke,  jedenfalls  die  Aufmerksamkeit  späterer  Untersucher. 

Was  nun  schliesslich  noch  die  Vertheilung  der  Verletzungsblmd- 
heit  über  die  einzelnen  Lebensjahre  der  zwei  ersten  Decennien  anbe- 
trifft, so  bewegt  sich  die  Quote  derselben  in  einer  vom  ersten  bis 
zwanzigsten  Lebensjahr  aufsteigenden  Kin-ve.  Die  folgende  Zeichnung 
gibt  von  diesen  Verhältnissen,  sieht  man  von  den  im  Material  ge- 
gebenen Zufälligkeiten  und  den  durch  sie  bedingten  Schwankungen 
der  Kurve  ab,  ein  genügend  klares  Bild.  Wenn  man  die  Spitzen  der 
Kurvenschwankungen  mit  einander  verbindet,  so  wird  man  ungefähr 
die  Art  und  Weise  des  Anstieges  der  Verletzungsblindheit  zu  erkennen 
vermögen.  Die  grösste  Höhe  erreicht  die  Kurve  in  der  Zeit  zwischen 
dem  fünfzehnten  und  zwanzigsten  Jahr,  während  ihr  niedrigster  Stand 
in  die  Zeitperiode  vor  dem  fünften  Jahr  fällt. 

§  16.  Blindheit  verursacht  durch  Verletzung  des  Kopfes. 

Die  Bedeutimg  dieser  Form  der  Blindheit  für  die  Jugendbliiidheit 
im  Allgemeinen  haben  wir  schon  im  Paragi-aphen  14  besprochen  und 
können  wir  daher  hier  auf  das  dort  Gesagte  verweisen. 

Die  Erblindung  entwickelt  sich  bei  Verletzungen  des  Kopfes  auf 
Grund  recht  verschiedener  pathologischer  Vorgänge,  je  nachdem  dem 
Bulbus  selbst  oder  den  nervösen  Centren  aus  dem  Unfall  pathologische 
Konsequenzen  erwachsen.  Geschieht  das  erstere,  mrd  das  Sehorgan 
selbst  in  Mitleidenschaft  gezogen,  so  kann  einmal  die  Netzhaut  oder 
der  Sehnerv  durch  die  mit  dem  Unfall  verknüpfte  Erschütterung  des 
Kopfes  Veränderungen  erleiden ,  welche  wir  opthalmoskopisch  ja  zum 
Theil  wenigstens  kennen,  und  als  deren  traurige  Folgezustände  sich  gar 
nicht  selten  Sehnerven atrophien  entwickeln.  Ueber  die  primären  oph- 
thalmoskopischen Veränderungen,  wie  sie  sich  bald  nach  dem  Unfall 
zeigen,  gibt  unser  Material  so  gut  wie  gar  keinen  Aufschluss;  nur 


—    105  — 


iu  einem  Fall  wurde  nach  einem  heftigen  Stui-z  auf  Steinhaufen  unter 
heftigen  Kopfschmerzen  die  Entwicklung  einer  Neuritis  beobachtet, 
welche  mit  Atrophia  optica  endigte.  In  anderen  Fällen  entstehen  unter 
der  Kopferschütterung  Risse  und  Blutergüsse  iu  den  Umhüllungen  des 
Bidbus,  welche  dann  wieder  zu  Iridochorioiditis  führen.  Aber  wenn 
auch  das  Sehorgan  selbst  nicht  mit  in  das  Bereich  der  Kopferschütter- 
ung gezogen  ist,  so  kann  doch  Erblindung  erfolgen  und  zwar  auf 
Grund  der  im  Gehii-n  durch  die  Erschütterung  eingeleiteten  Veränder- 
ungen oder  durch  traumatische  Meningitis;  als  Schlussakt  Aver  den  wir 
hierbei  wohl  stets  eine  Atrophie  des  nervus  opticus  nachweisen  können. 
Derartige  Fälle  pflegen  häufig  von  noch  anderen  Folgen  der  Gehirner- 
schütterung begleitet  zu  werden  und  auch  unser  Material  enthält  solche 
Fälle.  Zehnmal  sind  nämlich  in  Folge  der  Kopferschütterung  ausser 
Blindheit  noch  andere  pathologische  Erscheinungen  aufgetreten  imd' 
zwar  1  mal  Schwindelanfälle ,  2  mal  Geistesschwäche ,  1  mal  Sprach- 
störungen, 2  mal  Schwerhörigkeit,  1  mal  epileptiforme  Anfälle,  1  mal 
Lähmung  der  rechten  Seite,  2  mal  Hydrocephalus. 

Was  nun  das  Verhältniss  anlangt,  in  welchem  die  Sehnerven- 
atrophie imd  Iridochorioiditis  sich  nach  Kopfverletzungen  entwickeln, 
so  zählt  imser  Material  unter  33  Fällen  26  mal  Atrophia  nervi  optici 
und  7  mal  Iridochorioiditis,  die  erstere  stellt  sich  also  in  78,78  "/o, 
die  letzere  nur  in  21,2l7o  ein. 

Dürfen  wir  nun  noch  einen  Blick  auf  die  Natur  der  Kopfverletz- 
img  werfen,  so  wurden  21  mal  Sturz  auf  den  Kopf  und  11  mal  Schlag 
gegen  den  Kopf  als  ursächliches  Moment  angegeben ;  in  1  Fall  fehlen 
die  näheren  Mittheilungen. 

Sturz  auf  den  Kopf.  Die  Mehrzahl  der  durch  Sturz  ver- 
ursachten Erblindungen  ist  in  unserem  Material  in  den  ersten  Lebens- 
jahren entstanden.  Von  den  uns  zur  Verftigung  stehenden  21  Fällen 
ist  bei  14  in  den  ersten  6  Lebensjahren  die  Erblindung  erfolgt,  und 
nm-  bei  5  nach  dem  sechsten  Lebensjahre  i).  Als  Grund  des  Blindseins 
wird  20  mal  Atrophie  des  Sehnerven  und  1  mal  Iridochorioiditis  an- 
gegeben. Der  Sturz  erfolgte  1  mal  in  frühester  Kindheit  vom  Arm  der 
Kindsfrau;  5  mal  handelte  es  sich  um  Sturz  aus  dem  Fenster.  In 
den  übrigen  Fällen  sind  besondere  Mittheilungen  nicht  vorhanden. 

Erblindung  durch  Schlag  gegen  die  Schädelwand  findet  sich 
nach  unserem  Material  vorwiegend  mit  Beginn  des  zweiten  Lebenslustrums. 


')  2  Falle  lassen  eine  genaue  chronologische  Bestimmung  des  Erblindungs- 
eintrittes  nicht  zu. 


—    106  — 

Ueber  die  Natur  der  Kopfverletzung  liegen  auch  einige  Mittlieilungeu 
vor;  3  mal  handelte  es  sich  um  Hufschläge  gegen  den  Kopf,  l  mal 
um  Fall  eines  schweren  Gegenstandes  auf  den  Schädel;  1  mal  um 
Schlag  eines  Baumstammes  bei  einem  jugendlichen  Holzfäller.  Die 
Gegend  des  Schädels,  welche  von  dem  Schlag  betroffen  wurde,  ist  nur 
in  einigen  wenigen  Fällen  näher  bestitnrat.  5  mal  wird  mit  vollster 
Bestimmtheit  die  Stirn  als  die  Verletzungsstelle  bezeichnet. 

§  17.  Erblindung  durch  Ophthalmia  sympathica  traumatica. 

Bereits  in  meinen  im  Jahre  1883  veröffentlichten  Untersuchungen 
über  Blindheit«)  wies  ich  darauf  hm,  dass  das  jugendüche  Alter  einen 
ziemlich  hohen  Prozentsatz  zur  Erblindung  diu'ch  Ophthalmia  sympathica 
Ijeizusteuern  schiene.  Ich  glaubte  damals  durch  eine  grössere  Zahl  von 
Augenverletzungen  im  Kindes-  und  Jünglmgsalter  meine  Beobachtung 
erklären  zu  können.   Unser  heutiges  Material  wirft  aber  auf  diese  Frage 
ein  ganz  neues  Licht.    Eine  beträchtlichere  Zahl  von  dh-ekten  Augen- 
verletzungen entfällt  nach  unseren  jetzigen  Erfahrungen  auf  die  ersten  zwei 
Lebensdecennien  nicht;  trotzdem  Spielerei  und Unglücksf äUe  das  kmd- 
liche  Auge  recht  oft  schädigen,  erreicht  die  Verletzungsblindheit,  d.  h. 
die  durch  unmittelbare  Verletzung  der  Augen  bedingte  Amaui-ose  m  dieser 
Lebensperiode  doch  nicht  eine  so  hohe  Quote,  als  wie  sie  m  emem  aus 
allen  vornehmlich  den  späteren  Altersklassen  zusammengesetzten  Blinden- 
material  sich  findet.    Unser  heutiges  nur  jugendliche  Blmde  bemck- 
sichtigendes  Material  ergibt  nämlich  als  Quote  der  Verletzmigsblmdheit 
2  37  o/o  während  unsere  frühere  Untersuchungsreihe  fast  noch  einmal  so 
viel  nämlich  4,03  "/o  zählte.  Wir  müssen  also  mibedingt  mit  der  That- 
sache  rechnen,  dass  die  ersten  zwanzig  Lebensjahre  einer  geringeren  direkten 
Verletzungsgefahr  des  Auges  unterliegen,   wie  die  späteren  Penoden 
unseres  Daseins.    Entsprechend  diesem  Umstand  müssten  die  ersten 
beiden  Lebensdecennien  unbedingt  auch  einen  germgeren  Prozentsatz  von 
Ophthalmia  sympathica  traumatica  liefern;  denn  die  Quote  der  sympathi- 
schen Ophthalmie  muss  doch  zm:  Zahl  der  Augenverletzung  in  der 
innigsten  Beziehung  stehen.    Mit  der  steigenden  Zahl  der  Augenver- 
letzungen, mit  der  grösseren  Menge  der  Einäugigen  sind  ja  doch  auch 
die  Bedingungen  für  die  Entwickelung  des   sympathischen  Prozesses 
erheblich  gefördert,  während  bei  einer  geringeren  Anzahl  von  Einäugigen 
aua  die  Gelegenheit  für  das  Auftreten  der  sympathischen  Opthalmie 


')  A.  a.  0.  p.  203. 


—    107  — 


eine  geringere  wird.    Wir  müssen  desshalb  unbedingt  erwarten ,  dass 
die  Quoten  der  Verletzungs-  und  der  sympathischen  Erblindung  ge- 
wisse Uebereinstimmimgeu  zeigen.    Für  unser  früheres  Material  trifft 
diese  theoretische  Voraussetzung  auch  durchaus  zu,  denn  dazumal  er- 
hielten wir  für  die  Verletzungsblindheit  4,03  7o  und  für  die  Blindheit 
diu-ch  Ophthalmia  sympathica  4,50"/o,  für  unser  heutiges  ausschliesslich 
jugendliches  Material  gestalten  sich  nun  aber  diese  Verhältnisse  er- 
heblich anders.    Wir  haben  jetzt  eine  Verletzuugsquote  von  2,37  °  'o, 
aber  nicht  auch  eine  dieser  Höhe  der  Verletzungsgefahr  entsprechende 
Quote  der  sympathischen  Ophthalmie,  vielmehr  eine  um  vieles  höhere; 
dieselbe  beträgt  4,587ü.   Eine  solche  Höhe  steht  ziu-  Zahl  der  Ver- 
letzungen im  jugendlichen  Alter  aber  durchaus  nicht  im  Verhältniss; 
da  die  ersten  Lebensdecaden  weniger  Gelegenheit  zu  Augenverletzungen 
geben  und  auch,  wie  wir  gefunden  zu  haben  glauben,  weniger  Verletz- 
imgen  und  weniger  Verletzungsblindheit  zählen,  so  müsste  auch  die 
Zahl  der  sympathischen  Ophthalmien  eine  dementsprechend  geringere 
sein.^  Ist  sie  dies  aber  nicht,  ist  die  Zahl  der  sympathischen  Opthalmieu 
ebenso  gi-oss  wie  in  den  späteren,  Augenverletzungen  viel  mehr  ausge- 
setzten Lebensperioden,  so  ist  diese  Thatsache  unbedingt  eine  ungehörige 
imd  darum  befi-emdende.  Wir  dürften  angesichts  der  soeben  erörterten 
Verhältnisse  desshalb  vielleicht  die  Vermuthung  äussern,  dass  in  dem 
jugendlichen  Alter  möglicherweise  gewisse  Bedingungen  gegeben  sein 
könnten,  welche  der  Entwicklung  des  sympathischen  Prozesses  besonderen 
Vorschub  leisteten.    In  dieser  Ansicht  könnte  man  wohl  auch  noch 
diu-ch  den  Umstand  bestärkt  werden,  dass  die  Quote  der  sympathischen 
Erblindung  in  einer  Reihe  von  Jahren,  etwa  vom  achten  bis  fünfzehnten 
Lebensjahr,  eine  Höhe  zeigt,  welche  hinter  der  der  cerebralen  Blindheit 
nur  wenig  zurückbleibt;  und  doch  ist  diese  Blindheitsform  eine  der  er- 
giebigsten überhaupt.  Welcher  Art  die  Verhältnisse  sein  mögen,  welche 
in  den  ersten  drei  Lebenslustren  die  Entwickelung  des  sympathischen 
Prozesses  begünstigen,  darüber  erlaube  ich  mir  vor  der  Hand  absolut 
kein  Urtheil,  wie  ich  auch  die  soeben  geäusserte  Vermuthung  nicht  mehr 
als  eben  nm-  eine  Muthmassung  sein  lassen  möchte.  Es  wird  späteren 
weiteren  Forschungen  vorbehalten  bleiben,  definitiv  festzustellen,  ob  der 
sympathische  Prozess  in  den  jugendlichen  Lebensepochen  wirklich  häufiger 
sei  und  welche  Erklärung  eventuell  für  diese  Erscheinung  zu  geben 
sem  wird.    Für  unser  heutiges  Material  steht  die  Thatsache  unbedingt 
fest,  dass  die  Zahl  der  durch  sympathische  Ophthalmie  Erblindeten  viel 
gi-össer  ist,  als  sie  im  Verhältniss  zu  den  direkten  Verletzungen  der 
Augen  sein  sollte. 


—    108  — 


Ueber  die  Verletzung  des  zuerst  erbliudeten  Auges,  auf  Grund 
deren  sich  dann  der  sympathische  Prozess  entwickelt  hat,  gibt  unser 
Material  in  88  Fällen  genügenden  Aufschluss,  und  zwar  wie  folgt: 

Verletzungen  erfolgten 

mit  schneidenden  Instrumenten     .    .    .  34  mal 

durch  Wurf  (Ball,  Stein,  Eis,  Holz)      .  13  „ 
„    Schuss  (Pfeil,  Bolzen  u.  s.  w.)      .12  „ 

„    Schlag  oder  Stoss   9  „ 

„    Glas-  oder  Porzellansplitter     .    .  5  ,, 

„     Kupferhütchen   4  „ 

„     Kratzen  (Dorn,  Fingernagel,  Katze)  3  „ 

„    Explosion  (Pulver,  Dynamit)    .    .  2  „ 

,,    Eisensplitter    2  „ 

„    Holzsplitter   2  „ 

„    Fall  gegen  das  Auge     ....  2  „ 

Der  Zeitraum,  welcher  zwischen  der  Verletzung  und  dem  Ausbruch 
der  Ophthalmia  sympathica  liegt,  lässt  sich  in  109  Fällen  folgender- 
massen  bestimmen: 

Der  sympathische  Prozess  entstand  nach  Verlauf  von 
nicht  1  Jahr      66  mal  6  Jahren  Imal 

1  vollen  Jahres  23  „  7      „        1  ^ 

2  Jahren  6  „  8      „  2 

3  „  4  „  9      „        1  . 

4  „  1  „  10      "        1  " 

5  „  2  „  13      „        1  . 

Nach  dieser  Zusammehstellung  war  also  in  81,65  aller  unserer 
Fälle  bereits  1  Jahr  nach  der  Verletzung  mit  dem  Eintritt  der  Irido- 
cyclitis  sympathica  die  definitive  vollständige  Erblindung  eingetreten, 
eme  Thatsache,  welche  für  die  Prophylaxe  dieser  so  ergiebigen  Er- 
blindungsfoi-m  die  grösste  Beachtung  verdienen  sollte. 

Bemerken  wollen  wir  noch,  dass  87  mal  das  rechte  und  60  mal 
das  linke  Auge  das  primär  i)  verletzte  war  und  dass  67  mal  die  Enu- 
cleation  des  verletzten  Auges  ausgeführt  worden  war.  Es  empfiehlt, 
sich  noch  einen  Seitenblick  zu  werfen  auf  das  Verhältniss,  m  welchem 
die  traumatische  zu  der  nicht  traumatischen  Ophthalmia  sympathica 
in  unserem  Material  steht.  Von  der  ersteren  zählen  wu-  147,  von  der 
letzteren  9,  also  in  Summa   156  Fälle;  es  entfallen  demnach  auf  die 

1)  Man  vergleiche  Seite  102—104  dieser  Arbeit. 


—    109  — 


traumatische  94,23  °/o,  aiif  die  nicht  traumatische  5,77  ''/„.  In  unserer 
früheren  Arbeit  hatten  wir  für  die  traumatische  Ophthahnia  sympathica 
74,5  imd  füi*  die  nicht  traumatische  25,4  ".o  gefunden. 

Kni've  der  Erblindnngsgefahr  durch  Ophthalmia  symi)athica 
traumatica  in  den  ersten  15  Lebensjahren. 

Massstab:  5  mm  =  l"/o- 


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nimtQeay  SlO.  23t.  Hes  8,aa  10,S7.tVitU,S7l!iM  i;;ia  UsaWc.QJs.  IS.m. 


Fig.  3. 

Ich  habe  nun  noch  den  Versuch  gemacht,  die  Quote,  welche  jedes 
einzelne  Lebensjahr  für  die  Erblindung  dui'ch  Ophthalmia  sympathica 
zeigt,  zu  bestimmen  und  aus  den  gewonnenen  Zahlen  eine  Kurve  der 
Erblindungsgefahr  durch  Iridocyclitis  sympathica  traumatica  herzustellen. 
Ich  habe  diesen  Versuch  aber  nur  für  die  ersten  15  Lebensjahre  durch- 
geführt, weil  jenseits  des  fünfzehnten  Jahres  unser  Material  leider  etwas 


—    110  — 


lückenhaft  Avird.  Es  pflegen  ja  Individuen,  welche  nach  dem  fünfzehnten 
Jahre  erblinden,  meist  schon  eine  genügende  Schulbildung  empfangen 
zu  haben  und  werden  dieselben  deshalb  im  Allgemeinen  die  Blindeu- 
Erziehungs- Anstalten  weniger  häufig  aufsuchen.  Dazu  kommt  noch,  das? 
die  Erblindungsgefahr  gerade  nach  dem  fünfzehnten  Jahr  eine  sehr  ge- 
ringe ist.    Die  genannten  Momente  bewirken  es,  dass  in  den  Blinden- 
Erziehungs- Anstalten  gerade  die  Jahrgänge  vom  fünfzehnten  bis  zwanzig- 
sten Jahre  am  schwächsten  vertreten  sind.    Desshalb  habe  ich  da,  wo 
das  Material  gar  zu  lückenhaft  war,  von  der  Verwerthung  desselben  zur 
Konstruktion  von  Kurven  Abstand  genommen. 

Unsere  vorstehende  Kurve  zeigt,  dass  die  Gefahr  der  sympathischen 
Ophthalmie  eigentlich  erst  mit  Abschluss  des  ersten  Lebenslustnims 
eine  bedeutendere  wird  und  von  da  ab  in  ziemlich  steilem  Anstieg 
aufstrebt.  Jenseits  des  zehnten  Jahres  zeigt  unsere  Kurve  einen  Ab- 
fall der  wohl  den  Zufälligkeiten  des  numerisch  beschränkten  INIaterials 
zuzuschreiben  ist,  da  diesem  Abfall  alsbald  wieder  ein  Anstieg  folgt. 

Für  die  möglichst  erfolgreiche  Verhütung  der  Erblindung 
durch  Ophthalmia  sympathica  traumatica  dürften  die  beiden 
Momente  von  Wichtigkeit  sein,  dass  einmal  das  jugendliche  Alter  der 
Entstehung  der  sympathischen  Iridocyclitis  einen  gewissen  Vorschub 
zu  leisten  scheint  und  dass  ferner  in  81,65  «/o  aller  unserer  Fälle  der 
Eintritt  der  Erblindung  bereits  ein  Jahr  nach  der  Verletzung  eme  un- 
abänderliche Thatsache  geworden  war.    Im  Hinblicke  auf  diese  beiden 
Faktoren  halte  ich  die  konservativen  Bestrebungen  bei  Augenverletz- 
ungen jugendlicher  Individuen  für  durchaus   unangebracht.     Ist  die 
Verletzung  der  Art,  dass  von  einer  Herstellmig  des  Sehvermögens 
nicht  mehr  die  Kede  sein  kann,  so  sollte  der  Arzt,  handelt  es  sich 
um  jugendliche  Patienten,    unbedingt    sofort   zu    Enucleation  resp. 
Evisceration   übergehen.     Wohl   weiss   ich    aus   eigener  Erfahrung, 
dass  in  der  Praxis  dieser  mein  Kath  recht  häufig  den  erheblichsten 
Schwierigkeiten  begegnet.    Die  Eltern  und  Angehörigen  der  verletzten 
Kinder  wollen  von  einer  Entfernung  des  Auges  nichts  hören,  auch  wenn 
die  Herstellung   des  Sehvermögens  vollständig  ausgeschlossen  bleibt, 
ihnen  sind  die  konservativen  Heilprinzipien  allemal  viel  zusagender  als 
die  operativen,  doch  darf  uns  dieser  Umstand  von  der  sofortigen  Ent- 
fernung des  verletzten  Sehorgans  nicht  abhalten.   Entschlagen  wn-  uns 
des  Wunsches,  das  verletzte  Auge  zu  erhalten,  sobald  wir  uns  von  der 
dauernden  Sehunfähigkeit  desselben  überzeugt  haben,  und  greifen  wir 
unter  diesen  Umständen  sofort  zur  Scheere,  so  wird  die  grosse  Quote, 
welche  die  sympathische  Blindheit  gerade  in  den  ersten  zwanzig  Lebens- 


—  III  — 


jähren  aufweist,  bald  auf  ein  Minimum  herabgesunken  sein.  Denn 
mit  dem  Hinausschieben  der  Operation  gefährden  ^xh•  ja  nach  den  Er- 
fahrungen unseres  Materials  gerade  bei  jugendlichen  Individuen  das 
gesunde  Auge  in  ganz  besonders  hohem  Grade.  Was  kann  es  solchen 
Verhältnissen  gegenüber  da  noch  für  Momente  geben,  welche  der  kon- 
servativen Therapie  das  Wort  reden  düi-ften? 

§  18.  Die  durch  missglückte  Augenoperationen  liervorgerufene  Blindheit 

ist  für  die  uns  hier  beschäftigende  Altersperiode,  wie  dies  ja  auch  nicht  ' 
anders  zu  erwarten  ist,  eine  numerisch  höchst  unbedeutende ;  ihre  Quote 
beti-ägt  nur  0,16  °/o.  In  3  Fällen  führten  Operationen  eines  Schicht- 
staares zui"  doppelseitigen  Erblindung  imd  in  zwei  anderen  Fällen  Schiel- 
operationen. Diese  beiden  letzteren  sind  in  ihrer  Art  so  selten  und 
eigenartig,  dass  wir  dieselben  noch  besonders  hervorheben  wollen.  In 
dem  einen  dieser  Fälle  wurde  eine  doppelseitige  Schieloperation  vor- 
genommen und  am  Tage  nach  derselben  aus  Versehen  zur  Eeinigung 
der  Augen  ein  mit  blennorrhoischera  Sekret  infizirter  Schwamm  benützt. 
Im  immittelbaren  Anschluss  an  diese  Prozedur  trat  Pauophthalmitis 
ein,  welche  mit  einer  vollständigen  Phthisis  beider  Bulbi  zum  Ab- 
schluss  kam. 

Der  zweite  Fall  ist  dem  soeben  geschilderten  ziemlich  ähnlich. 
Hier  trat  ein  oder  zwei  Tage  nach  einer  doppelseitigen  Tenotomie  starke 
Eiterung  ein  unter  gleichzeitigem  Ausbruch  von  Scharlach.  Woher  bei 
diesem  Patienten  die  Wundinfektion  gekommen,  ob  vielleicht  eine  diph- 
theritische  Entzündung  als  Komplikation  des  Scharlach  aufgetreten  sein 
mag,  darüber  lassen  sich  bestimmte  Angaben  nicht  geben.  Der  Schluss- 
akt war  auch  in  diesem  Fall  totale  Phtisis  beider  Augäpfel. 

Jedenfalls  sind  beide  Fälle  darnach  angethan,  die  gleichzeitige 
Tenotomie  beider  Bulbi  arg  in  Misskredit  zu  bringen. 


Fünftes  Kapitel. 


Blindheit  erzeugt  durch  Körpererkrankungen. 

S  19  Die  Stellung,  welche  die  durch  Körpererkrankungen  bedingte 
Blindheitsgruppe  zu  den  übrigen  Gruppen  der  Jugendblindheit  einnimmt, 

haben  w  bereits  in  §  12  kurz  berührt.    Wir  haben  an  jener  Stelle 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  in  den  ersten  zwanzig  Lebensjahi-en 
die  Allgemeinerkrankungen,  fassen  wii"  dieselben  zu  emer  Gruppe  zu- 
sammen, eine  viel  höhere  Blindenquote  entwerfen,  als  wie  m  den  spateren 
Lebensperioden.    Die  Allgemeinerkrankungen  bethätigen  in  den  ersten 
beiden  Lebensdecennien  eine  viel  grössere  Wirksamkeit  als  Blmdheits- 
erzeuger,  wie  dies  in  den  späteren  Lebensabschnitten  der  Fall  ist  Uas 
klinische  Verständniss  dieser  Thatsache  wird  uns  aus  einer  Beteachtmig 
der  verschiedenen  hier  in  Frage  kommenden  Erblindungsformen  unschwer 
erwachsen.     Im  Allgemeinen  zählen   die  ersten  zwanzig  Lebensjahre 
mehr  AUgemeinerkrankungen,  welche  das  Sehorgan  in  den  Kreis  ihrer 
pathologischen  Thätigkeit  ziehen,  als  die  späteren  Altersklassen^  Vor 
Allem  sind  es  die  akuten  Exantheme,  die  Ski'ofolose  und  die  Gehn-n- 
erki-ankungen.   welche  den  Augen  während  der  beiden  ersten  Lebens- 
decaden  Gefahr  bringen.  Dem  gegenüber  kommen  jenseits  des  zwanzig- 
sten Lebensjahres  hauptsächlich  nur  die  Erkrankungen  des  Gehirns  und 
Rückenmarkes  als  Blindheitserzeuger  in  Betracht    AUerdings  entfalten 
die  Erkrankungen  der  nervösen  Centraiorgane  nach  dem  z^^^nzlgsten 
Jahre  eine  recht  bedeutende  amaurotische  Thätigkeit  und  steigert  sich 
dieselbe  sogar  bei  gewissen  Krankheitsformen,  z.  B.  der  Tabes  bis  gegen 
tslüufzigste  Jahi  hin  in  recht  schnellem  Wachsthum,-)  doch  dürfen 

'^^^^^^^ich.  hierüber  meine  Untersuehuugeu  der  Breslauer  Bliudcn. 
Archiv  für  Augenheilkunde.  XIV.  p.  416. 


cerebralen  Erkrankungen  in  reiclilicher  ralle  Erblincinngen  liefern  Und 
da  nun  ausser  den  Gehirnerkrankungen  in  den  ersten  zwei  Decennien 

hnm  der  Erbhndungsformen,  d,e  durch  Allgcmeinerkrankungen  ent- 

"^a:  Tas  V  h        ^"'^  ^'rf--.    A.'  he  ten 

wd  man  das  Verhaltmss,  m  welchem  die  verschiedenen  Allgemein- 
erkranhmgen  vor  und  nach  dem  zwanzigsten  Jahre  als  ErblinTn" 
r  r  -mittelbaren  Vergleich  efs  hen  Th 

und  nl  ''--^^Wedenen  Allgemeinerkrankungen  vor 

schraffi  ,    r  ^•''^              "«'■eneinander  gesteift  Die 

t^T^J'Er  '  r  ^-te  vor.  die  schwarzen  nach  de^ 

zwanzigsten  Lebensjahre  an.    Ich  glaube   diese  Darstellung   ist  «„ 

t  tr      ■  """""^  Bemerkungen  nicht  erfordern  Lte 

v:,:häLis  Tr    r°i'° -^^  d- 

Verhaltn  s,  der  cerebralen  Amaurose.  Nach  unserer  Tabelle  ist  die 
Quote  dreser  Blindheitsform  nach  dem  zwanzigsten  Jahr  fas  dleU 

n.cht  den  Schluss  ziehen,  dass  von  Seiten  des  Gehirns  in  den  etten 
wanzrg  Jahren  wnklich  eine  viel  geringere  Gefahr  der  Erblindung 
drohe  ab  spater;  ein  solcher  Schlnss  wäre  irrthümlich.  Das  Verhältniss 
m  welchem  d,e  cerebrale  Amaurose  vor  und  nach  dem  zwanl^ten 
Jahr  m  unserer  Darstellung  zu  einander  stehen,  ist  ledigliohT  jL^ 
durch  dre  Beschaffenheit  des  Blindenmaterials.  Das  den  e 't en  ™  £ 
Lebensjahren  angehörende  Material  zeichnet  sich  durch  eine  grosse  Mengf 
von  BlmdhetWällen  in  Folge  von  Exanthemen  und  Skrofulosf au  well 

iauv::s:ef;°^"''^''"r'  ™°   ^™  ^^'^^ 

Anzahl  von  Blmdheitsformen  emem  Material  zufliesst,  dem  anderen  aber 
uK^ht    so  muss  natürlich  die  Quote  einer  bestimmten  BlindlSsfo™ 
welche  m  beiden  Untersuchungsreihen  vorkommt,  durch  diese  Veri  m' 

Silken  o'b     T  "Tf  ^^'^  0»^"«-  anderer  Pol  n 

smken,  ohne  denselben  steigen.    Es  ist  also  der  Stand  der  eerebrZ 

Aniaurosecuote  m  unserer  Tafel  lediglich  durch  das  Material  zu  erklät, 
Blil  f  ,t        «>f  »»Wiche  Ausdruck  der  vom  Gehirn  droh  ndTn 
Elndhe,t.,gefahr  anzusehen,  sondern  nur  als  Ausdruck  des  Wer^W 
msses,  m  welchem  er  zu  den  anderen  Blindheitsformen  vo^  d 
.ac    dem  zwanzigsten  Lebensjahre  steht.    Wenn  wir  die  Erblindung 
gefahr.  welche  dem  einzelnen  Individuum  in  Wirklichkeit  aus  n^r 

Magnas,  Jugendblimlhoit. 


—    114  — 


Erkrankung  droht,  also  hier  aus  den  Gehirnerkrankungen  kennen 
lernen  wollen,  so  können  wir  zu  dieser  Kenntniss  nur  in  der  ^  eise 


Intoxikation 

Scrofuloso 
SypMlis 


Wochonljett  und 
Scli-wnngerschivtt 

Exanthem 

nicht 
bestimmt 

Scharlach 


Masern 

Typhus 

Pocken 

Bindegewebe  u. 
Haut 

Uropoetisches 
System 

Verdauungs- 
Organe 

Gefäss-Systom 

Bückenmark 


Gehirn  mit  seinen 
Häuten 


Tussis 
convulsiva 

Intermittens 
Unbekannt 


—    115  — 


selbst  auf  die  Gefahr  hin,  für  viele  meiner  Leser  etwas  Selbstverständ- 
liches und  darum  Ueberflüssiges  gesagt  zu  haben. 

Die  vorstehende  Darstellung  gibt  also  das  Verhältniss  wieder,  in 
welchem  die  durch  Allgemeinerkrankungen  hervorgeinfenen  Erblindungen 
zu  einander  stehen. 

§  20.  Die  einzelnen  Formen  der  durch  Allgemeinerkrankungen 
erzeugten  Erblindungen. 


Ihrem  amaurotischen  Werth  nach  gruppiren  sich  die  AUgemein- 
«rkrankungen  in  folgender  Weise: 


Erkrankvmgen  des  GehuTis  imter 

1063 

Fällen  262  mal 

24,65 

o/o 

Scrofulose  , 

>j 

243  „ 

= 

22,86 

» 

V  anola  „ 

j> 

22,58 

l.»XUl  UilXl 

114  „ 

10,73 

5) 

Scarlatina  „ 

» 

» 

97  „ 

9,13 

)J 

Typhus  „ 

)> 

)> 

32  „ 

3,01 

)» 

Syphilis  „ 

)i 

)( 

32  „ 

3,01 

JJ 

Exanthem  imbekannter  Natur  „ 

j> 

>j 

14  „ 

1,32 

» 

Tussis  convulsiva  „ 

)» 

>> 

4  „ 

0,38 

Bleivergiftung  „ 

)) 

5) 

2  „ 

0,19 

» 

Blutbrechen  „ 

)) 

» 

2  „ 

0,19 

)> 

Morbus  macidosus  „ 

» 

1  „ 

0,10 

)» 

lutermittens  „ 

)) 

)) 

1  „ 

0,10 

>> 

Cholera 

j) 

» 

1  » 

0,10 

J> 

Phlegmone  orbitalis  „ 

)) 

!) 

1  » 

0,10 

)> 

Tabakvergiftung  , 

») 

1  » 

0,10 

Unbekannte  Allgemein- 

erkrankung „ 

» 

» 

16  „ 

1,51 

Wir  wollen  nun  die  einzelnen  Erkrankungsformen  in  der  Eeihen- 
ll    folge,  wie  sie  die  vorstehende  Tabelle  zeigt,  betrachten. 

Gehirn  mit  seinen  Häuten.  Bei  einer  methodischen  Unter- 
suchung von  Blinden  lassen  sich  zwar  die  schweren  Folgen,  welche 
Erkrankungen  des  nervösen  Centraiorgans  und  seiner  Hüllen  für  das 
Sehorgan  haben,  mit  Sicherheit  nachweisen,  aber  ein  verlässlicher  Rück- 
schluss  auf  die  klinische  Wesenheit  der  ursprünglichen  Gehirnerkrank- 
ung ist  aus  dem  Befund  des  erblindeten  Auges  allein  nicht  möglich. 
Die  Blinden  oder  deren  Angehörige  geben  wohl  den  Zeitpunkt  der  Er- 
krankung an,  sie  wissen  auch  mitzutheilen,  dass  das  betreffende  Individuum 
mit  Krämpfen  oder  unter  heftigem  Kopfschmerz,  Erbrechen,  Lähmungen 

8* 


—    118  — 


7  mal 


u.  dgl.  m.  erkrankt  ist.  Derai-tige  Angaben  enthalten  fast  alle  unsere 
Protokolle,  aber  eine  bestimmte  Diaguosse  ist  aus  solchen  anaranestischen 
Nachrichten  allein  nicht  zu  gewinnen,  und  desshalb  müssen  wir  auf  eine 
aenaue  klinische  DifFerenzirung  der  verschiedenen  cerebralen  Krankheits- 

prozesse  verzichten. 

AVas  nun  die  unmittelbare  Ursache  der  Erblindung  anlangt,  so 
werden  in  238  Fällen  darüber  sichere  Mittheilungen  gegeben,  während 
sie  in  24  Fällen  fehlen.  Darnach  hat  die  Gehirnerkrankung  m  212 
Fällen  zu  Atrophia  nervi  optici  geführt  und  in  26  zu  Iridochorioiditis ; 
auf  die  cerebrale  Atrophie  entfallen  demnach  80,92  °/o,  auf  die  cerebrale 
Iridochorioiditis  nur  9,93  7o. 

Die  cerebrale  Erkrankung  hat  in  einer  Eeihe  von  Fällen  noch 
andere  Körperorgane  in  ihren  Kreis  gezogen  und  fanden  sich  dement- 
sprechend an  der  Person  des  Blinden  noch  folgende  Gebrechen: 

Epileptiforme  Anfälle  ^^^^ 

■  Störungen  des  geistigen  Lebens  7 

Taubheit  oder  Schwerhörigkeit  o  ^> 

Störungen  des  Geruches  3 

Lähmungen  einer  ganzen  Seite  3 

eines  Armes  

der  Beine  

allgemeine  Lähmung  

des  Sphincter  vesicae  

Chorea  

Periodischer  Kopfschmerz  mit  Erbrechen  und  profusem 

Kopfschweisse  

Taubstummheit  ....   

Ausser  den  genannten  pathologischen  Zuständen,  deren  genetische 
Beziehungen  zu  der  Gehirnerkrankung  wohl  ziemlich  klar  auf  der  Hand 
liegen,  wurden  an  den  Blinden  noch  folgende  Erscheinungen  beobachtet: 
Glotzaugen    .    .    .    3  mal 
Zwergwuchs  .    .    .    1  » 
Wolfsrachen  .    .    .    1  » 
Zur  Vei-voUständigung  des  pathologischen  Bildes  wird  es  ferner 
auch  beitragen,  wenn  wir  die  Nachrichten,  welche  über  den  Gesund- 
heitszustand der  Eltern  und  Geschwister  unserer  Blmden  noch  vorhegen, 
mittheilen.  Ueber  die  Gesundheitszustände  der  Eltern  smd  5ma  ^  ach- 
richten gegeben ;  darnach  war  der  Vater  1  mal  ein  Säufer  ^  ^alschwadv 
sinnig,  imal  waren  beide  Eltern,  und  1  mal  nur  die  Mutter  an  Tubei- 
kulose  gestorben. 


1 
1 
l 
1 

1 
1 


—    117  — 


LTeber  die  Geschwister  fliessen  die  Mittheilimgen  etwas  reichlicher, 

insofern  hier  15  mal  Erkrankungen  derselben  erwähnt  werden  und  zwar; 

Blindheit  eines  Bruders  oder  einer  Schwester  6  mal 

„       zweier  Geschwister  3 

Geistesschwäche   3 

Krampfzustände  2  „ 

Tuberkulose   i 

 )j 

Die  Gehirnerkrankungen  liefern  ferner  nächst  der  Blennorrhoea 
neonatorum  während  der  ersten  zwanzig  Lebensjahre  die  meisten  Erblind- 
ungsfälle; ihre  Blindheitsquote  beträgt  8,187«.  Ueber  beide  Geschlechter 
vertheilt  sich  die  cerebrale  A  maurose  in  der  Weise,  dass  das  männliche 
Geschlecht  viel  stärker  von  ihr  heimgesucht  wird,  als  wie  das  weibliche, 
<ienn  auf  das  erstere  entfallen  9,96%,  auf  das  letztere  nur  5,19  "/o. 

Unser  Material  gibt  uns  sodann  noch  genügenden  Aufschluss  über 
den  Eintritt  der  Erblindung,  resp.  der  Erkrankung,  welche  den  Ver- 
lust des  Sehvermögens  bedingt  hat.    Doch  reicht  unser  Material  nur 
bis  zum  Abschluss  des  fiinfzehnten  Lebensjahres;  jenseits  desselben  wird 
es  so  lückenhaft,  dass  wir  es  zu  einer  statistischen  Verwerthung  nicht 
mehr  fär  geeignet  erachten.    Es  steigt  nach  unseren  Ermittelungen  also 
die  Quote  der  cerebralen  Blindheit  mit  Beginn  des  zweiten  Jahi-es  steil 
an  und  erreicht  zwischen  viertem  und  eilftem  Jahre  die  grösste  Höhe, 
imi  dann  wieder  etwas  abzufallen.     Die  folgende  Kui've  wkd  diese 
Verhältnisse  klar  zui- Anschauung  bringen,  vornehmlich  wenn  man  die 
Gipfel  derselben  diu-ch  eine  Linie  sich  verbunden  denkt.    Diese  Linie 
dürfle  ungefähr  das  An-  und  Absteigen  der  Erblindungsgefahr  der  ein- 
zelnen Lebensjahre  veranschaulichen. 

Schliesslich  wollen  wir  noch  eines  interessanten  Punktes  gedenken, 
nämlich  der  Schädelgestaltung  der  durch  cerebrale  Erkrankungen  Er- 
blindeten.    Im  Ganzen  werden  62 mal,  d.  h.  also  in  23,67 7«  Miss- 
bildungen des  Schädels  erwähnt  und  zwar  folgende  Formen: 
Hydrocephalus  mehr  oder  weniger  ausgeprägt  27  mal 

Thurmschädel  27 

Mikrocephalus   ^ 

Nicht  näher  definu-te  Schädelform  ....  7 
Von  besonderem  Interesse  ist  die  Komplikation  der  Sehnerven- 
atrophie mit  Thurmschädel,  und  da  gerade  dieser  Symptomen- 
komplex em  im  Ganzen  noch  wenig  gekannter  ist,  so  wollen  wir  den- 
selben  emer  genaueren  Betrachtung  unterziehen,  i)  Ich  selbst  bin  dm-ch 

')/'^*°  vergleiche  die  Mittheiluugen,  ^y eiche  Hirschb er g  auf  Grund  eigener 
Beobachtungen  und  gestützt  auf  die  spärliche  Kasuistik  der  einschlägigen  Literatur 


—    118  — 


meine  Blindenuutersuchungen  auf  diese  Vereinigung  von  Thurraschädel 
mit  Sehnervenatrophie  schon  seit  längerer  Zeit  aufmerksam  geworden 
und  habe  ich  fünf  derartige  Fälle  genau  untersucht.  In  aUen  fünfen 
fiel  die  staxke  Ausdehnung  des  Schädels  im  vertikalen  Durchmesser 

Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Gehirnerkrankung  in  den 
ersten  15  Lebensjahren. 

Massstab:  5  mm  =  1  %•   


0 


21% 


Wo 
Wk- 

13% 
17% 
16°lo 

IS"/, 

WU 
13% 
T2% 
11% 


ä% 

8°k 
7%f 
6 

2% 


a  10   n  a  13   u  iSMr 

21'.. 


0%- 


^      g      o     ^    ü    a     13     1*  JJJahr 


si  .nl  Iii  'lOM.  iio  7;L  >7l.         «i.  io^  wo  o.'L^ 


Fig.  5. 

„eten  einer  rundlichen  Gestaltung  der  Schädelkapsel  im  AUgememe» 
Dabei  machte  sich  eine  Hahnenkamm  ähnliche  Erhöhung  m  de 

CcDlMlblatt  für  pmkti.cho  Aagenhe.lkMde.  ».ebentei  Jah.6»»g- 
Leipzig  1883. 


—    119  — 

Gegend  der  grossen  Fontanelle  in  eigenartiger  Weise  bemerkbar.  Der 
Sehnerv  war  in  den  von  mir  untersuchten  Fällen  stets  hochgradig  atrophisch, 
silberweiss  mit  scharf  umschriebenen  Kändern  und  mehr  oder  minder  atro- 
phischen Gefässen.  Das  Sehvermögen  war  entweder  völlig  geschwunden, 
oder  beschränkte  sich  auf  quantitative  Lichtempfindung.  Die  Protokolle 
meines  Materials  enthalten  auch  eine  Anzahl  einschlägiger  Fälle  und 
ergibt  die  Zusammenstellung  dieser  und  meiner  Beobachtungen  folgendes 
Ergebniss. 

Im  Ganzen  fanden  sich  unter  262  durch  cerebrale  Erkrankungen 
im  ersten  bis  zwanzigsten  Jahre  Erblindeten  27  mal  Thurmschädel  d.h. 
also  in  10,30  7o  ;  alle  Fälle  waren  mit  Sehnervenatrophie  vergesellschaftet 
und  zwar  wird  der  Zustand  des  Sehnerven  2  mal  als  Atrophia  ex  neu- 
ritide  und  25  mal  schlechthin  als  Atrophia  bezeichnet.  Neben  der  Blind- 
heit waren  an  der  Person  des  Blinden  noch  folgende  pathologische  Er- 
scheinungen nachweisbar: 

Zwergwuchs     ....  Imal 

Fehler  des  Geruchsinnes     2  „ 

Taubheit  1  „ 

Epileptiforme  Anfälle    .    2  „ 

Geistesstörungen    .    .    .    1  „ 

Glotzaugen  2  „ 

Die  Beschreibimgen  des  Schädels  betonen  hauptsächlich  die  auf- 
fallende Verlängerung  des  vertikalen  Durchmessers ;  4  mal  wird  auf  eine 
eigenthümliche  kammartige  Erhöhung  in  der  Gegend  der  grossen  Fon- 
tanelle aufmerksam  gemacht. 

Ueber  Eltern  und  Geschwister  konnte  ich  nur  2  mal  genaue  Nach- 
richten erhalten.  In  dem  einen  Fall  waren  beide  Eltern  tuberkulös 
und  in  dem  anderen  Fall  hatte  ein  Bruder  genau  dieselbe  Kombination 
von  Sehnervenatrophie  mit  Thurmschädel.  Dieser  letztere  Fall  erscheint 
mir  von  ganz  besonderem  Interesse,  da  er  die  Möglichkeit,  den  fi-ag- 
ll  liehen  Symptomenkomplex  auf  gewisse  angeborene  ätiologische  Momente 
zurückführen  zu  können,  eröffnet.  Herr  Medicinalrath  Prof.  Dr.  Fonßck 
hierselbst  hat  jüngst  seine  Beobachtungen,  welche  er  bei  der  Sektion  eines 
mit  Sehnervenatrophie  und  Thurmschädel  behafteten  Knaben  gemacht 
hat,  in  einem  Vortrag  mitgetheilt  und  aus  seinen  Aeusserungen  geht 
hervor,  dass  als  das  Primäre  des  gesammten  Symptomenkomplexes 
vielleicht  gewisse  Störungen  in  der  Entwicklung  der  Schädelkapsel  an- 
gesehen werden  könnten.  Diese  Anschauung  gewinnt  au  Bedeutung, 
wenn  wir  hören,  dass,  wie  es  unser  Material  einmal  ergibt,  mehrere 
Kinder  einer  Familie  Thurmschädel  und  Atrophie  haben.    Die  Vor- 


—    120  — 


Stellung,  class  in  solchen  Fällen  gewisse  kongenitale  Störungen  an  der 
Entwicklung  des  Kopfskelettes  wirksam  sind,  ist  dann  sehr  naheliegend. 

Nun  noch  einige  Bemerkungen  über  besondere,  das  Auftreten  der 
mit  Thurmschädel  komplizirten  Blindheit  begleitende  Erscheinuugen, 
soAvie  über  die  Entstehungszeit  derselben.  In  7  Fällen  wird  mit  Be- 
stimmtheit angegeben,  dass  schwere  Konvulsionen  der  Entwicklung  der 
Blindheit  vorausgegangen  Avären.  Die  Entstehungszeit  der  totalen  Blind- 
heit wird  in  25  Fällen  in  folgende  Lebensjahre  verlegt: 
In  die  frühesten  Lebensabschnitte    5  mal 


In  das  zweite  Lebensjahr 
dritte 
vierte 
fünfte 
siebente 
neunte 
eilfte 


3 
2 

7 
4 
2 
1 
1 


Als  die  vorliegende  Arbeit  bereits  unter  der  Presse  sich  befand, 
hatte  ich  Gelegenheit,  in  der  Poliklinik  einen  neuen  Fall  von  Thurm- 
schädel mit  Atrophia  nervi  optici  zu  sehen.  Es  handelte  sich  hier  um 
ein  2j ähriges  Mädchen,  welches  bis  gegen  Ende  des  ersten  Jahres  ganz 
gesund  gewesen  sein  sollte.  Bei  den  ersten  Spielversuchen  des  Kindes  hatte 
die  Mutter  eine  auffallende  Sehschwäche  des  Kindchens  bemerkt ;  dasselbe 
konnte  das  Spielzeug  nicht  finden,  tastete  nach  demselben  wie  ein  Blinder. 
Bei  der  ophthalmoskopischen  Untersuchung  erschien  der  Sehnervenquer- 
schnitt graulich  weiss  und  mit  nicht  ganz  scharfen  Umrissen;  doch  war 
diese  letztere  Erscheinung  kaum  merklich  angedeutet.  Die  Netzhautvenen 
waren  normal,  die  Arterien  vielleicht  etwas  dünner  wie  gewöhnlich. 
Dabei  prominirten  die  Augen  ganz  auffällig  und  zeigten  einen  sehr 
ausgeprägten  Strabismus  divergens.  Der  Schädel  war  in  der  vertikalen 
Achse  sehr  bedeutend  verlängert  und  die  Gegend  der  grossen  Fontanelle 
dm-ch  eine  deutlich  ausgeprägte  hahnenkammartige  Erhöhung  gekenn- 
zeichnet. Die  Eltern  der  Patientin  schienen,  soweit  ich  dies  überhaupt 
feststellen  konnte,  gesund  zu  sein  und  hatten  dieselben  ausser  der  mir 
vorgestellten  Kranken  noch  einen  älteren  gesunden  Knaben. 

Skrofulöse  folgt  in  der  amaurotischen  Rangordnung  der  Allgemem- 
erkrankungen  mit  22,86  °/o  unmittelbar  auf  die  cerebrale  Blindheit.  Der 
pathologische  Prozess,  mittelst  dessen  die  Erblindmig  bei  skrofulösem  All- 
gemeinleiden erzeugt  wird,  spielt  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  in  der 
Cornea  ab,  und  nur  vereinzelt  im  Uvealtraktus.  Nach  unserem  Material 
ist  die  Cornea  für  die  Erblindung  231  mal,  d.h.  also  in  95,06  "/o  und 


—    121  — 


der  Uvealtraktus  nur  12  mal,  d.h.  in  4,93  "/o  verantwortlich  zu  machen. 
Von  Wichtigkeit  wäre  sodann  noch  zu  ermitteln,  ob  Stadt  oder  Land  einen 

Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Skrofulöse  in  den  ersten 

16  Lebensjahren. 

Massstab:  5mm  =  1  °/„. 


Fig.  6. 


grösseren  Prozentsatz  zur  Skrofuloseblindheit  beisteuert.  Wir  wollen  diese 
Frage  wieder  an  der  Hand  unseres  deutscheu  Materials  untersuchen,  wie 


—    122  — 


wir  dies  bereits  bei  Gelegenheit  der  Blennorrhoe')  gethan  haben.  Im  Ganzen 
beherbergten  die  deutschen  Blinden  -  Anstalten  zur  Zeit  unserer  Unter- 
suchung 110  Skrofuloseblinde,  von   denen  der  Ort   der  Erblindung 
bekannt  war,   und  davon  waren   50  in  der  Stadt,  d.  h.  45,46  °/« 
und  60  auf  dem  Lande,  d.  h.  54,55  »/o  erblindet.  Nach  den  offiziellen 
statistischen  Mittheilungen  wohnen  nun  im  deutschen  Reich   etwa  /s 
aller  Einwohner  in  Orten  mit  mehr  und  «/s  in  Orten  mit  weniger 
als  2000  Einwohnern.    Rechnen  wir  nun  die  ersteren  als  Stadt-  und 
die  letzteren  als  Landbewohner,  so  müssten  von  unseren  deutschen 
Skrofuloseblinden  '^1  „  d.  h.  44  =  40,00  «/o  auf  die  Stadt  und  66  = 
60  00  «/    auf  das  Land  entfallen.  In  Wirklichkeit  entwirft  unser  Material 
aber  4546  0/0  Skrofuloseblinde  für  die  Stadt  und  54,55  °/o  für  das 
Land    Es  wäre  hiernach  also  für  die  Stadt  die  Skrofulosequote  etwas 
gi-össer,  als  sie  thatsächlich  sein  sollte.  Und  dieser  Unterschied  dürfte  in 
Wirklichkeit  noch  wachsen,  wenn  wir  erwägen,  dass  die  Landbevölkerung 
wohl  doch  mehr  als  wie  'I ,  der  Gesammtbevölkerung  ausmacht 

Ein  erheblicher  Unterschied  in  der  Belastung  der  beiden  Geschlechter 
mit  der  Skrofulose-Amaurose  ist  nicht  vorhanden;  denn  auf  das  mann- 
liche Geschlecht  entfallen  7,07  «/„  und  auf  das  weibliche  8  45  /o.  Im 
Uebrigen  nimmt  die  Skrofulöse  mit  7,58  '7o  den  di-itten  Rang  unter 
allen  Formen  der  Jugendblindheit  ein. 

Ueber  die  einzelnen  Lebensjahre  vertheilt  sich  die  Erblindung  durch 
Skrofulöse  in  der  Weise,  dass  mit  deüi  zweiten  Jahr  die  _  SkroMose- 
quote  rasch  wächst  und  dann  bis  zum  fünfzehnten  Jahr  sich  ziemhch 
hoch  erhält.  Sehen  wir  von  den  Zufallschwankungen  ab  und  verbinden 
wir  die  höchsten  Gipfelpunkte  der  Kurve  durch  eine  Grade  so  durfte 
diese  wohl  ungefähr  den  Verfauf  der  Erblindungsquote  dm-ch  Skrofulöse 
in  den  ersten  fünfzehn  Lebensjahren  wiedergeben. 

Variola  Die  durch  Pocken  bedingten  Blindheitsfälle  zeigen,  in 
unserem  Material  wenigstens,  eine  dreifache  Erblindungsmöglichkeit, 
insofern  die  sekundäre  Augenerki-ankung  avif  der  Hornhaut,  m  dem 
Aderhauttraktus  oder  in  den  nervösen  Organen  des  Sehorganes  sich 
entwickelt;  und  zwar  verhalten  sich  diese  3  Formen  der  Erblmdung  m 
der  Weise  dass  entfallen:  auf  die  Cornea  96,66  «/«,  auf  den  Uveal- 
traktus  2,50  °/o  und  auf  den  nervösen  Apparat  0,83"/,.  Die  Erkrank- 
ungen de^  nervösen  Apparates  haben  mu-  in  zwei  Fällen  nach  Variola 
Blindheit  erzeugt  und  beide  male  zeigte  sich  der  Nervus  opticus  b.  der 
späteren  Untersuchung  als  total  atrophisch.    Der  eme  dieser  Falle  ist 

•)  Man  vergleiche  Seite  76—78  dieser  Arbeit. 


—    123  — 


durch  Beigabe  der  Krankengeschichte  vervollständigt.  Es  handelte  sieb 
hier  um  ein  neunzehnjähriges  Mädchen,  welches  im  Gefolge  von  Variola 
plötzlich  erblindete  imd  sich  bei  der  späteren  Blindenuntersuchung  als 
imheilbar  blind  durch  Sehnerven atrophie  zeigte.  Dieser  Fall  wird  in 
seinen  pathologischen  Bedingungen  durch  eine  in  der  neuesten  Zeit  von 
Riedl^)  mitgetheilte  Beobachtung  verständlich  gemacht.  Riedl  sah  eine 
junge  an  Variola  hämorrhagica  erkrankte  Frau  plötzlich  erblinden  und 
ergab  die  Nekropsie  retrobulbäre  Neuritis.  Aehnliche  Beobachtungen 
sind  auch  bereits  früher  von  anderen  Autoren  mitgetheilt  worden;  so 
gedenkt  z.  B.  Zülzer'^)  der  im  Gefolge  von  hämorrhagischen  Pocken 
anfti-etenden  plötzlichen  Erblindungen. 

Die  klinischen  Erscheinungen  in  Cornea  und  Uvealtraktus  sind 
durch  die  Arbeiten  von  Landesberg ^  Adler,  Manz,  Coccius^)  u.  A. 
so  genau  beschrieben  worden,  dass  wir  unter  Hinweis  auf  die  Literatur 
von  einer  weiteren  Betrachtung  dieses  Punktes  Abstand  nehmen,  um 
uns  mit  der  viel  wichtigeren  Frage  zu  beschäftigen:  welchen  Einflus» 
die  Impfimg  auf  das  Zustandekommen  der  Erblindung  ausübt. 

Dass  mit  Einführung  der  Pockenimpfung  die  Zahl  der  Blinden 
erheblich  abgenommen  habe,  ist  eine  Thatsache,  welche  von  den  ver- 
schiedensten Autoren  wiederholt  betont  worden  ist.  So  sollen  z.  B. 
nach  den  Angaben  von  Carron  de  Vülars  vor  der  Vaccination  in 
Frankreich  35  "/q  aller  Blinden  durch  Variola  erblindet  sein,  nach  Ein- 
führung derselben  aber  nur  noch  7  "/q.*  j  Auch  Hirschberg  ^)  hat  in 
neuerer  Zeit  wieder  auf  die  Abnahme  der  Pockenblindheit  mit  Ein- 
führung der  Vaccination  hingewiesen.  Ich  habe  mir  nun  ganz  besonders 
angelegen  sein  lassen,  die  Beziehungen,  welche  zwischen  der  Höhe  der  * 
Variola  -  Amaurosequote  und  der  Vaccination  bestehen,  klar  zu  legen. 
Unser  Material  von  240  Variolablinden  ergibt  zuvörderst  Folgendes: 


')  Riedl,  Ein  Fall  von  plötzlicher  Erblindung  durch  Variola. 
Wiener  med.  Presse  1885.   Nr.  11. 

»)  Zülzer,  Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  der  Variola. 
Berliner  klinische  Wochenschrift  1872.    Nr.  51  und  52. 

')  Man  sehe  ein:  Jahr  eshe rieht  über  die  Leistungen  und  Fort- 
schritte im  Gebiete  der  Ophthalmologie.  Zweiter  Jahrgang.  Tübingen 
1873,  und:  Vierter  Jahrgang.    Tübingen  1875. 

*)  Man  vergleiche  die  schon  wiederholt  citirten  Arbeiten  von  Dumonf, 
Fuchs  und  mir. 

')  HirseJiberg,  Ueber  die  variolöso  Ophthalmie.  Berliner  klinische 
Wochenschrift  1871.  Nr.  24. 


—    124  — 


Von  240  Pockenblinden 

sind  geimpft  mit  Erfolg   24  =  10,00  "/„ 

„    zweifelhaftem  Erfolg   7  =    2,92  „ 

„         „      ohne  Erfolg   16  =    6,67  „ 

brach  unmittelbar  nach  der  Impfung  Variola  aus  bei  2  =    0,84  „ 

sind  nicht  geimpft    140  =  58,34  „ 

fehlen  Mittheilungen  über  die  Impfung  bei    .    .    .  51  =  21,25  „ 


Die  vorliegende  Zusammenstellung  lehrt  also,  dass  bei  mehr  als  der 
Hälfte  aller  Pockenblinden  die  Impfung  nicht  vorgenommen  worden 
Avar  und  dass  nur  in  10  "/o  die  erfolgreiche  Impfung  einen  Schutz  gegen 
die  Erblindung  nicht  gewährt  hatte.  So  wichtig  es  nun  auch  gerade 
wäre,  diese  nach  erfolgreicher  Impfung  eingetretenen  Erblindungsfälle 
«,uf  das  Genaueste  zu  untersuchen,  so  bietet  doch  unser  Material  dazu 
keinen  Stoff  und  vermag  ich  desshalb  über  diese  Fälle  auch  weiter 
keinen  Aufschluss  zu  geben. 

Den  klarsten  Einblick  in  die  Beziehungen,  welche  zwischen  der 
Höhe  der  Variolablindheitsquote  und  der  Vaccination  bestehen,  werden 
wir  unbedingt  dann  gewinnen,  wenn  wir  den  Gehalt  an  Pockenblind- 
lieit  in  den  Anstalten  der  verschiedenen  europäischen  Länder  ermitteln 
und  die  gewonnenen  Zahlen  mit  den  daselbst  herrschenden  Impfgesetzen 
vergleichen.  Ich  habe  nun  eine  derartige  Zusammenstellung  in  der 
folgenden  Tabelle  versucht: 

Länder  mit  Impfzwang. 


In  den  Blindenanstalten  finden  sich  Pockenblinde 
in  Deutschland    ....  3,45% 

„  England   1>63  „ 

„  Dänemark      ....      0,43  „ 

Länder  ohne  Impfzwang. 
In  den  Blindenanstalten  finden  sich  Pockenblinde 

in  Holland  6,95% 

„  Belgien  10,48  „ 

„  Spanien  10,85  „ 

„  Italien  11.53  „ 


„  Oesterreich-Ungarn  .    .    21,06  „ 
Ein  Vergleich  zwschen  diesen  beiden  Abtheilungen  zeigt,  dass  w 
den  Ländern  i),  welche  gesetzlichen  Impfzwang  haben,  die  Pockenblind- 

>)  In  unserer  graphischen  Darstellung  XII  ist  auch  noch  Frankreich,  Nor- 
wegen, Schweden  vertreten;  allein  von  einer  allgemeineren  Verwerthung  der  be; 


—    125  — 


heit  in  den  Blinden-Anstalteu  einen  verschwindend  kleinen  Prozentsatz 
beansprucht,  während  in  den  Ländern,   welche  keine  obligatorische 
Vaccination  besitzen,  die  Pockenblindheit  in  den  Anstalten  bis  zu  ganz 
erstaunlich  hohen  Prozentsätzen  steigt ;   so  ist  z.  B.  in  den  Blinden- 
Anstalten  Oesterreich  -  Ungarns  die  Pockenblindheit  mit  einem  höheren 
Prozentsatz  vertreten,  als  selbst  die  Blennorrhoea  neonatorum.  Der 
Umstand,  dass  die  Länder  ohne  Impfzwang  so  verschiedene  Quoten 
der  Pockenblindheit  zeigen,  kann  bei  genauerer  Ueberlegung  kaum 
befremdend  erscheinen.  Die  Impfgesetze  in  den  verschiedenen  Ländern  ^) 
smd  ja  doch  sehr  von  einander  abweichend;  in  einzelnen  Ländern 
übt  die  Regierung  einen  grösseren  Druck  auf  die  Bevölkerung  bezüg- 
lich der  Vaccination  aus,  als  in  anderen.  In  gewissen  Ländern  wieder 
Avird  auch  ohne  Impfzwang  die  Impfung  ziemlich  allgemein  betrieben, 
in    anderen    wieder   nicht.    Diese  Umstände  müssen  aber  alle  un- 
bedingt in  der  Pockenblindheitsquote  sich  verrathen.  Und  sie  thun  dies 
auch;  so  macht  z.  B.  Pfeiffer')  darauf  aufmerksam,  dass  in  Belgien 
und  Holland  zwar 'kein  Impfzwang  bestehe,  aber  doch  die  Impfung 
gut  gehaudhabt  werde.    Theoretisch  würde  man  aus  diesem  Umstand 
auf  eine  nicht  hohe  Pockenblindheitsquote  in  den  Blinden  -  Anstalten 
der  genannten  Ländern  schliessen  und  unser  Material  bestätigt  diesen 
Schluss ;  ein  Blick  auf  die  vorstehende  Tabelle  und  auf  Tafel  XII  zeigt,, 
dass  Holland  und  Belgien  unter  den  Ländern  ohne  Impfzwang  die  ge- 
ringste Quote  haben.  In.Spanien,  welches  in  unserer  Tabelle  die  dritt- 
kleinste Pockenblindheitsquote  besitzt,  herrscht,  wie  mir  mein  Freund 
Professor  Carreras-Aragö  schreibt,  ein  indii-ekter  Impfzwang,  insofern 
zur  Auftiahme  in  die  Schule  ein  Nachweis  über  die  erfolgte  Impfung 
erforderlich  ist. 

Auf  Tafel  XII  sind  noch  die  Schweiz  mit  2,73  7o  imd  Russland 
mit  1 7,60 "/o  Pockenblindheit  verzeichnet,  beides  Länder,  in  denen  Impf- 
zwang besteht.    Wenn  wn-  aber  trotz  des  daselbst  bestehenden  Impf- 

diesen  Ländern  genannten  Zahlen  glaubten  wir  deshalb  Abstand  nehmen  zu 
müssen,  weil  sich  dieselben  nur  je  auf  eine  Anstalt  stützen.  Bei  den  prozen- 
tuahschen  Verhältnissen  einer  Anstalt  ist  aber  die  Möglichkeit  des  Zufalls  ein& 
so  grosse,  dass  von  einer  Verallgemeinerung  gar  nicht  die  Rede  sein  kann. 

')  Man  vergleiche- die  Mittheilungen,  welche  über  die  Impfgesetze  der  ver- 
schiedenen Länder  gemacht  sind  in-:  Veröffentlichungen  des  kaiser- 
lichen Gesundheitsamtes  IX.  Jahrgang.   1885.    Nr.  11—21. 

')  Pfeiffer,  Di  e  Vaccination,  ihre  experimentellen  'und  erfah- 
rungsgemUsscn  Grundlagen  und  ihre  Technik  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  animalen  Vaccination.    Tübingen  1884.  p.  158. 


—    126  — 


zNvanges  die  beiden  Länder  doch  nicht  in  unsere  Tabelle  aufgenommen 
und  den  anderen  Ländern  mit  Impfzwang  angereiht  haben,  so  geschah 
dies  aus  folgenden  Gründen.  In  der  Schweiz  sind  die  Impf  Verhältnisse 
ziemlich  verwickelter  Natur;  in  einzelnen  Kantonen  ist  Impfzwang,  m 
anderen  nicht  und  in  noch  anderen  ist  erst  vor  kurzem  der  Impfzwang 
aufgehoben  worden.  Da  nun  unser  Material  nicht  vollständigen  Auf- 
schluss  darüber  gibt,  ob  die  einzelnen  Individuen  Kantonen  mit  oder 
ohne  Impfzwang  angehören,  so  konnten  wir  die  für  die  Schweiz  berech- 
nete Quote  eben  nicht  zu  allgemeinen  Betrachtungen  verwerthen. 

Bezüglich  Russlands  liegen  die  Verhältnisse  gleichfalls  recht  eigen- 
thümlich.    In  diesem  Land  ist  Impfzwang,  aber  bei  den  eigenartigen 
Zuständen  dieses  Reiches,  seiner  grossen  räumlichen  Ausdehnung,  semer 
dünn  gesäeten  Bevölkerung  kann  der  Impfzwang  nicht  in  der  gewünschten 
Weise  durchgeführt  werden,  wenigstens  nicht  mit  Hülfe  der  Aerzte. 
Herr  College  Dohrowolsky  schreibt  mir  aus  Petersburg,  dass  für  die  Aus- 
fühi'ung  derVaccination  auf  dem  Lande  aus  Mangel  an  Aerzt«n  Laien 
herangezogen  werden  müssten.    Dieser  Umstand  lässt  den  Segen  des 
Impfzwanges  für  Russland  denn  doch  nicht  in  der  gewünschten  ^  eise 
2ur  Geltimg  gelangen,  denn  die  Ausführung  der  Impfung  ist  nun  em- 
mal  nicht  ein  Geschäft,  welches  Laienhänden  ohne  Weiteres  übertragen 
werden  darf  Pfeiffer^)  sagt  deshalb  auch,  dass  in  Russland  trotz  des 
Impfzwanges  das  Impfwesen  nur  mangelhaft  betrieben  werde.  Da  nun 
das  Gesetz  an  sich  noch  keinen  Schutz  gewährt,  sondern  immer  ^st  die 
richtige  Handhabung  desselben,  so  kann  es  uns  weiter  nicht  Wunder 
nehmen,  wenn  die  russischen  Blindenanstalten  einen  so  hohen  Prozent- 
satz an  Pockenblinden  besitzen. 

Jedenfalls  beweisen  unsere  Zusammenstellungen,  dass  in  den  Län- 
dern mit  und  ohne  Impfzwang  ein  ganz  bedeutender  Unterschied  m 
der  Zahl  der  Pockenblinden-Anstalts-Zöglinge  vorhanden  ist.  Angesichte 
solcher  Thatsachen  aber,  wie  sie  unser  Material  zu  Tage  gefördert  hat 
kann  für-  den  Opthalmologen  wohl  kaum  noch  der  gelmdeste  Zweifel 
darüber  bestehen,  auf  welche  Seite  er  sich  im  Kampf  um  die  Vacci- 
nation  zu  stellen  habe.  Der  Ophthalmologe  kann  und  darf  nrn-  em 
unbedingter  Anhänger  des  Impfzwanges  sein  und  wir  müssen  Fuchs  ) 
deshalb  aus  vollster  Seele  beistimmen,  wenn  er  die  Nothwend.gkeit  des 
Impfzwanges  so  lebhaft  betont.    Dass  die  Impfgesetzgebung,  betrachten 


;j  Fuöhsjie  Vrs.c^o  und  die  Verhütung  der  Blindheit  u.  s.  w. 


pag.  88. 


—    127  — 


wir  speciell  nur  die  deutscheu  Verhältnisse,  der  Verbesserung  fähig,  ja 
sogar  recht  bedürftig  sein  kann,  ist  eine  Frage,  welche  ausserhalb  des 
Rahmens  unserer  Untersuchung  liegt.  Uns  kommt  es  an  dieser  Stelle 
lediglich  nur  darauf  an,  die  absolute  und  unerlässliche  Nothwendigkeit 
des  Impfzwanges  auf  das  Energischste  zu  betonen  und  auf  das  Ein- 
diinglichste  auf  die  Lehren  hinzuweisen,  welche  die  Ophthalmologie  über 
den  Erfolg  imd  die  Bedeutung  des  Impfzwanges  verkünden  rauss.  Da 
wir  nicht  gesonnen  sind,  uns  in  den  Streit,  welcher  im  Augenblick 
immer  noch  um  den  Impfzwang  tobt,  tiefer  einzulassen,  als  es  unsere 
Blindheitsstudien  gebieten,  so  könnten  wir  eigentlich  es  bei  dem  Ge- 
sagten bewenden  lassen.  Wir  wollen  aber  doch  noch  einer  erst  vor 
Km-zem  erschienenen  Arbeit  gedenken,  welche  Dr.  Lorinser  ^)  in  Wien 
gegen  den  Impfzwang  gerichtet  hat.  Dieser  Autor  sucht  die  günstigen 
Verhältnisse,  welche  gerade  bezüglich  der  Pockenerkrankungen  in  Deutsch- 
land herrschen,  dadurch  zu  erklären,  dass  er  meint,  die  epidemische 
Verbreitung  der  Diphtheritis  in  Deutschland  schliesse  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  die  Pocken  aus.  Nun  wir  hätten  Herrn  Kollegen  Lorinser 
ganz  gewiss  in  seinen  wissenschaftlichen  Anschauungen  ebensowenig 
gestört,  wie  wir  dies  den  anderen  Impfgegnern  gegenüber  auch  nicht 
für  unsere  Aufgabe  erachten.  Wenn  aber  Lorinser  des  Weiteren  sich 
zu  folgenden  Aeusserungen  versteigt :  „Es  scheint  der  Gesundheitszustand 
in  Wien  trotz  des  Mangels  der  Zwangsimpfung  immer  noch  viel  besser 
und  beneidenswerther  als  der  von  Berlin,  wo  die  Blatternfälle  nur  des- 
halb viel  seltener  sind,  weil  die  Diphtheritisepidemie  die  herrschende 
Rolle  spielt"  und  „Gegenüber  den  grossen  unerbittlichen  Naturgesetzen, 
nach  denen  Epidemieen  kommen  und  verschwinden,  erscheint  somit  die 
Impfung  und  der  Impfzwang  als  eine  müssige  Spielerei,  mit  welcher 
sich  ängstliche  Gemüther  beruhigen  und  täuschen  lassen",  so  halten 
wir  es  solchen  Aussprüchen  gegenüber  doch  für  unsere  Pflicht,  auf  das 
Nachdrücklichste  auf  die  Lehren ,  welche  uns  das  Studium  der  Blind- 
heit gibt,  hinzuweisen.  Kollege  Lorinser  hätte  vielleicht  weniger  zu- 
versichtlich die  sanitären  Verhältnisse  seiner  Heimath  als  besonders 
beneidenswerth  hingestellt,  wenn  er  gewusst  hätte,  dass  Oesterreich  unter 
allen  europäischen  Ländern  die  grösste  Quote  der  Pockenblindheit  in 
seinen  Blindenanstalten  zählt.  Und  vielleicht  hätte  Herr  Lorinser  des 
Weiteren  auch  den  Impfzwang  nicht  eine  „müssige  Spielerei"  genannt, 
wenn  er  gewusst  hätte,  dass  gerade  diejenigen  Länder,  welche  Impf- 
zwang besitzen,  in  der  beneidenswerthen  Lage  sind,  in  ihren  Blinden- 

')  Lorinser,  Gegen  den  Impfzwang.    Wiener  medicinische  Wochen- 
schrift.  1885.  Nr.  49.  p.  1512. 


—    128  — 

Anstalten  eine  verschwindend  kleine  Zahl  von  Pockenblinden  zu  be- 
herbergen. 

Kurve  der  Erblindungsgefahr  durch  Pocken  in  den  ersten 

15  Lebensjahren. 


22% 


20". 


J7' 


M 
13% 


JO'. 


3\ 
8% 
7% 
6' 


3% 
1% 

Ii. 
6% 


iO    11     ja    J3     it  liSJdltr 
2?% 


71% 


20% 


19% 


17% 


16% 


ß'-o 

11% 


9% 
7% 

S% 
4% 


3% 
2% 


  ■   \o% 

I  2  3  -t  5  ff  7  S  9  W  Ji^  1^  Jl,  ^*  J^^°^ 
3jß   mss  mJ  2g<g  H,n  S.m  J-t*2  12^  8.00  8.00     Tncac  ^jos^rmat  G.ts'mna. 


Fig.  7. 

Jedenfalls  wird  man  in  dem  weiteren  Streit  um  den  Impfzwang 
von  jetzt  an  das  Studium  der  Blindlieitsverhältnisse  mehr  heranziehen 
müssen,  als  bisher,  wo.  man  gerade  diese  so  wichtigen  Verhältnisse  so 
gut  wie  ganz  vernachlässigt  hat.  Besonders  wünschenswerth  wäxe  es, 
wenn  man  planmässige  Blindeuuntersuchungen  grösserer  Gebiete,  etwa 
von  Provinzen,  vornehmen  wollte,  denn  gerade  durch  solche  Unter- 


—    129  — 


suchuDgen  würden  unsere  Kenntnisse  über  die  auf  en-  und  epidemischen 
Erkrankungen  beruhenden  Erblindungsformen  in  hohem  Grade  gefördert 
werden. 

Die  Thatsache,  dass  die  Quote  der  Pockenblindheit  in  den  ver- 
schiedenen europäischen  Ländern  so  ausgedehnte  Schwankungen  auf- 
Aveist,  werden  wir  nicht  aus  den  Augen  verlieren  dürfen;  sie  lehrt  uns, 
dass  die  Quote  von  22,58  7n ,  welche  die  Pockenerblindung  unter  den 
Allgememerkrankungen  unseres  Materials  i)  besitzt  und  die  von  7,49  "U 
welche  ihr  im  Gebiet  der  Jugendblindheit  überhaupt  zufällt,^)  nur  als 
em  ganz  allgemeiner  numerischer  Werth  angesehen  werden'  darf,  ein 
Werth,  der  nur  dann  Gültigkeit  hat,  wenn  man  die  Jugendblindheit  im 
Allgemeinen  betrachtet,  ohne  Rücksicht  aui  die  Abstammung  der  Bünden. 
Die  genannten  Quoten  unseres  Materials  haben,  wenn  wir  so  sagen 
dürfen,  eine  internationale  Bedeutung,  welche  dann  erst  wieder  für  die 
emzelnen  Länder  einer  besonderen  Richtigstellung  bedürfen. 

Ueber  beide  Geschlechter  vertheilt  sich  die  Pockenblindheit  an- 
nähernd in  der  gleichen  Weise. 

Schliesslich  möchten  wir  noch  der  Verbreitung  der  Poeken blindheit 
über  die  verschiedenen  Altersklassen  unseres  Materials  gedenken.  Darnach 
tritt  die  grösste  Anzahl  der  Pockenerblindungen  zwischen  dem  zweiten  und 
achten  Lebensjahr  ein,  und  nimmt  von  da  an  ziemlich  rasch  ab;  die 
vorstehende  Kurve  bringt  diese  Verhältnisse  graphisch  zur  Darstellung. 

Morbilli  nehmen  unter  den  Allgemeinerkrankungen  den  vierten 
Rang  der  Blindheitserzeuger  mit  10,73  "/o  ein,  während  ihr  amaurotischer 
Werth  für  die  Jugendblindheit  im  Allgemeinen  nur  3,56  7o  beträgt. 

Die  Erblindung  trat  ein  entweder  durch  Zerstörung  der  Cornea  in 
82,45  7o  sämmtlicher  Fälle,  oder  dm-ch  Erkrankungen  des  Uvealtraktus 
in  3,50  Vo  oder  endlich  durch  Erkrankungen  des  Nervus  opticus  in 
8,77  7o,  3)  welche  mit  Atrophia  nervi  optici  endigten.  Der  Ausbruch 
einer  Meningitis  scheint  das  Mittelglied  zwischen  dem  Exanthem  und 
der  Erkrankung  des  Sehnerven  wohl  in  den  meisten  Fällen  zu  bilden, 
wie  dies  z.B.  von  den  AmchNagel^)  beschriebenen  Fällen  gilt.  Unter 
Umständen  kann  das  Exanthem  auch  zum  Ausbruch  einer  Tuberkulose, 
resp.  einer  tuberkulösen  Meningitis  Veranlassung  geben,  welche  dann 

')  Man  vergleiche  Seite  115  dieser  Arbeit. 
*)  Man  vergleiche  Seite  13  dieser  Arbeit. 

')  In  5,26  7„  fehlen  die  näheren  Angaben  über  die  unmittelbare  Ursache 
der  Blindheit. 

*)  Nagel,  Die  Behandlung  der  Amaurosen  und  Amblyopien  mit 
»trychnin.    Tübingen  1871.  p.  54. 

Magnus,  Jugendblindheit.  g 


—    130  — 


wieder  Blindheit  bedingt.  Einen  solchen  Fall  habe  ich  bis  zum  Tode 
beobachten  und  durch  die  Sektion  erhärten  können.  Es  handelte  sich 
hier  um  einen  bis  dahin  gesunden  dreijährigen  Knaben,  welcher  an 

Kurve  der  ErLlindungsgefahr  durcli  Maseru  in  den  ersten 

15  Lebensjahren. 

Massstal):  8  mm  =  1  "/»• 


schweren  Masern  erlrankte.    Einige  Zeit  nach  Ucbcrstehen  des  Exan- 

bemerkte  die  Mutter  eine  Dnbchülflichkeit  in  den  Bern  n 
KMcs    welche  sie  aber  als  Schwächezustände  in  Folge  der  schweren 
MTstmalah,  als  aber  zu  diesen  Störungen  des  Gehens  s.ch  Sch.clen 


—    131  — 

(Strabismus  convergens  sinister),  Sehbeschwerden  und  eine  leichte  Ptosis 
rechts  gesellten,  brachte  die  Mutter  den  kleinen  Patienten  zu  mir.  Ich 
konnte  jetzt  ausser  den  bereits  genannten  Erscheinungen  noch  eine 
beiderseitige  Neuritis  konstatu:en.  Der  Fall  verlief  unter  meinen  Augen 
ziemlich  rasch.  Es  entwickelte  sich  totale  Ptosis  des  rechten  Auges, 
Lähmung  sämmtlicher  Aeste  des  Oculomotorius  auf  beiden  Augen,  Imks 
ausserdem  noch  Abducenslähmung.  Die  Neuritis  ging  allmählich  in 
Aü-ophie  über  und  schliesslich  ti-aten  auch  noch  Lähmungserscheinungen 
der  linken  oberen  Extremität  auf.  Nach  etwa  6  Monaten  von  der  ersten 
Vorstellung  bei  mir  gerechnet  war  absolute  Atrophia  optica  vorhanden. 
Das  Kind  stai-b  schliesslich  und  die  Sektion  ergab  eine  tuberkulöse 
Meningitis. 

Die  Erblindung  kann  übrigens  auch  noch  auf  Grund  einer  andern 
Komplikation  erfolgen,  nämlich  durch  Diphtheritis.  Unter  unserm  Material 
von  114  Masernblinden  finden  sich  3  derartige  Fälle,  d.  h.  also  2,63  7o. 

Eine  Bevorzugung  des  Geschlechtes  lässt  sich  bei  der  Masernblind- 
heit nicht  nachweisen. 

Ueber  die  einzelnen  Lebensalter  vertheilt  sich  die  Erblindimg  durch 
Masern  in  der  Weise,  dass  mit  dem  zweiten  Lebensjahr  bereits  eine 
beträchtliche  Steigerung  der  Erblindungsgefahr  eintritt,  welche  bis  gegen 
das  vierte  Jahr  hin  anhält  und  dann  allmählich  abfällt,  wie  dies  die 
vorstehende  Kurve  darstellt. 

S  Carlatina  nimmt  unter  den  Allgemeinerkrankungen  die  fünfte 
Stelle  als  Blindheitsursache  ein  mit  9,13  'U.  Für  die  Jugendblindheit 
im  Allgemeinen  beansprucht  Scharlach  3,03  7o.  Die  zur  Erblindung 
führenden  pathologischen  Vorgänge  sind  zu  suchen  in  der  Cornea,  dem 
Aderhauttraktus  und  dem  Nervus  opticus;  und  zwar  entfallen')  auf 
die  Hornhaut  83,50  7»,  auf  Iris  und  Chorioidea  9,27  7o  und  auf  den 
Sehnerv  6,16  7o.  Besonders  hervorzuheben  ist  noch  die  Komplikation 
mit  Diphtheritis;  aus  ihr  ging  in  11  Fällen,  d.  h.  in  11,34  7«  totale 
Amaurose  hervor. 

Mädchen  und  Knaben  betheUigen  sich  in  der  gleichen  Weise  an 
der  Scharlachblindheit. 

Ueber  die  einzelnen  Lebensalter  vertheilt  sich  die  Scarlatinaamaui-ose 
in  der  Weise,  dass  das  Maximum  zwischen  das  dritte  und  achte  bis 
zehnte  Jahr  fällt;  nachher  findet  ein  ziemlich  schneller  Abfall  der  Er- 
blindungsgefahr statt. 


*)  In  1,03  7„  fehlen  die  nälieieu  Angaben. 


9* 


—    132  — 


Typhus  steuert  zu  der  Jugeudblindheit  im  Allgemeinen  nur  1,00  "/o 
und  unter  den  Körperkrankheiten  nimmt  er  mit  3,01  "/„  den  sechsten  Platz 
ein.  Während  bei  den  anderen  akuten  Exanthemen  die  Zerstörungen  der 
Cornea,  mochten  dieselben  nun  primär  in  der  Hornhaut  oder  sekundär 
durch  blennorrhoische  oder  diphtheritische  Prozesse  der  Konjunktiva 
entstehen,  weitaus  die  Mehrzahl  der  Erblindungen  lieferten,  liegen  die 
Verhältnisse  beim  Typhus  etwas  anders.  Hier  entfallen  auf  die  Cornea 
nur  46,56  "/o,  während  auf  den  Sehnerven  28,12  'Vo  und  auf  die  Iris 
und  Aderhaut  18,88  "/o  kommen. 

Die  Vertheilung  der  Typhusblindheit  über  beide  Geschlechter  er- 
folgt in  der  gleichen  Weise. 

In  dreien  unserer  Fälle  entwickelte  sich  zugleich  mit  der  Blindheit 
auch  noch  Taubheit,  resp.  Schwerhörigkeit. 

Syphilis  betheiligt  sich  an  der  Jugendblindheit  nm-  mit  1  Vo 
und  zwar  vertheilen  sich  die  Fälle  in  der  Weise,  dass  kommen  auf: 
Sehnerv  und  Retina    18,75  7o        Aderhaut.    .    .    .  31,25"/» 
Cornea      ....    18,75,,  Unbekannt    .    .    .  31,25,, 

Mit  Bestimmtheit  konnte  in  53  "U  aller  unserer  Fälle  die  Syphilis 
als  eine  hereditäre  erkannt  werden;  für  den  Rest  waren  sichere  Nach- 
richten über  den  Gesundheitszustand  der  Erzeuger  nicht  zu  erhalten. 

Besonders  bemerkenswerth  ist  eine  Beobachtung,  in  welcher  zwei 
Töchter  eines  syphilitischen  Vaters  beide  dm-chlridochorioiditis  erblindeten. 

T  u  s  s  i  s  c  0  n  V  ul  s  i v  a  ist  nur  mit  4  Erblindungsfällen  in  unserem 
Material  vertreten  und  zwar  werden  in  zweien  derselben  Vereiteining 
der  Hornhäute  und  in  den  zwei  anderen  Atrophie  der  Sehnerven  als 
Blindheitsursache  bezeichnet.  Diese  letzteren  Fälle  erfahren  eme  Be- 
stätigung durch  die  jüngst  veröflfentlichte  Beobachtung  von  Callan  } 
der  gleichfalls  Atrophie  des  Opticus  durch  Keuchhusten  entstehen  sah. 
Nach  der  Anschauung  dieses  Autors  soll  eine  durch  Gehirnkongestion 
bewirkte  Neuritis  in  den  fraglichen  Fällen  das  Bindeglied  zwischen 
Keuchhusten  und  Blindheit  darstellen. 

Atrophie  nach  Blutungen  finden  wir  in  unserem  Material 
zweimal.  In  dem  einen  Fall  erblindete  ein  neunzehnjähriges  Mädchen  nach 
heftigem  Blutbrechen  ganz  akut  und  in  dem  andern  Fall  handelte  es 
sich  um  ein  dreizehnjähriges  Mädchen,  welches  zuerst  profuses  Nasen- 
bluten, alsdann  mehreremale  Haeraatemesis  hatte  und  zwei  Tage  nach 

n  In  6.28  7„  fehlen  die  nilheren  Angaben. 

^)  Ca?/a«,  Atrophie  beider  Sehnerven  in  Folge  von  Keuch- 
husten.   Amer.  Journ.  of  Ophth.  1884.  October. 


—    133  — 


der  letzten  Blutung  erblindete.  In  diesem  letzten  Fall  trat  auch  noch 
eine  Lähmung  der  ganzen  rechten  Seite  hinzu,  welche  dauernd  blieb. 

Intermittens  und  Cholera  sind  je  mit  einem  Fall  vertreten 
und  zwar  wird  bei  der  erstereu  Erkrankung  Nem-itis,  bei  der  Cholera 
Iridochorioiditis  als  Blindheitsursache  angegeben. 

Morbus  maculosus  führte  einmal  durch  Blutergüsse  in  den 
Olaskörper  zur  Erblindung. 

Phlegmone  des  orbitalen  Zellgewebes  führte  in  einem 
Fall  zur  Sehnervenatrophie.  Es  scheint  sich  hierbei  um  eine  Infektion 
von  der  Lippe  ausgehend  gehandelt  zu  haben. 

Bleivergiftung  liefert  zwei  Fälle;  beide  betreffen  Personen, 
welche  im  siebenzehnten  resp.  neunzehnten  Jahr  in  Folge  ihrer  Berufs- 
thätigkeit  als  Maler  erblindeten.  Atrophie  des  Opticus  wird  beide  Male 
als  nächste  Ursache  der  Amaurose  angegeben. 


Sechstes  Kapitel. 


Die  Atrophia  nervi  optici  in  den  ersten  zwanzig 

Lebensjahren. 

Die  ätiologischen  Momente ,  welche  im  Laufe  der  ersten  zwanzig 
Lebensjahre  zur  Entwickelung  der  Atrophie  des  Sehnerven  Veranlassung 
geben  können,  sind  recht  zahlreich.  In  den  verschiedensten  Gruppen 
und  bei  den  verschiedensten  Formen  der  Jugendblindheit  sind  wir  als 
Ursache  des  Erblindens  der  Atrophia  nei-vi  optici  begegnet.  Für  einen 
vollständigen  Ueberblick  über  alle  Formen  der  Sehnervenatrophie,  wie 
sie  unser  Material  enthält,  dürfte  desshalb  eine  ZusammensteUung  aUer 
von  uns  gesammelten  Fälle  sehr  empfehlenswerth  sein.  Im  Ganzen 
enthält  unser  Material  unter  3204  Fällen  doppelseitiger,  während  der 
ersten  zwanzig  Jahre  entstandener  Erblindungen  470  Sehnervenatrophien, 

d.  h.  also  14,66ö/o.  .  , 

Es  gruppiren  sich  nun  diese  unsere  470  Fälle  ihrem  prozentai-ischen 

Werth  nach  in  folgender  Weise:  ^ 
Cerebrale  Sehnervenatrophie  45,10  °/o 

Kongenitale    „  „   " 

Genuine  einfache  progressive  Sehnervenatrophie  .  12,55  „ 

Sehnervenatrophie  nach  Kopfverletzungen     .    .  5,53  „ 

Masern   2,12  „ 

Typhus    1,91  » 

Scharlach   1,27  „ 

„     Syphilis    1,27  „ 

„     Papillitis   0.85  „ 

Pocken   0,63 

Blutungen   0.42 

Keuchhusten    ....  0,42 


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„  " 

»  "  _       -  ..... 


„  .»  " 

,J  .»  " 


—     135  — 


Sehnervenatrophie  nach  Bleiintoxikation   .    .    .  0,42  "/„ 

„         „  „     Tabakintoxikatiou    .    .  0,21  „ 

„         „  „     Phlegmone  der  Orbita  .  0,21  „ 

„         „  „     Intennittens    ....  0,21  „ 

„         „        aus  unbekannter  Ursache      .  2,76  „ 


Es  sei  uns  nun  noch  gestattet,  dieser  unserer  Reihe  von  Sehnerven- 
atrophien eine  andere  Reihe  gegenüberzustellen ,  deren  Entwickelung 
vorwiegend  jenseits  des  zwanzigsten  Lebensjahres  liegt.  Uldhojf^)  und 
Büueiiein  -)  haben  Zusammenstellungen  von  Sehnervenatrophien  geliefert, 
welche  zwar  nicht  ausschliesslich  nur  eine  bestimmte  Altersklasse  be- 
rücksichtigen, aber  doch  der  Hauptsache  nach  nur  die  späteren  Lebens- 
abschnitte, wenigstens  die  jenseits  der  zweiten  Lebensdecade  liegenden 
Jahi'e  umfassen.  Aus  einer  Gegenüberstellung  der  von  den  genannten  > 
Autoren  und  der  von  uns  gesammelten  Atrophien  werden  sich  doch 
gewisse  Punkte  ergeben,  welche  auf  die  Vertheilung  der  einzelnen  Atrophie- 
formen über  die  verschiedenen  Lebensabschnitte  ein  charakteristisches 
Licht  werfen.  Aus  diesem  Grunde  wollen  wir  demnach  jetzt  die  Liste 
der  Ükthqff'-Bäuerlein'schen  Atrophien  mittheilen.  Beide  Autoren  haben 
im  Ganzen   219  Fälle   doppelseitiger  Sehnervenatrophien  gesammelt. 


welche  sich  nach  ihrer  prozentaiüschen  Bedeutung  anordnen  wie  folgt: 

Cerebrale  Sehnervenatrophie   26,94  7o 

Spinale          „          „    26,48  „ 

Genuine  einfache  progressive  Sehnerveuatrophie  .....  20,54  „ 

Papillitische  Sehnervenatrophie   7,75  „ 

Atrophie  in  Folge  eines  pathologischen  Vorganges  in  der  Orbita  3,65  „ 

Kongenitale  Sehnervenatrophie   3,19  „ 

Atrophie  bei  Dementia  paralytica   3,19  „ 

„       nach  Blutungen   2,28  „ 

„         „     Tabakiutoxikation    1,82  „ 

„     Trauma   1,36  „ 

„         „     Bleiintoxikation     .    .    0,91  „ 

„       bei  epileptiformen  Anfällen   0,91  „ 

„       in  Folge  von  Nephritis   0,45  „ 

„       bei  Railway-Spine   0,45  „ 


')  Uhthoff,  Beitrag  zur  S  ehn er venat  r o p  h ie.  Greife's  Archiv  für 
Ophthalmologie.  XXVI.  Heft  1.  p.  244.  —  Schüler  und  Uhthoff',  Beiträge 
zur  Pathologie  des  Sehnerven  und  der  Netzhaut  bei  A  11  ge m ei  n- 
erkrankungen  nebst  einer  Operations-Statistik  1882/3.   Berlin  1884. 

2)  Bäuerkin  a.  _a.  0.  p.  25. 


—    136  — 

Wenn  raan  die  beiden  Reihen  mit  einander  vergleicht,  so  wird  man 
ohne  besondere  Mühe  die  charakteristischen  Eigenthümlichkeiten  beider 
bemerken.  Um  aber  das  Verhältniss,  in  welchem  die  wichtigsten  und 
ergiebigsten  Formen  der  Sehnervenatropliie  in  den  Lebensphasen  vor 
xmd  nach  dem  zwanzigsten  Jahre  zu  einander  stehen,  recht  klar  zur 
Anschauung  zu  bringen,  habe  ich  eine  graphische  Darstellung  entworfen, 
welche  die  prozentarischen  Werthe  der  fraglichen  Formen  in  unmittel- 
barster Weise  mit  einander  vergleichen  lässt. 

Graphische  Darstellung  des  prozentarisclien  Verhältnisses,  in  welchem 
die  wichtigsten  Formen  der  Atropliia  nervi  optici  vor  und  nach  dem 

zwanzigsten  Lebensjahre  auftreten. 
Die  scliraffii-teu  Balken  entspreclien  der  Erblindung  vor,  die  schwarzen  Balken 
der  Erblindung  nach  dem  zwanzigsten  Lebensjahr. 


l'Mg.  9. 


Siebentes  Kapitel. 


Die  Beziehungen  zwischen  Blindheit  und  den  einzelnen 
Altersstufen  während  der  ersten  zwanzig  Lebensjahre. 

Die  Grösse  der  Quote,  mit  welcher  sich  die  einzelnen  Lebensjahre 
an  den  verschiedenen  Erblindungsformen  betheiligen,  haben  wir  schon 
bei  der  Besprechung  der  einzelnen  Blindheitsforraen  erwähnt;  wo  unser 
Material  auslangte,  haben  wir  in  Form  von  Kurven  die  Summe  der 
Erblindungen,   welche  die  einzelnen  Lebensjahre  für  die  verschiedenen 
Blindheitsformen  ergaben,  darzustellen  versucht.    Natürlich  gelten  alle 
diese  Kurven  lediglich  nur  für  unser  Material,  bewegen  sich  nur  in 
dem  Kähmen,  welcher  uns  durch  die  numerische  Beschaffenheit  unserer 
Untersuchungsreihe  aufgezwungen  worden  ist.    Dürfte  man  annehmen 
dass  aUe  Lebensjahre,  vom  ersten  bis  zum  zwanzigsten,  entsprechend  der 
ihnen  mnewohnenden  Erblindungsgefahr  Zöglinge  in  die  Blinden-Anstalten 
entsenden,  so  würde  es  ganz  gewiss  gestattet  sein,  aus  den  bei  den  An- 
staltspfleghngen  ermittelten  Erblindungsui-sachen  und  Erblindungsterminen 
gewisse  allgemeine  Schlüsse  bezüglich  der  Erblindungsneigung  in  den 
emzelnen  Lebensjahren  zu  ziehen.    Einer  einzelnen  Anstalt  gegenüber 
wäre  man  aber  zu  solch'  einem  Beginnen  unter  keinen  Umständen  be- 
rechtigt, denn  bei  der  beschränkten  Zahl  der  in  einer  Anstalt  befind- 
lichen ZögUnge  wirkt  der  ZufaU  zu  bedeutend  mit.    Anders  liegen  die 
Verhaltnisse,  wenn  man  über  eine  grosse  Anzahl  von  Anstalten  verfügt 
wie  wir  in  unserem  Material;  alsdann  gleichen  sich  die  Zufälligkeiten 
mehr  oder  mmder  aus,  und  man  könnte  wohl  im  Allgemeinen  zu  dem 
Schluss  gelangen,  dass  die  Erblindungsgefahren  der  einzelnen  Lebens- 
jahre und  Erbhndungsformen  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
in^nem  grossen  Material  von  Anstaltszöglingen  zum  Ausdruck  kommen 
dürften.  Allerdings  immer  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade.  Für  die 


—    138  — 

nach  dem  zehnten  bis  fünfzehnten  Jahr  erblindeten  Personen  wird 
nämlich  die  Aufnahme  in  eine  Blinden -Erziehungs- Anstalt  zweifellos 
viel  weniger  oft  nachgesucht,  als  wie  für  die  vor  dem  genannten  Leliens- 
termin  erblindeten  Kinder.  Personen,  welche  nach  dem  fünfzehnten 
Jahr  das  Sehvermögen  einbüssen,  haben  ja  meist  schon  emen  gewissen 

Graphische  Darstelhmg  der  3Ienge  von  Erblindungen,  welche  auf 
die  einzelnen  Lebensjahre  in  unserem  Material  entfallen. 

Massstab  3  mm  =  1  7n- 


Fig.  10. 

Bildu,=gsgrad  erreicht  und  begnügen  sieh  da^n  häuBg  mit  demselben. 
Sind  sfe  nieht  dureh  ihre  pekuniären  Verhältnisse  gezwungen ,  irgend 
etoe  ihren  Erwerb  sicherstellende  Fertigkeit  zu  erlernen  .^rden  s,e  «oU 
den  Anstalten  fernbleiben.  Anders  liegen  dagegen  d.e  Verhältnisse  fu 
dteMhblindeu;  diesen  fehlt  die  geistige  Erziehung  meistens  ganz  oder 


—    139  — 


fast  ganz  und  dai-um  werden  sie  den  Blinden-Erziehuugs-Anstalten  ge- 
wiss in  besonders  reichlicher  Menge  zuströmen.  Diese  Verhältnisse  muss 
man  unbedingt  im  Auge  behalten,  wenn  man  die  Erblindungstermine, 
die  man  bei  einer  grösseren  Anzahl  von  Anstaltspflegliugen  ermittelt 
hat,  untersucht.  Mit  Rücksicht  auf  diese  soeben  erörterten  Umstände 
muss  man  desshalb  auch  die  umstehende  Kurve  betrachten;  sie  stellt 
lediglich  nur  die  Grösse  der  Erblindungsbewegung  für  die  einzelnen 
Lebensjahre  innerhalb  des  Rahmens  unseres  Materials  dar. 

Da  mit  der  vorstehenden  Kurve  also  immer  nur  ein  recht  be- 
schränkter Einblick  in  die  Erblindungsneigung  der  ersten  zwanzig  Lebens- 
jahre gestattet  ist,  so  werden  wir  die  Beantwortung  der  Frage :  welcher 
Erblindungsgefahr  der  Mensch  von  seinem  Eintritt  ins  Leben  bis  zum 
Abschluss  der  zweiten  Lebensdecade  unterworfen  sei  ?  auf  einem  anderen 
Wege  suchen  müssen.  Und  zwar  steht  uns  hierfür  eigentlich  nur  eine 
Möglichkeit  offen,  nämlich  die,  eine  topographisch  begrenzte  Oertlich- 
keit,  also  etwa  einen  Regierungsbezirk  oder  eine  Grossstadt  u.  dgl.  m. 
auf  ihren  Blindengehalt  zu  untersuchen.  Indem  wir  Zahl,  Alter  und 
Erblindungstermin  der  bei  einer  solchen  Gelegenheit  ermittelten  Blinden 
mit  dem  Altersaufbau  der  Bevölkerung  überhaupt  in  Verbindung  bringen, 
kann  es  gelingen,  für  die  einzelnen  Jahrgänge  einen  numerischen  Aus- 
druck der  ihnen  innewohnenden  Erblindungsgefahr  zu  erhalten.  Eine 
derartige  Untersuchung  habe  ich  vor  zwei  Jahren  hier  in  Breslau  durch- 
geführt und  muss  ich  auf  diese  Untersuchung  verweisen.  Wir  wollen 
uns  aber  nicht  damit  begnügen,  auf  unsere  damals  für  die  ersten 
zwanzig  Lebensjahre  berechnete  Erblindungsgefahr  hinzuweisen,  vielmehr 
wollen  wir  uns  über  die  Methode  der  Feststellung  der  für  jede  Alters- 
klasse entfallenden  Erblindungsgefahr  des  Näheren  auslassen.  Veranlasst 
werden  wir  hierzu  durch  eine  Arbeit,  welche  jüngst  Herr  Dr.  Kersch- 
haumer^)  veröffentlicht  hat. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zunächst  einmal,  was  wir  bei  der  Blinden- 
untersuchung  einer  topographisch  beschränkten  Oertlichkeit  an  positiven 
Thatsachen  finden  können.  Wir  werden  hierbei  also,  behalten  wir  bei- 
spielshalber einmal  nur  die  Erblindungsgefahr  eines  bestimmten  Lebens- 
abschnittes, also  etwa  der  ersten  10  Lebensjahre,  im  Auge,  folgendes 
finden.  Wir  werden  ermitteln  wie  viel  die  untersuchte  Oertlichkeit 
überhaupt  Personen  zählt,  welche  zwischen  dem  1.  und  10.  Lebensjahre 

')  Kerschbatmer ,  Die  Blinden  des  Merz  oglh  u  ms  Salzburg  nebst 
Bemerkungen  über  die  Verbreitung  und  die  Ursacbon  der  Blind- 
heit im  Allgemeinen.    Wiesbaden  188G. 


—    140  — 


erblindet  sind  und  wir  werden  ferner  finden,  in  welchem  Alter  diese 
Blinden  am  Tage  der  Untersuchung  stehen.  Wir  können  das  Material 
also  über  die  einzelnen  Lebensdecaden  der  untersuchten  Bevölkerung 
vertheilen  und  sagen:  unter  den  untersuchten  Personen  sind  z.  B.  x 
befindlich,  die  gegenwärtig  zwischen  l  und  10  Jahr  stehen  und  auch 
zwischen  1  und  10  Jahr  erblindet  sind;   es  sind  sodann  ^J  Personen 
vorhanden,  die  gegenwärtig  zwischen  10  und  20  Lebensjahr  stehen, 
aber  doch  zwischen  1  und  10  Jahr  erblindet  sind;  ferner  finden  wir 
z  Individuen,  die  sich  gegenwärtig  zwischen  30  und  40  Jahr  befinden, 
aber  erblindet  sind  zwischen  1  und  10  Jahr;  sodann  werden  w  Per- 
sonen gefunden  werden,    welche  zwischen  50   und  60  Jahr  stehen, 
aber  zwischen    1  und  10  Jahr  erblindet  sind;   v  Personen  werden 
zwischen  60  und  70  alt  sein,  aber  ihr  Augenlicht  verloren  haben  zwischen 
1  und  10  Jahr  und  endlich  werden  ?•  Individuen  zwischen   70  und 
80  Jahre  alt  und  zwischen    1   und  10  Jahr  erblindet   sein.  Und 
genau  die  nämlichen  Erscheinungen  lassen  sich  bei  den  in  den  anderen 
Lebensdecaden  eintretenden  Erblindungen  nachweisen;  auch  diese  werden 
sich  über  die  verschiedenen  Altersstufen  des  untersuchten  Materials  ver- 
theilen lassen,  wie  wir  dies  soeben  mit  den  aus  der  ersten  Lebensdecade 
stammenden  Erblindungen  gethan  haben. 

Gehen  wir  nun  einen  Schritt  weiter  und  bedachten,  welche  Schlüsse 
wir  wohl  dai-aus  ziehen  dürfen,  wenn  wir  wissen,  in  welcher  Weise  die  in 
einer  bestimmten  Lebensdecade,  z.  B.  der  ersten,  erfolgten  Erblmdungen 
sich  über  die  gesammte  untersuchte  Bevölkerung  vertheilen.  Könnten 
wir  annehmen,  dass  die  Sterblichkeit  der  Blinden  und  Sehenden  die 
nämliche  wär,e,  so  müsste  der  Gehalt,  welchen  die  einzelnen  Lebens- 
jahrzehnte der  Bevölkerung  an  solchen  Personen  zeigen,  die  in  der 
ersten  Lebensdecade  erblindet  sind,  einen  unmittelbaren  Rückschluss 
auf  die  Erblindungsgefahr  gestatten,  in  welcher  die  den  verschiedenen 
Lebensjahrzehnten  angehörenden  Individuen  geschwebt  haben,  als  sie  m 
der  ersten  Decade  ihres  Daseins  gestanden  haben.  Blinde  und  Sehende 
würden  bei  gleicher  Lebensdauer  ja  doch  genau  in  demselben  Verhält- 
niss  absterben  und  desshalb  müsste  jedes  Lebensjahrzehnt  einen  Gehalt 
an  Personen,  die  zwischen  1  und  10  Lebensjahr  erblindet  smd,  zeigen, 
welcher  in  engster  Wechselbeziehung  zu  der  Erblindungsgefahr  der  ersten 
Lebensdecade  stehen,  als  ein  direkter  Ausdruck  derselben  gelten  müsste. 
Wenn  ich  also  durch  Untersuchung  kennen  gelernt  habe,  wie  viel  jede 
Generation  der  Bevölkerung  Personen  enthält,  welche  zwischen  1  und 
10  Lebensjahr  erblindet  sind,  und  wenn  ich  die  so  gefundenen  Zahlen 
in  Verbindung  setze  mit  der  Gesammtzahl  der  Bevölkerung,  so  wurde 


—     141  — 


ich,  aber  immer  vorausgesetzt  die  gleiche  Lebensdauer  der  Blinden  und 
Sehenden ,  ohne  Mühe  berechnen  können ,  wie  viel  von  je  Hundert, 
Tausend  oder  Zehntausend  der  Gesamratbevölkerung  zwischen  1  und 
10  Jahren  das  Augenlicht  verloren  haben,  ^)  Ich  würde  aber  auch  den 
aus  der  ersten  Lebensdecade  stammenden  Blindengehalt  jeder  einzelnen 
höheren  Altersgruppe  separat  mit  deren  Gehalt  an  Lebenden  in  Beziehung 
bringen  und  so  die  Erblindungsgefahr  berechnen  können,  welche  für 
jede  einzelne  höhere  Altersgruppe  beim  Dui-chleben  der  ersten  Decade 
vorhanden  gewesen  ist.  Kerschbaumer'^)  nennt  die  so  gewonnenen  Werthe 
den  Ausdruck  der  vollen  oder  maximalen  Erblindungsgefahr.  Bringe 
ich  ferner  die  bei  der  Untersuchung  zwischen  1   und  10  Jahre  alten 
Blinden  mit  dem  Gehalt  der  ersten  Lebensdecade  an  Lebenden  in  Be- 
ziehung, so  erhalte  ich  nur  die  Gefahr,  welche  die  Angehörigen  der 
ersten  Decade  bis  zum  Termin  unserer  Untersuchung  unterworfen  waren 
und  diesen  Werth  nennt  Kerschbaumer  den  mittleren  Werth  der  Er- 
blindungsgefahr. 3)  Die  durchschnittliche  Gefahr  des  Erblindens  4)  während 
der  ersten  Decade  würde  dann  des  Weiteren  in  der  Weise  gewonnen, 
dass  die  Gesammtzahl  der  in  der  ersten  Decade  Erblindeten  in  Ver- 
bindung gesetzt  würde  mit  der  Gesammtzahl  der  Bevölkerung.  In 
dieser  Weise  ist  früher  Mayr  und  jetzt  aufs  Neue  wieder  Kersch- 
baumer bei  der  Berechnung  der  Erblindungsgefahr  der  verschiedenen 
Lebensperioden  vorgegangen.    Kerschbaumer  hat  das  von  uns  soeben 
kurz  skizzirte  Verfahren,  die  Erblindungsgefahr  der  einzelnen  Altersklassen 
zu  berechnen,  in  seinem  Werk  in  höchst  klarer  und  lichtvoller  Weise 
zur  Darstellung  gebracht  und  ist  derselbe,  stellt  man  sich  lediglich  nur 
auf  den  statistischen  Standpunkt  mit  seiner  Berechnungsmethode  grössten- 
theUs  wenigstens  im  Recht.    Anders  liegen  dagegen  die  Verhältnisse, 
wenn  man  sich  von  gewissen  medicinischen  Gesichtspunkten  leiten  lässt, 
nämlich  von  der  Rücksicht  auf  die  Lebensdauer  der  Blinden.  Kersch- 
baumer hat  zwar  diesen  Punkt  keineswegs  aus  dem  Auge  gelassen 
vielmehr  spricht  er  an  den  verschiedensten  Theilen  seiner  geistvollen' 
Studie  von  ihna,  doch  legt  er  ein  zu  geringes  Gewicht  auf  denselben, 
und  m  Folge  dessen  verlieren  alle  die  von  ihm  berechneten  Werthe 
nicht  unbeträchtlich  an  Sicherheit.  Da  wir  die  Lebensdauer  der  Blinden 
für  die  Berechnung  der  Erblindungsgefahr  von  nicht  zu  unterschätzender 

')  Man  vergleiche  Kersehhaumer  p  10 
')P.11. 
P-  13. 

*)  Kerschbaumer  p.  53. 


~     142  — 


Wichtigkeit  erachten,  wollen  wir  zuvörderst  kurz  auf  die  Absterbever- 
hältnisse der  Blinden  eingehen. 

Wie  ich  schon  bei  Gelegenheit  meiner  Untersuchung  der  Breslauer 
Blinden  bemerkt  habe,  hat  der  Verlust  des  Sehvermögens  an  sich  zwar 
keinen  unmittelbaren  Einfluss  auf  die  Lebensdauer,  aber  trotzdem  schemt 
doch  die  Lebensdauer  der  Blinden  kürzer  zu  sein,  als  wie  die  der 
Sehenden    Der  Grund  hierfür  liegt  entweder  in  gewissen  socialen  Ver- 
hältnissen, welche  zui- Erzeugung  bestimmter  Blindheitsformen  besonders 
reichlich  beisteuern,  oder  in  den  pathologischen  Verhältnissen,  welche 
die  Erblindung  hervorrufen.    Wir  wollen  dies  alsbald  an  einigen  be- 
sonders ergiebigen  Blindheitsformen  nachweisen.  Die  Blennorrhoea  neo- 
natorum ist  besonders  reichlich  vertreten  im  Proletariat  und  unter  den 
unehelich  Geborenen.  Die  Sterblichkeit  in  diesen  Kreisen  ist  aber  ganz 
besonders  gross  und  so  werden  demi  auch  verhältnissmässig  sehr  viele 
blennon-hoisch  erblindete  Kinder  vorzeitig  sterben.    Bei  den  durchj^^ 
hirnkrankheiten  erzeugten  Erblindungsformen  ist  eme  erhöhte  Sterblich- 
keitsgefahr  gleichfalls  vorhanden.    Man  vergleiche  nur  in  den  vorher- 
gehenden Kapiteln  dieser  Arbeit  die  Belastungen,  welche  die  cerebrale 
Imaurose  sonst  noch  an  den  Blinden  zu  Tage  fördext,  nämlich  Lahm- 
ungen, Störung  der  geistigen  Fähigkeiten,  krampfartige  Zufälle  u.  dgl.  m. 
und  man  wird  einräumen  müssen,  dass  unter  den  Blinden  mit  cere- 
braler Amaurose  zweifellos  eine  erhöhte  Sterblichkeit  herrschen  muss. 
Da  Blennorrhoe  und  cerebrale  Krankheiten  aber  die  ergiebigsten  Blmd- 
heitsquellen  der  ersten  Lebensdecade  sind,  so  wird  es  ^^^f^^^'^^'^^^' 
die  Sterblichkeit  der  in  den  ersten  zehn  Lebensjahren  Erblindeten  un- 
bedingt viel  grösser  sein  muss,  als  die  der  Sehenden.  Die  m  der  ersten 
Lebensdecade  erblindeten  Personen,  welche  ich  bei  einer  Untersuchimg 
in  allen  Altersklassen  der  Bevölkerung  auffinde,  smd  desshalb  mn-  em 
Bruchtheil  der  wirklich  in  dieser  Decade  Erblindeten,    diesen  Verli^t 
an  Blinden,  welcher  die  grössere  Sterblichkeit  gewisser  Blmdheitsformen 
_  und  zwar  sind  dies  gerade  die  ergiebigsten  -  bedmgt,  darf  ich 
nun  aber  bei  Berechnung  der  Erblindungsgefahr  durchaus  nicht  ausser 
Acht  lassen.    Kerschbaumer  weist  zwar  wiederholt  auf  diesen  di^^ 
vorzeitiges  Absterben  in  Abgang  gekommenen  Theil  der  Blinden  bm^ 
trifft  aber  bei  seinen  Berechnungen  niemals  ernstliche  Massregeln,  um 
difem  Verlust  rechnerisch  gerecht  zu  werden.    Und  das  erach^n  wir 
für  einen  Mangel  seiner  sonst  so  vortrefflichen  Darstellung    Alle  de 
maximalen,  minimalen  und  durchschnittlichen  Werthe    welche  Kersch. 
Zmer  für  die  Erblindungsgefahr  der  einzelnen  Altei-sklassen  berechne  , 
bleiben  hinter  der  thatsächlichen  Gefahr  zurück,  und  zwar  um  so  viel, 


—    143  — 


als  das  vorzeitige  Absterben  der  Blinden  hinter  dem  Absterben  der 
Sehenden  ziu-ückbleibt.  Kerschbaumer  berechnet  also  bei  Licht  betrachtet 
nicht  die  Erblindimgsgefahr  selbst,  sondern  nur  die  Erblindungsgefahr 
vermindert  um  die  grössere  Absterbeordnung  der  Blinden.  Kersch- 
baumer hat  eben  die  volle  wirkliche  Gefahr  (vorausgesetzt  dass  man 
ausschliesslich  die  absoluten  Zahlen  berücksichtigt),  welche  sich  zusammen- 
setzt aus  den  bei  der  Untersuchung  gefundenen  und  den  vorzeitig  ge- 
storbenen Blinden,  verwechselt  mit  dem  Schaden,  welchen  die  Gesammt- 
bevölkerung  im  Augenblick  der  Untersuchung  zeigt. 

Wenn  ich  mich  bei  der  Kritik  der  Maijr  -  Kerschbaumer''schen  Be- 
rechnung der  Erblindungsgefahr  vielleicht  etwas  zu  lange  aufgehalten 
haben  sollte,  so  geschah  dies  aus  verschiedenen  Gründen.    Einmal  lag 
mir  daran,  darauf  hinzuweisen,  dass  diese  Methode,   trotzdem  dieselbe 
vom  statistischen  Standpunkt  aus  eigentlich  so  gut  wie  unanfechtbar  ist, 
doch  medicinisch  nur  ganz  unvollkommene  Resultate  zu  ergeben  vermag 
und  zweitens  wollte  ich  durch  die  Kritik  auch  für  das  von  mir  früher 
eingeschlagene  Verfahren  eine  gewisse  Berechtigung  gewinnen.  Ich  habe 
nämlich,  von  der  Unzulänglichkeit  der  Mayr'schen  Berechnung  über- 
zeugt, bereits  früher  i)  den  Versuch  gemacht,  die  Erbliuduugsgefahr  in 
einer  anderen  Weise  für  die  einzelnen  Lebensalter  zu  berechnen.  Die  Mayr- 
Kerschbaumer'sche  Berechnungsmethode  stellt  einmal,  wie  wir  soeben  dar- 
zulegen bemüht  gewesen  sind,  für  die  einzelnen  Altersklassen  nicht  wirklich 
die  volle  Erblindungsgefahr  dar,  insofern  das  Absterben  der 
Blinden  grösser  ist  als  der  der  Sehenden,  und  zweitens  ver- 
mag dieselbe  die  durchschnittliche  Erblindungsgefahr  auch  gar  nicht 
einmal  für  die  jetzt  lebende  Generation  zu  ermitteln,  vielmehr  setzt 
sich  der  Diu-chschnittswerth  mosaikartig  aus  den  für  die  verschiedensten 
Generationen  der  Bevölkerung  früher  massgebend  gewesenen  Gefahren 
zusammen.    Wenn  ich  die  durchschnittliche  Erblindungsgefahr  für  die 
erste  Lebensdecade  der  jetzigen  Bevölkerung  feststellen  will,  so  kann 
ich,  benutze  ich  das  Mayr -  Kerschbawner'sche  Verfahren,  dies  immer 
nur  in  der  Weise  thun,  dass  ich  aus  den  Gefahren,  welche  für  alle 
Generationen  der  jetzt  lebenden  Bevölkerung  vorhanden  gewesen  sind, 
ein  Bild  zusammensetze.  Dieser  Umstand  ist  aber  ein  recht  bedeutungs- 
voller.  Die  Erblindungsgefahren  einer  bestimmten  Lebensdecade,  z.  B. 
der  ersten,  sind  und  bleiben   ja  doch   nicht  für  alle  Generationen 
immer  und  ewig  die  nämlichen.    Die  Gefalu-,  durch  Blennorrhoe  zu 
erblinden,  ist  z.  B.  für  die  ältesten  vier  Generationen  unserer  Bevölker- 

')  Magnus,  Die  Blindheit  u.  e.  w.    p.  234  bis  2S6. 


—     144  — 


uDg,  also  für  alle  die  Personen,  welche  jetzt  zwischen  40  bis  80  Jahre 
alt  sind,  entschieden  eine  viel  grössere  gewesen,  als  für  die  jüngeren 
Generationen  der  jetzigen  Gesammtbevölkerung.  Der  jüngere  Theil  der 
Bevölkerung  hat  ja  zu  einer  Zeit  den  Gefahren  der  Blennorrhoe  unter- 
standen, wo  die  Behandlung,  Dank  den  Bestrebungen  Grö/'e's,  eine  viel 
rationellere  und  wirksamere  war  als  früher.  Wir  dürfen  nie  vergessen, 
dass  die  Erblindungsgetahr  doch  zu  einem  guten  Theil  bedingt  wird 
durch  die  Leistungsfähigkeit  der  Therapie  und  da  diese  nun  doch  einmal 
zu  verschiedenen  Zeiten  eine  sehr  verschiedene  ist,  so  thut  man  nicht  gut, 
wenn  man  zur  Berechnung  der  Erblindungsgefahr,  welcher  die  Bevölker- 
ung jetzt  unterworfen  ist,  die  aus  früheren  Zeitphasen  stammenden  Blind- 
heitsfälle benützt.  Kerschhaumer  hat  sich  der  Bedeutung  dieser  soeben 
besprochenen  Verhältnisse  zwar  auch  nicht  völlig  verschlossen,  aber  er 
hat  dieselben,  wie  ich  glaube,  doch  zu  gering  angeschlagen. 

Geleitet  von  den  Bedenken,  welche  die  Ma?/r'sche  Berechnung 
bei  mir  hervorgerufen  hatte,  bin  ich  nun  bestrebt  gewesen,  eine  Methode 
zu  finden,  welche  die  Unzulänglichkeiten  jenes  Ma?/r'schen  Verfahrens 
thunlichst  zu  vermeiden  im  Stande  wäre.  Ich  bin  dabei  von  folgenden 
Erwägungen  ausgegangen  und  zwar  wollen  avü*  wiederum  unsere  Be- 
rechnung an  der  ersten  Lebensdecade  demonstriren. 

Wenn  ich  bei  meinen  Untersuchungen  also  gefunden  hatte,  dass 
Breslau  x  Personen  zählte,  welche  in  der  ersten  Lebensdecade  stehen 
und  auch  in  derselben  erblindet  sind,  so  hatte  ich  mit  dieser  Zahl  x 
einen  Ausdruck  für  einen  TheU  der  Erblindungsgefahr  ermittelt,  unter 
welchem  die  Angehörigen  dieser  ersten  Lebensdecade  bis  zu  dem  Augen- 
blick meiner  Untersuchmg  gestanden  hatten.    Die  volle  Erblindungs- 
gefahr, welcher  dieser  Bevölkerungstheil  bis  zu  meiner  Untersuchung 
unterlegen  hatte,  ist  aber  in  der  Zahl  a;  nicht  enthalten;  denn  es  fehlen 
ja  die  in  Folge  der  grösseren  Sterblichkeit  der  Blinden  vorzeitig  ge^ 
storbenen  Blinden.    Diesen  Bruchtheil  darf  ich  aber  keineswegs  über- 
sehen.   Die  volle  Gefahr  des  Erblindens,  welche  den  Angehörigen  der 
ersten  Decade  bis  zum  Termin  meiner  Untersuchung  gedroht  hatte,  ist 
also  X  -h  z:    Nach  Beendigung  meiner  Untersuchung  vergeht  nun  aber 
eine  gewisse  Keihe  von  Jahren,  bevor  alle  die  Personen,  welche  jetzt 
noch  in  der  ersten  Lebensdecade  stehen,  in  die  zweite  Decade  aufgerückt 
sind.    In  dieser  Anzahl  von  Jahren,  welche  erforderlich  sind,  um  die 
jetzige  erste  Decade  in  die  zweite  Decade  aufrücken  zu  lassen,  smd 
aber  natürlich  noch  eine  grosse  Reihe  von  Erblindungsmöghchkeiten 
gegeben.    Bezeichnen  Wir  die  Summe  dieser  Erblindungsmöghchkeiten, 
welche  den  Angehörigen  der  ersten  Decade  auf  ihrem  Weg  bis  zur 


—    145  — 


zweiten  Decade  noch  drohen,  mit  y,  so  würde  die  volle  Erblindungs- 
gefahr der  ersten  Decade  gleich  sein  x z -\- y.  Von  diesen  Werthen 
war  mir  durch  meine  Untersuchimgen  nur  x  bekannt,  z  und  y  blieben 
mir  unbekannt.    Wollte  ich  nun  nicht  der  Ma^/r'schen  Berechnung 
folgen,  so  musste  ich  auf  eine  andere  Möglichkeit  denken,     und  y  zu 
ersetzen.    Und  diesen  Ersatz  suchte  ich  nun  in  der  Weise  zu  bewerk- 
stelligen, dass  ich  alle  diejenigen  Personen,  welche  zwischen  dem  ersten 
und  zehnten  Lebensjahr  erblindet,  bei  meiner  Untersuchung  aber  schon 
in  höhere  Lebensdecaden  aufgerückt  waren,  der  Zahl  x  hinzufügte.  Ich 
nahm  an,  dass  s -f  y  ungefähr  gleich  sein  könne  der  Zahl  dieser  in 
der  ersten  Decade  erblindeten,  aber  in  höheren  Lebensperioden  befind- 
lichen Individuen.  Ich  belastete  desshalb  mit  allen  zwischen  dem  ersten 
und  zehnten  Jahre  Erblmdeten,  die  ich  in  Breslau  gefunden  hatte,  das 
Erblmdimgskonto  der  augenblicklich  lebenden  ersten  Decade  der  Bres- 
lauer Bevölkerung.    Diese  meine  Massnahme  ist  nun  allerdinge  durch- 
aus wülkürlich  und  darum  für  den  streng  geschulten  Statistiker  wenig 
annehmbar;  dies  gebe  ich  gern  zu.    Ich  habe  desshalb  auch  sofort 
dieser  meiner  Berechnung  die  Bemerkung  beigefügt,  dass  dieselbe  von 
FehlerqueUen  keineswegs  frei  sei.    Und  dieser  Ansicht  bm  ich  auch 
heute  noch.    Wenn  nun  Kollege  Kerschbaumer  i)  diesen  unseren  Ver- 
such, einen  Annäherungswerth  für  die  Erblindungsgefahr  der  einzelnen 
Lebensalter  auf  einem  anderen  Weg  als  dem  Mayr'schen  zu  gewinnen 
einfach  als  wesentlichen  Irrthum  bezeichnet,  so  ist  er  damit,  glaube  ich' 
doch  nicht  so  ganz  im  Eechte.    Ein  derartiger  Vorwurf  wäre  wohl 
dann  am  Platze  gewesen,  wenn  ich  mir  der  Tragweite  meines  Ver- 
fahrens nicht  bewusst,  wenn  ich  der  damit  verbundenen  FehlerqueUe 
unkundig  gewesen  wäre.    Dies  ist  nun  aber  ganz  und  gar  nicht  der 
FaU;  ich  habe  mein  Verfahren  absichtlich  eingeschlagen  und  die  Gründe 
welche  mich  zu  demselben  veranlasst  haben,   sind  von  mir  bereits  im 
Vorhergehenden  dargelegt  worden.    Ich  habe  auch  bereits  darauf  hin- 
gewiesen, dass  ich  sehr  wohl  weiss,  wie  willkürlich  meine  Berechnung 
ist  und  wie  unmethodisch  sie  darum  einem  Statistiker  erscheinen  mag. 
Ich  war  aber  zu  derselben  unbedingt  berechtigt,  da  die  Mayr-Kersch- 
öawmer'sche  Methode,  so  berechtigt  sie  statistisch  auch  sein  mag,  doch 
grosse  medicinische  Schwächen  hat  und  da  ich  fernerhin  auch  nur  be- 
zweckte,  für  die  Erblindungsgefahr  gewisse  Annäherungswerthe  zu  schaffen. 

In  wie  weit  nun  die  nach  meiner  Berechnung  gewonnenen  Werthe 
dem  Thatsächlichen  entsprechen,  ist  vor  der  Hand  noch  gar  nicht  end- 

•)  p.  52. 

Magnus,  Jngendblindheit.  jq 


-    U6  — 


gültig  zu  beurtheilen.  Wir  können  weder  sagen,  dass  meine  Zahlen 
zu  hoch  noch  zu  niedrig  seien.  Die  Werthe  z  (vorzeitiges  Absterben) 
und  y  (zukünftige  Erblindung  der  untersuchten  Decade)  müssen  erst 
genauer  bestimmt  sein,  ehe  wir  darüber  entscheiden  können,  inwieweit 
meine  Annäheruugswerthe  den  wirklichen  Werthen  nahe  kommen,  ehe 
wir  Avissen,  ob  der  Ersatz,  welchen  ich  für  z  +  gewählt  habe,  zu 
hoch  oder  zu  niedrig  gegriffen  sei. 

Inzwischen  bin  ich  nun  aber  seit  Publikation  meiner  beiden  Unter- 
suchungen über  Blindheit  bestrebt  gewesen,  die  Berechnung  der  Er- 
blmdungsgefahr  exakter  zu  gestalten.    Die  genaue  Kenntniss  der  den 
einzelnen  Lebensphasen  zukommenden  Erblindungsgefahr  ist  eine  so 
hochwichtige,  dass  die  Berechnung  von  Mayr- Kerschbaumer,  welche 
nur  einen  Theil  dieser  Gefahr  zum  Ausdruck  bringt  und  mein  Ver- 
fahren, welches  nur  allgemein  gehaltene  Annäherungswerthe  liefern  kann, 
auf  die  Dauer  doch  nicht  zu  genügen  vermögen.  Die  idealste  Methode 
wäre  offenbar  diejenige,  welche  ohne  Appell  an  die  Erblindungsgefahren 
der  früheren  Geschlechter  sofort  die  numerische  Wiedergabe  der  für 
jede  Generation  jetzt  augenblicklich  gültigen  Gefahr  gestattete.  Und 
eine  solche  Methode  könnte  man  vielleicht  in  dem  folgenden  Rechnungs- 
v^rfahren  gewinnen.  Zuvörderst  halten  wir  uns  bei  dieser  unserer  neuen 
Berechnung  lediglich  nur  immer  an  den  Zeitabschnitt,  füi-  welchen  mr 
die  Erblindungsgefahr  speziell  zu  ermitteln  wünschen.  Wenn  wir  z.B. 
die  Gefahr  der  ersten  fünf  Lebensjahre  finden  wollen,  so  beschränken 
Wir  uns  lediglich  auf  den  Theil  der  Gesammtbevölkerung ,  welcher  in 
diesem  Lustrum  bei  unserer  Untersuchung  steht,   sowie  auf  diejenigen 
Blinden,  welche  gegenwärtig  1  und  5  Jahre  alt  sind.    Die  volle  Er-, 
blindungsgefahr  dieses  Lustrums  setzt  sich  nun  zusammen  emmal  aus 
den  Erblindungsfällen,  welche  vor  unserer  Untersuchung  erfolgt  smd 
und  letzt  von  uns  aufgefunden  werden;  dieselben  seien  =  a^;  ferner 
aus  der  Anzahl  der  vorzeitig  gestorbenen  Blinden  =  z  und  endlich 
aus  der  Erblindungsgefahr,    welche   die  Angehörigen    des  Lustrums 
noch  in  dem  Zeitraum  nach  unserer  Untersuchung  durchzumachen 
haben    bevor  sie  in  die  nächst  höhere  Altersstufe  aufrücken  ==  y. 
Sehen  wir  nun  einmal  zu,  in  wie  weit  wir  diese  3  Faktoren  x  H-_  c>  +  y 
in  ihrem  numerischen  Werth  zu  durchleuchten  vermögen,    o;  die  Zahl 
der  bisher  im  ersten  Lustrum  erblindeten  Personen  mit  Abzug  der 
vorzeitig  Gestorbenen  wird  bei  der  Untersuchung  sofoxt  festgesteUt. 
^  - die  Anzahl  der    vorzeitig   gestorbenen  Blinden    kann    durch  die 
Untersuchung  nicht  gefunden  werden  und  müssen  wir  dieselbe  dess- 
halb  auf  andere  Weise  zu  ermitteln  suchen.    Wir  müssen  .  zu  diesem 


—    147  — 


Zweck  zuvörderst  die  dui-chschuittliche  Lebensdauer  für  die  mit  den 
verschiedensten  Blindheitsformeu  behafteten  Personen  zu  finden  bemüht 
sein;  durch  eine  längere  Keihe  von  Untersuchungen  kann  und  wird 
es  gelingen,  für  die  verschiedenen  Blindheitsformen  die  abweichende 
Absterbeordnung  festzustellen.    Wir  werden  finden,  in  welchem  Ver- 
hältniss  die  Sterblichkeit  der  Blennorrhoeblinden ,  der  mit  cerebraler 
Amaurose,  der  Tabesblinden  u.  s.  w.  sich  zu  der  der  Sehenden  verhält. 
Und  wenn  wir  im  Besitz  dieser  Erkenn tniss  sind,  dann  werden  wu: 
auch  ziemlich  genau  bestimmen  können,  wie  viel  in  jeder  Lebensphase 
von  den  ihr  eigenartigen  Erblindungsfällen  durch  vorzeitigen  Tod  in 
Abgang  gekommen  sind.    Wenn  wir  z.  B.  die  Zahl  der  vorzeitig  ge- 
storbenen Blmden  für  das  erste  Lebenslustrum  ermitteln  wollen ,  so 
werden  wir  zuvörderst  zählen,  wie  viel  Blennorrhoe-  und  Gehirnblinde 
dieser  Lebensabschnitt  überhaupt  enthält,  denn  diese  beiden  Formen 
smd  es  ja  doch,  welche  dem  ersten  Quinquennium  hauptsächlich  eigen 
smd.    Wir  werden  alsdann  aus  der  vorhandenen  Zahl  dieser  Blinden 
und  aus  ihrer  durchschnittlichen  Lebensdauer  ungefähr  berechnen  können, 
^vie  viel  vorzeitig  gestorben  sein  mögen.   Natürlich  gehört  zu  den  eben 
beschriebenen  Manipulationen  wieder  ein  sehr  umfassendes  Blinden- 
material.  Es  werden  erst  noch  in  grösserem  Umfang  Grossstädte,  Land- 
schaften u.  dgl.  m.  untersucht  werden  müssen,  um  genau  die  Absterbe- 
ordnung der  einzelnen  Blindheitsformen  und  die  numerische  Vertheilung 
der  verschiedenen  Erblindungsarten  über  die  einzelnen  Lebensabschnitte 
zu  ermitteln.    Ich  habe  auf  den  letzteren  Punkt  in  den  verschiedenen 
Kapiteln  der  vorstehenden  Arbeit  bereits  möglichst  Rücksicht  genommen 
und  eme  Anzahl  von  Kurven  konstruirt,   welche  die  Vertheilung  der 
einzehien  .Blindheitsformen  über  die  verschiedenen  Lebensjahre  nach- 
weisen sollen. 

^  ^  Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  Faktor  z  —  die  durch  vor- 
zeitiges Absterben  in  Abgang  gekommenen  Blinden  —  vor  der  Hand 
noch  nicht  in  Rechnung  gestellt  werden  kann.  Es  wird  erst  umfassender 
Untersuchung  bedürfen,  ehe  wir  einen  sicheren  numerischen  Ausdruck 
für  denselben  zur  Verfügung  haben  werden;  doch  kann  es  wphl  nur 
eme  Frage  der  Zeit  sein,  bis  wir  ein  genügendes  Material  beisammen 
haben  werden,  um  den  Faktor  z  numerisch  ausdrücken  zu  können. 

Was  nun  schliesslich  den  dritten  Faktor  y  ~  die  nach  vollendeter 
Untersuchmig  auftretenden  Erblindungen  -  anlangt,,  so  bietet  die 
numerische  Fixation  weniger  Schwierigkeiten.  Wir  sind  doch  wohl  zu 
der  Annahme  berechtigt,  dass  die  Absterbe-  und  Erblindungsverhältnisse 
desjenigen  Bevölkerungstheiles,  welcher  den  von  uns  untersuchtea  Lebens- 


—    148  — 


abschnitt  noch  grösstentheils  zu  durchlaufen  hat,  die  nämlichen  sein 
werden,  wie  sie  für  diejenigen  gewesen  sind,   welche  den  fraglichen 
Lebensabschnitt  schon  zum  grössten  Theil  durchlaufen  haben  und  dabei 
einer  Blindengefahr  unterworfen  gewesen  sind,  welche  in  der  Formel 
a;  +  3  zum  Ausdruck  kommt.    Wir  werden  desshalb  also  wohl  kaum 
fehl  gehen,  wenn  wir  annehmen,  in  dem  von  uns  untersuchten  Lebens- 
abschnitt werden  nach  Vollendung  unserer  Untersuchung  ebenso  viel 
Erblindungen  produzirt  werden,  wie  vor  unserer  Untersuchung,  d.  h. 
also  auch  x  -\-  z-.    Wir  werden  also    als  Summe  aller  Erblindungs- 
fälle, welche  die  Angehörigen  eines  Lebensabschnittes  vor  dem  Eintritt 
hl  denselben  bis  zu  ihrem  Austritt  aus  demselben  produziren,  den  Aus- 
druck haben  2  {x  ^  z).    Setzen  wir  nun  diesen  mit  der  Zahl  der  in 
dem  betreffenden  Abschnitt  Lebenden  (m)  in  Verbindung,  so  können 
wir  die  Erblindungsgefahr  ohne  Weiteres  berechnen.    Wollen  w  aber 
ganz  genau  verfahren,  so  müssen  wir  die  Gesammtsumme  der  m  dem 
untersuchten  Abschnitt  Lebenden  m  noch  vermehren  um  die  Zahl  der 
vorzeitig  gestorbenen  Blinden       die  Formel,  mit  Hülfe  welcher  sich 
für  jeden  Lebensabschnitt  ohne  besondere  Schwierigkeit  die  augenbhck- 
liche  Erblindungsgefahr  berechnen  lässt,  würde  also  lauten 

2  {x  +  z)  100 

Diese  Formel  besitzt  den  gar  nicht  hoch  genug  anzuschlagenden 
Vortheil,  dass   sie   die  für  jedes  Lebensjahr  zur   Zeit  der  Unter- 
suchung  massgebende  Gefahr  zu  berechnen  gestattet    Sie  verschal 
uns  also  ein  treues  Spiegelbüd  der  augenblicklichen  Leistungsfähigkeit 
der  Therapie,  während  die  Mayr  -  Kerschbaumer'sche  Berechnmig  d^e 
längst  vergangene  Gefahr  alter  Zeiten  herauf  beschwört  und  aus  ihr 
für  unsere  moderne  Zeit  einen  numerischen  Ausdruck  zu  schaffen  trachtet 
Und  da  überdies  unsere  Formel  mit  der  erforderlichen  -hnensch^n 
Genauigkeit  verfährt  unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  der  -edic-i- 
schen  Inforderungen,  so  wüsste  ich  in  der  That  im  Augnblick 
besseres  Verfahren  für  die  Berechnung  der  Erblmdungsgefahr  zu  em 
pfehlen,  als  die  Benützung  unserer  Formel. 


Man  lose  Seite  21  ZeUe 

26  „ 

30  „ 

36  „ 

88  „ 

39  „ 
39  „ 


Berichtigungen. 


4  von  oben  »des  nämlichenc  statt 

i  „  oben  >43« 

15  oben  »in  Kenügendem« 

13  "  oben  »6  Kinder« 

3  ''  unten  .20.51  »0'= 

8  „  unten  .20,51  V 

9  ,,  unten  .21,42  "/o« 


»männlichen«. 
.42«. 

»in  geringem«. 

Kinder«. 
.20,7500«. 
.21,420|„.. 
»20,510/0«. 


I 


Graphische 


Lith  lUist,  V  T  Wim.Damsladl. 


Darstellung  I 

Erblüidun^s  -  Ursachen 
-Anstallen 

land's. 


0  Jmaurosis  congeniia, 

i 

^  Blenmrrhoecb  neoncUßrimv 
Verletxungerb 
Yariolxt 
'  ►  Cerebrunv 
ScarLaUmL 
ScroFulost 
<  >  MorbUXL 


Vorlag  V  J  F  Bergmann,  Wesbaden 


« 


I 


i 


Graphische  Barste 

Die   Formen    der  Ju^encl-ß 

Dargestellt  nach  320if  J 
wo 9  Männliche,  a.  1195  Jit 
Mafsstab:  5hmm.  ^  l%- 


Gesammtxahl:  55]  '  n J9  %  ,   GesammixaU:  W60  ' 33^o8%- 

Männliche :       321  =  W,  32  %  Mätinliäie.:        626  =  31,  te  % ' 

Weibliche.:        W -.18,15%  .  Weibliche.:  36,52%. 


miiing  HI 
liniiheit  in 

fugendblinden 
i'ibliciu 


Europa 


G:  261  >.  8,  15  % 
M:   Wt  '  W,06% 

II'    .55  =  t  gif  % 


Gesamtni-aahL:  1063  ■  33. n%. 
Männliche.        686  -  31:15% 
Weibluhe:  377  =  31,5t  % 


G:t6e'8,io% 
M 168 '8.36% 

W:I0I'8.K% 


TL.d^iujerL 


Verlelxys.  Bändht 


A  llgememerkranJamgen, 


r 


i 


pUjme/ilosa 

Cataracta 
complicata 

j4lbinismus 

leriüachsunq  der 
Lider  nul. 
dem  Bulbus 

NicJU  iiäJier 
besiimnile, former} 

Bleruiorrhoea. 
neonatorum 

Trachom. 
Keratitis 

Jridochorioiditis 

AU'ophicL 
neroL  optici 

VerLetxungen 
der  Augen 

VerLelxunncn 
des  Kopfes 

Ophthalmia 
sympatAica. 

Scrorulos& 

Syphilis 

Cerehriun  mit 
seinen  Häuten 

Morbilli 
ScarLaUna 
Variola 

Unbekannte 
Ursachen 


I 


Anopht  hulnms 

Mü^rophllmlmus 

ReliiiiUs 
pigmentosoj 

Niehl  geü'ennte 
formen. 

Cataj'acla'  congaä(a 
complica£a. 

Keraloconus 
AlbinismiLs 


JridochorioidÜis 

ColobomiL 
dwrioUlcac 

Reiinalalrophie 

Atroplüxt 
neroh  optici 


BupliLhalmus 

OwrioidUis  ii. 
Cliorw  -Retinitis 


Blßiuiorrlwea 
neonatorum 

Trachom 

Diplitlmritvs 
conjiLiwLioae 

UnbekaniiU  Cor, 
junciioalProxesse 

JridochoriouliUs 
CiwrioidUis 
Myopie 

SubUUw  retinae 

Atpophia 
nervi  optici 

Glaiwoni 

Gliom. 

KercUilts 
Verl&lram£jen 

VcrLelYMn^crL 
des  Kopfes 

Operationen 

Ophthalmia 
sympaÜiiccL 

jVor/jiUi 
Morbus  maculosus 
Fhlegmone  orbiialis 

Tussis  conoulsiDfv 

Alropliia  optÜKt 
nach  Bäilunq 

/llLgemmierkrankg. 
imJjeslifwnierJrt 

BleioercjiTLumj 

Exanthem 
luLbelzanntevAi't 

ScroPuhse' 
Sifphiliä 

Poeltcw 

GeJiirih  mit 
seiiien  Häuten 


ScJuu'lach. 
Typhus 
Unbekuhie.  Urscwlien 


S  S  s 
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1 


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5 


1 

3 


5 


0% 

Hydrophthalnnis  m. 
MikrophUuilnius 

ChorioidiUs 
Jridochorioidilis 

Retinitis 

Reünitis 
pUjmeatosa 

Jtrophia 
neroL  optici 

Caicu'acla 

Nicht  näher 
besUnimte  form, . 

Blennorrhoea 
neonatorum 

CoryunciioUis 
puralenta 

Trachom 

Diphiheritis 
coryanciioae 

Jridochorioiditis 

AlrophicL 
neroi  oplici 

Neuroretinilis 
Sublaiio  retinae 
Myopie' 

EssmJti&lLe  PhUsis 

Verletxiuigeny 
derJuge/i 

Yerletxungen, 
des  Kopfes 

Ophthalmia 
sympathica 

Scrolulose 

Syphilis 

Cei-ebritni  mit 
seinen,  Häuten, 

Morbilli 
Scarlaiina 
VaribUL 

Typhus 

Stlnijei'e  Unterleibs 
ErkNinkiuig 

Unbekannte 
Ursachen 


15% 


W% 


^ 


MihTuphtluilimis 

Buphihalmu.i 

h'i'lini/is 
pu/me/Uosa 

Airophia 
ni'roi  optici 

Caiurada 
complicata 

Bleimorplioexh 
lu'oiiaionun 

Trachom 

Dip/itheri/is 
coiijiiiictioae 

KeralUis 
Chorioiditis 
JriilocJwrioUlilis 

Atraphixv 
nervi,' optici 

Verlcixiin/jert 
clerAiujen 

Vcrlelxuntjeii 
dcsKopks 

Ophtliaimixi 
Sympathien 

ScroCiilose 


Syplulis 

Corijunclii)ilis 
gonorrhoica. 

Ca-ebrum,  nüz 
seinen  Mulesv 

Morbilli 
ScarlcvLinxt 
Vcwiola 

TijphuM 

■Sehinerp  AUgeinein 
rrkrunhtiiKi  unbe 
sltiuinlcr  Natur 

UnbeknimLe 
Ursachen- 


05 


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I 


55 


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Co 


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25% 


I 

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14 


5 


1 


1 


.■Inophthal/mts 
MücrophUialmas 

BuplühalituLS 

Alrophia 
rieroi  optici 

Rclüiitis  pigmenlosa 
II.  Reliruilatrophie/ 

KeralUis 

Jridockorioidilis 

Rettnilis 
proliferans 

Albi/iLsrniLS 

CataracLcb 
complicata/ 

Niehl  getrennte 
Formen. 

BlennorrhoecL 
neonatorum 

Trachom, 

DiphtheriUs 
conjiuvctivae 

MennorrhoecL 
gpnorrhoica 

yltrophicL 
neroi  optici, 

JridbchorioicUiis 

Hyalins 
SitAlafio  retinae 

GlcuLcom. 

OpMialmicL 
syni/jalhic/t,  rwn 
IrauJuaUca. 

VerLelTnaiy 
derAugen. 

Verlelxung 
des  Kopfes 

Ophlhalmsa 
sympatJUca, 

Nicht  gelreMiUe 
Formcfh 

Scrorulose 

Syphilis 

Cerebriuw  mit 
seinen  Häuten. 

Morbilli 
ScarlalincL 
Variola, 


Typhus 

Exanlhcm. 
uiibelmnJerNulnr 

Unbekaiuile 
Ursachai, . 


3 


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W%       t3%        30%  35% 


I 

I 


1^ 


i: 


I 


•I 


AnophthcdmiLs 

Mikj'opfUhalmus 

Relinilis 
pigmentosa 

MrophUv 
nervi  optici 

Catatxicta, 
complicata 

Bleimorrhoea, 
neonalorum 

Anderweitige- 
Coryunclioal 
Erkraitkjingerv 

JridochorioidUis 
uCyelitis 

Jtrophia 
neroL  optici 

Chorioiditis 

Sublatio 
relinae 

Mgopia 
eaxessioa. 

VerLetxung 
des  Kopfes 

Opthatmia 
sympathica 

OperalLon 

Scrofulose/ 

Syphilis 

CerebrujTL  mit 
seüie/i  Häuten. 

Morbilli 
VarioUt 


Typhus 

Unbekannte 
Ursachen/ 


10% 


15% 


iO%       25%       30%  35% 


I 


I: 

I 


I 

-1 
1 


5. 


Mikrophthalmus 

BufMialmus 

HetinUis 
pignieiüosa 

Reiinalat/'ophie 

Alrophia 
neroL  optici 


Jridßchorioidilis  W' 


Cornea  globosa 
dege/ieratioa 

Cataracta 
compLicala 

ßlennorrhoea, 
neonatorum 

DiphtherilLs 
conjanctioaje 

Keratitis 
JriLLs 

JridochorioidiLis 

Jtrophia 
neroi  oplici 

Verletxuagen. 
derAiujeti 

OpMhalnüa 
sympatJüca 

Scrnriüx)se 

Syptülis 

Cerehrum  mit 
seinen  Häuten. 

Mm'biUi. 
ScarlatüuL 

Variala 

Unl>e.k.(uiie 
l'rsacJmr 


10% 


15% 


2a% 


25% 


30% 


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'.<a  .-c 

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3% 


10% 


15% 


20% 


25% 


Afikrophthcdm  us 

Chorioiditis 

Coloboma- 
üwrioideaz 


^  {Jridochorioidilis 


5 


I. 

'S 

I 


Atrophia 
nemt  optici 

Catciracla, 
complicata 

Unbestimmte 
formen 

ßlemwrrhoecu 
neonatorum. 

Trachom, 

Jridochorioidilis 

Atrophia 
neroL  optici 

Verletxungen  der 
Jagen/ 

Verlelxunqe/v  des 
Jopres 

Scrofulose 

Cerebrum.  ijüL 
seinen  Häuten 

Morbilli 
Variola 


Typhus 

Aisschkig  unbe,, 
slimnUer  Natur 

Jhtermiltens 

VnbekannLe 
Ursachen 


0% 


5% 


10% 


15% 


209h 


§  ^  ^ 


0% 


5% 


10% 


)5% 


iO% 


Belgien 
:\AiisiaUen  l'Iit  Bände. 


2 


Dänemark 
iJnstaU     159  BLüicLr. 


Beutsclilojid 

21  Anstalten  1595  Blinde. 


England 
t Anstalten  Uli  Blinde. 


Frankreich 
l  Anstalt     38  Blinde. 


% 


Hollandy 

3 Anstalten,  115  Blinde. 

Jlalien 

5 Anstalten  260  Bände. 


Norwegen 
I  Anstalt     m  Blinde  . 


Oeslerreich  -  Ungarn 
9  Anstalten  508  ^Blinde . 

Russlandy 
3  Anstalten  m  Blinde. 

Schweden 
I Anstalt      59  Blinde. 

Schnieiz 
3  Anstcdten   13  Blinde. 


Spojiien. 
3  Anstalten  129  Blinde. 


0% 


5% 


10% 


15% 


10%