Die
JUGEND-BLINDHEIT.
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Kliniscti- statistische Studien
über die
in den ersten 20 Lebensjahren auftretenden ßlindheitsformen.
Von
Dr. Hugo Magnus,
a. ö. Professor der Angenhcilknnde an der Universität zu Breslau.
Mit 12 Farben - Tafeln und lo Abbildungen im Text.
/
WIESBADEN.
V F. R r. A G VON T- F. R F R G M ANN.
1886.
Vorwort.
Die vorliegende Arbeit verfolgt den Zweck, die einer
einzigen Lebensperiode und zwar den beiden ersten
Lebensdecaden eigenartigen Erblindungsformen zu durch-
forschen. Der Hauptschwerpunkt der Darstellung ruht
dabei auf der klinischen Seite und zwar ist derselbe durch
das Material selbst gegeben. Denn da die zur Unter-
suchung benützten Blinden fast ausschliesslich Zöglinge
von Blinden- Anstalten sind, so war es nur unter gewissen
Bedingungen gestattet, durch Bezugnahme auf den Alters-
aufbau der Bevölkerung statistische Schlüsse von all-
gemeiner Bedeutung zu ziehen. Das quantitativ wie
qualitativ gleich vortreffliche Blindenmaterial , welches
ich meiner Untersuchung zu Grunde legen konnte, ver-
danke ich der grossen Liebenswürdigkeit, mit welcher
so viele Spezialkollegen des Li- und Auslandes meinen
Wünschen bezüglich der Untersuchung der verschiedenen
Blinden -Anstalten entgegengekommen sind und ist es mir
desshalb eine angenehme Pflicht, all' den Kollegen, welche
mir zur Durchführung meiner Arbeit behülflich gewesen
sind, hiermit meinen ergebensten Dank zu sagen.
Breslau im April 1886.
Professor Dr. Magnus.
Inhalts-Angabe.
Erstes Kapitel. Das Material und seine Beschaffung
§ 1. Einleitende Bemerkungen übei* das Studium der
Blindheit 1. — Nothwendigkeit die verschiedenen Altersgruppen ge-
sondert auf ihre Blindheitsformen zu untersuchen 1. — Bei jeder Blinden-
untersuchung müssen die Altersverhältnisse der untersuchten Individuen
angegeben werden 3. — Die Wichtigkeit bestimmte topogi-aphisch be-
grenzte Bezirke auf ihren ßlindengehalt zu untersuchen 4. — § 2. Die
Beschaffung des Materials 5. — Blinden - Anstalten können unter
Benützung der Sammelforschung ein vortreffliches Material liefern 6. —
Schema für eine derartige Sammelforschung 6. — Für alle Blinden-Anstalten
sollte eine nach dem gleichen Plan auszuübende Untersuchung der Pfleg-
linge obligatorisch eingeführt werden 8. — In Amsterdam und London
wurde die obligatorische Untersuchung der Pfleglinge bereits eingeführt 8.
— Untersuchungsformular für London 9. — § 3. Das Material 10. —
General tabelle 11.
Zweites Kapitel. Die angeborene Blindheit
§ 4. Aetiologie der angeborenen Blindheit 14. — Die
ursächlichen Momente, welche bei der Entstehung der angeborenen Blind-
heit sich als thätig erweisen 15. — Vererbung 15. — Konsanguinität 16.
— Kollaterale Erblichkeit 16. — Intrauterine Augenerkrankungeu 16. —
§ 5. Entstehung der an geborenen Blindheit durch un-
mittelbare erbliche Uebertragung 17. — Prozentarisches Ver-
halten der verschiedenen Arten der Vererbung 18. — Uebt die Verschieden-
heit des Geschlechtes einen Einfluss auf die Häufigkeit der Erbamaurose? 19.
— Vererbung der verschiedenen Formen der angeborenen Blindheit 21.
— Ueber den "Wechsel in der Form der Erbamaurose 22. — Steigening
der Vererbung 24. — §6. Entstehung der angeborenen Blind-
heit durch B 1 Uta ve vwandts c h af t der Eltern 2.5. — Die
einzelnen Formen der angeborenen Amaurose in ihrem Verhalten zur
konsanguinen Ehe 26. — Medicinlsche Bedenken gegen die spezifische Schäd-
lichkeit der Verwandtcn-Elie 27. — Statistische Schwächen der bisherigen
_ VIII —
Soito
Beweisführung 29. — Dieselben schädlichen Folgen finden sich auch in
den Ehen zwischen Nichtverwandten 30. — Der Schaden der konsanguinen
Ehe ist lediglich durch die Vererbung zu erklären 31.- Die konsauguine
Ehe ist unter schlechten äusseren Verhältnissen an Gefahren reicher als
wie bei guteu Lebensbedingungen 32. — Zusammenfassung der für die
konsauguine Ehe gültigen Gesetze 34. - Der Opthalmologe hat keinen
Grund, ein Verbot der konsanguinen Ehe vom Staate zu verlangen 34. -
§7 Entstehung der angeborenen Blindheit durch kon-
genitale Belastung ohneHeredität und Blutsverwandtschaft
(Kollaterale Erblichkeit nach Bollinger) 35. - Die kollaterale
Erblichkeit beruht auf direkter Heredität 37. _ § 8. D as V o rk o m m en
der kongenitalen A m a u r o s e 37. - Die kongenitale Amaurose
in den verschiedenen Ländern Europa's 38. - § 9. Die Formen der
angeborenen Amaurose 39. - Cataracta congenita compli-
cata 40.-Atrophia nervi optici congenita 42.- Schwierigkeit
der Diagnose der angeborenen Sehnervenatrophie 42. - Komplikationen
der Atropbia optica 43. - Belastung der Geschwister 44. - Häufigkeit
der angeborenen Sehnervenatrophie in einer Familie 45. - Mikroph-
thalmus 45. — Komplikationen in den verkümmerten Bulbis 4o. —
Entstehung der den Mikrophthalmus begleitenden Cysten 46. - Intrau-
terine PanOphthalmitis 46. - Anderweitige Belastung der mit Mikroph-
thalmus behafteten Personen 47. - Belastung der Geschwister 47. -
Retinitis pigmentosa 47. - Komplikationen 47. - Be astung
der Geschwister 48. - Eintritt der Erblindung 48. - Eintreten der Er-
blindung in Folge von Allgcmeinerkrankungen 49. - Vertheilung der
Retinitis pigmentosa über beide Geschlechter 49. - B u p h t h a 1 m u s 51.
-Glaucom und Buphthalmus 51. - Komplikationen des buphthalmischen
Auges 51. - Geographische Verbreitung des Buphthalmus 52. - Cho-
rioiditis 53. - Retinalatrophie 53. - I r i ü o ch or io idit i s 54.
-Albinismus 54. - Keratoconus 55. - § 10. Die Häufung
kongenitaler Belastung 55. - Häufung kongenitaler Belastung
bei den verschiedenen Formen der angeborenen Amaurose 56. - Belas-
tung der Blindgeborenen mit anderen angeborenen Gebrechen 56. - Be-
lastung der Geschwister der Blindgeborenen 57. - §11. Gewisse eth-
nologische Verhältnisse in ihren Beziehungen zur
angeborenen Amaurose 57. - Färbung der Augen 58. - Angeborene
Amaurose bei den Juden 59.
Drittes KapiteL Die durch idiopathische Augenerkrankungen
bedingten Blindheitsformen
§12 Ueber dieStellung, welche die durch idiopathische
Augenerkrankungen hervorgerufenenBlindheitsformen im
Gebiete der Jugendblindheit einnehmen 61. - § 13. uie
einzelnen Formen der durch idiopathische Augenerkran-
kungen erzeugten Blindheit 62. - Blennorrhoea neonato-
rum 63. - Fnchs sagt mit Unrecht, für die Blennorrhoea lasse sidi
eine ziffermässige Bestimmung ihres amaurotischen Werthes nicht geben 63.
— Der Werth der Blennorrhoe unter den Blindheitsformen des ersten
Lebensjahres 66. — Verhalten der Blennorrhoeblindheit in Breslau 67. —
Beobachtungen über die Blennorrhoe in Mecklenburg, gesammelt von Prof.
Schatz 68. — Verbreitung der Blennorrhoeblindheit über Eui-opa 69. —
Blennorrhoeblindheit bei ehelich und unehelich Geborenen 73. — Ein-
fluss des Geschlechtes auf die Blennorrhoequote 76. — Verbreitung der
Blennorrhoeblindheit über Stadt und Land 76. — Verhütung der Blennorrhoe
78. — Ueber die praktische Verwerthbarkeit der Crede'schen Methode 79.
— Aeusserungen von Schatz ühev die Benützung der Crecie'scben Methode 79.
— (7rerfe'sches Verfahren und Hebammen 81. — Atrophia nervi optici
ohne C er eb ra 1 s ym p t o me und ohne anderweitige Körper-
erkrankung 83. — Vertheilung der idiopathischen Atrophie über die
ersten zwei Lebensdecennien 84. — Iritis und Irido ch o r io i dit is 85.
— Spontane Iridochorioiditis 85. — Vertheilung derselben über die ersten
20 Lebensjahre 86. — Iridocyclitis sympathica non traumatica 86. —
Die ätiologischen Verhältnisse der Iridochorioiditis an 381 Fällen unter-
sucht 86. — Trachom 87. — Kurve der Erblindungsgefahr durch Trachom
in den ersten 15 Lebensjahren 88. — Sublatio retinae 89. — Häufung
der Sublatio in einzelnen Familien 89. — Ueber den Eintritt der Sub-
latio 91. — Blennorrhoea gonorrhoica 91. — Diphtheritis con-
junctivae 92. — Die einzelnen Formen der Diphtherie 92. — Glau-
com 93. — Myopie 93. — Gliom 93.
Viertes Kapitel. Die Vei'letzungsbliiidheit
§ 14. Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung der
Verletzungsblindheit für die Jugendblindheit 95. — Die ein-
zelnen Formen der Verletzungsblindheit 96. — § 15. Blindheit ent-
standen durch direkte Verletzung der Augen 97. — Verhältniss
zwischen der gleichzeitigen Verletzung beider Augen und der Augenver-
letzung einäugiger Personen 97. — Grössere Neigung der Einäugigen durch
Verletzung zu erblinden 98. — Schutzmassregeln für Einäugige 99. —
Formen der doppelseitigen Verletzungsblindheit 100. — Explosionen 101.
Verbrennungen 101. — -Schussverletzungeu 101. — Verletzungsblindheit
der Einäugigen 102. — Kurve der Erblindungsgefahr durch Verletzung
der Augen in den ersten 20 Lebensjahren 103. — § 16. Blindheit
verursacht durch Verletzung des Kopfes 104. — Sturz auf den
Kopf 105. —Schlag gegen den Kopf 105. - § 17. Ophthalmia sym-
pathica traumatica 106. — Das jugendliche Alter scheint für die
Entwickelung der Iridocyclitis sympathica eine grossere Neigung zu be-
sitzen als die späteren Lebeusphasen 107. — Verletzung des zuerst er-
blindeten Auges 108. — Zwischenraum zwischen der Verletzung des ersten
und der sympathischen Erblindung des zweiten Auges 108. — Kurve der
Erblindungsgefahr durch Ophthalmia sympathica traumatica in den ersten
15 Lebensjahren 109. — Verhütung der Erblindung durch Ophthalmia
sympathica 110. — § 18. Die durch missglückte Augon-
operationen hervorgerufene Blindheit III.
— 2 —
Darstellung bringen können. Untersuchen wir z. B. eine Reihe von
Blinden, welche alle zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr das Seh-
vermögen eingebüsst haben, so werden wir ganz gewiss alle die in
diesem Lebensabschnitt aufti-etenden Blindheitsformen klarer und besser
zu beui'theilen im Stande sein, als wenn unser Untersuchungsmaterial
auch Fälle enthält, welche einer anderen Lebensperiode angehören.
Dies ist so selbstverständlich, dass wir einen Beweis uns füglich sparen
könnten; doch wollen wir, wenn auch vielleicht zum Ueberfluss, das
Gesagte noch an einem bestimmten Beispiel illustru-en.
Handelt es sich z. B. darum, die Glaucomblindheit nach den ver-
schiedensten Richtungen hin zu betrachten, so werden wir diesen Zweck
am besten erreichen unter Benützung eines Blindenmaterials, bei welchem
die Zeit der Erblindung zwischen das 30. bis 70. Lebensjahr fällt.
Steht uns ein solches Material nicht zu Gebote, ist das verfügljare
Material vielmehr aus Blinden aller Altersgi-uppen zusammengesetzt und
umfasst dasselbe besonders in grösserer Menge auch Individuen, welche
vor dem 30. Lebensjahr erblindet sind, so wird sich für die Bedeutung
der Glaucomblindheit ein erheblich anderes Bild ergeben, als dies bei
dem anderen Material der Fall gewesen wäre. Die Gefahr- der Glaucom-
bliudheit wird sich für ein solches Blindenmaterial viel geringer her-
ausstellen, als wie sie in der That wirklich ist. Aehnlich liegen die
Verhältnisse für die Blennorrhoeblindheit ; auch hier hängt die Grösse
des numerischen Werthes der Blindheit in unmittelbarster Weise von
der Beschaffenheit des Untersuchungsmateriales ab und wenn wir die
Ana-aben über die Blindenquote der Blennorrhoe bei den verschiedenen
Autoren gar so abweichend finden, wenn Einzelne von 2 oder 3«;o und
Andere von 60 »/o sprechen, so ist die QueUe dieser abweichenden Be-
obachtungen eben hauptsächlich in der Verschiedenheit des benützten
Blindenmaterials zu suchen.
Es liegt nun klar auf der Hand, dass durch die besprochenen
Verhältnisse in das Kapitel der Blindheit eine Unsicherheit hmem-
gebracht >vird, welche unserer Erkenntniss derselben wenig fordersam
sein kann. Es empfiehlt sich desshalb dringend, auf Abhülfe der be-
sagten üebelstände zu sinnen und ist eine solche auch wirklich gar
nicht so schwer zu beschafien. Hat man für seine Studien ein Matenal
zur Verfügung, welches die verschiedensten Altersklassen enthalt, so
erscheint es uns rathsam, genau anzugeben, wie viele von den unter-
suchten Individuen vor und wie viele nach dem zwanzigsten Lebens-
jahr erblindet sind. Am einfachsten dürfle es wohl sein, eine derartige
Notiz an den Kopf derjenigen Tabelle zu setzen, welche man über das
prozentarische Verhalten der einzelnen Erblindungsiu-sachen aus seinem
Untersuchungsmaterial hergestellt hat; wenigstens habe ich^) in meiner
jüngsten Publikation dies Verfahren befolgt.
Natürlich vermag man auf diese Weise den Leser nur über das
numerische Verhältniss zu unterrichten, in welchem Jugend- und Alters-
bliude in der betreffenden Untersuchuugsreihe zu einander stehen, doch
ist mit dieser Thatsache immerhin schon etwas gewonnen. Der Leser
hat damit doch ganz gewiss für die Bem-theilung der verschiedenen
Blindheitsformen resp. für die Werthschätzung ihrer prozentarische Höhe
«men gewissen Anhaltspunkt gewonnen. Er vermag sich darüber ein
Urtheil zu bilden, in welcher Weise durch das verschiedene Verhalten der
Jugend- und Altersblinden in einer Untersuchungsreihe die einzelnen Er-
blindungsformen in ihrem prozentarischen Werthe beeinflusst werden
müssen. Erfährt er, dass ein Blindenmaterial in grösserer Menge Alters-
blinde zählt, so wird er für die jenseits des 20. Lebensjahres auftretenden
Blindheitsformen ein höheres prozentarisches Verhältniss erwarten dürfen,
während dagegen ein Ueberwiegen der Jugendbliuden das Nämliche
für die bis zum 20. Lebensjahr sich entwickelnden Erblindungsformen
voraussetzen lässt. Es geht also aus dem Gesagten hervor, dass es
keineswegs genügt, aus einem grösseren Blindenmaterial für die ein-
zelnen Formen der Amaurose die prozentarischen Werthe zu berechnen,
dass vielmehr die so gewonneneu Zahlen erst dann die richtige Be-
deutung erlangen, wenn sie in Beziehimg gebracht ^verden zu den Alters-
verhältnissen des Untersuchungsraaterials.
Wenn ich bei dem soeben erörterten Punkt vielleicht etwas zu
lange verweilt habe, so geschah dies nur, weil ich denselben in der
That für äusserst wichtig halte und weil derselbe in den bisher publi-
zirten Arbeiten kaum Beachtung gefunden hat. Ich möchte desshalb
allen Kollegen, welche sich mit dem Studium der Blindheit befassen
wollen, es dringend an's Herz legen, ihre Untersuchuugsreiheu nicht
zum Abdruck zu bringen ohne genügende Rechenschaft über die Alters-
verhältnisse der von ihnen benützten Erblindungsfälle. Denn erst durch
diese erhalten die gewonnenen Zahlen ihre volle Bedeutung Doch
dürfen wir nicht vergessen, dass ein aus allen Altersgruppen zusammen-
gesetztes Blindenmaterial niemals ein völlig befi-iedigendes und charak-
teristisches Bild der den einzelnen Lebensphasen angehörenden Erblind-
ungsformen zu geben vermag. Wir können aus einem solchen Material
^ei. Jar^;S: K^^^-heMonatsblat^ fU. Augen-'
— 4 —
immer nur — vorausgesetzt, dass wir das in demselben herrschende
numerische Verhalten der Alters- und Jugendblindheit genügend zu
überschauen vermögen — eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung
gewinnen, welche die verschiedenen Blindheitsformen für die einzelnen
Lebensalter besitzen. Zu einem klaren erschöpfenden Bild der Bedeutung
der den einzelnen Altersphasen zukommenden Blindheitsformen können
wir aber auf dem genannten Wege nicht gelangen, vielmehr sind dazu
durchaus Spezialuntersuchungen erforderlich, welche sich nur auf be-
stimmte Altersgruppen beschränken.
Da sich die vorliegende Arbeit ganz ausschliesslich nur mit den
einer bestimmten Altersperiode — nämlich der zwischen dem 1. und
20. Lebensjahre liegenden — entsprechenden Blindheitsforraen zu be-
schäftigen gedenkt, so sei es uns gestattet, über die Möglichkeiten,
welche zur Beschaffung dieses Materiales gegeben sind, einige Bemerk-
ungen zu machen.
Im Allgemeinen stehen zwei Wege offen, auf denen man sich über
die Charakteristik der den einzelnen Altersperioden eigenartigen Blmd-
heitsformen zu unterrichten vermag. Der eine Weg besteht in der
Untersuchung aller in einem bestimmten Bezirk vorhandenen Blinden
und zwar muss dieser Bezirk schon ein ziemlich umfangreicher sein,
also etwa eine Grossstadt, ein Regierungsbezirk oder eine ganze Provmz.
Das hierbei gewonnene Blindenma^erial umfasst nun Blindheitsformen
aller Altersgruppen und indem man die verschiedenen Formen zusammen-
ordnet und mit dem Altersaufbau der gesammten Bevölkerung de&
untersuchten Bezirkes in Beziehungen setzt, erhält man über die em-
zelnen Arten der Amaui'ose die wichtigsten Aufschlüsse. Gerade dieser
letzte Punkt, die Parallelisii-uug des Blindenmaterials mit dem Alters-
aufbau der Einwohnerschaft, verleiht den Blindenuntersuchmigen eine
ganz besondere Wichtigkeit und zwar ist dieses Verfahren nicht nur
geeignet, unsere Kenntnisse über die Blindheit in der ausgiebigsten
Weise zu bereichern, sondern auch die klinischen Bilder der verschieden-
sten Erkrankungen des Sehorgans erfahren vielfache Berichtigungen
und Erweiterungen.^) Wir müssen Skrebitzky^) desshalb auch durch-
aus beistimmen, wenn er über diese Art der Blindenuntersuchung sagt:
„Ein Weg, welchen die künftigen Bearbeiter wohl werden einschlagen
Mau vergleiche: Magnus, Die Blinden der S t a d t B r e s 1 a u im
Jahr 1 884. Archiv für Augenheilkunde. XIV p. 391—436.
') Sh-ebiülcy, m welchem Verhültniss steht in Russ a nd d,e
Fürs xg f U d'ieBlinden .u derZahl. Als Manuskript gedruckt und de„.
V intlationalen Blindenlehrer-Kongress zu Amsterdam vorgelegt. Lausanne l88o.
müssen, wenn sie zu wirklich belehrenden Resultaten gelangen wollen."
Leider ist dieser Weg nur sehr schwer gangbar und steht eigentlich
nur demjenigen offen, welcher in nicht unbeträchtlichem Umfange Zeit
und Geld zu opfern gewillt ist und ausserdem sich der Unterstützung
der Behörden zu erfreuen hat. Und auch selbst dann übersteigt eine
derartige Untersuchung , sobald sie in einem grösseren Umfang vorge-
nommen werden, z. B. eine ganze Provinz umfassen soll, die Kräfte
des Einzelnen noch ganz bedeutend. Es wäre desshalb dringend zu
wünschen, dass der Staat aus eigenen Mitteln derartige Untersuchungen
veranstalten wollte, zumal ja doch gerade für ihn die Blindenfrage eine
hochwichtige, das leibliche wie geistige Wohl seiner Bürger in direktester
AYeise berührende ist. Wir wollen es uns desshalb bei dieser Gelegen-
heit auch nicht vei-sagen, die massgebenden Behörden auf die metho-
dischen, durch Fachleute auszuführenden Blindenuntersuchuugen ganz
besonders aufmerksam zu machen. Das ftir solche Zwecke aufgewendete
Geld dürfte nicht allein unsere wissenschaftliche Erkenntniss wesentlich
fördern, sondern es dürfte gerade in national- ökonomischer Beziehung
die besten Früchte tragen, insofern eine Verminderung der Blindenquote
durch methodische Erforschung der Blindheit in der namhaftesten Weise
gefördert werden muss.
Der andere Weg, auf welchem man die Blindheitsformen bestimmter
Altersgruppen studiren kann, besteht in der Sammlung eines gi-össereu
Blindenmaterials, welches speziell nur die betreffenden Altersgruppen
umfasst. Wenn nun auch dieses Verfahren sehr bedeutende Schwierig-
keiten darbietet, so verspricht es doch für das Studium bestimmter
Blindheitsformen ein ausgezeichnetes Material. Die grösste Aussicht
auf Erfolg verspricht dieses Verfahren vornehmlich dann, Avenn es sich
um das Studium der Jugendblindheit handelt, der Blindheitsformen,
welche bis zum zwanzigsten Lebensjahre eintreten. Denn gerade diese
Blindheitsarten finden sich in den Blinden - Erziehuugs - Anstalten in
reichlichster Menge und vermag man sich diese zugänglich zu machen,
.so hat man das reichhaltigste Material gewonnen. Diesen Weg habe
ich nun eingeschlagen und soll der folgende § 2 über die Ausführung
meiner Untersuchungen kurzen Bericht abstatten.
§ 2. Die Beschaffung des Materials.
Es kann wohl kein in der Praxis stehender Ophthalmologe daran
denken, eine grössere Anzahl von Blinden -Erziehungs- Anstalten eigen-
händig untersuchen zu wollen. Die Opfer an Zeit, welche ein derartiges
Beginnen erheischen würde, wären so gewaltige, dass nur selten Jemand
in der Lage sein dürfte, dieselben bringen zu können. Wenn man also
von vornherein unbedingt darauf verzichten muss, eine namhaftere An-
zahl von Blindenanstalten selbst zu untersuchen, so kann man glück-
licherweise für diesen Mangel der eigenen Untersuchung vollsten Ersatz
finden. Der heut zu Tage schon wiederholt mit Glück betretene Weg
der Sammelforschung bietet auch in imserem Fall die ausreichendste
Hülfe dar. Gelingt es, eine grössere Anzahl von Kollegen dazu zu
bewegen, die in ihrem Wohnsitz etwa befindlichen Blinden - Anstalten
zu untersuchen, so kann man auf diese Weise ein quantitativ wie
qualitativ durchaus befriedigendes Material Jugendblinder gewinnen.
Die Frage ist nur die, ob die betreffenden Kollegen gewillt sein düi-ften,
ein solches Opfer an Zeit und Arbeit zu bringen, wie es die sorgsame
Untersuchung einer nur einigermassen besuchten Blinden - Anstalt nun
doch einmal erfordert. Diese Frage ist durch die unbedingteste Be-
reitwilligkeit, mit der fast alle Kollegen, an die ich mich bittend ge-
wendet habe, meiner Aufforderung entgegengekommen sind, auf das
Glänzendste beantwortet. 64 eviropäische Blinden-Unterrichts-Anstalten
sind von Kollegen für mich untersucht und mir damit ein Material
geliefert worden, welches mich in den Stand setzt, die Jugendblindheit
in der eingehendsten Weise zu bearbeiten.
Da nun aber Sammelforschungeu nur dann ein befriedigendes
Kesultat ergeben können, wenn sie nach einem einheitlichen Plane
durchgeführt werden, so habe ich auch für die Untersuchungen der
Blindenanstalten ein bestimmtes Schema entworfen, und dasselbe in
mehreren tausend Exemplaren zum Abdrucke bringen lassen. Um den
Leser mit dem Plan dieser Untersuchungen bekannt zu machen, theile
ich mein Schema in Folgendem mit.
Ort der Blinden- Anstalt: Monat und Jahr der Untersuchung:
Name des untersuchenden Arztes:
1. Name des Blinden.
2. Geschlecht.
3. Alter.
4. Religion.
5. Nationalität.
6. Bei Erwachsenen Beruf vor der
Erblindung.
Bei Kindern Beruf der Eltern.
7. Farbe der Haare.
— 7 —
8. Farbe der Iris (wenn noch zu erkennen).
9. Grad der ErWindung:
U. /jcdliib J: 111^X51 III il* XjH HOl XIUIJq t
b. Hat quantitative Lichtempfindung.
c. Absolute Amaurose.
10. Ursache der Erblindung des rechten
Auges.
11. Ursache der Erblindung des linken
Auges.
12. Befund des rechten Auges.
13. Befund des linken Auges.
'ocken-
ilinden.
14. Alter bei der Erblindung des rechten
Auges.
15. Alter bei der Erblindung des linken
Auges.
16. Ist die Erblindung auf Scrofulose
zurückzuführen ?
17. Ist die Erblindung auf Syphilis zu-
rückzuführen ?
18. Ist die Erblindung in Folge irgend
einer Körperkrankheit entstanden?
1 9. Hat der Blinde körperliche Gebrechen ?
f20. Ist der Blinde vor der Erblindung
geimpft?
21. Ist die vor der Erblindung geschehene
Impfung erfolgreich gewesen?
22. Ist die Erblindung in der Stadt oder
auf dem Lande eingetreten?
23. Sind die Eltern mit einander ver-
wandt ?
24. Sind die Eltern normalsichtig oder
mit Augenfehlern behaftet?
25. Sind die Geschwister des Blinden mit
Körpergebrechen behaftet?
26. Sind sonstige Verhältnisse vorhanden,
welche für die ßeurtheilung des
Falles von Wichtigkeit werden
können?
27. Ist der Blinde ehelich oder unehelich
geboren ?
— 8 —
Es wäre uuii dringend zu wünschen, dass von jetzt an in allen
Blinden-Anstalten der Gebrauch derartiger Fragebogen allgemein ein-
geführt würde. Jeder neu eintretende Zögling müsste ärztlicherseits
genau untersucht und auf Grund dieser Untersuchung der Fragebogen
ausgefüllt werden. Bei Fragen, wie z. B. Frage 16, 17, 18, 23, 24,
25 könnten, wenn die Untersuchung und die etwaigen persönlichen An-
gaben der Blinden nicht genügenden Aufschluss gewähren sollten , die
über jeden Zögling geführten Akten herangezogen werden; eventuell
Hesse sich durch Anfrage bei den heimischen Behörden auch Aufklärung
gewinnen. Auf diese Weise könnte in wenig Jahren in jeder Blinden-
Anstalt eine Sammlung vortrefflicher Protokolle geschaffen werden,
welche für die Blindenforschung das ausgiebigste Material darbieten
müsste. Ich möchte mich deshalb auch an alle Kollegen, denen
Blinden-Anstalten imterstellt sind, sowie an die Direktoren und Vor-
stände derselben mit der Bitte wenden, die Untersuchung aller in die
Anstalten eintretenden Zöglinge in Zukunft obligatorisch machen zu
wollen. Wenn die Untersuchungen regelmässig erfolgen, kein Zögling
aufgenommen wird ohne vorausgegangene Untersuchung, so erfordert
ein solches Verfahren von den Anstaltsärzten nur geringe Mühe und
könnte demnach der Einwand einer Ueberlastung der Anstaltsärzte mit
mühevollen Arbeiten wohl kaum im Ernst gemacht werden. Ob bei
dem privaten resp. kommunalen Charakter so vieler Blinden-Erziehungs-
Anstalten eine obligatorische Einführung der Untersuchung der Zög-
linge von Staatswegen zu ermöglichen wäre, vermag ich im Augenblick
nicht zu entscheiden. Jedenfalls läge es im Interesse einer einheitlichen,
nach gemeinsamem Schema auszuführenden Untersuchung, wenn die
Regelung derselben behördlicherseits in die Hand genommen würde.
Ich will desshalb auch nicht unterfassen, die Aufmerksamkeit der mass-
gebenden Medicinalbehörden auf diesen Punkt ganz besonders zu lenken.
Kann ja doch dm-ch allgemeine Durchführung unseres Vorschlages ohne
besondere Mühe und ohne Kosten ein für das Studium der Blindheit
hochwichtiges Material gesammelt werden.
Uebrigens ist von einzelnen Blinden-Anstalten auf meine Anregung
bereits der Beschluss gefasst worden, jeden Zögling bei seiner Aufnahme
einer genauen Untersuchung zu unterziehen ; so liegen mir z. B. derartige
Mittheilungen aus Amsterdam und London vor. In den Amsterdamer
Blinden-Anstalten wird das von mir entworfene Schema benützt ; dasselbe
ist in das Holländische übersetzt worden und werden für jeden Zögling
fortan alle die von mir auf dem Fragebogen aufgestellten Fragen be-
antwortet; diese Protokolle werden gesammelt und so werden diese
— 9 —
Anstalten fortan in der Lage sein, über die Jugendblindheit die vor-
trefflichsten Aufschlüsse zu liefern. Das Royal normal College and
Academy of music for the blind Upper Norwood near London hat
gleichfalls meinen Vorschlag angenommen und die Untersuchung der
Zöglinge in Zukunft als obligatorisch eingeführt ; doch weicht das Schema,
nach welchem dort die Untersuchung ausgeführt wird, von dem meinigen
nicht unerheblich ab, insofern es beträchtlich Aveniger Fragen stellt.
Das englische Schema zählt nämlich nur folgende Fragen:
1. Name.
2. Address.
3. Age.
4. Sex.
5. When admitted.
6. How long blind.
7. Cause of blindness.
8. Any other member of family blind.
9. Consanguinity (Parents, first cousins).
10. Remarks.
"Wenn ich nun auch gern zugeben will, dass dieser englische,
von nulke entworfene Fragebogen durch seine Kürze handlicher und
schneller zu beantworten ist, als wie der meinige, so kann ich mir
doch auf der andern Seitfe auch wiederum nicht verhehlen , dass eben
in Folge seiner Kürze der englische Fragebogen auf verschiedene,
höchst wichtige Punkte nicht genügend Rücksicht nimmt. So werden
z. B. die Beziehungen, welche zwischen Blindheit und AUgemeiuerkrank-
ungen bestehen, durch das englische Schema lange nicht in der ein-
gehenden Weise untersucht, wie das bei Gebrauch meines Formulares
der Fall sein dürfte. Das Nämliche gilt für den Grad der Blindheit,
für die Beschaffenheit der Bulbi, für die ethnologisch nicht unwichtigen
Fragen nach Farbe der Haare und Augen u. dgl. m. Natürlich liegt es
mir fern, auf die allgemeine Annahme des von mir vorgeschlagenen
Fragebogens nun unbedingt zu dringen; sollten sich Verbesserungen
oder Umänderungen desselben als wünschenswert!! erweisen, so werden
mir dieselben gewiss jederzeit hoch willkommen sein. Nur darf man
nicht vergessen, dass mit der Kürzung des Untersuchungsformulares
auch das Ergebniss der Untersuchung ein knapperes werden muss. Auf
alle Fälle aber muss ich auf das Entschiedenste nochmals darauf dringen :
dass für alle Blinden - Anstalten, mögen dieselben nun Erziehuugs- oder
Zufluchts- Anstalten sein, die Untersuchung jedes Pfleglings ausgeführt
und zwar nach einem möglichst einheitlichen Plane ausgeführt werde.
— 10 —
§ 3. Das Material.
Im Ganzen haben 64 europäische Blinden - Unterrichts - Anstalten
meine Bitte erfüllt und ihre Zöglinge entweder einer eingehenden fach-
männischen Untersuchung unterworfen oder mir doch wenigstens über
einzelne Fragen Aufschluss gegeben. Rechne ich zu dem auf diese
Weise gewonnenen Material die von mir in meiner Privatpraxis ge-
sammelten Fälle von Jugendblindheit hinzu, so verfüge ich insgesammt
über 3204 Fälle doppelseitiger, zwischen dem ersten und zwanzigsten
Lebensjahre eingetretenei-, unheilbarer Blindheit.')
Es vertheilt sich dieses Material über die verschiedenen europäischen
Länder in folgender Weise:
Deutschland ist mit seinen 27 Blinden -Erziehungs- Anstalten
vollständig vertreten, und zwar sind 26 Anstalten während der Jahre
1884 und 1885 unter Benützung des von mir angefertigten Frage-
bogens untersucht worden, während 1 Anstalt (Dresden) eine im Jahre
1873 ausgeführte Untersuchung mir zur Verfügung stellte, eine neue
Untersuchung unter Zugrundelegung des Fragebogens aber nicht in
Ausführung brachte.
Oesterreich-Ungarn ist mit seinen 9 Anstalten ebenfalls voll-
ständig vertreten.
Italien ist mit 5 Anstalten betheiligt, nämlich: Neapel (3 An-
stalten), Rom, Florenz.
Russland zählt 3 Anstalten in unserem Material: St. Peters-
burg, Moskau, Warschau,
') Natürlich habe ich hinsichtlich des Grades der Blindheit in allen Fällen
genaue Musterung gehalten, doch musste die Grenze zwischen Blindheit und
Schwachsichtigkeit etwas weiter abgesteckt werden, als wie dies bei erwachsenen
Blinden der Fall zu sein pflegt. Es wurden nämlich alle diejenigen Individuen,
deren Sehschärfe soweit herabgesetzt war, dass eine Theilnahme am Schulunterricht
der Sehenden als unmöglich sich erwies, für blind erachtet, ohne Rücksicht
darauf zu nehmen, ob sie Finger nur bis in die Entfernung von '/a m oder
weiter zu zählen im Stande waren. Zu diesem Vorgehen wurde ich durch die
Erwägung geführt, dass für den Begriflf des Blindseins im jugendlichen Alter
vornehmlich die Fähigkeit, am Unterricht der Sehenden theilnehmen zu können,
den massgebenden Ausschlag zu geben hat. Ist ein Kind in seinem Sehvermögen
so schwer geschädigt, dass es einer Blindenschule zum Unterricht übergeben
werden muss, so wird es hierdurch in seinem ganzen Denken und Fühlen sowohl,
als auch in seiner Verwendbarkeit im späteren praktischen Leben unbedingt auf
die Stufe des absolut Blinden herabgedrückt und ist es aus diesem Grund ziem-
lich nebensächlich, ob Finger etwas weiter als wie '/, m gezählt werden oder nicht.
— 11 —
Spanien hat 3 Anstalten untersuchen lassen: Barcelona, Sara-
gossa, Sevilla.
Die Schweiz hat das Blindenraaterial aus den Anstalten Bern,
Lausanne, Zürich geliefert.
Belgien ist dui'ch 3 Anstalten vertreten: Brüssel, Lüttich, Ghlin
bei Möns.
Schweden-Norwegen ist betheiligt mit den Anstalten: Stock-
holm, Christiania.
England hat aus 2 Anstalten beigesteuert: Norwood bei London,
York. Ausserdem ist mir aus den Anstalten in Aberdeen und Glasgow
noch eine Statistik der dort vorhandenen pockenblinden Zöglinge mit-
getheilt worden.
Holland ist durch 3 in Amsterdam befindliche Anstalten vertreten.
Frankreich hat das in dem Hospital des Quinze - Vingts zu
Paris vorhandene Material beigesteuert.
Dänemark, welches bekanntlich in Kopenhagen eine ausgezeichnet
geleitete Blinden - Anstalt besitzt, fehlt leider in unserem Material, da
von Seiten des Anstalts - Arztes der Untersuchung unüberwindliche
Schwierigkeiten entgegengesetzt wurden. Nur der Liebenswürdigkeit
des pädagogischen Leiters dieser Anstalt, des Herrn Moldenhawer
verdanke ich statistische Mittheilungen über Pocken- und Blennorrhoe-
blindheit in Dänemark.
Um mm die Bedeutung des gewonnenen umfangreichen Materials
sowohl für die Jugendblindheit im Allgemeinen, als auch für die ver-
schiedenen Länder im Speziellen möglichst klar zur Anschauung zu bringen,
habe ich zuvörderst das gesammte Material in einer Generaltabelle zu-
sammengestellt. Ausserdem habe ich die in dieser Tabelle angegebenen
numerischen Verhältnisse auch noch graphisch zur Darstellung gebracht
(vgl. graphische Darstellung III). Sodann sind die für die einzelnen
Länder geflmdenen Thatsachen in graphischer Darstellung wiedergegeben
und zwar sind derartige Darstellungen vorhanden für: Deutschland,
Oesterreich- Ungarn, Italien, Spanien, Belgien, Holland, Russland,
Schweiz. Für England, Frankreich, Norwegen, Schweden habe ich auf
eine graphische Darstellung verzichtet, weil mir für diese Länder nur
je eine Anstalt ') zur Verfügung stand und ich Bedenken trug, lediglich
nur aus den aus einer einzigen Anstalt stammenden Berichten eine für
das ganze Land charakteristische Darstellung zu konstruiren.
') Aus England habe ich allerdings die Berichte zweier Anstalten empfangen
doch ist die eine derselben durch so lückenhafte Untersuchungen vertreten, dass
ich die statistische Verwerthung derselben nicht für angezeigt erachten konnte.
— 12 —
Generaltabelle
über
8204 Fälle doppelseitiger Jugendblindheit.
2009 mäunliche, 1195 weibliche.
Amaurosis congenita . .
Auophthalmus
Mikrophthalmus
Buphthalmus
Atroph ia nervi optici ....
Retinitis pigmentosa . . . . '
Eetiualatrophie
Chorioiditis und Chorioretinitis .
Coloboma chovioideae ....
Iridochorioiditis
Keratoconus
Kei'atitis
Albinismus
Glioma retinae
Cataracta complicata congenita .
Nicht bestimmte Formen . . .
Verwachsung der Lider mit dem
Bulbus
Myopie
Idiopathische Erkrankungen
der Augen
Blennorrhoea neonatorum . . .
Blennorrhoea gonorrhoica . . .
Trachom
Diphtheritis conjunctivae . . .
Conjunctivalerkrankungen unbe-
stimmter Art
Keratitis
Iritis
Iridochorioiditis
Chorioiditis
Sublatio retinae
Myopie
Glioma retinae
Neuro-Retinitis hämorrhagica
Atrophia nervi optici . . . .
Glaucom
Essentielle Phtisis
Gesammtzahl
551 =
16 r-.
81
38 =
113 r.
73 --
17 =
21 =
3 =
14 =
3 =
1 :
4 :
1 :
118 ■■
53 ■■
1
4
Männlich
17,197
0,50 „
2,53 „
1,19 „
3,53 „
: 2,28 „
■■ 0,53 „
: 0,66 „
= 0,09 „
= 0,44 „
= 0,09,,
: 0,03 „
= 0,12 „
= 0,03 „
= 3,68 „
= 1,34 „
327-
6 =
43 =
26 =
62 --
40 =
12 -.
12 :
3 =
11 :
3 ■■
1 :
2 :
1 ■■
78 :
35:
16,327„
: 0,30 ,
: 2,14 „
= 1,29 „
: 3,09 „
= 1,99 „
= 0,59 „
= 0,60,.
= 0,15 „
= 0,55 „
= 0,15 „
-- 0,05 „
= 0,10 „
= 0,05 „
= 3,88 „
= 1,24 „
Weiblich
0,03 „ 0- 0,00 „
0,12 „ 2= 0,10 „
224 =
10 --
38 =
12 --
51 =
33 =
5 :
9 :
0 :
3 :
0 ■■
0:
2
0:
40
18
18,7o7o
0,84 „
3,18 „
: 1,00 „
■■ 4,27 „
■■ 2,76 „
= 0,42 „
: 0,80 „
= 0,00 „
= 0,25 „
= 0,00 „
= 0,00 „
= 0,17 „
= 0,00 „
= 3,36 „
-. 1,50 „
1= 0,08 „
2= 0,17 „
1060 =
33,08%
626-=
31,167o
434 =
36,327o
753 =
23,50 „
415 =
20,66 „
338 =
28,28 „
15 =
0,47 „
14 =
0,70 „
1 =
0,08 „
42 =
1,31 „
27 =
1,34 „
15 =
1,26 „
14 =
0,44 „
6 =
0,25 „
8 =
0,67 „
26 =
0,81 „
20 =
1,00 „
6 =
0,50 „
15 =
0,47 „
11 =
0,55 „
4 =
0,33 „
6 =
0,19 „
2 =
0,10 „
4 =
0,33 „
61 =
1,90 „
41 =
2,04 „
20 =
1,67 „
14 =
0,44 „
8 =
0,40 „
6 =
0,50 „
27 =
0,84 „
18 =
0,90 „
9 =
0,75 „
4 =
0,12 „
4 =
0,19 „
0 =
0,00 „
0,03 „
0,05 „
0 =
0,00 „
0,03 „
1 =
0,05 ^
0 =
0,00 „
74 =
2,31 „
54 =
2,69 „
20 =
1,67 „
6 =
0,19 „
4 =
0,19 „
2 =
0,17 „
0,03 „
0 =
0,00 „
1 1 =
0,08 „
— 13 —
Verletzungen
Verletzungen der Augen . . .
Verletzungen des Kopfes . . -
Operationen
Ophthalmia sympathica . . .
AUgenieinerkrankungen . .
Scrofulose
Syphilis
Cerebrum mit seinen Häuten
Atrophia nervi optici nach Blutung
Morbilli
Scarlatina
Variola •
Exanthem unbekannter Natur
Typhus
Morbus maculosus
Phlegmone orbitalis
Tussis convulsiva
Cholera
Intermittens
Bleivergiftung
Tabakvergiftung
Unbekannte Allgemcinerkrankung
Unbekannte Ursachen . . .
Gesammtzahl
Männlich
Weiblich
261 =
8,1 57o
202 =
10,06''/o
59 =
4,947»
76 =
2,37 „
63 =
3,13 „
13 =
1,09 „
33 =
1,03 „
25 =
1,24 „
8 =
0,67 „
5 =
0,16 „
4 =
0,19 „
1 =
0,08 „
147 =
4,58 „
110 =
5,47 „
37 =
3,10 „
1063 =
33,1 77o
686 =
34,1 57o
377 =
31,547.
243 =
7,58 „
142 =
7,07 „
101 =
8,45 „
32 =
1,00 „
23 =
1,14 „
9 =
0,75 „
262 —
8,18 „
200 =
9,96 „
62 =
5,19 „
2 =
0,06 „
0 =
0,00 „
2
0,17 „
114 ==
3,56 „
73 =
3,63 „
1 =
3,43 „
97 =
3,03 „
60 =
2,98 „
37 =
3,10 „
240 =
7,49»
141 =
7,02 „
99 =
8,28 „
14 =
0,44 „
9 =
0,45 „
5 =
0,42 „
£>i =
1 fln
1,UU „
OA
ZU
12 =
1 00
0,03 „
0,05 „
0 =
0,00 „
1 =
0,03 „
0,05 „
0 =
0,00 „
4 =
0,12 „
0,05 „
3 =
0,25 „
1 =
0,03 ,
0,05 „
0 =
0,00 „
0,03 „
0,05 „
0 =
0,00 „
2 =
0,06 „
0,05 „
0.08 „
1 =
0,03 „
0,05 „
0 =
0,00 „
16 =
0,50 „
11 =
0,55 „
5 =
0,42 „
269 =
8,407o
168 =
8,367,
101 =
8,457o
Zweites Kapitel.
Die angeborene Blindheit.
§ 4. Aetiologie der angeborenen Blindheit.
Wenu unsere Einblicke in die Eutstehungsweise der angeborenen
Missbildungen im Allgemeinen und der angeborenen Blindheit im Be-
sonderen auch noch recht mangelhafte und beschränkte sind, wenn das,
was wir auf diesem Gebiete zu wissen meinen, auch vielfach noch mehr
Ahnen und Vermuthen, als wirkliches Wissen sein mag, so verfügen
wir doch immerhin über eine Reihe gesicherter Beobachtungen, welche
uns gestatten, in die Aetiologie der angeborenen Missbildungen des
Auges ein gewisses' System zu bringen. Allerdings verhilft uns dies
System auch nicht zu einer wirklichen Erkenntniss der letzten anatomisch-
pdysiologischen Faktoren, welche bei der Entstehung kongenitaler ISIiss-
bildungen wirksam sind, vielmehr bringt es uns in die dem Physiologen
wie Pathologen gleich fatale Lage mit Worten operiren zu müssen,
denen die sichere Grundlage eines unserem Verständniss zugänglichen
Begriffes fast vollständig mangelt, aber trotz all' dieser Schwächen bietet
uns das fragliche System doch immerhin gemsse Anhaltspunkte , und
wenn es uns die Erscheinungen auch nicht erklärt, sie in ihrer AVesen-
heit nicht durchleuchtet, so rückt sie dieselben doch unserem Verständniss
ganz entschieden näher. Und damit ist auf einem so dunklen Gebiet,
wie es das in Rede stehende doch nun einmal ist, immerhin schon etwas
recht annehmbares gewonnen.
' Die ursächlichen Momente, welche bei der Entstehung der kon-
genitalen Augenmissbildungen sich als thätig erweisen, können gemäss
den an den Erzeugern, sowie an den Erzeugten gemachten Beobacht-
ungen in folgendem Schema vereinigt werden.
Die angeborene Missbildung des Sehorgans kann bedingt werden:
1. ünrch erbliche UebertragUllg, und zwar sind hier folgende
drei TJebertraguugsarten möglich:
a) Eine bei den Erzeugern vorhandene Augenmiss-
bildung wird unmittelbar auf die Nachkommenschaft
übertragen. Es ist dabei durchaus nicht nöthig, dass die
Augenmissbildung der Eltern in der nämlichen Form auf die
Blinder übertragen werde; dies kann der Fall sein, braucht aber
nicht immer einzutreten.' So kann eine mit Myopia excessiva be-
haftete Mutter Kinder mit Atrophia nervi optici oder Cataracta
congenita u. s. w. gebären. Unsere Arbeit wird spezielle Beispiele
dafür auf den folgenden Seiten beibringen.
b) Die Erzeuger haben gesun de Augen, übertragen aber
eine in ihrer Familie vorhandene Augenmissbildung
auf ihre Kinder; so kann eine gesunde Mvitter oder ein ge-
sunder Vater, deren Eltern, Onkel oder Tanten mit Eetinitis
pigmentosa behaftet sind, Kinder mit Eetinitis pigmentosa zeugen.
Ein besonders typisches Beispiel bietet die Farbenblindheit, bei
welcher ja bekanntlich die Uebertragung meist mit Auslassung
einer Generation stattfindet. Bollinger bezeichnet diese Ver-
erbungsform als die indirekte oder latente Vererbung.
c) Eine bei den Erzeugern vorhandene Allgemein-
erkrankung giebt Veranlassung zum Auftreten
der angeborenen Augenmissbildung. Die Sehorgane
der Eltern können hierbei ganz gesimd sein und nur die all-
gemeine Körpererkrankung der Erzeuger belastet die Augen der
Nachkommenschaft. So wird z. B. die Retinitis pigmentosa von
vielen Autoren mit besonderer Vorliebe auf hereditäre Syphilis
zurückgefühi"t.
Uebrigens ist es bei allen drei Vererbungsarten nicht erforderlich,
dass die Blindheit mit auf die Welt gebracht wird, bei der Geburt schon
nachweisbar ist. Es kann vielmehr lediglich nur die Anlage vererbt werden,
so zwar, dass das Kind mit scheinbar gesunden Augen geboren wird,
aber zu einer späteren Zeit seines Lebens erblindet. Nicht selten ist
dieser Erblindungszeitpunkt bei verschiedenen Mitgliedern einer Familie
immer der nämliche. So hat man einschlägige Beobachtungen bei der
') Bollinger, Ueber Vererbung von Krankheiten. Beiträge zur Biologie.
.Jubiläumsschrift für Bischoff. Stuttgart 1882. p. 7.
— 16 —
Eetiuitis pigmentosa, bei gewissen Formen der Sehnervenatrophie, bei
Glaucom u. s. w. gemacht.
2. Durch Blutsverwandtschaft der Eltern oder Vor-
eltern. Die geschlechtliche Mischung verwandten Blutes soll ein die
Nachkommenschaft belastendes pathogenes Moment bilden.
3. Durch congenitale Belastung ohne Heredität und
Blutsverwandtschaft der Eltern. Hierher gehören alle die-
jenigen Fälle, in denen in einer Familie mehrere Kinder mit Augen-
missbildungen geboren werden, ohne dass man Heredität oder Bluts-
verwandtschaft zu deren Erklärung heranziehen kann. Bis jetzt sind
derartige Beobachtungen zu wenig gewürdigt worden, obgleich dieselben
diu-chaus nicht selten vorkommen. Bollinger nennt diese Fonn die
collaterale Erblichkeit.
4. Durch spontane Erkrankung des Sehorganes in
utero ohne Mitwirkung einer der drei vorgenannten
Faktoren. Hierbei müssen zwei Möglichkeiten unterschieden werden,
nämlich:
a) Die Erkrankung des Sehorganes hat sich in jener
Periode entwickelt, in welcher der Aufbau desAuges
noch nicht vollendet war; es handelt sich hier also um die
sogenannten Bildungsfehler. Gewisse Fälle von Mikrophthalmus,
Coloboma u. dgl. m. gehören hierher,
b) Die Missbildung erfolgt auf Grund einer intra-
uterinen Erkrankung des entwickelten Auges. Man
könnte diese Fälle als fötale Krankheiten des Auges bezeichnen,
während man die sub a charakterisu-ten embryonale nennen kann.
Zu den fötalen gehören gewisse Formen des ]\Iikrophthahnus,
Hornhauttrübungen, Atrophie des Nervus opticus u. s. w. Uebrigens
lässt sich eine sichere Unterscheidung zwischen embryonaler und
fötaler Erkrankung durchaus noch nicht bei allen Missbilduugen
des Auges durchführen, wenn für eine ganze Reihe derselben eine
derartige Trennung auch ganz gewiss möglich ist. AVir werden
deshalb auch von einer weiteren Besprechung dieser Entstehungs-
ursache der congenitalen Blindheit Abstand nehmen.
Es wird nunmehr unsere Aufgabe sein, die genannten Entstehungs-
möglichkeiten der congenitalen Blindheit zu besprechen und ihre Be-
deutung an dem vorliegenden Material zu prüfen.
— 17 —
§ 5. Entstehung der angeborenen Blindheit durch unmittelbare
erbliche Uebertragung.
Für die moderne Naturwissenschaft kann es keinem Zweifel unter-
liegen, dass die Entvvickelung der organischen Formen unter dem Drucke
eines Vererbungsgesetzes erfolgt; mag der anatomische Aufbau sich
innerhalb der normalen Grenzen vollziehen, oder mag er auf patho-
logische Abwege gerathen, die Wirksamkeit des Vererbungsgesetzes lässt
sich in zahllosen Fällen auf das Schlagendste darthun. Und wen selbst
die zahlreichen Beobachtungen der sorgsamsten Forscher, wen seine
eigenen Erfahrungen noch nicht in befriedigender Weise von der Thätig-
keit des Vererbungsgesetzes zu überzeugen vermögen, der wird den
Resultaten gegenüber, welche die Experimentalpathologie auch auf
diesem räthselvoUen Gebiet erzielt hat, seinen Skepticismus wohl kaum
noch festzuhalten gesonnen sein. Die Versuche, welche Brown-S6quard,
Dupuy, Samelsohn, Deutschmann an Meerschweinchen und Kaninchen
vorgenommen haben, sie haben die Existenz eines Vererbungsgesetzes
über allen Zweifel erhoben. Es wäre deshalb auch ein völlig müssiges
Unterfangen, wollten wir an der Hand der umfassenden Literatur noch-
mals den Nachweis von dem Bestehen der erblichen Uebertragungs-
möglichkeit fuhren^). Es wird vielmehr hier unsere Aufgabe sein, all'
den verschiedenen Beziehungen, welche zwischen Erblichkeit und ange-
borener Blindheit bestehen, nachzuspüren und sie möglichst klar zu legen.
Und indem wir uns dieser Aufgabe zu entledigen trachten, werden wir
all' die verschiedenen Punkte, welche hier in Betracht kommen, nun-
mehr der Reihe nach beleuchten.
Bereits früher 2) habe ich den Versuch gemacht, den prozenta-
rischen Werth, welchen die Vererbung fiir die angeborene Blindheit
besitzt, festzustellen und numerisch zu fixiren. Ich habe dazumal vor
Allem darnach getrachtet, die Erblindungsgefahr, die aus Ehen, in
welche ein oder beide Gatten blind eingetreten sind, für die Nach-
kommenschaft erwächst, zahlengemäss zum Ausdruck zu bringen. Es
') Diejenigen, welche sich über die Vererbung eingehender zu unterrichten
wünschen, verweise ich auf:
Merten, Die Vererbung von Krankheiten und die etwaigen
Mittel, derselben entgegenzuwirken. Eine hygienische Monographie.
Stuttgart 1879.
Both, Die Thatsachen der Vererbung in geschichtlich-
kritischer Darstellung. Zweite Auflage. Berlin 1885.
Magnus, Die Blindheit, ihre Entstehung und ihre Verhüt-
ung. Breslau 1883, p. 133—138.
Magnus, Jagendblindheit. 2
— 18 —
^var mir gelungen, 21 Ehen zu ermitteln, in welchen bei Eingehung
des Bündnisses bei den Eltern Blindheit oder doch hochgradige
Amblyopie vorhanden war. Und zwar war 3 mal Mann und Frau
bei der Eheschliessung absolut blind; von den übrig bleibenden 18
Fällen wai- 14 mal der Mann und 4mal die Frau der belastete Theil.
Aus diesen Ehen gingen 49 Kinder hervor, von denen 8 mit Augen-
fehlern resp. blind geboren wurden, d. h. also 16,3"/,. Es würden
hiernach also in 16,3"/„ die Kinder, welche aus Ehen zwischen
Blinden resp. zwischen Sehenden und Blmden hervorgehen, erblich be-
lastet sein.
Unser inzwischen gesammeltes Material vermag allerdings für- das
soeben Mitgetheilte keine neuen Stützpunkte beizubringen, wohl aber
ist es im Stande, auf eine Reihe anderer für- die prozentarische Be-
deutung der ererbten Amaurose wichtiger Punkte Licht zu werfen.
Zuvörderst können wir an der Hand unseres Materials genau er-
mitteln, welche Stellung die Vererbung im Gebiet der angeborenen
Blindheit überhaupt beanspruchen darf. Unter 551 Fällen von ange-
borener Amaurose liess sich in 50 das ErbHchkeitsgesetz als wirksam
erkennen, d.h. also 9,07<7„ der kongenitalen Blindheit smd durch \ er-
erbung bedingt. Diese Zitfer umfasst die drei verschiedenen Uebertrag-
ungsarten, welche wir auf Seite 15 für die Vererbung als moghch be-
zeichnet hatten. Für jede einzelne dieser drei Uebertragungsmoglich-
keiten ergibt unser Material folgende Ziffern:
Unmittelbare Uebertragung eines Augenfehlers von Eltern auf
Kinder erfolgte 34 mal, d. h. also in 68,00 der Erbamaurose uber-
Lpt ; Uebertragung eines in der Famüie eines der Erzeuger vorhandenen
ATgenfehlers bef gesunden Augen der Eltern erfolgte 6mal, d. 1. also
in 12 00«/ der Erbamaurose überhaupt; Ueberti-agung emer bei den
Erzeugern Uandenen AUgemeinerki-ankung auf die Augen der Kinder
erfolgte lOmal, d. h. also in 20,000/« der Erbamaurose überhaupt
Die unmittelbare Uebertragung eines Augenfehlers von den Eltei-n
auf die Kinder erfolgt hiernach also weitaus am Häufigsten; dann fdgt
•1 Vererbung, bei welcher Allgemeinkrankheiten der Erzeuger Bl.nd-
Ci de Kinder bedingen. Die Uebertragungsgefahr der B mdheit durch
eis Eltern, welch! aus "^^t Blindheit behafteten F^^^^^^^^^
ist nach unseren Erfahrungen die geringste. Auch Dumont ) a
^Uen der mittelbaren und der unmittelbaren Erbamaiu-ose ein ahn-
^^;:;;;;r'Recherches statlstlques sur las causes et les
effets de la cöcit^. Paris 1856, p. 86.
— 19 —
liebes Verliältniss gefunden. Unter 80 Fällen hereditärer Blindheit
waren 68 d. h. 85 "/o direkt von Eltern auf Kinder übertragen, während
12 mal d. b. in 15"/o die Eltern zwar selbst gesund, aber aus einer
mit Blindheit behafteten Familie hervorgegangen waren.
Es erübrigt nunmehr noch, zu ermitteln, welche Stellung die Erb-
Amaui-ose in der Jugendblindheit überhaupt einnimmt. Unter unserem
Material von 3 204 Jugendbliuden finden sich 50 Fälle von ererbter
Blindheit, d. h, also 1,56 °/o derselben haben ihre Amaurose auf dem
Wege der Ererbung überkommen. Etwas höher beziffern sich die An-
gaben, Avdlche Dumont über den nämlichen Punkt gemacht hat, denn
er konnte unter 1168 Blinden 80 mal die Ererbung nachweisen, d. h.
also in 6,85 "/o. Der Unterschied zwischen den Dumont' sehen und
meinen Angaben wird aber noch erheblicher, wenn man bedenkt, dass
mein Material nur Jugendblinde umfasst, bei denen naturgemäss ja
die Erbamaurose in grösserer Zahl vertreten sein muss, während das
Dumont' sehe Material, wenn auch vorwiegend jugendliche Blinde, so
doch auch Blinde der verschiedensten Altersklassen enthält, darum eigentlich
doch weniger Fälle von Erbamaurose zählen sollte. Ich möchte dess-
halb auch der Ansicht zuneigen, dass bei den Ermittelungen Dimionl's
wiederholt Irrthümer untergelaufen sein mögen. Uebrigens kann wohl
auch der Umstand, dass die Kontrolle und Diagnose der einzelnen
Fälle in der vorophthalmoskopischeu Zeit eine weniger exakte gewesen
ist, die Höhe der Dumon^'schen Angaben veranlasst haben.
Uebt die Verschiedenheit des Geschlechtes einen
Einfluss auf die Häufigkeit der Erbamaurose?^) Bei der
Untersuchung der Frage, welchen Einfluss das Geschlecht auf die Ver-
erbung der Blindheit ausübt, dürften vornehmlich folgende Punkte in
Betracht zu ziehen sein:
1. Spielt der Vater oder die Mutter bei der Vererbung eine hervor-
,ragendere Rolle?
2. Ist das weibliche oder männliche Geschlecht für die Vererbung
empfänglicher ?
3. Besteht zwischen dem Geschlecht des Vererbers und der Erben
irgend eine Beziehung?
') Man vei-gleiche die Zusammenstellung der über diesen Punkt geäusserten
Ansichten verschiedener Forscher bei Both, Die Thatsache der Vererb-
ung in geschichtlich-kritischer Darstellung. Zweite vermehrte Auf-
lage. Berlin 1885. p. 71 u. ff.
9*
— 20 —
Was nun zunächst den ersten Punkt anlangt, so giebt darüber
unser Material folgenden Aufschluss:
Unter 50 Fällen von Erbamaurose vererbten
die Mutter 20 mal die Blindheit, d. h, in 40,00 »/o
der Vater 24 „ „ „ 48,00 „
beide Eltern 6 „ „ » » » 12,00 „
Es scheint also hiemach kein weitgehender Unterschied zwischen
der Vererbungsfähigkeit des Vaters und der Mutter obzuwalten.
Was alsdann den zweiten Punkt anlangt: ob das weibliche oder
männliche Geschlecht eine grössere Neigung für das Auftreten der Erb-
Amaurose besitze? — so habe ich Folgendes gefunden:
Von 1195 weiblichen Jugendblinden hatten 23 Erbamaiuose, d. h. l,920/o
„ 2009 männliche „ 27 „ >» 1>34 „
Die Gefahr der Erbamaurose dürfte nach diesen unseren Ergebnissen
also auf beide Geschlechter annähernd in dei-selben Weise vertheilt sem.
Schliesslich hätten wir noch zu untersuchen, ob zwischen dem Ge-
schlecht des Vererbers und des Erbenden irgendwelche Beziehungen ob-
walten, ob etwa der Vater hauptsächlich auf die Söhne, die Mutter auf
die Töchter oder dgl. m. die Erbamaurose übertragen. Ueber diesen
immerhin recht wichtigen Punkt kann ich nun folgende Aufschlüsse
geben: Die Erbamaurose hatten
unter 2009 männlichen Jugendblinden 12 vom Vater, d. h. 0,60 «/o
, 1195 weiblichen „ 12 „ » " ^'^^ »
2009 männlichen „ 1 1 von der Mutter „ 0,o5„
„ 1195 weiblichen „ 9 „ „ „ » ^' ^ »
Die gefundenen Zahlen machen mir nicht den Eindruck, als ob
sie der Ausdruck einer in Wirklichkeit vorhandenen erheblichen Mehr-
belastung eines Geschlechtes wären. Allerdings belastet ja der Vater
nach unseren Ergebnissen die Töchter etwas höher, als wie die Sohne,
doch weiss ich wirklich nicht, ob der Unterschied ein so bedeutender
ist um aus ihm nun sofort eine thatsächliche Mehrbelastung der Tochter
durch den Vater folgern zu dürfen. Und in noch höherem Grad gilt
dieser unser Zweifel von den Verhältnissen, welche w bezüglich der
durch die Mutter übertragenen Erbamaurose nachgewiesen haben. Hier
ist der Unterschied zwischen dem für die Söhne und dem für die
Töchter ermittelten mütterlichen Erbantheil ein so geringer, dass ich
ihn fuglich doch nicht für den Repräsentanten der typischen Älehr-
belastung des einen oder anderen Geschlechtes ansehen möchte.
— 21 —
Gedenken wollen wir hier noch der Beobachtung von Carreras-
Ai'agö nach welcher gewisse Formen der Erbamaurose meist von der
Mutter auf die Tochter, resp, vom Vater auf den Sohn übertragen
werden. Die Amaurose befallt also vornehmlich Personen männlichen
Geschlechts in derselben Familie. Besonders will Ai^agö dies für
Catai-act massgebend ansehen; hat der Vater Cataract erworben oder
augeboren überkommen, so soll er ihn meist nur seinen Söhnen, nicht
den Töchtern vererben und das Nämliche soll fiir die Mutter gelten.
Ausnahmen dieser Kegel sind von anderen Autoren und auch von mir
wiederholt beobachtet worden, doch hält Carreras-Aragö dafür, dass
dies eben nur Ausnahme wären und weitaus am häufigsten eine Ge-
schlechtsfolge eingehalten würde.
Die Vererbung der verschiedenen Formen der an-
geborenen Blindheit. Was zuvörderst die Häufigkeit anlangt, mit
welcher die einzelnen Formen der angeborenen Blindheit bei den 50
Fällen von Erbamam-ose, welche unser Material zählt, betheiligt sind,
so entfallen auf:
, 12 Fälle
24,00''/o
Cataracta congenita complicata
• 12 „
24,00 „
Retinitis pigmentosa . - . .
• 11 „
22,00 „
Mikl'ophthalmus
. 6 „
12,00 „
. 4 „
8,00 „
• 2 „
4,00 „
Iridochorioiditis
• 1 „
2,00 „
Unbestimmte Formen
■ 2 „
4,00 „
50 Fälle = 100,0070
Natürlich veranschaulichen die vorstehenden Zahlen nicht die Ver-
erbungsfahigkeit der betreffenden Blindheitsformen, sondern sie stellen
lediglich nur dar die Häufigkeit, mit welcher die einzelnen Formen
unter den 50 Fällen der Erbamaurose überhaupt vertreten sind. "Werfen
wir die hochwichtige Frage auf: welche Ererbungsmöglichkeit den ein-
zelnen Formen der congenitalen Blindheit zukommen, so können wir darauf
nur in der Weise eine Antwort finden, dass wir ermitteln, wie oft unter
den in unserm Material vorhandenen Fällen von congenitaler Amaurose
die einzelnen Formen durch Vererbung bedingt sind. Die folgende
Zusammenstellung wird diese Verhältnisse veranschaulichen:
') Carreras-Aragö, De las Cataratas h eieditarias y de sä
trasmision p ri n cip al m en t e h los individuos de sexo igual al del
paciente originario. La Revista de cieotias mddicas de Barcelona 1884.
August.
— 22 —
Von nachstehenden Fällen von Amaurosis congenita sind unter
4 Fällen, bedingt durch Myopie, ererbt 3 Fälle = 7 5,00"/ »
73 ^, „ „ Retinitis pigmentosa „11 „ =15,07,,
113 „ „ „ Atrophia nervi optici „ 12 „ =10,62,,
118 „ „ „ Cataracta corapl. cong. „ 12 „ =10,10,,
81 „ „ „ Mikrophthalmus „ 6 „ = 7,41 „
38 „ ,, „ Buphthalmus „ 2 „ = 5,26 „
35 „ Erkrank. d.XJvealsystems „ 1 „ = 2,86,,
4.« „ unbestimmte Formen „ 2 „ = 4,65 „
Man sieht, die Werthskala, welche wir in dem Vorstehenden für
die Vererbungsfähigkeit einzelner Formen der congenitalen Amaurose
versucht haben aufzustellen, wird durch die khnischen Erfahrungen
in der besten Weise gestützt. Für die schweren Formen der Myopie
fängt man in den letzten Jahren ja doch auch an, die Heredität in
der ausgiebigsten Weise heranzuziehen und in der Aetiologie der Retmitis
pigmentosa spielte die Erbblindheit ja stets eine hervorragende Rolle.')
Die Vererbungsfähigkeit der Sehnervenerkrankimgen ist durch eine Reihe
sicherer Beobachtungen als keineswegs selten erkannt worden ^) und für
die Cataracta ist die Heredität eine schon in der ältesten Literatur
wiederholt betonte und lange gekannte Eigenthümlichkeit. 3)
Die vorliegende Literatur ist überreich an Mittheilungen, welche
die hervorragende Vererbungsfähigkeit der gerade in unserer Zusammen-
stellung die Führung habenden Blindheitsformen beweisen.
Es bliebe nunmehr noch zu untersuchen, ob die Fälle von Erb-
Amaurose, welche unser Material zählt, in der gleichen Form vom
Erzeuger auf die Nachkommenschaft übertragen worden seien, resp.
wie oft dies der Fall gewesen sei und wie oft nicht. Leider bin ich
aber nicht im Stande, diese wichtigen Verhältnisse zahlengemäss zum
Ausdruck zu bringen. Mein Material reicht hiezu eben mcht aus,
denn nur in den selteneren Fällen konnten auch die Eltern zui- Unter-
>) Wider, Ueber die Aetiologie der Retinitis pigmentosa M.t-
theilungen aus der ophthalmiatrischeu Klinik in Tübingen. Bd. II, Heft 2. lubingen
1885 -bringt eine vortreffliche Zusammenstellung der über Heredität der Retinitis
niementosa veröffentlichten Beobachtungen.
n Leher, Die Krankheiten der Netzhaut und des Sehnerven.
Gräfe nnA Sämisch, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Band V, iheil V.
"^^^1 Ze^^ Bin Beitrag zur Lehre von der Erblichkeit des
grauen Staares. Mittheilungen aus der ophthalmiatrischeu Klimk in Tübingen
Band II. Heft 1. Tübingen 1884. p. 120.
— 23 —
suchimg herangezogen werden, und Angaben, welche nicht auf fach-
männische Untersuchung der Eltern gegründet sind, erscheinen mir nicht
flu- genügend verlässlich und enthalte ich mich der Wiedergabe derselben
deshilb grundsätzlich. Im Allgemeinen wissen wir ja, dass ein Wechsel
in der Form der vererbten Missbildung beim Menschen keineswegs zu den
Seltenheiten gehört, im GegentheU sogar recht oft vorzukommen scheint;
so kennen Avir z. B. Fälle, in denen ein mit Atrophia nervi optici be-
hafteter Vater Kinder mit Retinitis pigmentosa zeugte i), oder wo Eltern
mit Retinitis pigmentosa ihre Kinder mit Hemeralopie ^) oder Daltonis-
mus3) belasteten u. dgl. m. Unser Material gedenkt eines Falles, in
welchem eine mit Myopia excessiva und Cataracta partialis behaftete
Frau drei Kinder mit doppelseitigem Mikrophthalmus zeugte. Doch
wollen wir derartige Beobachtungen nicht häufen, die angeführten ge-
nügen, um die Thatsache sicherzustellen, dass nicht sowohl die Form
der Amaiu-ose, als vielmehr die Anlage zu einer solchen erblich über-
ü-agen wird und zwar kann diese Anlage, wie die sogleich zu er-
wähnenden experimentellen Arbeiten dies darthun, sowohl durch erbliche
als durch später acquirirte Augenmissbildungen vererbt werden. Deutsch-
mann % Snmelsohn^), Brown Sequard'^) und Dupuy'') haben nämlich
von Kaninchen und Meerschweinchen, denen sie künstlich Augenver-
letzimgen beibrachten, mit erblichen Augenmissbüdungen belastete Nach-
kommenschaft erzielt und zwar ist diese Belastung mit einer merk-
wiu-digen Sicherheit bei den meisten Untersuchungsthieren zur Beob-
achtung gelangt, mit einer viel grösseren Promptheit, als wir solche
beim Menschen glücklicherweise zu beobachten Gelegenheit haben.
') Schmidt - Bimpler , Zur Heredität der Retinitis pigmentosa.
Klinische Monatsbl »Itter für Augenheilkunde. XII. Jahrgang. Stuttgart 1874. p. 29.
2) Mooren, Fünf Lustren ophthalmologischer Wirksamkeit.
Wiesbaden 1882. p. 220.
') Magnus, DieBlindheit, ihre Entstehung und ihre Verhütung.
Breslau 1883. p. 141.
♦) Deutschmann, Ueber Vererbung von erworbenen Augenaffek-
tionen bei Kaninchen. Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. XVIII.
Jahrgang. Stuttgart 1880. p. 507.
') Samelsohn, Zur Genese der angeborenen Missbildungen
specicU des Mikrophthalmus congenituS. Centraiblatt für die med.
Wissenschaften. 1880. No. 17.
') Urown-Sequard, Tvansmission par her^dite de certains alte-
rat ions des yeux chea les cobayes. Gaz. m^d. de Paris 1880. p. 638.
') Dupuy, Note on iuherited effets of lesions of the sym-
pathetic nervo and corpora restiformia on the eye. Report of
the fith inter-nat. ophth. Congress. p. 252.
— 24 —
Halten wir die Pünktlichlceit , mit welcher Augeuverletzungeo beim
Kaninchen und Meerschweinchen zum hereditären Eigeuthum mehrerer
Generationen werden — Dupuy und Brown-Sdquard konnten durch
5 Generationen die experimentellen Augenverletzungen als hereditäre
Belastung nachweisen — mit der relativen Seltenheit zusammen, mit
welcher Verletzungen des Auges beim Menschen sich durch Vererbung
fortpflanzen , so kann man auf die Vermuthung kommen , dass der
Zwang der Vererbung bei den niedriger organisirten Thiei'en denn doch
ein energischer sein dürfte, als bei dem höchst organisirten Wesen, dem
Menschen. Es scheint so, als ob beim Menschen die Ererbung einer
in utero bereits vollendeten Amaiu'ose erheblich zurückträte zu Gunsten
der Ererbung einer Anlage, welche zu ihrer Entwickelung erst eines
geeigneten Entfaltungsreizes während des extrauterinen Lebens bedarf.
Denn würde das Menschengeschlecht mit solcher Pünktlichkeit auf jede
Erwerbung einer schweren Augenverletzung mit Erbamaurose antworten,
wie dies die Experimentalpathologie für Kaninchen und Meerschwein-
chen lehrt, so würde bei den vielen Augen, welche alljährlich durch
Verletzungen zu Grunde gehen, die Erbamaurose gar bald in bedeutenden
Dimensionen auftreten müssen und die Zahl der ererbten Blindheits-
formen müsste schon längst eine viel bedeutendere sein, als sie es in
der That ist. Natürlich will ich aber die soeben geäusserte Ansicht
keineswegs in die anmassende Form eines feststehenden Gesetzes kleiden
vielmehr soll dieselbe eben nichts weiter sein als eine Vermuthung.
Es würde nun noch erübrigen, einen flüchtigen Blick auf die
Steigerung der Vererbung zu werfen. Unter Steigeruug der
Vererbung verstehen wir jene Erscheinung, bei welcher die hereditäre
Belastimg sich im Auftreten verschiedener Formen der angeborenen
Missbildungen in einer Familie äussert. Und zwar sind hier zwei Er-
scheinungsformen möglich, indem nämlich einmal ein Familienglied mit
verschiedenen Missbildungen hereditär belastet sein kann oder indem
mehi-ere Glieder der nämlichen Familie angeborene Missbildungen von
den Eltern empfangen haben. Ueber diese Verhältnisse giebt unser
Material folgende Aufschlüsse:
Mit congenitaler Amaurose Avaren behaftet unter
50 Fällen 26 mal nur 1 Familienmitglied = 52"/o
50 „ 21 „ 2 Familienmitglieder = 42 „
50 „ 3 „ 1 Familienmitgl. mit mehr. Missbildungen = 6„
Es ist also hiernach die Gefahr, dass mehrere Mitglieder einer
Familie mit congenitalen Missbildungen heriditär bedacht sein können,
eine recht brennende, insofern, wie dies unsere Zahlen zeigen, fast in
— 25 —
der Hälfte aller Fälle vou congenitaler Amaui'ose eine Steigerung der
Vererbung nachweisbar ist.
Was nun zunächst die 3 Fälle anlangt, iu denen 1 Mitglied einer
Familie verschiedene congenitale Missbildungen aufzuweisen hat, so
handelt es sich in einem Fall um eine irrsinnige Mutter, die ein mit
Atrophia nervi optici congenita und Extremitätenlähraung behaftetes
Kind geboren hatte. Im zweiten Fall hatte eine halbbliude Mutter
eine mit Atrophia optici congenita und Epilepsie behaftete Tochter und
im dritten Fall endlich hatte ein tauber Vater eine taube und zugleich
in Folge von Ketinitis pigmentosa congenita blinde Tochter.
Von den 21 Fällen, in denen mehrere Kinder einer Familie here-
ditär belastet sind, wäre zu erwähnen, dass die erbliche Amaurose nicht
bei den Kindern der nämlichen Familie immer dieselbe Form zu zeigen
braucht, sondern dass die verschiedensten Formen aus einer gemeinsamen
erblichen Belastimg entstehen können ; so werden z. B. Myopia excessiva
und Cataracta congenita complicata, oder Atrophia nervi optici congenita und
Cataracta complicata, oder Hemeralopie und Retinitis pigmentosa u. dgl. m.
als verschiedene Ausdrücke eines gemeinsamen erblichen Momentes be-
obachtet. Auch können Missbildungen der verschiedensten Körper-
organe bei verschiedenen Gliedern einer Familie in Folge erblicher Be-
lastung durch die Eltern iu Erscheinung treten. So berichtet unser
Material z. B. von Fällen, in denen ein Bruder mit Cataracta congenita,
eine Schwester mit Taubstummheit behaftet waren und der Vater an Amau-
rosis congenita (Form nicht näher bestimmt) gelitten hatte. Ein anderes
Beispiel meines Materials kennzeichnet das Variireu eines hereditären
Keimes bei verschiedeneu Familien gliedern iu ganz besonders treffender
Weise. Ein geisteskranker Vater zeugt 6 Kinder, von denen 5 taub-
stumm und 1 mit Retinitis pigmentosa congenita behaftet ist. Der
Einfluss der Vererbung zeigt sich in diesem Fall noch besonders deut-
lich durcb den Umstand, dass die Mutter dieser 6 hereditär behafteten
Kinder mit einem anderen gesunden Mann in anderer Ehe lauter ge-
sunde Kinder gezeugt hat.
§ 6. Entstehung der angeborenen Blindheit durch Blutsverwandtschaft
der Eltern.
Unter den 551 Fällen congenitaler Amaurose, welche unser Material
zählt, finden sich 43, in denen Blutsverwandtschaft der Eltern nachweis-
bar ist, d. h. also in 7,80 "/o der gesammten angeborenen Blindheit.
Unter diesen 43 Fällen waren die Eltern 24 mal Geschwisterkinder;
7 mal waren die Eltern im zweiten oder dritten Grade mit einander
26 —
verwandt und 12 mal konnte die Art der Verwandtschaft nicht in
hinreichender Weise bestimmt werden.
Ueber die einzelnen Formen der congenitalen Amaurose vertheilen
sich diese 42 Fälle in folgender Weise:
Aus blutsverwandten Ehen stammend waren unter
73 Fällen von Retinitis pigmentosa 12 = 16,44"/o
14 „ „ Retinalatrophie 2 = 14,29 „
113 „ Atrophia nervi optici H = 9,73 „
81 „ „ Mikrophthalmus ö = '^'^^ "
118 „ „ Cataracta congenita complicata 7 = 5,93 „
35 „ Coug. Uveal-Erkrankungen 3 = 8,57 „
43 nicht getrennten Formen 2 = 4,65 „
Die Erfahrungen der Praxis stimmen mit den vorstehenden Zahlen
insofern recht gut überein, als eben die Retinitis pigmentosa diejenige
Form der angeborenen Blindheit ist, bei welcher auch nach den prak-
tischen Beobachtungen sich besonders häufig Beziehungen zur consan-
guinen Ehe nachweisen lassen. So spärlich im Allgemeinen auch die
Nachrichten fliessen über das Abhängigkeitsverhältniss, in welchem die
übrigen Formen der angeborenen Blindheit zu der Verwandten - Ehe
stehen, so reichhaltig ist die Literatur über die Retinitis pigmentosa
und deren innigen Beziehungen zur consanguinen Ehe. Seit Liebreich )
im Juli 1861 seine Beobachtungen über die Entstehung der Retmiüs
pigmentosa durch geschlechtliche Vereinigung blutsverwandter Indmduen
zuerst mitgetheilt hatte, haben zahlreiche Forscher es sich zur Aufgabe
gemacht, die ätiologischen Beziehungen zwischen Retinitis Pigmentosa
und consanguiner Ehe klarzulegen. In allerneuester Zeit h^t Wider )
die Frage wieder aufgenommen und in höchst ausführlicher A\eise be-
handelt. Von 41 in der Tübinger Klinik zur Beobachtung gekommenen
Fällen von Retinitis pigmentosa entfielen 14 auf die Verwandten-Ehe,
d h also 34,l''/o ; diesen Befund vergleicht Wider nun mit den Er-
gebnissen, welche er aus einer Zusammenstelkmg der in der Literatur
zerstreuten Angaben gewonnen hat. Wider hat aus den statistischen
Angaben, welche er bei 17 Autoren gefunden, einen durchschmttlichen
Prozentsatz von 31,8''/o berechnet; die meisten Forscher geben 25 bis
30»/o an; geringere und höhere Angaben, wie l3,6«/o {Webster) und
^) Liebreich, Abkunft aus Ehen unter Blutsverwandten als
Grund von Retinitis pigmentosa. Deutsche Klinik Nv. 6. 1861
^) Wider, Ueber die Aetiologie der Retinitis pigmentosa^ Mit
theilungen aus der ophthalmiatrischen Klinik in Tübingen. Band II. Heft 2.
Tübingen 1885.
— 27 —
60°/o {Hocquard) gehören zu den Ausnahmen. Wh- dürften desshalb
wohl auch nicht fehlgreifen, wenn wir gegen 30 "/o der Retinitis pig-
mentosa auf das Conto der Verwandten-Ehe setzen.
Liefern die mitgetheilten Zahlen nun den untrüglichen, statistisch
nicht anzweifelbaren Beweis für eine in der Verwandten - Ehe liegende
spezifische Schädlichkeit, beweisen sie wirklich, dass durch die geschlecht-
liche Vereinigung verwandten Blutes ein die Nachkommenschaft be-
lastendes pathogenes Moment geschaffen wird? Es hat nicht an Autoren
und zwar den namhaftesten gefehlt, welche, gestützt auf Beobachtungen,,
wie die eben mitgetheilten, aus der Vermischung verwandten Blutes den
Grund für degenerative Störungen der Descendenz mit vollster Sicher-
heit abgeleitet haben. Wenn nun auch so anerkannte Forscher, wie
Mooren u. A., für eme solche Behauptung mit vollster Ueberzeugung
einzutreten kein Bedenken getragen haben, so kann ich doch nicht
umhin, über die spezifische Schädlichkeit der Verwandten -Ehe meine
erheblichsten Zweifel zu äussern. Die ausgezeichneten Beobachtungen,
wie sie Mooren, Leber, Sämisch, in jüngster Zeit Wider u. A. veröffent-
licht haben, vermögen, nach imserer Meinung wenigstens, nicht mehr
zu beweisen, als dass dm-ch Verwandten -Ehen unter Umständen für die
Nachkommenschaft recht bedenkliche Konsequenzen geschaffen werden.
Diese Thatsache erkenne ich voll und ganz an; auch für mich kann
kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass die eheliche Vereinigung^
Blutsverwandter unter Umständen das leibliche Wohl der Nachkommen-
schaft in recht erheblicher Weise zu schädigen im Stande sei. Kon-
genitale Missbildungen im Allgemeinen und Amaurose im Besonderen
werden an Personen, welche aus Verwandten-Ehen stammen, nicht selten
beobachtet; diese Thatsache erkenne ich gern und willig an und ich
glaube sogar, es hiesse sich absichtlich verblenden, wollte man diese
Erscheinung in Abrede stellen. Allein ich vermag nicht einzusehen,
warum man mit Anerkennung dieser Thatsache gezwungen sein soll,
für die Erklärung der fi-aglichen Erscheinung ausschliesslich nur die
geschlechtliche Vereinigung verwandten Blutes herbeizuziehen. Will
man dies thun, will man die Vermischung verwandten Blutes ganz,
allein nur als den pathogenen Faktor ansehen, so muss man zuvörderst
mit vollster Sicherheit jede andere Erklärungsmöglichkeit für die Schäd-
lichkeiten der konsanguinen Ehe ausschliessen ; man muss den über-
zeugenden Beweis beibringen, dass kein anderes Schädlichkeitsmoment
in der Verwandten-Ehe vorhanden sein kann, als gerade die Vermisch-
img des verwandten Blutes. Sind nun aber die Vertheidiger der spezi-
fischen Schädlichkeit der Verwandten-Ehe diesem Postulat nachgekommen ?
— 28 —
Haben sie wirklich irgend einen Beweis dafür beigebracht, dass ledig-
lich nui- die geschlechtliche Vereinigung verwandten Blutes jene der
Verwandten -Ehe eigenthümlichen Schädlichkeiten schafft? Ja haben
sie überhaupt einen ernstlichen Versuch gemacht, einen solchen Beweis
anzutreten ? Soweit meine Kenntniss der Literatur reicht , haben sie
das nicht gethan; ihre Beweisführung beschränkte sich durchweg nur
darauf, für die Schädlichkeit der Verwandten - Ehe einen numerischen
Ausdruck aus ihrem Beobachtungsmaterial zu gewinnen imd hatten sie
einen solchen gefunden, nun alsbald zu versichern, mit diesem Ergeb-
niss sei der Nachweis erbracht, dass aus der Vereinigung verwandten
Blutes ein pathogener Faktor für die Nachkommenschaft erstehe. Mau
vergleiche die Arbeiten von Devay , Bewis, Boudin u. A.') und man
wird sich von der Wahrheit des soeben Gesagten mühelos überzeugen.
Einem Jeden, der es mit den Gesetzen der Logik nicht gar zu leicht
nimmt, muss es einleuchten, dass die alleinige Ermittelung des nume-
rischen Verhältnisses der aus der Verwandten - Ehe hervorgehenden
Schädlichkeiten noch durchaus kein erklärendes Licht werfen kann auf
die ursächlichen Momente dieser Schädlichkeiten selbst. Zu einer wu-k-
lichen Erklärung der durch die Verwandten-Ehe bedingten Schädlich-
keiten gehört denn doch noch mehr als das einfache Konstatiren der
letzteren. Ganz unerlässlich für jedes Verständniss der in Rede stehen-
den Verhältnisse ist in erster Linie ein genauer Nachweis über die
Gesundheitszustände der die Ehe bildenden Verwandten, sowie eine
Kenntniss der gleichen Verhältnisse bei den Eltern derselben. Man
muss auf das Genaueste darüber unterrichtet sein, ob und welche krank-
hafte Anlagen in den betreffenden Familien vorhanden sind, denn nur
im Besitze dieser Kenntnisse kann die Möglichkeit einer erblichen Ent-
stehung der für die Verwandten - Ehe ermittelten Schädlichkeiten aus-
geschlossen werden. Aber gerade dieses ei-ste und wichtigste Erforder-
niss einer rationellen Untersuchung der Verwandten -Ehe vermisse ich
bis jetzt so gut wie ganz. So lange man aber nicht mit vollster Sicher-
heit beweisen kann, dass die der Verwandten-Ehe entsprossenden Schäd-
lichkeiten nicht auf dem Wege der Vererbung entstanden sind, so lange
hat man auch nicht das Recht, ja nicht einmal einen Schein von Recht
füi- die Behauptung, dass die geschlechtliche Vermischung verwandten
Blutes an und für sich das pathogene Moment für die Nachkommen-
schaft darstelle. Und diese Ansicht theile ich mit einer grossen An-
zahl von gewiegten, einsichtsvollen Forschern.
>) Man vergleiche den Artikel über B lutsver wandtsch af t von Olärndorff
in der Real-Encyklopädie der gesanimten Heilkunde. Band II. p. 353.
— 29 -
Aber selbst wenn wir unsere medicinischen Bedenken einmal fahren
lassen und von der Möglichkeit der Vererbung ganz absehen wollten,
so könnten wir uns doch der Einsicht nicht verschliessen , dass alle
Untei-suchungen, welche man für die specifische Schädlichkeit der Ver-
wandten-Ehe ausgeführt hat, vom statistischen Standpunkt aus die
höchsten Bedenken en-egen müssen. Wide?' hat vollkommen Recht,
wenn er sagt, als entschieden kann die specifische Schädlichkeit der
Verwandten-Ehe erst dann gelten : „wenn zuverlässige Angaben über das
Häufigkeitsverhältniss der Ehen Blutsverwandter zu denen nicht Bluts-
verwandter zu Gebote ständen", und wenn — das möchte ich diesen
"Worten Wider' s noch beifügen — die Gesundheit der aus beiden hervor-
gegangenen Kinder auf breitester statistischer Basis untersucht worden
ist. Die Schwäche der statistischen Beweisführung hat Fuchs ^) sehr
wohl gefiihlt und müssen wir es demselben hoch anrechnen, dass er
wenigstens den Versuch gemacht hat, den statistischen Boden, auf
welchem die Lehre von der specifischen Schädlichkeit der Verwandten-
Ehe ruht, etwas mehr zu festigen. Leider ist nur dieser Versuch voll-
ständig misslungen und wenn Fuchs selbst die Unzulänglichkeit seiner
Statistik bedauert, so können wir ihn in diesem seinem Beginnen nur
vollständig unterstützen, denn die von ihm versuchte Beweisführung
entbehrt wirklich jeder Verlässlichkeit vollkommen.
Während das, was ich im Vorstehenden gegen die specifische Schäd-
lichkeit der Verwandten-Ehe vom medicinischen und statistischen Stand-
punkt aus geltend gemacht habe, eigentlich nur negativen Fehlern,
Unterlassungssünden der Beweisführung gegolten hat, vermag ich nun-
mehr auch noch eine positive Thatsache beizubringen , welche auf die
Ansicht, dass lediglich nur aus der geschlechtlichen Vereinigung ver-
wandten Blutes schon pathogene Factoren erwachsen könnten, ein recht
eigenthümliches Licht zu werfen wohl geeignet sein dürfte. Unser
Material lehrt nämlich, dass Ehen unter Nicht-Blutsverwandten die
Nachkommenschaft in einer ähnliehen Weise gefährden, wie dies die
Verwandten-Ehe auch thut. Unter den 551 Fällen congenitaler Amaurose,
welche mein Material zählt, finden sich nämlich 94, d. h. 17,06*'/o,
in denen mehrere Kinder einer Familie mit angeborener Blindheit be-
haftet sind, ohne dass bei den Eltern irgendein Verwandtschaftsgrad
oder ein klar zu Tage liegendes erbliches Moment nachweisbar wäre.
Für die Gefahr der Verwandten-Ehe ergab unser Material einen Procent-
') Fuchs, Uie Ursachen und di e V evh üt u ng d er B 1 i nd h e i t. Wies-
baden 1885. p. 15.
— 30 —
satz von l,SO^Io. Ich weiss nun sehr wohl, dass man den Procentsatz
von 7,80 ^/o, den die konsanguine Ehe und 17,06, welchen die colla-
terale Erblichkeit uns ergeben haben, nicht ohne weitres neben einander
stellen, resp. mit einander vergleichen darf. Zu einem solchen Ver-
gleich dürfte man nur dann schreiten, wenn man die Häufigkeit der
Verwandten- und der Nichtverwandten-Ehe genau wüsste; denn die
Verwandten-Ehe kommt ja doch um so viel seltener als wie die Ehe
unter Nichtverwandten vor, dass möglicherweise die 7,63 °/o, welche die
Verwandten-Ehe in unserem Material an Schädlichkeitsmomenten re-
präsentirt, vertheilt man sie auf die einzelnen Ehen, einen viel grösseren
Schaden darstellen würden, als man dies nach der Geringfügigkeit der
Zahl vermutheh sollte. Ueber das quantitative Verhältniss, in welchem
der Schaden der Verwandten- zur Nichtverwandten-Ehe steht, vermögen
wir uns, so lange sichere statistische Mittheilungen über die Zahl der
Verwandten-Ehe in geringem Umfang noch ausstehen, zwar nicht zu
unterrichten, das gebe ich gern zu; aber diese Thatsache ändert daran
nichts, dass die Nichtverwandten-Ehe unter Umständen genau dieselben
Schädlichkeitsmomente zeitigt wie die konsanguine Ehe. Uebrigens haben
andere Autoren Beobachtungen gemacht, welche den unserigen auffallend
gleichen ; so sagt z. B. Leber , dass Häufung von Fällen der Retinitis
pigmentosa fast ebenso oft in Familien, vorkommen, deren Eltern nicht ver-
wandt seien, als wie in konsanguinen Ehen. Auch Dumont scheint unter
seinem Material ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Und schliesslich
äussert sich eine der bedeutendsten Autoritäten auf dem Gebiet der
Entwickelungsgeschichte des Auges, Manz ') über diesen Punkt: „Häufiger
noch als die Wiederholung einer Bildungsanomalie im descendirenden
Verwandtschaftsverhältniss ist das Vorkommen derselben bei mehreren
Gliedern derselben Generation." Diese nicht bestreitbare Erfahrung
lässt die Ansicht, dass die Gefaht der Verwandten-Ehe lediglich durch
die Vermischung des verwandten Blutes bedingt werde, aber denn
doch recht fraglich erscheinen. Erzeugt die Konsanguinität der Eltern
ganz allein ein charakteristisches Schädlichkeitsmoment, warum, so frage
ich, kommt dann dieses selbe Schädlichkeitsmoment auch bei den Nach-
kommen nicht verwandter Eltern zur Beobachtung? Erzeugte die ge-
schlechtliche Vermischung verwandten Blutes allein schon einen pathogenen
Faktor, wie wäre es dann möglich, dass genau dieselbe Erscheinung
auch einträte bei der Vermischung fremden, nicht verwandten Blutes?
Manz, Die Missbildungen des menschlichen Auges. Gräfe und
Sämisch, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Band II. Theil 2. Leipzig
1876. p. 62. .
9
— 31 —
Man sieht also, durch eine besondere Stärke der logischen Schluss-
folgeruug können sich Diejenigen wohl kaum auszeichnen, welche gegen-
über den soeben angeführten Thatsachen die Behauptung verfechten,
dass einzig und allein die Vereiniguug des verwandten Blutes den
Schaden der Verwandten-Ehe stifte. Ich nehme deshalb auch keinen
Anstand, die specifische Schädlichkeit der Verwandten-Ehe vollständig
zu leugnen. Doch ist damit, und darauf bitte ich wohl zu achten,
noch keineswegs die Schädlichkeit der Verwandten-Ehe selbst in Ab-
rede gestellt. Ich bin vielmehr der festen Ueberzeugung — und das muss
ich nach den Ergebnissen meines Materials nun einmal sein — , dass
die Verwandten-Ehe unter Umständen für die Nachkommenschaft ver-
derblich wirken , Häufung von kongenitaler Amaurose unter derselben
erzeugen kann, aber ich bestreite, dass diese Erscheinung irgend etwas
mit der Vermischung des verwandten Blutes zu thun habe. Der Grund
für jene Schädlichkeit ist nicht in der Konsanguinität, sondern in einem
ganz anderen Faktor zu suchen und zwar in dem nämlichen Faktor,
welcher die Häufung der kongenitalen Amaurose auch in der nicht
konsanguinen Ehe so oft verursacht. Als diesen Grund sehe ich die
Vererbung krankhafter Anlagen von den Eltern, resp. von den Vor-
eltern auf die Nachkommenschaft an.^) AVenn zwei mit einander ver-
wandte Individuen von ihren gemeinsamen Voreltern irgend eine krank-
hafte Anlage überkommen haben , so wird durch ihre eheliche Ver-
einigung diese erbliche Belastung, wenn ich mich so ausdrücken darf,
potenzirt und als unmittelbare Folge dieser Potenzirung tritt dann bei
den Nachkommen die Häufung kongenitaler Missbildungen in Erscheinung.
Genau das Nämliche ist aber auch der Fall, wenn zwei einander fremde
Personen, die zufällig von ihren Erzeugern her mit irgend einem krank-
haften Keim belastet sind, einander heirathen ; auch bei ihnen tritt die
Potenzirung dieser beiderseitigen Belastung an den Nachkommen in Er-
scheinung. Als Belastungskeime sowohl für die kongenitale Amaurose
im Besonderen, wie für die angeborenen Missbildungen im Allgemeinen
können, wie wir dies im vorigen Paragraphen bereits erfahren haben,
die verschiedenartigsten Erkrankungen der Ehegatten, resp. der Eltern
derselben funktioniren ; so können Skrofulöse und Tuberkulose, S}^hilis,
neuropathische Zustände u. dgl. m. zum Auftreten der angeborenen Blind-
heit resp. zur Häufung derselben in einer Familie Veranlassung geben.
*) Von ähnlichen Anschauungen scheint in neuester Zeit auch ZiegJer aus-
zugehen, wenigstens stellt er in seiner jüngst gehaltenen Eede (üeber die Vererbung
erworbener pathologischer Eigenschaften. 5. Kougress für innere Medicin, Wies-
baden 1886) die Gefahren der konsanguinen Ehe dar als bedingt durch Vererbung.
— 32 —
Wenn nun die Ansichten, welche ich soeben über die Gefahren
der Konsanguinität geäussert habe, richtig sind, so werden gewisse
theoretische Schlussfolgerungen, welche man aus denselben ziehen darf,
in der Praxis nachweisbar sein müssen. Ist z. B. lediglich die Steiger-
ung der beiden Gatten gemeinsamen Krankheitsanlage die Ursache für
das häufige Auftreten der kongenitalen Missbildungen an verschiedenen
Sprösslingen ein und derselben konsanguinen Ehe, so werden wir unter
gewissen Voraussetzungen diese unangenehme Konsequenz ganz besonders
stark bemerken müssen. Sind nämlich die die Ehe schliessenden kon-
sanguinen Individuen in schlechter äusserer Lage, müssen sie um die
Existenz schwer ringen, so werden voraussichtlich mit diesen Verhält-
nissen ganz besonders günstige Bedingungen für die Entwickelung der
den Eheleuten anhaftenden Krankheitsanlagen gegeben sein, die Ent-
faltungsreize werden unter solchen Umständen häufiger und wirksamer
vorhanden sein, als wenn unter günstigen Bedingungen gelebt wird.
Als unmittelbare und natürliche Folge solcher Verhältnisse müsste dann
aber bei der konsanguinen Ehe ein grösserer Reichthum an Missbild-
ungen nachweisbar sein, sobald dieselbe von Angehörigen der besitzlosen
Klassen geschlossen wird. Und diese unsere rein theoretische Vor-
aussetzung scheint nach den Beobachtungen verschiedener Autoren wirk-
lich zutreffend zu sein; so sagt z. B. der jüngere Dartcin ; „Mitschell^)
kam zu dem Schlüsse, dass unter günstigen Lebensbedingungen die
sichtbaren üblen Wirkungen häufig fast Null wären, während, wenn
die Kinder schlecht ernährt, schlecht wohnten und schlecht bekleidet
würden, das Uebel sehr hervortretend werden könne. Dies befindet sich
in auffallender Uebereinstimmung mit einigen nicht veröffentlichten Ex-
perimenten meines Vaters, Charles Darwin, über die In -Zucht von
Pflanzen; denn er hat gefunden, dass innerhalb der Art gezüchtete
Pflanzen, wenn ihnen Raum genug und guter Boden gewährt wird,
häufig wenig oder keine Entartung zeigen, während sie, zum Kampf
ums Dasein mit anderen Pflanzen gezwungen, häufig zu Grunde gehen
oder doch im Wachsthum sehr zurückbleiben."
Aehnliche Aeusserungen finden wir bei Reich'^) u. A.
Halten wir daran fest, dass nicht die Vermischung des verwandten
Blutes an sich ein Schädlichkeitsmoment schafft, sondern dies nur auf
Grund der beiden Ehegatten gemeinsamen und durch diese Gemem-
samkeit gesteigerten wenn man so sagen darf gezüchteten Krankheits-
' ') Darivin, Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre
Folgen. Mit einem Vorworte von Dr. Otto Zacharias. Leipzig 187G. p 40u.4U
») Beich, Pathologie der Bevölkerung. Berlin 1879.
— 33 —
aulage sich entwickelt, so Avird uns auch die eigenthilmliche Erscheinung
etwas verständlicher werden, dass nämlich die congenitale Belastung in
der Nachkommenschaft so auffallend schwankt. Man beobachtet Familien,
in denen die ersten Kinder ganz gesund geboren werden und dann plötzlich
die Neigung zu kongenitaler Amaurose bei allen später Geborenen auftritt;
umgekehrt sieht man aber auch die ersten zwei oder drei Kinder blind
geboren werden und dann plötzlich lauter gesunde Nachkommenschaft er-
scheinen. In» noch anderen Fällen tritt die angeborene Amaurose regellos
bald bei diesem, bald bei jenem Kind einer grösseren Familie auf. Alle
diese Fälle erklären sich einfach dadurch, dass die Entfaltungsreize für
die den beiden Eltern gemeinsame pathologische Belastung unter gegebenen
äusseren Verhältnissen bald mehr, bald weniger bedeutend sind. Je nach-
dem die belasteten Eltern unter günstigeren oder weniger günstigeren Ver-
hältnissen leben, werden sich diese ihre Lebensbedingungen in ihrer Nach-
kommenschaft abspiegeln. Es wäre desshalb dringend geboten, bei allen
Familien, deren Nachkommenschaft wiederholt mit kongenitalen Missbild-
ungen behaftet ist, genau den äusseren Lebensverhältnissen nachzuforschen,
unter denen die Erzeuger bei der Geburt der verschiedenen Kander ge-
standen haben. Die Ernährungsverhältnisse, die körperlichen Zustände der
Eltern, ihre Gemüthsstimmung und was nun derartige Umstände mehr
sein mögen, müssten möglichst genau für die Zeitperiode ermittelt
werden, in welche die Zeugung und Geburt der einzelnen Kinder fällt.
Ich bin fest überzeugt, dass, würde man derartige Untersuchungen mit
der nöthigen Sorgfalt und in gehörigem Umfang anstellen, das räthsel-
hafte Dunkel, welches jetzt noch über jenen Fällen schwebt, in welchen
einzelne Familien durch Häufung kongenitaler Missbildungen so auf-
fallend heimgesucht werden, recht bedeutend erhellt werden dürfte.
Uebrigens ist meine Ansicht, nach welcher die Vermischung ver-
wandten Blutes an sich keine Schädlichkeit einschliesst, dieselbe viel-
mehr nur dui-ch Steigerung der den verwandten Ehegatten gemeinsamen
Kj-ankheitsanlagen bedingt wird, durchaus nicht mein ausschliessliches
Eigenthum; eine ganze Reihe anderer Forscher haben ähnliche Vor-
stellungen bereits früher auch geäussert, so z. B. Oesterlen,^) Monte-
gazzn,'*) Quatrefages^) u. A.
') Oesterlen, Handbuch der medicinischen Statistik. Zweite Aus-
gabe. Tübingen 1874. p. 196 u. ff.
Montegazza, Studii sui matrimonii consanguinoi. Mailand 1868.
Citirt von Eotli 1. c. p. 89.
Magnus, Jngendblindhoit. 3
— 34 —
Dürfen wir nun das, was wir über die Folgen der konsauguinen
Ehe soeben geäussert haben, nochmals zusammenfassen, so würden wir
behaupten :
1. Die Blutsverwandten - Ehe an sich, d. h, die Vermischung ver-
wandten Blutes an sich schafft kein die Nachkommenschaft be-
lastendes pathogenes Moment.
2. In der Blutsverwandten - Ehe finden sich öfters mehrere Kinder
mit kongenitaler Amaurose behaftet; doch tritt dieselbe Erschein-
ung auch in der nichtkonsanguinen Ehe des öfteren auf. In
welchem prozentarischen Verhältniss diese Belastungen in der
konsanguinen und nichtkonsanguinen Ehe zu einander stehen,
lässt sich vor der Hand mit Bestimmtheit noch nicht sagen.
3. Die Nachtheile der Blutsverwandten - Ehe werden lediglich nur
bedingt durch Steigerung einer beiden Gatten gemeüjsamen Ki'ank-
heitsanlage.
4. Alle Verhältnisse, welche als Entfaltungsreize für Ki-ankheits-
anlageu wirksam sein können, werden die Nachtheile der Bluts-
verwandten-Ehe ganz besonders hervortreten lassen.
" Aus dem soeben Gesagten erhellt auch, welche Stellung der Oph-
thalmologe zui- Verhütung der aus der konsanguinen Ehe hervorgehenden
Schädlichkeiten einnehmen soll. Wäre die Verwandten - Ehe an sich
selbst schädlich, so wäre es ganz gerechtfertigt, wenn wir Augenärzte,
wie dies in der That auch einige hervorragende Kollegen thun, den
Schutz der Gesetze anriefen und ein generelles Verbot der Verwandten-
Ehe anstrebten. Da nun aber nicht die Ehe an sieh selbst das Schäd-
liche ist, vielmehr nui' unter gewissen Bedingungen Schädlichkeiten setzt,
so kann es auch nur unsere Aufgabe sein, diesen Bedingungen vorzu-
beugen. Es ist desshalb Pflicht des Arztes, seine Klienten, sobald sie
mit^einem Glied ihrer Verwandtschaft ein Ehebündniss eingehen wollen,
darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Bündniss ein verhängniss-
volles werden kann, sobald eine den verwandten FamUien gemeinsame
Krankheitsanlage vorhanden sei und es ist Aufgabe des Arztes wie
seines Klienten, derartigen Anlagen auf das Aengstlichste nachzuspm-en.
Dieselbe Pflicht erwächst aber auch dem Arzt, wenn einer seiner
Klienten, von dem er weiss, dass er mit einer Krankheitsanlage behaftet
ist eine ihm nicht verwandte Person heirathen will. Dann kann der Arzt
gar nicht energisch genug darauf dringen, dass bei Eingehung der Ehe
ledicrlich nur die Rücksicht auf die vollständige Gesundheit des zu wahlen-
den Individuums massgebend sein soll; denn der bei dem einen Ehegatten
— 35 —
Torhaudeue Krankheitskeim kann nur durch vollste Gesundheit des
anderen Theiles in seineu verderblichen Konsequenzen unschädlich ge-
macht werden. Leider dürfte nur die Stimme des Arztes gerade in der
Heirathsfrage sehr selten gehört werden, wenigstens in unserer heutigen
Zeit, welche mit so ganz besonderer Vorliebe auf die Geld- und nicht
auf die Gesundheitsverhältnisse der zui* Ehe Erkorenen achtet. Die
richtige Hygiene der Ehe ist der einzige Schutz gegen die aus der kon-
sanguinen Ehe hervorgehenden Schädlichkeiten und nicht das Gesetz.
§ 7. Entstehung der angeborenen Blindheit durch kongenitale Be-
lastung ohne Heredität und Blutsverwandtschaft (Collaterale Erblichkeit
nach Bollinger).
Eine Häufung von angeborener Blindheit ohne Vorhandensein
einer nachweisbaren hereditären oder konsanguinen Belastung findet sich
in vmserem Material von 551 Fällen 94 mal, d. h. also in 17,06 7o
der gesammten angeborenen Amaurose überhaupt. Es übertrifft also
wenigstens in unserem Material die kollaterale Erblichkeit die beiden
anderen Entstehungsformen der kongenitalen Amaurose, die directe Ver-
erbung und die Konsanguinität , nicht unbedeutend an Ergiebigkeit
Doch soll damit diu-chaus kein principieller Unterschied zwischen diesen
drei Entstelmngsmöglichkeiten geschaffen sein, im Gegentheil, ich fasse
alle drei Entstehungsformen, wie dies sofort auseinander gesetzt werden
soll, unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt, nämlich dem der Heredität,
zusammen und halte ihre Scheidung lediglich bedingt durch die Fehler
und Unzulänglichkeiten der heutigen Forschung. Ueber die einzelnen
Formen der kongenitalen Blindheit vertheilen sich diese 94 Fälle in
der folgenden Weise:
Durch kollaterale Erblichkeit
3 Fällen
von
Keratoconus
2
66,67 7o
14 „
Ketinalatrophie
6
42,85 „
73 „
Retinitis pigmentosa
19
26,03 „
35
)>
Chorioidealveräuderungen
10
28,56 „
4 „
jj
Myopia excessiva congenita
1
25,00 „
113 „
)i
Atrophia nervi optici
26
23,00 „
38 „
>»
Buphthalmus
8
21,05 „
81 „
»
Mikrophthalmus
7
8,64 „
118 „
Cataracta congenita complicata 8
6,78 „
43 „
>>
nicht bestimmten Formen
7
16,28 „
3*
— se-
in welcher "Weise die numerische Belastung einer Familie mit
collateraler Amaurose zu erfolgen pflegt, darüber geben die folgenden
Ziffern Aufschluss.
Unter den 94 Fällen kamen 53 mal 2 Fälle in einer Familie vor = 56,38 "/o-
„ „ 94 „ „ 23 „ 3 „ „ „ „ „ = 24,47 „
„ „ 94 „ „ 15 „ 4 „ „ „ „ „ = 15,96 „
„ 94 „ „ 2 „ 5 „ „ „ „ „ = 2,13 „
„ „ 94 „ „ 1 „ 8 „ „ „ „ „ = 1,06 „
Zu den höchsten Seltenheiten scheint es zu gehören, wenn bei Ge-
burt eines Zwillingspaares beide Kinder blind geboren werden. Mein
Material zählt einen derartigen Fall, in dem bei beiden Zmllingen
Atrophia nervi optici congenita nachweisbar war ; die betreffende Familie
zählte 4 Kinder, von denen die beiden älteren blind geboren wurden,
dann folgte das erwähnte Zwillingspaar und dann 2 sehende Kinder.
Uebrigens braucht sich die coUaterale Vererbung keineswegs immer
in der gleichen Weise bei den betallenen Familiengliedern zu äussern,
vielmehr scheint ein Wechsel in der Art und Weise der Belastung
nichts Seltenes zu sein. Dieselbe Erfahrung kann man übrigens bei
den anderen Formen der kongenitalen Belastung, bei der durch un-
mittelbare Vererbung und bei der durch Konsanguinität bedingten be-
kanntlich auch machen, wie wir dies bei Besprechung der einzeken
Formen der kongenitalen Blindheit noch des Näheren nachweisen werden.
Unter unseren hierher gehörigen 94 Fällen zeigten 10 mal die
Geschwister anderweitige Erkrankungen, nämlich 1 mal Epilepsie, 1 mal
Phthise, 3 mal Geisteskrankheit, 4 mal Taubstummheit, 1 mal Ver-
kümmerung der Finger.
Auch die Formen der angeborenen Blindheit wechselten in der-
selben Familie; so war in 10 Fällen bei einem Kind Amaurosis kon-
genita und bei anderen Kindern hochgradige angeborene Myopie vor-
handen In 3 Fällen waren Iridochorioiditis resp. Chorioiditis und
Atrophia nervi optici in einer Familie kongenital vorhanden, wäln-end
Cataracta complicata und Atrophia nervi optici congenita 4 mal bei
mehreren Kindern derselben Familie nachweisbar waren.
Besonders gedenken möchte ich noch eines Falles, m dem von 1&
Kindern 8 blind geboren waren und zwar in Folge von Mikrophthal-
mus Alle 16 Kinder stammten von einem Vater, aber zwei Muttern,
welche Schwestern waren. Weder Verwandtschaft noch Krankheit der
Eltern waren nachweisbar; über die Grosseltern, resp. über die Familien,
aus denen der Vater und die beiden Mütter stammten, fehlten dagegen
sichere Nachrichten. Und dieser Mangel eines genauen Berichtes über
— 37 —
-den Gesundheitszustand der Voreltern oder der Familien überhaupt macht
sich in fast allen unseren hierher gehörigen Fällen bemerkbar ; doch kann
•dieser Umstand speciell unserem Material keineswegs als besonderer Fehler
angerechnet werden, da er in den übrigen in der Literatui- vorhandenen
Beobachtungen auch fast immer wiederkehrt. Es gehört zu den grössten
Seltenheiten und ist ein ganz besonderer Glücksfall fiir den Beobachter,
•die Gesundsheitsverhältnisse einer Familie durch mehrere Generationen
mit Sicherheit verfolgen zu können; meist hören die nur einigermassen
verlässlichen Mittheilungen schon auf, wenn man über die erste Generation
hinausgeht. Dieser Umstand bringt mich denn auch auf die Vermuthung,
■dass all' den Fällen von kollateraler Erblichkeit irgend eine Familien-
belastung zu Grunde liegt, deren Existenz uns nur bei der geringen
Ausgiebigkeit der Erforschung verborgen bleibt. Ich bekenne mich
aus dem Grunde unbedingt zu dieser Ansicht, weil sie meinem patho-
logischen Verständniss doch gewisse brauchbare Handhaben bietet,
während jene Vorstellung, nach der auch die geschlechtliche Vereinigung
nicht verwandter Individuen unter gewissen bis jetzt aber nicht näher
bekannten Umständen pathologische Konsequenzen schaffen soll, mich un-
bedingt vor ein imlösbares physiologisches wie pathologisches Eäthsel stellt.
Ich halte deshalb, so lange ich nicht durch wirkliche Beweise eines Besseren
belehrt werde, unentwegt an der Ansicht fest, dass, wo Häufimg kon-
genitaler Missbildungen vorkommt, stets ein erbliches Moment seine
Wirksamkeit bethätigt hat. Jedenfalls hat diese meine Vorstellung den
grossen Vortheil, dass sie die Schädlichkeiten der konsanguinen Ehe,
sowie die kollaterale Erblichkeit unter denselben Gesichtspunkt bringt,
sowie überhaupt für die Genese eines grossen Theiles der angeborenen Miss-
bildungen eine gemeinsame, gleichwerthige Erklärungsmöglichkeit bietet.
§ 8. Das Vorkommen der kongenitalen Amaurose.
Unser Material von 3204 Fällen Jugendblinder zählt 551 mal
Isongenitale Amaurose, d.h. also in 17,20''/o, und zwar vertheilen sich
diese 551 Fälle so über beide Geschlechter, dass auf das männliche
327 und auf das weibliche 224 entfallen. Da mein Material nun im
Ganzen 2009 männliche und 1195 weibliche Blinde enthält, so ergiebt
.sich, dass das männliche Geschlecht mit 16,28 "/o kongenitaler Amaurose
belastet ist und das weibliche mit 18,74 °/o; eine erhebliche Differenz
scheint also zwischen beiden Geschlechtern bezüglich ihrer Betheiligung
■an der angeborenen Blindheit nicht zu bestehen.
In unserer früheren Blindenuntersuchung, welche 2528 Blinde aller
Altersklassen umschloss, entfiel auf die kongenitale Amaurose nur ein
— 38 —
Prozentsatz von 3,83 "/o, während wir heute einen solchen von 17,20"/o-
ermittelt haben. Dieser auffallende Unterschied zwischen meiner fi-ülierett
und meiner jetzigen Untersuchung enthält nun aber kemeswegs einen
Widerspruch, erkläi-t sich vielmehr lediglich nur durch den Umstand^
dass ich in die frühere Untersuchungsreihe Blinde aller Altersklassen
eingestellt und diesmal nur die ersten zwanzig Lebensjahre berück-
sichtigt habe. Für ein aus jugendlichen Blinden zusammengesetztes
Material muss der Prozentsatz der angeborenen Blindheit aber natürlich
grösser sein, als in einem Material, welches auch die so ergiebigen
Formen der Altersblindheit mit in Beü-acht zieht.
Mein grosses Material erlaubt mir mm auch, für die verschiedenen
europäischen Länder wenigstens versuchsweise die Verbreitung der kon-
genitalen Amaui-ose zu ermitteln. Ich sage aber ausdrücklich, nur ver-
suchsweise, weil das mir vorliegende Material für die einzelnen europäi-
schen Länder ein numerisch sehr verschiedenes ist, denn während mir
für gewisse Länder, z. B. Deutschland und Oesterreich-Ungarn die Zög-
linge der gesammten Blinden-Erziehungs- Anstalten zur Verfügung stehen,,
habe ich aus anderen Ländern nur die Blinden aus einigen wenigen
Anstalten. Die im Material selbst liegende numerische Verschiedenheit
kann also auf die nun folgende Zusammenstellung sehr wohl einen mehr
oder minder weitgehenden Einfluss ausüben und desshalb möchte ich
die folgende Zahlenreihe eben als einen Versuch , allerdings als einen
berechtigten, ansehen.
Mein Material ergibt also für:
Schweiz = 24,63 "/„ kongenitaler Amaurose
Schweden-Norwegen = 24,00 „ „ »
Holland = 22,60 „
Deutschland 1) = 20,75 „ „ »
Oesterreich-Ungarn 2) = 12,59 „ „ »
Belgien = 10,48 „ „ »
«) Die otfizielle Statistik rechnet für die preussischen Bliudenanstalten etwa
25«/ auf die kongenitale Amaurose. {Guttstaät, Die Gebrechlichen in der
Bevölkerung Preussens am l. Dezember 1880. Zeitschrift des kön.gl.
preussischen statistischen Bureau's, Jahrgang 1882.) ,. „ .
n Für Oesterreich -Ungarn ist der Prozentsatz der angeborenen Blmdlieit
nach der offiziellen Statistik auf 17,4 "/„ berechnet, {imiches, Statistik des
Sanitätswesens der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und
Länder für 1878. Wien 1882. p. XXI.) Da nun die offiziellen Gebrechen-
statistiken, wie dies meine früheren Untersuchungen für Deutschland ergeben
haben, meist zu hoch beziffert sind, so könnte mein Prozentsatz vielleicht an-
nähernd richtig sein.
— 39 —
Spanien = 9,30 "/o kongenitaler Amaurose
Kussland = 8,45 „ „ »
Italien — 6)9"^ » » "
Sehr zu wünschen wäre, class fremde Kollegen die für ihre Länder
von mir mitgetheilten Ziffern durch möglichst erschöpfende Untersuchvmgen
ihrer heimathlichen Blinden-Anstalten vergleichen und berichtigen möchten.
Ueber die emzelnen Blindenaustalten vertheilt sich die Amaurosis
congenita iu der verschiedensten Weise; während sie in gewissen An-
stalten einen airffallend niedrigen Prozentsatz zeigt, steigt sie in anderen
Anstalten auf eine ganz bedeutende Höhe. Die Grenzen dieser Schwank-
ungen') liegen zwischen 3 und 34*^/0. Natürlich ist solchen Erschein-
ungen kein besonderes Gewicht beizulegen; vor Allem darf nicht etwa
der Schluss gezogen werden, dass diejenige Provinz, welche hinter der
Anstalt steht, nun eine eben solche Verbreitung der angeborenen Blind-
heit besitzen müsse, wie die zu ihr gehörige Anstalt. Das Material der
meisten Anstalten ist denn doch ein numerisch zu kleines, und darum
dem Zufall zu sehr unterworfenes, um irgend einen sicheren, für grössere
Bevölkerungskreise allgemein verbindlichen Schluss aus ihm allein ziehen
zu dürfen ; das wäre niu- bei einem über gi-össere Zahlenreihen verfügenden
Material gestattet. Die Fehlerquellen, welche geringeren statistischen
Zusammenstellungen immer eigen sein müssen, erklären die Schwank-
ungen, welche unsere Tafel I und II für das Auftreten der Amaui-osis
congenita nachweisen, hinlänglich.
§ 9. Die Formen der angeborenen Amaurose.
Die 551 Fälle unseres Materials gruppiren sich den einzelnen Er-
scheinungsformen nach in folgender Weise;
Unter 551 Fällen angeborener Blindheit finden sich
118 mal Cataracta complicata
20,51 7o
113 „ Atrophia nervi optici
21,42 „
81 „ Mikrophthalmus
14,70 „
73 „ Retinitis pigmentosa
13,25 „
38 „ Buphthalmus
6,90 .,
21 „ Chorioiditis
3,81 „
1 7 „ Retinalatrophie
3,09 „
16 „ Anophthalmus
2,90 „
14 „ Iridochorioiditis
2,54 „
') Man vergleiche die Tafeln I und II dieses Werkes, welche die Ver-
theilung der wichtigsten Blindheitsformen über die Blinden-Anstalteu in Deutsch-
land und Oesterreich-Ungarn zur Darstellung bringen.
— 40 —
4 mal Myopia excessiva = 0,73
4 „ Albinismus = 0,73 „
3 „ Keratocouus = 0,54 „
3 „ Coloboma chorioideae =: 0,54 „
1 „ Glioma retinae = 0,18 „
1 „ Verschmelzung von Lid und Bulbus = 0,18 „
1 „ Keratitis = 0,18 „
43 „ nicht bestimmte Formen = 7,80 „
551 ~~ = 100,00 7o
Wir hätten also in der vorliegenden tabellarischen Zusammen Ord-
nung eine Werthskala für die einzelnen Formen der angeborenen Blind-
heit gewonnen; eine besondere Besprechung dürfte dieselbe kaum er-
fordern und können wir uns nunmehr zu einer Betrachtung dessen
wenden, was unser Material über die einzelnen Formen selbst sagt.-)
Cataracta congenita complicata. Wie schon aus der Ueber-
schrift hervorgeht, handelt es sich hier wohl meistentheils um solche
Fälle, in denen die Linsentrübung als das sekundäre Produkt eines in
einem anderen Theil des Auges zum Austrag gebrachten pathologischen
Prozesses anzusehen ist. Welcherlei Ai't diese krankhaften Vorgänge
gewesen sind, das lässt sich natürlich mit Bestimmtheit nicht mehr
nachweisen, sowie auch über die Periode des intrauterinen Lebens, in
welcher die Erkrankung autgetreten ist, nur ausnahmsweise sichere Merk-
male vorhanden sind. In einzelnen Fällen allerdings können wir aus
verschiedenen Kennzeichen, aus Colobombildung, Mangel der Ws u. dgl. m.
die sichere Ueberzeugung gewinnen, dass die Erkrankung des Auges,
welche der sekundä^-en Linsentrübung vorangegangen ist, zu einer Zeit
erfolgt sein muss, in welcher der anatomische Aufbau des Sehorganes
noch nicht beendet war. Für andere Fälle wieder müssen die letzten
Phasen des intrauterinen Lebens die Zeit der Augenerkrankung gebildet
haben. Es handelt sich hier also offenbar um eine Reihe der heterogen-
sten Zustände, deren Vereinigung mehr zwangs- als naturgemäss erfolgt
ist, zwangsgeraäss, weil bei der Untersuchung das auffallendste Symptom,
die Linsentrübung, von den untersuchenden Kollegen als pathologisches
') Die in unserer früheren Arbeit (Die Blindheit, ihre Entstehung und ihre
Verhütung. Breslau 1883) p. 119 und 128 mitgetheilten Angaben über das Vor-
kommen der einzelnen Formen der angeborenen Blindheit ergaben ein ähnliches
Resultat, wie das oben stehende; auch damals waren die angeborene Sehnerven-
Atrophie, die Retinitis pigmentosa, Mikrophthalmus und Buphthalmus die am
häufigsten vertretenen Formen.
f
— 41 —
Stichwort gewählt worden ist. Uebrigens ist bei einer Reihe der hier
zusammengestellten Fälle auch die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen,
dass die Staarbildung in den ersten Monaten des extrauterinen Lebens
erfolgt sein kann; bekanntlich ist ja die sichere Entscheidung, ob man es
im gegebenen Falle bei einem kindlichen Staar mit einem kongenitalen
oder später erworbenen zu thun hat, häufig recht schwierig. Jedenfalls
ist die Prognose für alle hier behandelten Fälle eine ganz schlechte;
denn in 44 Fällen ist von einer Operation vollständig Abstand ge-
nommen und in 74 Fällen ist eine solche ohne jeden Erfolg ausgeführt
worden.
"Wenn also unser Material für die pathologische Beurtheilung der
hierher gehörigen Fälle, wie ich dies nochmals ganz ausdrücklich be-
merken will, nicht verlässlich und keineswegs einwandsfrei ist, so giebt
es uns nach manchen anderen Seiten hin doch recht werthvolle Auf-
schlüsse.
Was zuvörderst die mittelbaren Entstehungsursachen anlangt, so
waren 7 mal die Eltern verwandt, 12 mal mit Krankheiten behaftet,
1 mal waren die Eltern zwar gesund, aber die Familie des Vaters in
verschiedenen ihrer Mitglieder mit Blindheit behaftet, 51 mal gesund
und nicht verwandt. Von diesen 51 gesunden Eltern ging 8 mal eine
kollaterale Erblichkeit aus. lieber 37 Eltempaare fehlen nähere An-
gaben.
lieber die 12 Fälle elterlicher Krankheit erfahren wir, dass 3 mal
die Eltern staarblind, 1 mal myopisch waren ; 8 mal fehlen die näheren
Angaben.
Von Wichtigkeit sind die anderweitigen Komplikationen, welche
die Augen der Blmden selbst darbieten. Während gerade über diese
Verhältnisse fiir die übrigen Formen der kongenitalen Blindheit, wie
dies die folgenden Seiten lehren werden, ein recht reiches Material vor-
liegt, sind für die Cataracta complicata congenita nur 2 mal Kom-
plikationen angegeben ; nämlich 1 mal Irideremia eines Auges vuid 1 mal
Coloboma iridis eines Auges.
Der Untersuchung werth sind ferner noch die kongenitalen Be-
lastungen, welche die Kataraktblinden noch an anderen Körpertheilen
aufweisen; in 7 Fällen finden sich solche kongenitale Störungen ver-
zeichnet und zwar: 1 mal Taubstummheit, 1 mal angeborene Sprach-
störung, 1 mal Mikrocephalie mit Idiotismus und 4 mal Rhachitis.
Von hervorragendstem Interesse dürften sodann noch diejenigen
Fälle sein, in welchen die Geschwister der kongenital Blinden gleich-
falls mit angeborenen Gebrechen behaftet sind. Derartige Fälle liegen
— 42 —
22 vor und zwar wurden folgende Gebrechen beobachtet, wobei darauf
geachtet werden muss, dass wiederholt an einem Individuum mehrere
Formen beobachtet wui-den:
19 mal Cataracta congenita,
1 ,. Myopia,
5 „ Atrophia nervi optici,
2 „ Blödsinn,
2 „ Taubstummheit,
7 „ fehlen nähere Angaben über die Blindheit,
2 Lähmung verschiedener Glieder.
Schliesslich will ich nicht unterlassen, über diejenigen der mit
Cataracta congenita behafteten Blinden unseres Materials noch emige
Bemerkungen anzuschliessen, welche in den ersten Lebensjahren ander-
weitige Krankheiten erworben haben. Dies war 9 mal der Fall imd
zwar wurden 5 mal epileptische Anfälle erworben; 1 mal Taubheit,
1 mal Lähmung der unteren Extremitäten und 2 mal schwere Knochen-
scrofulose.
Atrophia nervi optici congenita ist abgesehen von der
Cataracta congenita complicata die anr Häufigsten anftretende Form
der angeborenen Blindheit, eine Thatsache, «Iche auch von anderen
ForschL, so in der neuesten Zeit von Fdser'). bestätigt wn^. Doch
erfordert die Diagnose der angeborenen Sehnervenatroph.e .n,mer eme
gewisse Vorsicht und zwar aus folgenden Gründen. Zunachs s nd
wir bezüglich der Annahme des intrauterinen Ursprunges der AtoiA.e
in den aflermeisten Fällen lediglich nur auf die Angaben der H^m
oder Erzieher der Blinden angewiesen. Nun ist aber dre Sehfunk .on
n den ersten Wochen und Monaten nach G^-Vr/r in Z
niemals mit Sicherheit zu beurtheilen. Das Kmd bethatigt m den
ersten Perioden seines Daseins das Sehvermögen nnr m aller,
bescheidensten Umfang, und deshalb werden M^gel "^f-
Funktion fast immer erst in den späteren Lebensjahren entdeckt _ Meist
wird erst im zweiten Jahr oder manchmal sogar noch spater d,e Be-
Zrknng gemacht, dass das Kind schlecht sieht. Das Pnbhknm ,st nm
l allen Bolchen Fällen, in denen im zweiten oder dntten Leben^ah
Blindheit konstatirt wird, meist sehr schnell m,t der Diagnose en«
Ingeborenen Blindheit bei der Hand, und doch ist h.erbe, n.ema d.
Möglichkeit ausznschliessen, dass im extrantennen Leben bald nach der
7ws7,7B^i..-.g .uvKc-ntais, der Ursachen .1er llliudheU.
We.t..ik opltlmlmolögii. 1885. NoYBrnber-Dezcmher.
— 43 —
Geburt oder im Lauf des ersten und zweiten Jahres die Blindheit er-
worben worden sein kann. Von einer angeborenen Aü'ophie des Optikus
kann man eigentlich erst dann mit vollster Sicherheit reden, wenn man
das Kind bald nach der Geburt zu ophthalmoscopiren Gelegenheit hatte^
wie ich dies 2 mal zu thun im Stande war. Hieraus geht also her-
vor, dass die Scheidung zwischen einer kongenitalen und einer in den,
allerfrühesten Lebensphaseu erworbenen Atrophia optica kaum zu er-
möglichen ist. Wir müssen deshalb auch in den Fällen unseres Materials
die Möglichkeit, dass die Atrophia nicht mit auf die Welt gebracht
worden ist, offen lassen.
Und ferner darf man nicht vergessen, dass gewisse Formen der
angeborenen Blindheit, nämlich die Eetinitis pigmentosa, sich in den
ersten Jahren nach der Gebm't hauptsächlich durch Entfärbung der
Papille kennzeichnen, die Pigmentbildung erst in späteren Lebensepochen
auftritt. Derartige Fälle können längere Zeit hindurch als Atrophien
imponiren, während sie in der That späterhin als Retinitis pigmentosa,
sich entpuppen.
Das Gesagte beweist, dass man die Diagnose der angeborene»
Sehnerven atrophie mit einem gewissen Skepticismus anzusehen gut thut
vmd dass man bei der Beurtheilung des Procentsatzes der angeborenen
Ati'ophie sich stets der erwähnten Umstände erinnern muss. Was die
ätiologischen Verhältnisse unserer 113 Fälle von angeborener Sehnerven-
atrophie anlangt, so 'waren 55 mal die Eltern gesund und nicht ver-
wandt; 12 mal waren die Eltern krank oder mit Sehstörungen behaftet;.
1 1 mal Avai* Konsanguinität nachweisbar und 35 mal fehlen alle näheren
Angaben. Von den 55 gesunden Elternpaaren ging 26 mal kollaterale-
Erblichkeit aus.
Ueber die 1 2 Fälle elterlicher Krankheit vermag ich Folgendes zu
berichten: 5 mal lag eine nicht näher gekennzeichnete Augenaffektion
vor; 3 mal Cataract; 1 mal Myopie; 1 mal Irrsinn; 1 mal Tuberkulose ;
1 mal Syphilis.
Anderweitige Komplikationen wurden au den Augen unserer Atrophie-
blinden 22 mal beobachtet und zwar:
18 mal neben der Atrophia optica noch Cataracta partialis.
2 „ „ „ „ „ „ Keratoconus pellucidus.
2 „ „ „ „ „ „ Opacitates corporis vitrei.
Angeborene Gebrechen anderer Körpertheile wurden an 16 Blinden
gefunden und zwar:
— 44 —
8 mal SchädelmissbilduDgen (hydrocephalischer Schädel, Thurmschädel
u. a. m.)
5 „ Blödsinn,
1 „ Wolfsrachen und Hasenscharte.
1 „ Verkrümmung einer unteren Extremität.
1 „ Verkrümmung einer oberen Extremität.
1 „ Taubheit.
Werfen wir nun einen Blick auf die an den Geschwistern imserer
Blinden auftretenden kongenitalen Störungen, so wurden folgende Formen
angeborener Gebrechen, wiederholt an einer Person mehrere, beobachtet:
20 mal Atrophia nervi optici (einmal bei Zwillingsschwestern).
1 „ Myopia excessiva congenita.
2 „ Mikrophthalmus.
2 „ Iridochorioiditis congenita.
3 „ Cataracta congenita.
35 „ nicht näher bestimmte angeborene Blindheit.
3 „ angeborener Idiotismus.
1 „ allgemeine Lähmung.
1 „ Verwachsung der Finger einer Hand.
1 „ Tuberkulose.
Hervorheben möchte ich besonders noch 2 an einem Brüderpaar
von mir selbst beobachtete Sehnervenatrophien, welche zwar erst gegen
das zwanzigste Lebensjahr zur vollständigen Amaurose führten, aber
trotzdem auf kongenitaler Belastung beruhten und mit jener Form iden-
tisch waren, welche Leber und Mooren ihrer Zeit als „Neuntis optica in
Folge von Heredität und kongenitaler Anlage« beschrieben haben.
ImUebrigen zeigt unser Material, dass die Erkrankungen des Seh-
nerven intrauterin bereits eine ähnliche verderbliche Wirkung bethatigen
wie später im extrauterinen Leben. Allerdings lässt die Diagnose der
angeborenen Sehnerven atrophie immer gewisse Bedenken zu, wie wir
voL dargethan haben. Für jene Fälle dürfte aber sothaner Skep-
ticismus wohl unangebracht sein, wo Häufung von anderweitigen kon
genitalen Missbildungen in einer Familie nachweisbar ist; hier kann
L intrauterine Ursprung wohl mit Sicherheit -'^^^^^^^^^^
werden. Von ganz besonderem Interesse auch in ätiologischer Beziehung
dürfte aber wohl der bisher vielleicht einzig dastehende Fall sem bei
dem ein Zwillingsschwesterpaar Atrophie des Nervus opticus g^^^^^^^^
worden ist. Die Eltern waren in diesem Fall gesund und nicht ^er
wandt hatten aber ausser den beiden Zwillingsschwestern noch zwei
— 45 —
blind geborene Kinder. Im Ganzen waren von den gesunden Eltern
6 Kinder, davon 4 blind und 2 sehend gezeugt worden. Uebrigeus ist
das Auftreten von angeborener Sehnervenatrophie bei mehreren Kindern
einer Familie gar nicht so selten, wie obige Zusammenstellung lehrt
und wir dies sogleich noch des Näheren nachweisen werden.
Ueber die Entstehungsweise der Atrophia nervi optici congenita
liegen noch so wenig genaue, durch Sektionen gestützte Untersuchungen
vor, dass sich gerade über diesen Punkt kaum etwas anderes als Ver-
muthungen äussern lassen dürften. Intrauterine Erkrankungen des Ge-
hirns, der Meningen u. s, w. werden ganz gewiss in vielen Fällen als
pathologischer Boden der Atrophie angesehen werden können, doch
müssen wir verlässliche Mittheilungen eben noch von zukünftigen Unter-
suchungen erwarten.
Ueber das Auftreten der kongenitalen Sehnervenatrophie an mehreren
Kindern derselben Familien wären noch folgende Bemerkungen von
Interesse.
2 Geschwister einer Familie waren mit Atrophia opt. cong. behaftet 9 mal
4 „ >j » )) )} )) i> ^ »
5 » j) » » )) )j j) )> " ^ "
Im extrauterinen Leben, und zwar schon in frühen Jahren hatten
von den 113 Blinden unseres Materials 7 folgende Störungen erworben :
4 mal epileptische Anfälle, Imal Lähmung der unteren Extremitäten,
1 mal Rhachitis, 1 mal Tuberkulose.
Mikrophthalmus. Ueber die ätiologischen Momente liegen
folgende Mittheilungen vor: 39 mal gesunde, nicht verwandte Eltern;
5 mal waren die Eltern krank und 6 mal verwandt. In 3 1 Fällen sind
verlässliche Angaben über die Eltern nicht gemacht worden.
Ueber die Krankheiten der Eltern ist nur ein ausführlicher Bericht vor-
handen, und zwar betrifft derselbe eine mit Myopie und Cataracta partialis
behaftete Frau, welche zwei mit Mikrophthalmus behaftete Knaben zeugte.
Die Beobachtungen, welche an den verkümmerten Augäpfeln ge-
macht wurden, sind ziemlich zahlreich, indem in 47 Fällen genauere
Mittheilungen über anderweitige Befunde an den Bulbis vorliegen.
Der Mikrophthalmus war komplizirt
20 mal mit Cataract,
12 „ „ Coloboma Iridis,
4 „ „ Coloboma Iridis et Chorioideae,
1 „ „ Irideremie,
— 46 ~
4 mal mit Sklerosis corneae,
2 „ „ Atrophia nervi optici,
1 „ „ Chorioiditis,
1 Pigraentwucherung im Bulbusinneren,
1 „ „ Glaskörpertrübungen,
1 „ „ Fehlen einzelner äusserer Augenmuskeln.
In drei Fällen war auf der einen Seite ein Mikrophthalmus, auf
der andern Anophthalmus vorhanden; eine bis jetzt nur vereinzelt ge-
machte Beobachtung. In einem dieser von mir untersuchten Fälle war
der Anophthalmus mit einer in der unteren inneren Orbitalgegend ge-
lagerten Cyste vergesellschaftet; die Natur dieser Cysten ist in neuerer
Zeit bekanntlich von Arlt^) dahin erklärt worden, dass dieselben durch
^ine Ausbuchtung der Bulbuswand entstehen; unter der Gewalt des
intraoculären Druckes wird der Inhalt des Bulbus durch die unvoll-
ständig oder gar nicht geschlossene fötale Augenspalte aus dem Innern
des Augapfels herausgepresst und bildet so ein ausserhalb des BuIIdus
liegendes Gebilde, eben die schon oft beobachteten, in ihrer.Genese aber
immer noch so räthselvollen Cysten.
Ueber den pathologischen Vorgang, welcher den angeborenen Mikroph-
thalmus erzeugt, geben unsere Fälle nur theilweise Aufschluss. Für em
knappes Viertel derselben ist der Einfluss desColoboma oculi erwiesen.
Wie oft es sich in den anderen Fällen um Entwickelungsstörungen handelt •
•oder um entzündliche Vorgänge an dem bereits entwickelten Bulbus mit
Ausgano- in Phthisis bulbi vermag ich nicht zu entscheiden. Durch die
Beobachtungen von de Vincentiis') ist in neuester Zeit die Möglichkeit aufs
Neue bewiesen worden, dass unter Umständen der angeborene Mikroph-
thalmus lediglich als das Produkt einer intrauterinen Panophthalmitis
angesehen werden müsse. Von Interesse sind in den Beobachtungen von
Vincentns noch die Veränderungen der Lider, welche sich als sekundäre
Folgeerscheinungen an die intrabulbäre intrauterine Entzündung an-
«chliessen; nämlich Entropium, Verkümmerung der Tarsi, cysüsche Er-
weiterungen Meibom'scher Drüsen u. dgl. m. Vincentiis vertx-itt die Ansicht,
dass diese Lidveränderungen beim Mikrophthalmus keinerlei Hemmungs-
bildungen darstellen, sondern lediglich als unmittelbare Folgeerschem-
ungen des ursprünglichen entzündlichen Prozesses anzusehen sind.
^TÄ'^vickelung des Mikrophthalmus ""d Anophthal-
^ns congenitus. Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte m .en l88o.
''i de VincenUis, Bilateraler angeborener Mikrophthalmus mit
.ielfiche. Entwiikluugsfehleru des Herzens, "ruaz. d. med.
e di Chirurg. Band IL 1885, und Anali di Ottalm. Band XH • 1.
— 47 —
Die Bliudeu waren in 7 Fällen mit folgenden anderweitigen kon-
genitalen Störungen behaftet:
3 mal Idiotismus,
1 „ Verkrüppelimg der Finger beider Hände,
1 „ grosser Nävus einer Gesichtshälfte,
1 „ schwere Sprachstörung,
1 „ allgemeine Entwickelungshemmung,
1 „ Epilepsie.
An den Geschwistern wurden in 12 Fällen angeborene Störungen
beobachtet, und zwar folgende Formen, wobei auch hier Aviederholt an
einem Individuum mekrere Gebrechen auftraten:
10 mal Mikrophthalmus,
2 „ Ati'ophia nervi optici,
2 „ Myopie,
10 „ nicht näher bestimmte Blindheitsformen,
1 „ Blödsinn,
1 „ Epilepsie.
Von Krankheiten, welche die Blinden später erworben haben, be-
richten 4 Fälle: 1 mal trat ein Taubheit, Imal Epilepsie, 1 mal Rück-
gratsverkrümmung, 1 mal Scrofulose.
Retinitis pigmentosa. Ueber die ätiologischen Verhältnisse
wäre zu berichten, dass 7 mal Krankheit der. Eltern vorlag, 12 mal
Konsanguinität, 1 1 mal kollaterale Erblichkeit, 4 mal Ererbung aus den
FamUien der gesunden Eltern.
Ueber die Krankheiten der Eltern sind folgende näheren Angaben
gemacht worden: 3 mal Syphilis des Vaters; 1 mal Geisteskranklieit
des Vaters; 1 mal Taubheit des Vaters (Tochter Ret. pig. und Taub-
heit) ; 1 mal Hemeralopie der Mutter ; 1 mal Augenaffektion der Mutter
ohne bestimmte Angaben. Es sei mir gestattet, noch einige wenige
Worte über den Fall zu sagen, in welchem der Vater geisteskrank war.
Dieser Mann zeugte 6 Kinder mit einer Frau, m\d von diesen 6 Kindern
wiurden 5 taubstumm und 1 taubstumm und blind durch Retinitis
pigmentosa geboren. Die Mutter hatte in erster Ehe mit einem gesunden
Mann lauter gesunde Kinder erzeugt.
Ueber die Komplikationen, welche an den Augen unserer Blinden
bemerkt wurden, liegen 12 ausführliche Berichte vor ; demnach trat auf:
5 mal Cataracta partialis,
2 „ Mikrophthalmus leichten Grades,
2 „ Keratoconus,
3 „ Sklerose der Cornea, davon 2 mal gerade im Centrum der Hornhaut.
— 48 —
In 17 Fällen wurden an den mit Retinitis pigmentosa behafteten
Individuen noch folgende andere angeborene Gebrechen beobachtet:
5 mal Taubstummheit,
4 „ hochgradige Schwerhörigkeit,
4 „ Blödsinn,
1 „ Mikrocephalie leichten Grades,
1 „ Ueberzählige Finger und Zehen,
1 „ hochgradige Rhachitis,
1 „ Epilepsie,
Hiernach ist also in 12,337. aller unserer Fälle Schwerhörigkeit oder
Taubheit vorhanden; Leber schätzt das betreffende Verhältniss auf etwa
207o ; Hocquard fand 337o ; Derigs 6,6Vo ; Schäfer 5,27o, Wider^) 19,57«.
Was nun die Geschwister der Blinden anlangt, so sind sie in recht
ausgedehntem Maasse belastet, und zwar sind folgende kongenitale Ge-
brechen auch an ihnen nachweisbar gewesen:
35 mal Retinitis pigmentosa,
5 „ angeborene Blindheit unbestimmter Natur (wahrscheinlich EeL
pigm.),
4 „ Myopie bei mehreren Geschwistern,
2 „ Hemeralopie,
6 „ Taubstummheit,
2 „ Schwerhörigkeit,
1 „ hochgradige Rhachitis.
Ueber die Verbreitung der Retinitis pigmentosa in einer Familie
sei noch bemerkt, dass 18 mal 2 Geschwister davon befallen waren
2 mal 3, 1 mal 4 und 1 mal 5. In den übrigen FäUen konnte ich
über die Häufung der Retinitis nichts Genaues erfahren.
Ueber später erworbene Krankheiten der Blinden liegen mir 4
Nachrichten vor, danach wurde 1 Mädchen im 3. Leben^hr von
Epilepsie, 2 von hochgradiger Schwerhörigkeit und 1 Mädchen von
Meningitis befallen. it.- * -4^
Es sei mir gestattet, noch einige Bemerkungen über den Emtntt
der vollständigen Blindheit^) zu machen. In 47 Fällen erinnern sich
.) Man vergleiche die von mir citirten Angaben bei Wider p. 229 und 230.
3 Bereits früher habe ich darauf hingewiesen, dass man, je nachdem die
Blindheit bei der Geburt schon vollständig ausgebildet oder nur in der Anlage
V banden ist, eine angeborene Blindheit und eine angeborene Erblindung untei^
Icheiden könne. Ich habe aber, um in mein Zahlenmaterial kerne Verwirrung
.u bringen, von einer Durchführung dieser Eintheilung in meiner vorliegenden
Arbeit Abstand genommen.
— 49 —
die Blinden nicht, jemals gesehen zu haben und soll nach den Aussagen
ilu-er Angehörigen an ihnen niemals eine Spur von Sehvermögen be-
merkt worden sein. In 18 Fällen wird sicher die Existenz von Seh-
vermögen angegeben und für dessen Verlust ein bestimmtes Lebensjahr
bezeichnet und zwar soll die Blindheit eingetreten sein :
2 mal im 2. Lebensjalu' 1 mal im 8. Lebensjahr
2
1
2
4
3.
5.
6.
7.
1
1
1
3
)) )>
11.
14.
19.
20.
Die Anwesenheit von Hemeralopie vor Eintritt der Blindheit wird
mit vollster Sicherheit von allen den Patienten, die sich überhaupt des
Sehens noch erinnern, angegeben.
Von ganz besonderem Interesse scheinen mir noch vier Fälle zu
sein, in denen die Verschlechterung der Hemeralopie zur Blindheit mit
vollster Bestimmtheit auf eine schwere Körpererkrankung zurückgeführt
wird. In zweien dieser Fälle wurden ein Scharlachfieber, in einem Masern
und in einem anderen Keuchhusten als diejenigen Krankheiten bezeichnet,
welche zu einer schnellen Entwickelung der Blindheit Anstoss gegeben
haben sollten. Die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass
schwere, das Allgemeinbefinden stark beeinträchtigende Krankheiten eine
schnellere Entwickelung einer in der Anlage resp. in den ersten An-
fängen befindlichen Retinitis pigmentosa bewirken können, scheint mir
durchaus vorhanden. Wissen wir ja doch, dass schwere Allgemein -
erkrankungen sehr wohl die Entfaltungsreize für die verschiedensten
Kraukheitskeime abgeben können; so treten ja bekanntlich Skrofulöse
und Tuberkulose gern im Gefolge der acuten Exantheme auf
Nach Leber ^) soll das weibliche Geschlecht gegen die Retinitis
pigmentosa eine relative Immunität zeigen, während das männliche Ge-
schlecht entschieden mehr für diese Affektion disponirt sein soll; das
Verhältuiss, nach welchem sich die Retinitis pigmentosa auf beide Ge-
schlechter vertheilt, ist nach diesem Forscher 76 7o auf die Männer und
24 "/.. auf die Frauen. Unser Material ergibt nun Resultate, welche mit
dem von Leber angegebenen nicht übereinstimmen. Die 73 Fälle von
Retinitis pigmentosa unserer Untersuchungsreihe gruppiren sich allerdings
HO, dass 40 = 55 7o auf die Männer und 33 = 45 7o auf die Frauen ent-
') Leber, Die Kranklieiteu der Netzhaut u. s. w.
gesammteu Augcnlieilkunde. Baud V, Tlieil 5, p. 65G.
Magnas, JngeuablinUheit.
Haiidbucli der
— 50 —
fallen. Scheinbai- wäre hiernach also auch ein, wenn auch nui- klemes
Uebergewicht auf Seiten des männlichen Geschlechtes vorhanden; doch ist
dieser Unterschied nur ein scheinbarer. Bringe ich nämlich die absoluten
Zahlen 40 und 33, welche ich für die Retinitis pigmentosa zähle, mit der
Gesammtsumme der in meinem Material vorhandenen männlichen und
weiblichen Blinden in Beziehung, so ergibt sich ein erheblich anderes Ver-
hältniss; alsdann entfallen nämlich auf das männliche Geschlecht 1,9
und auf das weibliche 2,8. Hiernach also ist von einem Ueberwiegen der
Neigung zur Retinitis pigmentosa auf Seiten des männlichen Geschlechtes
nicht die Rede, wenigstens was unser Material anlangt. Würden wir uns
damit begnügt haben, einfach unter unseren 73 FäUen die Zahl der
männlichen und weiblichen Blinden zu bestimmen und in der so ge-
fundenen Zahl nun den Ausdruck der grösseren Neigung von Seiten
des einen Geschlechtes zu sehen, so hätte unser Resultat ja mit dem
Leber'schen annähernd gestimmt. Doch gehört zu einer einigermassen
sicheren statistischen Bestimmung doch noch mehr, als die einfache
Scheidung in die Zahl der männlichen und weiblichen ; vor Allem ist
hier erforderlich, die absolute Zahl, welche auf die beiden Geschlechter
entfällt, mit der Zahl der untersuchten Männer und Frauen überhaupt
in Beziehung zu setzen. Thut man dies, so erhält man eben sehr
leicht völlig andere Ergebnisse, wie dies unser Beispiel zeigt. Leber
konnte nun aber seine Zahlen nicht mit anderen in Beziehung setzen,
es fehlten ihm die Kontrollzahlen und deshalb erhielt er em Resultat,
das nur scheinbar eine Bedeutung hat. Nach unseren heutigen Befunden
kann die Lehre von der relativen Immunität des weiblichen Geschlechtes
gegen Retinitis pigmentosa wohl als überwunden angesehen werden.
Zum Ueberfluss will ich das prozentarische Verhältniss, in welchem die
Zahl der Retinitis pigmentosa zu der Anzahl der untersuchten männlichen
und weiblichen Blinden in verschiedenen Ländern steht, noch anfiihren :
mäuul. weibl.
In den belgischen Anstalten unseres Materials sind 0,00 ° o 2,94 "/o
„ „ holländischen „ „ » " ^'^^ " ^^'^^ "
1.1, » 3,10,, 3,32 „
„ „ deutschen „ " " ^' ^
italienischen „ ., »-M ■> ^-f"
1,20,, 1,69,,
„ „ österr.-ungar. „ „ » " ' ^
" " . , „ 1,28,, 1,56,,
„ „ i-ussischen „ „ " '
„ „ schweizerischen „ „ „ " 2,43, u,uu
Auch die Mittheilung Le6erX wonach in FamUien, wo die Retinitis
pigmentosa heimisch ist, die weiblichen Mitglieder häufig v--chmit «de«-
in kleinerer Zahl ergriffen werden, findet nach meinen heutigen Er-
— 51 —
fahrungen keine Bestätigung. Icli habe in meinem Material 2 1 Familien
gefunden, in denen Retinitis pigmentosa zu Haus ist und in 15 der-
selben ist von einem grösseren Ergriffensein des männlichen Geschlechtes
keine Rede. Wir werden hiernach also wohl gut thun, vor der Hand
das Blindenkonto des männlichen Geschlechtes nicht mit einer grösseren
Ziffer von Retinitis pigmentosa zu belasten, als wie das weibliche. Das
Verhältniss ZNvischen beiden Geschlechtern scheint mir annähernd das
gleiche zu sein, wie dies für die deutschen Blindenanstalten bestimmt
der Fall ist. Uebrigens trifft dieses "V^erhältniss auch bei der Retinal-
atrophie zu; denn hier ergibt unser Material für das männliche Ge-
schlecht 0,59, für das weibliche 0,42%.
Buphthalmus. Was zuvörderst die ätiologischen Angaben
anlangt, so wird 2 mal Krankheit der Eltern angegeben; in 6 Fällen
fehlen die Angaben über die Eltern; in 30 Fällen sollen die Erzeuger
gesund gewesen sein, aber 8 mal zu kollateraler Erblichkeit Veranlass-
ung gegeben haben. In den zwei Fällen elterlicher Krankheit handelte
es sich um Tuberkulose beider Erzeuger.
Ueber die an den erblindeten Augäpfeln gemachten Befunde liegen
folgende Mittheilungen vor:
In 5 Fällen zeigte die ausführbare ophthalmoskopische Untersuch-
ung das typische Bild einer glaucomatösen Papille. Einen dieser Fälle
habe ich selbst wiederholt genau untersucht und die Excavation in
höchst charakteristischer Weise ausgeprägt gefunden. 6 mal war eine
erhöhte Spannung des Bulbus nachweisbar, ohne dass die ophthalmos-
kopische Untersuchung sich als ausführbar erwies. Im Ganzen waren
also unter 38 Fällen 11 mal, d. h. in 28,95 "/o glaucomatöse Erschein-
vmgen nachweisbar. Auffallende Weichheit der Bulbi wurde 1 mal beob-
achtet; Trübungen der Cornea 12 mal, Trübungen der Linse 16 mal.
Imal wurde im Glaskörper ein gelblich schillerndes Exsudat gesehen,
4 mal Verschluss der Pupille, 1 mal Luxatio lentis, Imal war einColo-
boma Iridis vorhanden ; 1 mal Sublatio retinae und in einem anderen Fall
wurde eine Chorioiditis besonders in den peripheren Theilen des Augen-
grundes mit totaler Atrophia nervi optici gefunden. Auffallend oft, in
9 Fällen von allen 38, ist ein Auge phtisisch, doch Hess es sich nicht in
allen Fällen mit Bestimmtheit entscheiden, ob eine traumatische Ursache
oder spontane Berstung die Phtise eingeleitet hatte. Die Möglichkeit
beider Vorgänge ist bei dem Zustand der megalophthalmischen Seh-
organe ja in ziemlich gleicher Weise gegeben.
Die blindgeborenen Individuen zeigten nur in drei Fällen noch
ein anderweitiges kongenitales Gebrechen, nämlich 2 mal Blödsinn und
4*
62 —
Imal grosse geistige Schwäche. Dass Störungen in der Entwickelung
der Gehirns gerade bei Megalophthalmus nichts Seltenes sind, hatten wir
schon in unserer früheren Blindenuntersuchung gefimden ; i) damals
wurde unter 14 Fällen von Buphthalmus 3 mal Hydrocephalus ermittelt
Die Geschwister unserer Blinden waren 9 mal mit kongenitalen
Gebrechen behaftet, wobei wiederholt in einer Familie mehrere Geschwister
befallen waren oder eine Person mehrere Gebrechen aufzuweisen hatte;
es fanden sich:
5 mal mit hohen Graden von Myopie.
7 angeborener Blindheit unbekannter Art
1 „ „ Epilepsie.
1 „ „ Lähmung verschiedener Glieder.
1 „ „ Incontinentia urinae.
Für die Entscheidung der Frage, ob es sich beim Megalophthalmus
congenitus um ein kongenitales Glaucom handele, welches, v,iePjlüger ^)
jüngst gefunden hat, durch eine sclerosirende Entzündung des Kammer-
winkels bedingt wird, oder ob das Primäre des Prozesses eme Uveitis
resp Cyclitis serosa ist und alle übrigen Erscheinungen nur als Folge-
zustände anzusehen sind, vermag mein Material in keiner Weise emen
entscheidenden Beitrag zu liefern.
Desgleichen vermag ich über die von Dürr^) geäusserte Vermuth-
ung, dass der Megalophthalmus in gewissen Gegenden von Nord-
deutschland besonders häufig aufzutreten scheine, kein entscheidendes
Urtheil zu fäUen. AUerdings kommt ja der Megalophthalmus m der
Blinden -Anstalt zu Hannover in einem ziemlich hohen Prozentsatz,
nämlich 9,1 'Vo vor, doch habe ich in andern deutschen Blinden-Anst^lten
Prozentsätze gefunden, welche dem von Hannover sich nähern ja im
sogar weit übertreffen. Doch daif man niemals vergessen, dass die
l Ein" ziasa— Stellung der über das Wesen des Buphthaljnus congenitus
geäusserten Theorien findet man bei: GraUaner, Zur P^t^^^;^-;;;;
Inatomie des Hy dr Ophthal mus congenitus. Archiv für Ophthalmologie
^^'^''Pflüger, Universitäts- Augenklinik in Bern, Bericht für
das Jahr 1882. Bern 1884, p. 36—63. , • , mi vficrkeit in
••K«v rlie Blinden-Anstalt in Hannover und einer Zusammen
1886. p. 22.
— 53 —
Verhältnisse eiuer jeden Blinden-Anstalt numerisch zu geringe sind, um
einen massgebenden statistischen Schluss aus ihnen ziehen zu dürfen.
Allerdings liegt ja bezüglich Hannover die Sache insofern anders, als
Dürr neben den Beobachtungen in der Blinden-Anstalt noch über zahl-
reiche Beobachtungen aus einer umfassenden Praxis verfügt und sich
so aus diesen beiden Beobachtungsreihen schon eher ein einigermassen
verlässlicher Rückschluss auf das häufige Vorkommen des Megalophthal-
mus in den nördlichen Theilen von Hannover, in Oldenburg und Bremen
ziehen lässt.
Chorioiditis. Die Beschreibungen gedenken alle übereinstimmend
einer mehr oder minder atrophischen Papilla optica, Pigraentanhäufungen
in den verschiedensten Theilen des Augengrundes, atrophischen Stellen
des Hintergi-undes. In 1 Falle war 1 Coloboma chorioideae vorhanden ;
1 mal Irisschlottem ; 2 mal auf einem Auge Sublatio retinae ; 2 mal
leichte Phtisis.
Kongenitale anderweitige Belastungen der Blinden wurden 3 mal
geftmden ; 1 mal Mikrocephalus ; 1 mal Störungen des geistigen Gleich-
gewichtes und 1 mal Epilepsie.
An den Geschwistern wurden in 7 Fällen angeborene Gebrechen
beobachtet und zwar folgende Formen, wobei auch wieder an einer
Person verschiedene Affektionen gefunden wurden:
5 mal Chorioiditis congenita,
2 „ cerebrale Amaurose,
3 „ Amaurose unbekannter Art,
1 „ Taubheit,
1 „ Idiotismus.
Von diesen 7 Fällen möchte ich folgender noch besonders gedenken :
in dem einen sind 5 Geschwister, 3 Mädchen und 2 Knaben vorhanden,
alle 3 Mädchen sind blind geboren, die Knaben aber sehend. In dem
anderen Fall handelt es sich um eine Familie mit 4 Kindern, 2 Brüder
und 2 Schwestern, welche alle 4 mit Chorioiditis geboren worden sind.
Hereditäre oder konsanguine Belastung können in beiden Fällen nicht
zur Erklärung herangezogen werden.
Retinalatrophie. An den Blinden selbst waren anderweitige
angeborene Gebrechen nicht nachweisbar, dagegen öfters au den Ge-
schwistern derselben und zwar 9 mal, nämlich :
12 mal Retinalatrophie,
2 „ unbekannte Formen der Amaurose,
1 „ Blödsinn,
1 „ Stummheit.
— B4 —
Gauz besonderH oft siud mehrere Geschwister des Blindau belastet,
so sind in einer Familie 5 blind geborene Kinder, in zwei anderen 4.
Irido Chorioiditis. Während an den Blinden selbst ange-
borene Missbildungen nicht beobachtet wiu-den, fanden sich solche an
den Geschwistern in 5 Fällen und zwar-:
1 mal Iiidochorioiditis,
1 „ Atrophia nervi optici,
3 „ Blindheit unbekannter Form,
1 „ Blödsinn.
Myopie. Die Beschreibungen, welche über die 4 Fälle vorliegen,
gedenken durchgängig Veränderungen an der Macula und dem Hinter-
grund, wie sie ähnlich auch bei acquirirter Myopie beobachtet werden.
Die Geschwister der Blinden waren in 3 Fällen kongenital belastet:
2 mal Myopia congenita; 1 mal handelte es sich um eine FamUie mit
6 Kindern, die alle durch Myopia excessiva entweder blind oder^ hoch-
gradig amblyopisch waren; der Vater war amblyopisch, doch die Ur-
sache seiner Amblyopie nicht bekannt. 1 mal Amaurosis congenita
unbekannter Art.
Die Eltern waren in 3 Fällen mit hochgradiger Myopie behaftet.
Albini smus. In den 4 Fällen von Albinismus, welche unser
Material zählt, war zwar keine Amaurose, aber doch eine so hoch-
gradige Amblyopie vorhanden, dass eine Erziehung in der Blinden-
Anstalt erforderlich war. Ich selbst habe 2 Fälle von Albinismus bei
einem Brüderpaar untersucht. Die Eltern dieser total albinotischen
Brüder waren vollkommen gesund und hatten fünf Khider, von denen
zwei, die von mir untersuchten Brüder, Albinos waren. Die Geburten
beider folgten nicht aufeinander, vielmehr wurden nach der Gebm-t des
ältesten Albino zwei normale Kinder und erst dann der zweite Albmo
geboren. Die Sehschärfe war bei dem ältern bei dem jüngeren
2 0 Hochgradiger Nystagmus erschwerte die ophthalmoskopische Unter-
suchung zwar, doch konnte ich bei wiederholten Sitzungen mich voll-
ständig über den Zustand des Augengrundes unterrichten. Der gelbliche
Hintergrund mit den scharf ausgeprägten Chorioidalgefässen bot ein
prächtiges Bild. Die Papilla optica erschien mir in beiden Fällen ganz
auffallend verändert. Die Färbung derselben zeigte ein eigenthümbches
Graugelb bei dem einen, bei dem anderen eine an Atrophie erinnernde
Blässe. Diejenige Papille, welche graugelb erscliien, zeigte ausserdem
noch wenig scharf gezeichnete Umrisse. Beide Brüder waren hypei-
metropisch.
— 55 —
Die Belastung der Geschwister trat in 3 Fällen auf und zwar
zeigten in allen 3 Fällen mehrere Kinder einer Familie dasselbe Ge-
brechen.
K er ato Conus. Trotzdem ophthalmoskopisch keine besonderen
Veränderungen nachweisbar waren, bestand doch in allen 3 hierher
gehörigen Fällen Amblyopia höchsten Grades. In einem Fall war die
Spitze des Keratoconus auf beiden Augen in breitem Umfang getrübt.
An den Blinden selbst wurde in einem Fall Ehachitis beobachtet.
Die Geschwister waren in 2 Fällen kongenital belastet und zwar
mit folgenden Formen, wobei auch wieder an einer Person, resp. in
einer Familie mehrere Gebrechen nachweisbar waren :
2 mal angeborene Blindheit unbekannter Natur,
1 „ Blödsinn,
1 „ Lähmung der unteren Extremitäten.
Coloboma chorioideae. Es bestand in allen 3 Fällen eine
hochgi-adige Amblyopie. Besonders ist ein Fall bemerken swerth, in
welchem das Colobom wenigstens den fünften Theil des ganzen Hinter-
grundes einnahm, beiderseits vorkam und mit excessiver Hypermetropie
vergesellschaftet wai*. Iriscolobom war alle 3 mal vorhanden.
Nicht bestimmte Formen. Hier wäre nur der Häufung
angeborener Gebrechen zu gedenken. An den Blinden selbst wurden
beobachtet :
2 mal Blödsinn,
1 „ Hydrocephalus,
1 „ Lähmung der unteren Extremitäten.
An den Geschwistern wurde gefunden:
17 mal angeborene Amam'ose unbekannter Natur,
1 „ Epilepsie.
§ 10. Die Häufung kongenitaler Belastung.
Wenn ich alle diejenigen Fälle nochmals in einem besonderen
Paragraphen zusammenfasse, in welchen die angeborene Amaurose von
einer Häufung kongenitaler Gebrechen, sei es an der Person der Blinden,
sei es in den Familien derselben, begleitet ist, so geschieht dies, weil
ich der Ansicht bin, dass eine derartige systematische Zusammenstellung
den besten Ueberblick über alle hierher gehörenden Erscheinungen ge-
stattet. Die genaue Kenntniss der fraglichen Erscheinungen dürfte aber
für die Beurtheilung der ätiologischen Momente, welche die Häufung
— 56 —
kougeuitaler Gebrechen veranlasseu, vielleicht nicht ohne alle Bedeutung
sein. Uebrigens habe ich bei den folgenden Zusammenstellungen darauf
nicht Rücksicht genommen, ob Heredität, Konsanguinität oder kollaterale
Erblichkeit nachweisbar sind, sondern ich habe alle diejenigen Fälle,
in denen entweder an der Person der Blinden, oder an anderen Familieu-
gliederu derselben noch angeborene Missbildungen gefunden wurden,
zusammengestellt gänzlich unbekümmert um die etwaigen Entstehungs-
lu-sacheu. Es fanden sich also Häufting kongenitaler Gebrechen:
Unter 73 Fällen von Retinitis pigmentosa 56 mal = 76,71°/«.
113 „ „ Atrophia nervi optici 66 „ = 58,41 „
16 „ „ Retinalatrophie 9 „ = 56,25 „
21 „ „ Chorioiditis 9 „ = 42,86 „
14 „ „ Iridochorioiditis 5 „ = 35,71 „
38 „ „ Buphthalmus 12 „ = 31,58 „
118 „ „ Cataracta complicata 29 „ = 24,58 „
81 „ Mikrophthalmus 19 „ = 23,46 „
Die vorstehende Tabelle gibt Aufschluss darüber, welche Formen
der angeborenen Amaurose am häufigsten von gleichzeitigem Auftreten
anderweitiger kongenitaler Missbildungen an der Person des Blinden
oder an Familienmitgliedern desselben begleitet werden. Bis zu einem
gcAvissen Grade können wir aus der Zusammenstellung die Vermuthung
ableiten, welche der angeborenen Erblindungsformen am häufigsten als
lokale intrauterine Augenerkrankungen sich entwickeln und bei welchen
komplizirtere ätiologische Faktoren massgebend sein dürften. Je weniger
häufig die angeborene Erblindungsform mit anderen Körpergebrechen
vergesellschaftet ist, desto mehr werden wir der Ansicht zuneigen können,
dass die Entstehungsursache einen beschränkteren, lokalen Charakter ge-
tragen habe und umgekehrt. Natürlich kann es sich hierbei immer
nur um Muthmassungen allgemeinster Natur handeln.
Was nun die Komplikationen der angeborenen Amaurose mit kon-
genitalen Missbildungen anderer Organe des Blinden selbst anlangt, so
gibt darüber die folgende Tabelle Aufschluss:
Die nervösen Centraiorgane waren 34 mal behaftet = 56,67 7n
Das Gehör') war 11 » » = ^8,33 „
Rachitis wurde 6 „ beobachtet = 10,00 „
») Hydrocephalus, Mikrocephalus, Thurmschäldel, Blödsinn, Epilepsie, ange-
borene Lähmung, geistige Schwäche kamen zur Beobachtung.
>) 6 mal Taubstummheit, 5 mal bedeutende Schwerhörigkeit.
— 57 —
Verkrüppeliuigen ') wurden 5 mal beobachtet = 8,33 "/o
Stönmgeu der Sprache wrden 2 „ „ = 3,33 „
Nävus wurde 1 „ „ = 1,67 „
Allgemeine Entmckelungshemmung wurde l „ „ = 1,67 „
Diese Zusammenstellung lehrt uns also, dass die mit angeborener
Amaiu-ose behafteten Individuen am Häufigsten Störungen in der Eut-
wickelung des Gehirns und demnächst des Gehörs mit auf die Welt bringen.
Es bliebe uns noch zu untersuchen übrig, welche Organe am
häufigsten bei den Geschwistern der Blinden kongenital belastet sind.
Auch hierüber steht uns ein ziemlich reichhaltiges Material zur Ver-
fügung. Im Ganzen wurden an den Geschwistern 266 kongenitale
Gebrechen nachgewiesen und zwar vertheileu sich dieselben über die
verschiedenen Organe in der folgenden Weise:
Das Auge war
232 mal behaftet
87,22 7o
Die nervösen Centi'alorgane ''^
waren 18 „ „
6,77 ,/
Das Gehör ^) war
11 ,, ,)
4,14 „
Rachitis wurde
1 „ beobachtet
0,38 „
Verkrüppelung wurde
0,38 „
Störung der Sprache wurde
0,38 „
Tuberkulose wurde
0,38 „
Incontinentia urinae wurde
0,38 „
Die vorstehenden Zahlen zeigen also, dass die Geschwister von
blindgeborenen Individuen, werden sie mit Missbild uugeu geboren, meist
an den Augen Schaden aufzuweisen haben; und zwar ist dieses Ver-
hältniss ein so häufiges, dass es für mehr als drei Viertel aller be-
obachteten Fälle massgebend ist. Demnächst werden bei den Ge-
schwistern der Blindgeborenen die nervösen Centraiorgane und das
Gehör am häufigsten kongenital belastet, ein Verhältniss, welches mit
unseren an der Person des Blindgeborenen gemachten Beobachtungen
vollkommen übereinstimmt.
§ II. Gewisse ethnologische Verhältnisse sind von eiuzelueu
Forschern bekanntlich als die Entstehung der Amaurose besonders
fordernd angesehen worden. Vornehmlich ist es die Farbe des Auges
gewesen, aus welcher man versucht hat, eine grössere oder geringere
Neigung zur Erblindung herzuleiten. Diese Versuche sind übrigens
>) 1 mal Wolfsrachen und Hasenscliarte , 4 mal Verkiüppelungen an oberen
oder unteren Extremitäten.
') Blödsinn 10, Lähmung 5, Epilepsie 3.
') Taubstummheit 8 mal, Schwerhörigkeit 3 mal.
— 68 —
schon recht alt uud scheint mau früher der Ansicht gehuhiigt zu
haben, dass in den dunkel gefärbten Augen ganz besondere Er-
blinduugsgefahren schlummerten, Erbluiduugsgefahreu, welche um Vieles
grösser sein sollten, als die dem hellen Auge drohenden. So schätzt
z. B. Beer,^) dass auf l blaues oder graues amaurotisches Auge immer
25—30 dunkelgefärbte kämen. In neuester Zeit war es besonders
Muyr,'^) welcher diese Hypothese auf breiter statistischer Basis wieder-
aufzuführen suchte. In meiner früheren Blindenuntersuchung habe
ich diesen Versuch Mayr's bereits einer kritischen Beleuchtung unter-
zogen, und darauf hingewiesen dass die Mayr'sche Hypothese, spricht
sie von der Amaurose im Allgemeinen d. h. von allen Formen der-
selben, für den Arzt absolut unannehmbar sei; dass man medicinisch
überhaupt erst dann über die fragliche Theorie disputiren könne, wenn
sie sich auf bestimmte Formen der Amaurose beschränke. Denn es
liegt ja auf der Hand, dass gewisse Blindheitsformen, als da smd die
Blennorrhoeblindheit , die traumatische Amaurose u. dgl. m. mit der
Farbe des Auges auch nicht das mindeste zu theilen haben, vielmehr
von Jedem , ganz unbeschadet der Farbe des Auges erworben werden
können. Bei anderen Amaurosisformen dagegen scheint die Farbe des
Auges eine gewisse Rolle zuspielen, so z. B. beim Glaucom, wenigstens
wird dies von einer Reihe von Autoren behauptet. Auch füi- die
Iridochorioiditis wird von einzelnen Forschern, so z. B. in der jüngsten
Zeit erst wieder von Wecker, '^) die Behauptung aufgesteUt, dass sich
dieselbe mit besonderer Vorliebe in pigmentreichen Augen etablire.
Wir woUen nun die Bedeutung der Mayr'schen Hypothese an der
angeborenen Blindheit zu erproben suchen; denn die Möglichkeit, dass
gerade bei den hierher gehörigen Formen die Farbe des Auges eine
gewisse Bedeutung haben könne, ist ja a priori nicht ohne Weiteres
zu bestreiten.
Aus dem mir zur Verfügung stehenden Material habe ich die
deutschen mit kongenitaler Amaurose behafteten Personen herausgegrifien
>) Beer, Lehre vou den Augenkrankheiteu alsLeitfadeu
seinen öffentlichen Voll csungeu entworfen. Wien 1817, Bd. 2,p.422.
^) Mayr, Die Verbreitung der Blindheit, der Taubstumm-
heit, des Blödsinns und des Irrsinns in Bayern, nebst einer all-
gemeiueninternationalenStatistik dieser vier Gebrechen. XXX\ ,
Heft der Beiträge zur Statistik des Königreiches Bayern. München 1877, p. 77.
Magnus, Die Blindheit, p. 59.
>) von Wecker, Die Erkrankungen des Uvealtractus u-id des
Glaskörpers. Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Bd. IV, Thcil 2.
Leipzig 1876, p. 531.
— 69 —
und bei 227 derselben eine genaue Beschreibung der Augenfarbe er-
mittelt; 145 = 63,88 "o hatten helle, 82 = 36,12 "/o dunkle Augen').
Herr Dr. GuUsladt hat mir nmi in bereitwilligster Weise Mittheilungen
gemacht über die Befunde, welche ihrer Zeit die von Virchuic angeregte
Untersuchung der Augen- und Haarfarbe der deutschen Schulkinder
ergeben hatte. Nach diesen Notizen entfallen auf die hellen Augen
72,81 7o, auf die dunklen 27,71 7o. Halten wir nun die gewonnenen
Zahlen einmal gegen einander:
Von unseren deutschen Blindgeborenen hatten 63,88 7o helle, 36,12 7o
dunkle Augen, von den untersuchten deutschen Schulkindern hatten
72,817., helle, 27,71 7o dunkle Augen.
Hiernach sind also bei unseren deutschen Blindgeborenen die braunen
Augen mit einem grösseren Prozentsatz der angeborenen Amaurose be-
haftet, als derselbe betragen sollte" entsprechend dem Verhältniss, in
welchem die Zahl der Braimäugigen zu den Helläugigen unter den
deutschen Schulkindern steht. Ich bin aber durchaus nicht gewillt, aus
dieser Thatsache irgendwelche Schlüsse von allgemeinerer Tragweite zu
ziehen, sondern ich beschränke mich nur darauf, den grösseren Reicli-
thum an angeborener Blindheit für das braune Auge im Rahmen unseres
aus Deutschland stammenden Materials zu konstatiren.
Ich muss nun noch mit einigen Worten jener Ansicht^) gedenken,
nach welcher die Quote, welche die Juden zu den Körpergebrechen,
speciell zu den angeborenen Missbildungen beisteuern, eine ganz be-
sonders grosse sein solle, grösser als die bei den Christen massgebende.
An eine kritische Untersuchimg dieser Ansicht kann bei der Beschaffen-
heit meines Materials in keiner Weise gedacht werden ; denn zu einem
solchen Unterfangen gehört nicht nur eine umfangreiche Blindenreihe,
sondern vor allem ein Material, welches gestattet, die aus ihm gewonnenen
Zahlen in Parallele zu der Bevölkerung zu setzen. Bei der von mir
vor wenigen Jahren durchgeführten Untersuchung aller Blinden der
Stadt Breslau ^) war ich im Stande , die Blindenquote der Juden mit
') Hierbei habe ich die verschiedenen Typen, nämlich blonden Typus, braunen
Typus, Mischformen nicht auseinandergehalten, sondern lediglich nur die Farbe
der Augen als bestimmendes Moment angesehen.
Man vergleiche : Guitstadt, Die Gebrechlichen in der Bevölker-
ung Proussens am 1. Dezember 188 0. Zeitschrift des königlich. ]jreuss.
stat. Bureau 1882 und : Die Verbreitung der B 1 i nd en und Taub stummen
nach der Volkszählung vom I.Dezember 1880 und ihre Unter-
richtsanstalten bis zum Jahre 1 883 in Preusseii. Zeitschrift des
königl. preuss. stat. Bureau. Heft 1 u. 2. Jahrgang XXIII. Berlin 1883. p. 195.
Archiv f. Augenheilkunde XIV. p. 427.
— 60 —
der jüdischen Einwohnerschaft Breslau's überhaupt in Verbindung zu
bringen und dabei fand ich allerdings, wie dies auch GulMadl an-
gegeben hatte, für die Juden eine grössere Blindenquote, als für die
Christen; denn während auf 10000 Breslauer Juden 11,0 Blinde kamen,
entfielen auf 10 000 Christen nur 8,4. Auch die für die einzelnen
Formen der Blindheit gültigen Verhältuisszahlen habe ich damals er-
mittelt und gefunden, dass auf 10 000 Juden 0,57 angeborene Amaurose
kamen und auf 10 000 Christen 0,31.
Da nun für mein heutiges Material eine Parallelish-ung der Be-
völkerung mit der BlindenzifFer absolut undurchführbar ist, so muss ich
mich nur auf einige nebensächliche Mittheilungen beschränken. Unter
den Anstalten meines Materials befindet sich eine specifisch jüdische,
nämlich die Blinden-Anstalt Hohe Warte bei Wien. Die Blindenformeu,
welche ich in dieser Anstalt beobachtet habe, unterstützen den Schluss,
dass die Juden besonders häufig kongenitale Amaurose zu verzeichnen
hätten, nicht. Der Procentsatz für die angeborene Blindheit beträgt in
jeuer Anstalt nämlich 28,57 7o, ein Verhältniss, welches zwar ein recht
hohes ist und welches auch in keiner anderen Blinden-Erziehungs-An-
stalt Oesterreich-Ungarns ') in dieser Höhe vorkommt, aber trotzdem
nichts Charakteristisches hat. In verschiedenen Anstalten Deutschlands ^
welche überwiegend ja fast ausschliesslich nur Christen enthalten, finden
wir nämlich für die angeborene Amaiirose Procentsätze, welche dem in
der Anstalt Hohe Warte ermittelten nicht allein gleichkommen, sondern
denselben sogar noch übertreffen. Auch ist das Verhältniss, in welchem
die einzelnen Gruppen der Jugendblindheit in jener Anstalt zu einander
stehen, kein erheblich anderes, als wie wir es in den übrigen An-
stalten gefunden haben. Die jüdischen Jugendblinden m der Anstalt
Hohe Warte gruppiren sich wie folgt: Amaurosis congenita 28,57 7»;
Idiopathische Krankheiten der Augen 25,57 7«; Verletzungen 8,88 7o;
Allgemeinerkrankungen 34,28 7». Hervorzuheben wäre nur der hohe
Procentsatz, welcher unter den jüdischen Blinden die Retinitis pigmen-
tosa und die Retinalatrophie beanspruchen; 17,06 7« entfallen auf diese
Zustände, ein Verhältniss, welches in keiner von allen m unserem Material
vertretenen 64 Anstalten wiederkehrt. Auffallend ist auch der geringe
Procentsatz der Blennorrhoe neonatorum von 2,887«, welchen die specifisch
jüdische Anstalt zeigt und welcher in dieser niedrigen Ziffer gleichfalls
einzig unter allen Anstalten dasteht.
') Man vergleiche Tafel II.
') Man vergleiche Tafel I.
Drittes Kapitel.
Die durch idiopathische Augenerkrankungen bedingten
Blindheitsformen.
§ 12. Ueber die Stellung, welche die durch idiopathische Augen-
erkrankungen hervorgerufenen Blindheitsformen im Gebiete der
Jugendblindheit einnehmen.
Diirchmustem wir die graphischen Darstellungen, welche wir über
das Verhalten der verschiedenen Formen der Jugendblindheit in ein-
zelnen europäischen Ländern entworfen haben, so finden wir, dass die
durch idiopathische Augenerkrankungen hervorgerufenen Erblindungen
meist in einem geringeren Prozentsatz vorhanden sind, als die durch
Allgemeinerkrankungen erzeugten. Unsere Generaltabelle auf Seite 12
und die graphische Tafel III ergeben, dass für das gesammte Material
das Verhältniss zwischen den durch idiopathische Augenkrankheiten und
den durch Allgemeinerkrankungen erzeugten Blindheitsformen fast das
gleiche ist, nämlich für die ersteren 33,08 7 o, für die letzteren 33,17 7o.
Dieser unser heutiger Befund weicht nun von dem Ergebniss, welches
andere Forscher, sowie wir bei unseren früheren Blindenuutersuchungen
gewonnen haben, in sehr erheblicher Weise ab. So hat z. B. Büuerlein^)
bei seinen Blinden die dm-ch idiopathische Augenerkrankungen hervor-
gerufene Amaurose auf 68 7o , die durch Allgemeinerkrankungen aber
nur auf 19 7o berechnet. Bei meiner früheren Untersuchung^) von
2528 Blinden entfielen auf die durch idiopathische Augenaftektionen
erzeugte Blindheit 76,91 "L und auf die durch Allgemeinerkrankungen
^)Bäuerlein, Augenklinik in Würzburg. Bericht über deren
1 5jährige Wirksamkeit 1 869— 1 883. Wür/,burg 1884. p. 26.
') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 107.
— 62 —
hervorgerufene Amaurose nur 18,31 7o. Wir haben hiernach also für
unser fi-üher benutztes Untersuchungsmaterial eine viel grössere Anzahl
der durch idiopathische Augenaffektionen bedingten Blindheitsformen
ermittelt, als für unsere jetzige Untersuchungsreihe. Wie lassen sich nun
diese so auffallend verschiedenen Ergebnisse erklären ? Die einzige mid
ausschliessliche Ursache für das so verschiedene Verhalten der frag-
lichen Blindheitsgruppe ist in dem benutzten Material zu suchen. Während
wir für unsere frühere Untersuchung ein Material verwendet hatten, in
welchem alle Altersklassen vertreten waren, smd in unserer jetzigen
Untersuchungsreihe nur die ersten zwanzig Lebensjahre berücksichtigt,
alle späteren Altersklassen aber grundsätzlich ausgeschlossen. Für die
ersten beiden Lebensdecaden entfalten nun aber die idiopathischen Augen-
erkrankungen lange nicht eine so verderbliche Wirksamkeit, als für die
späteren Altersperioden. Die vielen Schädlichkeiten, welchen das Seh-
organ durch den Gebrauch ausgesetzt ist, sowie die regressive senile
Metamorphose, welche bei dem Auge ja verhältnissmässig schon sehr
zeitig sich fühlbar macht, sie gestalten die Gruppe der idiopathischen
Augenerkrankungen für das zweite und dritte Drittel der Lebenszeit
eben so verhängnissvoll , dass deren Blindheitsquote die bedeutendste
unter allen Gruppen der Amaurose überhaupt wü-d. Für die ersten
zwanzig Lebensjahre sind aber die Erkrankungen, welche in dem Ge-
brauch und den regressiven Veränderungen des Sehorganes wurzeln,
in selu' geringer Zahl oder gar nicht vorhanden und deshalb verliert
diese Gruppe für die Jugendblindheit an Blindheit erzeugender Kraft,
trotzdem sie eine so fi-uchtbare Erblindungsquelle, wie die Blennorrhoea
neonatorum, enthält. Im Grossen und Ganzen dürfen wir sagen, dass
die idiopathischen Erkrankungen des Auges jenseits des zwanzigsten
Lebensjahres etwa die Hälfte mehr Erblindungen bewirken, als dies-
seits dieser Altersstufe.
§ 13. Die einzelnen Formen der durch idiopathische Augenerkrankungen
erzeugten Blindheit.
Der Häufigkeit nach gvuppiren sich die 1060 der in diese Gruppe
gehörenden Fälle in der folgenden Weise:
Unter 1060 Fällen findet sich
Blennorrhoea neonatorum 753 mal = 7 1,03 "/o
Atrophia nervi optici ') 74 „ =r 6,99 „
') In (lieser Kubrik sind alle diejeuigou Fülle vou Sehuervenatropliic anf-
genoraineu, welche ohne Cerebral Symptome oder oline begleitende Kürpererkrankung
— 63 —
Iritis xind Iridochorioiditis (6 + 61)
67
mal
fi ^9 o/n
Trachom
42
)>
Q Qß
Sublatio retinae
27
ii,00 „
Konjunctivalerkrankuug unbestimmter Natur 26
BlennoiThoea gonorrhoica
1 o
))
1 /I o
Keratitis
15
,)
1 d.9
Chorioiditis
14
1 QO
l,öd „
Diphtheritis conjunctivae
14
1 QO
Glaucom
6
U,t) < ,,
Myopie
4
0 38
Neui'oretiuitis hämorrhagica
1
0,09 „
Essentielle Phtisis
1
0,09 „
Glioma Retinae
1
0,09 „
1060 mal
100,007o
Wir wollen nunmehr in engster Anlehnung
an
die
vorstehende
Tabelle die Formen der dort verzeichneten Blindheitsformen besprechen
und die Einzelnheiten , welche unser Material über dieselben enthält,
mittheilen.
Blennorrhoea neonatorum. Wenn Fuchs') sagt: „Die
ziffermässige Bestimmung des Kontingentes, welches die an Blennorrhoe
Erblindeten zu der Gesammtzahl der Blinden stellen, ist bis jetzt noch
nicht möglich", und wenn er diese seine Behauptung damit zu beweisen
sucht, dass er zeigt, wie je nach dem für die Untersuchung benützten
Blindenmaterial die Prozentzahl der Blennorrhoe wechselt, wie bei
Jugendblinden ein hoher, bei einem aus allen Altersklassen gemischtem
Material aber ein geringerer Procentsatz auf die Blennorrhoe entfällt,
so sehen wir ims völlig ausser Stande, diesem Ausspruch beizutreten.
Dass der Prozentsatz der Blennorrhoeblindheit bei den verschiedenen
Autoren ein sehr wechselnder ist, wollen wir Fuchs keineswegs bestreiten,
wie wir ihm auch nicht widersprechen wollen, wenn er die Verschieden-
heit des Blinden-Materials für dieses Schwanken des prozentarischen
Verhältnisses in Anspruch nimmt : Diese Thatsachen sind völlig richtig
und ihnen kann sich Niemand, welcher sich mit Blindenuntersuchungen
nur einigermassen befasst hat, verschliessen. Aber Fuchs irrt sehr,
wenn er in diesen Verhältnissen etwas für die Blennorrhoeblindheit be-
eutstanden sind. Ueber die Zahl der PapilHtisatvophie , der eiufticlieu Atrophie
vergl. deu Abschnitt Atrophia nervi optici in diesem Paragraphen und Kapitel 6.
') Fuchs, DieUrsachen und die Verhütung der Blindheit. Wies-
baden 1885. p. 122.
- 64 —
sonders Charakteristisches zu finden meint, oder wenn er aus ihnen die
Unmöglichkeit, sichere Werthe für die Bleunorrhoeblindheit zu gewinnen,
herleitet. Beide Schlüsse sind unrichtig und zwar aus Gründen, deren
Stichhaltigkeit ein Jeder ohne Weiteres aus dem Folgenden wohl er-
sehen wird.
Was zuvörderst das Schwanken der prozentarischen Werthe, ihr
Steigen und Fallen je nach dem der Untersuchung unterstellten Blinden-
material anlangt, so theilt die Blennorrhoeblindheit dieses Schicksal
eben mit jeder anderen Blindheitsform auch. Suchen wir z. B. den
Prozentsatz der Glaucomblindheit zu finden, so werden wir genau das
erleben, was Fuchs für die Blennorrhoeblindheit als besonders charak-
teristisch betont, nämlich ein höchst auffälliges Schwanken. Je nach
dem benützten Blindenmaterial steigt und fällt der numeiische Werth
der Glaucomblindheit in ähnlicher Weise wie bei der Blennorrhoe. Haben
wir em Material, welches in besonderer Menge Individuen zählt, welche
in der ersten Lebenshälfte erblindet sind, so fällt der Prozentsatz für
das Glaucom nicht unbedeutend, während er sofort steigt, wenn das
Untersuchungsmaterial Personen in reichlicher Zahl enthält, welche
in der zweiten Lebenshälfte die Blindheit erworben haben. So fand
ich z. B. bei der Untersuchung der Breslauer Blinden ') für die orts-
anwesende Bevölkerung den Prozentsatz des Glaucoms = 10,00; schied
ich nun die Zöglinge der Blindenanstalt von der Zahl der Breslauer
Blinden aus, berücksichtigte ich nur die wirkliche in Breslau ansässige
Einwohnerschaft, so stieg der Prozentsatz alsbald um fast die Hälfte seiner
bisherigen Höhe. Aehuliches kann man erleben, wenn man die Prozent-
sätze vergleicht, welche unsere frühere und unsere heutige Untersuchungs-
reihe für die angeborene Blindheit zu Tage gefördert hat. Unter den
2528 Blinden meines fi-üheren Materials habe ich ftir die kongenitale
Amaurose 3,83 "/o gefunden und heute 17,19 7o ; das frühere Material
war eben ein aus allen Altersklassen gemischtes , während das jetzige
nur die ersten zwanzig Lebensjahre berücksichtigt. Diese beiden Bei-
spiele genügen, um auf das Schlagendste den Beweis zu führen, dass
das Schwanken des Prozentsatzes eine Erscheinung ist, welche für die
BlennoiThoeblindheit keineswegs etwas besondei-s Charakteristisches be-
sitzt, vielmehr fast allen Blindheitsformen in der nämlichen Weise eigen
ist. Lassen wir nun den Fwc/is'schen Ausspruch gelten, erklären wir
mit diesem Autor die ziffermässige Bestimmung der Bleunorrhoeblindheit
•) Magnus, Dio Blinden der Stadt Breslau im Jalire 1 884. Archiv
für Augenheilkunde. XIV. p. 398, 400, 413.
') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 107.
vor der Haucl für nicht möglich, so sind wir nach dem, was wir über
das Fkiktuiren der anderen Bliudheitslormen soeben gesagt haben, un-
bedingt gezwungen, diese Unmöglichkeit auch auf die meisten anderen
Bliudheitsformeu auszudehnen. Damit entfiele aber überhaupt die Mög-
lichkeit, die blindheiterzeugende Kraft der verschiedenen Augeuerkrank-
imgen numerisch zu fixiren. Thäte man unter sothanen Verhältnissen
dann aber überhaupt eigentlich nicht besser, das Studium der Blindheit
vor der Hand ganz bei Seite zu schieben, resp. zu warten, bis man,
wenn dies überhaupt je eintreten würde, ein Blindenmaterial ohne jede
Schwankungen, ein Material mit absolut sicheren, unveränderlichen
AVertheu gefimden hätte? Nun, so verzweifelt liegen die Verhältnisse
glücklicherweise nicht und Fuchs hat wohl doch etwas zu schwarz ge-
sehen, wenn er die zififermässige Fixu-ung der Blennorrhoeblindlieit vor
der Hand für unmöglich erklärt. Wir können uns den Pessimismus von
Fuchs Sehl- wohl erklären ; denn da dieser Autor keine eigenen Blinden-
untersuchungen angestellt, über kein eigenes Untersuchungsmaterial zu
verfügen hatte, so war er lediglich auf die Angaben anderer Autoren
angewiesen, und da diese Angaben eben in Folge der so grossen Ver-
schiedenheit der einzelnen Untersuchuugsreihen die erheblichsten Schwank-
ungen zeigten, so musste er sich diesen differenten Angaben gegenüber
wirklich in recht peinlicher Lage befinden.
Es sei mir nunmehr gestattet, den Beweis dafür zu erbringen, dass
mit dem uns bis jetzt zur Verfügung stehenden Material die ziffer-
mässige Bestimmung des prozentarischen Werthes der Blennorrhoeblind-
heit sehr wohl durchzuführen ist.
Bereits in meiner früheren Arbeit über Blindheit^) habe ich darauf
hmgewiesen, dass man gut daran thut, die blindheiterzeugende Kraft
der Blennorrhoe in doppelter Weise zu betrachten, indem man emmal
die Bedeutung ermittelt für die Blindheit überhaupt, d. h. für ein aus
allen Altereklassen zusammengestelltes Menschenmaterial und indem
man zweitens die Erblindungsquote der Blennorrhoe nur für das jugend-
liche Alter zu finden sucht. Gerade auf den letzten Pimkt hat man
bisher viel zu wenig Werth gelegt und doch lässt sich die verderbliche
Kraft voll und ganz nur dann würdigen, wenn mau ihre Wirkungen
speziell nur für die Lebensperiode feststellt, welcher die Blennorrhoe
angehört, also für das erste Lebensjahr, mithin ein Verfahren verfolgt,
welches für andere Zweige der medicinischen Statistik bereits als einzig
verlässliches längst in Anwendung gezogen wird. Wenn heute Jemand
') A. a. 0. p. 163.
Magnus, Jngendblindheit.
5
— 66 —
die Verheerungen, ^velche der Durchfall der Säughnge anrichtet,
zifFergemäss ausdrücken ^vill, so ^vird es ihm gewiss nicht euifal en,
eine Mortalitätstabelle zu Rathe zu ziehen, welche die Todesursachen
der verschiedensten Lebensalter berücksichtigt, sondern er wird ledig-
lich nur die im ersten Lebensjahr Gestorbenen zusammenstellen und
aus ihrer Zahl den prozentarischen Werth der Säuglingsdiai-rhoe be-
rechnen. Genau in derselben Weise muss man verfahren, w^enn man
für die blindheiterzeugende Kraft der Blennorrhoe einen keinen Schwank-
ungen unterworfenen ziffermässigen Beleg zu gewinnen wünscht Man
Iss aus seinem Untersuchungsmaterial alle Fälle von Erblinclungen
des ersten Lebensjahres zusammenstellen und aus ihnen den Prozent-
satz der Blennon-hoe berechnen. Natürlich kann man d-sen eg mir
dann n.it Erfolg betreten, wenn man ein grösseres emheitlich un te -
suchtes Materia! Jugendblinder zur Verfügung hat, wie es uns eben
letzt zu Gebote steht. . t i -oi,,. o,-
Uuser Material zählt im Ganzen 1046 .ra ersten Lebensjah, ei-
blindete IndWiduen;') davon entfallen 763 anf die BlennotThoe m.thm
haben 71,99 '/o Prozent aller im ersten Lebensjahr Erbhnde.er da,
Atenlich durch die Blennorrhoe verloren. So er-schreckend hoeh cheser
P „lentsatz auch sein mag und so sehr wir uns S^S».—
sträuben mögen, so ist er doch der gar nicht anzuzweifelnde An=d.uck
m Steflun^, welche die Blennorrhoea') neonatorum unter den
Bllndheitsformen des ersten Lebensalters einnimmt.
Ve neben wir es nun noch, den Werth der Blennon-hoeblindhe,
für dl Amaurose überhaupt zu ermitteln ; i^^" ^
L bensiahr reichendes Material figurirt die Blennorrhoe mit 23,nO ,o,
Lebensjahi leic . jj H^^^^n umfassendes Material betrug der
für ' yt 2165 Zöglinge von Blindenanstalten
Prozentsatz nur l«.»; J„,,iffer der Blennorrhoe.
M-l^ir^;! a^^f a g^^^^^^^^^^^ ^'^ Anstalten, welche Re,„*».rf
10 Jah» L%eine «Pezialerhebnng benOt. bat., .^^^^
in meinem jetzigen Material auch vertreten, und da wir heute nur 23,o0 k
eingebüsst haben. „i„.<.vp Kinder einer Familie von Blennorrhoe
und zwar zweimal. Das eineiudi
9 Kinder au Blennorrhoe erblindet.
'Man vergleiche meine Arbeit über Blindheit p. l6o.
— 67 —
für die Blennorrhoe ermitteln konnten, so scheint ein nicht unbeträcht-
licher Rückgang dieser Erblindungsform im Laufe der letzten zehn
Jahre stattgehabt zu haben. Diesen Schluss wird man aus einem
Vergleich der älteren Beinhard'sehen und unserer Zahl wohl ziehen
■dürfen, auch wenn man zugeben will, dass der grössere numerische
Werth unseres Materials eine gewisse Korrektion der hohen Reinhm^d' sehen
.Ziffer wohl bedingt haben könne.
üebrigens giebt es noch einen anderen Weg, den amaurotischen
Werth der Blennorrhoe zu ermitteln, nämlich die Untersuchuuo; sämmt-
lieber Blinden einer grösseren Stadt resp, einer lokal begrenzten Oertlich-
keit überhaupt. Auch diesen Weg habe ich betreten, indem ich die Blinden
meiner Heimathstadt Breslau insgesammt untersucht habe. Indem ich nun
die für die einzelnen Blindheitsformen gefundenen Werthe mit dem Be-
völkerungsaufbau in Verbindung gestellt habe, ist es mir gelungen, die
Wirksamkeit der wichtigsten Erblindungsformen mit einander vergleichen
zu können und dabei habe ich für die Blennorrhoe folgende That-
sachen ermittelt. In dem ersten Lebenslustrum erblinden von 10 000
Einwohnern der Stadt Breslau 4,28 an Blennorrhoe. Diese Quote der
Blennorrhoe behauptet bis gegen das sechzigste Lebensjahr hin den ersten
Platz in der Rangordnung aller Blindheitsformen. Selbst die cerebralen
.und spinalen Sehnervenleiden und das Glaucom, dessen verderbliche
Wirksamkeit für die zweite Lebenshälfte allgemein anerkannt ist,
können die prozentarische Bedeutung der Blennorrhoeblindheit bis
zum Abschluss des sechzigsten Jahres nicht übertreffen. Die mit Be-
ginn der zweiten Lebenshälfte so ergiebig in Wh-ksamkeit tretenden
verschiedenen Formen der Atrophia nervi optici liefern für das 30. bis
45. Jahr auf 10 000 Breslauer Einwohner nur 2,13 "/o und fiir das
45—60. Jahr 2,82 »/o; und da sie jenseits des 60. Lebensjahres an
Intensität bereits wieder veriieren, so kommen sie also in keiner Lebens-
epoche der Erblindungsproduktivität der Blennorrhoe gleich. Aehnlich
liegen die Verhältnisse bis zu einem bestimmten Lebensabschnitt wenigstens
auch für das Glaucom, das zwischen dem 45.— 60. Lebensjahr auf
10000 Breslauer Einwohner nur 1,24 Blinde liefert; jenseits des 60.
Lebensjahres tritt allerdings dann für das Glaucom eine ganz bedeutende
Steigerung ein, indem von 10000 Einwohnern bis gegen das 70. Jahr
9,84 an Glaucom erblinden, eine Ziffer, welche mit jedem Jahr über
das siebenzigste Jahr hinaus noch wächst. Die Vergleichung mit den
wichtigsten Blindheitsm-sachen, der Atrophia nervi optici und dem Glau-
com, hat uns also gelehrt, dass die Atrophie in keiner Lebensphase
eine Wirksamkeit entfaltet, welche der der Blennorrhoea neonatorum
— 68 -
an Erc^iebigkeit gleichkommt und dass die Blindheitsquote des Glaucom
erst jenseits des sechszigsteu Lebensjahres die der Blennorrhoe überholt.
Bis zum sechzigsten Lebensjahre ist für Breslau also die Blennorrhoe
diejenige Erkrankungsform, welche die höchste Blindheitsquote besitzt.
Und da ich nicht glaube, dass die Breslauer Verhältnisse erheblich
anders liegen diu-ften, als die in anderen Gegenden, so möchte ich
diesem unserem Breslauer Ergebnisse eine allgemeinere Bedeutung wohl
zuerkennen. Allerdings dürfte diese Verallgemeinerung lediglich nur
für Deutschland oder für die Länder gelten, welche eine ähnbche Medi-
cinalgesetzgebung wie Deutschland besitzen; denn mit Aenderung der
sanitären Massregeln speziell der für die Pockenimpfung gültigen Ge-
setze nimmt die Blennorrhoeblindheit, wie wir dies bei der Beschreibmig
der Pockenblindheit sehen werden, insofern eine andere Stellung ein,
als die Pockenblindheit hier, wenigstens in einigen Ländern, die Hol>e
der Blindenquote der Blennorrhoe eiTcicht.
Von grosser Bedeutung fiir die Kenntniss der Blennorrhoe smd
ferner die Mittheilungen, welche Schatz^) über die Verbreitung und
die Ausgänge der Blennon-hoe in Mecklenburg-Schwerin jüngst gemacht
hat. Sämmtliche in dem Jahre 1881 und 1882 un Grossherzogthum
Mecklenburg-Schwerin beobachteten Fälle von Blennorrhoe^ hat Schatz
gesammelt und entnehmen wir diesem hochwichtigen Materiale folgende
Einzelheiten. ^881 1882
Es wm-den beobachtet:
Stärkere nicht eiterige Koniunktivitis i^b,
Blennorrhoe
Von den Blennorrhoen wurden zu spät zur Heilung
, 11>8 lo>^
gebracht gg g
Die Blennorrhoe war beiderseitig '
Cornealgeschwiü-e auf beiden Augen l«. ^'
Sehkraft dauernd geschwächt beide Augen . . • • M
Die Sehkraft war ganz oder fast ganz yermchtet . . 5,4 11,6
Doppelseitige Blindheit trat ein in Fällen • • • • .^''^^ '
Von den 1882 in Mecklenburg-Schwerm geborenen 18 000 leben-
den Kindern erkrankten: 5 0promille
An Blennorrhoe ^
Wurden zu spät zum Arzte gebracht . 0,8 „ „
Die Blennorrhoe ^ar doppelseitig ... 4,6 „ „
Doppelseitige Blindheit trat ein. . . • 0,17 „ „
— 69 —
Yon den 172 bleuuorrhoischen Augen zeigten Cornealgeschwüre 35 = 20^/o
Die Sehkraft war dauernd geschwächt bei 16= 9"/o
Die Sehkraft wai* ganz oder fast ganz vernichtet bei . . 12= 7°/o
Der Schaden, welcher die Blennorrhoea neonatorum in Mecklenburg
1882 anrichtete, kann also etwa wie folgt ausgedrückt werden:
Von je 200 Neugeborenen erkrankte 1 an Blennorrhoe. Von den
90 von 1 8 000 Neugeborenen blennorrhoisch Erki-ankten wurden
etwa 70 ohne dauernden Schaden geheilt,
3 vollkommen blind,
6 einseitig blind,
etwa 10 einseitig oder doppelseitig sehschwach.
Zu erörtern wäre nunmehr die Frage, ob sich für die Verbrei-
tung der Blennorrhoe resp. der Blennorrhoeblindheit in
verschiedenen Gegenden erhebliche Unterschiede be-
merkbar m-achen. Dass solche Unterschiede vorhanden sind, darüber
kann kein Zweifel sein ; die klinischen Beobachtungen vieler Forscher
sprechen von recht verschiedenen Verbreituugsstärken der Blennorrhoe
und schliesslich spricht auch die Thatsache dafiir, dass die Blennorrhoe,
wie wir dies sogleich sehen werden, mit den socialen Verhältnissen auf
das Innigste verknüpft ist. Ein Blick auf die Tafel I lehrt uns, dass
in Deutschland die verschiedenen Blindenanstalten recht difFerente Quoten
fiir die Blennori'hoe aufzuweisen haben ; doch dürfte es wohl kaum ge-
stattet sein, diese Thatsache mit den wirklichen Verbreitungsbezu'ken
der Blennorrhoe identificiren , unsere Karte also gleichsam für eine
Darstellung der Art und Weise, wie die Blennorrhoe über Deutschland
verbreitet ist, ansehen zu wollen. Dazu ist das in den einzelnen An-
stalten vorhandene Blindenmaterial denn doch zu klein und die in
ihnen vorhandenen Blindheitsformen von allzu vielen Zufölligkeiten ab-
hängig. Höchstens könnte unsere Karte für die Verbreitung der Blen-
norrhoe in Deutschland einen Werth gewinnen , wenn die in den be-
treffenden Städten resp. Provinzen heimischen Ophthalmologen ihre
heimischen, in der Praxis gesammelten Erfahnmgeu mit den Prozent-
sätzen der Kai*te parallelisiren w-ollten. Genau das Nämliche gilt
natürlich auch für unsere über Oesterreich - Ungarn entworfene Dar-
stellung.
Ueber die Vertheilung der Blennorrhoeblindheit in Europa kann
ich allerdings auch kein abschliessendes Urtheil fällen, doch vermag
ich Avenigstens über die Stellung derselben in den Blindenanstalten der
verschiedensten europäischen Staaten einige nicht unwesentliche Mit-
theUuugen zu machen.
— 70
in
32,14»/o-
28,57 „
)>
26,02 „
,1
25,83 „
))
25,36 „
23,72 „
),
20,47 „
j»
20,38 „
))
18,00 „
))
17,39 ,r
))
17,07 „
),
12,40 „
>j
11,29 „
Die Blennon-hoebliudheit ist vorhaudeu in:
der Blindenanstalt zu London^)
dem Hospital des Quiuze-Vingts zu Paris
allen Blindenanstalten der Schweiz
allen Blindenanstalten von Deutschlaad
verschiedenen Blindenanstalten von Kussland
der Blindenanstalt zu Stockholm
allen Blindenaustalten von Oesterreich-Ungarn
verschiedenen Blindenaustalten von Italien
der Blindenanstalt zu Kopenhagen schätzungsweise^)
einzelnen Blindenanstalten von Holland
der Blindenanstalt zu Christiania
einzelnen Blindenanstalten von Spanien
einzelnen Blindenanstalten von Belgien
Es sei mir gestattet, der vorstehenden Tabelle noch einige erklärende
Worte anschliessen zu dürfen. Auffallend smd die so niedrigen Prozent-
sätze, welche unser Material für die Blindenanstalten in Spanien und
Belgien ergiebt. Es sieht hiernach fast so aus, als stünden diese beiden
Länder ^) bezüglich der Bleuuorrhoeblindheit ganz besonders gut. Doch
scheint mix- diese Annahme bei reiflicher Ueberlegung und genauer
Durchsicht der für jene beiden Länder entworfenen graphischen Dar-
Stellungen (vergl. Tafel IV und XI) nicht stichhaltig; vielmehr halte
ich daL, dass die niedrigen Prozentsätze lediglich nur durch die Be-
schaffenheit. der Untersuchimgsprotokolle bedingt werden Gerade fiu-
Spanien und Belgien finden sich nämlich auffallend viele Protokolle,
welche die Ursache der Erblindung nicht mit Bestimmt angeben.
W nn ich nun auch nach Durchsicht dieser ProtokoUe den Emdnick
gewonnen habe, dass es sich bei vielen derselben - Blenno^^^h^^
heit handelt, so wagte ich doch auf diesen memen subjektw^^^^^
hin nicht, die fraglichen Protokolle in eme bestimmte Blmdheitsform
eLireL;. So ist es denn gekommen, dass flir Spanien und Belgien
^"^^^Z^mal College and academy of mnsic for the blind. Upper-
"""""^ Herr MoUenMwer, Direktor der Kopenhagener Anstalt, hat mir aus den-.
dezUC geführte; Akten die citirten Mittheilungen gütigst .usammen-
^es^em ÄerLhung der Kopenhagener Anstalt scheiterte an dem unuber-
rtwr^"B;:r;rrhoe in verschiedenen LUndern ver-
,leichi , pfeBindehantinfektion der Neugeborenen.
Stuttgart 1882. p. 88—160.
)
— 71 —
die Rubrik der unbestimmten Bliuuheitsformen gross, der prozeutarische
Werth der Blennorrhoe aber klein geworden ist. Thatsächlich scheinen
die Verhältnisse in Sjjanien ähnlich zu liegen wie bei uns in Deutsch-
land, wenigstens berichtet Carreras-Avagö dass er unter 100 Blinden
seines klinischen Materials iC/o Blennorrhoeblinde gefunden habe, ein
Prozentsatz, welcher demjenigen durchaus gleicht, welchen wir bei unserer
früheren Untersuchung für 2528 deutsche Blinde gefunden hatten. Car-
venis-Arago zählt vmter seinen 100 Blinden alle Altersklassen, wie
dies auch unser damaliges Material gethan hatte ; für ein solches Material
sind 10 "/o aber ein hoher Prozentsatz. Für London, Paris, Stockholm,
Kopenhagen, Christiania sind die angegebenen Prozentsätze nur von
lokaler Bedeutung, repräsentiren lediglich nur die in den Anstalten
der beti-effenden Städte vorhandenen Blennorrhoefälle. Alle übrigen
Positionen der Tabelle können aber, da sie die Zöglinge einer grösseren
oder geringeren Zahl von Anstalten umfassen, als ungefährer Ausdruck
der Stellung angesehen werden, welche die Blennorrhoeblindheit in der
Jugendblindheit der betreffenden Länder einnimmt.
Für die Schweiz, Deutschland ^) und Russland entfallen nach unserer
Tabelle die höchsten Prozentsätze der Blennorrhoeblindheit, während
Oesterreich-Ungarn und Italien nur 20 7 o und Holland gar nur 17 '7o
beisteuern. Doch bedürfen auch diese Verhältnisse zu ihrem vollen
Verständniss noch einiger erklärender Bemerkungen. Die Höhe des
Prozentsatzes der Blennorrhoeblindheit hängt in den verschiedenen Län-
dern zum Theil doch auch von der Höhe des Prozentsatzes der übrigen
Blindheitsformen ab; finden sich in einigen Ländern Blindheitsformen,
welche eine ganz erstaunliche Höhe des Prozentsatzes erreichen und
fehlen in anderen Ländern diese Formen wieder, so ist es natürlich,
dass die Höhe der Blennorrhoeblindheit von diesen Verhältnissen be-
einflusst werden rauss. Je nachdem neben der Blennorrhoe noch andere
sehr ergiebige Blindheitsformen existiren oder nicht, wird die Blennorrhoe-
quote fallen oder steigen müssen. Desshalb finden wir in allen den-
jenigen Ländern, welche neben der Blennorrhoe noch andere fruchtbare
Blindheitsquellen besitzen, einen verhältnissmässig niedrigen Prozentsatz
') Carreras-Äragb. La ceguera eu Espana Barcelona 1881 fand
bei 100 doppelseitig Erbliudetea 10 7„ Blennovrlioea neonatorum als Ursache, d.h.
also in 10 7o. Es handelt sich hiebei um Blinde, welche sich in der Klinik des
spanischen Collegen vorgestellt haben und alle Altersklassen repräsentiren; für
ein solches Material sind 10 7„ ein hoher Prozentsatz.
Die Verbreitung der Blennorrhoeblindheit über die einzelnen Blinden-
anstalten des deutschen Reiches kann man aus Tafel I ersehen.
— 72 —
der Bleunorrhoebliiidheit, während er in denjenigen Ländern, welche neigen
der Blenuorrhoea neonatorum keine aussergewöhnlich ergiebigen Blind-
heitsquellen ihr eigen nennen, höher stehen muss. Italien und Oesterreich-
Ungarn haben nun beide eine bedeutende Quote für die Pockenblindheit/)
und dieser Umstand erklärt das Sinken der Blennorrhoeblindheit. Die
Schweiz und Deutschland zeigen beide nur sehr geringe Prozentsätze der
Pockenblindheit und müssen desshalb eine gewisse Steigerung der prozeu-
tarischen Verhältnisse der Bleuuorrhoequote aufweisen. Behalten wh- diese
Verhältnisse im Auge, so glauben wir nicht, dass thatsächlich für die
Schweiz,') Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien erhebliche Unter-
schiede in der Verbreitung der Blennorrhoeblindheit existiren, wenigstens
nicht so erhebliche, wie man sie nach dem ersten Blick auf unsere Tabelle
erwarten sollte. Etwas anders liegen die Verhältnisse bezüglich Hollauds
und Russlands. Holland hat zwar auch eine Quote der Pockenblind-
heit, die nicht ganz unbeträchtlich ist, doch ist dieselbe nicht bedeutend
genug, um den auffällig günstigen Stand der Blennorrhoequote von
17,39 "i'o erklären zu können. Ich möchte desshalb der Ansicht zu-
neigen, dass in Holland die Blennorrhoe eine geringere Verbreitung oder
Intensität besitzt, wie in andern europäischen Ländern. Es wäre wünschens-
werth, wenn die holländischen Kollegen unsere i\Iittheilungen dui'ch
ihre klinischen Beobachtungen ergänzen wollten. Was nun nochEuss-
land anlangt, so zählt dasselbe 25,36 ^7o Blennorrhoeblinde, vermag aber
diese Höhe nicht durch entsprechenden Tiefstand der Quote füi- die
anderen Blindheitsformen einigermassen abzuschwächen, ^-ielmehr hat
es einen ganz auffällig hohen Prozentsatz der Pockenblindheit. Wir
müssen deshalb glauben, dass Russland thatsächlich eine sehr bedeutende
Menge BlennoiThoeblinder besitze, eine grössere Anzahl als jedes andere
in unserem Material vertretene europäische Reich. Und dieser Schluss,
zu welchem wir uns durch unser Material durchaus für berechtigt er-
achten, erfährt eine gemsse praktische Bestätigung durch die Mittheil-
■) Man vergleiche die Tafel XII, welche eine graphische Darstellung der
Pockenhlindheit in Europa bringt. „ . , i .
^) Wenn Horner (D i e Kr ankheite n des Auges nn Kindesalter.
Handbuch der Kinderkrankheiten V, 2 p. 263) jüngst die auffallende Thatsache
Lnt hat, dass die Züricher Blindenanstalt -it 1865 keinen Fall von Bl^^^^^^^^^^^^
blindheit mehr enthalten habe und aus diesen, Lmstand ur ^^^^^
doch für einzelne Theile derselben ein besonders gunst.ges ^ eihaltn.ss de
Bl nnorrhoe-Vorkommens folgert, so glaube ich für den Augenbhck wen.gstens
dLser Ansicht entgegentreten zu müssen. Die Züricher Anstalt zUH gegen.^^^^^^^
8 Zöglinge und darunter 2 Blennorrhoeblinde, d. h. also 25»/.; -cht besse,
liegen die Verhältnisse für Bern mit 27,77 ^ „ und für Lausanne m.t 24,13 /„.
— 73 —
ungeii, welche in jüngster Zeit Skrebitzkt/ ^ ) gemacht hat; denn nach
den von diesem Forscher angestellten Untersuchungen, scheinen in der
That die infektiösen Erblindungsformen in Russland eine ganz besonders
massgebende Rolle zu spielen.
Es möge uns jetzt noch gestattet sein, auf einige Verhältnisse
unser Augenmerk zu richten, welche der Entstehung der Blennorrhoe-
blindheit besonderen Vorschub leisten.
Dass die Blennorrhoe die niederen Volksschichten
stärker heimsucht, als die höheren Stände, ist eine Erfahrung,
welche uns die tägliche Praxis lehrt; wenigstens glaube ich dies aus
den in meiner Poliklinik und in meiner Privatsprechstunde gemachten
Beobachtungen schliessen zu dürfen und damit stimmen auch die Mit-
theilungen anderer Forscher, so z. B. die von Fuchst) Ich kann nun
aus meinem Material noch eine Thatsache beibringen, welche das soeben
Gesagte zu unterstützen wohl geeignet sein dürfte. Ich habe nämlich
über die Verhältnisse, unter welchen die Geburt der deutscheu Blennorrhoe-
blinden unseres Materials erfolgt ist, genauere Nachrichten eingezogen
und dabei in Erfahrung gebracht: dass von 337 Bleunorrhoeblinden,
über welche ich verlässliche Mittheilungen erhalten konnte, 260 ehelich
imd 77 unehelich geboren worden sind. Es entfallen hiernach also auf
die eheliche Geburt 77,15 "/„, auf die uneheliche 22,85 7o. In der
Periode von 1874 — 1883 befanden sich nun aber im deutschen Reich 3)
unter 100 Neugeborenen 8,87 7o unehelich Geborene. Vergleichen wir
diesen Prozentsatz von 8,87 7o mit dem Prozentsatz von 22,85 "/„, mit
welchem die imeheliche Geburt unter der Zahl der Bleunorrhoeblinden
rangirt, so bemerken wir alsbald, dass die uneheliche Geburt 2V2mal
mehr Blennorrhoeblinde beisteuert, als wie dies nach dem Verhältniss, in
welchem die uneheliche zur ehelichen Geburt überhaupt steht, der Fall sein
sollte ; um nun zu erfahren, ob diese Thatsache, welche wir fär die deut-
schen Bleunorrhoeblinden gefunden haben, einen allgemeineren Charakter
besitzt, als der Ausdruck eines Gesetzes von allgemeiner Gültigkeit an-
gesehen werden dai-f, habe ich die analogen Verhältnisse auch für den
') Skrebitzky, Uebev VevbveitUDg und Intensität der Erblin-
dungen inRussland und dieVerth eilung der Blinden über diever-
scliiedenen Gegenden des Reichs. St. Petersburger mediciuische AVoclien-
schrift. 1886. Nr. 4.
Fuchs, Die Ursachen und die Verhütung der Blindheit u. s. w.
p. 118.
Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich. Berlin 1884.
Dezemberheft.
— 74 —
cisleithauischeu Theil der Oesterreich-Ungarn'scheu Monarchie zu erniittelu
gesucht. Die cisleithauischeu Bliuclen-Erziehuugs-Anstalteu zähleu laut
den mir zugegaugeueu Protokolleu 78 Bleuuorrhoebliude uud vou 65
derselben kouute ich genaue Nachrichten bezüglich ihrer Geburt er-
halten. Es waren 41 ehelich und 24 unehelich geboren uud demnach
eutfieleu also auf die eheliche Gebm-t in Cisleithauien 63,08",.., auf die
uneheliche 36,92 %. Für Cisleithauien^) stellte sich nun für den Zeit-
raum von 1874 — 1883 der Prozentsatz der ehelich zu den unehelich
Geborenen wie 86,20 : 18,79 7... Vergleichen wir den Prozentsatz von
18,79 7o, der in Cisleithauien für die uuehelicheu Kinder überhaupt
massgebend ist, mit dem Prozentsatz 36,92 "/o, welcher für die unehe-
lichen Blennorrhoebliudeu dieses Landes entfällt, so bemerken wir, dass
die uneheliche Geburt reichlich 2'V3 mehr Bleuuorrhoeblinde liefert, als
dies der Fall sein sollte nach dem Verhältuiss, in welchem die unehe-
liche zur ehelichen Gebiu't überhaupt steht. Die frühere Belastung,
welche wir bezüglich der Bleuuorrhoeblindheit für die uuehelich Ge-
borenen des deutscheu Reiches nachgewiesen haben, stimmt also in der
überrascheudsteu Weise mit der Ziffer, welche wir für die aualogen
Verhältnisse in Cisleithauien ermittelt haben. Wir nehmen desshalb
auch keinen Anstand, die gefundenen Thatsachen für den Ausdruck
eiues allgemein gültigen Gesetzes anzusehen, welches lauten würde : die
unehelich Geborenen sind der Gefahr, Bleuuorrhoeblindheit zu erwerben,
in 2— 8 mal höherem Grade ausgesetzt, als wie dies nach ihrem Ver-
hältuiss zu den ehelich Geborenen erwartet werden sollte.
Die Erklärung dieses Gesetzes dürfte keinen erheblichen Schwüerig-
keiten begegnen, und zuvörderst in dem Umstand zu suchen sein, dass
die mit Blennorrhoe behafteten unehelichen Neugeborenen im Allgemeinen
nicht mit derjenigen Sorgfalt gepflegt werden, welche für eine so gefähr-
liche Erkrankuugsform unbedingt erforderlich ist. Die Blennorrhoe wird
desshalb bei den Unehelichen schneller uud leichter verhängnissvoUe
Konsequenzen zeitigen, als wie bei den ehelich Geborenen. Aber ich
vermuthe auch, dass die Gelegenheit, eine Blennon-hoe zu erwerben, für
uneheliche Neugeboreue häufiger gegeben sein düi-fte, als wie für die
ehelichen Kinder. Denn man kann doch wohl mit der grössteu Be-
stimmtheit annehmen, dass im ausserehelichen Geschlechtsverkehr die
mütterlichen Geburtswege viel eher Kulturstätten des Gonococcus werden,
als wie im ehelichen Geschlechtsleben; gibt man diese Möglichkeit zu,
') Die betreffeuden Notizen verdanke ich der Güte des k. k. Käthes Herrn
Schimmer in Wien.
75 —
so ist natürlich die Gefahr, eine Blennorrhoe zu erwerben, für das un-
eheliche Kind eine viel brennendere, als wie für das eheliche.
Sind ynr von den innigen Beziehungen, welche zwischen Blennorrhoe
imd unehelicher Geburt bestehen, überzeugt, so werden wir uns der
Ei-kenntniss nicht verschliesseu können, dass der für die Blennorrhoe
entfallende Prozentsatz gewissen Schwankungen unterworfen sein muss,
nämlich den Schwankungen, welche die Zahl der ehelichen und unehe-
lichen Geburten aufweist. Mit dem Steigen und Fallen der unehelichen
Gebiu-teu muss auch die Blennorrhoequote steigen und fallen. Man
wird gut thun, dieser Thatsache bei allen Blindenuntersuchungen sich
zu erinnern und im Hinblick auf sie nicht jedes Fallen der Blennorrhoe-
quote sofort auf eine wirkliche und anhaltende Einschränkung der
Blenuon'hoe zu beziehen. Auf eine wirkliche imd erfolgreiche Ver-
minderimg der Blennorrhoe wird man nur dann schliessen dürfen, wenn
man bei einer Blindenuntersuchung einen ganz erheblich geringeren
Prozentsatz für die Blennorrhoe ermittelt, als wie bei einer früheren
Untersuchung. Wenn wir z. B. heute für unser Material ^) 23,50 Vo
gefunden haben und Reinhard vor 10 Jahren vor 40,25 "U in einem
dem unserigen gleichwerthigen Material nachgewiesen hat, so ist die
Diöerenz zwischen diesen beiden Prozentsätzen doch zu gross, um sie
lediglich nur durch die Schwankungen in der Zahl der ehelichen und
imehelichen Geburten erklären zu können. Besonders vorsichtig wird man
sein müssen, wenn es sich um Untersuchungen einzelner Blinden- Anstalten
handelt ; der Umstand, dass in einer Anstalt die Zahl der Blennorrhoe-
blinden abnimmt, ist noch lange kein Beweis, dass in der Provinz, welche
hinter jener Anstalt steht, eine rückläufige Bewegung in dem Auftreten der
Blennorrhoe eingetreten sein müsse. Die Schwankungen der Blennorrhoe-
bewegung können sehr wohl die geringere Menge Blennorrhoeblinder,
welche man einmal in dieser oder jeuer Anstalt findet, erklären. Ich
verweise auf den von mir Seite 72 citirten Fall, wo Horner das Fehlen
der Blennorrhoeblindheit in der Züricher Anstalt auf eine Besserung
der Blennorrhoeblindheit überhaupt beziehen wollte und bei der neuesten
Untersuchung plötzlich wieder 25 % Blennorrhoe in der Anstalt sich
zeigten.
Da im Lauf der nächsten Jahre voraussichtlich häufiger Blinden-
untersuchungen vorgenommen werden dürften und man hofl'entlich wohl
auch bald dazu schreiten wird, wissenschaftliche Berichte über die
Blinden-Anstalten zu veröffentlichen, so hielt ich es, um von Haus aus
') Man vergl. Seite 66 dieser Arbeit.
— 76 —
IiTthümeru vorzubeugen, für gerathen, die soebeu besprocheneu That-
sachen in ausführlicher Weise zur Darstellung zu bringen.
Der Einfluss des Geschlechtes auf die Häufigkeit der Blen-
norrhoe wird von den verschiedenen Autoren in verschiedener Weise
beurtheilt; während Einige, so z. B. Emissmann^), ein Ueberwiegen
der Blennorrhoe für das männliche Geschlecht behaupten, ist nach An-
deren, so z.B. nach E/süsser, Piringer'') u. a. das weibliche Geschlecht
von der Ophthalmia neonatorum häufiger heimgesucht. Unser Material
ergiebt nun durchweg flu- alle Länder, aus denen eine Reihe von An-
staltsuntersuchungen vorliegt, ein entschiedenes Ueberwiegen der Blen-
norrhoeblindheit bei dem weiblichen Geschlecht und zwar ist dieser
Unterschied in einzelnen Ländern so gross, dass er 10 Prozent und
darüber beü-ägt. Für das gesammte M"aterial ist das Verhältniss ein
derartiges, dass für das männliche Geschlecht die Blennon-hoequote
20,66 "/o, fiir das weibliche aber 28,28 "/o beträgt. Für die einzelnen
europäischen Länder ist das Verhältniss zwischen männlichen imd weib-
lichen Blennorrhoeblinden das folgende:
Männlich Weiblich
Oesterreich-Ungarn 1 9,6 3 ° /o 2 2,03 »/ o
Belgien 10,00 „ 14,70 „
Deutschland . . 22,48 „ 30,56 „
Italien .... 18,95 „ 26,53 „
Holland .... 13,84 „ 22,00 „
Schweiz .... 21,95 „ 31,25 „
Spanien . . . . 11,11 „ 25,00 „
Russland . . . 17,94 „ 34,37 „
Jedenfalls ist es auffallend , mit welcher Regelmässigkeit in all'
den angefiÜirten Ländern die Blennorrhoeblindheit für das weibliche
Geschlecht einen höheren Prozentsatz ergiebt und macht es diese That-
sache doch wohl wahrscheinlich, dass im Allgemeinen die Blennorrhoeblind-
heit das weibliche Geschlecht mehr heimsucht, als wie das männliche.
Es wäre sodann vielleicht nicht ohne Interesse zu untersuchen, ob
die städtische oder die ländliche Bevölkerung einen
grösseren Prozentsatz Blennorrhoeblinder liefert. Bekannt-
lich hat Mayr 3) vor einigen Jahren für Bayern den Nachweis zu föhren
•) Eaussmann, Die Bindehautinfektion u. s. w. p. o4 u. 5o.
Man vergleiche die angezogenen Stelleu hei Eaussmann.
- Mayr, Die Verbreitung der Blindheit, der Taubstummheit,
des Blödsinns und des Irrsinns inBayern nobst einer allgemeinen
gesucht, dass die städtische Bevölkerung eluer um die Hälfte grösseren
Gefahr der Erblindung unterliege, als wie die ländliche Bewohnerschaft.
Es kann hier nicht der Ort sein, diese Mayr'sche Behauptung einer
Kritik zu unterziehen, zumal wir uns schon früher über dieselbe ge-
äussert haben'), doch wollen w nicht unterlassen, wenigstens an
unserem jetzigen Material die Mayr'sche Hypothese zu prüfen. Bezüg-
lich der deutschen Blennorrhoeblinden habe ich zum Theil einen ganz
verlässlichen Nachweis über den Ort, wo die Erblindung erfolgt ist ;
187 derselben sind auf dem Land, 180 in der Stadt erblindet; es ent-
fallen also auf die ländliche Bevölkerung 50,95 °/o und auf die
städtische 49,05 °/o. Natürlich können wir aus diesen Zahlen erst dann
einen Schluss ziehen, wenn wir dieselben mit den Zahlen parallelisiren,
welche im deutschen Reich für die ländliche und städtische Bevölker-
ung massgebend sind. Nach den Erhebungen von 1880^) haben nun
in Deutschland in Orten mit über 2000 Emwohnern 18 720 530 Per-
sonen und in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern 26 513 531 In-
dividuen gelebt. Wenn wir nun die Bevölkerung, welche in Orten mit
mehr als 2000 Einwohnern leben, als die städtische und den anderen
Theil als die ländliche ansehen dürfen, so würden also im Allgemeinen
2/5 aller Einwohner auf die Städte und ^/s auf das Land kommen.
Entsprechend dieser Vertheilung müssten von unseren deutschen Blen-
norrhoeblinden 146 und ein Bruchtheil, d. h. 39,78 °/o auf die Städte
und 219 und ein Bruchtheil, d. h. 59,68 °/o auf die ländliche Bevölker-
luig entfallen. Nach unseren Ermittelungen kommen aber 49,05 7o auf
die städtische und 50,95 "/o auf die ländliche Einwohnerschaft. Unser
Material, soweit es das deutsche Reich angeht, würde hiernach also
für die städtische Bevölkerung eine grössere BlennoiThoequote ergeben,
als für die ländliche Einwohnerschaft imd zwar würde sich für jene
etwa ^li mehr herausstellen, als nach dem Bevölkerangsstand zu er-
warten wäre. Nun wollen wir allerdings nicht verhehlen, dass unsere
Annahme, nach der diejenigen Personen, welche in Orten mit mehr als
2000 Einwohnern leben, insgesammt die städtische Bevölkerung repräsen-
tii'en sollen, während die ländliche Einwohnerschaft durch die Bevölker-
ung der weniger als 2000 Personen zählenden Ortschaften verti'eten.
internationalen Statistik dieser vier Gebrechen. XXXV. Heft der
Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern. München 1877. p. 24.
') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 64.
') Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich. Jahr-
gang 1882.
— 78 —
werden soll, von Fehlerquellen keineswegs freizusprechen ist. That-
sächlich dürfte die Landbevölkerung wohl doch mehr als ^/s der ganzen
Bewohnerzahl des deutschen Reiches betragen und auf die Stadtbevölker-
ung ein geringerer Bruchtheil als wie entfallen. Es würde darnach
für die Stadtbevölkerung sogar eine noch grössere Blennorrhoequote
sich ergeben, als wir sie gefunden haben, die Differenz zwischen der
städtischen und ländlichen Blennorrhoequote eine viel bedeutendere seiu,
als wie sie nach unseren Ermittelungen scheinbar ist. Wir mussten
vins aber, um überhaupt eine Scheidung zwischen ländlicher und städti-
scher Bevölkerung treffen zu können, an die Angaben der offiziellen
Statistik halten und diese unterscheidet eben nm- zwischen Einwohnern
von Orten über und unter 2000 Einwohnern. Uebrigens bin ich mir
wohl bewusst, dass meine Darlegungen nicht mehr sein können, als
wie ein Versuch; aber ich bin der Ansicht, dass in einer so Avichtigen
Frage, wie es die Blennori-hoeblindheit ist, es wohl erlaubt sein dürfte,
auch mit einem beschränkten , von Fehlerquellen nicht freizusprechen-
den Material einen solchen Versuch zu wagen, wie ich ihn gewagt habe.
Die Verhütung der Blennorrhoe ist im Lauf der letzten
Jahre so oft der Gegenstand höchst eingehender Untersuchungen ge-
wesen, dass wir uns über dieses Thema heute nur mit gewissen Ein-
schränkungen äussern wollen. Indem wir bezüglich der geschichtlichen
Entwicklung der Blennorrhoeprophylaxe auf Haussmann wxA Fuchs ver-
weisen, wollen wir heute nur unsere Anschauungen darüber äussern,
in welcher Weise sich jetzt am aussichtsvollsten eine Verhütung der
Blennorrhoe resp. Blennorrhoeblindheit in's Werk setzen lassen dürfte.
Mit der Erkenntniss der mycotischen Natur der Blennorrhoe waren
zwei Wege eröffnet worden, auf denen man hoffen konnte, eine erfolg-
reiche Verhütung dieser Krankheit zu en-eichen; einmal konnte man
bestrebt sein, die Einwanderung der parasitären Elemente aus den
mütterlichen Geburtswegen in den Konjunktivalsack zu verhindern, und
anderseits konnte man darauf denken, die einmal in den Konjunktival-
sack gelangten Gonococcen dauernd unschädlich zu machen. Die Praxis
hat über den Werth dieser beiden Möglichkeiten bereits zu Gericht
gesessen und es dürfte wohl heute kaum noch einen Arzt geben, welcher
die Desinfektion der mütterlichen Geschlechtsorgane zur Verhütung der
Blennorrhoe für ausreichend erachten wollte. Der Schwerpunkt der
Blennorrhoeprophylaxe liegt voll und ganz jetzt nur auf der wirksamen
Desinfektion des Konjunktivalsackes, und was mit dieser Methode
geleistet werden kann, das zeigen die glänzenden Erfolge des Crede'-
— 79 —
sehen Verfahrens^). Ideell ist mit dem Auftreten der C?'ede'schen
Methode die Frage nach der wirksamen Verhütung der Blennon-hoe
eigentlich vollständig gelöst. Selten nur ist es der Medicin beschieden
gewesen, ihre Erkenntniss von dem "Wesen einer Krankheit mit so
überraschendem Erfolge praktisch zu verwertheu, als wie dies bei der
Ophthalmia neonatorum der Fall gewesen ist. Ueber die Methode der
Bleuuorrhoeprophylaxe kann deshalb in Zukunft wohl auch nicht mehr
der leiseste Zweifel hen-schen ; dagegen lässt sich darüber streiten, in
welcher Weise nun das C/"ef/e'sche Verfahren in der Praxis verwerthet,
wie dessen segensreiche Erfolge in weitestem Umfang allen Bevölker-
ungsschichten zugängig gemacht werden sollen. Und gerade über diesen
Punkt gehen die Ansichten vor der Hand noch recht weit auseinander,
wie dies ein Blick auf die Tagesliteratur zeigt. Als die glänzenden
Erfolge Crede's zuerst bekannt geworden waren, hatten wohl die meisten
von ims unwillkürlich den AVunsch, die C^'ef/e'sche Methode mit Be-
nützung der Staatshülfe zur allgemeinen Einführung zu bringen. War
die Idee nicht wirklich verlockend, an der Hand des Gesetzes die Blen-
norrhoe so gut wie ganz aus der Welt zu schaffen ? Wenn der Staat
sich für verpflichtet erachtet , durch ein Impfgesetz Leib und Leben
seiner Angehörigen gegen die Pocken zu schützen, sollte es da nicht
auch in seinem Interesse liegen, die Augen seiner Neugeborenen gegen
eine Erkrankung zu schützen, welche so tief in das Wohl und Wehe
so vieler Staatsangehöriger eingreift ? Professor Schatz ^) in Rostock
hat diese Frage in einer vortrefflichen Weise behandelt und da sich
meine Ansichten mit denen dieses Autors vollständig decken, so sei
es mir gestattet, die einschlägigen Bemerkungen von Schatz- wörtlich
anzuziehen ; derselbe sagt : „Die Frage, ob die prophylaktische Behand-
lung der Augen der Neugeborenen gegen BlennoiThoe nach der Crede'-
schen Methode seitens des Staates anzuordnen sei, wird verschieden zu
beantworten sein, je nach den verschiedenen Kreisen sanitätlichen Per-
sonals, auf welche sich die Anordnung beziehen soll.
Den frei praktizirenden Aerzten die Prophylaxis überhaupt oder
gar eine bestimmte Methode für dieselbe vorzuschreiben, ist der Staat
gar nicht in der Lage. Die Wissenschaft geniesst mit Recht die volle
Freiheit, die Mittel und Wege der Behandlung selbst zu bestimmen.
') Credc, Die Verhütung der Augeueutzündung der Neuge-
borenen, der liäufigsten und wichtigsten Ursache der Blindheit.
Berlin 1884. Beschreibung des Verfahrens p. 9.
Schatz, Die Blenuorrhoea neonatorum u. s. w.
— 80 —
Ja der Staat wird sogar nicht einmal Veranlassung haben , die Aerzte
auf die Prophylaxis aufmerksam zu macheu, da das durch die medi-
cinische Literatur der Jetztzeit reichlicher und schneller besorgt wird.
Uebrigeus wird die. entsprechende Thätigkeit der Aerzte gar nicht ein-
mal allzuviel wh-ken. Die Entbindungen, bei welchen Aerzte zui- Stelle
sind, bilden nur einen verschwindend kleinen Theil aller Entbindungen
imd finden in Gesellschaftskreisen statt, bei welchen die Blenuorrhoea
neonatorum auch ohne Prophylaxis äusserst selten ist. Findet sie sich
aber auch einmal, so ist dann wenigstens die Hülfe so schnell da, dass
dauernde Schäden kaum je eintreten.
Anders liegt die Frage schon bei den staatlichen Anstalten. In
diesen, welche zu einem grossen Theil von recht unsauberer Gesellschaft
bevölkert werden, kommt die Blennorrhoe etwa 10 mal häufiger vor,
als in der gewöhnlichen Praxis. In ihnen hat der Staat ausserdem
nicht nur ein allgemeines Interesse, die Blennon-hoe wegen ihrer Folgen
vermieden zu sehen, sondern auch ein direkt pekuniäres, w-eil die Ver-
meidung der Blennorrhoe die zu gewährenden Verpflegungstage nicht
unbeträchtlich vermindert. Trotzdem halte ich es auch für die öffent-
lichen Anstalten mindestens für überflüssig, dass der Staat eine bestimmte
Prophylaxis anordnet.^) Denn er kann nicht allein zu den Anstalts-
vorständen das Vertrauen hegen, dass diese aus Pflichtgefühl Prophy-
laxis anwenden werden, sondern die Vorstände werden dies schon aus
eigenem Interesse thun, weil die ausgebrochene Blennorrhoe eine der
imangenehmsten Plagen des Anstaltspersonales ist. Ich halte sogai- die
staatliche Anordnung einer bestimmten Methode der Prophylaxis nicht
einmal für räthlich. Es ist ja nicht unmöglich, ja sogar sehr wahr-
scheinlich, dass bald ein noch bequemeres Mittel zur Desinfektion der
Augen gefunden wird und solches Auffinden würde dm-ch die Anord-
nung einer bestimmten Methode nur erschwert werden.^)
Ganz anders liegt die Frage aber bezüglich der Hebammen. Diese
sind weo-en ihrer der Wichtigkeit ihres Berufes nicht entsprechenden
») Früher war ich in einem Vortrag: „D ie Verhütung der Blennorrhoea
neonatorum und der sich daraus entwickelnden Blindheit". Vor-
trag, gehalten am 15. Februar 1884 in der schlesischen Gesellschaft für vater-
ländische Kultur. Breslauer ärztl. Zeitschrift 1884, Nr. 9 — für die obligatorische
Einführung der CVecZe'schen Methode in den Gebärhäusern eingetreten; doch
stimme ich jetzt den Ansichten von Schatz bezüglich dieses Punktes völlig bei.
2) Aehnliche Ansichten über die Stellung der Gebäranstalteu zu der Credc'-
schen Methode hat auch Fuchs in seinem preisgekrönten AVerk über Blindheit
geäussert; man vergl. daselbst p. 141.
— 81 —
AusbilcUuig bezüglich ihrer Funktionen und ihrer jMedikamente an ganz
bestimmte Vorschriften des Staates gebunden. Solche müssen ihnen
also gegeben werden und es fragt sich, ob die Prophylaxis der Blenuorrhoea
neonatorum mit 2prozentiger Argeutum nitriciura - Lösung auch zum
Gegenstand einer Hebammenfunktion gemacht werden soll." So weit
die Worte von Schatz-, mit welchen derselbe die Situation nach imserer
^Meinung in ausgezeichneter Weise gekennzeichnet hat. Aus den an-
gezogeneu Bemerkimgen unseres Autors geht also hervor, dass sich die
Frage der obligatorischen Einführung der Crede'schen Prophylaxe
wesentlich auf die Hebamme zuspitzt. Soll für die Hebamme eine
bindende Verordnung bezüglich der Desinfektion der Augen der Neu-
geborenen erlassen werden oder nicht? so lautet die Frage augenblick-
lich. Schatz ist der probeweisen Einfühi-ung der Prophylaxis in die
Hebammenpraxis zwar nicht abgeneigt, doch möchte er auch diese
probeweise Einfühiomg nicht schon jetzt diu-chgeführt sehen. Gegen-
über diesem vermittelnden Vorschlag von Schatz tritt Fuchs unbedingt
für die Einführimg in die Schranken, während TJffelmann,'^) wenn auch
in reservirter Form, sich gegen dieselbe erklärt. Dürfen wir nunmehr
imseren eigenen Standpunkt in dieser Angelegenheit betonen, so müssen
ym gestehen, dass unsere Bedenken gegen die allgemeine Einführung
in die Hebammenpraxis im Laufe der letzten Zeit eher gestiegen als
gemildert worden sind. Wie Schatz in seinen von ims citirten Dar-
legungen sehr treffend bemerkt, sind die Gefahren der Blennorrhoe
durchaus nicht für alle Gesellschaftsklassen die gleichen; die niederen
Schichten der Bevölkerung stehen offenbar sowohl unter einer grösseren
Gefahr, die Blennon-hoe zu erwerben, als die Erkrankung bei ihnen auch
in ihren Folgen verhängnissvoller sich zu gestalten pflegt. Für die
besitzenden und die gebildeten Volksklassen ist die Gefahr derBlennorrhoe-
blindheit lange nicht so brennend als wie für die unteren Schichten
der Bevölkerung. Von einem staatlichen Eingreifen darf nach unserer
Ueberzeugung aber erst dann die Rede sein, Avenn die Gefahr für alle
Klassen des Volkes die gleiche ist. Ist dies nicht der Fall, ist die
Gefahr für eine Kategorie der Bevölkerung zwar eine hervorragende,
für einen recht bedeutenden Theil des Volkes aber eine untergeordnete —
und das ist nun einmal thatsächlich bei der Blennorrhoe der Fall —
so mirde der Staat sich einer ganz ausserordentlichen Ungerechtigkeit
') Wenigstens nicht für Mecklenburg.
') Uffelmann, Die Prophylaxis der Blenuorrhoea neonatorum.
Deutsche Medicinal-Zeitung 1885. Nr. 6.
Magnus, Jngendblindheit. 6
— 82 —
gegen ei neu grossen Bruchtheil seiner Bevölkerung schuldig inacheu,
wenn er eine allgemein gültige Anwendung der Crede'schen Prophylaxe
anordnen wollte. Ein ansehnlicher Theil des Volkes wüi-de dann ge-
nöthigt, an den Augen seiner Kinder eine, genau besehen, eigentlich
uuuöthige Manipulation vornehmen lassen zu müssen, l)loss damit andere
minder gut situirte Bevölkerungsschichten gegen die Blennorrhoegefahr
geschützt würden. Würde man nun aber die Einführung der Prophy-
laxis in die Hebammeupraxis in beschränkter Weise gutheissen, etwa
in der Form, dass die Hebamme bei allen Geburten, welche sie ohne
Hülfe eines Ai-ztes leitet, gehalten wäre, die Prophylaxis in Anwendung
zu ziehen, so wäre, bei Licht betrachtet, eine solche Anwendung schliess-
lich doch nichts anderes als ein Ausnahmegesetz, ein Gesetz, gemünzt
für die unteren Volksklassen. Wenn nun ein solches Gesetz auch ganz
gewiss in hervorragendster Weise nur dem Wohl jener Bevölkerungs-
schichten dienen würde, auf welche es berechnet ist, so ist und bleibt
es doch immer ein Ausnahmegesetz. Ob und wie weit aber heutzutage
Ausnahmegesetze berechtigt sind, das ist sehr die Frage. JedenfaUs
wäre es besser, wenn man ohne dieselben zum Ziel gelangen könnte.
Ich bin aber der Ansicht, dass dies sehr wohl möglich sein könnte.
Man gebe zuvörderst den Hebammen bei ihrer Ausbüduug genaue
Aufklärungen über das Wesen und die Bedeutung der Ophthalmia
neonatorum; dann unterrichte man sie in der Ausübung der Cr ede'schen
Methode und schliesslich weise man sie an, bei den Untersuchungen
der Schwangeren sorgfältig auf etwaigen Scheideufluss zu achten. Finden
sie solchen, so sollen sie, wie Fuchs sehr richtig bemerkt, die Frau
auf die etwaigen Gefahren, welche dieser Fluss auf die Augen des
erwarteten Kindes ausüben kann, hinweisen, und die Desinfizirung nach
Crede dringend in Vorschlag bringen. Ueberhaupt sollen sie in allen
ihnen verdächtig erscheinenden Fällen das Cred^'sche Verfahi-en den
Eltern dringend an's Herz legen. Fügt man diesen Vorschlägen noch
die Bestimmung zu, dass die Hebamme jeden FaU von Blennorrhoe
alsbald offiziell zu melden hat,') so bin ich der festen Ueberzeugung,
dass die Gefahren der Blennorrohe auf das denkbar genngste i\Iaass
beschränkt sein dürften. Besonders dem letzten Punkt der Anzeige-
pflicht messe ich grosse Bedeutung bei; durch Meldung jedes Blennon-hoe-
falles an geeigneter Stelle wird der Gefahr der Erkrankimg m wn-k-
samster Weise die Spitze abgebrochen. Die Neigung der Hebamme,
.) Audi Uffdiiiann tritt dafür ein, dass die Hebamme eventuell unter Straf-
androhung gcnöüugt werde, jeden Fall von Blennorrhoe zu Urzthcher Kenntnis
zu bringen.
— 8ö -
die Blennorrhoe iu ihre eigene Behandlung zu nehmen, wird durch
die Äleldepflicht in erfolgreichster "Weise bekämpft, und zugleich wird
dm-ch die Meldepflicht auch den Eltern die Bedeutung der Ei-ki-ankung
ihi-es Kindes in handgreiflichster Weise demonstrirt. Sieffan hat
der Anzeigepflicht der Hebammen bereits auf dem XI. deutschen Aerzte-
tage am 22, und 23. Juni 1883 zu Berlin in energischster Weise das
Wox-t geredet und ich freue mich, dass diese Bestrebungen, welche ich
aus vollster Ueberzeugung gleichfalls stets vertreten habe, für meine
heimathliche Provinz Erfolg gehabt und die Anzeigepflicht für dieselbe
erwirkt haben.')
Will man ausserdem noch durch Verbreitung von populär ge-
haltenen Brochuren wirken, wie dies z. B. Adler ^) u. a. warm empfehlen,
so habe ich gegen derlei Schritte natürlich keine Einwendungen, wenn
ich auch der Ansicht bin, dass die Erfahrungen der Praxis vor der
Hand noch keinen grossen Nutzen von allen belehrenden medicinischen
Artikeln ergeben haben. Als Unterstützungsmittel der von uns in
Vorschlag gebrachten Massregeln hat ganz gewiss auch die Verbreitung
.populärer medicinischer Flugblätter ihi'e Bedeutung; und so möge man
■dieselben immer in's Werk setzen, wie dies Dr. Roth^) in London mit
so unermüdlichen Opfern an Zeit und Geld thut.
Atrophia nervi optici ohne Cerebralsymptome und
ohne anderweitige Körpererkrankung nimmt in unserer Zu-
sammenstellung auf Seite 62 den zweiten Platz unter den durch idio-
pathische Erkrankungen des Auges verursachten Erblindungen ein;
') Steffan, Ueber die Nothwendi gkeit der Veränderung unserer
heutigen Gesetzgebung, betreffend die Conjunctivitis bleu-
norrhoica neonatorum. Centraiblatt für allgemeine Gesundheitspflege.
III. Jahrgang. Bonn 1884.
') In einer von Seiner Excelleuz dem Herrn Oberpräsidenten, wirklichen
Geheimen Rath von Seydewitz am 20. Oktober 1884 für Schlesien erlasseneu Ver-
ordnung heisst der Paragraph 4 : „Die Hebamme muss jeden in der Praxis vor-
kommenden Fall von Kindbettfieber, sowie jeden den Verdacht von Kindbettfieber
erregenden Krankheitsfall, ferner jeden Todesfall einer Gebärenden oder Wöch-
nerin und jeden Fall von eitriger Augenentzündung der Neugeborenen Ohne Ver-
zug dem Kreisphysikus schriftlich oder mündlich anzeigen."
^) Adler, Ueber di c Nothwend ig k e i t der E int üb ru ng neuer Mass-
regeln zur Bekämpfung der Blennorrhoea neonatorum, als eine
der häufigsten Ursachen der Erblindung. Mitthoilungen des Wiener
medicinischen Üoktoren-Collegiums. Band IX. Nr. 14.
*) Man vergleiche die verschiedeuen Flugschriften, welche die Society for
the prevention of blindncss im Lauf der letzten Jahre herausgegeben hat.
6*
— 84 —
doch dürfte nach einer geuauen Aualyse der 74 vorliegeudeu Fälle uur
in 59 derselben die Diagnose einer idiopathischen, nicht komplizirten
Sehnervenatrophie zutreffend sein. In 4 weiteren Fällen handelt es
sich um papillitische Atrophie und die dann noch übrigbleibenden 11
Fälle lassen sich nicht nach bestimmten Krankheitsbildern gruppireu.
Jede Blindenuntersuchung bringt es eben mit sich, dass gewisse Fälle
zwar bezüglich der unmittelbaren Erblindungsursache keine Schwierig-
keiten bieten, wie dies für die fraglichen 1 1 Atrophiefälle gilt, man aber
doch über die näheren, die Erblindung begleitenden Umstände zu keinem
sicheren Schluss gelangen kann und deshalb die klinische Fonn der Blind-
heit nicht mit der wüuschenswerthen Sicherheit zu bestimmen vermag.
Die einfache nicht komplizirte progressive Sehnervenatrophie ist
also nur mit 59 Fällen in unserem Material vertreten, d. h. mit l,84"/o.
Für die Jugendblindheit ist hiernach also die einfache Sehnervenatrophie
von nur untergeordneter Bedeutung, eine Erscheinung, welche mit den
klinischen Erfahrungen der Praxis auf das Beste übereinstimmt. Ueber
die verschiedenen Altersklassen unseres Materials vertheilen sich die
Fälle der einfachen Sehnerven atrophie in der Weise, dass etwa bis zum .
sechszehnten Lebensjahr dieselbe nur sehr vereinzelt aufüitt, gegen das
zwanzigste Jahr hin aber eine merkliche Steigerung in der Zahl der
Fälle nachweisbar ist. Wollte man die betreffenden Verhältnisse in
Form einer Curve ausdrücken, so würde dieselbe für die ersten fünf-
zehn Lebensjahre einen ziemlich gleichmässigen Verlauf und einen sehr
niedrigen Stand zeigen und erst nach dieser Zeit, wenn auch immer
noch in bescheidenem Maasse, zu steigen beginnen. Die einfache Seh-
nervenatrophie zeigt bekanntlich im Allgemeinen eine grössere Vorliebe-
mx das männliche als wie für das weibliche Geschlecht und kommt
diese Thatsache auch in unserem Material zum Ausdruck. Von den
59 Blinden sind nämlich 43 Knaben und 16 Mädchen; da wir 2009
mäni^liche Jugendblinde überhaupt zählen, so beträgt der Prozentsatz
der Sehnervenatrophie ftir das männliche Geschlecht 2,140/0; weibhche
Jugeudblinde zählen wir 1195, mithin entfällt auf diese ein Prozentsatz
von l,34"/o. , , ^_
Die vier Fälle papillitischer Atrophie bieten keine besonderen Ver-
hältnisse dar. Der Prozentsatz dieser Form der Sehnerven atrophie
würde flir das jugendliche Alter nach unserem Material 0,12 /„ be-
^'''^ie übrigen 11 Fälle, welche ich klinisch nicht zu bestimmen
vermag, bieten kein besonderes Interesse, weil sie eben nicht in der
erforderlichen Weise zu durchleuchten sind.
— 85 —
Iritis und Irido Chorioiditis nehmen in der amaurotischen
Rangordnung der idiopathischen Augenerkrankungeu die dritte Stelle
ein, indem unter 1060 Fällen 67 auf jene beiden Erkrankungsformen
entfallen, d. h. 6,32*^/0; zur Jugendblindheit überhaupt steuern sie
2,09 °/o bei. lieber beide Geschlechter vertheilen sich imsere Fälle in
gleichem Verhältnisse, insofern auf die männlichen Blinden unseres
Materials 2,14 und auf die weiblichen 2,00 "/o. Klinisch lassen sich
bei den genannten 67 Fällen 3 verschiedene Formen unterscheiden,
nämlich die spontane Iridochorioiditis mit 52 Fällen, Iritis chronica
mit 6 Fällen, Mdocj^clitis sj^mpathica non traumatica mit 9 Fällen.
Dürfen wir nun diese drei Gruppen etwas näher betrachten, so würden
wir zuvörderst zu untersuchen haben die
Spontane Iridochorioiditis. Die diu'ch diese Affektion erblindeten
Augen zeigten 10 mal mehr oder minder ausgesprochenen Buphthalmus
xmd 19 mal beginnende oder schon stärker entwickelte Phtise. An 12
Augen war erfolglos eine Iridectomie versucht und 4 Augen waren
entfernt Avorden. In einem Fall waren beide Augäj)fel eines Individuums
enucleirt worden. Ueber die Gesundheitsverhältnisse der Blinden resp.
ihrer Familienangehörigen liegen auch einzelne Nachrichten vor. Acht
Blinde zeigten neben der Iridochorioiditis noch andere Erkrankungen,
und zwar war einmal bedeutender chronischer Rheumatismus der Ge-
lenke nachweisbar; viermal litten die Blinden an allgemeiner Körper-
schwäche und darniederliegender Ernährung; zweimal waren Sprach-
störungen, einmal komplizirt mit Schwerhörigkeit nachweisbar und einmal
schienen nervöse Störungen vorhanden zu sein. Ueber die Familien-
angehörigen liegen vier genaue Berichte vor; darnach war in zwei
Fällen an den Eltern der Erblindeten hochgradige Myopie gefunden
worden; einmal war eine Schwester eines Blinden schon frühzeitig in
jungen Jahren an Glaucom erblindet und in einem andern Falle war
der Vater eines Blinden schon in seinen Jugendjahren auf beiden Augen
an einer nicht mehr genau zu ermittelnden Krankheitsform erblindet.
Von Interesse dürfte fernerhin die Vertheilung der durch sj)ontane
Iridochorioiditis entstandenen Blindheit über die verschiedenen Jahr-
gänge der uns hier beschäftigenden Altersgruppe sein. Nach den mir
vorliegenden Berichten bewegt sich die Neigung zur Erwerbung der
fraglichen Blindheitsform in den ersten zwölf Lebensjahren in sehr eng
gesteckten Grenzen; die betreffenden Prozentsätze schwanken zwischen
bis 2'7o; erst jenseits des zwölften resp. dreizehnten oder vierzehnten
Jahres fängt die Iridöchorioiditisblindheit an häufiger vorzukommen
— 86 —
und zwar erhält sich diese Neigung in steigendem Grade bis zu dem
zwanzigsten Lebensjahr, welches den höchsten Prozentsatz, nämlich
9,37 "/o zeigt. Eine diese Verhältnisse veranschaulichende Kurve würde
also bis gegen das zwölfte oder vierzehnte Jahr hin ziemlich gleich-
massig bei sehr bedeutendem Tiefstand verlaufen ; dann würde sie sich
allmählich ohne steile Steigung erheben und nun in ziemlich gleich-
massigem Anstieg bis gegen das zwanzigste Lebensjahr aufstreben.
Indem wir die 6 Fälle von Iritisblindheit übergehen, wollen wir
noch die 9 durch Iridocyclitis sympathica non traumatica hervor-
gerufenen Erblindungen betrachten. Was zuvörderst die Ursache des
zuerst erblindeten Auges anlangt, so hat es sich in 4 Fällen um einen
entzündlichen Prozess gehandelt, über welchen genauere ]\Iittheilungen
nicht mehr zu erlangen waren; zweimal war ein Auge dui-ch Hom-
hautgeschwür zu Grunde gegangen, einmal nach Scharlach, einmal nach
Masern, einmal nach Typhus. Ueber den Zeitraum, welcher zwischen
der Erbliudimg des einen Auges und dem Ausbruche der s}Tiipathischen
Erkrankungen auf dem anderen verstrichen war, konnte ich in 7 Fällert
verlässliche Nachrichten erhalten ; darnach lag zweimal kaum ein halbes
Jahr zwischen der primären und secundären Erblindung; einmal 3, 6,
8, 11 und 12 Jahre. Zur Bekämpfung der sympathischen Erkrank-
ung waren 2 L'idectomien und 3 Enucleationeu ohne Erfolg ausgeübt
worden.
Ich bin nun noch in der Lage, über die ätiologischen Verhältnisse
der verschiedenen Formen der L-idochorioiditis ausfiihrliche Mittheilungen
zu machen, da mein Material, fasse ich die über die verschiedenen
Gruppen der Jugendblindheit vertheilten Fälle von Iridochorioiditis zu-
sammen, im Ganzen 381 Fälle von Iridochorioiditis zählt. Nach ihrer
Entstehung betrachtet, gruppiren sich dieselben wie folgt:
Unter 381 Fällen von Iridochorioiditis ist dieselbe entstanden:
dm-ch Ophthalmia sympathica traumatica . . 147 mal = 38,58°/»
durch Trauma 76 „ = 19,95 „
spontan 52 „ = 13,65 „
durch cerebrale Erkrankung 26 „ = 6,82
angeboren 14 „ = 3,6y „
durch SkroMose 12 „ = 3,15 „
„ Syphilis 10 . = 2,62 „
Ophthalmia sympathica non traumatica 9 = 2,36 „
„ Verletzung des Kopfes 7 = 1,84 „
., Scarlatina 7 .. = 1,84 „
— 87 —
durch Variola
Typhus .
Operationen
Morbilli .
6 mal = 1,58
6 „ = 1,58 „
5 ,, = 1,31 „
4 „ = 1,05 „
70
Ueber die Entstehung der verschiedenen Formen der Iridochorioiditis
während der ersten zwanzig Lebensjahre giebt die vorstehende Tabelle
ein so anschauliches Bild, dass wir uns weiterer zusätzlicher Bemerk-
ungen enthalten können.
Das Trachom hat bekanntlich für das jugendliche Alter nur
eine untergeordnete Bedeutung ; Kinder werden, wie die klinischen Er-
fahrungen lehren,') vom Trachom zwar nicht völlig verschont, doch im
Allgemeinen viel seltener befallen, als wie die den späteren Lebens-
periodeu Angehörigen. Es kann desshalb auch nicht befremden, wenn
in imserem nur Jugendblinde umfassenden Material die Quote der
Trachomblindheit nur 1,31 °/o beträgt, während in unserer früheren
Untersuchungsreihe, in welcher die späteren Altersklassen das Ueber-
gew'icht besassen, die Trachomblindheit die zweithöchste Blindenquote
imter allen Erblindungsformen beanspruchte, nämlich 9,49 "/o. Die
Vertheilung der Trachomgefahr über die verschiedenen Jahre des uns
hier beschäftigenden Lebensabschnittes erfolgt in höchst ungleicher "Weise ;
Zehender ^) hat diesem Punkt eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet
imd über denselben folgende Mittheilungen gemacht: „Während das
Trachom vor dem 5. bis 6. Jahr kaum vorzukommen scheint, erreicht
es in steigendem Verhältnisse zwischen dem 20. bis 30. Jahi-e das
Maximum seiner Häufigkeit". Mit dieser Zehender' sehen Beobachtung
deckt sich die Vertheilung der Erblindung dm-ch Trachom, welche
unser Material zeigt, in bester Weise. Bis zum 5. und 6. Lebensjahr
erhebt sich die Erblindungsquote des Trachoms nach unserem Material
niu- wenig über l''/o; nach dem 6. Lebensjahr beginnt aber ein all-
mählicher Anstieg, welcher gegen das 15. Lebensjahr einen lebhafteren
Charakter annimmt. Die folgende Km-ve wird das soeben Gesagte hin-
reichend illustriren. Dass dieselbe keinen gleichmässigen Charakter
zeigt, vielmehr bald steigt, bald fällt, findet seine Erklärung wohl hin-
länglich durch die Zufälligkeiten, welche bei beschränktem Material
•) Man vergleiche: Scliweigger, Handbuch der Augenheilkunde.
Berlin 1880. p. 292. Meyer, Handbuch der Augenheilkunde. Berlin
1883, p. 68 und andere Lehrbücher.
') Zehender, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. 3. Aufl.
Stuttgart 1884. Band I, p. 117.
— 88 —
immer mitspielen. Der Cliarakter der Erljliuduugsgefahr dui'ch Trachom
tritt aber für das erste uud zweite Lel)enslustrum trotz der Scliwauk-
ungeu auf das klarste in Erscheinung, besonders wenu man die Spitzen
'^er Kiu've sich diu'ch eine Linie verbunden denkt.
Kurve der Erblindungsgefahr durch Trachom in den ei-sten
15 Lebensjahren.
Massstab 8 mm = 1 '/n-
11
10%
Ö 1 2 3 -t 5 6 T 8 '.) 10 11. 12 13 11- JSJnJu
8%
7%
6%
6%
4:%
3%
2%
1%
0%
]12%
11%
0%
1%
4%
3%
2%
1%
Ö i ? 3 4 3 6 7 8 9 10 Jl 12 13 U loJdhr
0.57 -rnrat 127 J49 0,8a 2,33vacat2.io 2ßo 1,49 4m 3.38 2j»i 6.2i 12&%
Fig. 1.
Eine Bevorzugung des Geschlechtes ist bei der Trachombliudheit
nicht zu konstatiren, denn für das männliche Geschlecht entfallen nach
unseren Beobachtimgen 1,34 und für das weibliche 1,26 "/o.
Die Veränderungen, welche die erblindeten Augen darbieten, sind
schon hinlänglich bekannt genug, um ihrer hier nochmals besonders
zu gedenken.
— 89 —
Auf die Koutagiosität des Trachoms werfen aber einige Fälle ein
so charakteristisches Licht, dass ich dieselben noch besonders hervor-
heben will. In vier der von ims gesammelten Fälle leiden beide Eltern,
oder ein Theil derselben an Trachom und haben dasselbe auf die
Kinder übertragen; dreimal sind durch solche Uebertragungen in emer
Familie zwei Kinder erblindet, und zwai- im zarten Alter von 1, 2 oder
3 Jahren. Besonders charakteristisch ist ein Fall, in welchem Vater
und Mutter durch Trachom blind sind und von ihi-en fünf Kindern
drei dasselbe Schicksal theilen. Solchen Fällen gegenüber wird das
Verlangen nach einer rationellen Verhütung des Trachoms besonders
fühlbar, doch ist gerade auf diesem Gebiete die Prophylaxe recht ohn-
mächtig. Macht die Verhütung des Trachoms schon Schwierigkeiten,
wenn es gilt, dasselbe im öffentlichen Leben zu bekämpfen, so ist dem-
selben doch kaum beizukommen, wenn es sich in Familien eingenistet
hat, wie dies in den von uns angezogenen Beispielen der Fall ist. Die
ei-folgreiche Bekämpfung des Ti-achoms in der Familie ist so ziemlich
gleichbedeutend mit Lösung der sogenannten sozialen Frage überhaupt.
Denn gerade die Noth ist es, welche, wie viele andere Erkrankungen, so
auch das Trachom gross zieht und die Augen der Kinder werden so lange
auch im Schoosse der Familie gefährdet sein, als man nicht im Stande
ist, die materielle Lage des Proletariats endgültig zu bessern i). Am
ehesten darf man noch hoffen durch immer und immer sich Avieder-
holende Belehi-imgen des Publikums etwas zu erreichen. Wenn ich
im Allgemeinen von populären Belehrungen auch Avenig erwarte, so
sehe ich doch den gegebenen Verhältnissen gegenüber kaum einen
anderen Weg und deshalb möchte ich der Veröffentlichung allgemein
verständlicher Artikel über das Trachom und dessen Gefahren das
Wort reden.
Die Sublatio retinae hat für die Jugendbliudheit eine nur
untergeordnete Bedeutung, insofern der Prozentsatz nur 0,84 7o beträgt.
In unserem früheren Blindenmaterial, in welchem auch die späteren
Altersklassen imd zwar in überwiegender Zahl vertreten waren, nahm
die Sublatio retinae die achthöchste Stelle mit 4,74 "/o ein. Diese
verschiedenen Befunde, welche wir früher und jetzt für die Sublatio-
blindheit erhalten haben, erklären sich dadurch, dass in den ersten
zwanzig Lebensjahren die Berufsschädlichkeiten, auf Grund deren das
•) Man vergleiche die Vorschlüge, welche Fuchs in seiner von uns schon
so oft cif irten Preisschrift über die Verhütung des Trachoms gemacht hat, sowie
die Massregeln, welche icli in meiner Arbeit über Blindheit anempfohlen habe.
— 90 —
myopische Auge doch meist die Sublatio erwirbt, nicht so intensiv und
auch nicht so häufig zu wirken Gelegenheit haben, als in den späteren,
der Arbeit in einem viel umfangreicheren Maasse gewidmeten Lebens-
abschnitten. Ueber die Kefractionsverhältnisse vor der Erblindung
konnten in 14 Fällen sichere Nachrichten erhalten werden und in
allen diesen 14 Fällen war hochgradige Myopie der Erblindung durch
Sublatio vorangegangen; da unser Material 27 Fälle von Sublatio-
blindheit zählt, so ist in 51,85 "/o der Nachweis der Myopie zu fuhren.
In 7 der gesammelten Fälle, d. h. also in 25,93 7,. ist eme kon-
genitale Belastung nachweisbar, insofern in den Familien der Blinden
mehrere Fälle von Myopie resp. von Sublatioblindheit vorhanden sind.
Wie einzelne Familien förmliche Brutstätten fär gewisse Erblmdungs-
formen z B. Retinitis pigmentosa, Atrophia nervi optici u. s. w. bilden,
so tritt diese Häufung von Blindheitsfällen in einzelnen Familien auch
bezüglich der Sublatio retinae in Erscheinmig. An 3 Fällen memes
Materials vermochte ich diese Thatsache in höchst charakteristischer
Weise zu ermitteln. In dem einen Beispiel zeigt eine Famüie m mehreren
Generationen Erblindungen durch Sublatio retinae. Die Grossmutter
ist in dieser Familie auf einem Auge erblindet (Sublatio reünae wahi-
scheinlich, aber nicht mehr bestimmt zu erweisen), ihre drei Kinder,
eines männlichen, zwei weiblichen Geschlechtes, sind sämmüich stark
myopisch und die beiden Mädchen im Alter von 9 und 18 Jahren
beiderseitig an Sublatio erblindet; der Knabe behält sein Sehvermögen
bis in sein Mannesalter, zeugt aber eine kurzsichtige Tochter, welche
im 7. Lebensjahre beiderseitig an Sublatio retmae erbhndet.
In einem anderen Falle ist der Vater stark kurzsichtig, erblindet
in Folge seiner Myopie (Sublatio wahrscheinlich, da aber ärztliche Unter-
suchung nicht durchführbar war, so will ich die Erblindung durch Sub-
latio nicht als erwiesen betrachten) und zeugt zwei myopische Kmder,
von denen das eine im Alter von 7 Jahren an Sublatio erbhndet, das
andere zur Zeit der Untersuchung dieses Blinden noch sah.
In dem dritten Falle sind in einer Familie drei Geschwister durch
Sublatio auf je einem Auge erblindet, während das andere Auge bei
derselben durch ein Trauma verloren ging. Die Eltei-n sollen
nicht myopisch gewesen sein, während bei den Kmdern leichte Kmz-
sichtigkeit vorhanden gewesen sein soll.
Ueber den Eintritt der Sublatioblindheit konnte ich m 21 Fallen
genaue Nachrichten erhalten, welche ich in den folgenden Zusammen-
stellimgen mittheile:
- 91 —
Beide Aiigeu erblindeteu durch Sublatio im Laufe eines Jahres
und zwar im 4. Lebensjahr Imal
„ 0.
„ 6.
„ 7.
„ 8.
„ 10.
12.
„ 14.
„ 15.
„ 18.
)}
1 „
1 „
2 „
1 „
1 „
1 „
1 „
1 »
1 „
lieber diejenigen Fälle, in denen die beiden Augen zu verschiedenen
Zeiten erblindet sind, berichtet die folgende Zusammenstellung:
Das rechte Auge erblindete:
im 7. Jahr durch Sublatio,
„ 8.
,, 8.
12.
12.
„ 12.
Trauma,
Sublatio,
Das linke Auge erblindete:
im 8. Jahr durch Sublatio,
"II' » )) »
„ 12. „ „ Trauma,
„ 12. „ „ Sublatio,
Das linke Auge erblindete:
im 18. Jahr durch Sublatio
» 9. „ „
)5 12. ,, „
1 S
14
Das rechte Auge erblindete:
im 12. Jahr durch Sublatio
17
1 ^
14
Das Vorstehende zeigt also, dass in 3 Fällen ein Auge früher
dm-ch Verletzung und das andere später durch Sublatio verloren ging;
in 4 Fällen befiel die Sublatio " zuerst das rechte und in 3 Fällen zu-
erst das linke Auge. Der längste Zwischenraum, welcher zwischen der
Entstehung der Sublatio auf beiden Augen verfloss, betrug sieben Jahr.
Am Häufigsten gingen beide Augen im Laufe eines Jahres zu Grunde,
wie dies die vorige Tabelle gelehrt hat,
Blennorrhoea gonorrhoica ist in der Jugendblindheit mit
einem nur geringen Prozentsatz von 0,47 7o vertreten und zwar ent-
stammen die meisten dieser Fälle aus den neapolitanischen Anstalten;
aus Deutschland ist kein einziger derartiger Fall in unserem Material
enthalten. Von den 15 Blennorrhoeblinden haben 11 eine Gonorrhoe
erworben und sich dann selbst infizirt; bei den 4 übrigen ist die Ueber-
— 92 —
traguüg iu fi-über Kindheit dui-ch Personeu erfolgt, welche an Gonorrhoe
gelitten und in der Umgebung der Blinden sich befunden liatten.
Die 15 durch spontane Keratitis bedingten Erblindungsfiille
bieten keine Veranlassung zu besonderen Bemerkungen, und das Näm-
liche gilt von der Chorioiditisblindheit.
Diphtheritis conjunctivae und zwar die spontane Augeu-
diphtherie ist in 14 Erblindungsfällen in unserem Material vertreten,
d. h. also mit 0,44 "/o. In der Reihe der idiopathischen Augenerkrank-
ungen nimmt sie natürlich einen höheren amaurotischen Werth ein und
beträgt unter diesen der Prozentsatz 1,32 "lo. Von unseren 14 Diph-
theritisblindeu sind 8 Deutsche und zwar vertheilen sich dieselben so
über Deutschland, dass 6 derselben Norddeutschland angehören und
nur 2 auf Süddeutschland (München) entfallen.
Ausser diesen 14 Fällen von idiopathischer Diphtheritis conjunctivae
zählt unser Material noch 11 in Folge von Scharlach und 3 in Folge
von Masern bedingter Diphtheritisbliudheit. Es würden uns also im
Ganzen 28 Fälle von Blindheit durch Diphtheritis zur Verfügung stehen.
Berechnen wir aus diesen sämmtlichen Fällen den amam-otischen Werth
der Diphtherie für die Jugendblindheit im Allgememen, so würde em
Prozentsatz von 0,87 "/o sieb ergeben.
Das Verhältniss, in welchem die verschiedenen Formen der Diph-
theritis zu einander stehen, ist folgendes:
Unter 28 Fällen von Diphtheritisbliudheit sind
14 Fälle von spontaner Diphtheritis = 50,00 */'o
11 „ „ Diphtheritis nach Scharlach = 39,29 „
3 „ „ » Masern = 10,71 „
Von aUen 28 Fällen der Diphtherieblindheit entfallen nicht weniger
als 20 auf Deutschland und da wir 1595 deutsche Jugendblinde zählen,
so kommen in Deutschland 1,25 "/o auf die Diphtheritisbliudheit (nicht
auf die spontane allein, sondern auf alle Formen der Diphtheritis
Die Veitheilung über Nord- und Süddeutschland ei-folgt m der
Weise, dass 24 Fälle = 85,71 % auf die norddeutschen und 4 Falle
= 14 29 7o auf die süddeutschen Blindenanstalten kommen. Das Ge-
sagte zeigt, dass Deutschland und vor Allem Norddeutschland von der
In der graphischen Darstellung V ist der Prozentsatz der Dipbthent.s-
Blindh it für Deutschland nur mit 0,50 - angegeben, doch handelt es s.ch dahe.
nur um die spontan entstandenen Fälle und nicht um etne Zusammenfassung
aller, auch der im Gefolge von Exanthemen entstandenen Fttlle.
— 93 —
Augeudiphtheritis , sei es mm, dass dieselbe spontan oder im Gefolge
akuter Exantheme auftritt, in nicht unbeträchtlichem Umfang heim-
gesucht wird.
Die Neigung, welche die verschiedenen Lebensalter für die Er-
werbung der Diphtheritisblindheit besitzen, gestaltet sich nach unseren
Beobachtungen in der Weise, dass vom zweiten bis vierten Jahr die
Gefahr den grössten Höhepunkt erreicht und dann bis gegen das neunte
Lebensjahr hin allmählich abfällt. Jenseits des neunten Jahres ist in
unserem ]Material eine Erblindung durch Diphtheritis nicht mehr erfolgt.
Gla ucom zählt in unserem Material nur 6 Fälle, d. h. also 0,19 '^lo
der Jugendblindheit überhaupt. Der früheste Termm des Auftretens des
Glaucoms fällt in das fünfte Lebensjahr, dann folgt das achte, eilfte,
zwölfte, ueimzehnte, ZAvanzigste Jahr. Die genauen Ki-ankengeschichten,
welche wir gerade über diese 6 Fälle besitzen, lehren, dass das Glaucom
stets unter dem Bild des Glaucoma simplex aufgetreten ist; Anfälle von
akutem Glaucom sind nicht verzeichnet, vielmehr erfolgte der Verfall des
Sehvermögens stets allmählich. Fünf unserer Blinden sind iridektomirt
worden, aber ohne Erfolg; der sechste ist einer Operation nicht unter-
worfen worden.
Bemerkenswerth sind besonders 2 Fälle, weil bei ihnen die Here-
dität des Glaucom in höchst charakteristischer Weise in Erscheinung tiitt.
In dem einen Fall erblindete ein zwanzigjähriger Jüngling an Glaucom,
dessen Mutter bei seiner Geburt bereits glaucomblind war. Und in dem
zweiten Fall ist das Glaucom an verschiedenen Mitgliedern einer Familie
ganz ungewöhnlich früh zum Ausbruch gelangt. Die Mutter ist in
diesem Fall an Glaucom erblindet und ihre drei Kinder insgesammt
auch und zwar im Alter von neunzehn, zweiundzwanzig und fünfimd-
zwanzig Jahren; alle drei Kinder waren ohne jeden Erfolg iridektomirt
worden.
Myopie ist mit 4 Fällen unter den 3204 Fällen von Jugend-
blindheit vertreten. In 2 Fällen derselben ist die kongenitale'' Be-
lastimg nachweisbar, insofern bei dem einen derselben noch zwei Ge-
schwister des Blinden hochgi-adig myopisch sind und in dem anderen
der Vater und die Schwester myopieblind sind. In einem dritten Fall
haben die Eltern und Geschwister des Blinden normale, nicht kurz-
sichtige Augen und in dem vierten Fall fehlen nähere Angaben über
den Augenbefund der Angehörigen.
Unter den durch idiopathische Augenerkrankungen entstandenen
Erblmdungsformen möchte ich nur noch der G 1 i om b 1 i nd h ei t mit
— 94 —
einigen Worten gedenken. Fälle von doppelseitigem Gliom sind ja über-
haupt gerade niclit häufig und desshalb dürfte sich die Erwähnung eines
solchen von mir beobachteten Falles nicht als interesselos erweisen.
Ein zweijähriger gesunder Knabe, dessen Eltern gesund smd und der
fünf gesunde Geschwister hat, erkrankte an Gliom auf dem rechten
Auge. Das Auge wird alsbald entfernt und der Nervus opticus voll-
kommen intakt, das Gliom nur auf das Bulbusinnere beschränkt ge-
funden. Das linke Auge war zur Zeit der Enukleation noch gesund.
Bereits drei Monate nach der Operation des rechten Auges wird Eut-
wickelung des Glioms auch auf dem linken Auge, konstatirt, welches in
Zeit von etwa Jahr totale Erblindung des linken Auges herbeiführt.
Viertes Kapitel.
Die Verletzungsblindheit.
§ 14. Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung der Verletzungs-
biindheit für die Jugendblindiieit.
Die Verletzungsblindheit nimmt zu den übrigen Gruppen der Jugend-
blindheit eine Stellung ein, welche hinter derjenigen Stellung, welche
sie in einem aus allen, speziell den späteren Altersklassen zusammen-
gestellten Blindenmaterial inne hat, nur wenig zurückbleibt. Denn
unsere frühere Untersuchungsreihe, welche vorwiegend nach dem 20. Lebens-
jahr Erblindete enthielt, warf für die Verletzungsblindheit 10,75° aus,
während unsere heutigen ausschliesslich jugendliches Material 8,15
zählt. Dieser Unterschied von 2,b0^l^ könnte auf den ersten Anblick
vielleicht auffallend gering erscheinen, besonders wenn man bedenkt,
dass für die Altersklassen jenseits des 20. Lebensjahres in dem Beruf
so häufig eine Veranlassung für Augenverletzungen liegt, ein Faktor,
welcher für die beiden ersten Lebensdezennien doch wenig oder gar
nicht in Beü-acht kommen dürfte. Wenn nun ganz gewiss auch der
Beruf für die ersten 20 Lebensjahre eine nur nebensächliche Erblind-
ungsgefahr bedingt, so wird diese Thatsache doch durch andere Ver-
hältnisse wenigstens bis zu einem gewissen Grade wieder ausgeglichen.
Es ist in dem kindlichen resp. jugendlichen Alter nämlich die Gelegen-
heit, eine sogenannte zufällige Verletzung der Augen zu erleiden, offen-
bar eine grössere, als in den späteren Lebensepochen. In dem ersten
Lebenslustrum ereignen sich durch Unaufmerksamkeit der Eltern resp.
Pfleger bedauerlich oft Verletzungen der Augen und in dem zweiten
und dritten Lustrum bieten dann wieder die Spiele mit stechenden,
schneidenden, durch Schlag oder Explosion wirkenden Gegenständen
— 96 —
eine reiche Quelle der Augenunfalle. Auf diese Weise geschieht es,
dass die Verletzuugsblindheit im Allgemeinen auch in der Jugendblind-
heit eine recht beachteuswerthe Kolle spielen.
Was sodann die einzelnen Formen der Verletzungsblindheit anlangt,
so wii-d die folgende Zusammenstellung über das Verhältniss Auflilärung
geben, in welchem die analogen Formen eines nur jugendliche Individuen
und eines alle Altersklassen umfassenden Blindenmaterials zu einander
stehen.
Das Blindenmaterial zählt
ausschliessl. alle
Jugendbliude : Altersklasseu :
Verletzungen der Augen 2,37 "/'o 4,03
Verletzungen des Kopfes 1.03 „ 0,27 „
Ophthalmia sympathica traumatica .... 4,58 „ 4,50 „
Verunglückte Operationen *• 0,16 „ 1,93 „
Ein Blick auf die vorstehenden Zahlen zeigt, dass die direkten
Verletzungen der Augen und die missglückten Operationen in einem alle
Altersklassen umfassenden Blindenmaterial grössere Quoten besitzen, als
wie in emem ausschliesslich nur Jugendblinde zählenden Material. Die
sympathische Entzündung ergibt flir die Jugendblindheit den gleichen
prozentarischen Werth wie filr ein Blindenmaterial, das vornehmlich die
jenseits des 20. Lebensjahres liegenden Lebensperioden berücksichtigt.
Die Verletzungen des Kopfes ergeben aber för die JugendbHndheit sogar
eine etwas grössere Quote, als wie wir dieselbe bei unseren früheren Unter-
suchungen, welche alle Lebensklassen umfassten, gefunden hatten. Aller-
dings ist der betreffende Unterschied kemeswegs ein erheblicher, vor allen
Dingen nicht ein so erhebUcher; dass man in demselben nun sofort den
Ausdruckeines für die Jugendblindheit allgemeingültigen Gesetzes sehen
könnte Es wird erst noch einer Reihe anderer Untersuchungen bedüi-fen,
ehe man mit Sicherheit wird entscheiden können, ob för das jugendliche
Alter Verletzungen des Kopfes thatsächlich eine erheblichere Erblindungs-
gefahr in sich schliessen, als wie dies för die späteren Lebensphasen der Fall
ist Die Möglichkeit ist ja doch wohl nicht so ohne Weiteres von der
Hand zu weisen, dass in der Beschaffenheit des jugendlichen Kopf-
skelettes und Gehirns gewisse Momente liegen könnten, welche wahrend
^T^Td^etraclitung der Iridocyclitis sympathica (vgl. Paragraph 17)
werden wir den Nachweis führen, dass die Gleichheit des prozcntarischeu A\ erthes.
we cheTli yn^pathische Ophthal.nie in unserem Material diesse.ts nnd jense.ts
Ts 20 Lebensjahres zeigt, in Wahrheit einer höheren Belastung des jngendhchen
Alters mit Sympathieamaurose gleichkommt.
— 97 —
der ersten Lebeuslusti-en der Entstehung von bedenklichen Konsequenzen
aus verhältnissmässig leichteren Kopfverletzungen gewissen Vorschub zu
leisten im Staude wären,
§ 15. Blindheit entstanden durch direkte Verletzung der Augen.
Die direkten Verletzungen der Augen spielen, wie wir dies bereits
im vorigen Paragraphen angedeutet haben, in der Jugendblindheit aller-
dings nicht eine so hervorragende Rolle, wie in der Erblindung der
späteren Lebensjahre, doch ist ihr amaurotischer Werth immerhin noch
gross genug, indem der Prozentsatz 2,37 7o beträgt. Und zwar sind
die Augen der Knaben in höherem Grade gefährdet, als wie die der
Mädchen, denn jene steuern 3,13 7o imd diese nur 1,09 % zu den Er-
blindungen bei, welche durch direkte Augenverletzungen hervorgerufen
worden sind.
Bei der durch unmittelbare Verletzung der Augen hervorgerufenen
Blindheit ist es von Wichtigkeit, zu wissen, ob die Verletzung beide
Augen zu gleicher Zeit zerstört hat, oder ob ein Auge bereits blind
war, als die Verletzung das andere noch sehende Auge vernichtete.
Für imser heutiges Material lassen sich diese Verhältnisse sehr genau
ermitteln: von den einschlägigen 76 Fällen gingen 23 mal beide Augen
nicht durch die gleiche Verletzimg verloren und in 53 Fällen zerstörte
eine Verletzung zu gleicher Zeit beide Augen ; prozentarisch ausgedrückt
würden wir für den ersten Fall 30,26, für den zweiten 69,74 7,, er-
halten. Füi- unser früheres Untersuchungsmaterial, welches Blinde aller
Altersklassen enthielt, war das Verhältniss gerade das umgekehrte;
dazumal waren Einäugige in 67,82 7o durch Verletzung erblindet und
in 32,10 "/o hatte das Trauma beide Augen zugleich zerstört. Ist nun
dieser Unterschied zwischen unserer früheren und jetzigen Untersuchuugs-
reihe ein zufälliger oder ist er in der verschiedenen Beschaffenheit des
:\Iaterials begründet? Ich für meinen Theil möchte eher geneigt sein,
•las Letztere anzunehmen und zwar auf Grund folgender Ueberlegung.
Es scheint mh- ziemlich sicher, dass in dem Lebensabschnitt, welcher
die ersten zwanzig Jahre umfasst, weniger Einäugige vorhanden sind,
als in den späteren Lebensphasen, wo die Gefahren des Berufes doch
immerhin eme recht beträchtliche Menge Einäugiger schaffen. Sind
nun die Einäugigen über die verschiedenen Altersklassen in verschiedener
:\Ienge vertheilt, so wird natürlich diejenige Lebensepoche, welche weniger
Einäugige zählt, auch weniger Fälle liefern müssen, in welchen Einäugige
dm-ch Verletzung des noch funktionirendeu Auges erblindet sind. Und
da nun, nach unserer Annahme, die ersten zwanzig Lebensjahre weniger
Magnus, Jngendblindheit. 7
— 98 —
Einäugige besitzen, als die späteren Lebensabschnitte, so wird mau bei
einer Untersuchung, welche nur die ersten zwanzig Lebensjahre, berück-
sichtigt, auch weniger oft Fällen begegnen, in welchen Einäugige durch
Verletzung blind geworden sind.
Der Umstand, dass Einäugige in unserem Material mit 30,26 "/o
und in unserer früheren Untersuchungsreihe gar mit 67,82 bei
der Erblindung dui'ch Augenverletzung betheiligt sind, ist in gewisser
Beziehung von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Bedenken wir
nämlich, dass die Zahl der Einäugigen im Allgemeinen doch eine
beschränkte ist, dass die Anzahl der Einäugigen gegenüber der Menge der
Doppeläugigeu ganz gewiss eine verschwindend kleine ist, so wird uns der
grosse Prozentsatz, mit welchem die Einäugigen sich bei der Verletzungs-
blindheit betheiligen, mit Eecht befremdend erscheinen müssen. Wemi
die Einäugigen entsprechend dem numerischen Verhältniss, in welchem
sie zu den Doppeläugigeu stehen, zur Verletzungsblindheit beisteuerten,
so müsste die auf sie entfallende Quote eine um Vieles geringere sein,
als Avie sie in der That ist; die Einäugigen würden dann nicht 30 oder gar
67 o/„ zur Verletzungsblindheit beisteuern, sondern höchstens 2 oder 3 °/o.
Wie ist nun aber die hohe Belastung der Einäugigen mit Ver-
letzungsblindheit zu erklären? An einen Zufall, der vielleicht durch
irgendwelche Umstände des Untersuchungsmaterials bedingt sem könnte,
darf unter keinen Verhältnissen gedacht werden. Zwei ganz verschiedene
Untersuchungsreihen haben uns beide das nämliche Resultat ergeben,
beide haben für die Einäugigen eine ganz unverhältnissmässig hohe
Quote der Verletzungsblindheit ausgeworfen. Wenn also der Zufall
mit vollster Sicherheit ausgeschlossen werden kann, so müssen w uns
nach einer befriedigenden Erklärung der fraglichen Thatsache umschauen.
Zuvörderst wird man nicht ausser Acht lassen dürfen, dass Unfälle,
welche um- ein Auge zerstören, ungleich häufiger sich ereignen, als wie
solche, welche beide Augen zu gleicher Zeit vernichten. Da nun aber
der Verlust eines Auges den Einäugigen schon blind macht, den Doppel-
äugigeu aber nicht, so muss im Allgemeinen der Einäugige eme etwas
höhere Quote der Verletzungsblindheit besitzen, als dies nach dem
numerischen Verhältniss, in welchem er zur Anzahl der Doppeläugigeu
steht, erwartet werden sollte. Diese Thatsache allein genügt aber nicht,
um den hohen Prozentsatz, welchen der Einäugige zur Erblindmig dm-ch
Augenverletzung beiträgt, zu erklären. Wir müssen noch nach emem
anderen Erklärungsmoment suchen und, ich glaube, wu- finden em
solches, wenn w annehmen, dass der optische Zustand des Einäugigen
die Entstehung einer Augenverletzung erleichtert, ja ihr sogar einen
— 99 —
gewissen Vorschub leistet. Darüber kauii doch wohl kein Zweifel be-
stehen, dass der Einäugige dem Doppeliiugigen gegenüber sich in dem
Zustand einer recht beträchtlichen optischen Inferiorität befindet. Wenn
nun auch gewisse Nachtheile seiner oj)tischen Leistungsfähigkeit all-
mählich durch Uebung beseitigt werden können , so sind doch andere
unter keinen Verhältnissen auszugleichen. Zu den letzteren gehört die
Beschränkung des Gesichtsfeldes, welche der Einäugige besitzt. Sie
setzt den Einäugigen immer in die Lage, dass er eine von dieser oder
jener Seite seinem Auge drohende Gefahr nicht zur richtigen Zeit be-
merkt imd ilu- desshalb nicht auszuweichen vermag. Für die arbeitende
Klasse wird diese Thatsache sehr oft zu der traurigen Konsequenz des
Verlustes des noch sehenden Auges führen und das Gleiche beobachten wir
im Kindes- wie Knabenalter. Das einäugige Kind ist bei seinen lebhaften
Spielen der Gefahr, sich das gesunde Auge durch Anlaufen gegen einen
Gegenstand seiner Umgebung zu verletzen, in höherem Grade ausgesetzt,
als das zweiäugige Kind. Und ebenso ist die Gefahr, in das sehende
Auge einen Schlag oder Stoss zu erhalten, welchem das doppeläugige
Kind zur rechten Zeit ausweicht, vorhanden. Und schliesslich darf
man auch nicht vergessen, dass der Einäugige genöthigt ist, das sehende
Auge der Arbeit zuzuwenden; auch Zehender^) bemerkt, dass der Ein-
äugige un^^^llkül•lich das sehende Auge dem betrachteten Gegenstand
zuwende und aus diesem Umstand, wenigstens oft wenn auch nicht
immer eine gewisse Gefahr für das noch funktionirende Auge hei-ge-
leitet werden könne.
Indem sich nun diese beiden Faktoren, die Beschränkung des Ge-
sichtsfeldes und die Neigung des Einäugigen das noch sehende Auge
dem ihn beschäftigenden Gegenstande etwas mehr zuzuwenden, summiren,
«rgeben sie für den Einäugigen eme besonders grosse Gefahr,''') durch
Augenverletzung zu erblinden, und mit dieser Gefahr müssen wir rechnen,
wenn wir eine möglichst ergiebige Verhütung der Verletzungsbliudheit
anstreben. Im Hinblick auf die soeben dargelegten Verhältnisse wird
der einäugige Knabe bei der "Wahl seines Berufes mit einer gewissen
Vorsicht zu Werke gehen müssen; besonders Avird sich diese Noth-
wendigkeit für die körperlich arbeitenden Volksklassen ergeben.
Alle Berufsarten, welche viel mit schneidenden und stechenden
'j Zehender, Die Blinden in den Grossherzogth ümern Mecklen-
t>urg. Eine statistische Skizze. Rostock 1871. p. 58.
Man vergleiclie über die grössere Gefahr der Einäugigen durch Ver-
letzung zu erblinden noch das, was ich in meiner Arbeit über Blindheit. Bresla^
1883, p. 184 n. ff. gesagt habe.
7*
— 100 —
Instrameuten , mit Feuer, Anibos und Hammer zu schaffen liabeu,
werden dem Einäugigen leicht Gefahren für sein einziges Auge bereiten,
und desshalb sollte er dieselben ängstlich meiden. Ob sich die Zulas-
sung der Lehrlinge zu derartigen Gewerben durch gesetzliche Vorschriften
regeln lassen könnte, vermag ich nicht zu übersehen; innerhalb der
Innung Hessen sich wohl Vorkehrungen ü-effen, um nur zweiäugige In-
dividuen zu den fraglichen Berufsarten zuzulassen. Auch die Fabriken,
deren Betrieb Veranlassung zum Abspringen von Metall- und Holz-
partikelchen gibt, oder deren Handhabung offenes Feuer, schneidende
und stechende Instrumente verlangt, oder die dui-ch Entwicklung vou
schai'fen ätzenden Dämpfen u. dgl. m. sich auszeichnen, sollten gehalten
sein, nur doppeläugige Personen zm- Arbeit zuzulassen. Der Schwer-
punkt bei allen derartigen Vorschriften müsste aber unbedmgt auf die
wirkliche Blmdheit des einen Auges gelegt werden. Denn Leute, ^ die
auf einem Auge schlechter sehen, als wie auf dem anderen, sind keines-
wegs einer solchen optischen Inferiorität unterworfen, wie der einseitig
Blinde. Schwachsichtigkeit eines Auges beeinträchtigt die Grösse des
Gesichtsfeldes meist nur wenig und gerade die Beschi-änkung des Ge-
sichtsfeldes war es ja, aus welcher wir die grössere Erblindungsgefahr
durch Verietzung für den Einäugigen hergeleitet haben.
Von Wichtigkeit dürfte es mmmehr noch sein, die Arten der
Augenverletzungen genauer kennen zu lernen. Es wird sich empfehlen,
die°verschiedenen Verietzungsformen in der Weise zu betrachten, dass
wir diejenigen Fälle, in denen beide Augen zu gleicher Zeit durch die
Verietzung zerstört wurden und diejenigen, in denen Einäugige ihi-
einziges Auge verioren haben, getrennt von einander untersuchen. Be-
ginnen wir mit der Betrachtung der doppelseitigen Augenverietzungen.
Doppelseitige Verletzungsblindheit zählt unser Material
53 Fälle doch ist in 7 derselben die Form der Verietzung nicht näher
mitgethei'lt; die übrigen 46 Fälle dagegen geben vollsten Aufschluss
über die Art der Verietzung, sowie über den Zeitpunkt ihres Emtnttes.
Die folgende Zusammenstellung berichtet über die einzelnen Formea
der Verietzungen und deren numerisches Verhältniss zu einander:
Schuss
Schlag
Stich
Quetschung bei Zangengeburt
15
32,60 0;(
13
28,26 „
11
23,91 „
4
8,69 „
2
4,34 „
1
2,17 „
— 101 —
Explosionen nehmen laut der vorstehenden Tabelle unter den
Fällen doppelseitiger Verletzungsblindheit den ersten Rang ein. Nur
in 2 der beobachteten Fälle geschah die Verletzung im Beruf; beide-
inale waren es jugendliche Arbeiter, welche beim Steinsprengen beide
Augen zugleich verloren. In den übrigen 13 Fällen handelte es sich
iusgesammt um Exj)]osioneD , welche durch Spielereien mit Pulver,
Kupferhiltchen , Kinderkanonen u. dgl. m. verursacht worden waren.
Angesichts der so häufig im Kindesalter durch Explosionen verursachten
Verletzungsblindheit scheint der von Ai'U ') seiner Zeit gemachte Vor-
schlag, den Verkauf von Zündhütchen (natürlich inbegriffen alle ex-
plodirenden Gegenstände) an Kinder gesetzlich zu verbieten, dui'chaus
gerechtfertigt. Den besten Schutz gegen die in Rede stehende Erblind-
uugsgefahr sollte die Kinderwelt aber immer bei den Eltern und Er-
ziehern finden; doch ist leider der Kampf gegen Leichtsinn und Un-
vernunft, wie auf anderen Gebieten des Lebens, so auch auf dem hier
uns beschäftigenden meist ein vergeblicher. Ueber die verschiedenen
Lebensjahre der beiden ersten Decennien vertheilen sich die Explosions-
erblindungen in der Weise, dass eigentlich erst mit dem fünften Lebens-
jahr dieselben in grösserer Zahl auftreten, um dann aber in den folgen-
den Jahren stetig zuzunehmen. Vor dem fünften Lebensjahr kommen
dieselben nur vereinzelt vor. ^
Verbrennungen sind mit 28,26 °/o nächst den Explosionen die
häufigsten Formen der doppelseitigen Verletzungsblindheit der Jugend-
zeit. Sie beginnen ihre verderblichen Wirkungen schon in der frühesten
Kinderzeit; mit den ersten Schritten, welche das Kind macht, ist es
von dieser Gefahr bedroht. Meist ist es ein Sturz ins Feuer, in heisse
Asche, das Uebergiessen mit siedenden Flüssigkeiten u. dgl. m., welche
die Zerstörung der Augen herbeiführen. Während für die ersten zwei
oder drei Lebensjahre die genannten Unfälle am häufigsten die Augen
bedrohen, tritt in der zweiten Hälfte der Kinderzeit und in dem darauf
folgenden Knaben- und Jünglingsalter die Verletzung mit Kalk in den
Vordergrund. Jenseits des fünfzehnten Lebensjahres werden die dojDpel-
seitigen Verbrennungen der Augen dann seltener.
Schussverletzungen zählt vmser Material 11. Auch diese
Verletzungsformen treten häufiger erst in der zweiten Hälfte der Kind-
heit auf und stets sind es dann die unseligen Spielereien mit Schiess-
waffen, welche den Unfall verursachen. Gegen den Ausgang^ des uns
') Arlt, Die Pflege der Augen im gesuudeu und kranken Zu-
stande nebst einem Anhange über Augenglilscr. Prag 18G5. p. 75.
— 102 —
hier beschäftigenden Lebensabschnittes nehmen die Zerstörungen der
Augen dui-ch Schüsse an Zahl ganz bedeutend zu.
Die doppelseitigen Verletzungen durch Schlag oder Stich sind
in den ersten zwanzig Lebensjahren verhältnissmässig selten; erst die
Berufsthätigkeit pflegt derartige Unfälle in grösserer Zahl herbeizuführen.
Die Verletzungsblindheit der Einäugigen bietet in
unserem Material Stoff zu nicht unwichtigen Bemerkungen. Was zu-
vörderst den Verlust des ersten Auges anlangt, so sind laut unseren
Beobachtungen 10 mal Verletzungen und 8 mal Erkrankungen die Ur-
sache gewesen; 5 mal war eme einseitige angeborene Blindheit vor-
handen. Ueber die Verletzung, welche die definitive Erblindung be-
dingte, liegen nur 9 genauere Nachrichten vor; darnach war 5 mal ein
Schlag oder Stoss, 2 mal Stich, Imal Explosion und Imal Schuss die
Veranlassung zu dem Verlust des einzigen noch sehenden Auges. Ver-
gleicht man diese allerdüigs sehr dürftigen Zahlen mit denjenigen, welche
Avir vorhin für die gleichzeitige Verletzung beider Augen angegeben
haben, so werden wir alsbald recht erhebliche Unterschiede bemerken.
Während bei der gleichzeitigen Zerstörung beider Augen Explosion,
Verbrennung und Schuss die Hauptrolle spielten, Schläge, Stösse und
Stiche aber nur nebensächlich in Betracht kamen, ist bei der Ver-
letzungsblindheit der Einäugigen gerade das mngekehrte Verhalten das
massgebende; hier sind Schläge und Stösse die am häufigsten vor-
kommenden Erblindungsursachen, während Explosion und Schuss ge-
ringere Bedeutung haben. Der Zeitraum, welcher zwischen der Er-
blindung des ersten und der Verletzung des zweiten Auges liegt, ist.
bei imseren Blinden ein selir wechselnder; er schwankt zwischen 1 und
20 Jahren und lässt sich irgend eine gesetzmässige Erscheinung in der
chronologischen Aufeinanderfolge der Erblindung des ersten und der
Verletzung des zweiten Auges nicht auffinden.
Zu beachten wäre vielleicht noch die Thatsache, dass von den
23 Einäugigen, welche dm-ch Verletzung erblindet sind, 17 zuerst das
rechte und 3 zuerst das linke Auge verloren haben ')• Diese Erscheinung
fällt uns aus dem Grunde auf, weil wir so häufig bei getrennter Er-
blmdung beider Augen das rechte zuerst verloren gehen sahen. Wie
wir im Paragi-aph 17 bei Besprechimg der dui-ch Trauma hervorge-
rufenen sympathischen Ophthalmie sehen werden, ist unter 147 Fällen
dieser Ei-blindungsform 87 mal das rechte und 60 mal das linke Auge
>) Bei 3 Blinden fehlen die näheren chronologischen Mittheilungen tther
den Eintritt der Blindheit auf dem rechten und linken xVuge.
- 103 —
zuerst erbliudet. Unter den 30 Fällen von Ophtahnia sympathica
traumatica , welche Avir in unserer früheren Untersuchuugsreihe ^) mit-
Kurve der Erblindungsgel'ahr durch Verletzung der Augen
in den ersten 20 Lebensjahren.
Massstab : 5 mm = 1 7o-
Fig. 2.
getheilt hatten, war das rechte Auge 22 mal und das linke 8 mal zu-
eilst erblindet. Aehnliche Beobachtungen haben Avir in unserem früheren
') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 204.
— 104 —
Material auch bei Gelegeuheit der Erblindung durch Netzhautablösuug
gemacht; unter 28 derartigen Erblindungsfällen war 19 mal das rechte
und nur 9 mal das linke Auge das zuerst erblindete. Auch unser
heutiges Material, das allerdings niu' über 7 Fälle von Sublatiol)lindheit
genügende Aufklärung gibt, zeigt uns das rechte Auge 4 mal und das
linke 3 mal als das zuerst erblindete. Wenn ich nun die mitgetheilteu
Zahlen auch noch für viel zu klein erachte, um aus ihnen schon eine
grössere Erblindungsneigung für das rechte Auge abzuleiten, so sind die-
selben doch gewiss auffallend und verdient die Frage: ob das rechte Auge
im Allgemeinen einer ausgesprocheneren Erblindungsgefahr ausgesetzt sei
als das linke, jedenfalls die Aufmerksamkeit späterer Untersucher.
Was nun schliesslich noch die Vertheilung der Verletzungsblmd-
heit über die einzelnen Lebensjahre der zwei ersten Decennien anbe-
trifft, so bewegt sich die Quote derselben in einer vom ersten bis
zwanzigsten Lebensjahr aufsteigenden Kin-ve. Die folgende Zeichnung
gibt von diesen Verhältnissen, sieht man von den im Material ge-
gebenen Zufälligkeiten und den durch sie bedingten Schwankungen
der Kurve ab, ein genügend klares Bild. Wenn man die Spitzen der
Kurvenschwankungen mit einander verbindet, so wird man ungefähr
die Art und Weise des Anstieges der Verletzungsblindheit zu erkennen
vermögen. Die grösste Höhe erreicht die Kurve in der Zeit zwischen
dem fünfzehnten und zwanzigsten Jahr, während ihr niedrigster Stand
in die Zeitperiode vor dem fünften Jahr fällt.
§ 16. Blindheit verursacht durch Verletzung des Kopfes.
Die Bedeutimg dieser Form der Blindheit für die Jugendbliiidheit
im Allgemeinen haben wir schon im Paragi-aphen 14 besprochen und
können wir daher hier auf das dort Gesagte verweisen.
Die Erblindung entwickelt sich bei Verletzungen des Kopfes auf
Grund recht verschiedener pathologischer Vorgänge, je nachdem dem
Bulbus selbst oder den nervösen Centren aus dem Unfall pathologische
Konsequenzen erwachsen. Geschieht das erstere, mrd das Sehorgan
selbst in Mitleidenschaft gezogen, so kann einmal die Netzhaut oder
der Sehnerv durch die mit dem Unfall verknüpfte Erschütterung des
Kopfes Veränderungen erleiden , welche wir opthalmoskopisch ja zum
Theil wenigstens kennen, und als deren traurige Folgezustände sich gar
nicht selten Sehnerven atrophien entwickeln. Ueber die primären oph-
thalmoskopischen Veränderungen, wie sie sich bald nach dem Unfall
zeigen, gibt unser Material so gut wie gar keinen Aufschluss; nur
— 105 —
iu einem Fall wurde nach einem heftigen Stui-z auf Steinhaufen unter
heftigen Kopfschmerzen die Entwicklung einer Neuritis beobachtet,
welche mit Atrophia optica endigte. In anderen Fällen entstehen unter
der Kopferschütterung Risse und Blutergüsse iu den Umhüllungen des
Bidbus, welche dann wieder zu Iridochorioiditis führen. Aber wenn
auch das Sehorgan selbst nicht mit in das Bereich der Kopferschütter-
ung gezogen ist, so kann doch Erblindung erfolgen und zwar auf
Grund der im Gehii-n durch die Erschütterung eingeleiteten Veränder-
ungen oder durch traumatische Meningitis; als Schlussakt Aver den wir
hierbei wohl stets eine Atrophie des nervus opticus nachweisen können.
Derartige Fälle pflegen häufig von noch anderen Folgen der Gehirner-
schütterung begleitet zu werden und auch unser Material enthält solche
Fälle. Zehnmal sind nämlich in Folge der Kopferschütterung ausser
Blindheit noch andere pathologische Erscheinungen aufgetreten imd'
zwar 1 mal Schwindelanfälle , 2 mal Geistesschwäche , 1 mal Sprach-
störungen, 2 mal Schwerhörigkeit, 1 mal epileptiforme Anfälle, 1 mal
Lähmung der rechten Seite, 2 mal Hydrocephalus.
Was nun das Verhältniss anlangt, in welchem die Sehnerven-
atrophie imd Iridochorioiditis sich nach Kopfverletzungen entwickeln,
so zählt imser Material unter 33 Fällen 26 mal Atrophia nervi optici
und 7 mal Iridochorioiditis, die erstere stellt sich also in 78,78 "/o,
die letzere nur in 21,2l7o ein.
Dürfen wir nun noch einen Blick auf die Natur der Kopfverletz-
img werfen, so wurden 21 mal Sturz auf den Kopf und 11 mal Schlag
gegen den Kopf als ursächliches Moment angegeben ; in 1 Fall fehlen
die näheren Mittheilungen.
Sturz auf den Kopf. Die Mehrzahl der durch Sturz ver-
ursachten Erblindungen ist in unserem Material in den ersten Lebens-
jahren entstanden. Von den uns zur Verftigung stehenden 21 Fällen
ist bei 14 in den ersten 6 Lebensjahren die Erblindung erfolgt, und
nm- bei 5 nach dem sechsten Lebensjahre i). Als Grund des Blindseins
wird 20 mal Atrophie des Sehnerven und 1 mal Iridochorioiditis an-
gegeben. Der Sturz erfolgte 1 mal in frühester Kindheit vom Arm der
Kindsfrau; 5 mal handelte es sich um Sturz aus dem Fenster. In
den übrigen Fällen sind besondere Mittheilungen nicht vorhanden.
Erblindung durch Schlag gegen die Schädelwand findet sich
nach unserem Material vorwiegend mit Beginn des zweiten Lebenslustrums.
') 2 Falle lassen eine genaue chronologische Bestimmung des Erblindungs-
eintrittes nicht zu.
— 106 —
Ueber die Natur der Kopfverletzung liegen auch einige Mittlieilungeu
vor; 3 mal handelte es sich um Hufschläge gegen den Kopf, l mal
um Fall eines schweren Gegenstandes auf den Schädel; 1 mal um
Schlag eines Baumstammes bei einem jugendlichen Holzfäller. Die
Gegend des Schädels, welche von dem Schlag betroffen wurde, ist nur
in einigen wenigen Fällen näher bestitnrat. 5 mal wird mit vollster
Bestimmtheit die Stirn als die Verletzungsstelle bezeichnet.
§ 17. Erblindung durch Ophthalmia sympathica traumatica.
Bereits in meinen im Jahre 1883 veröffentlichten Untersuchungen
über Blindheit«) wies ich darauf hm, dass das jugendüche Alter einen
ziemlich hohen Prozentsatz zur Erblindung diu'ch Ophthalmia sympathica
Ijeizusteuern schiene. Ich glaubte damals durch eine grössere Zahl von
Augenverletzungen im Kindes- und Jünglmgsalter meine Beobachtung
erklären zu können. Unser heutiges Material wirft aber auf diese Frage
ein ganz neues Licht. Eine beträchtlichere Zahl von dh-ekten Augen-
verletzungen entfällt nach unseren jetzigen Erfahrungen auf die ersten zwei
Lebensdecennien nicht; trotzdem Spielerei und Unglücksf äUe das kmd-
liche Auge recht oft schädigen, erreicht die Verletzungsblindheit, d. h.
die durch unmittelbare Verletzung der Augen bedingte Amaui-ose m dieser
Lebensperiode doch nicht eine so hohe Quote, als wie sie m emem aus
allen vornehmlich den späteren Altersklassen zusammengesetzten Blinden-
material sich findet. Unser heutiges nur jugendliche Blmde bemck-
sichtigendes Material ergibt nämlich als Quote der Verletzmigsblmdheit
2 37 o/o während unsere frühere Untersuchungsreihe fast noch einmal so
viel nämlich 4,03 "/o zählte. Wir müssen also mibedingt mit der That-
sache rechnen, dass die ersten zwanzig Lebensjahre einer geringeren direkten
Verletzungsgefahr des Auges unterliegen, wie die späteren Penoden
unseres Daseins. Entsprechend diesem Umstand müssten die ersten
beiden Lebensdecennien unbedingt auch einen germgeren Prozentsatz von
Ophthalmia sympathica traumatica liefern; denn die Quote der sympathi-
schen Ophthalmie muss doch zm: Zahl der Augenverletzung in der
innigsten Beziehung stehen. Mit der steigenden Zahl der Augenver-
letzungen, mit der grösseren Menge der Einäugigen sind ja doch auch
die Bedingungen für die Entwickelung des sympathischen Prozesses
erheblich gefördert, während bei einer geringeren Anzahl von Einäugigen
aua die Gelegenheit für das Auftreten der sympathischen Opthalmie
') A. a. 0. p. 203.
— 107 —
eine geringere wird. Wir müssen desshalb unbedingt erwarten , dass
die Quoten der Verletzungs- und der sympathischen Erblindung ge-
wisse Uebereinstimmimgeu zeigen. Für unser früheres Material trifft
diese theoretische Voraussetzung auch durchaus zu, denn dazumal er-
hielten wir für die Verletzungsblindheit 4,03 7o und für die Blindheit
diu-ch Ophthalmia sympathica 4,50"/o, für unser heutiges ausschliesslich
jugendliches Material gestalten sich nun aber diese Verhältnisse er-
heblich anders. Wir haben jetzt eine Verletzuugsquote von 2,37 ° 'o,
aber nicht auch eine dieser Höhe der Verletzungsgefahr entsprechende
Quote der sympathischen Ophthalmie, vielmehr eine um vieles höhere;
dieselbe beträgt 4,587ü. Eine solche Höhe steht ziu- Zahl der Ver-
letzungen im jugendlichen Alter aber durchaus nicht im Verhältniss;
da die ersten Lebensdecaden weniger Gelegenheit zu Augenverletzungen
geben und auch, wie wir gefunden zu haben glauben, weniger Verletz-
imgen und weniger Verletzungsblindheit zählen, so müsste auch die
Zahl der sympathischen Ophthalmien eine dementsprechend geringere
sein.^ Ist sie dies aber nicht, ist die Zahl der sympathischen Opthalmieu
ebenso gi-oss wie in den späteren, Augenverletzungen viel mehr ausge-
setzten Lebensperioden, so ist diese Thatsache unbedingt eine ungehörige
imd darum befi-emdende. Wir dürften angesichts der soeben erörterten
Verhältnisse desshalb vielleicht die Vermuthung äussern, dass in dem
jugendlichen Alter möglicherweise gewisse Bedingungen gegeben sein
könnten, welche der Entwicklung des sympathischen Prozesses besonderen
Vorschub leisteten. In dieser Ansicht könnte man wohl auch noch
diu-ch den Umstand bestärkt werden, dass die Quote der sympathischen
Erblindung in einer Reihe von Jahren, etwa vom achten bis fünfzehnten
Lebensjahr, eine Höhe zeigt, welche hinter der der cerebralen Blindheit
nur wenig zurückbleibt; und doch ist diese Blindheitsform eine der er-
giebigsten überhaupt. Welcher Art die Verhältnisse sein mögen, welche
in den ersten drei Lebenslustren die Entwickelung des sympathischen
Prozesses begünstigen, darüber erlaube ich mir vor der Hand absolut
kein Urtheil, wie ich auch die soeben geäusserte Vermuthung nicht mehr
als eben nm- eine Muthmassung sein lassen möchte. Es wird späteren
weiteren Forschungen vorbehalten bleiben, definitiv festzustellen, ob der
sympathische Prozess in den jugendlichen Lebensepochen wirklich häufiger
sei und welche Erklärung eventuell für diese Erscheinung zu geben
sem wird. Für unser heutiges Material steht die Thatsache unbedingt
fest, dass die Zahl der durch sympathische Ophthalmie Erblindeten viel
gi-össer ist, als sie im Verhältniss zu den direkten Verletzungen der
Augen sein sollte.
— 108 —
Ueber die Verletzung des zuerst erbliudeten Auges, auf Grund
deren sich dann der sympathische Prozess entwickelt hat, gibt unser
Material in 88 Fällen genügenden Aufschluss, und zwar wie folgt:
Verletzungen erfolgten
mit schneidenden Instrumenten . . . 34 mal
durch Wurf (Ball, Stein, Eis, Holz) . 13 „
„ Schuss (Pfeil, Bolzen u. s. w.) .12 „
„ Schlag oder Stoss 9 „
„ Glas- oder Porzellansplitter . . 5 ,,
„ Kupferhütchen 4 „
„ Kratzen (Dorn, Fingernagel, Katze) 3 „
„ Explosion (Pulver, Dynamit) . . 2 „
,, Eisensplitter 2 „
„ Holzsplitter 2 „
„ Fall gegen das Auge .... 2 „
Der Zeitraum, welcher zwischen der Verletzung und dem Ausbruch
der Ophthalmia sympathica liegt, lässt sich in 109 Fällen folgender-
massen bestimmen:
Der sympathische Prozess entstand nach Verlauf von
nicht 1 Jahr 66 mal 6 Jahren Imal
1 vollen Jahres 23 „ 7 „ 1 ^
2 Jahren 6 „ 8 „ 2
3 „ 4 „ 9 „ 1 .
4 „ 1 „ 10 " 1 "
5 „ 2 „ 13 „ 1 .
Nach dieser Zusammehstellung war also in 81,65 aller unserer
Fälle bereits 1 Jahr nach der Verletzung mit dem Eintritt der Irido-
cyclitis sympathica die definitive vollständige Erblindung eingetreten,
eme Thatsache, welche für die Prophylaxe dieser so ergiebigen Er-
blindungsfoi-m die grösste Beachtung verdienen sollte.
Bemerken wollen wir noch, dass 87 mal das rechte und 60 mal
das linke Auge das primär i) verletzte war und dass 67 mal die Enu-
cleation des verletzten Auges ausgeführt worden war. Es empfiehlt,
sich noch einen Seitenblick zu werfen auf das Verhältniss, m welchem
die traumatische zu der nicht traumatischen Ophthalmia sympathica
in unserem Material steht. Von der ersteren zählen wu- 147, von der
letzteren 9, also in Summa 156 Fälle; es entfallen demnach auf die
1) Man vergleiche Seite 102—104 dieser Arbeit.
— 109 —
traumatische 94,23 °/o, aiif die nicht traumatische 5,77 ''/„. In unserer
früheren Arbeit hatten wir für die traumatische Ophthahnia sympathica
74,5 imd füi* die nicht traumatische 25,4 ".o gefunden.
Kni've der Erblindnngsgefahr durch Ophthalmia symi)athica
traumatica in den ersten 15 Lebensjahren.
Massstab: 5 mm = l"/o-
0
20
W
n
de
11%
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7%
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nimtQeay SlO. 23t. Hes 8,aa 10,S7.tVitU,S7l!iM i;;ia UsaWc.QJs. IS.m.
Fig. 3.
Ich habe nun noch den Versuch gemacht, die Quote, welche jedes
einzelne Lebensjahr für die Erblindung dui'ch Ophthalmia sympathica
zeigt, zu bestimmen und aus den gewonnenen Zahlen eine Kurve der
Erblindungsgefahr durch Iridocyclitis sympathica traumatica herzustellen.
Ich habe diesen Versuch aber nur für die ersten 15 Lebensjahre durch-
geführt, weil jenseits des fünfzehnten Jahres unser Material leider etwas
— 110 —
lückenhaft Avird. Es pflegen ja Individuen, welche nach dem fünfzehnten
Jahre erblinden, meist schon eine genügende Schulbildung empfangen
zu haben und werden dieselben deshalb im Allgemeinen die Blindeu-
Erziehungs- Anstalten weniger häufig aufsuchen. Dazu kommt noch, das?
die Erblindungsgefahr gerade nach dem fünfzehnten Jahr eine sehr ge-
ringe ist. Die genannten Momente bewirken es, dass in den Blinden-
Erziehungs- Anstalten gerade die Jahrgänge vom fünfzehnten bis zwanzig-
sten Jahre am schwächsten vertreten sind. Desshalb habe ich da, wo
das Material gar zu lückenhaft war, von der Verwerthung desselben zur
Konstruktion von Kurven Abstand genommen.
Unsere vorstehende Kurve zeigt, dass die Gefahr der sympathischen
Ophthalmie eigentlich erst mit Abschluss des ersten Lebenslustnims
eine bedeutendere wird und von da ab in ziemlich steilem Anstieg
aufstrebt. Jenseits des zehnten Jahres zeigt unsere Kurve einen Ab-
fall der wohl den Zufälligkeiten des numerisch beschränkten INIaterials
zuzuschreiben ist, da diesem Abfall alsbald wieder ein Anstieg folgt.
Für die möglichst erfolgreiche Verhütung der Erblindung
durch Ophthalmia sympathica traumatica dürften die beiden
Momente von Wichtigkeit sein, dass einmal das jugendliche Alter der
Entstehung der sympathischen Iridocyclitis einen gewissen Vorschub
zu leisten scheint und dass ferner in 81,65 «/o aller unserer Fälle der
Eintritt der Erblindung bereits ein Jahr nach der Verletzung eme un-
abänderliche Thatsache geworden war. Im Hinblicke auf diese beiden
Faktoren halte ich die konservativen Bestrebungen bei Augenverletz-
ungen jugendlicher Individuen für durchaus unangebracht. Ist die
Verletzung der Art, dass von einer Herstellmig des Sehvermögens
nicht mehr die Kede sein kann, so sollte der Arzt, handelt es sich
um jugendliche Patienten, unbedingt sofort zu Enucleation resp.
Evisceration übergehen. Wohl weiss ich aus eigener Erfahrung,
dass in der Praxis dieser mein Kath recht häufig den erheblichsten
Schwierigkeiten begegnet. Die Eltern und Angehörigen der verletzten
Kinder wollen von einer Entfernung des Auges nichts hören, auch wenn
die Herstellung des Sehvermögens vollständig ausgeschlossen bleibt,
ihnen sind die konservativen Heilprinzipien allemal viel zusagender als
die operativen, doch darf uns dieser Umstand von der sofortigen Ent-
fernung des verletzten Sehorgans nicht abhalten. Entschlagen wn- uns
des Wunsches, das verletzte Auge zu erhalten, sobald wir uns von der
dauernden Sehunfähigkeit desselben überzeugt haben, und greifen wir
unter diesen Umständen sofort zur Scheere, so wird die grosse Quote,
welche die sympathische Blindheit gerade in den ersten zwanzig Lebens-
— III —
jähren aufweist, bald auf ein Minimum herabgesunken sein. Denn
mit dem Hinausschieben der Operation gefährden ^xh• ja nach den Er-
fahrungen unseres Materials gerade bei jugendlichen Individuen das
gesunde Auge in ganz besonders hohem Grade. Was kann es solchen
Verhältnissen gegenüber da noch für Momente geben, welche der kon-
servativen Therapie das Wort reden düi-ften?
§ 18. Die durch missglückte Augenoperationen liervorgerufene Blindheit
ist für die uns hier beschäftigende Altersperiode, wie dies ja auch nicht '
anders zu erwarten ist, eine numerisch höchst unbedeutende ; ihre Quote
beti-ägt nur 0,16 °/o. In 3 Fällen führten Operationen eines Schicht-
staares zui" doppelseitigen Erblindung imd in zwei anderen Fällen Schiel-
operationen. Diese beiden letzteren sind in ihrer Art so selten und
eigenartig, dass wir dieselben noch besonders hervorheben wollen. In
dem einen dieser Fälle wurde eine doppelseitige Schieloperation vor-
genommen und am Tage nach derselben aus Versehen zur Eeinigung
der Augen ein mit blennorrhoischera Sekret infizirter Schwamm benützt.
Im immittelbaren Anschluss an diese Prozedur trat Pauophthalmitis
ein, welche mit einer vollständigen Phthisis beider Bulbi zum Ab-
schluss kam.
Der zweite Fall ist dem soeben geschilderten ziemlich ähnlich.
Hier trat ein oder zwei Tage nach einer doppelseitigen Tenotomie starke
Eiterung ein unter gleichzeitigem Ausbruch von Scharlach. Woher bei
diesem Patienten die Wundinfektion gekommen, ob vielleicht eine diph-
theritische Entzündung als Komplikation des Scharlach aufgetreten sein
mag, darüber lassen sich bestimmte Angaben nicht geben. Der Schluss-
akt war auch in diesem Fall totale Phtisis beider Augäpfel.
Jedenfalls sind beide Fälle darnach angethan, die gleichzeitige
Tenotomie beider Bulbi arg in Misskredit zu bringen.
Fünftes Kapitel.
Blindheit erzeugt durch Körpererkrankungen.
S 19 Die Stellung, welche die durch Körpererkrankungen bedingte
Blindheitsgruppe zu den übrigen Gruppen der Jugendblindheit einnimmt,
haben w bereits in § 12 kurz berührt. Wir haben an jener Stelle
darauf aufmerksam gemacht, dass in den ersten zwanzig Lebensjahi-en
die Allgemeinerkrankungen, fassen wii" dieselben zu emer Gruppe zu-
sammen, eine viel höhere Blindenquote entwerfen, als wie m den spateren
Lebensperioden. Die Allgemeinerkrankungen bethätigen in den ersten
beiden Lebensdecennien eine viel grössere Wirksamkeit als Blmdheits-
erzeuger, wie dies in den späteren Lebensabschnitten der Fall ist Uas
klinische Verständniss dieser Thatsache wird uns aus einer Beteachtmig
der verschiedenen hier in Frage kommenden Erblindungsformen unschwer
erwachsen. Im Allgemeinen zählen die ersten zwanzig Lebensjahre
mehr AUgemeinerkrankungen, welche das Sehorgan in den Kreis ihrer
pathologischen Thätigkeit ziehen, als die späteren Altersklassen^ Vor
Allem sind es die akuten Exantheme, die Ski'ofolose und die Gehn-n-
erki-ankungen. welche den Augen während der beiden ersten Lebens-
decaden Gefahr bringen. Dem gegenüber kommen jenseits des zwanzig-
sten Lebensjahres hauptsächlich nur die Erkrankungen des Gehirns und
Rückenmarkes als Blindheitserzeuger in Betracht AUerdings entfalten
die Erkrankungen der nervösen Centraiorgane nach dem z^^^nzlgsten
Jahre eine recht bedeutende amaurotische Thätigkeit und steigert sich
dieselbe sogar bei gewissen Krankheitsformen, z. B. der Tabes bis gegen
tslüufzigste Jahi hin in recht schnellem Wachsthum,-) doch dürfen
'^^^^^^^ich. hierüber meine Untersuehuugeu der Breslauer Bliudcn.
Archiv für Augenheilkunde. XIV. p. 416.
cerebralen Erkrankungen in reiclilicher ralle Erblincinngen liefern Und
da nun ausser den Gehirnerkrankungen in den ersten zwei Decennien
hnm der Erbhndungsformen, d,e durch Allgcmeinerkrankungen ent-
"^a: Tas V h ^"'^ ^'rf--. A.' he ten
wd man das Verhaltmss, m welchem die verschiedenen Allgemein-
erkranhmgen vor und nach dem zwanzigsten Jahre als ErblinTn"
r r -mittelbaren Vergleich efs hen Th
und nl ''--^^Wedenen Allgemeinerkrankungen vor
schraffi , r ^•''^ "«'■eneinander gesteift Die
t^T^J'Er ' r ^-te vor. die schwarzen nach de^
zwanzigsten Lebensjahre an. Ich glaube diese Darstellung ist «„
t tr ■ """""^ Bemerkungen nicht erfordern Lte
v:,:häLis Tr r°i'° -^^ d-
Verhaltn s, der cerebralen Amaurose. Nach unserer Tabelle ist die
Quote dreser Blindheitsform nach dem zwanzigsten Jahr fas dleU
n.cht den Schluss ziehen, dass von Seiten des Gehirns in den etten
wanzrg Jahren wnklich eine viel geringere Gefahr der Erblindung
drohe ab spater; ein solcher Schlnss wäre irrthümlich. Das Verhältniss
m welchem d,e cerebrale Amaurose vor und nach dem zwanl^ten
Jahr m unserer Darstellung zu einander stehen, ist ledigliohT jL^
durch dre Beschaffenheit des Blindenmaterials. Das den e 't en ™ £
Lebensjahren angehörende Material zeichnet sich durch eine grosse Mengf
von BlmdhetWällen in Folge von Exanthemen und Skrofulosf au well
iauv::s:ef;°^"''^''"r' ™° ^™ ^^'^^
Anzahl von Blmdheitsformen emem Material zufliesst, dem anderen aber
uK^ht so muss natürlich die Quote einer bestimmten BlindlSsfo™
welche m beiden Untersuchungsreihen vorkommt, durch diese Veri m'
Silken o'b T "Tf ^^'^ 0»^"«- anderer Pol n
smken, ohne denselben steigen. Es ist also der Stand der eerebrZ
Aniaurosecuote m unserer Tafel lediglich durch das Material zu erklät,
Blil f ,t «>f »»Wiche Ausdruck der vom Gehirn droh ndTn
Elndhe,t.,gefahr anzusehen, sondern nur als Ausdruck des Wer^W
msses, m welchem er zu den anderen Blindheitsformen vo^ d
.ac dem zwanzigsten Lebensjahre steht. Wenn wir die Erblindung
gefahr. welche dem einzelnen Individuum in Wirklichkeit aus n^r
Magnas, Jugendblimlhoit.
— 114 —
Erkrankung droht, also hier aus den Gehirnerkrankungen kennen
lernen wollen, so können wir zu dieser Kenntniss nur in der ^ eise
Intoxikation
Scrofuloso
SypMlis
Wochonljett und
Scli-wnngerschivtt
Exanthem
nicht
bestimmt
Scharlach
Masern
Typhus
Pocken
Bindegewebe u.
Haut
Uropoetisches
System
Verdauungs-
Organe
Gefäss-Systom
Bückenmark
Gehirn mit seinen
Häuten
Tussis
convulsiva
Intermittens
Unbekannt
— 115 —
selbst auf die Gefahr hin, für viele meiner Leser etwas Selbstverständ-
liches und darum Ueberflüssiges gesagt zu haben.
Die vorstehende Darstellung gibt also das Verhältniss wieder, in
welchem die durch Allgemeinerkrankungen hervorgeinfenen Erblindungen
zu einander stehen.
§ 20. Die einzelnen Formen der durch Allgemeinerkrankungen
erzeugten Erblindungen.
Ihrem amaurotischen Werth nach gruppiren sich die AUgemein-
«rkrankungen in folgender Weise:
Erkrankvmgen des GehuTis imter
1063
Fällen 262 mal
24,65
o/o
Scrofulose ,
>j
243 „
=
22,86
»
V anola „
j>
22,58
l.»XUl UilXl
114 „
10,73
5)
Scarlatina „
»
»
97 „
9,13
)J
Typhus „
)>
)>
32 „
3,01
)»
Syphilis „
)i
)(
32 „
3,01
JJ
Exanthem imbekannter Natur „
j>
>j
14 „
1,32
»
Tussis convulsiva „
)»
>>
4 „
0,38
Bleivergiftung „
))
5)
2 „
0,19
»
Blutbrechen „
))
»
2 „
0,19
)>
Morbus macidosus „
»
1 „
0,10
)»
lutermittens „
))
))
1 „
0,10
>>
Cholera
j)
»
1 »
0,10
J>
Phlegmone orbitalis „
))
!)
1 »
0,10
)>
Tabakvergiftung ,
»)
1 »
0,10
Unbekannte Allgemein-
erkrankung „
»
»
16 „
1,51
Wir wollen nun die einzelnen Erkrankungsformen in der Eeihen-
ll folge, wie sie die vorstehende Tabelle zeigt, betrachten.
Gehirn mit seinen Häuten. Bei einer methodischen Unter-
suchung von Blinden lassen sich zwar die schweren Folgen, welche
Erkrankungen des nervösen Centraiorgans und seiner Hüllen für das
Sehorgan haben, mit Sicherheit nachweisen, aber ein verlässlicher Rück-
schluss auf die klinische Wesenheit der ursprünglichen Gehirnerkrank-
ung ist aus dem Befund des erblindeten Auges allein nicht möglich.
Die Blinden oder deren Angehörige geben wohl den Zeitpunkt der Er-
krankung an, sie wissen auch mitzutheilen, dass das betreffende Individuum
mit Krämpfen oder unter heftigem Kopfschmerz, Erbrechen, Lähmungen
8*
— 118 —
7 mal
u. dgl. m. erkrankt ist. Derai-tige Angaben enthalten fast alle unsere
Protokolle, aber eine bestimmte Diaguosse ist aus solchen anaranestischen
Nachrichten allein nicht zu gewinnen, und desshalb müssen wir auf eine
aenaue klinische DifFerenzirung der verschiedenen cerebralen Krankheits-
prozesse verzichten.
AVas nun die unmittelbare Ursache der Erblindung anlangt, so
werden in 238 Fällen darüber sichere Mittheilungen gegeben, während
sie in 24 Fällen fehlen. Darnach hat die Gehirnerkrankung m 212
Fällen zu Atrophia nervi optici geführt und in 26 zu Iridochorioiditis ;
auf die cerebrale Atrophie entfallen demnach 80,92 °/o, auf die cerebrale
Iridochorioiditis nur 9,93 7o.
Die cerebrale Erkrankung hat in einer Eeihe von Fällen noch
andere Körperorgane in ihren Kreis gezogen und fanden sich dement-
sprechend an der Person des Blinden noch folgende Gebrechen:
Epileptiforme Anfälle ^^^^
■ Störungen des geistigen Lebens 7
Taubheit oder Schwerhörigkeit o ^>
Störungen des Geruches 3
Lähmungen einer ganzen Seite 3
eines Armes
der Beine
allgemeine Lähmung
des Sphincter vesicae
Chorea
Periodischer Kopfschmerz mit Erbrechen und profusem
Kopfschweisse
Taubstummheit ....
Ausser den genannten pathologischen Zuständen, deren genetische
Beziehungen zu der Gehirnerkrankung wohl ziemlich klar auf der Hand
liegen, wurden an den Blinden noch folgende Erscheinungen beobachtet:
Glotzaugen . . . 3 mal
Zwergwuchs . . . 1 »
Wolfsrachen . . . 1 »
Zur Vei-voUständigung des pathologischen Bildes wird es ferner
auch beitragen, wenn wir die Nachrichten, welche über den Gesund-
heitszustand der Eltern und Geschwister unserer Blmden noch vorhegen,
mittheilen. Ueber die Gesundheitszustände der Eltern smd 5ma ^ ach-
richten gegeben ; darnach war der Vater 1 mal ein Säufer ^ ^alschwadv
sinnig, imal waren beide Eltern, und 1 mal nur die Mutter an Tubei-
kulose gestorben.
1
1
l
1
1
1
— 117 —
LTeber die Geschwister fliessen die Mittheilimgen etwas reichlicher,
insofern hier 15 mal Erkrankungen derselben erwähnt werden und zwar;
Blindheit eines Bruders oder einer Schwester 6 mal
„ zweier Geschwister 3
Geistesschwäche 3
Krampfzustände 2 „
Tuberkulose i
)j
Die Gehirnerkrankungen liefern ferner nächst der Blennorrhoea
neonatorum während der ersten zwanzig Lebensjahre die meisten Erblind-
ungsfälle; ihre Blindheitsquote beträgt 8,187«. Ueber beide Geschlechter
vertheilt sich die cerebrale A maurose in der Weise, dass das männliche
Geschlecht viel stärker von ihr heimgesucht wird, als wie das weibliche,
<ienn auf das erstere entfallen 9,96%, auf das letztere nur 5,19 "/o.
Unser Material gibt uns sodann noch genügenden Aufschluss über
den Eintritt der Erblindung, resp. der Erkrankung, welche den Ver-
lust des Sehvermögens bedingt hat. Doch reicht unser Material nur
bis zum Abschluss des fiinfzehnten Lebensjahres; jenseits desselben wird
es so lückenhaft, dass wir es zu einer statistischen Verwerthung nicht
mehr fär geeignet erachten. Es steigt nach unseren Ermittelungen also
die Quote der cerebralen Blindheit mit Beginn des zweiten Jahi-es steil
an und erreicht zwischen viertem und eilftem Jahre die grösste Höhe,
imi dann wieder etwas abzufallen. Die folgende Kui've wkd diese
Verhältnisse klar zui- Anschauung bringen, vornehmlich wenn man die
Gipfel derselben diu-ch eine Linie sich verbunden denkt. Diese Linie
dürfle ungefähr das An- und Absteigen der Erblindungsgefahr der ein-
zelnen Lebensjahre veranschaulichen.
Schliesslich wollen wir noch eines interessanten Punktes gedenken,
nämlich der Schädelgestaltung der durch cerebrale Erkrankungen Er-
blindeten. Im Ganzen werden 62 mal, d. h. also in 23,67 7« Miss-
bildungen des Schädels erwähnt und zwar folgende Formen:
Hydrocephalus mehr oder weniger ausgeprägt 27 mal
Thurmschädel 27
Mikrocephalus ^
Nicht näher definu-te Schädelform .... 7
Von besonderem Interesse ist die Komplikation der Sehnerven-
atrophie mit Thurmschädel, und da gerade dieser Symptomen-
komplex em im Ganzen noch wenig gekannter ist, so wollen wir den-
selben emer genaueren Betrachtung unterziehen, i) Ich selbst bin dm-ch
')/'^*° vergleiche die Mittheiluugen, ^y eiche Hirschb er g auf Grund eigener
Beobachtungen und gestützt auf die spärliche Kasuistik der einschlägigen Literatur
— 118 —
meine Blindenuutersuchungen auf diese Vereinigung von Thurraschädel
mit Sehnervenatrophie schon seit längerer Zeit aufmerksam geworden
und habe ich fünf derartige Fälle genau untersucht. In aUen fünfen
fiel die staxke Ausdehnung des Schädels im vertikalen Durchmesser
Kurve der Erblindungsgefahr durch Gehirnerkrankung in den
ersten 15 Lebensjahren.
Massstab: 5 mm = 1 %•
0
21%
Wo
Wk-
13%
17%
16°lo
IS"/,
WU
13%
T2%
11%
ä%
8°k
7%f
6
2%
a 10 n a 13 u iSMr
21'..
0%-
^ g o ^ ü a 13 1* JJJahr
si .nl Iii 'lOM. iio 7;L >7l. «i. io^ wo o.'L^
Fig. 5.
„eten einer rundlichen Gestaltung der Schädelkapsel im AUgememe»
Dabei machte sich eine Hahnenkamm ähnliche Erhöhung m de
CcDlMlblatt für pmkti.cho Aagenhe.lkMde. ».ebentei Jah.6»»g-
Leipzig 1883.
— 119 —
Gegend der grossen Fontanelle in eigenartiger Weise bemerkbar. Der
Sehnerv war in den von mir untersuchten Fällen stets hochgradig atrophisch,
silberweiss mit scharf umschriebenen Kändern und mehr oder minder atro-
phischen Gefässen. Das Sehvermögen war entweder völlig geschwunden,
oder beschränkte sich auf quantitative Lichtempfindung. Die Protokolle
meines Materials enthalten auch eine Anzahl einschlägiger Fälle und
ergibt die Zusammenstellung dieser und meiner Beobachtungen folgendes
Ergebniss.
Im Ganzen fanden sich unter 262 durch cerebrale Erkrankungen
im ersten bis zwanzigsten Jahre Erblindeten 27 mal Thurmschädel d.h.
also in 10,30 7o ; alle Fälle waren mit Sehnervenatrophie vergesellschaftet
und zwar wird der Zustand des Sehnerven 2 mal als Atrophia ex neu-
ritide und 25 mal schlechthin als Atrophia bezeichnet. Neben der Blind-
heit waren an der Person des Blinden noch folgende pathologische Er-
scheinungen nachweisbar:
Zwergwuchs .... Imal
Fehler des Geruchsinnes 2 „
Taubheit 1 „
Epileptiforme Anfälle . 2 „
Geistesstörungen . . . 1 „
Glotzaugen 2 „
Die Beschreibimgen des Schädels betonen hauptsächlich die auf-
fallende Verlängerung des vertikalen Durchmessers ; 4 mal wird auf eine
eigenthümliche kammartige Erhöhung in der Gegend der grossen Fon-
tanelle aufmerksam gemacht.
Ueber Eltern und Geschwister konnte ich nur 2 mal genaue Nach-
richten erhalten. In dem einen Fall waren beide Eltern tuberkulös
und in dem anderen Fall hatte ein Bruder genau dieselbe Kombination
von Sehnervenatrophie mit Thurmschädel. Dieser letztere Fall erscheint
mir von ganz besonderem Interesse, da er die Möglichkeit, den fi-ag-
ll liehen Symptomenkomplex auf gewisse angeborene ätiologische Momente
zurückführen zu können, eröffnet. Herr Medicinalrath Prof. Dr. Fonßck
hierselbst hat jüngst seine Beobachtungen, welche er bei der Sektion eines
mit Sehnervenatrophie und Thurmschädel behafteten Knaben gemacht
hat, in einem Vortrag mitgetheilt und aus seinen Aeusserungen geht
hervor, dass als das Primäre des gesammten Symptomenkomplexes
vielleicht gewisse Störungen in der Entwicklung der Schädelkapsel an-
gesehen werden könnten. Diese Anschauung gewinnt au Bedeutung,
wenn wir hören, dass, wie es unser Material einmal ergibt, mehrere
Kinder einer Familie Thurmschädel und Atrophie haben. Die Vor-
— 120 —
Stellung, class in solchen Fällen gewisse kongenitale Störungen an der
Entwicklung des Kopfskelettes wirksam sind, ist dann sehr naheliegend.
Nun noch einige Bemerkungen über besondere, das Auftreten der
mit Thurmschädel komplizirten Blindheit begleitende Erscheinuugen,
soAvie über die Entstehungszeit derselben. In 7 Fällen wird mit Be-
stimmtheit angegeben, dass schwere Konvulsionen der Entwicklung der
Blindheit vorausgegangen Avären. Die Entstehungszeit der totalen Blind-
heit wird in 25 Fällen in folgende Lebensjahre verlegt:
In die frühesten Lebensabschnitte 5 mal
In das zweite Lebensjahr
dritte
vierte
fünfte
siebente
neunte
eilfte
3
2
7
4
2
1
1
Als die vorliegende Arbeit bereits unter der Presse sich befand,
hatte ich Gelegenheit, in der Poliklinik einen neuen Fall von Thurm-
schädel mit Atrophia nervi optici zu sehen. Es handelte sich hier um
ein 2j ähriges Mädchen, welches bis gegen Ende des ersten Jahres ganz
gesund gewesen sein sollte. Bei den ersten Spielversuchen des Kindes hatte
die Mutter eine auffallende Sehschwäche des Kindchens bemerkt ; dasselbe
konnte das Spielzeug nicht finden, tastete nach demselben wie ein Blinder.
Bei der ophthalmoskopischen Untersuchung erschien der Sehnervenquer-
schnitt graulich weiss und mit nicht ganz scharfen Umrissen; doch war
diese letztere Erscheinung kaum merklich angedeutet. Die Netzhautvenen
waren normal, die Arterien vielleicht etwas dünner wie gewöhnlich.
Dabei prominirten die Augen ganz auffällig und zeigten einen sehr
ausgeprägten Strabismus divergens. Der Schädel war in der vertikalen
Achse sehr bedeutend verlängert und die Gegend der grossen Fontanelle
dm-ch eine deutlich ausgeprägte hahnenkammartige Erhöhung gekenn-
zeichnet. Die Eltern der Patientin schienen, soweit ich dies überhaupt
feststellen konnte, gesund zu sein und hatten dieselben ausser der mir
vorgestellten Kranken noch einen älteren gesunden Knaben.
Skrofulöse folgt in der amaurotischen Rangordnung der Allgemem-
erkrankungen mit 22,86 °/o unmittelbar auf die cerebrale Blindheit. Der
pathologische Prozess, mittelst dessen die Erblindmig bei skrofulösem All-
gemeinleiden erzeugt wird, spielt sich in der Mehrzahl der Fälle in der
Cornea ab, und nur vereinzelt im Uvealtraktus. Nach unserem Material
ist die Cornea für die Erblindung 231 mal, d.h. also in 95,06 "/o und
— 121 —
der Uvealtraktus nur 12 mal, d.h. in 4,93 "/o verantwortlich zu machen.
Von Wichtigkeit wäre sodann noch zu ermitteln, ob Stadt oder Land einen
Kurve der Erblindungsgefahr durch Skrofulöse in den ersten
16 Lebensjahren.
Massstab: 5mm = 1 °/„.
Fig. 6.
grösseren Prozentsatz zur Skrofuloseblindheit beisteuert. Wir wollen diese
Frage wieder an der Hand unseres deutscheu Materials untersuchen, wie
— 122 —
wir dies bereits bei Gelegenheit der Blennorrhoe') gethan haben. Im Ganzen
beherbergten die deutschen Blinden - Anstalten zur Zeit unserer Unter-
suchung 110 Skrofuloseblinde, von denen der Ort der Erblindung
bekannt war, und davon waren 50 in der Stadt, d. h. 45,46 °/«
und 60 auf dem Lande, d. h. 54,55 »/o erblindet. Nach den offiziellen
statistischen Mittheilungen wohnen nun im deutschen Reich etwa /s
aller Einwohner in Orten mit mehr und «/s in Orten mit weniger
als 2000 Einwohnern. Rechnen wir nun die ersteren als Stadt- und
die letzteren als Landbewohner, so müssten von unseren deutschen
Skrofuloseblinden '^1 „ d. h. 44 = 40,00 «/o auf die Stadt und 66 =
60 00 «/ auf das Land entfallen. In Wirklichkeit entwirft unser Material
aber 4546 0/0 Skrofuloseblinde für die Stadt und 54,55 °/o für das
Land Es wäre hiernach also für die Stadt die Skrofulosequote etwas
gi-össer, als sie thatsächlich sein sollte. Und dieser Unterschied dürfte in
Wirklichkeit noch wachsen, wenn wir erwägen, dass die Landbevölkerung
wohl doch mehr als wie 'I , der Gesammtbevölkerung ausmacht
Ein erheblicher Unterschied in der Belastung der beiden Geschlechter
mit der Skrofulose-Amaurose ist nicht vorhanden; denn auf das mann-
liche Geschlecht entfallen 7,07 «/„ und auf das weibliche 8 45 /o. Im
Uebrigen nimmt die Skrofulöse mit 7,58 '7o den di-itten Rang unter
allen Formen der Jugendblindheit ein.
Ueber die einzelnen Lebensjahre vertheilt sich die Erblindung durch
Skrofulöse in der Weise, dass mit deüi zweiten Jahr die _ SkroMose-
quote rasch wächst und dann bis zum fünfzehnten Jahr sich ziemhch
hoch erhält. Sehen wir von den Zufallschwankungen ab und verbinden
wir die höchsten Gipfelpunkte der Kurve durch eine Grade so durfte
diese wohl ungefähr den Verfauf der Erblindungsquote dm-ch Skrofulöse
in den ersten fünfzehn Lebensjahren wiedergeben.
Variola Die durch Pocken bedingten Blindheitsfälle zeigen, in
unserem Material wenigstens, eine dreifache Erblindungsmöglichkeit,
insofern die sekundäre Augenerki-ankung avif der Hornhaut, m dem
Aderhauttraktus oder in den nervösen Organen des Sehorganes sich
entwickelt; und zwar verhalten sich diese 3 Formen der Erblmdung m
der Weise dass entfallen: auf die Cornea 96,66 «/«, auf den Uveal-
traktus 2,50 °/o und auf den nervösen Apparat 0,83"/,. Die Erkrank-
ungen de^ nervösen Apparates haben mu- in zwei Fällen nach Variola
Blindheit erzeugt und beide male zeigte sich der Nervus opticus b. der
späteren Untersuchung als total atrophisch. Der eme dieser Falle ist
•) Man vergleiche Seite 76—78 dieser Arbeit.
— 123 —
durch Beigabe der Krankengeschichte vervollständigt. Es handelte sieb
hier um ein neunzehnjähriges Mädchen, welches im Gefolge von Variola
plötzlich erblindete imd sich bei der späteren Blindenuntersuchung als
imheilbar blind durch Sehnerven atrophie zeigte. Dieser Fall wird in
seinen pathologischen Bedingungen durch eine in der neuesten Zeit von
Riedl^) mitgetheilte Beobachtung verständlich gemacht. Riedl sah eine
junge an Variola hämorrhagica erkrankte Frau plötzlich erblinden und
ergab die Nekropsie retrobulbäre Neuritis. Aehnliche Beobachtungen
sind auch bereits früher von anderen Autoren mitgetheilt worden; so
gedenkt z. B. Zülzer'^) der im Gefolge von hämorrhagischen Pocken
anfti-etenden plötzlichen Erblindungen.
Die klinischen Erscheinungen in Cornea und Uvealtraktus sind
durch die Arbeiten von Landesberg ^ Adler, Manz, Coccius^) u. A.
so genau beschrieben worden, dass wir unter Hinweis auf die Literatur
von einer weiteren Betrachtung dieses Punktes Abstand nehmen, um
uns mit der viel wichtigeren Frage zu beschäftigen: welchen Einflus»
die Impfimg auf das Zustandekommen der Erblindung ausübt.
Dass mit Einführung der Pockenimpfung die Zahl der Blinden
erheblich abgenommen habe, ist eine Thatsache, welche von den ver-
schiedensten Autoren wiederholt betont worden ist. So sollen z. B.
nach den Angaben von Carron de Vülars vor der Vaccination in
Frankreich 35 "/q aller Blinden durch Variola erblindet sein, nach Ein-
führung derselben aber nur noch 7 "/q.* j Auch Hirschberg ^) hat in
neuerer Zeit wieder auf die Abnahme der Pockenblindheit mit Ein-
führung der Vaccination hingewiesen. Ich habe mir nun ganz besonders
angelegen sein lassen, die Beziehungen, welche zwischen der Höhe der *
Variola - Amaurosequote und der Vaccination bestehen, klar zu legen.
Unser Material von 240 Variolablinden ergibt zuvörderst Folgendes:
') Riedl, Ein Fall von plötzlicher Erblindung durch Variola.
Wiener med. Presse 1885. Nr. 11.
») Zülzer, Beiträge zur Pathologie und Therapie der Variola.
Berliner klinische Wochenschrift 1872. Nr. 51 und 52.
') Man sehe ein: Jahr eshe rieht über die Leistungen und Fort-
schritte im Gebiete der Ophthalmologie. Zweiter Jahrgang. Tübingen
1873, und: Vierter Jahrgang. Tübingen 1875.
*) Man vergleiche die schon wiederholt citirten Arbeiten von Dumonf,
Fuchs und mir.
') HirseJiberg, Ueber die variolöso Ophthalmie. Berliner klinische
Wochenschrift 1871. Nr. 24.
— 124 —
Von 240 Pockenblinden
sind geimpft mit Erfolg 24 = 10,00 "/„
„ zweifelhaftem Erfolg 7 = 2,92 „
„ „ ohne Erfolg 16 = 6,67 „
brach unmittelbar nach der Impfung Variola aus bei 2 = 0,84 „
sind nicht geimpft 140 = 58,34 „
fehlen Mittheilungen über die Impfung bei . . . 51 = 21,25 „
Die vorliegende Zusammenstellung lehrt also, dass bei mehr als der
Hälfte aller Pockenblinden die Impfung nicht vorgenommen worden
Avar und dass nur in 10 "/o die erfolgreiche Impfung einen Schutz gegen
die Erblindung nicht gewährt hatte. So wichtig es nun auch gerade
wäre, diese nach erfolgreicher Impfung eingetretenen Erblindungsfälle
«,uf das Genaueste zu untersuchen, so bietet doch unser Material dazu
keinen Stoff und vermag ich desshalb über diese Fälle auch weiter
keinen Aufschluss zu geben.
Den klarsten Einblick in die Beziehungen, welche zwischen der
Höhe der Variolablindheitsquote und der Vaccination bestehen, werden
wir unbedingt dann gewinnen, wenn wir den Gehalt an Pockenblind-
lieit in den Anstalten der verschiedenen europäischen Länder ermitteln
und die gewonnenen Zahlen mit den daselbst herrschenden Impfgesetzen
vergleichen. Ich habe nun eine derartige Zusammenstellung in der
folgenden Tabelle versucht:
Länder mit Impfzwang.
In den Blindenanstalten finden sich Pockenblinde
in Deutschland .... 3,45%
„ England 1>63 „
„ Dänemark .... 0,43 „
Länder ohne Impfzwang.
In den Blindenanstalten finden sich Pockenblinde
in Holland 6,95%
„ Belgien 10,48 „
„ Spanien 10,85 „
„ Italien 11.53 „
„ Oesterreich-Ungarn . . 21,06 „
Ein Vergleich zwschen diesen beiden Abtheilungen zeigt, dass w
den Ländern i), welche gesetzlichen Impfzwang haben, die Pockenblind-
>) In unserer graphischen Darstellung XII ist auch noch Frankreich, Nor-
wegen, Schweden vertreten; allein von einer allgemeineren Verwerthung der be;
— 125 —
heit in den Blinden-Anstalteu einen verschwindend kleinen Prozentsatz
beansprucht, während in den Ländern, welche keine obligatorische
Vaccination besitzen, die Pockenblindheit in den Anstalten bis zu ganz
erstaunlich hohen Prozentsätzen steigt ; so ist z. B. in den Blinden-
Anstalten Oesterreich - Ungarns die Pockenblindheit mit einem höheren
Prozentsatz vertreten, als selbst die Blennorrhoea neonatorum. Der
Umstand, dass die Länder ohne Impfzwang so verschiedene Quoten
der Pockenblindheit zeigen, kann bei genauerer Ueberlegung kaum
befremdend erscheinen. Die Impfgesetze in den verschiedenen Ländern ^)
smd ja doch sehr von einander abweichend; in einzelnen Ländern
übt die Regierung einen grösseren Druck auf die Bevölkerung bezüg-
lich der Vaccination aus, als in anderen. In gewissen Ländern wieder
Avird auch ohne Impfzwang die Impfung ziemlich allgemein betrieben,
in anderen wieder nicht. Diese Umstände müssen aber alle un-
bedingt in der Pockenblindheitsquote sich verrathen. Und sie thun dies
auch; so macht z. B. Pfeiffer') darauf aufmerksam, dass in Belgien
und Holland zwar 'kein Impfzwang bestehe, aber doch die Impfung
gut gehaudhabt werde. Theoretisch würde man aus diesem Umstand
auf eine nicht hohe Pockenblindheitsquote in den Blinden - Anstalten
der genannten Ländern schliessen und unser Material bestätigt diesen
Schluss ; ein Blick auf die vorstehende Tabelle und auf Tafel XII zeigt,,
dass Holland und Belgien unter den Ländern ohne Impfzwang die ge-
ringste Quote haben. In.Spanien, welches in unserer Tabelle die dritt-
kleinste Pockenblindheitsquote besitzt, herrscht, wie mir mein Freund
Professor Carreras-Aragö schreibt, ein indii-ekter Impfzwang, insofern
zur Auftiahme in die Schule ein Nachweis über die erfolgte Impfung
erforderlich ist.
Auf Tafel XII sind noch die Schweiz mit 2,73 7o imd Russland
mit 1 7,60 "/o Pockenblindheit verzeichnet, beides Länder, in denen Impf-
zwang besteht. Wenn wn- aber trotz des daselbst bestehenden Impf-
diesen Ländern genannten Zahlen glaubten wir deshalb Abstand nehmen zu
müssen, weil sich dieselben nur je auf eine Anstalt stützen. Bei den prozen-
tuahschen Verhältnissen einer Anstalt ist aber die Möglichkeit des Zufalls ein&
so grosse, dass von einer Verallgemeinerung gar nicht die Rede sein kann.
') Man vergleiche- die Mittheilungen, welche über die Impfgesetze der ver-
schiedenen Länder gemacht sind in-: Veröffentlichungen des kaiser-
lichen Gesundheitsamtes IX. Jahrgang. 1885. Nr. 11—21.
') Pfeiffer, Di e Vaccination, ihre experimentellen 'und erfah-
rungsgemUsscn Grundlagen und ihre Technik mit besonderer Be-
rücksichtigung der animalen Vaccination. Tübingen 1884. p. 158.
— 126 —
zNvanges die beiden Länder doch nicht in unsere Tabelle aufgenommen
und den anderen Ländern mit Impfzwang angereiht haben, so geschah
dies aus folgenden Gründen. In der Schweiz sind die Impf Verhältnisse
ziemlich verwickelter Natur; in einzelnen Kantonen ist Impfzwang, m
anderen nicht und in noch anderen ist erst vor kurzem der Impfzwang
aufgehoben worden. Da nun unser Material nicht vollständigen Auf-
schluss darüber gibt, ob die einzelnen Individuen Kantonen mit oder
ohne Impfzwang angehören, so konnten wir die für die Schweiz berech-
nete Quote eben nicht zu allgemeinen Betrachtungen verwerthen.
Bezüglich Russlands liegen die Verhältnisse gleichfalls recht eigen-
thümlich. In diesem Land ist Impfzwang, aber bei den eigenartigen
Zuständen dieses Reiches, seiner grossen räumlichen Ausdehnung, semer
dünn gesäeten Bevölkerung kann der Impfzwang nicht in der gewünschten
Weise durchgeführt werden, wenigstens nicht mit Hülfe der Aerzte.
Herr College Dohrowolsky schreibt mir aus Petersburg, dass für die Aus-
fühi'ung derVaccination auf dem Lande aus Mangel an Aerzt«n Laien
herangezogen werden müssten. Dieser Umstand lässt den Segen des
Impfzwanges für Russland denn doch nicht in der gewünschten ^ eise
2ur Geltimg gelangen, denn die Ausführung der Impfung ist nun em-
mal nicht ein Geschäft, welches Laienhänden ohne Weiteres übertragen
werden darf Pfeiffer^) sagt deshalb auch, dass in Russland trotz des
Impfzwanges das Impfwesen nur mangelhaft betrieben werde. Da nun
das Gesetz an sich noch keinen Schutz gewährt, sondern immer ^st die
richtige Handhabung desselben, so kann es uns weiter nicht Wunder
nehmen, wenn die russischen Blindenanstalten einen so hohen Prozent-
satz an Pockenblinden besitzen.
Jedenfalls beweisen unsere Zusammenstellungen, dass in den Län-
dern mit und ohne Impfzwang ein ganz bedeutender Unterschied m
der Zahl der Pockenblinden-Anstalts-Zöglinge vorhanden ist. Angesichte
solcher Thatsachen aber, wie sie unser Material zu Tage gefördert hat
kann für- den Opthalmologen wohl kaum noch der gelmdeste Zweifel
darüber bestehen, auf welche Seite er sich im Kampf um die Vacci-
nation zu stellen habe. Der Ophthalmologe kann und darf nrn- em
unbedingter Anhänger des Impfzwanges sein und wir müssen Fuchs )
deshalb aus vollster Seele beistimmen, wenn er die Nothwend.gkeit des
Impfzwanges so lebhaft betont. Dass die Impfgesetzgebung, betrachten
;j Fuöhsjie Vrs.c^o und die Verhütung der Blindheit u. s. w.
pag. 88.
— 127 —
wir speciell nur die deutscheu Verhältnisse, der Verbesserung fähig, ja
sogar recht bedürftig sein kann, ist eine Frage, welche ausserhalb des
Rahmens unserer Untersuchung liegt. Uns kommt es an dieser Stelle
lediglich nur darauf an, die absolute und unerlässliche Nothwendigkeit
des Impfzwanges auf das Energischste zu betonen und auf das Ein-
diinglichste auf die Lehren hinzuweisen, welche die Ophthalmologie über
den Erfolg imd die Bedeutung des Impfzwanges verkünden rauss. Da
wir nicht gesonnen sind, uns in den Streit, welcher im Augenblick
immer noch um den Impfzwang tobt, tiefer einzulassen, als es unsere
Blindheitsstudien gebieten, so könnten wir eigentlich es bei dem Ge-
sagten bewenden lassen. Wir wollen aber doch noch einer erst vor
Km-zem erschienenen Arbeit gedenken, welche Dr. Lorinser ^) in Wien
gegen den Impfzwang gerichtet hat. Dieser Autor sucht die günstigen
Verhältnisse, welche gerade bezüglich der Pockenerkrankungen in Deutsch-
land herrschen, dadurch zu erklären, dass er meint, die epidemische
Verbreitung der Diphtheritis in Deutschland schliesse bis zu einem ge-
wissen Grade die Pocken aus. Nun wir hätten Herrn Kollegen Lorinser
ganz gewiss in seinen wissenschaftlichen Anschauungen ebensowenig
gestört, wie wir dies den anderen Impfgegnern gegenüber auch nicht
für unsere Aufgabe erachten. Wenn aber Lorinser des Weiteren sich
zu folgenden Aeusserungen versteigt : „Es scheint der Gesundheitszustand
in Wien trotz des Mangels der Zwangsimpfung immer noch viel besser
und beneidenswerther als der von Berlin, wo die Blatternfälle nur des-
halb viel seltener sind, weil die Diphtheritisepidemie die herrschende
Rolle spielt" und „Gegenüber den grossen unerbittlichen Naturgesetzen,
nach denen Epidemieen kommen und verschwinden, erscheint somit die
Impfung und der Impfzwang als eine müssige Spielerei, mit welcher
sich ängstliche Gemüther beruhigen und täuschen lassen", so halten
wir es solchen Aussprüchen gegenüber doch für unsere Pflicht, auf das
Nachdrücklichste auf die Lehren , welche uns das Studium der Blind-
heit gibt, hinzuweisen. Kollege Lorinser hätte vielleicht weniger zu-
versichtlich die sanitären Verhältnisse seiner Heimath als besonders
beneidenswerth hingestellt, wenn er gewusst hätte, dass Oesterreich unter
allen europäischen Ländern die grösste Quote der Pockenblindheit in
seinen Blindenanstalten zählt. Und vielleicht hätte Herr Lorinser des
Weiteren auch den Impfzwang nicht eine „müssige Spielerei" genannt,
wenn er gewusst hätte, dass gerade diejenigen Länder, welche Impf-
zwang besitzen, in der beneidenswerthen Lage sind, in ihren Blinden-
') Lorinser, Gegen den Impfzwang. Wiener medicinische Wochen-
schrift. 1885. Nr. 49. p. 1512.
— 128 —
Anstalten eine verschwindend kleine Zahl von Pockenblinden zu be-
herbergen.
Kurve der Erblindungsgefahr durch Pocken in den ersten
15 Lebensjahren.
22%
20".
J7'
M
13%
JO'.
3\
8%
7%
6'
3%
1%
Ii.
6%
iO 11 ja J3 it liSJdltr
2?%
71%
20%
19%
17%
16%
ß'-o
11%
9%
7%
S%
4%
3%
2%
■ \o%
I 2 3 -t 5 ff 7 S 9 W Ji^ 1^ Jl, ^* J^^°^
3jß mss mJ 2g<g H,n S.m J-t*2 12^ 8.00 8.00 Tncac ^jos^rmat G.ts'mna.
Fig. 7.
Jedenfalls wird man in dem weiteren Streit um den Impfzwang
von jetzt an das Studium der Blindlieitsverhältnisse mehr heranziehen
müssen, als bisher, wo. man gerade diese so wichtigen Verhältnisse so
gut wie ganz vernachlässigt hat. Besonders wünschenswerth wäxe es,
wenn man planmässige Blindeuuntersuchungen grösserer Gebiete, etwa
von Provinzen, vornehmen wollte, denn gerade durch solche Unter-
— 129 —
suchuDgen würden unsere Kenntnisse über die auf en- und epidemischen
Erkrankungen beruhenden Erblindungsformen in hohem Grade gefördert
werden.
Die Thatsache, dass die Quote der Pockenblindheit in den ver-
schiedenen europäischen Ländern so ausgedehnte Schwankungen auf-
Aveist, werden wir nicht aus den Augen verlieren dürfen; sie lehrt uns,
dass die Quote von 22,58 7n , welche die Pockenerblindung unter den
Allgememerkrankungen unseres Materials i) besitzt und die von 7,49 "U
welche ihr im Gebiet der Jugendblindheit überhaupt zufällt,^) nur als
em ganz allgemeiner numerischer Werth angesehen werden' darf, ein
Werth, der nur dann Gültigkeit hat, wenn man die Jugendblindheit im
Allgemeinen betrachtet, ohne Rücksicht aui die Abstammung der Bünden.
Die genannten Quoten unseres Materials haben, wenn wir so sagen
dürfen, eine internationale Bedeutung, welche dann erst wieder für die
emzelnen Länder einer besonderen Richtigstellung bedürfen.
Ueber beide Geschlechter vertheilt sich die Pockenblindheit an-
nähernd in der gleichen Weise.
Schliesslich möchten wir noch der Verbreitung der Poeken blindheit
über die verschiedenen Altersklassen unseres Materials gedenken. Darnach
tritt die grösste Anzahl der Pockenerblindungen zwischen dem zweiten und
achten Lebensjahr ein, und nimmt von da an ziemlich rasch ab; die
vorstehende Kurve bringt diese Verhältnisse graphisch zur Darstellung.
Morbilli nehmen unter den Allgemeinerkrankungen den vierten
Rang der Blindheitserzeuger mit 10,73 "/o ein, während ihr amaurotischer
Werth für die Jugendblindheit im Allgemeinen nur 3,56 7o beträgt.
Die Erblindung trat ein entweder durch Zerstörung der Cornea in
82,45 7o sämmtlicher Fälle, oder dm-ch Erkrankungen des Uvealtraktus
in 3,50 Vo oder endlich durch Erkrankungen des Nervus opticus in
8,77 7o, 3) welche mit Atrophia nervi optici endigten. Der Ausbruch
einer Meningitis scheint das Mittelglied zwischen dem Exanthem und
der Erkrankung des Sehnerven wohl in den meisten Fällen zu bilden,
wie dies z.B. von den AmchNagel^) beschriebenen Fällen gilt. Unter
Umständen kann das Exanthem auch zum Ausbruch einer Tuberkulose,
resp. einer tuberkulösen Meningitis Veranlassung geben, welche dann
') Man vergleiche Seite 115 dieser Arbeit.
*) Man vergleiche Seite 13 dieser Arbeit.
') In 5,26 7„ fehlen die näheren Angaben über die unmittelbare Ursache
der Blindheit.
*) Nagel, Die Behandlung der Amaurosen und Amblyopien mit
»trychnin. Tübingen 1871. p. 54.
Magnus, Jugendblindheit. g
— 130 —
wieder Blindheit bedingt. Einen solchen Fall habe ich bis zum Tode
beobachten und durch die Sektion erhärten können. Es handelte sich
hier um einen bis dahin gesunden dreijährigen Knaben, welcher an
Kurve der ErLlindungsgefahr durcli Maseru in den ersten
15 Lebensjahren.
Massstal): 8 mm = 1 "/»•
schweren Masern erlrankte. Einige Zeit nach Ucbcrstehen des Exan-
bemerkte die Mutter eine Dnbchülflichkeit in den Bern n
KMcs welche sie aber als Schwächezustände in Folge der schweren
MTstmalah, als aber zu diesen Störungen des Gehens s.ch Sch.clen
— 131 —
(Strabismus convergens sinister), Sehbeschwerden und eine leichte Ptosis
rechts gesellten, brachte die Mutter den kleinen Patienten zu mir. Ich
konnte jetzt ausser den bereits genannten Erscheinungen noch eine
beiderseitige Neuritis konstatu:en. Der Fall verlief unter meinen Augen
ziemlich rasch. Es entwickelte sich totale Ptosis des rechten Auges,
Lähmung sämmtlicher Aeste des Oculomotorius auf beiden Augen, Imks
ausserdem noch Abducenslähmung. Die Neuritis ging allmählich in
Aü-ophie über und schliesslich ti-aten auch noch Lähmungserscheinungen
der linken oberen Extremität auf. Nach etwa 6 Monaten von der ersten
Vorstellung bei mir gerechnet war absolute Atrophia optica vorhanden.
Das Kind stai-b schliesslich und die Sektion ergab eine tuberkulöse
Meningitis.
Die Erblindung kann übrigens auch noch auf Grund einer andern
Komplikation erfolgen, nämlich durch Diphtheritis. Unter unserm Material
von 114 Masernblinden finden sich 3 derartige Fälle, d. h. also 2,63 7o.
Eine Bevorzugung des Geschlechtes lässt sich bei der Masernblind-
heit nicht nachweisen.
Ueber die einzelnen Lebensalter vertheilt sich die Erblindimg durch
Masern in der Weise, dass mit dem zweiten Lebensjahr bereits eine
beträchtliche Steigerung der Erblindungsgefahr eintritt, welche bis gegen
das vierte Jahr hin anhält und dann allmählich abfällt, wie dies die
vorstehende Kurve darstellt.
S Carlatina nimmt unter den Allgemeinerkrankungen die fünfte
Stelle als Blindheitsursache ein mit 9,13 'U. Für die Jugendblindheit
im Allgemeinen beansprucht Scharlach 3,03 7o. Die zur Erblindung
führenden pathologischen Vorgänge sind zu suchen in der Cornea, dem
Aderhauttraktus und dem Nervus opticus; und zwar entfallen') auf
die Hornhaut 83,50 7», auf Iris und Chorioidea 9,27 7o und auf den
Sehnerv 6,16 7o. Besonders hervorzuheben ist noch die Komplikation
mit Diphtheritis; aus ihr ging in 11 Fällen, d. h. in 11,34 7« totale
Amaurose hervor.
Mädchen und Knaben betheUigen sich in der gleichen Weise an
der Scharlachblindheit.
Ueber die einzelnen Lebensalter vertheilt sich die Scarlatinaamaui-ose
in der Weise, dass das Maximum zwischen das dritte und achte bis
zehnte Jahr fällt; nachher findet ein ziemlich schneller Abfall der Er-
blindungsgefahr statt.
*) In 1,03 7„ fehlen die nälieieu Angaben.
9*
— 132 —
Typhus steuert zu der Jugeudblindheit im Allgemeinen nur 1,00 "/o
und unter den Körperkrankheiten nimmt er mit 3,01 "/„ den sechsten Platz
ein. Während bei den anderen akuten Exanthemen die Zerstörungen der
Cornea, mochten dieselben nun primär in der Hornhaut oder sekundär
durch blennorrhoische oder diphtheritische Prozesse der Konjunktiva
entstehen, weitaus die Mehrzahl der Erblindungen lieferten, liegen die
Verhältnisse beim Typhus etwas anders. Hier entfallen auf die Cornea
nur 46,56 "/o, während auf den Sehnerven 28,12 'Vo und auf die Iris
und Aderhaut 18,88 "/o kommen.
Die Vertheilung der Typhusblindheit über beide Geschlechter er-
folgt in der gleichen Weise.
In dreien unserer Fälle entwickelte sich zugleich mit der Blindheit
auch noch Taubheit, resp. Schwerhörigkeit.
Syphilis betheiligt sich an der Jugendblindheit nm- mit 1 Vo
und zwar vertheilen sich die Fälle in der Weise, dass kommen auf:
Sehnerv und Retina 18,75 7o Aderhaut. . . . 31,25"/»
Cornea .... 18,75,, Unbekannt . . . 31,25,,
Mit Bestimmtheit konnte in 53 "U aller unserer Fälle die Syphilis
als eine hereditäre erkannt werden; für den Rest waren sichere Nach-
richten über den Gesundheitszustand der Erzeuger nicht zu erhalten.
Besonders bemerkenswerth ist eine Beobachtung, in welcher zwei
Töchter eines syphilitischen Vaters beide dm-chlridochorioiditis erblindeten.
T u s s i s c 0 n V ul s i v a ist nur mit 4 Erblindungsfällen in unserem
Material vertreten und zwar werden in zweien derselben Vereiteining
der Hornhäute und in den zwei anderen Atrophie der Sehnerven als
Blindheitsursache bezeichnet. Diese letzteren Fälle erfahren eme Be-
stätigung durch die jüngst veröflfentlichte Beobachtung von Callan }
der gleichfalls Atrophie des Opticus durch Keuchhusten entstehen sah.
Nach der Anschauung dieses Autors soll eine durch Gehirnkongestion
bewirkte Neuritis in den fraglichen Fällen das Bindeglied zwischen
Keuchhusten und Blindheit darstellen.
Atrophie nach Blutungen finden wir in unserem Material
zweimal. In dem einen Fall erblindete ein neunzehnjähriges Mädchen nach
heftigem Blutbrechen ganz akut und in dem andern Fall handelte es
sich um ein dreizehnjähriges Mädchen, welches zuerst profuses Nasen-
bluten, alsdann mehreremale Haeraatemesis hatte und zwei Tage nach
n In 6.28 7„ fehlen die nilheren Angaben.
^) Ca?/a«, Atrophie beider Sehnerven in Folge von Keuch-
husten. Amer. Journ. of Ophth. 1884. October.
— 133 —
der letzten Blutung erblindete. In diesem letzten Fall trat auch noch
eine Lähmung der ganzen rechten Seite hinzu, welche dauernd blieb.
Intermittens und Cholera sind je mit einem Fall vertreten
und zwar wird bei der erstereu Erkrankung Nem-itis, bei der Cholera
Iridochorioiditis als Blindheitsursache angegeben.
Morbus maculosus führte einmal durch Blutergüsse in den
Olaskörper zur Erblindung.
Phlegmone des orbitalen Zellgewebes führte in einem
Fall zur Sehnervenatrophie. Es scheint sich hierbei um eine Infektion
von der Lippe ausgehend gehandelt zu haben.
Bleivergiftung liefert zwei Fälle; beide betreffen Personen,
welche im siebenzehnten resp. neunzehnten Jahr in Folge ihrer Berufs-
thätigkeit als Maler erblindeten. Atrophie des Opticus wird beide Male
als nächste Ursache der Amaurose angegeben.
Sechstes Kapitel.
Die Atrophia nervi optici in den ersten zwanzig
Lebensjahren.
Die ätiologischen Momente , welche im Laufe der ersten zwanzig
Lebensjahre zur Entwickelung der Atrophie des Sehnerven Veranlassung
geben können, sind recht zahlreich. In den verschiedensten Gruppen
und bei den verschiedensten Formen der Jugendblindheit sind wir als
Ursache des Erblindens der Atrophia nei-vi optici begegnet. Für einen
vollständigen Ueberblick über alle Formen der Sehnervenatrophie, wie
sie unser Material enthält, dürfte desshalb eine ZusammensteUung aUer
von uns gesammelten Fälle sehr empfehlenswerth sein. Im Ganzen
enthält unser Material unter 3204 Fällen doppelseitiger, während der
ersten zwanzig Jahre entstandener Erblindungen 470 Sehnervenatrophien,
d. h. also 14,66ö/o. . ,
Es gruppiren sich nun diese unsere 470 Fälle ihrem prozentai-ischen
Werth nach in folgender Weise: ^
Cerebrale Sehnervenatrophie 45,10 °/o
Kongenitale „ „ "
Genuine einfache progressive Sehnervenatrophie . 12,55 „
Sehnervenatrophie nach Kopfverletzungen . . 5,53 „
Masern 2,12 „
Typhus 1,91 »
Scharlach 1,27 „
„ Syphilis 1,27 „
„ Papillitis 0.85 „
Pocken 0,63
Blutungen 0.42
Keuchhusten .... 0,42
>, j> "
„ ). »
„ „ 5)
„ "
» " _ - .....
„ .» "
,J .» "
— 135 —
Sehnervenatrophie nach Bleiintoxikation . . . 0,42 "/„
„ „ „ Tabakintoxikatiou . . 0,21 „
„ „ „ Phlegmone der Orbita . 0,21 „
„ „ „ Intennittens .... 0,21 „
„ „ aus unbekannter Ursache . 2,76 „
Es sei uns nun noch gestattet, dieser unserer Reihe von Sehnerven-
atrophien eine andere Reihe gegenüberzustellen , deren Entwickelung
vorwiegend jenseits des zwanzigsten Lebensjahres liegt. Uldhojf^) und
Büueiiein -) haben Zusammenstellungen von Sehnervenatrophien geliefert,
welche zwar nicht ausschliesslich nur eine bestimmte Altersklasse be-
rücksichtigen, aber doch der Hauptsache nach nur die späteren Lebens-
abschnitte, wenigstens die jenseits der zweiten Lebensdecade liegenden
Jahi'e umfassen. Aus einer Gegenüberstellung der von den genannten >
Autoren und der von uns gesammelten Atrophien werden sich doch
gewisse Punkte ergeben, welche auf die Vertheilung der einzelnen Atrophie-
formen über die verschiedenen Lebensabschnitte ein charakteristisches
Licht werfen. Aus diesem Grunde wollen wir demnach jetzt die Liste
der Ükthqff'-Bäuerlein'schen Atrophien mittheilen. Beide Autoren haben
im Ganzen 219 Fälle doppelseitiger Sehnervenatrophien gesammelt.
welche sich nach ihrer prozentaiüschen Bedeutung anordnen wie folgt:
Cerebrale Sehnervenatrophie 26,94 7o
Spinale „ „ 26,48 „
Genuine einfache progressive Sehnerveuatrophie ..... 20,54 „
Papillitische Sehnervenatrophie 7,75 „
Atrophie in Folge eines pathologischen Vorganges in der Orbita 3,65 „
Kongenitale Sehnervenatrophie 3,19 „
Atrophie bei Dementia paralytica 3,19 „
„ nach Blutungen 2,28 „
„ „ Tabakiutoxikation 1,82 „
„ Trauma 1,36 „
„ „ Bleiintoxikation . . 0,91 „
„ bei epileptiformen Anfällen 0,91 „
„ in Folge von Nephritis 0,45 „
„ bei Railway-Spine 0,45 „
') Uhthoff, Beitrag zur S ehn er venat r o p h ie. Greife's Archiv für
Ophthalmologie. XXVI. Heft 1. p. 244. — Schüler und Uhthoff', Beiträge
zur Pathologie des Sehnerven und der Netzhaut bei A 11 ge m ei n-
erkrankungen nebst einer Operations-Statistik 1882/3. Berlin 1884.
2) Bäuerkin a. _a. 0. p. 25.
— 136 —
Wenn raan die beiden Reihen mit einander vergleicht, so wird man
ohne besondere Mühe die charakteristischen Eigenthümlichkeiten beider
bemerken. Um aber das Verhältniss, in welchem die wichtigsten und
ergiebigsten Formen der Sehnervenatropliie in den Lebensphasen vor
xmd nach dem zwanzigsten Jahre zu einander stehen, recht klar zur
Anschauung zu bringen, habe ich eine graphische Darstellung entworfen,
welche die prozentarischen Werthe der fraglichen Formen in unmittel-
barster Weise mit einander vergleichen lässt.
Graphische Darstellung des prozentarisclien Verhältnisses, in welchem
die wichtigsten Formen der Atropliia nervi optici vor und nach dem
zwanzigsten Lebensjahre auftreten.
Die scliraffii-teu Balken entspreclien der Erblindung vor, die schwarzen Balken
der Erblindung nach dem zwanzigsten Lebensjahr.
l'Mg. 9.
Siebentes Kapitel.
Die Beziehungen zwischen Blindheit und den einzelnen
Altersstufen während der ersten zwanzig Lebensjahre.
Die Grösse der Quote, mit welcher sich die einzelnen Lebensjahre
an den verschiedenen Erblindungsformen betheiligen, haben wir schon
bei der Besprechung der einzelnen Blindheitsforraen erwähnt; wo unser
Material auslangte, haben wir in Form von Kurven die Summe der
Erblindungen, welche die einzelnen Lebensjahre für die verschiedenen
Blindheitsformen ergaben, darzustellen versucht. Natürlich gelten alle
diese Kurven lediglich nur für unser Material, bewegen sich nur in
dem Kähmen, welcher uns durch die numerische Beschaffenheit unserer
Untersuchungsreihe aufgezwungen worden ist. Dürfte man annehmen
dass aUe Lebensjahre, vom ersten bis zum zwanzigsten, entsprechend der
ihnen mnewohnenden Erblindungsgefahr Zöglinge in die Blinden-Anstalten
entsenden, so würde es ganz gewiss gestattet sein, aus den bei den An-
staltspfleghngen ermittelten Erblindungsui-sachen und Erblindungsterminen
gewisse allgemeine Schlüsse bezüglich der Erblindungsneigung in den
emzelnen Lebensjahren zu ziehen. Einer einzelnen Anstalt gegenüber
wäre man aber zu solch' einem Beginnen unter keinen Umständen be-
rechtigt, denn bei der beschränkten Zahl der in einer Anstalt befind-
lichen ZögUnge wirkt der ZufaU zu bedeutend mit. Anders liegen die
Verhaltnisse, wenn man über eine grosse Anzahl von Anstalten verfügt
wie wir in unserem Material; alsdann gleichen sich die Zufälligkeiten
mehr oder mmder aus, und man könnte wohl im Allgemeinen zu dem
Schluss gelangen, dass die Erblindungsgefahren der einzelnen Lebens-
jahre und Erbhndungsformen wenigstens bis zu einem gewissen Grade
in^nem grossen Material von Anstaltszöglingen zum Ausdruck kommen
dürften. Allerdings immer nur bis zu einem gewissen Grade. Für die
— 138 —
nach dem zehnten bis fünfzehnten Jahr erblindeten Personen wird
nämlich die Aufnahme in eine Blinden -Erziehungs- Anstalt zweifellos
viel weniger oft nachgesucht, als wie für die vor dem genannten Leliens-
termin erblindeten Kinder. Personen, welche nach dem fünfzehnten
Jahr das Sehvermögen einbüssen, haben ja meist schon emen gewissen
Graphische Darstelhmg der 3Ienge von Erblindungen, welche auf
die einzelnen Lebensjahre in unserem Material entfallen.
Massstab 3 mm = 1 7n-
Fig. 10.
Bildu,=gsgrad erreicht und begnügen sieh da^n häuBg mit demselben.
Sind sfe nieht dureh ihre pekuniären Verhältnisse gezwungen , irgend
etoe ihren Erwerb sicherstellende Fertigkeit zu erlernen .^rden s,e «oU
den Anstalten fernbleiben. Anders liegen dagegen d.e Verhältnisse fu
dteMhblindeu; diesen fehlt die geistige Erziehung meistens ganz oder
— 139 —
fast ganz und dai-um werden sie den Blinden-Erziehuugs-Anstalten ge-
wiss in besonders reichlicher Menge zuströmen. Diese Verhältnisse muss
man unbedingt im Auge behalten, wenn man die Erblindungstermine,
die man bei einer grösseren Anzahl von Anstaltspflegliugen ermittelt
hat, untersucht. Mit Rücksicht auf diese soeben erörterten Umstände
muss man desshalb auch die umstehende Kurve betrachten; sie stellt
lediglich nur die Grösse der Erblindungsbewegung für die einzelnen
Lebensjahre innerhalb des Rahmens unseres Materials dar.
Da mit der vorstehenden Kurve also immer nur ein recht be-
schränkter Einblick in die Erblindungsneigung der ersten zwanzig Lebens-
jahre gestattet ist, so werden wir die Beantwortung der Frage : welcher
Erblindungsgefahr der Mensch von seinem Eintritt ins Leben bis zum
Abschluss der zweiten Lebensdecade unterworfen sei ? auf einem anderen
Wege suchen müssen. Und zwar steht uns hierfür eigentlich nur eine
Möglichkeit offen, nämlich die, eine topographisch begrenzte Oertlich-
keit, also etwa einen Regierungsbezirk oder eine Grossstadt u. dgl. m.
auf ihren Blindengehalt zu untersuchen. Indem wir Zahl, Alter und
Erblindungstermin der bei einer solchen Gelegenheit ermittelten Blinden
mit dem Altersaufbau der Bevölkerung überhaupt in Verbindung bringen,
kann es gelingen, für die einzelnen Jahrgänge einen numerischen Aus-
druck der ihnen innewohnenden Erblindungsgefahr zu erhalten. Eine
derartige Untersuchung habe ich vor zwei Jahren hier in Breslau durch-
geführt und muss ich auf diese Untersuchung verweisen. Wir wollen
uns aber nicht damit begnügen, auf unsere damals für die ersten
zwanzig Lebensjahre berechnete Erblindungsgefahr hinzuweisen, vielmehr
wollen wir uns über die Methode der Feststellung der für jede Alters-
klasse entfallenden Erblindungsgefahr des Näheren auslassen. Veranlasst
werden wir hierzu durch eine Arbeit, welche jüngst Herr Dr. Kersch-
haumer^) veröffentlicht hat.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal, was wir bei der Blinden-
untersuchung einer topographisch beschränkten Oertlichkeit an positiven
Thatsachen finden können. Wir werden hierbei also, behalten wir bei-
spielshalber einmal nur die Erblindungsgefahr eines bestimmten Lebens-
abschnittes, also etwa der ersten 10 Lebensjahre, im Auge, folgendes
finden. Wir werden ermitteln wie viel die untersuchte Oertlichkeit
überhaupt Personen zählt, welche zwischen dem 1. und 10. Lebensjahre
') Kerschbatmer , Die Blinden des Merz oglh u ms Salzburg nebst
Bemerkungen über die Verbreitung und die Ursacbon der Blind-
heit im Allgemeinen. Wiesbaden 188G.
— 140 —
erblindet sind und wir werden ferner finden, in welchem Alter diese
Blinden am Tage der Untersuchung stehen. Wir können das Material
also über die einzelnen Lebensdecaden der untersuchten Bevölkerung
vertheilen und sagen: unter den untersuchten Personen sind z. B. x
befindlich, die gegenwärtig zwischen l und 10 Jahr stehen und auch
zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; es sind sodann ^J Personen
vorhanden, die gegenwärtig zwischen 10 und 20 Lebensjahr stehen,
aber doch zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; ferner finden wir
z Individuen, die sich gegenwärtig zwischen 30 und 40 Jahr befinden,
aber erblindet sind zwischen 1 und 10 Jahr; sodann werden w Per-
sonen gefunden werden, welche zwischen 50 und 60 Jahr stehen,
aber zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; v Personen werden
zwischen 60 und 70 alt sein, aber ihr Augenlicht verloren haben zwischen
1 und 10 Jahr und endlich werden ?• Individuen zwischen 70 und
80 Jahre alt und zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sein. Und
genau die nämlichen Erscheinungen lassen sich bei den in den anderen
Lebensdecaden eintretenden Erblindungen nachweisen; auch diese werden
sich über die verschiedenen Altersstufen des untersuchten Materials ver-
theilen lassen, wie wir dies soeben mit den aus der ersten Lebensdecade
stammenden Erblindungen gethan haben.
Gehen wir nun einen Schritt weiter und bedachten, welche Schlüsse
wir wohl dai-aus ziehen dürfen, wenn wir wissen, in welcher Weise die in
einer bestimmten Lebensdecade, z. B. der ersten, erfolgten Erblmdungen
sich über die gesammte untersuchte Bevölkerung vertheilen. Könnten
wir annehmen, dass die Sterblichkeit der Blinden und Sehenden die
nämliche wär,e, so müsste der Gehalt, welchen die einzelnen Lebens-
jahrzehnte der Bevölkerung an solchen Personen zeigen, die in der
ersten Lebensdecade erblindet sind, einen unmittelbaren Rückschluss
auf die Erblindungsgefahr gestatten, in welcher die den verschiedenen
Lebensjahrzehnten angehörenden Individuen geschwebt haben, als sie m
der ersten Decade ihres Daseins gestanden haben. Blinde und Sehende
würden bei gleicher Lebensdauer ja doch genau in demselben Verhält-
niss absterben und desshalb müsste jedes Lebensjahrzehnt einen Gehalt
an Personen, die zwischen 1 und 10 Lebensjahr erblindet smd, zeigen,
welcher in engster Wechselbeziehung zu der Erblindungsgefahr der ersten
Lebensdecade stehen, als ein direkter Ausdruck derselben gelten müsste.
Wenn ich also durch Untersuchung kennen gelernt habe, wie viel jede
Generation der Bevölkerung Personen enthält, welche zwischen 1 und
10 Lebensjahr erblindet sind, und wenn ich die so gefundenen Zahlen
in Verbindung setze mit der Gesammtzahl der Bevölkerung, so wurde
— 141 —
ich, aber immer vorausgesetzt die gleiche Lebensdauer der Blinden und
Sehenden , ohne Mühe berechnen können , wie viel von je Hundert,
Tausend oder Zehntausend der Gesamratbevölkerung zwischen 1 und
10 Jahren das Augenlicht verloren haben, ^) Ich würde aber auch den
aus der ersten Lebensdecade stammenden Blindengehalt jeder einzelnen
höheren Altersgruppe separat mit deren Gehalt an Lebenden in Beziehung
bringen und so die Erblindungsgefahr berechnen können, welche für
jede einzelne höhere Altersgruppe beim Dui-chleben der ersten Decade
vorhanden gewesen ist. Kerschbaumer'^) nennt die so gewonnenen Werthe
den Ausdruck der vollen oder maximalen Erblindungsgefahr. Bringe
ich ferner die bei der Untersuchung zwischen 1 und 10 Jahre alten
Blinden mit dem Gehalt der ersten Lebensdecade an Lebenden in Be-
ziehung, so erhalte ich nur die Gefahr, welche die Angehörigen der
ersten Decade bis zum Termin unserer Untersuchung unterworfen waren
und diesen Werth nennt Kerschbaumer den mittleren Werth der Er-
blindungsgefahr. 3) Die durchschnittliche Gefahr des Erblindens 4) während
der ersten Decade würde dann des Weiteren in der Weise gewonnen,
dass die Gesammtzahl der in der ersten Decade Erblindeten in Ver-
bindung gesetzt würde mit der Gesammtzahl der Bevölkerung. In
dieser Weise ist früher Mayr und jetzt aufs Neue wieder Kersch-
baumer bei der Berechnung der Erblindungsgefahr der verschiedenen
Lebensperioden vorgegangen. Kerschbaumer hat das von uns soeben
kurz skizzirte Verfahren, die Erblindungsgefahr der einzelnen Altersklassen
zu berechnen, in seinem Werk in höchst klarer und lichtvoller Weise
zur Darstellung gebracht und ist derselbe, stellt man sich lediglich nur
auf den statistischen Standpunkt mit seiner Berechnungsmethode grössten-
theUs wenigstens im Recht. Anders liegen dagegen die Verhältnisse,
wenn man sich von gewissen medicinischen Gesichtspunkten leiten lässt,
nämlich von der Rücksicht auf die Lebensdauer der Blinden. Kersch-
baumer hat zwar diesen Punkt keineswegs aus dem Auge gelassen
vielmehr spricht er an den verschiedensten Theilen seiner geistvollen'
Studie von ihna, doch legt er ein zu geringes Gewicht auf denselben,
und m Folge dessen verlieren alle die von ihm berechneten Werthe
nicht unbeträchtlich an Sicherheit. Da wir die Lebensdauer der Blinden
für die Berechnung der Erblindungsgefahr von nicht zu unterschätzender
') Man vergleiche Kersehhaumer p 10
')P.11.
P- 13.
*) Kerschbaumer p. 53.
~ 142 —
Wichtigkeit erachten, wollen wir zuvörderst kurz auf die Absterbever-
hältnisse der Blinden eingehen.
Wie ich schon bei Gelegenheit meiner Untersuchung der Breslauer
Blinden bemerkt habe, hat der Verlust des Sehvermögens an sich zwar
keinen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensdauer, aber trotzdem schemt
doch die Lebensdauer der Blinden kürzer zu sein, als wie die der
Sehenden Der Grund hierfür liegt entweder in gewissen socialen Ver-
hältnissen, welche zui- Erzeugung bestimmter Blindheitsformen besonders
reichlich beisteuern, oder in den pathologischen Verhältnissen, welche
die Erblindung hervorrufen. Wir wollen dies alsbald an einigen be-
sonders ergiebigen Blindheitsformen nachweisen. Die Blennorrhoea neo-
natorum ist besonders reichlich vertreten im Proletariat und unter den
unehelich Geborenen. Die Sterblichkeit in diesen Kreisen ist aber ganz
besonders gross und so werden demi auch verhältnissmässig sehr viele
blennon-hoisch erblindete Kinder vorzeitig sterben. Bei den durchj^^
hirnkrankheiten erzeugten Erblindungsformen ist eme erhöhte Sterblich-
keitsgefahr gleichfalls vorhanden. Man vergleiche nur in den vorher-
gehenden Kapiteln dieser Arbeit die Belastungen, welche die cerebrale
Imaurose sonst noch an den Blinden zu Tage fördext, nämlich Lahm-
ungen, Störung der geistigen Fähigkeiten, krampfartige Zufälle u. dgl. m.
und man wird einräumen müssen, dass unter den Blinden mit cere-
braler Amaurose zweifellos eine erhöhte Sterblichkeit herrschen muss.
Da Blennorrhoe und cerebrale Krankheiten aber die ergiebigsten Blmd-
heitsquellen der ersten Lebensdecade sind, so wird es ^^^f^^^'^^'^^^'
die Sterblichkeit der in den ersten zehn Lebensjahren Erblindeten un-
bedingt viel grösser sein muss, als die der Sehenden. Die m der ersten
Lebensdecade erblindeten Personen, welche ich bei einer Untersuchimg
in allen Altersklassen der Bevölkerung auffinde, smd desshalb mn- em
Bruchtheil der wirklich in dieser Decade Erblindeten, diesen Verli^t
an Blinden, welcher die grössere Sterblichkeit gewisser Blmdheitsformen
_ und zwar sind dies gerade die ergiebigsten - bedmgt, darf ich
nun aber bei Berechnung der Erblindungsgefahr durchaus nicht ausser
Acht lassen. Kerschbaumer weist zwar wiederholt auf diesen di^^
vorzeitiges Absterben in Abgang gekommenen Theil der Blinden bm^
trifft aber bei seinen Berechnungen niemals ernstliche Massregeln, um
difem Verlust rechnerisch gerecht zu werden. Und das erach^n wir
für einen Mangel seiner sonst so vortrefflichen Darstellung Alle de
maximalen, minimalen und durchschnittlichen Werthe welche Kersch.
Zmer für die Erblindungsgefahr der einzelnen Altei-sklassen berechne ,
bleiben hinter der thatsächlichen Gefahr zurück, und zwar um so viel,
— 143 —
als das vorzeitige Absterben der Blinden hinter dem Absterben der
Sehenden ziu-ückbleibt. Kerschbaumer berechnet also bei Licht betrachtet
nicht die Erblindimgsgefahr selbst, sondern nur die Erblindungsgefahr
vermindert um die grössere Absterbeordnung der Blinden. Kersch-
baumer hat eben die volle wirkliche Gefahr (vorausgesetzt dass man
ausschliesslich die absoluten Zahlen berücksichtigt), welche sich zusammen-
setzt aus den bei der Untersuchung gefundenen und den vorzeitig ge-
storbenen Blinden, verwechselt mit dem Schaden, welchen die Gesammt-
bevölkerung im Augenblick der Untersuchung zeigt.
Wenn ich mich bei der Kritik der Maijr - Kerschbaumer''schen Be-
rechnung der Erblindungsgefahr vielleicht etwas zu lange aufgehalten
haben sollte, so geschah dies aus verschiedenen Gründen. Einmal lag
mir daran, darauf hinzuweisen, dass diese Methode, trotzdem dieselbe
vom statistischen Standpunkt aus eigentlich so gut wie unanfechtbar ist,
doch medicinisch nur ganz unvollkommene Resultate zu ergeben vermag
und zweitens wollte ich durch die Kritik auch für das von mir früher
eingeschlagene Verfahren eine gewisse Berechtigung gewinnen. Ich habe
nämlich, von der Unzulänglichkeit der Mayr'schen Berechnung über-
zeugt, bereits früher i) den Versuch gemacht, die Erbliuduugsgefahr in
einer anderen Weise für die einzelnen Lebensalter zu berechnen. Die Mayr-
Kerschbaumer'sche Berechnungsmethode stellt einmal, wie wir soeben dar-
zulegen bemüht gewesen sind, für die einzelnen Altersklassen nicht wirklich
die volle Erblindungsgefahr dar, insofern das Absterben der
Blinden grösser ist als der der Sehenden, und zweitens ver-
mag dieselbe die durchschnittliche Erblindungsgefahr auch gar nicht
einmal für die jetzt lebende Generation zu ermitteln, vielmehr setzt
sich der Diu-chschnittswerth mosaikartig aus den für die verschiedensten
Generationen der Bevölkerung früher massgebend gewesenen Gefahren
zusammen. Wenn ich die durchschnittliche Erblindungsgefahr für die
erste Lebensdecade der jetzigen Bevölkerung feststellen will, so kann
ich, benutze ich das Mayr - Kerschbawner'sche Verfahren, dies immer
nur in der Weise thun, dass ich aus den Gefahren, welche für alle
Generationen der jetzt lebenden Bevölkerung vorhanden gewesen sind,
ein Bild zusammensetze. Dieser Umstand ist aber ein recht bedeutungs-
voller. Die Erblindungsgefahren einer bestimmten Lebensdecade, z. B.
der ersten, sind und bleiben ja doch nicht für alle Generationen
immer und ewig die nämlichen. Die Gefalu-, durch Blennorrhoe zu
erblinden, ist z. B. für die ältesten vier Generationen unserer Bevölker-
') Magnus, Die Blindheit u. e. w. p. 234 bis 2S6.
— 144 —
uDg, also für alle die Personen, welche jetzt zwischen 40 bis 80 Jahre
alt sind, entschieden eine viel grössere gewesen, als für die jüngeren
Generationen der jetzigen Gesammtbevölkerung. Der jüngere Theil der
Bevölkerung hat ja zu einer Zeit den Gefahren der Blennorrhoe unter-
standen, wo die Behandlung, Dank den Bestrebungen Grö/'e's, eine viel
rationellere und wirksamere war als früher. Wir dürfen nie vergessen,
dass die Erblindungsgetahr doch zu einem guten Theil bedingt wird
durch die Leistungsfähigkeit der Therapie und da diese nun doch einmal
zu verschiedenen Zeiten eine sehr verschiedene ist, so thut man nicht gut,
wenn man zur Berechnung der Erblindungsgefahr, welcher die Bevölker-
ung jetzt unterworfen ist, die aus früheren Zeitphasen stammenden Blind-
heitsfälle benützt. Kerschhaumer hat sich der Bedeutung dieser soeben
besprochenen Verhältnisse zwar auch nicht völlig verschlossen, aber er
hat dieselben, wie ich glaube, doch zu gering angeschlagen.
Geleitet von den Bedenken, welche die Ma?/r'sche Berechnung
bei mir hervorgerufen hatte, bin ich nun bestrebt gewesen, eine Methode
zu finden, welche die Unzulänglichkeiten jenes Ma?/r'schen Verfahrens
thunlichst zu vermeiden im Stande wäre. Ich bin dabei von folgenden
Erwägungen ausgegangen und zwar wollen avü* wiederum unsere Be-
rechnung an der ersten Lebensdecade demonstriren.
Wenn ich bei meinen Untersuchungen also gefunden hatte, dass
Breslau x Personen zählte, welche in der ersten Lebensdecade stehen
und auch in derselben erblindet sind, so hatte ich mit dieser Zahl x
einen Ausdruck für einen TheU der Erblindungsgefahr ermittelt, unter
welchem die Angehörigen dieser ersten Lebensdecade bis zu dem Augen-
blick meiner Untersuchmg gestanden hatten. Die volle Erblindungs-
gefahr, welcher dieser Bevölkerungstheil bis zu meiner Untersuchung
unterlegen hatte, ist aber in der Zahl a; nicht enthalten; denn es fehlen
ja die in Folge der grösseren Sterblichkeit der Blinden vorzeitig ge^
storbenen Blinden. Diesen Bruchtheil darf ich aber keineswegs über-
sehen. Die volle Gefahr des Erblindens, welche den Angehörigen der
ersten Decade bis zum Termin meiner Untersuchung gedroht hatte, ist
also X -h z: Nach Beendigung meiner Untersuchung vergeht nun aber
eine gewisse Keihe von Jahren, bevor alle die Personen, welche jetzt
noch in der ersten Lebensdecade stehen, in die zweite Decade aufgerückt
sind. In dieser Anzahl von Jahren, welche erforderlich sind, um die
jetzige erste Decade in die zweite Decade aufrücken zu lassen, smd
aber natürlich noch eine grosse Reihe von Erblindungsmöghchkeiten
gegeben. Bezeichnen Wir die Summe dieser Erblindungsmöghchkeiten,
welche den Angehörigen der ersten Decade auf ihrem Weg bis zur
— 145 —
zweiten Decade noch drohen, mit y, so würde die volle Erblindungs-
gefahr der ersten Decade gleich sein x z -\- y. Von diesen Werthen
war mir durch meine Untersuchimgen nur x bekannt, z und y blieben
mir unbekannt. Wollte ich nun nicht der Ma^/r'schen Berechnung
folgen, so musste ich auf eine andere Möglichkeit denken, und y zu
ersetzen. Und diesen Ersatz suchte ich nun in der Weise zu bewerk-
stelligen, dass ich alle diejenigen Personen, welche zwischen dem ersten
und zehnten Lebensjahr erblindet, bei meiner Untersuchung aber schon
in höhere Lebensdecaden aufgerückt waren, der Zahl x hinzufügte. Ich
nahm an, dass s -f y ungefähr gleich sein könne der Zahl dieser in
der ersten Decade erblindeten, aber in höheren Lebensperioden befind-
lichen Individuen. Ich belastete desshalb mit allen zwischen dem ersten
und zehnten Jahre Erblmdeten, die ich in Breslau gefunden hatte, das
Erblmdimgskonto der augenblicklich lebenden ersten Decade der Bres-
lauer Bevölkerung. Diese meine Massnahme ist nun allerdinge durch-
aus wülkürlich und darum für den streng geschulten Statistiker wenig
annehmbar; dies gebe ich gern zu. Ich habe desshalb auch sofort
dieser meiner Berechnung die Bemerkung beigefügt, dass dieselbe von
FehlerqueUen keineswegs frei sei. Und dieser Ansicht bm ich auch
heute noch. Wenn nun Kollege Kerschbaumer i) diesen unseren Ver-
such, einen Annäherungswerth für die Erblindungsgefahr der einzelnen
Lebensalter auf einem anderen Weg als dem Mayr'schen zu gewinnen
einfach als wesentlichen Irrthum bezeichnet, so ist er damit, glaube ich'
doch nicht so ganz im Eechte. Ein derartiger Vorwurf wäre wohl
dann am Platze gewesen, wenn ich mir der Tragweite meines Ver-
fahrens nicht bewusst, wenn ich der damit verbundenen FehlerqueUe
unkundig gewesen wäre. Dies ist nun aber ganz und gar nicht der
FaU; ich habe mein Verfahren absichtlich eingeschlagen und die Gründe
welche mich zu demselben veranlasst haben, sind von mir bereits im
Vorhergehenden dargelegt worden. Ich habe auch bereits darauf hin-
gewiesen, dass ich sehr wohl weiss, wie willkürlich meine Berechnung
ist und wie unmethodisch sie darum einem Statistiker erscheinen mag.
Ich war aber zu derselben unbedingt berechtigt, da die Mayr-Kersch-
öawmer'sche Methode, so berechtigt sie statistisch auch sein mag, doch
grosse medicinische Schwächen hat und da ich fernerhin auch nur be-
zweckte, für die Erblindungsgefahr gewisse Annäherungswerthe zu schaffen.
In wie weit nun die nach meiner Berechnung gewonnenen Werthe
dem Thatsächlichen entsprechen, ist vor der Hand noch gar nicht end-
•) p. 52.
Magnus, Jngendblindheit. jq
- U6 —
gültig zu beurtheilen. Wir können weder sagen, dass meine Zahlen
zu hoch noch zu niedrig seien. Die Werthe z (vorzeitiges Absterben)
und y (zukünftige Erblindung der untersuchten Decade) müssen erst
genauer bestimmt sein, ehe wir darüber entscheiden können, inwieweit
meine Annäheruugswerthe den wirklichen Werthen nahe kommen, ehe
wir Avissen, ob der Ersatz, welchen ich für z + gewählt habe, zu
hoch oder zu niedrig gegriffen sei.
Inzwischen bin ich nun aber seit Publikation meiner beiden Unter-
suchungen über Blindheit bestrebt gewesen, die Berechnung der Er-
blmdungsgefahr exakter zu gestalten. Die genaue Kenntniss der den
einzelnen Lebensphasen zukommenden Erblindungsgefahr ist eine so
hochwichtige, dass die Berechnung von Mayr- Kerschbaumer, welche
nur einen Theil dieser Gefahr zum Ausdruck bringt und mein Ver-
fahren, welches nur allgemein gehaltene Annäherungswerthe liefern kann,
auf die Dauer doch nicht zu genügen vermögen. Die idealste Methode
wäre offenbar diejenige, welche ohne Appell an die Erblindungsgefahren
der früheren Geschlechter sofort die numerische Wiedergabe der für
jede Generation jetzt augenblicklich gültigen Gefahr gestattete. Und
eine solche Methode könnte man vielleicht in dem folgenden Rechnungs-
v^rfahren gewinnen. Zuvörderst halten wir uns bei dieser unserer neuen
Berechnung lediglich nur immer an den Zeitabschnitt, füi- welchen mr
die Erblindungsgefahr speziell zu ermitteln wünschen. Wenn wir z.B.
die Gefahr der ersten fünf Lebensjahre finden wollen, so beschränken
Wir uns lediglich auf den Theil der Gesammtbevölkerung , welcher in
diesem Lustrum bei unserer Untersuchung steht, sowie auf diejenigen
Blinden, welche gegenwärtig 1 und 5 Jahre alt sind. Die volle Er-,
blindungsgefahr dieses Lustrums setzt sich nun zusammen emmal aus
den Erblindungsfällen, welche vor unserer Untersuchung erfolgt smd
und letzt von uns aufgefunden werden; dieselben seien = a^; ferner
aus der Anzahl der vorzeitig gestorbenen Blinden = z und endlich
aus der Erblindungsgefahr, welche die Angehörigen des Lustrums
noch in dem Zeitraum nach unserer Untersuchung durchzumachen
haben bevor sie in die nächst höhere Altersstufe aufrücken == y.
Sehen wir nun einmal zu, in wie weit wir diese 3 Faktoren x H-_ c> + y
in ihrem numerischen Werth zu durchleuchten vermögen, o; die Zahl
der bisher im ersten Lustrum erblindeten Personen mit Abzug der
vorzeitig Gestorbenen wird bei der Untersuchung sofoxt festgesteUt.
^ - die Anzahl der vorzeitig gestorbenen Blinden kann durch die
Untersuchung nicht gefunden werden und müssen wir dieselbe dess-
halb auf andere Weise zu ermitteln suchen. Wir müssen . zu diesem
— 147 —
Zweck zuvörderst die dui-chschuittliche Lebensdauer für die mit den
verschiedensten Blindheitsformeu behafteten Personen zu finden bemüht
sein; durch eine längere Keihe von Untersuchungen kann und wird
es gelingen, für die verschiedenen Blindheitsformen die abweichende
Absterbeordnung festzustellen. Wir werden finden, in welchem Ver-
hältniss die Sterblichkeit der Blennorrhoeblinden , der mit cerebraler
Amaurose, der Tabesblinden u. s. w. sich zu der der Sehenden verhält.
Und wenn wir im Besitz dieser Erkenn tniss sind, dann werden wu:
auch ziemlich genau bestimmen können, wie viel in jeder Lebensphase
von den ihr eigenartigen Erblindungsfällen durch vorzeitigen Tod in
Abgang gekommen sind. Wenn wir z. B. die Zahl der vorzeitig ge-
storbenen Blmden für das erste Lebenslustrum ermitteln wollen , so
werden wir zuvörderst zählen, wie viel Blennorrhoe- und Gehirnblinde
dieser Lebensabschnitt überhaupt enthält, denn diese beiden Formen
smd es ja doch, welche dem ersten Quinquennium hauptsächlich eigen
smd. Wir werden alsdann aus der vorhandenen Zahl dieser Blinden
und aus ihrer durchschnittlichen Lebensdauer ungefähr berechnen können,
^vie viel vorzeitig gestorben sein mögen. Natürlich gehört zu den eben
beschriebenen Manipulationen wieder ein sehr umfassendes Blinden-
material. Es werden erst noch in grösserem Umfang Grossstädte, Land-
schaften u. dgl. m. untersucht werden müssen, um genau die Absterbe-
ordnung der einzelnen Blindheitsformen und die numerische Vertheilung
der verschiedenen Erblindungsarten über die einzelnen Lebensabschnitte
zu ermitteln. Ich habe auf den letzteren Punkt in den verschiedenen
Kapiteln der vorstehenden Arbeit bereits möglichst Rücksicht genommen
und eme Anzahl von Kurven konstruirt, welche die Vertheilung der
einzehien .Blindheitsformen über die verschiedenen Lebensjahre nach-
weisen sollen.
^ ^ Aus dem Gesagten geht hervor, dass Faktor z — die durch vor-
zeitiges Absterben in Abgang gekommenen Blinden — vor der Hand
noch nicht in Rechnung gestellt werden kann. Es wird erst umfassender
Untersuchung bedürfen, ehe wir einen sicheren numerischen Ausdruck
für denselben zur Verfügung haben werden; doch kann es wphl nur
eme Frage der Zeit sein, bis wir ein genügendes Material beisammen
haben werden, um den Faktor z numerisch ausdrücken zu können.
Was nun schliesslich den dritten Faktor y ~ die nach vollendeter
Untersuchmig auftretenden Erblindungen - anlangt,, so bietet die
numerische Fixation weniger Schwierigkeiten. Wir sind doch wohl zu
der Annahme berechtigt, dass die Absterbe- und Erblindungsverhältnisse
desjenigen Bevölkerungstheiles, welcher den von uns untersuchtea Lebens-
— 148 —
abschnitt noch grösstentheils zu durchlaufen hat, die nämlichen sein
werden, wie sie für diejenigen gewesen sind, welche den fraglichen
Lebensabschnitt schon zum grössten Theil durchlaufen haben und dabei
einer Blindengefahr unterworfen gewesen sind, welche in der Formel
a; + 3 zum Ausdruck kommt. Wir werden desshalb also wohl kaum
fehl gehen, wenn wir annehmen, in dem von uns untersuchten Lebens-
abschnitt werden nach Vollendung unserer Untersuchung ebenso viel
Erblindungen produzirt werden, wie vor unserer Untersuchung, d. h.
also auch x -\- z-. Wir werden also als Summe aller Erblindungs-
fälle, welche die Angehörigen eines Lebensabschnittes vor dem Eintritt
hl denselben bis zu ihrem Austritt aus demselben produziren, den Aus-
druck haben 2 {x ^ z). Setzen wir nun diesen mit der Zahl der in
dem betreffenden Abschnitt Lebenden (m) in Verbindung, so können
wir die Erblindungsgefahr ohne Weiteres berechnen. Wollen w aber
ganz genau verfahren, so müssen wir die Gesammtsumme der m dem
untersuchten Abschnitt Lebenden m noch vermehren um die Zahl der
vorzeitig gestorbenen Blinden die Formel, mit Hülfe welcher sich
für jeden Lebensabschnitt ohne besondere Schwierigkeit die augenbhck-
liche Erblindungsgefahr berechnen lässt, würde also lauten
2 {x + z) 100
Diese Formel besitzt den gar nicht hoch genug anzuschlagenden
Vortheil, dass sie die für jedes Lebensjahr zur Zeit der Unter-
suchung massgebende Gefahr zu berechnen gestattet Sie verschal
uns also ein treues Spiegelbüd der augenblicklichen Leistungsfähigkeit
der Therapie, während die Mayr - Kerschbaumer'sche Berechnmig d^e
längst vergangene Gefahr alter Zeiten herauf beschwört und aus ihr
für unsere moderne Zeit einen numerischen Ausdruck zu schaffen trachtet
Und da überdies unsere Formel mit der erforderlichen -hnensch^n
Genauigkeit verfährt unter gleichzeitiger Berücksichtigung der -edic-i-
schen Inforderungen, so wüsste ich in der That im Augnblick
besseres Verfahren für die Berechnung der Erblmdungsgefahr zu em
pfehlen, als die Benützung unserer Formel.
Man lose Seite 21 ZeUe
26 „
30 „
36 „
88 „
39 „
39 „
Berichtigungen.
4 von oben »des nämlichenc statt
i „ oben >43«
15 oben »in Kenügendem«
13 " oben »6 Kinder«
3 '' unten .20.51 »0'=
8 „ unten .20,51 V
9 ,, unten .21,42 "/o«
»männlichen«.
.42«.
»in geringem«.
Kinder«.
.20,7500«.
.21,420|„..
»20,510/0«.
I
Graphische
Lith lUist, V T Wim.Damsladl.
Darstellung I
Erblüidun^s - Ursachen
-Anstallen
land's.
0 Jmaurosis congeniia,
i
^ Blenmrrhoecb neoncUßrimv
Verletxungerb
Yariolxt
' ► Cerebrunv
ScarLaUmL
ScroFulost
< > MorbUXL
Vorlag V J F Bergmann, Wesbaden
«
I
i
Graphische Barste
Die Formen der Ju^encl-ß
Dargestellt nach 320if J
wo 9 Männliche, a. 1195 Jit
Mafsstab: 5hmm. ^ l%-
Gesammtxahl: 55] ' n J9 % , GesammixaU: W60 ' 33^o8%-
Männliche : 321 = W, 32 % Mätinliäie.: 626 = 31, te % '
Weibliche.: W -.18,15% . Weibliche.: 36,52%.
miiing HI
liniiheit in
fugendblinden
i'ibliciu
Europa
G: 261 >. 8, 15 %
M: Wt ' W,06%
II' .55 = t gif %
Gesamtni-aahL: 1063 ■ 33. n%.
Männliche. 686 - 31:15%
Weibluhe: 377 = 31,5t %
G:t6e'8,io%
M 168 '8.36%
W:I0I'8.K%
TL.d^iujerL
Verlelxys. Bändht
A llgememerkranJamgen,
r
i
pUjme/ilosa
Cataracta
complicata
j4lbinismus
leriüachsunq der
Lider nul.
dem Bulbus
NicJU iiäJier
besiimnile, former}
Bleruiorrhoea.
neonatorum
Trachom.
Keratitis
Jridochorioiditis
AU'ophicL
neroL optici
VerLetxungen
der Augen
VerLelxunncn
des Kopfes
Ophthalmia
sympatAica.
Scrorulos&
Syphilis
Cerehriun mit
seinen Häuten
Morbilli
ScarLaUna
Variola
Unbekannte
Ursachen
I
Anopht hulnms
Mü^rophllmlmus
ReliiiiUs
pigmentosoj
Niehl geü'ennte
formen.
Cataj'acla' congaä(a
complica£a.
Keraloconus
AlbinismiLs
JridochorioidÜis
ColobomiL
dwrioUlcac
Reiinalalrophie
Atroplüxt
neroh optici
BupliLhalmus
OwrioidUis ii.
Cliorw -Retinitis
Blßiuiorrlwea
neonatorum
Trachom
Diplitlmritvs
conjiLiwLioae
UnbekaniiU Cor,
junciioalProxesse
JridochoriouliUs
CiwrioidUis
Myopie
SubUUw retinae
Atpophia
nervi optici
Glaiwoni
Gliom.
KercUilts
Verl&lram£jen
VcrLelYMn^crL
des Kopfes
Operationen
Ophthalmia
sympaÜiiccL
jVor/jiUi
Morbus maculosus
Fhlegmone orbiialis
Tussis conoulsiDfv
Alropliia optÜKt
nach Bäilunq
/llLgemmierkrankg.
imJjeslifwnierJrt
BleioercjiTLumj
Exanthem
luLbelzanntevAi't
ScroPuhse'
Sifphiliä
Poeltcw
GeJiirih mit
seiiien Häuten
ScJuu'lach.
Typhus
Unbekuhie. Urscwlien
S S s
S S
Ii
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• ■0 Ol ? ii,
3 g. 5^
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1
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5
1
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Hydrophthalnnis m.
MikrophUuilnius
ChorioidiUs
Jridochorioidilis
Retinitis
Reünitis
pUjmeatosa
Jtrophia
neroL optici
Caicu'acla
Nicht näher
besUnimte form, .
Blennorrhoea
neonatorum
CoryunciioUis
puralenta
Trachom
Diphiheritis
coryanciioae
Jridochorioiditis
AlrophicL
neroi oplici
Neuroretinilis
Sublaiio retinae
Myopie'
EssmJti&lLe PhUsis
Verletxiuigeny
derJuge/i
Yerletxungen,
des Kopfes
Ophthalmia
sympathica
Scrolulose
Syphilis
Cei-ebritni mit
seinen, Häuten,
Morbilli
Scarlaiina
VaribUL
Typhus
Stlnijei'e Unterleibs
ErkNinkiuig
Unbekannte
Ursachen
15%
W%
^
MihTuphtluilimis
Buphihalmu.i
h'i'lini/is
pu/me/Uosa
Airophia
ni'roi optici
Caiurada
complicata
Bleimorplioexh
lu'oiiaionun
Trachom
Dip/itheri/is
coiijiiiictioae
KeralUis
Chorioiditis
JriilocJwrioUlilis
Atraphixv
nervi,' optici
Verlcixiin/jert
clerAiujen
Vcrlelxuntjeii
dcsKopks
Ophtliaimixi
Sympathien
ScroCiilose
Syplulis
Corijunclii)ilis
gonorrhoica.
Ca-ebrum, nüz
seinen Mulesv
Morbilli
ScarlcvLinxt
Vcwiola
TijphuM
■Sehinerp AUgeinein
rrkrunhtiiKi unbe
sltiuinlcr Natur
UnbeknimLe
Ursachen-
05
\0
5- ^
I
55
gr ^
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Co
Co
:3
25%
I
r
14
5
1
1
.■Inophthal/mts
MücrophUialmas
BuplühalituLS
Alrophia
rieroi optici
Rclüiitis pigmenlosa
II. Reliruilatrophie/
KeralUis
Jridockorioidilis
Rettnilis
proliferans
Albi/iLsrniLS
CataracLcb
complicata/
Niehl getrennte
Formen.
BlennorrhoecL
neonatorum
Trachom,
DiphtheriUs
conjiuvctivae
MennorrhoecL
gpnorrhoica
yltrophicL
neroi optici,
JridbchorioicUiis
Hyalins
SitAlafio retinae
GlcuLcom.
OpMialmicL
syni/jalhic/t, rwn
IrauJuaUca.
VerLelTnaiy
derAugen.
Verlelxung
des Kopfes
Ophlhalmsa
sympatJUca,
Nicht gelreMiUe
Formcfh
Scrorulose
Syphilis
Cerebriuw mit
seinen Häuten.
Morbilli
ScarlalincL
Variola,
Typhus
Exanlhcm.
uiibelmnJerNulnr
Unbekaiuile
Ursachai, .
3
<>■
"II
Ii
I
;^ ^
s » .<«
W% t3% 30% 35%
I
I
1^
i:
I
•I
AnophthcdmiLs
Mikj'opfUhalmus
Relinilis
pigmentosa
MrophUv
nervi optici
Catatxicta,
complicata
Bleimorrhoea,
neonalorum
Anderweitige-
Coryunclioal
Erkraitkjingerv
JridochorioidUis
uCyelitis
Jtrophia
neroL optici
Chorioiditis
Sublatio
relinae
Mgopia
eaxessioa.
VerLetxung
des Kopfes
Opthatmia
sympathica
OperalLon
Scrofulose/
Syphilis
CerebrujTL mit
seüie/i Häuten.
Morbilli
VarioUt
Typhus
Unbekannte
Ursachen/
10%
15%
iO% 25% 30% 35%
I
I:
I
I
-1
1
5.
Mikrophthalmus
BufMialmus
HetinUis
pignieiüosa
Reiinalat/'ophie
Alrophia
neroL optici
Jridßchorioidilis W'
Cornea globosa
dege/ieratioa
Cataracta
compLicala
ßlennorrhoea,
neonatorum
DiphtherilLs
conjanctioaje
Keratitis
JriLLs
JridochorioidiLis
Jtrophia
neroi oplici
Verletxuagen.
derAiujeti
OpMhalnüa
sympatJüca
Scrnriüx)se
Syptülis
Cerehrum mit
seinen Häuten.
Mm'biUi.
ScarlatüuL
Variala
Unl>e.k.(uiie
l'rsacJmr
10%
15%
2a%
25%
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'.<a .-c
^
0%
3%
10%
15%
20%
25%
Afikrophthcdm us
Chorioiditis
Coloboma-
üwrioideaz
^ {Jridochorioidilis
5
I.
'S
I
Atrophia
nemt optici
Catciracla,
complicata
Unbestimmte
formen
ßlemwrrhoecu
neonatorum.
Trachom,
Jridochorioidilis
Atrophia
neroL optici
Verletxungen der
Jagen/
Verlelxunqe/v des
Jopres
Scrofulose
Cerebrum. ijüL
seinen Häuten
Morbilli
Variola
Typhus
Aisschkig unbe,,
slimnUer Natur
Jhtermiltens
VnbekannLe
Ursachen
0%
5%
10%
15%
209h
§ ^ ^
0%
5%
10%
)5%
iO%
Belgien
:\AiisiaUen l'Iit Bände.
2
Dänemark
iJnstaU 159 BLüicLr.
Beutsclilojid
21 Anstalten 1595 Blinde.
England
t Anstalten Uli Blinde.
Frankreich
l Anstalt 38 Blinde.
%
Hollandy
3 Anstalten, 115 Blinde.
Jlalien
5 Anstalten 260 Bände.
Norwegen
I Anstalt m Blinde .
Oeslerreich - Ungarn
9 Anstalten 508 ^Blinde .
Russlandy
3 Anstalten m Blinde.
Schweden
I Anstalt 59 Blinde.
Schnieiz
3 Anstcdten 13 Blinde.
Spojiien.
3 Anstalten 129 Blinde.
0%
5%
10%
15%
10%